Wissenschaft Bricht Monopole_Anton Zischka_1941

November 18, 2017 | Author: eugen-karl | Category: Prometheus, Organic Chemistry, Chemistry, Nature
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ANTON

ZISCHKA

WISSENSCHAFT· BRICHT MONOPOLE.

,

LEIPZIG WILHELM

GOLD MANN

VERLAG

VORBEMERKUNG Copyright Wilhelm Auch

jeder

1936 by

Goldmann

Verlag

TeiJabdruck

in Leipzig

bedarf

Genehmigung

des

VNr.

der besonderen

Verlages

4026· X

Es erschienen: 1.-Z0.

Tausend

November

1936

21.-40.

Tausend

Dezember

1936

mit

\

geringfügigen

41.-50. neu

Tausend

51.-60.

April und

Tausend

im

Tausend

71.-80.

im

Tausend

im

durchgesehen

und

Tausend

Made Druck

von

im

1937 1937 1937 1938

erweitert März

1938 1939

in Ge r'm a n y

C. G. Röder

Schutzumschlag-Entwurf:

Mai

im August

I I 1.- I ZO.Ta usend

1937

erweitert

Dezember

Tausend

101.-110.

Juni

Oktober und

Tausend

91.-100.

1937 ergänzt

November

durchgesehen

81.-90. neu

im

durchgesehen

61.-70. neu

Änderungen

Kurt View

in Leipzig Gundermann, Company:

Leipzig

Photovermerk

: Keystone

Bilderdienst:

18, 35, 36, 53, 54,71,72,89,9°,107,108,142,159,

160,193,194,2II, zu, 229,230,247,248. Wide World

ZII.

Scherl-

Pboto:

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Dieses Buch handelt von Rohstoffen, von Kohle und Eisen und Nickel und Holz, von Kautschuk und Weizen, Zucker und Zinn.' Zumindest scheint es so. Aber was hier in Jahren des Schauens und Lernens zusammengetragen wurde, was der Autor in seinen früheren Rohstoffbüchern tastend zu verstehen suchte, ist ja seit der Verkündigung des zweiten deutschen Vierjahresplanes mehr geworden als nur ein Bericht. Das wurde zum technischen und weltwirtschaftlichen Hintergrund eines Riesenprogramms, das nicht nur den Weg zur deutschen Unabhängigkeit, sondern zum Frieden überhaupt, das den Weg aus einer Welt der Angst und Not in eine Welt des Selbstbewußtseins und des Reichtums zeigen kann. Und das ist das Thema. Wie man durch unzählige, viele Forscherleben ausfüllende Einzelarbeit Hunger und Kleidermangel, Raumund Energienot bekämpfte, soll hier geschildert werden, mehr aber noch, was diese friedlichen Siege für die Menschheit bedeuteten. Technik und Wissenschaft füllen dieses Buch, aber nicht um ihretwillen allein, sondern nur als die unentbehrlichen Mittel zu dem, was Mussolini das Schwerste und das Wichtigste nannte: so stark zu sein, daß man gut bleiben kann. Schon deshalb also ist dieses Buch nicht vom Standpunkt des Spezialisten aus geschrieben, sondern von dem des Hunger und Krieg hassenden Propagandisten. Es vernachlässigt mit Absicht viele Einzelheiten, es versucht einen Überblick zu geben, weil es unmöglich scheint, in die letzten Geheimnisse des Kautschuk- oder Benzinmoleküls vorzudringen und dabei gleichzeitig die weltwirrschaftliehen Auswirkungen neuer Rohstoffsynthesen, die Arbeiten auf etwa vierhundert anderen Fachgebieten und ihre sozialen, politischen und kulturellen Hintergründe, zu überblicken. Was aber gesagt wird, wurde von einem Chemiker überprüft, der seit vielen Jahren eines der größten deutschen Rohstofflaboratorien leitet; es enthält keine Theorien, sondern allein die Schilderung von in großtechnischen Anlagen er pro b t e n synthetischen Verfahren. Wie begeistert der Autor auch von vielem sein mag, was er hier schilderte, wie sehr er auch davon überzeugt ist, daß For-

VORBEMERKUNG

VORBEMERKUNG

schung und Technik geeignetste Mittel nicht nur zu materiellem Fortschritt, sondern zur Verwirklichung der meisten Menschheitsideale überhaupt sind, er übersah natürlich auch nicht die Gefahren des Wissens, die Bedeutung von Herz und Seele. Wie ma~erialistisch dieses Buch auch auf den ersten Blick scheinen mag, es ist doch voll von reinstem Idealismus, voll von Helden; denn u.m wissenschaftlichen Fortschritt zu kämpfen, bedeutet ja meist e1~ ganzes Leben, nicht nur einen Augenblick der Entsagung. Und W1esehr diese Arbeit auch rein autarkisch eingestellt scheint, der Autor sieht trotzdem im Welthandel, im freien Austausch von Ideen und Gütern ein großes Ziel, er betrachtet die Welt als ri~siges Syst.em kommunizierender Röhren. Allerdings glaubt er licht, daß dieses Ideal durch Reden und Konferenzen verwirklicht werden kann oder durch das sFreie Spiel der Kräfte«; das Zeitalter der wirtschaftlichen Expansion und des ) Laissez faire« scheint ihm unwiderruflich vorbei, eine nur auf Rentabilität eingestellte Wirtschaft kann er sich nicht mehr als zweckerfüllend vorstellen. Der Verfasser glaubt, daß allein Sicherheit vor Hunger und Absperrung, daß nur ruhiges Gefühl der Kraft, Bewußtsein voller Unabhängigkeit zu einer Zusammenarbeit der Völker führen können, daß Welthandel wie politische Staatenverträge auf freiem Willen aller Beteiligten aufgebaut sein müssen. Handel aus freiem Willen, Veredelung, Austausch besonderer Kenntnisse, nicht Ausfuhr um jeden Preis, um lebenswichtige Rohstoffe um jeden Preis zahlen zu können, muß es geben. Und da die wichtigsten Rohstoffe nun einmal nicht gleichmäßig auf alle Länder verteilt sind, da alle weltweiten Pläne der Neuaufteilung so kindisch oder verlogen wie die Träume von Weltrepubliken oder einem Paradies auf Erden sind, so müssen wir, was wir brauchen, eben erarbeiten oder erfinden. Was hier erreicht wurde, wie es erreicht wurde und wie grundlegend schon heute nicht nur das materielle Leben der Menschheit sondern auch ihr Denken durch Wissenschaft und technischen Fortschritt gewandelt worden sind, soll hier durch Tatsachen bewiesen werden. Aber bei allem Optimismus, bei allem Stolz auf

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das Vollbrachte maßt dieses Buch sich natürlich nicht an, den Ausweg aus dem Wirrwarr und den Nöten unsrer Zeit zu zeigen, es versucht nur, ein winziges Stück dieses Weges zu schildern. Wenn hier Triumphe des Geistes und des Willens über scheinbar unüberwindliche Hindernisse geschildert werden, so in aller Demut: der Verfasser ist sich bewußt, daß die siegreiche Vernichtung von Monopolen dem Kampf mit der Hydra gleicht, weil ja die Ausweitung unsres Wissens immer neue Möglichkeiten zu Monopolen schafft, weil ja gerade durch Forschung und Erweiterung des Lebensraumes und der Lebensmöglichkeiten Stoffe lebens.wichtig werden, die vorher wertlos schienen. Der Verfasser weiß, daß Sieg über Hunger und Angst nur ein Anfang sind. Daß der Herrschaft über die Natur vor allem die Herrschaft über den Menschen, seine Leidenschaften, Sehnsüchte und Träume, folgen muß. Aber gerade, daß man nun eddlich bei den Grundmauern des neuen Weltgebäudes beginnt, gibt Mut. Gerade, daß man nicht mehr nur herrliche Ideengebäude aufrichtet, Luftschlösser, zu denen es keine Treppen gibt, scheint dem Autor der wesentlichste Fortschritt unsrer Zeit.

I

Januar 1938

Anton

Zischka

ERSTES

DER

KAPITEL

GEWALTIGSTE

ALLER

SIEGE:

SIEG ÜBER DIE ANGST Monopole

und die Furcht Absperrung

~I I

~.

vor Hunger,

und Krieg

Vor vierzig Jahren war das. Da kamen in die Urwälder Malayas und Borneos, Sumatras und Javas, in die dichten Wälder, die dem Gürtel roter Erde von Kambodscha nach Süd-Annam folgen, in die Dschungel um Kuala Lumpur wie in jene Indochinas Pflanzer, die die Baumriesen in die Luft sprengten und sie dann verbrannten. In die noch warme Asche stellten Geometer ihre Meßstangen, zog man kilometerweit je zehn Meter voneinander abliegende Linien. Kulis steckten Bambusstäbe in die lockere, verfaulende Erde, gruben tiefe Löcher. Dann kamen die jungen Heveas, winzige, lederblättrige Gummibäumchen mit glatter glänzender Rinde, dann kamen Straßen und Feldbahnen, Bungalows und Arbeiterbaracken, dann kamen sechs, manchmal acht Jahre entnervendsten Wartens, währenddessen die Aktionäre ungeduldig wurden und die Verwalter zwischen himmelhohen Hoffnungen und schwärzestem Pessimismus schwankten, und schließlich waren die Bäume stark genug, daß man sie anstechen konnte. Weißer, milchartiger Saft rann aus den Wunden. Man brachte ihn zum' Gerinnen, trocknete ihn. Heute rinnen aus den Gummibäumen Britisch-Malakkas, Niederländisch-Indiens und Ceylons jährlich rund eine Million Tonnen Kautschuk, heute liefern diese Plantagen jährlich gut dreißigtausend Eisenbahnzüge voll Rohgummi. Und nur hier gibt es Kautschuk. Amerika, das dreiviertel aller Autos der Welt laufen hat, dessen Reifenindustrie die bedeutendste der Erde ist, besitzt nicht einen Gummibaum. Deutschland, wie alle anderen mitteleuropäischen Industriestaaten, muß sich dem Gummimonopol der Tropen fügen. Wie Amerika dreiviertel aller Baumwolle beherrscht, beherrschen England und Holland allen Kautschuk der Welt ...

* Überall in Westindien trifft man auf weite Felder, auf ganze Landstriche riesiger Gräser, auf Wälder von übergroßem Mais, auf ein Meer von gigantischem Schilf. Manchmal armdickes, matt-

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WISSENSCHAFT

BRICHT MONOPOLE

DER GEWALTIGSTE

glänzendes Rohr steht hier in endlosen Reihen. Kilometerweit, hunderte Kilometer weit. Tagsüber macht glühende Sonne diese Plantagen oft menschenleer. Dann stehen nachts zwischen den Rohrreihen Petroleumlampen, und in ihrem fahlen Licht schwingen nackte Männer breitklingige Messer. Ein weitausholender Hieb, ein Aufglänzen des Metalls, und das Zuckerrohr sinkt nieder. Büffelgezogene zweirädrige Karren warten in langen Reihen. Irgendwo prustet ein Motor, der lange, stählerne Greifer bewegt, eine Art Bagger, der das Zuckerrohr auf die Wagen lädt. Die Büffel trotten zu Gleisen, auf denen riesige ölgeheizte Lokomotiven stehen, endlose Ketten von Gitterwaggons. Der Zug fährt ab, kommt in die ~Zentrale-s, wo das Rohr zermalmt und ausgepreßt, der Saft eingedickt wird, wo Rohrzucker entsteht. Besonders auf Kuba gibt es solche Plantagen, solche Rohrzuckerfabriken, auf Java findet man sie, in Britisch-Indien, auf den Philippinen und auf Hawai. Nirgends in Europa wächst Zuckerrohr (I), nicht in Nordamerika. Rohrzucker, das ist ein Monopol der Tropen. Es war ein absolutes, ein hundertprozentiges Monopol bis 1802., bis zur Rübenzuckererzeugung durch Achard, bis zur Zuckerfabrik in Kunern in Schlesien. Heute?

* Ein schmaler Pfad, an steilen Abhängen vorbei, in Berghalden eingesprengt, die voll spitzer, schwarzer Steintrümmer liegen, in viereinhalbtausend Meter Höhe dann Schnee, in dem Lamas nach Grasresten scharren. Ein kleiner runder See, in dem rot, grün, gelb, violett phantastische Felsen sich spiegeln, und schließlich ein gähnendes, schwarzes Loch in einer Steilwand, die sich in den Wolken verliert. Aus diesem Loch, fünftausend Meter über dem Meeresspiegel, kommen kleine Wägelchen mit schmutziggrauen Steinbrocken, auf denen manchmal Kristalle sitzen, die schwarzen Diamanten ähneln. Sie werden vor einer Reihe barfüßiger Indianerinnen umgekippt, die in einem sausenden, eiskalten Wind hocken und das Erz kleinschlagen. Nachts gibt es hier acht bis fünfzehn Grad Kälte, und da schlafen diese Weiber dann unter (1) Die Mauren brachten Zuckerrohr nach Spanien; noch heute wird es in Andalusien angebaut. Weltwirtschaftlich aber sind diese winzigen Pflanzungen ohne jede Bedeutung.

1

j

1 i j t

ALLER SmGE:

SmG ÜBER nrs

ANGST

IX

einem dünnen Poncho auf den Steinböden in den Fels gehauener Höhlen. Ihre Männer im Stollen dagegen haben es nicht kalt. Dieser Stollen kriecht in den Berg, so niedrig, daß man sich bücken muß, er steigt und fällt, wie es gerade kommt. Die Luft ist dünn und wird mit jedem Schritt schlechter. Jede Bewegung hier läßt das Herz wilde Tänze aufführen, läßt Schweiß ausbrechen. Hier also sprengt man das Zinnerz los, die Steine, die etwa vier Prozent des Metalls enthalten, die dann sortiert, zermahlen, ausgeschwemmt werden, die man in einen gelben Zinnbrei verwandelt, der in einem großen Bassin von rasend sich drehenden Schrauben mit Teeröl vermischt zu Schaum geschlagen wird, einem Schaum, der die Fremdstoffe festhält, das schwere Zinn zu Boden sinken läßt. Hier, ganz hoch oben in der bolivianischen Kordillere, gewinnt man so sechzigprozentiges Zinn, den blauen Sand, der in England zu Barren geschmolzen wird. Neunzig Prozent aller bolivianischen Ausfuhr besteht aus Zinn. Mit dem Zinnpreis fällt und steht Bolivien. Sein Zinn, fünfundfünfzigtausend Tonnen jährlich etwa, stellt ein Drittel alles auf der Welt gefundenen Zinns dar. Die zwei andern Drittel stammen aus China und den Gummiländern, aus Indonesien, den Straits Settlements, aus Holländisch-Indien und Siam. Statt aus unerträglichen Berghöhen stammen sie aus fieberheißen Dschungeln. Statt von halberfrorenen Indios werden sie von Maschinenkolossen gefördert, haushohen Baggern, die auf dreißig Meter langen, zwölf Meter breiten Pontons stehen und aus stinkenden, graugelben Sumpflöchern mit jedem Stahlkübel ein Drittel Kubikmeter Zinnschlamm holen. Jede Minute, Tag und Nacht, taucht der Bagger in den verseuchten Tümpel, knirschend, stöhnend, Dampfwolken in die heiße Luft stoßend. Der Mann, dem die meisten Zinnminen Boliviens gehören, betreibt heute auch sehr viele der Zinnbagger Indonesiens. Dieser Mann heißt Simon Patino, und 1903 war er noch ~erkäufer in einem kleinen bolivianischen Krämerladen. Ein Kunde dieses Ladens, ein Portugiese mit vielen Schulden, bot ihm einen Zinnclaim an , die Mine Salvadora: er wollte dafür zweihundert Dollar von seiner Rechnung gestrichen haben. Patino tat es und flog aus dem Geschäft. Er borgte zwei Mulas und verschaffte sich Kokablätter für ein Dutzend Indios; er brachte zwei Jahre in den eisigen Berghöhen der Kordillere zu, ein wenig Mais, ein paar Bohnen auf

WISSENSCHAFT

BRICHT MONOPOLE

stinkenden Lamadungfeuern kochend, und dann war die SalvadoraMine als die reichste des Landes erwiesen. Patino verkaufte nicht ~bwohl die amerikanischen Guggenheims ihm ein paar nette Mil~ lionen boten, er schuftete weiter, und so ist er heute nicht nur Gesan~ter seines La~des in Paris, hat er nicht nur einen spanischen MarqU1~ zum Schw1~gersohn und eine Bourbonenprinzessin als Frau seines Erben, Simon Patino regiert auch mit John J. Howeson, dem Herrn des malaiischen Zinns, mit den Engländern Mair, Thomas und Stephens, die die British Tin Investment Co. kontro~~ren, das Rohzinn der Erde. Er verschärfte das Naturmonopol Boliviens und Indonesiens durch ein Trustmonopol. Beherrscht ~o den Rohsto~, der ungemein wichtig für viele Metallegierungen ist, unentbehrlich für alle Konservenbüchsen und somit für die Armeeverpflegung. Kann so Amerika, das die Hälfte alles auf der Welt erze~gten Zinns verbraucht, aber selber kein Zinn hat, ebenso Tribut zahlen lassen wie Deutschland, wie Europa, wie alle Industriestaaten der Welt.

* .Wir 'Yare~ in Edmonton in das große Flugzeug der Canadian Airways gestiegen, hatten die Provinz Alberta überflogen waren nach Regina gekommen, dem Hauptort Saskatchewans landeten schließlich in Winnipeg, dem Zentrum Manitobas - ~ine Reise von etwa fünfzehnhundert Kilometern, ein Flug, der etwa dem von Berlin nach Sofi~ gleichkommt. Acht Stunden lang hatten wir nichts anderes als We1zen gesehen: unendliche gelbe Flächen, in denen ~anc?mal ~aschinengiganten ihre Kreise zogen, Mähdrescher, ~e diese We1zenfelder in mahlfertiges Getreide verwandelten die Jeder, v~n einem einzigen Mann bedient, täglich die Arbeit t~ten, zu ?er ~In Bauer ohne Maschinen sein ganzes Leben brauchte. Ä~che ~lüge konnte man in Argentinien, im Westen der Vereinigten ~~~aten~ in Australien machen. Überall riesige menschenleere Prärien, in denen Maschinen den ohne Dünger reich aus dem Neuland schießenden Weizen ernteten. Mit Kanada an der Spitze beherrschten die vier Überseestaaten den Getreidemarkt ~er Welt. I~ »Pitt~( von Winnipeg, einer achteckigen Arena, einem Saal mit aufsteigenden hölzernen Stufen, im siebenten Stock des» Wheat Exchange« und an der Getreidebörse Chikagos wurden

DER GEWALTIGSTE

ALLER SIEGE: SIEG ÜBER DIE ANGST

die Preise bestimmt, die die ganze Welt für ihr Brot zu zahlen hatte, den die rund tausend Millionen Bauern, die es auf der Welt gibt, für ihr Getreide bekommen sollten. Dort w u r d e das bestimmt ... Und wie die Natur, wie Klima und Spekulanten Monopole für Zucker und Kautschuk und Brot schufen, so sind die vierzig Staaten, die Textilindustrien haben, so ist die Baumwollindustrie der Welt, deren Produktionswert jährlich auf fünfundzwanzig Milliarden Mark geschätzt wird, die direkt rund zwanzig Millionen Menschen ernährt und indirekt gut hundert Millionen andere, so sind die Pneufabrikanten wie die Spinner, die Watteerzeuger wie die Konfektionäre von z w e i Baumwollproduzenten abhängig: die Hälfte aller Baumwolle der Welt wächst in den Vereinigten Staaten, der Rest in Ägypten, im Sudan, in BritischIndien, in den englischen Kolonien Afrikas, in von London beherrschten Ländern also. Wie neun Zehntel alles Zinns mehr als zehntausend Kilometer zurücklegen müssen, um an den Ort ihrer Verarbeitung zu gelangen, so werden neunzig Prozent aller Baumwollwaren in Ländern erzeugt, deren Klima keinen einzigen Baumwollstrauch reifen läßt. Monopole herrschen über unsere Nahrung wie über unsere Kleidung. Drei Völker besitzen alle Kopra der Erde. Zwei Staaten, Norwegen und England, beherrschten bis 1936 den Walfischfang, damit die Tranversorgung der Welt, vier Kolonialreiche, das britische, französische, niederländische und belgische, beherrschen 97 Prozent allen Palmöls, des wichtigsten Grundstoffes der Margarine- und Seifenfabrikation. Und ein einziger Trust wiederum, der Unilever-Konzern, hat die Verteilung und Weiterverarbeitung dieser lebenswichtigen Fette in der Hand. Schwefel, das wichtige Ausgangsprodukt der chemischen Industrien: Monopol der Vereinigten Staaten und Italiens. Platin, als Katalysator ebenfalls unentbehrlich für die Chemotechnik: Monopol Sowjetrußlands, Kanadas und Kolumbiens. Und die Treibstoffe? Zwei Monopole, das der Standard Oil und der Royal Dutch Shell, beherrschten fast alle Ölquellen, beherrschten so fast alle Verbrennungsmotoren der Welt, zwei winzige Gruppen von Menschen, hinter denen im besten Fall zwei Staaten stehen, beherrschten so Luftflotten und Tanks, Unterseeboote, Schlachtschiffe und Autos von vierzig Nationen.

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WISSENSCHAFT

BRICHT MONOPOLE

Rohrzucker: Tropenmonopol. Tee, Kakao, Kaffee: Tropenmonopol. Kautschuk, Kopra, Palmöl: Tropenmonopol. Nickel: Monopol eines einzigen Landes, Kanadas, das 86 Prozent der Weltausbeute liefert, einer einzigen Firma, der s International Nickel Co. «, die wieder ein einziger Mann regiert, Robert ~roockes Stanley. Denn wie Nationen um Rohstoffmonopole ringen, so kämpfen natürlich seit undenklichen Zeiten auch einzelne um Vormachtstellungen. Patino ist durchaus keine Ausnahme, ~mmer wieder sind s Cornere gelungen, haben Spekulanten die Käufermassen sich tributpflichtig gemacht, indem sie lebenswichtige Waren aufkauften und zurückhielten, den künstlich er~eugten Ma~gel dann dazu benutzten, sich Vermögen zu schaffen. Wl~ Joseph Ägyptens Korn monopolisierte, so monopolisierten dreitausend Jahre später Leiter und Hutchinson alles Getreide Amerikas. Und wenn schon die Spekulation in Getreide , das so . zle.mlich.überall wächst, gigantische Formen annahm, die Spekulation mit Baumwolle und Gummi, Zucker und Zinn, die nur auf eng beschränkten Räumen vorkommen, wurde für ganze Länder, für ganze Kontinente lebensgefährlich. Der berühmte Spekulant Sully zum Beispiel, der 1904 die amerikanische Baumwollernte s cornertee, zwang nach den offiziellen Ziffern des internationalen Spinner- und Weberkongresses in Zürich allein Deutschland in diesem Jahr einhundertundsiebzehn Millionen Mark mehr 'für Baumwolle auszugeben, als die Produzenten erhielten. Europa mußte 19°4 für den lebenswichtigen Rohstoff einhundertundzwei Millionen Pfund Sterling mehr an Amerika zahlen als 1895, obwohl man zehn Millionen Ballen statt der sieben des Baissejahrs geerntet hatte. »Monopol: griechisch, Alleinverkauf «, steht im Lexikon, ) ein Zustand der Tauschwirtschaft, bei dem das Angebot von oder die Nachfrage nach einem Gut entweder ganz in den Händen einzelner Personen oder Unternehmungen oder Organisationen solcher Personen oder Unternehmungen liegt oder doch von ihnen zu einem so großen Teil beherrscht wird, daß dadurch ein entscheidender Einfluß auf den Preis ausgeübt werden kann«. Um Preise allein aber geht es längst nicht mehr. Monopole verschaffen nicht nur Gewinn, sie geben vor allem Macht. Macht

DER GEWALTIGSTE

ALLER SIEGE: SIEG üBER DIE ANGST

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dem Milliardär. Macht seinem Land. Macht einem Kontinent über den andern (I). Weil Kaffee nur auf einem ganz kleinen Teil der Erde wächst, nur vier Länder nennenswerte Weizenüberschüsse haben, die sie ausführen können, Baumwolle an ganz gewisse klimatische Voraussetzungen gebunden ist, wie Kautschuk und die Ölquellen höchst unregelmäßig verteilt sind, wollen die Besitzer dieser Schätze die Nichtbesitzenden in alle Ewigkeit Tribute zahlen lassen. Lieber vernichten sie Kaffee, Baumwolle und Weizen, als daß sie sie gegen die Überschußprodukte der andern tauschten. Aber auch die, die die Rohstoffe zahlen könnten, sollen sie jetzt nicht mehr so ohne weiteres haben. Mitten im Frieden gibt es wirtschaftliche Blockaden. Weltpolitik und Weltwirtschaft werden immer enger verquickt. Und diese Sanktionen, gegen die Italien sich wehren mußte, die man Deutschland androhte, machen aus den Sorgen der Geopolitiker und Weltwirtschaftler plötzlich Nahrungssorgen für hundert Millionen Europäer, aus wirtschaftspolitischen Überlegungen Fragen der nackten Not. Immer deutlicher wird durch das Stocken des internationalen Zahlungsverkehrs jedem von uns klargemacht, was Rohstoffnot bedeutet, jeden (I) Nach einem Völkerbundsbericht an der Weltrohstofferzeugung : Deutschland Steinkohle. Petroleum. Eisenerz Blei Kupfer. Zink Zinn . Bauxit Nickel . Kautschuk Zellstoff Kali Palmöl Kopra

12,4

vom März 1937 war der prozentuale Anteil

Britisehes Weltreich 24,7 11,5 12,2

Frank- Niederreich lande und und Kolonien Kolonien 4,4

Vereinigte Staaten

SowjetRußland

1,2

34,0

2,9

8,5 11,7

28,6

59,5 20,7

4,3

43,0 12,2

0,4

19,5

18,4 2,1

9,3

31,8 42,5

0,5 1,0

15,9 28,4

3,4 2,0

5,2

42,5 9,0 2,0

12,6

4,8

4,0

..

85,7

16,8 7,9

0,2

1,5

37,4 0,6

48,4

12,2

22,0

29,5

1,9

3°,5

57,9 19,6

21,0

59,5 34,5

1,3

16

WISSENSCHAFT

BRICHT

MONOPOLE

Tag klarer führen uns politische Spannungen und Zollgrenzen vor Augen, was Monopole praktisch darstellen, wie sehr sie zu schaden vermögen, wie gefährlich es ist, vom Kauf oder Verkauf eines lebenswichtigen Grundstoffs völlig abhängig zu sein: mitten im Reichtum herrscht Not, mitten im Frieden ist Kriegswirtschaft nötig geworden. Und da die Betroffenen sich natürlich wehren, ist mehr denn je von Neuverteilung der Rohstoffe, von brüderlicher Gemeinschaft und Weltzusammenarbeit die Rede. Wieder einmal berufen die Monopolbesitzer Konferenzen ein, die die Nichtbesitzenden von Taten zurückhalten sollen. Wieder macht man Pläne, wie man seit Tausenden von Jahren Kriegspläne gegen die Monopole schmiedete. Von den Reden, die Lysias 387 v. ehr. gegen die Spekulanten Athens hielt, bis zu den Anklagen der Anhänger des »New Deal« vor dem amerikanischen Kongreß sind ja immer wieder flammende Proteste gegen die Rohstoffwucherer laut geworden. Von den Beratungen zur Auf teilung der Kolonialschätze im 16.Jahrhundert bis zur Weltzuckerkonferenz, der Weltgetreidekonferenz und der Weltwirtschaftskonferenz des Jahres 1933; von den Kongoakten und den Marokkoverträgen bis zur internationalen Rohstoffkommission des Jahres 1937 ist ja immer wieder versucht worden, eine gerechtere Verteilung der Nahrungsmittel und der Rohstoffquellen zu erreichen. Immer wieder wurde versucht, die Spekulanten zu vernichten, allen Völkern die nötigen Grundstoffe zu sichern. Trotzdem aber beherrschen Angst vor Hunger und Absperrung immer noch die Welt. Wie unsre Ahnen Blitz und Donner, Mondfinsternis und wilde Tiere fürchteten, in ewiger Angst vor dem Hunger lebten, so fürchten wir uns heute mehr denn je voreinander. Wir errichten nicht mehr Götzenbilder, dafür aber riesige Festungsgürtel, die Pyramiden an Zwecklosigkeit wie an Ausmaßen übersteigende Bauwerke aus Stahl und Beton. Angst macht die internationalen Konferenzen zu lügnerischen Rededuellen. Angst vor den Vertragspartnern macht alle weltumspannenden Wirtschaftsabkommen zu kurzlebigen Notlösungen. Angst und Mißtrauen vergiften unser Leben mehr, als sie je die Steinzeitmenschen plagten: Angst aber hat nur, wer sich schwach fühlt. Angst entsteht aus ungleicher Verteilung der Kräfte, aus Minderwertigkeitskomplexen. Der Ferne Osten brodelt, weil Japans hundert Millionen Men-

JUSTUSLIEB1Gwurde am 12. Mai 1803 in Darmstadt Johann Georg Liebig geboren. studierte er in Bonn, Erlangen von Humboldts

chemischen danken. schöpften wurden

WO

Gießen berufen.

in Deutschland. Studiums

die Universität

und Paris,

er die AufmerksamkeIt

war,

Alexander

auf sich zog. Im Alter von 21 Jahren wurde er als Professor der

Chemie an die Universität laboratorium

als Sohn des Farben~ändlers

Nachdem er kurze Zeit Apothekerl~hrlmg

der gesamten

München.

durch

Kulturwelt.

des

1852 folgte er einem Ruf an die wir Liebig ver-

Tat aber bleibt doch, daß er lehrte, wie man er-

ihre Kraft zurückgeben

so vor dem Veröden

er das erste Muster-

ihn zum Mittelpunkt

Zahllos sind die Entdeckungen,

Seine bedeutendste Feldern

Hier gründete

Gießen wurde

bewahrt.

am 18. April

kann.

Weite Landstriche

Liebig wurde

1873 in München.

Europas

1845 geadelt und starb

DER GEWALTIGSTE ALLER SIEGE: SIEG ÜBER DIE ANGST

19

schen wissen, daß sie nur leben können, so lange Australien ihnen Wolle verkauft, Indien und Amerika Baumwolle schickt, weil Japan im Weltkrieg Hunger litt, als es von seinen Nahrungsmittellieferanten abgeschnitten war, weil es weiß, daß Zollschranken oder Einfuhrkontingente seinen Handel vernichten, es so in den Bankrott, in Not und Verzweiflung treiben können. Europa fiebert, weil England für seine Vormachtstellung, für den Weg nach Indien, Ägypten und seine Plantagen im Sudan fürchtet, Angst hat, daß Italien als Herrscher über Abessinien, damit über die Nilquellen und den Tsanasee, einmal seine Macht dazu benützen könnte, dem Nil so viel Wasser zu entziehen, daß die in drei Jahrzehnten mühsam erworbenen, mit ungeheuren Opfern zum Blühen gebrachten Baumwollfelder vertrocknen und Lancashire zu wenig Rohstoff bekommt. Europa fieberte, weil Italien seine Bevölkerung auf der armen Apenninenhalbinselnicht mehr ernähren konnte, neuen Raum, neue Märkte, neue Rohstoffquellen brauchte. Angst um den Arbeitsplatz, Angst um den Käufer, Angst um Nahrung und Freiheit und menschenwürdiges Dasein, Angst peitscht uns vorwärts wie nur je. Aber wenn die Natur durch Klima und willkürliche Verteilung der Bodenschätze auch Monopole für fast alle lebenswichtigen Dinge schuf, wenige nur können wir heute noch nicht brechen. Wenn wir aber Monopole brechen, naturgegebene Übermacht, geschenkte Vorteile, dann überwinden wir auch die Angst vor Hunger und Absperrung. Da bekämpfen wir Neid und Mißgunst. Da arbeiten wir für dauerhaften Frieden, denn wer wird um etwas kämpfen, das alle haben? Gewiß, Monopole brechen können nicht Volksredner und nicht weltbeglückende Philosophen, nicht Armeen und nicht gigantische Bankenkartelle. Keine wirklich bedeutende Änderung im Leben der Menschheit wurde ohne Hilfe der Techniker und Gelehrten vollbracht. Nicht Philantropen besserten die Lebensbedingungen der Arbeiter, sondern die billige Erzeugung der Massengüter durch Maschinen; und wenn die allzu rasche Mechanisierung auch die Welt vor schwerste Probleme stellte, manchmal die Maschine als Feind erschien, der Millionen arbeitslos verelenden ließ, die Technik ist doch auf dem Weg, die seit Jahrtausenden andauernden Wirtschafts kämpfe zu beseitigen, Monopole der Gewinnsucht 2

ZI· W1· X

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WISSENSCHAFT

BRICHT MONOPOLE

ebenso wie des Klimas zu brechen. Alle Reden, alle politischen Reformen konnten auf die Dauer den Drang des einzelnen wie der Völker, sich Monopole und dadurch fette Gewinne zu schaffen, nicht ausmerzen. Während aber die feurigsten Proteste wirkungslos verhallten, arbeiteten überall Gelehrte daran, die Menschheit von Sklaven der Natur zu Beherrschern der Natur zu machen. Monopol auf Monopol wurde gebrochen, Schritt für Schritt sich vorwärtstastende Forscher eroherten immer neuen Lebensraum, beendeten Kämpfe um Rohstoffe, indem sie sie allen zugängig machten. Solange es nur Rohrzucker gab, Zucker nur unter ganz gewissen klimatischen Bedingungen erzeugt werden konnte, vermochte man ihn zu monopolisieren, wie man Baumwolle monopolisieren konnte. Die Wissenschaft fand den Rübenzucker, und Rüben wachsen überall, sind nicht auf kleinen Raum beschränkt; man kann Rübenfelder nicht aufkaufen wie Rohrplantagen : das Monopol zerfiel, vor Zuckernot braucht niemand mehr Angst zu haben. Sully cornerte die ganze Baumwollernte des Jahres 1904; aber dann wurden Kunstseide und Zellwolle erfunden, und heute müßte ein Textilspekulant nicht nur alle Baumwollernten aufkaufen, sondern auch noch mehr als vierhundert Zellfaserfabriken in neununddreißig Ländern, er müßte Macht über neununddreißig Regierungen haben, um sie stillegen zu können. Unzählige Chemiker und Ingenieure, Forscher und Organisatoren arbeiten seit ein paar Jahrzehnten gegen den Zufall, gegen ererbten Reichtum, gegen naturgeschenkte Macht. Ganz langsam machten sie Leistung, nicht Glück, zum Maßstab der Weltgeltung. Und sie arbeiteten so gleichzeitig für Frieden und Fortschritt, gewaltiger und sicherer als alle Politiker und Diplomaten. Sie arbeiteten, ohne viel Aufhebens davon zu machen, und so ist vieles von ihren Taten vergessen worden. Die Welt streitet über Wert oder Unwert des synthetischen Benzins, des Kautschuks aus Kalk und Kohle; viele bekritteln noch die Zellwolle oder die Seife aus Kohle und vergessen dabei ganz, daß uns »chemischer-s Zucker, der Rübenzucker Achatds, längst so selbstverständlich wie Kunstseide wurde, daß der Luftstickstoff das Monopol des Chilesalpeters brach wie die chemischen Farben das' Monopol des Indigo, daß längst synthetischer deutscher Kampfer den Kampfer

DER GEWALTIGSTE

ALLER SIEGE: SIEG ÜBER DIE ANGST

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der Wälder Formosas ersetzt, man längst plastische Stoffe aus Milch macht und Papier aus Holz. Gewiß, wir stehen erst am Anfang, unendlich viel bleibt noch zu tun. Kaum hundert Jahre sind ja vergangen, seit organische Stoffe synthetisch hergestellt werden. Trotz ungeheurer Fortschritte ist unsre Behandlung von natürlichen Rohstoffen noch so unvollkommen wie ihre Verbesserung durch künstliche. Aber seit der Göttinger Chemiker Friedrich Wöhler 1828 als Achtundzwanzigjähriger aus einer anorganischen Substanz, aus zyansaurem Ammonium, synthetisch Harnstoff herstellte, seit die Grenze zwischen s organisch- und sanorganische fiel, hat man mehr als dreihunderttausend organische Stoffe in ihrem chemischen Aufbau genau kennengelernt, stellt man acht- bis neuntausend dieser Stoffe technisch her. Seit Wöhler weiß man, daß nicht eine unbekannte s Lebenskraft s entscheidend für das Entstehen organischer Körper ist; seit Wöhler weiß man, daß nur eines die Menschheit daran hindert, alles synthetisch herzustellen, völlig unabhängig von allen Monopolen zu werden: der Mangel an Kenntnissen. Gewiß, völlig besiegt wird die Angst erst sein, wenn alles, was die Prometheus-Sage ausdrückt, überwunden ist: Prometheus brachte den Menschen das Feuer, das entscheidendste Zeichen der Zivilisation. Aber er mußte es den Göttern stehlen, wurde dafür von Zeus zu entsetzlichen Leiden verdammt. Immer noch ist die Menschheit in zwei Lager geteilt: die, die auf seiten des strafenden Zeus stehen, Prometheus als Tempelschänder, als Eindringling in geheiligte Gefilde betrachten, und jene, für die er der Lichtträger ist, der Märtyrer für die Rechte der Menschheit. Immer noch bringen Zeiten der Not, Krisen, wie die der Nachkriegszeit, eine Welle von Pessimismus mit sich, ein schlechtes Gewissen der Zivilisation, ein Ableugnen allen Fortschritts und Verzagen vor den immer neu sich auftürmenden Schwierigkeiten. Immer wieder fallen wir zurück auf die Stufe der Primitiven, deren ganzes Leben von Tabu umgeben ist, die jeder Schritt in verbotenes göttliches Gebiet führt. Wie Prometheus gemartert wird und Wotan sein Wissen mit einem Auge bezahlte, wie die alten griechischen Städte in ihre Mauern lebende Jungfrauen einschlossen, als Opfer für die frevelhafte Anmaßung, sich anders als durch Gottheiten schützen zu wollen, so stehen immer wieder Maschinenstürmer auf und

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WISSENSCHAFT

BRICHT MONOPOLE

Prediger einer Rückkehr zur Natur. Aber gerade die Gesetze dieser Natur leiten uns ja: alles was wir tun, ist ja nichts anderes, als uns der naturgegebenen Tatsache anzupassen, daß heute mehr als zwei Milliarden Menschen leben, wo vor tausend Jahren höchstens hundert Millionen lebten. Wir können nicht mehr zurück. Ob der Weg, den die Menschheit heute geht, auf- oder abwärts führt, was sein Ziel ist, das steht nicht zur Diskussion, solange es nur diesen einen Weg gibt. Zum Triumph ist deswegen ebensowenig Anlaß wie zum schlechten Gewissen. Mit dem Wissen wächst die Verantwortung; da der Kreis, den wir überblicken, immer größer wird, sehen wir auch immer deutlicher das Mißverhältnis zwischen Aufgabe und Erfüllung. Aber alle Schwierigkeiten dürfen die Dankbarkeit für das Erreichte nicht vergessen lassen. Die Geschichte der Menschheit ist eine lange Kette von Verzagen und Sichübernehmen. Aber ganz langsam kommen wir in hügeliges Gelände, das den Ausblick freier macht. Immer deutlicher sehen wir, daß die, die auf seiten Zeus' stehen und die Träger des technischen wie des politischen Fortschritts als Tempelschänder und Aufrührer gegen die geheiligte Ordnung behandeln, von diesen Aufrührern ernährt werden. Allen lebenden Wesen ist der Drang zur Vermehrung eingeimpft, aber auch die Gabe der Anpassung. Die, die Prometheus als Dieb hinstellen und seine Qualen als gerechte Strafe, vermehren sich wohl, aber sie passen sich nicht an. Sie fragen, wohin unser Fortschritt uns noch bringen wird, aber nur dank dieses Fortschritts haben sie ja zu essen. Wir brauchen nur den Weg der großen Forscher zurückzuwandern, um unzählige Beweise dafür zu finden. Tun es hier, nicht um uns an unserer Größe zu berauschen, sondern nur um Mut zu schöpfen für die Zukunft. Beginnen wir mit dem Kampf gegen den Hunger, mit der vielfältigen und vielverzweigten Geschichte des Kampfes gegen Klimamonopole, mit dem Kampf gegen die Verödung Europas ; denn nur zähes Ringen um Kenntnisse hat ja unseren Erdteil davor bewahrt, das Schicksal Arabiens, Nordpersiens oder Westturkestans zu teilen, die wie die meisten heutigen Wüsten Zentralasiens vor drei- oder viertausend Jahren noch blühendstes Ackerland waren. Durch Ausgrabungen und alte Berichte wissen wir ja, daß dort, wo heute ein paar armselige Beduinen leben, einmal die prächtigen

DER GEWALTIGSTE

ALLER SIEGE: SIEG üBER DIE ANGST

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Tempel, die riesigen Städte der Assyrer und Babyionier standen, die vom Getreide der umliegenden reichen Ebenen lebten. Wir wissen aus Funden von Goldschmuck und Ackerbaugeräten, aus versunkenen Vorratshäusern, daß vor gar nicht langer Zeit die heute nur aus Steppen und Urwald bestehende Halbinsel Yukatan, daß große Teile Zentralamerikas zu den reichsten Ackerbaugebieten der Erde zählten, daß dort Mais wuchs, dessen Kolben dreimal so schwer als die unserer Arten wurden, daß es dort braune und hellblaue, weiße und gelbliche Baumwolle gab. Die blühenden Kulturen Arabiens und Mesopotamiens versanken, als der Boden zu arm wurde, um die rasch steigende Bevölkerung zu ernähren, als die Not zu Revolten und Krieg führte, als der Krieg die Bewässerungsanlagen vernichtete. Manche der durch Hunger vertriebenen asiatischen Völker gründeten neue Reiche, wie das der Sarazenen, wie das osmanische; die meisten aber verschwanden, sind heute vergessen wie die Länder, die sie einst bebauten. Wer hat Europa davor bewahrt, sich ebenfalls in Wüsten, in Steppen, Weiden oder Urwald zurückzuverwandeln? Wie kann, trotz unglaublicher Zunahme der Bevölkerung, Europa sich noch immer ernähren? Warum sind nicht längst all unsere Bauern in die unendlich weiten, fruchtbaren Kornebenen Amerikas und Kanadas, Australiens und Argentiniens gezogen, wie gegen Ende des zweiten Jahrhunderts Zimbern, Teutonen und Ambronen von den zu arm gewordenen Feldern Nordschleswigs und Jütlands kämpfend nach Süden wanderten?

ZWEITES

EUROPAS

KAMPF

Die Erweiterung Liebig

EUROPAS KAMPF GEGEN DEN HUNGER

KAPITEL

GEGEN

DEN

des Lebensraumes

HUNGER von

bis zur Bodenbiologie

Wir wissen nicht genau, ob vor zehn- oder vor zwanzigtausend Jahren unsere Vorfahren begannen, Samenkörner in die Erde zu scharren, den Boden zu bebauen, statt als Jäger, später als Nomaden zu leben. Wir wissen nicht, wann sie begannen, Gemeinschaften zu bilden, statt, wie es die großen Affen heute noch tun, vereinzelt und ungesellig herumzuwandern, weil jede kleine Gruppe weite Wälder oder Weiden brauchte, um genug Nahrung zu finden. Wir wissen allein, daß es sehr lange, daß es viele Jahrtausende dauerte, bevor die Menschheit den vollen Zusammenhang zwischen Saat und Ernte begriff, daß es weitere Jahrtausende dauerte, bevor sie entdeckte, daß das Wetter sich regelmäßig ändert, es einen Zyklus, ein Jahr mit Jahreszeiten gibt, daß es unendlich lange dauerte, bevor man die richtige Zeit zur Aussaat fand. Um diesen Zeitpunkt nicht zu verpassen, waren dann Tempel und Priester nötig - die ersten Astronomen, denn Kalender gab es ja nicht, Kalender sind eine verhältnismäßig sehr neue Erfindung-, um die Götter zur Förderung der Saat zu bewegen, waren überall Menschenopfer üblich. Selbst als die Zeit der Saat und der Ernte dann aber in allen Kulten durch Opfer und Dankfeste geregelt war, blieb Ackerbau eine völlig empirische, eine vom Zufall so abhängige Ernährungsart wie Jagd und Viehzucht. Nachdem sich der Ackerbau jahrtausendelang nur in den Überschwemmungsgebieten der großen Flüsse erhielt, es nur am Nil, am Euphrat und am Tigris regelmäßig bebaute Felder gab, dort also, wo der Boden durch Neulandschlamm alljährlich aufgefrischt wurde, gab es später nur ausreichende Ernten, wo man Urwald frisch gerodet, oder wo der Boden sehr lange brachgelegen hatte. Seit die Menschen Ackerbau außerhalb der Flußdeltas betrieben, machte sich die Erschöpfung des Bodens bemerkbar, bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aber fand man keine Erklärung dafür. Der Boden trug Früchte, die Sonne ließ das Korn reifen, wie und warum aber, das blieb in völliges Dunkel gehüllt. Homer gab schon in der Odyssee Ratschläge zur Verbesserung des Bodens.

Irgendwo hatte ein Bauer gefunden, daß Holzasche den Ertrag steigert; die Chinesen verwendeten menschliche Exkremente und Knochenasche zur Düngung, man brachte manchmal den Stallmist auf die Felder, um ihn .Ios zu sein. Als die ersten Bauern nach Neu-England kamen, lernten sie von den Indianern, als Opfer für den s Großen Geist« Fische in jedes Kornfeld vergraben. Sie düngten so mit Fischphosphor, wie die Alten mit dem Blut der geopferten Hekatomben oder dem Blut menschlicher Opfer ihre Äcker auffrischten. All das aber wurde im Aberglauben und völlig zufällig, mit durchaus zufälligem Erfolg, getan. Im großen wurde der unangenehmen Tatsache, daß der Ertrag des Bodens bei jeder Ernte abnahm, nur dadurch Rechnung getragen, daß man Neuland zu erobern suchte, durch Krieg oder Völkerwanderungen auf Felder und Weiden zu kommen trachtete, die noch unerschöpft waren. Jahrtausendelang trieb man Raubbau, schöpfte man aus dem vollen. Und für die wenigen Menschen, die es zu Anfang der europäischen Geschichte gab, war das ja auch das Einfachste, ihnen mußte ja der Vorrat an jungfräulicher Erde unerschöpflich scheinen. Immer neue Wälder brannten sie nieder, aber schließlich war doch die Grenze erreicht. Kurz vor dem Dreißigjährigen Krieg war ganz Mittel- und Westeuropa besiedelt. Dieser Krieg ließ dann dort, wo bei seinem Ausbruch fünfundzwanzig Millionen Menschen gelebt hatten, vier Millionen zurück, er schob die Folgen der Bodenverarmung hinaus. Bald aber gab es wieder mehr Menschen in Europa als Neuland, obgleich man Ungarn von den Türken befreite, Hunderttausende der besten Deutschen Siebenbürgen besiedelten, mit dem Schwabenzug die Zeit der großen Auswanderung begann; obgleich man nach Osten vorstieß, reichten die Ernten Europas bald nicht mehr aus, um den Hunger zu bannen. Und wie immer führte Unkenntnis zu Krieg und Blut und unvorstellbarer Not. Jedes Land versuchte auf seine Art, sich gegen die Verarmung zu wehren; wo Eisen und Kohle gefunden wurden, versuchte' man, durch Industrie die Ernten zu ergänzen, durch Handel Brot zu verdienen. Aber das brachte ja im besten Fall eine Verschiebung. Brot konnte man ja auch mit Industrieartikeln und mit Handelsgewinnen nur so lange bezahlen, wie es Brot gab. Das rasche Anwachsen der Städte linderte die Not nicht, verschlimmerte sie nur.

2.6

WISSENSCHAFT

BRICHT MONOPOLE

Je ärmer die Felder wurden, desto mehr Bauern flüchteten in die Städte; jetzt fiel der Ertrag auch noch durch Mangel an Arbeitskräften. Die Dörfer verödeten. Dafür verschlang allein Paris zu Ende des 18.Jahrhunderts jährlich vierzig Millionen Liter Wein, der die beste und fetteste Erde aussog, hunderttausende Kilo Schmalz und Butter wurden in Pomaden und Seifen verwandelt; da man damals mit Eiweiß appretierte, wurden jährlich rund zehn Millionen Eier in die Kloaken gespült. Ungeheure Mengen von Lebensmitteln brauchten die großen Städte, und jetzt blieb nicht einmal mehr ihr Abfall auf den Feldern, der wurde ja in die Flüsse gespült, vergiftete die Fische ... Wie Geschwüre sogen die Städte alle Kraft an sich, verwandelten sie alles in Eiter. Mit den Steuern der Bauern wurden Theater errichtet, in die der Bauer nicht kam, Museen, die er nie betrat, Universitäten erhalten, die nicht für ihn arbeiteten, die sich erhaben dünkten über den Acker und seine Geheimnisse, die Philosophie und Theologie trieben und auf die schüchtern sich regende Naturwissenschaft mit Verachtung und Hohn herabsahen. Und selbst als man sich dann mehr und mehr mit der Nahrung der Maschinen, mit der Kohle, mit Bergbau und Metallurgie beschäftigte, regierte völlige Unwissenheit die wichtigste aller Industrien: die Herstellung des Brotes. Unwissenheit rächt sich bitter, und so wurden die englischen Slums immer entsetzlicher, so kam die Französische Revolution, die wie die rasche Kolonisation Kanadas, Amerikas und Australiens zu einem nicht geringen Teil auf die Unkenntnis der chemischen Vorgänge im Ackerboden zurückgeht. Und während England das Problem durch Handel und Maschinisierung zu lösen suchte, während die hungernden Massen Frankreichs glaubten, satt zu werden, wenn sie die Reichtümer des Adels verteilten, fanden sich auch immer mehr Philosophen, die durch Ideen die Not lindern wollten. Man predigte den Imperialismus, behauptete, man müsse den Naturmenschen ihr Land wegnehmen, durch Kolonien die Nahrungsbasis der Mutterländer vergrößern. Man predigte, Krieg sei gottgewollt, nur durch viele Kriege könne man der Übervölkerung vorbeugen. Sekten wurden gegründet, die Enthaltsamkeit vorschrieben, damit nicht immer neue Kinder den Hunger noch verschärften. Schließlich schrieb der englische Pfarrer Robert Malthus 1798 ein Buch, das all die Angst vor dem Hunger in eine einzige

EUROPAS KAMPF GEGEN DEN HUNGER

2.7

düstere Prognose zusammenfaßte : die Lebensmittel ließen sich nur in arithmetischer Steigerung vermehren, Felder könne man nur aneinanderreihen, also addieren. Die Menschheit aber vermehre sich in geometrischer Progression, jedes Kind wird wieder Vater oder Mutter, die Menschheit wachse durch Multiplikation. Der Boden verarme noch dazu mit jeder Ernte mehr. Bald also werde ein Teil der Menschheit keinen Platz auf der Erde haben. Nur eine Rettung gäbe es: keine Kinder mehr. Die LehrenMalthus' wurden nur zu gern geglaubt. Die s Malthusianer«, die sie befolgten, wuchsen überall in Europa zu starken Gruppen. Unzählige von Malthus inspirierte Schriften kündigten das Ende der Welt an; eine Periode der Unrast, des Kampfes, der Verzweiflung begann. Während die Schwachen in die Kirchen liefen, der Mystizismus eine Blüte erlebte wie der Glaube an die Maschinen, wanderten die Starken aus, besiedelten die tüchtigsten Bauern Europas das Neuland in Übersee. Vierunddreißig Millionen Europäer gingen zwischen 1820 und 1921 nach Amerika. Trotzdem aber wurde der Hunger in Europa immer fühlbarer. Die neuen Kolonien lieferten noch nichts, im Gegenteil, sie mußten noch von Europa miterhalten werden; bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verschlechterte die Kolonisation die Nahrungsmittellage Europas, entzog sie der Alten Welt Kraft. Als im Mai 1803 dem Darmstädter Farbenhändler Johann Georg Liebig ein Sohn geboren wurde, waren die Befürchtungen, die Malthus' Lehre hervorgerufen hatte, noch sehr lebhaft im Bewußtsein Europas ; sie blieben es, während dieser Sohn Justus aufwuchs und mit den Drogen und Chemikalien des Vaters herumexperimentierte ; man diskutierte sehr heftig über sie, als Justus Liebig mit einem Stipendium nach Paris an die Sorbonne ging, und die Angst, daß ein Teil der Menschheit bald keinen Platz mehr auf der Erde finden würde, steckte ihn an wie die meisten verantwortungsbewußten Menschen seiner Zeit. "Alles, was wir tun «, schrieb er später an seinen Freund Wöhler, salles, was wir schaffen und entdecken, scheint mir unbedeutend gegen das, was der Landwirt erzielen kann. Unsre Fortschritte in Kunst und Wissenschaft vermehren nicht die Bedingungen der Existenz der Menschen, und wenn auch ein kleiner Bruchteil der menschlichen Gesellschaft an geistigen und materiellen Lebensgenüssen gewinnt, so bleibt die

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WISSENSCHAFT

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Summe des Elends. in der großen Masse die nämliche. Ein Hungernder geht nicht in die Kirche, und ohne ein Stück Brot geht kein Kind in die Schule. Der Fortschritt des Landwirts hingegen lindert die Not und die Sorge der Menschen und macht sie empfindungsfähig und empfänglich für das Gute und Schöne, was Kunst und Wissenschaft erwerben, und gibt unseren Fortschritten erst den Boden und den rechten Segen ... « Während die andern aber immer nur redeten, hatte Justus Liebig, lange bevor er dies schrieb, den Bauern schon die Waffen in die Hand gegeben, um die Prophezeiungen Malthus' als falsch erkennen zu lassen. Liebig hatte sich nicht mit der seit Jahrtausenden als naturgegeben betrachteten Tatsache abgefunden, daß die Felder immer ärmer wurden, sondern er hatte wissen wollen, warum. Er hatte in Paris schon, wo der Botaniker de Saussure ähnliche Wege ging, unzählige Versuche angestellt, hatte, als er dann auf die Fürsprache Alexander von Humboldts und Gay-Lussacs hin vierundzwanzigjährig Chemieprofessor in Gießen wurde, Tag und Nacht Bodenanalysen gemacht und schließlich 1840 beweisen können, daß neben Luft und Wasser vier Stoffe unentbehrlich für das Leben aller Pflanzen sind: Stickstoff, Phosphorsäure, Kali und Kalk. Er hatte ausgerechnet, wieviel dieser Stoffe durch jede Ernte dem Boden entzogen wird, hatte durch Verbrennung von Weizen und Roggen, Mais und Hafer nachgewiesen, daß sie Phosphor, Kali und Kalk in ihrer Asche enthalten. Nun, da man endlich wußte, warum der Boden arm wird, konnte man auch ersetzen, was man ihm nahm, konnte man ihn auch wieder reich machen. Die Agrikulturchemie war begründet, der erste wirksame Schritt gegen den Hunger, gegen Revolution und Krieg getan. Nach Jahrtausenden des Ungewißseins konnte man darangehen, Pflanzennährstoffe herzustellen, den Bodenertrag zu steigern. Nach der Veröffentlichung von Liebigs Schrift über die Chemie des Bodens hätte man darangehen können. Aber zuerst mußte, wie immer, der Forscher einen erbitterten Kampf gegen Vorurteil und Festhalten an ererbten Anschauungen auskämpfen, jahrelang mußte Liebig sich gegen höhnische Anfeindungen verteidigen. Um die ganze Größe Liebigs zu begreifen, muß man sich daran erinnern, daß er ja in der s guten alten Zeit« lebte, in der Biedermeierzeit, während der man romantische Ideale hatte, Weltschmerz

EUROPAS KAMPF GEGEN DEN HUNGER

beliebt war, daß er in der .Blütezeit des Partikularismus lebte. Während die Agrikulturchemie geboren wurde, reiste Friedrich List, der ~Deutsche ohne Deutschland «, von Fürstenhof zu Fürstenhof, umsonst für Niederlegung der inneren Zollschranken, umsonst für den Ausbau des Eisenbahnnetzes werbend. Als Liebig seine Bodenanalysen machte, gab es in Preußen vier Dampfschiffe und alles in allem vierhundertundneunzehn Dampfmaschinen; es gab noch keinen Koksofen in Deutschland, nur elf Maschinenspinnereien. Man t~ppte im übertragenen Sinn genau so im dunkeln, wie man es in Wirklichkeit tat, und wie Liebig alle analytischen Methoden selber hatte finden müssen, wie er zäh um jede einzelne wissenschaftliche Erkenntnis hatte ringen müssen, so mußte er jetzt noch zäher um die Anerkennung seiner Ideen kämpfen. Wie Galvani als »Froschtanzmeister« verhöhnt worden war und man Ohm totschwieg, wie man Fulton sagte, man käme eher zum Mond als s mit angewärmtem Wasser« - seinem Dampfboot Clairemont - über den Ozean, wie Walter Scott über Friedrich Winzer, der die Erlaubnis erhalten hatte, Gaslaternen in London aufzustellen, schrieb: s-Das ist nur ein Verrückter, der vorschlägt, Straßen mit Rauch zu beleuchten«, so nannte man auch Liebig einen Narren. Sein Kollege an der Universität Gießen, der Chemieprofessor Zimmermann, sperrte Liebig aus dem Laboratorium aus, Kollegen von der Rechtsfakultät zeigten Liebig höhnisch einen Zeitungsausschnitt über einen seiner Pariser Freunde, den Maler und Erfinder Daguerre. ~Flüchtige Spiegelbilder festhalten zu wollen«, stand da über die Photographie zu lesen, s dies ist nicht nur ein Ding der Unmöglichkeit, wie es sich nach gründlicher Untersuchung herausgestellt hat, sondern schon der Wunsch, dies zu wollen, ist eine Gotteslästerung. Man muß sich doch klarmachen, wie unchristlich und heillos eitel die Menschheit erst werden wird, wenn sich jeder für seine Goldbatzen sein Spiegelbild dutzendweise anfertigen lassen kann. Und wenn jener Musje Daguerre in Paris hundertmal behauptet, mit seiner Maschine menschliche Spiegelbilder auf Silberplatten festhalten zu können, so ist dies hundertmal eine infame Lüge zu nennen ... « Wenn es aber schon gottlos war, zu photographieren, wie gottlos war es dann erst, an der Scholle herumzudoktern, gottgeschenkte Ernten verbessern zu wollen?

WISSENSCHAFT

EUROP.A.S KAMPF GEGEN DEN HUNGER

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Alle Anfeindungen aber brachen Liebigs Energie nicht nieder, langsam fand er Anhänger, Mitarbeiter, langsam setzten seine Ansichten über die Vorgänge in der Pflanze sich durch. Nachdem Liebig selber versucht hatte, einen brauchbaren Kunstdünger zu schaffen, indem er Kalk, Kali und Phosphorsäure mit Salpeter zusammenschmolz, sie so aber unlöslich und damit unbrauchbar machte, errichtete 1843 der Engländer Lawes die erste chemische Düngemittelfabrik. Er behandelte Knochen mit Schwefelsäure und erhielt so Superphosphat; und damit begann ein ganz neues Zeitalter für den Ackerbau, ja für die Menschheit. Damit war die Entwicklung eingeleitet, die die Welternten um ein Drittel erhöhte, jährlich Mehrwerte schuf, die man vor dem Weltkrieg auf drei Milliarden Goldmark schätzte. Mit der praktischen Auswertung der Erkenntnisse Liebigs begannen die brachliegenden Felder zu verschwinden. Während im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert immer größere Ländereien für den Getreidebau zu arm geworden waren, ging im neunzehnten die Brache von 33 vom Hundert auf 41/2 vom Hundert zurück, statt der 18 Millionen Tonnen Getreide des Jahres 1885 erntete man in Deutschland 1910 rund 2.6 Millionen Tonnen, also um vierzig Prozent mehr. (I) Mit jedem Bauer, der sich zur Verwendung des Kunstdüngers entschloß, wurden die Befürchtungen des Reverend Malthus grundloser. Und schließlich war der große Sieg der Ackerbauchemie (I) Die jährlichen Durchschnittserträge für den Hektar bebaute Fläche betrugen in Deutschland: im Jahresdurchschnitt I8zo I879-I885 I885-I890 I900--I9IO I9I3 I930 I934 I935 I936

an Weizen

u,6 I5,I I9,3 z3,9 ZI,3 zo,6 ZZ,Z ZI,Z

an Kartoffeln an Roggen (Doppelzentner für ein Hektar) 80,0 roo.s u8,9 I58,6 I67,9 I60,9 I49,I I65,9

8,6 9,3 II,8 I5,8 I9,z I6,3 I6,9 I6,5 I6,4

In Amerika dagegen wurden infolge der geringen Anwendung von Kunstdünger nur gewonnen: IO,O I935 65,0 9,8

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nicht mehr anzuzweifeln: während Europas Bevölkerung um dreißig Prozent stieg, stiegen die Ernten um vierzig und fünfzig Prozent. Jetzt waren nicht nur ungeheure Werte geschaffen 1913 schon gewann man mit chemischem Nährstoff, der zwanzig Mark je Hektar kostete, Mehrerträge im Wert von sechzig Mark je Hektar, verzinste man also das in Kunstdünger angelegte Kapital mit zweihundert Prozent -, man schuf vor allem neuen Lebensraum. Jetzt erst war die Menschheit dauernd seßhaft geworden, erst jetzt, da man dem Boden zurückgeben konnte, was man ihm nahm, da Hunger den Bauern nicht mehr von seinem Land vertreiben konnte wie früher wilde Kriegerhorden, jetzt erst war die Menschheit von Nomaden zu Siedlern geworden, hörten die Völkerwanderungen auf, die, wenn sie auch nicht mehr so hießen, im neunzehnten Jahrhundert ja genau so weitergedauert hatten wie im vierten. Forschung hatte Brot für unzählige neue Millionen geschaffen. Direkt durch erhöhten Bodenertrag, durch die Steigerung der Welternten, die nach den Berechnungen Professor Albrecht Schmidts schon 192.8 um etwa 2.3 bis 2.4 Milliarden Goldmark mehr wert waren als die des Jahres 1888; indirekt auch noch durch eine Reihe neuer Industrien, die heute zu den bedeutendsten der Erde gehören, die 192.8/2.9 Düngemittelim Wert von etwa 31/2 Milliarden Goldmark herstellten. Liebig machte nicht nur aus Bauern, die zu arm waren, um Zucker zu kaufen, die mit Honig ihre Speisen süßten wie vor tausend Jahren, aus Bauern, die ihre Kleider selber weben mußten, weil sie zu arm waren, sie zu kaufen, neue Kunden für die aufstrebende Industrie Europas, er schuf nicht nur eine ganz neue, gewaltige Käufermasse, sondern legte auch den Grund zur Kaliindustrie, zur Phosphat- und Stickstoffindustrie. Gewiß, damit begann auch wieder neuer Kampf, neues Suchen und Forschen; jetzt, da man endlich wußte, welche Stoffe unentbehrlich für die Pflanzen sind, mußte man ja auch versuchen, sie in großen Mengen billig herzustellen, und zur Zeit Liebigs verstand man das nur bei einem chemischen Düngemittel, beim Kalk. Kali gewann man damals nur durch Verbrennen von Seetang oder als Pottasche durch Verbrennen von Holz; Phosphor stammte fast ausschließlich aus Knochen, man hatte die Aufbereitung der in

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EUROPAS KAMPF GEGEN DEN HUNGER

der Natur vorkommenden Phosphate, des. Apatits und des Phosphorits, noch nicht recht gelernt. Aber eben dieses Suchen brachte auch ungeheuren Nutzen. Die meisten Steinsalzbergwerke zum Beispiel hatten über den Salzlagern bitter schmeckende Kaliumverbindungen vorgefunden; besonders in Staßfurt, in Mitteldeutschland, hatte man jahrzehntelang sich nicht gegen diese dicken Schichten wertlosen ~Abraumsalzes« zu wehren gewußt; fluchend hatte man sie auf immer riesigere Dimensionen annehmende Halden geworfen. Jetzt, da man wußte, daß Kalisalze für Pflanzen so wichtig wie Kochsalz für den Menschen sind, bekam dieser Abfall plötzlich Wert. Man begann, die Abraumsalze auszukochen, den Sud in riesigen Kristallisierräumen in Dünger zu verwandeln, langsam wurde in Staßfurt der Abfall wichtiger als das Steinsalz. Als der Holländer van't Hoff auch noch die wissenschaftliche Basis für eine moderne Kaliindustrie lieferte, klaren Einblick in die chemischen Vorgänge bot, durch die man Chlorkalium aus den Rohsalzen ausscheiden kann, da wuchs die neue Industrie rasch zu Weltbedeutung. Statt der 28000 Tonnen des Jahres 1890 verbrauchte 1929 allein die deutsche Landwirtschaft 870000 Tonnen Reinkali, heute beträgt der Weltverbrauch an Kali 2050000 Tonnen. 25 000 Arbeiter und Angestellte beschäftigt die deutsche Kallindustrie, 18000 die der anderen Länder, und während seit 1929 der Verbrauch sich verdoppelte, fielen die Preise auf die Hälfte, weil immer bessere Abbaumethoden, immer vervollkommnetere Löseprozesse gefunden werden (I). Parallel mit der Kallindustrie hatte sich die Phosphatgewinnung entwickelt, und besonders hier wird klar, wie neue Erkenntnisse weit über ihr eigentliches Gebiet hinausreichende Folgen haben.

Als die Agrikulturchemie sich durchsetzte, begann auch der Aufstieg der Metallurgie; während die Felder immer reichere Ernten trugen, entriß man auch den Minen immer neue Schätze. Stahl konnte man bis 1856 nur in Tiegeln herstellen wie die Inder, die noch zu Anfang des 19. Jahrhunderts den besten Stahl lieferten, für eine Tonne bis zu 150000 Mark bekamen. Man mußte, wie sie, kohlenstoffarmes Eisen mit pulverisierter Holzkohle sechs Wochen lang auf Rotglut halten, bis Bessemer die Stahlbereitung durch Einblasen von Luft in geschmolzenes Eisen erfand. Mit Bessemers Erfindung begann erst das Zeitalter des Stahls, jetzt erst konnte man billig und im großen aus nichtschmiedbarem schmiedbares Eisen machen, jetzt erst wurde die Massenherstellung von Trägern und Eisenbahnschienen möglich. Mit Bessemers Erfindung aber war auch ein neues Monopol geschaffen, denn nur phosphorarmes Eisen ergibt im Bessemerprozeß guten Stahl. Und praktisch besaß nur England solche phosphorarmen Erze. Während die junge Kunstdüngerindustrie noch nach billigem Phosphor suchte, wußte die ebenso junge Stahlindustrie Europas nicht, wohin mit dem Phosphor ihres Eisens. Aber wieder löste Forschung das Problem. Der junge Hüttentechniker Thomas, der in einer Londoner Abendschule leidenschaftlich Chemie studierte, fand 1879, daß man Bessemeröfen nur mit basischen Stoffen auszukleiden, daß man sie nur mit Ziegeln aus Kalkerde, Magnesia und Steinkohlenteer auszufüttern brauchte, um dem Eisen seinen Phosphor zu entziehen. Er brach damit Englands Stahlmonopol, machte mit einem Schlag alle deutsche und französische Minette ebenso wie die schwedischen Erze verwendbar und gewann dabei auch noch einen wichtigen Dünger, das sogenannte Thomasmehl. Während in den achtziger Jahren die kontinentale Eisenindustrie der englischen weit unterlegen war, hatte sie diese 1895 bereits überflügelt; statt der 2,2 Millionen Tonnen Flußstahl des Jahres 1890 erzeugt heute Deutschland fast 12 Millionen Tonnen im Wert von 563 Millionen Mark, um 3 Millionen Tonnen jährlich mehr als England. Durch die Einführung der Thomasschlacke sank der Preis für lösliche Phosphorsäure um die Hälfte; jetzt konnten auch kleinere Betriebe mit Phosphor düngen und so erst die anderen Kunstdüngemittel zur rechten Wirkung bringen. Von 358000 Tonnen im Jahre 1890 stieg der Thomasmehlverbrauch

(I) 1913 wurden pro Hektar in Deutschland 38 Kilo Kalidüngesalz gebraucht, 1929 62,5 Kilo, 1933 infolge des Niederganges der deutschen Landwirtschaft durch die Benachteiligung des damaligen Systems 47,5 Kilo. Die erforderlichen Mengen wären 100 Kilo, da eine mittlere Ernte dem Boden jährlich zwischen 50--25° Kilo Kali entzieht. In dem Appell Hermann Görings, dem Beauftragten für den Vierjahresplan, an die deutsche Landwirtschaft vom 23. März 1937 wurde eine um mindestens 30 Prozent steigende Anwendung des Kunstdüngers gefordert, jedoch erwartet, daß der Absatz ein wesentlich höherer sein wird. Die Preise für Kali wurden vom 16. Mai 1937 um 25 Prozent gesenkt, die für Stickstoffdünger rückwirkend vom I. Januar des gleichen Jahres um 30 Prozent.

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WISSENSCHAFT BRICHT MONOPOLE

auf 2.1/2 Millionen Tonnen im Jahre 1930, auf über 3 Millionen im Jahre 1936 (I), und durch seine Verwendung konnte Moor und Heideland ertragreich gemacht werden, das bisher als unverwendbar galt. Mit der Gewinnung der Thomasschlacke war das Phosphorproblem für die Landwirtschaft gelöst wie das Kaliproblem. Luftstickstoff

beendet

den Salpeter krieg

Kali, Kalk und Phosphor dem Boden rückzuerstatten, das bedeutete einen ungeheuren Fortschritt, aber es fehlte nun doch noch das Wesentlichste, es fehlte noch der Stickstoffdünger. Stickstoff findet sich in unerschöpflichen Mengen in der Luft. Auf die Idee, ihn der Luft zu entziehen, kam man aber zur Zeit Liebigs nicht, die Luft blieb ungenutzt wie das Wasser, unerschlossen, wie heute noch zum Großteil die Sonnenenergie unerreichbar ist. Stickstoff in löslicher Form konnte man den Pflanzen damals nur durch Stalldünger, durch Vogelmist, den Guano, oder in Form von Salpeter zuführen. Guano in wesentlichen Mengen aber gibt es nur in Peru und auf einigen Inseln nahe der Westküste Afrikas; für die Düngung brauchbaren Salpeter, salpetersaures Natron, hatte man nur im damaligen Bolivien und Chile gefunden, auf dem trockenen, menschenleeren Hochland zwischen der Kordillere und dem Pazifischen Ozean, das etwa beim 18. Grad südlicher Breite beginnend sich bis zum 2.6. Grad hinzieht. Der Großteil dieser salzglitzernden Wüsten, in deren Boraxseen sich schneebedeckte Vulkane spiegeln, etwa 600 Kilometer Küstenlinie eines Landes, das bis zu Liebigs Arbeiten gemieden war wie die Sahara, gehörte also Bolivien, der kleinere Teil Chile; aber als die Agrikulturchemie siegte, Salpeter plötzlich wichtig wurde, (1) Nach dem Office Chcrifien des Phosphates steigerte sich der Phosphatverbrauch in Europa folgendermaßen: Frankreich, dessen Verbrauch 1929 mit 1,7 Millionen Tonnen der größte der Welt war, wies zwar 1936 gegenüber dem Vorjahr einen um 130000 Tonnen vermehrten Absatz auf, lag jedoch mit insgesamt 937000 Tonnen weit hinter dem Vorkrisenstand zurück. Zudem wurde es von Deutschland überholt, das 1936 infolge des verstärkten Düngereinsatzes einen Verbrauchszugang von 300000 Tonnen aufwies und mit 1,06 Millionen Tonnen an die erste Stelle im europäischen Verbrauch gerückt ist. Dicht nach Frankreich folgt heute Italien mit einem Zuwachs von 146000 Tonnen oder 20 Prozent und einem Gesamtverbrauch von 794000 Tonnen.

Rieseltürme im Ammoniakwerk Merseburg. 'Der unten im Bild sichtbare Mann läßt die Größe dieser technischen Anlage erkennen.

EUROPAS

Einer der gewaltigen

Silos für den Stickstoff-Dünger

eine halbe Million Tonnen Landwirtschaft

werden

unentbehrlich

des Werkes Oppau.

heute in Deutschland gewordenen

Rund

von diesem für die

Dünger hergestellt.

KAMPF

GEGEN

DEN HUNGER

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waren es zuerst die Chilenen, die den Wert eines Salpetermonopols begriffen. Sie sandten als erste Ingenieure in die Salpeterpampas. sprengten überall den Salpeter aus den Felslöchern, in denen er saß, bauten »Officinas«, Fabriken, die den Salpeter auskochten, den Sud in riesige Eisenbassins leiteten, ihn hier auskristallisieren ließen. Die Chilenen taten das zuerst: überall blitzten bald die weißen, salzüberkrusteten Salpeterbecken in der klaren Luft der südlichen Atacarna, immer mehr Salpeter wurde ausgeführt, und schließlich ließen sich chilenische Firmen von der bolivianischen Regierung auch noch eine Konzession zur Ausbeutung der nördlichen Atacama geben. Sie förderten dort so viel Salpeter und Guano, verdienten so unglaublich viel Geld, daß den Bolivianern der Handel bald leid tat, daß sie Ausfuhrzölle einführten. Die Chilenen protestierten. Und als das nichts half, kam es zum l> Salpeterkrieg«. Statt um Neuland, führte man nun um Dünger Krieg. Am 14. Februar 1879 besetzte Chile Antofogasta, den bolivianischen Hafen, der den meisten Salpeter nach Europa verschiffte; als Peru sich einmischte, Boliviens Verbündeter, erklärte Santiago auch Peru den Krieg. Es gab für Chile siegreiche Seegefechte, Chile eroberte Tacna und Arica, es schlug zwei Jahre lang immer wieder seine Gegner, eroberte schließlich sogar Callao und Lima, zwang Bolivien, sein gesamtes Küstengebiet abzugeben, nahm ihm den Zugang zum Meer und seinen Salpeter. Und als es dann ein fast absolutes Monopol für Salpeter hatte, nützte es dieses Monopol natürlich aus. Der Krieg hatte viel Geld gekostet, und so erhöhte man natürlich die Ausfuhrzölle: Salpeter wurde immer teurer. Allein Deutschland mußte 1913 170 Millionen Mark für Chilesalpeter bezahlen. Und neben den finanziellen Lasten, die das chilenische Monopol Europa aufbürdete, gab es bald noch schwerere Sorgen: jetzt, da man endlich die Landwirtschaft zur allgemeinen Anwendung chemischen Düngers gebracht hatte, drohte Stickstoffnot; nicht nur jede südamerikanische Revolution konnte die Salpeterlieferungen zum Aufhören bringen, die Lager wurden auch sichtlich kleiner. Der Stickstoffverbrauch nahm so rasch zu, daß der Ammoniakdünger, den man als Nebenprodukt der Gasfabrikation zu gewinnen begann, kaum eine Rolle spielte, daß man sich an den fünf Fingern ausrechnen konnte, wann Chiles Lager erschöpft sein würden. Wie sZI·WI·X

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Malthus eine völlige Erschöpfung des Bodens prophezeit hatte, so prophezeite hundert Jahre später Sir William Croockes auf der Konferenz der British Assbciation des Jahres 1898 die Erschöpfung des Naturvorrates an Nitraten. Er wies nach, wie der Weizenbedarf immer mehr steige und gerade Weizen besonders viel Stickstoff brauche, wie sehr bald also schon die Arbeiten Liebigs wertlos werden würden, wenn man nicht neue Stickstoffquellen finden sollte. Während Malthus aber nur Unheil malte, zeigte Sir William Croockes auch gleich einen Ausweg: als erster schlug er die Gewinnung von Stickstoff aus der Luft vor, die doch achtundsiebzig Prozent davon enthält. Eindringlich machte er auf die Versuche Lord Rayleighs aufmerksam, der einige Jahre früher nachwies, daß bei jeder elektrischen Entladung in der Luft sich Stickoxyde bilden, die unter gewissen Bedingungen isoliert werden könnten. Zwischen der Idee und der industriellen Verwirklichung allerdings lagen ungeheure Schwierigkeiten; bevor das Salpetermonopol Chiles gebrochen werden konnte, mußten Dutzende von Forschern noch einen sehr weiten, sehr mühseligen Weg gehen. Um den Stickstoff der Luft zu gewinnen, mußte man riesige Umwege gehen, vor allem einmal die Elemente stimulieren, sie aktiv, angriffslustig, vereinigungsbereit machen; da mußte man vor allem einmal den Geheimnissen der Katalysatoren nachspüren, sich mit dem Platin und dem Eisen verbünden. Seit langem gibt es zum Beispiel einen Zündholzersatz, einen Holzgriff mit einer winzigen Platinspitze, und wenn man die in das Gasluftgemisch hält, das Gasherden entströmt, so glüht das Platin auf, entzündet es das Gas. Man weiß heute noch nicht, warum, weiß nur, daß das Platin »anregt«, selber dabei aber völlig unverändert bleibt. Man kannte andre Fälle der »Anregung« einer chemischen Reaktion, aber erst Professor Walther Nernst und später Fritz Haber, der sich zuerst mit Elektrochemie beschäftigte, dann in Karlsruhe sein grundlegendes Werk über die )}Thermodynamik technischer Gasreaktionen« herausbrachte, hatten die Idee, mit Hilfe von Katalysatoren den reaktions trägen Luftstickstoff zu binden: elf Jahre lang spürte er allen Reaktionen des Stickstoffs nach. Und während durch die Entwicklung der Elektrotechnik, durch den Ausbau billiger Wasserkräfte die Forschungsergebnisse realisierbar wurden, die die Umwandlung von Luft in

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Salpetersäure durch den elektrischen Lichtbogen vorsahen, während man Kalkstickstoff aus Kalziumkarbid und Luft gewann, gelang es Haber 19°8/°9, den Luftstickstoff auf noch bessere Art zu zähmen. Mit Hilfe eines solch geheimnisvollen Reaktionsmi'l:tlers erzwang er bei hohen Drucken und Temperaturen nahe der Rotglut die Vereinigung von Stickstoff und Wasserstoff zu Ammoniak. Während Wasserstoff und Stickstoff bei gewöhnlicher Temperatur und ohne Katalysator sich umeinander überhaupt nicht kümmern, vollzog sich jetzt in Habers Gasdruckofen die gewünschte Reaktion. Ohne daß irgendwelche Veränderungen an den Katalysatoren beobachtbar gewesen wären, hatte man nun plötzlich aus Luft Stickstoff gemacht (1). Gewiß, ganz so einfach, wie sich das hier liest, ist der Vorgang vielleicht doch nicht, vieles ist noch unbekannt, vor allem war auch vom ersten kleinen Versuchsofen bis zu den Werken in Oppau und Leuna noch ein weiter Weg. Ammoniak aus Luftstickstoff wäre vielleicht ein Laboratoriumsprodukt geblieben, wenn der Forscher nicht einen Techniker gefunden, wenn Professor Haber in Geheimrat Bosch nicht einen Verbündeten erhalten hätte, der seine Methode für den Großbetrieb reif machte, der in jahrelanger Arbeit Apparate schuf, die auch bei Rotglut von Wasserstoff nicht zerstört werden und dabei zweihundert Atmosphären Druck aushalten. Nur durch die engste Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftler und Techniker entstanden die gewaltigen Stickstoffabriken, deren Kühltürme haushoch in den Himmel ragen, deren Rohrleitungen Labyrinthen gleichen, die Dutzende von Kilometern Werksbahnen haben. Nur durch ungeheure technische und organisatorische Leistungen gruppierten sich um die Druckkessel Habers die Riesenanlagen, die nicht nur den Inlandbedarf Deutschlands an Stickstoffdünger von 92.0000 Tonnen im Jahre 1913 auf 2. Millionen 2.50000 Tonnen im Jahre 1936 steigen ließen, die nicht nur die Einfuhr von Chilesalpeter von 170 Millionen Mark im Jahre 1913 auf 8 Millionen im Jahre 1933 herabdrückten, sondern das Salpetermonopol Chiles überhaupt brachen. Während - auf reinen Stickstoff umgerechnet - 1903 der Welt (1) Wilhe1m Ostwald gelang es dann, durch katalytische Verbrennung von Ammoniak mit Luft Salpetersäure zu erzeugen; Birkeland-Eyde und Schönherr zeigten die Verbrennung von Luft zu Salpetersäure im Lichtbogen-Ofen.

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nur 352000 Tonnen Nitrate zur Verfügung standen und all dieser Stickstoff aus natürlichen Vorkommen stammte, gab es 1933/34 1787000 Tonnen Stickstoff, und von dem stammten 95,2 Prozent aus chemischen Fabriken; kaum ein Zwanzigstel des Weltverbrauchs wurde jetzt durch Chile gedeckt, Dreiviertel allen Stickstoffs stammte jetzt aus der Luft (I). Aus den kleinen Ammoniakfabriken in Oppau, wo das Haber-Bosch-Verfahren 1914 zum erstenmal industriell verwertet wurde, wuchsen die Riesenanlagen der 1. G. Farben, die Leunawerke bei Merseburg entstanden, Luftstickstoffabriken in England und Amerika, Frankreich und Japan wurden errichtet. Heute finden in Deutschland (I) Nach dem Frankfurter stoffgewinnung:

Handelsblatt

I

in rooo t N Deutschland England. Norwegen Frankreich Belgien Holland. Polen. Tschechoslowakei Schweiz . Italien. Japan . USA.

,

1925

Stick-

1929

1936

5 17 33 98

750 197 45 75 39 12 48 22 2 48 63 260

865

1672

45° 88 20 33 14 8 20 6

Welt

beträgt die synthetische 1932

1931 448 139 72 71 48 77 35 19 0,4 57 133 164 1318

45° 164 62 83 51 7° 28 13 0,6 58 148 147 1336

2388

Deutschland hat eine Produktionskapazität von 1,5Millionen Tonnen Rein-Stickstoff und könnte also den gesamten StickstofIbedarf der Welt allein decken. Verteilung 1913-14

1925-26 in in looot %

in t) in

rooo t

0/0

Chilesalpeter . Künstl. Stickstoff

402/53>9 344 46,1

zusammen. Verbrauch.

7461100 -

der Weltproduktion

I

399 935

1928-29 in in rooo t

29,9 49° 7°,1 1623

13341100 1258 -

% 21,2 78,8

2I13 100 1872 -

1931-32 in in rooo t

%

17° 10,7 1415 89,3 1585 1555

100

-

1933-34 in

in

rooo t

%

85 17°2

4,8 95,2

1787 100 1863 -

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zweihunderttausend Menschen durch die Luftstickstoffindustrie Brot; in kaum zwei Jahrzehnten wurden buchstäblich aus der Luft Güter im Werte von vielen Milliarden geschaffen. Nicht ohne Kampf allerdings, denn Chile verteidigte sein Monopol; oder besser, die amerikanischen Milliardäre verteidigten es, die langsam fast alle wichtigen chilenischen Minen an sich gebracht hatten. Gezwungen durch die Konkurrenz des Luftstickstoffs, begannen die Guggenheims neue Abbauverfahren einzuführen. Jetzt sprengte man nicht mehr den Salpeter in die Luft, sondern setzte die Pampa unter Wasser, jetzt spülte man das Salz mit Druckwasser aus dem Boden, erzielte auf kaltem Weg billiger und rascher höhere Erträge. Trotzdem aber gewann der synthetische Stickstoff Markt auf Markt. Wozu Salpeter aus Chile holen, wenn er überall in der Luft war? Chiles Ausfuhrzölle sanken, Chile, das durch den Salpeter reich geworden war, dessen Salpeterkönige prachtvolle Schlösser an der Riviera, Paläste in Paris besaßen, Chile, das mit den Salpeterzöllen feenhafte Straßen gebaut hatte, Spielkasinos und Wolkenkratzer, wurde jetzt durch den Luftstickstoff arm. Wurde es arm? Es wurde arm, solange es sich nicht umstellte; und da gab es Revolutionen - sechs allein im Jahre 1932 -, gab es Not und Blut. Aber als dann die Chilenen sich auf ihre anderen Schätze besannen, als das lange vergessene Kupfer der Kordillere Geld brachte und man den Ackerbau intensivierte, Fruchtplantagen anlegte und Viehzucht trieb, da erwies sich auch, daß Naturrohstoff und synthetisches Produkt sehr wohl zusammenzuarbeiten vermögen. Im Fall des Luftstickstoffs wurde erwiesen, was sich bald vielleicht schon für Kautschuk und Textilrohstoffe erweisen wird; daß ein Land, das durch seine Naturschätze reich wurde, durch deren synthetische Herstellung nicht ruiniert zu werden braucht, daß auf die Ausnutzung eines Naturvorteils nicht Todesstrafe steht. Als der Widerstand der Chilenen gebrochen war, Luftstickstoff Europa unabhängig von den Salzpampas Südamerikas gemacht hatte, als Gleichberechtigung an Stelle voller Abhängigkeit getreten war, da begannen 1928 auf einem Adriadampfer die Verhandlungen zur Gründung eines internationalen Stickstoffkartells, da begann man, Chiles Lebensrecht ebenso zu verbriefen wie das

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Recht der europäischen Bauern auf billigen Dünger. Mehrfach scheiterten die Unterredungen; seit 192.8 gab es oft wieder Kampf zwischen Naturprodukt und synthetischem Stoff, aber Ende 1935 war dann doch ein festgefügtes Gebilde geschaffen: Staat und Privatwirtschaft arbeiteten überall zusammen, um dort, wo die Verwendung des Chilesalpeters durch kurze Frachten logischer ist, wo der Transport von Luftstickstoff ihn unrentabel machte, das Naturprodukt herrschen zu lassen, dort, wo der chemische Stoff angebrachter ist, die Konkurrenz des Chilesalpeters auszuschalten, ruinöse Preiskriege zu vermeiden. Der Stickstoffpakt sichert heute Chile einen jährlichen Absatz von einhundertsechzigtausend Tonnen Salpeter, er sichert so dem chilenischen Staat die wichtigsten Steuern, gibt Chile Zeit zur Umstellung. Wirtschaftspolitisch wie technisch ist heute das Stickstoffproblem gelöst. Damit aber ist nicht nur das Salpetermonopol Chiles gebrochen; durch die Agrikulturchemie, durch die Erschließung der unerschöpflichen Nährstoffreichtümer der Luft war vor allem ein noch weit gefährlicheres Monopol verhütet worden: das Weizenmonopol, die Vorherrschaft der Kolonialländer auf allen Getreidemärkten. Durch die Bodenchemie wurden Abwanderung von Geld und Kraft, wurden Landflucht und das Veröden weiter Landstriche Europas verhindert; durch Liebig und seine Nachfolger blieb den alten Kulturländern eine Nahrungsbasis, ohne die sie früher oder später hätten zu Sklaven werden müssen, denn das Getreide Kanadas und Australiens, das Vieh der La-Plata-Staaten, die Wolle des menschenarmen Australiens standen Europa ja nur so lange zur Verfügung, als es sie kaufen konnte; solange es mit Industrieprodukten zahlte, die die andern aber ebenso gut herstellen können, die die Rohstoffländer nur nehmen, solange sie ganz wesentlich billiger als die im eignen Land hergestellten sind. Europa kann von fremdem . Brot leben, solange es dieses Brot mit Kenntnissen kauft, die die andern nicht haben. Sobald die andern diese Kenntnisse erringen, muß es sein Brot mit Schweiß und Blut bezahlen, mit Sklavenarbeit, die die Besitzer des Korns und des Fleisches nicht leisten wollen. Durch Liebig, Thomas, Haber und Bosch war Europa der Weg zur Freiheit gewiesen worden, ein Weg, um die Angst vor Hunger und Abhängigkeit zu bannen. Aber ging man ihn?

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Fortschritt Chemisches

gegen

Brot gegen

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Fortschritt: Maschinenbrot

All die Zeit über, während der Europas Chemiker und Techniker um neuen Lebensraum kämpften, waren in Amerika und Australien neue Felder entstanden, hatten die 880000 Europäer, die zwischen 1901 und 1910 alljährlich auswanderten, zu ernten begonnen, was die Auswanderer der Vor-Liebig-Zeit säten. Jetzt, da nach unendlichen Mühen Europa soviel Brot erzeugte, wie es brauchte, wollten die Überseeländer ihm ihren Weizen verkaufen, die aus Europa ausgewanderten Bauern die in Europa zurückgebliebenen ruinieren. Während die Chemiker die Jahrtausende gleichgebliebenen Düngemethoden grundlegend änderten, hatten Ingenieure die seit Jahrtausenden gleichgebliebenen primitiven Holzpflüge abgeschafft, endlich brauchbare landwirtschaftliche Maschinen konstruiert. 1730 hatten die Holländer, die damals allen anderen Völkern im Ackerbau weit voraus waren, den ersten Pflug gebaut, der ein Streichbrett besaß, der Furchen ziehen konnte. In Schottland wurden diese neuen holländischen Holzpflüge dann teilweise aus Eisen hergestellt, und 18°3 bekam Robert Ransome ein Patent für Pflugscharen, die man nicht mehr täglich zu härten brauchte. Schließlich baute 1819 der Quäker Jethro Wood in Amerika einen Metallpflug mit auswechselbaren Teilen. Damit war seit der Zeit der Ägypter der erste wesentliche Fortschritt in der Bodenbearbeitung getan: mit Woods Pflügen konnte man Neuland umbrechen, auf dem die Holzpflüge versagt hatten. Woods Pflug war so haltbar, daß er die Bauern für sich gewann, die von den früheren Metallpflügen nichts hatten wissen wollen, weil die immer zerbrachen. Hatte Wood Gußeisen für seine Pflüge verwandt, so baute 1833 der Schmied J ohn Lane in Chikago einen Pflug, dessen Schar eine Schneide aus Sägestahl hatte. Wenn man endlich das Pflügen gelernt hatte, so fand man jetzt auch rationellere Methoden des Säens; nachdem jahrtausendelang mit der Hand gesät worden war, man die Saat eineggte, und so die Körner entweder zu tief zu liegen kamen, um richtig zu sprießen, oder so hoch, daß Feldmäuse und Vögel sie fraßen, erdachte 1840 der Amerikaner Gibbons eine Sämaschine. 1840: das Jahr, in welchem Liebig die

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Bodenchemie begründete. Die Parallelität wird klar: während Europas kleine, für die Maschinenarbeit schlecht geeignete Felder durch chemischen Dünger neue Kraft bekamen, wurden Amerikas .weite Prärien durch technischen Fortschritt erschlossen. Indessen man bei uns die Wirkung von Kali, Phosphor und Kalk erforschte, lernte Amerika Stahl und Dampfkraft im Ackerbau anwenden. Seit Jethro Wood und John Gibbons, seit John Lane und Cyrus Hall MacCormick. dessen von Pferden gezogene Mähmaschine 1831 fertiggeworden war, verging nicht ein Jahr, in dem nicht der Prärieweizen neues jungfräuliches Land erobert hätte. Erst mit der Erfindung von landwirtschaftlichen Maschinen war die Ausnutzung der unendlich weiten Kornebenen des amerikanischen Nordwestens möglich geworden; damit hatte die Entwicklung be- . gonnen, die schließlich die Farmen der Überseegebiete in gigantische Getreidefabriken verwandelte. Immer bessere, immer billigere und arbeitsparendete Maschinen bauten MacCormick und seine Konkurrenten, und damit wurden immer neue, menschenleere Prärien zu Getreidefeldern. Am kanadischen Roten Fluß, im heutigen Saskatchewan zum Beispiel, hatte schon 1818 Lord Selkirk ein paar Bauern angesiedelt. Die hatten mit der Hacke den Boden aufgerissen, Weizen gesät, von Büffelfleisch gelebt, während sie auf die erste Ernte warteten. Sie hatten viele Jahre auf diese Ernte warten müssen. Als sie dann endlich nahe schien, kamen Heuschrecken. Aus den abgebissenen, halb zerfressenen Ähren rettete man die Körner für die nächste Saat. Auch die verdarb. Die Männer der Selkirksiedlung zogen bis an den Missouri, um neues Korn zu holen. 1831 aber, nach dreizehn Jahren härtesten Kampfes gegen eine unerbittliche Natur, gab es die erste Ernte, die lohnte, die mehr Weizen brachte, als man in einem Jahr aß. Es war das Jahr des MacCormick-Mähers. Die Selkirkleute, die auf abenteuerlichen Wegen, auf Kanus und Pferdekarren ihren Überschuß nach Vancouver brachten, fast zweitausend Kilometer weit, verdienten nicht viel an ihrer Ernte, der unbeschreiblich mühevolle Transport verschlang drei Viertel des Wertes, aber sie brachten ein paar neue Maschinen mit nach Haus. Und damit begann eine Zeit des Aufschwungs, wie sie nicht ihresgleichen hat. Unabsehbar dehnten sich bald die Weizenfelder, wogenden Meeren gleich. Der seit unendlichen Zeiten brachliegende Boden Kanadas

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gab ohne Dünger reiche Ernten; man baute den Weizen ab wie Kohle in einer Mine, erntete die in riesigen Zeiträumen hier aufgespeicherte Sonnenenergie. Die Farm war zur Fabrik geworden, jetzt wurde sie zu einer Fabrik ohne Arbeiter, die sie ebensowenig braucht wie Vieh. Als Kanada Weizen zu liefern begann, da zogen Hunderttausende jedes Jahr auf die Felder, um sie abzuernten. Heute herrscht der s Combine«, der Mähdrescher, ein Maschinengigant, der riesige Felder umkreist, in immer enger werdenden Zirkeln den Weizen schneidet, ihn drischt und die Körner in einem Lagertank aufspeichert. Vor ein paar Jahren noch wurde dieser Combine von Traktoren gezogen, erforderte er zwei Leute zur Bedienung. Jetzt hat man die Zugmaschine in den Mäher eingebaut, ein einziger Mann erntet an einem Tag kilometerweite Felder ab. Neben dem Combine fährt ein Lastauto her, der Weizen fließt aus dem Tank ins Auto, das ihn direkt zu den Elevatoren der Bahnstationen bringt. Drei Menschen genügen in Kanada und Australien, in den Prärien des amerikanischen Westens oder in Argentinien für die Arbeit, die achthundert bis tausend Gebirgsbauern leisten. Unheimlich still wurden die Felder der Überseeländer. Der Bauer, der gewohnt war, vom Sonnenaufgang bis in die dunkelnde Nacht hinein zu arbeiten, der sich um Kühe und Pferde ebenso sorgen mußte wie um seine Knechte, lebte jetzt in der Stadt, fuhr in seinem Auto im Frühjahr auf die Farm, umbrach mit seinem Scheibenpflug 10 Hektar Boden im Tag. Dann fuhr er mit der Sämaschine über die Äcker, täglich über mindestens vierzig Hektar. Die meisten Farmer fuhren daraufhin wieder zurück in die Stadt, um auf die Zeit der Ernte zu warten. Sie kamen mit dem Combine wieder ... Eine Woche Arbeit. Dann rollte der Weizen schon nach dem nächsten Hafen. Als man sah, wie reich die Erträge des zum erstenmal gepflügten Bodens wurden, baute man die Canadian Pacific Eisenbahn, die Halifax mit Vancouver verbindet, quer durch den riesigen Kontinent ein stählernes Band legt, die Besiedlung der Prärien des Westens ermöglichte; seit 1885 rollen auf ihr endlose Weizenzüge in die zwei großen Häfen. Man voll-, endete 1929 die Hudsonbaibahn, die Port Churchill mit deri Weizenfeldern Manitobas verbindet und so jährlich rund zwei Millionen Tonnen Getreide auf dem kürzesten Weg nach Europa

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wirft. Wie die Bauern, so hatten sechs Zehntel aller kanadischen Güterwagen tot und unnütz in den Frachtbahnhöfen auf die Erntezeit gewartet. Jetzt jagten sie durch die Nacht, nach wahren Mobilisationsplänen über tausende Kilometer dirigiert, jetzt rann der Weizen von den Landelevatoren zu den s Terminals«, den Endelevatoren. Regierungsinspektoren untersuchten ihn, er wurde in Klassen eingeteilt, er rann von Bahnwagen in Weizentankschiffe, kam nach Montreal oder Vancouver, von dort nach Japan, nach Europa oder China. Sechsmal mehr Weizen erzeugt Kanada, als es selber verbraucht. Für 554 Millionen Dollar führte es 1929 aus. Und daneben gab es die ungeheuren Weizenmengen Argentiniens, den Weizen Australiens und des nordamerikanischen Mittelwestens. Der Reichtum der überseeischen Felder schien unerschöpflich. Das Los der europäischen Kleinbauern schien besiegelt. Die Maschine war zum alleinigen Gott geworden, Amerika zum Vorbild. Industrie und Welthandel allein hatten Geltung, und so hielten Europas Regierungen es nicht für der Mühe wert, die unter den Steuerlasten zusammenbrechenden Bauern vor dem Überseegetreide zu schützen. Die Städte allein regierten. Aber wenn auch die Regierenden es damals vergaßen, das Volk vergaß doch die endlosen Ketten vor den Lebensmittelgeschäften nicht, ganz instinktiv fand es nach den Leiden des Weltkriegs zum Acker zurück. Während noch von Weltfrieden und Weltrepubliken gefaselt wurde, von Freiheit und Brüderlichkeit und allgemeinem Glück, wurde in Italien der Faschismus stark und in Deutschland der Nationalsozialismus, da begriffen die Massen ganz langsam, daß ewig nur eins ist: der Boden. Der Acker, dem Arbeit und Sonne immer neue Ernten abringen. Ganz langsam änderte sich das Denken Europas, entstanden neue Gesetze, die die Ausnutzung des Bodens zur Pflicht machten: es kam in Deutschland zum Erbhofrecht und in Italien zur Bonifacio Integrale. Ganz langsam ging Europa daran, die Waffen, die seine Forscher ihm längst schenkten, zu schärfen und in seinem Lebenskampf anzuwenden. Während Kanada die Gefahr mißachtete, immer neue Prärien umbrach, seine Weizenanbaufläche so seit der Jahrhundertwende verzwölffachte, stiegen auch in Europa wieder die Erträge. Ganz langsam wurde das »Maschinenbrot« für

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Europa wieder weniger wichtig, ganz langsam begann wieder die Qualität über die Quantität zu siegen. Und Kanada half zu diesem Sieg mit allen Kräften mit. Stand es vor dem Weltkrieg an der dritten Stelle der Weltweizenerzeuger, so rückte es nach dem Krieg an die zweite vor; als 1921 der erste Mähdrescher aus den Vereinigten Staaten eingeführt wurde, man in einem einzigen Arbeitsgang mähen, dreschen, das Getreide reinigen und verladen konnte, war man auf dem Weg zum ersten Platz. Fünftausend Mähdrescher • folgten dem ersten in nur zwei Jahren: 1923 war der Rekord geschafft. Kanada war Nr. 1 am Weizenmarkt der Welt geworden. Gold floß aus allen Teilen der Erde ins Land. Wenn Kanada aber auch gern jahraus, jahrein seine halbe Milliarde Dollar für Weizen einnehmen wollte, es wollte nichts für Maschinen und Fertigfabrikate ausgeben. Überall in Kanada entstanden neue Industrien. Der Weizen ließ nicht nur Winnipeg, den Sitz der Weizenbörse, sondern ebenso Montreal und Vancouver, Ottawa, Quebeck und Toronto groß werden. Jeder Farmer kaufte Autos und Radios, Kühlschränke und neue Möbel. Und die sollten kanadisch sein. Was nicht ausbleiben konnte, geschah: Europa konnte auf die Dauer nicht Weizen kaufen, ohne Fertigwaren zu verkaufen. Kanadas Weizen blieb in den Elevatoren liegen. Kanada diktiert jetzt nicht mehr die Preise des Brotes, das wir essen. Wie aber konnte Europa auf den Weizen der überseeländer verzichten? Waren denn seit Liebig nicht schon wieder ungezählte Millionen geboren worden, gab es denn jetzt nicht 506 Millionen Europäer zu ernähren statt der 263 Millionen des Jahres 1850, der 403 Millionen des Jahres 1900? War die Ertragssteigerung durch den chemischen Dünger, waren die dreißig Prozent neuen Lebensraumes denn nicht schon längst wieder durch neue Münder verbraucht? Neuneinhalb Millionen Quadratkilometer bedeckt Kanada, rund zwanzigmal soviel als Deutschland. Zehneinhalb Millionen Hektar sind heute in Kanada mit Weizen bebaut, siebeneinhalb Millionen mit Hafer, Gerste und Roggen, vierzehneinhalb Millionen Tonnen Getreide erzeugt es, vor allem in den Provinzen Saskatchewan, Manitoba und Alberta, in noch vor einem Jahrhundert völlig menschenleeren Prärien. Deutschlands zweieinhalb Millionen Hektar Weizenfläche aber, seine achtdreiviertel Millionen Hektar Hafer-,

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Gersten- und Roggenboden gaben im Jahre 1935 zweiundzwanzig Millionen Tonnen Getreide. Zwar mußten damit auch achtundsechzig Millionen Menschen auskommen statt der acht Millionen Kanadas; Deutschland erntet nicht mehr Weizen als Australien, das nur sechs Millionen Einwohner hat; wenn es aber darauf ankommt, kann sich heute Deutschland selbst ernähren (I), wie Frankreich, wie alle Balkanstaaten. Denn während die Überseefarmen ins Gigantische wuchsen, gelang in Europa eine lebenswichtige neue Synthese: es bildeten sich wahre Volksgemeinschaften, in Italien und Deutschland entstanden Stände aus den Klassen, und dabei reichten auch Bauern und Arbeiter sich die Hand. Indessen die neuen Länder Amerikas sich schon als Herren des Brotes aller glaubten, lernte Europa seine uralte Ackerbaukunst mit neuer Technik aufzufrischen, lernte es endlich, daß nicht Maschinen allein, wie in Amerika, aber auch nicht verschwielte Hände allein, wie an den Karpathen, herrschen sollten. Man nahm die Hilfe der s Eisernen Engel« an, statt Riesenmähern und gigantischen Combines wurden kleine wendige Trecker gebaut, machten gummi bereifte Erntewagen und elektrische Molkereimaschinen, hundert wohldurchdachte und unseren Verhältnissen angepaßte landwirtschaftliche Maschinen das Leben der Bauern leichter. Nachdem das Pflügen jahrtausendelang nur auf persönlichen Erfahrungen ruhte, wurde nun die Bodenbearbeitung wissenschaftlich untersucht, schließlich 1936 an der Münchner Technischen Hochschule eine »Bodenrinnee gebaut, ein Versuchsfeld, das mit Kontrollapparaten versehen ist, die den Wirkungsgrad aller Landmaschinen feststellen .. Hier wurde verbessert, was zu verbessern war, hier wurden vor allem auch von Professor Dr. Kühne die ersten praktischen Versuche mit Pflügen gemacht, die die Reibung zwischen Stahl und nassem Ackerboden durch Zuleitung von Strom herabsetzen: leitet man durch die Pflugschar kleine elektrische Strommengen in die Erde, so vermindert sich aus noch nicht ganz klargestellten Gründen der Widerstand des Ackers um fünfzehn bis (I) Nach dem Zeitungsdienst des Reichsnährstandes ist Deutschlands Brotversorgung aus der eigenen Erzeugung zu 100 Prozent sichergestellt, die Fleischversorgung zu 95 Prozent, die Kartoffelversorgung zu 100 Prozent, die Zuckerversorgung zu 100 Prozent, die Fettversorgung zu 50-60 Prozent, die Eierversorgung Zu 83 Prozent.

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zwanzig Prozent. Leitet man den Strom durch die Pflugschar, den zum Beispiel eine auf dem Trecker montierte Autolichtmaschine erzeugt, so erspart man zwei bis drei PS an Zugkraft. Während Amerika über dem Grandiosen das lebenswichtige Detail übersah, gewann Europa aus Details, wie elektrisch geladenen Pflugscharen, neue Kraft. Drüben wuchsen die Überseefarmen ins Gigantische, hier aber verbesserten Biologen und Züchter, Ingenieure und Forscher den Ertrag von vielen Millionen europäischen Bauernwirtschaften. Und wieder einmal siegte David über Goliath. Wieder stiegen die Erträge unserer Felder um fast ein Drittel. Wieder gewann Forschung neuen Lebensraum für gut eine halbe Milliarde Menschen. An die Stelle der Völkerwanderungen war einst die künstliche Bodendüngung getreten. Jetzt ergänzten bodenverbessernde Bakterien, Milliarden unsichtbarer Helfer also, den chemischen Dünger und die landwirtschaftlichen Maschinen. Während Amerika noch vom Sieg der Giganten träumte, gewann Europa die Nahrungsschlacht mit Hilfe des Mikrokosmos, mit Hilfe der Allerkleinsten . . . Die Zähmung

der Mikroben

Hatte Liebig erbittert kämpfen müssen, bevor man ihm glaubte, daß die Pflanzen sich mit Kali, Phosphor, Stickstoff und einigen anderen mineralischen Stoffen ernähren, sein schließlicher Sieg war um so durchschlagender. Hatte man jahrtausendelang die Felder hungern lassen, so überfütterte man sie jetzt; nachdem man Liebig seiner Nährsalze wegen verlachte, verfiel man ins andere Extrem, ließ man jetzt fast alle anderen Ertragssteigerungsmethoden in Europa beiseite, setzte man alle Hoffnung allein in die Chemi~. Viele große Chemiker aber, vor allem Berthelot, vertraten di~ Ansicht, daß an Liebigs Erkenntnissen zwar nicht zu zweifeln sei, daß sie aber nicht alle Vorgänge im Boden erklärten. Trotz des Siegeszuges der künstlichen Düngemittel hatte man doch immer wieder Zweifel gehabt; immer hatte es in Liebigs System Lücken gegeben: warum zum Beispiel wurden die Düngesalze nicht. vo:n Regen gelöst und in die Tiefe getragen? Warum zum Beispiel wirkte der gleiche Kunstdünger auf verschiedenen Bodenarten ganz verschieden? Eine Zeitlang konnte man wohl den Humus

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als gänzlich nebensächlich betrachten, Liebig selber hatte ihm gar keine Bedeutung beigemessen, aber bald kam er wieder zu Ehren. Nur warum der Humus nötig war, das blieb dunkel. Dann aber kam aus einem kleinen Dorf der Sohn eines Gerbermeisters nach Paris, um Maler zu werden. Dieser Gerbersohn hatte wenig Geld, er mischte sich seine Farben selber aus allen möglichen Mineralien und Pflanzensäften zusammen, dieser Gerbersohn war ungewöhnlich neugierig; um zu sehen, was er da eigentlich trieb, verschaffte er sich ein Mikroskop, und dieses Mikroskop bezauberte ihn: eine Wunderwelt tat sich da auf, von der er nicht mehr loskam. Statt Malerei studierte er Chemie und Medizin. Alles untersuchte er nun unterm Mikroskop. Als er einmal in einem lange stehengebliebenen, halbvollen Weinglas eine schleimige, gelbgraue Schicht an der Oberfläche fand, sah er sich auch die an und erkannte, daß die Masse lebte. Er wollte wissen, wie diese winzigen Wesen sich vermehrten, steckte klaren Wein mit dem schimmeligen an. Er suchte immer weiter und fand so nicht nur die Gärungsbazillen, sondern auch die Erkenntnis, daß ansteckende Krankheiten diese kleinsten Lebewesen zur Ursache haben mußten. Er ließ nicht locker und bewies endlich, was Varro etwa 35 vor Christi schon geahnt hatte, als er erklärte, Sumpffieber werde durch kleinste Tiere erzeugt. Der kleine Gerberjunge aus Dole wies nach, was Jakob Henle 1840 schon behauptet hatte: es gab mikroskopisch kleine Krankheitserreger, es gab Gärungsbazillen. Und damit war aus dem unbekannten Pasteur der berühmte Louis Pasteur geworden, der die Krankheit der Seidenraupen besiegte wie die Hühnerpest, der die Tollwut heilbar machte. Damit begann jene großartige neue Entwicklung der Medizin, die die Seuchen verbannte, Sieg auf Sieg über die entsetzlichsten Plagen der Menschheit errang. Nicht nur der Grund zu den Arbeiten Robert Kochs aber war damit gelegt, der Milzbrand und Lungenschwindsucht heilen lehrte, der Weg betreten, auf dem weiterschreitend Richard Kothe und Oskar Dressel das synthetische .Germanin« fanden, das die Schlafkrankheit heilt und sonach englischen Aussprüchen - den Alliierten durch neue Besiedlungsmöglichkeiten ihrer Kolonien mehr einbringen wird als alle deutschen Reparationszahlungen. Nicht nur geheilt, am Leben erhalten wurden ungezählte Millionen Menschen durch die Arbeiten

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Pasteurs und seiner Schüler, Pasteur fand auch neue Wege, diese Millionen zu ernähren. Bis 1857, bis zu Louis Pasteurs Untersuchungen über die Fermentation, hatte man geglaubt, eine Art Urzeugung lasse die Lebewesen entstehen, die Milch und Bier und alle in Gärung übergehenden Stoffe so rasch verderben. Als Pasteur nachwies, daß auch die kleinsten Gärungs- und Fäulniserreger von außen her in die Flüssigkeiten kommen, als er zeigte, wie inan durch Pasteurisieren, durch das Erhitzen auf etwa fünfundsechzig Grad, alle Hefepilze töten könne, da bek~men mit einemmal Millionen Großstadtkinder gute Milch, da konnten plötzlich Bauern in die Großstadt verkaufen, die früher zu weit weg gewesen waren. Mit Pasteur begann nicht nur die Vernichtung, sondern auch die Zähmung der Mikroben. Immer schon hatte man von den kleinen Lebewesen Gewinn gezogen: seit vielen Jahrhunderten machte man ja Käse und Brot, Wein und Würste, die alle ohne Bakterientätigkeit unmöglich wären, die alle durch diese kleinsten Wesen umgewandelt werden, von ihnen allein ihren Geschmack erhalten. Jetzt lernte man diese nützlichen Mikroben in Massen züchten, jetzt konnte man Gärungen regeln, beschleunigen oder aufhalten. ' Neben Bier, Wein und Trinkbranntwein - deren Welterzeugung nach Ziffern der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft heute einen Wert von zwölf Milliarden Mark jährlich hat - lernte man jetzt im großen Essigsäure herzustellen, züchtete man jetzt Bakterien, die Mais oder Melasse in Milchsäure verwandeln, deren Ester für Spritzlacke unentbehrlich sind, die als Nebenprodukt Azeton ergeben, das für die Kunstseidenherstellung gebraucht wird. Nachdem man jahrtausendelang von den kleinsten Lebewesen Nutzen zog, ohne es zu wissen, spürte das Kaiser-Wilhelm-Institut für Kohlenforschung in Mühlheim sie tausend Meter tief unter der Erde in warmen Kohleflözen auf; und diese Entdeckung wurde zum Ausgangspunkt für ein biologisches Verfahren der Leuchtgasentgiftung, diese Entdeckung verhütet nun Unfälle und Selbstmorde. Man fand, daß die in der Kohle lebenden Mikroorganismen an der Kohlewerdung beteiligt sind, daß sie gewaltige chemische Umwandlungen einzuleiten vermögen. Man züchtete sie, setzte sie in Faulschlamm an, und schließlich gelang das Unglaubliche: die Kohlebakte:den verwandelten das hochgiftige Kohlenoxydgas in

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harmloses, aber ebenso brennbares Methan. Bakterien machten Leuchtgas ungiftig. Sie zerstörten nicht mehr, sie retteten nun Leben. Man züchtete Mikroorganismen, die alle gefährlichen Stoffe der Abwässer fressen, die diese Abwässer so besser klären als irgendwelche anderen Methoden. Und schließlich machte man gewisse Bazillen zu Polizeitruppen, zu Helfern gegen feindliche Mikroorganismen, wie zum Beispiel den Kolibazillus, der sich in Heuhaufen aufhält, bei seiner Vermehrung bis zu siebzig Grad Wärme entwickelt, Fermente erzeugt, die Stärke und Zellulose des Heus in Zucker aufspalten und dabei Gase entstehen lassen, die unbedingt Sauerstoff aufnehmen wollen. Gelingt es ihnen, so entsteht genug Wärme, um den Heuhaufen in Brand zu setzen. Die Kolibazillen also. waren gefährlichste Brandstifter. Sie vernichteten in den Vereinigten Staaten, wo man Statistiken führte und sie zuerst genau überwachte, jährlich Heu im Werte von rund zwanzig Millionen Dollar. Sie widerstanden allen Vernichtungsversuchen, bis man nach langwierigen Versuchen Mikroorganismen fand, die die Kolibazillen fressen, ohne Wärme zu entwickeln. Seither brennen »geimpfte« Heuhaufen nicht mehr. Nun, wie wertvoll und interessant das auch alles sein mag, die Bakteriologie erreichte noch viel Bedeutsameres, und daß sie es erreichte, ist wieder ein Beweis mehr dafür, wie ein Fortschritt zum andern führt, wie alles Wissen zu einem einzigen gewaltigen Bau wächst, wie reine Forschung not tut, Suchen ohne augenblicklich erkennbaren praktischen Zweck. Während 1856 in Paris Pasteur über seinem Mikroskop saß, untersuchte in England der damals achtzehnjährige W. H. Perkins, ein Assistent des großen deutschen Farbenchemikers A. W. Hofmann, Derivate des Steinkohlenteers. 1856 fand er, daß Anilin bei der Behandlung mit Oxydationsmitteln eine stark färbende Substanz liefert: er entdeckte den ersten synthetischen Farbstoff, das Mauvein. Und brach damit nicht nur das Monopol der natürlichen Farbstoffe, der Farben, die man bisher ausschließlich aus Tieren, wie den Cochenilleläusen und den Purpurschnecken, oder Pflanzen, wie dem Indigo, gewann; er wies damit nicht nur den deutschen Chemikern den Weg, die immer prächtigere Farbstoffe aus Teer schufen, eine Industrie aufbauten, die heute allein in Deutschland mehr als hunderttausend Menschen beschäftigt: mit den syn-

Professor

Dr.

ERWIN BAUR wurde

16. April 1875 in Ichenheim boren und starb am Müncheberg. 19II und

2.

am

EUROPAS

(Baden) ge-

Dezember

1933 in

Baur war zuerst Arzt, seit

Professor wurde

der

Botanik

1927 Direktor

Wilhelm-Instituts in Müncheberg forschungen

in

Berlin

des Kaiser-

für Züchtungsforschung (Mark). Seine Vererbungs-

erregten weltweites Aufsehen,

und seine Versuche über die willkürliche Beeinflussung

der im Zellkern gegebenen

Erbmasse, die er an 450000 Pflanzen einer einzigen Löwenmaulsippe durchführte, führten

zu überaus

bedeutsamen

rischen Erkenntnissen. tellen Forschungen

züchte-

Seine experimen-

waren

praktische Landwirtschaft

auch für die

von ungeheurer

Bedeutung.

Ein kleiner Teil der Gewächshäuser

und Frühbeetanlagen

für Züchtungsforschung

in Müncheberg

des Kaiser-Wilhelm-Instituts (Mark).

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DEN HUNGER

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thetischen Farben wurde auch erst die moderne Bakteriologie möglich. Man lernte die Mikroben färben, mit den chemischen Farben erst konnte man die meisten von ihnen sichtbar machen. Und je besser die Mikroskope und die Färbemethoden wurden, desto mehr Bakterien entdeckte man, überall fand man sie jetzt, ein ganzer Mikrokosmos tat sich auf, schließlich entdeckte man sie auch im Boden. Im Jahre 1887 isolierten Warrington in England und Winogradsky in Rußland zwei besondere Arten von Bakterien, die Ammoniumverbindungen in Nitrate verwandeln, die so ungemein wichtig für die Verwertung des Kunstdüngers sind. Zehn Jahre später entdeckte der deutsche Forscher Hellriegel, daß an den Wurzeln der meisten Leguminosen, an Erbsen, Bohnen, Lupinen und Klee, Bakterien kleine Knöllchen bilden, die auf eine heute noch unerklärte Art die in der Erde befindliche Luft in löslichen Stickstoff verwandeln, die also Milliarden winzigster Luftstickstofffabriken darstellen; und damit war die bisher fast nur von den Chinesen angewandte » Gründüngung e als allgemein nützlich erkannt. Immer mehr Lebewesen wurden gefunden, ohne die es keine Pflanzen, keine Tiere, keine Menschen mehr auf der Erde gäbe. Man isolierte den Bacillus putrificus, den häufigsten Fäulniserreger, wie den Bacillus subtilis, den Heubazillus; man fand den Bacillus mesentericus und etwa zweitausend Formen einzelliger Spaltalgen ; man fand siebentausendeinhundert Verwesungspilze, allein sechstausend Arten der Gruppe Sphaeriales, man entdeckte die Welt des »Edaphon«, s das im Boden Lebende«, Hunderte von Forschern beschäftigten sich nun mit dieser neuen Welt, und langsam wurde klar, welche Ausdehnung, welch ungeheure Macht und Bedeutung sie hat. 1914 wies Löhnis nach, daß auf jeden Hektar fruchtbarer Erde vierhundert bis fünfhundert Kilo Bakterien kommen, vierhundert bis fünfhundert 1910 Bodenalgen, Pilze und Kleintiere; die Wissenschaftler des Schweizer Landwirtschaftlichen Instituts wiesen nach, daß im Durchschnitt in jedem Gramm fruchtbarer Ackererde neuneinhalb Millionen lebende Keime sich befinden, in jedem Gramm Wiesenerde drei bis sechzehn Millionen Lebewesen vorkommen. Plötzlich wurde klar, wo all die Pflanzen, die es auf der Welt gibt, ihren Kohlenstoff hernehmen. Ständig entziehen sie ja der Luft Kohlensäure, legen sie in ihrer Zellulose 4

zr· wr- x

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fest. Man hat ausgerechnet, daß es binnen dreißig Jahren keine Kohlensäure mehr in der Luft gäbe, wenn nicht unzählbare Milliarden von Bakterien ständig die Pflanzenmasse wieder in ihre mineralischen Bestandteile und in Kohlensäure zerlegten, wenn nicht alle im Boden lebenden Bakterien ständig Kohlensäure bildeten und nicht jeder Hektar normalen Ackerbodens jährlich durch seine Bakterien sechstausend bis achttausend Kilo Kohlensäuregas ergäbe. Kohlensäure, die nicht nur die Mineralstoffe im Boden verwittert und so zu Pflanzennahrung macht, sondern die auch den Boden mit einem Kapillarnetz kohlensäuregefüllter winziger Hohlräume durchsetzt, ihn so besser lockert, als Menschen es je zuwege brächten. Wie Liebigs Forschungen die Agrikulturchemie schufen, so brachte die Weiterentwicklung der Arbeiten Pasteurs und Kochs, Warringtons und Winogradskys die Bodenbiologie. Man lernte die beiden Wissenschaften vereinen; jetzt lernte man erst den Kunstdünger richtig anwenden. Die Mikroskope, die immer schärfer werdenden künstlichen Augen der Wissenschaftler, die die Bakterien im Boden aufspürten, machten auch die Kolloidchemie möglich, die Lehre von der »Ieimartigen « Materie, die heute zur Lehre des besonderen Zustandes der Stoffe wurde, die in anderen so fein verteilt sind, daß ihre Teilchen nur ein bis hundert Millionstel Millimeter groß sind, und diese erklärte nun, warum die chemischen Dünger nicht ausgewaschen werden, oder wie, falls das geschah, man es verhindern kann. Man lernte, daß durch die Fäulnisbakterien Kolloide entstehen, das heißt quellbare, leimartige Substanzen, die die Salze festhalten, sie für die Wurzeln aufspeichern; Schritt für Schritt steigerte man noch einmal die Bodenerträge. In ungemein mühseliger Kleinarbeit, nach tausenden Bodenanalysen, lernte man die Wesen kennen, die »Humus e bilden, man lernte sie züchten, ihre wirksamsten isolieren, man lernte, müden Boden mit »Edaphon« auffrischen. In Hereny, in Ungarn, stellte zwischen 1921 und 1927 A. von Gothard feldbaumäßige Versuche mit der Zufuhr von Mikroben an: er organisierte Parallelversuche von zweitausendeinhundert europäischen Gärtnern und Landwirten, erreichte bei Tomaten, Futterrüben und Obst Ertragssteigerungen von dreißig bis achtundneunzig Prozent. Großversuche der Wiener Hochschule für Bodenkultur bewiesen,

daß eintausend Kilo fabrikmäßig hergestellten Edaphons der Düngewirkung von zwanzigtausend Kilo Stalldünger gleichkommen; Mehrerträge von dreiunddreißig bis fünfzig Prozent ergaben sich. Ein Drittel Ertragssteigerungl Was das aber bedeutet, wird klar, wenn man weiß, daß der Wert der landwirtschaftlichen Erzeugung Deutschlands heute etwa zwölf Milliarden Mark beträgt, ein Sechstel des gesamten Volkseinkommens, daß schon eine Ertragssteigerung um ein Zehntel dem Wert aller in Deutschland erzeugten Kraftwagen gleichkommt. Was es heißt, die Humusschicht der Erde zu erhalten, die oberste schwammartige Schicht der Äcker, die die Fachleute »A-Horizont« nennen, vielleicht sogar zu vertiefen und zu vergrößern, das wird klar, wenn man sich an die amerikanischen Naturkatastrophen des Sommers 1934, des Frühjahrs 1935 und 1936, der ersten Monate des Jahres 1937 erinnert. In den Vereinigten Staaten hatte es 1932 schon große Trockenheit gegeben, 1933 kam eine Mißernte; in Oklahoma, Kolorado, Texas, Neu-Mexiko und Kansas verödeten die Felder. Und dann kam der Staubsturm des März 1934. Der Boden war so trocken geworden, daß die Nordwinde, die von der Hudsonbai durch das breite Tal des Mississippi ungehindert bis zum Golf von Mexiko streichen, weil man längst alle Bäume dieses Tals umlegte, alle Forste vernichteten, daß die Südwinde, die ihnen entgegenbrausen, von den unendlichen, ungeschützten Ebenen alle Ackerkrume hinwegwehten, sie erst an steilen Berghängen oder über dem Meer wieder fallen ließen. Und dabei waren diese Stürme nur ein Auftakt, eine erste Warnung gewesen. Auch der Winter des Jahres 1934 blieb wieder regenarm, und so kam die große Katastrophe des März 193 5. Überall brannten mittags die Lampen, die Sonne hatte keine Leuchtkraft mehr. Immer dunklere Wolken zogen auf. Wolken von Staub. Wolken von Ackererde, die der Wind von Feldern hob, die größer als Deutschland und Frankreich zusammen sind. Der Staub drang durch alle feinsten Spalten, er drang den Menschen in Mund und Lungen, überall starben Kinder und alte Leute an Lungenentzündung. Das Vieh wurde scheu. Wild floh es vor dem Sandsturm. Hunderttausende Rinder verendeten. Dann legte sich der Wind, tagelang aber fiel noch Erde vom Himmel. Als die Plage zu Ende war, gab es in den Vereinigten Staaten

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vierhunderttausend Menschen, die alles verloren hatten, deren Felder zu Wüsten geworden waren, deren Vieh verdurstete und auf den versandeten Weiden verhungerte. Und war die Plage überhaupt zu Ende? Es kam das Frühjahr 1936. Es kam eine Hochwasserkatastrophe von unvorstellbarem Ausmaß. Diesmal war der März nicht trocken, sondern naß. Ein Tief wanderte vom Golf von Mexiko über Texas in das wilde Bergland der Appalachen, in das hauptsächlichste Industriegebiet der Staaten, in denen auf fünf Prozent des Bodens achtundzwanzig Prozent aller Amerikaner wohnen, wo reißende Flüsse ihre Wasserkraft für zahllose Industrien liefern. Bald war das Riesengebiet zwischen Maine und Kentucky ein einziges gurgelndes Chaos. Pennsylvanias Hochöfen wurden vom Hochwasser gelöscht, Washington, Maryland, WestVirginia, Ohio, der Staat New York und New Jersey meldeten hunderte Tote, ungeheuren Sachschaden. Bald waren die dreiundvierzigeinhalb Millionen Dollar, die die Regierung zur Linderung der Not bereitstellte, verbraucht. Wieder brach ungeheures Elend über eine halbe Million Amerikaner herein. Und wieder war nach Ansicht aller Fachleute all das Unheil nur eine schwache Warnung gewesen. Wie die Staubstürme war diese Riesenüberschwemmung eine s Man-made Tragedy«, alleinige Schuld der Menschen. Als Europas Felder durch den Weltkrieg verödeten, hatte man in Ostkolorado und Wyoming, in Neu-Mexiko und Montana weite, mit hartem hohem Gras bestandene Steppen umgepflügt und zu Weizenfeldern gemacht. Man hatte den Boden rücksichtslos ausgeblutet, bis er verarmte, hatte ihn dann liegenlassen. Das Gras war weg. Der Boden hatte keinen Halt mehr. Sein Humus war verbraucht, er war ausgelaugt, er bestand nicht mehr aus Kolloiden, war nicht mehr klebrig. Er flog fort, als Trockenheit und Stürme kamen. Längst 'war das Klima Amerikas durch den Raubbau in den Wäldern, durch das rücksichtslose Niederlegen riesiger Forste verschlechtert worden, waren ganze Landstriche verkarstet. Je mehr Felder jetzt unbebaut gelassen wurden, desto gefährlicher wurde die Lage. Wissenschaftler warnten, schließlich wurde ein »Bodenerhaltungsgesetz« angenommen, aber es blieb toter Buchstabe. »Oft wird die Natur uns nicht mehr warnen«, schrieb nach dem Unglück des März 1936 Paul B. Sears, Botanikprofessor und Berater des Washingtoner Landwirtschaftsministeriums. »Nicht

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lange mehr wird die Natur gütig genug sein, uns unsere Fehler so klar vor Augen zu führen wie jetzt. Staubstürme und Überschwemmungen, diese scheinbar so gegensätzlichen Katastrophen, haben die gleiche Ursache: Raubbau hat den Boden ruiniert, die Humusschicht zerstört. Wenn Trockenheit hereinbricht, fliegt die Ackerkrume weg. Wenn es regnet, fehlt der Schwamm, der die Feuchtigkeit festhält. Dämme bauen nutzt nicht viel. Das Wasser darf nicht erst aufgefangen werden, wenn es schon reißende Ströme bildet, jeder Tropfen Wasser muß aufgefangen werden. Nur die schwammartige, dunkle Masse, die die oberste Schicht aller guten Felder bildet, kann dies tun. Sandstürme und Überschwemmungen sind nur ein Vorzeichen der Gewalten, die sich gegen uns ansammeln. Noch ist es Zeit, unsere Ackerbaumethoden denen Europas anzupassen, die Erde zu pflegen statt auszubeuten ... « Ist noch Zeit? Während man noch dabei war, die Not der Katastrophen des Jahres 1936 zu lindern, trat im Februar 1937 der Ohio fünfzehn Meilen breit aus seinen Ufern, schwoll er bei Cairo in Illinois auf das Zehnfache seiner normalen Größe an, ergoß er jede Sekunde 3 Millionen Kubikfuß Wasser in den Mississippi. In elf Staaten vertrieb das Hochwasser mehr als eine Million Menschen von ihren Heimstätten, in zwei Wochen gab es mehr als fünfhundert Ertrunkene, Seuchen kamen auf. Jetzt wurden 170 Millionen Mark vom Staat bewilligt, um dreizehn neue Dämme zu bauen; aber alle Umsiedlungsprojekte und Hilfsmaßnahmen können nichts daran ändern, daß Amerika nun Wucherpreise für die Ernten zahlen muß, die seine Maschinen ihm brachten. Es fängt an, planmäßig seinen Boden zu bebauen, das Zeitalter der Gier scheint vorbei. Lange lachte man drüben über die winzigen Felder Europas, denen Chemiker und Züchter höchste Erträge entrissen. Wozu? Wenn es doch noch Neuland gab, mühelose Ernten? Jetzt beschäftigt man sich endlich mit den Arbeiten dieser europäischen Forscher, jetzt entdeckt man auch in Amerika das Edaphon, die ungeheure Gewalt des Kleinen und Kleinsten. Mehr als »New Deal« und »Brain Trust«, mehr als alle Politiker und Philosophen haben die Naturkatastrophen der letzten Jahre Amerika zum Nachdenken gebracht. Langsam verlieren die neuen, unendlich weiten Überseeländer den Glauben an ihre Allmacht, langsam erkennt man, daß nicht immer die Masse, das Gigantische,

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das auf den ersten Blick schon grandios Erscheinende, wesentlich ist. Wissenschaftliche Kleinarbeit, stetiges, fast unbemerktes Vorwärtsschreiten unzähliger Spezialisten ersetzt immer mehr die weit überschätzte Leistung der» Kolonisatoren «, die riesige, bisher weiß gewesene Flecken auf den Weltkarten mit der Farbe ihres Landes bemalten und nun dachten, neuen Lebensraum erobert zu haben. Immer mehr wird auf Qualität Wert gelegt, auf größte Leistung bei geringstem Aufwand, immer mehr setzt sich die Zuchtwahl, setzen sich Auslese und Rassenverbesserung durch. Nachdem man ein halbes Jahrhundert lang keine Notiz von Gregor Johann Mendel nahm, dem Bauernsohn aus Heinzendorf in den Sudeten, der im gleichen Jahr ins Augustinerstift von Brünn eintrat, Botanik und Theologie zu studieren begann, in dem Liebig die fundamentalsten Geheimnisse der Bodenchemie enthüllte, nachdem man ein halbes Jahrhundert lang Mendel verkannte, weiß man jetzt, daß dieser Mönch das Fundament der Biologie, der praktischen Tier- und Pflanzenzucht legte. Vor allem aber wurden die Ideen Sir Francis Galtons verwirklicht, des Begründers der Eugenik, machte man sich seine Erkenntnisse zunutze, endlich erkannte man den Wert der Rasse. Man vergrößert nun nicht mehr nur den Lebensraum, man macht ihn auch reicher und schöner. Liebig bereitete den Boden vor, Mendel lehrte, wie man ihn mit neuen Pflanzen bebauen kann, wie das Klima wirksam zu bekämpfen ist, das den einen reiche Zuckerrohrfelder, Kautschuk und Baumwolle gibt, den anderen Wüsten und arme Steppen. Galton aber führte uns auf den Weg zum neuen, zum besseren Menschen ... Leistung

durch

Rasse

Unter dem Jahr 1840 steht in einer der bekanntesten Sammlungen historischer Daten, der des Straßburger Universitätsprofessors Cavaignac: s Erste Übersetzung der Sanskritschriften Verhaftung Louis Napoleons Befestigung von Paris England, Rußland, Österreich und Preußen regeln die ägyptische Frage ohne Hinzuziehung Frankreichs

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Heimkehr der Leiche Napoleons Kolonisation des amerikanischen Far West, Mormonen Erstes Übersee-Dampfschiff Tocquevilles Buch über' die amerikanische Demokratie«. Drei noch unbedeutendere Ereignisse folgen, und dann unter 1840/41: »Vernichtende Niederlage der Engländer in Kabul Livingstone in Afrika Dumont d'Urville auf der Suche nach dem Südpol.« Gewiß, manche dieser Ereignisse wirken heute vielleicht noch nach. Aber was sind sie gegen nur vier andere, die ebenfalls in das Jahr 1840 fallen: Erfindung der Sämaschine durch Gibbons Beginn der Arbeiten Gregor Mendels Düngerlehre Liebigs Familienforschungen Francis Galtons? Man kann sich vorstellen, welcher Lärm 1840 über die Beisetzung Napoleons im Pantheon oder über die Ägyptenfrage, über die Putschversuche Louis Napoleons oder das Pech der Engländer in Afghanistan geschlagen wurde; und daß kaum. jemand etwas von Liebig oder Galton wußte. Und doch, in eben jenem Jahr 1840 revolutionierte Liebig die Ernährung der Menschheit, die materiellen Grundlagen allen Lebens. Galton kam gleichzeitig in Cambridge durch seine Familienforschungen und Körpermessungen zu der festen Überzeugung, daß geistige Eigenschaften vererbt werden können, daß man also die menschliche Rasse verbessern kann. Er war dabei, eine Geistesrevolution von noch gar nicht abzusehenden Ausmaßen vorzubereiten. Wer weiß, was heute durch den Lärm um Japan und Italien, den spanischen Bürgerkrieg oder die brasilianische Revolution verdeckt wird? Sohn eines durch seine komplizierten Berechnungen berühmt gewordenen Statistikers und einer Tante Charles Darwins hatte Francis Galton Medizin studiert, dann weite Reisen in den Nahen Osten, nach Deutschland, den Balkanländern und dem Sudan unternommen, war er bis an den Ngamisee vorgedrungen, um primitive Völkerschaften ebenso wie alle Arten von Haustieren und Nutzpflanzen zu untersuchen, immer mehr Material aufzutürmen. Wie Liebig nicht hatte glauben können, daß Malthus

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Recht behalten müsse, so konnte Galton nicht das Schlagwort der Französischen Revolution anerkennen, daß bei der Geburt alle Menschen gleich seien, nur durch verschiedene Erziehung zu verschiedenen Wesen würden. Wenn man bei Tieren und Pflanzen die erwünschten Eigenschaften nur dadurch erreicht, daß man auswählt, in Generationen währender Arbeit die bestgeeigneten Exemplare paart, warum sollte der Mensch da allein durch die Umwelt beeinflußt werden? Galton, der zum Glück ein großes Vermögen geerbt hatte, unabhängig war und es sich leisten konnte, daß man ihn für einen etwas verrückten Sonderling hielt, suchte nun zehn Jahre lang in Biographien und Nachschlagewerken Beweise für seine Theorie, und 1869, genau zehn Jahre nach Darwins »Entstehung der Arten« erschien sein großes Werk, »Hereditary genius, its laws and consequences «, das an Hand unzähliger Einzelfeststellungen nachwies, daß hohe Leistung nicht allein von Willenskraft und guter Erziehung abhängig ist, sondern daß hochbegabte Menschen auch immer auffallend viel überdurchschnittliche Vorfahren hatten, Daß sie nicht nur sich selbst und ihren Lehrern große Erfolge verdanken, sondern weit mehr noch dem hochwertigen Erbe längst vergangener Generationen. Wie Liebig durch die Agrikulturchemie nachwies, daß Malthus' Lehre von den addierten Feldern bei multiplizierter Bevölkerung falsch ist, so wies Galton gleichzeitig nach, daß, wenn man Malthus' Rat befolgen und die Bevölkerung beschränken würde, ja die Schwachen und Dummen genau so viel Lebensraum haben wie die Hochwertigen, ihre Nachkommen immer armseliger werden müßten. Galton arbeitete weiter, entdeckte die Grundlagen der Zwillingsforschung und wies nach, daß die Zwillinge, die aus einem, in zwei Teile geteilten Ei stammen, förmliche Doppelgänger sind, während die, die aus zwei gleichzeitig befruchteten Eiern stammen, oft sehr verschieden voneinander sind: gleiche Umwelt und Erziehung, aber verschiedenes Erbgut ... Galton wurde zum Propagandisten, und er wußte einleuchtende Beispiele anzuführen. Sprach vom Kuckuck, der im Nest der Zieheltern genau wie deren eigene Jungen aufgezogen wird und eben doch ein Kuckuck bleibt. Beim Menschen aber sollten es nur Umwelt und Erziehung sein, die den einen zum Verbrecher, den andern zum Gelehrten machten? Galton fragte, ob es je einen

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Pferdezüchter gegeben habe, der versuchte, einen Ackergaul zum Traber zu dressieren? Lange bevor es eine wissenschaftlich fundierte Pflanzen- und Tierzüchtung gab, wußte jeder Bauer, daß nur von brauchbaren Eltern brauchbare Junge zu erwarten waren. Nur beim Menschen sollte das alles ganz anders sein? Francis Galton mietete in der Londoner Internationalen Gesundheitsausstellung des Jahres 1884 einen Stand, stellte Apparate zum Prüfen der Sehschärfe, zum Messen der Körper- und einiger Geisteseigenschaften auf, hängte ein Schild» Anthropometrisches Laboratorium« darüber. Die Neugier der Besucher siegte, und so konnte er mit Hilfe seiner Assistenten neunzigtausend Menschen untersuchen, hatte er, was ihm Schulen wie Gefängnisse und Hospitäler verweigerten: ein ungeheures Beweismaterial für seine Theorien. Lotte und Ernst Hefter beschrieben kürzlich, wie er dieses Material auswertete, immer wieder gegen seine unzähligen Widersacher kämpfte, wie er noch als ganz alter Mann, 1904 und 1905, vor der Londoner Soziologischen Gesellschaft seine Lehre gegen alle Einwände verteidigte: »Keine Rede kann davon sein, ruft er aus, daß die hochstehende Zivilisation die Menschen notwendig zugrunde richtet. Ist dies doch auch bei den Tieren keineswegs der Fall, wenn sie nur sachgemäß gezüchtet werden. Aber man muß dafür sorgen, daß Anlagen, wie Gesundheit, Energie, Tüchtigkeit, Männlichkeit, Ritterlichkeit, in kommenden Generationen gegenüber Feigheit, Schwächlichkeit und Siechtum herrschend werden. Daß dies auf keinem anderen Wege als dem der Vererbung zu erreichen ist, kann nicht zweifelhaft sein. Allerdings weiß man noch recht wenig darüber, welche Maßnahmen im einzelnen den Erfolg sicherstellen können. Darum aber, so fordert er unermüdlich, muß sich gerade der Staat dieser Frage annehmen. Nichts darf zu schwierig oder zu kostspielig erscheinen, um diesem Ziel näherzukommen. Da berufen sich kluge Leute auf die Unantastbarkeit der Menschenrechte und behaupten, es sei unmöglich, einem Geistesschwachen die Heirat zu verbieten. Sehen sie denn nicht, daß allenthalben im Völkerleben derartige Heiratsbeschränkungen bestanden haben, ja noch bestehen und ohne Murren eingehalten werden? Der rassenhygienische Gedanke muß ein unerschütterlicher Glaube werden, zu dem das Verantwortungsgefühl für die

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Gemeinschaft und ihre Zukunft den Einzelmenschen verpflichtet. Erst dadurch, daß man den Begriff der Nächstenliebe auf zukünftige Generationen ausdehnt, erkennt man die Verirrungen einer falschen Nächstenliebe, die der Rasse schädlich sind. Doch Francis Galton begnügt sich nicht etwa mit dieser Forderung, ungünstige Erbanlagen auszuschalten und auszumerzen. Ebenso wie wir empfindet er derartige Maßnahmen nur als unerläßlichen Notbehelf. Viel wichtiger erscheint ihm die Förderung und Unterstützung hochwertiger Familien. Da macht man, so klagt er, Stiftungen für die ausgefallensten Zwecke. Man wendet Unsummen auf, um Menschen über Wasser zu halten, die der Kultur, in der sie leben, nicht würdig sind. Alles ist weggeworfenes Geld und vergeudete Kraft, weil das Ergebnis entweder überhaupt gleich Null ist oder doch nie länger als ein Menschenleben vorhalten kann. Soll man es für möglich halten, daß manche englischen Studienhäuser ihren Angehörigen das Heiraten verbieten? Welche Kurzsichtigkeit gehört dazu, die äußere Bildung, das Ansammeln von Kenntnissen so zu überschätzen, daß man ihre Vergänglichkeit nicht sieht! Nehmen doch diese Menschen, wenn sie kinderlos bleiben, nicht nur all ihr Wissen mit ins Grab, sondern überdies die Fähigkeit, es zu verwerten. Eine planmäßige und amtlich unterstützte Familienforschung, so meint Galton, muß dahin kommen, ein sicheres Urteil über die in einer Familie fortlebenden Anlagen zu gewinnen. Wo sich dann Eigenschaften wie Langlebigkeit, Gesundheit, Tüchtigkeit, Klugheit finden, da haben Unterstützungen einzusetzen. Bei Stellungsbewerbungen und Gewährung von Vergünstigungen wird man darauf bedacht sein müssen, daß rassisch wertvolle und fruchtbare Familien durch sie gefördert werden.« Die Gelehrten hörten all das an, besuchten manchmal das Institut für Eugenik, das Galton und seine Freunde in London gegründet hatten, diskutierten die von ihm entworfenen Isochronenkarten und die Untersuchung der Fingerabdrücke, die ebenfalls von Galton stammt. Aber als 191 I der Begründer der Eugenik starb, da war er für die heuchlerischen Wohltätigkeitsvereine doch nur ein hartherziger gottloser Barbar und den meisten, die seine Lehren hätten verwirklichen können, völlig unbekannt. Ein Jahr vor seinem Tod aber war eine deutsche Übersetzung

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des Hauptwerkes erschienen, und die verfehlte ihre Wirkung nicht. Fast ein Vierteljahrhundert verging noch, aber dann wurde die deutsche Gesetzgebung bahnbrechend auf dem Gebiet der Rassenpflege, heute werden Galtons Gedanken langsam zum Allgemeingut, der »Weg zum vollkommenen Menschen« ist endlich beschritten. Es ist ein weiter Weg, und es wird ein sehr mühseliger Weg sein. Aber wie Liebigs Arbeiten nur der Anfang dazu waren, Nahrung und Lebensraum für die Menschheit zu schaffen, so sind auch Galtons Überlegungen nur ein Anfang gewesen. Wie es ein Menschenalter dauerte, bevor die Eugenik aus den Büchern ins Leben übernommen wurde, so blieben auch die Pionierarbeiten Gregor Mendels viele Jahrzehnte lang tot. Darwin wußte nichts von Mendel, Mendel nichts von Galton. Sie arbeiteten anscheinend aneinander vorbei. Auch hier fehlte die große Synthese. Aber wirklich wertvolle Ideen gehen nie verloren. Und so erschließen sich heute Galtons neuen Menschen langsam neue Pflanzen- und Tierwelten. Und nur, weil der tief gläubige Mendel ebenso wie Liebig und Galton den augenblicklichen Zustand nicht als unumstößlich ansah, weil er nach dem Warum und Wie fragte. Gregor Mendel wuchs in den Sudeten auf, und deren Äcker sind nicht sehr reich. Er wurde als Sohn eines Kleinbauern geboren, der hart um sein Brot ringen mußte, und so spürte er mehr noch als der Städter Liebig, wie nötig um die Mitte des vorigen Jahrhunderts Verbreiterung des Lebensraums für Europa geworden war. Mendel hatte als halbes Kind schon beobachtet, wie mancher Weizen mehr Körner gab als ein anderer, wie verschieden die Erträge ein und derselben Pflanzenart sein konnten. Der Lehrer in Heinzendorf gab ihm Naturkundebücher zu lesen, und so wurde die Sehnsucht des Bauernjungen nach Wissen und Lernen immer größer. Gegen den Willen des Vaters wurde Mendel schließlich auf eine Mittelschule in Znaim geschickt, hungernd lernte er, was es damals zu lernen gab, hungernd machte er seine Prüfungen. Dann starb der Vater, Mendels Traum von einer wissenschaftlichen Laufbahn schien vorbei. Aber die Mutter opferte sich, die Schwester opferte sich, schließlich ~mpfa~ e~n Lehrer den jungen Mendel an den Abt des Augustinerstifts m Brünn; Mendel trat in das Kloster ein, konnte endlich von Nahrungssorgen frei weiterlernen.

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Dieses alte Stift besaß weite Gärten und in Pater Bratanek einen Naturphilosophen, der sich mit großem Eifer in Goethes Pflanzenmorphologie vertieft hatte; dort fand Mendel ein Herbarium, und als er immer eifriger Botanik neben seiner Theologie studierte, gab man ihm ein Stück Grund, fünfunddreißig Meter lang und sieben breit, für seine Versuche. Diese Versuche galten der Pflanzenkreuzung, der Zuchtwahl. Mendel wollte ergründen, nach welchen Gesetzen markante Eigenschaften sich vererben, und so pflanzte er Speiseerbsen. Den ganzen Tag über gab er in Brünn Unterricht, abends aber führte Gregor Mendel gewissenhaft über jede einzelne Versuchspflanze Buch. Unendlich geduldig befruchtete er eine Rasse mit der andern, übertrug er mit feinen Pinseln die Blütenpollen rundsamiger auf kantigsamige, roter auf weiße Erbsen; um Bestäubung durch Insekten zu vermeiden, hüllte Mendel jede einzelne seiner Blüten in Gazebeutelchen, wochenlang befruchtete er, wochenlang wartete er auf das Reifen, und wochenlang zählte er dann die Früchte, teilte er sie in Klassen. Acht Jahre brauchte Mendel, aber dann stand fest, daß man. gewisse Eigenschaften einer Pflanze verstärken, gewisse andere abschwächen kann: das l} Gesetz von der freien Kombination der Erbanlagen« war gefunden. Mendel teilte die Ergebnisse seiner Arbeit 1865 dem Naturforsehenden Verein in Brünn mit, aber der verstand sie nicht; er selber hatte ja die ungeheuren praktischen Folgen, die seine Lehre haben konnte, nicht geahnt. Mendel wurde schließlich Abt seines Klosters und hatte wenig Zeit mehr für die Botanik, und so blieb ein halbes Jahrhundert lang Tier- und Pflanzenzucht etwas rein Empirisches, wie Ackerbau jahrtausendelang etwas rein Empirisches gewesen war. Blieb es, bis der Tübinger Professor Carl Erich Correns die Mendelschen Gesetze im Jahre 1900 noch einmal entdeckte. Correns tat viel für die Vererbungslehre, aber sie blieb doch vorerst nur theoretisch wertvoll, bis Erwin Baur, ein Apothekersohn aus lehenheim, 1911 Direktor des Botanischen Instituts der Berliner Landwirtschaftlichen Hochschule wurde. Baur war nicht nur ein ganz großer Wissenschaftler, er war auch ein überragender wirtschaftlicher Organisator. Was Mendel nicht unternahm und was Correns nicht gelang, das brachte Baur zuwege: er setzte 1922

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die Errichtung eines Instituts für Vererbungslehre in Dahlem durch, errichtete 1927 das Institut für Züchtungsforschung in Müncheberg in der Mark. Mit unbeugsamer Energie setzte er durch, daß eintausendvierhundert Morgen Land in Versuchsfelder verwandelt wurden, daß riesige Glashäuser, weite Stallungen entstanden, in denen man den Kampf um bessere Rassen, um ertragreichere, gegen Krankheiten und Schädlinge widerstandsfähige Tier- und Pflanzenarten auf breitester Basis aufnehmen konnte. Daß Professor Baur diese in ihrer Bedeutung heute noch gar nicht abzusehende Tat gelang, hat seinen Grund darin, daß er vorzurechnen verstand, wie millionenfach sich jede kleinste in die Vererbungslehre gesteckte Summe verzinsen kann. Baur hatte eben seit 19°4 nicht nur Mendels Versuche an anderen Pflanzen wiederholt, durch exakteste Beobachtungen, raffinierteste wissenschaftliche Arbeit erforscht, wie und warum gewisse Eigenschaften sich steigerten, andere verebbten, nicht nur die Lehren des Mönches weitestgehend ergänzt, sondern auch seit seiner frühesten Jugend Zahlen über Ernten und Ernteschäden gesammelt. Baut' besaß aus allen Teilen der Welt Material, das in drei Jahrzehnten zusammengestellt und durchgesiebt worden war, und diese Berichte, die über Pflanzenkrankheiten, Mißernten und Schädlinge vorliegenden Ziffern, waren erschreckend. Ein Drittel aller Ernten der Welt wurde allein von Insekten vernichtet, zernagt, ausgesogen, gefressen. Gewiß, diese Insekten sorgten auch durch ihre Tätigkeit der Samenübertragung dafür, daß die meisten Pflanzen überhaupt wuchsen; aber konnten sie nicht statt Nutzpflanzen Unkraut fressen? Konnte man nicht Pflanzen züchten, die den Schädlingen nicht schmeckten, die gegen Krankheiten immun waren? Mindestens drei Milliarden Mark mehr könnte Deutschlands Landwirtschaft jährlich einbringen, wenn man die Verluste durch Schädlinge ausschalten lernte, jede Minute könnten dreitausend Dollar verdient werden, wenn man die Vereinigten Staaten von ihren schädlichen Insekten befreite. Wenn so riesige Summen auf dem Spiel standen, waren da nicht ein paar Millionen Mark für Versuche ein glänzend angelegtes Kapital? Ein Drittel höhere Ernten, kam das nicht einem Drittel neuen Bodens, Lebensraum für dreißig Prozent mehr Menschen gleich? Professor Baur verstand, das Geld, das Müncheberg brauchte,

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aufzutreiben. Er kannte die ungeheure Schwierigkeit seiner Aufgabe, er wußte, daß die Natur ein fast unbesiegbarer Gegner ist, daß man zum Beispiel Getreide gezüchtet hatte, das gegen Rost, eine von einem winzigen Pilz hervorgerufene Krankheit, immun war, daß aber nach wenigen Jahren schon die Natur ihren Pilz an das neue Getreide angepaßt hatte und man wieder von vorne beginnen mußte. Aber selbst wenn man der Natur nur ein paar seuchenfreie, schädlingsfreie Jahre abringen konnte, war das nicht schon ein ungeheurer Gewinn? Professor Baur stellte fest, daß allein im Jahre 1926 und allein in Deutschland für 883 1000 Mark Vieh an Maul-und Klauenseuche zugrunde ging; er stellte fest, daß allein der deutsche Weinbau im Jahresdurchschnitt 3,5 Millionen Mark zur Bekämpfung der Reblaus ausgibt. Er nahm sich vor, die Rebläuse zum Verhungern zu bringen, infizierte tausende Weinreben mit allen möglichen Krankheiten, kreuzte die Überlebenden so lange, bis sie immun gegen Krankheiten wie gegen Läuse waren. Er kreuzte deutsche Hausschweine mit südamerikanischen Wildschweinen; so unglaublich das klingen mag, in Müncheberg verwandelte man systematisch die Klauen der Schweine in Hufe, züchtete man den Herd der Erkrankung einfach fort: Schweine mit Hufen sind vor Klauenerkrankungen natürlich sicher. Diese ersten Erfolge schon erregten Aufsehen in allen wissenschaftlichen Kreisen. Jetzt war die Vererbungslehre auch in den Augen vieler moderner Landwirte etwas höchst Reales geworden, aber deswegen hörten die Schwierigkeiten Münchebergs nicht auf. Man hatte nach langem Zögern Professor Baur die Mittel gegeben, großzügige Forschungsarbeit zu organisieren, aber man tat nichts, um die Ergebnisse dieser Forschung dem Volk nutzbar zu machen. 1927 führte Deutschland noch um 3,7 Milliarden Mark Nahrungsmittel ein - dreimal soviel als heute -, die Regierenden gaben zwar ein paar Millionen für neue Laboratorien aus, aber sie ruinierten gleichzeitig den Stand, der allein die Zuchtarbeiten fruchtbar machen konnte, die )}Advokatenregierungen « ruinierten die Bauern. Die gleichen Männer, die die Großindustrie für alle Übel der Welt verantwortlich machten, forderten den sozialistischen Groß-

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grundbesitz, verdammten den Kleinbauern, sahen mit Bewunderung auf die unendlichen Prärien Amerikas und seine Dampfpflüge. Was machte es, daß die gegen Ende des vorigen Jahrhunderts zum Beispiel in Frankreich errichteten Maschinengüter durchweg mit Verlust arbeiteten, auf den gegen überseeische Felder kleinen Gütern die teuren, nur vier Monate im Jahr arbeitenden Maschinen allen Nutzen fraßen, während die angeblich nicht lebensfähigen Bauern 1871 nicht weniger als achtundsechzig Prozent der französischen Kriegsanleihen zeichneten? Das System des Industriesozialismus war aufgebaut wie das Pflanzeneinteilungssystem Linnes: die Einteilungsgrundlage war völlig einseitig; wie Linne nur auf das Geschlecht sah und so eine seiner Klassen zwei Familien umfaßte, eine andre aber sechstausend, so sahen die Marxisten nur auf eine einzige kleine Eigenschaft unter allen Arbeitenden. Sie sahen nur die, die Maschinen bedienten: die Industriearbeiter. Was für die geschah, mußten die Bauern bezahlen. Was Müncheberg leistete, blieb lange bloße Theorie. Aber Forscher sind zäh, Professor Baur arbeitete weiter. Während die damals Regierenden das längst vergessen hatten, erinnerte Professor Baur sich daran, daß im Winter 1916 ganz Deutschland Kohlrüben statt Kartoffeln hatte essen müssen, weil die Blattfäule den Großteil der Kartoffelernte vernichtet hatte. So züchtete er Kartoffelarten, die nicht nur gegen die Blattfäule immun sind, sondern durch Kreuzung mit wilden Arten Guatemalas und Costaricas auch noch kältefest wurden, nicht mehr durch den geringsten Frost süß werden; er züchtete Kartoffeln, deren Knollen nicht mehr wie früher weit auseinander im Boden liegen, die man also mühsam zusammensuchen muß, sondern deren Knollen eng beisammenliegen, deren Ernte so ganz wesentlich billiger wird. Lange bevor von Devisennot und Autarkie die Rede war, erkannten Baur und seine Mitarbeiter den Wert rationalisierter Viehhaltung, moderner Fettwirtschaft. Sie suchten nicht nur bessere Nahrung für die Menschen, sondern auch besseres Futter für das Vieh zu finden, das ja wieder den Boden düngt, das ja wieder Fleisch und Milch und Fett und Häute liefert, wichtiger als alle Diamantengruben ist. Will Deutschland sich zum Beispiel mit Schweinefleisch selbst versorgen, so braucht es fünfundzwanzig Millionen Schweine. Die

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sind da. Aber um sie zu mästen, fehlen noch deutsche Futtermittel, denn wenn 70 Millionen Menschen jährlich nur etwa 9 Millionen Tonnen Getreidewert brauchen, so haben 25 Millionen Schweine 20 Millionen Tonnen nötig. Nahrhaftestes, eiweißreichstes Futtermittel ist die Lupine, die Pflanze, an deren Wurzeln auch die Stickstoffbakterien sitzen, die so, statt dem Boden Kraft zu entziehen, dem Boden ständig Kraft zuführt. Die Lupine ist anspruchslos, wächst auf den ärmsten Böden, aber sie ist leider auch bitter, das Vieh fraß Lupinen nicht. Wie es nun in großen Rudeln schöner weißer Schafe immer auch ein schwarzes gibt, so gibt es auf großen Feldern bitterer Lupinen immer wieder auch ein paar Pflanzen, die süß sind, die »aus der Art schlagen«. Die Forscher in Müncheberg wußten das längst; aber aus vielen hunderttausend bitter schmeckenden Pflanzen die wenigen süßen herauszufinden, das schien lange unmöglich. Bis man beobachtete, daß auch Hasen immer nur süße Lupinen fraßen und die bitteren stehenließen, bis es nach tausend Schlichen gelang, den Hasen die eben angefressenen Lupinen abzujagen, sie umzupflanzen und ein Feld süßer Lupinen zusammenzubringen: so gewann man die ersten paar Gramm der einhundertfünfzigtausend Zentner Samen bitterstoffloser Lupinen, die 1935 an die Landwirte verteilt wurden. Neben den süßen Lupinen, die heute schon ein ungemein wichtiges Futtermittel darstellen, züchtete man Steinklee, der nicht mehr holzig ist, man züchtete die kartoffelähnlichen Topinambur, man züchtete Riesenerdbeeren mit Walderdbeerengeschmack und Johannisbeeren so groß wie Stachelbeeren. Während die kalifornischen Züchter kernlose Orangen auf den Markt brachten, machten die deutschen Forscher aus Gras Weizen: man kreuzte gewisse Gräser des Mittelmeergebiets mit rumänischen Weizenarten, erzielte so eine frühreife, ungemein anspruchslose, gegen fast alle Krankheiten völlig immune Getreideart. Man schuf mehrjährigen Roggen, Roggen, der einmal gesät wird und wie ein ausdauernder Busch fünf bis sechs Jahre lang aus den Wurzeln sich erneuert; man entdeckte immer neue Methoden, unsere Kulturpflanzen aufzufrischen, hart gegen \'Vitterung und Krankheiten zu machen. Was heute auf Europas Weizenfeldern wächst, die Gerste, die wir heute bauen, ist, wie fast alles Getreide, ja eine ganz zufällige Erbschaft. Irgendein Einwanderer, irgendein fremder Bauer brachte

Oben: Das

Ergebnis

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folge: Beide Felder gleichen

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Wissenschaft

über

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staude im Gewächshaus norddeutschen

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Versuchs-

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EUROPAS

Laboratorium zur Untersuchung von Getreidesorten in der Biologischen Reichsanstalt. mühsame Kleinarbeit werden hier die lebenstüchtigsten Arten ausgesondert, durch besser werdendes Saatgut der Ernte-Ertrag ständig gehoben.

Durch immer

Topfversuche in der landwirtschaftlichen VersuchsstationLimburgerhof der I. G. Farbenindustrie Aktiengesellschaft, deren Aufgabe in der Untersuchung von allem dem besteht, was mit der Ernährung und Pflege der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen zusammenhängt. Zur Prüfung dieser Fragen dient vor allem der wissenschaftliche Vegetationsversuch, der teils in Gefäßen und ummauerten Parzellen, teils im Felde selbst exakt durchgeführt wird. Auch die Wirkung der Düngemittel auf den verschiedenen Bodenarten wird festgestellt. Die Abhängigkeit der Ernteergebnisse von den Witterungseinflüssen wird ebenfalls beobachtet. Hierfür dienen die in einer besonderen Wetterstation gemachten Feststellungen als Grundlage.

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sie mit. Man weiß heute, daß die Wiege der meisten unserer Kulturpflanzen nicht in China oder an den großen Flußdeltas stand, in denen zuerst Ackerbau getrieben wurde, sondern daß sie aus Hochgebirgen und Hochsteppen Zentralasiens stammen. Im harten Klima des Hindukusch und des Pamir, in Nuristan und im indischen Chitral fand die Auslese statt: die Pflanzen, die dort sich gegen Wind und scharfe Temperaturunterschiede bewährten, trotz aller Hemmnisse Früchte trugen, wurden von den Karawanen in die Flußniederungen gebracht, wurden zu den Ahnen unserer Garten- und Kulturpflanzen. Wir wußten das schon lange, aber wir wußten nicht, ob die Arten, die wir bauen, auch die' richtigen sind. Am Nil und Euphrat gelten doch andere Lebensbedingungen als in Zentraleuropa. Es mag sein, daß wir seit Jahrhunderten trockenheitliebende Weizens orten bauen oder Äpfel, die sich trotz aller Anpassung immer noch mit Frost quälen, während es in der Urheimat unserer Kulturpflanzen Arten geben mag, die spielend alle Tücken des Klimas aushalten könnten. So wurde 1935 die deutsche Hindukusch-Expedition auch mit der Sammlung von Weizenproben und Obstarten betraut, und Dr. Scheibe brachte aus Afghanistan fünfhundert verschiedene Weizenarten mit, Stecklinge und Samen frostharter Obstarten, vierhundert Gerstenproben. Seit 1935 wird in allen deutschen Forschungsstätten versucht, mit dem frischen Blut, das man vom Hindukusch holte, mit den seit Jahrtausenden durch härtestes Klima ausgesiebten wilden Arten neue Formen zu züchten. Schon hat der Hindukusch-Weizen, mit argentinischen Arten gekreuzt, Pflanzen ergeben, die man noch unter Schnee ernten kann; man züchtet Gemüse, die gegen fast alle in Zentraleuropa vorkommenden Krankheiten immun sind, eine Gerstenart, die viel eiweißhaitiger als alle bekannten ist. Ganz neue, ungeahnte Formen entstehen. Man läßt fast nirgends mehr blind den Zufall regieren; selbst Kanada will nicht mehr nur durch die Größe seiner Felder siegen, von seinem Kapital leben, selbst die reichsten Länder hören auf zu verschwenden. Auch Kanada »zähmt« den Weizen, macht aus den wilden Gräsern der Steppen immer bessere Körnerträger. Wie Deutschland den » Zauberer von Müncheberg« hat, so Kanada Hermann Trelle, den »Weizenkönig«. Als die Prärien erschlossen wurden, da gab es oft Mißernten, weil in Kanada Hitze und Kälte dichter beieinander liegen als SZI·WI·X

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sonstwo, weil glutheißen Tagen Nachtfröste folgen. Der europäische Weizen reifte zu langsam für das Klima Kanadas. Dann kam der Ingenieur Hermann Trelle nach dem Norden, nach Peace River, um eine Brücke zu bauen. Es gefiel ihm so gut, daß er blieb und Bauer wurde. Und weil er systematischer vorging als alle anderen, weil er hier auch die den europäischen Fachleuten fehlenden unendlichen Felder fand, die erst Sortenwahl richtig ermöglichen, Fehlbefruchtungen durch die Nachbarfelder ausschließen, weil Trelle einen harten deutschen Schädel hatte, deshalb zog er bald Weizen, der auf allen landwirtschaftlichen Ausstellungen goldene Medaillen bekam. Er bewies, daß je höher man nach dem Norden geht, man desto besseren Weizen bekommt. Als Schnee auf seine Ernte fiel und Frost seine Felder ruinierte, züchtete er wie unsere Gärtner immer härtere Weizensorten. Und schließlich erreichte er den Weizen s Marquis «, der zehn Tage früher reift als der gewöhnliche. Er gewann dadurch für Kanada mindestens hundert Millionen Dollar jährlich. Aber sein Eifer ließ nicht nach; heute gibt es die Sorten »Prelude s und s Ruby«, und man träumt von winterhartem Weizen, Weizen, der in Frost und Schnee aushält wie so viele unserer modernen Gartenpflanzen. Durch Pflanzenverbesserung geht man dem Klima zu Leibe wie durch künstlichen Regen, künstlichen Nebel. Und kann man Monopole besser brechen als durch die Anpassung der wichtigsten Kulturpflanzen an alle Klimaarten ? Der Bauer fürchtete - und fürchtet zum Großteil noch immer - tausend Dinge, über die er keine Macht hat. Wird Trockenheit seine Ernte vernichten oder Schädlinge? Wird das Getreide für das kommende Jahr reichen? Werden die Preise sinken oder steigen? Wie der Bauer ewig im dunkeln tappt, so weiß auch der Verbraucher nie, ob er mit viel oder mit wenig Brot wird rechnen können. Landwirtschaft ist zum Großteil noch immer gefährliche Spekulation. Es ist so, als ob Fords gigantische Autofabriken am Montag tausend erstklassige Wagen, am Dienstag einen Haufen wertlosen Gerümpels, am Mittwoch ein Dutzend halbfertiger Motoren, am Donnerstag aber zehntausend herrlicher Fahrzeuge liefern würden. Landwirtschaft ist ein Glücksspiel mit gigantischen Einsätzen, in Deutschland allein mit einem jährlichen Einsatz von zehn bis fünfzehn Milliarden Mark. Ackerbau ist ein Spiel, weil

Wind und Wetter außerhalb aller menschlichen Macht scheinen. Den Boden reich machen, das war ein gewaltiger Schritt nach vorwärts. Aber auch auf bestem Boden kann Getreide vom Hagel vernichtet, von der Sonne ausgebrannt werden, können Pflanzen erfrieren. Kampf ungünstigem Klima also, heißt jetzt die Parole. Und was haben wir erreicht?

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Der

Sieg über

das Klima

Uralt ist der Kampf der Menschheit gegen die Unbilden der Witterung. Er begann mit kultischen Handlungen, mit dem Errichten von Steinidolen, mit Menschenopfern, die die Wettergötter versöhnen sollten. Die Urmenschen schleuderten Speere und Pfeile gegen Gewitterwolken, manche Weinbauern schießen noch heute das Wetter fort, versuchen, durch Explosionen Hagel fern von ihren Kulturen zum Niederfallen zu bringen. Man lernte durch wärmende Feuer, durch Kleider und wettersichere Häuser sich vor Kälte und Regen schützen, lernte Pflanzen durch Glas behüten. Man lernte Meeresströmungen und Winde kennen, von denen das Klima abhängt. Nachdem 1820 H. W. Brandes die erste Wetterkarte zeichnete und 1849 in England zum erstenmal telegraphisch einlaufende Wettermeldungen zu einem Gesamtbild zusammengestellt wurden, man 1863 in Frankreich die ersten täglich erscheinenden Wetterkarten herausgab, ist heute der Austausch aller Wetterbeobachtungen der Erde geregelt, alle staatlichen Wetterwarten funken oder drahten ihre Beobachtungsergebnisse an die betreffenden Landeswetterwarten, die sie verarbeiten, als sogenannten s Sammelobs e weitergeben. Sendezeiten und Wellenlängen sind international geregelt; binnen weniger Stunden stehen heute allen Wettervorhersagern die letzten Schiffs- oder Stationsbeobachtungen im Raume zwischen Grönland und den Azoren, Now~ja Semlja und Ägypten zur Verfügung. Wie der WeltpostverelO, arbeitet auch die wissenschaftliche Organisation der Wetterwarten vorbildlich zusammen, reibungsloser meist als die politischen Organisationen irgendeines einzelnen Landes. Man hat gelernt, langfristige Prognosen zu stellen, die auch eintreffen. Durch im Sommer 1935 zum erstenmal ausgegebene Wettervoraussagen über zehn s·

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Tage konnte die Landwirtschaft ihre Ernten regeln, wurde Schaden durch verregnetes Heu oder verfaulenden Weizen vermieden; im Jahre 1940 werden die internationalen Vorarbeiten erledigt sein, durch die man während der ganzen Kulturdauer, von der Saat bis zur Ernte, die Bauern zwei Wochen im voraus über alle Gefahren des Klimas wird unterrichten können. Schon ist es gelungen, durch von Flugzeugen ausgestreuten, elektrisch geladenen Sand Regenschauer zu erzeugen, längst verwenden alle Gemüsebauern und Weingärtner Rauchpatronen und chemische Substanzen, die Nebel erzeugen, die dichte Wolken über den Kulturen bilden, so die Pflanzen vor Frost schützen. Die Klimabeeinflussung im großen aber ist bisher unmöglich geblieben. Durch Raubbau haben die Menschen das Klima verschlechtert, Pläne zur Klimaverbesserung aber sind nur auf dem Papier geglückt. Werden sie auf dem Papier bleiben? Einer der gewaltigsten und genialsten, weil - zumindest theoretisch und technisch - einfachsten Pläne zur Erweiterung des Lebensraumes ist der des Münchener Regierungsbaumeisters Hermann Sörgel. Sörgel und ein Dutzend an seiner Idee interessierter Fachleute stellten eindeutig fest, daß ohne unüberwindliche technische Schwierigkeiten die Meerenge von Gibraltar ebenso wie die Dardanellen durch einen Damm abgeriegelt werden könnten. Daß man also große Teile des Mittelmeeres trockenlegen, zweieinhalb Millionen Quadratkilometer bestes Kulturland gewinnen könnte, weil ja bekanntlich die ins Mittelmeer mündenden Flüsse nicht genügen, die Verdunstung wettzumachen, weil ja nur durch die Enge von Gibtaltar zufließendes Atlantikwasser das Mittelmeer auf seinem derzeitigen Niveau erhält. Sie stellten genaue Pläne für die Dämme wie für das Hochspannungsnetz auf, durch das die gewaltigen Kraftmengen, die man bei Gibraltar und an den Dardanellen gewinnen will, über ganz Europa verteilt werden sollen. Sie lösten technisch alle Fragen, arbeiten weiter, obwohl Sörgel sehr wohl die machtpolitischen Schwierigkeiten bewußt sind, er sich keine Illusionen über die Einstellung Englands und Frankreichs macht. Er arbeitet weiter, und um seinem »Atlantropa« genannten Projekt zur Verwirklichung zu verhelfen, hat er gleichzeitig auch einen sehr interessanten Plan zur Klimaänderung Afrikas ausgearbeitet, hofft er, die europäischen Widerstände gegen sein

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Mittelmeerneuland zu brechen, indem er den afrikanischen Wüstenbesitzern die Erschließung ihrer riesigen, jetzt unfruchtbaren Trockengebiete ermöglicht. Sörgel geht von dem Grundsatz aus, daß alles Leben, Klima und Wachstum mit dem Vorhandensein von Wärme und Wasser Neuland im Mittelmeer l/"Million qkm

Die technische Erschließung

des Mittelmeers

den Projekten Hermann

und Zenfra/afrikas

nach

Särge/so

Durch Aufstauung des Kongo würde ein etwa 900000 Quadratkilometer bedeckender Süßwassersee entstehen, der nicht nur Wüsten bewässern, sondern auch die Klimaunterschiede Afrikas ausgleichen, Mrika für die Weißen erträglicher machen könnte.

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innig verbunden sind. Wärme gibt es in Afrika überreichlich, auch Wasser findet sich in gewaltigen Mengen, aber heute fließen diese gewaltigen Wassermengen, fließen der Kongo und der Sambesi ungenutzt ins Meer. Sörgel plant die Anlage von drei künstlichen Binnenmeeren an den Stellen, die von der Natur vorgezeichnet scheinen, im Kongobecken, im Tschadbecken und südlich der Viktoriafälle. Das Kongobecken, das einen bis zu einer Höhe von fünfhundert Meter über dem Meeresspiegel geschlossenen Kessel darstellt, war nach Ansicht der Geologen in früheren Zeiten schon einmal ein Binnensee. Nur der Kongoabfluß war vorhanden, und dieses verhältnismäßig schmale Austrittstal ließe sich heute durch einen Staudamm abriegeln, so daß man im Laufe der Zeit wieder ein riesiges Süßwasser-Binnenmeer bis zu einer Größe von neunhunderttausend Quadratkilometern entstehen lassen könnte. Am Unterlauf des Kongo sind außerdem vier Staustufen für Kraftwerke ausbaumöglich. Nördlich des Kongobeckens bildet der abflußlose Tschadsee den Mittelpunkt und die tiefste Stelle eines zweiten großen, ringsum geschlossenen Beckens. Dieses Becken ist dem Kongo so benachbart, daß ein Durchstich und Überlauf mit Kraftwerk vom Kongobecken in das hundert Meter tiefer gelegene Tschadbecken möglich wäre. Gleichzeitig könnte eine schiffbare Wasserstraße, ein »zweiter Nil«, vom Tschadsee zum Mittelmeer als Ergänzung der Transsaharabahn gebaut werden. Dieser zweite Nil, dessen Jahresleistung auf die zwanzigfache Leistung des heutigen Nils geschätzt wird, würde einen regelmäßigen Binnenschiffsverkehr mitten durch das Herz Afrikas gestatten. Als drittes großes Speicherbecken ist das vom Sambesistrom gespeiste Viktoriameer gedacht, so daß die jetzige Gesamtküstenlänge Afrikas von nur dreißigtausend Kilometern auf fünfundvierzigtausend Kilometer gesteigert würde. (Europa - obwohl nur ein Drittel so groß als Mrika - hat eine Küstenlänge von siebenunddreißigtausend Kilometern.) Die Erschließung Afrikas von innen heraus durch drei Binnenmeere in Verbindung mit Großschiffahrtsstraßen, Wasserwerken und Fernkraftleitungen: gewiß ein gigantisches Projekt, das jedoch mit den uns heute zur Verfügung stehenden technischen Mitteln zweifellos durchführbar ist. Ob es aber politisch durch-

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führbar ist, ob es nicht zu einem Weltkrieg, zu einem erbitterten Ringen führen würde, wie das russische Projekt des s SachalinDammes«, sobald auch nur das nötige Kapital für den Arbeitsanfang beisammen ist, sobald auch nur der erste Spatenstich getan würde? Wie Sörgel Afrikas Klima für die Weißen erträglich machen will, so wollen die Russen das Klima Sibiriens verbessern. Sie gehen davon aus, daß im Japanischen Meer eine Strömung kalten Wassers, die Limanströmung, hart an der sibirischen Küste südwärts fließt, eine warme Meeresströmung, die Tsuschimaströmung, längs der japanischen Küste nordwärts zieht. Die Folge davon ist, daß die sibirische Küste den größten Teil des Jahres hindurch vereist ist, während Japan ein überaus angenehmes Klima hat. » Die kalte Meeresströmung kommt nun «, sagt Professor Charles F. Talman vom Meteorologischen Büro der Vereinigten Staaten, »aus dem Ochotskischen Meer und passiert die Meerenge zwischen der Insel Sachalin und dem Festland. An einer Stelle ist diese Meeresstraße nun so eng, daß es nach Ansicht russischer Sachverständiger nicht allzu schwer wäre, sie mit Hilfe eines Dammes abzuriegeln. Auf diese Weise könnte aus dem Ochotskischen Meer kein kaltes Wasser mehr in das Japanische Meer gelangen; und die Erbauung eines solchen Dammes, von dem man ein milderes Klima für Ostsibirien, die Befreiung der Küste einschließlich Wladiwostoks von ihrer winterlichen Eisblockade und ihren beständigen sommerlichen Nebelschwaden erwartet, wird in der Sowjetunion ernsthaft diskutiert.« Aber, abgesehen von dem verzweifelten Widerstand Japans, wären die Wirkungen auch wirklich die erhofften? Die Erwärmung des Wassers könnte leicht eine Verstärkung der kalten westlichen Winde zur Folge haben, das Klima könnte leicht schlechter als besser werden. Wir wissen heute noch zu wenig über das Wetter, um es so gewaltsam zu verändern. Seit 1845, da der Meteorologe James Epsy seine Schrift s Die Philosophie der Stürme e veröffentlichte, hat man ja allerlei gelernt. Man will nicht mehr wie dieser erste Klimadoktor Regen durch Verbrennen von riesigen Holzvorräten hervorrufen, obwohl man weiß, daß die von großen Bränden aufsteigende Luft sehr wohl genug Feuchtigkeit kondensieren kann, um lokale Regenschauer hervorzurufen, obwohl tatsächlich

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manchmal Waldbrände durch die Regengüsse gelöscht werden, die sie selbst hervorbrachten. Meeresströmungen zu ändern, Wüsten zu überfluten, Klima im großen ~umzubauen «, das ist auch heute noch nicht nur viel zu teuer, sondern auch noch viel zu unsicher. Wir werden wahrscheinlich einmal das Wetter ändern , wie wir heute die Eigenschaften von Tieren und Pflanzen ändern; diese Zuchtwahl aber ist doch noch für lange Zeit der beste Kampf gegen Naturmonopole. Schon ist es Pflanzenphysiologen, wie zum Beispiel Lysenko in Odessa, gelungen, die »Keimstimmung« verschiedener Pflanzen zu erhöhen: im rauhen Klima ist der Pflanzenbau ja vor allem dadurch erschwert, daß es an der zur Keimung und Reife nötigen Wärme mangelt. Wenn man die Saaten nun durch chemische Behandlung oder durch Züchtung dazu bringen könnte, anspruchsloser zu werden? Durch die »Vernalisation« genannte Methode Lysenkos ist das heute schon bei Kartoffeln, Zuckerrüben und Spinat gelungen. Man hat sie innerhalb des Polarkreises angepflanzt, und sie gedeihen, sie haben den eisigen Norden besiegt. Noch ist es nicht gelungen, das Klima der Tropen nach Europa zu bringen. Aber brauchen wir es denn, wenn wir auch ohne fiebrige Dschungel Kautschuk erzeugen, ohne die blendende Sonne Westindiens Zucker gewinnen können? Als Zucker aus Rüben immer mehr den Rohrzucker der Tropen ersetzte, da war ein entscheidender Sieg über das Klima errungen, da war bewiesen, daß Naturnachteile nicht mit Ergebenheit hinzunehmende, unabänderliche Dinge sind. Zucker aus Rüben, das war der erste augenfällige Sieg der Forschung über ein Monopol der Sonnenländer, das ist auch der augenscheinlichste Beweis für die ungeheure Bedeutung der Zuchtwahl. Rübenzucker ist ein Triumph Mendels, obwohl die ersten Rübenzüchter nichts von dem Mönch wußten, obwohl der Zuckergehalt der Rüben durch Zucht gesteigert wurde, bevor man die Gesetze kannte, die die Rassenverbesserung beherrschen, obwohl Rüben rein empirisch verbessert wurden. Was Pupin, der Erfinder der in der Telephonie verwendeten Spulen, über Thomas schrieb, das gilt aber abgewandelt noch viel mehr für Züchtung und Synthese. »Wenn die wissenschaftliche Forschung eines überarbeiteten kleinen Angestellten wie Thomas, der Chemie nur in einer Abendschule lernte, so unendlich viel für Deutschlands Eisenindustrie und Ackerbau

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tun konnte, wieviel kann man da vernünftigerweise erst von den großen Forschungslaboratorien der Hochschulen und Universitäten erwarten?« Wenn im dunkeln tappende, ohne wissenschaftliche Erklärung und Leitung arbeitende Züchter schon Europa vom Rohrzucker unabhängig machten, was kann dann erst die Kaiser- Wilhelm-GeseIlschaft, was können dann die rund zweihundert Züchtungslaboratorien, die es heute auf der Welt gibt, was kann dann erst das Heer moderner Forscher und Ingenieure, Biologen und Chemiker vollbringen?

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Sieg der Forschung

über

der Sonnenländer

Süßstoffe benutzt die Menschheit seit undenklichen Zeiten, schon die Steinzeitmenschen sammelten den Honig wilder Bienen, immer schon kannte man den hohen Nährwert süßer Pflanzensäfte. Diese süßen Pflanzensäfte aber fanden sich vor allem in den Sonnenländern. Sehr früh schon wird man entdeckt haben, daß junge Palmtriebe süß schmecken. Bereits die biblische Geschichte vom Manna beweist, daß man den Süßstoff der in den Tälern des Sinai auch heute noch wild wachsenden Manna-Tamariske kannte. Zukker findet sich in allen Pflanzen, so konzentriert aber, daß man ihn schmeckt, meist nur in solchen heißer Länder; in Pflanzen, in denen die Sonne ihn eindickt. Der erste &feste Honig, der nicht von Bienen stammt «, wurde von Alexander dem Großen, 327 vor Christus, im Pandschab, in Indien, gegessen; er stammte aus dem Zuckerrohr; aber wie sehr man auch versuchte, es in kälteren Zonen einzubürgern, immer blieb dieses zuckerreichste aller Gräser auf die Tropen beschränkt. Immer waren beschwerliche Reisen nötig, um Rohrzucker nach Europa zu bringen, und so blieb er bis ins neunzehnte Jahrhundert ein reiner Luxusartikel, eine Leckerei für die Reichen. Westindien, Java und Bengalen ließen sich ihr Monopol bezahlen, und dieses Monopol wurde immer drückender, denn die rasche Verbreitung von Tee und Kaffee, Kakao und Schokolade im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert führte zu immer regerer Nachfrage nach Zucker, weil der Honig, der immer noch der Süßstoff der Massen war, den Geschmack dieser Genußmittel verdarb. Immer mehr Menschen brauchten Süßstoffe: denn wenn es zur Zeit, da allein wilder Honig verwendet wurde, wenn es im paläolithischen und frühen neolithischen Zeitalter höchstens eine Million, in den fruchtbarsten Perioden der frühen historischen Zivilisation nie mehr als hundert Millionen Menschen auf der Erde gab, so lebten im Jahre 1800 schon 775 Millionen, 1900 schon 1729 Millionen auf unserem Planeten. Und nicht nur die Zahl der Verbraucher, auch ihre Ansprüche stiegen. Das beginnende Zeitalter der Maschinisierung

brachte den Massen Europas einen höheren Lebensstandard; wie der Seifenverbrauch mit wachsender Industrialisierung sprunghaft stieg, so auch der Zuckerkonsum. Während auf den Kopf ~er Bevölkerung 1927 bis 1928 zum Beispiel in China nur 2,2 Kilo Zucker kamen, verbrauchte Deutschland pro Kopf 25,5 Kilo, die Vereinigten Staaten 49,5, England 45 Kilo. Seitdem Rohrzucker durch die Kreuzzüge nach Zypern und Südeuropa kam, seitdem man ihn 1573 zum erstenmal in Augsburg raffinierte, hatte man. nicht aufgehört, neue Pflanzun.gen anzulegen. Aus Indien war die Zuckerrohrkultur nac~ China und Vorderasien gekommen, seit der Entdeckung Amerikas pflanzte man Zuckerrohr vor allem in Westindien. Weit mehr als Baumwolle und Tabak hatte der Zucker durch die Arbeit auf den glühenden Rohrplantagen zum Aussterben der Indianer geführ:, Anlaß zum Sklavenhandel gegeben. Die flämischen Kaufleute, die 1517 von Karl V. das Privileg erhielten, afrikanische Sklaven nach Amerika zu verkaufen, nutzten es gewaltig aus; durch den berühmten &Dreiecksverkehr«, der mit Tauschwaren, vor allem Alkohol und Baumwollwaren, nach der westafrikanischen Küste ging, von dort Sklaven nach Westindien brachte und mit Zucker, Tabak und Baumwolle nach Europa zurückkehrte, kamen rund eine Million Arbeiter auf die Pflanzungen der Neuen Welt. So schnell aber, wie Europa Zucker verlangte, konnte man nicht Land roden; die Afrikaner wurden immer scheuer, waren immer schwerer zu erjagen; bald kamen zum Monopol der Pflanz~r auch noch Handelsmonopole Genuas, Venedigs und Konstantinopels: der Zuckerpreis stieg. Je teurer der Zucker wurde, desto erfindungsreicher w~rden die Menschen. Man zapfte Ahornbäume an, gewann aus Jedem etwa zwei Kilo Zucker. Man versuchte, Zucker aus Mais zu gewinnen' in den amerikanischen Nordstaaten und in Kanada versuchte man das Monopol der Rohrzuckerländer zu brechen, indem man ganze Wälder des Zuckerahorns pflanzte und so 1840 geg~n achtzehn Millionen Kilo Süßstoff erzeugte. Man fand, daß ein Verwandter des Zuckerrohrs, das Sorghum oder Mohrenhirs.e, auch in nichttropischen Ländern gedeiht, pflanzte es besonders in den Nordstaaten, um dem amerikanischen Süden durch Zuckerkonkurrenz die Sklaverei abzugewöhnen. All diese Versuche

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BRICHT MONOPOLE

führten jedoch zu nichts Besonderem. Die große Wandlung kam erst durch systematische Forschung, durch die zähe Arbeit der Wissenschaft. Wie seit langem Zuckerahorn und Zuckerhirse bekannt waren, so wußten schon die Babyionier, daß gewisse Rüben süß schmekken; im »Verzeichnis der Küchengärten des Königs MerodachBaladan«, der im achten Jahrhundert vor Christus regierte, findet sich der Mangold angeführt, ebenso wie in den Küchengartenverzeichnissen Karls des Großen; im zwölften und dreizehnten Jahrhundert wurde die Stammform der heutigen Zuckerrübe im Rheinland, in Südfrankreich, Spanien und Italien kultiviert. Als Zuckerlieferant aber blieb die Rübe unbedeutend. Da ihr Saft nicht ausfloß wie der Saft des Ahorns, kaute man sie nur, wie man vor Jahrtausenden das Zuckerrohr zerkaut hatte. Selbst warum die Rübe süß schmeckte, interessierte erst den Berliner Chemiker Andreas Sigismund Marggraf. Systematisch nach zuckerhaitigen Pflanzen suchend, war Marggraf auf die Rübe gestoßen und hatte sofort erkannt, welch ungeheure Vorteile es bieten mußte, rasch wachsende Rüben statt s Zuckerbäume s zu pflanzen, die ein halbes Menschenalter zum Reifen brauchten. In Berichten an die Akademie der Wissenschaften hatte er im Jahre 1747 dann festgestellt, daß in der Rübe s nicht bloß ein zuckerähnliches Wesen vorhanden ist, sondern wahrer, vollkommener Zucker, dem bekannten aus Zuckerrohr völlig gleich, der sich reichlich und rein, fest und trocken, in schönen, harten Kristallen abscheiden läßt, so daß der Zucker, dieses süße Salz, sowohl aus unsern Pflanzen zu machen ist als aus dem fremden Zuckerrohr ... « Marggraf hatte auch Extraktionsmethoden ausgearbeitet, ein Fünfzehntel des Rübensaftes in reinen Zucker verwandelt. Neben der Untersuchung der Runkelrüben aber arbeitete er auch an der Darstellung des Phosphors und der Phosphorsäure; er hatte einen harten Kampf auszufechten, um den Chemikern seiner Zeit das Arbeiten mit dem Mikroskop beizubringen; er gewann als erster Zinkmetall durch Destillation des Erzes und hatte daher keine Zeit, endlos um Geld für eine Zuckerfabrik zu betteln. Über die Verfassung der Schrift s Chemische Versuche zur Gewinnung des Zuckers« kam Marggraf nicht hinaus. Ein halbes Jahrhundert verging, bevor seine Ent-

ZUCKER AUS RüBEN, HOLZ UND KOHLE

deckung technisch ausgewertet wurde. Dann aber fand Franz Kar! Achard, ein Schüler Marggrafs, die Unterstützung Friedrich Wilhelms IH.; er erlangte die Mittel, seines Lehrers Erfindung »zum Wohle der Mitbürger und zur Ehre der Heimat im großen nutzbar zu machen«, wie er 1799 der Akademie der Wissenschaften sagte. Und nun begann ernsthaft der Kampf gegen das Zuckermonopol der Sonnenländer. Achard machte systematische Anbauversuche mit der Runkelrübe, er baute Apparate zur Konzentration ihres Saftes. Zäh verteidigte er sich gegen die Angriffe seiner unzähligen Feinde, gegen die privilegierten Kolonialzuckersiedereien wie gegen die mißtrauischen Ämter und staatlichen Fachleute, die trotz des königlichen Wohlwollens für Achard, den Neuerer, ihm tausend Knüppel zwischen die Beine warfen. Achard gab nicht nach, opferte alle seine Berliner Stellungen, seine Lehrämter und Mitgliedschaften gelehrter Gesellschaften und zog auf das völlig herabgewirtschaftete Gut Kunern in Niederschlesien, das man ihm zugewiesen hatte. Mit unendlicher Mühe errichtete er dort seine Rübenzuckerfabrik und erntete nach großen Opfern 1802 viertausend Doppelzentner Rüben, die er in hundertundsechzig Doppelzentner Rohzucker verwandelte. Rund einundzwanzig Jahrhunderte nachdem die Inder gelernt hatten, Zuckerrohr mit Wasser vermengt auszupressen, den süßen Saft einzukochen und durch tagelanges Schleudern von der Melasse zu befreien, fast auf den Tag fünfzehn Jahrhunderte nach dem Tod des chinesischen Kaiser~, der Gelehrte in die indische Provinz Behar sandte, um dort die Zuckerfabrikation zu studieren, besuchte der Preußenkönig die Anlagen Achards, in denen die Rüben zuerst durch fließendes Wasser gereinigt, dann von Maschinen in kleine Schnitzel geschnitten wurden. Er sah, wie man die Rüben zu Brei zerrieb, diesen Brei dann in wollene Tücher einschlug und von hydraulischen Pressen ausquetschen ließ, wie der Saft dann filtriert und vermittels Dampf in Kesseln mit verdünnter Luft eingedickt wurde. Friedrich Wilhelm Ifl. erkannte die ungeheure Bedeutung einer von den Tropen unabhängigen Zuckerindustrie, hielt trotz aller anfänglichen Fehlschläge zu Achard und den Rübenzüchtern. Lange dauerte es, bevor man fand, daß Sonne und Licht, umgekehrt wie bei den Stengeln des Zuckerrohrs, den Zuckergehalt der Rübe nicht steigern, sondern vermindern, daß man die aus

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dem Boden wachsenden Teile der Rüben anhäufeln muß. Viele Versuche waren notwendig, um den Zeitpunkt zu finden, an dem man die Rüben am besten aus dem Boden nahm, an dem das Maximum des Zuckergehaltes erreicht war. Man lernte tausend Dinge; der Rübenzucker wurde besser. Aber wie es ein halbes Jahrhundert dauerte, bevor Marggrafs Erfindung in die Praxis umgesetzt wurde, so hätte es trotz aller Bemühungen wahrscheinlich ein weiteres halbes Jahrhundert gedauert, bevor Europa davon überzeugt gewesen wäre, daß Rübenzucker nicht giftig, kein betrügerisches Surrogat, sondern ein vollwertiger neuer Süßstoff sei, wenn nicht 1806 Napoleon als Beherrscher des europäischen Festlandes die Kontinentalsperre verhängt, Europa gegen die englische Schiffahrt, seinen Handel und seine Kolonialwaren abgeschlossen hätte. Zollketten gegen Holland, Zollketten von Hamburg bis Travemünde, zwanzigtausend französische Zollwächter im Norden, spanische Zollwächter an der EIbe und preußische Zollwächter in Spanien sperrten Zucker ebenso wie englische Textilerzeugnisse, Leder- und Glaswaren aus. Der Schmuggel wurde immer gefährlicher, immer teurer. Schließlich wurde Zucker aus Havanna auf englischen Schiffen nach Schweden, von dort auf amerikanischen Schiffen nach Rußland, auf russischen Fuhrwerken nach Deutschland gebracht. Unter vier Mark war ein Pfund Zucker nicht mehr zu kaufen. So konnte Achards Fabrik bestehen, obwohl sie immer noch nur sechs bis acht Prozent der Rüben in Zucker verwandelte, obwohl die Not zwang, alle Rüben zu verarbeiten, schlechte wie gute. Durch die Fabrikation aber gewann man immer neue Erfahrungen. Achard lernte, daß Knochenkohle den Zuckersaft reinigt, daß man durch Zusatz von Kalk die Nichtzuckerstoffe des Diffusionssaftes ausscheiden, den Kalk wieder durch Einleiten von Kohlensäure ausfällen kann; langsam wurde die Extraktion billiger, der Ertrag höher. Die Rohrzuckerleute bekamen Angst. Louis Napoleon Bonaparte erzählte, England habe Achard zweihunderttausend Taler für die Stillegung seiner Fabrik geboten, ihm die Erklärung abkaufen wollen, daß seine Hoffnungen auf die wirtschaftliche Gewinnbarkeit des Rübenzuckers enttäuscht worden seien. Achard aber blieb fest. Obwohl nach Beendigung der Kontinentalsperre die finanziellen Schwierigkeiten erdrückend wurden, Achard bis zu seinem Tod schwerste Sorgen hatte, ließ er

ZUCKER AUS RÜBEN, HOLZ UND KOHLE

sich von seiner Idee nicht abbringen. Er erlebte den Aufschwung nicht mehr, aber der war nun doch nicht mehr aufzuhalten. In Frankreich hatte Napoleon einen Preis von einer Million Franken für die Herstellung von Zucker aus inländischen Pflanzen ausgeschrieben. Vilmorin begann mit der Zucht hochwertiger Rüben; 1830 fing man schon an, eine Auslese der Samenrüben nach ihrem Aussehen vorzunehmen; 1847 stellte Vilmorin fest, daß der Zuckergehalt durch Zucht gesteigert werden kann. In Deutschland war unterdessen eine Zuckersteuer eingeführt worden, die sich nach dem Gewicht der zu verarbeitenden Rüben richtete, und so versuchte man auch in Deutschland, Rüben mit möglichst hohem Zuckergehalt zu pflanzen. Man untersuchte die Vererbungsfähigkeit; schließlich gelang es, durch Auswahl Rüben zu bauen, die nicht, wie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, sechs bis zehn Prozent, sondern zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent Zucker enthielten. Jedes Jahrzehnt stieg der Zuckergehalt der deutschen Rüben um etwa drei Prozent, jedes Jahr stieg die Anbaufläche. Aus den kleinen Feldern der Magdeburger Börde, auf denen die ersten Zuckerrüben Europas wuchsen, wurden Riesenpflanzungen; heute sind in Deutschland etwa eine halbe Million Hektar mit Zuckerrüben bepflanzt, in Rußland eine Million, in Frankreich und der Tschechoslowakei je etwa 250000 Hektar, im übrigen Europa 630000 Hektar, in den Vereinigten Staaten 315 000 (1). Europa ist völlig unabhängig vom Rohrzucker (1) Weltzuckererzeugung:

Jahre

Rübenzucker (in tausend Tonnen Rohzuckerwert)

Rohrzucker

1,260 1852/53 2°3 1,821 2,027 1880/81 9,987 1913/14 8,99° 16,663 8,019 1932/33 14,180 9,695 1934/35 18,870 9,962 1936/37 Weltzuckerverbrauch: (in tausend Tonnen) 1932/33 26,500, d. i. 13,2 kg je Kopf. Davon Europa 9,177, d. i. 16,4 kg je Kopf 1933/34 22,97° England 40 kg Zuckerverbrauch 1901/02 Deutschland 13 kg 1929/30 ,,25,3 kg " 43,6 kg " 1936/37 ,,26,7 kg USA. 51,7 kg, Rußland 7,1 kg pro Kopf. Englands hoher Verbrauch durch ".Tarn".

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geworden; die Chemiker Marggraf und Achard, Züchter wie Vilmorin und Wilhelm Rimpau machten Zucker aus einem Luxusartikel zur Massennahrung; sie befreiten die Sklaven auf den Plantagen Westindiens, nicht die Redner im englischen Parlament oder die frommen Wohltätigkeitsgesellschaften. Daß Sklavenhalter und Rohrzuckerinteressenten sich wehrten, daß der Tropenzucker nicht kampflos dem Rübenzucker das Feld räumte, versteht sich natürlich von selbst. Seit dem Abfall der Vereinigten Staaten, durch das schwindende Interesse an den sklavenhaltenden Südstaaten, hatten in England die Gegner der Sklaverei an Einfluß gewonnen. Von dem Gesichtspunkt aus, daß man den Sklavenhandel unterbinden, so Afrika befrieden und dessen Rohstoffgebiete als Ersatz für die verlorenen amerikanischen Kolonien gewinnen müsse, hatte das englische Parlament 18°7 den Sklavenhandel verboten, 1833 die Sklaverei im ganzen Britischen Reich abgeschafft. Durch England gedrängt, verboten 1848 die Franzosen die Sklaverei in ihren Kolonien; nach dem Bürgerkrieg hörte sie 1865 in Amerika, 1880 in Kuba, schließlich 1888 auch in Brasilien auf. Durch die freie Arbeit wurde der Rohrzucker teurer, wie die Baumwolle, wie Tabak und alle anderen Produkte der sklavenhaltenden Länder teurer wurden; Rübenzucker blieb wettbewerbsfähig. Die weißen Pflanzer aber, deren Riesenvermögen mit der Sklavenbefreiung zerrannen, suchten nach neuen Ausbeutungsmethoden und fanden sie rasch: nun kaufte man Menschen nicht mehr, sondern hielt sie durch Schulden in Abhängigkeit. Die Neger wurden nicht mehr zusammengefangen, auf Kosten der Weißen auf die Plantagen gebracht, nicht mehr von diesen ernährt und als Kapital einigermaßen gehütet, jetzt lockte man Arbeiter durch Lohnversprechungen auf die Plantagen, jetzt verlockte man sie zum Schuldenrnachen oder zu langjährigen Kontrakten, hielt sie durch Hunger fest statt durch Kauf. Bald war der Plantagenzucker wieder billiger als der Rübenzucker; denn wie vorteilhaft der Rübenbau auch für das Land ist, Rüben fordern auch die meisten Arbeitskräfte unter allen Kulturen. Als die neuen Methoden der versteckten Sklaverei sich durchsetzten, begann in Europa die Landflucht gefährliche Ausmaße zu erlangen. Während der großen Kolonialperiode zu Ende des vorigen Jahrhunderts glaubte man in Europa felsenfest an Freihandel und

.1

I

Ein Ausschnitt Schädlinge:

aus dem Kampf der Forschung

hier werden die Lebensgewohnheiten ihn wirksam

bekämpfen

gegen tierische und pflanzliche des Kornkäfers zu können.

studiert,

um

ZUCKER

:

I

Eine Rohrzucker-Raffinerie in Britisch-Indien

Mit Machetes,

auf Hawai.

und auf Kuba,

langen,

Meist findet die Ernte

Mehr als

auf den anderen

schweren

Hackmessern,

bei Nacht,

im Licht

Sonnenglut

6000

ähnlicher

westindischen

wird

das Zuckerrohr

von Petroleumlampen

die Arbeit unerträglich

»Zentralen e gibt es Inseln und auf Java.

wird.

abgeschlagen

statt, weil in der

AUS RÜBEN,

HOLZ

UND KOHLE

Weltbrüderschaft, und der Staat war zum »Nachtwächterstaat« geworden. Einmischung der Regierung in Geschäfte war verpönt, das s Laissez faire« höchste Weisheit. Die Runkelrübe liefert nicht nur vierzig Doppelzentner Zucker pro Hektar, das Rübenkraut stellt auch wertvolles Viehfutter. beste Gründüngung dar; die Rüben lüften und lockern den Boden bis zu sechs Fuß tief und verbessern ihn für späteren Getreidebau ungemein; dazu werden allein auf den Rübenfeldern Deutschlands hunderttausend Menschen beschäftigt, unzählige leben durch den Transport der Rüben, rund fünfundachtzigtausend Arbeiter werden während der Kampagne in den zweihundertdreiunddreißig Zuckerfabriken und Raffinerien Deutschlands beschäftigt; trotz aller dieser Vorteile der neuen Kultur schützte man sie aber nur ganz unvollkommen. Deutsche Bauern konnte man nicht versklaven wie westindische Neger. So kaufte man lieber Rohrzucker in den Tropen, statt die Rübenkultur entsprechend zu fördern, und wenn zu Ende des vorigen Jahrhunderts die Erzeugung von Rübenzucker und Rohrzucker sich auf der .Welt etwa die Waage·hielt, so begann vor dem Weltkrieg schon wieder ein scharfer Anstieg der Tropenzuckerquote. Besonders seit Amerika sich Einfluß in Kuba verschaffte, diese größte Antilleninsel zu »erschließen« begann, verlor der Rübenzucker rasch wieder an Bedeutung. Kuba, das ein Viertel so groß als Deutschland ist, dreieinhalb Millionen Einwohner und den besten Zuckerrohrboden der Welt hat, war Spaniens letzte große Kolonie in Westindien. Immer schon hatte es den Amerikanern gefallen; schon 1 840 hatten sich in der Union Freischaren gebildet, die es erobern wollten. Als 1854 ein Kaufangebot der Vereinigten Staaten von Madrid abgelehnt wurde, versuchte man es damit, den Kreolen der Insel, die mit den Spaniern unzufrieden waren, Geld und Waffen zu liefern, und die Revolten hörten nun nicht mehr auf. Immer offener unterstützten die Vereinigten Staaten die Aufständischen, und so kam es schließlich zum Spanisch-Amerikanischen Krieg des Jahres 1898. Im Frieden von Paris mußte Spanien auf Kuba verzichten. Die Amerikaner schickten den General Wood als Militärgouverneur, stimmten 1901 schließlich einer kubanischen Republik zu, sicherten sich aber durch das »Platt-Amendement« das tatsächliche Protektorat. 6ZI·WI·X

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Mit Wood waren Straßenbauer und Ärzte, aber auch unzählige gerissene Geschäftemacher gekommen. Die Erschließung Kubas kostete Geld, und so stak die neue Republik von allem Anfang an tief in Schulden, übten von allem Anfang an die zwei größten Wallstreetbanken gewaltigen Einfluß auf die Insel aus. Als die Amerikaner kamen, hatten die Kubaner schon zweieinhalb Jahrhunderte spanischer Ausbeutung hinter sich, aber das war eine lateinische, eine wenig straff organisierte Ausbeutung gewesen. Jetzt wurde die Insel systematisch untersucht, jetzt kauften amerikanische Landgesellschaften den kleinen Tabakbauern und Viehzüchtern ihren Grund um lächerlich geringe Preise ab; man vereinigte die vielen Gemüsegärten und kleinen Getreidefelder zu gigantischen Zuckerplantagen. Wenn die Bauern ihre paar Silberstücke, die sie bekamen, vertrunken hatten, konnten sie als Plantagenarbeiter unterkommen, durften sie in der glühenden Sonne das wild emporschießende Unkraut zwischen den Zuckerrohrpflanzen jäten, in der Nacht dann, weil in der Sonne niemand diese schwerste Arbeit aushalten würde, bei Petroleumlicht mit schweren Machetes dicht über dem Boden das reife Rohr abschlagen. Überall auf ihren Plantagen hatten die Amerikaner Kantinen eingerichtet, die den Arbeitern Kredit gaben, ihnen zu phantastischen Preisen Schnaps und Mehl, Speck und Brot verkauften. Aus den armen, aber freien Bauern waren verschuldete und dadurch unfreie Zuckerarbeiter geworden. Und aus Kuba eine Insel, die scheinbar unermeßlich reich wurde, in Wirklichkeit aber ständig vom Verhungern bedroht war: denn, wenn sie auch etwa neuntausendmal soviel Zucker erzeugte, als sie verbrauchen konnte, so mußte sie dafür bald neun Zehntel aller Nahrungsmittel einführen, Kohlen ebenso wie Weizen und Fett von Amerika kaufen. Als die Amerikaner nach Kuba kamen, führte es eine halbe Million Tonnen Zucker aus. 1906/07 waren es schon anderthalb Millionen Tonnen. Stetig stieg die Anbaufläche, aber auch die Rübenzuckerproduktion stieg wieder, und 1914 verbrauchte die Welt nur etwa zehn Prozent mehr Tropen- als Rübenzucker. Dann kamen der Weltkrieg und die Absperrung Europas, dann brauchte man allen Stickstoff für Munitionserzeugung, es mangelte an Kunstdünger; der Ertrag der Felder fiel rasch, es blieb kein Platz für Rübenbau, es gab nicht genug Arbeitskräfte für die Hackkultur.

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Der Rohrzucker gewann rasch seine Vormachtstellung zurück. Bald aß die Welt doppelt soviel Tropenzucker als Rübenzucker. Die Preise kletterten ins Unermeßliche. Kuba, das Nr, 1 unter den Zuckererzeugern wurde, erlebte einen Goldrausch, phantastischer als den aller Goldstädte. Palast auf Palast entstand; als man für ein Pfund Zucker dreiundzwanzig Cents zahlte, feierten die Pflanzer in der Floridabar Havannas Orgien; während Europa sich zerfleischte, bauten sie sich Häuser aus italienischem Marmor, wurden Tudorschlösser errichtet und eine rheinische Burg mit Decken aus Perlmutter. Der Automobilkorso rund um die Kathedrale von Santiago wurde immer wahnwitziger, die Eleganz der Frauen immer aufreizender. Der Zucker lockte Chinesen und Neger aus Haiti nach Kuba, die Öfen der »Zentralen« wurden von Polen geheizt, die Maschinen von Amerikanern überwacht, die Konzentrationskessel von Spaniern bedient. Während Havanna seine Straßen mit Granit belegte und zwei Banken vergoldete Tore anschafften, während auf dem Friedhof Colomb sich einfache Kreuze in marmorne Mausoleen verwandelten, man in der Hauptstadt vierundfünfzig Nachtklubs, viertausend Bars und Kaffees eröffnete, verschlangen die Zuckerplantagen die letzten Viehweiden und den letzten Palmenhain. Der Reichtum schien ewig, und so wuchs der Hochmut der Kubaper schneller noch als ihr Zuckerrohr. Schon glaubten sie, einen Damm zwischen Key West und Havanna bauen zu können, so den Golfstrom abzusperren und damit Europas Klima in das Lapplands zu verwandeln. Das Geld rollte, und niemand dachte an morgen. Immer mehr Zuckerfabriken bauten die Amerikaner, riesige, erstickend nach Karamel stinkende l> Zentralen« mit eigenen Eisenbahnen, eigenen rohölgeheizten Lokomotiven, unzähligen Gitterwaggons, die das Rohr einsammeln fuhren. Immer gewaltiger wurden die Anlagen, in denen das Rohr unter Wasserzugabe von Stahlwalzen ausgepreßt wird. Immer rationeller arbeiteten die Fabriken, immer weniger Arbeiter brauchten sie; heute regeln sechs Männ~r an Schaltpulten die Tageserzeugung von 30 Waggons Rohrzucker. Automatisch, fließt der Saft in die Verdickungs kessel, selbsttätig verpacken Maschinen das braune, kristallinische Endprodukt in Säcke. Trotz aller arbeitsparenden Maschinen aber herrschte doch bald Arbeitermangel auf den Feldern. Die Löhne stiegen. Zum erstenmal sahen 6*

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die Zuckersklaven wirkliches Geld. Sie betranken sich. Sie leisteten den Amerikanern zu wenig. So kaufte man immer mehr Politiker: neue Arbeitsgesetze wurden erlassen, die Direktoren der» Mühlen« wurden mächtiger als die Provinzgouverneure, man machte sie zur obersten Polizeigewalt ihres Distrikts; sie sperrten nicht nur um neun Uhr abends das Licht in allen Angestelltenhäusern ab, um die Nachtschwärmerei einzuschränken, sondern verhängten Prügelstrafen über unwillige Arbeiter. Je sauberer die kachelbelegten Zuckerfabriken wurden, desto schmutziger wurden die Hände der kubanischen Regierung. Als der Zucker alle anderen Kulturen vertrieb, hatten denkende Kubaner auf die große Gefahr aufmerksam gemacht; trotz des Goldrausches gab es in Havanna Leute, die einsahen, daß die Rübenzuckerindustrie nicht tot, sondern nur gelähmt war, daß die phantastisch hohen Preise einmal sinken würden, daß man dann vielleicht nicht so viel Zucker würde verkaufen können, als man Nahrungsmittel für die dreieinhalb Millionen der Insel brauchte. Diese Warner wurden ausgelacht oder ermordet. Kubas Regierungen wurden durch »Prämien« am Zuckerexport interessiert, und schließlich kam 1925 dann die Krönung der amerikanischen Zuckerherrschaft durch die Wahl Gerardo Machados zum Präsidenten von Kuba. Machado, ein Schlachthausarbeiter, hatte 1895 als einfacher Soldat an den Befreiungskämpfen gegen die Spanier teilgenommen, hatte bald gesehen, daß als Heereslieferant ein Krieg angenehmer auszuhalten ist; er hatte die Fleischversorgung der Aufständischen übernommen, damit den Titel General und ein nettes Vermögen gewonnen. Nach der Unabhängigkeitserklärung Kubas wurde er Politiker; schließlich kam er in Berührung mit amerikanischen Bankkreisen. Er verschaffte seinem Land die ersten größeren Nachkriegskredite, sorgte dafür, daß mit dem amerikanischen Geld Bauten ausgeführt wurden, an denen nicht nur die Maurer verdienten. Seine erste Tat als Präsident war die Aufstellung eines Verschönerungsprogramms für Havanna, das etwa dreißig Millionen Dollar verschlang; er ließ eine genaue Nachbildung des Washingtoner Kapitols errichten, sorgte aber dafür, daß die Abgeordneten nicht zu oft hier zusammenkamen. Er unterhielt eine private Polizeitruppe, ein Heer weiblicher Spitzel; wer Machado im Wege stand, hatte alle Chancen, eines Tages zu »verunglücken«.

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Viel Gegner aber besaß er damals noch nicht. Er ließ eine Autostraße quer durch die Insel bauen, und von den hundertfünfzigtausend Dollar, die die Meile kostete, lebten auch wieder nicht wenige seiner Freunde. Kuba war zufrieden, die Amerikaner erst recht, denn reibungslos erhielten sie alles Zuckerland, das sie brau~hten; ~e wurden sie durch Arbeitsinspektoren belästigt; was immer sre von Machado brauchten, wurde bewilligt. Das amerikanische in Kuba investierte Kapital, das das Washingtoner Handelsamt auf eine Milliarde sechshundert Millionen Dollar schätzt, trug fabelhafte Zinsen; jedes Jahr wurde aus Kuba für dreihundert bis dreihundertfünfzig Millionen Dollar Zucker ausgeführt. Die Nahrungsmittel, Textilien und Maschinen, die Kuba fast ausschließlich in Amerika kaufte und die jährlich etwa eine viertel Milliarde Dollar kosteten, brachten Wallstreet ebenfalls Gewinne. Immer größer wurden die Zuckerplantagen, immer gewaltiger die Zuckermühlen. Achttausendsiebenhundert Kilometer Pflanzungsbahnen bauten die Amerikaner, doppelt soviel als die Hauptlinien. Fünf Millionen Tonnen Zucker erzeugte Kuba 1926, eine Menge, die 3200 Lastzüge füllen würde, von denen jeder einen Kilometer lang sein müßte. Dieser Zucker nun brachte 1920 in New York dreiundzwanzig Cents für das Pfund ein, 1934 anderthalb Cent; er war bis zum Frühjahr 1927 auf dem bedeutendsten Welthandelsplatz, in London, fünfzehneinhalb Schilling für die Einheit, etwa fünfzig Kilo, wert. Im Herbst 193 I kostete er nur mehr sechs Schilling. Was Kubas unabhängige Leute gefürchtet hatten, geschah. Als die Preise fielen, legten die Amerikaner rücksichtslos ihre Plantagen still. Sie veranlaßten Machado, Pflanzverbote zu erlassen, die jährliche Erntezeit auf einen Monat zu beschränken, sie drückten Kubas Zuckererzeugung von den fünf Millionen Tonnen der Kampagne 1928/29 auf weniger als zwei Millionen Tonnen der Ernte 1932/33 herab. Was kümmerte es sie, daß die kubanischen Bauern, die ihre Getreidefelder in Zuckerplantagen verwandelt hatten, jetzt buchstäblich verhungerten? Daß die Negerarbeiter, denen man zur Zeit der Rohstoffhausse fünfzehn Dollar im Tag zahlte, jetzt nicht einmal mehr fünfzehn Cents verdienen konnten? Die Milliardäre Wallstreets konnten warten. Sie ließen ihre Fabriken stilliegen, bis die künstlich hervorgerufene Zucker-

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knappheit die Preise wieder steigen lassen würde. Die Käufer aber wehrten sich gegen diese Manöver; schließlich mußte sogar Amerikas Regierung ihre • Dollar-Diplomatie « aufgeben, aus innerpolitischen Gründen auch einmal nicht nur das Zuckerkapital, sondern auch die Abnehmer und die Rübenindustrie schützen, und so fiel Kubas Anteil an der Zuckerversorgung der Vereinigten Staaten von 58 Prozent im Jahre 192.6 auf 2.8 Prozent im Jahre 1932.· Jetzt, in der höchsten Not, wollte Thomas Chadbourne, der wesentlichste Vertreter der amerikanischen Finanziers Kubas, mit den Rübenzuckerländern verhandeln. Nachdem er schon 1930 durch den s Chadboume Plan« die Weltproduktion zu regeln versucht hatte, setzte er Ende 1932 Kubas Anteil an der Weltzuckererzeugung mit nur etwa 900000 Tonnen jährlich fest. Wie aber früher Kuba immer wieder Zusammenarbeit verhinderte, so wehrte sich jetzt Java gegen Beschränkungen. Statt Kuba erzeugte jetzt Britisch-Indien mehr als vier Millionen Tonnen Zucker jährlich. Die Preise stiegen nicht wesentlich. Die Sonnenländer konnten jetzt, da die durch den Krieg hervorgerufenen Einschränkungen der Rübenproduktion wegfielen, nicht mehr tun, was sie wollten. Deutschland hatte auf den Zuckerkonferenzen ebensoviel zu sagen wie die Zuckermilliardäre Havannas. Kubas Glanzzeit war vorüber. Krasser als bei irgendeinem andern Rohstoff zeigte sich, wozu Übersteigerung einer einzigen Industrie führen kann, wie ein Land, das sich völlig auf Welthandel verläßt, das seine eigene Nahrungsbasis zugunsten eines Stapelartikels aufgibt, der Sklave seiner Geldgeber ebenso wie aller Konjunkturschwankungen wird. Kubas Chemiker fanden wirtschaftliche Verfahren, um aus den Zuckerrohrblättern Papier zu machen; auf dem Pariser Zuckerkongreß des Jahres 1933 propagierte Kuba Zucker als Schmiermittel, wurden sechzigprozentige Zuckerlösungen als vollwertiger Ersatz für Öl angeboten. Trotzdem aber nahm die Not Kubas Formen an, wie sie nur in China und den Hungergebieten Rußlands zu finden gewesen waren. Die ganze Insel lebte von Zucker, und so spürte jeder einzelne den ungeheuren Preissturz. Längst verfielen die Paläste der Spekulanten, längst waren die Luxusjachten der Zuckerbarone aufs Trockene gesetzt, längst war die Floridabar vom Treffpunkt der Milliardäre zum Versammlungsort

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der Verschwörer geworden, die Machade und seinen amerikanischen Hintermännern nach dem Leben trachteten. Auf das Gold der Zuckerhausse folgte Blut. Studentendemonstrationen wurden von Verkehrsstreiks abgelöst. Als die Preise wankten, hatte Machado neue Kredite aufgenommen, und nun folgte Anleihe auf Anleihe. Aber da immer riesigere Zinsenrückstände zu tilgen waren, ungeheure Schulden warteten, blieb immer weniger für Beamtengehälter übrig. Nur noch die Polizei und die Armee sahen jetzt Geld. Dann auch die nicht mehr regelmäßig. Damit aber war Machados Schicksal entschieden. Längst hatte die .A.B.C.«, eine Geheimverbindung von Feinden Machados, die Insel gegen ihn mobilisiert .• La Denunda«, eine mit winzigen Lettern gedruckte Zeitung, die regelmäßig die Liste der von Machados Agenten ermordeten politischen Gegner und seiner neuesten Spitzel enthielt, wurde von allen Kubanern gelesen. Als der Präsident im August 1933 auch noch mit Maschinengewehren auf Demonstranten schießen ließ, zwanzig Kubaner getötet, achtzig verwundet wurden, da war es mit seiner Macht vorbei. Der Hauptmann Patricia Cardenas besetzte das Fort Cabana. Um ein Blutbad zu verhindern, ging der amerikanische Gesandte Summer Welles zu Machado und forderte ihn auf, die Insel zu verlassen. Machado weigerte sich. Man drohte ihm mit der amerikanischen Flotte. Da floh er in einem Flugzeug, ließ zwei seiner Minister zurück, um einen Geldschrank und sein Archiv ins Ausland zu retten. Auf Machado folgte Blut, immer wieder Blut. Die Regierungen wechselten einander ab, während antiamerikanische Demonstrationen von nie gespürter Schärfe sich entluden. Wallstreet aber hatte Zeit; die Zuckerherren kannten genau die verzweifelte finanzielle Lage der Insel. Kuba hungerte. Und so gab Amerika einfach keine Kredite mehr, solange ihm nicht genehme Männer herrschten. Vier Monate wartete der neue kubanische Präsident Ramon Grau auf seine Anerkennung durch Washington. Dann wurde er vom Oberst Carlos Mendieta gestürzt, und als dessen Regierung fünf Tage alt war, erkannte sie Amerika an. Mendieta war klug genug, den Anwalt der National City Bank, J oaquin Martinez, zum Finanzminister zu machen. Daraufhin bewilligte die amerikanische Regierung sofort einen Nahrungsmittelkredit von zehn Millionen Dollar; augenblicklich wurden Reis, Fett, Fleisch und

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Mehl nach Havanna geschickt. Als bald nach dem Fett auch ein neuer amerikanischer Gesandter nach Havanna kam, warfen Studenten zwar noch Bomben in die Gesandtschaft, wurde das Auto des Gesandten wohl mit Maschinengewehren beschossen; bald aber sorgte die amerikanische Regierung für Ruhe: Das »PlattAmendement« wurde aufgehoben, Kuba zumindest theoretisch aus der amerikanischen Herrschaftssphäre entlassen. Wird Kuba wieder zur Kolonie der Zuckerherren werden, wenn die Preise steigen? Wird es Kraft haben, sich umzustellen, Bauernwirtschaften zu entwickeln, die es vor Hunger schützen? Durch die Arbeiten Marggrafs und Achards, durch die stetige Fortentwicklung der Rübenzuckererzeugung, durch Sortenverbesserung und Rübenauswahl sind diese Fragen für Europa von allein theoretischer Bedeutung geworden. Kubas Schicksal erregt Mitleid, aber es hat keinen Einfluß auf die Lebenshaltung der europäischen Massen mehr; das Zuckermonopol der Tropen ist längst gebrochen. Kuba ist nur mehr ein lehrreiches, ein abschreckendes Beispiel. Es wird vielleicht diejenigen bekehren, die es als frevelhaft bezeichnen, der Natur sins Handwerk zu pfuschen«; Kubas jüngere Geschichte sollte von den vom völlig freien Welthandel träumenden Idealisten, den allein an das »freie Spiel der Kräfte« Glaubenden, studiert werden, die alle nur eines vergessen: daß die Menschheit nicht ewig in zwei Klassen geteilt bleibt, in solche, die Rohstoffe, und solche, die Industrieprodukte erzeugen, und die so denkend übersehen, daß es leichter ist, Patente und Maschinen nach den Sonnenländern auszuführen, als deren Klima und Boden nach Europa zu bringen. Kanada, Australien, Indien, alle großen Rohstofflieferanten erkannten bald, daß sie selbst ebensogut Baumwollwaren und Schuhe, Metallwaren und Gebrauchsartikel herstellen konnten wie ihre Abnehmer. Sie wollten nicht einen Teil ihrer Rohstoffgewinne in Industrieprodukten ihrer Kunden anlegen, sondern alle nur möglichen Verkaufserlöse ebenso wie die Herstellungsgewinne der Fertigfabrikate im Land behalten. Sie wollten immer reicher werden, immer mehr Zucker oder Zinn, Weizen oder Baumwolle verkaufen. Verkaufen, nicht gegen Industrieerzeugnisse tauschen. So feierten immer mehr Fabriken. Der Rohstoffverbrauch sank, Kuba erstickte im Zucker, und Argentinien verheizte seinen Weizen ...

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Wenn Europa nicht den Rübenzucker gefunden hätte, würde es deswegen nicht mehr Autos oder Kleider, Radioapparate oder Grammophone an Kuba und Niederländisch-Indien verkaufen, als es jetzt ausführt. Aber es müßte jährlich rund zehn Millionen Tonnen mehr Tropenzucker kaufen, irgendwie den Gegenwert dieses Rohrzuckers, etwa fünf Milliarden Mark, aufbringen. Vielleicht auch das Doppelte, denn ohne Rübenzucker hätten die Sonnenländer ein absolutes Monopol, könnten sie verlangen, was immer sie wollten. Ohne die Arbeit Marggrafs und Achards und all der Unbekannten, die die Rübenzuckererzeugung von den 203000 Tonnen des Jahres 1852. auf die 9 Millionen 962.000 Tonnen des Jahres 1937 brachten, die sie in acht Jahrzehnten fast verfünfzigfachten, ohne die Arbeit der Zuckerchemiker und Zuckeringenieure Europas würden wir vielleicht schon sehr bald Not an Süßstoffen leiden, denn wenn es auch noch genug Zuckerland in den Tropen gibt, das Zuckerrohr ist wie alle aus Stecklingen oder Pfropfreisern auf vegetativem Wege vermehrten Pflanzen äußerst empfindlich gegen Krankheiten und Schädlinge geworden. Das seit vielen Jahrhunderten kultivierte Zuckerrohr war derart entartet, daß neben tierischen Schädlingen, Bakterien wie Pilzen, auch immer mehr die »Sereh« genannte Krankheit den Ertrag der Zuckerrohrplantagen verminderte, eine Krankheit, die nur eine erbliche Entartungserscheinung ist, die das Rohr nicht mehr hohe, zuckerreiche Halme, sondern viele Seitentriebe erzeugen läßt. Deshalb hat die sProefstation vor de Java Suikerindustrie« zu Pasoeroean auf Java jetzt durch systematische Kreuzung neue Sorten gezüchtet, die von großer Widerstandsfähigkeit sind. Die alte Welt ist vom Tropenzucker unabhängig geworden. Aber kann sie unabhängig bleiben? Als Achard seine Fabrik eröffnete, lebten in Europa 174 Millionen Menschen, 1934 zählte man 506 Millionen. Was nützt es, wenn man statt Weizen Zuckerrüben baut, ein Monopol bricht, um von einem anderen abhängig zu werden? Und was geschieht, wenn die Zuckerrübe entartet, wie es mit dem Zuckerrohr geschah? Im Kapitel über den Kunstdünger ist gezeigt worden, wie der Bodenertrag gesteigert werden kann, wie die Erschließung des unerschöpflichen Stickstoffvorrats der Luft Düngermangel, wie er im Krieg zu spüren war, sehr unwahrscheinlich macht. Seit

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1914 sind ein halbes Hundert Maschinen erfunden worden, die den Rübenbau weitgehend erleichtern; seit dem Weltkrieg hat dieZüchtung weitere Fortschritte gemacht, ist der Zuckergehalt der Rüben weiter gestiegen, sind neue Schädlingsbekämpfungsmethoden erdacht worden. Vor allem aber ist seit dem Weltkrieg Holzzucker aus einer Laboratoriumsspielerei zum wichtigen Nahrungsmittel geworden, vor allem ist die Großherstellung synthetischen Süßstoffs gelungen. Nachdem man zuerst Süßstoff aus Kohle herstellte, macht man jetzt Zucker aus Holzabfällen. 1879 hatte Fahlberg das Sacharin entdeckt; seit 1885 schon stellte man diesen Stoff, dessen Süßkraft fünfhundertmal größer als die des Rohrzuckers ist, technisch aus Toluol, dieses wieder aus Kohle her. Kohle, Kaliumpermanganat, Chlorsulfosäure und Ammoniak, die zur synthetischen Herstellung des Sacharins nötig sind, kosten nicht viel; im Preis könnte Sacharin mit dem Zucker konkurrieren. Im Gegensatz zum Naturzucker aber ist es ohne Nährkraft. Es verläßt den Organismus, ohne sich zu verändern. Es brachte den Zuckerkranken Erleichterung, indem es ihnen das Süßen von Speisen ermöglichte, es war ein wichtiges Hilfsmittel während des Krieges. Als Nahrungsmittel aber ist es wertlos. Behandelt man Holz mit konzentrierter Schwefelsäure, dann läßt sich die Zellulose in Zuckerarten verwandeln. Jeder Realschüler weiß das. Technisch aber ist diese Reaktion nicht brauchbar. Erst als es den Chemikern Willstätter und Zechmeister 1912. gelang, Zellulose q uan tita ti v zu verzuckern, Holz bei normaler Temperatur mit hochkonzentrierter Salzsäure in Zucker zu verwandeln, war ein Ausgangspunkt für die technische Zuckersynthese gewonnen. Bereits vor dem Weltkrieg hatte man in Amerika versucht, aus Holz gärfähige Zuckerlösungen herzustellen, allerdings ohne viel Erfolg; mit wenig Nutzeffekt waren während des Krieges in Stettin und in Monheim bei Düsseldorf Holzspritfabriken errichtet worden; schließlich aber gelang es Dr. Karl Scholler in Tornesch, Abfallholz jeder beliebigen Spangröße mit verdünnten Säuren in Lösungen von vier Prozent Zuckergehalt zu verwandeln und daraus Alkohol sowohl wie Futterhefe und Gerbstoff zu gewinnen. Dr. Scholler setzt der Zuckerlösung Kalium-, Stickstoff-, Magnesium- und Phosphorverbindungen als

anorganische Nährsalze zu, verwendet die Zuckerlösung als Zuchtboden für Wuchshefen und gewinnt so aus 100 Kilo Holzsubstanz 2. 5 Kilo Trockenhefe mit einem Eiweißgehalt von 56 Prozent, ein wertvolles Futtermittel also, das an Stelle eingeführter Ölkuchen treten könnte. Aus Rentabilitätsgründen stellen die nach dem Schollersehen Verfahren arbeitenden Fabriken - das staatliche Branntweinmonopol übernahm Schollers Anlage in Holstein, in Dessau wurde im Sommer 1936 eine Holzspritfabrik mit fünfzigtausend Hektoliter Jahresleistung errichtet, und im Wesergebiet ist eine Fabrik im Bau - allerdings heute nicht Hefe, sondern vor allem Alkohol her. Nahrungsmittel aus Holz werden zur Zeit industriell nur von Dr. Bergius gewonnen, dem Erfinder der Kohleverflüssigung. Ausgangspunkt zu dem Holzverzuckerungsverfahren Dr. Friedrich Bergius' waren nicht wissenschaftliche, sondern wirtschaftliche Überlegungen. Bergius und seine Mitarbeiter begannen an der Holzverzuckerung im Jahre 1916 zu arbeiten, als die deutsche Nahrungsmittelnot schon bedenkliche Formen angenommen hatte, als Landarbeiter fehlten, fast aller vorhandener Stickstoff für Munitionen verbraucht wurde, die Ernten fielen. Wie Achard zur Verbesserung des Rübenzuckers durch die Not der Kolonialsperre angetrieben wurde, wurde Bergius durch die Not der Blockadezeit angetrieben. Bergius wollte den Zellulosevorrat, die Kohlehydrate erschließen, die sich seit sechzig bis hundert Jahren in den Wäldern angesammelt hatten; und da in der Forstwirtschaft Mangel an Arbeitern bestand wie in allen anderen Industrien, mußte er sie mit dem höchstmöglichen Nutzeffekt erschließen. Theoretisch war dieser hohe Nutzeffekt möglich, denn wenn Runkelrüben nur etwa zwanzig Prozent Zucker enthalten, so enthält Holz ja siebenundsechzig bis siebzig Prozent Kohlehydrate (1). Praktisch aber gab es tausend Schwierigkeiten; es dauerte acht Jahre, bis man an Großversuche denken konnte; erst 192.4 konnte in Genf eine halbtechnische Anlage errichtet werden.

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(1) 22 bis 2.7 Prozent des Holztrockenstoffs bestehen aus Lignin. Die übrigen kohlebydratartigen Anteile der Zellwand lassen sich zu fast 100 Prozent verzuckern, und von diesem Zucker sind im Mittel rund 75 bis 80 Prozent vergärbar. So gibt die Eiche 61, die Rotbuche 62, die Kiefer etwa 63, die Fichte rund 66 und die Birke sogar fast 67 Prozent Ausbeute an Zucker, auf Trockenstoff berechnet.

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Sie mußte in Genf errichtet werden, denn Deutschland hatte damals längst den Hunger des Kriegesvergessen; es gab Zucker genug; man betrachtete die meisten Versuche der Rohstoffsynthese als nutzlose, das große Ideal des Welthandels gefährdende Spielereien. In Genf konnte Bergins von Hundertliterapparaten zu solchen mit vier Raummetern Inhalt übergehen; schließlich gelang es 1928, große deutsche Interessenten für das Verfahren zu finden, und so entstand in Mannheim-Rheinau, wo mit staatlicher Hilfe eine Riesenfabrik gebaut wurde, die erste industrielle Anlage zur Gewinnung von Traubenzucker aus Holz. Dort, wo die ersten Anlagen zur Herstellung synthetischen Benzins standen, wurde eine Versuchsfabrik errichtet, Spezialraspelmaschinen und Mühlen wurden aufgestellt, in denen Abfallholz zerkleinert wird. Dann kam das Holz· dort in riesige, durch Feuergase geheizte Trommeltrockner; sein Feuchtigkeitsgehalt, der meist ein Drittel d~s Gewichts ausmacht, wurde auf ein halbes bis ein Prozent herabgedrückt, im Gegenstrombetrieb dann das frische Holz mit angereicherter, das fast ausgelaugte Holz mit frischer Salzsäure hydroIisiert, Ein Kohlehydratsirup entstand, und so weit ist an dem Verfahren nicht viel Neues. Bergius aber schied nun auch den Zucker völlig von der Salzsäure, und damit war der Schritt 'getan, der die Laboratoriumsreaktion von der Großherstellung eines neuen Nahrungsmittels trennte. s Das schwierige Problem der Trennung des Zuckers von der Salzsäure«, sagt Dr. Friedrich Bergius, »wurde dadurch gelöst, daß man eine mit der Salzsäure nicht mischbare und mit ihr nicht reagierende Flüssigkeit auf eine Temperatur, die über der Destillationstemperatur liegt, erwärmt und in fester, feiner Verteilung mit der zu verdampfenden Salzsäure-Zucker-Lösung in einem Vakuumapparat vermischt. Für diese Art der Wärmeübertragung eignen sich gewisse Petroleumfraktionen etwa von der Siedegrenze des Gasöls, wenn sie genügend raffiniert sind und nicht mehr allzuviel ungesättigte Kohlenwasserstoffe enthalten. Die plötzlich eintretende Verdampfung kühlt das Öl ab, so daß eine Zuckerzersetzung vermieden wird. Die Salzsäuredämpfe verlassen das Vakuumgefäß, und der konzentrierte Zuckersirup trennt sich in einem Abscheidegefäß leicht von dem zur Verdampfung benutzten Öl, welches praktisch verlustlos im Kreislauf dem Verdampfungsapparat wieder zugeführt wird.«

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Was hinter diesen paar Sätzen an Arbeit, an Hoffnungen und Enttäuschungen steckt, kann sich der Laie nicht leicht vorstellen. Die volkswirtschaftliche Bedeutung aber versteht man, wenn man hört, daß durch das neue Verfahren Dr. Bergius', durch das Verfahren Dr. Schollers und das System Dr. Claßens zwei Drittel des waldtrockenen Holzabfalls in Futtermittel übergeführt werden, die an Nährwert dem Getreide gleich sind; daß Holzzucker billig Alkohol liefert und so Rübenzucker und Stärke entlastet; daß das neben Holzzucker entstehende Lignin, in Briketts gepreßt, wertvollen Brennstoff liefert; daß als Nebenprodukt Essigsäure gewonnen wird, somit praktisch hundert Prozent des Holzabfalls in neue Gebrauchsstoffe verwandelt werden. Versuche, die man seit 1928 mit dem Holzzucker macht, beweisen, daß er leicht in Speisezucker überzuführen ist und da~n bes~nderen Nährwert hat, daß er als Mastfutter glänzend geeignet ist, daß er aber vor allem das billigste Kohlehydratfuttermittel ist. Allein dadurch schon kann das neue Verfahren noch ganz ungeahnte Bedeutung erhalten, besonders, wenn man die Anreguri~ Bergius' verwirklicht und Kartoffeln mit dem neuen Zucker v:ermlscht. Kartoffeln sind wegen ihres fast drei Viertel des Gewichts ausmachenden Wassergehalts nicht lagerungsfähig. Jeder längere Transport von Kartoffeln ist Verschwendung. So haben die Techniker längst Trocknungsverfahren ersonnen; seit langem handelt man Kartoffelflocken, ein Produkt, das durch Entfernung des Wasserballastes die Nährstoffe der Kartoffel zugleich haltbar und billig versendbar macht. Die Kartoffelernten Europas aber schwanken heftiger als die aller anderen Futtermittel; e.in 192~ au~.Ame~ika eingeschlepptes Insekt, der Kartoffelkäfer, ein manenkafera':tlges Tier, das die Kartoffelblätter frißt und die Pflanzen zum Ersticken bringt, hat schon 1933 die französischen Departements ver~eert; Abwehrmaßnahmen gegen das Umsichgreifen der Krankheit haben die früher jährlich eine Milliarde Mark einbringende französische Kartoffelernte von den europäischen Märkten abgeschlossen. Die stark in Preis und Menge schwankenden Kartoffeln müssen daher mit einem industriell zu erzeugenden, weder im Preis noch in der Erzeugungsmenge schwankenden Produkt vermischt~ »stabilisiert« werden. Man tut dies in immer größerem.Ausmaß mit synthetischem Zucker. Rheinau ist keine Versuchsfabrik mehr; ihre

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Trockenanlagen und Verdampfstationen, ihre Mühlen und Filterbatterien verwandeln heute Tag und Nacht praktisch wertlose Hackspäne in Trockenzucker, diesen in raffinierten Traubenzucker; sie verwandeln unaufhörlich, nur von einer Handvoll Arbeiter überwacht, die Holzabfälle in mit Mais und Kartoffeln versetzte hochwertige Futtermittel; selbst Eiweiß wird in Rheinau gewonnen, Essigsäure sowohl wie Alkohol aus dem Holz erzeugt. Immer mehr ergänzt die Chemie die Landwirtschaft. Der Holzzucker hat neuen Lebensraum gewonnen, wie Luftstickstoff und Kali neuen Lebensraum erobert haben. Aus Abfällen werden Werte: mit bisher nutzlos verfaulenden Ästchen und Spänen werden auf dem Umweg über den Holzzucker Rinder gemästet und Schweine fett gemacht, wird die deutsche Fettnot bekämpft. Immer größere Anteile der Z5 Millionen Tonnen Holz, etwa die halbe Erzeugung Deutschlands, die man jährlich mit geringstem Nutzeffekt verbrennt, werden durch die Chemie in hochwertige Erzeugnisse verwandelt; endlich kommt man auch in der Holzverarbeitung dem obersten volkswirtschaftlichen Ziel näher, möglichst verlustlos die uns von der Natur gewährten Schätze zu verwerten. Wie sich heute immer mehr die Ansicht durchringt, daß das Verbrennen der mühselig geförderten Kohle unzweckmäßig, nationalwirtschaftlich eine Verschleuderung des Volksvermögens ist, weil, ohne ihren Brennwert zu vermindern, der Kohle vorher für andere Verwendungen wichtigste Stoffe entzogen werden können, wie man immer mehr Wasserenergie benutzt und Kohle destilliert, so hat man endlich auch gelernt, die in den Wäldern schlummernde Energie rationeller auszunutzen und dadurch ihren Wert zu vervielfachen. In dieser Wertsteigerung aber liegt ja der wahre Nutzen der meisten synthetischen Verfahren. Wozu Kleider aus Zellwolle, Zucker aus Holz machen, wenn es mehr als genug Zuckerrohr gibt, Amerika nicht weiß, was es mit all seiner Baumwolle anfangen soll? fragen viele. Ebensogut aber könnte man fragen, wozu es gut sei, Roheisen, von dem 100 Kilo fünfeinhalb Mark kosten, in Uhrfedern zu verwandeln, die bis zu eineinhalb Millionen Mark für 100 Kilo einbringen. Aus einem Raummeter Holz, das im Wald vier Mark wert ist, macht man Kunstseide- und Zellwollprodukte für 3500 bis 5000

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Mark. Wenn durch Verarbeitung zu Möbeln Eichenrundholz das Fünfzehnfache des Rohstoffwerts erreicht, zu Furnieren verarbeitet, achtundzwanzigmal soviel denn als Baum wert ist, wenn Holz als Druckpapier zwölfmal, als Schreibpapier zweiunddreißigmal soviel einbringt, als wenn man es verheizen würde, so vertausendfachen die chemischen Aufbereitungsverfahren den Wert unserer Wälder. Diese Möglichkeiten nicht auszunützen, dazu aber sind wir zu arm geworden. Holz zu verbrennen, das kann eine Welt, in der es vor kurzem noch 30 Millionen Arbeitslose gab, sich nicht leisten. Schon zur Zeit unserer Enkel wird es auf der Welt drei Milliarden Menschen statt der jetzt lebenden zwei geben. Wenn nicht für uns, so müssen wir für sie das Holz erobern, wie unsere Großväter für uns den Dampf, wie unsere Väter für uns die Elektrizität, die Luft, die Kohle eroberten.

VIERTES

KAPITEL

VEREDELTES Holz als Treibstoff, Grundstoff

Zuckerrüben, wie man sie nicht alle Tage sieht: zwei in England prämiierte Exemplare einer neuen Züchtung, die bis zu 26%Zucker enthält.

HOLZ

Textilrohstoff

und

der Chemie

Rund ein Viertel der Landfläche unsres Planeten ist heute mit Wald bedeckt. Nachdem die Urwälder des Tertiärs durch die Eiszeit nach Südrußland und Frankreich, in die mittleren Donauländer und an das Mittelmeer zurückgedrängt wurden, vertrieb die starke Bevölkerungszunahme Europas die Wälder von allen getreidetragenden Böden, blieben fast nur die genügsamen, überall gedeihenden Nadelhölzer übrig. Raubbau ließ die Adriaküsten verkarsten, wie er große Teile Amerikas in Wüsten verwandelte. Da zwischen Säen und Ernten bei der Waldwirtschaft dreißig bis vierzig Jahre liegen, da fast nie der, der einen Baum pflanzt, ihn auch schlagen kann, da die Klimabeeinflussung durch den Wald, der Windschutz und Lawinenschutz, Temperaturausgleich und Feuchtigkeitsvorrat, der Schutz gegen Bodenabschwemmung an steilen Hängen wie gegen Flugsandverwehung der Küste, dem Waldbesitzer immer fast nur mittelbar, wenig augenscheinlich, fast ausschließlich der Allgemeinheit, der ganzen Volkswirtschaft zugute kommen, da Wald vor allem als Gemeinschaftsgut wertvoll ist, plünderte man ihn jahrtausendelang rücksichtslos aus. Obwohl Holz der wichtigste Baustoff, jahrtausendelang der einzige Brennstoff war, verschwendete man es wie wenige andere Naturerzeugnisse. Erst im 14. Jahrhundert, als Deutschlands Wälder sich bedenklich zu lichten begannen, es festere Gemeinschaften gab, entwickelte sich so etwas wie Forstwirtschaft. 1359 wurde der Erfurter Stadtwald in flächengleiche Jahresschläge aufgeteilt, 1368 bei Nürnberg zum erstenmal Nadelholzsaat in den Boden gelegt. Immer wieder aber wurde wüst Holz geschlagen, und erst im 18. Jahrhundert, als die Holznot sich drückend bemerkbar machte, forstete man in größerem Ausmaß Ödland wieder auf. Wenn man aber auch langsam aufhörte, Holz zu verbrauchen, ohne dafür zu sorgen, daß es auch wieder nachwuchs, die Holzverschwendung hörte deswegen nicht auf. Bis Ende des vorigen Jahrhunderts verstand man nicht nur nicht Holz gegen Fäulnis zu schützen, weshalb Millionen Eisenbahnschwellen jährlich erneuert werden muß-

Arbeit auf einem deutschen Zuckerrübenfeld.

VEREDELTES

Übersicht

über

den

deutschen

Schaf bestand

(in Millionen): 1934·· .. 3-48

1820

13.2

1920

6.15

1865

28.0

1925

4.75

1935

3.92

1900

9·7

193°

3.51

1936

·4·57

1913

5·5

1933···

Rechts:

·3·39

Reife Baumwollstaude.

Textilrohstoffeinfuhr werden.

aus,

Bis 1934 machte Baumwolle

217 Millionen

1936 deckten Kunstspinnfasern

Textilrohstoffbedarfs.

Mark

mußten

die Hälfte der deutschen

für

Baumwolle

ausgegeben

und Kunstseide schon etwa 37% des deutschen

Der Anteil der Baumwolleinfuhr

sank auf 22% zurück.

Unten: Flachsernte im Erdinger Moos, das noch vor ein paar Jahren völlig unfruchtbares Moorgebiet war. Auch hier hat Forschung neuen Lebensraum geschaffen. Während die Wissenschaft sie gleichzeitig

ungeheure

Kunstseide-

durch Bodenverbesserung Flachsanbau

und Zellwollfabriken

entstehen

und neue Aufbereitungsmethoden wieder zum Leben.

ließ, brachte auch den

HOLZ

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ten, auch das Bauholz wurde durch primitive Bearbeitung nur zum geringsten Teil ausgenutzt, vor allem aber der Großteil des Holzes immer noch verfeuert. Immer noch war Holz die wichtigste Wärmequelle; wie der Steinzeitmensch verbrannte man es, nutzte man so nur etwa ein Zehntel seiner Energie aus. Obwohl Holz - in Form der Holzkohle - seit Jahrhunderten als einziges Reduktionsmittel für Schwermetalle verwendet wurde, die Grundlage aller Metallurgie bildete, obwohl der Kohlenmeiler unbewußt die erste chemische Fabrik war, blieb Holzforschung etwas Unbekanntes. Im Kohlenmeiler entstanden seit jeher die wertvollsten Substanzen. Aber man kannte sie nicht; sie verbrannten oder entwichen in die Luft, und erst seit kaum einem Jahrhundert sind große Holzverkohlungsanstalten an Stelle der Meiler getreten, werden Holzteer und die Harze des Holzes, werden aus diesen Teeren das fäulnishindernde Kreosot und aus diesem die Desinfektionsmittel Lysol und Kreolin gewonnen. Erst mit der Holzehernie begann die Ausnutzung unsererWälder. Erst seit Holz einer der wichtigsten Grundstoffe der Chemie ist, beginnt man es seinem wahren Wert entsprechend zu veredeln. Diese Entwicklung begann mit der Großherstellung von Essigsäure durch Destillation von Holz, einer Destillation, die gleichzeitig Methylalkohol und Azeton ergibt. Alle drei Produkte sind überaus wichtig für fast alle Synthesen; aus Graukalk, den man durch Eindampfen von Rohholzdestillat mit Kalk erhält und von dem jetzt jährlich etwa 120000 Tonnen auf der Welt erzeugt werden, gewinnt man zum Beispiel Formaldehyd und Essigäther. Synthetischer Indigo, für dessen Herstellung jährlich allein etwa 6000 Tonnen Holzessigsäure verwendet werden, ebenso wie viele andere Farbstoffe, wie die Heilmittel Aspirin, das Antipyrin und Phenazetin, die Zaponlacke ebenso wie viele Metallacke wären undenkbar ohne die chemische Verwandlung des Holzes. Durch das aus Holz gewonnene Butylazetat ist erst die Spritzlackindustrie möglich geworden, hiermit zum Teil das moderne Automobil; durch die Holzindustrie ist erst Azeton erreichbar geworden, eines der wichtigsten Lösungsmittel, das für die Munitionsfabrikation so unentbehrlich wie für die Bindung des Azetylens ist. Nachdem die modernste Verwendung der Holzkohle lange die gewesen war, sie in Bügeleisen zum Wäscheplätten zu verwenden, 7ZI·WI·X

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WISSENSCHAFT BRICHT MONOPOLE

begann man endlich ihre bekannte Eigenschaft, Gase, Geruche und Unreinigkeiten zu absorbieren, technisch auszuwerten, sie nicht nur zu Filtern und Reinigungsanlagen zu benutzen, sondern sie zu s aktivieren e. Man fand, daß bei Luftabschluß unter Temperaturen von etwa eintausend Grad mit gewissen Chemikalien geglühte Holzkohle imstande ist, nicht nur das Vielfache ihres Volumens an Gasen, sondern auch an vergasten oder verdampften Flüssigkeiten anzunehmen, und nun fing man mit dieser »aktiven Kohle« die früher entweichenden Benzingase der Erdölquellen; jetzt gewann man durch die aktive Kohle kostbare Lösungsmittel der chemischen Industrie wieder, die früher nicht nur entwichen, sondern auch noch die Arbeiter krank machten. Man bestreicht jetzt die Schiffsrümpfe statt mit Mennige mit aktiver Kohle, die Giftstoffe in gewaltiger Menge enthält; und alle Tiere, alle Pflanzen, die früher dicke Polster an den Kielen bildeten und die Geschwindigkeit verminderten, sterben jetzt ab, sobald sie sich an die neue Holzkohle setzen. Als der Weltkrieg allen klarmachte, was Abgeschlossenheit von den Ölquellen der Welt, was Treibstoff für eine moderne Volkswirtschaft bedeutet, begann man auch mit Versuchen, Holzkohle nicht mehr nur zu verbrennen, sondern auch ihre Verbrennungsgase auszunutzen; man versuchte, die ersten brauchbaren Holzkohlengasgeneratoren für Fahrzeuge zu bauen, und daraus entwickelten sich schließlich Generatoren, in denen man nicht nur Holzkohle, sondern sogar einfach zerkleinertes Holz verwenden kann. Man verbrennt dieses Holz zu Kohlendioxyd, führt dieses durch die Glut und reduziert es so zu Kohlenmonoxyd ; auf dem Weg durch das glühende Holz und die entstandene glühende Holzkohle werden auch alle den Motor schädigenden Bestandteile des Gases, wie Essigsäure und Teer, zersetzt, »gekrackt«. Das Holzgas, das in jedem Explosionsmotor verwendbar ist, wird wie Benzindampf mit Luft gemischt, das Gasgemenge auf die übliche Art vom Fahrer durch Gashebel und Drossel reguliert. Wie bei der ersten Dampfmaschine eine einzige Pferdekraft noch ein Baugerüst von 221 Kilogramm benötigte, so waren auch die ersten Holzgasgeneratoren schwer und unförmig. Aber man drückte Gewicht und Größe stetig herunter. Wie man für eine Dampfpferdekraft statt 221 Kilo nur mehr 0,8 Kilo braucht, so

VEREDELTES HOLZ

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sah man schon 1933, als in Deutschland allein 560 Fahrzeuge ständig mit Holzgas getrieben wurden, diesen ihre Eigenart kaum an. Als im Sommer 1935 von Berlin aus 43 Fahrzeuge zur Erprobung heimischer Treibstoffe eine Fahrt von mehr als 10000 Kilometern antraten, waren die meisten mit Holzgasgeneratoren ausgerüstet, die verhältnismäßig wenig Platz erfordern. Imm~r mehr fährt man mit Holz, denn zweieinhalb Kilo Holz ersetzen ein Liter Benzin. Für eine Fahrt von Berlin bis zum Erzgebirge und wieder zurück verbraucht man für etwa 80 Pfennige Holz (I). Nicht nur die Treibstoffeinfuhr aber wird durch die Entwicklung des Holzgenerators heruntergedrückt. Deutschland hat zwar zu wenig Holz für Bauzwecke und Holzschliff, aber es hat zuviel Brennholz. Die Holzgaswagen helfen nicht nur Devisen sparen, sondern nehmen der Forstwirtschaft schwer verkäufliche oder meist im Wald verfaulende Überschüsse ab. Parallel mit der Verbesserung der Holzdestillationsmethoden, mit der nutzbringenden Aufschließung der Holzsubstanz war natürlich auch die Arbeit an anderen Aufschließungsarten einhergegangen, und diese wurden noch viel bedeutender als Holzzucker, Holzsprit und holzgasbetriebene Autos. Der eigentliche Aufstieg des Holzes alsWeltrohstoffbegann, als man Zellstoff statt aus Baumwolle auch aus Holz gewinnen lernte. Seitdem 1854 Watt und Burgeß ein amerikanisches Patent für ihr Verfahren erhielten, Holzschnitzel in großen eisernen Kochgefäßen unter fünf bis zehn Atmosphären Druck mit Ätznatronlauge zu kochen und so Zellstoff freizulegen, verging nicht ein Monat, ohne daß neue Holzverwertungsfabriken entstanden, neue Verfahren erdacht, neue Maschinen konstruiert worden wären. 1871 baute Dressel bei Paderborn die erste Natronzellstoffabrik Deutschlands; 1882 führte Dahl in Danzig die Ver(I) "Die Holzgasanlage für einen s-t-Lastwagen kostet mit Einbau etwa 2400 RM. Für einen solchen Wagen würde man bei einer Monatsleistung von 2000 Fahrtkilometern normal etwa 320 RM. für Benzin-Benzolgemisch benötigen, aber nur 60 RM. für die entsprechende Menge (2000 kg) Holz zu dem hoch angenommenen Preis von 3 RM. für 100 kg. Das ergibt im Monat einen Gewinn von 260 RM. Kürze ich davon 10 Prozent als Vergütung für die Mehrleistung des Fahrers, so bleiben immer noch rund 234 RM. Ersparnis an Brennstoffkosten im Monat. Also nach zehn Monaten ist bereits die Anlage amortisiert, und es bleibt bis zum Jahresschluß noch eine Ersparnis von rund 408 RM. gegenüber dem Betrieb mit Leichtöl. ce Deutsche Automobil-Zeitung.

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wendung von Sulfat statt Soda ein; schließlich wurde das Sulfitverfahren Mitscherlichs so weit entwickelt, daß es die anderen zeitweise überflügelte. Plötzlich wurden die Fichtenholzwälder Finnlands und Schwedens wertvoll, die verfault oder verbrannt waren, weil sie zu weit ab von allen Verkehrswegen lagen, um in Bauholz verwandelt zu werden. In Dalarne, Gästrikland und Uppland tauchten Aufkäufer auf, die den armen Waldbauern Summen für ihr Holz boten, die sie nie erträumten. Die Bauern verloren den Kopf. Manche scheuerten ihre Böden mit Champagner. Andere beeilten sich, langfristige Lieferungsverträge abzuschließen; schon träumten sie, durch ihr Holz lebenslänglich reich zu sein. Die Wälder aber schmolzen rasch zusammen. Der Goldstrom versiegte. Die Bauern der schwedischen Bergtäler sahen, daß man sie betrogen hatte; die langfristigen Verträge erwiesen sich nicht als Quelle des Reichtums, sondern als Anfang des Ruins. Die Not, die die rücksichtslose Ausbeutung der nordischen Wälder mit sich brachte, machte schon um die Jahrhundertwende die Kleinbauern Schwedens zu Sozialdemokraten; Holz beeinflußte direkt, nicht nur über den Umweg billigerer Bücher und Zeitungen die öffentliche Meinung, damit die Politik. Trotzdem aber wird immer mehr Holz auf der Welt, statt unter viel Rauch- und wenig Wärmeentwicklung in primitiven Öfen verbrannt zu werden, durch Messerschälmaschinen und Entrindungstrommeln vorbereitet, in Hackmaschinen zerkleinert, in Kochern mit Natronlauge oder mit Kalziumbisulfitlösung ausgelaugt. Aus den mit säurefesten Steinen ausgemauerten Kochern kommt der Zellstoff in Aufbereitungsanlagen, die ihn mit Wasser aufschwemmen; er fließt in die s Opener«, große Separatoren, in denen die Faserbündel aufgeschlagen und von halbaufgeschlosse- . nen Astteilen befreit werden, kommt dann auf Langsiebmaschinen, wird meist mit Chlorkalklösung gebleicht, schließlich zwischen heißen Walzen getrocknet. Aus den weichen, pappartigen Zellstoff tafeln wurde zuerst statt aus Lumpen Papier erzeugt; Zellstoff wurde zugleich zum Zerstören, als Kriegsmittel, verwendet, d. h. durch eine Mischung von Salpeter- und Schwefelsäure in Nitrozellulose umgewandelt. Mit dieser s künstlichen Schießbaumwolle« füllte man Torpedos, Minen und Sprengpatronen für den Bergbau. Aber auch Gutes sollte das Sprengmittel tun. Als 1880 der Amerikaner Hyatt nach

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einem Ersatz für Buchdruckwalzenmasse suchte, die bis heute durch warmes Mischen von Gelatine und Glyzerin hergestellt wird, und dabei auch versuchte, Kampfer mit Nitrozellulose zusammenzukneten, da fand er einen Stoff, der aus der Technik lange gar nicht wegzudenken war: die neue Mischung ergab das nicht mehr explosible Zelluloid und damit den photographischen Film. Man begann, Zelluloid als Ersatz für bisher aus Elfenbein und Hartgummi hergestellte Artikel zu verwenden; man fand immer neue Möglichkeiten der Verarbeitung, und heute beträgt die tägliche Weltproduktion an Zelluloid weit mehr als hunderttausend Kilo, in Deutschland ; 8 000 Kilo. All das war aber nur ein Anfang, nur der erste Schritt zum Siegeszug des Holzes. Die wahre Größe des Holzes begann mit der Kunstseide. Holz besteht zum größten Teil aus Zellulose, wie alle pflanzlichen Gerüststoffe, zum Beispiel Flachs, Hanf, Jute, aus Zellulose bestehen, und seit Jahrtausenden machte man aus ihrer reinsten in der Natur vorkommenden Art, aus Baumwolle, Kleider. Während unsere Vorfahren in den Gegenden, in denen es wilde Schafe gab, lernten, das natürlichverfilzte Vlies nachzuahmen, alle mögliehen Tierhaare verflochten, entdeckten die Bewohner der Tropen, daß besonders die' reifen Samenkapseln einer etwa mannshohen, großblättrigen Strauchart voll feiner weißer Fäden sind, die, biegsam und fest zugleich, sich leicht verspinnen und verweben lassen; man begann, sich mit Baumwolle zu kleiden. Und Gewebe aus Baumwolle, die man in Silbervasen bewahrt in Mohenjo-daro und in Harrapa fand, Städten des Industales, die von 3400 bis 2.500 vor Christus bewohnt waren, beweisen, daß die Technik der Baumwollweber, die vor fünf Jahrtausenden lebten, schon überaus bemerkenswert war. Wenn feine Baumwollgewebe aber auch immer ein wichtiger Handelsartikel waren, wenn BabyIon, das eine Art Handelsmonopol für die indischen Stoffe hatte, auch der Baumwolle wegen in Streit mit Ninive geriet, wenn Genua wie Venedig sich um Baumwolle rauften, Vasco da Gama vor allem deshalb 1498 in Calicut landete, weil seine Geldgeber eine direkte Verbindung zu dem Land gewünscht hatten, aus dem die herrlichen golddurchwirkten Baumwollstoffe kamen, solange Handarbeit die Welt beherrschte,

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blieb das )Weiße Gold e, wie man die Baumwolle oft nannte, doch ein unbedeutender Luxusartikel. Die Baumwollfasern sind kurz; das Verspinnen durch die Hand erforderte noch weit mehr Kunstfertigkeit als bei der Wolle. Das Entfernen der Samenkörner aus der Baumwolle war überaus zeitraubend. Da Baumwolle nur in den Tropen gedeiht, waren immer umständliche Transporte nötig. Dann aber wurde die Dampfmaschine erfunden, und Arkwright, ein Barbier aus Lancashire, erfand 1769 eine Spinnmaschine; dann erfand der Amerikaner Whitney 1794 den »Cotton-Gin«, eine Vorrichtung, die die Baumwolle entkernte, und kurz darauf der englische Arzt Edmund Cartwright einen mechanischen Webstuhl. Damit schienen Leinen und Wolle erledigt. Jetzt konnte man Massen von Fasern verspinnen, und man mußte Massen verspinnen und verweben, weil die Bevölkerungszahl der Erde immer rascher stieg. Flachs, Hanf, Schafzucht waren Nebenbetriebe der Bauernwirtschaften. Leinen und Wolle kamen unregelmäßig auf den Markt. Flachsbau und Schafzucht konnten nicht wesentlich vergrößert werden, weil Europa kaum Raum genug hatte, um seine Nahrungsmittel zu bauen. Baumwolle aber wuchs jetzt überall auf den ungeheuren neuen Plantagen Amerikas; man ließ sie von Sklaven betreuen, man konnte den Anbau so rasch steigern, daß statt der viertausend Ballen, die 1790 in Amerika wuchsen, 1883 schon 6500000 Ballen geerntet wurden, so daß die Weltproduktion in eineinhalb Jahrhunderten sich verfünfundzwanzigfachte. Die Baumwollproduktion stieg phantastisch, aber sie stieg nur dort, wo das Klima die Baumwollkultur ermöglicht. Die Bevölkerung aber stieg überall auf der Erde; sie stieg am raschesten in den Industrieländern Europas, dort, wo es keine Baumwolle gibt, und so spürte man bald wieder ein neues Monopol der Sonnenländer. Der amerikanische Norden kam in Konflikt mit dem Süden, der seine Baumwolle vor allem an England lieferte; schließlich kam es nicht zuletzt der Baumwolle wegen zum Sezessionskrieg. Durch seine Erfindungen hatte England die größte Baumwollindustrie der Welt aufgebaut, ganz Lancashire lebte ausschließlich von der Verarbeitung des »Weißen Goldes«; als jetzt durch den amerikanischen Krieg plötzlich der Rohstoff ausblieb, gab es bald Hunger und Revolten; während der amerikanische Süden zugrunde ging, weil er seine Baumwolle nicht verkaufen konnte,

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ging England fast zugrunde, weil es sie nicht mehr bekam. Klima und Boden machten die Baumwollkultur in Europa unmöglich, Massenverbrauch und Standardisierung zwangen zu ihrer Verwendung: das Dilemma wurde immer größer. Der Baumwolle wegen waren neue Länder entdeckt worden, hatte man Maschinen erfunden, die ein neues Zeitalter einleiteten, die das Leben der Menschheit grundlegend veränderten. Der Baumwolle wegen waren Millionen Schwarze versklavt worden, wie man des Rohrzuckers wegen Millionen versklavte, und nun wurde der Kampf um Baumwolle aus einem Streit der Händler auch noch zu einem Konflikt der Nationen, der Kontinente. Als der Sezessionskrieg beendet war, die Sklaven des Südens befreit wurden, stiegen die Baumwollpreise in bedrohliche Höhen. Statt zwölf Cents vor dem Krieg kostete 1865 das Pfund Baumwolle 189 Cents. Zu Ende des vorigen Jahrhunderts war Baumwolle zum wichtigsten Welthandelsartikel geworderg sie hatte Weizen und Reis an Bedeutung überflügelt, und 92 Prozent aller gefragten Baumwollsorten kamen aus den Vereinigten Staaten. So versuchte England mit aller Kraft, ein eigenes Baumwollreich zu gründen. Ägypten wurde erobert, ein blutiger, langwieriger Krieg um den Baumwollboden des Sudans geführt. Aber die Preise blieben hoch. Man begann Not an Textilfasern zu fürchten. Der Baumwolle wegen floß immer mehr Blut, Tausende starben an Fieber und Hitze, die versuchten, sie in neue Tropengebiete einzuführen, und der Kampf um die Textilmärkte bereitete sich vor, der heute Japan über England siegen ließ; jetzt aber beschäftigten sich auch immer mehr Chemiker mit dem Problem der Faserstoffsynthese. Die stetig steigenden Baumwollpreise - die Durchschnittsnotierung für ein Pfund betrug zwischen 1899 und 1904 5044 Pence, zwischen 1919 und 1924 16,23 Pence - die rasch anziehenden Woll- und Seidenkurse beunruhigten nicht nur Staatsmänner und Volkswirtschaftler, sie regten vor allem weitblickende Erfinder an. Wie Chemiker das Zuckermonopol der Sonnenländer brachen, so wollten sie auch das Baumwoll- und Seidenmonopol der Tropen brechen. Man untersuchte Baumwolle, fand, daß sie aus fast reiner Zellulose besteht, aber Zellulose war damals noch nicht aus Holz herstellbar. Wie Baumwolle entstand, konnte man nicht enträtseln, wie die Seidenraupe aber ihre Fäden erzeugt,

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wußte man seit langem: schon Robert Hooke hatte mit einem von ihm verbesserten Mikroskop verschiedene Rohstoffe untersucht; 1665 schrieb er, daß es doch möglich sein müsse, wie die Seidenraupe eine klebrige Flüssigkeit durch eine feine Öffnung zu pressen und diese Flüssigkeit dann zum Erstarren zu bringen. Reaumur, dessen Thermometer heute noch verwendet wird , hatte 1734 dann einen ähnlichen Gedanken ausgesprochen. Viele erfolglose Versuche waren gemacht worden, aber während die Engländer Watt und Burgeß sich noch abmühten, dem Holz seine Zellulose zu entreißen, war es dann dem Schweizer Schönbein und dem Braunschweiger Techniker Otto 1846 gelungen, Baumwolle zu nitrieren. Gleichzeitig mit dem Entstehen der Zellstoffindustrie gelang es englischen und französischen Chemikern, das Zellulosenitrat in einem Äther-Alkoholgemisch aufzulösen, diese Lösung durch dünne Röhrchen zu pressen und durch Wärme zum Erstarren zu bringen: damit war das Grundprinzip der Kunstseidenindustrie gefunden. Vom Laboratorium zur Fabrik allerdings war immer noch ein weiter Weg. Als auf der Pariser Weltausstellung des Jahres 1889 zwei deutsche Nähseidenfabrikanten, die Brüder Amann, einen Apparat sahen, der eine bierfarbene Flüssigkeit durch Glasröhrchen drückte, die zu glänzenden Fäden koagulierte, und von dem großen, weißbärtigen Erfinder das Patent kaufen wollten, da mußte dieser, der Graf Hilaire de Chardonnet, zugeben, daß die Erfindung noch nicht fabrikations reif sei. Erst 1896 kam es zur Gründung einer Versuchsfabrik in Besancon, und hieran verlor der Graf sein gesamtes Vermögen, mehr als sechs Millionen Franken. Die Chardonriet-Seide war als ganz nahe Verwandte der Schießbaumwolle überaus leicht entflammbar ; es kam vor, daß bei Abendgesellschaften Männer ihre Frauen mit einer Zigarette in brennende Säulen verwandelten, es gab Todesfälle, mit denen die Naturseidenhersteller nicht wenig Propaganda machten. Chardonnet starb arm. Bis zuletzt aber hatte er seine Erfindung verbessert; auch die Brüder Amann verloren ihr Interesse an Kunstseide nicht·, der Augsburger Forscher Friedrich Lehner, die Chemiker Vivier, Bronnert und Thiele suchten weiter. Man lernte Zellstoff verwenden, Holzzellulose in nicht brennbare Kunstseide verwandeln' , der Fürst Henckel von Donnersmark finanzierte in Deutschland

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das Viskoseverfahren, das dann durch die Vereinigten Glanzstofffabriken, die es aufkauften, zur wichtigsten Kunstseidenart gemacht wurde; und in einer alten Papiermühle in Oberbruch arbeitete Dr. Max Fremery an aus Kupferoxydammoniak herzustellender Kunstseide. Diese alte Mühle wurde zur Geburtsstätte der größten deutschen Glanzstoffwerke. Eine Spinnmaschine stand hier, die statt der heute verwendeten in Hartmetall gebohrten Spinndüsen von manchmal nur 0,009 Millimeter Durchmesser Spinnöffnungen aus Glas hatte, Kapillarröhrchen mit Öffnungen von einem zehntel Millimeter, auf die der alte Glanzstoffmeister Röhrens sehr stolz war, die sich aber doch recht oft verstopften und mühselig durch Einsaugen von Wasser wieder freigemacht werden mußten. 1899 aber liefen dann doch schon zwei Maschinen; statt eines Fadens wurden einhundertsechzig gesponnen. Man kannte noch nicht zentrale Spinnstoffbehälter, mußte in Zehnliterflaschen die Spinnflüssigkeit vom Vorratskessel holen und zu den Maschinen tragen, aber langsam ging es vorwärts. Nachdem die Barmer Besatzindustrie damit begonnen hatte. aus Kunstseide Litzen und Bänder zu machen, entdeckten Regenschirmfabrikanten, daß mit Kunstseide gemischte Naturseide langsamer brüchig wurde als ohne Zusatz. Man fand, daß Kunstseide gegen Sonne weniger empfindlich ist als das Naturprodukt, daß Kunstseide weniger leicht schmutzig wird als Baumwolle oder Seide. Aus der Papiermühle in Oberbruch wurden Riesenwerke; die von Fürst Henckel von Donnersmark und Dr. Fremery entwickelten Methoden wurden vereint, Viskoseseide wurde langsam die wichtigste Art künstlicher Textilstoffe. Heute wird nach diesem Verfahren Holzzellstoff getrocknet und dann mit Natronlauge getränkt, in hydraulischen Pressen von der überschüssigen Lauge getrennt, schließlich zu einer sägespanartigen Masse zerfasert. Diese Fasermasse, mit Schwefelkohlenstoff und Alkohol gemischt, gibt das sogenannte Xanthogenat. In verdünnter Natronlauge aufgelöst, ergibt dieses die Viskose, eine sirupartige Flüssigkeit, die nach Filtrieren und mehrtägigem s Reifen e spinnfertig ist. Wie bei den anderen Systemen wird sie durch feine Lö~her gepreßt, durch eine Art Brause mit fünfzig bis achthundert Öffnungen gedrückt. Da Viskose aber nicht wie Nitratseide an der Luft erstarrt, muß sie in einem Säurebad zum Erstarren gebracht werden, in dem sogenannten »Spinnbad-s.

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Nicht ganz einfach also ist die moderne Herstellung der Kunstseide. Diese langwierige Verflüssigung und Wiederverfestigung von Zellulose aber hat ihren Grund in dem Umstand, daß Zellulose selbst nicht löslich ist, daß man ihre Molekulargröße immer erst chemisch verringern muß, bevor man sie flüssig machen kann. Wie alles Leben in einer Lösung entstand - im Ozean, der gelöste Nahrung für Milliarden Lebewesen enthält -, wie eine Lösung vom fast genau gleichen Salzgehalt des Meeres unsere Körpersäfte, das Leben aufrechterhält, so sind Lösungen das Alpha und Omega der Chemie. Fast alle chemischen Reaktionen gehen nur im flüssigen Zustand vor sich. So einfach das klingt, eine Haupteigenschaft der Flüssigkeiten ist es, die Stoffe, die sie lösen, so nahe aneinander zu bringen, daß sie aufeinander wirken. Als Regel gilt: je kleiner die Moleküle eines Stoffes sind, desto leichter sind sie zu zerreißen, desto leichter ist dieser Stoff zu lösen. Viele organische Stoffe aber haben große Moleküle, insbesondere die Zellulose; man kann sie unter gewissen Bedingungen sogar sehen. Zellstoff ohne Umweg lösen und zu spinnfähigen Fäden zu verarbeiten, das ist die große Sehnsucht der Chemiker, damit wäre sehr viel Zeit und sehr viel Geld erspart, damit wäre das Bekleidungsproblem gelöst. Aber obwohl flüssiges Ammoniak sehr viele organische Substanzen, Azetamid sogar vierhundert organische und zweihundert anorganische Stoffe löst, obwohl neue »Lösemittel« die synthetische Herstellung von Riechstoffen, Farben, Kunstleder, Regenmänteln und Bodenbelagen gestatten, sind unsere Kunstfasern vorläufig nur ein Anfang. Ein Anfang allerdings, der sobald nicht seinesgleichen hat, denn der Siegeszug der Kunstseide ist atemraubend. 1913 noch war die Kunstseidenerzeugung der Welt kaum der Rede wert, zehn Jahre später erreichte sie schon 75 Millionen Kilo, 1936 rund 462. Millionen Kilo. Als nach Beendigung des Weltkrieges die Schießbaumwollfabriken sich umstellen, die Zellstoffwerke neue Kunden suchen mußten, wurden plötzlich Riesenkapitalien in den Dienst der Kunstseide gestellt. Spekulanten wie Loewenstein in Belgien und Gualino, der Gründer der Snia Viscosa in Italien, mobilisierten alle Börsen der Welt; über Nacht wurden ganze Wälder in Kunstseidenstrümpfe und Abendkleider verwandelt; die Sehnsucht nach billigem Luxus, nach Glanz lief parallel mit Hunger

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und Qual der Inflationszeit, und so wurde der ~König Baumwolle« entthront, so siegte der Kunststoff der Chemiker über das »Weiße Gold« ebenso wie über die Naturseide. Der Siegeszug der Baumwolle hatte begonnen, als die Massenproduktion über Qualitätsarbeit zu triumphieren begann, als Spinnen und Weben mit der Hand zu langsam ging, als Hanf und Flachs zu langsam wuchsen, die Schafe sich zu langsam vermehrten, um all die neu geborenen Millionen zu kleiden. Baumwolle hatte über Wolle und Leinen gesiegt, als die Bevölkerung der Erde so rasch stieg, daß Kleidung nicht mehr dauerhaft, sondern vor allem billig sein mußte, als Leichtigkeit der Herstellung durch Maschinen, als das Produktionstempo entscheidend wurden. Kunstseide siegte, als nicht nur immer mehr Menschen, sondern auch immer anspruchsvollere Menschen zu kleiden waren. Nach dem Hunger, dem Blut, den Entbehrungen des Weltkrieges wollte die Welt alles Versäumte nachholen, auch die Massen wollten Seide, nicht nur mehr Baumwolle und Leinen. Solange Amerika reich war, kaufte es echte Seide. Dreiviertel aller japanischen Naturseide ging in die Vereinigten Staaten. Dann zerfiel der Mammutbau der amerikanischen Wirtschaft, dann zerplatzten· die Seifenblasen der europäischen Trustherren, aber der Hunger nach Glanz blieb. Kunstseide gewann Markt auf Markt. Sie war schön, sie war gut, sie war billig. Und so stellte sogar Japan, der wichtigste Naturseidenhersteller der Welt, sich auf den neuen chemischen Stoff um. Japan verstand, daß die Welt zu arm für das Produkt der langsamen Seidenraupen geworden war, Japan gab selbst seinen Reinseidenkulturen den Todesstoß, um wenigstens an der allgemeinen Konjunktur teilzunehmen, wenigstens etwas aus dem Zusammenbruch zu retten. Statt der hunderttausend Pfund Kunstseide, die Japan 1918 herstellte, erzeugte es 1936 über 2.74 Millionen Pfund und außerdem 50 Millionen Pfund Zellwolle. Nachdem Japan noch 192.7 den neunten Platz unter den Kunstseidenlieferanten der Welt einnahm, steht es heute an zweiter Stelle. Im Land der Seide derart schlagend zu siegen, das hatte niemand der Kunstseide zugetraut. Aber sie übertraf in jeder Beziehung alle Erwartungen: sie setzte sich als Isolationsstoff in der Kabelindustrie durch. Während des Weltkrieges schon hatte sie bei den Mittelmächten die Baumwolle in vielen lebenswichtigen

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Dingen ersetzt, wurde sie zu Gasmasken ebenso wie zu Proviantbeuteln verarbeitet, 1934 eroberte sie auch noch die Reifenindnstrie, Die amerikanischen Pneufabriken begannen Kunstseide statt Baumwolle in ihren Reifenmänteln zu verarbeiten, Kunstseide als Gerüst für den Gummi zu verwenden, weil sie unempfindlicher gegen Wärme ist, sich bei starker Reibung weniger abnutzt als Baumwolle, vor allem für die Fabrikation von schweren Lastwagen- und Omnibusreifen geeignet ist (I). Nachdem man in DeutschlandKunstseidenfäden herstellen lernte , von denen neun Kilometer nur ein halbes Gramm wiegen, ein Drittel etwa der Naturseidenfäden, brachte im Frühjahr 1936 die Du Pont de Nemours Co. eine Faser heraus, von der ein den Ozean überspannender Faden nur ein halbes Pfund wiegen würde, aus der man Kleider machen kann, kühler und leichter als alle bekannten. Immer raffiniertere Fabrikationsmethoden wurden ausgearbeitet, immer neue Verwendungs ge biete fand Kunstseide, immer rascher stieg die Produktion. Deutschlands Erzeugung zum Beispiel war 1933 schon um 19 Prozent gegen das Vorjahr gestiegen, 1934 stieg sie um weitere 42 Prozent. Fast 33000 Menschen wurden zu Ende 1934 in Deutschlands Kunstseidenfabriken beschäftigt. Der Wert der deutschen Jahresproduktion stieg auf 2II Millionen Mark (der Rohstoffanteil an diesen Werten macht sechsundzwanzig Prozent aus), die Fadenlänge ihrer Tagesproduktion entspricht der zwölffachen Entfernung der Erde zum Mond. Rund dreieinhalb Milliarden Mark sind heute in der Kunstseidenindustrie angelegt, und während die Weltrohseidengewinnung von 64000 Tonnen im Jahre 1929 auf 61500 Tonnen im Jahre 1933 fiel, stieg die Kunstseidenproduktion der Welt von 199000 Tonnen auf 500000 Tonnen. Der jährliche Verbrauch an Kunstseide je Kopf der Bevölkerung beträgt nun in Großbritannien 1,1 Kilo, in den Vereinigten Staaten 0,9, in Italien 0,850 in Japan 0,75 und in Deutschland 0,68 Kilo. Das ist erst etwa ein Achtel des Kopfverbrauches an Baumwolle, durch die gewaltige Kunstseidenproduktion aber wird trotzdem das Baumwollmonopol der Sonnenländer entwertet. Schon (I) Die Reifenindustrie verbraucht heute jährlich 200 Millionen lb Baumwolle die also langsam durch Kunstseide ersetzt werden. '

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sind Spekulationsgewinne wie die Sullys unmöglich geworden, schon braucht Lancashire, das seit langem Baumwolle mit Kunstseide vermischt verwebt, nicht mehr Angst vor völligem Rohstoffmangel zu haben. Gewaltig hatte die Kunstseide den Baumwollbedarf der Welt gebremst; mit der Kunstseidenherstellung war nach Jahrtausenden zum erstenmal ein industrieller Rohstoff zu Kleidern verarbeitet worden, der von unbeeinflußbaren Naturgegebenheiten, von Klima und Bodenbeschaffenheit unabhängig ist. Zum erstenmal brauchte die Textiltechnik sich nicht mehr den unabänderlichen Eigenschaften des Rohstoffes anzupassen, sondern konnte durch die Lenkung des Herstellungsweges dem Rohstoff gewollte Eigenschaften geben. Aber Kunstseide war in ihrer Verwendungs möglichkeit doch noch sehr beschränkt. Sie ist ein endloser glatter glänzender Faden, kein Spinnprodukt. Es fehlen infolgedessen die Lufträume, um Anzugstoffe wärmend zu machen. Deshalb mußte sich aus der Kunstseide die geschnittene, d. h. kurzstapelige und möglichst gekräuselte Zellwolle entwickeln, um sich einen neuen Verwendungsbereich zu sichern. Und die Devisennot, der Zwang, Deutschlands Textileinfuhr zu verringern, die nach Gottfried Dierig im Durchschnitt der letzten 5 Jahre 34,7 Prozent aller Devisenanforderungen für den Einfuhrüberschuß von Rohstoffen, also etwa I Milliarde Mark, verschlang, beschleunigte diesen Schritt. Seit langem schon hatte man versucht, Kunstfasern nicht nur für Strümpfe, Unterwäsche und Damenstoffe zu verwenden, sondern zu derberen Geweben zu verarbeiten. Man hatte während des Krieges Stapelfasern hergestellt; aus den Mißerfolgen lernend, fand man schließlich I 920 Verbesserungen, die sie bald zu einem wertvollen neuen Grundstoff machten. Jetzt baute man neue Maschinen für das Verfahren Girards, der 1912 schon vorschlug, auf gewöhnliche Art gesponnene Kunstseidenfäden auf Spulen oder Haspeln zu wickeln und sie parallel zur Spulenachse mehrfach zu durchschneiden. Man konnte jetzt dreißig Stränge zugleich mit Hobelmaschinen durchschneiden; man lernte, die kurzen Fasern unter Druck mit Dampf rasch zu erhitzen, schnell wieder abzukühlen und so dem Wollhaar ganz ähnlich zu kräuseln, ersetzte auch dieses Verfahren durch noch bessere. Und schließlich war das aus kurzen, gekräuselten Einzelfäden zusammengezwirnteGarn c

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viel poröser, lufthaitiger und damit weicher und wärmer als Kunstseide geworden. Mit Wolle vermischt, ergab diese» Zellwollfaser-a nun Garne, die wesentlich gleichmäßiger als die aus reiner Wolle waren. Man konnte synthetische Fasern herstellen, deren Reißfestigkeit weit größer als die der Baumwollfaser ist. Ganz neue Muster werden durch den neuen Rohstoff möglich, auf bestimmten Gebieten, wie Musselinstoffen oder Trikotwäsche, erkämpften sich die aus reiner Zellwolle hergestellten Gewebe rasch den Vorrang. Gedruckter Wollmusselin ist nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Staaten, wie z. B. in Schweden und Norwegen, unverkäuflich und vollkommen durch Zellmusselin verdrängt. Immer neue, immer größere Fabrikationsanlagen entstanden, und so wurden statt der 3 Millionen Kilo Zellwolle, die Deutschland 1932 erzeugte, 1936 schon 43 Millionen Kilo, 1937 80 Millionen Kilo hergestellt. Mit der erhöhten Erzeugung sank der Preis, und so ist man heute dem der Baumwolle schon sehr nahe. Schon fühlen sich die Wolle produzierenden Länder, wie Australien und Südafrika, von der Zellwolle in ihrem Absatz stark bedroht und fordern von der Internationalen Wollkonferenz die gemeinschaftliche Aufbringung eines großen Propagandafonds. Bezeichnend ist, daß die Vertreter Englands eine derartige Aktion ablehnen, da das Eindringen der Zellwolle nicht aufzuhalten sei. Denn wie Deutschland sich durch synthetische Fasern von übermäßigen Rohstoffimporten freizumachen suchte, so natürlich auch andere Länder, vor allem Italien und Japan (1). Durch die; Sanktionen noch beengter als Deutschland durch die Devisenknappheit, erzeugte Italien 1936 sogar doppelt soviel Zellwolle als Deutschland. Und als im Sommer 1936 Japan einen Zollkrieg gegen Australien führte, dieser Hauptlieferant der japanischen W ollindustrie Schwierigkeiten machte, stieg auch in Japan die Erzeugung von Zellwolle überaus rasch an: 1929 war mit den Versuchen begonnen worden, 1933 erzeugte Japan 482000 Kilo Zellwolle, 1935 gewann es schon 7 Millionen Kilo und ab Juli 1936 monatlich fast

2 Millionen Kilo. England 57 Millionen Kilo Kunstseide, 14 Millionen Kilo Zellwolle. Amerika 145 Millionen Kilo Kunstseide (15 Prozent mehr als 1935), 12,5 Millionen Kilo Zellwolle gegenüber 3 Millionen Kilo 1935. Dem Beispiel Deutschlands folgend, wird heute in allen überlegt geführten Ländern ein erbitterter Kampf gegen Rohstoffsklaverei und Blockadeangst geführt, wird überall durch Aufklärung und viel mehr noch durch Leistung das alte Vorurteil gegen» künstliche« Stoffe ausgemerzt. Und wie niemand mehr daran denkt, Rübenzucker als minderwertiger denn Rohrzucker anzusehen - was sehr lange in Europa geschah _, wie niemand mehr Kunstseide als» Ersatz« betrachtet, so sind auch. Anzüge und Mäntel. aus Gemischen von Wolle und Zellwolle , Baumwolle oder Kunstseide keine Kuriosität mehr. Man gewöhnt sich an die chemischen Textilstoffe, wie synthetisches Benzin als selbstverständlich gilt, wie Holzsprit und Teerfarben, Heilmittel aus Kohle und Stickstoff aus Luft selbstverständlich wurden. Diese Gewöhnung aber bedeutet für die deutsche Volkswirtschaft ungeheure Ersparnisse. Immer mehr Menschen finden in den neuen Industrien Beschäftigung, immer weniger Geld geht für Textilrohstoffe ins Ausland. Deutschland, mehr als alle andern Industrieländer noch, hatte endlich eingesehen, daß wir uns nicht leisten können, Zellstoff zu verheizen, der uns kleiden und nähren kann. Wieder aber drängt sich da die Frage auf: gibt es denn genug Holz, wachsen denn die Wälder so rasch nach, wie die neuen Industrien es erfordern? Holz ist heute zu einem der wichtigsten Massengüter geworden, die rund eineinhalb Milliarden Festmeter, die jährlich auf der Welt verbraucht werden, stehen kaum hinter der Weltkohlenförderung zurück, auch im Welthandel kommt Holz bald nach Weizen und Kohle, ist der Umsatzwert, der 1929 3 Milliarden Mark betrug und auch während der schwersten Krisenjahre nie unter 1 Milliarde sank, gewaltig. Und mit diesem Verbrauch kommt der Nachwuchs heute nicht mehr oder noch nicht mit. Man schätzt ihn auf IIOO Millionen Festmeter jährlich, Defizit von mindestens 400 Millionen Festmetern also. Wie bei Kohle und Öl, leben wir auch beim Holz zumindest zum 'feil vom Kapital. Dazu kommt,daß 871/2Prozent dieses Kapitals, der gesamten Waldfläche der Erde, heute schon in tropischen Ländern liegen. Die erste Folge der vielen neuen Ver-

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(1) Schon 1936 entsprach die Menge der synthetischen Fasern etwa 3 Millionen Ballen Baumwolle, etwa einem Viertel der amerikanischen Baumwollernte. Ende 1937 kam die Erzeugung synthetischer Fasern bereits dem dritten Teil der USA.Baumwollernte gleich. Das Spinnstoffmonopol der Tropenländer ist damit endgültig gebrochen.

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wendungsmöglichkeiten für Holz war, daß allein zwischen 1936 und 1937 auf den europäischen Märkten der Papierholzpreis um 20 bis 60 Prozent stieg, daß zwischen 1932 und 1937 sich in Neuyork der Zellstoffpreis verdoppelte. Wird die weitere Folge sein, daß der Kampf um Kunstseide und Zellwolle, Treibstoff und Zucker aus Holz nur eine Verschiebung, keine Lösung des Rohstoffproblems war? Deutschlands Bodenfläche ist zu 27,3 Prozent mit Wald bedeckt, es besitzt 12,7 Millionen Hektar Forst, es wird in Europa nur von Rußland, Finnland und Schweden an Holzreichtum übertroffen. Für jeden Deutschen wachsen alljährlich etwa dreiviertel Raummeter Holz nach. Aber wir brauchen sogar mehr als einen ganzen Festmeter auf den Kopf, 1936/37 im ganzen 75 Millionen Festmeter, während die deutschen Wälder trotz Überschlagens nur 64 Millionen gaben. Der Rest mußte hauptsächlich in Rußland - das 1936 35 Prozent, 1913 noch 51 Prozent des deutschen Einfuhrbdarfs deckte-, in Österreich, Polen und den skandinavischen Ländern gekauft werden (I). Aber ist das eine Folge der synthetischen Rohstofferzengung? Von den 64 Millionen Festmetern Holz, die Deutschland 1936 gewann, waren !,loch immer 28,6 Millionen, also rund 45 Prozent, (I) Nach dem Frankfurter Handelsblatt verbrauch:

in Mill. fm

..

1909/13

... . .

Bauholz. Papierholz Grubenholz • Veredlung, Schwellen, Masten

.

· · · · · ·

Zusammen Deutschlands

Nutzholz1935/36

1933

2.2.,5

16,0

ZZ,5

6,0

6,0

7,0

7,0 6,5

4,0 6,0

11,0

4Z,0

32.,0

45,0

1934

1936

1935

Mill. Mill. Mill. Mil!. Mil!. Mil!. Mil!. RM RM RM t t RM t

P apierholz Rundholz Schnittholz •

z,z6

62,3

z,82.

60,5

z,24

zOO,5 0,60

25,5 30,3

3,oZ

3,57 2.,93

1,41

56,9

1,72

1,35

326,0

0,61

39,1

1,13

77,5

1,12

69,7 80,8

Zusammen •

8,76

6°7,1

2.,41

94,9

5,56

196,7

5,66

1,20

(I) Nach dem "Vierjahresplan" waren Ertrag deutschen Wald 1936/37 folgende: Besitzformen

2II,0

Staatsforsten einschl, Reichsforsten • Kommunal- und Stiftsforsten Genossenschaftsforsten Gebundener Privatwaldbesitz Freier Privatwaldbesitz

.

Mill. MU!. Mill. t RM t 80,6

Brennholz, sie wurden zur Erzeugung dichter Rauchschwaden und von sehr wenig Wärme verwendet. Kaum ein Prozent des gesamten deutschen Holzverbrauchs dagegen lieferte Edelzellstoff, diente der Bekleidung: die allgemein verbreitete Vorstellung, daß Kunstseide und Zellwolle die Hauptschuldigen an dem zwischen 1935 und 1936 eingetretenen Mehrverbrauch von etwa 10 Millionen Festmetern Holz seien, ist also falsch. Der Witz, der behauptet, wer sich zwei Anzüge gleichzeitig kaufe, sei ein Waldfrevler, ist nicht sehr treffend. Deutschland war immer schon ein bedeutender Holzkäufer, führte 1913, lange bevor man an Zellwolle dachte, für 350 Millionen Mark Holz ein, 1928 sogar für 607 Millionen Mark. 1936 aber gingen nur 206 Millionen für Holz ins Ausland. Der Verbrauch stieg, aber es trat eine Verschiebung in den Sorten ein. Schon heute ist die Ersparnis an der Spinnstoffeinfuhr bei weitem größer als die Aufwendungen für die erhöhte Holzeinfuhr betragen. Und auch hier' stehen wir ja erst am Anfang. Der Ertrag der deutschen Wälder kann noch wesentlich gesteigert werden, denn ein Drittel ist Privatwald, der nur weniger als die Hälfte dessen ergibt, was die Staatsforste liefern (I). Auf Grund alter Holznutzungsrechte war bis zum 30. Juli 1937, der Verordnung zur Förderung der Nutzholzgewinnung, ein bedeutender Teil wertund Besitzverhältnisse Abgerundete Fläche in 1000 ha

im

Hundertsatz

4,5

Nutzholzeinfuhr:

1932.

1928

Holzgruppe

betrugen Deutschlands

HOLZ

1,21

49,7 64,7 91,6

4,80

z06,0

.

4160 2.191 3°1 1632.

32.,8 17,1 2.,3 IZ,9

442.8

34.9

IZ712.

100,0

Die verschiedene Bächenmäßige Gesamtdurchschnittsleistung je Jahr und Hektar ist aus der folgenden Übersicht zu entnehmen: Staatswaldbesitz • • • • • 4,50 Festmeter Kommunalwaldbesitz • • 3,65 Gebundener Privatwald • 4,10 Freier Privatwald '" • 2.,15 8ZI·WI·X

i ~

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vollen Nutzholzes verbrannt worden. Indem man diese Rechte durch Überweisung von Land zur Abrundung des bäuerlichen Besitzes, durch Kapital oder durch Lieferung von Torf und Kohle ablöste, wurden fast 3 Millionen Festmeter jährlich gewonnen. Daneben wird nach dem Darreschen Plan an der Aufforstung von 2 Millionen Hektar deutschen Ödlandes gearbeitet. Vor allem aber gibt es jetzt eine moderne Holzforschung, werden zum Beispiel immer mehr der Forschungsergebnisse Haaks und Möllers und vieler anderer, die gegen 1910 die Bedeutung der Samenherkunft für das Gedeihen der Waldbäume feststellten, praktisch ausgewertet. Man weiß heute, daß der Wuchs erfolg von der Verwendung akklimatisierten, also heimischen Saatgutes abhängt, daß klimafremde Samen zu ärmlichen, verkrüppelten Bäumen führen. Aber die Fehler des letzten halben Jahrhunderts sind nicht so leicht gutzumachen. Als man endlich anfing, Waldbäume aus Samen zu ziehen, kaufte man ihn dort, wo er am billigsten war. Die Bäume des Mittelmeergebietes, des Südens, tragen viel rascher Samen als die nordischen Arten, der südliche Samen ist billiger. In Deutschland wuchsen also artfremde Bäume auf, die nicht an Schnee, nicht an Sturm gewöhnt, die allen Krankheiten wehrlos ausgeliefert waren. In Norddeutschland starben alle Erlen ab, weil sie klimafremd waren. Da es eine Zuchtwahlforschung im Walde bis in die jüngste Zeit nicht gab, gewann man statt gerader Stämme fast wertlose gekrümmte, wurden langsam Menge wie Güte des deutschen Holzes immer unbefriedigender. Daneben ruinierten Seuchen ganze Landstriche. Der Schüttpilz vernichtete nach Taberts Berechnung in Deutschland jährlich 2600 Hektar Kiefernjungwuchsfläche, verursachte einen jährlichen Durchschnittsschaden von 288000 Mark. Allein zwischen 1922 und 1924 wurden in Ost- und Mitteldeutschland 170000 Hektar Wald durch die Forleule kahlgefressen. Beide Schädlinge konnte man erst durch neue, von der Wissenschaft entwickelte, teilweise von Flugzeugen zerstäubte Gifte bekämpfen. Jahrhundertelang tat man fast nichts gegen Waldschaden; die erste Waldbrandversicherung in Deutschland zum Beispiel wurde erst 1895 abgeschlossen, nach den amtlichen Statistiken zerstörten aber zwischen 1890 und 1920 Feuer allein in Preußen im Jahresdurchschnitt Wälder im Wert von 793000 Mark. Heute hingegen beginnt man immer mehr, Holz nicht nur in den Wäldern zu

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schützen, sondern es vor allem bei der Weiterverarbeitung derart zu imprägnieren, daß es praktisch völlig feuer- und fäulnisfest wird. Man hat zum Beispiel gelernt, Eisenbahnschwellen und Telegraphenstangen statt ein oder zwei Jahre, sechzehn bis zwanzig Jahre verwendungsfähig zu erhalten. Man preßt heute Holz quer zur Faser und gewinnt so ein völlig elastisches Holz, preßt es parallel zur Faser und schließt so die natürlichen Hohlräume fast völlig, verdoppelt das Raumgewicht des Holzes, verdoppelt so aber auch die Zug- und Druckfestigkeit dieses '> Lignostone«; das so behandelte Produkt hat die drei- bis vierfache Härte des Ausgangsholzes und bietet damit ganz neue Verwendungsmöglichkeiten. Um uns von den tropischen Farbhölzern unabhängig zu machen, entwickelte die Chemie ein Verfahren, bei dem der lebende Baum angebohrt und in den Saft Farb- und Imprägnierstoffe eingeführt werden, die rasch durch den ganzen Stamm wandern und so Farbhölzer liefern, die den exotischen gleichkommen, sie oft übertreffen. Hundert andere Verfahren noch sind in der Entwicklung, die alle Holz sparen, Holz veredeln helfen, die sehr bald schon Holzverbrauch und Holznachwuchs der Welt ins Gleichgewicht bringen können. Vor allem aber steht wie die Kunstseidenindustrie, wie die Stapelfaserindustrie auch die Zellstofferzeugung erst am Anfang, sind auch hier noch ungeheure Fortschritte möglich und nötig. Statt der 10 Prozent allen Papiers, die 1880 aus Holz hergestellt wurden, stammen heute 65 Prozent allen Papiers der Welt aus den Wäldern. Aber nur in Deutschland, und auch hier erst seit 1936, wird Altpapier in wesentlichen Mengen gesammelt, nicht wie bisher zu mehr als 95 Prozent verbrannt. Erst 1937 lernte man zum Beispiel aus Alt-Zeitungspapier durch Emulgierung des Rußes Rohstoff für neues Druckpapier gewinnen. Neben der Faserstoffherstellung wurde Zellstoff zu immer neuen Dingen verwendet, zu Lacken und zu Zelluloid wie zu unzerbrechlichen Grammophonplatten, und so stieg natürlich der Holzschliffverbrauch ganz gewaltig. Statt der 232000 Tonnen Zellstoff, die Deutschland im Jahre 1896 erzeugte, wurden 1913 schon 839000 Tonnen, 1936 1330000 Tonnen Zellstoff hergestellt. Von einer Million Tonnen jährlich um die Jahrhundertwende stieg 1936 die Welt-Zellstofferzeugung auf IZ,6 Millionen Tonnen. Und um die zu ge-

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VEREDELTES HOLZ

winnen, hatte man etwa 2.5 Millionen Tonnen Holz verarbeiten müssen (1). Den Industriellen schien das nicht verwunderlich, denn nach der heutigen Auffassung besteht die Gerüstsubstanz der Pflanzen eben nur zur Hälfte aus Zellulosefasern, zur andern Hälfte aus den sogenannten Inkrusten, die diese Fasern miteinander verkitten. Manche Chemiker aber wollten sich damit nicht abfinden, und so kam es schließlich im Juli 1935 zu den aufsehenerregenden Mitteilungen des Braunschweiger Professors Dr. S. Hilpert an die Hauptversammlung des Vereins Deutscher Chemiker in Königsberg. Aus eingehenden Versuchen Hilperts ging hervor, daß die Auffassung von den 40 bis 50 Prozent Inkrusten nicht stimmt, daß die Gerüstsubstanz der Pflanzen vielmehr praktisch völlig aus Zellulose und ihren Abarten besteht, daß es nur an unseren unvoll-

kommenen Gewinnungsmethoden liegt, wenn nur die Hälfte des Holzes in Zellstoff verwandelt wird, die andere Hälfte als unverwertbare Abfallsubstanz mit den Zellstoffabwässern in die Flüsse abgelassen wird. Durch Behandlung von Stroh mit Säuren bei tiefen Temperaturen gelang es Hilpert, dieses bis auf zwei Prozent in Lösung zu bringen, ohne daß Inkrusten, insonderheit ihr wichtigster Bestandteil Lignin, entstanden. Hilpert glaubt damit nachgewiesen zu haben, daß Lignine aus Kohlehydraten erst durch Behandlung mit Säuren entstehen, also nicht von vornherein in der Pflanze vorhanden sind. Er befindet' sich hier in Übereinstimmung mit den Geologen, die änliche Auffassungen bereits aus Funden organischer Stoffe im Erdinnern entwickelt haben. Technisch würde das bedeuten, daß die heutigen Aufschlußverfahren für Zellulose falsch sind, weil sie einen beträchtlichen Teil der Stoffe, die sie in möglichst hoher Ausbeute gewinnen wollen, in eine unverwertbare Abfallform überführen (1). Was Professor Hilpert wissenschaftlich beweist, ahnen nun auch schon einige Industrielle; überall wird versucht, Holz kalt und ohne Druck in Zellstoff zu verwandeln, zumindest die Dauer des Kochens, die heute zwischen 8 und 80 Stunden schwankt, abzukürzen. Schon stellt der Pariser Ingenieur Charles Tellier Zellstoff in Apparaten her, die etwa ein Zwanzigstel der jetzt verwendeten kosten, weil sie nicht druckfest sein müssen, man nur einen Bruchteil der jetzt angewandten Hitze und diese statt bis zu 80 nur höchstens 2. Stunden braucht. Schon gibt es Versuchsfabriken in Spanien, die Stroh fast völlig in Zellstoff verwandeln, stellt die Kurmärkische Zellwolle- und Zellulose AG. Textilfasern aus Stroh her. Werden Professor Hilperts Forschungen aber technisch ausgewertet, dann ist die Angst vor einer Holznot in weite Ferne verwiesen. Selbst wenn der Verbrauch an Zellstoff aber noch rascher steigen, selbst wenn eine volle Ausnutzung des Holzes mehr Rohstoff verschlingen sollte, als die Wälder produzieren, gäbe es Möglichkeiten der Abwehr. Kohle und ihr Verbrennungs erzeugnis, die Kohlensäure, sind ja nicht Endpunkte einer geraden Strecke, sondern nur zwei

128

(I)

Nach dem "Frankfurter Handelsblatt" betrug die Zellstoff-Eizeugung

Welt Deutschland

(in Millionen Tonnen) 1935























• . • • • • • • • • ••

II,IO

10,02

1,~0

0,97

1,~5

1,33

Der größte Teil dieses Zellstoffs wird zur Papiererzeugung verwendet. Papierverbrauch je Kopf betrug 1935:

Der

USA. • England Kanada.

. 58 kg Deutschland . 30 kg Frankreich . zo kg • 37 " Schweden... ~7" Österreich. • 17 " • 3~" Schweiz •••• ~j" Japan... • 10 " 1936 stieg der Papierverbrauch in den Vereinigten Staaten weiter auf 60,1 kg, in England auf 40, in Deutschland auf 33 kg. Nur zum geringen Teil dient Zellstoff bisher zur Gewinnung von Textilien: 1936 knapp 6 Prozent der Weltzellstofferzeugung, etwa 10 Prozent der deutschen Erzeugung: Zellstoffverbrauch Welt Deutschland

für synthetische

Fasern: 1935

• • • • • • • •

• • • • • • ••

~35 000 31000

~9j 000 31 000

7~ 000

715000 t IIj 000 t

Wenn auch der absolute Anteil der textilen Zellulose noch gering ist, so ist das rapide Anschwellen des textilen Mehrbedarfs doch auffallend; selbst in den Krisenjahren wurde dieser Anstieg nicht unterbrochen. Wenn die in Deutschland geplante Erweiterung der synthetischen Spinnstofferzeugung auf etwa zooooo t durchgeführt sein wird, werden die Kunstseide- und Zellwollwerke einen Bedarf Ton etwa ~30000 Tonnen Ede1zellstoffhaben. Dann müßten also bereits Ij Prozent der geplanten Kapazität in gebleichter Texti1zellulose geliefert werden.

(I) Wie stark die Aufteilung des Holzes in Wertstoffe noch der Verbesserung bedarf, zeigt die dem "Vierjahresplan" entnommene schematische Darstellung Roland Runkels (auf S. 130):

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VEREDELTES HOLZ

Punkte auf einem Kreis. Ein anderer Punkt auf diesem Kreis ist die Zellulose. Überall auf der Erde werden in jedem Augenblick

ungeheure Mengen in der Luft enthaltener Kohlensäure von den Pflanzen assimiliert, durch Einwirkung des Sonnenlichts in Kohlenstoff, in Kohlenwasserstoffe, in Zellulose verwandelt. Aus Pflanzenleichen wird Kohle, und aus Kohle ... Die Synthese der Zellulose scheint also durchaus nicht unmöglich, obwohl die Technik mit der Sonnenenergie konkurrieren müßte, und tatächlich stellt ja die 1. G. Farbenindustrie heute schon Filtertücher aus synthetischen Fasern her, die gegen Säuren wie Alkalien beständig sind und die aus Kalk und Kohle stammen. Das ist ein Weg. Und kann man nicht überdies Zellulose als Nebenprodukt gewinnen? Die Forscher Dr. Reinau und Fischer, Bornemann und Rintelen haben neben andern in Deutschland ganz bedeutende Ertragssteigerungen von Kartoffeln und Wicken, Roggen, Hafer und Mais, Weißkohl, Lupinen und Futterrüben erreicht, indem sie auf den Feldern Koks verbrannten, so die Atmosphäre örtlich mit Kohlensäure anreicherten, die die Pflanzen gierig in Baustoffe verwandelten. Aus Maisstengeln und Maisblättern aber macht man industriell seit langem Papier. Die mit Kohlensäure gedüngten Felder gaben bis zum doppelten Ertrag der nicht gedüngten, Ertrag an Maiskolben wie an Zellstoff. Die Bestrebung, Torf zur Zellstoffgewinnung heranzuziehen, eröffnet ebenfalls neue Quellen. Nein, Angst vor Holznot brauchen wir nicht mehr zu haben. Man wird den Ertrag der Wälder steigern, den Holzverlust bekämpfen. Man wird lernen, allen Zellstoff des Holzes zu gewinnen, vielleicht Zellstoff aus Kohle herstellen, wie man heute schon Formaldehyd ebenso leicht aus Kohle wie aus Holz gewinnt. Immer mehr kommt die moderne Technik, kommen weitdenkende Wirtschaftler ja davon ab, alles auf eine Karte zu setzen; unzählige Forscher arbeiten ja daran, für jeden Grundstoff ein Dutzend gleich vollkommener Herstellungsmethoden zu finden, die Wirtschaft so zu planen, daß immer der gerade am besten geeignete

Zellstoffind ustrie: Rohstoff: Fichtenholz Verfahren: Sulfitverfahren Produkt: Ungebleichter Zellstoff

Lignin und Pentosan '40% unverwertbar oder begrenzt verwertbar Holzverzuckerungsind us trie: Rohstoff: Nadelholzabfälle,evtl. auch Buchenholz. Verfahren: Hydrolyse mit Säuren. Produkte: Holzzucker, daraus Kohlenhydratfutter oder Spiritus oder Futterhefe Holzabfä1le (100%) I

Lignin und Zuckerzersetzungsprodukte (35-40%) unverwertbar oder begrenzt verwertbar

Holzzucker (60-65%)

Vergärbare Zucker (4°-55%) Holzverkohlungsind

Unvergärbare Zucker (5-20%) begrenzt verwertbar us trie:

Wasser(ca.25%) unverwertbar

Kreosot u. sonst. Phenole (ca. 20%)

Pech unverwertbar (ca. 15%)

Die genannten Beispiele ergeben für die Zellstoffindustrie etwa 40 Prozent an unverwertbarer Substanz, für die Holzverzuckerung etwa 35 bis 40 Prozent und für die Holzverkohlung etwa den gleichen Betrag. Bei allen drei Industrien liegt das Kernproblem in der noch fehlenden Großverwertung des Lignins oder seiner Abbauprodukte. Weiterhin stellt die Nutzung der sog. Pentosen, insbesondere der Xylose, eine Aufgabe von besonderer Bedeutung dar, deren Wichtigkeit sich vor allem bei der Gewinnung von Zellstoff oder Holzzucker aus dem pentosanreichen Buchenholz zeigen wird.

WISSENSCHAFT

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Prozeß angewandt wird, man reiche Ernten ausnutzen kann, ohne durch Mißernten in Verlegenheit zu geraten. Seit Jahrtausenden kämpft die Menschheit um Sicherheit. Sie schützte sich vor wilden Tieren, schützte sich durch die Erfindung des Feuers, durch die Erfindung der Kleider und fester Wohnungen vor Witterungseinflüssen. Langsam wird unsere Wirtschaft von einer Wirtschaft des Mangels zu einer des Überflusses. . Die Eroberung des Holzes zeigt klar die Gefahren dieser Vervielfältigung, dieser Komplizierung unseres Lebens. Aber sie zeigt auch, daß die Kette nicht abreißt, daß es immer neue Verbesserungen gibt, daß zu Angst vor Mangel kein Anlaß ist. Der Forscher ist einem Mann vergleichbar, der ständig ein uraltes, moosüberwuchertes Bauwerk durchstöbert, hier einen Ziegel herausnimmt, dort einen einfügt. Immer ist er in Gefahr, einen Schlüsselstein zu entfernen, so das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen. Aber daran ist nichts zu ändern. Wir doktern heute an Dingen herum, die die Natur in Jahrmillionen entwickelte. Aber wir müssen es wohl. Ein Zurück ist nicht mehr möglich. Wir haben schon so viel geändert, daß an ein Aufhören nicht mehr zu denken ist. Wenn wir heute die Hände in den Schoß legen, verhungern wir alle. Wenn man einem Polypen eine Revolverkugel durch den Leib jagt, so lebt er weiter, als ob nichts geschehen wäre; ein durchschossener Mensch stirbt. Daß komplizierte Gebilde leichter verwundbar sind als einfache, ist eine bekannte Tatsache. Aber wollen wir leben wie die Polypen oder Einzeller? Können wir unsere Wirtschaft zurückdrehen zum Stand der Eiszeit? ., Im ruhigen Frieden eines buddhistischen Bergklosters zu leben, an lotosbewachsenen Tempelteichen über 'die Gottheit nachzudenken, ist vielleicht erstrebenswerter, als über neue synthetische Rohstoffe zu schreiben. Aber den Frieden der Klöster können wir nicht 2. Milliarden Menschen verschaffen, immer fast lebten Klöster und weltfremde Philosophen vom Schweiß der arbeitenden Massen. So müssen wir eben tun, was viele Schöngeister s die Natur vergewaltigen« nennen. Was immer gegen Technik und Maschinenfortschritt gesagt werden kann, all diese chemischen Umwandlungen zum Beispiel haben doch einen unleugbaren Vorteil: sie heben den Lebensstandard der Massen weit schneller als alle anderen Arten maschineller Gütererzeugung, sie senken die Preise

VEREDELTES

I

HOLZ

wichtiger Güter rascher, als alle anderen Fabrikationszweige . es könnten. Man hat die Metallurgie und den Bergbau, die Automobilherstellung und die Textilindustrie weitestgehend rationalisiert, so die Preise auf einen Bruchteil der noch vor zwanzig Jahren geltenden ermäßigt. Aber sowohl Automobilfabriken wie Metallwerke brauchen für jede Produktionserhöhung neue Maschinen, für diese neuen Maschinen neue Arbeiter und neues Kapital. Mit dem Umfang der Produktion steigen auch die Kosten. In der chemischen Großindustrie kann - da man fast ausschließlich im kontinuierlichen Prozeß arbeitet, die menschliche Tätigkeit sich ausschließlich auf die Kontrolle der Maschinen beschränkt - die Produktion verzehnfacht werden, ohne daß die Kosten sich auch nur verdoppeln; riesige Fabrikationseinheiten kosten im chemischen Betrieb zuweilen nicht mehr als kleine Öfen oder Kessel. Wo eine Automobilfabrik hundert neue Drehbänke mit hundert Mann zusätzlicher Belegschaft braucht, kommt die chemische Industrie mit ein paar Quadratmetern mehr Stahlblech, ein paar Kubikmetern mehr Retortenraum aus. Die Kunstseidenindustrie steht erst am Anfang ihrer Entwicklung, und die Zellstoffindustrie beruht vielleicht auf einem wissenschaftlichen Fehler. Doch aber haben sie schon Ungeheures für Kultur und Wohlergehen der Menschheit geleistet. Und wie die Welt nicht stehenbleibt, so geht auch die Forschung weiter. Wie sie Neues schafft, haucht sie längst Beiseitegeworfenem neues Leben ein. Angst vor Holzmangel ? Man wird ihn zu bekämpfen wissen, wie man den für 1940 drohenden Mangel an Petroleum zu bekämpfen wußte. Denn während Vistra und Wollstra, Cuprama und Flox zu wichtigen Textilstoffen wurden, hat man ja auch dem Leinen wieder zu seiner alten Ehre verholfen, die fast . vergessene Flachskultur durch chemische Forschung zu neuem Leben erweckt. Und dadurch wurden Erfolge erzielt, die nicht nur für die Textilindustrie von größter Bedeutung sind, nicht nur das Siebentel der Volksgenossen angehen, die direkt in Spinnereien und Webereien und Baumwollimportfirmen angestellt sind, sondern ebenso für die Landwirtschaft. Um nur ein Beispiel zu geben: bei systematischer Durchführung des sogenannten s Geiß-Verfahrens« können 500000 bis 700000 Hektar jetzt brachliegenden oder keinen Ertrag abwerfenden

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deutschen Bodens ausgenutzt werden; eine seit dem Siegeszug der Baumwolle tote Industrie würde zu neuem Leben erweckt werden: Durch die Arbeit dieses Münchener Chemikers und Technikers oder andere, ähnliche Systeme könnte Leinen wieder zu einem Volks kleidungsmittel werden, Flachsbau zu einer wichtigen Einnahmequelle des Landwirts. Seit mindestens fünftausend Jahren ist der Flachs Kulturpflanze, Er ist nicht wie Baumwolle an ein besonders günstiges Klima gebunden, er wächst überall. Flachsmonopole sind von vornherein ausgeschlossen. Und solange Handarbeit das einzige Mittel der Rohstoffbehandlung darstellte, herrschte Leinen vor; da war die Baumwolle bedeutungslos gegenüber dem qualitativ ihr weit überlegenen Flachs, da konnte sie schon ihrer geringen Ertragsmenge wegen in die landwirtschaftliche Produktion nicht so leicht eingereiht werden wie dieser (I). Als Baumwolle maschinell entkernt, maschinell versponnen wurde, begann ihr Aufstieg. Man sollte glauben, daß nun auch die Flachsaufbereitung mechanisiert, daß wie bei der Wolle neue Wege beschritten worden wären. Seltsamerweise aber versagte jahrhundertelang der Erfindergeist, wenn es um Flachs ging. Wenn man auch bessere Saat züchtete, die Stengel maschinell röstete, das Prinzip der Aufbereitung blieb das gleiche. Während die Baumwolle fast spinnfertig wächst, muß der Flachs in Wochen dauernden Arbeitsgängen vorbereitet werden. Wie der ägyptische Bauer zur Zeit der Ramessiden, legt heute der Flachsbauer seine Ernte auf dem Feld in dünnen Lagen aus, wartet er drei bis vier Wochen, bis Tau und Regen, Wärme und Wind und Mikroorganismen, bis eine Art Gärung die Pektinstoffe zerstören, die die Faserbündel des Flachses mit Bastschichten (I) Fast bis Ende des vorigen Jahrhunderts wurde alle Wäsche aus Leinen gefertigt. Die Flachsanbauflächein Deutschland betrug: 1878: 133000 ha 1900: 33000 ha Kurz vor dem Kriege war die Anbaufläche völlig bedeutungslos geworden. 1921: 5 I 000 ha 1932: 4500 ha 1934: 10000 ha oder ein Dreitausendste! der landwirtschaftlich genutzten Fläche Deutschlands. Die Steigerung der Anbaufläche gegenüber dem Jahre 1932 ist größtenteils dem Einsatz des Reichsarbeitsdienstes zu verdanken. - Getreide liefert nach Flachsanbau höheren Ertrag, jedoch darf Flachs nur alle sieben bis acht Jahre an der gleichen Stelle angebaut werden. - 1932 wurden 446000 Tonnen Leinsaat für 55 Millionen Mark, außerdem 733 250 Tonnen Ölkuchen eingeführt.

VEREDELTES HOLZ

135

verbinden. Heute wie vor 5000 Jahren wird der Flachsstengel mit Brettern belastet in Wasser gelegt, wird auch hier zwei bis vier Wochen gewartet, bis die Bastschicht sich löst. Dann :vird d~r Flachs gebrochen. Da auch dadurch die Fasern noch nicht rein freigelegt werden, folgt das Schwingen. Dann wir~ durch Hech~ln das Faserbündel in Einzelfasern zerlegt: wenn die Faser endlich spinnreif ist, hat sie schon so viel Arbeit, Zeit und Geld gekos~et, daß sie nicht mehr mit Baumwolle oder Wolle, Jute oder Seide konkurrenzfähig ist. Als die Baumwolle die Welt zu beherrschen begann, starb die Leinenindustrie. Der Flac~sbau verschwa~d. Heute haben die Chemiker Methoden der direkten Aufbereitung gefunden. Wie man aus Holz direkt Faser~ freizulegen. versucht, hat man aus den Flachsstengeln durch chemiscb-mecbanlsche Aufbereitung, die nicht mehr als zwei Stunden. dauert~ Spinnfasern gewonnen. Fasern, die auf Baumwollmasc?inen~ die dur:h den billigsten bekannten Spinnprozeß zu verarbeiten sind und ~~ht a~f teuren Spezialmaschinen, die die Baumwollfaser an Qualitat weit übertreffen (I) und billiger als Baumwolle sind. Für den Flachsbau eignet sich eigentlich jeder Boden, dürrer Sandboden und strenger Tonboden ausgenommen. Schöner Flachs wächst auf den schweren Oderniederungsböden Schlesiens, aber auch in den kalten und dürftigen Höhenlagen des Erzgebirges und des Riesengebirges. Seit man die Spinnfasern des ~lachses ~ationell aufbereiten lernte ist die Anbaufläche rasch gestiegen; nicht nur in Deutschland, sondern auch in Rußland, Frankreich und Italien, überall schon haben Bauern durch die wieder rentabel gewordene Kultur neue Lebensmöglichkeit gefunden. Die rasche Zunahme der Weltweizenerzeugung, die Zunahme der Weizenanbaufläche in den Überseeländern um mehr als 10 Millionen Hektar hatte für Europas Landwirtschaft schwerste Sorgen gebracht, zwang sie zur Umstellung. Chemische Flachsaufbereitung ist eines .der Mittel, diese Umstellung nützlich zu machen, Wolle aus Milch eine andere. Denn wie man lernte, Holz in Kleidung zu verwandeln, so lernte man auch Wolle erzeugen ohne Schafe. (I) Als Maßstab für die Qualität der Elementarfaser sei hier die kilometrische Reißfestigkeit .angeführt. Von eigenem Gebilde trägt:

Zellwolle 1935: 14 km; Zellwolle 1936: 18-25 km; deutsches Ha.nfgam: 30 km; amerikanische Baumwollfaser (nach Wiesner): 22 km; Geiß-Flachsspmnfaser: 57 km.

FüNFTES

WOLLE Milch

OHNE

KAPITEL

SCHAFE

als Textilrohstoff

Schafe können so ziemlich überall leben, man findet sie am Himalaja wie auf den Shetlandinse1n; Wolle zu ersetzen, scheint also nichts mit Monopolebrechen zu tun zu haben, scheint auf den ersten Blick eine nutzlose Verwendungsänderung. Wenn aber auch Schafzucht so ziemlich überall möglich ist, so gibt es doch nur sehr wenige Länder, die genug Weideflächen besitzen, die groß genug sind, um die Wolle zu erzeugen, die sie brauchen. Es gibt heute nur drei bedeutende Wollieferanten der Welt: Australien, die La-Plata-Staaten, Südafrika. Rund Soo Millionen Kilo Wolle werden jährlich von Europa eingeführt, nur 6 Prozent des deutschen Bedarfs werden im eigenen Land gedeckt. Die rund 160000 Menschen, die in der deutschen Wollindustrie beschäftigt werden, wie die Arbeiter der italienischen Wolldistrikte, wie das französische W ollzentrum Roubaix und die Wollweber Englands, sind von der Wolle der etwa IIO Millionen australischen Schafe . ' von den 54 Millionen Schafen Argentiniens und Uruguays, den 3 I Millionen Schafen Südafrikas abhängig. Aus Zentral- nach Kleinasien gekommen, wo Milet zum Haupthandelsplatz für feine Wolle wurde, von den Griechen an die Römer weitergegeben, war die Schafzucht schließlich nach Spanien gelangt, wo die Mauren sie zur höchsten Blüte brachten, Merinowolle zur besten der Welt wurde. Spanien wußte, was es besaß, verbot bei Strafe ebenso wie England, dessen Klima gute Wolle brachte, bis IS2.7 die Ausfuhr aller Zuchttiere. Erst zu Ende des IS. Jahrhunderts gelang es, die Rassen Deutschlands Frankreichs Österreichs und Rußlands mit Merinoblut zu verbes~ern. Als abe; endlich' die spanischen Ausfuhrverbote fielen, da war es zu spät. Je mehr Menschen sich in den Industriestaaten Europas zusammenballten, desto rascher ging man von der Weidewirtschaft zum Getreidebau über, desto rascher starben Europas Schafe aus. Aber nicht nur die Weiden waren knapp geworden, jetzt wuchs auch schon in Australien eine Konkurrenz heran, die nicht mehr zu schlagen war. Dreizehn Jahre nachdem der erste englische Verbrechertransport nach Australien gegangen war, der neue Kontinent Kron-

WOLLE OHNE SCHAFE

137

kolonie wurde, im Frühjahr des Jahres ISOI, landete der Kapitän Mac Arthur in Sydney, und der brachte aus Südafrika zwölf Schafe und einen Bock mit; Merinos, die aus Spanien angekommen waren, die aber die Buren nicht hatten haben wollen, weil ihnen ihre Fettschwanzschafe lieber waren. Das ,Klima Australiens ist seltsam, alles Fremdartige scheint sich dort märchenhaft schnell zu vermehren. Wie später die eingeführten Kaninchen zur Landplage wurden und das Gras für die Schafe wegfraßen, aus Amerika stammende Kakteen den Kontinent zu .überwuchern drohten, so vermehrten sich die Schafe Mac Arthurs mit nie geahnter Schnelligkeit. In 135 Jahren wurden aus den dreizehn Tieren 110 Millionen, heute kommen auf jeden Australier IS Schafe. Australien wurde durch seine Wolle reich; dieser menschenleere, gegen alle Einwanderung hermetisch abgesperrte Kontinent diktierte bald die Wollpreise der Welt. Als der Sezessionskrieg die Baumwolle Amerikas von den Textilzentren Europas fernhielt, schlossen die Schafzüchter Australiens sich zusammen; nicht nur die Zahl der australischen Schafe stieg, sondern auch der Wollertrag jedes Tieres. Statt des Durchschnitts von I Kilo pro Schur, gewinnt man heute 4 Kilo Wolle von jedem australischen Schaf. Wie Australien vorherrschend Wollproduzent wurde, so machte London sich zum wichtigsten Handelsplatz für Wolle. Im Jahre ISOO führte England 42. 500 Ballen Wolle ein, genau hundert Jahre später schon I 6s1 000 Ballen. Die Wolle, die nicht aus Australien stammt, kommt aus Südafrika, der Rest auf englischen Schiffen von Züchtern Südamerikas, die von englischem Geld abhängig sind: England hatte ein Wollmonopol, wie es ein Zinnmonopol und ein Kautschukmonopol besaß. Dann kam die Weltkrise und der denkwürdige IS. Juni des Jahres 192.S, der sie einleitete, der Tag, an dem im letzten Stockwerk der Stock Exchange von Sydney, im Auktionssaal für die australische Wolle, die Aufkäufer aus Japan und die aus Deutschland, die Käufer von Roubaix und Lancashire Zeugen des Preissturzes wurden, der alle anderen Rohstoffpreisstürze einleitete. Dann kam dieser IS. Juni 192.S, an dem der Wollkurs vOJ;l3 Shilling für das Kilo plötzlich auf 10 Pence fiel. Die Schur dieses Jahres, die 13°0 Millionen Mark wert gewesen war, brachte nur mehr 400 Millionen ein.

WISSENSCHAFT

BRICHT MONOPOLE

Australien erlebte, was Kuba erlebte. Ein ganzer Kontinent fühlte jetzt, daß man weder allein von Wolle noch allein von Zucker leben kann. Wieder bewies sich, daß Übersteigerung einer Spezialproduktion, daß ein Rohstoffmonopol für den, der es ausübt, ebenso gefährlich wie für den ist, der es sich gefallen lassen muß. Die australischen Wollmilliarden vergingen wie die Zuckermilliarden Kubas. Aber wenn es Rübenzucker gibt, Wolle zur Ausfuhr gab es trotz aller Preisstürze doch nur in Australien, Südafrika und Argentinien, und so stiegen die Wollpreise rascher wieder an als die Zuckerpreise. Trotz aller Börsenkrache blieb das englische Wollemonopol doch ein Monopol. Italien sollte es zu spüren bekommen. Als es sich England nicht fügte, Genf Sanktionen verhängte, da dachte man, es vor allem durch das Absperren aller Textilrohstoffe in Not zu treiben, durch Aufhören der Baumwoll- und Wollieferungen seine Textilarbeiter brotlos zu machen, Mussolini gewaltige innerpolitische Schwierigkeiten zu bereiten. Italien aber hatte seine Not an Spinnfasern seit langem durch Kunstseidenherstellung bekämpft, hatte 1934 10 Millionen Kilo, 1936 schon 50 Millionen Kilo Zellwolle produziert, so fand es auch ein Mittel gegen die Not an Schafwolle. Der Völkerbund stritt noch über das Ausmaß der Sanktionen, als im November 1935 ein Verfahren des Italieners Feretti bekannt wurde, durch das es möglich ist, aus Magermilch »Lanital« zu gewinnen, eine Faser, die ebenso wie Wolle versponnen und verwebt werden kann, die die gleichen thermischen Eigenschaften, die gleiche Widerstandskraft wie Wolle haben soll. Schafwolle und das Kasein der Milch haben ja eine ganz ähnliche chemische Zusammensetzung. Längst hatte man aus Milch Galalith hergestellt, den »Milchstein«, der immer mehr Horn und Bernstein, Elfenbein, Schildpatt und Korallen als Rohstoff verdrängt, ebenso hatte man seit langem versucht, aus Kasein Fäden . zu ziehen. Schon 1920 gelang es dem Deutschen Todtenhaupt, aus alkalischen Lösungen von Kasein Fäden zu spinnen, die, gefärbt, einen wollähnlichen Eindruck machten, nur blieben diese Fäden spröd, die Farben veränderten sich. Während man in Deutschland an diesem Produkt aber nicht weiterarbeitete, bildeten die Italiener das Verfahren aus, sie überwanden die Herstellungsschwierigkeiten. Heute gewinnen sie aus einem Kilo Kasein 1040 Gramm Garn,

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139

durch Zusatz von Formalin mehr Wolle als das Ausgangsptodukt. Italien erzeugt jährlich etwa 42 Millionen Hektoliter Milch; 30 Millionen davon werden zu Nahrungszwecken verarbeitet, und so kann schon ein kleiner Teil des Magermilchanfalls den Wollbedarf decken. Wie in der Schweiz, in Deutschland, in Holland ist überdies die Milcherzeugung viel leichter zu vergrößern als die Schafzucht, denn bei der Kuhhaltung wird man nun Wolle als Nebenprodukt gewinnen können. Die italienische Mitteilung der neuen Wollerfindung wurde natürlich zuerst als reiner Bluff hingestellt. Italien aber hatte seine Versuche sehr lange schon im großen durchgeführt; der Erfolg zeigte sich sogleich: im ersten Halbjahr 1935 verminderte sich die italienische Wolleinfuhr um 41 Prozent gegen das erste Halbjahr 1934; die Snia Viscosa stellte dafür vom 1. Januar 1936an 5000Kilo synthetische Wolle täglich her und baute Anlagen, die ab I. Juli 1936 täglich 25000, zu Ende des Jahres 50000 Kilo Wolle aus Magermilch gewinnen sollten. Sie linderte so nicht nur ganz wesentlich die Not der Textildistrikte, sondern half auch der Landwirtschaft, deren Käse die Sanktionen von den Weltmärkten absperrten. Und gerade in dieser Hilfe für die Landwirtschaft liegt der Hauptwert, der weltwirtschaftliehe Wert des neuen Verfahrens, denn wenn auch überall Butter, Käse, Fleisch, Kuhmilch gebraucht wird, die Magermilch ist durch die große Zahl der Erzeugungsstätten, die Sammel- und Transportschwierigkeiten ein meist wertloses Abfallprodukt; höchstens verfüttert man sie an Schweine. Als Wolle aber hat Magermilch etwa den vierzigfachen Wert, den sie als Futterstoff hat. Der Bauer findet ganz neue Verdienstmöglichkeiten und damit alle Industrien, von denen er kauft; der innere Kreislauf jeder Volkswirtschaft wird durch Abfallverwertung ganz wesentlich verstärkt, das Blut pulsiert sozusagen rascher. Wie die Kontinentalsperre Napoleons Europa den Rübenzucker brachte, so gab die Sanktionspolitik Englands den Anstoß zur Großherstellung des »Lanital«, so führte der Druck der Rohstoffländer auf Deutschland zum neuen Vierjahresplan: aus Not wird immer wieder Fortschritt und Freiheit geboren. Das geht langsam und ist mühsam, aber der Einsatz ist wohl Opfer wert. Wolle aus Milch, das ist nur ein Beginn im Kampf um neuen Lebensraum gegen Verschwendung und Verderb, aber der Kampf geht ja an

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allen Fronten weiter. In Deutschland hat die Reichsregierung durch ihre großzügige Werbung »Kampf dem Verderb«, die es sich zur Aufgabe macht, die etwa anderthalb Milliarden Mark jährlich betragenden Verluste zu beseitigen, die die deutsche Volkswirtschaft durch den Verderb von Lebensmitteln erleidet, nicht nur einen ganz neuen Aufschwung der Klimaindustrie herbeigeführt; durch diesen Kampf wurden auch die Arbeiten, die die Gewinnung von Textilfasern aus tierischen Abfallprodukten zum Ziel hatten, derart gefördert, daß heute Kunstfasern aus Haut- und Fleischfasern hergestellt werden können. Man entwickelte mechanische Aufbereitungsmethoden, durch die zum Beispiel aus Pferdefleisch die von allen leicht löslichen und verderblichen Eiweißstoffen befreiten drei bis acht Zentimeter langen, flachsähnlichen Fleischfasern gewonnen werden, man verspinnt heute diese Fleischfäden zu 1> Carnofil «, das vor allem zu Operationszwecken Verwendung findet und so jährlich Millionen Mark an Devisen erspart, die früher für Hammeldärme ins Ausland gingen. Wieder ist man dabei, Werte zu steigern, die Lebensmöglichkeiten durch wissenschaftliche Arbeit zu vervielfältigen, wieder einmal wird ein Monopol fallen, das Not und Elend nicht nur über die brachte, die ihm ausgeliefert waren, sondern auch über die, die es ausübten. Noch ist die Milchwolle, das italienische »Lanitale, wenig elastisch und zu leicht löslich, noch sind die Arbeiten, die zur Veredlung der Baumwolle durch Einführung gewisser Atomgruppen führen sollen, nicht abgeschlossen; aber die Chemiker ruhen nicht, und nun arbeiten sogar auch die Biologen an der Rohstoffversorgung der Textilindustrien mit, neben den synthetischen gibt es die Ertragssteigerungsmethoden, die auf den Arbeiten des Zellforschers Dr. Alexis Carell im Rockefeiler-Institut beruhen. Dieser Dr, Carell fand schon vor zwanzig Jahren Nährflüssigkeiten, die aus tierischen Körpern herausgeschnittene Gewebe am Leben erhielten. Seine Versuche erregten weit. über wissenschaftliche Kreise hinaus Aufsehen, als er den Herzmuskel eines Huhnes volle siebzehn Jahre lang am Leben erhielt, viel länger also, als dieses Herz im Hühnerleib hätte leben können.Carells Forschungen wurden fortgesetzt, schließlich Gewebe nicht nur chemisch am Leben erhalten, sondern auch chemisch zum Wachsen gebracht. Kleiderstoffe Vorzügen

aus Kunstseide

oder Zellwolle

lassen sie sich unübertroffen

sind beliebt, denn neben ihren anderen

waschecht,

lichtecht

und wetterecht

färben.

Das

Anzapfen

baumes.

Fünf

eines Gummi-

nach dem Pflanzen -

je nach

der Beschaffenheit

des Bodens

und des Klimas -

werden die

Gummibäume

durch täglich -

heute meist periodisch - wiederholte Einschnitte in die Rinde zum »Bluten « gebracht. Der ausströmende milch artige Saft, der

»Latex «

sammelt

sich

in kleinen Aluminiumbechern, wird

dann

in Eimern

das Bild unten

zeigt -

»Zentrale
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