Wie Sie besser schreiben Eine Deutsch-Stilkunde in 20 Lektionen
Nr. 20
67. Jahrgang
Mai 2012
Von Wolf Schneider Mit Beiträgen von Uwe Timm, Ulrich Stock, Anna von Münchhausen, Miriam Meckel und Ulrich Greiner
EDITORIAL
Triffst du nur das Zauberwort Man kann sprachlos sein vor Glück, sprachlos vor Erstaunen, sprachlos vor Entsetzen. Man sollte möglichst nicht sprachlos sein, weil einem die richtigen Worte nicht zu Gebote stehen; weil man die richtigen Worte nicht zu klaren, verständlichen Sätzen formen kann; oder weil sich die Sätze nicht zu einem liebevollen Brief, einem klugen Aufsatz, einem lebendigen Zeitungsartikel fügen. Gut zu sprechen und zu schreiben ist eine Kunst, die man lernen kann. Man wird es nicht unbedingt zur Meisterschaft eines Heinrich Heine oder Georg Büchner bringen, aber nach Ausdrucksvermögen und eigenem Stil darf man schon streben. Der Aufklärer und Aphoristiker Georg Christoph Lichtenberg sagte es so: »Ich mag immer den Mann lieber, der so schreibt, dass es Mode werden kann, als den, der so schreibt, wie es Mode ist.« Wie aus gutem ein besseres Deutsch werden kann – damit beschäftigt sich diese ZEIT-Beilage. Wolf Schneider, der Autor unserer Stilkunde, ist ein bewährter Sprachlehrer. Generationen von angehenden Journalisten sind durch seine Schule gegangen und haben unter seiner Maxime gestöhnt: »Qualität kommt von Qual!« Für diese Beilage gilt das ausdrücklich nicht. Sie soll Freude machen, dabei auch gern ein wenig Ehrgeiz wecken. Gerade durch die Beispiele der großen Meister, denen wir zwar immer vergeblich nacheifern werden, die uns aber zeigen, welcher Schatz unsere Sprache ist. Wie finden Autoren und Journalisten zum besseren Deutsch und zum guten Stil? Darum geht es im zweiten Teil unserer Beilage. Der Erzähler und Romancier Uwe Timm lobt in seinem Beitrag die Schreibwerkstatt, in der sich Schriftsteller vervollkommnen können. Wie wir Journalisten im Zeitungsalltag nach dem passenden, dem richtigen, dem besten Wort suchen, schildert Ulrich Stock. Anna von Münchhausen singt das Hohelied des guten Redigierens, jenes demutsvollen Feilens am Text, das ihn – wie einen geschliffenen Diamanten – erst zum Leuchten bringt. Ulrich Greiner hat schon von Marcel Reich-Ranicki gelernt, wie hilfreich es sein kann, wenn der Autor sich seinen Text selbst vorliest. Schließlich die Frage, wie sich die deutsche Sprache durch das digitale Schreiben, durch Chat und Tweet, verändern wird. Was passiert, wenn wir nicht mehr mit der Hand schreiben, sondern nur noch auf der Tastatur herumhämmern? Die Kommunikationswissenschaftlerin Miriam Meckel gibt, ein wenig melancholisch, Entwarnung: Natürlich wandelt sich unsere Sprache, wenn das Schreiben zur Textverarbeitung wird, aber zugrunde geht sie nicht. Selbst wenn Joseph von Eichendorff eines Tages vergessen sein sollte, werden Menschen noch immer das »Zauberwort« treffen MATTHIAS NASS – »und die Welt hebt an zu singen«.
DIE ZEIT
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D E R I N H A LT
D I E S P R AC H E I ST E I N E WA F F E
Titelbild: designed by m-inspira/www.m-inspira.com; Inhalt: Heimo Zobernig, Ohne Titel (REAL)/VG Bild-Kunst, Bonn 2012; Rue des Archives/Süddeutsche Zeitung; Ohlbaum/laif (v. o.)
Seien wir gut zu ihr – eine Einführung von Wolf Schneider
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E I N E STI L K U N D E 20 Lektionen von Wolf Schneider SEITE 8 bis 31
DI E S P R AC H M E I ST E R Sieben Virtuosen der deutschen Literatur SEITE 13, 16, 20, 23, 29, 32
ÜBER DAS SCH REI BEN Ein Lob der Werkstatt SEITE 36 VON UWE TIMM
Wenn das Schreiben nicht wäre SEITE 38 VON ULRICH STOCK
Was machen die da? SEITE 40 VON ANNA v. MÜNCHHAUSEN
Sich die Welt erschreiben SEITE 42 VON MIRIAM MECKEL
Von der Kraft des Mündlichen SEITE 46 VON ULRICH GREINER
Impressum SEITE 46
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DIE ZEIT
EINFÜHRUNG
W
as wir hören, was wir lesen, wie wir sprechen, wie wir schreiben: Nichts formt uns und bewegt uns, nichts bereichert uns mehr, nichts prägt unsere Rolle unter den Menschen stärker als unser Umgang mit der Sprache. Sie ist das gewaltige Erbe, in das wir hineingeboren worden sind – in tausend Generationen aufgehäuft und fortentwickelt, beladen mit allen Irrtümern und Vorurteilen unserer Ahnen, beflügelt von ihren Träumen, Visionen, Ideen. Begriffe bilden, Ideale aufstellen und mit ihnen die Wirklichkeit verändern: Das ist, weit über die Verständigung hinaus, die wichtigste Leistung der Sprache. Gerechtigkeit! Finden wir sie etwa in der Natur? Sind wir uns auch nur einig darüber, was sie im konkreten Fall bedeuten soll? Aber das große Wort ist da, als Banner steht es über uns, und so trägt es dazu bei, dem Ideal, das da kühn und unscharf ins Wort gehoben worden ist, ein wenig näher zu kommen, als wenn wir es in unserem Wortschatz nicht vorgefunden hätten. Es gehört zu jenem »ungeheure[n] Gebälk und Bretterwerk der Begriffe, an das sich klammernd der bedürftige Mensch sich durch das Leben rettet«, sagt Nietzsche. Oft gehen wir so weit, der Wirklichkeit mit unseren Wörtern Eigenschaften vorzuschreiben, die sie nicht hat: Ist die Natur denn bereit, am 1. Juni (meteorologisch) oder am 21. Juni (astronomisch, kurios genug) mit dem »Sommer« zu beginnen – bloß weil wir das Wort in die Welt gesetzt haben und es noch dazu mit der Erwartung von ständiger Sonne und Wärme verknüpfen, aller deutschen Wahrscheinlichkeit zuwider? Wir können wetten: Irgendwann im Juli werden Journalisten und Fernsehmeteorologen tadelnd fragen, wo »der Sommer« bleibt. Nichts zeigt die Macht der Sprache eklatanter: Wie wir etwas nennen, ist uns wichtiger, als wie es ist. Mit unseren Wörtern etikettieren wir die Fülle der Erscheinungen und erwarten dafür Gehorsam von ihnen. Wörter sind heilig. Sie tragen unsere Hoffnungen und unsere Ängste, unsere Wünsche und Gebete und unseren Trost; mit ihnen erschaffen wir die Philosophie und die Utopie, die Poesie und den Witz. Dieses schillernde, grandiose Erbe zu vergeuden oder gar zu verhunzen ist die größte Torheit, die wir begehen können. Aber begangen wird sie. Vier Entwicklungen vor allem müssen jedem Freund der Sprache Sorgen machen. Die erste Entwicklung: Auch dort, wo die Schreiber
die Sprache noch pfleglich behandeln wie in der Mehrzahl der DruckErzeugnisse, findet seit Jahrzehnten ein Wortschwund oder eine Wortverfälschung statt. Dass »scheinbar« »dem falschen Anschein nach« bedeutet und folglich nie mit »anscheinend« verwechselt werden darf, ist immer weniger Deutschen geläufig. »Wähnen« liest man im Dutzend in der Zeitung, wo »glauben« gemeint ist – und es heißt doch: »fälschlich glauben«, »sich einer Wahnvorstellung hingeben«! Hören solche Schreiber sich selber nicht mehr zu? »Die Passagiere der Titanic wähnten sich in Sicherheit« – wie viel Kraft, wie viel Information in nur zwei Silben! Ähnlich schlimm: »Vermeintlich« findet man mit »vermutlich« verwechselt, und es besagt doch das Gegenteil – der vermutliche Täter war es wahrscheinlich, der vermeintliche war es gerade nicht. Woher solcher Absturz? Immer mehr junge Leute (fast die Hälfte, wird geschätzt) lesen keine Bücher mehr, und an deutschen Schulen regiere, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, jene »Spaßpädagogik«, die den Schülern jegliche Mühe ersparen wolle. Man komme nicht mit der beliebten Redensart: »Die Sprache entwickelt sich eben.« Wo die Entwicklung eine Verarmung wäre, da sollten bei allen Deutschen die Alarmglocken läuten. Vor allem aber: Das »sich« in dieser Schutzbehauptung ist einfach falsch – als ob die Sprache ein abgehobenes Medium wäre, das sich Entwicklungen leistet! Sie wird entwickelt mit allem, was wir sagen oder nicht sagen, schreiben oder nicht schreiben – manchmal sogar von einer einzelnen Person: Bismarck hat der Deutschen Reichspost nicht weniger als 760 Eindeutschungen aufgenötigt – und noch heute hat niemand etwas dagegen, dass wir nicht mehr »rekommandieren«, sondern »einschreiben« sagen und nicht mehr »poste restante«, sondern »postlagernd«. Alice Schwarzer hat an der Spitze einer kleinen Gruppe von Feministinnen erzwingen können, dass jede deutsche Behörde und die meisten Unternehmen den Mitarbeitern heute bei jeder Nennung die Mitarbeiterinnen ausdrücklich zur Seite stellen. Also: Entwickeln wir mit! Halten wir die Sprache lebendig! Treten wir ihrer Verarmung und Verschandelung entgegen, und hören wir auf, vor jedem modischen Unfug in die Knie zu gehen.
DIE ZEIT
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Die Sprache ist eine Waffe Aber sie lässt uns auch träumen, sie erklärt uns die Welt. Seien wir gut zu ihr! VON WOL F S C H N E I DE R
Die zweite Entwicklung, die allen Freunden der Sprache Sorgen machen muss, ist mit dem Internet über uns hereingebrochen: Mail, Blog, Tweet, Chat haben die Zahl der geschriebenen Wörter dramatisch vermehrt und die Sorgfalt im Umgang mit ihnen dramatisch vermindert. Die Mailer und die Seriösen unter den Bloggern (die gibt es ja) können zwei Nachteile kaum bestreiten: Man huscht über die Tasten eines Geräts, das immer auf dem Schreibtisch steht – kein Papier mehr zurechtlegen, vom Kuvert zu schweigen; dazu mit dem schönen Gefühl: Und beim Empfänger kommt das Geschriebene sofort an, so wie die gesprochene Sprache. Der hat sich die geschriebene damit angenähert – mit allen Vorzügen der Spontaneität und allen Nachteilen der Schwatzhaftigkeit, des Nicht-mehr-Zögerns, Nicht-mehr-Feilens, Nicht-mehr-Korrigierens. Das Blog hat anstelle des Adressaten ein diffuses Publikum, und der Absender muss sich nicht identifizieren. Das verbinde sich oft mit »einer zunehmenden Enthemmung im Schutze einer tapfer verteidigten Anonymität«, spottete Bundestagspräsident Lammert (am 18. März im Rückblick auf den Sturz des Bundespräsidenten Wulff ). Aus beiden Nachteilen folgt millionenfach die Versuchung, loszupoltern, ja herumzupöbeln; die Sprache also in Tiefen zu zerren, die früher allenfalls dem Ohr zugemutet wurden – dem Auge nie. Die dritte Entwicklung, die der Freund der Sprache nicht begrüßen kann, ist der immer noch anhaltende Siegeszug der unsinnigen unter den Anglizismen. Ein großes Unternehmen bereicherte das Deutsche vor Kurzem um das kostbare Wortgebilde CorporateSocial-Responsibility-Aktivitäten; und was seit 1954 Eurovision hieß, deutsch ausgesprochen wie der Euro noch heute, geht neuerdings als »Jurowischn« über die Sender. Als ob man sich des Deutschen schämen müsste! Es war und ist eine der großen Kultursprachen auf Erden. Nur auf Englisch und Chinesisch erscheinen noch mehr Bücher als in deutscher Sprache, nur aus dem Englischen und dem Französischen werden noch mehr Bücher als aus dem Deutschen in andere Sprachen übersetzt. Die vierte Entwicklung: das »Kiezdeutsch«, die Sprache mit Migrationshintergrund, vorzugsweise von unter Zwanzigjährigen gesprochen: »Ich mach dich Messer.« Dass sie so reden, ist nicht das Problem – sondern dass in solcher Stummelsprache schon geworben wird (»Soo! muss Technik«, Saturn 2012), ja dass es Sprachwissenschaftler gibt, die diesen Slang loben: Er sei kein Kauderwelsch, sondern ein »innovativer Dialekt« des Deutschen, geradezu ein Vorbild für die überfällige Vereinfachung der deutschen Grammatik. Die Kiezdeutsch-Sprecher werden also ermutigt, sich ums Hochdeutsche gar nicht zu bemühen – statt dass man das Mögliche tut, sich der Chancengleichheit dadurch zu nähern, dass man alle, die in Deutschland wohnen, ermuntert und darin fördert, in die große Sprache »Deutsch« hineinzuwachsen! Der eine: Es stellt einige der großartigsten Meister des Deutschen vor, als Aperitif und Ermutigung. Der andere: Alle, die unsere Sprache lieben (und zugleich kein Problem mit korrekten Genitiven haben), versucht es für eine Einsicht zu gewinnen, die an unseren Schulen und Universitäten ein Kümmerdasein fristet: dass jeder, der nicht nur von seinem Lehrer oder Professor, sondern von anderen, vielleicht sogar von vielen gelesen werden möchte, um die Leser werben muss – und dass es dafür nicht genügt, den Wortschatz zu pflegen und die Grammatik zu beherrschen. Journalisten wissen: Wenn ihre Texte zu 20 Prozent gelesen werden, müssen sie schon zufrieden sein; das Nichtlesen, jedenfalls das Nicht-zu-Ende-Lesen war schon im 20. Jahrhundert das statistische Normalverhalten, und mit der elektronischen Wortexplosion hat das Missverhältnis zwischen Geschriebenhaben und Gelesenwerden sich drastisch verstärkt. Werben also: um Aufmerksamkeit, um Zuwendung, idealerweise um Sympathie! Aber wie macht man das? Dafür werden in dieser Beilage 20 praktikable, ziemlich bewährte Rezepte angeboten. Den hier vorgestellten sieben »Großmeistern« nähert sich natürlich noch keiner, der sie befolgt. Wie schön aber, dass man ein paar dieser Lektionen aus jedem der Meister destillieren könnte. Und zwei – Heine und Kafka – haben sogar durchweg so geschrieben, dass wir sie uns beim Werben um Leser zum Vorbild nehmen können: glasklar verständlich, mit Farbe, mit Feuer und mit Kraft. Machen wir davon Gebrauch! »Die Sprache ist eine Waffe. Haltet sie scharf!«, mahnte Tucholsky.
Iwan Puni: »Stilleben mit Buchstaben und Krug«, 1919
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DIE ZEIT
Abb.: akg-images/© VG Bild-Kunst, Bonn 2012
Zwei Beiträge dazu leistet dieses Heft.
E I N E ST I L K U N D E VON WOL F SC H N E I DE R
2 0 LEKTIONEN 1. Im Anfang war das Tun S. 8 2. Zählen wir die Silben S. 10 3. Nennen wir’s beim Namen S. 11 4. Geizen wir mit Adjektiven S. 12 5. Seien wir ein bisschen unbequem S. 14 6. Vermeiden wir den Überdruss S. 15 7. Warum wir am Passiv leiden S. 17 8. Misstrauen wir den Synonymen S. 17 9. Verachten wir den Wissenschaftsjargon S. 18 10. König der Sätze S. 19 11. Wörter in Bewegung S. 21 12. Die Krone der Hässlichkeit S. 21 13. Nur für Gedächtniskünstler S. 22 14. Die schöne heikle Nebensache S. 22 15. Wie lang darf ein Satz sein? S. 25 16. Mit Satzzeichen Musik machen S. 26 17. Gliedern kann nicht schaden S. 26 18. Die Kunst des Anfangs S. 28 19. Die Kraft der Bilder S. 30 20. Der Wille zum Verzicht S. 31
DIE SPRACHMEISTER
Abb.: akg-images/VG Bild-Kunst, Bonn 2012
I. Goethe und Schiller: Große Prosaisten S. 13 II. Heinrich von Kleist: Der Maßlose S. 16 III. Heinrich Heine: Der brillante Zyniker S. 20 IV. Friedrich Nietzsche: Der Virtuose S. 23 V. Franz Kafka: Der heimliche König S. 29 VI. Thomas Mann: Der Alleskönner S. 32
Max Ernst: »Kleine Maschine, konstruiert von Minimax Dadamax persönlich«, 1919/20
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ZEITWISSEN
DIE WÖRTER
LEKTION 1
Im Anfang war das Tun Warum wir die Verben lieben sollten »Ich glaube, ich bin ein Verbum und kein Personalpronomen.« Ulysses Grant hat das gesagt, der Oberbefehlshaber der Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg – und damit ein Bild gefunden für das Vorwärtsstürmen, das ihn zum Sieg führte. Aber was geht uns das an? Es ist eine starke Metapher dafür, was Verben leisten können, die Tuwörter, wie Grundschüler sagen, die besten, wenn wir Leser fesseln wollen: Bewegung! Interessanter als »Das Haus ist schön« liest sich nun mal »Es ging in Flammen auf«. »Kochend wie aus Ofens Rachen Glühn die Lüfte, Balken krachen, Pfosten stürzen, Fenster klirren, Kinder jammern, Mütter irren …«
Schwerfüßige Verben gibt es wie durchführen und bewerkstelligen, bürokratische wie beauskunften und bezuschussen, Imponiervokabeln wie generieren (für machen, schaffen, erzeugen, bewirken) oder implementieren (für einführen, umsetzen, verwirklichen). Ebenso sind das Stigmatisieren und das Sensibilisieren nichts, was Goethe geduldet hätte oder Günter Grass dulden würde, und statt des beliebten Thematisierens könnte man schließlich sagen: zum Thema machen, aufgreifen – oder warum nicht einfach: Darüber sollten wir mal reden. Was also tun? Der Rat für Schreiber, die die Sprache lieben und sich zugleich Leser wünschen, ist von viererlei Art.
Nun wäre es traurig, wenn das Verbum sich erst in der Katastrophe bewährte. Doch im selben LIED VON DER GLOCKE hat Schiller auch im scheinbar Statischen die Bewegung aufgespürt: »Die Leidenschaft flieht, die Liebe muss bleiben: Die Blume verblüht, die Frucht muss treiben, Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben, Muss wirken und streben Und pflanzen und schaffen, erlisten, erraffen, Muss wetten und wagen, das Glück zu erjagen.« Natürlich: Für unsern Alltag taugt das nicht. Viele Verben drücken nicht einmal eine Tätigkeit aus, sie sind folglich zweite Wahl: vorliegen, vorhanden sein, sich handeln um. Auch ist Bewegung allein kein Gütesiegel:
DIE ZEIT
Zum Ersten: Lebhaft nutze man die Chancen des Verbums, wo es als Retter aus zwei Fallen der deutschen Grammatik dienen kann: den garstigen Nominalkonstruktionen ¤Lektion 12 und den rasselnden Ketten vorangestellter Attribute ¤ Lektion 13. Zum Zweiten: Es möge Ihnen Spaß machen, in unserem schönen Wortvorrat zu baden. Auch und gerade in den leisen Verben zeigt er sich, Mark Twain und Jorge Luis Borges haben das Deutsche geradezu bewundert für seinen Reichtum an Nacht- und Waldgeräuschen: fächeln, flüstern, gluckern, gurren, hauchen, knistern, lispeln, murmeln, plätschern, rascheln, raunen, rauschen, rieseln, säuseln, schwirren, sirren, summen, surren, tuscheln, wispern.
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Der dritte Rat: Wo eine Bewegung offenkundig ist, da versuche man sie farbig, ja drastisch zu benennen, wie Goethe: »Wenn der Äther, Wolken tragend, Mit den klaren Tagen streitet Und ein Ostwind, sie verjagend, Blaue Sonnenbahn bereitet, …« Oder wie Eichendorff: »Es zog eine Hochzeit den Berg entlang, Ich hörte die Vögel schlagen, Da blitzten viel Reiter, das Waldhorn klang, Das war ein lustiges Jagen! Und eh’ ich’s gedacht, war alles verhallt, Die Nacht bedecket die Runde, Nur von den Bergen noch rauschet der Wald, Und mich schauert im Herzensgrunde.« Oder die Bewegung gar so dramatisch zu beschreiben wie Hölderlin: »Und in frostiger Nacht zanken Orkane sich nur.« Der vierte, freilich der schwierigste Rat: Nach Bewegung fahnden, auch wo scheinbar keine ist. Das Heidelberger Schloss, die gigantische Burg, »hing nieder bis auf den Grund, von den Wettern zerrissen« (noch mal Hölderlin). Georg Büchner ließ seinen Lenz einen »Triumphgesang der Hölle« anstimmen: »Es war ihm, als könnte er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel ballen und Gott herbeireißen und zwischen seinen Wolken schleifen; als könnte er die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer ins Gesicht speien.« Dies als Extrembeispiel dafür, zu welcher Kraft die Sprache sich mit Verben steigern lässt – sogar dann, wenn sich nichts bewegt. Näher an unseren Wünschen und Möglichkeiten ist das fröhliche Getrappel, von dem Patrick Süskind im PARFUM erzählt, mit nicht weniger als zwölf dynamischen Verben: »Mitten in der Nacht erwachte das Haus in der Rue Droite zu emsigem Leben. In der Küche flammten die Feuer auf, durch die Gänge huschten die aufgeregten Mägde, treppauf, treppab eilte der Diener, in den Kellergewölben klapperten die Schlüssel des Lagerverwalters, im Hof leuchteten Fackeln, Knechte liefen um die Pferde, andere zerrten die Maultiere aus den Ställen, es wurde gezäumt, gesattelt, gerannt und geladen …« Und selbst ein einziges Verb kann uns verblüffen, erfrischen, wenn man es setzt wie Ringelnatz: Ein Leierkasten »wringt sich aus und klingt nach Leben und Sterben«.
Buchstaben-Arrangements S. 8–30: fotografiert von Nico Baldauf für DIE ZEIT
DIE WÖRTER
LEKTION 2
Zählen wir die Silben Kurze Wörter bleiben hängen Ein Wort ist umso verständlicher, je weniger Silben es hat, sagt die Verständlichkeitsforschung. Das klingt erschreckend simpel. Doch die Stilistik hakt nach: und kraftvoller auch! »Je länger aber ein Wort, desto unanschaulicher«, schrieb Jean Paul in seiner VORSCHULE DER ÄSTHETIK. »Die alten Wörter sind die besten, und die kurzen alten Wörter sind die allerbesten«, sagte Winston Churchill, Nobelpreisträger für Literatur. »Benutze nie ein langes Wort, wenn ein kurzes es auch tut«, heißt es im Stilkodex des Londoner ECONOMIST. Goethes Ballade DER FISCHER besteht zu 76 Prozent aus einsilbigen Wörtern – genau wie die berühmte GETTYSBURG AD DRESS des US-Präsidenten Lincoln (amerikanische Stillehrer haben es bewundernd nachgezählt).
Bedenken wir: Kopf und Herz, Hand und Fuß, Weib und Kind, Tisch und Bett, Wald und Feld; das meiste, woraus wir sind und womit wir leben, ist zu einsilbigen Wörtern geronnen – und erst recht sind es fast alle starken Gefühle: Angst, Leid, Pein, Qual, Wut, Hass, Neid, Gier. Was folgt daraus? Wer immer vorhat, mit Wörtern wie Effizienzsteigerungsprogramm oder Energieverbrauchsflexibilität zu operieren, der bedenke: Laien verstehen nichts, Sprachfreunde stößt er ab – und vielleicht wären sogar Fachleute angenehm berührt, wenn sie inmitten ihrer Silbengebirge statt gefährlich starker Rauchentwicklung einfach mal »Qualm« lesen könnten. Wer gelesen werden und wirken will, der halte sich an Schopenhauers Kernsatz: »Man denke wie die wenigsten und rede wie die meisten. Man brauche gewöhnliche Wörter und sage ungewöhnliche Dinge.« So, wie Churchill den Engländern 1940 nichts als »blood, toil, tears and sweat« versprach, Blut, Mühsal, Tränen, Schweiß – und ihnen damit Kraft gab zum Widerstand.
Abb.: akg-images/© VG Bild-Kunst, Bonn 2012 (S. 10); Museumslandschaft Hessen Kassel/bpk/© VG Bild-Kunst, Bonn 2012 (S. 11)
Vielleicht ist ja was dran? Vielleicht sollten wir die Thrombozytenaggressionshemmer nur seufzend in Kauf nehmen – den von unseren gehobenen Feuilletons gehätschelten Paradigmenwechsel aber schon mal darauf abklopfen, ob er nicht zur Abwechslung als Umdenken, Kehrtwende, Schwenk bezeichnet werden könnte? Was unterscheidet die Witterungsbedingungen vom Wetter und das Gefährdungspotenzial von der Gefahr? (Die doch keine wäre, wenn sie nicht das Potenzial hätte, eine zu sein.)
Und muss sich der schlappe Service der Deutschen Post hinter dem Elfsilber Telekommunikationsdienstleistungen verstecken?
Robert Indiana: »Love«, 1966
DIE ZEIT
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DIE WÖRTER
Alighiero Boetti: »Untitled«, 1987
LEKTION 3
Nennen wir’s beim Namen Konkrete Wörter haften besser »Die Wörter müssen Hände und Füße haben.« Sprach Martin Luther, und Jesaja 14,23 übersetzte er so: »Und ich will Babel machen zum Erbe für die Igel und zum Wassersumpf und will es mit einem Besen des Verderbens kehren.« Das hat Kraft – mehr, als hätte der Herr mit angemessenen Verwüstungen gedroht. Eine Vorstellung müssen sie uns vermitteln, die Wörter, wenn sie uns fesseln sollen. »Je abstrakter die Wahrheit ist, die man lehren will«, sagt Nietzsche, »umso mehr muss man erst die Sinne zu ihr verführen.« Bei der Gleichheit, bei der Gerechtigkeit geht das nicht, gewiss. Doch wo es durchaus ginge, neigen viele dennoch zu abstrakter Ausdrucksweise: Sie tummeln sich zwischen Bereichen, Belangen und Strukturen, ja manche lieben ebendiese. Da mailen uns Freunde von viel Ärger in der Ferienwohnung oder, anspruchsvoller, von allerlei Misshelligkeiten; hätten sie geschrieben: »Als Erstes brach ein Wasserrohr« – wir hätten uns sogleich mit ihnen solidarisiert.
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Konkret schreiben, das Detail benennen, mit Sinneseindrücken versehen, Farben zum Leuchten bringen: Das ist für alle, die Leser interessieren möchten, das oberste Stilgebot. »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!«, schrien Georg Büchner und F. L. Weidig 1834 in die Welt hinaus – und eben nicht: Verschont die Wohnstätten der Unterprivilegierten. Gewiss, auch für konkrete Dinge brauchen wir abstrakte Dachbegriffe, Möbel zum Beispiel. Moralische Gebote wie Ehrlichkeit sind konkret gar nicht zu erfassen, und die ganze Philosophie müsste zumachen, wenn sie nicht in Abstraktionen schwelgen dürfte. Damit können wir leben. Nur sollten wir immer parat haben, dass Wolkenbruch besser ist als widrige Witterungsumstände und eine triefende Nase anschaulicher als jeder grippale Infekt. Martin Walser lässt einen Literaturkritiker sagen: »Wenn er ein paar Tage hintereinander deutsche Gegenwartsliteratur lesen müsse, beneide er die Leute von der Müllabfuhr.« Ed Koch, zwischen 1978 und 1989 Bürgermeister von New York, wurde seinem Ruf, grimmig und rabiat zu sein, mit dem Spruch gerecht: »Ich bin nicht der Typ, der Magengeschwüre bekommt. Ich verursache sie.« Sympathisch war das nicht. Aber etwas zum Weitererzählen.
DIE ZEIT
DIE WÖRTER
LEKTION 4
Geizen wir mit Adjektiven Überflüssig sind erstaunlich viele
Abb., S. 13 (Ausschnitt): Keystone Schweiz (Schiller und Goethe im Garten der Villa Lengefeld in Rudolstadt um 1794)
Ja, es ist schönes altes Deutsch, einen missmutigen Menschen zur Abwechslung als griesgrämig, sauertöpfisch, miesepetrig zu beschreiben. Nur dass Adjektive zugleich die am meisten überschätzte, am meisten missbrauchte Wortgattung sind: oft tautologisch, immer häufiger akademisch-bürokratisch gespreizt, oft lächerlich und manchmal einfach falsch – nicht gerechnet, dass das Deutsche sie häufig gar nicht vorsieht. Eau potable ist eben nicht das trinkbare, sondern das Trinkwasser, die polizia stradale die Straßenpolizei und der lucky star absolut kein glücklicher Stern. Tautologisch, doppelt gemoppelt: Da lesen wir von harter Knochenarbeit, wichtigen Meilensteinen, einem wesentlichen Eckpfeiler, dem kritischen Hinterfragen; im Marketing vom üblichen Versprechen qualitativ hochwertiger Produkte und gezielter Maßnahmen. Solche Doppelungen geben dem aufmerksamen Leser das Signal: Also, nachgedacht hat der Schreiber nicht. Überdies beschädigen hohle Adjektive einen Eckpfeiler aller erfolgreichen Kommunikation: dafür zu sorgen, dass jedes Wort etwas zu sagen hat – »that every word tell«, mit einem schönen archaischen Imperativ formuliert in der klassischen amerikanischen Stillehre von Strunk und White. Der kolumbianische Aphoristiker Gómez Dávila sagt es so: »Für jedes überflüssige Wort verliert der Schriftsteller einen Sündennachlass von einem Monat.« Leere Adjektive sind indessen nicht die schlimmsten. In Wirtschaft, Wissenschaft und Bürokratie hat sich in den letzten Jahrzehnten die Wahnvorstellung ausgebreitet, das Adjektiv sei die überlegene Wortgattung: Aus dem Elternhaus ist das elterliche Haus geworden, aus der Schule der schulische Bereich, das betriebliche Ergebnis folgt ihnen auf dem Fuße – und welcher werdende Doktor würde noch von der Lage sprechen, wenn er sich doch mit situativen Gegebenheiten
DIE ZEIT
schmücken kann? Wie altmodisch, dass Mephisto mit Worten stritt – verbal täte er das heute! Nicht nur unschön, sondern einfach regelwidrig ist eine weitere modische Marotte: Bei biblischen Verfilmungen ist biblisch eben nicht die Eigenschaft der Verfilmung, sondern die Bibel ist ihr Objekt; auch bei koalitionären Rücksichten und kombinativen Möglichkeiten sind die Adjektive nicht die Eigenschaften. Eine wahre Affenliebe zum Adjektiv hat sich da zulasten der Logik breitgemacht. Vollends lächerlich wird sie, wo sie den sprachlichen Zusammenhang auf den Kopf stellt. Von der fossilen Energielobby müssen wir lesen – von einer fossilen Lobby also, die sich einer nicht näher bezeichneten Energie annimmt. Von erzieherischem Kontrollverlust sprach die FAZ – was eindeutig der erzieherische Verlust einer Kontrolle ist, über die wir leider nichts erfahren. Flüssige Textverfasser müssen da am Werk gewesen sein, mit warmen Würstchenverkäufern und rostfreien Stahlhändlern im Bunde. Und es gibt doch so farbige, kraftvolle Adjektive: tückisch, hartgesotten, hasenherzig, anschmiegsam! »Unser Hass ist witterungsbeständig«, sagt Günter Grass in seinem Gedicht EHE. Franz Kafka schrieb seiner fernen Freundin Milena (in Partizipien, halben Adjektiven also), er lese ihre Briefe, »wie der Spatz die Krumen in meinem Zimmer aufklaubt: zitternd, horchend, spähend, alle Federn aufgebauscht«. Wo so viel Fantasie nicht vorhanden ist oder wo sie fehl am Platze wäre, da hilft die Faustregel: Adjektive dienen der Unterscheidung – das gelbe Kleid, nicht das rote. Wo sie bloß schmücken wollen, sollten sie anklopfen, und wo sie einer dümmlichen Mode dienen: draußen bleiben.
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SPRACHMEISTER (I)
GOETHE UND SCHILLER
G ROS S E
P ROSA I S TE N
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as soll man über die beiden noch sagen! Außer dass sie, abseits ihrer berühmten Dramen und Gedichte, einige eindrucksvolle, durchaus nicht altväterliche Stücke deutscher Prosa hinterlassen haben, die zu lesen lohnt.
Wenn es in WILHELM MEISTERS LEHRJAHRE heißt: »Er bildete den Wahn des Moments so poetisch als möglich aus« – dann fühlen wir uns um 200 Jahre zurückversetzt; nicht aber, wenn Aurelie, die Schauspielerin, ihren Zuschauern nachsagt: »Sie meinen es gut und werden mich noch umbringen«, oder wenn Philine Wilhelm anherrscht: »Wenn ich dich lieb habe – was geht’s dich an?« Er wiederum »war dem Gelübde treu geblieben, sich vor der zuschlagenden Falle einer weiblichen Umarmung zu hüten«. Zwanzig Jahre zuvor, mit 26, hatte Goethe frisch und böse aus der Schweiz geschrieben: »Frei wären die Schweizer? Frei diese wohlhabenden Bürger in den verschlossenen Städten? Frei diese armen Teufel an ihren Klippen und Felsen? Was man dem Menschen nicht alles weismachen kann! Besonders, wenn man so ein altes Märchen in Spiritus aufbewahrt.« Überwältigt jedoch war er von den Bergen; auf dem Rigi: »Die Höhe in Wolken und Nebel. Rings die Herrlichkeit der Welt.« Über das letzte Stück Wegs zum Gotthard: »Nackte wie bemooste Felsen mit Schnee bedeckt, ruckweiser Sturmwind, Wolken heran- und herbeiführend, Geräusch der Wasserfälle, das Klingeln der Saumrosse in der höchsten Öde.« Und überraschend ironisch begegnet uns Goethe in der ITALIENISCHEN REISE: »Der Mörder gab ihm an die zwanzig Stiche, und da die Wache hinzukam, erstach der Bösewicht sich selbst. Das ist hier sonst nicht Mode: Der Mörder erreicht eine Kirche, und so ist’s gut.« Schiller erreicht in seinen beiden historischen Werken, der GESCHICHTE DES ABFALLS DER NIEDERLANDE und der DES DREISSIGJÄHRIGEN KRIEGES ein Tempo, mit dem kein Drama mithalten kann; selbst lange Sätze bremsen es nicht, wie Pfeile schnellen sie von der Sehne: »Eine rasende Rotte von Handwerkern, Schiffern und Bauern, mit öffentlichen Dirnen, Bettlern und Raubgesindel untermischt, mit Keulen, Äxten, Hämmern, Leitern und Strängen versehen, werfen sich, von fanatischer Wut begeistert, in die Flecken und Dörfer bei St. Omer, sprengen die Pforten der Kirchen und der Klöster, stürzen die Altäre, zerbrechen die Bilder der Heiligen und treten sie mit Füßen.« Das waren die Niederlande. Über Wallenstein und den deutschen Kaiser aber ist nie hintersinniger geschrieben worden: »Indem Wallenstein von Eger aus die Unterhandlungen mit dem Feinde lebhaft betrieb, die Sterne befragte und frischen Hoffnungen Raum gab, wurde beinahe unter seinen Augen der Dolch geschliffen, der seinem Leben ein Ende machte. ... Der Kaiser weihte dem Schicksal Wallensteins eine Träne und ließ für den Ermordeten zu Wien dreitausend Seelenmessen lesen; zugleich aber vergaß er nicht, die Mörder mit goldenen Gnadenketten, Dignitäten und Rittergütern zu belohnen. ... So fiel Wallenstein, nicht weil er Rebell war, sondern er rebellierte, weil er fiel. Ein Unglück für den Lebenden, dass er eine siegende Partei sich zum Feinde gemacht hatte – ein Unglück für den Toten, dass ihn dieser Feind überlebte und seine Geschichte schrieb.« So allwissend kann eine Theaterfigur nicht reden und so viel Feuer ein Jambus kaum haben. Sollte man vielleicht den Prosa-Schiller lesen in der Schule?
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DIE ZEIT
Friedrich Schiller (1759–1805) schrieb Gedichte, Dramen und Balladen, historische und philosophischästhetische Schriften. Goethe und er entwickelten eine einander ergänzende freundschaftliche Produktivität. Von 1791 an schwächte ihn ein Lungenleiden, an dessen Folgen er mit nur 45 Jahren in Weimar starb. Neben Goethe, Herder und Wieland gehörte er zum Viergestirn der Weimarer Klassik Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) war Dichter und Dramatiker, Universalgelehrter, Minister und Italienreisender, er betrieb umfangreiche ästhetische und naturforschende Studien. Vorreiter des Sturm und Drang. Im Austausch mit Schiller entstand eine Literaturauf fassung, die als Weimarer Klassik in die Epochenbeschreibung Eingang fand
DIE WÖRTER
Heimo Zobernig: »Ohne Titel (REAL)«, 1999
LEKTION 5
Seien wir ein bisschen unbequem Redensarten schläfern uns ein Unsern Wortschatz erben wir von den Eltern, von den Ahnen: Für eine Öffnung in der Hauswand, heute meist verglast, müssen wir das Wort Fenster nicht erfinden. Als Heranwachsenden fällt uns zudem ein Erbe an Redensarten zu – umso mehr davon, je mehr Bücher und Zeitungen wir lesen. »Das hat wie eine Bombe eingeschlagen«, zum Beispiel – oft ein durchaus treffendes Bild, mit drei Vorzügen: Auch diese Wortfolge brauchen wir uns nicht erst auszudenken, sie passt in viele Lebenslagen, und jeder versteht, was gemeint ist. Bequemer kann Sprache nicht sein. Nur ist es genau dieser Umstand, der uns misstrauisch stimmen sollte, falls wir uns Leser wünschen: Die überlieferten Floskeln sind dermaßen geläufig, dass sie im Leser eine Reaktion nahe null auslösen. Er versteht sie sofort, er stutzt nicht, sie erregen nicht seine Aufmerksamkeit. Jeder, der einen anderen Menschen zum Gegenteil verführen möchte – zum Gern-Weiterlesen –, der sollte zögern, ehe er allzu bekannte Sprachfiguren wie diese niederschreibt: ins Fettnäpfchen treten, den Gürtel enger schnallen, das Handtuch werfen (oder die Flinte ins Korn), aus dem Nähkästchen plaudern, aus allen Nähten platzen,
DIE ZEIT
das Tanzbein schwingen, unter den Teppich kehren, aus allen Wolken fallen. Es ist erzvernünftig, dass etliche Redaktionen, von SPIEGEL ONLINE bis zur TAZ, sich solche Sprachklischees ausdrücklich verboten haben; Werbeagenturen ebenfalls. Was tut unsereiner? Im Alltag: zögern; oft: verzichten. Aber wer Lust hat und wer’s kann, der zerbreche fröhlich die Klischees. Er suche zuerst ein bisschen nach den Säuen, vor die er seine Perlen werfen kann. Schon Karl Kraus schlug im Ersten Weltkrieg vor, man sollte, nachdem so viele Munitionsfabriken wie die Pilze aus dem Boden geschossen seien, es endlich mal den Pilzen gönnen, dass sie ihrerseits wie die Munitionsfabriken aus dem Boden schössen. Jüngst versah die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG einen Bericht über den drohenden Wählerschwund der CSU mit der Überschrift: »Der Tunnel am Ende des Lichts«. In der FAZ verkündete ein Berufsberater: »Vertrauen ist gut – Kontrolle macht Arbeit.« Dem Berliner TAGESSPIEGEL fiel zu einem Politiker, der öffentlich verdächtigt worden war, verrückt zu sein, die kostbare Verteidigung ein: »Verrückt ist er nicht. Aber die Tassen in seinem Schrank werden weniger.« Routine ist gut. Fantasie ist besser. Leser bei der Stange halten ist die Kunst.
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DIE WÖRTER
LEKTION 6
Vermeiden wir den Überdruss Modewörter sind meistens albern Wer eigentlich hat entschieden, dass Millionen Deutsche nichts mehr verstehen, begreifen, erkennen, einsehen, kapieren, nachfühlen, nachempfinden, sich klarmachen, billigen – sondern es nachvollziehen? Seit etwa zwanzig Jahren hat sich diese Mode durch den deutschen Sprachraum gefressen. Wie jede Mode hat sie schöne, farbige Wörter im Dutzend niedergewalzt, und wie jede Mode war sie eines Tages schrecklich alt. Gesiegt hat sie sogar über die Einsicht, dass nachvollziehen mit fühlen überhaupt nichts zu tun hat, sondern alles mit machen: Der Gerichtsvollzieher, der Strafvollzug sind extrem gefühlsarm, aber handlungsstark. Auch hartnäckige Nachvollzieher stutzen, wenn der Bürgermeister am Ort der Untat sagt, was da offenbar gesagt werden muss: »Ich kann dieses schreckliche Verbrechen nicht nachvollziehen.« Das, Herr Bürgermeister, hat auch keiner von Ihnen erwartet. Könnte er das einleuchtend finden? Vielleicht. Aber »nachvollziehbar« müsste er sagen.
steigert werden kann. Zweitens ist die Aktivität im engeren Sinne ein Singularetantum, also ein Wort, zu dem es einen Plural gar nicht gibt – so wenig wie zu Stolz, Milch, Glück oder Passivität; die Mehrzahl treibt also Unfug mit Logik und Grammatik. Eine Aktivität kann aus hundert Aktionen bestehen (die ohnehin meistens gemeint sind) oder sie kann die Haltung des Aktivseins benennen, die Tatkraft, Tüchtigkeit, Dynamik, Energie, den Elan, das Engagement, den Schwung, die Schaffenslust – allesamt von einem törichten Plural verschlungen.
In der Wirtschaft brüstet man sich unterdessen mit Aktivitäten – einem Modewort mit gleich zwei Nachteilen. Oft wird es an längst komplette Aussagen zwanghaft angekoppelt: Marketingaktivitäten sind Standard, obwohl das Marketing (das Schaffen und Pflegen eines Marktes durch ein Bündel von Aktionen) durch keine Aktivität ge-
Viele Modewörter also sind ziemlich albern, manche auch noch widersinnig, und gemeinsam ist ihnen derselbe Nachteil wie den ausgeleierten Redensarten ¤ Lektion 5: Sie verplempern das Kostbarste, was ein Schreiber erreichen kann – Zuwendung, Aufmerksamkeit. Was wir hundertmal gelesen haben, das gähnt uns an.
Abb. (S. 14+15): akg-images/© VG Bild-Kunst, Bonn 2012 (2)
Iwan Puni: »Neue Kunst«, 1919
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SPRACHMEISTER (II)
HEINRICH VON KLEIST
D E R
M A S S L O S E
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Kein Stilmittel, das Kleist nicht zur Verfügung stand. Lapidare Sätze wie 1809 in der Ankündigung der GERMANIA (die nie erschien): »Diese Zeitschrift soll der erste Atemzug der deutschen Freiheit sein.« Hellsichtig und böse schrieb er in seinem LEHRBUCH DER FRANZÖSISCHEN JOURNALISTIK: »Was man dem Volk dreimal sagt, hält das Volk für wahr.« Ein Lehrstück graziöser Argumentation finden wir im MARIONETTENTHEATER, 1810 erschienen in seinen BERLINER ABENDBLÄTTERN: Was sei denn der Vorteil, den eine Puppe, die an Fäden hängt, dem lebendigen Tänzer voraushabe? »Zuvörderst ein negativer: nämlich dieser, dass sie sich niemals zierte. Denn Ziererei erscheint, wenn sich die Seele in irgendeinem anderen Punkt befindet als in dem Schwerpunkt der Bewegung.« Da der Puppenspieler nur diesen Punkt kontrolliere, »sind alle übrigen Glieder, was sie sein sollen: tot, reine Pendel, und folgen dem bloßen Gesetz der Schwere; eine vortreffliche Eigenschaft, die man vergebens bei dem größesten Teil unserer Tänzer sucht«. Bei denen nämlich habe das Bewusstsein »Unordnungen in der natürlichen Grazie« angerichtet. Um in den Stand der Unschuld zurückzufallen, »müssten wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen«. Kleists Leidenschaft aber bewährt sich dort, wo er die Gegensätze zum Extremen treiben kann. Als Michael Kohlhaas beschlossen hatte, sich am Junker von Tronka für dessen Willkür zu rächen, »zuckte mitten durch den Schmerz, die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu erblicken, die innerliche Zufriedenheit empor, seine eigne Brust nunmehr in Ordnung zu sehen«; und er »jauchzte« über seine Macht, »seines Feindes Ferse in dem Augenblick, da sie ihn in den Staub trat, tödlich zu verwunden«. Im FINDLING schreit der Priester dem Mörder die Schrecknisse der Hölle »mit der Lunge der letzten Posaune« entgegen. Einen solchen Schrei gibt es keinen zweiten in der deutschen Literatur.
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Abb. (Ausschnitt): Fine Art Images
Heinrich von Kleist (1777–1811) quittierte früh den Armeedienst, wurde als Spion verhaftet, schrieb seine erste Tragödie (»Die Familie Schroffenstein«), verfasste Gedichte und gab Zeitschriften (»Phöbus«) heraus, bis große dramatische Werke entstanden wie »Amphitryon« und »Penthesilea«, aber auch historische Dramen wie »Das Käthchen von Heilbronn« und das Lustspiel »Der zerbrochne Krug« sowie die Erzählung »Michael Kohlhaas«. Zu Lebzeiten hatte er keinen literarischen Erfolg und wurde kaum aufgeführt; er fühlte sich unverstanden und nahm sich am Ufer des Kleinen Wannsees das Leben
r war »von einer gewissen Unbestimmtheit der Rede, die sich dem Stammeln nähert«. Sein Freund Achim von Arnim schrieb das über ihn. Es geschah vor diesem Hintergrund, dass Kleist die gewaltigsten und gewaltsamsten Sätze deutscher Prosa meißelte, die Vertracktheit der deutschen Syntax mutwillig zum Äußersten treibend: Hauptsätze von gerade mal acht oder neun Wörtern, durch sieben Nebensätze mit 14 Kommas mehrstufig zerrissen und zu einem zerschrundenen Satzgebirge aufgetürmt. Es ist, als habe Kleist sich die Sprache »von der Brust heruntergehustet«, wie er das für seine Penthesilea selbst in Anspruch nahm: »Sie schlägt, die Rüstung ihm vom Leibe reißend, Den Zahn schlägt sie in seine weiße Brust.« Verknotete, überhastete Sätze, berstend vor Kraft; oft zu verstörenden Bildern verdichtet wie dem vom Gesang der wahnsinnigen Brüder in der HEILIGEN CÄCILIE: »So mögen sich Leoparden und Wölfe anhören lassen, wenn sie zur eisigen Winterzeit das Firmament anbrüllen ..., und die Fenster, von ihrer Lunge sichtbarem Atem getroffen, drohten klirrend, als ob man Hände voll schweren Sandes gegen ihre Fläche würfe, zusammenzubrechen.« In derselben Novelle zieht in die Natur der Friede ein – aber was für einer: »Dabei stand ein Gewitter, dunkelschwarz, mit vergoldeten Rändern, im Hintergrunde ..., und nachdem es noch einige kraftlose Blitze gegen die Richtung, wo der Dom stand, geschleudert hatte, sank es, zu Dünsten aufgelöst, missvergnügt murmelnd im Osten herab.«
DIE WÖRTER
LEKTION 7
Warum wir am Passiv leiden Es ist die hässlichste Form des Verbs Die sogenannte Leideform des Verbums ist oft vernünftig, oft unvermeidlich und ziemlich oft ein Ärgernis; nur mit »Leiden« hat sie nicht viel zu tun. Wer geliebt wird, wer gelobt wird, leidet selten; und schon gar nicht, wer im Kochbuch liest: »Der Teig wird so lange gerührt, bis ...« Dies ist das vernünftige Passiv – die Verbform für Gebrauchsanweisungen also, auch für Gesetzestexte (»Mit Freiheitsentzug nicht unter fünf Jahren wird bestraft, wer ...«), ebenso für Personen oder Institutionen, die uns nicht zu interessieren brauchen (»Das Museum wird um 10 Uhr geöffnet«). Das unvermeidliche Passiv ist Alltag im Polizeibericht: Ein Mensch ist überfallen worden, aber von wem, weiß noch keiner. Das ärgerliche Passiv ist von dreierlei Art. Erstes Ärgernis: Es dient dem Befehl, von »Jetzt wird aufgeräumt!« bis »Sie werden hiermit aufgefordert, ...«. Und es dient sogar der Einschüchterung. Verschickt eine deutsche Bank doch wirklich Briefe, die mit dem Satz beginnen: »Die
Geschäftsbedingungen sind geändert worden« – juristisch die pure Unverschämtheit, da der Kunde nur um seine Zustimmung zu einer Änderung gebeten werden kann. Zweites Ärgernis: Viele Berufsschreiber betrachten das Passiv ohne Not als gleichberechtigte Form des Verbums, obwohl es doch dessen entmenschlichte Variante ist: unanschaulich, Kindern erst spät begreiflich zu machen, in der Lyrik so gut wie unbekannt; hässlich obendrein: »Seitens des Vorstands wird die Herausforderung darin gesehen ...« Für das dritte Ärgernis lieferte die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth ein Beispiel in der Talksendung von Günther Jauch: »Das Ethische ist in unserer Gesellschaft weitgehend verdrängt worden«, sprach sie, ohne weitere Erklärung – ein Satz, der gleich zwei Rätsel aufgibt: »Das Ethische«, was ist das genau? Und wer eigentlich soll es verdrängt haben? Wer die Verdränger entweder nicht kennt oder sie nicht identifizieren möchte, der könnte ja schweigen. Aber was sollte dann aus unseren Talkrunden werden.
LEKTION 8
Misstrauen wir den Synonymen Nur Deutschlehrer lieben sie Als eine »schwer griechisch klingende Journalistenkrankheit« verspottete die SÜDDEUTSCHE ZEI TUNG jüngst die »Synonymitis«: die verbreitete Vorstellung nämlich, man dürfe in einem Text nicht mehrfach dasselbe Wort verwenden, sondern müsse den Wechsel im Ausdruck pflegen. Das ist auch zweimal richtig. Aber viermal ist es falsch. Es ist richtig, dass Deutschlehrer ihre Schüler das Forschen nach Synonymen lehren, um sie in die Fülle unseres Wortschatzes einzuführen – ihnen beispielsweise nahebringen, dass man statt widerlich auch mal abstoßend, ekelhaft, abscheulich sagen kann. Und richtig bleibt es, in zwei Sätzen nicht zweimal aber zu schreiben, sondern es durch doch, jedoch, allerdings, dagegen zu ersetzen; das hält den Text lebendig. Verwirrend aber ist es, auch die Substantive, die tragenden Begriffe eines Textes, der lexikalischen Varianz zu unterwerfen, wie Journalisten es lieben; albern gleich aus vier Gründen. Erstens: Für die meisten konkreten Dinge sind Synonyme einfach nicht vorhanden. Nicht für Tisch zum Beispiel (Vierbeiner wäre zwar korrekt, ist aber schon für den Hund vergeben). Nicht für
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Wind, denn Sturm ist mehr und Brise weniger. Viele sinnverwandte Wörter sind, zum Zweiten, absolut nicht austauschbar: der Hund nicht gegen den Köter, das Gesicht nicht gegen Fratze, Fresse und Visage. Oft folgt, drittens, aus der Synonymitis eine vorhersehbare Zwangshandlung: Aus der Polizei werden die Ordnungshüter, aus der Bundesbank die Währungshüter, aus der Wahl wird der Urnengang. Den Radiosprecher, der diese Missgeburt über den Sender lassen musste, stört es zu Hause am Wahlabend nicht im Geringsten, das Wort Wahl hundertmal zu hören und zu sagen. Das Vierte, das Schlimmste aber: Schon die Suche nach einem Tauschbegriff verletzt das Urvertrauen in die Sprache, das alle Hörer, alle Leser selbstverständlich haben: dass einer, der dasselbe meint, selbstverständlich auch dasselbe sagt – und dass er, wenn er plötzlich etwas anderes sagt, nur etwas anderes meinen kann. Goethe ist Goethe – und weder der Dichterfürst noch der Wirkliche Geheime Rat, und kein Weihnachtsbaum hat je darauf gewartet, dass er in der Zeitung als der nadlige Geselle aus den heimischen Wäldern wiederkehrt.
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DIE WÖRTER
Abb. (Ausschnitt): Bridgemanart/© VG Bild-Kunst, Bonn 2012
László Moholy-Nagy: »The Great Railroad«, 1920 (Detail)
LEKTION 9
Verachten wir den Wissenschaftsjargon Über Laien schießt er hochnäsig hinweg Dass die Sprache »die große Gesellerin der Menschen« sei, wie Johann Gottfried Herder 1785 schrieb, war – denkt man an Beschimpfung, Verfluchung und Befehl – schon damals übertrieben; im Zeitalter unseres Technokraten- und Wissenschaftsjargons ist die Sprache weithin in die Rolle der Spalterin geschlüpft. Natürlich: Physiker, Mathematiker, Informatiker haben es schwer, ihre Einsichten so zu formulieren, dass interessierte Laien ihnen folgen können. Doch ein etwas größeres Bemühen darum dürfen wir uns wünschen. Hat nicht selbst Immanuel Kant sich schlicht und farbig ausgedrückt, als er den Umsturz des überlieferten Weltbilds durch Kopernikus darlegte? »Kopernikus, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fortwollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen könnte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließe.« Viel bewirken jedoch könnte guter Wille in den Geisteswissenschaften. Gerade in ihnen aber fehlt er oft. Wollen Philosophen, Soziologen, Psychologen überhaupt verstanden werden? Oder vertrauen sie darauf, dass viele Leute – und Deutsche mehr als Engländer und Franzosen – gern alles
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für erhaben halten, was sie nicht verstehen? Oder treibt sie gar die Sorge um, von ihrer Wissenschaft bliebe nicht genügend übrig, wenn sie sich verständlich machte? Was dachte sich jene Professorin von der Universität Konstanz, als sie in einem Vortrag sagte: »Die emphatische Standortbezogenheit, die Affirmation von Differenz und der dekonstruktivistische Blick, der explizite Traditionen und implizite Selbstverständlichkeiten als von Interessen gesteuert durchleuchtet, enthalten ein sozialrevolutionäres Potenzial, das auch für identitätspolitische Zwecke nutzbar gemacht werden kann.« Da sind wir baff. Ebenso wenn Linguisten von »Linearisierungsoptionen an der Satzperipherie« sprechen oder Pädagogen von den »Neudiskursivierungen des Raumparadigmas«, und aus der Pubertät haben sie die »adoleszente Identitätsfindung« gemacht. Grandios! Nur sollten wir ihnen kein Wort glauben, wenn sie behaupten, das überwältigend Neue lasse sich nicht einfach sagen. Sigmund Freud zum Beispiel hat ebendies geschafft: umstürzende Einsichten in durchweg elegantem Deutsch. Vielleicht waren sie ja falsch. Aber was wir gar nicht erst verstehen, muss deshalb auch nicht richtig sein.
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DIE SÄTZE
LEKTION 10
König der Sätze Der Hauptsatz ist der älteste – und immer erste Wahl Erst lange nach den Wörtern kamen die Sätze. »Löwe!«, wird der Wächter vor der Höhle gerufen haben, Jahrtausende bevor zum ersten Mal ein Satz erklang: »Da schleicht ein Löwe auf uns zu!« Und wiederum Jahrtausende, bis der Nebensatz erfunden war: »Ein Löwe, der ...« Von den Chancen (und Tücken!) der Nebensätze später ¤ Lektion 14. Hier werden die Hauptsätze gewürdigt: als Grundpfeiler aller Kommunikation; als die urtümlichste und bis heute kraftvollste Form, etwas zu sagen; als alleiniges Satzmodell bei Sprichwörtern, Hilferufen und Befehlen; als beherrschendes in der Lyrik, in der Werbung und in der mündlichen Rede. Für Schreiber, die gelesen werden wollen, die vielleicht sogar eine Botschaft haben, sind Hauptsätze folglich immer erste Wahl. Was sie leisten können, dafür ein paar klassische Beispiele – krass gemischt. Lapidar: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.« (Psalm 23,1) »Der Mensch ist frei geboren und liegt doch überall in Ketten.« (Rousseau, DER GESELL SCHAFTSVERTRAG, 1762) »Die Dividenden steigen, und die Proletarier fallen.« (Rosa Luxemburg über die Gewinne der deutschen Rüstungsindustrie, 1915) »Zuerst ignorieren sie dich. Dann lachen sie dich aus. Dann bekämpfen sie dich. Dann hast du gewonnen.« (Mahatma Gandhi über den passiven Widerstand, 1925) »Sometime they’ll give a war, and nobody will come.« (Carl Sandburg, 1936) »Wir danken allen. Wir vergessen keinen. Wir vergessen nichts.« (Abschiedsgruß der SPD an ihre Ostberliner Genossen nach dem Bau der Mauer, 1961) »I have seen the future, and it won’t work.« (Paul Krugman, Nobelpreisträger für Wirtschaft, über seine Studienreise durch China, NEW YORK TIMES, 2009) Ironisch: »Zu seinen Sachen kam er wie die Weiber zu schönen Kindern; sie denken nicht daran und
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wissen nicht, wie.« (Goethe über Byron, zu Eckermann, 1825) »Zudem hatte die Hebamme mich schon abgenabelt; es war nichts mehr zu machen.« (Klage des Oskar Matzerath in der BLECHTROMMEL von Günter Grass, 1959) »Bastian galt als von Moskau bezahlt, von der DDR gelenkt und von allen guten Geistern verlassen.« (Der SPIEGEL über den Selbstmord des ehemaligen Bundeswehrgenerals, 1992) Temporeich: »Er stand früh um 4 auf, kleidete sich selbst an, ritt dreimal täglich, trank keinen Wein, saß nur eine Viertelstunde an der Tafel, exer zierte jeden Tag seine Truppen und kannte nur ein Vergnügen: Europa zittern zu machen.« (Voltaire über Karl XII. von Schweden, 1731) »Praise the Lord and pass the ammunition.« »Lobet den Herrn und her mit der Munition!« (Der amerikanische Militärgeistliche Howell Forgy beim japanischen Überfall auf Pearl Harbor, 1941) In schöner Ruhe: »So lag er nun da allein, und alles war ruhig und still und kalt, und der Mond schien die ganze Nacht und stand über den Bergen.« (Georg Büchner, LENZ, um 1835) »Er stand auf, schlug einen messingnen Kamm in sein Haar, knöpfte seinen Rock von oben bis unten zu, sah, ob sein Vetter noch schlief – und dann ließ er ihn ruhig schlafen und wanderte an seinem Stabe in der kühlen Morgenluft dem geliebten Hügel zu, und der alte einäugige Pudel begleitete ihn.« (Karl Philipp Moritz in seinem Roman ANDREAS HARTKNOPF, 1786) In äußerster Rechthaberei: »In diesem Ton schreckt man auch ab. Und das wollte ich. Abschrecken wollte ich.« (Lessing an Pastor Goeze, 1778) All dies können Hauptsätze leisten. Natürlich: Nicht jeder Satz ist gut, bloß weil er ein Hauptsatz ist. Auf ein paar hässliche Formen kommt gleich die Sprache ¤ Lektion 12; ehe wir uns den Nebensätzen ¤ Lektion 14 widmen, den elastischen und musikalischen ebenso wie den ärgerlichen und deplatzierten.
DIE ZEIT
SPRACHMEISTER (III)
HEINRICH HEINE
B R I LL A NTE
Z Y N I K E R
K
arl Kraus mochte ihn nicht. Heine, sagte er, habe »der deutschen Sprache so sehr das Mieder gelockert, dass heute alle Kommis an ihren Brüsten fingern können«. Alle Ladenschwengel also. Mag sein. Nur hatte Heine damit das Korsett gesprengt, das dem Deutschen von Professoren, Theologen, Ministerialbeamten und vaterländischen Dichtern verpasst worden war – verwandt darin dem jungen Goethe, bevor der in Weimar zum Geheimrat aufstieg.
Leichtfüßig, leichtsinnig, auf nichts festzulegen, in den Spott verliebt, der nackten Bosheit fähig, mit allen Wassern gewaschen, für alle Höhenflüge gerüstet – so hat Heine die deutsche Sprache bereichert, sie elastischer, fröhlicher, böser, weltläufiger gemacht. Was ist Mitleid, was Zynismus, was Sozialkritik in diesen Versen? »Der Knecht singt gern ein Freiheitslied, Des abends in der Schenke: Das fördert die Verdauungskraft Und würzet die Getränke.« So zog er gegen die »hofmännisch abgeklärte Kanzleisprache« zu Felde, wie er sie nannte, gegen den »Packpapierstil« des Immanuel Kant. Wenn er selber über den Philosophen (und dessen Diener Lampe) schrieb, dann las sich das so: »Er hat den Himmel gestürmt, er hat die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es gibt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine Vatergüte, keine jenseitige Belohnung für diesseitige Enthaltsamkeit, die Unsterblichkeit der Seele liegt in den letzten Zügen, und der alte Lampe steht dabei mit seinem Regenschirm unterm Arm als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Tränen rinnen ihm vom Gesichte.« Die Ironie war sein Lebenselixier: Der Herzog von Nemours »ist ein vorzüglicher Jäger und soll jüngst einen Bären in sehr große Gefahr gebracht haben«. Und infam konnte er werden – so über einen Handelsvertreter, der ihm im Restaurant lästig fiel: »Er sah aus wie ein Affe, der eine rote Jacke angezogen hat und nun zu sich selber sagt: Kleider machen Leute.« Oder über die Art, wie Goethe sich von den Brüdern Schlegel zum Olympier stilisieren ließ: »Sie bauten ihm einen Altar und räucherten ihm und ließen das Volk vor ihm knien. Sie hatten sich auch an Schiller gemacht, aber dieser war ein ehrlicher Mann und wollte nichts von ihnen wissen.« Dann wieder ein fast zärtlicher Zynismus, tänzerisch serviert – dem Vorwurf, er habe ein Mädchen mit seinen Liebesschwüren genarrt, hielt er entgegen: »Doch konnt’ ich wissen, dass sie gelauscht, Als ich, von glühender Liebe berauscht, Mit den Sternen droben gesprochen?« Wenn er selber liebte und litt, klang es anders: »Melodisch kann ich wieder klagen Von großem Lieben, größrem Leiden, Von Herzen, die sich schlecht vertragen Und dennoch brechen, wenn sie scheiden.« Und zum Donnergrollen konnte er die Sprache steigern. So in seiner Warnung von 1834 vor einer Revolution, mit der Deutschland Europa erschüttern werde: »Die alten steinernen Götter erheben sich aus dem verschollenen Schutt und reiben sich den tausendjährigen Staub aus den Augen, und Thor mit dem Riesenhammer springt endlich empor und zerschlägt die gotischen Dome.« Man muss ihn nicht mögen. Von ihm lernen kann jeder, der die Sprache liebt.
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Heinrich Heine (1797–1856) war Kaufmann, Jurist und Journalist. Er schrieb Gedichte, Balladen und Lieder, Reisefeuilletons und Satiren. Mit seinem kritisch-polemischen Stil schuf er eine moderne feuilletonistische Prosa. Als seine Schriften zensiert wurden und ihm die Verhaftung drohte, ging er 1831 als Zeitungskorrespondent nach Paris. Die letzten acht Lebensjahre verbrachte er krank überwiegend im Bett
Abb. (Ausschnitt): Rue des Archives/Süddeutsche Zeitung
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DIE SÄTZE
LEKTION 11
Wörter in Bewegung Wie wir den Satzanfang variieren können »Den Letzten beißen die Hunde«, das sagen wir mitunter. Verbieten aber müssen wir uns die Mehrzahl davon: »Die Letzten beißen die Hunde« – das lässt ja die Deutung zu, dass die Letzten nicht die Gebissenen, sondern die Beißenden sind. Nutzanwendung – mit dem Objekt eröffnen dürfen wir einen Satz nur dann, wenn uns eine Deklinationsform zur Verfügung steht (den Letzten), die sogleich deutlich macht: Hier wird abgewichen von der üblichen Wortstellung Subjekt – Prädikat – Objekt (Der Hund beißt Max). Dann aber kann die Abwandlung des häufigsten Satzbaumodells die reine Wohltat sein. Nichts nämlich langweilt uns beim Lesen schneller als eine Abfolge von Sätzen, die mit Er – Er – Er oder mit Meier tat dies – Müller tat das – Schulze tat jenes beginnen. »Den Anfang machte ...«, das Objekt also vorn, bringt Leben in den Text.
nach sich, die Inversion. Deutsch sprechenden Ausländern macht das Mühe, »deshalb ich habe« sagen sie zumeist; dieses Satzmuster ist eine deutsche Besonderheit und eine höchst erfreuliche dazu. Es bringt, selbst wo wir in lauter Hauptsätzen schreiben, eine Abwechslung in die Satzmelodie, die Engländern und Franzosen nicht zur Verfügung steht: Erschöpft kam er ... Noch um Mitternacht wollte er ... In Berlin bezog sie ...
Die einfachste und eine meist unbedenkliche Art, den Satzbeginn zu variieren, ist, dass wir mit einer Umstandsangabe oder einem Adverb einsteigen. Nicht: »Ich habe deshalb« – sondern: »Deshalb habe ich beschlossen, ...« Ein solcher Auftakt zieht die Vertauschung von Subjekt und Prädikat
Im Grenzfall – der sogenannten Ausdrucksstellung – dürfen wir einen Satz sogar mit dem Verbum eröffnen: Verloren haben wir wenigstens nicht. Oder mit dem Adjektiv: Schnell bist du nicht gerade gekommen. So viel Beweglichkeit lässt die Grammatik zu – nutzen wir sie!
Bei Schiller, einem Großmeister auch der Prosa, liest sich das (in der GESCHICHTE DES ABFALLS DER NIEDERLANDE so: »Jetzt werden Seehelden aus Korsaren (Zeitangabe mit Inversion), aus Raubschiffen zieht sich eine Marine zusammen (Umstandsangabe mit Inversion), und eine Republik steigt aus Morästen empor« (nun erst das Subjekt).
LEKTION 12
Die Krone der Hässlichkeit Bürokraten sind in sie vernarrt Auch in Hauptsätzen lässt sich Unrat produzieren: schwer verständliches, abstoßendes Deutsch – in Formulierungen zumal, »deren mehrmalige Verlesung die Zimmerpflanzen zum Verdorren bringt« (wie es in einem STREIFLICHT der SÜD DEUTSCHEN ZEITUNG hieß). »Den Einkünfteerzielungstatbestand« zum Beispiel »erfüllt derjenige, der über die Leistungserstellung disponieren kann.« Bürokratenjargon nennen wir dergleichen, Kanzleistil, Beamtendeutsch.
Ausweg 1: Man setze Verben an die Stelle der gespreizten, gequälten Substantive. Dass die Zusammenarbeit eine echte Materialisierung erfuhr (Managerdeutsch), ließe sich ja so sagen: dass sie sich materialisierte, zeigte, entwickelte, verwirklichte. Und stünde bei den Reiseabfällen einfach »sonst kriegen Sie Ärger!«, so wäre nicht nur das Deutsch drastisch besser, sondern vermutlich würde sich auch die Zahl der unerwünschten Sondernutzungen deutlich verringern.
2012 liest sich das auf Abfallkörben an deutschen Autobahnparkplätzen so: »Nur Reiseabfälle. Zuwiderhandlungen werden als unerlaubte Sondernutzung zur Anzeige gebracht.« Kurios genug: Eine erlaubte Sondernutzung wäre ja für die Einbringung einer Anzeige keine hinlängliche Begründung, und »angezeigt« wäre sowieso das bessere Deutsch.
Ausweg 2: Man verkürze den Hauptsatz und verwandle die hässlichen Nomina dadurch in Verben, dass man einen Nebensatz anhängt (einen von den guten, ¤ Lektion 14). Also nicht: Unsere Aufgabe ist die Lösung der anstehenden Probleme, sondern: ... ist es, die anstehenden Probleme zu lösen.
Doch Behörden und Juristen sind auf den Nominalstil versessen; auf erkünstelte, überlange Substantive, vorzugsweise solche, die mit -ung enden: Inverkehrbringung und Beampelung in der Straßenverkehrsordnung, Zielerreichung und Kenntniserlangung bis ins Vorstandsdeutsch hinein.
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Und wer sich, erfreulicherweise, der Kunst der Verständlichkeit und der Leserfreundlichkeit des Schreibens widmen möchte, der wäre noch besser beraten, wenn er grübelte, wie man so schreiben kann, dass Leser es verstehen können und es lesen mögen.
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LEKTION 13
Nur für Gedächtniskünstler Die vermaledeiten vorangestellten Attribute Zum Schlimmsten, was die Grammatik uns erlaubt, gehören die vorangestellten Attribute: die Beifügungen aus allen Wortarten, die wir in beliebiger Menge zwischen Artikel und Substantiv schieben dürfen. Ihre Häufung markiert einen Tiefpunkt der Verständigung und wird doch unter Sprachfreunden selten beklagt – ja, der Duden selber verwendet sie, und dies bis zur Lächerlichkeit. Wie, zum Beispiel, definiert er das Vorurteil? Es ist »eine ohne Prüfung der objektiven Tatsachen voreilig gefasste oder übernommene, meist von feindseligen Gefühlen gegen jemand oder etwas geprägte Meinung«. Eine Meinung, aha! Nach nicht weniger als 18 Wörtern zur näheren Bestimmung erfährt der Leser, dass es eine ist. Weiß er, bei »Meinung« angekommen, noch, was er alles über sie gelesen hat? Natürlich nicht; nicht einmal ein Gedächtniskünstler würde das schaffen. Liest er also zurück? Ja, wenn er wirklich interessiert ist; sonst vielleicht als einer unter hundert. Der Sender, wie er in der Linguistik heißt, hat also den Empfänger entweder geärgert oder vollkommen an ihm vorbeigeschrieben. Und dies ohne jede Not! Es gibt ein so einfaches,
schlüssiges, angenehm zu lesendes Satzmodell, das dieses Problem auf Anhieb löst. Der Schreiber nennt erst die Sache oder die Person – und dann ihre Eigenschaften: »Ein Vorurteil ist eine Meinung, die ...« Doch mit erhabener Gleichgültigkeit gegenüber dem Leser (oder mit perversem Stolz auf die souveräne Beherrschung eines grammatisch abgesegneten Unfugs) zelebrieren viele Berufsschreiber das Unzumutbare. In einer renommierten deutschen Zeitung so: »Die fast ausschließlich ästhetisch argumentierende und ob der Koproduktion von naturgemäß hehrem Kino und selbstredend unfeinem Fernsehen pikiert die Nase rümpfende Kritik ...« 20 Wörter zur näheren Bestimmungen einer unbekannten Sache, die dem Leser gleichsam auf dem Gnadenwege doch noch übermittelt wird. Besser: »Eine Kritik, die ...« Was für ein schönes, Klarheit schaffendes Instrument kann er sein, der angehängte Nebensatz! Er ist es nicht immer. Aber mit ein paar großartigen Exemplaren fangen wir an. ¤ Lektion 14
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Die schöne heikle Nebensache Es gibt kraftvolle Nebensätze, angemessene, willkommene – und ärgerliche auch. Die letzte Spielart ist die häufigste. Kraftvoll sind die, die in der Grammatik zwar Nebensätze heißen, nach Logik und Gewicht aber die andere Hälfte eines Hauptsatzes bilden: »Wer nicht hören will, muss fühlen«, oder: »Er schrie so laut, dass die Nachbarn ...« Konsekutivsätze heißen diese Sätze, die die Wirkung der anderen Satzhälfte beschreiben. Kraftvoll sind auch die sogenannten Modalsätze: Nebensätze, die die Mittel, die Umstände jener Handlung benennen, die sich im Hauptsatz vollzieht: »Sie ging an mir vorbei, als wäre ich Luft.« Sigmund Freud schrieb 1915 in einem Brief an Albert Einstein: Die schmerz-
liche Enttäuschung »über das unkulturelle Benehmen unserer Weltmitbürger« habe auf einer Illusion beruht: »In Wahrheit sind sie nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so hoch gestiegen waren, wie wir’s von ihnen glaubten.« Der typische angemessene Nebensatz ist der achte Satz des ALTEN TESTAMENTS. Nach den Schöpfungsakten des ersten Tages, in sieben Hauptsätzen vollzogen, erschuf Gott den Nebensatz: Er sah, »dass das Licht gut war«. Keine Handlung mehr, keine Hauptsache, sondern eine Pause, eine Erläuterung: Das ist die klassische Funktion eines angemessenen Nebensatzes. Bei Matthias Claudius: »Der Mann ohne die Frau ist ein alter Junggeselle, der am Fenster sitzt und die Kinder winseln hört, die er hätte haben können.«
(Fortsetzung auf Seite 24)
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Foto, S. 23 (Ausschnitt): Sammlung Rauch/Interfoto
Wie wir mit Nebensätzen umgehen sollten
SPRACHMEISTER (IV)
FRIEDRICH NIETZSCHE
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at man bemerkt, dass im Himmel alle interessanten Menschen fehlen?«, notierte er 1887, und im Jahr danach: »Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum.« Nicht nur in den rauschhaften Eruptionen der Sprache – auch in kargen Sätzen war Nietzsche Meister. »Was wollt ihr eigentlich Neues? – Wir wollen nicht mehr die Ursachen zu Sünden und die Folgen zu Henkern machen«, zog er die Summe seiner Lehre. Das war der Stil, wie er ihn seinen Zarathustra fordern ließ: »Sprüche sollen Gipfel sein. Die Luft dünn und rein, die Gefahr nahe und der Geist voll einer fröhlichen Bosheit.« Aufregender aber Nietzsches andere Sprache: die mit der Üppigkeit der Farben und der Klänge, der Zwischentöne, der Kapriolen, dem Feuerwerk der Ideen, die ihm den Weltruhm eintrug. »Vielleicht ist dies der stärkste Zauber des Lebens: Es liegt ein golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten über ihm, verheißend, widerstrebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. Ja, das Leben ist ein Weib!« Alles Glück aber ist ein Risiko: »Einer starken, kühnen, verwegenen Seele genießen; mit ruhigem Auge und festem Schritt durch das Leben gehen, immer zum Äußersten bereit wie zu einem Feste und voll des Verlangens nach unentdeckten Welten und Meeren, Menschen und Göttern; auf jede heitere Musik hinhorchen ... und im tiefsten Genusse des Augenblicks überwältigt werden von Tränen und von der ganzen purpurnen Schwermut des Glücklichen: Wer möchte nicht, dass das alles gerade sein Besitz, sein Zustand wäre! Aber ... mit diesem Glück Homers in der Seele ist man auch das leidensfähigste Geschöpf unter der Sonne! Und nur um diesen Preis kauft man die kostbarste Muschel, welche die Wellen des Daseins bisher ans Ufer gespült haben.« Das war er, »der Virtuose ohnegleichen«, wie Walter Jens ihn nannte, für Gottfried Benn »seit Luther das größte deutsche Sprachgenie«; und Thomas Mann resümierte: »Goethe und Nietzsche führten die deutsche Sprache zur Vollendung.« Als der große Psychologe der Moral schrieb er so: »Der Mensch, der sich, aus Mangel an äußeren Feinden und Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmäßigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriss, verfolgte, annagte, aufstörte, misshandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stoßende Tier, das man ›zähmen‹ will, dieser Entbehrende und vom Heimweh der Wüste Verzehrte, der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folterstätte, eine unsichere und gefährliche Wildnis schaffen musste – dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangene wurde der Erfinder des ›schlechten Gewissens‹ ..., dieser unheimlichsten und interessantesten Pflanze unserer irdischen Vegetation.« Leser fand er zu Lebzeiten wenige. »Noch in meinem 45. Lebensjahr geben mir Gelehrte der Basler Universität in aller Gutmütigkeit zu verstehen, die literarische Form meiner Schriften sei der Grund, warum man mich nicht lese«, schrieb er ein Vierteljahr vor dem Ende – »ich sollte es anders machen.« Doch er zog die Entzückungen der großen Prosa vor: »Nein! Das Leben hat mich nicht enttäuscht! Von Jahr zu Jahr finde ich es vielmehr wahrer, begehrenswerter und geheimnisvoller – von jenem Tage an, wo der große Befreier über mich kam: jener Gedanke, dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe – und nicht eine Pflicht, nicht ein Verhängnis, nicht eine Betrügerei!« Noch aus seinen Briefen vor dem Zusammenbruch im Januar 1889 leuchten Sätze hervor wie der Hymnus »Singe mir ein neues Lied! Die Welt ist verklärt, und alle Himmel freuen sich.« Und im letzten Brief, den er an seinen väterlichen Freund Jacob Burckhardt richtete: »Da ich verurteilt bin, die nächste Ewigkeit durch schlechte Witze zu unterhalten ...« (Was er damit begründen wollte, erfahren wir nicht mehr.) Also vielleicht doch ein interessanter Mensch im Himmel? Jedenfalls einer, dem Burckhardt nachrief: »Nietzsche hat die Freiheit in der Welt vermehrt.«
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DIE ZEIT
Friedrich Nietzsche (1844–1900) gilt als einer der bedeutendsten Philosophen. Er lebte von 1869 an in der Schweiz, später in Italien und Jena. Er kritisierte die traditionellen Moralvorstellungen und wurde zum Wortführer des aufkommenden Nihilismus in Europa. 1889 erlitt er einen psychischen Zusammenbruch und war fortan arbeitsunfähig; Mutter und Schwester pflegten ihn bis zu seinem frühen Tod. Zu seinen Haupt werken zählen »Also sprach Zarathustra«, »Zur Genealogie der Moral«, »Der Antichrist« und »Ecce homo«
DIE SÄTZE
(Fortsetzung von Seite 22)
Willkommen sind Nebensätze, wenn sie den Satz von zwei Missbräuchen befreien: den Nominalkonstruktionen ¤ Lektion 12 und den gehäuft vorangestellten Attributen ¤ Lektion 13.
leimt«. Das kann man meistern wie Siegfried Kracauer: »An das Nichtmalenkönnen werden, seit es eine eigene Kunstform geworden ist, immer höhere Anforderungen gestellt.« Meist sollte man es bleiben lassen.
Die ärgerlichen Nebensätze sind von fünferlei Art:
5. Ein spärlicher Hauptsatz wird in einem Sumpf von Nebensätzen ersäuft – ein beliebtes Modell in Wirtschaft, Wissenschaft und Feuilleton.
1. Sie enthalten, anders als im 1. BUCH MOSE, eine Handlung – oder gar die Hauptsache (»Ich entdeckte, dass das Nachbarhaus in Flammen stand«) – oder eine gleichberechtigte zweite Hauptsache: »Zehn Jahre lang führten die Firma zwei Brüder, die heute zerstritten sind« – statt: »und heute sind sie zerstritten«. 2. Sie sind länger als der Hauptsatz. »Sie glauben gar nicht, welch ein elender Abklatsch schlechter Romane das Leben ist« (Joseph Roth) – das geht noch, das Verhältnis ist 4 : 9, und schön gesagt ist es sowieso. Aber Zeitungen und erst recht Protokolle schmücken sich gern mit der Relation 2 : 50. »Meyer betonte, ...« damit ist der Hauptsatz beendet, und alles Wichtige – nämlich das, was Meyer betonte – wird in einen Bandwurm von Nebensatz geschoben. 3. An den Hauptsatz ist eine Nebensache angekleistert, die keinen Bezug zur Hauptsache hat – ein Klassiker in Geburtstagswürdigungen, wenn der Autor ein Detail noch unterbringen möchte: »In der Rolle des Hamlet brillierte wie immer Max Meyer, der fließend Chinesisch spricht.« 4. Der Nebensatz wird in den Hauptsatz hineingezwängt: Der Schreiber unterbricht den eigenen Textfluss durch die Abfolge A1 – B – A2. In freier Rede ist das fast unbekannt, und schriftlich hat man damit, nach Schopenhauer, »eine Phrase in die andere ge-
Beispiel von 2012 aus einer renommierten deutschen Zeitung: Der Satz beginnt mit einem vorangestellten Nebensatz von 9 Wörtern, in den ein Unternebensatz von 11 Wörtern eingeschoben ist, in den ein Unterunternebensatz von 8 Wörtern eingeschoben ist: »Dass ein Mann, dem man einen frühen Tod geweissagt hatte und dem es gelang, dies mit menschlicher, technischer Hilfe Lügen zu strafen, die Niederlagenstimmung der Physik überwinden half,« – nun folgt der Hauptsatz, 6 Wörter lang, im Gewirr der Wörter nicht ganz leicht zu finden – »ist so erfreulich wie die Tatsache,«– über so viel Hauptsatz offenbar erschrocken, hängt der Schreiber sogleich einen Nebensatz von 15 Wörtern an, durch einen eingeschobenen Unternebensatz von 10 Wörtern verschönert – »dass derselbe Mann Leuten, deren Handicap beim Verstehen des Kosmos größer ist als seines, mit Büchern wie EINE KURZE GESCHICHTE DER ZEIT zu Hilfe kam.« Relation Hauptsatz : Nebensatz – 6 : 53. Simultandolmetscher: Aus dem Deutschen zu übersetzen ist wahrlich eine Katastrophe. Autor: vermutlich stolz, dass er auf dem Hochseil der Grammatik Pirouetten drehen kann. Leser: weg.
Paul Klee: »Villa R«, 1919
Abb. (Ausschnitt): akg-images
(Detail)
DIE ZEIT
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DIE SÄTZE
LEKTION 15
Wie lang darf ein Satz sein? So lang, wie ihn unser Atem trägt Höchstens 15 oder 20 Wörter! So lautet eine Faustregel, die in Redaktionen und Stilfibeln gilt.Vernünftig ist sie insofern, als sie ein verschachteltes Satzgebilde etwa von 40 Wörtern – Alltag im Amtsdeutsch – zuverlässig verhindert; ganz richtig ist sie nicht. Erstens, weil auch kurze Sätze hässlich sein können (»Vor dem Verzehr vor dem Essen wird gewarnt«); zweitens, weil gar nicht die Länge eines Satzes über seine Verstehbarkeit und seine Kraft entscheidet, sondern die Frage, ob er schlank und überschaubar ist, nicht behängt mit den Girlanden eingeschobener Nebensätze ¤ Lektion 14, nicht vollgestopft mit vorangestellten Attributen ¤ Lektion 13. Einer der übermütigsten Sätze deutscher Sprache besteht aus sage und schreibe 187 Wörtern und ist von Schopenhauer. In seiner META PHYSIK DER GESCHLECHTSLIEBE häuft er zwischen zwei Punkten 16 Gründe, warum die Liebe eine Verirrung, ja »ein feindseliger Dämon« sei – mit dem Fazit: »Es handelt sich ja bloß darum, dass jeder Hans seine Grete finde.« Für unsern Alltag gilt, ebenso wie für die Poesie: Fettfrei sollten die Sätze sein, vorwärtstreibend. »Freundschaft, Liebe, Stein der Weisen, diese dreie hört’ ich preisen,und ich pries und suchte sie, aber ach: Ich fand sie nie.« Simpel, temporeich und von Heinrich Heine; und auch in der Prosa sollten wir uns dem zu nähern versuchen. Im Deutschen steht dem eine Tücke der Grammatik entgegen, die Deutsch lernende Ausländer zur Verzweiflung treibt, und auch muttersprachliche Leser scheucht sie häufig aus dem Text: dass wir die Teile eines zweiteiligen Verbums (ich werde ... kommen, ich möchte ... machen) nicht beisammen lassen müssen (I have helped my father, ich habe meinem Vater geholfen), ja die zweite Hälfte des Verbums, die erst den Sinn stiftet, in beliebigem Abstand nachhinken lassen dürfen; um 27 Wörter zum Beispiel in einem Geschäftsbericht von 2012: »In dem Magazin werden mittels modernster Internet-Technologie die Megatrends der Zukunft wie beispielsweise eine steigende Anzahl von Herz-Kreislauf-Krankheiten, ein wachsender Bedarf an hochwertigen Nahrungsmitteln und die Kohlendioxyd-Problematik angesprochen.« Was hier fehlt, ist zum Ersten jeder Instinkt für eine Ausdrucksweise, die unverkrampft und ans Mündliche angelehnt, also leserfreundlich wäre – und zum Zweiten die Kenntnis der Grundeinsicht einer exakten Wissenschaft, der Verständlichkeitsforschung (niemand bestreitet sie, aber die meisten Berufsschreiber, auch die Deutschlehrer igno-
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rieren sie): Die Speicherkapazität unseres Kurzzeitgedächtnisses, die Fähigkeit also, zwei Wörter als zusammengehörig zu erkennen, wie es die zwei Teile eines Verbums sind – sie endet bei 6 bis 7 Wörtern. So zum Beispiel: »Mittels modernster InternetTechnologie werden in dem Magazin die Megatrends der Zukunft angesprochen, beispielsweise ...« Natürlich: 7 Wörter, das ist eine grobe Zahl, berechnet für eine diffuse Leserschaft. Kurios nur: Die meisten großen Autoren deutscher Sprache – nicht Kleist, nicht Thomas Mann, nicht Thomas Bernhard, doch die meisten eben – haben sich vor aller Wissenschaft instinktsicher genau so verhalten. Vorwärtstreibend schrieben sie: Wie Schiller in der GESCHICHTE DES AB FALLS DER NIEDERLANDE: »Die Mannschaft war zahlreich, ihr Mut verzweifelt, fest ihr Vertrauen auf Entsatz und ihr Hass gegen die katholische Religion aufs Äußerste gestiegen.« Wie Siegfried Lenz in der DEUTSCHSTUN DE: »Ich erzähle keine beliebige Geschichte, denn was beliebig ist, verpflichtet zu nichts. Deshalb bestehe ich auf einem drückenden Himmel, auf verschleierter Luft und schwacher Sonne, ich lasse uns arbeiten unter den Geräuschen einer gemäßigten Brandung, das Schilf rauscht, ein Vogelzug formiert sich, das Moor kocht seine blasige Suppe.« Das war 1968, und seitdem hat sich das Textangebot mithilfe des Internets vervielfacht, die Bereitschaft zu geruhsamem Lesen aber im Gleichschritt vermindert. Wir haben also allen Grund, die 7 Wörter, die für die Forschung ein Gesetz sind, wenigstens als Faustregel in Ehren zu halten. Sie gilt ebenso für den Abstand zwischen Subjekt und Prädikat, für die Antwort auf die Frage also: Wer tut was? Und es ist kaum zu fassen, mit welcher Gleichgültigkeit gegen den Leser viele Schreiber zu Werke gehen. Da will uns die BROCKHAUS ENZYKLOPÄ DIE von 2006 die »Erinnerungskultur« definieren. Sie wird vorgestellt als ein Begriff der Kulturwissenschaft, »der sich vor dem Hintergrund einer ... in Anschluss an ... zu einem Schlüsselbegriff der Diskussionen um ... sowie die Bedeutung von ... im Hinblick auf ... (und nach 63 Wörtern) entwickelt hat«. Pervertierung der deutschen Grammatik. Sie beherrschen sollte auch heißen: sie zähmen können.
DIE ZEIT
DIE SÄTZE
LEKTION 16
Mit Satzzeichen Musik machen Es gibt mehr als Punkt und Komma »Irme yo con él más? Mal año!« Ein muchacho ruft das in DON QUIJOTE: »Ich noch mit ihm gehen? O weh!« Mit den doppelt gesetzten Frage- und Ausrufezeichen zeigt uns das Spanische: So wichtig kann man es finden, dem Leser schon am Anfang des Satzes das Signal zu geben: »Hebe die Stimme!« Denn in beiden Fällen tun wir das, unwillkürlich auch beim stummen Lesen. Deutsche Schreiber, zumal der jüngeren Generation, haben sich dem Gegenteil verschrieben: Punkte sonder Zahl, Kommas nach Gusto, die anderen fünf Satzzeichen am besten überhaupt nicht mehr. »So nicht, schrie sie« – als ob wir nicht ein Schreizeichen hätten, geeignet, auch schläfrige Leser aufzuwecken! Ja, man muss lesen, nicht nur die Wörter, auch die Satzzeichen; ein Beispiel: »Dafür sprechen drei Gründe.« Den Doppelpunkt zu unterschlagen, den die Grammatik eben hier vorsieht, ist grotesk: Nun folgen sie doch, die drei Gründe! Jeder Leser würde das im Augenwinkel spüren und so durch den Text gezogen werden. Der Punkt gibt das gegenteilige Signal: Ein Gedanke ist offenbar abgeschlossen, senke die Stimme, hole Luft. Da das Nichtweiterlesen, jedenfalls das Nichtzuendelesen in der Zeitung, auf dem Bildschirm und bei unverlangten Briefen das
statistische Normalverhalten ist, sollte jeder Schreiber den Punkt als Problem erkennen: Habe ich schon etwas gesagt, was meinen Leser animieren könnte, mir sein Interesse zu gönnen, auch über diese kleine Zäsur hinweg? Rousseau hätte seinen GESELLSCHAFTS VERTRAG natürlich so eröffnen können: »Der Mensch ist frei geboren.« Aber das wäre eine Allerweltsbehauptung gewesen. Und so setzte er den Punkt erst, nachdem er eine Spannung aufgebaut hatte: »... ist frei geboren und liegt doch überall in Ketten.« Einladung an alle Schreiber, die sich Leser wünschen: Messen Sie an diesem Beispiel, ob Sie schon genug gesagt haben, damit der Leser Ihren Punkt nicht als Einladung zum Aufhören benutzt. Sieben Satzzeichen haben wir, um die Melodie der mündlichen Rede in den geschriebenen Text zu holen. Wer fünf davon ignoriert, ist entweder schlecht beraten oder an Lesern nicht ernstlich interessiert. Sogar das Semikolon sei empfohlen: »Ich habe es satt, die Menschen zu durchschauen; es ist so leicht, und es führt zu nichts.« Der Strichpunkt gibt das Signal: Hole kurz Atem – aber zu Ende ist mein Gedanke nicht! Elias Canetti hat (zugegeben, nicht speziell für diesen Satz) den Nobelpreis bekommen.
LEKTION 17
Gliedern kann nicht schaden Erst denken, dann schreiben Wer einem anderen schriftlich mehr als einen Gedanken übermitteln will (zwei oder drei etwa, und das ehrt ihn ja), der tut gut daran, sie erkennbar zu gliedern: zwei zum Beispiel durch ein »zwar ... aber«; drei, indem er sie auf drei Absätze verteilt – für Briefe, Kommentare, Bewerbungen sind die ohnehin das ideale Maß. Dies zu unterlassen, aus einer Fülle von Aspekten einen Brei anzurühren kann bis zur völligen Zerstörung des Kommunikationszwecks führen – wie im BROCKHAUS unter »Fremdenfeindlichkeit«. Zu deren Erklärung werden »mangelnde politische Bildung in Bezug auf Toleranz und Zusammenleben in einer offenen, pluralistischen Gesellschaft, die schwindende Bindekraft der herkömmlichen Parteien und politischen Lager und nicht zuletzt mangelnde politische Steuerung oder die mehr oder weniger bewusste Manipulation von F. zur jeweils eigenen Interessendurchsetzung« genannt. Zu wenig Bildung, Bindekraft und Steuerung und dazu Manipulation: vier Gründe also, ersäuft in einem Sumpf von 42 Wörtern, dem Sechsfachen unseres Aufnahmevermögens ¤ Lektion 15. Hätte die Fülle der Gründe nicht
DIE ZEIT
nach einem Doppelpunkt gerufen mit vier Sätzen dahinter – oder nach Spiegelstrichen? Einem optischen Zwang zur Gliederung unterwarf sich einst Rudolf Walter Leonhardt in der ZEIT: Seine Kommentare waren gegliedert in »Pro«, »Contra« und »Conclusio« – über die 1984 aktuelle Frage »Soll es Soldatinnen geben?« zum Beispiel so: Pro: Gleichberechtigung, natürlich. Contra: Aber für diesen Fall ist sie im Grundgesetz eben nicht vorgesehen. Conclusio: Die Forderung nach Soldatinnen überschreite »die schmale Grenze zwischen Gleichberechtigung und Gleichmacherei«. So viel Überschaubarkeit bleibt vorbildlich, auch wenn sie sich nicht in Zwischenüberschriften mitteilt. Ist es nicht eine Wohltat, einen Text zu lesen, dessen Schreiber offensichtlich nachgedacht hat, bevor er ihn in die Schreibmaschine hämmerte? Dass es mit dem Computer dramatisch viel einfacher geworden ist, die Gedanken, die Textblöcke nachträglich neu zu gruppieren, hat neben seinen Vorzügen einen Nachteil: die Versuchung, sich die Mühe des Denkens vor dem Schreiben zu ersparen. Vieles, was durchs Internet geistert, ist auch danach.
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DIE HOHE SCHULE
LEKTION 18
Die Kunst des Anfangs Nach 20 Sekunden ist alles vorbei Alle Zuwendung an den Leser lässt sich mit einem einzigen Satz zunichtemachen: dem ersten – wenn er abstoßend oder zum Gähnen ist. Zeitungsleser hüpfen dann rasch zum nächsten Text, Bewerber mindern ihre Chancen, und gedruckte Briefe, Prospekte, Angebote sind schon zum Papierkorb unterwegs. »Käse, Kondome, Kruzifixe« – darf ein Zeitungsartikel so beginnen, und würde man ihn ausgerechnet in der FAZ vermuten? Einige Leser wären angewidert, viele irritiert; die meisten aber wären neugierig auf die Fortsetzung, und sie stand im selben ersten Satz: »– es gibt nichts, was Brüssel in seiner Kompetenzgier nicht regeln will.« Schon ist der Text seriös geworden, und etwas Kostbares hat er gewonnen: Aufmerksamkeit! Dafür hat er keinen zweiten Anlauf frei. »You never get a second chance to make a first impression«, heißt ein Leitspruch amerikanischer Journalisten, und sie haben recht. Bücherleser sind meist geduldiger und mit einem Satz noch nicht zu verscheuchen – wohl aber kaum animiert, wenn sie in KRIEG UND FRIEDEN als Erstes lesen müssen: »Eh bien, mon prince, Genua und Lucca sind weiter nichts als Apanagegüter der Familie Bonaparte.« Oder in den BUDDENBROOKS: »Was ist das? Was – ist – das. Je, den Düwel ook, c’est la question.« Moderner schon in ANNA KARENINA: »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; unglücklich ist jede auf ihre eigene Art.« Grandios in Kafkas VERWANDLUNG: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.« Frech im BUTT von Günter Grass: »Ilsebill salzte nach. Bevor gezeugt wurde, gab es Hammelschulter zu Bohnen und Birnen.« Und einen wirklich hübschen Einfall hatte Johannes Mario Simmel, als er seinen Bestseller von 1960 (ES MUSS NICHT IMMER KAVIAR SEIN) mit dem Satz eröffnete: »Wir Deutschen, liebe Kitty, können ein Wirtschaftswunder machen, aber keinen Salat.«
DIE ZEIT
Schön, wenn selbst Bücher so beginnen, obwohl sie den Paukenschlag weniger nötig haben. Für alle kürzeren Texte gilt: Schreckt der erste Satz wenigstens nicht ab (durch Kopfgeburten der Grammatik, Inhaltslosigkeit oder drei asiatische Eigennamen), so bleibt dem Schreiber eine Chance, das Weiterlesen zu erlisten. Meist erst nach gehörten 20 Sekunden, gelesenen 350 Zeichen fällt die Entscheidung – ein durchschnittliches Leseverhalten, das die Praxis erprobt und die Wissenschaft ermittelt hat. Amerikanische Firmen rüsten sich dafür mit dem Bild vom elevator check: Der kleine Angestellte trifft im Fahrstuhl den großen Chef und hat nun realistisch geschätzte 20 Sekunden Zeit, um sich oder sein Anliegen bei ihm interessant zu machen. Genau so, heißt die Nutzanwendung, müssen wir mit unseren Kunden umgehen: In jedem Brief, Angebot, Prospekt müssen sie binnen 350 Zeichen erfahren haben, was wir bieten und warum sie weiterlesen sollen. Und wirklich: Mit 350 Zeichen lässt sich viel erzählen. In zwei Porträts historischer Figuren zum Beispiel so – in der Zeitschrift P.M.: »Dies ist ein Drama aus Tollkühnheit, Korruption und massenhaftem Sterben – geschrieben von einem der begabtesten Traumtänzer der Weltgeschichte. Er hieß Ferdinand Vicomte de Lesseps, sonnte sich im Weltruhm als Erbauer des Suezkanals und heiratete mit 65 eine 20-jährige üppige Schönheit aus Martinique, der er emsig Kinder machte, zwölf an der Zahl.« (351 Zeichen) Oder ein Porträt des Casanova in der WELTWOCHE: »Er war Doktor beider Rechte, Lotterie-Einnehmer, Falschspieler, Hochstapler, Ritter des päpstlichen Ordens vom Goldenen Sporn und Geheimagent der venezianischen Inquisition. Vom Sex war er besessen, und ob er verführte oder bezahlte, schien ihm fast egal. Zwei Päpste und eine Kaiserin empfingen ihn, die drei Könige gar nicht gerechnet. Mit Friedrich dem Großen schlenderte er durch den Park von Sanssouci.« (408 Zeichen) Wer so zunächst gewonnen ist, neigt freilich immer noch dazu, später irgendwo mit dem Lesen aufzuhören. Wie man dem entgegenwirken kann, davon gleich mehr. ¤ Lektion 19 und 20
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SPRACHMEISTER (V)
FRANZ KAFKA
D E R
H E I M LI C H E
KÖ N I G
J
edes Wort, ehe es sich von mir niederschreiben lässt, sieht sich zuerst nach allen Seiten um.« Das schrieb Franz Kafka an Max Brod, seinen Freund und späteren Herausgeber – eine klassische Einladung an alle, die die Sprache lieben, es beim Schreiben ebenso zu halten; ausgedrückt in einem verblüffenden Bild vor einem Hintergrund von Angst – in jener Mischung also, die dazu beitrug, dass Kafka »der heimliche König der deutschen Prosa« wurde (so Hermann Hesse) und dass sein Werk im 20. Jahrhundert der großartigste Beitrag der deutschen Sprache zur Weltliteratur war; neben – viele sagen: vor – Thomas Mann.
Franz Kafka (1883–1924) wurde in Prag geboren und entstammt einer bürgerlichen jüdischen Familie. Er war Jurist und Versicherungsbeamter und litt die letzten sieben Lebensjahre an den Folgen einer Kehlkopftuberkulose. Er veröffentlichte nur einige wenige Erzählungen. Seine Schreibweise ist von einer Lakonie, die düster und unheilvoll den gesellschaftlich entwurzelten Menschen beschreibt. Sein Freund, der Schriftsteller Max Brod, gab posthum die zumeist unvollendeten Romane heraus
Kafkas Wortschatz war unauffällig, dem tschechisch-jüdischen Milieu, in dem er aufwuchs, abgetrotzt; sein Satzbau unprätentiös; der Stoff seiner Briefe vor allem das Leiden: an seinem vierschrötigen Vater, der ihn verachtete; am Gefängnis seines mageren, kranken Leibes; an der ganzen Unheimlichkeit der Welt; und an der hoffnungslosen Liebe. »Ich erschrecke, wenn ich höre, dass Du mich liebst«, schrieb er an Felice, mit der er zweimal verlobt war; »aber wenn ich es nicht hören sollte, wollte ich sterben.« Und: »Gute Nacht, mein liebstes Mädchen, bleibe mir treu, solange es Dir keinen übergroßen Schaden bringt, und wisse, dass ich Dir angehöre wie ein beliebiges Ding, das Du in Deinem Zimmer hast.« Überwältigend naiv reduzierte er eine Riesenstadt auf die paar Quadratmeter, die ihn nur deswegen faszinierten, weil seine Brieffreundin Milena dort wohnte: »Ich sah heute einen Plan von Wien, einen Augenblick lang schien es mir unverständlich, dass man eine so große Stadt aufgebaut hat, während Du doch nur ein Zimmer brauchst.« Milena aber, die Verheiratete, in Wien zu besuchen, das hieße: Er würde nur die Maus sein, »der man höchstens einmal im Jahr erlauben kann, offen quer über den Teppich zu laufen«.
Foto (Ausschnitt): Fototeca/Leemage
In allen Briefen, in den Werken ebenso, niemals ein abstraktes Wort, niemals eine akademische Floskel, immer Farbe, Bilder, Überraschung, Kraft – ob in der Liebe, in der Verzweiflung oder im Galgenhumor. »Silvester«, schrieb er aus dem Sanatorium an seine Schwester Ottla, »habe ich gefeiert, indem ich aufgestanden bin und dem Neuen Jahr die Stehlampe entgegengehalten habe. Feurigeres kann niemand im Glase haben.« Über seine Magerkeit (an Milena wieder): »Wissen Sie denn nicht, dass nur die Dicken vertrauenswürdig sind? Nur in diesen starkwandigen Gefäßen wird alles zu Ende gekocht, nur diese Kapitalisten des Luftraums sind ... geschützt vor Sorgen und Wahnsinn ..., und sie allein sind als eigentliche Erdenbürger auf der ganzen Erde verwendbar, denn im Norden wärmen sie und im Süden geben sie Schatten.« Bildhaft tastete Kafka sich auch an das Unsagbare heran: »Wenn man schlecht geschlafen hat, fragt man und weiß nicht was. Ewig wollte man fragen, Nichtschlafen heißt ja fragen; hätte man die Antwort, schliefe man .... Manchmal, wenn man früh aufwacht, glaubt man, die Wahrheit sei knapp neben dem Bett, nämlich ein Grab mit ein paar welken Blumen, offen, zum Aufnehmen bereit .... Man ist eben als biblische Taube ausgeschickt worden, hat nichts Grünes gefunden und schlüpft nun wieder in die dunkle Arche.« Während die Tuberkulose voranschritt, an der er mit 40 Jahren starb, schrieb er an Max Brod: »Manchmal scheint es mir, Gehirn und Lunge hätten sich ohne mein Wissen verständigt. ›So geht es nicht weiter‹, hat das Gehirn gesagt, und nach fünf Jahren hat sich die Lunge bereit erklärt, zu helfen.« In einem Brief an die Schwester aus dem Sanatorium zog er Bilanz: »Die Anstalt ist für mich wie ein Federbett, so schwer wie warm. Wenn ich hinauskriechen würde, käme ich sofort in die Gefahr, mich zu verkühlen. Die Welt ist nicht geheizt.«
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DIE ZEIT
DIE HOHE SCHULE
LEKTION 19
Die Kraft der Bilder Sie schaffen Farbe und Wärme »Hinter dieser kalten Frackbrust schlägt ein Herz aus Stein.« Zynisch hat das über sich selbst Rudolf Bing gesagt, Intendant der New Yorker Metropolitan Opera von 1950 bis 1972 – und eines mit Sicherheit bewirkt: Dergleichen überhört und überliest man nicht.
nach einem besonders gut versteckten Osterei«. Der Büchner-Preisträger Durs Grünbein antwortete auf die Frage »Was ist eigentlich Kultur?«: »Ich habe einen Verdacht, der mit dem Unterschied zwischen Mozart und Mozartkugeln zusammenhängt.«
Bilder sind gut und verblüffende Bilder noch besser. Wo die Anschaulichkeit der Wörter (¤ Lektion 3) sich zur Bildhaftigkeit der Aussage steigert, da ist gegen den stets fluchtbereiten Leser die Angel ausgeworfen.
In Sprichwörtern sind die Bilder ohnehin zu Hause wie in dem aus Russland: »In des anderen Weib tut der Teufel einen Löffel Honig.« Intellektuelle lieben sie, wie Karl Kraus: »Nachts am Schreibtisch«, schrieb er, »würde ich die Anwesenheit einer Frau störender finden als die Anwesenheit eines Germanisten im Schlafzimmer.« Ungebremst böse Walter Benjamin: »Echte Polemik nimmt ein Buch sich so vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.«
So vom STERN, als er kürzlich Anshu Jain porträtierte, den neuen Chef der Deutschen Bank: »Er beantwortet Mails so schnell, wie eine Kobra zubeißt.« Oder einst von dem Wiener Feuilletonisten Anton Kuh, der einem ungarischen Gentleman das Kurzporträt widmete: »Er sah aus wie eine Kreuzung aus dem Polizeipräsidenten von Budapest mit einem, den er sucht.« Mit dramatischer Wucht in der Charakteristik Lenins durch Vladimir Nabokov: »Er war eine Milchkanne voll menschlicher Freundlichkeit mit einer toten Ratte am Boden.«
Die Beispiele haben eine Schwäche: Für das, was unsereiner so schreibt, eignen sie sich kaum. Aber als Leuchtfeuer sollten wir sie benutzen. Denn immer geht es darum, sagt der schwedische Lyriker Tomas Tranströmer, Nobelpreisträger 2011, »einen eiskalten Leser zu wärmen. Er ist ja nicht bereit. Alle Wärme muss sich im Text finden.« Und nicht aus warmen Worten – aus Bildern steigt die Wärme auf. Wie in dieser klassischen Passage aus der BLECHTROMMEL:
Nach solchen Bildern, Gott sei Dank, ruft die Wirklichkeit nicht oft; und nicht jede bildhafte Sprache ist gut, bloß weil sie das Simple in ein Gleichnis oder eine Metapher übersetzt. Es gibt abgedroschene Vergleiche wie den von der »Spitze des Eisbergs«; aus dem Überdruss an ihm ist die spöttische Abwandlung entstanden: »Auch Eisberge kochen nur mit Wasser.« Ähnlich bei der längst überreizten Metapher »Stellenwert«: Die früher genutzten Wörter Rang, Rolle, Bedeutung wirken inzwischen vergleichsweise frisch.
»Wir kamen in den viertletzten Wagen. Herr Fajngold stand mit dünnem rötlich wehendem Haar unter uns auf den Gleisen, trat, als die Lokomotive durch einen Stoß ihre Ankunft verriet, näher heran, reichte Maria drei Päckchen Margarine und zwei Päckchen Kunsthonig, fügte, als polnische Kommandos, Geschrei und Weinen die Abfahrt ankündigten, dem Reiseproviant noch ein Paket mit Desinfektionsmitteln hinzu – Lysol ist wichtiger als das Leben –, und wir fuhren, ließen den Herrn Fajngold zurück, der auch richtig und ordnungsgemäß, wie es sich bei der Abfahrt von Zügen gehört, mit rötlich wehendem Haar immer kleiner wurde, nur noch aus Winken bestand, bis es ihn nicht mehr gab.«
Sogar von hässlichen Bildern sind wir umstellt wie in der Redensart »Alles in Butter«: Sie lebt geradezu davon, dass man sich diese Scheußlichkeit nicht ausmalt. Journalisten erfinden in jedem Winter die »Kältewelle«, die Todesopfer »fordert«; dass da Menschen erfroren sind, wäre nicht nur die schlichtere, sondern auch die prallere Ausdrucksweise.
Zum Schluss die Frage: Wie könnte man am farbigsten den Weltuntergang beschreiben? Am 21. Dezember dieses Jahres soll die Welt ja mal wieder untergehen, die Maya haben das angeblich prophezeit in ihrer rätselhaften Schrift, und tatsächlich: Etliche Menschen rüsten sich dafür. Neben vielen anderen Irrtümern erliegen sie vermutlich auch diesem: Sie meinen, es müsse sich dabei um eine gigantische Inszenierung handeln, eine Art Hundert-Milliarden-Dollar-Produktion aus Hollywood.
Eine Journalistenweisheit ist plastisch geblieben: »Ein Dementi ist der Versuch, die Zahnpasta in die Tube zurückzudrücken.« Auch werden neue Bilder gemalt wie im SpontiSpruch über die Zeitmode »Selbstfindung«: Das heiße offenbar »nach sich selber suchen wie
Eher aber könnte der Apostel Paulus recht gehabt haben, als er an die Thessalonicher schrieb: »Der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht.« Ein »wie«, dann fünf einsilbige Wörter – das gibt ein Bild: So macht man das. Auf der Welt und bei ihrem Untergang.
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Der Wille zum Verzicht Wenn alles gesagt ist, sollte der Text enden Manchmal schreiben wir zu wenig: wenn wir es nämlich unterlassen, eine Neuigkeit, einen schwierigen Sachverhalt in einem zweiten Anlauf zu erläutern oder durch ein Beispiel zu beleben. Meistens schreiben wir zu viel (vom Reden zu schweigen) – gemessen am Interesse jener Menschen, die wir uns als Zuhörer oder Leser wünschen. Aus den Parlamenten kennen wir die Sprechblasen, das geblähte Nichts: dass einer sich dem hohen Gut der Volksgesundheit voll und ganz verpflichtet fühlt! Auch die Billionen Wörter, die auf Erden täglich geplappert werden, brauchen uns nicht zu interessieren. Wer aber gelesen werden will, der sollte die Worte wägen. Mit Schwätzern und Langweilern haben Leser keine Geduld. Die Floskel »der langen Rede kurzer Sinn« zum Beispiel sollten wir nie niederschreiben, denn damit hätten wir uns bezichtigt, einen kurzen Sinn zuvor zu einer langen Rede ausgewalzt zu haben. Von den Füllwörtern, von denen die mündliche Rede überquillt (ja, doch, nun, sozusagen, irgendwie), sollten wir nur die zulassen, die Würzwörter zu heißen verdienen, in der Stilistik Abtönungspartikel genannt: ein »nämlich« oder »eigentlich« zur rechten Zeit. Und wenn alles gesagt ist, sollten wir die Kraft haben, aufzuhören.
Wer twittert, muss das sowieso. Blogger haben alle Freiheit – und nutzen sie: beliebige Länge, ungeplant, unkorrigiert, zwischen Gesprochenem und Geschriebenem fast keine Grenze mehr. Dass sie oft schon für ihren zweiten Satz keinen Leser mehr finden werden, stört viele Blogger offensichtlich nicht; mehr scheint es ihnen darauf anzukommen, »dass sie ihre Existenz weit und breit um sich kundmachen« – Immanuel Kant sagte das 1786 allen »lärmenden Unterhaltungen« nach. Und schon wirkt die Beiläufigkeit des Gebloggten, der oft schlaffe Wunsch nach Lesern aufs Geschriebene zurück. Ein Text des Schriftstellers Ingo Schulze, den die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG kürzlich publizierte, begann mit dem Satz: »Seit etwa drei Jahren habe ich keinen Artikel mehr geschrieben, denn ich weiß nicht mehr, was ich noch schreiben soll.« Wunderbar! Da greift Schopenhauers »erste Regel des guten Stils: dass man etwas zu sagen habe. O, damit kommt man weit!«
Abb. (Ausschnitt): Bridgemanart/© VG Bild-Kunst, Bonn 2012
Stuart Davis: »Pad No. 4«, 1947 (Detail)
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u entkleidest mich, kühner Knecht?« So herrscht Madame Houpflé Felix Krull, den Hotelboy, an – kurz bevor sie ihn anschmachtet: »Ah, ah, Du junger Teufel, glatter Knabe, ....Oh du Beseliger! ... Duze mich derb zu meiner Erniedrigung!« Mehr Satire war nie in der Liebe. Aber was ist sie zugleich? »Die Sympathie mit dem Organischen, das rührend-wollüstige Umfangen des zur Verwesung Bestimmten« (im ZAUBERBERG). Das ist ja das Eindrucksvollste an Thomas Mann: wie er über das Tragische und das Ironische, die doppelbödige Behäbigkeit und das blanke Feuer gleichermaßen gebietet. Einen Sturzbach lässt er auf den Leser niederprasseln in seinem Lobgesang auf Grimmelshausens SIMPLICISSIMUS: »Es ist ein Literatur- und Lebens-Denkmal der seltensten Art, ein Erzählwerk von unwillkürlichster Großartigkeit, bunt, wild, roh, amüsant, verliebt und verlumpt, kochend von Leben, mit Tod und Teufel auf du und du, zerknirscht am Ende und gründlich müde einer in Blut, Raub, Wollust sich vergeudenden Welt, aber unsterblich in der elenden Pracht seiner Sünden.« Von ähnlicher Spannung vibrieren seine Porträts – das des Moses am Anfang der Erzählung DAS GESETZ: »Seine Geburt war unordentlich, darum liebte er leidenschaftlich Ordnung, das Unverbrüchliche, Gebot und Verbot. Er tötete früh im Auflodern, darum wusste er besser als jeder Unerfahrene, dass Töten zwar köstlich, aber getötet zu haben höchst grässlich ist und dass du nicht töten sollst.« Ebenso die schauerliche Würdigung Friedrichs des Großen, den er 1915 zwar zu einem »Beauftragten des Schicksals« ernannte, ausgesandt, »um große, notwendige Erdendinge in die Wege zu leiten« – dem er aber zugleich den Abgesang bereitete: »Zuweilen möchte man glauben, er sei ein Kobold gewesen, der aller Welt Hass und Abscheu machte und alle Welt hineinlegte, ein ungeschlechtlicher, boshafter Troll, den umzubringen hundert Millionen Menschen sich vergebens ermatteten ..., worauf er unter Zurücklassung eines Kinderleibes wieder entschwand.«
Die Spannweite seiner Sprachkunst demonstrierte Thomas Mann noch einmal im DOKTOR FAUSTUS von 1947. Der, ein genialer Komponist, kehrt, umnachtet und gebrochen, in die Obhut seiner Mutter zurück: »Meine Überzeugung aber ist, dass das Mütterliche solche tragische Heimkehr bei allem Jammer nicht ohne Genugtuung, nicht ohne Zufriedenheit erfährt. ... Den Gestürzten, Vernichteten, ›das arme, liebe Kind!‹ nimmt sie, alles verzeihend, in ihren Schoß zurück, nicht anders meinend, als dass er besser getan hätte, sich nie daraus zu lösen.« 500 Seiten vorher aber waren wir Zeuge, wie der stotternde Künstler Wendell Kretzschmar einer kleinen, erlesenen Gemeinde eine Stunde und im Buch sieben Seiten lang erklärte, warum Beethoven zu seiner Sonate OPUS 111 keinen dritten Satz geschrieben habe: »Wir hätten, sagte er, das Stück nur zu hören brauchen, um uns die Frage selbst beantworten zu können. Ein dritter Satz? Ein neues Anheben – nach diesem Abschied? Ein Wiederkommen – nach dieser Trennung? Unmöglich! Es sei geschehen, dass die Sonate im zweiten Satz, diesem enormen, sich zu Ende geführt habe, zu Ende auf Nimmerwiederkehr. Und wenn er sage ›Die Sonate‹, so meine er nicht diese nur, in c-moll, sondern er meine die Sonate überhaupt, als Gattung, als überlieferte Kunstform.« Fünf Jahre später, mit 77, notierte Thomas Mann im Tagebuch: »Das Alter zeigt sich darin, dass die Liebe von mir gewichen scheint und ich seit Langem kein Menschenantlitz mehr sah, um das ich trauern könnte.« Doch den FELIX KRULL schrieb er weiter. Vormittags.
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Thomas Mann (1875–1955) wurde in Lübeck geboren und emigrierte zur NS-Zeit, 1933, zunächst in die Schweiz, dann in die USA. 1944 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Für seinen ersten Roman »Buddenbrooks« (1901) erhielt er 1929 den Literaturnobelpreis. Sein älterer Bruder Heinrich und drei seiner sechs Kinder, Erika, Klaus und Golo, waren ebenfalls Schriftsteller
Fotos: Bettmann/Corbis (S. 32, Ausschnitt), Fishman/ullstein (S. 33)
Seine Meisterschaft rang Thomas Mann unerbittlich den Vormittagen ab: Von neun bis zwölf schrieb er eine Seite Prosa, höchstens anderthalb, grübelnd, feilend; dies auch auf Reisen: so in Schweden am 3. September 1939, als England und Frankreich Hitler den Krieg erklärten (»Ich schrieb meine Seite wie gewohnt«). Nie setzte er dabei auf Inspiration: »Der Einfall als Überfall ist mir unbekannt«, notierte er 1928.
»P L AG T E UC H !« Ein klares, schönes Deutsch – das ist Wolf Schneiders Lebensthema Der Vater trug beim Sonntagsfrühstück gern Fröhliches und Freches von Wilhelm Busch, Christian Morgenstern oder Heinrich Heine vor – für einen Zehnjährigen kein schlechter Start in die deutsche Sprache. Mit 14 las Wolf Schneider die Buddenbrooks und träumte davon, selbst ein großer Schriftsteller zu werden. Stattdessen wurde er Journalist: Nachrichtenchef und Washington-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Verlagsleiter des sterns, Chefredakteur der Welt, Moderator der NDR Talk Show, Reporter bei Geo. 1979 bat ihn der Verleger Henri Nannen, die Hamburger Journalistenschule aufzubauen. Schneider leitete die spätere Henri-Nannen-Schule bis 1995. »Plagt euch, sonst müssen sich die Leser plagen«, impfte er seinen Eleven ein. Ein klares, schönes Deutsch zu lehren – das wurde sein Lebensthema. Seit dem Abschied von der Henri-Nannen-Schule bildet er weiter Journalisten in Deutschland, Österreich und der Schweiz aus, ist Sprachlehrer in Wirtschaft, Medien und Behörden. 1994 erhielt er den Medienpreis für Sprachkultur der Gesellschaft für deutsche Sprache. Seit 2007 ist er Honorarprofessor der Universität Salzburg. Und 2011 wurde er für sein publizistisches Lebenswerk mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet. Schneider ist Autor von 28 Sachbüchern, im Juli erscheint das nächste Buch: Die Wahrheit über die Lüge. Vor wenigen Tagen feierte er seinen 87. Geburtstag.
Weiterlesen Wolf Schneider: »Wörter machen Leute – Magie und Macht der Sprache«; Piper, 16. Auflage, München 2011 Wolf Schneider: »Deutsch für Kenner. Die neue Stilkunde«; Piper, 7. Auflage, München 2011 Wolf Schneider: »Gewönne doch der Konjunktiv! Sprachwitz in 66 Lektionen«; Rowohlt, 3. Auflage, Reinbek 2009
ÜBER DAS SCHREIBEN
Lob der Werkstatt Sprachliche Potenz ist nicht erlernbar. Aber Begabung allein reicht auch nicht, um ein guter Schriftsteller zu werden VON U W E T I M M
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Denkwerkzeug Der Schreibtisch von Uwe Timm
ann man Schreiben lernen? Ja, durch Übung. Kann man das literarische Schreiben lernen? Literaturkritiker, zumindest hier in Deutschland, sagen meist Nein. Das liegt in einer deutschen romantischen Tradition, diese Vorstellung vom Dichter, der eine Begabung in sich trägt, die auch unter widrigsten Umständen, wie im Fall Hebbel, ihren Weg zum Ausdruck findet. Ich höre noch Professor Kunisch in der Aula der Universität München unter dem Goldmosaik von Helios rufen: »Der Dichter ist geschlagen, das heilige Feuer muss auf ihn kommen.« Hölderlin war geschlagen. Benn auch. Brecht weniger. Döblin gar nicht. Die Frage nach der Begabung lässt sich allein vom literarischen Text beantworten. Wie ist er gestaltet, wie ist die Sprache organisiert, ist eine besondere, eigene Sprache gefunden? Auch die Wahl des Themas – Formalisten wollen das nicht wahrhaben – hat ihre ästhetische Bedeutung. Und dann: Ist es richtig und gut? Nicht alles, was in der Sprache richtig ist, muss auch literarisch gut sein. Camus erzählt in dem Roman Die Pest von einem Mann, der einen Roman schreiben will, aber über den ersten Satz nicht hinauskommt, da er ihn immer wieder um- und umschreibt. »An einem schönen Morgen im Mai ritt eine elegante Amazone auf einer herrlichen Fuchsstute durch die blühenden Alleen des Bois de Boulogne.« An dem Satz ist alles richtig, auch im Französischen, und doch alles falsch. Er ist vollgestopft mit Klischees. Von diesem ersten Satz weiß man: Das Buch muss man nicht lesen. Er ist eine Parodie auf einen Romananfang und eine raffiniert von Camus eingeschleuste Anspielung – denn schon Valéry hatte ähnlich einen Romananfang parodiert. Dagegen dieser erste Satz der Erzählung Nachtmantel aus dem Band Einer bleibt übrig, damit er berichte von dem großen, stillen Christoph Meckel: »Als er anfing zu sterben, verließ er die Wohnung, dritter Hinterhof, zweiter Stock, verschloss die Tür mit dem einzigen Schlüssel und warf ihn durch die Briefklappe in den Flur.« In einer drängenden Knappheit, eingeleitet durch den temporalen Nebensatz, unterbrochen durch eine Apposition über den sozialen Hintergrund des Wohnens, wird in drei gereihten Hauptsätzen die Abgeschlossenheit einer Existenz beschrieben und zugleich infrage gestellt. Wieso »anfing zu sterben«? Eine Krankheit? Der Entschluss zur Selbsttötung? Flucht? Dieses »anfing zu sterben« ist sprachlich überraschend, weil unüblich. Gedrängt steht dem finiten Verb »anfangen« das infinite »sterben« gegenüber. Eine Lakonie für das Unfassliche, für den Tod. Warum ist dieser Satz gut? Nach einem naturwissenschaftlichen Wahrheitsmodell kann man seine Qualität nicht beweisen. Falsifikation und Verifikation begreifen das Phänomen der literarischen Wahrheit nicht. Es ist nur selbst wieder in Sprache zu beschreiben, was sprachlich gelungen oder nicht gelungen ist. So kann denn auch das, was in der Literatur angemessen ist, in der Normsprache ein Regelverstoß sein. Gemessen daran, wäre die Qualität von Sprache ablesbar an dem Falschen. Das meint nicht falsche Orthografie, Syntax, Interpunktion, sondern die-
DIE ZEIT
se winzige Verschiebung weg vom Erwartbaren. Eine Verstörung in der Sprache. Und Nachtmantel erzählt von der Verstörung eines Mannes. Ich habe das Schreiben 1946, es gab kein Papier und keine Schiefertafeln, mittels kleiner Buchstabenplättchen gelernt. Dieses Zusammen- und Wieder-Auseinanderschieben hatte etwas Spielerisches, Konstruktives und zugleich Dinghaftes. Nicht zu vergleichen mit Schreibübungen, die mittels eines Griffels oder Bleistifts gleichsam als Verlängerung der Hand gemacht werden. Vielleicht ist diese aus der Not geborene Methode schuld daran, dass ich immer wieder beim Konstruieren stutzte. Warum zum Beispiel schreibt sich der Schwan mit einem A und nicht mit zwei, wo er doch zwei Flügel hat. Selbstverständlich ist es töricht, so zu fragen. Die Zeichen sind arbiträr. In der kindlichen Wahrnehmung zeigte sich jedoch jener Taumel vor dem Abgrund, den der Widerstreit zwischen der Sprache und der Dingwelt auslöst. Das Gedachte und Gefühlte, das Erlebte und Erinnerte sollen in abstrakte Zeichen überführt werden. Das Erlernen des Sprechens geschieht durch die langsame, spielerisch korrigierte Übung. Alphabetisierung ist Arbeit. Etwas, was einem nicht zufällt, und etwas, was, jedenfalls für mich, sich immer wieder infrage stellt, durch ebendiese Distanz, das nicht Selbstverständliche von Sprache und Schreiben. Das Erlernen des Alphabets, der Grammatik, der Regeln, die auch Ausnahmen kennen, ist einfach Teil des Handwerks des Schreibens. Auch Goethe war einmal Lehrling. Zu jedem Handwerk gehört dieser lange Prozess des Übens. Nicht zufällig wird, wer das Schreiben mühevoll gelernt hat, möglicherweise nicht mehr schreiben, oder aber er wird es, wie zum Trotz, zu seinem Beruf machen, also Schriftsteller, Journalist oder Literaturwissenschaftler werden. Deren Arbeit kennt dann wiederum die Qual der Suche nach dem richtigen Wort, Satz, Absatz, damit gesagt werden kann, es ist gut. Wie Sprache aufgeraut oder geschmeidig gemacht wird, das lernt sich nicht von allein, sondern, wie im Handwerk, durch Anleitung des Lehrers oder des Meisters. Ich habe ein altes Handwerk gelernt, das heute fast ausgestorben ist: die Kürschnerei. Wie die Felle sortiert wurden, wie sie kompliziert zusammengeschnitten, ausgelassen, genäht wurden, wie schadhafte Stücke ersetzt wurden, all das war zu lernen, es ging um Erfahrungen und Kenntnisse, die von Meistern an Gesellen und Lehrlinge weitergegeben wurden, die man aber auch anhand alter Mäntel und Stolen studieren konnte. Und zu der Arbeit gehörte ganz wesentlich, dem Material zu »gehorchen«, bestimmte Formen waren nicht zu erzwingen, sondern nur durch die Schnitttechnik zu entwickeln. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat in seinem Buch Handwerk darüber geschrieben, wie das Handwerk in die Künste hineinreicht, in die Musik und in die Malerei. Auch sie haben ein handwerkliches Fundament, aber darüber hinaus, und das unterscheidet sie von der auf bloßen Nutzen und Gebrauch ausgerichteten Arbeit, die Freiheit der unbegrenzten Variation, des Spiels und die Frage nach existenziellem Sinn.
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Ich sagte, es ist dieses Warten, die Geduld, das Aufschieben, die Organisation von Sprache und Text. Die Wiederholung, die Verbesserung durch Ändern. Ich schreibe einen Satz, auch diesen, und höre meine Stimme, die spricht. Das Schreiben der Sätze ist begleitet von einem: Nein, nein, nein, viele Nein, ein Ja. Und dann ist der Satz, der Absatz gut für mich, das heißt, er steht fest. Der Satz soll nicht nur richtig sein, richtig im Sinne, dass er wiedergibt, was in der Vorstellung, in der Anmutung noch recht dunkel war, sondern er muss durch Arbeit, durch das Um- und Umschreiben gut klingen. Erst wenn beides erreicht ist, die Musikalität und diese Klarheit, kann ich sagen, er ist gut und das heißt auch wahr. Das ist die lustvolle Überwindung der Stummheit. In George Steiners Gedanken dichten steht der schöne Satz: »Die Stummheit der Tiere hat als Spur in uns überdauert.« Eigentümlich genug, sind die Dialoge in der zeitgenössischen deutschen Prosa meist stumpf, oft geradezu hilflos ausführlich. Die gesprochene Sprache ist aber wie ein Humus für die Hochsprache, die ohne die Brechung ins Alltägliche leicht steif und gipsern wirkt. Um noch ein Beispiel aus der Erzählung Nachtmantel von Christoph Meckel zu nehmen: »Vor einem Gasthof machte das Taxi halt, der Chauffeur wollte eine Pause von zehn Minuten – in dem Lokal dort, Privatsache, bald zurück. Regen schlug schwer auf das Blech, der Taxifunk rauschte, eine halbe, dann ganze Stunde verging ohne Zeit, der Chauffeur kam nicht zurück, und der Taxifunk rauschte.« Zwei Sätze, in denen die Sprache auf sich selbst zu hören scheint. Diese an Jazz erinnernden syntaktischen Stopps, das Motiv des Rauschens, die elliptische Form der gesprochenen Sprache und, darin eingelagert, das Gestische. Meckel arbeitet mit Verknappungen, mit Auslassungen und einem gestischen Sprechen. Wie erreichen, was als Vorstellung vorangeht? Die Beschreibung des Gedachten, der Stimmung, des Gefühlten kann, anders als Philosophie und Soziologie, die literarische Sprache in ihrer Körperlichkeit leisten. Die
Mimik des Lesenden verrät es. Das Lächeln, das langsam hervorbricht. Worüber man lacht, lässt sich schnell sagen, das Lächeln hingegen kommt aus dem Vorsprachlichen, etwas, das wiederum für sich selbst beschrieben werden müsste, damit es in der Sprache auftaucht. Es gibt momentan ein reges Interesse an der deutschen Sprache und Literatur. Bastian Sicks Bücher mit Sprachkommentaren erreichen, mögen sie zuweilen auch vereinfachend sein, Millionenauflagen. Wer will, kann seine Kenntnisse bei Harald Weinrich, Jürgen Trabant oder Peter Eisenberg wissenschaftlich vertiefen. Auch die Zahl der jährlich erscheinenden Romane und Erzählungen, die Zahl der jungen Autorinnen und Autoren ist erstaunlich groß. Zu der Verbreitung der Literatur beim jungen Publikum hat sicherlich die Popliteratur der neunziger Jahre beigetragen. Poetry-Slams sind nach wie vor überfüllt. Hinzu kommen, üppiger als in den literarisch so mageren siebziger und achtziger Jahren, viele Stipendien und Preise, der staatlich geförderte Literaturfonds, zahlreiche literarische Schreibwerkstätten und Studiengänge an den Universitäten; neue Zeitschriften und Literaturagenturen tragen zur Verbreitung bei, vor allem die Verlage, bekannte wie neu gegründete, die auf der Suche nach jungen Talenten die Nachfrage gleichermaßen bedienen und stimulieren. Nochmals gefragt: Kann man das literarische Schreiben lernen? Nicht erlernbar ist die sprachliche Potenz, die jemand mitbringen muss, auch nicht die Radikalität und nicht die Verstörung, die Anlass für das Schreiben sind. Ein Lob aber der Werkstattarbeit, den Verbesserungen und Änderungen. Zu dieser Arbeit gehört auch das Gespräch mit Kollegen, Kritikern, Lektoren und Lesern. Man sehe sich die Umarbeitungen von Anna Karenina an, die Tolstoi unter dem Einfluss seiner Frau vorgenommen hat. Tolstoi ist, sagt Nabokov, ein Gebirge. Und die Ebene? Das, was jetzt alles auf den Markt kommt? Was wird bleiben? Schaun mer mal.
Uwe Timm
Fotos: Isolde Ohlbaum/laif; Jürgen Bauer (S. 36, Ausschnitt)
wurde 1940 in Hamburg geboren. Er zählt zu den wichtigsten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Zuletzt erschien von ihm die Novelle »Freitisch« (2011)
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DIE ZEIT
Foto: Vera Tammen für DIE ZEIT
ÜBER DAS SCHREIBEN
Wenn das Schreiben nicht wäre Über ihr Eigentliches reden die Zeitungsleute selten. U L R I C H S TO C K tut es hier mal
DIE ZEIT
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Kaffee, Kalender, Kleckse, Klammern So sieht mancher Schreibtisch aus, auch bei der ZEIT. Ob ein solches Chaos kreativ macht, das bleibt jedem Kollegen selbst überlassen. Hauptsache, der Text passt, wackelt und hat Luft – auch so eine alte Redaktionsweisheit
ls Redakteur bei einer Wochenzeitung – wie ist das denn so?« Das werde ich gelegentlich gefragt, auch von Lesern, und quick zu antworten macht dann einen besseren Eindruck, als in ein tiefes Grübeln zu verfallen, für das es auch Gründe gäbe. »Wir sagen immer«, sage ich dann immer: »Journalismus wäre ein schöner Beruf, wenn das Schreiben nicht wäre.« Das löst zuverlässig Heiterkeit aus. Ja, wenn das andere Berufsgruppen sagten! Pilot, schöne Sache, wenn das Fliegen nicht wäre. Geht nicht, oder? Einem Arzt würde man es schon eher glauben: Praxis, super, wenn nur die Patienten nicht wären. Tür auf, Tür zu, und von früh bis spät jammern da welche, denen es nur halb so schlecht geht wie einem selber. Aber jetzt nicht ablenken. Journalisten dürfen sich für alles interessieren. Sie können – so es ihre Zeitung ihnen ermöglicht – überall hinfahren und recherchieren. Sie können zu jeder Tages- und Nachtzeit arbeiten, müssen aber nie morgens um acht im Büro sein. Sie treffen außergewöhnliche Zeitgenossen. Fantastisch, oder? Ich habe einmal eine Frau nur deshalb interviewt, weil ich sie kennenlernen wollte. Weder auf die Fragen noch auf die Antworten konnte ich mich so recht konzentrieren; Journalisten sind keine Schauspieler. Aber die durch Neugierde legitimierte Annäherung ist ein Privileg, um das andere Branchen uns zu Recht beneiden. Zudem hat man als Journalist nette Kollegen, wenn sie nicht gerade im Haifischbecken herumschwimmen. Und zu den Konferenzen gibt es Kaffee und Kekse. Alles toll. Aber das Schreiben. Früher sprach man von der Angst vor dem weißen Blatt Papier. Ich kannte Kollegen, die schrieben einen Satz hin, dann lasen sie ihn, lasen ihn noch mal, schrieben einen zweiten Satz hin, vielleicht noch einen dritten, und dann schüttelten sie den Kopf, rissen den Bogen aus der Maschine, ließen ihn zu Boden segeln und spannten einen neuen Bogen ein. Noch mal. Überlegen. Tippen. Mist. Man konnte Stunden später wiederkommen und fand sie im Halbkreis ihrer herausgerissenen Blätter sitzend, verkrampft auf ihre Maschine starrend. Einen fand man morgens, schlafend, mit dem Kopf auf der Tastatur, neben einem halb geleerten Glas, und die letzten Zeilen des unvollendeten Manuskriptes best nden nur no h aus löchrigen Wörte n. Das weiße Papier ist verschwunden, die Angst ist geblieben. Heute blinkt einen der Cursor auf dem leeren Flachbildschirm an. Die besten Autoren tun sich oft am schwersten. Das hängt mit ihrer Fähigkeit zur Selbstkritik zusammen. Wer sich beim Schreiben zu misstrauisch über die Schulter schaut, der kriegt keinen Satz mehr hin. Schon tausendmal gelesen. Zu billig. Langweilig. Blöd. Wer etwas hinschreibt und es gleich unglaublich toll findet, hat es indes nicht leichter. Denn für ihn hat eine durchtriebene Gerechtigkeit den ersten Leser geschaffen. Der erste Leser bin ich, der Redakteur. Und dann lese ich so einen Text und denke: Versteh ich nicht. Widersprüchlich. Sachlich falsch. Selbstverliebt. Geht so gar nicht. Nun ist das ein Luxusproblem. Wer für eine schlecht ausgestattete Onlineredaktion arbeitet, in der kaum Zeit zum Schreiben ist, geschweige denn zum Lesen, der hält sich mit solchen Befindlichkeiten nicht auf. Der haut das Zeug einfach raus. Und wenn dann Widerspruch kommt, weil in der Eile irgendetwas schiefgegangen ist, schreibt man gleich die Korrektur und hat den nächsten Artikel, wie praktisch. Und alles wird geklickt! Einmal hatte ich über Monate hinweg Mal um Mal einen Musiker getroffen für eine große Reportage. Die Entstehung eines Albums begleiten. Schönes Thema. Der Mann war jung und gut, unglaublich eloquent. Manchmal dachte ich, er sei der Redakteur, so wortgewaltig, wenn er nachts um drei beim vierten Bier seinen popkulturellen Ansatz erklärte. Ich kritzelte Seite um Seite in mein Notizbuch, und irgendwann nahte der Erscheinungstermin, und ich sah den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Je mehr ich von meinem Helden wusste, desto weniger wusste ich, was ich über ihn schreiben sollte. Über Tage hinweg versuchte ich etwas und fand es immer nur furchtbar. Am Ende war ich vollkommen verzweifelt.
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Dann, an einem Sonntag, wenige Tage vor Redaktionsschluss, wachte ich morgens auf, und noch im Halbschlaf hatte ich eine Idee für den Anfang des Textes. Ich holte Block und Bleistift, krabbelte zurück ins Bett und schrieb von Hand zehn Seiten, ohne abzusetzen. Als es vorbei war, stand ich auf und machte Frühstück. Nicht einen Blick hatte ich in mein Notizbuch geworfen, nicht einen Satz meines Helden hatte ich zitiert. Er war verstummt, aber ich hatte Worte für ihn gefunden. Der im Bett begonnene Text stand später genau so in der Zeitung. Ich musste nichts mehr ändern. Wer hatte da geschrieben? War ich das gewesen? Mir kam es mehr vor, als habe der Text sich selber geschrieben. Ich sah mir beim Schreiben zu, aber nicht kritisch, sondern ungläubig, staunend, vor allem dankbar. In meinem Unterbewusstsein hatten sich die Eindrücke, die ich bewusst nicht ordnen konnte, zum Text sortiert. Ich weiß inzwischen von anderen, dass dies keine Seltenheit ist. Der Fluss gehört zur Kreativität wie die Blockade. Man muss sich zwingen, sonst kommt nichts, man muss aber auch loslassen, sonst fließt nichts. Es gibt verschiedene Motive, Journalist zu werden. Weil man die Welt verbessern will. Skandale aufdecken. Seine Meinung sagen. Weil man nicht weiß, was sonst tun. Ich zähle mich zu denen, die aus Lust am Schreiben schreiben. Diese Lust hat sich über die Jahrzehnte in Arbeit verwandelt, aber sie ist immer noch da. Mir fällt das Schreiben manchmal schwer, aber es zählt auch zum Schönsten, wie jetzt, in diesem Moment, am Freitag, den 13. April, um 21.02 Uhr im Hamburger Pressehaus am Speersort, da dieser Text, den ich seit Wochen schreiben will, nun endlich Gestalt annimmt. Ja, ich habe noch kein Abendbrot gegessen. Ja, es ist eigentlich Wochenende. Aber es macht gerade solchen Spaß. Und der Tag morgen wird viel schöner, wenn das jetzt mal raus ist. Über das Schreiben sprechen die Zeitungsleute kaum, obwohl es eine ihrer wichtigsten Tätigkeiten ist. Vielleicht deshalb? Das Schreiben als das Eingemachte? Lieber nicht dran rühren? Hier wohnen Eitelkeit und Empfindlichkeit. Guter Schreiber, schlechter Schreiber. Schneller Schreiber, langsamer Schreiber. Gibt ja alles. Gut und schnell. Langsam und gut. Schnell und schlecht. Langsam und schlecht. Gibt auch tolle Journalisten, die gar nichts mehr schreiben und es vielleicht auch nie konnten. Ihre Qualitäten liegen woanders. In der redaktionellen Organisation, im Blattmachen, in der Spürnase. Schreiben ist wichtig nur als eines unter vielen.
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as gutes Schreiben ausmacht, das kann man lehren und zum Teil auch lernen, aber oft genug ist die Weisheit so wahr wie ihr Gegenteil. Es lebe die Reinheit und Perfektion, das treffende Wort? Schon möglich. Oder sollte der Journalist lieber auf den Jazz hören: Ein bisschen schmutzig, und es klingt gleich viel besser? Hauptsache, Wolf Schneider hört es nicht. Wer alle Regeln intus hat, kann sie getrost vergessen. Der kundige Leser kennt alle Klischees, auch der Form, man sollte ihm den Widerstand gegen den Text nicht zu leicht machen. Aber dies kann keine Aufforderung zu Stilbruch und Schlendrian sein, denn sobald sie zur Regel würden, wären sie selber Klischee. Konkretion ist oft gut, gepaart mit einer gewissen Lässigkeit. Doch auch die schöne Verallgemeinerung kann Wirkung zeigen. Und es gibt eben nicht eine Art zu schreiben, sondern ganz viele. Mal hört man Hip-Hop, mal Reggae, mal Bartók, mal Glenn Miller – Verschiedenheit beugt der Langeweile vor. Nur beliebig sollte es nicht werden. Aber Sie haben schon verstanden: Journalismus wäre ein schöner Beruf, wenn, beziehungsweise ist ein schöner Beruf, weil. Diesen Widerspruch muss man aushalten können. Man kann ihn auch mögen. Ulrich Stock ist Redakteur der ZEIT und leitet das Ressort Wochenschau
DIE ZEIT
ÜBER DAS SCHREIBEN
Was machen die da? Redakteure redigieren, den lieben langen Tag. Dafür werden sie von Autoren oftmals gehasst – und von Lesern nie gelobt
Absatz anhängen Die Linie verbindet Ausgang und Einzug
VON A N N A VON M Ü NC H H AUSE N Kursivschrift Ein Wort soll schräg gesetzt sein
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ehmen wir doch mal etwas Verrücktes an: An einem Tag X rufen alle deutschen Redakteure und Redakteurinnen morgens im Büro an und teilen mit, sie könnten heute leider nicht zur Arbeit erscheinen – was wäre die Folge? Wäre das der MedienGAU, oder bliebe es nahezu unbemerkt? Gut möglich, dass alle Tageszeitungen, sämtliche Hörfunk- und Fernsehnachrichten, die üblichen aktuellen Features, Reportagen, Kommentare und Glossen gedruckt und ausgestrahlt würden und ihre Zielgruppe erreichten. Schließlich gibt es ja noch Reporter, freie Autoren und Kommentatoren, nicht zu vergessen Drucker, Grossisten und Zusteller, es gibt Sprecher, Kameraleute, Moderatoren und Regisseure, richtig? Stimmt. Und dennoch würde dem Publikum an diesem Tag mit Sicherheit Hören und Sehen vergehen, denn was ihm vorgesetzt würde, wäre – Rohware. Ein wichtiger Zwischenschritt wäre entfallen, nämlich die Prüfung, Bearbeitung und Pflege der Wörter, der Sätze, der Aussagen und Argumente, kurzum: der Information, des Content, wie es im Marketingdeutsch mittlerweile heißt. Und um den geht es schließlich, wenn von Medien die Rede ist. Was also tun eigentlich Redakteure? Es gibt übrigens hierzulande so um die 30 000 davon, die Zahlenangaben sind jedoch widersprüchlich. Fragt man fünf von ihnen nach ihrer Arbeitsplatzbeschreibung, wird man eine ganze Bandbreite von Antworten bekommen, abhängig davon, wo sie eingesetzt sind. Wie zu redigieren ist, wird in den Redaktionen höchst unterschiedlich gehandhabt – und wir verraten kein Geheimnis, wenn wir konstatieren, dass es dabei mal pedantisch, mal hektisch und mal, sagen wir, subengagiert zugeht. Dazu gleich ein Beispiel aus der Praxis: Im Nachrichtenraum einer überregionalen Tageszeitung kann es vorkommen, dass ein Korrespondentenbericht aus Washington genau zehn Minuten vor Redaktionsschluss im Mail-Eingang des zuständigen Nachrichtenredakteurs landet, und mitunter ist dieser Bericht 50 Zeilen länger als der Platz, der im Seitenlayout der Zeitung vorab dafür eingeräumt, »freigeschlagen« worden ist. Natürlich soll der Beitrag aber noch in der aktuellen Ausgabe untergebracht werden. Was bleibt dem Redakteur in diesem Moment übrig? Da wird der Kollege sich darauf beschränken, im Turbotempo zu überprüfen, ob die Fakten stimmen und der Inhalt halbwegs luzide formuliert ist. Er wird die letzten drei Absätze streichen, Rechtschreibfehler korrigieren – und da ruft ihm auch schon der Nachrichtenchef zu: »Warum ist denn der Beitrag aus Washington immer noch nicht im System, verdammt noch mal?« Den leidenschaftlichen unter den Redakteuren tut es körperlich weh, so arbeiten zu müssen. Denn sie verhelfen den Texten von Reportern,
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Kollegen oder freien Autoren erst zu ihrer druck- oder sendefähigen Perfektion. Nicht damit der Autor brillieren kann, sondern um sein Publikum glücklicher/ klüger/zufriedener zu machen. Aber wie funktioniert das? Nur mit System, nach einem Schema also, und das wiederum ist abhängig von den Usancen der jeweiligen Redaktion. Wie viel Zeit bleibt für das Putzen, Kämmen und Aufbrezeln des Textmaterials? Stammt es von einem erfahrenen Autor, den der Redakteur kennt (mit dessen Schwächen und Stärken)? Neigt der Autor zu Schachtelsätzen, ausgelaugten Metaphern, dramaturgischen Saltos – oder, schlimmer noch, zur Langweiligkeit? Haben Redakteur und Autor vor Abgabe des Textes miteinander gesprochen, mögliche Stolpersteine ausgeräumt, über die Dramaturgie der Geschichte verhandelt? Diese Fragen und Voraussetzungen zu bedenken erleichtert, was jetzt zu tun ist. Verlassen wir die generelle Ebene und werden konkret, was in diesem Fall heißt: Werden wir subjektiv. Wir schauen einer versierten und in Hunderten von Redigaturvorgängen gestählten Kollegin über die Schulter, nennen wir sie zur Tarnung Klara Stil. Da sitzt sie vor ihrem Schirm, der Cursor flitzt nur so über die Zeilen. Alles vollzieht sich nach bewährtem Muster, das Klara Stil irgendwann einmal von klugen, erfahrenen Kollegen gelernt und im Lauf ihrer Berufsjahre verfeinert hat. Der erste Lesedurchgang dient der oberflächlichen Einordnung und Kontrolle. Hat der Autor das Thema erfasst, liefert der Text, was zuvor miteinander abgesprochen wurde? Folgt der Faktencheck. Was simpel klingt, kann tückisch sein. Namen, Orte, Jahreszahlen und nicht zuletzt Zitate müssen korrekt wiedergegeben werden. Aus dem Schatzkästlein der vergangenen Monate nehmen wir mal ein paar Beispiele heraus: »Peter Steinbrück«? »Siegfried Gabriel«? »Sofie Rois«? Oder: Josef Stalin, gestorben 1946? Nein und nochmals nein. Ist das erledigt, gönnt sich Frau Stil einen Kaffee. Der nächste Durchgang klingt nach Routine – und verdient doch volle Aufmerksamkeit. Wir hören an diesem Punkt die ersten Seufzer. Es geht um Orthografie, Interpunktion, um Grammatik. »Nach zwei bis drei Rechtschreibreformen setzt man sicherheitshalber in dieser Hinsicht bei jüngeren Autoren nicht mehr allzu viel voraus«, erklärt die Redakteurin. Sie selbst ist sich allerdings nicht zu schade, im Zweifel einmal mehr in den Duden zu schauen, ob »danksagen« jetzt in einem Wort und kleingeschrieben gehört. Aufs Textkorrektorat darf sie sich nicht blind verlassen. Nächster Arbeitsschritt: Entspricht die Sprachebene, der Tonfall der gefragten Textgattung? Nachrichten haben in nüchtern-sachlichem Gestus das Informationsbedürfnis zu bedienen. Glossen oder Reportagen genießen stilistische und metaphorische Freiheiten – und sollten diese Freiheiten unbedingt
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Zwiebelfische Aus anderen Schriften gesetzte Buchstaben
Tilgungszeichen Für überflüssige Buchstaben oder Zeichen
Umstellungszeichen Kennzeichnet verstellte Wörter
Wortzwischenraum Zu weit (links) oder zu eng
Absatz Hilft, einen Text zu gliedern
Fehlender Einzug Z.B. in der ersten Zeile
eines Absatzes
Schusterjunge Die erste Zeile eines Absatzes durch einen Spaltenwechsel abgetrennt Hurenkind Die letzte Zeile eines Absatzes durch einen Spaltenwechsel abgetrennt
klug nutzen, ohne überkandidelt zu klingen. Schon an diesem Punkt übrigens kommt es häufig zum ersten Krach zwischen Redakteurin und Autor. Ein weites Feld; dazu später mehr. Ein Steckenpferd unserer Kollegin ist übrigens, aufzuspüren, was sie Metaphernpotpourri nennt: mehrere widersprüchliche Vergleiche, blumig womöglich, in einem Satz zusammengepresst. Manche Schreiber haben ein verhängnisvolles Händchen dafür, selbst Chefredakteure sollen nicht immun dagegen sein. Neulich hat Klara Stil einen Kisch-Preisträger erwischt mit folgendem Satz: »Der Gipfel seiner Anstrengungen stand auf dem Spiel, aber der Fußballtrainer hörte nicht auf, sich den Chef des Aufsichtsrats vorzuknöpfen ...« Drei Bilder in einem Satz. So etwas auseinanderzunehmen beschert ihr großes Vergnügen. Besonderes Augenmerk wird als Nächstes den Kernaussagen geschenkt: Sind sie klar erkennbar und mit Argumenten unterfüttert, die dem Leser einleuchten? Und fügen sie sich überzeugend in die Dramaturgie des Textes? Fließen soll er, bloß nicht stocken, bremsen, in die Breite gehen, keinesfalls mit Details überfrachtet sein. Und, die wichtigste, tausendfach bewährte Regel: in jedem Absatz den – ungeduldigen, gehetzten, abbruchwilligen! – Leser noch einmal neu einzufangen. Weil das Deutsche so gern Nebensätze in den Hauptsatz einfügt und in den Nebensatz nach Möglichkeit noch eine per Reflexivpronomen angehängte Zusatzinformation drückt, ist entschlossenes Eingreifen gefragt. Klemmkonstruktionen klingen hässlich. An diesem Punkt kennt unsere Kollegin keine Gnade: Da werden Einschübe gestrichen, aneinandergekettete Nebensätze zerschlagen, Absätze umgehoben. Wenn es ganz schlimm kommt, nimmt sie das Material komplett auseinander und setzt aus den Bruchsteinen einen neuen Text zusammen. Das allerdings sollte die Ausnahme bleiben und führt fast immer zu heftigen Auseinandersetzungen mit den betroffenen Autoren. Die nämlich sind selten bereit, zuzugeben, dass der neue Text besser ist als die ursprüngliche Fassung. Es ist ein altbekannter Zwiespalt: Redakteure beneiden freie Autoren um einen Alltag ohne Chefs und Konferenzen, während die Freien wiederum den Redakteuren unterstellen, den Tag ausschließlich mit Zeitungslektüre und Autorenquälerei zu verbringen und dafür am Monatsende mit einem fürstlichen Gehalt belohnt zu werden. Irgendwann ist es dann nach manchmal stundenlanger Bearbeitung so weit: Klara Stil setzt den letzten Punkt und reicht das Opus weiter – zur Zweitredigatur. Mag sein, ihr Kollege fängt dann noch einmal ganz von vorne an. Nach dem Motto: »Ganz fertig ist man mit dem Redigieren eigentlich nie.« Anna von Münchhausen ist Redakteurin der ZEIT und hat als Textchefin vor allem ein Auge für die Aufmachung der Seiten und die Überschriften
ÜBER DAS SCHREIBEN
Sich die Welt erschreiben Buchstabe für Buchstabe, Bogen für Bogen, Punkt für Punkt: Warum M I R I A M M E C K E L auch im digitalen Zeitalter ihren Füller niemals missen möchte
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ls ich neulich im Keller meines Vaters nach etwas suchte, machte ich eine Entdeckung, die mich berührte. In dem hohen Stahlregal zwischen Konservendosen, vergilbten Kartons, Hammer und Zange befand sich auch eine Keksdose aus bunt bedrucktem Blech. Auf ihr klebte ein Etikett, das meine Mutter einst beschriftet haben muss. »Vanillekipferl« steht darauf; als ich dieses Wort las, kamen mir die Tränen. In den Bögen, die von dem aufragenden, symmetrischen V über a, n und i in die beiden geschwungenen ls führen, erkannte ich ebenso die Schrift meiner Mutter wie in dem klassischen Schreibschrift-k, dem fein geführten f und dem r, das immer ein wenig nach rechts verrutschte und dabei einen wunderbaren Extrabogen schlug, bevor es in den letzten Buchstaben des Wortes übergeht, das l. Meine Mutter lebt schon einige Jahre nicht mehr. Dieses kleine handschriftliche Klebeetikett ist geblieben. Und jeder der 14 Buchstaben erinnert mich an sie. Als Kind habe ich meiner Mutter immer gerne beim Schreiben zugeschaut. Nicht um zu lernen, wie man richtig schreibt. Es war ein warmes Gefühl, das im Moment des Zuschauens entstand. Ich fühlte mich meiner Mutter sehr nah und verbunden. Es war, als ob ich an einem besonderen Augenblick teilhaben durfte, an etwas sehr Privatem. Es war, als kehrte sich etwas Inneres nach außen, für einen Moment und nur für mich spürbar. Ich habe oft neben meiner Mutter am Tisch gesessen, und wir haben geschrieben. Manchmal einfach in ein Kreuzworträtsel hinein – zu dem ich als kleines Kind immer »Kreuzverdrehtsel« sagte –, um das Wort erneut üben, also schreiben zu müssen, nein, zu dürfen. Das Schreiben mit der Hand habe ich in der Grundschule gelernt, mithilfe von Schreibheften, in denen die Zeilen mit drei Linien geteilt waren. Damit wurde es leichter, die Bögen von f, g oder h in den richtigen Proportionen auszuführen. Ich erinnere mich daran, wie mühsam es anfangs war, den Stift zu führen. Als ich meinen ersten Füller bekam, war das Schreiben nicht mehr ohne Tintenkiller möglich, um meine misslungenen Bögen oder Ausreißer beim t und f zu korrigieren. Mittags kam ich oft mit blau beschmierten Händen und blauen Flecken auf T-Shirt und Hose nach Hause. Schreiben lernen war für mich ein mühsamer Prozess; in meiner Grundschulzeit habe ich eine ein-
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zige ungenügende Bewertung bekommen – in Handschrift. Auch heute müssen Freunde und Mitarbeiter oft rätseln, wenn sie handschriftliche Notizen von mir kriegen, so dahingeworfen und unleserlich ist meine Schrift. Aber sie wissen immer, von wem die Mitteilung stammt. Schreiben und Lesen lernen ist ein lebenswichtiger Prozess. Nur als Alphabeten sind wir in der Lage, an allem im Leben teilzunehmen. Es könnte etwas bedeuten, dass wir uns diese Fähigkeit mit unseren Fingern aneignen, sie uns Zug um Zug erarbeiten müssen. Und dass die Spuren dieses mühsamen Sich-in-die-WeltEinschreibens für immer in unserer individuellen Handschrift aufspürbar bleiben. Viele Grundschulen in Deutschland arbeiten inzwischen mit der »Grundschrift«, die sich an Druckbuchstaben anlehnt und den Kindern das Schreibenlernen einfacher machen soll. Der Grundschulverband betont, es gehe nicht darum, die Schreibschrift wegzulassen, sondern darum, den einen Kindern so das Schreiben und den anderen das Lesen zu erleichtern – ein logischer Ansatz, aber er wird die Handschrift als Ausdruck des Einzelnen verändern. Doch müssen wir darüber in Zeiten der Computerschrift streiten? Hat die Handschrift nicht längst ihre Bedeutung weitgehend eingebüßt? Ich gebe freimütig zu: Auch ich schreibe inzwischen weniger und weniger mit der Hand. Das liegt zum einen daran, dass es eine Zeit in meinem Leben gab, in der mir das Schreiben ein wenig verleidet wurde. Ich war damals Staatssekretärin in der Düsseldorfer Staatskanzlei, und das Schreiben mit der Hand wurde im Wesentlichen auf den Akt des »Mitzeichnens« reduziert. Für alles andere war kaum Zeit, geschweige denn Muße. Das »Mitzeichnen« klingt fast künstlerisch, ist aber ein Verwaltungsvorgang, der vorsieht, dass man eine Akte in der »Mitzeichnungsleiste« mit seinem Kürzel abzeichnet, immer in einer speziellen Farbe (in NRW war das für die Staatssekretäre Grün) und immer in dem Kästchen, das für das jeweilige Ministerium vorgesehen ist. Die »Mitzeichnung« war für mich gleichbedeutend mit der Bürokratisierung meiner Handschrift. Danach habe ich Jahre gebraucht, um sie wiederzuentdecken und neu zu beleben. Das »Mitzeichnen« hatte sie entzaubert. Der andere, wichtigere Grund, warum ich immer weniger mit der Hand schreibe, liegt in der Rolle, die der Computer inzwischen in meinem Leben einnimmt.
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Wort Nachdruck zu verleihen. Dabei bringe ich etwas auf den Punkt – im direkten Sinne des Wortes. Der Stift berührt das Papier, und in diesem Moment ist der Anfang eines Buchstabens, eines Wortes, eines Gedankens gesetzt, um sich aus meiner Welt in die der anderen fortzusetzen. Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff sagt, dass alles, »was mittels eines Stifts in vermittelten Zügen niedergeschrieben wird, eine ungleich intensivere körperliche Spur legt, die sich im Gedächtnis einlagern kann, als Wörter und Sätze, die nur durch eine flüchtige Berührung der Tastatur entstehen«. Deshalb sprechen wir vom Schreiben als einer Kulturtechnik, die ebenso wie das Lesen Voraussetzung für viele andere Techniken und Fertigkeiten des Menschen ist. Davon erzählt auch das Wort »begreifen« im Sinne von verstehen: Nur wer etwas physisch-materiell wirklich an-fassen kann, ist auch in der Lage, es zu er-fassen. Vielleicht lässt sich dieser Zusammenhang des Anfassens als Erfassen mit den für das Schreiben abgewandelten Worten der amerikanischen Leseforscherin Maryanne Wolf erklären: Wir sind nicht nur, was wir schreiben. Wir sind auch, wie wir schreiben. Dabei geht es nicht um die irrwitzigen Annahmen der Grafologie, man könne Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen aus seiner Handschrift herauslesen. Es geht vielmehr um physiologische Vorgänge im Gehirn. Das verfügt nämlich bis ins hohe Alter über neuronale Plastizität, das heißt, einzelne Nervenzellen oder ganze Hirnareale können sich immer wieder neu, anders, intensiver vernetzen. Der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther hat nachgewiesen, dass jugendliche Powersimser einen messbaren Zuwachs der Hirnareale aufweisen, die den Daumen steuern. Ähnliches geschieht durch Klavierüben. Oder durchs Schreiben. Wenn wir also handschriftlich schreiben, erfassen wir die Welt zweifach: in ihrer abstrakt-sprachlichen Bedeutung und dadurch, dass wir mit der körperlichen Bewegung Spuren in unserem Gehirn anlegen, die wiederum dessen Funktionsweise beeinflussen. Durch das Schreiben mit der Hand be-greifen wir die Wirklichkeit. Wir zeichnen sie nach, wir bezeichnen sie und bilden dabei auch unsere eigene aus. Das handschriftliche Verfassen eines Texts ist die materielle Erschaffung von Sprache und setzt eine be-
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Miriam Meckel ist Professorin für Corporate Communication und Direktorin am Institut für Medienund Kommunikationsmanagement der Universität St. Gallen, Schweiz, sowie Faculty Associate am Berkman Center for Internet & Society der Harvard University. Zuletzt erschien von ihr das Buch »Next. Erinnerungen an eine Zukunft ohne uns«, Rowohlt, Reinbek 2011
Foto (Ausschnitt): R. Palanikumar/13Photo
Auch ich schreibe immer mehr mit einer echten oder virtuellen Tastatur, auf dem Laptop, auf dem iPad, mit dem iPhone. Selbst kleine Notizen, die am frühen Morgen oder späten Abend noch ihren Weg per Bleistift in ein kleines Notizheft finden, das an meinem Bett liegt, übertrage ich später dann mit dem iPhone in Evernote. Der Name sagt es: Dort werden die Notate digital abgelegt und in die »Cloud« entlassen – die ewige Notiz, in einer Wolke, verfügbar und doch sehr fern. Entpersönlicht und für ewig gespeichert. Computerschrift ist standardisiert. Wir können unterschiedliche Schrifttypen auswählen und sogar Schreibschrift maschinell imitieren. Wir bestimmen Größe, Farbe, Zeilenverlauf, Abstände und andere Formatierungen. Aber damit ist die Individualisierung der Schrift auch schon fast erschöpft. Darum nennt sich das Schreiben am Computer – sehr technisch – Textverarbeitung. Times Modern sozusagen im übertragenen Sinne. Die Futura gehört dem Computer; und ich bin nicht sicher, ob dies nur einen Impact auf die formale Dimension des Schreibens hat. Will ich aber jemanden wirklich erreichen, schreibe ich einen Brief – per Hand. Nicht nur, weil er beim Adressaten zwischen Hunderten digitaler Mails und unnützen analogen Postwurfsendungen Aufmerksamkeit erzeugt. Sondern auch, weil ich neben den im Brief enthaltenen Botschaften eine unausgesprochene übermittle: Du bist mir wichtig. Ich nehme mir die Zeit, mich hinzusetzen und darüber nachzudenken, was ich dir sagen möchte, und dann schreibe ich es mit der Hand auf. Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe, Bogen für Bogen. Vielleicht mit meinem Füller von Montblanc, der so wunderbar schwer in der Hand liegt und das Schreiben zu einer körperlichen und sehr sinnlichen Erfahrung macht. Und der eine so breite Feder hat, dass selbst meine krakelige Schrift zu einem Ensemble von Buchstabenbögen wird, die manche Empfänger als schön empfinden. Was also macht das Schreiben mit uns? Wenn ich einen Stift zur Hand nehme und zu schreiben beginne, lote ich meine Gedanken förmlich in allen drei Dimensionen des Raumes aus: Ich kann die Buchstaben nach oben oder unten in die Länge ziehen, die Schrift nach rechts oder links kippen lassen oder auch fest aufdrücken, bis das Papier reißt, um einem einzelnen
stimmte Reihenfolge voraus: erst denken, dann schreiben. Bei der Textverarbeitung am Computer kann, muss es aber nicht so sein. Copy-and-paste, das Herumschieben von Sätzen, Absätzen oder kompletten Abschnitten, bringt zum Ausdruck, warum das Programm Textverarbeitung heißt. Das Schreibenlernen gelingt leichter, wenn die Buchstaben, die Signifikanten, mit einem Stift oder einem Füller auf das Papier oder mit Kreide auf die Tafel geschrieben werden, wenn Hand und Hirn im Zusammenspiel ein Bild der Sprache erzeugen. Dann fällt das Lernen leichter, als wenn man nur die Computertasten drückt, auf denen die Signifikanten abgedruckt sind. Das Lernen geht nicht nur schneller, das in Form von Buchstaben Gelernte bleibt auch besser haften, es hat sich eingeschrieben. Das gilt für Erwachsene ebenso wie für Kinder. Eine amerikanische Studie hat aber auch ergeben, dass Mädchen und Jungen deutlich mehr schreiben, wenn der Computer im Spiel ist. Tucholsky lässt grüßen: »Ich hatte leider keine Zeit, mich kurz zu fassen.« Die Quantität des Geschriebenen wächst also mit dem PC, bei Jungen wie Mädchen. Die Qualität des Geschriebenen bleibt bei den Mädchen konstant, egal, ob sie mit der Hand oder am Computer schreiben. Die Jungen jedoch verbessern sich wesentlich, wenn sie tippen. Das Schreiben mit der Hand erzeugt also mehr als einen Text. Doch bei allen guten Argumenten für das Schreiben mit Hand und Füller gibt es auch Gründe, die Digitalisierung der Sprache gutzuheißen, weil sie uns manches im Alltag erleichtert, zum Beispiel die Verständigung. Der Computer macht es möglich, Bestandteile verschiedener Sprachen zu einer neuen Sprache zu verbinden. Unter der Bezeichnung »Globalese« hat sich eine Rudimentärsprache entwickelt, die als Mischung aus englischer Grundsprache mit den einfachen Strukturen chinesischer Grammatik und einigen indischen Spracheinflüssen entstanden ist. Der Anfang des Alten Testaments lautet dann etwa so: »Number one, God make heaven and earth. Earth not very nice, nothing there. Also too dark. God make avatar go look-see waterfront. God say, Light on. Light on.« Das ist nicht unbedingt literarisch, aber fast überall verständlich. Heute können wir mithilfe von Google Translator deutsche Texte in 65 Sprachen übersetzen lassen. Dabei entstehen zuweilen lustige Fehler. Doch Sprachkompetenz erwerben wir so natürlich nicht. Aus der Forschung wissen wir, dass Menschen weniger bereit sind, sich Dinge zu merken, wenn sie wissen, dass sie im Internet nachschauen, also googeln können. Diejenigen, die wissen, dass sie nicht nachgucken können, merken sich mehr! Wenn das auch für Fremdsprachen gilt, werden wir bald alle einsprachig. Alles andere steht ja im Netz oder macht der Computer. Mit der wachsenden Digitalisierung unserer Kulturtechniken erleben wir etwas neu, das der Kommunikationsphilosoph Vilém Flusser schon 1978 in Die kodifizierte Welt kritisiert hat. Damals ging es
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um das Bild, das neben den Text und dann vor den Text zu rücken drohte. Flusser sah im technischen Bild die Oberfläche, die auf einen Blick erfasst wird und die komplexe Informationen synchronisiert. Ein Text, den wir lesen, erlaube uns hingegen die diachrone Verarbeitung der Information, und das sei ihrer Komplexität eher angemessen. Diese Kulturkritik Flussers gewann in den neunziger Jahren, zur Zeit des sogenannten pictorial turn, an Bedeutung und lässt sich im Lichte der Digitalisierung wiederum neu deuten. Die Sprache des Computers erscheint uns in Pixeln, in Bildpunkten, von denen es Millionen auf Bildschirmen, Monitoren und Displays gibt. Die Welt besteht und entsteht aus Pixeln; sie schrumpft, wenn man die Pünktchen vergrößert, auf wenige Punkte zusammen. Wir bringen Dinge dann anders auf den Punkt: direkter, reduzierter, simpler. Unsere Sprache verpixelt zusehends. Zuweilen besteht sie nur noch aus Buchstaben. LOL (laughing out loud, lauthals lachen), 2L8 (too late, zu spät), bitte Antwort asap (Answer as soon as possible, Antworte so bald wie möglich). Zwischen HDGDL (Hab dich ganz doll lieb) und HDF (Halt die Fresse) liegen zwar immer noch Gefühlswelten, aber auch nur zwei Buchstaben. Und wenn selbst die zu viel sind, greifen wir auf die Zeichen erster Ordnung zurück – die Icons. In dieser Entwicklung liegt ein belustigender Widerspruch: Je mehr unser Schreiben sich der digitalen Sprachevolution unterwirft, desto weniger g wird es dem Computer gelingen, uns als schreibende eibende Individuen auszumachen. Im Labor für Künstliche nstlichee Intelligenz an der Universität von Arizona setzen Wissenschaftler inzwischen komplexe Algorithmen ithmen ein, um die menschliche Computerschriftsprache ache zu sezieren. Mehr als 400 Parameter werden dafür für ausgelotet: Syntax und Zeichensetzung, Wortlängen tlängen und Buchstabenhäufigkeit, aber auch der Wortschatz. Sogar die Textinhalte werden durchforstet, forstet, doch die spielen längst nicht mehr die Hauptrolle olle bei diesen Analysen. So lässt sich mithilfe des Computers der individudividuelle »Schreibabdruck« eines Menschen berechnen, en, mit dem wiederum weitere Texte desselben Individuums iduums im Internet gesucht und erkannt werden können. en. Das gelingt vermutlich nur so lange, wie wir unsere Schriftsprache noch nicht vollständig in ein banales digitales »Globalese« überführt haben, das sich nach Standards andards richtet, die selbst dem Computer das Unterscheiden cheiden unmöglich machen. Irgendwann wird der datenbasierte »Schreibabdruck« bdruck« als individualisierte Repräsentation des Schreibens bens die Handschrift ersetzen. Was ich dann auf der Keksdose eksdose im Keller meines Vaters statt des Aufklebers mit dem m Wort »Vanillekipferl« finden würde? Vielleicht ht eine lange, einzigartige Reihe aus binären Zahlen: 01110110 110110 01100001 01101110 01101001 01101100 01101100 01100101 01101011 01101001 01110000 01100110 01100101 01110010 01101100.
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Hingekritzelt Wenn der Füller schwer in der Hand liegt, dann wird das Schreiben damit für Miriam Meckel zu einem sehr sinnlichen Erlebnis. Wir zeigen auf diesen Seiten Ausschnitte aus ihrem Notizbuch
ÜBER DAS SCHREIBEN
VON DE R K R A F T DES MÜ N DLICHE N Warum sich
U L R IC H GR E I N E R
seine Texte selbst vorliest
WENN wir uns vor Augen halten, dass die Münd-
gibt. Gerade deshalb aber neigen wir dazu, den Empfänger unserer Texte zu vergessen, und dieser lichkeit sehr viel älter ist als die Schriftlichkeit, dann Empfänger ist immer auch ein Hörer. Früher übrigens verstehen wir auch, warum wir bestimmte Sätze gar war es üblich, laut zu lesen. Das weiß ich aus Alberto nicht verstehen könnten, würden sie nur gesprochen und hätten wir nicht den gedruckten Text vor uns, der Manguels großartiger Geschichte des Lesens. Wenn Sie Bücher laut lesen (oder anderen vorlesen), dann beuns Zeit gibt, das Prädikat am Ende des Satzes »mit merken Sie neue und andere Qualitäten, die Ihnen vordem Fernrohr zu suchen«, wie Mark Twain einmal her entgangen sind, und zuweilen eben auch Mängel. spottete. Damit will ich nichts gegen die Sprache der Ich empfehle diese Übung vor allem bei SelbstJuristen oder Philosophen sagen, deren Satzkonstrukgeschriebenem. Nie werde ich vergessen, wie Marcel tionen im glücklichen Fall eine höhere Genauigkeit Reich-Ranicki mich einmal in sein Zimmer bat. erlauben, als es simplen Hauptsätzen gelingen könnte. Er war damals neuer Literaturchef der FAZ, ich sein Aber die meisten von uns Irdischen heißen nicht Hegel oder Kleist, und es empfiehlt sich, dem, was man junger Redakteur. Ich hatte ihm meine erste größere Literaturkritik hineingereicht und war nun gespannt sagen will, eine angemessene Gestalt zu geben. Die auf das Urteil. Reich-Ranicki bat mich, die Tür hinter Angemessenheit richtet sich natürlich nach dem mir zu schließen und Platz zu nehmen. Zweck. Der Liebesbrief verlangt eine andere Sprache Er nahm mein Manuskript und las es mir mit als das Bewerbungsschreiben. In jedem Fall aber sollte der Text elegant und verständlich sein. Verständlich für Stentorstimme vor. Ich wurde rot vor Scham. Ich hörte das Gestammel und Geholper meiner andere kann er nur sein, wenn ich ihn selber verstehe, unbeholfenen Sätze, ich merkte, dass der Text hinund bei nicht wenigen Beispielen einer missglückten ten und vorne hakte. Seitdem lese ich mir (nicht Sprache kann man sehen, dass der Verfasser nicht laut, aber innerlich) meine Texte vor, ich versuche, gründlich genug nachgedacht hat. Er schreibt unihnen eine Art Rhythmus, eine gewisse verständlich, weil er sich selber nicht verstanden hat. Geschmeidigkeit beizubringen. Denn mein Ziel Was aber nun die Eleganz, die Anmut oder gar Schönheit eines sprachlichen Gefüges betrifft, so haben lautet, den Leser dafür zu gewinnen, dass er mir zuhört. Darin gleiche ich dem Pfarrer vor seiner diese höchst erwünschten Eigenschaften viel mit einer Gemeinde, dem Lehrer vor seiner Klasse oder dem imaginierten Mündlichkeit zu tun. Dass die ältesten Verteidiger vor Gericht. Nur der wahrhaft Mächtige literarischen Texte einer festgelegten Form folgen, kann es sich erlauben, so leise und so kompliziert zu verdankt sich keineswegs einer Mode oder Laune. Sie reden, dass ihm zu folgen eine Qual ist. Es soll waren rhythmisiert, später auch gereimt, damit das Professoren geben, die sich darin gefallen. Gedächtnis des Erzählers oder Sängers Haltepunkte Wir anderen aber, die wir den freien, den vorfand. Einen derart melodisch und rhythmisch ge selligen Austausch der Meinungen und Argumente strukturierten Text kann man sich leichter merken als schätzen, müssen unsere Rede angenehm, verständschlichte Prosa, und der Hörer kann ihm leichter folgen. Nur so lässt sich das Wunder erklären, dass etwa lich und auf gewinnende Weise vortragen. Singen allerdings müssen wir sie nicht. die erst später niedergeschriebenen Texte Homers ihre mündliche Überlieferung so lange überdauert haben. Ulrich Greiner ist Autor der ZEIT und Herausgeber Zwar sind wir heutzutage auf solche Hilfsmittel des Magazins ZEIT LITERATUR. Er hat viele Jahre das nicht mehr angewiesen, weil es Bücher und Computer Literaturressort und das Feuilleton geleitet
IMPRESSUM Gründungsverleger 1946–1995: Gerd Bucerius † Herausgeber: Dr. Marion Gräfin Dönhoff † (1909–2002), Helmut Schmidt, Dr. Josef Joffe Chefredakteur: Giovanni di Lorenzo Stellvertretende Chefredakteure: Moritz Müller-Wirth, Bernd Ulrich
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