Was Ist Sprache

January 24, 2018 | Author: Johnson Kendek | Category: Communication, Word, Linguistics, Thought, Mind
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What is language?...

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Wissen, Kultur und Literatur sind die drei Dimensionen der Sprache, in denen sich das Buch bewegt. Im ersten Teil geht es um Grundprobleme der menschlichen Sprache überhaupt: um ihren Ursprung und um die Frage, welche Art von Wissen die Kenntnis einer Sprache ist. Im zweiten Teil werden Aspekte der europäischen Sprachkultur diskutiert, die gerade eine Kultur in vielen verschiedenen Sprachen ist. Welche Sprache soll in Europa gesprochen und geschrieben werden? Gibt es für die Einzelsprachen, auch für das Deutsche, eine Zukunft? Der dritte Teil befaßt sich mit Geschichte und Dichtung und, damit verbunden, mit den Fragen nach der Wahrheit und der Schönheit des Sprechens. Jürgen Trabant ist Professor für Romanische Sprachwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Bei C. H. Beck erschien von ihm zuletzt der Band Europäisches Sprachdenken. Von Platon bis Wittgenstein (2006).

Jürgen Trabant

Was ist Sprache? Verlag C. H. Beck

Originalausgabe © Verlag C. H. Beck oHG, München 2008 Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Umschlagentwurf: + malsy, Willich Umschlagabbildung: Fotocollage, © + malsy, Willich Printed in Germany ISBN 978 3 406 56832 9 www.beck.de

Inhalt 1. Was ist Sprache?

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Arbeit des Geistes 2. Vom Schrei zur Artikulation: Über den Ursprung der Sprache 25 2.1. Kreativität und Artikulation 25 2.2. Schrei und Artikulation 29 2.3. Das Theilungsgeschäft der Sprache 38 2.4. Die Rückkehr des Schreis 47

3. Fremdheit der Sprache

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3.1. Dimensionen der Fremdheit 52 3.1.1. Lesgisch 52 3.1.2. Konstitutive Fremdheit 58 3.1.3. Das Fremde als Monstrum 62 3.2. Fremdheit der Sprachen 63 3.2.1. Platon 64 3.2.2. Aristoteles 66 3.2.3. Weltansichten 69 3.2.4. Erfahrung der Verschiedenheit 71 3.2.5. Wissen von der Fremdheit der Sprachen 78 3.2.6. Relativismus und Universalismus 82 3.3. Zanzotto 85

4. Was wissen wir, wenn wir eine Sprache können?

86

4.1. Vorbemerkung: Wissensgesellschaft und Sprachwissen 86 4.2. Noch einmal: ein Blick in die Geschichte 88 4.3. Sprachen als Wissen 93 4.4. Welche Art Wissen ist das Sprache-Können? 99 4.5. Cognitio inadaequata in der Wissensgesellschaft 104

5. Wissen als Handeln

107

5.1. Wissen pragmatisch 107 5.2. Poiesis und Semiosis 109 5.3. Energeia 113 5.4. Praxis 115 5.5. Faust, verjüngt? 116

Questione della lingua 6. Die Frage nach der Sprache 120 6.1. Aktuelle Sprachfragen 120 6.2. Questione della lingua 122 6.3. Gloria versus grazia 130 6.4. Die Sprache der Neuen Wissenschaft 6.5. The Global Court 146

7. Die Mehrsprachigkeit der Wissenschaft

139

150

7.1. Das aufgeklärte Europa, das Lateinische und die Volkssprachen 150 7.2. Die Volkssprachen in den Wissenschaften 155 7.3. Rückkehr zur langue universelle et de convention 169

8. Sprache und Revolution 173 8.1. Guillotine und Sprache 173 8.2. Sprache und Denken 175 8.2.1. Sprachliche Alterität 175 8.2.2. Die Antinomie der sprachlichen Vernunft 8.2.3. Idola fori 178 8.2.4. Imperfection und génie de la langue 179 8.3. Sprache in der Revolution 181 8.3.1. Universaliser le français 182 8.3.2. Révolutionner le français 185 8.4. Globale Sprach-Revolution 187

9. Welche Sprache für Europa?

176

191

9.1. Die Sprache der Welt in Europa 191 9.2. Die Sprache Europas 195 9.3. Europas Abschied von seiner Sprache 197 9.4. Europa in vielen Sprachen 198 9.5. Rückkehr zum Mittelalter 200 9.6. Was soll Europa tun? 201

10. Die gebellte Sprache: Über das Deutsche

205

10.1. Deutsch bellen 205 10.2. Prestigediskurse: Nationalsprache und Globalsprache 209 10.3. Hochdeutsch und die Dialekte des Deutschen 216 10.4. Eingeborene Sprache und Immigrantensprachen 219 10.5. Integration und Globalesisch 223 10.6. Zwei Schlußbemerkungen: Orthographie und Passion 225

11. Sprach-Passion: Schizolinguismus und Kultur der Sprache 229 11.1. Einsprachigkeit – Anderssprachigkeit 229 11.2. Ist diese Sprache fremd? 233 11.3. Der Schmerz 234 11.4. Welche Sprache? 238 11.5. Fremdheit 242 11.6. Asyl 244 11.7. Epilog: Le monolinguisme illustre 245

Dichtung und Wahrheit 12. Sprache der Geschichte

251

12.1. Die Ewige Geschichte spricht 252 12.1.1. Die Sprecherin 253 12.1.2. Wissenschaft 260 12.1.3. Das Gemeinsame Geistige Wörterbuch 261 12.1.4. Von Vico zum linguistic turn der Geschichte 263 12.2. Spricht die Geschichte? 264 12.2.1. Sprache oder Sprachlosigkeit der Geschichte 264 12.2.2. Der Geschichts-Schreiber 267 12.2.3. Envoi 273

13. Von der Freiheit des poetischen Sprechens 13.1. Happiness und ihre Bedingungen 276 13.2. Abweichung 281 13.3. Gegen poetische Abweichung 286 13.4. Distinktion und Design 287 13.5. Abweichung in der Normalität 291 13.6. Ent-automatisierung und Freiheit 292

276

Anhang Anmerkungen 295 Literatur 304 Drucknachweis 316 Register 317

1. Was ist Sprache?

Opera naturale è ch’uom favella; ma cosí o cosí, natura lascia poi fare a voi secondo v’abbella. (Dante: Paradiso)

1.1. Noch nie wußten wir so viel über die Sprache wie heute: Die Sprachen der Menschheit sind weitgehend erfaßt, auch wenn noch Hunderte der genauen Beschreibung harren. Sie sind hinsichtlich ihrer Abstammungsverhältnisse einigermaßen plausibel zu Sprachfamilien zusammengefaßt, ihre strukturellen Eigenschaften werden quer zu diesen genealogischen Zusammenhängen verglichen, und die sogenannten Kultursprachen sind gleichsam bis in die letzten Winkel ihrer historischen und aktuellen Erscheinungsformen ausgeleuchtet. Wie Kinder ihre Muttersprache erwerben, ist gut erforscht. Was sich im Gehirn beim Sprechen abspielt, erfassen immer raffiniertere Untersuchungsmethoden. Aufgrund paläoanthropologischer Funde, evolutionsbiologischer und neurologischer Einsichten läßt sich sogar einiges zur Entstehung der Sprache sagen. Natürlich gibt es in jedem der angesprochenen Bereiche noch unendlich viel zu tun, aber zweifellos hat sich das Wissen über die Sprache vervielfacht, seitdem es professionelle Sprachforschung gibt. Dennoch: Je mehr wir über die Sprache wissen, desto schwieriger scheint es zu sein, die einfache Frage zu beantworten, was Sprache ist. Dies ist nicht nur so, weil das große Wissen die Sache unüberschaubar und kompliziert macht, sondern auch weil genauere Kenntnisse gute alte Sicherheiten ins Schwanken bringen. Bestimmte Selbstverständlichkeiten sind auf einmal umstritten: etwa ob Sprache kommunikativ ist, ob Sprache lautlich ist, ob sie etwas Kulturelles ist oder etwas Natürliches, ein «Organ» oder «In11

stinkt» etwa. Wie steht es um das Verhältnis von Denken und Sprechen? Ist es eigentlich gut oder schlecht, daß es so viele verschiedene Sprachen gibt? Diese Diskussionen bringen Bewegung in die Frage nach den Beziehungen der Sprache zur Literatur, also zu den «hohen» schriftlichen Diskursen einer sich ihrerseits dramatisch wandelnden Sprach-Kultur. Die folgende kurze einführende Antwort auf die Frage, was Sprache ist, ist daher ein Versuch, viele Fragen offenzuhalten, bzw. ein Plädoyer für mehrere Sowohl-alsauch. Einzelnen Sprach-Fragen gehen dann die weiteren Kapitel des Buches ausführlicher nach. 1.2.1. Daß Sprache die spezifisch menschliche Produktion von artikulierten Lauten ist, die Menschen von sich geben, wenn sie etwas – einen Gedanken, ein Gefühl, einen «Inhalt» – anderen Menschen mitteilen, die diese Laute mit den Ohren vernehmen und dann das Mitgeteilte «verstehen» (und ihrerseits zu solchen Lautproduktionen angeregt werden), scheint eine Feststellung zu sein, die kaum jemand in Frage stellen wird. Und doch geschieht derzeit genau dies. Natürlich wird nicht bezweifelt, daß es dieses beobachtbare lautliche und kommunikative Verhalten gibt. Es wird aber gesagt, Kommunikation sei bestenfalls eine sekundäre Funktion von Sprache – und außerdem nichts besonders Menschliches, jedes Tier, ja das Leben überhaupt kommuniziere. Und daß Sprache als lautliche auftrete, sei ebenfalls eine eher kontingente Eigenschaft, sie könne sich genausogut auch in anderen Medien, etwa in Gebärden manifestieren. «Äußere Sprache» oder speech sei daher scharf von language oder «innerer Sprache» zu unterscheiden, beide seien übrigens auch in der Evolution des Menschen getrennte Dinge. Language, das worauf es ankommt, liegt demnach tiefer, sozusagen hinter jenen beobachtbaren Vorgängen, als etwas Geistiges, als kognitives System: «Sprache» ist eine genetisch gegebene Fähigkeit des Menschen, im Gehirn mentale Einheiten auf eine Art und Weise zu kombinieren, wie dies kein anderes Lebewesen kann. Die Grundzüge dieser Kombinationstechnik, eine Universelle Grammatik, seien dem Menschen angeboren, und nur dieser Kern – verbunden mit einem mentalen Wörterbuch – sei im wahren Sinne des Wortes «Sprache». Zentrales Argument für die Isolierung einer solchen angeborenen inneren Sprache ist, daß der Spracherwerb des 12

Kindes sich nicht aus dem unvollständigen und chaotischen sprachlichen Input durch die kommunikative Umwelt erklären lasse, sondern nur durch die Annahme angeborener grammatischer Prinzipien. Nun, es ist durchaus möglich, daß dieser angeborene kognitive Kern das eigentlich Menschliche der Sprache ausmacht, also dasjenige, was uns von unseren Primaten-Verwandten trennt (hinsichtlich der Evolution hätten dann die bisher angenommenen biologischen Bedingungen für die Ausbildung der Sprache wie der aufrechte Gang, die Vergrößerung des Gehirnvolumens, die Lateralisierung der Gehirnhälften, die Absenkung des Kehlkopfes etc. nur noch sekundäre Bedeutung). Nur ist diese scharfsinnige Hypothese alles andere als gesichertes Wissen. Die Bemühungen, ein auf diesen kognitiven Kern reduziertes «Sprachorgan» von der allgemeinen Intelligenz zu isolieren oder gar «Sprachgene» für dieses Organ zu finden, haben sich bisher als Irrtümer oder bewußte Irreführungen erwiesen. Aber selbst wenn dies möglich wäre, so sprechen doch nach wie vor viele Untersuchungen – gerade im Bereich des Spracherwerbs – dafür, Sprache als kognitive Technik mit Kommunikation und mit der Stimme und dem Hören zu verbinden, also language durchaus nicht von speech zu trennen: Schon Embryonen hören im Schoß ihrer Mutter die Sprache ihrer Mutter, sie «baden» gleichsam in ihrem Klang und ihrem Rhythmus. Die Menschen leben von der ersten Stunde ihrer Existenz in der An-Sprache ihrer Umwelt, auf die sie von Anfang an Ant-Wort geben. Wort und Ant-Wort können, wie die Sprache der Gehörlosen zeigt, auch visuell gegeben werden; die Existenz materiell wahrnehmbarer Zeichen ist aber unerläßlich für den Erwerb – oder falls «Erwerb» schon der falsche Terminus sein sollte: die «Ausbildung» – von Sprache. Denn nur in der Interaktion mit den Menschen, die sie aufziehen, erwerben Kinder – nach einem biologisch vorgegebenen Zeitplan – die Sprache oder Sprachen ihrer Umwelt. Die «Arbeit des Geistes», als die Wilhelm von Humboldt die Sprache bezeichnete, vollzieht sich wohl immer angesichts des Anderen, auf ein Du hörend. Es scheint daher durchaus vernünftig, beim Sprechen über die Sprache näher am alltäglichen Sprachgebrauch zu bleiben, der die «äußere» Sprache hinzunimmt zu dem, was man unter «Sprache» versteht: nämlich Denken und Kommunikation. Sowohl als auch. 13

1.2.2. «Kommunikation» ist nun allerdings ein außerordentlich allgemeiner Begriff für die verschiedenen Handlungen, die Menschen mit Sprache ausführen. Wir teilen ja nicht nur Sachverhalte mit («Die Sonne scheint»), sondern wir fordern auf, wir versprechen, wir grüßen, wir taufen, wir erzählen und spielen und machen Gedichte. Auch wenn die Tiere kommunizieren, so hat man doch die Unterschiede zwischen menschlichem und tierischem kommunikativem Verhalten noch längst nicht ausgelotet: Sicher fordern Tiere andere Tiere auf, warnen sie, teilen ihnen etwas mit. Aber versprechen Tiere anderen etwas? Taufen sie andere auf den Namen «Emma»? Erzählen sie Geschichten und schaffen sie Kunstwerke mit ihren Zeichen? Vor allem ist bei aller brüderlichen Nähe zu den anderen Lebewesen doch auf die tiefe Differenz hinzuweisen, die darin besteht, daß das kommunikative Verhalten der Menschen intentional ist, eben Handeln im engen Sinn (obwohl natürlich auch die Existenz intentionalen Handelns in der schon wieder etwas abgeklungenen Diskussion um die Willensfreiheit in Frage gestellt worden ist). Daher sind wir auch frei, zu kommunizieren oder nicht, unsere kommunikativen Handlungen können absichtlich unaufrichtig sein, und wir müssen unser kommunikatives Handeln verantworten: ein Versprechen ist einklagbar, eine falsche Behauptung kann erhebliche Sanktionen nach sich ziehen, eine Beleidigung führt zum Prozeß. Der exklusive Blick auf die angeborene Universalgrammatik verpaßt ganz offensichtlich einen fundamental menschlichen Aspekt von Sprache. 1.3. Wer die Sprache als eine mit artikulierten Lauten vollzogene kognitiv-kommunikative Technik bezeichnet, wird hinzufügen, daß die Menschen dies aber auf jeweils ganz verschiedene Arten und Weisen tun. Ihr Vorkommen in vielen verschiedenen lautlichen Formen gehört (noch) zu den evidentesten und verwirrendsten Erfahrungen von Sprache. Damit ist nicht die natürliche Verschiedenheiten der Stimmen gemeint, also die Tatsache, daß sich jedes Individuum anders anhört, daß dieselben Wörter bei Männern anders klingen als bei Frauen, bei Jungen anders als bei Alten. Gemeint ist die Verschiedenheit der Wörter selbst, ihre kulturelle Diversität. Die Menschen produzieren verschiedene Lautfolgen ja nicht aufgrund natürlicher Differenzen, sondern weil sie verschiedenen Ge14

meinschaften angehören und in diesen sprechen gelernt haben. Sprache erscheint in der Mehrzahl, als Pluralität verschiedener historischer Sprachen. Die Feststellung der Verschiedenheit beziehen viele Menschen darüber hinaus nicht nur auf die Laute, sondern sie sagen auch, daß die anderssprachigen Menschen anders denken. Es wird oft schwer sein, eine genauere Antwort auf die Frage bekommen, wo sich denn dieses andere «Denken» zeigt. Man wird solche Meinungen hören, wie daß die Franzosen doch im Wort esprit etwas ganz besonders Französisches ausdrückten. Vermutlich werden aber auch die Eskimos angeführt, die doch so viele Wörter für den Gegenstandbereich hätten, den wir nur mit dem einen Wort Schnee abdecken. Diese berühmten Beispiele müßten sicher im einzelnen genauer betrachtet werden, aber sie deuten doch an, was gemeint ist: Mit dem in den Sprachen sedimentierten partikularen «Denken» wird die Einsicht bezeichnet, daß die Sprachen die Welt geistig (semantisch) jeweils unterschiedlich gestalten. 1.3.1. Die Entdeckung des von Sprache zu Sprache verschiedenen «Denkens» ist eine der großen Entdeckungen der Neuzeit. Der Vater moderner Wissenschaft, der englische Philosoph Francis Bacon, bemerkt in höchst kritischer Absicht, daß die Wörter «Denken» enthalten (allerdings schlechtes, nämlich volkstümliches und unwissenschaftliches), daß Gedanken an den Wörtern «kleben», wie Herder das ausdrücken wird. John Locke sieht wenig später, daß die Wörter in den verschiedenen Sprachen mit verschiedenen «Ideen» verbunden sind, sogar dann, wenn sie Gleiches zu bezeichnen scheinen wie englisch foot und hour gegenüber lateinisch pes und hora. Auch Locke fand das der Wissenschaft und der Aufklärung nicht besonders zuträglich. Aber sein wichtigster Kommentator, Leibniz, sah in den verschiedenen Semantiken der Sprachen eine «wunderbare Vielfalt der Operationen des menschlichen Geistes» und hat daher zur Beschreibung aller Sprachen der Welt aufgefordert. Diese Ermunterung ist das Geburtsdokument der modernen Sprachwissenschaft. Die Sprachwissenschaft hat die wunderbare Vielfalt der Operationen des menschlichen Geistes dann allerdings nicht nur im Wortschatz der Sprachen gesucht, sondern auch in der Grammatik, für 15

die dasselbe gilt: Die Menschen gestalten die geistigen Operationen von Sprache zu Sprache verschieden. Ein Sprecher des Französischen, der beim Erzählen einer Geschichte zwei verschiedene Tempora verwenden muß, «denkt» ja nicht dasselbe wie ein Deutschsprachiger, der dabei nur ein Tempus, das Präteritum, einsetzt. Wer auf französisch erzählt, unterscheidet zwischen dem Vordergrund und dem Hintergrund des Geschehens: Beschreibungen der Szenerie werden mit dem imparfait wiedergegeben, die eigentliche Handlung mit dem passé simple. Niemand hat diese geistige Verschiedenheit der Sprachen emphatischer gepriesen als Wilhelm von Humboldt, nämlich als einen Reichtum der menschlichen Denkkraft: Mehrere Sprachen sind nicht ebensoviele Bezeichnungen einer Sache; es sind verschiedene Ansichten derselben […]. Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der Reichthum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen; es erweitert sich zugleich dadurch für uns der Umfang des Menschendaseyns, und neue Arten zu denken und empfinden stehen in bestimmten und wirklichen Charakteren vor uns da. (VII: 602)1 1.3.2. Aber auch gegen diese inzwischen in das Alltagswissen über Sprache eingegangene Entdeckung protestieren die Vertreter des angeborenen universellen kognitiven Kombinationsmechanismus. Die semantischen Unterschiede zwischen den Sprachen seien keine Differenzen des Denkens. Man fragt erstaunt zurück: Was ist es denn dann, wenn nicht ein Unterschied des «Denkens», wenn die Franzosen den Vordergrund und den Hintergrund des Erzählens markieren oder wenn die Engländer zwischen dem Schwein in der Pfanne (pork) und dem lebendigen Schwein auf dem Bauernhof (pig) unterscheiden, wo die Deutschen keinen Unterschied machen? Natürlich sind diese – kulturellen – Differenzen unerheblich bei der Erforschung universeller biologischer kognitiver Strukturen. Und der universalistische Protest ist eine berechtigte Warnung davor, diese Differenzen über Gebühr zu strapazieren und zu allerlei ideologischen Behauptungen (etwa über die «Mentalität» der Sprecher bestimmter Sprachen) zu mißbrauchen. Berühmt und berüchtigt 16

geworden ist in diesem Zusammenhang die – inzwischen längst widerlegte – Interpretation der «Mentalität» der Hopi-Indianer. Diese könnten die «Zeit» nicht denken, hieß es, weil ihre Sprache keine entsprechenden grammatischen Instrumente hätte. Die Sprachen schließen das Denken aber nicht in kognitive Zwangsjacken ein, sondern im Sprechen denken die Sprecher über die Sprache hinaus. Außerdem ist auch nicht das ganze Denken der Menschen sprachlich (es gibt ja auch bildliches, mathematisches, musikalisches Denken etc.). Die einzelne Sprache macht sozusagen einen Vorschlag, sie skizziert und «färbt» die Gedanken, aber sie schließt sie nicht in feste Formen ein: Wenn mir meine Sprache vorgibt, ein bestimmtes Tier als «Silberfischchen» zu denken (was ja gar nicht so falsch ist, denn das Tier ist silbrig und sieht aus wie ein kleiner Fisch), so verstellt sie mir damit doch nicht die wissenschaftliche Einsicht, daß dieses Tier gar kein Fisch ist. Wenn also die partikular gefärbte Semantik auch in universelles Denken übergehen kann, so ist sie doch «Denken», und zwar je kulturell verschiedenes. Sowohl als auch. 1.3.3. Ist es denn nun gut oder schlecht, daß die Menschheit verschiedene Sprachen hat? Der Heilige Stephan, König von Ungarn, schreibt zu Beginn des 11. Jahrhunderts in sein politisches Testament, daß das ein armes und bedauernswertes Reich wäre, in dem nur eine Sprache gesprochen und in dem nur eine Sitte herrschen würde. Den französischen Revolutionären des achtzehnten Jahrhunderts ist genau dies ein Greuel. Die Vielzahl der Sprachen und Sitten behindert die Kommunikation zwischen den Menschen, sie behindert die Teilhabe der Bürger an der neuen demokratischen Ordnung: Wie soll denn jemand, der gar nicht Französisch kann – und das traf 1789 auf immerhin zwei Drittel der Bevölkerung Frankreichs zu – , am politischen Geschehen des Landes teilnehmen und ein Vollbürger des neuen Staates werden, der auf der aktiven Teilnahme seiner Bürger basiert? Außerdem haben die Revolutionäre natürlich gewußt, daß die gemeinsame Sprache ein wichtiges Mittel zur Ausbildung eines Gemeinschaftsgefühls und kollektiver Identität ist. Sie schlagen daher Maßnahmen zur sprachlichen Vereinheitlichung ihres Landes vor (die allerdings erst einhundertfünfzig Jahre nach der Revolution erfolgreich abgeschlossen sein wird). 17

1.3.4. Weitgehend dachte das abendländische Europa und denkt die westliche Welt immer noch so wie die französischen Revolutionäre: Die Verschiedenheit der Sprachen ist eine Strafe, wie es der biblische Mythos von Babel erzählt. Um die Anmaßung der mit «einerlei Sprache» miteinander kommunizierenden Menschen zu bestrafen, fuhr Gott hernieder und verwirrte die gemeinsame Sprache, die die Menschen noch aus dem Paradies mitgebracht hatten. Die Verschiedenheit der Sprachen sollte die universelle Kommunikation aller mit allen unmöglich machen. Aufhebung dieser alttestamentarischen Strafe, Herstellung der sprachlichen Einheit – und sei es auch nur auf dem Territorium eines Staates – ist daher Wiederherstellung des Paradieses. Angesichts dieses in unserer Kultur so tief verwurzelten Mythos, der die Sehnsucht der Menschen nach der einen, überall verständlichen Sprache artikuliert, haben es die Liebhaber vieler Sprachen wie der König István schwer. Leibniz war, wie wir gesagt haben, einer von ihnen. Gegenüber dem aufgeklärten (und christlich traditionellen) Lamento über die Verschiedenheit der Sprachen plädiert er dafür, sich auf diese Vielfalt einzulassen, die den Reichtum des menschlichen Geistes bezeuge. Babel als Glück und Chance! Wie denn nun? Reichtum oder Plage? Glück oder Strafe? Gerade eben beides. Die Vielzahl der Sprachen ist ein Reichtum des Denkens, ein kultureller Reichtum der Menschheit, und ein kommunikatives Hindernis. Sowohl als auch. 1.3.5. Leibniz zeigt auch, wie man diesen Widerspruch aushalten kann. Bei aller Begeisterung für die babelische Vielheit war Leibniz nämlich auch ein Liebhaber des Paradieses: Für bestimmte Zwecke, zum Beispiel für die Wissenschaft und den internationalen Austausch, hielt er durchaus eine universelle Sprache für denkbar und wünschenswert. Und auch in Richtung Vergangenheit interessierte sich Leibniz für das Paradies. Er nahm nämlich an – wie die historische Sprachwissenschaft auf ihrer Suche nach der Ursprache (bis hin zu Proto-World) und wie die Paläoanthropologen, die uns alle von einer einheitlichen Homo-sapiens-Population aus Afrika abstammen lassen – , daß die Sprache ursprünglich einheitlich war, daß alle Sprachen der Welt von einer Sprache abstammen: von einer lingua adamica. Das heißt, er war zutiefst davon überzeugt, daß bei 18

aller geschichtlichen Vielfalt Sprache und Geist bei allen Menschen letztlich identisch ist. Sowohl als auch. Der dritte biblische Sprach-Mythos, Pfingsten, stellt dieses Sowohl-als-auch in einer schönen Geschichte dar: Zu Pfingsten wird die babelische Vielfalt der Sprachen nicht aufgegeben, es wird nicht das Paradies wiederhergestellt, sondern das kommunikative Hindernis der Sprachverschiedenheit wird dadurch überwunden, daß man die anderen Sprachen spricht (zugegeben: bei den Aposteln geht das mit Hilfe des Heiligen Geistes einigermaßen mühelos). Die Menschheit braucht nicht «einerlei Sprache», um desselben Geistes zu sein. Der eine und universelle (heilige) Geist manifestiert sich in allen partikularen Stimmen und Geistern der Völker. Pfingsten lehrt, daß beides zusammengehört: die Einheit und die Verschiedenheit der menschlichen Sprachen. 1.3.6. Derzeit schlägt das Pendel allerdings wieder stark zugunsten der Einheit aus, sowohl in wissenschaftlicher als auch in politischer Hinsicht, vielleicht auch weil in beiden Hinsichten die auf Verschiedenheit bezogenen – babelischen – Projekte an ein Ende gelangt sind: Nach der Beschreibung der Verschiedenheit der Sprachen fragt man in der Sprachwissenschaft, ob dieser geradezu tropischen Üppigkeit etwas Gemeinsames zugrunde liegt. Und der auf Sprache bezogene nationale Partikularismus ist ein politisch problematisches Konzept geworden, vor dem uns transnationale oder universelle Perspektiven Rettung versprechen. Der sprachtheoretische Universalismus, der die Differenzen herunterspielt und die Einheit betont, paßt daher ganz ausgezeichnet zur sprachlichen und kulturellen Globalisierung. Er begünstigt auch das derzeit sehr intensive Interesse an der Frage nach dem Ursprung der Sprache, die strukurell immer eine Frage nach dem Paradies ist. 1.4. Die Verschiedenheit der Sprachen, Babel – ob Glück oder Strafe – , ist natürlich noch nicht überwunden: Man schätzt im allgemeinen, daß es heute noch 6000 Sprachen gibt. Bei dieser Zahl muß man in Rechnung stellen, daß es oft schwer zu sagen ist, wo die eine Sprache endet und wo die andere beginnt, was als «Sprache» und was als «Dialekt», also als Variante einer Sprache, angesehen werden soll. Wie groß auch immer die Zahl noch sei, es läßt sich 19

absehen, daß viele dieser Sprachen schon in der nächsten Zukunft verschwinden werden. Die Organisation der modernen Welt läßt kleine Gruppen zunehmend in größeren politischen Verbänden aufgehen, wobei sie auch ihre Sprachen aufgeben. Man hat dieses Aussterben der Sprachen mit dem Rückgang der Biodiversität verglichen. In der Tat schwindet der Reichtum des menschlichen Geistes, der Leibniz und später Wilhelm von Humboldt so am Herzen lag. Mit jeder Sprache, die verstummt, stürzt eine Kathedrale menschlichen Denkens ein, verschwindet eine Möglichkeit, die Welt zu denken. Wie beim Bau eines Staudamms das Wasser des Flusses das alte Dorf, die kostbaren Tempel, die alte römische Stadt überflutet, so begraben die größeren Sprachen die kleinen Sprachgemeinschaften unter sich. Aber kann man ernsthaft dem bretonischen Bauern raten, nicht zum Französischen überzugehen, seine Kinder auf bretonisch zu sozialisieren? Offenbar schätzten die Bretonen bei der Aufgabe ihrer Sprache den Gewinn höher ein als den Verlust. Sie haben mit dem Übergang zum Französischen die Teilhabe an einer prestigereichen Kultursprache, die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, die Zugehörigkeit zur größeren Nation gewonnen. Sie haben umgekehrt natürlich ein Stück «Heimat» verloren, ihre Geschichte, ihre Geschichten und ihre Lieder, und das alternative «Denken», welches ihnen ihre Sprache darbot (genau dies – oldspeak, d. h. oldthink – sollte nach dem Willen der revolutionären Vereinheitlicher von 1789 ja auch verschwinden). Die «großen» Sprachen werden aber von dieser Dynamik nicht verschont, auch sie werden, in bestimmten Bereichen schon ganz massiv, von der großen globalen Sprachflut überspült. Wie Inseln ragen sie noch aus dem globalen See hervor. Aber können wir uns ernsthaft der Teilnahme an weltweiter Kommunikation verweigern? Wohl nicht. Dennoch verlieren wir mit dem Umzug ins Offene, in die große weite Welt, mit dem Umzug ins Paradies – wie der bretonische Bauer – die engere Heimat und schließlich wohl auch eine Möglichkeit, «anders» zu denken und anders zu leben. Nun, es ist ja das Paradies, da braucht man nicht mehr anders zu denken oder zu leben, Alternativen erübrigen sich. Ende des Sowohl-als-auch. Aber: Bevor es soweit ist, möchte das vorliegende Buch das Sowohl-als-auch doch noch ein bißchen offenhalten. 20

1.5. Im ersten Teil des Buches – Arbeit des Geistes – geht es um einige der angedeuteten Grundprobleme der Sprache überhaupt: um ihr strukturelles Grundprinzip und ihren Ursprung, der zur Zeit wieder so leidenschaftlich diskutiert wird, um ihre konstitutive Fremdheit und um die Frage, welche Art von Wissen die Kenntnis der Sprache ist. Im zweiten Teil werden verschiedene Aspekte der großen Frage nach der Sprache – der Questione della lingua – behandelt, die Europa seit der Renaissance beschäftigt, als die Erbschaft seiner untergehenden Universalsprache Latein geregelt werden mußte: Ausgehend von den in Italien gesetzten Koordinaten moderner Sprach-Kultur wird gefragt, ob die Wissenschaft, ob ein demokratischer Staat, ob Europa heute eine einheitliche Sprache, ein Neues Latein, brauchen oder mehrsprachig bleiben sollten. Die Antwort auf die Frage nach der Sprache Europas hängt im übrigen entscheidend davon ab, wie die deutsche Sprachgemeinschaft in Europas Mitte ihre Sprach-Kultur zurichten wird, beziehungsweise ob sie durch eine verzweifelte Sprach-Passion überhaupt noch zu retten ist. Die beiden Kapitel des dritten Teils – Dichtung und Wahrheit – betreffen zwei große europäische Diskurstraditionen, die Geschichte und die Dichtung, und erkunden die mit ihnen verbundenen Fragen nach der Wahrheit und nach der Schönheit der Sprache. Sprache als Wissen, Kultur und Poesie sind die drei Dimensionen, in denen sich meine Sprach-Fragen bewegen.

Arbeit des Geistes

2. Vom Schrei zur Artikulation: Über den Ursprung der Sprache 2.1. Kreativität und Artikulation Wilhelm von Humboldt wird von Noam Chomsky und der von Chomsky abhängigen Sprachwissenschaft seit Jahrzehnten als Gründungsvater der Linguistik angerufen, weil er die Kreativität der Sprache erkannt habe, die Tatsache, daß Sprache «von endlichen Mitteln unendlichen Gebrauch» mache. Dieses zentrale Prinzip der Sprache wird technisch genauer als «Rekursivität» gefaßt. Es handelt sich dabei um die Möglichkeit, eine (syntaktische) Regel immer wieder anzuwenden, so daß unendlich viele und unendlich lange Sätze entstehen können.1 Humboldt hat in der Tat gesagt, daß die Sprache «von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen» müsse (VII: 99), aber er hat das nicht in dem Sinne gemeint, in dem man das im Kontext der generativen Sprachwissenschaft verstanden hat, gar im technischen Sinne von Rekursivität.2 Rekursivität ist in der generativen Theorie das Grundprinzip von Sprache überhaupt, sie ist ihr Wesenszug, und sie ist damit auch der Kern des menschlichen Geistes, der Zug, der menschliche Sprache von tierischem Verhalten unterscheidet. Es kann daher auch nicht überraschen, daß Erkundungen zum Ursprung der Sprache sich auf die Suche nach Rekursivität machen. Wo diese auftritt, ist der Ursprung der Sprache. Moderner gesagt: in einer evolutionsbiologischen Perspektive muß nach Vorgängern für Rekursion in der Naturgeschichte des Menschen gesucht werden.3 Es geht mir hier nicht darum, zu entscheiden, ob tatsächlich Rekursivität der entscheidende Zug menschlicher Sprache ist oder nicht. Wohl aber möchte ich der Chomskyschen Anrufung Humboldts entgegenhalten, daß, wenn man einen zentralen Begriff in Humboldts Sprachauffassung suchen würde, man sicher nicht auf den Begriff der Rekursivität der Sprache stoßen würde. Natürlich 25

macht die Sprache unendlichen Gebrauch von endlichen Mitteln, aber dies ist bei Humboldt kein besonderes Charakteristikum von Sprache. Die Natur verfolgt «mit endlichen Mitteln unendliche Zwecke», schreibt Humboldt einmal, lange bevor er sich mit Sprache beschäftigt (I: 322). Und in der Tat kommt dieses Prinzip, jedenfalls so wie Humboldt es versteht, aus seiner Naturphilosophie. Es ist ein allgemeines Prinzip des Lebens, das überhaupt nicht auf Sprache beschränkt ist, sondern alle kreativen Vorgänge betrifft. Es hat daher in seiner Sprachtheorie auch nicht den Status eines technisch-strukturellen Prinzips wie die Kreativität-Rekursivität in der generativen Theorie. Der Begriff aber, der ganz sicher das Wesen der Sprache für Humboldt ausmacht, der gleichzeitig ein durchaus technisch-strukturelles Prinzip bezeichnet und den er ausführlich theoretisch ausführt, ist derjenige der «Artikulation» oder der «Gliederung»: «Da die Articulation das Wesen der Sprache ausmacht […]» (V: 115) oder: «Die Gliederung ist aber gerade das Wesen der Sprache» (V: 122). Wenn man Humboldt in dieser Auffassung folgt, müßte man in einer evolutionären Fragestellung nach der Entstehung und Entwicklung von «Artikulation» suchen. Humboldt meinte mit der Tatsache, daß Sprache wesentlich «artikuliert» sei, grob gesagt, etwas Zweifaches: nämlich daß wir in «artikulierten» Tönen sprechen, also in Kombinationen von unterscheidbaren Lautproduktionen, und daß mit diesen «artikulierten» Tönen die Sprache auch die geistigen Erfahrungen des Menschen «gliedert», also die Welt in «Bedeutungen» oder in «Gedanken» einteilt und kombiniert. Dieses allgemeine zweiseitige Gliederungs-Prinzip heißt in der Sprachtheorie amerikanischer Provenienz nicht «articulation». «Articulation» ist dort, wenn ich es richtig sehe, nur auf die Lautproduktion bezogen. Die Verbindung der phonetischen Artikulation mit der semantischen Gliederung, von der bei Humboldt die Rede ist, erscheint dort unter dem Stichwort der «duality of patterning».4 Diese wird dort zwar durchaus als eine der universellen Eigenschaften der Sprache betrachtet, sie ist aber nicht wie die Rekursion die fundamentale Eigenschaft der Sprache überhaupt. Der Begriff der Artikulation hat aber in anderen wissenschaftlichen Traditionen (damals, als es noch andere Traditionen gab) durchaus eine zentrale Rolle gespielt, so etwa als «double articula26

tion» oder «zweifache Gliederung» in der strukturellen Sprachwissenschaft, besonders in Frankreich. Die französische Tradition bezieht sich dabei aber nicht ausdrücklich, sondern bestenfalls implizit auf Humboldt. Der Theoretiker der (doppelten) Artikulation war in Frankreich André Martinet, der sich dabei vor allem auf den dänischen Linguisten Louis Hjelmslev berief, welcher sich seinerseits als den Vollender Saussurescher Gedanken betrachtete. Hjelmslev hatte in seiner Saussure-Interpretation herausgestellt, daß die beiden unauflöslich miteinander verbundenen Seiten der Sprache, das Lautliche und das Inhaltliche, jeweils anders gestaltet sind, daß also das Lautliche nicht einfach ein Abbild des Inhalts ist, sondern daß der Laut eine andere Form hat als der Inhalt. Daß also z. B. das deutsche Wort Fisch einerseits aus einer Lautsequenz / fi∫ / besteht, die nichts Fischartiges oder Fischförmiges hat, sondern aus drei lautlichen Einheiten (Phonemen) kombiniert ist, und andererseits aus der Bedeutung «Fisch». Hjelmslev benutzt den Ausdruck der «Artikulation» nicht, sondern spricht von zwei unauflösbar miteinander verbundenen unterschiedlichen «Formen»: der Verbindung von Ausdrucksform und Inhaltsform.5 Martinet faßt diesen Gedanken unter dem Ausdruck der «doppelten Gliederung» folgendermaßen zusammen: Il convient toutefois de préciser cette notion d’articulation du langage et de noter qu’elle se manifeste sur deux plans différents: chacune des unités qui résulte d’une première articulation est en effet articulée à son tour en unités d’un autre type. La première articulation du langage est celle selon laquelle tout fait d’expérience à transmettre, tout besoin qu’on désire faire connaître à autrui s’analyse en une suite d’unités douées chacune d’une forme vocale et d’un sens. […] Mais la forme vocale est, elle, analysable en une succession d’unités dont chacune contribue à distinguer tête par exemple d’autres unités comme bête, tante ou terre. C’est ce qu’on désignera comme la deuxième articulation du langage. (Martinet 1960: 17–19) Man muß aber diesen Begriff der Gliederung der Sprache präzisieren und feststellen, daß sie sich auf zwei verschiedenen Ebenen manifestiert: jede der Einheiten, die aus einer ersten Gliederung hervorgeht, wird in der Tat ihrerseits in Einheiten eines anderen 27

Typs gegliedert. Die erste Gliederung der Sprache ist diejenige, nach der jede zu übertragende Erfahrungstatsache, jedes Bedürfnis, das man dem anderen mitteilen möchte, in eine Folge von Einheiten zerlegt wird, die alle aus einer vokalen Form und einem Sinn bestehen. […] Aber die vokale Form ist ihrerseits zerlegbar in eine Folge von Einheiten, die alle dazu beitragen z. B. tête von Einheiten wie bête, tante oder terre zu unterscheiden. Wir nennen das die zweite Gliederung der Sprache. Da sowohl Saussure als vor allem auch Hjelmslev Humboldt kannten, könnte man bei diesen beiden Denkern ein Weiterleben Humboldtscher Gedanken annehmen. Im Cours de linguistique générale, wo er den Ausdruck der «Artikulation» einführt, bezieht sich Saussure ausdrücklich auf die deutsche Redeweise von «gegliederter Sprache» (Saussure 1916: 26). Er spricht an dieser Stelle von der lautlichen «Artikulation» (in Silben, nicht in Phoneme!), vor allem aber von der Gliederung der Welt in bedeutende Einheiten, also von der «ersten» Gliederung (Saussure 1916: 156). Aber er sagt nicht, ob er sich dabei auf einen bestimmten deutschen Sprachwissenschaftler bezieht. In einem anderen Text geht Saussure allerdings ausgesprochen kritisch mit dem Ausdruck der «Artikulation» um.6 Es kommt aber auch gar nicht so sehr auf den Ausdruck als auf die Sache an. Und was die Sache angeht, so hat sie Saussure ganz zentral beschäftigt. Dies wird auch aus den kürzlich erst aufgefundenen Saussure-Manuskripten deutlich, deren größter Teil – unter dem Titel De l’essence double du langage («Vom doppelten Wesen der Sprache») – genau um das Problem der doppelten Gliederung kreist, auch wenn der Ausdruck dort nicht vorkommt.7 Es ist vielleicht auch gar nicht nötig, hier irgendwelche tiefgreifenden Beziehungen zwischen verschiedenen Sprachdenkern anzunehmen aus dem einfachen Grund, daß das Prinzip der Artikulation sozusagen jedem, der über die Sprache nachdenkt, in die Augen fällt. Dennoch ist dieses Prinzip gar nicht so leicht zu fassen und zu beschreiben. Soweit ich sehe, hat Humboldt als erster die verschiedenen Fäden und Momente zusammengefaßt und zu einer kohärenten Theorie sprachlicher Artikulation ausgearbeitet. Bevor ich Humboldts Artikulationstheorie darstelle, möchte ich aber die Schwierigkeiten andeuten, die das Sprachdenken vor Hum28

boldt mit einer Theorie der Artikulation hatte. Ich gehe dabei von den drei prominentesten Texten des 18. Jahrhunderts über die Sprache aus, die – gemäß der typischen diachronischen Fragestellung des Jahrhunderts – gleichzeitig Texte über den Ursprung der Sprache sind: Condillacs Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746), Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) und Rousseaus Essai sur l’origine des langues (1781). Der Zwang dieser Abhandlungen, Vorstufen der (artikulierten) Sprache zu imaginieren und dabei die theoretischen Momente der Sprache in eine zeitliche Sukzession zu bringen, fördert zwar die Elemente einer Theorie der Artikulation in aller Klarheit – und Naivität – zutage, verhindert aber andererseits wohl auch eine Synthese, wie sie erst Humboldt gelingt. Es geht um den Ausgang der Artikulation aus dem Schrei.

2.2. Schrei und Artikulation 2.2.1. Der dritte Akt von Richard Wagners Parsifal beginnt unartikuliert, mit einem Stöhnen: Von dorther kam das Stöhnen. So jammervoll klagt kein Wild, und gewiß gar nicht am heiligsten Morgen heut. (Dumpfes Stöhnen von Kundrys Stimme) Auch wenn Gurnemanz meint, daß kein Wild so jammervoll klagt, so ist Kundry ins Animalische zurückgekehrt – sie stöhnt nur noch, sie spricht nicht mehr, d. h. sie artikuliert nicht mehr. Zwei Worte sagt sie – kurzfristig in die menschliche Gemeinschaft zurückkehrend – doch noch im dritten Akt von Parsifal: «Dienen … Dienen!» Sie artikuliert noch einmal, wenn auch nicht gerade in syntaktisch hochelaborierter Rede, dann verstummt sie ganz. Kundry, die unerlöste Wundenverlacherin des Heilands, das sündhafte Weib, hatte im zweiten Akt wortreich versucht, Parsifal zu verführen, so wie Eva, die erste Sprecherin der Menschheit, versucht hat, Adam zu verführen. Anders als Eva scheitert sie aber. Sie verläßt daraufhin die Gemeinschaft der Menschen und streift alles 29

Menschliche ab, sie vegetiert nur noch vor sich hin – wie ein Tier – in Erwartung ihrer Erlösung und ihres Todes. Da die Verführung durch Sprache – also durch die sprachtypische Verbindung «artikulierter» Laute mit «Bedeutungen» – mißlingt, gibt Kundry die Sprache, menschliche Gedanken-Mitteilung, auf. Das verbleibende Stöhnen ist reine Expressivität, Ausdruck des Leidens ihrer Seele und ihres Körpers. Solange Kundry noch einmal in die Menschengemeinschaft zurückgeholt wird, unterläßt sie zwar das Stöhnen (das wäre auch musikalisch überaus störend), sagt aber nur noch das eine Wort: «Dienen!» Auch dieses wiederholte Wort «Dienen» ist vor allem expressiv, es drückt – allerdings eben mit den Mitteln des artikulierten Worts – ihren innersten Wunsch aus, den sie noch den Menschen mitteilt (wie hätte sie ihn auch sonst mitteilen sollen?). Nach dieser letzten artikulierten Mitteilung verstummt Kundry endgültig und «dient», sprachlos bis zu ihrem Tod: Sie wäscht Parsifal, trocknet ihm mit den Haaren die Füße, wird getauft, stirbt. Das heißt sie handelt bis zu ihrem Ende intentional und zielgerichtet. Insofern ist sie kein Tier, sondern ein Mensch. Aber sie verweigert sich jener Ebene der Menschheit, auf der seit Eva die Verführung und die Sünde angesiedelt sind, dem Miteinander-Sprechen. Kundry gehört zu jenen Figuren der Literatur, die in völliger emotionaler Überwältigung die Sprache verlieren, wie Alkmene in Kleists Amphitryon, die nur noch die Interjektion «Ach!» verströmt, bevor das Stück endet. Die Interjektion markiert – wie Kundrys Stöhnen – den Übergang in die Sprachlosigkeit. Was beide Frauen überwältigt, ist das Göttliche. 2.2.2. Dieser Verlust der Sprache: artikulierte Sprache ⇒ Interjektion ⇒ Schrei ⇒ Stille, ist ein Spiegelbild der klassischen Szenarien des menschheitlichen Erwerbs der Sprache, des Ursprungs der Sprache: Im 18. Jahrhundert geht, wie immer sich die Geschichten über den Ursprung der Sprache im Detail unterscheiden, Sprache aus dem Schrei hervor: Stille ⇒ Schrei ⇒ Interjektion ⇒ artikulierte Sprache. Die Sprache ist ein Zähmen des Schreis durch Artikulation. In diesem Prozeß sind drei Momente zu unterscheiden: erstens das phonische Ereignis des Schreis selbst, zweitens die Gewinnung willentlicher Herrschaft über das phonische Ereignis und 30

drittens die Gliederung des phonischen Ereignisses, die eigentliche «Artikulation». 2.2.2.1. Grundlegend für das 18. Jahrhundert ist die Erzählung des Sprachursprungs von Condillac, der die Sprache aus dem «cri des passions», dem Schrei der Leidenschaften oder, wie Herder übersetzt: dem «Geschrei der Empfindungen», hervorgehen läßt: Der «Urmensch», der ein Bedürfnis empfindet (etwa Hunger oder Durst), das er nicht unmittelbar und allein befriedigen kann, stößt einen Schrei aus, begleitet von der Bewegung seines Körpers, d. h. der «Urschrei» ist gar nicht nur Schrei, sondern ein gesamtsomatisches Ereignis, ein Doppelereignis von Schrei und Handlung (action). Während der Schrei im wesentlichen die Emotion ausdrückt (also der Bühlerschen «Kundgabe» entspricht), deutet die Gebärde (action) auf die Sache (sie ist also Index bzw. in Bühlerschen Termini «Darstellung»). Dieser Schrei der Passion wird von einem anderen Menschen wahrgenommen, der dem Schreienden in einem Akt der Kom-Passion, des Mit-Leids, zur Hilfe kommt (der Schrei war damit also gleichzeitig auch «Appell»).8 Rousseau kritisiert dieses Szenario, weil er an dem angeborenen Instinkt zum Mit-Leiden zweifelt. Die Liebe zum anderen muß nach Rousseau erst erfunden werden. Daher fällt Rousseaus UrSzene der Spracherfindung auch zusammen mit der Erfindung der Liebe: Aber auch hier ist das Ur-Wort ein lautliches Ereignis, das allerdings schon von einer «höheren» Passion, von einem «moralischen Bedürfnis» (besoin moral), nämlich der Liebe, kündet. Daher ist es eigentlich auch kein Schrei mehr, sondern Gesang, also schon sublimiertes Geschrei: Das erste Wort singt, aber noch ziemlich unartikuliert, «Aimez-moi!»: «Lieben Sie mich!» Es drückt dieses Gefühl aus («Kundgabe») und ist zugleich «Appell» an den anderen. Bei Herders Ursprungsszenario schreit nicht der spracherfindende Mensch (er gibt weder seine Passion kund, noch appelliert er an den anderen), sondern die lebendige Welt, der er gegenübersteht und die er «kennenlernen» möchte: es blökt das Schaf. Insofern geht hier die Sprache nur indirekt aus dem Schrei hervor, nämlich aus dem gehörten Schrei. Der Mensch hört den Schrei des Lammes und schafft ihn in seinem Inneren nach, der innere Schrei ist ein akusmatisches Lautbild, welches der erste Gedanke ist.9 Erst in 31

einem dritten Schritt – nach dem Schrei des Lammes und dem akusmatischen Gedanken-Schrei des Menschen – tritt der Schrei nach außen: als onomatopoetisches Lautbild des Gedanken. Bei den Urwörtern dieser philosophischen Erzählungen handelt es sich je nach der angenommenen Grundfunktion der Sprache um zwei verschiedene Arten von Wörtern mit grundverschiedenen Semantiken: einerseits um Wörter mit emotiv-pragmatischen Bedeutungen («ich habe Hunger», «hilf mir!», «liebe mich!»), andererseits um Wörter, die Objekte in der Welt darstellen, um Wörter mit referentiell-repräsentativen Bedeutungen («Schaf» bzw. in Herders Formulierung des ersten Gedanken-Worts: «Ha! du bist das Blökende!», Herder 1772: 33). Der Schrei der Leidenschaft erscheint gezähmt als Interjektion (Condillac, Rousseau), der Schrei der Welt als akusmatisches Bild und Onomatopoesie (Herder). 2.2.2.2. Spracherfindung ist – zweitens – in diesen Geschichten immer auch Ausgang aus der Überwältigung durch den Körper und die «Passionen» (seien diese physische Bedürfnisse, «moralische» Gefühle oder Sinneswahrnehmungen) und Übergang ins eigene, zielgerichtete Handeln. Condillac spricht davon, daß die Menschen über ihren Schrei «verfügen» (disposer) müssen, wenn man von Sprache sprechen soll. Erst dann sind wir im Bereich des menschlichen Handelns und der «künstlichen», also vom Menschen gemachten – und in diesem Sinne «willkürlichen» – Zeichen. Herder stellt das vielleicht am schönsten heraus, wenn er als Bedingung der Möglichkeit der Sprache das Moment des «Innehaltens», des Anhaltens des «Ozeans von Empfindungen», festhält: «Reflexion» oder genauer: «Besonnenheit» nennt er die nur dem Menschen angeborene Fähigkeit, die es ermöglicht, die Überwältigung durch die Empfindungen zu überwinden: Der Mensch beweiset Reflexion, wenn die Kraft seiner Seele so frei würket, daß sie in dem ganzen Ocean von Empfindungen, der sie durch alle Sinnen durchrauschet, Eine Welle, wenn ich so sagen darf, absondern, sie anhalten, die Aufmerksamkeit auf sie richten, und sich bewußt seyn kann, daß sie aufmerke. (Herder 1772: 31 f.) 32

Bei Rousseau ist die «Zähmung» des Passionalen und Passiven insofern angedeutet, als das erste Liebeswort kein Brunftschrei ist, kein Ausdruck eines physischen Bedürfnisses (besoin physique), sondern, als Sublimierung des Triebs, eben Ausdruck des «besoin moral», des moralischen Gefühls der Liebe. «Überwältigt» ist der Liebende natürlich noch, aber doch eben nicht von der puren Sexualität, sondern von einem «höheren» Gefühl. 2.2.2.3. Drittens ist den Sprachursprungstheoretikern des 18. Jahrhunderts klar, daß sich die «eigentliche» Sprache vom willentlich produzierten Schrei (der ja ein holistisches Lautgebilde, eine Lautgebärde sein kann) durch ihre Artikulation unterscheidet. Allerdings scheinen die Vorstellungen von «Artikulation» noch eher unklar zu sein. Wie die willentliche Produktion von deutlich unterschiedenen Lauten (Phonemen) und deren Sequenzierung zu bedeutungsvollen Einheiten zustande kommt, wird nur ansatzweise erörtert. Condillac müht sich redlich ab, die Entstehung der Artikulation zu erklären. Das Wort «articuler» erscheint: «ils articulèrent de nouveaux sons» (Condillac 1746: 196). Es bezeichnet offensichtlich zunächst nur die willentliche Lautproduktion, es ist wohl synonym mit «prononcer», «aussprechen». Condillac beschreibt dann einen Zähmungsprozeß der Zunge: Die Menschen müssen die Zunge ihrem Willen unterwerfen, damit die «natürlichen» Zeichen «willkürlich» (arbitraires) werden. Da dies aber bei der Zunge nicht so einfach ist, wird aus dem doppelmedialen Gesamtereignis (Schrei und Gebärde) zunächst das Gestische, der «langage d’action», vorgezogen, das leichter in den Griff zu bekommen sei: «bien plus à sa portée». Dann aber (warum nur?) wird nach vielen Generationen die «artikulierte Lautsprache», «le langage des sons articulés» (Condillac 1746: 196), vorherrschend. Und nun nähert sich Condillac dem Gedanken der phonematischen Gliederung des Lautlichen. Die violenten Bewegungen des Körpers sind dabei das Modell für eine beginnende Gliederung der Stimme: § 13. La parole, en succédant au langage d’action, en conserva le caractère. Cette nouvelle manière de communiquer nos pensées, ne pouvoit être imaginée que sur le modèle de la première. Ainsi, 33

pour tenir la place des mouvemens violens du corps, la voix s’éleva et s’abaissa par des intervalles fort sensibles. (Condillac 1746: 200) Als die Rede auf die Handlungssprache folgte, bewahrte sie aber deren Charakter. Diese neue Art, unsere Gedanken mitzuteilen, konnte nur nach dem Vorbild der ersten Art verwirklicht werden. Um an die Stelle der lebhaften Bewegungen des Körpers treten zu können, hob und senkte sich dergestalt die Stimme in deutlich spürbaren Intervallen. Ausgesprochen interessant ist in moderner evolutionsbiologischer Perspektive, daß die Stimme sich parallel zur Bewegung (action) entwickeln soll. Dieses Heben und Senken der Stimme «durch deutlich spürbare Intervalle» ist ein erster Schritt auf dem Weg zur lautlichen Gliederung, also der gelenkigen Verbindung unterschiedlicher Lautsegmente. Merkwürdigerweise bleibt Condillac aber bei dieser prosodischen Unterscheidung stehen. Er spricht noch von den 328 Silben des Chinesischen (aber woher kommen die?), die durch fünf Töne suprasegmental differenziert würden, aber er schreitet nicht zu den segmentalen Einheiten des Wortes, zu den Phonemen, fort. Im Kapitel «Des mots» geht es nicht mehr um die Lautgestalt der Wörter, sondern um deren Semantik. Herder handelt ausführlicher über das Unartikulierte und das Halbartikulierte, also über das, was nicht Sprache ist, als über die Artikulation. Die Condillacschen oder Rousseauschen emotionalen Laute – die «cris des passions» – lehnt er als tierische «Naturtöne» als irrelevant für den Ursprung der Sprache ab. Er nennt sie «halbartikuliert» und «unschreibbar» (d.h. nicht mit Buchstaben wiederzugeben). Sie sind nicht die «Wurzeln» der Sprache, wie Condillac und Rousseau annehmen. Ursprüngliche Sprachlaute sind bei Herder nicht diejenigen, die Gefühle ausdrücken, sondern die welt- und gedanken-imitierenden onomatopoetischen Laute (die dann übrigens auch immer schon «national» verschieden sind). Die eigentliche Artikulation bleibt aber bis zum Ende der Abhandlung ein Geheimnis: Der sonderbare, und schwere Gedanke, sich aus den Bestandtheilen der willkührlichen Worte, aus Lauten, willkührliche Zei34

chen zu bilden, ist so springend, so verwickelt, so sonderbar, daß es gewiß unerklärlich wäre, wie Viele und so Viele auf den Einen so enfernten Gedanken, und alle ganz auf Eine Art auf ihn gefallen wären. (Herder 1772: 104) Eigentlich ist dies die Frage nach der Entstehung der Buchstabenschrift. Aber die Einsicht in die lautliche Artikulation, in die «Bestandteile der willkürlichen Worte», hängt historisch tatsächlich mit der Erfindung der Buchstabenschrift zusammen, die ja nichts anderes ist als die Einsicht in die Gliederung des Lautstroms in seine «Bestandteile». Die ausführlichste Theorie der Artikulation, nämlich diejenige von Humboldt, wird daher auch im Zusammenhang mit Überlegungen zur Buchstabenschrift entwickelt. Rousseau ist, vermutlich weil sein Ursprungs-Essai ja auch ein Essai über die Musik ist, am klarsten: Die Artikulation ist nämlich die Zerstörung des Gesangs des Anfangs. «Articulation» heißt bei ihm, dem Sprachgebrauch der Zeit entsprechend, vor allem: «Konsonant». Artikulation ist daher im wesentlichen: Einfügung von Konsonanten in den musikalischen Strom der singenden Stimme. Am Anfang passen die Konsonanten noch gut zum Gesang, der damit fließender wird: Comme les voix naturelles sont inarticulées, les mots auroient peu d’articulations: quelques consones interposées effaçant l’hiatus des voyelles suffiroient pour les rendre coulantes et faciles à prononcer. (Rousseau 1781: 51) Da die natürlichen Stimmen unartikuliert sind, hätten die Wörter wenige Artikulationen: einige dazwischengestellte Konsonanten, die den Hiatus zum Verschwinden bringen, würden genügen, sie fließend und leicht aussprechbar zu machen. Zunehmend aber zerstören die Konsonanten den schönen Gesang des Ursprungs und damit auch den reinen Ausdruck der Liebe, das Melisma des «Aimez-moi!» Durch die Untergliederung des Gesangs, durch die Zerstörung ihrer Musikalität mit konsonantischem Lärm wird die Sprache zunehmend «intellektuell», d. h. sie drückt nicht mehr Gefühle aus, sondern stellt zunehmend «Ideen» dar: 35

A mesure que les besoins croissent que les affaires s’embrouillent que les lumières s’étendent le langage change de caractére; il devient plus juste et moins passioné; il substitüe aux sentimens les idées, il ne parle plus au cœur mais à la raison. Par-là même l’accent s’éteint l’articulation s’étend, la langue devient plus exacte plus claire, mais plus traînante plus sourde plus froide. (Rousseau 1781: 55) In dem Maße, in dem die Bedürfnisse wachsen, die Geschäfte sich verwickeln, die Einblicke sich erweitern, wechselt die Sprache ihren Charakter: sie wird richtiger und weniger leidenschaftlich, sie setzt Ideen an die Stelle der Gefühle, sie spricht nicht mehr zum Herzen, sondern zur Vernunft. Dadurch verlöscht der Akzent und weitet sich die Artikulation aus, die Sprache wird genauer, klarer, aber auch flacher, stummer, kälter. Für Rousseau ist die Artikulation gerade der Sündenfall der Sprache: Sie ist zwar der Ursprung der «normalen» menschlichen Sprache, gleichsam der zweite Ursprung der Sprache, aber sie ist eben auch zugleich das Ende der «eigentlichen» Sprache, der singenden Sprache der Liebe. Mit der Ausbreitung der Artikulation verändert sich auch die Semantik der Wörter: Nicht mehr Gefühle (sentimens), Passionen, transportiert die artikulierte Sprache, sondern «Ideen», also objektive Vorstellungen. Auch bei Rousseau öffnet sich mit der Artikulation, also mit der Gliederung des Lauts in miteinander gelenkig verbundene Sequenzen, die Perspektive auf die Schrift. Die «artikulierende» Schrift, die Buchstabenschrift, radikalisiert die Zerstörung der schönen Sprach-Musik des Anfangs, die sie «analysiert» (Rousseau 1781: 57), und beschleunigt damit den Niedergang der Sprache in der Zivilisation. Schrift ist nicht nur wegen der «Analyse» Zerstörung der Sprache, sondern auch weil sie als visuelle Sprache wieder in das Medium des vormenschlichen Stadiums zurückfällt: in die Gebärde, in das Sichtbare. Sie ist eigentlich das Zeichen der Wildheit der Zivilisation. 2.2.3. Genau um die Sprache als Erzeugerin von Ideen, um Sprache als Darstellung, die Rousseau als Ende der (eigentlichen) Sprache ansieht, geht es aber Herder, der den Schrei der Empfindung als Quelle der Sprache ablehnt. Was Rousseau als Niedergang des 36

schönen Gesangs des Anfangs kritisiert, stellt Herder in den Mittelpunkt seines Szenarios: die Entstehung eines ersten Begriffs, einer «Idee». Abweichend vom abendländischen Mainstream, in dem die «Idee» ein visuelles Ereignis ist, faßt Herder, der ein akroamatischer Denker ist, ein Denker des Hörens, die Entstehung des ersten Wortes und des ersten Gedankens allerdings als eine akusmatische Vorstellung. Herder ist mehr an der Genese des Gedanken oder der Bedeutung als an der Genese des artikulierten Lautes interessiert, der kommunikative Laut kommt erst in zweiter Linie. Herder ist daher eher ein Theoretiker der Gliederung der Welt in sprachliche Vorstellungen, der «ersten» Gliederung, wie sie später genannt worden ist. Darum geht es bei seiner kognitiven Wende der Sprachursprungstheorie. Während er nur Andeutungen über die lautliche Gliederung macht, schreibt Herder sehr interessante Seiten über die verschiedene inhaltliche Gliederung der Welt durch die Sprache, zum Beispiel: Wenn der Araber für Stein, Cameel, Schwert, Schlange (Dinge, unter denen er lebt!) so viel Wörter hat; so ist die Ceylanische Sprache, den Neigungen des Volks gemäß, reich an Schmeicheleien, Titeln und Wortgepränge. Für das Wort «Frauenzimmer» hat sie nach Stand und Rang zwölferlei Namen. (Herder 1772: 62 f.) Dennoch bleibt festzuhalten: Der erste Gedanke des Herderschen Urmenschen (und folglich auch das Denken der Menschen überhaupt) ist nicht nur etwas Semantisches, objektive «Bedeutung», sondern auch ein phonetisches Gebilde, da dieser erste Gedanke ja der akusmatische Schrei (des Lammes) ist. Ebenso gilt umgekehrt: Der «cri des passions», sowohl bei Condillac als auch bei Rousseau, ist nicht nur ein phonetisches Ereignis, sondern hat immer auch «Bedeutung», auch wenn diese ein «Gefühl» und kein «Gedanke» im Sinne Herders ist.

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2.3. Das Theilungsgeschäft der Sprache Wie verschieden auch immer die Schwerpunkte der Ursprungsszenarien im 18. Jahrhundert sind – kommunikativ-emotional bei Condillac und Rousseau, kognitiv bei Herder – , das Sprachdenken des 18. Jahrhunderts versucht, in den Szenarien des Ausgangs der Sprache aus dem Schrei durch Konjekturen über die zunehmende Artikulation beide Seiten der Sprache in den Griff zu bekommen: den Laut und die Bedeutung. Aber ich denke, es ist nicht falsch zu sagen, daß dieses Sprachdenken mehr die strukturelle Eigenschaft der Artikulation umkreist, als daß es sie wirklich erfaßt. Das gelingt erst Humboldt, der schon in seinem ersten sprachtheoretischen Text von 1795 / 96 «Über Denken und Sprechen» eine Theorie der Artikulation skizziert, die dann zunehmend an Präzision gewinnt. 2.3.1. Dieser frühe Text schließt noch an die Diskussion seiner Vorgänger über den Sprachursprung an, es geht immer noch um den zeitlichen Beginn der Sprache: «Die Sprache beginnt daher […]» (VII: 581). Humboldt knüpft ganz offensichtlich an Herders kognitives Ursprungsszenario an, nämlich an das «Stillestehen» der Reflexion (§ 3, § 7), welche «Abschnitte» des Denkens unterscheidet. Sprache entsteht wie bei Herder mit diesem «ersten Act der Reflexion» (VII: 581). Allerdings bildet dieser kein akusmatisches Bild des Schreis der Natur, keinen Gedanken-Schrei oder Schrei-Gedanken wie bei Herder, sondern Denken und Sprechen sind bei Humboldt deutlich voneinander geschiedene Aktivitäten, auch wenn sie «unmittelbar und sogleich» zusammen entstehen. Der zweite Teil des kleinen Textes ist der materiellen Seite der Sprache gewidmet: nicht räumlich-statische, visuelle, sondern zeitlich-bewegliche Phänomene sind Signifikanten, die dem Abschnitte bildenden Denken gemäß sind. Nicht die Hand, sondern die Stimme ist das Organ, das diese Zeichen erzeugt: Töne, die einmalig sind in der ganzen Natur: Solche Töne giebt es sonst in der ganzen übrigen Natur nicht, weil niemand, ausser dem Menschen, seine Mitgeschöpfe zum Verstehen durch Mitdenken, sondern höchstens zum Handeln durch Mitempfinden einladet. (VII: 583) 38

Das Besondere und Einmalige dieser Töne ist einerseits ihre kognitive Natur, also daß sie der Sphäre des Denkens – der Repräsentation von Welt – und nicht der Sphäre des Gefühls, des Ausdrucks des Ichs, angehören. Daher laden sie auch nicht – wie bei Condillac und Rousseau – zum Handeln durch Mitempfinden ein, sondern zum «Verstehen durch Mitdenken» (Humboldt verwendet hier den Ausdruck des «Mitdenkens», der uns zu einer weiteren Sphäre der Artikulation führen wird). Aus der Gedankennatur der Sprache folgt andererseits als weiteres Spezifikum, daß diese besonderen Töne «artikuliert» sind, gerade weil sie dem Denken entsprechen. Dieses «unterscheidet» nämlich nicht nur die «Portionen des Denkens» (VII: 581), denen dann «schneidende» Laute eher entsprechen als «sich vermischende» visuelle Signifikanten. Die Analogie dieser Töne zum Denken liegt darüber hinaus auch im Trennen und Verbinden: Wie die Begriffsbildung so trennt und verbindet auch die Artikulation: Als der Mensch Sprachzeichen suchte, hatte sein Verstand das Geschäft zu unterscheiden. Er bildete ferner dabei Ganze, die nicht wirkliche Dinge, sondern Begriffe, also eine freie Behandlung, abermalige Trennung und neue Verbindung, zulassend, waren. Diesem gemäss wählte also auch die Zunge artikulirte Töne, solche die aus Elementen bestehen, welche vielfache neue Zusammensetzungen erlauben. (VII: 582 f.) Schließlich kontrastiert Humboldt die kognitiv-artikulatorische Natur und Struktur des Sprachlauts aufs schärfste mit dem «Naturlaut», dem «cri des passions» (den Humboldt ganz herderisch «Empfindungsgeschrei» nennt). Denken und Sprechen, reflexive Distanz und artikulatorische Gewalt über die Stimme, werden auch von den Menschen selbst als deutlich getrennt von emotionaler Überwältigung und Schrei erlebt: Er unterscheidet sogar sein eignes Empfindungsgeschrei gar sehr von der Sprache; und hierin leitet die Empfindung auch den Gebildetsten sehr richtig. Ist er so bewegt, dass er nicht mehr daran denken kann, den Gegenstand von sich selbst wenigstens in der Vorstellung loszureissen, so stösst er den Naturlaut aus; im ent39

gegengesetzten Fall redet er, und erhöht nur den Ton nach Massgabe seines Affects. (VII: 583) 2.3.2. In seinem ersten Akademievortrag von 1820, als er endlich dazu kommt, sich ganz der Sprache zu widmen, greift Humboldt diese frühe Skizze der Artikulations-Verhältnisse wieder auf. Der § 4 der Rede «Über das vergleichende Sprachstudium» ist der Artikulation gewidmet. Sie ist als «scharfe Theilung und feste Begränzung der Laute» eine Wirkung des menschlichen Verstandes bzw. der «Stärke des Selbstbewußtseyns». Die Artikulation markiert, wie das schon im frühen Text mit der Redeweise von den ganz besonderen Tönen angedeutet war, die Differenz zum Tier: «Auch läßt sich die Articulation der Töne, der ungeheure Unterschied zwischen der Stummheit des Thiers, und der menschlichen Rede nicht physisch erklären.» (IV: 4). Artikulation kann daher gar nicht nur als lautliche Tätigkeit gefaßt werden, sondern eben als ein kompliziertes geistig-phonetisches Geschehen, das beide Gebiete, Laut und Denken, «durchdringt»: Es vereinigen sich also im Menschen zwei Gebiete, welche der Theilung bis auf eine übersehbare Zahl fester Elemente, der Verbindung dieser aber bis ins Unendliche fähig sind, und in welcher jeder Theil seine eigenthümliche Natur immer zugleich als Verhältniss zu den zu ihm gehörenden darstellt. Der Mensch besitzt die Kraft, diese Gebiete zu theilen, geistig durch Reflexion, körperlich durch Articulation, und ihre Theile wieder zu verbinden, geistig durch die Synthesis des Verstandes, körperlich durch den Accent, welcher die Silben zum Worte und die Worte zur Rede vereint. (IV: 4) Alle Momente der komplizierten Artikulationsverhältnisse sind da: erstens die Teilung in lautliche Einheiten und deren Zusammenfügung (hier «Articulation» und «Accent» genannt), zweitens die Teilung in «Portionen des Denkens» und deren Verbindung (hier als Reflexion und Synthesis unterschieden) und drittens beides in unauflöslicher Synthese der beiden «Gebiete» (dies, die gelenkige Verbindung von Laut und Gedanken, könnte man geradezu die UrArtikulation nennen, die im reifen Sprachdenken Humboldts stär40

ker betont wird als in der frühen Skizze). Darüber hinaus bemerkt Humboldt, viertens, das «Mitdenken» des frühen Textes präzisierend, daß das doppelte, unauflöslich miteinander verbundene Theilungs- und Verbindungsgeschäft nicht nur vom Sprechenden vollzogen wird, sondern daß es «dieselbe Durchdringung im Hörenden bewirkt». Die Artikulation ist immer auch «akroamatisch». Und schließlich ist nicht zu übersehen, daß Humboldt den Gedanken des unendlichen Gebrauchs von endlichen Mitteln, also das, was Chomsky «Kreativität» nennt, genau hierher ins Zentrum seiner Artikulationstheorie stellt: Der artikulierende Mensch teilt beide Ebenen des Sprachlichen, das Lautliche und das Denken, in «eine übersehbare Zahl fester Elemente». Diese aber sind «der Verbindung bis ins Unendliche fähig». Mit Chomsky gesagt: Artikulation ist «kreativ», Artikulation und sprachliche Kreativität fallen schlichtweg zusammen. Oder noch trivialer gesagt: mit den (begrenzten) Einheiten der Sprache – Lauten und Bedeutungen – kann der sprechende Mensch unendlich und über alles sprechen. Nichts anderes ist Artikulation. 2.3.3. Aber Humboldt nennt 1820 die Artikulation noch nicht so. Der Ausdruck «Articulation» ist hier nur auf die lautliche Artikulation bezogen. Daß die komplizierten Teilungs- und Verbindungsaktivitäten unter dem Ausdruck der Artikulation oder der Gliederung zusammengefaßt werden können, das wird ihm erst in seinem Aufsatz über die Buchstabenschrift von 1824 deutlich. Es ist kein Zufall, daß ausgerechnet eine Theorie der Schrift zu Überlegungen zur sprachlichen Artikulation führt. Jede Reflexion über die Schrift kann nicht übersehen, daß die Buchstabenschrift auf der linguistischen Einsicht basiert, daß der Laut, der beim Sprechen unserem Munde entströmt, kein ununterschiedenes Kontinuum ist (was er physikalisch durchaus ist), sondern daß er sich aus kleinen lautlichen Einheiten, die durch wiederkehrende Bewegungen der entsprechenden Organe erzeugt werden, zusammensetzt. Dies ist ja mit «Artikulation» gerade gemeint: articulus ist das «Gelenk» (und metonymisch dann auch das «Glied»), und Artikulation also die gelenkige Verbindung von unterschiedlichen Gliedern. Die Buchstabenschrift unterscheidet die Bestandteile des Lautstroms, aus denen die Wörter unserer Sprache gemacht sind, und sie verbin41

det sie wieder im geschriebenen Wort. Jede Schrifttheorie steht des weiteren vor der Evidenz, daß das andere große Prinzip des Schreibens das Schreiben des Inhalts ist, also das – nicht ganz korrekt – «ideographisch» genannte Prinzip (richtiger wäre es, von «logographisch» zu sprechen, da die «Ideen» nicht ohne die Wörter vorkommen, sondern ja gerade in Wörtern gefaßt sind). Sie steht hier vor den Einheiten der «ersten» Gliederung. Schrifttheorie ist also gleichsam automatisch Theorie der sprachlichen Gliederung in ihren beiden Bereichen. Die Überlegungen zur Schrift stehen im Zusammenhang mit Humboldts Begegnung mit den Forschungen Champollions, der ja entdeckt hatte, daß die ägyptischen Hieroglyphen durchaus keine, gar auch noch bewußt geheimnisvolle, Bilderschrift sind, sondern eine phonetische Schrift, daß sie also nicht Inhalte, sondern Laute wiedergeben.10 Auch die Beschäftigung mit dem Chinesischen verlangt eine Auseinandersetzung mit der Schrift. Was Humboldt dabei aber insbesondere interessiert, ist der Zusammenhang zwischen Schrift und Sprache, wie er es im Titel seiner Akademierede ja ausdrücklich formuliert: «Über die Buchstabenschrift und ihren Zusammenhang mit dem Sprachbau». Insbesondere geht es um die Frage, welche Schrift dem «Sprachbau» am besten entspricht. Humboldt argumentiert nun dafür, daß die Buchstabenschrift dem Wesen der Sprache am angemessensten sei, weil sie ihrem «Bau» am besten entspreche, d. h. weil sie das artikulatorische Prinzip der Sprache abbilde. Was er 1795 / 96 und 1820 angedeutet hatte, führt er nun hier als Begründung für diese Auffassung aus. Ausgangspunkt ist die von Humboldt immer wieder und immer eindringlicher festgestellte synthetische Vereinigung der beiden «Gebiete», des Lauts und des Denkens («Es vereinigen sich also im Menschen zwei Gebiete»): Die Eigenthümlichkeit der Sprache besteht darin, dass sie, vermittelnd, zwischen dem Menschen und den äusseren Gegenständen eine Gedankenwelt an Töne heftet. (V: 110) Diese an Töne geheftete Gedankenwelt entsteht – wir haben es schon gesehen – aus der Teilung des Denkbaren in «Portionen des 42

Denkens». Da diese Portionen des Denkens aber niemals als solche, also als rein mentale Größen erscheinen, sondern immer als Wörter, d. h. «da das Denken ohne Sprache einmal unmöglich ist» (V: 113), schreibt auch die Schrift immer Wörter. Sie ist eigentlich, wie gesagt, nie ideographisch, sondern immer logographisch. Daher ist es nun des weiteren der Struktur der Sprache am angemessensten, wenn die Schrift auch die Struktur des Wortes abbildet, und die ist allemal lautlich «artikuliert». Schon 1820 machte Humboldt geltend, daß beide Gebiete der Sprache vom gleichen Prinzip der Teilung und Verbindung «durchdrungen» sind und daß sie sich «wechselseitig» durchdringen. Die Artikulation der Laute ist daher gleichsam ein Abbild der Teilungs- und Verbindungsaktivtäten des Geistes (eine «Analogie» nannte er dies 1797, V: 582). Ein und dasselbe analytisch-synthetische Grundprinzip waltet in beiden Ebenen des Sprachlichen. Anders – und in einem anderen Text Humboldts – gesagt: der Geist, der bei Humboldt das primäre Prinzip ist, nötigt den Körper zu einer seiner Form entsprechenden Aktivität: Dasjenige worin sich diese Form [des Geistes] und die Articulation, wie in einem verknüpfenden Mittel begegnen, ist, dass beide ihr Gebiet in Grundtheile zerlegen, deren Zusammenfügung lauter solche Ganze bildet, welche das Streben in sich tragen, Theile neuer Ganzer zu werden. (VI: 152) Das Prinzip der – kreativen – Teilung in Elemente und der Zusammenfügung der Elemente waltet auf beiden Ebenen der Sprache, nicht nur im Lautlichen, sondern, wie Humboldt nun auch explizit sagt, überall in der Sprache: Da die Articulation das Wesen der Sprache ausmacht, die ohne dieselbe nicht einmal möglich seyn würde, und der Begriff der Gliederung sich über ihr ganzes Gebiet, auch wo nicht bloss von Tönen die Rede ist, erstreckt. (V: 115) Für diese sich über die ganze Sprache erstreckende Artikulation scheint Humboldt den deutschen Ausdruck «Gliederung» zu bevorzugen: 43

Die Gliederung ist aber gerade das Wesen der Sprache, es ist nichts in ihr, das nicht Theil und Ganzes seyn könnte, die Wirkung ihres beständigen Geschäfts beruht auf der Leichtigkeit, Genauigkeit und Übereinstimmung ihrer Trennungen und Zusammensetzungen. Der Begriff der Gliederung ist ihre logische Funktion, so wie das Denken selbst. (V: 122) Die lautliche Gliederung, also die Artikulation im engeren Sinne, bildet die «logische Funktion» der Sprache, also das Grundgesetz des Denkens, ab. Sofern die Buchstabenschrift dann das Prinzip der lautlichen Gliederung abbildet, bildet sie dieses auf die ganze Sprache sich erstreckende «Theilungsgeschäft der Sprache» (V: 114) ab, das aber auch ein Verknüpfungsgeschäft ist. «[I]ndem sie den im Sprechen verbundnen Laut in seine Grundtheile zerlegt, den Zusammenhang derselben unter einander, und in der Verknüpfung zum Wort anschaulich macht» (V: 114), ist sie die dem Wesen der Sprache am besten entsprechende Schrift. Sie enthält eine geniale linguistische Einsicht: «Sie führt nemlich der Seele die Articulation der Töne vor» (V: 115), eine Einsicht, die nach Humboldt auch wieder auf die Sprache selbst zurückwirkt und den Grund legt für das Verstehen von Sprache überhaupt, also für die metasprachliche Entwicklung einer «Grammatik», die ja nicht von ungefähr so heißt. 2.3.4. Ein Moment allerdings fehlt in den Ausführungen über die Artikulation in der Rede über die Buchstabenschrift, das in dem frühen Text schon im Terminus des «Mitdenkens» enthalten war: das Moment des Anderen, die Tatsache, daß sich dieses komplizierte artikulatorische Wesen der Sprache in der Dimension des Du mitvollzieht. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als Schrift ja gerade dasjenige Dispositiv ist, das die Trennung des dialogischen Zusammenhangs von Ich und Du ermöglicht. Im Fazit der Abhandlung wird nur kurz der Lesende erwähnt (V: 131). Im Artikel von 1820 war aber schon der Hörende mitgedacht worden («welche dieselbe Durchdringung im Hörenden bewirkt»). Auch wenn er also in diesem späteren Text nicht ausdrücklich erscheint, darf man in die Theorie der Artikulation jenen weiteren Grundzug Humboldtschen Sprachdenkens getrost miteinbeziehen, den er den «unabänderlichen Dualismus der Sprache» nennt. Die artikulatori44

sche Produktion der Sprache verdoppelt sich im Du. Ja es handelt sich genauer betrachtet sogar um eine doppelte Aktivität des Du: die schon angeführte «Durchdringung im Hörenden» einerseits – die ich die akroamatische Artikulation nenne11 – und die aktive artikulatorische Aktivität des Du, die «Erwiderung», andererseits, die schließlich zur akroamatischen Artikulation des Ich, zum Hören des Ich, zurückführt. Den kompletten komplizierten Kreislauf der Artikulationen beschreibt die folgende berühmte Passage aus der Rede über den Dualis (1827): Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiederung bedingt. Schon das Denken ist wesentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn begleitet, und der Mensch sehnt sich, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungs-Beziehungen, auch zum Behuf seines blossen Denkens nach einem dem Ich entsprechenden Du, der Begriff scheint ihm erst seine Bestimmtheit und Gewissheit durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft zu erreichen. Er wird erzeugt, indem er sich aus der bewegten Masse der Vorstellungen losreisst, und, dem Subjekt gegenüber, zum Objekt bildet. Die Objectivität erscheint aber noch vollendeter, wenn diese Spaltung nicht in dem Subject allein vorgeht, sondern der Vorstellende den Gedanken wirklich ausser sich erblickt, was nur in einem andren, gleich ihm vorstellenden und denkenden Wesen möglich ist. Zwischen Denkkraft und Denkkraft aber giebt es keine andre Vermittlerin, als die Sprache. […] Das Wort muss also Wesenheit, die Sprache Erweiterung in einem Hörenden und Erwiedernden gewinnen. (V: 26) Das Wort muß, so Humboldt an einer Parallelstelle in seinem Hauptwerk, «aus fremdem Munde wiedertönen» (VII: 56), damit die artikulatorische Produktion des Gedanken vollendet wird. Der Sprechende (und Denkende) muß also nicht eigentlich, wie Humboldt im vorangegangenen Zitat sagt, den Gedanken außer sich «erblicken», sondern er muß ihn außer sich hören. Die Trias der artikulatorischen Instanzen ist in dem folgenden Humboldtschen Satz zusammengefaßt: 45

Die unzertrennliche Verbindung des Gedanken [erste Gliederung], der Stimmwerkzeuge [zweite Gliederung] und des Gehörs [dritte, akroamatische Gliederung] zur Sprache liegt unabänderlich in der ursprünglichen, nicht weiter zu erklärenden Einrichtung der menschlichen Natur. (VII: 53) 2.3.5. Der letzte Satz deutet implizit auch die Haltung des reifen Humboldt zu den Spekulationen über den Ursprung der Sprache an, zu denen er in Über Denken und Sprechen durchaus noch selbst beigetragen hatte. Daß die «ursprüngliche Einrichtung der menschlichen Natur» nicht weiter zu erklären ist, heißt auch, daß Humboldt Konjekturen über die Vorgeschichte der Sprache ablehnt. Er wirft höchstens einen vergleichenden Blick auf die Tiere, die naturhistorischen Kenntnisse seiner Zeit erlauben aber keine auch nur andeutungsweise plausiblen Überlegungen über die Evolution. So stellt Humboldt an der oben zitierten Stelle zwar den «ungeheuren Unterschied zwischen der Stummheit des Thiers und der menschlichen Rede» kontrastierend fest, aber er verbietet es sich, sie in ein evolutionäres Nacheinander zu setzen. Über den zeitlichen Anfang wissen wir nichts, wir haben keinerlei Dokumente, die uns darüber Aufschluß geben, wie es früher gewesen ist. Daher gibt es bei Humboldt auch keine Geschichten von der allmählichen Verfertigung der Sprache aus dem Schrei. Das ist aus der Sicht des damaligen Standes der Wissenschaft konsequent. Was wir nach Humboldt aber durchaus wissen, ist, wie Sprache funktioniert, wir erfahren es in jedem Sprechen. Wir wissen, aus welchen Kräften und Anlagen des Menschen die Sprache entspringt. Nach einer Unterscheidung Kants können wir zwar nicht das «Anheben», wohl aber das «Entspringen» der Sprache erfassen. In dieser Perspektive des (ewigen) Ursprungs, des Entspringens, d. h. der jedesmaligen aktuellen Tätigkeit, geht Sprache nicht aus dem Schrei, aus dem unwillkürlichen Ausdruck der unverfügbaren körperlichen und passionalen Überwältigung, hervor, sondern aus dem Denken, den Stimmwerkzeugen und dem Gehör – und deren Artikulation.

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2.4. Die Rückkehr des Schreis 2.4.1. Der Ursprung der Sprache im Sinne des zeitlichen «Anhebens», oder sagen wir es besser in den Termini der dominanten Leitdisziplin Biologie: die Evolution der Sprache, ist aber derzeit, fast zweihundert Jahre nach Humboldt, wieder eines der am meisten diskutierten Probleme der Wissenschaften vom Menschen. Allerdings spielt in aktuellen Ursprungsszenarien der Schrei keine so unangefochtene Rolle mehr wie in den Geschichten vor Humboldt. Dies ist deswegen so, weil bei der Suche nach dem Ursprung der Sprache oft gar nicht nach irgend etwas gesucht wird, was im entferntesten mit Lauten, mit Stimme, gar mit Emotionen oder «Passionen» zu tun hat. In der Linguistik Chomskyscher Prägung, die den Erdenkreis beherrscht, ist «Sprache» nicht etwa jene Tätigkeit, bei der einer dem anderen etwas mittels artikulierter Lautproduktionen mitteilt – das ist speech. «Sprache», language, ist dagegen ein angeborenes kognitives Vermögen des Menschen, mentale Einheiten auf eine bestimmte Art und Weise – rekursiv – zu sequenzieren, das gar nicht materiell in Erscheinung zu treten braucht. «Language» muß sich jedenfalls nicht in Lauten manifestieren, insofern hat «Sprache» schon einmal mit «Artikulation» im umgangssprachlichen Sinne – also mit Atmung, mit der Stimme und den Bewegungen der «Artikulatoren» – nichts zu tun. «Language» dient auch nicht wesentlich der Kommunikation, diese ist nur ein möglicher Gebrauch von «language», deren eigentlicher Zweck unergründlich bleibt, bzw., wie Chomsky vermutet, in zweckloser «Schönheit» liegt. Es sind also zwei verschiedene Fragen, ob ich nach dem Ursprung von «language» oder dem Ursprung von «speech» frage. Als wesentliches Moment von «language» gilt nicht «Artikulation», sondern Rekursion. Erkundungen in die Vorgeschichte des menschlichen Geistes und der Sprache suchen also nach «Rekursion». «Artikulation» kommt erst in den Blick, wenn es um «Sprache im weiteren Sinne» geht.12 In einer verwandten Ausrichtung kognitivistischer Sprachpsychologie wird das Kognitive nicht auf syntaktische Strukturen beschränkt, sondern man denkt durchaus auch an «Begriffe», an geistige Einheiten wie «Tier», «Pflanze», «Mensch», «singen», «rot» 47

etc., man nimmt also so etwas wie eine «Sprache des Gedankens» («language of thought»), ein «mentalesisches» Wörterbuch, an.13 Auf dieser Basis wird dann in der Evolution schon nach etwas gesucht, was man in anderen Kontexten (erste) «Artikulation» genannt hat, nämlich nach der Entstehung erster «Gedanken-Zeichen», also von nicht expressiv-emotionalen, weltdarstellenden Zeichen. Man verweist in diesem Zusammenhang auf Konzeptualisierungsleistungen bei bestimmten Primaten, die damit evolutionäre Vorgänger der Sprache sein könnten. 2.4.2. Eine andere Gruppe der modernen Ursprungsforscher aber fragt schon noch nach dem Schrei bzw. nach der Lautproduktion, die dann auch «articulatory» heißt. Sie haben ein anderes – eher traditionelleres – Konzept von Sprache. Bei diesen Theoretikern dient Sprache durchaus wesentlich der Kommunikation, so daß auch der Laut eine zentrale Rolle spielt. Sie stellen daher gerade die Evolution der lautlichen Artikulation dar.14 Chomskys Antipode in dieser Hinsicht ist Philip Lieberman. In den aktuellen Diskussionen um den Ursprung der Sprache befassen sich aber auch z. B. die Phonetiker Studdert-Kennedy und Goldstein (2003) ausführlich mit der Entstehung artikulatorischer Bewegungen. Interessanterweise kommen dabei nicht nur die Bewegungen des Lautapparats in den Blick, sondern Bewegungen überhaupt, wie etwa auch bei Corballis (2003). Es ist ja auch plausibel, daß die Bewegungen der Laut-Organe sich nicht isoliert entwickeln, sondern zusammen oder parallel mit den anderen willentlich gesteuerten Bewegungen des Körpers, besonders mit solchen, die ebenfalls «etwas bedeuten», wie Gebärden. Auch dies ist eine alte Idee, die uns bei Condillac begegnete, bei dem nicht nur die Geschichte der Laut-Sprache sondern die Geschichte menschlicher Semiose überhaupt erzählt wurde, die auf der Zähmung der Bewegungen des ganzen Körpers beruht. Die Zähmung der Zunge war nur Teil dieser umfassenderen Inbesitznahme des Körpers. Da es sich um Sprache handelt, bezweckt die lautliche Artikulation aber natürlich die Erzeugung oder die Bezeichnung (auf diesen Unterschied kommt es hier nicht an) von «Bedeutungen». Wie im 18. Jahrhunderte stehen nun auch in den neuen Überlegungen sozusagen zwei Möglichkeiten offen: Entweder ist die Bedeu48

tung des Lautereignisses – wie die Alten gesagt hätten – «passional», d. h. sie bezieht sich auf affektive Zustände oder soziale Bedürfnisse des Ichs («Hunger», «Liebe»), oder sie ist «referentiell», d. h. sie bezieht sich auf Objekte. Eine Entstehung der Sprache allein aus emotionalen oder appellativen Schreien wird allerdings, wenn ich es richtig sehe, immer weniger angenommen.15 Tomasello (2002) betont, daß gegenüber der ausschließlich sozialen Primaten-Kommunikation der hinzukommende referentielle Bezug der Sprache das spezifisch Menschliche sei. Aus dem Geschrei der Empfindungen kann, so meinte ja schon Herder, keine menschliche Sprache entstehen, sondern nur aus der Bezeichnung der Welt. Auch nach Lieberman, der die Evolution der Sprache stark mit der allmählichen Entstehung der lautlichen Artikulation verknüpft, ist der Weltbezug, die «Darstellungsfunktion» (Bühler), wesentlich für die menschliche Sprache. Ausdruck von Emotionen haben auch die Tiere. Menschliche Sprache entsteht aus der «objektiven», referentiellen Dimension: In the beginning there was the word, but the vocal communications of our most distant hominid ancestors five million years or so ago probably didn’t really differ from those of the ape-hominid ancestor. Most of their cries would have been linked to emotion and instinct. And […] the ability to produce vocalizations that are not linked to emotion and instinct seems to create the gulf between human language and the vocal communication of apes. Whereas we can produce a chorus of changing formant frequency patterns that signal concepts abstract and concrete, apes are bound to simple melodies tied to mood. (Lieberman 1998: 133 f., Herv. J. T.) Am Anfang war zwar das Wort, aber die stimmlichen Mitteilungen unserer am weitesten entfernten menschenähnlichen Vorfahren vor ca. fünf Millionen Jahren waren nicht wirklich verschieden von denen des Affen-Menschen-Vorfahrs. Die meisten ihrer Schreie waren sicher mit Emotion und Instinkt verbunden. Und […] die Fähigkeit, Vokalisierungen zu erzeugen, die nicht mit Emotion und Instinkt verbunden sind, scheint den Abgrund zwischen der menschlichen Sprache und der stimmlichen Kommunikation von Affen zu erzeugen. Während wir eine Reihe von 49

wechselnden Formanten-Frequenz-Mustern bilden können, die abstrakte und konkrete Konzepte signalisieren, sind Affen an einfache, von Stimmung abhängige Melodien gebunden. Wenn auch hier die Sprache allmählich aus dem Schrei hervorgeht, so geht sie doch nicht aus dem Geschrei der Empfindungen hervor, sondern wie bei Herder aus dem «Bedürfnis, das Schaf [d.h. die Welt] kennenzulernen» (Herder 1972: 32), aus dem Denken der Welt. Der erste Gedanke des Herderschen Urmenschen war ein akusmatischer Schrei: «Ha! du bist das Blökende!» So kurios war das also doch nicht! 2.4.3. Daß der Ursprung oder vielleicht besser: die Evolution der Sprache heute wieder so intensiv diskutiert wird, hat damit zu tun, daß die Biologie zur Leitwissenschaft der Wissenschaften vom Menschen geworden ist und daß man sich Aufschluß über das Wesen des Menschen von einem Einblick in seine Naturgeschichte erwartet und das heißt von einem vergleichenden Blick auf andere Lebewesen, insbesondere auf andere Primaten. Angesichts der Fortschritte der Genetik, der Paläoanthropologie und der Neurowissenschaften haben sich Gruppen von Biologen, Neurowissenschaftlern, Psychologen und (eher wenigen) Linguisten auf die Suche nach den biologischen Vorgängern und der vorgeschichtlichen Entwicklung der menschlichen Sprache gemacht, die ja das ganz spezifisch Menschliche des Menschen zu sein scheint.16 Was dabei gesucht wird, ist nicht immer ganz klar bzw. hängt wesentlich davon ab, was man unter dem Ausdruck «Sprache» versteht. Wenn man unter «Sprache» ein Mittel der Kommunikation versteht, etwa gar durch Lautproduktionen des homo sapiens, sucht man nach etwas anderem, als wenn man unter «Sprache» eine im menschlichen Gehirn angeborene, mentale universelle Grammatik versteht. Die theoretischen Vorannahmen determinieren den Blick auf die naturgeschichtlichen Tatsachen, die man rekonstruiert. Das war auch im 18. Jahrhundert so: Der politische Denker Rousseau etwa verstand unter «Sprache» im wesentlichen ein kommunikatives soziales Verhalten, also etwas Gesellschaftliches, während Herder «Sprache» vor allem als Erzeugung von Gedanken begriff, als ein wesentlich kognitives Geschehen. Folglich erzählten 50

beide bei ihren Überlegungen zum Ursprung jeweils ganz andere Geschichten. Allerdings stand die Suche nach dem Sprachursprung im 18. Jahrhundert nicht unter dem Gesetz der Biologie, sondern unter dem der Philosophie. Damals stellte die Philosophie die Religion in Frage, die vorgab, genauestens über den Sprachursprung Bescheid zu wissen (Adams Benennung der Welt, Evas sprachliche Verführung, Babel). Nicht die Frage nach dem Verhältnis zu den Tieren stand in der philosophischen Emanzipation von der Theologie im Vordergrund (obwohl dieses durchaus auch behandelt wurde), sondern vor allem das Verhältnis zu Gott, d. h. die Frage, in welchem Maße Gott den Menschen und in welchem Maße der Mensch sich selbst schafft. Und im Zusammenhang mit dieser Frage nach den göttlichen oder menschlichen Gründen des menschlichen Tuns wurde gefragt, ob und inwiefern die (für den Menschen definitorische) Sprache Bedingung oder Hindernis des Wahren (der Wissenschaft) und des Guten (der Gesellschaft) ist. Aber vielleicht geht es ja auch noch heute um dieselbe Frage? Nur daß Gott jetzt nicht mehr Gott, sondern «die Evolution» heißt. Jedenfalls möchten wir wissen, wie und warum die Evolution gerade das geschaffen hat, was den Menschen zum Menschen macht. Und wir möchten auch immer noch wissen, welchen Anteil der Mensch selbst an seiner Menschwerdung hat. Der Mensch als (handelnder) Mensch spielt im Gegensatz zum 18. Jahrhundert bei den meisten modernen Geschichten des Sprachursprungs eher eine geringe Rolle. Die Evolution macht so ziemlich alles. Sie schafft den Menschen aus dem Tier – nicht aus Lehm und schon gar nicht aus dem göttlichen Wort. Sie schenkt ihm (Rekursion und) Artikulation. Wie immer sie das aber macht, es geht dabei nach wie vor um das Anhalten des Ozeans der Empfindungen und um die Zähmung des Schreis.

3. Fremdheit der Sprache Der Mensch schafft also die Sprache in seiner artikulierenden Aktivität der Schöpfung des Gedankens in der Dimension des Anderen: Mit-Denken. Es ist eine «Arbeit des Geistes», mit der sich der Mensch zusammen mit dem anderen Menschen die Welt «an-eignet». Sie gehört ihm dann; in der eigenen Sprache ist ihm die Welt zu eigen. Im Eigenen aber nistet notwendigerweise das Fremde, von dem in der Sprachtheorie zu wenig gesprochen wird und von dem dieses Kapitel handelt.

3.1. Dimensionen der Fremdheit 3.1.1. Lesgisch Das Lesgische kennt in Mitteleuropa kaum jemand auch nur dem Namen nach. Es ist den meisten hier eine wirklich fremde Sprache. Lesgisch ist eine kaukasische Sprache, die im Grenzgebiet zwischen Aserbeidschan und Rußland gesprochen wird. Sie gehört zur Gruppe der nakho-dagestanischen Sprachen (zu der auch das Tschetschenische gehört) und ist von Martin Haspelmath (1993) in einer exzellenten Grammatik beschrieben worden. Wenn ein Sprecher des Deutschen, der diese Sprache noch niemals gehört hat, einem Gespräch in dieser Sprache lauscht, so werden ihm unter all den fremden Lauten vermutlich bestimmte eigenartige konsonantische Laute als besonders fremd auffallen. Es sind sogenannte ejektive Konsonanten, die für diese Sprache charakteristisch sind. Etwas anderes Fremdes, das ebenfalls für das Lesgische charakteristisch ist, das aber der genannte Deutschsprachige sicher nicht hören wird (weil man Inhaltliches nicht hören kann), ist die sogenannte Ergativität. Dies ist ein morphosyntaktischer Zug, der unseren indoeuropäischen Sprachen weitgehend fremd ist und der, grob gesagt, darin besteht, daß der Handelnde – genauer der etwas 52

in Bezug auf etwas Machende (in unseren Sprachen das Subjekt eines transitiven Satzes) – morphologisch markiert wird und die anderen Aktanten nicht, insbesondere nicht der intransitiv Handelnde und Objekte. Fremd wird ihm des weiteren z. B. auch die Nominalflexion sein, die, wie man der folgenden Tabelle (aus Haspelmath 1993: 74) entnehmen kann, achtzehn Kasus hat: Absolutive Ergative Genitive Dative

sew sew-re sew-re-n sew-re-z

‹the bear› ‹the bear› ‹of the bear› ‹to the bear›

Adessive Adelative Addirective

sew-re-w sew-re-w-aj sew-re-w-di

‹at the bear› ‹from the bear› ‹toward the bear›

Postessive Postelative Postdirective

sew-re-qh sew-re-qh-aj sew-re-qh-di

‹behind the bear› ‹from behind the bear› ‹to behind the bear›

Subessive Subelative Subdirective

sew-re-k sew-re-k-aj sew-re-k-di

‹under the bear› ‹from under the bear› ‹to under the bear›

Superessive Superelative Superdirective

sew-re-l sew-re-l-aj sew-re-ldi

‹on the bear› ‹off the bear› ‹onto the bear›

Inessive Inelative

sew-re sew-räj

‹in the bear› ‹out of the bear›

Natürlich könnten wir jetzt unendlich fortfahren und weitere für uns fremde sprachliche Züge des Lesgischen aufführen. Doch die Hinweise auf diese den meisten von uns fremde Sprache – und nicht auf Züge einer uns allen bekannten Fremdsprache1 (das Fremde kann also durchaus bekannt sein) – sollten auf die Fremdheit der Sprache einstimmen, und zwar auf eine ziemlich radikale Fremdheit – und damit auf eine, wie Harald Weinrich sagt, «tiefdeprimierende Erfahrung» (1988: 198). Allerdings sagt Weinrich das nicht 53

ohne tröstenden Zuspruch, an dem auch ich es nicht fehlen lassen werde. Die Fremdheit der Sprache nistet auf allen Ebenen des Sprachlichen, im Lautlichen, im Grammatischen, im Morphologisch-Syntaktischen, im Lexikalischen usw. 3.1.1.1. Zuerst – und besonders sinnfällig natürlich – im Lautlichen. Da die Sprache als lautliches Ereignis in der Welt erscheint, ist dies die Ebene, wo die Fremdheit am unmittelbarsten erfahren wird. Am Laut wird umgekehrt allerdings auch das Einheimische, das Eigene, das ídion der Sprache am deutlichsten empfunden. Humboldt geht diesem Gefühl nach und fragt: warum würde sonst für den Gebildeten und Ungebildeten die vaterländische [Sprache] eine so viel grössere Stärke und Innigkeit besitzen, als eine fremde, dass sie das Ohr, nach langer Entbehrung, mit einer Art plötzlichen Zaubers begrüsst und in der Ferne Sehnsucht erweckt? (VII: 59) Sie tut das aus dem folgenden Grund: es ist uns, als wenn wir mit dem heimischen [Laut] einen Theil unseres Selbst vernähmen (ebd.). Dieses Selbst – das, wie wir über Humboldt hinausgehend wissen, als unser Eigenes durchaus auch unangenehm sein kann – vernehmen wir natürlich nicht, wenn wir fremde Töne hören. 3.1.1.2. In der Diskussion um die Fremdheit der Sprache wird besonders gern die Fremdheit des Lexikons angeführt bzw. die Fremdheit bestimmter, vermeintlich besonders charakteristischer Wörter. Französisch esprit sei, so hört man, einfach etwas ganz Besonderes, das es nur im Französischen gebe und das daher den anderen Völkern fremd sei. Ebenso sei die deutsche Sehnsucht besonders deutsch und daher für die anderen völlig fremd. Dies ist ebenso richtig wie falsch: Natürlich ist esprit ein uns fremdes Wort, wenn wir nicht französisch sprechen, einfach weil alle Wörter des Französischen vom Deutschen aus gesehen fremd sind. Aber es ist auch nicht fremder als z. B. das eher banale Wort neuf «neu», von dem 54

nicht gesagt wird, daß es besonders französisch sei. Dabei ist in gewisser Hinsicht das Wort neuf von uns aus gesehen viel fremder, viel französischer, als das ach so französische Wort esprit. Während das deutsche Wort Geist nämlich mit gutem Gewissen fast immer mit esprit wiedergegeben werden kann, kann das deutsche Wort neu durchaus nicht immer mit neuf wiedergegeben werden: Ein neues Auto kann eine voiture neuve oder une nouvelle voiture sein: nämlich ein fabrikneuer Wagen, une voiture neuve, oder ein Wagen, der dem Sprecher unbekannt ist: une nouvelle voiture (der aber eine uralte Klapperkiste sein kann). Daß dem Deutschen der Unterschied zwischen neuf und nouveau sprachlich fremd ist, bedeutet nun aber nicht, daß die Deutschsprechenden den Unterschied zwischen einem fabrikneuen Auto und einer unbekannten alten Klapperkiste nicht bemerken würden, wenn sie beide gleichermaßen ein neues Auto nennen. Mit dieser Bemerkung möchte ich hier gleich auf eine grundlegende Einschränkung der Fremdheit der Sprache hinweisen: Die Inexistenz eines bestimmten semantischen Zuges in einer Sprache bedeutet nicht, daß die Sprecher dieser Sprache diesen Zug in der Realität nicht bemerken würden oder, wie man gesagt hat, nicht «denken» könnten. Ebenso wie der Deutsche die beiden Typen von Neuheit sehen und denken kann, auch wenn er keinen sprachlichen Unterschied macht, kann jeder Italiener den Unterschied zwischen einer Leiter und einer Treppe sehen, auch wenn er für beides nur ein Wort hat, nämlich scala. Das zuletzt Gesagte ist auch unmittelbar für die hier als «Fremdheit der Sprache» behandelte Fragestellung wichtig: Wenn es diese Unabhängigkeit zwischen Sprache und Denken nicht gäbe, wenn mein Lexikon mein Denken streng determinierte, könnte es sein, daß die Frage nach der Fremdheit der Sprache einzig davon abhinge, daß ich deutsch spreche. Dann wäre eventuell die Fremdheit der Sprache den anderen Sprachgemeinschaften völlig fremd, weil sie kein Wort dafür haben. Wenn dem so wäre, dann wäre die gegenseitige Fremdheit der Sprachen absolut, dann gäbe es keine Hoffnung auf interlinguale Verständigung. Und das Thema dieses Kapitels wäre wenig sachhaltig. Nun spricht tatsächlich einiges dafür, daß dem so ist. Denn es ist schwer, den Titel dieses Kapitels auch nur in mit dem Deutschen so 55

nahe verwandte Sprachen wie Englisch oder Französisch zu übersetzen: *foreignness gibt es nicht,2 strangeness of language meint etwas anderes, otherness of language erschöpft nicht das, was ich sagen möchte. Auch im Französischen gibt es kein Pendant zu Fremdheit: *étrangèreté gibt es nicht, étrangeté oder altérité sind nicht das, was ich sagen möchte. Wäre also den Sprechern anderer Sprachen die Fremdheit der Sprache ganz fremd? Sicher nicht. Natürlich ist es möglich, auch mit anderen Sprachen über die Sache, die ich hier behandle, nachzudenken und zu sprechen. Es gibt nur keine dem Wort Fremdheit genau entsprechenden Lexeme.3 Aber wir sprechen und denken auch gar nicht in einzelnen Wörtern, sondern in Äußerungen und Texten. Daher übersetzen wir auch keine einzelnen Wörter, sondern Texte – oder «Paratexte» wie Titel – und Äußerungen. Und diese Texte und Äußerungen muß man dann in anderen Sprachen eben anders sagen. Auf französisch wäre das, was ich mit «Fremdheit der Sprache» sagen möchte, wohl am besten wiedergegeben durch: «le langage cet étranger». Dabei taucht dann aber ein neues Problem auf: langage oder langue? «Le langage cet étranger» oder «la langue cette étrangère»? Ich spreche wohl über beides, über die Sprache des Menschen überhaupt (langage) und über die je besondere Einzelsprache (langue). Das Deutsche enthebt mich aber zum Glück der Notwendigkeit, darüber entscheiden zu müssen. Fazit: Jede Sprache macht es anders, aber jede Sprache macht es. 3.1.1.3. Neuerdings wird auch das pragmatisch-dialogische Verhalten als ein Ort der Fremdheit entdeckt: Bekannt geworden im Westen ist in letzter Zeit z. B. die Gepflogenheit japanischer Gesprächspartner, ständig «Ja» zu sagen: Im japanischen Sprechen ist es üblich, zunächst erst einmal auf jede Äußerung des anderen mit «Ja» zu reagieren. Dieses Ja heißt aber nicht: «Ich stimme dir zu», sondern nur: «Ich habe dich gehört». Das kann natürlich erhebliche Verwirrung stiften und hat offensichtlich bei Geschäftsbeziehungen zwischen Europäern oder Amerikanern und Japanern zu Problemen geführt. In diesem Bereich steckt auch – innerhalb ein und derselben Sprachgemeinschaft – die sprachliche Fremdheit zwischen den Ge56

schlechtern: Deborah Tannen hat in ihrem Buch You just don’t understand (1990) viele Differenzen zwischen weiblichem und männlichem Sprachverhalten aufgezeigt. Die Phonetik, die Grammatik, der Wortschatz der männlichen und weiblichen Sprecher sind weitgehend identisch. Aber die beiden Geschlechterstämme verhalten sich anders im Gespräch, so anders, daß die Klage «You just don’t understand» nicht unberechtigt ist. Tannen plädiert allerdings dafür, die «Sprache» oder, wie sie es nennt, den «kommunikativen Stil» des anderen zu lernen, zumindest verstehen zu lernen, eine kluge Position, die generell die Haltung ist, die man gegenüber dem Fremden empfehlen muß: Lerne es kennen. Das sprachlich Fremde nistet also nicht nur in den fremden Sprachstrukturen, sondern auch in den verschiedenen Redeweisen der Gruppen in ein und derselben Sprachgemeinschaft. 3.1.1.4. Und damit nähern wir uns jener Klage, die in der Moderne immer wieder geführt worden ist und die ihre modernen Wurzeln wohl bei Locke hat, nämlich daß eigentlich jedes Individuum seine eigene Sprache habe, daß keiner mit einem Wort dieselbe Vorstellung verbinde wie der andere4 und daß daher auch jeder jedem sprachlich fremd sei, auch wenn wir die gleichen Sprache sprechen, und daß wir folglich «just don’t understand.» Auch dies ist wieder ebenso richtig wie falsch, weil wir bei aller Erfahrung des Nichtverstandenwerdens ebenso die Erfahrung des Verstandenwerdens nicht verleugnen können: Es ist ja richtig, daß wir unsere je individuellen Vorstellungen nicht vollständig mitteilen können und nur hoffen können, daß der andere sie einigermaßen versteht: «Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen» (Humboldt VII: 65). Es geht aber darum, wie man damit umgeht. Ich kann mich aus Verzweiflung in die Wüste zurückziehen, weil ich das Innerste des anderen nicht verstehe, weil es mir ewig fremd bleibt und weil ich meinerseits dem anderen mein Innerstes nicht mitzuteilen vermag, so daß es ihm fremd bleiben muß. Mein Eigenstes ist dem anderen ewig fremd, sein Eigenstes ist mir ewig fremd. Also fliehe ich «dans mon désert», in meine Wüstenei, wie Alceste, der Misanthrop. Wenn wir uns völlig fremd wären, wäre es in der Tat verlorene Liebesmüh, sich weiter um Kommunikation zu bemühen. 57

Die Verweiflung über das Nichtverstandenwerden ist aber insofern falsch, als wir ja durchaus auch, zumindest teilweise, verstanden werden. Daß überhaupt nichts verstanden wird, hat selbst der ärgste Sprachskeptiker noch nicht behauptet. Daß uns sozusagen alles völlig lesgisch – oder spanisch – vorkommt, ist eine nicht haltbare Übertreibung. Und selbst bei den lesgischen Lauten, die sicher sehr fremd klingen, verstehen wir immer noch, daß es sich um Sprechen handelt. Diese Töne sind nicht einfach irgendwelcher Lärm, sondern Laute einer Sprache, von denen wir zumindest wissen, welchem Zweck sie dienen.5 D. h. ebenso wie wir sagen können, daß uns das Sprechen des anderen fremd ist, können wir auch sagen, daß uns jedes menschliche Sprechen vertraut ist. 3.1.2. Konstitutive Fremdheit 3.1.2.1. Es bleibt aber jener fremde Rest. Dieser Rest muß aber sein, er ist konstitutiv fürs Sprechen überhaupt. Jenes Nichtverstehen ist nämlich der nun einmal nicht wegzuräumende Rest einer lebensund denk-notwendigen Alterität, die nicht nur bemerkenswert gut funktioniert, sondern die auch die Grundlage des menschlichen Lebens ist. Es ist der Preis für das Miteinandersein: Wenn die Menschen allein wären, brauchten sie nicht zu sprechen. Und auch wenn keine Differenz zwischen mir und dir wäre, brauchten wir nicht zu kommunizieren. Wir sprechen aber gerade, weil wir nicht allein sind und weil der andere verschieden ist. Deswegen versuchen wir nämlich immer wieder, vom anderen verstanden zu werden und den anderen zu verstehen, sozusagen die Differenz zu überwinden. Dieser nicht endende Versuch ist das Sprechen. Wenn der andere uns versteht und uns antwortet, dann ist unser Wort aus dem bloß Eigenen befreit. Das Eigene heißt auf griechisch ídion, der ganz im Eigenen bleibende Mensch hieß auf griechisch idiotes; die Idiotie ist also die völlige Abwesenheit von Fremdheit. Um der Idiotie zu entkommen, brauchen wir die «fremde Denkkraft» oder den «fremden Mund». Fremdheit ist konstitutiv für Sprache. Humboldt hat an den sprachphilosophisch bedeutsamsten Stellen seines Werkes immer wieder auf diese konstitutive Fremdheit der Sprache hingewiesen: Indem die Sprache primär vom Ich als ein Denken der Welt erzeugt wird, ist sie zunächst Überwindung einer 58

Fremdheit, Aneignung der fremden Welt nämlich, Überführung der Welt in das «Eigenthum des Geistes» (IV: 420). Sprache ist aber als Eigenes und bloß beim eigenen Selbst Befindliches «idiotisch». Sie muß daher, um wirklich Sprache zu sein, aus einer «fremden Denkkraft» zurückstrahlen, als «Prüfstein der Wesenheit ihrer innren Erzeugungen» (VII: 56): Schon das Denken ist wesentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn begleitet, und der Mensch sehnt sich, abgesehen von allen körperlichen und Empfindungs-Beziehungen, auch zum Behuf seines blossen Denkens nach einem dem Ich entsprechenden Du, der Begriff scheint ihm erst seine Bestimmtheit und Gewissheit durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft zu erreichen. (VI: 26, Herv. J. T.) Unser Wort muß uns aus «fremdem Munde wiedertönen» (VII: 56), damit unser Wort und unser Denken «Objektivität» bekommen: In der Erscheinung entwickelt sich jedoch die Sprache nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat. Denn die Objectivität wird gesteigert, wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde wiedertönt. (VII: 55 f., Herv. J. T.) 3.1.2.2. Ist mein Begriff von Fremdheit jetzt noch derselbe wie am Anfang? Ich glaube schon. Die exotischen, nichtverstandenen Töne des Lesgischen, die Ergativität, die fremde Semantik, sind gewiß «fremder» als jenes Wort meiner Sprache, das mir aus dem fremden Mund wiedertönt. Aber die Differenz ist doch nur eine graduelle: Sofern es ein Wort aus anderem Munde ist, ist mir auch das Wort meiner Sprache radikal entrückt. Und umgekehrt ist noch das unverständliche Wort aus der Fremde insofern mein Wort, als es aus einem menschlichen Mund ertönt und jederzeit mein Wort werden kann. Im übrigen sollte man sich keine Illusionen über die sogenannte eigene oder Mutter-Sprache machen: Natürlich ist sie eigen, und sie scheint auch, so wie Humboldt dies an der eingangs zitierten Stelle gesagt hat, gerade deswegen einen besonderen Zauber auf uns aus59

zuüben. Sofern sie wirklich die Sprache unserer Mutter ist, hat sie uns sogar schon intra-uterinär geprägt. Man hat experimentell festgestellt, daß Neugeborene zwischen der Sprache der Mutter und anderer Sprache unterscheiden: Die sogenannte sucking rate der Babies ist höher beim Hören der Mutter-Sprache. Andererseits aber kann uns im Verlaufe unserer Sozialisation jede andere Sprache genauso lieb und teuer werden wie die Sprache der Mutter, wir sind ja außerhalb des Mutterleibes sprachlichen Einflüssen verschiedenster Art ausgesetzt – und damit auch der Idiotie der Muttersprache entronnen.6 3.1.2.3. Vor allem aber ist in diesem Zusammenhang an einen anderen Gedanken Humboldts zu erinnern, der nach der notwendigen Fremdheit meines Wortes eine zweite Fremdheit jeder Sprache, auch der sogenannten Muttersprache, betont: Humboldt weist nämlich darauf hin, daß wir die Sprache von der Sprachgemeinschaft, die er «Nation» nennt, und von den Vorfahren übernehmen und daß die Sprache uns insofern gerade etwas «Fremdes» ist. Die Nation und die Vergangenheit stehen mir ja durchaus als etwas, das ich nicht bin, als Anderes, gegenüber. Aber wie bei der fürs Sprechen konstitutiven Fremdheit der fremden Denkkraft und des fremden Mundes ist auch diese Fremdheit für Humboldt kein Schrecknis, sondern die Anschlußstelle des Individuums an den anderen – und damit an die ganze Menschheit in räumlicher und zeitlicher Hinsicht. Deshalb fühlt sich das Individuum durch dieses Fremde «bereichert, erkräftigt und angeregt»: Die Sprache aber ist, als ein Werk der Nation, und der Vorzeit, für den Menschen etwas Fremdes; er ist dadurch auf der einen Seite gebunden, aber auf der andren durch das von allen früheren Geschlechten in sie gelegte bereichert, erkräftigt, und angeregt. Indem sie dem Erkennbaren, als subjectiv, entgegensteht, tritt sie dem Menschen, als objectiv, gegenüber. (IV: 27, Herv. J. T.) 3.1.2.4. Damit haben wir drei Kreise der Fremdheit der Sprache festgestellt: – Einmal die für das Sprechen konstitutive Fremdheit des Du, der «fremden Denkkraft», des «fremden Mundes», aus dem mein 60

Wort – mein Wort wohlgemerkt – wiedertönen muß, damit mein Denken und Sprechen nicht bei sich, privat, idiotisch bleibt. – Zweitens die Fremdheit der eigenen Sprache, die uns von der Nation und der Geschichte gegeben wird. Dies ist die Fremdheit eines erweiterten Du, aus dessen Mund ein Wort ertönt, das ich mir zu eigen mache. Diese beiden fremden Sphären bilden den Kreis der wie ich Redenden. – Drittens die Fremdheit des Lesgischen, also die Fremdheit jenes Sprachlichen, das ich nicht verstehe, oder besser: die Fremdheit des Sprechers, aus dessen Mund – auf den ersten Blick – nicht mein Wort wiedertönt, an das ich nicht gesellschaftlich gebunden bin und das mich auch nicht historisch «erkräftigt». Ein weiteres Humboldt-Zitat markiert vor allem die Grenze zwischen zwei und drei: Alles Sprechen ruht auf der Wechselrede, in der, auch unter Mehreren, der Redende die Angeredeten immer sich als Einheit gegenüberstellt. Der Mensch spricht, sogar in Gedanken, nur mit einem Andren, oder mit sich, wie mit einem Andren, und zieht danach die Kreise seiner geistigen Verwandtschaft, sondert die, wie er, Redenden von den anders Redenden ab. Diese, das Menschengeschlecht in zwei Classen, Einheimische und Fremde, theilende Absonderung ist die Grundlage aller ursprünglichen geselligen Verbindung. (VI: 25, Herv. J. T.) Dennoch schließt auch dieser Kreis der nicht wie ich Redenden an den Kreis der wie ich Redenden an. Auch die wie ich Redenden sind ja Fremde, und auch auch die fremd Redenden sind wie ich, nämlich Redende. Deswegen beginnt hinter dem Kreis der eigenen – aus fremdem Munde wiedertönenden und aus der Nation und Geschichte übernommenen – Sprache nicht etwas völlig Anderes, sondern nur etwas graduell Anderes. Insofern tönt auch aus dem entferntesten kaukasischen Mund immer noch mein Wort zurück, strahlt immer noch meine Denkkraft aus der fremden Denkkraft.

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3.1.3. Das Fremde als Monstrum Dieser letzte, sozusagen universalistische Gedanke sollte uns auch aufmerksam machen auf einen gefährlichen Zug im Reden über das Fremde, auch in meinen einleitenden Bemerkungen über die sprachliche Fremdheit. Dort habe ich das als fremd angesehen, was eine besonders scharfe Differenz zu dem Meinigen aufwies: die ejektiven Konsonanten, die ergative Konstruktion, das merkwürdige üppige Kasussystem, die markante lexikalische oder pragmatische Differenz. Diese Differenzen zu dem mir Eigenen werden im Diskurs über das Fremde als das Besondere, als das Eigene des Anderen, sein ídion, sein idíoma, angesehen. Diese Identifizierung des von mir Abweichenden mit dem inneren Wesenskern des Anderen, mit dem ídion des Anderen, ist aber die große Gefahr des Diskurses über das Fremde: Dem Anderen sind ja die Züge, die es mit mir gemeinsam hat, ebenso eigen, die gemeinsamen Züge sind ebenso idiomatisch wie die Züge, die mir fremd sind. Um ein einfaches Beispiel zu nehmen: Von unserer eigenen Sprache aus fallen uns an der französischen Phonetik besonders die Nasalvokale [ã, õ, ε˜ ] und der herrliche Diphthong [wa] auf: «Dieu et mon droit», «l’état c’est moi», «car Didon dîna dit-on du dos d’un dodu dindon». Aber alle anderen Vokale, die das Französische mit dem Deutschen teilt, sind dem Französischen natürlich ebenso eigen, machen sein phonetisches ídion genauso aus wie die uns «fremden» Laute. Und das sind bedeutend mehr. Das Achten auf die von mir und meinem Eigenen abweichenden Züge in der Rede über das Fremde hat zur Folge, daß das Fremde als Monstrum erscheint. Als Monstrositäten wurden lange Zeit auch die fremden Sprachen beschrieben: Die linguistische Beschreibung fremder Sprachen war bis ins 19. Jahrhundert hinein eine Sammlung linguistischer Kuriositäten und Monstrositäten, so z. B. noch in Adelung und Vaters Mithridates (1806 –17). Diese linguistische Teratologie ist nun aber seit langem von einer wissenschaftlichen Beschreibung abgelöst worden, die nicht nur das Monströse an der fremden Sprache auflistet, sondern das Abweichende und das Gleiche in einem Gesamtbild, einem «Totaleindruck» (Humboldt), des Fremden abzubilden versucht. 62

Nicht das Fremde am Fremden ist sein Wesen, sein ídion. Diese Gleichsetzung ist die reine Idiotie. Das Fremde des Fremden ist bloß das uns Fremde. Mehr nicht. Dennoch können wir nicht umhin, das von uns Abweichende als das Fremde des Fremden anzusehen, unabhängig davon, ob dies sein Wesen ist oder nicht. Das von mir Differente ist mir das Fremde. Allerdings kann ich darauf nun wieder auf verschiedene Art und Weise reagieren: Da das sprachliche Fremde einerseits, wie Weinrich sagt, besonders deprimierend ist, weil ich es nicht verstehe, weil es gerade meine Erwartung frustriert, mit dir zu kommunizieren, mag man es besonders ablehnen oder gar hassen. Hier ist die Quelle der Rancune gegenüber den fremden Wörtern, die Adorno (1959) ausgemacht hat. Andererseits aber wird es ja auch geliebt, weil es abweicht, weil es anders ist. Ich bin sicher, daß ich Romanist geworden bin, weil ich mich als Kind in diese schönen fremden Laute verliebt hatte [ã, õ, ε˜, wa]. Deswegen war mir immer unmittelbar verständlich, was Adorno von der erotischen Faszination der fremden Wörter geschrieben hat.

3.2. Fremdheit der Sprachen Nach diesen Bemerkungen über verschiedene Dimensionen sprachlicher Fremdheit – über die Fremdheit des Lesgischen und die konstitutive Fremdheit jedes Sprechens, auch meines Sprechens und des Sprechens der Muttersprache – möchte ich im zweiten Teil meiner Überlegungen die folgende These verteidigen: «Wer die Fremdheit der Sprachen nicht richtig versteht, dem bleibt die Sprache fremd.» Und diese These möchte ich historisch entfalten: Dabei lautet die zweiteilige historische Diagnose: «Unserer Kultur ist die Sprache fremd geblieben, solange ihr die Fremdheit der Sprachen fremd geblieben ist – und das war ziemlich lange. Diese Fremdheit der Sprache hält immer noch an, bzw. sie verstärkt sich ganz offensichtlich wieder – vermutlich auch, weil die Fremdheit der Sprachen etwas Erschreckendes bzw. eine tiefdeprimierende Erfahrung ist, die man nur schwer aushält.»

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3.2.1. Platon Am Ende von Platons Dialog Kratylos, nachdem anhand zahlreicher Beispiele das Problem traktiert worden ist, ob die Wörter (onómata) von Natur gegeben sind (physei) oder durch menschliche Satzung (synthéke, nomos, ethos), und natürlich keine Antwort gefunden worden ist, stellt Sokrates die Frage, ob es denn nach all dem Hin und Her nicht besser wäre, die Sachen (ta pragmata oder auch ta onta) statt durch die Wörter (di’ onomaton) durch diese selbst kennenzulernen. Und natürlich stimmt Kratylos dem zu: Es ist viel besser, die Sachen aus sich selbst als aus den Wörtern kennenzulernen. Denn die letzteren sind ja bloß Bilder – eikon – der Dinge. Warum denn sich mit den Bildern zufriedengeben, wenn man sich den Sachen direkt erkennend nähern kann? Sokrates: Wenn man also zwar auch wirklich die Dinge durch die Wörter kann kennen lernen, man kann es aber auch durch sie selbst, welches wäre dann wohl die schönere und sichere Art, zur Erkenntnis zu gelangen? Aus dem Bilde erst dieses selbst kennenzulernen, ob es gut gearbeitet ist, und dann auch das Wesen selbst, dessen Bild es war, oder aus dem Wesen erst dieses selbst, und dann auch sein Bild, ob es ihm angemessen gearbeitet ist? Kratylos: Notwendig, ja, dünkt mich, die aus dem Wesen. Sokrates: Auf welche Weise man nun Erkenntnis der Dinge erlernen oder selbst finden soll, das einzusehen sind wir vielleicht nicht genug, ich und du; es genüge uns aber schon, darin übereinzukommen, daß nicht durch die Worte, sondern weit lieber durch sie selbst man sie erforschen und kennenlernen muß als durch die Worte. Kratylos: Offenbar, Sokrates. (439 a – b) «Phainetai, o Sokrates!» Dies ist das Ende des Dialogs über die Sprache. Und es zeigt, was Europa von der Sprache hält: nichts. Statt sich mit der Sprache aufzuhalten, wendet es sich lieber gleich den Sachen zu. Diesem Denken ist die Sprache fremd (diesem Denken, das unser Denken ist, wird die Sprache fremd bleiben, bis heute). Und zwar weil es nichts oder wenig von fremden Sprachen weiß. Zwar wird die Frage, die der Dialog am Anfang noch disku64

tiert, ob nämlich die Richtigkeit der Wörter natürlich oder nach menschlicher Übereinkunft gegeben sei, mit dem Hinweis auf die fremden Sprachen, auf die Sprachen der Barbaren, in Gang gesetzt: Wenn die Sprache natürlich wäre, müßte sie ja bei allen Menschen gleich sein. Es ist aber evident, daß die Barbaren andere Wörter haben. Immerhin wird den Barbaren das Sprechen zugestanden, was im Ausdruck barbaros nicht unbedingt mitgesagt ist. Barbaros ist ja der brbr-Sager, eigentlich jemand, der keine Sprache hat, quasi ein Tier. Dennoch wird deren anderes Sprechen auch nicht besonders ernst genommen, denn sonst hätte sich die Frage nach der Natürlichkeit der Wörter schneller erledigt, als dies der Fall ist. Fremde Wörter werden im Kratylos nur an einer einzigen Stelle diskutiert. Statt dessen wird Hermogenes, der Gegner des Kratylos und Vertreter der thesei-These, seitenlang gezwungen, die Abbildung der Sachen in den griechischen Signifikanten anzuerkennen. Und Kratylos muß umgekehrt zugeben, daß doch viel Nicht-Abbildliches in den griechischen Wörtern ist. Aber letztlich ist dann diese Frage einfach nicht wichtig: Die platonische Lösung der Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Welt ist diejenige der Sprachlosigkeit. Es kommt für das Erkennen gar nicht auf die Sprache an. Dennoch reden die Philosophen gern und viel. Und ihr Wort ist ihnen lieb und teuer wie ein eigenes Kind – was kann weniger fremd sein als ein eigenes Kind, was ist eigener? Daher verteidigt Sokrates in einem anderen Dialog, im Phaidros, auch die Sprache. Allerdings geht es dort um einen anderen Aspekt der Sprache: Es geht um die Materialität der Kommunikation, um lautliche Rede gegenüber der Schrift im Miteinander der Menschen, nicht um das Verhältnis der Wörter zu den Sachen in der Erkenntnis-Relation zur Welt. In kommunikativer Hinsicht wird hier die Schrift als eine Entfremdung des gesprochenen Wortes kritisiert. Die Schrift schafft nämlich eine Distanz zwischen dem gesprochenen Wort und dem Vater des gesprochenen Wortes: Denn diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. (274 a, Herv. J. T.) 65

Äußere fremde Zeichen, allotrioi typoi, stehen beim Schreiben anstelle der aus dem Inneren strömenden Laute oder der «lebenden und beseelten Rede « (276 a). Hier ist die Quelle – Derrida hat es ja beklagt – der abendländischen Verachtung der Schrift. Also ist diesem Denken die Sprache doch nicht fremd? Es erscheint die klassische Doppeltheit der Funktionen der Sprache: In der einen Hinsicht ist die Sprache fremd und in der anderen ist sie es nicht. Es werden in den beiden platonischen Dialogen zwei verschiedene Funktionen von Sprache befragt: die kognitive und die kommunikative: Der Kratylos thematisiert die Kognition, also die weltbearbeitende Funktion der Sprache, der Phaidros die kommunikative Funktion. Was das erste angeht, so können wir nach Platon der Sprache entraten: Denken oder emphatischer: erkennen können (oder sollten) wir eigentlich besser ohne Sprache. Hinsichtlich des zweiten, der Kommunikation, besteht aber gar kein Zweifel: die Sprache als klingende Rede dient der Kommunikation, dem Zusammensein. Es ist kein Zufall, daß die Rede als Miteinandersein in einem Dialog über die Liebe thematisiert wird. Die Liebe, das eigentliche Thema des Phaidros, realisiert sich besser in der Nähe als per Korrespondenz. Und in dieser Hinsicht ist gerade an der Sprache als lautlichem Ereignis festzuhalten als dem Eigentlichen der Sprache: Das Schreiben, gegen das hier polemisiert wird, entfremdet die Rede demjenigen, dem sie gehört, dem sprechenden Meister. Die äußerlichen «fremden Zeichen» – allotrioi typoi – stehen dem Eigenen, dem Inneren und wahrhaft Erinnerten gegenüber. Zum Wichtigsten, zum Denken, brauchen wir die Sprache (letztlich besser) nicht. Sie dient als Lautliches aber dem Miteinandersein – und da ist sie besser als das Schreiben, das etwas Fremdes ist. 3.2.2. Aristoteles Aristoteles zieht die Konsequenzen aus den Lehren seines Lehrers. Wenn es so ist, daß die Sprache zweitrangig ist fürs Denken und nützlich fürs Kommunizieren, dann ergibt sich folgendes: Es sind aber die Laute Symbole der Empfindungen der Seele. Geschriebene Wörter sind die Symbole der lautlichen. Und wie die 66

Schriftzeichen, so sind auch die Laute nicht dieselben für alle Menschen. Die Empfindungen der Seele, deren Zeichen [semeia] die Laute sind, sind aber dieselben für alle, so wie auch die Sachen [pragmata] dieselben sind, von denen diese Empfindungen Abbildungen [homoiomata] sind. (De int. 16 a) Sprache ist das Lautliche. Dieses – ta en te phone – ist ein symbolon oder semeion des von der Seele Empfundenen (pathemata tes psyches) oder des Gedachten, mit dem es aber ansonsten nichts zu tun hat. Sprache ist mit dem Gedachten zum Zwecke der Kommunikation eher locker verknüpft. Das Lautliche ist nämlich nur kata syntheken, d. h. nach historischer Tradition oder, wie man später sagt, «willkürlich» gegeben und daher wie die Schriftzeichen in den verschiedenen Gesellschaften verschieden. Das macht aber nichts – und das ist sozusagen die platonische Pointe bei Aristoteles, eine Bestätigung der Tatsache, daß die Sprache letztlich überflüssig ist; denn das Denken hat nichts mit der Sprache zu tun. Die pathemata tes psyches sind Abbilder, die für alle Menschen gleich sind. Gedacht wird also universell, ohne Sprache. Sprechen ist nur die Entäußerung des Gedachten zum Zwecke der Kommunikation. Und die Wörter sind – hier taucht der Ausdruck an prominenter Stelle auf – Zeichen, semeia. Die Zeichen-Auffassung der Sprache, das Wort als «arbiträrer» Signifikant des nicht-arbiträren Begriffs, ist von nun an die Standardversion des Nachdenkens über die Sprache. Diese Theorie – die herrschende Sprachtheorie des Abendlandes bis heute – ist sozusagen die nicht-katastrophistische Reaktion auf die Fremdheitserfahrung. Die Fremdheit der Sprachen läßt sich ja nicht übersehen: die Wörter sind verschieden. Sie ist jedoch gemäß dieser Auffassung zwar lästig, andererseits aber auch nicht so schlimm, sofern die Menschen sowieso dasselbe denken. Die Fremdheit der Sprachen steckt allein im Materiellen. Das Geistige, das Semantische, das Inhaltliche ist bei allen Menschen gleich. Es ist öfter festgestellt worden, daß die Fremdheitserfahrung der Griechen gering gewesen sei, vermutlich deswegen, weil sie – wie die Amerikaner heute – überall, wo sie hinkamen, Griechen trafen oder Menschen, die Griechisch konnten. Die Griechen wissen zwar von der Existenz anderer Sprachen. Sie lernen aber keine. Sie wissen also nicht, wie fremd die Sprachen wirklich sind. Dies ist sicher ein 67

Grund dafür, daß sie glauben und dem ganzen Abendland für die nächsten Jahrtausende weismachen, daß die Wörter verschiedener Sprachen nichts anderes seien als die materiell verschiedenen Zeichen der universell identischen Gedanken. Die Griechen verpassen damit die Einsicht in die ganz besondere Struktur und Funktion der Sprache. Dies meine ich, wenn ich von der Fremdheit der Sprache spreche: Die Griechen sehen nicht, daß fremde Sprachen nicht nur fremde Laute sind, sondern auch fremdes Denken. In diesem Zusammenhang sei noch erwähnt, daß unsere andere Tradition, die biblische, an diesem Befund nichts ändert. Zwar hat sich im Gegensatz zu den Griechen – und, wie Borst (1957– 63: 126) sagt, offensichtlich einmalig in der Welt – die Bibel ausführlich für fremde Völker interessiert. Sie bemüht sich um eine Erklärung der sprachlichen Vielfalt der Menschheit durch den Babelmythos. Israel ist damit eine der wenigen Kulturen, die über den sprachlichen Tellerrand hinwegschaut. Die jüdische Kultur rationalisiert im Babelmythos die «deprimierende» Erfahrung der sprachlichen Fremdheit. Allerdings vor dem Hintergrund einer doppelten universalistischen Annahme: erstens daß all die verschiedenen Sprachen ja Sprachen einer Menschheit sind – der Babelmythos steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der genealogischen Tafel der Nachfahren Noahs – , und zweitens vor dem Hintergrund der Tatsache, daß die Menschen einmal eine Sprache gesprochen haben, also vor dem Hintergrund einer universell einheitlichen Vergangenheit bei aller Verschiedenheit. Dieser Hintergrund der sprachlichen Einheit wird wichtig, wo die babelische Strafe wieder aufgehoben wird, zu Pfingsten nämlich: Beseelt von dem einen Geist kassieren die Apostel zwar die sprachliche Fremdheit nicht, sie überwinden sie aber, weil sie von dem einen (Heiligen) Geist erfüllt sind. Sofern der eine Geist durch ein Wunder die sprachliche Fremdheit überwinden kann, zeigt sich hier in der hellenistischen Welt ganz griechisch, daß die Differenz nicht so tief sein kann. Die Einheit des Geistes, die bei Aristoteles ausdrücklich angenommen wurde, bleibt dann auch bei den griechisch denkenden lateinischen Christen erhalten. Augustinus erkennt hinter allen Sprachen eine einheitliche Sprache des Herzens im Glauben: una lingua fidei cordis. 68

3.2.3. Weltansichten Die Einsicht in die tiefe, kognitiv-semantische Verschiedenheit der Sprachen hat Europa erst Jahrtausende später, nach einer mühsamen Begegnung mit fremden Sprachen, fassen können. In gewisser Hinsicht resümiert Humboldt Anfang des 19. Jahrhunderts die Erfahrungen mit den fremden Sprachen, die Europa seit dem 16. Jahrhundert gemacht hat. Die ausdrückliche Absicht des Humboldtschen Sprachstudiums ist es daher, die traditionelle kommunikativ-semiotische Auffassung von der Sprache als einem Zeichen zu überwinden: Nur auf diesem Wege können diese Forschungen dahin führen, die Sprachen immer weniger als willkührliche Zeichen anzusehen, und, auf eine, tiefer in das geistige Leben eingreifende Weise, in der Eigenthümlichkeit ihres Baues Hülfsmittel zur Erforschung und Erkennung der Wahrheit, und Bildung der Gesinnung, und des Charakters aufzusuchen. (IV: 32 f.) Humboldt behauptet also gegen die aristotelische Tradition: – erstens daß die Sprache das bildende Organ des Gedanken ist, Organ der Kognition, allerdings eines Denkens, das sich unauflöslich in den Laut einschreibt, das also kein reines Denken ist, sondern ein Denken in Lauten, pensée-son, wie Saussure (1916: 156) dies später nennen wird; – zweitens daß die Sprache nicht nur Denken überhaupt ist, sondern daß es sich in der Vielfalt der Sprachen manifestiert und daß jede Sprache dieses Denken auf ihre ganz bestimmte Art und Weise realisiert: Das Denken ist aber nicht bloss abhängig von der Sprache überhaupt, sondern, bis auf einen gewissen Grad, auch von jeder einzelnen bestimmten. […] Ein sehr bedeutender Theil des Inhalts jeder Sprache steht daher in so unbezweifelter Abhängigkeit von ihr, dass ihr Ausdruck für ihn nicht mehr gleichgültig bleiben kann (IV: 21 f.);

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– drittens daß die Sprachen daher also keine Schälle und Zeichen, sondern Weltansichten sind: Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes voneinander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst (IV: 27); – viertens, wie wir schon gesehen haben, daß dieses Denken in Sprache von dem Bezug auf den anderen, von Kommunikation, von der «fremden Denkkraft», nicht getrennt gedacht werden kann: Es liegt aber in dem ursprünglichen Wesen der Sprache ein unabänderlicher Dualismus, und die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiederung bedingt. Schon das Denken ist wesentlich von Neigung zu gesellschaftlichem Daseyn begleitet. (VI: 26) Die zentrale Einsicht war dabei sicher, daß das Denken nicht nur von der Sprache überhaupt abhängig ist, sondern «bis auf einen gewissen Grad» auch von jeder besonderen, daß die Sprachen also verschiedene «Weltansichten» enthalten. Dies ist die Begründung der Sprachwissenschaft überhaupt oder, wie es an der zitierten Stelle (IV: 27) weiter heißt: Hierin ist der Grund, und der letzte Zweck aller Sprachuntersuchung enthalten. Der moderne europäische Strukturalismus hat diese Einsicht in die inhaltliche Verschiedenheit der Sprachen zu seinem theoretischen Zentrum gemacht, so daß die schematische Exemplifizierung dieses Faktums hier zitiert sei, Hjelmslevs zwei berühmte Beispiele der verschiedenen «Ansichten» bestimmter Inhaltsbereiche: Der Bedeutungs-Bereich «Wald-Baum-Holz» ist im Dänischen oder Französischen anders strukturiert als im Deutschen. Und die Far70

ben braun bis grau sind im Englischen und im Gälischen lexikalisch anders gestaltet (Hjelmslev 1963: 53 f.): gwyrdd Baum

arbre

green

Holz

bois

blue

træ skov

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llwyd brown

Uns ist das inzwischen sehr geläufig. Wir wissen, daß Sprachen nicht nur materiell unterschiedlich sind, sondern daß sie die Welt geistig verschieden gestalten. Um aber zu dieser Einsicht zu gelangen, mußten Jahrtausende vergehen, und diese Einsicht ist auch auch heute durchaus nicht unangefochten, sondern wird von einem sprachtheoretischen Neoaristotelismus neuerdings wieder vehement bestritten. 3.2.4. Erfahrung der Verschiedenheit 3.2.4.1. Ich möchte andeuten, wie das europäische Denken diese Einsicht in die Fremdheit der Sprachen und damit die Einsicht in die Sprache gewinnt. Entscheidend war hier ganz bestimmt die Begegnung mit Amerika. Amerika ist eine traumatische und heilsame Erfahrung für den europäischen Menschen gewesen, die mit anderen Entdeckungen seit dem 16. Jahrhundert zusammenwirkt. Der Europäer mußte die Einsicht verarbeiten, daß er nicht der Mittelpunkt der Welt ist, weil sich sein Stern um den größeren Stern Sonne dreht und weil seine europäische Welt auf dem runden Planeten nur eine unter vielen anderen ist. Dem Verlust seiner alten kosmischen Sicherheiten entspricht sprachlich der Abstieg des Lateinischen als der universellen Sprache der Christenheit und der Aufstieg der vielen Nationalsprachen. Damit beginnt im 16. Jahrhundert auch ein Interesse an fremden Sprachen, das vorher nur rudimentär vorhanden war. Die Vielheit der Sprachen wird immer deutlicher auch eine gelebte Erfahrung. Diese Erfahrung kulturellen und sprach71

lichen Andersseins wird dann durch die Begegnung mit der amerikanischen Welt dramatisch verstärkt. Aber es dauert noch Jahrhunderte, bis hinreichende Informationen vorhanden sein werden, um dies richtig zu verstehen. Zunächst gibt es zwei Panikreaktionen auf die Erfahrung der Verschiedenheit der Menschensprachen. Die erste ist diejenige der sogenannten harmonia linguarum: Die Vertreter dieser These versuchen, die verschiedenen Sprachen der Welt – es sind zunächst nicht sehr viele, die man kennt – auf eine einzige zurückzuführen, zumeist auf das Hebräische als die Sprache Adams und vermeintliche Ursprache der Menschheit. Es wird dabei sozusagen so lange an den verschiedenen Signifikanten gekratzt, bis darunter das hebräische Wort auftaucht. Es ist leicht einzusehen, daß diese Rekonstruktionen aus unserer Sicht abenteuerliche Unternehmungen waren. Die zweite, etwas spätere und intelligentere Reaktion ist diejenige der Grammaire générale. Da es unmöglich war, die Signifikanten der verschiedenen Sprachen der Menschheit auf Ursignifikanten zurückzuführen, schien ein anderer Weg erfolgversprechender, die Einheit der Sprachen zu garantieren: der Weg der universellen Grammatik. Noch war ja die Erfahrung der Verschiedenheit der Sprachen nicht besonders groß. Bekannt waren den europäischen Intellektuellen ein paar westeuropäische Sprachen, die beiden klassischen Sprachen und neuerdings das Hebräische. Die indoeuropäischen Sprachen haben in der Tat alle mehr oder minder dieselbe grammatische Struktur, so daß der Gedanke nahelag, daß den verschiedenen Sprachen auch ein und dieselbe Grammatik zugrunde liegt. Damit war – trotz aller Verschiedenheit – die Einheit der Menschheit gerettet. Es ist im Prinzip ein grammatischer Aristotelismus, der hier herrscht: die grammatische Grundstruktur des Denkens ist dieselbe, nur die Signifikanten, die oberflächlichen Entäußerungen dieses Denkens, sind verschieden. 3.2.4.2. Doch die tiefe Verschiedenheit der Sprachen der Welt drängt sich immer mehr auf. Europa sammelt linguistisches Material aus Amerika, zunehmend aber auch aus dem riesigen Russischen Reich,7 aus Asien und später aus Afrika. Ich glaube, es ist Locke, der zum ersten Mal die lexikalische Divergenz zwischen Sprachen 72

in großer Deutlichkeit feststellt (und dabei gerade auch einen Blick auf amerikanische Sprachen wirft).8 Er schreibt folgendes: A moderate skill in different languages will easily satisfy one of the truth of this, it being so obvious to observe great store of words in one language which have not any that answer them in another. Which plainly shows that those of one country, by their customs and manner of life, have found occasion to make several complex ideas and give names to them, which others never collected into specific ideas. This could not have happened if these species were the steady workmanship of nature, and not collections made and abstracted by the mind, in order to naming, and for the convenience of communication. The terms of law, which are not empty sounds, will hardly find words that answer them in the Spanish or Italian, no scanty languages; much less, I think, could anyone translate them into the Caribbee or Westoe languages; and the versura of the Romans or corban of the Jews have no words in other languages to answer them. (Locke 1690: III, v, 8) Eine auch nur mäßige Kenntnis verschiedener Sprachen wird einen leicht von der Wahrheit des Gesagten überzeugen; denn nichts ist so offensichtlich zu beobachten wie eine große Menge von Wörtern in der einen Sprache, denen keine in der anderen Sprache entsprechen. Das zeigt ganz offensichtlich, daß es die Leute eines Landes durch ihre Sitten und ihre Lebensart notwendig fanden, mehrere komplexe Ideen zu bilden und ihnen Namen zu geben, welche andere niemals zu besonderen Ideen zusammengefaßt haben. Dies hätte nicht geschehen können, wenn diese Arten das beständige Werk der Natur wären und nicht vom Geist gemachte und abstrahierte Sammlungen für die Benennung und zum Zwecke der Mitteilung. Die Ausdrücke unseres Gesetzes, die keine leeren Töne sind, werden schwerlich Wörter finden, die ihnen in der spanischen oder italienischen Sprache entsprechen, die ja keine armen Sprachen sind; noch weniger, denke ich, könnte sie irgendjemand in die karibischen oder indianischen Sprachen übersetzen; und die versura der Römer oder der korban der Juden haben keine Wörter, die ihnen in anderen Sprachen entsprechen. 73

Vor allem bestimmte gesellschaftliche Institutionen werden in der einen und in der anderen Sprachgemeinschaft jeweils anders gedacht, d. h. insbesondere die sogenannten «mixed modes» sind von Sprache zu Sprache verschieden. Aber, so fährt Locke weiter fort, sogar bei solchen Wörtern, die das Gleiche zu bedeuten scheinen, wie Fuß, Stunde und Pfund sind jeweils andere Neben-Ideen vorhanden: There are no ideas more common and less compounded than the measures of time, extension, and weight; and the Latin names, hora, pes, libra, are without difficulty rendered by the English names, hour, foot, and pound; but yet there is nothing more evident than that the ideas a Roman annexed to these Latin names were very far different from those which an Englishman expresses by those English ones. (ebd.) Lockes Einsicht in die semantische sprachliche Differenz ist aber begleitet von einem lauten Lamento darüber, daß es so ist. Er beklagt dies deswegen, weil – wenn es so ist, daß die Menschen in den verschiedenen Sprachen Verschiedenes denken – dies natürlich ein erhebliches Hindernis für das gemeinsame Finden der Wahrheit darstellt. Die Wörter sind, so klagt Locke ein Nebel vor unseren Augen, «a mist before our eyes». (ebd.: III, ix, 21) 3.2.4.3. Um die Einsicht in die semantische Differenz zwischen Sprachen wirklich fruchtbar zu machen, mußte man dieser Entdekkung aber eine positive Wende geben, durfte also in dieser Verschiedenheit des Denkens keine Katastrophe sehen. Dazu braucht man eine Theorie der Vielfalt bzw. eine Theorie der Einheit in der Vielfalt: Leibniz sieht die Einheit des menschlichen Geistes auch in der Vielheit der menschlichen Geister gewahrt, ja er feiert die Vielfalt als Reichtum des Geistes. Auf die Lockesche Klage über die verschiedenen einzelsprachlichen Semantiken, also den «mist before our eyes», antwortet Leibniz mit dem Projekt der modernen Linguistik: Et quand il n’y aurait plus de livre ancien à examiner, les langues tiendront lieu de livres et ce sont les plus anciens monuments du 74

genre humain. On enregistrera avec le temps et mettra en dictionnaires et en grammaires toutes les langues de l’univers, et on les comparera entre elles, ce qui aura des usages très grands tant pour la connaissance des choses […] que pour la connaissance de notre esprit et de la merveilleuse variété de ses opérations. (Leibniz 1765: 293; N. E. III, ix) Und wenn es kein altes Buch mehr zu untersuchen gäbe, dann werden die Sprachen die Stelle der Bücher einnehmen, denn sie sind die ältesten Denkmäler des Menschengeschlechts. Man wird mit der Zeit alle Sprachen des Universums aufzeichnen und in Wörterbücher und Grammatiken fassen, und man wird sie untereinander vergleichen, was sehr großen Nutzen sowohl für die Kenntnis der Sachen […] als auch für die Kenntnis unseres Geistes und der wunderbaren Vielfalt seiner Operationen haben wird. Alle Sprachen der Welt in Wörterbüchern und Grammatiken zu beschreiben ist deswegen gut, weil das die «merveilleuse variété des opérations de notre esprit» dokumentiert, die wunderbare Vielfalt der Operationen des Geistes der Menschheit. Dies ist das Geburtsdokument der modernen Sprachwissenschaft, die als Antwort auf die richtige Einsicht in die Fremdheit der Sprachen zu verstehen ist: Alle deskriptiven Unternehmungen im 18. Jahrhundert und danach hängen direkt oder indirekt von dieser Leibnizschen Begeisterung für die Verschiedenheit der Sprachen der Menschheit ab, die nicht nur eine materielle, sondern auch eine geistige Verschiedenheit ist: Um 1800 werden etwa die Dokumentationen von Lorenzo Hervás, Pallas und vor allem der Mithridates, die Sprachenzyklopädie von Adelung und Vater, versuchen, die Sprachenvielfalt zu erfassen. Man wird die «merveilleuse variété des opérations de notre esprit» über den Wortschatz hinaus zunehmend auch in der Grammatik suchen. Beides, Grammatik und Lexikon, sind gemeint, wenn Humboldt schon ganz im Sinne eines strukturalistischen Deskriptivismus davon spricht, daß jede Sprache in ihrem «inneren Zusammenhang» zu erfassen sei. Er legt z. B. in der Mexikanischen Grammatik den Versuch einer Beschreibung des inneren Zusammenhangs oder der «Struktur» (wie man schon zu Humboldts Zeiten sagte) einer Sprache vor. 75

3.2.4.4. In Humboldts Projekt des Vergleichenden Sprachstudiums wird auf den Begriff gebracht, was das 18. Jahrhundert erst erahnte: Die Sprachen sind einander nicht nur materiell fremd, sondern die Fremdheit geht tiefer. Sie ist auch eine Differenz der «Weltansichten». Und diese zu beschreiben ist Aufgabe der Sprachwissenschaft: Aber auch die Mundart der rohesten Nation ist ein zu edles Werk der Natur, um, in so zufällige Stücke zerschlagen, der Betrachtung fragmentarisch dargestellt zu werden. Sie ist ein organisches Wesen, und man muss sie, als solches, behandeln. Die erste Regel ist daher, zuvörderst jede bekannte Sprache in ihrem inneren Zusammenhange zu studiren, alle darin aufzufindenden Analogien zu verfolgen, und systematisch zu ordnen. (IV: 10) Neu bei Humboldt ist dann auch das Verfahren der Beschreibung der Sprachen: Die fremden Sprachen sind nicht, wie noch bei Adelung und Vater, als eine Sammlung von Kuriositäten zu beschreiben, also als Sammlung von Abweichungen von der eigenen grammatischen Form, wie auch wir das eingangs gemacht haben. Sondern die Sprachen sind als je verschiedene Formen des Geistes als Ganze in den deskriptiven Griff zu bekommen. Um es mit unserem Beispiel zu sagen: am Lesgischen ist nicht nur der ejektive Laut oder die Ergativität hervorzuheben, sondern die ganze Struktur ist zu erfassen, in ihrem «inneren Zusammenhang», so wie die Grammatik von Haspelmath dies vorführt. Das Fremde ist nicht als Monstrum zu beschreiben, sondern als ein Individuum in seiner Gänze darzustellen. 3.2.4.5. Die Sprachwissenschaft ist aber zunächst nicht den Weg der Beschreibung aller Sprachen der Menschheit gegangen, den Leibniz gewiesen hatte. Eigentlich wollte man im 19. Jahrhundert gar nicht mehr wissen, daß die verschiedenen Sprachen verschiedene Weltansichten sind. Es ist gleichsam so, als scheue das 19. Jahrhundert vor diesem Abgrund zurück, der die Einheit des menschlichen Geistes stark in Frage stellt. Ähnlich wie im 16. Jahrhundert mit seinen kopernikanischen, kolumbianischen und lutheranischen Revolutionen ist Europa durch die Französische Revolution erneut einiger 76

Denk- und Lebensgewißheiten beraubt worden. Die alte politische Weltordnung ist dahin, sie ist nicht mehr «par la grâce de Dieu» und folglich ewig. Die Geschichte verändert alles. Vielleicht hält es daher das verunsicherte Denken nicht mehr aus, weitere Differenzen kennenzulernen, weitere Unsicherheiten zu verkraften, den europäischen Geist, den Geist der Vernunft, sich fragmentieren zu sehen in der «variété de ses opérations». Es geht daher eher darauf aus, die Verschiedenheiten zu reduzieren. Erneut steht – wie in der harmonia linguarum – die Suche nach der verlorenen Einheit auf dem Programm. Bei Hegel ebenso wie in der Sprachwissenschaft. In der sogenannten historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft (die übrigens ebenfalls auf ein Leibnizsches Projekt zurückgeht),9 wird nicht die Verschiedenheit der Operationen des menschlichen Geistes aufgesucht, sondern gerade im Gegenteil die Einheit der verschiedenen Sprachen in der Zeit: Bopp und nach ihm das riesige, erfolgreiche Unternehmen der Indogermanistik ist auf der Suche nach der einen Sprache, auf die diese Sprachen zwischen Indien und Island zurückzuführen sind. In der Intention ist diese Suche derjenigen der harmonia linguarum ganz ähnlich, nur wird jetzt mit wissenschaftlichen historischen Mitteln vorgegangen. Es ist ein Projekt, das die Fremdheit der Sprachen reduziert. Man hat immer gesagt, daß die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft – vor allem in Deutschland – ein nationalistisches Projekt gewesen sei, sofern sich hier die Nation in der Geschichte verankert und dabei auch noch andere Sprachen an die Nation annektiert. Bekanntlich ist ja Grimms Deutsche Grammatik mitnichten eine deutsche Grammatik, sondern eine vergleichende Grammatik der germanischen Sprachen. Man kann aber auch umgekehrt sagen, daß die historisch-vergleichende Grammatik gerade vor der im Nationalismus sich verschärfenden Fremdheit zwischen den Sprachen zurückschreckt und die Differenzen in die Identität der Familie zurückholt. Es ist mir klar, daß dieses Geschäft insbesondere für Europa betrieben wird, daß sozusagen eine große europäische Nation geschmiedet wird im Projekt der Indogermanistik: Europa gegen den Rest der Welt. Nichts aber begrenzt prinzipiell das Projekt der historisch-vergleichenden Suche nach der Einheit 77

der Sprachen auf die indoeuropäische Familie, so daß es zurecht jetzt wieder – wie bei Leibniz – auf die ganze Menschheit ausgedehnt wird.10 Das Humboldtsche Projekt einer Beschreibung der «Weltansichten», die die verschiedenen Sprachen sind, wird eigentlich erst im 20. Jahrhundert realisiert. Im 19. Jahrhundert war es durch den außerordentlichen Erfolg der historisch-vergleichenden (diachronischen) Sprachwissenschaft zunächst in den Hintergrund gedrängt und im wesentlichen nur von den nicht-indoeuropäischen Linguistiken weitergetragen worden. Im Rahmen der synchronisch-strukturellen Linguistik (die explizit Humboldtsche Anregungen aufgreift) beschreibt man dann aber im 20. Jahrhundert die Sprachen der Welt in einem riesigen weltweiten Unternehmen. Am Ende dieses deskriptiven Jahrhunderts sind sehr viele Sprachen der Welt beschrieben, ist das Leibnizsche Projekt der Registrierung aller Sprachen ein gutes Stück vorangetrieben worden, allerdings ohne daß dieser Teil des Humboldtschen Projekts des vergleichenden Sprachstudiums abgeschlossen wäre. Viele Sprachen, die vermutlich die nächsten hundert Jahre nicht überleben werden, harren noch ihrer «mise en dictionnaire et en grammaire». 3.2.5. Wissen von der Fremdheit der Sprachen Es scheint nun so, als sei dieses Wissen um die tiefere, inhaltliche Fremdheit zwischen den Sprachen auch in das allgemeine Wissen eingedrungen: Das läßt sich beispielsweise daran ablesen, daß wir – wir Intellektuelle – uns lustig machen über Menschen, die diese strukturelle Fremdheit der Sprachen nicht richtig verstehen, die immer noch – wie Aristoteles – der Ansicht sind, die Sprachen unterschieden sich nur in den Signifikanten, und die nicht wissen, daß andere Sprachen einfach alles ganz anders fassen. Wenn jemand meint, «gleich geht es los» hieße auf englisch «equal goes it lose», «Staatsoberhaupt», sei «statesoverhead», so glaubt er eben mit Aristoteles, daß inhaltlich alles gleich sei bei den Sprachen und daß man den gleichen Inhalten nur verschiedene Signifikanten zuordnen müsse. Das Wissen um die differente Struktur von Sprachen läßt uns auch an aristotelisch gesinnten Übersetzern verzweifeln, die 78

«How do you do» mit «Wie tust du tun», und «you ate an apple» mit «du aßest einen Apfel» übersetzen. Andererseits ist dieses Wissen um die tiefere Fremdheit der Sprachen aber auch nicht besonders tief ins allgemeine Bewußtsein gedrungen. Humboldt sagte einmal (bedauernd), daß es den Menschen «natürlich» sei, die Sprache als Zeichen anzusehen, also die einfache «aristotelische» Auffassung von den nur materiell verschiedenen Sprachen zu hegen.11 Ich sehe die Zeichenauffassung der Sprache zum Beispiel in folgenden charakteristischen Erscheinungen vorherrschen: 1. Es gibt kein allgemeines Interesse an Sprachen. In Reiseführern und ähnlichem findet man kaum jemals Informationen über die Sprachen fremder Länder. 2. Selbst Sprachstudenten – angehende Philologen – verstehen oft nicht, daß Sprachen etwas anderes sind als Mittel zum Zweck und daß man sie zum Gegenstand des Nachdenkens machen kann. 3. Das (literarische) Übersetzen ist nach wie vor eine nicht besonders hoch angesehene und schlecht bezahlte Tätigkeit, wohl weil die Meinung herrscht, es müßten dabei sozusagen nur Signifikanten gesucht werden. 3.2.5.1. Was ich damit natürlich auch sagen möchte, ist, daß «le langage cet étranger» durch ein angemessenes Denken der Fremdheit der Sprachen, der «langues étrangères», eine größere Rolle spielen müßte in unserer Kultur. Wir kaufen Bücher über die Tempel Javas, über die Kathedralen Frankreichs, über die Pyramiden in Yucatán – und wenn wir in diese Länder reisen, schauen wir uns diese Denkmäler an, essen die fremden Speisen, hören vielleicht auch Musik und genießen die Tänze. Die Reiseführer informieren uns über die sogenannten Sehens-würdigkeiten, sehr selten aber über jene Hörens-würdigkeiten und Denk-würdigkeiten, welche die Sprachen sind. Wir finden in den Reiseführern höchstens ein paar Phrasen in der einheimischen Sprache, die uns das Leben erleichtern können: Wo geht’s zum Bahnhof? Was kostet ein Glas Bier? Bitte, Danke, eins zwei drei etc. Schon an diesen Listen nützlicher Phrasen zeigt sich, als was wir die Sprache betrachten: als Instrumente der Kommunikation, als praktische Instrumente. Warum aber sollten wir uns für solche technischen Geräte interessieren? Wir besichtigen ja auch keine Autowerkstätten oder Fabriken in Java, Mexiko oder Frankreich. Dabei ist die Sprache aber eben nicht nur Kommunika79

tionsinstrument. Sie ist nicht nur Autowerkstatt, sondern auch Kathedrale (auch die Kathedralen und Tempel und Pyramiden haben umgekehrt übrigens oft noch eine instrumentelle Funktion, die des Gottesdienstes nämlich). Sprachen sind auch Kunstwerke, kulturelle Schöpfungen der Völker, Kathedralen des Denkens. 3.2.5.2. Wie fremd in unserer Kultur die Sprache ist, zeigen uns jedes Semester aufs neue sogar unsere Studenten, die Sprachen studieren. Nur wenige verstehen überhaupt, daß man die Sprache selbst zum Gegenstand des Studiums, der Analyse, kurz der intellektuellen Anstrengung machen kann. Sie verstehen es deswegen nicht, weil sie in ihrer fremdsprachlichen Vorbildung die Sprache vorwiegend als Mittel zum Zweck oder als eine Technik kennengelernt haben, die man möglichst perfekt beherrschen soll. Diese Sprach-Techniker mißverstehen das Philologiestudium als eine weitere Perfektionierung der Sprachkompetenz und wollen sich dem Fremden, das sie lieben (das ist immerhin schön), weiter mimetisch anverwandeln. Es geht aber vor allem darum, das Fremde zu verstehen, es zu kennen, nicht nur, es zu «können». Die Virtuosi des Tuns bleiben auf der Ebene der cognitio clara inadaequata, auf der Ebene des – durchaus kostbaren – technischen Sprach-Wissens, das uns im nächsten Kapitel beschäftigt. Daß es auch eine cognitio adaequata dieser Technik geben kann, ist diesen Sprach-Technikern fremd. Diese Fremdheit der Sprache hat sich verschärft, seitdem an den Schulen die Grammatik nur noch eine geringe Rolle spielt: Der Unterricht in den alten Sprachen war der klassische Ort für grammatische Übungen, für ein Jonglieren mit grammatischen Formen und Kategorien als Selbstzweck. Seitdem aber im Sprachunterricht die Erreichung der sogenannten kommunikativen Kompetenz – also das Pseudo-Franzosentum, die Heranzüchtung des Quasi-Amerikaners – ehernes Gesetz ist, sind Einblicke in die sprachliche Struktur nicht mehr gefordert. Das Zurücktreten aus dem praktischen kommunikativen Tun zum Zwecke der theoretischen Betrachtung wird nicht mehr eingeübt. Weil es ganz ums praktisch-technische Können geht, um cognizing,12 sind natürlich auch hypno- oder suggestopädische Methoden hochwillkommen, die diese Technik völlig automatisieren. Damit scheint die fremde Sprache dem Lernenden ganz eigen zu 80

werden, sofern sie ja im unbewußt-praktischen Tun belassen ist. Gerade als ein Automatisiertes ist sie aber auch ein Uneingesehenes, Unverstandenes und somit Fremdes. Psychoanalytisch ist die solchermaßen erworbene Sprache ein Es, das automatisch in mir wirkt. Die Psychoanalyse macht dieses Automatische, das nicht wir beherrschen, sondern das uns beherrscht, zum Gegenstand: Das Es ist ein Fremdes, das erst noch eigen, also Ich werden muß. In die Helle der Analyse muß Es gerückt werden, damit Ich wird bzw. damit Es mein wird. So ist es auch mit der Sprache: In die Helle der linguistischen Analyse muß sie gerückt werden, wenn sie wirklich unser eigen werden soll, wenn wo Es war, Ich werden soll. Überspitzt gesagt: wirklich beherrschen wir die Sprache erst dann, wenn uns nicht mehr nur die beherrschte Sprache beherrscht, sondern wenn wir auch über sie herrschen. 3.2.5.3. Eine weitere Konsequenz der Fremdheit der Sprache, jener ungenügenden Einsicht in die Fremdheit der Sprachen, ist die Geringschätzung des Übersetzens: Wenn Übersetzen verstanden wird als das Zusprechen anderer Signifikanten zu einem Inhalt, der für alle Menschen gleich ist (dies wäre jetzt sozusagen die radikal aristotelische Version des Übersetzens), dann ist Übersetzen nichts anderes als im Wörterbuch Nachsehen und das entsprechende Wort in der Zielsprache Hinschreiben. Das kann natürlich nicht besonders gut bezahlt werden. Wenn aber Sprachen als in der angedeuteten komplizierten Art und Weise fremd verstanden werden, dann ist Übersetzen als die unendlich schwierige Aufgabe erkannt, die es ja wirklich auch ist, als komplizierter Übergang in eine ganz andere, fremde Denk-Welt. Diese Tätigkeit verdient in jeder Hinsicht die höchste Anerkennung. 3.2.5.4. Eine gewisse Zweideutigkeit im Wissen um die inhaltliche Diversität der Sprachen scheint mir schließlich in der Philosophie zu herrschen: Einerseits ist der sogenannte linguistic turn der Philosophie die (um hundert Jahre verspätete) Einsicht einer bestimmten Philosophie in die sprachliche Verfaßtheit des Denkens oder in die Tatsache, daß Wörter nicht nur Signifikanten sind. Andererseits aber ist dies nach wie vor eine grauenhafte Erfahrung für die Philosophen, für Frege noch genauso wie für Locke. Hier wird der 81

Kampf weitergekämpft, den Bacon gegen die idola fori begonnen hatte und den Locke schon geführt hatte, als er erkannte, daß das Sprachliche «a mist before our eyes» ist. Analytische Philosophie ist gerade der Versuch, diesen Nebel zu vertreiben. Und zwar mit einigem Zähnefletschen, so als könne Aristoteles’ Unwissenheit wiederhergestellt werden oder als ließe sich Platons Sehnsucht realisieren, ohne Sprache zu erkennen: «Phainetai, o Sokrates!» 3.2.6. Relativismus und Universalismus Und vor dem Hintergrund dieser Zweideutigkeiten schlägt derzeit auch in der Sprachwissenschaft das Pendel wieder zurück: Man wird gleichsam der Verschiedenheit der Sprachen müde. Diese ist auch erheblich übertrieben worden, bis hin zu politischen Auswüchsen, die wir leider immer noch erleben. 3.2.6.1. Die Einsicht in die tiefen, also semantischen Differenzen zwischen Sprachen ist vom sogenannten linguistischen Relativismus verabsolutiert worden. Durch das Starren auf die Differenz geriet das Gemeinsame in den Hintergrund. Die Einsicht in die Sprachen als verschiedene «Weltansichten» wurde zur Idiotie, als man die universellen Züge der Sprachen außer acht ließ. Der sprachliche Relativismus hat die jeweiligen «Weltansichten» zu Gefängnissen des Geistes erklärt: Die sprachliche Verfaßtheit des Denkens ist ganz eng und exklusiv gefaßt worden. Berühmt geworden ist hier die Auffassung von Whorf, der gemeint hat, das Denken der Europäer und das Denken der Hopi-Indianer seien inkommensurabel, weil bestimmte sprachliche Kategorien anders seien, die jeweils ein ganz bestimmtes Denken determinieren. Insbesondere sei den Hopi durch ihre Sprache ein Denken des Zeitlichen nicht möglich, weil sie keine entsprechenden grammatischen Verfahren in ihren Verben hätten. Kaum karikiert ist die zentrale Behauptung des Relativismus, wenn etwa unser Beispiel aus dem Italienischen scala besagen würde, daß die Italiener den Unterschied zwischen einer Treppe und einer Leiter nicht verstehen, weil sie dasselbe Wort für beides haben. Wenn man einem Italiener sagt: «Mi dai la scala», dann könnte es sein, daß er an seiner Haustreppe herumrüttelt, statt die 82

danebenstehende Leiter zu ergreifen. Und auch die Deutschen würden den Unterschied zwischen einem funkelnagelneuen Auto (neuf) und einem bloß unbekannten Auto (nouveau) nicht sehen. Sie wären dann leichte Beute für betrügerische Autoverkäufer! Das ist natürlich absurd. Und dies hat der hier immer als Quelle für diese Meinung angeführte Humboldt auch gar nicht gesagt, sondern: Das Denken ist aber nicht bloss abhängig von der Sprache überhaupt, sondern, bis auf einen gewissen Grad, auch von jeder einzelnen bestimmten. (IV: 21) Es heißt ganz klar, daß das Denken nur bis auf einen gewissen Grad von den bestimmten einzelnen Sprachen abhängig ist, aber nicht, daß es völlig von den Sprachen abhängig sei. Deutlich heißt es an derselben Stelle, es gebe «eine Anzahl von Dingen, welche ganz a priori bestimmt, und von allen Bedingungen einer besondren Sprache getrennt werden können» (IV: 21). Während der sprachliche Relativismus à la Whorf sozusagen jegliche Vermittlung ablehnt, die natürlich nur auf der Basis eines universellen Gemeinsamen zu denken ist, hat Humboldt immer ein solches Gemeinsames mitgedacht: Er hielt z. B. die Kantschen Kategorien für Universalien des Denkens, und die allgemeine Grammatik war für ihn ein notwendiger Teil der Sprachforschung. Die moderne Linguistik hat andere Universalien festgestellt als die Kantschen Kategorien. Wie dem auch sei, diese sind das Gemeinsame, auf dessen Basis sich die Verschiedenheit der sprachlichen Weltansichten abspielt. Die Sprachen sind natürlich einander fremd, aber sie sind es doch nicht völlig. Sie sind verschiedende Formen desselben. 3.2.6.2. Weil Whorf die Relativität übertrieben hat, haben nun wieder andere Sprachwissenschaftler gemeint, die Annahme von sprachlichen «Weltansichten» sei insgesamt falsch. Zunächst hat man daher wie im 17. Jahrhundert erneut den Weg der universellen Grammatik eingeschlagen. Dagegen ist nichts zu sagen, wenn dieser Weg nicht gleichzeitig mit der Negierung der einzelsprachlichen Differenzen einhergeht. Gerade dies aber tun in letzter Zeit gewisse neoaristotelische universalistische amerikanische Sprachwissen83

schaftler, wenn sie statt einzelsprachlicher Semantiken ein universelles «Mentalese» annnehmen. Wie Aristoteles behaupten diese Theoretiker, das Denken sei bei allen Menschen gleich und nur die jeweils diesem Denken zum Zwecke der Kommunikation zugeschriebenen Signifikanten – die Oberfläche – seien verschieden. Wie Whorf die Sprache fremd ist, weil er die Fremdheit der Sprachen übertreibt, so ist den neuen Universalisten – wie einst den Griechen – die Sprache fremd, weil sie deren Fremdheit unterschätzen. Diese Position hat Stephen Pinker in seinem Buch über den Sprachinstinkt vertreten. Diese Theorie spielt die Verschiedenheit der Sprachen unzulässig herunter – gewiß aus den edelsten politischen Motiven, aber dennoch falsch. Pinker polemisiert ausführlich gegen Whorf und den linguistischen Relativismus, um dann das linguistische Kind mit dem relativistischen Bade auszuschütten und einen Universalismus zu etablieren, der demjenigen des Aristoteles zum Verwechseln ähnlich ist: Alle Menschen denken gleich mit «mentalesischen» universellen Konzepten. Und die Sprachen sind im wesentlichen nur verschiedene Schälle und Zeichen.13 Auf dem Hintergrund starker universalistischer Aussagen behauptet Pinker auf der letzten Seite seines Buches daher, daß ihm, selbst wenn er kein Wort verstehe, kein Sprachliches, das er vernehme, fremd sei: «no speech seems foreign to me, even when I cannot understand a word» (Pinker 1994: 430). Dies ist völlig richtig. Ich habe eingangs genau dasselbe gesagt. Nichts ist falscher als die Übertreibung sprachlicher Fremdheit und die Klage «you just don’t understand». Dennoch ist dies nur eine Scheinvertrautheit, wenn das konstitutiv Fremde jedes Sprechens einfach geleugnet wird. Mit demselben Recht kann man nämlich sagen: «all speech seems foreign to me, even when I understand every word». Die Pinkersche Leugnung der Differenz ist wohl menschenfreundlich gemeint. Aber nicht indem ich die Fremdheit der Sprache einfach leugne, sondern indem ich in die Fremdheit hineingehe und sie in all ihrer Tiefe aushalte, ist mir die Sprache nicht mehr fremd.

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3.3. Zanzotto Es scheint, daß dies der – schwierige – Weg ist, den der italienische Dichter Andrea Zanzotto in seinem Dichten beschreitet, dem Maike Albath (1998) eine schöne Arbeit gewidmet hat. In dem folgenden Gedicht aus der Sammlung mit dem einschlägigen Titel Idioma sind die Sprachen Blüten, wunderbare, wilde. Sie sind aber auch Abgründe des Schweigens und der Idiotie. Meine Sprache – idioma – ist das, was von alledem durch mich hindurchgeht: Das idioma verfolgt mich, keuchend. Es ist mir fremd, wie die fürs Italienische fremden Buchstaben (und Laute) andeuten: h j k ch. Und doch ist es meins: idioma. Daher sollen diese fremden Wörter meine Überlegungen zur Fremdheit der Sprache beschließen: ALTO, ALTRO LINGUAGGIO, FUORI IDIOMA?

Lingue fioriscono affascinano inselvano e tradiscono in mille aghi di mutismi e sordità sprofondano e aguzzano in tanti e tantissimi idioti Lingue tra i cui baratri invano si crede passare – fioriti, fioriti, in altissimi sapori e odori, ma sono idiozia Idioma, non altro, è ciò che mi attraversa in persecuzioni e aneliti h j k ch ch ch

4. Was wissen wir, wenn wir eine Sprache können? 4.1. Vorbemerkung: Wissensgesellschaft und Sprachwissen Wenn man Theoretiker und Apologeten der «Wissensgesellschaft» befragen würde, ob «sprachliches Wissen» zu dem in dem Ausdruck «Wissensgesellschaft» gemeinten Wissen gehört, würden sie vermutlich enthusiastisch zustimmen. Sie würden mit «sprachlichem Wissen» wahrscheinlich meinen, daß sich der kompetente Mitspieler der Wissensgesellschaft sprachlich versiert ausdrücken kann. Da man sich aber immer in einer bestimmten Sprache ausdrückt (z. B. deutsch, russisch, englisch, chinesisch, nahuatl, dyirbal etc.), wird man, auf eine entsprechende Bitte um Präzisierung, vermutlich die Meinung hören, daß man sich natürlich in der eigenen Sprache versiert ausdrücken müsse, daß aber der kompetente Wisser – falls er nicht ohnehin ein Mitglied der englischen Sprachgemeinschaft ist (was natürlich das Beste ist) – unbedingt Englisch können müsse. Das optimale sprachliche Wissen für die Wissensgesellschaft ist folglich, daß man sich in englischer Sprache versiert ausdrücken kann. Denn alles relevante Wissen der Wissensgesellschaft ist durch diese Sprache zugänglich und durch sie an relevante Partner vermittelbar. Wahrscheinlich wird dennoch die Kenntnis einer weiteren sogenannten «Kultur»-Sprache als nützliche Komponente des «Wissens» angesehen. Man hat also Glück, wenn man ein Sprecher des Französischen, Russischen, Japanischen, Deutschen etc. ist. Wenn ich dem Propheten der Wissensgesellschaft aber gestehe, daß meine Muttersprache Nahuatl oder Sorbisch oder gar Dyirbal (ein australische Sprache) ist, wird er mir vermutlich raten, gleich und möglichst rasch mein sprachliches Wissen aufs Englische zu konzentrieren. Die Kenntnis des Nahuatl, des Sorbischen, des Dyirbal, des Voloff, des Lateinischen oder ähnlicher Sprachen wird er wohl 86

kaum als relevant für den Wisser der Wissensgesellschaft betrachten. – Wieso eigentlich nicht? Wenn «Eine-Sprache-Können» ein Wissen ist, dann müßte doch auch das Sorbisch-Können oder Dyirbal-Können willkommenes Wissen in der Wissensgesellschaft sein. Aber dem ist nicht so. Die Vermutung liegt daher nahe, daß nicht Wissen überhaupt, sondern nur bestimmtes Wissen für den ökonomisch und instrumentell gefaßten Rahmen der Wissensgesellschaft relevant ist: Erstens kann man bei den entsprechenden Völkern nicht besonders viel Geld verdienen – bei den Dyirbal oder Inuit ist fast so wenig zu holen wie bei den alten Römern, deren Latein ökonomisch nicht mehr sehr ertragreich ist. Und zweitens wird «Eine-Sprache-Können» überhaupt nur instrumentell gefaßt: «Eine-Sprache-Können» verschafft Zugang zur Teilnahme an der sozialen Interaktion bestimmter Gemeinschaften und zu weiterem nützlichem Wissen. Daß es einen Wert in sich haben könnte, eine – irgendeine – Sprache zu können, weil «Eine-Sprache-Können» ein in sich wertvolles menschliches Wissen ist, diesen kuriosen Gedanken wird man in der Theorie der Wissensgesellschaft kaum finden. Nun ist nicht nur dieser Gedanke von der Kostbarkeit einer Sprache – jeder Sprache – ein relativ junger, historisch wenig verankerter und offensichtlich schwach gebliebener Gedanke in unserer Kultur. Die schwache Position des Sprach-Wissens hängt darüber hinaus auch mit der Spezifik des Wissens zusammen, welches dieses «Eine-Sprache-Können» ist: Es ist kein reflexives, sondern ein technisches Wissen. Und das hat es schwer in der Wissensgesellschaft. Was wir wissen, wenn wir eine Sprache können, hängt davon ab, was wir glauben, daß eine Sprache sei. Und dies wird im Verlauf der europäischen Geistesgeschichte durchaus unterschiedlich gesehen. Unsere Kultur hat erst spät und auch nur sehr oberflächlich gelernt, daß die Sprachen der Menschheit – jede einzelne von ihnen – etwas Großartiges sind. Nach einem erneuten kurzen Blick auf diese Geschichte unter dem Blickwinkel der Sprache als Wissen werde ich auf die Spezifik des Sprach-Wissens in der modernen Sprachreflexion eingehen.

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4.2. Noch einmal: ein Blick in die Geschichte 4.2.1. Die Sprache hat, wir haben das schon im vorigen Kapitel gesehen, in Europa keine guten Karten. In der einen Tradition unserer Kultur, in der biblischen, wird zunächst das Miteinander-Sprechen (Adam mit Eva) als etwas Schlechtes, als Verführung, und dann die Existenz vieler Sprachen als eine Strafe des Menschengeschlechts dargestellt (Turmbau zu Babel). So etwas sitzt tief. Aber auch in der anderen Tradition, der griechischen, sieht es nicht besser aus: «Ist es nicht besser», fragt Sokrates, der Ur-Philosoph, «wenn wir die Dinge direkt betrachten, als wenn wir uns mit den Wörtern, diesen extrem unsicheren Abbildern der Dinge, abgeben?» «Phainetai, o Sokrates!», stimmt Kratylos zu. Damit wird die Sprache von Platon letztlich als etwas Sekundäres abgetan. Aber immerhin wird im Dialog Kratylos zunächst seitenlang darüber diskutiert, ob wir etwas wissen und was wir wissen, wenn wir Wörter kennen. Kratylos glaubt, daß an den Wörtern, also an den lautlichen Gestalten, etwas von den bezeichneten Gegenständen ist, so daß die Wörter als Abbilder eine Art Wissen von der Welt enthalten. Sein Gegenspieler Hermogenes glaubt nicht, daß die Wörter etwas von der Welt abbilden, aber er muß doch zugestehen, daß die Wörter außer zur Mitteilung oder Belehrung (organon didaskalikon) auch zur Unterscheidung des Seins dienen: «organon ousian diakritikon». Die Unterscheidung des Seins ist zweifelsohne eine bedeutsame kognitive Funktion der Sprache, sie ist Denken, unabhängig von der Abbildlichkeit oder Nichtabbildlichkeit der Wörter. Aber Sokrates verwirft schließlich beide Auffassungen und kommt zu dem zitierten Schluß, daß dies alles nicht so wichtig sei und daß ein Erkennen ohne Sprache doch viel besser wäre. Die Wörter sind bestenfalls Abbilder der Abbilder: doppelt entfernt vom wirklichen Wesen der Dinge. Sprache-Können ist daher bestenfalls ein Wissen von Trugbildern, kein wahres Wissen. Aristoteles vollstreckt den Verdacht, daß nichts dran ist an den Wörtern. Er macht dies auf eine geniale Art und Weise: Er trennt die beiden Funktionen – Kommunikation und Denken – , die bei Platons Funktionsbestimmung des Wortes noch zusammengedacht worden waren. Auf der einen Seite haben wir die Kognition, das 88

Denken, das bei allen Menschen gleich ist. Und auf der anderen Seite haben wir – zum Zwecke der Kommunikation – die Wörter, die materiellen Lautereignisse, die bei den verschiedenen Völkern verschieden sind. Die Wörter werden damit zu bloß kommunikativen Instrumenten. Sie unterscheiden auch das Sein nicht mehr, das macht das Denken ganz allein, sprachlos.

conceptus ad placitum

vox

vox

(Kognition)

vox

res

(Kommunikation) Das Abendland, das hierin über Jahrtausende seinem größten Denker weitgehend folgt, dachte daher nicht, daß man irgend etwas von Bedeutung weiß, wenn man eine Sprache kann. Eine Sprache, das war im wesentlichen bloß ein Ensemble von kommunikativen Lauten, die von Gemeinschaft zu Gemeinschaft verschieden sind: «nach Übereinkunft», kata syntheken, ad placitum. Menschliches Denken erzeugt das Wissen von der Welt unabhängig von der Sprache. D. h. das, worauf es ankommt, eben das Denken, geschieht ohne Sprache und ist überall gleich, universell. Nur weil die Menschen in verschiedenen Gesellschaften zusammenleben, bezeichnen sie diese universellen Gedanken mit unterschiedlichen Lauten. «Eine-Sprache-Können» ist also nichts Besonderes, es ist nur das Behalten von Signifikanten. Die Griechen interessieren sich daher auch nicht für die Sprachen der anderen. Natürlich muß man eine Sprache können, am besten Griechisch, aber man muß nicht mehrere Sprachen können, Sprachkenntnisse sind offensichtlich kein wichtiges Wissen – schon in der antiken «Wissensgesellschaft». Die Römer lernen Griechisch, um teilzuhaben an der prestigereichen griechischen Kultur, die ihnen Zugang zum Wissen der Grie89

chen ermöglicht. Aber sie lernen nur Griechisch. Andere Sprachen interessieren sie nicht. Sie denken ebenfalls ganz griechisch, sofern sie die anderen Völker Lateinisch lernen lassen, aber ihrerseits nicht an Sprachen interessiert sind. Im Grunde bleibt dies so bis in die frühe Neuzeit. Dann kommt es noch schlimmer. 4.2.2. Denn dann, seit dem Beginn der Neuzeit, wird klar, daß wir, wenn wir eine Sprache können, Falsches wissen. Francis Bacon entdeckt nämlich, daß wir nicht das Richtige wissen, wenn wir eine Sprache können, jedenfalls wenn wir die Sprache des Volkes können. Wir haben dann nämlich falsche Begriffe. Bacon greift den Gedanken Platons wieder auf, daß die Sprache das Sein unterscheidet, und bemerkt, daß die Volkssprache das Sein anders unterscheidet, als es der wissenschaftliche Geist verlangt. Die Sprache des Volkes schneidet (secare) die Welt sozusagen in falsche Teile ein. Das Volk ist dumm, und in seiner Dummheit bildet es dumme Begriffe, die an den Wörtern kleben. Das sind die berühmten idola fori, die Trugbilder des Marktes: Verba autem plerunque ex captu vulgi induntur, atque per lineas vulgari intellectui maxime conspicuas res secant. Die Wörter aber werden größtenteils nach den Auffassungen des Volkes gebildet, und sie schneiden die Dinge entlang solcher Linien ein, die dem volkstümlichen Verstand am meisten einleuchten. (Bacon 1620 / 1990: 120) Wenn man eine Sprache kennt, kennt man also bestenfalls die Trugbilder des Pöbels, Vorurteile, doxa, falsches Wissen. Gegen dieses muß die Wissenschaft kämpfen. Der Kampf gegen das in der Volkssprache sedimentierte falsche Wissen bestimmt die Haltung des wissenschaftlichen Denkens gegenüber der Sprache seitdem. Weg mit diesem falschen Wissen! Kritik der Volkssprachen ist angesagt, Schaffung einer neuen, richtigen Sprache mit richtigem Wissen ist das Gebot der Wissenschaft. Es ist der tägliche Kampf der analytischen Philosophie, die ja deswegen «analytisch» heißt, weil sie das in der Sprache enthaltene Vorurteil – das falsche Wissen – auflösen muß, um das wahre Wissen zu ermöglichen. 90

Während in der Antike die Sprachen sozusagen der Gleichgültigkeit verfallen, geraten sie mit der Aufklärung als Ensembles von falschem Wissen in die philosophische Kritik. Das macht das Sprachen-Können nicht gerade zu einem wertvollen Wissen. Die Sprachen transportieren, wie ein witziger britischer Kollege einmal gesagt hat, metaphysical garbage.1 4.2.3. Die Entdeckung des vermeintlich falschen Denkens in den Sprachen war aber gleichzeitig die Einsicht, daß in den Sprachen «Wissen» (wenn auch falsches) enthalten ist. Bacons Kritik an den idola fori ist auch die Wiederentdeckung der kognitiven Funktion der Sprachen. Und bald wird es dann auch – wenn auch sehr spät – Protest gegen die Verachtung oder gar Verdammung der Sprachen als unerhebliches oder falsches Wissen geben. Gegen die von Locke weitergeführte Baconsche Klage über die – wie Wittgenstein dies nennen wird2 – «Verhexung» durch die natürlichen Sprachen wird Leibniz argumentieren. In der im vorigen Kapitel schon zitierten, bedeutsamen Passage seiner Nouveaux Essais verteidigt er das volkstümliche Wissen in den natürlichen Sprachen gegen das analytische Lamento. Was man in den Sprachen findet nennt Leibniz ausdrücklich «Wissen», «connaissances». Es ist kein metaphysischer Abfall, wie Bacon vermutete, sondern ein kostbares Wissen, das nicht die Verirrungen, sondern gerade die wunderbare Vielfalt der Operationen des menschlichen Geistes zeigt. Sprachforschung dient daher der «Kenntnis unseres Geistes und der wunderbaren Vielfalt seiner Operationen», «la connaissance de notre esprit et de la merveilleuse variété de ses opérations» (Leibniz 1765 / 1966: 293). Dies ist der Beginn der (kognitiven) Linguistik, d. h. einer Beschäftigung mit der Sprache, die sich um das dort sedimentierte Denken oder Wissen kümmert. Die Sprachwissenschaft hat meines Erachtens im Kern keinen anderen Auftrag. Nur als kognitive ist sie interessant, als Erforschung des menschlichen Geistes, dessen wunderbare Vielfalt die Sprachen manifestieren. Und dies ist natürlich auch eine revolutionäre Neubewertung des Sprachen-Könnens: Von nun an wird sprachliches Wissen immer weniger bloß als Wissen von Signifikanten zum Zwecke der Kommunikation angesehen werden. Die Leibnizsche Überzeugung, daß die Sprachen Wissen von der Welt und vom menschlichen Geist enthalten, wird eine 91

große Wirkung im 18. Jahrhundert haben und schließlich mit Humboldts Plan einer Beschreibung aller Sprachen der Welt in ein großes wissenschaftliches Projekt überführt. Aufgabe seines «Vergleichenden Sprachstudiums» ist die Beschreibung der «verschiedenartigen Offenbarwerdung der menschlichen Geisteskraft» in den Sprachen.3 Die Sprachen sind nach Humboldt «Weltansichten», das heißt jede Sprache gibt uns eine verschiedene Ansicht von der Welt. Sie sind nicht nur – wie in der aristotelischen Tradition – gleichgültige «Schälle und Zeichen». Gerade weil die Sprachen die ungeheure kognitive Rolle spielen, den menschlichen Geist zu offenbaren, bekommt nun auch ihre materielle Seite, der Laut selbst, eine zentrale Funktion: Im Laut «offenbart» sich der Geist. Saussure nennt daher später Sprache «pensée-son»,4 d. h. Laut und Bewußseinsinhalt bilden eine Einheit, das aristotelische Schema muß in das folgende transformiert werden:

conceptus res vox Da nun, wie Humboldt sagt, keine einzelne Sprache die Ansichten der Welt ausschöpft, ist es wichtig, daß es so viele Sprachen wie möglich gibt, weil jede uns die Welt auf eine andere, neue Art und Weise entdecken läßt. Die schon im vorigen Kapitel zitierte «Weltansichts»-Stelle sei daher hier noch einmal angeführt: Durch die gegenseitige Abhängigkeit des Gedankens, und des Wortes von einander leuchtet es klar ein, dass die Sprachen nicht eigentlich Mittel sind, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die vorher unerkannte zu entdecken. Ihre Verschiedenheit ist nicht eine von Schällen und Zeichen, sondern eine Verschiedenheit der Weltansichten selbst. Hierin ist der Grund, und der letzte Zweck aller Sprachuntersuchung enthalten. (IV: 27) Dies ist der Grund aller Sprachwissenschaft, aber auch die Basis jener Überzeugung, auf die ich hinauswill und die allein begründet, 92

warum Eine-Sprache-Können – irgendeine Sprache können, nicht nur Englisch-Können – ein kostbares Wissen ist und warum es bewahrt und befördert werden muß: weil es die «merveilleuse variété des opérations de l’esprit humain» manifestiert. Wie Biodiversität für die Natur, so ist Glossodiversität für den menschlichen Geist von höchster Bedeutung.

4.3. Sprachen als Wissen Seit jenen Zeiten hat sich die Sprachwissenschaft zu einem blühenden Wissenschaftszweig entwickelt, der sich allerdings zunächst nicht den Sprachen als «connaissances» oder «Weltansichten» und auch nicht der «merveilleuse variété» der Operationen des menschlichen Geistes zugewendet hat, sondern sich im Gegenteil vor allem mit dem materiellen Teil der Sprache beschäftigte. Die dominante Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts hat Sprache nämlich zunächst nicht als Geistiges oder als irgendeine Art von Wissen betrachtet, sondern als eine ungeistige und sich unwissentlich, naturgesetzmäßig verändernde Lautmasse. 4.3.1. Die europäische beschreibende Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts hat dann allerdings durchaus das kognitive Leibniz-Humboldtsche Programm wieder aufgegriffen und in der Beschreibung der Sprachen der Welt auch realisiert. Grundfigur dieser Bemühungen ist dabei die Baconsche Einsicht, die Humboldt systematisiert hat, daß die Sprachen die Welt verschieden «schneiden» (secant), einteilen oder «gliedern». Ich erinnere hier an das im vorigen Kapitel zitierte, bekannte Schema Louis Hjelmslevs, das diese Einsicht am Beispiel des Bedeutungs-Bereichs «Wald-BaumHolz» im Dänischen, Deutschen oder Französischen darstellt.5 Hjelmslevs Schema illustriert die inzwischen volkstümliche Überzeugung, daß in den verschiedenen Sprachen verschiedenes «Denken» enthalten ist und daß eine neue Sprache lernen heißt, verschiedenes Denken lernen. Oder daß Eine-Sprache-Können das Wissen einer «Weltansicht» ist. An dieser Stelle werden dann gern die Eskimos zitiert, die den Schnee anders und differenzierter «denken» würden als wir Europäer, ein inzwischen etwas in Verruf geratenes 93

Beispiel (das allerdings die prinzipielle Einsicht in die verschiedene Weltgestaltung nicht in Frage stellt). Es gehört auch zum Wissen eines gebildeten Europäers, daß er weiß, daß über den Wortschatz hinaus sich auch die Grammatik der verschiedenen Sprachen einigermaßen profund unterscheidet, daß Kategorien und grammatische Unterscheidungen von Sprache zu Sprache differieren: daß es z. B. kein grammatisches Genus im Englischen gibt, daß wir im Deutschen drei, die Romanen aber nur zwei Genera haben, daß die romanischen Sprachen im Gegensatz zum Deutschen zwei Vergangenheitstempora haben, daß es im slavischen Verb eine Kategorie «Aspekt» gibt usw. Im Gegensatz also zur antiken Auffassung von der Sprache, wo «Eine-Sprache-Können» höchstens das Wissen verschiedener Signifikanten bedeutete, enthält das Sprach-Wissen in dieser moderneren Auffassung gerade auch «geistige» Teile, eben den verschiedenen lexikalischen Blick auf die Welt und die verschiedenen grammatischen Kategorisierungen. Saussure, der Begründer der modernen europäischen Sprachwissenschaft, hat mit seinem Begriff der langue die Einzelsprache in diesem Sinne als ein ganzes System von in Opposition zueinander stehenden sprachlichen Einheiten gefaßt. Die langue als Ensemble aller sprachlichen Einheiten (phonologischer, semantischer und grammatischer Art) liegt der konkreten Sprachproduktion, der parole, zugrunde. Die Existenzweise der langue hat Saussure nun als ein Wissen gefaßt. Die langue existiert nach Saussure nämlich in den Gehirnen der Sprecher: C’est un trésor déposé par la pratique de la parole dans les sujets appartenant à une même communauté, un système grammatical existant virtuellement dans chaque cerveau, ou, plus exactement dans les cerveaux d’un ensemble d’individus; car la langue n’est complète dans aucun, elle n’existe parfaitement que dans la masse. (Saussure 1916: 30) Sie ist ein Schatz, den die Rede-Praxis in den Subjekten ablegt, die derselben Gemeinschaft angehören, ein grammatikalisches System, das virtuell in jedem Gehirn existiert oder, genauer, in den Gehirnen eines Ensembles von Individuen; denn die langue ist in keinem einzelnen Individuum vollständig, sie existiert vollkommen nur in der Masse. 94

Einmal abgesehen von dem problematischen Konzept der Masse und der Kollektivität, ist langue bei Saussure also ein homogenes synchronisches Wissens-System. Saussures langue-Wissen ist im Kern ein Wissen von Wörtern und ihrer Grammatik, d. h. im wesentlichen der Morphologie. Syntax ist kein Bestandteil (oder nur sehr marginal) der Saussureschen langue. Langue enthält auch kein Wissen von diachronischen Zuständen der Sprachen, ebensowenig von dialektalen, soziolektalen oder situationellen Varietäten, die in die sogenannte externe Linguistik verbannt wurden. 4.3.2. Leibnizens Behandlung der Sprachen als «connaissances», Humboldts Erforschung der sprachlichen «Weltansichten» und Saussures Linguistik der langue als Wissen – «un système grammatical existant virtuellement dans chaque cerveau» – sind also selbstverständlich Formen einer kognitiven Sprachwissenschaft. Sie nennen sich allerdings nicht so. Die Linguistik, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dominiert, hat nun ganz ausdrücklich Sprache unter die Überschrift des «Wissens» gestellt. Linguistik ist nach Chomsky ein Teil der «kognitiven Psychologie», d. h. sie versucht ausdrücklich das Wissen zu erfassen, welches Sprache ist.6 Nicht von ungefähr heißt daher eine der populärsten deutschen Einführungen in Chomskysche Linguistik Sprachliches Wissen.7 Bevor ich im nächsten Abschnitt auf die Art dieses Wissens eingehe, muß ich auf die einigermaßen dramatischen Verschiebungen hinweisen, die der Begriff der Sprache nun erfährt. Es sind im wesentlichen zwei: Erstens, im Zentrum des Begriffes der «Kompetenz», der den der langue ersetzt, steht nunmehr die Syntax. Es geht nicht mehr um die verschiedenen Weltansichten oder «Gliederungen der Welt», die von Humboldt bis Hjelmslev den Kern der kognitiven Sprachwissenschaft ausmachten, sondern vor allem um die Mechanismen des Arrangements der sprachlichen Einheiten, die syntaktischen Strukturen. Der Weltbezug, der im Ausdruck «Weltansicht» gemeint war, tritt entschieden zurück. Zweitens, mit dieser Verrückung des Skopus von Linguistik geht eine Verschiebung des Interesses vom Einzelsprachlichen zum Universellen einher. Die genannten Mechanismen sind nämlich angeboren. Sprachliches Wissen ist nunmehr also im wesentlichen syntaktisch und universell (und nicht mehr lexikalisch und partikular). 95

Bezüglich der erwähnten unterschiedlichen einzelsprachlichen Gliederungen des Strukturalismus ruft daher der Prophet Chomskys, der Psychologe Pinker, sogar: «But it is wrong, all wrong».8 Der ganze Eskimo-Schnee sei solcher vom vergangenen Jahr. Es gebe kein verschiedenes Denken in den verschiedenen Sprachen. Und falls es doch welches gäbe: So what! So sei dies nicht interessant. Die Linguistik jedenfalls, also die richtige und einzige – una sancta linguistica catholica – , interessiere sich nicht für die langweiligen (der Ausdruck «boring» fällt ausdrücklich) Differenzen, sondern für das, was all diesen Differenzen – falls es sie denn gibt – zugrunde liege. Sie richtet ihr Augenmerk auf das Universelle, auf das, was allen Menschen gemeinsam ist. Dies ist ein allen Menschen angeborener Kombinationsmechanismus einerseits und universelle «concepts» andererseits. Diese können dann in einer «speech» – nicht «language» – genannten Operation geäußert werden. Aber dieses Geäußerte selbst ist nicht mehr interessant. Damit stellt die Chomskysche Schule in gewisser Hinsicht das aristotelische Sprachmodell wieder her: Auf der einen Seite haben wir universelle kognitive Vorgänge, auf der anderen Seite kommunikative Vorgänge, speech, die aber mit dem Kognitiven nicht wesensmäßig verbunden sind. Im Unterschied zu Aristoteles aber, bei dem die Laute das Sprachliche waren, heißt nun gerade das universelle Denken «language». Da dieses im wesentlichen angeboren ist, hat es allerdings – wiederum im Unterschied zu Aristoteles – keine Beziehung zur Welt, zur res.9 Diese Auffassung von Sprache wendet sich ausdrücklich und polemisch gegen eine Kulturwissenschaft, die sich für kulturelle Differenzen interessiert, gegen, wie es polemisch heißt, die SSST , die «social science standard theory». Clifford Geertz z. B. ist für Pinker deren Symbolfigur und die bête noire. Diese Linguistik wendet sich damit auch gegen eine Sprachwissenschaft, die sich für die einzelnen langues, also für die kulturell erworbenen Humboldtschen «Verschiedenheiten» interessiert. Das «Wissen», um das es ihr geht, ist ein universelles und ausdrücklich biologisches, kein kulturelles. Auch der Spracherwerb wird gerade nicht als ein Lernen, also gesellschaftlich-kulturelle Wissens-Vermittlung, sondern als ein Entfalten oder Wachsen eines angeborenen Organs angesehen. Das Sprachwissen ist somit ein gewachsenes, kein gelerntes. Die Welt 96

conceptus (Mentalese) (Universal Grammar)

res

vox vox vox

und die Gesellschaft spielen bei diesem Wachstumsprozeß programmatisch eine äußerst geringe Rolle. Da nun sprachliches Wissen im wesentlichen naturgegeben ist, präsentiert sich die neue Wissenschaft von der Sprache schon im Habitus und in der Vorgehensweise bewußt anti-kulturell: nämlich als Naturwissenschaft mit formalisierten Präsentationsformen. Sprache ist aber eine Schnittstelle von Natur und Kultur, und die Sprachwissenschaft tut gut daran, diese Schnittstelle zu besetzen, an der «gewachsenes» und «gelerntes» Wissen zusammenkommen. 4.3.3. Meines Erachtens kommt es daher darauf an, ein weiteres Konzept des sprachlichen Wissens zu entfalten. Eugenio Coseriu hat ein solches in seinem Buch über Sprachkompetenz ausführlich vorgestellt. Ich möchte hier nur das Notwendigste davon anhand des folgenden Schemas andeuten:10 EBENE

GESICHTSPUNKT

Tätigkeit energeia

Wissen dynamis

Produkt ergon

Universelle Ebene

Sprechen im allgemeinen

elokutionelles Wissen

Totalität der Äußerungen

Historische Ebene

konkrete Einzelsprache

idiomatisches Wissen

(abstrakte Einzelsprache)

Individuelle Ebene

Diskurs

expressives Wissen

Text

97

Coseriu zeigt, daß man das sprachliche Wissen weder auf die Kenntnis der langue reduzieren darf, noch daß man es bei den universellen Regeln belassen darf: Erstens ist schon das einzelsprachliche Wissen (historische Ebene) weiter, als Saussure dies gesagt hat, es umfaßt eben auch ein Wissen von diachronischen Zuständen und von Variationen. Coseriu nennt das einzelsprachliche Wissen idiomatisches Wissen. Das sprachliche Wissen, das die generative Grammatik beschreibt, wäre im wesentlichen dem universellen Sprechen-Können zuzuordnen, das er elokutionelles Wissen nennt. Zweitens sind das idiomatische und das elokutionelle Wissen um eine weitere Art sprachlichen Wissens zu ergänzen, das wir bisher überhaupt noch nicht berührt haben und das Coseriu expressives Wissen nennt. Es handelt sich dabei um Textbildungs-Verfahren, die nicht einzelsprachlich, aber auch nicht universell sind, wie z. B. das Wissen um die Form eines Sonetts. Das Wichtigste ist aber, drittens, daß alles dies beim Sprechen zusammenwirkt. In ausdrücklichem und leidenschaftlichem Gegensatz zu Saussure und Chomsky will Coseriu den Fokus der Sprachwissenschaft umkehren: weg von der langue und der Kompetenz, hin zu einer Wissenschaft vom Sprechen. Im Sinne dieser Umkehrung möchte ich dann auch meine Frage beantworten, was wir wissen, wenn wir eine Sprache können: Coseriu macht deutlich, daß es beim sprachlichen Wissen gar nicht nur darum geht, eine Sprache zu können, sondern daß man beim Sprechen sowohl universelle Techniken des Sprechens überhaupt beherrscht, als auch daß man dies immer nach der Art und Weise einer bestimmten historischen Sprachgemeinschaft tut (ein Teilwissen, das aber weit über die Saussuresche langue hinausgeht) und daß außerdem textuelle Verfahren gekonnt werden müssen, die nichts mit dem einzelsprachlichen Wissen zu tun haben. Die Frage nach dem Eine-Sprache-Können ist also nur im Zusammenhang mit dem Sprechen-Können in diesem weiten Sinne zu beantworten. Coseriu macht unter Hinweis auf eine lateinische Konstruktion deutlich, was «eine Sprache sprechen» heißt: Das Lateinische faßt die jeweilige bestimmte Sprache in einem Adverb, das die umfassende Tätigkeit des Sprechens determiniert: latine loqui, graece loqui, germanice loqui: auf lateinische, griechische, deutsche Art 98

sprechen. Wenn ich eine Sprache kann, kenne ich sozusagen ein «Adverb» zum «Verb» Sprechen, d. h. die partikulare Art und Weise einer universellen Tätigkeit. Ein solcher umfassender Begriff von sprachlichem Wissen überwindet auch die Kluft zwischen naturwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Linguistik. Er integriert nämlich das von der Natur gegebene (Chomsky-)Wissen mit dem durch die soziale Praxis erworbenen (erweiterten Saussure-)Wissen, die beide aber humboldtisch in der Rede (Diskurs oder Text) durch weiteres Wissen ergänzt werden.

4.4. Welche Art Wissen ist das Sprache-Können? 4.4.1. Die Sprachwissenschaft Chomskyscher Prägung faßt Sprache programmatisch als ein «Wissen» auf. Man spricht in dieser Schule ja von der «kognitiven» Wende der Linguistik.11 Chomsky nennt Sprache ausdrücklich ein «kognitives System». Nun scheint allerdings dieses – extrem komplexe – «Wissen» doch ein sehr merkwürdiges zu sein. Es ist Wissen, und es ist doch keines. So führen z. B. die Vorüberlegungen des schon erwähnten Buches über das sprachliche Wissen zunächst zu einer vorläufigen Vorstellung dessen, «was ein sprachliches Wissen sein kann, das jeder, der eine Sprache spricht, unabhängig von dem speziellen Charakter seiner Sprache besitzt: Es sind angeborene Prinzipien, die ermöglichen, daß er überhaupt eine Sprache erwerben kann, und die – im Verein mit den Daten, denen er ausgesetzt ist – determinieren, welche Sprache er erwirbt» (Grewendorf u. a. 1999: 20). Sprachliches Wissen bezieht sich hier vor allem auf eine Universale Grammatik (UG). Bezüglich der Universalgrammatik wird dann aber gesagt, daß man sich dieses Wissen nicht als Wissen im Sinne der Umgangssprache vorstellen dürfe, sondern daß der Ausdruck «Wissen» hier ein Terminus technicus sei, vergleichbar dem Terminus technicus «Kraft» in der Physik, der ja ebenfalls von dem umgangssprachlichen Wort zu unterscheiden sei: Es ist klar, daß hier nicht in dem Sinne von «Wissen» die Rede ist, in dem wir wissen, daß die Erde um die Sonne kreist, daß der 99

Montblanc der höchste Berg in Europa ist, oder daß zwei mal zwei vier ist. Wir sprechen in bezug auf die UG von «Wissen» nicht im Sinne unseres Alltagsausdrucks, demzufolge ein Wissen eben das ist, was wir unter dem Ausdruck «Wissen» verstehen. Denn danach gehört zum Wissen etwa, daß wir Gründe vorbringen können, daß man das Gewußte bezweifeln kann, etc., Eigenschaften, die für das «Wissen» oder die «Kenntnis» der UG natürlich nicht zutreffen. (Grewendorf u. a. 1999: 21) Nach diesen Ausführungen stellen sich allerdings zwei Fragen: Erstens möchte man doch wissen, was für eine Art von Wissen das sprachliche Wissen denn nun ist, und nicht nur, welches Wissen es nicht ist. Dabei wird uns die Angabe, daß für dieses Wissen keine Gründe angegeben werden können, weiterführen. Zweitens möchte man wissen, ob das Wissen der angeborenen UG sich vom Wissen der «erworbenen» Einzelsprache unterscheidet oder nicht. Für die zweite Frage finde ich keine rechte Antwort im Buch von Grewendorf. Der Unterschied zwischen UG und Einzelsprache wird mit dem beliebten Vergleich zwischen hardware und software im Computer erläutert. Nun könnte es ja sein, daß der Unterschied zwischen Angeborensein und Erworbensein durch «Daten», denen der Sprecher «ausgesetzt» ist, zwei verschiedene Sorten von Wissen konstitutiert. Soweit ich sehe, ist dies aber nicht der Fall. Man darf wohl mit einiger Sicherheit annehmen, daß es sich um ein und dieselbe Sorte Wissen handelt.12 Was nun die erste Frage nach der Art des Wissens angeht, so findet man bei Chomsky selbst den Ausdruck «tacit knowledge». Der Ausdruck «tacit» deutet an, daß man im Falle der Sprache über das Gewußte «Stillschweigen» wahrt, und zwar deswegen, weil man keine Gründe angeben kann. Daß es sich im Fall der Sprache um «knowledge», also «Wissen» handelt, ist für Englischsprecher gar kein Problem, schließlich heißt es im Englischen: «to know a language», «to know French» etc. Um die spezielle Art des «Wissens» der Sprache zu charakterisieren, führt Chomsky das Verb «cognize» ein, gegenüber «know» als dem «richtigen» Wissen. That is, we cognize the grammar that constitutes the current state of our language faculty, and the rules of this system as well as the 100

principles that govern their operation. And finally we cognize the innate schematism, along with its rules, principles and conditions. […] Thus «cognizing» is tacit or implicit knowledge […] cognizing has the structure and character of knowledge, but may be and in the interesting cases is inaccessible to consciousness. (Chomsky 1980: 69 f.) Das heißt, wir «kognisieren» die Grammatik, die den Grundbestand unserer Sprachfähigkeit bildet, und die Regeln dieses Systems ebenso wie die Prinzipien, die deren Operation bestimmen. Und schließlich «kognisieren» wir den angeborenen Schematismus, zusammen mit seinen Regeln, Prinzipien und Bedingungen. […] «Kognisieren» ist also stillschweigendes oder implizites Wissen, […] «Kognisieren» hat die Struktur und den Charakter von Wissen, aber es kann – und ist in den interessanten Fällen auch – dem Bewußsein nicht zugänglich sein. Im Deutschen ist es aber anders: man «weiß» eine Sprache nicht, man «kann» eine Sprache, man kann Englisch, Russisch oder Spanisch. Daher ist in einem deutschen Buch auch der Ausdruck «sprachliches Wissen» zu erläutern. Es ist einigermaßen merkwürdig, daß jene Germanisten nicht bemerkt haben, daß das Deutsche hier gerade die schöne Unterscheidung zwischen Können und Wissen macht, die zwei verschiedene Formen von Kognition meinen: Sprechen können wir, auch eine bestimmte Sprache können wir, so wie wir Autofahren können oder schwimmen können. Wir «wissen» das aber nicht. Auch das Französische bestimmt beides – wie das Englische – als ein Wissen und macht gerade keinen Unterschied zwischen dem Wissen, für das wir «Gründe» vorbringen können und jenem anderen Wissen, für das wir das nicht können und wozu die Sprache gehört.13 4.4.2. Der Unterschied zwischen Können und Wissen im Deutschen führt uns jedenfalls zur näheren Bestimmung des Unterschieds in Coserius Buch Sprachkompetenz. Er stützt sich hierzu auf die Hierarchie der Wissensformen, die Leibniz in seinen Meditationes de cognitione, veritate et ideis von 1694 aufgezeigt hat.14 Es gibt nach Leibniz verschiedene Stufen des Wissens, der cognitio, die aufsteigt 101

von einem dunklen bis zum adäquaten klaren und deutlichen Wissen.15 obscura

cognitio confusa clara

inadaequata distincta adaequata

Das, was wir im Deutschen «Wissen» nennen, eben jenes, bei dem wir Gründe angeben können, ist die cognitio clara distincta adaequata. Es ist Wissen in seiner höchsten Form, die wissenschaftliche und philosophische Erkenntnis. Cognitio obscura ist diejenige, bei der wir nicht einmal bis zur Identifizierung eines Gegenstandes vordringen. Klar-konfus ist dagegen ästhetisches Erkennen, das «je ne sais quoi» der klassischen Ästhetik. Die Sprache nun entspricht nach Leibniz der cognitio clara distincta inadaequata: Es ist klar, daß das sprachliche Wissen ein Tunkönnen ist, d. h. ein Wissen, das sich an erster Stelle im Tun, im Sprechen, manifestiert, und daß es beim Sprechen und Verstehen ein vollkommen sicheres Wissen ist, aber ein Wissen, das entweder gar nicht begründet wird oder für das höchstens erste unmittelbare Gründe angegeben werden, jedoch keine Begründungen für die Gründe selbst. […] Da die hier gemeinte unmittelbare Begründung eigentlich in jedem Fall möglich ist, wenn danach gefragt wird, so kann man das sprachliche Wissen, insbesondere die Kenntnis der Sprache, als eine cognitio clara distincta inadaequata einstufen. (Coseriu 1988: 210 f.)

102

Coseriu nennt dieses Wissen dann – im Anschluß an das griechische Wort techne – technisches Wissen. Der techne steht als «höhere» Form des Wissens die episteme gegenüber. Von dieser schönen philosophischen Begründung des Wissens aus kritisiert Coseriu ausführlich die Konzeptionen des «Sprachwissens» bei Saussure und Chomsky. Dazu möchte ich die folgende Bemerkung zu Saussure anfügen: Saussure hatte einerseits die langue in den Gehirnen der Sprecher lokalisiert, sie also als ein Wissen gefaßt. Andererseits aber sagt er an einer berühmten anderen Stelle des Cours, daß die Benutzer des Sprachsystems die langue zutiefst nicht kennen: Ceux-là mêmes qui en font un usage journalier l’ignorent profondément. (Saussure 1916: 107) Ich lese das Saussuresche «ignorer» sympathetischer als Coseriu als einen Versuch, die merkwürdige Wissensform des Sprachwissens in den Griff zu bekommen. Saussure denkt mit dem Französischen, d. h. mit einer Sprache, die das Sprache-Können durchaus als ein savoir oder als connaître ansieht: «je sais l’allemand», «je connais l’espagnol». Um dieses savoir aber nun von «adäquateren» Formen des Wissens zu differenzieren, präzisiert er es als eine Ignoranz, denn es können und brauchen ja von den SprachWissern keine Gründe angegeben zu werden. Eine Sprache können ist eine cognitio ignorans. Die «Ignoranz» meint meines Erachtens daher auch nichts anderes als das «tacit», das Stillschweigen, welches von Chomsky zur Präzisierung des «knowing a language» ins Spiel gebracht worden ist. Sprach-Wissenschaftler haben von der langue ein reflexives Wissen – cognitio clara distincta adaequata – , die Sprach-Könner dagegen können sie, aber sie «wissen» sie nicht: Une langue constitue un système. […] ce système est un mécanisme complexe; l’on ne peut le saisir que par la réflexion; ceux-là même qui en font un usage journalier l’ignorent profondément. (Saussure 1916: 107) Eine Sprache bildet ein System. […] dieses System ist ein komplexer Mechanismus: man kann es nur durch die Reflexion be103

greifen; diejenigen, die täglichen Gebrauch von ihm machen, kennen es dagegen eigentlich nicht.

4.5. Cognitio inadaequata in der Wissensgesellschaft Wenn ich nun zu meinen Bemerkungen vom Anfang des Kapitels zurückkehre, so wird mit der Bestimmung des Status des Sprachwissens auch klar, warum die Wissensgesellschaft sprachliches Wissen nicht besonders hoch ansetzt und warum schon die Griechen der Sprache keine bedeutende Rolle zugestanden: Sprache-Können ist «nur» eine techne und keine episteme, auf die es den WissenWollenden anscheinend allein ankommt. Sie steht auf einer Ebene mit anderen artes – dem Fechten, Tanzen und Reiten.16 Für die Philosophen ist aber allein das Wissen – episteme – maßgebend gewesen. Die moderne Wissens-Gesellschaft ist nun sozusagen programmatisch keine Könnens-Gesellschaft. Könnens-Gesellschaften sind alle Gesellschaften sowieso immer gewesen. Auch in Kasten-Gesellschaften muß man innerhalb der Kaste etwas können, nicht unbedingt etwas wissen: So mußte beispielsweise der europäische Höfling tanzen, fechten, reiten und Konversation treiben können, er mußte nicht wirklich etwas wissen. Auch die alte bürgerliche Gesellschaft war noch weitgehend eine Könnens-Gesellschaft. Sie hat das Etwas-Gut-Können honoriert, aber eben auch das Wissen. Nun wird anscheinend das reflexive Wissen, die episteme, zum alleinigen Zentrum der gesellschaftlichen Wertung. Das scheint für uns Intellektuelle zunächst einigermaßen tröstlich, aber es entwertet drastisch viele Formen des Wissens, die zwar ein Können, aber kein reflexives Wissen sind, und damit letztlich auch unser Wissen von ihnen. Gegen diese ungerechte und ungerechtfertigte exklusive Auszeichnung des reflexiven Wissens ist Leibnizens Schema hilfreich. Es handelt sich auch auf den «niedrigeren» Stufen der cognitio um cognitio, um Wissen, etwa um das Wissen des Künstlers, das nach Leibniz cognitio clara confusa ist, oder eben um Wissen der verschiedenen Arten der Technik: cognitio clara distincta inadaequata. Es geht in Zukunft darum, sich das Etikett «Wissen» – cognitio – 104

nicht von den Inhabern der cognitio clara distincta adaequata abkaufen zu lassen. Wenn Sprachen-Können nun ein – sei es auch noch so «inadäquates» – Wissen ist, dann ist es auch gleichgültig, um welche Sprache es sich handelt, die man kann: Es ist auf jeden Fall ein bewundernswertes und wertvolles Wissen. Aber vielleicht erniedrigt auch gar nicht die Orientierung an der episteme das Sprachwissen. Vielmehr ist die Einschränkung von Wissen auf ein bestimmtes, nämlich an ökonomischen Zielsetzungen orientiertes Wissen für das Sprachwissen nicht günstig. Das hatte ich schon eingangs bemerkt. Die episteme der Wissensgesellschaft ist nämlich nicht eigentlich frei. Das von ihr gemeinte Wissen ist nur dasjenige, das in den ökonomischen Verwertungszusammenhang paßt. Nicht jedes Wissen ist da willkommen und folglich finanzierbar, sondern offensichtlich nur noch solches, das der unmittelbaren ökonomischen Reproduktion dient. Warum sollte einer Nahuatl oder Inuit studieren? Bald ist dann auch das Erlernen des Lateinischen, Französischen oder Italienischen kaum mehr zu rechtfertigen, die gerade noch so selbstverständlich schienen. Chinesisch, Japanisch, Spanisch – natürlich wunderbare Sprachen und Kulturen (doch darum geht es ja nicht) – dürften dagegen in nächster Zukunft keine Finanzprobleme haben. In der Tat verdrängt der Unterricht in diesen Sprachen gerade – aus rein ökonomischen Gründen – die traditionellen Schulsprachen aus den Schulen. Angesichts dieser ökonomischen Ausrichtung des relevanten Wissens sollten gerade Geistes- oder Kulturwissenschaftler beim Diskurs von der Wissensgesellschaft genau hinhören. Wir können ja nicht umhin zu bemerken, wie unser Wissen, das Wissen von nahen und fernen Kulturen, Kunstwerken, Texten, vergangenen Zeiten und von Sprachen, gesellschaftlich entwertet wird. Die Funktion des von uns produzierten Wissens ist ins Gerede gekommen, weil die schönen Zeiten vorbei sind, in denen die Produktion des Wissens überhaupt – gleichgültig wovon – als kostbar angesehen und von der Gesellschaft auch honoriert wurde. Einerseits drängen uns die genannten ökonomischen Zwänge – es sind eher vermeintliche Zwänge, shareholder-Zwänge – die Diskussion um die Legitimation unseres Wissens auf.17 Andererseits ist – trotz des propagandistischen hypes von der «Wissens-Gesellschaft» – das 105

Wissen (episteme) als solches doch nicht das Höchste und Letzte. Die Wissens-Gesellschaft will sich ja durchaus nicht als eine Gesellschaft von Wissenden zweckfrei am Wissen erfreuen. Das Wissen soll nicht einfach nur so daliegen, gleichsam wie das Rheingold, sondern es soll auch etwas bewirken, es soll praktisch werden: theoria cum praxi forderte schon Leibniz. Die von Leibniz gegründete Berliner Akademie hat kürzlich durch die Anbringung einer Tafel im Akademiegebäude an den «Nutzen» erinnert, den das Wissen letztlich bringen soll. Es geht also in der Wissens-Gesellschaft gar nicht nur um das Wissen, sondern auch auch um die Gesellschaft, d. h. es geht um einen Raum des Handelns, in den das Wissen eingebracht werden soll. Im Hinblick auf dieses praktische Ziel jedes Wissens hat man die Formel vom «Wissen als Handeln» ins Spiel gebracht, die das Wissen selbst pragmatisiert. Diese Orientierung auf Praxis scheint vor allem eine Herausforderung für das ziemlich unpraktische Wissen zu sein, das in den Kulturwissenschaften produziert wird. Zu dieser Vorstellung eines pragmatisierten Wissens möchte ich daher vor dem Hintergrund sprachtheoretischer Diskussionen im nächsten Kapitel einige Überlegungen anstellen.

5. Wissen als Handeln 5.1. Wissen pragmatisch 5.1.1. «Wissen ist Macht». Seit Bacons wirkungsmächtiger Formulierung ist Wissen an die Vorstellung von Herrschaft – zunächst über die Natur und dann auch über den Menschen – geknüpft. Die moderne westliche Konzeption des Wissens ist – und das habe ich ja schon in den Bemerkungen zur «Wissensgesellschaft» im vorangegangenen Kapitels angedeutet – ganz entschieden praktisch ausgerichtet und an das Zugreifen und Machen gebunden, so sehr, daß inzwischen nur noch das als Wissen, als «richtiges» Wissen, angesehen wird, was ins Machen mündet, am besten ins Geld-Machen (das seinerseits gewissermaßen natürlicherweise zu Macht gerinnt): «Wissen ist money». Die «Wissensgesellschaft» will verwertbares Wissen.1 Der unpraktische Typ des Wissenden, der Weise oder gar der Philologe, ist eine vorwissenschaftliche, unmoderne Figur geworden (die allerdings immer dann gern aufgesucht wird, wenn es mit dem Zupacken nicht mehr so richtig klappt). Der idealtypische Wissende unserer späten Bacon-Ära ist der Wissenschaftler, der das in seiner Doktorarbeit (besser noch: in der Magisterarbeit) Gefundene unmittelbar in eine Firmengründung (Typ Adlershof, Bill Gates) umsetzt oder in der Politikberatung und in den Medien honorarträchtig (Typ Talkshow-Expertin) in Einfluß und Geld verwandelt. Täuschen wir uns aber nicht: Auch der alternative Wissende, der anscheinend nichts Praktisches weiß (Typ Dalai Lama), kann sich aus dem Verwertungszusammenhang nicht lösen. Sein Wissen ist ebensosehr Macht, weniger über die Natur, um so mehr aber über die Menschen. Auch Leibnizens Wahlspruch theoria cum praxi, den die Berliner Akademie in ihrem Wappen führt, steht natürlich in der Nachfolge der Baconschen neuen Wissenschaft. Die Akademie ist als Kopie jener Royal Society gegründet worden, die gerade die «neuen», zugreifenden Wissenschaftler institutionell in sich vereinigte.2 An107

gesichts der totalen Welt-Beherrschung durch das Wissen mischt sich heute aber deutlich Skepsis in die optimistische, praktische westliche Wissenskonzeption: Das Wissen schützt ganz offensichtlich weder den einzelnen Menschen noch die Menschheit vor Torheit. Das Wissen der Menschheit verdoppelt sich, so sagt man uns (wie mißt man das eigentlich?), alle fünf Jahre, so daß der einzelne, aufs Ganze gesehen, immer weniger weiß, das heißt sich die Dummheit geradezu rasant ausbreitet, auch wenn der einzelne noch soviel lernt und weiß. Statt des triumphalen «Wissen ist Macht» ist daher die Formel «Wissen als Handeln» (Gernot Grube) ins Spiel gebracht worden. Diese Wendung ist offensichtlich immer noch dem praktischen Zug der westlichen Wissenskonzeption verpflichtet, sie ist aber gleichsam eine «softere» Version der Baconschen Formel, der sie ihre politische Härte zu nehmen scheint. Als Exkurs zum vorangegangenen Kapitel soll dieses praktische Potential des Wissens aus sprachtheoretischer Sicht erläutert werden. 5.1.2. Die Wendung «Wissen als Handeln» erinnert nämlich an die Formel, die in der Linguistik vor Jahren Furore gemacht hat, an die Wendung «Sprache als Handeln».3 Mit dieser ist der Kern der sogenannten pragmatischen Wende der Linguistik bezeichnet, so wie ja auch die Formel vom «Wissen als Handeln» eine pragmatische Wende der Epistemologie meint. Der Ausdruck verweist auf dieselbe philosophische Tradition: auf den Pragmatismus (und er sollte in unseren Landen ein neues Interesse an Fichte wecken, der ja als erster eine solche pragmatische Wende der «Wissenschaftslehre» bewerkstelligte: Wissen als «Thathandlung des Ich»). Worum ging es in jener Wende der Linguistik zur «Sprache als Handeln»? Sprache war in der modernen strukturellen Sprachwissenschaft im wesentlichen gefaßt (1) als eine Kopfgeburt, ein geistiges Gebilde, (2) als abstraktes System, als langue, und damit (3) als eine aus allen gesellschaftlichen Bezügen herausgenommene Entität. Die pragmatische Wende nun brachte die Sprache wieder ein in die Beziehungen zwischen den Menschen, als Handlung zwischen den Menschen (3); sie gewann damit der Linguistik auch die Dimension der parole, des konkreten Sprechens, zurück (2); und sie thematisierte Sprache wieder als Schwester der materiellen Weltge108

staltung, der Arbeit (Hegel), so daß auch ihre Materialität (Stimme, Ton, Schrift) erneut stärker Beachtung fand (1). Sprache als Handeln hieß also insbesondere Sprache als Sprechen. Diese Aspekte einer pragmatischen Transformation der Linguistik4 bilden den Hintergrund meiner Bemerkungen zur Wendung «Wissen als Handeln». So wie Sprache als Handeln zu betrachten zunächst etwas Merkwürdiges hatte (es widerspricht nämlich der üblicherweise angenommenen Opposition zwischen Reden und Handeln: «ihr redet ja bloß, tut doch lieber was»), so hat auch «Wissen als Handeln» etwas Eigenartiges, ja vermutlich noch Eigenartigeres als die linguistische Formel. Das hängt vermutlich mit drei semantischen Merkmalen zusammen, die in den beiden Wörtern Wissen und Handeln einander gegenüberstehen: einmal die Opposition zwischen Kopf und Hand (oder zwischen Intelligenz und Aktion), zweitens die Opposition zwischen etwas Statischem und etwas Prozeßhaftem, drittens die Opposition zwischen Einsamkeit und Gesellschaftlichkeit.

5.2. Poiesis und Semiosis 5.2.1. Zum ersten: Die Opposition von Wissen und Handeln ist in unserer Kultur tief in einer ihrer fundamentalsten Oppositionen verankert, im Gegensatz von Geist und Körper oder zumindest von Kopf und Hand. Theorie und Praxis, Gelehrte und Handelnde, vita contemplativa und vita activa etc. stehen einander daher in den beiden Wörtern «Wissen» und «Handeln» in so profunden Oppositionen entgegen, daß eine Vermittlung kaum möglich erscheint. Man kann die Opposition nicht einfach durch Dekret aufheben. Man fragt sich aber auch gleich, warum sollen wir die Opposition denn überhaupt aufheben. Was bringt uns denn die schicke Formel vom Wissen als Handeln? Ist in unserer Zeit der appeal des Handelns, der Handlungs-Druck so groß, daß sich auch das Wissen vor dem Tribunal der vita activa verantworten muß – und natürlich ausgemerzt wird, wenn es das nicht kann? Als «Geistes»-Wissenschaftler, als Philologe allzumal, weiß ich, wovon ich spreche: Unser Wissen ist von jedem Handeln so entsetzlich weit entfernt, daß es gesellschaftlich zunehmend in Frage steht, außer in dem Teil, der 109

eindeutig ein Handeln ist. Bei den Philologien ist das die sogenannte «Sprach-Praxis». Sprachbeherrschung ist ein technisches Wissen, wie ich im vorigen Kapitel gezeigt habe. Sie ist – zumindest die Beherrschung bestimmter, «wichtiger», d. h. ökonomisch ertragreicher Sprachen – auch nützlich, also behalten und fördern wir sie. Diese kaum karikierte Auffassung kann man an allen Universitätshaushalten direkt ablesen: Sprachlabors ja – philologische Seminare eher nein. Denn wo, bitte sehr, ist das Handeln in dem Wissen, daß lateinisch / k / (geschrieben c) sich beispielsweise im Italienischen vor e und i palatalisiert hat und / tsch / geworden ist, ansonsten aber / k / geblieben ist (z. B. cera versus cantare)? Oder was ist praktisch an dem Wissen, daß das lateinische Futur (amabo) untergegangen ist und durch eine periphrastische Form ersetzt worden ist: amare habeo – ameró, j’aimerai? Daß dies ein Wissen ist, wird niemand bezweifeln. Aber daß dieses Wissen auch ein Handeln sei? Bestenfalls ist es ein Wissen von einem Handeln, wenn Sprache Handeln ist. Wollen wir nun, indem wir auch solch esoterisches Wissen zum Handeln erklären, dieses vor dem Verdikt der Nutzlosigkeit retten? Dies wäre gar kein schlechter Trick. All den eiligen und aktiven Männern der Praxis rufen wir zu: «Alles ist Praxis!», in der Hoffnung, daß sie uns dann in Ruhe unser auch noch so abseitiges Wissen produzieren lassen. Die aufgeregte Umbenennung der «Geistes-Wissenschaften» in «Kultur-Wissenschaften» verdankt sich ja durchaus auch einem solchen Pragmatisierungsdruck. Nun, der Versuch, den Abgrund zwischen Wissen und Handeln durch die Formel vom Wissen als Handeln zu überbrücken, ist natürlich nicht nur dem gesellschaftlichen Druck durch den appeal des aktiven Lebens geschuldet. Es gibt durchaus eine tiefere Begründung für diese Verbindung von Wissen und Handeln. Das Wissen ist nämlich insofern an das Handeln gebunden, als alles Wissen (sofern es nicht angeboren ist) buchstäblich aus der Hand stammt: Aus dem Betasten der Welt, aus der Erfahrung der Welt mit der Haut, mit dem Auge (wissen ist etymologisch mit videre verbunden), mit dem Ohr, mit der Zunge und der Nase stammt unser Wissen. Daß der «Be-griff» aus dem Greifen der Hand stammt, ist oft genug gesagt worden und nicht nur eine Metapher. Und die Wissenschaft – die moderne jedenfalls – hat genau diesen Gestus des 110

Handelns ins Hand-Werk, d. h. ins Machen gesteigert. Modell der Baconschen Neuen Wissenschaft ist das handwerkliche Herstellen: der moderne Wissende ist der homo faber. «Das weiß ich, was ich gemacht habe», ist seine Grundüberzeugung. Wissen als GemachtHaben, Wissen als poiesis. Das Experiment – Kant macht das ja dramatisch deutlich in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft – schafft die Natur nach. Daß ich nur das weiß, was ich gemacht habe, was ich also mit der Hand hergestellt oder zumindest nachgestellt habe, ist gemeinsame Überzeugung moderner Wissenschaft. Auch Vico, der vermeintlich Anti-Moderne, sagt nichts anderes. Nur sieht Vico diese Gewißheit der Hand und des Machens, die er scientia nennt, gerade in der zivilen Welt gewährleistet, in der Kultur, weil diese im Gegensatz zu der von Gott gemachten Natur vom Menschen gemacht ist. Nur Kultur-Wissenschaft ist ihm überhaupt Wissenschaft.5 Also: die Brücke von der Hand und vom Machen zum Wissen ist nicht erst zu bauen, sie ist einfach da, und an ihr wird täglich gebaut. Unser Wissen stammt aus dem Handeln und dem Machen. 5.2.2. Wie kommt es aber dann zu der anfangs festgestellten Opposition zwischen Wissen und Handeln? Den Abgrund erzeugt offensichtlich das, was den Übergang vermittelt: die Sprache oder allgemeiner noch: die Zeichen. Der Eindruck der Kluft zwischen Wissen und Handeln ist vermutlich gerade durch die Zeichen entstanden, mit denen das durch das Handeln und Machen erzeugte Wissen aufgehoben und anderen vermittelt wird. Der Meister, der etwas kann, gibt sein Wissen weiter, indem er den Lehrling zur Nachahmung – zur Mimesis – anregt. In der mimetischen Aneignung erscheint das Wissen – oder besser vielleicht: das Können (die Franzosen unterscheiden nicht, sie nennen alles savoir) – noch unmittelbar als Handeln, das nachgeahmt wird (als gezeigtes Handeln ist es gleichzeitig Semiose). Aber wenn der Meister sein Wissen in Zeichen (und Sprache) aufbewahrt und mittels Zeichen lehrt oder wenn er gar nicht selber lehrt, sondern diese Aufgabe einem für das Lehren spezialisierten Lehrer überantwortet, spaltet sich – durch die Zeichen – das Wissen vom Handeln und erzeugt gerade jene Trennung von Theorie und Praxis, von Gelehrtem und Handelndem, die der Opposition von Wissen und Han111

deln zugrunde liegt. Die Zeichen enthalten das Wissen, und sie trennen das Wissen vom Handeln. Und da wir in unserer Kultur viel mehr Wissen durch die Vermittlung der Zeichen erwerben als durch direkte Nachahmung, direkte Erfahrung, eigenes Handeln und eigene Manipulation, denken wir, das Wissen sei vom Handeln abgrundtief entfernt, auch wenn es gerade weitgehend nichts anderes ist als ein in Zeichen sedimentiertes Handeln. Die Spaltung wird auch durch bestimmte gesellschaftliche Haltungen verstärkt: Während sich früher die Inhaber der Zeichen, die Wissenden, gern über die Männer des Handelns, d. h. auch der schmutzigen Hände, erhoben haben, ist es heute eher umgekehrt so, daß die Männer der Praxis den Gegensatz verstärken – sozusagen in einer Art Handlungs-Snobismus, in einer künstlichen Opposition zwischen den vermeintlich unwissenden (weil zeichenlosen) Praktikern oder Könnern und den nichtskönnenden Wissenden, den sogenannten Schlaumeiern. Könner und Schlaumeier sollten sich aber nicht auseinanderdividieren, sie repräsentieren zwei Seiten derselben Medaille, eben des Handlungswissens. Beim Könner erscheint das Wissen als Handeln, beim Schlaumeier das Handeln als Wissen. Aber: das, was den Abgrund herstellt – das Zeichen – , ermöglicht auch gerade wieder die Vermittlung. Wir brauchen von den Zeichen, die das Wissen aufheben, nur zurückzugehen zu dem Handeln, dem es sich verdankt: Jede Landkarte z. B. läßt sich zurückverfolgen bis zu den Handlungsgefügen, durch die das in ihr aufgehobene Wissen erzeugt wurde: zum Abschreiten des Weges, zum Vermessen der Distanzen und Höhen, zum Betrachten der beschriebenen Gegend etc. Die chemische Formel läßt sich zurückverfolgen bis zu den Ketten der Manipulationen der beteiligten Stoffe, der Text über eine bestimmte Krankheit bis zu den Beobachtungen, Betastungen, Einschneidungen, welche die wissensgenerierenden Handlungen waren. Noch einmal also: Wissen ist gerade wesentlich aufgehobenes Handeln, und einer seiner bevorzugten Modi der Aufhebung ist das Aufheben in Zeichen. In diesem trivialen Sinn vermitteln die Zeichen zwischen Wissen und Handeln.6

112

5.3. Energeia 5.3.1. Vielleicht ist aber der zweite differente Zug der Opposition zwischen Wissen und Handeln schwieriger zu überwinden als dieser erste zwischen Kopf und Hand (Geist und Körper), nämlich der zwischen Zustand und Prozeß: Wissen ist ein Zustand, kein Vorgang, sondern etwas Statisches. Handeln ist ein Vorgang. Die Formel «Wissen als Handeln» verlangt in dieser Hinsicht etwas besonders Schickes: nämlich action, «Äktschn», also eine Prozessualisierung. Das Wissen darf nicht mehr ruhig sein, es muß werden, oder besser zappeln, wie ein Film. Eine Forderung des Zeitgeistes: Nichts darf mehr ruhn, alles muß sich bewegen, alles muß jung sein, dynamisch, frisch. Performativ. Wissen ist aber kein Prozeß, sondern das Ergebnis eines Prozesses, des Lernens nämlich oder des Erkennens. Erkennen ist etwas Prozessuales und als solches ohne alle Schwierigkeit als ein Handeln oder besser: als eine Tätigkeit zu fassen. Das Erkennen ist ja nicht etwas, das uns gleichsam in den Schoß fällt, sondern etwas, das wir aktiv bewerkstelligen. Wissen aber ist der Endzustand des Erkennens, das Erkannthaben. Es ist damit kein Handeln, sondern ein Gehandelt-Haben. Aber damit läßt sich – jenseits der Forderung nach Prozessualisierung, Dynamisierung und Verjüngung (die wir nicht vergessen wollen) – das Wissen auch in dieser Hinsicht durchaus ohne große Verdrehungen wieder ans Handeln bzw. an die Tätigkeit binden. Als Ergebnis der Tätigkeit des Erkennens ist es das ergon dieser Tätigkeit, so wie das Gebäude das ergon des Bauens ist und der Strumpf das ergon des Strickens. Als ein geistiges ergon ist es gegebenenfalls sogar ein Handeln-Können, aristotelisch gesprochen ist es nicht nur das ergon, sondern auch die dynamis des Erkennens. Es ist nicht die energeia, die Tätigkeit selbst. Sofern aber energeia nach Aristoteles’ Metaphysik eben drei Aspekte haben kann, nämlich energeia, ergon und dynamis, ist das Wissen doch ein Aspekt der energeia: Im Werk ist das Wirken aufgehoben. In diesem Sinne läßt sich auch vom Werk, dem Wissen, als Handeln bzw. als einer Tätigkeit sprechen. 113

Die dynamis, das Handelnkönnen, drücken wir im Deutschen übrigens sprachlich nur noch selten als ein Wissen aus – in etwas altertümlichen Wendungen wie «er weiß sich zu benehmen». Normalerweise nennen wir es «können», das natürlich mit «kennen» eng verbunden ist, also durchaus auch ein Wissen ist. «Er kann Latein» heißt eben, daß er ein solches Wissen hat, daß er entsprechend (sprachlich) handeln kann. Im Französischen und Englischen wird dieses Wissen auch als ein «Wissen» bezeichnet: «he knows Latin», «il sait le latin». Im Französischen ist dies auch bei anderen Tätigkeiten der Fall: «il sait nager», wo die Engländer – wie die Deutschen – eine nicht intellektuelle dynamis nicht als ein «Wissen», sondern als ein «Können» fassen: «he can swim», «er kann schwimmen». dt. engl. frz.

können know savoir

können can savoir

Inhalt:

Latein

schwimmen

Die Franzosen markieren die dynamis des Handelns am klarsten als ein «Wissen»: «il sait le latin, il sait conduire, il sait nager, il sait danser». Im Englischen macht man eine Differenz zwischen geistigen Aktivitäten und Bereichen, die man «weiß» (Latin, geography), und körperlichen Aktivitäten, Handlungen im engen Sinn, die man «kann». Im Deutschen markieren wir die dynamis des Handelns insgesamt als ein «Können». Im Französischen differenziert man darüber hinaus fein zwischen dem Können im Sinne des Wissens eines Handelns (savoir) und dem Können im Sinne des Möglichseins eines Natürlichen (pouvoir): «ich kann atmen», «ich kann schwitzen» ist: «je peux respirer», «je peux transpirer». Sagt jemand «je sais respirer», macht er aus dem natürlichen Vorgang ein Handeln im Sinne von «Atmungstechnik». Eine Sängerin etwa könnte sagen «je sais respirer», um auf ihre gute Atemtechnik hinzuweisen. 5.3.2. In dieser zweiten Hinsicht, also bei der Opposition von energeia versus ergon / dynamis, können Überlegungen aus der Sprachund Zeichentheorie vermittelnd nützlich sein. Hier wird nämlich 114

traditionellerweise zwischen einer Ebene der Realisierung und einer Ebene des «Besitzes» der Sprache oder der Zeichen unterschieden: in der Sprachwissenschaft zwischen parole und langue, in der Semiotik zwischen token und type. Zumal seitdem die Zeichen und die Sprache als Handlungen betrachtet werden, müßten die hier angestellten Überlegungen auch für die pragmatisch gewendete Epistemologie interessant sein.

5.4. Praxis Die Diskrepanz zwischen Wissen und Handeln, die die Formel vom «Wissen als Handeln» zur Provokation macht, basiert, drittens, auf dem gesellschaftlichen Bezug des Handelns: Wissen ist normalerweise etwas, was ein Subjekt für sich hat, sei es ein einzelnes oder ein kollektives. Es verbleibt bei ihm, gleichsam in seinem Inneren verschränkt. Wissen ist also nicht nur geistig (versus körperlich) und statisch (versus tätig), sondern auch noch solipsistisch, «einsam». Handeln dagegen – jetzt im Sinne der praxis eher als im Sinn der poiesis – ist auf den gesellschaftlichen Raum bezogen: Praxis heißt ja «Geschäft», gesellschaftliches Tun, Handeln im Sinne des commerciums. Auch in dieser Hinsicht soll nun eine moderne Forderung, eben die nach dem Bezug auf den anderen, eingelöst werden. Wissen soll als Handeln, als gesellschaftliche Praxis, aus der Einsamkeit heraus in die Geschäfte der Welt. Nun besteht auch in dieser Hinsicht kein Abgrund zwischen meinem einsamen Wissen und der gesellschaftlichen Dimension. Hier gilt mit noch größerer Berechtigung im Grunde das schon beim ersten Punkt Gesagte: Der größte Teil meines Wissens ist ja gar nicht durch meine Erarbeitung der Welt, durch eigene Messungen des Himalaja, durch eigene chemische Experimente, durch eigene Erlebnisse direkt aus meiner Welterfahrung bezogen, sondern durch die Vermittlung von Zeichen. Diese sind aber nicht nur Repräsentationen jener Weltbearbeitungen, jener Manipulationen von Welt, die der Erkennende gemacht hat. Sie vermitteln also nicht nur semantisch zwischen der Welt und dem, der sie erforscht. Sie sind allemal auch gesellschaftlich oder pragmatisch im Sinne der Sprachtheorie, d. h. sie vermitteln auch zwischen mir und dem 115

Menschen (oder den Menschen), der jene Manipulationen ausgeführt hat, der jenes Wissen über die Welt erzeugt hat. Nehmen wir an, jemand hat den Mount Everest vermessen und das Zeichen erzeugt: «Der Mount Everest ist 10 000 Meter hoch», so ist diese Aussage sowohl eine Repräsentation eines bestimmten Aspektes der Welt für diesen Forscher als auch eine Mitteilung an mich. Mein Wissen von der Höhe des Mount Everest ist also weitgehend gesellschaftlich vermittelt, da es mir über die Zeichen eines anderen zuwächst. Wie schon beim ersten Punkt vermitteln auch in dieser Hinsicht die Zeichen zwischen dem Wissen und dem Handeln, nun aber indem sie das in ihnen repräsentierte Wissen als etwas Gesellschaftliches kommunizieren.

5.5. Faust, verjüngt? 5.5.1. Die drei genannten Unterschiede zwischen Wissen und Handeln machen die Wendung «Wissen als Handeln» merkwürdig: Wissen gehört dem Kopf an (nicht der Hand), es ist etwas Statisches, und es ist etwas Einsames. Die provokative Formel vom Wissen als Handeln möchte in allen drei Hinsichten das Wissen aufbrechen: Sie bindet es an die Hand zurück: Poiesis. Sie macht es tätig: Energeia (Äktschn). Und sie bindet es in die gesellschaftliche Praxis ein. Sprach- und zeichentheoretische Parallelen legen nahe, daß sich das Wissen durchaus – vermittelt durch die Zeichen – in allen drei Hinsichten tatsächlich als «Handeln» fassen läßt. «Wissen als Handeln» legt im übrigen auch das poetische, energetische und pragmatische Potential auch des geisteswissenschaftlichen Wissens zutage, das sich daher vor dieser Formel nicht zu fürchten braucht. 5.5.2. Dennoch sei abschließend die Opposition zwischen Wissen und Handeln noch einmal allegorisch gefaßt und eine letzte Frage gestellt. «Wissen», das ist der alte einsame Mann in seiner Klause oder in der Studierstube. «Wissen», das ist der Hohepriester im Arkanum des Tempels: Teiresias, Faust («habe nun, ach, Philosophie etc. etc. durchaus studiert», das Wissen, das sich in seiner höchsten Form als ignorant weiß), Sarastro («In diesen heilgen Hallen»). «Handeln», das ist Siegfried, Parcival, der Prinz von Homburg etc. 116

etc.: Körper, Tätigkeit, Gesellschaft, Sex. Wissen, das ist Bembo und der alte Humanist, Handeln ist der junge coole Cortegiano.7 «Wissen als Handeln» ist daher also der verjüngte Faust, der ja nicht glücklich geworden ist: Teufelszeug. In unserer Zeit ist es der junge, smarte, dynamische, erfolgreiche executive, der ununterbrochen arbeitend den Besuch im Fitnessstudio nicht versäumt, in der Bibliothek sich auf dem laufenden hält und nach getanem wissendem Handeln auch noch die wunderbare Frau trifft, die er mit expertise sexuell bedient: Wem fielen nicht die Hauptdarsteller zahlreicher amerikanischer Filme ein: Michael Douglas, Denzel Washington und andere als smarte Rechtsanwälte, Ärzte, Computerspezialisten, Professoren. Die Frage stellt sich also, ob «Wissen als Handeln» letztlich nicht eine gewaltige Überforderung des Wissens ist. It’s simply too much! Give me a break!

Questione della lingua

6. Die Frage nach der Sprache

6.1. Aktuelle Sprachfragen 6.1.1. Die Sprachkultur der europäischen Länder macht derzeit gewaltige Transformationsprozesse durch. Nicht nur die Standardsprache, auch das Gefüge der Sprachvarietäten, die Architektur der Einzelsprache, ist fast überall in dramatischer Bewegung: Die «großen» Kultursprachen überlassen dem globalen Englisch (Globalesisch) das Feld der prestigereichen «höheren» Diskurse: Wissenschaft, Wirtschaft, Diplomatie finden international – aber zunehmend auch national – nur noch auf Globalesisch statt. Der Status der Nationalsprachen sinkt, der Ausbau dieser Sprachen wird reduziert. Die Sprachen selbst, allen voran das Deutsche, öffnen sich dem Einfluß des aggressiven und verführerischen Globalesischen. Die regionalen Varietäten und Sprachen werden angesichts des Statusverlusts der Nationalsprache wieder stärker, so daß diese zwischen Regionalsprachen und Globalsprache eine immer schwächere Position einnimmt. Dies hat einschneidende Folgen für die sprachliche Integration der Migranten. Ich werde den hier angedeuteten Prozessen anhand der besonders dramatischen Situation des Deutschen im zehnten Kapitel ausführlicher nachgehen. Die in den nächsten Kapiteln verhandelten Fragen der SprachKultur sind nicht nur sprachliche und kulturelle Fragen, als die sie sich oft selbst präsentieren und als die sie auch gern verharmlost werden, sondern gleichzeitig eminent politische Probleme. Antonio Gramsci, der wie kein anderer politischer Theoretiker ein Gespür für die politische Bedeutung der Sprach-Kultur hatte, hat es deutlich gesagt: Die Frage der Sprache – «la questione della lingua», wie er sie nennt – hat immer erhebliche gesellschaftliche und politische Implikationen,1 die kulturelle Hegemonie geht mit der politischen Herrschaft einher: 120

Ogni volta che affiora, in un modo o nell’altro, la quistione della lingua, significa che si sta imponendo una serie di altri problemi: la formazione e l’allargamento della classe dirigente, la necessità di stabilire rapporti piú intimi e sicuri tra i gruppi dirigenti e la massa popolare-nazionale, cioè di riorganizzare l’egemonia culturale. (Gramsci 1987: 252) Jedesmal wenn auf die eine oder andere Weise die Frage nach der Sprache an die Oberfläche kommt, bedeutet dies, daß sich eine Reihe von anderen Problemen aufdrängt: die Bildung und die Erweiterung der herrschenden Klasse, die Notwendigkeit, engere und sichere Beziehungen zwischen den leitenden Gruppen und der Volksmasse herzustellen, d. h. die kulturelle Hegemonie neu zu organisieren. Weniger vornehm gesagt: Die Frage nach der Sprache fragt auch danach, wo’s langgeht. Wer das Sagen hat, hat es nämlich auch kulturell und also auch politisch.2 Cuius lingua eius regio oder zumindest: cuius lingua eius cultura. 6.1.2. Im 16. Jahrhundert bedurfte es bedeutend harmloserer Verschiebungen in der Sprach-Kultur als der angedeuten heutigen, um eine subtile und leidenschaftliche Diskussion der maßgeblichen Intellektuellen Italiens über die Frage nach der Sprache, die questione della lingua, zu entfachen. In Frankreich wurde im 16. und 17. Jahrhundert – oft in expliziter oder impliziter Intertextualität zu den italienischen Positionen – die Frage der Sprache intensiv weiterdiskutiert (und anders beantwortet als in Italien). Die questione della lingua ist den Italianisten gut vertraut, ihre Behandlung des Themas bleibt aber zumeist eingeschlossen ins Italienische oder in die Vergangenheit. Die italienischen Sprachhistoriker thematisieren die Problematik zumeist mit Blick auf die «lingua nazionale», also auf das Telos der italienischen Geschichte: die politische und sprachliche Einheit Italiens, und die Renaissance-Forscher stellen sie als einen vergangenen Kultur-Kampf, den Kampf zwischen Latein und Volgare, dar. Ich möchte im folgenden versuchen, solche Momente dieser Diskussion hervorzuheben, die das kulturelle Gefüge jeder modernen Sprachgemeinschaft betreffen (können). Ich meine damit natürlich nicht, daß die fast fünfhundert Jahre zurück121

liegende Diskussion als solche immer noch aktuell ist. Sie ist historisch situiert und einmalig. Dennoch sind einige in jener Diskussion aufgeworfenen Probleme in vielfacher Hinsicht – sprachtheoretisch, anthropologisch, politisch – immer noch hoch bedeutsam und für das Verständnis der heutigen Frage nach der Sprache grundlegend.

6.2. Questione della lingua 6.2.1. Worum ging es im Cinquecento? Zunächst basiert die Diskussion um die Sprache auf der Wahrnehmung eines zusammengehörigen Sprach- (und Kultur-)Raums (was durchaus nicht selbstverständlich ist), der auch als politischer Raum gesehen wird. Innerhalb dieses Raums geht es um die genauere Bestimmung der sprachlichen Gemeinsamkeit, etwa durch die Festlegung einer Sprachnorm oder auch mehrerer Sprachnormen. Angestoßen wird die Diskussion durch Probleme in bestimmten Diskursuniversen: Welche Sprache soll der Dichter verwenden, welche Sprache der Wissenschaftler, generell also der veröffentlichende Schreiber, der «Publizist»? Das öffentliche Schreiben provoziert die Frage nach der Sprache: die schriftliche Kommunikation über größere Distanzen hinweg überschreitet die lokalen dialektalen Grenzen der mündlichen Nähe-Kommunikation, um die von Koch und Oestereicher (1985) geprägten Termini aufzugreifen. Es ist kein Zufall, daß die Diskussion in der Zeit der Ausbreitung des Buchdrucks geführt wird, in der Zeit einer großen medialen Revolution, welche die Möglichkeiten der schriftlichen Distanz-Kommunikation plötzlich ins Unermeßliche steigert. Es geht aber auch um mündliche Sprache: Wie soll sich der «gebildete» Mensch im gesellschaftlichen Leben sprachlich verhalten, vor allem wenn er auf Sprecher aus entfernten Gegenden des Sprachraums trifft? Erhöhte Mobilität erzeugt ein Kommunikationsproblem, das eine Lösung verlangt. Im mündlichen Bereich geht es um die Frage einer Sprache der Nähe für Distanzierte. Aufgerufen werden dabei alle Dimensionen und Ebenen der Architektur einer Sprache: Soll man – hinsichtlich der diachronischen Dimension – die ganz alte Sprache, eine nicht so alte, eine moderne Sprache schreiben und sprechen? Die 122

diatopische Dimension: soll die gesuchte Sprache an einen Ort der größeren Sprachgemeinschaft gebunden sein, an mehrere oder an keinen? Die diastratische Dimension: ist es günstig, daß verschiedene Klassen an der Sprache teilnehmen, oder soll sie klassenmäßig markiert sein? In der französischen Fortsetzung der Diskussion im 17. Jahrhundert spielt auch die diaphasische («stilistische») Dimension eine große Rolle: welche «Felder der Rede» sollen sprachlich von jedem bewältigt werden, welche gehören dagegen allein den Spezialisten (die Frage des Wortschatzes der «arts et sciences»)? Wie steht es mit den Außenbeziehungen? Soll man fremde Wörter aufnehmen? Wie flexibel muß die Sprache sein? Soll sie veränderbar sein, oder ist es vielleicht besser, sie ein für allemal zu fixieren? 6.2.2. Die Intellektuellen der italienischen Renaissance erkennen die Frage nach der Sprache als ein für die Kultur eines Landes zentrales Problem. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts reflektieren sie damit einen nicht nur sprachlichen Transformationsprozeß, der schon im 13. Jahrhundert begonnen hatte, sondern verarbeiten zugleich die sprachlichen Folgen einer tiefgreifenden politischen und sozialen Transformation: den Aufstieg städtischer Eliten, die Säkularisierung der Kultur und die Gewinnung eines «nationalen» Raums der Politik und der Kommunikation. Menschen, die nicht oder nicht nur an der im wesentlichen von der Kirche getragenen «höheren» lateinischen Kultur teilnehmen, wollen jetzt ihre kulturellen Bedürfnisse in ihrer Sprache, d. h. in der Sprache des «Volkes» – im sogenannten Volgare – befriedigen. Nicht das Sprechen im Alltag ist dabei das Problem. Dieses wird in der Familie und bei der Arbeit natürlich in der Volkssprache bewältigt, d. h. konkret im lokalen Dialekt. Auch der alltägliche Schriftverkehr wird, wenn er überhaupt nötig ist (bei Kaufverträgen, Warenlisten etc.), in der lokalen Volkssprache erledigt. Es geht um die «höheren» Diskursuniversen: zunächst um die Dichtung, in geringerem Maße auch um die Wissenschaften und um die elegante Konversation der höheren Stände. In Italien geht es so gut wie überhaupt nicht – hierin liegt der große Unterschied zu Deutschland (in geringerem Maße zu Frankreich) – um die Kirche, um das Heilige. In Deutschland ist ja gerade die Religion die äußerst wirksame Herstellerin einer – dann auch in 123

Dichtung, Wissenschaft und gebildete Konversation vordringenden – nationalen Gemeinsprache. 6.2.3. Hinsichtlich der Dichtung, um die diese Diskussion insbesondere kreist, war Italien ja mit großer Verspätung auf der europäischen Bühne der volkssprachlichen Literaturen erschienen, nämlich erst in der Mitte des 13. Jahrhunderts, als die mittelalterliche provenzalische, französische und deutsche Literatur ihre Höhepunkte schon überschritten hatten. In Italien blüht zu Beginn des 14. Jahrhunderts eine Literatur, die sich auf der Basis des toskanischen Dialekts eine Sprache schuf und die durch das Prestige der drei großen Dichter Dante, Petrarca, Boccaccio weit über Florenz hinausstrahlte. Französischen Vorbildern folgend hat Dante, über die Dichtung hinausgehend, im Convivio sogar schon versucht, Wissenschaftliches im Volgare für diejenigen mitzuteilen, die des Lateinischen unkundig waren. Und von Dante stammt auch das erste wissenschaftliche Buch über das Problem des Schreibens in der Volkssprache: De vulgari eloquentia, das man wohl am besten mit «Über das poetische Schreiben in der Volkssprache» übersetzt. Aber dieses wunderbare Buch, das das gesamte mittelalterliche Wissen über die Sprache reflektiert, um die Transformation des Systems der mittelalterlichen Sprachkultur zu rechtfertigen, wird zweihundert Jahre lang nicht gelesen. Die Theorie eines Schreibens in einer diastratisch hohen, diatopisch neutralen, politisch maßgeblichen und diaphasisch kultivierten Volkssprache, im vulgare illustre, cardinale, aulicum, curiale, wird von Dantes Erben ganz offensichtlich unterdrückt. Sie paßte nicht in deren sprachkulturelle Vorstellungen. Denn der in dieser Hinsicht reaktionäre Humanismus behindert und bekämpft den Prozeß der Entwicklung einer volkssprachlichen Dichtungs- und Bildungssprache. Er kann ihn zwar nicht aufhalten, aber er schwächt ihn doch erheblich, jedenfalls in Italien. Die am Anfang des 14. Jahrhunderts so glänzend begonnene volkssprachliche Literaturblüte zielte nämlich auf die Abschaffung der mittelalterlichen Diglossie «Volkssprache / Latein», bei der das Lateinische als «high variety», als Sprache des Heiligen, der Politik und der Wissenschaften, über den jeweiligen Volkssprachen als «low varieties» schwebte.3 Die sich anbahnende Aufgabe dieser Diglossie durch das Vordringen der low varieties in die «hö124

heren» Diskursdomänen wird in Italien durch den Humanismus gebremst. Ja die Diglossie weitet sich sogar wieder aus, sofern nun auch in der neuen, säkularen Kultur das Lateinische in Mode kommt. Wer elegant sein will, schreibt in humanistischen Zeiten wieder lateinisch: Elegantiae heißt das entsprechende Buch des großen Humanisten Lorenzo Valla. Die transregionale Italianität, die Dante mit dem vulgare illustre, cardinale, aulicum, curiale anvisiert hatte, steckt bei den Humanisten also in einer erneuerten Latinität («Wir sind wieder so gut wie die alten Römer und wir sprechen und schreiben wieder genauso schön Latein wie diese») und nicht in der Weiterentwicklung einer Volgare-Koinè. 6.2.4. Wie etwas Unabgegoltenes, wie etwas Verdrängtes aber drängt die vulgaris eloquentia in Theorie und Praxis zu Beginn des Cinquecento wieder an die Oberfläche. Um 1500 schlägt, angestoßen offensichtlich durch die politischen Ereignisse, das Pendel zurück. Die maßgeblichen italienischen Schriftsteller plädieren nun für die Volkssprache. Der Streit geht dabei nicht so sehr darum, ob es die Volkssprache sein soll, sondern viel mehr darum, welche. Der lateinischschreibende Humanist ist in den klassischen Texten der questione della lingua die kritisierte, manchmal sogar lächerliche Figur. Natürlich gibt es auch im Cinquecento noch Verteidiger des Lateinischen. Dennoch: das Lateinische ist passé. In der Frage nun, welches Volgare für die Literatur gebraucht werden soll, gibt es im wesentlichen drei Positionen: erstens die des sogenannten umanesimo volgare, d. h. der Orientierung der Schriftsprache an den toskanischen Klassikern des Trecento. Dies ist die Position von Pietro Bembo. Mit dieser kontrastiert, zweitens, die Vorstellung einer modernen transdialektalen, also «italienischen» Sprache, die Position der sogannten lingua cortigiana, die Trissino und Castiglione vertreten. Als dritte kann die Auffassung Machiavellis angesehen werden, der für ein modernes Toskanisch als gemeinsame Literatursprache eintritt. Bembo, Trissino, Castiglione und Machiavelli sollen hier als das «klassische Korpus» der questione della lingua betrachtet werden.4 6.2.4.1. Italien, das trotz der Kriege der italienischen Staaten untereinander und trotz der Existenz mehrerer Staaten um 1450 so 125

etwas wie eine politische Italianität erreicht hatte (schon in Dantes De vulgari eloquentia zeigt sich, daß es eine deutliche Vorstellung eines politisch-kulturellen und sprachlichen Raums «Italien» gibt, der von den Alpen bis nach Sizilien reicht), wird von den Franzosen (1494) und dann von Spanien und dem Kaiser militärisch überrollt. Das sprachliche Medium dieser nun von außen erschütterten Italianität war, wie gesagt, das Lateinische. Valla hatte in den Elegantiae in einer Art von humanistischem Größenwahn die Verbreitung der lateinischen Sprache noch mit einer italienisch-lateinischen politischen Herrschaft gleichgesetzt: Nostra est Italia, nostra Gallia, nostra Germania, Pannonia, Dalmatia, Illyricum, multaeque aliae nationes. Ibi namque Romanum imperium est, ubicumque Romana lingua dominatur. (Valla 1962: 4) Unser ist Italien, unser ist Gallien, unser ist Germanien, Pannonien, Dalmatien, Illyrien und viele andere Nationen. Denn dort ist das Römische Reich, wo die Römische Sprache herrscht. «Unser ist Italien, Gallien etc», nicht: «unser war»! Wenn das Prinzip cuius lingua eius regio Gültigkeit hat, so hat Valla natürlich nicht unrecht. Nur: wer ist «wir», wer ist das politische Subjekt, dessen Sprache das Lateinische – romana lingua – im Quattrocento ist? «Rom» ist nicht mehr das alte Rom, dessen vergangene Macht hier nostalgisch evoziert wird. Ist es der Papst? Sind es die Italiener, sofern sie lateinisch sprechen und schreiben, also die Humanisten? Nun zeigen die französischen und kaiserlich-spanischen Invasionen, daß von einem lateinisch-italienischen Imperium «Roms» nicht die Rede sein kann, nicht einmal in Italien selbst. Frankreich und Spanien bestimmen jetzt die politischen Geschicke Italiens. In Speronis Dialogo delle lingue, der uns hier beschäftigen wird, versucht Bembo, sich nach schönster Humanistenart mit dem Besitz der klassischen Sprachen (wobei er dem Griechischen und Lateinischen noch das Toskanische zuschlägt) über diese politische Erniedrigung Italiens hinwegzutrösten, gewissermaßen nach dem Motto: bella gerant alii, tu infelix Italia loquere: 126

Ma per certo noi siamo giunti a tempo che pare che il male lungamente da noi sofferto voglia Iddio a qualche modo ricompensarci; peroché in iscambio delle molte possessioni e città della Italia, le quali occupano gli oltramontani, egli ci ha donato l’amore et la cognizione delle lingue. (Speroni 1542: 287) Aber sicher sind wir jetzt an einem Punkt angekommen, an dem Gott uns anscheinend für das von uns so lange erlittene Leid irgendwie entschädigen möchte; denn im Austausch für die vielen Besitzungen und Städte Italiens, die die Leute von jenseits des Berges besetzt halten, hat er uns die Liebe und die Kenntnis der Sprachen gegeben. Liebe und Kenntnis der Sprachen werden aber deutlich als Kompensation (ricompensare) für das politische Übel bezeichnet. Das Eigentliche scheint – jedenfalls für Speroni, der Bembo in einem fiktiven Dialog inszeniert – also doch im Besitz der Städte Italiens zu liegen, die jetzt die ultramontanen Barbaren besetzt halten. Der kompensatorische Trost des Humanisten funktioniert daher auch nicht bei seinen Gegnern. Der Höfling macht sich über diese völlige Überschätzung der Sprache und der Gelehrsamkeit lustig. Der Aristokrat, also die der politischen Macht am nächsten stehende Figur, weigert sich zu akzeptieren, daß (lateinische, griechische oder toskanische) Sprach-Beherrschung wirkliche Herrschaft ersetzen könne, daß sie besser sei als die «signoria del mondo» (292), die Beherrschung der Welt: «E io conosco di molti uomini che, per esser mediocri signori, si contentarebbono d’esser muti» (291). Für die Macht, so weiß der im aktiven Leben stehende Cortegiano, würden die meisten Menschen leicht die Sprache hergeben. In der humanistischen Überschätzung der Gelehrsamkeit und der Sprache und in der damit verbundenen Unterschätzung der Wirklichkeit, d. h. auch wirklicher Politik, sieht er ganz offensichtlich eine politische Dummheit. Der Humanismus wird damit also gerade als ein Grund für die politische Misere Italiens namhaft gemacht. 6.2.4.2. Wenn die questione della lingua auch durch die politischen Ereignisse angeregt wurde, so ist sie doch keine offen politische Diskussion. Die soeben zitierte direkte Bezugnahme auf Politisches ist eher eine Ausnahme. Die Diskussion geht um Kulturelles. Der 127

Ausdruck «Kultur der Sprache» erscheint hier ausdrücklich: coltura della lingua (310) (vermutlich einer der ersten Belege für den Ausdruck), und zwar noch ganz im etymologischen Sinne von Anbau und gärtnerischer Pflege der Sprache. Das Ziel dieser gärtnerischen Bemühungen ist eleganzia. Der Ausdruck «coltura» ist noch eine Metapher, aber es geht um Kultur im modernen Sinn: um Literatur und Gelehrsamkeit und um Lifestyle. Politik spielt in Italien – anders als in Frankreich – bei den anstehenden Entscheidungen in der Sprach-Frage keine aktive oder befördernde Rolle, sondern wirkt eher als Hemmnis. Es gibt keine politische Instanz, die ein Interesse an der Beförderung einer Nationalsprache hätte. Gewiß verwenden auch in Italien wie in Frankreich und Deutschland die Kanzleien volkssprachliche Scriptae, wenn sie nicht lateinisch urkunden. In Frankreich aber wird der König selbst aktiv für die nationalsprachliche Vereinheitlichung. In der Ordonnance von Villers-Cotterêts von 1539 wird das Französische für das ganze Königreich als Verwaltungs- und Gerichtssprache vorgeschrieben, eine Verwaltungsreform mit erheblichen Konsequenzen für die Verbreitung der nationalen Koinè. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß es in Frankreich gerade die Politik ist, die im 16. Jahrhundert kraftvoll die Nationalsprache befördert, die Dichter und Drucker kommen noch hinzu. In Deutschland ist, wie gesagt, die Religion die mächtige Verbreiterin der Koinè, und die Drucker sind die aktiven Verbündeten der religiösen Erneuerung (die Dichter dichten eher noch auf lateinisch). Nichts dergleichen in Italien: kein gemeinsamer Staat wie in Frankreich, aber auch keine volkstümliche spirituelle Massenbewegung wie in Deutschland, sondern nur das extrem enge Diskursuniversum der Dichtung, das nur eine winzige Elite interessiert. 6.2.4.3. Und im Bereich der Literatur siegt nun gerade auch noch Bembo, d. h. es siegt das Unpolitische, das Harmlose, der Rückzug aus der signoria del mondo in die Literatur. Denn statt der politischen Herrschaft haben die Italiener ja die Liebe zu den Sprachen. Literarische Bildung als Kompensation für politische Macht.5 Eine solche Doktrin paßte natürlich ausgezeichnet in eine politische Situation, die auf Teilhabe der Italiener an der Macht gerade keinen großen Wert legte: Es ist die Zeit der Bestimmung italienischer 128

Politik durch ausländische Mächte und die Zeit der Gegenreformation, zu der, wie im nächsten Abschnitt deutlich wird, das neohumanistische Kulturmodell entschieden besser paßt als das Modell des Cortegiano. Mit Bembo siegt außerdem die Erhebung der Sprache der Klassiker aus dem Trecento zur Norm der Literatursprache. Dies ist auch für die Dichtung eine ungünstige, weil eng klassizistische, «akademische» Lösung. Die Accademia della Crusca sanktioniert später mit ihrem Wörterbuch diese Entscheidung, indem sie, Bembo folgend, die Sprache der Klassiker Boccaccio und Petrarca, denen sie noch Dante hinzugesellt, als Norm kodifiziert. Italienisch schreiben ist also seit dem Cinquecento an den Klassikern aus dem 14. Jahrhundert orientiert. Diese Entscheidung behinderte eine freiere und modernere Entwicklung der italienischen Dichtungssprache.6 Sofern sie nicht nur rückwärtsgewandt, sondern auch noch diatopisch eng (toskanisch) und diastratisch elitär, d. h. ausgesprochen unpopulär war, war diese Entscheidung für die sprachpolitische Entwicklung Italiens extrem ungünstig. Bei der Errichtung eines italienischen Nationalstaates im 19. Jahrhundert wird dieses diastratisch elitäre, diatopisch provinzielle, diachronisch antiquierte und diaphasisch «geschriebene» Norm-Italienisch ein Problem. 6.2.5. Daß die Diskussion bei aller Begrenzung auf die Literatur sich so ausdifferenziert und daß sie eine so große Aufmerksamkeit erfährt, hat, wie schon erwähnt, mit der medialen Revolution der Zeit zu tun, mit der Blüte des neuen Kommunikationsmediums, des Buchdrucks. Obwohl in den klassischen Texten zur questione della lingua – etwa im Vergleich zu den entsprechenden französischen Texten – der Buchdruck kaum thematisiert wird, ist ihre Abhängigkeit vom neuen Medium evident: Peter Koch (1988: 347) hat auf die Beziehungen zwischen Bembo und dem Drucker Aldo Manuzio hingewiesen. Den Druckern war natürlich daran gelegen, eine möglichst weite Verbreitung ihrer Erzeugnisse zu ermöglichen und abzuklären, welche italienische Schrift-Sprache dies denn am besten ermöglichte. Daß Dantes Schrift De vulgari eloquentia, die als erste die Frage nach der Sprache stellte und der Volkssprache eine hohe Position zusprach, erst einmal zweihundert Jahre lang nicht gelesen wurde, hat nicht nur damit zu tun, daß sie nicht in die Kulturpolitik 129

des Humanismus paßte und daher von den maßgeblichen Intellektuellen nicht verbreitet wurde, sondern auch damit, daß sie ohne Buchdruck, d. h. als Handschrift, leicht zu unterdrücken war. Nun aber (1529) gibt sie Trissino in italienischer Übersetzung in Druck. Die Abhängigkeit vom neuen Medium zeigt sich auch daran, daß Trissinos Epistola, die 1524 die questione della lingua gewissermaßen offiziell auslöst, um ein ortho-typographisches Problem kreist. Trissino schlägt nämlich die Einführung einiger griechischer Buchstaben in die Schrift-Sprache vor. Dann wird allerdings nicht nur dieser ungewöhnliche ortho- und typographische Vorschlag diskutiert, sondern vor allem der Ausdruck «italiano» in dem von Trissino provokant gewählten Ausdruck «lingua italiana». Die Abhängigkeit der Sprachen-Frage vom neuen Medium ist in Frankreich viel deutlicher, wo die Drucker selbst sich ganz entscheidend an der entsprechenden Diskussion um die Normierung der Sprache beteiligen (z. B. Tory, Robert Etienne, Meigret, Henri Etienne).

6.3. Gloria versus grazia Die beste Zusammenfassung der Diskussion ist immer noch diejenige, die Sperone Speroni 1542 in seinem schon erwähnten Dialogo delle lingue gegeben hat.7 Speroni spitzt die ausdifferenzierten und oft auch umständlichen Darlegungen der Kontrahenten zu typischen Positionen zu, und er führt sie einen entscheidenden Schritt weiter, sofern er im zweiten Dialog, der in den Dialog eingebettet ist, über die klassische questione della lingua hinausgeht und ein Problem aufgreift, das bisher noch nicht diskutiert wurde, nämlich die Sprache der Wissenschaft. Die Positionen der Hauptkontrahenten sind 1542 bekannt und veröffentlicht. Speroni kann also gleichsam einen objektiven Blick zurück werfen. Es fehlt bei ihm allerdings die Position von Machiavelli, dessen Text erst viel später entdeckt und gedruckt wurde. Speroni vereinfacht und typisiert die Positionen der auftretenden historischen Autoren, andere macht er an sozialen Typen fest (il cortegiano, lo scolare), während in den sonstigen Dialogen – die ganze Diskussion ist in der zeittypischen Form des Dialogs gehalten – eher echte historische Individualitäten mit subtilen Einwänden und Anmerkungen auftreten. Die Typisie130

rung macht die jeweilige Position vor allem an einer beruflichen Sprach-Praxis fest. 6.3.1.1. Im ersten Teil des Dialogs treten auf: Lazaro Bonamico, Pietro Bembo und der Cortegiano, d. h. der Professor, der Dichter und der Höfling. Es spricht also erstens der gelehrte Humanist, der als Professor sein Geld mit klassischer Gelehrsamkeit verdient, daher selbstverständlich fürs Lateinische plädiert und die bekannten humanistischen Positionen vertritt: Das Lateinische ist die besondere, unvergleichliche Sprache, an die keine andere heranreicht. Das Volgare kann nicht mithalten, es ist ein von den Barbaren korrumpiertes Latein und daher einfach scheußlich. Verglichen mit dem Lateinischen ist es «quale la feccia al vino» (289), wie der Bodensatz beim Wein, wobei das italienische Wort für «Bodensatz» feccia etymologisch mit lat. faeces «Kot» verbunden ist. Das Volgare ist also gewissermaßen eine Fäkalie des Lateinischen. 6.3.1.2. Bembo tritt für die Volkssprache ein, aber für diejenige der großen Dichter aus dem Trecento, ein Bezug auf ein Textkorpus, das immerhin schon zweihundert Jahre alt ist. Dies ist aber auch der einzige Unterschied zu dem Humanisten, mit dem er ansonsten alle Überzeugungen teilt. Er requiriert sämtliche humanistischen Grundannahmen für das Volgare, d. h. für das Toskanische: Die Kenntnis der Sprache und der Literatur ist das höchste, was ein Mensch besitzen kann (vor allem ist sie besser als politische Macht); das Toskanische ist eine hoch zu preisende Sprache wegen der großen Literatur, die in ihm hervorgebracht wurde; Volgare-Schreiben hat sich wie das Lateinisch-Schreiben an klassischer Literatur auszurichten, an Petrarca und Boccaccio (nicht an Dante, weil dessen Toskanisch nicht «rein» genug ist); Schreiben ist imitatio. Gegenüber dem humanistischen Professor, der die lateinische Sprache und Literatur verwaltet und pflegt, ist Bembo als der Dichter typisiert, dessen Textproduktion «Literatur» ist («poetare e orare», «comporre o canzoni o novelle», 334). Beide, Professor und Dichter, sind ganz offensichtlich Schreiber. 6.3.1.3. Diesen beiden Schreibern steht ein Sprecher gegenüber: der Höfling. Es ist bezeichnend, daß Speroni hier nicht Trissino oder 131

Castiglione, den Verfasser des Libro del Cortegiano, auftreten läßt, sondern eben einen typisierten Höfling. Damit treibt er das strukturelle Problem deutlicher hervor, um das es bei der Opposition von Bonamico-Bembo versus Cortegiano geht: um die Opposition von Schreiben und Sprechen, von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. In den Texten der beiden genannten Klassiker ist diese Opposition zwar durchaus angelegt, sie wird aber auch immer wieder überdeckt. Bei Trissino wird die «lingua cortigiana» als eine geschriebene Sprache diskutiert, obwohl das zu lösende Kommunikationsproblem das Miteinander-Sprechen von Italienern aus verschiedenen Regionen am päpstlichen Hof in Rom ist. Bei Castiglione diskutiert der Wortführer der höfischen Sprachposition, der Conte, das Problem in bezug auf Sprechen und Schreiben, obwohl es im weiteren Verlauf des Buches eindeutig um das Sprechen geht und nicht um das Schreiben: im zweiten Buch des Cortegiano geht es nämlich um die Konversation. Der Conte spielt aber im ersten Buch die Differenz zwischen Sprechen und Schreiben herunter. Peter Koch hat daher zu Recht in seinem Schema der drei möglichen Optionen für eine Standardsprache auch die lingua cortigiana der konzeptionellen Schriftlichkeit zugeordnet (Koch 1988: 346). Der Speronische Höfling ist demgegenüber viel deutlicher als eine Figur dargestellt, für die das Sprechen (favellare) im Vordergrund steht. Er möchte weder gelehrte Werke schreiben noch Dichtung, sondern möchte mit den anderen Aristokraten aus Italien Konversation treiben. Gegen beide Humanisten (auch gegen Bembo) vertritt er Folgendes: Nicht die Kenntnis der Sprachen ist das wichtigste, sondern das praktische Handeln (die politische Macht, die «signoria del mondo») und die Sachen selbst («le cose descritte», 294), d. h. dem altmodischen humanistischen Betonen der Sprache gegenüber der Welt und den Sachen steht als moderne (!) sprachtheoretische Position der Aristotelismus gegenüber.8 Das von Bembo präferierte literarische Toskanisch des Trecento wäre für das Sprechen in der Gegenwart (sogar für den heutigen Toskaner) ebenso eine erst zu erlernende Fremdsprache wie das Lateinische und das Griechische. Die gesuchte gesprochene höfische Sprache soll daher eine sein, die diachronisch modern, diatopisch nicht markiert und die auch diastratisch klassenübergreifend mit dem Volk verbunden ist, für das die Humanisten nur 132

ätzende Verachtung übrig haben. Diese näheren Bestimmungen sind natürlich diejenigen der lingua cortigiana, wie sie der Conte im ersten Teil des Castiglioneschen Cortegiano beschreibt, sie sind hier bei Speroni aber eindeutiger auf das Sprechen bezogen. 6.3.2. Die typisierte Gegenüberstellung von Humanisten und Hofmann macht deutlich, daß hier nicht nur Sprachliches im Spiel ist. Es geht um die anthropologische Opposition grundverschiedener Lebensstile und Lebensziele, um die Opposition kultureller Modellvorstellungen. 6.3.2.1. Mit seiner Typisierung faßt Speroni das Cortegiano-System schärfer, als dies bei Castiglione selbst geschieht. Es geht in Castigliones Cortegiano um die Stilisierung der Aktivitäten des Höflings: Reiten, Fechten, Tanzen, Musizieren und eben die Konversation, die im zweiten Teil des Buches behandelt wird. Ganz offensichtlich sind diese Aktivitäten keine, die Werke hervorbringen, sondern solche, die sich im Handeln selbst erschöpfen. Die Humanisten, der alte ebenso wie der neue Humanist Bembo, aber möchten bleibende Werke hervorbringen: scripta manent. Aristoteles unterscheidet in seiner Theorie der Tätigkeiten deutlich zwischen solchen, die ein Werk hervorbringen (kinesis), und solchen, die das nicht tun (energeia). In der Konversation geht es bei Castiglione um «facezie», um das Erzählen lustiger Geschichten, um das heitere Beisammensein, um Small talk und Zeitvertreib. Dieses Sprechen ist gerade eines, das kein Werk hervorbringt, energeia.9 Diese Opposition zwischen den Humanisten und Schreibern einerseits und dem Sprecher andererseits läßt Speroni den Cortegiano und seinen Bembo in der ersten Zusammenfassung ihrer Positionen auch deutlich ausdrücken: Zuerst der Cortegiano: Non dico però che uomo scriva né padovano né bergamasco, ma voglio bene che di tutte le lingue d’Italia possiamo accogliere parole e alcun modo di dire, quello usando come a noi piace, sì fattamente che ’l nome non si discordi dal verbo, né l’adiettivo dal sostantivo: la qual regola di parlare si può imparare in tre giorni, non tra’ grammatici nelle scole ma nelle corti co’ gentiluo133

mini, non istudiando ma giuocando e ridendo senza alcuna fatica, e con diletto de’ discepoli e de’ precettori. (316, Herv. J. T.) Ich sage aber nicht, daß man paduanisch oder bergamaskisch schrieben soll, sondern ich möchte gern, daß wir aus allen Sprachen Italiens Wörter oder Redewendungen aufnehmen können und sie so verwenden, wie es uns gefällt, so daß das Nomen nicht so weit vom Verb und das Adjektiv nicht so weit vom Substantiv steht. Diese Sprachregel kann man in drei Tagen lernen, aber nicht bei den Grammatikern in den Schulen, sondern an den Höfen bei den Edelleuten, nicht durchs Studieren, sondern beim Spielen und Lachen ohne Mühe und mit dem Vergnügen der Schüler und der Lehrer. Der Höfling charakterisiert seine Sprache als eine transdialektale Koinè, die sich Edelleute spielend und heiter ohne mühevolles Studium – sozusagen natürlich, «in drei Tagen» – aneignen, um an den Höfen miteinander zu sprechen (favellare, 317). Speronis Bembo hält dagegen, daß diese heiteren – ganz offensichtlich mündlichen (giuocando e ridendo) – Sprach-Spiele wohl kaum genügen, wenn man berühmt werden möchte, «eterno per fama». Wenn man «durch die Hände und Münder der Leute von Welt» gehen will, also wenn man als Schriftsteller (scrittore) in Buchform bei den maßgeblichen Menschen präsent sein will und wenn man «im Gedächtnis der Menschen leben möchte», wenn man gloria erwerben möchte, d. h. hohes soziales und über den Tod hinausgehendes dauerhaftes Ansehen, dann muß man hart arbeiten: Bisogna, gentiluomo mio caro, volendo andar per le mani e per le bocche delle persone del mondo, lungo tempo sedersi nella sua camera; e chi, morto in sé stesso, disia di viver nella memoria degli uomini, sudare e agghiacciar più volte, et quando altri mangia e dorme a suo agio, patir fame e vegghiare. (316) Man muß, mein lieber Edelmann, wenn man durch die Hände und Münder der Personen der Welt gehen möchte, lange Zeit in seiner Kammer sitzen; und wer, sich selbst gestorben, im Gedächtnis der Menschen leben möchte, der muß oft schwitzen und frieren und, während der andere gemütlich ißt und schläft, Hunger leiden und wachen. 134

Der soziale Ort der typischen sprachlichen Aktivität ist jeweils ein völlig anderer: die Schule auf der einen Seite und der Hof auf der anderen Seite. Die Schule verlangt den Rückzug in die stille Kammer, das Studium, ihr Zweck ist die Produktion eines Werks, welches gloria bringt. Die Schule zielt auf das Überdauern der Zeit, auf die Ewigkeit. Der Hof dagegen ist der Ort der Tätigkeiten ohne Werk, des Zusammenseins mit anderen, nicht der Einsamkeit, nicht der Ort der Werke, sondern des Ereignisses. Der Zweck des höfischen Handelns ist grazia. Grazia aber ist eine Eigenschaft von Tätigkeiten, nicht von Werken. Anmut ist nach Schiller «Schönheit der Bewegung» (1793: 435). Grazia ist der zentrale Begriff im Wertesystem des Cortegiano. Die diesbezügliche berühmte Stelle aus dem Cortegiano lautet folgendermaßen: Ma avendo io già più volte pensato meco onde nasca questa grazia, lasciando quelli che dalle stelle l’hanno, trovo una regula universalissima, la qual mi par valer circa questo in tutte le cose umane che si facciano o dicano più che alcuna altra, e ciò è fuggir quanto più si po e come un asperissimo e pericoloso scoglio, la affettazione. (Castiglione 1528: 59) Aber, nachdem ich nun schon mehrfach bei mir darüber nachgedacht habe, woher diese Anmut denn kommt (wenn wir einmal diejenigen beiseite lassen, die sie von den Sternen haben), so finde ich eine sehr allgemeine Regel, die hierbei mehr als irgendeine andere in allen menschlichen Dingen zu gelten scheint, die man macht oder sagt, nämlich daß man so sehr als nur irgend möglich und als eine außerordentlich schroffe und gefährliche Klippe die Affektiertheit vermeiden soll. Die grazia des Höflings wird dann bekanntlich näher als sprezzatura bestimmt, als eine freche, stilisierte Natürlichkeit, die jede Affektiertheit vermeidet: […] e per dir forse una nova parola; usar in ogni cosa una certa sprezzatura, che nasconda l’arte e dimostri ciò che si fa e dice venir fatto senza fatica e quasi senza pensarvi. (Castiglione 1528: 59 f.) 135

[…] und, um vielleicht ein neues Wort zu sagen: daß man in allen Dingen eine gewisse sprezzatura walten lassen soll, die die Kunst verbirgt und die zeigt, daß das, was man macht und sagt, ohne Mühe und gleichsam ohne Nachdenken gemacht wird. Sprezzatura ist eine Eigenschaft des Vorübergehenden und Ephemeren, des Handelns. Sie zeigt sich beim Singen, bei der Kleidung, beim Tanzen, beim Fechten und auch im Sprechen und in der Konversation. Der Begriff ist in Frankreich mit «nonchalance» übersetzt worden, die mir vorliegende deutsche Übersetzung sagt «Lässigkeit».10 Der am besten geeignete deutsche Ausdruck dafür wäre heute sicher: Coolness. So wie im Italienischen das Wort «sprezzatura» genau das machte, was die lingua cortigiana nach Castiglione tun sollte, nämlich ein altes Wort in einer neuen Bedeutung verwendete, so tut auch der Ausdruck «Coolness» etwas, was die lingua cortigiana durchaus erlaubt: sie entlehnt aus einer fremden Sprache. In linguistischer Hinsicht befördert sprezzatura semantische Veränderungen und Entlehnungen aus fremden Sprachen. 6.3.2.2. Zu den anthropologischen Gegensätzen zwischen den Humanisten und dem Höfling gehört ganz offensichtlich auch das Alter. Auch dies ist bei Castiglione weniger deutlich, dort sind ja die jungen Leute unter sich. Bei Speroni aber steht der Höfling den beiden Humanisten gegenüber, die zur Zeit des fingierten Gesprächs über fünfzig bzw. sechzig Jahre alt sind. Der Höfling ist aber ganz offensichtlich ein junger Mann. Dies wird zwar nicht direkt gesagt, es ist aber doch in seiner Gesprächshaltung deutlich – er ist direkt und frech (sprezzatura!) – und an der etwas kondeszendenten Art und Weise, wie die beiden alten Männer mit ihm verkehren: «gentiluomo mio caro». Außerdem versichert sich der Höfling der Solidarität eines anderen Mannes, des Scolare, der ganz sicher jung ist und auf den ich weiter unten zu sprechen komme. Grazia ist also etwas, das mit Jugend verbunden ist. Was die Bewegungen alter Männer bestenfalls auszeichnen kann, ist «Würde», gravitas.11 Der junge Mann sucht keine Sprache zum Bücherschreiben oder für die literarische Produktion, die ihm ewigen Ruhm, gloria, bringt, sondern eine Sprache, in der er cool – mit lässiger Anmut – 136

reden kann, mit den anderen Coolen aus Italien. Es ist daher auch kein Zufall, daß Speroni seinen Dialog mit dieser zentralen Opposition zwischen gloria und grazia enden läßt. Die letzten Worte des Dialogs sind: «più tosto grazioso che glorioso». Der alte Bembo spricht dieses letzte Wort. Die Sprache, die der Höfling im Sinn habe, mache ihn eher «graziös» als «gloriös», eher anmutig als berühmt. Bembo sieht, daß das, was der Höfling sprachlich will, das Leben nicht überdauert. Grazia hängt eben am lebendigen und vergänglichen Tun der Jungen und nicht an den bleibenden Werken alter Männer, die nur noch überzeitliche gloria anstreben können: Onde tanto di voi si ragionerà e sarete conosciuto dal mondo quanto la vita vi durerà, e non più, conciosia che la vostra lingua romana abbia vertù in farvi più tosto grazioso che glorioso. (334, Herv. J. T.) Daher wird man von euch auch nur solange sprechen und ihr werdet nur solange in der Welt bekannt sein, wie euer Leben dauert und nicht länger, da eure römische Sprache dazu angetan ist, euch eher anmutig als berühmt zu machen. 6.3.2.3. Aus dem zweiten Teil des Dialogs kann schließlich noch eine weitere anthropologische Eigenschaft des Cortegiano-Systems an dieser Stelle hochgerechnet werden: Die tiefste Opposition zwischen Humanismus und Kurtisanismus liegt vielleicht in der Opposition der jeweils als zentral angesehenen geistigen Operation: Der Humanist setzt auf imitatio, auf Nachahmung der klassischen Vorbilder. Die geistige Produktion ist damit eher re-produktiv als produktiv. Der Höfling setzt dagegen eine ganz andere, geistige Fähigkeit ein: das ingenium. Er vertraut auf die eigene geistige Kraft, auf seine Originalität; seine Kreativität ist produktiv, nicht reproduktiv.12 Mehr noch als der Speroni-Cortegiano selbst macht dies der später auftretende Philosoph Pomponazzi deutlich, der sich vehement gegen die Nachahmung der alten Philosophen und für das eigene Denken ausspricht. Ähnlich wie der protestantische Mensch des Nordens den eigenen personalen Zugang zum Göttlichen durchsetzt, also seine Autonomie gegenüber den Autoritäten (der Kirche) entdeckt, setzen mit der Berufung auf die Kraft des ingeniums der Wissenschaftler und mit ihm der Cortegiano auf 137

Autonomie statt auf Autorität. Der Cortegiano ist in dieser Hinsicht der «protestantische» Typ des Südens. 6.3.3. Der letzte enjeu, das, worum es in der questione della lingua letztlich geht, ist also nicht die Sprache. Es geht vielmehr um zwei grundverschiedene kulturelle Systeme, um zwei anthropologische Modelle, die in einer entscheidenden politischen Konjunktur um die Vorherrschaft ringen. Sprachliches Verhalten ist ein zentraler Bereich dieser beiden Systeme, aber es geht um mehr: um das kulturelle Modell, mit Gramsci gesagt: um die kulturelle Hegemonie. Und damit geht es auch um das politische Leitbild. In Italien setzt sich mit Bembos Sieg eine geringfügig (eben nur bezüglich der Sprache) modernisierte Version des alten Kulturmodells durch. Der schreibende poeta doctus, der doctor, wie Dante die Dichter nennt, siegt gegenüber dem Konversation treibenden, aktiv handelnden Weltmann. Historisch war in der politisch-sozialen Konjunktur Italiens vermutlich nur der Sieg des moderaten Neohumanisten statt des modernen Typs des Höflings möglich: Der Ort, an dem sich der junge, autonome, ingeniöse, elegante, «italienische» Höfling eventuell hätte entfalten können, Rom und der päpstliche Hof, wird nämlich im Sacco di Roma nachhaltig zerstört. Die anti-reformatorischen Aktivitäten des Vatikans in der zweiten Hälfte des Cinquecento begünstigen autonomes, Autoritäten in Frage stellendes geistiges Tun nicht. Die ausländischen Mächte, die in Mailand und Neapel das politische Geschehen bestimmen, haben keine national-italienischen Perspektiven und Interessen und sind nicht an einem aktiv handelnden Italiener interessiert. Der sich in die klassische Dichtung und «in die Kammer» zurückziehende, schreibende und die Gelehrsamkeit für das Höchste haltende doctor ist da sicher politisch genehmer. Der soziokulturelle Typ des Cortegiano, der honnête homme, wird erst hundert Jahre später in Frankreich (und in England) stilbildend werden und für die französische Kultur bestimmend sein. Angesichts dieser Grundopposition kulturell-sozialer Typen scheint mir daher in sprachlicher Hinsicht weder die Opposition zwischen Latein und Volgare noch die Opposition zwischen den verschiedenen Versionen von Schriftsprachlichkeit der Kern der questione della lingua zu sein, sondern tatsächlich die zwischen 138

Schriftlichkeit (und Schriftstellerei) einerseits und (kultivierter) Mündlichkeit andererseits bzw. die zwischen der Sprache der Distanz und der Sprache der Nähe. Gloria oder grazia. Die im weiteren Gang des Dialogs deutlich werdende tiefe Antinomie der Sprache wirft ihre Schatten voraus.

6.4. Die Sprache der Neuen Wissenschaft Im zweiten Teil des Dialogs kommt der schon erwähnte Scholar zu Wort, der ein Gespräch zwischen zwei großen Gelehrten der Zeit widergibt, zwischen Lascari und (Peretto) Pomponazzi: Dieser zweite Dialog wird oft nur als ein Anhang betrachtet, der die Position des Cortegiano bestätigt. Das tut er auch. Aber interessanter ist doch, daß er in dreierlei Hinsicht über den Cortegiano hinausgeht: 1. sofern er dessen Position in der Sprachfrage philosophisch begründet, 2. sofern er die Position des Cortegiano überbietet und vor allem 3. sofern er ein ganz neues Feld sprachlicher Betätigung aufruft: das Gebiet der Wissenschaft oder der «Philosophie» (was dasselbe war). Dieses hatte in den klassischen Texten zur questione della lingua keine Rolle gespielt, weil niemand zu Beginn des Jahrhunderts auch nur ernsthaft daran gedacht hat, die Diskussion um die Sprache auf das Gebiet der Wissenschaft auszuweiten. Einige technische, also niedere Gebiete werden in Cinequecento zwar durchaus schon im Volgare abgehandelt, aber in der Philosophie und den höheren Wissenschaften wird auf lateinisch geschrieben, und auch der akademische Unterricht findet auf lateinisch statt. Die Ausdehnung der Kampfzone auf die Wissenschaft ist daher eine ganz große Neuerung Speronis. 4. Schließlich wird gerade auf diesem Gebiet der Einsatz des ingegno, also des eigenen originellen Denkens gegenüber der Nachahmung gefordert. Der Cortegiano ruft die Person auf, die bisher noch nichts gesagt hat, die aber ganz offensichtlich zwei Kriterien erfüllt: sie ist jung, und sie ist cool. Der Höfling ruft den Scolare zur Hilfe, einen Studenten, der – wie er selber sagt – von Sprachen nichts versteht und nur soviel Latein kann, daß er gerade die Lehrbücher lesen kann, nämlich Aristoteles in lateinischer Übersetzung. Schreiben kann er es also offensichtlich nicht. Trotz – oder wegen – dieser Un139

bildung ist der junge Scolare aber ganz offensichtlich ein Vertreter des Coolsten und Modernsten, was es auf dem intellektuellen Markt gibt, nämlich ein Vertreter der beginnenden experimentellen Natur-Wissenschaft. Der junge Mann vertritt allerdings seine Position nicht selbst, so cool ist er dann doch nicht, sondern berichtet über ein Gespräch zwischen dem berühmten griechischen Humanisten Laskaris, italienisch Lascari, und dem nicht minder berühmten Naturphilosophen Peretto Pomponazzi. Beide sind hochbetagt zum Zeitpunkt des fiktiven Gesprächs (zwischen 1522 und 1524): Lascari ist fast achtzig und Pomponazzi etwas über sechzig. Auch hier ist es wieder so, daß beide als Typen auftreten, die, erstens, die schon vertretenen Positionen radikalisieren: Lascari repräsentiert als Vertreter griechischer – nun nicht mehr lateinischer – Gelehrsamkeit sozusagen die verschärfte Form des Humanismus, und Pomponazzi vertritt eine radikalisierte Form des nicht-humanistischen Vulgarismus. Mit Lascari und Pomponazzi stehen sich aber, zweitens, nicht so sehr verschiedene soziokulturelle Typen – beide sind ja Gelehrte – sondern zwei verschiedene Typen von Wissenschaft gegenüber: die alte humanistische Beschäftigung mit Texten und Sprachen und die Neue Wissenschaft, die sich den Sachen selbst, den Sachen der Natur natürlich, zuwendet. Pomponazzi antwortet auf eine entsprechende Frage, daß er sich gerade mit den Sternen beschäftige (Kepler, Copernicus und Galilei lassen grüßen). Hier ist also schon präfiguriert, was dann bei Bacon hundert Jahre später klassisch in Szene gesetzt wird: der Kampf des Neuen Wissenschaftlers gegen die Sprache. 6.4.1. Auch Pomponazzi gibt gleich zu Beginn des Gesprächs mit Lascari zu, daß er nicht genügend Griechisch kann, um Aristoteles im Original zu lesen. Er liest ihn in einer lateinischen Übersetzung, und plädiert dann leidenschaftlich dafür, daß man Aristoteles auch bald in der Volkssprache lesen kann. Gegenüber der auch hier von Lascari wieder vertretenen humanistischen Insistenz auf der Besonderheit und Einzigartigkeit des Griechischen und der Sprachgebundenheit der Wissenschaft weist Pomponazzi wie vorher schon der Cortegiano diese sprachtheoretische Grundannahme des Humanismus zurück und betont die Gleichwertigkeit aller Sprachen. Alle Sprachen sind nur arbiträre (a bene placito, 323) Mittel 140

zur Bezeichnung eines bei allen Menschen gleichen Denkens der einen Welt: le cose dalla natura criate e le scienze di quelle siano in tutte quattro le parti del mondo una cosa medesma (324) die von der Natur geschaffenen Sachen und die Wissenschaften von diesen Sachen sind in allen vier Teilen der Welt ein und dieselbe Sache oder: Natura in ogni età, in ogni provincia e in ogni abito esser sempremai una cosa medesima. (328) Die Natur ist in jedem Alter, in jeder Provinz und in jedem Aufzug immer ein und dieselbe Sache. Daher kann man auch in allen Sprachen über alles (folglich auch über Philosophisches und Wissenschaftliches) sprechen: «d’ogni cosa per tutto ’l mondo possa parlare ogni lingua» (323). Alle Sprachen haben denselben Wert: «le lingue d’ogni paese […] siano d’un medesmo valore» (323). Peretto führt dann schließlich genüßlich gegen Lascari die höchste griechische Autorität, Aristoteles selbst, ins Feld: Più tosto vo’ credere ad Aristotile e alla verità, che lingua alcuna del mondo (sia qual si voglia) non possa aver da sé stessa privilegio di significare i concetti del nostro animo, ma tutto consista nello arbitrio delle persone. (325) Ich möchte lieber an Aristoteles und an die Wahrheit glauben, daß keine Sprache der Welt, es sei welche man immer will, von sich aus ein Privileg haben kann, die Begriffe unseres Geistes zu bezeichnen, sondern daß alles in der Willkür der Menschen liegt. Dies ist der Verweis auf das kata syntheken des Aristotelischen De interpretatione und damit auf die aristotelische Sprachauffassung, die, wie wir gesehen haben, gleichsam die europäische Normalauffassung von der Sprache ist. Der Humanismus hatte mit seiner Intuition einer (allerdings nur auf die klassischen Sprachen beschränk141

ten) semantischen Besonderheit der Sprachen diesen aristotelischen Mainstream zeitweilig unterbrochen. Hier kommt nun die aristotelische Auffassung wieder zum Vorschein, die besagt, daß die Sachen und das Denken der Menschen überall dasselbe sind und daß nur die Signifikanten, die dieses Denken bezeichnen und mit denen es den anderen mitgeteilt wird, verschieden sind: kata syntheken, «nach historischer Tradition». Die Sprachen dienen also bloß der Kommunikation des ohne Sprache Gedachten, sie sind sekundäre Mittel der Mitteilung, deren Verschiedenheit einzig eine materielle ist. Daher kann dann auch keine auf eine besondere Eignung für die Wissenschaft Anspruch erheben. 6.4.2. Da alle Sprachen den gleichen Wert haben, kann Wissenschaft dann auch in der Volkssprache betrieben werden bzw., wie Peretto es zuspitzt, sogar im modernen heimischen Dialekt. Gegenüber der lingua cortigiana radikalisiert Peretto also die Nähe (zeitlich, räumlich, sozial, kommunikativ) der für die Wissenschaft tauglichen Sprache. Während der Cortegiano ja noch Wörter aus der Ferne («di tutte le lingue d’Italia») in seine Sprache aufnehmen wollte, genügt hier die unmittelbare lokale Nähe. Peretto radikalisiert auch die «Volkstümlichkeit» und die Mündlichkeit. Auch wenn das Schreiben und vor allem das Lesen erwähnt werden, so geht es doch im wesentlichen um das Sprechen in der Wissenschaft: «parlar di filosofia con parole mantovane o milanesi» (325) und: «con la viva voce di questa nostra moderna ci moviamo a significare» (325). Und schließlich wird ein weiteres Nähe-Moment ganz entschieden verstärkt, die Mühelosigkeit des natürlichen Spracherwerbs, d. h. daß diese Sprache «da fanciulli e senza studio» (330) erworben ist. Der Cortegiano hatte ja schon die Mühelosigkeit (senza fatica) des Erwerbs der lingua cortigiana gegen das mühsame Lernen (istudiando) gefordert. Hier nun wird das Studium der Sprachen, also der nicht-natürliche Zweitsprach-Erwerb, sogar zum entscheidenden Hindernis beim Philosophieren: Es rückt das Eigentliche, die Forschung, in geradezu unerreichbare Ferne. Es ist nämlich eine ganz unverantwortliche Zeitverschwendung, die die besten geistigen Kräfte des Menschen schwächt, weil es nur die Memoria betrifft. 142

In der Radikalisierung der Nähe gibt es bei Peretto sogar einen ausdrücklichen Verzicht auf Distanz, nämlich auf die weltweite Reichweite des Lateinischen: Er räumt durchaus ein, daß die klassische Gelehrtensprache von allen Gelehrten der Welt verstanden wird: «l’intendano gli studiosi di tutto ’l mondo». Er wünscht sich aber, daß die besseren und weniger ehrgeizigen Wissenschaftler sich eher darum kümmern sollen, in ihrem Vaterland gelobt zu werden, als in Deutschland oder in anderen fremden Ländern: che le persone certo più dotte, ma meno ambiziose delle presenti, degneranno d’esser lodate nella lor patria, senza curarsi che la Magna o altro strano paese riverisca i lor nomi. (331) daß Leute, die sicher gelehrter, aber weniger ehrgeizig sein werden als die heutigen, es schätzen werden, in ihrem Vaterland gelobt zu werden, ohne sich darum zu kümmern, daß Deutschland oder eine anderes fremdes Land ihren Namen verehrt. 6.4.3. Der Bericht des Scolare weitet das Feld der Volkssprache auf die Wissenschaft aus. Dies ist, soweit ich sehe, ein durchaus revolutionärer Schritt, dem ja auch zur Zeit des fiktiven Dialogs (zwanziger Jahre des Cinquecento) noch keine Realität entspricht. Gerade auch der sich hier im Dialog so lebhaft für das Volgare einsetzende Pomponazzi hatte in Wirklichkeit alles auf Lateinisch geschrieben. Auf eine entsprechende Vorhaltung von Lascari muß er sich dann auch damit herausreden, daß er die Einsicht in die Notwendigkeit der Volkssprache zu spät gehabt habe. Speroni muß hier ganz offensichtlich die historischen Fakten etwas strapazieren. Das Entscheidende ist aber, daß ein neuer Typ von Wissenschaft gegen den Humanismus in Stellung gebracht wird: Pomponazzi polemisiert gegen eine Gelehrsamkeit, die im Sprachlichen verbleibt. Es sei widernatürlich, bei den Wörtern zu verweilen (die, wie wir gerade gesehen haben, ja nichts anderes sind als arbiträre Signifikanten). Der menschliche Geist wolle etwas über die Welt und die Sachen erfahren:13 […] allo studio delle parole contra la naturale inclinazione del nostro umano intelletto ci rivolgiamo; il quale, disideroso di fermarsi nella cognizione delle cose onde si diventa perfetto, non 143

contenta d’essere altrove piegato, ove […] resti vana la nostra mente. (327) […] dem Studium der Wörter wenden wir uns entgegen der natürlichen Neigung unseres menschlichen Verstandes zu; dieser möchte nämlich bei der Kenntnis der Sachen verweilen, durch die man vollkommen wird, und er lehnt es daher ab, auf etwas anderes gerichtet zu werden, wo […] unser Geist leer bleibt. Der Geist bleibt nämlich einfach leer, wenn er sich mit den leeren Signifikanten beschäftigt. Der Neue Wissenschaftler greift daher auf die Sachen zu. Gegenüber dem humanistischen Hören (oder Lesen) des Wortes meldet sich hier die zupackende Hand des experimentierenden Neuen Wissenschaftlers theoretisch zu Wort. Sofern die Neue Wissenschaft auf die Sachen zugreift, steht sie den Hand-werken näher als der alten «Philosophie» aus den Büchern. Die Techniken, bei denen die Bücher naturgemäß eine geringe Rolle spielen, waren daher auch die Domänen, in denen die Volkssprache zuerst verwendet wurde und die sozusagen das Terrain für die Neue – empirische – Wissenschaft vorbereiteten. 6.4.4. Wie schon gesagt, korreliert mit der aristotelischen Sprachtheorie auch eine andere geistige Ökonomie als im Humanismus: das Sprachliche des Humanismus ist bloß eine Domäne der Memoria gegenüber dem höheren Ingenium, das für das wirkliche Denken gebraucht wird: non è cosa così difficile la cognizion delle lingue che uomo di meno che di mediocre memoria e senza ingegno veruno non le possa imparare. (327) die Kenntnis der Sprachen ist keine so schwere Sache, daß nicht auch ein Mensch mit geringem oder mittelmäßigem Gedächtnis und ohne jegliches Ingenium sie lernen könnte. Hier haben wir das Sprachwissen als niedriges Wissen: als cognizing.14 Und dies ist auch der Beginn der aufklärerischen Polemik gegen das Gedächtnis als der Gegnerin des Denkens. Ihr entspricht die Polemik gegen die Imitatio als Hindernis des Fortschritts (avanzare): 144

forse per altezza d’ingegno non siamo punto inferiori agli antichi, nondimeno in dottrina siamo minori […] coloro finalmente imitiamo filosofando, alli quali alcuna cosa aggiugnendo dee avanzare la nostra industria. (323, Herv. J. T.)15 vielleicht sind wir den Alten gerade nicht in der Stärke des Ingeniums unterlegen, im Wissen sind wir aber weniger gut […], da wir sie schließlich beim Philosophieren immer nur imitieren, unsere Anstrengung muß aber dahin fortschreiten, ihnen etwas hinzuzufügen. 6.4.5. Von grazia ist hier bei dem Neuen Wissenschaftler nicht die Rede, wohl aber vom Fortschritt des Wissens. Die Berufspraxis des Neuen Wissenschaftlers, welche ein ausschließliches Augenmerk auf die Wahrheit, d. h. auf die Sachen selbst verlangt, radikalisiert und überbietet die Position des Cortegiano erheblich. Die Figur des Peretto ermöglicht es, die Überzeugungen des Höflings – unter Bezugnahme auf die höchste Autorität Aristoteles – theoretisch zu begründen und zu pointieren. Obgleich Peretto mit seiner deutlicheren Betonung der Nähe über die lingua cortigiana hinausgeht, erkennt der Höfling gleichwohl Perettos Position als die seine an. Der Höfling macht sich damit das sich hier abzeichnende System der Aufklärung zu eigen, eine für die europäische Kultur wegweisende Verbindung. So wie der Cortegiano in Frankreich und England das Kulturmodell des 17. Jahrhunderts sein wird, ist in der Gestalt des Speronischen Pomponazzi gleichsam auch schon die Wissenskultur der Aufklärung präfiguriert, die in Galilei (der im Volgare schreibt!) ihre erste historische Realisierung findet und im modernen Baconschen Projekt der Neuen Wissenschaft ihren europäischen Siegeszug antreten wird.16 Noch einmal: die questione della lingua fragt nicht nur nach der italienischen Sprache, sie fragt nicht einmal nur nach der Sprache überhaupt, sondern sie stellt die große Frage nach den kulturellen Modellen, nach den maßgeblichen Menschenbildern: grazia oder gloria, und schließlich fragt sie – philosophisch – nach den maßgeblichen Instanzen des Wissens: Bücher oder Welt. Typisch italienisch ist diese Diskussion nur in einem negativen Zug: in der völligen Abwesenheit der religiösen Dimension. 145

6.5. The Global Court Ich möchte abschließend in frivoler Verallgemeinerung versuchen, das zur questione della lingua Gesagte mit den Vorbemerkungen zur heutigen Sprachkultur kurzzuschließen. Wie sieht die sprachliche Praxis der im Dialogo delle lingue unterschiedenen Typen heute aus? 6.5.1. Der Höfling, der aktive, coole junge Mann, braucht eine Sprache, in der er mit den anderen seinesgleichen reden kann. Heute ist der Wirkungskreis der Coolen natürlich nicht Italien, Frankreich oder sonst ein kleines Ländchen (ebenso wenig wie es im Cinquecento die Toskana oder sonst eine italienische Landschaft war). Der Globale Hof der coolen Eliten führt Menschen aus der ganzen Welt zusammen. Die lingua cortigiana ist das Englische (um deren grazia es allerdings am Global Court nicht allzu gut bestellt sein dürfte). Es ersetzt in dieser Hinsicht das Lateinische, das ja auch nach dem Aufstieg der Nationalsprachen noch jahrhundertelang internationale Verkehrssprache war, und das Französische, das für zwei Jahrhunderte diese Funktion innehatte. Noch tut der nicht-anglophone Coole gut daran, auch noch den alten nationalen Dialekt zu beherrschen, der an dem älteren, kleineren Hofe noch üblich ist: er muß also zwei höfische Sprachen beherrschen. Wegen des höheren Prestiges des Globalen Hofes tendiert der Globale Cortegiano allerdings dazu, auch in seiner nationalen Sprache Wörter aus der lingua cortigiana zu verwenden, schon um zu zeigen, daß er zur Curia Globalis gehört. Zwar hatte Castiglione der lingua cortigiana als Moment ihrer grazia und sprezzatura – ihrer Coolness – Offenheit für fremde Wörter und für semantische Neuerungen ausdrücklich zugestanden. Aber der moderne – vor allem der deutsche – Cortegiano neigt dazu, die sprezzatura zu übertreiben. Und übertriebene sprezzatura ist nun wieder Affektiertheit, die schon von Castiglione als völlig uncool kritisiert worden ist.17 6.5.2. Der Naturwissenschaftler stimmt auch heute zumeist mit dem sprachtheoretischen Aristotelismus darin überein, daß es gleichgültig sei, in welcher Sprache man Wissenschaft betreibe, so 146

daß er sich auch immer wieder vehement gegen das humanistische Lernen von Sprachen ausspricht: dies sei bloße Zeitverschwendung. Ihm geht es heute wie damals darum, die Sachen selbst – die Natur – zu studieren und zu manipulieren. Er zieht aber nicht die Konsequenz von Pomponazzi, im Dialekt Wissenschaft zu treiben, jedenfalls nicht beim Schreiben. Denn bei aller Priorität des – vermeintlich sprachlosen – Denkens und der Suche nach Erkenntnis unterliegt er dem (humanistischen) Zwang zur gloria. Allerdings sucht er diese nicht wie der Humanist in der Nach-Welt, in der zeitlichen Dimension (und in dem ewig gültigen Latein), sondern in der Mit-Welt, im Raum. Je größer der Raum, desto größer der Ruhm: von der Äternität zur Globalität. Wenn daher die Sprache auch prinzipiell gleichgültig ist, in der die Ergebnisse des Forschens mitgeteilt werden, so verlangt doch die verräumlichte gloria, daß dies auf englisch geschieht. Von grazia war in diesem Bereich ja ohnehin nie die Rede. Wie vor fünfhundert Jahren stimmen also auch heute Cortegiano und Naturwissenschaftler darin überein, daß für ihre Aktivitäten die Sprache eigentlich gleichgültig ist, weil es mehr auf die Sachen und die «signoria del mondo» ankomme. Weil das so ist, kann die konkret verwendete Sprache dann problemlos auch wieder gewechselt werden: Der Hof und die Wissenschaften sprechen heute nach einem volkssprachlichen Intermezzo wieder «katholisch» oder «global», d.h Englisch. 6.5.3. Der Schriftsteller ist dagegen gleichsam strukturell ein «Vulgär-Humanist». Auch ohne daß er die klassischen Dichter imitiert, orientiert er sich doch nach wie vor stark an seiner «kleineren», eben nationalen Tradition, vor allem aber braucht er das je ne sais quoi, die spezifische Qualität seiner Sprache, um zu schreiben. Für den Schriftsteller ist die spezifische Sprache durchaus nicht gleichgültig. Auch ohne klassizistische Imitationstheorie steht jedem literarischen Schreiben daher Bembos Humanismus näher als der sprachtheoretische Aristotelismus, dem die Sprache nur ein sekundäres Kommunikationsmittel ist. Der Schriftsteller schafft eine Welt aus (seiner) Sprache, er bezeichnet ja nicht einfach nur etwas vorher sprachlos Gedachtes mit arbiträren Lauten. Es geht ihm bei seinem Schreiben nicht um Notwendigkeiten eines höfischen Lebens, in 147

dem das praktische Handeln und die Sachen wichtiger sind als die Worte. Die solchermaßen zu erreichende Glorie ist bei nicht anglophonenen Schriftstellern allerdings nur von mittlerer Reichweite, es sei denn die – seltene – Übersetzung ins Globale gelingt. 6.5.4. Zurück bleibt heute – wie im Cinquecento – der Gelehrte, der die Texte studiert und die Sprachen lernt, um diese Texte zu verstehen: wir Philologen. Doch haben sich heute die sprachlichen Konsequenzen der humanistischen Position umgekehrt: Humanist ist ja einer, der die Sprache und die Texte gegenüber den Sachen für eine Welt eigenen Rechts hält und der die einzelne Sprache als etwas ganz besonders Kostbares ansieht. Der moderne Humanist glaubt allerdings, daß jede Sprache und nicht nur das Lateinische oder das Griechische eine bedeutsame kognitive Instanz ist, etwas ganz Besonderes, Einmaliges, eben nicht Gleichgültiges. Weil der Humanismus nicht mehr an der Glorie klassischer Gelehrsamkeit, am gleichsam religiösen Wert des Lateinischen festgemacht ist, hat sich auch sein elitärer Dünkel verflüchtigt. Vor allem aber hat sich die sprachtheoretische Position des Humanismus bedeutend verstärkt. Denn den Europäern ist durch den Abschied vom Lateinischen aufgefallen, daß das, was die Humanisten vom Lateinischen und vom Griechischen gesagt haben, für alle Sprachen der Welt gilt: Alle haben ein besonderes Etwas, ein nescio quid, ein je ne sais quoi, ein kostbares individuelles Gepräge, das sie als solche zu wertvollen und interessanten Gegenständen macht. Es war der franzöische Dichter Du Bellay, der sich einerseits mit den Argumenten Pomponazzis gegen das Lateinische gewandt und für die Volkssprachen plädiert hat, weil sie alle gleich gut seien, der aber andererseits jenen humanistischen Gedanken auf eine Volkssprache, auf sein geliebtes Französisch übertragen hat; denn jede Sprache habe ein «je ne scay quoy propre seulement à elle» (Du Bellay 1549: 87 f.). Die Europäer haben die Tiefe dieser Besonderheit seit dem Cinquecento immer deutlicher erkannt: Die Besonderheit der Sprache ist nicht nur eine Besonderheit des Lauts, sondern auch eine besondere Semantik, ein je spezifisches Denken, eine jeweilige «Weltansicht», wie Humboldt sagen wird. Weil das so ist, ist es nicht gleichgültig, in welcher Sprache man schreibt und spricht, denn die Sprache färbt das Den148

ken – ohne daß das Denken deswegen in dieser Sprache gefangen wäre. Der moderne Humanist schreibt also in seiner eigenen Sprache über Texte, Zeichen und Sprachen. Er weiß, daß er das, was er sagen will, richtig nur in seiner Sprache sagen kann. Er möchte daher bei seiner alten Sprache bleiben. Gloria bringt ihm das allerdings keine mehr, denn diese ist in den Globalen Raum abgewandert. Gloria ist nur zu haben, wenn er seine Sprache aufgibt oder wenn er seine Schriften in die neue lingua cortigiana übersetzen (lassen) kann. Insofern ist heute gerade die humanistische Gelehrsamkeit der Ort der grazia, einer ephemeren Eleganz, die ihre Erfüllung in sich selbst hat, in der Nähe-Gemeinschaft der Nation und der nationalen Gelehrten-Gemeinschaft. Was Bembo vom Höfling gesagt hat, gilt daher heute wohl eher für uns, seine vulgär-humanistischen gelehrten Nachfahren: la vostra lingua […] ha vertù in farvi più tosto grazioso che glorioso, eure Sprache ist dazu angetan, euch eher anmutig als berühmt zu machen.

7. Die Mehrsprachigkeit der Wissenschaften 7.1. Das aufgeklärte Europa, das Lateinische 7.1. und die Volkssprachen 7.1.1. Mehr als zweihundert Jahre nach dem Protest Pomponazzis gegen die klassischen Sprachen bedauert das Sprachrohr aufgeklärter Wissenschaftlichkeit, der französische Mathematiker und Philosoph d’Alembert, in der Vorrede zur Encyclopédie, daß Europa das Lateinische zugunsten der Volkssprache (langue vulgaire) aufgegeben habe. Das ist insofern einigermaßen überraschend, als die große Encyclopédie doch das Werk ist, das die Weltgeltung der Volkssprache Französisch als Sprache der Wissenschaften im 18. Jahrhundert, also sozusagen als Neues Latein, eindrucksvoll unter Beweis stellt. Für den Vorteil, vom eigenen Volk verstanden und bewundert zu werden, aus Eitelkeit also, haben nach d’Alembert die Gelehrten die schöne Universalität des Lateinischen verraten und sich damit dem kritischen Blick der Besten entzogen, um sich des Beifalls der Vielen zu versichern. Nach dem Vorbild der Franzosen hätten dann auch die Gelehrten der anderen Nationen begonnen, in ihren eigenen Sprachen zu schreiben: Les savants des autres nations à qui nous avons donné l’exemple, ont cru avec raison qu’ils écriraient encore mieux dans leur langue que dans la nôtre. L’Angleterre nous a donc imité; l’Allemagne, où le latin semblait s’être réfugié, commence insensiblement à en perdre l’usage: je ne doute pas qu’elle ne soit bientôt suivie par les Suédois, les Danois, et les Russes. (d’Alembert 1763 / 1894: 114) Die Gelehrten der anderen Nationen, denen wir das Beispiel gegeben haben, haben zu Recht geglaubt, daß sie in ihrer eigenen Sprache noch besser schreiben würden als in unserer. England hat uns also imitiert; Deutschland, wohin sich das Lateinische geflüchtet zu haben schien, beginnt allmählich, dessen Gebrauch 150

aufzugeben; ich zweifle nicht, daß die Schweden, die Dänen und die Russen ihm bald folgen werden. Am Ende des Jahrhunderts müsse ein Gelehrter also sieben oder acht verschiedene Sprachen lernen, wenn er über den Stand der Wissenschaft informiert sein möchte. Dies aber würde seine ganze Lebenszeit verzehren, so daß er sterben würde, bevor er etwas gelernt hätte: Ainsi, avant la fin du XVIIIe siècle, un philosophe qui voudra s’instruire à fond des découvertes de ses prédécesseurs, sera contraint de charger sa mémoire de sept à huit langues différentes; et après avoir consumé à les apprendre le temps le plus précieux de sa vie, il mourra avant de commencer à s’instruire. (ebd.) So wird, vor dem Ende des 18. Jahrhunderts, ein Philosoph, der sich gründlich über die Entdeckungen seiner Vorgänger informieren möchte, gezwungen sein, sein Gedächtnis mit sieben bis acht verschiedenen Sprachen zu belasten; und nachdem er die wertvollste Zeit seines Lebens damit verbraucht hat, diese Sprachen zu lernen, wird er sterben, bevor er auch nur beginnen kann, sich zu informieren. Angesichts dieses Irrwegs wäre die Wiedereinführung des Lateinischen wünschenswert: L’usage de la langue latine […] ne pourrait être que très utile dans les ouvrages de philosophie, dont la clarté et la précision doivent faire tout le mérite, et qui n’ont besoin que d’une langue universelle et de convention. Il serait donc à souhaiter qu’on rétablît cet usage. (ebd.) Der Gebrauch der lateinischen Sprache […] könnte vor allem sehr nützlich sein in philosophischen Werken, bei denen Klarheit und Präzision vorrangig sein müssen und die einzig eine universelle und konventionelle Sprache brauchen. Es wäre also zu wünschen, daß man diesen Gebrauch wieder einführte. Die Klarheit und die Präzision der Wissenschaften – de la philosophie – verlangt eine «konventionelle» Sprache, d. h. eine regulierte 151

und nicht den Leidenschaften lebendiger Sprecher ausgelieferte Sprache. Genau eine solche künstlich-konventionelle Sprache war das Lateinische. Seine Universalität würde die weltweite Kommunikation wissenschaftlicher Erkenntnisse garantieren. Doch d’Alembert sieht auch, daß die Zeit des Lateinischen abgelaufen ist, auf seine Wiedereinführung hoffe man vergeblich: «Il serait donc à souhaiter qu’on rétablît cet usage: mais il n’y a pas lieu de l’espérer» (ebd.). Die Volkssprachlichkeit und die daraus folgende Mehrsprachigkeit der europäischen Wissenschaft werden also vom Hauptwerk der europäischen Aufklärung klipp und klar als Irrweg charakterisiert. Statt in die Wissenschaft führe dieser Weg in eine nutzlose Zeitverschwendung durch das Sprachenlernen und damit in die wissenschaftliche Sterilität. D’Alembert zeigt keinen Ausweg, interessanterweise auch nicht den, den man eigentlich erwartet hätte, nämlich die Lobpreisung des Französischen als neuer Universalsprache und neuer «langue de convention». 7.1.2. Nun, Europa ist – zumindest teilweise – durchaus den Weg gegangen, den d’Alembert als Schreckensvision zeichnet. Denn so ist es ja gewesen: Je nach Wissenschaft mußten die Gelehrten schon eine Reihe von Sprachen lernen «pour s’instruire», also um das zu lesen, was sie auf der Höhe der Diskussion hielt. Ein Philosoph etwa, der informiert sein wollte, mußte – und muß eigentlich immer noch – mindestens fünf Sprachen lesen können: Griechisch, Lateinisch, Deutsch, Französisch, Englisch. Vorbei waren die Zeiten der glücklichen Einsprachigkeit der Wissenschaft, die faktisch immer eine Zweisprachigkeit des Gelehrten implizierte, der irgendeine Volkssprache fürs alltägliche Leben (und fürs Dienstpersonal) brauchte und Lateinisch für die höhere Tätigkeit der Wissenschaft. Allerdings ist es auch nicht in allen Disziplinen so extrem gewesen, wie d’Alembert glaubte: Physiker, Chemiker und Mathematiker etwa kamen seit dem 19. Jahrhundert mit zwei bis drei Sprachen ganz gut aus. Außerdem mußten sie ja diese Sprachen nicht wirklich können, es genügte eine Lesekenntnis in einem extrem reduzierten Register dieser Sprachen. Und wenn man publizieren wollte, 152

dann genügte eine ebenso reduzierte Schreibkompetenz in einer dieser Sprachen. Das war vermutlich nicht mehr zeitlicher Aufwand als die Erlernung des Lateins, das d’Alembert preist. So richtig schwer hatten es eigentlich nur die Philosophen. Und wenn man gar ein ungarischer Philosoph war, dann hatte man es noch schwerer als ein französischer, englischer oder deutscher. Man mußte sich aus den fünf Lesesprachen auch noch eine Schreibsprache aussuchen, die nicht die eigene war. Und im Gegensatz zum Chemiker oder Mathematiker mußte man diese Sprache wirklich können. Also, gestehen wir es d’Alembert einmal zu: nach dem Abschied vom Lateinischen als Sprache der Philosophie und der Wissenschaften wurde es etwas komplizierter, d. h. mußten mehr Sprachen gelernt werden. 7.1.3. Aber was ist so schlimm daran? Ist es, wie d’Alembert sagt, Zeitverschwendung, eine oder gar mehrere Sprache zu lernen? Es ist Zeitverschwendung, wenn man wie d’Alembert und das ganze alte Europa der Auffassung ist, die verschiedenen Sprachen seien bloß mehr oder minder materiell verschiedene Signifikanten, und daher eigentlich überflüssiges Zeug, als Strafe den Menschen auferlegt, nachdem sie die Sprache des Paradieses verspielt hatten. Europa hatte jahrhundertelang mit dem Lateinischen seine Paradiesessprache zumindest in der Gelehrsamkeit wieder hergestellt, und nun hat es sie wieder verspielt. Die vielen leeren Signifikanten der vielen Sprachen, so sagte ja Pomponazzi, belasten nur das Gedächtnis und zehren – außer der Lebenszeit – gleichsam die geistige Energie auf, die eigentlich für das kreative Denken und die ingeniösen Erfindungen gebraucht wird. Nun, so ist es natürlich nicht. Aber es hat eine Weile gebraucht, den Leuten klarzumachen, daß Sprachenlernen eine wunderbare Erfahrung kultureller Alterität und ein geistiges Abenteuer ist und daß es auch gar nicht schlecht ist für den menschlichen Geist und für das Training geistiger Produktivität, eine oder besser noch: mehrere andere Sprache zu können. Allerdings glaubt das nur noch der nicht-anglophone Teil der Menschheit. Die anglophone Menschheit verzichtet ihrerseits inzwischen auf diese Ertüchtigung des Geistes. 153

7.1.4. Vor allem aber ist die weitere Schlußfolgerung d’Alemberts einfach nicht zutreffend, nämlich daß die Vulgärsprachen die Forschung behindert hätten. Im Gegenteil: Es ist gerade so, daß ganz offensichtlich der Abschied vom Latein die wissenschaftlichen Produktivkräfte entfesselt hat. Denn man kann man viel sagen zu den zweihundert Jahren zwischen d’Alembert und 1950, in denen die geschilderte Mehrsprachigkeit in den Wissenschaften galt. Aber daß diese Zeit durch eine Behinderung des Denkens und der wissenschaftlichen Entwicklung durch die volkssprachliche Vielsprachigkeit charakterisiert gewesen sei, das kann man nicht behaupten: Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse sind in dieser Zeit gewachsen wie niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit. Und auch die Erforschung der Kulturen der Menschheit ist niemals so intensiv und extensiv betrieben worden wie in diesen Jahren, in denen die Wissenschaften das Lateinische aufgegeben und die vielen Sprachen Europas gesprochen haben. Es drängt sich daher eher die umgekehrte Vermutung auf, daß die Verwendung der verschiedenen Mutter- oder Nationalsprachen die Bedingung für die Blüte der Wissenschaften gewesen ist. Diese Vermutung will ich zu bestätigen versuchen, indem ich die Gründe aufsuche, die die Wissenschaftler seit der Renaissance bewegt haben, sich vom Lateinischen abzuwenden. 7.1.5. Aber was einmal richtig war, muß ja nicht richtig bleiben. Der einmal eingeschlagene Weg kann in einer veränderten Welt durchaus zum Holzweg werden. Wie es einmal richtig war, in den Wissenschaften die verschiedenen Volkssprachen Europas zu sprechen, so kann es ja umgekehrt wieder richtig werden, in den Wissenschaften nur eine Sprache zu sprechen, also wieder zur mittelalterlichen Diglossie zurückzukehren: unten Volkssprache, oben Globalesisch. Es könnte also ein Irrweg sein, stur an einem früher einmal erfolgreich eingeschlagenen Weg festzuhalten. Dieser Frage möchte ich am Ende des Kapitels nachgehen.

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7.2. Die Volkssprachen in den Wissenschaften 7.2.1. Sicher war es nicht nur der von d’Alembert angeführte Wunsch, von der eigenen Nation gelesen und gelobt zu werden, der die Gelehrten Europas zu den Nationalsprachen geführt hat. Dieser Wunsch spielt in der Tat eine wichtige Rolle. Die Gründe sind aber vielfältiger und differenzierter. Als Vorstufe zur Verwendung der Volkssprachen in den Wissenschaften müssen wir jene «volgarizzamenti» ansehen, in denen schon im Mittelalter die doctores dem «Volk» das Wissen der lateinischen Gelehrsamkeit mitteilten. Einer der erfolgreichsten Texte dieser Art war etwa Brunetto Latinis französischer Trésor aus dem 13. Jahrhundert, erwähnenswert sind ferner Konrad von Megenbergs deutsche Schriften aus dem 14. Jahrhundert. Auch Dante versucht das nach 1300 im Convivio. Er vollendet dieses Werk zwar nicht, aber er begründet ausführlich im ersten Traktat, warum das Buch im Volgare geschrieben werden soll. Außer der textbedingten Rangordnung zwischen den (volkssprachlichen) Canzonen und dem Kommentartext sind es zwei Gründe: die «prontezza di liberalitade» und der «naturale amore a propria loquela» (Conv. I v 2). D. h. einerseits gibt es den Wunsch des Gelehrten, des doctor, das Wissen generös an die Vielen, an die Nichtgelehrten zu verteilen. Und zweitens bestimmt die Liebe zur eigenen Volkssprache (also nicht wie bei Brunetto zum fremden, französischen Volgare, das schon eine gewisse internationale Verbreitung hatte) die Wahl der Sprache. Der Wunsch, von den eigenen Leuten – «la propria gente» – verstanden zu werden, ist entscheidend. Die Wahl der Volkssprache ist also einerseits ein generöser Abstieg, ein descensus aus der Höhe der Gelehrsamkeit in die Niederung der Volkssprache: liberalitade, und sie ist andererseits eine horizontale Annäherung – prossimitade, «Nähe», ist der zentrale Ausdruck Dantes. Sie ist also eine doppelte Überwindung der Ferne. Aber schließlich gipfelt diese Rechtfertigung des Hinabsteigens des Wissens in die Volkssprache am Ende des ersten Traktats des Convivio in der Vision, daß die Volkssprache wie eine neue Sonne aufsteigen und daß die alte Sonne Latein untergehen wird. Die Metaphorik – «luce nuova, sole nuovo» – imaginiert den Aufstieg 155

der Volkssprache, den ascensus, in die Höhe der Gelehrsamkeit. Dafür ist es aber noch zu früh um 1300. In diesen frühen volkssprachlichen Werken handelt es sich um Schriften der Popularisierung und Belehrung. Hier sind keine aktiven Forscher am Werk, die irgend etwas von ihnen erforschtes oder erfundenes Neues der Welt mitteilen, sondern hier wird fertiges, etabliertes Wissen dem Volk verkündet. Die Inhaber der scientia, die nicht als ein Forschungsprozeß verstanden wird, sondern als etwas Fertiges und Abgeschlossenes, steigen hinab aus der Sphäre der lateinischen doctores in die Sphäre der non litterati, des «Volkes». Dieses darf man sich allerdings nicht allzu populär vorstellen. Das «Volk» sind edle Frauen und Männer, nobile gente: «e questi nobili sono principi, baroni, cavalieri, e molt’altra nobile gente, non solamente maschi ma femmine» (Conv. I ix 5). 7.2.2. Was uns aber hier interessiert, ist der Aufstieg, der ascensus der Volkssprachen in die hohe Domäne des Wissens, die von der Sprache Latein besetzt ist. Damit dieser Aufstieg gelingt, muß sich das ganze System des Wissens ändern, ein revolutionärer Prozeß, der für das moderne Europa charakteristisch ist und der im 15. Jahrhundert beginnt und im 18. Jahrhundert, also in der Zeit der Encyclopédie, allmählich zu einem Abschluß kommt. Der dann erreichte Zustand hält etwa bis 1950 an. Danach übernimmt eine der aufgestiegenen Volkssprachen das ganze obere Geschoß und schubst die anderen wieder in die Niederungen des Alltags zurück. Was muß geschehen, damit Wissenschaft Forschung wird? Die Neugier muß sich wieder etablieren, die von Augustinus verdammte concupiscentia oculorum, die Augengier, muß sich wieder einstellen. Sobald der europäische Geist in der Renaissance aufwacht aus seiner Stasis, geschieht ein Doppeltes: Einerseits ereignet sich etwas Revolutionäres in der Bücherwelt, also in jener Welt, die für die Gelehrten vor allem zählt. Andererseits vollzieht sich Neues in der wirklichen Welt. D. h. einerseits kommen neue Bücher, die Bücher der heidnischen Antike, in den Blick der Gelehrten. Damit erneuert sich auch das philosophische, historische, theologische Denken, jedenfalls sofern es von Büchern abhängt. Hinsichtlich der Sprache wird durch die Begegnung mit den antiken Texten die Sprache der Gelehrsamkeit, das Lateinische selbst, renoviert (so wie in der bil156

denden Kunst die antiken Formen wieder hergestellt werden): Die Philologie entdeckt die Texte der Antike, und die Gelehrten restaurieren das Lateinische, das bis dahin eher eine einigermaßen verwilderte koinè war, zu einer glanzvollen Literatursprache. Elegantiae linguae latinae progagiert der Oberhumanist Lorenzo Valla. Diese zweite Latinität gibt der neuen alten Sprache sogar die Weihen eines Sakraments: sacramentum linguae latinae. So heilig war die Sprache vorher nie. Die Feier des Lateinischen wird außerdem von dem neuen Medium des Buchdrucks enorm verstärkt: lateinische Bücher werden überall in Europa gekauft und gelesen. Dieser Erfolg des Lateinischen ist aber gleichzeitig auch sein Problem: Die sprachlichen Standards werden so hoch, daß nur ein extrem zeitaufwendiges Training die aktive Teilnahme an den humanitates erlaubt. Genau das kritisieren die Gegner der Humanisten wohl zu Recht als Zeitverlust. Das renovierte Latein ist jetzt noch weiter von der Sprache des Volkes entfernt, als es das mittelalterliche Latein jemals war, das zwar nicht sehr schön, aber doch ein ganz praktisches internationales Ausdrucks- und Kommunikationsmittel war. Zweitens befreit sich das Denken von der Herrschaft der lateinischen Bücher, allerdings durchaus befördert von dem freieren Blick auf die Welt, den die antiken Texte eröffnen und der das eigene Können beflügelt. Ein Denken artikuliert sich, das nicht von diesen Büchern abhängt, sondern das aus der handwerklichen Praxis stammt. Menschen, die etwas können, Künstler oder – wie Dürer sie nennt – «Werkleute»1 schreiben ein Wissen auf, das aus dem Handeln und aus der Erfahrung stammt2 und dessen sprachliches Medium die Volkssprache ist. Leonardo Olschki (1919–27) hat das in seiner Geschichte der neusprachlichen wissenschaftlichen Literatur klassisch beschrieben: Männer, die etwas mit den Händen tun – Maler, Architekten, Chirurgen, Militärs – schreiben auf, was sie können und neu erfinden: der Baumeister Alberti, der Mathematiker Pacioli, Leonardo in Italien, Dürer in Deutschland, Ambroise Paré, der Arzt der französischen Könige, in Frankreich. Das Neue kommt nicht aus Büchern, sondern aus dem eigenen Tun. Dieses Handwerklich-Technische geht dann aber rasch auch ins Theoretische, also im engeren Sinne Wissenschaftliche über. Die Mathematik folgt den praktischen Disziplinen auf dem Fuß. Galilei 157

repräsentiert schließlich diesen Neuen Wissenschaftler prototypisch: Das Experiment und die Mathematik sind die Säulen der neuen Wissenschaft. Und Galilei wählt ganz bewußt die Volkssprache als ihr sprachliches Medium: Sein Nuntius sidereus ist noch lateinisch, den Saggiatore, den Dialogo und die Discorsi aber schreibt er in der Volkssprache. Mit Galilei hat die Volkssprache ihren ascensus in die Sphäre der Wissenschaft geschafft. Während sie bei Alberti, Paré oder Dürer noch «unten», bei den «Werkleuten», war, ist sie bei Galilei die stolze Alternative zur lateinischen Sprache der Schule und der Büchermenschen – und natürlich auch der Kirche. Sie ist aufgestiegen in die Hohe Sphäre der Wissenschaft, die sich stolz eine Neue Wissenschaft nennt und es ja tatsächlich in jeder – auch in sprachlicher – Hinsicht ist. 7.2.3. Natürlich steht der Aufstieg der Volkssprache in die Wissenschaft nicht allein, sondern die sprachliche Veränderung der Wissenschaft wird gleichsam Huckepack genommen von anderen, stärkeren kulturellen Entwicklungen, die denselben Prozeß vollziehen. Dies müssen wir auch für die aktuelle Rücknahme dieses Prozesses bedenken: es ist nicht die Wissenschaft allein, die den Sprachwechsel vollzieht. Die Wissenschaft sanktioniert mit ihrer Sprachwahl kulturelle Veränderungen, die woanders stattfinden. Als zunächst eigentlich wichtigere Diskursdomänen, in die sich die Volkssprachen ausdehnen, sind zu nennen: die Religion, die Macht und die Dichtung. In diese Diskursdomänen steigen die Volkssprachen auf, und zwar jeweils charakteristisch anders in den zentralen Nationen Europas. In Deutschland – aber auch in Frankreich und England, nicht in Italien – transportiert die Erneuerung des Glaubens die Volkssprache in den Bereich der Religion, der lateinisch, also universalsprachlich, d. h. im eigentlichen Sinne des Wortes sprachlich «katholisch» war. Der Protestantismus verbindet im Beten in der Muttersprache und im Selberlesen der Heiligen Schrift in der eigenen Sprache gleichsam das Selbermachen der Handwerker mit der Philologie der Humanisten. In Frankreich (und entsprechend in Spanien und England) vertreibt der Ausbau der königlichen Macht das Lateinische aus Verwaltung und Gerichtsbarkeit. In Italien ist die Literatur die – wenn auch gegenüber 158

Religion und Königsmacht sicher weniger starke – kulturelle Kraft, die die Volkssprache verbreitet. Auf der Basis dieser Veränderungen im Kultursystem, die die Volkssprache in prestigereiche, bisher dem Lateinischen vorbehaltene Diskursdomänen ausdehnen und emporheben, kann sich die Volkssprache dann auch in den Bereich der Wissenschaft ausdehnen und emporheben. Und natürlich muß auch hier die mediale Revolution durch den Buchdruck erwähnt werden, der diese SprachRevolution entscheidend befördert: So wie er die neue lateinische Gelehrsamkeit verbreitet hatte, war der Buchdruck eben auch die entscheidende Maschine zur Verbreitung volkssprachlicher Druckwerke. Es gab eine wohlhabende Klientel, die nicht Lateinisch las und die man mit Büchern in der Muttersprache bedienen konnte. Dieses Geschäft ließen sich die Drucker ja nicht entgehen. Die Statistiken zeigen eine stetige Zunahme der volkssprachlichen Bücher gegenüber den lateinischen. 7.2.4. Was sagen nun die Techniker und Wissenschaftler, um den Gebrauch der Volkssprache zu legitimieren? Oft sagen sie gar nichts, sondern machen es einfach. Sie brauchen sich nicht zu legitimieren, weil völlig klar ist, wer ihre Leser sind. Die italienischen Baumeister schreiben Bücher für andere Techniker. Der Arzt Ambroise Paré schreibt für andere Praktiker, denen er die chirurgischen Handgriffe erläutert. Oft ist die explizite Angabe der Zielgruppe hinreichende Begründung für die Wahl der Volkssprache: etwa bei Pacioli, daß das Werk auch für nonletterati bestimmt sei (Olschki 1919–27, I: 152) oder bei Dürer für die schon erwähnten «Werkleute» (Olschki 1919–27, I: 434). Es ist völlig klar, daß diese Zielgruppen kein Latein können oder kein Latein zu können brauchen. Da hat man sich nicht zu rechtfertigen. Rechtfertigungen findet man in Kontexten, wo sich die volkssprachliche Sprachpraxis verteidigen muß oder wo sie offensiv vorangetrieben wird gegen das Lateinische. Im juristisch-politischen Bereich tut dies etwa der französische König, wenn er den Gebrauch des Französischen mit der notwendigen Verständlichkeit, Klarheit und Eindeutigkeit in Rechtssachen begründet: die Rechtssubjekte müssen verstehen, worum es geht, daher Volkssprache bzw. «Muttersprache»: «langage maternel français». 159

Am besten findet man solche Erklärungen in Schriften, die ausdrücklich diesem Problem gewidmet sind, wie etwa in dem im vorigen Kapitel behandelten Dialogo delle lingue von Speroni, oder auch bei Wissenschaftlern, wenn sie den Übergang vom Lateinischen zur Volkssprache einigermaßen überraschend vollziehen, also etwa bei Galilei oder auch bei Descartes, von denen die gelehrte Welt eigentlich lateinische Schriften erwartet. Ich greife hier nur impressionistisch ein paar Antworten auf meine Frage auf, die einmal systematisch untersucht werden müßte. Ich führe noch einmal den halbfiktiven Wissenschaftler Pomponazzi an, den Speroni in seinem Dialogo delle lingue 1542 auftreten läßt. Der Dialog ist ja dem Gesamtkomplex der questione della lingua gewidmet, die im Bereich der Dichtung, der humanistischen, «kulturwissenschaftlichen» Gelehrsamkeit und der Kommunikation der gesellschaftlichen Eliten – des Cortegiano – diskutiert wurde. Speroni hatte die geniale Idee, auch einen Wissenschaftler in die Diskussion einzuführen. Die Wissenschaftler vom Typ Alberti, Pacioli, Leonardo hatten sich nämlich nicht mit eigenen Schriften an der Diskussion beteiligt. Das ist in der Tat im nachhinein einigermaßen überraschend. Speroni hat diese Lücke deutlich gespürt und in der Fiktion gefüllt. Er stilisiert Pomponazzi zu der Figur, die die Frage nach der Sprache in der Wissenschaft beantwortet. Der Speronische Pomponazzi wehrt sich leidenschaftlich gegen die Zumutung seines humanistischen Gegenübers, des berühmten griechischen Gelehrten Laskaris, den Aristoteles jetzt – nach all dem Lateinischen – auch noch auf Griechisch lesen zu müssen. Er will keine Sprachen lernen, sondern Wissenschaft treiben. Und Wissenschaft ist einzig und allein Erforschung der Sachen: «cognizione delle cose» (Speroni 1542: 327). Die Sprachen werden vehement aus dem Kreis des Wissens ausgeschlossen. Sie dienen ganz aristotelisch einzig dazu, das Erforschte und Gedachte festzuhalten und anderen mitzuteilen. Sprachen sind bloße kommunikative Werkzeuge, man braucht sie bei der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit nicht, diese verläuft offensichtlich sprachlos. Die Konsequenzen aus dieser Auffassung sind hinsichtlich der Sprachenfrage die folgenden: 1. Da alle Sprachen dasselbe tun, nämlich die Begriffe unseres Denkens festzuhalten und anderen mitzuteilen, ist es völlig 160

gleichgültig, in welcher Sprache der Wissenschaftler sich mitteilt. 2. Der Wissenschaftler kann daher auch gleich in seiner Muttersprache, ja in seinem muttersprachlichen Dialekt Wissenschaft treiben. 3. Es gibt keinen Grund, irgendwelche weiteren Sprachen zu lernen. Sprachenlernen ist Zeitverschwendung, Werke in anderen Sprachen sollen in die eigene Sprache übersetzt werden. Pomponazzi ist schon der übliche europäische Bilinguismus zu zeitaufwendig, er plädiert für einen Monolinguismus der Wissenschaftler. 4. Wie bei d’Alembert ist Sprachenlernen etwas geistig Niedrigstehendes, eine bloße Übung der memoria. Der Wissenschaftler aber muß sein ingegno üben, seine kreative geistige Kraft. 5. Internationale Kommunikation ist Pomponazzi ausdrücklich gleichgültig, wichtig ist ihm die Kommunikation mit den eigenen Landsleuten. Nähe-Kommunikation wird der Distanz-Kommunikation vorgezogen: «esser lodate nella lor patria» (Speroni 1542: 331). 6. Auffällig ist, daß in diesem Text von 1542 keine besondere Qualität der eigenen Sprache hervorgehoben wird. Pomponazzi kommt es darauf an, zu sagen, daß die eigene Sprache genausogut ist wie alle anderen, vor allem genauso gut wie das höchst angesehene Latein oder das Griechische. Die Gegner sind die arroganten Humanisten. Eine besondere Lobpreisung seines Volgare würde den theoretischen Grundannahmen widersprechen und die Argumentation schwächen: Pomponazzi will ja gerade sagen, daß alle Sprachen gleichgültig – und letztlich auch störend – sind. 7.2.5. Ich betrachte nun die Argumente für den Gebrauch der Volkssprache in den folgenden fünf Punkten etwas näher. 7.2.5.1. Ich beginne mit dem fehlenden Argument, mit dem Lob der Volkssprache. Das Lob der Volksprache ist ansonsten von Anfang an Bestandteil der Rechtfertigungsstrategie: So lobt schon Alberti in den 1430 er Jahren sein heimatliches Toskanisch, weil es lexikalisch besser ausgestattet sei für die Bezeichnung der praktischen Er161

fahrungen der Baukunst als das Schullatein oder das restaurierte Cicero-Latein. Daß die eigene Volkssprache für die Wissenschaft besonders geeignet sei oder gar besser als das Lateinische, wird mit dem Aufstieg der Volkssprachen immer frecher behauptet: Am kühnsten z. B. wenn französische Autoren im 17. und 18. Jahrhundert feststellen, daß die französische Syntax – die Wortstellung Subjekt-Prädikat-Objekt – dem logischen Gang der universellen Vernunft entspreche, während man auf Lateinisch sozusagen verkehrt herum denken müsse. Dies ist natürlich ein starkes Argument zugunsten des Französischen als universaler Wissenschaftssprache. Galilei lobt die «ricchezza e perfezion di tal lingua [la nostra favella fiorentina], bastevole a trattare e spiegar e’ concetti di tutte le facoltadi», also «den Reichtum und die Vollkommenheit unserer florentinischen Sprache, die die Begriffe aller Vermögen behandeln und ausdrücken kann» (Galilei 1953: 951). Und Leibniz hebt den reichen Wortschatz des Deutschen im Bergwerkswesen hervor. Dies sind strukturelle Vorzüge der Sprachen als langues. Traditionellerweise wird aber eher – bis heute – die Qualität einer Sprache an der Qualität der Sprecher oder bestimmter Texte festgemacht: die Sprache Goethes, die Sprache der Freiheit, der Erklärung der Menschenrechte etc. Diese textuellen oder pragmatischen Eigenschaften verweisen auf bestimmte Qualitäten der Sprachgemeinschaft, auf die ich unter dem Punkt «patria» zu sprechen komme. 7.2.5.2. Was die Zeitersparnis bzw. Zeitverschwendung angeht, so hängt diese, wie schon angedeutet, mit der europäischen Normalauffassung von Sprache zusammen, mit der aristotelischen: Wenn, wie Europas Wissenschaftler seit Aristoteles glauben, Sprache nur eine Ansammlung willkürlicher Zeichen, d. h. von indifferenten Signifikanten ist, so ist das Erlernen von Sprachen einfach nur lästig. Sprachenlernen ist erst dann sinnvoll, wenn Sprachen selbst als etwas Wertvolles angesehen werden. Hier liegt das Zentrum des Dissenses zwischen den Humanisten und den Neuen Wissenschaftlern. Und sein Kern ist, was ich die «Antinomie der sprachlichen Vernunft» nenne, eine unauflösbare Opposition in der Auffassung von Sprache:3 Die Humanisten sehen Sprachen als kostbare, bewahrenswerte kulturelle Schätze, die auch eine besondere semantisch-kognitive Tiefe haben (das war gerade 162

eine geniale trouvaille der humanistischen Gelehrsamkeit). Die aristotelisch ausgerichteten Wissenschaftler sehen Sprachen als materiell verschiedene, im Grunde gleichgültige Signifikanten, die mit dem Denken und der Wissenschaft nichts zu tun haben. Diese Haltung befördert hier den Übergang in die Volkssprache. Sie erleichtert generell den Übergang von der einen zu irgendeiner anderen Sprache, weil Sprache ja gar nichts Wichtiges ist, sondern nur ein sekundäres kommunikatives Werkzeug, dem man so wenig Aufmerksamkeit wie möglich widmet. Das Argument befördert also die Volkssprache genauso gut wie jede andere – praktisch-kommunikative – Sprache. 7.2.5.3. Mit dieser aristotelischen Sprachauffassung hängt die Überzeugung zusammen, daß Sprachen nur das Gedächtnis belasten, statt eigenes kreatives Denken zu befördern: memoria statt ingegno. Dies verweist auf die tiefe Opposition zwischen Humanisten und neuen Wissenschaftlern und auf den Kern von Aufklärung, die hier beginnt: Die neue Wissenschaft sagt, mit Kant gesprochen: «sapere aude!» Vertraue nicht auf die Tradition und ihr geistiges Vermögen, die memoria, sondern denke selbst! Der Humanismus hatte dagegen gerade die alten Bücher und die alte Sprache wieder zu neuem Glanz erhoben: imitatio der Alten war das Gesetz der Büchermenschen, und ihr Medium war natürlich die alte Sprache. Das Medium des Selberdenkens aber, des kreativen ingenium, ist die eigene, moderne Sprache. 7.2.5.4. Die von dem Neuen Wissenschaftler vertretenene aristotelische Sprachauffassung ist aber nicht nur die Begründung für das Verwenden der Volkssprache, sondern tatsächlich die Basis für Wissenschaft. Sie ist philosophisch nichts Neues, sondern die alte Sprachauffassung Europas, die gegen die Humanisten höchst polemisch wieder in Erinnerung gebracht wird. Aber sie ist die sprachtheoretische Basis für die notwendige Befreiung der Wissenschaft von den Fesseln einer bestimmten Einzelsprache. Die Wissenschaft muß ja doch die in den Einzelsprachen sedimentierten Vorstellungen hinter sich lassen. Sie muß tatsächlich aus den Wörtern zu den Sachen gehen und wissenschaftliche Begriffe bilden, die etwas anderes sind als die einzelsprachlichen Signifikate. Würde sie das nicht 163

tun, wäre es den Deutschen zum Beispiel unmöglich gewesen, den Wal als ein Säugetier zu begreifen, weil sie ihn ja als einen «Fisch» kategorisieren, wenn sie ihn «Walfisch» nennen. Gerade durch den Humanismus war aber Wissenschaft wie eingekerkert in die lateinische Sprache, eingekerkert also in die Semantik dieser Einzelsprache und der in ihr verfaßten Texte. Der Übergang zur Volkssprache ist nun die für den Fortschritt der Wissenschaften notwendige Befreiung von den an den lateinischen Wörtern klebenden traditionellen Bedeutungen und damit Übergang zu einem «beliebigen», arbiträren Ausdruck mit dem Status eines wissenschaftlichen Terminus. Olschki hat das am Beispiel von Galilei vorgeführt (Olschki 1919–27 III: 246 ff.): Indem er die Volkssprache benutzte, hat Galilei «arbiträre» Wörter zur Bezeichnung bestimmter Sachen gewählt. Seine Gegner aus der lateinischen Bücherwelt haben dagegen immer die an den lateinischen Wörter klebenden traditionellen Bedeutungen eingeklagt, also sozusagen einen Streit um Worte geführt, der gar nicht bei den Sachen ankommt. Hier haben die Volkssprachen und die aristotelische Begründung ihrer Verwendung tatsächlich Denkblockaden aufgehoben, also gleichsam den Übergang vom Wal-Fisch zum Säugetier ermöglicht. 7.2.5.5. Der letzte Grund für den Gebrauch der Volksssprache ist die Bevorzugung der Nähe. Pomponazzi spielt an der schon angeführten Stelle die patria als Land der Nähe gegen die Leute von jenseits der Berge, die oltramontani, gegen la Magna, das (deutsche) Land der Ferne, aus. Telekommunikation ist ihm gleichgültig, Nähekommunikation zählt allein. Dieser Grund scheint mir in der Diskussion der am meisten ausgearbeitete zu sein. Patria kann dabei sehr verschiedene geographische oder soziale Ausdehnungen haben. Sie wird positiv durch die Nennung der Mitglieder der gesuchten Nähe-Gemeinschaft bestimmt, oft aber auch nach außen negativ abgegrenzt. Für Speronis Pomponazzi ist patria geographisch das Gebiet eines bestimmten italienischen Dialekts, nicht einmal das ganze Italien. Sozial abgegrenzt ist es implizit von den humanistischen Büchermenschen, die eine ganz andere Vorstellung von Wissenschaft und Sprache haben als der Neue Naturwissenschaftler. Galilei nennt das Volgare «la nostra favella fiorentina» und lokalisiert es damit präzise in seiner eigenen Umge164

bung: in Florenz. An diesem Näheort sind es dann die Gesprächszirkel, die «Accademie», aber auch die ganze Stadt, «tutta la città», die die Volkssprache vorziehen (Galilei 1953: 951). Die gesuchte Nähegemeinschaft besteht sozial offensichtlich aus allen Schichten der Gesellschaft: «Io l’ho scritta vulgare, perché ho bisogno che ogni persona la possi leggere» (Galilei 1953: 985): «ogni persona», Menschen aller Schichten der Gesellschaft, und eben nicht nur die Gelehrten in der Schule. Diese Opposition zur Schule wird deutlich, wo Galilei als ganz besonderen Grund zum Gebrauch der Volkssprache das Ausschöpfen der Begabtenreserve nennt: Er möchte begabte junge Leute erreichen, die zu den arbeitenden Menschen der Stadt gehören und keine lateinischen Bücher lesen, die er als alte Wälzer aus einer überholten alten Welt charakterisiert (Olschki 1919–27 III: 245). Galilei bringt also ausdrücklich als seine patria, als seine Kommunikationsgemeinschaft, ein junges, begabtes, aktives Publikum seiner Vaterstadt gegen die alte LateinWelt der Schulgelehrsamkeit in Stellung. Die internationale Forschergemeinschaft, die ihm die Wahl der Volkssprache als Irrweg vorwirft, stellt er damit zufrieden, daß er sich darum kümmert, daß seine Schriften für die oltramontani, die Fernen hinter den Bergen, ins Lateinische übersetzt werden. Das will er aber nicht selber tun, da er zu beschäftigt sei: «occupatissimo» (Galilei 1953: 985). Bei Galilei haben wir – wie ich finde – die vernünftige Lösung des Problems der Telekommunikation: die Übersetzung. Auch bei Descartes ist die Volkssprache die Sprache seines Landes, das geographisch nicht genau definiert ist, «mon pays», das dann sozial näher als die positive Gemeinschaft derer, die sich ihrer «natürlichen Vernunft bedienen», bestimmt wird, im Gegensatz zur Schule und den Lehrern und denen, die nur den «alten Büchern glauben» (Descartes 1637: 118). Wenn Thomasius 1687 dann in A-la-mode-Kleidung an der Universität Leipzig auftritt, statt im üblichen mittelalterlichen Talar, und zum ersten Mal auf deutsch – mit vielen französischen Einsprengseln übrigens – wissenschaftlich zu sprechen beginnt, dann ist damit soziologisch präzise die patria markiert, in der die Wissenschaft nun agieren möchte: eine sozial offene, mondäne Stadt in einem Deutschland, das sich der modernen Welt nicht verschließt, sondern an der französisch gefärbten Weltkultur teilhat. Diese Welt 165

spricht nicht mehr lateinisch, aber sie spricht auch nicht französisch, sondern deutsch. Also: die «patria», «mon pays», «tutta la città» ist die Sprachgemeinschaft der Nähe gegenüber einer Sprachgemeinschaft der Ferne, deren Distanz gar nicht vorrangig geographisch, sondern vor allem sozial, kulturell und geistig-zeitlich charakterisiert ist. Der Vorteil der internationalen Kommunikation, den das Lateinische bietet und den ja die Autoren durchaus sehen, wiegt ganz offensichtlich die kulturellen, geistigen und sozialen Nachteile dieser lateinischen Welt nicht auf. Neue Wissenschaft gedeiht nur in der Sprache der Nähe, der Nähe zu den Menschen und der Nähe zu den erforschten Sachen. Der Nachteil der erschwerten TeleKommunikation ist leicht durch eine Übersetzung, die ein anderer machen kann, zu beheben. 7.2.6. Wenn die Wissenschaft bei den lebendigen Menschen, den aktiven Menschen, den Menschen mit der natürlichen Vernunft angekommen ist und wenn sie, das sagte ich eingangs, auf diesem Weg die Erfolge hat, die sie hatte, seitdem sie die Volkssprachen verwendet, kann der Weg weg vom Latein – trotz d’Alembert – kein Irrweg gewesen sein. Das war er auch deswegen nicht, weil dieser Weg nicht nur die Nähe zu den sprachlichen und geistigen produktiven Kräften gefunden hat, sondern auch – das darf man ja nicht vergessen – die Nähe zu den Menschen, die die entsprechende Forschung auch materiell tatsächlich ermöglichten: zu den Menschen mit Macht und Geld. Der Weg in die Sprache der Nähe war auch ein Weg in die Nähe der von Dante sogenannten nobile gente, der «principi, cavalieri, baroni» und edlen Frauen, die die Forschung materiell förderten. Es war eben auch der Weg zu ihren Finanziers, zum Herzog von Mailand, zum französischen König, zum Herzog der Toskana, zu den mächtigen Sprechern der Volkssprache. 7.2.7. An das bisher Gesagte möchte ich zwei Bemerkungen über die Konsequenzen dieser Vorgänge für die Sprachen selbst anschließen. Bemerkung 1: Das Lateinische bekommt in dieser Diskussion – das ist auffällig – zunehmend Züge einer fremden Sprache, die es im 166

Mittelalter nicht hatte. Wenn Dante z. B. um 1300 in De vulgari eloquentia vom Lateinischen oder von der Gramatica spricht, so ist diese zwar eine zusätzlich gelernte Sprache für die Gelehrsamkeit (doctrinamur in illa), eine Zweitsprache (secundaria), aber sie ist eigentlich nicht «fremd», also unvertraut oder nicht zugehörig.4 Ab dem 16. Jahrhundert aber wird sie hinter die Berge verwiesen, in die Schule, in die Bücher, nach Rom, ins Reich, in die Vergangenheit, denen zugehörig, zu denen man nicht gehören will. Sie wird «fremd». Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß Hegel den Prozeß des Aufstiegs der eigenen Sprache an die Stelle des Lateinischen in einer Passage der Geschichte der Philosophie als Befreiung von Knechtschaft, als Sieg gegen das Fremde, als Ausweitung des Eigenen auf ein von der fremden Sprache okkupiertes Gebiet auf den Begriff gebracht hat. Die Reformation ist für Hegel der Moment, in dem die eigene Sprache in das Gebiet des Gebets und der Wissenschaft einrückt, das vorher vom Lateinischen besetzt war. Hegel schreibt dabei das Lateinische dramatisch als eine fremde Sprache in eine doppelte Opposition von Macht und Freiheit und von Distanz und Nähe ein. Auf dem vornehmsten, höchsten Gebiet geistiger Tätigkeit, im Gebet und in der Wissenschaft, herrschte das fremde Lateinische wie eine fremde Besatzungsmacht. Wenn der Sprecher nun durch die Verwendung der Volkssprache, wie Hegel sagt, «hier bei sich selbst in seinem Eigentum» ist (Hegel 1986, Bd. 20: 53), so ist er von dieser fremden Macht befreit, Herr also im eigenen Hause. Er ist sich selbst gerade dort näher gerückt, wo es am wichtigsten ist, ganz bei sich zu sein: im Beten und in der Wissenschaft. Bemerkung 2: Daß es für die Volkssprachen und ihre Sprecher ein unglaublicher Gewinn gewesen ist, in die Wissenschaften und andere hohe Diskursdomänen aufzusteigen, sei en passant erwähnt: Erstens hat die Verwendung der Volkssprachen in den Wissenschaften die sprachliche Kreativität enorm angespornt und die Sprachen lexikalisch, aber auch syntaktisch bereichert. Das kann man in jeder Sprachgeschichte der europäischen Sprachen nachlesen. Zweitens: der ascensus der Volkssprache in das prestigereiche Gebiet der Wissenschaft hat die Volkssprache eben mit dem Prestige ausgestattet, das mit diesem Diskurs verbunden ist. 167

7.2.8. Ich habe bisher ununterschieden von der Wissenschaft gesprochen. Das Gesagte differenziert sich durch den Blick auf die Kulturwissenschaften. Für diese ist der Übergang zu den Volkssprachen viel schwerer und viel bedeutsamer als für die Naturwissenschaften. Die Humanisten, die sich mit der kulturellen und sprachlichen Tradition abgaben und diese pflegten und bewahrten, also von heute aus gesehen die Kulturwissenschaftler, waren die erklärten Gegner der bisher betrachteten Neuen (Natur-)Wissenschaftler. Wir haben das im vorigen Kapitel gesehen: Sie insistierten auf dem besonderen Wert der klassischen Sprachen, und für sie war auch das Studium der Sprachen durchaus nicht gleichgültig oder geistlos. Die Philologie (in ihrem weitesten Sinn), das Studium der Sprachen, der Texte und weiterer Kulturprodukte, war aber lateinisch, nicht volkssprachlich, und sollte es auch bleiben. Die humanistische Gelehrsamkeit war daher auch die letzte der prestigereichen Diskursdomänen, in die die Volkssprachen aufstiegen. Vor dem Hintergrund des Aufstiegs der Volkssprachen in die Religion, in die politische Macht, in die Dichtung und eben in die Neuen Wissenschaften rückten die Volkssprachen schließlich auch in die Geschichte und in die Philologie auf, zumal auch die Texte und Sprache der eigenen Sprachgemeinschaft sowie die Texte und Sprachen anderer Völker jenseits der Antike in ihr Blickfeld kamen. Im Bereich der Kulturwissenschaften dient nun aber die Sprache nicht nur zur Bezeichnung eines sprachlosen wissenschaftlichen Tuns (des Messens, Wiegens, Experimentierens), sondern die wissenschaftliche Aktivität besteht wie in der Dichtung in der Produktion eines eigenen sprachlichen Werkes. Deswegen haben die Gelehrten auch so auf der Sprache insistiert, die sie besonders gut konnten. Und das war nun einmal das Lateinische. Erst als sie die eigene Sprache besser konnten als das Lateinische (was durchaus nicht selbstverständlich ist), haben sie die Volkssprache verwendet. Der Vorteil des Gebrauchs der eigenen Volkssprache in den Kulturwissenschaften (für die es – außer der zitierten Hegel-Passage – meines Wissens keinen legitimatorischen Text gibt) ist dann aber noch evidenter als in den Naturwissenschaften: Hier ist erstens die Verwendung der «eigenen» Sprache ein enormer Vorteil für die differenzierte Ausdrucksfähigkeit. Und hier ist, zweitens, die Beziehung 168

zur «patria» bedeutend enger und wesentlicher als bei den Naturwissenschaften. Bei der Selbstverständigung über die Kultur ist die Gemeinschaft der zur selben Kultur und Sprache Gehörigen essentiell.5 Fazit: Auch hier ist der Weg in die Volkssprachen kein Irrweg gewesen.

7.3. Rückkehr zur langue universelle et de convention Aber: was einmal kein Irrweg war, könnte ja jetzt einer sein. Diese Vermutung will ich abschließend diskutieren. 7.3.1. Gerade die Naturwissenschaften, die so leidenschaftlich zu den Volkssprachen übergegangen waren, sind dreieinhalb Jahrhunderte nach Galilei – ab 1950 – so gut wie völlig und radikal aus der eigenen Volkssprache wieder ausgetreten und in das globale Englische eingetreten, das in dieser Hinsicht wieder die Rolle des mittelalterlichen (nicht des Renaissance-) Lateins einnimmt, die Rolle der Universalsprache der Gelehrten, der «langue universelle et de convention», deren Abwesenheit d’Alembert beklagt hatte. Wenn die vielen Sprachen der Wissenschaften vielleicht auch kein Irrweg gewesen sind, so waren sie anscheinend doch eine Sackgasse, jedenfalls für die Naturwissenschaften. Die nicht-anglophonen Naturwissenschaftler müßten nun eigentlich über den elenden Zeitverlust beim Erlernen des Englischen klagen und darüber, wie geistlos das ist. Das tun sie vermutlich aus zwei Gründen nicht: erstens weil auch die Naturwissenschaftler inzwischen gelernt haben, daß Sprachenlernen keine ganz dumme Beschäftigung ist, und zweitens weil europäische Wissenschaftler in den Schulen schon immer andere Sprachen haben lernen müssen, mit denen sie tatsächlich viel Zeit verschwendet haben. Nun lernen sie nur noch die eine. Das ist viel einfacher, sie haben mehr Zeit als vorher. Aber wieso sind sie so eilfertig aus der eigenen Sprache ausgesteigen, insbesondere die deutschen Naturwissenschaftler? Der Vorteil der Nähekommunikation – la città, mon pays, la patria – und der Kommunikation mit der sie umgebenden Gesellschaft, mit 169

den «Werkleuten», den arbeitenden Menschen, und den Menschen mit der «natürlichen Vernunft» hat sich offensichtlich erschöpft. Das bringt nichts mehr. Die Telekommunikation allein ist es, die zählt. Das ist natürlich aus zwei Gründen so: Was die Bewohner der Nähe, der patria, angeht, so hatten diese sich in Deutschland ja gerade gewaltig diskreditiert. Mit denen will man nicht unbedingt mehr etwas zu tun haben.6 Und die Bewohner der Ferne, die oltramontani, die jetzt oltratlantici geworden sind, haben sich insofern verändert, als sie allein Ruhm und Anerkennung verteilen. Nur dort gibt es impact-Punkte, nur dort sitzen die Mächtigen, nur dort gibt es Nobelpreise. Diese Gemeinschaft der Fernen simuliert Nähe, sie nennt sich zärtlich community. Von dieser will man gelobt werden, nicht von der patria: «essere lodati dalla community». Das Glück, in der weiten Welt-Gemeinschaft mitreden zu dürfen, ist dabei für Deutsche natürlich besonders groß. Es ist das Glück, nicht mehr mit der verhaßten Nähe in Verbindung gebracht zu werden. Der Grund für den erneuten Sprachwechsel der Wissenschaften ist strukturell also durchaus analog zu dem Grund, der auch im 16. bis 18. Jahrhundert vorrangig war: die Suche nach der angemessenen, höchstmögliche Anerkennung und Gewinn versprechenden Sprachgemeinschaft: «essere lodati dalla community». Und dies hängt nun wieder mit der völlig wissenschaftsfremden Tatsache zusammen, daß – wie früher beim Übergang in die Volkssprache – anderweitige mächtige sprachpolitische Veränderungen stattgefunden haben, ja die mächtigste von allen vorstellbaren: die Macht und das Geld sprechen globalesisch. Angesichts dieser durchschlagenden Veränderungen wären Hinweise auf die Qualität der eigenen Sprache, auf «ricchezza e perfezione della nostra favella», geradezu lächerlich. Die kommunikative Nähe zum politischen Gemeinwesen, la città, mon pays, patria, und zur dort vorfindlichen «natürlich begabten» Jugend wird höchstens noch – wie im Mittelalter – in einem descensus aus den Höhen der Spitzenforschung gesucht: in der Popularisierung und in der Lehre. Aber auch das soll sich ändern: Sprachliche Distanzierung, also Globanglisierung, wird zunehmend auch für die wissenschaftliche Nähekommunikation gefordert und mit massiven Zwangs- und 170

Erziehungsmaßnahmen durchgesetzt: Hier beginnt er dann allerdings schon, der Irrweg. Und: die Einsprachigkeit ist vermutlich auf die Dauer eine intellektuelle Katastrophe. Galilei hatte gegen die lateinischsprachigen Betonköpfe gekämpft, die ihm das innovative abweichende Denken durch den Verweis auf die Semantik der einen Sprache der Wissenschaft verbieten wollten. Wissenschaftlich denkbar war jenen nur, was im semantischen Gefängnis des Lateinischen sich bewegte. Nun schließt sich die Wissenschaft wieder in das semantische Gefängnis einer einzigen Sprache ein. Das erleichtert alternatives Denken nicht. Vermutlich ist nichts weniger als die Freiheit der Wissenschaft in Gefahr. Der Mainstream siegt auf der ganzen Linie. Gerade gegen den hatte die volkssprachliche Neue Wissenschaft gekämpft und auch gesiegt. 7.3.2. Wie in den Kulturwissenschaften der Weg in die Volkssprachen notwendigerweise mühsamer war, so wird hier auch der Rückweg in die «langue universelle et de convention» schwieriger sein, und er scheint hier auch nicht unbedingt der Weg ins Glück zu sein. Ich sehe derzeit noch keinen wirklich großen europäischen oder deutschen Kulturwissenschaftler, der nicht in Amerika arbeitet, der seine Bücher auf englisch schreiben würde. Hier spricht die Spitzenforschung mitnichten englisch. Noch sind die nationalen Sprachkulturen zu stark, auf denen diese wissenschaftlichen Aktivitäten aufruhen. Noch wird in den verschiedenen Sprachen Literatur produziert, noch sind das Rechtswesen und die Verwaltung nationalsprachlich, die Medien verwenden noch die alte Sprache, sogar das Parlament redet noch in der Sprache des Volkes, das es repräsentiert. Die Regierungen allerdings gehen allmählich in die globale Sprache über. Und die Besitzer des Landes sprechen sowieso schon längst die Sprache der Welt, weil sie längst auch die Welt besitzen. Daher versuchen sie ja nun auch, das Volk von seiner alten Sprache abzubringen mittels der beiden wirkmächtigsten Sprachagenturen: mittels der Schule und mittels der Werbung. Aber – wie gesagt – noch ist es nicht so weit, so daß die Kulturwissenschaften noch auf den alten Sprachkulturen aufruhen und die in Jahrhunderten ausgebauten Sprachen weiter verwenden können. 171

Aber natürlich ist diese hartnäckige Volkssprachigkeit – wie bei Galilei – zwar ein kognitiver Gewinn und deswegen kein Irrweg, aber sie ist eben doch eine kommunikative Sackgasse, sofern sie die internationale Kommunikation behindert. Den Ausweg aus der Sackgasse hat Galilei gewiesen: die Übersetzung. Wichtig wäre es in der Tat, die Bücher aus der Sprache der patria ins Globalesische zu übersetzen. Die Förderung von Übersetzungen statt der Umerziehung des Volkes wäre eine patriotische Tat. Daher möchte ich abschließend Galilei zitieren und seine Forderung von 1612 wiederholen: Con tutto ciò vorrei che anco l’Apelle e gl’altri oltramontani potessero vederla; e qui, per esser io occupatissimo, averei bisogno del favore di V. S. et del S. Sandeli, il quale mi facesse grazia di trasferirla quanto prima in latino. (Galilei 1953: 985) Auf deutsch und auf die heutige Situation bezogen: Bei all dem möchte ich aber doch, daß auch John Smith und die anderen Transatlantischen mein Buch lesen könnten. Aber hier brauchte ich eben, weil ich selber höchst beschäftigt bin, einen großen Gefallen von Ihnen und von Herrn S., nämlich daß er so freundlich sein möge, mir das Buch umgehend ins Englische zu übersetzen.

8. Sprache und Revolution 8.1. Guillotine und Sprache Die Guillotine ist ein revolutionäres Gerät, das höchst dramatisch auf die Frage der Sprache verweist. Die Guillotine ist die tödliche Gefahr, die der Sprache im revolutionären Prozeß droht. Die Guillotine enthält nämlich die Grundprinzipien der Revolution: Erstens ist die Guillotine – etwa gegenüber dem Scheiterhaufen, dem Galgen und der Vierteilung – fortschrittlich: le Progrès. Zweitens ist die Enthauptung eine ursprünglich aristokratische Art des Getötetwerdens, die mittels der Guillotine nun jedermann zugutekommen kann. Außerdem kann mit der Guillotine auch eine große Anzahl von Menschen rasch ins Jenseits befördert werden. Die Guillotine ist also doppelt demokratisch: la République. Drittens bestraft die Guillotine die Verbrechen gegen die Revolution dort, wo sie stattfinden: am Kopf. Was sich dem Fortschritt und der Republik entgegenstellt, befindet sich nämlich in den Köpfen der Menschen: das Vorurteil, le préjugé. Das préjugé ist jene Dunkelheit des Denkens, die die Aufklärung mit ihrem hellen Licht vertreiben möchte. Die Guillotine ist das letzte Mittel, falsches, dunkles, wildes Denken in den Köpfen zu beseitigen. Wenn nichts mehr hilft, dann schneidet eben die Guillotine die Dunkelheit und Wildheit des Denkens ab. Sie ist also auch eine Maschine zur Herstellung von Aufklärung: les Lumières. 173

Die Sprache befindet sich für die französischen Revolutionäre mitten in dieser Trias von Fortschritt, Demokratie und Aufklärung: als Mittel von Fortschritt, Demokratie und Aufklärung, aber auch als ihr Problem, als Hemmnis von Fortschritt, Demokratie und Aufklärung. Die französischen Intellektuellen, die Träger der Französischen Revolution, waren nämlich zutiefst davon überzeugt, daß Sprache und Denken aufs engste miteinander verbunden sind, daß Sprache folglich in jener Verwirklichung wissenschaftlich-philosophischen Denkens, wie sie die Französische Revolution darstellt, eine zentrale Rolle spielt und daher höchster Aufmerksamkeit bedarf. Wenn Sprache auf das Denken einwirkt und umgekehrt, dann muß dieses Verhältnis geklärt werden, um zu richtigen Einsichten, zur Wahrheit, zur Wissenschaft, zur Revolution zu gelangen. Die Aufklärung der Sprache ist gleichsam der Weg, auf dem die Aufklärung der Köpfe vonstatten geht und die Errichtung aufgeklärter Verhältnisse in der politischen Realität möglich wird. Sprache ist, so die gemeinsame Überzeugung der fortschrittlichen französischen Intellektuellen, nicht nur ein Mittel, die Gedanken zu bezeichnen und anderen mitzuteilen. Das war die alte Sprachauffassung Europas seit Aristoteles, der die altmodischen Rationalisten noch anhingen, gleichsam das linguistische Ancien régime. Sprache ist nach der neueren Sprachtheorie viel tiefer und gefährlicher in den Menschen eingelassen: tiefer, weil sie eben nicht nur ein materielles Vehikel der Kommunikation, sondern selber schon Denken ist, und gefährlicher, weil dieses mit der Sprache zusammenhängende Denken kein rationales, wissenschaftliches Denken ist, sondern altes und wildes Denken, das außerdem auch noch von Sprache zu Sprache verschieden ist. Die Sprache war nach der alten Sprachtheorie kein Problem für die Wissenschaft, sie kommunizierte einfach das ohne Sprache Gedachte. Nun aber mischt sie sich ins Denken ein. Es muß also allen auf Fortschritt – «advancement of science» nennt das der Gründungsvater der Aufklärung Francis Bacon – bedachten Menschen darum gehen, daß dieses durch die Sprache generierte Denken nicht die Wahrheit der Wissenschaft stört.

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8.2. Sprache und Denken Die Einsicht, daß Sprache und Denken eng miteinander verbunden sind, ist eine vergleichsweise moderne Einsicht, die, wie wir schon verschiedentlich in diesem Buch gezeigt haben, mit dem Humanismus zu wachsen beginnt. Man kann vielleicht sagen, daß in der Antike die Rhetorik (oder eine rhetorisch-ciceronianisch eingefärbte Sprachreflexion) dieser Intuition noch am nächsten kam. Die Philosophie aber – d.h. Aristoteles, dessen Organon mit seinem zweiten Teil De interpretatione das europäische Sprachdenken jahrhundertelang dominiert hat – lehrte, daß die Menschen alle gleich denken, daß sie dieselben Vorstellungen (conceptus) von den Sachen bilden und mit Wörtern diese universellen Gedanken bezeichnen und den anderen Menschen mitteilen. Die Wörter sind nur Laute (voces), die von Sprache zu Sprache verschieden sind und traditionell – katà synthéken – mit den universellen Vorstellungen verbunden werden. Sie sind nur materielle Zeichen (semeia, signa) und als solche nichts, was den Denkenden interessieren könnte. 8.2.1. Sprachliche Alterität Eine solche Vorstellung von der Sprache entspricht durchaus auch dem Funktionieren der Sprache im alltäglichen Leben und im praktischen Hantieren mit der Sprache. Sie funktioniert auch ganz gut in einer Welt – wie dem lateinischen Mittelalter – , wo Menschen mit höheren geistigen und sprachlichen Aufgaben nur eine Sprache sprechen und schreiben, wo also die Erfahrung sprachlicher Diversität kaum gemacht wird, sondern wo gerade eine «katholische», d. h. universelle Sprache herrscht. Sie funktioniert aber nicht mehr so gut, wenn mehrere Sprachen miteinander in Konkurrenz treten und wenn Sprachen mit wirklich verschiedener Struktur ins Blickfeld kommen. Das erste ist der Fall, wenn die europäischen Volkssprachen dem Lateinischen seinen Platz als Bildungssprache streitig machen: in Europa seit dem 16. Jahrhundert. Und wenn dann die solcherart zu höheren Gebrauchsweisen ausgebauten Sprachen von ihren Sprechern als etwas ganz Besonderes empfunden werden, 175

nicht nur als besonderer Klang (vox), sondern als etwas mit besonderem «Inhalt». Das zweite – die Erfahrung radikaler sprachlicher Alterität – ist der Fall, wenn Europa mit wirklich tief verschiedenen Sprachen in Berührung kommt, d. h. wenn es die Erfahrung Amerikas denkend bewältigt. Es kann dann nicht mehr übersehen, daß die Menschen, die diese sehr fremden amerikanischen Sprachen sprechen, auch ziemlich anders denken. Wenn sich z. B. – darum ging es ja zunächst – Inhalte wie «heiliger Geist», «heiligen», «Kirche» nicht problemlos in den anderen Sprachen wiedergeben lassen, merkt man, daß diese Sprachen semantisch anders sind – und nicht nur einfach verschiedene voces, wie es Aristoteles angenommen hatte, sondern daß schon die Vorstellungen, die conceptus, von Sprache zu Sprache differieren. Die Erfahrung sprachlicher Alterität also läßt allmählich ein anderes Verständnis der Sprachen aufkommen. Die Europäer bemerken, daß in den partikularen Sprachen partikulare Semantiken enthalten sind, daß es für das Denken nicht dasselbe ist, ob man deutsch oder lateinisch spricht, oder gar nahuatl oder delaware. 8.2.2. Die Antinomie der sprachlichen Vernunft Für die Philosophen, die seit Aristoteles von der Universalität des menschlichen Denkens und von der Sprachunabhängigkeit des Denkens überzeugt sind, kommt diese Einsicht wie ein Schock. Wir haben in den beiden vorangegangenen Kapiteln gesehen, wie in der von Sperone Speroni inszenierten Diskussion, im Dialogo delle lingue von 1542, der Philosoph und Wissenschaftler eine solche Vermutung empört zurückweist. Die Humanisten hatten die Sprachen als etwas ganz Besonderes gepriesen, als etwas ganz Besonderes auch für das Denken, als etwas Kostbares, das Liebe und Pflege verdiene (amore della lingua, cura della lingua). Der Philosoph, der die Neue (Natur-)Wissenschaft vertritt, widerspricht einer solchen Annahme aufs schärfste und bekräftigt noch einmal, Aristoteles zitierend, daß es völlig gleichgültig sei, in welcher Sprache gesprochen werde, da ja das Denken der Menschen überall gleich sei. In diesem Streit zwischen den Humanisten und den Wissenschaftlern, zwischen Philologie – Liebe zur Sprache – und Philo176

sophie, die hier ihren Haß auf die Sprache – odio – ausdrücklich formuliert (Speroni 1542: 372), scheint das auf, was ich im Anschluß an Schlieben-Lange die «Antinomie der sprachlichen Vernunft» nenne: der Gegensatz von zwei entgegengesetzten Auffassungen von Sprache, die seit dem 16. Jahrhundert in der europäischen Geschichte miteinander streiten.1 Es ist eine Antinomie, weil beide Auffassungen richtig sind und weil man sie auch nicht ohne weiteres miteinander vermitteln kann. Einerseits ist Sprache nämlich – oder sie sollte es sein – tatsächlich willkürliches Zeichen, Verweisen auf universelle Begriffe und Sachen in der Wirklichkeit, Bezeichnung von Objektivität, so daß es auf die Partikularität der einzelnen Sprache nicht ankommt. Wir müssen, damit wir in der Welt handelnd zurechtkommen, damit Wissenschaft und Technik erfolgreich auf die Welt zugreifen können, präzise referieren. So muß Sprache in der Wissenschaft funktionieren, und so hätte die Philosophie (Logik) die Sprache gern. Andererseits aber ist Sprache, die sich ja immer in der Vielzahl der historischen Einzelsprachen manifestiert, eben auch eine jeweils ganz besondere lautlich-kognitive Kreation, eine subjektive WeltErfassung, ein historisch-partikularer Blick auf die Welt, der diese in einem ganz besonderen Licht erscheinen läßt. Diese Auffassung verbleibt mehr bei der Sprache und ihrer partikularen Welterschaffung, sie reduziert nicht deren Partikularität zum Zwecke des eindeutigen Bezeichnens, sie erfreut sich im Gegenteil daran, daß die Sprache so ist, wie sie ist, und daß sie in ihrer Besonderheit blüht und strahlt. So funktioniert Sprache insbesondere in der Dichtung, aber auch in anderen, eher literarischen Gebräuchen, wie etwa in der Geschichtsschreibung.2 Und so sehen die Philologen die Sprache. Wilhelm von Humboldt (1820) hat die Antinomie der Sprache als «zwiefachen Gebrauch der Sprache» aus ihrer strukturellen Besonderheit («zugleich Abbild und Zeichen») abgeleitet, die einen zeichenhaften «wissenschaftlichen» und einen sprachgemäßen «rednerischen» Gebrauch ermöglicht.3 Die Französische Revolution kennt diese Antinomie, und sie scheitert an ihr, bzw. sie hält die Antinomie nicht aus. Sie möchte sie nämlich im Sinne der ersten, der zeichenhaften Sprachauffassung lösen. Dies erzeugt jene Gewalt, auf die ich mit der Erinnerung an die Guillotine hinwies. Die revolutionäre französische Republik 177

hat keine Geduld mit den verschiedenen Weisen des Denkens und Sprechens, wie sie sich in den verschiedenen Sprachen finden, sie hat keine Sympathie für die Dichtung, für das Poetische der Sprache. Die Französische Revolution ist Philosophie, nicht Philologie. Sie wird daher versuchen, alles von der Wissenschaft und der Wahrheit abweichende Sprachdenken zu eliminieren. Sie hat ziemlich großen Erfolg damit. Aber auch diese Revolution frißt ihr Kind. Doch davon ganz zum Schluß. 8.2.3. Idola fori Der erste Philosoph, der den Schock verarbeitet, daß Sprache auch Denken ist oder daß das Denken an der Sprache «klebt», wie Herder später sagen wird, und der die Abhängigkeit des Denkens von der Sprache analysiert, ist der schon erwähnte Francis Bacon.4 Die natürlichen Sprachen schaffen semantische Größen, so seine Einsicht, die dem volkstümlichen Geist des Volkes – dem «captus vulgi» – entsprechen, die aber der wissenschaftlichen Einsicht entgegenstehen. Die Wörter unterscheiden die Sachen gemäß der volkstümlichen Denkkraft und nicht nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten, und sie mischen sich ins rationale Denken ein. Bacon entdeckt also das, was Martinet die «erste Gliederung»5 nannte, die semantisch-kognitive Einteilung der Welt durch die Volkssprache bzw. die Einzelsprache. Er entdeckt damit die Sprachlichkeit des Denkens. Dies entzückt uns Linguisten, weil es ja gerade unsere Aufgabe ist, das in den Sprachen der Menschheit sedimentierte Denken des Menschen zu beschreiben. Insofern ist Bacon ein Gründungsvater unserer Disziplin. Dies aber ist unerträglich für einen Philosophen, der, wie sich das gehört, nach der universellen Wahrheit strebt. Und Bacon war ein Philosoph, er war sogar ein neuer Aristoteles, der ziemlich unbescheiden ein Neues Organon schreibt und darin die sprachlichen Bedeutungen als eines der Haupthindernisse der Wahrheit entdeckt. Diese volkstümlichen Einteilungen der Welt stimmen mit denen der Wissenschaft nicht überein. Sodann haben diese sprachlich generierten semantischen Größen, die an den Wörtern hängen, Macht über das Denken, sie behindern das wissenschaftliche Denken: «verba obstrepunt». Bacon nennt sie idola fori, Götzen des Markplatzes. Sie sind die 178

schlimmsten von allen idola, von allen alten Gespenstern, die sich der Neuen Wissenschaft entgegenstellen. Bacons idola sind das, was dann in der französischen Aufklärung le préjugé heißt. «Das Vorurteil» ist der Feind: wildes, altes und dunkles Denken, das vom Licht der Wissenschaft vertrieben werden muß, notfalls auch mit der Guillotine, dieser letzten Aufklärerin. Auf dem Markplatz, im Gewusel des gesellschaftlichen Verkehrs des ungebildeten Volkes, sind die Sprach-Götzen entstanden, nicht in den Studierstuben der Herren Doktoren. Sie sind daher natürlich falsche Götter, eben Götzen, die dem wahren Denken entgegenstehen. Wie bei jedem echten (monotheistischen) Missionswerk geht es auch bei Bacon darum, diese alten und dummen Geister zu vertreiben, damit die eine Wahrheit, das wahre Wissen, der wahre Geist, Platz greifen kann. Der Wissenschaftler muß die alte volkstümliche Sprache so reformieren, daß sie mit den Einsichten der homines docti, der Wissenden, mit der Objektivität also, übereinstimmen. Die so entstehende Sprache der Wissenschaft ist eine, in der sich die wahre Struktur der Welt spiegelt, die «natürlich» ist: «secundum naturam». Man erkennt hier die Grundfigur der analytischen Philosophie, die Sprachkritik, die Frege und der frühe Wittgenstein noch einmal erfinden werden, den Kampf der Philosophie gegen die Sprache. Das hat sich eigentlich seit 1620 nicht geändert. Und es ist genau diese Einsicht in die kognitive Kraft der volkstümlichen Sprache – «vis verborum super intellectum» – sowie die damit verbundene Wut über die Sprache und der sprachreformatorische Eifer, die auch die französischen Revolutionäre umtreiben: In den Sprachen ist Denken sedimentiert, dieses aber ist vorwissenschaftliches bzw. – was dasselbe ist – vorrevolutionäres Vorurteil, idola fori, Götzen des Marktes. Diese gilt es im Namen der Wissenschaft bzw. der Revolution zu vertreiben. 8.2.4. Imperfection und génie de la langue Zwei Autoren haben das Sprachdenken der Revolution vor allem vorbereitet: Locke und Condillac. John Locke hat am Ende des 17. Jahrhunderts Bacons Intuition von der Sprachlichkeit des Denkens mit subtilen Einsichten in die semantische Verschiedenheit 179

der Sprachen systematisch weitergeführt.6 Locke beklagt die partikulare und wissenschaftlich ungenaue einzelsprachliche Semantik laut als imperfection, als Unvollkommenheit der Sprache, und schlägt eine Reform der Sprache im wissenschaftlichen Gebrauch vor. Locke ist im Frankreich des 18. Jahrhunderts ein ungeheuer wichtiger Denker. Sein Essay concerning human understanding erscheint 1700 in einer prachtvollen französischen Übersetzung durch Pierre Coste und ist seitdem ein Grundbuch der französischen Philosophie. Leibniz wird in den Nouveaux Essais den Essay Wort für Wort kommentieren. Für Frankreich ist aber vor allem die Tatsache von Bedeutung, daß Condillac in seinem Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746) Locke weiterschreibt. Dabei wird er, Locke korrigierend, die Sprache ins Zentrum einer Systematik der Entstehung des menschlichen Denkens stellen. Dieses Buch von Condillac ist im 18. Jahrhundert das Neue Organon der Franzosen. Jeder fortschrittliche französische Intellektuelle hatte es gelesen oder wußte zumindest, was darin stand. Insofern ist es ein fundamentales Buch für die Französische Revolution (das allerdings als solches kaum beachtet wird, weil die Historiographie sich immer nur auf die explizit politischen Theoretiker bezieht).7 Nach ihrer Condillac-Lektüre wissen die Franzosen folgendes über die Sprache: Sprache ist kein Kind der höheren Rationalität, sondern erscheint schon auf einer niedrigen Stufe des Geistes. Das Denken entsteht im Körper und steigt in einem Sublimierungsprozeß allmählich auf zu reiner Rationalität. Die Sprache entspringt aber noch aus der körperlichen Quelle des Denkens, aus der Phantasie. Sie ist die Verbindung von phantastischen Vorstellungen mit Lauten. Sprache ist also zwar aufs engste mit dem Denken verknüpft, dieses befindet sich aber bei dieser Verknüpfung noch nicht auf der Höhe der Raison. Die mit der Sprache verbundenen leibnahen Vorstellungen sind noch unbestimmt – «indéterminées» – und sie sind von Sprache zu Sprache verschieden, zumindest die sogenannten komplexen Ideen, vor allem die «notions archétypes», die Vorstellungen von gesellschaftlichen Gegenständen. Modern gesagt sind sie von Sprache zu Sprache verschiedene Kombinationen von Semen. 180

Im Gegensatz zu Locke hat Condillac aber eine gewisse Sympathie für die jeweilige Individualität der Sprachen, die er das «génie de la langue» nennt. Dies festzuhalten ist deswegen wichtig, weil auch die französischen Revolutionäre zunächst durchaus eine gewisse Sympathie für die verschiedenen Sprachen in Frankreich zeigen. In der Befragung, die Abbé Grégoire, der jakobinische «Kultusminister», 1790 über die Sprachen durchführen wird, bekunden nicht wenige der befragten Intellektuellen Verständnis und Achtung für die Regional-Sprachen Frankreichs.8 In seinem Aufstieg zu Vernunft und Wissenschaft muß der Geist aber diese unwissenschaftlichen Vorstellungen, diese phantasiegeschaffenen, unbestimmten und partikularen Sprachgenies hinter sich lassen. Für die Zwecke der Wissenschaft sind die Nachteile der Sprache aufzuheben, für die Rationalität ist die Phantasie zu überwinden, für die Lumières ist die Dunkelheit zu vertreiben, für die universelle Wahrheit ist der partikulare Blick zurückzulassen, und zwar folgendermaßen: Die Vagheit der mit den Wörtern verbundenen Vorstellungen ist durch wissenschaftliche Bestimmtheit zu überwinden. So kann beispielsweise die genauere wissenschaftliche Erforschung der Welt genauere Vorstellungen über die Naturgegenstände bringen. Und eine vernünftige Übereinkunft zwischen den Sprechenden läßt ein vernünftiges Sprechen über die gesellschaftlichen Gegenstände zu. Wissenschaft und Vernunft heben mit der Unbestimmheit der Sprache auch ihre historische Partikularität auf, machen die Sprache universell vernünftig.

8.3. Sprache in der Revolution Die französischen Intellektuellen wissen also gut über die Sprache Bescheid, wenn sie sich daran machen, die politische Welt nach wissenschaftlichen Prinzipien zu ordnen. Sie setzen in ihrem Optimismus zunächst auch darauf, daß sich die vernünftigen Menschen schon über die richtigen Bedeutungen der Wörter einig werden, entweder – wie gesagt – durch die Erforschung der Welt selbst oder durch eine Übereinkunft über die Bedeutung der gesellschaftlichen Grundbegriffe. Die Vernunft selbst also löst die Antinomie der sprachlichen Vernunft. Locke hatte es sich etwa so vorgestellt, daß 181

im Alltagsleben ruhig die ungenaue volkstümliche Sprache verwendet werden kann, daß aber da, wo es um wissenschaftlich-philosophische Dinge geht, die vernünftigen Menschen, die understanding men, die Alltags-Semantik aufklären und eine reformierte Wissenschaftssprache verwenden werden. Der politische Alltag ist nun allerdings rauher, als es die heiteren Seiten von Lockes oder Condillacs Essais vermuten lassen. Vor allem ist in der Französischen Revolution sozusagen der Alltag philosophisch geworden: Das alltägliche gesellschaftlich-politische Leben der Menschen soll ja nach philosophisch-wissenschaftlichen Prinzipien neu geordnet werden. Daher ist auch dort die alte Sprache nicht mehr erlaubt. Es muß überall philosophisch zugehen. 8.3.1. Universaliser le français Zunächst verpufft die Condillacische Sympathie für die verschiedenen Sprachen und ihre interessanten Genies an der tatsächlichen oder angenommenen Widerständigkeit der Sprachen gegen die Revolution: Die Informationen aus Paris kommen bei den Anderssprachigen nicht an, d. h. die Anderssprachigen können nicht teilnehmen am demokratischen Prozeß, einfach weil sie die Sprache nicht verstehen. Das Kommunikationsproblem ist aber natürlich für die Demokratie ein zentrales politisches Problem. Zuerst versucht die Französische Revolution daher, ihre Errungenschaften den Völkern Frankreichs in deren verschiedenen Sprachen mitzuteilen. Dies erweist sich aber schon bald als technisch nicht praktikabel. Aber selbst wenn es gelungen wäre, wäre die Vielsprachigkeit der Republik politisch und philosophisch nicht wünschenswert gewesen. Denn alle Sprachen Frankreichs außer Französisch sind eigentlich sozusagen prinzipiell konterrevolutionär. Dieser konterrevolutionäre Verdacht gegen die anderen Sprachen hat eine doppelte Form: erstens als außenpolitischer Verdacht, der ein kommunikativer Verdacht ist. Die anderen Sprachen können sich mit dem ausländischen Feind verschwören. Der jakobinische Grammatiker Domergue warnt ausdrücklich davor, daß bestimmte Grenzregionen mit den Feinden mittels der gemeinsamen Sprache kommunizieren: 182

Les départements limitrophes des étrangers, de nos ennemis, communiquent avec eux par un idiôme commun, puisent dans leurs écrits, dans leur commerce, des erreurs qui déshonorent la raison, des principes qui tuent la liberté. (Domergue 1794: 184) Die an das Ausland, an unsere Feinde, angrenzenden Départements kommunizieren mit diesen durch eine gemeinsame Sprache, schöpfen in ihren Schriften und im Umgang mit ihnen Irrtümer, die die Vernunft entehren, Prinzipien, die die Freiheit töten. Und die zweite Behauptung der Passage, daß die ausländischen Schriften und Gespräche die Quelle von Irrtümern seien, die die Vernunft entehrten («des erreurs qui déshonorent la raison»), enthält den anderen, tiefergehenden, philosophischen Verdacht gegen die anderen Sprachen, der ein kognitiver Verdacht ist: Die Dialekte und Sprachen Frankreichs sind mental reaktionär. Sie gehören eo ipso der alten unaufgeklärten Welt des Denkens an, sie verweigern sich in ihrer unaufgeklärten Primitivität dem wissenschaftlichen Geist bzw. – was dasselbe ist – der neuen politischen Ordnung («principes qui tuent la liberté»). Diese in den Regionalsprachen enthaltenen falschen Prinzipien faßt der «Propagandaminister» Barère 1794 im folgenden berühmten Satz zusammen: Le fédéralisme et la superstition parlent bas-breton; l’émigration et la haine de la République parlent allemand; la contre-révolution parle l’italien, et le fanatisme parle le basque. (Barère 1794: 715) Der Föderalismus und der Aberglaube sprechen bretonisch; die Emigration und der Haß auf die Republik sprechen deutsch; die Konterrevolution spricht italienisch, und der Fanatismus spricht baskisch. Barère nennt die nichtfranzösischen Sprachen Frankreichs «instruments de dommage et d’erreur», «Schadens- und Irrtums-Instrumente», die es zu zerschlagen gilt. Domergue (und in seinem Gefolge auch der schon erwähnte Grégoire) fordert die Vernichtung der Dialekte und Sprachen und die sprachliche Vereinheitlichung der Republik: «Effaçons les jargons, comme nous avons effacé les provinces» («Löschen wir die Jargons aus, wie wir auch die Provin183

zen ausgelöscht haben»). Denn: «La République, une et indivisible dans son territoire, dans son système politique, doit être une et indivisible dans son langage» («Die Republik, eins und unteilbar in ihrem Territorium und ihrem politischen System, muß eins und unteilbar sein in ihrer Sprache») (Domergue 1794: 184). Wie aber macht man das, wie eliminiert man die alten Sprachen, und wie verbannt man das damit verbundene alte, konterrevolutionäre Denken aus den Köpfen der Franzosen? Grégoire stellt in seinem Rapport über die Sprache der Republik von 1794 fest, daß sechs Millionen Franzosen kein Französisch können. Es ist kaum möglich, diese zwei Fünftel der Bevölkerung Frankreichs zu enthaupten, um ihnen das Baskische, das Flämische, das Deutsche, das Bretonische, das Italienische, das Katalanische und das Okzitanische auszutreiben. Die Guillotinierung ist also nie ernsthaft erörtert worden, wohl aber eine andere unfreundliche Maßnahme: die Umsiedlung. Aber auch die kommt nicht zustande. Die schließlich akzeptierte Strategie ist eine andere: Die Franzosen müssen Französisch lernen, d. h. das Schulprojekt ist das Zentrum der revolutionären Sprachpolitik. Erst wenn die Franzosen Französisch verstehen und dann auch sprechen und schreiben, kann die Republik mit dem Mitdenken aller Köpfe der Franzosen rechnen. Die Spracherlernung löst also sowohl das kommunikative Problem – sie zerreißt die Verbindung mit dem feindlichen Ausland – als auch das kognitive Problem: Sie löscht die in den reaktionären Altsprachen sedimentierten unwissenschaftlichen Vorurteile aus. Die anderssprachigen Franzosen sind für die aufgeklärten revolutionären Pariser im Grunde «Wilde», sauvages, d. h. fremde Völker auf dem eigenen Territorium, die noch nicht auf dem Zivilisationsstand sind, den die Republik erreicht hat.9 Die Kinder der Wilden, die enfants sauvages, werden in einem Erziehungsprozeß zu enfants sages erzogen, indem man ihnen die langues sauvages, austreibt und die langue sage oder die langue de la Liberté schenkt. Es ging allerdings nicht so schnell, wie man dachte. Es hat immerhin anderthalb Jahrhunderte gedauert, bis die enfants sauvages gute französische enfants sages geworden sind. Erst die Dritte Republik, die von Jules Ferry, hat das geschafft, etwa in der Mitte des 20. Jahrhunderts. 184

8.3.2. Révolutionner le français Wenn das Problem der verschiedenen Sprachen gelöst ist, bleibt nur das Französische als – wie es heißt – «universelle» Sprache der aufgeklärten Republik übrig. Aber auch mit dieser Universalisierung des Französischen wäre das Sprachproblem noch nicht ganz vom Tisch. Mit der Eliminierung der wilden Sprachen sind zwar die schlimmsten Quellen des Vorurteils ausgeräumt. Das Französische selbst enthält aber ebenfalls noch Vorurteile, idola fori, die eliminiert werden müssen. Auch das Französische ist ja noch eine Sprache, deren Wörter von dem (dummen) «Volksverstand», dem «vulgaris intellectus» (Bacon), geformt wurden und nicht von den Wissenden. Das Französische selbst ist also zu reformieren – oder, wie man sagte, zu «revolutionieren». Nicht nur die Sympathie mit den Regionalsprachen, auch die Sympathie mit dem Französischen, d. h. mit dem «unbestimmten», unwissenschaftlichen oder alten Denken, das im Französischen als einer Volkssprache notwendigerweise noch enthalten ist, schwand im Stress des revolutionären Kampfes. So etwa angesichts der Tatsache, daß die royalistische – oder sonstige – Opposition, die ja durchaus Französisch sprach, einfach nicht vom alten Denken lassen wollte. Diese französischsprechenden Konterrevolutionäre dachten z.B immer noch «roi», «König», wo sie diesen Gegenstand doch schon längst anders denken sollten, nämlich als «tyran». Altes, unwissenschaftliches, wildes Denken, die alten Götter, die idola fori der alten Sprache (oldspeak) sind noch in den Köpfen der Franzosen. Was tun? Hier ist ja tatsächlich die Guillotine eingesetzt worden. Bei einigen Franzosen, die immer noch «roi» dachten und vermutlich auch noch nach der alten aristokratischen Aussprache [rwε] sagten und nicht volkstümlich [rwa], unter anderen beim König selbst, ist das alte Denken mit ihrem Kopf gefallen. Dennoch hat dies das alte Denken nicht ausgerottet. Man ist daher auch hier anders vorgegangen, im wesentlichen mit zwei Maßnahmen. Erstens ist an der Sprache selbst gearbeitet worden, so wie es Locke und Condillac vorgeschlagen hatten. Die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft bringt eine große Zahl neuer Wörter 185

hervor, z. B. für die neuen Institutionen, für Maße und Gewichte, für den neuen Kalender etc. Eine neue Semantik im Sinne der Revolution ist erarbeitet worden, z. B. in revolutionären Wörterbüchern.10 Mit der Reform der Sprache, also der Angleichung des in den Wörtern sedimentierten Denkens an die richtigen Ideen, entsteht die richtige, die neue Sprache: newspeak. Eine solcherart reformierte Sprache ist universell, weil ja ihre Semantik universellen Ideen entspricht. Eine nach den Prinzipien der Vernunft und der Wissenschaft reformierte Sprache ist prinzipiell keine historische Einzelsprache mehr, sondern eine Universalsprache. Das von der politischen Revolution reformierte Französisch ist also gar nicht mehr Französisch, français, sondern Sprache der Menschheit: «universalais» oder «humanais». Sofern es die verschiedenen Sprachen, mit denen die Menschheit seit Babel gestraft sind, hinter sich läßt, ist dieses Universal-Französisch damit natürlich auch die Sprache des Paradieses, die Sprache des neuen Paradieses. Die Französische Revolution ist nämlich nach den religiösen Mythen, die eine so große Rolle gespielt haben bei der Etablierung dieser Neuen Kirche, kein neues Pfingsten. Pfingsten ist zwar das biblische Ereignis, das den Weg aus dem Fluch von Babel weist. Der pfingstliche Weg ist aber der Weg der Mehrsprachigkeit: Die Apostel verkünden dieselbe Frohe Botschaft in mehreren Sprachen. Dies aber tut die Revolution gerade nicht mehr. Sie hatte es versucht, es war ihr aber nicht gelungen. Deswegen geht sie einen radikaleren Weg: Sie kassiert den Fluch von Babel und errichtet ein Neues Paradies mit einer einzigen Sprache, die sie zur «natürlichen Sprache» der Menschheit revolutionär transformiert. Das revolutionierte Französisch ist die neue lingua adamica. Es bedarf aber, zweitens, noch weiterer Anstrengungen zur Realisierung dieses sprachlichen Paradieses. Es ist nämlich noch eine Methode vorzusehen, wie den französischsprachigen Franzosen die universelle Semantik beigebracht werden kann. Wie bei den störenden fremden Sprachen ist eine Erziehungsmaßnahme zu ergreifen, um die Vorstellungen der Revolution zu verbreiten. An dieser systematischen Stelle ist das Projekt der Écoles normales und der Écoles centrales angesiedelt. Die Etablierung einer «Normalschule» für die Lehrer und eines ganzen Netzes von zentralen Schulen in allen Départements des Landes verfolgt den Zweck, die Elite der 186

Schüler – die enfants sages – im Sinne der Revolution zu erziehen. Es versteht sich von selbst, daß dem Curriculum dieser Schulen eine Theorie der Erkenntnis und der Sprache zugrunde gelegt und auch explizit gelehrt wird, die den hier geschilderten Vorstellungen entspricht, im wesentlichen Condillacs Theorie des Geistes und der Sprache: ein allmählicher Aufstieg des Geistes aus den sinnlichen Empfindungen des Menschen über die Aufklärung der Sprache bis hinauf zur Vernunft.11 In diesen Schulen werden die enfants sages von aller Wildheit befreit. Sie steigen auf zu rationaler Wissenschaftlichkeit. Falls sie noch wilde Vorstellungen hegen, wie sie etwa die Semantik des Französischen als historischer Einzelsprache enthält (Beispiel: «roi»), so werden ihnen diese durch das wissenschaftliche Curriculum zur Erlernung der Sprache des Fortschritts, der Demokratie und der Aufklärung endgültig ausgetrieben.

8.4. Globale Sprach-Revolution Frankreich hat in seiner von der Revolution in Gang gesetzten historischen Entwicklung ziemlich exklusiv auf den einen Pol der sprachlichen Antinomie gesetzt: auf die zeichenhafte, wissenschaftliche Sprache. Es hat keine Sympathien für andere Sprachen und für den Zustand nach Babel gehegt. Es hat eigentlich nicht einmal Sympathie für die eigene, die französische Sprache aufgebracht, sondern diese der Wissenschaft, der Vernunft, der universellen Aufklärung unterstellt. Die douceur angevine, die der Dichter Du Bellay am Französischen geliebt hat, hat Frankreich in seinem Sprach-Mythos nicht beschworen, sondern die clarté, d. h. eine bewußt universell ausgerichtete Durchsichtigkeit der Sprache, die eigentlich eine Unsichtbarkeit der Sprache meint: clarté bedeutet bei allen Autoren, die sie beschreiben, daß das Französische mit dem universellen Denken identisch ist. Wenn man Französisch spricht, wäre es so, wie Aristoteles gesagt hat: Man denkt die universellen Gedanken der Menschheit. Französisch wäre also gar nicht französisch, sondern universell. Es wäre die neue Sprache des Paradieses. Frankreich ist in Sprachangelegenheiten den Gang der Revolution gegangen: es hat Vereinheitlichung, Verwissenschaftlichung, Universalisierung seiner Sprache betrieben. Und es wundert sich 187

nun, daß die Revolution das Französische einholt. Die universale Sprache der Wissenschaften, der Technik und aller rationalen Tätigkeiten ist das Englische geworden. Frankreich müßte im Sinne seiner menschheitlichen revolutionären Tradition eigentlich dieses universelle und wissenschaftlich gereinigte Globalesisch freudig begrüßen und sein altes, altmodisches Französisch aufgeben, so wie es seinerzeit die alten Sprachen und Dialekte eliminiert hat. Zu dieser Konsequenz ist es glücklicherweise aber nicht bereit. Es findet – als kulturelle Selbstverteidigung – plötzlich zurück zum anderen Pol der sprachlichen Antinomie: zur Beschwörung der Sprache als eigener, besonderer, also französischer Sprache. Dieser Schwenk ist natürlich nur glaubhaft, wenn man auch die anderen Sprachen wertvoll und besonders findet. Die Verteidigung des Französischen gegenüber dem revolutionären Globalesischen kann nur über ein Denken sprachlicher Verschiedenheit und Individualität, über die Liebe zur Sprache, erfolgreich sein. Dies haben Frankreichs Politiker auch gesehen, und sie berufen sich bei ihrer Verteidigung des Französischen daher jetzt auch auf den «plurilinguisme» und die «diversité culturelle», wie etwa der Premierminister Raffarin im Vorwort zum Bericht 2002 der staatlichen französischen Sprachpflegeorganisation Délégation à la langue française (DGLF ).12 Sie meinen mit «plurilinguisme» die Bewahrung der Sprache der Republik gegenüber dem Globalesischen: «assurer sur notre territoire la primauté du français, langue de la République» (auf unserem Territorium den Vorrang des Französischen, der Sprache der Republik, sichern), ebenso wie die Bewahrung der Reste ihrer Opfer, der alten wilden Sprachen des alten wilden Frankreich, der Regionalsprachen: «veiller à la pérennité des langues régionales» (auf den Erhalt der Regionalsprachen achten). Deswegen heißt die staatliche Sprachbehörde inzwischen auch nicht mehr nur DGLF , Délégation à la langue française, sondern DGLFLF : Délégation à la langue française et aux langues de France. Die «Sprachen Frankreichs» sind mit in den Schutz aufgenommen worden. Und «plurilinguisme» meint sogar die anderen Sprachen Europas, denen die französische Politik lange keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat: «soutenir au niveau européen, l’apprentissage de deux langues vivantes». Wahrscheinlich ist es aber zu spät. 188

Es ist vor allem zu spät, weil der wichtigste europäische Nachbar Frankreichs – Deutschland – gerade den umgekehrten Weg geht und Frankreich auf seinem Weg zurück in die Liebe zu den vielen Sprachen und zu den sprachlichen Besonderheiten allein läßt oder ihm in den Rücken fällt. Deutschland war seit dem 18. Jahrhundert in sprachlichen Dingen eher den Weg der Philologie, der Sprachliebe (amore delle lingue), als den der Philosophie und ihres Sprachhasses (odio) gegangen. Seine bedeutendsten Sprachdenker – Leibniz, Herder und Humboldt – hatten Respekt und Interesse für das in den Sprachen sedimentierte poetische Denken und für die wilde Verschiedenheit der Sprachen gelehrt. Deutschland hatte in seiner nationalen kulturellen Entwicklung die Pflege einer einheitlichen Hochsprache mit der Sympathie für die dialektale Vielfalt und mit einem gewissen Stolz auf Kenntnisse fremder Sprachen verknüpft. Es war stolz auf die akademische Philologie, die sich mit Sprache in ihren verschiedensten Aspekten beschäftigte. Dies alles wird nun aber im Rahmen – und im Namen – der Globalisierung kassiert durch eine neo-jakobinische Sprach-Politik, die Deutschland gegen seine eigene Sprache richtet: Die gesellschaftlich relevanten Sachen haben hierzulande – wie nirgends sonst in Europa – zunehmend globalenglische Bezeichnungen. Werbung, Technik, Wirtschaft sprechen in Deutschland immer exklusiver und unverschämter (ihnen gehört ja der Laden) globalenglisch, bis hin zur Telefonrechnung: GermanCall, CityCall, WorldCall mußten die Deutschen eine Zeitlang bezahlen (die Telekom hat das vorläufig wieder zurückgenommen). Die Politik folgt willig bei Fuß. Wie weiland die Regionalsprachen bei Jules Ferry in Frankreich, so wird hierzulande die alte wilde Sprache nun vor allem aus der Schule hinausgedrängt und die Sprache des Fortschritts, der Demokratie und der Aufklärung verbreitet: Statt des wilden Deutschen gibt es Frühenglisch im Kindergarten und in der Grundschule, im Gymnasium werden zunehmend alle wichtigen Fächer auf englisch unterrichtet, und die Universitäten werden von der Presse und «innovativen» Staatsagenten gedankenlos zum Globalesischen gedrängt. Der aufgeklärte revolutionäre Haß der Deutschen richtet sich gegen ihre eigene Sprache. Es ist der Haß auf (und die nicht vergehende Scham über) die wilde Sprache, die langue sauvage, die langue de sauvages, in der ja in der Tat die schrecklichsten, wilde189

sten Befehle der Menschheit gebrüllt wurden und die wir nicht loswerden.13 Zu den zivilisierten Völkern gehören wir anscheinend erst wieder, wenn wir diese Sprache der Wilden hinter uns lassen und wenn wir – zumindest als Bildungssprache, als Sprache der höheren Diskursuniversen, als Hoch-Sprache – die Universalsprache der Aufklärung und des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts sprechen. Deutschland holt offensichtlich in der Globalisierung die (französische) Revolution der Sprache nach, Frankreich sucht dagegen den alten deutschen Weg. Zwei völlig konträre Antworten auf die Revolution der Sprachen der Welt, auf die globale Wiedererrichtung des Paradieses. Wie wird Europa sich entscheiden? Ich vermute: Frankreich hat keine Chance. Es siegt die Revolution, die Guillotine der Sprachen.

9. Welche Sprache für Europa? 9.1. Die Sprache der Welt in Europa Im Zusammenhang mit den aktuellen politischen Transformationen in Europa stellt sich die Frage nach der Sprache Europas immer dringender. Die Frage hat zumeist die einfache Form «Welche Sprache für Europa?», die sich ganz harmlos anhört, die aber in dieser harmlosen Verkleidung erhebliche Probleme enthält. Erstens: Was heißt «Europa»? Das geographische Europa von Island bis zum Ural ist wohl nicht gemeint. Das kulturelle Europa? Eine heikle Sache, über die man nicht gern spricht, jedenfalls Politiker nicht! Orientiert ist die Frage zumeist an der EU. Aber sind dann mit «Europa» die Institutionen in Brüssel und Straßburg gemeint? Oder ist das Europa der internationalen wissenschaftlichen und technischen Diskurse gemeint, der Geschäftsverkehr oder gar die alltägliche Begegnung der Menschen in diesem Europa? Zweitens: Warum ist nur von einer Sprache die Rede? Natürlich glaubt jeder zunächst, daß wir in Europa eine Sprache brauchen, mit der wir uns über unsere vielen Sprachen hinaus gemeinsam verständigen können. Dennoch: Die Frage nach der Sprache im Singular hat etwas Drängendes, sie gibt die Lösung schon vor. Vielleicht liegt die Lösung ja gar nicht im Singular? (Die Frage, was «Sprache» denn heißen soll – gesprochen, geschrieben, Nähesprache, Distanzsprache, Konversationssprache, Amtssprache, Arbeitssprache, Literatursprache etc. – erwähne ich nur in Klammern.) Drittens, und das ist vielleicht das Gravierendste: Die Frage tut so, als ob sie noch offen wäre. Die Frage ist natürlich längst beantwortet. Welche Sprache spricht Europa? Natürlich Englisch, globales Englisch, die Sprache der Welt: Globalesisch. Globalesisch ist trotz aller französischen Eindämmungsversuche die Sprache der EU, zunehmend auch in den Korridoren und Büros in Brüssel und Straßburg. Es ist die internationale Sprache von Wissenschaft, Technik und Business. Es ist die Sprache, die Europäer miteinander 191

sprechen, wenn sie sich im Alltag begegnen. Selbst in Paris kann man als Däne, Italiener oder Deutscher kaum mehr einen Kaffee anders als auf Englisch bestellen, mit Touristen spricht man dort nicht mehr französisch, sondern globalesisch. Die Frage ist also nicht, welche Sprache, sondern nur noch, wieviel wir von dieser einen Sprache in Europa brauchen. Meine vorläufige Antwort auf diese Frage wäre: so viel wie nötig, aber auch nicht mehr. Warum meine Reserve? Warum finde ich dieses globalesische Englisch problematisch als Sprache für Europa, wo doch bei den deutschen Bankvorständen, großen Firmen, Universitätspräsidenten, Schools of Governance und sonstigen globalen Spielern jubelnde Begeisterung herrscht und in den entsprechenden Instituten entweder schon längst globalesisch gesprochen und geschrieben wird oder aber die Einführung dieser Sprache massiv vorangetrieben wird. Englisch ist natürlich eine schöne Sprache. Ich habe eine enge Beziehung zu dieser Sprache, sie war die erste Fremdsprache, die ich mit Begeisterung gelernt habe, sie war meine erste Begegnung mit der fremdsprachigen Welt. Ich habe auch ziemlich lange in Amerika gelebt, das ich als ein wunderbares Land kennengelernt habe. Die Antiamerikanismus-Keule schwingt man über mir vergebens. Ich habe allerdings auch lange Zeit in Frankreich, in Italien, in Ungarn gelebt, der Ausdruck «Fremdsprache» ist also für mich nicht automatisch, wie das jetzt im Deutschen der Fall ist, identisch mit «Englisch». Die Reserve gegenüber dem globalen Englisch hat andere Gründe, die ich im folgenden skizzieren möchte. Erstens: Das Englische ist als globale Sprache keine europäische Sprache. Es bringt für Europa nicht das, was Sprachen sonst für ihre Sprecher bringen, nämlich Identität. Das Deutsche ist – oder besser: war – durchaus ein Identitätszeichen für eine Kultur-Landschaft, für einen Sprachraum, für eine Sprachgemeinschaft.1 Das Französische ist ohne jeden Zweifel ein Symbol für die Identität der Franzosen. Die Franzosen «erkennen sich», wie man sagt, durchaus in ihrer Sprache als Franzosen. Das globalesische Englisch aber bringt nichts für eine europäische Identität. Es geht ja ausdrücklich über Europa hinaus, es ist die Sprache der Welt, nicht die Sprache Europas. Eine eigene gemeinsame Sprache wäre aber kein schlechter identitärer Kitt für die europäische Gemeinschaft. 192

Zweiter, vielleicht gravierenderer Einwand: Das Englische ist die Muttersprache der Bevölkerung eines großen (und eines kleineren) Landes in diesem Europa, und dies verschafft denen, die Englisch als Muttersprache haben, ein ausgesprochen ungerechtes Privileg. Es ist ein Privileg, das in seiner Ungerechtigkeit durchaus mit dem Adelsprivileg vor der Französischen Revolution vergleichbar ist. Man wird, wie in den Adel, in diese Sprache hineingeboren und in ihr sozialisiert, man besitzt diese Sprache ohne jegliches Verdienst. Die Besitzer dieser Sprache, die englischen Muttersprachler, haben durch diesen Besitz unglaubliche Vorteile (zugebenermaßen oft verbunden mit dem Nachteil einer sich zunehmend verschärfenden Einsprachigkeit – ein intellektuelles Problem mit erheblichen Konsequenzen). Die Bevorzugung anglophoner Muttersprachler auf dem europäischen Arbeitsmarkt ist manifest. Nicht-anglophone Wissenschaftler erleben die ungerechte Privilegierung anglophoner Muttersprachler auf internationalen Kongressen, bei der Publikation von Artikeln und Büchern. Dritter Nachteil: Dieses globalesische Englisch ist ein «Sprachenkiller», und zwar in mehrfacher Hinsicht. Erstens verhindert es den Erwerb anderer Fremdsprachen. Das ist eine absurde Entwicklung in Europa: Die Europäer vereinigen sich und lernen immer weniger europäische Sprachen. Dramatisch ist z. B. die Situation des Deutschunterrichts in Frankreich, der sich dort in den letzten Jahren gleichsam aufgelöst hat. Das ist eine Folge des Vordringens des Englischen, das als internationale Kommunikationssprache – auch in Deutschland – völlig ausreicht. Und auch in Deutschland wird es immer schwieriger, Schüler zum Erlernen anderer Sprachen als des Englischen zu animieren. Das «Europäische Jahr der Sprache», das die EU auf Vorschlag des Europarates vor ein paar Jahren veranstaltet hat, reagiert auf diese Entwicklung, aber anhalten kann es sie nicht wirklich.2 Das mächtige globale Englisch ist des weiteren insofern ein Sprachenkiller, als es die anderen Sprachen in ihrem Inneren bedroht. Allerdings ist das Problem der Anglizismen und des englischen Einflusses, das die Leidenschaften der Sprachpuristen erregt, nicht überall in Europa ein gleich großes Problem. Es ist allerdings ein Problem des Deutschen. Kaum eine andere Sprache wird derzeit so mit englischen Wörtern vollgeschüttet wie das Deutsche, von Werbeagenturen, Politikern, flotten Wissenschaft193

lern und Journalisten, also von den Sprechern, die das Sagen haben und die ganz offensichtlich diese Sprache hassen oder zumindest verachten (anders kann man sich die Vehemenz und Agressivität dieser Entwicklung hierzulande nicht erklären). Drittens – und vor allem – ist das Globalesische ein Sprachenkiller, weil es die Gebrauchsdomänen der alten europäischen Sprachen reduziert: Bestimmte Diskursdomänen werden nicht mehr in den Nationalsprachen, sondern nur noch auf Englisch sprachlich bewältigt. Zum Beispiel werden die Wissenschaften zunehmend nicht mehr auf Französisch, Spanisch, Italienisch, Deutsch betrieben, sondern nur noch auf Englisch. Gerade die prestigereichen Domänen des Sprechens werden aus den Nationalsprachen eliminiert. Damit sinkt das, was die Linguistik den Status einer Sprache nennt, es sinkt das Ansehen dieser Sprachen, und es reduziert sich das, was die Linguistik den Ausbau einer Sprache nennt. Es verschwindet die Möglichkeit, auf Deutsch, Französisch oder Italienisch über Biologie, Physik und Wirtschaft zu sprechen, diese Felder der Rede fallen zunehmend aus diesen Sprachen heraus. Wir nähern uns einer diglossischen Situation,3 die folgendermaßen aussieht: Die oberen, prestigereichen Diskurse (Wissenschaft, Geschäftswelt, Business, internationale Politik etc.) bespricht man im globalen Englisch, und für die alltäglichen, «unteren» Diskurse bleiben die Nationalsprachen bzw. die Volkssprachen.4 Diese bekommen damit zunehmend den Status, den früher die Dialekte und Regionalsprachen hatten: Alltagskommunikation, mündliche Kommunikation, lokale Kommunikation. Im Grunde konkurrieren die Nationalsprachen heute mit den Dialekten, gegen die sie kaum eine Chance haben. Dort wo die Dialekte noch lebendig sind, haben die Nationalsprachen nämlich eine schwächere Position als diese, die sich als wirkliche «Muttersprachen» viel besser halten. Das Verschwinden der deutschen Standardsprache in der Schweiz ist z. B. jetzt schon abzusehen, weil dort, wo früher «Schriftdeutsch» war, jetzt zunehmend Englisch ist. Letztlich killt also das Globalesische die europäischen Nationalsprachen. Die Diskursdomänen der Dialekte und Regionalsprachen sind vom Globalesischen nicht betroffen. Die Nationalsprachen aber werden zwischen Dialekt und Globalsprache aufgerieben.5

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9.2. Die Sprache Europas Soweit die Aufzählung der Probleme, die mit der Frage «Welche Sprache für Europa?» verbunden sind. Wenn diese Frage wirklich noch offen wäre, dann wäre meine Antwort: «natürlich Latein!» Das Lateinische ist wie das Englische eine schöne Sprache, mit der man alles sagen kann. Man kann auf Lateinisch nicht nur über Theologie und Philosophie sprechen, sondern auch über Physik und Geschichte sowie über Kühlschränke, Computertechnik, Business usw., und man kann auch fragen, wie man zum Flughafen kommt. Der Vatikan hat diese Sprache, die man immer nur mit der alten Welt und der Kirche verbindet, nämlich lebendig und modern gehalten und kontinuierlich neue lateinische Wörter für neue Lebenswirklichkeiten generiert. Das Lateinische ist eine voll ausgebaute Sprache, die für die internationalen europäischen Zwecke durchaus geeignet wäre. Es hätte gegenüber dem englischen Globalesisch zwei Vorteile: Erstens wäre es wirklich eine europäische Sprache. Es repräsentiert und trägt wie keine andere die europäische Identität. Es ist die Sprache des alten Europa, zu dem übrigens auch das gehört, was in böser politischer Absicht das «neue Europa» genannt wurde. Denn diese Sprache ist die Sprache Roms gewesen, und «Rom» – das Imperium, das Recht, die Kirche, die Universität – war als Erbin Athens und Jerusalems jahrhundertelang Europa. Ein sinnvoller kultureller Begriff von Europa bezieht sich auf «Rom», in dem Athen und Jerusalem aufgehoben sind, wie Rémi Brague 1992 in seinem großartigen Buch über Europa gezeigt hat: Europe, la voie romaine. Europas Kultur und Identität ist der «römische Weg». Und die Sprache, die diese Kultur getragen hat, war das Lateinische. In dieser Sprache ist der wesentliche Teil des europäischen Gedächtnisses aufbewahrt. Das Lateinische ist das Fundament oder das Gefäß europäischer Geistigkeit, womit ich nicht nur die antike Literatur – Cicero, Vergil, Horaz – meine, sondern ebensosehr die christliche Tradition von Augustinus bis zu den humanistischen und modernen lateinischen Texten in Wissenschaft, Recht und Philosophie. Kant hat ebenso wie Giambattista Vico noch im 18. Jahrhundert seine ersten Werke auf Lateinisch geschrieben, bis beide 195

dann zu den jeweiligen Nationalsprachen übergegangen sind. «Europäische Identität», wenn man sie denn in einer Sprache situieren möchte, hätte im Lateinischen einen sprachlichen Ort. Der zweite, immense Vorteil wäre, daß das Lateinische niemandes Muttersprache ist. Niemand hätte ein Privileg, alle müßten diese Sprache als Zweitsprache erwerben. Das Lateinische ist ungefähr seit dem 9. bis 10. Jahrhundert niemandes Muttersprache mehr. Seitdem haben sich nämlich die romanischen Sprachen so sehr vom Lateinischen entfernt, daß auch in den romanischen Ländern das Lateinische eine Sprache geworden war, die man in der Schule lernen mußte und die nicht mehr die «natürliche» Erstsprache der alltäglichen Umgebung, die «Muttersprache», war. Die berühmte späte Ausnahme ist Montaigne im 16. Jahrhundert. Er hatte einen deutschen Erzieher, der ihn lateinisch sozialisierte, so daß tatsächlich das Lateinische seine Muttersprache war. Da das Lateinische heute aber niemandes Muttersprache mehr ist und von allen als Zweitsprache erworben werden müßte, hätten wir eine gerechte Diglossie: Oben, d. h. für die wichtigen Diskurse, für die Wissenschaft, die internationalen Beziehungen, für die Geschäfte, das von allen zusätzlich gelernte Latein und unten, d. h. für den Alltag und für die Dichtung, die «natürlich erworbenen» Volkssprachen. Wie im Mittelalter. An dieser historischen Diglossie, an dieser Zweisprachigkeit des ganz alten Europa kann man allerdings auch die Gefahren aufzeigen, in die wir uns auch mit dem Lateinischen als Sprache Europas begeben würden. Die Gefahren gelten für das Lateinische genauso wie für das Englische. Auch das Lateinische wäre – und war – ein «Sprachenkiller»: Erstens hat man im Mittelalter zwar Lateinisch als «obere» Sprache gelernt, aber kaum jemand ist bis ins 16. Jahrhundert hinein auf die Idee gekommen, irgendeine andere Sprachen zu lernen (die vermeintlichen Ausnahmen – Französisch für die Epen-Dichtung, Niederdeutsch für die Hanse – bestätigen die Regel der Exklusivität der «wichtigen» Sprache). Zweitens hat natürlich auch das Lateinische die Volkssprachen stark beeinflußt. Das Deutsche z. B. ist eine zutiefst latinisierte Sprache. Ohne das Lateinische kann man sich das Deutsche eigentlich gar nicht erklären. Aus der Sicht dieser historischen symbiotischen Bereicherung müßte vielleicht die von mir eingangs beklagte massive Beeinflus196

sung des Deutschen durch das Englische anders bewertet werden. Doch das sei einmal dahingestellt. Drittens würden auch mit dem Latein als Hoch-Sprache Europas die Nationalsprachen wieder zu Sprachen reduziert, deren Ausbau zurückgenommen, deren Status niedriger und deren Reichweite geringer wäre als bisher, ja deren Existenz in der Konkurrenz mit den Dialekten und Regionalsprachen sogar gefährdet wäre. Wir hätten wieder die mittelalterliche Trennung in Wissende und Unwissende, in oben und unten, oben Latein und unten die Volkssprachen. Dies war ja die Sprachsituation Europas bis ins 16. Jahrhundert.

9.3. Europas Abschied von seiner Sprache Gerade aber weil sie unerträglich war, hat Europa diese Diglossie aufgegeben in einem Prozeß der sprachlichen Emanzipation, der im 16. Jahrhundert begann und etwa im 19. Jahrhundert vollendet war. Die Aufgabe des Lateinischen war ein großer kultureller und politischer Fortschritt, der die angedeuteten, mit der Diglossie zusammenhängenden Trennungen aufgehoben hat.6 Europas Abschied von der alten Sprache Europas impliziert eine ganze Serie von Befreiungen: Die Aufgabe des Lateinischen war eine politische und soziale Befreiung. Der französische König hatte z. B. im 16. Jahrhundert dekretiert, daß in Verwaltung und Gerichtsbarkeit seines Königreichs das Französische verwendet werden mußte, weil er wollte, daß das Volk etwas versteht, d. h. daß das Volk an Verwaltung und Rechtssprechung teilnimmt. Die Maßnahme wird zwar im Rahmen einer Monarchie getroffen, sie ist aber durchaus «demokratisch», sofern sie auf die Partizipation der Bürger zielt. Die Aufgabe des Lateins hängt mit der Emanzipation und dem Aufstieg des Bürgertums zusammen. Das Klassensystem des Mittelalters – Kirche, Ritter, Bauern – wird erschüttert, das Bürgertum wird die bestimmende ökonomische Klasse, die zunächst auch die neu entstehenden Nationalstaaten und deren Sprachen als ihren Aktionsraum betrachtet. Die religiöse Befreiung, die Reformation, ist ohne Abschied vom Lateinischen nicht zu denken. Sie hat in Deutschland das Deutsche, in Frankreich das Französische als ihr sprachliches Medium benutzt bzw. diese Sprachen als Medien für 197

den gesamten Sprachraum auch erst geschaffen. Religiöse Befreiung bedeutet hinsichtlich der Sprache: Zwischen mir und Gott steht kein Priester mehr, der in einer fremden Sprache – Lateinisch – vermittelt. Ich spreche selbst mit meinem Gott, in meiner Sprache. Damit geht eine weitere intellektuelle Befreiung einher, die das Lateinische hinter sich läßt: Die Nichtwissenden, die «Laien» (und Frauen), die durch die lateinische Sprachbarriere am Wissen gehindert wurden, wollen es wissen, und sie wollen, daß ihnen das Wissen in ihrer Sprache zur Verfügung gestellt wird. Und schließlich: Es entsteht eine neue Art von Wissenschaft, eine, die etwas mit den Händen macht, die experimentiert. Die Wissenschaftler im Mittelalter haben im wesentlichen Bücher gelesen, sie haben das Wissen aus den lateinischen Büchern geschöpft. Sie haben nicht gehandelt, keine Sachen, z. B. einen Apfel, in die Hand genommen und fallen lassen. Die experimentierenden Wissenschaftler sind Handelnde, die sich ganz bewußt vom Lateinischen abwenden, weil sie die Sprache derer sprechen wollen, die im Leben stehen und im Handeln Neues schaffen und denken. Die mittelalterliche Diglossie, oben Latein und unten Volkssprachen, verschwindet also seit dem 16. Jahrhundert, und die Volkssprachen übernehmen die Aufgaben der hohen Diskurse. In der Verwaltung, in der Kirche, in den Wissenschaften werden Volkssprachen verwendet (gedichtet wurde sowieso immer eher in der Volkssprache als auf Latein). Die prestigereichen Diskursdomänen des Lateinischen werden von den Nationalsprachen erobert, die ausgebaut werden und ihren Status beträchtlich erhöhen. Das Lateinische verzieht sich in immer kleinere internationale Bereiche: z. B. in die katholische Kirche oder, bis ins 18. Jahrhundert, in die Diplomatie, bis dann das Französische diese Funktion für eine gewisse Zeit übernimmt.

9.4. Europa in vielen Sprachen Resultat dieser Emanzipationsprozesse ist das vielsprachige Europa. Vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, d. h. bis zu der von Deutschland eingeleiteten Selbstzerstörung Europas, wächst die moderne Sprachkonstellation des Kontinents: Europa ist ein vielsprachiger 198

Raum. Europas Kultur, die alte lateinische Kultur – Rom, Athen, Jerusalem – , ist nun in den vielen Sprachen aufgehoben. Europa hat aber die Beziehungen zu Rom und zum Lateinischen nicht einfach gekappt, sondern es hat die lateinische Kultur in den verschiedenen Sprachen weitergeschrieben (und seine Kinder haben ja auch bis vor kurzem noch Latein gelernt). Es gibt also durchaus weiterhin eine europäische Kultur, la voie romaine, aber sie ist vielsprachig. Die entscheidende Erfahrung der Europäer ist: Unsere Volks- oder Nationalprachen sind genauso gut wie die gute alte Sprache Latein. Selbst das Internationale ist im modernen Europa vielsprachig gewesen. Das Französische war gewiß für zwei Jahrhunderte die Sprache der Diplomatie. Aber die Europäer sprachen nicht in allen internationalen Domänen französisch. Die Naturwissenschaften sind Ende des 19. Jahrhunderts dreisprachig, sie finden international auf Englisch, Deutsch und Französisch statt. Auch die internationalen Geschäfte werden auf Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch usw. und nicht nur in einer Sprache betrieben. Latein bleibt natürlich die Sprache der katholischen Kirche. Die europäischen Eliten sind bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts vielsprachige Eliten: Latein konnten sie alle, viele auch ein bißchen Griechisch. Ein deutscher Geschäftsmann mußte aber auch Französisch und Englisch können, ein Physiker zumindest Englisch, ein Mathematiker Französisch. Sogar gebildete Engländer konnten eine fremde Sprache, zumeist Französisch. Und die Eliten der sogenannten «kleinen» Völker Europas waren bewundernswert vielsprachig. Ein gebildeter Ungar konnte neben dem Ungarischen auch Lateinisch, Deutsch, Französisch, Englisch. Heute reicht ihm Englisch. Wo ist da der Fortschritt? Mit der Erfahrung des Wertes der eigenen Sprache und der gelebten Vielsprachigkeit der europäischen Eliten änderte sich, wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben, in Europa auch die Konzeption von Sprache, zunächst in der gelehrten Sprachreflexion, dann aber auch im Bewußtsein der Europäer: von der alten aristotelischen Zeichenauffassung von Sprache zur humanistischen und modernen Einsicht, daß Sprachen nicht nur materiell, sondern eben auch semantisch und strukturell verschieden sind, «Weltansichten», wie Wilhelm von Humboldt schreibt. Mit ihrem Aufstieg in die Diskurswelten des Lateinischen eroberten die Volks199

sprachen einen Raum, der ihnen politischen, gesellschaftlichen, «nationalen» Rang verschafft. Mit der Einsicht in ihre semantische Besonderheit gewinnen sie nun eine kognitive Tiefe, die sie als bedeutende kulturelle Schöpfungen, als Symbole der jeweiligen Kultur und damit auch als wertvolle Gegenstände wissenschaftlichen Nachdenkens erscheinen lassen.

9.5. Rückkehr zum Mittelalter Wenn wir heute wieder zur mittelalterlichen Diglossie zurückkehren – oben die (fremde) Hochsprache Globalesisch, unten die Volkssprachen – so werden die Emanzipationsgewinne wieder kassiert. Die politischen, geistigen und gesellschaftlichen Trennungen (nicht die religiösen, die hierbei keine Rolle mehr spielen) werden in neuer Form restauriert (woran auch die vorläufig nur halb und langsam gelingende Total-Anglisierung ganzer Völker nichts ändert). Der Ausbau der Sprachen wird zurückgenommen (das zeigt sich jetzt schon ganz massiv, wo über allerneueste wissenschaftliche, technische und gesellschaftliche Entwicklungen nicht mehr in den Nationalsprachen, jedenfalls nicht mehr auf Deutsch, gesprochen werden kann).7 Die «großen» Sprachen gleichen sich den sogenannten kleinen Sprachen an, über denen schon immer eine oder mehrere andere Fremdsprachen für die hohen Diskurse schwebte (daher sind die Mitglieder der «kleinen» Sprachgemeinschaften auch die Gewinner auf der globalen Szene: Weil sie schon immer dort waren, sind Dänen, Holländer und Schweden im globalen Wettbewerb längst da angekommen, wo die Deutschen, Italiener und Franzosen erst noch hinwollen). Daß auch die Kultur – vor allem Film und Musik – sich zunehmend nur noch in der Großen Globalen Sprache ausdrückt, ist etwas Neues und verschärft sogar noch die diglossische Situation gegenüber dem Mittelalter, das eine starke volkssprachliche Kultur kannte. Die Entwertung der volkssprachlichen Kultur vertieft den Abgrund zwischen Wissenden und Nichtwissenden, zwischen cool und uncool, zwischen weltgewandt und doof. Es gibt solche, die können das Globalesische gut und nehmen an der dominanten Kultur teil, und es gibt solche, die können es nicht oder nicht gut: die losers. Ohne Zweifel ist die globale200

sische Restauration ein Moment der sich verschärfenden gesellschaftlichen Gegensätze. Die questione della lingua ist – heute vielleicht noch mehr als im Cinquecento – nicht nur eine sprachliche Frage, sondern sie ist zutiefst verwickelt in politische und soziale Prozesse, in Gramscis Frage nach der kulturellen Hegemonie. Oben Globalesisch, unten die anderen, niedrigeren Sprachen. Der tiefgreifendste Unterschied zur mittelalterlichen Situation scheint mir der zu sein, daß wir wissen, was wir verlieren. Zu den erneuerten gesellschaftlichen Trennungen kommt also – jedenfalls bei manchen – ein unglückliches Bewußtsein hinzu. Aufgrund der historischen Erfahrung der Würde der eigenen Sprache und aufgrund des Bewußtseins der Existenz verschiedener sprachlicher «Weltansichten» wissen wir, daß es nicht gleichgültig ist, ob wir die eine oder die andere Sprache sprechen. Wir wissen, daß wir Abschied nehmen von einer fünfhundertjährigen Geschichte, daß wir Europa aufgeben.

9.6. Was soll Europa tun? Europa soll vor allem nicht das tun, was Deutschland tut. Es soll erstens nicht die eigene Sprache vollmüllen mit globalesischen Werbesprüchen, mit überflüssigen und snobistischen Entlehnungen, nur weil das cool ist. Die Übertreibung der Coolness ist nämlich überhaupt nicht cool, sondern Zeichen einer ziemlich uncoolen Haltung, der Affektiertheit, der «affettazione», wie das Baldassar Castiglione nannte. Castiglione, der den Typ des coolen jungen Mannes als kulturelles Modell Europas geschaffen hat, nannte die snobistische Übertreibung der fremdsprachigen Entlehnungen ein «vicio odiosissimo», eine besonders verächtliche Verletzung des Modells des modernen Europäers.8 Auch sollte Europa nicht den zweiten Fehler Deutschlands wiederholen: es sollte nicht in vorauseilender Beflissenheit dem Globalesischen dort Sprach-Räume öffnen, wo es gar nicht nötig ist. In Schulen, deren Direktoren sich besonders engagieren, die besonders modern sein wollen, werden jetzt in Deutschland z. B. Geschichte, Politik und Naturwissenschaften auf Englisch unterrichtet. Diese Diskursdomänen können die jungen Deutschen, die 201

diesen Immersionsunterricht genossen haben, dann zukünftig nicht mehr auf Deutsch besprechen. Vor allem für die Geschichte ist dies geradezu fatal. Globalesischer Geschichtsunterricht ist nicht nur fehlgeleiteter Kosmopolitismus, sondern auch eine sichere Methode, die eigene Geschichte als fremde zu erleben (die mich dann auch nichts mehr angeht), etwa nach dem Muster: «The German Prime Minister’s name was the Führer. The Führer Adolf Hitler’s office was called Reichskanzlei» etc. etc. Es ist auch nicht nötig, daß unsere Universitäten zunehmend Curricula auf Englisch anbieten (als ob damit auch nur ein einziger Student von englischen oder amerikanischen Universitäten abgeworben werden könnte). Denn zur Einführung in die Wissenschaft ist es eigentlich ganz gut, wenn man die Leute da abholt, wo sie sind, d. h. (noch) in ihrer eigenen Sprache. Sicher ist es vernünftig, in manchen Graduiertenstudien oder zur Vorbereitung auf internationale Kongresse Englisch zu sprechen. Die Gründe, warum vor allem die Deutschen so begierig aus ihrer Sprache auswandern, sind evident. Sie wollen heraus aus ihrer Nazisprache. Wenn wir diese Sprache nicht mehr sprechen, merkt niemand mehr, daß wir einmal diese Sprache gesprochen haben (die uns überall auf der Welt aus den Fernsehern Naziparolen entgegenbrüllt), wir sind entsühnt. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus scheint mir der besondere Grund für die massive Übertreibung des Englischen in Deutschland, für den Austritt aus der eigenen Sprache, dem wir im nächsten Kapitel ausführlicher nachgehen. Dies ist nicht nur wieder einmal besonders deutsch, es ist auch uneuropäisch. Denn die anderen Völker Europas wollen ihre Sprachen nicht aufgeben. Die merkwürdigen transnationalen Deutschen in ihrer Mitte sollten ihnen Sorgen machen. Was also können wir Europäer tun, wenn wir nicht das tun, was die Deutschen tun? Welche Sprache für Europa? Nicht eine, sondern (mindestens) drei Sprachen für Europa. Erstens. Europa ist eine Kultur in mehreren Sprachen. Alle Sprachen sind Erben des römischen Lateins und des lateinischen Rom, das seinerseits Athen und Jerusalem beerbt hat. Daher bleibt es die erste sprachliche Pflicht der Europäer, die eigene Sprache zu fördern und zu pflegen, die diese europäische Kultur weitergetragen hat und immer noch trägt. Die erste Sprache für Europa ist die 202

eigene. In Deutschland wäre das Deutsche zu pflegen und zu fördern. Man könnte daran denken, den Deutschunterrricht zu verstärken, statt ihn zu schwächen. Der Deutschunterricht wird aber bei allen guten Absichten in den derzeitigen Post-PISA -Diskussionen schon konzeptuell im Kern geschwächt, wenn kluge Bildungsberater diesen Unterricht in der Sprache der Nation – der Terminus «Muttersprache» paßt ja wirklich nicht mehr – als einen Unterricht in der «Verkehrssprache» fassen.9 Ich kann mir schlicht keinen Menschen vorstellen, der eine engere geistige und emotionale Bindung zu einer «Verkehrssprache» aufbaut. Er soll es offensichtlich auch nicht: Die «Verkehrssprache» wird als «rationale Sprache» völlig von «nichtrationalen Kommunikationstechniken» (damit sind die Künste gemeint!) getrennt und hat offensichtlich keine ästhetisch-poetische, «nichtrationale» Dimension, die eine emotionale Bindung an die Sprache ermöglichen würde.10 Es wäre auch wichtig, daß die Wissenschaften, die die Kultur erforschen und fortschreiben, die jeweilige Sprache, in unserem Fall das Deutsche, weiterverwenden. Daß die Naturwissenschaften Englisch sprechen und schreiben, ist zwar für den Ausbau und den Status der Nationalsprache problematisch, andererseits aber ist es (vielleicht) für diese Wissenschaften insofern nicht besonders schlimm, als die Sprache bei diesen Tätigkeiten eine instrumentale und untergeordnete Rolle spielt. Aber in den Kulturwissenschaften, in denen die Produktion von Texten, die sprachliche Aktivität selbst das wesentliche wissenschaftliche Tun ist, sollten wir die Sprache benutzen, die wir am besten können, und das ist – derzeit jedenfalls – immer noch das Deutsche. Zweitens. Natürlich müssen alle Englisch können, das ist ganz klar, das brauchen wir zur internationalen Kommunikation, darüber braucht man gar nicht mehr zu sprechen. Globales Englisch ist eine kommunikative Kulturtechnik, ihr Erwerb sollte vielleicht auch nicht mehr «Fremdsprachenunterricht» heißen. Das Globalesische ermöglicht uns die Kommunikation mit allen Menschen der Welt, also auch mit den anderen Europäern. Allerdings könnte der Globalesischunterricht erheblich reduziert werden, eben auf den Erwerb von Kompetenzen in internationalen Kommunikationssituationen, d. h. neben den Alltagssituationen (Flughafen, Restaurant etc.) insbesondere wissenschaftliche, technische, kommerzielle, 203

administrative. Die derzeitigen übertriebenen Lernziele des Globalesischunterrichts – quasi-muttersprachliche Kompetenz – wären zu überdenken. In den oberen Klassen der Gymnasien, wo er ja inzwischen gleichsam zu einer Verdoppelung des Unterrichts in der Nationalsprache geworden ist, könnte die Zeit für wirklichen Fremd-Sprachen-Unterricht genutzt werden. Ich meine damit, drittens, daß man Sprachen nicht nur zum effektiven Kommunizieren lernt – das machen wir ja schon mit dem Englischen – , sondern daß man sich eine andere europäische Sprache wirklich als einen Kulturgegenstand zu eigen macht, daß man eine fremde Sprache als einen Bildungsgegenstand erwirbt. Das Problem des aktuellen Sprachenlernens in den Schulen ist doch, daß die weiteren Fremdsprachen mit demselben Lernziel angeboten werden wie das Englische: effektive internationale Kommunikation. Das ist aber ziemlich uninteressant, wenn man dieses Ziel sowieso schon mittels des Englischen erreichen kann. Daher sollte an ein ganz anderes Erlernen dieser dritten Sprache gedacht werden. Lernziel des Fremdsprachenunterrichts sollte nicht allein die sogenannte kommunikative Kompetenz sein, sondern das – durchaus auch kognitive – Kennenlernen der anderen Struktur der fremden Sprache, das Lesen bedeutender Texte und die Anfreundung mit der Kultur der Länder, in denen diese Sprache gesprochen wird. Hier könnte wieder das alte Latein ein Vorbild sein: Der klassische Lateinunterricht – wäre er jemals intelligent erteilt worden – hatte eigentlich genau diese Aufgabe: Kennenlernen der Struktur des Lateinischen, Lesen wichtiger Texte in dieser Sprache, Kennenlernen der Kultur, die sich in dieser Sprache ausdrückte, kurz: Bildung. Das Ungarische, das Italienische, das Polnische sind genauso wertvolle Gegenstände sprachlicher Bildung wie die klassischen «Bildungssprachen» Latein und Griechisch (die man aber natürlich ebenfalls nicht aus dem europäischen Sprachcurriculum verbannen sollte).11 Welche Sprache für Europa? Der Singular ist falsch. Es geht um mindestens drei Sprachen, von denen jede in verschiedener Hinsicht eine Sprache «für Europa» wäre: eine für die je eigene europäische Identität, eine fürs praktische internationale Kommunizieren (nicht nur) in Europa und mindestens eine für das Verständnis des europäischen Anderen.

10. Die gebellte Sprache: Über das Deutsche 10.1. Deutsch bellen Am 26. Mai 2006 hatte der berühmte britische Komiker John Cleese von Monty Python in einem Interview mit der FAZ folgendes bemerkt: «Viele Engländer, die wie ich ihre Jugend damit verbrachten, im Kino dauernd zu sehen, wie sich Engländer aus deutschen Kriegsgefangenenlagern befreien, denken, Deutsch sei eine Sprache, die gebellt wird.» Daß das Deutsche gar keine gesprochene, sondern eine gebellte Sprache ist, ist nun nicht nur eine irgendwie ulkige englische, sondern eine ziemlich schreckliche gesamteuropäische Erfahrung. Ganz Europa hat das deutsche Gebell gehört, es hat sich tief in das Gedächtnis der Völker eingegraben. Und Europa und Amerika haben dieses Gebell in Hunderten von Filmen über den Krieg und die deutschen Greueltaten immer wieder nachgespielt. Wenn man heute in Italien oder in Großbritannien den Fernseher einschaltet, schallt einem in kürzester Zeit gebrülltes Deutsch entgegen: «Jawoll, Herr Obersturmbannführer!», «Antreten!» etc. Das Gebell ist in den Medien Europas präsent, es gibt keine Hoffnung auf ein Verklingen. Die mediale Endlosschleife stellt das gebellte Deutsch ewig ins Gedächtnis der Völker. Das im Krieg und in den Konzentrationslagern gebrüllte Deutsch hat die Stellung dieser Sprache in der Welt, aber auch in der eigenen Sprachgemeinschaft bleibend beschädigt. «Deutschland», das war ja zuerst eine sprachliche Einheit, keine politische. Der Ausdruck «deutsch» bezieht sich zunächst auf die Sprache, «diutisk» heißt «volkstümlich», von diot, «Volk», und es meint die germanische Volks-Sprache im Gegensatz zum Lateinischen als Staats-, Kirchen- und Gelehrten-Sprache. Das Adjektiv taucht Ende des 8. Jahrhunderts auf. In den Straßburger Eiden von 842 etwa ist teudisca lingua der Name für die germanische Volkssprache, der hier das Französische als romana lingua gegenübersteht. Die lingua teudisca ist seit der Seßhaftwerdung der Germanen 205

in der mitteleuropäischen Zone ein Ensemble von deutlich unterschiedenen Dialekten, die wir ja immer noch unterscheiden: Alemannisch, Bairisch, Fränkisch, Mitteldeutsch, Niederdeutsch. Das Ensemble der «deutschen Nationen» entwickelt etwa seit dem 15. / 16. Jahrhundert eine gemeinsame geschriebene Sprache, die über den deutschen Dialekten schwebt und sogar die große innerdeutsche Sprachgrenze zwischen den niederdeutschen und den oberdeutschen Dialekten überspannt. Diese koinè, diese gemeinsame Schriftsprache, diente zunächst der Verwaltung und der Religion (16. Jahrhundert), später auch der Literatur (17. Jahrhundert) und noch später der Philosophie (18. Jahrhundert) und der Wissenschaft (19. Jahrhundert) – ungefähr in dieser Reihenfolge. Die Schreiber dieser gemeinsamen Sprache, die man sich bis ins 19. Jahrhundert hinein nicht so einheitlich vorstellen darf wie heute, aber lebten in sehr verschiedenen politischen Strukturen. Das Heilige Römische Reich deutscher Nation ist ja seit dem 14. Jahrhundert eine eher ideelle politische Einheit, es umfaßt im übrigen auch viel mehr als nur deutsch(sprachig)e Länder, und diese umfaßt es nur zum Teil. Es ist nicht Deutschland, und es ist eigentlich keine politische Struktur, die die Menschen wirklich erleben. Der Kaiser war noch weiter entfernt von seinen Untertanen als die Brüsseler Bürokratie heute. Die Deutschen lebten im Herzogtum Bayern, in Frankfurt, in der Mark, in der Grafschaft Thüringen, im Bistum Mainz, in der Steiermark usw., nicht in Deutschland. «Deutschland» ist – wie der nationalistische Dichter Arndt Anfang des 19. Jahrhunderts schreibt – das Land, «soweit die deutsche Zunge reicht», keine politische Größe. Erst 1871 wird ein großer Teil von «Deutschland» ein Staat. Dies steht im übrigen in schärfstem Gegensatz zur Geschichte unserer französischen Nachbarn: Frankreich ist zunächst eine politische Einheit, das Königreich hat von 843 bis 1328 die Form, die es in der Reichsteilung 843 erhalten hat, und im 17. Jahrhundert hat es dann mehr oder minder die heutige Ausdehnung. Aber nur der Norden dieses Staates sprach Französisch, er ist bis ins 19. Jahrhundert hinein ein multiethnischer Staat, der seine sprachliche Einheit erst Mitte des 20. Jahrhunderts durch die Wirkung des Staates erreicht. Der Staat ist sozusagen ein Glück für die französische Sprache. Die sprachliche Einheit Frankreichs ist eine sehr junge Er206

rungenschaft, wahrscheinlich wacht Frankreich deswegen so sorgsam über diese prekäre und schwer errungene sprachliche Einheit. Deutschland dagegen ist umgekehrt sprachlich schon seit Jahrhunderten da, bevor es eine politische Größe, ein Staat, wird. Und das ist dann – anders als in Frankreich – kein Glück für die deutsche Sprache. Denn diese Staatswerdung endet in sehr kurzer Zeit in einer Katastrophe auch für die deutsche Sprache. Der aus dem Krieg geborene neue deutsche Staat wird in den ersten fünfundsiebzig Jahren seiner Existenz Europa zweimal in den Krieg stürzen und beim zweiten Mal sich selbst und ganz Europa so gründlich zerstören, daß auch die deutsche Sprachgemeinschaft in extreme Gefahr gerät. Der deutsche Staat begeht die schrecklichsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte, und er brüllt dabei das Deutsche so in die Welt, daß die Stellung dieser Sprache in der Welt und in der eigenen Sprachgemeinschaft und letzlich die Einheit und der Bestand dieser Gemeinschaft gefährdet ist. Das Schicksal der deutschen Sprache hängt zutiefst mit diesem politischen Schicksal zusammen. Wir sehen das heute besser als vor fünfzig Jahren. Wir erkennen nämlich jetzt die Langzeitwirkungen. Meine These ist: Die Deutschsprecher sind von dem großen Verbrechen traumatisiert, dessen sprachliches Medium die deutsche Sprache war. Die deutschen Sprecher des Deutschen selbst vielleicht noch mehr als die anderen Germanophonen in den anderen Ländern, in Frankreich, der Schweiz, Österreich, Belgien, Luxemburg. Für die Deutschen ist das Trauma vielleicht am schwersten zu ertragen, weil das große Verbrechen ja ein selbstauferlegtes Trauma ist. Es war, wie der französische Sprachwissenschaftler Hagège in einem den europäischen Sprachen gewidmeten Buch gesagt hat, ein «génocide étrangement suicidaire» (Hagège 1994: 69). Bei allem Respekt für die wirklichen Opfer der Deutschen möchte ich sagen, daß die deutsche Sprache das große kulturelle Opfer Hitlers ist. Es ist vermutlich sein größtes kulturelles Opfer – und sein letzter Triumph. Das ist natürlich insofern gar nicht mit dem Opfer von Menschen zu vergleichen, als Sprachen ja keine Wesen sind, denen man Schmerzen zufügen kann oder die man quälen und töten kann. Sie sind – wie anderes – nur kulturelle Techniken und Werke. Natürlich hat es der Frauenkirche nicht weh getan, zerstört zu werden. 207

Sie war aber trotzdem ein Opfer des Krieges. In diesem Sinne will ich mit der Formel von «Hitlers größtem kulturellem Opfer» sagen, daß die deutsche Sprache das kulturelle Produkt der Deutschen ist, das mehr als alle anderen kulturellen Werke oder Techniken die Last der Erinnerung trägt und das unter dieser Last zusammenbricht. Im Gegensatz zu den im Bombenhagel verschwundenen brennbaren Kultur-Schätzen sehen wir das bei diesem nicht-brennbaren Kulturgut erst jetzt in aller Deutlichkeit. Jeder Sprecher des Deutschen, der vor dem Krieg stolz war, ein Sprecher der Sprache Goethes zu sein, weiß nach dem Krieg, daß er nun auch ein Sprecher der Sprache Hitlers ist, der diese Sprache unvergeßlich in Europas Ohr gebrüllt hat, oder eben ein Sprecher der Sprache, deren Gebell die Opfer der KZs auf ihrem Weg in den Tod begleitete. Ganz Europa hat dies erfahren und in seine Erinnerung eingeschrieben; und auch die Beller und ihre Nachfahren können es nicht vergessen. Ich erinnere mich noch des überraschten Staunens meines besten Freundes, eines französischen Jungen, als ich ihm – wir waren beide 16 Jahre alt – ein deutsches Gedicht vorsprach. Er konnte es nicht fassen, 1959, daß dies Deutsch sein sollte, es war ja nichtgebellte Sprache. Ich glaube nun, daß diese Erinnerung, das Gefühl der Schuld und der Scham, eine spezifisch deutsche «Sprachscham», die sprachhistorischen Veränderungen, die derzeit ähnlich auch in anderen europäischen Sprachgemeinschaften stattfinden, stark beeinflußt. Die deutsche Sprachscham gibt diesen sprachhistorischen Entwicklungen hierzulande ihre ganz besondere Dramatik. Was wir die Diasysteme der Einzelsprachen nennen, verändert sich derzeit überall in Europa dramatisch. Wir meinen mit «Diasystem» das Gefüge von Varietäten einer Einzelsprache, die ja niemals nur eine einheitliche Gemeinsprache ist. Die gemeinsame Kultursprache überwölbt normalerweise als Dach das Haus der Sprache. Die Sprache insgesamt ist aber ein Ensemble von verschiedenen Redeweisen, die sich je nach der geographischen Situation, der sozialen Schicht und der Redesituation stark verändern können. Das Haus der deutschen Sprache hat viele Zimmer im Erdgeschoß, im ersten Stock – also gesellschaftlich eine Schicht höher – wird aber schon ein bißchen anders gesprochen und wieder anders an der gesellschaftlichen Spitze. Außerdem verändert sich eine Sprache je 208

nach Kommunikationssituation: die Sprecher einer Sprache sprechen anders auf dem Flur mit der Nachbarin, als wenn sie einen wissenschaftlichen Vortrag halten müssen. Es kann also z. B. sein, daß ich mit meiner Mutter richtig schön (Frankfurter) Dialekt rede, dann auf der Straße mit dem aus Hamburg stammenden Nachbarn ein dialektal gefärbtes Umgangsdeutsch und schließlich in der Universität Standarddeutsch oder Hochdeutsch, das wenig dialektal gefärbt ist (zumindest bemühe ich mich darum). Und wenn ich das aufschreibe, wird es wieder anders: der dialektale Klang schwindet völlig in der Schrift. Ein solches Diasystem ist immerzu in historischem Wandel begriffen. Ich will im folgenden drei Dimensionen der aktuellen Transformation dieses Gefüges betrachten: 1. das Verhältnis der nationalen Sprache zur internationalen Sprache Englisch, 2. das Verhältnis der Nationalsprache als gemeinsame Standardsprache zu ihren diatopischen Varietäten, d. h. zu den Dialekten, und 3. das Verhältnis der eingeborenen Sprache zu den Sprachen der Immigranten.

10.2. Prestigediskurse: Nationalsprache und Globalsprache 10.2.1. Die Wirkung der Sprachscham ist am eindeutigsten und klarsten am Sprachverhalten der Eliten nach dem Krieg zu sehen: Bis 1933, bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung und bis zur Emigration Einsteins, war das Deutsche – zusammen mit dem Englischen und dem Französischen – eine internationale Sprache der Wissenschaften. Besonders in den Naturwissenschaften, in Physik und Chemie allemal, aber auch in Philosophie und Geisteswissenschaften – gerade auch in meiner Wissenschaft, der Sprachwissenschaft – war das Deutsche eine internationale Wissenschaftssprache. Es hatte diese Position erst im 19. Jahrhundert erreicht und über den Ersten Weltkrieg hinaus halten können, der schon dem Ansehen des Deutschen erheblich geschadet hatte.1 In der Nazizeit wird schon mit der Emigration vieler bedeutender jüdischer Wissenschaftler aus Deutschland das Deutsche als Wissenschaftsprache erheblich geschwächt: Roman Jakobson, der berühmte russische Linguist, schreibt noch auf der Flucht vor den Deutschen ein be209

rühmtes Buch auf Deutsch, das 1940 in Schweden erscheint: Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze. Erich Auerbach schreibt Mimesis in der Emigration auf Deutsch, es erscheint 1946 in der Schweiz. Aber dann, in der amerikanischen Emigration gehen diese und viele andere große Wissenschaftler deutscher Sprache zum Englischen über: der Literaturwissenschaftler Leo Spitzer, der Philosoph Leo Strauss, der klassische Philologe Werner Jäger, der Philosoph Ernst Cassirer, der Psychologe Heinz Werner usw. usw. Nach dem Krieg werden nur noch wenige Werke auf Deutsch von Nicht-Deutschen geschrieben, alle sind inzwischen zum Englischen übergegangen. Aber auch die deutschen Wissenschaftler in Deutschland, vor allem die Naturwissenschaftler, beeilen sich, ihre Publikationen auf Englisch umzustellen. Es gibt dann in den 80 er Jahren einen berühmten Aufsatz von Hubert Markl mit dem Titel «Die Spitzenforschung spricht englisch». Dieser Titel stellte 1986 ein Faktum fest, zumindest für die Naturwissenschaften, er klang aber gleichzeitig eher wie ein Triumph als wie eine bloße Feststellung. So als wollte Markl sagen: wir Spitzenforscher sind endlich im Englischen angekommen. Ammon hat den Bedeutungsverlust des Deutschen als Wissenschaftssprache in zwei Büchern eindrucksvoll dargestellt.2 Diese Entwicklung ist nicht nur eine Folge der überwältigenden Dominanz der amerikanischen Forschung und der Vorrangstellung der amerikanischen Kultur in allen Bereichen. Das ist sie natürlich auch. Aber die besondere Folgsamkeit, die besondere Eile, mit der die Deutschen zum globalen Englisch überwechselten, hat damit zu tun, daß sie von der Wertlosigkeit ihrer eigenen Sprache überzeugt waren. Das Deutsche war ein politisch gezeichnetes Medium – keine gute Voraussetzung für wissenschaftliche Publikationen. Eine von den Deutschen brutal überfallene Welt hatte keine Lust mehr, diese Sprache zu lesen oder zu hören, geschweige denn zu lernen. Deswegen war das Globalesische natürlich für deutsche Wissenschaftler ein höchst willkommenes Mittel, nach dem Desaster wieder an der internationalen Gemeinschaft der Wissenschaft teilzunehmen, auf internationalen Kongressen mitzuwirken, bzw. andererseits aus der Gemeinschaft derer auszutreten, die gerade die scheußlichsten Verbrechen der Menschheit begangen hatten. Sprachloyalität, wie die Linguisten das nennen, language loyalty, 210

war unter diesen Umständen von deutschen Forschern nicht zu erwarten. Auch die Sozialwissenschaften, besonders solche mit naturwissenschaftlichem Anspruch, die Psychologie, die Politologie gehen zum Englischen über. Die Geisteswissenschaften zögern noch. Das hängt damit zusammen, daß Geisteswissenschaftler ihre Sprache brauchen bzw. die Sprache, die sie am besten können, um wissenschaftlich zu arbeiten. Sprache ist uns ja nicht nur bloßes Mittel der Verlautbarung außersprachlich vollzogener wissenschaftlicher Operationen (Messungen, Manipulationen, Berechnungen), sondern der wichtigste Gegenstand und das Medium zugleich, in dem wir unsere Erkenntnisse erschaffen, die selber gerade wesentlich sprachliche Erkenntnisse sind. Wir müssen also die Sprache verwenden, die wir am besten können, dies ist im Moment noch Deutsch. In diesem Zusammenhang pflege ich zu sagen, daß bisher noch kein wirklich bedeutendes geisteswissenschaftliches Werk von einem in Deutschland lebenden Geisteswissenschaftler auf Globalesisch verfaßt worden ist. Aber der Druck auf uns ist enorm, und wir wollen ja auch gern in Poughkeepsie und Hongkong gelesen werden. Also wird sich auch hier das Deutsche vermutlich nicht mehr lange halten. Wolf Lepenies hat sein letztes Buch auf Englisch geschrieben (allerdings während eines Amerikaaufenthaltes). Es beginnt. Ein anderer Elite-Diskurs als derjenige der Wissenschaft ist der Diskurs der Wirtschaft, also der Diskurs der eigentlichen Elite.3 Auch dieser ist schon lange ins Globalesische übergegangen, in der Zentrale von Siemens in München wird schon seit langem englisch gesprochen und geschrieben. Das Kapital hat keine Heimat und folglich auch keine bestimmte Sprache. Als die Nationalstaaten noch der Rahmen für wirtschaftliches Handeln waren, waren die Nationalsprachen willkommen, inzwischen sind diese Rahmen längst gesprengt. Das Kapital agiert global, seine Sprache ist das Globalesische. Die deutsche Diplomatie, das dritte Beispiel für Elite-Rede, hat das Deutsche in den internationalen Beziehungen aufgegeben – in Europa ausdrücklich und programmatisch seit dem Eintritt der Briten in die Europäische Gemeinschaft und erneut nach dem Fall der Mauer und der Öffnung Europas nach Osten.4 Gegenüber dem 211

Französischen behauptete sich das Deutsche noch im kleinen Europa der unmittelbaren Nachkriegszeit, gegen das Englische ließ man aber allen Widerstand fahren und sprach seit den 70er Jahren englisch. Als das viel besser Deutsch als Englisch sprechende Osteuropa die politische Bühne Europas wiederbetrat, hat Deutschland nicht deutsch mit ihm gesprochen, sondern der englischen Sprache – und den massiv auftretenden Briten und Amerikanern – den Vortritt gelassen. Osteuropäer sprechen daher – fünfzehn Jahre danach – mit den Deutschen immer weniger deutsch. Das erweiterte Europa ist anglophon. Schließlich ist die Werbung zu erwähnen, die die Prestige-Diskurse nachäfft: Geworben wird in Deutschland mehr und mehr direkt auf Englisch: «Come in and find out» (übrigens mit deutschem Akzent gesprochen!). Selbst wenn sie deutsch scheint, ist sie noch englisch: «Ich liebe es» ist die Interlinearversion von «I’m lovin it», aber nicht deutsch. Kurzum: die deutschen Eliten haben in den internationalen EliteDiskursen das Deutsche aufgegeben. Sie sprechen globalesisch mit der Welt. Selbst wenn sie deutsch sprechen könnten, weil ihre internationalen Partner diese Sprache eigentlich besser können, sprechen sie englisch. Das letztere würde unseren französischen Freunden niemals in den Sinn kommen. Daß dies so ist, ist eben nicht nur der Effekt der anglo-amerikanischen Welt-Dominanz, sondern, in seiner besonderen Willfährigkeit, Geschwindigkeit und Gründlichkeit, eine Folge der durch das Sprachgebell verlorenen Sprachloyalität. Englisch sprechend schleiche ich mich heraus aus der Gemeinschaft derer, die Zyklon B entwickelt und angewendet haben. Englisch sprechend bin ich nicht nur international, sondern auch unschuldig. 10.2.2. Das Deutsche – ich spreche hier natürlich immer vom Hochdeutschen, vom Standarddeutschen, also der kultivierten geschriebenen und gesprochenen Norm dieser Sprache – ist damit auf die nationalen Verwendungsweisen reduziert, also auf die Presse, die Literatur im engeren Sinne, Verwaltung und Rechtsprechung und nationale Politik. Das ist zwar immer noch ganz schön, aber durch den Verlust der höchsten (internationalen) Rede-Felder sinkt der Status, wie die Linguistik das nennt, also das Ansehen der Sprache 212

in der Sprechergemeinschaft. Eine solche Schwächung des Status hat immer auch Konsequenzen für den sogenannten Ausbau der Sprache, also für die Sorge um die Wörter selbst, für das Korpus. Zweitens droht diese Status-Schwächung, die Standardsprache dort völlig zum Verschwinden zu bringen, wo die Dialekte, die regionalen Varietäten dieser Sprache, noch eine starke Stellung bewahren. Die Status-Schwächung des Deutschen geschieht mit der aktiven Unterstützung der offiziellen Kultur-Politik dieses Landes, die den Prozeß erheblich beschleunigt. Deutschland hat seit dem Krieg – insbesondere seit den 70 er Jahren – ja seine «nationalen» Belange stark und programmatisch reduziert: Seitdem der Nationalsozialismus als kriminelle Übertreibung nicht nur des Nationalismus, sondern des Nationalen überhaupt gedacht wird, gilt alles «Nationale» – wie die gemeinsame Sprache – als verdächtig. Auswege aus dem diskreditierten Nationalen finden die Deutschen im Regionalen einerseits und im Internationalen andererseits. Was das Regionale angeht: Es gibt in Deutschland ja kaum nationale Kultur-Institutionen, und die jetzt noch bestehenden werden durch die sogenannte Föderalismus-Reform weiter geschwächt. Kultur und Bildung sind die Faustpfänder der Länder. Kultureller Föderalismus schwächt zunehmend die nationale Sprache. Der kulturelle Internationalismus auf der anderen Seite favorisiert massiv und geradezu ausschließlich das Englische. Das Adjektiv international bedeutet in Deutschland niemals wirklich «international», sondern eigentlich immer «anglophon». In Wendungen wie «Internationale Schule» ist fast immer eine englischsprachige Schule gemeint. Eine staatliche Aktivität zur Verteidigung und Förderung der Nationalsprache, wie sie etwa in Frankreich existiert, eine «défense et illustration de la langue allemande», ist in Deutschland undenkbar. Institutionen wie die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung haben, verglichen mit der französischen, überhaupt nichts zu sagen. Sie ist natürlich auch keine staatliche Einrichtung, sondern ein Verein, der mit öffentlichen Geldern funktioniert. Offensichtlich geniert sich der Staat, Sprache und Dichtung direkt unter seine Fittiche zu nehmen. Die Sprache, die Deutschland dagegen wirklich verteidigt und illustriert, ist nicht seine eigene, sondern das Englische. Die europäischen Völker haben seit dem 16. Jahrhundert ihre eigenen Volks213

sprachen geliebt, gepflegt und gehegt (amore della lingua, cura della lingua). Die meisten europäischen Völker tun dies auch immer noch. Die Deutschen aber haben nun ihre Sprachliebe auf das Englische transferiert: Sie haben das Englische in Kindergärten und Grundschulen eingeführt, sie bieten in ihren höheren Schulen die wichtigsten Fächer inzwischen auf Englisch an (Geschichte, Politik, Naturwissenschaften), die Universitäten werden zum Umstellen des Lehrbetriebs auf Englisch gedrängt. Der deutsche Bundeskanzler Schmidt sprach schon vor langer Zeit vor einem Deutschlehrer-Kongreß in Korea englisch und beantwortete auch auf Deutsch gestellte Fragen englisch. Ein deutscher Diplomat in Kasachstan hält eine Rede auf Englisch vor Menschen, die diese Sprache nicht können – wohl aber Deutsch.5 Solche Geschichten lassen sich vervielfachen – und ich vermute, daß sich alle unsere ausländischen Freunde, die sich der Mühe des Deutschlernens unterzogen haben, schon in der Situation befunden haben, wo Deutsche mit ihnen insistent englisch gesprochen haben, obwohl klar war, daß sie gut Deutsch können. 10.2.3. Diese Situation, also der Statusverlust des Deutschen bei den Deutschen, hat besonders dramatische Konsequenzen für das zweite Problem in der Beziehung zwischen der Nationalsprache und der International-Sprache. Sie hat, wie die Soziolinguistik das nennt, Folgen für das Korpus des Deutschen. Natürlich sind alle Sprachen der Welt den Einflüssen des mächtigen Englisch ausgesetzt. Das bleibt bei der gewaltigen Dominanz der amerikanischen Kultur und Politik nicht aus. Aber keine Sprache hat sich nach meiner Beobachtung in solchem Maße den amerikanischen Spracheinflüssen geöffnet wie das Deutsche. Der Spiegel hat das in seiner Titelgeschichte vom 2. Oktober 2006 zu Recht wieder einmal herausgestellt. Dafür kann das amerikanische Englisch nichts, dies ist ganz allein der kulturellen Schwäche des Deutschen geschuldet. Wie das Deutsche schon einmal im 17. / 18 Jahrhundert – geschwächt durch den ersten Dreißigjährigen Krieg – vor dem kulturell und politisch überlegenen Französisch in die Knie ging, so beugt es sich nun erneut dem Einfluß des amerikanischen Englisch. Man könnte natürlich auch denken, daß dies eine Bereicherung sei, die ja ein Sprachkontakt durchaus bewirken kann. So ist das 214

Deutsche im Verlaufe seiner Geschichte tief vom Lateinischen geprägt worden, es hat den lateinischen Einfluß sozusagen zu seiner Kräftigung in sich aufgenommen. Der Sprachkontakt mit dem Englischen aber bereichert es nicht wirklich. Das Deutsche behängt sich eher mit amerikanischen Fetzen, es versucht gar nicht, das amerikanische Englisch zu verdauen. Das Deutsche ist inzwischen so etwas wie eine sprachliche Dragqueen, aufgeputzt mit allerlei Tinnef aus der anderen Sprache, ihre eigene Identität versteckend, schrill, aber nicht eigentlich schön. Es möchte amerikanisch aussehen, das ist vielleicht ganz lustig, aber wirklich amerikanisch ist es dadurch nicht. Ich brauche dafür eigentlich keine Beispiele zu geben. Wir erleben das täglich in unserer Umwelt, bei uns selbst, bei uns Professoren. Es gibt kaum einen coolen Professor, der seine Studenten nicht mit amerikanischen Wörtern überhäuft, er versucht gar nicht erst, die Termini der supermodernen Forschungen in ein angemessenes Deutsch zu übertragen, das bleibt einfach auf englisch mitten in der deutschen Rede stehen (ich werde das gleich ebenfalls tun). Deutsche Professoren finden es schick, nicht mehr richtig Deutsch zu können. Bei technischen Neuerungen wird gar nicht erst versucht, deutsche Ausdrücke zu finden, die Werbung ist in Deutschland mehr oder minder auf englisch, es gibt service points, job centers und so weiter. Ein Tsunami amerikanischer Wörter überspült diese Sprache. Der öffentliche Raum der deutschen Städte ist fast ganz englisch: Die Theatinerstraße in München ist ein herrliches Beispiel für die totale Abwesenheit des Deutschen im urbanen Raum einer deutschen Stadt. «We kehr for you», sagt die Berliner Stadtreinigung in einer Werbekampagne, sehr witzig, aber nur, wenn man voraussetzt, daß die Bevölkerung Berlins schon zweisprachig ist. Eine Zeitlang waren unsere Telefonrechnungen auf Englisch: GermanCall, CityCall und WorldCall haben wir bezahlt. Millionen Deutsche haben nicht verstanden, was sie da bezahlen sollten. Aber ich werde mich hüten, die puristische Klage anstimmen, schon aus Angst vor dem Hammer, der sofort auf jeden niedergeht, der solches tut: Wer über zu viele englische Wörter klagt, wird sofort des Nationalismus geziehen, und das heißt eigentlich nichts anderes als: Nazi. Jede Sorge um die deutsche Sprache – cura 215

linguae – wird hierzulande sofort disqualifiziert und unter Verdacht gestellt. Deswegen wird es auch niemals eine Aktivität zum Schutz und zur Bereicherung der Sprache – «enrichissement de la langue» heißt das in Frankreich – wie in Frankreich geben. Die steht hier von vornherein unter Nazi-Verdacht. Leider lockt der puristische Kampf gegen die englischen Wörter, das muß ich zugeben, tatsächlich nationalistische Kreise an. Mit solchen Genossen möchte man nicht in den Kampf ziehen, also unterläßt man ihn.

10.3. Hochdeutsch und die Dialekte des Deutschen 10.3.1. Der Statusschwund des Deutschen – gemeint ist das Hochdeutsche, die gemeinsame Kultur-Sprache der Deutschsprachigen – hat, ich habe das schon angedeutet, erhebliche Konsequenzen für die Beziehungen zwischen der Standardsprache und den Dialekten: Der Dialekt wird wichtiger und immer mehr wieder die eigentliche Muttersprache. Der deutsche Sprachraum war bis in die Vorkriegszeit durch die folgende «diglossische» Konstellation gekennzeichnet: Für die alltägliche Kommunikation, vor allem auch in den Familien, wurde der Dialekt verwendet, für die «höheren», formaleren Redesituationen und für die schriftliche Kommunikation die Standardsprache, das sogenannte Hochdeutsch. Für das erste hat der Soziologe Ferguson (1959) den Ausdruck low variety und für das zweite den Ausdruck high variety geprägt (natürlich verwende ich die Termini als echter deutscher Professor gerade so amerikanisch, wie sie daherkommen). Die Dialekte des Südens haben hierbei eine stärkere Position: je weiter man nach Norden kommt, desto schwächer ist die Position des Dialekts. Wo ein Stuttgarter noch Schwäbisch redet, spricht ein Frankfurter längst schon kein Hessisch mehr. Diese Konstellation war natürlich in Bewegung und zwar in Richtung auf die Ausbreitung der Standardsprache, wie überall in Europa, vor allem durch die Etablierung des Nationalstaats. In Italien und Deutschland läßt sich diese Entwicklung vielleicht am schönsten studieren: die Medien, die Binnenwanderung, die Schule, die Armee sind Instanzen der Verbreitung der Nationalsprache. In Deutschland kam nach dem Zweiten Weltkrieg noch die Tatsache 216

hinzu, daß ja Millionen von Flüchtlingen aus den verlorenen Ostgebieten integriert wurden. Dies beförderte die Ausbreitung der gemeinsamen Nationalsprache. Die Ausdehnung der Standardsprache schwächte die Dialekte und förderte das Entstehen von umgangssprachlichen Varietäten des Deutschen, die zwar noch regional gefärbt sind, aber nicht mehr als Dialekte angesehen werden können. Diese Situation verändert sich aber seit neuestem im deutschen Sprachraum so, daß sich diese Bewegung umkehrt. Wenn ich es richtig beobachte, gewinnen durch den Statusverlust der Hochsprache seit einigen Jahren die Dialekte wieder an Terrain, vor allem im Süden des deutschsprachigen Gebiets: In der Schweiz wurden ja nur die höchsten Diskurse – vorwiegend schriftlich gefaßte – in der Normsprache realisiert, die die Schweizer daher auch «Schriftdeutsch» nennen. Nun geht der wichtigste Teil der «Schrift», die prestigereichen Diskurse, noch konsequenter als in Deutschland, ans Englische über: Die Wissenschaft, die Banken, die Universitäten, alles Internationale, von dem es in der Schweiz eine Menge gibt, schreiben und sprechen konsequent englisch. Für das Schriftdeutsche bleibt kaum noch etwas übrig, weil in der Schweiz auch Redefelder, die in Deutschland in der Standardsprache bewältigt werden, vom Dialekt besetzt sind (etwa Rundfunknachrichten). Es bleiben eigentlich nur die gedruckte Presse, die Literatur im engen Sinne und die Verwaltung für das Schriftdeutsche. «Von unten» erobert sich nun außerdem der Dialekt weitere Redefelder: Die Wettervorhersage im Fernsehen ist soeben ins Schweizerdeutsche abgedriftet. Die Schweiz ist also auf dem Weg, die Sprachgemeinschaft mit den Deutschen zu verlassen. Wie das übrigens vorher die Luxemburger ja schon getan haben, die ihren Dialekt zur Nationalsprache erhoben haben. Das Französische ist dort Gesetzessprache, das Deutsche ist zwar weitere Amtssprache, es bleibt aber nicht wirklich viel Platz für das Deutsche, denn auch die Luxemburger verwenden das Englische, wo es wirklich wichtig ist. Natürlich ist diese Entwicklung auch eine Folge der Globalisierung. Aber die Abwesenheit von Sprachloyalität gegenüber dem Deutschen ist bestimmt ebensosehr der Erinnerung an die deutsche Geschichte geschuldet: Die Aufkündigung der Sprachgemeinschaft ist ja ein Weg, sich endlich aus der Gemeinschaft mit der Nazi-Sprache zu verabschieden. In Luxemburg war dies ausdrücklich der 217

Fall. Die Schweizer Diglossie der Zukunft ist nicht mehr – wie noch bei Ferguson (1959) – oben Deutsch unten Schweizerdeutsch, sondern oben Englisch und unten Schweizerdeutsch, wobei dieses Unten sehr weit nach oben reicht. 10.3.2. Dieses Schweizer Modell ist offensichtlich ausgesprochen attraktiv für andere deutschsprachige Stämme. Es ist ja eine Möglichkeit, aus der deutschen Sprache und folglich aus der gemeinsamen schuldigen Sprache auszusteigen. Österreichische Schriftsteller haben wohl deswegen kürzlich eine österreichische Sprache gefordert, gemeint war offensichtlich ein Vorrücken dialektaler Formen in die Literatur. Dies ist für die Sprachgemeinschaft vielleicht nicht wirklich gefährlich. Gefährlicher scheinen mir Aktivitäten wie die folgende, die ganz harmlos aussieht, ja sogar lustig daherkommt, deren Konsequenzen aber fatal sind für die deutsche Spracheinheit: Wir können alles. Außer Hochdeutsch. Dieser berühmt gewordene Slogan ist ja wirklich witzig, spielt er doch mit den notorischen Schwierigkeiten der Schwaben bei der normgerechten Realisierung der Nationalsprache einerseits und mit ihrer ebenso notorischen Schlauheit andererseits. Was aber nicht so witzig ist, das ist die mit diesem Slogan ebenfalls festgestellte Überflüssigkeit des Hochdeutschen. Er besagt nämlich auch: Das Hochdeutsche können wir nicht, weil wir es nicht brauchen, mir könnet Englisch. Denn die wahre Tendenz dieses Werbespruchs hat der Ministerpräsident dieses Landes, Herr Oettinger, ausgesprochen: Er verordnete seinen fleißigen Schwaben das Englische als «Arbeitssprache»: Deutsch bleibt die Sprache der Familie, der Freizeit, die Sprache in der man Privates liest, aber – Englisch wird die Arbeitssprache.6 Was gibt es Höheres für einen fleißigen Schwaben als eine Arbeitssprache? Herr Oettinger war daher auch ganz beglückt, daß jetzt schon in seinen Elementarschulen diese höchste Sprache, Englisch, 218

unterrichtet wird. Da nun aber – wie der Werbespruch des Landes feststellt – das Deutsche in den Familien in Baden-Württemberg gar nicht verbreitet ist, bedeutet dies letztlich, daß das Deutsche in Oettingers Land verschwindet: In den Familien herrscht nämlich nicht das Deutsche, sondern der Dialekt. Die Diglossie BadenWürttembergs wird also wie diejenige der Schweiz sein: oben – bei der Arbeit – Englisch, unten – in der Familie – Schwäbisch und Badisch. Auf alle deutschen Länder hochgerechnet bedeutet dies das Ende der deutschen Sprachgemeinschaft. Denn was die Deutschen noch zusammenhielt, war – außer der D-Mark – gerade das Hochdeutsche, das die Schwaben nicht könnet und an dessen Stelle nun das Englische rücken soll. Das Englische wird also zukünftig als gemeinsame Arbeitssprache die Vielzahl der deutschen Dialekte überdachen: Das ist der sprachliche Triumph der postnationalen – allerdings typisch deutschen – Vermählung von Föderalismus und Internationalismus. Die deutsche Sprachnation ist dann auf jeden Fall mausetot, oder auch, das ist ja gewünscht: «nie wieder Deutschland», diesmal nicht von links, sondern aus der politischen Mitte bzw. der Provinz. Aber noch einmal: Die von Herrn Oettinger skizzierte diglossische Situation ist nicht nur, wie er glaubt, eine notwendige Konsequenz der Globalisierung, sondern auch der Effekt der auch ihn immer noch quälenden Erinnerung an die gebellte Sprache. Der Abschied aus der deutschen Sprachgemeinschaft ist ein eleganter Weg aus der nationalen Gemeinschaft und der gemeinsamen Geschichte.

10.4. Eingeborene Sprache und Immigrantensprachen 10.4.1. Schließlich ist auch das Verhältnis der autochthonen Sprache zu den durch Einwanderung hinzugekommenen Sprachen in Deutschland von der historischen Erinnerung an die gebellte Sprache geprägt, die daher hier eine besonders schwierige Sprachkonstellation schafft. Das Deutschland der Nachkriegszeit hat lange Zeit ja die Illusion genährt, die aus der Fremde zu uns kommenden Arbeitskräfte seien «Gastarbeiter», Gäste also, die, nachdem sie hier 219

gearbeitet haben, das Land wieder verlassen. Folglich hat es jahrzehntelang keine Politik der Immigration gegeben, für Gäste braucht man keine Politik. Als Deutschland bemerkte, daß die Gäste Immigranten waren, hat es keine Politik der Integration entwickelt, sondern eine Politik des Multikulturalismus. Zentralidee dieser Politik ist, daß man die Kulturen und Sprachen der Einwanderer respektiert, vor allem daß man ihnen auf keinen Fall die Sprache und Kultur der Mehrheit aufzwingt. Konkret bedeutete dies, daß man nichts tat. Die multikulturalistische Option, sicher eine Botschaft der Toleranz und des Respekts (vielleicht aber auch eine Ideologie der Gleichgültigkeit?), ist in Deutschland so fest verankert, weil man nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus auf keinen Fall den anderen Menschen die eigene – schuldige – Sprache und Kultur aufzwingen wollte. Allerdings: die Folgen dieser Politik werden inzwischen allerorten sichtbar: Statt des erträumten multikulturellen und vielsprachigen Austauschs haben sich inmitten einer eher indifferenten als multikulturell offenen Gesellschaft Inseln gebildet, monokulturelle und einsprachige Inseln, die wenig Kontakt mit der deutschen Noch-Mehrheitsgesellschaft haben. Die immigrierte Bevölkerung lebt weitgehend neben, nicht mit der autochthonen Gesellschaft. Neben anderen politischen Gründen hat oft die Arbeitslosigkeit den Kontakt der Migranten mit den Deutschen unterbrochen. Die Parabolantenne hat das einzige Fenster geschlossen, das die eingewanderte Bevölkerung früher einmal auf die Deutschen hatte: das Fernsehen. Die Schule ist daher praktisch der einzige Ort der Begegnung – und deswegen natürlich auch der Ort des Konflikts bei der Sprachenfrage. Die Kinder wachsen zunächst ohne Kontakt mit der deutschen Sprache und Kultur auf und begegnen dieser erst in der Schule. Natürlich gibt es an den Rändern der jeweiligen Gesellschaften Menschen, die Beziehungen mit dem jeweils anderen herstellen und pflegen. Dies geschieht aber oft zum Preis einer schmerzhaften Entfremdung von der eigenen Gruppe. Es gibt auch Spezialisten des interkulturellen Austauschs: Ausländerbeauftragte einerseits – Botschafter der Mehrheitsgesellschaft, die für Ruhe auf der einen und für ein ruhiges Gewissen auf der anderen Seite sorgen – und Deutschen-Beauftragte andererseits, die eine ähnliche Funktion haben. 220

Daß – wie das in anderen Einwandererländern der Fall ist, deren Immigranten Amerikaner, Kanadier oder Franzosen werden – die Einwanderer Deutsche werden wollen und werden sollen, kann man hier nicht in nennenswertem Maße behaupten (die Statistiken nach der gesetzlichen Neuregelung sprechen eine beredte Sprache). Es gab bisher auch kaum eine Politik, die genau dies beförderte. Man beginnt erst jetzt, darüber nachzudenken. Aber dieses Nachdenken kommt sehr spät und in einer Zeit zunehmender sozialer Spannungen. Die einen fragen sich daher, warum auf ihrem Territorium fremde Völker wohnen, die nichts mit ihnen zu tun haben wollen. Die anderen fragen sich offensichtlich, warum sie mit dem Volk, auf dessen Territorium sie wohnen, irgendwelche Beziehungen anknüpfen sollen, wo dies – wie man in Frankreich sehen kann – doch nichts bringt. Doch ich will nicht zu sehr in die sozialpolitische Dimension eintauchen, sondern die sprachlichen Probleme beleuchten und zeigen, wie sehr auch hier wieder die Sprach-Frage mit der deutschen Erinnerung bzw. mit der an der deutschen Sprache klebenden Erinnerung zu tun hat. Dazu will ich noch einmal den Fall der Berliner Hoover-Schule ins Gedächtnis rufen, in dem es um das Deutsche als Sprache des Schulhofs ging: Schüler, Lehrer und Eltern dieser Schule waren übereingekommen, angesichts sprachlich bedingter Konflikte zwischen den Schülern und auch, um den Gebrauch des Deutschen zu verfestigen, die Schüler dazu zu verpflichten, deutsch auch auf dem Pausenhof zu sprechen. Alle waren glücklich mit der Lösung, bis die Presse von der Sache Kenntnis erhielt. Zunächst klagte eine türkische Zeitung über diese Herabsetzung der türkischen Sprache – als ob die türkische Sprache ein angestammtes Recht hätte, auf Berliner Schulhöfen gesprochen zu werden, außerdem ging es gar nicht nur um Türkisch. Dann charakterisierte ein deutsches Fernseh-Magazin die Aktion als «Zwangsgermanisierung». Mit diesem bösen Wort sind wir wieder mitten in der deutschen Vergangenheit, wir sind mitten in Krieg und NaziTerror, wir sind mitten in unserer Schuld. Ein solcher Verdacht schließt die Sprachfrage, statt sie zu lösen, ideologisch ab: Es handelt sich um eine Aktion zur Unterdrückung fremder Völker und Kulturen und um die Ausbreitung der bösen Nazi-Sprache. Dies ist eine argumentative Sackgasse, die das Problem nur verschärft. Der 221

Fall zeigt, daß die Erinnerung an die gebellte Sprache immer da ist, daß sie die Situation gewaltig dramatisiert und die Lösung erschwert. 10.4.2. Was aber an diesem Fall ebenfalls sichtbar wird, ist, daß diese Blockade gelöst werden kann. Er zeigt nämlich, daß man – ohne daß deswegen das historische Gedenken eliminiert würde – Bewegung in das Denken über die deutsche Sprache bringen kann, indem man den gesunden Menschenverstand walten läßt. Es gibt im übrigen auch ein Modell für die vernünftige Behandlung des Problems des Verhältnisses von «Nationalsprache» oder «Verkehrsprache» des Landes und den anderen Sprachen der Bewohner dieses Landes. Ich meine die alte Diglossie zwischen dem Hochdeutschen und den Dialekten des Deutschen: oben Hochdeutsch – unten Dialekt. Man darf ja nicht vergessen, daß auch die Deutschen zumeist nicht das Deutsche zur Muttersprache haben, sondern einen deutschen Dialekt. Auch die Deutschen müssen mehrheitlich die Sprache Deutsch erst in der Schule lernen. Es ist mir schon klar, daß das Türkische weiter vom (Standard-)Deutschen entfernt ist als das Bairische. Aber auch das Bairische, Hessische oder Schwäbische sind eben nicht Deutsch oder Hoch-Deutsch. Die Schule ist auch für die meisten Deutschen der Ort, an dem sie «ihre» Sprache erst lernen. Sie lassen dann ihre «alte» Sprache zurück, teilweise jedenfalls. Dasselbe geschieht nun auch mit den Muttersprachen der Immigranten: Sie lassen in der Schule – teilweise und zeitweise jedenfalls – ihre alten Sprachen hinter sich zurück. Die Schule ist der Ort der Ankunft in der neuen Sprache, die Familie kann wie bei den Deutschen auch der Ort der alten Sprache bleiben. Und übrigens kann dann vielleicht auch der Schulhof der Ort der alten Sprache bleiben, es ist ja der Ort der Pause, des Ausruhens von der Anstrengung. Aber wenn die Bewohner des Schulhofes sich auf das Deutsche als gemeinsame Sprache einigen, so ist das auch gut. Jedenfalls hat es nichts mit Zwangsgermanisierung und Nazigreueln zu tun. Das Erlernen der Kultursprache ist nicht einfach, es war und ist auch nicht einfach für bairische, hessische und schwäbische Kinder. Aber es ist möglich und machbar, es ist auch für türkische und arabische Kinder möglich und machbar. Aber: da dies in der Tat für diese doch schwerer ist als für die Baiern und Schwaben, brauchen 222

diese Kinder die großzügigste Hilfe und Förderung durch die deutsche Sprachgemeinschaft. Wenn wir diese Kinder als Mitglieder unserer Sprachgemeinschaft – und unserer politischen Gemeinschaft – wollen, dann müssen wir auch etwas dafür tun. In Amerika gibt es an jeder Schule Extra-Lehrer für ESL , English as a Second Language. Hierzulande sind aber ganz offensichtlich die Programme und Mittel hierfür ungenügend. Wenn sie hinreichend wären, würden unsere Schüler bei den entsprechenden internationalen Vergleichstests besser abschneiden. Frankreich und Großbritannien machen dies ganz offensichtlich besser. Wir tun nicht genug. Wir tun übrigens auch nicht genügend für die dialektsprechenden deutschen Kinder. Darauf deutet ja die beschämende Klassenabhängigkeit der Schulerfolge hin. Die da nicht weiterkommen in der Schulkarriere sind natürlich Dialektsprecher.

10.5. Integration und Globalesisch Über den ganz offensichtlichen Mangel an Sprachfördermaßnahmen hinaus gibt es nun allerdings ein neues und wirklich gravierendes – weil strukturelles und ideologisches, nicht nur finanzielles – Hindernis für eine großzügige und intensive Sprachausbildung im Deutschen: die schon erwähnte Globanglisierung der deutschen Schule. Angesichts der desaströsen Test-Ergebnisse der Schüler deutscher Schulen im Sprachbereich hätte man eigentlich als dringendste Maßnahme nach PISA 2001 eine energische Verstärkung des deutschen Sprachunterrichts erwartet. Es geschieht auch dies und das, aber das Zentrum der schulreformerischen Aufmerksamkeit der letzten Jahre ist die massive Verstärkung des Englischunterrichts gewesen. Herr Oettinger ist – wie alle anderen SchulPolitiker des Landes – sehr stolz darauf, daß es Englisch jetzt ab der ersten Klasse in der Grundschule gibt. Es wird vielerorts sogar schon im Kindergarten fleißig Englisch gelernt (mit schwäbelnden und berlinernden Kindergärtnerinnen!). Gerade hier sollte aber eigentlich fleißig Deutsch geübt werden. In den Gymnasien werden die wichtigen Fächer zunehmend auf Englisch angeboten. Der sogenannte Immersionsunterricht (Content and Language Integrated Learning, CLIL ) ist der letzte pädagogische Schrei der deutschen 223

Schule, eine völlig unhinterfragte, in der Öffentlichkeit überhaupt nicht diskutierte Transformation des deutschen Schulwesens, die einer sprachlichen und kulturellen Revolution gleichkommt: In ein paar Jahren können junge Deutsche über die wichtigsten Gegenstände (Wissenschaften, Politik, Geschichte, Geographie, Wirtschaft) nicht mehr auf Deutsch sprechen, sie haben das dann alles nur auf Englisch sprachlich parat. Natürlich fördert CLIL die Englisch-Kompetenz, der Nachteil ist nur, daß es das Deutsche aus den wichtigsten Redefeldern vertreibt. Das Ziel deutscher Schulpolitik ist ganz offensichtlich – Herr Oettinger hat es ja in aller Deutlichkeit gesagt – die Abschaffung des Deutschen als «Arbeitssprache», also als wichtigste in der Schule zu erlernende Sprache. Dies erleichtert nun die Integration türkischer oder arabischer Kinder in die deutsche Sprachgemeinschaft nicht, genauer: dies macht sie letztlich unmöglich. Denn wozu sollen die Immigrantenkinder überhaupt Deutsch lernen, wenn die wichtige, die Arbeitssprache dieses Landes, Englisch ist? Wenn das Deutsche nur eine Familiensprache ist («Deutsch bleibt die Sprache der Familie, der Freizeit, die Sprache, in der man Privates liest») wie das Bairische, das Hessische und das Plattdeutsche, wozu, bitte sehr, sollen Immigranten diese Sprache denn dann lernen? Für den Pausenhof? Eine Familiensprache haben die Türken, Russen und Araber schon, sie brauchen keine zweite. Sie suchen eine Arbeitsprache. Aber da, wo sie hinwollen, zu einer Arbeitssprache nämlich, ist in der deutschen Schule zunehmend das Globalesische, also die große weite Welt, no man’s land. Deutschland ist da jedenfalls nicht mehr. Die deutsche Schul-Sprachpolitik verhindert die Ankunft der Immigranten in diesem Land. Oder vielleicht doch nicht? Die Deutschen sollen ja nach dem Willen ihrer Politiker in den relevanten Redefeldern (Arbeit) gar nicht mehr deutsch reden, sondern englisch, das Deutsche bleibt ja in den Familien (also außerhalb der Schule). Die Immigranten sollen daher offensichtlich mit den Deutschen, mit denen sie arbeiten (aber keine Familien gründen!) sollen, gar nicht deutsch, sondern englisch sprechen! Also doch: Welcome in Germany, am ServicePoint und dann brain up! Mit dieser Schul-Sprachpolitik ist ganz offensichtlich die echt deutsche Lösung der deutschen Sprachfrage auf den Weg gebracht. 224

Damit das richtig funktioniert, sollte man aber keine halben Sachen machen, sondern endlich das ganze Erziehungswesen auf Globalesisch umstellen: CLIL total. Da dann die in der Schule gelernte und verwendete Sprache für keinen die Muttersprache wäre, gäbe es – zunächst – keine Benachteiligung von Immigranten mehr. Bayern, Türken, Deutsche, Niederdeutsche und Russen würden alle in einer fremden Sprache beschult. Sprachgerechtigkeit wäre hergestellt. Von Zwangsgermanisierung und Nazi-Infizierung könnte also auch nicht mehr die Rede sein. Und schließlich würde die globalophone Schule endlich die schuldige Sprache aus den Köpfen der Deutschen eliminieren. Keiner brauchte sich mehr zu schämen, die Sprache Hitlers, diese gebellte Sprache, (leise) weitersprechen zu müssen. Man hätte wahrscheinlich schnell – jedenfalls was die karrierebeflissenen Mittel- und Oberschichten angeht – eine neue postnationale Sprachgemeinschaft auf dem Territorium des ehemaligen Deutschland, die dann, wie z. B. die herrschende Klasse in Indien, ein Teil der großen englischen Sprachgemeinschaft wäre. Damit wäre die historische Erinnerung, die an der (Nazi-)Sprache hängt, weitgehend getilgt. Die Kinder der neuen Sprachgemeinschaft würden entspannt aus history books lernen, daß es früher einmal auf diesem Territorium eine Nation von Killern gegeben hat mit einer schrecklichen Sprache, die eher gebellt als gesprochen wurde. Aber diese wäre eben Geschichte – bzw. history.

10.6. Zwei Schlußbemerkungen: Orthographie und Passion 10.6.1. Orthographie. Zur Abrundung dieses Tableaus der Aktivitäten des Staates gegen die deutsche Sprache muß die weitere Attacke dieses Staates bzw. aller deutschsprachigen Staaten gegen die deutsche Sprache wenigstens erwähnt werden, die ja ebenfalls die Einheit der deutschen Sprachgemeinschaft aufs höchste gefährdet bzw. in den letzten zehn Jahren schon bleibend geschädigt hat, ich meine die Orthographie-Reform. Nachdem der Staat zuerst durch seinen Krieg, durch seine auswärtige Sprachpolitik und durch seine Schulsprachenpolitik die Stellung des Deutschen geschwächt hat, hat er sich dann auch noch der deutschen Sprache in ihrer schriftlichen Form bemächtigt und ihr weiteren Schaden zugefügt. Interessant 225

ist im übrigen, wie in den beiden letzteren Fällen gleichsam mafiöse Gruppen sich des Staates für zukunftsschwere Entscheidungen für die Sprachgemeinschaft bedient haben. Im Falle der Anglisierung der Schule ist dies überhaupt nicht ins Bewußtsein der Öffentlichkeit geraten, weil diese dringend und «objektiv» geboten scheint und im allgemeinen Konsens geschieht. Es ist aber in Wirklichkeit so, daß einflußreiche Englisch-Promotoren die Entscheidungsstellen der Kultusbürokratien besetzt und in ihrem Sinne beeinflußt haben – ohne jegliche gesellschaftliche Diskussion. Ich erinnere mich jedenfalls an keinerlei öffentliche Debatte über die massive Ausweitung des Englischunterrichts bis hin zum sogenannten «Immersionsunterricht». Bei der Orthographie-Reform ist das allgemein bekannt: Ein kleines Grüppchen von wenigen sogenannten Spezialisten und Ministerialbürokraten hat die Sache ausgeheckt und durchgesetzt. Die Reform sieht bekanntlich Regelungen vor, die gegen die Struktur des Deutschen stehen (Getrennt- und Zusammenschreibungen: wieder sehen, wiedersehen), falsche Etymologien nahelegen (einbläuen, hat nichts mit blau zu tun), syntaktische Beziehungen verdunkeln (Interpunktion; kein Komma vor erweitertem Infinitiv), Widersprüche bei Fremdwörtern einführen: Orthografie (warum einmal th und einmal f?). Die brutal durchgeführte Verwaltungsmaßnahme gegen die Rechtschreibung hat keine demokratische Legitimation und wurde gegen den Rat wirklicher Experten aus der Sprachwissenschaft durchgesetzt, gegen die Schriftsteller und die wichtigsten Presseorgane, kurz gegen die Tradition, die natürlich als solche schon verdächtig ist – irgendwie Nazi. Die Wirkung der Reform ist eine allgemeine Verunsicherung und eine generationelle Spaltung der deutschen Schreibgemeinschaft. Da der Staat im Jahr 2006 gegen den Rat von Wissenschaft und Kultur die endgültige Einführung der Sache in den Schulen beschlossen hat, sind nun die Kämpfer ermüdet. Der Sieg über die deutsche Sprache ist total. Dazu eine selbstkritische Bemerkung: Niemand – ich auch nicht – wagte es mehr, in der Versammlung der Berliner Akademie gegen die Einführung der neuen Rechtschreibung das Wort zu ergreifen. Vorhersehbar war, daß die «richtigen» Wissenschaftler gelangweilt und genervt die monotone Fragen stellen würden: Gibt es nichts Wichtigeres? In der Tat, für die längst anglophonen und anglogra226

phen Naturwissenschaftler ist das nichts Wichtiges. Sie schreiben sowieso kein Deutsch mehr, und sie sprechen oft – wenn sie denn einmal deutsch sprechen müssen – ein von Anglizismen durchsetztes Deutsch, dem man anmerkt, daß sie diese Sprache in Wirklichkeit gar nicht mehr verwenden. Wie sollte man da noch einmal klarmachen, daß dies für andere Mitglieder der Akademie tatsächlich noch eine wichtige Frage ist. Kurzum: die einen sind ermattet, für die anderen hat das keine Bedeutung mehr, weil sie längst in der anderen Sprache angekommen sind und für die unwichtigen Problemchen der «Familiensprache» nun wirklich keine Zeit mehr haben. 10.6.2. Passion. Aus dem Gesagten ergibt sich ein trübes Bild von der Zukunft der deutschen Sprache. Ein Volk distanziert sich aus Sprachscham von seiner Sprache, die kulturellen Dynamiken wirken daher unaufhaltsam gegen diese Sprache: Verschwinden des Deutschen aus internationalen Prestige-Diskursen, dies schwächt die entsprechenden nationalen Diskurse und folglich den Status der Sprache. Schulpolitik und offizielle Sprachpolitik reduzieren die Diskursdomänen der nationalen Hochsprache so, daß diese überflüssig wird. Halbherzige oder keine Aktivitäten für den Erwerb der Nationalsprache bei Immigranten. Das befördert das Entstehen fremdsprachiger Enklaven auf dem Sprachgebiet. Statusschwächung bringt Korpusschwäche: das nicht mehr als prestigereich angesehene Korpus wird nicht mehr gepflegt. Gegen all dies regt sich Widerstand bei einigen Nostalgikern. Bei diesen ist eine geradezu schmerzhafte Passion für die Sprache entstanden, die da ins Dialektale entschwindet, eine Passion, die derjenigen des französischen Philosophen Jacques Derrida nicht unähnlich ist. Jacques Derrida beschreibt in einem seiner letzten Bücher, Le monolinguisme de l’autre, sein Verhältnis zur französischen Sprache. Der inzwischen berühmt gewordene Satz auf der ersten Seite dieses Buches heißt: Je n’ai qu’une langue, ce n’est pas la mienne. (Derrida 1996: 11) Ich habe nur eine Sprache, diese ist nicht meine Sprache. Dieser Widerspruch ist das Ergebnis eines Sprach-Traumas, das Derrida zu Beginn seines Lebens erfuhr. Als frankophoner Jude in 227

Algerien aufgewachsen, wurden ihm 1940 durch ein Dekret der Vichy-Regierung die französische Staatsangehörigkeit und der Schulbesuch – und das hieß der Zugang zur Kultur-Sprache – verboten. Er war sozusagen sprachlich enteignet worden. Die eigene Sprache wurde schmerzhaft zur fremden. Die Juden Algeriens hatten aber keine andere Sprache als die französische, diese sollte aber nicht die ihre sein. Aus dieser brutalen Enteignung resultiert eine schmerzhafte Liebe – eben eine Passion – für die französische Sprache, die sich dieser Entfremdungserfahrung, diesem Entzug, verdankt und die sich in einer besonderen Sorge um die Kultur dieser Sprache manifestiert. Dieser Sprach-Passion, in der eine Alternative zum mutlosen und opportunistischen Verlust der Sprachliebe der Deutschen aufscheint, ist das nächste Kapitel gewidmet. Aus völlig anderen historischen Gründen speisen nun auch einige Sprecher des Deutschen ihren Widerstand gegen die geschilderte Dynamik des Niedergangs des Deutschen aus einer schmerzhaften Liebe zur deutschen Sprache, aus einer Passion für das Deutsche, die sich ebenfalls einer traumatischen Erfahrung verdankt: Sobald ich den ersten politischen Gedanken zu denken fähig war, wußte ich, daß meine Sprache die Sprache der Großen Killer war. Diese Sprache wollte ich nicht, ich wollte mir diese Zunge ausreißen. Ich habe mit Leidenschaft andere Sprachen gelernt, zuerst Englisch, dann Französisch, das meine Brudersprache wurde. Höhepunkte meines jungen Lebens waren Lobpreisungen von Franzosen über mein Französisch, vor allem das: «Ah, on ne dirait pas que tu es Allemand!» Aber noch im Ausreißen meiner eigenen Zunge blieb sie mir doch erhalten, gleichsam wie ein Phantomglied, une langue fantôme. Sie ist immer noch meine Zunge. Ich leide an ihr und liebe sie doch: Sie ist meine Passion. Ausgerissen ist meine Zunge mir fremd geworden, aber sie ist immer noch meine, ich habe keine andere: «Je me suis arraché ma langue, je n’en ai pas d’autre.»

11. Sprach-Passion: Schizolinguismus und Kultur der Sprache 11.1. Einsprachigkeit – Anderssprachigkeit In seinem letzten Interview mit Le Monde vom 19. August 2004 hat Jacques Derrida die zentralen Gedanken des erwähnten Buches Le monolinguisme de l’autre (1996) zusammengefaßt – allerdings mit einer auffälligen Auslassung, auf die ich am Ende des Kapitels zu sprechen komme. Das Interview ist noch, wie Jean Birnbaum am 12. Oktober 2004 in der Sonderbeilage von Le Monde zum Tode Derridas schreibt, von Derrida selbst redigiert und autorisiert worden, so daß es tatsächlich ein echter Derrida-Text ist. Jean Birnbaum stellt bei Derrida eine Passion für die französische Sprache fest: «Quand on vous lit, on sent à chaque ligne l’intensité de votre passion pour elle». Er verwendet bewußt das Wort «passion», das Leiden und Leidenschaft bedeutet. Ich halte das Wort für das zentrale Wort überhaupt: es geht um eine Sprach-Passion. Birnbaum fragt dann: Dans Le monolinguisme de l’autre, vous allez jusqu’à vous présenter, ironiquement, comme ’le dernier défenseur et illustrateur de la langue française’. Im Monolinguisme de l’autre gehen Sie sogar soweit, sich ironisch als den letzten Verteidiger und Illustrator der französischen Sprache zu präsentieren. Birnbaum evoziert mit Derrida1 das berühmte Traktat des Dichters Joachim Du Bellay von 1549, Défense et illustration de la langue française, die berühmteste Liebeserklärung an die französische Sprache, die Rechtfertigung der Verwendung dieser Sprache in Dichtung und Wissenschaft und die Geburtsurkunde der modernen nationalfranzösischen Literatur. Und Derrida antwortet, indem er an den Satz des Interviewers anknüpft: 229

Qui ne m’appartient pas bien que ce soit la seule que «j’aie» à ma disposition (et encore!).2 [Die französische Sprache,] die mir nicht gehört, obwohl sie die einzige ist, die ich (vielleicht!) zu meiner Verfügung habe. Dies ist die im vorigen Kapitel schon zitierte These vom Beginn seines Buches: Je n’ai qu’une langue, ce n’est pas la mienne. (13) Ich habe nur eine Sprache, diese ist nicht meine Sprache. Wir sehen uns diesen Anfang genauer an: – Imagine-le. Figure-toi quelqu’un qui cultiverait le français. Ce qui s’appelle le français. Et que le français cultiverait. Et qui, citoyen français de surcroît, serait donc un sujet, comme on dit, de culture française. Or un jour ce sujet de culture française viendrait te dire, par exemple, en bon français: «Je n’ai qu’une langue, ce n’est pas la mienne.» (13) – Stelle dir vor. Nimm jemanden an, der das Französische kultivieren würde. Das was man «das Französische» nennt. Und den das Französische kultivieren würde. Und der, überdies französischer Staatsbürger, also ein – wie man so sagt – Subjekt französischer Kultur wäre. Eines Tages käme dieses Subjekt französischer Kultur, um dir zum Beispiel zu sagen, in gutem Französisch: «Ich habe nur eine Sprache, diese ist nicht meine Sprache». Den Satz «Ich habe nur eine Sprache, diese ist nicht meine Sprache» sagt also eine Person französischer Nation und französischer Kultur, in einer zunächst im Irrealis präsentierten Gesprächssituation. «Stelle dir vor. Nimm jemanden an, der das Französische kultivieren würde». Wittgenstein spricht ähnlich in den Philosophischen Untersuchungen, wenn er immer wieder einsetzt mit: «Denk dir …, 230

nimm an …». Diese Intertextualität ist sicher kein Zufall.3 In den Philosophischen Untersuchungen unterläuft Wittgenstein die Suche nach der einen «richtigen» wissenschaftlichen Sprache in der Vielfalt der Sprachspiele. Jedenfalls: So dialogisch, anscheinend auf den anderen bezogen, beginnt Derridas Buch. Allerdings ist Le monolinguisme – wie die Philosophischen Untersuchungen – nicht systematisch auf den anderen bezogen. Auch der Irrealis verschwindet schnell. Das Buch, das Die Einsprachigkeit des anderen heißt, Le monolinguisme de l’autre, handelt zunächst nicht – oder auch generell nicht – vom anderen, vom Hörer, sondern vom Sprecher, vom Ich, vom Subjekt, und von dessen Einsprachigkeit. Denn das imaginierte Subjekt französischer Kultur fährt fort: Je suis monolingue. Mon monolinguisme demeure, et je l’appelle ma demeure, et je le ressens comme tel, j’y reste et je l’habite. Il m’habite. Le monolinguisme dans lequel je respire, même, c’est pour moi l’élément. […] C’est moi. Ce monolinguisme, pour moi, c’est moi. (13 f.) Ich bin einsprachig. Meine Einsprachigkeit bleibt, und ich nenne sie meine Bleibe, und ich empfinde sie als solche, ich ruhe in ihr und ich bewohne sie. Sie bewohnt mich. Die Einsprachigkeit, in der ich atme, ist sogar mein Element. […] Das bin ich. Diese Einsprachigkeit bin ich, für mich. Hier artikuliert sich ein Ich, das sich in einer einzigen Sprache geradezu einzunisten scheint – und zwar im guten Französisch, «en bon français» (13). Diese gute französische Einsprachigkeit ist seine demeure, seine Bleibe. Da davon die Rede ist, daß diese Sprache vom Sprecher «kultiviert» wird – «en bon français» – und daß diese Sprache den Sprecher kultiviert («et que le français cultiverait», 13), handelt es sich darüber hinaus um eine tiefe gegenseitige Wechselwirkung. Da jedem, der das Französische kultiviert, beim Satz «qui cultiverait le français» der berühmte Schlußsatz von Voltaires Candide einfällt: «mais il faut cultiver notre jardin», ist die Assoziation mit der Pflege eines Gartens sicher willkommen: Hier wird eine Sprache wie ein Garten kultiviert.4 Es ist ein Sprachgarten, dessen Pflege auf den Gärtner zurückwirkt – «et que le français cultiverait» – , so daß der Sprachgärtner seinerseits «de culture française» 231

ist. Diese einsprachige französische Sprachkultur – diese Monokultur – ist so tief, daß sie sogar das Ich konstituiert: «C’est moi. Ce monolinguisme, pour moi, c’est moi.» So wie der Staat das Ich von Ludwig XIV. und Emma Bovary das Ich von Flaubert waren: «l’État c’est moi», «Emma Bovary c’est moi». Tiefer kann Einsprachigkeit nicht sein (höchstens eine angeborene, natürliche Sprache wäre noch tiefer mit dem Ich verbunden, doch es geht hier überhaupt nicht um Natur, sondern um Kultur). Aber: Bei aller tiefen, ja tiefsten Einsprachigkeit, die das Ich konstituiert, sagt der Sprecher eben doch, daß diese eine Sprache, die er hat («je n’ai qu’une langue»), nicht die seinige sei: «ce n’est pas la mienne». Es gibt also im Zentrum der tiefen gegenseitigen Kultivierung und Wechselwirkung von Ich und Sprache eine Spaltung, eine ganz offensichtlich unaufhebbare Trennung, die einen Besitz dieser Sprache unmöglich macht. Die eine Sprache, die seine Einsprachigkeit konstituiert, ist nicht nur nicht seine Sprache, sondern sie war sie auch niemals und wird sie auch niemals sein: Or jamais cette langue […] jamais ce ne sera la mienne. Jamais elle ne le fut en vérité. (14) Wenn sie nicht meine ist, dann, so muß man folgern, gehört diese Sprache in einen Raum der Alterität, dann ist diese Sprache die Sprache des anderen, «la langue de l’autre». Der andere des Titels, der in dieser Negation – «es ist nicht meine Sprache» – notwendig mitgegeben ist, taucht allerdings erst viel später, auf S. 42, explizit im Buch auf. Und dann heißt es: Ma langue, la seule que je m’entende parler et m’entende à parler, c’est la langue de l’autre. (47) Meine Sprache, die einzige, die ich mich sprechen höre und die ich zu sprechen verstehe, ist die Sprache des anderen. Und an dieser Stelle und am Ende ist auch die Rede von einer: «aliénation essentielle dans la langue – qui est toujours de l’autre» (114), von einer «wesentlichen Entfremdung in der Sprache, die immer diejenige des anderen ist». Die Sprache des Einsprachigen, von der bisher die Rede war, ist also die Sprache des anderen. In diesem 232

Sinne ist dann natürlich auch meine Einsprachigkeit die Einsprachigkeit des anderen, genauer: eine Einsprachigkeit in der Sprache des anderen oder eine Einsprachigkeit vom anderen her. Der andere ist nicht das Subjekt der Einsprachigkeit, sondern der Ort, von dem sie kommt.

11.2. Ist diese Sprache fremd? Meine Sprache, die die Sprache des anderen ist, ist nach Derrida ausdrücklich keine fremde Sprache, keine «langue étrangère» (18). Wenn wir uns die von Brigitte Jostes in ihrer semantischen Analyse des Adjektivs étranger aufgezeigten semantischen Züge vor Augen führen, so heißt das: sie ist nicht «ausländisch», sie ist auch nicht «nicht-zugehörig», sie ist nicht «unbekannt». Die Sprache ist inländisch, dem Ich zugehörig und bekannt. Dennoch ist sie nicht eigen – propre – sondern eben auch und offensichtlich wesentlich «de l’autre». Auf Deutsch wäre «fremd» zur Bezeichnung dieses anderen allerdings nicht falsch, sofern dt. «fremd» auch einen Teil von frz. «autre» abdeckt. «Fremd» ist im Deutschen – anders als im Französischen – auch das, was ich nicht besitze, z. B. beim «Fremdkapital» (das kein «capital étranger» ist).5 Die beiden Adjektive fremd und étranger sind nicht ganz deckungsgleich. Wenn Humboldt schreibt, daß mir «das von mir gebildete Wort aus fremdem Munde wiedertönen» muß (VII: 56), so übersetzt man das ins Französische besser mit «d’une autre bouche» oder «de la bouche d’autrui» als mit «d’une bouche étrangère». Es ist der Mund, den nicht ich besitze, sondern ein anderer. Es geht beim «anderen» um diese Momente konstitutiver Fremdheit der Sprache überhaupt und der eigenen Sprache, die Humboldt entdeckt hat.6 Es geht um die Einsprachigkeit vom Fremden her, von dem, was ich nicht besitze. Die Sprache also, von der hier die Rede ist, Derridas eine Sprache, ist gleichzeitig beim Ich und woanders, sie gehört gleichzeitig dem Raum des Ich und des anderen zu. Die eine Sprache ist gleichzeitig eine andere, oder: die Einsprachigkeit ist gleichzeitig Anderssprachigkeit. Ja sie ist sogar eine ganz besonders radikale, jedenfalls besonders schmerzliche Form der Anderssprachigkeit. Denn das Andere ist nicht draußen, sondern im Inneren des Sprechers. Die 233

Anderssprachigkeit des Einsprachigen ist eine innere Spaltung, ein Schizolinguismus.

11.3. Der Schmerz Diese Trennung, die Nichtzugehörigkeit der einen Sprache zum Sprecher bei gleichzeitiger Zugehörigkeit, ist schmerzhaft. Der Schizolinguismus ist: l’origine de mes souffrances […] et le lieu de mes passions, de mes désirs, de mes prières, la vocation de mes espérances. (14) der Ursprung meiner Leiden […] und der Ort meiner Passionen, meiner Begehren, meiner Bitten, die Berufung meiner Hoffnungen. Hier sind sie wieder, die Passionen. An einer anderen Stelle des Buches wird sich Derrida geradezu als Schmerzensmann darstellen, dessen Kreuz diese Trennung ist und dessen Wundmale durch diese Trennung geschlagen sind. Die Passion für die Sprache basiert also tatsächlich auf einer Kreuzigung.7 Die Trennung und die von ihr verursachten Schmerzen sind historisch und autobiographisch begründet. Derridas Buch ist ja auch eine sprachliche Autobiographie. Insofern erinnert es an Elias Canettis Gerettete Zunge und den dort dargestellten schmerzhaften Prozeß der Aneignung des Deutschen.8 Es ist allerdings ein philosophischer, kein narrativer Text und gehört daher in die Tradition des Discours de la méthode, also der philosophischen Autobiographie. Le monolingisme de l’autre hat im Gesamtwerk Derridas die Funktion, die der Discours de la méthode im Werk von Descartes hat: Es ist der Text, der Derridas ganze philosophische Suche auf ein zugrundeliegendes Prinzip zurückführt. So wie das «je pense donc je suis» die Grundlage der Philosophie Descartes’ und des Denkens überhaupt ist, so ist Derridas Satz: «Je n’ai qu’une langue, ce n’est pas la mienne» das Grundprinzip seines Denkens und – wie bei Descartes – des Denkens überhaupt. Die Anderssprachigkeit des Einsprachigen, der Schizolinguismus, ist die grundlegende Erfahrung des Denkens Derridas. Und wie das kartesische Prinzip 234

versteht sich auch Derridas fundamentale Wahrheit nicht bloß als individuelle Einsicht, sondern als universelle Wahrheit, die für alle Menschen gilt. Als 1930 in Algerien geborener Jude wird Derrida französisch sozialisiert. Die 1870 durch das Dekret Crémieux zu Franzosen erklärten algerischen Juden waren begeistert zur französischen Sprache und Kultur übergegangen, sie hatten das Spanische ihrer eigenen Tradition und auch das Arabische oder Berberische ihrer Nachbarn rasch hinter sich gelassen. Sie wurden leidenschaftlich und hundertprozentig Franzosen. Im Interview spricht Derrida sogar von einer «surenchère», von einer Überbietung ihres Franzosentums. Die Aneignung der französischen Sprache ist mit einem rasanten gesellschaftlichen Aufstieg verbunden gewesen. Derrida charakterisiert die drei Generationen seit 1870 mit den Stichworten: Verbürgerlichung, Geschäftsleute, Akademiker. Gerade diesen begeistert französischen Juden Algeriens entzieht nun das VichyFrankreich 1940 die französische Staatsangehörigkeit, Frankreich bricht mit den französischsten Franzosen. Den Kindern wird der Schulbesuch verboten. Damit wird für Derrida die weitere Aneignung oder weitere «Kultivierung» der Sprache für eine wichtige Zeit seines Lebens verboten, gerade jener Sprache, die das Symbol der Ankunft der algerischen Juden war. Es ist eine ganz eigene «défense de la langue française», der sich die algerischen Juden da ausgesetzt sehen: einer «défense» nicht im Sinne von «Verteidigung», sondern im Sinne von «Verbot» (das Wort défense hat diese beiden Bedeutungen): «Verbot der französischen Sprache». Ein entscheidender Unterschied zu Du Bellay. Diese Enteignung ist für Derrida das Grundereignis seiner sprachlichen Biographie – aber auch der Ausgangspunkt seiner universellen Einsicht in die Sprachlichkeit des Schriftstellers. Die brutale Trennung zerstört den Schein eines unproblematischen «Sprachbesitzes», in dem sich sogenannte echte Muttersprachler wiegen. Die «défense de la langue française», das Verbot der französischen Sprache, besagt gleichsam: «Die eine Sprache, die du zu haben meinst, gehört dir gar nicht.» Dies war nun für die algerischen Juden insofern von besonderer Dramatik, als es gar keine Sprach-Alternative gab. Die Brücken zum Judenspanischen oder zum Arabischen waren längst abgebrochen. Das unterscheidet die 235

Spracherfahrungen Derridas von denen des algerischen Schriftstellers Khatibi, mit dem er hier dialogiert. Der auf Französisch schreibende Khatibi hat neben oder hinter der Schreib-Sprache Französisch – hinter seiner Anderssprachigkeit – seine «Muttersprache» Arabisch. Khatibis Buch heißt daher auch Du bilinguisme. Doch gerade davon setzt sich Derrida ab: Le monolinguisme – Derrida hat keine zweite Sprache hinter der einen Sprache – de l’autre. Die Enteignung und Entfremdung der eigenen Sprache wird also als brutale Trennung erlebt, die als Trauma im Sprachbewußtsein verbleibt. Näher betrachtet ist allerdings die Trennung auch keine völlig neue Erfahrung. Das traumatisierende Erlebnis verstärkt und radikalisiert die prekäre Beziehung, die die algerischen Juden ohnehin zur französischen Sprache aufgrund der Tatsache hatten, daß das Französische eine von woanders herkommende Sprache – eine Sprache des anderen – ist. Sie ist die aus der Metropole über das Meer kommende Sprache, die vor allem über die Schule vermittelt wird. Sie ist wesentlich geschriebene Sprache und eine literarische Sprache, die man «kultiviert». Der Ort und die Norm, das Gesetz dieser Sprache liegen nicht in Algerien, sondern jenseits des Meeres, in einer weit entfernten, geradezu fiktiven Kapitale. Sie war immer schon eine Sprache extremer Distanz.9 Die eigene Sprache war also auch vor und nach dem Vichy-Dekret schon woanders, die Alterität war ihr ohnehin eingeschrieben. Sprach-Kultur und Kolonialismus hängen hier aufs engste miteinander zusammen: Die SprachKultur der algerischen Juden ist ein Effekt des französischen Kolonialismus. Sie sind Kolonisierte und zugleich – auch wenn sie gar nicht wie die französischen Siedler aus Frankreich eingewandert sind – «colons», Kolonisierende, nämlich Kultivateure des Französischen. Ihre Sprache ist nicht nur eine Kultursprache, sondern auch eine Kolonialsprache, Sprache der anderen. Wie radikal die koloniale Alterität dieser eigenen Sprache war, wurde durch den brutalen Staatsakt von 1940 schmerzhaft bewußt. Aber, noch einmal: eine Rückkehr in irgendeine jüdisch identitäre Sprache war einfach nicht möglich, die französischen Juden hatten keine andere Sprache als diese eine Sprache der anderen. Von einer Rückkehr in eine jüdische Sprache träumt etwa Kafka, wenn er über das Jiddische schreibt, das er zur eigen-fremden Sprache des Vaters, zum Deutschen, in Gegensatz setzt.10 236

An dieser Stelle seines Buches, wo er die Erfahrung der algerischen Juden mit dem Französischen beschreibt, setzt sich Derrida nun mit anderen berühmten jüdischen Erfahrungen mit der Sprache auseinander. Das heißt er unterlegt seine eigene Geschichte mit einer sich über dreiundzwanzig Seiten hinstreckenden Fußnote. Er behandelt darin Rosenzweig, Hannah Arendt und Levinas. Man kann zu dieser Fußnote noch die Ausführungen über Adorno in der Rede zum Adorno-Preis von 2001 hinzuzählen.11 Seine eigene Erfahrung grundiert Derrida also mit den Sprach-Auffassungen berühmter anderer jüdischer Denker. Es sind naturgemäß vor allem Reflexionen zur deutschen Sprache. Da sie Derridas schizolinguistische Erfahrung nicht teilen, werden Rosenzweig und Arendt eher kritisch behandelt. Levinas, der seinen Aufenthalt im Französischen als einen Gaststatus schildert, kommt Derrida dagegen näher, man könnte sagen ohne die tragische oder schmerzhafte Note der Derridaschen Erfahrung.

Exkurs An dieser Stelle möchte ich noch einmal auf die dem vorigen Kapitel zugrundeliegende Sprach-Passion vieler Deutschsprachiger verweisen, die Derridas jüdisch-algerienfranzösische Spracherfahrung gleichsam paradox spiegelt: Immer noch verläuft die Sprach-Sozialisation vieler Deutschsprachiger so, daß der heimische Dialekt – die eigentliche «Muttersprache» der meisten Deutschen – in der Schule allmählich von der deutschen Standard-, Schrift- und Literatursprache überlagert wird. Der schulische und gesellschaftliche Erfolg ist immer noch mit der Beherrschung dieser Sprache verbunden. Wer dieses Deutsch dann lesen, schreiben und sprechen kann, lernt oft mit Entzücken, was in dieser Sprache alles gesagt und geschrieben wurde und geschrieben und gesagt werden kann. Viele lernen diese Sprache lieben – wie Derrida das Französische – durch das Kultivieren dieser Sprache. Aber für den Deutschsprachigen stellt sich notwendigerweise auch das Grauen vor dieser Sprache ein. Das Deutsche ist ja auch die Sprache jener gewesen, zu denen er auf keinen Fall gehören möchte, die Sprache jener Verbrecher, mit denen er keine Gemeinsamkeit haben möchte, jener ihm absolut 237

Fremden, die Deutsche waren. Er kennt den Horror der Welt vor dieser Sprache. Aber es ist doch seine Sprache. Ein Riß geht durch seine Sprachigkeit. Deutschsprachigkeit ist bei vielen politisch bewußten Menschen schmerzhafter Schizolinguismus. Aber – hier ist die Differenz zu Derrida – während die algerischen Juden von den anderen ausgeschlossen wurden, müssen die deutschen Sprecher, die ihre Sprache lieben, sich selbst aus ihr ausschließen: «L’allemand est ma langue, mais j’ai horreur de ma langue». Trennung, Passion, Leiden und Leidenschaft. Dem deutschen Schizolinguismus entgeht man nur durch die Flucht in eine andere Sprache. Es gibt dabei im wesentlichen zwei Fluchtwege: den Dialekt und die Globalsprache – oder beides. Letzteres ist der Weg der Schweiz. Schwaben können alles außer Hochdeutsch. In die Globalsprache fliehen Naturwissenschaftler, Geschäftsleute, die Funktionseliten des Landes und mit ihnen allmählich das ganze Land. Die schmerzhafte Liebe zur deutschen Sprache wird durch diese Fluchten noch schmerzhafter, eigentlich unerträglich für den, der ihr nicht entsagen will.

11.4. Welche Sprache? Die Sprache, auf die sich Derridas Erfahrung der Alterität und das Trauma des Schmerzes bezieht, das geliebte, entfernte und immer fern bleibende Sprach-Objekt, ist nun nicht «das Französische» im allgemeinen oder in seiner ganzen variationellen Vielfalt, sondern es hat eine ganz bestimmte Gestalt: Es ist – wohl durch die schulische Aneignung – ganz offensichtlich das schriftliche, literarische und normierte Französisch: «le bon français». Gerade diese Schul-Form der Sprache war ja die traumatisch verbotene und verlorene. Auf die geschriebene, literarische, gute Sprache richtet sich die passionale Energie. 11.4.1. Derrida erwähnt die gesprochene Sprache, d. h. Stimme, phoné, nie als positive Erfahrung. Der Laut oder die Stimme erscheinen bei Derrida als Schock. Im Interview erwähnt er die Tatsache, daß die Algerier den Akzent der metropolitanen Franzosen, den «accent français», lächerlich fanden. Dies ist sicher eine Folge der Fixierung auf die geschriebene Form der Sprache. Denn diese 238

hat natürlich gar keinen Akzent. Sie ist stumm, graphisch. Wenn die Schrift-Sprache durch den Lehrer aus Frankreich dann eine Stimme bekommt, ist das überraschend und lächerlich. Derrida selbst bemüht sich, wie er schreibt, um eine möglichst neutrale phonische Realisation der Sprache. Er ist schockiert von der Stimme und dem okzitanischen Akzent von René Char, als er diesen zum ersten Mal hört. Er findet ihn «komisch und obszön».12 Die Stimme, der Körper, die Nähe, die Abweichung von der Norm stören eine Sprachauffassung, die ganz auf die Schrift, also auf Distanz und Norm, ausgerichtet ist. Stimme und Nähe spielen daher auch im ganzen Denken Derridas – wenn ich es richtig sehe – nur eine negative Rolle. Natürlich distanziert sich Derrida folglich auch vom Ausdruck «langue maternelle», der an die Stimme und an die akroamatische Nabelschnur zur Mutter gebunden ist. Ich erinnere an die sich durch sein ganzes Werk ziehende Polemik gegen die OhrenNähe oder die Stimmen-Nähe.13 Hierin unterscheidet sich Derridas défense et illustration de la langue française geradezu abgrundtief von derjenigen Du Bellays von 1549: Das ganz Besondere, das je ne sais quoi des Französischen, auf das sich die Liebe des Dichters aus dem 16. Jahrhundert richtete, war gerade der besondere Klang dieser Sprache, die «douceur angevine» (das zweite Moment, das die Du Bellaysche défense zutiefst von Derrida unterscheidet, ist ihr aggressiver und expliziter Imperialismus: die Aufforderung zu Raub und gewaltsamer Aneignung und Eroberung). Bei Derrida geht es um die Schrift, um die écriture. Das ist keine neue Erkenntnis, wir wissen das seit der Grammatologie (Derrida 1967). Seine Auffassung von Sprache als Schrift hat aber offensichtlich ihren sprachbiographischen Ausgangspunkt in der Situation, die Derrida erst im Monolinguisme de l’autre reflektiert: Die Anderssprachigkeit der eigenen Sprache entsteht nicht zuletzt aus der Distanziertheit der Sprache, die mit ihrer fundamentalen Schriftlichkeit korrespondiert. 11.4.2. Daher meint Derrida auch, wenn er von der geliebten «langue française» spricht, vor allem das Ensemble von literarischen Texten, ein Korpus von Werken (Sprache als ergon, nicht als energeia),14 bzw. allenfalls die Schreib-Regeln, die diesen Texten zu239

grunde liegen, nicht etwa eine langue Saussureschen Zuschnitts. Es ist daher nur konsequent, daß ihm im Le Monde-Interview bei den Verletzungen der französischen Sprache ausgerechnet die Verletzung der Orthographie, also des französischen Schreibens, einfällt. 11.4.3. Das Text-Korpus der französischen Sprache nimmt die Gestalt einer Frau an: Hierbei folgt Derrida zunächst nicht nur der sehr traditionellen Vorstellung, daß eine Sprache ein unabhängig von den Menschen existenter Organismus sei – Derrida spricht im Interview von «Leben und Entwicklung» («sa vie, son évolution») der Sprache – , sondern sicher auch der Heideggerschen Vorstellung einer völlig von den Sprechern unabhängigen Sprache: «die Sprache spricht». Derridas Liebe macht sie darüber hinaus zu einer Frau, zu einer Geliebten, der sich der Mann Derrida – offensichtlich erfolgreich – sexuell nähert. Angesichts des stolzen Liebhabers Derrida betrachtet die große französische Sprachfrau voller Verachtung die unerfahrenen Jünglinge, die es vor ihr nur zu einer ejaculatio praecox bringen: Je ne lis pas sans sourire, parfois avec mépris, ceux qui croient violer, sans amour, justement, l’orthographe ou la syntaxe «classiques» d’une langue française, avec de petits airs de puceaux à éjaculation précoce, alors que la grande langue française, plus intouchable que jamais, les regarde faire en attendant le prochain. Je décris cette scène ridicule de façon un peu cruelle dans La Carte postale. Ich lese, nicht ohne zu lächeln, manchmal mit Verachtung, diejenigen, die gerade ohne Liebe die klassische Orthographie oder Syntax einer französischen Sprache zu verletzen glauben, wie lächerliche Buben mit ejaculatio praecox, während die große französische Sprache sie dabei betrachtet, unantastbarer als je, und auf den nächsten wartet. Ich beschreibe diese lächerliche Szene ein bißchen grausam in La Carte postale. 11.4.4. Aus Derridas traumatisch verletzter Liebe zu dieser großen französischen Schrift-Sprachen-Frau resultiert der Wunsch, in ihr eine Spur zu hinterlassen: «laisser des traces dans l’histoire de la langue française». Der zentrale Terminus der Derridaschen Gram240

matologie – traces – erscheint an dieser Stelle, wo er das Ziel seines Schreibens nennt.15 Die trace ist der graphische Gestus, der nach Derrida aller Sprache zugrunde liegt, nicht etwa die Stimme, phoné, und die mit ihr vollzogene Laut-Gebärde. Das Schreiben hinterläßt eine Spur in einem graphisch-literarischen, geschriebenen, visuellen Feld – oder sagen wir besser: in jenem Sprachgarten, der kultiviert werden muß. Dies hat eine besondere Art des Umgangs mit der Sprache zur Folge: Der cultivateur ist verantwortlich: cette langue française qui est la seule langue qu’on m’a appris à cultiver, la seule aussi dont je puisse me dire plus ou moins responsable. diese französische Sprache, die die einzige ist, die man mich zu kultivieren gelehrt hat, die einzige auch, für die ich mich mehr oder weniger verantwortlich fühle. Die verpflichtende Präsenz der literarischen Tradition der französischen Sprache bestimmt seine Art des liebenden Umgangs mit ihr. 11.4.5. Trotzdem ist aber ein Moment der Gewalt in diesem gärtnerischen, verantwortungsvollen, liebevollen Umgang: Er ist eine «ich würde nicht sagen perverse, aber doch ein bißchen gewalttätige Art, diese Sprache zu behandeln. Aus Liebe», «une facon je ne dirais pas perverse mais un peu violente de traiter cette langue. Par amour». Derridas trace tut der Sprache Gewalt an («je violente»), aber im Respekt ihres geheimen Gesetzes, «en respectant dans l’irrespect sa loi secrète». Derridas Spur besteht darin, sozusagen die Anderssprachigkeit der eigenen Sprache mittels des Schreibens deutlich zu machen. Er schreibt anders – violent. Aber er tut dies, indem er die Potentialitäten der Tradition – das geheime Gesetz der Sprache – aufgreift. Seine terminologischen Innovationen machen diese «untreue Treue» («fidélité infidèle») vielleicht am deutlichsten: Die berühmte différance ist zwar ein vor Derrida inexistentes Wort der französischen Sprache. Derrida greift bei seiner Schöpfung aber ein produktives französisches Wortbildungsverfahren auf: Verbstamm plus -ance. Charakteristischerweise ist es natürlich nur eine graphische Wortbildung: différance mit a statt mit e. Hören tut man den Un241

terschied zu différence, dem normalen französischen Wort, nicht. Mit dieser Neubildung verletzt Derrida zwar die «Norm», er nutzt aber – in den Coseriuschen Begriffen – das «System» des Französischen aus, er wirkt sozusagen mit der Sprache gegen die Sprache.16 Ebenso funktionieren z. B. férance oder pliure. Einige dieser Bildungen werden sicher als Spuren in der französischen Sprache zurückbleiben.

11.5. Fremdheit Zwar macht Derrida seine Einsichten an der eigenen Lebensgeschichte fest, er erhebt aber ausdrücklich den Anspruch, daß die schizolinguistische Erfahrung «je n’ai qu’une langue, ce n’est pas la mienne», die fundamentale Anderssprachigkeit des Einsprachigen, eine universelle Erfahrung ist. Im Interview sagt er: une histoire singulière a exacerbé chez moi cette loi universelle: une langue ça n’appartient pas. eine besondere Geschichte hat sich bei mir zu einem allgemeinen Gesetz zugespitzt: eine Sprache ist etwas, das einem nicht gehört. Ich möchte zur Bestätigung dieses allgemeinen Gesetzes die Erfahrung Derridas mit Humboldts – im dritten Kapitel behandelter – Auffassung von der konstitutiven Fremdheit der Sprache in Verbindung bringen, ohne deswegen die völlige Identität der beiden Auffassungen zu behaupten. Im Deutschen geben wir, wie gesagt, einiges, was auf französisch autre oder d’autrui heißt, mit dem Ausdruck «fremd» wieder, nämlich gerade das, was wir nicht besitzen. Ich denke, daß wir das Derridasche «autre» mit einigem Recht mit «fremd» übersetzen können (so daß sich als genauer deutscher Titel für das Buch anbietet: «Die Einsprachigkeit vom Fremden her»). Nach Humboldt muß, wie wir gesehen haben, die Sprache nun in zweifacher Hinsicht als etwas Fremdes angesehen werden: Erstens eignet sich das Ich die Welt denkend durch die Produktion der Sprache an. Die Sprache ist das bildende Organ des Gedankens. Aber diese sprachliche Produktion des eigenen Denkens ist erst 242

vollendet, wenn das Wort «aus fremdem Munde wiedertönt» (VII: 56). Die Erzeugung der Sprache und des Denkens ist nach Humboldt notwendigerweise eingelassen in die Dualität von Ich und Du: Der «fremde Mund», die Alterität der Stimme und des Denkens, ist für die Sprache konstitutiv. Diesen Aspekt der sprachlichen Fremdheit – oder Anderssprachigkeit – setzt Derrida implizit voraus. Es ist die Fremdheit oder Anderssprachigkeit von Sprache – langage – überhaupt. Derridas Theorieentwurf bezieht sich im wesentlichen aber auf das zweite Humboldtsche Moment sprachlicher Fremdheit, auf die Fremdheit der langue, und zwar der eigenen Sprache: Das sprechende Subjekt schafft ja – so Humboldt – die eigene Sprache nicht ex nihilo, sondern es übernimmt für seine sprachliche Kreativität die Sprache, die ihm aus der Tiefe der Vergangenheit und seiner Nation entgegenkommt. Und genau da tritt ihm die Sprache als etwas Fremdes entgegen: Die Sprache aber ist, als ein Werk der Nation, und der Vorzeit, für den Menschen etwas Fremdes. (IV: 27) Wohlgemerkt: gerade die eigene Sprache, die sogenannte Muttersprache, ist zunächst etwas Fremdes. Dieser Gedanke der Fremdheit der eigenen Sprache ist es vor allem, den Derrida aufgrund seiner Lebensgeschichte als monolinguisme de l’autre, als Einsprachigkeit vom Fremden her, faßt und der das Zentrum seiner ganzen Sprachauffassung ausmacht. Und ganz ähnlich wie bei Derridas «violenter Art des Umgangs mit der Sprache» ist im übrigen auch bei Humboldt der kreative Umgang mit dieser fremden eigenen Sprache ein gewaltsamer Konflikt. Humboldt spricht ausdrücklich von der «Gewalt» des Individuums gegen die «Macht» der Sprache. Jedes Sprechen ist ein solcher Kampf.17 Die Differenz zwischen den beiden Sprachdenkern scheint mir nun aber generell in einer tragisch-schmerzhaften Auffassung der Fremdheit einerseits und einem eher dialektisch-heiteren Umgang mit dieser Einsicht zu liegen. Bei Humboldt erlebt das sprechende Subjekt – es ist im übrigen ein wesentlich sprechend-tönendes, kein schreibendes – die Fremdheit der Sprache nicht als etwas TragischSchmerzhaftes, sondern gleichsam als eine Herausforderung, die es 243

meistert, auch wenn es ein ewiger Kampf ist, der niemals zu Ende geht. Die Sprache wird ihm eigen, man könnte auch sagen: Das Individuum wird mit dem fremden Volk und der fremden Geschichte eins. Die Eigenheit der Sprache, nicht die Fremdheit, ist – aufgrund der aneignenden Produktivität des Ichs – die grundlegende Spracherfahrung des Humboldtschen Sprach-Subjekts. Es ist die Erfahrung der lustvollen Zugehörigkeit zur Mutter-Sprache und zur Nation, es ist die Erfahrung des 19. Jahrhunderts.18 Bei Derrida bleibt der Riß der Fremdheit in der eigenen Sprache dagegen schmerzhaft präsent. Natürlich eignet sich das Subjekt die Sprache an, natürlich kultiviert es die Sprache, aber die Wunde der Fremdheit und der Entfremdung bleibt immer offen. Sie klafft mitten in der Schrift. Es ist die nicht zu heilende Wunde des 20. Jahrhunderts.

11.6. Asyl Auffällig ist, daß Derrida in seinem großen letzten Interview in Le Monde dieses Kernstück seiner Theorie der konstitutiven Alloglossie des Monolinguismus verschweigt: Von der Passion für die französische Sprache bleibt dort nur die Liebe übrig, nichts von den Martern aller Arten. Er wiederholt zwar, daß ihm die französische Sprache, die er liebt, nicht gehört. Er erzählt als Begründung auch die Geschichte der algerischen Juden, die sich das Französische angeeignet haben. Sie sind als Fremde im Französischen gastfreundlich aufgenommen worden («acceuilli comme un étranger») und lieben das Französische gerade deswegen so sehr – offensichtlich wie ein rettendes Asyl. Derrida erwähnt hier aber nicht den Schmerz, die Wunde, seine Wunde, die den algerischen Juden zugefügt worden ist, als man sie aus der französischen Nationalität, der französischen Schule und damit aus der französischen Sprache ausschloß. Das Interview ist ein Vermächtnis Derridas sieben Wochen vor seinem Tod. Derrida wußte von der Nähe des Todes. In dieser Nähe war es ihm offensichtlich wichtiger, von der Liebe zu sprechen, als vom Schmerz, der diese Liebe begleitete. Der sterbende Derrida artikuliert seine Dankbarkeit für ein Asyl, das ihm die französische 244

Sprache gewährt hat, für eine Gastfreundschaft. Versöhnlicher wird er allerdings nicht: Die Sprache bleibt Asyl: «accueilli comme un étranger», die Sprache ist nicht Heimat, sie ist nicht Besitz. Dreimal betont Derrida das Nicht-Haben dieser Sprache, das Nicht-Haben irgendeiner Sprache: die konstitutive Anderssprachigkeit jedes Sprechens: (1) [la langue française] ne m’appartient pas, bien que ce soit la seule que j’aie à ma disposition. die französische Sprach gehört mir nicht, obwohl sie die einzige ist, die ich zu meiner Verfügung habe. (2) je n’ai qu’une langue, et en même temps cette langue ne m’appartient pas. ich habe nur eine Sprache, und gleichzeitig gehört mir diese Sprache nicht. (3) Une langue, ça n’appartient pas. Eine Sprache ist etwas, das einem nicht gehört.

11.7. Epilog: Le monolinguisme illustre Es gibt nicht sehr viele große Bücher über die Sprache in der Geschichte des europäischen Denkens: Platons Kratylos, Aristoteles’ De interpretatione, Augustinus’ De magistro, Dantes De vulgari eloquentia, Herders Sprachursprungsabhandlung, Humboldts Akademiereden und Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues, Heideggers Unterwegs zur Sprache und Wittgensteins Philosophische Untersuchungen.19 Derridas Monolinguisme de l’autre gehört dazu. Es gehört dazu, weil es – wie die anderen großen Bücher über die Sprache – getrieben ist von einer bohrenden Frage an die Sprache in einer dramatischen Krisensituation. Die griechische Philosophie legt die Tradition, den Mythos, auf den Prüfstein des Denkens, auf diesen wird auch der Kern der Tradition, die Sprache, gelegt. Augustinus, der Rhetoriklehrer, muß die Verführungskunst des Sprechens und damit die ganze römische Kultur vor das Tribunal seines neuen Glaubens führen. Dante sucht für seine Dichtkunst einen 245

sprachlichen Ort zwischen der alten lateinischen Gelehrtensprache und den lokal fraktionierten Volkssprachen. Herder verteidigt, vom Rande Europas herkommend, den Wert der verschiedenen – auch «kleinen» – Sprachen und Kulturen angesichts der neuen «katholischen», d. h. universellen Kultur, die sich französisch artikuliert. Humboldt ist der Theoretiker einer Weltkultur der Verschiedenheit. Heidegger sucht in den Tiefen der Sprache einen Rettungsanker in der unwirtlich gewordenen Welt der Technik und der Moderne. Wittgenstein relativiert den arroganten Universalanspruch wissenschaftlichen Redens in der Diversität der Sprachspiele. Derrida denkt Sprache – oder besser: das Schreiben – in einer politischen und kulturellen Situation, die den Menschen universell ins Exil treibt. Niemand kann sich mehr auf eine gemütliche Heimat beziehen, auf eine Nation, in der er gleichsam problemlos aufgehoben ist, und damit auf eine Sprach-Gemeinschaft, die seine «Muttersprache» spricht, die ohne Bruch Erstsprache und die Sprache des Schreibens wäre. Exil, Trennung, Fremdheit sind die Erfahrungen des postmodernen Schriftstellers (wenn wir als den modernen Schriftsteller den in seiner Sprachgemeinschaft aufgehobenen betrachten). Bei aller profunden Differenz zwischen dem Dichter des 14. Jahrhunderts und dem Philosophen des 20. Jahrhunderts steht Derridas Monolinguisme von allen großen Büchern der Vergangenheit vielleicht Dantes Buch über die Sprachkunst in der Volkssprache, De vulgari eloquentia, am nächsten.20 Denn es fragt wie dieses nach den Bedingungen der Möglichkeit des Schreibens: In welcher Sprache kann ich überhaupt schreiben? Dante bewegt sozusagen der Schrecken darüber, daß es mehrere Optionen gibt. Er möchte schreiben, genauer: dichten, und er muß wählen zwischen einer Sprache der Distanz, der Grammatica (d.h. der lateinischen Schriftsprache der Gelehrten), und einer Sprache der Nähe, der lokalen Volkssprache. Das Dichten in der Grammatica wird von Dante gar nicht mehr in Betracht gezogen. Es soll nämlich über Liebe, Waffenruhm und Ehre – amor, salus und virtus – gedichtet werden, über die vornehmsten Gegenstände einer raffinierten weltlichen Gesellschaft. Dafür kann er nicht in der Sprache der Gelehrten schreiben. Aber auch die Sprache einer bestimmen Stadt oder gar eines Dorfes ist nicht geeignet. Er braucht eine Sprache für einen größeren Raum 246

(die möglichst wenig in der Zeit variiert) und – damit zusammenhängend – einer gesellschaftlichen Elite: eine Sprache für die Welt (mundus). Er vergleicht sie mit einem Panther, dessen – verführerischen – Geruch man an allen Orten spüre. Es bleibt nur die eine Wahl: Der Dichter Dante muß sich seine Sprache erst noch schaffen. Analog zu Derrida formuliert, gilt für Dante etwa die Ausssage: «Ich habe zwei Sprachen, beide sind meine Sprachen, aber sie passen mir beide nicht, die eine ist mir zu nah, die andere ist mir zu fern, also schaffe ich mir eine neue». Nicht der monolinguisme de l’autre, die Einsprachigkeit des anderen, quält Dante, sondern seine Zweisprachigkeit: «Ich habe zwei Sprachen, aber keine davon kann ich gebrauchen», «J’ai deux langues, mais aucune des deux n’est celle dont j’ai besoin». Und am fremdesten von den beiden ist ihm die Muttersprache, die lingua materna. Denn diese ist eine Sprache der dörflichen Nähe, einer bornierten Enge, die sich für den Nabel der Welt hält. Dante sucht dagegen eine Sprache der Welt: «nos autem cui mundus est patria». Diejenigen, denen die weite Welt Heimat ist, brauchen eine Distanz-Sprache, die noch zu schaffen ist, das Vulgare illustre. Derrida sucht keine Sprache, er hat eine Sprache. Aber ebenso leidenschaftlich wie Dante die Sprache sucht, reflektiert Derrida die Sprache, die da ist, auch um sie von sich zu distanzieren. Es ist nur eine einzige – das Französische – aber diese Sprache ist fremd, sie ist eine vom Fremden herkommende Sprache, de l’autre. Sie ist keine Muttersprache, keine Sprache der familialen Nähe. Die Mutter spielt als Instanz der sprachlichen Nähe keine Rolle bei Derrida. Seine Sprache ist eindeutig keine lingua materna, sondern eine lingua paterna, eine Vatersprache. Sie ist das Gesetz, das Gesetz des Vaters, das aus der Ferne über das Meer gekommen ist. Die Enteignung der Sprache 1940, die schmerzhafte Entfernung, ist zwar ein Schock, aber eigentlich ist sie auch das Erwartbare: Die Sprache gehört mir ja sowieso nicht, sondern sie ist woanders, dort drüben, sie ist Distanzsprache, obwohl sie ganz nah ist, «meine Sprache». Derrida dekouvriert diese Nähe als Schein. Das Ergebnis der Danteschen Suche ist durchaus dem Ergebnis der Derridaschen Entfernung ähnlich: ein Vulgare illustre, curiale, aulicum, cardinale. Dante konstruiert eine Volkssprache, die durch die literarische Glorie ihrer Benutzer (illustre) glänzt, die Norm 247

und Zentrum ist (cardinale), politisch maßgeblich (aulicum) und kultiviert (curiale). Sie wohnt in keiner bestimmten Stadt Italiens, man spürt sie aber in allen. Auch Derridas Französisch ist genau dies: Sein Französisch ist ein an allen Orten duftender Panther. Derrida lehnt jegliche diatopische, dialektale Tönung radikal ab. Seine Sprache ist ein metropolitanes (cardinale), politisch und kulturell hochstehendes (aulicum, curiale) und von vielen Schriftstellern illustriertes Medium des Schreibens: «la grande langue française». Der monolinguisme de l’autre ist auch ein monolinguisme illustre: Hoch-Kultur der Sprache.

Dichtung und Wahrheit

12. Sprache der Geschichte In den beiden abschließenden Kapiteln geht es nicht mehr vorrangig um «Sprache» im Sinne von Einzelsprachen, langues, sondern um Sprache im Sinne von Diskurstypen. Seit der Antike werden die hier behandelten beiden literarischen Diskurse, die Geschichtsschreibung und die Dichtung, historía und poíesis, einander gegenübergestellt und in dieser Opposition diskutiert. Die berühmte klassische Stelle aus der Poetik des Aristoteles (Kap. 9) lautet folgendermaßen: Aus dem Gesagten ergibt sich auch, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse -; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. (Aristoteles 1451 a-b) Aristoteles differenziert die beiden Diskurstypen nicht aufgrund der Anwesenheit oder Abwesenheit oberflächlich «poetischer» Mittel, sondern aufgrund ihres verschiedenen Verhältnisses zur Wirklichkeit. Damit ist zumindest der systematische Ort ihrer Differenz bezeichnet, wenn auch natürlich noch nicht alles gesagt. Aristoteles hat also nicht nur mit der in diesem Buch schon oft zitierten Stelle aus De interpretatione, sondern auch mit dieser Passage aus der Poetik eine gleichsam «ewige» Sprach-Frage gestellt, die ebenfalls 251

im Lichte neuerer und neuester Überlegungen immer wieder beantwortet werden muß. Ich beginne mit der «Sprache der Geschichte».

12.1. Die Ewige Geschichte spricht Der eher unaristotelische italienische Philosoph Giambattista Vico schreibt über die Sprache der Geschichte: (35) Un tal lessico si truova esser necessario per sapere la lingua con cui parla la storia ideal eterna, sulla quale corrono in tempo le storie di tutte le nazioni.1 Ein solcher Wortschatz erweist sich als nötig, um die Sprache zu kennen, mit der die ewige ideale Geschichte spricht, nach der die Geschichten aller Nationen in der Zeit verlaufen. «La lingua con cui parla la storia ideale eterna», «die Sprache, mit der die ewige ideale Geschichte spricht», eine solche Sprache, wie sie Vico in seiner Scienza Nuova von 1744 annimmt, muß den Sprachwissenschaftler interessieren, der es normalerweise mit sehr viel bescheideneren Sprechern und Sprachen zu tun hat: mit Menschen und Menschengruppen, mit Sprachgemeinschaften und deren Sprachen, langues, wie sie die Linguistik terminologisch seit Saussure nennt. Daß aber hier die Geschichte spricht, ja sogar die Ewige Ideale Geschichte, la storia ideale eterna, das ist für jeden Sprachwissenschaftler eine besondere Herausforderung. Vor allem aber ist die «Sprache der Geschichte» für den Linguisten heute deswegen interessant, weil sich manche Historiker in jüngster Zeit Sprachlichem zugewendet haben (was durchaus das Entsetzen anderer Historiker ausgelöst hat). In diesem «linguistic turn» der Historiker geht es einerseits ebenfalls um die sprechende Geschichte, andererseits aber – und vor allem – um die Sprache der Historiker, also um die Sprache der Geschichts-Wissenschaft. Der Titel «Sprache der Geschichte» ist also zweideutig, weil der Ausdruck «Geschichte» zweideutig ist und, wie Koselleck sagt (1979: 130), «den Ereigniszusammenhang und dessen Darstellung» bzw. sie selbst und «das Wissen ihrer selbst» meint: res gestae und histo252

ria rerum gestarum. Wenn ich mich nun als Sprachwissenschaftler mit der Sprache der Geschichte beschäftige, so ist das gleichsam ein Beitrag zur einer noch zu etablierenden linguistischen Teildisziplin, der Linguistik der Geschichte.2 Drei Dinge fallen dem Linguisten bei Vicos Satz über die Sprache der Geschichte auf: Erstens: Die Geschichte spricht, d. h. die Geschichte ist ganz offensichtlich ein Subjekt, ein Sprache habendes Wesen wie der Mensch, ein zoon logon echon. Dies ist auf den ersten Blick eine ziemlich ungewöhnliche Sprecherin. Zweitens: Die Sprache, mit der die Geschichte spricht, ist ein Wortschatz: lessico. Sie ist keine Grammatik oder gar eine Syntax. Die Sprache der Geschichte ist trotz dieser Einschränkung aber offensichtlich eine langue, d. h. ein «System» und nicht, was zumeist mit «Sprache der Geschichte» gemeint ist: Rede, Diskurs, kommunikative Handlung. Sie ist aber dennoch keine bestimmte historische Einzelprache, also etwa das Lateinische, sondern ein Gemeinsamer Geistiger Wortschatz der Menschheit. Drittens: Der Gemeinsame Geistige Wortschatz ist die Sprache der Geschichte als «Ereigniszusammenhang», aber er ist offensichtlich zugleich auch die Sprache der Wissenschaft von der Geschichte. Vico sagt dies an mehreren Stellen ausdrücklich: Die Sprache der Geschichte ist auch «lingua di questa scienza» (162). Das heißt die Sprache des Ereigniszusammenhangs und Sprache des Wissens über diesen Ereigniszusammenhang koinzidieren. Die beiden Sprachen der Geschichte fallen zusammen. Diese schöne Koinzidenz ist allerdings in der modernen Wissenschaft von der Geschichte fraglich geworden, ja das Verhältnis von sprechender Geschichte – wenn die Geschichte denn spricht – und Sprache des Wissens von der Geschichte ist gerade das Problem der Geschichtswissenschaft. Es ist der gefährliche Abgrund, in dem der linguistic turn lauert. 12.1.1. Die Sprecherin Ich verdeutliche das Sprechen der Geschichte bei Vico unter Bezugnahme auf das berühmte Frontispiz der Scienza Nuova (siehe S. 255). 253

Diese dem Buch vorangestellte allegorische Darstellung faßt gemäß der ausdrücklichen Intention Vicos die «Idee des Werkes» in einem Bild zusammen. Vor der Lektüre des Werkes – also vor der eigentlichen Wörter-Sprache – könne der Leser mit diesem Bild die Idee des Werkes «begreifen», concepire. Nach der Lektüre, sozusagen postsprachlich, begünstige dann das Bild mit Hilfe der Phantasie die Erinnerung – memoria – des Gesagten. Schon diese Überlegungen enthalten Vicos Grundvorstellungen zum Verhältnis von Bild und Sprache, von Imagination und Rationalität und zur Geschichte der Sprache, auf die ich hier aber nicht eingehe.3 12.1.1.1. Das Bild zeigt, daß in Vicos Welt alles bestens geregelt ist: Die göttliche Vorsehung, la Provvedenza divina, herrscht in der Welt, in der Natur, im mondo naturale, ebenso wie in der gesellschaftlichen Welt, im mondo civile. Oben links im mystischen Dreieck erscheint das Auge Gottes, welches die ganze Szene überblickt und erleuchtet. Das menschliche Denken ist dargestellt von der Dame mit den Flügeln, die auf der Erdkugel balanciert. Es ist die Philosophie, genauer: die Meta-Physik im wörtlichen Sinne, metà physikè – also das auf der physischen, der natürlichen Welt basierende Denken. Das Neue an Vicos Philosophie ist nun aber gerade die Tatsache, daß sich im Herzen der Metaphysik das Licht des Göttlichen Auges bricht und auf den anderen Teil der Welt geworfen wird: auf die gesellschaftliche Welt, den mondo civile. Vico gründet seine Wissenschaft – also die Suche nach sicherem und wahrem Wissen – nicht auf der Natur, sondern auf dem Politischen. Nur hier, so die bekannte Begründung, könne man sicheres Wissen haben, weil man nur das sicher wissen könne, was man selber gemacht habe, und dies sei nun einmal der mondo civile und nicht die Natur, die wir nicht erkennen könnten, weil wir sie nicht gemacht hätten. Mondo civile ist – außer der Erdkugel – alles, was man auf dem Bild sieht: die Statue Homers, der Altar, der die natürliche Welt trägt, das Ruder, der Pflug, die Urne, die Schrifttafel, das Liktorenbündel und so weiter. Dies sind Symbole, Bilder oder – wie Vico sagt – Hieroglyphen des mondo civile, der gesellschaftlichen oder mit dem alten griechischen Wort: der «politischen» Welt. Die MetaPhysik wird bei Vico Meta-Politik. 254

Die beherrschende Gestalt der politischen Welt, des mondo civile, ist nun – einigermaßen überraschend – Homer, auf dessen Statue aus dem Herzen der Metaphysik der Strahl der göttlichen Vorsehung fällt. Die andere Hauptgestalt – man sieht sie kaum, und sie wird deswegen auch gern übersehen – ist Herkules. Dieser ist vermittels der Sternbilder Löwe und Jungfrau im Zodiak der Erdkugel dargestellt. Herkules ist der fundamentale politische Held. Er überwindet die Wildheit der Natur, er ist die materielle Bearbeitung der Welt, die Umwandlung der Natur in Kultur im wahrsten, also landwirtschaftlichen Sinne des Wortes: coltura. Herkules ist die Arbeit und damit die Grundlage des Gesellschaftlichen überhaupt, der Vater der Nation. Die andere Gestalt, Homer, ist demgegenüber der Schöpfer der Zeichen – der poeta – , er repräsentiert die geistige 255

Bearbeitung der Welt, die geistige Transformation der Natur in Kultur im modernen übertragenen Sinn (Vico verwendet das Wort coltura allerdings nicht in diesem Sinne) bzw. genauer: in Sprache. Homer ist die Sprache. Und Homer ist, jedenfalls in dieser Darstellung der gesellschaftlichen Welt, offensichtlich die dominante Gestalt. 12.1.1.2. «Homer» ist nun die eigentlich geniale Einsicht Vicos, das wirklich Neue der Neuen Wissenschaft: Der mondo civile ist nämlich nicht nur das Recht, also die gesellschaftliche Organisation selbst, das Soziale als solches, Herkules, sondern immer zugleich auch Sprache, Homer. Und diese Einsicht Vicos ist nichts mehr und nichts weniger als ein linguistic turn, eine sprachliche Wende, der Philosophie. Es ist der erste linguistic turn in der Geschichte des abendländischen Denkens, vor dem zweiten, den Herder und Humboldt bewerkstelligen werden, und lange vor dem dritten, den je nach Geschmack Frege oder Wittgenstein vornehmen, und sehr lange vor dem linguistic turn der aktuellen Geschichtswissenschaft. Die «sprachliche Wende» der Philosophie drückt sich bei Vico in dem ganz harmlos klingenden Satz aus, daß er nach jahrelangem Nachdenken herausgefunden habe, daß die ersten Menschen «Poeten» gewesen seien, die in «poetischen Charakteren» gesprochen hätten: (34) […] ch’i primi popoli della gentilità, per una dimostrata necessità di natura, furon poeti, i quali parlarono per caratteri poetici. […] daß die ersten Völker des Heidentums – mit nachgewiesener Naturnotwendigkeit – Poeten gewesen sind, die in poetischen Charakteren sprachen. Dieser Satz bedeutet nämlich nichts weniger als die Feststellung, daß die Menschen in Zeichen denken, daß die geistige Bearbeitung der Welt immer eingelassen ist in Zeichen und Sprache, zuerst in «poetische Charaktere», die sich nach und nach in die Wörter der Lautsprache verwandeln. Diese Einsicht weist die traditionelle europäische Auffassung zurück, daß das Denken unabhängig von den Sprachen und Zeichen 256

sei. Die Philosophie, das Nachdenken über das Wissen des Menschen, hatte nämlich, wie wir schon mehrfach in diesem Buch gesagt haben, in ihrer herrschenden Sprach-Lehre seit der Antike gemeint, die Sprache sei nur etwas zum Denken Hinzukommendes, ein Äußeres, welches das Gedachte zum Zwecke der Mitteilung an andere bezeichne. Nach Aristoteles macht sich ja das Denken, die Kognition, der Geist unabhängig von der Sprache ein geistiges Bild, conceptio, conceptus, von der Sache, res. Das Wort – vox – hat nur die Aufgabe, das sprachlos Gedachte anderen mitzuteilen, es dient nur der Kommunikation. Vox hat mit dem Denken nichts zu tun, d. h. «Sprache» ist nur kommunikativer Laut. Diese Auffassung ist nicht nur durch die jahrtausendelange Präsenz von De interpretatione tief in das Denken des Abendlandes eingeprägt. Sie ist es auch deswegen, weil sie – wie Humboldt einmal gesagt hat – so trivial ist. Vico gelingt nun ein wichtiger Schritt auf dem Weg in die Einsicht, daß Denken und Kommunizieren nicht getrennt sind, sondern daß Sprache beides ist oder – anders gesagt – daß die geistige Aneignung der Welt schon durch die Sprache erfolgt, daß also der conceptus schon etwas Sprachliches ist und unauflöslich mit vox verbunden ist: (401) lógos significa e «idea» e «parola». lógos bedeutet sowohl «Idee» als auch «Wort». Das heißt «Sprache» ist conceptus und vox zugleich. Denken und Sprechen sind miteinander verbunden. Die geistige Bearbeitung der Welt ist nicht ein reines Denken, sondern ein Schaffen von Zeichen, die zweiseitig sind, d. h. aus vox und conceptus bestehen, oder, wie Saussure sagt, aus signifiant und signifié, die unauflöslich miteinander verbunden sind. 12.1.1.3. Dieses Sprechen-Denken ist nun, das zeigt die prominente Stellung der Statue des Homer in aller Deutlichkeit, eingelassen in die gesellschaftliche Organisation. Die geistige Aneignung der Welt, Sprache und Zeichen, und die gesellschaftliche Organisation sind zwei Seiten desselben Prozesses. Die sprachliche Wende der Philosophie ist also auch eine sprachliche Wende der Politik. Vico macht 257

dieses Verwobensein von Denken, Sprache-Zeichen und Recht an folgendem Beispiel deutlich: Der erste Gedanke der Menschheit ist auch das erste Wort, das gleichzeitig den politischen Kern des mondo civile bezeichnet. Das erste lautliche Wort ist nämlich: IOUS , das folgendermaßen entsteht: Der noch tierhafte Mensch wird erschreckt von der Gewalt des Donners. Er bannt den Schrekken, indem er ihn mimetisch abbildet: IOUS . Dieser Laut ist ein Laut-Bild, mit dem sich der Mensch die Welt geistig-semiotisch aneignet. Und dieser Ausruf ist gleichzeitig der Name Gottes: Iovis und das Wort Ius, «Recht». Dieses erste Wort denkt und sagt das Prinzip der gesellschaftlichen Organisation.4 Der mondo civile spricht also. 12.1.1.4. Aber an der eingangs zitierten Stelle hieß es, daß die Geschichte spricht. «La lingua in cui parla la storia». Von «Geschichte» war aber bisher noch nicht die Rede, sondern nur von gesellschaftlicher Welt, mondo civile. Erich Auerbach hat in seiner Übersetzung der Scienza Nuova in Diltheyscher Redeweise den Ausdruck mondo civile mit «geschichtliche Welt» wiedergegeben, was sicher nicht ganz falsch, aber doch eine ganz bewußt tendenzielle Interpretation ist.5 Der Ausdruck civile, der dem griechischen politikos entspricht, bedeutet «gesellschaftlich», civitas oder polis ist «Gemeinschaft, Bürgerschaft, Gesellschaft» und nicht «Geschichte». Die Grundopposition Vicos heißt natura versus civitas-polis, nicht Natur versus Geschichte, im übrigen auch nicht Natur versus Kultur, wie Kittler (2000) uns glauben machen möchte, «Kultur» sagt Vico überhaupt nicht. Vico sagt mondo civile und er sagt «Geschichte», wenn er Geschichte sagen will: storia (bzw. das Adjektiv storico). Geschichte, storia, ist die zeitliche, die diachronische Dimension des Politischen. In diesem zeitlichen Ablauf des mondo civile – la storia – wird die genannte Duplizität von gesellschaftlicher Organisation und Sprache besonders deutlich. Die Geschichte spricht, weil der mondo civile eine sprechende Welt ist. Die politische Diachronie sieht folgendermaßen aus: Zuerst organisieren sich die Menschen in der theokratischen Herrschaft eines Großen Vaters, dann assoziieren sich die Väter zu einer aristokratischen Herrschaft, die schließlich 258

vom Volk revolutionär in eine Gesellschaft der Rechtsgleichheit aller Menschen umgestaltet wird. Es folgen aufeinander das göttliche, das heroische und das menschliche Zeitalter. Diesen drei gesellschaftlichen Organisationsformen entsprechen drei semiotische Formen, d. h. jede der drei Rechtsformen hat auch eine sprachlichsemiotische Struktur. Auf die ursprüngliche, göttliche Sprache folgt die heroische und auf diese die menschliche Sprache. Grob gesagt stellt sich Vico die Entwicklung der menschlichen Zeichen so vor, daß am Anfang – wie in seinem Buch – abbildliche Zeichen stehen und daß die Sprachen dann immer weniger abbildlich werden, «willkürlicher», «arbiträrer». Außerdem wird die Sprache, die am Anfang hauptsächlich visuell war, immer lautlicher. Am Ende der Entwicklung der menschlichen Semiose stehen die menschlichen Lautsprachen. 12.1.1.5. Für das Geschichtskonzept Vicos ist nun entscheidend, daß die Diachronie des mondo civile, die storia, überall wesentlich dieselbe ist. Der Dreischritt der politischen und semiotischen Organisation ist Ewige Ideale Geschichte, d. h. ein als ewig von der Vorsehung eingerichteter, bei allen Völkern gleicher Ablauf politischer und sprachlicher Strukturen. Die Völker machen es zwar durchaus individuell verschieden: von den «diverse e contrarie vie» der Völker, ihren «verschiedenen und gegensätzlichen Wegen», ist auf der ersten Seite der Scienza Nuova die Rede. Aber prinzipiell machen sie es alle gleich. Die Geschichten aller Völker verlaufen trotz aller Verschiedenheit nach dem Schema der storia ideale eterna. Die Sprecherin, von der wir ausgegangen waren, die Ewige Ideale Geschichte, ist also keine besonders phantasievolle Person. Die Story, die sie erzählt, ist überall dieselbe. Und weil das so ist, hat die Geschichte auch nur eine Sprache, mit der sie durch alle Verschiedenheiten hindurch dieselben politischen Institutionen überall in der Welt denkt: ein Gemeinsames Geistiges Wörterbuch (dizionario mentale comune). Die sprechende Geschichte erzählt überall dieselbe Geschichte mit denselben Wörtern. Etwas linguistischer gesagt: Die ewige ideale Geschichte hält in all ihren verschiedenen Äußerungen (parole) immer dieselbe Rede mittels einer überall und immer grundsätzlich identischen langue, sozusagen mittels eines universellen Sprach-Systems. 259

Und nur weil dies so ist, weil die Menschen im Grunde die gesellschaftliche Welt überall strukturell gleich gestalten und weil der mondo civile diesen idealen und ewigen diachronischen Ablauf hat, kann er auch die Basis von Wissenschaft sein (und darum geht es Vico: Scienza Nuova). Damit bin ich beim zweiten Punkt: bei der Wissenschaft von der Geschichte. 12.1.2. Wissenschaft 12.1.2.1. Diesen ausgesprochen universellen Zug der Vicoschen Theorie hat gerade die Vico-Lektüre der modernen Historiker und Kulturwissenschaftler immer gern übersehen. Sie hat zumeist nur den ersten Teil von Vicos Epistemologie betrachtet: Sichere Erkennntnis ist möglich, weil die gesellschaftliche Welt vom Menschen gemacht ist und weil wir nur das erkennen können, was wir selber gemacht haben. Das klingt ja wie eine wunderbare Rechtfertigung der Wissenschaftlichkeit der sich im 19. Jahrhundert konstituierenden Wissenschaften von der Kultur, der Geschichte und der Politik. Und es klingt, als sei das hermeneutische Verstehen partikularer historischer Gestalten gleich mitgedacht. Nur: dies ist gerade ausdrücklich nicht gemeint. Denn zur Wissenschaft gehört für Vico noch eine eherne zweite Bedingung, nämlich: (163) scientia debet esse de universalibus et aeternis. Wissenschaft gibt es nur vom Universellen und Ewigen. Vico hält also an der entscheidenden wissenschaftstheoretischen Stelle seines Werks den alten aristotelischen Standard von Wissenschaftlichkeit aufrecht: de individuis non est scientia. Vico unterschreibt darüber hinaus das wissenschaftstheoretische Programm der von Bacon instaurierten Neuen Wissenschaft, der entstehenden modernen Naturwissenschaft, d. h. das klassische Programm der Induktion: das empirisch Vorliegende ist auf die dahinterliegenden ewigen und universellen Gesetze hin zu untersuchen. Anders gesagt: die (Neue) Wissenschaft von der Geschichte oder die (Neue) Wissenschaft vom mondo civile ist gerade keine Geschichte im modernen Sinn, sondern Wissenschaft, d. h. Aufsuchung universeller und ewiger Gesetze des Politischen und des 260

mit diesem verknüpften Sprachlich-Semiotischen: allgemeine Wissenschaft der Gesellschaft und allgemeine Sprach- oder Zeichenwissenschaft. 12.1.2.2. Dennoch – und diese Einschränkung ist nun einfach zentral – das Spezifische dieser Erforschung des Universellen ist die Tatsache, daß Vico bei seinem Blick auf das Universelle einen Raum für das Besondere läßt, für verschiedene Ansichten, «diversi aspetti» (445). Insofern ist seine Wissenschaft von der Geschichte zwar nicht (moderne) Geschichte, sie ist aber auch nicht (Natur-)Wissenschaft, sondern etwas, was man vielleicht «historische Anthropologie» nennen könnte: Sie sucht das Universelle, bewahrt dabei aber das Partikulare auf. Vicos Wissenschaft hält also die Schwebe zwischen dem Universalismus naturwissenschaftlicher Forschung und dem Partikularismus moderner kulturwissenschaftlicher und historischer Forschung. Das läßt sich nun gerade am Gemeinsamen Geistigen Wörterbuch, also an seiner «Sprache der Geschichte», gut zeigen. 12.1.3. Das Gemeinsame Geistige Wörterbuch Der Neue Wissenschaftler befindet sich vor dem Ensemble der Zeichen, die der mondo civile in seiner geschichtlichen Entwicklung erzeugt hat, vor der «Philologie». Philologie ist die Materialsammlung, das Archiv des Neuen Wissenschaftlers, seine memoria. Als Wissenschaftler, d. h. als Agent der ratio, sucht er nun gemäß seinen epistemologischen Vorgaben nach dem Ewigen und Universellen hinter dem tatsächlich Vorliegenden. So liegen ihm – das ist Vicos Beispiel – fünfzehn verschiedene Wörter vor, die alle den Vater der Nation, den Herkules, die erste Rechtsinstitution also, bezeichnen: Leviti Caldei Maghi Poeti Eroi Re Aristoi Cureti-Quiriti Eraclidi Optimi Heri Viri Padri

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Diese Wörter bezeichnen zwar alle dieselbe Sache, sie stellen aber die Sache jeweils anders dar. Das eine Wort «sieht» die Stärke des Urvaters, das andere die Waffengewalt, die Macht, die Priesterschaft etc. Auch eine Kombination von Eigenschaften ist möglich, Vico erwähnt insgesamt zwölf ewige Eigenschaften. Das Wort Heri etwa bezeichnet die Eigenschaften 6 und 10, Re dagegen nur Eigenschaft 6. Verschiedene Wörter präsentieren also verschiedene Ansichten von derselben Sache: diversi aspetti. Humboldt wird sagen, daß die verschiedenen Sprachen verschiedene «Weltansichten» sind. Das Gemeinsame Geistige Wort ist das Ensemble dieser Wörter und ihrer Semantik. Schematisch können wir das folgendermaßen darstellen:6 conceptus

conceptus

vox

vox

res

conceptus

conceptus

vox

vox

Spezifisch für das Gemeinsame Geistige Wort ist also, daß Vico die verschiedenen «Ansichten» derselben Sache nicht tilgt, sondern in seinem Lexikon aufhebt. Vico hält die verschiedenen Welt-Ansichten aus. Die Verschiedenheit ermöglicht es gerade, möglichst viele Eigenschaften des betrachteten Gegenstandes zu erkennen.7 Dabei interessiert ihn aber nicht der einzelne individuelle Anblick als solcher. Ihn interessiert das Ensemble. Das Ensemble der verschiedenen Ansichten ist das Universelle Wort, das Gemeinsame Geistige Wort, und auf diese Gemeinsamkeit kommt es ihm an. Die Sprache der Geschichte ist also ein Wörterbuch der politischen Grundbegriffe der Menschheit. Diese setzen sich jeweils aus 262

den verschiedenen Wörtern individueller Sprachen zusammen. Die Sprache der Geschichte ist gerade keine bestimmte Einzelsprache, sondern das Zusammenschauen oder Zusammenklingen, Synopsis und Symphonie, aller Sprachen der Menschheit. 12.1.4. Von Vico zum linguistic turn der Geschichte 1. Vicos Neue Wissenschaft ist zuvörderst ein linguistic turn der Philosophie. Und weil diese Philosophie sich auf den mondo civile, auf die politisch-soziale Welt, bezieht, ist sie auch ein linguistic turn der Politik. Und sofern der mondo civile in seiner zeitlichen Dimension Geschichte ist, ist sie auch ein linguistic turn der Geschichte. Soziales und Semiotisches sind bei Vico untrennbar miteinander verbunden. Die Geschichte spricht. Für diese linguistisch-semiotische Auffassung von Geschichte, die ich den ersten linguistic turn der Geschichte nenne, kann Vico ganz sicher als Ahnherr angerufen werden. 2. Die explizit universalistische Ausrichtung seiner Wissenschaft von der Geschichte läßt diese allerdings eher als historische Anthropologie oder allgemeine Sprach- und Zeichenwissenschaft erscheinen denn als Geschichte. Denn diese Wissenschaft kennt die Story hinter den Ereignissen schon. Es ist immer dieselbe, in welchen verschiedenen Formen der mondo civile sich auch immer manifestieren mag. Genau in diesem Punkt unterscheidet sich Vico, so scheint mir, profund von moderner Geschichtswissenschaft, vielleicht aber auch von Geschichtsschreibung überhaupt, die ja gemäß Kapitel 9 der Aristotelischen Poetik das Wirkliche als Besonderes faßt. Moderne Geschichtswissenschaft kennt die Story gerade nicht schon vorneweg, sondern versucht, die jeweilige Story in den verschiedenen und ihre Bedeutung nur schwer preisgebenden Zeichen der Geschichte zu finden. Und deswegen hat sie das andere sprachliche Problem, das Problem der Darstellung, das ihrem – dem zweiten – linguistic turn zugrunde liegt. 3. Vicos Wissenschaft bleibt zwischen Universalismus und Partikularismus in der Schwebe. Diese Schwebe ist dem linguistic turn seines ganzen Denkens geschuldet. Denken ist immer auch 263

Sprechen-Semiose. Und diese Einsicht Vicos gilt natürlich auch für die Ebene der Wissenschaft. Die Wissenschaft kann sich nicht einfach aus der Sprache verabschieden, wie es immer ihre Sehnsucht war (seit Platon). Das wissenschaftliche Wort ist auch nicht etwa das eine, richtige, die Sache eindeutig bezeichnende Wort. Sondern: Das wissenschaftliche Wort ist als Gemeinsames Geistiges Wort das Ensemble der verschiedenen Blicke auf die Sache. Das heißt, verschiedene Welt-Ansichten sind möglich, ja nötig, weil die verschiedenen Blicke verschiedene Eigenschaften der Sache entdecken. Nicht die Zerstörung des besonderen Blicks (das wollte Bacon), sondern die Sammlung vieler Blicke auf die Sache konstituiert die Wissenschaftlichkeit (Universalität) der Neuen Wissenschaft. Das Gemeinsame Geistige Wörterbuch ist daher ein ausgesprochen gutes Modell dafür, wie die moderne Geschichtswissenschaft den linguistic turn aushalten könnte, dem ich mich nun zuwende.

12.2. Spricht die Geschichte? 12.2.1. Sprache oder Sprachlosigkeit der Geschichte Wenn wir einmal mit Vico tentativ, naiv oder meinetwegen metaphorisch annehmen, daß die Geschichte – also die große Weltgeschichte – spricht, und uns fragen, welche Sprache sie denn heute spricht, so würden wir vielleicht eine doppelte Antwort geben. Wenn mit «Sprache» Sprache im engeren Sinne gemeint ist, eine langue, so würden wir sagen, daß die Geschichte englisch spricht. Damit nähert sich die Weltgeschichte sprachhistorisch zyklisch ihrem angenommenen mythischen Anfang, dem Paradies, wo ja auch nur eine Sprache gesprochen wurde. Niemals war die WeltGeschichte dem Paradies näher als heute. Wenn wir mit «Sprache» allerdings Zeichen überhaupt meinen, mit denen die Geschichte sich uns mitteilt, so müssen wir sagen, daß sie die Sprache der Gewalt spricht. Das Paradies könnte nicht weiter entfernt sein. Das wichtigste Wort der neuesten Geschichte wäre dann gewiß die unfaßlich brutale Tat des 11. September 2001, so wie die anderen ebenso unfaßlich brutalen Taten – Krieg, Auschwitz, Krieg – die 264

Worte der Geschichte des 20. Jahrhunderts waren. Oder sind diese Taten gar keine Worte einer sprechenden Geschichte, sondern gerade die Negation von Sprache? Weil, wie wir sagen, die Worte schweigen, wenn die Waffen sprechen? Ulrich Becks (2002) Rede über Terror und Krieg trägt ja deswegen gerade den Titel «Das Schweigen der Wörter». Nun, in den Zwischenräumen zwischen den brutalen Taten wird jedenfalls viel gesprochen, auf Friedenskonferenzen, im Völkerbund, in der Uno, in Parlamenten etc. Im Frieden spricht die Geschichte anscheinend. Und wenn ihr die Worte fehlen, gibt die friedliche Geschichte Zeichen, wie das folgende, das sicher das bewegendste und bedeutendste «Wort» unserer neueren Geschichte ist. Deutschland konnte, was zu sagen war, nicht anders sagen als mit dieser Gebärde:

Brandts Warschauer Kniefall am 7. 12. 1970

Aber dann? Wenn sie mit der Sprache und den Zeichen nicht weiterkommt, schlägt dann die Geschichte wieder brutal zu, ohne Sprache und Zeichen? Schweigen dann die Wörter wieder? Herrscht dann die sprachlose Tat? Die Sprache und die Zeichen sind nicht so unschuldig, wie sie in dieser Gegenüberstellung zur Gewalt erscheinen, und die Gewalt ist nicht sprachlos. Wörter und Zeichen sind nicht nur Abwesenheit von Gewalt, sie ermöglichen sie auch. Die Gewalt, von der wir hier reden, kommt nämlich ohne Sprache nicht zustande. Es handelt 265

sich bei der Gewalttat des 11. September ja nicht um die Aktion von Löwen, die sich hungrig und sprachlos auf die Gazelle stürzen, auch wenn die entsprechenden Herren sich gerne Löwen, Panther, Wölfe etc. (schwarze, graue etc.) nennen. Eine unendliche Kette von sprachlichen und semiotischen Handlungen war nötig, um die Taten des 11. September zu organisieren: von der Haßrede der Mullahs über den Unterricht an der Technischen Hochschule Harburg und die Unterweisung an der Flugschule, mit Sprache und Zeichen, Zeichnungen, Bildern, Diagrammen, bis zum Kauf der Flugtickets und Messer und zu den Befehlen der Entführer an die Flugzeuginsassen. Die – in diesem Fall außerdem ihrerseits hochsemiotische, d. h. auch als Zeichen intendierte – Tat ist eingebettet in sprachliche und semiotische Handlungen, mit denen sie vorbereitet wird. Dasselbe trifft zu für den Krieg, für die Konzentrationslager und Vertreibungen: alles das ist untrennbar vom Sprechen und Zeichenmachen des Menschen. Ohne Sprache gäbe es das alles nicht. Seit dem Sündenfall, d. h. von Anfang an, sind überall, wo der Mensch handelt, auch seine Sprache und seine Zeichen präsent. Tatsächlich spricht die Geschichte. Diese Einsicht liegt dem ersten – und gewissermaßen harmlosen – linguistic turn der aktuellen Geschichtswissenschaft zugrunde. In diesem sind die «Wörter der Geschichte» – die Wörter, in denen sich das Ereignis artikuliert, die Zeichen, die das Ereignis selbst sind, die Ereignisse, welche Zeichen sind, und das kommunikative Geflecht, in welches das Handeln verwoben ist – zum Gegenstand der historischen Betrachtung gemacht worden. Die Sprachlichkeit der Geschichte rückt in verschiedener Intensität ins Bewußtsein der Historiker, und sie nimmt verschieden großen Raum in ihren Forschungen ein: Bei Koselleck etwa, der ja durchaus schon einen linguistic turn vollzieht, begleitet und ergänzt die Begriffsgeschichte die Sozialgeschichte. Bei Chartier, Darnton, Zemon Davies dominiert der Blick auf die Zeichen und die Kommunikation: z. B. in Darntons Geschichte vom Katzenmassaker oder in Poesie und Polizei, in Deutschland etwa bei Kittsteiner (mit einem interessanten theoretischen Rückgriff auf Cassirer). Guilhaumou (1989) stellt die Französische Revolution als eine Sprach- und Kulturrevolution dar. Chartier (1995) warnt allerdings davor, die Geschichte ganz im Sprachlichen aufgehen zu lassen: Semiose und Praxis – mit Vico ge266

sprochen: Homer und Herkules – seien Sphären, die nicht völlig ineinander aufgingen. Foucault hat jenen ganz eigentümlichen historischen Gegenstand jenseits der handelnden Menschen erfunden, den er «Diskurs» nennt und der sprachförmig ist. Eine radikale Semiotizität der gesamten gesellschaftlichen Welt nimmt etwa Geertz an: alles ist Text. Und der Philosoph Fellmann (1991) faßt, von Vico, Schopenhauer und Dilthey angeregt, «Geschichte als Text». 12.2.2. Der Geschichts-Schreiber Allerdings: Auch wenn die Geschichte spricht, wenn also die Ereignisse selbst sprachlich sind, wenn das Geschehene teilweise, hauptsächlich oder gar exklusiv kommunikativ ist, einen kohärenten Text bilden die Ereignisse nicht, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Daß allem eine storia ideale eterna zugrunde liegt, vermag niemand mehr zu glauben. Genau hier liegt das Problem der modernen Geschichtswissenschaft: das Problem der Sprache der Geschichte im zweiten Sinn. Und an diesem Punkt finden wir den zweiten, den offensichtlich schmerzhafteren oder umstritteneren linguistic turn. Dieser stellt aber, auch wenn er noch so modern scheint, eigentlich keine neue Frage. 12.2.2.1. Vom Problem der Darstellung des vorliegenden inkohärenten Geschehens handelt z. B. bekanntlich schon Humboldts klassische Akademierede über die Aufgabe des Geschichtschreibers von 1821: Wie ergreift und begreift der Historiker die Ereignisse, die wie ein Chaos vor ihm liegen, bzw. in denen er sich wie in einer Nebelwolke befindet, wie stellt er sie dar, wie schreibt er die Geschichte? Der Ausdruck «Geschichts-Schreiber» ist hier wirklich wörtlich zu nehmen. Es geht um das Schreiben, die écriture. «Das Geschehene ist nur zum Theil in der Sinnenwelt sichtbar, das Uebrige muss hinzu empfunden, geschlossen, errathen werden» (IV: 35). Hinzuempfinden, Schließen, Errathen und «Hinzufügen» (IV: 36) ist nach Humboldt die Aufgabe des Historikers. Es steht also für Humboldt ganz außer Frage, daß es sich hierbei um eine schöpferische literarische Tätigkeit handelt. Nicht von ungefähr und einer alten Tradition folgend – Klio war eine Muse, und Aristoteles’ Poetik ist hier selbstverständlich präsent – parallelisiert Humboldt 267

den Historiker mit dem Dichter. Mit ihm hat er die Phantasie gemeinsam. Phantasie ist aber für Humboldt nicht – wie für uns heute zumeist – eine Sphäre haltloser und weltloser Spinnerei. Phantasie heißt kantisch Synthese von Sinnlichkeit und Verstand, also von Welt-Erfahrung und Rationalität. Das kreative Tun des Historikers erschöpft sich nicht in einer welt-losen sprachlichen Erfindung (natürlich auch nicht die Tätigkeit des Künstlers, die für Humboldt ganz aristotelisch noch hauptsächlich in der Mimesis der Natur besteht). Der Dichter schafft etwas, was vorher nicht vorhanden ist. Der Historiker aber «fügt hinzu». Er steht vor oder in den Quellen der Ereignisse, einem «Gerippe der Begebenheiten» (IV: 36), d. h. er hat eine Wirklichkeit vor sich, die er denkend durchdringen muß, einen «Stoff», dem er eine Form geben muß. Vom Dichter unterscheidet er sich durch den «Sinn für die Wirklichkeit». Diese besondere Form der Einbildungskraft neigt sich – anders als die dichterische – der Welt zu. Mit dem «Sinn für die Wirklichkeit» ist der sprachtheoretische Kernpunkt angesprochen: der Bezug auf die Welt, die Referenz. Für Humboldt, den Denker der Sprache,8 besteht nun gar kein Zweifel daran, daß es jenseits der Sprache und des Textes eine Wirklichkeit gibt, daß wir als sprechende Menschen in der Welt stehen und uns sprechend auf die Welt beziehen und uns mit der Mitwelt auseinandersetzen. Allerdings: Das Sprechen bezieht sich je nach seinen verschiedenen Aufgaben, je nach Diskursgattung, in verschieden starkem Maße auf die Welt. Und dementsprechend ändert sich auch die Rolle der Sprache. Dabei ist «Sprache» für Humboldt viel mehr noch als für Vico nicht nur das materielle Wort, vox, sondern auch die mit dem Wort verbundene Semantik: conceptus. Das alltägliche Sprechen, die «Sprache der Geschäfte», und die terminologische Verwendung der Sprache in den Naturwissenschaften lassen die Sprache gleichsam hinter sich, sie lassen sich ganz auf die Sachen, die Geschäfte (beides ist lateinisch res), ein, sie liefern sich gleichsam völlig den Sachen und den Geschäften aus. Der besondere Klang und die in den Sprachen sedimentierte besondere Semantik, die jeweilige «Weltansicht», spielen bei diesem Sprechen keine Rolle, ja es wird die Eigentümlichkeit der Sprache gerade «vertilgt», so Humboldts Ausdruck (IV: 30). Die Sprache wird gleichgültig, sie wird «arbiträr». 268

Es geht dort so zu, wie es Aristoteles in De interpretatione gesagt hatte. Die Geschichtsschreibung dagegen gehört trotz ihres Sinnes für die Wirklichkeit mit der Philosophie und Dichtung für Humboldt zu jenem Diskurstyp, der bei der Sprache verbleibt. Die Sprache der Geschichte ist «rednerischer Gebrauch der Sprache», bei dem der Redende «die volle Einwirkung des eigenthümlichen Stoffes der Sprache» aufnimmt, bzw. wo – anders formuliert – die Sprache «entweder von selbst wesentlich auf die Darstellung der Objecte einwirkt, oder absichtlich dazu gebraucht wird» (IV: 29 f.), zur Darstellung der Objekte nämlich. Das Geltendmachen der Eigentümlichkeit der Sprache ist bei Humboldt mitnichten ein Hindernis bei der Darstellung der Objekte. Es gilt das Schema, in dem vox und conceptus eng verbunden der res gegenüberstehen:

conceptus res vox

Was mit dem linguistic turn der Historiographie heute vor allem gemeint ist – die Erkenntnis der Sprachlichkeit oder der Literarität von Geschichtsschreibung – läßt sich also bei Humboldt festmachen. Schon Humboldt weist mit seinen Überlegungen eine naive Auffassung von Historiographie zurück, die meint, sie könne das Geschehene einfach so aufschreiben, wie es eben daliegt, es sozusagen einfach registrieren, und die damit sprachtheoretisch naiv auch glaubt, die Semantik der Sprache und des Textes «vertilgen» zu können. 12.2.2.2. Auch Roland Barthes, der für den linguistic turn der Geschichtswissenschaft anderthalb Jahrhunderte später verantwortlich gemacht wird, schreibt zunächst nichts anderes: In seinem berühmten Aufsatz «Le discours de l’histoire» von 1967 kritisiert er nämlich im wesentlichen die Illusion der Historiker, sie könnten aus der Sprache und ihrer Semantik aussteigen und – noch radika269

ler als Aristoteles – vox direkt mit res verbinden, moderner ausgedrückt: den Signifikanten direkt auf den Referenten beziehen (er denkt offensichtlich an die sich extrem faktuell, «wissenschaftlich» gebende Historiographie der Annales-Schule). Roland Barthes weiß mit Saussure, daß Wörter nicht einfach Namen sind, die auf Sachen verweisen, sondern daß die Wörter unauflöslich zweiseitige Größen sind, Laute, die ihre Bedeutungen mit sich herumschleppen, Einheiten aus signifiant und signifié (er weiß offensichtlich nicht, daß das lange vor Saussure auch schon Humboldt oder Vico wußten oder daß Herder gesagt hat, daß die Gedanken an den Wörtern kleben). Barthes besteht darauf, daß die innertextuelle und innersprachliche Semantik nicht «vertilgt» werden kann. Soweit ist Barthes’ Analyse nichts anderes als das Einschreiben einer seit Vico, Herder, Humboldt, Saussure bekannten sprachtheoretischen Einsicht in das Stammbuch der modernen Geschichtsschreiber. Allerdings – und damit schüttet Barthes das historische Kind mit dem linguistischen Bade aus – radikalisiert Barthes seine Analyse des historiographischen Diskurses insofern, als er dann jede Exteriorität des historischen Diskurses leugnet. Der Bezug auf einen Referenten sei nur ein Schein, der Referent existiere ohne den Text gar nicht. Der historische Diskurs sei, so schreibt er, der einzige, bei dem der Referent zwar als dem Diskurs äußerlich anvisiert werde, bei dem es aber niemals möglich wäre, den Referenten außerhalb dieses Diskurses auch zu erreichen9 – einfach weil es ihn außerhalb des Diskurses nicht gebe:

conceptus res vox

Die res gestae sind für Barthes nämlich allein durch den historischen Diskurs selbst generiert und existieren als solche außerhalb der Rede nicht. Die Unterscheidung von res gestae und historia rerum gestarum wäre also nur ein Schein. Was Humboldt das «Hinzugefügte» nennt, wird hier absolut gesetzt. Das historische Fak270

tum existiert für Barthes nur sprachlich. Es gibt sozusagen gar nichts, zu dem etwas «hinzugefügt» werden könnte. Das Faktum hat keine andere als sprachliche Existenz: «Le fait n’a jamais qu’une existence linguistique» (Barthes 1967: 425). Und doch werde beim historischen Diskurs so getan, als ob das an sich nur sprachlich existierende Faktum die Kopie eines Außersprachlichen sei, comme si: «comme si cette existence n’était que la ‹copie› pure et simple d’une autre existence, située dans un champ extra-structural, le ‹réel› » (ebd.). Das Außersprachliche, Wirkliche, ist für Barthes ein Als-ob, ein Schein, den Barthes den «effet de réel», den Wirklichkeitseffekt des historischen Diskurses, nennt. Humboldts Sinn für die Wirklichkeit wäre nach dieser Analyse gleichsam nur eine Wahnvorstellung. Wieso konnte Roland Barthes (und die ihm folgenden «linguistisch gewendeten» Historiker) zu dieser Auffassung von der (fast) gänzlich sprachlichen Immanenz und Weltlosigkeit des historischen Diskurses kommen? Dies hängt, wie man liest, mit Saussure zusammen. Das ist richtig.10 Mein Eindruck ist aber, daß Barthes einen Gedanken Saussures auf eine Ebene transponiert, wohin er nicht gehört: den Gedanken der Weltlosigkeit des sprachlichen Zeichens. Dieser Gedanke Saussures steht in radikalisierter Form im Zentrum jener Sprachtheorie, die tatsächlich die linguistische Basis des Barthesschen Sprachdenkens ausmacht: nämlich im Zentrum der Sprachtheorie Louis Hjelmslevs:11 Hjelmslev hat die Substanz – den konkreten Laut und die Welt (die uns hier interessiert) – radikal aus der Betrachtung der Sprache ausgeschlossen und Linguistik auf die ausschließliche Betrachtung der immanenten Form festgelegt. Aber sowohl Saussure als auch Hjelmslev tun dies auf einer Ebene der Sprachbetrachtung, wo dies legitim ist: auf der Ebene der Betrachtung des abstrakten Sprachsystems, der langue. Weder Saussure noch Hjelmslev schließen jedoch die Substanz – und das heißt hier: die bezeichnete Realität – für die Ebene aus, um die es in der Geschichtsschreibung geht: für die Ebene der Rede, des konkreten Sprechens, der Texte. Im Gegenteil: die Rede ist gerade der Ort, wo für Hjelmslev sowohl die Substanz des Ausdrucks, der konkrete Laut, als auch die Substanz des Inhalts – die bezeichnete Wirklichkeit – vorkommen. Es scheint, daß die Ausschließlichkeit des Hjelmslevschen Blicks auf die immanente Form der Sprache 271

(langue) hier ihre Spuren in der Barthesschen Theorie des Textes (parole) hinterlassen hat. 12.2.2.3. Der Ausschluß der Welt muß natürlich die echten Historiker mit ihrem – für meinen Geschmack oft allzu ausgeprägten – «Sinn für die Wirklichkeit» empören. Allerdings habe ich bisher auch noch keinen vom linguistic turn ergriffenen Historiker getroffen, der die radikale sprachliche Immanenz des historischen Diskurses wirklich ernsthaft vertreten würde.12 Der radikal sprachlich gewendete Historiker scheint mir eher ein Pappkamerad zu sein, ein Buhmann, eine Art Vogelscheuche, die (in den Arbeiten von Iggers herumgeistert und) vor der anderen und ziemlich unabweisbaren Einsicht abschrecken soll, vor der Einsicht nämlich in die unumgehbare Sprachlichkeit und Literarität des historischen Diskurses. Hinter dem Vorzeigen des Popanzes steht die nostalgische Sehnsucht nach «richtiger», echter, objektiver Wissenschaftlichkeit, wie es sie in den «richtigen» Wissenschaften geben soll, die in klarer und eindeutig referierender Sprache reden. So beschwört etwa Iggers (1996: 89) das Sprachideal der analytischen Philosophie, das Ideal von klarer und eindeutig referierender Sprache, d. h. eine Sehnsucht nach Sprachlosigkeit. Jedenfalls vertritt auch jener Theoretiker und Historiker, dem die Position der referenzlosen Sprachlichkeit nachgesagt wird, eine solche Position nicht. Ich meine Hayden White. White ist nach meiner Lektüre seiner Schriften mitnichten ein Propagandist der totalen immanenten Sprachlichkeit des historischen Diskurses à la Barthes, sondern gerade eher ein Kritiker dieser Auffassung – zumindest war er es ursprünglich. Er belegt in der Tat die von Barthes nur angedeutete sprachlich-literarische Existenzweise des historischen Faktums bei verschiedenen Historikern. Daß Klio dichtet, wie eines seiner Bücher heißt, und wie sie dichtet, stellt Hayden White in seinen zahlreichen metahistorischen Untersuchungen fest. Aber er findet das eigentlich – zumindest am Anfang – überhaupt nicht gut. Das erste große Buch war in seiner Tendenz eine Kritik der Literarität der Historiographie, White hat dort (genau wie Iggers) mehrfach die «Wissenschaftlichkeit», also die Objektivität von Geschichte nach dem Vorbild der Naturwissenschaft eingefordert (White 1973: XI, 2, 428). Inzwischen hat er sich allerdings, wenn ich neuere Äußerungen richtig verstehe (White 2001), wohl 272

damit abgefunden, daß Historiographie – in verschiedenem Ausmaß übrigens – literarisch ist, d. h. er hat davon Abstand genommen, sie auf den Pfad des objektiven Bezeichnens zurückführen zu wollen. Aber er geht doch nicht so weit wie Barthes: Den «Sinn für die Wirklichkeit» spricht er den Historikern nicht ab. Allerdings – und dies halte ich für seine eigentliche Schwäche – auch den Dichtern nicht. Für ihn referiert auch die Dichtung auf die Wirklichkeit, und deswegen gibt es keinen Unterschied zwischen dem literarischen und dem historiographischen Diskurs. Also: auch Kalliope, Melpomene, Polyhymnia und sämtliche Musen der Dichtung referieren. Dies ist schon eher problematisch.13 12.2.3. Envoi Abschließend möchte ich den entscheidenden sprachtheoretischen Punkt noch einmal mit einem Beispiel illustrieren: die Sprachlichkeit oder Literarität des historischen Diskurses, die seine Referentialität nicht ausschließt. Das «Geschehene», auf das sich mein Beispiel bezieht, ist das Warschauer Zeichen Willy Brandts, das semiotisch-kommunikative Ereignis, das ich schon einmal angeführt habe. Zu diesem Geschehenen schreibt Marie-Luise Recker in ihrem wunderbaren kleinen Buch zur Geschichte der Bundesrepublik: Symbol des neuen Anfangs und der Aussöhnung zwischen beiden Staaten [gemeint sind Polen und Deutschland] war weniger die Vertragsunterzeichnung am 7. Dezember 1970 selbst als der Kniefall von Bundeskanzler Brandt an diesem Tag bei der Kranzniederlegung vor dem Denkmal für die Gefallenen des Warschauer Ghettos. (Recker 2002: 72 f.) Recker schreibt also das Ereignis ein in die Erzählung der Entwicklung der Ostpolitik und des deutsch-polnischen Verhältnisses. Ich selbst – wenn ich mich hier einmal zu Illustrationszwecken als Historiker aufwerfen darf – habe von demselben Geschehen vorhin folgendes gesagt: Und wenn ihr die Worte fehlen, gibt die friedliche Geschichte 273

Zeichen, wie das folgende, das sicher das bewegendste und bedeutendste Wort unserer neueren Geschichte ist. Deutschland konnte, was zu sagen war, nicht anders sagen als mit dieser Gebärde. Ich habe das Geschehene in eine längere und thematisch weitere Perspektive, gleichsam in die Gesamtgeschichte Deutschlands und vor allem in die Geschichte von Deutschlands Schuld an Krieg und Holocaust eingeordnet. Beide Aussagen enthalten massiv durch Sprache «Hinzugefügtes», sie sind ja nicht nur Feststellungen des Geschehenen. Etwa: «Am 7. 12. 1970 kniet in Warschau ein Deutscher namens Willy Brandt vor dem Ghetto-Denkmal». Dennoch scheinen die beiden Textstücke zwei mögliche – und richtige – Darstellungen des Geschehenen zu sein. Als solche zeigen sie, wie verschieden die jeweilige Formung des Stoffes sein kann. Dies ist die legitime Einsicht des linguistic turn. Das heißt nun natürlich nicht, daß nicht von der Zunft der Historiker eine Reihe von weiteren Forderungen erhoben werden können, wie solche Aussagen auszusehen haben, damit sie als «Wissenschaft» akzeptiert werden, die Diskursregeln des Metiers.14 Daß man Verschiedenes und verschiedenes Wahres über dieselbe Sache sagen kann, sollte dabei nicht ernsthaft die Wissenschaftlichkeit in Frage stellen. Mit Vico könnte man sogar annehmen, daß überhaupt erst ein multipler Blick auf dieselbe Sache die «Wissenschaftlichkeit» der Geschichte konstituiert. Vor allem aber stellen unsere unterschiedlichen, sprachlich generierten Darstellungen, Deutungen, Sinngebungen keinen Grund dafür dar, an der Faktizität des Geschehenen zu zweifeln bzw. nicht an dem festzuhalten, was Chartier (1995: 55) das «Archiv» nennt: Wir haben hinreichende Evidenz dafür, daß am 7. 12. 1970 tatsächlich ein bestimmter Mensch mit einer bestimmten politischen Funktion in Warschau an diesem ganz bestimmten Ort sich hingekniet hat und daß dies eine absichtliche semiotische Handlung gewesen ist. Brandt ist nicht einfach hingefallen, wegen eines Schwächeanfalls etwa. Brandts Bewegung ist auch von allen als Zeichen verstanden worden. Er hat sogar den Nobelpreis für diese semiotische Handlung bekommen: den Friedens-Nobelpreis für ein Wort der Geschichte. Daß also unsere Sätze sich auf res gestae beziehen, steht 274

nicht nur für die meisten Mitspieler am Sprachspiel der Geschichte außer Zweifel, sondern eigentlich für jeden einigermaßen normalen Mitspieler an unserer gesellschaftlichen Welt. Das muß auch so sein, weil sonst der mondo civile in einem Taumel zwischen Fiktion und Realität zerfallen würde (er tut dies ja schon zur Genüge, noch merken wir meistens aber, daß das nicht in Ordnung ist). Wenn der linguistic turn die Wirklichkeit da draußen, jenseits des sprachlichen Textes, wirklich ernsthaft in Frage stellen würde, dann wäre er nicht nur die schon von Humboldt erkannte Bewußtmachung der Sprachlichkeit der Historiographie, sondern eine Form des Wahnsinns: Verlust der Wirklichkeit. Mit dieser eher psychiatrischen als linguistischen Feststellung bin ich am Ende meiner Betrachtungen zur Sprache der Geschichte – la lingua in cui parla la storia (die ewige ebenso wie die unsrige) – , am Ende meines kleinen Versuchs zur Linguistik der Geschichte. Und ich schließe mit einer Bemerkung, die ebenfalls mein Fach sprengt und eher in die Lebensberatung gehört, ins Pastorale. Ich mache sie aber dennoch, und als Sprachwissenschaftler mache ich sie ein bißchen neidisch, weil uns Linguisten das Glück niemals so hold sein wird wie den Historikern. Es geht noch einmal um den Nobelpreis: Theodor Mommsen hat 1902 den Nobelpreis erhalten, den Nobelpreis für Literatur – nicht für Geschichts-Wissenschaft. Den Nobelpreis für die Sprache der Geschichte. Wenn dieses Faktum nicht nur eine sprachliche Existenz hat, wenn es also wirklich geschehen ist – es ist schon ein bißchen her, ich weiß, dennoch: das Archiv sagt, daß es so gewesen sei – dann sollte die Zunft der Historiker keine Angst haben vor dem linguistic turn, d. h. vor der Literatur,15 sondern aus diesem historischen Faktum Stolz und Ermutigung zu schöner Geschichts-Schreibung schöpfen.

13. Von der Freiheit des poetischen Sprechens

Ce qui est difficile pour l’esthétique, c’est l’éthique. Et réciproquement. (Henri Meschonnic)

13.1. Happiness und ihre Bedingungen Die vorrangige philosophische Frage an die Sprache scheint zu sein, ob das Sprechen wahr ist oder falsch. Jedenfalls ist das der Eindruck, den man beim Lesen von Büchern über Sprachphilosophie erhält. Ihre Hauptsorge ist die Wahrheit. Sprachphilosophie hat traditionellerweise eine beinahe ausschließlich semantische Perspektive. Sie ist zuvörderst theoretische Philosophie, die sich nicht besonders um Gut und Böse kümmert. Aber natürlich kann Sprechen auch gut oder böse sein (und wahres Sprechen kann böse sein, und falsche Aussagen können gut sein). Wir erfahren es jeden Tag. Sprechen kann wehtun, es kann schmerzen wie ein Schlag. Wir können beleidigt, irregeleitet, belogen werden. Wir erleben aber natürlich auch gutes Sprechen: Leute können freundliche Dinge sagen, ein Freund tröstet uns, ein interessantes Gespräch bringt Menschen zusammen. Sprechen ist nicht nur ein kognitiv-semantisches Ereignis, sondern auch ein kommunikativ-soziales, eine Handlung, die den anderen impliziert, und als solche hat es notwendigerweise ethische Implikationen und gehört auch zum Bereich der praktischen Vernunft, zum Reich der Freiheit. Aber selbst nach ihrer pragmatischen Wende im Anschluß an den späten Wittgenstein und durch die sogenannte Sprechakttheorie ist die Sprachphilosophie noch ziemlich unmoralisch. So versucht sie zwar, die sogenannten Bedingungen des Glückens (happiness conditions) von Sprechakten zu beschreiben (Austin 1962). Und dies scheint eine sehr praktische und ethische Angelegenheit zu sein; denn was könnte ethischer sein als das Streben nach Glück, der pur276

suit of happiness. Aber jene Bedingungen und die ihnen entsprechenden Regeln sind doch nur Bedingungen oder Regeln zur Ausführung gegebener Handlungsmuster. Das «Glück» ist also ein sehr technisches: es ist die gelungene Ausführung einer intendierten Handlung, die hier gemeinte happiness ist Erfolg. Sprechakttheorie ist also mehr die Beschreibung einer sozialen Technik als eine Ethik des Diskurses. Das ist, nebenbei gesagt, auch der Grund, warum Linguisten sie so gern mögen. Aber natürlich kann die Sprechakttheorie ethische Implikationen nicht außer acht lassen, sie hat zumindest gewisse ethische Ränder, wie man am Problem der Aufrichtigkeit sehen kann: Ist Aufrichtigkeit wirklich eine Bedingung für die Ausführung eines Sprechakts, zum Beispiel des Versprechens? Ein bestimmter Sprechakt ist als Versprechen gemeint und wird auch so verstanden (weil wir wollen, daß der andere ihn als Versprechen auffaßt, und weil der andere ihn als Versprechen auffaßt), selbst wenn wir nie die Intention hatten, das zu tun, was wir versprachen. Oder: Ein Sprechakt ist eine Behauptung, selbst wenn wir überhaupt nicht von der Wahrheit der Aussage überzeugt sind. Aufrichtigkeit – damit ist gemeint, daß wir wirklich beabsichtigen, das zu tun, was wir anscheinend tun, und daß wir den anderen nicht betrügen – scheint daher jenseits der Sprechakttheorie zu liegen. Aber schon die Frage nach der Aufrichtigkeitsregel zeigt, daß die Sprechakttheorie, als eine Theorie über die pragmatische Dimension, moralische Fragen und Probleme und damit eine Ethik des Diskurses berührt. Um ein anderes Beispiel zu geben: Die Einleitungsbedingung für eine Aufforderung besagt, daß der Hörer H fähig sein sollte, die Handlung A auszuführen, zu der ihn der Sprecher S veranlassen möchte. H sollte z. B. fähig sein, das Fenster zu schließen, wenn wir ihn dazu auffordern. Wenn H aber ein Zwerg ist und nicht in der Lage, das betreffende Fenster zu erreichen, so ist es zwecklos oder sogar unmoralisch, H aufzufordern, das Fenster zu schließen. Oder umgekehrt: H ist vielleicht durchaus fähig, die Handlung auszuführen, z. B. jemanden zu töten; die Einleitungsbedingung für die erfolgreiche Ausführung des Befehls «Töte!» ist also erfüllt. Die Bedingung des Glückens liegt vor. Der Sprechakttheorie ist somit Genüge getan. Nicht aber der Ethik. Alle happiness conditions eines erfolgreichen Befehls «Töte!» können vorhanden sein, und 277

dennoch kann es sehr unglücklich – nämlich unethisch – sein, den Befehl auszuführen. Es ist also klar, daß, wenn Sprachphilosophie erst einmal die Dimension des Anderen zuläßt, ethische Probleme zum Vorschein kommen. Hinter der Sprechakttheorie lugt immer die Diskursethik hervor. Dies wird bei Grices (1975) Reflexionen über die Sprache klar, der ja ausdrücklich die Terminologie von Kants Kritik der praktischen Vernunft übernimmt. Die Griceschen Konversationspostulate oder -maximen sind diskursethische Postulate, die der Kantschen Tafel der Kategorien der Freiheit folgen: Sei informativ, aber nicht zu sehr! (Quantität) Sage die Wahrheit und beweise sie! (Qualität) Sei relevant! (Relation) Sei klar! (Modalität) Sie sind allerdings, entgegen den Intentionen ihres Erfinders, der sie für universell hielt, wohl eher diskursethische Maximen mit begrenzter kultureller Reichweite. Sie sind vielleicht die Maximen von Universitätsprofessoren in Berkeley oder, wie der französische Philosoph Sylvain Auroux es einmal formuliert hat, die eines «native of savage Manhattan or a poor wage earner in some multinational trust» (Auroux 1991: 154). Sie sind aber nicht so universell, wie sie sein wollen. Auroux erkennt in diesen Regeln schon nicht mehr die Maximen einer Pariser Konversation. Sie sind, um ein Beispiel aus meiner kulturellen Erfahrung zu zitieren, bestimmt nicht die Regeln des normalen süditalienischen Gesprächs, das die Maximen der Quantität, der Relation und der Modalität schwer verletzen würde. Ebensowenig sind sie die Regeln der normalen japanischen Konversation, in der man überinformativ (Quantität) und ein bißchen dunkel (Modalität) sein muß. Diese Bemerkungen zu ethischen Momenten des Sprechens betrafen die praktische Kommunikation. Wie steht es nun mit dem poetischen Sprechen? Wenn Sprechen als ein praktisches kommunikatives Ereignis notwendigerweise ethische Implikationen hat, so scheint dagegen poetisches Sprechen von vornherein unethisch und amoralisch zu sein. Es liegt jenseits solcher moralischer Betrachtungen. Poetisches Sprechen ist in semantischer und pragmatischer Hinsicht frei: Es hat keine Wahrheitsbedingungen zu erfüllen. Deshalb kann Kafka sagen, daß ein junger Mann namens Gregor Samsa eines Morgens beim Aufwachen feststellt, daß er in ein großes Ungeziefer verwandelt worden ist. Poetisches Sprechen hat keinen 278

Aufrichtigkeitsregeln oder sonstigen pragmatischen Bedingungen des Glückens Genüge zu tun, da es weder irgend etwas behauptet, noch verspricht, noch befiehlt etc. Die Konversationspostulate sind außer Kraft gesetzt: Der poetische Diskurs kann so informativ oder überinformativ sein, wie er will, er kann so dunkel sein, wie der Dichter es für nötig hält, und er ist völlig irrelevant. Der poetische Diskurs ist einfach Sprechen. Er ist happiness ohne irgendwelche Bedingungen, eine Insel glückseligen Redens ohne Wahrheitsbedingungen, Aufrichtigkeitsregeln oder Konversationsmaximen, ein Ort der Freiheit, ein Eiland verantwortungslosen Glücks. Dies ist auch der Grund, warum Platon den poetischen Diskurs in seiner Stadt seriöser wahrheitssprechender und aufrichtig kooperierender Männer nicht zulassen wollte. Auch die wahrheitsliebende und tugendhafte Französische Revolution hatte kein gutes Verhältnis zur Dichtung. Aber das Verdikt Platons und anderer (protestantischer) Poemo-Klasten wurde in unseren westlichen Gesellschaften nie wirklich ausgeführt. Aristoteles hat ganz liberal durchaus poetisches Sprechen in die Polis aufgenommen, aber eben doch am Rande der wirklichen, seriösen Rede, d. h. außerhalb des lógos apophantikòs. Aristoteles erkennt verschiedene Sprachspiele an (während Platon nur das Wahrheitsspiel zuläßt). Obwohl auch Aristoteles sich hauptsächlich um das Wahrheitsspiel kümmert, schreibt er doch immerhin eine Rhetorik und eine Poetik. Poetisches Sprechen, diese Insel der Glücklichen, hat also in der aristotelischen Polis durchaus einen Platz. Es wurde mehr oder weniger integriert, es wurde jahrhundertelang instrumentalisiert, aber es war niemals wirklich verbannt. Heute, so können wir sagen, besetzt es einen einigermaßen gut abgegrenzten Raum am Rande der Stadt. Das poetische Sprechen ist ein ästhetischer Vorort der Großen Stadt des Seriösen Sprechens. Bedeutet diese Lokalisierung, daß poetisches Sprechen seriöser geworden ist seit Platon? Wohl kaum. Es bedeutet nur, daß die Bürger der Politeia keine platonischen Hardliner, sondern liberale Leute sind. Sie halten die Freiheit und Verantwortungslosigkeit poetischen Sprechens aus, ja sie scheinen es sogar zu brauchen. Aber sie wollen es immer noch schön getrennt vom alltäglichen Leben, vom normalen Leben, von seriösen Dingen. Deshalb diese Position am Rande der Gesellschaft. Nicht nur die ernsthaften 279

Leute wollen es so, auch die Künstler und Dichter selbst sind durchaus mit dieser marginalen Position einverstanden. Es ist nämlich eine ziemlich komfortable Position, da sie eine geradezu uneingeschränkte Freiheit erlaubt. Aber die Gefahr besteht, daß niemand die Leute an den Rändern beachtet. Darum gibt es von Zeit zu Zeit auch Versuche, dieses ungebundene Glück zu überwinden. Der berühmteste davon ist vielleicht Brechts «Glotzt nicht so romantisch!». Aber es ist Brecht nicht wirklich gelungen, das romantische Glotzen, das wir ästhetische Haltung nennen, diese ruhige Kontemplation, aufzubrechen. Zum Glück nicht, denn das ästhetische Glotzen aufzugeben würde schlichtweg bedeuten, die ästhetische Tätigkeit in die praktische Tätigkeit zu integrieren und sie dadurch zu zerstören, daß das poetische Sprechen Wahrheitsbedingungen, Bedingungen des Glükkens – d.h. Bedingungen des Erfolgs – und Konversationspostulaten unterworfen wird. Der ästhetische Bereich ist nämlich ein Gebiet, das als solches bewahrt werden muß, wie ein Naturschutzgebiet; die Bewahrung des ästhetischen Bereichs ist ein Postulat sozialer Ökologie, weil es das einzige Gebiet ist, auf dem das Sprechen oder andere menschliche Tätigkeiten und Produktivitäten frei sind von Zwängen, wo die Generosität regiert, wo (fast) «anything goes». Und diese Freiheit ist seine ethische Bedeutung. Wo sonst, wenn nicht in poetischer Rede, können Menschen erfahren, was Leben sein könnte und sollte. Sie ist die einzige wirkliche Utopie. Und wir können ohne sie nicht sein. Aber dies ist schon die Konklusion, zu der ich doch erst am Ende kommen sollte. Was nun auch immer ihre soziale Position ist – platonisches Außen oder aristotelisches Vorstadt-Innen – , von der «wirklichen Welt» aus betrachtet, von der Welt des wirklichen Lebens, der ernsthaften Menschen und des aufrichtigen Gesprächs aus gesehen, geschehen sehr eigenartige Dinge in der Welt der Poesie. Von der wirklichen Welt aus gesehen, ist Poesie abweichendes sprachliches Verhalten. Daher liegt es nahe, ihr Wesensmerkmal als Abweichung von der Normalität zu beschreiben. Dies ist jedenfalls in linguistischen Theorien der poetischen Sprache getan worden. Die Hauptpositionen dieser linguistischen Diskussion über Abweichung möchte ich hier unter dem Blickwinkel ihrer ethischen Implikationen aufgreifen, eine Perspektive, die auf diese zunächst 280

etwas altmodische Diskussion1 vielleicht doch ein neues Licht wirft.

13.2. Abweichung Spätestens seit Baudelaire, seit dem naturalistischen Roman und dem naturalistischen Drama wird die poetische Sprache nicht länger als eine scharf abgegrenzte und «höhere» Varietät einer historischen Sprache betrachtet. Der kollektive Stil der Poesie hat sich in viele individuelle schöpferische Stile ausdifferenziert. Diese literarische Situation ist Leo Spitzers Ausgangspunkt: I had in mind the more rigorously scientific definition of an individual style, the definition of a linguist which should replace the casual impressionistic remarks of literary critics. On the other hand, individuum est ineffabile; could it be that any attempt to define the individual writer by his style is doomed to failure? The individual stylistic deviation from the general norm must represent a historical step taken by the writer, I argued; it must reveal a shift of the soul of the epoch, a shift of what the writer has become conscious and which he would translate into a necessarily new linguistic form. (Spitzer 1948: 11, Herv. J. T.) Mir schwebte die strengere wissenschaftliche Definition eines Individualstils vor, die Definition eines Linguisten, welche die beiläufigen impressionistischen Bemerkungen von Literaturkritikern ersetzen sollte. Auf der anderen Seite: individuum est ineffabile; könnte es sein, daß jeder Versuch, den individuellen Schriftsteller zu definieren, zum Scheitern verurteilt ist? Die individuelle stilistische Abweichung von der allgemeinen Norm muß, so sagte ich, einen historischen Schritt darstellen, den der Schriftsteller tut; er muß eine Veränderung der Seele der Epoche zeigen, eine Veränderung dessen, was dem Schriftsteller bewußt geworden ist, die er in eine notwendig neue sprachlich Form übersetzen würde. Diese berühmte Passage aus Leo Spitzers Einleitungskapitel in sein amerikanisches Buch über Stilistik von 1948 ist das herausragende 281

Dokument dessen, was wir die Abweichungstheorie des poetischen Sprechens nennen. Diese Theorie sieht Poetizität explizit in der «Abweichung von der allgemeinen Norm», in der «deviation from the general norm». Natürlich wurde auch in klassischen Zeiten die Poetizität von Sprache an einer besonderen sprachlichen Qualität festgemacht, poetische Sprache war anders als Alltagssprache. Aber diese Andersartigheit war eine «höhere» Qualität (wenn dies «Abweichung» war, so war es eine Abweichung nach oben). Poetische Sprache war «höher», edler als normale Sprache, sie war die Super-Norm, nicht die allgemeine Norm. Distinktion, um diesen Bourdieuschen Terminus aufzugreifen, nicht Abweichung, war der eigentliche Kern klassischer Poetizität. Neu ist nun, jedoch nicht nur bei Spitzer, daß die Andersartigkeit des poetischen Sprechens als eine individuelle Abweichung verstanden wird, nicht als Realisierung jener höheren Norm. Statt vertikal wird die Differenz nun horizontal. Auf den ersten Blick definiert Spitzer jedoch nicht so sehr die poetische Sprache als den individuellen Stil eines Autors (was ja nicht ganz dasselbe ist), und er sucht nach einem linguistischen «wissenschaftlichen» Kriterium, mit dessen Hilfe dieser individuelle Stil beschrieben werden kann. Und dieses linguistische Kriterium ist die Abweichung von der Norm. Aber es wird dann doch rasch klar, daß Abweichung positiv als Innovation charakterisiert wird und daß sprachliche Innovation eine Form von Kreativität, d. h. von Poetizität tout court ist. Die positive Bewertung der Abweichung verläuft also über die Gleichung: Deviation = Innovation = Kreativität (Poetizität). Diese Gleichung bewahrt den Abweichenden davor, bestraft zu werden, wie es bei sonstigen Devianzen der Fall ist, und bewirkt, daß man ihn statt dessen feiert. Es ist bemerkt worden, daß diese Konzeption des Poetischen historisch situiert und limitiert ist, daß sie die moderne, d. h. romantische Konzeption des kreativen Genies beschreibt, das ein individueller Schöpfer ist, jemand, der nicht Gesetzen gehorcht, sondern Gesetze schafft (Kant: «das Talent, welches der Kunst die Regel gibt», KdU: 181). Die klassische Konzeption von Kunst und Poesie strebte im Gegenteil nicht nach individueller Abweichung, sondern nach Distinktion, nach einer Annäherung an jenes «höhere Gesetz», sei es das «Ideal» oder sei es die Nachahmung der Klassiker. Poeti282

sches Sprechen, das Distinktion statt Devianz zu erreichen versucht, wird auch gesellschaftlich danach streben, im Zentrum und an der Spitze einer Gesellschaft zu stehen, nicht an ihren Rändern. Spitzer weiß das selbstverständlich. In gewisser Weise gibt er die historische Beschränkung seiner Konzeption auch zu, wenn er feststellt, daß man erst bei modernen Autoren wie Diderot von der sprachlichen Abweichung auf die geistigen Zustände der wirklichen Person schließen könne (Spitzer 1948: 135). Aber er verallgemeinert dann doch ganz bewußt seine Konzeption des kreativen Individuums. Klassische Texte widersprechen seinem romantischen Begriff von Abweichung nicht. Für Spitzer ist jedes kreative Individuum innovativ und daher auch abweichend: Whoever has thought strongly and felt strongly has innovated in his language; mental creativity immediately inscribes itself into the language, where it becomes linguistic creativity. (Spitzer 1948: 18) Wer immer stark gedacht und stark gefühlt hat, hat in seiner Sprache erneuert; geistige Kreativität schreibt sich unmittelbar in die Sprache ein, wo sie sprachliche Kreativität wird. Bevor ich das Konzept der Abweichung kommentiere, muß ich noch eine entscheidende Bedingung für die Poetizität der Abweichung von der allgemeinen Norm hinzufügen. Nicht jede Abweichung ist kreativ oder poetisch. Die Abweichung könnte ja nur ein Fehler sein. Um poetisch zu sein, muß die Abweichung systematisch sein. In Spitzers berühmter Beschreibung seiner Methode ist «Konsistenz» das Schlüsselwort. In my reading of French novels, I had acquired the habit of underlining expressions which struck me as aberrant from general usage, and it often happened that the underlined passages, taken together, seemed to offer a certain consistency. (Spitzer 1948: 11) Bei meiner Lektüre französischer Romane hatte ich die Gewohnheit angenommen, Ausdrücke zu unterstreichen, die mir als vom allgemeinen Sprachgebrauch abweichend auffielen, und oft ge283

schah es dann, daß die unterstrichenen Passagen zusammengenommen eine gewisse Konsistenz darzubieten schienen. In einer anderen Passage ist explizit von einem System die Rede, vom «Sonnensystem» des Autor-Geistes nämlich, «into whose orbit all categories of things are attracted» (Spitzer 1948: 14), also auch die abweichenden sprachlichen Strukturen. Nicht Abweichung allein, sondern Abweichung und Systematizität dieser Abweichung bilden den Kern des Konzepts der poetischen Sprache. Systematizität ist ein Element der Ordnung, welche das deviante Verhalten zu heilen scheint. Aber in Wirklichkeit macht sie die Abweichung noch abweichender, wie wir anhand nicht-sprachlicher Beispiele sehen können: Ich kann von normalen sozialen und moralischen Standards abweichen, indem ich eine Person töte, weil diese Person mich bedroht hat und ich meine Beherrschung verloren habe; aber mein Töten kann auch systematisch, konsistent, wiederholt sein – wie bei James Ellroys Großen Amerikanischen Killern. Ich denke, daß Richter jeweils anders reagieren. Das tun auch literarische Richter. Die Auffassung von poetischer Sprache als Abweichung von der Norm hat großen Erfolg gehabt. Für die linguistische Annäherung an Poesie war diese Konzeption deswegen so praktisch, weil sie es Linguisten erlaubte, dieses schlüpfrige Ding zu lokalisieren und zu fassen: das Poetische von Texten. Man brauchte nur sprachliche Abweichungen zu sammeln, und schon hatte man eine wissenschaftliche Beschreibung des Poetischen. Spitzer tat das natürlich nicht, dazu war er viel zu sehr Literaturwissenschaftler. Für ihn war das Sammeln von Aberrationen nur ein erster Schritt, nach dem er daran geht, die aberranten sprachlichen Strukturen zu erklären und zu interpretieren. Aber szientifischer orientierte Linguisten, die sich mehr um Objektivität, Wissenschaftlichkeit und ähnliches bemühten, stützten sich stark auf das Sammeln abweichender Strukturen. Die szientifischsten Linguisten jedenfalls haben diese Konzeption begeistert aufgegriffen: Die generative Beschreibung von Dichtung arbeitete mit dem Konzept der systematischen Abweichung. Sie lokalisiert den sprachlichen Fehler in ihrer formalen Beschreibung, sucht nach der Systematizität des Regelverstoßes, und schon ist das Poetische beschrieben. Die Wissenschaft ist glücklich. 284

Da sie weiß, wo sie nach Poetizität suchen muß, bekommt sie sie auch deskriptiv wunderbar in den Griff. Die ethischen Implikationen einer auf diese Weise beschriebenen Poetizität sind evident. Abweichung vom Normalen ist ein Abgehen vom rechten Weg, und der rechte Weg ist der Weg der Tugend. Devianz ist somit entweder eine mildere Form des Verbrechens oder die klinische Beschreibung desselben. Devianz wird im übrigen oft als Abirrung von der sogenannten sexuellen Normalität gedacht. Es ist kein bloßer Zufall, daß das Wörterbuch-Beispiel für das englische Adjektiv «deviant» immer lautet: «sexually deviant». Unter normalen Umständen wird Devianz bestraft oder sonstigen Sanktionen unterworfen, oder, wenn sie nicht bestraft wird, versucht man wenigstens, sie zu heilen. Auf jeden Fall wird abweichendes Verhalten von der Gesellschaft nicht einfach toleriert oder gar gefeiert. Wir erinnern uns alle, um im eher harmlosen Feld sprachlicher Produktionen zu bleiben, an die Sanktionen gegen unsere sprachlichen Abweichungen, auch die systematischen, in der Schule. Unsere Lehrer pflegten die poetischen Freiheiten in unseren Klassenarbeiten zu bestrafen. Und selbst wenn wir geltend machten, daß Georg Trakl oder Thomas Mann es doch genauso machten wie wir, sagten diese grausamen Pädagogen, daß wir nicht Trakl oder Thomas Mann seien – womit sie ja durchaus recht hatten. Quod licet Jovi… Aber warum durften die schreiben, wofür wir bestraft wurden? Es gab ganz offensichtlich zwei Gesetzgebungen, eine für Leute wie Trakl und Thomas Mann und eine andere für Leute wie dich und mich. Es mußte also etwas geben, was die Regeln und die Gesetze der Korrektheit suspendiert: Der einzige, dem man abzuweichen erlaubt, ohne daß er bestraft oder therapiert wird, ist das Genie. Diese Umbewertung von Devianz ist der Grund dafür, daß normalerweise Poeten und Künstler nicht verfolgt werden (Platon der Terminator oder irgendein fundamentalistischer Mullah lauern allerdings hinter der nächsten Straßenecke!). Ich werde später auf diese große Ungerechtigkeit zurückkommen, die der einzige Ort der Hoffnung ist.

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13.3. Gegen poetische Abweichung Trotz Spitzers nachdrücklicher Behauptung der Gleichung «Deviation = Innovation = Kreativität» gab es in der Folge der Geschichte der Abweichungstheorie zwei Einwände: a) Man hat gesagt, daß es oft einfach unmöglich ist, in offenkundig poetischem Sprechen Abweichungen von der Norm festzustellen, daß die poetische Rede also vollkommen normales Sprechen sein kann.2 Das extreme Beispiel hierfür ist das literarische readymade: Es gibt nichts Normaleres als ein Kochrezept. Aber wenn man es in einem Gedichtbuch findet, ist es Poesie. Oder, aus einem anderen Bereich der Kunst: Es gibt nichts Normaleres als ein Pissoir, aber wenn man es in einer Kunstausstellung findet, ist es ein Kunstwerk. Aber auch wenn der Text selbst völlig normal ist, so liegt doch eine Abweichung vor, eine sehr starke sogar: Das «normale» Objekt ist nämlich seinem normalen Kontext entfremdet. Die Abweichung ist keine textuelle (grammatische, sprachliche) mehr, sondern eine kontextuelle. Die Antwort auf das erste Argument gegen die Abweichung wäre also, daß man das Format der Beschreibung ausdehnen muß, daß man die Domäne der Abweichung erweitern muß, vom Text zu höheren Ebenen des Text-Aufbaus und zum Kontext. Weitere Beispiele zur Verdeutlichung: Ionescos Dialoge in der Cantatrice chauve sind völlig normal in ihrer Turn-taking-Technik, die Abweichung liegt in der Inkonsistenz der Referenzbeziehung.3 Kafkas Sprache ist völlig normal, ganz nahe an einer sachlich kühlen Verwaltungssprache; was jedoch nicht normal ist, ist die erzählte Welt: in Käfer verwandelte Menschen, Akademie-Berichte schreibende Affen, singende Mäuse, Maschinen, die Wörter in die Haut einschreiben usw. Der Einwand, daß die Sprache der literarischen Texte ganz «normal» sein kann, führt also zur Erweiterung des Konzepts der Abweichung, das Konzept selbst kann aber durchaus beibehalten werden. b) Daher ist vielleicht das andere Argument gegen Abweichung, das «klassizistische» Argument, stärker. In poetischer Rede gibt es sprachliche Strukturen, die mit «aberrant, gegen die Regel verstoßend, von der Norm abweichend» nicht besonders glücklich 286

beschrieben sind. Die klassischen Instrumente der Rhetorik und Metrik, die Elemente dessen, was in einer eher klassizistischen Perspektive «poetische Sprache» genannt wird, verstehen sich zunächst einmal gerade nicht als deviant und aberrant. Was ist abweichend am Vorkommen von Reimen, was ist aberrant bei der Metapher oder der Alliteration? Diese Verfahren als abweichend zu beschreiben ist zwar möglich, da Reim und Alliteration in der Tat selten im alltäglichen Sprechen vorkommen (obwohl sie dort natürlich vorkommen können). Aber eine solche Auffassung entspricht nicht der Intention des Gebrauchs von metrischen und rhetorischen Kunstgriffen. Die Absicht ist eher das Erfüllen einer Norm – eben der höheren Norm «poetischer Sprache» – als der Verstoß gegen die Norm. Sie sind Zeichen von Distinktion, nicht von Deviation.

13.4. Distinktion und Design Die Unzulänglichkeiten der Abweichungstheorie haben Roman Jakobson dazu geführt, einen anderen Weg zu versuchen: a) Er gibt die Fixierung auf sprachliche Strukturen im engeren Sinne auf, wie wir sie bei Spitzer und seinen generativen Nachfolgern kennengelernt haben – zumindest in einem ersten Schritt; er fällt dann selbst wieder zurück in das, was Pratt (1977) die «poetic language fallacy» nennt. b) Er zieht dem Begriff der Abweichung die Idee der Distinktion (ohne daß er diesen Terminus verwenden würde) als des HauptCharakteristikums der poetischen Rede vor. Was den ersten Aspekt angeht, so initiiert Jakobson eine «kommunikative» Wende in der Bestimmung des Poetischen: Das Poetische verdankt sich zuvörderst nicht sprachlichen Strukturen des Textes, sondern einer Eigenschaft der Sprech-Situation. Jakobson erweitert also die Perspektive der Theorie der poetischen Sprache auf das, was wir heute Pragmatik nennen würden. Der Tradition der Prager Schule folgend, geht er von Bühlers Sprachfunktionen aus und entdeckt die poetische Funktion als eine der Funktionen des Sprechens (deren Zahl er unnötig vergrößert). Seine berühmte Definition der poetischen Funktion der Sprache ist: «the set [Einstellung] towards 287

the message as such» (Jakobson 1960: 356). Das bedeutet hauptsächlich, daß wir uns bei der poetischen Funktion weder um die Referenz (was gesagt wird) kümmern, noch die illokutionäre Kraft des Sprechakts beachten, sondern daß wir einfach nur darauf sehen, wie wir sprechen. Der Fokus der Aufmerksamkeit in der poetischen Rede ist das Medium selbst, das Medium (Sprache) ist die Message.4 Auch wenn dies weit entfernt ist von den Spitzerschen Abweichungen von der allgemeinen sprachlichen Norm, so kann diese als eine besondere kommunikative Konstellation aufgefaßte poetische Funktion doch auch als abweichendes Verhalten beschrieben werden. Bei außer-sprachlichen Botschaften wird besonders deutlich, daß die «Einstellung auf die Nachricht als solche» eine kommunikative Aberration ist. Wenn wir auf Verkehrszeichen mit der Einstellung auf die Nachricht als solche schauen, werden wir – wenn wir Glück haben und nicht in dem daraus resultierenden Unfall unser Leben verlieren – rasch von einem Polizisten angehalten werden, der uns an die Tatsache erinnert, daß dieses Zeichen nicht nur sehr schöne Formen und Farben hat, sondern daß es «Stop!» sagt und daß wir ihm gefälligst zu folgen haben. Jakobson seinerseits würde allerdings auch gar nicht so romantisch auf Verkehrszeichen glotzen. Er nimmt ja eher an, daß wir gleichzeitig auf das schöne Verkehrszeichen schauen und seiner Aufforderung nachkommen können. Jakobsons poetische Aberration schließt nämlich die anderen Funktionen nicht aus. Seine Definition ist zwar die alte Prager Definition der poetischen Funktion, aber mit einer sehr charakteristischen Änderung: Sie ist eine schwache Version der radikalen Prager Definition (und des radikalen Russisch-Prager Konzepts der «Ent-Automatisierung» – der Befreiung der Sprache oder anderer Techniken und Objekte von der Automatisierung, d. h. von den Zwängen des «wirklichen Lebens»). In seinem Wörterbuch der Prager Schule sagt Vachek noch, daß Sprache entweder kommunikativ oder poetisch ist: soit … soit: «Il [le langage] a soit une fonction de communication … soit une fonction poétique» (Vachek 1960: 34). Jakobson ändert dieses Entweder-Oder ganz bewußt in ein Sowohl-Als-Auch um. Die poetische Funktion ist nicht die große Alternative, sondern nur eine Funktion unter anderen. Jede Rede kann auch poetisch sein. Und die 288

literarische Rede ist umgekehrt auch referentiell, hat auch illokutionäre Kraft und ist somit von praktischer Rede nur graduell verschieden. Die Strategie hinter dieser Veränderung ist es natürlich, und damit sind wir beim zweiten Aspekt, eine Brücke zu schlagen über die große Kluft zwischen dem Poetischen und dem Praktisch-Kommunikativen. Es ist in gewisser Weise eine neo-klassische Haltung: Das Poetische kann überall gefunden werden, das literarische Sprechen liegt nicht außerhalb der Domäne normalen Verhaltens, und auf der anderen Seite kann jedes «normale» Sprechen auch poetisch sein. Das Poetische ist einfach ein Achten auf formale Qualitäten, auf Distinktion. Jakobsons Theorie der poetischen Funktion ist damit eine Theorie der Alltagsästhetik. Sie ist, wie ihr schärfster Kritiker Eugenio Coseriu gesagt hat, eine Theorie der Perfektion von Alltagsgegenständen.5 Sie ist, so würde ich präzisieren, eine Theorie des Designs: Wir werfen einen Blick auf den schön entworfenen Löffel, und dann essen wir unsere Suppe; wir sehen sofort, wie schön dieses Auto gestylt ist, dann setzen wir uns hinein und fahren los usw. Auf die gleiche Weise bemerken wir die formalen Qualitäten eines Textes, und dann kommunizieren wir mit ihm.6 Kunst und Poesie sind in der Perspektive dieser Theorie nur quantitativ intensivere Formen von Design. Wie schon gesagt, gibt Jakobson die linguistische Perspektive aber nicht gänzlich auf. Er stellt die Frage nach «objektiven» Kriterien im Text für die Präsenz jener kommunikativ begründeten poetischen Funktion. Seine objektiven textuellen Kriterien sind allerdings nicht Merkmale der Abweichung von der Norm, sondern Kennzeichen der Distinktion: Um jene Einstellung auf die Nachricht / den Gegenstand als solche hervorzurufen, sollen das Auto, der Löffel, der Text Distinktion im Design aufweisen. Abweichung würde ja erneut die große Kluft zwischen normaler und poetischer Rede aufreißen, die Jakobson gerade überbrücken will. Deshalb ist Jakobsons objektives Kriterium für die distinktive Design-Qualität von Texten und Gegenständen nicht die Deviation von der Norm, sondern die Technik des Schön-und-Auffällig-Machens. Seine berühmte Projektion des Prinzips der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination ist ein Verfahren, das die 289

Aufmerksamkeit auf den Signifikanten lenkt, ohne dessen normales Funktionieren zu gefährden. Jakobson denkt dabei vor allem an die traditionellen Instrumente der Versifikation und der Metrik, deren Effekte die Projektionsthese im wesentlichen umschreibt. Nun hat schon Aristoteles an der zu Beginn des vorigen Kapitels zitierten Stelle aus der Poetik (1451 a-b) gesagt, daß die apophantische Rede, kommunikativ-referierendes Sprechen, nicht zur Poesie wird, wenn sie durch Reim und Metrum schön gemacht wird. Geschichtsschreibung oder ein Traktat über den Ackerbau wird durch schönes Design nicht zum Gedicht. Im Sinne dieses alten Arguments wurde dann auch gegen die Design-Konzeption von Poesie im Namen «echter» Poesie Einspruch erhoben. Doch bevor ich mich diesem Protest anschließe, muß ich noch einmal auf das Problem der Abweichung zurückkommen. Roman Jakobson möchte die poetische Funktion ins wirkliche Leben reintegrieren, und dementsprechend ist sein linguistisches Kriterium für Poetizität nicht die Abweichung von einer sprachlichen Norm. Dennoch können beide Elemente seiner Theorie der Poetizität auch als Abweichung beschrieben werden. Zum ersten Element haben wir schon gesagt, daß es überhaupt nicht ganz normal ist, die Aufmerksamkeit auf die Nachricht als solche zu richten: je stärker die Einstellung auf die Nachricht als solche, desto stärker weicht man ab (gegebenenfalls von der Autobahn, um bei unserem Beispiel der Verkehrszeichen zu bleiben). Und was das zweite Kriterium, die Projektion des Prinzips der Äquivalenz von der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse, betrifft, so handelt es sich natürlich auch hier um eine eklatante Verletzung sprachlicher Normalität: Normalerweise sind nämlich benachbarte sprachliche Elemente kontrastiv, d. h. sie folgen aufeinander und sind so verknüpft, daß diese Folge einen Sinn ergibt; normalerweise kümmern sich sprachliche Elemente in einer Sequenz nicht um Äquivalenz wie die Elemente der paradigmatischen Achse. Durch Reim oder Alliteration verbundende Elemente sind nun aber einmal äquivalent. Da Jakobsons Projektion des Prinzips der Äquivalenz von der paradigmatischen auf die syntagmatische Achse ein fundamentales Prinzip der Konstruktion «normaler» sprachlicher Äußerungen umkehrt, ist sie durchaus ein sprachlich deviantes Verfahren. Jakobson entgeht der Abweichungsfalle also nicht. 290

13.5. Abweichung in der Normalität Mary Pratt (1977) hat gerade deswegen die Jakobsonsche Theorie der poetischen Sprache als eine «fallacy» kritisiert. Sie will die Differenz zwischen normaler und poetischer Sprache ein für allemal tilgen, so daß der literarische Diskurs als ebenso normal erscheint wie der Alltagsdiskurs.7 Aber auch die von ihr nun entdeckte Bedingung der Möglichkeit literarischen Sprechens erweist sich letztlich als eine Abweichung von Normalität, auch wenn es sich um eine pragmatische und nicht um eine strikt sprachliche Abweichung handelt und auch wenn es eine Anormalität ist, die innerhalb des alltäglichen Sprechens vorkommt: Es geht um das sogenannte Ignorieren (flouting) der Konversationsmaximen. Grice (1975) hatte beobachtet, daß man im alltäglichen Gespräch die sogenannten Konversationspostulate nicht immer einzuhalten braucht, daß man also auch in normaler Rede obskur, irrelevant, uninformativ und unehrlich sein kann, wenn man bestimmte Informationen einer höheren Ordnung mitteilen möchte, die sogenannten Implikaturen. Die Tatsache, daß man in literarischen Texten nicht die Wahrheit sagen muß, daß man dunkel usw. sein kann, ist nun nach Pratt dem flouting der Konversationspostulate zu verdanken. Der einzige Unterschied zu normaler Konversation wäre, daß in literarischer Rede die Griceschen Konversationsmaximen häufiger ignoriert würden. Literarische Rede ist damit weder abweichend noch distinktiv, sie ist bloß quantitativ different innerhalb der Normalität. Wie ich an anderer Stelle gesagt habe,8 ist es in der Tat vom Standpunkt des alltäglichen Sprechens aus nicht falsch zu behaupten, daß Hölderlin beispielsweise die Maxime der Modalität «Sei so klar wie möglich!» eklatant verletzt. Hölderlin ist überhaupt nicht klar, wenn er sagt: «Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet / Die Frücht der Erd». Denn was soll das denn heißen? Und wir könnten nun schließen, daß er uns durch diese Dunkelheit, die die Maxime der Modalität «floutet», etwas anderes mitteilen möchte. Dies ist zwar eine mögliche, aber keine besonders elegante Beschreibung des poetischen Prozesses. Ich würde einwenden, daß es dem Vorgang des poetischen Schaffens und des Poesie-Lesens sehr viel näher kommt, wenn man annimmt, daß es dort gar keine solchen Maximen gibt, 291

daß dort der ganze Mechanismus von Zwängen des «normalen» Sprechens aufgehoben ist. Wenn Gricesche Maximen im poetischen Sprechen einfach nicht gelten, dann ist Hölderlin völlig frei zu sagen, was er sagen will, nämlich: «Reif sind, in Feuer getaucht, gekochet / Die Frücht der Erd».

13.6. Ent-automatisierung und Freiheit Solange wir die poetische Rede vom Standpunkt der alltäglichen Rede und der sogenannten normalen Sprachproduktion aus betrachten, gibt es keinen Ausweg: Die poetische Rede wird dann, auf die eine oder andere Weise, wohl als Abweichung beschrieben werden müssen. Auch die klassische Distinktion ist in dieser Hinsicht eine – allerdings vertikale – Abweichung vom Weg der Normalität. Deshalb möchte ich, auch im Hinblick auf die ethischen Implikationen, vorschlagen, die Blickrichtung umzukehren und die alltägliche Rede von der poetischen Rede aus zu betrachten. Dann werden wir nämlich erkennen, daß das alltägliche Sprechen etwas ist, das unter dem Zwang von Tausenden von Gesetzen steht: Das normale Sprechen hat den grammatischen Regeln einer gegebenen Sprache zu folgen, es muß die der sozialen Situation angemessene Sprachvarietät korrekt auswählen, es muß Wahrheitsbedingungen, Konversationsmaximen, pragmatischen Bedingungen des Glückens der Sprechakte gehorchen etc. etc. Alle diese Regeln sind Reduktionen der sprachlichen Möglichkeiten des Menschen im Hinblick auf praktische kommunikative Aufgaben, d. h. sie bewirken ein vielfältiges Abweichen der Sprache von der Fülle ihrer Möglichkeiten. Nicht die poetische Rede, das normale Sprechen weicht ab. Dies ist der Kern von Coserius (1980) extrem romantischer Theorie des poetischen Sprechens: Poetisches Sprechen ist für ihn die völlig freie Sprachproduktion eines absolut freien Subjekts. Das Wichtige an Coserius Position ist dabei nicht so sehr die etwas altmodische Auffassung eines absoluten poetischen Subjekts, das die Alterität (hier als die Dimension des anderen in der sprachlichen Kommunikation verstanden) aufgibt. Ich denke, daß auch bei der poetischen Rede die ganze Konstellation des Sprechens beibehalten wird: Ich-Du-Welt (sonst hätten wir hier nämlich eine kommuni292

kative Abweichung). Das Wichtige an Coserius Position ist vielmehr, daß er die poetische Rede, dieses Sprechen ohne Zwänge, als nicht deviant betrachtet und daß sie ihm das eigentliche Sprechen ist, Sprache in ihrer «funktionalen Fülle» – in ihrer «plenitud funcional». Auch Coseriu nimmt dabei den Russisch-Prager Terminus der Ent-automatisierung auf, allerdings in seiner alten Radikalität. Dieser Terminus charakterisiert Poetizität nicht als Negativität (Abweichung), sondern als Negation einer Negation: Das Automatische ist das Negative, es ist die Präsenz von Zwängen im sogenannten normalen Leben. Dieses, die Normalität, ist Abweichung von der Freiheit. Die Negation dieses Automatischen, dieses Reduktiven, dieser Zwänge, die Abwesenheit von Negationen ist somit nichts Negatives, keine Deviation; sie ist im Gegenteil die Befreiung von dieser – «Normalität» genannten – Abweichung. Sie ist Freiheit. Dies klingt sehr ästhetizistisch, und der Ästhetizismus steht im Ruch moralischer Indifferenz. Freiheit in diesem absoluten Sinn ist in der Tat auch eine Lokalisierung jenseits moralischer Zwänge, wenn im Poetischen die Zwänge zur Wahrheit und zu praktischer pragmatischer Kooperation aufgehoben sind. Dennoch bedeutet diese «ästhetizistische» Position nicht, daß sie nicht die wichtigsten ethischen Konsequenzen hätte. Die ethischen Implikationen jenes veränderten Blicks, vom Ästhetischen – von der «Dichtung» (wie Coseriu emphatisch sagt) – auf das «wirkliche Leben», sind sogar evident: Es gibt in der Dichtung keine Zwänge in der intersubjektiven Beziehung; der Leser-Hörer glaubt generös, was man ihm sagt; nach Sartres (1948) schöner Wendung macht sich der Leser «leichtgläubig» («le lecteur se fait crédule») in einem Pakt der Großherzigkeit mit dem Autor, einem «pacte de générosité». Es gibt keine Zwänge, «wahre Welten» darzustellen; man kann über Leute sprechen, die am Morgen als Käfer aufwachen. Es gibt keinen Zwang, klar oder relevant zu sein. Was ist am Faust relevant? Goethe hätte das Relevante vermutlich in zwei Sätzen sagen können. Die Regeln der Grammatik können befolgt werden oder auch nicht. Wer sagt denn, daß wir nur eine Sprache in einem Text sprechen dürfen? Wir können gleichzeitig mehrere Sprachen sprechen, wir können uns wie Joyce selber eine Sprache zurechtmachen. Und die ethische Botschaft hiervon kann doch nur sein: Dies ist der Ort der Freiheit, 293

der Kreativität, der Generosität. Daher: An einem solchen Ort gibt es keinen Raum für Anstiftung zum Mord, für Haß oder Unterdrückung. Und – so fahren wir fort: Laßt uns diesen Ort schützen. Wir müssen ihn schützen, so wie wir den Regenwald schützen müssen. Dichtung ist nämlich der Regenwald des sozialen Lebens. Gewiß leben wir auch ohne Poesie noch für eine gewisse Zeit weiter, doch dann geht uns die gesellschaftliche Luft zum Atmen aus, das gesellschaftliche Trinkwasser, die gesellschaftliche Nahrung wird fehlen, und wir werden als Menschen zugrundegehen. Wir werden vielleicht weiterhin vegetieren, wie Ameisen, angetrieben von zwanghaften gesellschaftlichen Gesetzen, in völliger Normalität, ohne irgendeine Möglichkeit zur Entfaltung neuer und schöner Alternativen. Und deshalb und in diesem neuen Sinn – nicht im Sinne eines irgendwie höheren gesellschaftlichen Standards in einer Gesellschaft voller Zwänge – ist poetisches Sprechen distinktiv: Es ist die Distinktion der Spezies. Es sieht ganz so aus, als wären wir mit dieser letzten Antwort auf unsere Sprach-Fragen wieder bei der ersten Frage unseres Buches angekommen: bei der Frage nach dem Ursprung der Sprache.

Anmerkungen Arbeit des Geistes 1. Was ist Sprache 1 Humboldt, dessen Sprachdenken für meine Auffassung von Sprache grundlegend ist und den ich daher oft anführe, wird in diesem Buch durch die Angabe von Band und Seite der Akademie-Ausgabe, Humboldt (1903–36), zitiert. 2. Vom Schrei zur Artikulation: Über den Ursprung der Sprache 1 Vgl. Pinker (2003: 17 f.), der das Prinzip folgendermaßen umschreibt: «Inside every language user’s head is a finite algorithm with the ability to generate an infinite number of potential sentences, each of which corresponds to a distinct thought». 2 Zur Kritik an Chomskys Humboldt-Aneignung vgl. Trabant (1998 b) und die dort angegebene Literatur. 3 Chomsky, der sich sich bis vor kurzem an der seit etwa 1975 laufenden Ursprungsdebatte nicht beteiligt hatte, schickt nun in aller Deutlichkeit die Forschung auf die Suche nach Rekursion in der menschlichen Evolution, vgl. Hauser / Chomsky / Fitch (2002). 4 Vgl. z. B. Pinker (2003: 20, 32). 5 Vgl. Hjelmslev (1963: Kap. 13). 6 Jetzt in Saussure (2002: 236 f.). 7 Saussure (2002: 15–88). 8 Vgl. Bühler (1934). 9 Zum Ausdruck des Akusmatischen als des «inneren Lautes», vgl. Quillier (2002: 201 f.). 10 Zur Humboldts Champollion-Rezeption und zu Humboldts Schrifttheorie überhaupt vgl. Messling (2007). 11 Humboldt präzisiert im übrigen in seinem letzten Werk, daß auch das Hören des Sprechers zur Artikulation hinzugehört: «Denn in dem in ihr [der Sprache] das geistige Streben sich Bahn durch die Lippen bricht, kehrt das Erzeugniss desselben zum eignen Ohre zurück» (VII: 55). 12 Vgl. Hauser / Chomsky / Fitch (2002). 13 Vgl. Pinker (1994). 14 Auch das vor kurzem entdeckte «Sprachgen» FOXP 2 scheint gerade ein

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«Artikulationsgen» zu sein: Bei bestimmten Vögeln ist es offensichtlich für den gegliederten Gesang zuständig. 15 Vgl. aber Ujhelyi (1996) oder Dunbar (2003), der die affektiv-soziale Situation des grooming als grundlegend für Sprache ansieht. 16 Die Literatur zum Sprachursprung wächst in unglaublicher Geschwindigkeit, die wissenschaftlichen Aktivitäten sind kaum noch zu übersehen. Kolloquien zur Evolution der Sprache sind derzeit die prominentesten Foren der anthropologisch-linguistischen Diskussion. Ich verweise nur auf den von Sean Ward und mir herausgegebenen Sammelband (Trabant / Ward Hrsg. 2001), auf Christiansen / Kirby (Hrsg. 2003) und auf die seit 1996 alle zwei Jahre stattfindenden Tagungen der Gruppe evolang, vgl. Hurford / Studdert-Kennedy / Knight (Hrsg. 1998). 3. Fremdheit der Sprache 1 Dirk Naguschewski weist darauf hin, daß wir die bekannten fremden Sprachen, die wir lernen und die damit sozusagen schon aus dem Kreis des völlig Fremden herausgetreten sind, «Fremdsprachen» – gegenüber den «fremden Sprachen» – nennen. 2 Was nicht heißt, daß man das Wort nicht bilden könnte, z. B. um es als wissenschaftlichen Neologismus zu nutzen, wie dies Zabus (1990) tut. Es ist aber kein normales Wort der Umgangssprache, wie dies bei Fremdheit ja durchaus der Fall ist. 3 Zur Semantik von fremd vgl. Jostes (1997). 4 Allerdings sieht auch schon Dante in De vulgari eloquentia, daß jeder Mensch gerade geistig individualisiert ist und daß er gerade deswegen – im Gegensatz zu den Engeln und den Tieren – sprechen muß, vgl. Trabant (2003: 63). 5 Vgl. die im zweiten Kapitel zitierte Humboldt-Passage über die Töne der Sprache: «Solche Töne giebt es sonst in der ganzen übrigen Natur nicht, weil niemand, ausser dem Menschen, seine Mitgeschöpfe zum Verstehen durch Mitdenken, sondern höchstens zum Handeln durch Mitempfinden einladet» (VII: 583). 6 Florian Coulmas (1995) hat sich daher zu Recht gegen die romantische Übertreibung der Muttersprache gewandt. 7 Katharina die Große fördert diese linguistischen Studien, z. B. diejenigen von Pallas. 8 Er stützt sich dabei auf Bacons Einsichten in die volkssprachliche Semantik, die im nächsten Kapitel skizziert werden, siehe unten 4.2.2. 9 In der sogenannten «Brevis designatio», seinem ersten Text in der ersten Publikation der Akademie, plädiert Leibniz für die Erforschung der eurasischen Ursprache, die allen bekannten Sprachen zugrunde liege, vgl. Leibniz (1710). 10 Vgl. Ruhlen (1994).

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11 Vgl. Humboldt (VI: 119). 12 Zu diesem Ausdruck siehe das nächste Kapitel. 13 Weiteres hierzu im nächsten Kapitel. 4. Was wissen wir, wenn wir eine Sprache können? 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

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Joseph (1998). Wittgenstein (1953: § 109). Humboldt (VII: 13). Saussure (1916 / 1975: 156). Vgl. Hjelmslev (1963: 54). Vgl. Chomsky (1980). Grewendorf u. a. (1999). Pinker (1994: 57). Vgl. auch die Ausführungen in Trabant (1998: vor allem Kap. 8). Vgl. Coseriu (1988: 75). Daß die Annahme einer solchen «Wende» einer sehr begrenzten (und sehr amerikanischen) Sicht auf die Geschichte der Sprachwissenschaft entstammt, habe ich angedeutet: kognitiv, d. h. Erforschung des menschlichen Geistes, ist die Linguistik seit ihrem Anfang bei Leibniz. Dafür sprechen, wenn auch etwas dunkel, die Ausführungen in Grewendorf u. a. (1999: 27 f.). Das Deutsche ist sozusagen auf der anderen Seite des Vermögens ungenau: es unterscheidet nicht zwischen dem «könnenden Wissen» und dem «Können als Möglichsein». «Il sait chanter» und»il peut chanter» heißt beides auf deutsch «er kann singen», einmal aber ist gemeint, daß er die Technik des Singens beherrscht, ein andermal, daß seinem Singen nichts mehr im Wege steht, daß die Hindernisse weggeräumt sind, daß er z. B. rechtzeitig angekommen ist, die Krankheit überwunden ist. Vgl. Leibniz (1694 / 1985). Coseriu geht sogar so weit zu sagen, daß man als Geisteswissenschaftler diesen Leibnizschen Text eigentlich auswendig können müsse. Ich kann ihn zwar nicht auswendig, folge aber Coseriu gern in der hohen Einschätzung dieses Leibnizschen Textes, der für eine Diskussion über die Formen des Wissens einfach fundamental ist. Coseriu (1988: 206). Tatsächlich wurden ja bis ins 19. Jahrhundert hinein an den Universitäten die praktischen Sprachkenntnisse in den modernen Sprachen von Lehrern vermittelt, die auch das Tanzen und Fechten unterrichteten. Es ist daher für die Situation typisch, daß der Berliner Finanz-Senator in einem Tagesspiegel-Interview am 13. 5. 2003 Universitätsfächer in relevante und nicht-relevante einteilt – für die Finanzen natürlich.

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5. Wissen als Handeln 1 Vgl. die Fußnote über den Berliner Finanzsenator im vorigen Kapitel. 2 Auch die – mit einem Bacon-Zitat beginnende – Kritik der reinen Vernunft ist an diesem Typ des denkend auf die Welt zupackenden Be-Greifens ausgerichtet: «Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien […] in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen» (KrV: B XIII). 3 Vgl. Maas / Wunderlich (1972). 4 Diese ist in den letzten Jahre weitgehend wieder kassiert worden: die herrschende Linguistik ist zurück bei der rein kognitiven Kopfgeburt jenseits jeglicher Gesellschaft: Sprache als – möglichst angeborenes – Wissen, das bestimmt kein Handeln ist. 5 Vgl. Trabant (1994) und (2006), siehe unten Kap. 12. 6 Umgekehrt wäre es sicher nicht richtig, alle Zeichen als Aufhebungen von Wissen anzusehen. Es gibt Zeichen, die andere Funktionen haben wie z. B. «zum Handeln auffordern», «etwas in etwas verwandeln», «Ritualia» etc., vgl. Trabant (1996). 7 Diese beiden Figuren spielen eine Hauptrolle im nächsten Kapitel. 6. Die Frage nach der Sprache 1 Vgl.»un aspetto della lotta politica è stata sempre quella che viene chiamata ’la quistione della lingua’» (Gramsci 1987: 256). 2 Das Sprachdenken Pierre Bourdieus ist gänzlich der Beziehung zwischen Macht und Sprache gewidmet, vgl. Bourdieu (2001). 3 Klassisch zur «Diglossie» ist Ferguson (1959). 4 Die zahlreichen weiteren Beiträge zur Diskussion, die man in Pozzi (Hrsg. 1988) nachlesen kann, lassen sich zumeist einer dieser drei Positionen zuordnen. Machiavellis Text ist allerdings erst im 18. Jahrhundert publiziert worden und die dritte Position daher im Cinquecento eher schwach vertreten. 5 Vergleichbar scheint mir etwa die Situation des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, das sich nach den gescheiterten Reformen und Revolutionen in die hochgeschätzte deutsche «Bildung» zurückzog. 6 Erst Alessandro Manzoni wird im 19. Jahrhundert gegen diesen Klassizismus streiten, mit einer zwar modernen, aber auch provinziellen Alternative, die Ascoli und die tatsächliche historische Entwicklung des Italienischen im 20. Jahrhundert überwunden haben. 7 Die folgenden Ausführungen stimmen weitgehend mit Kap. 3.2.-3.3. von Trabant (2003) überein, einfach weil der Dialog der Sprachen ein für die moderne europäische Sprach-Kultur so grundlegender Text ist, daß er auch im vorliegenden Buch behandelt werden muß. 8 Siehe die Ausführungen zu Aristoteles in Kapitel 3 und 4.

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9 Genau das meint übrigens auch Humboldt mit seiner berühmten Bestimmung der Sprache als energeia. 10 Baldesar Castiglione: Das Buch vom Hofmann (Übers. Fritz Baumgart). München: dtv 1986: 53. 11 Bezeichnenderweise ist gravitas die Eigenschaft, die Vico immer wieder für sich als ernsten Philosophen und für die anderen «Väter» der Kultur in Anspruch nimmt. 12 Vgl. die klassische Passage im Cortegiano (der Conte spricht): «Ma il lor vero maestro cred’io che fosse l’ingegno ed il lor proprio giudicio naturale» (Castiglione 1528: 79). 13 Das Argument ist so alt wie die Philosophie: mit ihm endet, wie wir gesehen haben, der erste bedeutende europäische Text über die Sprache, Platons Kratylos. 14 Siehe oben Kapitel 4. 15 Advancement und augmenta der Wissenschaften wird auch Bacon, der Vater der Aufklärung, auf seine Fahnen schreiben. 16 Systematisch diskutiere ich das von Speroni angesprochene Verhältnis von Neuer Wissenschaft und Sprache im nächsten Kapitel. 17 Vgl. die völlig uncoole aktuelle Globanglisierung des Deutschen, von der auch im zehnten Kapitel kurz die Rede sein wird. 7. Die Mehrsprachigkeit der Wissenschaft 1 2 3 4 5

Vgl. Olschki (1919–27, I: 434). Siehe oben Kap. 5.2.1. Vgl. Trabant (2003: 102 ff.). Siehe auch das nächste Kapitel. Vgl. Jostes (2004: Kap. 2.2.). Wilhelm von Humboldt hat dies in einem Brief an Goethe vom 18. 3. 1799 folgendermaßen ausgedrückt: «Wer sich mit Philosophie und Kunst beschäftigt, gehört seinem Vaterlande eigentümlicher als ein anderer an, dies habe ich auch noch hier an Alexander und mir erfahren. Ich war vielleicht ebenso gern, vielleicht noch lieber in Paris, als er, allein er war unendlich weniger fremd hier. Mitteilung und Erwiderung fanden für ihn kaum nur ein Hindernis. Philosophie und Kunst sind mehr der eigenen Sprache bedürftig, welche die Empfindung und die Gesinnung sich selbst gebildet haben, und durch die sie wieder gebildet worden sind» (Goethe-Humboldt 1909: 62). 6 Siehe hierzu ausführlich unten Kap. 10.

8. Sprache und Revolution 1 Vgl. Schlieben-Lange (1996: 343 ff.). 2 Siehe hierzu unten die Kapitel 12 und 13. 3 Vgl. Humboldt (IV: 29).

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Siehe oben Kap. 4.2.2. Vgl. Martinet (1960: 17 f.). Siehe oben Kap. 3.2.4.2. Vgl. Trabant (2002: Kap. 3): «Condillac und die Französische Revolution». Vgl. die Dokumente zur Enquête von Grégoire in de Certeau / Julia / Revel (1975: 173–249). Dies wird z. B. auch deutlich, wenn ein paar Jahre später von den aufgeklärten «Observateurs de l’Homme» die ländliche Welt Frankreichs neben den fremden Völkern – les sauvages – und den Kindern als ein bevorzugter Gegenstand der anthropologischen Forschung anvisiert wird, vgl. Trabant (2004). Vgl. die Einleitung von Ilona Pabst und Brigitte Schlieben-Lange zu Rodoni (1793 / 94 / 1998). Die in der Revolutionszeit publizierte fünfte Ausgabe des Wörterbuchs der Académie française enthält ein Supplement mit neuen Wörtern. Das berühmteste diesem Zweck dienende Grundlagenwerk ist Destutt de Tracy (1801–15). Nachzulesen unter www.dglf.culture.gouv.fr. Dem Problem der «gebellten» deutschen Sprache ist das zehnte Kapitel gewidmet.

9. Welche Sprache für Europa? 1 Um die schwierige Gewinnung der Identität der deutschen Sprachnation geht es in Gessinger (1980: inbes. 149 ff.). 2 Vgl. BMBF (Hrsg. 2002), Jostes (2002), Trabant (2002: Kap. 13). 3 Zum Begriff der «Diglossie» vgl. Ferguson (1959). 4 Mit dem Ausdruck «Nationalsprache» bezeichne ich die in der Neuzeit entwickelten Standardsprachen der europäischen Sprachgemeinschaften (die nicht unbedingt mit Staaten koinzidieren müssen), mit «Volkssprache» hebe ich den (niedrigeren) Vulgare-Status einer Sprache gegenüber einer hohen Elite-Sprache hervor. 5 Ausführlicheres hierzu im nächsten Kapitel. 6 Vgl. hierzu Trabant (2000). 7 Genau hiergegen versucht man in Frankreich mit der Generierung französischer Wörter zur Bezeichnung dieser neuesten Gegenstände anzukämpfen. Zur französischen Sprachpolitik vgl. Trabant (2002: Kap. 4). 8 Castiglione (1528: 65). Siehe oben Kap. 6.3. 9 Baumert (2002: 108 f.). 10 Baumert u. a. (2002: 178 f.). 11 Vgl. hierzu jetzt Jostes (2006).

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10. Die gebellte Sprache: Über das Deutsche 1 2 3 4 5 6

Vgl. das Schema in Ammon (1991: 254). Vgl. Ammon (1991) und (1998). Vgl. Münkler / Straßenberger / Bohlender (Hrsg. 2006). Vgl. Stark (2000). Vgl. Weydt (2004). In dem Fernsehfilm von Harald Wötzel: «Wer rettet die deutsche Sprache?», SWR , 24. 11. 2005.

11. Sprach-Passion: Schizolinguismus und Kultur der Sprache 1 Vgl. Derrida (1996: 79). 2 Die Derrida-Zitate ohne Seitenangaben stammen aus dem Interview mit Le Monde vom 12. Oktober 2004, die Zitate mit Seitenangaben aus Derrida (1996). 3 Vgl. Staten (1985). 4 Im Cinquecento war die «Kultur» der Sprache noch «Gartenbau», coltura, siehe oben Kap. 6. 5 Vgl. Jostes (2004: 67). 6 Siehe oben Kapitel 3 und unten Abschnitt 5 dieses Kapitels. 7 Siehe Derrida (1996: 39 f., 50 f.). 8 Vgl. Canetti (1977: 86): «es war eine spät und unter wahrhaften Schmerzen eingepflanzte Muttersprache». 9 Vgl. noch einmal Koch / Oesterreicher (1985). 10 Marc Crépon hat in einem Vortrag in einem von Dirk Naguschewski und mir veranstalteten Seminar zur «Muttersprache» genau diese Parallelität der Situation und den Unterschied der Lösungen bei Kafka und Derrida herausgearbeitet, vgl. jetzt Crépon (2005). 11 Vgl. Derrida (2002). 12 Vgl. Derrida (1996: 78). 13 Vgl. Derrida (1982) und dazu Trabant (1998 a: 88 ff.). 14 Zu dieser fundamentalen aristotelische Differenz in der Sprachbetrachtung, vgl. Coseriu (1962: 285 f.). Siehe auch oben Kapitel 5.3.1. 15 Vgl. Lagemann / Gloy (1998: 124 ff.). 16 Vgl. Coseriu (1962: Kap. 1). 17 Vgl. Humboldt (VII: 65). 18 Diese Aneignung erzeugt die dritte Dimension der Fremdheit der Sprache, die Opposition zwischen einheimisch und fremd im Sinne von «ausländisch», zwischen «dem wie ich Redenden und dem anders Redenden». Um diese geht es bei Derrida nicht – oder so gut wie nicht. Siehe oben Kap. 3. 19 Vgl. Trabant (2003). 20 Vgl. zum Folgenden Trabant (2003: Kap. 2).

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Dichtung und Wahrheit 12. Sprache der Geschichte 1 Die Zahlen, die hier vor dem Zitat stehen, beziehen sich, wie in der VicoLiteratur allgemein üblich, auf die Zählung der Absätze der Scienza Nuova, die der Herausgeber der klassischen Werkausgabe Fausto Nicolini eingeführt hat. 2 Beiträge zu einer solchen einigermaßen neuen und etwas exzentrischen linguistischen Disziplin sind z. B. Stempel (1973) und Busse (1987). 3 Zu einer umfassenden Darstellung des Vicoschen Denkens vgl. Trabant (1994) und (2006). 4 Vicos Sprachursprungsszenario ist die erste der Erzählungen des Übergangs vom Schrei zur Artikulation im 18. Jahrhundert, siehe oben Kapitel 2. 5 Vgl. Vico (1924). 6 Siehe die Schemata oben in Kap. 4. 7 Vgl. hiermit Humboldts Überzeugung, daß die Vielfalt der Wörter und Sprachen das Denken bereichert: «Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der Reichthum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen; es erweitert sich zugleich dadurch für uns der Umfang des Menschendaseyns, und neue Arten zu denken und empfinden stehen in bestimmten und wirklichen Charakteren vor uns da» (VII: 602). 8 Vgl. Trabant (1986) und (1990 c). 9 «Ce discours est sans doute le seul où le référent soit visé comme extérieur au discours, sans qu’il soit jamais possible de l’atteindre hors de ce discours» (Barthes 1967: 425). 10 Viel Falsches dazu aber bei Iggers (1995: 569). 11 Im Aufsatz von Barthes ist etwa die Redeweise von der «substance du contenu», «Inhaltssubstanz» (Barthes 1967: 425), ein sicheres Indiz für die Hjelmslevsche Grundlage seiner Sprachtheorie. Hjelmslev differenziert nämlich die Saussuresche Dualität von signifié und signifiant zu dem Quadrupel von Inhaltssubstanz, Inhaltsform, Ausdrucksform und Ausdruckssubstanz. 12 Vgl. die Diskussion in Trabant (Hrsg. 2005). 13 Zumindest ist es das zentrale Problem der literarischen Ästhetik, das mitnichten als geklärt angesehen werden kann. Unterschiedlicher Auffassung sind hier etwa Küpper (2001) und Trabant (1996: Kap. 10 und 11), siehe auch das nächste Kapitel dieses Buches. 14 Vgl. Chartier (1995: 55). 15 Vgl. Schöttler (1997). In diesem Sinne plädiert auch – jenseits der Aufregungen um den linguistic turn – Christian Meier für eine literarischen

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Ansprüchen genügende «neue Geschichtsschreibung durch Historiker» (Meier 1993: 208). 13. Von der Freiheit des poetischen Sprechens 1 Vgl. Trabant (1974). 2 Umgekehrt kann das normale Sprechen abweichend sein, ohne deshalb poetisch zu sein, wie in Telegrammen z. B.: «Ankomme morgen», «Schrankkoffer Bahnhof». 3 Vgl. Schlieben-Lange (1980). 4 Vgl. die Bestimmung der poetischen Funktion in der Prager Schule: «Dans son rôle social, il faut distinguer le langage suivant le rapport entre lui et la réalité extra-linguistique. Il a soit une fonction de communication, c.-à-d. qu’il est dirigé vers le signifié, soit une fonction poétique, c.-à-d. qu’il est dirigé vers le signe lui-même» (Vachek 1960: 34). 5 Vgl. Coseriu (1980: 59 f.). 6 Es ist ja daher auch kein Zufall, daß Jakobson die poetische Funktion gerade an einem nicht-poetischen Text exemplifiziert: «l like Ike». Er stellt die Design-Qualitäten dieses Textes heraus. 7 Es gibt noch einen anderen Ausweg aus dem Dualismus: Während es für Pratt keine solche Qualität wie «Poetizität» gibt, ist für den französischen Theoretiker Meschonnic jeder Diskurs poetisch, vgl. Trabant (1990 a). 8 Vgl. Trabant (1990 b).

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Vorarbeiten Das vorliegende Buch ist hervorgegangen aus den folgenden Arbeiten, die für dieses Buch zum Teil erheblich überarbeitet worden sind: Was ist Sprache? In: Future 2 / 2000: 16 –20. Vom Schrei zur Artikulation. In: Magnus Schlette / Matthias Jung (Hrsg.): Anthropologie der Artikulation. Begriffliche Grundlagen und transdisziplinäre Perspektiven. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005: 62–84. Fremdheit der Sprache. In: Dirk Naguschewski / Jürgen Trabant (Hrsg.): Was heißt hier fremd? Studien zu Sprache und Fremdheit. Berlin: AkademieVerlag 1997: 93–114. Was wissen wir, wenn wir eine Sprache können? In: Marianne Kubaczek / Wolfgang Pircher / Eva Waniek (Hrsg.): Kunst, Zeichen, Technik. Philosophie am Grund der Medien. Münster: LIT 2004: 221–240. Wissen als Handeln und die Vermittlung der Zeichen. In: Rechtshistorisches Journal 18 (1999): 260 –269. Gloria oder grazia. Oder: Wonach die questione della lingua eigentlich fragt. In: Romanistisches Jahrbuch 51 (2000): 29–52. Mehrsprachigkeit der Wissenschaften. Ein Irrweg? In: Eva Neuland / Konrad Ehlich / Werner Roggausch (Hrsg.): Perspektiven der Germanistik in Europa. München: Iudicium 2005: 203–222. Sprache und Revolution. In: Particulae collectae. Festschrift Harald Weydt. Linguistik Online 13 (2003). Welche Sprache für Europa? In: Die Junge Akademie (Hrsg.): Welche Sprache spricht Europa? Berlin: Berliner Wissenschaftsverlag 2005: 279–293. Die gebellte Sprache: Über das Deutsche. In: Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: AkademieVerlag 2007. Sprach-Passion: Derrida und die Anderssprachigkeit des Einsprachigen. In: Susan Arndt / Dirk Naguschewski / Robert Stockhammer (Hrsg.): Exophonie. Anders-Sprachigkeit (in) der Literatur. Berlin: Kadmos 2007: 48– 65. Sprache der Geschichte. In: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2002. München: Oldenbourg 2003: 41– 65. Abweichung oder Distinktion. In: Dietmar Kamper / Christoph Wulf / Hans Ulrich Gumbrecht (Hrsg.): Ethik der Ästhetik. Berlin: AkademieVerlag 1994: 55– 68.

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Register Adelung, Johann Christoph 62, 75–76 Adorno, Theodor W. 63, 237 Albath, Maike 85 Alberti, Leon Battista 157–158, 160–161 d’Alembert, Jean le Rond 150, 152–155, 161, 166, 169 Ammon, Ulrich 210, 301 Arendt, Hannah 237 Aristoteles 66–68, 78, 82, 84, 88, 96, 113, 133, 139–142, 144–147, 160, 162–164, 174–176, 178, 187, 245, 251–252, 257, 263, 267–269, 279, 290, 299 Arndt, Moritz 206 Ascoli, Graziadio Isaia 299 Auerbach, Erich 210, 258 Augustinus 68, 156, 195, 245 Auroux, Sylvain 278 Austin, John L. 276 Bacon, Francis 15, 82, 90–91, 93, 107–108, 111, 145, 174, 178–179, 185, 260, 264, 296, 299 Barère, Bertrand 183 Barthes, Roland 269–273, 302–303 Baudelaire, Charles 281 Baumert, Jürgen 301 Beck, Ulrich 265 Bembo, Pietro 117, 124, 126–129, 131–134, 137–138, 147–148 Birnbaum, Jean 229 Boccaccio, Giovanni 124, 129, 131 Bonamico, Lazaro 131–132 Bopp, Franz 77 Borst, Arno 68 Bourdieu, Pierre 282, 298

Brague, Rémi 195 Brandt, Willy 265, 273–274 Brecht, Bertolt 280 Bühler, Karl 31, 49, 287, 295 Busse, Dietrich 302 Canetti, Elias 234, 301 Cassirer, Ernst 210, 266 Castiglione, Baldassar 125, 132– 133, 135–136, 146, 201, 299, 301 Certeau, Michel de 300 Champollion, Jean-François 42 Char, René 239 Chartier, Roger 266, 274, 303 Chomsky, Noam 25, 41, 47–48, 95–101, 103, 295, 297 Christiansen, Morten H. 296 Cicero 195 Cleese, John 205 Condillac, Etienne Bonnot de 29, 31–34, 36–39, 48, 179–182, 185, 187 Corballis, Michael C. 48 Coseriu, Eugenio 97–99, 101–103, 242, 289, 292–293, 297, 302–303 Coste, Pierre 180 Coulmas, Florian 296 Crépon, Marc 301 Dante Alighieri 11, 124–125, 129, 131, 138, 155–156, 166–167, 245–247, 296 Darnton, Robert 266 Derrida, Jacques 66, 227, 229–248, 301 Descartes, René 160, 165, 234 Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude 300

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Diderot, Denis 283 Dilthey, Wilhelm 258, 267 Domergue, Urbain 182–184 Du Bellay, Joachim 148, 187, 229, 235, 239 Dürer, Albrecht 157–159 Dunbar, Robin I. M. 296 Ellroy, James 284 Etienne, Henri 130 Etienne, Robert 130 Fellmann, Ferdinand 267 Ferguson, Charles 216, 218, 298, 300 Ferry, Jules 184, 189 Fichte, Johann Gottlieb 108 Fitch, W. Tecumseh 295 Flaubert, Gustave 232 Foucault, Michel 267 Frege, Gottlob 81, 179, 256 Galilei, Galileo 145, 157–158, 160, 162, 164–165, 169, 171–172 Geertz, Clifford 96 Gessinger, Joachim 300 Gloy, Klaus 302 Goethe, Johann Wolfgang 162, 208, 293, 299 Goldstein, Louis 48 Gramsci, Antonio 120–121, 138, 201, 298 Grégoire, Henri (Abbé) 181, 183–184, 300 Grewendorf, Günther 99–100, 297 Grice, H. Paul 278, 291–292 Grimm, Jacob 77 Grube, Gernot 108 Guilhaumou, Jacques 266 Hagège, Claude 207 Haspelmath, Martin 52–53, 76 Hauser, Marc D. 295 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 77, 109, 167–168

318

Heidegger, Martin 245–246 Herder, Johann Gottfried 15, 29, 31–32, 34–39, 49–50, 178, 189, 245–246, 256, 270 Hervás y Panduro, Lorenzo 75 Hjelmslev, Louis 27–28, 70–71, 93, 95, 271, 295, 297, 303 Hölderlin, Friedrich 291–292 Horaz 195 Humboldt, Wilhelm von 13, 16, 20, 25–28, 35, 38–47, 54, 57–62, 69– 70, 75–76, 78–79, 83, 92–93, 95, 148, 177, 189, 199, 233, 242–243, 245–246, 256–257, 262, 267–271, 275, 295–297, 299–300, 302 Hurford, James R. 296 Iggers, Georg G. 272, 303 Ionesco, Eugène 286 Jäger, Werner 210 Jakobson, Roman 209, 287–291, 303 Joseph, John E. 297 Jostes, Brigitte 233, 296, 299–301 Joyce, James 293 Julia, Dominique 300 Kafka, Franz 236, 278, 286 Kant, Immanuel 46, 111, 163, 195, 278, 282, 298 Katharina II., Kaiserin von Rußland 296 Khatibi, Abdelkebir 236 Kirby, Simon 296 Kittler, Friedrich 258 Kittsteiner, Heinz Dieter 266 Knight, Chris 296 Koch, Peter 122, 129, 132, 301 Koselleck, Reinhardt 252, 266 Küpper, Joachim 303 Lagemann, Jörg 302 Lascari 139–141, 143, 160 Latini, Brunetto 155

Leibniz, Gottfried Wilhelm 15, 18, 20, 74–78, 91, 95, 101–102, 104–106, 160, 180, 189, 296, 297 Leonardo da Vinci 157, 160 Lepenies, Wolf 211 Levinas, Emmanuel 237 Lieberman, Philip 48–49 Locke, John 15, 57, 72–74, 81–82, 91, 179–182, 185 Maas, Utz 298 Machiavelli, Niccolò 125, 130, 298 Manzoni, Alessandro 298 Markl, Hubert 210 Martinet, André 27, 178, 300 Megenberg, Konrad von 155 Meier, Christian 303 Meigret, Louis 130 Meschonnic, Henri 276, 303 Messling, Markus 295 Mommsen, Theodor 275 Münkler, Herfried 301 Naguschewski, Dirk 296 Nicolini, Fausto 302 Oesterreicher, Wulf 122, 301 Oettinger, Günther 218–219, 223–224 Olschki, Leonardo 157, 159, 164–165, 299 Pabst, Ilona 300 Pacioli, Luca 157, 159–160 Pallas, Peter Simon 75, 296 Paré, Ambroise 157–159 Petrarca, Francesco 124, 129, 131 Pinker, Stephen 84, 96, 295, 297 Platon 64–66, 82, 88, 90, 245, 264, 279, 285, 299 Pomponazzi, Pietro 137, 139–145, 147–148, 153, 160–161, 164 Pozzi, Mario 298 Pratt, Mary L. 287, 291, 303

Quillier, Patrick 295 Raffarin, Jean-Pierre 188 Recker, Marie-Luise 273 Revel, Jacques 300 Rodoni, Jean 300 Rosenzweig, Franz 237 Rousseau, Jean-Jacques 29, 31–39, 50 Ruhlen, Merritt 297 Sartre, Jean-Paul 293 Saussure, Ferdinand de 27–28, 69, 92, 94–95, 98–99, 103, 257, 270–271, 295, 297, 303 Schiller, Friedrich 135 Schlieben-Lange, Brigitte 177, 300, 303 Schöttler, Peter 303 Schopenhauer, Arthur 267 Sokrates 64–65, 82 Speroni, Sperone 126–127, 130, 133–134, 136–137, 139, 143, 160–161, 164, 176–177, 299 Spitzer, Leo 210, 281–284, 286, 288 Stark, Franz 301 Staten, Henry 301 Stempel, Wolf-Dieter 302 Stephan, König von Ungarn 17–18 Strauss, Leo 210 Studdert-Kennedy, Michael 48, 296 Tannen, Deborah 57 Thomasius, Christian 160 Tomasello, Michael 49 Tory, Geoffroy 130 Trabant, Jürgen 295–303 Trissino, Giovan Giorgio 125, 130–132 Ujhelyi, Mária 296 Vachek, Josef 288, 303 Valla, Lorenzo 125–126, 157

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Vater, Johann Severin 62, 75–76 Vergil 195 Vico, Giambattista 111, 195, 252–264, 266–268, 270, 274, 299, 302 Voltaire 231 Wagner, Richard 29 Ward, Sean 296 Weinrich, Harald 53, 63 Werner, Heinz 210

Weydt, Harald 301 White, Hayden 272 Whorf, Benjamin Lee 82–84 Wittgenstein, Ludwig 91, 179, 230–231, 246, 256, 276, 297 Wötzel, Harald 301 Wunderlich, Dieter 298 Zabus, Chantal 296 Zanzotto, Andrea 85 Zemon Davies, Natalie 266

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