Transpersonale Psychologie Und Psychotherapie - 1999 Vol.2

August 2, 2017 | Author: spiritsnake | Category: Self-Improvement, Emotions, Human, Spirituality, Empathy
Share Embed Donate


Short Description

John W. Perry: Formen der Selbstheilung in spirituellen Krisen 4 Konrad Stauss: Martin Buber und die dialogische Psycho...

Description

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie ist eine unabhängige Zeit­ schrift. Aus einem schulen-, kultur- und religionsübergreifenden Verständnis heraus bietet sie ein Forum zur Ver­ bindung von Psychologie und Psychotherapie und deren theoretischen Grundlagen mit spirituellen und transpersona­ len Phänomenen, Erfahrun­ gen und Wegen, Welt- und Menschenbildern. Sie dient dem Dialog der verschiede­ nen Richtungen, fördert integrative Bemühungen und leistet Beiträge zu Forschung und Theoriebildung.

© by Via Nova, Neißer Straße 9, 36100 Petersberg, Telefon / Fax: (06 61) 6 29 73 ISSN 0949-3174 Scan & OCR von Shiva2012

Impressum: Herausgeber und Schriftleitung: Dr. med. Joachim Galuska, Fachklinik Heiligenfeld, Euerdorfer Str. 4-6, D-97688 Bad Kissingen, Telefon (09 71) 8 20 63 69, Fax (09 71) 6 85 29. Prof. Dr. Edith Zundel, Ankerbachtalweg 4, D-53227 Bonn, Telefon (0228) 44 23 62, Fax (02 28) 4433 93. Redaktionelle Mitarbeit: Ulla Pfluger-Heist, Tilsiter Str. 10, D-88267 Vogt, Tel. u. Fax (07529) 32 55 Wissenschaftlicher Beirat: David Boadella (spirituelle Körperpsychotherapie) Michael von Brück (vergleichende Religionswissen­ schaften) Stan Grof (Holotrope Therapie, Spirituelle Krisen) Willigis Jäger (Kontemplation und Meditation) Ingo Jahrsetz (Spirituelle Krisen) Ayya Khema (1923-1997) Walter von Lucadou (Parapsychologie) Pieter Loomans (Initiatische Therapie) Arnold Mindell (Prozeßorientierte Psychotherapie) Michael Plesse (Orgodynamik) Ursula Reineke (Psychosynthese) Christian Scharfetter (Bewußtseinsforschung, Psy­ chopathologie) Theodor Seifert (jungianische Psychologie) Ken Wilber (Transpersonale Psychologie). Erscheinungsweise und Bezug: Die Zeitschrift erscheint zweimal jährlich. Bezugspreis DM 39,- zuzügl. Versandkosten. Das Abonnement gilt für das Kalenderjahr, die Be­ zugsdauer verlängert sich jeweils um 1 Jahr, wenn bis zum 30. Dezember keine Abbestellung vorliegt. Bestellungen bitte an den Verlag Via Nova. Mit der Annahme eines Beitrags zur Veröffentlichung überträgt der Autor dem Verlag alle Rechte, insbeson­ dere das Recht der weiteren Vervielfältigung und das Recht zur Übersetzung für alle Sprachen und Länder. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich ge­ schützt. Für den persönlichen Gebrauch dürfen von Beiträgen oder Teilen daraus Einzelkopien hergestellt werden. Die Aufnahme der Zeitschrift in Lesezirkel ist nicht gestattet. Hinweis: Diese Zeitschrift ist auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 5. Jahrgang, Heft 2, 1999

Editorial

3

John W. Perry:

Formen der Selbstheilung in spirituellen Krisen

Konrad Stauss:

Martin Buber und die dialogische Psychotherapie

15

Uta Dreisbach:

Die Meister-Schüler-Beziehung im Zen

27

Christof Schmidt-Lellek:

Der sokratische Dialog als Modell Überlegungen zur dialogischen Grundhaltung der Helferpersönlichkeit

33

Gerhard Wehr:

Esoterik im Christentum

49

Peter Gottwald:

Psychotherapie und die Wege zur Ichfreiheit

57

Sylvester Walch:

Was verstehen wir unter den Begriffen Ich, Ego und Selbst

76

Weltangst und Erlösungshoffnungen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend

88

Michael Utsch:

4

Buchbesprechungen

101

Fortbildungen, Tagungen und Ankündigungen

106

Autorinnen und Autoren

108

1

Letztes der zehn Ochsenbilder, die den Entwicklungsgang des Zen-Schülers zur Erleuchtung und deren Wirkung symbolisch darstellen. Aus „Der Ochs und sein Hirte". Zen-Augenblicke, Kösel 1994.

2

Editorial Wir haben erst kürzlich erfahren, daß John Perry im Oktober 1998 im Alter von 84 Jahren gestorben ist. Der Harvard-Ab solvent, Psychiater und Jungianische Psychotherapeut war einer der großen Pioniere der Transpersonalen Psychologie und ein selten weiser, gütiger und dabei bescheidener Mensch. In den letzten Jahren war er verschiedentlich in Deutschland. Seine letzte Vortragsreise 1997 mußte er, obwohl er schon bis Wien gekommen war, aus gesundheitlichen Gründen absagen. Der damals vorgesehene Vortrag ist in diesem Heft abgedruckt. Er behandelt das zen­ trale Thema seines Schaffens, die Begleitung der Selbstheilung bei psychotischen Episoden. Einige Artikel dieses Heftes kreisen um das Thema „Therapeuten und spirituelle Meister“. Widrige Umstände haben verhindert, daß ein zusammenfassender Artikel rechtzeitig fertig wurde. Er wird in einem der nächsten Hefte nach geliefert. Dafür sind uns weitere Spezialartikel aus den verschiedenen spirituellen Traditionen und Therapierichtungen willkommen. Was Gerhard Wehr zu Esoterik im Christentum schreibt, gehört in gewissen Sinne auch noch zu diesem Thema. Sylvester Walch und Peter Gottwald beschäftigen sich mit Ich, Ego, Selbst und den Wegen zur Ichfreiheit und Michael Utsch schließlich mit dem ganz aktuellen Thema der Angst und der Hoffnungen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend. Dieses Heft ist mit der tatkräftigen Hilfe von Christiane Nguyen entstanden. Wir wünschen eine angenehme Lektüre. Edith Zundel

3

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2/99, 4-14

Formen der Selbst-Heilung in spirituellen Krisen Der Erneuerungsprozeß John Weir Perry

Zusammenfassung: Die in der Psychiatrie meist als „psychotische Episoden“ eti­ kettierten extremen psychischen Zustände müssen nicht nur als Fall für psychiatri­ sche Einrichtungen betrachtet werden. Als Stadien einer spirituellen Krise können sie vielmehr als Ausdrucksformen archetypischer Kräfte verstanden werden, die sich im Rahmen eines umfassenden seelisch-spirituellen Erneuerungsprozesses manife­ stieren. Aus seiner alternativen Arbeit mit Menschen in extremen Zuständen zeigt der Autor, daß Therapie hier nicht bedeutet zu „behandeln“ oder zu „korrigieren“, sondern daß es darum geht, den seelischen Prozeß der inneren Verbilderung, durch den sich die Persönlichkeit reorganisiert, zu unterstützen und die auftauchenden archetypischen Bilder und Visionen ernst zu nehmen, statt sie zu pathologisieren. Welcher Reichtum an mythischem und rituellem Erbe in dieser Art von Prozeß ent­ halten ist, verdeutlicht der Autor an konkreten Beispielen aus seiner therapeutischen Arbeit. Schlüsselwörter: extreme Zustände; spirituelle Krise; Erneuerungsprozeß; arche­ typische Bilder; Reorganisation der Persönlichkeit.

Spirituelle Krisen Wenn man über spirituelle Krisen spricht, stößt man auch auf das Problem, daß sie die Form von „psychotischen Episoden“ annehmen können. Schon die bloße Erwähnung dieses Begriffs löst Angst aus. Diese Angst ist ganz verständlich, besonders in einem Jahrzehnt, wo die Annahme verbreitet ist, eine Psychose sei die Folge einer Gehirnstörung. Niemand hört es gerne, wenn mit dem spirituellen Prozeß dergleichen assoziiert wird. Ich verwende deshalb den Begriff „extreme Zustände“. Er ist mehr auf die Wirklichkeit zugeschnitten und kann helfen, sich von den verzerrten Assoziationen zu lösen, die durch die medizinische Terminologie hervorgerufen werden. Wie die meisten wissen, die sich mit diesem Thema befassen, war es der ursprüng­ liche Ansatz des SEN1, den spirituellen Aspekt der schweren Krisen, der extremen Zustände, zu erkennen. Innerhalb weniger Jahre stellte sich jedoch heraus, daß die 1. SEN (Spiritual Emergence Network), von Stanislav und Christina Grof gegründet, ist eine inter­ nationale Vereinigung. In Deutschland besteht ein sehr aktiver Zweig. 4

Formen der Selbstheilung in spirituellen Krisen

meisten Leute nicht wegen extremer Zustände Hilfe suchten, sondern lediglich ver­ wirrt waren von einem Erleben, das in unserer materialistischen Kultur noch unge­ wöhnlich ist. Man änderte deswegen auch den Namen. Es heißt nun nicht mehr „spiritual emergency“ („spiritueller Notfall/spirituelle Krise“), sondern „spiritual emergence“ („Entstehen/Auftauchen der Spiritualität“). Aber es gibt nach wie vor auch wirkliche Notfälle, eben extreme Zustände. Auch Therapeuten kommen manchmal an den kritischen Punkt, wo ein Klient in einen extremen Zustand abzukippen droht, und aus Vorsicht meinen sic dann, daß nur ein Psychiater weiß, wie damit umzugehen ist, und daß nur er das Recht hat, dies zu tun. Es besteht dann jedoch die Gefahr, daß diese Klienten einfach in die üblichen psychiatrischen Einrichtungen gesteckt werden, wo ihnen nur übermäßig viele Medikamente verabreicht werden und alles unterdrückt wird. In den USA gibt es zur Zeit keine Einrichtung, die in der Lage wäre, extreme Zustände als spirituelle Krisen zu behandeln oder gar versucht, sie mit psychotherapeutischen Methoden zu behandeln.

Eine alternative Art der Behandlung In den siebziger Jahren gingen wir das Problem einmal völlig anders an. Wir rich­ teten in einem normalen Haus eine Wohnung ein, die gemütlich und gar nicht nach Klinik aussah. Dort nahmen wir junge Erwachsene in einem möglichst frühen Stadium ihres akuten extremen Zustands auf. Bei ihrer Aufnahme und auch später sagten wir ihnen, daß wir ihren Zustand nicht als Krankheit oder Störung betrachte­ ten, sondern als eine notwendige Krise in ihrer Entwicklung, durch die sie hindurch müßten. Sie könnte manchmal ganz sublim, manchmal wie ein Alptraum sein, aber wir würden bei ihnen und für sie da sein und ihnen helfen, während sie da durch­ gingen. Wir gaben keine Medikamente, außer in ganz seltenen Fällen, und auch dann nur eine ganz geringe Dosis. Als wir die Behandlung so planten, fragten wir uns schon, ob das nicht zu ver­ wegen war. Mein Kollege Howard Levene und ich versprachen deshalb den Mit­ arbeitern, daß einer von uns zu jeder Tages- und Nachtzeit immer telefonisch erreichbar sein würde, um bei Krisen zu helfen, die für Laien zu schwierig schienen. In dreieinhalb Jahren kam dies jedoch nicht ein einziges Mal vor! Noch auffälliger aber war etwas ganz Unerwartetes: Wir fanden immer wieder, daß die Neuan­ kömmlinge durch die Bestätigung, die wir ihnen bei ihrer Aufnahme gaben, inner­ halb von ein bis drei Tagen wieder klar und zusammenhängend denken und reden konnten, unabhängig davon, wie „psychotisch“ sie auch vorher gewesen sein moch­ ten. Dies verwirrte uns so sehr, daß wir dachten, wir hätten vielleicht Zustände misdiagnostiziert, die in Wirklichkeit nur hysterisch waren. Aber nein, es geschah immer wieder. Die Betroffenen begannen, an ihrer psychischen Entwicklung zu arbeiten, und es wurde eher etwas wie Traumarbeit als ein sich Herauskämpfen aus einer „Psychose“. Ähnliches hatte ich schon früher erlebt, als ich in einem staatlichen Kranken­ haus mit Patienten in akuten Episoden arbeitete. Auch hier machten die Patienten innerhalb weniger Tage Fortschritte in Richtung Besserung. Damals fragte ich mich, ob dies vielleicht auf die unterstützende Wirkung der Subkoma-Insulinbehand5

John Weir Perry

lung zurückzuführen wäre, bis sich herausstellte, daß diese nur durch ihren Plazeboeffekt wirkte. Was sowohl damals als auch in unserer Wohneinrichtung tat­ sächlich passierte, war, daß sich die Klienten in einem sich schnell entwickelnden Prozeß befanden, dessen beeindruckende Bildhaftigkeit „religiös“ oder „mystisch“ geprägt war. < Am Anfang des Prozesses waren sie sehr zurückgezogen und hatten das Gefühl, daß sie sich in einem Abgrund hoffnungsloser Einsamkeit befänden und daß niemand die dramatischen Ereignisse in ihrem Innern verstehen könne, die für sie selbst und auch für die Gesellschaft oder sogar für die ganze Welt so wichtig waren. Alles, was sie bisher erlebt hatten, war ja auch abwertend gewesen und hatte ihnen ständige Niederlagen zugefügt. Wenn ihnen dann Bestätigung und Mitgefühl von warmherzigen Menschen entgegengebracht wurde, die alles über die innere Erfahrung hören wollten, war das für sie, als käme man aus der Trostlosigkeit von Sturm und Kälte in den Frieden warmen Sonnenscheins. Der Gedankenfluß, der bis jetzt aus Bildern bestand, die über die geistige Bühne drifteten, als wären sie ziel­ los vom Wind hin und her geblasen, wurde nun geordnet und machte Sinn. Und der Affekt, der so betäubt war, begann auf bemerkenswerte Weise, wieder aufzu­ leben. Es gibt zwei Dinge, die vor allem den Eindruck von Verrücktheit hervorrufen. Das eine ist die fast ständige Tendenz, sich mit jedem machtvollen Bild, das einem in den Kopf kommt, zu identifizieren. Anstatt also von der Vision einer heiligen Figur wie der Jungfrau Maria oder des Messias zu sprechen, verkündet die betreffende Person geradeheraus: „Ich bin die gesegnete Jungfrau“, oder „Ich wurde zum Messias berufen“. Solche Behauptungen sind zu übertrieben und zu grandios und erregen Anstoß beim Zuhörer. Die andere Eigenheit, die auf Verrücktheit schließen läßt, ist die nüchterne Art, auf die von schrecklichen Kosmos- oder Weltereignissen gesprochen wird, als ob es sich um kleine, unbedeutende Angelegenheiten handeln würde. Dies ist natürlich ein Zeichen mangelnden Gefühls. Es braucht oft einige Wochen, bis mit dem Affekt angemessen umgegangen werden kann, und dies geschieht in den Gesprächen und Begegnungen einer therapeutischen Gemeinschaft, wie wir sie hier beschreiben.

Körperliche Ursachen für extreme Zustände Heutzutage wird für extreme Zustände meist eine Gehirnstörung verantwortlich gemacht, oft auch fehlerhafte Gene. Wir müssen uns von solchen Aussagen nicht abschrecken lassen. Oft werden Bilder von Gehirnen gezeigt, bei denen vergrößerte Kammern eine Schrumpfung des Gehirngewebes anzeigen, aber dann stellt sich meist heraus, daß es sich hier um Langzeitfälle handelt, denen über Jahre Medika­ mente verabreicht wurden, was die eigentliche Ursache für die Schädigung war. Das Gen, das für den pathogenen Übeltäter gehalten wird, kann man stattdessen als Merkmal ausgeprägter Sensibilität verstehen. Sensibilität kann eine Anlage zum Guten und Schlechten sein. Sie ermöglicht dem Einzelnen, kreativ und ungewöhn­ lich wahrnehmungsfähig zu sein. So ein Kind erkennt oft ganz klar, was die Menschen um es herum fühlen. Wenn es dann in einer Familie lebt, in der man still­ schweigend übereingekommen ist, unangenehme Gefühle unter den Teppich zu 6

Formen der Selbst-Heilung in spirituellen Krisen

kehren, wird das Kind beschuldigt, komisch und seltsam im Kopf zu sein, oft so lan­ ge, bis es selbst glaubt, fehlerhaft und anders als andere zu sein und dann wirklich krank wird. Hinter der Suche nach körperlichen Ursachen für spirituelle Krisen verbirgt sich ein starkes Wunschdenken. Wir leben in einer sehr materialistischen Kultur, in der geistige Angelegenheiten vage und nebulös, sogar unwirklich erscheinen. Wenn sich Veränderungen in der Neurochemie feststellen lassen, wird ohne Zweifel angenom­ men, daß sie die Auslöser sind, anstatt daß man sie als die natürlichen Begleitum­ stände emotionaler Zustände sieht. Denken Sie z. B. einmal daran, wie eine gewöhn­ liche Emotion auftritt. Wenn man sich über eine Beleidigung aufregt, wird das Gesicht plötzlich dunkelrot und heiß, die Beine zucken herum, und niemand würde die Behauptung aufstellen wollen, daß der Wutzustand durch diese physischen und neurochemischen Veränderungen verursacht worden wäre. Diese sind nicht die Ursachen, sondern vielmehr die natürlichen Begleitumstände. Veränderte Bewußt­ seinszustände, ebenso extreme Zustände, können mit Streß einhergehen, sie können in einem einzelnen Gespräch auftreten, um sich innerhalb einer Stunde wieder auf­ zulösen. Aber die Angst vor ihnen kann bewirken, daß sie länger andauern, während bestätigende Unterstützung helfen kann, daß sie vorübergehen. Von extremen Zuständen meint man gewöhnlich, daß sie mit gefährlichen und beängstigenden Gefühlsausbrüchen verbunden sind. Allein die Idee, sechs Klienten in akuten Phasen in einem Gebäude unterzubringen, das wie ein Einfamilienhaus gemütlich eingerichtet ist und unverschlossene Türen hat, scheint den meisten Therapeuten und Psychologen absolut unmöglich. Meist entsteht die Phantasie von einer lauten, chaotischen und gefährlichen Station, wo häufig Wut oder Gewalt aus­ bricht und das Personal ständig in Atem gehalten wird, das seltsame Verhalten der Klienten unter Kontrolle zu halten. Aber ich hatte schon bei meiner Tätigkeit in einer staatlichen Klinik anderes erlebt. Wir machten dort ein Experiment, bei dem allen Patienten gleich aussehende Tabletten gegeben wurden. Aber nur die Hälfte davon waren Beruhigungsmittel. Weder das Klinikpersonal noch die Patienten wuß­ ten, wer was bekommen hatte. Nun wäre ja die konventionelle Erwartung, daß die Patienten, denen keine Medikamente verabreicht wurden, sich seltsam verhalten würden und die meiste Zeit außer Kontrolle wären. In Wirklichkeit bestand jedoch ein so geringer Unterschied zwischen beiden Gruppen, daß wir nicht sagen konnten, wer das Medikament bekommen hatte und wer nicht!

Die Wohnsituation und die Art der Behandlung Als die Idee von der Wohneinrichtung ins Leben gerufen wurde, waren wir ziem­ lich zuversichtlich - aber nicht ganz. Wir wußten noch nicht, ob die Klinik­ umgebung nicht vielleicht ein Gefühl von Gehaltensein gab, das wir in einem nor­ malen Haushalt nicht bieten könnten. Natürlich war das Gegenteil viel eher der Fall. Eine Klinik ist aus vielen Gründen der schlimmste Ort, hauptsächlich deshalb, weil sie den Patienten die klare Botschaft gibt, daß es sich bei ihren Erfahrungen um eine Krankheit handelt, für die man medizinische Experten braucht, um ihr Einhalt zu gebieten. Und genau das bringt die Menschen erst in die Verfassung, sich hilflos und allein und mit ihrem Geisteszustand nicht akzeptiert zu fühlen. Es kann auch zu der 7

John Weir Perry

explosiven Wut führen, die dem Klinikpersonal das Leben oft so schwer macht und zum Burn-Out führt. In einer wohnlichen und verständnisvollen Umgebung ist sie nicht so häufig, und wenn sie vorkommt, kann man sehen, daß sie eigentlich ein schon lange bestehendes Problem ist, das nur verdrängt war und das nun bearbeitet werden kann. In unserer Wohneinrichtung legten wir Wert darauf, daß es genug Raum für wirk­ lich empathisches Zuhören und Reagieren gab. Jedem Klienten wurde eine Person aus dem Team zugeteilt, die man am besten als „Vertrauensperson“ bezeichnen könnte, denn die Bezeichnung „Therapeut“ würde andeuten, daß die entsprechende Person professionell ausgebildet war. Unser Team war para-professionell und lernte nach Art der Lehrlinge „on the job“. Die zugeteilte Person und der Klient trafen sich mindestens zweimal die Woche, meist dreimal, um den Fluß der Bilder, Gefühle und Erfahrungen von Tag zu Tag ganz genau zu verfolgen. Die Art der Therapie oder die Art, eine Vertrauensperson zu sein, ist keine fest definierte Sache. Es ist grundsätzlich nicht die Absicht zu „behandeln“ oder irgend­ etwas zu „korrigieren“. Die Initiative geht von der Psyche des Betroffenen aus, die sich in ihrer eigenen Geschwindigkeit durch das Spiel der Bilder hindurch bewegt. Sie braucht nicht geschubst und gezerrt zu werden, besonders nicht aus einer ermah­ nenden Haltung heraus. Der Prozeß bewegt sich mit großer Geschwindigkeit von selbst. Das Ziel ist, den Fluß der Verbilderung und der Gefühle zu ermutigen und die Bedeutsamkeit der inneren Erfahrungen anzuerkennen. Wenn die Übertreibungen und die Inflation zu kraß scheinen, fühlt man leicht den Impuls, dies zu korrigieren und die Person wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Das ist aber nicht nötig, denn wenn die Zeit reif ist, korrigiert die Psyche ihre eigenen Verzer­ rungen auf ihre Weise. Interpretationen nach einer bestimmten psychologischen Theorie sind auch nicht notwendig, sondern nur etwas, was dem ein bißchen ähnelt: der emotionale Kontext eines Bildes drückt sich dann ganz klar aus, wenn die Psyche selbst dies veranlaßt, und dies wird jedesmal aufgezeigt. Ich spreche in die­ sem Zusammmenhang nicht von „Interpretation“, sondern von dem „Herstellen von Verbindungen“, die sich in diesem Moment gerade manifestieren. An diesem Punkt möchte ich hinzufügen, daß es bei dieser Art Therapie acht Wochen dauerte, durch die ganze Erfahrung hindurchzugehen. Als die öffentlichen Gelder auf dieses Zeitlimit angesetzt wurden, schien uns das viel zu kurz. Als das Programm jedoch anlief, stellte sich heraus, daß die Klienten dann doch auch bereit waren, mit einer neuen Geisteshaltung in ihr Leben zurückzugehen. Alles, was bisher beschrieben wurde, kann so verstanden werden, daß zunächst günstige Bedingungen für die eigentliche therapeutische Arbeit geschaffen wurden. Was heilt, ist dann ein Prozeß, der aus der Tiefenpsyche des Klienten kommt. Ich habe dies den „Erneuerungsprozeß“ genannt. In diesem Rahmen wird Geist als die Energie verstanden, die auf Ganzheit hindrängt, und die Archetypen sind die Mittel dazu.

Die Bedeutung der Archetypen Die archetypischen Bilder sind für die meisten Leute wohl das Unwahr­ scheinlichste an der ganzen psychologischen Theorie. Ein normales Biologenhirn 8

Formen der Selbst-Heilung in spirituellen Krisen

kann nicht akzeptieren, daß man solche Bilder quasi von Geburt an mitbekommt. Und selbst wenn ein solcher Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin das Zugeständnis machen würde, daß es sich um innere Bilder handelt, würde er oder sie mit der Frage kommen, wofür sie denn gut sein sollen. Wo sollen Mythos und Ritual herkommen, wenn sie nicht, wie in der Welt der Wissenschaft angenommen wird, dadurch geschaffen wurden, daß uralte Traditionen, die heute nur noch in der Literatur existieren, wiederbelebt wurden. Diese Gedanken sollten nicht nur als Fragen behandelt werden, die Ungläubige den Gläubigen entgegenhalten. Sie weisen vielmehr auf ein Thema hin, das immer wieder überdacht werden muß, vor allem in unserer heutigen Kultur, die so sehr dar­ unter leidet, daß ihm so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. In den Jahren meiner Ausbildung am Jung-Institut hatte ich alle zwei Wochen Gespräche mit C. G. Jung. Nach einigen Monaten Analyse, in denen meine Psyche mit Träumen aus der Tiefenschicht sehr aktiviert wurde, beschwerte ich mich bei ihm, daß die Symbolik der Träume zwar reich und bedeutsam wäre, daß ich aber Schwierigkeiten hätte, ihre Verbindung zu meinem Alltag zu sehen. In seiner Antwort verdeutlichte er mir etwas, das mir für den Rest meines Lebens im Gedächtnis blieb. Er sagte: „Wenn Sie, sagen wir mal, von einem Drachen träumen, reicht cs nicht, ihn nur als etwas zu sehen, das in Ihrem Innern ist. Schauen Sie, was sich in Ihrem emotionalen Umfeld so anfühlt. Es könnte z. B. die emotionale Befindlichkeit Ihrer Frau sein, die sich von Zeit zu Zeit bemerkbar macht.“ Dies war einer der Momente, wo er eines seiner Jung-Dinger drehte: Er griff eine Wahr­ nehmung aus der Luft, und ich hatte wirklich gerade so einen Traum geträumt und eine Unstimmigkeit mit meiner Frau gehabt. Die Grundaussage ist die, daß das Traumbild eine Emotion darstellt, die nicht nur im Innern, sondern auch zur gleichen Zeit im eigenen emotionalen Umfeld erfahren wird. Jedes archetypische Bild, das im Unbewußten aktiv ist, wird dann auch in das emotionale Umfeld projiziert. Dies wurde mir zum Schlüssel für alles, was meine Arbeit seitdem aus­ macht. Ein Beispiel in Form eines sehr einfachen Traumes kann genauer darstellen und erklären, wie alles funktioniert. Ein junger Mann träumte, er wäre der Gefangene eines schwarzen Königs, der ihm sagte, er würde freigelassen, wenn er, der Träumer, ihm den abgeschnittenen Kopf des weißen Königs brächte. Er wachte mit starken Bedenken auf: der weiße König mußte der Gute, der schwarze der schlechte sein. Trotz dieser Bedenken malte er jedoch Bilder, die den Anweisungen des Traumes folgten. Aber die Könige schienen mit nichts Realem in Verbindung zu stehen. Er überlegte, ob sein radikales politisches Engagement ins Bild paßte, das von seiner Familie abgelehnt wurde. Aber es erschien ihm nicht überzeugend. Während der nächsten Wochen fiel ihm jedoch ein, daß er durch seinen Vater ein sehr negatives Bild von sich selbst vermittelt bekommen hatte und durch seine Mutter ein überzo­ gen positives. Das Bild des Vater bewirkte, daß er sich eingeschränkt und verkrüp­ pelt fühlte, das der Mutter, daß er sich übermäßig heldenhaft, mit besonderer spiri­ tuellen Begabung ausgestattet und gewissermaßen aufgebläht fühlte. Dies, fand er, paßte wunderbar in die Traumbilder: das dunkle war das Bild des Vaters, das ihn gefangenhielt, das helle das Bild der Mutter, die ihre unrealistischen Erwartungen an ihn stellte. 9

John Weir Perry

Es muß übrigens beachtet werden, daß es sich hier nicht um Elternbilder auf der Objektstufe handelt, sondern um Selbstbilder, die ihm von seinen Eltern aufge­ drückt wurden, also um Bilder auf der Subjektstufe. In Mythos und Ritual wurden die sakralen Könige zwar „Vater der Menschen“ genannt, doch die Betonung lag vielmehr darauf, daß sie die Personifikation der sakralen Mitte waren, einer kosmi­ schen Mitte oder einer kosmischen Achse, und gleichzeitig die Personifikation der Seele des Reiches und der Menschen, ihrer Mitte. Dies also ist das archetypische Selbstbild, und wenn dieses sich tiefgreifend transformiert, wird das archetypische Bild des Königs hervorgerufen, das den Prozeß dann personifiziert. Ein anderer bemerkenswerter Aspekt ist hier, daß so ein Traum nicht einfach nur auf ein Problem hinweist, sondern gleichzeitig das Mittel zur Lösung liefert. In die­ sem Fall wird angedeutet, daß er seinem so negativen Selbstbild (vermittelt durch den Vater, vor allem was den Körper betrifft) dadurch entfliehen kann, daß er zuerst das übermäßig aufgeblasene Selbstbild opfert, das seinen Ursprung in den Hoff­ nungen hat, die seine Mutter in ihn setzt (den weißen König töten, und zwar dadurch, daß ihm der Kopf abgeschnitten wird). Ein nur wenig älterer Mann, der an einer Universität lehrte, berichtete mir von einer frustrierenden Erfahrung während einer Vorlesung vor vielen Studenten. Er war in Erregung geraten, und seine Gedanken rasten so sehr, daß er sich wie neben sich stehen sah und beobachtete, wie er da diesen rasenden Gedankengang produ­ zierte. Er war davon so geschockt, daß er einen Panikanfall bekam. Er schwitzte und saß auf der äußersten Stuhlkante, als er voller Angst diese Geschichte hervorspru­ delte, doch gegen Ende war er wieder entspannt, gefaßt und saß zurückgelehnt. In der Nacht darauf hatte er einen Traum: Er ging auf dem Bürgersteig und sah an einem Telefonmast empor. Dort an dem Querbalken sah er seinen Mentor. Er hing dort wie gekreuzigt, sah zu ihm runter und lächelte. Der zweite Teil ist eine Beerdigungsszene. Der Träumer sieht seinen Mentor tot daliegen, doch für einen Augenblick schaut er ihn an und zwinkert ihm zu. Sofort fängt der Körper an zu schrumpfen, rollt sich in Embryostellung zusammen und sieht ziemlich affenartig aus. Nun war dieser Mentor für ihn das Vorbild eines idealen Professors und Wissenschaftlers, genau das Bild, wie er selbst einmal in seiner Universitätskarriere sein wollte. Ich brauche wohl kaum zu erklären, daß dieser Mentor, dem er nacheifern und den er sogar imitieren wollte, sein idealisiertes Selbstbild repräsentierte. Es war jedoch ein falsches, denn es entsprang nicht seinem eigenen Wesen, sondern dem des Professors. Um der eigenen wahren Entwicklung willen mußte es daher geopfert werden. Dies ist das Werk des archetypischen Transformationsprozesses, der seinen gewohnten Weg durch die Folge von Tod und Wiedergeburt nimmt. Der Traum ist sehr deutlich. Der Vorfall während der Vorlesung war der erste Erkenntnisblitz, das Problem zu durchschauen: er sah nämlich den Sprecher als nicht völlig mit sich iden­ tisch. Die Angst war das Alarmsignal dafür, daß etwas nicht stimmte, wobei sie aber die Sache selbst gleichzeitig auch verdeckte, oder vielmehr, sie halb enthüllte, halb verbarg. Wenn Probleme mit dem Selbstbild drängend sind und man sich um sie kümmern muß, kann man allgemein sagen, daß die Psyche ihre eigenen Mittel hat, dies zu bewerkstelligen, und zwar mit eben den Mitteln, die ich aufgezeigt habe. Von meiner 10

Formen der Selbst-Heilung in spirituellen Krisen

psychotherapeutischen Arbeit her habe ich sogar den Eindruck, daß nur diejenigen, die sich diesem archetypischen Prozeß unterwerfen, eine wirklich tiefe Transfor­ mation des Selbstbildes erlangen. Hiermit meine ich natürlich nicht nur Verände­ rungen im archetypischen „Selbst“ und seinem Bild, wie Jung sic definiert hat, sondern Veränderungen im persönlichen Selbstbild auf der Ebene des Ich-Bewußtseins. Um dies zu verdeutlichen, habe ich Beispiele mit sich steigernder Problematik ausgewählt. Das erste war der Traum einer Person, die Beschwerden auf Normalniveau hat, das zweite ist von einer Person im akuten Angstzustand. Ich möchte jetzt zeigen, wie der entsprechende Prozeß in einer Person aussieht, die sich in einem „extremen Zustand“ befindet. Dieser Zustand wird gewöhnlich als psychotisch angesehen, obwohl er in Wirklichkeit nur ein drastischerer „veränderter Bewußt­ seinszustand“ ist. Auch in einem solchen Durcheinander ist der Prozeß archetypisch und geht einher mit tiefgreifenden Veränderungen im Selbstbild. Es entspricht mehr der Wirklichkeit, ihn als einen visionären Zustand zu bezeichnen, als ihn eine desintegrative Psychopathologie zu nennen. In diesem Licht gesehen kommt Erstaun­ liches zum Vorschein. Eine junge Frau beschreibt: Sie findet sich im Mittelpunkt der Erde, im Garten Eden. Sie war gestorben und alle um sie auch. Sogar die Zeit kehrte zum Ursprung zurück, wurde Schöpfungszeit. Und die Menschen wurden zu Menschen des Uranfangs. Sie ist die Urmutter Eva selbst. Der Kommunismus droht hereinzubrechen. Sie ist im Zentrum, gefangen zwischen entgegengesetzten Kräften. Männer und männliche Kultur werden abgeschafft. Sie ist wie Christus und wird von Jüngern angebetet. Sie ist göttliche Schöpferin und Mutter Erde selbst. Sie die Königin Elisabeth und verheiratet mit dem Prinzen des Friedens. Die Hochzeit ist auch zwischen Eva und Christus. Als Neue Jungfräuliche Mutter gebiert sie den Neuen Erlöser. Sie ist berufen, die Bibel mit einem Evangelium der Liebe neu zu schreiben. Es wird ein Neues Jerusalem geben, die Himmlische Stadt des Friedens. Diese wird Weltmitte sein, in der Form eines Kreuzes aus reinem Gold, die Blätter ihrer Bäume heilen die Völker. Ich mußte solchen Erlebnisberichten einige Jahre zuhören, um zu erkennen, wel­ cher Reichtum an mythischem und rituellem Erbe in dieser Art von Prozeß enthal­ ten ist. Und dann konnte ich kaum glauben, wie genau der Grundriß dieser Bilderfolge den bedeutendsten der antiken Riten widerspiegelt, das Neujahrsfest. Es wurde vor allem in den Stadtstaaten des Nahen Ostens gefeiert. In seinem Ritus erneuerte sich das Jahr, der sakrale König und das ganze Königreich. Die Elemente dieses Prozesses, die typischerweise in den akuten visionären Zuständen Vorkom­ men - die Rolle der kosmischen Mitte, Tod und Wiedergeburt, die Rückkehr der Zeit zum Anfang der Schöpfung, Themen der Weltzerstörung und Welterneuerung, heilige Hochzeit und messianischer Auftrag -, sind getreue Reproduktionen dieses 11

John Weir Perry

uralten Ritus. Verschiedene Teile dieser Zeremonie haben die dazwischenliegenden fünf Jahrtausende in Form bekannter Riten wie Initiation, Taufe und Hochzeit über­ dauert, wurden jedoch vom Gesamtkontext abgetrennt. Wir müssen uns nur an die Hochzeiten in bestimmten Ländern erinnern, wo das Brautpaar „König und Königin für einen Tag“ genannt wird. Für mich ist dieser Erneuerungsprozeß das größte Zeugnis für die Idee eines archetypischen Erbes aus der Vergangenheit. Wie um alles in der Welt wurde dieser innere Prozeß in unsere psychische Struktur enkodiert? Der Ritus drückt die Dynamik der Tiefenpsyche aus. Wir kennen ihn seit fünftausend Jahren. Damals rief er die ersten Anfänge der Stadtkultur ins Leben. Auch heute ist er für kulturellen Wandel wesentlich. Wenn wir auf diese Weise von archetypischen Bildern sprechen, sollten wir darauf achten, daß wir sie nicht wie isolierte Statuen in einem Museum betrachten, sondern daß zur jedes dieser Bilder als zu einem Prozeß gehörend verstehen müssen. Man kann sagen, daß ein archetypisches Bild fast nie außerhalb des Kontextes einer Serie auftritt. Und dann ist es der Prozeß, der sich ganz auffällig von Zeitalter zu Zeitalter und Mensch zu Mensch wiederholt. In unserem Beispiel ist das Motiv sehr deutlich, das im Erneuerungsprozeß den Uranfang der Zeit ausdrückt: Auch in anderen Fällen stellt sich am Anfang des Zustands das Gefühl ein, gestorben zu sein, zusam­ men mit dem Bild, zum Uranfang der Zeit im Garten Eden zu sein, oft als Sohn oder Tochter von Adam und Eva. In dieser Beziehung hören sich die Menschen alle sehr ähnlich an. Dies zeigt auffällig, wie regelmäßig diese Verbilderung ist. Die Bedeu­ tung des einzelnen Bildes in bezug auf das Gefühlsleben des Betreffenden ist jedoch vollkommen unterschiedlich und jedesmal einzigartig. Der Prozeß der jungen Frau in unserem Beispiel begann damit, daß sie eine Kreuzigung malte, bei der eine gekrönte Schlange am Kreuz hing und Dolche auf die Mitte zeigten. Als ich sie fragte, was dies für sie bedeutete, tat sie es ab; es sei ledig­ lich die Schlange auf dem Abzeichen ihrer Krankenschwester. Etwa eine Woche spä­ ter fing sie jedoch an, wütend auf ihren Beruf zu sein, dann richtete sich ihre Wut auf alle Wissenschaften und schließlich besonders auf alle maskulinen Belange wie z.B. die Industrie. Als mir der Gedanke kam, daß all dies in ihrem letzten Bild ausge­ drückt war, und ich es ihr sagte, stimmte sie dem zu und schimpfte während der ganzen nächsten Gespräche darüber. Wir plündern Mutter Erde, erklärte sie, wir müssen ihr alles wiedergeben, was wir ihr geraubt haben, und die Industrie- und Handelsgebäude sollen wir den Familien als Wohnungen geben und alle Grund­ stücke nur noch für Landwirtschaft und Nahrungsmittelanbau nutzen. Als ich sie fragte, warum all dies jetzt ein so ungeheuer wichtiges Thema für sie geworden wäre, beschrieb sie ihre Beziehung zu ihrer Mutter. Ihr Vater war vor langer Zeit gestor­ ben, so daß sie und ihre Mutter zusammenlebten und die Mutter sie in vielem als der Mann in der Familie behandelt hatte. Dies hatte ihr ein Selbstbild vermittelt, das falsch und vollkommen unakzeptabel war. Es war dann klar, daß dies der Grund für ihr starkes Bedürfnis war, ihr Selbstbild mit ihrem eigenen wahren weiblichen Wesen wieder in Einklang zu bringen. Ich hoffe, mit der kurzen Betrachtung, wie archetypische Bilder wirken und wie sie jedesmal die Persönlichkeit reorganisieren, die anfangs gestellten Fragen nach ihrer Bedeutung beantwortet zu haben. Wir haben in Amerika eine viel verwendete 12

Formen der Selbst-Heilung in spirituellen Krisen

Redensart, die ihren Ursprung in der Reaktion der Armee auf Anträge auf Reisekostenerstattung hat: „Ist diese Reise notwendig?“ Wenn man dies auf die innere Reise bezieht, ist die Antwort hier ein entschiedenes: Ja! Wie dem auch sei, es gibt hier eine Überlegung, die leicht Zweifel aufkommen läßt. Sie hat mit einer ähnlichen Frage zu tun: Warum hat dann nicht jeder solche archetypischen Bilder in seinen Träumen? Vor vierzig Jahren, beim monatlichen Treffen einiger Dutzend Jungscher Analytiker, stellten wir uns die Frage: Wie viele unserer Analysanden kommen wirklich in unserer praktischen Arbeit dazu, an dem archetypischen Material zu arbeiten? Wir überlegten sorgfältig und mußten dann, etwas betreten, zugeben, daß vielleicht einer von vieren dies tut. Wir fragten dann weiter: Wie viele aus diesem einen Viertel aller Fälle gehen nun wirklich durch den archetypischen Individuationsprozeß? Und wieder war, nach sorgfältiger Über­ legung, die übereinstimmende Antwort: einer von vieren. Das führt zu dem Schluß, daß in der Praxis nur jeder sechzehnte die vollständige Individuationserfahrung macht, die von C. G. Jung aufgezeigt wurde. Und wir sollten bedenken, daß dies bei einem Klientel ist, das insofern schon etwas außergewöhnlicher ist, als diese Men­ schen sich eine Jungsche Therapie aussuchen! Wir waren überrascht, aber nicht bestürzt. Verschiedene Dinge über die Gewohnheiten der Psyche müssen herausge­ strichen werden. Archetypische Träume sind das Kennzeichen eines höchst aktivierten Unbe­ wußten. Jemand, der eine rasche Folge solcher Träume hat, ist in einem mehr oder weniger stark veränderten Bewußtseinszustand. Was man gewöhnlich als Psychose bezeichnet, wird in letzter Zeit ein „extremer Zustand“ genannt, um die sehr hohe Aktivität anzuzeigen. Einige Menschen tendieren dazu, sehr oft eine aktive Psyche mit solchem Bildmaterial zu haben, andere haben solche Erfahrungen selten oder nie. Am häufigsten gibt es die Menschen, die solche mythenähnlichen Träume ab und zu haben, d.h. nur zu bedeutenden Wendepunkten im Laufe ihrer Entwicklung: in ihrer frühen Adoleszenz, ihren ersten Liebeserfahrungen, ihren späten Zwan­ zigern, zur Geburt eines Kindes, in ihrer Midlifekrise und bei der Vorbereitung auf ihr Lebensende. Wie Rudolf Steiner und andere aufgezeigten, findet sich am Ende eines Zyklus von sieben Jahren jeweils folgendes: Eintritt in die Gesellschaft („socializing“) mit 7 Jahren, Pubertät mit 14, Erwachsensein mit 21. Ich glaube auch, man könnte zeigen, daß eine Jungsche Analyse meist mit 28 Jahren begonnen wird. Bucke schreibt in „Kosmisches Bewußtsein“, daß Erleuchtungserfahrungen haupt­ sächlich um das 35. Lebensjahr herum gemacht wurden, wie er bei der Betrachtung der Geschichte der Erleuchtung herausfand. Ich glaube, die Neigung zu einer lebhaften Aktivität der archetypischen Psyche ist bei einzelnen Menschen eine Begabung, ein Talent, das man mit kreativen Begabungen wie Dichten, Kunst oder Musik machen vergleichen könnte, oder mit einer Begabung für Philosophie, Mathematik oder Kosmologie. Wie bei all diesen Begabungen bedeutet es natürlich nicht, daß man ein weniger wertvoller Mensch oder weniger gut entwickelt ist, wenn man diese Art der Aktivität der archetypi­ schen Psyche nicht hat. Und wenn man eine solche Aktivierung der Tiefenpsyche haben möchte, kann man sie dann „anstellen“? Einige Psychotherapeuten würden das gerne mit bestimmten Patienten tun, die eine inaktive Psyche zu haben scheinen. Die Antwort 13

John Weir Perry

hängt davon ab, welche Sicht man von der menschlichen Natur hat und was man für sie für nötig befindet. In meine Sicht paßt so etwas nicht, und ich glaube, ich kann sagen, in C. G. Jungs Sicht auch nicht. Ich kannte ihn als einen Menschen, der gro­ ßen Respekt hatte für das, was die Natur zu jeder Zeit im Wachstum eines Menschen bewirkt, und so war er zufrieden damit, lediglich das zu unterstützen, auf das jede Psyche selbst hinstrebte, ohne irgendwelche Erwartungen und voreingenommene Präferenzen durchzusetzen. Meiner Meinung nach ist es die Lebendigkeit der Beziehung zwischen Analytiker und Analysand, die ausschlaggebend ist für ein spontanes Erwachen der Tiefenaktivität der Psyche. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Christiane Nguyen

Summary: In psychiatry “extreme States” are usually spoken of as “psychotic breaks” and considered as cases for customary psychiatric facilities. However, as stages of a spiritual crisis they can also be interpreted as the expressions of archetypal forces which emerge in a psychological and spiritual rcnewal process. Front his alternative work with people in “extreme States” the author points out that here therapy does not mean “treatment” or “corrcction” but that it is rather important to Support this inner process of imagination which reorganizes the personality and to take seriously the emerging archetypal images and visions, rather than to pathologize them. The author refers to examples of his therapeutic work to demonstrate the rieh mythological and ritual heritage which is embedded in this process. Key words: extreme States; spiritual emergency; renewal process; archetypal images; reorganization of personality

14

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2/99,15-26

Anthropologische Philosophie der dialogischen Psychotherapie K. Stauss, Bad Grönenbach

Zusammenfassung: Es wird die Dialogische Psychotherapie als eine Therapie der Begegnung, die in der Anthropologischen Philosophie von Martin Buber begründet ist, beschrieben. Neben der Darstellung der wesentlichen Merkmale des Dialogischen Prinzips wird auf klinisch relevante Themen wie Störungsbegriff, Widerstand, Verantwortung, Beziehungsbasisbedürfnisse, spirituelle Sichtweise der Störung eingegangen. Die Therapie aus der dialogischen Perspektive wird erörtert und in einem Dialogischen Therapierational zusammengefaßt. Schlüsselwörter: Dialogische Psychotherapie, Ich-Du-Beziehung, Störung, Widerstand, Verantwortung, Beziehungsbasisbedürfnisse, Heilung aus Begegnung. Dialogische Psychotherapie ist eine Therapie durch Begegnung, unabhängig von der angewandten Methodik oder Technik. Sie propagiert, daß alles wirkliche Leben Begegnung ist. Das Ziel dieser Therapie ist die größere Beziehungsfähigkeit des Patienten. Der therapeutische Prozeß, um dieses Ziel zu erreichen, ist die spezifische Begegnung zwischen Therapeut und Patient. Die Grundlage dieser Therapie ist die Anthropologische Philosophie des Therapeuten. Die philosophische Grundlage die­ ser Anthropologie der Begegnung legte Martin Buber. Die Grundfrage, die sich Buber stellte, lautete: Wer ist der Mensch, wie kann er sich in der Welt zurechtfinden. Buber war klar, daß die Antwort dieser Frage nicht im menschlichen Subjekt liegt. Die Antwort muß in der Ich-Du-Relation gefunden werden. Die Welt ist dem Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung. Die Haltung des Menschen ist zwiefältig nach der Zwiefalt der Grundworte, die er sprechen kann. Die Grundworte sind nicht Einzelworte, sondern Wortpaare. Das eine Grundwort ist das Wortpaar Ich-Du. Das andere Grundwort ist das Wortpaar Ich-Es. Das Grundwort Ich-Du kann nur mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Das Grundwort Ich-Es kann nie mit dem ganzen Wesen gesprochen werden. Es gibt kein Ich an sich, sondern nur das Ich des Grundwortes Ich-Du und das Ich des Grundwortes Ich-Es (Buber, 1984, S. 7). Der Ausgangspunkt seiner Philosophie ist nicht die Sphäre der „Subjektivität“, sondern die Sphäre „zwischen“ den Wesen. Buber setzt weder einfach beim Men15

Konrad Stauss

sehen noch bei der Welt an, sondern bei diesem Dazwischen - der relatio, bei der Beziehung zwischen Mensch und Welt. Alles wirkliche Leben ist nach Buber Begegnung. Die Ich-Es-Relation kennzeichnet für Buber die Erfahrung der Gegenstände-Objekte, ohne die der Mensch nicht leben kann, die ihm aber letzt­ endlich im Grunde fremd bleiben müssen. In der Ich-Es Haltung ist der andere ein Mittel zum Zweck. Sie ist ein notwendiger Aspekt des menschlichen Lebens. Die Ich-Es Haltung wird nur dann problematisch, wenn sie unsere ganze Existenz beherrscht, wenn wir sie auch dann einnehmen, wo eine wirkliche Begegnung zwi­ schen Mensch und Mensch erforderlich ist. Die Moderne hat dazu geführt, daß sich der Mensch die Welt immer mehr erschloß und sich verfügbar gemacht hat, aber lei­ der sehr oft auf Kosten seiner Beziehungskraft. Die Ich-Du-Beziehung meint die Welt der Beziehung und deren drei Bereiche: das Leben mit der Natur (Schöpfung), das Leben mit dem Menschen und das Leben mit spirituellen Wesenheiten. Erst durch die Beziehung zu einem Du wird der Mensch zu einem Ich. Drei sind die Sphären, in denen sich die Welt der Beziehung errichtet. Die erste: das Leben mit der Natur. Die zweite: das Leben mit Menschen ... Wir können Du geben und empfangen. Die dritte: das Leben mit geistigen Wesenheiten ... Wir vernehmen kein Du und fühlen uns doch angerufen. In jeder Sphäre, durch jedes uns gegenwärtig Werdende blicken wir an den Saum des ewigen Du hin, aus jedem vernehmen wir ein Wehen von ihm, in jedem Du reden wir das ewige an, in jeder Sphäre nach seiner Weise (Buber, 1984, S. 10). Die Ich-Du-Beziehung meint echtes Interesse an den Menschen, mit denen wir interagieren. Wir respektieren die „Anderheit“, Einzigartigkeit und Getrenntheit, ohne das Bezogensein in der gemeinsamen Menschlichkeit zu verschleiern. Die Ich-Du-Beziehung wird im Gegensatz zur Ich-Es-Beziehung charakterisiert durch 1. Gegenseitigkeit 2. Offenheit 3. Direktheit 4. Gegenwärtigkeit (Hier und Jetzt). Bubers theologische Pointe gipfelt in dem Satz: Jede Ich-Du-Beziehung weist auf ein ewiges Du hin, das seinem Wesen nach nicht Es werden kann. Dieses ewige Du wird nicht erkannt durch theoretische Sätze, metaphysische Spekulationen, sondern durch eine persönliche Beziehung zum ewigen Du. In dieser persönlichen Begegnung mit dem ewigen Du ereignet sich die Offenbarung, für Buber nicht nur eine Episode am Sinai, sondern im Hier und Jetzt, und zwar immer dann, wenn ich offen bin, es zu empfangen. So wird die Bibel für ihn ein lebendiger Bericht von der dialogischen Begegnung zwischen Menschen und Gott (Küng, S. 544 f., 1991). Die verlängerten Linien der Beziehungen schneiden sich im ewigen Du. Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm (dem ewigen Du). Durch jedes geeinzelte Du spricht das Grundwort das ewige an. ... Es vollendet sich einzig in der unmittel­ baren Beziehung zu dem Du, das seinem Wesen nach nicht Es werden kann“ (Buber, 1984, S. 76). 16

Anthropologische Philosophie der dialogischen Psychotherapie

Störung Die Störung, unter der wir leiden, ist das „Herzblut des Lebens“. Die Störung zwingt uns, uns mit Teilen von uns selbst auseinanderzusetzen, die wir nicht wahr­ haben wollen. Gerade das bekommt über uns Macht, was wir verleugnen (Hycner, 1989, S. 130). Die Störung, die der Patient entwickelt, ist ein „Zeichen“ (Buber). Sie macht deut­ lich, in welcher Weise seine Existenz gebrochen, entfremdet ist. Die Störung ist die Antwort auf unsere Haltung dem Leben gegenüber. Der Patient ist aufgerufen, wenn er ein „Aufmerkender“ ist, auf dieses Zeichen eine Antwort zu finden. Er hat die Wahl, dieses Zeichen zu ignorieren und die Auseinandersetzung zu vermeiden und damit Widerstand zu leisten. Den Preis, den er zu bezahlen hat, ist, daß der Status quo aufrechterhalten wird oder sich verschlimmert. Durch Vermeidung der Problematik ergibt sich eine kurzfristige Erleichterung, um den Preis langfristiger negativer Konsequenzen.

Weisheit des Widerstandes Widerstand ist der Ausdruck der Verletzbarkeit des Patienten, ist ein Signal für die Angst, Risiken einzugehen, die durch die vorausgegangenen Erfahrungen nicht unterstützt werden (Hycner, 1989, S. 141). Die Ursache des Widerstandes sind kumulative traumatische Beziehungserfahrungen vor allem in der Kindheit wegen der Offenheit und Verletzlichkeit des Kindes. Widerstand ist ein Selbstschutz, der das seelische Überleben ermöglicht hat. Er ist eine Mauer mit zwei Seiten: • Von „Außen“ betrachtet ist der Patient verschlossen. • Subjektiv von „Innen“ betrachtet ist es die Mauer, die frühe und tiefe Wunden umschließt. Die Weisheit des Widerstandes ist, daß er das Überleben garantierte. Diese Weis­ heit gilt es in der Dialogischen Therapie zu schätzen. Der Patient muß die Paradoxie begreifen, daß sein Widerstand wächst, wenn er versucht, ihn zu überwinden. Er muß seinen Widerstand erleben und ihn als inte­ gralen Bestandteil von sich anerkennen, schätzen und akzeptieren lernen. Es geht darum, die „Aussage“ des Widerstandes zu verstehen, seine Botschaft her­ auszufinden. Der Widerstand soll nicht bestraft, sondern umarmt werden. Der Widerstand eröffnet die Begegnung mit dem Ort der Verletztheit. Die Aufgabe des Therapeuten besteht darin, dem Patienten an dem Punkt seines Widerstandes zu begegnen. Die Begegnung am Punkt des Widerstandes soll den Widerstand einschließen und nicht bedrohen (Hycner, 1989, S. 142-144). Wir sind also am Widerstand interessiert und möchten mehr Uber ihn wissen, dar­ über, warum der Patient sich so verhalten muß. Hier ist die Paradoxie: Obwohl der Patient versucht, uns einen Strich durch die Rechnung zu machen, Informationen zurückzuhalten, die Kooperation verweigert oder mit subtilen Mitteln vermeidet, an der Therapieaufgabe mitzuarbeiten, gibt der abwehrende Patient gleichzeitig eine Menge an Informationen und arbeitet im weiteren Sinne voll bei der Behandlung 17

Konrad Stauss

m i t . . . Anstatt sich vom Widerstand erschrecken 7.u lassen, sollte der Therapeut ihn vielmehr begrüßen (Schlesinger; 1982). Dort wo der Widerstand auftritt, an diesem Punkt ist der Patient am meisten ver­ letzt worden. Der Patient versteckt sich hinter seinem Widerstand, gleichsam im letzten Winkel des Selbst. Es geht darum, sich eine Einladung zu verschaffen, nicht darum, sich den Zutritt zu erzwingen. Man fragt das wahre Selbst des Patienten so vorsichtig wie ein verschrecktes Kind um Erlaubnis, die geheiligte Privatheit des Verstecks betreten zu dürfen. Der Therapeut fühlt nach, wie es ist, mit dieser Angst, diesem Schmerz zu leben. Der Patient erfährt: jemand ist bei mir, der Anteil nimmt. Dahinter steckt die existentielle Erkenntnis, daß alle Menschen sich verbergen und voller Angst sind. Seine Verborgenheit ist eine existentielle Realität und kein patho­ logischer Zustand (Hycner, 1989, S. 146). Der Patient muß sich seiner Abwehrmechanismen bewußt werden, die ihn an einem gesunden Leben hindern. Aber zu einem gesunden Leben gehört auch die Erkenntnis, daß bestimmte Widerstände Teil unserer Existenz sind. Völlige Offen­ heit ist weder nötig noch möglich. Unsere Aufgabe ist es, ein kreatives Gleich­ gewicht zwischen Verborgensein und Offensein zu finden.

Verantwortung Der Patient ist aufgerufen, ein Antwortender zu werden, das heißt, Verant­ wortung zu übernehmen. Nimmt er den Dialog mit der Störung auf, so eröffnet er ihm den Zugang zu seinen verleugneten Anteilen seines Selbst. Die Therapiemotivation aus dialogischer Sicht ist nicht nur der Leidensdruck, sondern der Anruf zur Verantwortungsübernahme. Er muß sich entscheiden, sich dem Problem antwortend zu stellen, um mehr Mensch zu werden, oder ob er die Auseinandersetzung vermeidet und Widerstand leistet. Wenn er dies tut - und die Freiheit der Wahl hat er -, dann sollte er sich nicht darüber beklagen, daß er an der Störung leidet. Die Störung ist also ein Anruf der Existenz, des Lebens, an den entfremdeten Menschen. Er ist aufgerufen, der Störung antwortend gerecht zu werden und sie als ein Zeichen und Antwort zu verstehen, damit er mehr Mensch werden kann.

Ätiologieverständnis Psychopathologie kann gesehen werden als ein Rückzug aus dem „Zwischen“ oder dessen „Erstarrung“, es ist das Ergebnis eines abgebrochenen Dialogs. Die Person ist in ihrer tiefsten Hinwendung zu anderen nicht „gehört“ worden, aus die­ sem Grund richtet sich ihre „Stimme monologisch und auf tragische Weise nach Innen“ (Hycner, 1996). Wir Menschen sind dialogisch gepolt oder anders gesagt: wir haben ein dialogi­ sches Grundbedürfnis. Störungen und damit Krankheiten entstehen als Ausdruck der Nichtbefriedigung der zwischenmenschlichen/interpersonellen Bedürfnisse (der dialogischen Bedürf­ nisse). 18

Anthropologische Philosophie der dialogischen Psychotherapie

Diese Bedürfnisse sind in der dialogischen Therapie: 1. Bedürfnis nach Begegnung Ich werde und bin Mensch durch die Beziehung zu anderen Menschen, und ich kann und will bedeutungsvolle Beziehungen mit anderen eingehen, wobei ich ihre und meine Einzigartigkeit achte. Das bedeutet, meine Existenz ist unauflöslich mit den anderen verwoben. Alles wirkliche Leben ist Begegnung, das Dialogische als das wesentliche Ele­ ment der menschlichen Existenz. Das Psychische ist nur eine Begleitmelodie des Dialogischen. Das Dialogische ist also nicht innerhalb des Menschen sondern im Bereich „zwi­ schen“ zwei Menschen. Es ist eine spezifische Interaktion, die ein echtes Interesse an der Begegnung mit den anderen hat. Menschliche Existenz ist in ihrem tiefsten Wesen Beziehung. Der ontologische Charakter der Existenz ist beides: Distanz und Beziehung (Buber, 1965). 2. Bedürfnis nach Autonomie Das Zwischenmenschliche ist der Bereich, in dem wir sowohl getrennt als auch in Beziehung sind. Gesunde Existenz bedeutet das rhythmische Gleichgewicht von Getrenntheit und Bezogenheit. Modern ausgedrückt: das rhythmische Gleichge­ wicht zwischen Bindungsbedürfnissen und Autonomiebedürfnissen. 3. Bedürfnis nach Bestätigung dieser Bedürfnisse und seiner Existenz Der Mensch braucht die Bestätigung durch andere. Das Fehlen der Bestätigung ist die Grundlage aller Psychopathologie. Die Bestätigung des „Seindürfens ist das Himmelsbrot des Selbstseins“ (Buber 1962, S. 423). Durch die Bestätigung wird das Bedürfnis nach Selbstwert befriedigt. 4. Bedürfnis nach körperlichem und seelischem Wohlbehagen Gelingt es, diese drei interpersonellen Bedürfnisse gleichzeitig zu befriedigen, dann reagieren der Körper und die Seele konsistenter, das heißt, man fühlt sich kör­ perlich und seelisch wohl. Das bedeutet, daß der Mensch lust- und nicht unlust­ orientiert ist. Seine Intention ist, sich seelisch und körperlich wohl zu fühlen. Dieses Wohlfühlen ist die seelische Begleitmelodie einer gelungenen Begegnung. 5. Bedürfnis nach Ganzheit, nach Spiritualität Wenn Menschen ohne Beziehungen zu anderen und ohne Gefühl für eine umfas­ sende Wirklichkeit sind, kommt es zu Angst-, Leere- und Entfremdungsgefühlen. Durch die Entfremdung kommt es zur „Lücke“, die mit Ersatzgöttern gefüllt wer­ den muß (Drogen, Macht, Sex etc.). Das Leben ohne die spirituelle Dimension ist ein abgestumpftes Leben. Wir vergessen das ursprünglichste aller Wunder, daß wir exis­ tieren, das Faktum unseres Seins. Die Überbetonung der Ich-Es-Haltung, die Fixierung auf die objektive Dimen­ sion der Existenz, die zu einer Objektivierung des Selbst und der anderen führt, macht den Kontakt zu einem umfassenden Seinsgefühl so schwierig.

19

Konrad Stauss

Die Ich-Es-Orientierung ist zwar eine sichere, aber eingeschränkte Art zu leben, die nur ein Minimum an emotionalem Risiko erfordert. Sie ist ungefährlich, aber emotional unbefriedigend. Der spirituelle Ansatz in der Dialogischen Therapie ist in der Überzeugung gegründet, daß jeder Dialog im Dialog mit dem Sein wurzelt und aus ihm erwächst. Spiritualität heißt nicht, die irdische Realität hinter sich zu lassen, sondern die Eintrittspforte in den spirituellen Bereich ist die Ich-Du-Beziehung mit einer „Anderheit“. Die Anderheit kann eine Person oder die Natur sein (Buber, 1923). Die Verbundenheit, die wir im Augenblick der Ich-Du-Begegnung erleben, verbindet uns mit einem ewigen Du. Geist in seiner menschlichen Kundgebung ist Antwort des Menschen an sein D u . . . Geist, ist nicht im Ich sondern zwischen Ich und Du. Er ist nicht wie das Blut, das in dir kreist, sondern wie Luft, in der du atmest. Der Mensch lebt im Geist, wenn er sei­ nem Du zu antworten vermag. Er vermag es, wenn er in die Beziehung mit seinem ganzen Wesen eintritt. Vermöge seiner Beziehungskraft allein vermag der Mensch im Geist zu leben (Buber, 1923, S. 49). Der Mensch kann dem Göttlichen nicht nahekommen, indem er über das Menschliche hinaus langt; er kann ihm nahekommen, indem der Mensch, der zu wer­ den er, dieser einzelne Mensch da, erschaffen ist (Buber 1963, 3. 947).

Das oberste Ziel der Seele Der oberste Sollwert der seelischen Aktivität ist die gleichzeitige Befriedigung dieser fünf Grundbedürfnisse, damit die Seele ganzer, konsistenter wird. • Bindungsbedürfnisse • Autonomiebedürfnisse • Bedürfnis nach Bestätigung/Selbstwerterhöhung • Bedürfnis nach seelischem und körperlichem Wohlbehagen • Bedürfnis nach Ganzheit Die Störung ist Ausdruck der seelischen Inkonsistenz, und damit des Verlustes der Ganzheit, eine Antwort auf die mangelnde Befriedigung der seelischen Grund­ bedürfnisse. Ein seelisch kranker Mensch ist immer ein in seinen interpersonellen Bedürfnissen verletzter Mensch.

Verarbeitung der Verletzung Diese Verletzung der Grundbedürfnisse führt zu einer elementaren Selbstbe­ zogenheit, die eine Flucht vor der Begegnung anzeigt. Diese Verletzungen werden verarbeitet durch Verinnerlichung in Form einer Beschädigung des Selbst in Bezie­ hung zu anderen (strukturelle Schädigung in den Dimensionen: Selbstwahrnehmung, Selbststeuerung, Objektwahrnehmung, Kommunikation und Bindung) und oder durch spezifische Konflikte, die einen unflexiblen Umgang mit spezifischen Grundthemen des menschliche Lebens anzeigen (Arbeitskreis OPD, 196). In der Sprache der dialogischen Therapie nennt man diese Form der Verarbeitung die dia­ lektischen, intrapsychischen Folgen der verletzten Grundbedürfnisse. 20

Anthropologische Philosophie der dialogischen Psychotherapie

Diese dialektischen, intrapsychischen Folgen kann man schematheoretisch auch als lebensgeschichtlich gewachsene Schemata von zurückliegenden traumatischen Begegnungserfahrungen bezeichnen. Diese Begegnungsschemata werden externalisiert und bestimmen das jetzige Begegnungsverhalten des Patienten. Durch die Externalisierung werden die alten traumatischen Beziehungserfahrungen wiederholt und die Grundbedürfnisse weiterhin nicht befriedigt. Es kommt zu dem Phänomen des „Scheinens“. Modern nennt man dieses „Scheinen“ Bewältigungsmechanismen. Der Patient versucht, mit dem Scheinen bestmöglich seine Grundbedürfnisse nach Bindung, Autonomie, Selbstwert, Wohlbehagen und Ganzheit zu befriedigen. Aller­ dings auf eine brüchige Art und Weise. Werden diese Bewältigungsmechanismen nicht mehr lebbar, dann kommt es zur Störungsbildung als Antwort auf das brüchi­ ge Arrangement. Der Anruf zur grundlegenden Veränderung ist unüberhörbar.

Verantwortung Der Wunsch nach Veränderung erwächst aus dem Bewußtsein: „So kann es nicht mehr weitergehen“, der eingeschlagene Weg ist ein Irrweg und führt ins Abseits. Die Erfahrung des Tiefpunktes, daß ich mit meinen Bewältigungsmitteln mein Leben nicht mehr meistern kann. Das Eingeständnis der Machtlosigkeit und der bedin­ gungslosen Kapitulation. Wir werden vom Dasein her gefragt: Leben und Tod lege ich Dir vor, Segen und Fluch. Wähle also das Leben, damit Du lebst, Du und Deine Nachkommen (Deuteronium 30,19). Es geht darum, daß wir keine Fragen an das Dasein mehr stellen, sondern den Fragen, die das Dasein an uns stellt, antwortend gerecht werden. Echte Verantwortung gibt es nur, wo es wirkliches Antworten gibt. Auf das, was einem widerfährt, was man 7.u sehen, zu hören, zu spüren bekommt. Jede konkrete Stunde mit ihrem Welt- und Schicksalgehalt, die der Person zugeteilt wird, ist dem Aufmerkenden Sprache. Dem Aufmerkenden; denn mehr als dessen bedarf es nicht, um mit dem Lesen der einem gegebenen Zeichen anzuheben (Buber; 1984, S. 162). Der Motor der Veränderung ist die existentielle Krise, die weder gewollt noch gemacht werden kann. Wir müssen nicht unser Leben ändern, sondern durch die Krise wird es notwendig. Es ist ein Dürfen zum geschenkten Zeitpunkt (Kairos). Der Weg des Menschen beginnt, der Genesungsweg wird zu einem Pilgerpfad.

Der Weg des Menschen Nach Buber beginnt der Weg des Menschen erst, wenn er erkannt hat, daß er sich versteckt, das Leben vermeidet und so sich selber verloren hat. Zu jeder Zeit und zu jeder Stunde ruft Gott den Menschen an: „ Wo bist Du in Deiner Welt“ (Im Urtext heißt es ajekka und klingt wie ein heiliges Pfeilwort). Wenn Gott so fragt, will er vom Menschen nicht etwas erfahren, was er noch nicht weiß, er will im Menschen etwas bewirken, was eben nur durch eine solche Frage bewirkt wird, vorausgesetzt, daß sie den Menschen ins Herz trifft, daß der Mensch sich von ihr ins Herz treffen läßt. 21

Konrad Stauss

Adam versteckt sich, um nicht Rechenschaft ablegen zu müssen, um der Verantwortung für sein Leben zu entgehen. So versteckt sich jeder Mensch, denn jeder Mensch ist Adam und in Adams Situation. Um der Verantwortung für das gelebte Leben zu entgehen, wird das Dasein zu einem Versteckapparat ausgebaut. Und indem der Mensch sich so „vor dem Angesicht Gottes“ versteckt, verstrickt er sich immer tiefer und tiefer in die Verkehrtheit. So entsteht eine neue Situation, die von Tag zu Tag, von Versteck zu Versteck immer fragwürdiger wird. Diese Situation kann genau gekennzeichnet werden: Dem Auge Gottes kann der Mensch nicht ent­ gehen, aber indem er sich vor ihm zu verstecken sucht, versteckt er sich vor sich selber. Diese Frage will den Menschen aufrühren, sie will seinen Versteckapparat zer­ schlagen, sie will ihm zeigen, wo er hineingeraten ist, sie will in ihm den großen Willen erwecken, herauszugelangen. Alles kommt darauf an, ob der Mensch sich der Frage stellt... Die Stimme ist die Stimme eines verschwebenden Schweigens, und es ist leicht, sie zu übertäuben. Solange dies geschieht, wird das Leben des Menschen zu keinem Weg. Mag der Mensch noch soviel Erfolg, noch soviel Genuß erfahren, mag er noch so große Macht erlangen und noch so Gewaltiges zustande bringen: sein Leben bleibt weglos, solange er sich der Stimme nicht stellt. Adam erkennt die Verstrickung, er bekennt: „Ich habe mich versteckt“, und damit beginnt der Weg des Menschen (Buber, 1999, S. 7-13). Es gibt eine dämonische Frage, eine Scheinfrage, die die Frage Gottes, die Frage der Wahrheit nachäfft. Sie ist daran zu erkennen, daß sie nicht bei dem „ Wo bist du?“ innehält, sondern fortfährt: „Von da heraus, wo du hineingeraten bist, führt kein Weg mehr.“ Es gibt eine verkehrte Selbstbesinnung, die den Menschen nicht zur Umkehr bewegt und auf den Weg bringt, sondern ihn damit dorthin treibt, wo sie anscheinend vollends unmöglich geworden ist und der Mensch nur kraft des dämoni­ schen Hochmuts, des Hochmuts der Verkehrtheit, weiterleben vermag (Buber, 1999, S. 14).

Ontologische Dimension der Schuld ... Ich werde vor die Gegenwärtigkeit eines Seins gestellt, mit dem ich keine Spielregeln verein­ bart habe und mit dem sich keine vereinbaren lassen. Die Gegenwärtigkeit des Seins, vor der ich gestellt bin, wechselt ihre Gestalt, ihre Erscheinung, ihre Offenbarung, sie ist anders als ich, oft erschreckend anders, und anders als ich sie erwartet habe, oft erschreckend anders. Halte ich ihnen stand, gehe ich auf sie ein, begegne ich ihnen wirklich, d. h. mit der Wahrheit meines ganzen Wesens, dann, und nur dann, bin ich „eigentlich“ da: ich bin da, wenn ich da bin, wo dieses „Da“ ist, das wird jeweils weniger von mir als von der ihre Gestalt und Erscheinung wandelnden Gegen­ wärtigkeit des Seins bestimmt. Wenn ich nicht wirklich da bin, bin ich schuldig. Wenn ich dem Ruf des gegenwärtigen Seins „ Wo bist du?“ antworte: „Da bin ich“: aber ich bin nicht wirklich da, d. h. nicht mit der Wahrheit meines ganzen Wesens, dann bin ich schuldig. Das ursprüngliche Schuldigsein ist das Bei-sich-Bleiben. Zieht aber eine Gestalt und Erscheinung des gegenwärtigen Seins an mir vorüber, und ich 22

Anthropologische Philosophie der dialogischen Psychotherapie

war nicht wirklich da, dann kommt aus der Ferne ihres Verschwindens ein zweiter Ruf; so leise und heimlich, als käme er aus mir selbst: „Wo bist du gewesenf“ Das ist der Ruf des Gewissens. Nicht mein Dasein ruft mich, sondern das Sein, das nicht ich ist, ruft mich (Buber, 1982, S. 99-100).

Therapie Heilung aus der Begegnung, nicht allein durch „Reparatur“ ... die Beziehung zwischen einem echten Psychotherapeuten und seinem Patienten. Wenn er sich damit begnügt, diesen zu „analysieren", d. h. aus seinem Mikrokosmos unbewußte Faktoren ans Licht zu holen und die durch ein solches Hervortreten verwandelten Energien an eine bewußte Lebensarbeit zu setzen, mag ihm manche Reparatur gelingen. Er mag bestenfalls einer diffusen, strukturarmen Seele helfen, sich einigermaßen zu sammeln und zu ordnen. Aber das, was ihm hier eigentlich aufgetragen ist, die Regeneration eines verkümmerten Person-Zentrums, wird er nicht zu Werke bringen. Das vermag nur, wer mit dem großen Blick des Arztes die verschattete latente Einheit der leidenden Seele erfaßt, und das ist eben nur in der partnerischen Haltung von Person zu Person, nicht durch Betrachtung und Untersuchung eines Objektes zu erlangen (Buber, 1984, S. 131-132). Jede Therapie beruht auf der Begegnung zwischen Therapeut und Patient. Dialo­ gische Psychotherapie ist zentral auf die Heilung aus der Begegnung ausgerichtet. Eine Therapie, in der der Patient viele psychologische Einsichten gewonnen hat, aber diese in der „realen Welt“ seiner Beziehungen nicht anwenden kann, hat versagt (Hycner, 1989). Der Therapeut ist der Hüter des Dialogischen, im Dienste des „Zwischen“. Der Therapeut ruht nicht auf der weiten Ebene des Systems gesicherter Aussagen über das Absolute, sondern auf dem schmalen, felsigen Grat über dem Abgrund, wo es kei­ nerlei Sicherheit eines aussagbaren Wissens gibt, aber die Gewißheit der Begegnung mit dem verhüllt Bleibenden (Buber 1963, S. 383). Die Herausforderung besteht darin, wie man die Sicherheit gebende Theorie nut­ zen kann, ohne das Unbekannte abzuwehren und ohne das gemeinsame Fundament der Menschlichkeit zu übersehen. Jedes Verhalten soll im Kontext der Existenz verstanden werden. Pathologie ist eine Störung der ganzen Existenz der Person und ein „Zeichen“ für das, was gesche­ hen muß, damit sic wieder ganz werden kann. Die Ursache der Störung ist die mangelnde Bestätigung durch den Ich-Du-Dialog mit anderen. Hier ist der archimedische Punkt der Veränderung und damit der Therapie. Der Therapeut weiß um die ontologische Dimension der Begegnung. Die menschliche Existenz ist unauflöslich mit den anderen verwoben. Der Mensch ist ausgerichtet auf Begegnung, er ist nur als ein Teil eines Beziehungssystems denk­ bar. Er lebt ständig real in Beziehungen, ist innerlich mit Beziehung befaßt. Er ist ausgerichtet auf Beziehung. Durch Beziehung eignet er sich die Welt ständig an und macht daraus „seine Welt“. Menschliche Existenz ist in ihrem tiefsten Wesen 23

Konrad Stauss

Beziehung. Durch die Begegnung können wir unsere Beziehungsbasisbedürfnisse befriedigen. Krankheit ist ein Mangelsyndrom bezüglich der Befriedigung dieser Bedürfnisse. Wie die Therapieforschung eindrucksvoll bestätigt hat, hängt der Erfolg zu 60 Prozent von der Qualität der therapeutischen Beziehung ab (Orlinksy & Howard, 1987). Diese zeichnet sich aus der dialogischen Perspektive durch vier Merkmale

1. Gegenwärtigkeit Um dem Patienten in seiner Welt begegnen zu können, muß der Therapeut für ihn „gegenwärtig“ sein. Was erwarten wir, wenn wir verzweifelt sind und doch zu einem Menschen gehen. Wohl eine Gegenwärtigkeit, durch die uns gesagt wird, daß es ihn dennoch gibt, den Sinn (Buber 1962, S. 278). 2. Einklammerung Der Therapeut kann dem Patienten in seiner Welt, seinem In-der-Welt-SeinSchema nur dann begegnen, wenn er seine eigenen Annahmen, Weitsicht und Bedeutungen zeitweilig einklammert. Es ist die Aufgabe des Therapeuten zu entde­ cken und zu verstehen, welche Bedeutung ein Ereignis für diesen besonderen und einzigartigen Menschen hat. Der Patient hat ein feines Gespür für die Echtheit der Gegenwärtigkeit und schätzt dieses Bemühen sehr hoch ein. Jeder Mensch sucht in seinem tiefsten Wesen verzweifelt nach Bestätigung, hat das große existentielle Bedürfnis, von einem anderen tief verstanden zu werden. 3. Umfassung Umfassung ist das Auf und Ab zwischen Zentrierung in der eigenen Existenz und der Fähigkeit, auf die „andere Seite zu wechseln“. Sie geht über Empathie hinaus. Seine ganze Existenz dem anderen zuzuwenden und zu versuchen, seine Erfahrung genauso zu erleben wie die eigene, kann man nicht absichtlich herbeiführen. Sie bedarf allerdings der bewußten Anstrengung. Zur Umfassung sind zwei Schritte notwendig. • Tiefes Verständnis für das Erleben des Patienten. • Die Fähigkeit, sich zu distanzieren und eine andere Perspektive anzubieten. Der Therapeut arbeitet in dem Spannungsfeld zwischen voller und tiefer Wertschätzung des Patienten einerseits und der notwendigen eigenen Zentrierung angesichts abweichender oder sogar widersprüchlicher Erfahrungen andererseits. Dieses Spannungsfeld ist das Herzstück der Psychotherapie: die echte Be­ gegnung des Standpunktes des Therapeuten mit dem des Patienten (Hycner, 1989, S. 122). 4. Bestätigung Der Mensch braucht die Bestätigung durch andere. Das Fehlen der Bestätigung ist die Grundlage aller Psychopathologie. Die Bestätigung des „Seinsdürfens ist das Himmelsbrot des Selbstseins“ (Buber 1962, S. 423). 24

Anthropologische Philosophie der dialogischen Psychotherapie

Die Therapie bietet die Möglichkeit der „Segnung“ der Existenz durch Bestäti­ gung. Bestätigung ist die Anerkennung der Einzigartigkeit der Existenz des anderen. Bestätigung bejaht die Existenz des anderen, auch wenn das gegenwärtige Verhalten nicht akzeptabel ist. Bestätigung macht Auseinandersetzung möglich. „Ich sage Ja zu der Person, die ich bekämpfe“ (Buber, 1963, S. 277).

Technik Technik muß aus dem Kontext der Beziehung entstehen. Gegen Technik spricht nichts, wenn sie nicht willkürlich auf die Situation aufgesetzt ist. Aber wie bei einem Jazzmusiker muß man erst die Technik beherrschen, bevor man improvisiert. Der dialogische Ansatz steht dem Einsatz von Techniken nicht ablehnend gegen­ über. Vielmehr liefert er einen Rahmen, innerhalb dessen angemessene Techniken entstehen können. Eine Technik kann dialogisch sein, solange sie nicht nur als „rei­ ne Technik“ eingesetzt wird. Sie sollte Teil sein des ständigen Bemühens um eine Vertiefung der Bewußtheit auf der Beziehungsebene, des Kontakts (Hycner, 1996). Ein Therapeut ohne technisches Können ist eine Dilettant. Ein Therapeut ohne dialogische Fähigkeiten ist ein seelenloser Technokrat.

Summary: Dialogical Psychotherapy is described as a therapy of encountcr which is based on Martin Buber's anthropological philosophy. Next to a portrayal of the essential features of the dialogical principle, clinically relevant issues such as the concept of disorder, resistance, responsibility, basic relational needs, spiritual view of disorder, are presented. Therapy is discussed from a dialogical perspective and summarized in a diagram. Key words: Dialogical Psychotherapy, I-Thou-relationship, disorder, resistance, responsibility, basic relational needs, healing from encounter Literatur: Arbeitskreis OPD. (1996). Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik: Grundlagen und Manual. Toronto, Seattle: Huber. Buber, M. (1958). Ich und Du. Heidelberg: Lambert Schneider. Buber, M. (1962). Gottesfinsternis, ln: Werke I: Schriften zur Philosophie. München: Kösel. Buber, M. (1963). Schriften zum Chassidismus. München: Kösel. Buber, M. (1965). The Knowledge of Man: A Philosophy of Interhuman. New York: Harper & Row. Buber, M. (1982). Das Problem des Menschen. Heidelberg: Lambert Schneider. Buber, M. (1984). Das Dialogische Prinzip. Heidelberg: Lambert Schneider. Buber, M. (1999). Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre. 13. Auflage. Gütersloh: Güterslohcr Verl.-Haus. Hycner, R. (1996). Die Ich-Du-Beziehung, Martin Buber und die Gestalttherapie. ln: Gestaltkritik, 1. Hycner, R. (1989). Zwischen Menschen. Ansätze zu einer Dialogischen Psychotherapie, ln: Edition Humanistische Psychologie. Köln: Internationales Institut zur Förderung der Humanistischen Psycho­ logie. Küng, H. (1991). Das Judentum. München/Zürich: Piper. Orlinsky, D.E. & Howard, K.I. (1987). A Generic Model of Psychotherapy. J. Integrative Electic Psychotherapy. Schlesinger, H.J. (1982). Resistance as a process. New York: Plenum Press.

25

Konrad Stauss

Störung als Zeichen und Antwort Die Laute aber, aus denen die Rede besteht... sind die Begebenheiten des persönlichen Alltags. In ihnen werden wir angeredet, wie sie nun sind, „groß“ oder „klein“, und die als groß geltenden liefern nicht größere Zeichen als die anderen.

Therapiemotivation durch Verantwortung „Echte Verantwortung gibt es nur, wo es wirkliches Antworten gibt.“ Ich-Du Dialog Die Störung betrifft die ganze Existenz der Person

Anruf der Existenz an den entfremdeten Menschen. Ich-Du-Dialog

Scheinen ist das verzweifelte Bemühen nach Bestätigung durch das „falsche Selbst“. Ich-Es Dialog/Monolog

Dialogische interpersonelle Folgen der beschädigten Beziehungserfahrung durch mangelnde dialogische Bestätigung. Der andere wird funktionalisiert. Ich-Es Dialog/Monolog

Dialogische Therapie durch Ich-Du Beziehung: • • • •

Gegenwärtigkeit Einklammerung Umfassung Bestätigung

gekennzeichnet durch • Offenheit • Direktheit

Dialektische intrapsychische Folgen der beschädigten Beziehungserfahrung durch mangelnde dialogische Bestätigung.

emotional korrigierende Beziehungserfahrung

Beschädigte Beziehungserfahrung durch mangelnde dialogische Bestätigung. Ich-Es Dialog durch Funktionalisierung des Kindes

Dialogisches Ätiologiemodell Der Mensch braucht Bestätigung durch andere. Das Fehlen der Bestätigung der zwischenmenschlichen Grundbedürfnisse durch andere ist die Grundlage aller Psychopathologie. „Die Bestätigung des Seinsdürfens ist das Himmelsbrot des Selbstseins“. (Buber)

26

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2/99, 27-32

Meister-Schüler-Beziehung im Zen1 Uta Dreisbach, Waldbüttelbrunn bei Würzburg

Zusammenfassung: Aufgabe des Zen-Meisters ist die Anregung, Ermutigung und Begleitung des Schülers zur Begegnung mit seinem eigenen tiefsten Wesen. Dazu müssen überkommene Denkkategorien zugunsten der unverhafteten, ein­ fachen Wirklichkeit des Augenblicks überwunden werden. Dies geschieht mit Hilfe von Paradoxien, Koans und ähnlichem. Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist weniger persönlich als vielmehr von Wesen zu Wesen. Der Meister weist die Verehrung seiner Person zurück und macht sich überflüssig, wenn seine Aufgabe erfüllt ist. Schlüsselwörter: Zen, Zen-Paradoxien, Zen-Meister, Meister-Schüler-Beziehung im Zen Die amerikanische Zenlehrerin Yoko Beck schreibt einmal: Oft sind wir wie Kinder, die etwas von ihren Eltern bekommen wollen. Wir wol­ len Frieden, Trost, Anerkennung ... Wenn unser Leben uns das nicht gibt, denken wir: Ein paar Jahre Zenmeditation werden es mir geben. Nein, das werden sie nicht. Ich bekomme nichts geboten. Beim Üben geht es darum, solche Wünsche zu lassen, damit dies kleine Ich, das immer etwas will, allmählich erwachsen wird. Erwachsen sein heißt, das Leben nehmen, wie es ist, mit allen Handicaps, wach in jedem Augenblick, ohne Vorliebe und Abneigung, und an diesem Leben auch noch Freude haben (Yoko Beck, Einfach Zen, S. 298). Und Claude Durix, ein Zenlehrer in Marokko, schreibt: Man muß Zen ... praktizieren, ohne Streben nach Profit. Wenn Ihr einfach kommt, um da zu sein, zu sitzen, ohne irgendetwas erreichen zu wollen, dann ist es wahres Zen. Sonst ist die ganze Zeit, die Ihr sitzend auf dem Kissen verbringt, verlo­ rene Zeit: dann ist es besser, spazieren oder ins Kino zu gehen. Wahres Zen ist ohne Profit: nur sitzen, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sitzen ohne Ziel, ohne Grund, ohne Suche nach einem besonderen Gewinn, ohne irgendeine Erleuchtung erreichen zu wollen, einfach sitzen ... Wir alle haben am Anfang - und das ist ganz normal - Beweggründe, um Zen zu praktizieren, wir haben alle gute Gründe, aber wir müssen sie vergessen. Wir müssen nach und nach profitlos werden, unsere auch noch so guten Gründe verwerfen. Nur 1) Vortrag gehalten in Einführungskursen zur Zen-Meditation 27

Uta Dreisbach

praktizieren, nur da sein, ohne Ziel, ohne Beweggründe, ohne Fragen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger (aus: Claude Durix, Lebendiges Zen, Leimen 1991,132ff.). Wer mit Zen anfängt, den verwirren zunächst die vielen Paradoxien: Es ist ein Übungsweg, bekommt man gesagt -, und doch hat dieser Weg kein Ziel. Man macht sich auf die Suche und müht sich im Üben - und dann sagen alte Meister: „Suchst du es, so kannst du es nicht finden. Du kannst es nicht erreichen, und doch kommst du nicht los davon“. Meister Basho sagte zu seinen Schülern die rätselhaften Worte: „Habt ihr einen Stock, werde ich euch einen geben. Habt ihr keinen Stock, nehme ich ihn euch weg“ (Mumonkan 44). Ein Mann fragte Tozan: „Was ist Buddha?“ Tozan antwortete: „Drei Pfund Flachs“ (Mumonkan 18). Warum antworten sie so paradox, diese alten Zenmeister, statt ganz normal, so daß man es kapieren kann? Was ist normal? Für uns das Logische, Denkbare, Erwartete, Geplante, Gewohnte, die gängige Meinung, und als paradox gilt (so auch der griechische Ursprung des Wortes) alles, was jenseits von Meinung, Glaube, Ansicht, Vorstellung, Erwartung, Plan, Urteil liegt. Was Zenmeister sagen oder tun, ist uns nicht verständlich, weil es sich nicht in unsere gewohnten Denkkategorien einordnen läßt. Sie haben so etwas wie Denk­ kategorien nicht, ihr Geist ist unbehaftet, sie leben in der verblüffend einfachen Wirklichkeit des Augenblicks. Das ist ihre Welt. Sie ist das Normale im Zen. Und sie den Schüler immer wieder schnuppern lassen oder ihn zumindest aus seinen Denkbahnen zu werfen, darin besteht die Kunst der Führung eines Zenmeisters. Die Beziehung zwischen Meister und Schüler, wie sie uns in alten Zengeschichten überliefert wird und wie ich selbst sie sehe, ist etwas Besonderes und - wie sollte es anders sein - letztlich eine paradoxe Beziehung. Bei uns im Westen, wo Wert gelegt wird auf persönliche Freiheit und Selbst­ bestimmung, stoßen Begriff wie Meister/Schüler oft auf Abwehr: Warum soll ich mir von einem anderen etwas sagen lassen? Ich weiß doch selbst am besten, was mir gut tut ... Oft kommen noch ungute Erinnerungen an Schule, Pauken, Prüfungen hinzu. Wie das Verhältnis von Meister und Schüler im Grunde gedacht war, möchte ich hier darlegen. Während man sitzt, an einem ruhigen Platz, schweigend, regungslos, die Aufmerksamkeit vom Außen weg nach innen gelenkt auf unseren Atem, vielleicht sogar sekundenlang ohne Ziel, ohne Beweggründe, ohne Fragen, einverstanden mit dem, wie es jetzt gerade ist, kann es sein - beim einen früher, beim anderen später -, daß man Zustände an sich erlebt, die man bislang nicht gekannt hatte: rasendes Herzklopfen beim Sitzen, Hitze, Farben, Fratzen tauchen vor einem auf, Klänge, Gerüche werden wahrgenommen, Angst kommt hoch, manchmal auch der Drang, völlig grundlos zu lachen, zu weinen. Oder der Zweifel an dem, wie man bisher sein Leben gestaltet hat. Auch Depressionen können sich anbahnen. Alles Signale dafür, daß unsere Psyche in Bewegung gerät; während wir auf unserem Kissen sitzen, fin­ det ein tiefgreifender innerer Reinigungsprozeß statt. Da ist es gut, mit jemandem sprechen zu können, der diesen Weg kennt, weil er ihn selbst gegangen ist. Wer solche Phasen selbst durchgemacht hat, kann einem 28

Meister-Schüler-Beziehung im Zen

anderen verläßlicher sagen: Das gehört zu deinem Weg, das ist ganz normal! Hier gibt’s kein Außenherum, nur ein Hindurch. Hab’ Mut und geh’ weiter! oder: Gib acht, täusch’ dich nicht, Sackgasse! ... Es ist wie bei einer Tour ins Hochgebirge, wo ich mich der Ortskenntnis und Erfahrung eines Bergführers anvertraue. „Willst du die Straße wissen, die zum Berge führt, so frage den, der auf ihr kommt und geht.“ Aber um sich auf dem inneren Weg zu entwickeln, genügt es auf Dauer nicht, sich Ratschläge abzuholen. Der Mensch braucht ein Gegenüber, den Dialog mit jeman­ dem, der dort steht, wo er selbst erst hinstrebt, jemanden, der von dorther bürgt für diesen Weg und der immer wieder leise lockt. Diesem Dialog dient im Zen seit altersher die Unterweisung und Begleitung des Schülers durch einen Meister. Und jeder Meister war zunächst lange, lange Zeit selbst Schüler seines Meisters, bevor er von ihm die sog. Übertragung bekam, um andere auf ihrem Weg zu begleiten. Damit nicht jeder X-beliebige als Meister auftreten konnte, wurde und wird heu­ te noch diese Übertragung mit Brief und Siegel beglaubigt und mit einem Stamm­ baum (dieser Meister war Schüler jenes Meisters und der wiederum Schüler von ... bis zurück zu Shakyamuni Buddha, der als Vater des Zen gilt) -, auch wenn das, was da vom Meister auf seinen Schüler übertragen wird, keine Lehre, keine Methode, kein Amt ist. Weitergegeben wurden und werden nur Symbole: früher die Robe des Meisters, eine wertvolle Schale, heute sein Stab. Das Eigentliche ist nicht weiterzugeben. Es war nur zu erfahren, und weder der Schüler noch der Meister wußte vorher, wann es geschehen würde. Wahrheit läßt sich nicht berechnen, man wird von ihr ereilt. Was da geschah, nannte man und nennt es heute noch eine „Übertragung von Herz zu H e r z “ , weil sie in dem Augenblick geschieht, wenn im Herzen des Schülers zum ersten Mal dieselbe Erfahrung aufbricht, die dem Meister schon längst vertraut ist. Dann „weiß“ er, worum es geht; dann kann er selbst Meister anderer werden, und der äußere Akt der Übertragung kann folgen. In dieser Beziehung zwischen Meister und Schüler ist eine Aufgabe des Meisters also das Begleiten und Führen über die verschiedensten Hindernisse und Klippen des Übungsweges. Diese Führung hat nichts mit persönlicher Beziehung zu tun. Der Draht läuft nicht von Person zu Person, sondern von Wesen zu Wesen. Der Zenlehrer ist kein Therapeut, kein Beichtvater, kein Freund, ersetzt nicht Papa oder Mama, verbindet keine seelischen Wunden und steht auch nicht als Papierkorb zur Verfügung für alles, was wir gern loswerden wollen, und doch kann es sein, daß er vorübergehend die eine oder andere dieser Rollen übernimmt. Ausgerichtet ist seine Begleitung einzig auf die Begegnung des Schülers mit seinem tiefsten Wesen. Aber würden wir dabei die Bedürfnisse und Schmerzen unseres Ich völlig links liegen las­ sen, wäre es ein unmenschlicher Weg. Zen führt nicht vorbei, sondern hindurch. Und Begleiten heißt auf weite Strecken hin: Mut machen, damit der Betreffende sich selbst vertrauen lernt. Teaching is encouraging! (R. Aitken) Diese Führung und Begleitung nun spielt sich im wesentlichen im Einzelgespräch, dem sog. Dokusan, ab. Der Begleiter ist da. Aber der Schüler ist es, der das Dokusan eröffnet; er muß sagen, wo er steht und was er möchte. Wir lesen in alten Zengeschichten von Schülern, die auf Einlaß beim Meister warten mußten, bis sie bis 29

Uta Dreisbach

zum Bauch eingeschneit waren, oder die sich den Arm abhackten und ihn dem Meister hinhielten, um zu zeigen, wie ernst es ihnen ist - Extreme und Legenden. Aber sie zeigen die Wichtigkeit einer solchen Entscheidung. Wenn man sich ent­ schlossen hat, den Zenweg zu gehen und Schüler zu werden, fragt man den Lehrer seines Vertrauens, ob man angenommen wird; wenn ja, ist diese Beziehung - wenig­ stens von seiten des Lehrers her - in der Regel unauflösbar. Dogen Zenji, einer der bekanntesten Zenmeister des Mittelalters, rät allerdings jedem Schüler bei der Auswahl seines Lehrers große Achtsamkeit: Ein Gelehrter, der nur den buchstäblichen Sinn der Schriften schätzt, ist als Meister nutzlos; er ist wie ein Blinder, der einen Blinden führt. Vielmehr ist es notwendig, einen Lehrer zu haben, der Erleuchtung erfahren hat (erfahren ist auf dem Weg). (Shobogenzo S. 175). Hier klingt schon eine zweite Bedeutung des Zenmeisters an. Er ist ein Mensch wie jeder andere, mit persönlichen Eigenheiten und Schwächen. Ihn auf dieser Ebene zu idealisieren und sich seinen Lebenswandel in allen Einzelheiten zum Vorbild nehmen, ist eine gefährliche Falle. Er ist wie jeder Mensch sein Leben lang im Werden. Und ob man diesen oder jenen Lebenspartner oder Beruf wählen soll, das ist nicht sein Metier, da kann er nur seine ganz persönliche Meinung äußern. Freilich kann auch von der persönlichen Begegnung mit dem Meister etwas Wichtiges ausgehen. In den Chassidischen Geschichten von M. Buber gibt es z. B. eine Episode, wo Rabbi Lob erzählt: Daß ich zum Maggid fuhr, war nicht, um Lehre von ihm zu hören: nur um zu sehen, wie er die Filzschuhe auf schnürt und wie er sie (wieder zu-)schnürt. Aber seine Kompetenz liegt einzig auf der Ebene der spirituellen Erfahrung; da kann er raten und führen, da kann der Schüler sich anvertrauen. Manche Menschen spüren die Verbindung auf dieser Ebene sehr stark. Die Aus­ strahlung des Meisters auf den Schüler kann einerseits sehr motivierend wirken und jenen fruchtbaren Reinigungsprozeß in Gang bringen, der der Kern jeder spirituel­ len Führung ist. Nach jeder Begegnung mit seinem Meister wird der Schüler dann spüren, daß in ihm ein bißchen mehr Klarheit gewachsen ist, oder wie Yoko Beck sagte, ein bißchen mehr „Bereitschaft, das zu sein, was das Leben von uns fordert“. Diese Ausstrahlung kann aber auch in eine gefährliche Sackgasse führen. Wenn ich jene tiefe Dimension des Lebens, das sog. Numinose, noch nie erfahren habe und es mich jetzt zum ersten Mal in der Gestalt des Meisters anrührt, dann bin ich versucht, es mit seiner Person zu verbinden, mich an ihn zu binden, ihn zu verehren und allein von ihm mein Heil zu erwarten. Ein selbsternannter Guru, wie heute auch im Westen viele umherziehen, bindet suchende Menschen an sich, läßt sich pompös ver­ ehren - und oft auch teuer bezahlen. Seid vorsichtig, dort einzusteigen! Und wenn ihr eines Tages eueren Lehrer gefunden habt, seid zu 100 % sein Schüler, aber erspart ihm eine Verehrung solcher Art. Er müßte sie schroff zurückweisen. Das ist seine härteste Aufgabe: durch Abgrenzung, durch Zurückweisung zur eige­ nen Kraft führen. Auf einem Weg, der den Menschen sehr dünnhäutig macht, wird so eine Zurückweisung leicht mißverstanden als persönliche Ablehnung. Klar, wir hätten lieber die freundlich-liebevoll-schonende Führung, die uns noch ein wenig 30

Meister-Schüler-Beziehung im Zen

Kind sein läßt, das „Wasch-mich-aber-mach-mich-nicht-naß“. Und es dauert oft lange, bis ein Schüler merkt: Mit dieser barschen Antwort neulich wollte er mich ja gar nicht fertigmachen; er wollte mir einen Schubs geben zum nächsten eigenständi­ gen Schritt, aber ich war gleich zu Tode gekränkt... Diese Art von Führung ist die wichtigste Aufgabe des Meisters und unterscheidet das Meister-Schüler-Verhältnis im Zen von jeder anderen Beziehung. Das einzige, wofür der Meister sich verantwortlich fühlt bei seiner Führung, ist, den Schüler sein tiefstes Wesen entdecken zu lassen. - Deshalb muß er seinen Intellekt, diese verstrickende Denkmaschine, durch totale Verwirrung außer Kraft setzen. Die Koans sind ein ideales Mittel dafür. - Deshalb muß er persönliche Distanz wahren. Es geht um das Hineinwachsen des Schülers in seine Freiheit, nicht um eine neue Bindung. Wenn ein Schüler nicht zunehmende Autonomie empfindet, kann er sicher sein, daß er dem richtigen Meister noch nicht begegnet ist - oder daß er selbst noch Papa und Mama sucht, nicht einen Begleiter auf dem Zenweg. - Der Meister muß immer wieder deutlich machen, daß von ihm nichts zu holen ist, daß keines Menschen Heil von anderswoher kommt, weil alles bereits in ihm selbst angelegt ist (und das erfahren kann jeder nur allein. „Ich selbst habe den Tee zu schmecken“, heißt es im Zen). - Deshalb kann er warten und kann reifen lassen, auch wenn der Schüler meint, gerade jetzt müßte er mir aber doch wirklich helfen, damit ich weiterkomme. Es ist also eine Beziehung, in der ich an meine Grenzen gestoßen werde, um darüber hinauszuwachsen, in der ich in die Zange genommen werde, um innere Freiheit zu erlernen, in der ich durch Zurückweisung zur Selbständigkeit zu reifen habe. Und eine Beziehung, die dann geglückt ist, wenn sie überflüssig/entbehrlich wird. Denn letztlich braucht die Wahrheit, um die es dem spirituellen Meister geht, gar keinen Mittler. Sie ist un-mittel-bar da. Nur kann ich sie nicht auf Anhieb erken­ nen. Solange dasein und den Weg weisen, bis mein inneres Auge selbst sehend wird, mein Herzgeist wach wird - das ist wohl die vornehmste Aufgabe des Meisters. Und so macht er sich - als echter Meister wieder im Gegensatz zum Guru - nach und nach überflüssig. Er ist „nur“ der Finger, der auf den Mond zeigt, auf das eine Sein. Sieht sein Schüler den Mond, ist der Finger unwichtig geworden. Nach Jahren des gemeinsamen Weges übergibt der Meister irgendwann seinen Schüler einem anderen, nämlich jenem inneren Meister, der in jedem von uns wohnt, auf daß von diesem Zeitpunkt an unser tiefstes Wesen die Führung übernimmt. Dies ist von Anfang des Zenbuddhismus an der Weg gewesen, wie ein Meister das Nichtübertragbare auf seinen Schüler und damit auf die nächste Generation „über­ tragen“ hat: dieses Begleiten und Herausfordern, mal den Boden entziehen, dann wieder auffangen, kommenlassen und rigoros wegschicken, vor den Kopf stoßen und Anweisung geben, und auf diese Weise reifen lassen, bis der Schüler an nichts mehr hängt, weder am Meister noch an eigenen Vorstellungen, bis er sozusagen vom Baum fällt wie ein reifer Apfel. Shakyamuni Buddha selbst, der als Vater des Zen-Buddhismus gilt, hat lange Zeit in stiller Versenkung gesessen, hat also Zen praktiziert, ohne es je so zu nennen. Als wohlbehütetes Kind einer hohen indischen Kaste ist er allen Widerwärtigkeiten des Lebens ferngehalten worden - bis er eben doch einmal bei der Ausfahrt aus dem 31

Uta Dreisbach

elterlichen Palast Gestalten begegnet ist, die er noch nie zu Gesicht bekommen hat­ te: da ging einer, hutzelig, gebeugt, am Stock, zahnlos. Ein anderer war übersät von Geschwüren, und schließlich lag da jemand, reglos, tot. Seine erste Begegnung mit Alter, Krankheit und Tod. Wie konnte es das geben, soviel Leid auf so engem Raum? Das ließ ihn nicht mehr los. Er wollte eine Antwort finden. Shakyamuni Buddha hat die Frage nach dem Leid in der Welt sozusagen aufs Kissen gebracht. Nach langem Sitzen - heißt es - soll er eine tiefe Wesenserfahrung gehabt haben. Gerade 35 Jahre alt. Ihm war klar, daß er davon niemandem etwas mitteilen konnte. So habe er geschwiegen, aber er soll völlig verändert, strahlend ausgesehen haben. Und schon sind Menschen zu ihm geströmt. Was sie wollten? Das Geheimnis von ihm erfahren. So werden wie er. Vielleicht konnte ja einer, der so strahlend und befreit aussieht, sie auch von ihrer eigenen Lebenslast befreien. Menschen greifen heute wie damals nach Idolen wie nach einem Hoffnungsanker: im Anhängen an jemand anderem selbst seine Identität finden und eine Besserung der eigenen Lebenslage. Shakyamuni habe von da an, vom Erbarmen mit dem Leid aller Lebe­ wesen bewegt, den Weg zu lehren begonnen bis zu seinem Tod, sagt die Geschichte. Aber nicht so, wie die Menschen es sich erwartet hatten, sondern so, wie es ein Meister tut in seiner Beziehung zum Schüler, so wie ich es zu beschreiben versucht habe. Mahakashyapa war der erste seiner Schüler, dem er das Nichtübertragbare über­ trug. Dann, führt die Überlieferung aus, wurde Zen über 28 Generationen hinweg in Indien weitergegeben von Patriarch (= „Altmeister“) zu Patriarch, bis es schließlich Anfang des 6. Jh. n. Chr. durch Bodhidharma nach China kam und dort im 8. und 9. Jh. seine Blütezeit erlebte. In einer Übertragung steckt hohe Verantwortung, denn die leiseste Unklarheit in der Erfahrung des ersten Schülers hätte ein Verwischen immer größeren Ausmaßes in den folgenden Schüler-Generationen zur Folge. So war jeder Meister streng bedacht auf die reine, klare Erfahrung seines Schülers; nur so war die Weitergabe des reinen Zen garantiert. Und doch bildeten sich aus den verschiedenen Lehrstilen verschiedener Meister im Laufe der Zeit verschiedene sog. Zen-Linien oder -Schulen heraus. Während in China die meisten Schulen nach und nach ausstarben, gelangten zwei von ihnen, die Rinzai- und die Soto-Linie, im 12./13. Jh. nach Japan, brachten dort Zen erneut zum Blühen und sind bis heute lebendig. Soto - nur sitzen; Rinzai - Koans. Anfang dieses Jahrhunderts haben sich die ersten japanischen Rinzai- und SotoMeister in den USA niedergelassen, und nach und nach hat Zen auch in Europa Fuß gefaßt und wird unter der Leitung von Europäern geübt. Und es hat den Anschein, als wäre es mittlerweile im Westen lebendiger als in Ostasien. Vielleicht passiert das Kuriosium, daß blühendes Zen eines Tages vom Westen aus wieder nach Japan und China getragen wird ... Summary: The Zen master’s task is to prompt, encourage and accompany the Student in meeting his own deepest beeing. To achieve this, conventional thought patterns have to bc overcome in favour of the unbound, simply reality of the moment. This is realized by means of paradoxes, Koans, etc. The relationship between master and Student is less persona! but rather on the level of being to being. The master refuses any adoration of his person and will render himself superfluous when his task is done. Key words: Zen, Zen paradoxes, Zen-Master, master-student-relationship in Zen 32

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2/99, 33-48

Der sokratische Dialog als Modell Überlegungen zur dialogischen Grundhaltung der Helferpersönlichkeit1 Christoph Schmidt-Lessek, Frankfurt

Zusammenfassung: Angesichts von möglichen Deformationen in psychosozia­ len Berufen unternimmt der Autor einen Rückblick auf den „sokratischen Dialog“ als Modell für therapeutische Dialoge. Gegenüber einem dogmatisierten Wissens­ kanon erscheint die Anerkennung des eigenen Nicht-Wissens im Hinblick auf den Dialogpartner und auf die zu lösenden Probleme als bedeutsame Grundhaltung. An die Stelle von gesichertem Schulwissen, daraus folgender Indoktrination oder z. B. von Widerstandsdeutungen treten das gemeinsame Fragen und Untersuchen sowie der Mut, sich dem jeweils begegnenden Unbekannten zu öffnen. Die Bedeutung des Eros-Begriffs Platons für die dialogische Beziehung wird erläutert. In zehn kom­ mentierten Thesen werden Aspekte diskutiert, die für die heutige Praxis der Psycho­ therapie relevant sind. Schlüsselbegriffe: Dialogische Beziehung; sokratischer Dialog; Wissen des Nicht­ wissens; Eros-Begriff Platons; Psychotherapie; Philosophie.

Vorbemerkung Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Auseinandersetzung mit De­ formationen in der Haltung, in der Organisationsstruktur und auch im Umgang mit Konzepten, denen wir in unserer Psychotherapiekultur begegnen. Ich denke z. B. an Guru-Strukturen, an sektenhafte Entwicklungen mit entsprechendem Machtmiß­ brauch, an dogmatische Fixierungen zur Sicherung seines Wissensfundus, an funktionalistische Entleerungen der therapeutischen Beziehung oder auch an so manchen therapeutischen Kitsch, in welchem Denken und Handeln zu Klischees erstarrt sind. Solche Deformationen lassen sich wohl u.a. aus einem allgemeinen Bedürfnis nach Sicherheit und eindeutigen Orientierungen herleiten und verstehen. Dabei ent­ steht jedoch das Problem, daß z. B. mit einer Dogmatisierung der ursprüngliche Geist eines Gedankens, eines Begriffs, einer Konzeption verlorenzugehen droht: Sie brennen nicht mehr unter den Nägeln, sind nicht mehr aufregend oder beun­ ruhigend, sie verlieren ihre existentielle Bedeutsamkeit, kurz: sie werden zu „Wort­ hülsen“. (Dies entspräche der Empfehlung des Goetheschen Mephisto an den Schüler: „Im Ganzen - haltet Euch an Worte, dann geht Ihr durch die sichre Pforte zum Tempel der Gewißheit ein!“) 33

Christoph Schmidt-Lessek

Eine derartige Deformation läßt sich m. E. auch im Gebrauch des Begriffs „dialo­ gische Haltung“ feststellen. Er gehört zweifellos zum konzeptionellen Grund­ repertoire etlicher Therapie-Schulen, vor allem der Verfahren, die sich dem Lager der „Humanistischen Psychologie“ zuordnen lassen, wie z. B. die Gestalttherapie oder die Gesprächspsychotherapie. So wird etwa Martin Buber mit seinem „dialogi­ schen Prinzip“ häufig zitiert, ob auch wirklich zu eigen gemacht, ist eine andere Frage. Und selbst wenn dies der Fall ist, kann es passieren, daß mit der beruflichen Alltagsroutine manches davon mit der Zeit verlorengeht. So müssen wir immer wie­ der neu überprüfen, ob die eigene Haltung und das eigene Tun dem Gesagten ent­ sprechen. Ich meine jedenfalls: Eine ernst genommene dialogische Haltung verbietet dog­ matische Fixierungen und ist außerdem geeignet, Tendenzen in dieser Richtung zu überwinden. Denn wirkliche Dialogik bedeutet, durch das jeweilige Gegenüber immer wieder beunruhigt, in der Gewißheit seines Denkens, Wahrnehmens und Urteilens aufgescheucht zu werden. Dialogik bedeutet eine je neue Herausforderung durch das Unbekannte, das einem begegnet, die Forderung, aus der Sicherheit des Bekannten oder Gewohnten herauszutreten und eine ichbezogene Gefangenheit zu überwinden, und sie bedeutet vor allem die Anerkennung, daß das Andere (das Problem, das Thema) bzw. der andere Mensch dem eigenen erkennenden Zugriff und ebenso dem handelnden Zugriff letztlich unverfügbar bleiben. Darüber hinaus schafft Dialogik eine je neue Gemeinschaft der Beteiligten, indem diese sich fürein­ ander und für die zu behandelnde Frage öffnen. So gesehen ist Dialogik ein Grundthema menschlicher Existenz bzw. menschlichen Miteinanders, allerdings mit einer besonderen Relevanz für helfende Berufe, da hier das Beziehungsgeschehen zwischen den Beteiligten in besonderem Maße reflektiert werden muß. So möchte ich mit den folgenden Ausführungen dazu anregen, die „dialogische Grundhaltung“ genauer unter die Lupe zu nehmen und zu überprüfen: Was ist damit gemeint? Was sind deren Implikate, und wie sieht die eigene Praxis aus? Und schließlich: Was können wir tun, um uns für dialogische Prozesse immer wieder neu zu öffnen? Als Weg dazu schlage ich einen Perspektivenwechsel vor durch einen Rückblick auf Sokrates. Seine Grundhaltung läßt sich folgendermaßen umreißen: In der Auseinandersetzung mit den Sophisten hat er deren monologischer Haltung, mit der ein Wissender einem Nichtwissenden entgegentritt, die dialogische Haltung ent­ gegengesetzt, in welcher die Gesprächspartner als gleichermaßen Nichtwissende bzw. als Fragende sich durch den Dialog um das Verstehen einer Sache bzw. um die Lösung eines Problems bemühen. Die These des Sokrates lautet, daß Erkenntnis von Wahrheit nicht anders als im Dialog von Wahrheitssuchenden möglich ist. Mir geht es hier darum, anhand der Haltung des Sokrates einige dialog-typische Aspekte und damit die exemplarische Bedeutung des sokratischen Dialogs darzustellen.

1. Sokrates und die Sophisten: Dialogik vs. Monologik Zum Verständnis des Sokrates einige Vorbemerkungen: Sokrates hat keine Schrif­ ten hinterlassen, wir kennen ihn nur durch die Darstellungen seiner Schüler und anderer Zeitgenossen, v. a. aber aus Platons Schriften. So scheint es zunächst schwie­ 34

Der sokratische Dialog als Modell

rig, Sokrates von Platon zu unterscheiden. Es ist aber zum einen möglich, insofern man in den frühen Dialogen Platons (Laches, Charmides, Eutyphron, Apologie, Kriton u. a.) am ehesten die Gestalt des Sokrates erkennen kann; zum anderen ist es auch inhaltlich notwendig, insofern (nach Picht 1969) das sokratische „Wissen des Nichtwissens“ von der „Anamnesislehre“ und der „Ideenlehre“ Platons abzugren­ zen ist. Sokrates (470-399 v. Chr.), Sohn eines Bildhauers und einer Hebamme, prakti­ zierte sein Philosophieren, indem er auf den Plätzen Athens beliebige Gesprächs­ partner durch sein Fragen zum Überprüfen ihrer vermeintlich sicheren „Meinun­ gen“ aufforderte. Er vertrat also keine „Schule“, hatte keine Institution im Rücken (und auch nicht „im Nacken“), er war also im wahrsten Sinne „freiberuflich“ tätig (in der „Apologie“ wird auch gesagt, daß er im Unterschied zu den Sophisten kein Honorar für seine Lehrtätigkeit verlangt hat). Wie bekannt, wurde er im Jahre 399 (etwa 70jährig) von den Athenern wegen „Unfrömmigkeit“ und „Verderben der Jugend“ zum Tode verurteilt. Dies mag darauf hindeuten, daß ein freies, nicht schul­ mäßiges Denken schon immer für viele Menschen anstößig war. Der Konflikt mit den Sophisten sei kurz erläutert: Sokrates war Bürger des demo­ kratisch verfaßten Athen, in dem jeder freie Bürger an der politischen Macht teilha­ ben konnte. Um dem Bedürfnis der Jugend nach politischer Ausbildung zu entspre­ chen, kamen Wanderlehrer, Sophisten genannt, in die Stadt. Sie hatten einen großen Zulauf, eine Anhängerschaft, die ihnen ergeben an den Lippen und an den Fersen hing, wie es, wohl etwas karikierend, von Platon im „Protagoras“ geschildert wird: junge Leute, welche der Sophist „Protagoras hinter sich herzieht durch den Zauber seines Mundes, so daß sie alle willenlos diesem Zauber nachfolgen“ und sich ihm als „brave, stumme Zuhörer angeschlossen haben“ (315 B). Inhalt ihres Lehrens waren v.a. die Rhetorik und die Vermittlung von „Tugenden“, die für die Ausübung von politischer Macht als erforderlich galten: Tapferkeit, Besonnenheit, Frömmigkeit, Gerechtigkeit. Die Sophisten meinten, wenn man den Stoff ihrer Unterweisung gelernt habe, sei einem das Gemeinwesen beherrschbar und verfügbar - es ging also um die Vermittlung von Herrschaftswissen. Demgegenüber bezweifelte Sokrates, daß Tugend ein lehrbares Wissen sei, z. B. aufgrund der Beobachtung, daß Söhne von vorbildlichen Herrschern sich keines­ wegs als so tugendhaft erwiesen, wie man es erwarten müßte. Außerdem bezweifel­ te er, daß die Sophisten überhaupt wüßten, was Tugend sei. Und in den von Platon geschilderten Streitgesprächen, in denen die aufgestellten Wissensbehauptungen überprüft werden, wird schließlich den beteiligten Dialogpartnern dieses Nicht­ wissen deutlich. Aber statt dies nun als eine peinliche Niederlage, als Unzulänglich­ keit der Sophisten zu bewerten, vollzieht Sokrates eine Umdeutung in eine positive Erkenntnis, indem mit dem Anerkennen des Nicht-Wissens erst der gemeinsame Boden des Fragens und Untersuchens geschaffen wird. Und erst jetzt kann deutlich werden, daß Tugend überhaupt nicht als fixiertes Wissen verfügbar sein kann, daß es vielmehr darum geht, sich dafür zu öffnen und offen zu halten. An die Stelle der Autorität der Sophisten setzt Sokrates also nicht etwa die eigene oder sonst einer Person, sondern die Sache, das Problem, den Erkenntnisgegenstand. Zum Verständnis des Nicht-Wissens sei die Unterscheidung der verschiedenen Ebenen des Wissens herangezogen, wie sie im Dialog „Charmides“ entwickelt wer­ 35

Christoph Schmidt-Lessek

den: (1) technisches Wissen (téchne) als die Fähigkeit, etwas zu machen und hcrzustellen, wie die Handwerker etwas herstellen; (2) verstehendes Wissen (epistéme), wie die Heilkunde ein Wissen von Gesundheit ist; (3) das Wissen des Wissens (epis­ teme epistémes), was wir mit „Bewußtsein“ übersetzen können.2 Bei der in diesem Dialog untersuchten Frage, was „Besonnenheit“ ist, wird z. B. gezeigt, daß diese sich keiner dieser drei Ebenen des Wissens zuordnen läßt, so daß die Gesprächsteil­ nehmer am Ende also nach wie vor nicht wissen, was Besonnenheit eigentlich ist. Als Ergebnis der Untersuchung wird vielmehr deutlich, daß das Wesen der Besonnen­ heit gerade darin besteht, sich über dieses Nicht-Wissen Rechenschaft abzulegen, also in dem Wissen des Nicht-Wissens.3 Mit dem Anerkennen des Nicht-Wissens passiert in mehrfacher Hinsicht eine Veränderung: (1) Das vermeintlich Gewußte wird zu einem Nicht-Gewußten, es wird „frag­ würdig“. (2) Durch die gemeinsame Bemühung des Fragens verändert sich das Vorver­ ständnis einer Lehrer-Schüler-Beziehung; die Beteiligten werden zu gleichberechtig­ ten Dialogpartnern, indem alle als Nicht-Wissende vor der Sache stehen. (3) Vor allem verändert sich die Art des Sprechens: Der Belehrung durch einen Wissenden, einen Sachverständigen entspricht der Monolog; hier herrscht folgende Konstellation: Wissender und Gewußtes einerseits, passive Zuhörerschaft anderer­ seits, - graphisch vielleicht darzustellen in einer Linie von oben nach unten. Wenn an die Stelle eines zu vermittelnden Wissens das Anerkennen des Nicht-Wissens und ein gemeinsames Fragen treten, werden die Beteiligten zu Gesprächsteilnehmern die angemessene Art des Sprechens ist der Dialog-, als graphische Darstellung bietet sich das Dreieck an: die Dialogpartner auf der gleichen Ebene mit einem gemeinsa­ men Bezug auf das In-Frage-Stehende, das Problem, das Thema. Der Dialog wird damit zu einem „Raum der Erfahrung des Bezugs zwischen dem Thema und denen, die über das Thema sprechen“ (Strohmaier 1979, 102). Der Wechsel vom Monolog zum Dialog ist also mehr als nur eine Veränderung der Kommunikationsform, näm­ lich eine veränderte „Art der Verfügbarkeit der Sache, um die es geht“ (ebd.): Im dialogischen Sprechen wird eine Aussage „als Beitrag aufgefaßt, der seinen Sinn gerade darin hat, nichts Endgültiges, sondern nur Moment einer Bewegung zu sein“ (S. 112); „Dialogisches Sprechen ist solches, das sich gegenüber seinem Gegenstand als Vorläufiges versteht“ (S. 113). So gibt es in den von Platon verfaßten sokratischen Dialogen typischerweise auch keine endgültige Antwort, kein abschließendes Ergebnis, sondern am Ende der Dialoge steht die Aufforderung an die jeweiligen Dialogpartner, selbst weiter zu untersuchen.4 In den sokratischen Dialogen werden die Gesprächspartner also von Sokrates auf­ gefordert, sich über ihre Meinungen Rechenschaft zu geben. Die entscheidende Frage lautet: „Was ist es?“ Es geht darum, sich von der vermeintlichen Gewißheit seiner vorgefaßten Sichtweisen frei zu machen und sich damit zu öffnen für die Wahrheit, d. h. für das Wesen der Dinge. Dieses aber läßt sich nicht wissen, denn das wäre nur einem Gott Vorbehalten. Das höchste Wissen, das einem Menschen mög­ lich ist, ist demnach das Bewußtsein dieses Nicht-Wissens. Das heißt, daß der Mensch die Anmaßung, etwas sicher zu wissen, durchschaut; und indem er sich von dieser Täuschung befreit, was als „Heilung der Seele“ (psychès therapéia, Laches 185 36

Der sokratischc Dialog als Modell - ...

E 5) begriffen wird, gelangt er zum Einklang mit sich selbst. Und genau dies ist die Grundlage jeglicher „Tugend“. „Tugend“ ist also kein lehrbares Wissen, sondern eine Haltung, nämlich die „Übereinstimmung von Erkennen und Vollbringen, von Denken und Handeln, von Wissen und Leben“ {Picht 1969, 91). Diese Haltung entspricht übrigens dem Gebot, das ein Delphi-Pilger, der dort das Orakel befragen wollte, über der Eingangspforte zu dem Apollo-Heiligtum vor­ fand: „Erkenne dich selbst“ (gnothi seautón); das bedeutet: „Erkenne in der Gegenwart des Gottes, daß du nur ein Mensch bist; daß du als Mensch keine voll­ kommene, absolute Erkenntnis hast.“ Selbsterkenntnis heißt also das Anerkennen der Begrenztheit des menschlichen Erkennens.

2. Der Eros-Begriff (nach Platons „Symposion“) Um einen weiteren wesentlichen Aspekt der Sokratischen Dialogik zu verdeut­ lichen, der nach meiner Überzeugung auch für die helfende Beziehung bedeutsam ist, möchte ich den Eros-Begriff kurz erläutern, wie er in Platons „Symposion“ („Das Gastmahl“) entwickelt wird. In diesem wunderbaren Text werden zwar zen­ trale Aspekte von Platons Denken dargestellt; dennoch ist er geeignet, auch die Haltung des Sokrates zu verdeutlichen. (Daß der Eros für Sokrates eine große Bedeutung hatte und daß man sich Sokrates als einen leidenschaftlichen Menschen und keineswegs als einen abgeklärten, über den Dingen stehenden Asketen vorzu­ stellen hat, wird nicht nur im Symposion, sondern auch in anderen Texten angedeu­ tet, wie z. B. in der Rahmenerzählung des erwähnten Dialogs „Charmides“.)5 Das „Symposion“ ist die Darstellung eines festlichen Gastmahls mit einer Folge von Preisreden auf den Eros.6 Aus den aufeinander aufbauenden Reden möchte ich nur einige wenige Begriffsdefinitionen zitieren, die für unseren Kontext relevant sind. (1) In Auseinandersetzung mit herkömmlichen mythologischen Vorstellungen, wonach es zwei Eros-Gestalten gebe, nämlich den „himmlischen und den irdischen Eros“, wird gesagt, daß es nur einen Eros gibt; denn das Eros-Begehren ist eine all­ gemeine Befindlichkeit des Menschen und an sich weder gut noch schlecht, aller­ dings mit verschiedenen Möglichkeiten, sich zum Guten oder zum Schlechten zu wenden (Pausanias-Rede). Dies bedeutet nach Picht (1990,461): „Die edle Form der Liebe ... schließt die Sinnlichkeit in der Erotik nicht aus, aber sie verwandelt sie, weil hier die Befriedigung des sinnlichen Triebes nicht das Ziel ist, sondern dazu dient, die Seele für ihre höheren Regungen und Möglichkeiten aufzuschließen.“ (2) In der Aristophanes-Rede wird (mit einem etwas skurrilen mythologischen Märchen) dargelegt, daß die Menschen ursprünglich eine kugelförmige Einheit waren, mit zwei Gesichtern und vier Armen und Beinen. Wegen ihres Übermutes (sie wollten „sich einen Aufgang zum Himmel schaffen, um die Götter anzu­ greifen“, 190 B) beschlossen die Götter, sie entzweizuschneiden. Seitdem ist jeder einzelne nur ein Teilstück (griech. Symbolon, wörtl.: etwas, das zusammenzuwer­ fen ist7), und alle Menschen haben eine Begierde, sich mit dem dazugehörigen Gegenstück wieder zu vereinigen (191 D). Zusammenfassend wird der Eros fol­ gendermaßen definiert: „Eros ist das Begehren und der Drang nach dem Ganzen“ (192 E10).8 37

Christoph Schmidt-Lessek

Damit wird zum Ausdruck gebracht, daß der Mensch in sich unvollständig und „immer der Ergänzung bedürftig“ ist, daß also jeder Mensch, ob „gesund“ oder „krank“, der „Heilung“ bedarf (Picht 1990, 542): Er ist angewiesen auf das Andere, auf die Ergänzung durch das Andere. „Der Mensch hat sein Selbstsein nicht in sich selbst, er hat sein Selbstsein immer außer sich und ist deshalb immer vom Eros bewegt“ (Picht 1990, 544). Dies wird in der Diotima-Rede weitergeführt durch den Begriff ékstasis („Aus-sich-Heraustreten“, lat. existentia): „Der Mensch ist das Wesen, das aus sich heraustreten muß, um zu seiner Wahrheit und damit zu sich selbst zu gelangen“ (ebd.). (3) In der von Sokrates zitierten Diotima-Rede wird das Bisherige fortgeführt. Zunächst heißt es: Eros ist ein Begehren nach dem, was man nicht hat und dessen man bedarf, nämlich nach dem Guten und Schönen (202 D1), kurz, nach Glück (griech. eudaimonía). Eros ist also der Ausdruck eines grundlegenden Mangels, der im menschlichen Leben nie endgültig und vollständig befriedigt werden kann. Wie relevant diese Definition für unseren Kontext ist, wird insbesondere deutlich, wenn man sie mit dem christlichen Liebesbegriff kontrastiert - Agape. Ist Eros die „begehrende Liebe“, so ist Agape die „schenkende Liebe“, die nichts für sich begehrt (am prägnantesten formuliert von Paulus in 1. Kor. 13). Agape ist die Liebe eines Menschen, der sich selbst - im Glauben - als beschenkt weiß und diesen Reichtum weiterschenken kann. Da dieser Begriff die Entwicklung der verschiede­ nen sozialen Helferberufe m. E. maßgebend geprägt hat, lohnt sich eine Ausein­ andersetzung damit. Dabei stellt sich allerdings die Frage: Wie gelangt ein Mensch zu einem solchen Reichtum, in welchem er nichts mehr begehrt? Und vor allem: Was passiert, wenn dies zu einer geforderten Haltung wird - in der man nichts begehren darf? (4) Weiterhin heißt es, Eros „ist eine Fortpflanzung im Schönen am Leibe wie an der Seele“ (206 B). Das dadurch erstrebte Gute, das man nie hat, ist „Unsterb­ lichkeit“, sei es in dem Fortleben von Kindern durch die Verbindung von Mann und Frau, sei es in der Tugendhaftigkeit einer schönen Seele, die es zu erziehen und zu bilden gilt. Die Schönheit (der geliebten Frau oder des geliebten Knaben) ist dabei „Schicksalsmacht und Geburtshelferin“ (206 D).

3. Zusammenfassende Thesen Ich möchte nun in zehn kommentierten Thesen einige Aspekte zur Haltung des Sokrates ausführen, die mir für die Grundhaltung eines Helfers in Psychotherapie und Beratung relevant scheinen. 1 1. Grundlage jeglicher Erkenntnis ist Selbsterkenntnis. Selbsterkenntnis bedeutet die Befreiung von der Hybris, sein eigenes Wahr­ nehmen und Denken absolut zu setzen; in heutigen Begriffen: die Befreiung von narzißtischer Selbstüberhöhung. Selbsterkenntnis als Einsicht in die Begrenztheit bzw. in die Relativität des eigenen Erkenntnisvermögens ist die Voraussetzung für jegliche Art von Erkenntnis als ein Sich-Öffnen für das Andere, Fremde, Unbe­ kannte. Die eigene Existenzerfahrung ist die „Brille“, mit der wir uns einfühlen kön­ nen in die Existenzerfahrung Anderer; sie ist also Bedingung der Möglichkeit des 38

Der sokratische Dialog als Modell - ...

Einfühlens und dessen Einschränkung zugleich. Dies bedeutet für die Psychotherapeuten-Rolle, daß der eigene Weg der „Selbsterfahrung“ Voraussetzung dafür ist, auch Andere auf ihrem Weg begleiten zu können; es bedeutet aber auch, daß die Interventionen oder Interpretationen eines Therapeuten als eine persönliche (sub­ jektive) „Resonanz“ zu begreifen sind, nicht etwa als allgemeingültige (objektive) Aussagen. 2. Der Erkenntnisvorgang wird von Sokrates wie von Platon als ein Heilungsprozeß begriffen. Es geht um die „Heilung der Seele“ (psychès therapéia, Laches 185 E 5; vgl. Kritias, 106 B: Erkenntnis als „Heilmittel“). Die Heilung besteht in der Befreiung von der hybriden Selbsttäuschung, man habe ein sicheres Wissen, bzw. man habe volle Verfügungsgewalt über sich selbst und über den Anderen bzw. das Andere. In ande­ ren Worten, Erkenntnis als Selbsterkenntnis bedeutet die Überwindung einer Selbstbezogenheit, die eine Gefangenheit in Vorurteilen, als sicher angenommenen Meinungen oder in ichbezogenen, personalen Interessen und nicht zuletzt in nar­ zißtisch motivierten Ängsten darstellt. Erkenntnis ist also alles andere als ein abstraktes intellektuelles Vergnügen, sondern immer ein existentieller Vorgang, in dem der Mensch zu seinem „Seelenheil“ (wie auch immer dieses verstanden wird) finden soll. Dabei ist das Leiden oft der Antrieb zu fragen: Was ist cs? Was ist der Grund, was der Sinn des Leidens? Das Leiden wird in der Regel als etwas Fremdes empfunden, das nicht zu einem gehört - bzw. nicht gehören soll. Aber gerade deshalb ist es eine Herausforderung, über sich und sein Dasein auf neue Weise nachzudenken (die „Umwendung“, metánoia); es ist eine Herausforderung, das Fremde in sich als zu einem gehörend anzuerkennen und sich ihm zu öffnen. Mit einer Kurzformel von Herodot gesagt: Pathemata mathémata - „Leiden sind Lehren“. Dazu ein plastisches Beispiel aus einem der frühen Dialoge („Charmides“): Sokrates wird von Kritias mit dem jungen Mann Charmides bekannt gemacht, der an chronischen Kopfschmerzen leidet, in der Hoffnung, daß Sokrates ein Heilmittel wisse. Dieser gibt ihm zu bedenken, daß die griechischen Ärzte bei so vielen Krankheiten keinen Erfolg hätten, „weil sie das Ganze nicht kennen, das man in Pflege nehmen müsse“. Man dürfe also nicht versuchen, „nur den Kopf ohne den ganzen Leib und so auch nicht den Leib ohne die Seele zu heilen.... Die Seele aber ... müsse durch gewisse Heilsprüche behandelt werden; diese Heilsprüche aber seien die guten Reden. Durch Reden dieser Art erwachse Besonnenheit in den Seelen; wo diese vorhanden sei, sei es etwas Leichtes, dem Kopfe wie auch dem übrigen Körper die Gesundheit zu bewirken“ (156 Eff). So empfiehlt Sokrates dem Charmides, sich zunächst mit seiner Seele zu befassen. Darauf meint Kritias: „Da wäre ja für den jun­ gen Mann sein Kopfweh ein wahres Glück geworden, wenn er genötigt würde, sei­ nem Kopf zuliebe nun auch in seinem Geiste besser zu werden.“ 3. Erkenntnis und Selbst-Erkenntnis sind dialogischer Natur. Erkennen vollzieht sich durch das Gespräch zwischen Menschen als gemeinsames Suchen nach Wahrheit in wechselseitigem Fragen und Hinterfragen, in Rede und Gegenrede, ebenso in wechselseitigen Resonanzen und Spiegelungen. Das dialogi39

Christoph Schmidt-Lcssek

sche Erleben ist entwicklungsdynamisch gesehen ja auch früher und basaler als dar­ aus vielleicht folgende monologische Erkenntnisformen. Für die Psychotherapie ist dabei natürlich wichtig, daß „Dialogik“ auch die präverbalen und emotionalen Di­ mensionen umfaßt. Diese haben allerdings ihre eigene „Vernunft“, insofern sie eine wesentliche Wahrnehmungsfunktion darstellen. In den Worten von Picht (1986): „Die Sinne denken.“ Voraussetzung für gelingende Dialoge ist in jedem Fall die An­ erkennung des Gesprächspartners als gleichberechtigt und als ebenbürtig, d. h. als gleichermaßen vernunftbegabt, unabhängig vom jeweiligen „intellektuellen“ Niveau. So bezweckt die Methode der Gesprächsführung des Sokrates eben nicht, seinen Gesprächspartner von einer bestimmten These zu überzeugen, sondern sie soll ihn zu einer „Überprüfung“ (griech. elenxis) seiner eigenen Gedanken anregen, insbe­ sondere im Hinblick auf die Übereinstimmung von Rede und Lebensweise. („Philo­ sophen“ sind also keine wissenden Fachleute, sondern (wörtl.) Leute, die „die Weis­ heit lieben“.) Dialogik unterstreicht den Prozeß des Erkennens. Es geht darin also eher um eine Bewegung als um ein endgültiges Ziel. Anders gesagt, Ziel des Erken­ nens ist, sich zu öffnen und sich offen zu halten für das Andere, Fremde. Es gibt also letztlich nur Annäherungen an das zu Erkennende, keinen Abschluß, kein endgülti­ ges Ergebnis des Erkenntnisprozesses; in Begriffen des Sokratikers Nietzsche gesagt, Erkennen ist immer ein „Versuch“, ein Experiment (vgl. z. B. Jenseits von Gut und Böse, Aph. 42). In praktischer Hinsicht wird übrigens in den sokratischen Dialogen immer wieder gezeigt, wie notwendig es ist, sich zunächst darüber zu verständigen, worüber über­ haupt geredet wird (Begriffsklärung). Um es für unseren Kontext an einem Beispiel zu verdeutlichen: Was meinen wir, wenn wir den Begriff „Narzißmus“ verwenden: (1) ein modernes Zeitphänomen (wie etwa in den Journalen über die „narzißtische Jugendkultur“ geschrieben wird) oder (2) eine differenzierte psychologische Theorie? (3) eine Pathologie, mit entwertenden Konnotationen („das ist ja ein fürch­ terlicher Narzißt“) oder (4) eine allgemeine existentielle Problematik? (5) die psychoanalytische Narzißmustheorie, incl. der gesamten psychoanalytischen Ent­ wicklungstheorie, oder (6) eine phänomenologische Beschreibung von Beziehungs­ dynamiken, wie sie z. B. Petermann in der Zeitschrift „Gestalttherapie“ (1988) vor­ gestellt hat? usw. 4. Mäeutik ist die Grundhaltung eines Helfers, den Anderen in seinem eigenen Erkenntnisprozeß zu unterstützen, da jeder Mensch die Möglichkeit des Erkennens in sich trägt; und „niemand erkennt, was er nicht selbst entdeckt“ (Picht). Nicht die „richtige Dogmatik“ und eine entsprechende Indoktrination sind hei­ lend, sondern der eigene Weg. „Mäeutik“ heißt wörtlich „Hebammenkunst“ (Platon, Theaitet 149 A - 151 C): Der Helfer oder Lehrer ist demnach ein „Geburts­ helfer“, der „für die gebährenden Seelen Sorge trägt“; eine Geburt geschieht im wesentlichen von sich aus, und der Helfer hat dabei allenfalls den Prozeß zu beglei­ ten und zu unterstützen oder ggf. Komplikationen bzw. ein Ermüden zu überwin­ den - oder auch eine „Scheinschwangerschaft“ oder eine „Fehlgeburt“ als solche zu diagnostizieren (150 D). Seine Kompetenz ist also in erster Linie eine Prozeß­ kompetenz statt einer inhaltsbezogenen Wissenskompetenz. In den Worten des Sokrates: „Ich gebäre nichts von Weisheit, und was mir bereits viele vorgeworfen 40

Der sokratische Dialog als Modell - ...

haben, daß ich andere zwar fragte, selbst aber nichts über irgend etwas antwortete, weil ich nämlich nichts Kluges wüßte zu antworten, darin haben sie recht. Die Ursache davon aber ist diese: Geburtshilfe zu leisten nötigt mich der Gott, selbst zu gebären, hat er mir versagt“ (Theaitet, 150 D). Allerdings ist die mäeutische Funktion „nicht ohne Sachbezug möglich“; der Geburtshelfer „bemüht sich zwar um die Geburt der Gedanken des anderen, aber seine Hilfestellung könnte durch bloß formales Herausfragen ohne empathisches Erahnen des Gedankeninhalts auch nicht gelingen“ {Raupach-Strey 1997,156). Interessant ist ein Blick in verschiedene gängige philosophische Lexika, wo man unter dem Stichwort Mäeutik ein offenbar traditionelles Mißverständnis findet. Z. B. Hoffmeister (1955): „Verfahren, im Gespräch andere zu Erkenntnissen zu führen, so daß sie diese selbst aus sich heraus gewonnen zu haben meinen und Sokrates nur den Dienst der Entbindung, des Ans-Licht-Bringens geleistet zu haben scheint.“ Mäeutik wird dann auch als ein ironisches „Sich-Dumm-Stellen“ charakterisiert (z. B. H. Schmidt 1969, 288). Es scheint den abendländischen Deutern des Sokrates schwerzufallen anzuerkennen, daß ein großer Geist nicht von oben nach unten denkt und sich anderen gegenüber entsprechend verhält. Deswegen auch ein paar Worte zur sog. „Ironie des Sokrates“, die ebenfalls häufig mißdeutet wird: Das grie­ chische Wort eironeia heißt „Verstellung“. Aristoteles unterscheidet in der „Nikomachischen Ethik“ eine Verstellung nach oben (als Angeberei oder Anmaßung) und eine nach unten (als Ironie), die beide zu tadeln seien.9 Wenn man von der Ironie des Sokrates redet, dann ist meistens gemeint, daß er mit seiner Verstellung nach unten („Sich-Dumm-Stellen“) die hohle Anmaßung der Verstellung nach oben Anderer entlarven wolle. Damit würde er sich aber letztlich über die Anderen stellen und die dialogische Situation verraten. Die eigentliche Ironie ist bei Sokrates aber eine ande­ re: Gerade „dann, wenn die Anderen meinen, daß er sich ironisch verstellt,... sagt er die Wahrheit.... Er sagt die Wahrheit, ... wenn er von seinem Nichtwissen spricht. Aber die Anderen können diese Wahrheit nicht verstehen und halten sie deshalb für Verstellung.... Er ist in Wahrheit von der Schönheit der Knaben ergriffen und erschüttert. Aber sein Eros hat eine Gestalt, die ihm die sinnliche Befriedigung ver­ bietet. Deshalb erscheint sein Eros als ironische Verstellung, obwohl er sein tiefster und tragischer Antrieb ist“ {Picht 1990, 437 f.). 3. Das „ Wissen des Nichtwissens “ als grundlegende Tugend: Der Helfer ist nicht der Wissende, sondern der Fragende, der allerdings von der Fragwürdigkeit des schein­ bar sicheren Wissens weiß. Er hat nicht die Wahrheit bzw. die Lösung eines Problems, er kann nur in einem gemeinsamen Suchen hilfreiche Fragen stellen, damit sich Antworten entwickeln lassen; und er kann mögliche Antworten überprüfen und ggf. als nicht stichhaltig hinterfragen. Die Rolle des Therapeuten ist also nicht in erster Linie die eines Fachmanns, der Fragen beantwortet (was allenfalls auf der Ebene eines „technischen Wissens“ möglich und sinnvoll wäre), sondern eher die eines Gesprächskünstlers, der einen Freiraum für dialogische Prozesse des Verstehens schaffen kann. Eben dar­ in wäre die Meisterschaft einer Helferpersönlichkeit begründet: (1) in der Fähigkeit, dialogische Prozesse zu ermöglichen und zu unterstützen, sowie (2) dabei der Versuchung von dogmatisch oder durch Konvention fixierten Sicherheiten zu 41

Christoph Schmidt-Lessek

widerstehen; m. a. W. Meisterschaft ist v. a. in der inneren Freiheit begründet, nicht haften zu bleiben an einmal gewonnenen Erkenntnissen und sich dem je neu Begeg­ nenden immer wieder öffnen zu können. Insgesamt sind die mäeutische Haltung und das „Wissen des Nichtwissens“ nicht als ein absichtsvoll didaktisches Sich-Zurücknehmen oder als ein „ironisches“ Sich-Dumm-Stellen gegenüber dem Anderen zu verstehen, mit der wohlmeinenden, aber widersprüchlichen Botschaft: „Ich will, daß du von dir aus darauf kommst“, oder schlimmer noch: „Ich will dir das Gefühl geben, als sei es deine eigene Erkenntnis“. Im Hinblick auf die helfende Beziehung geht es vielmehr um die grundlegende Anerkenntnis: „Letztlich weiß ich nicht, wie deine Situation, deine Probleme zu verstehen sind und was die für dich gültige Lösung sein kann; was ich weiß (Information über Fakten oder Konstrukte) und was ich zu erkennen mei­ ne (Wahrnehmung) und wie ich diese Wahrnehmung interpretiere (Bewertung), will ich dir gerne mitteilen, aber ob es für dich gültig ist, kann ich nicht wissen, und es bleibt deine Aufgabe, es zu überprüfen, es dir zu eigen zu machen oder zu ver­ werfen.“ Man kann vielleicht fragen, ob nicht manche Deformationen im Bereich der Psychotherapie auf eine Verwechslung von technischem Wissen (als Fähigkeit, etwas zu machen) und verstehendem Wissen (als Bereitschaft, sich für etwas zu öffnen) zurückzuführen sind. Es mag ja eine Verführung sein, mit einer diagnostischen oder einer Interventions-Technik etwas im Griff zu haben und es damit erledigen zu kön­ nen. Andererseits versteht es sich von selbst, daß das Reden vom „Nicht-Wissen“ keine pure Ahnungslosigkeit meint, eben auch im Hinblick auf InterventionsTechniken oder auf diagnostische Perspektiven. Das „Wissen des Nicht-Wissens“ meint vielmehr das Bewußtsein, daß alle diagnostischen und therapeutischen Bemühungen einen anderen Menschen letztlich nicht zu erfassen vermögen. Zwar ist das Bedürfnis nach Gewißheit, nach sicheren und eindeutigen Orientierungen wohl tief verankert (z.B. die zunehmend mächtigen sog. „Psychosekten“ machen sich dies zunutze); aber zu meinen, man hätte in seinen Konzepten, in seiner Wahr­ nehmung und Bewertung eine unumstößliche Sicherheit, bleibt problematisch und kann die Offenheit der dialogischen Situation verhindern. Andererseits ist es m.E. ein wichtiges Diskussionsthema, in welcher Weise wir den tief verunsicherten Patienten zuverlässige Orientierungen vermitteln können, gerade wenn wir in ihnen einer basalen Orientierungslosigkeit begegnen. Ich denke, das Kriterium dafür ist in der Zuverlässigkeit der dialogischen Beziehung zu orten. Für die Psychotherapie lassen sich nun verschiedene Dimensionen des Nicht­ wissens aufzeigen: (1) Als Anerkennen der Möglichkeit des Irrtums, wie z.B.: „Ich habe mit meinen diagnostischen Möglichkeiten erkannt, daß der Patient eine narzißtische Störung aufweist. Daraus folgen bestimmte Fragen und Interventionsformen. Aber ob mei­ ne Diagnose richtig ist, bleibt beständig zu überprüfen, und ggf. muß ich meine Arbeitshypothese revidieren.“ (2) Als Relativierung der Erkenntnis im Hinblick auf die Person als ganze. Dann ist die Frage wichtig: „Was weiß ich eigentlich von der Person, wenn ich weiß, daß sie eine narzißtische Störung aufweist? Was habe ich von ihrem Dasein wirklich ver­ standen, in dem Sinne, daß ich ihre individuelle Verwirklichung von Leben gesehen 42

Der sokratische Dialog als Modell - . . .

hätte? Wie weit bin ich in der Lage, sie als einzigartige Person ernst zu nehmen und ihr wirklich zu begegnen?“ (3) Als Verzicht auf diagnostische Kategorien überhaupt, in der Überlegung, daß damit der klinische Blick vorgeprägt wird und die Person dahinter verschwindet. Diese Haltung wird von manchen systemischen Familientherapeuten versucht, so meinen z. B. Anderson & Goolishian (1992), daß durch die „therapeutische Haltung des Nicht-Wissens“ erst der Freiraum für eine „dialogische Konversation“ geschaf­ fen wird, ohne „therapeutische“ Fragen, „die durch die Methode informiert sind und damit spezifische Antworten erfordern“ (S. 178). Wenn ich also z. B. einen Patienten als „narzißtisch gestört“ betrachte, ggf. mit entwertenden Konnotationen, so kann dies meine Haltung ihm gegenüber einengen und auch meine entsprechen­ den Fragen beeinflussen, also den dialogischen Freiraum einschränken. (4) Eine noch grundlegendere Dimension des Nicht-Wissens betrifft die Frage, ob und wieweit unsere Modelle und Konzepte der Psychotherapie in Zeiten einer zunehmenden Auflösung oder zumindest Veränderung der herkömmlichen gesell­ schaftlichen oder Familienstrukturen noch angemessen sind. So ist immer wieder zu überprüfen, wieweit unser Bild von Gesundheit oder „Normalität“ nicht von tra­ ditionellen „bürgerlichen Mittelstandsnormen“ geprägt ist. Die von Ulrich Beck (1988) beschriebene „Risikogesellschaft“ läßt erwarten, daß sich in der Psycho­ therapie neuartige Konfliktkonstellationen zeigen, die neue Modelle und Konzepte erfordern. - So können wir z. B. fragen, ob unsere Konzepte des Narzißmus nicht einseitig das Bild eines autonomen, gebildeten Bürgers implizieren, oder zugespitzt gesagt, eines sich selbst verwirklichenden Renaissance-Fürsten; oder in den Kate­ gorien von Gerhard Schulzes „Erlebnisgesellschaft“ (1992) gefragt: ob sie sich nur dem „Selbstverwirklichungsmilieu“ zuordnen lassen, welchem aber etliche andere Milieus gegenüberstehen, in denen sich die Frage nach einem individuellen Selbst­ wert in dieser Weise gar nicht stellt. Diesen Dimensionen gemeinsam ist das Loslassen von den „Krücken“ eines gesi­ chert erscheinenden Fachwissens (das sich anzueignen allerdings notwendig bleibt) und ein möglichst freies Sich-Öffnen für das, was einem in der jeweiligen dialogi­ schen Situation begegnet. 6 6. Das Reden vom „Widerstand“ eines Klienten gegen die Bemühungen des Therapeuten erhält in diesem Zusammenhang eine zwiespältige Bedeutung Aufgrund eines dogmatisierten Wissens entstehen leicht Machtphantasien, Machtansprüche und Formen der Machtausübung, die den Anderen entmündigen, ihn zu einem Objekt der eigenen Beurteilung und Behandlung machen, ohne ihn in seinem Eigen-Sein, begabt mit der (von Sokrates gelebten und geförderten) Mög­ lichkeit der kritischen Prüfung von Normen und von Aussagen nach Vernunft­ gesichtspunkten, wahrzunehmen und anzuerkennen. Als „Wissender“ mag jemand das Recht in Anspruch nehmen, Andere zu abhängigen „Klienten“ zu machen und sich damit aus der dialogischen Situation, gekennzeichnet durch die Gleich­ berechtigung bzw. die prinzipielle Gleichheit der Dialogpartner, herauszuheben. Der „Widerstand“ eines Klienten kann dann die Qualität eines sinnvollen Selbst­ schutzes erhalten; er kann auch dazu dienen, den Therapeuten in die dialogische Situation zurückzurufen und ihn an die Eigenständigkeit seines Gegenübers zu erin­ 43

Christoph Schmidt-Lessek

nern. Dies hieße, sich vom Widerstand seines Gegenübers leiten zu lassen, statt ihn überwinden oder brechen zu wollen. Der heutige Begriff „Widerstand“ ist zwar im Kontext der modernen Psycho­ therapie entwickelt worden (genauer gesagt, in der Psychoanalyse S. Freuds)', es ist aber bemerkenswert, daß auch Platon sich schon damit befaßt hat: In dem berühm­ ten „Höhlengleichnis“ (in seinem Hauptwerk „Politeia“, „Der Staat“, 514 A-521 B) wird gezeigt, daß diejenigen, die das Wissen um die reinen „Ideen“ (metaphorisch: das „Licht“) schon erlangt haben und es nun zu den Menschen in der „Finsternis“ der „Höhle“ bringen sollen, mit deren Widerstand rechnen müssen, da diese lieber an ihren gewohnten Vorstellungen und Verhaltensweisen festhalten wollen. Dieser Widerstand kann sich dabei sowohl gegen die geforderte Veränderung richten als auch gegen die Personen, die die Veränderung initiieren wollen. Deshalb einige kritische Anmerkungen zu Platon: In seiner Staats-Utopie wer­ den die Philosophen als die Staatslenker gedacht; d.h., die „Wissenden“ (bzw. in unserem Kontext die „durchanalysierten“ Psychotherapeuten oder die qua Amt oder qua Ausbildungskompetenz befugten Sozialarbeiter usw.) erhalten eine Machtposition zugeschrieben, die sie über die anderen Menschen erhebt. Dem ent­ spricht auch, daß Platon für seine Staats-Utopie die autoritäraristokratische Verfassung Spartas und nicht die demokratische Verfassung Athens als Vorbild genommen hat. Auch hierin dürfte er eine enorme Auswirkung auf die europäische Geschichte gehabt haben.7 * * 10 So müssen wir bei Platon die Widersprüchlichkeit feststellen, daß er einerseits Sokrates zwar als Repräsentanten einer „autonomen Moral“ beschreibt (nach Kohl­ bergs Stufen der Moralentwicklung), daß aber andererseits „durch die Delegation der moralischen Urteilskompetenz auf eine Herrschaftselite ... eine absolute Normenverpflichtung erfolgt“, also eine Entmündigung der Menschen (Böhler 1980, 113). Hiermit ist das sokratische dialogische Modell des Philosophierens ver­ lassen. Die in der abendländisch-christlichen Tradition vorherrschende Aufteilung in „Wissende“, die sich zu entsprechender Machtausübung berechtigt bzw. ver­ pflichtet fühlen, und „Unwissende“, denen die „Wahrheit“ ggf. gegen ihren Wider­ stand beigebracht werden muß, ist hier also vorgezeichnet. Es bleibt also notwendig, die Ambivalenz des Widerstands-Begriffs nicht aus den Augen zu verlieren. Eine Widerstandsdeutung durch einen Therapeuten im Hinblick auf einen Klienten bzw. Patienten birgt insbesondere die Gefahr eines Machtmißbrauchs (vgl. Schmidt-Lellek 1995): Das Widerstandskonzept mag dazu verleiten, das Problem nur beim Anderen zu orten, statt den „Widerstand“ des Gesprächspartners als Symptom einer Störung der dialogischen Beziehung zu ver­ stehen, an der in der Regel beide Seiten beteiligt sind. 7. Das Begehren der Helferpersönlichkeit ist als Bestandteil der dialogischen Beziehung zu begreifen. Da die dialogische Beziehung eine existentielle Begegnung zwischen Menschen ist, ist auch die Persönlichkeit des Helfers Bestandteil des Geschehens. Der Helfer ist als Mensch selbst ein „Begehrender“; er ist wie jeder Andere „heilungsbedürftig“, da er nicht „vollständig“ ist und der Ergänzung bedarf („heil“ und griech. holos = „ganz, vollständig“, haben dieselbe indogermanische Sprachwurzel). Insofern gebe 44

Der sokratische Dialog als Modell - ...

ich dem platonischen Eros-Begriff den Vorzug gegenüber dem christlichen AgapeBegriff, da er realistischer und m.E. integrativer ist; denn ein Verleugnen des Begehrens vergrößert die Wahrscheinlichkeit, daß es unterschwellig und unbe­ herrscht hervorbricht und entsprechenden Schaden anrichtet. In diesem Zusammenhang mag das Reden von den „hilflosen Helfern“ (.Schmidbauer 1977) zu der Vorstellung verleiten, das Ideal sei ein bedürfnisloser Helfer. Zwar ist es natürlich notwendig, daß das Helfen nicht zur Befriedigung eige­ ner (narzißtischer) Bedürftigkeit funktionalisiert wird; aber wir sind alle in gewisser Hinsicht „hilflose Helfer“, insofern wir bedürftig und nicht perfekt sind; aber wir sind dann gute Helfer, wenn wir uns dessen bewußt sind, - d. h. nicht der Täuschung erliegen und nicht bei Anderen die Täuschung produzieren, wir seien perfekt und hätten alle Probleme durchschaut und gelöst (a.a.O., 10 ff.). 8. Die helfende Beziehung läßt sich als Eros-Beziehung ansehen. Der Eros des Helfers kann dabei in zweifacher Hinsicht ein sinnvoller, ja notwen­ diger Bestandteil der helfenden Beziehung sein: als Motiv der Zuwendung zum Anderen und als Motiv des Erkenntnisbemühens, in welchem auch das eigene Streben nach „Vervollständigung“ (das allerdings nie abschließbar ist) seinen legiti­ men Ort hat. Das Begehren nach einer „Fortpflanzung im Schönen“ mag als Antrieb zu verstehen sein, das Schöne im Anderen zu erkennen und ihm in einem „mäeutischen“ Bemühen zur Entfaltung zu verhelfen. Aber das Begehren muß umgewandelt werden, damit es nicht dazu benutzt wird, eine Befriedigung eigener Bedürfnisse auf Kosten des Anderen zu erlangen. Dies wäre der positive Sinn der sog. therapeuti­ schen „Abstinenz“. Abstinenz kann aber nicht heißen, daß der Helfer sich aus der Beziehungsdynamik heraushält, sich als Person unerkennbar macht und sich damit aus dem dialogischen Geschehen heraushebt („Ein total abstinenter, als Person nicht erkennbarer Leiter oder eine Leiterin ist für eine Gruppe zumindest heutzutage unerträglich“; Raupach-Strey 1997,156). 9. Der Eros und seine Deformationen liegen dicht beieinander und scheinen zuwei­ len kaum unterscheidbar zu sein. Das Begehren nach einer „Fortpflanzung im Schönen“ wird mißbräuchlich, wenn es quasi zu einer Besitzergreifung des Anderen führt oder wenn dem Anderen etwas aufgedrückt werden soll, das diesem nicht gemäß ist und hauptsächlich der Befriedigung des Helfers dienen soll, und sei es, daß er Erfolge seines Helfens beim Anderen erzwingen will (es käme sozusagen einer „Vergewaltigung“ gleich). Auf der anderen Seite steht das im Symposion dargestellte Mißverständnis des Alkibiades, der sich mit seiner körperlichen Schönheit dem Sokrates zu Liebes­ diensten angeboten hat, um dafür an seiner Weisheit teilhaben zu können; er handel­ te damit zwar in der Überzeugung, wirklich das Gute zu erstreben, wollte es sich aber quasi einkaufen und wurde von Sokrates natürlich scharf zurückgewiesen. Der gemeinsame Nenner für beide Formen von Mißverständnis bzw. Mißbrauch ist eine Instrumentalisierung des Anderen, in der dieser in seinem Eigensein nicht wahrge­ nommen und nicht anerkannt wird und so das dialogische Prinzip verraten wird. Damit verhindert die betreffende Person aber auch die Entwicklung ihrer selbst, indem sie der Eros-Spannung ausweicht, nämlich nicht anerkennt, daß der Andere 45

Christoph Schmidt-Lessek

dem eigenen Begehren nicht verfügbar ist und daß es darüber hinaus keine umfas­ sende Befriedigung gibt. 10. Konfrontationen sind nur in einer liebenden Beziehung möglich. Bei dem wohl allgemeinen menschlichen Bedürfnis nach Sicherheit und Ein­ deutigkeit müssen wir immer damit rechnen, daß Klienten sich an einen „Meister“ als vermeintlichen Garanten dafür hängen. Deshalb ist es eine verantwortliche Aufgabe eben dieses „Meisters“ bzw. Helfers, den Hilfesuchenden mit den daraus resultierenden Selbsttäuschungen zu konfrontieren, ihn auf sich selbst zurückzuver­ weisen, wie im Symposion gezeigt wird,11 denn den mühsamen Weg des Erkennens muß er selbst gehen. Allerdings ist ein Hinterfragen und Zurückweisen als purer Skeptizismus, der auch zu einem arroganten Zynismus werden kann, nicht die sokratische Haltung; denn damit wäre kein konkretes Wertschätzen mehr möglich.12 Ebenso verbietet sich eine „ironische Verstellung“: Ironie als ein „Sich-Dumm-Stellen“, um beim Anderen etwas zu bezwecken, ist eine Haltung, sich über den Anderen zu stellen und sich letztlich in „ironischer Distanz“ auf keine existentielle Begegnung einzulassen. Eine notwendige Konfrontation ist also nur möglich, wenn sie im Rahmen einer liebenden Beziehung geschieht und darin ertragen werden kann, d. h., wenn ein Helfer z. B. ein Gefühl dafür hat, wieviel an Zurückweisung oder Verunsicherung ein Mensch aushalten kann (das Kriterium für die „Wahrheit“ liegt in der Beziehung). Dies setzt seitens des Helfers die Bereitschaft voraus, seinerseits vom hohen Roß sicheren Wissens herabsteigen, so daß er existentiell berührt werden kann; und es setzt voraus, daß von beiden Seiten die Spannung der Eros-Beziehung ausgehalten wird, in welcher der Andere dem eigenen „Zugriff“ unverfügbar bleibt. Eben hierin aber liegt die Freiheit für wirkliche Begegnung, nämlich in der Über­ windung der Gefangenheit eines ichbezogenen Strebens, etwas haben, kontrollieren, besitzen zu wollen. Diese „Ekstasis“ (s. o.), das „Heraustreten“ aus solchen Be­ schränkungen und Deformationen, ist ein altes, aber nach meiner Überzeugung nach wie vor gültiges Modell helfender Beziehung.

Abstract: Regarding possible deformations in psycho-social professions, the author presents the “socratic dialogue” as a mode! of psychotherapeutic dialogues. In contrast to a dogmatized store of knowledge the recognition of the own not-knowing concerning the other person and the problem to be solved is a crucial attitude. Instead of a secure Professional knowledge and a corresponding indoctrination or interpretations of “resistance”, for example, the central issues are common questioning and scrutinizing as well as the courage to open oneself to the unknown which is to be encountered. The significance of the erosconcept of Plato to the dialogic relationship is explained. In ten commented theses the author discusses some aspects relevant to modern psychotherapy. Key words: Dialogic relationship; socratic dialogue: knowing of the not-knowing; eros-concept (Plato); psychotherapy; philosophy.

Anmerkungen: 1 Vortrag anläßlich eines Symposions des Gestalt-Kollegs, Frankfurt, am 14. 6. 1998. 2 Das Wissen des Wissens meint also verschiedene Ebenen des Wissens, dergestalt, daß in dem ersteren etwas hinzukommen muß: Es wird als „Mit-Wissen“ (synoida, bzw. syneidesis) bezeichnet, im Latei­ 46

Der sokratische Dialog als Modell - ...

nischen mit con-sdentia wiedergegeben. Dieser Begriff erhält in der abendländisch-christlichen-Tradition eine doppelte Bedeutung: Er bedeutet „Gewissen“ und „Bewußtsein als Selbstbewußtsein“ (Picht 1969, 98). 3 Der Satz vom „Wissen des Nichtwissens“ findet sich in der prägnantesten Form in der Apologie (Verteidigungsrede des Sokrates, 22 C): „Ich bin Mitwisser mit mir selbst, daß ich nichts weiß“ (synoida emoutö oüdin epistameno). 4 Daß Platon die meisten seiner philosophischen Schriften als „Dialoge“ verfaßt hat, ist wohl als das Bemühen zu verstehen, eine Grundhaltung des Denkens in einer entsprechenden Form darzustellen. Kritisch anzumerken ist jedoch, daß diese Form dann allerdings bei Platon selbst zunehmend erstarrt ist, so daß die „Gesprächspartner“ des Sokrates gar nicht mehr als solche erkennbar sind und nur noch auf ausformulierte „Fragen“ mit „Ja“ oder „Nein“ antworten (das Hauptwerk Platons „Der Staat“ ist dafür das prägnanteste und befremdlichste Beispiel). Vielleicht ist diese entleerte Form auch Symptom einer Veränderung des Denkens, insofern Platon schließlich auf der Basis seiner ldeenlehre die „wis­ senden“ Philosophen zu den Staatslenkern machen wollte. Die Entwicklung zu einer Dogmatisierung, die offensichtlich schon bei Platon stattgefunden hat, dürfte dann die abendländische Tradition maßgeblich geprägt haben. 5 Zum Verständnis dieser Situation ist wichtig zu wissen, daß im Attika dieser Zeit Liebesbeziehungen zwischen älteren und jungen Männern üblich waren, allerdings nach strengen Vorgaben (wie sie etwa im „Symposion“ in der Rede des Pausanias erläutert werden): Der Ältere habe als der „Liebhaber“ um den Jüngeren zu werben, während dieser als der „Geliebte“ dem Werben widerstehen mußte, so daß die Beziehung zwischen ihnen eine höhere („sublimierte“) Stufe erreichen konnte. Der Eros des. Liebhabers war der Antrieb, den Geliebten in die Dinge des Lebens einzuführen, „ihn wissend und tüchtig zu machen“ (184 D), - eine Situation, wie sie auch zu Beginn des Gespräches mit Charmides angedeutet wird. 6 Ein Symposion war im alten Griechenland kein beliebiges Gelage, sondern unterlag bestimmten Formen: Nach einem festlichen Abendessen wurde der Wein gereicht, und dazu haben die Fest­ genossen nach festen Regeln Gedichte oder Musik vorgetragen oder Gespräche über ein zuvor festgelegtes Thema geführt, über das jeder der Reihe nach zu sprechen hatte. Ein Leiter (der „Symposioarchos“) achtete darauf, daß die Vorschriften der Gesprächsführung und die Trinkregeln eingehalten wurden. Diese gesellschaftliche Form hat Platon aufgegriffen und hier als literarische Form genutzt. 7 Das Wort Symbolon erklärt sich aus der alten Sitte, daß ein Gastgeber seinem Gastfreund bei der Abreise eine Tonscherbe gab, man zerbrach sic in zwei Stücke, und jeder behielt eine Hälfte, die dann später als Erkennungszeichen diente, da nur diese beiden Bruchstücke zusammenpaßten. Der daraus abgeleitete abendländische Symbolbegriff besagt entsprechend, daß das Symbol wie die abgebrochene Hälfte „über sich hinaus auf etwas Anderes und weit Getrenntes verweist“ (Picht 1990, 544). 8 Der Begriff „das Ganze“ hat bei Platon eine zentrale Bedeutung. Er meint hier das Ganze als eine Einheit (griech. tò hólon), die etwas anderes ist als das Ganze im Sinne einer Summe der Teile (griech. tò pan). Das Ganze als Einheit meint die Form (oder Struktur) einer Sache — bei Platon die „Idee“ (eidos). Diese Definition des Eros enthält also einen Hinweis auf Platons sog. „Ideenlehre“, die „die Struktur und den Zusammenhang der Dinge, sofern sie Einheiten sind, verständlich machen“ soll (Picht 1990, 547). 9 „Ein Angeber ist jemand, der sich etwas anmaßt, was in Geltung steht, was ihm aber nicht zukommt, oder sich mehr anmaßt, als ihm zukommt. Der Ironische umgekehrt leugnet, was ihm zukommt, oder setzt cs herab. In der Mitte steht jemand, der ist, was er ist, der Wahrhaftige sowohl im Leben wie in der Rede, der von dem, was ihm zukommt, eingesteht, daß cs zu ihm gehört, und weder mehr noch weniger in Anspruch nimmt“ (Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch IV, Kap. 13, 1127 A). 10 Als Beispiel sei die Vorstellung einer „Elite“ von „wissenden“ Psychoanalytikern bei Freud genannt, der dabei explizit auf Platons Politeia Bezug nimmt; und auch Ferenczi behauptet, daß die „psycho­ analytische Auflassung nicht zu demokratischer Gleichmacherei führe; cs sollte vielmehr eine ,Elite' geben nach Art der Platonischen Herrschaft der Philosophen“ (Jones 1955, 90). 11 Der junge Gastgeber Agathon bittet Sokrates, neben ihm Platz zu nehmen, mit der Begründung, „damit ich auch noch von dem weisen Gedanken durch Berührung mit dir Gewinn habe.“ Und Sokrates antwortet: „Das wäre schön, Agathon, wenn es mit der Weisheit so stünde, daß sic von dem Volleren von uns in den Leereren flösse, wenn wir einander berühren, wie das Wasser in den Bechern, das durch den Wollfaden aus dem volleren in den leereren fließt“ (175 CD). Die zurückweisende Antwort des Sokrates bedeutet also, „daß niemand erkennt, was er nicht selbst entdeckt“ (Picht 1990, 464). In einem Lehrer-Schüler-Verhältnis kann es also nicht darum gehen, daß der Schüler sich in die Anhängerschaft seines Meisters begibt, in der Meinung, quasi durch eine „narzißtische Identifika­ tion“, an dessen Wissen oder dessen Bedeutsamkeit teilhaben zu können.

47

Christoph Schmidt-Lessek

12

Dies klingt z. B. in der Charakterisierung der „Ironie“ durch Hegel (Ästhetik I, 1970, 95) an: „Und nun erfaßt sich diese Virtuosität eines ironisch-künstlerischen Lebens als eine göttliche Genialität, für welche alles und jedes nur ein wesenloses Geschöpf ist, an das der freie Schöpfer, der von allem sich los und ledig weiß, sich nicht bindet, indem er dasselbe vernichten wie schaffen kann. Wer auf solchem Standpunkt göttlicher Genialität steht, blickt dann vornehm auf alle übrigen Menschen nieder, die für beschränkt und platt erklärt sind, insofern ihnen Recht, Sittlichkeit usf. noch als fest, verpflichtend und wesentlich gelten. So gibt sich dann das Individuum, das so als Künstler lebt, wohl Verhältnisse zu anderen, es lebt mit Freunden, Geliebten usf., aber als Genie ist ihm dies Verhältnis zu seiner bes­ timmten Wirklichkeit, seinen besonderen Handlungen wie zum an und für sich Allgemeinen zugleich ein Nichtiges, und es verhält sich ironisch dagegen.“

Literatur: Anderson, H., Goolishian, H. (1992): Der Klient als Experte. Ein therapeutischer Ansatz des MachtWissens. Zeitschrift für systemische Therapie 10 (3), S. 176-189. Aristoteles (1983): Nikomachischc Ethik. Stuttgart: Reclam. Beck, U. (1986): Die Risikogcsellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt: Suhrkamp. Böhler; D. (1980): Fragestellungen und problemgeschichtliche Hinweise auf das Curriculum. In: Funk­ kolleg Praktische Philosophie/Ethik, Heft 0. Weinheim, Basel: Bcltz, S. 105-118. Huber, M. (1984): Das dialogische Prinzip. Heidelberg: Lambert Schneider. Hegel, G. W. F. (1970): Vorlesungen über die Ästhetik 1 (Werke, Bd. 13). Frankfurt: Suhrkamp. Hoffmeister, ]. (Hg.)(1955): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Felix Meiner, 2. Aufl. Jones, E. (1953,1955, 1957): Das Leben und Werk von Sigmund Freud. 3 Bdc. Bern: Huber. Nietzsche, E (1980): Jenseits von Gut und Böse. Kritische Studienausgabe Bd. 6. München, Berlin: dtv, de Gruyter. Betermann, F. (1988): Zur Dynamik narzißtischer Beziehungsstruktur. Gestalttherapie 2 (1), S. 31-41. Picht, G. (1969): Wissen des Nichtwissens und Anamnesis: Der Übergang von Sokrates zu Platon. In: Ders.: Wahrheit, Vernunft, Verantwortung. Philosophische Studien. Stuttgart: Ernst Klett, S. 87—107. - (1986): Kunst und Mythos. Stuttgart: Klett-Cotta. - (1990): Platons Dialoge „Nomoi“ und „Symposion“. Stuttgart: Klett-Cotta. Platon (1967): Sämtliche Werke, 3. Bde. Köln, Olten: Jakob Hegner, 5. Aufl. - (1969): Symposion, griechisch und deutsch. München: Ernst Heimeran (Tusculum), 6. Aufl. Raupach-Strey, G. (1997): Grundregeln des Sokratischen Gesprächs. In: Krohn, D. u.a. (Hg.): Neuere Aspekte des Sokratischen Gesprächs. „Sokratischcs Philosophieren“ Bd. 4. Frankfurt/M.: Dipa. Schmidbauer, W. (1977): Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe. Reinbek: Rowohlt. Schmidt, H. (1969): Philosophisches Wörterbuch. Stuttgart: Kröner (18. Aufl.). Schmidt-Lellek, C.J. (1995): Narzißtischer Machtmißbrauch in der Psychotherapie. In: Schmidt-Lellek, C., Heimannsberg, B. (Hg.): Macht und Machtmißbrauch in der Psychotherapie. Köln: Edition Humanistische Psychologie, S. 171-194. Schulze, C. (1992): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt: Campus. Strohmaier, F.. (1979): Dialoge des Sokrates. In: Heinrichs, W. Rump, G. C. (Hg.): Dialoge. Beiträge zur Interaktions- und Diskursanalyse. Hildesheim: Gerstenberg, S. 99-115.

Berger Str. 106 60316 Frankfurt/M. Tel. 0 69/45 20 08, Fax 4613 42.

48

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2/99, 49-56

Esoterik im Christentum Gerhard. Wehr; Schwarzenbruck bei Nürnberg

Zusammenfassung: Der Autor benutzt den Esoterik-Begriff im ursprünglichen, d. h. in einem adjektivisch verstandenen Sinn. Bevor von „Esoterik“ in einem zusammenfassenden Sinne, etwa von esoterischen Strömungen oder Repräsentanten der Esoterik gesprochen werden kann, sollte man auf die Erfahrungsqualitäten und damit auf die innere Dimension eines Phänomens oder einer Geistesart achten. So gesehen gibt es im Christentum neben der manifesten und organisierten Darstellung innere, esoterisch zu nennende Aspekte. Sie sind bereits im Urchristentum anzu­ treffen und ziehen sich - oft verkannt, verketzert oder vernachlässigt - durch die gesamte Geschichte der Christenheit hindurch, z. B. in der Gestalt mystischer Bewe­ gungen. Der Autor redet aber nicht einer selbstverschlossenen Innerlichkeit das Wort. Vielmehr tritt er für die Notwendigkeit eines Spannungsverhältnisses ein, das zwischen Esoterik und Exoterik bestehen muß: Das innen Empfangene soll weltver­ antwortlich nach außen getragen werden. Schlüsselworte: Spiritueller Meister; Arkandisziplin; platonische Philosophie; Unterscheidung der Geister; Erkenntnisprozeß; Mystik; Umsetzung ins Exoterische und Lebenspraktische. Wer das Neue Testament, insbesondere die Evangelien mit der gebotenen Aufmerksamkeit liest, der begegnet an vielen Stellen Situationsschilderungen, die an das Wesen christlicher Esoterik heranführen. Da tritt Jesus von Nazareth als spiri­ tueller Meister auf, der einen Kreis von Jüngern um sich schart. Es sind Menschen - auch Frauen müssen wir uns hinzudenken - denen er die Geheimnisse des Reiches Gottes anvertraut, während er denen, die „draußen“ sind, verhüllt in Bildworten und Gleichnissen redet. Von daher gesehen sind selbst Jesu Mutter und leibliche Geschwister Menschen, die zunächst noch nicht in den „inneren“, den esoterisch zu nennenden Kreis gehören. Jesu „Brüder und Schwestern“ im geistlichen Sinne sind solche Menschen, „die den Willen tun meines Vaters im Himmel“, so sagt er aus­ drücklich. Im Markusevangelium, dem ältesten der vier Evangelienschriften, steht das „Messias-Geheimnis“ im Mittelpunkt des Handelns Jesu. Er schärft seinen Jüngern ein, daß das Wesen des Menschensohnes einstweilen noch verborgen blei­ ben möge. Daneben steht im Matthäusevangelium die ausführliche Besprechung der Bergpredigt (Kapitel 5-7). Bereits den Eingangsversen ist zu entnehmen, daß sich diese „Predigt“ nicht etwa an eine breite Öffentlichkeit richtet, sondern in einer Art priesterlichen Anleitung an den Jüngerkreis. Ihnen ist es nach dieser internen Unterweisung dann freilich bestimmt, auf diejenigen lehrend, heilend zuzugehen, 49

Gerhard Wehr

„die keinen Hirten haben“. Die Wendung von der Esoterik in die Exoterik ist auf diese Weise aufeinander bezogen, gerade im Christentum. Ihm ist es bestimmt, „in alle Welt“ auszustrahlen. Was im Herzraum esoterischer Unmittelbarkeit empfan­ gen worden ist, das verdient es, als Erkenntnis- und Lebensgut anderen mitgeteilt zu werden. Zunächst ist es aber so, daß dieses Esoterische gegenüber einer noch unvorberei­ teten, noch ungereiften Außenwelt geschützt werden muß. Deshalb die Verpflich­ tung, die „Perlen nicht vor die Säue zu werfen“. Blickt man auf das Titelblatt einer Grundschrift des Rosenkreuzertums („Chymische Hochzeit Christiani Rosen­ kreuz“), dann findet man dort eben dieses Jesus-Wort zitiert. Das will beachtet sein. Noch innerhalb des Zwölferkreises übt Jesus diese Arkandisziplin, was besagen will, daß es ein Arkanum, ein zu Schützendes gibt, das er nicht an jeden wie eine billige Ware verschleudern will. So sind beispielsweise Petrus, Johannes und Jakobus vor den übrigen dazu ausersehen, Zeugen seiner Verklärung auf dem Berg zu werden. Dabei gibt es Beispiele dafür, daß selbst die Jüngerschaft dem oft noch nicht gewach­ sen ist, was mit der Wesenserkenntnis des Christus zu tun hat. In den bedeutungs­ schweren Abschiedsreden des Johannesevangeliums findet sich (Kap. 12) der Satz: „Ich habe euch noch viel zu sagen; ihr könnt es aber noch nicht ertragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, der wird euch in die volle Wahrheit geleiten“; wörtlich (hodegesci): er wird Wegführer in diese Wahrheit sein. Und es ist Christus, der sich im Johannesevangelium als „der Weg (hodos), die Wahrheit und das Leben“ darstellt. Seine Ich-bin-Worte muten wie Mantren an, die in die Meditation hineingenommen werden wollen! Und Meditation ist eine esoterische Praxis. Einen Ausdruck der hier gemeinten Innenerfahrung findet sich schließlich in dem Geständnis jener beiden namenlosen Jesus-Jünger, die nach dem Bericht des Lukas­ evangeliums den Auferstandenen „auf dem Weg“ erlebt haben: „Brannte nicht unser Herz in uns, als er mit uns redete auf dem Wege, als er uns die Schrift eröffnete?“ Es ist die Anrede des Auferstandenen, der in die Wesensmitte (Herz) des Menschen hineinspricht und auf diese Weise zum eigentlichen Ausleger (Hermeneut) des Wortes (Logos) wird; d. h., der göttliche Logos eröffnet denen, die auf ihn hören, die Tiefe seines Wesensgeheimnisses! So könnte man fortfahren und zeigen, wie die Esoterik des Christentums bereits am Anfang der Christenheit voll präsent ist. Aber ist dieses Esoterische aussagbar, ist es darstellbar? Wird es nicht in dem Moment exoterisiert, d. h. nach außen getragen, in dem man darüber spricht oder schreibt, und geschehe dies in bester Absicht, etwa als ein Bekenntnis? - Das ist zweifellos der Fall. Strenggenommen ist recht verstan­ dene Esoterik nur zu bezeugen, nämlich aus der existentiellen Erfahrung heraus. Und nur Menschen, die ihrerseits in der Lage sind, sich solcher Innenerfahrung zu öffnen und sich auf den „Weg“ zu machen, wachsen in eine solche Erfahrung hinein. Von daher bekommen Worte wie „Komm und folge mir nach!“ einen ganz neuen Gehalt: Christus-Nachfolge als Inbegriff dessen, was „innen“ zu beginnen hat, ehe das in der eigenen Wesensmitte Empfangene im lebenspraktischen Handeln der Menschenliebe und der Weltgestaltung nach außen getragen und umgesetzt werden kann. Esoterik kann demnach verstanden und ergriffen werden als eine „Teilhabe am Mysterium“. 50

Esoterik im Christentum

Das Beispiel Platons Aber was geschieht da, wenn das im Innenraum der Existenz sich Ereignende letztlich nicht aufgezeigt werden kann, wie man etwa Belege oder Beweise für etwas vor die Öffentlichkeit hinstellt, was man seiner Natur nach eben nicht darstellen oder aufweisen kann? - Ausgehend von der Tatsache, daß wir von dem historischen Jesus keine einzige Zeile empfangen haben, sei auf einen anderen Großen der Geistesgeschichte hingewiesen, dem das Wesen wahrhafter Esoterik vertraut war und der diese Vertrautheit auf seine Weise bezeugt hat: der Philosoph Platon. In seinem berühmten Siebenten Brief hat Platon darauf hingewiesen, daß das Eigentliche seiner Philosophie durch einen esoterischen Charakter geprägt wurde und daher nicht beliebig mitteilbar ist. Vielmehr müsse sich der Liebhaber der Weisheit - das ist ein Philosoph dieses Ranges - aus eigenem Antrieb heraus um das Esoterikon bemühen. Mehr als ein Wink könne nicht gegeben werden. Auch er, Platon, habe in seinen Lehrunterweisungen und Dialogen, die an die Öffentlichkeit gelangt sind, nie mehr gegeben. Das Eigentliche blieb entweder ungesagt, oder es wurde als ein esoterisch zu Hütendes nicht über die Schwelle der Philosophenschule getragen. Der große Schüler des Sokrates spielt damit auf die Entschlossenheit an, die erforderlich ist, um auf dem inneren Weg voranzukommen. Es ist ein Weg, der klare Nüchternheit des Herzens und ungeteilte, feurige Hingabekraft verlangt. Und die muß eingeübt werden. Einen bequemen „Königsweg“ zum Geist gibt es nicht. (Man denke an dieser Stelle auch an das bedeutsame Nachtgespräch mit Nikodemus (Joh. 3), in dem Christus von dem Geisteswehen spricht, das dem menschlichen Willen letztlich entzogen ist: Der Geist weht wo er will!) Für ihre legitimen Schüler kennt die Weisheit (Sophia) keine Schonung. In seinem Brief schreibt Platon: „Diejenigen dagegen, welche im Grunde keine wahren Jünger der Weisheit sind, sondern welche nur so einen oberflächlichen Anflug von Scheinwissen haben..., die bekommen angesichts der Vorstellung, welchen Umfang das Gebiet der Weisheit habe und wie groß die Anstrengung sei... endlich die Überzeugung, daß dasselbe für sie schwer und unmöglich ist... Einige von diesen Scheinwissern machen sich weis, sie hätten das ganze Gebiet des Wissens schon inne und gar keine weiteren Studien mehr nötig.“ (Kommen uns da nicht die Vertreter jener Pseudo-Esoterik in den Sinn, die heute den Markt beherrschen? Mit Hölderlin: „Ach, der Menge gefällt, was auf den Marktplatz taugt...“.) Jedenfalls geht es Platon offensichtlich allein darum, die - wie er sich ausdrückt wahrhaft „Gottbegeisterten der Weisheit“, die legitimen Söhne und Töchter der Sophia, von jenen zu unterscheiden, die sich mit einem käuflichen Scheinwissen begnügen, dieses Scheinwissen, käufliche Pseudo-Esoterik, aber bereits als echte Weisheit ausgeben. Eine derartig unumgängliche Unterscheidung der Geister (discretio) hat es immer gegeben. Sie ist zu jeder Zeit, heute mehr denn je, gefordert. Wie charakterisiert nun Platon das unabdingbare geistige Streben? In knapper Zusammenfassung seiner Darlegungen kann man sagen: Ein wahrer Freund der Weisheit muß ihr innerlich verwandt sein. Er muß bereit sein, einen anstrengenden Höhenweg der Vorbereitung in Übung und Erkenntnisbemühung zu gehen. Nun hat der wahre Geistessucher auf den speziellen, vielleicht einmaligen Augenblick 51

Gerhard Wehr

(Kairos) zu achten, in dem er in seinem Streben reif geworden ist und selbst die nöti­ ge Führungskraft erlangt hat, um von da an ohne einen äußeren Wegweiser die not­ wendigen Schritte zu tun. Der äußere Weg-Führer ist für den Anfang wohl nötig. Das gilt für viele Felder allgemeiner menschlicher Bildung. In dem Moment aber, in dem eine gewisse Selbständigkeit und Reife erlangt ist, bedarf es keiner Gängelung mehr. Ja, hier würde sie unter Umständen sogar gefährlich, für den Führer wie für den Geführten, weil nur zu schnell Abhängigkeiten entstehen. Ubertragungsvor­ gänge laufen ab. Illusionen keimen unversehens auf. Es kommt daher entscheidend darauf an, daß sich der äußere Meister Schritt für Schritt zurücknimmt, damit der „innere Meister“ des bisher Geführten in die ihm gemäße Initiative hineinwachsen kann. Im übrigen vergilt man seinem Lehrer schlecht, wenn man gemäß einer Einsicht Friedrich Nietzsches „immer nur der Schüler“ bleibt. Die Lenkung und Unterweisung wird also von außen nach innen verlagert. Die Führung und Geleit gebende Instanz liegt im Menschen selbst. Mit Paulus könnte man es den „inneren Menschen“ (eso anthropos) nennen. An dieser Stelle wird einmal mehr deutlich, wie die hier gemeinte Esoterik von jeder angemaßten Schein-Esoterik abgrundtief geschieden ist. Platon weiß indes von dem Eigentlichen esoterischer Erfahrung, die plötzlich in der Seele „wie ein Feuer­ funke“ aufleuchtet und im Menschen Licht verbreitet, die Erleuchtung. Und weil das oft spontan eintretende Geschehen nicht wie ein exoterisches, an der äußeren Gegenstandswelt angesiedeltes Phänomen zu betrachten sei, habe er es vorgezogen, erst gar nicht den Versuch zu machen, darüber zu schreiben. Hat Platon etwa Wesentliches seinen (nachgeborenen) Schülern vorenthalten? Seine Antwort lautet: „Wenn es mir vernünftig geschienen hätte, daß jene Gedanken durch Schrift oder durch Wort unverschleiert unter dem Volke verbreitet werden dürften: was für eine schönere Lebensaufgabe würde ich da gehabt haben, als der Menschheit der Verkünder eines großen Heils zu werden und dabei das Wesenhafteste des Universums aller Welt ans Tageslicht zu bringen! Aber weder die Veröffentlichung jener Geheimnisse noch die sogenannte populäre Behandlung jener Materien halte ich für Menschen als Glück mit Ausnahme von wenigen Auserwählten, von all jenen nämlich, welche imstande sind, auf einen ganz kleinen Wink hin selbst zu finden...“ Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß seiner ursprünglichen Wortbedeutung nach das Esoterische in der Wesenstiefe des Menschen veranlagt ist, dort, wo nach einem Wort des Neuen Testaments „im Herzen der Morgenstern aufgeht“. Nicht zufällig spricht Meister Eckhart von dem „Funken“ (funkelin) im Seelengrund, wenn er diese innere Instanz benennen will. Wie sollte darüber gesprochen oder geschrieben werden, da unweigerlich eine ungewollte Veräußerlichung damit ver­ bunden bleibt?

Ein unabsehbarer Strom spiritueller Erfahrung Nun hat das esoterische Christentum im Laufe der Zeit vielfältige Formen innerer Erfahrung entwickelt, auch wenn sich die Empfänger und Empfängerinnen nicht eigens als „Esoteriker“ bezeichnet haben. Zu denken ist beispielsweise an die antike Gnosis in ihrer christlichen Ausprägung, an die abendländische Mystik und Theosophie, an geschlossene Gesellschaften und geheime Verbindungen, die je auf 52

Esoterik im Christentum

ihre Weise einem Mysterium, dem Christus-Mysterium dienen wollten... Und nicht nur an sie ist zu denken, denn, wie wir gesehen haben, bezeugt das Neue Testament mit großer Selbstverständlichkeit immer wieder Ereignisse esoterischer Erfahrung: in der Begegnung mit dem Auferstandenen, in der Schau und inneren Wandlung (metánoia) des Apostels Paulus bei Damaskus, in der Apokalypse, die dem Johannes auf Patmos erschlossen worden ist. Von da aus gibt es einen im Vollsinn des Wortes unabsehbaren Strom, der sich über die Christenheit in ihrer Gesamtheit ausbreitet, d. h. innerhalb, am Rande und außerhalb der verfaßten Kirche. Gemeint sind Menschen, die angerührt, ergriffen vom Geistfeuer die Geburt „von oben her“ erlebt haben. Sehen wir uns einige Beispiele an: Drei große Führergestalten und Lehrer einer christlichen Esoterik sind vorweg zu nennen: Clemens von Alexandrien, der als geistvoller Schriftausleger bekannte Origenes im dritten Jahrhundert und der bis heute große Unbekannte, der den Namen „Dionysius Areopagita“ trug. Er wurde geradezu zu einem Kirchenvater des Mittelalters, als die volkssprachige Mystik aufblühte, die „deutsche Mystik“, an ihrer Spitze der von seinem Kölner Bischof verketzerte Meister Eckhart mit seinen Schülern Heinrich Seuse in Konstanz und Johannes Tauler in Straßburg. Die „Gottesgeburt im Seelengrund“ ist eines der beherrschenden Themen dieser Esoterik: „Gott hat all seine Lust in der Geburt, und darum gebiert er seinen Sohn in uns, daß auch wir unsere Lust darin haben...“. Dreieinhalb Jahrhunderte nach diesem Eckhart-Wort schreibt der Angelus Silesius, Johannes Scheffler, im „Cherubinischen Wandersmann“ seinen vielzitierten Zweizeiler: „Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren, Und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.“ Einem reich bestellten Garten gleicht die zeitlich frühere mittelalterliche Frauen­ mystik, angefangen etwa bei Hildegard von Bingen über die dichterisch hochbegab­ te, in Bildern glühender Erotik schreibende Mechthild von Magdeburg bis hin zu den meist von Dominikanern betreuten Mystikerinnen Süddeutschlands und zum Kreis der Gottesfreunde bzw. der Gottesfreundinnen. Als Mechthild ihr Werk, „Das fließende Licht der Gottheit“, aufgezeichnet hat, wird sie von ihrem Seelenführer Heinrich von Halle angespornt, auch künftig ihr inneres Erleben zu Papier zu brin­ gen. Mechthilds Antwort bezeugt einmal mehr die seelische Situation eines Men­ schen, der das innen Erfahrene, das Esoterische, eben gar nicht zureichend beschrei­ ben kann, selbst wenn er möchte. Es ist ein Unvermögen, das durch die Eigenart des Esoterischen bzw. der mystischen Erfahrung bedingt ist, weil sie nicht der Gegenstandswelt angehört. Mechthilds Antwort lautet daher: „Ihr wollt, daß ich weiterschreibe, und ich kann nicht. Die Wonne, die Herrlichkeit, die Klarheit, die Liebe, die Wahrheit, - sie sind so groß über mir, daß ich verstumme, wenn ich wei­ ter sagen will, was ich erkenne....“ - Es sind freilich keineswegs nur „Wonnen“, Seelenaufschwünge und selige Beglückungen. Es gibt die „vernichtete Seele“ bei der als Ketzerin verbrannten Margarete Porete. Es gibt die „dunkle Nacht der Seele“ von Johannes vom Kreuz. Es gibt das „mit Christus Gekreuzigtsein...“. Die geistesverwandte flämische Mystikerin, Schwester Hadewijch, drückt sich im übrigen recht knapp aus, wenn sie einmal sagt: „Hier muß man mit der Seele spre­ chen.“ Und das ist eine Weise des Sprechens, die sich nicht auf die Außenwelt 53

Gerhard Wehr

bezieht. Wir sind, wenn wir uns dem nähern wollen, was erfahren wird, ja was den Grad jenseits der Erfahrung erreicht, auf die bild- und gegenstandslose Meditation (Kontemplation) verwiesen, um das mit diesem Wort Gemeinte zu fassen, genauer: um uns von diesem Gemeinten erfassen zu lassen. Denn das Entscheidende auf die­ sem innerseelischen Terrain kann niemals „gemacht“, niemals erzwungen werden. Von daher betrachtet, ist schon die Frage: „Wie erlangt man diese oder jene Erkenntnis?“ vom Ansatz her verfehlt. Sie erweckt falsche Hoffnungen. Einsatz und spirituelle Übung dienen lediglich dazu, die Hände des „geistlich Armen“ (im Sinne der ersten Seligpreisung Jesu) leer zu machen und für den Empfang des Unver­ fügbaren zu öffnen. Die Mystiker haben es das „Lassen“ genannt und zur GeLassenheit ermutigt. Das ist das Eine. Auf der anderen Seite wäre es nicht recht, verschwiege man, daß im Umkreis der Mystik auch frommer Überschwang seine fragwürdigen Blüten getrieben hat. Ihr mußte die klare Gedankenmystik eines Meister Eckhart ernüchternd und korrigie­ rend entgegentreten. Man könnte auch sagen: Esoterik ist nicht selten durch einen spirituellen Materialismus bedroht. Dazu gehört die Gefahr, das spirituelle Gut in ungehöriger Weise zu veräußerlichen und zu verfälschen. Auch dafür gibt es in jeder Zeit abschreckende Beispiele, eben solche des Mystizismus und der PseudoEsoterik.

Von der esoterischen Erfahrung zur exoterischen Verwirklichung Der Strom einer mystisch-esoterischen Tradition ist weitergeflossen. Dieser Strom hat auch die Reformation erreicht, insbesondere die Wittenbergische. Es war der junge Luther, den die Predigten Johannes Taulers faszinierten. Hoch schätzte er das „Rosetum“ geistlicher Übungen des Flamen Mauburnus. Noch höher bewertete er eine bis dahin ungedruckte Grundschrift der deutschen Mystik, die sogenannte „Theologia Deutsch“, die er in den Jahren 1516 und 1518 herausgab. In einer seiner frühen Wittenberger Vorlesungen über die Psalmen hebt der werdende Reformator hervor: „Niemand vermag würdig über irgendeine Schriftstelle zu reden oder sie zu hören, wenn die Bewegung seines Gemütes nicht (der Schrift) gleichförmig (conformitas) ist, so daß er innerlich versteht, was er äußerlich hört, und sprechen muß: Ei, so ist es wahrhaftig!“ Auch Gegenspieler des Reformators, kaum weniger als er vom göttlichen Geist entzündete Männer, haben sich in jene von Luther hoch gerühmte „Theologia Deutsch“ vertieft und ihre eigene Erfahrung gelebt. Der vielgescholtene Bauern­ kriegsprediger Thomas Müntzer, ein Mystiker, gehört zu ihnen. Genau fünfzig Jahre nach seinem gewaltsamen Tod im Jahre 1525 wird der Mann geboren, der aus der Unscheinbarkeit seiner kleinbürgerlichen Lebensverhältnisse heraus in seinen zahl­ reichen Schriften bedeutsame Beiträge zu einer christlichen Esoterik geliefert hat: Jakob Böhme, der Naturmystiker, Theosoph und Seelenführer. Am Eingang seiner umfangreichen geistigen Hinterlassenschaft steht die geheimnisvolle „Aurora oder Morgenröte im Aufgang“ (jetzt im Rahmen einer kommentierten Werkausgabe als Insel-Taschenbuch zugänglich). Böhmes jüngerer Zeitgenosse, der schwäbische Theologe Johann Valentin Andreae, wurde am Vorabend des Dreißigjährigen Krieges zum Initiator der rosen­ 54

Esoterik im Christentum

kreuzerischen Bewegung, indem er, von Gleichgesinnten unterstützt, die drei Rosenkreuzer-Schriften (Fama, Confessio, Chymische Hochzeit Christiani Rosen­ kreuz) abfaßte. Auf eine knappe mantramartige Formel hat Andreae das Wesen rosenkreuzerischer Spiritualität gebracht: „Ex deo nascimur - aus Gott sind wir geboren, in Jesu morimur - in Christus sterben wir, per spiritum reviviscimus - durch den Heiligen Geist werden wir wiederge­ boren.“ So knapp die Charakteristik esoterischer Bewegungen in der Neuzeit an dieser Stelle sein muß, ein Hinweis ist unerläßlich: Christliche Esoterik ist nicht mit einer selbstverschlossenen, weltflüchtigen Innerlichkeit gleichzusetzen. Oft sind ihre Vertreter bestrebt, das Erkannte, das geistig Geschaute, in die exoterische Praxis umzusetzen. Dafür geben auch die Genannten Beispiele: Thomas Müntzer wurde zu einem kompromißlosen Streiter für das Recht der kleinen Leute, die ausgebeuteten Bauern, seiner Zeit. Der Autor der rosenkreuzerischen Manifeste initiierte in den Nöten des Dreißigjährigen Kriegs diakonische Aktivitäten christlicher Nächsten­ liebe und Seelsorge. Jakob Böhme lebte als Schuhmacher und später als fahrender Händler von seiner Hände Arbeit, um suchende Menschen auf dem inneren Weg zu Christus begleiten zu können. In den Bänden „Christosophia“ und „Theosophische Sendbriefe“ sind solche Texte seiner Seelenführung zusammengetragen. Wichtige Querverbindungen lassen von da zu anderen esoterischen Strömungen aufzeigen, etwa zur jüdischen Kabbala. Sie gehört deshalb in unseren Zusammenhang mit hin­ ein, weil es im 17. und 18. Jahrhundert zum geistigen Austausch zwischen protes­ tantischen Theologen und der jüdischen Esoterik gekommen ist, unter ihnen auf christlicher Seite Christian Knorr von Rosenroth (gest. 1689), der Dichter des Liedes „Morgenglanz der Ewigkeit“, der schwäbische Theosoph Friedrich Christoph Oetinger (gest. 1782) und viele andere. Wenn darauf hingewiesen wurde, daß christliche Esoterik - gemäß dem benediktinischen „Ora et labora“ (bete und arbeite) - immer auch der Verwirklichung im praktischen Leben bedarf, dann gibt es in der Gegenwart kaum einen eindrücklicheren Beispielzusammenhang als den der Anthroposophie. Sie ist in ihrem Kern gemäß Rudolf Steiners vermächtnishaften Anthroposophischen Leitsätzen „ein Erkennt­ nisweg, der das Geistige im Menschenwesen mit dem Geistigen im Weltall verbinden möchte.“ Sie ist von ihrer spirituellen Mitte her durch den Christus-Impuls belebt. Von daher entfaltet sich das innen Empfangene, das innen Erarbeitete in Gestalt all der Aktivitäten, die seit Jahrzehnten auf den Feldern von Erziehung, Medizin, Ernährung, in künstlerischen, sozialen und religiösen Betätigungen zu vielfältiger Lebenspraxis geworden sind. Und nicht darauf kommt es an, daß man dieser oder jener der „Esoterik“ zugerechneten Strömung oder Gemeinschaft angehört, sondern daß man in individueller Gestaltung den eigenen Innenweg beschreitet.

Weitere Ausführungen und Quellenbelege finden sich in Gerhard Wehr „Esoterisches Christentum - Von der Antike bis zur Gegenwart“, 1975, Klett Cotta 1996.

55

Gerhard Wehr

Summary: The author uses the term “esoteric” in its original sense. Before “esoteric” can be taken to denote esoteric ways or representatives of esoteric wisdom in a summarizing way, the qualities of experience and thus the inner dimensions of a certain phenomenon or a certain type of mind should be considered. Seen from this perspective, next to its organized manifestations there are inner aspects of Christianity which can be called esoteric. They can be already found in early Christianity and have been present - often misjudged, denounced, or neglected - in the entire history of Christianity, for example in the form of mystic movements. However, the author does not promote a type of inwardness that is shut up in itself. He rather stresses the necessity of a complementary tension between “esoteric” and “exoteric”: What is received innerly has to be responsibly carried to the outside world. Key words: spiritual master; arcan-discipline; platonic philosophy; distinction of spirit; process of insight; mysticism; translation into the exoteric and practical life.

Literatur: Bethge, E. (1967): Dieterich Bonhoeffer. Kaiser, München. Böhme, J. (1992 a): Aurora oder Morgenröte im Aufgang. Insel (it 1411), Frankfurt. Böhme, ]. (1992 b): Christosophia. Insel (it 1412), Frankfurt. Böhme, ]. (1996): Theosophische Sendbriefe. Insel (it 1786), Frankfurt. Böhme, J. (1998: Im Zeichen der Lilie. Diederichs (DG 144), München. Bonhoeffer, D. (1951): Widerstand und Ergebung. Kaiser, München. Carus, C.G. (1963): Denkwürdigkeiten aus Europa. Schröder, Hamburg. Meffert, E. (1998): Die Drei: Entstehung und Entwicklung wichtiger Mönchsorden. 7/8,15 ff. Nietzsche, F. (1966): Also sprach Zarathustra. Von der schenkenden Tugend, Teil II, in: Werke, hrg. von K. Schlechta, Band III, 339. Hanser, München. Platon (1982): Siebter Brief, in Sämtliche Werke, übersetzt von W. Wiegand. Schneider, Heidelberg, Bd. III, 741 ff. Steiner, R. (1953): Briefe, Band II. Steiner, Dörnach. Steiner, R. (1955): Die Theosophie des Rosenkreuzers. Steiner, Dörnach. Steiner, R. (1957): Gegenwärtiges Geistesleben und Erziehung. Steiner (GA 307), Steiner, Dörnach. Steiner, R. (1958): Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos. Steiner, Dörnach. Steiner, R. (1998): Texte zur Einführung in die Anthroposophie, hrg. von G. Wehr. Kösel, München. Theologia Deutsch. Eine Grundschrift deutscher Mystik (1989). Hrg. von G. Wehr. Dingfelder Andechs. Wehr, G. (1990): Die Bruderschaft der Rosenkreuzer. Esoterische Texte. Diederichs (DG) Wehr, G. (1994): Der innere Weg. Anthroposophische Erkenntnis, geistige Orientierung und meditative Praxis. Mellinger, Stuttgart. Wehr, G. (1995 a): Esoterisches Christentum. Von der Antike bis zur Gegenwart. 2 erw. Ausgabe KlettCotta, Stuttgart. Wehr, C. (1995 b): Europäische Mystik - Zur Einführung. Junius, Hamburg. Wehr, G. (1988): Leitbilder und die Kritik an ihnen, in: Transpersonale Psychologie und Psychotherapie. 2/98, 84-90. Wehr, G. (1999 a): Martin Luther, der Mystiker. Kösel, München. Wehr, G. (1999 b): Gnostika: Das Rosenkreuzertum im Werk Rudolf Steiners. 9, 48 - 54; 10, 41-49. Wilher, K.; Ecker, B.; Anthony, D, (1998): Meister, Gurus, Menschenfänger. Über die Integrität spiri­ tueller Wege. Fischer, Frankfurt.

56

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2/99, 57-75

Psychotherapie und die Wege zur Ichfreiheit Peter Gottwald, Oldenburg i. O.

Zusammenfassung: ln diesem Beitrag geht es um die Klärung der Beziehungen zwischen Psychologie, Psychiatrie und Psychopathologie auf der einen Seite und der Vielfalt der Spirituellen Wege auf der anderen. Vor dem Hintergrund der Gebserschen Aussagen über ein Integrales Bewußtsein als Aufgabe der Gegenwart müs­ sen die professionellen Strukturen der Psychiatrie als mentale Errungenschaften gewahrt werden. Anderseits dürfen spirituelle Wege nicht seitens der mentalen Wissenschaften diffamiert werden, sondern müssen als Möglichkeit menschlicher Entfaltungsformen mit eigener Qualität anerkannt bleiben. Am Beispiel der Aus­ sagen von W. James, R. Bucke, K. Jaspers und Chr. Scharfetter werden Integrations­ formen deutlich. Drogenexperimente, Komplexe Psychologie und Neuropsychologischer Reduktionismus werden als ein Verfehlen eines integralen Bewußtseins angesehen. Um in der Ausbildung von Psychologen und Psychotherapeuten die angesprochene Aufgabe zur Wahrnehmung zu bringen, wurde eine Handlungslehre entwickelt, die den Sinn von Handlungen mit Hilfe von Symbolen in einer vertrau­ ensvollen Beziehung transparent zu machen vermag. Schlüsselworte: Psychiatrie, Psychologie, Psychopathologie, Psychotherapeu­ tische Schulen, Spirituelle Wege, Integrales Bewußtsein, Handlungslehre als Übung von Transparenz. Mein Thema bewegt sich zwischen Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie als Theorie und Praxis auf der einen Seite und spirituellen Wegen als Glaube und Übung auf der anderen Seite. Es geht mir darum, einerseits meine Akzeptanz der spirituellen Wege deutlich zu machen, auch und gerade in der wissenschaftlich- tech­ nischen Welt - und die entsprechend neuen Lebensformen zu betrachten wie mitzu­ gestalten, die durch eine Integration möglich werden -, andererseits darum, die Psychotherapie als eine Profession zu wahren, d. h. als eine sinnvolle Tätigkeit, die individuelles Leid lindern und neue bzw. sonst verschüttet bleibende Möglichkeiten des Lebens eröffnen kann. Eine solche doppelte Aufgabe ist nicht einfach: Es gilt, beide Formen vor gegenseitigen Nichtungsversuchen bzw. Übergriffen zu schützen, wie sie im westlichen und östlichen Kulturen nicht selten Vorkommen. Ost und West durchdringen sich heute; östliche spirituelle Wege wie die Zen­ tradition finden im Westen Akzeptanz und geistige Ansiedlungsräume wie etwa die von Gebser vorbereiteten. Westliche Psychotherapie findet im Osten Anwendung in dem Maße, wie die dort erstarkenden Ichstrukturen leider auch die bei uns schon bekannten Ichstörungen zeitigen. Aber auch Defizientes wird ausgetauscht: Fal­ 57

Peter Gottwald

sches „Gurutum“ kommt herüber, zerstörerische Technik geht hinüber, beide ver­ nichten Qualität. Historisch gesehen nimmt mein Thema die Fragen wieder auf, die A. Watts (1960) vor 40 Jahren in seinem Buch „Psychotherapie und östliche Befreiungswege“ bear­ beitet hatte. Weil seine Antwort m. E. die Gemeinsamkeiten überbetont, muß ich die eigene Antwort formulieren. Ich werde im ersten Teil (Abschnitte 1.-3.) einige ein­ schlägige Traditionen und deren Problemlagen schildern, im zweiten Teil auf Gebsers Sicht einer neuen Kultur eingehen (Abschnitt 4.) und drittens einige Auswirkungen und Ansätze in meinem Arbeitsfeld, der Lehre von Psychologie und Psychotherapie an einer Universität darstellen (Abschnitte 5. und 6.).

1. Traditionelle Psychiatrie und ihre Logik des Leidens Psychopathologie Seit hundert Jahren orientiert sich die Psychiatrie an einem „Triadischen System“, das seelisches Leiden entweder (1.) einer Gehirnkrankheit zuschreiben kann, oder (2.) als Auswirkungen von Psychosen (Geistes- und Gemütskrankheiten im engeren Sinne) begreift, deren Ursachen in einem Zusammenspiel genetischer, Milieu- und biochemischer Einflüsse und Ursachen liegen, oder (3.) als abnorme Variationen normalen Seelenlebens versteht. Weder bei den hirnorganischen Störungen, die zu Bewußtseinsbeeinträchtigung, Leistungsminderung, Persönlichkeitsveränderungen führen, noch bei den Psycho­ sen mit ihren schweren Veränderungen des Denkens, Fühlens und Handelns steht die Psychotherapie im Vordergrund des therapeutischen Geschehens. Die massiven Einbrüche in Lebensführung und -entwicklung werden durch Milieu- und Chemo­ therapie aufgefangen, ehe an eine Rehabilitation gedacht wird, in deren Rahmen Psychotherapie eine Rolle spielen kann. Wichtig im Zusammenhang meines Themas ist, daß Psychosen wie die Schizo­ phrenie gelegentlich als Zuspitzung einer „spirituellen Krise“ beschrieben worden sind (vgl. kritisch hierzu Scharfetter, 1997, im Bemühen um eine neue Psycho­ pathologie; Grof, 1985; Wilber, 1984); andererseits werden bestimmte Symptome im Frühstadium von Psychosen, wie Verlust oder Verzerrung des Person- und Weltbe­ wußtseins (Depersonalisation und Derealisation) auch im Verlauf spiritueller Übun­ gen beobachtet (vgl. dazu Schüttler, 1974). Neurosen und Persönlichkeitsstörungen, die Leiden von Menschen an Ängsten, Zwängen, Depression, schweren Beziehungsstörungen, Versagenszuständen, Süch­ ten, kurzum das ganze „neurotische Elend“, wie S. Freud dies nannte, sind das eigentliche Feld der Psychotherapie. Nur zu oft findet man, daß diese Menschen sich von einem spirituellen Weg eine Heilung ihres Leidens erwarten. Sie belasten damit sich selbst, ihre Lehrer und Lehrerinnen sowie die Gemeinschaft der Übenden oft in schwer erträglicher Weise (vgl. dazu Enomiya-Lassalle, 1966). Ein differenzierendes Hilfsangebot müßte in vertrauensvoller Kooperation von Lehrern, Schülern und Fachpersonen entwickelt werden. Versuche hierzu liegen vor (vgl. Baker Roshi und seine Mitarbeiterinnen, A. M. Arokiasamy u. a.), doch können sie noch nicht bewer­ tet werden. Weitere Ansätze werden unter der Überschrift „Transpersonale Psycho­ therapie“ zur Diskussion gestellt. 58

Psychotherapie und die Wege zur Ichfreiheit

2. Lebens- und Leidenslehren außerhalb der Medizin Grundsätzlich außerhalb dieses „Triadischen Systems“ liegt das, was wiederum S. Freud das „normale Unglück“ nannte, diejenigen Leiden also, die auszuhalten dem Neurotischen eine erfolgreiche Psychotherapie helfen könne. Hier treffen wir auf ein Feld, in dem Leidende und Suchende gleichermaßen unterwegs sind, vor Phantomen flüchtend oder ihnen nachjagend, im Mißlingen des Lebens verzwei­ felnd, von Hoffnungen getragen und enttäuscht, sich um eine Lebenskunst bemü­ hend und dabei tragisch scheiternd. Die hier gebräuchliche Sprache ist die der Dichter und Philosophen - aber auch der spirituellen Schulen, wie z. B. der Sprache der Zentradition, in der es heißt: Trostlos in endloser Weite bahnt er sich auf und ab den Weg... Völlig erschöpft ist der Körper, verzweifelt ermattet das Herz; wo nur soll er suchen?“ (Kapleau, 1981, S. 408) Den Dichtern mag „ein Gott geben, zu sagen, was sie leiden“- und wir erkennen uns in ihren Texten wieder. Der Philosoph kann es unternehmen, das Leiden zu beschreiben und in eine Ordnung zu bringen, von der wir zu profitieren vermögen. So kann man Gernot Böhmes Kapitel „Mystik“ (Böhme, 1985) eine Leidenslehre entnehmen, welche als Ursache die „Trennungen“ hervorhebt: Wir erleben uns als „...gespalten in Gegenwärtiges und Vergangenes“ (209), als Ich abgegrenzt „von einem Nicht-Ich“ (209), erfahren die „Trennung zwischen zwei Bereichen der Realität... Zeichen und Sein“ (210), erfahren „Trennung als Nichtgelingen“ (211). So ist dieses alltägliche Dasein ein ständiges Zurückbleiben hinter unseren Möglichkeiten, ein Leben in Komplexen und Handlungen, eine Zerrissenheit von Innen und Außen, von Sein und Scheinen. Gäbe es nicht dieses Leiden an den Trennungen, es gäbe vielleicht auch keine Mystik (211). Wie oben schon angedeutet, sind wir hier alle angesprochen. Für diejenigen, die sich in diesem Sinne als „normal“ ansehen -, wären da nicht alle Formen von Psychotherapie Versuchungen, Irrwege, die auf je spezifischen Ideologien fußen? Ein spiritueller Weg dagegen ist eine Möglichkeit, bedroht von allerlei Gefahren (vgl. dazu Scharfetter, 1997), auf eine neue Ebene, jenseits des Dualismus FreudeLeid zu gelangen.

3. Die traditionellen psychotherapeutischen Schulen in ihrem Verhältnis zur Spiritualität Drei Grundformen mit völlig verschiedenen Ausgangpositionen treten uns hier entgegen: Psychoanalyse, Behaviorismus, Verhaltenstherapie und Humanistische Psychotherapie. Dieser Trias gesellt sich neuerdings die „Transpersonale Psycho­ therapie“ zu. Nun ist hinreichend bekannt, daß für S. Freud das Religiöse die „Zukunft einer Illusion“, d.h. in der rational bestimmten wissenschaftlich-technischen Welt eben keine Zukunft haben würde, und daß religiöses Erleben, etwa das „ozeanische Ge­ fühl“, zwar schwer zu deuten, letztlich aber doch wohl auf frühkindliches, mögli­ cherweise intrauterines Erleben, zurückzuführen sein dürfte. Das Ich als mentale 59

Peter Gottwald

Errungenschaft kann und muß aus dieser Sicht gestärkt werden gegen das Irrationale sowohl des Trieb- wie des Gewissenslebens einer Person, wenn es unter die Herr­ schaft eines „bösartigen Uber-Ichs“ gerät, wie man in diesem Zusammenhang sagt. Die behavioristisch orientierten Verhaltenstherapien, die heute gemeinsam mit der Psychoanalyse von den Krankenkassen bezahlte Therapieformen sind, betrach­ ten auch nach ihrer „kognitiven Wende“ den Menschen gleichsam als einen Verhaltens-Ingenieur seiner selbst, der sich durch Übungstechniken neue Freiräume zu erschließen vermag, wo Ängste und andere „Störungen“ diese Räume begrenzt haben. Das Anliegen des Spirituellen ist diesem Ansatz so fremd, daß er es noch nicht in seinen Reduktionismus einbezogen hat. In der von Carl Rogers (vgl. Rogers, 1987) begründeten Klientenzentrierten oder Gesprächspsychotherapie begegnet uns ein Kennzeichen der Humanistischen Psychotherapien: Positionen der Philosophie, vor allem der Existenzphilosophie als Basis eines Menschenbildes werden herangezogen. Rogers’ Vorstellungen persona­ len Wachstums durch eine dem Menschen innewohnende Tendenz zur Selbst­ aktualisierung sind sehr wohl geeignet, den Ort zu kennzeichnen, wo ein spirituel­ ler Weg beginnt, der ins Freie führt. Auch die drei von Rogers herausgearbeiteten Grundvariablen des therapeutischen Handelns, Wertschätzung des Anderen, Echt­ heit als Kongruenz der Therapeutenpersönlichkeit und Empathie können als Symbole für eine Offenheit wahrgenommen werden, da sie nicht zu definieren d. h. zu begrenzen sind, sondern dafür stehen, daß sich in der Begegnung neue Wahr­ nehmungsmöglichkeiten eröffnen. Es ist bekannt, daß Rogers sein Kommunika­ tionsangebot nicht eigentlich als eine Therapie, sondern vielmehr als Entwicklungs­ weg zu dem ansah, was er „fully functioning person“ nannte. Mag der Weg zum Buddha auch noch weit erscheinen, diese Möglichkeit bleibt im Blickfeld dieses Ansatzes, auch wenn er heute vor allem genutzt wird, um die unterdrückten Schattenanteile der Person, ganz im Sinne Jungs, zur Wahrnehmung zu bringen und damit aus einer pathologischen (und pathogenen) Inkongruenz (der Persönlichkeit) Kongruenz der Selbstwahrnehmung werden zu lassen.

4. Akzeptierende psychiatrische Sichtweisen spiritueller Wege Wenn ich hier einen Psychologen und drei Psychiater zu Wort kommen lasse, dann um der dort wahrnehmbaren Haltung willen, die das religiöse Leben und Erleben zwar zum Gegenstand einer Wissenschaft macht, dies aber in der Offenheit für „das ganz Andere der Vernunft“ tut - und in der Gewißheit tätig wird, daß die behandelten Fragen auch den Fragenden selber existentiell berühren -, der nun auf seine eigene Weise jene Integration zu leisten hat, welche nach Gebser die Aufgabe unserer Zeit ist. Eine Psycho-Pathologisierung dieses Erlebnisbereichs, wie er sich im psychiatrischen Schrifttum des 20. Jahrhunderts nur zu oft findet, lehnen diese Autoren ab. William James, Richard Bucke, Karl Jaspers und Christian Scharfetter werden zu Wort kommen. Für W. James war „Die Vielfalt der religiösen Erfahrung“ (1901) ein Gegenstand respektvoller Bewunderung. Sein Versuch zu verstehen und zu erklären, was hier in Erscheinung tritt, mündete in die Unterscheidung zwischen einem Zustand (lebendige Glaubensgewißheit aufgrund unmittelbarer Erfahrung) und einer religiösen Sprache über diesen (over-belief oder Glaubenslehre). Fasziniert 60

Psychotherapie und die Wege zur Ichfreiheit

von der Einheitlichkeit des Erlebens wie auch von der Vielfalt der Systeme bemühte sich James zunächst um eine möglichst „theoriefreie“ Beschreibung eines „höheren“ Erlebens, die aber doch schon Deutung und Sinngebung enthält: Der Mensch ist sich bewußt, daß dieser höhere Teil innerhalb seiner selbst gleich­ bedeutend und gleichartig mit (continous) einem Mehr von derselben Qualität ist, welche das Universum außerhalb seiner selbst durchwirkt und mit dem er in einer Arbeitsbeziehung bleiben, in gewisser Weise bei ihr „an Bord gelangen“ und sich so selber retten kann, wenn auch sein ganzes niedriges Sein im Schiffbruch in Stücke ginge (S. 363, Übersetzung vom Verfasser). Da nun James akzeptierte, daß solche Erfahrungen auch Gegenstände der Psychologie werden können, stellte er sich auch die Frage nach der „objektiven Wahrheit“ der genannten Inhalte. Es sei dann notwendig, sich über diese Qualität, dieses „Mehr von derselben Qualität“ zu verständigen und zu klären, ob es wirklich existiere, wenn ja, in welcher Form, ob es handle, wie die Einheit hergestellt werde (S. 385). Hier sah James ein Arbeitsfeld für den theoretischen Psychologen und lie­ ferte auch gleich einen psychologischen Begriff: Er sprach unter Bezugnahme auf Myers von einem „Unbewußten Selbst“ als einem vermittelnden Terminus, fragte sogleich danach, wieweit dieses „Selbst“ reiche und konstatierte, daß somit ein neu­ er „over-belief“ entstehen könne. Seinen persönlichen Standpunkt verhehlte der Autor nicht. Er glaubte an einen Gott, zu dem eine kosmische Beziehung möglich sei, die dem Menschen erlaube „seiner eigenen größeren Aufgabe gegenüber wirk­ samer und treuer zu bleiben“ (S. 390). Ohne nun auf die Entwicklungen einzugehen, die das „James-Konstrukt“ in der Folge bei Jung, Assiagioli u. v. a. erfahren hat, wende ich mich nun seinem Zeit­ genossen zu, dem kanadischen Psychiater Richard Bucke. Er, auf dessen Buch „Kosmisches Bewußtsein. Zur Evolution des menschlichen Geistes“ (1901, 1993) sich auch James bezog, widmete sich nach seinem eigenen Erlebnis des „Durch­ bruchs zum kosmischen Bewußtsein“ der Aufgabe, dieses Erleben als identisch mit dem Erleben der großen Religionsstifter, einiger Dichter und Denker, aufzuweisen. Er sprach von einer „aus der gesamten Menschheit hervorgegangenen Familie von großen Geistern, ... die in aller Welt verstreut zu allen Zeiten gelebt haben und noch leben. Die einzelnen Mitglieder dieser Familie des Geistes zeichnen sich insbesondere dadurch aus, daß ihnen das innere Auge aufgetan wurde. Sie ... haben die großen Religionen gestiftet und sind durch Religion und Schrifttum insgesamt die Schöpfer aller Kultur... (23). Bucke hatte zwei Entwicklungsschritte zu tun, die auch heute noch und immer wieder von denjenigen getan werden müssen, denen eine solche Erfahrung zuteil wird. Der erste Schritt besteht in der Anerkennung, daß es nicht „eine besondere Form des Wahnsinns“ ist, was einem begegnete. Seine Kriterien dafür waren, daß die Strebungen dieses neuen Bewußtseins „in höchstem Maße sittlich“ und daß die Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und Disziplin „beträchtlich gesteigert“ waren. Darüber hinaus sei unsere moderne Zivilisation den Lehrern des neuen Sinns tief verpflichtet: 61

Peter Gottwald

Von ihm lernen die Meister; und von diesen, ihren Schriften, ihren Jüngern und Schülern lernt die übrige Welt, so daß wir, wäre das Kosmische Bewußtsein eine Form der Geisteskrankheit, vor der erschütternden Tatsache stünden, daß unsere gesamte Zivilisation, einschließlich ihrer mächtigsten Religionen auf Wahn beruht “ (32). Als weiteres Indiz für die „reale Spiritualität des kosmischen Bewußtseins“ nennt Bucke die Tatsache, daß die Berichte der Erleuchteten „in allen wesentlichen Zügen vollkommen übereinstimmen“ (32). Beim zweiten Schritt geht es darum, die „Einweihung in ein neues und höheres Leben“ in einem tieferen Sinnzusammenhang zu begreifen. Bei Bucke ist dies der „Grundgedanke“ der einen, „aus der ganzen Menschheit hervorgegangenen Familie von großen Geistern“. Die Aufgabe dieser Menschen beschreibt Bucke in einer Weise, die stark an Gebser erinnert: Um einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen: Menschen, in denen der kos­ mische Sinn erwacht, sind deshalb nicht mit einem Schlag allwissend oder unfehlbar geworden. Die Größten unter ihnen sind zunächst, obwohl auf höherer Ebene, trotz­ dem etwa in der gleichen Lage wie Kinder, die sich soeben ihres Ichs bewußt gewor­ den sind. Sie haben eine neue Bewußtseinsstufe erreicht, die zu erforschen oder zu meistern sie jedoch weder Zeit noch Gelegenheit hatten. Auch auf höherer Ebene kann man klug oder töricht sein. Und ebenso wie ein Mensch, der sich noch in der Sphäre des Ichbewußtseins bewegt, moralisch weit unter sein Niveau gehen kann, so wird sich auch der neue, kosmische Mensch in gewissen Situationen von den noch ichbeherrschten Menschen seiner Umgebung kaum unterscheiden (36/37). „Erforschung“ und „Meisterung“ sind nach dieser Auffassung mögliche und not­ wendige Schritte. In einem Zitat aus E. Carpenters Buch „Die Zivilisation, ihre Ursachen und ihre Heilung“ (1889) wird Vergleichbares deutlich: Wenn es solche Kräfte im Menschen gibt, dann ist auch eine wirkliche Wissen­ schaft möglich... Was uns durch unser dauerndes und das All umfassende Bewußt­ sein vermittelt wird, das wissen wir für immer, ohne daran zweifeln zu können (202/203). In seinem Nachwort zieht Bucke den Schluß, daß das kosmische Bewußtsein, auch wenn es zunächst bei einzelnen in Erscheinung träte, „immer weitere Ver­ breitung finden wird, bis sich am Ende die gesamte Menschheit im Besitz dieser neuen Funktion findet“ (214). Die folgenden Sätze weisen eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Gebsers Aussagen auf: Eine kosmisch bewußte Spezies wird nicht wie die Spezies kennen, ebensowenig wie die heutige Menschheit identisch ist die vor der Entwicklung des Ichbewußtseins gelebt hat. Noch mitten unter uns die Geburt dieses neuen Menschen - und die (214).

sein, die wir heute mit der Menschheit, heute vollzieht sich Zukunft gehört ihm

Bei Karl Jaspers, dessen 1913 erschienene „Allgemeine Psychopathologie“ rich­ tungsweisend für die Psychiatrie bis zur Gegenwart geworden ist, finden wir eine Beschäftigung mit der Mystik zuerst in seinem Frühwerk, der „Psychologie der 62

Psychotherapie und die Wege zur Ichfrcihcit

Weltanschauungen“ (1919). Dort spricht er von einer „mystischen Einstellung“ (34 ff.), deren entscheidendes Merkmal die „Aufhebung des Gegenüberstehens von Subjekt und Objekt (von Ich und Gegenstand)“ ist. Ihr Wesen liegt demgemäß nicht im „gegenständlichen Schauen“, es fehlt ihr alles Rationale, es fehlen aber auch „alle ästhetischen Formen einer gegenständlichen Gestaltung, fehlt die Wirksamkeit ethi­ scher Imperative, fehlen alle Werte - denn es gibt kein Gegenüber, keine Gespaltenheit“ (65). Besonders rein zu fassen scheint Jaspers das Wesen der mystischen Einstellung in den Predigten Meister Eckharts. Nicht als Berauschung und Exstase, nicht als asketische Exaltation, sondern als Finden des Grundes, bei einem reinen, strengen, gläubigen Menschen im sinnvollen Zusammenhang mit seinem gesamten psychologischen Wesen ist diese mystische Abgeschiedenheit zu denken (86). Der Zustand der mystischen Versunkenheit ist aber nicht von Dauer. Zurück­ gekehrt, könne der Mensch die Verbindung mit dem realen Leben leisten, wenn ihm eine „folgenreiche Sinnkonstruktion von innen gelinge“. Ein Abglanz dieser Gewißheit findet sich in der letzten Auflage der „Allgemeinen Psychopathologie“ von 1942, erschienen 1946. Dort skizziert Jaspers die Stufen der ärztlichen Tätigkeit vom Eingriff über die Diätetik zum Austausch von Wissen, zur Psychotherapie und schließlich zur „Existentiellen Kommunikation“, die schon jenseits des ärztlichen Beziehungsangebotes liegt. Von dieser sagt er: Von Freiheit zu Freiheit wird im geschichtlich Konkreten der Situation gefragt und gesucht, weder bevormundet noch abstrakter Anspruch erhoben... Es gibt keine end­ gültigen Lösungen mehr. Die Grenze ist, daß Menschen als Schicksalsgefährten dies nur sind in dem Gehalt eines Seins, das Transzendenz heißt. Nicht das nur subjek­ tive Dasein verbindet, nicht Existenz als solche. Denn Existenz ist im Menschen das, was zwar in der Welt unbedingt aus sich ist, an sich aber gesetzt von der Transzen­ denz, von der sie sich geschenkt weiß (668). Zum Schluß dieses Abschnitts möchte ich auf die Betrachtung des spirituellen Weges und seiner Gefahren eingehen, die von Chr. Scharfetter (1997) vorgelegt wurde. Spiritualität bedeutet für ihn die „Entfaltung des Bewußtseins über das Alltagsbewußtsein hinaus“ sowie „eine Läuterung der Person und ihrer Lebens­ führung“. Scharfetter liefert eine Phänomenologie spiritueller Erfahrung, er charakterisiert Typen der spirituellen Wege und deren Disziplinen sowie Muster spiritueller Entwicklung und die Beziehung zu einem spirituellen Führer. Es wird eine Bewußtseinslehre entfaltet, die, von einem „mittleren Tageswachbewußtsein“ ausge­ hend, Zustände eines „Unterbewußtseins“ (Traum, Trance) und eines „Uberbe­ wußtseins“ beschreibt, welches auf den spirituellen Wegen gesucht wird und erfah­ ren werden kann. Alle die Störungen, die seitens der Psychiatrie beschrieben wurden (s. o.) sind für Scharfetter Störungen des „mittleren Tageswachbewußtseins“. Das Eintreten ins Überbewußte sei durchaus spontan möglich; klarer, deutlich und auch lebenswirksam stärker sei dieser Eintritt jedoch, wenn er sich „durch systematisches Üben in einer gesamthaft darauf ausgerichteten, die Entwicklung gestaltenden 63

Peter Gottwald

Lebensführung sich ereignet.“ Die Unterscheidung vom Unterbewußtsein sei sowohl vom Erleben, vor allem der Klarheit, Wachheit, Aktivität, Helligkeit und Weite des Bewußtseins als auch von den Wirkungen her durchzuführen. „Überbewußtseinserfahrungen wirken sich auf die Persönlichkeit aus im Sinne des Gewinns und des Wachstums, erhöhter Konzentration, Versammlung in der Mitte, Ruhe, Gelassenheit.“ Besonderes Augenmerk gilt den „spirituellen Krisen“, in die vor allem „psycholabile“ Menschen auf dem Weg der Meditation geraten kön­ nen. Diesen falle das „Entspannen, Loslassen, Seinlassen“ bei wacher aufmerksamer Aktivität schwer; sie erreichen schwer ... Gelassenheit, Stillesein - und können dann in Aufregung, Angst vor Steuerungs­ und Kontrollverlust, vor dem Verlorengehen, in agitierte Verwirrung mit Halluzi­ nation und Wahn geraten. In der Steigerung der Aufregung und Angst kann es zu Krisen der Flucht, Psychose, des Suizids kommen (61/62). Diese Störungen grenzt Scharfetter von den negativen Begleiterscheinungen reli­ giös-spiritueller Wege ab, so z. B. der „Akedia“, der „dunklen Nacht der Seele“, der „Zenkrankheit“ u.v.a. Daß spirituelle Wege eine Möglichkeit menschlicher Ent­ faltung darstellen, ist für den Psychiater Scharfetter eine unbezweifelte Tatsache. Ihre besondere Gestalt sei zwar kulturgebunden, doch können neue Formen durch die interkulturelle Begegnung entstehen.

5. Verknotungen, Grenzfälle, Grenzbewegungen und - Scharmützel Im Rückblick auf unser Jahrhundert zeichnet sich eine überwältigende Vielfalt von Versuchen ab, „neues Leben“ auf einer spirituellen Grundlage, und zwar unab­ hängig von den Weltreligionen, zu finden, neue Gesellschaftsformen zu erproben, neue Lebenslehren zu entwerfen. Das Moment des „Aussteigens“ (aus der wissen­ schaftlich-technischen Welt) ist dabei ebenso deutlich wie das eines „Abkürzens“ (der Mühsal spiritueller Wege), das mit Drogeneinsatz oder extremen Techniken möglich werden soll. All dies verbindet sich vielfältig mit „ad-hoc-Kosmologien“, die als Esoterik in Erscheinung treten und die Geister verwirren, aber auch „ma­ gisch“ anziehen. Mit Gebser kann man viele dieser Bewegungen als eine erneute, heute aber defiziente Intensivierung mythischen oder gar magischen Bewußtseins verstehen, aber auch als (ebenfalls) defiziente Intensivierung des mentalen Bewußt­ seins auffassen. Ich beschränke mich hier auf einige Beispiele, die ich entlang dreier Leitmotive ordne: Den Einsatz von Drogen, den Einstieg über Psychotherapie, einige Reduk­ tionismen der neuropsychologischen Perspektive. a) Drogen als „Abkürzungsmöglichkeit“? Seit A. Huxleys Versuchen mit Mescalin (1981) geistert die Utopie einer drogenunterstützen Spiritualität in unserer Kultur (Castaneda, T. Leary, J. Kerouac u.v.a. der Beat-Generation). „Die Pforten der Wahrnehmung“ öffnen sich, „Himmel und Hölle“ werden erlebt, nicht nur gesehen. Was bei Huxley Selbstversuch und utopi­ sche Literatur wurde (vgl. „Eiland“, 1987), wo mittels der fiktiven Erleuchtungs­ droge „Moksha“ die Initiation in eine gewaltfreie Gesellschaft sich vollzieht, kehrt 64

Psychotherapie und die Wege zur Ichfreiheit

bei St. Grof (1985) als Selbstversuch mit LSD und in der Folge als ein großangelegtes Experimentieren mit dieser Droge wieder - ein Experimentieren, das nach dem Verbot der Droge in den USA mit der Technik des „Holotropen Atmens“ (Hyperventilation zu Musik) fortgesetzt wurde. Das Ergebnis ist als das stufenweise Erleben von Phänomenen beschrieben worden, wie sie auch auf meditativen Wegen erfahren werden können: 1. Außergewöhnliche Sinneseindrücke, 2. Aufsteigen ver­ schütteter Erinnerungen, 3. Dramatische Phantasien und Halluzinationen von Liebe und Tod, 4. Transpersonale Erfahrungen wie Paraphänomene und schließlich auch Erleuchtung. Grof deutet diese Erlebnisse einerseits als Reaktivierung perinataler Erfahrungen, also im Verlauf des Geburtsprozesses bewirkter Erinnerungsspuren (3.), andererseits als Teilhabe an einem „Kosmischen Bewußtsein“ (4.) - jedoch ohne Bezug zu Bucke (s. o.). Sein Anliegen scheint mehr eine Unterstützung in „spirituel­ len Krisen“ zu sein als die Etablierung einer neuen spirituellen Kultur, doch deutet die Umbenennung der ursprünglich „Spiritual Emergency Network“ (SEN, Not­ fallorientierung) genannten Organisation in „Spiritual Emergence Network“ („Heraustreten“ - Orientierung) auf eine neue Zielsetzung hin. Ob tatsächlich sich hier (es gibt ja keine „Äquivalenz des Erlebens“ an sich - da Kontext und Bedeutungserteilung der Erlebnisse fundamental verschieden sind) ein spiritueller Weg eröffnet, der eine neue Generationenfolge von Meisterinnen hervorbringt und als Lebensform in Gemeinschaft (sowie als neue Kosmologie) sich stabilisieren kann, ist offen. Das Primat einer Technik zur Veränderung von Bewußtsein läßt in mir Zweifel aufkommen. b) Psychotherapie als Einstieg oder Ausgang? C. G. Jungs „Komplexe Psychologie“ (1984) öffnete sich nach seiner Ab­ grenzung von Freud einem Erlebnisbereich, in dem seelisches Geschehen von Stufe zu Stufe zu einer Persönlichkeitserweiterung, der von ihm so genannten Individuation, der Erkenntnis des „Selbst“, aufsteigt. Das ermöglicht eine Begegnung mit „Archetypen“, d. h. kulturspezifisch geformten, aber auch verallgemeinbaren Grundformen menschlichen Lebens zwischen Geburt und Tod, wie etwa „Schatten“ und „Anima/Animus“, schließlich eröffnen sich am Ende dieses Weges mit dem Archetyp „Weise/r Meister/in“ spirituelle Möglichkeiten bis hin zu religiösen Erlebnissen, die doch immer noch als „psychische“ gedeutet werden, (vgl. dazu die Erfahrungsberichte von Gerda Ital, die diesen Bereich durchschritt und zur Zentradition fand, 1971). Erkundet wird auf diese Weise das „Selbst“, ein psychologisches Konstrukt, sondern ein Begriff für das Umfassende der mensch­ lichen Psyche ist. Dieses „Selbst“ soll ja nach Jung ganz wie bei James in unbe­ wußte, darüber hinaus bis in kosmische Zusammenhänge reichen. Ähnlichkeiten mit Meditations- wie mit Drogenerfahrungen liegen auf der Hand, die Gottheiten und Dämonen der tibetischen buddhistischen Lehre wie auch die Phantasmen auf dem Boden der Grofschen „perinatalen Matrizen“ scheinen so nicht nur psycho­ logisch verstanden, sondern auch psychotechnisch aufruf - ja machbar. Zwar waltet noch ein Geheimnis ob (vgl. dazu R. Höf er, 1993), das Jung am Ende seines Lebens mit dem Symbol des „Dämons“ zur Sprache zu bringen suchte, dabei aber mythisierte. Klarheit, insbesondere in bezug auf Spiritualität, stellte sich nicht ein. 65

Peter Gottwald

c) Neuropsychologische, verhaltensphysiologische und andere Reduktionismen als Verleugnungen des Spirituellen Bei Bucke fand sich bereits die Auseinandersetzung mit der Auffassung, daß religiöses Erleben, d. h. in seiner Sprache die Erfahrung eines „Kosmischen Bewußt­ seins“ als Wahn (erleben), dessen Bearbeitung als die Konstruktion eines Wahlsys­ tems) aufgefaßt werden könnte. Diese Sichtweise wies er aufgrund des für ihn gülti­ gen Nachweises eines positiven Qualitätssprungs bei den „Betroffenen“ zurück. Heute tritt nun eine Modellvorstellung aus neuropsychologischer Perspektive auf, für die Erleuchtungserfahrungen zwar singuläre Ereignisse mit positivem Erlebniswert und allerhand gesellschaftlich wünschenswerten Ergebnissen sind, daß aber „in Wirklichkeit“ (dies die alte Formel eines jeglichen Reduktionismus) dieses Erleben „nichts anderes ist als“ - das Ergebnis des zufälligen Aktiviert-Werdens einer Gruppe von (noch zu lokalisierenden, dann evtl, auch einmal extern zu stimu­ lierenden) Neuronen, vergleichbar der „Aura“ vor einem epileptischen Anfall, somit systemimmanent, d. h. allein auf das menschliche Gehirn, bezüglich. Eine solche Haltung, die man als einen „Erleuchtungs-Materialismus“ bezeichnen könnte, geht stets einher mit der Behauptung der restlosen Gültigkeit der gegebenen Erklärung. Aus einer solchen Perspektive kann dann der Buddha als ein „Neuromancer“ erscheinen, sein Weg als ein „Neurolinguistisches (Selbst)Programmieren“ bezeich­ net werden. Alles, was darüber hinausginge an Theoriebildung oder gar neuer „Weitsicht“ (Gebser), beruhte dann auf Selbsttäuschung, sei eine „Reaktions-bildung“ (dies der psychoanalytische Terminus) auf das Allein-Sein im Kosmos. In die­ se Perspektive reiht sich auch die von Freud ableitbare Auffassung ein, daß Erleuchtung ein Resultat der „Tätigkeit eines psychischen Apparats“ sei, der triebgeleitet, in einem dynamisch, topisch und ökonomisch erklärbaren „Geschehen“, das Erlebte „nach außen“ projiziert. In moderner Form lautet das Argument heute so: Wir haben es jedenfalls mit dem Ergebnis der „Selbstorganisation des Gehirns“, einem Beispiel für „Autopoiese“ (Maturana) zu tun, welches bis in die biochemische Dynamik hinein sich auswirken kann, und das ist alles! (vgl. dazu auch Iglesias, 1998, vgl. dazu auch als ein erschüt­ terndes Beispiel vor allem R. Pirsig (1980): Zen und die Kunst ein Motorrad zu war­ ten, wo die „Behandlung“ eines Erleuchtungserlebnisses mit Elektroschocks be­ schrieben wird). Ehe ich nun auf Gebsers Ansatz cingehe und einen eigenen Versuch zur Verwirklichung von „Wahrnehmen und Wahrgeben“ vorstelle (vgl. dazu Kästner und Gottwald, 1993, 1995), möchte ich vergegenwärtigen, wie sich für A. Watts vor fast 40 Jahren die Beziehung zwischen „Westlicher Psychotherapie und Östlichen Befreiungswegen“ (1960) darstellte. Alan Watts ging von den (damals) neueren Formen der Psychotherapie aus, die von Haley, Bateson u. a. auf der Grundlage von Kommunikationsanalysen entwickelt wurden und heute vor allem als Familien- oder Systemische Therapie bekannt sind. Dabei spielt das Konzept des „doublebind“ eine zentrale Rolle als eine pathogene Stuktur, der die Opfer nicht entkommen können, da jede Reaktion bestraft wird und eine Metakommunikation verboten wird. Auch heute noch wird die These vertreten, daß extreme und an­ haltenden Formen dieses „Umgangs“ bis in schizophrene Psychosen treiben kön­ nen. Watts zeigt nun, wie das „Ich-Sagen“ zum „Ein-Ich-Haben“ wird, einer Struktur, die echte Spontaneität unmöglich macht. Dieses „Ich“ wird nun von 66

Psychotherapie und die Wege zur Ichfreiheit

der Gesellschaft jedem Kind eingepflanzt, es wird damit als gesellschaftliche Kon­ struktion ersichtlich, die heute aber keine adäquate Form der Adaptation mehr ist. Sehr treffend finde ich seine Analysen der neuen Psychotherapie, die als eine stän­ dige Konfrontation mit den Antinomien, in die das „Ich-Sagen“ führt (z. B. das „Ich“ nicht zeigen zu können), durchgeführt wird - und zwar so lange, bis der Klient über der Unmöglichkeit, auf Befehl spontan sein können, dieses Ich endlich als eine Fiktion, besser als ein gesellschaftliches Arte-Faktum, als „Gemachtes“, ihm Auferlegtes, sehen lernt - und sich damit von seiner Tyrannei befreit. Hier kann „etwas“ geschehen, das mit „Einsicht“ nur unzureichend beschrieben werden kann, das zu einer Wandlung, zu echter Spontaneität führt. Hier nun knüpft Watts an die „Östlichen Befreiungswege“ an, von denen er aus­ führlich die Zentradition diskutiert. Er faßt die Interaktion Meister-Schüler als ein „geistiges Judo“ auf (vgl. dazu auch Sh. Kopp, 1978), in dessen Verlauf der Schüler wieder und wieder „zu Boden geht“ mit seinen Begriffen und Vorstellungen, bis er endlich einsieht, daß er schon auf dem Boden der Tatsachen steht und nun auf die­ sem Boden sich frei bewegen kann. Mir scheint, hier treibt Watts die Analogie zu weit; er erfreut sich zu sehr an der Ähnlichkeit der Interaktionsformen und unter­ schätzt die Bedeutung der Meditationspraxis. Das Erlebnis der Erleuchtung gewinnt so zu sehr den Anschein einer „Einsicht“ - so wie umgekehrt die Wandlung im Lau­ fe des Therapieprozesses schon den Anschein einer Erleuchtungserfahrung erhält. Insofern nun Psychotherapie, auch in der von Watts analysierten neuen Form, emotional bewegende (und neue Möglichkeiten eröffnende) Analyse von Lebens­ zusammenhängen bleibt, kann sie zu Einsicht und in die Freiheit neuen Wählens führen. Damit bleibt sie in der mentalen Struktur und kann den Durchbruch in ein integrales Bewußtsein allenfalls vorbereiten helfen. Wie aber den „Sprung“ fördern? Was heißt es überhaupt „zu springen“? Dazu ein Rückblick auf Gebsers Werk „Ursprung und Gegenwart“.

6. Gebsers Wahrnehmung eines integralen Bewußtseins als Vorbild und Wegbegleitung bei der eigenen Bewältigung der Aufgabe Gebsers Werk enthält zahlreiche Hinweise auf Selbstdisziplin, auf Läuterung und Wandel in den sozialen Beziehungen, auf die Erlangung einer Ichfreiheit. Einen kon­ kreten „Übungsweg“ beschrieb er nicht, er begnügte sich mit der Wahrnehmung der vergangenen und gegenwärtigen Kulturformen, der magischen, mythischen und schließlich der noch heute herrschenden mentalen Kultur. Er beschrieb dann die Formung des Menschen gemäß jeder der historischen Strukturen des Bewußtseins. Damit leistete er Grundlagenarbeit für Wissenschaften wie die Soziologie und Psychologie. Und er verwies auf die heute wahrnehmbare Manifestation eines Integralen Bewußtseins. Wie geschieht aber die Realisierung dieses integralen Bewußtseins? Was kann getan werden, was ist zu lassen? Wie steht es dabei um Gemeinschaft der Suchenden? Wie könnte die entsprechende/antwortende Kultur aussehen? Dazu möchte ich einige Punkte aufführen, wie sie in Gebsers Werk wahrnehmbar sind. a) Da ist es als erste eine neue Sicht auf die früheren, uns konstituierenden Strukturen. Es gilt, jederzeit und überall die Wirksamkeit der magischen, mythi67

Peter Gottwald

sehen und mentalen Ebenen wahrzunehmen und der Versuchung zu widerstehen, eine von ihnen einseitig zu intensivieren. Dabei erhebt man sich von der Ebene der nicht wahrgenommenen Abhängigkeiten in eine neuartige Freiheit des Wahrens seiner selbst. Dies ist nach Gebser eine wichtige Stufe der Entwicklung zur Ichfreiheit. Diese ist „ein über das mentale Ich-Sein Hinauswachsen in ... jene Frei­ heit, die Bürge des Geistigen ist“ (III/444). Diese Ichfreiheit wäre die „Wirklichung eines intensiveren Bewußtseins, das zugleich auch die Distanzierung zum eigenen ,lch‘ aufrechterhält; wäre Erkenntnis der Zeitbedingtheit des Ichhaften und aller Wünsche, Gefühle und Willensäußerungen, die ihm anhaften“ (III/485). Die Ichfreiheit ist damit das Charakteristikum der integralen Bewußtseins­ struktur... Wem es im Alltag gelingt, das Ganze über sein Ich zu stellen (ein Ich, das er des­ halb noch lange nicht verlieren muß), wer aus Ichfreiheit zu handeln vermag, dem wird die Welt und selbst der Alltag durchsichtig. Dann rücken sich die allgemeinen Umweltsgegebenheiten von selbst zurecht; sie strukturieren sich neu, da sie ... der neuen Realisationsweise, die nun ihrerseits die Umwelt gestaltet, inkongruent sind... Dann wird auch der Albdruck unserer Zeit weichen: die falsche Verwendung der Maschinen, deren leere Bewegung, deren bloße Motorik, autonom zu werden droht (111/677).

b) Zustände von „Überwachend“ mögen sich je und je einstellen. Deren Inte­ gration in den Alltag und die Gewinnung einer neuen Gemeinschaft der so „zu sich Gekommenen“ bleibt als Aufgabe bestehen, ebenso aber das Ringen um eine Sprache, die das Unerhörte zu Gehör zu bringen sucht. Hier gibt cs Bezüge zur Zentradition, die keine „Anleihe“ sind, sondern, wie Gebser dies selbst auf seiner Reise in den Osten fand, die Wahrnehmung einer geistigen Verwandtschaft ist (Vgl. dazu Enomiya-Lassalle, 1989). c) Im Werk verstreut finden sich viele Hinweise auf Lebensführung, und was ich die kleinen Übungen der Selbstwahrnehmung nennen könnte. An dieser Stelle möchte ich nur auf sein Wort von der „Präligio“ als der neuen Gestalt eingehen, in der „Bindung“ in Erscheinung tritt. Hier haben wir ein „Geschehen“ vor uns, das „gegenwärtigend, konkretisierend und integrierend“ (Synoptische Tafel) die Wand­ lung - wahrgibt, um mit Gebser zu sprechen. Diese Präligio schließt alle Befangenheiten aus; sie ist ohne Erwartungen, ohne Hoffnung auf etwas - denn alles zu Erhoffende ist latent in uns und wird durch die Präligio realisiert;... Präligio ist damit die Bindung zu der durchscheinend werden­ den Ursprungsgegenwärtigkeit, die, wird sie dem Menschen bewußt, ihm die Wahrnehmung und die Wahrgebung des Ganzen ermöglicht: Die Präligio schaltet keine der anderen Formen der Bindung aus, sondern bindet sie alle ,in‘ das Ganze (11/371). Die hier angedeutete Beziehungsaufnahme „zum Ganzen“ ist konkret, wenn auch nicht „gegenständlich“, sie ist keine abstrakte Denkfigur, keine leere Hülle. Sie ist auch nicht als System oder Teil eines Systems zu beschreiben, das „zur Anwendung“ kommen könnte, damit auch kein abstraktes, d. h. beziehungslos „gesichertes“ Wissen mehr. Es geht um die Konkretisierung einer neuen Kultur, d.h. einen leben­ 68

Psychotherapie und die Wege zur Ichfreiheit

digen Vollzug in einer Gemeinschaft von Menschen, die offen miteinander und für­ einander sind. Diese Offenheit ist nur möglich, wenn eine „Geborgenheit im Freien“ erfahrbar wurde, die nun als neue Form die alten - damit überflüssig werdenden, ja nunmehr einengenden - Geborgenheiten in der Höhle, im Haus, ja „unter der Schädeldecke“ (P. Handke) ablösen kann. Dazu bedarf es eines „Urvertrauens“ (Gebser), das aus der konkreten Wahrnehmung der Ursprungsgegenwärtigkeit erwächst und die „Urangst“ überwindet. Wie könnten hierzu die ersten Schritte z. B. an einer Universität aussehen, die in ihrem Fachbereich Psychologie den Begriff „Urvertrauen“ bisher nur als psychoanalytisches Konstrukt sensu E.H. Erikson kennt (I960)?

7. Die Kunst einer Handlungs-Lehre für die Universität. Sie entstand in der langjährigen Zusammenarbeit mit dem Hamburger Psycho­ therapeuten Peter Kästner als ein Versuch, eine Praxis des Wahrnehmens und Wahrgebens (dies Kästners Ausdruck seit 1983) auf eine Weise zur Sprache zu brin­ gen, die sich nicht an eine psychotherapeutische Schule bindet, die aber die Vielfalt der Schulen als eine eigene Qualität zu wahren erlaubt. Wenn sie also auch „Begriffe“ benutzt und „Definitionen“ kennt, dann doch stets mit Rücksicht auf einen unbegreifbaren, nicht zu definierenden „Rest“. Alle diese Begriffe, Systeme und Funktionsgesetze, von Menschen ersonnen, gilt es als Objektivationen eines Erlebens und Handelns zu wahren, die in bestimmten gesellschaftlichen Situationen als Handlungen einmal einen Sinn erzeugten und noch erzeugen. Diese eine (von sie­ ben) Grundaussagen einer neuen Handlungs-Kunst- Lehre (Kästner und Gottwald, 1993, 1995) stelle ich hier in den Kontext der Gesamtaufgabe eines „Wahrens“, von dem Gebser sprach. Unser Motto lautet: Handlung ist Symbol des Schöpferischen. Das Schöpferische ist Symbol des Handelns. Der erste Satz weist auf ein „Prinzip“ hin, das Schöpferische, von dem unser Han­ deln ein Abglanz ist, oder eben ein Symbol, jedenfalls nicht dasselbe, getrennt von diesem auf einer Stufenleiter des Seins, gemäß einer Ontologie. In diesem Sinne wäre auch die Rede von einem „Schöpfer“ zu verstehen, dessen Ebenbilder wir sind, des­ sen Schöpferkraft und -tat unser Handeln ebenbildlich verbunden ist. Der erste Satz ist somit entweder philosophisch oder theologisch zu interpretieren, er konstituiert eine je spezifische Ontologie. Damit erweist er sich der Epoche des mentalen Be­ wußtseins zugehörig, er ist von ehrwürdigem Alter und tiefer Bedeutung, verankert in Institutionen wie den Kirchen und den Universitäten, bekräftigt durch Rituale, Gebete, Betrachtungen und einen Diskurs, dessen Dokumente Bibliotheken füllt. Der zweite Satz geht vom menschlichen Handeln aus und betrachtet „das Schöpferische“ als eine Überhöhung desselben, welches bis in einen „Himmel“ reicht, der als psychische Projektion verstanden oder als „Überbau“ begriffen wird, sobald „Handeln“ etwa als „Tätigkeit“ im Rahmen des dialektisch-materialistischen Diskurses aufgefaßt wird. Somit ist dieser Satz ein wissenschaftlicher, entweder ein psychologischer, speziell der Psychoanalyse, oder der Theorie der sowjetischen historischen Schule (vgl. Leontjew) zu begreifen. Erneut haben wir es mit einem Produkt aus der mentalen Struktur zu tun, diesmal aus dessen „Endphase“, in der 69

Peter Gottwald

das mentale Denken sich immer mehr auffächert, zersplittert, damit aber, folgt man Gebser, zunehmend defizient wird. Indem wir uns nun die Aufgabe stellen, beide Sätze als jeweils historisch bestimmte und sinnstiftende frei wahrzunehmen, nicht jedoch als „wahr“ oder „falsch“ zu bezeichnen, gewinnen wir eine neue Qualität (eben der Freiheit des Wahrnehmens) und wahren damit ein Erbe, das nun nicht mehr einfach als „überwunden“ gelten kann, sondern als „aufgehoben“ gewahrt und gewürdigt wird als eine konkrete Sinngebung, die in Beziehungen entstand und in Symbolen zum Ausdruck kam. Darauf folgt, nun nicht mehr der „Kampf der Systeme“, hier etwa Wissenschaft gegen Religion, sondern es kann sich ein tiefer Respekt vor der Vielfalt der schon realisierten und, noch offenen Handlungs­ möglichkeiten und Sinngebungen entwickeln. Hier erleben wir ein Ringen um eine Sprache, die nicht zu wenig sagen möchte, aber auch nicht zu viel sagen darf - und das Wesentliche nicht sagen kann! Es ist hier ja nur eine gleichsam „kreisende“ Sprache möglich, die wie in einem „Kreissaal“ das Neue zur Welt (und zur Sprache) zu bringen sucht. Die angekündigte Handlungs-Lehre umfaßt sieben Aussagen, die im folgenden mit Erläuterungen, Bildern und Texten „umkreist“ werden. 1. Jede Handlung ist sinnhafte Handlung. 2. Der Sinn zeigt sich im Symbol. 3. Das Symbol erschließt sich in der Beziehung, dabei bleibt stets ein Rest. 4. Das eigentlich Menschliche ist die Wahlmöglichkeit. 5. Jede Beziehung schränkt die Wahlmöglichkeit ein; dagegen richtet sich Wider­ stand. 6. Dieser Widerstand ist zu wahren. 7. Dazu bedarf es einer Wandlung. Es ist zu betonen, daß die hier verwendeten Worte weder festumrissene Begriffe noch strenge Definitionen sind, sondern daß sie Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnen wollen (vgl. L. Wittgenstein: „Halte Dich ungefähr hier auf“. Philosophi­ sche Untersuchungen, 1948). Wenn es nun im ersten Satz heißt: 1. Jede Handlung ist sinnhafte Handlung dann bringen wir damit unseren Respekt vor der Vielfalt der Dimensionen jeg­ lichen Handelns zum Ausdruck, und wir erwarten, daß in jedem Falle der zutage tretende „Sinn“ die von Jaspers u.a. angesprochene Tiefendimension aufweisen läßt. Der Hinweis auf „Symbole“ soll ebendies verdeutlichen, und er soll den Weg wei­ sen, der nur im Respekt vor der Unerschöpflichkeit der Symbole gegangen werden kann. 2. Der Sinn zeigt sich im Symbol. Aber was ein Symbol ist, erweist sich erst in der Fülle der möglichen Deutungen, wohingegen „Zeichen“ in pragmatischer Absicht eindeutig definiert sein sollten. Die wahre Vielfalt der Symboldeutungen ist aber nicht unmittelbar evident, sie zu erschließen bedarf es einer lebendigen Beziehung, einer echten Partnerschaft, ja einer „Schicksalsgemeinschaft“. Deshalb lautet der dritte Satz: 3. Das Symbol erschließt sich in der Beziehung, genauer gesagt, in einer vertrauensvollen Beziehung, die darauf baut, daß jede/r vom anderen wahrgenommen, d. h. gesehen und akzeptiert wird. Erst dann vermag man einander das mitzuteilen, was das Symbol an Bildern, Gedanken und Gefühlen 70

Psychotherapie und die Wege zur Ichfreiheit

aufruft. Eine solche „Wahrgebung“ (vgl. Kästner, 1983), durchaus im Sinne Gebsers, ist und bleibt ein offener, endloser Prozeß. Selbst unter den besten Bedingungen gilt deshalb: dabei bleibt stets ein Rest. Dieser Rest ist selbst ein Symbol des Schöpferischen, und wir respektieren mit dieser Aussage eine Tatsache wie auch eine Wahrnehmungsbereitschaft als Möglich­ keit, auch dort noch etwas zu sehen, wo aller Voraussicht nach sich nichts mehr zei­ gen wird (vgl. dazu Bodenheimer, 1992). Dieser Rest nun stellt in den Augen der Wissenschaften, speziell der Informatik, nicht nur eine Herausforderung, sondern geradezu ein Ärgernis dar. Wer alles, was es gibt, in Zahlen fassen will, jedes „pythagoräische Komma“ wegzurechnen bereit ist, wird unausweichlich so symbolblind wie zeichenbewußt. Hier ist z. B. auch an die Bemühung N. Bischofs (1996) zu den­ ken, der das „Kraftfeld der Mythen“ zwar spürt, aber doch mit Hilfe der Psycho­ logie zur Räson zu bringen sucht - statt es mit Gebser zu wahren. Wir gehen an die­ ser Stelle auf die Wirklichkeit von Freiheit ein und sagen: 4. Das eigentlich Menschliche ist die Wahlmöglichkeit. Statt von Freiheit zu sprechen, an die „nur appelliert werden kann“ (Jaspers), be­ nutzen wir dieses Wort in dem Bewußtsein, daß auch dessen „Dialektik“ uner­ schöpflich ist. Sie, die Wahlmöglichkeit, ist nie „einfach Wirklichkeit“, sondern immer schon/nur zu erwirkende Möglichkeit, geboren in Beziehungen, aber auch und gerade eben dadurch begrenzt, denn: 5. Jede Beziehung schränkt die Wahlmöglichkeit ein; dagegen richtet sich Wider­ stand. Die Geschichte vom „ersten Geschöpf Gottes“ führt uns im jüdisch-christlich geprägten Abendland diese Tatsache - und die Reaktion des so unbändigen wie gefürchteten Freiheitsbegehrens der frei Geschaffenen vor Augen. Erinnern wir uns: Luzifer, der erste und oberste der Engel, der Lichtträger, wendet sich von seinem Schöpfer ab. Er verweigert die Beziehung, er ist sich selbst genug. Gedeutet wird dies vom Geschichtenerzähler als Auflehnung, als Begehren der Herrschaft - die Strafe folgt auf dem Fuße. Luzifer und die sich ihm anschlossen werden vom Himmel herabgestürzt, sie sind fortan „in der Hölle“, wo sie als der ewige Wider­ part Gottes verharren müssen. Ich deute diese Geschichte als Abwehr der Wahrneh­ mung der eigenen Freiheitsmöglichkeit, als angstvolle Reaktion auf die (zutiefst erschreckende) Möglichkeit der freien Wahl, als Abwehr des damit erwachenden Bewußtseins der eigenen Verantwortung für alles Handeln. Deshalb muß (in der eigenen Phantasie) sogleich die Strafe folgen. Auch in der Geschichte vom Paradies und der Vertreibung aus ihm finden wir ein als Freies geschaffenes Geschöpf vor, das seine Freiheit fürchtet - und verwirklicht. Was ging in den „ersten Menschen“ vor? Die freie Willensentscheidung macht mächtig. Der Schrecken vor dieser Macht, die „Täter“ und „Opfer“ zugleich konsti­ tuiert, ist ein doppelter: Vor sich selbst wie vor dem mächtigen anderen. Diesen Schrecken gilt es erneut zu bewältigen: Die neue Möglichkeit wird abgewehrt, ver­ leugnet oder eben „verteufelt“. So kommt „das Böse“ in die Welt, als Projektion, wie die Psychoanalyse hypothetisch sagen würde, oder aber, mit Kafka, „was wir böse nennen, ist nur eine Notwendigkeit eines Augenblicks unserer ewigen Entwick­ lung“ (Betrachtungen Nr. 54, 1966). Es kommt also darauf an, diese „Projektion“ zurückzunehmen, die Verantwortung für unser Handeln auf uns zu nehmen. 71

Peter Gottwald

In Goethes „Faust“, Prolog im Himmel, fand ich das Wort, welches dieses Geschehen zwischen Beziehung und Freiheit anschaulich und lebendig macht: Der Herr spricht zu den Erzengeln: Doch ihr, die echten Göttersöhne, Erfreut euch der lebendig reichen Schöne! Das Werdende, das ewig wirkt und lebt Umfaß euch mit der Liebe holden Schranken, Und was in schwankender Erscheinung schwebt Befestiget mit dauernden Gedanken. 6. Dieser Widerstand ist zu wahren. Dieses Beziehungsangebot ist indessen nur realisierbar, wenn wir Loslassen ler­ nen. Das Faustische „Versinke stampfend, stampfend steigst Du wieder“ wäre zu lassen, es dürfte nun heißen: „Versinke atmend - atmend steigst Du wieder“. Erst dann kann der eigene und der fremde Widerstand gewahrt werden. 7. Dazu bedarf es der Wandlung „Wandlung“ geschieht, sie ist das Zentrum, ja der Herz-Geist der Zentradition wie des Christentums. Symbol der Wandlung wäre, nun auch gemeinsam vom „Baum des Lebens“ zu essen, und zwar ohne Schuldgefühl und Schamempfindung, und ohne diesen Baum dazu zu fällen - oder gentechnisch zu manipulieren! Der Zentradition ist dieser Gedanke sehr nahe. „In einem Brunnen, der nicht gegraben ist, plätschern aus einer Quelle, die nicht fließt“, heißt es in einem alten chinesischen Koan. Im Abendland hat Kafka solche Gedanken unvergleichlich klar ausgedrückt. Es liegt auf ihnen ein Abglanz des Lichtes, von dem er sagte: „Anders geht der Atem, blendender als die Sonne strahlt neben ihr ein Stern“. („Bemerkungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg“, 1977, Nr. 17).

8. Kein Fazit - wohl aber ein Faciendum Da die moderne Psychologie so wenig wie die moderne Psychotherapie den Kern der Not wie die Notwendigkeit der Wandlung wahrnehmen kann, sondern nur begreift, was sie entsprechend ihrer notwendig systematischen Herangehensweise „zurichten“ kann, darf und muß es uns heute darum gehen, die mögliche Wandlung zur Freiheit selbst wahrzunehmen und einen „freien Wandel“ zu üben. Das entsprä­ che einer neuen „Lebenskunst“ (vgl. dazu zwei aktuelle Analysen: Detel, 1998 und Schmid, 1998), die eine neue Art des „Transzendierens“, nämlich ohne die Aussicht auf ein „Jenseits“ zur Voraussetzung wie zur Aufgabe hätte. Wie Gebser wußte, ist dieses „Springen“ Handlung und Widerfahrnis zugleich, aber nicht schon die Not wendend. Es bedarf der Stiftung/Entstehung einer neuen Gemeinschaft, deren Menschen wie von selbst einander gewahr werden, sobald sich ihnen die neue Wahrnehmungsmöglichkeit eröffnet hat. Es ist für mich heute keine Frage mehr, daß es dazu besondere Übungsformen bedarf, daß hier von einem spirituellen Weg gesprochen werden darf. Unter den zahlreichen tradierten spirituellen Wegen scheint mir die Zenmeditation als die freieste und klarste Form durchaus kompatibel 72

Psychotherapie und die Wege zur Ichfreiheit

mit einem Leben in der wissenschaftlich-technischen Welt (vgl. dazu Pirsig, aber auch Enomiya-Lassalle, 1981, der auf die „ungegenständlichen“ Meditationen, aber auch auf den Yoga hinwies). Es geht dabei nicht darum, sich aufzugeben, aufzugehen in einer Einheit wie im magischen Zeitalter (und in zahllosen esoterischen Zirkeln), es genügt nicht mehr, sich unter ein Leitbild zu stellen, dort zu „gruppieren“, sich einem Neomythos zu unterwerfen, der dann das Leben bestimmt - nenne man ihn den „Dämon“ (C. G. Jung), „die Kunst“, ja sogar „den Kosmos“. Es gelingt nicht, indem ich mich in den Dienst eines Projektes der Moderne stelle, mit Leib und Seele etwa der Kybernetik verschriebe und eine „Globale Steuerung “ anvisierte. Solche Projekte mögen not­ wendig scheinen, allein wenden sie jedoch nicht die Not, wie auch der Kampf gegen etwas (z. B. gegen „das Böse“, vgl. Kafka, heute dazu etwa Iglesias, 1998) nicht aus­ reicht. Die „Gegner“, wer sie auch sein mögen unter den Lebewesen und in der unbelebten Natur, wollen wahrgenommen sein! Für diese Wahrnehmungsmöglichkeit und -leistung, die Gebser das integrale Bewußtsein nannte, gibt es viele Bezeichnungen (z. B. „Der souveräne Mensch, Böhme 1985), sie ist mit vielen Namen verbunden, wie R. Bucke und viele andere lehrten. Auch das Erleuchtungsgeschehen will wahrgenommen sein und integriert werden; welch ein Verlust, wenn es „wegerklärt“ oder gedanklich „zubetoniert“ würde, um den „hortus conclusus“ der Universität „unkrautfrei“ zu halten! Ande­ rerseits ist auch Nüchternheit und Sachlichkeit geboten. Wir erkennen an, daß Erleuchtungserlebnisse, die über den Menschen auf einem darauf ausgerichteten „Übungsweg“ oder auch spontan, wie offenbar bei Gebser, „hereinbrechen“, nicht nur vielfältiger Art und von unterscheidbarer Tiefe sind, sondern auch begleitet wer­ den von unterschiedlichen Bildern, Gefühlen und Kognitionen. Ihre Anerkennung als solche überlassen wir aber sinnvollerweise den Meistern, auch wenn wir uns Vor­ behalten müssen, Klarheit über Mißbrauch durch selbsternannte Meister zu suchen. „Führung auf einem Weg“ ist immer Geschehen in Beziehung, somit nie eindeutig gestaltbar oder exakt/abstrakt beschreibbar. Stets bleibt auch hier - ein Rest, ebenso wie es bei der wie auch immer geprägten Rede darüber neben der eigenen Stimme und der Verantwortung für die eigene Rede auch einen Rest an Zweifel geben mag. Ein Leben im Dienste einer so „wahrenden“ Wissenschaft und im Geiste des Zen ist für mich eine so nüchtern-begeisternde, wie jedenfalls unerschöpfliche Möglichkeit der Wahrnehmung der Welt, der Menschen und meiner selbst, ein Weg der Klarheit, der Transparenz.

Summary: A paradigm clash between psychiatry and psychotherapy on the one side and spiritual life on the other side, can and should be avoided. From the position of a cultural anthropology as proposed by Jean Gebser, an integral consciousness can provide a basis for mutual understanding and acceptance by regarding quality in each realm of human development. In the texts of W. James, R. Bucke, K. Jaspers and Chr. Scharfetter there is evidence of such a novel understanding, whereas in certain drug experiments, in some aspects of complex psychology (C. G. Jung) and in neuropsychological reductionism, human complexity is reduced at the risk of grave misunderstandings of the human potential. For the purpose of transmitting a new perspective at the university, a way of talking about the meaning of human actions and about the perception of Symbols is put forward that acknowledges as a basic prerequisite a deep and trustful relationship among the participants of this novel art of generating transparency.

73

Peter Gottwald

Key Words: Psychiatry, Psychology,Psychopathology,Psychothcrapy,Spiritual Life, Integral Consciousness versus Rcductionism, Art of Generating Transparency, Relationship, Trust, Symbol. Literaturverzeichnis Arokiasamy, A. M. (1995): Warum Bodhidharma in den Westen kam. Kann es ein europäisches Zen geben? Ch. Falk, Seeon. Bandrinath, N. M. (1998): Moksha als menschliche Freiheit. In: R. z. Lippe, (Hrsg.): Poiesis, 1998. Benz, E. (1962): Zen in westlicher Sicht. Zen-Buddhismus/Zen-Snobismus. O.-W. Barth, Weinheim. Bischof, N. (1996): Das Kraftfeld der Mythen. Piper, München. Bodenheimer, A. R. (1992): Verstehen heißt, antworten. Reclam, Stuttgart. Böhme, C. (1985): Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Bucke, R. (1901): Kosmisches Bewußtsein. Zur Evolution des menschlichen Geistes. Insel, Frankfurt a.M. Detel, W. (1998): Macht, Moral, Wissen. Foucault und die klassische Antike. Suhrkamp, Frankfurt a.M. Eißler, K. (1977): Der Sündenfall des Menschen. In: Dräger et al. (Hrsg.): Jahrbuch der Psychoanalyse, Bd. IX, S. 23-78, Huher, Bern. Enomiya-Eassalle, H. M. (1981): Wohin geht der Mensch? Benzinger, Zürich. Enomiya-Lassalle, H. M. (1986). Zen und christliche Mystik. Aurum, Freiburg. Erikson, E. H. (1973): Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp, Frankfurt a.M. Gebser, J. (1976): Ursprung und Gegenwart, 3 Bde. der Gesamtausgabe bei Novalis, Schaffhausen. Gottwald, P. (1993): ln der Vorschule einer Freien Psychologie. Forschungsbericht eines Hochschul­ lehrers und Zcnschülers. Holzberg, Oldenburg. Grof, S. (1985): Geburt, Tod und Transzendenz. Kösel, München. Höf er, R. (1993): Die Hiobsbotschaft C. G. Jungs. Folgen sexuellen Mißbrauchs. Zu Klampen, Lüneburg. Huxley, A. (1981): Die Pforten der Wahrnehmung. Himmel und Hölle. Piper, München. Huxley, A. (1987): Eiland. Piper, München. Iglesias, P. (1998): Dr. Nerudas Therapie gegen das Böse. Fischer, Frankfurt. Ital, G. (1971): Auf dem Wege zu Satori. Übersinnliche Erfahrungen und das Erlebnis der Erleuchtung. Goldmann, München. James, W. (1901): The Varitics of Religious Experience. Mentor Book, New York (1958). Jaspers, K. (1913,1946): Allgemeine Psychopathologie. Springer, Heidelberg. Jaspers, K. (1919, 1994): Psychologie der Weltanschauungen. Piper, Jaspers, K. (1945): Philosophische Logik. Von der Wahrheit. Piper, München. Jung, C. G. (1984): Erinnerungen, Träume, Gedanken. Walter, Olten. Kafka, F. (1968): Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg. In: Er. Suhrkamp, Frankfurt a. M. Kapleau, Ph. (1981): Die drei Pfeiler des Zen. Lehre, Übung, Erleuchtung. O. W. Barth, Weinheim. Kästner, P. (1983): Theoretische Vorbemerkungen, in: E. Jacggi et al.: Andere verstehen. Ein Trainingskurs für psychosoziale Berufe. Bcitz, Weinheim. Kästner, P. und P. Gottwald (1993): Psychosoziales Handeln im Wandel. Verhaltensther. u. psychosoz. Praxis, 4/93, 463-494. Kästner, P. und P. Gottwald (1994): I landein im Wandel. Von den Moralvorschriften zur Wahrnehmung als Beziehungsangebot. In: F.. Arnold und U. Sonntag (Hrsg.): Ethische Aspekte der sozialen Arbeit, dgvt-Verlag, Tübingen. Kopp, Sh. (1978): Triffst Du Buddha unterwegs. Fischer, Frankfurt a. M. Marcuse, H. (1957): Eros und Kultur. Klett, Stuttgart. Miller, H. (1958): Big Sur oder Die Orangen des Hieronymus Bosch, Rowohlt, Reinbek. Munsterberg, PL (1978): Zen-Kunst. DuMont, Köln. Musil, Tr. (1952): Der Mann ohne Eigenschaften. Rowohlt, Reinbek. Pirsig, R. M. (1981): Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten. Fischer, Frankfurt a. M. Rogers, C. (1987): Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. GWG-Verlag, Köln. Scharfetter, Chr. (1997): Der spirituelle Weg und seine Gefahren. 4. Aufl. Enke, Stuttgart. Schmid, W. (1998): Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 74

Psychotherapie und die Wege zur Ichfreiheit

Watts, A. (1960): Psychotherapie und östliche Befreiungswege, Kösel, München. Weizsäcker. V.v. (1977): Geist, und Natur. Kindler, München. Wilber, K. (1984): Halbzeit der Evolution. O. W. Barth, München. Wilber, K. (1988): Der glaubende Mensch. Goldmann, München. Wittgenstein, L. (1948): Philosophische Untersuchungen. Suhrkamp, Frankfurt a. M.

Prof. Dr. Dr. Peter Gottwald Ziegelhofstr. 9, 26121 Oldenburg

75

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2/99, 76-87

Was verstehen wir unter den Begriffen Ich, Ego und Selbst? Sylvester Walch, Oberstdorf

Zusammenfassung: In der folgenden Untersuchung werden die Begriffe Ich, Ego und Selbst auf dem Hintergrund psychologischer, psychotherapeutischer, transpersonaler und spiritueller Sichtweisen näher erläutert und in ihrem Zusammenhang dargestellt. Davon ausgehend deutet sich die Möglichkeit eines fruchtbaren Dialogs und einer modellhaften Integration von psychotherapeutischen und spirituellen Ansätzen an. Schlüsselwörter: Borderline, Ego, Erkenntnistheorie, Ich, Psychologie, Psycho­ therapie, Selbst, Spiritualität, Transformation, Transpersonale Psychologie, Wesen. Wenn man das Selbst verstehen möchte, muß man sich vorher mit dem Ego beschäftigen, denn, so sagen uns Weisheitslehrer aller Schulen, das größte Hindernis auf dem Weg zum Selbst ist das Ego. Da das Ego oftmals, meiner Ansicht nach fälschlicherweise, mit dem Ich gleichgesetzt wird, muß zum besseren Verständnis, Ich und Ego getrennt voneinander beschrieben werden, auch wenn sie nicht voll­ ständig voneinander zu trennen sind.

1. Ich und Ego Umgangssprachlich würden wir einem Menschen ein starkes Ich dann zuschrei­ ben, wenn er weiß was er will, sich seine Meinung zu sagen traut und tatkräftig für seine Ziele eintritt. Auch Toleranz und Dialogfähigkeit sind Ausdruck eines autono­ men Ichs. Das starke Ich wird zum Ego, wenn er seine Ziele gegen die berechtigten Ansprüche anderer durchsetzt, die Grenzen nicht respektiert, kontrolliert und mani­ puliert, um für sich selber das Beste herauszuholen. Es kreist um sich selbst. Wenn wir uns zum Beispiel am Fahrkartenschalter eine Fahrkarte kaufen, ist für eine gute Abwicklung dieses Vorhabens das Ich wichtig. Sind drei Leute vor mir und ich beschwere mich beim Bahnbediensteten lautstark, warum er mich nicht als Ersten bedient, obwohl ich eine bedeutende Persönlichkeit bin und es eilig habe, dann war das Ego in Aktion. Das Ich tut etwas, das Ego zeigt sich im Wie. Das Ich als lebenserhaltende Struktur Freud (1975) führte 1923 seine Strukturhypothese ein. Er unterscheidet darin drei funktional zusammenhängende psychische Strukturen: das Es, das Ich und das 76

Was verstehen wir unter den Begriffen Ich, Ego und Selbst?

Über-Ich. Das Es umfaßt die psychischen Repräsentanzen der Triebwelt, das Über-Ich die moralischen Vorschriften unseres Seelenlebens sowie unsere idealen Strebungen. Das Ich besteht aus jenen Funktionen, die mit der Beziehung des Individuums zu seiner Umwelt (und zu sich selbst) zu tun haben und hat die Aufgabe, zwischen Es und Über-Ich so zu vermitteln, daß eine gesunde Integration der Persönlichkeit stattfinden kann. Später dann, in der Nachfolge Freuds, wurde das Ich zu einem zentralen Begriff, um den sich ganze Psychologien entwickelten die sogenannte Ichpsychologie. Für sie ist das Ich ein hypothetisches Konstrukt (also nicht direkt durch die Wahrneh­ mung erkennbar, sondern nur durch Reflexion erschließbar) und steht für die bewußte innere psychische Organisation bzw. nach Blanck und Blanck (vgl. 1989 u. 1994) für den „Organisierungsprozeß“ lebensnotwendiger psychischer Funktionen. Für Hartmann (1972) wären dies vor allem: Realitätsprüfung, Wahrnehmung der Außenwelt und der Innenwelt, schützende Schranke gegen übermäßige Reize von außen und innen (Abwehrfunktion), Objektivierung, Distanzierung, Handeln, Denken und die Fähigkeit zum Zwecke eines höheren Zieles momentane Befriedi­ gungen aufzuschieben Bildlich gesprochen ist das Ich der Kapitän der Seele, der uns befähigt, gesamthaft zu empfinden, wahrzunehmen, bewußtzumachen und zielge­ richtet zu handeln. Das Ich bildet auch Konzepte aus über die eigene Person und die Außen­ welt. Diese können aus Angst und Mißtrauen starr sein, spontane Regungen und Intuitionen abblocken, scharfe Grenzen ziehen und dominant über alles Kon­ trolle ausüben wollen. Hier kämen wir in die Nähe zu dem, was spirituelle Traditionen unter Ego verstehen würden. Das Ich ist ein wichtiger Garant der menschlichen Entwicklung, und Ichverlust ist immer gleichzusetzen mit fehlender Anpassung. In der Entwicklungspsychologie ist die Ichentwicklung ein zentraler Reifungs­ abschnitt im Werdensprozeß des Menschen. Sie löst das Bewußtsein des Individu­ ums aus dem seelischen Kollektiv des Prä-Ichs heraus. Die Fähigkeiten zu Differen­ zierung und Diskrimination (Ich und die anderen), Objektivierung (Distanzierung) und Separation werden entfaltet. Die Separation ist die Grundlage der Indivi­ dualität. Bei einem Verbleiben in der undifferenzierten wir-haften Ausgangslage wären wir lebensuntauglich. Wenn wir aber unsere Individualität und Per­ sönlichkeit ausgelebt und eingebracht haben, wird es notwendig, schrittweise die Betonung der Ich-Persönlichkeit (die Herausstellung des Ich bin, Ich habe, Ich kann) abzubauen, um das Ich in die Totalität des Seins zurückzuführen, d. h. die erworbenen und geschenkten Fähigkeiten nicht mehr im Eigenbesitz zu lassen, sondern dem Ganzen zur Verfügung zu stellen. Dürckheim und Frankl betonten immer wieder, daß es in der ersten Lebenshälfte darum geht, das alltägliche Leben zu bewältigen im Diesseits klarer zu werden, sich im Leben zu zeigen und daß in der zweiten Hälfte des Lebens die spirituelle Seite mehr und mehr Gewicht finden sollte. Die Krise in der Mitte des Lebens bringt uns diese Botschaft recht ein­ drücklich. Dieser Schritt der Transformation des Ichs ist mit Schwierigkeiten und Schmerzen verbunden, weil vertraute Bezüge und Gewohnheiten allmählich auf­ gelöst werden, überwertige Selbstattribuierungen konfrontiert und Stolz abgebaut wird. Nicht mehr der Persönlichkeitsentwurf steht von nun an im Vordergrund, 77

Sylvester Walch

sondern der Weltentwurf. Gelingt dieser Schritt jedoch nicht, dann werden uns nar­ zißtische Bestätigungen und starre Abgrenzungshaltungen (rigide Separationen) immer wichtiger. Das Ego als Schattenaspekt des Ich Untransformierte, starre und abgegrenzte Ich-Anteile sind die Bausteine des Ego, von denen loszulassen eine absolute Notwendigkeit in der menschlichen Entwicklung darstellt. Wie zeigt sich das Ego: In Spannungen und Verkramp­ fungen, in Neid, Verbissenheit, Gier, Eifersucht, Druck, Härte, Abwertung, Unversöhnlichkeit. In Allmachtsphantasien, Anerkennungssucht und Machtan­ sprüchen. Dadurch bindet das Ego unsere kreativen und evolutiven Kräfte. Die göttliche Eingebung, der göttliche Kanal wird undurchlässiger, die selbst­ destruktiven Kräfte übernehmen die Regie, wir entfernen uns immer mehr vom inneren Sinn unseres Lebens, so daß wir Leichtigkeit und Freude einbüßen. Selbstdestruktivität ist eine Überheblichkeit und Unachtsamkeit der Schöpfung gegenüber. Wir kämpfen dann gegen unser Schicksal ohnmächtig an, und äußere Widerfahrnisse, die uns Neues lehren könnten, regen uns nur noch auf. Freiheit und Autonomie heißt nicht, alles tun zu können, sondern das zu tun, was richtig und stimmig ist. Dem Ego zuzuschreiben ist weiter ein Festhalten an starren Bildern, ein Leben im Wartesaal der Zukunft und Vergangenheit, sich mehr mit Erwartungen und Befürchtungen auseinanderzusetzen als mit dem Hier und Jetzt und ein chro­ nisches Selbsterleben als „Gesehener“. Ego ist also Einengung, Abwertung, Anhaftung und Schwere: vor allem aber zeigt sich das Ego im tiefen Mißtrauen gegen alles, was einfach passiert und baut somit eine Barriere gegen das transper­ sonale Selbst auf. Gurumayi (1990): „It is typically held as the barrier against enlightment and realization. Ego is the center of the world of illusion and suffering, a stumbling block against of realization of truth and enlightment.“ Durch das Anhaften (attachment) an Erwartungen und Wünschen verstrickt sich das Ego in die Welt der Maya oder Illusion, man könne durch vordergründige Befriedigung zu echtem Selbstwert kommen. Das Ego wirft somit einen Schatten auf den transperso­ nalen Bewußtseinsraum. Die Erfahrung des Ego und die Konfrontation mit Ego-Anteilen ist schmerzlich und zeigt die Diskrepanz zum spirituellen Ziel deutlich auf. Das Ego kann zur Qual werden, wenn wir schon einmal eine tiefe transzendente Erfahrung des inneren Lichtes hatten. Zum Beispiel schreibt Theresa von Avila (1979) über die dritte Wohnung ihres spirituellen Weges: „Der Mensch hat hier unter Trockenheit zu leiden, der Brunnen gibt kein Wasser her. Das bedeutet: Der Mensch macht hier kaum noch gnadenhafte Erfahrungen der inneren Nähe Gottes. Mündliches Gebet und Betrachtung funktionieren nicht mehr so recht, die eigenen Fehler werden dafür umso schärfer gesehen... Gott entzieht in der dritten Wohnung dem Menschen die schon geschenkten Gnaden, um ihm seine Abhängigkeit zu zeigen. Denn wie der Mensch nun einmal ist, könnte er sich schnell überheben und sein kleines Ego aufblähen, wenn er sich oft in der Nähe Gottes fühlte, ohne jedoch wirklich mit ihm vereinigt zu sein. Hier setzt nun die Erziehungsarbeit Gottes ein. Der Mensch wird durch diese Wohnung nur durchkommen, wenn er die Nichtmehrerfahrung in Gelassenheit und Liebe trägt.“ 78

Was verstehen wir unter den Begriffen Ich, Ego und Selbst?

Loslassen des Ego und Transformation des Ich Die Therapie hilft uns, ein brüchiges Ich zu erneuern, der spirituelle Weg hilft uns, das Ich zu transformieren, durch Übung im Alltag und Disziplin. Spirituelle Lehrer und Meister stehen uns dabei liebevoll zur Seite. Eine Erfahrung einer Seminarteilnehmerin in einer Sitzung mit veränderten Bewußtseinszuständen: „Mein Brustkorb steht in Flammen. Ich verbrenne inner­ lich. Mit der Zeit brennt das Feuer zu einem kleinen Punkt zusammen, der genau in meinem Herzen sitzt... diese Erfahrung geht weiter und zwischendurch erlebe ich überströmende Liebe“ (Feuer als Symbol der Transformation). Das Ego verbrennt, das Ich transformiert sich. Die mystischen Schriften berichten uns auch von Beispielen, in der diese innere Konfrontation kulminiert, der Egotod und die Ichtransformation. Es steht in einem Augenblick alles auf dem Prüfstand, was ich bin und was ich habe. Dies kann zu einem Auflösen vertrauter Beziehungen, zum Verlust von materiellen Gütern und zu Depersonalisationserscheinungen führen. Auch spontane außergewöhnliche Bewußtseinszustände, abrupte Bewegungen, Visionen von Auseinanderfallen und Zerstückeltwerden sind möglich. Johannes vom Kreuz spricht ja auch von der „dunklen Nacht der Seele.“ Zur Reinigung und Läuterung auf dem Weg zum Selbst. Eine Siddha-Yoga Meisterin schreibt in ihrer Autobiographie (Gurumayi, 1990, S. 44 f): „Das Haus meines Ichs ging in Flammen auf. Alles, was ich besaß, wurde verbrannt. Ich wollte mein Haus retten. Aber ich konnte nicht entkommen. Auch die Tür meines Hauses stand in Flammen. Ich weiß nicht mehr, was dann geschah ... Und alles verstummte in der endlosen Stille der Liebe.“ Diese Erfahrungen gehen zumeist mit einer Öffnung des Herzchakras einher. Das Loslassen des Ego kann mit enormen Eruptionen und Krisen verbunden sein, weil es auch zur Aufgabe von Sicherheit, vertrauten Fähigkeiten, bekannten Beziehungen und alten Mustern und gewohnten Selbstbildern zwingt. Danach aber ist es vor allem die konstante, tägliche Aufmerksamkeit und Übung, die das Ego allmählich transformiert. Das transformierte Ego erkennt das transpersonale Selbst und dient ihm. Es zeigt sich in der Fähigkeit zu freifließender Liebe. Das transformierte Ich heftet sich nicht an die Affekte, sondern begleitet sie, es ist ein Sinnesorgan des Selbst. Das transfor­ mierte Ich läßt uns tief in das transpersonale Selbst blicken. Es existiert in uns als Zeuge ohne Anhaftung und unterstützt uns in den täglichen Pflichten. Es zeichnet sich durch Vertrauen aus, kann flexibel reagieren und ist fähig, selbst produzierte Konzepte wieder loszulassen. Das Loslassen des Erreichten, das Aufgeben des Vertrauten sind Garanten beständiger Erneuerung und bereiten den Boden für umfassende Befreiung. Stirb und Werde. Ohne großen Tod kein großes Leben, wie Pater Williges Jäger 1997 in seinem Vortrag in Melk betonte. Der Tod im Leben, das ist auch Wiedergeburt. „Bedenke aber: Viele Leute möchten in ihrer Entwicklung immer große Sprünge machen. Das ist schon recht, doch bedenke, daß du dabei die Schönheit jedes einzel­ nen Schrittes übersiehst. Jeder kleine Schritt hat seinen eigenen inneren Plan. Möchtest du ihn nicht kennenlernen? Wenn du achtsam Schritt für Schritt in deiner inneren Entwicklung weitergehst, machst du die Erfahrung, daß du innerlich stärker 79

Sylvester Walch

wirst und dir wird auch bewußt, was du für das große Ziel getan hast. Das läßt die Überzeugung, auf dem richtigen Weg zu sein, weiter wachsen“ (Gurumayi, 1994). Das sich transformierende Ich bemerkt immer mehr, daß äußere Geschehnisse der inneren Entwicklung dienen und umgekehrt: Äußeres und Inneres ergänzen sich sinnvoll, so eine weitere Idee der Transpersonalen Psychologie. Wenn wir einmal experimentell davon ausgehen, daß alles, was passiert, unserer Entwicklung dient und wir schwierige Situationen als Lernchancen begreifen, wird das Leben spannend und ein einziges Abenteuer.

II. Das Selbst In einem nächsten Schritt geht es um ein Thema, über das, so lehren uns weise Menschen, wir besser schweigen sollten. Nur wenn wir konsequent alles loslassen, was wir haben und wer wir sind, dann können wir eine Ahnung davon bekommen, was das Selbst ist. Das Selbst ist das subtilste aller subtilen Dinge. Nietzsche (Nietzsche in Jones, 1984, Seite 376) sagt: „Das eigene Selbst ist gut versteckt; von allen Goldminen ist die eigene die letzte, die man ausgräbt.“ Es ist sehr verborgen und geheimnisvoll, und es hat keinen Namen, keine Farbe, keine Form. Im ersten Teil möchte ich einige psychologische, psychotherapeutische und personale Aspekte des Selbst darstellen, um dann in einem zweiten Teil auf die transpersonale Sichtweise des Selbst einzugehen. Allgemeine Definition und erkenntnistheoretische Schwierigkeiten Für Rolf Fetscher (1985) repräsentiert das Selbst die leib-seelisch-geistige Einheit der Person. Er bezieht sich in dieser allgemein-anthropologischen Definition des Selbst auf den Gesamtumfang der Person und zugleich auf den wesenhaften Kern, also das, was den Menschen im Innersten zusammenhält und wovon beständig Integrationsleistungen ausgehen. Mit Hilfe des Selbst nehmen wir uns selber als eigenständige und einheitliche Person ganzheitlich wahr. In einem mehr tiefenpsychologischen Verständnis ist das Selbst das „Gesamt dessen, was wir als zu uns selbst gehörig wahrnehmen“, also die ins Bewußtsein gelangenden Selbstrepräsentanzen. Es stellt eine zentrale Repräsentanz des Individuums dar, daß das Gefühl einer erleb­ ten Einheit vermittelt, auf dessen Boden kompaßartig eine dauerhafte Richtung ent­ wickelt wird. Battegay (1991): „Es ist jene Repräsentanz, die dem Individuum den Eindruck vermittelt, bei allen Veränderungen, die es erfährt, gestern, heute, morgen das Gleiche und ein ganzes Zusammengehöriges zu sein sowie eine unveränderte Subjektivität zu besitzen“. Jacobson (1992) sieht das Selbst als „...eine differenzierte und organische Ganzheit, welche getrennt und unterschieden sei von der Umgebung, eine Ganzheit, welche Kontinuität und Richtung habe sowie die Fähigkeit, inmitten von Wand­ lungen gleichzubleiben. Werde diese besondere Identität bewußt, so werde dieses Bewußtsein einen emotionalen Ausdruck finden in der Erfahrung einer persön­ lichen Identität, eines Selbstgefühls“. Das Selbstgefühl im Sinne einer dumpfen Ahnung einer autonomen Hand­ lungserfahrung reicht nach Meinung der Babyforschung bis in die Anfänge unserer leiblichen Existenz zurück und es differenziert sich über den Kontakt zur Umwelt 80

Was verstehen wir unter den Begriffen Ich, Ego und Selbst?

immer mehr heraus. Wir wissen ja aus der Entwicklungspsychologie, daß am Anfang unserer Existenz das Außen vom Innen noch nicht klar differenziert ist und nach Levy-Bruhl (1928) Welterfahrung und Subjekterfahrung nach dem Gesetz der „participation mystique“ eher vereinheitlicht sind. Dieser präpersonale Zustand ist nicht mit der transpersonalen Einheitserfahrung der Mystiker, in der jede Form von Dualität aufgehoben ist, zu verwechseln. Nach sozialen und interaktionellen Ansätzen ist das Selbst ein Sediment aus Selbst- und Fremdzuschreibungen. Wie sehe ich mich selbst und wie werde ich von anderen gesehen? Die Formulierungen sind bisher sehr allgemein gehalten. Der Versuch, das Selbst seinem Wesen nach zu erfassen, kommt dem Versuch gleich, mit der rechten Hand die rechte Hand zu ergreifen. Das, wodurch unser Erkennen seinen Grund hat und cs ermöglicht, können wir niemals vollständig mit unserem Bewußtsein durchdringen. Es bleibt irgendwie immer unzugänglich. Die folgenden Annäherungen an das Selbst müssen deshalb ungenau und flüchtig bleiben. Sie stüt­ zen sich auf klinische Beobachtungen, Literaturstudium, phänomenologische Erkun­ dungen, intuitive Ahnungen und spirituelle Einsichten. Das Selbst läßt sich von unse­ rem empirisch-wissenschaftlichen Verständnis aus nicht hinreichend beschreiben. Wenn wir uns nach einer erkenntnistheoretischen Methode umsehen, die dem Wesen des Selbst gerecht werden könnte, dann ist dies die Phänomenologie und die Herme­ neutik in der Psychologie und Psychotherapie, die Intuition in der Meditation und die Tiefenerfahrung in veränderten Bewußtseinszuständen. Sie lehren uns nach Metz­ ger (1975): „Das Vorgefundene einfach hinnehmen, wie es ist, auch wenn es unge­ wohnt, unerwartet, unlogisch, widersinnig erscheint und unbezweifelten Annahmen oder vertrauten Gedankengängen widerspricht. Die Dinge selbst sprechen lassen, ohne Seitenblicke auf Bekanntes, früher Gelerntes, Selbstverständliches, auf inhaltli­ ches Wissen, Forderungen der Logik, Voreingenommenheiten des Sprachgebrauchs und Lücken des Wortschatzes. Der Sache mit Liebe und Ehrfurcht gegenübertreten, Zweifel und Mißtrauen gegebenenfalls zunächst vor allem gegen die Voraussetzungen und Begriffe zu richten, mit denen man das Gegebene bis dahin zu fassen versuchte.“ Die personale Seite des Selbst und ihre Pathologie Psychische Störungen gehen oft auf ein verletztes oder deformiertes Selbst zu­ rück. Ein beschädigtes Selbst gibt uns keinen Halt mehr, die innere Orientierung geht verloren, der emotionale Boden wird brüchig, Spielräume des Denkens und Handelns engen sich ein, und die Zukunftsperspektiven verdunkeln sich. Überflu­ tende Gefühle von Schmerz und Wut arten in selbst- bzw. fremddestruktives Verhal­ ten aus und lassen so dem inneren Chaos meist ein soziales folgen. In einer grundle­ genden Beeinträchtigung des Selbst durch frühe traumatische Erfahrungen oder aktuelle Belastungssituationen, die nicht mehr durch die gewohnten Bewälti­ gungsstrategien kompensiert werden können, kommt die lebensnotwendige Kraft zur Integration der Persönlichkeit zum Erliegen. Das „hilflose Selbst“ nach Schwartz-Salant (1991) läßt einen „Bruchstück-Menschen“ (Gerald v. Minden, 1988) zurück, der von archaischen Impulsen chaotisch hin- und hergeschaukelt wird. Die davon oft ausgehende Selbst-Zerstörung bzw. Fremdzerstörung ist der illusorische Versuch durch die Vernichtung des Alten ein neues, besseres Selbst auf­ zubauen, in einer neuen, besseren Welt. 81

Sylvester Walch

Wir als Therapeuten wissen, wenn wir frühgeschädigte oder psychotische Men­ schen begleiten, daß uns diese Wellen entgegenschlagen und wir fest in unser eigenes Selbst gegründet, zunächst nur eine Aufgabe haben: Als Therapeutin, als Fels in der Brandung, zu überleben, um dann durch unsere Zuverlässigkeit neue Fundamente zu errichten und durch echtes Antworten und wärmenden Kontakt Vertrauen auf­ zubauen. Wenn wir uns zeitweise im therapeutischen Prozeß ohnmächtig, labilisiert und ohne festen Stand erleben, dann ist es wichtig, daß wir uns nicht zu sehr damit identifizieren und unsere Fähigkeiten selbst außer Kraft setzen. Es ist ein notwendi­ ges Durchgangsstadium nach Klein und Kohut zur Heilung des Selbst. Es ist ein Verdienst der Borderline-Forschung sich des Selbst wieder angenommen zu haben. Die Borderline Symptomatik ist im Grenzbereich zwischen Neurose und Psychose anzusiedeln und wird auch im therapeutischen Sprachgebrauch mit frühen Störungen bzw. frühen Schädigungen beschrieben: Es sind nach Rhode Dachser Menschen, bei denen wir das Gefühl haben, das sie innerlich brüchig sind, von frei flottierenden Ängsten überschwemmt werden, unmotiviert auftretende Affekte von Feindseligkeit und Wut zum Ausdruck bringen, mangelnde Impulskontrolle auf­ weisen, verschiedenste Symptome selbst- bzw. fremddestruktiver Natur haben, unter episodisch auftretenden Minipsychosen leiden, im Kommunikationsverhalten haarscharf danebenliegen (Borderline-Dialog), zwischen Gut und Böse extrem auf­ spalten und die Therapeuten auch über die Stunden hinaus intensiv beschäftigen, so daß sie die Patienten meistens mit Anstand loswerden möchten. Winnicott und andere, die sehr viel mit solchen Menschen gearbeitet haben, haben zum besseren Verständnis therapeutischer Prozesse die Begriffe „wahres Selbst“ und „falsches Selbst“ eingeführt. Meiner Ansicht nach keine sehr glücklichen Begriffe, weil sie als moralische Kategorie mißverstanden werden könnten und wohl dem komplexen menschlichen Verhalten nicht ganz gerecht werden. Trotzdem können sie therapeu­ tisch nützlich sein. Unter falschem Selbst wird nach Winnicott (1988) und Horney (1975) die Fassade oder die „als ob Persönlichkeit“ verstanden, die durch Ver­ wahrlosung, Gewalt und Gefügigkeit entstanden ist. Chronische Verletzungen las­ sen Narben zurück und frieren Gefühle, vor allem Angst, Schmerz und Ohnmacht, ein. Wir machen uns dicht, um das nicht noch einmal zu erleben. Das falsche Selbst ist nicht der Gegner des wahren Selbst, sondern sein Panzer, um es zu schützen. In Selbsterfahrungsgruppen werden solche Menschen in vielen Fällen als „unecht“ bezeichnet, wobei dies zumeist als Abwertung verstanden wird und somit die Panzerung zwangsläufig stärker werden läßt. Der Weg zur Echtheit kann nur über die wachsende, nach Rogers (1979) „nicht an Bedingungen gebundene“ Wertschätzung gegangen werden. In der Therapie gilt es für ihn zuallererst, „sich als eine Person von Wert wahrzunehmen, die würdig ist, von anderen respektiert und nicht verurteilt zu werden; seine Maßstäbe als auf seiner eige­ nen Erfahrung basierend und nicht auf den Einstellungen und Wünschen anderer basierend wahrzunehmen; seine eigenen Gefühle, Motive, sozialen und persönlichen Erfahrungen ohne Verzerrungen der grundlegenden Sinneseindrücke wahrzunehmen und sich beim diesen Wahrnehmungen entsprechenden Handeln wohl zu fühlen.“ Das aufkeimende „wahre Selbst“ bewirkt ein angenehmes und lebendiges Körper­ gefühl, in dem nach Winnicott (ebenda) Atmung und Herzarbeit leichter werden. Es kann mit den „Details des Lebendigseins“ beschrieben werden. „Die spontane Geste, 82

Was verstehen wir unter den Begriffen Ich, Ego und Selbst?

das Vertrauen in die Tiefe des Entwicklungsprozesses, die Kreativität, das Gefühl, real zu sein, wären nach ihm weitere Eigenschaften des wahren Selbst. Für Horney (1975, Seite 176) sorgt das wahre Selbst „für das pulsende innere Leben; es bewirkt die Spontaneität aller Gefühle, sei es Freude, Sehnsucht, Liebe, Ärger, Furcht oder Verzweiflung. Es ist außerdem die Quelle spontaner Interessen und Energien..., die Fähigkeit, zu wünschen und zu wollen, es ist jener Teil in uns, der sich ausdehnen, wachsen und selbst erfüllen will. Für sie ist es die „ursprüngliche Kraft, die uns zur persönlichen Entwicklung drängt und mit der wir wieder eine volle Identifikation erlangen können.“ Für Maslow (1973) leben selbstverwirklichte Menschen im Kon­ takt mit dieser inneren Entwicklungskraft, der „Selbstaktualisierungstcndenz“ nach Rogers. Perls (1978) nennt sie, vielleicht etwas zu biologistisch gefaßt „organismische Selbstregulation“ . Das gesunde Selbst ermöglicht für ihn das lebendige und freie im Kontaktsein mit dem Anderen und das Vermögen, neue Erfahrungen zuzulassen. „Das Selbst ist das System der Gegenwartskontakte und das Agens des Wachstums“. Es bezieht sich auf den ganzen Menschen und ist nicht als Institution mit festem Standort zu denken; es existiert, wo und wann immer eine Grenzinteraktion tatsäch­ lich stattfindet. Um einen Satz von Aristoteles abzuwandeln: „Wenn der Daumen gequetscht wird, existiert das Selbst in dem schmerzenden Daumen“ (Perls, 1978, S. 161). Es ist dynamisch und flexibel im Dienste der schöpferischen Anpassung und im Sinne eines beständigen Entwicklungsanstoßes. Nach Jung ist es der Archetyp der Ganzheit, der die Dynamik der personalen Selbstverwirklichung symbolisiert. Emerson (in: Schoen Stephen, 1995) spricht von der Einfachheit und Transzendenz der tiefen Kraft, in der wir existieren. In akuten Krisen verlieren wir oftmals ganz das Vertrauen in die selbst-regulato­ rischen Kräfte. Deshalb brauchen wir Hilfe. In der Krisenintervention stellen wir für eine bestimmte Zeit unsere Fähigkeit zur Integration und unsere Hoffnung in die Selbstheilungskräfte (die innere Weisheit) zur Verfügung, bis dies wieder aus dem Klienten-Selbst heraus möglich ist. Die Transpersonale Seite des Selbst Das Selbst, wie wir cs bis jetzt erläutert haben, ist auf das Subjekt, die Persönlichkeit beschränkt. Die transpersonale Psychologie bricht diese Grenze auf. Sie verweist uns darauf „..., daß, wer und was wir sind, nicht auf die Persönlichkeit beschränkt ist und daß wir dann, wenn wir uns nur mit dem Körper, dem Ich, der Persönlichkeit oder Rollen identifizieren, eine beschränkte, zu enge Auffassung von uns selbst haben“ (Vaughan, 1986, Seite 34). Die Transpersonale Psychologie geht davon aus, daß die Grenzen zwischen „Mein und Dein“, die Grenzen der „linearen Zeit“, der „Dreidimensionalität“, der „Logik“ und der „individuellen Biographie“ nicht absolut sind. Das Bewußtsein ist in der Lage, sie zu transzendieren. Vertikale (Verinnerlichung) und horizontale (Ausdehnung) Transzendenz des Bewußtseins. Für Grof (Grof, 1987, Seite 64) bedeutet „transpersonal“ die „erlebnismäßige Ausdehnung oder Erweiterung des Bewußtseins über die gewöhnlichen Grenzen des Körper-Ich sowie über die Beschränkungen von Raum und Zeit“. Mit transpersonal kann aber auch die Wertschätzung der spirituellen Seite der Psyche in Verbindung gebracht werden. Die transpersonale Psychologie bezieht in 83

Sylvester Walch

ihr Ideengut die Erfahrungen und das alte Wissen der spirituellen Traditionen mit ein, wobei sich diese Art der Religiosität nicht auf dogmatische Lehrgebäude stützt, sondern auf die innere Beziehung und persönliche Erfahrung. Historisch wurde der Begriff transpersonal von transhumanistisch abgeleitet. Transhumanistisch - damit beschrieb Maslow (1984) die Motive weit entwickelter Menschen, deren Handeln mehr auf das Gesamtwohl der Menschheit gerichtet ist als auf persönliche Bedürfnisbefriedigung. Mutter Teresa, Gandhi und spirituelle Meister wären Beispiele dafür. Maslow entdeckte auch, daß selbstverwirklichte Menschen von Gipfelerfahrungen (peak experiences) berichteten, in denen sie spon­ tane ekstatische Bewußtseinszustände und Gefühle der Einheit erlebten, die jenen mystischen Erfahrungen ähnlich sind, über die zu allen Zeiten und in allen Kulturen immer wieder ausführlich berichtet wurde. Die entsprechenden Erklärungen und Landkarten des Bewußtseins hierfür wurden zunächst im Osten gefunden, deshalb wendeten sich Ende der 60er Jahre viele transpersonale Forscher den spirituellen Richtungen des Ostens zu (vgl. Roger Walsh, 1995). Damit war auch klar: Veränderte Bewußtseinszustände sind nicht pathologisch, sondern unterstützen unsere Gesundheit, was unter anderem schamanistische Kulturen schon lange wissen. Nach Wilber ist die Erfahrung des transpersonalen Raumes („Eintauchen in die transpersonalen Bänder“) erst möglich, wenn die Grenzen des Innen und Außen keine festen Größen mehr darstellen. Anstelle der Person tritt dann der überindivi­ duelle Zeuge als Erfahrender: „Der Zeuge beobachtet den Strom der Ereignisse innerhalb und außerhalb des Geist-Körpers auf schöpferische distanzierte Weise, da er weder mit dem Inneren noch mit dem Äußeren ausschließlich identifiziert ist“ (Wilber, 1985, S. 94). Aus diesem Raum heraus wird existentielle Heilung subtil unterstützt. Für die transpersonale Psychologie zeigt sich das Selbst also nicht allein auf die Persönlichkeit bezogen, sondern ist offen zum Überpersönlichen. Bildlich gespro­ chen ist im innersten Kern unserer Persönlichkeit eine Öffnung, durch die das trans­ personale Selbst hindurchscheint: Es trägt nach Leibniz den „Funken des Kosmos“ in sich und kann für C.G. Jung auch als „Gott in uns“ (vgl. Jung 1971) bezeichnet werden: „Dieses Etwas ist uns fremd und doch so nah, ganz uns selber und uns doch uner­ kennbar, ein virtueller Mittelpunkt von geheimnisvoller Konstitution. Ich habe die­ sen Mittelpunkt als das Selbst bezeichnet. Intellektuell ist das Selbst nichts als ein psychologischer Begriff, eine Konstruktion, welche eine uns unerkennbare Wesen­ heit ausdrücken soll, die wir als solche nicht erfassen können, denn sie übersteigt unser Fassungsvermögen, wie schon aus der Definition hervorgeht. Sie könnte eben­ sowohl als der ,Gott in uns‘ bezeichnet werden. Die Anfänge unseres ganzen see­ lischen Lebens scheinen unentwirrbar aus diesem Punkt zu entspringen, und alle höchsten und letzten Ziele scheinen auf ihn hinzulaufen“ (Jung, 1971, S. 134f). Metaphysische Aspekte des Selbst Im Christentum heißt es: „Das Reich Gottes ist in Dir“, im Buddhismus: „Schau nach innen, Du bist der Buddha“, im Siddha-Yoga: „Gott wohnt in Dir als Du“, im Hinduismus: „Atman (das individuelle Bewußtsein) und Brahman (das universelle 84

Was verstehen wir unter den Begriffen Ich, Ego und Selbst?

Bewußtsein) sind eins“, im Islam „Wer sich selbst kennt, kennt seinen Herrn“. Dem transpersonalen Selbst nähert man sich, wenn man sich nach innen wendet und all­ mählich die Identifizierung mit dem, was wir sind und was wir haben, loszulassen bereit sind (Egotransformation). Das ist das Geheimnis des Prinzips „Stirb und wer­ de“. Die Erfahrung ist weder kalt noch langweilig oder intellektuell. Das Selbst ist warm und euphorisch. Es existiert in uns als ein inneres Lächeln. Es ist unsere wah­ re und ewige Natur (Siddha-Yoga Meister). Der innere Weg zum transpersonalen Selbst öffnet eine Quelle der Heilung und Inspiration. Für Erich Neumann (In: Ludwig-Körner, 1992) ist das transpersonale Selbst das „dirigierende Zentrum“, von dem alle Prozesse angestoßen, geleitet, kontrolliert und ausbalanciert werden, und „das Selbst ist sowohl für das Psychische wie das Physische transzendent.“ Für Maturana und Varela (ebenda) sind Lebensprozesse vom Prinzip der Autopoiese getragen, also einer Kraft, die im Wechselspiel von Integration und Desintegration, Innen und Außen nach Verwirklichung drängt. Als organisierendes Prinzip führt das transpersonale Selbst die Evolution in Richtung Ganzheit. Weise Menschen sagen, daß es (das Selbst) immer bei uns ist, weder geboren noch sterben wird, unzerstörbar und unverwundbar ist und von den Zeitläuften unbeein­ druckt bleibt. Lassen Sie mich diese Sichtweise durch einen Auszug aus den Upanishaden (Katha Upanishad, 1989), einer vedischen Weisheitslehre, in der Inter­ pretation von Shankara, noch näher ausführen: „Das Selbst im Menschen ist nichts anderes als die Kraft hinter dem Universum. Das erkennende Selbst ist nicht geboren, und es stirbt nicht. Es ist aus nichts ent­ standen, und nichts entstand aus ihm. Geburtlos, ewig dauernd, wird es nicht getö­ tet, wenn der Körper getötet wird. Wenn der Tötende zu töten glaubt und der Getötete glaubt, getötet zu sein, haben beide nichts begriffen. Das Selbst tötet nicht, noch wird es getötet. Atman, das Selbst, ist alldurchdringendes Bewußtsein und das innere Herz aller Dinge, ob groß oder klein. Im Körper wohnend ist es körperlos; obgleich mit wandelbaren Dingen verbunden ist es unwandelbar. Durch Studium oder mit einem scharfen Verstand kann man den Atman nicht erkennen. Wenn das Denken durch Verehrung und rechtes Tun, durch Selbstbeherrschung und Kontem­ plation geläutert ist, wird es durchsichtig und klar und reflektiert die Herrlichkeit des Atman ... Atman wohnt im Herzen aller und ist das innerste Wesen des Menschen. Es belebt die körperlichen, vitalen und geistigen Tätigkeiten des Men­ schen. Es ist der unbeteiligte Zuschauer der Erfahrungen im Wachen, Träumen und Tiefschlaf. Das Selbst existiert immer, ungetrübt und unvermindert, nicht abneh­ mend und nicht zunehmend durch gute oder böse Handlungen des Menschen. Es kann aber wie die Sonne von Wolken der Nichterkenntnis verborgen werden und wird wieder enthüllt, wenn Nichtwissen von Erkenntnis vertrieben ist.“ Für Muktananda (vgl. 1971) ist es kleiner als das Kleinste und größer als das Größte und wohnt für immer im Herzen aller Wesen. Dazu die Erfahrung einer Seminarteilnehmerin, die das Selbst als Schale visuali­ sierte: „Diese tönerne Schale mit dem geflochtenen Rand ... diese Schale nahm an Größe ab, wurde kleiner, kleiner, die kleinste Dimension, die ich erfahren konnte, wurde zum Schnittpunkt in mir zweier sich kreuzender Linien, von weit außen dem Schnittpunkt immer näher, um dann langsam auseinanderzugehen zum Großen, 85

Sylvester Walch

größer, zum ewig Großen. Das Kleinste und Größte wurden dadurch für mich als dasselbe wahrnehmbar, als etwas, das miteinander zusammenhängt, voneinander ab­ hängig ist. Es war eine völlig unspektakuläre Erfahrung von Ewigkeit, ganz kurz nur geschaut, aber sicher für immer in mir, nicht mehr zu vergessen.“ „Es scheint durch all unsere Sinne, hat selbst aber keine. Es hält die Sinne aufrecht und bleibt dennoch von ihnen getrennt. Es erfährt alle Eigenschaften der Natur und bleibt dennoch von ihnen unberührt. Was immer innen und außen geschieht, das Selbst sieht und weiß es. Dieses Selbst erkennt sich selbst wieder durch Meditation“ (Siddha-Yoga Korrespondenzkurs, 1988-1993). Das Selbst ist ein unlokalisierbarer Seinsgrund, aus dem der individuelle Mensch hervorbricht, und gleichzeitig geht er grenzenlos und formlos in das Sein des Seienden ein. Es ist ein Hologramm, in das der Kosmos eingefaltet ist. Alles ist im Selbst enthalten, und daher erwerben wir vollkommenes Wissen über alle Dinge, wenn wir das Selbst kennen. Das personale Selbst ist im transpersonalen aufgehoben (in einem doppelten Sinn: beherbergt und überschritten). Das transpersonale Selbst dient als Brücke zwischen dem existentiellen Selbstbewußtsein und dem transpersonalen Einheitsbewußtsein. Über diese Brücke kommuniziert das letzte Geheimnis mit uns. Es ist die innere Weisheit, die unser Leben formt und fördert. Das transpersonale Selbst ist immer zugänglich und nie aufdringlich. Wenn man sich einmal entschieden hat, den Weg zum transpersonalen Selbst aufzunehmen, steht es immer mehr als Quelle von Heilung und Führung zur Verfügung, für sich selber, aber auch für die uns anver­ trauten Menschen, die am Leben leiden.

Summary: In this article the concepts of I, Ego and Self are discussed in view of their Background and context in psychological, psychotherapeutic, transpersonal and spiritual frames of reference. This may lead to a fruitful dialogue and a model of integration of psychotherapeutic and spiritual aspects. Keywords: Borderline, Ego, I, Seif, epistemology, psychology, psychotherapy, spirituality, transformation, transpersonal psychology, essence.

Literatur: Avila, von Teresa: Die innere Burg. Zürich 1979 Battegay Raymond: Narzißmus und Objektbeziehungen. Bern, Stuttgart, Toronto. 1991. Hans Huber Verlag Blanck, Gertrude und Blanck, Rubin: Ichpsychologie II. Stuttgart. 1994. Klett Cotta Verlag. Blanck, Gertrude und Rubin: Jenseits der Ichpsychologie. Stuttgart. 1989. Klett Cotta Verlag. Fetscher; Rolf: Der Aufbau des Selbst. In: Psyche, Nr. 8, 1985. Stuttgart. Klett Verlag. Freud, Sigmund: Psychologie des Unbewußten. Frankfurt a. Main 1975. Studienausgabe, Fischer Verlag. Grof, Stanislav: Das Abenteuer der Selbstentdeckung. München 1987. Kösel Verlag. Grof, Stanislav: Die Welt der Psyche. München 1993. Kösel Verlag. Gurumayi, Chidvilasananda: Asche zu meines Gurus Füßen. Syda Foundation. South Fallsburg 1990. Gurumayi, Chidvilasananda: Transform your vision into one of wisdom. In: Darshan. Nr. 82 Jg. 1994. South Fallsburg. Horney, Karen: Neurose und menschliches Wachstum. München 1975. Kindler Verlag. Jung C. G.: Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten. Olten 1971. Walter Verlag. Kalha Upanishad: Die Unsterblichkeit des Selbst. München, Wien 1989. 86

Was verstehen wir unter den Begriffen Ich, Ego und Selbst?

Kohut, Heinz: Heilung des Selbst: Frankfurt a. Main. 1979. Levy-Bruhl, L. Les fonctions mentales dans les societes inferieures. Alean. Paris 1928. Ludwig-Körner, Christiane: Der Selbstbegriff in Psychologie und Psychotherapie. Wiesbaden 1992. Maslow, Abraham: Die umfassende Reichweite der menschlichen Natur. In: Integrative Therapie, Nr. 3, 1994, S. 200-208, Paderborn. Junfermann Verlag. Maslow, Abraham: Psychologie des Seins. Ein Entwurf. München 1973. Maslow, Ahraham: Die umfassende Reichweite der menschlichen Natur. In: Integrative Therapie, Nr. 3, 1984, S. 200-208, Paderborn. Junfermann Verlag. Metzger, Wolf gang: Psychologie. 5. Aufl. Darmstadt 1975. Minden, Gerald von: Der Bruchstück - Mensch. München und Basel. 1988. Muktananda: Der Weg und sein Ziel. München 1987. Goldmann Verlag. Neumann, Erich: Ursprungsgeschichte des Bewußtseins. Jacobsen, Edith-, Das Selbst und die Welt der Objekte. Frankfurt. 1992. Suhrkamp Verlag. Jones, Emest: Sigmund Freud. Leben und Werk. Band 1. München 1984. DTV. Perls, Frederik S.: Gestalttherapie. Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung. Stuttgart 1978. Rogers, Carl: Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart 1979. Schoen, Stephen-, Gestalttherapie und buddhistische Lehren. In Gestaltkritik, Nr. 2/1995. Schwartz-Salant, Nathan: Die Borderline-Persönlichkeit. Olten und Freiburg im Breisgau. 1991. Siddha Yoga Korrespondenzkurs: Siddha Yoga Stiftung. Bern 1988-1993. Vaughan, Frances (1986): Die transpersonale Perspektive, in: Grof Stanislav (Hrg.): Alte Weisheit und modernes Denken. München 1986. Kösel Verlag. Vaughan, Frances: Die Reise zur Ganzheit. München 1990. Kösel Verlag. Walsh, Roger: Die Transpcrsonale Bewegung - Geschichte und derzeitiger Entwicklungsstand. In Transpersonale Psychologie und Psychotherapie. Nr. 1 1995. Petersberg. Verlag Via Nova, S. 6-21. Wilber, Ken: Das Spektrum des Bewußtseins. München 1987. Kösel Verlag Wilber, Ken: Die Natur des Bewußtseins. In: Walsh, N. und Vaughan, Francis (Hrg.): Psychologie in der Wende. Bern, München, Wien 1985. Scherz Verlag. Winnicott, D. W.: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Frankfurt a. Main 1988.

Dr. Sylvester Walch Bachstr. 3 D-87561 Oberstdorf. Tel.: 06/08322/6611; Fax.: 08322/660

87

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 2/99, 88-99

Weltangst und Erlösungshoffnungen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend Michael Utsch, Berlin

Zusammenfassung: Nach der Darstellung gegenwärtiger gesellschaftlicher Krisenherde wird die psychologische Funktion von Endzeit-Prophezeiungen unter­ sucht. Die Formel „Getrenntsein in Bezogenheit“ deutet die bedrohliche Erfahrung der menschlichen Endlichkeit psychologisch. Für den Umgang mit existentiellen Fragen empfiehlt sich ein mystisches Vertrauen in das Leben, das Risiko und Unge­ wißheit aushält. Schlüsselworte: Jahrtausendwende, Endzeit, Apokalypse, Weltangst, Weltan­ schauung, Ideologie, Endlichkeit, mystisches Bewußtsein

Der Jahrtausendwechsel - Endzeit oder Wendezeit? Die Jahrtausendwende naht. Sowohl Apokalyptiker als auch esoterische Fort­ schrittsoptimisten haben Konjunktur. Selbsternannte Weltuntergangspropheten zie­ hen verängstigte Menschen in ihren Bann. New-Age-Apostel bieten esoterisches Überwissen an und versprechen ein neues Zeitalter voller Harmonie und Glück. Gibt es überhaupt eine spirituelle Haltung die „jahrtausendfähig“ ist und die drän­ genden Fragen der Gegenwart nachhaltig löst? Die gegenwärtige Gesellschaft ist von einem rasanten Wandel geprägt. Verände­ rungen wirken immer zunächst bedrohlich, bieten aber auch die Chance zur Weiterentwicklung. Vertraute Denkmuster und gewohnte Handlungsweisen schüt­ zen den Menschen vor Gefühlen der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit (vgl. Seligman 1983, Flammer 1990). Das Ende des zweiten Jahr­ tausends lädt zu einem Staunen ein über das, was jetzt schon „Geschichte“ ist. Es verführt aber auch zu einem neugierigen Ausblick, der - wie alle Reflexionen über die Zukunft - im Zeichen der „Krise“ im doppelten Wortsinn als Risiko und Chance steht. Unverkennbar dominiert dabei die pessimistische Deutungsvariante, weil die herkömmlichen Methoden des Umgangs mit sich und der Welt den Anfor­ derungen einer humanitären Zukunft für alle Menschen wohl kaum gerecht werden können: • Unüberwindbar scheinende politische Grenzen wie der „Eiserne Vorhang“ sind gefallen. Zehn Jahre nach dem Mauerfall sind allerdings die gegenseitigen Vorbehalte der ost- und westdeutschen Bevölkerung vielleicht stärker ausgeprägt denn je, so daß eine große Wochenzeitung kürzlich das „deutsch-deutsche Elend“ als „zerrupfte Einheit“ charakterisierte (DIE ZEIT Nr. 25/1998). 88

Weltangst und Erlösungshoffnungen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend















Bald wird man quer durch Europa, von Malmö bis Madrid, mit derselben Währung bezahlen können. Die mit der europäischen Währungsunion verbun­ denen Ungewißheiten sind bei Besitzern von „starken“ Währungen wie der D-Mark jedoch gepaart mit großen Verlust- bzw. Deklassierungsängsten. In Europa wird man „Abschied nehmen müssen von der Illusion, daß es eine Garantie für materielle Sicherheit und immerwährende Prosperität geben könnte; Abschied nehmen auch von der Vorstellung eines lebenslang gesicherten Arbeits­ platzes ... Die Unsicherheit ist mit Händen zu greifen“ (FAZ 28.3.1996,1). Die multikulturelle Wirklichkeit in Europa hat aufgrund eines fehlenden Dialogs der Religionen den Fundamentalismus in politischer und religiöser Ausprägung - z. B. Rechtsradikalismus und Islam - beängstigend stark werden lassen. Alles verfügbare Wissen der Menschheit wird durch die boomende Branche der IT-Anbieter (IT = Informationstechnologie) sekundenschnell für diejenigen zu­ gänglich, die einen Internetanschluß besitzen. Was aber nützt detailliertes Fakten­ wissen, wenn es an Weisheit zum richtigen Umgang damit mangelt? Der Glaube an die Problemlösekapazität der Wissenschaften ist in eine nachhalti­ ge Krise geraten. Diese Krise ist mit großer Treffsicherheit schon kurz nach dem ersten Weltkrieg gesehen worden: „Ich sage es voraus: Noch in diesem Jahr­ hundert, dem wissenschaftlich-kritischen..., wird ein neuer Zug von Innerlichkeit den Willen zum Sieg der Wissenschaften überwinden. Die exakte Wissenschaft geht der Selbstvernichtung durch Verfeinerung ihrer Fragestellungen und Methoden entgegen“ (Spengler 1923, 544). Diese für viele erschreckende Vision hat jüngst der amerikanische Wissenschaftsjournalist Horgan (1997) für viele Wissenszweige in seinem vieldiskutierten Buch nachgewiesen. Schon lange glaubt ein Großteil der Bevölkerung nicht mehr „an die Segnungen des technischen Fortschritts, sondern fürchtet eher den Fluch der technischen Tat, wobei als besonders bedrohlich heute vor allem die Kernenergie und die Gentechnik gel­ ten“ (Ebertz 1997,206). Die klassischen Welterklärungen können unsere heutige Wirklichkeit nicht mehr angemessen abbilden (vgl. Gebser 1973, Bischof 1996, Tarnas 1997). Für eine bestimmte Epoche haben sie eine wichtige Funktion erfüllt: Das wissenschaftliche Weltbild „stillt die Weltangst, indem sie das Geheimnisvolle bändigt, es zur faß­ lichen Wirklichkeit gestaltet und es durch die ehernen Regeln einer ihr aufgepräg­ ten intellektuellen Formsprache fesselt“ (Spengler 1923, 107). Weil immer deut­ licher wird, daß Wissen zwar einen (kleinen?) Teil unserer Welt erklären kann, wesentliche Fragen aber ausläßt und nur ein Glaube die „Weltangst“(siehe unten) überwinden kann, geht dem spirituell verarmte Westen die Luft aus. Der pessimistische Kulturphilosoph Spengler war überzeugt: „Von der Skepsis führt ein Weg zur ,zweiten Religiosität“, die nicht vor, sondern nach einer Kultur kommt. Man verzichtet auf Beweise; man will glauben, nicht zergliedern“ (ebd., 544). Tatsächlich ist heute weltanschauliches Orientierungswissen gefragt, das zwar ansatzweise in transpersonaler (Wilber 1997) und systemtheoretischer (Laszlo 1998) Perspektive entwickelt wurde, in akademischen Kreisen bisher jedoch wenig Aufmerksamkeit erfährt. Betrachtet man diese gesellschaftlichen Strömungen, überwiegen Gefühle der Verunsicherung, Orientierungslosigkeit und des Pessimismus’. Die Stimmung wird 89

Michael Utsch

unterstützt durch das magisch aufgeladene Datum 2000, das durch befürchtete Computerfehler Versorgungsengpässe möglich werden läßt. In hysteroider Ver­ stärkung des Zeitgefühls hat eine wahre Flut von Weissagungsliteratur über das angebliche Ende der Welt den Buchmarkt überschwemmt. Der spekulative Umgang mit dem Unsichtbaren und der unverfügbaren Zukunft ist zu einem lukrativen Wirtschaftsfaktor geworden (Bolz 1999). Obwohl sich anläßlich der totalen Sonnenfinsternis im August 1999 über Teilen Europas weder die Vision vom „Schreckenskönig“ des Nostradamus, noch das atomare Horrorszenario der Astrologin Elisabeth Teissier noch der von Paco Rabanne angekündigte Absturz einer Weltraumstation auf Paris bewahrheitet haben, sind nicht wenige Menschen von einer Endzeitstimmung ergriffen. Dies jedenfalls signalisieren auch die Themen von Akademietagungen, der Erfolg von diesbezüglichen Selbsthilfebüchern und die hohe Anfragehäufigkeit bei kirchlichen Weltanschauungsbeauftragten. Gibt es Gründe dafür, daß in einem Land, wo Sicherheit, Kontrolle und Fleiß als maßgebliche Tugenden gelten, neben nachvollziehbaren Befürchtungen irrationale Angstgefühle so viel Raum gewinnen? • Die medienträchtigen Ereignisse kollektiver Selbstmorde, vermuteter und tat­ sächlicher Morde sowie terroristischer Anschläge durch „apokalyptische“ neure­ ligiöse Gemeinschaften in den letzten Jahren haben sich in der Öffentlichkeit tief eingeprägt. Daß derartig hierarchisch strukturierte und autoritär geführte Ge­ meinschaften eine Bedrohung für jede freiheitlich-demokratische Grundordnung darstellen, hat sich nicht nur in weit entfernten Staaten wie den USA und Japan gezeigt, sondern auch in unserer Nachbarschaft, der Schweiz. • Eine wichtige Rolle spielen ohne Zweifel die Medien. Immer mehr Menschen „berichten“ von angeblichen satanistischen Ritualen oder Entführungen durch „Außerirdische“. Elaine Showalter (1997) benannte die von Sensationsmedien ausgeschlachteten und verbreiteten „Stories“ einprägsam als „Hystorien“. Das Zeitalter der Massenmedien produziere „hysterische Epidemien“ die in erster Linie als Ausdruck der individuellen und strukturellen Ängste einer Gesellschaft verstanden werden müßten. In der Öffentlichkeit wirken allerdings „Hystorien“ meinungsbildend, denn viele Medien bilden nicht mehr nur gesellschaftliche und individuelle Wirklichkeiten ab, sondern erschaffen sie. • Irrationale Ängste sind in dem hochtechnisierten und durchrationalisierten Alltag einer westlichen Industrienation nicht vorgesehen. Gerade deshalb drücken sich darin Enttäuschungen über die Grenzen eines denkerischen Erfassens der Welt aus. Greifen Kontrollmechanismen nicht mehr - und seien es fiktive wie die wis­ senschaftlicher Modelle -, macht sich Angst breit. • Der natürlichste Impuls bei Angstgefühlen ist die Flucht. Die meisten apokalyp­ tischen Visionen gründen auf „Weltangst“ (siehe unten), deshalb ist Weltflucht bei den Endzeitpropheten Programm. Sicher sind sehr verschiedene Gründe dafür anzuführen. Sie entsprechen dem Weltbild des jeweiligen Milieus, in dem sie wahrgenommen und zum Teil auch geschürt werden. Inhaltlich unterscheiden sich die Eschatologie („Lehre von den letzten Dingen“) bei den Zeugen Jehovas, bei fundamentalistischen Christen, Astrologen oder UFO-Gläubigen massiv. Dennoch sind möglicherweise in der 90

Weltangst und Erlösungshoffnungen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend

Wahrnehmung der Umwelt und dem daraus resultierenden Weltgefühl Ähnlichkei­ ten auszumachen. Der Aufsatz geht von der Hypothese aus, daß die Überzeugung eines bevorste­ henden Endes dazu dient, „Weltangst“ im Sinne von Unsicherheit aufgrund der un­ verfügbaren Zukunft zu bewältigten. Obwohl die Ursachen, Zusammenhänge und konkreten Abläufe höchst unterschiedlich gedeutet und ausgemalt werden, grassiert in manchen weltanschaulichen Milieus ein „Endzeitfieber“ (Gasper/Valentin 1997). Weil inhaltlich sehr divergierende neureligiöse Gruppen ein apokalyptisches Klima produzieren, das durch bestimmte Medienvertreter verstärkt wird, erfordert ein tieferes Verstehen der Endzeit-Gefühle nicht nur eine vergleichende religions­ wissenschaftliche Untersuchung auf der Inhaltsebene. Zu ihrer Einordnung sind die psychologischen Gründe des Entstehens und ihre Funktion für das seelische Gleichgewicht unverzichtbar. Damit entspricht diese Sichtweise dem ergänzenden Verstehen von „Religion“ in ihrer substantiell-inhaltlichen und funktional-aufgabenbezogenen Dimension (vgl. Grabner & Pollack, 1992).

Mit apokalyptischen Vorstellungen die Weltangst besiegen Apokalyptische Deutungen finden sich quer durch alle religiöse und ideologische Gemeinschaften: in UFO-Gruppen, christlichen Sondergemeinschaften wie den Zeugen Jehovas oder der Neuapostolischen Kirche, „Neuoffenbarern“ wie Uni­ verselles Leben oder Fiat Lux, aber auch christlich-fundamentalistischen Rand­ gruppen. Die Unsicherheit regiert. Wer weiß, was morgen sein wird? In Zeiten der Zukunftsangst werden paradoxerweise gerade Schreckensvisionen und die Erwar­ tung eines bevorstehenden Untergangs dankbar aufgenommen. Welche Funktionen erfüllen diese Endzeitprophezeihungen? Das erwartete Ende bietet der jeweiligen Gruppe die Chance, in Abgrenzung zum gegenwärtig erlebten „Jammertal“ eine Transformation und die Erlösung in eine bessere Welt zu propagieren. Es ist nicht schwierig, sowohl die negativen Aspekte der Gegenwart in den Vordergrund zu stellen als auch Hoffnungen auf eine glück­ lichere Zukunft zu wecken und in schillernden Farben auszumalen. Trotz der ver­ schiedenen weltanschaulichen Kontexte stimmt die Weise, das Dasein als fremd und unmenschlich und die Welt als abweisend und bedrohlich zu erleben, in den oben genannten Endzeit-Gruppen an zentralen Punkten überein. Apokalyptiker sind Menschen, die den Verlauf der Weltgeschichte spekulativ deu­ ten und von einer baldigen „Enthüllung der Wirklichkeit als einer untergehenden“ (Kortner 1999, 3) ausgehen. Die Welt erfahren sie als Ort der Heimatlosigkeit und des Unheils. Das Dasein entbehrt jeder Erfahrung des Heils und der Ganzheit, wobei die Welt als ein in sich geschlossener Lebenskreis aufgefaßt wird. Die Welt, der „Äon“, ist ein geschlossener Zeit-Raum des Unheils. Weil die Welt heillos ist, wird die Rettung von außen erwartet. Im apokalyptischen Denken verdichtet sich „eine sackgassenartig strukturierte Welterfahrung in der Gewißheit einer unaus­ weichlichen Katastrophe“ (Kortner 1999, 4). Die jeweilige Gegenwart wird als ausweglose Krise erlebt, die durch apokalypti­ sche Vorstellungen Hoffnung auf eine Zukunft erfährt. Die leidvolle und entbeh­ rungsreiche Gegenwart wird durch diese Perspektive erträglicher. Apokalyptik wäre 91

Michael Utsch

demnach „weniger Zukunftserforschung als vielmehr ein Versuch der Gegenwarts­ bewältigung“ (Körtner ebd.). Das herkömmliche Verständnis der eigenen Person und Umgebung trägt nicht mehr, und andere Modelle der Wirklichkeitskon­ struktion werden notwendig. Hier kann ein sicher vorhergesagtes Ende beruhigen­ der und stabilisierender wirken als permanente Unsicherheit. Auf den Zusammenhang zwischen Angst und Apokalyptik hat schon Hans Jonas (1964) hingewiesen und ihn als Charakteristikum der spätantiken Gnosis herausge­ arbeitet. Er bezeichnete die Angst des Gnostikers als Weltangst und faßte darunter eine „ungeheure Daseins- Unsicherheit, Weltangst des Menschen, Angst vor der Welt und vor sich selber“ (ebd., 143). Nach Kortner (1999, 4) stammt die philoso­ phische Wortschöpfung „Weltangst“ von Oswald Spengler und meint „das Gefühl grenzenloser Einsamkeit wie auch die Gewißheit des eigenen Sterbenmüssens, der Endlichkeit unserer Selbst wie der Welt ... Sie ist zugleich Angst vor der Welt wie vor dem eigenen Selbst.“ Weltangst entsteht aus dem Gefühl der seelischen Heimatlosigkeit. Peter Sloterdijk (1993) mutmaßt in seinem Buch „Weltfremdheit“: „Wie leicht war die Welt zu lieben, als man wenig von ihr wußte. Wie einfach war es, ein Weltkind zu sein, in einer Epoche, als der Kosmos kaum mehr war als die größere Hütte - allenfalls der gestirnte Himmel über der Stadt“ (ebd., 12). Unser Übermaß an Information und Wissen hat die kindlich-naive Anmutung eines Heimatgefühls verändert. Am Über­ gang von der Industrie- zur Informationsgesellschaft sind „Wissende" gefragt, Menschen, die das Übermaß an Informationen bewerten und deuten. Im Zeitalter des Internet, in dem täglich rund 20 000 neue Fachpublikationen in Wissenschaft und Technik veröffentlicht werden, kann sich der einzelne schnell überfordert und heimatlos Vorkommen. Durch die weltweite Globalisierung treffen die unterschiedlichsten Kulturen, Lebenserfahrungen und Sinndeutungen aufeinan­ der. Was manchem einen weiten Horizont aufschließt, führt andere in die Enge und ängstigt. Diese fühlen sich in einem rigiden Glaubenssystem, das von einem defini­ tiven Ende ausgeht, besser aufgehoben als in der pluralistischen Beliebigkeit unend­ licher Möglichkeiten. Unübersehbar haben sich in vielen zwischenmenschlichen Beziehungen Bin­ dungsprobleme eingestellt. Gerade eine Gesellschaft von Individualisten benötigt das Erleben von Zugehörigkeit. Es bleibt fraglich, ob Methoden der Telekommu­ nikation, des Fernsehens und des Internet in ausreichendem Maße menschliche Wärme und Berührung vermitteln können. In einer durch Sinn- und Heimatverlust gekennzeichneten Moderne (vgl. Helsper 1992) entsteht offensichtlich ein Bedarf an übergreifenden Welt- und Lebensdeutungen. Apokalyptiker kommen diesem Be­ dürfnis entgegen, weil sie eine Meta-Perspektive anbieten: sie nehmen den unter Weltangst Leidenden eine große Last ab, indem sie ihre existentielle Verunsicherung durch die Enthüllung zukünftiger Ereignisse in „Gewißheit“ verwandeln wollen.

Die psychologische Funktion von Endzeit-Prophezeiungen Eine wesentliche Funktion der Religion besteht darin, eine sinnhaltige Lebens­ deutung oder Weltanschauung zu entwerfen, durch die das Schicksalhafte und Zufällige menschlicher Existenz überwunden werden kann. Auch die unausweich92

Weltangst und Erlösungshoffnungen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend

liehe und damit bedrohliche Tatsache der eigenen Endlichkeit kann damit relativiert werden. Je mehr Unwägbarkeiten der eigenen Umwelt und der eigenen Person kon­ trollierbar erscheinen, desto größere Lebenssicherheit - im Sinne von Vertrauen in die eigenen und die sozialen Möglichkeiten - kann entstehen. Der Entwicklungs­ psychologe Flammer (1994) unterscheidet zwei wesentliche Funktionen von Religion: neben der Sinnstiftung ist seiner Meinung nach das menschliche Bedürfnis nach Kontrolle über eine ungewisse Zukunft Anlaß und Motivation für religiöses Verhalten. Das religiöse Sicherungsbedürfnis gegenüber einer unbekannten, geheimen, ver­ schlossenen Wirklichkeit geht von einem zweigeteilten Weltbild aus: hier der Mensch als vergängliches, abhängiges, zufällig handelndes Wesen, dort eine über­ menschliche, völlig autarke Wirklichkeit. Die apokalyptische Weitsicht ist streng dualistisch und polarisiert dramatisch: Die „Gerechten“ stehen auf der Seite des absolut Guten gegen das absolut Böse. Für moralische Zweifel oder Ambi­ valenzen bleibt kein Platz. Apokalyptiker richten ihren Blick aus einer dunklen Gegenwart in eine lichte Zukunft, ohne daß ihre Hoffnung aus dem gegenwärtigen Weltzustand abgeleitet werden könnte. Sie gründet vielmehr in der Schau einer Gegenwelt oder einer göttlichen Verheißung. Eine Schar von Erwählten wird erret­ tet, die vom Bösen unheilbar verseuchte Welt findet in einer infernalen Zerstörung ihr gerechtes Ende. Jeder Mensch trägt die große, unlösbare Frage seiner Endlichkeit und die tiefe Sehnsucht nach dem Sinn seiner Existenz in sich. Wie verleiht man dem Alltag ange­ sichts des unausweichlichen Todes Sinn und Bedeutung? Vielfach werden die mit der Endlichkeit verbundenen Zweifel auch heute noch verdrängt und tabuisiert. Die Erwartung eines bevorstehenden Endes in apokalyptischen Gemeinschaften dient als „sichere“ Antwort und wirkt wie eine Befreiung von quälenden Fragen. Das Überwissen trägt zu einer Stabilisierung der inneren Dynamik des einzelnen bei. Huth (1988, 238 ff.) hat die Angstreduktion als eine zentrale Funktion von Ideo­ logien und ideologischen Gemeinschaften herausgearbeitet. Auf der Grundlage von vielen Jahren psychotherapeutischer Fallarbeit hat Henseler (1989) Untergangsphantasien bei seinen Patientinnen psychoanalytisch untersucht. Dabei stellte er fest, daß viele Menschen die Phantasie kennen, nach dem großen Untergang in einer neuen, besseren Welt fortzuleben. Mit Hilfe „der Ab­ wehrmechanismen der Verleugnung, Spaltung und Projektion erblicken sie in dem Untergang eine Rettung, die jedenfalls nicht von dieser Welt ist“ (Henseler 1989,38), Psychoanalytisch gesehen erweisen sich Untergangsphantasien als Problem­ lösungsversuche, die sich unbewußt als Rettungs- und Uberlebensphantasien ent­ puppen. Das Problematische daran ist allerdings, daß „sie die Realität entstellen und Lösungen anbieten, die den tatsächlichen Gefahren nicht entsprechen“ (ebd., 40). Wenn alle „vernünftigen“ Argumente nicht mehr zählen und mit verklärter Miene Intuitionen als verläßlicher Maßstab und Handlungsorientierung dienen, findet die gleiche, fatale, weil einseitige Fehlinterpretation wie bei einer szientistischen Wirklichkeitsdeutung statt. Weder eine streng wissenschaftlich-rationale noch eine rein intuitiv-gläubige Weltanschauung wird der Komplexität und Ganzheit des Daseins gerecht. 93

Michael Utsch

Angesichts der unentrinnbaren Begrenzung unseres Lebens ist sowohl Verstand als auch unser Gefühl gefragt. Nach Henseler (1989) ist cs ratsam, den Tod und den drohenden Untergang nachdenkend und -fühlend zu erschließen und Konsequen­ zen daraus zu ziehen. Was wir aber nicht können, ist Tod und Untergang reali­ stisch zu begreifen, ihn uns vorzustellen und vorwegnehmend zu erleben. Diese Tür bleibt verschlossen, und so bleibt der Intellekt eine wichtige Hilfe und nützliches Korrektiv. Apokalyptiker versprechen letzte Sicherheit aufgrund ihres privilegierten Wis­ sens, wobei sie sich selber oder ihre Mitmenschen zum bloßen Exekutivorgan dieses Wissens machen möchten. Das Problematische dabei ist, daß auch dieses Wissen der Endlichkeit unterworfen ist und Irrtumsmöglichkeiten enthält. Apokalyptiker wer­ den zu Ideologen, wenn sie ihr Wissen „nicht der empirischen oder logischen Kontrolle unterziehen“ (Huth 1988, 243). Ist der Mensch unheilbar religiös? Ist sein Wesen spiritueller Natur? Diese Fragen zu bejahen bedeutet, daß jeder Mensch auf eine übermenschliche Wirklichkeit bezo­ gen ist, die unsichtbar und verborgen ist. Neugierde ist ein Instinkt, und niemand kann gut mit Geheimnissen und Ungewißheiten leben. Endlichkeit, Zufall, Schuld und Leid verlangen nach einer Deutung, einer „Sinnkonstruktion“ im Sinne seeli­ scher Beheimatung. Apokalyptische Gemeinschaften stiften Gemeinschaft, weil sie auf diese Fragen letztgültige Antworten geben.

Erlösung - ein Traum ? Die Geschichte als eine Abfolge von sehr unterschiedlichen Zeitepochen ist voll von Beispielen von Zukunftsangst und -hoffnungen. Besonders gnostisches Den­ ken, das in der Moderne viel Philosophen, Künstler und politische Ideologen beein­ flußt hat, ist geprägt von weltverneinendem Denken und dem „Traum von der Selbsterlösung des Menschen“ (Brumlik 1993). In der Gnosis herrschte Untergangs­ stimmung. Ihre maßgeblichen Denker lehnten die Trennung von Religion und Wissenschaft ab und versuchten in immer neuen Anläufen ein Wissen zu erreichen, das ihnen einen Weg zum Heil garantiere. Nicht Vertrauen, das Platz hat für Zweifel und Rückfragen, sondern bleibende Sicherheit angesichts einer verfallenden Welt wird gefordert. Endzeitapostel betonen das Elend dieser Welt. Sie benutzen den Entscheidungs­ konflikt vieler Menschen, angesichts der tausend Möglichkeiten die eine, richtige Wahl zu treffen, um ihre Vision als Allheilmittel anzubieten. Folge man der /dem erleuchteten Prophetin/en, gewinne man Einblicke in verborgene Welten. Hier sei man über jegliche Ambivalenzen erhaben und erlebe die ersehnte Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit wirklich. „Deine Heimat ist im Himmel“, so suggerieren sie. Das hat eine lebensverneinen­ de Grundeinstellung, wenig Erdverbundenheit und Körperfeindlichkeit zur Folge. Die Welt hat sich als ungemütlich - nein, als unbewohnbar erwiesen. In der Welt regiert die Angst. Durch sie wird Macht ausgeübt, werden Herrschaftsstrukturen geschaffen. Alle Träume, Ideale und Wunschvorstellungen eines geborgenen, fried­ vollen Miteinanders sind an der grausamen Realität des Alltags zerschellt. Die spiri­ tuelle Sehnsucht aller Mystiker - der Wunsch nach Nähe und Zugehörigkeit zu 94

Weltangst und Erlösungshoffnungen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend

einem größeren Ganzen - hat sich in vielen religiösen Traditionen als unstillbar und nicht lösbar erwiesen: Glück, Ganzheit und Vollkommenheit sind „hier unten“ nicht zu haben! Die heile Welt kommt später - im Himmel. Nach der Apokalypse beginnt ein neues Zeitalter mit neuen Lebensbedingungen. Nicht nur für „fromme“ Menschen ist das Motiv einer „Himmelswohnung“ reiz­ voll. Bei der heute vielfach zu beobachtenden „stürmischen Suche nach dem Selbst“ wird in ähnlicher Weise ein idealer Raum seelischer Beheimatung ausgemalt und in den buntesten Bildern beschrieben. Wo ist dieser Ort, wo meine unruhige Seele aufatmen und zu sich selber kommen kann? Der alternative Therapiemarkt wimmelt von Angeboten der Bewußtseinserweiterung, Trancereisen und ultimativen Selbstfindung. Bei derartigen Seminaren wird die menschliche „Heimatlosigkeit als Lebens­ tatsache“ (Benesch 1997,312) häufig ignoriert und teilweise psychologische Techni­ ken zum Erlangen einer angeblich umwälzenden, endgültigen kosmischen Ver­ bundenheit angewendet, deren Nebenwirkungen oft nicht berücksichtigt werden. „Himmlische Heimat“ bildet den Gegenpol zur Weltangst. Sie drückt etwas von der Sehnsucht nach heilem, gelingendem Leben aus. Dabei schwingen Grundwerte wie Wärme und Nähe, Zugehörigkeit, Vertrautheit und intakte Beziehungen mit. Heimat, verstanden als „Wohnstätte meines Daseins“, ist ein fiktiver Ort, wo noch niemand war. Die meist verklärte Erinnerung an die eigene Urheimat, der frühen Kindheit mit ihrer innigen Nähe zur Mutter, enthält oft angenehme Bilder und Stimmungen, die in der leistungsorientierten Erwachsenenwelt unerreichbar schei­ nen. Heimat kann man mit der Vorstellung des Paradieses gleichsetzen, aber: Es gibt das Paradies nur als verlorenes oder zukünftiges Paradies. Die unerfüllbare Sehnsucht nach dem paradiesischen Urzustand nährt die Bereitschaft zu religiösen Übungen und Praktiken, um dort Ganzheit und Heil zu erfahren. Heimatgefühle entspringen einer Sehnsucht nach Einheit, um die schmerz­ lich erlebte innere Zerrissenheit zu überbrücken. Jeder Mensch kennt die Spannung zwischen Wunsch und Wirklichkeit, der phantasievoll ausgeschmückten Vorstel­ lungswelt und der meist nüchternen Realität. Hier heißt es, mit Enttäuschungen umgehen und leben zu lernen. In der gedanklichen Vorwegnahme eines Ereignisses, der Einschätzung eines Sachverhalts oder einer Person haben sich Fehler einge­ schlichen. Deshalb muß die „Einstellung“ oder Sichtweise korrigiert werden. „Frustrationstoleranz“ lautet ein häufig gebrauchtes sozialwissenschaftliches Fachwort für die Fähigkeit, mit enttäuschten Erwartungen richtig umzugehen, näm­ lich Visionen und Erwartungen ständig an der Realität zu messen und Ziele auf ihre Realisierbarkeit hin zu überprüfen und gegebenenfalls zu korrigieren. Diese Hal­ tung stellt eine wesentliche Voraussetzung für das Persönlichkeitswachstum dar. Apokalyptiker vermeiden Ambivalenzen und bevorzugen einfache, klare Lösun­ gen. Der Weltuntergang ist dabei eine Hilfskonstruktion, um die gespaltene Wirk­ lichkeit aufrechterhalten zu können: der abgespaltene, bedrohlich böse Teil ver­ schwindet endgültig.

„Getrenntsein in Bezogenheit“ - unsere Endlichkeit annehmen Wie oben beschrieben, spaltet das apokalyptische Denken die Wirklichkeit in absolut gut und absolut böse, um innere Konflikte und Spannungen zu vermeiden. 95

Michael Utsch

Der alltäglichen Erfahrung, die aufgrund umfassender Weltangst als „böse“ wahrge­ nommen wird, steht ein virtueller, zunächst verschlossener Wirklichkeitsbereich gegenüber, der das phantasierte Gute in Reinkultur enthält und nur durch besondere Techniken oder Erlebnisse zugänglich wird. Die Erfahrung der inneren Zerrissen­ heit hat die Sehnsucht nach Einheit zur Folge. Apokalyptiker halten die sehnsuchts­ volle Spannung nur in Erwartung der kurz bevorstehenden Erlösung aus. Ziel jeder religiösen Aktivität ist es, die schmerzliche Trennung zwischen Mensch und Gott zu überwinden. Hauptmotiv ist die Sehnsucht, „ganz“ zu sein. Im Zen­ trum steht dabei der Wunsch nach Einheit, Verbundenheit und das Gefühl des Aufgehobenseins. Manche Religionswissenschaftler übersetzen den Begriff „Reli­ gion“ vom Wortstamm „religare“ her mit „wiederverbinden dessen, was getrennt war“. Welche seelischen Grundfunktionen werden im religiösen Erleben angesprochen? Es sind die beiden grundlegenden Beziehungsweisen der Verbindung und der Tren­ nung. Ohne die beiden psychischen Grundfunktionen „Bindung“ und „Trennung“ wäre menschliches Leben unmöglich. Pietzcker (1996) hat die Schritte von Einheit, Trennung und Wiedervereinigung als eine typisch menschliche Entwicklungs­ abfolge an einem religiösen, einem philosophischen und an literarischen Beispielen untersucht. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß dieser Prozeß als ein Deutungs­ und Gestaltungsmuster der europäischen Kultur anzusehen ist. Bindung und Trennung beschreiben Verhaltensweisen, die in unterschiedlichen psychologischen Kontexten zu beobachten sind, besonders aber in der frühkind­ lichen Entwicklung. Ohne die Bindungsfähigkeit des Menschen als eine auf Dauer angelegte emotionale und soziale Beziehung wären Familie, Gesellschaft und Kultur nicht vorstellbar. Die Angewiesenheit des einzelnen auf Beziehungen zum Mit­ menschen weisen auf den transzendenten Aspekt der Bindung hin, die nur durch die Ausgangslage der Trennung möglich wird. Psychologisch gesehen ist der Mensch eine Frühgeburt. Nur die psychische Symbiose mit mütterlichen Menschen bewahrt ihn vor schlimmen Traumatisie­ rungen. Hier findet der Säugling Sicherheit und Harmonie und kann sich den Zustand paradiesischer Geborgenheit für eine Zeitlang bewahren. Für die psychi­ sche Geburt und Selbst-Werdung ist die allmähliche Trennung aus der mütterlichen Zwei-Einheit notwendig. Der mühsame und langwierige Prozeß der Loslösung von der Mutter und das lustvolle Erleben des eigenen Ichs bewirkt allerdings nicht, daß die Sehnsucht nach vollkommener Sicherheit und Geborgenheit aufgehoben wäre. Im Gegenteil: die Polarität zwischen Sicherheits- und Autonomiewünschen wird zum wichtigen Motor der weiteren psychischen Entwicklung. Die Spannung zwi­ schen den beiden Polen macht den dynamischen Kern unserer Persönlichkeit aus, weshalb auch vom „bipolaren Selbst“gesprochen wird. Bei Apokalyptikern ist nun eine Fixierung auf einen Pol zu beobachten. Das Selbst, das von der Grundspannung zwischen Sicherheit und Autonomie, Bindung und Trennung, Gemeinsamkeit und Einsamkeit lebt, erhält in Endzeit-Gruppen nur noch einseitig „Nahrung“. Alle anderen Impulse und Bedürfnisse werden abgespalten und verdrängt. Das Beziehungsverhältnis des Menschen zum Absoluten inklusive seiner Sehn­ sucht, einen „Blick hinter den Vorhang“ zu werfen, kann mit „Getrenntsein in Bezo96

Weltangst und Erlösungshoffnungen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend

genheit“ umschrieben werden. Trotz aller spirituellen Übungen kann die unüber­ brückbare Kluft zum Unverfügbaren nicht überwunden werden. Der Mensch bleibt getrennt von seinem Ursprung, wenn auch phasenweise intensive mystische Einheitserlebnisse erreicht werden können. Die mystische Verbundenheit kann aber nicht durchgehalten werden, grundsätzlich bleibt der Tatbestand der Trennung. Trotz der hoffnungslosen Perspektive einer dauerhaften, stabilen Verbindung zum Absoluten und der Vorläufigkeit des Augenblicks mystischen Erlebens haben die spirituellen Anstrengungen der Menschen nicht aufgehört, sondern erleben zumindest im Westen eine deutliche Renaissance. Dieses Phänomen wird zur Begründung einer angeblich angeborenen Verwiesenheit des Menschen auf Trans­ zendenz und Religion als einem anthropologischen Grundmerkmal angeführt. Mit einer ernüchternden Bilanz beendet Weis (1998, 240 ff.) seine Erkundungen im psychospirituellen Milieu. Entgegen dem „Chor der neureligiösen KosmosSchwärmer, der New-Age-Holisten und der neoromantischen Seelen- und Weltharmoniker“ plädiert er für ein „echtes Dividuum“, nämlich das Aushalten von Gegensätzen „im Akzeptieren und Zurechtkommen mit Getrenntem, das sich eben nicht ganzheitlich integrieren läßt“. Ein derartiges Dividuum könne „infantile Allmachtsphantasien“ entlarven, „die in Anbetracht des komplexen und kompli­ zierten (In)Dividuums mit ihrem Ruf nach Ganzheit zum Ausdruck bringen, daß sie insgeheim von ihrer eigenen Komplexität und deren Anforderungen erlöst werden möchten“ (246). Erlösung von dem bedrohlichen Faktum unserer Endlichkeit und unseres fehlbaren Wissens und leicht zu täuschendem Fuhlen gibt cs nicht. Aber wir können lernen, mit Risiko und Ungewißheit zu leben.

Mit Risiko und Ungewißheit leben: mystisches Vertrauen Der Versuch einer Beantwortung zentraler spirituellen Fragen („Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin?“) hat schon manchen verzweifeln lassen. Ernst Bloch hat in einer autobiographischen Bemerkung festgehalten, daß er als Kind von zehn Jahren wie aus heiterem Himmel sein Ich gespürt habe. Es sei wie ein Blitz in ihn gefahren, daß er wirklich und unwiderruflich er selbst sei und daß er lebend aus sich selbst und seinem Körper nicht mehr herauskomme. Peter Sloterdijk schreibt dazu: „Das Ich stößt unvorbereitet auf sich selbst als voraussetzungslosen Fund. Der Selbstfindling erfährt sich in diesem Moment als unheimliches Wesen, das schlech­ terdings kein Ding ist und das auch nicht im Widerschein der Dinge verstanden wer­ den kann. Ich bin keines der Dinge - das bedeutet; ich finde keine Zuflucht beim Unmenschlichen mehr. Ich bin - und weiß es jetzt - kein Stein, keine Pflanze, kein Tier, keine Maschine, kein Geist, kein Gott. Mit dieser sechsfachen Verneinung umzingle ich den unheimlichsten aller Räume“ (1993, 17). Zur Weltangst gesellt sich die Angst vor sich selber. Das Dasein läßt dem Apokalyptiker keine Handlungsmöglichkeiten mehr. Er ist sich selber fremd, unheimlich, ohne Heimat. Ein Wesen ohne Behausung, dessen Herz chronisch unruhig ist. Der Tübinger Psychoanalytiker Heinz Henseler (1995, 151 f.) führt zu der Bedrohung der seelischen Heimatlosigkeit aus: „Die großen und ungelösten Geheimnisse der Welt stellen für den Menschen eine Provokation dar - eine intel­ lektuelle, psychologisch gesehen aber vor allem eine narzißtische. Daß bedrohliche 97

Michael Utsch

Rätsel nicht lösbar sein sollen, daß es für narzißtische Bedürfnisse kein bedürfnisbe­ friedigendes Objekt geben soll, ist schwer zu ertragen. Die primärnarzißtische Beziehung, die jeder Mensch mehr oder weniger intensiv erlebt hat, hat ihm die Erfahrung vermittelt, daß es einmal ein grandioses, Ruhe und Sicherheit gewähren­ des Objekt gab.“ Welche Haltung ermöglicht es, mit den unübersehbaren Risiken und unkontrol­ lierbaren Eventualitäten des neuen Jahrtausends zu leben? Gefragt sind Gelassenheit und ein weiser Umgang mit unseren Ressourcen, den natürlichen, persönlichen und spirituellen. Weder naiver, wissenschaftlich oder ideologisch begründeter Fort­ schrittsoptimismus noch Untergangsbefürchtungen und Weltflucht bieten eine trag­ fähige Lebensperspektive. Wir müssen uns mit der Demütigung einer unverfügbaren Zukunft arrangieren. In Anbetracht unlösbarer Zukunftsfragen und in der Tat beängstigender globaler Perspektiven liefert immer mehr Menschen das Einüben mystischen Bewußtseins in einer spirituellen Tradition Sicherheit und Vertrauen. Der früh verstorbene Arzt Carl Albrecht ist behutsam vorgegangen, als er ver­ suchte, auf Grundlage der Unterscheidung verschiedener Bewußtseinszustände den­ jenigen phänomenologisch zu beschreiben, in dem die Möglichkeit echten mysti­ schen Erlebens gegeben ist. Albrecht definierte Mystik als „das Ankommen des Umfassenden im Versunkenheitsbewußtsein“ (Albrecht 1976, 254). Unter „Versun­ kenheitsbewußtsein“ versteht er einen besonderen Bewußtseinszustand von Ent­ spannung und Leere, wie er sich bei einem Autogenes-Training-Übenden oder einem erfahrenen Meditierenden einstellt. Diesen Zustand beschrieb Albrecht auch anschaulich mit „Innenschau“, die durch eine,reinigende' Vorbereitung und Einstel­ lung der Wahrnehmung möglich werde. Das „Umfassende“ wird nach Albrecht so erlebt, als ob es ein aus fremder Sphäre herkommendes, schlechthin letztes uner­ kanntes Sein sei, auf dessen ganzheitliche Einheit alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Erlebnisgehalte in unverkennbarer Weise Bezug haben" (ebd., 218). Viele bewältigen ihre Weltangst durch ein meditatives Sich- Einlassen auf den UrGrund, ob cs nun in einer buddhistischen, hinduistischen oder anderen Tradition ist. Andere setzen ihr gläubiges Vertrauen auf Christus und ihre Verbindung zu ihm: „In der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.“ Was die Zukunft wirklich bringen wird, bleibt ein Geheimnis. Diese Spannung auszuhalten, verlangt Mut und Loslassen: „Nur das Mysterium tröstet“.

Summary: First significant zones of crisis in our society are described, second die psychological function of prophecies concerning the end of times are examined. “Separation in being connected” („Getrenntsein in Bezogenheit“) gives an psychological interpretation of the threatening knowledge that life is limited.To handle with existential questions mystical confidence in life is recommanded wich stand risk and insecurity. Key words: Millenium, end of times, “Weltangst”, “Weltanschauung”, ideology, limited time of life mystic consciousness

Literatur: Albrecht, C. (1976). Psychologie des mystischen Bewußtseins. Mainz: Grünewald (1. Aufl. Bremen 1951). Benesch, F. (1997): Über die Heimat des Menschen. Die Christengemeinschaft 69(8). Bischof, N. (1996): Das Kraftfeld der Mythen. Signale aus der Zeit, in der wir die Welt erschaffen haben. Piper, München/Zürich. 98

Weltangst und Erlösungshoffnungen an der Schwelle zum dritten Jahrtausend

Bolz, N. (1999): Die Wirtschaft des Unsichtbaren. Econ, Düsseldorf. Brumlik, M. (1995): Die Gnostiker. Der Traum von der Selbsterlösung des Menschen. Fischer, Frankfurt am Main. Ebertz, M. N. (1997): Anfällig für apokalyptische Rufer? Soziologischen Aspekte. In: Gasper, H./Valen­ tin, F. Endzeitfieber. Herder, Freiburg, Basel, Wien. Flammer, A. (1990). Erfahrungen der eigenen Wirksamkeit. Huber, Bern. Flammer; A. (1994): Mit Risiko und Ungewißheit leben. Zur psychologischen Funktionalität der Religiosität in der Entwicklung. In G. Klosinski (Hg.), Religion als Chance oder Risiko (S. 20-34). Bern: I Tuber. Gasper, H./Valentin, E (1997): Endzeitfieber Apokalyptiker, Untergangspropheten Endzeitsekten. Herder, Freiburg, Basel, Wien. Gebser, J. (1973): Ursprung und Gegenwart. 3 Bände, dtv, München. Grabner, W.-J. & Pollack, D. (1992): Zwischen Sinnfrage und Gottesgewißheit. Die Erstellung eines funk­ tional-substantiellen Religionsbegriffs und seine Operationalisierung in einer Leipziger Kirchenmitglicdschaftsuntersuchung. Sociologia Intemationalis, 30. Helsper, W. (1992): Okkultismus - die neue Jugendreligion. Leske & Budrich, Opladen. Henseler, H. (1989): Untergangsphantasien - Psychoanalytische Überlegungen, ln: Freiburger literatur­ psychologische Gespräche, Bd. 8. Königshausen und Neumann, Würzburg. Henseler, H. (1995). Religion - Illusion? Eine psychoanalytische Deutung. Steidl Verlag, Göttingen. Horgan, ]. (1997): An den Grenzen des Wissens: Siegeszug und Dilemma der Naturwissenschaften. Luchterhand, München. Huth, W. (1988): Glaube, Ideologie und Wahn. Das Ich zwischen Realität und Illusion. Ullstein, Frankfurt/M., Berlin. Jonas, H. (1964): Gnosis und spätantiker Geist. Göttingen. Kortner, U. (1999): Weltangst und Weitende. Eine systematische Analyse und Besinnung an der Jahr­ tausendwende. Materialdienst der EZW 62/1, Quell Verlag, Stuttgart. Laszlo, E. (1998): Systemtheorie als Weltanschauung. Eine ganzheitliche Vision für unsere Zeit. Eugen Dicderichs Verlag, München. Pietzcker, C. (1996): Einheit, Trennung und Wiedervereinigung. Psychoanalytische Untersuchungen eines religiösen, philosophischen und literarischen Musters. Königshausen & Neumann, Würzburg. Seligman, M. E. P. (1983): Erlernte Hilflosigkeit. Urban & Schwarzenberg, München. Sloterdijk, P. (1993): Weltfremdheit. Suhrkamp, Frankfurt. Showaller, E:(1997): Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien. Berlin-Verlag, Berlin. Spengler, O. (1923): Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. C. H. Beck, München. Tamas, R. (1997): Idee und Leidenschaft. Die Wege des westlichen Denkens. Rogner & Bernhard, Frankfurt. Weis, H. W. (1998): Exodus ins Ego. Therapie und Spiritualität im Selbstverwirklichungsmilieu. Benziger Verlag, Zürich, Düsseldorf. Wilber, K. (1997). Eros, Kosmos, Logos. Eine Vision an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt.

Michael Utsch EZW Auguststr. 80 10117 Berlin

99

Herr, Gott, Du bist unsere Zuflucht für und für Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, hist Du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit, der du die Menschen lassest sterben und sprichst: Kommt wieder Menschenkinder. Denn tausend Jahre sind vor Dir wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. Aus dem 90. Psalm

100

Buchbesprechungen Gerhard Wehr Hrsg.: Martin Luther - der Mystiker. Kösel Ausgewählte Texte, München 1999, 160 Seiten Wehr wäre nicht er selbst, wenn er nicht auch bei Martin Luther Schattenseiten erwähnte, den autoritären und abwertenden Umgang mit andersdenkenden ehema­ ligen Weggefährten, die problematische Einstellung zu den Bauernkriegen etc. Das eigentlich Bewegende ist jedoch, wie Wehr die tiefe Spiritualität Luthers herauskris­ tallisiert, die über dessen reformatorischer Leistung und angesichts der Ablehnung der Mystik durch viele Lutheraner leicht übersehen wird. Luther selbst begreift sich nicht als Mystiker. Aber zu seiner Zeit gehörte Mystik ganz selbstverständlich zur Frömmigkeit der Ordensleute, und er selbst kannte von Dionysius Aeropagitus bis Bernhard von Clairvaux fast alle einschlägige Literatur. Zur inneren Vorbereitung seiner reformatorischen Thesen waren ihm der Eckartschüler Tauler und die Theologia Deutsch von wesentlicher Bedeutung. In der „Freiheit eines Christen­ menschen“ ist viel von Glaubens- und Brautmystik die Rede, vom leidenden Gottesknecht und der Imitatio, der Nachfolge Christi. Und auch der späte Luther bewahrte stets eine große innere Frömmigkeit. Freilich übte er schon früh nüchtern Kritik an überhitzter Emotionalität und der spekulativen Versenkungs- oder Vereinigungsmystik. Freilich weist er „Werke“ zurück und sieht das Heil allein im Glauben, in der Gnade Gottes, in der Erlösungstat Christi. Aber für diese Gnade muß man sich immer wieder öffnen in der stillen Betrachtung des Bibelwortes, im Gebet, in der Meditation. Und man muß versuchen, ihrer würdig zu werden im alltäglichen Leben. Es geht um conformitas cum Christo, um Einigung des menschlichen Willens mit dem Willen Gottes, aber immer auch um humilitas, um Demut. Der Mensch bleibt immer unten. Auch Maria bleibt in seinem Magnificat Mensch, und das Wunder ist, daß diese demütige, nie­ drige Frau Christus gebären durfte. Wehr ordnet die Luthertexte in folgende Kapitel: Die „Theologia deutsch“; Das Vaterunser geistlich beten; Resolutionen zu den 95 Thesen; Meditation des Leidens Christi; Magnificat - der Lobgesang der Maria; Von der Freiheit eines Christen­ menschen; Gegen die Spiritualisten; Elemente der Brautmystik; Zeugnisse spiritu­ eller Erfahrung und mystischer Theologie. Edith Zundel, Bonn

John Swindells Hrsg.: Bede Griffiths. Ein Mensch sucht Gott. Wegweisender Prophet des 20. Jahrhunderts. Verlag Via Nova Die vorliegende Autobiographie ist auf ungewöhnlichem Wege entstanden. Sie ist Transkript eines Dokumentarfilms, der fünf Monate vor dem Tod von Bede Griffiths produziert wurde. Griffiths berichtet darin von den bedeutsamen Statio­ 101

Buchbesprechungen

nen seines Lebens. Er macht den Leser gleichsam zum Zuhörer und nimmt ihn hin­ ein in dieses Ringen, dieses Suchen, diese spirituelle Erfahrung. Mancher wird dabei Szenen und Erfahrungen aus seinem eigenen Leben wiederfinden, wo er es radikal leben wollte, wo er die industrielle Gesellschaft kritisierte, wo er deren Lebensform als entfremdet erlebte, wo ihm das Studium keine Perspektive und keinen Sinn hat­ te eröffnen können. Man erinnert sich an den Aufbruch, das radikale Suchen der 68er Jahre, die Enttäuschung und die Verzweiflung, die nicht wenige nach Indien führte. Und man ist gespannt zu erfahren, wie aus dem radikal Suchenden der Mönch, Mystiker und Meister wurde. Eingebettet in die Phasen, Szenen und Verwandlungen dieses reichen Lebens wird die Botschaft vermittelt: die Synthese von Erfahrung und Wissen, von östlicher Weisheit und westlichem Denken. Die Darstellung gliedert sich in die Abschnitte: Die Schulung des Geistes’; Studienzeit; Das Experiment; Ein Leben in der Gemeinschaft - wir würden heute sagen Kommune oder Wohngemeinschaft; der Katholizismus und mein Leben als Benediktinermönch; Die Reise nach Indien; und zwei philosophisch wissenschaftli­ che Rezensionen. Es ist ein Buch, eine Biographie, die viele Suchende anregen, ermuntern und faszinieren wird. Kardinal Hume würdigt es: „Dom Bede ist eine Quelle der Inspiration und Ermutigung. Er denkt und schreibt wie ein Schüler von Christus“. Karl-Heinz Urlaub, Köln

Raimon Panikkar: Gott, Mensch und Welt - Die Drei-Einheit der Wirk­ lichkeit. Roland B. Ropers, Hrsg. Via Nova 1999 Im Dialog zwischen den Religionen, genauer zwischen europäischem Christen­ tum und indischer Spiritualität, bedarf es der Vermittler. Kaum einer eignet sich dazu besser als Raimon Panikkar, Sohn einer spanischen Mutter und eines indischen Vaters, der von sich sagt: „Ich bin als Christ gegangen, ich habe mich als Hindu gefunden und ich kehre als Buddhist zurück, ohne doch aufgehört zu haben, ein Christ zu sein“. Sein Anliegen hat er so umschrieben: „In jeder Religion gibt es Licht und Schatten, und religionswissenschaftlich gesehen darf man die These aufstellen, daß jede echte Tradition eine Fülle darstellt, aus der der Mensch lebt und leben kann, obwohl mit der Zeit für die heutige Generation vielleicht das, was für die Alten gut war, nicht mehr genügt. Deshalb ist die Begegnung der Religionen und ihre gegen­ seitige Befruchtung heute ein religiöser Imperativ jeder Religion.“ Zum achtzigsten Geburtstags Panikkars hat R. Roper eine Sammlung der wich­ tigsten Beiträge dieses großen Philosophen, Theologen und Naturwissenschaftlers herausgegeben. Sie reflektieren die grundlegenden geistigen Positionen des Hinduis­ mus und des Christentums in einem Kontext, der auch die kosmische Dimension einbezieht. In der „kosmotheandrischen Intuition“, einer faszinierend eindring­ lichen Analyse der lebendigen Dreiheit von Gott, Mensch und Welt, wird unsere Existenz nicht nur religiös, sondern, gleichsam als Aspekt des Ganzen, auch philo­ sophisch und naturwissenschaftlich gesehen. Es ist ja nicht zufällig, daß in der Kosmologie die Frage nach Gott immer wieder auftaucht und unter den Physikern 102

Buchbesprechungen

mehr Mystiker zu finden sind als unter den theologischen Interpreten von heute. Weitere wichtige Kapitel beschäftigen sich mit der „Ökosophie - die Weisheit der Erde“, mit der „Macht des Schweigens“, mit der „Trinität“ und, als Leitthema, mit „Formen und Modellen einer neuen Religiosität“. Die Beiträge sind in ihrem wis­ senschaftlichen Niveau sehr anspruchsvoll, jedoch in Sprache und Gedanken­ führung so klar und verständlich, daß das Lesen auch für den philosophischen und theologischen Laien ein Genuß ist. Karl-Heinz Urlaub, Köln

Matthias Steurich: Tibetisches Heilyoga - Kum Nye. Das Übungsbuch zur sanften Selbstheilung. Vorwort von Prof. Dr. Dr. Engel; Nachwort von Prof. Dr. Ortmann. Herder Verlag, Freiburg, 224 Seiten. Der Autor schöpft in diesem Buch aus reicher Erfahrung durch Übung und Vermittlung von Kum Nye. Nach über 20jähriger autorisierter Lehrtätigkeit hat Matthias Steurich mit diesem Buch ein echtes Kum Nye Handbuch geschaffen, das dem Interessierten einen ersten Einblick und eine gute Grundlage zur Selbstübung gibt, dem langjährig Übenden zum unverzichtbaren Nachschlagewerk wird. Das Buch gliedert sich in einen großen Übungsteil, in dem einige Hauptübungen beschrieben und durch Fotos illustriert sind und einem theoretischen Teil, der die Bedeutung, Herkunft und Wirkungsweise von Kum Nye beschreibt. Kum Nye, ein offenes System von Bewegungs-, Atem-, Wahrnehmungs-, Selbst­ massage-, und Mantraübungen, führt zu einer Haltung größerer Achtsamkeit und Bewußtheit, womit es als klassisches buddhistisches Meditationssystem mit dem Ziel der Transzendierung der dualistischen konzeptionellen Wahrnehmung anzuse­ hen ist. Weitere Wurzeln des Kum Nye sind die traditionelle tibetische Heilkunst und das tibetische Yoga-System der feinstofflichen Energien. Regelmäßig geübt kann es zur Heilung auf physischer, emotionaler und kogniti­ ver Ebene beitragen, den Übenden entspannen, ruhig und sanft zu sich, seinem Atem, seinen Empfindungen führen, aber auch vitalisieren, energetisicren, Kraft für den Alltag geben. Besonders empfehlenswert, nicht nur für den Kum Nye Übenden, sondern für jeden Meditierenden ist das Kapitel über Hindernisse beim Üben. Hier beschreibt der Autor innere Erfahrungen, die sich als hinderlich auf dem Übungsweg heraus­ gestellt haben, und zeigt Lösungsmöglichkeiten auf. Wolfgang Erhardt, Hennef

David Loy, Nondualität - Über die Natur der Wirklichkeit, Krüger, Frankfurt 1998, 502 Seiten Um die „Grundzüge einer Kerntheorie der Nichtdualität“, der Nichtzweiheit, geht es dem Autor in seinem Buch. David Loy bringt für so ein anspruchsvolles gei­ 103

Buchbesprechungen

stiges Unternehmen gute Voraussetzungen mit. Er ist Professor für Philosophie und Zen-Lehrer. Sowohl in philosophischer Theorie als auch in meditativer Praxis sucht er der Wirklichkeit auf den Grund zu gehen. Und dieser Grund ist für ihn nondual, d. h., er transzendiert prinzipiell die Gegensätze, vor allem den Gegensatz von Subjekt und Objekt. Nonduales Wahrnehmen, Handeln und Denken, diesen Aspekten des Themas geht Loy in differenzierten Untersuchungen nach. Er bezieht sich dabei auf den Buddhismus, den hinduistischen Adviata-Vedanta und den Daoismus, stellt aber immer auch interessante Bezüge zu westlicher Philosophie her, wie zu Kant, Nietzsche, Heidegger und Wittgenstein. So führt er an ein Verstehen der grundlegenden Nondualität des Wirklichen heran, das eben gerade in der Einsicht besteht, daß es mit unserem normalen intellektuellen Verstehen nicht zu erfassen ist. Der Verstand endet in Paradoxien. In einem zweiten Teil geht Loy auf die prinzipiell unterschiedlichen Ansätze der Überwindung des Dualismus im Buddhismus und im Advaita-Vedanta ein. Während der frühe Buddhismus das Subjekt im Objekt auflöst, im Nicht-Selbst, geht man im Advaita-Vedanta den entgegengesetzten Weg und löst das Objekt im Subjekt auf, im Selbst. Beides sind Einseitigkeiten, Halbwahrheiten, die zu Scheinwidersprüchen führen. Sie müs­ sen in ihrer dialektischen Dynamik als Gegenpole erfaßt werden. Diese Dialektik sieht Loy vor allem in der Madhyamaka-Philosophie von Nagarjuna verstanden. Interessant wäre hier ein Vergleich mit nondualen Ansätzen im Christentum, wie z. B. bei Meister Eckhart oder Nikolaus von Kues. Hier liegt ein Werk vor, das fruchtbare Impulse geben kann bei der spirituellen Suche nach der Natur, dem Grund der Wirklichkeit, da es überzeugende Sachkenntnis mit spürbarem persön­ lichem Engagement verbindet. Wer der Versuchung entgehen will, den zunehmend kursierenden Begriff der Nondualität in floskelhafter Oberflächlichkeit zu verwen­ den, ist gut beraten, sich mit diesem Buch von David Loy intensiver auseinander­ zusetzen. Ludwig Frambach, Lauf a.d. Pegnitz

Armin Münch, Dimensionen der Leere, LIT-Verlag, Münster 1998, 337 Seiten „Gott als Nichts und Nichts als Gott im christlich-buddhistischen Dialog“ lautet der Untertitel dieses Buches. Armin Münch setzt sich darin als evangelischer Theologe intensiv mit einer Grundfrage des Gesprächs von Christentum und Bud­ dhismus auseinander, der Frage nach dem jeweiligen Verständnis der letzten Wirk­ lichkeit. Hier hat sich seit etlichen Jahren ein hochinteressanter komplexer Diskurs entwickelt, vor allem in den USA, den Münch in seinen vielseitigen Facetten kennt­ nisreich darstellt. Es ist insbesondere die vom Zen inspirierte Kyoto-Schule der Philosophie, die sich hier engagiert hat. Masao Abe, ein Vertreter dieser Schule, hat den christlichen Begriff der Kenosis, der Entäußerung, Entleerung eingebracht, und Münch nimmt an dieser Stelle das interreligiöse Gespräch auf. Er bezieht sich dabei auf die Tradition christlicher Mystik, Meister Eckhart, Augustin, Pavel Florenskij, aber geht auch auf die jüdische Mystik und auf den Neuplationismus ein. So ent­ wickelt er ein Verständnis der „Polarität und Komplementarität von Buddhismus 104

Buchbesprechungen

und Christentum“, das anschaulich und einleuchtend in einer vergleichenden Betrachtung der zehn Ochsenbilder des Zen und der Stationen des Kreuzwegs sei­ nen Ausdruck findet. Gerade weil sie in vielem so gegensätzliche Ansätze und Anschauungen aufweisen, sind die beiden Religionen auf eine gemeinsame Mitte bezogen. Die Unterschiede werden nicht eingeebnet, sondern durch einen polaren Verständnissatz aufeinander bezogen und so ihre gegenseitige Bedingtheit und kom­ plementäre Ergänzung offensichtlich. Das Buch bietet eine Fülle detaillierter Information zum christlich-buddhistischen Dialog und führt kompetent in wesent­ liche Themenfelder ein. Aber vor allem ist das Buch von Armin Münch ein originel­ ler weiterführender Beitrag zu einem zunehmend gemeinsamen Verstehen der Dimension der letzten Wirklichkeit. Ludwig Frambach, Lauf a.d. Pegnitz

Hans Willi Weis, Spiritueller Eros, Via Nova, Petersberg 1998, 307 Seiten „Auf den Spuren des Mystischen“ bewegt sich Hans Willi Weis mit diesem Buch. Er tut dies als Kultur- und Sozialwissenschaftler wie auch als Yoga- und Medita­ tionslehrer. Das spiegelt sich darin, wie er sein Thema angeht. Einerseits nimmt er das „Zeitgeistphänomen“ Spiritualität in den kultur- und sozialwissenschaftlich geschulten Blick. Andererseits richtet sich das Interesse des Meditationslehrers auf die Frage nach einer heute angemessenen spirituellen Praxis im Sinne mystischer Schulungswege. Aus der Verschränkung dieser Blickwinkel ergeben sich interessan­ te Überlegungen. Weis unternimmt eine kritische Analyse der zeitgeistigen psychospirituellen Szene, kritisiert beispielsweise deren seichte „Erfahrungsseligkeit“, die „Verquickung mystischer Ansätze mit magisch-mysthischen Praktiken und Kon­ zepten“ und die „Symptome eines spirituellen Materialismus“. Und er versucht Konturen einer zeitgemäßen Praxis der Mystik aufzuzeigen in Themen wie „Ewiges Jetzt: Geistesgegenwart in der Seinserfahrung“ oder „Sitzen bis einem der Hintern abfällt? Was uns ein Exerzitium wirklich zumutet“. Mag man ihm auch nicht in allem zustimmen, wie ich z. B. nicht in seiner Definition von Religion in Ab­ grenzung von Spiritualität und Mystik, so sind seine kenntnisreich und sprachlich anregend formulierten Gedankengänge ausgesprochen fruchtbare Anstöße zu einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit der spirituellen Thematik. „Kein spirituel­ ler Eros ohne intellektuellen Eros“, dieses zentrale Anliegen des Buches von Hans Willi Weis ist von grundlegender Bedeutung für die Gestaltung authentischer Spiritualität in unserer Zeit. Ohne entwickeltes intellektuelles Unterscheidungs­ vermögen verliert sich die spirituelle Suche sonst leicht in nebulösem Mystizismus, statt zur Geistesklarheit echter Mystik zu führen. Ludwig Frambach, Lauf a. d. Pegnitz

105

Fortbildungen, Tagungen und Ankündigungen Deutsches Kollegium für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie Am 25. 6. 1999 wurde in Bad Kissingen das Deutsche Kollegium für Transperso­ nale Psychologie und Psychotherapie gegründet. Der Verein fördert die interdiszi­ plinäre Zusammenarbeit und den Austausch zwischen Wissenschaftlerlnnen und Forscherinnen auf dem Gebiet der Transpersonalen Psychologie und Psycho­ therapie. Er vertritt die Belange der Transpersonalen Psychologie in Lehre, Forschung und Weiterbildung an Hochschulen und vergleichbaren wissenschaft­ lichen Institutionen. In den Vorstand wurden gewählt Prof. Dr. Winfried Belschner, Oldenburg, PD Dr. Dr. Harald Wallach, Freiburg, Dr. Joachim Galuska, Bad Kissingen, Prof. Dr. Edith Zundel, Bonn. Es sind jährliche Tagungen geplant. Die erste findet am 23. bis 24. 6. in Oldenburg statt und hat den Themenschwerpunkt: Forschungsmethoden der Transpersonalen Psychologie. Weitere Informationen und Anträge auf Mitgliedschaft sind zu erhalten bei Prof. Dr. Winfried Belschner, Universität Oldenburg, PF 2503, 26111 Oldenburg, Fax 0441/7 98/51 38; Email: [email protected] Schule für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie Freiburg Die Schule für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie Freiburg bietet seit November 1998 eine dreijährige Fortbildung für Hoch- und Fachschulabsol­ venten mit therapeutischer Grundausbildung und entsprechender beruflicher Erfahrung an. In den ersten zwei Jahren liegt der Schwerpunkt auf Selbsterfor­ schung im Kontext des archetypischen Weges der Heldenreise und dem Studium des Welt- und Menschenbildes der Transpersonalen Psychologie. Im dritten Jahr wird die fachliche Kompetenz in Theorie und Praxis vertieft: Klinische Psychologie im Rahmen der Transpersonalen Psychotherapie, Krisenbegleitung, Fallsupervision etc. Bei den dreißig Studierenden des ersten Jahrgangs hat diese Ausbildung viel Anklang gefunden. Der nächste Kurs beginnt mit der Einführungsveranstaltung vom 26. bis 30. Januar 2000 im Haus Lindenhöhe bei Freiburg. Dort werden auch die weiteren sechs Einheiten des ersten Jahres stattfinden. Die Daten sind 2. bis 5.3., 27. bis 30.4., 15. bis 18.6., 14. bis 17.9., 26. bis 29.10., 12. bis 17.12. Informationen und Anmel­ dungen bei der Geschäftsstelle der Schule für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, Christiane Jahrsetz, Wendlinger Straße 32 A, 79111 Freiburg. Tel. 0761/4758 46; Fax 0761/474646 Basler Psychotherapietage 1. bis 3. Juni 2000 LEBEN LERNEN; Kongreß für Fachleute und Laien. Vorträge Seminare und Workshops mit Niklaus Brantschen, Evelyn Coen, Patricia Couturier, Ursula Davatz, Maria Pöppl, David Gilmore, Stefan Herzka, Augut E. Hohler, Ute Lauterbach, Bernhard Ludwig, Henning von der Osten, Nossrat Peseschkian, Mone S. Rabenbauer, Josef Rabenbauer, Monika Renz, Hans Ruh, Werner Sprenger, Hubertus von Schoenebeck, Max Schüpbach, Konrad Stauss, Bertold Ulsamer, Maja Wickl, Hanna Wintsch. 106

Fortbildungen, Tagungen und Ankündigungen

Information und Anmeldung bei: perspectiva, Bahnhofstraße. 63, PF CH-4125 Riehen 1. Tel. 0041 (0)61641 64 85, Fax 0041 (0)6164164 87; e-mail: [email protected]; Homepage: www.perspectiva.ch In Graz findet am 21. und 22. Januar 2000 im Meerschingschlössel ein Kongreß zu Paranoia und Diktatur statt. Veranstalter sind Prof. Dr. Zaporoczky und Prof. Dr. Schmid-Bamberg. Kontaktadresse: Universitätsklinik für Psychiatrie, A 8036 Graz, Auenbruggerplatz 22, T ++ 43-316-385-3612, F ++ 43-316-385-3983.

107

Die Autorinnen dieser Ausgabe Dreisbach, Uta, geb. 1944. Studium der katholischen Theologie und Altphilo­ logie, Diplom in Ehe-, Familien- und Lebensberatung. Zenschulung unter Williges Jäger Roshi in Würzburg und Robert Aitken Roshi in Honolulu/Hawaii. Seit 1991 Zenlehrerin der Sanbo Kyodan Schule Kamakura/Japan. Kurstätigkeit an verschie­ denen Orten Deutschlands, schwerpunktmäßig im Meditationshaus St. Benedikt in Würzburg. Gottwald, Prof: Dr. Dr. Peter, geboren in Shanghai 1935, Schulzeit in Österreich und Deutschland, Abitur 1956, Studium der Medizin, Dr. med. 1962, Medizinal­ assistenz, Studienjahr in Boston, seit 1966 Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, Promotion zum Dr.rer.soz. in Konstanz 1972, seit 1977 Lehrstuhl für Psychologie mit Schwerpunkt Psychotherapie an der Carl-vonOssietzky Universität Oldenburg. Verheiratet seit 1964. Seit 1982 Zenschüler in der Tradition der Drei Kostbarkeiten (Kamakura). Wichtigste Veröffentlichung: In der Vorschule einer Freien Psychologie, Forschungsbericht eines Hochschullehrers und Zenschülcrs, 2. Aufl. 1993, Holzberg Verlag, Oldenburg. Perry, John W. MD, geb. 1914, gest. 29. 10. 98. Psychiater und Jungianischer Psychotherapeut. Bekannt für seine alternative, medikamentfreie Behandlung psychotischer Episoden. Veröffentlichungen: The Seif in Psychotic Process, 1953, Dallas, 1987; Lord of the Four Quarters: Myths of the Royal Father, NY 1966, republ. 1991; The Far Side of Madness, 1974, republ. New York, 1989; Roots of Renewal in Myths and Madness 1976, republ. San Francisco 1991; The Heart of History, NY 1987; Trials of the Visionary Mind; New Yorks 1998; The Sacred Center, unveröffentliches Manuskript Schmidt-Lellek, Christoph, Gestalttherapeut/Integrativer Therapeut und Super­ visor (DGSv); Studium der ev. Theologie und Philosophie sowie der Erziehungs­ wissenschaften; seit 1982 Tätigkeit in freier Praxis für Psychotherapie, Paartherapie und Supervision; Lehrbeauftragter am FPI und am Gestalt-Kolleg, Frankfurt; Mitherausgeber und Redakteur der Zeitschrift Organisationsberatung, Supervision, Clinical Management (OSC). Stauss, Dr. med. Konrad, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, für Neurologie, für Psychiatrie und für Psychotherapie; Direktor und Chefarzt der Klinik für Psychosomatische Medizin Grönenbach. Ausbilder an der Süddeutschen Akademie für Tiefenpsychologie (Zusatztitel Psychotherapie für Ärzte). Beschäfti­ gung mit verschiedenen Methoden aus der humanistischen Psychotherapie (Trans­ aktionsanalyse, Körperarbeit, Gestalttherapie). Entwicklung von stationären Behandlungsmodellen für sogenannte frühe Störungen. Letzte Veröffentlichung: Neue Konzepte zum Borderline-Syndrom. Junfermann 1999. Walch Sylvester, Dr. phil., geb. 1950. Lebt mit Frau und zwei Söhnen in Oberstdorf (Allgäu). Psychotherapeut, Supervisor und Klin. Psychologe (BDP) in 108

freier Praxis. Lehrtherapeut für integrative Gestalttherapie (ÖAGG u. FPI), Lehrtherapeut für klientzentrierte Gesprächspsychotherapie (ÖGwG), Gruppendynamiker (ÖAGG) und Lehrtherapeut für Transpersonale Psychotherapie und Selbst-Erfahrung (ÖTP) und certified Trainer for „holotropic breathwork“ (Stanislav Grof). Vortragstätigkeiten und mehrere Veröffentlichungen. Mehrjährige Tätigkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus und als Leiter eines Suchtkran­ kenhauses. Ehrenvorsitzender des „Österreichischen Arbeitskreises für Transper­ sonale Psychologie und Psychotherapie“. Wehr, Gerhard, geh. 1931, Schriftsteller, zahlreiche Studien zur neueren Religions- und Geistesgeschichte, speziell der deutschen Mystik. Hrsg.: der Werke Jakob Böhmes. Seine Biographien über Martin Buber, C. G. Jung, Rudolf Steiner, Graf Dürckheim, Jean Gebser, Fr. Rittelmeyer haben internationale Anerkennung gefunden. Zuletzt erschienen: Esoterisches Christentum, Klett-Cotta 1995; Euro­ päische Mystik, Junius 1995; Spirituelle Meister des Westens, Diederichs 1995; Jean Gebser, Via Nova 1996; Heilige Hochzeit, Diederichs 1998; C. G. Jung und Rudolf Steiner, Klett-Cotta 1998. Utsch, Dr. Michael, geb. 1960, Diplom-Psychologe, nebenberuflich in freier Praxis als Psychotherapeut tätig, ist nach jahrelanger klinischer Tätigkeit in der Drogenrehabilitation und der Psychosomatik seit 1997 bei der Evangelischen Zen­ tralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin für das Referat „Psychologie und Religion“ zuständig.

109

Hinweise für Autoren: Allgemeines:

Manuskripteinsendungen werden an einen der Schriftleiter erbeten (s. Impressum). Für die Zeitschrift werden nur unveröffentlichte Beiträge angenommen, die nicht gleichzeitig an anderer Stelle zur Veröffentlichung eingereicht werden. Mit dem Abdruck des Beitrags erwirbt der Verlag alle Rechte, insbesondere das alleinige und ausschließliche Recht für die Veröffentlichung, für die weitere Vervielfältigung und zur Übersetzung für alle Sprachen und Länder.

Gestaltung:

Das Manuskript sollte klar und übersichtlich sein und durch Zwischenüberschriften gegliedert werden. Die Schrift­ leitung behält sich das Recht vor, notwendig erscheinende Verbesserungen vorzunehmen.

Form und Umfang:

Das Manuskript ist in zweifacher Ausfertigung maschinen­ geschrieben, möglichst 1½-zeilig einzusenden. Es sollte maximal 20 Manuskriptseiten nicht überschreiten. Außer­ dem bitten wir um eine Diskette im Format WinWord 6.

Zusammenfassungen:

Dem Manuskript ist eine deutsche Zusammenfassung mit dem Umfang von 10-15 Zeilen und ein englisches Summary mit dem englischen Titel der Arbeit beizufügen. Im Anschluß an die Zusammenfassungen werden jeweils 3 bis 6 deutsche Schlüsselworte und 3 bis 6 englische Keywords formuliert.

Literatur:

Im Text der Arbeit sind in Klammern Autorenname und Erscheinungsjahr anzugeben, z.B. (Walsh, 1993). Im selben Jahr erschienene Arbeiten des gleichen Autors werden durch a, b, c usw. hinter der Jahreszahl gekennzeichnet, z. B. (1992 b). Im Literaturverzeichnis werden alle im Text zitierten Arbeiten aufgeführt. Es ist alphabetisch geordnet. Zeitschriftenbeiträge werden folgendermaßen zitiert: Sämtliche Autorennamen mit nachgestellten Initialen der Vornamen, Erscheinungsjahr in Klammern, Beitragstitel, Name der Zeitschrift in der gültigen Abkürzungsform, Band- und Seitenzahl. Beispiel: Walsh, R. (1993): The Transpersonal Movement: A History and State of the Art. The Journal of Transpersonal Psychology 25, 123-139. Bücher werden folgendermaßen zitiert: Sämtliche Auto­ rennamen mit nachgestellten Initialen der Vornamen, Erscheinungsjahr in Klammern, vollständiger Buchtitel, Verlag, Verlagsort. Beispiel: Wilber, K. (1988): Die drei Augen der Erkenntnis. Kösel, München.

Informationen über den Autor:

110

Zur Leserinformation sind folgende Angaben sinnvoll: Geburtsjahr, Titel, Beruf und gegenwärtiges Tätigkeitsfeld, Funktionen wissenschaftlicher, beruflicher oder politischer Natur, Interessenschwerpunkte und Hinweise auf eigene Publikationen.

Weitere Bücher aus dem Verlag Via Nova:

Transpersonale Psychotherapie und Meditation Der Alltag als Übung Pieter Loomans (Hrsg.) Paperback. 240 Seiten - ISBN 3-928632-60-4 Das Thema, das die einzelnen Beiträge als roter Faden durchzieht: „Der Alltag als Übung“, bezeichnet exakt den Punkt, an dem sich Transpersonale Psycho­ therapie und die verschiedenen Formen der Meditation begegnen und vonein­ ander lernen wollen. Arbeiten über Vor- und Wegbereiter der Transpersonalen Psychologie wie C.G. Jung und Jean Gebser und von so bekannten Forschern und Autoren wie Rupert Sheldrake, Stanislav Grof und Tilmann Moser u.a. Uber ihre Erkenntnisse und Einsichten bilden den einen Kernpunkt des Buches. Beiträge über Wesen und Wirkung der Meditation von Willigis Jäger, Baker Roshi, Joachim Galuska, Ayya Khema, Pieter Loomans u.a. den zweiten. Weitere Aufsätze wie der von Ingrid Riedel über Hilde­ gard von Bingen als große Einzelne am Anfang des Wegs nach innen, der von Michael von Brück über die notwendige inhaltliche Auseinandersetzung zwischen Christentum, Buddhismus und Hinduismus u.a. runden diesen Band ab. Es ist ein Lesebuch für Menschen, die nach ihrem Ort in dieser Welt suchen.

Wandlung durch Einsicht Die Enneagrammtypen im Leben, in der Literatur und in klinischer Praxis Claudio Naranjo Paperback, 416 Seiten - ISBN 3-928632-57-4 Claudio Naranjo bezieht sein Wissen über das Enneagramm unmittelbar von Oscar Ichazo und hat auch die praktische Arbeit ein Jahr lang mit ihm erlebt. Er ist derjenige, der das Enneagramm in den Westen brachte und es auch zuerst unterrichtete. Dieses Meisterwerk der Studien über das Enneagramm bietet eine großarti­ ge Integration von Charaktereinblicken aus Therapie, Literatur und histo­ rischer Biographie. Obwohl reich an Analytik, ist das Buch niemals schwer oder psycho-pathologisch. Naranjo ist, wie Sokrates, ein Geburtshelfer der Seelen, und er kombiniert klinische Klarheit mit einem seltenen Geschmack für die Leidenschaft und Poesie der Sprache. ..Ich sehe Dr. Naranjos Buch als fruchtbaren Beginn einer neu entstehen­ den, charakterorientierten Psychotherapie.“ (Prof. Mirko Fryba)

Psychologie Eine umfassende Darstellung aus ganzheitlicher Sicht Grundlagen - Persönlichkeit - Bedürfnisse - Entwicklung - Band 1

Stefan Schmitz Paperback, 240 Seiten - ISBN 3-928632-56-6 „Psychologie“, eine umfassende Darstellung aus ganzheitlicher Sicht, ist ein auf drei Bände angelegtes Werk. Es gibt eine allgemeinverständliche Ein­ führung in das Grundwissen von Tiefenpsychologie, Körpertherapie und Spiritualität. Dieses Wissen wird aus einer umfassenden Perspektive darge­ stellt, die alle wichtigen Schulen der Psychotherapie übergreift. Band 1 erläutert die Grundlagen des menschlichen Seelenlebens, das Wechselgeschehen zwischen Psyche und Körper, die Funktionsweise der Archetypen, den Aufbau der Persönlichkeit, die Vielfalt der menschlichen Bedürfnisse und die Entwicklung des Menschen in Kindheit und Jugend. Außerdem handelt dieser Band von der Sozialisation des Menschen, von den unterschiedlichen Arten des Lernens, von der Trotzmacht des Geistes und nicht zuletzt von der inneren Ausrichtung des Menschen auf Selbstver­ wirklichung und Identitätsfindung.

Erleben, ergründen, mitfühlen Annäherung an eine ganzheitliche Sicht des Lebendigen Klaus Dylla Paperback, 176 Seiten - ISBN 3-928632-59-0 Durch ein eigenes Tiefenerlebnis ausgelöst und bestärkt durch das neue Denken in der Physik, unternimmt der Autor in diesem Buch den Versuch, dieses neue Denken auf die Biologie zu übertragen. Der Autor zeigt auf, daß wir heute „alle Organe“ (W. Heisenberg) entwickeln müssen - vom unmittelbaren Erleben über die rationale Analyse bis zur transpersonalen Schaulogik - wenn wir dem Lebendigen gerecht werden wollen. Dies aber wird - wie der Autor belegt - in Zukunft erforderlich werden, wenn wir die Welt der Technik und Kultur in ein Gleichgewicht mit der Biosphäre brin­ gen müssen, aus der auch wir Menschen leben. Dies aber - so meint der Autor - wird nur gelingen, wenn wir die numinose Dimension der Natur anerkennen und Wissen­ schaft mit Religiosität versöhnen, einer Kosmischen Religiosität! (A. Einstein)

Deine persönliche Friedensformel für ein neues Jahrtausend Mansukh Patel Broschur, 160 Seiten, 2 Graphiken, 32 Fotos ISBN 3-928632-55-8 Es wird Augenblicke geben, in denen der Mensch eine Gelegenheit erhält, den Verlauf seines Lebens zu ändern, einen Sprung nach vorne zu tun. Während des letzten halben Jahrhunderts hat die Welt so viele Verände­ rungen und Krisen erlebt, daß es sehr klar geworden ist, daß wir an einem Punkt angelangt sind, wo sich etwas ändern muß. Wenn wir uns als mensch­ liche Wesen entwickeln und entfalten wollen, haben wir keine Wahl. Es muß eine Revolution geben - eine innere Revolution. Nur durch eine inne­ re Transformation unserer selbst werden wir in der Lage sein, Veränderun­ gen in der Welt zu bewirken. Dieses Buch bietet faszinierende neue Möglichkeiten, die jedermann helfen, diese höchsten Träume und Potentiale zu verwirklichen. Es liefert einen einfachen Sieben-Punkte-Plan, um harmonische Beziehungen zu sich selbst und zu anderen aufzubauen, damit eine Welt des Friedens entsteht.

Aus der Mitte des Herzens lauschen Eine visionäre Annäherung an die Craniosacral-Therapie Hugh Milne Gebunden, Großformat, 21 x 29,7 cm, Band 1,224 Seiten, 46 Graphiken, 9 Fotos ISBN 3-928632-54-X Band 2,344 Seiten, 238 Graphiken, 125 Fotos ISBN 3-928632-62-0 Der Verfasser führt den Leser ein in die Geschichte visionärer craniosacraler Arbeit - ihrer Entstehung, Entwicklung, Philosophie und Praxis. Der Autor erklärt, wie eine Erdung in Meditation, sensitive Berührung und intuitive Wahrnehmung zu einer bemerkenswerten Entfaltung der eigenen Fähigkeiten führen kann. Die schamanischen Wurzeln, die die craniosacrale Arbeit mit allen Formen heilender Berührung teilt, - ob Massage, Tiefengewebsarbeit, Energie­ arbeit oder Handauflegen -, werden genauso dargestellt wie der Auftrag des Heilers, die Entwick­ lung von Wahrnehmung und Intuition und visionärer Diagnose. Der zweite Band von „Aus der Mil­ te des Herzens lauschen“ enthält Einzelheiten über die Anatomie, Physiologie sowie die Energien und Techniken, die das wesentliche Herzstück visionärer craniosacraler Arbeit ausmachen. „Ein wunderbares Buch. So viele Weisheiten und Bücher in einem Buch.“ (Betty Balcombe)

Jean Gebser Individuelle Transformation vor dem Horizont eines neuen Bewußtseins Gerhard Wehr 304 Seiten, gebunden - ISBN 3-928632-26-4 Die Gebser-Biographie beleuchtet Höhen und Tiefen eines innerlich wie äußerlich bewegten Lebens; das Leben eines Dichters und Kulturgeschicht­ lers, eines vielgereisten Weltbürgers, der als Phänomenologe viele Diszipli­ nen befruchtet hat: Philosophie, Psychologie. Anthropologie, Bereiche der Mythologie und der Symbolforschung. Der Verfasser Gerhard Wehr hat nach jahrelangen Recherchen und nach zahlreichen Gesprächen mit Freun­ den und Zeitzeugen Gebsers, aufgrund des Studiums der Tagebücher und einer tiefgründigen Kenntnis des literarischen Werkes die erste umfassende Gebser-Biographie vorgelegt. Der Leser erfährt nicht nur biographische Informationen, sondern auch in verdichteter Form die wichtigsten Einsichten und Erkenntnisse über die Stufen menschlicher Bewußtseinsentwicklung, über das Werden einer neuen Welt und die Heraufkunft eines neuen Bewußtseins.

Die Weisheit der Gefühle Metafähigkeiten - die spirituelle Kunst in der Therapie Amy Mindell 192 Seiten, gebunden - ISBN 3-928632-45-0

Ein neues Verstehen der Wirkung von Gefühlen Warum sind die einen Therapeuten erfolgreich, andere nicht? Amy Mindell nennt das, was eine Therapie und einen Therapeuten erfolg­ reich macht, Metafähigkeiten (Metakills). Sie geht davon aus, daß unter allen unseren Verhaltensweisen gefühlsmäßige Einstellungen und Muster liegen, die nicht nur unser ganzes Verhalten im Alltag, sondern auch den Verlauf einer Therapie, ihren Erfolg oder Mißerfolg, bestimmen. Und weil sie nicht nur den Menschen prägen, der sich einer Therapie unterzieht, son­ dern auch den Therapeuten, sind sie für den Verlauf einer Therapie so entscheidend. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge ist hilfreich für jeden zur Bewältigung des Alltags und zum Gelingen einer jeden Therapie.

View more...

Comments

Copyright ©2017 KUPDF Inc.
SUPPORT KUPDF