Transpersonale Psychologie Und Psychotherapie - 1999 Vol.1

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Ingrid Riedel: Weibliche Spiritualität bei Hildegard von Bingen 4 Veronica Gradl: Von Herz und Verstand - Wer wälzt un...

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Transpersonale Psychologie und Psychotherapie ist eine unabhängige Zeit­ schrift. Aus einem schulen-, kultur- und religionsübergreifenden Verständnis heraus bietet sie ein Forum zur Ver­ bindung von Psychologie und Psychotherapie und deren theoretischen Grundlagen mit spirituellen und transpersona­ len Phänomenen, Erfahrun­ gen und Wegen, Welt- und Menschenbildern. Sie dient dem Dialog der verschiede­ nen Richtungen, fördert integrative Bemühungen und leistet Beiträge zu Forschung und Theoriebildung.

Impressum: Herausgeber und Schriftleitung: Dr. med. Joachim Galuska, Fachklinik Heiligenfeld, Euerdorfer Str. 4-6, D-97688 Bad Kissingen, Telefon (09 71) 8 20 63 69, Fax (09 71)685 29. Prof. Dr. Edith Zundel, Ankerbachtalweg 4, D-53227 Bonn, Telefon (0228) 4423 62, Fax (0228) 44 3393.

Redaktionelle Mitarbeit: Ulla Pfluger-Heist, Tilsiter Str. 10, D-88267 Vogt, Tel. u. Fax (07529) 32 55

Wissenschaftlicher Beirat: David Boadella (spirituelle Körperpsychotherapie) Michael von Brück (vergleichende Religionswissen­ schaften) Stan Grof (Holotrope Therapie, Spirituelle Krisen) Willigis Jäger (Kontemplation und Meditation) Ingo Jahrsetz (Spirituelle Krisen) Ayya Khema (1923-1997) Walter von Lucadou (Parapsychologie) Pieter Loomans (Initiatische Therapie) Arnold Mindell (Prozeßorientierte Psychotherapie) Michael Plesse (Orgodynamik) Ursuia Reineke (Psychosynthese) Christian Scharfetter (Bewußtseinsforschung, Psy­ chopathologie) Theodor Seifert (Jungianische Psychologie) Ken Wilber (Transpersonale Psychologie).

Erscheinungsweise und Bezug:

© by Via Nova, Neißer Straße 9, 36100 Petersberg, Telefon /Fax: (06 61) 6 29 73 ISSN 0949-3174 Scan & OCR von Shiva2012

Die Zeitschrift erscheint zweimal jährlich. Bezugspreis DM 39,- zuzügl. Versandkosten. Das Abonnement gilt für das Kalenderjahr, die Bczugsdauer verlängert sich jeweils um 1 Jahr, wenn bis zum 30. Dezember keine Abbestellung vorliegt. Bestellungen bitte an den Verlag Via Nova. Mit der Annahme eines Beitrags zur Veröffentlichung überträgt der Autor dem Verlag alle Rechte, insbeson­ dere das Recht der weiteren Vervielfältigung und das Recht zur Übersetzung für alle Sprachen und Länder. Die Zeitschrift sowie alle in ihr enthaltenen einzelnen Beiträge und Abbildungen sind urheberrechtlich ge­ schützt. Für den persönlichen Gebrauch dürfen von Beiträgen oder Teilen daraus Einzelkopien hergestellt werden. Die Aufnahme der Zeitschrift in Lesezirkel ist nicht gestattet.

Hinweis: Diese Zeitschrift ist auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.

Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 5. Jahrgang, Heft 1, 1999

Editorial

3

Ingrid Riedel:

Weibliche Spiritualität bei Hildegard von Bingen

Veronica Gradl:

Von Herz und Verstand Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür?

15

Grüne Tara, Freie Frau Auf den Spuren einer buddhistischen Göttin

32

Der Weg des Herzens Frauen und das Weibliche im Sufismus

45

Die Bedeutung der Menstruation für den weiblichen Individuationsprozeß

58

Die Schöpfung nachgedichtet 900 Jahre Hildegard von Bingen

66

Wilfried Belschner, Joachim Galuska:

Empirie spiritueller Krisen erste Ergebnisse aus dein Projekt RESCUE

78

Lies Pilgram:

Scherenschnittmandalas und Gedichte

Sylvia Wetzel:

Brigitte Dorst:

Sybille Oelschläger:

Hans-Willi Weis:

4

2, 77,100

Buchbesprechungen

95

Tagungen

99

Die Autorenlnnen dieser Ausgabe

101

1

DU riefst mich beim Namen, als ich wehrlos in den Fesseln erstarrt war, allem Sinn entglitten. DU rührtest an meine Schulter, als die Verlassenheit mich lähmte, tränenlos und stumm. DU richtetest mich auf, als ich kriechend verkrümmte, unbefragt im Zufall verloren. DU riefst mich beim Namen, meintest mich glaubtest mir. Du das Leben.

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Dein Vertrauen erschloß mich wie einen Garten, gelockert ist der Herzensgrund, die Steine verlesen, die Erde bereit für die Lichtsamen, die Hoffnungsknospen. Winde ziehen und Wolken, die Zeit schwingt wie ein Klöppel in einer Glocke aus Grün, tanzt und tönt bis die Frucht gereift einen Stern in den Himmel sät.

Editorial Dieses Heft hat den Themenschwerpunkt „weibliche Spiritualität“, ein Begriff, der zum Nachdenken und zur Diskussion anregt und das auch soll. Was ist überhaupt vorstellbar unter „weiblicher Spiritualität“? Ist denn nicht eigentlich die Spiritualität jenseits der weiblichen und männlichen Identifikation zu verstehen f Beginnt sie nicht gerade dort, wo die Geschlechtlichkeit und die damit verbundenen Lebensthemen überschritten werden in die Dimension des GEISTES? Vielleicht ist eine „weibliche“ einfach die von Frauen gelebte Spiritualität? Aber dann müßte gesagt werden können, inwiefern sich diese unterscheidet von der von Männern gelebten; es müßte sich in der von Frauen gelebten Spiritualität etwas immer Wiederkehrendes finden lassen, das anders ist als bei den Männern. Es müßte Unterschiede geben im spirituellen Zugang, im Erleben, im Ausdruck von Frauen und von Männern, die erkennbar und benennbar sind. Oder geht es dabei mehr um Prinzipien, die in Frauen und in Männern existieren, unabhängig vom Geschlecht, wie es etwa im chinesischen Yin-Yang-Symbol ausgedrückt ist? Oder beides? Wir hielten es für dringlich, einen Raum für eine solche Diskussion zu schaffen und haben verschiedene Frauen angefragt, Beiträge für dieses Heft zu schreiben und Gedanken darüber zu formulieren, was sie unter „weiblicher Spiritualität“ verste­ hen. Auf diese Weise ist ein Reigen von Antworten zusammengekommen, die sich der Frage auf unterschiedlichste Weise zuwenden. Die Artikel von Ingrid Riedel und Veronica Gradl sind eigens für diese Ausgabe verfaßt worden, während es jene von Sylvia Wetzel und Brigitte Dorst bereits als Vorträge gab und sie für die Veröffentlichung hier nur überarbeitet werden mußten. Sybille Oelschlägers Beitrag lag uns bereits früher vor und hat seit einem Jahr auf dieses Schwerpunkt-Thema gewartet. Der Artikel von Hans-Willi Weis gesellte sich unversehens hinzu, einen konträren Akzent setzend, so daß es nun zwei recht kontrapunktische Beiträge über Hildegard von Bingen gibt, was wir im Sinne einer Kontroverse als durchaus bereichernd empfinden. Vielleicht läßt sich die eine oder der andere von Ihnen dadurch anregen, Stellung dazu zu nehmen. Ganz außerhalb des Themenschwerpunktes steht die Studie von Wilfried Belschner und Joachim Galuska über spirituelle Krisen, mit der dieses Heft abschließt. Wir wünschen Ihnen viel Freude und Anregung mit den Artikeln und den Sche­ renschnitt-Mandalas, die Lies Pilgram als sehr „gleichnishaft“ beschreibt: Sie schnei­ det ein Achtel des Kreises, und dann, sagt sie, sei es jedesmal unglaublich spannend, was dabei herauskommt, wenn es entfaltet wird. Ulla Pflüger-Heist

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Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1/99,4-14

Weibliche Spiritualität bei Hildegard von Bingen Ingrid Riedel, Konstanz

Zusammenfassung: Die Eigenart von Hildegards mystischer Schau liegt in der Ganzheitlichkeit ihres Welt- und Menschenbildes, mit der sie sich vom Dualismus asketischer Anschauungen unterscheidet, wie er zu ihrer Zeit vor allem vom Katharertum vertreten wurde, das Seele und Leib, Gott und Welt als unvereinbar auseinanderriß. Hildegards Mystik ist aktuell als die Spiritualität einer Frau, die aus der Imagination und Inspiration ihrer Psyche schöpft und dabei Bilder des Weiblichen in Gott wie das Bild der Sophia neu erschaut. Auf dem Hintergrund von Hildegards spiritueller Entwicklung, vor allem der Entfaltung ihrer audiovisuellen Begabung, wird auch ihr besonderes Selbstverständnis einsichtig. Schlüsselworte: Visionäre Schau, weibliche Spiritualität, erfahrungsbezogene Spiritualität, Verbundenheitsprinzip, Sophia - weibliches Gottesbild.

I. Die Entwicklung von Hildegards Spiritualität Schon bei dem kleinen Mädchen, dem zehnten Kind der Mechthild und des Hildebert von Bermersheim, zeigte sich eine eidetische und audiovisuelle Begabung, die das Mädchen, das auf dem elterlichen Rittergut zwischen Wiesen, Weinbergen, Wäldern und Flüssen, verbunden mit den Tieren, aufwuchs, nachdenklich machte und ihm auch manchmal schmerzhaft seine Besonderheit zeigte. So berichtet sie glaubwürdig: „In meinem dritten Lebensjahr sah ich ein so großes Licht, daß meine Seele erbeb­ te, doch wegen meiner Kindheit konnte ich mich nicht darüber äußern ... Und bis zu meinem 15. Lebensjahr sah ich vieles, und manches erzählte ich einfach, so daß die, die es hörten, sich sehr verwunderten, woher es käme und von wem es sei. Da wunderte ich mich auch selbst ... Darauf verbarg ich die Schau, die ich in meiner Seele sah, so gut ich konnte ... Da ward ich von großer Furcht ergriffen und wagte nicht, dies irgend jemandem zu offenbaren ... Wenn ich von dieser Schau ganz durchdrungen war, sprach ich vieles, was denen, die es hörten, fremd war. Ließ aber die Gewalt der Schau ein wenig nach, in der ich mich eher wie ein kleines Kind als nach den Jahren meines Alters verhielt, so schämte ich mich sehr, weinte oft und hät­ te häufig lieber geschwiegen, wenn es mir möglich gewesen wäre. Denn aus Furcht vor den Menschen wage ich niemandem zu sagen, was ich schaute.“ (Vita, S. 71 f.) Scham und Scheu erfüllen die Menschen, die Neues, ihnen selbst Offenbartes erfahren, was bis dahin noch nicht in ihre geistige Umwelt paßt. Hier aber wird die kindliche und dann auch die jugendliche Hildegard erschüttert und befremdet von 4

Weibliche Spiritualität bei Hildegard von Bingen

Erlebnissen, die sie selbst nicht einordnen und mit ihren nächsten Menschen auch nicht teilen kann. Sie erzählt weiter, daß sie mit ihrer Amme darüber zu sprechen versucht und diese auch befragt habe, ob sie denn nicht auch das entsprechende visionäre Bild sehe, das ihr selber unabweisbar vor Augen stand. Die Amme aber konnte nichts dergleichen wahrnehmen. Geradezu verstört darüber, daß sich diese Erfahrungen zwischenmenschlich nicht vermitteln ließen, erkannte Hildegard erst jetzt, daß ihre visionären Wahrnehmungen subjektives Erleben darstellten. Dabei standen sie ihr doch gleichsam objektiv gegenüber, mehr noch, sie begegneten ihr als etwas Transpersonales. Es ist mehr als begreiflich, daß Hildegard lange nicht wagte, etwas von ihren inne­ ren Schauungen niederzuschreiben, wagte sie doch zunächst mit keinem Menschen darüber zu sprechen. Was sie erfuhr, ging weit über die pubertätsbedingte und alle­ mal schamerweckende Erkenntnis hinaus, anders zu sein als andere. Über der Erfahrung spontaner Audiovisionen und den eigenständigen religiösen Bildern, die sie enthielten, lag damals ebenso leicht die Vorstellung von Besessenheit, die Verdächtigung, den Einhauchungen irreführender Luftgeister ausgesetzt zu sein, wie heute der Verdacht aufkäme, es handle sich bei diesem Stimmenhören und Bildersehen womöglich um psychotische Episoden. Wie heute eine Stigmatisierung durch psychiatrische Diagnose und Behandlung drohte, so damals die Stigmatisierung durch den Verdacht auf Ketzerei. Die junge Hildegard begann, vieles bei sich zu behalten und „im Herzen zu bewegen“. Sic selbst verstand ihre Erfahrungen spirituell. Es kam ihrer Nachdenk­ lichkeit und ihrer Introversion wahrscheinlich entgegen, daß ihre Eltern beschlos­ sen, dieses zehnte Kind - zumal das Zuvorgeborene gestorben war - als ihren „Zehnten“ Gott zu weihen und es schon vom achten Lebensjahr an einer geistlichen Erziehung zuzuführen, zunächst bei einer verwitweten, spirituell aufgeschlossenen Verwandten auf Burg Sponheim, wo sie mit einem gleichaltrigen Mädchen und der um sechs Jahre älteren Jutta von Sponheim in die Grundlagen religiöser Bildung ein­ geführt werden sollte. Hier lernte sie lesen und schreiben, lernte auch die entspre­ chenden Lektüren kennen, die zu einem spirituellen Leben hinführten. Die Mädchen waren, ihrem Alter entsprechend, religiös zu begeistern und mögen oft sehnsüchtig von dem hohen Bergfried auf Burg Sponheim aus, der heute noch steht, in die Ferne geblickt haben, wo irgendwo im Osten, wo die Sonne aufging, Jerusalem lag, die Heilige Stadt, wohin zu der Zeit die europäische Ritterschaft auf­ brach, dem Kreuzzugsgedanken folgend. Als die inzwischen eng zusammemgewach­ senen Mädchen schließlich den Wunsch äußerten, auf Pilgerschaft nach Jerusalem zu gehen, wurde den Eltern bange, so daß sie es noch als die eher realisierbare Idee ansahen, die spirituell ergriffenen Mädchen in eine Klause, die dem BenediktinerKloster auf dem Disibodenberg angeschlossen war, einziehen zu lassen. Jutta war damals immerhin zwanzig, die beiden Jüngeren vierzehn Jahre alt. Erst neueste Forschung an der Vita Juttas (Staab, 1998, S. 58-86) im vergangenen Hildegard-Jahr 1998 gelangte zu der Darstellung der Vorgänge um Hildegards Kindheit und Jugend, die ich soeben vertreten habe, und widerspricht damit älteren Darstellungen, die auf der legendär überwucherten Vita Hildegards beruhten, nach der bereits das achtjäh­ rige Mädchen nach dem Willen der Eltern zu der viel älter als sie war erscheinenden Meisterin Jutta auf den Disibodenberg gebracht und dort „eingemauert“ worden sei. 5

Ingrid Riedel

Die ältere Darstellung diente der Dramaturgie eines Heiligenlebens, dramatisierte den Vorgang und damit die Leidensgeschichte und Heiligenlegende der kleinen Hildegard. Auch die historische Wirklichkeit, wie wir sic heute sehen, war dramatisch genug, löste sie doch auch die vierzehnjährige Hildegard gänzlich aus den Zusam­ menhängen ihrer Familie und einer altersgemäßen Geschlechtsentwicklung in Begegnung mit jungen Männern, wenn auch die Freundschaft der drei Mädchen untereinander einiges aufgewogen haben mag. Diese Entwicklung vertiefte anderer­ seits die durchaus auch altersgemäße Introversion, zu der bei Hildegard der Ausbau ihrer reich entwickelten spirituellen Innenwelt gehörte, das intensivierte und inspi­ rierte Lauschen auf ihre Audiovisionen, die sie immer bewußter religiös interpre­ tierte. Mit 16 Jahren nahm sie den Schleier. Die kleine Frauenkommunität verstand sich wachsend als benediktinischer Konvent, der auch weitere Schwestern anzog. Hildegard nahm zusammen mit ihren Gefährtinnen täglich am lateinischen Chorgebet und am Gottesdienst der Benediktiner vom Disibodenberg teil, lernte mit der Liturgie zugleich Latein und die Bibel kennen, die Psalmen vor allem, aber auch das I lohe Lied, dazu die täglich gesungene Musik der Gregioranik. Die geistig hellwache Hildegard gewann unter den Mönchen des Disibodenbergs zugleich einen älteren Bruder und väterlichen Freund, Volmar, der sie, wie wir aus Hildegards vergleichsweise hohem Bildungsstand schließen können, in die Bibliothek der Abtei, also in die Werke der Kirchenväter und auch in die der damaligen griechischen Philosophie samt Naturkunde und Medizin einführte. Sowohl der Chorgesang mit seinen biblischen Texten wie auch die Einblicke in die damalige geistige Tradition formten Hildegards Geist und drangen tief in ihr Unbewußtes ein, so daß die ent­ sprechenden Vorstellungsbilder und Symbole - dazu sogar Bilder aus der jüdischen und islamischen Mystik - in ihren Audiovisionen wiederkehren, allerdings in ihr Eigenes hineinverwandelt. Immer mehr umkreisen ihre Meditationen und Imaginationen die Welt der Bibel und der Heilsgeschichte, die sieh schließlich zu einer selbsterfahrenen Schau verdichten, die auch die damalige kirchenpolitische Situation der Christenheit und deren Zukunft einschloß. Über ihre innere Schau teilte sie sich ausschließlich ihrem geistlichen Mentor Volmar, ihrer Meisterin Jutta von Sponheim und nach deren Tod, nachdem sie selbst zur Meisterin des Konvents erwählt worden war, noch einer jungen, vertrauten Mitschwester, Richardis von Stade, mit. Es war ein gewaltiger Einschnitt in Hildegard spiritueller Entwicklung, als sie sich in ihrem 42. Lebensjahr, von ihrer inneren Stimme gedrängt, entschloß, die Visionen der letzten Jahre und die aus ihr geschöpfte theologische Erkenntnis in einem Buch zu veröffentlichen, das sie Scivias, „Wisse die Wege“, nennen wollte. Es gab für sic als Frau ohne offizielle theologische Ausbildung, von der die Frau damals generell ausgeschlossen war, keinen anderen Weg, sich in der kirchlichen Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, als unter Berufung auf direkte Offenbarung durch den Heiligen Geist, wie sie ihr in den Visionen zuteil wurde. Damit wiederum aber war in der damaligen Zeit die Möglichkeit ihrer Verketzerung und Verdächtigung auf Besessenheit durch unheilige Geister mit eingeschlossen. Es erforderte außergewöhnlichen Mut, sich an solch eine Veröffentlichung zu wagen. Hildegard erfuhr sich hier - wie auch an anderen Stellen ihres Lebens - von schwe6

Weibliche Spiritualität bei Hildegard von Bingen

ren psychosomatischen Erkrankungen heimgesucht, Atemleiden, Augenleiden, Lähmungen, solange sie sich diesem inneren Auftrag verweigerte. Sie wurde, wie sie selbst mehrfach beschreibt, nur krank, wenn sie ihrer „weiblichen Schwäche“ nach­ gab. Öffnete sie sich der Aufgabe, die sic rief, allen Ängsten zum Trotz, so wurde die Somatisierung überflüssig. Diese Frau ist in einer Zeit, in der man kaum die Lebenserwartung von dreißig Jahren hatte, 82 Jahre alt geworden. Sie war hoch­ sensibel auf alle Fragen der inneren Authentizität und somatisierte, wenn sie sich verleugnete: doch gesundete sie sofort, wenn sie sich riskierte. Jedoch ehe sie etwas zu veröffentlichen wagte, schreibt sie einen überaus demüti­ gen und angstvollen Brief an den großen geistlichen Mentor des damaligen Europa, an den Abt und Mystiker Bernhard von Clairvaux. Hier lernen wir die Frau Hildegard kennen, die sich durchringen mußte zu ihrer eigenen Größe: „Verehrungswürdiger Vater Bernhard, wunderbar stehst Du da in hohen Ehren aus Gottes Kraft ... Ich bitte Dich, Vater, beim lebendigen Gott, höre mich, da ich Dich frage: Ich bin gar sehr bekümmert ob dieser Schau, die sich mir im Geiste als ein Mysterium auftat. Niemals schaute ich sie mit äußeren Augen des Fleisches. Ich, erbärmlich und mehr als erbärmlich in meinem Sein als Frau, schaute schon von mei­ ner Kindheit an große Wunderdinge, die meine Zunge nicht aussprechen könnte, wenn nicht Gottes Geist mich lehrte zu glauben ... Um der Liebe Gottes willen begehre ich, Vater, daß Du mich tröstest, dann werde ich sicher sein. Ich sah Dich vor mehr als zwei Jahren in dieser Schau als einen Menschen, der in die Sonne blickt und sich nicht fürchtet, sondern sehr kühn ist. Und ich habe geweint, weil ich so sehr erröte und so zaghaft bin. Gütiger Vater, Mildester, ich bin in Deine Seele hineinge­ legt, damit Du mir durch Dein Wort enthüllst, ob Du willst, daß ich dies offen sagen oder Schweigen bewahren soll. Denn große Mühen habe ich in dieser Schau, inwie­ weit ich das, was ich gesehen und gehört habe, sagen darf. Ja, bisweilen werde ich weil ich schweige - von dieser Schau mit schweren Krankheiten aufs Lager nieder­ geworfen, so daß ich mich nicht aufrichten kann.“ (Briefwechsel, S. 25 f.; vergl. Vita, S. 133 f.) Bernhard antwortet zurückhaltend, hat er doch noch keinen rechten Einblick in Hildegards Werk, das eben entsteht, aber doch ermutigend: „Wir freuen uns mit Dir über die Gnade Gottes, die in Dir ist... Im übrigen, was sollen wir noch lehren oder mahnen, wo doch schon eine innere Unterweisung besteht und eine Salbung über alles belehrt...? (ebd.) In aller Öffentlichkeit bekannte sich Bernhard von Clairvaux zu Hildegard auf der Synode zu Trier (1147-1148), wo er veranlaßte, daß vor den Bischöfen des Reiches und dem Papst aus Hildegards entstehendem Scivias vorgelesen wurde, und das für Hildegard sehr wichtige Urteil entstand, daß ihre Visionen dem rechten, dem Heiligen Geist entstammten. So vollendet Hildegard schließlich nach einer Niederschrift, die zehn Jahre in Anspruch nahm, 1141-1151, ihr erstes Werk, Scivias, unter dem ständigen, sensiblen und tatkräftigen Beistand ihres Vertrauten, des Magisters Volmar, und schließlich auch der adligen, jungen Mitschwester Richardis, mit der sie eine so tiefe Freundschaft verband, daß sie die junge Frau nicht mehr loslassen wollte, sondern sie bedrängte zu bleiben, als diese eines Tages einem Ruf, selbst Äbtissin in Bremen zu werden, folgte. Hildegard, die Einsame in ihrer Größe, kannte tiefe Bindungen, 7

Ingrid Riedel

kannte die Faszination des Eros; Trennung Verlust - durch den Tod schließlich bei­ der Vertrauter - konnte sie nur mit großer Mühe akzeptieren und verkraften, indem sie die Trauerarbeit in ihre Spiritualität aufnahm. In verwandelter Gestalt findet sich Richardis in ihrem Singspiel im „Brautgemach des Königs“ wieder. Seit Hildegard zu dem stand, was in ihr lebendig war, gewann sie ungeheure Ausstrahlung und Anziehungskraft. Ihr Konvent wuchs zusehends, sprengte die räumlichen Möglichkeiten der Klause bald, so daß Hildegard - nicht ohne schweren Konflikt mit dem Disibodenberger Männerkloster, das die berühmt gewordene Frau nicht mehr wegziehen lassen wollte - zunächst am Rupertsberg ihr eigenes Kloster erbauen ließ, zu dem später auch noch das Kloster Eibingen kam. Zarteste Seiten kommen bei dieser Frau mit großer Tatkraft zusammen, wenn wir nur bedenken, was es im 12. Jahrhundert bedeutete, eine Abtei erbauen zu lassen, was zunächst mit der Waldrodung begann. Als Äbtissin und Seelsorgerin stand sie ihrem Frauen­ konvent vor, dazu war sie Beraterin - auch medizinischer Art - für zahlreiche Menschen im Umkreis, auch stand sie im Briefwechsel mit halb Europa, wo man sich vom Bischof bis zur einfachen Frau seelsorgerlichen Rat bei ihre holte. Viele Klostergemeinschaften suchten bei ihr so etwas wie Supervision in ihren Gruppen­ spannungen. Nachweislich hatte sie Kontakt zu Kaiser Friedrich Barbarossa, dessen Regierungsgeschäfte sie kritisch kommentierte, was er offenbar akzeptierte, indem er ihrem Kloster einen Kaiserlichen Schutzbrief ausstellen ließ, der ihr bei den zahl­ reichen Lokalkriegen jener Zeit sehr zustatten kam. An der Geistesklarheit und kommunikativen Kompetenz dieser Visionärin kann kein Zweifel bestehen. Auch verwechselte sie ihr menschliches Ich nie mit den trans­ personalen Bildern und Gestalten, die ihr in ihrer Schau begegneten, eine Unterscheidungsfähigkeit, die bis heute als ein Kriterium dafür gilt, daß eine Psychose ausgeschlossen ist. An sich ist ja die visionäre Begabung eine natürliche Gabe, zwar selten, aber doch einer nicht unerheblichen Anzahl von Menschen gege­ ben. Erst Inhalt und Interpretation machen sie zu dem Bedeutsamen, was Hildegards Visionen über die Bedeutung für ihre Person hinaus sind. Visionen kön­ nen, wie alle menschliche Erfahrung, auch egozentrisch und inflationär verstanden und gebraucht werden. Hildegard blieb Visionärin von ihrer Jugend bis ins hohe Alter und vermochte von der Mitte ihres Lebens an ihre Schau durch die Niederschrift ihrer ethischen, medizinischen und auch musikalischen Werke einer breiten Öffentlichkeit zu vermitteln. In ihren Siebzigerjahren schrieb sie ihr bedeutendstes Werk nieder, das über divinorum operum, eine einzige gewaltige Vision des Kosmos und der Stellung des Menschen, des Mikrokosmos, als schöpferisches Glied im Ganzen, mit allen Geschöpfen und Schöpfungskräften, vor allem aber mit dem Schöpfer selbst auf ein­ zigartige Weise verbunden und vernetzt. Aus dieser Stellung des Menschen in kosmischer, geschwisterlicher Nachbarschaft leitet sie ihre Ethik und auch ihre Gesundheitslehre ab. Spirituell aufgeschlossene Frauen von heute betrachten Hildegard von Bingen als eine ihrer frühen Wegweiserinnen: Als ich im Herbst dieses Jahres den mutmaß­ lichen Ort der Klause auf dem Disibodenberg besuchte, in die die 14jährige Hildegard damals einzog und wo sie später am „Scivias“ zu schreiben begann, da überraschte mich ein frisch gepflanzter Rosenstock am Mauerwerk und ein neu 8

Weibliche Spiritualität bei Hildegard von Bingen

angelegtes Labyrinth auf dem Rasen. Das seien Frauen gewesen, sagte man mir, die sich Hildegard, als einer „Schwester der Weisheit“, bis heute verbunden fühlten, bis heute - oder heute wieder ganz neu?

II. Hildegards weibliche Spiritualität Was ist „weibliche Spiritualität“? Vor allem anderen ist es die Spiritualität von Frauen, von Frauen in all ihrer Unterschiedlichkeit. Ob es dabei doch etwas Charakteristisches gibt, das bei vielen spirituellen Frauen wiederkehrt, können wir vielleicht herausspüren oder wenigstens präziser erfragen, nachdem wir uns zunächst einmal auf die Spiritualität einer Frau wie Hildegard von Bingen besinnen. Ich versuche, zunächst einmal die wichtigsten Züge ihrer Spiritualität zu umreißen: Sie ist schöpfungsbezogen, schöpfungsbejahend und unterscheidet sich damit von jeder weltflüchtigen und dualistischen Spiritualität, wie sie in ihrer Zeit vor allem von den Katharern, den „ganz Reinen“, wie sie sich nannten, vertreten wurde. Sie ist lebens- und leibbejahend und unterscheidet sich damit von der asketischen Spiritualität, die den Leib durch Kasteiung und Abtötung zu überwinden suchte, eine asketische Spiritualität, die auch Hildegards Meisterin Jutta von Sponheim nicht fremd war, ebenso wie Hildegards jüngerer Briefpartnerin, Elisabeth von Schönau, der gegenüber Hildegard mehrfach das gute Maß, das Maßhalten und die „Discretio“, die Unterscheidungsfähigkeit zwischen Zuträglichem und Unzuträg­ lichem betont. Hildegards Spiritualität ist seelenbezogen und seelenbejahend und tritt auch gegenüber allem, was die psychische Seite des Menschen manipulieren und überstra­ pazieren könnte, sei es von seiten des Geistes oder des Körpers her, durch übertrie­ bene spirituelle Übungen etwa, für das gute Maß und die Discretio ein. So empfängt sie ihre Schau, wie sie mehrfach betont, „einzig in meiner Seele, mit offenen leib­ lichen Augen, so daß ich dabei niemals die Bewußtlosigkeit einer Ekstase erleide, sondern wachend schaue ich dies, bei Tag und Nacht“. (Briefwechsel, 226 f.) Alle Exaltiertheit und alles Gieren nach psychischen Ausnahmezuständen ist ihr fremd. Doch ist die Seele, die Psyche, für sie das wichtigste Empfangsorgan für Botschaften, Bilder und Erfahrungen aus der Transzendenz, die sie unbedingt ernst nimmt. So ist denn ihre Spiritualität erfahrungsbezogen, indem sie nichts einfach aus der Tradition übernimmt, zugleich aber auch die religiöse, die gesellschaftliche wie auch die medizinisch-therapeutische Tradition ihrer Zeit ernst nimmt, nicht einfach ablehnt, sondern alles Überlieferte ins Licht der eigenen spirituellen Erfahrung hält, es darin prüft und evtl, neu versteht. Auch spirituelle Neuerfahrungen, die noch nicht in die Tradition ihrer Zeit passen und die sie deshalb auch ängstigen, teilt sie gewissenhaft und mutig in ihren Schriften mit. Diese Erfahrung aber macht sic in ihrer Seele, in ihrer inneren Schau des „Lichtes“: „Und wie Sonne, Mond und Sterne in Wassern sich spiegeln, so leuchten mir Schriften, Reden, Kräfte und gewisse Werke der Menschen in ihm auf.“ (Briefwechsel, 226 f.) Hildegards Spiritualität gründet und vermittelt sich in bildhaft-symbolischer Schau und der entsprechenden Sprache, im Unterschied zu solcher Spiritualität, die Imagination und Bild geradezu zu überwinden sucht, ich denke dabei an die Zen­ buddhistische Spiritualität, aber auch an diejenige Meister Eckarts. So verdanken wir 9

Ingrid Riedel

ihrer imaginativ-visionär gewonnenen theologischen Erkenntnis vor allem neue Bilder und Symbole, ein neues Menschen- und Weltbild, aber auch ein neues, um die weiblichen Nuancen ergänztes Gottesbild. Hildegards theologisches Denken ist demgemäß niemals lehrhaft-abstrakt, sondern immer beschreibend-konkret, bild­ haft. Es ist intuitiv, assoziativ und verleugnet seinen imaginativen Ursprung nie. Hildegards Spiritualität gründet und vermittelt sich zugleich in auditiven Erfahrungen, Hörerfahrungen von Wort, Klang und Musik. Sie hört „das Licht“ sprechen; hört die Elemente der Welt, Feuer, Luft, Wasser und Erde, vor Gott klagen und den Menschen anklagen, daß er sie verunreinigt und aus ihren schöpfungs­ gemäßen Bahnen geworfen habe: „Wir, die Elemente, die Lüfte, die Wasser, wir stin­ ken schon wie die Pest, wir vergehen vor Hunger nach einem gerechten Ausgleich“. (VM III, 2. 133) Sie hört aber auch das Universum tönen in der nicht irritierbaren Musik der Sphären und der Engel. Hildegards Spiritualität ist eine zutiefst musikali­ sche, aus innerem Hören geschöpfte, die sich in Gedieht und Lied ausdrückt, auch in dem „Spiel der Kräfte“, der „Ordo virtutum“, dem ersten deutschen Singspiel über­ haupt, indem es um das Ringen der Gotteskräfte und deren Gegenkräfte um die Seele des Menschen geht. Ein alles durchwirkender Zug in Hildegards Spiritualität, der mir nun allerdings als ein eminent weiblicher erscheint, ist der zu einer verbindenden und vernetzenden Schau aller Kräfte und Gegenkräfte, die das Universum in dialektischer Spannung Zusammenhalten und denen der Mensch ausgesetzt ist, passiv und aktiv, als Mit­ erleidender, aber auch berufen zu verantwortlicher schöpferischer Mitgestaltung. Dieser Weltschau Hildegards widerspricht nichts tiefer als der Dualismus der Katharer, die Gott und Welt - wie zuvor schon Seele und Leib - als unvereinbar aus­ einanderreißen und die Welt als widergöttlich und verdorben preisgeben, nicht mehr bereit, auch nur ein einziges weiteres Kind in diese Welt zu setzen, nicht mehr bereit, zu zeugen und zu gebären. Hildegard hingegen, obgleich Nonne und Äbtissin eines Benediktinerinnen-Konvents, bejaht mit der Schöpfung auch Sexualität, Zeugung und Geburt und sieht die Menschheit samt dem Kosmos in einem großen Prozeß des Werdens, der spirituellen und substantiellen Weiterentwicklung, der alle Glieder „seines schönen Leibes“, des Leibes Gottes also, umfaßt. In einigen ihrer großartig­ sten und neuartigsten visionären Bilder schaute sie das Universum als einen einzigen gewaltigen Organismus, als den „Leib Gottes“, im Rahmen der christlichen Lehre eine kühne Vorstellung! Hildegard kennt Gottes Liebesfeuer als kosmische Kraft, aber sie kennt auch Gottes „Dunkelfeuer“. Das dem menschlichen Erleben und der menschlichen Perspektive Dunkle fällt nach Hildegard nicht aus Gottes allumfassenden Energie­ feld heraus, kann nicht herausfallen, da es von einem größeren Kraftfeld umspannt und getragen ist. Dieser kosmischen Verbundenheit aller Kräfte entspricht nach Hildegards Schau auch die Stellung des Menschen im Universum: Alle Kräfte in ihm und um ihn herum, auch die zunächst widerständigen und widerstrebenden, rufen ihn zur verantwortlichen Verbindung mit ihnen auf. Ein weiteres noch: In Hildegards Spiritualität spielt „Schönheit“ eine große Rolle. Sie unterscheidet sich von solchen Formen der Spiritualität, die sich mit dem Entstellten, dem Leiden, dem Häßlichen identifizieren und davon faszinieren lassen, wie es so manche spirituelle Strömungen der späten Gotik tun mit ihren extrem ent10

Weibliche Spiritualität bei Hildegard von Bingen

stellenden Darstellungen des leidenden und gekreuzigten Christus (Passionswege und Kruzifixe). Für Hildegard und ihre Spiritualität ist Schönheit eine Erscheinungsweise und Offenbarungsweise des Göttlichen. So spricht denn Frau Weisheit, die Sophia, in einer von Hildegards Visionen über sich selbst: „Ich werde mich in schöner Gestalt zeigen, glänzend wie Silber; denn die Gottheit, die ohne Anbeginn ist, strahlt in gro­ ßer Herrlichkeit“. (WM X, 1. 281) Hildegards Kosmosschrift, das Spätwerk der Siebzigjährigen, beginnt mit folgen­ der Vision: „Und ich schaute ... inmitten der südlichen Lüfte ein wunderschönes Bild. Es hatte die Gestalt eines Menschen. Sein Antlitz war von solcher Schönheit und Klarheit, daß ich leichter in die Sonne hätte blicken können als in dieses Gesicht“. (WM I, 1.25) Aber auch die durch den Menschen gestörte Schöpfung soll nach Hildegard zuletzt wieder in ihre volle Schönheit gelangen: „Wenn dies alles geschehen ist, dann werden die Elemente in höchster Herrlichkeit und Schönheit aufleuchten. Alle Hüllen der Schwärze und des Schmutzes sind von ihnen genommen“. (WM IX, 3. 269) Es dürfte sich gewiß auch um eine weibliche Komponente in Hildegards Spiritualität handeln, wenn sie es unentbehrlich findet, auch die schöne Kleidung und den edlen Schmuck ihrer visionären Gestalten immer wieder genau zu beschrei­ ben. Kleidung ist für sie nicht etwas Äußerliches, sondern Ausdruck der Seele, der inneren Ausstrahlung und deren Gestaltung. So vermutet sie, daß selbst die Verstorbenen sich manchmal zurücksehnen nach ihrem Sein im Körper, nach „ihrem geliebten Kleid“. Das sagt diese Frau in die Jenseitssehnsucht des Mittelalters hinein! So schaut und schildert sie selbst die göttlichen Gestalten, die ihr erscheinen, vom Kopf bis zu den Füßen in all ihrer Schönheit: „Ihr Gesicht leuchtete wie die Sonne, ihre Kleider glänzten wie Purpur; um den Hals trug sie ein goldenes Band, mit köstlichen Edelsteinen geschmückt. Sie hatte Schuhe an, die Blitzesleuchten ausstrahlten“. (WM X, 1. 281) Kein Wunder, daß Hildegard bei dieser Einstellung zur Schönheit auch ihre Mitschwestern an den hohen christlichen Festen nicht in Sack und Asche sehen wollte: Sie gingen geschmückt zum Gottesdienst, mit offenem Haar, bekränzt und in farbigen Schleiern. Eine Idee Hildegards, die ihr von einer etwas säuerlichen Nachbaräbtissin im noch erhaltenen Briefwechsel stark angekreidet wurde. Hildegard aber fand, daß die Bräute Christi bei der Begegnung mit ihrem Bräutigam nicht in Sack und Asche gehen könnten. Hildegards Spiritualität ist nicht autistisch, ist nicht Selbstgenuß wie bei mancher späteren Mystikerin, sondern immer bezogen. Ihre Spiritualität hat eine therapeuti­ sche Komponente. Ihr spirituelles Wissen ist engstens mit einem Heilungswissen verwandt, das sie dem leidenden Menschen zuwendet. Ein bedeutender Teil ihrer Schriften ist therapeutischen Themen gewidmet. Ihr bedeutendstes therapeutisches Thema aber scheint mir das von der göttlichen Grünkraft, der nobilissima viriditas zu sein, die alles durchwirkt und alles verbindet, wie sich in der Farbenergie des Grün bereits die Lichtkraft des Himmels, das Goldgelb der Sonne, mit der Tiefe des Irdischen, dem Blau des Wassers, verbindet. Heilung besteht bei Hildegard im Wiederanschluß des abgesonderten Menschen an seine göttliche Quelle, das Grün. So gelang ihr die Heilung einer psychotischen Frau im Ostergottesdienst, wo diese 11

Ingrid Riedel

Frau mit dem Osterwasser und dem Osterfeuer in Berührung kam und dazu in eine lebendige, mittragende Gemeinschaft, ihre Schwesternschaft, eingebettet war. Dies ist ein Bericht, der auch nach heutigen therapeutischen Erkenntnissen der Heilung einer Psychotikerin zuträglich gewesen sein könnte. Das Therapeutikum ist für Hildegard der Wiederanschluß des Menschen an eine spirituell verstandene Natur mit ihrer Grünkraft und an die spirituell verstandene Menschengemeinschaft mit ihrer Kommunikationskraft. Das Therapeutische besteht in der Wiederverbindung eines jeden, einer jeden mit der eigenen Spiri­ tualität und damit der Ermöglichung transpersonaler Erfahrung, dem Zugang zur Quelle der Grünkraft. Der diesen Quellen geöffnete und hingegebene Mensch findet zugleich Anschluß an die für Hildegard im Bild einer „mater medicinae“ erscheinende „virgo viridissima“, der allergrünsten Jungfrau Maria. Hildegards Spiritualität enthält Eros, entspringt letztlich ihrer Erfahrung mit dem göttlichen Liebesfeuer, das alles durchwaltet: „Von der Tiefe bis hoch zu den Sternen durchflutet Liebe das All“, so dichtet und singt sie in einer ihrer Hymnen. Ihr spiritueller Eros erschöpft sich nicht in einer persönlichen Liebesmystik mit Jesus, wie es in der späteren Frauenmystik des Mittelalters oft der Fall war und wie es oft als ein Charakteristikum von Frauenmystik überhaupt gesehen wurde. Hildegards Mystik und ihr spiritueller Eros umfaßt in einer überpersönlichen Weise die ganze Schöpfung, von der Heilpflanze bis zum Tier, vom Mitmenschen bis zu den Mitgestirnen. Ihr Eros geht nicht einfach nur zu Gott, zum Göttlichen hin, son­ dern sie liebt mit Gott zusammen, liebt die Schöpfung, geht wie Gottes Liebe zur Schöpfung und zum Geschöpf zurück. Deshalb umfaßt Hildegards Spiritualität auch die Gesellschaft und die Politik. Hildegard nimmt, unter Rückbezug auf ihre Schau, auch Einfluß auf kirchenpoliti­ sche und staatspolitische Vorgänge ihrer Zeit, zum Beispiel während des gewissens­ verwirrenden Investiturstreits, bei dem Kaiser Friedrich Barbarossa im Machtkampf mit dem Papsttum mehrere Gegenpäpste einsetzt: In mehreren Briefen und vermut­ lich auch persönlichen Treffen redet sie ihm ins Gewissen. Sie nimmt in öffentlichen Reden Stellung zu kirchenpolitischen Mißständen und ficht noch gegen Ende ihres Lebens unter Inkaufnahme großer persönlicher Nachteile eine kirchenrechtliche Streitsache durch, daß ein ehedem unter Kirchenbann stehender, aber in der Sterbestunde nach der Beichte losgesprochener Sünder in geweihter Erde ruhen dür­ fe, was immer er zuvor getan habe. Wie immer man heute zu ihren kirchenpoliti­ schen Entscheidungen von damals im einzelnen stehen mag, charakteristisch für Hildegards weibliche Spiritualität scheint es gewesen zu sein, daß sie die Ein­ mischung in politische Vorgänge nicht aus-, sondern einschloß, als Mitwirkung an der Entwicklung von Gottes Welt. Im Alterswerk, dem liber divinorum operum, dem Buch der göttlichen Werke, entfaltet sich ihre weibliche Spiritualität auf besonders anschauliche Weise, wenn wir 12

Weibliche Spiritualität bei Hildegard von Bingen

das weibliche Prinzip ihrer Spiritualität in dem Verbundenheitsprinzip, in dem Prinzip kosmischer Nachbarschaft alles Lebendigen sehen. Hildegards lebenslange Erfahrung mit Schwesterlichkeit innerhalb einer Frauengemeinschaft mag dem einen empirischen Hintergrund gegeben haben. In der Rückbindung der unverhei­ rateten, jungfräulichen Frau, der „Gottesbraut“, an Gott, wie es die Nonne verkör­ pert, lag für sie - für die auch Geschlechtlichkeit und Ehe einen hohen Stellenwert hatten - doch auch ein grundsätzliches Befreiungsprinzip für die Frau, ein Modell gleichsam auch für die Verheiratete, daß nämlich die Frau ihre Identität nicht letzt­ lich als eine vom Mann und dessen Zuwendung abgeleitete verstehen müsse, son­ dern daß sie eine eigene, eine gottunmittelbare Identität habe, als freie Frau. Darin liegt eine wichtige Komponente von Hildegards weiblicher Spiritualität. Hildegards Kosmosschrift schenkt uns zugleich ein wunderbares weibliches Bild des Göttlichen wieder, das, zwar seit den späten Schriften des Alten Testaments, der Hebräischen Bibeln, bekannt, aber in der westlichen Christenheit - anders als in der östlichen - bis dahin wenig beachtet und konkretisiert worden war: das Bild der Sophia, der Weisheit. In Hildegards letzter Vision, die sie in ihrer Kosmosschrift schildert, erscheint sie als die alles erfüllende Mitte des Weltenkreises, eine wunderschöne Frauengestalt, angetan mit einem purpurnen Seidenmantel über weißem Seidenkleid getragen (in der vorletzten Vision und auch in der Buchmalerei zur letzten erscheint dieser Mantel in Grün, Hildegards edelster und heilsamster Farbe). Das Purpur ist die symbolische Farbe für den tiefsten Liebesklang, und es entspricht Hildegards letzter Schau, in der die göttliche Weisheit und die göttliche Liebe eins sind. Weisheit ist für Hildegard die weibliche Kraft, die die Schöpfung in Liebe zusammenhält, die das lie­ bevolle Zusammenwirken aller in allem begründet. Sophia, Weisheit, ist für Hilde­ gard die Partnerin Gottes, seine Shakti - wie man in Indien sagen würde -, seine Entsprechung also, seine Geliebte. Die zugehörige Buchmalerei, vielleicht von einer Frau gemalt, zeigt die Sophia mit lauschendem Ohr und weit geöffneten Augen, wie sie sich aus der Mitte des Universums dem Betrachter zuwendet. Zwei unbeschrie­ bene Tafeln in der Hand, wie ein neuer weiblicher Moses, der wohl ein neues Lebensgesetz verkündet. Wenn diese Gestalt in der Christenheit damals Fuß gefaßt hätte und in unserer Spiritualität heute Fuß fassen könnte, so hätte dies, wie ich meine, weitreichende Konsequenzen für unser Weltbild, unser Frauenbild und nicht zuletzt für unser Gottesbild. Der Schlußvers einer Hymne Hildegards, einer Anrufung der heilenden Kraft des Geistes, kann zuletzt noch einmal verdeutlichen, aus welchem Geist sie schaut und lehrt: „Du auch führest den Geist, der deine Lehre trinkt, ins Weite. Wehest Weisheit in ihn, und mit der Weisheit die Freude.“ (Lied XIX, in Hildegard von Bingen, Lieder)

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Ingrid Riedel

Summary: Hildegard’s holistic world-view and her holistic view on the human being distinguish her mystic visions from the dualism of the ascetic views prevalent in her times especially in the Catharist movement where soul and body, God and the world were seen as absolutely separate and incompatible with each other. Today Hildegard’s mysticism is very much up to date since it is the spirituality of a woman who draws on her psyches imagination and inspiration re-imagining female images of God as that of Sophia. On the background of Hildegard’s spiritual development, especially the unfolding of her audio-visual gifts, the specific way she sees herself becomes clear. Key words: mystic vision, female spirituality, experiential spirituality, principle of relation, Sophia female image of God.

Literatur: I. Werke Hildegards von Bingen Vita: Das Leben der Hl. Hildegard von Bingen, ein Bericht aus dem 12. Jh., verfaßt von den Mönchen Gottfried und Theoderich, aus dem lat. übers, und kommentiert von Adelgundis Fuhrkötter, Salzburg 1972. Briefwechsel: Hildegard von Bingen, Briefwechsel. Nach den ältesten Handschriften übersetzt und erläu­ tert von Adelgundis Fuhrkötter, Salzburg 1965,19902. MV: Hildegard von Bingen, Der Mensch in der Verantwortung. Das Buch der Lebensverdienste, über vitae meritorum, nach den Quellen übersetzt und erläutert von Heinrich Schipperges, Salzburg 1972; 1985’. WM: Hildegard von Bingen, Welt und Mensch, De operatione dei. Aus dem Center Kodex übersetzt und erläutert von Heinrich Schipperges, Salzburg 1965. Lieder: Hildegard von Bingen, Lieder. Nach den Handschriften hrsg. von Pudentiana Barth, Immaculata Ritscher und Joseph Schmidt-Görg, Salzburg 1969. Scivias: Hildegard von Bingen - Wisse die Wege. Nach dem Originaltext des Illuminierten Rupertsberger Kodex, ins Deutsche übertragen von Maura Böckeler, Salzburg 1954; 19878. II. Literatur zum Werk Hildegards Staah, F. (1998): Aus Kindheit und Lehrzeit Hildegards. In: E. Förster (Hrsg.), Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag. Herder, Freiburg, Basel, Wien, S. 58-86. Riedel, I. (1994): Hildegard von Bingen: Prophetin der kosmischen Weisheit. Kreuz, Stuttgart. Dr. Dr. Ingrid Riedel Sackgasse 1 78464 Konstanz

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Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1/99,15-31

Von Herz und Verstand Wer wälzt uns den Stein von des Grabes Tür? Veronica Gradl, Innsbruck

Zusammenfassung: Die menschliche Spiritualität ist nicht fertig - in einem kom­ plizierten Verwandlungsprozeß muß sie um „das Weibliche“ ergänzt und als ein grö­ ßerer „SYMBOL-Verstand“ in uns wiedergeboren werden. Dieser Wandlungs­ prozeß ist religiöser Natur - bzw. das spirituelle Leben ist das grundsätzliche Thema der Religion. Insbesondere die jüdisch-christliche Religion entwirft in den Erzäh­ lungen, Gleichnissen und Symbolworten der Bibel ein anschauliches Vorausbild von letzter Genauigkeit. Darin wird (Wort-)Bild, „was spirituell ist und was es nicht ist“. Schlüsselworte: Weibliche Seelenqualitäten, Strukturniveau, Bewußtseinsakti­ vität „ich“, Licht und Irrlicht, Entwicklungsgeschichte der Spiritualität: männliche Entwicklungsreihe und weibliche Entwicklungsreihe. Das Thema „Spiritualität“ ist hoch aktuell und ziemlich schwierig. Vor allem dort, wo unübersehbar wird, wie tief und grundsätzlich es mit „weiblichen“ SeelenQualitäten verknüpft ist, mit dem Irrationalen, mit Anmutung und Schau, mit WertEmpfinden, mit Liebe. Es tut sich da ein seltsamer Randbereich des Verstandes auf, der ganz offenbar ein Zwielicht-Bereich ist, eine Dämmerzone voller Täuschungen, in der deutliche Wahrnehmung und genaue Unterscheidung schwierig sind. Dort treiben Intuition und Fühlen geisterhafte Spiele mit Halbverstandenem und lassen einfallsreich die heimlichsten Wünsche mit allen verborgenen Ängsten zu Trug­ gebilden gerinnen. Häufig sehen diese so überzeugend aus, daß wir sie fraglos für bare Münze nehmen. Wunderlich verwechseln wir das Außergewöhnliche mit dem Unmöglichen und das Selbstverständliche mit dem Bedeutungslosen. Genau wie es die Märchen beschreiben, grenzt das Elfenreich direkt und unbegreiflich an die Wirklichkeit. Irrlichter locken ins Bodenlose, als gingen dort sichere Wege. Aber wer glaubt schon an Elfen? Und wer es doch tut, wie glaubt er an sie? Im Zwielicht dieses Randbereiches ist der Verstand so täuschbar wie unsere Augen bei sinkender Dunkelheit - nur weiß er es nicht. Deshalb wird auch nicht sichtbar, wie überaus notwendig eine saubere Unterscheidung der Erscheinungen nach Irrtum und Einsicht wäre. Das Feld der spirituellen Suche ist in rascher Erweiterung begriffen: Außer dem Weltfrieden ist kaum ein anderes Thema ähnlich brisant - kein Wunder, da diese bei­ den Themen, die für uns alle von höchster Bedeutung sind, unmittelbar miteinander Zusammenhängen: Weltfrieden, ganz außen für alle, scheint ohne Spiritualität ganz 15

Veronica Gradl

innen im Einzelnen nicht erreichbar - und umgekehrt scheint Spiritualität ganz innen im Einzelnen nicht wirklich zu werden, wenn ihm der Weltfrieden ganz außen für alle nicht zum Anliegen wird. Die Spannweite des Problems ist derart groß, daß eine Anfälligkeit für die elfenhaften Verlockungen in irreale Zauberreiche und Zauberkräfte nicht verwundern kann: die heimliche Angst ist riesengroß, das Gefühl der Ohnmacht niederdrückend. Beide bewirken, daß die verborgenen Wünsche nach Sicherheit zu Vätern von oft ziemlich unvernünftigen Gedanken werden.

Innere und äußere Wirklichkeit Dringlich würde sich also die Aufgabe stellen, im wogenden Heer unserer Vorstellungen Schein und Sein zu unterscheiden - ganz genau so, wie wir es auf dem weiten Feld der Realitätsbeobachtung mit dem Heer der äußeren Erscheinungen auch haben lernen müssen. In bezug auf die äußere Welt war solche Unter­ scheidungsanstrengung ziemlich erfolgreich: so sind die Natur- und Geistes­ wissenschaften entstanden. Und diese Wissenschaften haben uns unschätzbar viele (lebenswichtige) Kenntnisse über das Sichtbare gebracht: über die Welt, in der wir sind, über die Dinge und ihre Verhältnisse zueinander, über uns selber und über die Zeit, über die gestaltende Kraft von Handlungen und die Auswirkungen von Wirkungen. Aber vielleicht (oder vielmehr gewiß!) ist es damit nicht genug. Wir brauchen das Gegenstück dazu genauso dringend: eine „Geist- und Natur­ wissenschaft“, die uns ebenfalls unschätzbar wichtige Kenntnisse über das Unsichtbare vermitteln muß - lebenswichtige Kenntnisse über die innere Welt, die in uns ist, und wie wir in ihr sind, und wie wir in ihr, mit ihr in uns, in der äußeren Welt sind. Das sind Kenntnisse über das Sein-in-Beziehung und die existentielle Bedeutung der Intention, über die Weisheit der Zeit und die Geistesgegenwart in der Ohnmacht, über die Prozeß-Natur der Gedankendinge und die unaufhaltsamen Wirkungen alles Bewirkens.

Gibt es „weibliche Spiritualität“? Mein Anliegen ist es zu skizzieren, inwiefern das, was man „weibliche Spiri­ tualität“ nennen könnte, mit solcher Geist- und Natur-Wissenschaft des Unsicht­ baren zu tun hat, damit nämlich, daß der Geist zu unserer Natur gehört und nicht etwa „aus ihr hinausweist“ (s. Neumann 1997, S. 305-314, v.a. S. 312) — was wiede­ rum bedeutet, daß aus der sorgfältigen Unterscheidungsarbeit im Elfenreich der inneren Wahrnehmung dringlich die lebensnotwendigen Kenntnisse über Schein und Sein zu gewinnen sind, damit wir uns nicht unversehens aus der Realität hinaus ins Bodenlose verlockt finden. Genaugenommen ist es ja ein Widerspruch in sich selbst, „männliche“ von „weib­ licher“ Spiritualität zu unterscheiden, weil die anspruchsvolle Gabe Geist uns als Männern und als Frauen gleichermaßen gegeben ist und also unterschiedslos für uns alle als Wachstums-Aufgabe gestellt ist. Trotzdem scheint es durchaus sinnvoll, dar­ über nachzudenken, ob nicht „das Weibliche“ (und die Frauen) einen wesentlichen, überraschenden und tatsächlich spezifisch weiblichen Beitrag zu unser aller mensch­ licher Spiritualität zu leisten hat. 16

Von Herz und Verstand

Daß Spiritualität das „Weibliche“ berührt, ist altbekannt, und doch war „der Geist“ durch viele Jahrhunderte betont „männliche Domäne“, so sehr, daß es zeit­ weise Zweifel gab, ob Frauen überhaupt daran teilhaben können. Im Grund lebt die­ ser Zweifel auch heute noch fort in der Vorstellung, daß „spirituelle Entwicklung“ gleichbedeutend sei mit „Ablösung“ (aus dem Alltag, aus persönlichen Bindungen, aus der Verhaftung am eigenen Sein, aus emotionaler Verstrickung, aus der „ich“haften1 Suche nach Individualität). Ohne solche „Ablösung“ soll Spiritualität nicht gefunden werden können oder doch höchstens in einer sehr abgeschwächten, gewis­ sermaßen dumpfen Form. „Dem Konkreten verhaftet“ zu bleiben gilt als gravieren­ des Hindernis auf dem „spirituellen Weg“. Nun ist aber das „Weibliche“ seiner Natur nach „dem Konkreten verhaftet“: die Seele denkt nicht abstrakt. Sie ist verbunden, sucht nach Verbindung, stellt Verbin­ dungen her. Sie vergleicht nicht und trennt nicht. Ihre „weibliche“ Aufmerksamkeit gilt dem Besonderen, dem Einmaligen, dem ganz unvergleichlichen Einzelfall eines ganz bestimmten umschriebenen Lebens (INDIVIDUUM), zu dem sie in einmali­ ger Weise persönlich in Beziehung tritt („Du“) (vgl. Neumann 1953; 1997, S. 309). „Ablösung“ dagegen ist sozusagen ihrer Natur nach eher eine „männliche“ Qualität: der Verstand ist ausgesprochen freiheitsdurstig. Er strebt nach Unge­ bundenheit und zielt aus dem Konkreten weg ins Allgemeine. Er unterscheidet und trennt, er vergleicht und abstrahiert, er bildet „übergeordnete Begriffe“ und entzieht sich so der Einengung auf ein Besonderes und Einzelnes: Der „männliche“ Verstand vermeidet nach Möglichkeit die konkrete Enge einer einmaligen und persönlichen Beziehung. „Du“ ist ihm zu emotional. Und Spiritualität, was ist das? Wenn „Ablösung“ zur Spiritualität gehört - und daran kann es kaum einen Zweifel geben -, müßte sie „männlich“ sein. Dann bestehen auch die Zweifel zu Recht, ob das „Weibliche“ daran teilhaben kann. Wenn es „weibliche Spiritualität“ gibt, muß sie im Konkreten zu finden sein, das heißt, sie kann „die Welt nicht ver­ lassen“ - ist das dann überhaupt noch „Spiritualität“? Vielleicht eine besondere Sorte? Eine „weibliche“? Hat GEIST ein Geschlecht? Die Maler vergangener Jahrhunderte stellten diese Frage deutlich mit ihrem Pinsel: Sind Engel männlich oder weiblich - oder gar noch so kleinkindlich, daß ihr Geschlecht neutral ist, nicht mehr als eine putzige Ver­ zierung? Auch wenn sich der Akzent verschob, gibt doch keine Zeit eine eindeutige Antwort darauf. Was ist mit Männern und Frauen? Sind sie in erster Linie „männlich“ oder „weib­ lich“? Oder sind sie eigentlich in erster Linie „menschlich“? Was wird denn aus der Geschlechtsidentität? Wohin gehört die Sexualität? Und wie verhält sie sich zu den Geschlechtern? Die Debatten über Hetero- und Homosexualität waren heiß. Nun scheinen sie sich zu befrieden in gleichberechtigter Koexistenz. Berührt das die „Spiritualität“? Wie? Wo hat „das Weibliche“ seinen Platz? Hat es einen Platz oder mehrere Plätze? Heute werden nicht mehr sehr häufig Engel gemalt. Aber die Frage bleibt die gleiche, auch wenn sie inzwischen ganz anders klingt: was wird aus der Verbundenheit in der Ablösung - bzw. inwieweit besteht Freiheit in der Lösung von Bindungen? 17

Veronica Gradl

Ist Individualität eine Einengung oder ein Umkehrpunkt? Gehört das einmalige „Du“ zum personalen Bereich und muß mit ihm überwunden werden, dort, „wo es spirituell wird“? Oder gehört das Individuelle zum personalen Bereich, ganz genau dort, wo er sich „spirituell“ öffnet? Ist das das gleiche? Oder sind das zwei Versionen des gleichen, die zum Verwechseln ähnlich und dabei fundamental ver­ schieden sind? Ist „transpersonal“ (noch) „personal“ oder nicht mehr? Das sind schwierige Fragen von höchster Wichtigkeit und Dringlichkeit. Sie fragen nach den Grenzen. Hat „Spiritualität“ Grenzen? Und wenn, wo - außen als Begrenzung oder innen eingeschlossen, als Strukturelement? Bedeutet Spiritualität Überwindung der Grenzen ins Grenzenlose? Oder umgekehrt: Gehört die deutliche Ausgrenzung des Grenzenlosen zu der „Überwindung“, ohne die Spiritualität nicht wirklich wird? Sind das Spitzfindigkeiten? Oder Grundsatzfragen?

Die Verwirrung sollte uns wecken! Vielleicht geht es ja darum, etwas Unerwartetes zu finden, etwas Drittes, etwas scheinbar unmöglich Widersprüchliches: eine „Ablösung“ ohne Ablösung, ein un­ verhaftetes Verhaftetsein, eine paradoxe Freiheit in der Einengung, die das Allge­ meine im Besonderen findet und das Abstrakte konkret begreift.2 Dieses Dritte wäre also so viel herzliches Verbundensein im Konkreten, wie es vernünftiges Urteil im Allgemeinen wäre - so viel Zuneigung zum besonderen Einzelfall, wie Einsicht ins übergeordnete Gesetz - so persönlich zugewandt, wie allgemein menschlich: Es wäre gleichermaßen „Herz“, wie es „Verstand“ wäre, sozusagen ein weiblich-männliches Verstandes-Herz, das versteht, was es liebhat und wie seine Liebe zur Vernunft kommt. Da ist Nüchternheit ohne Kühle und tie­ fes Gefühl ohne Überschwang. Sparsam in der Auswahl des Wesentlichen und ver­ schwenderisch in der Zuwendung verhaftet sich die persönliche Aufmerksamkeit zielgenau im Konkreten. Dies Dritte ist ungefähr das, was in den Begegnungsgeschichten Jesu Gestalt gewinnt, wenn er einem Menschen so gegenübertritt, als gebe es nur diesen einen auf der ganzen Welt, und ihn treffsicher aufruft, nur ihn allein, nach dem allgemeinen Gesetz, dem alle Menschen unterstellt sind. „Der Menschen-Sohn“ der Evangelien ist die Inkarnation des „unaussprechlichen Dritten“, zu dem wir erst hinwachsen müssen. Wir kreuzigen es am Gegensatzkreuz der vermeintlich „unvereinbaren Widersprüche“, so lange wir seine paradoxe Natur nicht verstanden haben und also auch NICHT WISSEN, WAS WIR TUN. Nur wenn es in der rechten Weise (mit Aufmerksamkeit) von uns begraben wird (im Gar-nichts-Begreifen), kann es auch „auferstehen“, so daß es hervorkommt und neu ins Bewußtseinslicht tritt.

Aber wie wälzt sich der Stein von des Grabes Tür? Mein Anliegen ist es nachzuzeichnen, daß und wieso ein Niveauwechsel stattfin­ det, wenn das „Weibliche“ auf richtige Weise in die Spiritualität eintritt: Obwohl es dabei um Ergänzung „männlicher“ Einseitigkeiten durch ihr „weibliches“ Gegen­ stück geht, erschöpft sich dieser Ergänzungs- und Versöhnungsprozeß nicht in der Vervollständigung des Unvollständigen. Das Dazutreten des bisher Fehlenden ist 18

Von Herz und Verstand

nur ein erster Schritt: Wenn die Ergänzung gelingen und „richtig“ bleiben soll, führt sie in einen ganz instabilen Zustand der Auflösung aller bisherigen Orientierungs­ mittel, der Maßstäbe und Sicherheiten. Der Verstand versagt, er versteht nichts mehr - und darf doch nicht aufhören zu verstehen, sonst geht er verloren. Wenn aber einer erst den Verstand verlor, ist weder „männliche“ noch „weibliche“ Spiritualität mög­ lich. Da haben dann die Irrlichter den Suchenden erfolgreich ins Bodenlose gelockt. Leider sind das nicht bloß Sprachspiele: die Gefährdung in der Übergangszone der Auflösung ist tatsächlich hoch. (Neumann 1995, S. 327 ff.) Auf Dauer kann das also nicht so bleiben, es muß auf die Ergänzung ein zweiter Schritt folgen, in dem sich Orientierung, Maßstäbe und Sicherheiten grundlegend gewandelt wiederfinden und eine neue Stabilität ganz anderer Art „zurück“-gewonnen wird: genauso stabil, wie sie in besten Zeiten immer schon gewesen ist - und unausdenkbar ganz anders, als sie je zuvor da war. Dieser zweite Schritt geschieht als ein kreativer Sprung auf ein nächstes Strukturniveau, durch den die Vervollstän­ digung erst wirklich gültig wird, weil sie in eine überraschend neue Ordnung tritt: Das Gesamtergebnis ist letzten Endes unerwartet ganz anders als das, was bisher war, und läßt dies Bisherige dadurch „hinter sich“, ohne es auszulöschen. „Uner­ hört“ und „unvorhersehbar“ erscheint damit etwas „noch nie Dagewesenes“ als neu entstandene Lebensform. Was da geschieht, ist ein Schöpfungsereignis: Im Inte­ grationsprozeß, der aus den einigermaßen vollständig versammelten Komponenten in Untergang, Verwandlung, Umgestaltung und Neubeginn ein größeres Ganzes hervorgehen läßt, erscheint eine komplexere Weise lebendigen Seins, die es zuvor noch nicht gab. „— die es zuvor noch nicht gab“: Es ist wesentlich zu realisieren, daß das, was „weibliche Spiritualität“ genannt werden könnte, in einem schöpferischen Prozeß neu entsteht. Sie bleibt nicht im Gegensatz „männlich“ - „weiblich“, sondern um­ greift und enthält ihn in seiner ganzen Spannweite in sich, weil sie Männer und Frauen, die Paar-Beziehung zwischen ihnen, ihre Geschlechtsidentität, die Sexuali­ tät, „den Trieb“ und „den Geist“, Bewußtes und Unbewußtes zusammen mit den Spannungsfeldern zwischen diesen Polen vollständig in sich einschließt: Dies „Weib­ liche“ einer Spiritualität, die man „weibliche Spiritualität“ nennen könnte, ist anders weiblich als das, was wir „weiblich“ im Gegensatz zum „Männlichen“ nennen. Das klingt verwirrend, weil dasselbe Wort auf der einen und der anderen Ebene ganz verschiedene Inhalte umschreibt. Es muß eine Sprache erst entwickelt werden, die eindeutige Verständigung über dies Gleichnamig-Unterschiedliche erlaubt. Sprache zur Verständigung aber entsteht zwischen uns aus gelingender Verstän­ digung: Das Verstehen kommt zuerst und muß der Entstehung einer angemessenen Sprache für die Verständigung über das Verstandene vorausgehen. Das ist eine schwierige Bedingung, denn ohne Sprache gibt es keine Mitteilbarkeit - wer soll also das „Unsägliche“ an andere so weitersagen, daß sie es verstehen, wenn es doch nicht gesagt werden kann? An diesem Punkt stockt unsere „Geist- und Natur-Wissen­ schaft von der Spiritualität“ bis heute: In dieser unsäglich sprachlosen Form ist sie nicht wirklich gemeinschaftsfähig, weil jeder sie ganz, neu für sich wieder-erfinden muß. Unwissend müssen wir sie handeln und unverstanden so lange wortlos erfah­ ren, bis ein Verstehen zu dämmern beginnt. Das ist ein ungeheuer schwerfälliges Verfahren - in die sichtbare Welt übertragen wäre das etwa so, als müßte jeder ein­ 19

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zelne von uns das Rad ganz neu für sich erfinden, weil eine Mitteilung über die Geheimnisse der Kreisbewegung, über Zentrum und Umfang und über das radiale Wunder der Speichen noch nicht möglich ist. Kein Hochgeschwindigkeitszug zwi­ schen den Städten - keine Dampfmaschine -, nicht einmal ein Ochsenkarren - und ein Schöpfrad am Wasser bliebe die äußerst seltene persönliche Erfindung ganz ungewöhnlicher Menschen, jedes einzelne Schöpfrad eine originale Spontanmuta­ tion und ein einmaliges Ereignis. Aber die menschliche Spiritualität ist nicht dazu bestimmt, eine nicht mitteilbare geheime Erfahrungswissenschaft einzelner und seltene Spontanmutation zu bleiben - im Gegenteil: Sie gehört zu unserer Bewußtseinsbegabung und drängt also nach Sprache, nach der (Mit-)TEILUNG DES WORTES untereinander und in die Gemeinschaft. In wachsender Ungeduld warten „Geist-und-Natur“ auf uns, daß wir Spiritualität als neue, komplexere Lebensform zwischen uns erschaffen. Erste Voraussetzung dafür ist, daß ein Verstehen dämmert: Es ist nötig ZU WISSEN, WAS WIR TUN, nicht nur außen, auch innen - nicht nur im Handwerk, auch im Fühlwerk, nicht nur in der Realität, auch in der Phantasie, nicht nur in der Physik, auch dort, wo es „metaphysisch“ wird. Die geistigen Erscheinungsformen der unsichtbaren Bewußtseins-Welt, die sich im Medium unserer Verstandesbegabung entfaltet, müssen genau so präzise und kritisch von uns zur Sprache gebracht werden können, wie wir es mit den äußeren Erscheinungsformen der sichtbaren TatsachenWelt zu tun gelernt haben. Auch in unserer Geist-Natur ist Forschung nötig, damit wir die lebensnotwendigen Kenntnisse über das geistige Leben genauso sicher gewinnen wie sie über das physische Leben bereits verfügbar geworden sind. Unser waches Urteil über den wirklichen Wert des Gedachten und unsere wach­ sende Aktivität der richtigen Auswahl ist drinnen ganz genauso unerläßlich not­ wendig wie draußen: Das rationale „ich“ muß so an Helligkeit zunehmen, daß es Verantwortung für die seelischen Dämmerzonen und den Zwielichtbereich des Verstandes übernehmen kann. Das „Ich“-Sein ist Bewußtseins-Aktivität - und diese Aktivität („ich“) ist die Brücke zwischen Geist und Natur, zwischen Innen und Außen, zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren, zwischen dem einzelnen und der Allgemeinheit, zwischen dem, was gewesen ist, und dem, was sein wird. Als diese Brücke wach zu sein, ist „weibliche Spiritualität“, (vergl. Neumann, S. 326 ff.) Sie ist für uns alle (nicht nur für die Frauen), als Möglichkeit und als Aufgabe, der notwendige nächste Schritt in der Entwicklung DES MENSCHEN. Es ist ein Schritt in Richtung WIRKLICHE GEMEINSCHAFT das bedeutet z.B.: „Spiritualität" im Dienst einer selbstgenügsamen Autarkie - sozusagen eine „SingleSpiritualität“ - widerspricht sich selbst und ist keine. Und „Spiritualität“ im Dienst einer Auserwähltheit gehört zu den Irrlichtern: Sobald Überheblichkeit in irgend­ einer Form mitspricht, ist der spirituelle Weg schon verlassen. „Spiritualität“ im Dienst der Schmerz- und Angstfreiheit zielt aus der Realität hinaus und führt ins Bodenlose. Denn IN DER WELT HABT IHR ANGST und auch Schmerzen. Das weghaben zu wollen macht verführbar für die ungezählten Formen der ElfenVerlockung mit Unverwundbarkeit und Macht. Das Angewiesen-Sein ist ein Strukturelement in dieser nächsten, größeren Ordnung: Wir erreichen sie nur, wenn wir einander dabei helfen, wenn wir sie von­ einander und füreinander lernen, sie aneinander weitergeben und voneinander emp20

Von Herz und Verstand

fangen wollen, einzeln und gemeinsam für uns alle miteinander. Dazu brauchen wir ganz innen, jeder einzeln, ein umgewandeltes Streben, mit dem wir andere Wünsche wünschen können - und ganz außen allgemein brauchen wir eine erweiterte DenkOrdnung, in der wir die nötige radikale Umbewertung der zentralen Wertvor­ stellungen zu denken, zu sagen und zu wissen lernen können.

Was es ist (BRÜCKE), und was es nicht ist (ABRISS) Ein Schritt der Bewußtseinsentwicklung wird dann fertig, wenn das Begreifen ein doppeltes geworden ist: ein positives, „was es ist“ - und ein negatives, „was es nicht ist“. Es ist dieser zweite, negative Schritt der Abgrenzung von allem, „was es nicht ist“, der für unsere spirituelle Suche vor allem ansteht: Erst wenn wir verstehen, daß und warum manches zwar ganz ähnlich aussieht und doch nicht „Spiritualität“ ist, wird sich uns langsam enthüllen können, was wir bis jetzt weder sagen noch denken, noch wissen: der nötige größere Umkreis für unser Denken. Es ist ein größerer Umkreis der „Ich“-Herrschaft für ein wacheres „Ich“ in einer tiefer erhellten Welt. Urteilswachheit und Aktivität der Wahl bilden gewissermaßen die Summe der „Ich“-Kräfte. In sie geht alles ein, was das „Ich“ ist, hat, weiß und will. Sie stammen, wie das ganze „Ich“-Sein selber, aus dem Kollektiv her, aus dem „Ich“ erwachse - sie sind höchst individuell „von mir“ zu erwerben und mutig als meine subjektive „Bewertungstat des einzelnen“ zu tun - und zielen „über mich hinaus“ auf die Gemeinschaft, die aus dem Kollektiv durch unser aller je einzelnes „Ich“-Sein erwachsen will. Urteil und Wahl sind an gültige Wert-Ordnung gebunden, weil es ohne diese kei­ ne Urteilskriterien und also auch kein Wählen gibt, (sondern nur ein mehr oder min­ der zufälliges Ergreifen von irgendwas). Urteil und Wahl sind „richtende“ Gewalten: Sie geben Richtung, indem sie scheiden zwischen dem Ausgewählten und dem Nicht-Gewählten und zugleich auch zwischen dem Auswählenden und dem, der nicht auswählt. So „richten“ sie die „Ich“-Welt, indem sie sie ausrichten (auf Wesentliches) und einrichten (mit Bedeutungsvollem). Je nach dem, „ob und wie ich urteile“ (was mir bedeutungsvoll ist) und „was ich erwähle“ (als wesentlich), machen sic meine innere Welt „reich“ oder „arm“ (an Wesentlichem) und mich selber „rei­ cher lebendig“ oder aber nicht. Die Lebenskraft, mit der ich „ich“ bin, hängt an der Intensität und Leidenschaft, mit der „ich“ wähle, was mir wert ist. Wo nichts so viel wert scheint, daß es als bedeutungsvoll und wesentlich ergriffen werden kann, geschieht gleichgültig und wahllos irgendwas: Das ist ein Zustand des Absterbens (der vermittelnden „Ich“-Aktivität), in dem keine Brücken zwischen den Ebenen entstehen können, d. h. keine Sinn-Verbindungen zwischen getrennten Bereichen (Innerem und Äußerem, Vergangenem und Zukünftigem, Eigenem und Fremdem, Denken und Fühlen, Wollen und Tun). „Sinn“ wird real in dem, der ihn „erkennt“ Sinn wird „erfahren“, „gefühlt“, „erlebt“, „gewußt“: Sinnerfahrung ist Bewußt­ seinsaktivität, ist „ich“. In der Sinnerfahrung lebendig zu sein ist „weibliche Spiritualität“: lebende Bewußtseins-Brücke „ich“ zwischen den Bruchstücken der Wirklichkeit, die sich „in mir“, durch mich, zwischen uns und für mich-und-uns ganz konkret zu sinn­ voller Real-Gestalt verbinden. 21

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Innen bilden Urteil und Wahl die Brücke zwischen Seele und Verstand, denn sie gehören gleichermaßen zur intuitiven Werterfahrung und zum Gefühl, wie zum rationalen Verstand und zur Sprache. Außen bilden sie die Brücke zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft, sowohl im Augenblick wie auch im zeitlichen Ablauf: denn die „Zugehörigkeit jetzt“ besteht aus Wertschätzung und wandelt sich im Lauf der Zeit. Wie Urteil-und-Wahl innen „in mir“ von mir erst erlernt werden müssen, während ich „ich“ werde und ursprünglich getragen bin von der Einbettung in der ersten Gruppe der „Herkunft“ -, so sondern sie im Lernprozeß den einzelnen („mich“) allmählich unerbittlich aus in seine Vereinzelung, stellen ihn gegenüber, machen ihn deutlich erkennbar und wirksam - und gliedern ihn endlich, genau dadurch (durch seine gelungene Abgrenzung, Vereinzelung, Einmaligkeit und Wirksamkeit) wieder in die Gruppe ein, in die zweite Gruppe seiner „Ankunft“, die mit ihm und durch ihn, für ihn und um ihn entsteht, indem er in sie hineinwächst. Herkunfts-Verbundenheit erster Ordnung wird so durch Transformation in Heimkehr-Verbundenheit zweiter Ordnung hinübergeführt. Das, was diese Trans­ formation erleidet und tut, ist das „Ich“: In seiner Weise, mit der Welt in Beziehung zu treten, ist es zuerst mehr passiv, zuletzt mehr aktiv - und von Anfang bis Ende „bin ich“ das Veränderte und der Veränderer und das sich-verändernde Bindeglied zwischen allen Ebenen der sich ändernden Wirklichkeit meiner Welt. Dieser Wandlungs-Prozeß verlangt, daß alle „Ablösung“ ohne Abriß geschieht. „Ablösung“ innerhalb der kontinuierlich sich wandelnden Ordnungen ist DER SPIRITUELLE WEG und zugleich das paradoxe Verwandlungswerkzeug DES WACHSENS: Es ist höchste „Ich“-Aktivität der Aufmerksamkeit, die trennt, ohne Trennung zu schaffen, und auflöst ohne Verluste - gleichnishaft-wörtlich so, wie das Gehen eines Weges das Zurücklassen (des alten Ortes) in Verbindung (zwischen den Orten) umschafft, indem es ohne Zerstörung (der Landschaft) in Annäherung (an den neuen Ort) übergeht. Genau so und doch unvorstellbar ganz anders komplex ist das Gehen des spirituellen Weges, denn der spirituelle Ort der „Ankunft“ ist tief verwandelt derselbe Ausgangsort „hier“, von dem ich wegging, ohne ihn zu verlas­ sen: Von der Welt in die Welt führt der Weg aus dem ersten „Ich“-Sein durch die Umkehr der Wertordnung ins größere „Ich“-Sein. Mit wachem Urteil wählend, wird das „Ich“ zur paradoxen Umkehr-Brücke zwischen den Wert-Welten.

Die Unterscheidung zwischen BRÜCKE und ABRISS ist schwer Beides gibt es in unendlichen Variationen. Die Fähigkeit, über die Erscheinungen der unsichtbaren Geist-Welt in unserem Kopf ein richtiges Urteil zu haben und zwischen „Licht“ und „Irrlicht“ sicher zu wählen, gehört zur „weiblichen Spiritualität“, (vgl. z. B. den Begriff der Weisheit „Sophia“ bei Neumann 1997) Sie entspringt aus dem leibhaftigen Fühl-Wissen um den Wert dessen, was „mir wert ist“. Solches Fühlwissen um die Wertgewißheit ist (Herzens-) „Erkenntnis“. Wenn sie sich mit Verstandeswissen verbindet, wird sie dadurch nicht im Wesen anders, nur wißbarer, sicherer, differenzierter und auch tie­ fer: sie schließt das Verstandeswissen in sich ein. Sie bleibt dieselbe „Erkenntnis“, nur wird sie bewußter: Sie lernt Sprechen, Lesen und Schreiben, sie lernt zu sagen, was sie weiß, und zu wissen, was sie fühlt. In solchem verständigen „Erkenntnis“ 22

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Wissen des Herzens wirken Denken, Fühlen, Sinneswahrnehmung und Intuition zusammen. Es ist „Erkenntnis des Wesentlichen“ und entspricht einer existentiellen Orientierungsfähigkeit der ganzen Person in der biographischen Lebenslandschaft, nach den komplexen Faktoren der geistigen Ordnung - gleichnishaft-wörtlich genau so (und unausdenkbar komplexer), wie die äußere Orientierung in der geo­ graphischen Landschaft nach Himmelsrichtung und Sonnenstand, Wegbeschaffen­ heit, Entfernung, Witterung und eigener Kraft, d. h. nach den komplexen Faktoren der natürlichen äußeren Ordnung, eine Einsichtsleistung der ganzen Person ist. Diese Orientierungsleistung ist nicht geschlechtsgebunden, aber „ich“-gebunden, was wiederum bedeutet, daß die Geschlechtsidentität dessen, der (derer, die) da „ich“ sagt, als Strukturbestandteil in diese allgemein-menschliche „Ich“-Fähigkeit eingegangen ist. Damit ist zugleich gesagt, daß es eine späte, reife Fähigkeit ist, die alle Schritte der Identitätsbildung, einschließlich der leibhaftigen psychosexuellen Identität, in sich einschließt. Denn die innerweltliche Spiritualität, die man „weibli­ che Spiritualität“ nennen könnte, enthält die sozusagen „männliche“ überweltliche Spiritualität, die wir als „Spiritualität“ zu bezeichnen gewohnt sind, vollständig in sich. Sie kommt nach ihr, geht über sie hinaus und schließt sic ein: Sie bringt „den Geist“ aus seinem überirdischen Lichtreich in den dunklen Boden hinunter, daß sich die Erde von innen erleuchtet - sie macht das Abstrakte konkret, ohne es konkretistisch zu verkürzen - sie realisert DAS SYMBOL als leibhaftiges Leben - sie zieht das Licht in die Nacht, daß es IN DER FINSTERNIS SCHEINEN kann. Auf diese unsere größere „Ich“-Aktivität - auf unsere Urteilswachheit und wach­ sende Klarheit des Wählens („ich“!) - warten „Geist-und-Natur“ mit Seufzen. Sic warten schmerzlich auf unsere Spiritualität, die unsere größere „Ich“-Bewußtheit ist - sie warten darauf, daß aus der einmalig besonderen Spontanmutation im Dasein einzelner („Schöpfrad“) breit und breiter das bewußte Gemeinschaftswerk aller her­ vorwächst („Wasser-Brunnen zum Bewässern der Seins-Äcker“). Seufzend und untätig müssen sie warten, bis wir das Nötige von selber tun, weil „Ich“-Aktivität grundsätzlich freiwillig ist und weder verordnet, noch erzwungen noch auch nur beschleunigt werden kann.

Wir wissen nicht, worum wir bitten sollen DOCH DER GEIST VERTRITT UNS AUFS BESTE MIT UNAUSSPRECH­ LICHEM SEUFZEN, sagte Paulus und bat: HERR, TUE MEINE LIPPEN AUF! Er war ein durchaus Wortgewaltiger und hatte wahrhaftig keine schwere Zunge und doch fühlte er unmißverständlich, daß ein neuer Mund für eine ganz neue Rede geöffnet werden müßte, um das Wesentliche angemessen zu sagen. Das ist fast 2000 Jahre her, 20 Jahrhunderte voller Bewußtwerdungsarbeit, voller Forschung und Unterscheidung, voller Pioniergeist, Neugier, Mut und Einsatz. Es ist sehr viel anders geworden in unserem Weltverständnis - aber im Grunde wissen wir immer noch nicht, um was wir nun wirklich bitten sollen, und das Geheimnis der Spiritualität scheint um nichts weniger nicht-mitteilbar als vor Zeiten. „Geist-und-Natur des Menschen“ ist wachsend, ist „Lebewesen“, ein seltsam „sichtbar-und-unsichtbares Lebewesen“, das seine lebendigen Fühler nach draußen, ins sichtbare Außen, genauso vorausstreckt wie nach innen, ins eigene Innere und 23

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weiter ins Jenseits-von-Drinnen, in dies unsichtbare „Außen“ DES GEISTES, das der Seele innen gegenüberstellt. Es wandelt sich mächtig im Lauf der Zeit: Von der Geburt bis zum Tod, von den Tagen des Apostels Paulus bis heute - und es wird sich weiter wandeln müssen, über uns heute hinaus, weil alles Lebendige in Wandlung lebendig ist und absterben muß, wenn dieser stetige Prozeß der fließenden Um- und Ausgestaltung ganz zum Stillstand käme. Aus diesem Grund ist „weibliche Spiritualität“ für Männer und Frauen gleich lebensnotwendiges Lernpensum: Es ist zweifelhaft, ob uns DER GEIST noch lange weiter VERTRETEN möchte. Ihn für uns SEUFZEN zu lassen ist auf die Dauer nicht genug. Vielleicht kommt die Zeit nahe, wo wir selber WISSEN MÜSSEN, WORUM WIR BITTEN SOLLEN, auch wenn das natürlich oft nur sehr stümper­ haft, vorläufig und versuchsweise gelingt: Genauso, wie die Wissenschaften von der sichtbaren Welt in Versuch und Irrtum entstanden sind, muß unsere wache Auf­ merksamkeit auch ins Unsichtbare der Denkwelten ihre besonnene Neugier voran­ schicken, um in Versuch und Irrtum zu erproben, was sichere Wege auf dem Boden der Wirklichkeit sind und wie sie sich von elfenhaften Täuschungswegen unter­ scheiden lassen.

Was ist „Licht“ und was „Irrlicht“? Leider sind wohl alle diese Überlegungen, die mir so dringlich und wichtig erscheinen, auf beklemmende Weise kompliziert, unanschaulich und verwirrend, solange sie in einer „profanen“ Sprache ausgedrückt werden. Das liegt daran, daß es keine profane Sprache gibt, die unterscheiden könnte zwischen dem „Weiblichen“, das der ergänzende Gegensatz zum „Männlichen“ ist, und dem größeren „Weib­ lichen“, das das „Männliche“ in das „Menschliche“ einschließt. Denn dies Gleich­ namig-Unterschiedliche gehört zentral zu den noch unverstandenen und „unsäg­ lichen“ Themen unserer Unfertigkeit, zu dem Bereich also, der noch nicht ausreichend „aussprechlich“ geworden und deshalb dem Verstand nicht voll zugänglich ist. Aber eindrucksvoll, sinnennah und in höchster Genauigkeit anschaulich finden diese Themen sich abgebildet in den Erzähl-Bildern und Denkfiguren der jüdisch­ christlichen Religion. Das ist kein Zufall: Ich denke, daß die religiöse Sprache am weitesten in diesen noch unfertigen Bereich der Weiterentwicklung vorausgreift. Die religiöse Sprache kommt zu uns durch die Pforte der Intuition. Sie transportiert Information aus dem inneren Jenseits-von-drinnen, aus dem immateriellen „Außen“ DES GEISTES, vor die Augen unserer Seele (so wirklich und so fremdartig uns innen gegenüber wie die äußere Welt vor den Augen des Körpers wirklich und fremdartig uns außen gegenüber ist). Keine Sprache irgendeiner Wissenschaft kann mehr an Wissen um die Wirklichkeit transportieren und von dieser GEIST-Information über unser Sein in der Welt so voll sein wie diese traumartigen Denkbilder und Symbolgedanken, die wir durch die intuitiven Pforten unserer Seele zu uns ein­ lassen. Die Seelensprache der Religion ist „unwissenschaftlich“, aber nicht „unwis­ send“ - im Gegenteil: in ihr ist alles wißbare Wissen keimhaft anwesend, so dicht gepackt, daß es für unsere Verstandesaugen aussieht wie nichts. „Spiritualität“ ist ein religiöses Phänomen - oder umgekehrt: Religion handelt vom spirituellen Leben. 24

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Eins wie das andere beschäftigt sich mit den äußersten, obersten Randbereichen des menschlichen Daseins, in denen unsere Verstandesbegabung sich noch immer im Werden, in Erweiterung und Differenzierung befindet. Da mir die jüdisch-christli­ che Religion am besten bekannt ist, sehe ich vielleicht deshalb die wegweisende Spur in ihren Bildern am deutlichsten - aber es könnte auch sein, (und mir scheint es wahrscheinlich), daß sic tatsächlich ganz unvergleichlich viel deutlicher als andere Religionen von diesen Wachstumsthemen unserer Unfertigkeit spricht.

Die Bibel ist ein sehr komplexes Buch Sie handelt von der Schöpfung der Welt und von der Naturgeschichte der Erde, von der Geschichte des Menschen in der Natur und von der Geschichte des mensch­ lichen Bewußtseins im Menschen, von Leben, Tod und Auferstehung, von der Wirklichkeit und von der Täuschung, von der Realität der Dinge und der Wirksamkeit der Kräfte und davon, wie sich DER GEIST INCARNIERT, so daß er Realität in der Zeit wird - d. h. sic handelt von der Spiritualität und von der jahr­ tausende-langsamen Entwicklungsgeschichte, die sie in uns hat. Sie handelt von dem schmalen Weg, der ganz genau zu gehen ist, damit er in die Wirklichkeit und nicht ins Elfenreich führt - sie handelt von dem scharfen Umkehr-Ort, an dem in Unter­ gang, Umwandlung und Neubeginn diese wirkliche größere Welt des „spirituellen Lebens“ tatsächlich betretbar wird. Denn diese größere Welt, die uns die Bibel als DAS REICH wie etwas „Jenseitiges“ verspricht, wird uns ja zugleich von ihr sehr diesseitig und „hier“ als unser eigenes Handeln abgefordert, damit wir sie „tun“. Die Bibel handelt von der INCARNATION durch das Tun nach dem GEIST: Sie handelt von der einen „Tür“, die der einzige Zugang zum versprochenen REICH ist, und beschreibt sie uns (für uns unbegreiflich paradox) als soviel Person wie Zeitpunkt, als Entgegenkommen und Entschluß, als einen Zustand, der zu gleicher Zeit Erwartung, Geschenk, Tat und Einwilligung ist. Und über dies alles hinaus handelt sie davon, was dieses alles nicht ist und wie DAS REICH nicht entsteht, obwohl es versprochen ist: von dem breiten Spektrum der Irrtümer, Fehlentscheidungen und Unterlassungen, durch die wir Weg, Umkehr und Türe verfehlen, so daß wir ins Bodenlose geraten, wo nur noch Irrlichter gei­ stern und kein Licht scheint, wo weder Zeitpunkt noch Entgegenkommen uns hilf­ reich auffinden können und nicht einmal DER GEIST uns noch länger SEUFZEND VERTRETEN kann. Mein Anliegen ist es, darauf aufmerksam zu machen, daß in der religiösen Sprache des jüdisch-christlichen Glaubens-Ganzen die Naturgeschichte der „menschlichen Spiritualität“ erzählt und vollständig beschrieben ist, obwohl wir sie noch nicht vollzogen haben: Als grandioser Vorausentwurf ist sie anschaulich gemacht in Bild und Wort, als mythische Erzählung, im Gleichnis und als die reine Gedanken­ figur des SYMBOL-WORTES, damit das Unanschauliche, das „noch nicht ist“, doch schon bei uns sein kann, als wäre es bereits in uns Verständnis geworden und getan. Intuitiv und emotional gelesen, ist das, was in der Bibel steht, zwar jeder­ zeit zugänglich - aber spirituell gelesen, ist sie so abstrakt voller Wissen, daß die Relativitätstheorie und die Quantenphysik mithelfen müssen, uns ihren Informa­ tionsgehalt zu erschließen. Was sich seit den Tagen der Erzväter „im Glauben hal25

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ten“ läßt, können wir rational erst verstehen, wenn wir alle Wissenschaft des 20. Jahrhunderts zusammenraffen. Von dem, was man „weibliche Spiritualität“ nennen könnte, steht bei Jeremia (31,22): DER HERR WIRD EIN NEUES IM LAND SCHAFFEN - DAS WEIB WIRD DEN MANN UMGEBEN. Für feministische Ohren klingt das nach Patriarchat und sklavischem Umsorgen. Das wäre nichts gar so NEUES IM LAND. Aber als Nachricht von den Erdzeitaltern der Spiritualität gelesen, spricht dieses Wort ja nicht von der Biologie in der äußeren Welt. Es spricht von der Spiritualität in unserem Kopf: Es meint den „männlichen“ Teil des Menschen-Geistes IM MENSCHEN und was der „weibli­ che“ Teil des Menschen-Geistes tun wird, wenn er erst seiner selbst mächtig gewor­ den sein wird: DAS WEIB WIRD DEN MANN UMGEBEN. Die Verbundenheit wird die Ablösung in sich aufnehmen, die Herzensklugheit wird die Verstandes­ schärfe einschließen, und die Geduld wird die Tatkraft mit Umfassungs-Wissen umgeben. Das ist ETWAS NEUES IM LAND, das DER HERR SCHAFFEN muß, weil es nicht „schon da“ ist, sondern erst in schöpferischem Sprung entstehen muß. Das ist kein einfaches Geschehen. Es ist dazu eine komplexe Erweiterung unseres Bewußtseinshorizontes notwendig, eine qualitative Veränderung des Weltbezuges und der Beziehung zur Zeit, die jeden einzelnen Bereich in unseren Denkwelten mit umgestaltet: Das Menschenbild wandelt sich mit dem Weltbild, und kein einziger Gedanke in unserem Kopf bleibt davon unberührt. Bis in die einzelnen Worte der Sprache hinein wirkt die Bedeutungsverschiebung mit Doppelsinn und Wandlung der transportierten Information: Die alten Wortschläuche füllen sich mit neuem Wein - und wir müssen selber Zusehen, wie wir davon nicht betrunken werden. Sich besonnen über den entstehenden Doppelsinn und die Bedeutungs­ verschiebungen zu verständigen verlangt eine beträchtliche geistige Spannkraft von uns. Auch diese Spannkraft gehört zur „weiblichen Spiritualität“: es ist „weibliche“ (seelische) Kraft, auch in der Verwirrung und in der Auflösung aller Gewißheit, im Sprachverlust und im Abriß jeder Verständigungsmöglichkeit am Sinn, an der Gemeinschaft und an der Hoffnung festzuhalten. Dabei ist der anschauliche Vorausentwurf der Religion eine unschätzbare und unersetzliche Verständnis-Hilfe: z. B. ist die MARIA der Weihnachtsgeschichte ein gut begreifbares Vorausbild dafür, wie solche Kraft das ganz und gar Unbegreifliche „hört und im Herzen bewegt“.

Die doppelte Entwicklungs-Reihe Hier beginnt ein ziemlich ungewohnter Gedankengang, der auf schwer ausdrükkbare Weise den herrschenden Vorstellungen über Spiritualität widerspricht. Es ist ein sehr „weiblicher“ Gedankengang - das bedeutet zugleich, daß die Sprache dafür erst im Entstehen ist. Er geht wesentlich davon aus, daß unser Verstand, so, wie wir ihn kennen und zu benützen gewohnt sind, nicht fertig ist, sondern sich in Weiter­ entwicklung befindet. In den religiösen Bildern des jüdisch-christlichen Glaubens-Ganzen ist eine zwei­ zeitige Entwicklung angedeutet - eine männlich-weibliche Doppelreihe von Schritten oder Stufen, die einander vollkommen entsprechen, aber zeitlich gegenein­ ander verschoben sind. Die „männliche Reihe“ läuft weit voraus, die „weibliche 26

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Reihe“ hinkt weit hinterher - so weit, daß erst bei genauem Hinsehen deutlich wird, wie sehr sie auf vollkommene Entsprechung zur „männlichen“ Reihe zustrebt. Gehören zur männlichen Reihe alle die (bereits fertig gebildeten) „MessiasNamen“ aus Altem und Neuem Testament, so versammeln sich als weibliche Reihe die (noch unfertigen) Beziehungs-Namen, die zu den „besonderen Frauen“ im Alten und Neuen Testament gehören: Den männlichen Schritten oder Stufen Vater-LogosKönig-Knecht-Sohn-Bruder-Bräutigam entsprechen auf der weiblichen Seite die Schritte oder Stufen Weisheit-Schwester-Tochter-Magd-Mutter-Königin-Braut. Es ist dabei charakteristisch, daß die Anordnung dieser Beziehungs-Namen (bzw. die zeitliche Reihenfolge ihres Auftauchens in den biblischen Texten) nicht einfach in Spiegelsymmetrie zweimal den gleichen Ablauf zeitverschoben durch gleiche Stationen laufen läßt. Die Entsprechung entsteht vielmehr aus Ungleichheiten (wie „Vater“-„Tochter“ oder „Mutter“-„Sohn“). Z. B. gehört die Erzählung vom Richter Jephtha und seiner Tochter hierher (Richter 11) oder das uns geläufige Weihnachts­ paar „Maria mit dem Kinde“. Leider ist es aus Platzgründen unmöglich, die Entwicklung dieser Stufen hier nachzuzeichnen. Ich möchte einfach sagen, daß es diese Stufen gibt und daß jede von ihnen ihre eigene Bedeutung hat. (Die Geschichte von Jephtha und seiner Tochter z. B. beschreibt, wie gefährlich der heldenmütige Einsatz für ein hohes Ziel das Sinnen und Trachten eines Menschen trunken machen kann mit Unbedingtheit - und wie seine Seele den Preis dafür zahlen muß. Das ist das Thema „Ganzopfer“ auf einer Stufe, wo es zwar nicht mehr außen als Tier-Opfer erscheint, sondern bereits als seelisches Geschehen erkennbar ist, aber doch noch nicht fertig und „richtig“ ist. Denn so, wie das zwischen Jephtha und seiner Tochter ablief, ist es nicht im Sinn des Lebens!)3 Vielleicht ist erahnbar, wieviel da jetzt unge­ sagt bleiben muß. Es ist unser eigenes Verstehen, dessen Reifungsstufen da beschrie­ ben werden: unsere eigene Spiritualität. Das, was sich da in einer männlichen und einer weiblichen Weise entwickelt, sind hochkomplexe Bewußtseinsstrukturen. Sie stabilisieren sich erst dann in vollkommener Gleichwertigkeit zum „ZwiesprachePaar“, wenn auf beiden Seiten eine paradoxe Gleichzeitigkeit aller durchlaufenen Reifungs-Stufen erreicht ist. In den biblischen Texten drückt sich das aus durch die Gleichzeitigkeit der „Messias-Namen“: denn dort, wo die „männliche“ Reihe in ihrer Vollendungsform kommt, ist „Der Sohn“ das „Wort Gottes“ und der „Vater der Ewigkeit“, der „König aller Könige“, der Bruder und Mitknecht. Alle diese Namen sind gleichzei­ tig gültig, sie sind aufeinander bezogen und durch einander tiefer umschrieben. Zusammengenommen sind sie „der Bräutigam“. So, wie wir bis jetzt denken, bedeutet es Festlegung, einen „Namen“ zu bestim­ men. Aber hier ist es anders: Dieser wachsende „Name“ aus vielen Namen benennt etwas Weiter-Wachsendes, das bis dahin namenlos war, damit seine Wachstumskraft uns „namentlich bekannt“ (d. h. bewußt) sein kann. In wachsender Offenheit wird so das untrennbar Eine ohne Festlegung benannt, damit unser wissendes Begreifen an seinem Wachstum aktiven Anteil haben kann. Obwohl also dieser bisher namenlose Inhalt mit Namen-Bildung in die Sprache eintritt, wird ihm doch keine Begrenzung durch seine Benennbarkeit aufgezwungen. Das markiert einen „Umkehrpunkt“, eine fundamentale Umkehr der Verstandes­ funktion: denn bis dahin und überall sonst grenzt der einmal gefundene Name den 27

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Inhalt ein und legt fest, was er (für das Bewußtsein) ist. Der Name bannt, begrenzt und fixiert - er beschränkt das unsägliche Gleiten des Namenlosen auf die umschrie­ bene Form, die „diesen Namen verdient“. So wird es von Adam erzählt: daß es sei­ ne Aufgabe war, allerlei lebendige Tiere bei Namen zu nennen - UND WIE DER MENSCH ALLERLEI LEBENDIGE TIERE NENNEN WÜRDE, SO SOLL­ TEN SIE HEISSEN. Denn der („männliche“) Anfang der Bewußtwerdung ist „ablösend“: indem er benennt, wirkt er unterscheidend, trennend, fixierend. Er ist erkauft mit einer Einschränkung der Bedeutungsfülle. Wir kennen das gut aus der Wissenschaft: unser Sachverstand hat auch eine (profane) „männliche“ Entwicklungsreihe aus nüchter­ nen Ent-Täuschungen. Er entwickelt sich zu einer scharfen Begrifflichkeit, die die Dinge erbarmungslos „beim Namen nennt“. Diese unsere unheilige Verstandes­ funktion alleine könnte nie das Leben im Wort lebendig erhalten: sie führt weg vom Symbol, hin zum Zeichen. Sie verengt den lebendigen Eindruck bis zum dürren Begriff und verwandelt zwangsläufig DAS WORT aus seinem kreativen Ursprungs­ zustand in seinen unvermeidlich verkürzten Endzustand der „bloßen Worte“. Deshalb ist die andere, höhere (heilige) männliche Entwicklungsreihe, von der die Religion mit so viel Nachdruck redet, tatsächlich ganz überaus wichtig und notwen­ dig, weil sie ohne Verkürzungen und ohne Lebensverlust der vollendeten Wort­ gestalt im Bewußtsein (LOGOS) zustrebt. Der fertige Verstand des Menschen ist „Paar“ und besteht aus Zwiesprache. Dafür muß „das Irrationale“ rational geworden sein, d. h. „die Seele“ (weiblich) muß eben­ falls Sprache gefunden haben, damit der Verstand (männlich) in ihr eine ebenbürtige Gefährtin findet, (vgl. Buber, v. a. 1977 u. 1987) Sobald sich nämlich die männliche und die weibliche Entwicklungslinie in ihrer fertigen Entsprechung begegnen dürfen, wird DAS WORT VOLL (von Symbol­ bedeutung) und hört dadurch auf, dürrer Begriff („bloßes Wort“) zu sein. Da kommt der Verstand an einen neuen Ort, nicht mehr neben der Seele, sondern in ihr. UMGEBEN von ihr, wird er neu kreativ, weil er viel mehr Aspekte, Bedeutungen und Beziehungen mitdenken darf, als bisher. Obwohl das ein rationaler Prozeß der Bewußtwerdung ist, kennen wir ihn doch nur durch die Bildersprache der Religion, als eine „mythische Zusicherung“ dessen, was noch nicht ist, aber sein wird (wenn wir es tun). Dieser fertige Zwiesprache-Verstand muß erst noch in uns „geboren“ werden: es ist ein Verstand, der die Zukunftsbedeutung des Alltäglichen unmittelbar versteht. Es ist Verstand für den Frieden. In dem mystischen Bild von der Himmelfahrt und Krönung Mariens kommt die Weisheit schwesterlich nachhause zum Wort, als seine Mutter und Magd ist sie ihm „Braut“. Sie wird eingesetzt als Königin über die wirk­ liche Welt, indem die Realität sich (uns) „vergeistigt“. „Hier“, an diesem spirituellen Entwicklungs-Ort, erscheint NEUES IM LAND: denn mit der Aufnahme des „Weiblichen“ in den Verstand wird das Symboldenken sprachmächtig: das Zeichen füllt sich mit dem lebendigen Sinn des Konkreten. In den Begriffen wird ihre gleich­ nishafte Bedeutung leibhaftig begreifbar, weil der Leib seine Sinnlichkeit dem „Erinnern“ und der „Anschauung“ ganz direkt zur Verfügung stellt. Das ist ein hochkomplexer Prozeß. Es ist „Auferstehung des Wortes im Fleisch“ und „Auferstehung des Fleisches im Wort“. Die Sprache kehrt aus der Abstraktheit 28

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ins Leben zurück - einfach und nahrhaft sagt sie das Geistige „diesseitig“ aus, „hier“, „dem Konkreten verhaftet“ und macht es „jetzt in der Welt gegenwärtig“, (vgl. zum Begriff der „Schechina“ Scholem 1977, 1991, 1992) Aus Platzgründen (und mehr noch aus Gründen der Komplexität) ist es nicht möglich, hier die biblische Spur dieses hochkomplizierten DifferenzierungsProzesses zu verfolgen. Eine streifende Andeutung muß genügen: Hierher gehört das „Essen des Büchleins“ bei Johannes auf Patmos und das Verschlingen des Briefes bei Sacharia. Hierher gehört die Klage um den Zer­ stochenen, um den alle Stämme Israels klagen, „die Männer besonders, und ihre Weiber besonders“. Hierher gehört die geteilte Grabstätte Abrahams, in der alle Vorväter „samt ihren Weibern“ bestattet sind, und das „neue (ungeteilte) Grab“ Jesu. Hierher gehören Hiobs Töchter, die Namen und Erbrecht unter ihren Brüdern erhielten. Und hierher gehören alle die vielen Geschichten der besonderen Frauen im Alten und auch im Neuen Testament. Diese Geschichten zeichnen die Integrations-Schritte nach, die nacheinander zu tun sind, damit „das Weibliche zum Wort kommen“ kann. Es sind Erweiterungs- und Vertiefungsschritte, durch die Qualitäten bewußt werden, deren schöpferische Bedeutung wir bis heute nicht rich­ tig einschätzen: das Eingedenk-Bleiben und die Beharrlichkeit, das getreuliche Anhaften am Wert und das rechte Begraben des Geächteten, das rückhaltlose Verschwenden und das äußerste Genügsam-Sein - und noch viel anderes mehr. Ganz am Anfang, in der Paradiesgarten-Erzählung von der Begegnung zwischen Adam und Eva ist Eva („das Weibliche“) stumm. Keine Rede davon, was sie sieht, wenn sie Adam sieht. Von dort weg zieht sich das Thema Schwester-Frau-Magd(Schwieger-)Tochter als eine Linie der schrittweise wachsenden Bestimmtheit, Klarheit und Wortgewalt bis zur „Königin“ (Bathseba, Esther). Jeder dieser Schritte bringt einen Zuwachs: Ruth, die Moabitin z. B., macht leibhaftig anschaulich, daß nicht unsere Herkunft bestimmt, wo wir hingehen. Sie, Ruth, bestimmt ganz allein selber, zu wem sie gehört, wo sie zu Hause ist und welches „ihr Volk“ ist. Bis heute haben wir diese Lektion der eigenen Wahl durch das Anhaften am Wert nicht ver­ standen. Denn wir glauben noch immer, und heute mehr denn je, daß uns die Vergangenheit mehr bestimmt als unsere Liebe. Der Neutestamentliche „Stammbaum Jesu“ ist ein Väter-und-Mütter-Stammbaum der wachsenden „Ich“-Helligkeit. Die Weihnachtsgeschichte des Lukas beschreibt einen Entwicklungssprung, und alles Marienbrauchtum danach entfaltet ihn weiter, weil der Entwicklungsprozeß ja nicht stillsteht. Die „Krönung Mariens“ („Königin-Magd-Mutter-Braut“) wird als Thema erst im Hochmittelalter deutlich zu Bild. Frauen wie Catharina von Siena und Theresa von Avila waren durchdrun­ gen und erfüllt von diesem Entwicklungsprozeß, an dem sie mit ihrem ganzen Wesen weitergedacht haben. Es gehört wesentlich zur „weiblichen Spiritualität“, daß dieses Weiterdenken nicht ein Gedanken-Denken alleine ist, sondern ein Fühlen, Wissen und Handeln, ein Wünschen und Wollen, ein leidenschaftliches Anhaften und Lieben, ein tief emotionales „Seins-Denken“ der ganzen Person. Abgeschlossen wird der biblische Vorausentwurf der „weiblichen Entwick­ lungsreihe“ in der Offenbarung des Johannes (deren Inhalt uns teilweise noch immer zukünftig ist). Wenn „das Weib in der Wüste“ einen Sohn zur Welt bringt, der „entrückt wird zu Gott“, ist darin Bild geworden, wie erst das Doppel und Negativ 29

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des NEUEN den schöpferischen Sprung vollenden kann: zu dem Positiv-Kind, „das erschienen ist“ (DAS LICHT, „das JA“), gehört ergänzend auch das Negativ-Kind - nämlich die fertige Abgrenzung von allem, „was nicht dazu gehört“, die sichere Unterscheidung DES LICHTES vom Irrlicht („das NEIN“): Deshalb wird in der Offenbarung erzählt, daß dieses Negativ-Kind in der Wüste „entrückt wird“, und weiter ist keine Rede von ihm, denn es bleibt nicht alleine bestehen: Sobald von uns der Unterschied begriffen ist, gehört „das richtige Nein“ untrennbar „zum richtigen Ja“. Damit wird das Elfenreich der Irreführung überwunden. Aus Einsicht wird aus unserer Spiritualität alles ausgeschieden, was nicht dazu gehört. Es darf einfach „als falsch erkannt“ sein und Zurückbleiben. Es gehört zur kreativen Natur der Symbole, daß sie ihren Sinngehalt erst im Nachhinein freigeben: Erst indem das Verständnis langsam den Sinn des geschauten Bildes einholt, klärt sich Zug um Zug, daß seine Bildgestalt bereits die volle Information enthält - und wie genau es deshalb gelesen sein will. So auch „das Weib“ aus der Offenbarung: drei untrennbar gleichzeitige Bedingungen der „weiblichen Spiritualität“ erscheinen in diesem „großen Zeichen am Himmel“ (Off. 12,1-2): Wer wälzt den Bewußtseins-Stein um, daß wir mit eigenen SYMBOL-Augen sehen, was das bedeutet? (vgl. entsprechende Bilder bei Neumann 1997, S. 312 v. a. 1995, S. 331) Was heißt es praktisch und rational, „den Mond unter den Füßen“ zu haben, „mit der Sonne bekleidet“ zu sein und „12 Sterne als Krone“ zu tragen? Eins läßt sich vom andern nicht trennen - und eines kann auch erst zusammen mit allem anderen verstanden werden: Niemand hat „den Mond unter den Füßen“, der nicht „mit der Sonne bekleidet ist“, und umgekehrt - und wo nicht 12 Sterne zur „Krone auf dem Haupt“ versammelt sind, geschieht weder eins noch das andere. Wie aber sollte einer je 12 Sterne richtig auf sein Haupt versammeln können, wenn er nicht mit Sonne bekleidet ist und nicht unter seinen Füßen den Mond hat? Dies schwangere, schreiende Weib in der Wüste ist bildhafte Vorausgestalt des mühevollen und komplexen Prozesses, durch den in uns die lebendige Einsicht ins „spirituelle Leben“ zu Ende geboren wird, rundum unterschieden nach „Ja“ und nach „Nein“, so daß sie bei uns in der Wirklichkeit bleiben kann - und wir mit ihr in der Welt. Anmerkungen 1

Die ungewohnte Schreibweise „Ich“-Scin wurde gewählt, um damit die naive, bildlose Subjektivität auszudrücken, mit der einer sagt: „Ich will ...“, „ich denke ...“, „ich erinnere mich ...“, „ich bin ...“. 2 Verständlicher würde der skizzierte Gedankengang wohl auf dem Hintergrund der Veröffentlichungen der Autorin. Diese sind deshalb im Literaturverzeichnis angegeben. 3 In dieser Geschichte geht es um ein weitverbreitetes Motiv, das auch aus Märchen bekannt ist. Im Kampf verspricht ein Mann, das Erste zu opfern, was ihm bei seiner Heimkehr entgegenkommen wird. Natürlich ist es dann sein Kind. From heart and understanding - Who will role away the stone for uns from the entrance of the tomb? Summary: Human spirituality is still unfinished - in a complex process of change it has to be completed by the feminine part of soul, for to be reborn in us as a greater understanding of symbols. This is a reli­ gious process - or in other words: growing of spiritual life is the central theme of religion. Especially the Hebrew-christian religion shows a very impressive presentation of this not yet realized evolution in form of talcs, similes and symbol-words of the Bible. In pictures of high precision a double male-female line of developing steps is shown - together with the difficult differentiation between what is really spiritual, and what is not.

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Von Herz und Verstand

Key words: female soul-qualitities, structural level, „I“ as activity of consciousness, light that shows the way and light that leads astray, develop-mental history of spirituality: male Stage of development and female stage of development. Literatur Angenendt, A. (1997), Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Primus Verlag, Darmstadt. Augustinus (1956), Bekenntnisse, üs. V. Joseph Bernhardt, Nachwort u. Anmerkungen v. Hans Urs v. Balthasar, Fischer Bücherei, Frankfurt, Hamburg. Buber, M. (1950), Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre, pulvis viarum. Buber, M. (1962), Das dialogische Prinzip, Verlag Lambert Schneider, Heidelberg. Buber; M. (1978), Zwiesprache, Traktate vom dialogischen Leben, Verlag Lambert Schneider, Gerlingen. Die Bibel (1912), nach der deutschen Übersetzung Martin Luthers. Gradl, V (1990), Die Ruhe des 7. Tages und die Ohnmacht der Kraft, Gedanken zur geheimen Offenbarung des Johannes, Verlag V. Gradl, Terfens (vormals: Verlag O. Berg, Burgheim) ISBN 3-9500929-0-0. Gradl, V. (1994), Die Heiligung der Wirklichkeit - Gedanken zur geheimen Offenbarung des Johannes, Teil II: Die lebendige Zeit, Verlag V. Gradl, Terfens. ISBN 3-95009292-1-9. Gradl, V. (1998), PRAT - Zur Psychodynamik der Menschlichkeit. Die Heiligung der Wirklichkeit Teil 1,1, Verlag V. Gradl, Terfens. ISBN 3-9500929-2-7. Gradl, V. (1949), Menschen-Sohn aus Nazareth - Weg durch die Angst, Tyrolia-Verlag, Innsbruck, Wien. Jung, C. G. (1979), Aion, Ges. Werke Bd. 9,1 und II. Jung, C. G. (1979-1980), Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion, Walter Verlag, Olten und Freiburg i. Br. Neumann, E. (1953), Zur Psychologie des Weiblichen, Kindler, Zürich. Neumann, E. (1980), Kunst und schöpferisches Unbewußtes, Daimon Verlag, Zürich. Neumann, E. (1992), Die Psyche als Ort der Gestaltung, Fischer Verlag, Frankfurt a.M. Neumann, E. (1997), Die große Mutter - eine Phänomenologie der weiblichen Gestaltungen des Unbewußten, Walter Verlag, Solothurn, Düsseldorf. Scholem, G. (1977), Schechina; das passiv-weibliche Element in der Gottheit; in: Scholem, Von der my­ stischen Gestalt der Gottheit, Suhrkamp, Frankfurt a.M. Scholem, G. (1991), Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Suhrkamp, Frankfurt a.M. Scholem, G. (1992), Zur Kabbala und ihrer Mystik, Suhrkamp, Frankfurt a.M. Teresia von Avila (1979), Die innere Burg, hrsg. und üs. V. Fritz Vogelsang, Diogenes Verlag, Zürich.

Dr. med. Veronica Gradl Franz-Fischer-Straße 6 A-6020 Innsbruck

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Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1/99, 32-44

Grüne Tara, Freie Frau Auf den Spuren einer buddhistischen Göttin Sylvia Wetzel, Jütchendorf bei Berlin

Zusammenfassung: Der folgende Beitrag untersucht, welche Auswirkung die Beschäftigung mit weiblichen Buddha-Gestalten - insbesondere der Grünen Tara aus der tantrischen Tradition des indo-tibetischen Buddhismus - auf heutige Frauen und Männer hat. Die veränderte Rolle und Funktion weiblicher und männlicher Buddha-Gestalten im Laufe der zweieinhalbtausendjährigen Geschichte des Bud­ dhismus spiegelt unterschiedliche Rollenmodelle von Frauen und Männern. Wer nicht glaubt, daß die buddhistischen Männer bereits alles über Befreiung und Erleuchtung gesagt haben, darf sich auf spannende und befreiende Zeiten gefaßt machen, wenn schlußendlich die bislang eher schweigende Mehrheit der Frauen ihre Stimme erhebt.1 Schlüsselworte: Frauen, Tantra, Buddhismus, hierarchische Differenz, Gleich­ berechtigung, sexuelle Differenz, weibliche Freiheit, die Kraft der Imagination, Bilder des Erwachens. Die Grüne Tara ist eine der beliebtesten Buddha-Gestalten des tibetischen Buddhismus. Sie ist eine Erwachte, und sie ist eine Frau. Im frühen Buddhismus gilt das als Widerspruch. Da gibt es wohl Frauen, die wie ihre männlichen Kollegen Befreiung von Gier, Haß und Verblendung erreicht haben, doch der Status eines vollerwachten Buddha ist Menschen männlichen Geschlechts Vorbehalten. Davon gibt es in unserem glücklichen Zeitalter lediglich tausend, und von daher scheint der Ausschluß der Frauen von dieser „Position“ statistisch unerheblich, aber Frau fragt sich, was diese Aussage bedeutet? Sind das historische Tatsachen, die „irgendwie“ mit dem weiblichen Körper zu tun haben oder Folgen sozialer Rollen? Oder ist das einfach Ausdruck dessen, daß sich die Männer dieser Zeit erwachte Frauen nicht vorstellen konnten? Erst im tantrischen Buddhismus wird das Undenkbare denkbar. Auch Frauen können Buddhas werden. Es geht in diesem Beitrag also um mindestens drei komplexe Themen. Um Frauen, um Tantra und um Buddhismus. Ich möchte eingangs einige Fragen zu die­ sen drei schwergewichtigen Begriffen stellen: Was sind Frauen? Was sind richtige Frauen? Was sind falsche Frauen? Gibt es überhaupt Frauen? Oder gibt es nur ganz allgemein Menschen, die mehr oder weniger zufällig, wegen der Fortpflanzung, kör­ perlich Frauen oder Männer sind? Eine Frage am Rande: Haben Sie schon einmal einen allgemeinen Menschen gesehen? Oder waren das, was Sie da gesehen haben, 32

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eindeutig Frauen und Männer? Es soll Frauen - und Männer - geben, die in der Existenz von Hermaphroditen, von Zwittern, die Rettung aus dem Dilemma Frau und Mann sehen. Manche hoffen auf die wundersame Herausbildung des androgynen Menschen irgendwann in der Zukunft. Es geht also um die Frage, was Frauen sind, was sie sein und werden können, was sie sein sollten. Und was ihnen auf die­ sem Weg helfen kann. Zum zweiten geht es in diesem Beitrag um Tantra, genauer gesagt, um buddhisti­ sches Tantra und speziell um das Tara-Tantra. Auch hier müssen wir uns wieder fra­ gen: Was ist richtiges, authentisches buddhistisches Tantra? Was ist verwässertes Tantra? Wie funktioniert es? Können wir im Westen damit etwas anfangen? Wenn ja, was können wir damit anfangen? Und: Was hat Tantra mit den Frauen zu tun? Welche Rolle spielen Frauen im Tantra, als Handelnde, als Subjekte der Übung und als Handelsware, als Hilfsmittel (engl, mechanical device), als Objekte männlicher Übender? Beide Themen werden in Beziehung gesetzt zum Buddhismus, zu einer altehr­ würdigen religiösen Tradition. Auf den ersten Blick scheint eine Beziehung zwi­ schen Frauen und Tantra noch anzugehen, aber zwischen Frauen und Buddhismus? Zwischen Tantra und Buddhismus? In der Pali-Tradition hören wir nichts davon. Auch wenn es Laienanhängerinnen und Nonnen gab und gibt, im Zentrum der Aufmerksamkeit steht der Mann als Mönch. Von „Weibern“ droht dem „Mann als Mönch“ Gefahr. Doch dies ist nicht Thema dieses Beitrages. Im buddhistischen Tantra gibt es unzweifelhaft Frauen. Frauen werden hochgeschätzt: als weibliche Buddhas, als weibliche Meditationsgottheiten, als vorgestellte und „real existieren­ de“ spirituelle Gefährtinnen der Yogis, als Subjekte und Objekte der tantrischen Übung, als „Hilfsmittel“ der Männer auf dem Weg zum Erwachen und auch als Übende auf diesem Weg. Womit beginnen? Was sind Frauen? Was ist Tantra? Was ist Buddhismus? Beginnen wir mit dem ersten Begriff. Vielleicht ist es der schwierigste. Zumindest wird der Begriff immer wieder sehr kontrovers diskutiert.

Was sind Frauen? Was sind richtige Frauen? Recht unstrittig ist die Existenz von biologischen Frauen. Noch braucht man Frauen zum Kindergebären. Vielleicht wird einmal die Mehrzahl der Kinder aus der Retorte gezüchtet. Das wird dann sicherlich auch die Definition von Frausein verändern. Heute gebären Frauen Kinder. Welche Konse­ quenzen zieht das nach sich? Was ist biologisch notwendig, und was in bestimmten Gesellschaften erwünscht? Was sollen Frauen und Männer unserer Meinung nach aufgrund ihres Geschlechts tun? Was nicht? Vielleicht erinnern Sic sich einmal dar­ an, was Sie als kleines oder halbwüchsiges Mädchen tun durften, tun mußten, nicht durften, nicht mußten? Oder als kleiner oder größerer Junge. Was waren, was sind die Tätigkeiten wert, die Frauen und Männer tun oder nicht tun sollen? Welches Tun ist sichtbar und welches nicht? Was wird übersehen? Frauen - und auch Männer - suchen heute mehr denn je ihren Platz in einer Welt, in der sich überlieferte Frauen- und Männerrollen auflösen und neue Rollen noch nicht klar definiert sind. Mehrere Strategien sind erkennbar: 33

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1. Das Modell hierarchische Differenz: Ein großer Teil der Frauen und Männer hält mehr oder weniger bewußt am alten Modell der hierarchischen Differenz zwi­ schen Mann und Frau fest. Sie sind der Meinung, die biologischen Unterschiede zwischen Männern und Frauen beinhalten zwingend bestimmte psychologische Unterschiede, und diese „natürlichen“ Unterschiede rechtfertigen eine gesellschaft­ liche Arbeitsteilung. Männer übernehmen dabei die (bislang noch mehr oder weni­ ger gut bezahlte) produktive Arbeit in Gesellschaft, Politik, Kultur und Religion, definieren und organisieren die äußere Welt, und Frauen bekommen überwiegend die (gar nicht oder schlecht bezahlten) Reproduktionsarbeiten wie Kindererziehung und Haushalt und die Rolle der Rückenstärkung für den Ernährer der Familie zuge­ wiesen. Oder sie arbeiten gegen Entgelt in diesen Bereichen oder als klassische Gehilfin oder moderne Assistentin eines Mannes. Konservative Parteien und funda­ mentalistische Richtungen der heutigen Religionen rechtfertigen dieses Modell mit den Hinweis auf seine „Natürlichkeit“. 2. Das Modell Gleichberechtigung: Seit über hundert Jahren lehnen Frauen ver­ mehrt das überlieferte Modell der hierarchischen Differenz zwischen Männern und Frauen ab und setzen sich für die Gleichberechtigung mit den Männern ein. Emanzipation als Angleichung an das Freiheitsmodell des Mannes scheint der einzi­ ge gangbare Weg zu sein, solange dieses von Männern definierte Modell des autono­ men, freien Individuums das einzige Freiheitsmodell ist, das es zu geben scheint. Der Versuch, dieses Modell zu verwirklichen, zieht eine Reihe recht schwieriger Situa­ tionen nach sich. Viele Frauen fühlen sich unwohl mit dem widersprüchlichen Leben, das sie führen. Die an sie gestellten Forderungen, privat perfekte Geliebte oder Ehefrau, ihren Kindern perfekte Familienmutter oder alleinerziehende Mutter zu sein, in Arbeitswelt und Politik „ihren Mann“ zu stehen, dabei natürlich „weib­ lich“ zu bleiben und - gleichzeitig weder Frauen noch Männern mit dieser Perfek­ tion Angst zu machen, gleichen der Quadratur des Kreises. 3. Das Modell „Individuum“ (fast) ohne Geschlecht: Viele Frauen meinen dem Dilemma der hierarchischen Differenz und der damit einhergehenden Diskriminie­ rung als Frau und dem durch die Gleichberechtigung gegebenen Zwang zur Angleichung an die Männer dadurch entkommen zu können, daß sie sich einfach als Indivi­ duum begreifen. Sie wollen sich nicht mehr mit ihrem Frausein identifizieren, denn da schwingt immer noch Diskriminierung, das Stigma der Minderwertigkeit, mit. Sie wollen ganz sachlich wegen ihrer Qualitäten und ganz persönlich als Individuen geschätzt werden. Der Buddhismus folgt - in Gemeinschaft mit vielen Religionen und Psychologien - inhaltlich dem ersten, im Westen hin und wieder, zumindest offiziell, dem zweiten und im besten Falle dem dritten Ansatz. Damit bietet er - im besten Fall - einen Weg zur individuellen Befreiung ohne eine Reflexion der Lebensbedingungen von Frauen und Männern. Und dabei bleibt fast alles beim alten: die Arbeitsteilung, die Selbstbilder, emotionale Muster und das Verhalten. 4. Das Modell „Sexuelle Differenz“: Wollen Frauen sich weder mit der hierarchi­ schen Differenz abfinden, noch Überforderung zu einer ständigen Lebensweise machen, noch als Geschlechtswesen verschwinden, im vergeblichen Versuch, sich dem Modell Mann anzugleichen, müssen Frauen versuchen, ihre eigenen Vorstel­ lungen von „weiblicher Freiheit“, von Freiheit für Frauen zu entwickeln und ihr individuell, sozial und kulturell Ausdruck geben. 34

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Dieser Ansatz wurde von der französischen Psychoanalytikerin Luce Irigaray und den italienischen Philosophinnen um den Mailänder Frauenbuchladen „libreria delle donne di Milano“ Anfang der achtziger Jahre mit dem Begriff „sexuelle Differenz“ belegt. Das Denken der sexuellen Differenz setzt an der für alle offen­ sichtlichen Existenz von zwei Geschlechtern an, von Frauen und Männern. Sogar die Bibel weiß: „Und Gott schuf den Menschen, und er schuf ihn als Mann und als Frau.“ Solange Frauen und Männer durch ihre Zugehörigkeit zu ihrem Geschlecht geprägt werden, durch körperliche Vorgänge und bestimmte Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Neigungen, durch Status, Selbstbilder und Selbstwertgefühle, solange sollten sie diesem Ansatz zufolge diese Aspekte ihres Geschlechts reflektieren. Denn kulturell bedingte Probleme sind nicht allein auf der individual-psychologischen Ebene zu lösen. Es geht hier nicht darum, das Konzept von zwei ontologisch unter­ schiedlichen Geschlechtern festzuklopfen, sondern bei den sicht- und spürbaren, bei den gelebten Unterschieden anzusetzen, sie genau wahrzunehmen und geschickt damit umzugehen. So, daß unser Umgehen damit nicht auf Kosten der Frauen und letztlich auch der Männer geht.

Buddhismus: Frauenbilder sind leer von wahrer Existenz So weit zur Frage „Was sind Frauen?“ Im folgenden möchte ich mich mit einer Kernaussage des Buddhismus befassen, mit der Lehre vom bedingten Entstehen. Das kann uns möglicherweise helfen, unsere Ansichten und Meinungen zum Thema Geschlecht genauer wahrzunehmen und anhand der erlebten und erkannten Wirklichkeit zu korrigieren. „Weil alles leer ist von wahrer Existenz, existiert es in Abhängigkeit. Weil alles in Abhängigkeit existiert, ist es leer von wahrer Existenz.“ Die königliche Begründung der Mahayana-Philosopie. „Die Person existiert in Abhängigkeit von den körperlichen und geistigen Kom­ ponenten, die sie ausmachen... Zusätzlich zur Abhängigkeit von Ursachen und Tei­ len sind Phänomene auch abhängig von ihrem Benanntwerden durch den Geist...“ Geshe Rabten, Echoes of Voidness, Wisdom, Boston & London 1983, p. 32. Die Lehre vom bedingten Entstehen ist die Kernlehre des Buddhismus. „Weil das ist, ist das.“ Alles, was es gibt, existiert abhängig von Ursachen, Bedingungen, Bestandteilen und benennendem Bewußtsein. Nichts ist „einfach so“. Nichts ist „natürlicherweise so“. Die Umsetzung der Lehren vom bedingten Entstehen und der Leerheit von Selbstexistenz kann uns heilen von allem Festhalten an fixen Ideen und falschen Vorstellungen. Diese Lehren können uns eine große Hilfe sein bei der Auflösung von Meinungen und von für selbstverständlich und wahr gehaltenen Gewohnheiten und falschen Vorstellungen. Sie können uns befreien vom Druck einer für wahr gehaltenen patriarchalen Kultur. Soziale Strukturen, kulturelle Werte, Frauen- und Männerrollen sind „leer von wahrer Existenz“, weil sie in Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen entste­ hen. Weil Frauenbilder abhängig von Ursachen und Bedingungen entstehen, sind sie leer von wahrer Existenz. Es gibt keine Frau „an sich“, keine „richtigen“ und „fal­ schen“ Frauen, keine „natürliche“ Bestimmung der Frau oder des Mannes. Es gibt 35

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soziale Konventionen und Rollen, die in Abhängigkeit von ökonomischen Bedin­ gungen und kulturellen Werten entstehen, für eine Weile bestehen und wieder ver­ gehen, wenn die ihnen entsprechenden Bedingungen nicht mehr vorhanden sind. Frauen- und Männerrollen ändern sich, wenn Frauen und Männer andere Bedürf­ nisse und Fähigkeiten leben wollen und können. Wenn Frauen den Eindruck haben, daß die in der Gesellschaft vermittelten Frauenrollen ihren Bedingungen, Bedürf­ nissen und Fähigkeiten nicht entsprechen, können sie anfangen, sic entsprechend zu verändern. Die Lehre vom bedingten Entstehen aller Arten von sozialer und kultureller Wirklichkeit, von Werten und Strukturen kann unendlich viel Energien freisetzen, die in fixen Vorstellungen von der „natürlichen“ Frau und dem „natürlichen“ Mann blockiert sind. Frauen sind das, was Frauen leben. Oder in Anlehnung an Gertrude Stein: „Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau“.

Tantra: Der Weg ist das Ziel „God is a concept“, sangen die Beatles, und „Götter sind Methoden“, sagt der tantrische Buddhismus sinngemäß. Buddhistisch interpretiert kann das Konzept Gott, das Göttliche, eine wirksame Methode sein, falsche Vorstellungen über das Ich auf­ zulösen. Und es kann uns gleichzeitig zu unserer inneren Weisheit, zur BuddhaNatur, in diesem Sinne auch zum Göttlichen in uns hinführen. Was ist ein Buddha? Im Pali-Buddhismus gilt Buddha als der große Lehrer, der uns den Weg zum Erwachen zeigt. Männer und Frauen können Befreiung von kleshas und karma, von aufgewühlten Emotionen und verwirrtem Verhalten errei­ chen. Sie können Arhats oder Arhatis werden. Der Begriff Buddha bleibt dem männlichen Lehr-Buddha des jeweiligen Zeitalters Vorbehalten. Shakyamuni Buddha gilt als der vierte dieser „ewig männlich“ gedachten Reihe von eintausend Lehr-Buddhas dieses glücklichen Zeitalters. Die tantrischen Traditionen interpretieren, wie der Mahayana-Buddhismus insge­ samt, die Ziele des Weges etwas anders. Sie unterscheiden zwischen Arhatschaft, der Befreiung von kleshas und karma, von aufgewühlten Emotionen und dualistischem Handeln und vollständiger Erleuchtung, Buddhaschaft, bei der auch die dualistische Sicht vollständig überwunden wird. Buddhas sind dieser Interpretation zufolge im Gegensatz zu den lediglich „befreiten“ Arhats „völlig erwacht“. Sie haben zum Wohle aller Wesen Erleuchtung erlangt und verkörpern sich zu diesem Zweck immer wieder in dieser Welt und in anderen Welten. Sie manifestieren sich in der Form, die dem Wohle der Lebewesen am besten dient: als Brücke und Speise, als Bettler und, man höre und staune, sogar als Frauen.

Die Kraft der Imagination - Buddha-Figuren, Gottheiten Die tantrischen Traditionen arbeiten mit Gottheiten, mit dem Bild von weiblichen und männlichen Buddha-Figuren. Was meinen die tantrischen Traditionen des Buddhismus, wenn sie von Gottheiten (Skt. deva, Tib. lha) sprechen? Sicherlich nicht Gott als „den ganz anderen“, die Antithese zum sündigen Menschen. Sicher­ lich auch nicht den männlich gedachten Gott der Juden, Christen und Moslems. 36

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Gottheiten sind im Buddhismus Meditationshilfen, Methoden. Göttinnen und Götter sind Methoden. Sie sind Symbole der Befreiung, Symbole des vollständigen Erwachens und damit Projektionsflächen für unsere innere Weisheit. Wenn wir uns erleuchtete, befreite Wesen vorstellen, wenn wir uns weibliche oder männliche Buddha-Figuren imaginieren, nähren wir unsere innere Weisheit. Wir stellen eine Beziehung her zu unseren heilen Seiten, zu unserem guten Kern, zu unserer Buddha-Natur. Wenn wir uns Buddha-Figuren vorstellen, uns mit ihnen beschäfti­ gen und uns mit ihnen identifizieren, stärken wir das Vertrauen, daß wir aus dem Schlaf der Unwissenheit erwachen können. Wie funktioniert die Arbeit mit Buddha-Figuren? Eine Erklärungsebene ist fol­ gende: Wir projizieren ein erwachtes Wesen, ein Wesen, das alle Probleme über­ wunden und alle heilsamen Eigenschaften entfaltet hat. Konzentrieren wir uns regel­ mäßig auf die Qualitäten eines erwachten Wesens, läutert das unseren Geist. In der Sprache des Tantra: Durch die visuelle und emotionale Identifikation mit einer Buddha-Gestalt werden zwei Prozesse gefördert. Durch die reine Erscheinung der Gottheit reinigen wir unseren Geist von gewöhnlicher Wahrnehmung (reine Erscheinung), und durch Identifikation mit der Buddha-Figur und ihren reinen Eigenschaften lösen wir die Identifikation mit unserem Alltags-Ich auf (göttlicher Stolz). (Thubten Yeshe 1988, S. 152 ff.) Wir üben Buddha-Sein (auf badisch: „mir schpielet Buddha-les“). Durch die Visualisierung und emotionale Identifikation mit einer Buddha-Figur entsteht ganz unmittelbar positive Energie (Verdienste), und durch die Einsicht, daß diese Buddha-Figur genau wie alle übrigen Erscheinungen der Innenwelt und der Außenwelt aus dem Raum der Leerheit entstehen, entwickeln wir Weisheit. Wozu brauchen wir in diesem Prozeß das Geschlecht der Gottheiten? Denn eines ist sicher. Alle Gottheiten haben ein Geschlecht.

Erleuchtung und Geschlecht - Enlightened polemics Einerseits werden viele Traditionen des Buddhismus nicht müde zu betonen, daß Erleuchtung und Geschlecht nichts miteinander zu tun haben. Ja, Befreiung und Erleuchtung seien erst möglich, meinen sie, wenn wir nichts mehr mit dem Geschlecht zu tun, wenn wir das Geschlecht hinter uns gelassen haben. Andererseits gibt es in der Geschichte des Buddhismus eine jahrhundertelange, mehr oder weni­ ger erleuchtete Polemik um das „Thema Frauen und Erleuchtung“. Ihr Studium kann erheiternde Stunden bescheren. Während einige gelehrte Mönche, wie oben schon erwähnt, meinen, Frauen könnten nie und nimmer Buddhas im Sinne von Lehr-Buddhas für ein Zeitalter werden, meinen andere, alle Menschen müssen in dem Leben, in dem das Erwachen geschieht, männlich sein. Ein paar Jahrhunderte später meinen dann manche, eine Frau müsse sich sozusagen fünf Minuten vor dem Erwachen kraft ihrer übersinnlichen Kräfte (Skt. siddhis) in einen Mann verwandeln, um voll erleuchtungsfähig zu sein. Eine Göttin, die aus der Wand kommt, verwan­ delt schließlich Sariputra, den als orthodox beschriebenen Jünger Buddhas, in eine Frau und sich selbst in einen Mann, um sein Hängen am Geschlecht ad absurdum zu führen. So weit zur Aussage: Erleuchtung und Geschlecht haben nichts miteinander zu tun. Diese historisch überlieferten Polemiken sind sicherlich ein guter Spiegel der 37

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Ansichten und Meinungen, die mehr oder weniger gewöhnliche Menschen zum Thema Erwachen und Geschlecht zum besten gaben. Damals war das Verhältnis von Erwachen und Geschlecht ein wichtiges Thema, das die Gemüter offensichtlich erregte. Diana Y. Paul hat in ihrem Klassiker „Frauen und Buddhismus“ (Paul, 1983). diese Polemiken sehr lebendig und mit vielen Auszügen aus den Schriften darge­ stellt. Rita M. Gross hat ihr Studium der Geschichte in dem Schlüsselsatz zusammengefaßt: Buddha-Dharma has no gender. (Gross, 1988) Auf dem Weg zur Erleuchtung geht es sicherlich auch darum, die Anhaftung an das eigene Geschlecht aufzulösen. Es bleibt offen, wie eine Transzendierung von Geschlecht aussieht, solange eine oder ein Buddha in dieser Welt lebt. Schüttet man nicht das Kind mit dem Bade aus, wenn man behauptet, das Geschlecht sei irrele­ vant? Vielleicht will man damit aber auch nur das weibliche Kind mit dem Bade ausschütten, und die Söhne der Buddhas planschen lustig weiter? Gehören zur Irrele­ vanz des Geschlechts die Lehren von den tausend männlichen Lehr-Buddhas und von der Höherwertigkeit einer männlichen Existenz? Gehören dazu vierzehn männ­ liche Dalai Lamas und fast hundert Prozent männliche Lehrer aus Asien? Gehören dazu neunzig bis hundert Prozent männliche Buddha-Figuren in den westlichen Zentren? Warum wird die Aufforderung, die Anhaftung an das eigene Geschlecht aufzu­ lösen, in erster Linie den Frauen erzählt, die nach weiblichen Buddhas und weib­ lichen Vorbildern fragen? Warum wird gerade dann gesagt, daß das Geschlecht bei der Erleuchtung keine Rolle spielt? Warum fragen sich die Personen, die das erzäh­ len, nie, warum alle Buddhas ein Geschlecht haben? Bei Bodhisattvas kann man das ja noch verstehen, sie sind noch nicht ganz erwacht, aber Buddhas? Hat es damit zu tun, daß sie in dieser Welt agieren und mit Frauen und Männern kommunizieren? Ist es ein Akt des Mitgefühls mit unserem geschlechtsorientierten Denken, ein Zuge­ ständnis an unsere Gewohnheiten, daß sie sich als geschlechtliche Wesen manifestie­ ren? Möglich. Warum aber, so frage ich, haben dann so wenig Buddhas das Mit­ gefühl, sich zum Wohle der Frauen und zur Unterweisung der Männer als Frauen zu manifestieren? Hat das vielleicht mehr mit den unerleuchteten Männern zu tun, die diese Traditionen formulieren und überliefern, als mit erwachten Wesen, die das Hängen an ihrem Geschlecht überwunden haben?

Buddha Tara: Erleuchtung als Frau zum Wohle aller Wesen Eine lange Vorrede zum Thema Tara. Vielleicht hatte das Mitgefühl der erwachten Frauen und Männer mit den unerwachten Lebewesen, mit den Frauen und den an ihrem Geschlecht hängenden Männern in den ersten Jahrhunderten u. Z. ein Ausmaß erreicht, das auch die verknöchertsten, patriarchalsten Mönche und Lehrer in Indien nicht mehr übersehen konnten. Und so entstand Buddha Tara. Es scheint ein Akt ganz besonderen Mitgefühls, wenn Buddha Tara in patriarchalen Zeiten (im 5./6. Jh. nach der Zeitenwende in Indien und im 11. Jh. u. Z. in Tibet, Willson, 1986) verkündet, bis zur Erleuchtung nur noch weibliche Wiedergeburten anzunehmen und als Frau Buddhaschaft zu erreichen. So habe ich es gehört, von vielen, vielen tibetischen Lamas in den letzten zwanzig Jahren. Seit etwa tausend Jahren wird die­ se Geschichte in Tibet erzählt und getreu wiederholt. Sie war mein Einstieg in den 38

Grüne Tara, Freie Frau

Buddhismus, vierzehn Tage nach Beginn meines zweijährigen Studienaufenthaltes in Indien und Nepal, Ende der Siebziger Jahre. Wenn der Buddhismus solche Ge­ schichten erzählt und bewahrt und nicht patriarchal verzerrt, dann, so sagte ich mir, ist darin Platz für mich als Frau aus dem ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert, die mit viel Theorie und etwas Praxis der Gleichberechtigung aufgewachsen ist und sich der Verbindung von Frausein und Freiheit verpflichtet fühlt. Die Grüne Tara ist eine Bodhisattva-Gestalt und eine Buddha-Figur. Ihr Name bedeutet „Befreierin“ oder „Befreite Frau“ oder, moderner formuliert, „freie Frau“. Im Mandala der fünf Buddha-Familien gehört sic zur Karma-Familie mit Amoghasiddhi als ihrem männlichen Begleiter. Beide werden der Nacht, dem Luftelement und dem Norden zugeordnet. Es fällt auf, daß diese fünf BuddhaEnergien traditionell häufig als Paare dargestellt werden. Die tantrische Tradition sagt damit aus, daß eine Energie erst dann vollständig ist, wenn beide Geschlechter „mitspielen“, allerdings werden diese Buddha-Familien streng patriarchal nach ihrer männlichen Leitfigur benannt. Die Namen der männlichen Buddhas sind daher durch häufiges Zitieren bekannt, die Namen der weiblichen Buddhas dieser Buddha-Familien kennen die meisten Übenden des tibetischen Weges nicht.2 Tara spielt in der tibetischen Tradition eine besondere Rolle. Sie wird auch unab­ hängig von ihrem Gefährten Amoghasiddhi verehrt und häufig alleine darge­ stellt. In der Gelug-Tradition gibt es tantrische Sadhanas aller Klassen mit Tara im Mittelpunkt. Manche heutige Interpreten meinen nun allerdings, um richtig Tantra üben zu können, müsse man unbedingt auch mit männlichen Gottheiten üben. Nun denn.

Die Grüne Tara Wofür steht die Grüne Tara? Sie verkörpert aktives Mitgefühl, das geschickte Handeln aller Buddhas. Sie ruht nicht in der Vajrahaltung, im vollen Lotussitz, son­ dern hat ihr rechtes Bein leicht ausgestreckt, was auf Aktivität hinweist, auf die Bereitschaft, sich aus der Meditation zu erheben und ihr Wissen in geschicktes Handein umzusetzen. Die linke Hand ruht am Herzen in der Geste der Zuflucht. Tara hat Zuflucht in sich, in ihrer Buddha-Natur gefunden, und sie personifiziert Zuflucht, alle drei Juwelen in einem für die, die sie verehren. Wer Zuflucht in sich gefunden hat, hat keine Furcht. Daher steht die Grüne Tara auch für Furchtlosigkeit. Die rechte Hand liegt auf dem rechten Knie in der Geste des Gebens und der 39

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Großzügigkeit, der Verwirklichung aller heilsamen Eigenschaften und Fähigkeiten (Skt. siddhi). (Thubten Yeshe 1998) Seit rund 15 Jahren leite ich Übungswochen, in denen wir uns mit einer Medita­ tion über die Grüne Tara befassen (Thubten Yeshe 1998). Was fangen westliche Frauen mit einer weiblichen Gottheit, mit einer Buddha, mit einer tibetischen Göttin an? Sicherlich gibt es mehr Ebenen, auf denen eine solche Meditationsübung wirkt, als ich sie erfasse und hier beschreiben kann. Drei Aspekte möchte ich im fol­ genden beleuchten. a) Eine weibliche Buddha-Figur, ein weibliches Symbol des Göttlichen, eine freie Frau, stellt eine große Hilfe für Frauen dar, Selbstvertrauen in ihre Möglichkeit zum Erwachen zu entwickeln. Tara fungiert als eine Hilfe, „die zu werden, die wir wer­ den können“. (Irigaray 1983) Angesichts der oben skizzierten kulturellen Unter­ bewertung von Frauen scheint das nicht nur sinnvoll, sondern notwendig zu sein. b) Die Arbeit mit Buddha-Figuren ist ganz allgemein ein schneller Weg, die Kraft der eigenen Vorstellungen zu erahnen und Selbstvertrauen zu entwickeln. c) Die meditative Beschäftigung mit der Grünen Tara inspiriert Übende dazu, einen Ort für Frauen in einer immer noch weitgehend patriarchal gelebten Hoch­ religion zu finden und zu gestalten. Denn die weiblichen Bilder der Erleuchtung zei­ gen uns einen Spiegel, in dem wir die entdecken, die wir werden können. Eine Religion, in der auch weibliche Bilder der Erleuchtung existieren, bewirkt andere Prozesse in den Übenden beiderlei Geschlechts als Religionen, in der das Göttliche oder die Erwachten primär männlich gedacht werden.

Freie Frauen Frauen, die mit Buddha Tara arbeiten, werden mit ihren Sehnsüchten und Wün­ schen nach Freiheit und mit tiefsitzenden Zweifeln an ihrer Fähigkeit dazu konfron­ tiert. Sic lernen diese Zweifel durch tägliche Beschäftigung mit einer erwachten Frau kennen. Sie lernen ihre Vorstellungen von Freiheit, von Erwachen, von Erleuchtung kennen. Sie fragen sich tagtäglich: Wie stelle ich mir eine befreite Frau, eine freie Frau, eine Erwachte vor? Welche Eigenschaften, welche Fähigkeiten hat sie? Was kann sie? Je nach Vertrautheit mit der Übung bleibt Tara als Symbol des Erwachens im Außen, vor uns im Raum, auf der Höhe der Stirn oder über dem Scheitel, oder sie sinkt in uns hinein, ins Herzzentrum, in die Mitte der Brust. Wo auch immer die Tara-Gestalt vorgestellt wird, inspiriert sie uns mit ihrem grünen Licht, alle Probleme loszulassen und alle Fähigkeiten zu entfalten. Je konkreter wir uns einer solchen Übung hingeben, desto mehr verwandelt sie unser Denken und Fühlen. Nach einer formellen Einweisung in die Praxis üben wir uns darin, alle unsere Vorstellungen, alle Erscheinungen, Innen- und Außenwelt in Leerheit aufzulösen. Die ursprüngliche Weisheit, ihre Buddha-Natur, die Offenheit, Klarheit und Fein­ fühligkeit unseres Geistes manifestiert sich dann aus diesem Raum der Leerheit als Grüne Tara. Die fortgesetzte Übung von reiner Erscheinung und göttlichem Stolz der Kernpunkt jeder tantrischen Übung - löst mit der Zeit die Identifikation mit dem beschränkten, als beständig und fest empfundenen Alltags-Ich auf und gibt Raum für die Entfaltung von Liebe, Kraft und Weisheit, von geschicktem Handeln und aktivem Mitgefühl. 40

Grüne Tara, Freie Frau

Die Kraft der Vorstellungen Wenn wir mit Bildern der Erleuchtung arbeiten, sie uns tagtäglich vorstellen und uns durch ihre erwachte Präsenz inspirieren lassen, kann es geschehen, daß uns die­ se Vorstellungen, diese Bilder und Klänge tatsächlich inspirieren, wir uns lebendiger und klarer, offener und feinfühliger fühlen als für gewöhnlich. Wenn wir uns dann klarmachen, daß es wir selbst sind, die die Bilder, inspiriert durch eine überlieferte Tradition, entwerfen, fangen wir an, die Kraft unserer Vorstellungen zu ahnen. Wenn wir uns durch ein paar gezielt ausgewählte und geschickt eingesetzte Vorstellungen für eine halbe Stunde relativ wohlfühlen können, beweist das sehr sinnfällig, daß unsere Vorstellungen mehr Einfluß auf unsere Gefühle haben als die ganze soge­ nannt objektive materielle Welt. Tantrische Visualisierungen vermitteln uns, wenn wir sie mit Herz und Verstand üben, ungemein schnell einen Einblick in die Kraft unserer Vorstellungen. Mit dieser Einsicht sind wir wesentlich mehr motiviert, uns um die Reinigung unserer Vorstel­ lungen von gewöhnlichen Ansichten zu kümmern. Jede Übung bestärkt unser Ver­ trauen darin, daß mehr an uns dran ist als rigide Vorstellungen, aufgewühlte Emo­ tionen und eingefahrene Verhaltensweisen. Sie ermöglicht ein Eintauchen in immer tiefere Schichten von Offenheit, Klarheit und Feinfühligkeit in uns und in anderen.

Bilder des Erwachens Was geschieht in westlichen Frauen, wenn sie mit dem Bild von Tara arbeiten? Die Beschäftigung mit einer weiblichen Buddha-Gestalt stärkt das Vertrauen in die eige­ nen Fähigkeiten, zu erwachen oder Erleuchtung zu erlangen. Frauen mögen immer wieder hören, daß Menschen beiderlei Geschlechts „erleuchtungsfähig“ sind; solan­ ge sie immer nur von männlichen Buddha-Figuren hören, deren Bilder in Büchern und an den Wänden buddhistischer Zentren sehen, von überwiegend männlichen Lehrenden, Lamas, Roshis, Theras in Meditation unterwiesen werden, wird das ihr Vertrauen in die eigene Kraft mehr oder weniger subtil erschüttern. Bilder der Erleuchtung spielen eine sehr wichtige Rolle auf dem Weg. Ihre Bedeutung wird immer noch unterschätzt, von Männern und Frauen. Beide halten an der Aussage fest, Erleuchtung habe kein Geschlecht, glauben unbewußt und insgeheim und oft auch wider besseres Wissen an die bessere Eignung des männlichen Geschlechts, da dieses vorrangig abgebildet wird. Bilder von Buddhas sind Spiegel der Erleuchtung. Was sehe ich, wenn ich in die transzendenten Spiegel in den heiligen Büchern, in Bildbänden und an den Wänden der Zentren schaue? Ich sehe erleuchtete Liebe und erleuchtetes Mitgefühl, Frieden und Glück, doch aus bestimmten Gründen zeigen mir diese Spiegel immer männli­ che Gesichter. Sie sehen zwar oft ziemlich androgyn aus, aber der Name, der darun­ ter steht oder impliziert ist, ist fast immer ein männlicher Name. Und selbst meine empfindsamsten Dharma-Brüder schauen mich mit großen blauen Augen an, wenn ich ihnen erzähle, daß mir etwas fehlt, daß ich mehr suche als das. Aber das Geschlecht spielt doch keine Rolle, sagen sie dann vielleicht. Es ist eigentlich zum Lachen. Erstens spielt das Geschlecht keine Rolle. Zweitens ist es meist männlich. Gäbe es weibliche Bilder des Erwachens, wenn das Geschlecht eine Rolle spielte? Oder geht es gar nicht um das Geschlecht der Buddhas, sondern 41

Sylvia Wetzel

darum, daß das weibliche Geschlecht keine Rolle spielt? Solange die Buddhas männ­ lich sind, spielt das (weibliche) Geschlecht keine Rolle. Aha. Um was geht es? Um Erleuchtung und nur um Erleuchtung! Zumindest solange die Buddhas männlich sind. Und so lange behandeln wir das Geschlecht als vernachlässigbare Nebensache. Alles klar. „Ist dieser Buddha nicht wunderbar?“ „Sicherlich, ganz wunderbar.“

Ein Mann in einer Welt der Frauen Ich werde Sie nicht fragen, wie sie sich fühlen würden, wenn Sie ein Mann wären und einen buddhistischen Tempel beträten und sich Jahr um Jahr, Jahrzehnt um Jahrzehnt und Jahrhundert um Jahrhundert umgeben sähen von weiblichen Bildern der Erleuchtung, von Lehrerinnen, Linienhalterinnen, berühmten Nonnen und all diesen wunderbaren Frauen in den Büchern und auf den Buchtiteln, an den Wänden und auf den Thronen, in den Geschichten und Gebeten, auf den Lehrstühlen und hinter den Schreibtischen und hier in diesem Land, und das die geschriebene Ge­ schichte hinauf und hinunter, die Sie in der Schule und auf der Universität kennen­ lernen. Ich frage Sic nicht, wie Sie sich als Mann dabei fühlen würden. Sie würden sich möglicherweise sehr unwohl fühlen, wenn es so wäre. Vielleicht würden Sie der Ratschlag trösten, daß das Geschlecht im Prinzip ja keine Rolle spielt. Mög­ licherweise.3 Aber da es umgekehrt ist, denken Sie wie die meisten Menschen gar nicht darüber nach, weil es so normal ist. Und weil es weh täte, es zu bemerken. Es gilt im Westen immer noch als angemessen, das Transzendente in männlicher Form zu beschreiben. Auch heute noch, wo die meisten Menschen Gleichberechtigung und Emanzipation auf ihre Fahnen schreiben und buddhistische Lehrer und Lehrerinnen nicht müde werden zu betonen, daß das Geschlecht keine Rolle spiele. Es stimmt wohl, das (weibliche) Geschlecht spielt in der Tat keine Rolle. Wir alle wissen, daß es der Einfluß von patriarchalem Denken war, durch den die vielen vorchristlichen Göttinnen ihre Bedeutung verloren oder gar ihr Geschlecht veränderten. Wir können von den Frauen und Männern in Irland und in den roma­ nischen Ländern - und in Bayern - lernen. Sie behielten ihre Göttinnen auf einer be­ stimmten Ebene bei, auch wenn sie nun Maria heißt. Es kann uns inspirieren, wenn wir hören, daß Kuan Yin im China des 11. Jahrhunderts ihr Geschlecht von männ­ lich in weiblich änderte, weil die Menschen eine Göttin brauchten. Vielleicht haben sie unter neuem Namen die alte Ordnung wieder hergestellt? Wie dem auch sei, alle diese historischen Beispiele veranschaulichen das Gesetz vom bedingten Entstehen. Auch patriarchale Kulturen brauchen bestimmte Bedingungen. Weibliche BuddhaFiguren tragen sicherlich dazu bei, einige der Bedingungen für patriarchale Kulturen im Herzen und im Geist von heutigen Frauen und Männern aufzulösen.

Das weibliche Göttliche - „Gott als Frau“ Zum Ausklang einige Gedanken von Luce Irigaray über das weibliche Göttliche (Irigaray, 1989): „Das Wesentliche unseres Geschicks... (besteht darin): Das Göttliche in uns und zwischen uns zu erzeugen... (S. 100) Keine Konstitution von Subjektivität... ist je 42

Grüne Tara, Freie Frau

ohne Mitwirkung des Göttlichen geworden... Wenn Frauen keinen Gott haben, können sie nicht kommunizieren, auch nicht miteinander... (S. 103). Das Religiöse bezeichnet den Ort des Absoluten für uns, seinen Weg... Gott in uns.... Sind wir fähig, diesen Gott als Frau zu imaginieren? Als die Vollendung unserer Sub­ jektivität?“ (S. 105) „,Gott ist der Spiegel des Menschen.' (Anselm Feuerbach). Der Frau fehlt ein Spiegel, um Frau zu werden. Einen Gott haben und seine Gattung werden ist nicht voneinander zu trennen. Gott ist der andere, den wir unbedingt brauchen, um zu werden. Wir brauchen die Ahnung einer Vollkommenheit, um zu werden ... eine Kohäsion und einen Horizont, die uns den Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft sichern.“ „Einen Zweck haben ist (nach Feuerbach) ,wesenhaft' religiös... Der Zweck, der uns gesetzt wurde, ist immer ein uns äußerlicher Zweck gewesen: der Mann, das Kind, die Stadt... Wir haben es versäumt, ihn in uns und außer uns zu setzen. Uns zu lieben und zu wollen. Das kann nur ein göttliches Projekt sein.... Nur das Göttliche bietet uns die Freiheit... Die Gemeinschaft bringt Abhängigkeit mit sich, solange nicht jede, jeder einzelne zur Freiheit, zur Souveränität fähig ist.“ (S. 111-113.) Warum befassen sich moderne Frauen mit einer buddhistischen Göttin? Was suchen Frauen, die die grüne Lichtgestalt von Arya Tara visualisieren und ihr Mantra rezitieren? In alten Zeiten gab es nur die Göttin, die Mutter des Himmels und der Erde, die Mutter des Alls, aus der alles Leben kam. Die später geborenen Söhne der großen Göttin entthronten in langen zähen Kämpfen ihre Mutter, die Mutter aller Menschen und Götter. Die Göttin wurde durch das Wirken ihrer Söhne zur Muttergöttin, später zur Gattin des eines männlichen Herrscher-Gottes und in unserer christlichen Tradition zum irdischen Gefäß für den himmlischen Sohn. Ein langer Weg vom Himmel auf die Erde, vom Sinnbild des ganzheitlichen Seins, das Leben und Tod umfaßt, zum Gefäß Gottes und schließlich zur Hexe, die millionen­ fach auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Die Bilder der Großen Göttin sind verschwunden. Die Erinnerung an sie wurden in den europäischen Mythen fast aus­ gemerzt oder sehr verzerrt. Doch die Sehnsucht vieler Frauen (und auch einiger Männer) nach einem weiblichen Symbol der Transzendenz ist nicht verschwunden. Wozu brauchen heutige Frauen (und Männer) also eine Göttin? Die französische Psychoanalytikerin und Philosophin Luce Irigaray meint in ihrem oben zitierten Beitrag „Göttliche Frauen“, Frauen brauchen ein weibliches Göttliches, eine Göttin als Horizont, der ihnen hilft, die zu werden, die sie sein können. Der deutsche Philosoph Anselm Feuerbach weiß, „Gott ist der Spiegel des Menschen“ (S. 111), und er ahnt die Bedeutung eines weiblichen Göttlichen für die ganze Menschheit, wenn er sagt: „Wo der Glaube an die Mutter Gottes sinkt, da sinkt auch der Glaube an den Sohn Gottes und den Gott Vater. Der Vater ist nur da eine Wahrheit, wo die Mutter eine ist ... Der Glaube an die Liebe Gottes ist der Glaube an das Weibliche als ein göttliches Wesen ... Wer das Weib nicht liebt, liebt den Menschen nicht.“ (S. 115/116) Die zunehmende Beliebtheit der Grünen Tara in tibetisch-buddhistischen Gemeinden im Westen und das zunehmende Interesse Übender anderer buddhisti­ scher Traditionen und sogar nicht-buddhistischer Kreise scheint zwei Thesen zu bestätigen: Daß erstens ein männlich oder geschlechtsneutral gedachtes Symbol der 43

Sylvia Wetzel

Transzendenz auf die Dauer religiös empfindende Menschen nicht zufriedenstellt. Zumindest die Frauen nicht. Und zweitens, daß ein weibliches Symbol der Trans­ zendenz Frauen und Männer auf dem Weg in die soziale und politische Freiheit bei­ der Geschlechter nachhaltig inspirieren kann.

On the Trail of a Buddhist Goddess Summary: This essay describes the effects of working with female Buddha-figures such as Green Tara of the Tibetan Buddhist Tradition on women and men of our age. Roles and function of female and male Buddha-figures have changed over the twenty-five centuries of Buddhist history. These changes reflect changing role-models of women and men. Those who can’t believe that buddhist men have said every­ thing about liberation will experience interesting and liberating times, when the up to now mostly silent majority of women starts talking. Key words: Women, Tantra, Buddhism, hierarchical difference, equality, sexual difference, female libera­ tion, power of imagination, images of awakening. Anmerkungen 1. Eine frühere Fassung dieses Beitrags ist ab Dezember 1998 nachzulesen im Internet: Journal of Religious Culture, Institut für wiss. Irenik, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main. Diese Ausgabe des Journals enthält Vorträge und Nachbetrachtungen des Symposiums „Frauen und Buddhismus“, das im Februar 1997 von Sakyadhita, Association of Buddhist Women, und der Universität Frankfurt veranstaltet wurde. 2. Die fünf erleuchteten Paare heißen: Vairochana & Akashadhatesvari, Ratnasambhava & Mamaki, Amithaba & Pandaravasini, Amoghasiddhi & Tara und Akshobya & Locana. Vgl. Chögyam Trungpa, Feuer trinken, Erde atmen. Die Magie des Tantra. Rowohlt 1989 (Journey without Goal 1981), S. 98 ff. Lama A. Govinda, Grundlagen tibetischer Mystik. Barth, München 1956, S.120 ff. 3. Vgl.dic Visualisierung „Stellen Sie sich vor, Sie sind ein Mann“ in: Wetzel, Lotos, S. 115-119. Literatur: Tsultrim Allione, Tibets Weise Frauen. Dianus-Trikont, München 1986. (Women of Wisdom). June Campbell, Göttinnen, Dakinis und ganz normale Frauen. Theseus, Berlin 1997. (Traveller in Space). Rita M. Gross, Buddha-Dharma has no gender, Vajradhatu Sun, August/Septcmbcr 1988, S. 11-28. Ihre Position wird zusammengefaßt in dem Beitrag „Frauen und Buddhismus, Eine Talkshow“, in: Lotusblättcr 4/89-1/90, S. 48 ff. Dies., Buddhism after Patriarchy. A Feminist History, Analysis and Reconstruction of Buddhism. New York 1993. Adelheid Herrmann-Pfandt, Dakinis. Zur Stellung und Symbolik des Weiblichen im Tantrischen Buddhismus. Indica et Tibetica, Bonn 1992. Luce Irigaray, Göttliche Frauen, in: Genealogie der Geschlechter. Kore, Freiburg 1989. (Sexes et Parentes, 1983). Lotusblättcr 4/89-1/90, „Frauen im Buddhismus“ (mit Literaturliste). Lotusblätter 3/98, „Frauen-Männer, weiblich-männlich (mit Literaturliste). Zu beziehen über: DBU, Amalienstr. 70, 80799 München, Fax (089) 281 053. Diana Y. Paul, Frauen und Buddhismus, Papyrus-Verlag, Hamburg 1983 (Women and Buddhism). Miranda Shaw, Erleuchtung durch Ekstase. Krüger, Frankfurt 1997. (Passionate Enlightenment). Ursache & Wirkung, Themenheft Frauen, 1995, Bezug: Fleischmarkt 16, A-1010 Wien. Sylvia Wetzel, Das Herz des Lotos. Frauen und Buddhismus. Fischer Spirit, Frankfurt 1999. Dies., Hoch wie der Himmel. Tief wie die Erde. Ein Ratgeber für schöne und schwere Zeiten. Theseus, Berlin 1999. Thubten Yeshe, Wege zur Glückseligkeit. Einführung in Tantra. Diamant 1988. Thubten Yeshe, Die Grüne Tara, Weibliche Weisheit. Einführung in das buddhistische Tantra. Hrsg. S. Wetzel. Diamant, München 1998. Sylvia Wetzel Lindens tr.6 14974 Jütchendorf

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Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1/99, 45-57

Der Weg des Herzens Frauen und das Weibliche im Sufismus1 Brigitte Dorst

Zusammenfassung: Spiritualität und Mystik als weibliche Erfahrungsweisen des Göttlichen treten in der heutigen Zeit verstärkt ins kollektive Bewußtsein. Dabei geht es u. a. um die Wiederentdeckung weiblicher Gottesbilder, um die Wieder­ aneignung des spirituellen Erbes von Frauen und um die Zuständigkeit von Frauen im Bereich spiritueller Erfahrungen als Lehrerinnen, Wegweiserinnen und Meiste­ rinnen. Sufismus ist nicht nur die mystische Seite des Islam, sondern ein von Religionen und Weltanschauungen unabhängiger spiritueller Schulungsweg, der Weg des Herzens. An seinem Anfang steht eine Frau, Rabi’a al-‘Adawiyya. In der Geschichte und Literatur des Sufismus haben Frauen immer wieder eine wichtige Rolle gespielt. In der heutigen Zeit ist Sufismus vor allem ein spiritueller Erfah­ rungsweg, der Menschen Hilfestellung gibt, das Bewußtsein zu weiten und über die Herzensmeditation das Herz zu öffnen für die Liebe. Schlüsselworte: Weibliche Spiritualität, Sufismus, Liebe, Mystikerinnen, Hin­ gabe, Selbstwerdung, spirituelle Schulung, der Weg des Herzens, Meditation.

1. Mystik als weibliche Erfahrungsweise des Göttlichen Wer aufmerksam die religiösen Suchbewegungen unserer Zeit beobachtet und sich von den Irrwegen, die auch zum Spektrum der esoterischen und spirituellen Phänomene gehören, nicht irritieren läßt, der entdeckt einen ungeheuren Hunger heutiger Menschen nach unmittelbaren religiösen Erfahrungen. Unspektakulär und in der Stille sind Menschen überall auf spirituellen Pfaden unterwegs, üben täglich Zazen, befolgen Meditationsanleitungen des tibetanischen Buddhismus, praktizie­ ren Sufiübungen, christliche Kontemplation, das Herzensgebet, das stille Dzikr. Neu ist, daß alle mystischen Traditionen zum Kollektiverbe der Menschheit heu­ te werden, daß sich Menschen, unabhängig von Rasse, Geschlecht, religiöser Soziali­ sation und kultureller Herkunft, zu unterschiedlichen mystischen Erfahrungswegen hingezogen fühlen und gleichzeitig religio, die Rückbindung an etwas Höheres, als Essenz aller religiösen Traditionen achten und wertschätzen. Sie lehnen Traditionalismus, Fundamentalismus und Dogmatismus ab; sie lassen sich vielmehr von

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Überarbeitete Fassung eines Vortrags im Sozialpädagogischen Bildungswerk Münster, November 1996. 45

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einer Sehnsucht im Herzen leiten, die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit zu errei­ chen, den Zustand des „geeinten Lebens“ (Evelyn Underhill). In der Welt der Mystik haben Frauen ebenso wie Männer in der Vergangenheit eine bedeutende Rolle gespielt: als Pionierinnen der inneren Erfahrung, als Lehre­ rinnen, Meisterinnen, Wegweiserinnen, und zwar in allen Traditionen, trotz der kul­ turellen Begrenzungen ihrer Zeit. Frauen sind auch in patriarchalen Zeiten ihren Weg gegangen, denn die Sehnsucht nach dem EINEN ist nicht eine Frage des Geschlechts. Keimzeichnend für die matriarchale Spiritualität früherer Zeiten ist das unverkrampfte Verhältnis zum Eros, zur verbindenden Liebe in all ihren Erscheinungs­ formen. Dies wurde besonders deutlich in der Feier der Heiligen Hochzeit im Zyklus der Jahreszeiten. Einer der schönsten erotischen Texte, das Hohe Lied im Alten Testament, gibt uns davon Zeugnis, ein ursprünglich matriarchaler Kulttext voller Glut und wechselseitigem leidenschaftlichen Verlangen und Begehren. Er läßt die unverkrampfte Liebesfähigkeit beider Geschlechter zur Sprache kommen und feiert sie. Das Mysterium der Heiligen Hochzeit war viele Jahrhunderte der bedeu­ tendste religiöse Kult. Gleichwohl sind die spirituellen Erfahrungen heutiger Menschen auf der Höhe des heutigen Bewußtseins zu machen und nicht als regressive Wiederbelebung älte­ rer Kulte. Für Frauen in unserer Zeit geht es im Blick auf Spiritualität und Mystik um folgendes: 1. Um die Wiederentdeckung weiblicher Gottesbilder, Gottesvorstellungen und Mysterien. Es geht um das, was die patriarchalen Zeiten ins Dunkel und ins Abseits gedrängt haben, was aber heutzutage an vielen Stellen als „Wiederkehr der Göttin“ (E. Whitmont) spürbar und erfahrbar ist. 2. Um die Aneignung des kollektiven mystischen Erbes, um den uneingeschränk­ ten Zugang zum Erfahrungswissen der Menschheit, zu allen religiösen Schulungs­ und Anleitungspraktiken, wie dies zum Beispiel auf der ersten Weltkonferenz der Buddhistischen Nonnen im Jahre 1987 in Indien gefordert wurde. 3. Es geht um die Anerkennung und Wertschätzung der weiblichen Heiligen, der spirituellen Lehrerinnen, Wegweiserinnen und Meisterinnen, die es im Islam, im Hinduismus, im Schamanismus, Buddhismus und Christentum gab und gibt. 4. Es geht um die mystischen Erfahrungen heutiger Frauen und ihre Arbeit als Seelenführerinnen, Zen-Meisterinnen, Sufi-Lehrerinnen oder christliche Seelsor­ gerinnen. Natürlich hat das, was heute mit weiblicher Spiritualität bezeichnet wird, nichts zu tun mit den Grenzen biologisch verstandener Geschlechterrollen. Es geht viel­ mehr um Erfahrungsweisen, Haltungen und Werte, die von Frauen und Männern zu verwirklichen sind und die heute, im zu Ende gehenden patriarchalen Zeitalter, als das verlorengegangene Weibliche wieder verstärkt in Erscheinung treten. Die drei großen monotheistischen Weltreligionen, das Judentum, das Christen­ tum und der Islam, sind bekanntlich männliche, patriarchal ausgerichtete Reli­ gionssysteme. In allen dreien findet sich jedoch quer zur offiziellen Religion mit ihren Normen, Gesetzen und Glaubensgeboten eine Gegenbewegung, und zwar in ihren mystischen Traditionen: in der jüdischen Mystik, der Kabbala und dem 46

Der Weg des Herzens

Chassidismus, in der christlichen Mystik und auch im Bereich der islamischen Mystik, dem Sufismus. Mystiker und Mystikerinnen lassen sich weder christlich noch buddhistisch noch islamisch vereinnahmen. Bei Kabir, dem indischen Mystiker, der im 15. Jh. lebte, heißt es: „Es ist nutzlos, einen Heiligen nach seinem Stand oder seiner Religion zu fragen.“ Alle Heiligen sind Angehörige einer Religionsgemeinschaft, der Religion der Liebe. Das Licht, das durch sie hindurchscheint, scheint für alle Menschen. Für Mystiker und Mystikerinnen sind Namen und Bezeichnungen nicht von Bedeutung, das Herz ist der Ort der Erfahrung des Göttlichen, des Absoluten, der All-Einheit, des Nichts oder des Tao, der ortlose Ort der Erfahrung der Einheit von Liebendem, Geliebtem und Liebe. Mystische Erfahrung ist eine Ebene der Wirklichkeit, die die Verstehens- und Beurteilungsmöglichkeiten des Verstandes transzendiert. Das Grundthema der Mystik ist die Liebesgeschichte zwischen Schöpfer/in und Schöpfung, zwischen der Gottheit und der Seele. Vor allem in der sog. Frauenmystik geht es nicht um Metaphysik, um Gotteserkenntnis und Gottesvorstellungen, sondern um Hingabe, um die Vereinigung mit dem göttlichen Geliebten. Daher lassen sich mystische Erfahrungen wohl auch nur in der Sprache des Eros ausdrücken. Liebe ist die kosmische göttliche Urmacht, die schöpferische Kraft, die das Universum aus dem Nichts ins Sein gerufen hat, zusammenhält und überall erfahrbar macht. Liebe als Lebensprinzip ist das Prinzip der Verbundenheit; es sind alle beziehungsstiftenden und vereinenden Kräfte. Mystik ist die Unio schlechthin, ein Durchbruch zum Absoluten in der menschlichen Erfahrung einer Sehnsucht, einer leidenschaftlichen und entgrenzenden Liebe. Mystik beginnt mit dem Ruf der Liebe. In allen mystischen Traditionen gibt es weibliche Gottesbilder, z. B. die Schechina, die Chochma, die Sophia; es finden sich Beschreibungen von Gott als Mutter, als Mutterschoß, oder Gott wird als der/die Geliebte der Seele bezeichnet. So kann man sagen, daß die von weiblichen Gottesbildern, Erfahrungen, Gefühlen und Werten bestimmten mystischen Strömungen eine Gegenbewegung zur patriarchalen Religion und ihren androzentrischen Gottesbildern darstellen. Mystik kann als eine weibliche Erfahrungsweise des Göttlichen verstanden werden: es geht um Erfah­ rungen, die die Seele - die Anima - macht. Sufismus wurde daher auch als die mys­ tische, weibliche Seite des Islam bezeichnet.

2. Was ist Sufismus? Auch wenn es in der Geschichte immer wieder Versuche gegeben hat, Sufismus zu definieren und einzuordnen, gilt auch hier: „Das Tao, das gesagt werden kann, ist nicht das Tao.“ Das Wesentliche läßt sich mit Worten nicht erfassen, nicht definitorisch eingrenzen. „Sufismus ist Wahrheit ohne Form“, sagt Ibn El-Dschalali. Es ist ein mystischer Weg der Suche nach der absoluten Wahrheit, nach der innersten Erfahrung des Göttlichen als Erfahrung von Liebe in der Beziehung zum göttlichen Freund/zur göttlichen Geliebten. In der Etymologie des Wortes Sufismus wird vor allem auf drei Bedeutungen ver­ wiesen: auf das arabische Wort saf - rein, weiß, im Sinne von frei-sein von Vorein­ genommenheit und Konditionierungen; auf suf - Wolle, weil in bestimmten 47

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Richtungen des Sufismus in der Vergangenheit Wollkleider getragen wurden; auf das griechische Wort sophia - Weisheit. Pir Inayat Khan meint, letzteres benenne das eigentliche Ziel. „Sufismus ist Weisheit, Weisheit ist Liebe, und Liebe ist die wahre Weisheit.“ Auch mir erscheint diese Verbindung zur uralten Sophia-Gestalt der Weisheit und Liebe besonders wichtig. Gottesbilder, die im Bewußtsein heutiger Menschen auftauchen, sind häufig mit der archetypischen Gestalt der Sophia, der weiblichen Weisheit, in Verbindung zu bringen. In der akademischen Literatur zum Sufismus findet man viele Vergleiche und Zuordnungen. Westliche Gelehrte versuchten, den Sufismus einzuordnen als Neo­ platonismus, Gnosis, Manichäismus, als Kombination aus Christentum, Buddhis­ mus und zentral-asiatischem Schamanismus, von hinduistischen Veden beeinflußt usw. Idries Shah, einer der profundesten Kenner des Sufismus und selbst ein Sufi, kommentiert diese Auflistung mit dem Satz: „Halte Brot von Mäusen fern und SufiArbeit von Experten.“ Am häufigsten findet man die Beschreibung, Sufismus sei die Mystik des Islam. Es ist zwar richtig, daß das Sufitum in islamischen Ländern bzw. der islamischen Kultur eine besondere Blüte erfahren hat und viele Mystiker und Mystikerinnen des Islam Sufis und gleichzeitig Moslems waren. Aber nicht jeder Sufi ist Moslem. Sufis wur­ den im Islam als Häretiker und Häretikerinnen verfolgt und umgebracht, weil sie vom orthodoxen Weg abwichen. Das breitere Verständnis heißt daher: Sufismus als mystischer Pfad ist viel älter als der Islam und seinem Wesen nach frei und unabhängig von allen Zuschreibungen und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion. Sufismus ist die Überwindung aller konfessionellen, rassischen und kulturellen Vorurteile und Begrenzungen. Er umfaßt eine Gemeinschaft von spirituell Suchen­ den, die die Wahrheit jenseits der tradierten Formen erfahren wollen. Sufismus bedeutet aber auch nicht, daß die Zugehörigkeit zu der Religion, in der man soziali­ siert wurde und aufwuchs, aufgegeben werden muß. Sufis können christlich, protes­ tantisch, katholisch oder islamisch sein, sich dem Buddhismus nahe fühlen oder gar nichts mit den traditionellen Religionen zu tun haben - all das spielt keine große Rolle. So heißt es bei Ibn Arabi, einem großen Sufilehrer aus dem 13. Jahrhundert: „Mein Herz umfaßt sämtliche Formen: das Mönchskloster, den Tempel der Idole, die Weide der Gazellen und die Kaaba des Gläubigen, die Tafeln der Thora und den Koran. Die Liebe ist, wozu ich mich bekenne.“ Unsere westliche Kultur ist vom Christentum geprägt, und daher sind bei uns Sufis häufig christlich in der Wolle eingefärbt - oder aber auch nicht. Es hat jeden­ falls unter den Sufis immer Menschen verschiedener Herkunft bzw. Konfessionen und Weltanschauungen gegeben. Vom heutigen Verständnis aus kann man daher sagen, daß der Sufismus räumlich, zeitlich und weltanschaulich frei und ungebunden ist. Er ist weder eine Religion noch ein System, noch eine Geheimlehre, noch hat er essentiell zu tun mit merkwürdigen Trachten, ekstatischen Wirbeltänzen oder geheimnisvollen Mantren. All dies können zwar Erscheinungsformen des Sufismus sein, und sie waren es auch in der Vergangenheit, letztlich ist Sufismus jedoch an kei­ ne Formen gebunden und entzieht sich jeder Einordnung und Klassifikation. Wichtig scheint mir, ob es sich bei heutigen Sufigruppen um von historischen Traditionen geprägte und damit in gewisser Weise auch um verkrustete, versteinerte 48

Der Weg des Herzens

Nachahmungen handelt, oder ob es lebendige Ausdrucksformen sind, die der heuti­ gen Zeit und der Bewußtseinsebene heutiger Menschen entsprechen und angemes­ sen sind. In unserer Zeit geschieht Sufischulung vor allen Dingen mit psychologi­ schen Mitteln. Dabei geht es zunächst um Förderung der Individuation, der Selbstverwirklichung, wie sie etwa auch die Analytische Psychologie C. G. Jungs beschreibt. Der Sufismus geht dann aber über die Ziele der psychologisch verstan­ denen Individuation hinaus. Sufismus ist ein spiritueller Schulungsweg, dessen Aufgabe darin besteht, den Suchenden auf dem spirituellen Pfad Hilfestellung zu geben, das Herz zu öffnen und das Bewußtsein zu weiten. Am Anfang der Suche steht für viele Menschen eine oft nur diffus spürbare, nicht näher benennbare Sehnsucht, die sie auf die spirituelle Reise führt. Es ist eine Suche nach Innen, in die Mitte der eigenen Existenz, des eigenen Selbst. Hier finden Erfahrungen statt - oft erst nach Jahren oder Jahrzehnten, manchmal aber auch schon am Anfang des Weges, eine spontane Erfahrung der Unio, der Vereinigung und Aufhebung aller Gegensätze. Menschen erfahren die Wirklichkeit hinter der bislang bekannten Wirklichkeit; sic erleben, daß die Grenzen des Alltagsbewußt­ seins überschritten werden. Sufismus ist heute vor allem ein Weg zur Selbsterkenntnis, der Menschen schult, sie vorbereitet für die Entfaltung des in ihnen verborgenen menschlichen Potentials, und der dieses Potential zur Entfaltung bringt - mit der Energie der Liebe. In der Vergangenheit wurde dieser Weg auch als die Alchimie des Herzens bezeichnet, weil es um einen Transformationsprozeß geht, der mit Liebe, Sehnsucht und Hingabe verbunden ist, also mit all dem, was traditionell als spezifisch weibliche Qualitäten angesehen wurde.

3. Sufi-Frauen in Geschichte und Literatur Im Bereich der spirituellen Suche und der Mystik hat es in allen Traditionen männliche und weibliche Wegweiserinnen, Mystikerlnnen, Lehrerinnen gegeben, die das Licht der Liebe ausstrahlten. Am Anfang der islamischen Richtung des Sufismus steht eine Frau: Rabi’a al-‘Adawiyya, eine der bedeutendsten Mystikerinnen im arabischen Raum, die im 8. Jahrhundert in Basra lebte und im Islam als große Heilige verehrt wird. Rabi’a beschreibt ihre Beziehung zum Göttlichen in der erotischen Sprache der vertrauten Beziehung zwischen Liebender und Geliebtem. Nach Annemarie Schimmel ist es Rabi’a, auf die die Veränderung des Sufismus vom trockenen, leib-, weit- und menschenfeindlichen Asketentum hin zur Liebesmystik zurückzuführen ist (vgl. Schimmel, 1995). Rabia’s Unabhängigkeit und ihr Grad an Emanzipation, ihre unerschrockene Konfrontationsbereitschaft mit männlichen Autoritäten, ihr trockener, manchmal scharfer Humor, der in manchen Legenden und Geschichten tradiert ist, macht sie gerade für heutige Frauen besonders anziehend. Es ist aber vor allen Dingen ihre kompromißlose und radikale Liebe, die eine solche Leuchtspur hinterlassen hat, daß sie bis heute im Bewußtsein der Menschen geblieben ist: Liebe um der Liebe willen, Gottesverehrung nicht aus Furcht vor dem Jenseits oder aus Hoffnung auf das Paradies oder als berechnende Mischung aus Furcht und Hoffnung, sondern als 49

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freies Geschenk, ohne weitere Erwartungen. Gott ist für Rabi’a nicht der All­ mächtige, der Herrscher, sondern sie spricht ihn als ihren Geliebten an. Mitten in der Nacht, so wird erzählt, stieg Rabi’a oftmals auf das Dach und rief: „O mein Gott! Nun schweigt das Getümmel des Tages, die Stimmen schweigen, und im heimlichen Gemach erfreut sich das Mädchen des Geliebten, ich Einsame aber erfreue mich dei­ ner Gegenwart, denn dich bekenne ich als meinen wahren Geliebten!“ Rabi’a, wahrscheinlich eine freigelassene Sklavin, lebte allein, eine Lebensform, mit der sie in ihrer islamischen Umgebung immer wieder Anstoß erregte. Es wurden viele Versuche unternommen, sie zur Ehe zu drängen, und in den Geschichten wird es häufig Hassan von Basra zugeschrieben, daß er sie zur Ehe mahnt. Sie hingegen entgegnet: „Mein Wesen ist längst ehelich gebunden. Mein Sein ist in Ihm, ich lebe in Ihm, ich bin Er. Wer mich zur Braut verlangt, muß mich von Ihm erbitten.“ Als sie gefragt wurde, wie sie denn diesen Grad an Vereinigung erreicht habe, soll sie geant­ wortet haben: „Dadurch, daß ich alles, was ich gefunden hatte, in Ihm verlor.“ Hassan, offensichtlich ein eher etwas intellektuell ausgerichteter Sucher, fragt sie weiter: „Auf welche Weise hast du ihn erkannt?“ Und Rabi’a antwortet: „Ach Hassan! Du versuchst, auf eine bestimmte Weise zu erkennen, ich aber ganz ohne Weise.“ Mystik - die weiselose Weise des Erkennens, der pfadlose Pfad. Schon Rabi’a weist darauf hin. In vielen Rabi’a zugeschriebenen Worten und Geschichten gibt es Ähnlichkeiten zwischen Rabi’a und der christlichen Mystikerin Teresa von Avila, vor allem in der intimen Herzensbeziehung zu Gott und in ihrer Art, über den göttlichen Geliebten zu sprechen. Beide sind radikale Liebende, die sich dieser Erfahrung innerlich ganz hingegeben haben, und zugleich sind sie außerordentlich selbständige, einzigartige weibliche Persönlichkeiten mit unkonventionellem Mut und ganz eigenen Vor­ stellungen über ihr Leben. Von Rabi’a heißt es in den islamischen Texten in manchen Lobpreisungen oft, sie sei keine Frau mehr, sondern ein richtiger Mann, sie sei vielen Männern überlegen, weshalb sie auch die „Krone der Männer“ genannt würde (vgl. Schimmel, 1995) — heutzutage ist dies in unseren Ohren jedoch keineswegs ein besonderes Lob, sondern allenfalls eine sexistische Sichtweise. In der Geschichte waren Sufi-Frauen Dichterinnen, Sängerinnen, Künstlerinnen, die kostbare Kalligraphien erstellten, sie waren Lehrerinnen von großen Sufis, sie waren Schülerinnen von Sufis. Viele Werke in arabischer, persischer, türkischer Sprache und in Urdu enthalten Biographien berühmter Sufi-Frauen, wobei etliche von ihnen entsprechend dem traditionellen Frauenbild als verheiratete Frauen und Mütter, Förderinnen bestimmter Sufiorden und als Mütter berühmter Sufis Erwähnung finden (vgl. Nurbaksh, 1983). Es gibt aber auch auffallend viele weibli­ che Gestalten in der klassischen mystischen Dichtung, die wie Rabi’a aus der Rolle fallen (vgl. Schimmel 1983). Am bekanntesten ist die Geschichte der Zuleika, der Frau des Potiphar aus dem Alten Testament, die sich in den schönen Jussuf verliebt und die als große Liebende wegen der Radikalität ihrer Liebe im islamischen Raum gepriesen wird. In den Lehr­ gesprächen des Sufi-Meisters Scheich Muzaffer Ozak (1991) wird ihre Geschichte tradiert, ebenso gibt es im Koran Anspielungen. Bei uns gilt sie lediglich als verfüh­ rerische Ehebrecherin und Gefahr für den armen, unschuldigen Josef. Von Jussuf heißt es, er sei ein strahlender, außergewöhnlich schöner Mann gewesen, und in dem 50

Der Weg des Herzens

Moment, als Zuleika ihn das erste Mal gesehen habe - er war bekanntlich der Sklave ihres Mannes - sei sie in Liebe zu ihm entflammt. Für ihre Liebe zu Jussuf war sie bereit, alles zu opfern: ihren guten Ruf, ihre gesellschaftliche Stellung, ihr Geld, und so wurde sie zum Skandal der ägyptischen Aristokratie - eine verheiratete Frau, schamlos verliebt in den Sklaven ihres Mannes. An Zuleika wird deutlich: Liebe kann so übermächtig sein, daß sie alle Grenzen sprengt, daß sie sich weder um Rechtswidrigkeit, noch um Konventionen kümmert, noch darum, wie die Grenzen der Gesellschaft beschaffen sind, und auf diese Weise kann sie zur Wahrheit führen. Zuleika jedenfalls war einfach hingerissen von Jussuf, obwohl über sie geredet wurde. Insbesondere die Damen der Gesellschaft verurteilten sie. Eines Tages, so wird erzählt, lud sie alle diese Damen zu sich nach Hause ein und ließ ihnen zum Nachtisch frisches Obst servieren, das mit Messern zu teilen war. Als alle beim Nachtisch saßen, bat sie Jussuf hereinzukommen. In dem Augenblick, wo er den Saal betrat, waren alle so in Bann geschlagen, daß ihre weiblichen Gäste sich in die Finger schnitten. Zuleika aber sagte zu ihnen: „Jetzt seht ihr es selber. Wollt ihr mich immer noch für schuldig halten?“ Ihre Geschichte geht so weiter, daß sie, Jahre später, in Elend und Staub ihr Brot erbetteln muß, während Jussuf Karriere gemacht hat und der Berater des Pharao, der zweitmächtigste Mann in Ägypten geworden ist, wie auch das Alte Testament erzählt. Eines Tages treffen sich beide zufällig wieder, Jussuf in prunkvollen Gewändern, Zuleika in Lumpen, und es heißt, daß Jussuf zu ihr sagt: „Zuleika, frü­ her, als du mich heiraten wolltest, mußte ich ablehnen. Du warst die Frau meines Herrn. Jetzt, wo du frei bist und ich kein Sklave mehr bin - wenn du es wünschst, werde ich dich jetzt heiraten.“ Zuleika jedoch schaut ihn an, die Augen voller Licht, und antwortet: „Nein, Jussuf. Meine Liebe zu dir war nur ein Schleier zwischen mir und dem GELIEBTEN. Ich habe den GELIEBTEN gefunden.“ Durch die Liebe zu Jussuf fand Zuleika das, wonach alle Menschen auf der Suche sind: die Quelle, den Ursprung der Liebe. Die Geschichte erzählt, wie Liebe, von außen betrachtet, Unglück, Verstoßung, enormes Leid über Liebende bringen kann; sie zeigt aber auch, wie die Seele, die sich leidenschaftlich auf das einläßt, was ihr widerfährt, geläutert und verwandelt wird. Auch in den Dichtungen des Industales, in der Sindi- und Panschab-Literatur, geht es immer wieder um Heldinnen, die aus den traditionellen Geschlechterrollen ausbrechen, z. B. in der Erzählung von Sassi (vgl. Schimmel, 1983). Diese hatte in der Nacht zu tief und fest geschlafen und nicht mitbekommen, wie ihr Geliebter ent­ führt wurde, und so wird erzählt, wie Sassi durch glühendheiße Wüsten wandern muß, um den Geliebten wiederzufinden. In einer anderen Geschichte, die von Schah Abdul Latif tradiert und von Annemarie Schimmel (1983) übersetzt wurde, geht es um Sohni, die schöne Tochter eines Töpfers. Mehar, ein vornehmer, reicher Mann, verliebt sich in sie und gibt all sein Vermögen beim Kauf von Töpferware aus. Um Sohni nahezubleiben, verdingt er sich schließlich sogar als Büffelhirt bei ihrem Vater und muß die Büffel auf einer Insel im Fluß hüten. Das Mädchen wird an einen ungeliebten Mann verheiratet, und die Geschichte erzählt nun, wie sie jede Nacht durch den Strom zu dieser Insel schwimmt, wo Mehar die Büffel hütet. Sie benutzt dazu einen großen, verschlosse­ 51

Brigitte Dorst

nen Krug aus gebranntem Ton, der ihr als eine Art Schwimmhilfe dient. In den Erzählungen singt sie: „Verstand, Religion und Scham, alle drei hat die Liebe ver­ nichtet. Liebende befinden sich außerhalb aller sonstigen Schranken.“ Ihre Schwä­ gerin faßt jedoch Verdacht und vertauscht den Krug, den Sohni immer benutzt, mit einem Krug aus ungebrannten Ton. Dieser löst sich im Wasser auf, und Sohni ertrinkt. Die aktive Rolle in dieser Geschichte hat auch hier die Frau. In der berühmtesten Liebesgeschichte der arabischen Literatur, in der Erzählung von Leila und Madschnun, geht es darum, daß Leila, die ebenfalls von ihren Eltern an einen ungeliebten Mann verheiratet wurde, sich das Recht nimmt, sich ihrem Ehemann zu verweigern, und im Namen der Liebe ihrem Geliebten Madschnun, dem Verrückten, treu bleibt, und beide die Grenze zwischen menschlicher und gött­ licher Liebe transzendieren (vgl. Nizami, 1963).

4. Lieben lernen Die Geschichten scheinen das zu zeigen, was in der Sprache der Jungschen Psychologie so ausgedrückt werden kann: auf dem Pfad der Liebe müssen Menschen zunächst zu ihrer Vollständigkeit finden. Für Frauen bedeutet es, daß sie ihre star­ ke, aktive, tapfere, die sog. Animusseite entwickeln, die engen Grenzen des passiv­ rezeptiv Weiblichen verlassen und zu selbstbestimmtem Verhalten finden müssen, während Männer oft umgekehrt ihre hingebungsvolle, passiv-rezeptive, ihre soge­ nannte weibliche Seite, ihre Anima, zu entwickeln haben, so wie Scheich Sanan in Attars mystischer Geschichte von der Konferenz der Vögel (vgl. Attar, 1988). Auf dem Pfad der Liebe geht es um Sclbstwerdung und Selbstveränderung, um das Aufgeben alter Muster und alter Sicherheiten, und auch dann, wenn Menschen nicht so plötzlich und radikal von Liebe entflammt werden wie in manchen SufiGeschichten, geht es um das ganz geduldige Funken-Schlagen, bis die Liebe im Herzen entzündet ist. Dieses ganz geduldige Funken-Schlagen, das Herz-Vorbereiten und -Öffnen, das Sich-nach-Innen-Wenden zum ortlosen Ort der Liebe, geschieht in der Meditation. Die Sufi-Meditationspraxis ist eine Form der Er­ weckung der Liebe im Herzen. Verstand und Sinne müssen still gemacht werden, um die innere Wirklichkeit des Herzens erfahren zu können. Welche Liebe ist gemeint? Der christliche Mystiker Johannes Tauler, ein Schüler Meister Eckhardts, schreibt: „Ihr meint, das sei Liebe, wenn ihr große Empfindung habt und Wohlgeschmack und Wollust habt. Das nennt ihr Liebe. Nein, das ist kei­ ne Liebe. Das ist nicht ihre Weise. Sondern das ist Liebe: wenn man unter Darben, in Beraubung und Verlassenheit ein Brennen hat, ein ständiges unbewegliches Quälen, und dabei doch in rechter Gelassenheit steht.“ Liebe ist ein viel mißbrauchtes Wort, aber es gibt kein anderes, diese Energie und Qualität des Herzens zu benennen. Wenn wir uns unsere menschlichen Liebesversuche ansehen, merken wir jedoch, daß sie oft im Menschlich-Allzumenschlichen steckenbleiben, in unseren Ängsten, Egoismen, in den Gegensätzen. Darunter gibt es aber vielleicht doch immer wieder die Sehnsucht nach der Unbegrenztheit, nach der größeren, der allumfassenden Liebe. In einem Gedicht von Friedrich Hölderlin heißt es: „Nicht sind die Leiden erkannt, nicht ist die Liebe gelernt.“ Wir müssen erst noch lieben lernen. 52

Der Weg des Herzens

In unserer Gesellschaft gibt es viele Arten von Schulen, in denen der Verstand ent­ wickelt werden kann, von der Grundschule bis zur Hochschule, von der Fahrschule bis zur Computerschule. Wo aber können Menschen lernen, ihr Herz zu öffnen, ihre Liebesfähigkeit zu entwickeln? In der Schule des Lebens, im ganz gewöhnlichen Alltag. Alle großen Lehrer und Meisterinnen der Menschheit können uns nur den Weg weisen, sind ein gelebtes Vorbild, von Buddha über Jesus bis Ananda Maji-Ma oder Ayya Khema. Den Weg muß jeder selbst finden und selber gehen. Und die Wege sind sehr verschieden. Die Sufis sagen: „Es gibt so viele Wege zu Gott, wie es Menschen gibt.“ Für keinen Menschen gibt es einen vorgezeichneten Weg, den er nur nachgehen könnte. Dieses Wissen ist in allen spirituellen Traditionen zu finden. Eine chassidische Geschichte erzählt, wie Rabbi Behr einst seinen Lehrer bat: „Weise mir einen allgemeinen Weg zum Dienste Gottes.“ Und der Zaddik antworte­ te: „Es geht nicht an, den Menschen zu sagen, welchen Weg sie gehen sollen. Denn da ist ein Weg, Gott zu dienen durch Lehre, und da durch Gebet, und da durch Fasten, und da durch Essen. Jedermann soll wohl darauf achten, zu welchem Weg ihn sein Herz zieht, und dann soll er diesen sich mit ganzer Kraft erwählen.“ (vgl. Buber, 1960). Jeder muß seinen Weg suchen, und der Weg entsteht erst beim Gehen unter unseren Füßen. Was kann uns dabei helfen, das Herz offener, weiter zu machen, liebevollere Menschen zu werden? Die Dichterin Ricarda Huch hat einmal gesagt: „Liebe ist das einzige, das wächst, indem wir es verschwenden.“ Es geht also um Freigiebigkeit und Großzügigkeit, darum, so viel Liebe zu schenken, wie wir können. Es ist wie bei den Quellen: Je mehr wir geben, desto mehr ist da zum Geben und zum Ver­ schenken. Lieben lernen heißt, großzügig werden, ohne zu überlegen, ob die ande­ ren auch liebenswert sind, meine Liebe überhaupt verdienen, ohne Bewertung, ohne Beurteilung. Einfach lieben, um zu lieben. „Die Ros’ ist ohn’ Warum; sie blühet, weil sie blühet.“ (Angelus Silesius) Dies ist oft deshalb so schwierig, weil wir uns selbst nicht liebenswert finden. Wir suchen daher in der Liebe jemanden, der uns bestätigt, daß wir trotz unserer Fehler und Schwächen liebenswert sind, oder auch jemanden, die uns liebt, weil wir uns selbst nicht akzeptieren und uns selbst nicht annehmen mögen. Lieben lernen heißt aber, aus der Engstirnigkeit des ständigen Be- und Verurteilens bei sich selbst und anderen heraus in die Weite des Herzens zu gelangen. Diese Herzenserweiterung verstanden schon die Menschen in den Psalmen des Alten Testaments als göttliche Gnade. Jeder spirituelle Weg ist letztlich ein Weg zur Herzenserweiterung. Es geht darum, das Herz so weit zu öffnen, bis alles und jedes, was uns im Leben begegnet, darin Platz haben kann und in der Vielfalt der Erscheinungen dann das All-Eine darin erfahren wird - die Liebe selbst. Das tägliche Übungsfeld, Großherzigkeit zu lernen, sind die Anforderungen des Alltags. Überhaupt zu lernen, vom Herzen aus zu sehen und zu reagieren und nicht vom Kopf aus, ist der Weg. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, sagt der Kleine Prinz in Saint Exuperys wunderbarer Geschichte. Lieben lernen bedeutet auch, daß wir aufhören, andere ändern zu wollen, von anderen Änderungen einzuklagen und einzufordern, sondern wir betrachten uns selbst als diejenigen, die sich ständig ändern müssen und damit ihren Teil an der 53

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Veränderung der Welt übernehmen. Unsere Umwelt ist wie ein Spiegel. Wie wir sie wahrnehmen und empfinden, wird von der Enge und Weite des Herzens, von unse­ rer Herzensqualität bestimmt. Wenn wir beginnen, an der Herzenshärte bei uns selbst zu arbeiten, ändern wir nicht nur uns selbst, sondern auch die Welt um uns herum. Es gibt geheimnisvolle Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Innen und Außen. Eine wichtige Übung der Herzenserweiterung ist das Schenken. Was das Herz immer wieder eng macht, ist die Angst, nichts zurückzubekommen, nicht wiederge­ liebt zu werden, mißverstanden zu werden und sich abhängig davon zu machen, ob wir von anderen richtig gesehen und beurteilt werden. Lieben lernen heißt, Liebe verschenken, ohne Unterschiede zu machen. Es bedarf oft nicht einmal der Worte und besonderer Handlungen. Andere können spüren, welches Gefühl aus mir her­ aus zu ihnen hinfließt, ganz ohne Worte. Alle Handlungen des Verschenkens, der Großzügigkeit, der Freigiebigkeit erweitern das Eierz. Lieben lernen heißt auch: Geduld mit uns selber haben. Auf den unteren Stufen der Sufi-Schulung geht es darum, alte Muster, alte Konditionierungen, alte Selbst­ bilder und Vorstellungen davon, wie die Welt zu sein hat, wie ich und die anderen zu sein haben, loszulassen. Dazu gehört auch die Ungeduld mit mir selbst, ganz schnell etwas „haben“, „werden“ oder „erreichen“ zu wollen. All diese Konzepte sind los­ zulassen. Auf dem spirituellen Weg des Sufismus bekommt man zunächst nichts, aber man kann eine Menge loswerden: eine Menge inneren Müll, Seelenballast, Sorgen, alte Erlebens- und Verhaltensmuster. Wir können lernen, weniger besorgt, ängstlich, ungeduldig zu sein. Es geht um nichts Besonderes, nur darum, der Mensch zu wer­ den, der oder die ich bin, darum, ein menschlicher Mensch zu werden. So erzählt eine Geschichte aus dem hinduistischen Bereich: „Ein Schüler fragte einen Meister: ,Wie erreiche ich das Höchste und Absolute?“ Der Meister antwortete ihm: ,Mach’s wie Gott. Werde Mensch.'“ Selbst-Verwirklichung und Gottesverwirklichung entsprechen sich.

5. Meditation Das wichtigste Hilfsmittel, das Göttliche in uns zum Vorschein, zum Durch­ scheinen zu bringen, ein menschlicher Mensch zu werden, ist Meditation oder Kontemplation. Kontemplation bedeutet, in den inneren Tempel zu gehen, zu wissen, daß das Göttliche nur tief in uns selbst, im Innern zu finden ist. Das menschliche Herz ist der eigentliche Tempel. „Himmel und Erde fassen mich nicht, aber das Herz meines Dieners enthält mich“, heißt es in einem außerkoranischen Wort. Alle Formen der Meditation wollen Menschen dazu verhelfen, sich nach Innen zu wenden, ihr inneres Sein zu erfahren, das bloße Denken und die Wahrnehmung über die Sinne abzuschalten. Eine tägliche Zeit der Verinnerlichung, der Einkehr in die eigene Mitte macht uns durchlässiger für innere Wirklichkeiten. Meditation läßt die innere Wahrnehmungsfähigkeit erwachen, die Intuition - also das, was uns von innen her Wissen, Weisheit, Erkennen gibt, was uns von innen her belehrt. Dazu müssen wir lernen, über das rationale, verstandesmäßige Denken hinauszugehen, 54

Der Weg des Herzens

und der Weg dazu ist, wie Theresa von Avila sagt: „Nicht so viel denken, mehr lie­ ben.“ Alle wahre Erkenntnis kommt aus der Liebe. „Die wahre Gottesgelehrsamkeit besteht im Liebhaben“, sagt Graf Nikolaus von Zinsendorf, der Begründer der Herrenhuter Gemeinde. Meditation ist immer auch eine Form des Loslassens, der Hingabe. Das ist anfangs oft schwierig, denn man erlebt in der Regel ein Festhalten, mißtrauische Selbst­ beobachtung, Ängste, die Kontrolle zu verlieren, und natürlich immer wieder auch, wie das Denken im Kopf wie ein eingeschalteter Autopilot am Rotieren bleibt. Doch auch ein schönes, beglückendes Liebeserlebnis im körperlichen Bereich hat zur Voraussetzung, daß ich mich loslassen kann, daß ich mich den Strömen der Erregung, der Lust, der Liebe überlassen kann, daß ich auf Kontrolle dabei verzich­ te, kurz: daß ich mich hingeben kann. In der Meditation geht es darum, sich der Liebe hinzugeben, nicht irgendeinem Wunschbild, einem Ideal oder einer Vorstellung, sondern der weiselosen Weise. Wenn wir uns einlassen auf die Meditation, einlassen in die Meditation, geschieht eine Art Schwerpunktverschiebung: das Ich steht nicht mehr im Mittelpunkt. Es geht nicht mehr darum zu sagen „Ich denke, ich will, ich erfahre“, sondern Liebe wird zum Mittelpunkt, oder anders gesagt: der Schwerpunkt wird mein eigentliches Selbst, denn das Selbst ist die Quelle der Liebe. Steht das Ich im Mittelpunkt, geht es um die Bedürfnisse des Ego und um seine Kräfte wie z. B. den Verstand. Wenn aber in der Meditation diese Verschiebung auf der Ich-Selbst-Achse geschieht, erfahren wir, daß in uns selbst etwas wieder zurechtgerückt wird. Manchmal erleben wir es als das Glück, uns selber näher zu kommen, in einen Zustand des Friedens mit uns selbst zu geraten und zu merken: So können wir uns selber glücken. Das bedeutet, daß das Ich nicht zunichte gemacht oder ausgelöscht wird, wie es oft in den alten mystischen Texten heißt, sondern daß es ins richtige Lot gebracht, auf der Ich-Selbst-Achse anders ausgerichtet wird. Der Ich-Komplex mit all seinen Fähigkeiten wird benötigt, damit wir das Leben in dieser Welt leben können. Dennoch ist das Ich nicht das eigentliche Zentrum der Person, nicht die Mitte des Menschen. Das Selbst, das Herz ist das Zentrum des höheren Bewußtseins des Selbst, das in der Meditation zur Entfaltung, zur Ausdehnung, zum Strahlen und zum Leuchten gebracht wird. Es geht um Putzarbeit: den Herzensspiegel putzen, bis das Gesicht des/der Geliebten darin sichtbar wird als mein eigenes Selbst.

6. Heil-werden im Lieben Liebe ist die höchste Energieform, sie leuchtet und strahlt durch den Menschen hindurch. Wir kennen das, wenn wir verliebt sind, wie wir anfangen zu strahlen. Als ich das erste Mal meiner spirituellen Lehrerin Irina Tweedie begegnete, war es, als ob ich einen Stromschlag bekäme, und ich dachte: „Sie ist einfach nur Liebe! Sonst gar nichts!“ Sic strahlte in einem Maße Liebe aus, wie ich es nie zuvor bei einem Menschen erlebt hatte, und sie war gleichzeitig so natürlich, selbstverständ­ lich, einfach, witzig und humorvoll, wie ein Mensch nur sein kann. Offene Weite, nichts von heilig, wie es im Zen heißt. Sufis sind Liebende und Verliebte, sie sind in die Liebe hineingefallen, manchmal fühlen sie sich verrückt vor Liebe und Sehnsucht nach dem oder der göttlichen Ge55

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liebten. Um diese Starkstromerfahrung auszuhalten, ist es jedoch notwendig, ganz gewöhnlich, alltagsnah und nüchtern zu bleiben für alle Erfordernisse der Welt und mit beiden Füßen fest auf der Erde zu stehen. Von Sufis wird erwartet, daß sie nütz­ liche, verantwortungsbewußte Mitglieder der menschlichen Gesellschaft sind, mit­ ten in der Welt, aber im Wissen, nicht von dieser Welt zu sein, im tiefen Innern der Liebe hingegeben, nach außen beschäftigt und engagiert für alles, was das Leben erfordert. Sich hingeben setzt auch voraus, daß man sich zunächst einmal selbst hat. Man kann nichts geben, was man nicht zuvor besitzt. Das heißt, daß ein Teil eigene Entwicklung von erwachsener Ich-Identität und Selbstwerdung durchlaufen ist. Die Schule der Liebe im Sufi-Verständnis ist eine Schule für Erwachsene, nicht für kind­ liche Gemüter, die an die Hand genommen werden und geleitet werden wollen, die unerwachsen und unselbständig nach einer Autorität suchen, einem Guru oder einer Lehrerin, der sie sich unterstellen können, um die Last der Verantwortung für die eigene Existenz nicht tragen zu müssen. Erwachsene Hingabe erfordert Mut: Mut für das Paradox, sich selbst hinzugeben und gleichzeitig die Verantwortung für das eigene Leben ganz und gar wahrzuneh­ men. Es erfordert Mut und Demut, sich von etwas so Unbekanntem, das mit den Verstandeskräften nicht zu erfassen ist, immer wieder anrühren zu lassen, sich immer wieder radikal, d. h. bis in die Wurzel der eigenen Existenz, auf dieses merk­ würdige, letzten Endes nicht zu beschreibende Geheimnis mystischer Erfahrung einzulassen. Demut ist nötig, weil wir in der Meditation auch erfahren, daß wir tat­ sächlich nichts Besonderes sind, nur ein winzig kleines Staubkörnchen im Universum, ein Teil der ganzen Schöpfung - aber als der Teil, der wir sind, zugleich ein Teil des Absoluten. Sich auf die Liebe einlassen heißt, heiler zu werden. Wenn wir die Liebe nicht mehr draußen suchen, bei jemand anderem, der uns liebt, sondern die Liebe im eige­ nen Herzen suchen und realisieren, ist der entscheidende Schritt zum spirituellen Leben, zum Erwachen, getan. Aber das spirituelle Übungsfeld ist nicht die Innerlichkeit, sondern der Alltag, jeder Tag mit seinen Anforderungen. Dabei ist nicht entscheidend, was wir tun, wel­ che Aufgabe wir im Leben haben, sondern wie wir das tun, was wir zu tun haben: ob wir uns unseren Aufgaben und Anforderungen liebevoll zuwenden, hingeben kön­ nen, ohne Bedingungen zu stellen, ohne an Gratifikation, Belohnung, an Gegenliebe zu denken, einfach nur liebevoll, so gut wie wir es können. Entscheidend ist, wie wir in Situationen mit uns selbst, mit Menschen, mit Dingen umgehen. Jede Situation ist eine Frage an uns, auf die wir eine liebevolle Antwort geben können, und je weniger wir dies tun, desto schwieriger und vertrackter erscheint uns das Leben. Ein wichti­ ger Unterschied, der ein spirituelles von einem materiell ausgerichteten Leben unter­ scheidet, ist, daß Glück, Erfüllung und Liebe nicht länger draußen gesucht, sondern als etwas erfahren werden, das in uns selbst vorhanden ist. Der amerikanische Psychologe und Meditationslehrer Richard Allport (Ram Dass) sagt am Ende seiner jahrzehntelangen spirituellen Suchwanderung: „Eigent­ lich ist das Höchste, was der spirituelle Weg für uns bereithält, die Chance, in die uns angeborene mitfühlende [liebende] Natur unseres eigenen Herzens zurückzukeh­ ren.“ Wenn uns diese Umkehr gelingt, dann können wir auch tief innerlich nicht 56

Der Weg des Herzens

mehr völlig unglücklich sein, dann können Kummer, Sorgen, Schicksalsschläge, auch die unvermeidbaren Verluste des Lebens, leichter ertragen werden, in dem Maße, wie wir uns innerlich freier machen und nicht mehr so abhängig sind von bestimmten äußeren Lebensumständen. Wir mögen uns davon weit entfernt fühlen, aber: „Auch die weiteste Reise beginnt immer mit dem ersten Schritt.“ Und warum nicht heute, warum nicht jetzt be­ ginnen? The path of the heart - women and the female in sufismus Summary: Spirituality and mysticism as female ways of God-realization are more and more getting into the collective consciousness today. This involves, among others, the re-discovering of the female images of God, the re-gaining of the spiritual heritage of women, and the competence of women in the field of religious experience as teachers, spiritual guiders, and masters. Sufism is not only the mystical side of Islam but a spiritual path independent of religions and worldviews: the path of the heart. In its beginnings there was a woman, Rabi’a al-‘Adawiyya. In the history and literature of Sufism women have always been of major importance. Today Sufism is a spiritual path helping seekers to develop their consciousness and to open up their heart for love by means of the meditation of the heart. Keywords: Female spirituality, Sufism, love, female mystics, devotion, self-realization, spiritual teaching and learning, the path of the heart, meditation Literatur Attar, F. (1988): Vogelgespräche. Die berühmte persische Sufi-Erzählung über die Pilgerfahrt nach Innen, Ansata, Interlaken. Buber, M. (1960): Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre, Lambert Schneider, Gerlingen. Durst, B. (1991): The Master, the Student, and the Sufi-group. Sufi Relationships Today, in: Spiegelman, J. M. et al.: Sufism, Islam, and Jungian Psychology, New Falcon Publications, Scottsdale, Arizona, S. 19-29. - (1994): Die erotische Sprache der Mystikerinnen - Verzehrende Sehnsucht nach Verbundenheit, in: Publik Forum Extra. Vom Zauber der Sinne, S. 29-32. Hazrat Inayat Khan (1924): Das innere Leben, Rotapfel, Erlenbach-Zürich. - (1986): Wanderer auf dem inneren Pfad, Herder, Freiburg. Kabir (1984): Im Garten der Gottesliebe, Hermes, Heidelberg. Nizami (1963): Leila und Madschnun, aus dem Persischen übertragen von R. Gelpke, Manesse, Zürich. Nurbakhsh,]. (1983): Sufi-Women, Khaniquahi-Nimatullahi Publications, New York. Ram Dass (1979): Schrot für die Mühle, Knaur, München. - (1995): Vom Guru zum Weggefährten - Ein Rückblick auf die letzten 10 Jahre, in: Wilber, K. et ab: Meister, Gurus, Menschenfänger. Uber die Integrität spiritueller Wege, Krüger, Frankfurt, S. 103-119. Samt Exupery, A. (1956): Der Kleine Prinz, Karl-Rauch, Düsseldorf. Schimmel, A. (1979): Mystische Dimensionen des Islam, Qualandar, Aalen. - (1983), Unendliche Suche. Geschichten des Schah ‘Abdul Latif von Sind, New Age Verlag, München. - (1986): Liebe zu dem Einen. Texte aus der mystischen Tradition des Islam, Benziger, Zürich. - (1995): Meine Seele ist eine Frau. Das Weibliche im Islam, Kösel, München. Shah, I. (1981): Die Sufis. Botschaft der Derwische, Weisheit der Magier, Dicdcrichs, Düsseldorf. Sheich Muzaffer Ozak (1991): Liebe ist der Wein. Lehrgespräche eines Sufi-Meisters, Arbor, Heidelberg. Tweedie, I. (1988): Der Weg durchs Feuer. Tagebuch einer spirituellen Schulung durch einen Sufi-Meister, Ansata, Interlaken. Underhill, E. (1928): Mystik, Entwicklung des religiösen Bewußtseins im Menschen, Reinhard, München. Vaughan-Lee, L. (1996): Transformation des Herzens, Krüger, Frankfurt. Whitmont, E. (1982): Die Rückkehr der Göttin. Von der Kraft des Weiblichen in Individuum und Gesellschaft, Kösel, München. Dr. Brigitte Dorst Schürbusch 75, 48163 Münster

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Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1/99,58-65

Die Bedeutung der Menstruation für den weiblichen Individuationsprozeß Sibylle Oelschläger, Michelfeld

Zusammenfassung: Anhand von ausführlich dokumentierten Menstruations träumen wird der Zusammenhang von Menstruation, seelischer Wandlung und Nähe zur Transzendenz gezeigt. Deutlich wird, daß der Wert und die Bedeutung der Menstruation in den hohen Wandlungsenergien und dem hohen Potential an bewußtseinsbildenden Kräften zu sehen ist, die während dieser Zeit wirksam sind. Es wird gezeigt, daß der Menstruationspol im weiblichen Zyklus einen spezifischen Beitrag zur weiblichen Individuation leistet. Schlüsselworte: Menstruation, Individuation, Kehrung der seelischen Energie, Transformation.

In modernen Gesellschaften umgibt das Thema Menstruation ein mächtiges Tabu; dieser Pol weiblicher Erfahrung wurde und wird aus dem kollektiven wie indivi­ duellen Bewußtsein ausgegrenzt, verschleiert, ignoriert, nicht für wahr genommen, ins Unbewußte abgedrängt, mit tiefgreifenden Folgen für das weibliche Selbstverständnis und die weibliche Identitätsfindung. Entfremdung von den ureigensten, das Leben von Frauen von innen heraus kon­ stituierenden und strukturierenden Rhythmen, von den damit einhergehenden kör­ perlichen und seelischen Veränderungen, zieht Selbst-Entfremdung im tiefsten Sinne nach sich. Die zyklischen Veränderungen bestehen jedoch dennoch, auch wenn Frauen dazu angehalten werden, diese nicht bewußt wahrzunehmen, abzu­ spalten. Das Verdrängen dieser natürlichen Veränderungen öffnet psychosomatischen Symptomen, wie sie z.B. beim sogenannten „prämenstruellem Syndrom“ auftreten, Tür und Tor, indem ein Pol eines ganzheitlichen natürlichen Prozesses aus dem bewußten Erleben ausgeblendet wird. Das Leiden vor, während und an der Menstruation, das viele Frauen kennen, muß vor diesem Hintergrund als „Reaktion auf Unterdrückung, sozusagen als eine Art Sklavensprache“ (Shuttle und Redgrove, 1982) verstanden werden, durch die sich ein zutiefst schöpferischer Prozeß Sprache verschafft, sich in verzerrter Form in den Vordergrund der Wahrnehmung schiebt. Dieser Beitrag macht es sich zur Aufgabe, den von Esther Harding angedachten Aspekt der „Periode als Möglichkeit der Begegnung mit dem tiefen Selbst“ (1949) aufzugreifen, zu untermauern und insofern weiterzuführen, als die spezifische 58

Die Bedeutung der Menstruation für den weiblichen Individuationsprozeß

Bedeutung der Menstruation für den weiblichen Individuationsprozeß ins Bewußt­ sein gehoben werden soll. Der Begriff Individuation beinhaltet in dem von mir verwendeten Sinne einen Doppelaspekt: Zum einen meint er ein Zu-sich-selbst-Kommen im konkreten Sinne, das Bewußtwerden eigener Bedürfnisse, Fähigkeiten, Wünsche, dessen, was einem fehlt, was in den Schatten gefallen ist, dessen Reintegration und der damit cinhergchenden Stärkung des Ich, mit dem Zielpunkt der „fully functioning person“ im Sinne Rogers. Darüber hinausgehend umfaßt der von mir verwendete Begriff der Individuation aber ausdrücklich auch, als Selbst-Werdung im Sinne C. G. Jungs gedacht, die Öffnung hin zum Transpersonalen. Dieser Prozeß, bei Neumann als „Selbstgewinnungsprozeß“ (1990, S. 12) beschrieben, vollzieht sich von innen her­ aus und hat als Zielpunkt die bewußte Wahrnehmung der Dimension, die die eigene Person transzendiert, bis hin zur „spirituellen Geburt“, der Begegnung mit dem Selbst. Durch die Erfahrung der Kraft, die das eigene Leben ebenso wie alles Lebendige begründet und durchzieht, wird das Ich transformiert, so daß es nicht länger das Zentrum der Persönlichkeit bildet, sondern nun im Dienste des Selbst steht. Wie zu zeigen ist, wirken die am Menstruationspol, dem „roten“ Pol des weib­ lichen Zyklus wirksamen Kräfte, als innerer Motor für seelische Reifung und Bewußtwerdung, für Individuation im engeren und weiteren Sinne. Erich Neumann weist in seinem Buch „Die große Mutter“ ausdrücklich auf die „Doppelnatur des Weiblichen“ (1990) hin, die das Wesen des Weiblichen und damit auch der Frauen im Tiefsten kennzeichnet. Am „weißen“ Pol des Zyklus, dem Pol des Weiblichen, an dem der Aspekt des „Elementarcharakters des Weiblichen“ sei­ nen Ausdruck findet, scheinen alle Kräfte in die weibliche Potenz zu fließen, neues Leben zu empfangen, aufzunehmen und, wenn eine Schwangerschaft eintritt, dieses neue Leben zu entwickeln und konkret auf die Welt zu bringen. Durch diese Potenzen hat jede Frau Anteil an und ist gleichzeitig Teil des göttlichen Schöp­ fungsaktes, wird zur Mittlerin zwischen der Kraft, die alles Lebendige ins Leben ruft, und „der Welt“. Durch die hier wirksamen Kräfte offenbart sich in jeder Frau und durch sic die lebensschöpfende Kraft in ihrem erdigen Aspekt. Am roten Pol des weiblichen Zyklus manifestiert sich in jeder Frau der von Neumann als „Wandlungscharakter des Weiblichen“ bezeichnete Aspekt. Die arche­ typischen „Energien des Empfangens, Aufnehmens und Entwickclns“ (Voss, S. 43) sind unter ein grundsätzlich anderes Vorzeichen gestellt, unter das Zeichen der Wandlung im Dienste der Bewußtseins- bzw. Selbst-Entwicklung. Hier fließen alle Kräfte in die Potenz, sich, sich wandelnd, neu auf die Welt zu bringen, durch einen „Abstieg in die innere Welt“ neue Erkenntnisse über sich selbst und die die Welt durchwirkenden und zusammenhaltenden Kräfte zu gewinnen. Nur im Wissen um die spezifische Funktion dieses Pols des weiblichen Zyklus können die ihm innewohnenden Möglichkeiten und Energien für den individuellen ebenso wie für den psychotherapeutischen Prozeß fruchtbar gemacht werden. Um die Entfremdung von sich selbst, dem eigenen Rhythmus, aufzuheben, ist es not­ wendig, Klientinnen zu ermutigen, die Aufmerksamkeit bewußt auf ihre Körper­ empfindungen zu lenken, weibliche Erfahrungsweisen und damit sich selbst ernst zu nehmen, für wahr zu nehmen, wenn Gefühle sich zyklisch verändern. Weibliches 59

Sibylle Oelschläger

Wissen wird immer dann verfügbar, wenn Frauen sich nach innen richten, die Kräfte erkennen, die sie bewegen und ihnen folgen. Sie müssen bereit sein und in der Psychotherapie darin unterstützt werden, an sich und durch sich selbst zu lernen, ihrer Wahrheit, ihren subjektiven Erfahrungen, Träumen und Visionen zu trauen und durch Nachdenken über das Erfahrene und Geschaute eigene, weibliche Erkenntnisse zu schöpfen.

Menstruation als Zeit der Begegnung mit dem Selbst Voranstellen, weil in diesem Zusammenhang wichtig, möchte ich folgende Beob­ achtung: Viele sensibilisierte Frauen verspüren kurz vor und während der Men­ struation ein verstärktes Bedürfnis nach Rückzug, nach „für sich selbst sein“ oder ein Gefühl, wie es eine Klientin einmal bezeichnete: „Ich fühle mich ganz konzen­ triert, vollkommen bei mir, wie sonst nie“. Diese Erfahrungen von Frauen legen den Schluß nahe, daß sich die Seelenenergie­ ausrichtung tatsächlich zyklisch verändert. Kurz vor und während der Menstruation scheint sie sich nach innen zu richten, auf die eigene Mitte hin zu konzentrieren, während sie nach der Menstruation wieder verstärkt für die Kontakte mit dem äuße­ ren Leben zur Verfügung steht. Die seelischen Kräfte stehen, so meine These, wäh­ rend der Menstruation in besonderem Maße im Dienste der inneren Entwicklung der Frau. Zur Darstellung und Verifikation des gefundenen Zusammenhangs von Men­ struation als Motor für seelische Wandlung, für Individuation im engeren und wei­ teren Sinne, wähle ich Menstruationsträume und Imaginationen einer Klientin wäh­ rend eines intensiven psychotherapeutischen Prozesses und versehe sie mit Anmerkungen, die mir für das Verständnis wichtig erscheinen. Recht zu Anfang des therapeutischen Prozesses, als die Klientin glaubte, allen Boden unter den Füßen zu verlieren, aufgelöst war in Tränen, flössen ihr folgende Zeilen aus der Feder: „Werde die, die du bist Eine freie Frau, die ihres „Selbst“ bewußt, schwach und stark zugleich; weich gegenüber denen, die deinen Schutz brauchen, hart gegenüber denen, die Macht ausüben, Krieg treiben, die ausbeuten und sich gegen meine Schöpfung vergehen. Sei dir bewußt, daß du Mittlerin meiner Weltordnung bist: wo niemand über niemanden herrscht, nicht Mensch über Mensch, nicht Mensch über Tier, nicht Verstand über Gefühl; merke dir, nichts ist höherwertiger als das andere! Ihr entspringt alle mir und kehrt zurück zu mir. Sei dir klar darüber, daß alles meine Zeit hat, das Lebendige meinem Rhythmus unterliegt. Du bist gemeint als eine, die mich auf die Welt bringen kann, so wie ich dich auf die Welt gebracht habe. 60

Die Bedeutung der Menstruation für den weiblichen Individuationsprozeß

Du wirst wissen über Tod und Wiedergeburt, nichts stirbt für immer! Und so wird es dir ergehen: Du wirst sterben, durch die Hölle gehen, zweifeln an mir, und doch vergiß nie: Ich bin da! Wenn Menschen dich verlassen, will ich meine Hand über dich halten; wenn Hunger droht, werde ich dir Nahrung geben. Und doch wisse, und fürchte dich nicht vor dem Sterben: Du wirst auferstehen, denn du bist ein Teil von mir. “

Ohne daß es ihr zum damaligen Zeitpunkt bewußt war, zeigte sich ihr jene Kraft, die ihr im Laufe des inneren Wandlungsprozesses immer wieder begegnen sollte. Gleichzeitig klärte sie sie über die Gesetze auf, die sie im Prozeß immer wieder als gültig erfuhr; allen voran das seelische Wandlungsgesetz des Stirb und Werde. Diese Botschaft des Selbst transzendierte eine subjektiv als auswegslos empfundene innere Situation und richtete sie immer wieder auf, wenn sie glaubte, daß der Prozeß zu kei­ nem guten Ende kommen würde. Sie half ihr, auch dunkelste Zeiten durchzustehen und nicht zu sehr an ihrem Sinn zu zweifeln. Die im Folgenden dokumentierten Menstruationsträume „übersetzen“ die obere Botschaft in viele Einzelbilder, die aus der Seele emporstiegen, und gaben jeweils entscheidende Impulse zur inneren Weiterentwicklung und Wandlung. „Ich komme in ein Krankenhaus mit einer Blasenentzündung. Ein Mann unter­ sucht mich, er fährt mit seinen beiden fleischigen Fingern in mich hinein. Er sagt, daß er mir ein Stück des Harnleiters abschneiden wird. Ich erwidere, daß das gar nicht in Frage kommt, ich würde mit meiner Heilpraktikerin telefonieren. Als er das hört, verweigert er mir das Telefon. Daraufhin packe ich meine Sachen und gehe. Es beginnt eine wilde Hetzjagd durch die ganze Klinik; meine Versuche, Kranken­ schwestern als Verbündete zu gewinnen, scheitern. Schließlich erreiche ich einen Aufzug, der dann immer hoch und runter fährt, immer an diesem einen Stockwerk entlang, wo sich draußen mehr und mehr Leute versammeln, die mich zurückholen wollen. Der Aufzug ist außerhalb jeder Kontrolle, er schlingert, bokkelt hoch und runter. Ich merke erst mit der Zeit, warum dieser Aufzug so spinnt, bzw. ich denke, ich weiß warum: ich habe mich an die Rückwand gelehnt, und quer an dieser Rückwand sind alle möglichen Sicherungen und Knöpfe, die ich anscheinend alle gleichzeitig gedrückt habe. Runde Sicherungen hängen aus ihren Halterungen her­ aus. Ich bemühe mich, dieses Wirrwarr zu ordnen. Währenddessen vollführt der Aufzug die wildesten Bewegungen, und ich habe Angst, nicht lebend davonzukom­ men. Auf einmal sehe ich, daß unter mir ein größeres Abteil ist. In diesem Abteil sind ein paar Leute, und es geht ein bißchen ruhiger zu. Es ist meine einzige Chance, mich in diese Sektion zu begeben, deshalb springe ich. Den Leuten scheint gar nicht auf­ zufallen, daß ich da bin. Ich fühle mich sicherer und sehe, daß wir uns langsam dem Erdboden nähern. Es ruckelt und schlingert ganz furchtbar, es kracht und splittert, als wir recht gewaltsam auf dem Boden aufschlagen. Es ist wie ein Wunder, aber alle Personen haben diese Höllenfahrt überlebt. Ich stehe auf und laufe über eine Wiese, bin mir sicher, daß mich keiner als flüchtige Person erkennt. Auf der Wiese stehen einige Liegen, auf denen Plastikschlafsäcke liegen. Es regnet in Strömen, diese 61

Sibylle Oelschläger

Schlafsäcke

sind

mit

Plastik

überzogen,

wobei

auf

einem

ein

Zeichen

deutlich

zu

erkennen ist: es sieht aus wie ein mandelförmiges, schwarzes Auge. Ich treffe eine Krankenschwester und sage ihr: ,Die Herren da oben sind selbst schuld, ich habe nur telefonieren wollen, das hätten sie mir nicht verweigern dürfen, dann hätten sie die­ sen ganzen Schaden und Aufstand vermieden.‘ Sie pflichtet mir bei, und ich gehe weiter in Richtung Naturheilpraxis, um Frau B. zu befragen, wie die Entzündung ganzheitlich, von innen heraus, geheilt werden kann. “

Dieser Traum wies sie in deutlichen Bildern auf eine nötige und bevorstehende innere „Revolution“ hin, wenn sie auf einer ganzheitlichen Betrachtungsweise beharren und nicht in ein System einwilligen würde, das Körper und Geist als von­ einander unabhängig betrachtet. Er bereitete die Klientin innerlich auf das vor, was mit einer inneren Wandlung einher geht: Angst, existentielle Angst, innere „Verfolgungskämpfe“, Unsicher­ heiten, das Einlassen auf Situationen, des Nichts-mehr-unter-Kontrolle-Habens. Gleichzeitig machte er aber auch deutlich, daß dieser Prozeß unter einem guten Stern steht, da sie „festen Boden unter die Füße“ bekomme würde, so die Traum­ botschaft. Neben dieser Vorbereitung auf Kommendes trat dieses Zeichen auf, ein Hinweis auf ein „drittes Auge“. Die Tragweite dessen, was damit symbolisiert war, wurde erst nach längerer Arbeit deutlich, jedoch schien der Traum die Aufmerk­ samkeit auf eine für sie damals fremde Art des Wahrnehmens zu richten: das Wahrnehmen des Körpers und des Wissens, das er birgt, ein „weibliches Wissen“. Der nächste Menstruationstraum konfrontierte sie mit einer in ihr wirksamen, archetypischen, seelischen Wandlungskraft: „Ich begegne einem Mann, der zutiefst von inneren seelischen Erschütterungen gezeichnet ist. Er sagt mir eindrücklich, daß ich mir die ,Jahresthemen‘ für das näch­ ste Jahr von einem Astrologen stellen lassen soll, da im nächsten Jahr PLUTO das Jahr regieren wird. Das bedeutete, daß ich in ,Teufels Küche‘ kommen würde und es dann gut sei, eine Möglichkeit zu haben, den Sinn zu erfassen, alles von oben zu betrachten, wenn es gefühlsmäßig drunter und drüber gehen würde. Dieser Mann hat, das weiß ich im Traum, die Erfahrung von Pluto schon hinter sich, es ist, als wol­ le er mir ankündigen, was mir innerlich bevorsteht.“

Dieser Traum irritierte und ängstigte sie sehr, war ihr doch Pluto - als Prinzip des „Stirb und Werde“ - nur zu deutlich vor Augen; gleichzeitig weitete sich aber auch ihr Bewußtsein, indem sie diese Kräfte als in ihr wirksam bewußt wahrnahm und ihnen vertrauen lernte. Eine nochmals andere Dimension eröffnete sich ihr kurz darauf mit folgendem Traum: „Ich bin mit mehreren Frauen auf einer Insel. Es ist abends, ein starker Wind kommt auf, den ich sehr genieße. Ich erkläre den Frauen, daß es ein Wind ist, der regelmäßig morgens und abends kommt, wie Ebbe und Flut, und daß ich ihn so lie­ be, da er einen verläßlichen Rhythmus darstellt, der nie stirbt. Es ist dämmrig, der Tag verabschiedet sich, mir ist ein wenig wehmütig ums Herz. Ich sehe, daß vor der 62

Die Bedeutung der Menstruation für den weiblichen Individuationsprozeß

Küste einige Schiffe fahren. Plötzlich explodieren auf einem der Passagierschiffe mehrere Brandsätze. Ich bin entsetzt, es scheint sich jedoch niemand sonst aufzure­ gen. Zuerst fürchte ich um die Passagiere, das Schiff wirkt aber seltsam unbelebt. Das Schifffährt auf den Kai zu. Es ist zu 2/3 unter Wasser, ein Mann manövriert es sicher, obwohl ihm das Wasser bis zum Hals reicht.

Dieser Traum wies die Klientin mit großer Deutlichkeit auf eine überpersönliche, real wirksame Kraft hin. Er hob ihr deutlich ins Bewußtsein, daß alles Lebendige eingebettet ist wiederkehrt.

in

verläßliche

Rhythmen

und

nichts

gleich

bleibt

und

doch

alles

Träume wie dieser, immer zu Menstruationszeiten geträumt, brachten ihr zuneh­ mend die Kräfte zu Bewußtsein, die in der Natur ebenso wie in der Seele der Menschen sinnvoll walten. „Ich bin in Afrika mit ben werden. Dieses Kind, gelegt. Es ist lebendig, es und lebt. Ich hin völlig

meinen Eltern. Es soll ein Kind bei lebendigem Leib begra­ circa 1½ bis 2 Jahre alt, wird in einen christlichen Sarg kann nur die Arme und Beine nicht bewegen, aber es weint entsetzt. Plötzlich kommt eine Frau herein, mit wild zer­

zausten Haaren, deren Kind es offensichtlich ist, das da beerdigt werden soll. Sie reißt es voller Wut aus diesem Sarg, dabei kippt der Sarg um und begräbt sie, das Kind und mich unter sich. Wir rappeln uns jedoch wieder auf, und die Frau geht zu einem Opfertisch. Sie gerät in Trance, deutet mir an, ich soll ihr etwas zum Malen geben. Ich breche ein bißchen Gestein ab von dem Tisch und gebe es ihr. Sie malt, was sie sieht, einen Frauenkopf. Ich weiß, sie hat eine Gottesbegegnung, sie weiß, Gott ist weiblich. “ Es zeigt sich eine Kraft, die im Namen des schöpferischen Lebensprinzips („der Göttin“) nicht duldet, daß Lebendiges geopfert wird, nur weil es Vorstellungen, was erwünscht ist und was nicht, nicht entspricht. Dieses aus der Seele aufsteigende Bild richtet das Tagbewußtsein aus auf die Präsenz einer überpersönlichen Kraft, die sich personifiziert als weibliche „Gottheit“. Dieser Traum verwandelte das Bewußtsein ihrer selbst grundlegend, indem sich ihr von innen heraus eine spirituelle Dimension eröffnete. „Elisabeth B. (eine Astrologin) spricht mit mir über mein Horoskop. Ein großes, rotes Kreuz ist sichtbar, eingebettet auf dem Lebensplan. Ich frage sie, wo ich jetzt stehe, und sie zeigt auf einen Punkt rechts neben dem Kreuzungspunkt der beiden Schenkel. Ich sage ihr erleichtert: ,Oh, dann habe ich das Schlimmste hinter mir‘ (Weil ich denke, ich komme von oben); sie aber schaut besorgt und sagt: ,Du kommst von unten, du hast den Wandlungspunkt noch vor dir!‘“

Wieder wird das Thema „Wandlung“, „grundlegende Bewußtseinsveränderung durch einen Stirb- und Werdeprozeß“ thematisiert. Es ist, als ob in diesem Traum, deutlicher als in allen zuvor, Bewußtsein geschaffen wird bezüglich eines Wand­ lungsprozesses, der sich langsam, aber organisch vollzieht und einem Kulminations­ punkt zustrebt. Einer inneren „Kreuzigungssituation“, einem „Talpunkt“, dem eine „Neugeburt“, eine „Auferstehung“ in neuem Bewußtsein folgen wird. 63

Sibylle Oelschläger

Abschließend möchte ich noch einen Traum der Klientin für sich sprechen lassen, in dem alles zuvor Gesagte nochmals in klarer Sprache unterstrichen wird: „Ich laufe in einer Gruppe, ich vorneweg, und wir singen Durch den Gesang steht mir als Wissen ganz fest im Herzen:, se Kraft wirkt'. Wenn wir alle lernen, auf Gott zu vertrauen, ser Welt bewegt werden, die unverwandelbar erscheinen. Es in mir über diese Zusammenhänge, die sich immer mehr ausbreitet. “

moderne religiöse Lieder. Gott lebt, ich weiß, die­ können Dinge auf die­ ist eine tiefe Gewißheit

Worauf ich noch kurz hinweisen möchte, ist, daß nicht nur durch Menstruations­ träume, aber besonders durch diese, Imaginationen evoziert werden, die mit großer Deutlichkeit anzeigen, welche Richtung sowohl der innere wie auch der therapeuti­ sche Prozeß nehmen soll. Als Beispiel möchte ich folgende Sequenz anfügen: Ausgelöst von dem Traumbild: „Ich bin mit meiner Therapeutin in einem dichten Wald, und sie fordert mich auf, aus Hölzern ein Floß zu bauen

ergab sich diese, von heftigen Gefühlen begleitete Imagination der Klientin: „ Wir bauen dieses Floß und finden in einem Baum eine Schrift, die uns mitteilt, daß wir diesen Ort verlassen müssen und in keinem Fall irgendwo ans Ufer anlegen dürfen, sonst bedeutet das unseren Tod. Wir begeben uns auf das Floß, treiben mit dem Fluß dahin. Irgendwann merke ich, daß meine Therapeutin immer älter, kleiner wird, worauf ich mit großer Verzweiflung, Verlassenheitsgefühlen und Trauer rea­ giere. Sie aber sagt mir, das sei der Lauf des Lebens. Ich weine und schreie, sie solle mich nicht verlassen, ich sei so allein und könne allein doch nicht leben; daraufhin sagt sie, ich solle nicht weinen, ich sei nicht allein, selbst wenn sie tot wäre, würde ihr Geist in mir sein. Ich weine und weine, bis ich irgendwann in ein weites Tal komme, wo ich anlege. Viele Menschen sind dort, die mich offenkundig schon lange freudig erwartet haben. Ich baue mir ein Haus in Sichtweite der Menschen. “

Diese durch das Traumbild ausgelöste Imagination leitete die Phase im therapeu­ tischen Prozeß ein, in der es um Ablösung, Abschied von der Therapeutin, und damit um Eigenständig-Werden im eigentlichen Sinn ging.

Schlußbetrachtung Wie das vorgelegte Traummaterial dokumentiert, muß der Wert und die Bedeu­ tung der Menstruation in dem hohen Wandlungs- und Bewußtseinspotential gese­ hen werden, die am Menstruationspol des weiblichen Zyklus wirksam sind. „Wandlung“ ist das Thema, das sich monatlich auf körperlicher, geistiger und seeli­ scher Ebene vollzieht, der Rhythmus, der das Leben von Frauen im Innersten durchzieht. Folgerichtig reflektieren und imaginieren die dokumentierten Träume das Thema „Wandlung“ in großer Intensität. Mit besonderer Eindringlichkeit und mit hohem Symbolwert geben die Menstrualträume entscheidende Impulse zur 64

Die Bedeutung der Menstruation für den weiblichen Individuationsprozeß

inneren Weiterentwicklung, indem sie in besonderem Maße die vom Ich ausgeblen­ deten Aspekte der Persönlichkeit ins Bewußtsein tragen und sie damit der Integration zugänglich machen; zum anderen offenbaren sich durch die Traumbilder archetypische Kräfte, durch die sich eine neue Tiefendimension der Seele von innen heraus dem Bewußtsein erschließt. Gelingt die Reintegration des ausgeblendeten Pols weiblicher Erfahrung, können, wie gezeigt, die Wandlungsenergien dieser Zeit in spezifischer Form ihren Beitrag leisten zur Vertiefung der Persönlichkeit, zur Erkenntnis des eigenen Wesens, woraus letztendlich tief gegründete Identität ent­ steht.

The value of menstruation for female individuation process Summary: The study of menstrual dreams shows a close correlation between menstruation, inner psychic change and being close to the Self. The value of menstruation for the female individuation-pro­ cess has to be seen in the high potential for inner psychic change and increasing consciousness at that pole of the female cycle. It is shown that menstruation has it’s special function for female individuation. Key words: Menstruation, Individuation, transformation, change of soul-energy.

Literatur Harding, M. (1949): Frauenmysterien einst und jetzt. C. G. Jung Institut, Zürich. Neumann, E. (1994): Die große Mutter, Walter Verlag, Solothurn, Düsseldorf. Neumann, E. (1995): Zur Psychologie des Weiblichen, Fischer Verlag, Frankfurt a. M. Rogers, C. (1991): Theorie der Psychotherapie, Gesellschaft f. wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie, Köln. Shuttle, P. und Redgrove, P. (1982): Die weise Wunde Menstruation, Fischer, Frankfurt a.M. Voss,J. (1991): Das Schwarzmondtabu, Kreuz Verlag, Stuttgart.

Sibylle Oclschläger Wiesenstraßc 41 74545 Michelfeld

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Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1/99, 66-76

Die Schöpfung nachgedichtet 900 Jahre Hildegard von Bingen Hans- Willi Weis, Freiburg

Zusammenfassung: Hildegard von Bingen, geboren 1098, die mittelalterliche Klosterfrau und Äbtissin, erlebt ihre größte Popularität am Ende des 20. Jahrhun­ derts. Ihre positive Anthropologie und Kosmologie, die Mensch und Welt als sinn­ lich-leibliche Gestalt vorstellen, kompensieren als Kunstwerk und als ästhetischer Genuß die metaphysische Leere im Seelenhaushalt heutiger Menschen. Wir verste­ hen Hildegard als Schöpfungsdichterin und interpretieren ihre Visionen im Sinne poetischer Inspiration. So erkennen wir in ihr eher ein Beispiel für erwachende Subjektivität und Personalität als ein Vorbild für heutige transpersonale Praxis und Transzendenzerfahrung. Schlüsselworte: Die mittelalterliche Klosterfrau, der Popstar, positive Kosmo­ logie, kompensatorische Funktion, Vision und Inspiration. Geboren im Jahre 1098 nach der Menschwerdung des Herrn als Tochter aus vor­ nehmem Hause. Die gottesfürchtigen Eltern der kleinen Hildegard weihen, einem alttestamentarischen Brauch folgend, ihr zehntes Kind dem geistlichen Stand. Mit acht Jahren geben sie das Kind, dem bereits in diesem zarten Alter erste Gesichte nachgesagt werden, zur religiösen Erziehung außer Haus in die Obhut der nur sechs Jahre älteren Jutta von Sponheim, die freilich ihrerseits noch für kurze Zeit unter der Aufsicht einer frommen Witwe steht. Die beiden Mädchen üben zusammen Latein und singen gemeinsam den Psalter. Und gleichermaßen keck wie standesbewußt, schmieden die geweihten Jungfrauen alsbald hochfliegende Pläne. Doch das kühne Vorhaben einer Wallfahrt stößt bei Juttas ältesten Bruder, seit dem Tod der Eltern in einer Art Vormundschaftspflicht für die jüngeren Geschwister, ob der offenkundi­ gen Gefahren eines solchen Unterfangens auf blankes Entsetzen. In Absprache mit dem Bischof findet er eine weitaus bessere Lösung, um das ungestüme religiöse Ausdrucksbedürfnis der jungen Damen in vernünftige Bahnen zu lenken: eine Klausnerei an dem unlängst auf dem nahe gelegenen Disibodenberg gegründeten Benediktinerkonvent. Daraufhin erfolgt am 1. November 1112, zum Allerheiligen­ fest, unter reger Anteilname der Bevölkerung die feierliche Einschließung der drei jugendlichen Gottesbräute (eine dritte Adelstochter hat sich inzwischen hinzuge­ sellt) in ihre separate Klause außerhalb der Mauern des besagten Männerklosters. Die kleine Klause, immerhin ganz aus Stein erbaut, besitzt nur ein einziges Fenster, welches auch für die regelmäßige Gesprächszeit sowie als Durchreiche für die 66

Die Schöpfung nachgcdichtct

Mahlzeiten benutzt wird. Wieder singen die Inklusen den Psalter und befleißigen sich der Bibellektüre als Grundlage einer lateinischen Schriftbildung. Daneben unterwirft die gestrenge Jutta sich und ihre Mitschwestern einer harten Askese, die Juttas relativ frühen Tod mit verursacht. Hildegard wird später von asketischen Exzessen ablassen und ein für ihre Zeit biblisches Alter erreichen. So könnte man aus heutiger Sicht eine Vita der Hildegard von Bingen beginnen. (Vgl. u. a. Staab 997, S. 62 ff.) Nur eine von sicherlich mehreren möglichen Varianten, die Lebensgeschichte einer ungewöhnlichen Frau aus ferner Vergangenheit so zu konstruieren, „wie es wirklich gewesen ist“, sind die nackten Geschichtsdaten des weiteren Lebenswegs: 1136 wird Hildegard selber Leiterin („magistrata“) des Non­ nenkonvents auf dem Disibodenberg. Zwischen 1147 und 1152 wird unter ihrer Regie auf dem Rupertsberg bei Bingen ein neues Kloster errichtet. Und 1165 schließlich gründet die bereits betagte Äbtissin oberhalb von Rüdesheim ein weite­ res Kloster in einer leerstehenden Augustinerabtei (der heutige Sitz der St.-Hildegardis-Abtei zu Eibingen). - Nach der Weihe und Einschließung der Achtjährigen gehen 35 Jahre ins Land, ohne daß sich im Leben der Hildegard von Bingen etwas wirklich Außerordentliches und Aufsehenerregendes ereignen würde. Der klösterli­ che Alltag verläuft in der Gleichförmigkeit seines steten Wechsels von Stundengebet und Mahlzeiten, Gottesdienst und Arbeit, „ora et labora“. Doch dann, im Jahr 1141, die tiefe Zäsur, das einschneidende und alles entscheidende Erlebnis der großen Vision, so zumindest die von Hildegard selbst beförderte offizielle biographische Lesart. Erst dieses Geschehnis und die Kunde davon machen Hildegard, die mittel­ alterliche Klosterfrau und Äbtissin, zu einer „Person des öffentlichen Lebens“ und in der Folge zu einer Gestalt von überragender historischer Bedeutung. Es begrün­ det sich ihr Ruf als Seherin, Prophetin, Mysterikerin. Als sie „42 Jahre und sieben Monate alt war“, berichtete Hildegard von sich, fuhr „aus dem offenen Himmel... blitzend ein feuriges Licht hernieder. Es durchdrang mein Gehirn und setzte mein Herz und die ganze Brust wie eine Flamme in Brand . . . “ (Hildegard von Bingen, 1992, S. 5) So der Beginn ihrer Visionsschilderung in der Schrift „Scivias - Wisse die Wege“. Im Abstand von jeweils einem Jahrzehnt folgen zwei weitere große Visionserlebnisse, deren nachträgliche schriftliche Ausarbeitung sie ebenfalls jedes­ mal etwa zehn Jahre in Anspruch nimmt. Außer diesen umfangreichen Visionsschriften sind zuletzt 77 von ihr komponierte Gesänge sowie das Mysterienspiel „Ordo Virtutum“ überliefert.

Top of the pops - von der mittelalterlichen Klosterfrau zum Megastar der Neunziger Szenenwechsel. Ende 1994 klettert die Pop-CD „Vision“ mit den Hildegard von Bingen nachempfundenen Musikstücken innerhalb weniger Wochen auf Platz eins der amerikanischen Billboard-Liste für Crossover-Produktionen. Die Aufnahme zweier Vokalstimmen, bruchstückhaft Hildegardschen Gesängen entnommen, zu­ sammengemixt durch den kalifornischen Arrangeur und Musiker Richard Souther, wird zum Hit in der angloamerikanischen Musikszene, nach dem in den Discos und Nachtclubs von New York über London bis Melbourne begeistert getanzt wird. 67

Hans-Willi Weis

Hildegard von Bingen kennt von Kalifornien bis Australien wenigstens dem Namen nach so gut wie jede und jeder. Sie ist zu einem globalisierten Popidol der Neunziger geworden. Die Queen der Populäresoterik erobert alle möglichen Käuferschichten, und ihre Fangemeinde ist zahlenmäßig wohl derjenigen von Prinzessin Diana ver­ gleichbar. 800 Jahre trennen uns von der historischen Hildegard des Mittelalters. Wie über­ windet die gegenwärtige Popularität dieser Frau jene enorme Entfernung? Die Antwort muß wahrscheinlich lauten, daß sie sie gar nicht überwindet. Die derzeit populäre Hildegard dürfte mit der historischen in der Regel wenig mehr als den Namen gemein haben. Es stellt sich also die Frage: Was an der Musik, was an den Texten und Zeugnissen dieser Frau tritt bei zunächst unaufhebbarer historischer Distanz dennoch mit der seelischen und geistigen Befindlichkeit vieler Menschen der Gegenwart in Resonanz?

Kosmisches Feeling und mystischer Touch - zur Unwiderstehlichkeit von Hildegards Schöpfungspoesie Im Vorgriff auf eine Antwort hier als erstes die Stimmen dreier sensibler und reflektierter Zeitgenossen. „In ihrer Musik spüre ich ein besonderes Glühen. Es erinnert mich etwas an das Licht einer Kerze. Das ist warm und strahlt in einer wun­ derschönen Weise in das ganze Zimmer aus. Die Musik der Hildegard von Bingen ist etwas ganz Besonderes - in unserem ,Early Music'-Projekt mußte sie einfach sein.“ So David Harrington, Leiter des Kronos Quartetts. (SWR Musikfeuilleton 1998) Das avantgardistische Streichquartett aus San Francisco präsentiert auf seiner CD „Early Musik“ von Hildegard von Bingen die Antiphon „O virtus sapientiae“. Die Theologin Barbara Stühlmeyer wiederum äußert über Hildegards Musik: „Unser Erzbischof ... Karl Braun hat mir einmal gesagt, daß man die Transzendenz­ erfahrung hindurch spürt, wenn man sich diese Musik anhört, und ich glaube, daß das eigentlich sehr gut ausdrückt, warum sich viele Menschen davon angezogen füh­ len.“ (SWR Musikfeuilleton 1998) Und Schwester Philippa Rath von der Abtei St.Hildegardis in Eibingen drückt es schließlich folgendermaßen aus: „Im mittelalter­ lichen Denken Hildegards gab es sozusagen die große Einheit. Alles stand miteinander in Verbindung, war aufeinander bezogen, wirkt aufeinander ein. Aber das Entscheidende ist eben: durch Gott. Und das ist das, was man bei Hildegard nicht vergessen darf. Ich denke aber, heute ist die Sehnsucht nach diesem ganzheit­ lichen Denken ungeheuer groß. “ (DLF-Feature 1998) - Hören wir illustrativ dazu auch noch einmal O-Ton Hildegard: „In Glanz und Schönheit hat der Herr sein All gestickt. Er hat es ausgefüllt mit dem Reichtum der Geschöpfe, dem Menschen zu Diensten ... Alles, was in der Ordnung Gottes steht, antwortet einander. Die Sterne funkeln vom Licht des Mondes, der Mond leuchtet vom Feuer der Sonne. Jedes Ding dient einem Höheren, und nichts überschreitet sein Maß.“ Worin also besteht für uns heute die besondere Faszination der Hildegardschen Kunst und Hildegardscher Aussagen? Darin, daß sie uns eine Welt, ein Weltbild und zwar Bild in der wörtlichen Bedeutung sinnlicher Eindrücke - vor Augen führt, das von Ordnung, Sinn und Harmonie bestimmt wird. Eine Ordnung, die gleich­ 68

Die Schöpfung nachgedichtet

zeitig Schönheit bedeutet, ein Sinn, der als Sinnlichkeit, in Gestalt sinnlicher Qualitäten, förmlich greifbar erscheint, und eine Harmonie, die als lebendiges Wechselspiel der Kräfte und Kreaturen gleichsam wie Musik für unsere Ohren ver­ nehmbar ist, und deshalb auch auf ganz selbstverständliche Weise durch Musik und menschlichen Gesang zum Tönen gebracht werden kann. Und - für Hildegard das schlechthin Grundlegende - diese Welt liegt geborgen in den Händen Gottes; eine gute Schöpfung, die von ihrem gütigen Schöpfer behütet wird und der von Ewigkeit her für ihr Wohlergehen gesorgt hat. Kein abwesender Gott also, sondern ein anwe­ sender, zwar unendlich unterschieden von seiner Schöpfung, aber für seine Ge­ schöpfe doch auch wieder ganz nahe, sichtbar und erreichbar in allem von ihm Ge­ schaffenen. Kurz, die ideale Kompensation für jedwede moderne Gottesfinsternis, das ultimative Konstrastprogramm zu Urknall, Entropie und Schwarzen Löchernganz zu schweigen von Ozonloch und Landschaftsverbrauch, unserer hausgemach­ ten Un-Ordnung. - Auch schon bei Hildegard stiftet der von seiner göttlichen Bestimmung abweichende und damit sündige Mensch allerlei Unordnung und Verwirrung; ja, die Sünde der Menschen legt sich als düsterer Schatten über den ursprünglichen Glanz der Schöpfung, so daß von ihm nur mehr ein matter Abglanz übrig bleibt. Aber die fundamentale Güte von Gottes Weltenbau wird dadurch doch nicht in Frage gestellt und nicht einmal das letztendliche Heil der Menschheit aufs Spiel gesetzt. Des guten Endes von allem, weil gut von allem Anfang an, ist sich Hildegard so gewiß, wie der heutige Mensch allenfalls noch seiner Sterblichkeit. Doch warum Hildegard von Bingen und nicht das Evangelium im Original? Was läßt uns der Stimme der Rheinischen Sibylle den Vorzug vor dem Wort der Evan­ gelisten geben? Zwei Momente könnten dafür den Ausschlag geben. Zum einen der ausgesprochen kosmophile Zug in Hildegards christlicher Theologie. In ihren Aus­ führungen bedient sie sich derart ausgiebig und hingebungsvoll der Leibmeta­ phorik, daß der heutige Leser oder Hörer die dem Christentum ansonsten meistens zu Recht nachgesagte Leibfeindlichkeit im Handumdrehen vergißt. Immer wieder wird die Erde mit dem Weltall analog zu leiblichen Gliedern und Proportionen gedacht und vorgestellt. Und wohlgemerkt in Gestalt des menschlichen Leibes, wodurch zugleich dessen Wertschätzung im Kreise der physischen Geschöpfe zum Ausdruck gebracht wird. Wahrscheinlich handelt es sich für Hildegard bei ihrem so eindringlich geschauten und geschilderten Kosmos-Menschen sogar um mehr als eine bloße Metapher, nämlich um eine wesensmäßige Einheit. Die von ihr in den visionären Bildern beschworene heilsgeschichtliche Identität von Mensch und Kos­ mos erlaubt uns, lassen wir uns bei der Lektüre auf diese suggestive Gleichsetzung ein, einen Gedanken zu denken, den wir uns sonst verbieten oder nur unter Schuld­ gefühlen durchzuspielen wagen: der Mensch als Krone der Schöpfung, als gottge­ wolltes Ziel der gesamten Weltveranstaltung. Hildegard ermöglicht uns unversehens eine interessante Selbsterfahrung: Besitzt jener Gedanke, jenes narzißtische Philosophem, bei allem schamhaften Widerstreben wie auch heftig empörten Wider­ spruch, den es sofort in uns hervorruft, nicht nach wie vor den Zauber der Versuchung, einen gewissen spielerischen Verführungszwang? Jedenfalls ist es ver­ lockend, sich gewissermaßen, von Hildegard mütterlich an der Hand genommen, zurückzuträumen in die ungehemmte Anthropozentrik eines theozentrischen Heilskosmos. „Hildegard kennt eine Kosmologie, wo die Größe des Kosmos - und 69

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sei er unermeßlich groß - die Größe des Schöpfers ungebrochen ,übersetzt', ja wo der Mensch dem Ganzen die Krone verleiht. Ebensowenig verschwindet er als Nichts im Schweigen der unendlichen Räume, vor denen Pascal schauderte, sondern er bleibt sammelnde Mitte, Verdichtung, Sinnfülle alles unübersehbar Vielen.“ (Gerl-Falkovitz 1997, S. 35 f.) Nochmals mit Hildegards eigenen Worten: „Von der Kraft der Geschöpfe umgeben, kann er [der Mensch] niemals von ihnen getrennt werden, denn die Weltelemente, dem Menschen zum Dienst geschaffen, bieten ihm ihre Hilfe an.“ (Zit. ebd.) Zweifelsohne eine schmeichelhafte Perspektive ... Das andere Moment, das uns gerade an Hildegard Gefallen finden läßt, ist die Poesie ihrer Werke, der musikalischen ebenso wie der rein literarischen. In einem ganz anderen Sinne als von dieser theologischen Metapher insinuiert, kann hier zu Recht davon die Rede sein, daß das Wort Fleisch werde: Worte, Begriffe und Abstraktionen verwandeln sich unter Hildegards visionärer Alchimie in poetische Bilder von großer sinnlicher Ausdruckskraft, in Sprachbilder genauso wie in Melodien und Klanggemälde. Sie hat die an sich meist schon sehr bildmächtigen biblischen Texte, zumal ihre Lieblingspassagen wie den Schöpfungsmythos der Genesis oder auch den Prolog des Johannes-Evangeliums, noch einmal auf ihre Weise poetisiert. Und ihre visionäre Nachdichtung der Heiligen Schrift übt einen ungebrochenen Zauber aus selbst noch auf den gegenwärtigen Leser oder besser: gerade und vor allem auf diesen. „O splendissima gemma . . . “ Das Universum ein funkelnder Edelstein ... In der Tat, Hildegards Begeisterung, der Enthusiasmus ihrer frommen Schau, wirkt ansteckend, der Funke kann überspringen und bisweilen nicht bloß die Naiven in Entzücken versetzen. „O du grünende Lebenskraft aus Gottes Hand . . . " Viriditas, die alles belebende Grünkraft - was für ein wunderbares Bildwort, wie blaß dagegen solche Vokabeln wie Prana, Chi, Pneuma etc.! O edelstes Grün, / du wurzelst in der Sonne, / strahlst auf in leuchtender Helle / in einem Kreislauf, / den kein irdisches Sinnen begreift: / Du bist umfangen / von den Umarmungen der Geheimnisse Gottes. / Du schimmerst auf wie Morgenrot, / du glühst in der Sonne Flammen! (Schipperges 1985, S. 139) Und wie sinnlich-farbig sie in „Ordo virtutum“ den Teufel ausmalt, ließ mit Sicherheit schon in ihren Tagen manch vertrockneten Theologen vor Neid erblassen: „Der Teufel gleicht einem schwarzen, borstigen Wurm, voll von Geschwüren und Blattern. Fünf Farbstreifen hat sein Leib: grün, rot, weiß, gelb und schwarz, voll von tödlichem Gift.“ Dieses zweite Moment, das Dichterische ihres Werks und dessen Ästhetik, setzt jenes andere Moment einer positiven Kosmologie übrigens voraus. Nur ein so sin­ nesfreundlicher und sinnenfroher Kosmos wie der Hildegardschc läßt sich nach Herzenslust poetisieren und dichterisch lobpreisen. Ein irdisches Jammertal gäbe dazu nicht viel her. Und folgerichtig fallen an dem überaus prächtigen Königs­ gewand, mit dem sie den Kosmos angetan sieht, denn auch die Stockflecken mensch­ licher Sündhaftigkeit kaum mehr ins Gewicht, und die gelegentliche Anrede des Menschen als „Asche von Asche, Moder von Moder“ geht jedesmal sogleich wieder in einer hymnischen Laudatio unter. - Freilich wird Hildegard eine Unterscheidung zwischen Theologie und Poesie, wie ich sie vornehme, auf sich selber gewiß nicht angewandt haben. Was meine Sichtweise ihr anerkennend als dichterischen Genius und schöpferische Imagination zuspricht, war für sie so oder so prophetische Theologie und Schriftauslegung kraft der Autorität visionärer Offenbarungen. Wir 70

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werden gleich auf dieses Selbstbild zurückkommen. Man könnte auch sagen: An Hildegard wird sichtbar, wie das Ästhetische in seiner ursprünglichen Wortbe­ deutung von sinnlicher Wahrnehmung bei sozusagen konsequenter Durchführung und Ausschöpfung seines Potentials im Menschen sich zur Ästhetik im neueren Wortsinne fortentwickelt, zum künstlerischen Ausdrucksvermögen, zur Hervor­ bringung des Schönen und endlich zum Genuß seines „schönen Scheins“. Womit wir beim springenden Punkt der heutigen Hildegard-Rezeption angelangt wären. Will sagen, was uns an Hildegard von Bingen letztlich überzeugt, was uns insgeheim bezwingt, ist nicht ihre Theologie, nicht ihre Glaubenslehre, nicht ihre Schrift­ auslegung, nicht ihre Frömmigkeit, auch nicht ihre positive Kosmologie an sich und deren ökologische Grundeinstellung; was uns für sie einnimmt ist, so möchte ich behaupten, die ästhetische Komponente in all diesen Aspekten, die sie begleitende sanfte Überredungskunst des Schönen und der unwiderstehliche Charme des Poetischen. Zugespitzt formuliert: Was uns auf den Geschmack bringt, hängt mit der Geschmacksfrage zusammen. „Was ist an dieser Frau aktuell?“ fragt auch Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz und vermutet: „Es mag ihre unerschrockene Anthropozentrik sein, verbunden mit dem Eros zu allem Geschaffenen: das Hören auf die Symphonie, die Zuversicht auf die ,liebende Umarmung aller Kreatur“. Diese Sicht ist nicht naiv, sondern zutiefst kor­ rigierend, was übersetzt heißt: richtend.“ (Gerl-Falkovitz 1997, S. 41) Von dem mei­ nes Erachtens problematischen, weil trügerische Hoffnungen weckenden Pathos abgesehen, würde ich es vorziehen, von Kompensation statt von Korrektur zu spre­ chen; zumal die Nähe des Ausdrucks „richtend“ zu „richtig“ dazu verleiten könnte, Hildegards historischen Standpunkt als die für uns heute „richtige Weltanschauung“ mißzuverstehen. Eine derartige Auffassung wäre dann allerdings mit Recht als naiv zu qualifizieren. Kosmisches Feeling und mystischer Touch - ich möchte die aktuelle Anziehungskraft der Hildegard von Bingen absichtlich auf diesen etwas salopp for­ mulierten und depotenzierten Nenner bringen. Er bewahrt uns davor, diesem Phänomen überwertige Bedeutungen (z. B. was die Sehnsucht nach Transzendenz­ erfahrung betrifft) zuzuschreiben. Daß Hildegard zu einer so charmanten und gott­ lob harmlosen Verführerin heutiger Seelen hat werden können, verdankt sie wie bei jeder gelungenen Verführung selbstredend nicht zuletzt der Psychodynamik der Verführten. Das, was an bergender Ordnung, letztgültigem Sinn und begütigender Weltharmonie der modernen/postmodernen Welterfahrung und Selbstwahrneh­ mung abgeht und als psychisches Defizit mitunter schmerzlich empfunden wird, macht sich in der Begegnung mit Hildegards Weltverständnis und Menschenbild unabweisbar als eine Art urwüchsige Sehnsucht in uns bemerkbar, welche zugleich bei der beschaulichen Lektüre ihrer Texte oder beim Hören ihrer Musik im Kunst­ genuß eine vorübergehende kompensatorische Erfüllung findet. Als erhabenes Gefühl einer Ordnung im Großen Ganzen (kosmisches Feeling) und als Angeführt­ sein durch eine Ahnung davon, wie alles mit allem geheimnisvoll zusammenhängt und wie auch wir an diesem Zusammenhang partizipieren (mystischer Touch). Indes sollten wir weder das schwere Los noch das Privileg unserer neuzeitlichen Subjek­ tivität und Individualität zugunsten solcher regressiver Versuchung aufgeben.

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Entlastung von riskanter Subjektivität durch Autorisierung „von ganz oben“ - Hildegards Selbstverständnis als Prophetin Bei ihrer Rekonstruktion - auch sie übrigens immer noch eine subtile Form von Konstruktion - von Hildegards Selbstverständnis anhand der biographischen resp. hagiographischen Dokumente aus der Feder von Zeitgenossen gelangt Barbara Newman unter anderem zu dem Schluß: „Hildegard selbst sah sich vor allem als Prophetin. Die Vorbilder ihres Selbstverständnisses waren die großen Gestalten der Bibel.“ (Newman 1997, S. 128) Was bedeutet diese Identifikation zu jener Zeit, und welche psychischen und sozialen Vorteile gewährt sie einem so definierten Individuum? Für Hildegard selbst, so abermals Barbara Newman, sei die Geschichte „ihrer ersten Lebenshälfte die Entfaltung ihrer Visionsgabe. Diese Entwicklung vollzog sich stufenweise. Sie begann in der frühen Kindheit und erreichte ihren Höhepunkt in der Lebensmitte: Die Seherin wurde zur Prophetin, und aus der scheuen Rekluse wurde eine imponierende Führerin.“ (Ebd., S. 129) Man müsse davon ausgehen, daß für Hildegard zunächst die bei ihr schon während der Kindheit auftretende visionäre Gabe eine nicht leicht zu verarbeitende und zu integrierende psychische Besonderheit dargestellt habe und für die Heranwachsende auch eine Quelle permanenter Beunruhigung gewesen sein dürfte. „Das junge Mädchen emp­ fand diese Schau keineswegs als eine Berufung, sondern vielmehr als eine Belastung. Sie ließ sie anders als andere erscheinen . . . “ (Ebd.) Und auch ihr chronisches Krank­ sein muß, zumindest in der Eigenwahrnehmung, in einem ursächlichen Zusam­ menhang mit der Disposition zum Visionären gestanden haben. Erst im Jahr der lebensgeschichtlichen Zäsur (1141), so Barbara Newman weiter, „verband sich die bis dahin private und quälende Art ihrer ,visio‘ mit ihrer Berufung als Nonne, und ihr Zweck wurde ihr klar. Was sie von nun an schauen wird, ist das Ziel des Lebens jedes Mönchs und jeder Nonne: ... die Erkenntnis des wahren Sinns der Heiligen Schrift. Ihre ,visio‘ wurde so zu einer Verstandesgabe, die sie zunächst zu schöpferi­ scher Schriftauslegung und bald auch zu musikalischen Kompositionen führte.“ (Ebd. S. 129 f.) - Als Instrument der prophetischen Schriftauslegung war nun end­ lich ihre ganz individuelle Erfahrung, um nicht zu sagen Heimsuchung der visionä­ ren Schau für sie auf einmal wunderbar gerechtfertigt, ja sogar nobilitiert. Eine Transformation hatte stattgefunden. „Von nun an wurde sie ebenso kühn und extra­ vertiert wie sie vorher schüchtern und introvertiert gewesen war. ... Am erstaun­ lichsten war, daß die ,visio‘, die sie während ihrer ganzen Kindheit und Jugend als exzentrisch erscheinen ließ - Zeichen ihres individuellen Selbstseins -, nun zur Voraussetzung dazu wurde, ihre Individualität ganz und gar zu übersteigen und ihre menschliche Stimme nur noch als ,Trompete, die durch den Atem Gottes erklang', zu begreifen.“ (Ebd. S. 130f.) Man könnte diese Ausführungen auch folgendermaßen zusammenfassen und Barbara Newmans Auslegung nochmals pointieren: Hier gelingt es einem Men­ schen, nachdem er bereits über die Hälfte seiner Lebensstrecke zurückgelegt hat, sei­ ne schwierige Subjektivität in eine nach innen wie nach außen haltbare und funktio­ nale Form zu gießen. Eine Form, die dadurch inneren Halt gibt und gesellschaftliche Anerkennung vermittelt, daß sie das Subjektive als ein Allgemeines unkenntlich macht und der Sichtbarkeit und Anstößigkeit entzieht. So wird das Individuum vor 72

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den psychischen und sozialen Gefahren und Gefährdungen geschützt, die ihm aus seiner „eigenwilligen“ Subjektivität zu erwachsen drohen, insbesondere in einer Gesellschaft wie der mittelalterlichen, die dazu tendiert, die Äußerung von Subjek­ tivität und zumal bei Frauen - generell mit Sanktionen zu belegen. Im Falle Hildegards entspringt dieses Subjektive zugleich verleugnende und zulassende Allgemeine der Tradition und Autorität der Propheten. Indem sich Hildegard in der Nachfolge der Propheten definiert, ermöglicht sie es ihrem subjektiven Genius, sich frei auszusprechen, ja überhaupt erst seine volle Blüte zu entfalten. Der innere Konflikt und Zwiespalt ist gelöst, und ebenso weiß sie sich von den äußeren Risiken bis zu einem gewissen Grad entlastet, nachdem ihr auch die maßgeblichen patriar­ chalen Autoritäten (Bernhard von Clairvaux sowie Papst Eugen) die „Akkreditie­ rung“ als Prophetin, als legitime Ubermittlerin der Gottesworte, gewährt haben. Nachdem sie sich selbst und die signifikanten Sanktionsgewalten um sich her hin­ länglich davon überzeugt hatte, daß sie „nichts aus eigener Erfindung oder irgendei­ nes Menschen [sprach und schrieb], sondern wie ich es in himmlischer Eingebung sah und hörte und durch die verborgenen Geheimnisse Gottes empfing“, war der kreative Prozeß in ihr von seinen Blockaden befreit, und der Strom der Imagination vermochte endlich frei zu fließen. Erst nachdem sie sich und anderen glaubhaft ver­ sichert hat, „nicht nach Menschenart, nicht aus ... menschlicher Erfindung heraus oder in eigenwilliger menschlicher Gestaltung“ zu reden und zu schreiben, kann sic sich daran begeben, genau dies zu tun, und zwar von da an ohne inneren Widerstreit und äußere Anfechtung. (Hildegard von Bingen 1992, S. 7 u. S. 5) Damit habe ich bereits durchblicken lassen, worin ihre Subjektivität dem Ver­ mögen nach bestanden hat. Was für eine psychische Veranlagung, welches Talent verbirgt sich hinter der Formel von der Vision oder Schau? Ich denke, daß man mit der Vermutung nicht völlig daneben liegt, daß Hildegard mit einem besonderen Imaginationsvermögen begabt war, speziell einer starken poetischen Einbildungs­ kraft. Ist es also zu gewagt, die These aufzustellen, daß Hildegard, auch weil ihr die Rolle der Dichterin und Künstlerin, geschweige denn der freien Schriftstellerin, sozial nicht zur Verfügung stand und sie außerdem ein derartiges individualisiertes Selbstbild individuell psychisch noch gar nicht zu antizipieren vermochte, das bereitlicgende Gewand der Prophetin anlegte? Ich erachte diesen Substitutions­ zusammenhang für weitaus plausibler als jenen anderen, der sie das prophetische Identitätskonzept deswegen aufgreifen läßt, weil ihr als Frau der Zugang zum Priesteramt verwehrt sei; eine Annahme, in der die nach meinem Dafürhalten nicht sehr überzeugende Unterstellung enthalten ist, das Priesterliche wäre das ihrem Wesen und ihrer subjektiven Anlage eigentlich Adäquate gewesen.

Mystik, Vision, Inspiration - eine zusammenfassende Hypothese Was aber hat es zuletzt mit der Mystikerin auf sich? Wieviel Sinn macht es, Hildegard als Vorbotin der kommenden Frauenmystik des 13. und 14. Jahrhunderts anzusehen? Und können wir aus ihrem visionären Erleben etwa Anregungen gewin­ nen für eine transpersonale Praxis in der Gegenwart? Auf der phänomenalen Ebene der Manifestationen veränderten Bewußtseins bleibt wenigstens ein wesentlicher Unterschied zur späteren Frauenmystik von vornherein festzuhalten: Nach aus­ 73

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drücklichem eigenen Bekunden versteht sich Hildegard nicht als Ekstatikerin. Tat­ sächlich forscht man in Hildegards Schriften und den überlieferten Lebensdoku­ menten vergeblich nach Anhaltspunkten für spektakuläre Kundgaben einer exaltier­ ten Liebesmystik, wie sie so zahlreich und charakteristisch für die jesusvernarrten jungen Klosterfrauen der darauffolgenden Periode sind. Hildegard visualisiert zwar allenthalben strahlende Lichter und brennendes Feuer am Himmel (bzw. letzteres ebenso in ihrer Brust), aber nirgendwo handelt es sich um die unverkennbare Stichflamme erotisch-sexueller Libido, die da auflodern würde. Selber beschreibt sie ihren visionären Bewußtseinszustand mit folgenden Worten: „Die Geschichte aber, die ich sah, empfing ich nicht im Traum, nicht im Schlaf oder in Geistesverwirrung, nicht durch die leiblichen Augen oder die äußeren menschlichen Ohren, auch nicht an abgelegenen Orten, sondern ich erhielt sie in wachem Zustand, bei klarem Verstand, durch die Augen und Ohren des inneren Menschen, an zugänglichen Orten, wie Gott es wollte.“ (Hildegard von Bingen 1992, S. 5f.) Keine Entrückung und keine Verzückung also; bewußtseinspsychologisch ausgedrückt: keine Trance und dem äußeren Kontext nach keineswegs in der sozialen Isolation und Abgeschiedenheit einer formellen individuellen Klausur. Und trotzdem anscheinend so etwas wie ein „nichtalltäglicher oder veränderter Bewußtseinszustand.“ Ihre Äußerungen hinterlassen einen gewissen Spielraum der Interpretation, und eine ein­ deutige psychologische Kategorisierung fällt schwer. Auf alle Fälle scheidet jedoch eine Deutung in Richtung paranormaler Phänomenologie und Begrifflichkeit schon einmal aus: Hildegard läßt sich nicht als somnambule Sensitive vereinnahmen, ihre Prophetie und ihre Visionen haben nichts mit Präkognition oder dergleichen ASW(Außersinnliche Wahrnehmung)-Phänomenen zu tun, sic kommt nicht als frü­ hes spiritistisches Medium in Frage, das den Lieben Gott oder die Heilige Ursula mit den elftausend Jungfrauen „channelt“. Der Tendenz nach stimme ich der Bewertung von Schwester Philippa Rath zu: „Die Frage der Visionen i s t . . . die zentrale Frage in der Rezeption Hildegards heute. Es gibt kaum einen Punkt, der so falsch verstanden wird ... Man muß das Phänomen Vision auf den Boden der Tatsachen und die Erde zurückholen. Es gibt Menschen, die von einem himmlischen Fernsehapparat spre­ chen, andere von einem Migräneanfall usw. Das ist alles Unfug. Ich denke, man soll­ te einfach in die Heilige Schrift schauen, ohne die Hildegards Werk nicht zu denken ist. Der Begriff Vision kommt von videre, sehen, und das Sehen in der Heiligen Schrift bedeutet im Grunde den Kern des Ganzen erkennen, das Wesentliche durch­ schauen, die Durchsicht auf das Ganze und Wichtigste, konkret: auf Gott hin. Und Hildegard hat als Benediktinerin gelebt und hat sich dementsprechend jahrzehnte­ lang im kontemplativen Leben mit der Heiligen Schrift auseinandergesetzt und hat das Wort Gottes meditiert und dementsprechend im Licht der Heiligen Schrift die Wirklichkeit gesehen. Und das ist, glaube ich, das Phänomen Vision bei Hildegard, ganz einfach ausgedrückt.“ (DLF-Feature 1998) Auf dieser einigermaßen tragfähi­ gen Verständnisbasis lassen sich dann die Probleme und Fragen formulieren, die einer weiteren Erörterung wert erscheinen. Der visionäre Augenblick nach Hildegards persönlichem Bericht: 1. Es erscheint ihr das „feurige Licht“ aus dem „offenen Himmel“, welches ihr gleichzeitig die Brust erhitzt, „wie die Sonne den Gegenstand erwärmt, auf den ihre Strahlen fallen“. Sie findet sich also in einen Zustand höchster Aufmerksamkeit und gesteigerter 74

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Emotionalität versetzt (vergleichbar dem positiven Erregungszustand des Dichters im Moment der Inspiration). 2. Sie erblickt, vor ihrem geistigen Auge, ein „Gesicht“: „Voller Furcht und zitternd vor gespannter Aufmerksamkeit, blickte ich gebannt auf ein himmlisches Gesicht“. Die Betonung der Ängstlichkeit sollte nicht überbe­ wertet werden, unterstreicht sie doch lediglich die obligatorische Gottesfürchtigkeit. 3. „Und plötzlich erhielt ich Einsicht in die Schriftauslegung, in den Psalter, die Evangelien und die übrigen katholischen Bücher des Alten und des Neuen Testa­ ments.“ Der Moment der Intuition, der intuitiven, d. h. plötzlichen und totalen Einsicht in Sinn und Bedeutung einer Sache. 4. Zur Vision tritt die Audition hinzu. Jetzt, da sie „das zur Offenbarung des Verborgenen Bestimmte, nicht von Täu­ schung verunsichert, sondern in einfacher Klarheit empfängt“, fordert sie eine Stimme auf: „Schreibe, was du siehst und hörst.“ — Hildegard ist sich sicher, daß die­ se Stimme von keiner geringeren als der göttlichen Instanz herkommt. Gottes Stimme läßt sie wissen: „Ich, das lebende Licht, das die Dunkelheit erleuchtet, habe den von mir erwählten Menschen herausgeholt und unter große Wunder versetzt, wie es mir gut schien. Sie übertreffen alles, was die alten Seher in mir an Geheimnis­ sen schauen durften.“ Hildegard legt also keine falsche Bescheidenheit an den Tag ... - Ein Widerspruch in ihrer Darstellung taucht allerdings auf, sobald der aufmerksa­ me Leser beachtet, daß sie außer der großen Schau (der ersten 1141) auch noch von anderen Visionen zu berichten weiß, ja von einem im Grunde das ganze Leben über wiederkehrenden Gesicht. Diese Mitteilung relativiert zwangsläufig den Status und Stellenwert der großen und einmaligen Schau und ihrer Intuition. Man kann nun ebenso gut mutmaßen, daß sich die Offenbarung als ein allmählicher Prozeß über ihre gesamte Lebensgeschichte erstreckt. „Die Kraft und die geheimnisvolle Bedeu­ tung der wundersamen Gesichte aber erfuhr ich auf eine wunderbare Weise seit mei­ ner Kindheit, d.h. vom fünften Lebensjahr an, so wie auch heute noch. Ich erzählte jedoch keinem Menschen davon, außer einigen wenigen Gottesfürchtigen.“ Es fällt auf, wie sehr sic bemüht ist, ihre Biographie möglichst konsistent als von göttlicher Vorsehung gelenkt regelrecht zu stilisieren. Als Werkzeug in der Hand Gottes sorgt dieser seit ihrer Kindheit dafür, daß sie zu keiner Zeit übermütig wird und so die besten Voraussetzungen zur Erfüllung ihrer Berufung als eine auserwählte Prophetin erwirbt. Auch ein letztes Widerstreben und Zaudern habe sie am Ende aufgegeben: „Obwohl ich dies alles sah und hörte, weigerte ich mich zunächst doch, zu schreiben ... Da zwang mich Gottes Geißel auf das Krankenlager. Und endlich legte ich Hand ans Schreiben . . . " Prompt gesundet sie und bringt „dieses Werk (die Schrift ,Scivias‘) in zehn Jahren zustande.“ (Hildegard von Bingen 1992, S. 5 ff.) Als Fazit neige ich zu folgender Hypothese: Hildegard von Bingen war vor allen Dingen Dichterin und Schriftstellerin. Das heißt - wie in einer sakral geprägten Gesellschaft wie der christlich-mittelalterlichen gar nicht anders zu erwarten - eine spirituelle Dichterin und religiöse Schriftstellerin. Was für sie in ihrer Zeit Vision und Offenbarung hieß, würden wir heutzutage als Phantasie bzw. Imagination und als Inspiration bezeichnen. Wie es im Leben von Dichtern und Künstlern intuitive Schlüsselerlebnisse und kreative Schübe gibt, gefolgt von längeren Phasen der Umsetzung, Ausarbeitung und Realisation, so gab es allem Anschein nach auch für Hildegard beides: die zwei drei großen Augenblicke der entscheidenden Eingebung und die anschließenden langen und anstrengenden Zeiten der Ausgestaltung, der 75

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Übersetzung ins geschriebene Wort oder in Tonsprache. Ich halte es für unwahr­ scheinlich, daß sie dabei jahrelang nur am Material ein und desselben Visions­ erlebnisses arbeitet. Vielmehr darf angenommen werden, daß bei der Niederschrift in Analogie zu dem Kleistschen Diktum vom Verfertigen der Gedanken während des Sprechens - Imagination und Bilder neu und erneut in ihr erwachen und aufstei­ gen. Ein letztendlich kontinuierlicher Prozeß der kreativen Visualisierung mit unterschiedlichen Intensitätsgraden. Und ihre Mystik? Ist ihr Werk nicht ein grandioses naturmystisches KosmosGedicht? Entstanden auf dem damals üblichen Wege über den exerzitienmäßigen Dreischritt der lectio (Lektüre), der meditatio (der reflektierenden Betrachtung und Erwägung) sowie der contemplatio (der zusammenfassenden Gesamtschau). Nen­ nen wir ihre Weise der philosophischen Mystik ruhig eine kosmosophische Mystik. Als eine Mystik der bildlichen Schau, des Schweigens in der Fülle der Bilder, verhält sie sich natürlich geradezu entgegengesetzt zur Mystik der Leere, der bildlosen Schau, des Vergehens der kaleidoskopischen Bilderwelten wie ihrer erläuternden Begriffe; des göttlichen Nichts der spekulativen Mystik eines Meister Eckhart, eben­ so wie der geistlichen Stille und des meditativen Schweigens in den östlichen Mystiken. Die tatsächlich relevanten Impulse für eine Mystik der Gegenwart und der Zukunft scheinen mir allerdings von diesen letzteren Traditionen auszugehen und nicht von der Hildegardschen Mystikvariante. Hildegard führt uns eher ein großartiges Beispiel erwachender Subjektivität und Personalität vor Augen, als daß sie exemplarisch für eine transpersonale Praxis auf der Höhe unserer Zeit zu sein ver­ möchte.

Re-composing Creation - 900 Years of Hildegard von Bingen Summary: Hildegard von Bingen, born in 1098, medieval nun and abbess, has won most popularity in the end of the 20th century. Her positive anthropology and cosmology which comprehend human beings and the world as sensuous-bodily forms are an artwork and aesthetic pleasure compensating for the meta­ physical void in people’s souls today. We understand Hildegard as a poetess of creation and interpret her visions as poetic inspiration. Thus we can take her as an example for emerging subjectivity and personality and as an orientation for transpersonal practice and transcendental experience today. Keywords: medieval nun, pop star, cosmology, compensatory function, vision and inspiration. Literatur DLF(Deutschlandfunk)-Feature zu Hildegard von Bingen. Gerl-Falkovitz, H.-B. (1997): Brückenschlag - Ein Versuch zur Aktualität Hildegards von Bingen, in: Hildegard von Bingen - Prophetin durch die Zeiten - Zum 900. Geburtstag, Freiburg. Hildegard von Bingen (1987): Scivias - Wisse die Wege, Freiburg. Müller, I. (19973: Wie .authentisch' ist die Hildegardmedizin? in: Hildegard von Bingen - Prophetin durch die Zeiten - Zum 900. Geburtstag, Freiburg. Newman, B. (1997): Seherin - Prophetin - Mystikerin, in: Hildegard von Bingen - Prophetin durch die Zeiten - Zum 900. Geburtstag, Freiburg. Schipperges, H. (1985): Hildegard von Bingen - Gott sehen, München. Staab, E (1997): Aus Kindheit und Lehrzeit Hildegards, in: Hildegard von Bingen - Prophetin durch die Zeiten - Zum 900. Geburtstag, Freiburg. SWR (Südwcst-Rundfunk)-Musikfeuilleton zu Hildegard von Bingen. Hans-Willi Weis Alte Straße 2 a 79249 Freiburg 76

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Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1/99, 78-94

Empirie spiritueller Krisen erste Ergebnisse aus dem Projekt RESCUE Wilfried Belschner, Oldenburg; Joachim Galuska, Bad Kissingen

Zusammenfassung: Die vorliegende Studie will dazu beitragen, die bestehende Lücke hinsichtlich der empirischen Forschung über spirituelle Krisen zu beheben. Mit Hilfe des Fragebogens RESCUE konnten die Daten von 148 Personen, die nach eigener Einschätzung eine spirituelle Krise durchlebt haben, erhoben werden. Es werden Ergebnisse bezüglich der Beschreibung und Dauer der Krise, der Auslösesituation, der verwendeten Coping-Strategien, der Auswirkungen auf den Alltag, der Beurteilung der Qualität der professionellen Hilfe und der daraus zu folgernden Verbesserungen im Hinblick auf Begleitung und Beratung mitgeteilt. Schlußfolge­ rungen aus der Studie beziehen sich auf das umfassendere Konzept integraler Gesundheit und die individuellen und institutioneilen Qualifikationsanforderungen für eine professionelle Begleitung von spirituellen Krisen. Schlüsselworte: Spirituelle Krise, subjektive Theorie, transpersonale Forschungs­ methoden, Integrale Gesundheit, existentielle Neuorientierung, Selbstverwandlung, Coping, spirituelle Praxis, Qualitätssicherung.

Die empirische Erforschung des Gebietes religiöser und spiritueller Störungen befindet sich noch sehr am Anfang. Die Publikationen auf diesem Gebiet betreffen im wesentlichen die Beschreibung und Ordnung von Phänomenen, die Entfaltung von Konzepten und die Schilderung von Falldarstellungen (Grof u. Grof, 1990, 1991, Bragdon, 1991, Scharfetter, 1992, Galuska, 1994, 1988). Persönliche Erfah­ rungsberichte unterschiedlicher Couleur ergänzen das Bild (z. B. Segal, 1996, Özelsel, 1993, Yogananda, 1950). Eine gewisse Problematik stellt schon die diagnostische Bezeichnung dar. Unter dem Oberbegriff „spirituelle Krise“ verstehen Betroffene ganz unterschiedliche Phänomene, wie es sich auch aus unserer Untersuchung (sie­ he unten) ergibt. Angemessene diagnostische Leitlinien liegen noch nicht vor. Als Vorläufer und erste Grundlage für eine empirische Erforschung der entspre­ chenden Phänomene können die folgenden Definitionen der Weltgesundheitsorga­ nisation und der amerikanischen psychiatrischen Vereinigung betrachtet werden. Die aktuelle Version der internationalen Klassifikation der Erkrankungen der WHO (ICD 10) definiert in ihren Forschungskriterien (Dilling et al 1994) unter F 44.3: 78

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„Trance- und Besessenheitszustände A. Die allgemeinen Kriterien für eine dissoziative Störung (F 44) müssen erfüllt sein“. (Dazu heißt es in den klinisch-diagnostischen Leitlinen der ICD 10 (Dilling et al 1991): Das allgemeine Kennzeichen der dissoziativen oder Konversionsstörungen ist der teilweise oder völlige Verlust der normalen Integration, die sich auf Erinnerungen an die Vergangenheit, Identitätsbewußtsein und unmittelbare Empfindungen sowie die Kontrolle von Körperbewegungen bezieht). B. Entweder 1. oder 2.: 1. Trance: vorübergehende Bewußtseinsveränderung mit zwei der folgenden Merkmale: a) Verlust des Gefühls der persönlichen Identität. b) Einengung des Bewußtseins in bezug auf die unmittelbare Umgebung oder auf eine ungewöhnlich eingeengte und selektive Fokusierung auf Stimuli aus der Umgebung. c) Einschränkung von Bewegungen, Haltungen und Gesprochenem auf die Wiederholung eines kleinen Repertoires. 2. Besessenheitszustand: die Betroffenen sind überzeugt, von einem Geist, einer Macht, einer Gottheit oder einer anderen Person beherrscht zu wer­ den. C. Die beiden Kriterien B.1 und B.2 müssen ungewollt und belastend sein, außer­ halb von religiösen oder anderen kulturell akzeptierten Situationen auftreten oder stellen eine Verlängerung solcher Zustände dar. D. Häufigstes Ausschlußkriterium: Kein gleichzeitiges Auftreten mit einer Schizophrenie oder einer verwandten Störung (F 2) oder mit einer affektiven Störung mit Halluzinationen oder Wahngedanken (F 3)“. Trance- oder Besessenheitszustände sind nur eine und zahlenmäßig relativ unbe­ deutende Gruppe im Gebiet religiöser und spiritueller Störungen. Einen ganz ande­ ren Schwerpunkt legt dagegen die amerikanische psychiatrische Vereinigung in ihrer gegenwärtig gültigen Fassung, dem DSM IV (Saß et al, 1996). Hier wird unter V 62.89 definiert: „Religiöses oder spirituelles Problem. Diese Kategorie kann verwendet werden, wenn im Vordergrund der klinischen Aufmerksamkeit ein religiöses oder spirituelles Problem steht. Beispiele sind bela­ stende Erfahrungen, die den Verlust oder das Infragestellen von Glaubensvorstel­ lungen nach sich ziehen, Probleme im Zusammenhang mit der Konvertierung zu einem anderen Glauben oder das Infragestellen spiritueller Werte, unabhängig von einer organisierten Kirche oder religiösen Institution.“ In dieser Definition werden vor allen Dingen Probleme im Zusammenhang mit Glaubensfragen genannt. Man könnte die entsprechenden Störungen am ehesten als „psycho-religiöse Störungen“ bezeichnen, wenn im Zusammenhang mit im Vorder­ grund stehenden Glaubensfragen psychische oder psychosomatische Störungen auf­ treten. Da „spirituelle Krisen“ sich jedoch auf eine Fülle „subtiler Erfahrungen“ (Galuska, 1998) beziehen, könnte man unter „psycho-spirituellen Störungen“ alle Störungen zusammenfassen, die sich auf spirituelle Erfahrungen im Sinne subtiler 79

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subjektiver Erfahrungen mit der Folge psychischer oder psychosomatischer Symp­ tome beziehen. Solche „subtile Erfahrungen“ wären beispielsweise Transzendenzer­ fahrungen, energetische Empfindungen, paranormale oder mediale Erlebnisse usw. Wie zu sehen ist, bewegt sich bereits die Beschreibung und Definition der zu untersuchenden Phänomene in einem noch nicht klar abgegrenzten Gebiet. Darüber hinaus besitzen wir kaum empirisch gesichertes Wissen zur Epidemiologie, also der Häufigkeit des Auftretens religiöser und spiritueller Störungen, zu den Auslösern solcher Störungen, zu ihren klinischen Erscheinungsformen, zu den individuellen und sozialen Bewältigungsweisen von spirituellen Krisen, zu den individuellen Wünschen nach hilfreichen, auch professionellen Unterstützungsformen und der sinnvollen Organisation von Unterstützung, Beratung und Behandlung. Dieses Defizit wurde erst jüngst im Endbericht der Enquete-Kommission des Bundestages zu sog. Sekten und Psychogruppen (1998) von offizieller Seite aus beklagt. Unsere Untersuchung möchte einen ersten Schritt darstellen, diese Empirielücke zu schlie­ ßen.

Das Ziel der Untersuchung Mit der Untersuchung sollen die Annahmen erkundet werden, die Menschen mit spirituellen Krisen über deren Entstehung, Verlauf und Bearbeitung entwickelt haben. Ein solches Gefüge von Annahmen wird für die Menschen in der Krise hand­ lungsleitend. Es wird unter einer sozial-konstruktivistischen Perspektive (Laucken 1994,119) u. a. dann bedeutsam, wenn Erwartungen und Wünsche nach Unterstüt­ zung sowohl an das private soziale Netz wie auch an das professionelle Gesund­ heitssystem formuliert werden. Das je individuelle Annahmegefüge fungiert als Meßlatte, um die Qualität der erfahrenen Hilfe zu bewerten. Die Kenntnis des An­ nahmegefüges kann also dazu dienen, prospektiv individuelles Leid zu vermeiden und die Qualität der psychosozialen und medizinischen Versorgung zu verbessern. Ein solches Untersuchungsziel kann zu zwei Zeitpunkten bearbeitet werden: 1. Es können Daten bei solchen Personen erhoben werden, die sich gerade akut in einer spirituellen Krise befinden. 2. Die Daten können auch bei solchen Personen erhoben werden, die sich bereits mit der Integration einer spirituellen Krise in ihre Biographie befassen, die also auf das akute Prozeßgeschehen schon zurückblicken können und es retrospek­ tiv aus dem derzeitigen Stand ihrer Lebenssituation interpretieren. Für die vorliegende Studie haben wir den zweiten, katamnestischen Weg gewählt.

Das Untersuchungsinstrument RESCUE Wir entschieden uns in dieser Pilot-Phase des Forschungsprojektes für eine Fragebogen-Erhebung, um in einem überschaubaren Zeitraum eine möglichst große Zahl von Personen erreichen zu können. Wir wissen darum, daß ein solches Instrument, gerade wenn es sich um einen transpersonalen Forschungsgegenstand handelt, nicht all die individuellen Besonderheiten abbilden kann, wie es durch eine qualitative Untersuchung, beispielsweise mittels eines gut vorbereiteten Interviews, 80

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gelingen mag (Hopf 1991, Hermanns 1991; vgl. bezüglich transpersonaler For­ schungsmethoden: Braud 8c Anderson 1998; bezüglich phänomenologischer An­ sätze: Valle 1998, v. a. Teil III; bezüglich wissenschaftstheoretischer Vorausset­ zungen: Utsch 1998; 115 f.). Ein Fragebogen ist aber durchaus geeignet, die subjektive Welt einer Person abzu­ bilden. Ein Fragebogen besteht aus einer bestimmten Anzahl von Aussagen („Items“), zu denen die befragte Person Stellung nehmen kann. Sie nutzt die vorge­ gebenen Items als Werkzeuge und erzählt über ihre Stellungnahmen zu diesen Items ihre individuelle Geschichte (McNamee & Gergen 1996, Schapp 1985). In dem von uns konstruierten Instrument zur Datenerhebung haben wir darüber hinaus den befragten Personen an verschiedenen Stellen Raum gegeben, ihre persönlichen Stellungnahmen, Aussagen, Kommentare, Hinweise und Vorschläge in freier Weise zu formulieren. Für den Fragebogen erfanden wir das Akronym RESCUE. Es läßt sich mit REligious and Spiritual Crisis Understanding and Evaluating übersetzen. Bei der Konstruktion von RESCUE wurden die folgenden thematischen Bereiche berück­ sichtigt: Dauer der Krise, derzeitige Belastung durch die Krise, derzeitiger Stand der Mei­ sterung, emotionale Befindlichkeit während der Krise, auslösende Faktoren in der damaligen Lebenssituation, Auswirkungen auf den Lebensalltag, eigene Bezeich­ nungen für die Krise, Mittel zur Meisterung der Krise, gelebte Religiosität, erlebte Qualität der professionellen Hilfe, Erwartungen hinsichtlich weitergehender Hilfe, Vorschläge zur angemessenen Untersützung, Komponenten eines gesundheitspsy­ chologischen Modells (z. B. Selbstwirksamkeit, proaktives Verhalten, Vertrauen, Intention, Heilbarkeit, Heritabilität, Lebenssinn, Lebenserwartung, Bedeutung des Todes), spirituelle Praxis, demographische Variablen. Das Erhebungsinstrument RESCUE gibt es in zwei Versionen: Die Version K für die katamnestische Befragung und die Version A für die Untersuchung des akuten Geschehens in der Krise. Für die hier zu berichtende Studie wurde die Version K benutzt.

Die Stichprobe In der Auswertung der explorativen Untersuchung wurden die Daten von 148 Personen einbezogen. Sie sagen von sich selbst aus, daß sie sich mit einer spirituellen Krise auseinanderzusetzen hatten und daß die Meisterung dieser Krise mehr oder weniger abgeschlossen ist (katamnestische Stichprobe). Die Personen wurden auf drei Wegen angesprochen. Über das Spiritual Emergence Network (SEN) konnten ca. 80 Mitwirkende gewonnen werden, ca. 50 über die Fachklinik Heiligenfeld, Bad Kissingen, der Rest durch Berichte über spiri­ tuelle Krisen in den Medien. Die Stichprobe läßt sich mit Hilfe der demographischen Angaben folgender­ maßen beschreiben. Es sind 99 Personen weiblich, 44 männlich (5 Personen machten bezüglich des Geschlechts keine Angabe). Die ungleiche Geschlechtsverteilung gibt schon zu ersten Fragen Anlaß: Sind Frauen offener gegenüber diesem Bereich des menschlichen Erfahrungspotentials? Oder interpretieren und bezeichnen Männer 81

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solche Erfahrungen anders? Werden für Männer von den beratenden und behan­ delnden Institutionen andere Diagnosen für solche Erfahrungen bereitgehalten, die die Männer für ihre Selbstbeschreibung übernehmen? Das Durchschnittsalter beträgt 42,4 Jahre. In der Stichprobe geben 11 Personen (7,4%) an, einer anderen Nationalität anzugehören. Der Familienstand weist folgende Verteilung auf: In einer festen Partnerschaft leben 33,8%, ledig sind 44,8%, verwitwet 2,8%, geschieden 17,9%. Die Religionszugehörigkeit zeigt fol­ gendes Bild: evangelisch 24,1%, katholisch 31,0%, andere 9,0%, keine 35,9%. In der Stichprobe gehört somit ein überproportionaler Anteil keiner Glaubensgemein­ schaft an. Hier sollen erste Ergebnisse bezüglich der Beschreibung der Krise, der auslösen­ den Situation, den genutzten Mitteln zum Umgang mit der Krise und der Bewertung der Qualität der erfahrenen professionellen Hilfe dargestellt werden.

Beschreibungen der Krise An mehreren Stellen des Fragebogens wurde dazu aufgefordert, der erlebten Krise Aussagen oder Begriffe zuzuordnen, um sie damit näher zu charakterisieren. Der Aussage, es handelte sich bei der Krise um eine Suche nach fundamentalen Werten oder nach einer existentiellen Orientierung, stimmen 75 Prozent der Befragten zu. Für zwei Drittel läßt sich die Krise auch als Neuorientierung des eige­ nen Glaubens bezeichnen. 57 Prozent geben an, daß sie Schwierigkeiten damit hat­ ten, außergewöhnliche Erfahrungen mit ihrem bisherigen Weltbild zu verbinden. Sich im eigenen Lebensumfeld von Familie, Beruf, Nachbarschaft, Bekannten- oder Freundeskreis zu solchen außergewöhnlichen Erfahrungen zu bekennen, war für 45

Beschreibung der Krisenart

Abb. 1

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Prozent schwierig. Bemerkenswert ist, daß es sich für 84 Prozent nicht um einen Konflikt mit der Glaubenslehre einer offiziellen Kirche handelte. Gegen Ende des Fragebogens wurden 14 Begriffe aus verschiedenen Religionen und Kulturen zur Beschreibung der spirituellen Krise vorgegeben, aus denen maxi­ mal die drei Beschreibungen ausgewählt werden konnten, die am besten zutreffen. Abbildung 1 gibt die Reihenfolge der gewählten Beschreibungen für die Gesamt­ stichprobe wider. Bei diesem Set von Beschreibungsmöglichkeiten lassen sich deutliche Unter­ schiede zwischen den Geschlechtern feststellen. Bei den Frauen steht die „Dunkle Nacht der Seele“ auf Rangplatz 1 vor der „Sinnkrise“, bei den Männern findet man die umgekehrte Reihenfolge. Frauen interpretieren häufiger ihre Krise mit den Begriff der Licht- oder Energieerfahrung (22,4% vs 7,1%), der Erfahrungen aus früheren Leben (14,3% vs 7,1%) und der Kontakte mit Engeln oder Geistwesen (12,2% vs 4,8 %). Für die Deutung der Krise spielt die religiöse Sozialisation eine wichtige Rolle. Angehörige der katholischen Religionsgemeinschaften interpretieren ihre Krise häufiger als Dunkle Nacht der Seele (katholisch 68,9%, evangelisch 34,3%, keine 38,5%). Transzendenz-Erfahrungen oder Gipfelerlebnisse bilden die interpretative Folie für 37,8% der katholischen Menschen, aber nur für 15,4% der Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft angehören. Licht- und Energieerfahrungen werden ebenfalls von katholischen Menschen häufiger zur Beschreibung genutzt. Schließ­ lich werden Kontakte mit Engeln oder Geistwesen häufiger von katholischen Menschen als Interpretationsmuster herangezogen.

Dauer der Krise Dauer der Krise in Monaten

Abb. 2

DAUER_MO

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Personen, die in eine spirituelle Krise geraten, berichten, daß sich für sic eine lan­ ge Zeit anschloß, in der sie mit der Integration des krisenhaften Geschehens in den Alltag beschäftigt waren. Segal (1997) beschreibt einen Prozeß, der einen Zeitraum von etwa 10 Jahren umfaßte. In Abbildung 2 ist für die Dauer der Krise (in Monaten) jeweils die Anzahl der Personen aufgetragen. In der Stichprobe findet sich eine linksschiefe Verteilung: Für 25 Prozent dauerte die Krise bis zu zwei Monaten, für 50 Prozent bis zu elf Monaten, und drei Viertel der Befragten liegen in dem Bereich von 24 Monaten. Die Auseinandersetzung mit den Anforderungen einer transperso­ nalen Transformation und der Entwurf einer transpersonalen Lebensweise sind somit eine zeitlich „aufwendige“, „dauerhafte“ Aufgabe.

Auslöser der Krise Von hohem Interesse für Begleitung, Beratung und Behandlung sind die Faktoren, die von den Befragten als Auslöser oder Verursacher der Krise angesehen werden: Mit welchen Merkmalen kennzeichnen sie ihre Lebenssituation? Im Fragebogen wurden 18 Beschreibungen von potentiellen Aspekten der Lebenssituation angeboten, aus denen von der befragten Person alle für sie zutreffenden ausgewählt werden konnten. Abbildung 3 zeigt die Verteilung dieser Situationsmerkmale. Faßt man die Aussagen mit den häufigsten Nennungen zusammen, so ließe sich folgendes Bild konstruieren: Die Person fühlte, daß ihr Leben an einem Wende­ punkt angekommen war (Ernst 1997). Die Lebenssituation war in der vorangegan-

Häufigkeiten krisenauslösender Ereignisse

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genen Zeit schon sehr belastend gewesen, und die Krise bedeutete schließlich das Tüpfelchen auf dem i. Eine nähere Analyse der Daten (Interkorrelationsmatrix) legt eine Ordnung der auslösenden Momente und damit eine differenziertere Interpretation nahe. Wir kön­ nen nun zwischen sechs auslösenden Bedingungskonstellationen für den Eintritt der Krise unterscheiden. 1. Gefangenheit in der Lebenssituation Die Person erlebt sich seit längerer Zeit in ihrer belasteten Lebenssituation gefangen. Es gelingt ihr nicht, sich von selbst aus dieser mißlichen Situation zu befreien; die psychischen Ressourcen, die ihr momentan zur Verfügung stehen, reichen für eine konstruktive Änderung nicht aus. Im Gegenteil: Die Person kommt mit der Situation zunehmend schlechter zurecht, sie erlebt sich in einer Sackgasse oder weiß eigentlich nicht weiter. Die Belastung bleibt eher unverarbeitet bestehen und mün­ det geradezu zwangsläufig in die Krise. 2. Aktives Bemühen um einen alternativen Lebensentwurf Die Person analysiert ihre Lebenssituation und kommt zu der konstruktiven Einsicht, daß ihr Leben an einem Wendepunkt angekommen ist (Belschner 1995). Sie begibt sich in dieser Grenzsituation auf die aktive Suche nach Entwicklung und Änderung, um die subjektiv notwendige Selbstverwandlung (Jaspers 1948) kon­ struktiv zu gestalten. „Der Mensch ist immer in Situationen, und diese alle sind zuletzt aufgehoben in den Grenzsituationen, d. h. den unüberschreitbaren, unwan­ delbaren Situationen des Daseins als solchen, an denen es erwacht zur Existenz oder als Dasein scheitert.“ (Jaspers 1948, 275). Die Krise ist bei diesem Typus von Bedingungskonstellation eine Begleiterscheinung des begonnenen Transformations­ prozesses. Möglicherweise beginnt die Person, ihr eigenes Leben als Gesamt­ kunstwerk zu begreifen und ihm gegenüber eine forschend-künstlerische Haltung einzunehmen (Verres 1997,223), offen zu werden für hohe Entwicklungsformen des menschlichen Bewußtseinsraums (Belschner 1999). 3. Öffnung für einen alternativen Bewußtseinsraum Die Person befindet sich auf einem selbstgewählten, innerlichen Veränderungspfad; dabei erfährt sie eine plötzliche Öffnung in eine bislang unbekannte BewußtseinsDimension, die nicht unmittelbar in den bislang gültigen Lebensentwurf integrier­ bar ist und deshalb krisenhafte Irritationen auslöst. 4. Kontrollverlust auf Grund äußerer Ereignisse Die Person erlebt sich Ereignissen (z. B. der Diagnose einer unheilbaren Krankheit bei ihr selbst oder einem nahen Angehörigen) ausgesetzt, die quasi von außen in ih­ re Lebenssituation als extrem belastend einbrechen. Sie inspiriert diese sozusagen im Außen befindlichen, unvorhergesehenen und überraschenden Ereignissen als Heim­ suchung oder Schicksalsschläge, über die sie keine Kontrolle erreichen kann. Die Krise ist Ausdruck des erlebten Kontrollverlustes (Burger 1992, Krohne 1990, 267). 5. Verunsicherung im Glauben Die Person interpretiert ihre Lebenssituation folgendermaßen: Sie ist in eine religiö­ se Praxis eingebunden, die eher als verpflichtende Aufgabe und als eine Tradition, die es zu bewahren und zu pflegen gilt, aufgefaßt wird. Die Person ist nicht in Richtung einer Neuorientierung oder einer konstruktiven Wende aufgebrochen. Die Krise ist Ausdruck der kognitiven und emotionalen Dissonanz zu dieser Praxis. 85

Wilfried Belschner, Joachim Galuska

6. Drogenerfahrung Die Person ist der Auffassung, daß ihre Krise auf Experimente mit Drogen zurück­ zuführen ist. Dieser Vorschlag, die Bedingungskonstellationen für den Eintritt einer Krise zu ordnen, ist in weiteren Studien hinsichtlich seiner prognostischen Bedeutung zu untersuchen: Lassen etwa bestimmte Interpretationsmuster eher einen Spiritualität integrierenden, die Person zu „spirituellem Wachstum“ anregenden Umgang mit der Lebenssituation bzw. der Krise (Miller 1990, 30) erwarten? Hier besteht ein deut­ licher Forschungsbedarf, auf den auch Barz (1998) und die Ergebnisse der EnqueteKommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ (1998) hinweisen.

Bewältigungsstrategien Um sich mit einer Krise wirkungsvoll auseinanderzusetzen, gibt es potentiell eine Vielfalt von Maßnahmen. Jede Person verfügt über ein spezifisches Muster solcher Werkzeuge. Dieses Muster wird sich durch die Zahl der beteiligten Werkzeuge und die Kompetenz ihrer Handhabung unterscheiden. Bestimmte Werkzeuge haben im Verlauf einer Krise zu einem bestimmten Zeitpunkt eine optimale Wirkung, wäh­ rend sie zu einem anderen Zeitpunkt eher kontraproduktiv sind. Für den Umgang mit belastenden Ereignissen hat sich in der gesundheitspsychologischen Forschung

Bewältigungsstrategien der Krise

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Empirie spiritueller Krisen

der Begriff Coping (Klauer & Filipp 1990, Moos 1986, Schmidt 1990, Schwarzer 1992, Weber 1990) eingebürgert. Für den Umgang mit einer spirituellen Krise haben wir eine Liste von 25 CopingWerkzeugen zusammengestellt. Mittels dieser konnten die befragten Personen mitteilen, was sic unternommen haben, um mit der Krise wirkungsvoll zurechtzukom­ men. Sie konnten soviele Werkzeuge angeben, wie sie wollten. Abbildung 4 zeigt die Nutzung der Coping-Werkzeuge geordnet nach ihrer Präferenz für die Gesamt­ stichprobe. Das Ergebnis ist bemerkenswert: 101 der 148 Personen (68%) geben an, psycho­ therapeutische Hilfe gesucht zu haben. 97 ( 6 6 % ) Personen haben ihre geistige Führung / Gott um Hilfe gebeten. Für 63% der Befragten war es angemessen, sich zu Hause zurückzuziehen und dort zu versuchen, Ruhe zu finden. Auf dem vierten Rangplatz (63%) liegt der Versuch der Selbsthilfe, sich über spirituelle Krisen kun­ dig zu machen, beispielsweise mit Hilfe von Büchern. Dem engeren Freundeskreis haben sich 56% anvertraut. 50% haben im Meditieren und in ärztlicher Hilfe ein wirksames Mittel gesehen. Die Rangordnung ist insofern bemerkenswert, als der Rat eines Pfarrers oder einer Seelsorgerin erst auf dem vorletzten Platz rangiert. Dieses Ergebnis kann als Ausdruck der Säkularisierung als epochalem Prozeß inter­ pretiert werden: Der psychotherapeutischen Hilfe wird mehr fachliche Kompetenz und Attraktivität zugesprochen gegenüber dem Berufsstand, den man qua Amt als für den spirituellen Bereich zuständig ansehen könnte.

Geschlechtsunterschiede Für die Beantwortung gab es keine Limitierung der Zahl der aus der Liste aus­ wählbaren Coping-Werkzeuge. Die Befragten können sich deshalb in der Zahl der von ihnen genutzten Werkzeuge unterscheiden. Der Durchschnittswert liegt bei den Frauen bei 9,69, bei den Männern bei 9,09 Werkzeugen. Frauen gehen also davon aus, über ein größeres Repertoire von Coping-Strategien zu verfügen. Gibt es nun Werkzeuge, die von einem Geschlecht bevorzugt werden? Frauen nutzen sechs Coping-Strategien häufiger als Männer (häufiger definiert als Differenz in den Prozentwerten > 10). - Sie versuchen häufiger, ihre eigene Behandlungskompetenz zu verbessern, indem sie sich über spirituelle Krisen kundig machen, z. B. mit Büchern (p < .05), - sie öffnen sich häufiger spirituellen Qualitäten, indem sie ihre geistige Führung um Hilfe bitten (< .05), sie setzen verstärkt ihr bereits vorhandenes Repertoire an Kompetenzen („Hausmittel“) zum Umgang mit Krisen ein, - sie erlauben sich eher, dem Krisengeschehen Raum zu geben, indem sie sich zu Hause zurückziehen, sic können eher ihr soziales Netzwerk aktivieren und nehmen soziale Unterstützung an, - sie erweitern häufiger den Suchraum für eine wirksame Hilfe in ihrer Krise und sind offen für Denk- und (Be-)Handlungsansätze aus anderen Kulturen oder Tra­ ditionen (Heilerin, Geistheilerin, Auraleserin u. ä.); sie wagen es somit vermehrt, die Kompetenzen des alternativen oder komplementären Gesundheitswesens zu nutzen. 87

Wilfried Belschner, Joachim Galuska

Männer weisen größere Häufigkeiten bei vier Copingstrategien auf: - Sie hoffen häufiger auf eine Spontanremission ihrer Krise: sie erwarten eher, daß „es“ sich mit der Zeit gibt und von alleine besser wird, - sie nehmen häufiger Medikamente, - sie haben häufiger psychiatrische Beratung in Anspruch genommen, - sie haben häufiger Hilfe in einem Krankenhaus gesucht. Männer nutzen also eher die Angebote des traditionellen Gesundheitswesens; sie verhalten sich „konservativer“ und interpretieren das momentane Krisengeschehen eher im Bezugsrahmen der gewohnten, „alltäglichen“ Denk- und Handlungs­ schemata. Die spirituelle Krise wird (zunächst) eher als eine somatische Krankheit nach dem Modell einer biomedizinischen Störung konzipiert. Sie wollen in diesem Bezugssystem „versorgt“ werden. Frauen hingegen zeigen mehr Eigeninitiative und entsprechen eher der besonde­ ren, das Alltagsbewußtsein überschreitenden Qualität der Krise bei der Auswahl der Coping-Strategien. Dieses Ergebnis am Beispiel der spirituellen Krise fügt sich somit in die vorliegenden Studien zur gesundheitlichen Selbsthilfe ein. Danach über­ nehmen Frauen die Rolle der Expertinnen in Fragen der Gesundheit (Graham 1985, Grunow et al. 1983); sie sind die verantwortlichen Versorgerinnen für GesundheitsDienstleistungen, die zuständigen Vermittlerinnen von gesunden Lebensweisen und die kompetenten Verbindungspersonen zum Gesundheitswesen (providers, negotiators and mediators of health).

Bewertung professioneller Hilfe

1 = trifft nicht zu: 2 = trifft eher nicht zu; 3 = trifft teilweise zu

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Empirie spiritueller Krisen

Die Qualität professioneller Hilfe Die Mehrzahl der Befragten hat für die Bearbeitung der Krise professionelle Hilfe in Anspruch genommen. Wie sieht es nun in deren Wahrnehmung um die Qualität dieser Hilfe aus? Für diesen Bereich der Studie wurde eine Liste von 22 Aspekten der professionel­ len Hilfe konstruiert. Sie umfaßte positiv formulierte Aussagen, wie Ich fühlte mich unmittelbar verstanden, Ich fühlte mich ernst genommen, Durch die professionelle Hilfe gewann ich zunehmend wieder Klarheit über mich und meine Situation, und Aussagen mit negativen Konnotationen, wie Ich fühlte mich falsch behandelt, Die Professionellen waren mit meiner Krise überfordert, Die Behandlung, die ich erhielt, traf nicht den Kern meiner Krise. Jeder Aspekt konnte auf einer 4stufigen Skala

(4 = trifft vollständig zu; 1 = trifft gar nicht zu) beurteilt werden. In der Abbildung 5 sind die einzelnen Aspekte nach dem Grad ihrer Zustimmung aufgeführt. Die Betrachtung der Abbildung 5 könnte zu der Annahme verleiten, daß die Qualität der professionellen Hilfe ausgesprochen positiv bewertet wird. Das höch­ ste Ausmaß an Zustimmung erhalten Aussagen, die eine hohe Güte attestieren. Über die in Abbildung 5 aufgetragenen Mittelwerte (M) wird ausgesagt, daß - sich die Personen ernst genommen fühlten (M = 3,1), - ihre Situation auf Anhieb erfaßt wurde und die richtige Behandlung eingeleitet wurde (M = 3,0), - sic fachkundige und wirksame Hilfe erhielten (M = 2,8), - sie sich unmittelbar verstanden fühlten (M = 2,8), - sie mittels der professionellen Hilfe zunehmend wieder Klarheit über sich und ihre Situation gewannen (M = 2,7), - sie mit der professionellen Hilfe zunehmend wieder mit sich selbst und ihrem Alltag zurechtkamen (M = 2,6), und - ihre Krise ohne die professionelle Hilfe nicht so schnell abgeflaut wäre (M = 2,6). Erst ab dem achten Rangplatz erscheinen negative Beurteilungen der professio­ nellen Hilfe (z. B. Überforderung der Professionellen, Behandlung trifft nicht den Kern, falsche Diagnosen und falsche Behandlungen). Man könnte also geneigt sein, die Versorgungssituation bezüglich spiritueller Krisen als zureichend einzuschätzen. Eine nähere Inspektion der Daten legt jedoch eine weniger optimistische Beur­ teilung nahe. Wählt man bei den negativ konnotierten Aussagen die Items aus, bei denen mehr als 40 Prozent der Personen zustimmen, dann ergibt sich folgendes Bild: 58%: Wenn die Personen nicht selbst eine richtige Behandlung gesucht hätten, würden sie immer noch mit falschen Diagnosen und falschen Behandlungen herum­ geschoben werden. 58%: Die Professionellen waren mit der Krise überfordert. 55%: Die Behandlung traf nicht den Kern der Krise. 48%: Durch die professionelle Hilfe wurde den Personen nicht Leid erspart. 45%: Die Personen fühlten sich falsch behandelt. Diese Aufstellung verdeutlicht, daß bezüglich spiritueller Entwicklungen und Krisen ein dringender Handlungsbedarf besteht, um sowohl in der Diagnostik wie 89

Wilfried Belschner, Joachim Galuska

auch in der Begleitung und Behandlung ein höheres Qualitätsniveau zu erreichen (Lukoff, Lu & Turner 1995). Dies sehen wir insbesondere auch auf dem Hinter­ grund der Stichprobe unserer Untersuchung. Immerhin hatte die Mehrzahl der Teilnehmer an der Studie bereits einen Weg zu spezialisierter Hilfe gefunden.

Auswirkungen der Krise In der Studie wurde auch danach gefragt, welche subjektive Bedeutung die Krise bezüglich der Klärung der eigenen Biographie und der Entwicklung neuer Lebensperspektiven erhielt. Nur acht Prozent der Befragten geben an, daß die spiri­ tuelle Krise ihnen nicht oder kaum weitergeholfen habe, wichtige Fragen oder Anliegen in ihrem Leben zu klären. 82 Prozent konnten mittels der Bearbeitung der Krise sich und ihre Anliegen in einem deutlich neuen Licht sehen. Aufgrund der Krise haben sich 92 Prozent der Personen vorgenommen, etwas Bedeutsames in ihrem Leben zu ändern. Für 96 Prozent hat sich sogar in dem Integrationszeitraum bereits etwas Bedeutsames verändert. Insgesamt ist über die Krise eine umfassende Veränderungsdynamik in Gang gesetzt worden. Nach Frank (1985) ist das Ausmaß der Demoralisierung das Kernkriterium, durch das sich Menschen in ihrem Status als Patienten charakterisieren lassen.„Der Demoralisierte fühlt sich in verschiedenem Grade isoliert, hilf- und hoffnungslos, und alle seine Kräfte werden aufgezehrt in der Anstrengung, nur noch zu überle­ ben.“ (1985, 429) Mit Demoralisierung wird also eine Grundstimmung beschrieben. Positiv gewendet: Eine Re-Moralisierung sollte sich in einer zuversichtlichen Grundstimmung äußern. 85 Prozent der Befragten geben an, daß ihre Grund­ stimmung in Zusammenhang mit der Bearbeitung der Krise zuversichtlicher gewor­ den ist. Die an der Studie Beteiligten schätzen somit die Effekte der spirituellen Krise letztlich überwiegend als sehr konstruktiv für ihre Biographie ein. Es kommt dabei nicht nur zur Vornahme von entscheidenden Änderungen der Lebensweise, sondern die Qualität der in der Krise gemachten Erfahrungen unterstützt auch die Umsetzung der Intentionen.

Lehren aus den gemachten Krisen-Erfahrungen Die Teilnehmerinnen der Studie wurden auch gebeten anzugeben, wovon sie sich aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen eine weitergehende Hilfe erhoffen könnten. Dazu wurde eine Liste von 13 Hilfsquellen angeboten, bei der alle zutreffenden angekreuzt werden konnten. Es sollen hier zunächst nur die Ergebnisse mit den stärksten geschlechtsspezifischen Unterschieden vorgestellt werden. Frauen erhoffen sich eine weitergehende Hilfe eher von einer spirituellen Lehrerin (Frauen: 73%, Männer 55%; in der Gesamtstichprobe auf Rangplatz 1), von alternativen Heilverfahren (Frauen: 67%, Männer 55%); in der Gesamtstich­ probe auf Rangplatz 2) und von einem Wunder (Frauen 22%, Männer: 8%, Gesamtstichprobe Rangplatz 11). Männer hingegen bevorzugen eher eine psychotherapeutische Beratung (Frauen 4 5 % , Männer 6 6 % ) ; in der Gesamtstichprobe auf Rangplatz 4) und die Unter90

Empirie spiritueller Krisen

Stützung durch die Lebenspartnerin oder eine vertraute Person (Frauen 30%, Männer 50%); Gesamtstichprobe Rangplatz 6). Mit diesem Ergebnis werden die oben mitgeteilten geschlechtsspezifischen Unter­ schiede in den Coping-Strategien bestätigt. Überraschend war bei den Vorstellungen über weitergehende Hilfen, daß „der Lauf der Zeit“ mit 56 Prozent auf Rangplatz 3 in der Gesamtstichprobe gesetzt wur­ de. Die in der Krise aufgetretenen Erfahrungen legten es wohl nahe, daß eine derart weitreichende Umstrukturierung der Person und der Weitsicht auf einen angemes­ senen Zeitraum angewiesen ist. Hinzuweisen ist auch darauf, daß konstruktive Hilfen eher von Freunden und Bekannten (Rangplatz 5) als von Angehörigen und Verwandten (Rangplatz 7) erwartet werden. Dieses Ergebnis läßt sich plausibel mit der Annahme erklärten, daß Angehörige und Verwandte eher dem konfliktträchti­ gen (Bewußtseins-)Feld zuzurechnen sind, das potentiell zur Zuspitzung und Auslösung der Krise beiträgt. Bemerkenswert ist schließlich, daß auf die herkömm­ lichen medizinischen Versorgungseinrichtungen wie ärztliche Behandlung (21%) oder Aufenthalt im Krankenhaus (1%) nur untergeordnete Erwartungen gesetzt werden. Im Fragebogen wurde an einer weiteren Stelle nach der angemessenen und ausrei­ chenden Unterstützung für Menschen mit religiösen Problemen und Krisen gefragt. Eine Liste von fünf Gestaltungsvarianten wurde angeboten. Am häufigsten wurde mit 81 Prozent der Vorschlag gewählt, „Angemessen wäre in der Regel eine Therapeutin oder ein Arzt mit religiöser oder spiritueller Erfahrung und Offenheit.“ Eine ähnlich hohe Zustimmung erfährt der Vorschlag, „Angemessen wäre in der Regel eine Einrichtung (z. B. ein Zentrum oder eine Fachklinik) zur Besinnung, Beratung und therapeutischen Behandlung mit entsprechend qualifizierten Mitar­ beiterinnen“ (74%). Die Interpretation dieses Ergebnisses wird insofern einge­ schränkt, als in der Liste der fünf Gestaltungsvarianten der ausdrückliche Vorschlag einer spirituellen Lehrerin mit einer passenden institutionellen Einbettung fehlte (- die Untersucher sind von diesem Ergebnis überrascht worden!). Deutlich wird auf jeden Fall, daß eine einschlägige spirituelle Erfahrungs-Kompetenz und Qualifikation als unabdingbar angesehen wird.

Spirituelle Praxis und die Meisterung der Krise Abschließend soll auf einen bemerkenswerten Zusammenhang zwischen spiri­ tueller Praxis und der Meisterung der Krise hingewiesen werden. Im Fragebogen war auch nach dem Ausmaß der ausgeübten spirituellen Praxis (z. B. Gebet, Meditation, Teilnahme am Gottesdienst oder religiösen Veranstaltungen) gefragt worden. Es konnte nun geprüft werden, ob und wie sie sich auf die Wahrnehmung und die Verarbeitung der Krise auswirkt. In der Analyse wurden solche Personen, die angeben, täglich eine spirituelle Praxis auszuüben, all denen Personen gegenübergestellt, die sich den weiteren Ant­ wortmöglichkeiten von nie, einige Male im Jahr ... bis mehrere Male pro Woche zuordnen. Die folgenden, teilweise doch überraschenden Ergebnisse sind zu be­ richten: 91

Wilfried Belschner, Joachim Galuska

Den Personen, die täglich eine spirituelle Praxis ausüben, gelingt es nach ihrer eigenen Einschätzung besser, ihre Krise konstruktiv zu bearbeiten. Die Krise hat ihnen in stärkerem Umfang bei der Klärung wichtiger Fragen an ihr Leben geholfen (p < .001). Sie sehen sich und ihre Anliegen häufiger in einem neuen Licht (p < .035), und in ihrem Leben hat sich bereits häufiger etwas Bedeutsames geändert (p < .034). Einer regelmäßigen spirituellen Praxis kommt somit eine gesundheitsförderliche Wirkung (Linden 1993) zu, indem sie die Person bei einem Perspektivenwechsel unterstützt.

Schlußfolgerungen Die Ergebnisse der vorliegenden Studie verdeutlichen, daß es für die Begleitung von Menschen mit spirituellen Krisen spezifischer Kompetenzen bedarf, die - auf der professionellen Ebene - nicht mit denen einer (herkömmlichen) psychothera­ peutischen Qualifikation identisch sind. Um die Zahl quälender Odysseen, leidvol­ ler Fehldiagnosen und destruktiver Fehlbehandlungen zu verringern, ist einerseits über die „Symptomatik“ und die besondere Entwicklungsdynamik der Integration spiritueller, transzendenter Erfahrungen in der psychosozialen und medizinischen Versorgung verstärkt aufzuklären. Die Kategorie V62.89 und DSM IV bietet sich hier als argumentativer Anknüpfungspunkt an. Es ist weiterhin festzustellen, daß für die Begleitung von spirituellen Krisen die fortgeschrittene Eigenerfahrung auf einem spirituellen Weg und die Kenntnis trans­ personaler Phänomene unverzichtbare Qualifikationsvoraussetzungen sind. Dabei ist darauf zu achten, daß Pathologisierungen des Durchlebens einer spirituellen Krise vermieden werden; statt dessen werden Settings gebraucht, in denen Men­ schen in ihrem psychischen Transformations- und lebensalltäglichen Neuorientie­ rungsprozeß eine für spirituelle Erfahrungen offene, verstehende, aktzeptierende und integrationsfördernde Atmosphäre finden. In dem vorliegenden Bericht werden erste Ergebnisse vorgestellt. Weitere Aus­ wertungen der Daten werden sich z.B. darauf beziehen, förderliche biografische Bedingungen für das Meistern einer spirituellen Krise zu identifizieren oder den Einfluß bestimmter gesundheitspsychologischer Konzepte, wie etwa das Konzept der Selbstwirksamkeit (self-efficacy, Bandura 1993,1994), zu untersuchen. Ein ande­ rer Auswertungsgesichtspunkt wird in einem Vergleich solcher Personen, die pro­ fessionelle Hilfe in Anspruch genommen haben, mit solchen Personen bestehen, die freiwillig darauf verzichtet haben. Die Zusammensetzung der Stichprobe dieser explorativen Studie ist nicht reprä­ sentativ; weitere Studien werden aufzeigen können, inwieweit eine Abhängigkeit der mitgeteilten Ergebnisse von den spezifischen Merkmalen der Stichprobe besteht. Die Studie verdeutlicht auch, daß der Untersuchungsgegenstand „spirituelle Krise“ (noch) in vielfältiger Weise interpretiert wird. Hier ist es erforderlich, mit Hilfe von differenzierenden Beschreibungen (z.B. mittels Checklisten) unterschied­ liche subjektive Bedeutungen des Entwicklungsgeschehens voneinander zu trennen (z.B. psycho-religiöse vs psychospirituelle Krisen). Bei der Planung der Studie wurde auch erkennbar, daß derzeit gebräuchliche gesundheitspsychologische Modelle (Schmidt, 1998, Schwarzer, 1992) die transper92

sonale Perspektive nicht enthalten. Hier gilt es, konzeptuell ein umfassenderes Modell integraler Gesundheit zu entwerfen (Belschner, 1993,1999). Schließlich: Wir danken herzlich allen Personen, die durch ihre Bereitschaft, den Fragebogen RESCUE auszufüllen, diese Studie ermöglicht haben.

Empirical research on spiritual crises Summary: The intention of this study is to close the gap in respect to empirical research on spiritual crisis. 148 persons who jugded themselves as coping with spiritual crisis answered the inventory RES­ CUE. Reported are results in respect to the following aspects: description and duration of crisis, the situ­ ation of spiritual emergence, coping strategies, consequences for everyday life, quality of professional help, necessary improvements in respect to guidance and counseling. Conclusions from this study stress the necessity of a broader concept of integral health and the individual competencies and institutional pre­ liminaries for the professional guidance with persons experiencing spiritual crisis. Keywords: Spiritual crisis, subjective theory, transpersonal research methods, model of integral health, catalyzing spiritual emergence, coping, quality management. Literatur: Bandura, A. (1994). Self-efficacy. The exercise of control. New York: Freeman. Barz, H. (1998). Sekten, Psychokulte, Heilslehren. Prävention 21, 67-69. Belschner, W (1993). Gesundheits- und krankheitsbezogene Handlungsorientierungen. In Belschner, W. & Müller-Doohm, St., Junge Generationen zwischen Liebe und Bedrohung. Paradoxien der AidsAufklärung. Berlin: edition sigma. 143-193. Belschner, W. (1995). Aufbruch zu einem neuen Gesundheitsverständnis in Gemeinde- und Gesundheitspsychologie. In Röhrte, B. & Sommer, G. (Hrsg.), Gemeindepsychologie: Bestandsaufnahmen und Perspektiven. Tübingen: dgvt. 160-176. Belschner, \V. (1999 a). Integrale Gesundheit. An die Grenze und über die Grenze gelangen, ln Belschner, W. & Gottwald, P. (Hrsg.), Gesundheit und Spiritualität. Oldenburg: BIS. (im Druck). Belschner, W. (1999 b). Das Modell integraler Gesundheit. Von Null-Dimensionalität und transpersona­ lem Bewußtseinsraum (in Vorher.). Bragdon, E. (1991). Spirituelle Krisen. Freiburg: Herder. Braud, W. & Anderson, R. (1998). Transpersonal research methods for the social sciences. Honoring human experience. Thousand Oaks: Sage. Burger, J. M. (1992). Desire for control. New York: Plenum. Deutscher Bundestag (1998). Endbericht der Enquete-Kommisssion „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“. Drs. 13/10950. Bonn. Dilling, H. et al. (Hrsg.) (1991). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. Klinisch diagnosti­ sche Leitlinien. Bern: Huber. Dilling, H. et al. (Hrsg.) (1994). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. Forschungs­ kriterien. Bern: Huber. Ernst, H. (1997). Wendepunkte. Psychologie heute, H. 10/1997, 20-26. Frank, J. D. (1985). Die Heiler. München: dtv. Galuska, ]. (1994). Ganzheitliche stationäre Therapie transpersonaler Störungen, ln Zundel, E. & Loomans, T. (Hrsg.), Psychotherapie und religiöse Erfahrung. Freiburg: Herder. Galuska,J. (1998). Spirituelle Krisen. In Beck, Th. & Weigand, H. (Hrsg.), Handwerksbuch Psychiatrie. Bonn: Psychiatrie-Verlag. Graham, H. (1985). Providers, negotiators, and mediators: Women as the hidden carers. In Lewin, E. & Oleson, V. (Eds.), Women, health, and healing. New York: Tavistock. 25-52. Grof, C. & Grof, S. (1991). Die stürmische Suche nach dem Selbst. München: Kösel. Grof, S. & Grof, C. (Hrsg.) (1990). Spirituelle Krisen. München: Kösel. Grunow, D., Breitkopf, H., Dahme, Fl.-]., Engfer, R., Grunow-Lutter, V. & Paulus, W (1983). Gesundhcitsselbsthilfe im Alltag. Stuttgart: Enke. Hermanns, H. (1991). Narrative Interviews. In Flick, U. et al. (Hrsg.), Handbuch Qualitative Sozialfor­ schung. München: Psychologie Verlags Union. 182-185. Hopf, Ch. (1991). Qualitative Interviews in der Sozialforschung. Ein Überblick. In Flick, U. et al. (Hrsg.), Handbuch Qualitative Sozialforschung. München: Psychologie Verlags Union. 177-182. 93

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Prof. Dr. Wilfried Belschner Carl-von-Ossjetzki-Universität, FB 5 Postfach 2503 26111 Oldenburg

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Dr. Joachim Galuska Fachklinik Heiligenfeld Euerdorfer Straße 4-6 97688 Bad Kissingen

Buchbesprechungen

Ingrid Riedel: Die gewandelte Frau. Vom Geheimnis der zweiten Lebenshälfte. Herder Spektrum 4673. Herder, Freiburg u. a. 1998 Die Lebensmitte als Übergangs- und Wendezeit zur zweiten Lebenshälfte wird von den meisten Menschen erreicht, ohne daß sie auf die anstehenden Verände­ rungsprozesse gut vorbereitet wären. Die Landkarte zur Psychologie des Erwachsenenalters ist immer noch recht grob gezeichnet, mit ungenauen und insbesondere für Frauen in den Wechseljahren verunsichernden Markierungen. Hier bietet das Buch „Die gewandelte Frau. Vom Geheimnis der zweiten Lebenshälfte“ eine Vervollständigung und genaue Wegzeichnung aus tiefenpsycho­ logischer Sicht. Welche Veränderungen entstehen, wenn Frauen das mittlere Erwachsenenalter durchleben, welche Aufbrüche, Umbrüche sind zu wagen und zu bestehen, welche Verluste betrauernd zu verarbeiten und welche neuen Freiheiten und phasenspezifi­ schen Lebensmöglichkeiten sind zu entdecken, das beschreibt die Verfasserin ein­ fühlsam, spannend und mit Lebenslust und Altersweisheit zugleich. Die Grundlage dieses Buches ist die langjährige psychotherapeutische Weg­ begleitung vieler Frauen, aber Ingrid Riedel bezieht auch ihre eigenen Lebens­ erfahrungen mit ein. Zur Einstimmung ins Thema geht es um ein Farbenspiel, um die Zuordnung von Farben zu den Phasen des 4., 5. und 6. Lebensjahrzehnts, und hier wird bereits deut­ lich, wie vielfarbig und unterschiedlich Frauen sich selbst erleben und beschreiben. Als typisch für alle Übergangsphasen benennt Ingrid Riedel eine gewisse Unzu­ friedenheit und Unruhe, die alle Lcbensbereiche betreffen kann: Arbeit, Beruf, Beziehungen, politische Überzeugungen und Wertvorstellungen. In den folgenden drei Kapiteln geht es der Verfasserin neben einer psychologisch subtilen und tiefenpsychologisch fundierten Beschreibung der körperlich-geistig­ seelischen Veränderungsprozesse immer wieder um die Frage nach Sinngebung und Sinnerfahrung und den Prozeß der Individuation durch die verschiedenen Lebens­ phasen. Ein typisches Thema von Frauen ab 35 - Ingrid Riedel nennt sie „die Frauen an der Schwelle“ - ist die Frage nach Fruchtbarkeit und der Kinderwunsch. Viele Träume dieser Zeit sprechen von Kindern, und es gilt, jeweils zu prüfen, ob sie sich auf ein physisches Kind oder auf ein seelisch-geistiges beziehen. Im anschließenden Kapitel über das Klimakterium, die Zeit zwischen 45 und 55, geht es vor allem darum, wie Frauen selbst diese Lebensphase in körperlichen, psy­ chischen und sozialen Dimensionen erfahren. Mit viel Verständnis zeigt Ingrid Riedel, wie nach Zeiten der Identitätserschütterung ein neues Selbstbewußtsein und Selbstverständnis reift. Das sog. späte Erwachsenenalter bis in die Mittsiebziger beschreibt die Verfas­ serin als Phase der relativen Ausgeglichenheit, Stabilität und Ausdauer, es gilt für die 95

„jungen Alten“, einen eigenen Lebensrhythmus zu finden. Die Verfasserin richtet hier das Augenmerk besonders auf die Bedeutung von Freundschaftsbeziehungen und auf das Sich-vertraut-machen mit dem Alter als Einwilligung in die eigene Sterblichkeit. Hier plädiert sie für ein anderes Verständnis von Autonomie, das den Qualitäten des Passiven, Rezeptiven und Regressiven Raum läßt und sich nicht auf männlich bestimmte Autonomiekonzepte beschränkt. Im Kapitel „Gelebte Transformation“ beschreibt und kommentiert Ingrid Riedel in einer Traumserie die Wandlungserfahrungen einer Frau. Hier vor allem geht es ihr darum, Veränderungsprozesse im Sinne der Individuation in der Deutung und Bedeutung der Träume nachvollziehbar zu machen. Im Ausklang des Buches umkreist Ingrid Riedel den Inanna-Mythos, um den Zusammenhang von Tod, Trauer und Auferstehung zu verdeutlichen und Frauen zu ermutigen, Lebensgöttin und Todesgöttin beizeiten ins Lebensgefühl zu integrieren. Als literarische Initiationshilfe in der zweiten Lebenshälfte ist dieses Buch Frauen zu wünschen und Männern zu empfehlen. Es kann Leserinnen und Lesern helfen, mit Freude, Würde und Neugier auf das Leben älter und alt zu werden. Brigitte Dorst, Münster

Sylvia Wetzel, Das Herz Frankfurt 1999, 205 Seiten

des

Lotos,

Frauen

und

Freiheit,

Spirit

Fischer,

Die großen Weltreligionen sind durch und durch partriarchalisch orientiert, ob sie monotheistisch sind oder pantheistisch, ob sie sich eher als Philosophie verstehen oder als Welterklärungssystem. Frauen sind erst seit relativ kurzer Zeit dabei, ihre Interpretationen, ihre Sicht der Dinge, ihre Erfahrungen in diese Systeme einzubrin­ gen. Der Buddhismus macht da keine Ausnahme: Er ist männlich, 2500 Jahre alt und entstammt einem völlig anderen kulturellen Umfeld. Was können Frauen von heute, intellektuell anspruchsvoll, spirituell auf der Suche und in Auseinandersetzung mit einer im Wandel begriffenen Rolle mit einem solchen System, einer solchen Religion anfangen? Sylvia Wetzel gibt in ihrem Buch „Das Herz des Lotos“ überraschend klare, erstaunlich moderne und unmittelbar einleuchtende Antworten. Das Buch gliedert sich in vier Teile: 1. Die Lehre, 2. Den Weg gehen, 3. Frauen und Buddhismus, und 4. Frauen und Freiheit. Im ersten Teil wird die Lehre des Buddha, ihr historisches Umfeld, ihre Rezeption, ihre Methode und ihre Bedeutung für moderne westliche Menschen dar­ gestellt. Wie in der Psychologie geht es auch im Buddhismus um „Mechanismen von Wahrnehmung, von emotionalen Prozessen und von Verhaltensmustern“, deren Motive und deren Veränderung. Aber er geht über die Psychologie und die indivi­ duelle Persönlichkeit hinaus: er befaßt sich zentral mit existentiellen Fragen. Im zweiten Teil, „Den Weg gehen“, steht die Übung im Zentrum, als Mittel der Innenschau mit dem Ziel der Einsicht. Übung wird verstanden als dreistufiger Prozeß: Hören, Nachdenken, Meditieren. Die Lehren werden schriftlich oder bes­ ser: mündlich weitergegeben. Sie werden im Herzen bewegt, nach ihrer inneren 96

Logik befragt, nach ihrer Gültigkeit für heute. Die Meditation führt dann - nach jah­ relangem geduldigem Üben - zu „nichtbegrifflicher Einsicht“. Die Verbindung von tiefer Einsicht und ruhigem Verweilen „sind die beiden Schwingen, auf denen Herz und Geist der Übenden ans andere Ufer der Befreiung und Erleuchtung fliegen“. In diesem Teil werden die meisten konkreten Übungen angeboten, die, ausgehend von einem Thema, durch Fragen, Erinnerungen und Nachdenken Selbsterkenntnis ermöglichen. Im dritten Teil, „Frauen und Buddhismus“ zeigt die Autorin anschaulich, welche Lehrsätze des Buddhismus deutlich machen, daß er historisch in einer männlich dominierten Gesellschaft entstanden ist. Etwa die Entwicklung von Mitgefühl - eine zentrale Kategorie im Buddhismus - und eine zentrale Kategorie für die traditionel­ le Frauenrolle. Moderne Frauen, die gerade mühsam lernen, ihre eigenen Bedürf­ nisse wahrzunehmen und auszudrücken, fühlen sich durch den Appell an Mitgefühl an alte Zeiten erinnert. Oder die Aufgabe, Wut und Ärger, als „negative Emotio­ nen“, die Leid verursachen, zu unterdrücken. Für aggressive Männer, die zu Zeiten des Buddha meist in irgendwelche Kriege verwickelt waren, eine echte Heraus­ forderung. Frauen heute wissen aber, daß sie ihre Gefühle, vor allem die negativen, zumindest erst einmal wahrnehmen lernen müssen, weil mit ihnen Vitalität und Lebenskraft verdrängt wird. Im letzten Teil, „Frauen und Freiheit“, versucht Sylvia Wetzel die Erfahrungen der Frauenbewegung, insbesondere der italienischen und die 4 Lehren des Buddha über bedingtes Entstehen - etwa des Frauenbildes - miteinander in Beziehung zu setzen. Damit Frauen frei werden und sich freier verhalten, brauchen sic vertikale und horizontale Frauenbeziehungen und den Bezug zu einem weiblichen Göttlichen. Sylvia Wetzel formuliert als Ziel ihres Buches: „Mit den Thesen und Übungen in diesem Buch möchte ich Frauen und Männern im Westen Mut machen, sich auf die Lehren und Übungen des Buddha einzulassen und sie auf Herz und Nieren zu prü­ fen“. Das ist ihr gelungen. Durch die Nähe ihrer Anweisungen und Vorschläge zu den Alltagserfahrungen ihrer Leserinnen und Leser. Man kann das Buch auf vielen Ebenen lesen, es ist wie ein Kaleidoskop. Anfängerinnen auf dem buddhistischen Weg bietet es eine anschauliche, ermutigende Einführung. Fortgeschrittene erfahren viel über die relative und absolute Ebene von Wirklichkeit, über Leerheit und bedingtes Entstehen aller Phänomene. Und Frauen, die sich intensiver mit dem Buddhismus befassen, finden Überlegungen und Anregungen, die ihnen bei ihrer Praxis hilfreich sein werden. Es gibt (noch) nicht viele Bücher zum Thema Frauen und Buddhismus. Und es gibt meines Wissens keines, das, auf der profunden Kenntnis der Lehren Buddhas fußend, mit so viel Klarheit, getragen von Mitgefühl für die Situation von Frauen, heutzutage so viel Einsichten vermittelt und dadurch zwischen östlicher Weisheit und westlichem Lebensgefühl eine so produktive Verbindung herstellt. Ganz im Sinne eines lebendigen, lebenspraktischen, frauen­ freundlichen Buddhismus. Imme de Haen, Berlin

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Paul Knitter, Die Zukunft der Erde, Kösel, München 1998, 380 Seiten Im interreligiösen Dialog ist der amerikanische Theologieprofessor Paul Knitter einer der profiliertesten und engagiertesten Vertreter auf christlicher Seite. Er ver­ tritt seit vielen Jahren die Position einer Pluralistischen Religionstheologie, welche die Möglichkeit einer gleichwertigen Offenbarung des Göttlichen in anderen Religionen ins Auge faßt. Damit hat er viel Zu-, aber auch Widerspruch erfahren, letzteres insbesondere auch von offizieller Seite seiner katholischen Kirche. In sei­ nem letzten Buch „Die Zukunft der Erde“ entwickelt Knitter seine Position weiter. Es geht ihm dabei zentral um die „gemeinsame Verantwortung der Religionen“, wie es der Untertitel ausdrückt. Im ersten Kapitel beschreibt er seine „dialogische Odysee“, die ihn zu seinen heutigen Einsichten geführt hat. Er tut dies in einer sym­ pathisch offenen persönlichen Weise, welche die Konturen einer überzeugend auf­ richtigen religiösen Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit nachzeichnet, die ihn unter anderem nach Indien und Lateinamerika geführt hat. Dadurch wird man aus­ gesprochen lebensnah und spannend in die interreligiösc Thematik eingeführt. Der neue Akzent, den er mit seinem Buch setzt, ist, daß er den Dialog der Religionen zentral mit dem Thema des Leidens von Mensch und Natur verbindet. Das „öko­ humane Wohl“ ist für ihn das entscheidende „Kriterium religiöser Wahrheit“, an dem sich die Religionen in ihrem Gespräch orientieren sollten. Hier sieht er ihren gemeinsamen Grund und ihre gemeinsame Aufgabe. Knitter erdet damit das gemeinsame religiöse Anliegen und wirkt dem Abheben in dogmatische und spiri­ tuelle Höhenflüge entgegen. Er betont zwar die zentrale Bedeutung mystischer Erfahrungsspiritualität, die sich in allen Religionen findet, aber er verbindet sie mit dem Aspekt der Prophetie, deren wesentliches Anliegen Gerechtigkeit ist. Diese „mystisch-prophetische Dipolarität aller Religionen“ ist eine für mich besonders wichtige Einsicht, zu der Knitter, neben vielen anderen, in klarer Argumentation hinführt. Ein fruchtbares, weiterführendes Buch, das emotional und intellektuell anrührt und in der heutigen Situation der Begegnung der Religionen wichtige Impulse setzt. Ludwig Frambach, Lauf a.d. Pegnitz.

Bei der Redaktion eingegangene weitere Neuerscheinungen: Stefan Blankertz: Die Therapie der Gesellschaft - Perspektiven zur Jahrtausend­ wende, Peter Hammer Verlag, Michael von Brück: Buddhismus, Grundlagen - Geschichte - Praxis, Gütersloher Verlagshaus, Ingrid Hack: Davon will ich mich befreien! Alte Muster endlich loswerden, Realighting® - Die neue Kurztherapie, Kösel-Verlag, Claus Janew: Die Erschaffung der Realität, Sumari-Verlag, Anthony Matthews: Meditation, do-evolution GmbH, Anke und Erhard Doubrawa: Friedrich S. Perls - Was ist Gestalttherapie? Peter Hammer Verlag. 98

Tagungen und Ankündigungen

Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP), 28. April bis 1. Mai 1999 in Gelnhausen Auf der Suche nach der verlorenen Dimension - Spiritualität in Kirche und Pastoralpsychologie Mit: Dorothee Solle, Joachim Galuska, Ludwig Frambach, Rolf Bick, Claus Eurich, Gundula Meyer u. a. Information: DGfP-Geschäftsstelle, Landwehrstraße 15 (Rgb. 1., 80336 München, Telefon und Fax 0 89-54 50 63 23. Basler Psychotherapietage, 13. bis 15. Mai 1999 Der Wahnsinn der Normalität Referentlnnen: Christina und Stan Grof, Arny und Amy Mindell, David Boadella, Jirina Prekop, Arno Gruen, Eugen Drewermann u. a. Anmeldung und Infos: perspektiva, Bahnhofstraße 63, CH-4125 Richen, Telefon 0041-61-641 64 85; Fax: 0041-61-64164 87. Deutsches Kollegium für transpersonale Psychologie und Psychotherapie 25. Juni 1999, Gründung einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft für Forschung und Lehre im Bereich der transpersonalen Wissenschaften in Bad Kissingen, Fachklinik Heiligenfeld. Eingeladen sind Personen, die sich mit wissenschaftlichen Fragen in diesem Gebiet beschäftigen. Kontakt und Anmeldung bei Prof. Dr. Wilfried Belschner, Universität Oldenburg, Telefon 0441/798-5131, Dr. Joachim Galuska, Fachklinik Heiligenfeld, Telefon 09 71/82 06-3 69 oder Prof. Dr. Dr. Klaus Engel, Universität Bochum, Telefon 02 31/45 95 88. Forum der Psychosynthese, Wolfegg im Allgäu, 24. bis 26. September 1999 Spiritualität und materielle Existenz Im zweijährigen Turnus findet das Forum seit 1995 statt. Es dient dem Kennen­ lernen von und dem Austausch zwischen verschiedenen Schwerpunkten der Psychosynthese und verwandten Strömungen. Vorträge, Workshops und Plenums­ veranstaltungen. Information beim Organisationsbüro: Marion Warbinek, Spohnstraße 15/4, 88212 Ravensburg, Telefon und Fax: 07 51-22743. Jubiläums-Tagung zum 50jährigen Bestehen der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie e. V., Stuttgart, Lindau am Bodensee, 24. bis 28. Oktober 1999 Psyche und Transzendenz im gesellschaftlichen Spannungsfeld heute Fort- und Weiterbildungsveranstaltung mit Vorträgen, fortlaufenden Seminaren, Kursen und Übungen über 5 Tage. Programme sind ab Ende Mai zu erhalten bei: Internationale Gesellschaft für Tiefenpsychologie e.V, Postfach 1147, 73201 Plo­ chingen, Telefon 0 71 53-2 1062, Fax 0 71 53-7 3793.

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Wilhelm Bitter Preis Die Internationale Gesellschaft für Tiefenpsychologie (IGT) verleiht anläßlich ihres 50jährigen Bestehens einen Preis für eine Arbeit im Bereich: Psyche und Transzendenz im gesellschaftlichen Spannungsfeld heute Teilnahmeberechtigt sind Interessierte bis zu 35 Jahren. Der Umfang der Arbeit soll 15-25 Seiten (max. 6000 Wörter) haben. Abgabetermin: Ende Juli 1999. In drei­ facher Ausfertigung einzusenden an: Internationale Gesellschaft für Tiefenpsycho­ logie e. V., Postfach 1147, 73201 Plochingen. 1. Preis: 5000 DM - 2. Preis: 1500 DM - 3. Preis: 500 DM Mit dem 1. Preis ist die Gelegenheit und die Verpflichtung verbunden, die Studie auf der oben angekündigten Jubiläums-Tagung in Lindau vorzutragen. Für den Vorstand der IGT: Prof. Dr. Verena Käst. Schweinfurter Begegnungstage 10.-14. November 1999 - Lebe Dein Sterben Öffentliche Fachtagung zu Lebensfreude - Tod - Sterbebegleitung für interessierte Laien und Fachleute. Vorträge, Seminare, Workshops und Kunst aus den Bereichen Medizin, Palliativpflege, Psychotherapie, Spiritualität und Theologie. Mit: Wolf Büntig, Cordula Bruch, Victor Chu, Joachim Galuska, Tom Geist, Willigis Jäger, Albrecht Mahr, Frank Osaseski, Ingrid Riedel, Albrecht Schottky, Edelgard Seebauer, Stephan Schoen, Michael Schröter-Kunhardt, Brant Secunda, Daniela Tausch-Flammer, Peter Wolf, Otto Zsok, Chon Mi Müller u.a. Programmanfrage: Zentrum für Gesundheit, Leitung: Albert Pietzko, Hennebergstraße 22, 97711 Maßbach, Telefon 09735-6 95, Fax 09735-3 67.

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Die Autorinnen dieser Ausgabe Belschner, Wilfried, Prof. Dr., Dipl.-Psych., geb. 1941, Universitätsprofessor für Psychologie an der Carl-von Ossietzky-Universität Oldenburg, Arbeitsgruppe Gesund­ heitsforschung, Gesundheitsförderung. Lehr- und Forschungsgebiete: Gesundheits­ psychologie, Public Health, transpersonale Psychologie, Qigong; diverse Publikationen. Dorst, Brigitte, Prof. Dr, Dipl.-Psych., geb. 1947, Professorin für Psychologie an der Fachhochschule Köln, Jungsche Psychoanalytikerin in freier Praxis, Schülerin von Irina Tvveedie, Leitung von Meditationsgruppen im Rahmen des Sophia-Zentrums (für Medi­ tation und spirituelle Psychologie, Münster). Schwerpunkte: Spiritualität und Therapie, Sufismus, Gruppendynamik, Weibliche Identität und Feministische Psychotherapie. Galuska, Joachim, Dr. med., geb. 1954, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin und für Psychiatrie und Psychotherapie. Ärztlicher Leiter der Fachklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen, Gestalttherapie und Integrative Therapie, Orgodynamik, Ehrenbeirat des SEN-Deutschland (Netzwerk spiritueller Krisenbegleitung), Mitbegründer von TransIT, Institut für transpersonale Studien. Gradl, Veronica, Dr med., geb. 1934, verheiratet, 4 Kinder, Psychoanalytikerin in eigener Praxis. Arbeitsschwerpunkte: Traumarbeit, Supervision, Vorträge und Seminare. Zentralthema ist die menschliche Spiritualität, ihre Natur und Rolle im Bewußtsein, ihr Wesen, ihre Merkmale und ihre Funktion für die geistige Gesundheit. Verschiedene Veröffentlichungen (z. T. angegeben in der Literaturliste). Oelschläger, Sibylle, geb. 1957, Sportlehrerin, verheiratet, 3 Kinder. Mehrjährige An­ alyse nach C. G. Jung, daran anschließend gestalttherapeutische Zusatzausbildung am Symbolon-Institut, Nürnberg. Seit 3 Jahren Arbeit in eigener Praxis, Einzel- und Pauschalberatung. Mitarbeit im Frauenhaus Schwäbisch Hall. Pilgram, Lies, geb. 1930, verheiratet, 5 Kinder, künstlerisch tätig mit figürlicher Plastik und Grafik; Kurse mit Schwerpunkt eigener Ausdruck, Bild-Meditationen; Meditations­ praxis (bei Ayya Khema). Anschrift: Lies Pilgram, Tödiweg 42, 88239 Wangen/Allgäu. Riedel, Ingrid, Dr. Dr., geb. 1935, seit 1984 Psychotherapeutin in eigener Praxis in Konstanz; Dozentin und Lehranalytikerin am C. G. Jung-Institut Zürich; seit 1992 Honorarprofessorin für Religionspsychologic an der Universität Frankfurt/M. Nach dem Studium der ev. Theologie und der Sozialpsychologie von 1970 bis 1984 Studien­ leiterin der Evangelischen Akademie Hofgeismar. Weis, Hans-Willi, Dr. phil., geb. 1951, Sozialwissenschaftler, Yoga- und Meditations­ lehrer; vergleichende Forschung über spirituelle Traditionen in ihrem sozialkulturellen Kontext. Vorträge, Seminare. Jüngste Veröffentlichung: Spiritueller Eros, Verlag Via Nova, „Hatha-Yoga als Leibexerzitium und Gebärdensprache“ in „Im Energiekreis des Lebendigen“ (Hrsg. E. Zundel, P. Loomans, Herder 1995). Wetzel, Sylvia, geb. 1949, Gymnasiallehrerin, befaßt sich seit 1968 mit unterschied­ lichen Ansätzen zur inneren und äußeren Befreiung und seit 1977 mit dem Buddhismus. Mitarbeit im Vorstand des Buddhistischen Dachverbandes DBU und in der Redaktion der Lotusblätter; Vorträge über Buddhismus; Meditationskurse. 101

Hinweise für Autoren: Allgemeines:

Manuskripteinsendungen werden an einen der Schriftleiter erbeten (s. Impressum). Für die Zeitschrift werden nur unveröffentlichte Beiträge angenommen, die nicht gleichzeitig an anderer Stelle zur Veröffentlichung eingereicht werden. Mit dem Abdruck des Beitrags erwirbt der Verlag alle Rechte, insbesondere das alleinige und ausschließliche Recht für die Veröffentlichung, für die weitere Vervielfältigung und zur Übersetzung für alle Sprachen und Länder.

Gestaltung:

Das Manuskript sollte klar und übersichtlich sein und durch Zwischenüberschriften gegliedert werden. Die Schrift­ leitung behält sich das Recht vor, notwendig erscheinende Verbesserungen vorzunehmen.

Form und Umfang:

Das Manuskript ist in zweifacher Ausfertigung maschinen­ geschrieben, möglichst 1½-zeilig einzusenden. Es sollte maximal 20 Manuskriptseiten nicht überschreiten. Außer­ dem bitten wir um eine Diskette im Format WinWord 6.

Zusammenfassungen:

Dem Manuskript ist eine deutsche Zusammenfassung mit dem Umfang von 10-15 Zeilen und ein englisches Summary mit dem englischen Titel der Arbeit beizufügen. Im Anschluß an die Zusammenfassungen werden jeweils 3 bis 6 deutsche Schlüsselworte und 3 bis 6 englische Keywords formuliert.

Literatur:

Im Text der Arbeit sind in Klammern Autorenname und Erscheinungsjahr anzugeben, z. B. (Walsh, 1993). Im selben Jahr erschienene Arbeiten des gleichen Autors werden durch a, b, c usw. hinter der Jahreszahl gekennzeichnet, z. B. (1992 b). Im Literaturverzeichnis werden alle im Text zitierten Arbeiten aufgeführt. Es ist alphabetisch geordnet. Zeitschriftenbeiträge werden folgendermaßen zitiert: Sämtliche Autorennamen mit nachgestellten Initialen der Vornamen, Erscheinungsjahr in Klammern, Beitragstitel, Name der Zeitschrift in der gültigen Abkürzungsform, Band- und Seitenzahl. Beispiel: Walsh, R. (1993): The Transpersonal Movement: A History and State of the Art. The Journal of Transpersonal Psychology 25,123-139. Bücher werden folgendermaßen zitiert: Sämtliche Auto­ rennamen mit nachgestellten Initialen der Vornamen, Erscheinungsjahr in Klammern, vollständiger Buchtitel, Verlag, Verlagsort. Beispiel: Wilber, K. (1988): Die drei Augen der Erkenntnis. Kösel, München.

Informationen über den Autor: Zur Leserinformation sind folgende Angaben sinnvoll: Geburtsjahr, Titel, Beruf und gegenwärtiges Tätigkeitsfeld, Funktionen wissenschaftlicher, beruflicher oder politischer Natur, Interessenschwerpunkte und Hinweise auf eigene Publikationen. 102

Weitere Bücher aus dem Verlag Via Nova:

Gott, Mensch und Welt Die Drei-Einheit der Wirklichkeit Raimon Panikkar Herausgegeben von Roland R. Ropers 226 Seiten, gebunden - ISBN 3-928632-40-X - DM 38Einer der großen Wegweiser der Menschheit in das neue Jahrtausend ist Raimon Pannikar. R. Ropers würdigt in diesem Buch das Werk des universalen Gelehrten, des hochangesehenen Philosophen und spirituellen Meisters und bringt dem Leser die bahnbrechende Theologie und Spiritualität für ein neues Verstehen der einen Wirklichkeit nahe, die sich in Zeit und Ewigkeit, in Diesseits und Jenseits manifestiert. Der in drei Fächern promovierte Wis­ senschaftler, Gastprofessor an über hundert Universitäten, hat mehr als 40 Bücher in sechs Sprachen geschrieben. In diesem Buch kommt in den hochaktuellen Beiträgen und Ausschnitten aus dem Lehrwerk Panikkars die genialintegrative Dialogfähigkeit zum Audruck. die östliche und westliche Spiritualität miteinander verbindet. Die bedeutende Grundidee des genialen Wissenschaftlers und spirituellen Lehrers Raimon Panikkar sind eine Hilfe und geistige Wegbegleitung für die Herausforderungen des Menschen im kommenden Jahrhundert und des Christentums im dritten Jahrtausend.

Den Weg des Herzensgebetes gehen Herzensgebet, Herzensmeditation, christliche Spiritualität für unsere Zeit Heinz Biegling 128 Seiten, gebunden - ISBN 3-928632-49-3 -

DM 29-

Wer auf der Suche ist. einen genuin christlichen Meditationsweg für sich zu finden, dem sei dieser „Weg des Herzensgebetes" empfohlen. Er hält sich eng an die spirituelle Richtung des Hesychasmus. wie sie seit dem 4. Jh. durch die Mönche der Früh- und Ostkirche entwickelt wurde: aber er trans­ formiert ihn auch für die spirituellen Bedürfnisse unserer Zeit. Es werden ganz konkret Anweisungen angeboten. wie der Übende stufenweise in das Geheimnis des Herzensgebetes Vordringen und die Hilfe der Herzensmeditation erreichen kann. Diese Meditationsweise erschließt transpersonale „Räume“, so daß lich­ te. den Engelbereichen zugehörigen Mächte den Übenden erreichen. Herzensgebet und Herzens­ meditation können bei konsequentem Üben die innere Herzenstür öffnen, so daß die göttliche Gegenwart erfahrbar wird.

Spirituelle Erziehung Hilfreiche Ratschläge - Praktische Weisheit Lee Lozowick 312 Seiten, gebunden ISBN 3-928632-31-5 - DM46,Praktischer Ratgeber für Eltern und Erzieher, die im Umgang mit Kindern ein größeres Maß an Bewußtheit, Freundlichkeit und Mitgefühl sowie mehr Ehrlichkeit im Verhältnis zu sich selbst in die Erziehung einbringen wollen. Das Buch will Eltern in ihrer wichtigen Erziehungsarbeit helfen und Kin­ dern einen optimalen Start verschaffen. Dieses Buch richtet sich an all jene, die für die Erziehung Weisung aus einer höheren Ebene empfangen wollen. Spirituelle und bewußte Erzie­ hung könnte man zusammenfassen: Liebe und Zuneigung entwickeln, lebensbejahende Grenzen für unsere Kinder aufzeigen und Ehrlichkeit uns selbst und unseren Kindern gegenüber aufbringen. Hauptelement jeder Kindererziehung ist das Vorbild der Eltern. Da wir unseren Kindern nicht geben können, was wir selbst nicht besitzen, fordert der Autor Eltern und Erzieher dazu auf, die das eigene Leben beherrschende Ichbezogenheit. Ignoranz und mangelnde Bewußtheit genau unter die Lupe zu nehmen, weil sie das Glück und Wohlbefinden unserer Kinder gefährden.

Yoga - Schlüssel zur Streßbewältigung Ganz entspannt im Hier und Jetzt F. Jürgen Schell 144 Seiten, Paperback, 25 Graphiken und Abbildungen ISBN 3-928632-48-5 - DM28Dies ist ein wichtiges Buch nicht nur für Yogaübende, sondern für alle streßgeplagten Menschen unserer Zeit. Es wird ihnen ein Schlüssel angeboten. wie sie dem Teufelskreis von Streß, Leistungsdruck. zwanghaftem Ver­ halten und Unterdrückungsmechanismen entfliehen können. In diesem Buch erläutert der Autor, selbst Arzt und Yogalehrer, die neue­ sten Forschungsergebnisse über die körperliche Streßreaktion und ihre gesundheitlichen Folgen. Die psychischen und körperlichen Faktoren einer modernen Streßbewälti­ gung werden erklärt, wodurch der Leser versteht, warum speziell der Hatha-Yoga das ideale Ver­ fahren für eine erfolgreiche Streßbewältigung darstellt. Die Problematik, eine spirituelle Disziplin so zu funktionalisieren. diskutiert der Verfasser ebenso wie die Beeinflussung des Nervensystems durch Yogatechniken im Zusammenhang mit der Evolution des Bewußtseins. Die Sachverhalte wer­ den von der wissenschaftlich-physiologischen Untersuchung über die psychologische Beobachtung bis zu spirituellen Erkenntnissen dargestellt.

AIKI-DO Atem, Bewegung und spirituelle Entwicklung Winfried Wagner 200 Seiten, geb. Broschüre. 100 Fotos ISBN 3-928632-50-7 - DM36,Ausgehend von einer allgemeinen Bewegungs- und Atemlehre skizziert dieses Buch die Merkmale einer grundlegenden Lebensenergie (KI), und über eine allgemeine zwischenmenschliche „Bewegungslehre" die Grund­ züge der möglichen Entwicklung unseres Bewußtseins. Diese allgemeinen Ausführungen sind für alle Interessenten meditativer Bewegungskünste und lebensenergetischer Übungs-Wege aufschlußreich. Für den Praktiker sind Übungshinweise und -beispiele emgeflochten. die aber auch dem inter­ essierten Laien einen konkreten Eindruck von der Praxis des AIKI-DO vermitteln. Zusammen mit den eingeflochtenen Lebensweisheiten aus veschiedenen Kulturkreisen und den geschilderten per­ sönlichen Erfahrungen des Autors soll aufgezeigt werden, daß die Essenz des AIKI-DO eine univer­ sale und nicht spezisch japanische ist. Der hier vertretene Ansatz ist ein leiborientiertes, interaktionales und bewußtseinszentriertes Ver­ ständnis von AIKI-DO jenseits allem historisch bedingten Beiwerks. Persönliche Erfahrungen einer dreißigjährigen Übungspraxis, Meditation und anderen lebensenergetischen Verfahren fließen ebenso ein wie Erkenntnisse aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen.

Wir sind alle eins Die Bestätigung der mystischen Erfahrung durch die Vernunft Anton Neuhäusler 160 Seiten, gebunden ISBN 3-928632-27-2 - DM 36,Wie kann man als naturwissenschaftlich geprägter, aufgeklärter, moderner Mensch über Dinge reden, die unser Erkennen übersteigen? Letzte Sinn­ fragen kann die Wissenschaft nicht beantworten. Doch als nachdenkende Wesen können wir sie nicht verdrängen, wollen und müssen wir darüber reden: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was kommt nach dem Tod? Was ist der Mensch? Was ist der Kosmos? Das Buch stellt sich diesen Fragen auf einer philosophisch, naturwissenschaftlich und argumentativ anspruchs­ vollen Ebene. Es sollen die Gesetze der Logik und Vernunft gelten, und das Hinhören auf die eigene Erfahrung. Der Autor und sein Werk zeigen eine Weltanschauung, die gekennzeichnet ist von kriti­ schem Geist und dennoch offen ist für letzte Fragen und Einsichten: Das „Ursein“ ist philosophisch begründbar. Es gibt eine kosmische Religiosität ohne Grenzen und Begrenzung. Die Regeln des strengen Denkens bestätigen die von den Mystikern erlebte Wahrheit des Einsseins: „Wir sind alle eins“. Es gibt eine Mystik der Vernunft, die re-ligio/Spiritualität/Seinsgeborgenheit des freien, kriti­ schen. liebenden, lust- und lebensvollen Menschen.

Der innere Schrei nach Erlösung Befreiung von innen François Brune 288 Seiten, gebunden ISBN 3-928632-44-2 - DM39,50

Die Welt als Hologramm - Erlösung von innen Während viele das Ende des Christentums Voraussagen, unterstreicht der Verfasser die absolut einzigartige Bedeutung des Christus für die Entwick­ lung der Menschheit. Anders als die philosophische Theologie ist die mystisch-holographische Theologie darauf ausgerichtet, von innen heraus wirksam zu werden. Brune versteht die Welt als ein Hologramm, in dem alles mit allem verbunden ist, also auch jede Seele mit jeder anderen - und mit Christus, der aus der Tiefe einer jeden Menschenseele als Mittelpunkt des kosmischen Hologramms erstrahlt. Unfaßbar? Aber wie, wenn es wahr wäre? Das gilt es in diesem Buch zu entdecken, das so fesselt wie eine Abenteuerreise - die Reise in die mystische Erfahrung.

Die verborgene Blüte Über die psychologischen Hintergründe der Spiritualität Han F. de Wit 272 Seiten, gebunden ISBN 3-928632-42-6 - DM 39,50 Warum strahlen manche Menschen Lebensfreude aus, andere aber Lebens­ angst? Warum wachsen die einen an ihren Leiden, während andere an ihnen zerbrechen? Wie kann ich ein glücklicher Mensch werden, zu mir selbst finden? Welche Hilfen bietet die Psychologie? Die Antworten darauf stehen :m Zentrum der konlemplali en Psychologie. Sie beziehen sich auf eine ver­ borgene Blüte, die sich tief im Kern unseres Wesens entfaltet. Ihre Früchte - Lebensmut. Lebensfreude, Erbarmen und Klarheit des Geistes - sind in diesem Buch gegenwärtig mit all unserem Handeln, im Umgang mit uns selbst.

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