Tiere Und Fabelbesen Im Mitelalter
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Tiere und Fabelwesen im Mittelalter
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Tiere und Fabelwesen im Mittelalter Herausgegeben von
Sabine Obermaier
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020137-6 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen
Vorwort Den Auftakt zu diesem Sammelband bildete die Ringvorlesung »Tiere und Fabelwesen im Mittelalter«, die ich im WS 2007/08 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz für den Interdisziplinären Arbeitskreis Mediävistik organisieren durfte. Sehr glücklich war ich, als sich Herr Heiko Hartmann nicht nur für einen Vortrag gewinnen, sondern auch sofort dafür begeistern ließ, einen entsprechenden Sammelband ins Auge zu fassen. Für seinen persönlichen Einsatz bei der Aufnahme des Bandes in das Verlagsprogramm sowie für die liebevolle Betreuung des Buches danke ich Heiko Hartmann und seinen Kolleginnen, namentlich Angelika Hermann (Herstellung) und Julia Rintz (Lektorat), ganz herzlich. Die Idee, einen Teil der Beiträge, die auf dem International Medieval Congress »The Natural World« 2008 in Leeds in den beiden von der animaliter-Projektgruppe (www.animaliter.info) organisierten Sektionen gehalten wurden, sowie einen weiteren Beitrag aus dem animaliter-Kreis in den Sammelband zu integrieren, stieß zu unserer großen Freude beim Verlag auf offene Ohren, und so erhielt der Band seine vorliegende Gestalt. Auf die Ringvorlesung gehen die Beiträge von Henryk Anzulewicz, Bettina Bosold-DasGupta, Leonie Franz, Heiko Hartmann, Marco Lehmann, Andreas Lehnardt und Anette Pelizaeus zurück; sie wurden ergänzt um die Leeds-Beiträge von Thomas Honegger, Kathrin Prietzel, An Smets und Clara Wille sowie den Beitrag von Andrea Rapp. Allen, die zum Gelingen dieses Bandes beigetragen haben, sei an dieser Stelle herzlich gedankt: den Beiträgerinnen und Beiträgern, die durch ihr zügiges Arbeiten ein zeitnahes Erscheinen des Bandes ermöglicht haben, Lea Dombrink für ihre Hilfe bei der Vereinheitlichung der Beiträge, Jessica Quinlan für die kritische Durchsicht der englischsprachigen Beiträge und ganz besonders Anuscha Monchizadeh, ohne deren unermüdliche und gewissenhafte Mitarbeit bei Drucklegung und Registererstellung dieser Band nicht hätte entstehen können. Mainz, im März 2009
Sabine Obermaier
Inhaltsverzeichnis SABINE OBERMAIER Tiere und Fabelwesen im Mittelalter. Einführung und Überblick ........................................................................ 1
Das Wissen vom Tier HENRYK ANZULEWICZ Albertus Magnus und die Tiere .............................................................. 29 AN SMETS The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona ............................... 55 CLARA WILLE Der Reiher, das Neunauge und der Igel. Tiernamen im romanischen Mittelalter ...................................................................... 79
Vom Umgang mit Fabelwesen ANDREAS LEHNARDT Leviathan und Behemoth. Mythische Urwesen in der mittelalterlichen jüdischen Tradition ........................................ 105 THOMAS HONEGGER Draco litterarius. Some Thoughts on an Imaginary Beast ................... 131
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Inhaltsverzeichnis
Theriomorphe Zeichensprachen HEIKO HARTMANN Tiere in der historischen und literarischen Heraldik des Mittelalters. Ein Aufriss .................................................................. 147 ANETTE PELIZAEUS Greif, Löwe und Drache. Die Tierdarstellungen am Mainzer Dom – Provenienz und Nachfolge ................................ 181 ANDREA RAPP Ir bîzzen was so zartlich, wîblich, fîn Zur Deutung des Hundes in Hadlaubs Autorbild im Codex Manesse ............................................. 207
Literarische Tiere KATHRIN PRIETZEL Animals in religious and non-religious Anglo-Saxon writings ......... 235 LEONIE FRANZ Im Anfang war das Tier. Zur Funktion und Bedeutung des Hirsches in mittelalterlichen Gründungslegenden ...................... 261 BETTINA BOSOLD-DASGUPTA Schweben, kreisen, gleiten, flattern... Zur Semantik der Vögel und Flugbewegungen in Dantes Divina Commedia .............................. 281
Ein Ausblick in die Neuzeit MARCO LEHMANN Ars Simia – Ästhetische und anthropologische Reflexion im Zeichen des Affen. Zum Fortleben mittelalterlicher Bildprogramme in der Romantik, bei Raabe und Kafka .................. 309 REGISTER DER TIERE UND FABELWESEN ................................................ 339
Sabine Obermaier (Mainz)
Tiere und Fabelwesen im Mittelalter. Einführung und Überblick »Les animaux ont une histoire«1 – mit diesem Buch hat Robert Delort 1984 die historische und kulturelle Bedingtheit der Tierwelt und der TierMensch-Beziehung nachdrücklich bewusst gemacht. Doch hat das Mittelalter nicht nur ein anderes Verständnis vom Tier als die Neuzeit, es bereitet auch wesentliche Elemente des neuzeitlichen Verständnisses vor. Alterität und (!) Kontinuität kennzeichnen demnach die Epochendifferenz auch in Hinblick auf das Tier. Schon was Tier genannt und als Tier gedacht wird, ist im Mittelalter anders bestimmt;2 so gehören z. B. auch die Fabelwesen zu den Tieren. Dies begründet auch den Zusammenschluss von Tieren und Fabelwesen in diesem Band. Ziel dieses Bandes »Les animaux ont une histoire« zog eine Reihe von Studien und Sammelbänden nach sich, die sich der Geschichte der Tier-Mensch-Beziehung aus verschiedenen Perspektiven widmen3 – bis hin zu der 6-bändigen »Cultu_____________ 1 2
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Robert Delort, Les animaux ont une histoire, Paris 1984. Brigitte Resl, »Introduction: Animals in Culture, ca. 1000-ca. 1400«, in: dies. (Hrsg.), A Cultural History of Animals in the Medieval Age, Oxford, New York 2007 (A Cultural History of Animals 2), S. 1-26, hier S. 3 u. 9 (mit Beispielen auch für die Volkssprachen). Alain Couret / Frédéric Oge (Hrsg.), Histoire et animal, 2 Bde., Toulouse 1989 (Homme, animal, société 3); Aubrey Manning / James Serpell (Hrsg.), Animals and Human Society. Changing Perspectives, London 1994; Paul Münch / Rainer Walz (Hrsg.), Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn 21999; Peter Dinzelbacher (Hrsg.), Mensch und Tier in der Geschichte Europas, Stuttgart 2000; Il mondo animale / The world of animals, 2 Bde., Florenz 2000 (Micrologus 8); Frank Meier, Mensch und Tier im Mittelalter.
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ral History of Animals« (2007).4 Auch zur mittelalterlichen Naturauffassung5 und Archäozoologie,6 zur Tiersymbolik,7 zu Bestiarien8 und Fabelwesen9 sind inzwischen einschlägige Sammelbände erschienen. Man könnte also mit gutem Recht fragen: Wozu noch ein weiterer Sammelband? Der hier vorgelegte Band will einen neuen Akzent setzen und legt den Fokus ganz dezidiert auf das Tier als Gegenstand und vor allem als Medium der geistigen Erfassung von Welt und Mensch durch den Menschen. Ziel des interdisziplinär konzipierten Bandes ist es zu zeigen, wie das Tier in maßgeblichen mittelalterlichen Diskursen (Religion und Wissenschaft, Jagdalltag und Wappenwesen, Literatur und Kunst) zum Medium der Erkenntnis und Vergegenwärtigung, der Strukturierung und Ordnung sowie der Deutung und Bewältigung von Welt wird. Widersprüche und Verwer_____________
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Ostfildern 2008 (populärwissenschaftlich). Siehe auch: Sieglinde Hartmann (Hrsg.), Fauna and Flora in the Middle Ages. Studies of the Medieval Environment and its Impact on the Human Mind. Papers Devlivered at the International Medieval Congress, Leeds, in 2000, 2001 and 2002, Frankfurt a. M. 2007 (Beihefte zur Mediävistik 8); Nona Flores (Hrsg.), Animals in the Middle Ages, New York, London 1996. Grundlegend in Hinblick auf die Frage nach der Grenze zwischen Mensch und Tier: Joyce E. Salisbury, The Beast Within. Animals in the Middle Ages, New York, London 1994. Demnächst auch: Udo Friedrich, Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Göttingen 2008 [i. E.]. Linda Kalof, Brigitte Resl (Hrsg.), A Cultural History of Animals. 6 Bde., Oxford, New York 2007. Albert Zimmermann / Andreas Speer (Hrsg.), Mensch und Natur im Mittelalter, 2 Bde., Berlin, New York 1991 (Miscellanea Medievalia 21); Joyce E. Salisbury (Hrsg.), The Medieval World of Nature. A Book of Essays, New York, London 1993; Peter Dilg (Hrsg.), Natur im Mittelalter. Konzeptionen, Erfahrungen, Wirkungen. Akten des 9. Symposiums des Mediävistenverbandes, Marburg, 14.-17. März 2001, Berlin 2003. Aleks Pluskowski (Hrsg.), Medieval Animals, Cambridge 2000 (Archaeological Review from Cambridge 18). Paul Michel (Hrsg.), Tiersymbolik, Bern 1991 (Schriften zur Symbolforschung 7); Luuk A. J. R. Houwen (Hrsg.), Animals and the Symbolic in Medieval Art and Literature, Groningen 1997; Dora Faraci (Hrsg.), Simbolismo animale e letteratura, Manziana 2003 (Memoria Bibliografica 23). Willene B. Clark / Meredith McMunn (Hrsg.), Beasts and Birds of the Middle Ages. The Bestiary and its Legacy, Philadelphia 1989; Gisela Febel / Georg Maag (Hrsg.), Bestiarien im Spannungsfeld zwischen Mittelalter und Moderne, Tübingen 1997; Marie-Hélène Tesnière / Thierry Delcourt (Hrsg.), Le Bestiaire du Moyen Age. Les animaux dans les manuscripts, Paris 2004. John Cherry (Hrsg.), Mythical Beasts, London 1995; Ulrich Müller / Werner Wunderlich (Hrsg.), Dämonen, Monster, Fabelwesen, St. Gallen 1999 (Mittelalter-Mythen 2).
Einführung und Überblick
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fungen innerhalb eines Diskurses kommen dabei genauso in den Blick wie Transferphänomene und Interferenzen zwischen den Diskursen, womit – was selten genug geschieht – die Interdisziplinarität in die Beiträge selbst getragen ist. Der Genese des Bandes (siehe Vorwort) ist es zu verdanken, dass die Beiträge einerseits einführenden Charakter haben, andererseits neue Forschungsimpulse bieten, so dass die Lektüre für den interessierten Laien genauso lohnend sein kann wie für den Experten. Tiere und Fabelwesen im Mittelalter. Ein erster Überblick In einer (notwendig lückenhaften) »tour d’horizon« wird hier nun ein Rahmen aufgespannt, in dem die nachfolgenden Beiträge zu verorten und vor dessen Hintergrund sie zu perspektivieren sind. Angesichts der Unerschöpflichkeit des Themas konzentriere ich mich auf die Aspekte, welche zum einen die Alterität wie die Kontinuität von Mittelalter und Neuzeit im Umgang mit dem Tier vor Augen führen, zum anderen den Themenkreis der Einzelbeiträge zu einem vollständigeren Bild ergänzen und den Leitgedanken des Bandes – das Tier als Gegenstand und Medium der geistigen Erfassung der Welt – sichtbar machen. A. Das Leben mit Tieren Historischem Wandel ist nicht nur das Verständnis des Menschen vom Tier unterworfen, sondern auch das Tier selbst10 sowie – und dies sei hier nun Thema – der alltägliche Umgang des Menschen mit dem Tier.
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Delort, Les animaux (Anm. 1), S. 28 »Les premières et les plus évidentes conclusions scientifiques découlant de la stricte étude des vestiges zoologiques sont que nos animaux, domestiques et sauvages, sont différents, parfois très différents, de ceux qui vécurent il y a quelque millénaires et même quelque siècles à peine: nombre de races de chiens, la plus grande part de races de chats et de lapins n’existaient pas au siècle dernier; inversement, bien de races de moutons, de bovins, de porcins ou d’équidés domestiques ont disparu au bout de quelques décennies, notamment depuis le Moyen Age.«
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1. Hund, Pferd, Ochs und Schwein: Mittelalterliche Nutztierhaltung In einer feudal strukturierten Agrarkultur gehört regelmäßiger Umgang mit Tieren – und das heißt innerhalb einer Agrarkultur: Besitz, Haltung und Nutzung von Tieren – zum Alltag beinahe jedes mittelalterlichen Menschen.11 Durch die Archäozoologie ist gut bekannt, welche Tiere wozu gehalten wurden. Der Hund ist überhaupt das erste Tier, das domestiziert wurde;12 er dient als Hirten- oder Wachhund, aber auch als Jagdhund. Daneben kam es auch zu höfischen und urbanen Neuzüchtungen von Schoßhündchen. Ochsen werden zum Pflügen, aber auch als Zug- und Lasttiere eingesetzt,13 und ihre Haut ist wichtiger Leder- und Pergamentlieferant. Pferde bilden das wichtigste Fortbewegungs- und Transportmittel (im Frieden wie im Krieg, in der Landwirtschaft wie bei der Jagd).14 Schafe liefern Wolle, Fleisch und Milch (das Schaf, nicht die Kuh, ist im Hochmittelalter Hauptlieferant für Milch!), Haut für Pergament, Dung und Talg,15 Ziegen vorrangig Leder. Das Schwein bildet die Hauptquelle für Fett und Fleisch;16 man hält es in Herden im Wald oder auf dem Feld, später dann auch im Haus. Hühner, Enten und Gänse17 sorgen schließlich für Eier und Fleisch. _____________ 11
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Vgl. Esther Pascua, »From Forest to Farm and Town«, in: Resl, A Cultural History of Animals (Anm. 2), S. 81-102, hier S. 81: »Wherever one looked, there were animals: the forests, fields and farms, towns, fairs and markets, and the household itself.« Siehe auch Salisbury, The Beast Within (Anm. 3), Kap. 1: »Animals as Property«. Norbert Benecke, Der Mensch und seine Haustiere. Die Geschichte einer jahrtausendealten Beziehung, Stuttgart 1994, S. 68-77, 208-228. Pascua, From Forest to Farm and Town (Anm. 11), S. 90. Erhard Oeser, Pferd und Mensch. Die Geschichte einer Beziehung, Darmstadt 2007, Kap. 7. Vgl. Benecke, Der Mensch und seine Haustiere (Anm. 12), S. 288-310, zum Pferd als Haustier im Mittelalter: S. 306-308. Am Pferd kann man auch gut sehen, dass die Nutzung eines Tiers ständisch geprägt ist: dem Adel ist das Pferd Streitross, den Bauern Last- und Zugpferd, siehe Pascua, From Forest to Farm and Town (Anm. 11), S. 91. Pascua, From Forest to Farm and Town (Anm. 11), S. 84 u. bes. S. 92: »The sheep was the most common medieval farm animal as well as the most versatile.« Zur Geschichte des Schafs als Haustier: Benecke, Der Mensch und seine Haustiere (Anm. 12), S. 228-238. Benecke, Der Mensch und seine Haustiere (Anm. 12), S. 248; Pascua, From Forest to Farm and Town (Anm. 11), S. 85 u. S. 99. Zur Geschichte des Geflügels siehe Benecke, Der Mensch und seine Haustiere (Anm. 12), S. 362-390.
Einführung und Überblick
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Die genannten Nutztiere dienen demnach vorrangig als: – Arbeitskräfte, Transport- und Fortbewegungsmittel; – Lieferanten von Materialien und Nahrungsmittel, – oder auch selbst als Nahrungsmittel. Gehalten werden im Mittelalter jedoch nicht nur gezähmte Tiere. Dem Menschen dienen auch Tiere, die ihre Wildheit nie ganz aufgegeben haben,18 so z. B. Bienen zur Produktion von Honig, Katzen zur Mäusebekämpfung und – im Unterschied zu heute – Frettchen zur Kaninchenjagd.19 In Adelskreisen werden Raubvögel für die Jagd abgerichtet. Das Tier wird aber nicht nur als Eigentum betrachtet, sondern auch als Feind, als Zerstörer von Eigentum gefürchtet,20 vor allem der Wolf21 (in geringerem Maße auch das Wildschwein und der Bär). Der moderne Mensch ist gegen solche Gefahren – taucht nicht gerade ein »Problembär« auf – in der Regel gefeit. Irrationale Angst hat der mittelalterliche Mensch davor, von wilden Tieren gefressen zu werden, was mit der Abscheu darüber korrespondiert, dass der menschliche Leib nach seinem Tode von Würmern und Kröten zerfressen wird. Wo man Tiere als Eigentum besitzt, betrachtet man Tiere als Wert. Viehdiebstahl wird hart bestraft (z. T. sogar mit der Todesstrafe); und es gilt: Der Eigentümer haftet für seine Tiere. Umfangreicher Viehbesitz ist demnach ein Statussymbol. Überdies lässt sich in Rechtsvorschriften und Preislisten des Mittelalters eine gewisse Wertehierarchie erkennen (es ist hier allerdings nur die Perspektive des Adels bezeugt):22 Den obersten Platz nehmen die Tiere ein, die dieselbe ›Arbeit‹ (gemeint: Kriegsführung und Jagd) haben wie Edelleute, also Pferde, Jagdhunde und Beizvögel. An zweiter Stelle stehen die Arbeitstiere, das sind die Zug- und Lasttiere. An _____________ 18
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Salisbury, The Beast Within (Anm. 3), S. 14, spricht von Tieren, »that existed on the border of the two realms of wild and domestic«; Pascua, From Forest to Farm and Town (Anm. 11), S. 102, bezeichnet die Katze als »probably semiwild«. Aus Gebissanomalien an Katzenknochenfunden schließt Benecke, Der Mensch und seine Haustiere (Anm. 12), S. 352f. jedoch, dass die Katze »offensichtlich zunehmend Heimtier« wird. Benecke, Der Mensch und seine Haustiere (Anm. 12), S. 353-356 (wohingegen das Kaninchen ein eher junges Haustier ist, siehe ebd. S. 356). Salisbury, The Beast Within (Anm. 3), S. 14. Dies führt in einigen Regionen beinahe zur Ausrottung des Tiers, siehe dazu grundlegend Aleksander Pluskowski, Wolves and the Wilderness in the Middle Ages, Woodbridge 2006. Salisbury, The Beast Within (Anm. 3), S. 28, vgl. S. 33f.
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unterster Stelle in der Hierarchie rangieren die bloß nahrungsgebenden Tiere. Das Eigentum Tier kann damit auch als Statussymbol gelten.23 Insgesamt wird deutlich: Das Tier bestimmt sich im Mittelalter mehr als heute vom Nutzwert her (auch wenn dem Tier in Form von Schoßhündchen, gezähmten Vögeln, Tanzbären, Menagerie-Exoten und Kampftieren Unterhaltsfunktion zukommen kann).24 2. Von Hirschen und Falken: Die Jagd als Adelsprivileg Die Jagd hat im Mittelalter stets zwei Funktionen: Sie dient dem Nahrungserwerb, dem Schutz vor Raubtieren und dem Gewinn von Häuten;25 sie begegnet aber auch schon seit dem Frühmittelalter als »sportliche Betätigung« des Adels und der Könige.26 Seit der Merowingerzeit werden größere Waldgebiete in sog. Königswälder umgewandelt, für die ein Sondernutzungsrecht beansprucht wird:27 Die Jagd wird zu einem »Privileg des Adels«.28 In diesem Zusammenhang taucht an einigen Höfen auch ein neues, eigenes Hofamt auf: das Amt für den venator, den Jägermeister. Die aristokratische Jagd ist durch Jagdtraktate, archäologische Funde, Rechtstexte, aber auch Literatur und Kunst gut dokumentiert:29 »Hunting _____________ 23 24
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Salisbury, The Beast Within (Anm. 3), S. 17: »As property, domestic animals were valued for three things: materials […], labor, and status.« Dazu demnächst: Kathleen Walker-Meikle, Late Medieval Pet-Keeping. Gender, Status and Emotions (PhD diss., University College London). Siehe auch: Lisa J. Kiser, »Animals in Medieval Sports, Entertainment, and Menageries«, in: Resl, A Cultural History of Animals (Anm. 2), S. 103-126. Werner Rösener, »Jagd und höfische Kultur als Gegenstand der Forschung«, in: ders., Jagd und höfische Kultur im Mittelalter. Göttingen 1997 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 135), S. 11-28, hier S. 15. Werner Rösener, »Jagd, Rittertum und Fürstenhof im Hochmittelalter«, in: ders. (Hrsg.), Jagd und höfische Kultur (Anm. 25) S. 123-147, hier S. 125. Rösener, Jagd, Rittertum und Fürstenhof (Anm. 26), S. 128. Vgl. Rösener, Jagd und höfische Kultur (Anm. 25), S. 15. Rösener, Jagd, Rittertum und Fürstenhof (Anm. 26), S. 129. Vgl. Rösener, Jagd und höfische Kultur (Anm. 25), S. 15: »Die Könige und der sich formierende Adel hatten das Bestreben, ihre herrschaftliche Stellung auch im Bereich der Jagd auszubauen.« Einen guten Überblick über die Quellen geben An Smets / Baudouin Van den Abeele, »Medieval Hunting«, in: Resl, A Cultural History of Animals (Anm. 2), S. 59-79, hier S. 64-73.
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is [...] one of the most generously documented aspects of the interrelationship between man and animal during the Middle Ages.«30 Drei Formen von Jagd sind es, die von der mittelalterlichen Adelsgesellschaft vorrangig gepflegt werden:31 – Pirschjagd: Hier wird das Wild auf mit Pfeil und Bogen oder Armbrüsten bewaffnete Jäger zugetrieben. Die meist nur angeschossenen Tiere werden dann durch die Hunde aufgespürt und zur Strecke gebracht.32 Die Pirschjagd wurde vornehmlich in Deutschland betrieben, da sie geeignet für unwegsames Waldgelände ist, wie es für viele deutsche Mittelgebirgsregionen typisch war.33 – Hetzjagd: Hier wird ohne Einsatz von Schusswaffen ein Hirsch von berittenen Jägern und Hunden gehetzt, bis er sich ermattet den Hunden stellt (je nach Kraft des Tiers kann dies den ganzen Tag dauern).34 Dieser in Frankreich sehr verbreitete Jagdtypus galt dort als weidgerechteste und edelste Form des Jagens.35 – Beizjagd: Diese aus dem Orient übernommene Jagdform »entwickelte sich zur vornehmsten ritterlichen Jagdart«.36 Hier wird mit eigens dafür abgerichteten Raubvögeln (meist Falken, Habichte, Sperber) Jagd auf Reiher, Fasanen oder Enten gemacht, und dies in ebenem Gelände, damit man sich an den Luftkämpfen zwischen Raubvogel und Beute ergötzen kann. Dafür müssen die Raubvögel in einem langwierigen Prozess, der viel ornithologisches Wissen voraussetzt, gezähmt und abgerichtet werden.37 _____________ 30 31 32
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Grundlegend zum Typus Jagdliteratur: Baudouin Van den Abeele, La littérature cynégétique, Turnhout 1996 (Typologie des sources du moyen âge occidental 75). Smets/Van den Abeele, Medieval Hunting (Anm. 29), S. 79. Eine prestigelose Form der Jagd ist dagegen das Jagen mit Fallen und Netzen; siehe Smets/ Van den Abeele, Medieval Hunting (Anm. 29), S. 63f. Helmut Brackert, »›deist rehtiu jegerîe‹. Höfische Jagddarstellungen in der deutschen Epik des Hochmittelalters«, in: Rösener, Jagd und höfische Kultur (Anm. 25), S. 365-406, hier S. 373; siehe auch Smets/Van den Abeele, Medieval Hunting (Anm. 29), S. 62 (»Archery«). Rösener, Jagd, Rittertum und Fürstenhof (Anm. 26), S. 141. Zum genauen Ablauf siehe Brackert, Höfische Jagddarstellungen (Anm. 32), S. 372; siehe auch Smets/Van den Abeele, Medieval Hunting (Anm. 29), S. 61f. (»Venery«) Rösener, Jagd, Rittertum und Fürstenhof (Anm. 26), S. 141. Rösener, Jagd und höfische Kultur (Anm. 25), S. 21. Zum genauen Ablauf siehe Brackert, Höfische Jagddarstellungen (Anm. 32), S. 374; siehe auch Smets/Van den Abeele, Medieval Hunting (Anm. 29), S. 59-61 (»Hawking or Falconry«).
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Die Ausweitung der königlichen und fürstlichen Jagdrechte führte umgekehrt zu einer Einschränkung des Jagdrechts der Bauern auf das Niederwild.38 Hirsch, Eber und Bär gehören dagegen zu den Wildarten mit dem höchsten Ansehen – Hirsch-, Eber- und Bärenjagd-Szenen finden sich dementsprechend oft in mittelalterlicher Literatur, Kunst und Heraldik.39 Werner Rösener betont zu Recht die Parallelen zwischen Jagd und Turnier als Teil der höfisch-ritterlichen Repräsentation (was spezifisch mittelalterlich ist):40 Ein guter Herrscher hatte auch ein guter Krieger und ein guter Jäger zu sein.41 In diesem Sinne finden – wie Helmut Brackert herausgearbeitet hat42 – Jagdszenen auch Eingang in die Literatur. Selten geben sie detailliert Aufschluss über realgeschichtliche Aspekte der Jagd; die Jagd dient hier vielmehr als Adelssignum und als Minne-Metapher. 3. Schweine und Engerlinge vor Gericht: Tier und Recht im Mittelalter Ein Bereich, in dem uns das Mittelalter besonders »fremd«43 wird, ist der Bereich des Rechts: Nicht nur, dass Tiere als Hinrichtungsinstrumente verwendet wurden (wobei dann nicht nur der Delinquent, sondern auch die Tiere grausam gequält wurden), nicht nur, dass Tiere, sofern sie am Verbrechen des Menschen beteiligt waren (etwa bei Sodomie), mitbestraft wurden44 – auch die Tiere selbst wurden im Rahmen ordentlicher und kostspieliger Verfahren als Verbrecher angeklagt, verurteilt, in Haft ge_____________ 38
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Rösener, Jagd und höfische Kultur (Anm. 25), S. 16. Die heute nicht mehr gebräuchliche Einteilung in Hoch- und Niederwild geht auf das mittelalterliche Jagdrecht zurück. Zum Hochwild (dem Adel zur Jagd vorbehaltenes Wild) zählen die Cerviden, das Schwarzwild (Wildschweine) und paarhufige Hornträger, nicht aber das Reh, dafür aber auch das Auerwild, der Steinadler, der Seeadler, der Bär und Vögel wie Schwan und Kranich. Alles übrige Wild gehört zum Niederwild. Rösener, Jagd, Rittertum und Fürstenhof (Anm. 26), S. 136. Jagdtiere sind auch oft Wappentiere (ebd., S. 143), siehe dazu auch den Beitrag von Heiko Hartmann in diesem Band. Rösener, Jagd und höfische Kultur (Anm. 25), S. 18. Rösener, Jagd und höfische Kultur (Anm. 25), S. 16. Vgl. Brackert, Höfische Jagddarstellungen (Anm. 32), S. 406. Peter Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter. Gottesurteil und Tierprozess, Essen 2006, S. 11. Dinzelbacher, Mensch und Tier (Anm. 3), S. 196f.; ders., Das fremde Mittelalter (Anm. 43), S. 124-128.
Einführung und Überblick
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nommen und sogar hingerichtet.45 Ab dem 13. Jh. kam es vor allem in Frankreich, aber auch in der Schweiz, Deutschland und anderen Regionen immer wieder zu Tierprozessen. Geführt wurden sie zuerst vor weltlichen Gerichten gegen Haustiere, die Menschen verletzt oder getötet hatten,46 später auch vor kirchlichen Gerichten gegen ganze Schädlingskollektive47 – und dies, obgleich im kodifizierten Recht lediglich die Sachhaftung des Besitzers vorgesehen war.48 Es überrascht, dass Tiere im Kontext der Strafverfolgung wie Menschen behandelt wurden. Insofern es sich jedoch bei den Delikten (neben Kindesmord auch Zerstörung der Ernte, Störung der Heiligen Messe oder Auslöser einer Seuche) um »Hierarchieverletzungen«49 seitens der Tiere handelt, wird die Grenze zwischen Tier und Mensch wieder scharf gezogen. Überdies haben mittelalterliche Tierprozess-Kritiker von Beginn an darauf hingewiesen, dass die vernunftlosen Tiere, die nicht zwischen Gut und Böse unterscheiden können, für ihr Verhalten nicht zur Verantwortung gezogen werden können und damit nicht schuldfähig sind.50 Das noch immer rätselhafte Phänomen der mittelalterlichen Tierprozesse lässt sich weder aus bestehenden Rechtstraditionen noch aus der Bibel oder einem Dämonenglauben herleiten. Die Simultaneität und Parallelität mit den Hexen- und Häretikerprozessen sowie Judenpogromen legen es nahe, darin eine Reaktion auf die spätmittelalterliche Rezession zu se_____________ 45 46
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Grundlegend: Edward P. Evans, The criminal prosecution and capital punishment of animals, New York 1906; Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter (Anm. 43), S. 103-156. Beispiele bei Dinzelbacher, Das fremde Mittelalte (Anm. 43), S. 113-166. Aufsehen erregte das Tribunal von Falaise, bei dem eine Sau gehenkt wurde, weil es einen drei Monate alten Säugling verstümmelt und totgebissen hatte. Belegt bei Evans, S. 16 u. 140f., mit Hinweis auf ein nicht mehr erhaltenes Fresko an der Westseite der Falaiser Heiligen Dreifaltigkeitskirche; das Frontispiz des Buches von Evans zeigt die Szene in einer modernen Reproduktion. Beispiele bei Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter (Anm. 43), S. 116-124. Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter (Anm. 43), S. 114. Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter (Anm. 43), S. 113. Der Rechtspraktiker Philipp de Beaumanoir (1283) sieht den Grund für diese Rechtspraxis daher in der Habgier der Gerichtsherren, zit. bei Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter (Anm. 47), S. 129f. Weitere Belege für die Argumente der Kritiker ebd., S. 130-132. Aus ähnlichen Gründen hatte schon Thomas von Aquin bezweifelt, dass Tiere beschworen werden können (Dinzelbacher, Mensch und Tier (Anm. 3), S. 282).
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hen.51 Die Tierprozesse stellen gestörte Ordnung wieder her, und dienen so der Bewältigung einer unüberschaubar gewordenen Welt.52 Tierbesitz, Nutztierhaltung und Jagd können als Formen materieller Aneignung von Welt des Menschen verstanden werden – in unmittelbarer Umsetzung von Gen 1, 28. Tierhaltung und Jagd (und in gewissem Sinne auch die Tierprozesse) sind Dokumentationen menschlicher Macht über die Tierwelt. Insofern Tierhaltung und Jagd einen Blick auf die mittelalterliche Gesellschaftshierarchie freilegen, dienen die Tiere in diesem Zusammenhang auch als Medium der Demonstration von Macht und gesellschaftlichem Status. Mit dem Tierprozess dagegen wird gestörte Ordnung wiederhergestellt, das bestrafte Tier wird zum Sinnbild wiederhergestellter ordentlicher Mensch-Tier-Hierarchie. B. Das Wissen vom Tier Die Zoologie (in der übrigens noch lange die Fabelwesen ihren festen Ort hatten) ist zur Zeit des Mittelalters noch keine eigene Wissenschaft. Empirische Tierbeobachtung findet zunächst nur dort statt, wo das Tier für die Lebenswelt des Menschen direkte Bedeutung hat (z. B. in der Falknerei oder Rossarzneimittelkunde). Die Beschäftigung mit tierkundlichem Wissen war kein Selbstzweck, sondern diente im Mittelalter vielmehr dazu, Gottes Schöpfung und Gottes Heilsplan zu begreifen oder Hinweise zur gottesfürchtigen Lebensführung zu erhalten.53 1. Der Löwe und Gottes Heilsplan: Die Tradition des Physiologus In populärer Darstellung wird der Physiologus gern als ›mittelalterliches Zoologiebuch‹ gehandelt.54 Diese ursprünglich griechische Naturlehre, die _____________ 51 52 53 54
So Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter (Anm. 43), S. 141-143. Vgl. Dinzelbacher, Das fremde Mittelalter (Anm. 43), S. 142. Vgl. Pieter Beullens, »Like a Book Written by God’s Finger. Animals Showing the Path toward God«, in: Resl, A Cultural History of Animals (Anm. 2), S. 127-151, hier S. 128. Beispiele bei Nikolaus Henkel, Studien zum ›Physiologus‹ im Mittelalter, Tübingen 1976 (Hermaea, N. F. 38), S. 139f.
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im 2. Jh. im Kontext der frühchristlichen Gemeinden in Alexandria entstanden sein dürfte, bietet jedoch vielmehr eine allegorische Deutung der darin beschriebenen Pflanzen, Steine und Tiere.55 Im Titel (›der Naturkundige‹) ist der anonyme Gewährsmann genannt, auf den sich die Schrift stets beruft; der tatsächliche Verfasser ist unbekannt.56 Dieses Buch wird im Mittelalter sowohl auf Latein als auch in den verschiedenen Volkssprachen intensiv rezipiert57 und findet auch eine Fortschreibung in den lateinischen und volkssprachigen Bestiarien.58 Die Kapitel des Physiologus sind nach einem einheitlichen Muster gebaut: Dem einleitenden Bibelzitat folgt die Beschreibung der natürlichen Eigenschaften (der sog. proprietates) des Tieres, die sodann einer theologischen59 Auslegung unterzogen werden (oft mit Hinweis auf weitere Bibelstellen). Damit gehört der Physiologus in den Kontext der Bibel-Exegese.60 Ein Beispiel: Das Kapitel über den Löwen beginnt mit 1 Mose 49,9, worin Jakobs Sohn Juda mit einem jungen Löwen verglichen wird. Danach werden die drei Proprietäten des Löwen wie folgt ausgelegt: _____________ 55 56
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Christian Schröder, Art. »›Physiologus‹«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 7/1988, Sp. 620-634, bes. Sp. 621. In der weitverzweigten Texttradition des Physiologus findet man zahlreiche Verfasserzuschreibungen, z. B. an Kirchenväter wie Epiphanios von Zypern, Petros von Alexandrien, Chrysostomus, Ambrosius, aber auch an Salomon (genannt auch bei Schröder, Art. Physiologus (Anm. 55), Sp. 621). Keine dieser Zuschreibungen hat sich bisher verifizieren lassen. Friedrich Lauchert, Geschichte des ›Physiologus‹, Straßburg 1889 (Reprint Genf 1974); Henkel, Studien zum ›Physiologus‹ (Anm. 54). Zur Rezeption in der deutschsprachigen Literatur siehe Dietrich Schmidtke, Geistliche Tierinterpretaion in der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters (1100-1500), 2 Bde., Berlin 1968. Meist spricht man dann von einem Bestiarium, wenn Kapitelbestand und Kapitelreihenfolge gegenüber dem üblichen Physiologus-Bestand signifikant abweichen, d. h. wenn eine signifikante Zahl von neuen Kapiteln und neuen Tieren den üblichen Physiologus-Kapiteln hinzugefügt wird; aber auch wenn in die vorhandenen Kapitel Material aus anderen Quellen (z. B. aus dem ›Hexaemeron‹ des Ambrosius oder den ›Etymologiae‹ des Isidor von Sevilla) eingeschoben ist, so Willene B. Clark / Meradith T. McMunn, »Introduction«, in: dies., Beasts and Birds of the Middle Ages (Anm. 8), S. 1-11, hier S. 3. Clark/McMunn, Introduction (Anm. 58), S. 3: »The animal interpretations in the Physiologus tend to be more theological, that is, ›mystical‹, while the bestiary expands the moral-ethical content considerably, making the work more obviously didactic than its predecessor.« Zum Umgang mit (gefährlichen) Bibeltieren in der jüdischen Tradition siehe den Beitrag von Andreas Lehnardt in diesem Band.
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(1) Wenn der Löwe gejagt wird, verwischt er seine Spur mit dem Schwanz. Ebenso tat Christus, der in seiner Menschwerdung die Spur seiner Göttlichkeit verwischte. (2) Wenn der Löwe schläft, hält er die Augen offen. Dies ist ein Zeichen für den auferstehenden Christus, der nur im Fleische schlief, aber in seiner Gottheit erwachte. (3) Wenn die Löwin ihre Jungen gebiert, sind diese zunächst tot und werden von der Löwin drei Tage gehütet. Dann kommt der Löwenvater hinzu und bläst den Jungen ins Gesicht, wovon sie lebendig werden. Ebenso tat der Allmächtige mit seinem Sohn, als er ihn am dritten Tage auferstehen ließ.
Die Beschreibung stützt sich offensichtlich nicht auf eigene empirische Beobachtung, sondern ist vermittelt durch Autoritäten. Charakteristisch für die in der Tradition des Physiologus stehende Tierallegorese ist es auch, dass ein und dasselbe Tier sowohl in bonam partem als auch in malam partem ausgelegt werden, es also z. B. für Christus und (!) für den Teufel stehen kann.61 Die geistesgeschichtlichen Grundlagen für das Entstehen eines Buches von der Art des Physiologus bildet die sog. »Zwei-Bücher-Lehre« (Bibel und Natur als zwei gleichberechtigte Wege zur Erkenntnis Gottes), verbunden mit der christlichen Auffassung von der Zeichenhaftigkeit der Welt – prägnant zusammengefasst bei Alanus ab Insulis († um 1203), einem französischen Zisterziensermönch aus der Schule von Chartres: Omnis mundi creatura / quasi liber et pictura / nobis est et speculum, / nostrae vitae, nostrae mortis, / nostri status, nostrae sortis / fidele signaculum.62 Umstritten bleibt, ob das Mittelalter die Naturberichte des Physiologus für wahr hielt und welcher Wahrheitsbegriff hier angemessen ist. Klaus Grubmüller setzt zunächst voraus: »Physiologus-Wahrheit ist Wahrheit der Schöpfung; sie kann ihren vollen Verweischarakter nur behalten, wenn sie buchstäblich und real als Faktenwahrheit aufgefaßt wird.«63 Dennoch _____________ 61 62
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Beispiele bei Schmidtke, Geistliche Tierinterpretation (Anm. 57), S. 331-347: III (König der Tiere), IV (Umkreisen der Beute), XIX (Feindschaft gegenüber dem Waldesel). Alanus ab Insulis, Rhythmus de natura hominis fluxa et caduca, Str. 1, in: Sacred Latin Poetry, Richard Chenevix Trench (Hrsg.), London 1874, S. 262. Übers.: Die gesamte Schöpfung der Welt ist für uns gleichsam ein Buch und ein Bild und ein Spiegel, ist ein getreues Zeichen unseres Lebens, unseres Todes, unseres Zustandes [und] unseres Schicksals). Klaus Grubmüller, »Überlegungen zum Wahrheitsanspruch des Physiologus im Mittelalter«, in: Frühmittelalterliche Studien, 12/1978, S. 160-177, hier S. 169. Dagegen bringt Henkel,
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gilt auch: »Das Bild bleibt illustrativ, unabhängig davon, ob seine Elemente faktisch nachweisbar sind.«64 Man glaubt nicht nur, was man sieht. 2. Von Land-, Luft- und Meerwundern: Tierkundliches Wissen als Buchwissen Als Vater der wissenschaftlichen Zoologie gilt Aristoteles.65 Doch bis zum 13. Jh. kannte das Mittelalter die zoologischen Schriften des Aristoteles nur vermittelt über Plinius,66 Solinus67 und Isidor von Sevilla68 – ohne dass die Urheberschaft des Aristoteles im Einzelfall immer ganz klar war. Tierkundliches Wissen – das bedeutet im Mittelalter vor allem: Buchwissen, angelesenes Wissen, nicht empirisches, aus Beobachtung und Erfahrung gewonnenes Wissen. Auch in der Enzyklopädik war die Tierkunde kein Selbstzweck, sondern stand noch ganz im Dienste der Theologie: »Alle Autoren waren, selbst wenn sie sich als Empiriker gebärdeten, kirchentreue Welt- oder Ordensgeistliche, aber keineswegs Kämpfer für eine von der Theologie emanzipierte Naturwissenschaft.«69 So stellt schon Hrabanus Maurus auf der Grundlage von Isidor seine Enzyklopädie De rerum _____________ 64
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Studien zum ›Physiologus‹ (Anm. 55), S. 140-146, Belege, die zeigen, dass auch die mittelalterlichen Autoren nicht alle Physiologus-Geschichten glauben. Grubmüller, Wahrheitsanspruch des Physiologus (Anm. 63), S. 169. Vgl. Beullens, Like a Book (Anm. 53), S. 134: »What really counted was the similitude, the suitability of the subject matter to illustrate theological or moral learning.« Christian Hünemörder, »Aristoteles als Begründer der Zoologie«, in: Georg Wöhrle (Hrsg.), Biologie, Stuttgart 1999 (Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften in der Antike 1), S. 89-102. Mit seiner Naturalis historia hat Gaius Plinius Secundus (1. Jh.) einen »Typus der naturkundlichen Enzyklopädie« geschaffen, der sich als überaus erfolgreich erwies (Christian Hünemörder, »Antike und mittelalterliche Enzyklopädien und die Popularisierung naturkundlichen Wissens«, in: Sudhoffs Archiv, 65/1981, H.4, S. 339-365, hier S. 343). Zur PliniusRezeption im Mittelalter: Arno Borst, Das Buch der Naturgeschichte. Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments, Heidelberg 21995. Plinius bildet auch die Hauptquelle für die im Mittelalter ebenfalls eifrig rezipierten Collectanea rerum memorabilium des Gaius Julius Solinus (3./4. Jh.), die zu drei Vierteln aus Plinius geschöpft sind. Bernard Ribémont, »L’établissement du genre encyclopédique au Moyen Âge« [1997], in: ders., Littérature et encyclopédies du Moyen Âge, Orléans 2002, S. 5-23. Hünemörder, Antike und mittelalterliche Enzyklopädien (Anm. 66), S. 351.
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naturis (besser bekannt unter dem Titel De univserso, 842-846) zu Unterrichtszwecken und mit dezidiert christlicher Zielsetzung zusammen.70 Der Augustinerchorherr (später Dominikaner) Thomas von Cantimpré versteht seinen – absteigend nach Seinsstufen geordneten – Liber de naturis rerum (ca. 1225/26-1241) als Handbuch für Prediger, so dass man von einer »Enzyklopädie als Predigthilfe«71 gesprochen hat. Ähnlich gilt dies auch für den französischen Dominikaner Vinzenz von Beauvais, der sein Speculum naturale (1256-1259) nach den ersten sechs Schöpfungstagen geordnet hat. Dieses Werk bildet zusammen mit dem »Speculum doctrinale, morale und historiale ein Kompendium (das Speculum maius), welches in dieser umfassenden Konzeption einzigartig ist. Die Naturenzyklopädie des Franziskaners Bartholomäus Anglicus (ca. 1240 vollendet), De proprietatibus rerum, orientiert sich in ihrer Gliederung an der Lehre von den vier Elementen.72 Auch wenn hier Allegoresen und Moralisationen fehlen (erfahrene Prediger brauchen so etwas nicht!), findet man in den Handschriften Randbemerkungen, die auf Auslegemöglichkeiten der Motive in Predigt und Exempelliteratur hindeuten.73 Bald erscheinen die großen Naturenzyklopädien auch in moralisierter Form.74 Die Naturkunde wie die Tierkunde des Mittelalters entspringen demnach dem gleichen Geist wie der Physiologus und die Bestiarien. _____________ 70
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Hünemörder, Antike und mittelalterliche Enzyklopädien (Anm. 66), S. 348. Gern wird auch das von Isidor gebotene Material in Florilegien gebracht; zu nennen ist z. B. das Summarium Heinrici und der Liber floridus von Lambertus von St. Omer (ebd., S. 350). Christel Meier, »Grundzüge der mittelalterlichen Enzyklopädik. Zu Inhalten, Formen und Funktionen einer problematischen Gattung«, in: Ludger Grenzmann / Karl Stackmann (Hrsg.), Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposium Wolfenbüttel 1981, Stuttgart 1984, S. 467-503, hier S. 491. Zur Einordnung von De proprietatibus rerum in die Enzyklopädik der Zeit: Baudouin Van den Abeele, »Introduction générale«, in: Bartholomaeus Anglicus, De proprietatibus rerum. Edition latine. Sous la direction de Christel Meier, Heinz Meyer, Baudouin Van den Abeele, Iolanda Ventura, Bd. 1, Turnhout 2007, S. 3-34, hier S. 4-6, sowie Heinz Meyer, Die Enzyklopädie des Bartholomäus Anglicus. Untersuchungen zur Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte von ›De proprietatibus rerum‹, München 2000 (Münstersche Mittelalter-Schriften 77), Kap. I.3. Heinz Meyer, Die Enzyklopädie des Bartholomäus Anglicus (Anm. 73), Kap. IV.3, hier mit dem Plädoyer, die Randnoten als »Werkteil« zu begreifen. Baudouin Van den Abeele, »Béstiares encyclopédiques moralisé. Quelques succédanés de Thomas de Cantimpré und Barthelémy l’Anglais«, in: Reinardus, 7/1994, S. 209-228.
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Erst mit der Übersetzung der zoologischen Schriften des Aristoteles ins Lateinische durch Michael Scotus (wenig vor 1220, aus dem Arabischen) und später – weniger erfolgreich – durch Wilhelm von Moerbeke (1260, aus dem Griechischen) kommt es zu einer intensiveren Rezeption der aristotelischen Zoologie.75 Bedeutendstes Zeugnis dieser Rezeption ist der Kommentar De animalibus von Albertus Magnus (entstanden um 12561260), weil er sich am intensivsten auf die aristotelische Systematik einlässt.76 Aber auch in den noch Thomas von Cantimpré verpflichteten Tierbüchern beeindruckt uns heute die gute Beobachtungsgabe und seine Quellenkritik, womit der Empirie der Weg bereitet wird. Dort, wo der Mensch praktischen Umgang mit dem Tier hat (wie bei der Falknerei oder der Pferde-Heilkunde), findet man schon viel empirisches Wissen über die fraglichen Tiere. Originellstes Werk ist und bleibt hier das Falkenbuch Friedrichs II. von Hohenstaufen, De arte venandi cum avibus (1244-1250). Als Autor darf wohl wirklich – bemerkenswert genug – Friedrich II. selbst gelten. Neben den üblichen klassischen Autoritäten und praktischen Falkentraktaten (insbes. arabischer Provenienz) bilden eigene Beobachtungen und Experimente Friedrichs Hauptquelle. Große Wirkung auf das Mittelalter hatte Friedrichs Schrift allerdings nicht.77 In der Tradition des Physiologus und der Bestiarien machen Tiere die Welt als Gottes Schöpfung lesbar und geben Orientierung über die moralische Qualität menschlichen Handelns. Dies gilt auch noch für die als Predigthilfe zu verstehenden Naturenzyklopädien. In den ›empirischer‹ ausgerichteten Texten wird das Tier selbst zum Gegenstand der geistigen Erfassung von Welt. Andererseits führt die Beobachtung, Beschreibung und Klas-
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Zur mittelalterlichen Aristoteles-Rezeption grundlegend: Baudouin Van den Abeele, »Le ›De animalibus‹ d’Aristote dans le monde latin: modalités de sa réception médiévale«, in: Frühmittelalterliche Studien, 33/1999, S. 287-318. Einen guten Überblick bietet Christian Hünemörder, »Die Zoologie des Albertus Magnus«, in: Geribert Meyer / Albert Zimmermann (Hrsg.), Albertus Magnus, doctor universalis 12801980, Mainz 1980 (Walberberger Studien 6), S. 235-248. Siehe auch den Beitrag von Henryk Anzulewicz in dem vorliegenden Band. Umso erstaunlicher ist es, dass Artelouche de Alagona Friedrich II. unter der Bezeichnung »Sultan« als eine der Quellen genannt wird (siehe den Beitrag von An Smets).
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sifikation von Tieren78 wiederum zu einer geistigen Ordnung der Welt durch den Menschen und – wenn diese Beschäftigung mit dem Tier ganz praktischen Zwecken dient, wie im Falle von Jagdtraktaten oder Rossarzneimittelkunden – zu einer materiellen Bemächtigung von Welt. C. Das Tier in Literatur und Kunst des Mittelalters Tiere sind in mittelalterlicher Literatur und Kunst allgegenwärtig. Das Feld ist weit, daher beschränke ich mich auf wenige signifikante Beispiele, welche die Alterität des Mittelalters gut vor Augen führen können. 1. Fuchs und Wolf: Die mittelalterliche Tierdichtung Die Literatur des Mittelalters verfügt über Gattungen, die das Tier als Protagonisten in das Zentrum ihrer Texte stellen: die Fabel und das Tierepos.79 Das Tierepos in Form der Fuchsepik ist eine genuin mittelalterliche Gattung,80 es gibt keine antike Tradition.81 Allerdings: Die stoffliche
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Wie schwer man sich schon bei der Bezeichnung der Tiere im Mittelalter tat, zeigt der Beitrag von Clara Wille in diesem Band. Das Tierstreitgedicht dagegen ist weniger prominent (und auch nicht auf Tiere beschränkt), siehe dazu Jan M. Ziolkowski, Talking Animals. Medieval Latin beast poetry 750-1150, Philadelphia 1993, Kap. 5; Thomas Honegger, From Phoenix to Chauntecleer. Medieval English Animal Poetry, Tübingen, Basel 1996, Kap. III; Petra Busch, Die Vogelparlamente und Vogelsprachen in der deutschen Literatur des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, München 2001; Günter Prinzing, »Zur byzantinischen Rangstreitliteratur in Prosa und Dichtung«, in: Römische Historische Mitteilungen, 45/2003, S. 241-286, hier S. 260-286. Hans Robert Jauß, Untersuchungen zur mittelalterlichen Tierdichtung, Tübingen 1959 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 100), S. 20 u. ö.; Fritz Peter Knapp, »Tierepik«, in: Volker Mertens / Ulrich Müller (Hrsg.), Epische Stoffe des Mittelalters, Stuttgart 1984 (Kröners Taschenausgabe 483), S. 229-246, hier S. 229; Klaus Düwel, Art. »Tierepik«, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3/2003, Sp. 639a-641b, hier Sp. 640a. Zur Forschung: Kenneth Varty, The Roman de Renart. A Guide to Scholarly Work, London 1998. Die antiken Tierepen bleiben ohne Nachwirkung. Die Batrachomyomachia, der ›FroschMäuse-Krieg‹, z. B. wird erst Ende des 16. Jhs. mit Georg Rollenhagens Froschmeuseler rezipiert, der seit 1989 in der kritischen Edition von Dietmar Peil gut zugänglich ist.
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Grundlage ist nicht radikal neu: Es ist die äsopische Fabel. Im Unterschied zur Gegenwart aber ist das Mittelalter ein ›Zeitalter der Fabel‹.82 In den ersten beiden mittelalterlichen Tierepen – der Ecbasis cuiusdam captivi per t(r)opologiam (1043/46) und dem Ysengrimus (1148/49)83 – begegnen wir zwar bereits zentralen Motiven der künftigen Fuchsepik (z. B. der Feindschaft zwischen Fuchs und Wolf), aber der Fuchs ist noch nicht der Protagonist. Zu diesem wird der Fuchs erst im altfranzösischen Roman de Renart, einer Sammlung verschiedener »Branchen«, die von unterschiedlichen, meist unbekannten Autoren stammen.84 Als direkte Fortsetzung des Ysengrimus versteht sich die älteste Branche II-Va.85 Der Autor setzt die Bekanntheit von Renart und Isengrin voraus und will vom Beginn ihrer Fehde erzählen.86 Aus den ersten Episoden (gespeist aus bekannten Fabeln) geht Renart stets als »der betrogene Betrüger« hervor. Erst in der Beziehung zum connetable Isengrin läuft Renart zu voller Form auf: Er verführt die Wölfin Hersant, misshandelt und beleidigt die Welpen. Die Verfolgung Renarts durch die Wölfe endet in einer burlesken Vergewaltigung der Wölfin vor den Augen ihres Gatten. Isengrin und Hersant erheben Anklage gegen Renart vor dem Löwen, der jedoch auf Renards Seite steht. Am Ende des Prozesses, den man als Persiflage auf einen »Minneprozess« lesen kann, steht der Schwur auf den Hundezahn (von Isengrin als List geplant, von Renart aber bemerkt, der entkommen kann). Der offene Schluss provoziert verschiedene Fortsetzungen, auf die ich hier nicht näher eingehen kann. Eines wird aber schon deutlich: Komik und Beleh_____________ 82
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Dies dokumentiert gut der Fabelkatalog von Gerd Dicke / Klaus Grubmüller, Die Fabeln des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Ein Katalog der deutschen Versionen und ihrer lateinischen Entsprechungen, München 1987 (Münstersche Mittelalter-Schriften 60). Fritz Peter Knapp, Das lateinische Tierepos, Darmstadt 1979 (Erträge der Forschung 121). Zur Rezeption des Roman de Renart in der französischen Literatur des Mittelalters noch immer grundlegend: John Flinn, Le Roman de Renart dans la littérature française et dans les littératures étrangères au Moyen Age, Paris 1963, zu den Branchen: Kap. II. Früher wurde dieses Kurzepos einem Pierre de Saint-Cloud (1174-77) zugeschrieben. Kritisch dazu R. Anthony Lodge / Kenneth Varty, The earliest branches of the Roman de Renart, Leuven 2001, S. XXIV-XXVII. Or oez le conmencement / Et de la noise et du content, / Par quoi et por quel mesestance / Fu entr’eus deus la desfiance (RdR II, 19-22); zitierte Ausgabe: Le Roman de Renart, Helga Jauß-Meyer (Hrsg./Übers.), München 1965 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters 5).
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rung mittels Parodie und Satire sind entscheidende Elemente des Tierepos.87 Die Tiere erscheinen stets anthropomorphisiert, sie repräsentieren bestimmte Menschentypen. Die Tierwelt dient als Spiegel der menschlichen Gesellschaft. Mit dem Roman de Renart ist die mittelalterliche Fuchsepik geboren, und sie geht nun auf Siegeszug durch die europäische Literatur des Mittelalters.88 Die wichtigsten Stationen seien hier kurz vorgestellt: Der mittelhochdeutsche Reinhart Fuchs des Elsässers Heinrich verarbeitet einen Teil der Roman de Renart-Branchen zu einem Kurzepos mit finaler Struktur.89 Diese »antistaufische Satire«90 ist ohne weitere Nachwirkung geblieben. Wirksamer waren die mittelniederländischen Bearbeitungen des Roman de Renart: Willems Van den Vos Reynaerde (Reynaert I, um 1250) und Reynaerts Historie (Reynaert II, nach 1373, vor ca. 1470).91 Über die uns nur in Bruchstücken erhaltene Versfassung Hinreks van Alkmar (1487) gelangt der Stoff ins Mittelniederdeutsche, wo 1498 in Lübeck der Reynke de Vos erscheint. Kennzeichen dieser Version, aber auch eine Herausforderung für
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So schon Flinn, Le Roman de Renart (Anm. 84), Kap. III, und Jauß, Untersuchungen (Anm. 80), insbes. Kap. 4.D, 5.C und 5.D. Vgl. auch Anm. 90. Dies auch weit über die Gattung Tierepik hinaus, siehe dazu: Kenneth Varty, Reynard, Renart, Reinaert and Other Foxes in Medieval England. The Iconographic Evidence, Amsterdam 1999. Dies hat Hansjürgen Linke, »Form und Sinn des ›Fuchs Reinhart‹«, in: Alfred Ebenbauer u. a. (Hrsg.), Strukturen und Interpretationen. Studien zur deutschen Philologie gewidmet Blanka Horacek, Wien, Stuttgart 1974 (Philologica Germanica 1), S. 226-262, in wünschenswerter Klarheit herausgearbeitet. Ute Schwab, Zur Datierung und Interpretation des Reinhart Fuchs. Mit einem textkritischen Beitrag von Klaus Düwel, Neapel 1967, Kap. II bis V, hat die historischen Hintergründe dieser politischen Satire freigelegt; sie versteht den Reinhart Fuchs dementsprechend als »Warnfabel« in der Tradition des griechischen ainos (Kap. I). Dezidiert als »antistaufische Satire« interpretiert den Text Jürgen Kühnel, »Zum ›Reinhart Fuchs‹ als antistaufischer Gesellschaftssatire«, in: Rüdiger Krohn (Hrsg.), Stauferzeit. Geschichte, Literatur, Kunst, Stuttgart 1977 (Karlsruher kulturwissenschaftliche Arbeiten 1), S. 71-85. Zur Datierungsproblematik siehe zusammenfassend: Paul Wackers, »Nawoord«, in: ders. (Hrsg.), Reynaert in tweevoud. Deel II: Reynaerts historie, Amsterdam 2002, S. 327-359, hier S. 329-331. Reynaerts Historie bildet auch die Grundlage für Caxtons Übersetzung ins Englische, siehe dazu Rita Schlusemann, »Die hystorie van reynaert die vos« und »The history of reynard the fox«. Die spätmittelalterlichen Prosabearbeitungen des Reynaert-Stoffes, Frankfurt a. M. 1991 (Europäische Hochschulschriften, I,1248).
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die Forschung ist die geistlich-moralische Glossierung des Textes, welche die Erzählung zu unterlaufen scheint.92 Die anbrechende Neuzeit nimmt dieses Werk mit großer Begeisterung auf: Im Rostocker Druck von 1539 erhält der Verstext eine »protestantische« Glosse, 1544 wird der Text (unter dem Titel Von Reinicken Fuchs) erstmals ins Hochdeutsche übertragen. Der Aufklärer Johann Christoph Gottsched gibt im Jahre 1752 eine niederdeutsch-hochdeutsche Ausgabe heraus inklusive der Lübecker und der Rostocker Glosse. In dieser Form hat Johann Wolfgang von Goethe den Text kennen gelernt. Er verfasst im Jahre 1793 eine Hexameter-Bearbeitung des Verstextes (und bezieht den Stoff auf das aktuelle politische Geschehen in den Wirren der Französischen Revolution). Danach wird es still um das Tierepos. Eine der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Breitenwirkung vergleichbare Rezeption gibt es in der Neuzeit nicht mehr. Doch auch jenseits von Fabel und Tierepos spielen die Tiere in der mittelalterlichen Literatur eine bedeutsame Rolle.93 Ich erinnere nur an die Pferde Enites und den Löwen Iweins in der Artusepik,94 ja überhaupt an die enge Bindung des Ritters an sein Pferd im höfischen Roman,95 aber _____________ 92
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Hartmut Kokott, »Reynke de Vos«, München 1981 (UTB 1031), Kap. IV.1. Siehe auch: RalfHenning Steinmetz, »›Reynke de vos‹ (1498) zwischen Tierepos und kommentierter Fabelsammlung«. In: Robert Peters u. a. (Hrsg.), Vulpis adolatio [Festschrift für Hubertus Menke], Heidelberg 2001, S. 847-859. Siehe z. B. das Material bei Otto Batereau, Die Tiere in mittelhochdeutscher Literatur, Diss. Leipzig 1909; Gertrud Jaron Lewis, Das Tier und seine dichterische Funktion in Erec, Iwein, Parzival und Tristan, Bern, Frankfurt a. M. 1974 (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur 11); Friedrich Bangert, Die Tiere im altfranzösischen Epos, Marburg 1885. Ingrid Bennewitz, »Die Pferde der Enite«, in: Matthias Meyer / Hans-Jochen Schiewer (Hrsg.), Literarische Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters [Festschrift für Volker Mertens], Tübingen 2002, S. 1-17; Xenja von Ertzdorff, »Hartmann von Aue: Iwein und sein Löwe«, in: dies. (Hrsg.), Die Romane von dem Ritter mit dem Löwen, Amsterdam u. a. 1994 (Chloe 20), S. 287-311. Zur Rezeption des Löwenmotivs im späthöfischen Artusroman: Sabine Obermaier, »Löwe, Adler, Bock. Das Tierrittermotiv und seine Verwandlungen im späthöfischen Artusroman«, in: Otto Neudeck / Bernhard Jahn (Hrsg.), Tierepik und Tierallegorese. Studien zur Poetologie und historischer Anthropologie vormoderner Literatur, München 2004 (Mikrokosmos 71), S. 121-139. Dietmar Peschel-Rentsch, »Pferdemänner. Kleine Studie zum Selbstbewußtsein eines Ritters«, in: ders. (Hrsg.), Pferdemänner. Sieben Essays über Sozialisation und ihre Wirkungen in mittelalterlicher Literatur, Erlangen, Jena 1998 (Erlanger Studien 117), S. 12-47; Udo Friedrich, »Der Ritter und sein Pferd. Semantisierungsstrategien einer Mensch-Tier-Verbindung im
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auch an Kriemhilds Falkentraum im Nibelungenlied96 und an die Hunde, den Eber und den ›wunderbaren‹ Hirsch im Tristan-Roman.97 Aber auch weniger prominente Tiere – wie z. B. die Kriegselefanten des Perserkönigs Porus im Alexanderroman – können ganz spezifische, für die Deutung des Textes zentrale Bedeutungen tragen.98 Das Tier wird hier zur komplexen Metapher, die für die Deutung der Werke unverzichtbar ist. Dies im Rahmen eines kurzen Einführungsbeitrages auch nur annähernd erschöpfend skizzieren zu wollen, ist unmöglich.99 So mag hier der Verweis darauf genügen, dass das Tier in diesem Bereich zu einem Medium der Konstruktion und Interpretation imaginierter Welten avanciert.100 2. Zwischen Symbol und Ornament: Das Tier in der mittelalterlichen Kunst In der mittelalterlichen Kunst begegnen Tiere auf Schritt und Tritt. Kaum eine Kathedrale, die nicht von Tieren und Fabelwesen bevölkert wäre – _____________ Mittelalter«, in: Ursula Peters (Hrsg.), Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450, Stuttgart, Weimar 2001, S. 245-267. Zur Freundschaft nicht nur zwischen Pferd und Mensch in der mhd. Epik siehe Sabine Obermaier, »›Der fremde Freund‹. Tier-Mensch-Beziehungen in der mittelhochdeutschen Epik«, in: Gerhard Krieger (Hrsg.), Freundschaft, Verwandtschaft, Bruderschaft. 12. Symposion des Mediävistenverbands, Berlin 2009, S. 363-381 (im Druck). 96 Einen Überblick über Tier-Träume in mhd. Epik bietet demnächst Sabine Obermaier, »›Traum-Tiere‹. Tier-Träume in der mittelhochdeutschen Epik«, erscheint in: Christine Walde / Annette Gerok-Reiter (Hrsg.), Traum und Traumdeutung im Mittelalter, Berlin 2009. 97 Noch immer grundlegend: Louise Gnädinger, Hiudan und Petitcreiu. Gestalt und Figur eines Hundes in der mittelalterlichen Tristandichtung, Zürich u. a. 1971; Klaus Speckenbach, »Der Eber in der deutschen Literatur des Mittelalters«, in: Hans Fromm u. a. (Hrsg.), Verbum et signum [Festschrift für Friedrich Ohly], München 1975, Bd. 1, S. 425-476; Johannes Rathofer, »Der ›wunderbare Hirsch‹ der Minnegrotte« [1966], in: Alois Wolf (Hrsg.), Gottfried von Straßburg, Darmstadt 1973 (Wege der Forschung 320), S. 371-391. 98 Sabine Obermaier, »Alexander und die Elefanten. Antike Zoologie und christliches Herrscherideal im deutschsprachigen Alexanderroman«, in: Jochen Althoff / Sabine Föllinger / Georg Wöhrle (Hrsg.), Antike Naturwissenschaft und ihre Rezeption, Trier 2008, Bd. 18, S. 77100. 99 Diesen Bereich umfassend zu erschließen wird Aufgabe unseres Tierlexikon-Projekts sein, siehe http://www.animaliter.info. 100 Siehe dazu die Beiträge von Leonie Franz, Kathrin Prietzel, Bettina Bosold-DasGupta und Marco Lehmann in diesem Band.
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sie zieren Kapitelle und Misericordien, Fenster, Portale und Dachfirste.101 Tiere sind auch eines der häufigsten Dekorationsmotive auf Gebrauchsgegenständen und Wappen.102 Sehr reich illustriert sind von Anfang an der Physiologus, die Bestiarien und die Enzyklopädien, ebenso die Fabelbücher und Tierepen. Der Edelstein Ulrich Boners, ein spätmittelalterliches Fabelbuch, ist sogar das erste illustrierte deutschsprachig gedruckte Buch überhaupt. Doch auch in der Illustration anderer Texte sind Tiermotive häufig.103 Kein Wunder, dass den Tieren in der mittelalterlichen Kunst seit jeher großes Interesse galt.104 Drei Aspekte seien im Folgenden hervorgehoben: a) Das christliche Fundament bildlicher Tierdarstellungen: Im Mittelalter gibt es feste Bildtypen, die Tieren verlässlich Raum geben. Dazu gehören z. B. »Die Erschaffung der Tiere«, »Adam gibt den Tieren Namen«. »Die Arche Noah« und »David (auch: Orpheus) spielt vor den Tieren«.105 Grundlage dieser Bildtypen ist die Bibel. Den Tieren kommt dabei keine allegorische Bedeutung zu, sie repräsentieren lediglich den animalischen Part der Schöpfung. Anders verhält sich dies bei den theriomorphen Evangelistensymbolen, dem Lamm Gottes und der Taube als Symbol für den Heiligen Geist. Hier haben die Tiere eindeutig Verweisungsfunktion. Weniger eindeutig ist dagegen der Symbolgehalt der Tiere, die den Heiligen als feste Attribute beigegeben sind und an Legende oder Kult erinnern.106 Feste ikonographische Typen bildet die mittelalterliche Tierdarstellung auch in der Tradition des Physiologus aus, _____________ 101 Siehe den Beitrag von Anette Pelizaeus zu den Tierplastiken am Mainzer Dom in diesem Band. 102 Siehe dazu den Beitrag von Heiko Hartmann in diesem Band. 103 Dass dabei die Tiermotive zur festen Bildersprache des Mittelalters gehören, zeigt der Beitrag von Andrea Rapp in diesem Band. 104 Aus der vielfältigen Literatur sei hier lediglich genannt: Francis Klingender, Animals in art and thought to the end of the Middle Ages, Evelyn Antal und John Harthan (Hrsg.), London 1971; Janetta Rebold Benton, The Medieval Menagerie: Animals in the Art of the Middle Ages, New York 1992. Allgemeiner: Claudia List, Tiere. Gestalt und Bedeutung in der Kunst, Stuttgart, Zürich 1993, bes. S. 65-120 zu Mittelalter und Früher Neuzeit (mit ausführlichem Bildteil). 105 Beispiele bei List, Tiere (Anm. 104), S. 76-80. 106 Jetzt grundlegend Dominic Alexander, Saints and animals in the Middle Ages, Woodbridge 2008; zum Problem der Zuordnung Sabine Obermaier, »Der Heilige und sein Tier, das Tier und sein Heiliger. Ein Problemaufriss«, in: Thomas Honegger / W. Günther Rohr (Hrsg.), Tier und Religion, in: Das Mittelalter, 12/2007, H. 2, S. 46-63.
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z. B. der sich die Seite aufreißende Pelikan, der sich selbst kastrierende Biber, die sich im Spiegel betrachtende Tigerin. Mit diesen Bildformeln werden die Betrachter an die entsprechende geistliche Lehre erinnert. Im Zusammenhang religiöser Kunst fungieren Tiere in der Tat als »didactic and mnemonic tools«.107 b) Die Frage nach dem Verhältnis von Typik und Realistik: In der mittelalterlichen Kunst stehen stark stilisierte und typisierte Darstellungen neben bereits recht realistischen. Es sind insbesondere die kultivierten Höfe Oberitaliens, die um 1400 an der Ausbildung und europäischen Verbreitung der Tiermalerei maßgeblich beteiligt sind durch Künstler wie Giovannino de’ Grassi, Michelino da Besozzo und Antonio Pisanello.108 Sie weisen den Weg zum Tierporträt der Renaissance.109 Naturgetreue Tierbilder finden sich aber auch schon vor dem 14. Jh., insbesondere in praxisorientierten Jagdtraktaten oder medizinischen Schriften, so dass nicht mehr von einer linearen Entwicklung vom stilisierten Tierbild zum Tierporträt ausgegangen werden kann.110 Entscheidend ist offenbar auch der Kontext, für den das Bild geschaffen wurde.111 Gerade Ausnahmeleistungen wie der sichtlich nach der Natur gezeichnete Elefant in der Chronica maiora des Matthew Paris (1255) und der in Frontalansicht gezeigte Löwe im Skizzenbuch des französischen Künstlers Villard de Honnecourt (1230/35) machen deutlich, dass realistischere Darstellungen im Mittelalter möglich sind, aber offenbar nicht das vorrangige Darstellungsziel bilden.112 c) Ornament oder Symbol? Die Frage, ob die bildlich dargestellten Tiere immer eine Bedeutung haben oder ob ihnen einfach nur Schmuck_____________ 107 Brigitte Resl, »Beyond the Ark. Animals in Medieval Art«, in: dies., A Cultural History of Animals (Anm. 2), S. 179-201, hier S. 180, vgl. S. 179. 108 List, Tiere (Anm. 104), S. 98-103. 109 Zu denken wäre an Miniaturen, wie sie für das Thierbuch des Züricher Universalgelehrten und Stadtarztes Conrad Gesner (1563) oder für De animantium naturis des Petrus Candidus (Text: um 1460, Illustrationen: 16. Jh.) in Auftrag gegeben wurden, wie auch an die populären Tierstudien Albrecht Dürers (1471-1528); siehe List, Tiere (Anm. 104), S. 121-124. 110 So noch dargestellt bei Klingender, Animals in Art and Thought (Anm. 104), Kap. 3.10, und Benton, The Medieval Menagerie (Anm. 104), Kap. 2. 111 Dies zeigt Resl, Beyond the Ark, S. 179-201. 112 Dazu demnächst Sabine Obermaier, »Auf den Spuren des Löwen. Zum Bild des Tiers in Mittelalter und früher Neuzeit«, in: Imprimatur. Jahrbuch für Bücherfreunde, N. F. 21/2009.
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funktion zukommt, wird in der Kunstgeschichte für einige Bereiche kontrovers diskutiert, gerade für die Legion von Tieren und Fabelwesen in der Marginal-Illustration: Am nachdrücklichsten hat Michael Camille die These vom Zusammenhang der Randzeichnungen mit dem Textinhalt vertreten.113 Und es ist in der Tat schwer vorstellbar, dass sich im Mittelalter, dem Zeitalter der Zeichen, die Funktion der Tiere im Ornament erschöpfen sollte.114 Die Funktion des Tiers in Literatur und Kunst ist vielfältig und in dieser knappen Einführung nicht in Gänze zu erfassen: Das Tier kann als Vorbild und Warnung, als Maske und Metapher, als Erinnerungs- und Deutungsinstrument fungieren. Aufgabe des Literar- wie des Kunsthistorikers ist es, die je eigene Bedeutung des jeweiligen literarisch oder bildlich dargestellten Tiers zu ermitteln. Perspektiven für diesen Band Was hat unsere (notwendig lückenhafte) »tour d’horizon« deutlich machen können? Tiere sind in allen mittelalterlichen Lebensbereichen omnipräsent – und sie sind in der mittelalterlichen Geisteskultur in der Tat Gegenstand und Medium der Erfassung von Welt und Mensch durch den Menschen. Tiere können dabei erscheinen als 1. Medium der Erkenntnis und Vergegenwärtigung von Welt: In der Tradition des Physiologus und der Bestiarien, aber auch in den als Predigthilfe gedachten Naturenzyklopädien dient das Tier dem mittelalterlichen Menschen als Medium der unmittelbaren Einsicht in den sich in der Welt ausdrückenden schöpfergöttlichen Willen: Das Tier ist – als _____________ 113 Michael Camille, Image on the Edge. The Margins of Medieval Art, London 1992. 114 Rätselhaft bleibt auch das Phänomen, das man germanischen Tierstil oder nordische Tierornamentik zu nennen pflegt. In Form des anglo-karolingischen Tierstiles findet diese Kunstform im Zuge der angelsächsischen Mission seinen Weg auf den Kontinent (im 8. Jh.). Die inhaltliche Deutung der Tierornamentik ist noch immer eines der schwierigsten Probleme bei der Interpretation frühmittelalterlicher Kunst. Die Auswahl der Tiere (Raubvogel, Eber, Schlange und nicht identifizierbare Vierfüßler) legt – zumindest für die germanische Zeit – sakrale Funktionen nahe; auch die Möglichkeit, dass hier Totem-Tiere repräsentiert würden, wurde erwogen. Doch angesichts der fortschreitenden Christianisierung geht man heute davon aus, dass diese Tiersymbolik – zumindest auf dem Kontinent – ihre Bedeutung verloren hat und nur noch ornamental verstanden wurde.
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Geschöpf Gottes – ein zentrales Werkzeug der Erkenntnis des göttlichen Heilsplans. In bildlichen Darstellungen, die auf diese Tradition verweisen, fungiert das Tier als Erinnerungs»tool«. 2. Medium der Strukturierung und Ordnung von Welt: In den stärker empirisch ausgerichteten Texten (und Bildern) wird das Tier einerseits zum Gegenstand der geistigen Erfassung von Welt, andererseits schafft der Mensch über die Klassifikation von Tieren geistig Ordnung in der ihn umgebenden natürlichen Welt. Dagegen spiegelt sich in Tierbesitz und Jagd die soziale (Menschen-)Hierarchie wieder. Das Tier wird so auch zum Medium der Demonstration von Macht und gesellschaftlichem Status (was sich auch in der tierreichen Wappenkunst niederschlägt). Die Tierprozesse stellen gestörte Ordnung wieder her und dienen somit eigentlich schon der Bewältigung einer unüberschaubar gewordenen Welt. 3. Medium der Deutung und Bewältigung von Welt: Unmittelbare Lebenshilfe geben die Tiere dort, wo sie als Vorbilder für menschliches Verhalten gesehen werden, so z. B. in den moralisierenden Bestiarien und Enzyklopädien. In Fabel und Tierepik dagegen dient die anthropomorphisierte Tiersozietät als Spiegel der mittelalterlichen (Menschen-)Gesellschaft: Damit werden soziale Missstände und Konflikte parodistisch und satirisch bewältigt. Tiere haben darin einerseits die Funktion, die Wahrheit zu ›maskieren‹, andererseits wird das Tier-Sein selbst semantisiert. In Lyrik und Epik jenseits von Fabel und Tierepik können Tiere die Funktion von Leitmotiven oder Leitmetaphern übernehmen, wodurch sie zu einem unverzichtbaren Deutungsinstrument des Textes werden können. Mit diesen wenigen Stichworten sei der Rahmen umrissen, vor dem die in diesem Band gewählten Rubriken und die Beiträge zu verstehen sind. Die erste Rubrik – »Das Wissen vom Tier« – vereint Beiträge, in denen das Tier als Gegenstand der geistigen Auseinandersetzung mittelalterlicher Gelehrter erscheint, sei es in einer philosophisch-wissenschaftlichen (Henryk Anzulewicz), einer technisch-praktischen (An Smets) oder einer taxonomisch-philologischen Perspektive (Clara Wille). In der zweiten Rubrik – »Vom Umgang mit Fabeltieren« – finden Beiträge Platz, die zeigen, wie mit bestimmten Strategien zur Bewältigung von ›Ungeheuern‹ Welt gedeutet wird (Andreas Lehnardt), aber auch wie sich
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die Neuzeit ein typisch mittelalterliches Tier wie den Drachen auf ganz eigene Weise handhabbar macht (Thomas Honegger). Die dritte Rubrik – »Theriomorphe Zeichensprachen« – führt am Beispiel der historischen wie literarischen Heraldik (Heiko Hartmann), der Kirchenbauplastik (Anette Pelizaeus) und einem – Literatur ins Bild setzenden – Autorporträt aus dem Codex Manesse (Andrea Rapp) vor, wie Tiere – auch diskursübergreifend – als konventionell verabredete Zeichen, als feste Kommunikationssysteme fungieren können. Mit der vierten Rubrik – »Literarische Tiere« – kommt das Tier als Deutungsinstrument literarischer Texte, als Metapher in den Blick: So wird der literarische ›Gebrauch‹ von Tieren in der angelsächsischen Literatur, insbesondere bei Ælfric (Kathrin Prietzel), in den bisher literarhistorisch vernachlässigten Gründungslegenden (Leonie Franz) und in Dantes Divina Commedia (Bettina Bosold-DasGupta) beleuchtet. Den Abschluss bildet ein »Ausblick in die Neuzeit«: Hier wird gezeigt, wie der Affe – auch unter Rückgriff auf mittelalterliche Affen-Diskurse – für die Romantik bis hin zur Moderne zum Medium ästhetischer und anthropologischer Reflexion wird (Marco Lehmann). So vermag der Band letztlich auch dies zu bestätigen: Tiere – und nicht nur die realen Tiere, sondern gerade auch die imaginären, literarisch und künstlerisch imaginierten Tiere – haben eine – spannende – Geschichte.
Das Wissen vom Tier
Henryk Anzulewicz (Bonn)
Albertus Magnus und die Tiere I. Tiergeschichten vor Albertus Magnus Tiere und Tiergeschichten begleiten und beschäftigen den homo sapiens seit archaischen Zeiten. Für Westeuropa zeugen davon u. a. die etwa 17 000 Jahre alten bildlichen Darstellungen verschiedener Tiere auf den Felswänden einer Höhle in Lascaux in den Pyrenäen. Aus der Antike sind uns andere Umgangsformen mit den Tieren überliefert, die ihren Ausdruck in Tiergeschichten und Tierbüchern fanden. Eine der frühesten Tiergeschichten ist das Buch Genesis (1, 20-31), das die Erschaffung aller Tierarten beschreibt, zur Zierde unserer Erde, wie es die mittelalterlichen Interpreten des biblischen Schöpfungsberichtes sahen.1 Die umfassendste und wissenschaftlich bedeutendste zoologische Schriftensammlung aus der Antike stammt von Aristoteles († 322 v. Chr.). Ihm folgten andere, durch Dichtung und Realiengeschichten berühmt gewordene Autoren, die sowohl Lehrhaftes und Unterhaltsames als auch Wissenswertes über und durch die Tiere zu vermitteln versuchten. Erwähnt seien die Dichter Lukrez († um 55 v. Chr.), Vergil († 19 v. Chr.) und Horaz († 8 v. Chr.), Juba II. von Mauretanien (25 v. Chr. – 25 n. Chr.), der im Mittelalter unter den Namen Iorach bekannt wurde,2 Plinius der Ältere († 79), Aelian († 235) und Solinus (3./4. Jh.). _____________ 1
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Vgl. Albertus Magnus, De IV coaequaevis tr. 4 q. 72 a. 2 part. 2, Stéph[ane] Caes[ar] Aug[uste] Borgnet (Hrsg.), Paris 1895 (Opera Omnia 34), S. 743b: Volatilia et natatilia pertinent ad ornatum quintae diei; gressibilia autem cum homine pertinent ad ornatum sextae diei. Vgl. Henryk Anzulewicz, »Marginalie zu ›Iorach‹ «, in: Bulletin de Philosophie Médiévale, 38/1996, S. 115-118. Isabelle Draelants, »Le dossier des livres ›sur les animaux et plantes‹ de Iorach. Traditions occidentale et orientale«, in: Isabelle Draelants / Anne Tihon / Bau-
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Zu den antiken, bis ins Hochmittelalter nachwirkenden Tiergeschichten gehört der Physiologus (›der Naturkundige‹), eine Sammlung von über 50 moralisierenden Darstellungen verschiedener Tiere und animalischer Fabelwesen.3 Dieses vielleicht im 2. Jh. n. Chr. auf Griechisch verfasste Büchlein, das auf älteren Quellen beruht, bediente sich der Beschreibung von Eigenschaften und Lebensgewohnheiten der Tiere zur Vermittlung christlicher Lebensweisheit. Die literaturgeschichtliche Forschung des letzten Jhs. ging hart ins Gericht mit dem anonymen Autor und dem mutmaßlich monastischen Umfeld des Buches und bezeichnete sie als »Henker der wissenschaftlichen Naturerkenntnis im Altertum«.4 Tatsächlich sind die Tiergeschichten des Physiologus erst mit der Wiederentdeckung der naturphilosophischen Schriften des Aristoteles im lateinischen Westen im 12. und 13. Jh. verdrängt worden. Seit Isidor von Sevilla († 636) bemühten sich mittelalterliche Autoren darum, das Wissen über die Naturwelt enzyklopädisch zu erfassen. Solche Kompendien der Naturkunde, in denen Tiere Berücksichtigung fanden, hinterließen u. a. Hrabanus Maurus († 856), Alexander Neckham († 1217), Arnold von Sachsen († vor 1250), Bartholomaeus Anglicus († nach 1250), Vinzenz von Beauvais († um 1264) und Thomas von Cantimpré († um 1270). II. Tiere in den Schriften des Albertus Magnus Die Hinwendung zu einer kritisch-wissenschaftlichen Betrachtung der Tiere im Anschluss an Aristoteles in der lateinischen Welt ist besonders einem Gelehrten zu verdanken, der den Namen Albertus trug und den die Nachwelt mit dem Beinamen Magnus (›der Große‹) ehrt.5 Ihm widmen wir unsere Aufmerksamkeit mit Blick auf seine wissenschaftliche Beschäf_____________ 3 4 5
douin Van den Abeele (Hrsg.), Occident et Proche-Orient: Contacts scientifiques au temps de Croisades, Turnhout 2000, S. 191-276. Der ›Physiologus‹. Tiere und ihre Symbolik. Übertragen und erläutert von Otto Seel, Düsseldorf 2003, S. 83. Max Wellmann, Der ›Physiologus‹. Eine religionsgeschichtlich-naturwissenschaftliche Untersuchung, Leipzig 1930, S. 116. Otto Seel, »Nachwort«, in: Der ›Physiologus‹. Tiere (Anm.3), S. 92-94. Vgl. Michael W. Tkacz, »Albert the Great and the Revival of Aristotle’s Zoological Program«, in: Vivarium, 45/2007, S. 30-68, hier S. 32, 68.
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tigung mit der Tierwelt und die wissenschaftstheoretischen Reflexionen auf die vom ihm als wissenschaftliche Disziplin ausgewiesene scientia de animalibus: die Zoologie. Bevor wir uns ihm zuwenden, seien zwei weitere Namen aus dem Hochmittelalter erwähnt, die für die Geschichte der Zoologie bedeutend sind: David von Dinant († nach 1206), der sich mit der Zoologie auf der Grundlage des griechischen corpus Aristotelicum befasste und dessen Schriften 1210 und 1215 in Paris für häretisch befunden, verboten und verbrannt wurden,6 sowie Petrus Hispanus (Medicus), Alberts Zeitgenosse, von dem der erste erhaltene lateinische Kommentar zur Tierkunde des Aristoteles stammt.7 Das wissenschaftliche Interesse des Albertus Magnus für die Tiere und seine außerordentlich intensiven, durch Fremdberichte, eigene Beobachtungen und Experimente (wie z. B. das Sezieren kleinerer Lebewesen) begleiteten zoologischen Studien fanden ihren Niederschlag in mehreren Schriften. An erster Stelle ist sein monumentales Werk De animalibus (»Über die Sinnenwesen«) zu nennen, das ursprünglich 28 Bücher umfasste und nunmehr aus 26 Büchern besteht. Die ersten 19 Bücher dieses Werkes bilden einen Kommentar zur Tierkunde des Aristoteles, die Albert in der lateinischen Übersetzung aus dem Arabischen zur Verfügung stand.8 Die Schriften Liber de natura et origine animae (»Über die Natur und den Ursprung der Seele«) 9 und Liber de principiis motus processivi (»Über die
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Henryk Anzulewicz, »David von Dinant und die Anfänge der aristotelischen Naturphilosophie im Lateinischen Westen«, in: Ludger Honnefelder / Rega Wood / Mechthild Dreyer / Marc-Aeilko Aris (Hrsg.), Albertus Magnus und die Anfänge der Aristoteles-Rezeption im lateinischen Mittelalter, Münster 2005, S. 71-112. Kenneth F. Jr. Kitchell / Irven M. Resnick, »Introduction«, in: Albertus Magnus On Animals. A Medieval Summa Zoologica. Transl. and annotated by Kenneth F. Kitchell Jr. / Irven M. Resnick, Baltimore 1999, S. 39. Theodor W. Köhler, Grundlagen des philosophisch-anthropologischen Diskurses im dreizehnten Jahrhundert, Leiden 2000, S. 10-11, 254-255; ders., Homo animal nobilissimum. Konturen des spezifisch Menschlichen in der naturphilosophischen Aristoteleskommentierung des dreizehnten Jahrhunderts, Leiden 2008, S. 24. Die Übersetzung hat Michael Scotus († um 1235) angefertigt. Alberts Kommentar ist im Autograph erhalten: Albertus Magnus, De animalibus libri XXVI, 2 Bde., Hermann Stadler (Hrsg.), Münster 1916-1920. Albertus Magnus, Liber de natura et origine animae, Bernhard Geyer (Hrsg.), Münster 1955 (Opera Omnia 12), S. V-XX, S. 1-46.
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Prinzipien der fortschreitenden Bewegung«),10 einst Bücher 20 und 22 von Alberts zoologischer Hauptschrift, wurden vom Autor ausgegliedert und als eigenständige Werke veröffentlicht. Während die erstgenannte Schrift eine originäre Schöpfung Alberts ist, stellt die letztere einen Kommentar zum Werk des Aristoteles »Über die Bewegung der Sinnenwesen« dar, das Albert in der griechisch-lateinischen Übersetzung während einer Dienstreise in Italien in die Hände bekam. Es ist interessant zu wissen, dass Albert vor dem Auffinden der griechisch-lateinischen Übersetzung dieser im arabisch-lateinischen corpus Aristotelicum fehlenden Schrift sie »aus eigener Erfindungskraft«, wie er schreibt, rekonstruierte.11 Motiv und Ziel seiner Rekonstruktion war die Schließung einer Lücke, die er in der Reihe der Kommentare zu den naturphilosophischen Schriften des Aristoteles festgestellt hatte. Die letzte zoologische Schrift Alberts sind die Quaestiones super De animalibus (»Abhandlungen über die Sinnenwesen«), welche einen in Quästionenform verfassten Kommentar zur aristotelischen Tierkunde darstellen.12 Alberts enormes Interesse für die Tiere und seine durch die Aneignung der aristotelischen Naturwissenschaft angeregte wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen lassen sich schon lange vor der Abfassung seines zoologischen Hauptwerkes De animalibus feststellen.13 Aus dieser Schrift erfahren wir nämlich, dass er schon in seiner Jugendzeit wichtige Beobachtungen auf diesem Gebiet gemacht hat, die er später in seine Tierkunde einfließen ließ.14 Eine andere Ebene der Begegnung mit den Tieren bot sich für den gelehrten Dominikanermönch in der Theologie. Sie erlaubte ihm, die Tiersymbolik und Tiermetaphorik, derer sich die Bibel und der Physiologus bedienten, auch nach der Rezeption der aristotelischen Tier_____________ 10 11 12 13
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Albertus Magnus, Liber de principiis motus processivi, Bernhard Geyer (Hrsg.), Münster 1955 (Opera Omnia 12), S. XXI-XXXII, S. 47-75. Bernhard Geyer, »Prolegomena ad Librum De principiis motus processivi«, in: Albertus Magnus, Liber de principiis motus processivi (Anm. 10), S. XXIII f. Vgl. Albertus Magnus, Quaestiones super De animalibus, Ephrem Filthaut (Hrsg.), Münster 1955 (Opera Omnia 12), S. XXXIII-XLVIII, S. 77-309. Vgl. Henryk Anzulewicz, »Die aristotelische Biologie in den Frühwerken des Albertus Magnus«, in: Carlos Steel / Guy Guldentops / Pieter Beullens (Hrsg.), Aristotle’s Animals in the Middle Ages and Renaissance, Leuven 1999, 159-188. Vgl. Albertus Magnus, De animalibus l. 8 tr. 2 c. 4 § 72, S. 600 Z. 38 – S. 601 Z. 6. Heribert C. Scheeben, Albertus Magnus, Köln 31980, S. 19.
Albertus Magnus und die Tiere
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kunde zu verwenden. Die Gründe für die Zulässigkeit und Nützlichkeit der Metapher in der Theologie nannte er u. a. in seiner Summa theologiae. Die Metapher, hält er dort fest, sei in der Theologie ein erlaubtes methodisches Mittel, während sie in anderen Wissenschaften unzulässig sei, da sie deren Gegenstände, die an sich für die Vernunft einsehbar sind, nicht erklärt, sondern verhüllt. Die Theologie hingegen, die von Gott als dem unfassbaren Licht handle, brauche die Metapher als eine Stütze der Vernunft, um sich jenem Licht nähern zu können.15 Auch als praktische Wissenschaft, die tugendhaftes Handeln mit Einsicht und Affekt verbinde, bediene sich die Theologie der Metapher und Dichtung, insofern sie von göttlicher Weisheit inspiriert seien.16 Ein Beispiel aus seiner moraltheologischen Erstlingsschrift De natura boni (»Über die Natur des Guten«) macht deutlich, dass und wie Albert die Tiermetapher verwendet. Mit dem Ziel, einen Weg aufzuzeigen, wie der Mensch seinen verfehlten Lebensstil aus eigener Kraft korrigieren kann, greift er aus dem Buch der Sprüche (6, 6-8) folgende Verse auf: »Gehe zur Ameise hin, Fauler! und siehe ihre Wege an und lerne Weisheit. Obwohl sie keinen Führer noch Lehrmeister noch Gebieter hat, schafft sie sich doch im Sommer ihre Speise und sammelt in der Ernte ihre Nahrung ein«.17 Albert stellt die Ameise als Vorbild der praktischen Lebensweisheit dar. Er nimmt keinen Bezug auf den Physiologus, dessen Ameisengeschichte dieselbe Bibelstelle zum Ausgangspunkt hat, sondern er knüpft an eine andere Aussage aus dem Buch der Sprüche (30, 24-28) an, in der vier animalische Verkörperungen der Weisheit in Gestalt von Ameise, Häslein, Heuschrecke und Eidechse auftreten.18 Da Albert in seinen Schriften mehr Aufmerksamkeit für die Ameise als für die übrigen drei erwähnten Sinnenwesen zeigt, wollen wir an ihrem Beispiel seine Beschäftigung mit den Tieren kurz vorstellen. Zuvor seien, wie angekündigt, einige formale, wissen_____________ 15
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Albertus Magnus, Summa theologiae sive de mirabili scientia dei l. 1 tr. 1 q. 5 c. 1, Dionysius Siedler / Wilhelm Kübel / Heinz-Jürgen Vogels (Hrsg.), Münster 1978 (Opera Omnia 34/1), S. 17 Z. 10-21. Ebd. c. 2, S. 18 Z. 11-15; ebd. q. 3 c. 3, S. 13 Z. 58-81. Albertus Magnus, De natura boni tr. 2 pars 1 c. 2 § 3, Ephrem Filthaut (Hrsg.), Münster 1974 (Opera Omnia 25/1), S. 10 Z. 16-19. Ebd., S. 10 Z. 19-27: Et hoc optime quattuor metaphoris in fine Prov. (XXX, 24-28) a Salomone docetur […].
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schaftstheoretische und wissenschaftssystematische Aspekte seiner Auffassung der scientia de animalibus umrissen, die von einer herausragenden Bedeutung für die Geschichte des Faches Zoologie sind. III. Die Wissenschaftslehre der scientia de animalibus des Albertus Magnus Obwohl Albert den Ausdruck »Zoologie«, offenbar eine Neubildung des 18. Jhs. zum griechischen τό ζῷον, d. h. Tier,19 nicht kennt, hat er einen klaren und distinkten Begriff der Wissenschaft von den Tieren. Er nennt sie die scientia de animalibus. Sie ist nach seinem Verständnis die Wissenschaft über den Körper der Tiere oder vielmehr über dessen unterschiedliche Ausprägungen, insofern diese vom seelischen Prinzip hervorgebracht sind.20 Das den Körper der Sinnenwesen prägende und in ihm wirkende Prinzip, die sinnenhafte Seele, rückt er auch bei der etymologischen Interpretation der lateinischen Termini animal und animale in den Vordergrund.21 In der Reihe der naturwissenschaftlichen Disziplinen, die er mit Blick auf die naturphilosophischen Schriften des Aristoteles zu Beginn seines Physikkommentars aufgestellt hat, platziert er die scientia de animalibus aufgrund der Besonderheit ihres Gegenstandes an letzter Stelle.22 Ihr geht der allgemeine Teil der Naturwissenschaften voraus, in dem die psychischen Kräfte und Eigenschaften der Lebewesen sowie deren Ursprung und Funktionen behandelt werden. _____________ 19
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Vgl. Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. von Elmar Seebold, Berlin 231999, S. 914. Wilhelm Pape, Griechisch-deutsches Handwörterbuch. Nachdr. der 3. Aufl. bearb. von Max Sengebusch, Graz 1954, Bd. 1, S. 1142 u. S. 1144. Vgl. Albertus Magnus, De animalibus (Anm. 8) l. 1 tr. 1 c. 1, S. 1 Z. 1 ff., S. 2 Z. 5-12. Vgl. Albertus Magnus, Super Ethica l. 1 lect. 9, Wilhelm Kübel (Hrsg.), Münster 1968/72 (Opera Omnia 14/1), S. 46 Z. 38-45: animal, quod apud Graecos dicitur psychicum, et sic dicitur animale, quod est animae secundum actum ipsius in corpore. Ders., Physica l. 1 tr. 1 c. 4, Paul Hoßfeld (Hrsg.), Münster 1987 (Opera Omnia 4/1), S. 7 Z. 59-64: Quibus habitis sufficit addere scientiam de corpore animato vegetabili et sensibili, cuius differentiae quoad vegetabilia traduntur in libris De vegetabilibus, et quoad differentias animalium traditur scientia sufficiens in libris De animalibus. Et ille liber est finis scientiae naturalis; ders., De animalibus (Anm. 8) l. 1 tr. 1 c. 1, S. 1 Z. 1 ff., S. 2 Z. 6-7: relinquitur hic dicendum esse tantum de corpore; ebd. l. 11 tr. 1 c. 1, S. 764 Z. 12-14: oportet nos hic scientiam aliam inducere, quae sit per propria singulis convenientia, quia aliter doctrina naturarum a nobis non erit perfecte tradita.
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In welcher Ordnung man in der scientia de animalibus vorgehen muss, um Wissen über den ganzen Körper verschiedener Tierarten zu gewinnen, legt Albert in Anlehnung an die Reihenfolge der zoologischen Bücher und die Vorgehensweise des Aristoteles dar. Zuerst – in den Büchern I-X – sollen Teile und Glieder der Sinnenwesen, deren anatomisch-morphologische Eigenschaften, Funktionen und die Zeugung der Tiere beschrieben sowie die natürlichen Ursachen für die Befunde erforscht werden.23 Im zweiten Teil dieser Wissenschaft, die über die Glieder der Tiere handelt – in den Büchern XI-XIX – gilt es die Ursachen für die Unterschiede und Ähnlichkeiten der Glieder und für deren physiologische Konstitution sowie die Eigenschaften der inneren und der äußeren Glieder zu ermitteln. Es folgen Fragen zur Fortpflanzung, zu den Kräften, die das Sinnenwesen seelisch und körperlich prägen und zu einer Reihe von weiteren Eigenschaften der Tiere.24 Albert gibt sich mit dem von Aristoteles vorgegebenen Rahmen nicht zufrieden und erweitert ihn um sieben, ursprünglich sogar, wie erwähnt, um neun Bücher. Darin bietet er eine Untersuchung über die Natur des Körpers der Tiere als Ganzes im Allgemeinen (Bücher XX-XXI) und im Besonderen, d. h. einzelner, nach Gattung und Art klassifizierter Tiere (Bücher XXII-XXVI). Während der allgemeine Teil dieser Untersuchung größtenteils als Alberts originäre Leistung gewertet wird, hat der spezielle Teil, ein Tierlexikon, sein Vorbild und seine Hauptquelle im zoologischen Teil der Enzyklopädie Liber de natura rerum des Thomas von Cantimpré.25 _____________ 23
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Ders., De animalibus (Anm. 8) l. 1 tr. 1 c. 1, S. 2 Z. 17-20: Tangemus igitur in primis decem libris membrorum animalium diversitates et compositiones et anathomias et actus et generationes: et postea in novem sequentibus horum omnium dabimus veras et physicas causas. Ebd., S. 3 Z. 22 – S. 4 Z. 1: Secundam autem partem scientiae membrorum animalium complebimus in novem libris: ita quod promittemus in universali, quae causae et quomodo assignanadae sint omnium diversitatum inductarum de membris animalium. Et deinde tangemus causam omnium membrorum consimilium et dissimilium et complexionis eorum. Et deinde tangemus causas physicas interiorum membrorum et naturam ipsorum. Et consequenter hiis naturas et causas determinabimus exteriorum membrorum secundum diversitates communes generum ipsorum. Et sic a membris transibimus ad assignandas causas generationum animalium et spermatis eorum in communi. Et huic connectemus inquisitionem de virtutibus facientibus et formantibus animal tam secundum animam quam secundum corpus. Vgl. Heinrich Balss, Albertus Magnus als Zoologe, München 1928, S. 17. Vgl. Balss, Albertus Magnus (Anm. 24), S. 9-12. Miguel J. C. De Asúa, The Organization of Discourse on Animals in the Thirteenth Century. Peter of Spain, Albert the Great, and the Commentaries on ›De animalibus‹, Diss. Notre Dame, IN 1991, S. 206-216. John B. Friedman, »Albert the
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Henryk Anzulewicz
Alberts Ausführungen über den Gegenstand dieser Wissenschaft und ihre Vorgehensweise interessieren uns hier nur, sofern sie für seine Wissenschaftslehre dieser Disziplin charakteristisch sind. Anders als bei der Organisation der Naturwissenschaften und der Abfolge der Behandlung ihrer Gegenstände, nämlich beginnend beim Einfacheren und fortschreitend zum Komplexeren,26 nimmt Albert in der Tierkunde den Körperbau und die Physiognomie des Menschen als des vollkommensten aller Sinnenwesen zum Ausgangs- und Bezugspunkt für die beschreibende und vergleichende Darstellung der Anatomie der Tiere.27 Demnach gelte es Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Anatomie zuerst der einfacheren und im zweiten Schritt der heterogenen Körperteile und Organe der Wirbeltiere aufzuzeigen. Zur Begründung für diese Reihenfolge der Untersuchung weist Albert auf die Morphogenese hin, nämlich dass die heterogenen Glieder aus den homogenen entstanden seien. In derselben vergleichenden Weise sollten anschließend die Wirbellosen abgehandelt werden.28 Bilden die anatomisch höher entwickelten Sinnenwesen den Ausgangs- und Bezugspunkt für Alberts vergleichende Untersuchungen, ist er hierbei seinem Grundsatz »Komplexeres betrachtet man nach dem Einfacheren« (compositiora considerantur post simplicia)29 insofern treu, als er diesen auf partikuläre, anatomische Sachverhalte und nicht auf das Sinnenwesen als Ganzes anwendet. Ein anderes Merkmal von Alberts Tierkunde ist darin zu sehen, dass in ihr nicht nur körperliche Eigenschaften, sondern auch psychische Kräf_____________
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Great’s Topoi of Direct Observation and His Debt to Thomas of Cantimpré«, in: Peter Binkley (Hrsg.), Pre-Modern Encyclopaedic Texts, Leiden 1997, S. 379-392. Leen Spruit, »Albert the Great on the Epistemology on Natural Science«, in: Alexander Fidora / Matthias LutzBachmann (Hrsg.), Erfahrung und Beweis, Berlin 2007, S. 68-69. Albertus Magnus, De animalibus (Anm. 8) l. 1 tr. 1 c. 1, S. 1 Z. 10-11: in omnibus compositiora considerantur post simplicia et minus composita: eo quod minus composita sunt in magis compositis. Ebd. § 3, S. 2 Z. 20-25: Oportet enim primum maxime membra perfectissimi determinare animalis, quod homo est, secundum divisionem membrorum suorum, quae anathomia a Graecis dicitur, et secundum significationes physionomiae et secundum figuras suorum membrorum: et deinde considerare comparationes aliorum animalium ad membra hominis secundum convenientiam et differentiam. Ebd. § 4, S. 2 Z. 25-31: Et quia omnia membra etherogenia a similibus habent ortum membris, oportet iterum considerare consequenter ortum et principium similium membrorum in sanguinem habentibus omnibus, quae perfectiora sunt hiis quae sanguinem non habent. Et tunc demum comparare ad hoc secundum convenientiam et differentiam ea quae sanguinem non habent. Wie Anm. 23.
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te, die ursächlich mit der Zeugung und der Ausformung des Körpers sowie dem Verhalten der Sinnenwesen verbundenen sind, berücksichtigt werden.30 Die Konsequenz des Denkens, das von der Kausalität geleitet wird, ist die für Albert charakteristische Verknüpfung der Lehre über die Tiere mit der Metaphysik, ein Konnex, der das Geschäft des Naturphilosophen und des Naturwissenschaftlers vor allem hinsichtlich der Frage nach den letztgültigen Prinzipien und Ursachen der Phänomene vervollständigen soll. Dieser metaphysische Ausgriff ist nicht unreflektiert, sondern ein in der Formel »das Naturgeschehnis ist das Werk der Intelligenz« (opus naturae est opus intelligentiae) prägnant zusammengefasster und zum Axiom erhobener Grundsatz.31 In der Einleitung des Werkes De animalibus kündigt Albert an, dass er seine Untersuchung über die Anatomie der Teile und über die Zeugung der Tiere sowie über die Ursachen ihrer Eigenschaften um eine Analyse des tierischen Körpers als Ganzes ergänzen wird. Er werde dabei alle ihm bekannten Tiere, nach Gattung und Art klassifiziert, berücksichtigen. Was in der Einleitung auffälligerweise fehlt, sind Aussagen zur Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsfähigkeit der scientia de animalibus. Diese Frage wurde von ihm im Physikkommentar allgemein behandelt und für alle naturwissenschaftlichen Disziplinen, sofern deren Gegenstand das Allgemeine ist, beantwortet.32 In der Tierkunde wird sie nicht zu Beginn des _____________ 30 31
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Albertus Magnus, ebd. § 4, S. 3 Z. 32 – S. 4 Z. 1: Et huic connectemus inquisitionem de virtutibus facientibus et formantibus animal tam secundum animam quam secundum corpus. Vgl. ders., De natura et origine animae (Anm. 9) tr. 2 c. 17, S. 44 Z. 16-20: in eis quae hic diximus, cum naturalibus metaphysica composuimus, ut perfectior sit doctrina et facilius intelligantur ea quae dicta sunt; haec enim est consuetudo nostra in toto hoc physico negotio. James A. Weisheipl, »The Axiom ›Opus naturae est opus intelligentiae‹ and its Origins«, in: Gerbert Meyer / Albert Zimmermann / Paul-Bernd Lüttringhaus (Hrsg.), Albertus Magnus Doctor universalis 1280/1980, Mainz 1980, S. 441-463. Ludwig Hödl, » ›Opus naturae est opus intelligentiae‹. Ein neuplatonisches Axiom im aristotelischen Verständnis des Albertus Magnus«, in: Friedrich Niewöhner / Loris Sturlese (Hrsg.), Averroismus im Mittelalter und in Renaissance, Zürich 1994, S. 132-148. Spruit, Albert the Great on the Epistemology (Anm. 28), S. 62-64. Tkacz, Albert the Great (Anm. 5), S. 42-43, 63-65, 67. Albertus Magnus, Physica (Anm. 22) l. 1 tr. 1 c. 2, S. 3 Z. 44 ff., S. 4 Z. 81 – S. 5 v. 17, bes. S. 5 Z. 8-17: Est autem abstractio universalis ab hoc particulari signato, sicut quando consideramus lignum secundum esse ligni et rationem et non in eo quod est hoc lignum, quod est haec cedrus vel haec palma. Et talem abstractionem in omni scientia oportet esse, quoniam omnis scientia de universali est, sive
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Werkes, sondern erst am Anfang des elften Buches, d. h. an der Stelle aufgenommen, wo sich auch Aristoteles in seiner Schrift (De partibus animalium I), die Albert kommentiert, darüber äußert. Es ist bezeichnend, dass Alberts Erörterungen nicht beim Begriff der »Wissenschaft« (scientia), sondern beim Begriff der »Lehre« (doctrina) und der »Meinung« (opinio) ansetzen.33 Damit kommt seine Ansicht zum Ausdruck, dass Wissen über die Tiere das Kriterium der Allgemeinheit, Notwendigkeit und Beweisbarkeit, welches dem aristotelischen Wissenschaftsbegriff zugrunde liegt, nicht erfüllt. Eine Meinung über eine beliebige Sache beinhaltet, so Albert, zweierlei: Sie unterrichtet mittels der Definition darüber, was die Sache an sich ist und was ihre Eigenschaften sind. Diese beiden Zugänge seien notwendig für eine vollständige Erkenntnis sowohl der Psyche als auch des Sinnenwesens in seiner psychisch-körperlichen Verfasstheit. Vermag die Kenntnis der letzteren vollständig zu sein, wird sie von Albert dennoch als Meinung qualifiziert, da man sie aus wahrscheinlichen Prämissen (ex probabilibus) gewinnt. Eine Wissenschaft im strengen Sinne, die das Ergebnis eines Beweises (effectus demonstrationis) ist, kann es nach Albert nicht über die Natur einzelner Dinge geben. Es komme hinzu, dass die partikulären Gegenstände von unterschiedlicher Wertigkeit seien, die den Stellenwert der Meinung als Wissensform beeinflusse. Die Meinung sei dennoch nützlich, weil es ohne sie überhaupt kein Wissen über die Natur der Tiere geben könne.34 Das Wissen, das nach Aristoteles als Meinung qualifiziert wird, vermittelt die Kenntnis darüber, was eine Sache aufgrund ihrer Definition _____________ 33
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illud secundum intentiones communes accipiatur, quod est intendere logice, sive accipiatur secundum naturam et esse physicum, quod est intendere physice et per propria rei. Ders., De animalibus (Anm. 8) l. 11 c. 1, S. 761 Z. 1-6: Incipit liber undecimus de animalibus cuius primus tractatus est de ordine doctrinae tradendae de animalibus. Cap. I. Quod duo necessaria sunt in omni opinione nobili et vili, quae est de animalibus. Vgl. Spruit, Albert the Great on the Epistemology (Anm. 25), S. 65. Ebd. § 2, S. 761 Z. 22-29: Neque dicitur hic scientia, quae est effectus demonstrationis, quoniam illam habere non possumus de naturis particularibus animalium, sed opinionem ex probabilibus possumus concipere, quae licet in aliqua parte sui sit de rebus nobilibus et pulchris, sicut de vita animalium et animae operibus, et alicubi videatur esse vilis, sicut de egestionibus et urinis et huiusmodi: tamen per totum est utilis, quia scientia naturarum animalium sine hiis haberi non potest. Vgl. Albertus Magnus, De homine, Henryk Anzulewicz / Joachim R. Söder (Hrsg.), Münster 2008 (Opera Omnia 27/2), S. 393, Z. 9 – S. 394, Z. 55.
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ist und welche Eigenschaften aus welchen Gründen derselben Sache zukommen. Derartiges Wissen genügt nach Albert für die Naturwissenschaft und ihre lehrmäßige Vermittlung (instructio et doctrina). Der Existenznachweis des Gegenstandes der Tierkunde entfalle, da er durch die früheren Schriften zur Naturphilosophie erbracht sei. Unbestritten sei ebenfalls, dass einzelne Naturgegenstände jeweils bestimmte Eigenschaften aufweisen. Den Eigenschaften einzelner Gegenstände nachzugehen sei aber notwendig, da ein Weiser – sei er Philosoph, sei er Naturforscher – sich in seiner Lehre nicht auf das Allgemeine beschränke, sondern die Erkenntnis des Einzelnen und einzelner eigentümlicher Eigenschaften mit einbeziehen müsse.35 Zu gleichem Ergebnis kommt Albert bei seinen Reflexionen auf die Wissenschaftslehre der scientia de animalibus vom wissenschaftssystematischen Gesichtspunkt aus. Eine allgemeine Naturwissenschaft wie die Physik, deren Gegenstand ein beweglicher Körper sei, würde nur dann genügen, wenn es auch spezielle Wissenschaften von den Naturdingen im Besonderen gebe. Dem sei so, da jede Einzelwissenschaft samt ihrer Teilbereiche Wissen über die nur für sie bekannten Eigenschaften ihrer Gegenstände verfüge und sich dadurch von einer anderen Einzelwissenschaft und ihren Teilbereichen unterscheide.36 Mit den hier referierten Ausführungen hat Albert die Bedingungen festzustellen versucht, unter denen Wissen über die Natur der Tiere, das teils schlussfolgernd, teils empirisch gewonnen wird, möglich und in Lehrform vermittelbar ist. Den Ausgangspunkt hierfür sah er in selbstevidenten Definitionen, die das Mittel der Beweisführung für alles andere seien, was hinsichtlich der Natur erforscht werden soll. Auf der Grundlage dieser Definitionen werde ein Urteil gefällt, ob Aussagen über allgemeine oder besondere Eigenschaften der Tiere mit Gewissheit wahr seien, insofern sie bewiesen werden können, oder nur annähernd wahr, insofern sie aus wahrscheinlichen Prämissen geschlossen werden. Da ein bewiesenes Wissen (scientia per demonstrationem) nicht von allem möglich sei, würde man in solchen Fällen mutmaßen und glauben, dass den Tieren bestimmte _____________ 35 36
Ders., De animalibus (Anm. 8) l. 11 c. 1 § 3-5, S. 762 Z. 1-30. Ebd. § 5, S. 762 Z. 33-38.
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Eigenschaften mit Wahrscheinlichkeit zukämen, insofern sie nicht im Widerspruch mit deren Natur stünden. Will die Lehre über Tiere vollständig sein, muss sie, so Albert, jedes einzelne der Sinnenwesen gesondert durch eigene Definition erfassen. Auf dieser Grundlage wird von jedem Sinnenwesen ausgesagt, was für dieses konstitutiv ist, und in einem zweiten Schritt, welche Eigenschaften ihm zukommen.37 Die den Tieren gemeinsamen Eigenschaften werden in einer für sie alle gültigen Weise erfasst und zu einer »allgemeinen Lehre« (doctrina communis) zusammengefasst. Eine Verallgemeinerung ist deshalb möglich, weil viele Sinnenwesen, die nicht zu ein und derselben Gattung, sondern auch zu verschiedenen Arten einer Gattung gehören, bestimmte Eigenschaften miteinander teilen. Zu den gemeinsamen Eigenschaften rechnet Albert u. a. Schlaf und Wachen, Wachstum und Verfall, Leben und Tod sowie Atmung.38 Das Wissen um diese körperlichen, mit der Psyche zusammenhängenden Eigenschaften der Sinnenwesen, die er im allgemeinen Teil seiner naturphilosophischen Werke, insbesondere in den Schriften De sensu et sensato (»Über Sinneswahrnehmung und Sinnesgegenstände«), De memoria et reminiscentia (»Über Gedächtnis und Erinnerung«) und De motibus animalium (»Über Bewegungen der Sinnenwesen«) aufgearbeitet hat, hält er gegenüber einer speziellen Wissenschaft über die Tiere aus prinzipientheoretischen Gründen für unzureichend. Denn die Prinzipien einer allgemeinen Wissenschaft sind nach seiner Auffassung für eine partikuläre Wissenschaft über die Tiere zu allgemein. Das allgemeine Wissen ist gegenüber einem speziellen defizitär. Eine schlussfolgernd verfahrende Wissenschaft sichert nur ein allgemeines Wissen über die Natur der Dinge, welches ein theoretisches Wissen ist, mit Alberts Worten: ein mögliches Wissen. Das mögliche Wissen bleibt aber unbestimmt, sofern es nicht an die konkrete Natur der Sinnenwesen und ihre Eigenschaften geknüpft ist. Aus diesem Befund leitet Albert die Notwendigkeit einer Ergänzung der allgemeinen Lehre über die Sinnenwesen durch eine partiku-
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Ebd. § 7, S. 763 Z. 18-22: Docens enim perfecte naturas non sistit in communi natura, sicut diximus, sed per diffinitionem propriam separatim tradit unumquodque naturalium per se, et quamlibet substantiam dicit quid est: tunc docet accidentia propria illi inesse, quae voluerit dicere per rationem. Hierzu und zum Folgenden: Ebd. § 8, S. 763 Z. 25 – S. 764 Z. 2.
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läre Wissenschaft ab, deren Gegenstand die den einzelnen Tieren zukommenden Eigenschaften sind.39 Die Frage nach der inhaltlich-didaktischen Organisation dieser Wissenschaft (ordo doctrinae) und nach Art und Zahl der Ursachen für den Gegenstandsbereich der Tierkunde erörtert Albert in zwei weiteren Kapiteln des elften Buches seines Werkes.40 In diesem Zusammenhang treten erneut wissenschaftstheoretische Fragen in den Vordergrund, die hier nicht weiter verfolgt werden können. Wir wenden uns jetzt dem angekündigten Spezialfall von Alberts Tierforschung zu, nämlich seiner Darstellung der Ameise, um an einem konkreten Beispiel zu verdeutlichen, unter welchen wissenschaftssystematischen Rahmenbedingungen, auf welcher Quellenbasis, auf welche Art und Weise und aus welchen anderen Motiven als den ebengenannten er sich mit den Tieren in seinen Werken beschäftigte. IV. Zwischen Metaphorik und Wissenschaft: Die Ameise im Werk des Albertus Magnus Die Ameise (formica) wird, wie erwähnt, neben dem Häslein (lepusculus), der Heuschrecke (locusta) und der Eidechse (stellio), zum ersten Mal in Alberts moraltheologischer Schrift De natura boni mit einem Zitat aus dem Buch der Sprüche (6, 6-8) zur Erklärung einer anderen Stelle aus demselben _____________ 39
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Ebd. § 9, S. 764 Z. 3-14: Tamen sermo habitus de tali modo scientiae animalium in communi, quantum ad istam doctrinam in qua modo sumus, latens est et non manifestus neque determinatus. Latentem autem dico in principiis in illis libris positis, quae nimis sunt communia ad hanc scientiam de naturis particularium animalium. Non manifestum autem voco in scientia conclusionum, quoniam scire in universali naturas rerum non est scire eas nisi in potentia, eo quod est huiusmodi sermo doctrinae indeterminatus et non appropriatus naturis animalium propriis et accidentibus eorum. Sic igitur manifestum est quod oportet nos hic scientiam aliam inducere, quae sit per propria singulis convenientia, quia aliter doctrina naturarum a nobis non erit perfecte tradita. Vgl. Albertus Magnus, De homine (Anm. 34), S. 445 Z. 2-3: scire in universali est scire in potentia; scire autem in particulari est scire in propria natura. Ders., De animalibus (Anm. 8) l. 11 c. 2, S. 764 v. 16-17: Secundum quem ordinem doctrinae procedendum in scientia eorum quae animalibus attribuuntur ? ; ebd. c. 3, S. 770 Z. 26-27: Ex quibus et quot causis causanda sint ea quae quaeruntur de animalibus. Ergänzend zu allem, was hier verkürzt dargelegt wurde, und zu den beiden nachfolgenden Kapiteln sei auf die Untersuchung von Theodor W. Köhler, »›Processus narrativus‹. Zur Entwicklung des Wissenschaftskonzepts in der Hochscholastik«, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie, 39/1994, S. 109-127, verwiesen.
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Buch (30, 24-28) angeführt. Der zitierten Aussage zufolge sind die vier genannten Lebewesen »die Geringsten auf Erden und doch weiser als die Weisen«.41 Die Klugheit der Ameisen besteht gemäß dieser weisheitlichen Tradition in deren Vorsorge für Nahrungsvorräte. An diese moralisierende Allegorie knüpft Albert mit dem Ziel an, seiner Ansicht, der Mensch könne durch beharrlich gutes Handeln sittliche Werte, die ihm abhanden gingen, wiedererlangen, bildhaft und autoritativ Nachdruck zu verleihen. Obwohl die Ameisen winzige und schwache Lebewesen seien, bewegen sie dennoch dank der Beharrlichkeit, mit der sie ihrer Arbeit nachgehen, große Lasten.42 Auch in dem ca. 20 Jahre nach der Erstlingsschrift verfassten Kommentar zum Matthäusevangelium nimmt Albert Bezug auf die Ameise in Verbindung mit derselben Bibelstelle (Spr 6, 6-8) und mit demselben moralisierenden Zweck.43 Er bezeichnet sie dort als ein Reptil, das im Gegensatz zu den Vögeln, dem Sinnbild der Unbekümmertheit um Dinge des Lebens, Nahrungsvorräte anlegt.44 Die genannten Stellen zeigen, dass Albert in seinen theologischen Schriften mit moralisierenden Absichten auf die Ameise Bezug nimmt. Sie soll für den Menschen ein Vorbild der Beharrlichkeit im sittlich guten Handeln, des Fleißes sowie der Vorsorge sein. Ihre Kleinheit spielt in diesen und in anderen Zusammenhängen keine unbedeutende Rolle. Aufgrund ihrer Kleinheit wurde sie bei der Diskussion kosmologischer und wahrnehmungspsychologischer Fragen schon in der Antike bemüht, wie Alberts Kommentarwerken De caelo et mundo (»Über den Himmel und die Welt«) und Super Dionysium De divinis nominibus (»Über Dionysius’ göttliche Namen«) einerseits und andererseits De anima (»Über die Seele«) und Super Dionysium De caelesti hierarchia (»Über Dionysius’ himmlische Hierarchie«) zu entnehmen ist.45 _____________ 41 42 43
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Albertus Magnus, De natura boni (Anm. 17) tr. 2 pars 1 c. 2 § 3, S. 19 Z. 21-22. Albertus Magnus, De natura boni (Anm. 17) tr. 2 pars 1 c. 2 § 3, S. 10 Z. 28-32. Ders., Super Matthaeum VI, 34, Bernhard Schmidt (Hrsg.), Münster 1987 (Opera Omnia 21/1), S. 240 Z. 17-21: Sicut enim dicit Apostolus, providere possumus ›bona non solum coram deo, sed etiam coram omnibus hominibus‹. Et ideo in Prov. VI (6-8) mittitur piger ad formicam, quae in aestate congregat cibum sibi. Ebd. VI, 26, S. 236 Z. 56-58. Albertus Magnus, De caelo et mundo l. 2 tr. 3 c. 9, Paul Hoßfeld (Hrsg.), Münster 1971 (Opera Omnia 5/1), S. 162 Z. 69-71; ders., Super Dionysium De divinis nominibus c. 4, Paul Simon (Hrsg.), Münster 1972 (Opera Omnia 37/1), S. 152 Z. 6-21; ders., De anima l. 2 tr. 3
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Was kann der Mensch noch von der Ameise lernen? Die Ameise verhilft einem aufmerksamen Beobachter der Natur zu einem tieferen Einblick in deren Gesetze. In seinem grundlegenden naturphilosophischen Werk, dem Physikkommentar, argumentiert Albert mit Aristoteles, dass dem Wirken der Natur ein teleologisches Prinzip zugrunde liegt. Ein zielgerichtetes Agieren zeige sich am deutlichsten bei den Sinnenwesen, die im Unterschied zu den Menschen ohne zu fragen oder zu überlegen ihre Aktivität unmittelbar auf ein bestimmtes Ziel hin richten. Diese Zielorientierung beruhe auf dem natürlichen Instinkt, den Albert wie Aristoteles mit der Verhaltensweise der Ameise und ähnlich kleiner Sinnenwesen, denen nur eine geringe Auffassungsgabe eignen würde, exemplifiziert.46 Von der Ameise zu lernen, sei es praktische Lebensweisheit, seien es die Naturgesetze, bedeutet auch, wie es scheint, über die Ameise zu lernen. Dieser Eindruck ergibt sich in Alberts Schrift De anima, in der er seine frühere Erklärung der Teleologie der Natur aus dem Physikkommentar ergänzt. Er hält fest, dass jedes Tier, das einen oder mehrere äußere Sinne besitzt, über (mindestens) drei innere Sinnesvermögen verfügt, nämlich Gemeinsinn (sensus communis), Vorstellungsvermögen (imaginatio) und Einschätzungsvermögen (aestimativa).47 Wir dürfen schließen, dass dies auch für die Ameise gilt. Denn aus seinem Exkurs über das Einbildungsvermögen (phantasia) geht hervor, dass Tiere, denen die Fertigkeit zu eigen ist, Nester zu bauen und Nahrungsvorräte anzulegen, mit der Einbildungskraft ausgestattet sind.48 Diese ermöglicht es ihnen, Vorstellungen und Intentionen miteinander zu verknüpfen, woraus sich ein Muster für deren Wahrnehmung und Agieren ergibt. Das Einbildungsvermögen wird beim Menschen durch den Verstand, bei den Tieren durch einen natürlichen Instinkt geleitet. Da die Natur bei jeder Art von Sinnenwesen stets auf nur eine Weise wirkt, zeichnen sich die Aktivitäten innerhalb einer Art durch Einheitlichkeit aus. Jede Ameise sorgt auf gleiche Weise für die Nahrungsvorräte. Sie agiert gemäß der vom Instinkt gelei_____________
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c. 15, Clemens Stroick (Hrsg.), Münster 1968 (Opera Omnia 7/1), S. 121 Z. 54-61; ders., Super Dionysium De caelesti hierarchia c. 4, Paul Simon (†) / Wilhelm Kübel (Hrsg.), Münster 1993 (Opera Omnia 36/1), S. 67 Z. 20-26. Ders., Physica (Anm. 22) l. 2 tr. 3 c. 2, S. 135 Z. 45-66. Ders., De anima (Anm. 45) l. 3 tr. 1 c. 2, S. 167 Z. 74 ff. Ebd., S. 168 Z. 27 ff.
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teten Einbildungskraft.49 Aus Alberts Ausführungen über die psychischen Wahrnehmungskräfte der Sinnenwesen geht hervor, dass er bei einer Ameise wenigstens ein äußeres Sinnesvermögen und insgesamt vier innere Wahrnehmungskräfte annimmt, nämlich Gemeinsinn, Vorstellungskraft, Einschätzungsvermögen und Einbildungskraft. Das, was die Ameisen hinsichtlich der inneren Wahrnehmung von den höher entwickelten Tieren (animalia perfecta) unterscheidet, wäre demnach das Gedächtnis.50 Die Auffassung, dass den Ameisen das Einbildungsvermögen eignet, bekräftigt Albert mit Nachdruck. Er stimmt mit Aristoteles darin überein, dass aus dem Verhalten von Insekten, Würmern und anderen Tieren, die auf der untersten Entwicklungsstufe im Tierreich stehen, auf das Fehlen einer Einbildungskraft (phantasia) bei ihnen geschlossen werden muss. Über eine gewisse Vorstellungskraft und ein Einschätzungsvermögen verfügten sie dennoch. Während Aristoteles (De anima III 3 428a10-11) kein Einbildungsvermögen bei den Ameisen und Bienen erkennen kann, ist Albert gegenteiliger Meinung, die darauf gründet, dass die Ameisen wie die Bienen auf kunstvolle Weise ihre Nester bauen, Nahrungsvorräte anlegen und sich für das Gemeinwohl ihres Staates einsetzen. Nicht Aristoteles habe sich in diesem Punkt geirrt, sondern vielmehr liege der Fehler, vermutet Albert, in der lateinischen Übersetzung dieser Textstelle aus dem Griechischen. Der Übersetzer habe Namen von Sinnenwesen, bei denen Aristoteles keine Einbildungskraft zu erkennen scheint, nicht verstanden und übertrug sie mit »Ameisen und Bienen«. Dieser Übersetzungsfehler habe den wahren Sinn der Aussage entstellt.51 Ein Blick auf das griechische Original der Aristoteles-Schrift bestätigt Alberts Vermutung allerdings nicht. _____________ 49 50
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Ebd. c. 3, S. 168 Z. 88-92: omnis formica uno modo providet cibum, et sic de aliis secundum visa phantasiae ad instinctum naturae operantibus. Vgl. ebd. c. 2, S. 167 Z. 74-77: Tres ergo istos interiores sensus, sensum communem scilicet et imaginationem et aestimativam, habet omne animal, quod aliquem vel aliquos habet de sensibus exterioribus; ebd. c. 3, S. 168 Z. 86-89: opera phantasiae in omnibus habentibus speciem unam in irrationabilibus sunt uno modo, et ideo omnis hirundo uno modo facit nidum, et igitur omnis formica uno modo providet cibum. Ebd. c. 7, S. 173 Z. 40-45: Puto autem hoc non ex vitio esse Philosophi, sed ex vitio translationis, quia translator non intellexit nomina animalium, quae dixit Aristoteles phantasiam non habere, et loco eorum transtulit formicas et apes et corrupit veritatem ex mala translatione.
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Nach welchen formalen und sachlichen Kriterien und unter welchen Gesichtspunkten beschreibt Albert die Ameise in seiner Tierkunde? Die Maßgabe für die methodisch-didaktischen, systematischen und inhaltlichen Aspekte des Hauptteils der albertinischen Tierkunde (Bücher I-XIX) ist, wie wir schon wissen, die Zoologie des Aristoteles. Sie wird von Albert in Form einer Paraphrase kommentiert und in den so genannten »erklärenden Digressionen« um neuere Erkenntnisse ergänzt. Albert stützt sich auf schriftliche Quellen unterschiedlicher Provenienz und auf eigene Beobachtungen sowie auf mündliche Berichte von Gewährsleuten, die ihm glaubwürdig erscheinen. Von den schriftlichen Quellen bevorzugt er – abgesehen von Aristoteles – die Werke von Plinius, Avicenna (Canon, De animalibus) und Thomas von Cantimpré (De natura rerum).52 Im allgemeinen Teil von Alberts Zoologie kommt die Ameise in verschiedenen Zusammenhängen mindestens achtmal in den Blick und ein weiteres Mal im Tierlexikon am Schluss des Werkes. Sie erscheint zuerst bei der Erörterung der verhaltensökologisch bedingten Unterschiede der Tiere53 und bei der Behandlung von deren Zeugungsarten;54 sie wird bei der Darstellung der Morphologie äußerer Körperteile berücksichtigt, die für die Bewegung zuständig sind;55 und man findet sie bei der Beschreibung der wirbellosen Landtiere.56 Viel Aufmerksamkeit widmet Albert dem Verhalten und der Schlauheit (astutia) der Ameise57 sowie der Frage nach den Ursachen ihres anscheinend freien und ›mechanischen‹ Agierens.58 Man begegnet der Ameise bei der Beschreibung der äußeren Glieder der Kerbtiere59 und der Arten psychischer und körperlicher Vollendung der Sinnenwesen.60 Schließlich im Tierlexikon (De animalibus, _____________ 52 53 54 55 56 57 58 59 60
Vgl. Arno Borst, Das Buch der Naturgeschichte. Plinius und seine Leser im Zeitalter des Pergaments, Heidelberg ²1995, S. 285-287. De Asúa, The Organization (Anm. 25), S. 141-157, 206-216. Albertus Magnus, De animalibus (Anm. 8) l. 1 tr. 1 c. 3, S. 11 Z. 3. Ebd. c. 6 § 77, S. 29 Z. 13 ff. : De modis generationis animalium in universali. Ebd. l. 2 tr. 1 c. 2, S. 228 Z. 17 ff. : De membris manifestis exterioribus corporis pertinentibus ad motum, et aliis quae comparantur ad membra hominis, (…) et praecipue de ungula et cornu et pilo. Ebd. l. 4 tr. 1 c. 1, S. 357 Z. 5-6: Quae sit libri intentio et quae diversitas marinorum (et terrestrium) sanguinem non habentium […]. Ebd. l. 8 tr. 4 c. 1, S. 626 Z. 31: De operibus formicarum et aranearum. Ebd. tr. 6 c. 2, S. 671 Z. 24-25. Ebd. l. 14 tr. 1 c. 1, S. 951 Z. 6. Ebd. l. 21 tr. 1 c. 2 § 10, S. 1326 Z. 38 ff.
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Bücher XXII-XXVI), in dem einzelne Arten verschiedener Tiergattungen aufgelistet und charakterisiert werden, finden wir unter den wirbellosen Würmern eine ausführlichere Beschreibung der Ameise. Versuchen wir die aufgezählten Teilberichte zusammenzufügen, um ein Bildganzes der Ameise herzustellen. (1) Nimmt man die verhaltensökologischen Merkmale der Ameisen, welche sich von denen des Menschen unterscheiden, zum Ausgangspunkt für deren Beschreibung, dann ist vor allem darauf zu achten, wie sie ihren gesamten Lebensbereich organisieren, welche Aktivitäten sie in welcher Weise ausführen, welche Fähigkeiten ihnen eignen und welche fehlen. Zu diesen Fragen hat uns Albert folgende Erkenntnisse anzubieten: Die Ameisen leben in Scharen. Ihre Aktivitäten sind, ähnlich wie bei Mensch, Wespe, Biene und Kranich, einem einheitlichen Prinzip untergeordnet und von ihm geeint. Dieses Prinzip ist das Gemeinwohl. Im Unterschied zu den genannten, staatenbildenden Lebewesen haben die Ameisen in ihrem Staat keinen König. Sie führen ihre Aufgaben selbständig in der Weise aus, als ob jeder einzelnen Ameise die Sorge um das Gemeinwohl aufgetragen wäre. Die Organisationsform ihres Staates entspräche dem, was man bei den Menschen unter Aristokratie und Plutokratie (timocratia) versteht, in welchen die Lenkungsgewalt über das Gemeinwesen von mehreren ausgeübt wird.61 Es beruht auf ihrer natürlichen Veranlagung, dass sie ohne einen König im Sinne des Gemeinwohls wirken.62 Dem Staatswe-
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Ebd. l. 1 tr. 1 c. 3 § 39, S. 16 Z. 10-24: De his autem quae in unum conferunt operationes, est homo et vespa et apis et fornica et grus. Sed in gruibus minus est manifestum quam in aliis […] alia autem animalia inducta, conferunt multa in unum communitate negotiorum et ciborum, ex quibus communi consulitur utilitati. Horum autem quae sic communicant, quaedam regit rex, cui obediunt, sicut grues et apes et homines. Ista enim habent regem et principem sollicitum circa se de utilitate communi. Quaedam autem gregalium non habent regem, sicut formicae et locustae, quae per turmas egrediuntur concorditer, sicut unicuique eorum per se comissa sit cura communis et urbanitas. Sic et inter homines est duplex urbanitas, regni videlicet quod committitur uni gubernandum, et aristocratiae et tymocratiae, quae sunt urbanitates comissae pluribus, per quas gubernantur. Ebd. § 58, S. 22, Z. 33-40: non agunt actus regiminis istius libere, sed naturae impulsu, propter quod mente et ratione et memoria minus quam alia participantia melius habent regimen vitae, sicut apis quae nichil mentis et parum habet memoriae […] et tamen multa regitur yconomica et monarchia et civilitate. Et quibuscumque quidem hoc a natura inditum est, et quasi nullius disciplinae sunt suceptilia, in commune operantur sine rege, sicut formicae.
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sen der Ameisen liegt nicht wirklich ein Lenkungsprinzip63 zugrunde, sondern dessen Nachahmung. Ihr Agieren wird durch eine natürliche Hinneigung zur Imitation einer Lenkungskraft bestimmt. Sie ahmen zwar die ökonomische Vorsorge nach, indem sie sich um ausreichende, in ihrer Siedlungsstätte abgelegte Güter kümmern, aber diese Nachahmung schließt nicht das eigentliche Ziel der Vorsorge ein. Denn obwohl sie ihre Nester bauen und Vorräte anlegen, tun sie dies nicht, damit diese anderen Artgenossen oder anderen Tierarten nützlich sind. Ein Ameisenhaufen leistet keine Unterstützung für einen anderen, ein Verhalten, das im Gegensatz zum Verhalten der Menschen bei der Ausübung der Lenkungsgewalt in Staat und Volk steht. Sie imitieren zwar einen Staat, indem sie eine ganze Population vereinigen, aber sie tauschen sich weder wechselseitig in ihrem Agieren aus noch teilen sie untereinander Gewinn noch werden sie durch von ihnen beschlossene Gesetze regiert noch richten sie ihr Streben auf die Glückseligkeit als das Ziel.64 Das Lenkungsprinzip sämtlicher Lebensvollzüge wird von den Ameisen unvollkommen nachgeahmt, wobei diese Nachahmung nicht frei, sondern aufgrund eines natürlichen Impulses erfolgt. Die Ameisen zeichnet eine gewisse Klugheit aus, da sie Nahrungsvorräte für die Zukunft anlegen.65 Aber sie seien dennoch völlig schweigsam, stumm66 und nicht lernfähig.67 _____________ 63
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Dieses Lenkungsprinzip wird aus mehreren organischen Kräften gebildet (virtus naturalis, vitalis, animalis); vgl. Albertus Magnus, Quaestiones super De animalibus (Anm. 12) l. 7 q. 3, S. 171 Z. 63 ff., S. 172 Z. 22-24. Albertus Magnus, De animalibus (Anm. 8) l. 1 tr. 1 c. 4 § 55, S. 21 Z. 31 – S. 22 Z. 1: Aliquando autem imitatur in utroque istorum yconomicam, sed non in fine, sicut apis et formica, quae et faciunt casas et replent eas thesauris suis. Sed non referunt hos thesauros, ut organice civilitati aliorum deserviant animalium, sive sint eadem specie cum ipsis sive in diversa sint specie ab ipsis. Unum enim examen apum aut fornicarum non deservit in aliquo alii, sicut habundantiae promptuariorum hominum sibi invicem deserviunt ad regendas civitates et gentes. Ea autem quae civilitatem imitantur congregantia totam gentem suae speciei, non communicant ad invicem opera neque distribuunt sibi invicem lucra neque legibus editis reguntur et gubernantur nec finem felicitatis attendunt, sed imitantur civilitatem in habitatione congregata et defensione communi, sicut grus et anas et sturnus. Ebd. c. 3 § 41, S. 17 Z. 1-4: Quaedam autem prudentia quadam accumulant sibi cibum sufficientem in futurum, sicut formica et mus montanus, cum alia e contra nichil provideant, sicut cicada et passer. Ebd. § 46, 18 Z. 24-26: Quaedam autem animalium omnino sunt taciturna et muta, sicut formica et eruca […]. Ebd. c. 4 § 58, S. 22 Z. 39-40: et quasi nullius disciplinae sunt susceptibilia, in commune operantur sine rege, sicut formicae.
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(2) Bezüglich eines der primären Unterscheidungsmerkmale der Tiere, nämlich der Fortpflanzung, äußert sich Albert über die Ameisen zunächst nur allgemein und sehr knapp. Ähnlich wie die Bienen, schreibt er, zeugen die Ameisen »unvollständige Würmer« (vermes incompleti) – mit »Wurm« meint er hier die Puppen, das weiße, ovale Ei, wie er später sagen wird. Diese »Würmer« ruhen nach der Geburt und beginnen erst nach einigen Tagen, sich zu bewegen. Eine spezielle Behandlung dieser Frage schiebt er für einen anderen Zusammenhang auf, in dem sie von den Ursachen her beleuchtet werden soll.68 (3) Hinsichtlich der Morphologie der Körperteile, die der Fortbewegung dienen, hält Albert fest, dass die Ameise ein Vielbeiner (animal multipes) ist. Ihre Beine seien unter der Brust verbunden, weshalb die Ameisen sich schnell fortbewegen können. Die Kniebiegung wenden sie von der Seite nach außen hin.69 (4) Aus Alberts Beschreibung wirbelloser Landtiere ist über die Ameisen zu erfahren, dass sie zu dieser Gattung gehören und dass sie im Gegensatz zu Wespen und Bienen keine Doppelung der Kerben aufweisen.70 (5) Bei der Untersuchung der Schlauheit und Aktivitäten der Wirbellosen bietet Albert wohl die bedeutendste, ausführlichste und interessanteste Beschreibung der Ameisen. Der Zoologiehistoriker Heinrich Balss hat unserem Autor mit Blick auf diese Darstellung »schöne Beobachtungen« _____________ 68
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Ebd. c. 6 § 77, S. 29 Z. 13-16: Diversitas etiam animalium est penes modos generationis eorum, quoniam quaedam eorum gignunt ova, et quaedam generant vermes incompletos, sicut apes et formicae et pediculi, qui generant lendes […]. Ebd. § 81, S. 30 Z. 38 – S. 31 Z. 4: Animalium autem generantium vermes quidam vermes moventur in eadem hora suae nativitatis, et quidam non faciunt hoc nisi post aliquot dies, sicut vermes formicarum et apum: et de omnibus hiis diversitatibus exsequemur inferius cum ratione subtili causam assignantes omnium dictorum. Albert unterscheidet an einer anderen Stelle zwischen Puppe und Ei des Insekts und korrigiert somit die Auffassung des Aristoteles; vgl. De animalibus (Anm. 8) l. 17 tr. 2 c. 1, § 49-50, S. 1170 Z. 24 – S. 1171 Z. 30. Willehad P. Eckert, »Albert der Große als Naturwissenschaftler«, in: Angelicum, 57/1980, S. 484. Ebd. l. 2 tr. 1 c. 2 § 17, S. 229 Z. 31-37: Hunc autem modum flexionis omne animal multipes imitatur, sicut apis et musca et inauris et multa alia propter eandem causam. Omnia enim talia malae sunt ambulationis. Si qua autem talium sunt multum volocia ut formica et aranea pedes habent sub pectore coniunctos, quasi ad eamdem pixidem: et ideo sunt velociora sed tamen flexuras poplitum suorum ad silvestre lateris convertunt. Ebd. l. 4 tr. 1 c. 1 § 7, S. 360 Z. 8-10: Istius modi enim animal alatum est unum quoddam genus anulosorum: et in isto genere quaedam animalia sunt alata rugosa cum duplicatione rugarum sicut vespae et apes et quaedam non, sicut formicae.
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bescheinigt.71 Lassen wir Albert unkommentiert, aus dem Lateinischen übersetzt, das Wort reden: »Für jeden, der das Werk der Ameisen betrachten will, ist deren kunstvolle und fleißige Tätigkeit offenkundig. Beim Sammeln ihrer Nahrung eilen sie alle stracks auf dem geraden Weg zu ihrem Nest, damit eine die andere nicht behindert, und sie merken sich nur eine Stelle, an der sie ihre Nahrungsbeute zusammentragen. Sie sind in ihrem Arbeitseifer so unablässig, dass sie auch nachts bei Mond arbeiten. Wegen der Kleinheit ihres Kopfes befinden sich ihre Augen auf gewissen Vorsätzen, welche nach Art zweier Haare aus ihrem Kopf ausgehen. Anzeichen dafür ist, dass wenn sie amputiert werden, die Ameise umherirrt, nicht wissend, wohin sie läuft, und wenn sie dann eine andere Ameise erfasst, hält sie sich an ihr mit aller Kraft fest, damit sie durch diese in ihr Nest zurückgeführt werde, und sie lässt sich nicht leicht von ihr trennen. Die Ameisen spüren Kälte, Regen und Sturmwind. Dies zeigt sich darin, dass sie vor deren Eintreten sich in ihre Nester zurückziehen. Wenn sie aber zeugen, sind ihre Eier länglich, gleichsam säulenförmig, die, von ihnen in ihren Nestern gewärmt, sich in kleine Ameisen verwandeln. Wenn man ihre Nester aufmacht, ergreifen sie die Eier und tragen sie fort. Alle Ameisen, Weibchen und Männchen, arbeiten gleichzeitig und scheinen dabei keinen König zu haben, sondern sie gehen alle zugleich scharenweise, so wie die Eidechsen, heraus. Deshalb ist ihre Staatsform nicht wie bei den Bienen, sondern vielmehr wie der Staat derer, bei denen keiner die Obergewalt innehat, alle aber aus ihrer Zuneigung zur Tugend heraus und zugleich dank der natürlichen Güte an einem Ort wohnen und in der Gemeinschaft wirken. Das, was ihnen Schaden zufügt, bespritzen sie mit einer scharfen und brennenden Flüssigkeit, welche auf der Haut des Menschen Pusteln hervorruft, aber anderen Tieren nicht schadet. Das Nest selbst gibt von sich einen scharfen, herben, angenehmen Geruch ab; wenn man darüber neue Latten mit Flaschen legt, zieht der Wein den in die Flaschen eingegangenen Geruch und Geschmack des Ameisennestes an; deshalb auch nennt man einen solchen Wein Ameisenwein. Die Nahrung der Ameise ist der Saft von Früchten und Fleisch, manchmal auch von Kräutern; von diesen Dingen trennt sie auch kleine Stücke ab und trägt sie in ihr Nest.«72
(6) Durch die Anlage von Speisevorräten treffen die Ameisen (wie auch die Bienen) Vorsorge für die Zukunft. Diese Tatsache veranlasst Albert zur Klärung der Frage nach den Ursachen der freien und mechanischen Aktivitäten der Tiere. Es scheine, dass die Ameisen aus Überlegung und Sorge um künftige Nahrungsentbehrung sich derart fleißig betätigen. _____________ 71 72
Balss, Albertus Magnus (Anm. 24), S. 113. Ebd. l. 8 tr. 4 c. 1 § 131-132, S. 626 Z. 31 – S. 627 Z. 32. Vgl. Heinrich Balss, »Die Tausendfüßler, Insekten und Spinnen bei Albertus Magnus«, in: Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, 38/1954, S. 316-317.
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Beides setzt jedoch ein gewisses Verstandeslicht voraus, das Tieren nicht zukommt. Die Antwort ist, schreibt Albert, einfach: Alle derartige Aktivitäten führen die Tiere aus, indem durch sie die Natur aufgrund dessen, was sie sehen und sich vorstellen, wirkt. Mit anderen Worten: Nicht die Ameisen treffen die Vorsorge, sondern diese wird durch die Natur in ihnen bewirkt.73 Alle Tätigkeiten der Tiere, auch von solcher Art, die man bei den Menschen als frei und kunstvoll qualifiziert, sind weder frei noch verstandesgemäß, sondern sie werden durch die Natur bewirkt. Die für die Ameisen eigentümliche Vorsorge hat ihre Ursache nicht in einer Vorüberlegung, sondern im natürlichen Instinkt. Nicht die Mutmaßung eines künftigen Nahrungsmangels ist die treibende Kraft ihrer Agilität, sondern die beständige Begier nach Nahrung. (7) Die Ameisen haben so etwas wie Zähne, wie Albert in seiner Darstellung von Zweck und Eigenschaften äußerer Glieder der Wirbellosen schreibt. Von den Zähnen bewege sich der eine von links und der andere von rechts. Mit den Zähnen fühlen und nehmen die Ameisen die Nahrung auf.74 (8) Ähnlich wie die Bienen zeichnet die Ameisen eine gewisse Klugheit aus, stellt Albert bei seiner Erläuterung verschiedener Arten der Vollkommenheit der Tiere fest. Er verbindet sie mit der zuvor auf den Naturinstinkt zurückgeführten Vorsorge für die Nahrungsvorräte. Aber er hebt hervor, dass sie nicht lernfähig sind, zumindest nicht fähig, von Menschen
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Albertus Magnus, De animalibus l. 8 tr. 6 c. 2, S. 671 Z. 24-25: Et est digressio declarans de causa liberalium et mechanicarum operationum quas haben bruta animalia. Ebd. § 238-239, S. 672 Z. 1217. 24-26: Adhuc autem opera providentiae inveniuntur in quibusdam, sicut formicae et apes thesaurizant cibos: et hoc non videtur posse fieri nisi cum praemeditatione et sollicitudine futurorum defectuum: et constat quod talis praemeditatio non est sine aliquo rationis lumine, quod secundum praecedentia bruta non habent. […] Omnes enim huiusmodi actiones agunt bruta natura agente et ex visis ymaginatis […]. Ebd., S. 673 Z. 3-6: Providentiae autem opera quaedam eorum participant sine omni praemeditatione fururorum, sed naturae instinctu: et quando congregant, non coniecturant futurum temporis defectum, sed ex aviditate cibi praesentis. Ebd. l. 14 tr. 1 c. 1 § 4, S. 952 Z. 32-35: Ea autem quae de numero anulosorum non habent huiusmodi aculeatam linguam, haben dentes quosdam qui moventur unus a dextra et alter a sinistra, per quos accipiunt et sentiunt cibum sicut formicae et ataci et opimaci et apes et vespae.
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belehrt zu werden, da sie sich von der Stimme des Menschen weder locken noch abschrecken lassen.75 Die letzte, enzyklopädische Beschreibung der Ameise bietet Albert in seinem Tierlexikon im letzten Buch des Werkes De animalibus. In dieser konzisen Darstellung, welche sich mit der zuvor (Buch VIII Tr. 4 Kap. 1) gebotenen, ausführlicheren Beschreibung nur in wenigen Punkten überschneidet, ist Albert offensichtlich von Thomas von Cantimpré abhängig.76 Sein enzyklopädisches Dossier über die Ameise liest sich folgendermaßen: »Die Ameise ist ein sehr kleiner Wurm, der mit dem Alter erstarkt. Sie besorgt sich die Nahrung nicht durch Erzeugung wie die Biene, sondern durch Sammeln und Aufheben. Sind trockene Körner, die sie sammelt, zu groß zum Tragen, spaltet sie diese. Ameisen halten stets ihre Wege ein, um sich gegenseitig nicht zu behindern. Feuchte Körner lassen sie trocknen, damit sie nicht faul werden. Sie sehen die Wetterlage vorher, weil sie sich vor dem Sturm in die Nester zurückziehen. Man sagt, dass sie ihre Toten begraben. Sie verabscheuen Schwefel und wilden Oregano derart, dass wenn man sie über deren Nester streut, sie diese verlassen. Mit ihren Biss versprühen sie giftige Flüssigkeit, die Pusteln hervorruft. Manche Ameisen beginnen im Alter zu fliegen. Die Ameise saugt von Früchten und tierischen Körpern, die sie findet und ernährt sich davon. Sie zeugt, indem sie zuerst Eier legt, die zu weißen, in Mäntelchen eingewickelten Würmern werden; aus diesen entstehen auf einer Fläche, die zur Sonne ausgesetzt ist, Ameisen. Im Winter ruht sie von der Nahrung zehrend, für die sie im Sommer vorgesorgt hat.«77
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Ebd. l. 21 tr. 1 c. 2 § 10, S. 1326 Z. 38 – S. 1327 Z. 7: Amplius videmus quaedam animalia quamdam habentia prudentiam circa res sibi conferentes, et tamen indisciplinabilia, sicut patet in apibus quae prudentiam habent magnam in rebus conferentibus, et tamen non disciplinantur, et similiter formicae. Ex prudentia enim contingit quod provident sibi thesauros. Sed quod non veniunt ad voces hominum, et non timent minas ipsorum, nec videntur fugere terribiles sonos, signum est quod sint indisciplinabilia per magisterium hominum: propter quod etiam quidam dicunt quod sonos non audiunt: hoc autem in antehabitis improbatum est, quia videntur sonos audire. Sed quidquid sit de auditu, hoc absque dubio verum est, quod sonos non audiunt ad disciplinam ut per nomina vocari possint et instrui, sicut instruuntur multa animalia sicut canes et symye. . . . Vgl. Thomas Cantimpratensis, Liber de natura rerum, Helmut Boese (Hrsg.), Berlin 1973, S. 303 Z. 6-21. Albertus Magnus, De animalibus (Anm. 8) l. 26 § 16, S. 1586 Z. 17-31: Formica vermis est parvus valde qui hoc habet proprium quod in maiori aetate crescit et virtute. Est autem providus sibi escas quidem non faciens ut apis, sed congregans et condens; grana sicca colligit et condit et si maiora sunt quam vires subpetunt, scindit. Vias ordinate observant ne exeuntes intrantes impediant obviando. Grana etiam humida siccant, ne putrescant. Pronosticantur auras quia ante tempus tempestatis ad casas se congregant.
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Von Thomas von Cantimpré angeregt erwähnt Albert im Anschluss an den Ameisenartikel in seinem Tierlexikon die angeblichen Riesenameisen Indiens, von denen Alexander im Brief an Aristoteles (Epistola Alexandri de mirabilibus Indiae) berichtet. Groß wie Hunde oder Füchse, vierbeinig und mit hackenförmigen Krallen würden sie Goldberge bewachen und Menschen zerreißen, die diese Berge besteigen. Er steht dem Bericht skeptisch gegenüber, da dieser aus seiner Sicht durch die Erfahrung nicht hinreichend abgesichert ist.78 Alberts mosaikartige Darstellungen der Ameise samt den zwei konzisen Beschreibungen aus dem Werk De animalibus ergänzen und beschließen wir mit den Angaben, die wir in seiner Schrift Quaestiones super De animalibus finden. Die Tatsache, dass die Ameisen in Scharen leben, scheint nicht nur ökologisch und durch einen natürlichen Instinkt bedingt zu sein, sondern auch physiologisch. Tiere, die über ein stärker ausgebildetes Einschätzungsvermögen (vis aestimativa) verfügen, schützen sich besser vor Gefahren und treffen besser Vorsorge. Dieses Vermögen, das vom Gehirn als dem Zentralorgan gesteuert wird, ist bei Tieren mit trockener Konstitution (complexio) des Zentralorgans besser ausgebildet. Die Ameisen, wie auch Kraniche und Biene, denen diese psychophysiologische Eigenschaft gemeinsam ist, treten immer in Scharen auf, um den Gefahren auf ihren Wegen oder beim Sammeln der Nahrung besser zu begegnen.79 _____________
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Mortuas dicuntur ferre ad sepulturam. Sulfur et origanum agreste ita abhominantur quod si haec duo pulverizata super domos earum spargantur, casas dimittunt. Morsu suo venenosum humorem spargunt qui pustulas excitat. In senectute etiam quaedam volare incipiunt. Formica etiam sugit fructus et animalium corpora quae invenit et exinde capit nutrimentum. Generando primo ova facit quae in vermes albos paniculis involutos erumpunt, et ex hiis in superficie ad solem expositis formicae nascuntur. Hyeme quiescit cibo quem sibi aestate providit sustentata. Vgl. Balss, Die Tausendfüßler (Anm. 72), S. 316-317. Ebd., S. 1587 Z. 3-7: Si credendum est hiis quae in epistola Alexandri de mirabilibus Indiae scribuntur tunc in India sunt formicae magnae sicut canes vel vulpes quatuor crura habentes et ungues aduncos, et custodiunt montes aureos et homines accedentes discerpunt: sed hoc non satis est probatum per experimentum. Albertus Magnus, Quaestiones super De animalibus (Anm. 12) l. 1 q. 8, S. 85 Z. 34-50: Dicendum, quod quaedam animalia sunt aggregabilia vel sociabilia et quaedam solitaria et quaedam se habent utroque modo. Ad cuius evidentiam intelligendum, quod cum quattuor sint vires sensitivae interiores, scilicet sensus communis et imaginativa, aestimativa et memorativa, et aestimativa est receptiva intentionum, quas sensus non recipit, secundum quod animalia meliorem aestimativam habent, secundum hoc melius sibi cavent et melius provident. Unde quaedam animalia volatilia propter siccitatem cerebri, in quo viget aestimativa, semper sunt in societate, sicut grues et apes. Grues enim transeunt de regione in regionem et ideo propter pericula vitanda in via congregant se in unum. Et similiter apes, ut melius mellificent, et formicae,
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Die Vorsorge, welche die Ameisen treffen, beruht nicht auf einer vorausschauenden Erkenntnis, sondern sie ist eine aktuelle, zukunftsorientierte Handlung, der eine Vorstellung des Gegenwärtigen zugrunde liegt.80 Die in einer Sozietät lebenden Ameisen unterscheiden sich in dieser Hinsicht von den Menschen nicht nur durch den Umstand, dass sie unter sich kein Lenkungsprinzip kennen, sondern auch darin, dass sie ihre Sozietät instinktvoll bilden und nicht wie bei den Menschen aufgrund ihrer Natur, die mit der Urteilskraft vermittelt wird. Deshalb gibt es bei den Tieren weder Politik noch Ökonomie im engeren Sinne.81 Nächtliche Aktivitäten der Ameisen erklärt Albert physiologisch und psychologisch: Sie seien schwach, weshalb sie aus Angst vor Gegnern und Störern mehr nachts als am Tage arbeiten, besonders bei Vollmond, weil sie dann ihre Aufgaben besser unterscheiden könnten.82
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ut grana accumulent et resistant raptoribus mellis et granorum; nam dulce et pingue multos habent insidiatores. Ebd. l. 8 q. 23, S. 196 Z. 40-62: Ulterius quaeritur, utrum formica colligat grana. (1) Et videtur, quod non. Nam si grana colligeret, maxime tempore apto congregationi congregaret, sicut apis tum colligit; sed formica de die quiescit, cum tamen dies convenientior sit ad operandum; ergo etc. (2) Praeterea, si determinetur ad grana colligenda, aut hoc est ratione complexionis aut ratione virtutis sensitivae. Non ratione complexionis, quia sic araneae hoc competeret et aliis eiusdem complexionis; nec ratione virtutis sensitivae per eandem rationem. Restat ergo quaerere, quid determinat formicam ad collectionem granorum. Oppositum dicit Philosophus. Dicendum, quod formica grana colligit. Et ad hoc determinatur pro sua specie, quia operatio facit scire formam, sicut transmutatio materiam. Unde forma causa est operationis, et ideo quae sunt diversae speciei, diversas habent operationes. Nec tamen grana colligit, quia cognitionem futurorum habeat, sed actus praesentes ordinati sunt ad futura, et ideo ex imaginatione praesentium faciunt aliqua, quae ordinantur ad futura. Ebd. l. 1 q. 8, S. 86 Z. 12-20: Sed multa animalia aggregabilia non habent principem, sicut formicae et columbae, quae aggregatae in volando quaerunt cibum. Unde istud faciunt per suam aestimativam. (1) Ad rationes: Ad primam dicendum, quod homo est animal sociale per naturam, sed sua socialitas fit mediante discretione; sed aliorum animalium est instinctu naturae; et ideo alia animalia non habent proprie politicam nec oeconomicam. Ebd. l. 8 q. 23, S. 196 Z. 63-68: formica animal parvae virtutis est, et ideo propter timorem obviantium et impedientium de die maxime laborat de nocte et maxime in plenilunio, quia tunc maxime potest agenda discernere propter plenilunium.
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Schlussbemerkung Alberts Dossier über die Ameise ist umfangreich und vielseitig. Der Doctor universalis strebte nach einer Erschließung all dessen, was über dieses Lebewesen die vorhandenen Wissensbestände, zumeist literarische Quellen zur Tierkunde, boten und was er diesen durch eigene vergleichende Analysen und Schlussfolgerungen sowie durch eigene Beobachtungen und Erfahrungen hinzufügen konnte. Auf diese Weise hat er eine Fülle an Erkenntnissen zusammengetragen und hinzugewonnen, welche die moderne Entomologie zu würdigen weiß, ungeachtet dessen, dass sie diese in vieler Hinsicht korrigieren und ergänzen muss.83
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Die wichtigsten Defizite und Irrtümer in Alberts Darstellung nennt Balss, Die Tausendfüßler (Anm. 72), S. 316-317; vgl. auch Hans-Jürgen Hoffmann, »Zur Geschichte der Entomologie in Köln«, in: Decheniania. Beihefte, 31/1992, S. 41.
An Smets (Leuven)
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona* 1. General presentation During the whole medieval period, hunting was a popular activity and from the end of the 10th c. onwards, practitioners and other authors wrote down their experiences in hunting treatises, especially on falconry.1 These texts were particularly popular in medieval France, where we know of 45 texts translated or composed between the 13th and the 15th c.2 19 of these texts date from the 15th c., of these, only seven can be considered complete, that means they present ornithological data, cynegetic information, hygienic data and medical and other miscellaneous information.3 Of these seven treatises, only two are original,4 which means they do not have a (Latin) source: the Medecine pour faulcons of Adam des Aigles5 and the Fau_____________ * 1
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I would like to thank the audience at the International Medieval Congress at Leeds (July 2008) for all their suggestions. For a general presentation, see An Smets / Baudouin Van den Abeele, »Medieval Hunting«, in: Brigitte Resl (ed.), A Cultural History of Animals in the Medieval Age, Oxford, New York 2007, pp. 59-79. For more information on the French texts, see An Smets / Baudouin Van den Abeele, »Manuscrits et traités de chasse français du Moyen Âge. Recensement et perspectives de recherche«, in: Romania, 116, H. 3/4/1998, pp. 316-367. See José Manuel Fradejas Rueda, Literatura cetrera de la Edad media y el Renacimiento español, London 1998 (Papers of the Medieval Hispanic Research Seminar 13), pp. 8-9. More information on the French texts of the 15th c. can be found in An Smets, »Jean de Francières, Artelouche de Alagona et leurs collègues. Pour une étude des traités de fauconnerie français du XVe siècle«, in: Alex Vanneste / Peter De Wilde / Saskia Kindt / Joeri Vlemings (eds.), Memoir en temps advenir. Hommage à Theo Venckeleer, Leuven, Paris, Dudley, MA 2003 (Orbis supplementa 22), pp. 301-312. Adam des Aigles, Traité de fauconnerie, Åke Blomqvist (ed.), Karlshamn 1966 (Studia romanica holmiensia 5).
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An Smets
connerie of Artelouche de Alagona. It is this second text which forms the subject of the present contribution. The author of this text is mentioned on the first page of the printed versions as Messire Arthelouche de Alagona, Seigneur de Maraueques, Conseiller & Chambellan du Roy de Sicille. Maraueques stands for ›Meyrargues‹,6 a little village 12 km north of Aix-en-Provence (Bouches-du-Rhône). According to Françoise Féry-Hue,7 the Roy de Sicille, who is also mentioned on the first page, is Alfonso V of Aragon. But it was by following René of Anjou, his political enemy,8 that Artelouche left Italy in 1442. Afterwards, in 1443, René of Anjou made him lord of Meyrargues. It was there that Artelouche wrote his falconry treatise.9 The manuscript of Montpellier10 adds to this introduction a dedication to the count of Vaudémont.11 Vaudémont is a small village in the north of France (department of Meurthe-et-Moselle, region of Lorraine).12 From _____________ 6
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Jean Richard mentions that the ms. Paris, Bibliothèque nationale de France, fr. 2005, contains the correct name (Meirargues). Cf. Jean Richard, »La Fauconnerie de Jean de Francières et ses sources«, in: Le Moyen Âge, 59/1963, pp. 893-902, here p. 894. See also Meyrargues, 1996-2008: www.provenceweb.fr/e/bouches/meyrargues/meyrargues.htm (accessed 26 Jan 2008). Françoise Féry-Hue, »Artelouche de Alagona«, in: Geneviève Hasenohr / Michel Zink (ed.), Dictionnaire des lettres françaises. Le Moyen Age. Edition entièrement revue et mise à jour, Paris 1992 (11964), p. 99. When Alfonso V finally sacked Naples, René of Anjou went back to France. Cf. Sylvie Lefèvre, »René d’Anjou«, in: Hasenohr/Zink (eds.), Dictionnaire des lettres françaises. Le Moyen Age (fn. 7), pp. 1258-1260. For more information on the family de Alagona, see Richard, La Fauconnerie de Jean de Francières (fn. 6), pp. 893-894. This period does not correspond to the dates mentioned in some manuscripts. Indeed, according to the colophon of the Torino ms. (fol. 32v), the text was copied in 1542: Cy finist le present livre de faulconnerie lequel ay escript moy [...] Jehan Fabre natif de Carpentras l’an mil cinq cens quarante deux, whereas the manuscripts of Yale University mention 1502 (ms. 162) and 1504 (ms. 667). But these dates probably indicate the period of copying, not of the redaction of the text. See Yale University, Ms. 162, Artelouche de Alagona etc., s.d.: http://webtext.library.yale.edu/beinflat/pre1600.MS162.htm and Yale University, Ms. 667, Artelouche de Alagona Fauconnerie, s.d.: http://webtext.library.yale.edu/beinflat/pre1600.MS667.htm (accessed 20 Sept 2007). Montpellier, Bibliothèque Interuniversitaire, Faculté de Médecine, H 459, fol. 1. Monseigneur le conte du Vandemont, je Arteluche de Lagona me recommande a vostre seigneurie. Communes.com, Commune Vaudémont, 1997-2008: http://www.communes.com/lorraine/meurthe-et-moselle/vaudemont_54330/ (accessed 16 Nov 2008).
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona
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1458 on, the count of Vaudémont was Ferry II of Lorraine (ca. 14281470), who married Yolande of Anjou, daughter of René of Anjou, in 1444 or 1445.13 This allows us to make a connection between this family and Artelouche, despite the large distance between Meyrargues and Vaudémont, and probably means that the treatise was written between 1458 and 1470 (death of Ferry II). The treatise has come down to us in nine manuscripts14 and several printed editions dating from between 1567 and 1628. Most of the printed editions belong to a compilation by Guillaume Bouchet,15 and often follow the second version of the falconry treatise of Jean de Francières, which has yet to be edited.16 For the study of this text, we used the edition of 1618 as our main source,17 completed sometimes with manuscript copies.
_____________ 13
14
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16
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Michel François, Histoire des comtes et du comté de Vaudémont des origines à 1473, Nancy 1935, esp. pp. 226-227 and Michel Parisse, »Vaudémont«, in: Lexikon des Mittelalters Bd. 8/1997, cc. 1436f. Le Mans, Bibliothèque Municipale, B 79; Marseille, Bibliothèque Municipale, 1009 and collection Clapiers; Montpellier, Bibliothèque Interuniversitaire, Section de médecine, H 459; New Haven, Yale University Library, Beinecke 162 and 667; Paris, Bibliothèque nationale, fr. 2005 and fr. 25342, and Torino, Archivio di Stato, J.a. IX 4 (cf. Smets/Van den Abeele, »Manuscrits et traités de chasse« (fn. 2), p. 340) and An Smets / Laurent Brun, Artelouche de Alagona, 2008: http://www.arlima.net/ad/artelouche_de_alagona.html (accessed 26 Febr 2008). The ms. Beinecke 667 is mentioned as sold at the auction of the collection of Marcel Jeanson in Smets/Van den Abeele, »Manuscrits et traités de chasse« (fn. 2), p. 335, cf. Yale University, Ms. 667, Artelouche de Alagona Fauconnerie (fn. 9). There are eight different editions of this compilation dating from between 1567 and 1628. The compilation consists of the falconry treatises by Jacques du Fouilloux, Jean de Francières, Guillaume Tardif, Artelouche de Alagona and Guillaume Bouchet himself (cf. Richard, »La Fauconnerie de Jean de Francières« (fn. 6), p. 893). Féry-Hue, Artelouche (fn. 7), p. 99. See Richard, La Fauconnerie de Jean de Francières (fn. 6) and Rolf Wistedt, Le Livre de fauconnerie de Jean de Fransières. L’auteur et ses sources, Lund 1967 (Filologiskt Archiv 11) for more information on the text of Jean de Francières. Artelouche de Alagona, Fauconnerie, Paris 1618.
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2. Content The treatise of Artelouche de Alagona is divided into 39 chapters: four deal with the different kinds of birds of prey, four with training, and no less than 31 chapters concern the health of birds of prey and different ailments to which they are susceptible, including one chapter on moulting. Concerning the different kinds of birds of prey, Artelouche starts with the sparrow hawk (espervier), which is not surprising, as this bird was especially popular in Italy,18 where the author lived for a long time.19 Artelouche talks about the place of birth and its effects on the bird (e. g. a sparrow hawk born in a cold and humid place is rather big and strong). The author also pays much attention to the physical aspects, and especially to the different colours of the sparrow hawk. Concerning the sparrow hawk, there are no correspondences to the Latin texts studied by Baudouin Van den Abeele,20 so Artelouche probably did not use these Latin texts as sources for his chapter on the sparrow hawk. The second chapter is dedicated to the goshawk (autour). Artelouche again begins with some remarks about the place of birth and comes to virtually the same conclusions as for the sparrow hawk: the boldest birds come from cold and humid places. This observation can also be found in some Latin treatises such as the De animalibus of Albertus Magnus21 and the Autourserie of Berlin.22 Afterwards, Artelouche gives a physical description of the goshawk: blackish tongue, long head and neck, wide shoulders, round chest, tail of average length, etc. The two following chapters concern different species of falcons: the peregrine falcon and the faucon gentil in chapter 3 and seven further species _____________ 18 19
20 21
22
Baudouin Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge. Connaissance, affaitage et médecine des oiseaux de chasse d’après les traités latins, Paris 1994 (Sapience 10), p. 85. He was count of Policastro and Agnati (Féry-Hue, Artelouche (fn. 7), p. 99). However, in the Torino manuscript, the first chapter concerns the goshawk and the second the sparrow hawk. Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), pp. 83-86. Chapter De accipitre. Scias autem quod huius avis natura praecipue confortatur in Aquilonis partibus et ibi hee aves fortiores sunt et maiores (Albertus Magnus, De animalibus libri XXVI, 2 vols., Hermann Stadler (ed.), Münster 1916-1920 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters 15-16), p. 1438). Cf. Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), p. 81.
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in chapter 4: ›saffire falcon‹ or faucon saffir, gyrfalcon or gerfaut, lanner falcon or lasnier, saker falcon or sacre, and, finally, the ›black‹ and ›white falcon‹ or faucon noir et faucon blanc. Chapter 3 gives some information on the mew and describes the physical characteristics of the peregrine: large shoulders, small feathers, big eyes, big feet, etc. On the other hand, Artelouche does not give physical details of the gentil, but seems to assume that these characteristics are widely known, for he writes in the next chapter that the zechart falcons ont les signes de Gentils (ch. 4, fol. 89r). Also in the next chapter, Artelouche states that the gentil is better than the peregrine. By treating these two falcons together and – at the same time – placing them in a chapter of their own while all the other kinds of falcons are discussed together in chapter 4, Artelouche de Alagona highlights their importance and acknowledges certain resemblances between them, while also pointing out the differences. Because of these differences, Artelouche seems to view them as two different species of falcons, whereas in other treatises faucon pèlerin and faucon gentil are treated as synonyms or at any rate in a relationship of hyperonym to hyponym.23 As for the other falcon species, Artelouche sometimes gives ornithological details (specifying, for instance, that the feathers of the saffire falcon are longer than its tail) and some descriptions contain items of hunting information – the saker falcon is said, for example, to hunt the crane. But this chapter mainly outlines and compares the qualities of the different falcons. So we read that the gentil is better than the peregrine (cf. supra). Further, we learn that the black falcon is the smoothest (coullant), the white the most peaceful and the lanner the most courteous.24 On the other hand, the saker falcon has the highest degree of goodness. None of these birds, however, can compare to the gyrfalcon, falcons which Artelouche considers as les plus nobles oiseaux du monde.25 _____________ 23 24
25
Cf. Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), p. 58 and infra; see pp. 56-73 for the identity of several species mentioned here. This positive characterization is in contradiction with the generally negative view of this bird adopted by the majority of falconry treatises – especially the French ones (Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), pp. 63-64). This is said about the zechart, but zechart should be interpreted as gerfaut (cf. infra). Cf. Artelouche, Fauconnerie (fn. 17), ch. 4, fol. 89r.
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The identification of these different kinds of falcons is not always easy and remains sometimes hypothetical. It is clear that Artelouche used different sources to write his treatise (cf. infra). There is no doubt about the peregrine falcon, which is the falco peregrinus. The text, however, does not give enough details to allow to ascertain which subspecies of the peregrine falcon is meant. As for the faucon gentil, certain authors (Guillelmus, Frederick II etc.) consider it as the subspecies falco peregrinus germanicus, while others treat them as two different species.26 An exact identification seems difficult on the ground of so little data, so we can only assume that, given the stress on the differences, we are at least dealing with two different subspecies of the falco peregrinus. The next falcon is the ›saffire falcon‹ or faucon saffir. This species is not widespread, but we do also find the falco zaffir in the Latin treatise of Bragadino (ch. 23),27 where this bird can be identified with the falco peregrinus babylonicus, an oriental subspecies of the peregrine falcon. As this description immediately follows those of the peregrine and the gentil falcon and also contains a comparison with the peregrine, this identification seems plausible. The next one is the gyrfalcon (falco rusticolus). The first mention is spelled zerchart,28 but this seems to be a corrupted form for gerfaut, the right spelling used only three words further.29 One of the reasons why it seems plausible that zerchart and gerfaut refer to one and the same species is the fact that Artelouche writes that the zechart sont les plus nobles oiseaux du monde (cf. supra), a possible reference to Frederick II, who already characterized the gyrfalcon as the biggest, strongest, quickest, etc. of all falcons.30 Then comes the lanner falcon, followed by the saker falcon. These _____________ 26 27 28 29
30
Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), p. 58. Ms. New Haven, Yale University Library, Beinecke 232, fol. 14v. I would like to thank Baudouin Van den Abeele for having lent the microfiches of this manuscript. zagari in the Torino ms. (fol. 2v). As far as we know, no other Latin or French treatise contains the form zerchart. The only other form which does resemble a bit is zaganus, which appears (only) in the Latin treatise by Archibernardus, and could have been used for the saker falcon in some Byzantine treatises (Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), pp. 72-73). However, we prefer an identification with the gyrfalcon. Girofalci autem, quia sunt maiores, fortiores, audaciores et velociores omnibus aliis falconibus (Carl Arnold Willemsen, Über die Kunst mit Vögeln zu jagen. Kommentar zur lateinischen und deutschen Ausgabe, Frankfurt a. M. 1970, p. 208). According to Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen
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birds can be easily identified: the first one is the falco biarmicus, the second the falco cherrug.31 The last two falcons are the black and the white falcon. These birds, which appear for the first time in the treatise of Dancus rex,32 are more problematic. The black falcon is once again a peregrine falcon, but the subspecies cannot be defined. As for the white falcon, two identifications are possible, either the Scandinavian subspecies of the peregrine (Falco peregrinus peregrinus Tunst.), or the gyrfalcon of Greenland (Falco rusticolus candicans Gm.). Following the presentation of the different birds of prey, Artelouche dedicates the next four chapters to the training of the birds: first the goshawk and the sparrow hawk (ch. 5 and 6), then the falcons (ch. 7) and finally all the birds of prey (ch. 8). There are four chapters on the different kinds of birds and four on training, but these last chapters are more than twice as long (three versus six and a half pages). It is clear that this is an essential issue for Artelouche, and, accordingly, his information is very detailed. The most vital topic, however, is found in the last part which contains medical information. This comes as no surprise as medical data are very important in all falconry treatises with the exception of the De arte venandi.33 Artelouche starts with some chapters treating general questions, such as how to keep a bird healthy or how to recognize the signs of ailments (ch. 9-14). Afterwards (ch. 15-39), he discusses specific ailments but in no discernible order, for instance, the different parasites are not grouped together.34 We find worms in chapter 20, moths in chapter 27 and lice in chapter 39. This part also contains several chapters dealing with food: good and bad meat (ch. 31-33), bacon (ch. 38) or the types of meat which will enhance the appetite of a bird, have laxative effects, comfort it or – most importantly – to ensure that the mew will go smoothly (ch. 34-37). _____________ 31 32 33 34
Âge (fn. 18), p. 59, Frederick II even uses the expression nobilissima avis for the gyrfalcon, but we do not find it in the treatise. Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), pp. 63-64 and 70-71. Dancus rex, Guillelmus Falconarius, Gerardus Falconarius. Les plus anciens traités de fauconnerie de l’Occident, Gunnar Tilander (ed.), Lund 1963 (Cynegetica 9), pp. 86-89. Van den Abeele, La fauconnerie au Moyen Âge (fn. 18), pp. 173-174. For a lexical analysis of parasites in falconry treatises, see An Smets, »Poux, vers et vermine: ces parasites qui infectent les oiseaux rapaces. Une étude sémantique basée sur un corpus de traductions cynégétiques«, in: Médiévales, 51/2006, pp. 97-118.
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The subject dealt with in these last chapters is also related to chapter 29, which more generally deals with the complexions of the black, white and red falcons (although Artelouche did not mention the red falcon before). One of the characteristics of the medical recipes in this treatise is the mix of Latin and French terms. Indeed, sentences such as une pillule faicte de gomma balsamico, & castoreo, cum succo mentastri, & leur mettoit en la gorge une pierre de castoreo (ch. 16, fol. 95r) or Et aucuns font tremper armoniacum in aceto (ch. 21, fol. 97v) are not exceptional. 3. Sources In the paragraph on the different kinds of falcons we encountered a number of resemblances between the treatise of Artelouche and some older falconry texts. At this point, I wish to deal with this topic in a more detailed way. Of course, the medieval view of authority and sources differed significantly from the modern one, and as sources were often not or badly indicated, it is not always easy for the modern scholar to find the sources the medieval author used.35 The search for sources, therefore, can be considered a ›work in progress‹, as it is always possible to make new discoveries. In this section, we will consider firstly the sources mentioned by Artelouche (3.1), and secondly those which he does not mention or which he passes over in silence (3.2). 3.1 Sources mentioned by the author The dedication of the Montpellier manuscript (fol. 1) includes the following sentence: Je vous mande cest petit livre abregé de la medecine des oyseaux de rapure, extrait de bien vingt livres qui traictent de ceste matiere, lesquelz livres ont esté faiz en divers regions selon les anciens qui ont escript [...].
_____________ 35
For more information about collecting sources, see e. g. Erwin Huizenga, Bitterzoete balsem. Geneeskunde, chirurgie en farmacie in de late middeleeuwen, Hilversum 2004, pp. 50-51.
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Apart from some general indications such as aucuns fauconniers or even aucuns or plusieurs,36 Artelouche does indeed refer to specific sources he used during the redaction of his text. However, the sources he mentions do not amount to 20 (or more) names: Armodeus les Florentins les Allemans Fauconniers de terre d’Oriente le Soldan Jacob de Mestrette Nicolas Cassian Moymon fauconnier Arabique Anthonel / Anthoine Spinello Razis le Roy Daucus Iohannes Serpaion
ch. 1 (2), ch. 36 ch. 1 (2) ch. 6, 7 (2), 39 ch. 7 ch. 7 ch. 8 ch. 15 ch. 16 ch. 16 ch. 18, ch. 21 ch. 23 ch. 30 (2) ch. 36
The names on this list can roughly be divided in two groups: names of individuals and names containing a geographical indication. The first category contains the names Armodeus, Jacob de Mestrette, Nicolas, Cassian, Moymon fauconnier Arabique, Anthonel Spinello, Razis, le Roy Daucus and Iohannes Serpaion, whereas les Florentins, les Allemans and les Fauconniers de terre d’Oriente refer to people living in a certain region, as does the title le Soldan. Unfortunately, three names on the first list are unknown to us: Armodeus,37 Jacob de Mestrette and Anthonel Spinello.38 The other individuals can be split into two groups: medical authors on the one hand (Nicolas, Razis and Iohannes Serapion), falconers on the other (Cassian, Moamin and Dancus). The individual referred to as Nicolas was the Salernitan physician Nicolaus de Aversa, assessed to be the author of the Antidorium Nicolai, a _____________ 36 37
38
aucuns fauconniers ch. 4, fol. 89 and ch. 28, fol. 99, aucuns ch. 4, fol. 89 and ch. 21, fol. 97-97v, plusieurs ch. 19 fol. 96v. There is a reference to Armodeus in a falconry treatise of the 19th c. by G. Foye, Manuel pratique du fauconnier au XIXe siècle contenant tout ce qu’il faut …, Paris 1886, p. 63, but this author based his reference on the treatise of Artelouche. See: http://books.google.be/books?id=Gx5IAAAAIAAJ&q=armodeus&dq=armodeus&pgis=1 (accessed 7 Jun 2008). According to an e-mail from Baudouin Van den Abeele (21 Aug. 2008), the name of »Espinello« is mentioned in the French treatise by Charles Lescullier, but his source might be Artelouche de Alagona. To date, I have not been able to check this information.
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well-known recipe book dating from the end of the 12th c.,39 Razi (= Rhazes) was a Persian physician and philosopher (ca. 860-ca. 923)40 and Iohannes Serapion or Serapio Iunior, who died ca. 864, was the author of a Liber de simplici medici.41 It is, however, not easy to trace the exact passage to which Artelouche is referring when he mentions these medical authors. For example, he cites the livre de Nicolas when describing medicine for birds suffering from catarrh (ch. 15, fol. 94v): luy donnez des pillules de yera ex octo rebus, ou des pillules cochées, […] & les trouverez au livre de Nicolas. However, the Antidotarium Nicolai mentions several types of yera.42 All are used for ailments similar to catarrh, but all also contain more than the eight ingredients mentioned by Artelouche. Moreover, the synonym pillules cochées is mentioned nowhere in these recipes. Therefore, the simple reference to the livre de Nicolas does not allow us to identify the exact passage to which Artelouche is referring. Afterwards, Artelouche several times mentions the yera pigra, and more specifically the yera pigra Galeni (des pillules de yera pigra Gaveli […] poudre d’yera pigra de Galeni, ch. 17, fol. 95-95v), named after the famous Greek physician of the second century AD,43 and these ingredients, of course, refer to the yerapigra Galyeni of the Antidotarium Nicolai. _____________ 39
40 41
42
43
Françoise Féry-Hue, »Antidotaire Nicolas«, in: Hasenohr/Zink (eds.), Dictionnaire des lettres françaises (fn. 7), pp. 74-75, cf. Dietlinde Goltz, Mittelalterliche Pharmazie und Medizin. Dargestellt an Geschichte und Inhalt des Antidotarium Nicolai, Mit einem Nachdruck der Druckfassung von 1471, Stuttgart 1976 (Veröffentlichungen der Internationalen Gesellschaft für Geschichte der Pharmazie e. V. 44) and L’Antidotaire Nicolas. Deux traductions françaises de l’Antidotarium Nicolai: l’une du XIVe siècle, suivie de quelques Recettes de la même époque et d’un Glossaire, l’autre du XVe siècle, incomplète. Publiées d’après les manuscrits français 25,327 et 14,827 de la Bibliothèque Nationale, Paul Dorveaux (ed.), Paris 1896. Paul Robert / Alain Rey, Le petit Robert 2. Dictionnaire universel des noms propres alphabétique et analogique, illustré en couleurs, Paris 81984, p. 1519. Claudia Fabian, Personennamen des Mittelalters – Nomen Scriptorum Medii Aevi – PMA. Namensformen für 13000 Personen gemäss den Regeln für die Alphabetische Katalogisierung (RAK), München 22000, p. 615. See also Gundolf Keil, »Serapion, [3]Serapion junior«, in: Lexikon des Mittelalters Bd. 7/1999, cc. 1775f. yeralogodion, yera rufini, yerapigra – divided in turn into three varieties – and yera fortissime Galieni in the Latin version. The first three also occur in the French version, cf. Goltz, Mittelalterliche Pharmazie und Medizin (fn. 39), p. 219 and L’Antidotaire Nicolas (fn. 39), pp. 35-36. According to L’Antidotaire Nicolas (fn. 39), p. 97, yera comes from ἱερὰ ἀντίδοτος or »sacred antidote« in Greek, a name given by the people of the Antiquity to several confections. Robert/Rey, Le petit Robert 2 (fn. 40), p. 699.
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Rhazes is also an eminent authority. We know of more than 100 treatises he has written.44 Of course, it is impossible to find the exact paragraph to which Artelouche is referring, since he only mentions the author’s name but does not specify the work he has in mind. A similar problem occurs with Iohannes Serapion. He is the author of just one treatise, the Liber de simplici medici or Liber aggregatus in medicinis simplicibus,45 but I have not been able to locate the exact passage from which Artelouche might have taken his information. It is much easier to trace the exact relationships between the text of Artelouche de Alagona and the falconry treatises, at least those of Moamin and Dancus rex. The Arab treatise by Moamin was translated into Latin by Theodore of Antioch at the court of Frederick II and afterwards translated into several romance languages. Its importance for Artelouche was already indicated by Françoise Féry-Hue.46 The name of the falconer is cited in chapter 16 (Et Moymon fauconnier Arabique luy donnoit une pillule […], ch. 16, fol. 95r), but Moamin’s text is clearly the main source for the medical chapters 10-14 (fol. 93r-94r), even if his name is not mentioned there (see the annex for a detailed list of the correspondences between the texts). The second falconry source is Dancus rex, a very popular therapeutical treatise. It was written in Latin in the 12th c. at the court of Sicily, and afterwards translated into several European languages.47 The name of Dancus (or Daucus) is cited twice in chapter 30: (1) Artelouche 30 Tous cauteres se doivent donner en Mars, si ce n’est pas necessité pour tenir les oiseaux sains. […] Le Roy Daucus appliquoit le cautere au milieu des reins en la fossette qui est celle part […] Les cauteres presque de toutes infirmitez se doivent donner les veines lacees, & cauteriser le lieu où les infimitez sont soupçonnees. Le Roy d’Aucus, avec tous les autres cauteres leur
Dancus 26.3-5 Cauteriza prius sub oculis et confert visui, postmodum in sumitate capitis pro dolore // et supra nodum ale pro gutta [et in renibus pro gutta]48 et in planta pedis pro gutta. // Et iste cauteriçationes faciende sunt in mense marcii (p. 104).
_____________ 44 45 46 47 48
See also Heinz Schipperges, »Rhazes«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7/1999, cc. 780-782. The edition of 1473 is available on www.gallica.fr (accessed 10-12 Jun 2008). Féry-Hue, Artelouche (fn. 7), p. 99. Smets/Van den Abeele, Manuscrits et traités de chasse (fn. 2), pp. 342-343. Fragment between brackets: lacuna in the Latin manuscripts CNPTVXYZ.
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perçoit les narilles de part en pa[r]t, avec un cautere bien subtil (fol. 100r).
The first reference in particular shows a clear relationship between the two texts, but it is also clear that Artelouche did not translate the text of Dancus rex literally. Apart from this reference, there are also other passages where Artelouche used some material gleaned from Dancus rex without citing his source: (2) Artelouche 29 Et parce que les Faucons noirs sont melancholiques, ils doivent estre medecinez avecques medecines chaudes & humides, pour cause de la complexion qui est froide & seche : comme aloës, poyvre, chairs de coqs & de coulombs, passereaux, chevre ou chevreau. Les Faucons blancs sont flegmatiques & se medecinent avec les medecines chaudes & seiches pour cause du flegme, qui est froid & humide : c’est à sçavoir, avec cynamome, garofili, sirelis montani, cardomi, chair de bouc & de corneilles. Les Faucons roux sont sanguins, coleriques, & se doivent medeciner par medecines froides & attrempees en humidité & seicheresse, comme sont mittile, amarici, cassia fistula, acetum, chairs de poules & d’aigneaux (fol. 99v-100r). (3) Artelouche 37 Des choses qui font muer. Prenez une Couleuvre, & luy taillez un peu de la teste, & autant de la queuë, & du milieu paissez vostre
Dancus 17.6-11 Omnes falchones qui habent pennam nigram sunt mellancolici. // Convenit medicari cum medicinis calidis et humidis, sicut sunt aloe, piper paulinum, carnes pulli magni, passeres, columbi magni et capre magne et yrci.
Omnes falcones qui habent pennam albam sunt flegmatici et scici. // Convenit medicari cum medicinis calidis et scicis, sicut sunt piper, cuminum, cinamomum, [gariofoli, sirmontanum, tymi, cardamomum,]49 carnes yrci, cornicule et nilvi rubei, frexones, piccarusuli et carnes grandium animalium et passeres magni. Omnes falcones qui habent pennas rubeas sunt sanguinei, sic convenit medicari cum medicinis frigidis et humidis, sicut sunt // mortina, tamarendi, medula cassiafistule, manna, et omnia ista in aceto, carnes pulline, agneline, camici, agirones et scarças (p. 86-88).
Dancus 7.5-6 De gutta filera. Accipe serpentem nigrum et incide ad mensuram palme unius a capite et tantumdem
Dancus fr. II 7.5-650 De fallera. Medecine : Pren une couleuvre noire et luy toulle une paulme de la teste et une paulme de la
_____________ 49 50
Fragment between brackets: only in the Latin manuscripts NPTVY and in the margins of manuscript U. Traductions en vieux français de Dancus rex et Guillelmus falconarius, Gunnar Tilander (ed.), Karlshamn 1965 (Cynegetica 12), p. 34.
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oiseau : car cela fait bien muer & tout entierement (fol. 101).
a cauda, et tolle illud de medio … (pp. 68-70)
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queue, et pren ce du millieu …
It is possible that Artelouche also based the following passage on the text of Dancus rex: (4) Artelouche 4 Que si un Villain de quelque condition qu’il soit, se trouve bon, il est meilleur que les autres (fol. 89r).
Dancus 18.6 Quando vides falchonem rusticum bonum esse, poteris venari cum eo securius quam cum nobili (p. 90).
As for the third falconry text, the situation is more complicated. Ayme Cassian was a knight of Malta who lived in the first half of the 15th c. His falconry treatise, of which three copies are known,51 is still unedited.52 Artelouche mentions his name in chapter 1653 when discussing epilepsy, but neither of the two copies I was able to consult (the Narbonne and the Paris mss.) contains such a chapter.54 The first of the geographical references is to les Florentins, a source mentioned twice in chapter 1. But instead of considering a whole group, Artelouche here refers to a well-known Florentine scholar, Brunetto Latini. There are indeed some resemblances between his Livre dou tresor55 and the Fauconnerie, although the passages in Artelouche are longer and the references to les Florentins do not always figure at the exact spot where the relationship between the two texts is close: (5) Artelouche ch. 1 Les Florentins disent que les esperviers qui ont la croix sur les doigts, specialement sur la serre du milieu, en ceste forme X, sont les meilleurs pour estre avantageux & bons. L’Espervier qui a treze pennes en la queuë,
Brunetto Latini 148, 1-2 se il a aucune crossete en mi le moien artil destre, la ou l’aschaille se part, car ce est signe de grandisme bonté & sachiés tant des esperviers, que cil qui a
_____________ 51 52 53 54
55
Montpellier, Bibliothèque Interuniversitaire, Faculté de Médecine, H 453; Narbonne, BM, 6 and Paris, Bibliothèque nationale de France, naf. 4506. Smets/Van den Abeele, Manuscrits et traités de chasse (fn. 2), pp. 340-341. Artelouche, Fauconnerie (fn. 17), fol. 95. The remedy Artelouche recommends here is a mixture of the yera pigra already mentioned and juice of absinthe. Ayme Cassian mentions the yera pigra twice in the Paris manuscript (girapigre fol. 74 and – added by a later hand – jerapyqua (?) fol. 80v ), but not together with absinth. Brunetto Latini, Li Livres dou Tresor, Spurgeon Baldwin / Paul Barrette (eds.), Tempe 2003, p. 120.
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& sur le iaune du bec a une tache noire, comme un grain de poyvre, sont deux signes pour estre bons. [...] Selon les Florentins, l’Espervier qui à [sic] la couverte noire, & pennage de travers roux, & la maille noire & blanche entremeslee, brayer net, est des meilleurs qui se trouvent, & sont appellez blancs-noirs. [...] L’Espervier qui a le col long & plus estendu, est tenu & reputé pour lasche voleur (fol. 88r)
longue coe est coars, mes il vole tost, & cil qui a .xiii. penes en la coe est tosjors mieldres des autres, & miels volans, & plus tost consuit sa proie
The passages on the cross (crossete / croix) and the thirteen feathers of the tail are clearly related, but Artelouche changes the meaning when discussing the coward sparrow hawk: the coe (›tail‹) of Brunetto Latini reappears as col (›neck‹) in the text of Artelouche. As the two words coe and col are spelled in almost the same way, it seems very likely that this transformation was caused by a palaeographic confusion.56 The second ›geographical source‹ named is les Allemans: (6)
ch. 6
Les Allemans trouvent les Tiercelets plus vaillants & plus legers que les Autours, pour Perdrix & Faisan (fol. 90r)
(7)
ch. 7
Les Allemans font tirer le Faucon soir & matin, mais les Fauconniers de terre d’Oriente sont de contraire opinion, & disent que ce leur faste les reins. (fol. 91r)
(8)
ch. 7
Les Allemans font voller la Pie avec trois ou quatre Faucons, & les font monter & battre comme pour riviere, en lieu plein et sans arbres: mais il doit y avoir des petits buissons (fol. 91v).
(9)
ch. 39
Pour lever & oster les poulz. Recipe piperis part .i., cineris part .ij. Et avec eau chaude soit lavé par tout le corps, & luy gardez bien les yeux. Les Alemans les orpimantent tout à sec, & ce est bon pour temps chaut (fol. 101v)
Only example (6) concerns the goshawk,57 which is quite surprising, because all the original German treatises deal exclusively with goshawks and omit falcons entirely.58 However, it is possible that Artelouche is referring here to lost texts, oral sources or translations of Latin works written by _____________ 56 57 58
The ms. Torino, Archivio di Stato, J.a. IX.4 also has the form col. This example contains a comparison between the tiercelet and the goshawk (autour), or, in other words, between the male goshawk and the female. Baudouin Van den Abeele, La littérature cynégétique, Turnhout 1996 (Typologie de sources du moyen âge occidental 75), p. 52.
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69
Germans. An example of this last case is the falconry treatise by Albertus Magnus, but at first sight there does not appear any direct relationship between this text and the passage mentioned here. I have not been able to trace any other sources.59 The third and last group of ›geographical sources‹ are the Fauconniers de terre d’Oriente, mentioned in example (7) above, in juxtaposition with the Germans. Another name which reveals oriental origins is le Soldan, also mentioned in chapter 7. Soldan (or soudan) is indeed the Middle French form of sultan, on which the DMF1 includes no less than 9 articles citing different examples from the 14th and the 15th c.60 Unfortunately, I did not find any source for the reference to the Fauconniers de terre d’Oriente, but I do discover a parallel for the text of the sultan. The author of this text is not a sultan, but an emperor, to be precise, Frederick II: (10) Artelouche ch. 7 Le Soldan fait voller les Gruës, les Oyes, & les Bistars, avec deux ou trois, ou quatre Faucons, ou plus du poing, & de toutes generations de Faucons, Sacres, Gerfaux, Villains, & Pelerins (fol. 91v)
Frederick II, De arte venandi P I.1661 Amplius omnes aves rapaces possunt doceri per hanc artem capere maiores aves, ut grues, bistardas, anseres et maiores alterius maneriei »Par cet art, on peut duire tous les oiseaux rapaces à chasser de plus grands oiseaux comme des grues, des outardes, des oies et d’autres grands oiseaux, d’une autre façon qu’ils ne le feraient d’euxmêmes.«62
The bustard is not mentioned very often in falconry treatises63 and the Latin text of the De arte venandi is the only one to feature the combination _____________ 59
60 61 62
63
The use of orpiment against lice (8) is a remedy mentioned in several treatises, but mainly in French ones. See An Smets, »Le ›prince guérisseur‹: sur Molopin, Michelin et ›leur‹ Livre du Prince«, in: José Manuel Fradejas Rueda (ed.), Los libros de caza, Tordesillas 2005 (Estudios y ediciones 6), pp. 177-197, especially pp. 193-194. »Soudan«, in Dictionnaire du moyen français, www.atilf.fr/dmf/ (accessed 1 Jun 2008). These articles also contain references to Tobler-Lommatzsch and the FEW. Friderici Imperatoris Secundi, De arte venandi cum avibus, Carl Arnold Willemsen (ed.), Leipzig 1942. I, p. 5. Frédéric II de Hohenstaufen, L’art de chasser avec les oiseaux. Traduction intégrale en français du traité de fauconnerie De arte venandi cum avibus, Anne Paulus / Baudouin Van den Abeele (eds.), Nogent-le-Roi 2000 (Bibliotheca cynegetica 1). An Smets, Des faucons: les quatre traductions en moyen français du De falconibus d’Albert le Grand. Analyse lexicale d’un dossier inédit (Thèse de doctorat non publiée), Leuven 2003, vol. I, p. 293.
70
An Smets
crane – duck – bustard (although not in the same order). Even in the French translation of this treatise, we do not find these three kinds of birds.64 3.2 Sources not mentioned by the author Besides the examples numbered (2)-(4), in which Artelouche clearly uses material from Dancus rex without overtly citing this work, I came upon a number of other examples where it is possible to identify a source which is not mentioned by Artelouche. Indeed, chapter 37, on the mew, shows some similarities with the chapter devoted to this topic in the treatise by the English scientist Adelard of Bath (ca. 1090 – ca. 1160)65, even if the corresponding sentences are not mentioned in the same order: (11) Artelouche 37 Le grain du serpent noir, & en nourrir des poules, desquelles paissez vostre oiseau, fait pareillement muer, lequel grain se fait en ceste maniere. Prenez une couleuvre noire, & la mettez bouillir en eau avec du froment, & en nourrissez vos poullailles, & leur en donnez à boire l’eau. Mais le bon past & les Souris font muer naturellement, & mieux que toutes les medecines du monde (fol. 101r).
Adelard of Bath 2466 Quod si bene non mutaverit, dabis carnem soricinam. Item, serpente coque in aqua et in iure illo triticum ebullias, et pullos quos ei dabit inde nutrias.
Afterwards, chapter 39, a chapter on lice which has been mentioned before in connection with its reference to the Germans (9), also mentions roman mint as a possible remedy. This had already been suggested by the Tractatus de austuribus and was later recommended by Albertus Magnus: _____________ 64
65 66
La quinte est car tuit li oisel de proie pueent estre ensoignié par cest art a panre les plus grans oisiaus, ainsis comme grues, bitardes et les plus grans (Federico II, De arte venandi cum avibus. L’art de la chace des oisiaus. Facsimile ed edizione critica del manoscritto fr. 12400 della Bibliothèque Nationale de France, Hélène Toubert / Laura Minervini (eds.), Napoli 2005, p. 450). For further information on Adelard, see Guy Beaujouan, »Adélard de Bath«, in: Hasenohr/ Zink (eds.), Dictionnaire des lettres françaises. Le Moyen Age (fn. 7), pp. 15-16. Adelard of Bath, Conversations with his Nephew. On the Same and the Different, Questions on Natural Science and On birds, Charles Burnett / Italo Ronca / Pedro Mantas España / Baudouin Van den Abeele (eds.), Cambridge 1998 (Cambridge Medieval Classics 9), p. 265.
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona
(12) Artelouche 39 La decoction de la mente Romaine faict mourir les poulz, & pareillement l’estafisagre (fol. 101).
Tractatus de austuribus 1567 Ad austurem qui habet ediculos, mentam romanam tere, et tempera cum vino acri
71
Albertus Magnus XXI.1568 Si pediculos habeat, mentam omanam tere et distempera um vino acri et iunge stafisagriam
Conclusions At this point, it is too early to present definitive conclusions concerning this treatise. To summarise this contribution, however, we can observe firstly that we have precise data concerning its author and the place and date of composition of his falconry text. The Fauconnerie can be considered a ›complete‹ treatise, dealing in details with ornithology, training and medicine. We also know that Artelouche used a number of different sources, mainly Latin, to which he often refers explicitly. His sources are both medical and cynegetic, but with regard in particular to the medical sources, it is often difficult to locate the exact passage from which Artelouche drew his information. Other sources are almost certainly yet to be discovered. But as long as a large number of treatises on falconry remain unedited, this part of the work will have to confront material problems. This contribution, therefore, can also be seen as appeal for the edition of medieval texts, and the treatise of Artelouche itself is certainly worthy of a good critical edition.
_____________ 67 68
Baudouin Van den Abeele, Les traités de fauconnerie latins du Moyen Age (Thèse de doctorat), Louvain-la-Neuve 1991, ann. p. 207. De animalibus libri XXVI (fn. 21), p. 1486.
72
An Smets
Annex : correspondances Moamin – Artelouche de Alagona Moamin latin (ms. T)69
Artelouche 10 Pour cognoistre la santé universelle de tous oiseaux.
11.1 11.2
Sapientes dixerunt quod imposibile est scire egritudinem antequam sciatur sanitas.
Tous sages disent qu’il est impossible de cognoistre l’infirmité, si premierement on n’a la cognoissance de la santé, qui est telle
11.3
Signum autem sanitatis avium rapatium est quod volucris inveniatur in mane in aurora movens se, et moveat caudam et ventilet et eitiat plumatam de nocte autem post auroram,
Quand vous verrez vostre oiseau le matin à l’aube du iour qui remuë la queuë, & la vantelle, & secouë la plume pour l’amour de l’aube,
11.4
deinde levet alas cum rostro dextram sicut et sinistram et accipiet de loco qui est sub croppa aliquam pinguedinem et ungat se a dextra et sinistra parte.
& apres leve les aisles, & avec le bec prent en quelque lieu de sa crouppe aucune graisse, dequoy il se oingt à dextre et à senestre.
11.5
Opus autem hoc vocatur untio fiale.
Et ceste curée est appellee onction feable.
11.6
Si autem hoc fatiat cum duabus partibus alarum, signum est sanitatis ; si tamen fatiat hoc cum una parte alarum, signum est quod infirmitas est in parte dimissa ; et non fatiat hoc ex parte aliqua, scias quod maxima infirmitate constringitur.
Et s’il le fait aux deux parts des aisles, c’est signe de santé : que s’il ne le fait d’une part ne d’autre, sçachez qu’il est constraint de forte & grande infirmité
11.7
Signum autem sanitatis in volvere est quod alacer videatur et solers et equaliter accipat carnes ab utraque fauce.
& les signes de la santé du iour, sont que vous verrez vostre oiseau allegre, & qu’il se plaist esgallement de quelque past que ce soit,
11.8
stercus suum erit digestum, continum, non abscisum, valde album et nigrum et suptile erit, venter siccus, et avis videbitur pinguis et clari coloris ac si ungantur penne ejus oleo et duo ossa que sunt apud duas coxas equalia sunt vel erunt, non dulsa, et due vene que sunt in radice alarum pulsabunt semper ;
& son esmeut est continuellement digest, & non en partie, & fort blanc, & le noir est fort subtil,
11.9
& l’oiseau est reluisant de plumage, comme s’il fust oingt, & les deux os qui sont aupres des cuisses sont egaux sans differe[n]ce & les deux veines qui sont en la raye des aisles battent tousiours attempreement entre fort & foible,
_____________ 69
Martin-Dietrich Glessgen, Die Falkenheilkunde des »Moamin« im Spiegel ihrer volgarizzamenti. Studien zur Romania Arabica, Tübingen 1996 (Beihefte zur Zeitschrift für romanische Philologie 269-270), vol. I, pp. 283-284.
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona
11.10
si vero frequenter et velociter pulsent, erit signum infirmitatis; et si quandoque pulsent quandoque non, etiam erit signum infirmitatis;
11.11
pulsatio enim venarum significans sanitatem erit mediocris inter firmitatem vel fortitudinem et debilitatem, et velocitatem et tardidatem. Simiter bonus appetitus signum est sanitatis.
11.13
73
& qu’il dorme bien la nuit,
& qu’il enduisse bien sa viande raisonnableme[n]t, & nonobstant, s’il enduit bien & il ne dort, il a aucun grief excez, si ce n’estoit pour les pouls qui l’engardent de dormir (fol. 93r)
12
Moamin latin (ms. T)70
Artelouche 11
12.2
Signa egritudinum cognoscuntur tribus modis : primo de dispositione egrotantis, secundo de nocumento virtutis, tertio de hoc quod erit de superfluitate
Les signes des infirmitez universellement. Il y a de trois sortes d’infirmitez es oiseaux : c’est assavoir en la disposition de l’egestion, au mouvement de la vertu, en la superfluité du corps.
Moamin latin (ms. T)71 Premierement de la disposition de l’egestion. 12.3
Primum est quando vides volucrem claudentem oculos vel oculum ex hiis exibunt lacrime vel aliquid humidum, tunc scias quod aliquid ceciderit intus.
Quand vous verrez l’oiseau clourre les yeux, & qu’il en ysse aucune l’arme [sic] ou humidité, adonc pouvez considerer que quelque chose estrange doit estre dedans.
12.4
Cum autem videbis quod avis claudet duas tertias partes oculi cum panno oculi et levabit pedem unum et alterum deponet et oripilabit pennas suas, scias quod est refrigidatus.
Et si l’oiseau ferme la deuxiesme ou troisiesme partie de l’oeil, ou leve un pied & reboute l’autre, & qu’il hausse son plumage, sçachez qu’il est refroidi.
_____________ 70 71
Glessgen, Die Falkenheilkunde des »Moamin« (fn. 69), vol. I, p. 284. Glessgen, Die Falkenheilkunde des »Moamin« (fn. 69), vol. I, p. 284-285.
74
An Smets
12.5
Cum aperiet os et rostrum et anelat cum lingua, et apud partem inferiorem oculi incrossant et coartat pennas et alas, scias quod habent calorem extraneum.
Quand vous verrez que l’oiseau ouvrira le bec, & qu’il alaine la langue, & la forame part des yeux en grosse à entour, & qu’il couche les pennes et les aisles, sçachez qu’il souffre extreme chaleur (fol. 93r-93v).
12.6
Cum vero videbis oculum avis clausum, tenendo eum cum latere sue ale, vene que sunt inter oculos in loco cauterizationis pulsant frequenter et palpetritzant, scias quod gipsum habet in capite suo.
Quand vous verrez l’oeil de l’oiseau clos, & qu’il le tienne au costé de son aisle, & les veines qui sont entre les yeux batte[n]t & pousse[n]t, sçachez qu’il a frenaisie au chef, & estourdissement.
12.7
Cum videbis ejus palatum albescere post nigredinem, scias quod habet corrosionem sive arsuram.
Qua[n]d vous verrez le palais bla[n]chir, sçachez qu’il a corrosio[n] ou arsure.
12.8
Cum videbis avem os vel rostrum aperire et movere caput et ferre cum pectore et ferendo turbatur, scias quod smaticus est.
Si vous voyez que vostre oiseau ouvre le bec, & remuë la teste, & se batte en la poictrine, & en ce faisant demene la queuë, & qu’il semble estre troublé, sçachez qu’il est asmatique.
12.9
Et cum avis assidue sternutabit palpetrizando de bibere, scias eum in capite ventositatem habere.
Quand vous verrez vostre oiseau palpabier doublement, sçachez qu’il a ventosité en la teste.
12.10
Cum autem videbis cum stare aliomodo quam solitus sit super perticam, collisus est.
Qua[n]d vous verrez vostre oiseau esbahy sur la perche, sçachez qu’il peut estre grevé.
12.11
Laxatio enim alarum ventositatem pretendit in alis suis.
La debilitation des aisles, signifie ve[n]tositez en celle partie.
12.12
Inflatio guturis sine cibatione notat illic ventositatem.
L’influence de la gorge sans past, signifie ventositez en ladite partie.
12.13
in dorso
Quand l’oiseau se tient moüillé sur la perche, ce signifie ventositez és rains.
12.14
Fixura pedum exeunte inde aqua citrina emorroides significat.
La rupture des pieds, ou la crevasse, & qu’il en sorte eau continuë, signifie emorroides.
12.15
Inflatio palmarum significat rupturam vel disjuncturam aut ventositatem.
L’inflation des pennes signifie roupture, ou distilation, ou ve[n]tosité.
12.16
Quandoque autem a parte posteriori vadit aliquis ad avem et avis volvere se vult versus hominem, ut ejus moris est, et in se volvendo tremit et non potest stare super perticam, scias quod podagram habet.
Quand l’oiseau est sur la perche, & qu’il se veut virer vers vous contre sa nature, & s’il travaille & ne se puet soit tenir (?), c’est signe qu’il est podagreux.
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona
75
12.17
Constrictio rostri et sessio super pectus et abominatio aborum notat augumentum podagre.
La constrinction du bec, & l’appuyer sur la poictrine, & l’abomination de la viande, augmente la podagre.
12.18
Inflatio super cavillam et pilorum depilatio, hoc notat vermes amplos ad modum granorum cucurbitarum intra ventrem.
L’inflation sur la cheville du pied, & la despoliation du poil, signifient vers,
12.19
Carminatio autem pennarum que dicuntur cultelli que in alis sunt notant caliditatem.
L’herissement des plumes sur le col, & extreme debilitation de couteaux signifient grande & outrageuse chaleur.
Moamin latin (ms. T)72
Artelouche 12
12.20
Secundo autem modo signum quod est de nocumento virtutis est sic :
Du nocemens de la vertu
12.21
Cum videris volucrem minuentem excussionem sive expergefactionem pennarum suarum et coartat se non movendo collum nec caput, scias quod infirmatur in capite.
Apres que vous verrez l’oiseau musse tout en son plumage, & qu’il ne tourne la teste ne le col, sçachez qu’il est malade du chef.
12.22
Et cum avis hyat sive clamat, arsuram significat.
Quand l’oiseau siffle ou crie, cela signifie grande chaleur, ou arsure.
12.23
Quando vero comedit, si cum ungue scalpit palatum sicut exeat inde sanguis et aborrent cibum, corrosionem et arsuram habet ibi.
Quand il se paist, & il se gratte de l’ongle le palais iusques au sang, & qu’il ne se puet paistre, cela signifie chaleur audit lieu, & peril de chancre.
12.24
Similiter quando ferit unam partem rostri ad aliam, corrosionem et arsuram habet.
Et s’il machote du bec l’un contre l’autre, cela signifie comme le precedant.
12.25
Inequalitas cibationis et lassatio alarum et debitias animi significat caliditatem.
Inequalité du paistre & debilitation d’oiseau, signifie chaleur.
12.26
Frequens anelatio ex naribus ore clauso et sine alteratione dispositionnis significat laborem aut aliam infirmitatem.
Le bec clos & sans alteration, signifie grand travail, & grande infirmité.
12.27
Et quando avis frequenter non mordet carnes, scias quod habet indigestionem.
Si l’oiseau ne veut prendre la chair ou le past si tost qu’on luy presente, signifie indigestion.
12.28
Pone nares tuas in rostro et odora movendo rostrum cum manibus, et si fetorem sentias, indigestionem habet.
Et si vous le voulez sçavoir, faut odorer son aleine, que si elle put, signifie indigestion.
_____________ 72
Glessgen, Die Falkenheilkunde des »Moamin« (fn. 69), vol. I, p. 285.
76
An Smets
12.29
Si autem avis expellat cibum a gucture vel remaneat ibi et non descendat, signum est indigestionis.
Si l’oiseau iette la chair de son bec en la paissant, & la gorge qu’il prendra luy demeure sans enduire, signifie indigestion.
12.30
Quando excalpit destram partem rostri, signum est doloris epatis.
Si l’oiseau gratte la dextre partie du bec, signifie douleur au faye.
12.31
Si autem in pertica ventilet sive ventositatem fatiat, maxime quando egerit, signum est ventositatis in ventre.
Quand l’oiseau vantelle à la perche, & qu’il fait grand ventosité quand il digere, signifie qu’il a ventosité dedans le ventre.
12.32
Si brancet carnes et facit eas pendere, signum est quod in palma vel in crure vel in cossa habet ventositatem.
S’il grippe la chair, & qu’il la face prendre, signifie qu’il a ventositez dedans les plumes, ou és iambes, ou es cuisses.
12.33
Quando autem tremit cum portatur super manum portantis, signum est quod plumatam habet.
Si un piseau [sic] travaille qua[n]d vous le portez sur le poing, signifie qu’il y a quelque cure dedans le corps.
12.34
Tardatio egerendi stricturam orificii ani denotat.
Retardement de la digestio[n], signfie restrinction de fondement, & la tardation de la cure signifie indigestion.
12.37
Quando vero invenitur pastus in intestinis mollis quasi aqua et in gutture durus ut lapis, egritudinem pretendit.
Quand vous trouverez le pastaux intestins mol comme eau, & la en gorge dur, cela signifie engendrement de la pierre.
12.39
Cum autem avis a pertica descendit et non poterit super eam saltare, denotat mortem.
Quand un oiseau se bat à la perche, & qu’il tombe, & ne puet remonter dessus, cela signifie sa mort : si ce ne provient par la faute de ceux qui l’ont attaché (fol. 93v-94r).
Moamin latin (ms. T)73
Artelouche 13
12.43
Modo quidem dicendum est de signo quod exit de superfluitate :
Des maladies de la superfluité. Mais parce qu’o[n] dit qu’il y a cinq manieres de superfluitez, il est bien necessaire de les sçavoir : la premiere, sont larmes & eaux de nerfs : la seconde, ventositez : la tierce, vomissement : la quarte, la cheute des pennes hors de saison : la quinte, l’escails ou esmail.
12.45
Si autem exeat aqua ex oculis notat quod aliquid illic cecidit.
S’il iette eau des yeux, signifie que quelque chose est cheute dedans :
12.46
Si vero exeat aqua ex suis naribus, scito quod infirmatus est.
& s’il jette humidité par les nazilles, cela signifie qu’il est malade de rheume.
_____________ 73
Glessgen, Die Falkenheilkunde des »Moamin« (fn. 91), I, p. 286.
The Falconry Treatise by Artelouche de Alagona
12.50
77
Quando depilat suum ventrem, vermes habet intus.
S’il se plume le ventre & les cuisses, cela signifie vers estre dedans le ventre (fol. 94r).
Moamin latin (ms. T)74
Artelouche 14 Pour cognoistre la seinté & la maladie, pour la cure & par l’esmut. […]
12.55
Et cum videtur egestio sua incisa, scito quod constrictionem habet.
Si l’esmut est gras, & qu’il file, c’est signe de restrinction du fondement.
12.56
Viriditas egestionis et frequentatio ejus paulatim et scalpatio caude et potatio aque significat quod constringitur orifitium ani.
Si verdeur d’esmut continuë, & qu’il demene peu souvent la queuë, & qu’il boive eau, signifie que le fondement est restraint.
12.57
Albedo egestionis sue tendens ad citrinitatem et crossities illius nigri quod est intus scilicet in egestione, pretendit indigestionem.
La blancheur de l’esmut qui tire à citrinité, & la multiplication d’humidité, signifie indigestion.
12.58
Quando autem erit nigredo egestionis quantum albedo vel quasi et fuerit albedo sicus panis sine mucositate, tunc denotat egritudinem vel matiem.
Et quand l’esmut est noirastre & entremeslé de blanc, & qu’il ayt de petites bubettes parmy, signifie ventosité (fol. 94r).
_____________ 74
Glessgen, Die Falkenheilkunde des »Moamin« (fn. 69), vol. I, p. 286.
Clara Wille (Zürich)
Der Reiher, das Neunauge und der Igel. Tiernamen im romanischen Mittelalter1 Eine der großen Errungenschaften des 18. Jhs. ist die Taxonomie von Linné, mit welcher ein bestimmtes Tier in der Wissenschaft auf der ganzen Welt mit einem lateinischen Namen eindeutig bezeichnet wird und so für den Zoologen die verschiedenen volkssprachlichen Tiernamen gleichsam ersetzt werden. Die volkssprachlichen Tiernamen ändern sich in der Tat je nach Epoche, Sprache, Land und Gesellschaft, und es ist oft schwierig festzustellen, von welchem Tier in einem bestimmten Zusammenhang die Rede ist. Für den Philologen handelt es sich hier um das altbekannte Problem der »Wörter und Sachen«. In dieser Studie versuche ich, diesem Problem am Beispiel der mittelalterlichen Benennung von drei Tieren nachzugehen, die in Europa bekannt und verbreitet sind, nämlich von ardea, (›Reiher‹), murena (›Neunauge‹) und ericius (›Igel‹). Der Reiher Auf Lateinisch haben wir eine Sache, einen Vogel, den Reiher, aber zwei Namen, denn er wird bei Vergil ardea, in der Vulgata jedoch herodius genannt.2 Herodius ist der latinisierte Name von griechisch ἐρῳδιός, ›Reiher‹, _____________ 1
2
Als Romanistin untersuche ich vor allem die Entwicklung im anglonormannischen und französischen Sprachbereich und berücksichtige altenglische und althochdeutsche Zeugnisse nur dann, wenn sie meine Ausführungen unterstützen. In der Itala und der Vulgata, vgl. Thesaurus Linguae Latinae (= ThLL). Auctoritate et consilio academiarum quinque Germanicarum Berolinensis … [u. a.], Leipzig 1900 ff.: »erodius, -i m«; Novae Concordantiae Bibliorum Sacrorum iuxta Vulgatam Versionem Critice editam, Bonifatius Fischer (Hrsg.), Stuttgart-Bad Cannstatt 1977: »Herodius Dt 14, 16, Jb 39, 13 Ps (Psalterium Gallicanum) 103, 17«; Allerdings wusste man nicht in jedem Fall genau, welches Tier
80
Clara Wille
den Aristoteles in der Historia animalium beschreibt, und ardea ist seit Vergil in der lateinischen Sprache belegt.3 Beide gehen auf die gleiche indogermanische Wurzel, »arôd-, arəd-, ein Wasservogel« zurück.4 Vergil sagt in den Georgica, dass die ardea hoch über die Wolken fliegt: ventis surgentibus […] notasque paludes deserit atque altam supra volat ardea nubem.5 Und im 4. Jh. kommentiert Servius diesen Vers wie folgt: ardea dicta quasi ardua. quae cum altius volaverit, significat tempestatem.6 _____________
3
4
5
6
auf Lateinisch mit herodius bezeichnet wird; schon auf Griechisch ist es nicht immer eindeutig: vgl. Henry George Liddell / Robert Scott, Greek-English Lexicon, Oxford 1867-1939, S. 695, ἐρῳδιός, ὁ, heron, gibt als frühestes Zeugnis Ilias 10, 274 an, aber dort soll es eventuell der shearwater (Sturmtaucher, eine Art Albatros) sein. In Homer, Ilias. Neue Übertragung von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt a. M. 1975, übersetzt Schadewaldt jedoch die Stelle mit ›Reiher‹; bei Aristoteles (Arist. HA 9, 1 609b21-23 = Plin. NH 10, 164) wird mit ἐρῳδιός der Reiher bezeichnet. Eine ausführliche Bibliographie mit sehr nützlichen Beschreibungen der wichtigsten Werke, Nachschlagewerke, Studien und Lexika zu den lateinischen Tiernamen im Mittelalter findet man in: Peter Stotz, Handbuch zur Lateinischen Sprache des Mittelalters, München 1996-2004, Bd. 1: Einleitung Lexikologische Praxis, Wörter und Sachen, Lehnwortgut, S. 316-325. Siehe auch den Aufsatz von Roland Sanfaçon, »Le portail de Ripoll, les hérons et l’Apocalypse«, in: Cahiers de Civilisation Médiévale, Xe-XIIe Siècles, 13/1970, S. 139-147, der die symbolische Bedeutung des Reihers bespricht. Aristotle, History of animals, David M. Balme (Übers. u. Hrsg.) / Allan Gotthelf (Hrsg.), Cambridge, MA, London 1991, VIII (IX), 1, 609b, 21-23: »There are three kinds of herons, the grey, the white, and the so-called starry. Of these the grey has difficulty in being covered and in covering; for it screams and, so they say, drips blood from its eyes while covering, and it gives birth badly and painfully.« Hieronymus übernimmt diese Beschreibung für den herodius in seinem Kommentar zu Zach 5, 9 in »Sancti Hieronymi Stridonensis Presbyteri Commentariorum in Zachariam Prophetam […] Libri Dvo«, in: Patrologia Latina (= PL): Patrologiae cursus completus. Series Latina, Jaques-Paul Migne (Hrsg.), 221 Bde., Paris u. a. 1879-1890, hier Bd. 25, Sp. 1450D-1451A: erodionem […] hi qui de volucrum scripsere naturis, tria genera autumant: unum album, aliud stellatum, tertium nigrum quod et saevissimum est et sanguinarium, et pugnans ad coitum impatiens: ita ut ex oculis eorum erumpat cruor. Diese Beschreibung finden wir später bei Albertus Magnus, ardea (vgl. Anm. 45). Vgl. Christian Hünemörder, Art. »Reiher«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7/1995, Sp. 649. Alois Walde / Johann Baptist Hofmann, Lateinisches Etymologisches Wörterbuch, Heidelberg, 1938: »ardea, -ae f. ›Reiher‹«; Julius Pokorny, Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch, Bern, München, 1959: »arod-, arəd- ›ein Wasservogel‹«. Vergil, Hirtengedichte. Vom Landbau, Rudolf Alexander Schröder (Hrsg. u. Übers.), Leipzig 1939, S. 56, I, VV. 356-364: »Wenn sich ein Sturm anhebt […] vom Nest im heimischen Sumpfe / Hebt sich der Reiher und fliegt hoch rudernd über den Wolken.« ThLL (Anm 2): »ardea: […] Servius, Verg. georg. 1,364«. D. h. »ardea (Reiher) wird gleichsam ardua genannt, welche, wenn sie sehr hoch fliegt, einen Sturm ankündigt.«
Tiernamen im romanischen Mittelalter
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Hieronymus († 420), der den Vers 17 des Psalms 103 kommentiert, vergleicht den herodius mit dem Adler und sagt: erodion volatile est nimiae magnitudinis: dicitur autem vincere et aquilam et ipsam habere escam, d. h. der erodios ist ein ziemlich großer Vogel (der nicht näher beschrieben wird); man sagt, dass er sogar den Adler besiegt und ihn frisst.7 Diese Beschreibung kann nun einigen Zweifel wecken, was den ›Reiher‹ betrifft, und tatsächlich wird von Hieronymus selber eine zweite Sache ins Spiel gebracht. Wir besitzen nämlich von Hieronymus zwei Übersetzungen der Psalmen: die eine, das Psalterium iuxta Hebraeos, nach dem hebräischen Urtext angefertigt, das sich zunächst in den meisten vollständigen Bibelhandschriften befand; die andere, eine Bearbeitung nach dem Septuaginta-Text der Hexapla des Origines, das Psalterium Gallicanum, war, wohl unter dem Einfluss der Bibelausgabe Alkuins, insbesondere in Gallien verbreitet. Somit ist Vers 17 des Psalms 103 in der Vulgata in zwei verschiedenen Versionen überliefert: Im Psalterium Gallicanum übersetzt Hieronymus: illic passeres nidificabunt, erodii domus dux est eorum,8 im Psalterium iuxta Hebraeos dagegen: ibi aves nidificabunt, milvo abies domus eius.9 Das heißt, wir haben für ein und denselben Vers in den Übersetzungen des Hieronymus ins Lateinische in der Vulgata, je nach Ausgabe, die wir benützen, einmal erodius, ›Reiher‹ und einmal milvus, ›Milan‹.10 _____________ 7 8
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S. Hieronymi Presbyteri, »Tractatus de Psalmo CIII, 17«, in: ders., Opera, Pars II, D. Germanus Morin (Hrsg.), Turnholt 1958 (Corpus Christianorum, Series Latina 78), S. 185. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes, Joseph Franz von Allioli (Übers. u. Hrsg.), Regensburg, New York, Cincinnati 1866, Ps 103, 17: »Wo die Sperlinge nisten, welchen das Haus der Reiher vorangeht«, und Anm. 2 dazu: »Vor welchen, gleichsam ihnen zum Beispiele, die Reiher nisten. Die Reiher nisten früher als die Sperlinge.« »Dort werden die Vögel ihr Nest bauen, die Zeder wird dem milvus sein Haus (Schutz) sein.« Zu milvus siehe: Karl Ernst Georges, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch (= Georges), Leipzig 81913, ND Hannover 1983: »Weih / Taubenfalke«. Baudouin Van den Abeele, »L’escoufle: portrait littéraire d’un oiseau«, Reinardus, 1 (1988), pp. 5-15. Biblia Sacra Vulgata, Robertus Weber (Hrsg.), Editio minor, Stuttgart 31984, Ps 103, 17 übersetzt iuxta Hebraeos mit milvo abies domus; vgl. ThLL (Anm. 2): »erodius: (ἐρωδιοῦ. ibi aves nidificabunt. milvo abies domus eius (cod. Amiat.)«. Eines der ältesten Zeugnisse ist der Codex Amiatinus, Firenze, Bibl. Mediceo-Laurenziana, Amiatino I, ein Codex aus Northumbria, Anfang 8. Jh. Meine Argumentation gründet u. a. auch auf einem Corpus anglonormannischer Glossen in englischen Manuskripten sowie auf lateinischen Bestiarien, die in England entstanden sind. Dagegen übersetzt die Biblia Vulgata iuxta Vulgatam Clementinam, Alberto Colunga / Laurentio Turrado (Hrsg.), Madrid 112002, mit herodii domus dux est
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Doch Hieronymus interpretiert den herodius an anderer Stelle eindeutig als ›Reiher‹ und zitiert Aristoteles, wobei er auch dessen Einteilung in drei Arten übernimmt: Herodionem vero, hi qui de volucrum scripsere naturis, tria genera autumant: unum album, aliud stellatum, tertium nigrum, quod et saevissimum est et sanguinarium, et pugnans ad coitum impatiens: ita ut ex oculis eorum erumpat cruor. Hieronymus sagt, dass es drei Arten des herodius, gebe: die eine weiß, die zweite gestirnt und die dritte schwarz; diese ist auch die wildeste und blutrünstigste Art, kämpferisch und bei der Paarung so leidenschaftlich, dass sie blutige Tränen vergießt.11 Es gibt noch zwei weitere Stellen in der Vulgata, die den herodius nennen und die für die Interpretation eine Rolle spielen werden: Einerseits in einer Aufzählung unreiner Vögel in Deuteronomium 14,16-19: herodium et cycnum et ibin ac mergulum […] et omne quod reptat et pinnulas habet / immundum erit nec comedetur; und andererseits in Hiob 39,13, wo Vogelgefieder verglichen wird: pinna strutionum similis est pinnis herodii et accipitris.12 _____________
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eorum; vgl. Septuaginta (= LXX), Deutsche Bibelgesellschaft (Hrsg.), Stuttgart 1979, Ps 103, 17: ἐκεῖ στρουϑία ἐννοσσεύσουσιν, τοῦ ἐρωδιοῦ ἡ οἰκία ἡγεῖται αὐτῶν. Das Problem scheint sich bei der Übersetzung des hebräischen Wortes khasidah zu stellen. Hieronymus, »S. Eusebii Hieronymi Stridonensis Presbyteri Commentariorum in Jeremiam Prophetam Libri Sex«, in: PL (Anm. 3), Bd. 24, Sp. 0737B-C, kommentiert dies z. B. anlässlich der verschiedenen Übersetzungen zu Ier 8, 7 ins Griechische wie folgt: »pro milvo quem interpretatus est Symmachus, LXX et Theodotio ipsum verbum hebraicum posuere asida, Aquila herodium«. D. h. die LXX und Theodotio übersetzen das hebräische Wort asida nicht, Symmachus übersetzt es mit milvus, und Aquila (Aquila ist gemäß Adolf Jülicher, Art. »Aquila«, in: Pauly-Wissowa, Realencyclopädie, Bd. 2/1896, Sp. 314, der wörtlichste der Übersetzer) mit herodius – das wir auch heute in der LXX finden. Weiter sagt Hieronymus dazu, dass die Hebräer allgemein glauben, dass mit asida der milvus, gemeint ist, dass aber diejenigen, die über die Natur der Tiere schreiben, sagen, dass es der herodius ist; Hieronymus wiederholt dies in anderen Worten zu Zach 5, 9, in: PL (Anm. 3), Bd. 25, Sp. 1450D-1451A: Asidam Hebraei milvum putant, avem rapacissimam, et semper domesticis avibus insidiantem; Herodionem vero, hi qui de volucrum scripsere naturis tria genera autumant […], und er fügt die Beschreibung über die drei Arten des Reihers des Aristoteles hinzu (ebd.). Die Probleme der Bibelübersetzung zu besprechen, ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich. Siehe u. a. Rolf Peppermüller, Art. »Psalmen, Psalter, A. Christliche Kirchen«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7/1995, Sp. 296. Hier in Zach 5, 9, in: PL (Anm. 3), Bd. 25, Sp. 1451 (vgl. Anm. 3 und 10). Die Heilige Schrift (Anm. 8), Dt 14, 16-20: »den Reiger, und den Schwan, und den Jbis, und den Taucher, […] Und Alles, was kriecht, und Flügel hat, soll unrein sein, und nicht gegessen werden«; Io 39, 13: »Des Straussens Federn sind den Federn des Storchen und Habichts gleich.« (vgl. Anm. 2 und 10).
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Was die Bedeutung des Wortes erodius betrifft, herrscht also eine gewisse Unklarheit. In der ersten Hälfte des 5. Jh. spiegelt Eucherius († 450) aus Lyon, ein Gallier, die Situation wieder, indem er Ps 103, 17 wie folgt kommentiert: Erodius in psalmo ardea a quibusdam putatur, »gewisse glauben, dass herodius die ardea (der ›Reiher‹) ist.«13 Ardea ist das Interpretamentum für erodius, woraus man schließen kann, dass ardea, nicht erodius, der geläufige Begriff ist. Es fällt übrigens auf, dass im ältesten gallischen Vokabular, das wir besitzen, bei Polemius Silvius, in einer Aufzählung der Vögel der herodius nicht genannt wird, wohl aber die ardea.14 Im 7. Jh. kommentiert Gregor der Große die Stelle Iob 39, 13: pinna strutionum similis est pinnis herodii et accipitris und sagt zu herodius und zu accipiter, dass beide einen kleinen Körper, ein sehr dichtes Gefieder und kein großes Gewicht haben und daher sehr hoch fliegen können.15 Hier werden herodius und accipiter – wie schon im Vulgatavers – einander gleichgestellt; während der kleine Körper jedoch den ›Reiher‹ erneut auszuschließen scheint. Der herodius der verschiedenen Stellen im Alten Testament wird somit einerseits als ardea, ›Reiher‹, der sehr hoch fliegt, interpretiert oder andererseits mit einem Raubvogel, der auch sehr hoch fliegt, verglichen oder ihm gleichgesetzt. Wir haben also einen Namen, den herodius, der zwei Sachen, zwei Vögel, bezeichnen kann, die hoch fliegen. Die Interpretation von erodius als Raubvogel wird von volkssprachlichen Quellen gestützt. Im 10. Jh. finden wir eine Glosse zum Psalmenvers 103, 17, die den Kommentar des Hieronymus wieder aufnimmt (s. S. 81), der sagt, dass der herodius den Adler fängt: Erodion avis maior qui etiam aqui-
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Eucherii Lugdunensis Opera, Pars I, Formulae Spiritalis Intellegentiae, Instructionum Libri Duo, Carmelo Mandolfo (Hrsg.), Turnhout 2004 (Corpus Christianorum, Series Latina 66), S. 210. Polemius Silvius, ein anderer Gallier, der für uns wichtig sein wird, widmete seinem Freund, dem heiligen Eucherius, den Laterculus, welcher das älteste uns überlieferte gallische Vokabular enthält; vgl. »Polemii Silvii Laterculus a. CCCCXLIX«, in: Monumenta Germaniae Historica (= MGH) AA, Bd. 9,1, Theodor Mommsen (Hrsg.), Berlin 1892, S. 511614, hier S. 513 (Widmung) u. S. 543: Nomina cunctarum [sic] spirancium […] et volucrum. »Sancti Gregorii Magni Moralium Lib. 31, cap. 39,12, B. Iob«, in: PL (Anm. 3), Bd. 76, Sp. 579: Accipitris quippe et herodii parva sunt corpora, sed pennis densioribus fulta, et idcirco cum celeritate transvolant […].
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lam prindet [sic].16 Schon vom 8. Jh. an geben angelsächsische und altdeutsche Glossen dieser Sache ein volkssprachliches Wort: herodio: falcho, etc., d. h. sie übersetzen den bei Hieronymus erodius genannten Vogel, der den Adler fängt, als eine Art Falken.17 Im 12. Jh. schließlich, in der Glossa ordinaria zum Vers Dt 14, 16, fasst eine Interlinearglosse zu herodius diese Kommentare zusammen und sagt girfalco vulgo rapit aquilam. Der Vogel, der den Adler fängt, wird hier mit dem volkssprachlichen Wort germanischen Ursprungs girfalco bezeichnet.18 Im 13. Jh. wird dieses Resultat von anglonormannischen Glossen, die wir in einer Sammlung von Texten aus englischen Handschriften finden, bestätigt – auch wenn man dem Zeugnis von Glossen, je nach Zusammenhang, nur einen beschränkten Wert beimessen darf.19 So geben zum Beispiel verschiedene Glossen zum Dictionarius und zum Commentarius des Johannes de Garlandia, zum Exoticon des Alexander von Hales oder in De Nominibus Vtensilium des Alexander Nequam, auf 18 Erwähnungen 17-mal herodius mit einem Raubvogel wieder: zehn davon _____________ 16 17
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Corpus Glossariorvm Latinorvm, Gustav Loewe / Georg Goetz (Hrsg.), Leipzig 1894, Bd. 5, S. 498, 63. Im Folgenden haben wir nur wenige Zeugnisse als Beispiele für die Interpretation von herodius als Raubvogel, resp. Falke, notiert: Thomas Wright / Richard Paul Wülcker (Hrsg.), Anglo-Saxon and Old English Vocabularies, London 21884, ND Darmstadt 1968, Bd. 1, Sp. 25,24: »Herodius, walchhabuc« (Anglo-SaxonVocabulary, 8. Jh.); Wallace Martin Lindsay, Studies in Early Medieval Latin Glossaries, Michael Lapidge (Hrsg.), Aldershot, Hampshire, GB 1996, S. 33: »Erodius: uualhhebuc (Job 39,13 pennis erodii et accipitris)«; Elias Steinmeyer / Eduard Sievers (Hrsg.), Die althochdeutschen Glossen, Berlin 1879-1898, ND Dublin, Zürich 1968, Bd. 1, S. 340-41: »Zum Leviticus xxxix: herodianum uualuc haec fuch« und »xl: herodio falcho« (ms. des 9.-10. Jh.) und S. 343: »herodius vualdfalcho, uualdfalcho, falcho«, etc. und Bd. 3, S. 23: »Herodius Gerualch« (ms. des 14. Jh.); vgl. Ronald E. Latham / David R. Howlett (Hrsg.), Dictionary of Medieval Latin from British Sources, Oxford 1975ff.: »erodius« und Taylor Starck / John C. Wells (Hrsg.), Althochdeutsches Glossenwörterbuch, Heidelberg 1990, S. 138: »falco«, S. 197: »gervalke«, S. 246: »-habuh, walh-«; und Rudolf Schützeichel (Hrsg.), Althochdeutscher und Altsächsischer Glossenwortschatz, Tübingen 2004, Bd. 3: »falk«, Bd. 4: »habuh«. Biblia Latina cum Glossa Ordinaria. Facsimile Reprint of the Editio Princeps Adolph Rusch of Strassburg 1480/81, Karlfried Froehlich / Margaret T. Gibson (Vorwort), Turnhout 1992 (Glossa Ordinaria), S. 392, Dt 14, 16. Die Interlinearglossen wurden Anselm von Laon zugeschrieben; vgl. S. VIII und Anm. 19. Vgl. die sehr gute Einführung zu Glossen und Glossatoren von Tony Hunt, Teaching and Learning Latin in 13th-Century England, 3 Bde., Cambridge 1991, Bd. 1, S. 3-55.
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übersetzen mit gerfaut (›Gierfalk‹ oder ›Gerfalk‹), ein Falke, mit dem man unter anderem den Reiher jagte, zwei Stellen sagen, es sei ein Vogel, der den Reiher jagt, fünf übersetzen mit einer Art Raubvogel und nur eine gibt als Entsprechung hayrun (›Reiher‹). Umgekehrt geben neun von 16 lateinischen Glossen für gerfaut, girfauc, gyrfauc ›herodius‹, sechs einen anderen Raubvogel, und eine Glosse übersetzt mit grua (›Kranich‹).20 Der Gerfalk, das häufigste der interpretamenta für erodius, ist der wertvollste Jagdfalke, er kommt aus dem Norden und trägt seiner Herkunft gemäß einen germanischen Namen.21 Die Bezeichnung girfaut, gerfaut etc., das dem nordischen girfalc entlehnt worden war, wird ihrerseits wiederum zu girfalco latinisiert.22 _____________ 20
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Hunt, Teaching and Learning Latin (Anm. 19), Bd. 3: 10 x erodius/herodius girfauc, gerefauc, gerfauc, etc. (wovon 1 x anglice gerfaukyn) 2x herodius herouner (derjenige, der den Reiher jagt) 1x herodius hayrun 5x herodius ostur (3x), merlinus (2x), zwei andere Arten Raubvögel! 5x gerefauc, gerfauc, etc. herodius (3x), tercellus (ein Falke) (1x), falco (1x) 11 x girfauc etc. herodius (6x), ancipiter (2x), prefalco / peregrinus (2x), grua (1x). Im Dictionnaire Etymologique de l’Ancien Français (= DEAF), Tübingen, Laval Québec 19741995, Bd. G, Sp. 563-67, unter »Gerfaut«, wird gesagt: »L’origine germanique est assurée […] il faut admettre que le français a emprunté le mot déjà composé à l’allemand, de sorte que la provenance des deux éléments est un problème de la philologie germanique«; erstes franz. Zeugnis: »girfaut ca. 1176, Cliges 3855, Yvain 882, etc.« Die franz. Glossare spiegeln in etwa dieselbe Situation wieder: Mario Roques, Recueil général de lexiques français du moyen âge, 2 Bde., Paris 1936-38; Firmini Verris Dictionarivs, Dictionnaire Latin-Français de Firmin Le Ver, Brian Merrilees / William Edwards (Hrsg.), Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis (= CCCM), Series in 4o, Bd. 1, Turnhout 1994; Dvo Glossaria. Anonymi Montepessulanensis Dictionarius. Le Glossaire Latin-Français du Ms. Montpellier H236, Anne Grondeux (Hrsg.), Glossarium Gallico-Latinum. Le Glossaire Français-Latin du Ms. Paris lat. 7684, Brian Merrilees / Jacques Monfrin (Hrsg.), CCCM, Series in 4o, Bd. 2, Turnhout 1998; Dictionarivs Familiaris et Compendiosvs. Dictionnaire Latin-Français de Guillaume le Talleur, William Edwards / Brian Merrilees (Hrsg.), CCCM, Series in 4o, Bd. 3, Turnhout 2002. Vgl. Baudouin Van den Abeele, La fauconnerie dans les lettres françaises du XIIe au XIVe siècle, Leuven 1990 (Mediaevalia Lovaniensia Series 1 / Studia 18), wo in einer umfassenden Studie die französischen Texte des Mittelalters über die Bedeutung von Falkenjagd und Falkenzucht in verschiedenen Gebieten vorgestellt und kommentiert sind, hier S. xv: »La fauconnerie […] a été introduite en Europe par les Germains, entre le IIe et le IVe siècle« und S. 218 die Aufstellung über die Beutetiere der verschiedenen Raubvögel. Dictionary of Medieval Latin from British Sources (Anm. 17): »girfalco, ~us«: erstes Zeugnis 1159; und unter »erodius, ~ion 2, bird of prey b: herodius qui et girfale [sic], ut glossa super Leviticum dicit, […] vel girfalcus dicitur. inter omnes autem aves nobiles nobilissima avis est, colore vestita
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Im Mittelalter wurde also das im Lateinischen eigentlich überflüssige Wort erodius als gelehrte Bezeichnung für eine neue Sache, einen Falken, benützt, mit welchem man den Reiher und andere Vögel jagte,23 wobei das tertium comparationis der hohe Flug ist. Die Übertragung scheint durch die Bibelexegese entstanden zu sein. Nun haben wir also nicht mehr, wie ursprünglich, nur eine Sache, sondern zwei, den Gerfalken und den Reiher für die beiden lateinischen Wörter herodius und ardea.24 Aber auch die Bezeichnung ardea, die keine größeren Verständnisprobleme aufwirft, wird durch einen volkssprachlichen Ausdruck marginalisiert. Der Reiher lebt in den gemässigten Zonen Europas mit dem fränkischen Namen heirun fort (wobei es sich um den sehr verbreiteten Graureiher handelt) und behält nur als gelehrten Namen ardea.25 Im 13. Jh., gemäß der genannten Sammlung anglonormannischer Glossen finden wir auf 15 Glossen 15 mal die Erwähnung: ardea ›heirun‹, ›hairuns‹, etc.26 Auch hier scheint die volkssprachliche Situation eindeutig zu sein. Französisch héron, deutsch Reiher und englisch heron, die seit dem 8.-12. Jh. bezeugt sind, gehen alle auf die gleiche altfränkische Wurzel
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ceruleo. […] aliud genus est illud quod herodius vel v u l g a r i t e r girfalcus dicitur.« Nicholas Upton [ † 1357], De studio militari, Edward Bysshe (Hrsg.), London 1654, S. 18788, beschreibt den herodius als einen wertvollen und edlen Vogel, den man vulgariter, d. h. allgemein, girfalcus nennt. Baudouin Van den Abeele, La fauconnerie dans les lettres françaises (Anm. 21), S. xvii. Dieselbe Situation findet sich schon bei Hieronymus mit der Übersetzung des hebr. khasida, vgl. Anm. 10. Vgl. z. B. Osberno, Derivazioni, Feruccio Bertini, Vicenzo Ussani jr. (Hrsg.), Spoleto 1996, Bd. 1, S. 33, Axxx, a318: Ardea, quedam avis que G a l l i c e dicitur hairun (11. Jh.). Hunt, Teaching and Learning Latin (Anm.19), Bd. 3. 15 x ardea (ardee etc.) hairun, etc. 3 x hairun ardea Die Gleichsetzung von lateinisch ardea und volkssprachlich hairon wird auch durch die Ableitungen bezeugt: die Reiherjagd war sehr in Mode beim Adel im Mittelalter und ein neuer Fachausdruck, D. h. ardearius ›haironier‹ (seit 1188), wurde gebildet; der heironier ist der, der dressiert ist, den heiron zu fangen: Falke oder Hund, aber vor allem Jagdfalke. 8 x ardearius hairuner 1 x ardearius hayrun Vgl. Frédéric Godefroy (Hrsg.), Dictionnaire de l’Ancienne Langue Française, Paris 1885: »HAIRONNER, v. n., prendre un héron«.
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*HAIGRO, ›Reiher‹, zurück.27 Aus dem volkssprachlichen heirun wurde wiederum ein gelehrter lateinischer Ausdruck gebildet, heiro oder heironus.28 Im Mittelalter bezeichnet nun die lateinische Dublette zwei Vögel, die beide sehr hoch fliegen, den Reiher, d. h. einen Wasservogel, und den Gerfalken, einen Raubvogel. Beide haben einen volkssprachlichen Namen und zwei wissenschaftliche Namen, der eine geerbt (herodius respektive ardea) und der andere neu aus dem volkssprachlichen Wort (girfalco resp. hairo) gebildet. Leider ist die Situation nicht ganz so einfach, denn es gibt, während sich die Bedeutung herodius gleich gerfaut durchsetzt, noch andere Anwärter auf diese Namenshülle, welche seit der Vulgata zur Verfügung stand. 1. Eine erste neue Bezeichnung finden wir im Physiologus, der im Mittelalter in diesem Gebiet beinahe ebenso wichtig wie die Bibel ist. In der lateinischen Übersetzung Versio Y29 gibt es den Titel herodius .i. fulica, _____________ 27
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DEAF (Anm. 20), Bd. H, Sp. 68-71, »hairon«: »[…] heiger ce qui en langue gauloise mène régulièrement à héron; […] hairon est attesté en fr. dans une glose de Raschi fin XIe s. et chez Osbern [vgl. Anm. 25]«. Vgl. Friedrich Kluge / Elmar Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin, New York 1999: »Reiher m. (< 10. Jh.) […] in ahd. heigar«; vgl. Dictionary of Medieval Latin from British Sources (Anm. 17): »ardea, heron«; Anglo-Saxon and Old English Vocabularies (Anm. 17), Sp. 6,35: ».Ardia, hragra« (Anglo-Saxon Vocabulary, 8. Jh.); Lindsay, Studies in Early Medieval Latin Glossaries (Anm. 17), S. 10: »Ardea et dieperdulum: hragra«; Steinmeyer/Sievers (Anm. 17), Bd. 1, S. 343,11: »Zum Leviticus, XLI.: heigr uel ardua« und Bd. 3, S. 22,17: »ardea haigir, haiger«, etc. Vgl. Osbern (Anm. 25): Ardea, quedam avis que G a l l i c e dicitur hairun (11. Jh.); in Ms. London, BL Roy. 12 F xiii, in einem lat. Bestiarium der Familie IID, Anf. 13. Jh., wird für ardea eine volkssprachliche Bezeichnung gegeben: (ardea) dicitur r o m a n e herun. Vgl. Wilma George / Brunsdon Yapp, The Naming of the Beasts, London 1991, S. 3 und S. 125: »Ardea«. Dictionary of Medieval Latin from British Sources (Anm. 17): »heiro, ~onus [ME heiron, OF hairon], heron.« Seit 1217; Charles du Fresne, seigneur Du Cange, Glossarium mediae et infimae Latinitatis, Niort 1883-1887: »HAIRO, Ardea, erodius, Gall. Héron [bei Du Cange gibt es keinen Eintrag für ›ardea‹]: volucres sunt contemplati, quas Hairones nuncupat l o c u t i o v u l g a r i s «; Jan Frederik Niermeyer / Co Van de Kieft (Hrsg.), Mediae Latinitatis Lexicon Minus. Überarbeitet von Johannes W. J. Burgers, Darmstadt 22002: »hairo hero (genet. –onis), heronus (germ.): héron«. Niermeyer, Bd. 1, S. xviii, bemerkt übrigens im Vorwort zu seinem Lexicon zu den Wörtern, die von der Bemerkung vulgo, vulgariter etc. begleitet werden: »Tatsächlich waren diese Worte, die der Autor mit volkssprachlich bezeichnet, durchaus gebräuchlich bei den zeitgenössischen Schreibern. Das berühmte ut vulgo dicitur sollte lediglich darauf hinweisen, dass der Autor meinte, besseres Latein als seine Zeitgenossen zu schreiben.« Physiologus Versio Y, Francis J. Carmody (Hrsg.), Berkeley, CA, London 1941 (University of California Publications in Classical Philology 12, 7), S. 95-134, hier S. 122: »XXVII De
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was in der Versio B nur noch mit fulica bezeichnet wird, das ist ein anderer Wasservogel.30 Eine entsprechende Bemerkung zu herodius gibt es in Ps 103, 17 in der Glossa ordinaria, wo es heisst: Cas(siodor). Vel fulica avis que in aquis habitat.31 Vom 13. Jh. an haben die lateinischen Bestiarien, die aus dem Physiologus in England entstanden sind,32 einen Artikel fulica neben ardea (nicht aber für herodius, den sie der fulica oder einem anderen Vogel gleichsetzen). Das heißt, wir haben hier die Gleichsetzung: herodius gleich fulica. 2. Eine weitere Bezeichnung hat wiederum ihren Ursprung bei Vergil und zwar in folgenden Versen der Aeneis: Et socii amissi petierunt aethera pennis / Fluminibusque vagantur aves (heu! dira meorum / Supplicia) et scopulos lacrimosis vocibus implent,33 die Servius wie folgt kommentiert: hae aves hodieque Latine Diomedeae vocantur, Graeci eas erôdious dicunt; d. h. in der Aeneis wurden die Gefährten des Diomedes in nicht näher bestimmte Vögel verwandelt, erstrebten in hohem Flug den Aether, streiften an Flüssen umher und erfüllten die Klippen mit ihrem Klageschrei, was Servius mit »diese Vögel werden heute auf lateinisch die Vögel des Diomedes genannt, die Griechen nennen sie herodioi« kommentiert.34 Es ist klar, dass es sich bei den Diomedeae aves um Wasservögel handeln muss, die sehr hoch fliegen können. Sie haben in den lateinischen Bestiarien – zwar nur in der dritten _____________
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Herodion id est Fulice«; Physiologus Latinus, Versio B, Francis J. Carmody (Hrsg.), Paris 1939, S. 39: »XXII Fulica«; vgl. Physiologos. Le bestiaire des bestiaires, Arnaud Zucker (Übers. u. Hrsg.), Grenoble 2004, S. 251, 47. »Περὶ ἐρωδιοῦ πετεινοῦ (l’Oiseau héron)«. Vgl. Liddell/Scott, Greek-English Lexicon (Anm. 2), S. 1914: »φᾰλᾱρίς, Ion. φαληρίς, ίδος, ἡ: coot, Fulica atra, Arist. HA 593b 16 (v. l. φαληρίς)«; vgl. Oscar Bloch / Walter von Wartburg, Dictionnaire Etymologique de la Langue Française, Paris 111996 (11932): »foulque«. Glossa ordinaria (Anm. 18), Ps 103, 17 (S. 587). Vgl. Willene B. Clark, A Medieval Book of Beasts. The Second-Family Bestiary, Woodbridge, Suffolk, UK 2006, Einleitung, S. 1-116, v. a. S. 10-11; »The Latin Bestiaries«. Vergil, Aen. 11,272-4; Vgl. Vergils Aeneis, Rudolf Alexander Schröder (Übers.), Zürich 1952, S. 239: »Meiner Erschlagenen Schar nahm Fittiche, floh zu den Lüften, / Flattert am Strom in Vogelgestalt – ach, grausame Strafe / Aller der Meinen! – ihr Klagegeschrei füllt Buchten und Felswand.«; vgl. Robert Deryck Williams, The Aeneid of Virgil, Basingstoke, London 1973, ND 1984, 2 Bde., Bd. 2, Buch 7-12, S. 399: »271 f., Diomedeae aves (Plin. NH 10.126) […] have been identified by Warde Fowler as shearwaters (eine Art Albatros)«. Servii Grammatici in Vergilii Aeneidos Librvm Undecimvm Commtentarivs, in: http://www. perseus.tufts.edu/cgi-bin/ptext?lookup=Serv.+A.+11.271 (Stand: 16.06.2008), S. 271: hae aves hodieque Latine Diomedeae vocantur, Graeci eas erôdious dicunt.
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Familie – ein Kapitel mit einer entsprechenden Illustration. Das heißt, Servius setzt den herodius nicht mit der ardea gleich, sondern mit der diomedea.35 3. Noch eine andere Bezeichnung findet sich schließlich bei Isidor, dem ›Lexikon des Mittelalters‹, der die etymologische Erklärung des Servius für ardea übernimmt und hinzufügt: ardea […] Hanc multi tantalum nominant, d. h. ›viele nennen sie tantalus‹.36 Hier haben wir die Gleichung: ardea gleich tantalus.37 Gemäß den oben erwähnten Einträgen im Physiologus und den Bestiarien ist also herodius gleich fulica gleich diomedea und ardea gleich tantalus. Im Mittelalter existieren demnach, wie gesagt, zwei oder drei Sachen, und wir haben mindestens fünf lateinische Namen plus zwei volkssprachliche, d. h. gut sieben Namen, um sie zu bezeichnen.38 Diese komplizierte Situation wird von den verschiedenen Artikeln der Enzyklopädisten des 13. Jhs. gespiegelt, die systematisch das ganze Wissen
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Zu den Vögeln des Diomedes: Isidori Hispalensis Episcopi Etymologiarum sive Originum Libri XX, Wallace Martin Lindsay (Hrsg.), Oxford 1911, Buch XII, 7, 28-29: Diomedias aves a sociis Diomedis appellatas, quos ferunt fabulae in easdem volucres fuisse conversos; forma fulicae similes […]. Isidor von Sevilla, Etymologiae (Anm. 35), Buch XII, 7, 21. Vgl. Isidorus Hispalensis Etymologiae XII, Jacques André (Hrsg.), Paris 1986, S. 239: ardea […] Hanc multi tantalum nominant, und Anm. 476: , »d’après Tantale, le héros de la mythologie debout au milieu de l’eau.« Jacques André, Les Noms d’Oiseaux en Latin, Paris 1967 (Etudes et Commentaires 66); vgl. Filippo Capponi, Ornithologia latina, Genova, Istituto di Filologia Classica e Medioevale, 1979, p. 479; Le Nouveau Petit Robert, Paris 2007, Art. »Tantale«: »Zool. oiseau échassier d’Amérique centrale, voisin de la cigogne«. Vom 13. Jh. an findet man in den lat. Bestiarien der 3. Familie je ein Kapitel für fulica, diomedea und ardea (in der Regel von einer Illustration begleitet), nicht aber für herodius, der oft mit einem oder mehreren dieser Vögel gleichgesetzt wird. Im 15. Jh. erst hat das jüngste Exemplar der Bestiarien, Ms. Cambridge, University Library, Gg. 6.5, einen Artikel für herodius (nicht aber für ardea) mit einer guten Illustration eines Falken; vgl. George/Yapp, The Naming of the Beasts (Anm. 27), S. 3 u. 26, und William Brunsdon Yapp, »Medieval Knowledge of birds as shown in bestiaries«, in: Archives of Natural History, 14, H. 2/1987, S. 175210, S. 196. Beim Bestiarium im Ms. Cambridge, University Library, Gg. 6.5 handelt es sich jedoch um eine Mischform; vgl. Baudouin Van den Abeele, »Un Bestiaire latin à la croisée des genres. Le manuscrit Cambridge UL Gg.6.5 (›quatrième famille‹ du Bestiaire latin)«, in: Reinardus, 13/2000, S. 215-236 und Ill. 30-31. Clark, A Medieval Book of Beasts (Anm. 32), S. 1-116, v. a. S. 23-25. »The Second-family compiler’s sources«.
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– sowohl folkloristisches wie wissenschaftliches – , das sich seit der Antike bis zu ihrer Zeit angesammelt hat, sorgfältig aufzeichnen.39 Vincent de Beauvais40 widmet jeder dieser Bezeichnungen einen eigenen Eintrag: der ardea, dem girfalco (wobei er sagt: girfalco idem dicitur esse quod herodius, de quo plenius dicetur inferius), dem herodius, der diomedea und der fulica, deren Beschreibung sich aber oft überschneidet, nicht nur im Falle des girfalco-herodius. Unter dem Titel de ardea, & ardeola, & asalon, & asida übernimmt Vincent die Beschreibung des Servius und Isidor: ardea dicitur quasi ardua propter arduos volatus, […] hanc multi tantalum vocant. Die Überschrift jedoch mit ihren vier Begriffen, unter welchen Vincent auch den umstrittenen hebräischen Begriff asida des Psalms 103 zitiert, zeigt, dass es sich nicht um eindeutige Verweise handeln kann.41 Weiter sagt Vincent, im Kapitel über den Herodius, dem er, anders als die Bestiarien und Albertus, ein eigenes Kapitel widmet: Isidor. Herodios Greci vocant, quos Latini Diomedeas aues, de quibus videlicet supra dictum est. Glos. super Psal. 103. Herodius est auis rapacissima, omnium volatilium maior, & aquilam vincit. Glos. super Deuter. Herodius vulgo gyrofalco dicitur, & rapit aquilam. Vincent zitiert zuerst nach Art eines gewissenhaften Gelehrten seine Vorgänger, die wir zum Teil schon kennen: Isidor42 und Hieronymus zu Ps 103, 17 (s. S. 81), – den er, wie er selbst sagt, aus der Glossa ordinaria übernommen hat. Dann fügt er die Interlinearglosse der Glossa ordinaria zu herodius in Dt 14, 16 (s. S. 84) _____________ 39
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Im Folgenden gebe ich die vier großen Enzyklopädisten des 13. Jhs. an und die von mir benutzten Ausgaben: Thomas Cantimpratensis [1272], Liber de natura rerum, Helmut Boese (Hrsg.), Berlin, New York 1973; Vincentius Bellovacensis [um 1264], Speculum Quadruplex sive Speculum Maius, Graz 1964, Bd. 1: Speculum naturale; Albertus Magnus [1280], De animalibus Libri XXVI, 2 Bde, Hermann Stadler (Hrsg.), Münster 1916-20; Bartholomaeus Anglicus [1272], De proprietatibus rerum, [Basel]: [Berthold Ruppel], [um 1470] (Impressum gem. Gesamtkatalog der Wiegendrucke). Im Rahmen dieser Studie ist es mir nicht möglich, jeweils die Artikel aller Enzyklopädisten zu besprechen. Vincentius Bellovacensis, Speculum naturale (Anm. 39), S. 1180: lib. decimussextus, cap. XXXVIII, de ardea, & ardeola, & asalon, & asida. Ganz am Schluss seines Artikels sagt Vincent: Auctor [d. h. Vincent] asida iuxta Physiologum ipsa est struthio de qua dicetur infra. (Interessant ist, dass Vincent asida mit ardea und struthio gleichsetzt und nicht, wie Hieronymus, mit herodius); S. 1195, cap. LXVIII De Diomedais avibus; S. 1201, cap. LXXVI, De Fulica; cap. LXXXVII De girfalcone et gosturdo; S. 1212, cap. XCV De Herodio. Vgl. Anm. 10. Vgl. Anm. 35.
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hinzu.43 Schließlich gibt er unter Auctor seine eigene, sehr genaue Beschreibung des Gerfalken, die derjenigen seiner Zeitgenossen entspricht.44 Auch für Vincent ist herodius der gelehrte Name für den Gerfalken und auch bei ihm muss die Tradition der Bibelexegese diese Interpretation bekräftigt haben. Gemäß den verschiedenen Artikeln bei Vincent ergibt sich somit die Gleichsetzung: herodius gleich vulgo gyrofalco gleich diomedea gleich fulica. Im Gegensatz zu Vincent, der jedem einzelnen Wort – auch den ›Synonymen‹ – einen eigenen Eintrag mit Querverweisen widmet, versucht Albertus Magnus, die Dinge zu ordnen und zu gruppieren. Anders als Vincent widmet er dem herodius keinen Eintrag, sondern bespricht ihn im Kapitel über den Adler und sagt, dass es der größte und sozusagen der heros der Adler sei. Dagegen beschreibt er in einem eigenen, langen Kapitel den Gerfalken, den Vincent dem herodius gleichsetzt, und unterscheidet ihn deutlich von den anderen genannten Vögeln.45 Die Beschreibung der ardea _____________ 43 44 45
Vgl. Anm. 18. Vincentius Bellovacensis, Speculum naturale (Anm. 39), S. 1212, cap. XCV: De Herodio. Albertus versucht, die verschiedenen Begriffe einer Gattung zuzuordnen. Er übernimmt unter de ardea die Einteilung des herodius in drei Arten von Aristoteles und Hieronymus (Anm. 3): Vgl. Albertus Magnus, De animalibus (Anm. 39), Bd. 2, S. 1440, xxiii, 20-21: Ardea quam quidam ardeolam quidam autem tantalum vocant […] Ardearum aput nos tria inveniuntur genera unum quidem cinereum acuti rostri et longi colli et aliud totum album in figura per omnia simile dicto, et est melius pennatum eo: tertium habet longius collum et rostrum ante rotundum sicut sit circulus super circulum: et ideo cocliarium vocatur, et est totum album. […]; Albert the Great, Man and the Beasts, de animalibus (Books 22-26), James J. Scanlan (Übers.), Binghamton, New York 1987 (Medieval and Renaissance Texts and Studies 47), S. 200-01, xxiii, 20-21: »Ardea (Heron) is a bird that some call ›ardeola‹ and others call ›tantalus‹ […] In our country three species of herons are recognized. The first is ash-grey in color and has a sharp beak and long neck. The second is similar in profile but is completely white and has a more luxuriant plumage. The third has a longer neck and a rounded beak whose mandibles come together in front like one ring fitting into another; for this reason it is called the spoonbill [cocliarium]; it too is totally white.« Über den herodius, dem er keinen eigenen Eintrag widmet, sagt Albertus Bd. 1, S. 463, vi, 54: Invenitur autem unum genus accipitrum, quod suum nidum facit in locis valde altis inaccessibilibus […] hoc praecipue faciunt herodii aput nos; und Bd. 2, S. 1156, xvii, 22: Dico autem herodium aquilam magnam nigram quae ideo herodius dicitur quia heros est avium. / Iste enim modus avium est calidissimae naturae. Bd. 2, xxiii, 7 de aquila sagt er noch einmal: Omnis enim aquila viget acumine visus, maxime vero illa quae nobilis aquila vocatur et haec herodius Latine, quasi heros avium vocatur. Albert the Great, Man and the Beasts, S. 190-91: »Every species of eagle is noted for its sharp sight, especially that noble bird known as ›herodius‹ in Latin. The latter is called by this name as if it were the ›heros‹ (hero) of all birds.« Albertus unterscheidet deutlich den herodius, von welchem er sagt, dass er eine Art Adler ist, vom gyrofalco, dem er ein ganzes, sehr
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übernimmt Albertus vom herodius des Aristoteles, wobei er die Geschichte mit den blutigen Tränen bei der Paarung für unglaubwürdig hält (s. S. 82). Bei Albertus ist also der mittelalterliche herodius eine Art Adler, der gyrofalco der Gerfalk und die ardea sozusagen korrekterweise der aristotelische herodius, d. h. wir haben drei Wörter und drei Sachen. In den Miniaturen der Bestiarien, die gewissermassen eine Zwischenposition zwischen den Enzyklopädisten und der volkssprachlichen Situation einnehmen, wird diese Sachlage illustriert. Im Bestiarium der dritten Familie des Manuskripts, London, Westminster Abbey, 22, aus dem 13. Jh. zeigt eine Miniatur ein ziemlich gutes Bild der ardea – auch wenn der typisch S-förmige Hals, der den Reiher vom Storch unterscheidet, fehlt.46 In den lateinischen Bestiarien gibt es kein Kapitel herodius, welcher der diomedea und der fulica gleichgesetzt wird, die ihrerseits ebenfalls austauschbar sind. Diese Unklarheiten spiegeln sich in den Darstellungen der Miniaturen wieder: Diomedea und fulica sehen beinahe gleich aus, die Diomedea hat zwar etwas komische Füße (Raubvogel oder Wasservogel?), die fulica dagegen eindeutig Füße eines Wasservogels.47 Erst in einem der letz_____________
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ausführliches Kapitel widmet: Bd. 2, S. 1458-61, xxiii, 53: de gyrofalcone. Vgl. An Smets, Des faucon. Les quatre traductions en moyen français du De falconibus d’Albert le Grand. Analyse lexicale d’un dossier inédit (Thèse de doctorat non publiée), Leuven 2003, Bd. I, S. 172-174, »Des faucons«; An Smets / Baudouin Van den Abeele, »Manuscrits et Traités de Chasse français du Moyen Age. Recensement et perspectives de recherches«, in: Romania 116/1998, S. 316367, hier S. 339. An Smets, »Les traductions françaises et italiennes du De falconibus d’Albert le Grand. Etude comparative de la structure et du lexique médical«, in: The Medieval Translator. Traduire au Moyen Âge, 10/2004, S. 207-221. Ms. London, Westminster Abbey, 22 (13. Jh. – ein Bestiarium der 3. Familie), fol. 42r/36r, ardea; vgl. Yapp, Medieval knowledge of birds (Anm. 38), S. 187; dagegen findet man im lat. Bestiarium Ms. Aberdeen, University Library, 24, fol. 53v. eine sehr gute Darstellung eines Reihers mit dem typischen Hals in S-Form: http://www.abdn.ac.uk/bestiary/translat/53v.hti (Stand: 22.05.2008). George/Yapp, The Naming of the Beasts (Anm. 27), S. 2f., die Einteilung der lat. Bestiarien in Familien: Familie IIA, Ms. Aberdeen, 24 (1175-1200); Familie III Ms. Westminster 22 (1261-1299); Familie IV, Ms. Cambridge, University Library, Gg. 6.5 (15. Jh.). Clark, A Medieval Book of Beasts (Anm. 38), S. 23-25: »The Second-family compiler’s sources« und S. 115: über die Beziehung zwischen den Bestiarien und den Enzyklopädien des 13. Jh. Ms. London, Westminster Abbey, 22, fol. 43v/37v, »Diomedea«: Sunt circa apuliam in insula diomedia aues quedam inter scopulos litorum uolitantes forma fulice similes magnitudine et colore cignorum duris et grandibus rostris. Rapaces et auide […]; »es gibt bei Apulien auf einer Insel diomedia aves, die in den Klippen der Küsten herumfliegen, an Gestalt der fulica, an Größe und Farbe den
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ten Bestiarien aus dem 15. Jh. zeigt eine Illustration eines herodius einen Falken.48 Dieser kurze Abriss über die Geschichte und das Wort- und Bedeutungsfeld von ardea und herodius und ihre Konkurrenten wäre nicht vollständig ohne Linné. Der schwedische Forscher, der im 18. Jh. das Tierreich ordnet und großen Bedarf an Namen für seine differenzierten Bezeichnungen hat, gebraucht nun gerade die Namen wieder, die verfügbar sind, weil es sich um Dubletten handelt oder weil man vergessen hat, was sie genau bezeichnen: In seiner Taxonomie ist der falco rusticolus der Gerfalk, die fulica ein Blässhuhn, die diomedea eine Art Albatros,49 der tantalus wird zu einer Art Storch, und der herodius wird wieder der ardea beigesellt. Das Neunauge50 Im Falle des Neunauges hat eine ähnliche Entwicklung stattgefunden, doch in gewisser Weise gerade in umgekehrter Richtung: Im Mittelalter existiert ein lateinisches Wort, murena, das zwei Sachen bezeichnet, nämlich einerseits die Muräne des Mittelmeers, die im Norden nicht vorkommt und welche deswegen in Nordeuropa unbekannt blieb, und andererseits einen anderen langen, aalartigen Fisch, die lamproie (oder auf Deutsch das Neunauge), der seinerseits im Süden nicht vorkommt. Bis zum 16. Jh. wurden also in der gelehrten Sprache mit murena zwei verschiedene, lange und fischartige Sachen bezeichnet, wobei das tertium comparationis wohl ihre aalförmige Gestalt ist. Dieser Sachverhalt wird einmal _____________ 48
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Schwänen ähnlich, und sie haben harte und große Schnäbel«; und Ms. London, Westminster Abbey, 22, fol. 43r/37r, »Fulica«. Ms. Cambridge, University Library Gg. 6.5, fol. 67v, herodius; vgl. Yapp, Medieval knowledge of birds (Anm. 38), S. 187; George/Yapp, The Naming of the Beasts (Anm. 27), S. 141-42: Miniatur, Ms. Cambridge, University Library Gg. 6.5. Vgl. Van den Abeele, »Un Bestiaire à la croisée des genres« (Anm. 38), S. 215-236. http://en.wikipedia.org/wiki/Great_Albatros (Stand: 24.06.2008); http://gdz.sub.uni-goettingen.de (Stand: 23.06.2008): S. 65. ›Diomedea‹. Die Bezeichnung ›Diomedea avis‹ ist im Mittelalter problematisch, da der Albatros in Europa nicht bekannt war. Für die folgenden Ausführungen vgl. Clara Wille, »Murena id est lampreda«, in: Reinardus, 20/2007, im Druck.
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mehr von den anglonormannischen Glossen aus dem 13. Jh. bestätigt, die wir in der erwähnten Sammlung von Texten in englischen Manuskripten finden: auf 24 Erwähnungen des Wortes murena in den lateinischen Texten finden wir 24 mal murena id est lamproie, lampreye, etc., wobei mit lamproie (›Lamprete‹) das Neunauge gemeint ist, das eine sehr begehrte Delikatesse und äußerst beliebt am Tisch der Könige und der Reichen war.51 Neben murena existierte seit dem 5. Jh. in Gallien das volkssprachliche Wort naupreda oder lampreda.52 Dieses im klassischen Latein nicht existierende Wort naupreda oder lampreda wurde volkssprachlich anstelle des gelehrten Erbwortes murena gebraucht. In den lateinischen Bestiarien der dritten Familie gibt es den Eintrag murena mit der dazugehörigen Illustration, welche eindeutig eine lampreda, ein Neunauge, darstellt.53 Sie ist gut erkennbar an ihren sieben Öffnungen auf beiden Seiten, was ihr in den französischen Dialekten den Namen bête à sept trous oder sept yeux eintrug. Beim deutschen Neunauge wurden wohl noch die Augen und die Fistel
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Hunt, Teaching and Learning Latin (Anm.19), Bd. 3: auf 24 Erwähnungen 24 mal: murena = lamproie, lampreye etc. Antoine Thomas, »Le Laterculus de Polemius Silvius«, in: Romania 35/1906, S. 161-197, hier S. 185-187. Ms. London, Westminster Abbey, 22, fol. 44v/50v: Murenam Greci murinam uocant, eo quod complicet se in circulos. Hunc feminini sexus tantum esse tradunt et concipere a serpente. Ob id a piscatoribus tanquam a serpente sibilo euocatur et capitur. Ictu autem fustis difficulter interimitur; ferula protinus. Animam in cauda habere certum est. Nam capite percusso uix eam interimi cauda statim exanimari. Hunc uulgo nauipredam uocant eo quod naui rostro adherens a nautis capi soleat. Sunt et alii pisces […]; »Die Griechen nennen die murena ›murina‹, deshalb weil sie sich in Ringe wickelt. […] Diese nennen sie im Volk nauipreda, weil die Seeleute, wenn sie sich am Vorderteil des Schiffes festsaugt, sie zu fangen pflegen«; vgl. Alanus Flandrensis, Ms. Paris, Bibliothèque nationale de France, f. lat. 7481, fol. 157r, der in seinem Kommentar zu den Prophetie Merlini, entstanden in Frankreich im 12. Jh., im Zusammenhang mit derselben Geschichte kommentiert: Est autem ›murena‹ piscis, qui latine ›lanpreda‹ uocatur; Niermeyer/Van de Kieft (Anm. 28): »lampreda […] lamproie – lamprey – Neunauge. Pisces qui v u l g o lampredi vocantur.« Vgl. Isidor, Etymologiae (Anm. 35), Buch XII, 6, 43: Muraenam Graeci μύριναν vocant, eo quod conplicet se in circulos. Alle diese Zeugen sagen, dass muraena ein aus dem griechischen stammender latinisierter, und folglich gelehrter, Begriff ist, und dass sie vulgo oder gemäss Alanus sogar latine lampreda heisst. Lampreda existiert im klassischen Latein nicht und gem. dem Zeugnis des Alanus scheint latine dem vulgo zu entsprechen.
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auf dem Kopf dazu gezählt, wie es auch die Miniatur in der Handschrift 22 der Westminster Abbey darstellt.54 Parallel dazu existiert das Wort murena weiter zur Bezeichnung der ›echten‹ Muräne des Mittelmeers, dringt aber weder ins Französische ein, wo der Platz von der lamproie, noch ins Deutsche, wo er vom Niunouge belegt ist. Erst im 14. Jh. ist die Muräne im Deutschen und im 16. Jh. murène im französischen Sprachschatz belegt zur Bezeichnung dieses relativ unbekannten, für diese Gegenden neuen und exotischen Tiers. Das Wort naupreda ist, wie gesagt, schon im 5. Jh. zum ersten Mal belegt, bezeichnenderweise im gallischen Vocabularium des Polemius Silvius, und darauf im 8. Jh. in einem Text, der in der Gegend von Nantes entstanden ist.55 Nantes war im Mittelalter berühmt für seine lamproies, so wie Brie für seinen Käse und Dijon für den Senf.56 Und schließlich setzt sich auch hier der volkssprachliche Ausdruck lampreda für eine einheimische Sache durch.
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Eugène Rolland, Faune populaire de la France, Paris 1877, Bd. 3, S. 97. Vgl. Caius Plinius Secundus der Ältere, Naturkunde, Roderich König (Übers. u. Hrsg.), Darmstadt 1973ff., IX,76: In Gallia septentrionali murenis omnibus dextera in maxilla septenae maculae ad formam septentrionis aureo colore fulgent. »Im nördlichen Gallien haben alle Muränen an der rechten Kinnlade sieben Flecken von der Gestalt des Großen Bären.« Dagegen erwähnt Albertus Magnus, der keinen Eintrag lampreda in seinem Buch über die Fische hat, im Kapitel »murena« eine Art, die das vulgus novem oculi nennt. Vgl. Kluge/Seebold, Etymologisches Wörterbuch (Anm. 27): »Neunauge ›Lamprete‹ (< 10. Jh.) niunouga«; und »Muräne (< 14. Jh.)«. Polemii Silvii Laterculus (Anm. 14), S. 543f.: Nomina Cunctarum Spirancium […] Item natancium; »Vita Ermenlandi Abbatis Antrensis auctore Donato« [s. viiiex/ixin], in: Monumenta Germaniae Historica SS Rer. Merov. Bd. 5, Bruno Krusch, Wilhelm Levison (Hrsg.), Hannover 1910, S. 674-710, hier: cap. 8, S. 695f. Bruno Laurioux, Une histoire culinaire du moyen âge, Paris 2005, S. 351 und Anm. 87: Im Ms. Paris, Bibliothèque nationale de France, f. fr. 837, fol. 225v.b-226r.b und fr. 19152, fol. 71 r.b-v.b. findet man eine Liste, ›Concile d’Apostole‛ genannt, die gewisse Produkte bestimmten Städten zuordnet.
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Der Igel57 Der Igel wird im Lateinischen mit drei Wörtern bezeichnet, einerseits das latinisierte griechische Wort echinus, und andererseits zwei Adjektive, die vom klassisch lateinischen Wort er, ›Igel‹, abgeleitet sind, nämlich ericius und erinacius. Der Philologe Manu Leumann bemerkt dazu: »ericius: ›(wie ein) Igel‹ Varro Men. 490;58 ›Igel‹ Ambr. romanisch; ›eine Kriegsmaschine‹ Caes. Sall., vielleicht als Materialadjektiv in der Soldatensprache entstanden ›aus Igel (er) bestehend‹«.59 Gemäß Leumann ist die übertragene Bedeutung des Adjektivs ericius, ›aus Igel (er) bestehend‹ (bei Caesar und Sallust belegt), älter und hat erst bei Ambrosius die Bedeutung ›Igel‹.60 Ambrosius bemerkt im Exameron VI, 4, 20: echinus iste terrenus, quem vulgo iricium vocant, was später von Isidor in seinen Etymologiae übernommen wird: Echinus a terrestro echino nomen traxit, quem vulgus iricium vocant.61 Ambrosius und Isidor halten somit den latinisierten griechischen Begriff echinus für das gelehrte Pendant des volkssprachlichen, d. h. romanischen Wortes _____________ 57
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Für die folgenden Ausführungen vgl. Clara Wille, »Quelques observations sur le porc-épic et le hérisson dans la littérature et l’iconographie médiévale«, in: Reinardus, 17/2004, S. 181203. Vgl. M. Terentii Varronis Saturarum Menippearum Fragmenta, Raymond Astbury (Hrsg.), Leipzig 1985, S. 489, 490: atque invenisse se […] esse factum ericium cum pilis albis […]. Manu Leumann, Lateinische Laut- und Formenlehre, München 1977 (Neuausgabe der 19261928 in 5. Auflage erschienenen ›Lateinischen Laut- und Formenlehre‹), S. 302,2: »Adjektive auf -icius, c) Isoliertes. ericius« und S. 287,4: »Adjektive auf –aceus (nur späte Orthographie –acius) […] Scherzbildungen gallin-aceus […]. erinaceus Vulg. (iren- Plin., nach εἰρήνη) ›Igel‹ von er nach gall-inaceus (der Igel liebt die Hühnereier).« Vgl. ThLL (Anm. 2), »echinus«, »ericius« und »erinaceus«. Walter von Wartburg, Französisches Etymologisches Wörterbuch, eine Darstellung des galloromanischen Sprachschatzes (= FEW), Leipzig, Bonn, Basel 1928ff., Bd. 3, S. 238, »ericius igel: das lt. hatte 2 ablt. von ER ›igel‹ zur bezeichnung dieses tieres, ERINACIUS und ERICIUS. Die rom. sprachen haben nur die letztere behalten: […] Ein schon lt.*ERICIONE hätte *erçon ergeben müssen. Immerhin ist im norden in noch vorliterarischer zeit die ablt. auf -ONE an die stelle des simplex getreten«. Erstes Auftreten von herisson: vgl. F. Godefroy (Anm. 26), und Adolf Tobler / Edgar Lommatzsch, Altfranzösisches Wörterbuch, Berlin 1925 ff.: »heriçon s.m.: Ph. Thaon Best. (xiie siècle): heriçon.« Sancti Ambrosii Opera, Pars Prima, Carolus Schenkl (Hrsg.), Vindobonae 1897 (Repr. New York 1962.), Exameron VI, 4, 20, S. 216: echinus iste terrenus, quem uulgo iricium uocant, si quid insidiarum praesenserit, spinis suis clauditur atque in sua se arma colligit […]; Isidor, Etymologiae (Anm. 35), XII, 6, 57.
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ericius. Andere Kommentatoren, insbesondere die Grammatiker, sagen jedoch, dass erinacius und nicht ericius das korrekte Wort für ›Igel‹ ist.62 Drei Wörter für eine Sache – dies wurde also schon früh als Problem empfunden, aber die Diskussion führte zu keinem eindeutigen Resultat. Die Identität des Igels war jedoch kein Diskussionsgegenstand. Das sollte aber nicht immer so bleiben, denn bei einer solchen Vielfalt von quasi synonymen Begriffen lag es nahe, einen spezifischen Ausdruck für eine bestimmte Igelart zu reservieren. Im 5. Jh. versucht der Gallier Eucherius in seinen Instructiones, mit welchen er die Bibel kommentiert, die beiden Wörter erinaceus und ericius auseinander zu halten und nimmt dabei einen vierten Begriff (der auch aus der Vulgata stammt) zu Hilfe, so dass zu einem lateinischen Wort je ein gelehrter griechischer Begriff gehört: Erinacei χοιρογρύλλιοι (choirogryllioi) nuncupantur, prope magnitudine mediocrium cuniculorum de cauernis petrarum procedentes gregatim; in heremo quae est contra mare Mortuum depascuntur. Ericii qui ἐχῖνοι (echinoi) dicuntur ita spinoso defenduntur tegmine, ut ne contingi quidem possint.63 Die Einführung des choerogryllos erklärt sich durch den Einfluss des Alten Testaments, das neben dem ericius,64 (h)erinacius65 auch den choerogryllos66 nennt. Die biblische und gelehrte Tradition hat uns also zwei griechische und zwei lateinische, d. h. vier Na_____________ 62
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Vgl. ThLL (Anm. 2), »erinacius: […] Cassiod. in psalm. 103,18: ›herinacius‹ est quem vocamus ›hericium‹ animale armatum«. Erinacius ist demnach die Form bei Plinius, in der Bibel und in Glossaren. Grammatici Latini, Heinrich Keil (Hrsg.), Hildesheim 1961, S. 577-78: »De Dubiis Nominibs: […] Erinaceus, non ericius. tamen Rabirius, portarumque fuit custos ericius«; auch dies bezeugt ein Unbehagen angesichts dieser Dublette. Eucherii Lugdunensis, Instructionum Libri Duo (Anm. 13), II, S. 210-11: »Die erinacei werden choirogryllioi genannt, weil sie die Grösse eines mittleren Kaninchens haben, und kommen scharenweise aus den Höhlen; sie leben in der Wüste, die ans Tote Meer grenzt. Die ericii, die man auch echinoi nennt, werden von einem so stachligen Fell bedeckt, dass man sie nicht berühren kann.« Vulgata Is 14, 23; 34, 11; und 15; Sophon 2, 14. Novae Concordantiae (Anm. 2), Ps 102, 18. Novae Concordantiae (Anm. 2), Choerogryllus: »Levit 11,5 (Choerogryllus, qui ruminat); Dt 14, 7: (Ut camelum, leporem, choerogryllum.)«; Vgl. ThLL (Anm. 2), »choerogryllius« und Corpus Glossariorvm Latinorvm (Anm. 16), II, 477, 45 und III 431, 44, V 565, 39, die Glossen zu Lev 11, 5 resp. zu Dt 14, 7; und, z. B. auch ThLL (Anm. 2), »choerogryllius« und »erinaceus«: »HIER. epist. 106, 65 pro quo (erinaciis) […] omnes χοιρογρυλλίοις voces simili transtulerunt exceptis Septuaginta, qui ›lepores‹ interpretati sunt. sciendum […] animal esse non maius ericio, habens similitudinem muris et urse, unde in Palestina ἀρκόμυς dicitur.« Vgl. Thomas, »Le Laterculus« (Anm. 52), S. 165; Lexicon Totius Latinitatis, Aegidio Forcellini u. a. (Hrsg.), Patavii 1965, Bd. 1, S. 605, Art. »choerogryllus«; die Beschreibung des Vincentius in Anm. 69.
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men vererbt, die Eucherius so zu ordnen versucht, dass choirogryllius der erinaceus ist, ein Tier, das in der Nähe des Toten Meeres lebe, und echinus der ›romanische‹ ericius. Parallel dazu existierte seit jeher der griechische Name hystrix (›das Tier mit den aufwärts gerichteten Haaren/Stacheln‹, d. h. ›Stachelschwein‹),67 der als istrice in der italienischen Sprache weiterlebt. Im 5. Jh. erscheint bei Hesychos statt ὕστριξ die Zusammensetzung ἀκανϑόχορος (akanthochoros) (ἄκανϑος ›Stachel‹ + χοῖρος ›Schwein‹), welche offensichtlich ins Lateinische porcus spinosus umgesetzt worden ist, wovon dann die galloromanischen Formen stammen.68 Nun aber bezeichnet porc-épic in der Romania schon immer sowohl den Igel als auch das ›echte‹ Stachelschwein – das zwar in Europa im 1. Jh. nach Chr. eingeführt wurde, jedoch nur im Süden Italiens lebt und so selten vorkommt, dass es wenig bekannt ist. Bei diesen Sachen bilden die Stacheln das tertium comparationis, und ihre Namen bezeichnen eigentlich einfach eine stachlige Sache, etwas Igeliges, ein Borstentier. Die Enzyklopädisten des 13. Jhs. versuchen die Sache zu ordnen, was jedoch, wie oft, die Lage nur kompliziert. Vincent de Beauvais zum Beispiel fasst nach seiner Art die ganze Tradition zusammen und kommentiert in sieben Artikeln, deren Inhalt sich oft überschneidet, die Bezeichnungen: De chaerogryllo, De erinacio, & ermineo, De hericio, De medicinis ex hericio, De histrice, De icino & inacli und De sciuro & scurulo, & stryge.69 Die latei_____________ 67
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Theodor Thalheim, Art. »Echinos«, in: Pauly-Wissowa, Realencyclopädie Bd. 5, 2/1905, Sp. 1921-22 und August Steier, Art. »Stachelschwein« in: Pauly-Wissowa, Realencyclopädie Zweite Reihe, Bd. 3 (5. Halbband)/1927, Sp. 1927-1929. Liddell/Scott, Greek-English Lexicon (Anm. 2), S. 1996: »χοῖρος, ὁ: young pig, porker, offered as one of the smaller sacrifices; generally = ὑς swine«; und »χοιρογρυλλος wrongly explained by Hesychius lexicographus […] and Suid. ἀκανϑόχοιρος, ὓστριξ, ἐχῖνος χερσαῖος«; FEW (Anm. 60), Bd. 9, S. 189-192, S. 191: »porcus: Bei beiden (porc-espin und porcépi) hat auch übertragung des namens auf ein einheimisches tier, den igel, stattgefunden.« Rolland, Faune (Anm. 54), VII, S. 38-41. Vincentius Bellovacensis, Speculum naturale (Anm. 39): XXXV De chaerogryllo: Chaerogryllus est animal spinosum, & ericio simile. Auctor. […] legitur, quod maius sit ericio, spinosum tamen, unde patet quod quidam falso dixerunt hunc esse cuniculum; »Der ›chaerogryllus‹ ist ein stachliges Tier, und dem Igel ähnlich. Auctor […] man liest, dass er grösser ist als der Igel, aber stachlig, weshalb klar ist, dass gewisse fälschlicherweise sagten, dass es ein Kaninchen sei« (vgl. die Beschreibung des Hieronymus in Anm. 66); LV De Erinacio, & ermineo: Erinacius qui & cherogryllus, est animal, procelli formam habens […]; »Der ›Erinacius‹, der auch ›cherogryllus‹ heisst, ist ein
Tiernamen im romanischen Mittelalter
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nischen Bestiarien des 13. Jhs. dagegen stehen wiederum mit ihren drei Einträgen sozusagen zwischen der volkssprachlichen Situation und derjenigen der Enzyklopädisten.70 Sie enthalten alle ein Kapitel ericius (oder erinacius), welches sie aus dem Physiologus übernommen haben, und welches oft von einer Miniatur begleitet wird, die einen Igel darstellt.71 In einem anderen Kapitel mit dem Titel choerogryllus beschreiben sie ein Tier, das sie mit dem sciurus gleichsetzen, und die Miniatur stellt jeweils das einheimische Eichhörnchen dar.72 Schließlich haben die Bestiarien ein Kapitel strix, _____________
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Tier, das die Gestalt eines Schweinchens hat […]«; LIX De hericio: Hericius est animal spinosum; LX De medicinis ex hericio; LXIII De Histrice: Histrix in Aethiopia frequentissime herinatio similis est. Histrix est bestia quae vulgo porcus spinosus dicitur […] canes vel homines vulnerat proximantes; »›Histrix‹ ist häufig in Aethiopien und gleicht dem ›herinacio‹. ›Histrix‹ ist ein Tier, das gewöhnlich ›porcus spinosus‹ genannt wird […] welches Hunde und Menschen, die sich nähern, verletzt;« LXIV De Icino & Inacli: […] Icinus est animal terrestre, quod vulgus ericium vocat, a quo icinus marinus nomen traxit. Auctor. […] Icinus autem terrenus similiter pluribus appellatur nominibus, scilicet, echinus, & ericius, & herinacius, etc.; »›Icinus‹ (›echinus‹) ist ein Landtier, das man gewöhnlich ›ericius‹ nennt, von welchem der ›icinus marinus‹ seinen Namen hat. Auctor […] Der Land-›Icinus‹ jedoch wird gleichzeitig mit mehreren Namen benannt, D. h. ›echinus‹, & ›ericius‹, & ›herinacius‹, etc.«; CV, De Sciuro, & scurulo, & stryge: [strix] ipsa est enim porcus spinosus. Vgl. George/Yapp, The Naming of the Beasts (Anm. 27), Introduction S. 1-28: Das lat. Bestiarium im Ms. London, Westminster Abbey, 22, gehört zur 3. Familie (13. Jh.). Während die ›klassischen‹ Artikel der Bestiarien immer aus einem sozusagen wissenschaftlichen und einem moralischen Teil bestanden, haben die später hinzugefügten Artikel keine Moral mehr, was nahelegt, dass sich das Interesse verlagert hat und die Bestiarien für einen schulischen Gebrauch benutzt wurden. Vgl. Clark, A Medieval Book of Beasts (Anm. 32), Einleitung, S. 1-116, v. a. S. 114-116. Ms. London, Westminster Abbey, 22, fol. 29r/35r: ericius animal est spinis coopertum […] Di[s]citur etiam echinus. Es scheint, dass im mittelalterlichen Latein des 12. und 13. Jhs. die Form erinacius sehr häufig ist; zudem wurde das Wort ericius/erinacius auch für den Meerigel gebraucht. Dictionary of Medieval Latin from British Sources, ›ericius‹: […] erinacius sive ericius animal est spinosum cujus due sunt species, sc. aquaticus et terrestris. Vgl. Kluge/Seelbold, Etymologisches Wörterbuch (Anm. 27): »Igel«; und Pokorny (Anm. 4): »eghi- ›Igel‹«: das griechische echinus ist in die germanischen Sprachen übernommen worden, und Walde/Hofmann (Anm. 4) »er«: das lateinische er in die romanischen Sprachen. Anglo-Saxon and Old English Vocabularies (Anm. 17), S. 19, 39: »Ericius, iil« (Anglo-Saxon Vocabulary, 8. Jh.), vgl. Anm. 73; Rolland, Faune (Anm. 54), VII, S. 38-41. Ms. London, Westminster Abbey, 22, fol. 28v/34v: chyrogrillus et pirulus alio nomine dicitur; vgl. Anm. 68 und den Kommentar des Eucherius S. 97; George/Yapp, The Naming of the Beasts (Anm. 27), S. 23 cyrogrillus (sciurellus). Bei chyrogrillus handelt es sich wiederum um eine aus der Vulgata geerbte ›Hülle‹, die als gelehrtes Wort einer neuen Sache zugeordnet wird.
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Clara Wille
dessen Illustration eindeutig ein Stachelschwein zeigt, das mit seinen Stacheln auf den es verfolgenden Hund schießt.73 Wir haben es also mit mindestens sieben Wörtern zu tun, die eine (bis drei) Tierarten bezeichnen. Schlussbemerkungen Zusammenfassend kann man sagen, dass bei der Benennung von Sachen mit Wörtern ein Spannungsverhältnis zwischen der geschriebenen, wissenschaftlichen Tradition und dem volkssprachlichen, ›mündlichen‹ Ausdruck besteht. Es entstehen, besonders bei den Übergängen von einer Sprache in eine andere, Dubletten. Diese bleiben manchmal lange bestehen, vor allem wenn ein Ausdruck wie herodius oder cherogryllus in einem einflussreichen Text wie der Vulgata vererbt wird. Doch schliesslich setzt sich die konkrete Sache mit ihrem einheimischen Namen durch. So wird z. B. das zweideutige herodius vom gyrfalco endgültig verdrängt, wie der Kommentar eines Übersetzers des Psalters aus der Lorraine von 1365 zeigt: Li ›herodius‹ est uns oiselz tres ravissans et plus asseiz que ne soit li aigle […] en romans ›herodius‹ n’a point de propre nom.74 Die Zoologie in ihrer Genauigkeit braucht jedoch für jede Spezies einen eindeutig festgesetzten, über den lokalen Alltagsbereich und die jeweilige Zeit hinaus gültigen Namen. Linné wird den herodius mit seinem uralten Namen75 wieder zu einem Reiher machen. Auch lampreda wird er _____________
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Vgl Hunt, Teaching and Learning Latin (Anm. 19), Bd. 3: 1 pirulus esquirel 2 esquirel 1 pirulus, 1 experiolus 0 choerogryllus Ms. London, Westminster Abbey, 22, fol. 26v/33v: strix: Strix animal immite in affrica erinacii simile. Vgl. Hunt, Teaching and Learning Latin (Anm. 19), Bd. 3: 1 ericius heriçun 5 herinacius: 4 x heriçon (etc.) 1 x ygel 5 heriçon etc. 1 x 12. Jh.; Aelfric’s Glossary (Ms. BL Cotton Faustina A.X, 11. Jh.): erinacius, hil: heriçun. 5 x (13. Jh.) 2 herinacius 1 ericius; 1 hircus Godefroy, Dictionnaire de l’Ancienne Langue Française (Anm. 26): »HERODIUS«. Vgl. Anm. 2.
Tiernamen im romanischen Mittelalter
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von der klassischen muraena scheiden, da es sich zoologisch um zwei verschiedene Tiere handelt. Dagegen zieht die gesprochene, lebendige Sprache von jeher ihre eigenen bildhaften Namen vor. So findet man unter porc-épic im Wörterbuch Trésor de la Langue Française ein Zitat aus dem Roman Jean-Christophe von Romain Rolland, der anfangs des 20. Jhs. geschrieben wurde: Der Held Christophe war entrüstet und […] se hérissait en boule, comme un porc-épic.76 Dabei kann nur der Igel sich in eine stachlige Kugel zusammenrollen, während das Stachelschwein seine Stacheln auf die Verfolger schießt. Der Igel heißt auch heute noch in bestimmten Gebieten Frankreichs und Italiens porc-épic, respektive porcospino,77 ›Stachelschwein‹, ohne dass dabei Missverständnisse entstehen. Sobald aber diese Unmittelbarkeit der Assoziation durch den Prozess der Schriftlichkeit aufgehoben wird, müssen solche Begriffe irgendwie neu entschlüsselt werden, was häufig zu neuen und andern Assoziationen führt. Dieser Mechanismus eignet der Sprache überhaupt, kommt aber besonders bei Begriffen aus der Flora und Fauna zum Tragen und eröffnet so ein weites Arbeitsfeld.
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http://atilf.atilf.fr (Stand: 15.06.2008): PORC-ÉPIC: »Les élucubrations de compositeurs médiocres au seul nom desquels Christophe se hérissait en boule, comme un porc-épic (Romain Rolland, J[ean]Chr[istophe], 4. La Révolte, Paris 1907, S. 577)«. Vgl. Anm. 68.
Vom Umgang mit Fabelwesen
Andreas Lehnardt (Mainz)
Leviathan und Behemoth. Mythische Urwesen in der mittelalterlichen jüdischen Tradition* Einleitung Leviathan und Behemoth sind Namen zweier in der Bibel erwähnter, dort jedoch nicht näher vorgestellter Tiere von riesigen Ausmaßen. In der mittelalterlichen jüdischen Literatur und Kunst haben diese Urmonster eine beachtliche Rezeption erfahren. Will man sich dem rabbinischen Denken bezüglich dieser beiden zoologisch schwer zu definierenden Tiere nähern, sollte man sich zunächst einige Grundlinien jüdischer Tierethik vergegenwärtigen. Im Vergleich zu Leviathan und Behemoth werden andere Tiere natürlich viel ausführlicher und häufiger beschrieben, und man kann angesichts der zahlreichen Erwähnungen von Tieren sogar von einer Art »biblischer Zoologie« sprechen.1 Vor allem mit der Aufstellung verbotener Tiere und den Unterweisungen zu diesen ging dabei eine erste grobe Klassifizierung der Arten einher. Die biblischen Erwähnungen und Schilderungen von Tieren belegen nicht nur, dass ihre Verfasser sicherlich engeren Kontakt mit ihnen im Alltag hatten als mancher moderne Mensch, sondern sie lassen auch ihre höhere Wertschätzung erkennen, obwohl das
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Die verwendeten Abkürzungen und die Transkription des Hebräischen entsprechen den Richtlinien des Lexikons Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 41998-2007. Frau Beate Bechthold, M. A., danke ich für das Korrekturlesen. Vgl. hierzu etwa die grundlegende Sammlung von Yehuda Feliks, The Animal World of the Bible, Tel Aviv 1962.
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Andreas Lehnardt
zoologische Wissen über ihr Wesen geringer war.2 Die Schlachtung eines Tieres z. B. bedurfte der Sühne, vor allem durch Blut, dann auch durch Abgabe und Gebet, war man sich doch bewusst, durch die Tötung eines Geschöpfes ein einmaliges Leben zu beenden und damit eine Zuständigkeit Gottes anzutasten. Die hebräische Bibel erwähnt an die 120 Namen von Tieren, darunter 86 Säugetiernamen, darüber hinaus 359 Vögel und 76 Arten von Reptilien.3 In der rabbinischen Literatur, die in der Zeit kurz nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 nach der allgemeinen Zeitrechnung entstand, werden diese Namen nur um wenige Bezeichnungen ergänzt. Die Zahl der zum Verzehr und zur Nutzbarmachung geeigneten, also koschere Tiere nahm in der Zeit nach Abschluss des Kanons nur noch geringfügig zu. Dabei ist beachtenswert, dass in der rabbinischen Literatur kaum noch neue Tiernamen eingeführt werden – anders etwa als botanische Bezeichnungen, die stetig an Zahl zunahmen und präzisiert wurden. Die große Zahl botanischer Bezeichnungen in der rabbinischen Literatur hat schon früh dazu geführt, diese zu sammeln, zu ordnen und die gemeinten Pflanzen zu identifizieren. Erinnert sei nur an das opus magnum von Leopold Löw, einem hervorragenden Vertreter der Wissenschaft des Judentums, mit dem merkwürdigen Titel »Die Flora der Juden« – als ob es so etwas wie eine jüdische Flora gäbe.4 Dieses Werk erschien in vier Bänden, während seine Untersuchungen über die Fauna, posthum veröffentlicht zusammen mit Notizen über Mineralien bei den Juden, in einen knappen Band passen.5 _____________ 2
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Siehe hierzu einführend Bernd Janowski / Ute Neumann-Gorsolke / Uwe Gleßmer (Hrsg.), Gefährten und Feinde des Menschen. Das Tier in der Lebenswelt des alten Israel, NeukirchenVluyn 1993. Vgl. dazu das nach wie vor nützliche, wenn auch veraltete Standardwerk von L[udwig] Lewysohn, Die Zoologie des Talmuds. Eine umfassende Darstellung der rabbinischen Zoologie, unter steter Vergleichung der älteren und neueren Schriftsteller, Frankfurt a. M. 1858. Siehe auch die informative Liste von Jehuda Feliks, Art. »Animals of the Bible and Talmud«, in: Encyclopedia Judaica, Bd. 3/1972, S. 10-16. Vgl. Leopold Löw, Die Flora der Juden, Wien 1924-1934, Nachdr. Hildesheim 1967. Vgl. Leopold Löw, Fauna und Mineralien der Juden, Alexander Scheiber (Hrsg.), Hildesheim 1969. – Zur mittlerweile oft zitierten belustigenden Äußerung Scholems über den »sonderbaren« Titel Flora der Juden vgl. Gerschom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen. Erweiterte Fassung aus dem Hebräischen von Michael Brocke und Andrea Schatz, Frankfurt a. M. 1994, S. 236.
Leviathan und Behemoth
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Die rabbinischen Regeln der Kashrut, die Reinheits- und Schächtgebote und -verbote, unterscheiden zwischen untauglichen und tauglichen Tieren: Wird ein Tier als trefe, d. h. als ›Gerissenes‹ beurteilt, so gilt es als untauglich. Als kasher, ›geeignet.‹, gilt es dagegen z. B., wenn es unversehrt und gesund war. Diese Auflagen für den Verzehr und die Nutzbarmachung von Tieren führten in den rabbinischen Unterweisungen bald zu einer strikten Kategorisierung und Unterscheidung aller Säugetiere in Großvieh (behema) und Wildtier (hayya). Einige Tiere konnten allerdings nicht eindeutig zugeordnet werden. Hunde und Katzen z. B. genießen bis heute im Judentum ein eigenartig ambivalentes Ansehen:6 Ist ein Hund ein hayya oder gehört er in die Kategorie der domestizierten Wesen?7 Auch hybride Tiere, wie der koi, ein Mischlingswesen aus Rind und Steinbock,8 oder andere Wildtiere, die erst allmählich domestiziert wurden, stellten die Rabbinen vor Probleme, ebenso Tiere, deren Hufe sich veränderten, oder affenartige Wesen.9 Nach Dtn 14, 7 darf man nur solche Säugetiere verzehren, die gespaltene Klauen haben und zudem wiederkäuen. Allerdings gibt es drei Ausnahmen: das Kamel, den Hasen und den Klippdachs. Ihre Klauen sind nicht ganz durchgespalten, und sie käuen dennoch wieder. Ebenso kennen rabbinische Texte solche Tiernamen, deren zoologische Zuordnung nicht mehr sicher möglich ist, darunter ein unbekanntes Wesen namens tahash,10 dazu zählen auch die Fabelwesen Leviathan und Behemoth. Sie finden zwar bereits in der Bibel Erwähnung, ihre Erscheinungsform scheint jedoch schon in der Zeit des Zweiten Tempels und erst recht in der rabbini_____________ 6
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Vgl. hierzu die einführenden Bemerkungen von Lewysohn, Zoologie (Anm. 3), S. 74 und S. 82; siehe auch Joshua J. Schwartz, »Cats in Ancient Jewish Society«, in: Journal of Jewish Studies, 52/2001, S. 211-234; Ders., »Dogs in Jewish Society in the Second Temple Period and the Time of the Mishnah and Talmud«, in: Journal of Jewish Studies, 55/2004, S. 246-277. Vgl. hierzu bereits die Diskussion in der Mishna Kilayim 8,6 und Tosefta Kilayim 5,7. Siehe zu dieser etymologisch ungeklärten Bezeichnung für eine Steinbockart oder eine Kreuzung von Hirsch und Ziege (bHul 80a) Lewysohn, Zoologie (Anm. 3), S. 115; vgl. auch Andreas Lehnardt, Besa. Ei, Übersetzung des Talmud Yerushalmi II/8, Tübingen 2001, S. 2 Anm. 235 (mit weiterer Literatur). Siehe hierzu Abraham Ofir Shemesh, »Biology in Rabbinic Literature. Fact and Folklore«, in: Shmuel Safrai u. a. (Hrsg.), The Literature of the Sages, Second Part, Assen 2006 (Compendia Rerum Iudaicarum ad Novum Testamentunm II 3b), S. 513-519. Vgl. Lewysohn, Zoologie (Anm. 3), S. 152f.
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Andreas Lehnardt
schen Epoche unklar gewesen zu sein. War Leviathan eine nicht zum Verzehr geeignete Echse? War Behemoth ein Wildtier? Vögel stellten eine besondere Herausforderung für die Rabbinen dar: Allein die Bibel kennt 359 Namen, 37 Arten gelten als für den Verzehr geeignet und schon früh räsonierten einige Rabbinen, es sei unmöglich, alle koscheren Arten von Vögeln festzulegen.11 Das Land Israel ist bis heute ein wichtiges Durchzugsgebiet für Vögel aller Art. Immer wieder führen Zusammenstöße mit Vogelschwärmen zu erheblichen Problemen in der Luftfahrt in Israel. Zwar hat das Land Israel mit seinen zwei angrenzenden Meeren und großen Binnengewässern auch viele Reptilien und Fische, die von den Rabbinen ebenfalls kategorisiert und danach beurteilt wurden, ob sie für den Verzehr geeignet sind oder nicht, doch die Vögel, darunter auch der dritte Vertreter mythischer Urwesen, der Ziz, ein ebenfalls bereits biblisch genannter Riesenvogel – ein Archaeopteryx?12 –, stellten die Rabbinen vor besondere Fragen. Bibel und Literatur der Zeit des Zweiten Tempels Dass Leviathan und Behemoth bereits in der Bibel eher beiläufig erwähnt werden und nicht etwa an zentraler Stelle, wie z. B. in den Schöpfungsberichten des Buches Genesis, ist wohl dem Umstand zuzuschreiben, dass bereits die Umwelt Israels von solchen Urwesen eine Ahnung hatte, ja den Namen Leviathan vielleicht schon kannte, bevor es die israelitische Religion überhaupt gab.13 Man versuchte ihre mythische Existenz daher wohl eher zu verschweigen oder herunterzuspielen, sie zumindest monotheistisch in die Heilsgeschichte einzuarbeiten. Die wenigen biblischen Erwähnungen finden sich daher eher in »randständigen« Büchern des Tanach, nicht aber in den zentralen Stücken der Tora. Unter einem Leviathan – etymologisch abzuleiten aus der semitischen Wurzel lwy, ›sich winden‹ oder ›sich zusammenrollen‹ – versteht die Bibel in der Regel ein sich schlangenartig windendes Seeungeheuer, vergleichbar _____________ 11 12 13
Vgl. bHul 63b. Biblisch erwähnt in Ps 50, 11; 80, 14; 66, 11. Vgl. zu ihm einführend Lewysohn, Zoologie (Anm. 3), S. 354, und siehe unten. Vgl. dazu bereits Leopold Löw, »Aramäische Lurchnamen«, in: Hermann Cohen (Hrsg.), Judaica. Festschrift zu Hermann Cohens Siebzigsten Geburtstage, Berlin 1912, S. 338f.
Leviathan und Behemoth
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mit anderen in der Bibel genannten Meeresmonstern wie Rahav und Yam.14 Im Ugaritischen ist der Name eines vergleichbaren mythischen Wesens namens lotan belegt.15 Daher wird angenommen, dass er auch in kanaanäischen Mythen bekannt war. In Jes 27, 1 wird er als »flüchtige Schlange« beschrieben. Ps 74, 14 stellt dieses Wesen als siebenköpfiges Ungeheuer vor, dessen Köpfe zerschlagen werden, was sich ähnlich ebenfalls bereits in alten Keilschrifttexten aus Ugarit belegen lässt.16 Derselbe Psalm schildert noch den Sieg Gottes über die Chaosmacht Leviathan, was schöpfungstheologisch interpretiert werden konnte, wie Ps 104, 26 belegt, wo es von Leviathan heißt, Gott habe sich einen großen Fisch gemacht, um mit ihm zu spielen. Im Buch Ijob (40, 15-41, 26) erscheint dieses depotenzierende Motiv, das das Ungeheuer zu einem Haustier macht, noch ausführlicher. Auch hier wird Leviathan nicht etwa als Krokodil beschrieben, wie es die griechischen Übersetzungen nahe zu legen scheinen, sondern zusammen mit Behemoth als zwei Personifikationen der Chaosmächte. In der Septuaginta wird das Hebräische leviathan immerhin fünfmal mit derakon (›Drache‹), aber auch mit ketos und megas übersetzt.17 Dies hat insbesondere in der christlichen Rezeptionsgeschichte zu einer Verknüpfung des Drachen-Motivs mit dem Bild, welches man sich vom Leviathan machte, geführt. Dies hat sich insbesondere in der Apokalypse des Johannes niedergeschlagen.18 _____________ 14
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Vgl. Edward Lipinski, Art. »Liwyatan«, in: Theologisches Wörterbuch des Alten Testaments, Bd. 4/1983, S. 521-527; Christoph Uehlinger, Art. »Leviathan«, in: Dictionary of Deities and Demons in the Bible, 21999, S. 511-515. Grundlegend ist nun K. William Whitney, Two strange beasts. Leviathan and Behemoth in Second Temple and Early Rabbinic Judaism, Winona Lake Indiana 2006 (Harvard Semitic Monographs 63). Vgl. KTU 1.5 i 1-3 = 27-30; KTU 1.3 iii 38-46. Vgl. Walter Beyerlin (Hrsg.), Religionsgeschichtliches Textbuch zum Alten Testament, Göttingen 21985 (Altes Testament Deutsch, Ergänzungsreihe 1), S. 217. Vgl. Margarethe Schlüter, »Derāqôn« und Götzendienst. Studien zur antiken judäischen Religionsgeschichte, ausgehend von einem griechischen Lehnwort in mAZ III 3, Frankfurt a. M., Bern 1982 (Judentum und Umwelt 4), S. 36. Im Neuen Testament und anderen frühchristlichen Schriften wird Leviathan zwar nicht explizit genannt, aber in Apk 12, 3-13, 18 wird der im endzeitlichen Kampf zu besiegende satanische Drache mit Motiven des Leviathan verbunden. Vgl. zum Ganzen Howard Wallace, »Leviathan and the Beast in Revelation«, in: Biblical Archaeologist 11/1948, S. 61-68; Reinhold Merkelbach, Art. »Drache«, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der Antiken Welt, Bd. 4/1959, S. 226-250.
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Andreas Lehnardt
Behemoth ist entweder eine Pluralform von behema, (›Groß)vieh‹ oder ein Lehnwort aus dem Ägyptischen. Es bezeichnet zunächst allgemein ein großes Wassertier,19 wahrscheinlich ist genauer das Hippopotamus amphibios gemeint, das auch in Palästina bis ins 4. Jh. verbreitet war. Knochenreste von Flusspferden sind in der Nähe des Jarkon-Flusses ausgegraben worden.20 In kanaanäischen Texten sind weder der Name noch Äquivalente sicher belegt. Bereits im Gilgamesch-Epos findet man allerdings den sumero-akkadischen Ausdruck für ›Stier des Himmels‹, möglicherweise ein Hintergrundmotiv für die mit Behemoth verbundenen Vorstellungen.21 In Ijob 40, 25-32 wird Behemoth wohl deshalb erwähnt, um die Schöpfermacht Gottes hervorzuheben. Kein Mensch kann sich mit ihr messen. Ob die alten, vorbiblischen Berichte und Andeutungen über diese Tiere auf gemeinsame Mythen zurückgehen, die ihren Ursprung etwa in dem gelegentlichen Fund von riesigen Knochenresten oder Fußabdrücken, etwa von Dinosauriern hatten, kann hier dahingestellt bleiben. Aus eigener Erfahrung weiß ich davon zu berichten, welchen Eindruck etwa der Fund eines Mammutknochens hinterlassen kann. In Bir Zait, nahe Jerusalem, ist der Fußabdruck eines Dinosauriers archäologisch nachgewiesen worden. Solche Funde mag es auch schon in der Antike gegeben haben. Sie dürften die Phantasie zusätzlich angeregt und schließlich dazu beigetragen haben, reale Tiercharakteristika mythisch zu überhöhen. Mit den seltsamen Riesenwesen, die nicht mehr in natura gesichtet wurden, konnten gottbzw. israel-feindliche Mächte identifiziert werden.22 Mir geht es im Folgenden jedoch nicht um die Genese eines Mythos, sondern um seine jüdische Rezeptionsgeschichte, nicht um die Klärung, wie es zu dem Bild vom Chaoskampf kam, der von Hermann Gunkel, dem Vertreter der religionswissenschaftlichen Schule, klassisch beschrie_____________ 19
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Vgl. Whitney, Two strange beasts (Anm. 14), S. 27 (mit Anm. 142 zu den divergierenden etymologischen Erklärungen). Siehe auch Menahem-Zvi Kaddari, A Dictionary of Biblical Hebrew (Alef-Taw), Ramat-Gan 2006, S. 89 (hebr.). Vgl. Feliks, Animal World (Anm. 3), S. 24 Vgl. Corpus des tablettes en cuneiforms alphabétiques découvertes à Ras Shmara – Ugarit de 1929 à 1939, Andrée Herdner (Hrsg.), Paris 1963: 12.1.30-32, zitiert von Whitney, Two strange beasts (Anm. 14), S. 30. Vgl. dazu auch die Identifizierungen von Rahab (Jes 30, 7) und Tannin (Jer 51, 34; Ez 29, 3; 32, 2) mit Ägypten und Babylon. Siehe hierzu auch Schlüter, Derāqôn (Anm. 17), S. 36f.
Leviathan und Behemoth
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ben worden ist,23 sondern wie der Mythos in das rationale Denken integriert bzw. uminterpretiert wurde. Kurz soll daher auch daran erinnert werden, dass einige der späteren Traditionen auf vorrabbinischen jüdischen Gedanken beruhten, die dann aufgenommen und umgewandelt wurden. In der apokalyptischen Literatur der zwischentestamentlichen Zeit erfahren dann diese Erwähnungen biblischer Tiere entscheidende Umdeutungen und auch eine Art der Wiederbelebung nach langem Schweigen in den Quellen. Als apokalyptische Literatur bezeichnet man pseudepigraphisch bedeutenden Gestalten der biblischen Vergangenheit zugeschriebene Schriften geschichtsdeutenden Inhalts.24 Ihren Ausgang nahm diese Literatur in der Zeit der »Religionsnot« unter den Seleukiden im 2. Jh. vor der Zeitrechnung, als das Judentum durch jüdische Hellenisierer und die seleukidischen Herrscher in die griechische Kultur gedrängt wurde und darin aufzugehen drohte.25 Behemoth wird zu einem endzeitlichen Drachenwesen in der Wüste (äthiopischer Henoch 60, 7-9 und 4. Esra 6, 49-52). Im Vierten Buch Esra,26 einer pseudepigraph dem großen Neubegründer des Tempels nach dem babylonischen Exil zugeschriebenen Schrift aus der Zeit nach der Zerstörung des Zweiten Tempels in Jerusalem, findet sich dann ein erster, auch im Mittelalter adaptierter Motivzusammenhang. In der Übersetzung der nur noch in mittelalterlichem Latein, d. h. in christlichen Kreisen überlieferten, ursprünglich aber wohl auf Hebräisch verfassten Apokalypse heißt es: »Damals hast du zwei lebende Wesen geschaffen: das eine hast du Behemoth, das andere Leviathan genannt. Du hast sie voneinander getrennt, denn der siebte Teil (der Erde), wo sich Wasser gesammelt hatte, konnte sie nicht fassen. Du hast Behemoth einen der Teile gegeben, die am dritten Tag trocken geworden waren,
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Die klassische Studie von Hermann Gunkel, Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung über Gen 1 und ApJoh 12, Göttingen 1895, gilt heute als veraltet, aber sie bildet immer noch Bezugspunkt für viele verwandte Untersuchungen. Zum Problem der formgeschichtlichen und historischen Einordnung dieser Literatur vgl. etwa Johann Maier, Zwischen den Testamenten, Würzburg 1990 (Neue Echter Bibel, Ergänzungsband 3), S. 122-125. Vgl. hierzu etwa Peter Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike. Die Juden Palästinas von Alexander dem Großen bis zur Arabischen Eroberung, Stuttgart 1983, S. 58-61. Zu den Einleitungsfragen vgl. Andreas Lehnardt, Art. »Christianisierung III (jüdische Schriften)«, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der Antiken Welt, Supplement II/2004, Sp. 353.
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Andreas Lehnardt
damit er in ihm wohne, dort sind die tausend Berge. Leviathan aber hast du den feuchten siebten Teil gegeben. Du hast sie aufbewahrt, damit sie zur Nahrung dienen sollten, wem du willst und wann du willst.«27
Bereits hier erfahren wir Näheres über die schöpfungstheologische Bedeutung der beiden nun erstmals zusammen erwähnten Riesentiere. Sie werden, nachdem sie von Gott getrennt wurden, als geradezu welterhaltende Wesen vorgestellt. Diese so genannte dritte Vision Esras schildert die gesamte Schöpfung der Tiere wie in der Genesis. Über die Genesis hinausgehend werden dann auch die beiden Monstertiere genannt. Die Tiere werden bewahrt, damit sie später, zu einem noch genauer zu bestimmenden Zeitpunkt, als Nahrung dienen. Ob man hinter solchen Vorstellungen eine Art der Frustrationsverarbeitung erkennen sollte, die durch diese Visionsszene die hoffnungslose Lage Israels nach der Niederlage gegen die Römer zu verarbeiten suchte, kann hier dahingestellt bleiben.28 Beachtenswert erscheint mir, dass wir aus dieser Zeit nach der vollständigen Aufgabe staatlicher und religiöser Autonomie neue, mythische Deutungen der Gestalten Leviathan und Behemoth finden. Wie eng diese Traditionen mit schöpfungstheologischen Vorstellungen zusammenhängen, wird an einem kurzen Abschnitt deutlich, der sich in der syrischen Baruch-Apokalypse findet, einer ebenfalls kurz nach der Tempelzerstörung verfassten Visionsschrift: »Und Behemoth wird sich offenbaren aus seinem Ort, und Leviathan wird aus dem Meere kommen, zwei große Ungeheuer, die ich schuf am fünften Tag der Schöpfung, die ich geschaffen habe und bewahrt bis hin auf jene Zeit. Die werden Nahrung sein für alle, die übrig sind.«29
Auch hier sind die schöpfungstheologische und mythische Deutung der Tiere eng verbunden mit einer endzeitlichen Perspektive. Wie zuvor im 4. Esra wird hervorgehoben, dass es sich bei Behemoth um ein Landtier, bei Leviathan dagegen um ein Wassertier handele. Im Unterschied zum la_____________ 27
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Übersetzung des lateinischen Textes nach Josef Schreiner, »Das 4. Buch Esra«, in: Werner G. Kümmel (Hrsg.), Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Bd. 5: Apokalypsen, Gütersloh 1981, S. 348-349. Zu den umstrittenen Fragen der Gesamtinterpretation der Schrift vgl. Andreas Lehnardt, Art. »Viertes Esrabuch«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 2/41999, S. 1586-1588. Übersetzung des syrischen Textes nach Albertus F. Johannes Klijn, »Die syrische BaruchApokalypse«, in: Kümmel u. a. (Hrsg.), Jüdische Schriften, Bd. 5: Apokalypsen (Anm. 21), S. 141.
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teinischen 4. Esra wird aber die Aussicht auf das Mahl für alle, die übrig sind, d. h. die Erwählten, herausgestellt. Beide Schriften benutzen zweifellos eine gemeinsame frühjüdische Tradition, die dann in der Zeit nach der Tempelzerstörung aufgegriffen und später in der mittelalterlichen rabbinischen Literatur ausgestaltet wurde. Die ausführlichste Darstellung dieses Monster-Mahl-Motivzusammenhangs findet sich in der nur in mittelalterlichen äthiopischen Handschriften vollständig überlieferten Henoch-Apokalypse.30 Einige der uns aus anderen Apokalypsen bekannten Motive kehren zwar auch in dieser Schrift wieder – so z. B. die Trennung der beiden Tiere zu Beginn der Schöpfung. Doch dann heißt es weiter, dass Leviathan in den Tiefen des Meeres wohne und weiblichen Geschlechts sei. Das männliche hieße Behemoth und nehme mit seiner Brust die unübersehbare Wüste ein, die Dendain genannt wird. Dort befände sich der Garten der Gerechten, wo Adam lebe. Schließlich weiß die erzählende Sehergestalt des Buches, die mit dem biblischen Henoch identifiziert wird, zu berichten, »dass diese beiden Ungeheuer, entsprechend der Größe Gottes Nahrung erhalten, damit das Strafgericht des Herrn der Geister auf ihnen ruhen kann, auf dass das Strafgericht des Herrn der Geister nicht umsonst hervorbreche« (äthiopischer Henoch 60, 7-10, und Vers 24).31
Möglicherweise basieren all diese pseudepigraphen Darstellungen auf einer verlorengegangen Fassung einer Schöpfungsgeschichte, in der diese Tiere am fünften Tag erschaffen wurden, während das Land und der Mensch erst später an die Reihe kamen. Das Aufbewahrungsmotiv, so deutlich mythisch aufgeladen, wird dann in der Zeit der Autoren der Apokalypsen eschatologisch (um)gedeutet. Die Schöpfungstheologie wird mit der Eschatologie, der Lehre von den letzten Dingen, verbunden. Die Mythisierung der großen Urzeittiere, die man zoologisch nicht mehr zuzuordnen _____________ 30
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Zur komplexen Überlieferung der zum Teil in hebräischen Fragmenten aus den Höhlen vom Toten Meer (Qumran) bekannten Henoch-Literatur vgl. Andreas Bedenbender, Der Gott der Welt tritt auf den Sinai. Entstehung, Entwicklung und Funktionsweise der frühjüdischen Apokalyptik, Berlin 2000 (Arbeiten zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte 8), S. 146-156. Vgl. für eine Übersetzung Siegbert Uhlig, »Das Äthiopische Henochbuch», in: Kümmel u. a. (Hrsg.), Jüdische Schriften, Bd. 5: Apokalypsen (Anm. 21), S. 606 und S. 609f. Für ältere Literatur vgl. Andreas Lehnardt, Bibliographie zu den Jüdischen Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Gütersloh 1999 (Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit IV,2), S. 423-447.
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wusste, wird durch die Eschatologisierung, d. h. die Einarbeitung in ein Endzeitgemälde, umgekehrt bzw. aufgehoben. Was schon den antiken Lesern solcher Berichte seltsam erschien, musste im Hinblick auf die Endzeitlehre erst recht merkwürdig, aber dadurch nicht unglaubhafter erscheinen. Dieses Anliegen wird dann in der rabbinischen Tradition weiter entfaltet. Sie knüpft hier nahtlos an die spätantiken Traditionen von den beiden mythischen Urtieren an. Rabbinische Literatur Midraschim Bemerkenswerterweise finden sich fast alle Belege für Leviathan und Behemoth (sowie für den Riesenvogel Ziz, auf den ich später eingehen werde) in relativ spät redigierten Werken der rabbinischen Literatur.32 Die frühen, grundlegenden Schriften dieser Epoche, wie Mischna und Tosefta, erwähnen die seltsamen Fabelwesen nicht, gehen auch nicht auf die mit ihnen verbundenen mythischen Mächte, die gegen Gott zu Beginn rebellierenden Chaosmächte ein.33 Erst im frühen Mittelalter begegnen uns die Namen Leviathan und Behemoth dann wieder, dann jedoch verstreut und in Quellen, die unter völlig veränderten politischen und religiösen Rahmenbedingungen entstanden sind.34 Die mythischen Motive werden gewissermaßen aus einem verborgenen Traditionsreservoir wieder hervorgeholt, dabei jedoch neu interpretiert: der Mythos der widerstreitenden Riesenmächte, der urzeitlichen Naturgewalten, denen Mensch und Tier _____________ 32
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Einführend zur rabbinischen Literatur insgesamt und zu den im Folgenden zitierten und erwähnten Schriften vgl. Günter Stemberger, Einleitung in Talmud und Midrasch, München 81994. Dies gilt auch dann, wenn man das griechische Lehnwort drakon in die Betrachtung einbezieht, das in Mischna und Tosefta erwähnt wird, dort aber in völlig anderem Zusammenhang, jedenfalls ohne Bezug zu den beiden hier untersuchten Urzeittieren. Vgl. Schlüter, Derāqôn (Anm. 17), S. 129. Eine nach wie vor nützliche Zusammenstellung der Quellen bietet Louis Ginzberg, The Legends of the Jews. Bd. V: Notes to Volumes I and II, Philadelphia 1969, S. 43-46; siehe auch Moshe David Gross, Otzar ha-Aggada. Mi-ha-Mishna we-ha-Tosefta, ha-Talmudim we-ha-Midrashim we-Sifre ha-Zohar, Bd. 2, Jerusalem 1986, S. 589-590 (hebr.).
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scheinbar schutz- und machtlos ausgesetzt waren, wird eschatologisiert und durch einen endzeitlichen Perspektivenwechsel relativiert. Im Hinblick auf die im Folgenden untersuchten jüdischen Quellen ist dabei zunächst zu bedenken, dass sich die der christlichen Geschichtsschreibung entlehnten Epochenbezeichnungen »Antike« – »Mittelalter« – »Neuzeit« auf diese nur eingeschränkt übertragen lassen. Zahlreiche spätantike jüdische Überlieferungen, in denen die hier vorgestellten Motive aufgegriffen werden, wirken in dem von uns geläufig als Mittelalter bezeichneten Zeitraum unmittelbar nach, ohne dass jüdischerseits ein etwa aufgrund sozialer, politischer oder theologischer Entwicklungen veränderter Umgang mit den Quellen und Lebenserfahrungen zu belegen wäre. Was im christlichen Kontext als »Mittelalter« bezeichnet wird, findet in den jüdischen Lebenswelten im Orient, Mittelmeerraum und in Mittelwesteuropa nicht »gleichzeitig« statt. »Jüdisches Mittelalter« beginnt und endet insofern zu einem anderen Zeitpunkt als »christliches«, und es ist in mancher Hinsicht auch schon früher beendet als im nichtjüdischen Bereich, etwa im Hinblick auf die Rezeption aristotelischer Vorstellungen, die in der scholastischen Philosophie erst zum Teil durch Juden als Dolmetscher arabischer Schriften vermittelt adaptiert werden konnten. Doch zurück zu unseren Tieren in der jüdischen Überlieferung. Denn nach dem langen Schweigen der Quellen treten uns bald neue Motive entgegen, die unser Bild von Leviathan und Behemoth sehr bereichern. Bereits in dem im 5. Jh. redigierten exegetischen Werk Midrash Wayyiqra Rabba (Midrasch Levitikus Rabba)35 wird ein neues Motiv eingeführt, welches uns aus der älteren jüdischen apokalyptischen Literatur noch nicht bekannt ist: der unbändige und große Hunger der beiden Geschöpfe. So heißt es, Rabbi Yohanan und Rabbi Sim‛on ben Laqish hätten gemeinsam die Lehre vertreten, der Vogel Ziz sei so groß, dass seine Schwingen den Himmel verdunkelten, dass der Leviathan aber so großen Durst entwickele, dass er alles Wasser, das der Jordan in sechs Monaten sammele, auf einmal ausschlürfe. Denn es heißt im Buch Ijob: »Siehe, der Fluss schwillt an, er flieht nicht« (Ijob 40, 20). Rav Huna lehrte im Namen von Rabbi Yose: Dies reiche nicht einmal zur Anfeuchtung seines Mundes, denn er trinke _____________ 35
Vgl. Midrash Wayyikra Rabbah. A Critical Edition Based on Manuscripts and Genizah Fragments with Variants and Notes, Bd. 2, Mordecai Margulies (Hrsg.), New York, Jerusalem 1993, S. 523f.: Parasha 22, 10 (Hebr.).
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aus dem Fluss Yuval, von dem Rabbi Shimon ben Yohai lehre, er gehe aus dem Garten Eden hervor, wie es heißt: »An den Yuval streckt er seine Wurzel hin« (Jer 17, 8).36 In diesem Midrasch wird zum ersten Mal auch etwas über den mythischen Riesenvogel Ziz berichtet, dessen bereits in der Bibel belegter Name37 im Sinne einer kreativen Namensphilologie erklärt wird, dass in ihm vielerlei Geschmack sei, hebräisch ze we-ze, d. h. »von diesem und von jenem« – eine deutliche Anspielung auf die Vorstellung vom endzeitlichen Bankett, wie wir sie bereits aus der älteren Apokalyptik kennen, dort allerdings noch ohne einen »Geflügelgang«.38 In mittelalterlichen Illustrationen des Endzeitmahles, wie z. B. in der berühmten Ambrosianischen Bibel (Mailand, Biblia Ambrosiana, B 32 III136) aus Ulm, entstanden zwischen 1236 und 1238, werden daher drei Riesentiere zusammen abgebildet. Darunter die Versammlung der Gerechten, die am endzeitlichen Mahl teilnehmen dürfen (s. Abb. 1).39
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Vgl. dazu auch die Parallelen in Pesikta de Rav Kahana. According to an Oxford Manuscript, Bd. 2, Bernard Mandelbaum (Hrsg.), New York ²1987, S. 112-113; ferner in Bamidbar Rabba 21, 18 (91a) und Pesikta Rabbati 16, Friedman (Hrsg.), 80b. Vgl. zum Ganzen ausführlich Whitney, Two strange beasts (Anm. 14), S. 98-105. Die Assoziation des Flusses Yuval mit dem Garten Eden findet sich bereits in einer Schrift aus der Zeit des Zweiten Tempels, die in den Höhlen vom Toten Meer entdeckt wurde, 1 Q Hodayot 8, 4-7. Vgl. Ps 50, 11; 80, 14. Zum Namen vgl. Ps 50, 11. Einige Male wird dieser Vogel auch Bar Yokhani bezeichnet. Er wird gelegentlich mit dem aus der griechischen Mythologie bekannten Vogel Phoenix in Verbindung gebracht. Ziz ist nach rabbinischer Überlieferung ein reiner, zum Verzehr geeigneter Riesenvogel. Siehe zum Ganzen Joseph Gutman, »Leviathan, Behemoth und Ziz. Jewish Messianic Symbols in Art«, in: Hebrew Union College Annual, 39/1968, S. 219230, hier S. 229; Maren Niehoff, »The Phoenix in Rabbinic Literature«, in: Harvard Theological Review, 89/1996, S. 245-265, hier S. 256; vgl. auch Andreas Lehnardt, »Pereq Zera‛im – eine Schrift aus der Zeit des Talmud Yerushalmi«, in: Frankfurter Judaistische Beiträge, 30/2003, S. 57-90, hier S. 70 mit Anm. 91 und 92. Vgl. hierzu die klassische Studie von Zofja Ameisenowa, »Das messianische Gastmahl der Gerechten in einer hebräischen Bibel aus dem XIII. Jh.. Ein Beitrag zur eschatologischen Ikonographie der Juden«, in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, 79/1935, S. 409-422; dann auch Edward van Voolen, »Gottes Lieblingsfisch. Das Mahl der Gerechten im Paradies, Ambrosianische Bibel Ulm, Deutschland 1236-1238«, in: ders., Jüdische Kunst und Kultur, München, Berlin, London, New York 2006, S. 47.
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Abb. 1 Ambrosianische Bibel, Ulm, Deutschland 1236-1238 (Milano AL B 32 INF III-136)
In einem weiteren Midrasch aus der rabbinischen Homilien-Sammlung, Pesiqta de-Rav Kahana, zu den besonderen Sabbaten und Feiertagen findet sich eine weitere Tradition, die so in der älteren Literatur noch nicht belegt ist: der Kampf von Behemoth und Leviathan gegeneinander.40 Rabbi Yudan lehrte demnach, dass Behemoth und Leviathan zur Jagd für die Gerechten der Zukunft bestimmt seien, und jeder, der die Jagenden der _____________ 40
Vgl. PesK Zusätze, Mandelbaum (Hrsg., Anm. 36), S. 456; siehe dazu Whitney, Two strange beasts (Anm. 14), S. 142f.
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Völker der Welt in dieser Welt nicht gesehen hat, sei so glücklich, diese in der kommenden Welt zu sehen. Doch geschlachtet werden die Tiere nicht, denn es heißt dort weiter – und dies ist die eigentliche Motivverschiebung -, dass Behemoth den Leviathan mit seinen Hörnern stößt, ihn zerreißt, und der Leviathan stößt den Behemoth mit seinen Flossen und durchbohrt ihn.41 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass die Rabbinen weniger an der Frage der Ursache für diesen Kampf zwischen den Tieren und den Details interessiert gewesen zu sein scheinen – das Geschehen wird in der Parallele in Midrasch Wayyiqra Rabba 13, 3 als »Spiel« erklärt42 –, als an der Frage, ob diese Art der Schlachtung der beiden Tiere überhaupt koscher ist, d. h. mit den Religionsgeboten in Einklang zu bringen ist. Denn, so fragt der Midrasch, »ist nicht gelehrt worden, dass man mit jeglichem Schneidwerkzeug schlachten darf, ausgenommen mit der Erntesichel und mit der Säge?«43 Das Problem wird schließlich derart gelöst, dass die Gerechten, die am messianischen Bankett teilnehmen dürfen, schon wissen werden, was sie essen können. Derjenige aber ist gerecht, der in seinem Leben keine Tiere gegessen hat, die nicht rituell geschlachtet wurden. Wer also in dieser Welt nur rituell geschlachtete Tiere verzehrt hat, wird auch in der zukünftigen Welt solche Tiere serviert bekommen. Kurzum: Man soll sich keine Sorgen machen, ob die im endzeitlichen Mahl servierten mythischen Urtiere koscher serviert werden, Gott bzw. seine Engel Gabriel und Michael werden es schon so richten.44 Dass Leviathan als erlaubter Fisch zu betrachten ist, nicht etwa als Wal, wird damit begründet, dass seine in Ijob 41, 7 erwähnten maginim als Flossen interpretiert werden können. Nach Tosefta Hullin 3, 27 gilt ein solcher Fisch als koscher. Später wird daher aus Leviathan in mittelalterlichen Illuminationen jüdischer Handschriften ein gewöhnlicher, aber sehr großer koscherer Fisch, d. h. ein Fisch mit Flossen und Schuppen (vgl. _____________ 41 42 43 44
Siehe auch die etwas anderen Fassungen dieses Motivs in WaR 13,3 (278 [wie Anm. 35]) und Tan shemeni 7 (197b-198a). Siehe auch bBB 74b-75a. Vgl. zum Ganzen Whitney, Two strange beasts (Anm. 14), S. 144. PesK Zusätze, Mandelbaum (Hrsg., Anm. 36), S. 456. Zum Motiv, dass die Erzengel das Mahl der Gerechten bereiten, vgl. Seder Gan Eden, in: Bet ha-Midrash, Adolph Jellinek (Hrsg.), Jerusalem 1967, Bd. 4, S. 150.
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Lev 11, 9; Dtn 14, 3). Besonders schön ist dies in einer Darstellung im Leipziger Mahzor zu betrachten (s. Abb. 2).45
Abb. 2 Mahzor Lipsiae, Südwestdeutschland 14. Jh. (Ms Leipzig UB Vollers 1102 II-181b)
_____________ 45
Die Abbildung findet sich in der Leipziger Handschrift (Leipzig, Universitätsbibliothek Vollers 1102 Bd. II, fol. 181b) zu Beginn einer Yotzer-Komposition für das Morgengebet des ersten Tages des Laubhüttenfestes (Sukkot). Zu dem Motiv vgl. Stefan Schreiner, Das Lied der Lieder von Schelomo mit 32 illuminierten Seiten aus dem Machsor Lipsiae, Leipzig 1981, S. 108; siehe auch die CD-Rom-Ausgabe: Machzor Lipsiae, Deutsches Historisches Museum Berlin und Universitätsbibliothek Leipzig (Hrsg.), Leipzig 2004. Siehe dazu ferner Gutmann, Leviathan (Anm. 38), S. 225.
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In einem weiteren Midrasch, diesmal freilich einem erzählenden und einem bereits in islamischer Zeit – also nach der Eroberung Palästinas im Jahre 633/4 durch die Araber – verfassten Werk werden dann die älteren Traditionsstränge narrativ zusammengebunden und noch deutlicher fortgeschrieben. In den so genannten Pirqe de Rabbi Eli’ezer, den dem großen tannaitischen Gelehrten Rabbi Eli’ezer zugeschriebenen Kapiteln, wird die schöpfungstheologische Deutung aufgenommen und dazu erläutert:46 Am fünften Tag (der Schöpfung) habe Gott aus dem Wasser den Leviathan, »eine flüchtige Schlange«, erstehen lassen.47 Sein Wohnort sind die untersten Wasser; zwischen seinen Flossen steht die Erdachse.48 Und alle großen Seeungeheuer, die im Meer sind, bilden die Speise Leviathans. Weiter heißt es in Anlehnung an Ps 104: Und der Heilige, gepriesen sei er, scherzt mit ihm tagein, tagaus. Öffnet er aber sein Maul, flieht das große Seeungeheuer in das Maul des Leviathans, so dass der Herr mit ihm weiter spielen kann, wie in Ps 104, 26 beschrieben. Das Monster wird hier fast »verniedlicht«, zu einem »Spielzeug« Gottes.49 Seine mythologische Bedeutung als Axis Mundi bzw. als Halter für die Weltachse wird narrativ entwertet und damit eine Entmythologisierung und mit ihr einhergehend eine Rationalisierung des unverständlichen Phänomens möglich.
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Vgl. Pirke de-Rabbi Elieser. Nach der Edition Venedig 1544 unter Berücksichtigung der Edition Warschau 1852, Dagmar Börner-Klein, (Aufbereit./Übers.), Berlin, New York 2004 (Studia Judaica 26), S. 88-104 (Kap. 9 und 10). Siehe hierzu auch die von PRE abhängige Fassung im Midrash Yona (Bet ha-Midrash, Jellinek (Hrsg., Anm. 44), Bd. 1, S. 96-105). Zur Schöpfung Leviathans am fünften Tag, Behemoths am sechsten, vgl. auch BerR 7,4 Theodor/Albeck (Hrsg.), S. 52; bBB 74b; 75a; und vgl. noch die palästinischen Targumim zu Genesis 1, 21 bei Harry Sysling, Tehiyyat ha-Metim. The Resurrection of the Dead in the Palestinian Targums of the Pentateuch and Parallel Traditions in Classical Rabbinic Literature, Tübingen 1996 (Texte und Studien zum Antiken Judentum 57), S. 40ff. Vgl. zu dieser bereits in der zwischentestamentlichen Literatur belegten Vorstellung (Apokalypse Abrahams 10, 10 und 21, 4; Leiter Jakobs 6, 10 (lange Rezension 6, 3), Whitney, Two strange beasts (Anm. 14), S. 59ff; S. 114f. Vgl. Yalq Jes 27 § 434 (393d). Siehe hierzu auch den Midrasch aus einem Yalqut-Midrash zu Ps 118, der sich in der abgebildeten Jerusalemer Handschrift des Pereq Shira findet (Abb. 3). Diese Handschrift ist 2004 in einer populären Faksimile-Ausgabe samt Birkat haMazon (Tischsegen) und Tefillat ha-Derekh (Reisesegen) in Paris veröffentlicht worden.
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Abb. 3 Perek Shira, ca. 16. Jh. (Ms Jewish National and University Library Jerusalem Heb 8-4295-05a)
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Eine sehr bemerkenswerte Erweiterung des Erzählgutes über Leviathan findet sich dann in dem gleichen Werk aus spätrabbinischer Zeit: Der Bericht über einen Dialog des Propheten Jona mit Leviathan. Demnach sagt der große Fisch, der Jona verschlungen hat, zu diesem, dass der Tag, an dem er durch Leviathan gefressen wird, schon bestimmt sei. Auch er also sterben müsse, Jona solle sich daher nicht beklagen, dass er nun an der Reihe sei. Jona bittet den Fisch, in dessen Bauch er sitzt, ihn zu Leviathan hinzuführen. Dann spricht er zu Leviathan, er werde es ja dereinst erleben, dass er ihn an einem Strick durch die Zunge heraufziehen werde, um ihn für das große Mahl der Gerechten zuzubereiten. Den Rabbinen, die dies tradierten, war natürlich klar, wie die Geschichte mit Jona enden sollte: auch er sollte ja Anteil an der zukünftigen Welt erhalten. Daraufhin, so berichtet Pirqe de-Rabbi Eli‛ezer, zeigt ihm Jona »das Zeichen des Bundes Abrahams«, d. h. das Beschneidungszeichen, woraufhin Leviathan zwei Tagesreisen weit vor ihm flieht. Der Fisch, der Jona verschlang, ist somit durch das Bundeszeichen des Juden Jona gerettet, er lässt ihn daraufhin, nachdem er mit ihm noch eine kleine Kreuzfahrt durch die unterirdischen Fluten gemacht hat, frei und lebt weiter. Diese schöne Legende belegt den immer weiter fortschreitenden Entmythologisierungsprozess. Der überdimensionale Leviathan wird an einem Tau aus den Fluten gezogen und geschlachtet. Das Monster flieht schließlich vor dem »Bundeszeichen Abrahams«. Diese narrative Depotenzierung der Chaosmächte scheint in dieser mittelalterlichen rabbinischen Erzählung ihren absoluten Höhepunkt gefunden zu haben. Talmud Der Babylonische Talmud, das große rabbinische Sammelwerk, eigentlich eine kleine »jüdische Nationalbibliothek«, entstand im 6./7. Jh. und fasst viele dieser Motive verkürzt zusammen.50 Die beiden Ungeheuer Leviathan und Behemoth werden in ihm wie im älteren Talmud Yerushalmi,51 _____________ 50 51
Whitney, Two strange beasts (Anm. 14), geht auf die Sicht des Bavli daher nur am Rande ein. Im Yerushalmi wird Leviathan etwa in yMeg 1, 13 (72b); ySan 10, 6 (42c), wo es von Antoninus, einem Römer, heißt, er wolle in der künftigen Welt ein Stück vom Leviathan essen. Siehe hierzu ausführlich Samuel Krauss, Antoninus und Rabbi, Frankfurt a. M. 1910, S. 60.
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aber im Unterschied zum Midrasch eher beiläufig, erwähnt. Nur in einem Traktat wird ausführlicher über die beiden berichtet – allerdings lediglich in einem Traktat über gemeinschaftlichen Besitz, wo man einen solchen Abschnitt nicht erwarten würde (bBB 74b-75a). Um dies zu verstehen, müssen wir auf die literarische Beschaffenheit und das Werden des Talmud hier wenigstens kurz eingehen. Die Entwicklung des Talmud, dem bis heute grundlegenden Werk jüdischer Religion und Kultur, lässt sich bis in die Zeit kurz nach dem Erlöschen der staatlichen Selbstständigkeit Israels verfolgen.52 Der Bavli entstand ab dem 6./7. Jh. in den rabbinischen Akademien (Yeshivot) von Sura, Pumbedita und Nehardea.53 In ihm wurden die Kommentare und Erläuterungen zu sämtlichen Traktaten der Mischna gesammelt, außer jenen, die sich ausschließlich auf die Landwirtschaft im Lande Israel beziehen. Dieser sich erst unter islamischer Herrschaft etablierende Talmud zeichnet sich gegenüber dem älteren Jerusalemer Talmud durch viele redaktionelle Eingriffe aus, ist daher aber insgesamt wesentlich logischer strukturiert und religionsgesetzlich eindeutiger als sein palästinischer Vorgänger. Die babylonischen Redaktoren, die wegen ihrer meist anonym überlieferten Dikta und Kommentare schlicht stamma’im (›anonyme Redaktoren‹) genannt werden, haben das Aussehen und den Umfang der einzelnen Traktate des Bavli entscheidend geprägt und ihm jenen verbindlichen Charakter verliehen, der ihn zum Hauptwerk des rabbinischen Judentums werden ließ.54 Später wurde die Gesamtredaktion des Werkes von den so genannten Savoräern übernommen, die aus dem älteren Material in der Gemara ein planvolles und durchdachtes Buch schufen. Die Rezeption älterer mythischer Themen wurde auch daher noch stärker kontrolliert. Zwar tauchen im Bavli die verschiedenen, oben zum Teil bereits vorgestellten Motive wieder auf – Leviathan wird so etwa wieder als so riesig dargestellt, dass aus seinem Rachen der Fluss Jordan entspringt.55 Doch werden die Urtiere hier nicht mit zentralen Theologumena _____________ 52 53 54
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Vgl. Günter Stemberger, Der Talmud. Einführung, Texte, Erläuterungen, München 21987. Vgl. Jacob N. Epstein, Introduction to Amoraic Literature. Babylonian Talmud and Yerushalmi, Ezra Z. Melamed (Hrsg.), Jerusalem, Tel Aviv 1962, S. 22f. (Hebr.). Vgl. dazu Jeffrey L. Rubenstein (Hrsg.), Creation and Composition. The Contribution of the Bavli Redactors (Stammaim) to the Aggada, Tübingen 2005 (Texts and Studies in Ancient Judaism 114). Vgl. bBB 74b.
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oder Mythologumena in Verbindung gebracht. Ihre Erwähnung dient noch stärker als im Midrasch der Unterhaltung und Veranschaulichung der positiven Folgen eines im Einklang mit der Halakha, dem Religionsgesetz, geführten Lebens. Im Traktat ‛Avoda Zara, dem Traktat über den ›Fremdkult‹ oder ›Götzendienst‹, lesen wir dann davon, dass Gott nicht nur mit Leviathan spielt, was schon in den Psalmen angedeutet wird, sondern auch, dass er mit ihm seine täglichen Sportübungen vollbringt: Gott treibt mit Leviathan Gymnastik, um ihn damit zusätzlich in seine Schranken zu verweisen.56 Solche unterhaltenden Details finden sich auch in der auf dem Talmud aufbauenden Literatur. Behemoth wird so etwa nicht mehr als Flusspferd oder Partner des Wassertiers Leviathan vorgestellt, sondern als großer, pflanzenfressender Ochse (shor ha-bar).57 In vielen mittelalterlichen Darstellungen von Behemoth wird er daher als ein großes Rind dargestellt, das lange Hörner besitzt. Diese Besonderheit der jüdischen Ikonographie ist möglicherweise dadurch zu erklären, dass man in Europa, aber auch im Zweistromland, wo der Babylonische Talmud redigiert wurde, keine Flusspferde kannte. Auch die Berichte des Bavli gehen wie die mittelalterlichen Künstler in Ashkenaz davon aus, dass Behemot einen Stier bezeichnet, ein großes Stück Vieh, das hoch ist »wie ein Berg«.58 Allerdings kennt der Talmud (bBB 74b) dann auch das Bild, dass es von beiden Urtieren jeweils zwei gegeben habe, was ebenfalls als eine sublime Art der Entmachtung des einzelnen Riesen verstanden werden kann. Begründet wird dieses Motiv freilich der inneren Logik der Bibel folgend damit, dass es schließlich schon in der Schöpfungsgeschichte heißt: Der Heilige, gepriesen sei er, hat von allem, was er erschuf, ein Männchen und
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Vgl. bAZ 3b. Zur Bezeichnung des Behemot als shor ha-bar (wörtlich: »der Stier der Wüste«, »Auerochse«), vgl. Lewysohn, Zoologie (Anm. 3), S. 127f. Später wird der Terminus zu einem Synonym für die Entlohnung in der kommenden Welt. Dies lässt sich übrigens auch in einer christlichen Darstellung der beiden Fabelwesen in Lambert von St. Omers, Liber Floridus, Gent Univ. Bibl. Ms 92, fol. 62r und v beobachten. Dort wird Behemoth als Stier und Leviathan als echsenartiger Drache dargestellt. Für den Hinweis auf diese Darstellung danke ich Kollegen Ernst-Dieter Hehl.
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ein Weibchen erschaffen.59 So erschuf er eine »Leviathan-Riegelschlange« (livyatan bariah) und eine »Leviathan-Windeschlange« (livyatan ‛aqalton).60 Hätten sie sich vermehrt, so hätten sie die ganze Welt zerstört. Der Heilige, gepriesen sei er, kam daher überein, den männlichen Leviathan zu kastrieren, das Weibchen aber zu töten. Dieses habe er dann eingepökelt, um es – wir können es uns nach dem oben Berichteten schon denken – den Gerechten in der zukünftigen Welt zum Mahl vorzusetzen. Auch Behemoth erging es demnach (bBB 74b) nicht besser: auch er wurde kastriert. Das Weibchen wurde jedoch nur sterilisiert, blieb also am Leben, aber nur, damit es den Frommen am Ende der Tage als Nahrung von Nutzen sei. Als letzter Grund für diese auffällige Ungleichbehandlung der beiden Tiere im Babylonischen Talmud wird darauf hingewiesen, dass sich Fisch gut pökeln lässt, während Fleisch vom Rind nicht gut aufzubewahren sei. In diesen aggadischen Ausgestaltungen, die weit über das im älteren Midrasch Geschilderte hinausgehen, spiegelt sich ein fast spielerischer Umgang mit den bedrohlichen, mythologisierten Naturgewalten wider.61 Die durch die Fabeltiere symbolisierten Urgewalten werden narrativ in die Schranken gewiesen. Die zerstörerische Gewalt der sich durch Paarung zur Existenzbedrohung entwickelnden Riesentiere wird entkräftet. Auf ihre Nutzbarmachung, ihre Unterwerfung zum Wohle der Gerechten am _____________ 59
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Vgl. Gen 1, 21-25. Zunächst ist dort von den großen Tanninim die Rede und dann davon, dass Gott von jedem Tier »nach seiner Art« zwei erschuf. Hierauf nimmt der Rabbi Yoḥanan zugeschriebene Midrasch Bezug. Vgl. auch die Parallele in Yalq Jesaja 27 § (393d). In dieser merkwürdigen Bezeichnung in bBB 74b mag der Grund dafür liegen, dass Leviathan in der Illustration der Biblia Ambrosiana, Ms. B 32 Inf., fol. 136r, geringelt dargestellt wird. Nach Rabbi David Kimhi (gest. 1235?), einem französischen Exegeten, in seinem Kommentar zu Jes 27, 1 musste sich Leviathan wegen seiner phantastischen Größe aufrollen. Vgl. Gutmann, Leviathan (Anm. 38), S. 226. Vgl. hierzu BerR 7, 4, Theodor/Albeck (Hrsg.), S. 52, wo es ausdrücklich heißt, dass Leviathan und Behemoth keine Partner haben. Nur Behemoth, so wird dort Resh Laqish zugeschrieben, habe einen Partner, aber kein sexuelles Verlangen. Die Tradition vom Partner Leviathans aus bBB 74b findet sich allerdings auch schon in Targum Jonathan zu Gen 1, 21 Clarke (Hrsg.), S. 2. Siehe auch noch den freilich erst in nach-talmudischer Zeit verfassten Midrash Konen (Bet ha-Midrash, Jellinek (Hrsg.), Bd. 2, S. 26), wo die talmudischen Traditionen aufgenommen scheinen. Das Werk, auch Baraita de-Ma‛ase Bereshit genannt, stammt aus dem Umfeld der Hekhalot-Literatur, der frühen jüdischen Mystik.
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Ende der Tage soll dabei trotzdem nicht verzichtet werden, aber diese wird erst am Ende der Tage offenbar.62 Die weitere Rezeption der Motive im Mittelalter Schließlich wird der Triumph des Menschen über das mythische Chaos im Talmud – wie auch in einigen von ihm abhängigen Midraschim –, durch ein weiteres, sehr einprägsames Motiv beschrieben; es knüpft an die Mahlszenen aus der zwischentestamentlichen Literatur an, malt diese jedoch weiter aus: Die Urtiere werden am Ende nicht nur geschlachtet und verzehrt, sondern aus dem Fell des Leviathan wird dereinst eine Hütte gebaut werden. So hören wir es etwa auch in Abschnitten aus Midrash Yalqut Shim‛oni. Dieser Sammelmidrasch aus Deutschland (14. Jh.) wird traditionell mit einem gewissen Shim‛on ha-Darshan (›dem Prediger‹) in Verbindung gebracht.63 Auch wenn sich die Herkunft nicht genau klären lässt, zeigt sich an diesem Werk, wie in verschiedenen Kontexten und unter unterschiedlichen Lebensbedingungen Juden das alte Erzählgut aufnehmen und neu verwenden konnten. Einerseits, um sich daran zu trösten, anderseits, um die biblischen Texte mir ihren kryptischen Andeutungen auch weiterhin verständlich und einsichtig zu machen. Wie verbreitet ein solcher freierer Umgang mit biblischen Texten im mittelalterlichen Midrasch war, zeigt sich dann auch in der Liturgie, und _____________ 62
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Hierin scheint mir ein signifikanter Unterschied zur christlichen Rezeption der beiden Gestalten zu liegen. Wie in der oben erwähnten Darstellung aus Lambert von St. Omers Liber floridus waren die beiden biblischen Fabelwesen, vermittelt auch durch 4. Esra und andere pseudepigraphe Schriften bekannt, doch wird das Bild des endzeitlichen Mahles so nicht mehr aufgegriffen. Vielleicht weil es in Konkurrenz zu dem Mahl »am Tisch des Herrn« stand? – Auch im Speculum naturale des Vinzenz von Beauvais werden die beiden Tiere angeführt, Behemoth 20, 25 und Leviathan 20, 38, doch auch hier ohne die messianische Perspektive, die in rabbinischen Schriften belegt ist (für den Hinweis danke ich dem Kollegen Klaus-Dietrich Fischer). Die ältere kirchliche Tradition zeigt sich insbesondere im syrischen Sprachraum in den möglicherweise durch jüdische Quellen beeinflussten Schriften eines Ephraem; vgl. dazu ausführlich Louis Ginzberg, Die Haggada bei den Kirchenvätern und in der apokryphen Litteratur, Berlin 1900, S. 16-18. Zumindest nach dem Titelblatt des Erstdrucks Venedig 1566 soll dieser in Frankfurt gewirkt haben, wahrscheinlich zu einer Zeit, als Juden erneut von Vertreibungen und Verfolgungen bedroht waren. Vgl. hierzu Stemberger, Einleitung (Anm. 52), S. 341f.
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zwar sowohl in synagogalen Gebeten als auch in Texten aus dem häuslichen Bereich. So ist es etwa noch heute üblich, am Ende des Schlussfestes nach dem Laubhüttenfest (Atzeret), am 22. Tishre, im Herbst, ein spezielles Gebet zu sprechen, welches die eschatologische Umdeutung des Motivs von der Schlachtung von Leviathan und Behemoth aufnimmt. Beim Abschied von der Laubhütte am Schlussfest – also jener symbolischen Behausung, die an die Wüstenwanderung nach der Befreiung aus ägyptischer Knechtschaft erinnern soll und die noch heute von Juden in aller Welt im Herbst auf Balkonen, in Gärten oder Hinterhöfen errichtet wird – pflegt man Leviathan in folgender Bitte ausdrücklich zu erwähnen: »Es sei dein Wille, o Herr, mein Gott und Gott meiner Väter: wie ich dein Gebot erfüllt und in dieser Hütte geweilt habe, so möge ich dereinst gewürdigt werden, in der aus dem Fell des Leviathan bereiteten Hütte zu weilen.«64
Die Haut des Urtiers wird hier also, salopp ausgedrückt, »verkauft«. Es wird wiederum ein eschatologisches Motiv aufgegriffen, um das Riesentier in seiner bedrohlichen Macht zu begrenzen, es gewissermaßen »genießbar« zu machen.65 Welche Lebenserfahrungen sich in solchen Bildern spiegeln, lässt sich nur erahnen. Aber es bedarf wohl keiner Erklärung, dass Juden, die sich insbesondere in Ashkenaz zahlreichen Bedrohungen durch Umwelt und Natur ausgesetzt sahen, gern auch auf solche zoomorphe Mythologeme zurückgriffen, um ihre Gemeinschaft zu festigen und die Hoffnung nicht zu verlieren. Wie lebendig diese Traditionen im gesamten Mittelalter blieben, zeigt sich dann auch an den zahlreichen liturgischen Dichtungen, den so genannten Piyyutim.66 Diese zum Teil hochartifiziellen Gebete, deren Verbreitung ihren Ausgang in Palästina nahm, gaben den Rabbinen weitere Ausdrucksformen an die Hand, um die aggadischen Motive der älteren jüdischen Tradition in neuem Glanz erstrahlen und weiter wirken zu lassen. Auch in ihnen lässt sich beobachten, wie die mythologischen Themen es_____________ 64 65 66
Vgl. Gebetbuch für das Schluss- und Freudenfest, Wolf Heidenheim (Hrsg.) / Selig Bamberger (Übers.), Basel 2001, S. 27. Das Motiv findet sich bereits in den schwer zu datierenden, wahrscheinlich nach-talmudischen Pirqe Mashiah (Bet ha-Midrash, Jellinek (Hrsg., Anm. 44), Bd. 3, S. 75). Zur Einführung vgl. Esra Fleischer, Piyyut, in: Shmuel Safrai u. a. (Hrsg.), The Literature of the Sages, Second Part, Assen 2006 (Compendia Rerum Iudaicarum ad Novum Testamentum II 3b), S. 363-374.
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Andreas Lehnardt
chatologisch umgedeutet, in die Geschichte Israels integriert und damit ihre Bedrohlichkeit genommen wird. Der vielleicht älteste Beleg für eine Verarbeitung der Leviathan-Behemoth-Tradition in einem Piyyut findet sich bei dem berühmten spätantiken Dichter El‛azar be-Rabbi Qallir, der kurz vor der arabischen Eroberung Palästinas ebendort seine Kunst entfaltete. In einer so genannten silluqKomposition zu einer von zwei qerovot zum Fastentag zum Gedenken an die Tempelzerstörung, dem Neunten Av, findet sich die klassische, mythopoetische Aufarbeitung der älteren Traditionen mit einer dramatischen Schilderung des Kampfes zwischen den beiden Urtieren.67 Weitere Ausgestaltungen fand das Motiv vom endzeitlichen Kampf von Behemoth und Leviathan dann auch in Strophen von Yose ben Yose und bei anderen frühen Payytanim wie Amittai bar Shefatya und auch bei babylonischen Dichtern wie Se‛adya Ga’on und Shlomo ha-Bavli.68 Schließlich fand das Thema vom endzeitlichen Kampf und dem Mahl, bei dem die Urmonster verzehrt werden, in der berühmten aramäischen Dichtung Akdamut Millin aus Worms Aufnahme.69 Diese von Me’ir bar Yitzhaq zur Zeit des großen Talmud-Kommentators Rashi verfasste Poesie ist in vielerlei Hinsicht ein einzigartiges Zeugnis jüdischer Dichtkunst. Nicht nur, dass es die Wiederbelebung des Aramäischen belegt, also der Lehrsprache des babylonischen Judentums im ashkenazischen Judentum. Dieses Gebet wird auch in die Tora-Lesung des Wochenfestes, des jüdischen Pfingsten, eingeschaltet, was eine große Ausnahme von der Regel darstellt, dass die Lesung eines Tora-Textes nicht unterbrochen werden sollte. Nach dem ersten Vers der Lesung – an diesem besonderen Tag aus _____________ 67
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Vgl. hierzu die grundlegende Studie von Jefim Schirmann, »The Battle between Behemoth and Leviathan according to an Ancient Hebrew Piyyut«, in: Proceedings of the Israel Academy of Sciences and Humanities, 4, H. 13/1970, S. 327-369. Vgl. auch T. Carmi (Übers.), The Penguin Book of the Hebrew Verse, New York 1981, S. 227-232. Vgl. Schirmann, Battle (Anm. 67), S. 360-369 mit zahlreichen weiteren Belegen aus der jüdischen Poesie des Mittelalters. Vgl. noch Michael D. Swartz / Joseph Yahalom, Avodah. An Anthology of Ancient Poetry for Yom Kippur, Pennsylvania 2005, S. 33 Anm. 102; Joseph Yahalom, Poetry and Society in Jewish Galilee of Late Antiquity, Tel Aviv 1999, S. 250-258 (hebr.). Vgl. hierzu Avraham Grossman, The Early Sages of Ashkenaz. Their Lives, Leadership and Works (900-1096), Jerusalem 21988, S. 295 (hebr.); ferner Leopold Zunz, Literaturgeschichte der synagogalen Poesie, Berlin 1865, Nachdr. Hildesheim 1966, S. 151; Ismar Elbogen, Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, 2. Nachdr. der 3. verbesserten Auflage, Frankfurt a. M. 1931, S. 191 und S. 334f.
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Exodus 19 – wird die Torarolle bedeckt oder zusammengerollt und das Gedicht gesungen. In Mainz gab es für den Gesangsvortrag sogar eine eigene, besonders getragene Melodie.70 Das akrostychische Gedicht, in dem der Verfassername festgehalten ist, hebt mit den Worten an: »Bevor ich die Worte« – d. h. die Zehn Gebote, die im Zentrum der Lesungen am Wochenfest stehen – »zu lesen beginne«. Dann folgt der bemerkenswerte Passus:71 »Die Lust am Leviathan und Stier (we-tor) der Hohen Berge (tur ramuta), sie greifen einander an und führen den Kampf, mit seinen Hörnern stößt mächtig der Behemoth, ihm gegenüber spaltet der Fisch mit seinen furchtbaren Flossen. Es naht ihm der Schöpfer mit seinem großen Schwerte, bereitet ein Mahl für die Frommen und eine Erquickung, sie sitzen um Tische von Jaspis und Karfunkel, Vor ihnen ziehen sich hin Ströme von Balsam, sie ergötzen und erquicken sich an vollen Bechern, am süßen Most, der seit dem Anbeginn in den Keltern aufbewahrt war. Ihr Frommen, wenn ihr die Herrlichkeit, die dieses Lied beschreibt, vernommen, O möget ihr in jenen Scharen aufgenommen werden, selig weilen in den himmlischen Hallen, wenn ihr auf seine Worte hört, die mit Schönheit ertönten, Hocherhaben ist Gott in der Vergangenheit und in der Zukunft, er hat uns erwählt, hat Wohlgefallen an uns und hat uns die Tora gegeben.«
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Der Versuch einer Rekonstruktion dieser Melodie ist dokumentiert in Leo Trepp (Hrsg.), Nigune Magenza. Jüdische liturgische Gesänge aus Mainz, Mainz u. a. 2004 (Beiträge zur Mittelrheinischen Musikgeschichte 39), S. 108-111 (CD mit Tonbeispiel). Übersetzung nach Gebetbuch für das Wochenfest, Wolf Heidenheim (Hrsg.) / Selig Bamberger (Übers.), Basel 2001, S. 82. Für eine Übersetzung in Knittelversen vgl. Löw, Aramäische Lurchnamen (Anm. 13), S. 340.
Thomas Honegger (Jena)
Draco litterarius. Some Thoughts on an Imaginary Beast1 »Then an old harrower of the dark / happened to find the hoard open, / the burning one who hunts out barrows, / the slick-skinned dragon, threatening the night sky / with streamers of fire. People on the farms / are in dread of him. He is driven to hunt out / hoards underground, to guard heathen gold / through age-long vigils, though to little avail.«2
This is, if not the oldest then certainly the most famous dragon in vernacular English literature3 – it4 makes its first appearance in the second half of the Old English poem Beowulf (manuscript c 1000) – and it remains alive and kicking (or rather fire-spouting) not least due to Seamus Heaney’s enjoyable translation and the somewhat less enjoyable recent film Beowulf.5 The Beowulf dragon, next to Fafnir in the Volsungasaga and the nameless dragon in the legend of St George,6 is probably the only dragon _____________ 1
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For a more general treatment of dragons in literature, see the essays in Fanfan Chen / Thomas Honegger (eds.), Good Dragons are Rare, Berlin 2009 (Arbeiten zur Literarischen Phantastik ALPH 5). Beowulf, Seamus Heaney (trans.), London 1999, p. 72. For the original, see 2270b-2277b in Klaeber’s Beowulf, Robert D. Fulk / Robert E. Bjork / John D. Niles (eds.), Toronto 42008. See Lesley Catherine Kordecki, Traditions and Development of the Medieval English Dragon, Toronto 1980, for an (incomplete) overview of dragons in medieval English literature. As Christine Rauer, Beowulf and the Dragon. Parallels and Analogues, Woodbridge 2000, p. 36, points out, the dragon-episode in Beowulf is »the longest account of a dragon-fight in medieval and classical literature.« See George Speake, Anglo-Saxon Animal Art and its Germanic Background, Oxford 1980, especially pp. 85-92, on the serpent in Anglo-Saxon art. Both terms used to refer to the dragon in Old English, i. e. draca and wyrm, are masculine. Although it is likely that some of the dragons mentioned in the works of medieval authors are female, I will use the generic it to refer to dragons if they do not exhibit a clearly defined personality, in which case I will use he or she. Paramount Pictures 2007, directed by Robert Zemeckis. Samantha Riches, St George. Hero, Martyr and Myth, Stroud 2000.
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Thomas Honegger
that can be more or less accurately placed by a modern audience – otherwise, dragons are part and parcel of a rather vague idea of the Middle Ages. Thus, the dragon is believed to be a beast that typically haunts the pages of the average medieval tale and against whom the knightly hero has to pit his strength in order to win the hand of his beloved lady, princess, baron’s daughter etc. The fact is that while we do find some dragons in romances, chronicles, or saints’ lives, yet they are by no means as widespread as popular opinion would have them,7 and literary ›dragon hunters‹ will soon find out that they have to turn many a page to find a specimen of this rare breed. Yet dragons, in spite of their relative rareness, exert a disproportionally powerful influence on the readers’ imagination. Authors and poets often exploit this potential and use the dragon for a variety of literary functions – the analysis of which will provide the main focus of my paper. Yet before discussing the literary function(s) of dragons, I would like to deal with a more basic issue, namely: What is a dragon? The question poses a thorny problem – and not only because we have no real-world animal as an ultimate point of reference. The taxonomy of modern biology is, of course, of little use in this case8 – and at least the four-footed winged dragons would be considered a serious anomaly since animals with six limbs are not known in our world. Modern man knows that dragons are ›imaginary‹ and thus no longer bothers to try and find a place for them in the (basically) Linnean typology.9 Yet pre-Linnean scholars have tried to fit the dragon into their schematic categories – see Isidore of Seville10 and _____________ 7
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See Marie-Françoise Alamichel, »De Beowulf á Malory. Les dragons dans la littérature médiévale anglaise«, in: Danielle Buschinger / Wolfgang Spiewok (eds.), Le Dragon dans la culture médiévale, Greifswald 1994, pp. 1-10, esp. p. 1. See Michel Meurger, »Dragons de la science, science des dragons«, in: Jean-Marie Privat (ed.), Dragons – entre science et fictions, Paris 2006, pp. 18-23, and Paul Michel, »… was zur Beglaubigung dieser Historie dienen mag. Drachen bei Johann Jacob Scheuchzer«, in: Chen/ Honegger (eds.), Good Dragons Are Rare (fn. 1), forthcoming. See, however, the ›(in)famous‹ table of the animal kingdom in Carolus Linnaeus’ first edition (1735) of his Regnum Animale (accessible at: http://en.wikipedia.org/wiki/Image:Linnaeus_Regnum_Animale_(1735).png (accessed 2 Apr 2008). Draco is listed in column III »Amphibia«, subdivision »Paradoxa«. See Isidore of Seville, Isidori Hispalensis Episcopi ›Etymologiarum sive Originum Libri XX‹, Wallace Martin Lindsay (ed.), vols. I & II, Oxford 1911/1987; on dragons, see vol. II, bk. XII, V »De serpentibus«.
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other encyclopaedists (for the English vernacular tradition we may mention Trevisa)11 who categorise draco as the biggest of all serpents. Anyone attempting a description of this beast must take into consideration this tradition and point out the relevant features of a dragon according to these writers, e. g. that the ›fire-breathing‹ is actually due to the fact that the air exhaled from its mouth is infected by the strong poison that is concentrated in the dragon’s tongue (and gall): And he hath venyme oonliche in his tonge and in his galle, […] Also Plinius seith that for might of the venyme his tonge is alwey arrered, and somtyme he setteth the ayer afuyre by hete of his venyme so that it semeth that he bloweth and casteth fuyre out of his mouth.12
So if Tristan had read his Solinus or Bartholomaeus Anglicus, or at least the translation by Trevisa, he would never have thought about sticking the dead dragon’s tongue into his leggins where it came into direct contact with his skin – and thus poisoned him.13 The Middle English Sir Tristrem may stand for the entire tradition: To bote, / His tong hath he ton / And schorn of bi the rote. / In his hose next the hide / The tong oway he bar. / No yede he bot ten stride / His speche les he thar. / Nedes he most abide / That he no may ferther far.14
The encyclopaedic tradition also informs us that the greatest strength of a dragon is not (only) in his jaw, but (also) in his tail: Vim autem non in denti_____________ 11
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John Trevisa, On the Properties of Things. John Trevisa’s translation of Bartholomaeus Anglicus ›De Proprietatibus Rerum‹, Michael Seymour et al. (eds.), Oxford 1975/1988 (vols. I & II Text 1975, vol. III Commentary 1988). Trevisa, On the Properties of Things (fn. 11), vol. II, p. 1185. The letter ›thorn‹ has been replaced by ›th‹. Translation: »And he has venom only in his tongue and his gall, […] Also, Plinius says that because of the strength of the poison his tongue is always inflamed [or: scarred], and sometimes he sets the air on fire because of the heat of the poison so that it looks as if he blows and breathes fire out of his mouth.« Bevis of Hampton is, for whatever reason, more careful and sticks the tongue of the dragon onto his spear: And the gode knight Bevoun / The tonge karf of the dragoun; / Upon the tronsoun of is spere / The tonge stikede for to bere. (Four Romances of England. King Horn, Havelok the Dane, Bevis of Hampton, Athelston, Ronald B. Herzman / Graham Drake / Eve Salisbury (eds.), Kalamazo 1999; quotation 2887-2890, p. 277). Translation: »And the valiant knight Bevis cut out the tongue and stuck it onto his spear to carry.« Lines 1483-1491 (p. 198) in Lancelot of the Laik and Sir Tristrem, Alan Lupack (ed.), Kalamazoo 1994. Translation: »In addition its tongue has he taken and cut off at the base. In his stockings, right next to his skin, he carried it away. He didn’t go even ten paces when he lost the power of speech. Necessarily he must remain there and could not go any further.«
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bus, sed in cauda habet, et verbere potius quam rictu nocet15 – a fact to which many a knight can testify. Thus, Bevis of Hampton, the hero of the eponymous Middle English romance,16 has not only his horse killed by a well-placed stroke of the dragon’s tail, but also his shield is shattered and his left shoulder injured: The dragoun harde him gan asaile / And smot his hors with the taile / Right amideward the hed, / That he fel to grounde ded. […] The dragoun assailede him fot hot, / With his taile on his scheld a smot, / That hit clevede hevene ato, / His left scholder dede also.17
I do not expect anyone to succeed in giving a comprehensive definition of dragons – at least none covering all dragons. The different forms and shapes of all those creatures that have been variously considered to belong to the draco-family seems to me simply too divergent and varied.18 The fact that this imaginary animal posed something of a puzzle to natural scholars and that it developed a rich, varied and basically autonomous existence in fictional texts, may lie at the root of the problem. To a greater extent than is true of other animals, dragons seem to have taken on a literary life of their own and we therefore have to take into account not merely their occurrence in fictional texts, but also, or even more so, their literary function(s). Let me illustrate the importance of being aware of the different literary functions by means of some few examples. First, authors of medieval fiction are usually not very concerned about the exact categorisation of their monsters (and indeed, the same might be said of most authors of modern fiction). It is often sufficient for them to
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Isidore, Etymologiae (fn. 10), bk. XII, V, 14-16. Interestingly, the dragon-slaying episode is not to be found in the Anglo-Norman model and is thus considered to be an addition by the English adaptor/translator; see Judith Weiss, »The Major Interpolations in Sir Beues of Hamtoun«, in: Medium Ævum, 48/1979, pp. 71-76. Four Romances of England (fn. 13), 2779-2782 (p. 274) and 2797-2800 (p. 275). Translation: »The dragon began to attack him fiercely and hit his horse with its tail right on the head so that it fell down dead. […] The dragon attacked him quickly and smote with its tail on his shield so that it split even in two, as did his left shoulder.« For an (admittedly tongue-in-cheek) overview on the different forms of dragons, see Dugald A. Steer (ed.), Dr. Ernest Drake’s Dragonology Handbook. A Practical Course in Dragons, Cambridge, Massachusetts, 2005, pp. 12-13.
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have a dangerous animal that poses an obstacle to the hero of the tale.19 ›Epic‹ knights such as Ywain, Lancelot, Tristan, Eglamour of Artois, Torrent of Portyngale, or Guy of Warwick all prove their outstanding quality by means of killing a dragon at some time or other during their chivalric career. Dragonslayer is one of the most prestigious titles a hero may attain – and it is no coincidence that Beowulf ends his heroic career with a fight against a dragon. The career of Eglamour of Artois in the Middle English romance of the same name may serve as a typical example.20 The hero, in order to gain the hand of his beloved Christabelle, has to succeed in a series of three tasks of increasing difficulty: First he must hunt one of the harts guarded by a fierce giant and, as a consequence, he also has to overcome the giant; secondly, he must kill a boar and subsequently its enraged giant-owner, while last (and most difficult) he has to fight against a dragon. With the dragon’s pride of place firmly established in the minds of the readers, new and comic potential arises – which can be found as early as the 14th c. in the romance of Sir Degaré.21 The hero, who has been abandoned by his mother – a princess raped by a fairy knight while she was separated from her companions in the forest –, grew up in the care of a hermit. At the age of twenty, Degaré ventures forth into the world in search of his parents. In accordance with his rustic upbringing, he is armed only with a stout staff or club of oak which proves useful when he meets an earl fighting a dragon. The beast has already devoured the earl’s dogs and companions, and now the earl himself is in dire straits. Degaré hastens to the earl’s rescue, takes his club and beats the dragon to death: Ac Degarre was ful strong; / He tok his bat, gret and long, / And in the forehefd he him batereth / That al the forehefd he tospatereth. / He fil adoun anon right, / And frapte his tail with gret might / Upon Degarres side, / That up-so-doun he gan to glide; / Ac he stert up ase
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See, in this context, also Kathryn Hume, »From Saga to Romance. The Use of Monsters in Old Norse Literature«, in: Studies in Philology, 77/1980, pp. 1-25. Sir Eglamour of Artois, Harriet Hudson (ed.), Kalamazoo 2006: http://www.lib.rochester.edu/camelot/teams (accessed 2 Apr 2008). Sir Degaré, Anne Laskaya / Eve Salisbury (eds.), Kalamazoo 1995: http://www.lib.rochester.edu/camelot/teams (accessed 2 Apr 2008).
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a man / And with his bat leide upan, / And al tofrusst him ech a bon, / That he lai ded, stille as a ston.22
We cannot, of course, establish the poet’s intention with absolute certainty, but I think that the poet is seeking here to shock and amuse his audience by means of his youthful hero whose first deed is beating a dragon to pulp with a club (an ›uncourtly‹ weapon used typically by giants and wild men). As such, it is a somewhat simplistic instance of a medieval author’s playing with his audience’s expectations,23 and in order to do so he makes use of two elements of dragon-lore. First, that a dragon’s hide is extremely hard and thus immune to the usual attacks with lance, spear or sword. Killing a dragon by means of beating him to death with a club is thus a ›realistic‹ option. Second, that the dragon is the most dangerous of animals and occurs usually as the ›ultimate‹ test for a knight’s virtue and prowess. Having an unexperienced ›country yokel‹ type of hero kill a dragon in his first encounter is thus a blatant violation of the norm.24 _____________ 22
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Sir Degaré (fn. 21), 373-384. Translation: »Yet Degaré was exceedingly strong; he took his big and long bat (club) and smote him (i. e. the dragon) on the forehead so that his forehead was bashed in completely and he fell down on the spot. And he slashed with his tail at Degaré’s side so that he fell down. But up sprang Degaré and began to beat him with his club and crushed every bone so that he lay dead, still as a stone.« A more sophisticated version of such a subversion of typical romance clichés (including dragon-fights) is to be found in Sir Gawain and the Green Knight (late 14th c.). When Gawain starts out from Camelot on his quest for the Green Chapel, the audience rightly expects him to encounter the ›usual obstacles‹ such as giants and dragons. And though the poet ›meets‹ these expectations, we cannot but feel the gentle irony with which he treats these stock-elements. What would take up several hundred lines in any other Middle English romance is given short shrift and the dangers of the wild, including dragons, are dealt with in less than a dozen lines: Sumwhyle wyth wormez he werrez, and with wolues als, / Sumwhyle wyth wodwos, that woned in the knarrez, / Bothe wyth bullez and berez, and borez otherquyle, / And etaynez, that hmy anelede of the heye felle (Sir Gawain and the Green Knight, John Ronald Reuel Tolkien / Eric Valentine Gordon (eds.), revised by Norman Davies, Oxford 1967; passage quoted pp. 20-21, 720-23; the letters ›yogh‹ and ›thorn‹ have been replaced by their modern equivalents). Translation: »At whiles with worms he wars, and with wolves also, / at whiles with wood-trolls that wandered in the crags, / at whiles with bulls and with bears and boars, too, at times; / and with ogres that hounded him from the heights of the fells.« (Sir Gawain and the Green Knight, Pearl, and Sir Orfeo, John Ronald Reuel Tolkien (trans.), London 1995, p. 38). The ›uncourtly‹ fight against the dragon is just one of the numerous folk-tale elements in this romance.
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Dragons functioning as obstacles also occur in the lives of saints. Within a Christian framework, the dragon has become the symbol of the demonic forces25 if not Satan himself. It is ubiquitous in Christian iconography and a favourite opponent of all aspirants to sainthood (e. g. St Margaret of Antiochia),26 and the overthrow of the dragon, often by means of prayer, symbolises the defeat of the heathen or demonic (inner) opponents in an easily understandable way.27 The most striking feature of these encounters is the fact that the saint does not use any weapons but relies solely on the power of his or her prayers and God’s assistance. Although the dragon is often killed in the confrontation with the saint, there are instances of ›dragon-taming‹,28 e. g. by St Samson of Dol. The Vita II S. Samsonis, for example, reports how the saint subdued a dragon and sent it away, never to trouble the people again: _____________ 25
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Dragons, next to venomous snakes and toads, are also stock-elements of hell and thus appear regularly in texts describing the tortures that await the damned. See, e. g., the Middle English version of The Vision of Tundale, Edward E. Foster (ed.), Kalamazoo 2004: http://www.lib.rochester.edu/camelot/teams, 522-28 (accessed 2 Apr 2008): Ther was he beyton with fendys fell, / With kene lyonus that on hym gnowe / And dragonus that hym al todrowe. / With eddrys and snakus full of venym / He was all todrawyn yche lym. Translation: »There he was beaten by hideous fiends, by vicious lions that bite him, and dragons that tear him to pieces. By adders and snakes full of venom, his every limb was torn.« See Ulrich Joger / Jochen Luckhardt (eds.), Schlangen und Drachen. Kunst und Natur, Darmstadt 2007, for examples of dragons in Christian art. See the Middle English Stanzaic Life of Margaret of Antioch, by John Lygate [c 1420], Sherry L. Reames (ed.), Kalamazoo 2003, http://www.lib.rochester.edu/camelot/teams (accessed 2 Apr 2008), 163-218, for a description of the saint’s fight against the devil who attacked her in the shape of a dragon. See Jocelyn Price, »The Virgin and the Dragon. The Demonology of Seinte Margarete«, in: Leeds Studies in English (NS), 16/1985, pp. 337-357, for a discussion of the theological implications of devils taking on the form of a dragon. See Samantha J. Riches, »Encountering the Monstrous. Saints and Dragons in Medieval Thought«, in: Bettina Bildhauer / Robert Mills (eds.), The Monstrous Middle Ages, Cardiff 2003, pp. 196-218, especially p. 201, and Jacqueline Leclercq-Marx, »Le dragon comme métaphore des démons intérieurs. Mots et images«, in: Buschinger/Spiewok (eds.), Le Dragon dans la culture médiévale (fn. 7), pp. 45-56, on the dragon as the embodiment of sin and/or an inner weakness. See also the numerous dragon-fights in the Old English hagiographic tradition, of which Rauer, Beowulf and the Dragon (fn. 3), passim, collected and analysed a representative selection. See Riches, Encountering the Monstrous (fn. 27), passim, for further instances of ›dragontaming‹.
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»[St Samson] bent his knees to the ground, praying with all his heart, begging God with all his faith who is victorious over everything. As the dragon fled to the extreme end of the cave, Samson raised his voice and said: ›In the name of Christ the Son of God who is victorious over the enemy, I command you to come out at once.‹ And while all were standing around, watching, it came out forthwith, quite meek, and trembling all over and hanging its head to the ground. Then St Samson put his stole around its neck, and dragged it alongside him – the dragon’s track along the ground was smouldering and burning. […] Then he commanded it to cross a nearby river and never to harm any creature again. Without delay and while everybody was watching, that dragon headed for the wilderness across the river, and reappeared nowhere afterwards.«29
The transition from hagiographic to epic dragon-fight is not always clearcut. On the one hand, while most of the saints refrain from using weapons and rely solely on the power of God and their prayers, there are saints (or angels) that use the traditional chivalric weapons such as lance (St George) or sword (St Michael). On the other hand, we also find secular heroes who do not trust in the efficacy of their arms alone. Bevis of Hampton, the eponymous hero of a Middle English romance, is a case in point.30 While he does fight against the dragon, it is not so much his bodily strength or his chivalric qualities that help him overcome the beast, as his Christian virtues and his faith in God, who provides some much needed assistance. Thus, Bevis repeatedly finds shelter and healing in a miraculous well which had been hallowed by a virgin who had bathed in it – allegorical allusions to baptism and the salvatory role of the Virgin Mary are obvious. The dragon does not dare approach the well and Bevis is able to recover from his wounds and gain new (spiritual and physical) strength. It is, in the end, his prayers, first to St George (line 2816) and later to God and the Virgin Mary, that put the dragon to flight (lines 2869f), and not his martial prowess: To God he made his praiere / And to Marie, his moder dere; / That herde the dragoun, ther a stod, / And flegh awei, ase he wer wod. / Beves ran after, withouten faile, / And the dragoun
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Quoted in Rauer, Beowulf and the Dragon (fn. 3), p. 157. See also St Martha and the Tarasque, though the dragon, when walking through the village on the leash as the saint’s tame pet, is attacked by the vengeful villagers and falls down dead. Further examples can be found in Riches, Encountering the Monstrous (fn. 27), table on p. 203, who also discusses the motif of banishment. See Herzman et al., Four Romances of England (fn. 13). The dragon-fight episode runs from 2597-2910.
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he gan asaile; / […] Beves thanne with strokes smerte / Smot the dragoun to the herte, / […]31
Similarly, Spenser’s Red Crosse Knight in The Faerie Queene who, as the representative of the Anglican Church, fights against the dragon (= Satan) not merely in the traditional epic manner with lance and sword but also, or even more so, by spiritual means.32 Both the anonymous poet of the Middle English Bevis of Hampton and, in his wake, Spenser ›allegorise‹ the epic and romance traditions which often feature the dragon as the ultimate opponent for the hero and thus provide a link between the ›hagiographic‹ and the secular traditions. I hope the discussion of the preceding examples has succeeded in illustrating the (often) complex nature of literary dragons and in showing that there is still a great amount of work to be done on the analysis and discussion of the ›typical‹ features that played an important role in the development of modern ›worms‹. Dragons are actually much more numerous in modern fantasy literature than they ever were in medieval texts, not least since many a modern writer of fantasy is interested in dragons as non-human(ised) characters.33 It takes, of course, considerable poetic and stylistic skills and expertise to create a convincing non-human character. Saphira, in the novel (and also in the film) Eragon,34 is, in my opinion, not so much a failure of conception as of execution. The author, Paolini, seems quite simply unable to make the reader forget (let alone enjoy) the intermediary language. As a consequence, his characters come across as stiff and predictable and the great popularity of his books is due more to the fascination with the bond between human protagonist and dragon than to any stylistic mastery on the part of the author. Paolini is also a ›good‹ example of an author plundering the rich and variegated modern _____________ 31
32
33 34
Four Romances of England (fn. 13), 2867-2870 (p. 276) and 2883-2884 (p. 277). Translation: »To God he [Bevis] prayed and to Mary, His beloved mother; this heard the dragon that stood there and flew away as if it were mad. Bevis ran after it, without fail, and began to attack the dragon. […] Bevis then, with dolorous strokes, pierced the dragon’s heart.« See Maik Goth, »Spenser’s Dragons«, in: Chen/Honegger (eds.), Good Dragons are Rare (fn. 1), forthcoming. The relevant passage is to be found in The Faerie Queene (first published 1590), bk. 1, cantos xi and xii (see Edmund Spenser, The Faerie Queene. Books I to III, Douglas Brooks-Davies (ed.), London 1987). See Anne C. Petty, Dragons of Fantasy, Crawfordville, FL 2008. Christopher Paolini, Eragon, New York 2003.
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tradition of dragon-figures without going back to medieval (or earlier) sources. His most immediate model, Anne McCaffrey’s dragons of Pern,35 are, by contrast to Eragon, a successful adaptation of the fire-breathing, flying dragon to a basically ›natural scientific‹ framework. McCaffrey’s dragons are part of the planet’s environment and have been bred to their current size and nature by early colonists in order to counter the cyclical threat of the red star. They are extraordinary beings with telepathic and telekinetic abilities who are able to travel between time and space, though they are not ›magical‹ in the stricter sense of the word (i. e. they are not creatures that violate the laws of nature of Pern). Yet while the two dragon-types mentioned above correspond more or less to the traditional flying and fire-breathing dragon, we find more complex creations with other authors – creations that raise some questions as to the origin and function of the different elements. Let me illustrate the problem by means of one of Barbara Hambly’s ›dragon‹ novels, Dragonshadow.36 Hambly makes use of the dual nature of her male protagonist (John Aversin), who appears as warrior and dragon-slayer on the one hand and as book-learned and experimental scholar with an interest in the anatomy and habits of the dragons, on the other. By means of this dual perspective, Hambly succeeds in making her dragons fascinating, yet at the same time fearsome and (at least initially) disturbingly alien creatures. The encounter between John, who travels in search of one particular dragon in his balloon, Milkweed, to the Skerries of Light, the home of the dragons, is a beautiful illustration of the alien, yet fascinating nature of dragons: »And above the twisted cordillera of the Skerries of Light, dragons hung in the air, bright chips of color, like butterflies in the glory of morning. […] Nymr sea-blue, violet-crowned … […] Not dark like sapphires, nor yet the color of the sea – not these northern seas at any rate – more was he the color of lobelia or the bluest hearts of blue iris. But he was violet-crowned. The long, curving horns that grew from among the flower-bed mane were striped, white and purple; the ribbon-scales streaming in pennons from the shorter, softer fur gleaned a thousand shades of amethyst and plum. Long antennae swung and bobbed from the whole spiked and rippling cloud, and these were tipped with glowing damson lights. The dragon swung
_____________ 35 36
The ›dragons of Pern‹ series comprises to date more than a dozen novels. The basic traits are already in place in the first one: Anne McCaffrey, Dragonflight, New York 1968. Barbara Hambly, Dragonshadow, New York 1999.
Draco litterarius
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around once and hung motionless on the air like a gull, regarding him. Even at that distance John knew that the eyes, too, were violet, brilliant as handfuls of jewels. Don’t look at his eyes, he thought, bending his head down over the ebon and pearwood hurdy-gurdy, the wind gently rocking the swaying boat. Don’t look at his eyes. […] Nymr hung in the air for a moment longer, then tilted those vast blue butterfly wings and plunged straight down to the sea. […] Then the dragon broke the waves in an upleap of water, purple and flashing in the fountain brilliance directly under the Milkweed. […] Then it was hovering in front of him again, rocking on the air as a boat rocks at anchor. […] The swanlike head dipped and angled. The eyes faced front, a predator’s eyes. The entire great dripping body, thirty feet from beak-tip to the spiked and barbed pinecone of the tail, drifted closer. John felt a querying, a touch and a pat, cold and alien as long slender fingers, probing his mind.«37
Hambly’s dragons are beings from beyond the stars, creatures of great power and (alien) intelligence about whom little is known. Hambly fuses elements from different traditions into a new, convincing whole. The butterfly wings, which seem, at first reading, rather incongruous, are most likely inspired by the famous painting »St George and the Dragon« (c 1470) by Paolo Uccello.38 The picture shows a two-legged dragon with what one could call »butterfly wings«. The spiked and barbed pinecone of the tail of Hambly’s dragon seems to unite medieval lore (the tail as the most dangerous part of a dragon) with modern reconstructions of some dinosaur-tails. The warning not to look into a dragon’s eyes may be based on general knowledge not to provoke (in particular) predatory animals by looking into their eyes – and may be ultimately connected with the etymology of the word ›dragon‹ (Greek drakon), which is believed to go back to derkomai ›the one who stares‹. One may furthermore detect elements from the Mesoamerican tradition with allusions to Quetzalcoatl, the plumed (flying) serpent god of the Aztecs. And last but not least, their ability to take on human form connects them with the Asian dragons. All in all, Hambly is able to capture the beauty and allure of the dragon in her _____________ 37 38
Hambly, Dragonshadow (fn. 36), pp. 99, 105-107. The picture is taken from: http://www.wga.hu/art/u/uccello/6various/5dragon1.jpg.
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descriptions – without letting us forget the fact that they are predators and not to be trifled with.
Paolo Uccello, St George fighting the dragon (London, National Gallery)
In her use of medieval and international lore, Hambly’s approach to dragons is typically modern. It is not so much medieval sources per se that are incorporated and developed, but rather the late 19th and early 20th century adaptations of prominent dragon-figures (most notably the Beowulf-dragon, Fafnir, and Spenser’s dragon in the Fairie Queene). Aside from the deplorable slip-up which resulted in the ›Disneyification‹ of dragons (starting with Kenneth Grahame’s The Reluctant Dragon),39 we find that the most influential dragon of 20th century literature is Smaug the Golden in The Hobbit.40 His kinship with the mighty worms of Germanic legend (notably in Beowulf and The Saga of the Volsungs)41 is unmistakable, yet Professor Tol_____________ 39 40 41
Kenneth Grahame, The Reluctant Dragon, New York 1989 (originally published 1898). John Ronald Reuel Tolkien, The Hobbit, London 41991, 11937. The Saga of the Volsungs, Jesse L. Byock (ed. & trans.), London 1990.
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kien went beyond his sources and developed his ›Germanic‹ dragon into a character in his own right – a character that has become so influential that many modern dragons owe their basic characteristics to Smaug and thus, indirectly, to the dragons of medieval lore. It has therefore become increasingly difficult to differentiate between ›genuine‹ medieval dragon lore and elements that have been extrapolated from hints or lacunae. I mentioned the danger of a dragon’s stare as just such a ›new‹ characteristic. Another would be the predilection for riddling speech. In her research into the depiction of dragons in 20th century children’s books,42 Maren Bonacker sought to find out where the dragon’s ›riddling speech‹ came from. Yet in spite of our combined efforts, we could not trace it back further than to the conversation between Bilbo and Smaug which has, however, no exact medieval counterpart.43 There are, of course, numerous models of riddling speech available, both from the Middle Ages and antiquity (e. g. the Old English Solomon and Saturn,44 the Old Norse Saga of King Heidrek the Wise,45 the Greek Oedipus and the Sphinx), but the transfer onto dragons must be credited to Professor Tolkien. Future research into the history and development of dragons from medieval to modern literature, and their function(s) within literary texts, must therefore avoid the fallacy of the ›direct influence theory‹. More often than not seemingly ›medieval‹ elements are either innovations by modern authors or, if they are based on medieval concepts, do not go back to the original texts themselves but have been transmitted by ›multiplicator‹ figures such as Lister Matheson or Anne C. Petty, whose courses and publications provide the aspiring writers with the necessary background knowledge and motifs. The study of this ›living‹ tradition, however, will be the focus of another paper.
_____________ 42
43 44 45
See Maren Bonacker, »Domestizierte Drachen: Von der Zähmung und Auswilderung kinderliterarischer Drachen«, in: Chen/Honegger (eds.), Good Dragons are Rare (fn. 1), forthcoming. Sigurd’s exchange with the dying Fafnir in »The Lay of Fafnir« (The Poetic Edda, Carolyne Larrington (trans.), Oxford 1999, pp. 157-165) can hardly be called ›riddling speech‹. The Poetical Dialogues of Solomon and Saturn, Robert J. Menner (ed.), New York 1941. The Saga of King Heidrek the Wise, Christopher Tolkien (ed.), London 1960.
Theriomorphe Zeichensprachen
Heiko Hartmann (Berlin)
Tiere in der historischen und literarischen Heraldik des Mittelalters. Ein Aufriss In memoriam Br. Andreas Karel Vanvlasselaer Für viele Menschen sind Tiere geradezu der Inbegriff von Wappenbildern. Sie denken dabei an Adler, Löwen und Greifen, sehen alte Burgwappen vor sich, Nationalfahnen und Herrschaftssymbole, ritterliche Standesabzeichen, Münzbilder und Familienwappen auf verwitterten Grabsteinen. Tiere begegnen in der Heraldik unserer Zeit allenthalben, z. B. in den Städte- und Staatswappen der deutschen Länder. Neben dem Bundesadler, der auf das alte kaiserliche Herrschaftszeichen zurückgeht, zeigen viele Landeswappen heute noch Tierfiguren, die vielfach an Familienwappen ehemals regierender Geschlechter anknüpfen. Bei der Neugründung der Bundesländer nach dem Zweiten Weltkrieg griff man oft auf die traditionellen Embleme zurück. So zeigt z. B. das Wappen Baden-Württembergs drei schreitende schwarze Löwen, wie sie die Staufer als Herzöge Schwabens führten. Auch Bayern führt den Löwen im Wappen: Die Herzöge von Bayern gebrauchten ihn ab der Mitte des 12. Jhs. Ein anderes Beispiel ist der Bär im Wappen Berlins, der wahrscheinlich durch die phonetische Ähnlichkeit mit dem Stadtnamen inspiriert ist. Nordrhein-Westfalen führt seit 1953 neben der lippischen Rose und dem silbernen Wellenschrägbalken der Rheinprovinz das steigende Sachsenross im Wappen, das für Westfalen steht. Auch die Wappen der Bundesländer Brandenburg (roter Adler), Hessen (rot-weiß geteilter Löwe), Mecklenburg-Vorpommern (schwarzer Stierkopf, roter Greif und roter Adler), Niedersachsen (weißes Pferd), Rheinland-Pfalz (goldener Löwe), Saarland (weiße Adler, ein silberner und ein goldener Löwe), Sachsen-Anhalt (schwarzer Adler und schwarzer Bär), Schleswig-Holstein (blaue Löwen) und Thüringen
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Heiko Hartmann
(rot-silbern gestreifter Löwe) zeigen markante Tierfiguren, die ihren Ursprung zumeist im Mittelalter haben. Noch vielfältiger sind die Tiermotive in Städtewappen. Hier findet sich eine große heraldische Formenvielfalt, die mit den Wappen der Städte Zinnowitz auf Usedom (Seepferdchen), Jüterbog in Brandenburg (Ziegenbock), Frankfurt/Oder (Hahn), Cottbus (Hummer) und Strausberg bei Berlin (Strauß) nur angedeutet werden kann. Heraldische Tiere sind also auch in der Gegenwart in deutschen Landes- und Städtewappen, auf Behördenstempeln und in amtlichen Siegeln überall präsent, markieren Regierungs- und Verwaltungsbezirke und stiften Identität.1 Wo liegen die historischen Wurzeln dieser Herrschaftszeichen? Von wem wurden sie aus welchen Motiven heraus gewählt? Warum wurden gerade Tiere zu beliebten Wappenfiguren? Welche Bedeutung hatten die heraldischen Tiere? Welche Funktion hatten sie in der realen und in der fiktiven, insbesondere literarischen Heraldik früherer Jahrhunderte? Welche künstlerischen Ausgestaltungen heraldischer Tierfiguren lassen sich im Mittelalter beobachten? Wie wirken mittelalterliche Vorbilder bis in unsere Zeit fort? Diese Fragen möchte ich im folgenden Aufriss skizzenhaft zu beantworten versuchen. I Heraldische Abzeichen im eigentlichen Sinne, also personengebundene, dauerhafte, farbige Kennzeichen eines Geschlechtes oder einer bestimmten Körperschaft unter Einbeziehung der mittelalterlichen Abwehrwaffen Schild und Helm,2 gibt es erst seit der Mitte des 12. Jhs.3 Wappen entstan_____________ 1
2
3
Vgl. Andreas Kalckhoff, Fürsten-, Länder-, Bürgerwappen: Heraldik aus neun Jahrhunderten. Zur Geschichte des Familienwappens. Mit Beiträgen von Ottfried Neubecker, Joachim Kalka u. Barbara Potzka, Stuttgart ²1988, S. 67-103. Vgl. Handbuch der Heraldik. Wappenfibel. Begr. durch Adolf Matthias Hildebrandt, bearb. im Auftrag des Herold-Ausschusses der Deutschen Wappenrolle von LudWig Biewer, Herold. Verein für Heraldik, Genealogie u. verwandte Wissenschaften (Hrsg.), Neustadt a. d. Aisch 191998, S. 11. Vgl. zum folgenden historischen Überblick: Christian Ulrich Freiherr von Ulmenstein, Über Ursprung und Entstehung des Wappenwesens. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung, Weimar 1941 (Forschungen zum dt. Recht I,2 / Schriften der Akademie für deutsches Recht); Donald L. Galbreath / Léon Jéquier, Lehrbuch der Heraldik. Aus dem Frz. übertr. von Ottfried Neu-
Tiere in der Heraldik des Mittelalters
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den aus der Notwendigkeit heraus, in großen Massenschlachten die kämpfenden Truppen und ihre Anführer voneinander zu unterscheiden und die Kontingente auch aus der Entfernung kenntlich zu machen, damit überhaupt Freund und Feind unterschieden werden konnten. Dies war umso notwendiger, als die mittelalterlichen Soldaten unter den seit dem Ende des 12. Jhs. gebräuchlichen geschlossenen Topfhelmen und der schweren Panzerung nicht mehr zu erkennen waren. Einheitliche Feldzeichen dienten insbesondere während der Kreuzzüge zur Differenzierung großer Reiterverbände. Die Wahl der jeweiligen geometrischen Muster oder der figuralen Schildinhalte wird dabei anfänglich stark von persönlichen Motiven bestimmt gewesen sein. Zum Wappen im engeren Sinne wurden diese Abzeichen erst dann, wenn sie dauerhaft die Familie ihres ritterlichen Trägers kennzeichneten und erblich wurden. Sie waren dann exklusive dynastische Erkennungs- und Herrschaftszeichen und verloren allmählich den unmittelbaren Bezug zum Kriegswesen. »Schildbemalung und Kriegsschmuck [hatten] eine lange Tradition, neu war die Verwendung des Wappens als persönliches Attribut und Kennzeichnung eines Standes. Die Wurzel der seit der Mitte des 12. Jhs. aufblühenden Heraldik lag beim wachsenden Selbstbewusstsein des Adels, in der Absicht der Ritter, durch ein Abzeichen, eine persönliche Marke sich selbst und die Familie sinnfällig zu repräsentieren.«4
In der frühen Phase der Heraldik schmückten die Wappen insbesondere in Deutschland vorwiegend Tiere.5 Als Schildfiguren wurden am häufigsten der Adler, der Löwe und der Panther gewählt. _____________
4 5
becker, München 1978; Walter Leonhard, Das große Buch der Wappenkunst. Entwicklung – Elemente – Bildmotive – Gestaltung, München 1978; Lutz Fenske, »Adel und Rittertum im Spiegel früher heraldischer Formen und deren Entwicklung«, in: Josef Fleckenstein (Hrsg.), Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums, Göttingen 1985 (Veröffentl. des Max-Planck-Instituts für Geschichte 80), S. 75-160; Handbuch der Heraldik (Anm. 2); Michel Pastoureau, Les Armoiries, Turnhout ²1998 (Typologie des sources du Moyen Âge occidental, Fasc. 20, B-I, D.3*); Václav V. Filip, Einführung in die Heraldik, Stuttgart 2000 (Historische Grundwissenschaften in Einzeldarstellungen 3); Georg Scheibelreiter, Heraldik, Wien, München 2006 (Oldenbourg Historische Hilfswissenschaften). Werner Meyer / Erich Lessing, Deutsche Ritter – Deutsche Burgen, Augsburg 1998, S. 141. Vgl. Fenske, Adel und Rittertum (Anm. 3), S. 94-100.
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Prägend für die weitere Entwicklung der Heraldik war dann das Turnierwesen.6 Die großen höfischen Kampfveranstaltungen des hohen Mittelalters boten den Teilnehmern seit etwa 1150 reichlich Gelegenheit, sich mit dem ganzen Gepränge ihrer ritterlichen Ausrüstung glanzvoll zu präsentieren. Zudem waren wie in der Schlacht die Wappen notwendig, um die gegeneinander anrennenden Scharen zu kennzeichnen und auseinander zu halten. Nur so konnten Sieg und Niederlage einem Trupp und seinem Anführer zugeordnet werden. Die Wappen schmückten nun nicht mehr nur den Schild, sondern auch Helm, Waffenrock und Pferdedecke des Ritters. Im späten Mittelalter waren die Turniere nurmehr gesellschaftliche Ereignisse ohne militärische Bedeutung, trugen aber mit ihrem Reglement nachhaltig zur Formalisierung und Etablierung des Wappenwesens und zur Herausbildung einer heraldischen Fachsprache bei. Es blieb nicht aus, dass sich Wappen als distinguierende Kennzeichen bald auch auf andere gesellschaftliche Gruppen ausdehnten. Waren sie zunächst nur beim hohen und niederen Adel in Gebrauch gewesen, so führten seit dem 13. Jh. zunehmend auch Bürger, Handwerker und Geistliche Wappen, außerdem Körperschaften wie Bistümer, Orden, Abteien, Städte, Gilden und Zünfte. Seit dem 14. Jh. fanden sich Wappen sogar bei Bauern. II Als erste Tierfiguren der mittelalterlichen Heraldik begegnen der Adler (1154, Heinrich u. Robert von Lothringen), der Bär (ca. 1200, Reginald FitzUrse), der Delfin (ca. 1220, Guido X. Dauphine von Vienne), der Drache (12. Jh., Fam. Montdragon), der Eber (1163, Rudolf von Ramsberg), das Einhorn (ca. 1250, Stadt Schwäbisch-Gmünd), der Elefant (ca. 1231, Graf von Helfenstein), der Falke (1170, Sir Richard Falconer), der Fisch (1135, Richard de Lucy), der Greif (ca. 1200, Borwin I. von Mecklenburg), die Henne (1232, Graf Poppo VII.), der Hirsch (1186, Otto von Lobdeburg u. LudWig II. von Oettingen), der Hund (1210, Agnes von Rüdenberg), der Kranich (1217, Eberwin von Cransberg), der _____________ 6
Vgl. zum mittelalterlichen Turnier ausführlich Joachim Bumke, Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, München 81997, S. 342-379.
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Löwe (ca. 1130, Gottfried Plantagenet), die Merlette (kleine Amsel, 1174, Robert von Meulan), der Panther (1160/63, Ottokar III. von Steier u. Hermann von Kärnten), der Pfau (1223, Lothar von Wied), das Pferd (1264, Herren von Grote), der Rabe (1170, Fam. Corbet), die Schlange (13. Jh., Fam. Visconti), der Schwan (ca. 1200, Heinrich von Schwangau), der Steinbock (1200, Ferdinand de Cabrera), der Stier (1209, Grafen von Wölpe), der Widder (1180, Stadt Schaffhausen) und der Wolf (1193, Fam. Haro, Herren von Biscaya).7 Interessant an dieser Liste früher Schildembleme ist nicht nur ihre Vielfalt, sondern das Vorkommen vieler nicht europäischer Tiere, die die Träger kaum je selbst in natura gesehen haben dürften. Freilich hatten sie u. a. mit dem Physiologus Lehrbücher der Naturkunde zur Hand, die auch exotische Tiere beschrieben. Andere Tiere entstammen wiederum der Umwelt des mittelalterlichen Europa; die Vorbilder für Figuren wie Hirsche, Hunde und Schwäne hatte man hier überall vor Augen. Bezeichnend ist auch die große Zahl redender Wappen. Wenn ein Adeliger mit Namen Dauphine den Delfin als Schildzeichen führt, der Graf von Helfenstein den Elefanten (mhd. helfant) oder das Geschlecht derer von Schwangau den Schwan, so zeigt dies, dass oft Wappenembleme gewählt wurden, die einen Bezug zum eigenen Namen hatten und ihn bildlich umsetzten. Den Schildzeichen kommt somit keine tiefgründige symbolische Bedeutung zu, sondern sie visualisieren primär einen Familiennamen.8 Auffällig ist auch, dass Tiere, die für Stärke und Kampfkraft stehen, z. B. Adler, Löwe und Panther, oder die Schönheit und Anmut verkörpern, z. B. Hirsch, Pfau und Schwan, überwiegen. Sie waren am ehesten geeignet, ihren Träger aufzuwerten und seine Selbsteinschätzung zum Ausdruck zu bringen. Ich möchte nun die Formen mittelalterlicher Tierheraldik anhand einiger repräsentativer Beispiele veranschaulichen, die aus der mittelalterlichen Buchmalerei, Grabplastik, Bauornamentik und Dichtung stammen. Dass _____________ 7 8
Vgl. Heinz Waldner, Die ältesten Wappenbilder. Eine internationale Übersicht, Berlin 1992 (Herold-Studien 2). Zum Problem der ›Bedeutung‹ mittelalterlicher Tierwappen und zu den Motiven für die Wahl eines Wappentieres vgl. den Aufsatz von Georg Scheibelreiter, »Tiersymbolik und Wappen im Mittelalter. Grundsätzliche Überlegungen«, in: Das Mittelalter, 12, H. 2/2007, S. 9-23. Scheibelreiter betont die Unfestigkeit der Bedeutungen und Funktionen einzelner Tierbilder zu dieser Zeit: »Dass der Ursprung der Wappen polygenetisch ist, sollte bei der Deutung ihres Inhalts niemals übersehen werden« (S. 22).
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es sich angesichts des unüberschaubaren Reichtums des Materials nur um Schlaglichter handelt, versteht sich von selbst. III Ich beginne mit Autorbildern der Manessischen Liederhandschrift (Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 848). Es handelt sich um einen der prächtigsten und bedeutendsten Codices des Mittelalters. Die Handschrift wurde im ersten Drittel des 14. Jhs. in Zürich angelegt und trägt die Lieder aller deutschen Lyriker des 12. bis 14. Jhs. zusammen. Sie enthält über 5200 Strophen und 36 Leichs; ein Großteil der in ihr versammelten Minnelieder ist überhaupt nur hier überliefert.9 In unserem Zusammenhang besonders interessant sind die 137 kunstvollen Dichter-›Porträts‹, die jedem Textkorpus vorangestellt sind. Sie verherrlichen in idealisierenden Bildern die Welt des staufischen Adels, wie die Nachfahren des 14. Jhs., d. h. die kunstliebenden Mitglieder eines Kreises um die reiche und mächtige Züricher Familie Manesse, sie sich vorstellten. In den Miniaturen ist den ritterlichen Sängern in der Regel ein individualisierendes Wappen beigegeben, meistens auch eine dazugehörige Helmzier. Der Realitätsgehalt der Wappen ist umstritten, vielfach wird es sich um imaginäre Schildfiguren handeln.10 Wenigstens drei der Wappendarstellungen in der Manessischen Liederhandschrift möchte ich hier kurz vorstellen. Das erste, nur drei Minnelieder umfassende Textkorpus steht unter dem Namen Kaiser Heinrichs VI. (1165-1197).11 Das Autorbild zeigt den Kaiser, in herrscherlicher Pose thronend, mit Purpurmantel, Zepter, Schwert, Krone und einem Spruchband als Dichter-Attribut. Über ihm das Reichswappen: Ein schwarzer Adler in Gold mit roter Zunge und _____________ 9
10 11
Vgl. Manessische Liederhandschrift. Vierzig Miniaturen und Gedichte. Mit einem Vorwort von Wieland Schmidt. Textedition, Übertragung, Nachbemerkung u. biographische Anmerkungen von Joachim Kuolt, Stuttgart 1985, S. 7-19. Vgl. Gisela Kornrumpf, Art. »Heidelberger Liederhandschrift C«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3/1981, Sp. 584-597, hier Sp. 593-595. Vgl. Günther Schweikle, Art. »Kaiser Heinrich«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3/1981, Sp. 678-682.
Tiere in der Heraldik des Mittelalters
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roten Fängen. Die zugehörige Helmzier ist entsprechend gestaltet.12 Der Adler ist eines der ältesten Schildzeichen und symbolisierte bereits in vorheraldischer Zeit die imperiale Macht, etwa im Römischen Reich. Seit Friedrich I. Barbarossa fand er als kaiserliches Wappen im eigentlichen Sinne, d. h. in heraldischer Funktion, Verwendung. Kaiser Heinrich VI., dessen Lebenszeit über hundert Jahre von der Entstehungszeit der Manessischen Liederhandschrift entfernt ist, hat nachweislich ein Adlerwappen geführt, d. h., hier ist der Wappenschmuck keine spätere Erfindung des Künstlers. Bereits in einer Handschrift vom Ende des 12. Jhs. (Liber ad honorem Augusti) wird der Kaiser als Ritter zu Pferde mit einem goldenen Adler auf Schild, Helm und Pferdedecke dargestellt.13 Wie der Kaiser führten im Mittelalter viele der von ihm abhängigen Reichsfürsten den Adler im Wappen. Im Laufe der Geschichte vielfach verändert und Zeichen unterschiedlicher Staatsformen, hat der Adler als Wappenfigur Deutschlands die Zeiten überdauert und begegnet uns noch heute im Bundesadler.14 Der Minnesänger Dietmar von Aist führt auf dem seinem Liedkorpus vorangestellten Autorbild ein Wappen mit einem silbernen Einhorn in Blau. Die zugehörige Helmzier gibt das Wappentier figürlich wieder. Unter dem Wappenschild sehen wir eine Minneszene: Der Sänger versucht, als Händler verkleidet, der Geliebten, die einen Schoßhund trägt, nahe zu kommen, und bietet ihr schöne Gürtel und Taschen an (Abb. 1).15 Über diesen frühen Minnesänger wissen wir wenig: Zwar ist seit 1125 ein oberösterreichisches Geschlecht von Aist bezeugt, doch es ist unklar, in welcher Beziehung Dietmar zu dieser Familie stand. Auch seine Lebensdaten sind unbekannt. Formale Merkmale einiger seiner Lieder weisen in die zweite Hälfte des 12. Jhs. Berühmt ist Dietmars Falkenlied Ez stuont ein frouwe alleine.16 Da historische Zeugnisse für ein Einhorn-Wappen derer von Aist fehlen, geht die Forschung hier von Phantasie-Heraldik aus. Denn das Einhorn ist als Wappentier erst seit der Mitte des 13. Jhs. in _____________ 12 13 14 15 16
Siehe Manessische Liederhandschrift (Anm. 9), S. 23. Vgl. Waldner, Die ältesten Wappenbilder (Anm. 7), S. 2. Vgl. Leonhard, Das große Buch der Wappenkunst (Anm. 3), S. 182-204. Siehe Manessische Liederhandschrift (Anm. 9), S. 43. Vgl. Helmut Tervooren, Art. »Dietmar von Aist«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 2/1980, Sp. 95-98.
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Heiko Hartmann
Städtewappen belegt.17 Der Miniator der Manessischen Liederhandschrift hat dieses Wappen offenbar für Dietmar erfunden. Vielleicht kannte er Dietmars Minnelieder. Im Christentum ist das Einhorn seit jeher ein Symbol der Stärke und Reinheit. Nur eine Jungfrau sollte es einfangen können. Das Einhorn war ein Minnesymbol.18 Insofern hat der Künstler eine durchaus passende Schildfigur für den Dichter gewählt.
Abb. 1 Codex Manesse, fol. 64r: Dietmar von Aist
_____________ 17 18
Vgl. Waldner, Die ältesten Wappenbilder (Anm. 7), S. 10. Vgl. Hannelore Sachs / Ernst Badstübner / Helga Neumann, Wörterbuch der christlichen Ikonographie, Regensburg 82004, S. 111.
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Das dritte heraldisch interessante Autorbild aus der Manessischen Liederhandschrift zeigt einen der berühmtesten Dichter der höfischen Klassik in voller Wappnung: Hartmann von Aue, den Verfasser des Erec, des Iwein und des Gregorius.19 Sein Wappentier ist der Adler: Drei weiße Adlerköpfe mit goldenen Schnäbeln in Blau schmücken seinen Schild, und auch die Lanzenfahne und die Pferdedecke zeigen diese Figur. Eine mächtige, figürliche Adler-Zimier krönt den Topfhelm des Ritters. Der Künstler inszeniert hier einen prachtvoll ausgerüsteten, unerschrockenen Ritter, wie er in den Kampf reitet. Das Gesicht ist unkenntlich. Es ist das einheitliche heraldische Dekor und die Beischrift her Hartman von Owe, die den Dichter individualisiert. Auch von Hartmann wissen wir wenig: Er selbst rechnet sich im Prolog des Armen Heinrich dem Dienstadel zu, seine Sprache weist nach Schwaben. Versuche, den Begründer der mittelhochdeutschen Artusepik mithilfe des Wappens in der Manessischen Liederhandschrift bestimmten Geschlechtern (Wespersbühler im Thurgau, Zähringer) zuzuordnen, haben nicht weitergeführt. Hartmann hat seine Werke zwischen 1180 und 1200 verfasst.20 Das Adlerwappen, das ihm der Künstler des 14. Jhs. beigegeben hat, dürfte uns also der Biographie Hartmanns nicht näher bringen. Interessant ist aber die Gleichförmigkeit des Motivs auf Schild, Pferdedecke und Banner: Der Adlerkopf dominiert die komplette Ausrüstung. Das ist nicht selbstverständlich. Die Manessische Liederhandschrift kennt auch ritterliche Ausrüstungen, bei denen Schildfigur und Zimier nicht übereinstimmen, z. B. im Falle Krafts von Toggenburg (Schild: schwarze Dogge, Helm: zwei silberne Barben)21 oder Ulrichs von Gutenburg (Schild: schwarzer Löwe, Helm: goldene Stierhörner).22 Die Mehrzahl der Autorbilder zeigt allerdings einheitliche heraldische Attribute, was darauf hinweist, dass die Manessische Liederhandschrift einer Zeit entstammt, in der das heraldische Reglement bereits etabliert war.23 In Hartmanns Werken kommen keine Adlerwappen vor. Daher bleibt im Dunkeln, warum der Künstler, der sich _____________ 19 20 21 22 23
Siehe Manessische Liederhandschrift (Anm. 9), S. 94. Vgl. Christoph Cormeau, Art. »Hartmann von Aue«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3/1981, Sp. 500-520. Vgl. Manessische Liederhandschrift (Anm. 9), S. 34. Vgl. ebd., S. 55. Vgl. Handbuch der Heraldik (Anm. 2), S. 84-86.
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ansonsten bei seiner Wappenwahl durchaus auf Einzelmotive der in der Handschrift gesammelten Lieder bezieht, Hartmann ausgerechnet den Adler zuweist. Das Autorbild illustriert gleichwohl eindrucksvoll, welch große Bedeutung heraldischen Emblemen bei der Inszenierung idealen Rittertums im 14. Jh. zukam. Wenden wir uns nach dieser Begegnung mit den fiktiven Wappen der Minnesänger einigen Beispielen der historischen Heraldik zu: Ein Kopialbuch (Tumbo A) der Kathedrale von Santiago de Compostela enthält ein Bildnis, das Alphons IX., den König von León und Galicien, als idealen Herrscher zeigt (Abb. 2).24
Abb. 2 Alphons IX. (Tumbo A)
_____________ 24
Siehe Galbreath/Jéquier, Lehrbuch der Heraldik (Anm. 3), S. 93.
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Alphons, dem eine ungewöhnlich lange Regierungszeit vergönnt war (1188-1230), lebte von 1171 bis 1230. Er stand bei seinen Zeitgenossen in hohem Ansehen, trieb die Rückeroberung der maurischen Gebiete auf der Iberischen Halbinsel voran, zeichnete sich durch eine aktive Wiederbesiedlungs- und Städtegründungspolitik aus und vergrößerte sein Königreich beträchtlich.25 Unter einem Architekturrahmen sprengt der König auf einem stolzen Ross dahin, die Krone auf dem Haupt und ohne Rüstung in herrscherlicher Gewandung, die Lanze im Anschlag. In seiner Linken trägt er einen Schild, auf dem ein steigender, purpurner Löwe auf weißem Grund zu sehen ist, seit der Mitte des 12. Jhs. das Wappen des Königreiches León. Der Löwe wird unter dem Reiterbildnis in einem grünen Rahmen noch einmal vergrößert wiedergegeben: Diesmal in unheraldischer dreidimensionaler Darstellung, blickt er den Betrachter an, richtet den Schwanz auf, bleckt die Zähne und zeigt die Krallen. Zum Sprung bereit und in der Körperhaltung dem königlichen Pferd angeglichen, verkörpert er Wehrhaftigkeit, Stärke und Macht.26 Alphons IX. und der Löwe werden bildkünstlerisch gleichgesetzt, der König wird zum stolzen, mutigen Löwen stilisiert, und sein abstrahierter Wappenlöwe wird durch das beigegebene naturalistische Löwenbild gewissermaßen kommentiert. Das Nebeneinander von heraldischer und natürlicher Tierfigur macht den besonderen Reiz des Bildnisses aus. Die Parallelisierung intensiviert die Inszenierung Alphons IX. als unbezwinglichen Herrscher. Die untere Bildhälfte zeigt, wer sich eigentlich hinter der königlichen Gestalt im oberen Feld verbirgt. Seit dem ersten Kreuzzug war der Löwe das von Fürsten bevorzugt gewählte herrscherliche Schildzeichen. Es war auch das Zeichen des miles Christi und Heidenkämpfers und daher für Alphons IX. als Vertreter der Reconquista besonders passend.27 _____________ 25 26
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Emilio Sáez, Art. »Alfons IX.«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1/1999, Sp. 400. Zur Semantik des Löwen im Zusammenhang mit Selbstverständnis und Inszenierung mittelalterlicher Herrscher vgl. Dirk Jäckel, Der Herrscher als Löwe. Ursprung und Gebrauch eines politischen Symbols im Früh- und Hochmittelalter, Köln u. a. 2006 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 60). Vgl. Georg Scheibelreiter, Tiernamen und Wappenwesen, Graz u. a. 1976 (Veröffentl. des Instituts für österr. Geschichtsforschung 24), S. 119-122; Jäckel, Der Herrscher als Löwe (Anm. 26), S. 227f. u. 327.
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Unser zweites Beispiel für Herrscherheraldik führt uns nach Regensburg: Auf den ersten Pergamentseiten eines Zinsregisters des reichsunmittelbaren Kanonissenstiftes Obermünster aus dem Jahre 1374 findet sich eine Miniatur, auf der Königin Hemma (ca. 812-876),28 die Schwester Kaiserin Judiths, Gattin König Ludwigs des Deutschen und – gemäß einer fragwürdigen Haustradition – Gründerin des Klosters (833),29 unter einem stilisierten Gewölbe, das von einem Kreuz gekrönt wird, zusammen mit Agnes von Munebach, der damaligen Äbtissin von Obermünster († 1380),30 die thronende Madonna verehrt (Abb. 3).31 Das Zinsregister diente der Übersicht über die – im 14. Jh. zeitweise prekären32 – Finanzen des bis 1810 bestehenden, an Grundherrschaften reichen Stiftes. Das »kunsthistorisch bisher übersehene«33 Dedikationsbild zeigt links die fränkische Königin, wie sie Maria und dem Christuskind das von ihr gegründete Stift überreicht. _____________ 28
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Vgl. Josef Fleckenstein, Art. »Hemma [1]«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4/1999, Sp. 2128; Bernd Schneidmüller, Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung (819-1252), Stuttgart 2000 (Urban Taschenbücher 465), S. 10f.; Wilfried Hartmann, LudWig der Deutsche, Darmstadt 2002 (Gestalten des Mittelalters und der Renaissance), S. 64-66; Eric J. Goldberg, »Regina nitens sanctissima Hemma. Queen Emma (827-876), Bishop Witgar of Augsburg, and the WitgarBelt«, in: Björn Weiler / Simon MacLean (Hrsg.), Representations of Power in Medieval Germany 800-1500, Turnhout 2006 (International Medieval Research 16), S. 57-95. Zur Geschichte des Klosters Obermünster vgl. Heinrich Wanderwitz, »Die Reichsstifte Nieder- und Obermünster bis ins 11. Jahrhundert. Quellenkritische Studien insbesondere zum ältesten Nekrolog aus Niedermünster«, in: Egon Johannes Greipl / Alois Schmidt / Walter Ziegler (Hrsg.), Aus Bayerns Geschichte. Forschungen als Festgabe zum 70. Geburtstag von Andreas Kraus, St. Ottilien 1992, S. 51-88; Andreas Kraus (Hrsg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 3,3: Geschichte der Oberpfalz und des bayerischen Reichskreises bis zum Ausgang des 18. Jhs., München ³1995, S. 284-286; Peter Claus Hartmann, Der Bayerische Reichskreis (1500-1803). Strukturen, Geschichte und Bedeutung im Rahmen der Kreisverfassung und der allgemeinen institutionellen Entwicklung des Heiligen Römischen Reiches, Berlin 1997 (Schriften zur Verfassungsgeschichte 52), S. 141-143; Claudia Märtl, »Die Damenstifte Obermünster, Niedermünster, St. Paul«, in: Peter Schmid (Hrsg.), Geschichte der Stadt Regensburg, 2 Bde., Regensburg 2000, Bd. 2, S. 745-763. Vgl. Roman Zirngibl, Abhandlung über die Reihe und Regierungsfolge der gefürsteten Äbtissinnen in Obermünster, Regensburg 1787, S. 46-50. Siehe Krone und Schleier. Kunst aus mittelalterlichen Frauenklöstern, Kunst- u. Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Bonn) u. Ruhrlandmuseum Essen (Hrsg.), München 2005, S. 305. Vgl. Zirngibl, Abhandlung (Anm. 30), S. 47. Krone und Schleier (Anm. 31), S. 306.
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Abb. 3 Zinsregister Obermünster, fol. 7v (Dedikationsbild)
Sie ist durch königliche Gewänder, die Krone und die Beischrift Hemma regina gekennzeichnet. Ihr Rang wird außerdem durch drei Wappen angezeigt: In der Mitte steht der Adler, das Zeichen des »regnum Romanorum«. Er wird flankiert von zwei weiteren Wappen: Das linke zeigt in Blau neun goldene Lilien (fleurs de lys), das Symbol des Königreiches Frankreich (Francia), das rechte hingegen für Spanien (Hispania) schwarz auf weißem Schildgrund (mit einem roten Beil) den steigenden Löwen Kastiliens und Leóns. Die drei recht grob gezeichneten Wappen sind insofern interessant, als sie Erfindungen des späten 14. Jhs. sind. In der Zeit der Karolinger gab es noch keine heraldischen Insignien, und Königin Hemma hat im 9. Jh. na-
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türlich gar kein Wappen geführt. Selbstverständlich gehörte aber zu einer Monarchin um 1374 ein Wappen, und so hat der Künstler Hemma eines verliehen. Der Reichsadler und das Wappen Frankreichs sollen sie als Königin des Frankenreiches ausweisen (sacri Romani et Francie regnorum regina et semper Augusta). Hemma war an der Seite des ›Franzosen‹ Ludwig des Deutschen allerdings nur Königin des ostfränkischen Reiches, d. h. eines Teilreiches des damals bereits in drei Territorien zerfallenen Reiches Karls des Großen. Indem der Künstler Hemma eine spanische Abstammung beilegte (nata regis Hispanie) und ihr das Löwenwappen verlieh, obwohl ihre Eltern in Wirklichkeit der bayerische Graf Welf und die sächsische Adelige Heilwich waren, griff er eine spezielle Tradition des Stiftes auf,34 deren spätmittelalterliche Ursprünge wohl politischer Natur waren und durch die Hemma als nicht bayerische, spanische Gründerin von Obermünster gegen Rechts- und Besitzansprüche der bayerischen Herzöge in Position gebracht werden konnte.35 Da die Äbtissin von Obermünster offenbar ein Wappen besaß, musste auch die frühmittelalterliche Königin mit entsprechenden Herrschaftszeichen ausgestattet werden, allein schon aus Gründen der Bildsymmetrie. Der karolingischen Königin Hemma ist hier also ein Phantasiewappen beigegeben, das aus geschichtlichem Teilwissen abgeleitet ist, aber insgesamt historischer und heraldischer Stimmigkeit entbehrt. _____________ 34
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Vgl. auch die Aufschrift auf dem Grabmal der Königin in der Stiftskirche St. Emmeram in Regensburg aus dem 17. Jahrhundert: Hemma Hispana Ludovici regis bavariae coniux fundatrix superioris monasterii hic sepulta 876 (zit. nach: Kurt Bauch, Das mittelalterliche Grabbild. Figürliche Grabmäler des 11. bis 15. Jahrhunderts in Europa, Berlin, New York 1976, S. 101). Zu Grabmal und Inschrift vgl. Die Kunstdenkmäler der Oberpfalz, Bd. 22: Stadt Regensburg, Teil 1: Dom und St. Emmeram. Bearb. von Felix Mader, München 1933 (Die Kunstdenkmäler von Bayern 22), S. 250 sowie Tafel 32 u. Abb. 164; Georg Leidinger, Bruchstücke einer verlorenen Chronik eines unbekannten Regensburger Verfassers des 12. Jahrhunderts, München 1933 (Sitzungsberichte der Phil.-Hist. Klasse der Bayer. Akademie der Wissenschaften); Karl Bauer, Regensburg. Kunst-, Kultur- und Alltagsgeschichte, Regensburg 51997, S. 449f. Diese These zu Hemma als ›spanischer Infantin‹ in verschiedenen spätmittelalterlichen Dokumenten aus Obermünster stammt von Prof. Franz Fuchs (Würzburg), der mir neben zahlreichen brieflichen Hinweisen einen unveröffentlichten Vortrag zu der auffälligen Herkunftsfiktion zukommen ließ, und dem ich daher zu großem Dank verpflichtet bin; vgl. auch Franz Fuchs, »Das Grab der Königin Hemma († 876) zu St. Emmeram in Regensburg«, in: Franz Karg (Hrsg.), Regensburg und Ostbayern. Max Piendl zum Gedächtnis, Kallmünz 1991, S. 1-12, bes. S. 8f.
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Die auf der rechten Bildseite kniende Äbtissin des Stiftes Obermünster, Agnes von Munebach, ist außer durch ihren Habit und die Beischrift (Agnes abbatissa) durch einen roten, mit einer Krone bedeckten Schild gekennzeichnet, dem als Attribut ein Lilienzepter beigegeben ist, ferner durch ein ungeklärtes Wappen mit einem schwarzen Schwimmvogel (Gans) auf rotem Schildgrund, offenbar dem Zeichen des Ortes Munebach, sowie schließlich durch das Wappen einer Familie (oder Stadt) Wal, einen silbernen Pfahl in Weiß. Das königliche Lilienzepter, eine Gabe Konrads II. bei seinem Besuch Obermünsters im Jahre 1029,36 wurde später als heraldische Lilie auf rot-weiß quergestreiftem Feld in das Wappen des Stiftes aufgenommen.37 Die Wappen dienen auf diesem Dedikationsbild der Individualisierung der Figuren und dem Ausweis ihrer königlichen bzw. adeligen und religiösen Würde. Sie stiften historischen Hintergrund und werten die Dargestellten auf. Denn am Ende des 14. Jhs. gehörten zu hochstehenden Personen Wappen als Attribute ganz selbstverständlich dazu. Wenden wir uns nun einem Beispiel für mittelalterliche Grabplastik mit Tierheraldik zu. Es führt uns nach Erfurt in den Chor der Barfüßerkirche zum Grabmal der Cinna von Vargula, und zeigt ein Doppelwappen (Abb. 4).38 Cinna von Vargula war die Ehefrau des Erfurter Ratsherrn Rudolf Ziegeler († 1388).39 Sie starb im Jahre 1370. Die kunstvolle Grabplatte aus Sandstein war ursprünglich für die senkrechte Aufstellung an der Wand bestimmt. Darauf deutet u. a. das fallende Gewand hin.
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Vgl. Franz Fuchs, Art. »Obermünster [Regensburg]«, in: Werner Paravicini (Hrsg.), Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Ein dynastisch-topographisches Handbuch. Bearb. von Jan Hirschbiegel u. Jörg Wettlaufer, Ostfildern 2003 (Residenzenforschung 15,1 u. 2), Teilbd. 1, S. 719f. Vgl. Bauer, Regensburg (Anm. 34), S. 152. Siehe Hans Körner, Grabmonumente des Mittelalters, Darmstadt 1997, S. 174. Zur einflussreichen Patrizierfamilie Ziegeler und ihrer Bedeutung für Literatur und Gelehrsamkeit in Erfurt vgl. Christoph Fasbender, »Die Ziegeler von Erfurt«, in: Martin Schubert / Jürgen Wolf / Annegret Haase (Hrsg.), Mittelalterliche Sprache und Literatur in Eisenach und Erfurt. Tagung anlässlich des 70. Geburtstags von Rudolf Bentzinger am 22.8.2006, Frankfurt a. M. 2008 (Kultur, Wissenschaft, Literatur 18), S. 68-85.
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Abb. 4 Grabmal Cinna v. Vargula (Erfurt)
Die Verstorbene ist mit »neue[r] feinbürgerliche[r] Lieblichkeit«40 in anbetender Haltung dargestellt. Als Kopfbedeckung trägt sie einen sogenannten Kruseler, d. h. eine Frauenhaube mit Rüschen. Links oben sehen wir das Wappen des Ehemannes, einen Hirschkopf (Zehnender). Auf der rechten Seite erscheint, durch ein Kreuz getrennt vom Wappen der Ziegeler, das Wappen des thüringischen Geschlechtes der Vargula, eine Chimäre, d. h. ein Löwenkörper mit Frauenkopf und Schlangenschwanz.41 Cinna war, wie die Umschrift besagt, die Tochter Friedrichs von Vargula (filia
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Wilhelm Pinder, Die deutsche Plastik des vierzehnten Jahrhunderts, München 1925, S. 59; vgl. Bauch, Das mittelalterliche Grabbild (Anm. 34), S. 239-241. Vgl. Carl-Alexander von Volborth, Fabelwesen der Heraldik in Familien. und Städtewappen, Stuttgart, Zürich 1996, S. 6-13.
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frederici de varila).42 Hirsch und Fabelwesen zusammen bilden hier ein Ehewappen, wie es seit dem 14. Jh. überliefert ist: Frauen führten das Wappen ihres Ehemannes und das des Vaters. Die beiden Wappen wurden entweder aufrecht stehend oder einander zugeneigt nebeneinandergestellt.43 Die Tierheraldik dient hier nicht nur der Individualisierung des ansonsten typisierten Reliefs der Verstorbenen, sondern präzisiert ihre Herkunft und ihren ehelichen Status und verleiht ihr so zusammen mit der Inschrift Identität, freilich eine über ihre männlichen Bezugspersonen definierte. Die Tierwappen sichern für alle Zeiten die memoria der Erfurter Patrizierin Cinna von Vargula. Unser nächstes Beispiel für mittelalterliche Tierheraldik stammt aus der spätgotischen Marienkapelle in Haßfurt (bei Würzburg). Es illustriert eindrücklich die Abhängigkeit der Wahl des Tiermotivs vom Namen des jeweiligen Wappenträgers. Der Grundstein der Kirche wurde um 1390 gelegt, geweiht wurde sie im Jahre 1465. Im Chor befindet sich ein dreifacher Fries mit 248 Wappen fränkischer und schwäbischer Adelsgeschlechter aus der Region um Haßfurt, die wahrscheinlich den Bau und die Ausstattung der Marienkapelle finanziell unterstützt haben.44 Der außergewöhnliche Wappenfries stellt geradezu ein Wappen-Bilderbuch Süddeutschlands dar. Er zeigt vor allem redende Tierwappen: Die Grafen von Henneberg führen in Gold auf grünem Dreiberg eine schwarze Henne mit rotem Kamm, das oberpfälzische Geschlecht von Hirschberg ist durch einen roten, springenden Hirsch in Silber ausgewiesen, die hessischfränkische Familie von Fischborn durch einen schwarzen, gekrümmten Fisch in Silber. Der Fuchs von Bimbach führt einen roten, springenden Fuchs in Gold, das fränkische Geschlecht von Rabenstein in Gold einen _____________ 42
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Vgl. Otto Buchner, Die mittelalterliche Grabplastik in Nord-Thüringen mit besonderer Berücksichtigung der Erfurter Denkmäler, Straßburg 1902, S. 18-22; Wilhelm Pinder, Die deutsche Plastik vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der Renaissance, Berlin-Neubabelsberg 1914 (Handbuch der Kunstwissenschaft), S. 58; Pinder, Die deutsche Plastik (Anm. 40), S. 61 u. Tafel 79; Die Stadt Erfurt. Allerheiligenkirche – Andreaskirche – Augustinerkirche – Barfüßerkirche. Bearb. von Ernst Haetge unter Mitw. von Margarethe Brückner, Hermann Goern u. Lisa Schürenberg, Burg 1931 (Die Kunstdenkmale der Provinz Sachsen 2,1), S. 210f. Vgl. Handbuch der Heraldik (Anm. 2), S. 153f. Vgl. Die Kunstdenkmäler von Unterfranken und Aschaffenburg, Heft 4: Bezirksamt Haßfurt. Bearb. von Hans Karlinger, München 1912 (Die Kunstdenkmäler des Königreichs Bayern 3,4), S. 51-78.
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schwarzen Raben auf einem Felsen, der Graf von Kranichfeld einen goldenen Kranich in Silber, die fränkische Familie von Pferdsdorf ein schwarzes, schreitendes Pferd in Silber, die hessischen Freiherren von Riedesel einen schwarzen Eselkopf in Gold mit drei grünen Distelblättern im Maul usw. Daneben finden sich schwarze (Burggrafen von Nürnberg, Herren von Wiesenfeld, Adelsgeschlecht von Rosenbach) und goldene Löwen (Familie von Görtz), silberne Widder (Voit von Rieneck, Rittergeschlecht von Wimpffen), ein goldener Fuchs mit einer silbernen Gans im Maul (Adelsgeschlecht von Bobenhausen), silberne Adler (Grafen von Leiningen), ein springender Esel (Geschlecht von Riedheim), ein roter Adler (Grafen von Fürstenberg), ein schwarzer Eber (Herren von Reischach), ein schwarzer Schwimmvogel (Closen von Haydenburg) und andere Tierfiguren.45 Die Wappen beeindrucken nicht nur wegen ihrer dekorativen Wirkung und leuchtenden Farbigkeit, sondern dokumentieren die enge Bindung der fränkischen Rittergeschlechter an die von ihnen gestiftete Wallfahrtskirche. Die Schilde lassen die Stifter für alle Zeit im Chor der Kapelle anwesend sein und geben den Pilgern und Gläubigen die Wohltäter des Marienheiligtums bekannt. Tiere kommen in den Wappen besonders häufig vor, und das Motiv beruht vielfach auf dem Namen des jeweiligen Trägers. Die Tierfiguren sind – der Mode der Zeit entsprechend – unmittelbare Visualisierungen der Geschlechternamen ohne tiefere Bedeutung. Im säkularen Bereich finden sich Wappen besonders häufig in Burgen, den Stammsitzen der mittelalterlichen Adelsgeschlechter, die ihren Besitzund Herrschaftsanspruch mit heraldischen Zeichen über den Außentoren, in den Wohngebäuden, auf Glasfenstern usw. sichtbar machten.46 Tierfiguren kommen auch hier besonders häufig vor. Das Beispiel der Burg Eltz an der Mosel möge dies illustrieren.
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Siehe Karl Alexander von Heideloff, Deutsches Fürsten- und Ritteralbum der Marianischen Ritterkapelle in Haßfurt. Mit genealogischen Notizen und Vorrede von August von Eye, Stuttgart 1868. Vgl. Walter Hotz, Kleine Kunstgeschichte der deutschen Burg, Darmstadt 1965, S. 40-62; Otto Piper, Burgenkunde. Bauwesen und Geschichte der Burgen. Neue verb. u. erw. Aufl., Augsburg 1994 (Nachdr. von 1912), S. 169f.
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Es handelt sich um eine Ganerbenburg, d. h. um einen Wehrbau, der von mehreren ritterlichen Familien einer Erbengemeinschaft bewohnt wurde, welche eine Rechtsgemeinschaft bildeten.47 Diese Familien führten den gleichen Namen und das gleiche Wappen, handelten als Gesamthand und regelten die gemeinsame Nutzung der Burg durch einen förmlichen Vertrag (Burgfrieden), bewohnten aber getrennte Bereiche der Burg. Eine solche Erbengemeinschaft diente der Sicherung der Erb- und Standesrechte und des Familienbesitzes.48 Die auf einem hohen Felskopf gelegene Burg Eltz besteht aus acht verschiedenen Gebäuden. Der älteste Wohnturm geht auf das frühe 13. Jh. zurück.49 Wohl von Rudolf von Eltz um die Mitte des 12. Jhs. als befestigter Bau begonnen, wurden die Burg und die zu ihr gehörenden Besitzungen bereits um die Mitte des 13. Jhs. zwischen den Familien seiner Urenkel aufgeteilt. Fortan lebten drei Linien der Familie von Eltz auf der Burg: Sie führten alle dasselbe Wappen, einen wachsenden, d. h. halben Löwen, jedoch mit feiner Differenzierung: Die Familie Eltz vom silbernen Löwen (Rübenach) führte in geteiltem Schild oben einen silbernen Löwen in Rot, unten ein goldenes Feld, die Familie Eltz vom goldenen Löwen (Kempenich) oben entsprechend einen goldenen Löwen, unten hingegen ein silbernes Feld, und die Familie Eltz von den Büffelhörnern (Rodendorf) auf dem Schild zwar ebenfalls einen goldenen Löwen, aber statt des Löwen und roter, mit Herzen verzierter Adlerflügel Büffelhörner als Helmzier.50 Die gleiche Tierfigur diente also sowohl der Kennzeichnung der Familienzugehörigkeit als auch der innerfamiliären Distinktion. In den drei Häusern der Burg finden sich die Wappen der sie jeweils besitzenden Familienlinie an vielen Stellen, u. a. auf Gemälden und Glasfenstern, über Kaminen und in farbenfrohen Wandmalereien. Der Einsatz des heral_____________ 47 48 49 50
Vgl. Karl-Friedrich Krieger, Art. »Ganerben, Ganerbschaft«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4/1999, Sp. 1105. Vgl. Bodo Ebhardt, Der Wehrbau Europas im Mittelalter, 3 Bde., unveränd. Nachdruck der Ausg. 1939/1958, Deutsche Burgenvereinigung (Hrsg.), Würzburg 2001, Bd. 1, S. 61-65. Vgl. Friedrich-Wilhelm Krahe, Burgen des deutschen Mittelalters. Grundriss-Lexikon, Augsburg 1996, S. 171. Vgl. F. W. E. Roth, Geschichte der Herren und Grafen zu Eltz. Unter besonderer Berücksichtigung der Linie vom goldenen Löwen zu Eltz, 2 Bde., Mainz 1889/1890, Bd. 2, S. 349-354; Adelslexikon. Bearb. von Walter von Hueck, Limburg a. d. Lahn 1975 (Genealog. Handbuch des Adels 61), Bd. 3, S. 134-136; Ute Ritzenhofen, Burg Eltz, München, Berlin 2002, S. 8-15.
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dischen Löwen in der Familie von Eltz zeigt einerseits eindrücklich, wie die Heraldik bei gleicher Schildfigur doch Differenzierung ermöglicht, und andererseits ein weiteres Mal, dass Figuren und Tinkturen im Mittelalter nicht unbedingt etwas Tiefsinniges bedeuten müssen, sondern vorrangig aus dynastischen und politischen Gründen bzw. aufgrund der Notwendigkeit zur Abgrenzung von bereits etablierten Wappen gewählt wurden. Das letzte Beispiel für historische mittelalterliche Tierheraldik führt uns von der Bauornamentik weg zu den mittelalterlichen Wappenrollen. Dabei handelt es sich um Wappensammlungen mit Abbildungen der Schilde und Beischriften mit den Namen der jeweiligen Geschlechter. Aus dem Mittelalter sind Hunderte solcher Wappen- und Turnierbücher überliefert, die zumeist von Herolden zusammengestellt wurden. Die älteste bekannte Wappenrolle Europas ist jene anlässlich der Krönung Ottos IV. 1198 in Aachen angelegte.51 Unser Beispiel zeigt eine Seite aus einem Wappenbuch des Matthaeus Parisiensis († 1259), das um 1244 entstanden ist (Abb.5). Matthaeus war Benediktiner und Historiker und entstammte dem Geschlecht de Paris in Lincolnshire. Er war Berater König Heinrichs III. von England und der Könige Frankreichs und Norwegens. Seine Wappenrollen mit selbst gezeichneten Schildfiguren, lateinischen Wappenbeschreibungen und den zugehörigen Familiennamen sind eine wichtige Quelle der historischen Heraldik.52 Das aus dem Liber Additamentorum stammende Pergamentblatt zeigt 42 Schilde des zeitgenössischen britischen Adels.53 Es sind zahlreiche Tierfiguren darunter: die drei königlichen Leoparden, steigende Löwen in unterschiedlicher Zahl, verschiedenen Tinkturen und vielfarbigen Schildgründen, der Adler, kleine Singvögel (Merlette) und steigende Fische. Abermals ist der Löwe die dominierende Figur in der Wappensammlung.
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Vgl. Handbuch der Heraldik (Anm. 2), S. 28f. u. S. 167-171; Scheibelreiter, Heraldik (Anm. 3), S. 138-142. Vgl. Gert Oswald, Art. »Parisiensis, Matthaeus«, in: Lexikon der Heraldik, 1984, S. 297; Scheibelreiter, Heraldik (Anm. 3), S. 142f. Siehe Anthony Richard Wagner, A Catalogue of English Mediaeval Rolls of Arms, Oxford 1950 (Aspilogia 1), Tafel 1 (nach S. 2).
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Abb. 5 Matthaeus Parisiensis, Wappentafel
Dass durch Variation der Tinkturen und der Schildränder der Löwe auf vielfache Weise gestaltet werden und so als Emblem zahlreiche individuelle Wappen zieren kann, veranschaulicht eindrucksvoll Thomas Jenyns’ Book, ein reich überliefertes Wappenbuch von 1410, dessen im Britischen Museum aufbewahrte Fassung 1595 Schilde mitsamt ihren Trägern und französischen Blasonierungen enthält.54 Die im Kapitel »Löwen« (»Leons«) zusammengestellten Wappen zeigen alle den gleichen steigenden Löwen, _____________ 54
Vgl. ebd., S. 73-78.
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und doch haben sie durch unterschiedliche Farben und Schildeinfassungen eine je eigene ästhetische Wirkung.55 Die Beliebtheit des Löwen als heraldisches Zeichen ist ein gesamteuropäisches Phänomen, das sich u. a. mit den Idealen des höfischen Rittertums erklären lässt: Der Löwe »war ein königliches Tier, ein gefährliches und aggressives, aber großmütig und großzügig, elegant und gewaltig. Diesem Ideal adeligen Seins konnte man durch kein anderes Wappentier annähernd gleichkommen.«56 IV Erstaunlich früh haben die mittelalterlichen Dichter heraldische Motive aufgegriffen und in ihren Werken verarbeitet, insbesondere im höfischen Roman. Die imaginären Wappenbilder erlaubten es ihnen, Figuren zu individualisieren, Verbündete und Verwandte zu markieren, unübersichtliche Massenszenen, insbesondere Schlachtschilderungen, zu strukturieren, handlungsbestimmende Erkennungs- und Verkennungsszenen zu gestalten und Ereignisse und Dialoge poetisch zu beleben. Schildfiguren bieten ja in der fiktionalen Literatur stets die Möglichkeit, mit ihrem impliziten Bedeutungspotenzial zu spielen oder ihnen explizit neue Bedeutungen zuzuschreiben, die dann narrativ genutzt werden können, z. B. für die Charakterisierung von Protagonisten oder die semantische Färbung von Handlungssequenzen. Mit Blick auf die Tierheraldik möchte ich diese Funktion exemplarisch an vier hochmittelalterlichen Artusromanen illustrieren: Wolframs von Eschenbach Parzival, Wirnts von Grafenberg Wigalois, Ulrichs von Zatzikhoven Lanzelet und Heinrichs von dem Türlin Crône sowie an Konrads von Würzburg Wappen-Dichtung Das Turnier von Nantes. Während Chrétien de Troyes in seinen Romanen (ca. 1180) noch keine Wappen beschreibt und auch Heinrich von Veldeke (ca. 1170), Hartmann von Aue (ca. 1180) und das Nibelungenlied (ca. 1200) nur einige wenige Schildzeichen nennen, und dies auch immer nur beiläufig oder lediglich im Zusammenhang detailfreudiger Rüstungsbeschreibungen, inter_____________ 55 56
Siehe ebd., Tafel 6 (nach S. 72). Scheibelreiter, Heraldik (Anm. 3), S. 48.
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essiert sich Wolfram von Eschenbach (ca. 1210/20) auffällig für heraldische Embleme und setzt sie im Parzival und im Willehalm vielfältig und kunstvoll ein. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass weder vor noch nach Wolfram ein mittelalterlicher Erzähler so kreativ mit Wappen gearbeitet und sie so subtil und bedeutungstragend in einen Roman integriert hat. Wolfram war in Bezug auf die literarische Heraldik nicht nur ein Pionier, sondern hat die Wappenmotivik zu Beginn des 13. Jhs. gleich auf eine künstlerische Höhe geführt, die von späteren Autoren nicht mehr erreicht wurde, obwohl die Wappenkultur zu ihrer Zeit in der adeligen Gesellschaft bereits viel weiter entwickelt war.57 Im Parzival (ca. 1200/1210) führt Kaylet, Gahmurets Cousin, auf dem Schild einen Schlangenkopf, seine Zimier ist hingegen ein Strauß. In Patelamunt erkennt Parzivals Vater den Verwandten an seiner heraldischen Ausstattung: do rekante abr ich wol dînen strûz, / ame schilde ein sarapandratest: / dîn strûz stuont hôch sunder nest (Pz 50, 4-6).58 Gahmuret bezieht sich erneut auf die Helmzier, als er vor dem Turnier von Kanvoleis seinen Cousin fragt, ob er wie früher ein echter Ritter mit Kampfesmut sei, der sich noch nicht ›in einem Nest‹ zur Ruhe gesetzt habe: stêt dîn strûz noch sunder nest? (Pz 68, 7). Die Helmfigur erlaubt Wolfram also, Gahmurets Frage in ein Bild zu kleiden.59 Der Strauß wird gewissermaßen zum Abbild Kaylets, an dem man dessen Verfassung ablesen kann. Daher kann er vom Erzähler im Getümmel des anschließenden Turniers stellvertretend für Kaylet genannt werden, obwohl der Träger der Helmzier selbst gemeint ist _____________ 57
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Vgl. Georg F. Timpson, »The Heraldic Element in Wolfram’s ›Parzival‹«, in: German Life and Letters, 13/1959-60, S. 88-93; Heiko Hartmann, »Heraldische Motive und ihre narrative Funktion in den Werken Wolframs von Eschenbach«, in: Wolfgang Haubrichs / Eckart Conrad Lutz / Klaus Ridder (Hrsg.), Wolfram von Eschenbach – Bilanzen und Perspektiven. Eichstätter Kolloquium 2000, Berlin 2002 (Wolfram-Studien 17), S. 157-181. – Problematisch: Rolf E. Sutter, »Gampilûn und ecidemôn. Zur Funktion der Heraldik in Wolframs von Eschenbach ›Parzival‹«, in: Georg Scheibelreiter / Michael Göbl (Hrsg.), Heraldik – Bildende Kunst – Literatur. Actes du XIe Colloque International d’Héraldique St. Pölten 1999, Wien 2002 (Jahrbuch der Heraldisch-Genealogischen Gesellschaft ›Adler‹, Jg. 1993/2002, 3. F., Bd. 15), S. 299-310. Die Stellenangaben beziehen sich auf folgende Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Parzival, Studienausgabe. Mhd. Text nach der 6. Ausg. von Karl Lachmann, Übersetzung von Peter Knecht, Einführung zum Text von Bernd Schirok, Berlin, New York 1998. Zu dieser Stelle vgl. Heiko Hartmann, Gahmuret und Herzeloyde. Kommentar zum zweiten Buch des ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, 2 Bde., Herne 2000, Bd. 1, S. 112f.
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(Pz 72, 8). Der Zuhörer behält dadurch die Übersicht und kann die Bewegung der Kämpfenden gut nachvollziehen. Der Schlangenkopf auf dem Schild wird von Gahmuret als Angreifer im Turnier bezeichnet, der den Greifen auf Hardiz’ Schild bezwingen wird (Pz 68, 8f.). Die Wappentiere werden so zu Synonymen ihrer Träger und erscheinen selbst als Handelnde im Geschehen. Das belebt die Erzählung und dient der Organisation der bewegten Kampfabläufe. Neben diesen Tieren gibt es im Parzival den erblichen Panther der Anjous, den Gahmuret erst nach dem Tod seines Bruders wieder annimmt (Pz 101, 7f.), den Drachen auf Schild und Helm des Orilus (Pz 262, 4-13), eine Art Chamäleon (gampilûn) auf den Schilden der gegen Gawan kämpfenden Britannen (Pz 383,1-5), die Taube der Titurel-Familie und der Gralritter (Pz 474, 5-11) sowie das Hermelin (ecidemôn) des Feirefiz, das im Kampf gegen Parzival arg ramponiert wird (Pz 736, 9-14 u. 739, 16-18). All diese Tierwappen dienen der Markierung einzelner Protagonisten bzw. größerer Gruppen in der figurenreichen Handlung und damit der Organisation der komplexen Erzählung. Darüber hinaus verleihen sie dem Charakter ihres Trägers eine individuelle Tönung: Der Strauß kennzeichnet Kaylet als noch nicht häuslich gewordenen, âventiure suchenden Ritter,60 Hardiz ist durch den dämonischen Greifen implizit als negative Figur ausgewiesen,61 Gahmuret wird durch das Pantherwappen mit dem mächtigen französischen Geschlecht Anjou-Plantagenêt in Verbindung gebracht und dadurch aufgewertet,62 Herzog Orilus’ Drache, eigentlich ein Symbol der Stärke und Wehrhaftigkeit, markiert seinen Besitzer im Kampf als Verlierer, indem die Helmzier von Parzival zerstört wird (Pz 263, 14-19), die eidechsenartige Schildfigur der Britannen ist ein Hinweis auf deren Zugehörigkeit zu Artus, der traditionell einen Drachen führt,63 das Gralwappen, die Taube, passt nicht nur wegen seiner allgemeinen Bedeutung (Keuschheit) gut zu den Gralrittern, sondern auch wegen des Karfreitagsmysteriums auf Munsalvaesche, bei dem eine himmlische _____________ 60
61 62 63
Vgl. Wolfram von Eschenbach, Parzival [im Folgenden: Nellmann, Parzival], Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert u. kommentiert von Eberhard Nellmann, übertragen von Dieter Kühn, Frankfurt a. M. 1994 (Bibliothek dt. Klassiker 110 / Bibliothek des Mittelalters 8,1 u. 2), Bd. 2, S. 480, Komm. zu 50,6. Vgl. Hartmann, Gahmuret und Herzeloyde (Anm. 59), Bd. 1, S. 114, Komm. zu Pz 68, 9. Vgl. ebd., S. 166f., Komm. zu 76,20 u. Bd. 2, S. 271-273, Komm. zu 101,7. Vgl. Nellmann, Parzival (Anm. 60), Bd. 2, S. 639, Komm. zu 383, 2.
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Taube eine Hostie zum Gral bringt,64 und Parzivals orientalischer Halbbruder Feirefiz wird schließlich durch das hermelinartige ecidemôn auf dem Helm, das durch seinen Geruch giftige Schlangen zu vertreiben vermag, als besonders exotisch und geheimnisvoll gekennzeichnet.65 Feinsinnig stiftet Wolfram mithilfe der Tierheraldik Bezüge zwischen Figuren, charakterisiert seine Protagonisten, markiert Verwandte und Verbündete und bereichert die Handlung um eine rezeptionslenkende symbolische Dimension. Insbesondere die fremdartigen Fabelwesen tragen zur Inszenierung einer faszinierenden Welt voller Wunder und Geheimnisse bei. Wirnt von Grafenberg entwickelt die literarische Heraldik im Wigalois (ca. 1210/1225) zwar motivisch weiter, reicht semantisch aber nicht an Wolframs erzählerisches Raffinement heran. Neben dem goldenen (Glücks-)Rad des Helden (Wig 1036-52; 1824-31; 1860-69 u. ö.),66 das sich im Kampf auf dem Helm sogar dreht (Wig 5559-61), gibt es im Wigalois Jorams goldenen Adler (Wig 404-06), den weißen Schwan des Besitzers des schönen Hundes (Wig 2289-92), Rehbock und Leopard des Truchsessen von Roimunt (Wig 3892-3915; 10916-21), Gaweins weißen Hirsch inmitten der Tafelrunde (Wig 5612-32), Wigalois’ (abgelehnte) Greifenklaue (Wig 6155-60), den furchterregenden Drachen Roaz’ von Glois (Wig 7363-68; 7387-91), den goldenen Löwen der ritterlichen Marine (Wig 9176f.), den Elefanten Rials von Jeraphin (Wig 10477-86), Laries Leoparden-Banner (Wig 10630-42; 10837-47), den weißen Adler der beiden asiatischen Könige (Wig 10699-706) und Lions von Namur goldenen Drachen (Wig 11060f.). All diese Tierwappen sind in erster Linie Bestandteil des ritterlichen Dekors. Sie schmücken Wappenröcke, Pferdedecken, Helme und Schilde, werden narrativ aber nicht tiefergehend genutzt. Über die bloße descriptio hinaus arbeitet Wirnt kaum mit den Tierfiguren. Dem Erzähler geht es lediglich um die Schilderung prachtvoller, kampferfahrener Rittergestalten. _____________ 64 65 66
Vgl. ebd., S. 681f., Komm. zu 469, 29-470,14. Vgl. ebd., S. 756f., Komm. zu 736, 10. Die Stellenangaben beziehen sich auf folgende Ausgabe: Wirnt von Grafenberg, Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn, übers., erl. u. mit einem Nachwort versehen von Sabine u. Ulrich Seelbach, Berlin, New York 2005 (de Gruyter Texte). Zur Funktion des Radsymbols im Wigalois vgl. Sybille Wüstemann, Der Ritter mit dem Rad. Die ›stæte‹ des ›Wigalois‹ zwischen Literatur und Zeitgeschichte, Trier 2006 (Literatur – Imagination – Realität 36), S. 53-79 u. 117-144.
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Eine Ausnahme bildet höchstens Laries Fahne, deren Grundfarbe Schwarz ist und dadurch Laries Trauer um ihren toten Vater, König Jorel, anzeigt (Wig 10639f.). Auf welch subtile Weise imaginäre Heraldik in der Literatur eingesetzt werden kann, lässt sich im Unterschied dazu z. B. in Wolframs Willehalm erkennen, in dem nicht nur das riesige heidnische Heer durch vielgestaltige Helmzieren mit exotischen Tieren (Vögel, Fische, Drachen usw.) ausgezeichnet ist, deren Zerstörung im Kampf einprägsam die Überlegenheit der Christen veranschaulicht (Wh 400, 26-401, 13),67 und in dem der aufgrund seiner Herkunft schwarz-weiß gefärbte heidnische Minneritter Josweiz als Wappen einen weißen Schwan mit schwarzen Füßen und schwarzem Schnabel führt und dadurch sein eigenes Aussehen heraldisch abbildet (Wh 386, 2-25), sondern in dem der Schild des mächtigen Heidenkönigs Terramer den Gott Kahun auf einem Greifen zeigt (Wh 441, 4-18), der von Willehalm am Ende sinnfällig durchbohrt wird (Wh 442, 9-11). Die Heraldik im Wigalois dürfte stark von Wolframs Vorlagen inspiriert sein, wenngleich sie die narrative Komplexität der Wappenbeschreibungen im Parzival und im Willehalm nicht einzuholen vermag.68 Im etwa zur gleichen Zeit entstandenen Lanzelet Ulrichs von Zatzikhoven69 führt der Titelheld einen goldenen Adler (Lanz 372; 2036; 2372f.),70 Satteldecke und Schild Iwerets von dem Schönen Walde, des Feindes der Meerfee und Ziehmutter Lanzelets, zeigen einen rotgoldenen Löwen (Lanz 4416-23), und Walwein und seine drei Gefährten tragen bei der Befreiung Lanzelets in Pluris vier verschiedene Wappen: einen goldenen Löwen in Blau mit einer Krone, einen goldenen Adler, einen Frauenärmel aus Zobelpelz sowie einen Panther (Lanz 6291-307). _____________ 67
68 69
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Die Stellenangaben beziehen sich auf folgende Ausgabe: Wolfram von Eschenbach, Willehalm. Text der Ausgabe von Werner Schröder, völlig neu bearb. Übersetzung, Vorwort u. Register von Dieter Kartschoke, Berlin, New York 1989. Vgl. Hartmann, Heraldische Motive (Anm. 57), S. 172-174. Zur Datierung und literarhistorischen Bedeutung des Romans vgl. Joachim Bumke, Geschichte der deutschen Literatur im hohen Mittelalter, München 1990 (Geschichte der dt. Literatur im Mittelalter 2), S. 217f. Die Stellenangaben beziehen sich auf folgende Ausgabe: Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet. Eine Erzählung. Mit einem Nachwort u. einer Bibliographie von Frederick Norman, K[arl] A[ugust] Hahn (Hrsg.), Berlin 1965 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters).
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Heinrich von dem Türlin steigert schließlich die Tierheraldik in seiner Crône (nach 1225) geradezu ins Phantastische: Neben Adlern, Bärentatzen, Möwen Greifenklauen, Leoparden, Elefanten, Einhörnern und Schwänen71 gibt es hier u. a. einen heraldischen Löwen, der richtig brüllen kann: Gasoein de Dragoz führt die Raubkatze nicht nur auf seinem pfauenfederngleich schillernden Waffenrock (Cr 10510-20),72 sondern ebenfalls auf seinem Schild. Dieser zeigt in Blau einen furchterregenden Löwen, der aussieht, sam in nataure / Drauf geworht het von golde / Mit gebærn, sam er wolde / Di werlt gar verslinden (Cr 10544-47). Wenn beim Anreiten im Kampf der Wind in ihn fährt, brüllt er wie ein lebendes Raubtier und streckt die Zunge heraus (Cr 10548-57). Gasoein führt also ein tönendes Wappen, das allerdings Anlass zur Diskussion gibt, denn Artus zweifelt daran, dass der stolze Löwe zu seinem Gegner passt. Gasoeins Löwe habe ein Hasenherz und sei ein verfehltes Emblem für ihn, da ihm ein Hase als Wappen eher zukomme (Cr 10700-23). Artus bezichtigt Gasoein auf diese Weise, ein Feigling zu sein. Der kontert, indem er bekräftigt, sich keinesfalls kampflos wie ein Hase zu ergeben (Cr 10731-37). Die Tierfiguren werden hier über ihre Konnotationen zu Vehikeln einer Diskussion über Mut und Feigheit, ehrenvolles und unritterliches Verhalten. Die vier Beispiele heraldischer Motivik aus mittelhochdeutschen Artusromanen zeigen, wie fruchtbar der Einsatz von Wappen in der mittelalterlichen Literatur war. Die Tierfiguren machen die Schilderung des Äußeren der ritterlichen Protagonisten nicht nur lebendiger, sondern charakterisieren ihre Träger und erlauben ein vielfältiges narratives Spiel mit den jeweiligen, von Naturkunde und Exegese bereitgestellten Bedeutungen der Tiere. Wenngleich den imaginären Wappen in der höfischen Literatur zumeist kein Realitätswert zukommt, belegen sie doch die Popularität heraldischer Abzeichen in der höfischen Gesellschaft und das große _____________ 71
72
Ein vollständiges Verzeichnis aller Wappen in der Crône bietet Heiko Hartmann, »Grundformen literarischer Heraldik im Mittelalter am Beispiel der ›Krone‹ Heinrichs von dem Türlin«, in: Das Mittelalter, 11, H. 2/2006, S. 28-52, hier S. 38-40. Erläuterungen zu den genannten Figuren bietet auch Gudrun Felder, Kommentar zur ›Crône‹ Heinrichs von dem Türlin, Berlin, New York 2006. Die Stellenangaben beziehen sich auf folgende Ausgabe: Heinrich von dem Türlin, Die Krone (Verse 1-12281), nach der Handschrift 2779 der Österreichischen Nationalbibliothek nach Vorarbeiten von Alfred Ebenbauer, Klaus Zatloukal u. Horst Pütz, Fritz Peter Knapp / Manuela Niesner (Hrsg.), Tübingen 2000 (Altdt. Textbibliothek 112).
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Bedeutungspotenzial, das den Schildfiguren implizit zukommt. Literarische Wappen sind Bildkunst eingebettet in Dichtkunst und entfalten in dieser Eigenschaft erzähltechnisch eine große Kraft.73 Als letztes Beispiel für literarische Tierheraldik möchte ich Konrads von Würzburg Verserzählung Das Turnier von Nantes besprechen, die in der Forschung als erste deutsche Wappendichtung gilt.74 In dem schmalen Werk von 1156 Versen wird ein großes, prachtvolles Turnier vor Nantes geschildert, daz vor sô herter nie geschach (TvN 983), in dem sich 4000 Ritter in zwei Parteien gegenüberstehen: Die vom französischen König angeführte Ritterschar aus Spanien und Frankreich und die deutsche Mannschaft, die vom englischen König Richard befehligt wird. Zu beiden Kontingenten gehören zahlreiche mächtige Könige und Fürsten europäischer Länder. Unter Richard gehen die Ritter der deutschen Partei siegreich aus dem Turnier hervor. Zentrum der Erzählung ist das Lob der überragenden Tapferkeit, Kampfkraft und Freigebigkeit König Richards, dessen historisches Vorbild wohl Richard von Cornwall ist, der 1257 in Aachen lediglich von einem Teil der Kurfürsten zum deutschen König gekrönt wurde, und für dessen einhellige Anerkennung Konrad offenbar mit seinem Gedicht wirbt.75 Heraldisch interessant ist das kleine panegyrische Werk, ein politisches »Virtuosenstück ohne Tiefe«,76 durch die Vorstellung aller Turnierteilnehmer mitsamt ihrer Ausrüstung und ihrem Wappenschmuck. Konrad zeigt in vielen seiner Werke Interesse an heraldischen Details und befriedigt damit wahrscheinlich ein Bedürfnis seines gehobenen städtischen Pub_____________ 73 74
75 76
Vgl. Haiko Wandhoff, Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2003 (Trends in Medieval Philology 3), S. 37-68. Vgl. Wolfgang Golther, Die deutsche Dichtung im Mittelalter. 800 bis 1500, Stuttgart 21922 (Epochen der dt. Literatur 1), S. 259f.; Gustav Ehrismann, Geschichte der deutschen Literatur bis zum Ausgang des Mittelalters, Teil II/2,2: Die mittelhochdeutsche Literatur. Schlussband, München 1935 (Handbuch des dt. Unterrichts an höheren Schulen VI/II/2,2), S. 53; Joachim Heinzle, Vom hohen zum späten Mittelalter. Wandlungen und Neuansätze im 13. Jahrhundert (1220/30-1280/90), Königstein/Ts. 1984 (Geschichte der dt. Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit II/2), S. 193f. – Ich zitiere den Text nach folgender Ausgabe: Kleinere Dichtungen Konrads von Würzburg, Edward Schröder (Hrsg.), Bd. 2: Der Schwanritter / Das Turnier von Nantes, Berlin 1925. Vgl. Horst Brunner, Art. »Konrad von Würzburg«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 5/1985, Sp. 272-304, hier S. 289f. Ehrismann, Geschichte der deutschen Literatur (Anm. 74), S. 54.
Tiere in der Heraldik des Mittelalters
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likums, das bei der Ausformung einer eigenen bürgerlichen Identität gerne auf Elemente der traditionellen Adelskultur zurückgriff. Die Forschung hat sich der heraldischen Elemente in Konrads Erzählungen bereits mehrfach angenommen.77 Unter den Wappen der Turnierteilnehmer finden sich zahlreiche Tierfiguren: ein Eber (TvN 143), ein Steinbock (TvN 179-86), drei Leoparden auf dem Schild Richards (TvN 313), Löwen (TvN 375; 468; 481; 510; 556; 922; 992; 1005), Adler (TvN 407; 437; 618; 940; 989), Fische (TvN 629) sowie Pfauenfedern (TvN 410f.; 452f.), Flügel (TvN 442-47) und Hörner (TvN 488-500; 997) als Helmschmuck. Konrad arbeitet nicht mit den Schildfiguren wie die zuvor besprochenen Epiker und schlägt aus ihrem Bildpotenzial erzählerisch kein Kapital.78 Der heraldische Schmuck dient hier primär der Kennzeichnung und Ausschmückung der Turnierteilnehmer. Sie sind durch die Wappen als mächtige Ritter und Fürsten ausgewiesen und werden in all ihrer Farbenpracht und mit ihrem ganzen Reichtum vorgestellt: dâ reit vil manic ritter / gezieret als ein engel (TvN 810f.). Darüber hinaus werden mithilfe der Wappen reale Könige und Fürstenhäuser aufgerufen: Das Wappen der englischen Könige zeigte z. B. wirklich drei Panther, der rote Adler des Markgrafen von Brandenburg entsprach ebenfalls der zeitgenössischen Realität, und der rot-weiß gestreifte Löwe des Landgrafen von Thüringen war ebenso historisch wie die weißen Adler des Lothringers, der schwarze Löwe des Markgrafen von Meißen oder die Braunschweiger Löwen.79 Die Liste realer Wappen in der Erzählung könnte leicht fortgesetzt werden. Konrad beschreibt die Tinkturen zwar oft falsch,80 doch dass er die historischen Wappen aufrufen will, steht außer Frage. Mithilfe der Schildfiguren suggeriert er dem Publikum, dass er das Turnier nicht erfunden hat, sondern dass es tatsächlich mit lebenden Fürsten der Zeit so stattfand. Die Wappen ›historisieren‹ die _____________ 77
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Vgl. Arnold Galle, »Wappenwesen und Heraldik bei Konrad von Würzburg. Zugleich ein Beitrag zur Chronologie seiner Werke«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur, 53/1912, S. 209-259; Stuckmann, Manfred, Wappenschilderungen und historisch-heraldische Anspielungen in Konrads von Würzburg ›Trojanerkrieg‹, 2003: http://elpub.bib.uni-wuppertal.de/edocs/dokumente/fb04/diss2003/stuckmann/ d040301.df (Stand: 16.11.2008). Vgl. Galle, Wappenwesen und Heraldik (Anm. 77), S. 213. Vgl. Waldner, Die ältesten Wappenbilder (Anm. 7), S. 1-3 u. S. 28-30. Vgl. Galle, Wappenwesen und Heraldik (Anm. 77), S. 240-243.
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Erzählung und machen sie zum Bericht. Da Konrad offensichtlich beabsichtigt, die deutschen Fürsten dazu zu bringen, sich geschlossen hinter Richard von Cornwall zu stellen, verstärken die heraldischen Elemente den Appellcharakter des Gedichts, da es ein Gegenbild zur Realität entwirft, die von der Uneinigkeit der Kurfürsten geprägt war. Wappen erlauben es dem Dichter, die Fiktion so mit der Wirklichkeit zu verzahnen, dass die Fürsten zu Protagonisten einer idealen Handlung werden, die Realität werden soll. Den Fürsten wird mithilfe der Literatur ein Verhalten ›angedichtet‹, das sie auch tatsächlich zeigen sollen.81 V Abschließend möchte ich einen kurzen Blick auf den heraldischen Stil von Tierfiguren und dessen historische Entwicklung werfen, weil sich an Tierwappen besonders gut die jeweiligen epochenspezifischen Ausprägungen der Wappenkunst veranschaulichen lassen. Seit der Zeit der entwickelten Heraldik gibt es bestimmte feste Grundsätze, nach denen ein Wappen gestaltet werden muss. Diese Grundsätze sollten vor allem sicherstellen, dass das Wappen auch aus der Ferne gut zu erkennen war. Besonders im militärischen Kontext war die Signalwirkung und Eindeutigkeit des Wappens von großer Bedeutung, denn es kennzeichnete Freund und Feind und steuerte die Kampfabläufe. Diese Funktion der Wappen brachte es mit sich, dass die Schildfiguren bereits in früher Zeit stark stilisiert wurden, d. h., die abgebildeten Adler, Löwen Panther, Bären usw. wurden mit ihren typischen Silhouetten und unter Hervorhebung und gleichzeitiger Abstrahierung besonders markanter Kennzeichen wie Klauen, Flügel, Schwänze usw. wiedergegeben. Der heraldische Stil war bereits im Mittelalter von einer naturalistischen Darstellung weit entfernt, die Tiere wurden zu Symbolen vereinfacht, die von weitem erkennbar waren und deren typisierte Gestalt sich im Laufe der
_____________ 81
Vgl. Horst Brunner, »Das Turnier von Nantes. Konrad von Würzburg, Richard von Cornwall und die deutschen Fürsten«, in: Jürgen Kühnel / Hans-Dieter Mück / Ulrich Müller (Hrsg.), De Poeticis Medii Aevi Quaestiones. Käte Hamburger zum 85. Geburtstag, Göppingen 1981 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 335), S. 105-127.
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Zeit zunehmend verfestigte, so dass z. B. ein heraldischer Adler in den Grundzügen immer gleich aussah.82 Wie die heraldischen Tierfiguren die verschiedenen Kunststilepochen mitgemacht haben, lässt sich besonders gut am Löwen veranschaulichen. Im 12. Jh. finden sich vor allem steigende, streng aufgerichtete Löwen, die einfache Konturen aufweisen und insgesamt noch ohne Details wie üppige Mähnen, geteilte Schwänze usw. auskommen. Im 13. und 14. Jh. wurde die Löwenfigur dann zunehmend verfeinert und ausdifferenziert: Nun konnte der Löwe bereits eine Krone tragen, sein Schweif wies bald mehrere, z. T. kunstvoll umeinander gelegte Stränge auf, und neben Klauen hatte der Löwe Zähne und eine weit herausschlagende Zunge. In der hoch- und spätgotischen Epoche (15./16. Jh.) tendierte die – nun oft nach schräg rechts geneigte – Gestalt des Löwen zu einer immer stärkeren Auflösung in Verästelungen und Ornamente. Einzelne Zotteln der Mähne wurden nun extrem verlängert und zierend um den schlanken Körper gelegt, der Schwanz war oft vielfältig gespalten und geflochten und die Zunge überproportional weit herausgestreckt. Das Auge funkelte ›wild‹. Diese Tendenz zur Gestaltauflösung durch Ornamentik setzte sich in der Renaissance fort. Der Schild war nun ganz mit geschwungenen, aus Mähne und Schwanz entwickelten Linien gefüllt, und die Löwenfigur – obgleich bereits in den Wappen der Frühgotik nicht naturalistisch angelegt – erreichte nun den Höhepunkt ihrer Stilisierung und Emblematisierung. Als generelle Tendenz lässt sich festhalten, dass sich die Tierwappen von relativ strengen, einfachen Stilisierungen im Hochmittelalter im Laufe der Jahrhunderte zu immer stärker ornamentierten, ausdifferenzierten und vielgliedrigen Kunstfiguren entwickelten. Die Stilgeschichte heraldischer Tierfiguren ist die Geschichte ihrer zunehmenden Denaturalisierung und Artifizialität. Erst seit der Wiederbelebung der Heraldik im 19. Jh. entstanden wieder schlichtere und sachlichere, zwar an den mittelalterlichen Vorbildern orientierte, aber mit den Mitteln der modernen Gebrauchsgraphik entworfene Tierfiguren.83 _____________ 82 83
Vgl. Handbuch der Heraldik (Anm. 2), S. 105-109; Ottfried Neubecker, Wappenkunde, München 2002, S. 70-75. Vgl. Leonhard, Das große Buch der Wappenkunst (Anm. 3), S. 205-220; Handbuch der Heraldik (Anm. 2), S. 96-104.
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VI Ich fasse die wichtigsten Punkte dieser Überblicksdarstellung abschließend noch einmal zusammen: Tiere sind in der aktuellen und mittelalterlichen Heraldik allpräsent. Sie sind seit jeher ein unverzichtbarer Bestandteil des heraldischen Motivfundus. Die ersten Tierwappen zeigten um die Mitte des 12. Jhs. u. a. Adler, Eber, Fische, Löwen, Panther, Raben, Schwäne, Steinböcke, Widder und Wölfe. Vielfach war lediglich der Name eines Ritters das Motiv für die Wahl eines passenden Zeichens; eine tiefere symbolische Bedeutung kam den Tierfiguren in der Regel nicht zu. Tierwappen finden sich in der mittelalterlichen Buchmalerei, in der Grabornamentik, in der sakralen und säkularen Architektur, in der Glasmalerei, in Wappenrollen und Turnierbüchern, auf Münzen und Siegeln usw. Die historische Heraldik wurde früh von den mittelalterlichen Dichtern aufgegriffen und in ihren Erzählungen fruchtbar gemacht. Besonders im Artusroman war das erzählerische Spiel mit heraldischen Tierfiguren beliebt. Seit dem 13. Jh. wurden Wappen auch in politischer Absicht in die Literatur einbezogen und zur Kennzeichnung und Apostrophierung realer Personen der Zeit eingesetzt. Die Wappentiere unterlagen von Anfang an einer strengen Stilisierung, die jedwede naturalistische Darstellung zugunsten der weithin sichtbaren Zeichenhaftigkeit der Figuren preisgab. Die Geschichte der Wappenkunst stellt sich als Geschichte des zunehmenden Hangs zum Ornamentalen und zur Auflösung der natürlichen Tiergestalt dar. Dieser Tendenz wirkten die Heraldiker erst am Ende des 19. Jhs. entgegen. Ungeachtet der ästhetischen Funktion mittelalterlicher Glasfenster mit Schildfiguren oder wappengeschmückter Rittersäle in Burgen und Adelshäusern muss betont werden, dass Wappen letztlich immer dem »Willen zur Macht« (Nietzsche) entsprangen: Sie markierten ›Reviere‹ und legitimierten Rechtstitel und Hoheitsansprüche. Sie waren seit jeher besitzergreifende, autoritätsstiftende Zeichen, die Ansprüche anmeldeten und Güter in Beschlag nahmen. Insofern waren Adler und Löwe im Mittelalter nie nur harmlose Identitätssignale, sondern immer auch machtvolle Zeichen von Herrschaft und Verfügungsgewalt.
Tiere in der Heraldik des Mittelalters
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Bis heute gibt es Tierheraldik, und es ist interessant, dass gerade neue Wappen besonders häufig Tierfiguren zeigen. Als Beispiele seien hier lediglich genannt: die Oxforder College-Neugründungen des 20. Jhs., deren Wappen Fische (Regent’s Park, 1927), Löwenköpfe (St. Anne’s, 1952), Muscheln (Linacre, 1962) und Merletten (St. Peter’s, 1961) zeigen; die zahlreichen jungen außereuropäischen Staaten, vielfach ehemalige Kolonien, die in ihre Staatsheraldik Tiere der jeweiligen Region einbinden, etwa Lesotho das Krokodil, die Elfenbeinküste den Elefanten, Trinidad und Tobago Kolibris oder die Salomon-Inseln im westlichen Pazifik Schildkröten; schließlich die kirchliche Heraldik, insbesondere der Päpste und Bischöfe, die aktuell z. B. den Wolf (Bischof von Passau), den Adler (Bischof von Eichstätt), den Drachen (Äbtissin von Waldsassen) sowie Bär und Muschel (Papst Benedikt XVI.) kennt. Tiere und Fabelwesen sind in der Heraldik unserer Zeit äußerst präsent, erscheinen in immer neuen Gestaltungen und Funktionen und stehen in der reichen Tradition mittelalterlicher Wappen. Als markante und zugleich ästhetisch ansprechende Zeichen führen Menschen sie heute wie vor 800 Jahren mit dem gleichen Ziel: als Einzelne sichtbar zu sein in der Weite der Welt.
Anette Pelizaeus (Mainz)
Greif, Löwe und Drache. Die Tierdarstellungen am Mainzer Dom – Provenienz und Nachfolge 1. Einleitung Tierdarstellungen dienten in der christlichen Kunst als Illustration biblischer Verse oder Aussagen von Kirchenvätern, galten aber auch ganz allgemein als Gestaltungselement zur Vermittlung von Kenntnissen aus dem Physiologus sowie den spätantiken und mittelalterlichen Enzyklopädien. Tiergestalten waren somit entweder Teil eines einem Kirchenbau zugrunde liegenden ikonographischen Programms oder dienten der Wissensvermittlung. Sie waren bisweilen aber einfach auch nur Bauzier, weil man im Mittelalter die reale Umwelt gerne abbildete und sich an naturalistischen Darstellungen als Dekoration erfreute. Die Erschließung des ikonographischen Programms einer bestimmten Tierkomposition erfordert zunächst die Klärung des christlichen Symbolgehalts eines jeden Tieres. Adler, Greif, Löwe, Hirsch, Widder, Schlange und Phönix waren Symbole für Christus. Adler, Einhorn, Fisch, Hirsch, Lamm, Löwe, Pelikan, Pfau und Phönix standen für die Menschwerdung Christi, die Erlösung, Auferstehung, Taufe und Eucharistie. Als Tugendsymbole galten Adler, Hirsch und Schlange und als Lastersymbole fungierten Adler, Affe und Hase. Teufels- und Dämonensymbole waren ebenfalls Affen, aber auch Drachen, Löwen, Schlangen und Kentauren, d. h. Mischoder Fabelwesen aus Pferdeleib und menschlichem Oberkörper.1 Auch _____________ 1
Hannelore Sachs / Ernst Badstübner / Helga Neumann, Erklärendes Wörterbuch zur christlichen Kunst, Hanau 1989, S. 336-337; Claudia List, Tiere. Gestaltung und Bedeutung in der Kunst, Stuttgart, Zürich 1993, S. 73, 77.
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mit den Sieben Todsünden wurden Tiere assoziiert, so mit dem Hochmut Löwe, Pfau, Adler und Pferd, mit dem Neid Hund, Schlange, Drache und Bär, mit der Trägheit Esel, Affe und Sau, mit der Völlerei Bär, Hund und Schwein, mit der Lüsternheit Ziege, Bär, Skorpion, mit der Habgier der Wolf und mit dem Zorn der Leopard. Die Evangelistensymbole, so Mensch/Engel, Löwe, Stier und Adler, gehen auf die Vision des Ezechiel und die Offenbarung zurück und repräsentierten in der mittelalterlichen Theologie die vier Stationen des Heilsgeschehens Christi, so der Mensch die Inkarnation, der Stier die Kreuzigung, der Löwe die Auferstehung und der Adler die Himmelfahrt.2 Der Greif, ein Mischwesen aus Adler und Löwe, versinnbildlichte als Adler den Herrscher der Lüfte und als Löwe den der Erde und war damit Symbol der Wachsamkeit und stand für Christus, die Unsterblichkeit und die Vollkommenheit.3 Aufgrund des unterschiedlichen Symbolgehalts insbesondere von Löwen und Adlern bedarf es also immer der ikonographischen Erschließung und Deutung des gesamten Figurenzyklus, innerhalb dessen die einzelnen Tiere dargestellt werden, um deren jeweilige ikonographische Bedeutung im gesamten Figurenprogramm richtig zu erfassen. Mit diesem Ziel werden wir uns nun die Tiere am Ostbau des Mainzer Domes genau ansehen und gleichermaßen der Frage nachgehen, in welchem stilistischen Zusammenhang die Tiere denn eigentlich stehen, bzw. in welchen kunsthistorischen Kontext sie einzuordnen sind. Die Frage nach der Händescheidung der einzelnen Tierfiguren wird hier nicht thematisiert werden, zumal dieses Forschungsfeld auch umfassend von Holger Mertens in seiner 2005 erschienenen Dissertation über die Bauplastik der Dome in Speyer und Mainz4 behandelt worden ist.
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List, Tiere (Anm. 1), S. 77. Sachs/Badstübner/Neumann, Wörterbuch (Anm. 1), S. 158; Rainer Budde, Deutsche romanische Skulptur 1050-1250, München 1979, S. 92; List, Tiere (Anm. 1), S. 81. Holger Mertens, Studien zur Bauplastik der Dome in Speyer und Mainz, Diss. Köln 1993, Mainz 1995 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte 76), S. 1-289.
Tierdarstellungen am Mainzer Dom
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2. Tierdarstellungen am Ostbau des Mainzer Domes 2.1 Das Südostportal des Mainzer Domes Beginnen wir zunächst mit dem auch als Liebfrauenportal bezeichneten Südostportal des Mainzer Domes, ein gestuftes, rechteckig eingefasstes Säulenportal mit bekrönender Archivolte und reich skulpierten Kapitellen, das nach der jüngsten Forschung zusammen mit den unteren Ostteilen des Mainzer Domes in das frühe 12. Jh., vermutlich zwischen 1110/1120, datiert wurde.5
Abb. 1 Liebfrauenportal, nördliches Gewände
_____________ 5
Zum Liebfrauenportal des Mainzer Domes und seiner kunsthistorischen Stellung vgl. Dethard von Winterfeld, »Das Bauwerk in Gestalt und Werden«, in: Barbara Nichtweiß (Hrsg.), Lebendiger Dom. St. Martin zu Mainz in Geschichte und Gegenwart, Mainz 1998, S. 36; ders., Die Kaiserdome Speyer, Mainz, Worms und ihr romanisches Umland, Würzburg 1993, S. 163164; Mertens, Studien (Anm. 4), S. 86; Matthias Untermann, Kirchenbauten der Prämonstratenser. Untersuchungen zum Problem einer Ordensbaukunst im 12. Jh., Diss. Köln 1984 (Veröffentlichung der Abteilung Architektur am Kunsthistorischen Institut der Universität Köln), S. 198. Zu den Wiederherstellungsmaßnahmen am Liebfrauenportal vgl. Klemens Leuck, Die Restaurierungsarbeiten am Mainzer Dom in den Jahren 1971-1975, Mainz 1992 (Neues Jahrbuch für das Bistum Mainz 1981), S. 60.
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Das nördliche Stufengewände zeigt ein Kapitellfries (Abb. 1), wobei die äußeren Gewände mit korinthischen Kapitellen abschließen, während das Kapitell der inneren Gewändestufe eine Mischform aus korinthischem Kapitell und Figuralkapitell ist.6 Über doppeltem Halsring erwachsen hier auf der Außenseite ein und auf der Innenseite zwei Kranzblätter. Auf dem Kranzblatt der Innenseite sitzt ein Affe, der seine Beine angewinkelt und gleichsam gespreizt und seine beiden Hände auf seinen Knien abgelegt hat. Rechts neben ihm, und zwischen zwei benachbarten Kranzblättern, steht eine männliche Figur. Der Oberkörper des Mannes ist nahezu frontal dargestellt, während seine rechte Schulter und sein linkes Knie nach vorn gekehrt sind, er aber seine beiden Füße unnatürlich nach rechts wendet, so dass das Drehmoment und die Gebärde der Figur nicht realistisch zu erschließen sind. In seinen Händen hält er einen Speer, mit dem er einem Löwen, der rechts neben ihm auf der Kapitellecke mit weit geöffnetem Maul dargestellt ist, in die Kehle sticht. Die ikonographische Bedeutung dieser Tierdarstellung erschließt sich am besten im Zusammenhang mit der Betrachtung desjenigen Kapitellfrieses, welches als Abschluss des südlichen Portalgewändes fungiert (Abb. 2).7 Hier nämlich sehen wir als oberen Abschluss des inneren Gewändes eine Tiergruppe, bestehend aus zwei im Profil dargestellten, aufeinander zugehenden Löwen, zwischen denen nahezu frontal ein Widder platziert ist. Die beiden Löwen haben jeweils ihre beiden Vordertatzen auf Kopf und Rücken des Widders gelegt, während ihre Flanken über dem Halsring des Kapitellbandes auf den Vorsprüngen des Kalathos und somit dem Betrachter zugewandt angeordnet sind. Der Widder stützt sich mit seinen Vordertatzen ebenfalls über dem Halsring auf dem Kalathos ab. Die Löwen haben Tatzen mit vierteiligen feingliedrigen Krallenzehen, ihre breiten Köpfe zeichnen sich durch mandelförmig geschlitzte Augen aus, die weit aus den Augenhöhlen hervortreten und von einer schmalen Kerbe _____________ 6
7
Zur Beschreibung des Kapitellfrieses des nördlichen Portalgewändes des Liebfrauenportals des Domes zu Mainz vgl. Mertens, Studien (Anm. 4), S. 86-89 mit Abb. 13, 14, 19 u. 21; Budde, Deutsche romanische Skulptur (Anm. 3), S. 91-92 mit Abb. 219. Zur Beschreibung des Kapitellfrieses des südlichen Portalgewändes des Liebfrauenportals des Mainzer Domes vgl. Mertens, Studien (Anm. 4), S. 89-91 mit Abb. 31-32; Budde, Deutsche romanische Skulptur (Anm. 3), S.91-92 mit Abb. 219.
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umzeichnet sind. Aus der wulstigen Linie der Augenbrauen erwächst die flache Nase, die angesichts der weit geöffneten Mäuler kaum auffällt.
Abb. 2 Liebfrauenportal, südliches Gewände
Letztere sind, ebenso wie das Maul des gegenüberliegenden Löwen, durch eine wulstige Lippe gekennzeichnet, die allerdings hier stellenweise wie tauartig gedreht erscheint, aber auch hier sind die Zähne des Ober- und Unterkiefers wie die des gegenüber dargestellten Löwen alternierend angeordnet und greifen ineinander. Die Löwenmähne besteht jeweils aus zweireihig angeordneten großen Locken, die an den seitlichen Flanken der Tiere herabfallen. Der übrige Körper ist jeweils glatt. Die Binnenzeichnung des Widders hingegen konzentriert sich weniger auf die Hervorhebung von Augen, Nase und Mund, wobei allein erstere durch ihre mandelförmige Umzeichnung gekennzeichnet ist, als vielmehr auf die fein- und kleinteilig ziselierte Wiedergabe des Musters von Hörnern und Fell. Widder und Löwe stehen also sowohl hinsichtlich ihrer Komposition als auch hinsichtlich ihrer künstlerischen Ausgestaltung im Gegensatz zueinander. Rechts neben dem Löwen, an der Innenseite des Portalgewändes, ist ein Greif im Profil dargestellt, der zwar mit seiner Körperseite dem geschilderten Geschehen links neben ihm scheinbar zugewandt erscheint, aber da er seinen Kopf zurückwendet, um mit seinem Schnabel nach seinem lin-
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ken Flügel zu fassen, wird er als ein Tier repräsentiert, das vor allem mit sich selbst beschäftigt ist (Abb. 3).
Abb. 3 Liebfrauenportal, südliches Gewände: Detail Greif
Dies zeigt sich auch insbesondere daran, dass er mit seinen Klauen, bestehend aus drei vorderen und einem hinteren Zehen, sechsblättrige, stehend angeordnete Blüten umfasst, die beziehungslos auf dem Reliefgrund erscheinen. Sein Kopf ist ebenso wie die bereits geschilderten Tierdarstellungen durch mandelförmig zugespitzte Augen gekennzeichnet. Das Gefieder seines Körpers ist alternierend durch Schuppen und Fischgräten mittels feiner Abspitzungen und Einkerbungen angedeutet, auch die Klauen sind abgearbeitet. Die Binnenzeichnung ist also im Vergleich zu den übrigen Tieren des südlichen Portalgewändes gleichmäßig ausgeführt, jedes Körperglied ist durchkomponiert, keines ausgelassen, wenngleich in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen ist, dass nicht alle Tierdarstellungen am Ostbau des Mainzer Domes vollendet wurden und daher Unterschiede in der Fertigkeit der Figuren nicht auszuschließen sind. Aber dennoch ist festzuhalten, dass der Greif schon allein durch seine Anordnung und Gebärde in Ambivalenz zu den links neben ihm darge-
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stellten Tieren und somit für sich steht. Dasselbe gilt zudem auch für die Figurengruppe des gegenüberliegenden nördlichen Kapitellfrieses. Hier nämlich ist es der Affe, der durch seine Größe und Beinhaltung in Ambivalenz zu dem Löwenkämpfer und dem Löwen steht, der umgekehrt seinerseits aufgrund seiner Platzierung auf der Kapitellkante mit den beiden anderen Figuren kontrastiert. Was ist nun aus diesen Beobachtungen zu schließen? Auf beiden Seiten des Portalgewändes finden sich Szenen, in denen die Tiere im Kampf als Sinnbild für die Auseinandersetzung des Guten mit dem Bösen dargestellt werden.8 In diesem Sinne ersticht der auf der nördlichen Portalseite dargestellte Löwenkämpfer als Sinnbild für Christus den rechts neben ihm platzierten Löwen als Symbol für das Böse. Christus, groß und stark, bekämpft seine Widersacher und geht als Sieger aus dem Kampf hervor. Er braucht also das Böse, das hier in Gestalt des kleinen Affen auftritt, nicht zu fürchten. Dieselbe Aussage findet sich auch in der Tierdarstellung der gegenüberliegenden Portalseite. Hier erscheint das Böse in Gestalt der beiden Löwen, die den Widder als Symbol für Gott bedrohen. Doch dieser, der hier auch in der Gestalt des Greifen dargestellt wird, lässt sich davon nicht beeindrucken. Vielmehr ist er mit sich selbst beschäftigt, da er sicher weiß, dass er niemals verliert. Betrachten wir nun die Figurenzyklen der Südostvorhalle des Mainzer Domes, die ebenfalls den Kampf der Tiere als Sinnbild für den Kampf zwischen dem Guten und Bösen zeigen. 2.2 Die südöstliche Vorhalle des Mainzer Domes Wir beginnen mit dem Kapitell des nordwestlichen Wandpfeilers (Abb. 4).9 Hier sehen wir über dem Halsring und dem darüber beginnenden, konkav einschwingenden Kalathos mit bekrönendem Abakus ohne Abakusblüte einen im Profil dargestellten, nach rechts gewandten Kentauren, der mit Pfeil und Bogen auf einen rechts neben ihm befindlichen und gleichsam nach rechts fliehenden Hirschen schießt. _____________ 8 9
Budde, Deutsche romanische Skulptur (Anm. 3), S. 92. Zur Beschreibung des nordwestlichen Kapitells der südöstlichen Vorhalle im Mainzer Dom vgl. Mertens, Studien (Anm. 4), S. 91-92 mit Abb. 28 u. 67.
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Abb. 4 Südostvorhalle, Kapitell des nordwestlichen Wandpfeilers
Dabei wendet sich der Hirsch mit seinen Kopf zu dem Kentauren zurück, hat sich aber in zwei Strängen eines hinter der Figurengruppe aufsteigenden dreisträhnigen Rankengeflechts verfangen, und es scheint, als könne er somit nicht mehr aus dem Gestrüpp heraus. Die dieser Szenerie innewohnende Dramatik wird noch deutlicher, wenn man sich ihren Symbolgehalt vor Augen führt. Denn hier schießt ein Dämon oder Teufel in Gestalt des Fabel- oder Mischwesens auf den Hirschen als Sinnbild für Christus. Aber auch diese Bedrohung wird insofern wieder aufgehoben, als rechts neben dieser Figurengruppe als Abschluss der nordwestlichen Wandsäule ein frontal ausgerichteter Adler zu sehen ist, der sich mit seinen beiden Krallen in den Rücken eines im Profil dargestellten, nach links sich wendenden Hasen bohrt, der seinerseits auf dem Halsring des beginnenden Wandsäulenkapitells liegend Abb. 5 dargestellt ist (Abb. 5). Südostvorhalle, Kapitell der nordwestlichen Wandsäule
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Wiederum ist es also Christus, hier nun in Gestalt des Adlers, der mit leicht ausgreifenden Flügeln auf dem Hasen als Sinnbild für den Dämonen steht, ihn niederdrückt und somit besiegt. Ebenso wie am Portal wird auch hier durch die Tierdarstellungen ausgesagt, dass ganz gleich welcher Bedrohung Christus ausgesetzt ist, er doch immer als Sieger hervorgeht. Betrachten wir nun die Tierdarstellungen auf den Kapitellen der gegenüberliegenden Pfeiler und Säulen. Auf dem Kapitell des südwestlichen Wandpfeilers sind in symmetrischer Anordnung zwei im Profil aufgerichtete und einander zugewandte Greifen zu sehen, die mit ihren Tatzen auf Körper und Kopf eines jeweils unter ihnen liegenden Drachen stehen (Abb. 6).10
Abb. 6 Südostvorhalle, Kapitell des südwestlichen Wandpfeilers
Diese sind ihrerseits ebenfalls in symmetrischer Anordnung dargestellt, wenden sich aber einander ab, so dass lediglich ihre jeweils den Greifen entgegen und gleichsam nach oben sich aufbäumenden Schwänze einander zugewandt sind, deren untere Enden bereits schneckenartig eingerollt sind. Doch jegliche Gegenwehr der Drachen scheint verloren, denn die Greifen beißen mit ihren Schnäbeln in die lang gezogenen Schwanzenden _____________ 10
Zur Beschreibung des südlichen Wandpfeilers in der Südostvorhalle des Mainzer Domes vgl. ebd., S. 93-94 mit Abb. 40.
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ihrer Widersacher und haben sie somit fest im Griff. Ebenso wie auf der gegenüberliegenden Wandseite der südöstlichen Vorhalle ist auch hier der Kampf Christi in Gestalt der Greifen gegen die Dämonen dargestellt, und wiederum geht allein Christus in Gestalt des Greifen als Sieger hervor. Dieselbe Botschaft zeigt sich auch in der Kapitellgestalt der östlich sich anschließenden Wandsäule. Wie auf der gegenüberliegenden Seite sieht man auch hier einen Adler, der nun aber nicht auf einem Hasen, sondern diesmal auf zwei Drachen steht. Mit seinen Krallen umgreift er deren Körper zwischen Kopf und Leib (Abb. 7).11 Die Drachen, die ihre Mäuler weit aufgerissen haben, stoßen mit ihren Köpfen aneinander und versuchen noch ihre Unterkörper vom Boden hoch zu drücken, doch der mächtige Adler, der nicht einmal mehr seine Flügel ausbreiten muss, um Kraft zu schöpfen, hat den Kampf längst gewonnen. Die Tiergruppen auf den Kapitellen der südwestlichen Wandpfeiler und -säulen bekräftigen also die Botschaft, die bereits durch den Adler der Nordwestseite und am Liebfrauenportal angedeutet wurde, nämlich den Sieg Christi über das Böse. Die symmetrische Anordnung von zwei TierAbb. 7 gestalten, wie wir sie nun an den KaSüdostvorhalle, Kapitell der pitellen der Südwand der südöstlichen südwestlichen Wandsäule Vorhalle haben erkennen können, zeigt sich ferner auch in der Blendarkaden- und Fensterzone der Ostapsis des Mainzer Domes. Die rundbogig schließenden Fenster zeigen mächtige Fenstergewände mit zweifacher Rückstufung und jeweils überfangenden Rundbögen. Die äußersten Archivolten ruhen auf halbrunden, seitlich die Fenster begleitenden Wandsäulen mit abschließenden skulpierten Kapitel_____________ 11
Zur Beschreibung der Säulenvorlage in der Südostvorhalle des Mainzer Domes vgl. ebd., S. 94-95.
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len. Das Südkapitell des Apsisfensters zeigt dabei zwei Adler, die sich an den seitlichen Rändern von dreisträhnigen Ranken festhalten, welche die Adler bogenförmig umschließen (Abb. 8).12 Seitlich der Schwänze der Adler wachsen aus dem umlaufenden Strang zwei weitere hervor, die sich berühren, einrollen und in Knollen enden. Aus der Mitte wächst hier ein neuer Strang empor, der unterhalb des Abakus in drei spitzförmigen Blättern endet. Die Adler, die mit ihren Rücken einander zugewandt sind, wenden beide ihre Köpfe zurück, um in ein seitliches Blatt zu beißen. Eine weitere symmetrische Anordnung eines Tierpaares findet sich auch im benachbarten NordkaAbb. 8 Ostapsis, Südkapitell des Apsisfensters pitell des Apsisfensters (Abb. 9).13 Hier sehen wir zwei auf ihren Hinterbeinen stehende, wiederum mit den Rücken einander zugewandte Mischwesen aus Löwenkörpern mit Drachenköpfen im Profil dargestellt, deren Hälse von Ranken umschlungen sind und die mit halbgeöffneten Mäulern in einen Rankenzweig beißen. Die symbolische Bedeutung dieser beiden Tierpaare, welche das östliche Apsisfenster flankieren und soAbb. 9 Ostapsis, mit am östlichen Abschluss des OstNordkapitell des Apsisfensters chores platziert sind, ist offenkun_____________ 12 13
Zur Beschreibung des südlich des östlichen Apsisfensters gelegenen Kapitells vgl. ebd., S. 102-104 mit Abb. 50 u. 52. Zur Beschreibung des nördlich des östlichen Apsisfensters gelegenen Kapitells vgl. ebd., S. 101-102 mit Abb. 51.
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dig, es handelt sich hier um Christusdarstellungen in Gestalt von Adlern und Mischwesen, die selbstzufrieden mit sich selbst beschäftigt sind. Weitere Tierdarstellungen im Rankengeflecht zeigt auch das Kapitellfries am südlichen Eingang zur Ostkrypta des Mainzer Domes, das wir nun in Augenschein nehmen wollen. 2.3 Der Südeingang zur Ostkrypta des Mainzer Domes Der südliche Treppenzugang zur Ostkrypta ist beidseitig mit Tiermotiven geschmückt, wobei allein das westliche Gewände durch ein zusammenhängendes Kapitellfries verziert ist. Es zeigt zwei Adler und einen Hasen in einem Rankengeflecht (Abb. 10).14 Die beiden im Profil dargestellten, nach links sich wendenden Adler werden dabei von kreisförmig angeordneten Ranken umschlossen, während
Abb. 10 Südeingang zur Ostkrypta: Kapitellfries am westlichen Gewände
der ebenfalls im Profil dargestellte Hase unter einer von oben herabschwingenden Ranke nach rechts flüchtet und somit nicht mehr von dieser umgeben ist. Der Symbolgehalt dieser Darstellung ist evident, es handelt sich um die zweimalige Darstellung von Christus, der jeweils von einem Schutzraum umgeben ist, während der ungeschützte Dämon in Gestalt des Hasen sich nicht nur von Christus abwendet, sondern sogar vor ihm flüchtet. _____________ 14
Zur Beschreibung des westlichen Reliefs am südlichen Eingang zur Ostkrypta des Mainzer Domes vgl. ebd., S. 95-96 mit Abb. 48.
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Im gegenüberliegenden östlichen Gewände ist ein Drache im Profil dargestellt, der von einer Blattranke kreisförmig umgeben ist (Abb. 11).15 Sein Körper wendet sich zur rechten Seite hin, seine viergliedrige rechte Vorderpfote greift über die Blattranke hinaus und sein Schwanz rollt sich schneckenartig ein, während er seinen Kopf zu seinem Schwanz zurückwendet. Bei dieser Darstellung muss nun in der Tat die ikonographische Bedeutung offen bleiben. Ausgehend vom Symbolgehalt der DrachenAbb. 11 Südeingang zur Ostkrypta: darstellung per se müsste man eiöstliches Gewände gentlich meinen, dass es sich bei dieser Figur um einen Dämonen handelt, der als Gegenpart zur Christusdarstellung auf dem gegenüberliegenden Gewände dargestellt ist. Fragwürdig allerdings bleibt, weshalb er dann innerhalb des Rankengeflechts erscheint, denn entsprechend des westlichen Gewändes müsste sich der Drache als Dämon außerhalb des Geflechts befinden. Es mag aber auch sein, dass die Drachendarstellung gar nicht zu deuten, sondern einfach ein Schmuckelement ist, weil sich hier noch Platz für ein Motiv fand, denn der Blick des Besuchers, der in die Ostkrypta hinabsteigt, wendet sich automatisch zum augenscheinlichen westlichen Gewände und nicht zur Ostseite hin. Das Motiv der kreisförmigen dreisträhnigen Ranke zeigt sich auch in einem Kapitell der Zwerggalerie der Ostapsis, wobei hier ein Rankenläufer dargestellt ist, der die Ranke zwischen seinen Beinen und über der rechten Schulter hat und sie mit beiden Händen umfasst, so als wolle er sie tragen.16
_____________ 15 16
Zur Beschreibung des östlichen Reliefs am südlichen Eingang zur Ostkrypta des Mainzer Domes vgl. ebd., S. 96. Zur Beschreibung des Rankenläufers vgl. ebd., S. 107, 111 mit Abb. 61.
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Zwei weitere Kapitelle der Zwerggalerie zeigen an den Kapitellecken Adler in symmetrischer Anordnung (Abb. 12.).17 Auf dem dargestellten Kapitell sitzt auf jeder Kapitellecke jeweils ein Adler, seinem Gegenüber abgewandt, ganz ruhig über dem Halsring des Kapitells und hält sich mit seinen Krallen an diesem fest. Die Adler haben ihre Flügel ausgebreitet und berühren sich mit diesen, wodurch sich ein quasi symmetrisch angeordnetes Muster ergibt. Die ikonographische Bedeutung dieser beiden Kapitelle ist schwierig zu ermitteln, da Abb. 12 Ostapsis, sie nicht in ein eindeutig zuzuordnendes FiZwerggalerie, Adlerkapitell gurenprogramm einzuordnen sind. Dementsprechend ist vermutlich davon auszugehen, dass sie weniger als allegorische Darstellungen, als vielmehr als einzelne figürliche Darstellungen anzusehen sind, die einfach als Bauzier dienen. 3. Provenienz und Nachfolge der unteren Bauplastik des Mainzer Doms 3.1 Der Figurenschmuck in Oberitalien Hinsichtlich der Herkunft der Motive der gezeigten Figuralkapitelle am Ostbau des Mainzer Domes haben bereits Wetter, Hamann, Goldschmidt, Dehio und Kautzsch auf die Kunst Oberitaliens hingewiesen, eine These, die auch noch heute unbestritten ist.18 So ist beispielsweise die Kompo_____________ 17 18
Zur Beschreibung der Adlerkapitelle der Ostapsis Kapitelle vgl. ebd., S. 108-110 mit Abb. 65 u. 66. Johann Wetter, Geschichte und Beschreibung des Domes zu Mainz. Begleitet mit Betrachtungen über die Entwicklung des Spitzbogenstyls, das neugothische Constructionssystem in Deutschland und Frankreich, und den Einfluss der lombardischen und byzantinischen Kunst auf diese Länder, Mainz 1835, S. 75-80; Richard Hamann, »Die Kapitelle im Magdeburger Dom«, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen, 30/1909, S. 67-68; Adolf Goldschmidt, »Die Bauornamentik in Sachsen im 12. Jh.«, in: Monatshefte für Kunstwissenschaft, 10/1910, S. 311; Georg Dehio, Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Bd. 4: Südwestdeutschland, Berlin 1911, S. 230; Rudolf Kautzsch, »Neues zur Baugeschichte des Mainzer Domes«, in: Quartalblätter des Historischen Vereins für das Großherzogtum Hessen, N. F. 5/1911, S. 1-3; ders., »Der Ostbau des Doms zu Mainz«, in:
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sition von Akanthus- und Figuralkapitell, das wir am Südostportal des Mainzer Domes kennen gelernt haben (Abb. 1), unter dem Einfluss der skulpierten Kapitelle in der Afrakapelle des Speyerer Domes entstanden,19 die ihrerseits auf oberitalienische Vorbilder, so etwa im Dom zu Casale Monferrato, zurückzuführen sind. Auch den Kampf zwischen einem Kentauren und einer Hirschkuh (Abb. 4) finden wir bereits in Italien dargestellt, wie anhand eines Kapitellfrieses in der zwischen 1088 und 1098 entstandenen Kirche SS. Maria und Sigismonde in Rivolta d’Adda ersichtlich ist, wenngleich hier allein die Motivik, nicht aber die jeweilige Komposition vergleichbar ist. Nicht zuletzt auch das Motiv eines Tieres, das einer kreisförmigen Ranke einbeschrieben ist (Abb. 10), kennen wir aus Oberitalien und finden wir etwa in einem Kapitell in der Kirche S. Savino in Piacenza, wo Adler und Löwen einem kreisförmigen Rankengeflecht einbeschrieben sind.
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Zeitschrift für Geschichte der Architektur, 7/1914-1919, S. 77-99; Jan Fastenau, Romanische Bauornamentik in Süddeutschland, Straßburg 1916 (Studien zur deutschen Kunstgeschichte 188), S. 27-39; Hans Weigert, »Das Kapitell in der deutschen Baukunst des Mittelalters«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 5/1936, S. 7-46, bes. S. 29; Erwin Kluckhohn, »Die Bedeutung Italiens für die romanische Baukunst und Bauornamentik in Deutschland. Mit einem Nachwort von Walter Paatz«, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 16/1955, S. 1-120, bes. S. 15-17; Rita Moller-Racke, »Studien zur Bauskulptur am Ober- und Mittelrhein«, in: Oberrheinische Kunst. Jahrbuch der oberrheinischen Museen, 10/1942, S. 39-70, bes. S. 60-62; Willibald Sauerländer, Die Skulptur des Mittelalters, Frankfurt a. M. 1963, S. 78; Günther Binding, »Zur Territorial- und Kunstgeschichte der staufischen Wetterau«, in: Wetterauer Geschichtsblätter, 12/1963, S. 1-47, bes. S. 21-22, 44-45; Dethard von Winterfeld, »Speyerische Kapitelle in Bamberg?«, in: Bonner Jahrbücher, 186/1968, S. 315-325, bes. S. 324; ders., »Das Bauwerk in Gestalt und Werden«, in: Barbara Nichtweiß (Hrsg.), Lebendiger Dom (Anm. 5), S. 39; ders., Kaiserdome (Anm. 5), S. 155, 163-165; Wilhelm Jung, »Der Mainzer Dom als Bau- und Kunstdenkmal«, in: ders. (Hrsg.), 1000 Jahre Mainzer Dom (975-1975). Werden und Wandel. Ausstellungskatalog und Handbuch, Mainz 1975, S. 127-160, bes. S. 33; Martin Gosebruch, »Königslutter und Oberitalien«, in: ders. / Hans-Henning Grote, Königslutter und Oberitalien. Kunst des 12. Jh.s in Sachsen. Katalog der Sonderausstellung im Braunschweigischen Landesmuseum v. 12.10.-23.11.1980, Braunschweig 1980, S. 36; Mertens, Studien (Anm. 4), S. 241-254. Zu dem Zusammenhang zwischen den Kapitellen des Speyerer und des Mainzer Domes, sowie denjenigen in Ilbenstadt und Lund vgl. Winterfeld, Speyerische Kapitelle (Anm. 18), S. 320-321; Kluckhohn, Bedeutung (Anm. 18), S. 15-17.
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3.2 Die Ilbenstädter Prämonstratenserklosterkirche Im Zusammenhang mit der Nachfolge der Bauskulptur des Mainzer Ostbaues wird in der neuesten kunstgeschichtlichen Forschung20 immer wieder auf die 1123 gegründete und am 24. August 1159 geweihte Prämonstratenserklosterkirche in Ilbenstadt verwiesen, die eine dreischiffige kreuzrippengewölbte Pfeilerbasilika mit ausladenden Querhäusern ist.21 Der Chor besteht aus einem längsrechteckigen Vorjoch und einspringendem Rechteckabschluss, der Westbau zeigt eine Doppelturmfassade, wobei sich die untere Fassadenwand in einem rundbogigen Durchlass mit eingesetzter Doppelarkade öffnet, die ihrerseits in die westliche kreuzgratgewölbte Vorhalle führt.22 1. Die Plastik der Vierungspfeiler: Die Vierungspfeiler erheben sich über kreuzförmigem Grundriss. Die Vorlagen der westlichen Vierungsbogen besitzen eine polsterartige verkröpfte Kapitellform mit einschwingender Abakusplatte, auf der ein reich profilierter Kämpfer aufsitzt. Der südwestliche Vierungspfeiler schließt mit einem Figuralkapitell. Hier zeigt sich eine im Profil dargestellte bogenschießende Kentaurengestalt, deren Pfeil bereits im Hals einer Hirschkuh steckt, deren Körper sich von dem Kentauren ab-, aber ihm gleichermaßen ihren Kopf zuwendet.23 Zwischen diesen beiden Gestalten befindet sich ein Drache, von dem einzig sein Kopf und sein Hals zu sehen sind, während sein Schwanz hinter das rechte Hinterbein der Hirschkuh greift und dieses mit dem Schwanzende hinterfängt. Letzteres windet sich vor dem Hinterbein der Hirschkuh schlangenartig empor. Rechts daneben steht in gegrätschter Beinstellung _____________ 20 21
22 23
Vgl. dazu Mertens, Studien (Anm. 4), S. 132-134, 141-153, 155-161; Untermann, Kirchenbauten (Anm. 5), S. 196-209. Zur Baugeschichte des Prämonstratenserklosters in Ilbenstadt vgl. Untermann, Kirchenbauten (Anm. 5), S. 127-160; Mertens, Studien (Anm. 4), S. 132-135; Norbert Bewerunge, Ilbenstadt, München, Berlin 41988 (Große Baudenkmäler 266), S. 2-10; Georg Krahl, »Ilbenstadt. Zum 800jährigen Jubiläum der Klosterkirche«, in: Hessen-Kunst. Jahrbuch für Kunst- und Denkmalpflege in Hessen und im Rhein-Main-Gebiet, 17/1923, S. 26-30. Mertens, Studien (Anm. 4), S. 132-133, mit Ansicht der westlichen Vorhalle, Abb. 72. Vgl. auch Untermann, Kirchenbauten (Anm. 5), S. 131. Untermann, Kirchenbauten (Anm. 5), S. 165-167; Mertens, Studien (Anm. 4), S. 133, 141-147 mit Abb. 70, 29 u. 63.
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eine Männergestalt, die mit einer Axt in beiden Händen haltend nach einem Steinbock ausholt, dessen Kopf auf der Kapitellecke dargestellt ist. Im Vergleich zu dem Relief des bogenschießenden Kentauren im Kapitell des Nordwestpfeilers in der Mainzer Südostvorhalle (Abb. 4) fällt bei der Kentaurendarstellung in Ilbenstadt auf, dass hier nicht nur die Steinbearbeitung gröber ist, sondern darüber hinaus auch in der Szenerie erheblich mehr Gewicht auf den Akt des Schießens und die sich daraus ergebende Konsequenz gelegt wurde. Dies zeigt sich nicht allein an der Größe des Bogens und seiner Bogenspannweite, sondern auch anhand der Tatsache, dass ein großer Abstand zwischen dem Kentauren als dem Bogenschützen und der getroffenen Hirschkuh besteht, ein Abstand, der die innere Spannung zwischen den beiden Figuren und gleichsam die Stärke des treffsicheren Schützen veranschaulicht. Es fällt zudem auf, dass in Ilbenstadt die Darstellung der Landschaft nicht wie in Mainz Teil der allegorischen Darstellung ist. Dies zeigt sich insbesondere anhand der Lilie mit dem tauartig gedrehten Stamm, die unorganisch zwischen der Hirschkuh und der Mannesgestalt emporwächst. Die Verstärkung der Dramatik, die anhand der Ilbenstädter Darstellung deutlich wird, lässt darauf schließen, dass Ilbenstadt nicht Vorbild, sondern in Nachfolge des Mainzer Kapitells entstand, wobei hier ein Meister tätig war, der das Motiv des auf eine Hirschkuh schießenden Kentauren aufgriff, aber in einer vollkommen eigenständigen Darstellung umsetzte. 2. Die Kapitellzone des südlichen Gewändes des Westvorhallenportals: Das einfach gestufte Portal der westlichen Vorhalle in Ilbenstadt24 zeichnet sich dadurch aus, dass in die Stufe eine Viertelsäule eingestellt ist, deren Kapitell mit den Kämpfern der Voralgen zu einem Fries verschmolzen ist, das aus einem Werkstück besteht. Das südliche Portalgewände zeigt auf der Vorhallenseite einen Adler und auf der Portalseite einen Greifen. Beide Motive werden durch eine Blattranke voneinander getrennt, die zunächst unter den Füßen der beiden Tiere entlang läuft und dann auf der Kapitellecke in einem großen Blatt emporwächst. _____________ 24
Zur Beschreibung der Tierdarstellungen in der Kapitellzone des südlichen Gewändes des Westvorhallenportals vgl. Mertens, Studien (Anm. 4), S. 151-153 mit Abb. 74, 39 u. 45; Untermann, Kirchenbauten (Anm. 5), S. 170-172.
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Der im Profil dargestellte Adler steht mit seinen Klauen auf der gekerbten Ranke und wendet seinen Kopf zu seinem rechten ausgebreiteten Flügel zurück, während der linke Flügel am Körper anliegt, eine Haltung, die uns einerseits an den Greifen im südlichen Gewände des Südostportals des Mainzer Domes (Abb. 3) und andererseits in umgekehrter Körperhaltung an den Adler am dortigen Kryptenzugang (Abb. 10) erinnert, wenngleich natürlich sofort auffällt, dass die beiden Mainzer Adler sich mit ihren Schnäbeln in den Schwanz beißen, während der Ilbenstädter Adler mit seinem Schnabel seinen Schwanz nur berührt. Unterschiedlich ist auch die Steinbearbeitung der Adler in Mainz und in Ilbenstadt, denn während die Mainzer Adler eine sehr feine Binnenzeichnung insbesondere in der Gestaltung der Gesichter und des Gefieders aufweisen, ist der Ilbenstädter Adler grob behandelt, der Körper zwar prall, aber die Binnenzeichnung allenfalls angedeutet. Dies lässt wiederum darauf schließen, dass der Ilbenstädter Adler in der Tat in Nachfolge der beiden Mainzer Adler steht. Dasselbe gilt auch für den Greifen, wenngleich hier zu bemerken gilt, dass dieser in derselben Gebärde wie die Mainzer Adler erscheint, nämlich ebenfalls seinen Kopf zu seinem ausgebreiteten Flügel zurückwirft und mit seinem Schnabel hineinbeißt. Sowohl die Kentaurengruppe als auch Adler und Greif zeigen, dass der Ilbenstädter Meister aus dem Formenrepertoire in Mainz schöpfte und die dortigen Motive miteinander vermischt, um zu einer eigenen Komposition zu gelangen.25 3. Kapitell des südwestlichen Arkadenbogens: Die Vorhallenseiten sind durch jeweils zwei Blendarkaturen gegliedert, die in der Mitte von einer Säule getragen werden. Auf der Südwestseite ist die Öffnung zum Ausgang zweifach zurückgestuft, wobei die Stufung durch zwei Pfeiler gegliedert ist, zwischen denen in der Ecke der Rückstufung eine Viertelsäule eingestellt ist. Pfeiler und Säule weisen ein abschließendes Kapitell auf, wodurch sich ein durchlaufendes Friesband ergibt. Das Kapitell der Viertelsäule zeigt einen Adler, der in frontaler Ausrichtung mit ausgebreiteten Flügeln auf einem Drachen hockt, dessen Körper er mit seinen Krallen
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Mertens, Studien (Anm. 4), S. 157.
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umfängt.26 Dieser Adler ist vergleichbar mit dem Adler der nordwestlichen Säulenvorlage in der Südostvorhalle des Mainzer Domes (Abb. 5), wenngleich auch hier der Unterschied wiederum darin besteht, dass der Mainzer Adler durch die Art der Binnenzeichnung des Kopfes, des Gefieders und der Krallen mittels scharfer Einkerbungen viel detaillierter gearbeitet ist, als es bei dem Adler in Ilbenstadt der Fall ist. Dasselbe gilt für den Rankenläufer, den das Kapitell des vordersten Pfeilers zeigt.27 Das Motiv der kreisförmigen Ranke, die hier den Läufer umgibt, kennen wir bereits von den Kapitellen der Zwerggalerie der Mainzer Ostapsis. Der Vergleich zeigt wiederum die gröbere Bearbeitung in Ilbenstadt, vor allem wenn man die Bearbeitung der drei Rankensträhnen betrachtet, die in Mainz tief eingekerbt sind, in Ilbenstadt allenfalls angedeutet werden. Der Mainzer Läufer ist mit einem Oberhemd und einem bis zu den Knien reichenden Beinkleid bekleidet, während der Ilbenstädter Läufer einen Schurz trägt. Auch die Physiognomie des Rankenläufers ist in Mainz deutlicher herausgearbeitet. Obwohl der Körper in Seitendarstellung nach rechts gezeigt ist, wendet er seinen Kopf dem Betrachter zu. Er hat ein breites, aber im Verhältnis zu seinem Körper relativ kleines Gesicht mit einer sehr flachen Stirn und einem schmalen Kinn, große, weit hervortretende mandelförmige Augen, eine breite knollenförmige Nase, große abstehende Ohren und einen geraden geschlossenen Mund. Die Haarsträhnen, die in der Mitte gescheitelt und seitlich hinter das Ohr gelegt sind, werden durch wulstige Strähnen angedeutet. Bei dem Ilbenstädter Läufer verhält es sich ganz anders. Sein Haupt wendet sich nach rechts, während sein Oberkörper frontal ausgerichtet ist. Seine Beine sind hintereinander gestellt und gleichsam zur rechten Seite so stark angewinkelt, dass er schon fast hockt. Eine Körperhaltung also, die nur sehr schwer nachvollziehbar ist und kaum realistisch erscheint. Er hat ein schmales langes Gesicht, weist wie der Mainzer Rankenläufer mandelförmige Augen mit einem weit hervortretenden Augapfel auf und hat kleine Ohren, wobei in der Profildarstellung des Kopfes das rechte Ohr die _____________ 26 27
Zur Beschreibung dieser Adlerdarstellung vgl. Mertens, Studien (Anm. 4), S. 149-150 mit Abb. 72 u. 69; Untermann, Kirchenbauten (Anm. 5), S. 172. Zur Beschreibung des Kapitells mit dem Rankenläufer vgl. Mertens, Studien (Anm. 4), S. 147-148 mit Abb. 73 u. Abb. 64. Vgl. dazu den Rankenläufer der Mainzer Ostapsis, in: ebd., Abb. 62; Untermann, Kirchenbauten (Anm. 5), S. 173-174.
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durch einen konvex geschwungenen Wulst angedeutet wird. Auch dieser Vergleich zeigt, dass der Ilbenstädter Meister das Mainzer Motiv aufgreift und entsprechend seinen Vorstellungen umgestaltet. 3.3 Die Klosterruine Disibodenberg Von der ehemaligen Benediktinerklosteranlage Disibodenberg,28 in welche Hildegard von Bingen (1098-1179) als Tochter der beiden Edelfreien Hildebert und Mechthild bereits im Jahre 1106 gekommen war,29 sind im Historischen Museum der Pfalz in Speyer drei Fragmente aus der Zeit um 1120/1130 erhalten, nämlich das einer Löwenskulptur, zwei Werksteine mit Löwen und ein Werkstück, das möglicherweise als Keltertrog zweitverwendet wurde oder als Kapitellfries gedient hatte.30 Wie im nordwestlichen Kapitell der südöstlichen Mainzer Vorhalle (Abb. 5) ist auf dem dreiviertelkreisförmigen Vorsprung des Keltertrogs in Disibodenberg31 ein Adler mit ausgebreiteten Schwingen dargestellt, der mit seinen Krallen einen Hasen ergreift, wenngleich sowohl Adler als auch Hase kaum plastisch hervorgearbeitet sind. Der Körper des Adlers quillt hier knollenförmig hervor, das Gefieder ist durch leichte Einkerbungen angedeutet, während das Fell des Hasen nahezu unbearbeitet bleibt. Rechts daneben ist ein Greif erkennbar, der auf dem Rücken eines Drachen steht und mit seinem Schnabel den Schwanz des Drachen umgreift, ein Motiv, das wir ebenfalls bereits aus der Mainzer Südostvorhalle ken_____________ 28
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Zum Disibodenberg und der Baugeschichte der Klosterkirche vgl. Günther Stanzl / Ines Koring / Joachim Reinelt, »Disibodenberg«, in: Hildegard von Bingen 1098-1179, Hans-Jürgen Kotzur (Hrsg.), Bearb. von Winfried Wilhelmy und Ines Koring, Mainz 1998, S. 46-72, mit Photographie der heutigen Bergruine, S. 47, Abb. 25. Zu den historischen Ansichten vgl. ebd., Kat.-Nr. 7-22, S. 48-72; Mertens, Studien (Anm. 4), S. 161-162, 164-165. Zum Leben der Hildegard von Bingen vgl. Ines Koring, »Hildegard von Bingen 10981179«, in: Hildegard von Bingen (Anm. 28), S. 2-24; Peter Dinzelbacher, Himmel, Hölle, Heilige. Visionen und Kunst im Mittelalter, Darmstadt 2005, S. 82-83. Zu dem Zusammenhang zwischen der Bauskulptur des Mainzer Ostbaues und den Fragmenten aus Disibodenberg vgl. Mertens, Studien (Anm. 4), S. 161-162, 172-173. Zu den Fragmenten ebd., S.166-172. Zur Abbildung des Fragments eines vermutlich ehemaligen Keltertrogs aus Disibodenberg vgl. Mertens, Studien (Anm. 4), Abb. 41.
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nen (Abb. 6). Auf der langen Schauseite32 wird dieses Motiv verdoppelt, wobei die Greifen ihre Köpfe nach innen, die Drachen die ihrigen jedoch nach außen wenden. Zwischen den Schwänzen der Drachen ist noch ein weiteres vierbeiniges Tier erkennbar, das aufgrund der ungenauen Darstellung nicht näher zu identifizieren ist. Auf der rechten Schmalseite wird das Motiv der linken Seite wiederholt. Alle Motive sind aus Mainz entnommen, allerdings ist die Bearbeitung der Steine weniger qualitätsvoll, der Reliefgrund ist unregelmäßig, es existiert keine Hinterarbeitung der Figuren vor dem Grund, Freiarbeitung ist kaum gegeben. Etwas differenzierter ist das Löwenfragment mit Darstellung der Löwenmähne gearbeitet.33 Hier finden sich, ebenso wie bei dem Löwen am südlichen Kapitell des Liebfrauenportals am Mainzer Dom, fünfsträhnige Zotteln, die sich am unteren Ende schneckenförmig einrollen. Das andere Löwenfragment zeigt einen breiten Löwenkopf in Frontalansicht.34 Das Gesicht zeichnet sich durch große mandelförmige Augen, eine platte, mit den Augenbrauen verbundene Nase und einen weit geöffneten Mund aus, wobei sich hier nicht wie in Mainz die Zähne, sondern die herausgestreckte Zunge zeigt. Die Vergleiche zwischen Disibodenberg und Mainz zeigen, dass Letzteres in der Tat Vorbild für Ersteres war, wobei auch dieser Vergleich wiederum deutlich zeigt, dass das Mainzer Formengut als Vorlage für den Skulpturenschmuck in Disibodenberg diente. 3.4 Flonheim Weitere Nachfolge der Mainzer Bauzier findet sich in Relieffragmenten in Flonheim. Hier existieren insgesamt drei Reliefs, nämlich erstens ein Drachenrelief in einer Hauswand in der Langgasse 8, zweitens eine Kämpferplatte mit der Darstellung eines Löwen im Garten des evangelischen Pfarrhauses und drittens ein Relief vermutlich eines Portaltympanons in der Backhausstraße.35 Es gibt keinerlei Hinweise zu dem ursprünglichen _____________ 32 33 34 35
Zur Abbildung vgl. ebd., Abb. 41. Zur Abbildung vgl. ebd., Abb. 33. Zur Abbildung vgl. ebd., Abb. 34. Zu den Flonheimer Reliefs und ihrer kunsthistorischen Einordnung vgl. Fritz Victor Arens, »Rheinhessische Bauplastiken um 1100 unter lombardischem Einfluss«, in: Forschungen zur Kunstgeschichte und christlichen Archäologie. Bd. 2: Wandlungen christlicher Kunst im
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Aufstellungsort der Fragmente, ebenso wenig über das genaue Aussehen, die Datierung und die Frage, wie die Reliefs überhaupt zu ihrem heutigen Platz gelangten. Für das 12. Jh. ist in Flonheim lediglich ein Augustinerchorherrenstift belegt, das 1162 von Emmicho gegründet wurde und bei dem es sich möglicherweise um den Wildgrafen Emmicho II. handelt, der sich selbst als comes de Flonheim bezeichnete und 1103 bis 1139 nachweisbar ist.36 Das Motiv des Flonheimer Drachenreliefs mit der Darstellung von zwei symmetrisch angeordneten, einander zugewandten Greifen, die jeweils auf einem zu den Bildaußenseiten gewandten Drachen stehen und mit ihren Schnäbeln die Schwänze der Drachen umfangen, ist wiederum dem südwestlichen Kapitell in der Südostvorhalle des Mainzer Domes (Abb. 6) entlehnt. Die Köpfe der Drachen liegen bereits auf dem Boden und werden mit den Hinterbeinen der Greifen niedergedrückt. Nicht mit Mainz vergleichbar sind die Schwänze der Greifen, die s-förmig nach oben schwingen und in kleinen Drachenköpfen enden. Hier finden wir eine vergleichbare Form eher in Ilbenstadt, und zwar am Portal der Westvorhalle, dessen Kapitell des südlichen Gewändes ebenfalls einen Greifen mit einem s-förmig nach oben schwingenden Schwanz mit Drachenkopf zeigt.37 Aus diesen Vergleichen ergibt sich also, dass der Werkmeister des Flonheimer Reliefs nicht allein auf das Formenrepertoire von Mainz, sondern auch von Ilbenstadt zurückgriff und durch die Variation des bekannten Formenguts zu einem eigenständigen Gebilde gelangte. 3.5 Worms Die Löwengruppe des Mainzer Südostportals (Abb. 2) findet auch Nachfolge in der Gestalt des Löwen auf der Fensterbank des mittleren Ostfensters des Wormser Domes,38 wenngleich die vergleichende Betrachtung _____________
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Mittelalter, Baden-Baden 1953, S. 253-260 mit Abb. 79, S. 254, Abb. 80, S. 255 u. Abb. 81, S. 256; Budde, Deutsche romanische Skulptur (Anm. 3), S. 29 mit Abb. 25.2.; Mertens, Studien (Anm. 4), S. 173-180 mit Abb. 44. Ebd., S. 173-174. Vgl. dazu ebd., Abb. 45. Ebd., S. 171-173 mit Abb. 33. Zu den Tierskulpturen am Ostbau des Wormser Domes vgl. Georg Troescher, »Die Bildwerke am Ostchor des Wormser Domes. Deutung und Bestimmung, künstlerische Quellen und weitere Zusammenhänge in der romanischen Bauplastik«,
Tierdarstellungen am Mainzer Dom
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zeigt, dass lediglich die Konturen, d. h. breiter Kopf, mandelförmige Augen und Aufbau der Lockenmähne mit den Mainzer Löwen am Südostportal vergleichbar sind, während aber die Ausformung des Gesichtes in Worms viel deutlicher hervortritt, erkennbar an der stark hervortretenden Stirn, den hervorgeprägten Backenknochen, der spitz zulaufenden Nase und dem geöffneten Mund mit der ausgestreckten Zunge, wobei die Zähne nicht wie in Mainz im Ober-und Unterkiefer alternierend angeordnet sind, sondern ganz dicht beieinanderstehen. Wie in Ilbenstadt, Disibodenberg und Flonheim ist auch hier davon auszugehen, dass die motivische Darstellung in Mainz als Vorbild und gleichsam als Vorlage für den Wormser Löwen diente, wenngleich die künstlerische Ausgestaltung des Wormser Löwen als durchaus eigenständig anzusehen ist. 3.6 San Giulio im Ortasee Werfen wir abschließend noch einen Blick auf Italien, und zwar auf die wohl um 1110/1120 entstandene Kanzel von San Giulio in Ortasee mit ihren reich skulpierten Außenseiten.39 Die Kanzel befindet sich an der Westseite des nordwestlichen Vierungspfeilers und zeigt auf der Nordseite einen im Profil dargestellten, nach rechts sich wendenden Kentauren, der mit Pfeil und Bogen auf eine rechts daneben befindliche Hirschkuh schießt. Diese wiederum wird ihrerseits von zwei einander zugewandten Raubkatzen zu Boden gedrückt. Wir kennen das Motiv des bogenschie_____________ 39
in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 21/1958, S. 123-169 mit Abbildung des Löwen auf der Fensterbank des mittleren Ostfensters, S. 129. Orta, S. Giulio, Isola die S. Giulio. Joachim Poeschke, Die Skulptur des Mittelalters in Italien. Bd. 1: Romanik. Mit Aufnahmen von Albert Hirmer und Irmgard Ernstmeier-Hirmer, München 1998, S. 60-62 mit Abb. 6 u. 7. Die Kanzel befindet sich im Inneren der im 11. Jh. errichteten und ab 1697 barockisierten Kirche. Der ursprüngliche Aufstellungsort war vermutlich am Aufgang zwischen Langhaus und Chor, am südwestlichen Vierungspfeiler. Über vier Säulen erhebt sich der quadratische Kanzelkasten mit drei zylindrischen Ausbuchtungen. Das Dekor zeigt Motive unterschiedlichster Art, nämlich die vier Evangelisten, einen bogenschießenden Kentauren, zwei Raubkatzen, die eine Hirschkuh niederdrücken, einen Greifen, der einen Drachen geschnappt hat und eine auf einen Stab sich stützende Figur, die als der Hl. Julius, den Gründer des Inselklosters, gedeutet wird. Zur Beschreibung vgl. auch Mertens, Studien (Anm. 4), S. 247-254 mit Abb. 30, 68 u. 75.
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ßenden Kentauren bereits aus der Mainzer Vorhalle (Abb. 4). Beide Motive zeigen den Kentauren in einem Rankengeflecht im Profil dargestellt, jedes Mal schießt er in dieselbe Richtung und zudem ist die Physiognomie der Kentauren insofern vergleichbar, als beide ein langes, schmales Gesicht auszeichnet, wobei die hohe Stirn und die schmalen Lippen des geschlossenen Mundes auffallen, die dem Schießenden einen strengen Charakter verleihen. Die bedrohliche Szenerie wird in Orta einerseits durch die anschließend an diese Szenerie dargestellten Evangelisten mit ihren Symbolen ausgeglichen, wobei insbesondere der Löwe des Markus auffällt, der hier greifenartig mit Flügeln dargestellt ist und Johannes als Adler, der seinerseits als Pultträger fungiert und mit leicht ausgebreiteten Flügeln und dem Evangelienbuch in seinen Krallen zu sehen ist. Andererseits findet sich quasi als Pendant zu dem bogenschießenden Kentauren auf der gegenüberliegenden Seite der Kanzel ein aufgerichteter Greif, der mit seinen Krallen auf Schwanz, Rücken und Kopf eines Drachen steht.40 Dessen Kopf ist bereits zu Boden gedrückt, der Körper bäumt sich zwar noch nach oben auf, doch indem der Greif ihn bereits an allen wichtigen Stellen umfangen hält, scheint dieser bereits besiegt zu sein. Im Zusammenhang mit Mainz ist hier wiederum das Motiv des niederdrückenden Greifen aus der Mainzer Südostvorhalle als Vergleichsmoment heranzuziehen (Abb. 6).41 Hier wie dort sehen wir den Greifen, der mit seinem Schnabel in den Schwanz des Drachen greift, hier wie dort wird der Drache mit offener hochgewölbter Schnauze dargestellt, so dass jeweils die spitzen, ineinandergreifenden Zähne sichtbar werden, hier wie dort finden wir die Mähne am Hals und hier wie dort ist die Unterseite des Drachen als eine tauartig ineinanderverschränkte Ebene dargestellt. Zeigen zwar die beiden Greifen Unterschiede in der Darstellung der Binnenzeichnung des Kopfes, des Gefieders und der Krallen, so sind sie, abgesehen von der motivischen Übereinstimmung auch insofern vergleichbar, als ihre Körperoberflächen jeweils glatt behandelt sind. All diese Übereinstimmungen in der Darstellung von Kentaur, Greif und Drachen zeigen, dass die Or-
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Poeschke, Skulptur (Anm. 39), Abb. 7; Mertens, Studien (Anm. 4), Abb. 43. Vgl. dazu auch Mertens, Studien (Anm. 4), Abb. 40 u. 42.
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taer Kanzelreliefs in direkter Nachfolge des Skulpturenschmucks der Mainzer Südostvorhalle stehen.42 4. Schlussbetrachtung Die Betrachtung der Tierdarstellungen am Ostbau des Mainzer Domes hat gezeigt, dass diese zumindest am Liebfrauenportal, in der südöstlichen Vorhalle und am südlichen Eingang zur Ostkrypta ein ikonographisches Programm aufweisen. Dabei geht es ausnahmslos um den Kampf zwischen Christus und dem Satan. Ersterer taucht in Gestalt von Löwen, Adlern, Greifen, Widdern, Kentauren und Löwenkämpfern auf, während der Satan durch Affen, Hirschkühe, Drachen oder Hasen verkörpert wird. Dabei geht Christus ausnahmslos bei jedem Kampf als Sieger hervor, der aufgrund seiner Gewissheit des Glaubens den Satan nicht zu fürchten braucht. Egal wie bedrohlich die Situation auch ist, braucht er sich nicht darum zu kümmern, ist lieber mit sich selbst beschäftigt, denn er weiß um seinen Sieg. Die Provenienz des betrachteten Mainzer Formenguts führt uns zum Speyerer Dom und nach Oberitalien. Hinsichtlich der Nachfolge gilt auf die Vierungspfeiler und die Südwestvorhalle der ehemaligen Prämonstratenserklosterkirche zu verweisen. Zu nennen sind aber auch die Fragmente aus Disibodenberg, Flonheim und Worms, ebenso wie die Kanzelreliefs in San Giulio im Ortasee, die ihrerseits in direkter Nachfolge der Mainzer Bauplastik stehen.
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Poeschke, Skulptur (Anm. 39), S. 62 und Mertens, Studien (Anm. 4), S. 252-253 gehen davon aus, dass ein und derselbe Meister in Mainz und in Orta tätig gewesen war.
Andrea Rapp (Trier)
Ir bîzzen was so zartlich, wîblich, fîn. Zur Deutung des Hundes in Hadlaubs Autorbild im Codex Manesse I. Einleitung / Vorbemerkung Der Codex Manesse, die Große Heidelberger Liederhandschrift C, darf sicher für sich beanspruchen, zu den berühmtesten deutschsprachigen Handschriften des Spätmittelalters zu gehören.1 Diese Handschrift regte nicht nur Gottfried Keller zu seiner berühmten Novelle Hadlaub an,2 ganze Generationen von Kunsthistorikern, Germanisten, Historikern und Kodikologen bemühten und bemühen sich um die Erforschung ihrer Entstehungsgeschichte und ihre Deutung. Im vorliegenden Beitrag soll eine Miniatur dieser Handschrift herausgegriffen werden, die bereits häufig im Mittelpunkt der Forschung stand, nämlich die Illustration Johannes Hadlaubs. Im Kontext des Aufeinanderbezogenseins von Text und Bild sollen einige Bildelemente eine neue Deutung erfahren – namentlich der in _____________ 1
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Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 848; Faksimileausgabe: Codex Manesse – die große Heidelberger Liederhandschrift. Vollständiges Faksimile des Codex Palatinus Germanicus 848 der Universitätsbibliothek Heidelberg, Frankfurt a. M. 1975-1981. Dieses Faksimile ist in sehr guter Qualität digitalisiert und steht dankenswerterweise vollständig frei im Netz zur Verfügung unter http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/ (Stand: 20.11.2008). Im Folgenden werden nicht die einzelnen Digitalisatseiten nachgewiesen, sondern allein die Blattzahlen der Handschrift, die jedoch über das Digitalisat leicht ansprechbar sind. Einen grundlegenden Überblick zum Codex Manesse bietet Gisela Kornrumpf, »Heidelberger Liederhandschrift C«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3/1981, Sp. 584-597. Gottfried Keller, Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe. Hrsg. unter der Leitung von Walter Morgenthaler im Auftrag der Stiftung Historisch-Kritische Gottfried KellerAusgabe, Bd. 6. Basel, Frankfurt a. M., Zürich 1999.
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beiden Bildfeldern im Bildzentrum befindliche Hund.3 Doch zuvor sollen einige Indizien zusammengetragen werden, die im Rahmen der Entstehungsgeschichte der Handschrift bedeutsam sein sowie zur Bewertung des Illustrators und seiner Fähigkeiten beitragen können.
Abb. 1 Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 848, fol. 371r: Hadlaub
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Vgl. Abb. 1; fol. 371r. Zur Beziehung Hadlaubs zur Handschrift siehe insbesondere: Johannes Hadlaub. Die Gedichte des Zürcher Minnesängers, Max Schiendorfer (Hrsg./Übers.), Zürich, München 1986.
Zur Deutung des Hundes in Hadlaubs Autorbild
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Es wurde bereits häufig herausgestellt, dass Hadlaub eine gewisse Sonderstellung in der Handschrift innehat. Die Illustration des Zürcher Minnesängers Johannes Hadlaub nimmt mit ihren zwei Bildfeldern eine exponierte Stellung im Kreis der ansonsten aus einem Bildfeld bestehenden »Autorbild-Typen« der Manessischen Liederhandschrift ein, was für die ältere Forschung auch ein Indiz dafür war, in Hadlaub den wichtigsten Produzenten der Handschrift zu sehen. Von einer Gleichsetzung Hadlaubs mit einem der Hauptschreiber4 oder dem Grundstockmaler geht man heute allgemein nicht mehr aus,5 doch bleiben verschiedene Dinge auffällig und bemerkenswert.6 Hadlaubs Lieder sind von einer Hand geschrieben, die in der Handschrift sonst nicht nachgewiesen werden kann (fol. 371v-380v). Sie beginnen mit einer zwölfzeiligen Fleuronnée-Initiale (fol. 371v), der größten und prächtigsten in der Handschrift, während sonst der Textbeginn mit vier- bzw. fünfzeiligen Lombarden gekennzeichnet ist.7 Seine Texte sind wohl vollständig aufgenommen, denn es wurde – wie sonst häufig – kein
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Die Hauptschreiber werden als Schreiber As und Bs (evtl. Lehrer/Schüler) geführt, der »Hadlaub-Schreiber« als Ms; vgl. z. B. Wilfried Werner, »Die Handschrift«, in: Claudia Brinker / Dione Flühler-Kreis (Hrsg.), edele frouwen – schoene man. Die Manessische Liederhandschrift in Zürich. Ausstellungskatalog, Zürich 1991, S. 53-57; der Schreiber Ms ist auch in den Bildüberschriften nachweisbar. Die Illustration stammt vom Zeichner J2; es handelt sich um die einzige Kooperation der beiden im gesamten Codex, dazu auch Ursel Fischer, Meister Johans Hadloub. Autorbild und Werkkonzeption der Manessischen Liederhandschrift, Stuttgart 1996, S. 46 [Diss. Konstanz 1995]; Hellmut Salowsky, »Initialschmuck und Schreiberhände«, in: Elmar Mittler / Wilfried Werner (Hrsg.), Codex Manesse. Die große Heidelberger Liederhandschrift. Texte – Bilder – Sachen. Katalog zur Ausstellung vom 12. Juni bis 2. Oktober 1988 Universitätsbibliothek Heidelberg, Heidelberg 1988 (Heidelberger Bibliotheksschriften, 30), S. 423-439, bes. S. 430-433. Vgl. jedoch Günther Schweikle, »Hadlaub, Johannes«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3/1981, Sp. 379-383; hier Sp. 379f., mit Berufung auf Renks Frühdatierung; Herta-Elisabeth Renk, Der Manessekreis, seine Dichter und die Manessische Handschrift, Stuttgart u. a. 1974 (Studien zur Poetik und Geschichte der Literatur 33), S. 114. Vgl. dazu im Überblick Kornrumpf, Heidelberger Liederhandschrift C (Anm. 1), Sp. 586f.; Werner, Die Handschrift (Anm. 4), S. 54; Schiendorfer, Johannes Hadlaub. Gedichte (Anm. 3), S. 63f.; Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 45ff. Einzige Ausnahme ist das Werk Kaiser Heinrichs als ranghöchster Sänger am Beginn der Hs. (fol. 6v), vgl. demgegenüber z. B. König Konrad der Junge (fol. 7v).
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Raum für Nachträge gelassen.8 Schließlich stehen sie auf einer eigenen Lage, deren letztes Blatt nicht nur unbeschrieben, sondern gänzlich unliniiert ist (fol. 382, davor nachgetragen: Regenbogen).9 Hadlaub war sicherlich maßgeblich an der Sammlung der Texte und der Konzeption der Handschrift beteiligt, und es ist immerhin vorstellbar, dass er seine eigenen Texte selbst abgeschrieben hat, wenn dies auch letztlich unbeweisbar bleibt.10 Doch bevor ich mich den Liedern und der Illustration Hadlaubs zuwende, möchte ich zunächst einen kurzen Überblick über den Inhalt und die Bedeutung sowie die vermutete Entstehungsgeschichte der Handschrift geben.11 II. Die Manessische Liederhandschrift Die Manessische Liederhandschrift ist die bedeutendste Quelle der höfischen und nachhöfischen deutschen Lyrik, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf dem Minnesang. Sie überliefert auf 426 Pergamentblättern im _____________ 8
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Raum für Nachträge z. B. fol. 7v, 13v etc.; dazu Hellmut Salowsky, »Codex Manesse: Beobachtungen zur zeitlichen Abfolge der Niederschrift des Grundstocks«, in: Zeitschrift für deutsches Altertum, 122/1993, S. 251-270; er zählt 100 Leerstellen, S. 253. Neue Ergebnisse insbesondere zu Lücken und Nachträgen sind zu erwarten bei Martin Schubert, »Sprechende Leere. Lücke, Loch und Freiraum in der Großen Heidelberger Liederhandschrift« in: Editio (im Druck). Vgl. Wilfried Werner, »Schicksale der Handschrift«, in: Mittler/Werner, Codex Manesse (Anm. 4), S. 1-21, hier S. 1 u. 10. Zu den Schreiberhänden ausführlich Salowsky, Initialschmuck (Anm. 4), zu den älteren Ansichten siehe Schweikle, Hadlaub, Johannes (Anm. 5), Sp. 379f.; zur Lage Kornrumpf, Heidelberger Liederhandschrift C (Anm. 1), Sp. 587; Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 45. Vgl. dazu jedoch Max Schiendorfer, »Ein regionalpolitisches Zeugnis bei Johannes Hadlaub (SMS 2). Überlegungen zur historischen Realität des sogenannten ›Manessekreises‹« in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 112/1993, S. 37-65, hier S. 63f. Der Schreiber Ms ist demnach in einer Handschrift des Zürcher Richtebriefs nachweisbar; darüber lässt sich wiederum eine enge Verbindung zwischen diesem Schreiber und Rüdiger Manesse belegen. Dazu Gisela Kornrumpf, »Die Anfänge der Manesseschen Liederhandschrift«, in: Volker Honemann / Nigel F. Palmer (Hrsg.), Deutsche Handschriften 1100-1400. Oxforder Colloquium 1985, Tübingen 1988, S. 279-296; zur Produktionsstätte Dione Flühler-Kreis, »Geistliche und weltliche Schreibstuben«, in: Brinker/Flüler-Kreis (Hrsg.), edele vrouwen – schoene man (Anm. 4), S. 41-50; Salowsky, Codex Manesse: Beobachtungen (Anm. 8).
Zur Deutung des Hundes in Hadlaubs Autorbild
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Folioformat (25 x 35,5 cm) rund 5.400 Strophen und 136 Leichs von 140 Autoren. Viele der Strophen sind nur in dieser Handschrift überliefert, so z. B. auch die Lieder Hadlaubs.12 Darüber hinaus enthält sie 137 ganzseitige Miniaturen eines besonderen Typs, der mit der Ordnung und Struktur der Handschrift in Zusammenhang steht. Die Auftraggeber haben die Texte nach Autoren geordnet und den Gedichten eines jeden Autors ein Autorbild vorangestellt. Die Reihenfolge der Autoren richtet sich nach ihrem Stand, folgerichtig beginnt die Handschrift mit dem dichtenden Stauferkaiser Heinrich VI. (1165-1197), gefolgt von Königen, Herzögen, Grafen und Markgrafen, den ritterbürtigen Herren und schließlich den nichtadligen Meistern, Sängern und Spielleuten. Johannes Hadlaub findet sich unter den »bürgerlichen« Meistern im letzten Teil der Handschrift.13 Dem Werk eines jeden Dichters vorangestellt ist – wie erwähnt – eine ganzseitige Miniatur. Die Bilder sind meist von einem dekorativen, farbigen Rahmen umgeben, über dem Rahmen steht in roter Schrift der Name des Autors, die Zählung in römischen Ziffern bezieht sich auf das Inhaltsverzeichnis der Handschrift. Die Autoren werden ferner durch verschiedene Strategien identifizierbar gemacht: Zum einen durch die Wappen, die 118 der 137 Illustrationen beigegeben sind, zum anderen durch bestimmte Bezüge auf den Namen bzw. das Werk des Autors, d. h. durch mehr oder weniger konkrete Bezüge zwischen Bild und Text. Weniger konkret sind z. B. Illustrationen, in denen eine Schriftrolle die Profession des Dichters symbolisiert,14 oder die Schilderung von Dialogsituationen zwischen Dame und Herrn als Anspielung auf die Minnely_____________ 12 13
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Ein weiteres Fragment der Berner Burgerbibliothek, cod. 260, überliefert anonym Strophe 51, 1; Schweikle, Hadlaub, Johannes (Anm. 5), Sp. 380. Die Ordnung ist nicht immer korrekt eingehalten, vor allem durch die Nachträge kommt sie durcheinander; dazu ausführlich Kornrumpf, Anfänge (Anm. 11), Salowsky, Codex Manesse: Beobachtungen (Anm. 8). Die Schriftrolle taucht häufig als Attribut, auch neben weiteren, auf, so z. B. bei Kaiser Heinrich (fol. 6r), Rudolf von Neuenburg (fol. 20r), Otto von Botenlauben (fol. 27r), dem Markgraf von Hohenburg (fol. 29r); vgl. dazu Michael Curschmann, »Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Manesse«, in: Hagen Keller / Klaus Grubmüller / Nikolaus Staubach (Hrsg.), Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen, München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften 65), S. 211- 229, hier besonders S. 221ff.
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rik.15 Etwas mehr Individualität bietet z. B. die Illustration des Heinrich Hetzbold, dessen »sprechender Name« durch eine Hetzjagd in Szene gesetzt wird (fol. 228r). Zu den eher engen und konkreten Beispielen von Text-Bild-Bezug gehören dagegen die Illustrationen von Steinmar und Walther von der Vogelweide, die hier beispielhaft herausgegriffen seien. Steinmar z. B. ist durch seine Herbst- und Trinklieder literarisch hervorgetreten, also wird in seinem Bild eine solche Trink- und Festszene gezeigt (fol. 308v). Die Tischgesellschaft weist mit ihren Gesten auf die stilisierten Bäume im Hintergrund sowie auf den Dichter, der – seinem eigenen Lied entsprechend – eine Schüssel mit Federvieh und eine Kanne herbeibringt. Die grüne Farbe der Gewänder und das (noch) grüne Laub der Bäume bilden eine farbliche Klammer um das Bild und vereinen die Figurengruppe zum Preis des Herbstes und des Dichters. Komplex und facettenreich ist die Beziehung zwischen Walthers Bild und seinem ersten Reichston,16 deren spannungsvolle Wechselwirkung von Horst Wenzel aufgeschlüsselt wurde.17 Das Bild gibt genau die im Text geschilderte Haltung des Dichters wieder: Ich saz ûf eime steine / und dahte bein mit beine. / dar ûf sazte ich den ellenbogen, / ich hete in mîne hant gesmogen / mîn kinne und ein mîn wange. (L. 8,4)18 Darauf, wie Walther seinerseits auf einen seit der Antike bekannten Bildtypus zurückgreift und so die vielschichtigen Wechselbezüge zwischen Bild und Text zu Stande kommen, kann an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden, dieses Beispiel macht jedoch klar, wie genau und differenziert die Bilddeutung zu erfolgen hat, wie ernst man die Details zu nehmen hat.19 _____________ 15 16 17
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Z. B. Gottfried von Neifen (fol. 32r, mit Schriftrolle); Kürenberger (fol. 63r). fol. 124r und fol. 125r. Horst Wenzel, »Melancholie und Inspiration. Walther von der Vogelweide L. 8,4ff. Zur Entwicklung des europäischen Dichterbildes«, in: Hans-Dieter Mück (Hrsg.), Walther von der Vogelweide. Beiträge zu Leben und Werk, Stuttgart 1989 (Kulturwissenschaftliche Bibliothek 1), S. 133-153. Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, Sangsprüche. 14. völlig neubearb. Aufl. der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner / Christoph Cormeau (Hrsg.), Berlin, New York 1996 (Text nach A). Besonders deutlich wird dies, wenn man die unterschiedliche Akzentuierung der Bildformel in den Illustrationen Walthers (fol. 124r) und Veldekes (fol. 30r) vergleicht.
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Die umfangreiche Handschrift wurde nicht von einem Schreiber, Maler und Redaktor allein hergestellt – wie dies ja Gottfried Keller beschreibt –, vielmehr waren viele Hände an ihrer Produktion beteiligt, mindestens zehn Schreiber und vier Maler, vermutlich mit Werkstattgehilfen arbeiteten mehrere Jahre neben- und nacheinander an dem Codex, der in den Jahren zwischen 1300 und ca. 1310/15 in seinem Grundstock erarbeitet wurde. Verschiedene Nachträge reichen bis in die Zeit um 1330. Ihren Namen erhielt die Handschrift von Johann Jakob Bodmer nach dem Zürcher Geschlecht der Manesse, die nach Bodmers Ansicht in einem Lied Johannes Hadlaubs als Sammler von Liederbüchern und Begründer eines literarischen Zirkels gefeiert werden; zudem ist Rüdiger Manesses Name in der Handschrift selbst als einziger durch eine Rubrizierung hervorgehoben (fol. 372r). Die Rolle der Manesse und Johannes Hadlaubs wurde mittlerweile von der romantischen Verklärung des 19. Jhs. befreit und neu bewertet. Insbesondere Max Schiendorfer arbeitete die politischen Hintergründe des in Hadlaubs Lied versammelten Kreises heraus, der wohl weniger mit einem literarischen Zirkel zu tun hat, als häufig angenommen.20 Letztlich können die erhaltenen Zeugnisse, die Handschrift, die Texte und die Illustrationen am besten Auskunft geben; in diesem Sinne möchte ich mich nun also der Hadlaub-Illustration und seinen Texten erneut zuwenden und auf ihren Zeugniswert hin befragen. III. Die Hadlaub-Illustration und ihr Bezug zum Text Nach übereinstimmender Forschungsmeinung handelt es sich bei dem Autorbild des Johannes Hadlaub – abgesehen von der kurz vorgestellten Illustration Walthers von der Vogelweide – um den engsten oder konkretesten Text-Bild-Bezug innerhalb der gesamten Handschrift.21 _____________ 20 21
Schiendorfer, Regionalpolitisches Zeugnis (Anm. 10), mit überzeugender Kritik an der Konstruktion des »literarischen Zirkels« durch Renk, Manessekreis (Anm. 5). Vgl. Hella Frühmorgen-Voss, »Bildtypen in der Manessischen Liederhandschrift«, in: Norbert H. Ott (Hrsg.), Text und Illustration. Aufsätze zu den Wechselbeziehungen zwischen Literatur und bildender Kunst von Hella Frühmorgen-Voss, München 1975 (Münchener Texte und Untersuchungen 50), S. 57-88; hier S. 80: »Die Assoziation eines Bildtyps oder -motivs an einen einzelnen Vers oder an eine Strophe ist relativ selten und oft nur vermutungsweise zu belegen. Am überzeugendsten ist sie bei Hadlaub durchgeführt […].«
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Die zu besprechenden Textausschnitte sind nach der Edition in den Schweizer Minnesängern22 wiedergegeben, die Textausschnitte werden in einem größeren Kontext gedeutet. Es folgt die Bildbeschreibung und -deutung und schließlich die Zusammenführung der Analyse-Ergebnisse. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf das in beiden Bildfeldern an zentraler Stelle zu findende Schoßhündchen zu richten sein, das in der Forschung bislang keine zufriedenstellende Deutung erfahren hat. IV. Zum Text Hadlaubs Autorbild bezieht sich auf die beiden ersten Hadlaub-Lieder der Manessischen Handschrift, die von der Forschung als »Romanzen« oder auch als »Erzähllieder« charakterisiert werden.23 Sie stellen im Rahmen der zeitgenössischen Lyrik des späten 13. und beginnenden 14. Jhs. einzigartige Zeugnisse dar und gehören zu den Liedern, die – wohl am besten vergleichbar mit dem Werk Ulrichs von Liechtenstein – eine Art Minneroman mit autobiographisch wirkenden Zügen darstellen.24 Die ersten beiden Strophen von Lied 1 lauten folgendermaßen: _____________ 22 23
24
Die Schweizer Minnesänger. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch neu bearb. und hrsg. von Max Schiendorfer. Bd. I Texte, Tübingen 1990, S. 313ff. Interpretation der Lieder 1 und 2 auch bei Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 66ff.; Renk, Manessekreis (Anm. 5), S. 160ff.; Max Schiendorfer, »Das ›konkretisierte‹ Minnelied. Inszenierter Minnesang. Johannes Hadlaub: Ach, mir was lange«, in: Helmut Tervooren (Hrsg.), Gedichte und Interpretationen. Mittelalter, Stuttgart 1993 (Reclams Universalbibliothek 8864), S. 251-267, hier S. 261ff.; vgl. insbesondere auch den Kommentar zu Johannes Hadlaub. Lieder und Leichs, Rena Leppin (Hrsg.), Stuttgart, Leipzig 1995, S. 121-139. Vgl. zu Liechtensteins Frauendienst und der Spannung literarischer Topoi und faktischer Lebenswirklichkeit z. B. Max Wehrli, Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, Stuttgart 31997, S. 433; zum Einfluss Ulrichs von Lichtenstein auf Hadlaub vgl. Ursula Peters, Frauendienst. Untersuchungen zu Ulrich von Lichtenstein und zum Wirklichkeitsgehalt der Minnedichtung, Göppingen 1971 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 46), S. 206ff. Mertens deutet die »Biographisierung« als Kompensation für den »Verlust an konkreter Aufführungssituation«; siehe Volker Mertens, »›Biographisierung‹ in der spätmittelalterlichen Lyrik. Dante – Hadloub – Oswald von Wolkenstein«, in: Ingrid Kasten (Hrsg.), Kultureller Austausch und Literaturgeschichte im Mittelalter. Kolloquium im Deutschen Historischen Institut Paris, Sigmaringen 1998, S. 331-344; hier S. 332. Im zweiten Teil des Liedes wird darüber hinaus der sog. »Manesse-Kreis« namentlich vorgestellt, was ihm in der Forschung besondere Bedeutung verliehen hat, vgl. z. B. Renk, Manessekreis
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I
Ach, mir was lange nach ir so wê gesîn, davon dâchte ich vil ange, daz ir daz wurde schîn. Ich nam ir achte in gewande als ein pilgerîn, so ich heinlîchste machte, do sî gieng von mettîn. Dô hâte ich von sender klage einen brief, daran ein angil was, den hieng ich an sî, das was vor tage, daz sî nit wîzze daz.
II
Mich dûchte, si dæchte: ›ist daz ein tobig man? waz wolde er in die næchte, daz er mich grîffet an?‹ Sî vorchte ir sêre, mîn frowe wolgitân, doch sweig si dur ir êre; vil balde si mir intran. Des was ich gegin ir so gæhe, daz echt si balde kæme hinîn, dur daz den brief nieman an ir gesæhe si brâchte in tougin hin.
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In der ersten Strophe des ersten Liedes wird zunächst der Wunsch thematisiert, der verehrten Dame die Liebe zu offenbaren (I, 1-4). Dies geschieht in der Rolle eines Pilgers (I, 6), der der Dame morgens noch in der Dunkelheit nach der Frühmette (I, 8) heimlich ein Brieflein mit einer Angel, einem Haken, anhängt (I, 10f.). In Strophe II flieht die erschrockene Dame schnell vor dem unerkannten ›Verrückten‹ (II, 2), der sich jedoch bewusst so aufführte (II, 9), damit sie fliehen und niemand den Brief bemerken möge (II, 11). In der nächsten Strophe – die ich nicht mehr vollständig zitieren möchte, da sie nicht im Bild umgesetzt wird – spekuliert der Dichter über das Schicksal des Briefleins (Wie sî mit im do tæte […] ob sî in hinwurfe _____________ (Anm. 5), zustimmend dazu die Rezension von Ingeborg Glier, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, 97/1975, S. 128-132; kritisch dazu jedoch Schiendorfer, Johannes Hadlaub. Gedichte (Anm. 3), S. 187ff. sowie Schiendorfer, Regionalpolitisches Zeugnis (Anm. 10).
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II, 1ff.). Er befürchtet, dass sie seine tiefe rede von der minne (III, 7) nicht mit sinne (III,5) gelesen hatte, denn sie verhielt sich nicht so, als ob ihr seine nôt (III, 10) bekannt wäre; davon war er tief verletzt (du tuost mich sêre wunt III, 12). Die nächste Strophe schildert, dass er nicht wagte, ihr einen Boten zu senden (IV, 1ff.), aus Angst, damit ihren Zorn zu erregen (IV, 10); ein häufiges Motiv im Minnesang. In Strophe V finden wir die »Allegorie vom Bild der Dame im Herzen des Minners«:25 Die Dame hat sein Herz aufgerissen, zerrissen (Mîn herze sêre si mir durbrochen hât V, 2), weil sie darin ein- und ausgeht und sich darin niederlassen kann, eine Wohnstatt nehmen kann (si lât sich drinne ouch nider V, 7), und obwohl sie größer ist als sein Herz und obwohl sie darin eindringt, kann ihm dies zur Rettung oder Heilung verhelfen (des mag ich ginesin V, 11). Obwohl der Minner also durch die Dame schwer verwundet wird, ist im typischen Paradox der Minnelehre gerade diese Verletzung sein Heil. Hadlaub greift damit auch ein Bild Heinrichs von Morungen auf, das er jedoch durch die Betonung der Gewaltsamkeit des Aktes, die Verwundung des Herzens, die die zu große Dame verursacht, variiert. In diesem Zusammenhang ist auch auf den Vergleich Eindringens ins Herz mit dem Wunder der Empfängnis Mariens hinzuweisen, die den Sohn Gottes unverletzt empfängt, der bei Morungen anklingt.26 Die Verbindung vom Eindringen ins Herz, schwerstem Minneleid und heilsgeschichtlicher Dimension lässt sich ebenfalls in Wolframs Parzival aufzeigen, Orgeluse ist es, die Gawans »Herz zum Sitz« nimmt.27 Doch die nächsten Strophen zeigen, dass sein eigentlicher Wunsch, den er von ihr begehrt, nicht in Erfüllung geht (doch gan sî mir nicht der rech_____________ 25
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Renk, Manessekreis (Anm. 5), S. 168; dazu ausführlich Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 75ff. Grundlegend und ausführlich zur Verbreitung und zu Variationen des Bildes Friedrich Ohly, »Cor amantis non angustum. Vom Wohnen im Herzen«, in: ders., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 128-155. Siehe dazu Schiendorfer, Inszenierter Minnesang (Anm. 23), S. 262f.; Ohly, Cor amantis (Anm. 25), S. 131f.; siehe Morungen MF 127,1ff: West ich, ob ez verswîget möhte sîn, / ich lieze iuch sehen mîne schoene vrouwen. / der enzwei braeche mir dasz herze mîn, der möhte sî schône drinne schouwen. /Si kam her dur diu ganzen ougen [ ] /sunder tür gegangen. / ôwê, solde ich von ir süezen minne sîn / als minneclîch enpfangen. Zitiert nach Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben von Karl Lachmann und Moritz Haupt, Friedrich Vogt und Carl von Kraus bearb. von Hugo Moser und Helmut Tervooren, Stuttgart 381988. Ohly, Cor amantis (Anm. 25), S. 146.
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ten wunnen VI, 11). Die letzte Strophe VII beginnt mit einer Klage an die Minne. Der Liebeskummer droht, den Minner zu überwältigen (des wil mir sender smerze von nôt gesigen an VII, 7f.), es sei denn, die Minne zwänge (VII,10) die Dame zu seinem Heil zu ihm (daz sî die reine twinge gegen mir ê, daz si mir ze heile der leiden huote dur triuwe dar engê VII, 11). Lied 2 erzählt gewissermaßen zunächst die »Minnekarriere«: I
Ich diene ir sît daz wir bediu wâren kint. diu jâr mir sint gar swær gesîn, Wan si wag so ringe mînen dienest ie: sin wolte nie geruochen mîn. Daz wart irbarmde herren, dien wartz kunt, daz ich nie mit rede ir was giwesen bî. des brâchten sî mich dar zestunt.
Es beginnt mit dem Motiv der Minne von Kindheit an (I, 1), doch sein Dienst ist schwer, da die Dame ihn noch niemals erhörte (I, 4). Als einige Herren – der sog. »Manesse-Kreis«, wie man ab Strophe VII dann hört – erfahren, dass er noch nie mit ihr geredet hat, arrangieren sie ein Treffen. II
Swie ich was mit hôhen herren komen dar, doch was si gar hert wider mich. Sî kêrt sich von mir, do sî mich sach, zehant: von leide geswant mir, hin viel ich. Die herren huoben mich dar, dâ si saz, unde gâben mir balde ir hant in mîn hant. do ich des bevant, do wart mir baz.
Als die Dame sich von ihm abwendet (II, 3), bricht er ohnmächtig zusammen (II, 4).28 Die Herren heben ihn auf und legen ihrer beider Hände zusammen (II,6), wodurch er sich sogleich besser fühlt (II, 7). III Mich dûchte, daz nieman möchte hân erbetten sî, daz sî mich frî nôt hæte getân, Wan daz sie vorchte, daz si schuldig wurde an mir: ich lag vor ir als ein tôt man Und sach si jæmerlîch an ûz der nôt. des irbarmet ich si, wan ichz hâte von ir, des sî doch mir ir hant do bôt.
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Mit dem Motiv der Ohnmacht wird zugleich auf den tobig man der 2. Strophe rekurriert; Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 80, deutet dies als »Zeichen totalen Identitätsverlusts«.
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IV Dô sach sî mich lieblîch an und rete mit mir. ach, wie zam ir daz sô gar wol! Ich mochte sî so recht geschouwen wolgetân. wa wart ie man so fröiden vol? Die wîle lâgen mîn arme ûf ir schôz: ach, wie suozze mir daz dur mîn herze gie! mîn fröide nie mêr wart so grôz.
Weil er also ihretwegen (III, 7) wie tot daliegt (III, 4f.), erbarmt sie sich, hält seine Hand (III, 7) und spricht mit ihm (IV, 1). Darüber und dass seine Arme auf ihrem Schoß liegen (IV, 5), ist er überglücklich (IV, 4;6f.). V
Do hâte ich ir hant so lieblîch vaste, gotte weiz, davon si beiz mich in mîn hant. Si wânde, daz ez mir wê tæt, do frœte ez mich: so gar suozze ich ir mundes bevant. Ir bîzzen was so zartlich, wîblich, fîn, des mir wê tet, daz so schiere zergangen was. mir wart nie baz, daz muoz wâr sîn!
Er hält ihre Hand so fest, dass sie ihn schließlich in die Hand beißt (V, 2). Dies bereitet ihm jedoch keine Schmerzen, sondern das größte Glück (mir wart nie baz V, 7), alle seine Schmerzen sind vielmehr geheilt (des mir wê tet, daz so schiere zergangen was V, 6).29 Der Rest des Liedes sei nur noch kurz zusammengefasst: Die Herren bitten um ein Minnepfand (Sî bâten si vaste etswaz geben VI, 1), was unwillig gegeben wird (Also warf si mir ir nâdilbein dort her VI, 3); dennoch beglückt dies den Minner aufs neue (in sender nôt wart ich so frô VI, 7). Nun wird der Kreis der Herren und Damen, die zu dieser Begegnung verholfen haben, namentlich vorgestellt und in einen Lobpreis eingebunden (VII-IX). Dann wird die für den Minner bedeutungsvollste Situation nochmals ins Gedächtnis gerufen und ausführlich rekapituliert (X-XI). Als er ihre Hand hielt, da war es ein Wunder, dass von rechten minnen sein Herz nicht brach (XI, 6f.). Als er sie verlassen musste, bereitete ihm das erneuten Schmerz
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Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 82, spricht davon, dass »fröide […] als zeitbezogener Erfüllungsmoment« in die epische Szene integriert wird; dies zeigt die Formulierung im Präsens an: daz muoz wâr sîn.
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(XII, 6f.). Das Lied endet mit einer Preisstrophe auf Heinrich von Klingenberg, den Bischof von Konstanz.30 In beiden Liedern spielt das Thema des minnesiechen, des Liebesschmerzes, des verwundeten Herzens und der Heilung oder Erlösung durch die Dame eine wichtige Rolle. Die Texte setzen sich zusammen aus Versatzstücken literarischer Topoi und Anspielungen, die, auf völlig neue Weise kombiniert, paradoxerweise den Eindruck größter Individualität und des subjektiv Erlebten vermitteln.31 Die explizite Nennung der historischen Personen trägt sicher nicht unerheblich zu diesem Eindruck bei. Auf den Nachweis aller Topoi und literarischer Reminiszenzen im Einzelnen möchte ich im gegebenen Rahmen verzichten und mich mit einigen Hinweisen begnügen,32 doch sei hervorgehoben, dass literarische Reminiszenzen, das Spiel mit literarischen Vorbildern für Hadlaubs Werk konstitutiv ist.33 Die Schilderung im ersten Lied (1, I, 6), die heimliche An_____________ 30
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In der Handschrift folgt darauf Lied 8 (Nummerierung in den Editionen aufgrund von Umstellungen gegenüber der handschriftlichen Reihenfolge) mit dem Preis der Manesse; Schiendorfer, Inszenierter Minnesang (Anm. 23), S. 259f.; zur Deutung siehe Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 91ff. Die handschriftliche Anordnung verbindet die Preisstrophe auf Heinrich von Klingenberg, in der insbesondere sein Kunstverstand gerühmt wird, mit dem Lobpreis der manesseschen Sammeltätigkeit. Als literarisches Vorbild ist neben anderen besonders Ulrich von Liechtenstein hervorzuheben, Renk, Manessekreis (Anm. 5), S. 181; Peters, Frauendienst (Anm. 24), S. 206ff., was auch für die folgenden Ausführungen von Bedeutung ist; siehe auch Volker Mertens, »Erzählerische Kleinstformen. Die genres objectifs im deutschen Minnesang: ›Fragmente eines Diskurses über die Liebe‹«, in: Klaus Grubmüller / L. Peter Johnson / Hans-Hugo Steinhoff (Hrsg.), Kleinere Erzählformen im Mittelalter. Paderborner Colloquium 1987, Paderborn 1988 (Schriften der Universität-Gesamthochschule-Paderborn, Reihe Sprach- und Literaturwissenschaft 10), S. 49-65, hier S. 63: »Das Ineinanderspielen von Literatur und Leben ist, in der Nachfolge Ulrichs von Lichtenstein, das Thema der Erzähllieder«. Zu Hadlaub allgemein vgl. Renk, Manessekreis (Anm. 5), S. 142-200; zu den Liedern 1 und 2 vgl. insbesondere S. 166-170, zu den Topoi und vor allem den literarischen Vorbildern siehe Volker Mertens, »Liebesdichtung und Dichterliebe: Ulrich von Liechtenstein und Johannes Hadloub«, in: Elizabeth Andersen / Jens Haustein / Anne Simon / Peter Strohschneider (Hrsg.), Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, Tübingen 1998, S. 200-210, hier S. 204; Mertens, Biographisierung (Anm. 24), S. 338f.; Schiendorfer, Inszenierter Minnesang (Anm. 23), S. 263ff. Siehe z. B. Schiendorfer, Johannes Hadlaub. Gedichte (Anm. 3), S. 207: »Keiner vor ihm hatte wohl je die gleiche Möglichkeit besessen, die Kunsttradition in ihrer Gesamtheit zu überblicken und sich durch all die großen und kleineren Vorläufer anregen und inspirieren zu lassen […], durch Morungens Bild von der Geliebten im aufgebrochenen Herzen […],
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näherung als Pilger, hat z. B. ihr Vorbild im Tristan Gottfrieds von Straßburg (auch bei Türheim) und wird auch von Ulrich von Liechtenstein aufgegriffen.34 Im Tristan wird erzählt, wie Tristan als Pilger verkleidet unter den Augen Markes und der »Merker / Aufpasser« von diesen unerkannt Isolde an Land trägt, und auf ihr Geheiß hin absichtlich mit ihr zu Boden fällt, damit sie einander berühren können: daz er der künigîn gelac / an ir arme und an ir sîten; (Tr. 15.600ff.) Im Rahmen der beiden Hadlaubgedichte erinnert dies auch an die Szene im zweiten Lied (2, IV, 5), wo die zufälligabsichtsvoll herbeigeführte Berührung der Dame dem Minner das größte Glück bereitet. Es entspricht jedoch auch der mittelalterlichen Lebenswirklichkeit, denn adlige Damen konnten sich in der Öffentlichkeit fremden Männern nur nähern, wenn es sich um Bettler, Kranke oder Pilger handelte; der Gang zur Kirche war zudem eine der ganz wenigen Gelegenheiten, zu der die Damen sich in der Öffentlichkeit bewegten. Weit verbreitet und heute noch allgemein bekannt ist ferner die ebenfalls mit der Tristan-Anspielung verknüpfte Vorstellung von der Minne als gewaltiger und gewalttätiger Macht, als passio, die den Minner zum Minnekranken (wunt, siech) und Minnerasenden (tobig man) werden lässt. Die Dame wird in dieser Vorstellung zum Heiligtum, zum Reliquienschrein, zu dem man pilgert, um Heilung zu erlangen. Die Apostrophierung des Minners als tobig man (1, II, 2) greift dieses Vorstellung in der zweiten Strophe wieder auf und vertieft die Anspielung. Das zweite Lied beginnt mit dem Motiv der Minne seit Kindertagen, was ebenfalls im Sinne des Minnezwangs gedeutet werden kann.35 Besonders prätentiös erscheint der Biss der Dame in die Hand des Minners: Dieses Motiv wird als eigene Erfindung Hadlaubs gewertet und _____________
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durch das Briefmotiv bei Ulrich von Lichtenstein und vieles andere mehr«. In Hadlaub sei der Ehrgeiz geweckt worden, »es den verehrten Vorbildern in möglichst jeder Hinsicht gleichzutun«; siehe auch Schiendorfer, Inszenierter Minnesang (Anm. 23), S. 263; Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 25, bezieht auch das Publikum dieser Dichtung ein, denn »die Verständigung von Sänger und Publikum läuft über literarische Kennerschaft«. Gottfried von Straßburg, Tristan, Karl Marold, (Hrsg.). Unv. 4. Abdruck nach dem 3. mit einem auf Grund von F. Rankes Kollationen verb. Apparat besorgt von Werner Schröder, Berlin, New York 1977; Episode V. 15.564ff.; zur Szene auch Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 67, 69, 75. Die Ohnmacht des Minners weist nach Renk, Manessekreis (Anm. 5), als weltliches Anzeichen auf den Minnetod (S. 169). Vgl. zu beidem auch Ulrich von Liechtenstein.
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von Herta-Elisabeth Renk, die die Topoi der Hadlaub-Lieder analysiert hat, als Element masochistischer Erotik beurteilt, und sie fügt etwas unbehaglich hinzu, dass Hadlaubs Zeitgenossen dieses Motiv wohl »mehr vor seinem philosophischen Hintergrund« zu sehen vermochten als der heutige Leser.36 Ob dies so ist, sei dahingestellt, doch findet sich bei einem der Vorbilder Hadlaubs, nämlich in Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst, der ebenfalls topische Schilderung mit autobiographischen Zügen verknüpft, ein weit stärkerer Hang zu »masochistischer Erotik«: So schneidet sich Ulrich einen Finger ab und übersendet ihn der Dame als Minnepfand.37 Es scheint daher naheliegender, den Biss bei Hadlaub als literarische Reminiszenz an sein berühmtes Vorbild Ulrich von Liechtenstein zu bewerten, das seinem literaturkundigen Publikum wohlvertraut war, so dass die Anspielung auch in diesem Sinne verstanden werden konnte. Die Abweichung oder literarische Übertragung scheint in der Tat allerdings Hadlaubs Erfindung zu sein. Zusammenfassend können die wichtigsten Stichwörter der Vorstellungskreise hervorgehoben werden, die mit der Minne als unüberwindbarer Macht, der Minne als Krankheit sowie der Dame als Heilerin verbunden sind.38 Im folgenden Abschnitt soll nun die Illustration genau beschrieben und analysiert werden. Ein besonderes Augenmerk ist dabei auf Abweichungen vom Text zu richten, ausdrücklich soll auf das vom Illustrator gegenüber dem Text neu hinzugefügte Schoßhündchen eingegangen werden. _____________ 36
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Renk, Manessekreis (Anm. 5), S. 169 deutet konsequenterweise die Abweichung in der Hadlaub-Illustration, in der statt der Dame das Schoßhündchen zubeißt, als Indiz dafür, dass auch für Hadlaubs Zeitgenossen »eine geschmackliche Grenze erreicht war«, um hier etwas aus dem Abschnitt III zur Bildinterpretation vorwegzunehmen. Doch etwas später gibt sie selbst den entscheidenden Hinweis zur Deutung dieses Motivs, wenn sie den Gedanken auch nicht zu Ende führt. In diesem Zusammenhang spricht Renk von Hadlaubs ›dezenteren Demonstrationen‹ des »fast masochistisch-quälerischen Zug[s]« des Minnebegriffs, Renk, Manessekreis (Anm. 5), S. 177; zur Deutung dieser Inszenierung von Körperlichkeit siehe jedoch Christian Kiening, »Der Autor als ›Leibeigener‹ der Dame – oder des Textes? Das Erzählsubjekt und sein Körper im ›Frauendienst‹ Ulrichs von Liechtenstein«, in: Andersen/Haustein/Simon/ Strohschneider (Hrsg.), Autor und Autorschaft (Anm. 32), S. 211-238; hier S. 219ff., weiter S. 226. Dazu ausführlich Renk, Manessekreis (Anm. 5).
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V. Zur Illustration39 In der zweigeteilten Illustration40 werden im unteren Bildfeld das erste Lied, im oberen das zweite Lied bzw. Teile der Lieder illustriert, die Beschreibung folgt der Anordnung der Lieder und beginnt mit dem unteren Bildfeld. Links sehen wir unter einem Wappen41 den Dichter oder den Minner, der sich in gebückter Haltung verstohlen und demütig der Dame nähert. Er ist als Pilger verkleidet und trägt ein graues Pilgergewand, unter dem sein eigentliches Gewand rot herausleuchtet, sowie den Pilgerhut mit drei Jakobsmuscheln, hat einen Brotsack umgehängt und hält in der linken Hand den Pilgerstab. Mit der rechten Hand hängt er der Dame das Brieflein an den Mantel. Die Gestalt der Dame nimmt annähernd die rechte Bildhälfte ein. Sie ist prächtig in ein tief dunkelblaues42 goldgesäumtes Gewand, einen hermelinbesetzten Mantel und einen Umhang gekleidet. Sie hat den Pilger erblickt und wendet sich von ihm ab und eilt auf den Kirchturm bzw. die offene Tür am rechten Bildrand zu. Der in ihren rechten Arm geschmiegte Schoßhund nimmt mit der Wendung des Kopfes die Bewegung des Fliehens mit zurückgewandtem Kopf auf; unterstützt diese Aussage also formal und inhaltlich. Ihr Körper bildet in der fliehenden Bewegung einen nach rechts geschwungenen Halbbogen, formal in typisch »gotischer« Manier. Dieser Bogen ist jedoch nicht rein dekorativ, _____________ 39 40
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Detaillierte Bildbeschreibung auch bei Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 49ff. Durch diese Zweiteilung ist die Hadlaubillustration besonders exponiert. Zwar ist sie formal nicht die einzige mit zwei Bildfeldern (z. B. Wehrli, Geschichte, S. 436 und Schweikle, Hadlaub, Johannes (Anm. 5), Sp. 380), doch gibt es nur eine weitere solche Illustration, nämlich die Klingsors von Ungarlant (fol. 219v) mit der Darstellung des Wartburgkrieges; allerdings ist hier im oberen Bildfeld nicht der Dichter, sondern das Thüringer Landgrafenpaar dargestellt. Zum Wappen Hadlaubs siehe Ingo F. Walther unter Mitarbeit von Gisela Siebert (Hrsg.), Codex Manesse. Die Miniaturen der Großen Heidelberger Liederhandschrift, Frankfurt a. M. 1988, S. 251; zu den Wappen allgemein Dietrich Schwarz, »Des wappen ich vysieren wil: Wappen und ihre Bedeutung«, in: Brinker/Flühler-Kreis (Hrsg.), edele vrouwen – schoene man (Anm. 4), S. 173-181. Blau gilt u. a. als himmelsgleiche Farbe und wird gerne Maria zugeordnet; vgl. Hannelore Sachs / Ernst Badstübner / Helga Neumann, Erklärendes Wörterbuch zur christlichen Kunst, Hanau 1983, s. v. ›Farbensymbolik‹, S. 131.
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sondern nimmt den Schwung der gebückten Pilgerfigur auf, wodurch eine Art Kreisbewegung entsteht, in deren Zentrum sich der Brief befindet. Die Blicke der beiden Personen treffen sich zu einem tiefen Blickwechsel, sie liegen genau auf einer Diagonalen, auf der der Minner die Dame von unten anblickt. Eine dazu parallele Diagonale bilden die Hände der Personen, ausgehend von den Knien des Minners, über seine rechte Hand mit dem Brief, weiter über die rechte Hand der Dame, die den Mantel hält, das Schoßhündchen, das in der rechten Armbeuge ruht, und die erhobene linke Hand, die auf den Glockenturm am rechten Bildrand verweist, der die beiden Bildfelder überschneidet und dadurch verbindet. Der Schwung der Glocke leitet den Blick über die auffälligen gelben Streifen des Gewandes ins Zentrum des zweiten, oberen Bildes. Der Kirchturm am rechten Bildrand verbindet optisch die beiden Szenen, sowohl durch seine Überschneidung der Felder als auch durch die oben beschriebene Blickführung. Er korrespondiert ferner inhaltlich mit dem ersten Lied, wo beschrieben wird, dass der Minner sein Brieflein der Dame nach der Frühmette anheftet. Die Dame scheint jedoch im Bild in die Kirche zurückzufliehen, um das Brieflein zu verbergen. Glocke und Glöckner sind zudem so auffällig ins Bild gesetzt, dass auch diese Abweichung erklärungsbedürftig scheint. So hat auch Schiendorfer die Unstimmigkeit bemerkt, jedoch nicht gedeutet,43 während Mertens die Abweichung auf ikonographische Vorbilder und Traditionen zurückführt, von denen der Maler sich nicht zu lösen vermochte.44 Ein anderer Deutungsvorschlag wäre, in Kirchturm, Glöckner und Glocke den Hinweis auf eine der wichtigsten Persönlichkeiten des sog. »Manesse-Kreises« zu sehen. Dies ist nicht Rüdiger Manesse, sondern der Bischof von Konstanz, Heinrich von Klingenberg, mit dessen Lobpreis Lied 2 endet. Der Kirchturm wäre zum einen als Hinweis auf den geistlichen Machtbereich zu deuten, zum anderen wären Glöckner und Glocke Hinweis auf Den von Klingenberg im Sinne der Darstellung eines redenden Namens,45 die in der Handschrift sehr häufig sind.46 Wie der _____________ 43 44 45
Schiendorfer, Johannes Hadlaub. Gedichte (Anm. 3), S. 230. Mertens, Biographisierung (Anm. 24), S. 338. Schiendorfer, Johannes Hadlaub. Gedichte (Anm. 3), S. 189, spricht von Illustrationen mit »Motiven, die teils den Liedern des betreffenden Dichters entnommen, teils aus dem Klang
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Kirchturm für den Kirchenfürst steht, so könnten die Zinnen, die das obere Bild abgrenzen, als Burg und weltliche Sphäre bzw. als Haus des Manesse gedeutet werden.47 Das untere Bild hat deutlich mit dem Brief sein Zentrum, um das die Bewegungslinien der Figuren kreisen, der Blick des Betrachters/der Betrachterin wird dann über die Hände der Personen zum Glockenturm und damit zur oberen Miniatur geleitet.48 Die Leserichtung der beiden Bilder ist somit deutlich gemacht, wenn auch für moderne Sehgewohnheiten vielleicht ungewöhnlich, wir lesen eher von oben nach unten.49 Im oberen, durch einen grünen Zinnenstreifen formal vom unteren getrennten Feld wird die erste Begegnung des Minners mit der Dame dargestellt. Er ist, nunmehr in der rechten Bildhälfte, ohnmächtig zu Boden gesunken und wird von zwei Freunden aus dem Kreis der hôhen herren, dem sog. »Manesse-Kreis«, gestützt. Die Dame in der linken Bildhälfte sitzt auf einer Bank und ist wie im unteren Feld in ein dunkelblaues, goldgefasstes Gewand (ohne Mantel) gekleidet und trägt auch dasselbe Gebende, während der Minner nun in einem modisch gestreiften Gewand er_____________ 46
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seines (sprechenden) Namens assoziativ entwickelt oder sonst in irgendeiner Weise ›passend‹ gewählt wurden.« Im Einzelnen sind dies: Otto von Botenlauben (fol. 27r); Kristan von Hamle (fol. 71v); Der Burggraf von Rietenburg (fol. 119v); von Scharpfenberg (fol. 204r); Konrad, der Schenk von Landeck (fol. 205r); Heinrich Hetzbold von Weißensee (fol. 228r); Hug von Werbenwag (fol. 252r); Hartmann von Starkenberg (fol. 256v); von Wengen (fol. 300r); Reinmar der Fiedler (fol. 312r); Günther von dem Vorste (fol. 314v); der Burggraf von Regensburg (fol. 318r); Rudolf der Schreiber (fol. 362r); der wilde Alexander (fol. 412r); Meister Rumslant (fol. 413v); Spervogel (fol. 415v). Dazu Schiendorfer, Regionalpolitisches Zeugnis (Anm. 10), S. 62: Rüdiger Manesse lädt den »Klingenberg-Kreis« an seinen ›Hof‹ ein. Schiendorfer hat die Bedeutung der Tagespolitik in den Liedern Hadlaubs überzeugend herausgearbeitet; es wäre nicht ungewöhnlich, sondern zu erwarten, dass sie auch ihren Reflex im Bild hat. Wie genau solche Bildlinien und Kompositionselemente in der Manesse-Handschrift eingesetzt und mit Bedeutung belegt werden, zeigt Wenzel, Melancholie (Anm. 17), S. 148f. Vgl. z. B. die Beschreibung bei Karl Clausberg, Die Manessische Liederhandschrift, Köln 1978 (DuMont-Kunst-Taschenbücher 62), S. 109, der die Illustration von oben nach unten als »erzählende Szenenfolge« liest, wogegen meiner Ansicht nach die Anordnung der Texte sowie auch die gerade beschriebenen bildimmanenten Gründe sprechen. Inhaltlich ist möglicherweise doch auch an eine Steigerung zu denken, in dem Sinne, dass die offene Begegnung mit der Dame den Minner – im Gegensatz zur heimlichen, unerkannten der ersten Episode – »emporhebt«; vgl. dazu auch Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 53f.
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scheint.50 Auch hinter ihr stehen zwei Personen aus dem »Manesse-Kreis«. Einer der beiden hält die Dame um die Taille gefasst, wohl um sie am Weggehen zu hindern, der zweite hinter ihm legt ihm die rechte Hand auf die Schulter und stützt den Kopf in die linke, um Mitleid und Betroffenheit bzw. das »Minneleid« auszudrücken. Die beiden Herren hinter dem Minner führen eine Redegeste bzw. eine Schwurgeste aus.51 Die Dame hat ihre rechte Hand abwehrend nach oben gebogen.52 Im Zentrum des Bildes treffen sich die linke Hand der Dame und seine rechte; deutlich ist zu sehen, dass er ihre locker und offen gereichte Hand umklammert hält. In Abweichung zum Text scheint das Schoßhündchen der Dame den Minner in die Hand zu beißen, so jedenfalls wird die Szene in der Literatur bislang mit wenigen Ausnahmen beschrieben. Auch in diesem Falle ist das Bild durch Bildparallelen, -diagonalen und dynamische Schwünge rhythmisiert. Wieder sind es die Arme und Hände der Personen, die in Bilddiagonalen angeordnet sind, ebenso die Köpfe der Dame und der zwei Herren, während die Köpfe um den Minner eher in einer Dreiecksform übereinander gestaffelt sind. Die Körper der Dame und des Minners sind nach außen geschwungen, was den Dissens der beiden ausdrückt. Beide blicken sich diesmal nicht an, ihre Blicke scheinen eher auf den Betrachter gerichtet. Es dürfte bei der Beschreibung deutlich geworden sein, dass die Orientierung des Bildes am Text sehr eng ist. Besonders auffällig, und in der Sekundärliteratur immer hervorgehoben, ist daher sicherlich die insgesamt gesehen gravierende Abweichung vom Text, dass nämlich der Schoßhund den Minner zu beißen scheint und nicht die Dame. Eine solche Abweichung an für Text und Bild zentraler Stelle ist in jedem Falle interpretationsbedürftig. Einige der bisherigen Erklärungsversuche zeugen von einer befremdeten Reaktion, die der moderne Leser beim Biss der Dame _____________ 50 51 52
Als einzige Figur des Grundstocks trägt er ein modisches mi-parti-Gewand; siehe Schiendorfer, Johannes Hadlaub. Gedichte (Anm. 3), S. 197. Dazu Walter Koschorreck, Minnesinger in Bildern der Manessischen Liederhandschrift, Frankfurt a. M. 1974 (Insel Taschenbuch 88), S. 115. Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 50, deutet die Geste der Dame als ›huldvolles Einverständnis‹; dies scheint jedoch allein aus dem Textverständnis heraus bereits schwer nachvollziehbar, zudem ist die Geste ganz parallel zum unteren Bild gestaltet. Curschmann: »ein visueller ›sub-text‹, der den Haupttext durch Anschauung dramatisiert, feiert und gesellschaftlich integriert.«
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und dem damit verbundenen Glücksgefühl des Dichters zeigt. So scheint es irgendwie »normaler«, »zivilisierter«, wenn diese Handlung auf den Hund übertragen wird. Dies lässt sich auch gut in den meisten bisherigen Deutungen verfolgen, die von neutraler Beschreibung bis zur (ab)wertenden Deutung des scheinbar beißenden Hündchens reichen.53 Eine der wenigen, die eine wertneutrale Deutung dieses Bildelements versucht, ist Ursel Fischer, die am Beißen des Hündchens zweifelt; sie spricht vom »Fixieren« des Minners, der Hund steht bei ihr als Bestätigung der Minnebeziehung; dahinter steckt der Hund als Symbol der »Treue«.54 Stutzig macht zunächst die Beobachtung, dass der Hund in beiden Bildfeldern auftaucht, beide Male an recht zentraler Stelle annähernd im Bildmittelpunkt. Zudem hat eine röntgenologische Untersuchung der Illustration ergeben, dass in beiden Bildfeldern der Hund nachträglich, aber wohl noch vom Hauptmaler, eingefügt wurde.55 Dies unterstreicht seine besondere Bedeutung und es bleibt daher nach einer inhaltlich und ikonographisch befriedigenderen Erklärung zu suchen. Der Hund bildet einer_____________ 53 Neutral Frühmorgen-Voss, Bildtypen (Anm. 21), S. 80: »der Illustrator interpretiert leicht um und läßt nicht die Dame selbst, sondern ihr Schoßhündchen beißen«; ähnlich Koschorreck, Minnesinger (Anm. 51), S. 116; ohne Wertung Walther, Codex Manesse (Anm. 41), S. 251: »Der Biß wird hier originellerweise von ihrem Schoßhündchen ausgeführt.«; wertend und wohl am Sinn vorbei Wehrli, Geschichte (Anm. 24), S. 437: »[…] der Maler der Handschrift läßt zarter nur das Hündlein der Dame beißen«; um Erklärung bemüht, aber wohl ebenfalls am Sinn vorbei Renk, Manessekreis (Anm. 5), S. 169: »Daß hier aber offenbar doch eine geschmackliche Grenze erreicht war, verrät das Bild der Handschrift C, welches das Hündchen, nicht die Dame für den Biß verantwortlich macht.«; ähnlich Wolfgang Adam, Die »wandelunge«. Studien zum Jahreszeitentopos in der mittelhochdeutschen Literatur, Heidelberg 1979, S. 27, mit Berufung auf Schleicher; stark wertend und ebenfalls am Sinn vorbei Werner, Schicksale der Handschrift (Anm. 9), S. 10: »[…] im Gedicht ist es die Dame, die ihn auf das Unschickliche seines Verhaltens hinweist, indem sie ihn durch einen Biß in die Hand zur Besinnung bringt […]; dies konnte und wollte der Maler nicht darstellen, er weist dem Hündchen die Funktion des Schicklichkeitswächters zu«; ebenfalls wertend Schiendorfer, Johannes Hadlaub. Gedichte (Anm. 3), S. 197: »Der Miniator wagte es wohl nicht, eine solch unzarte Reaktion im Bilde zu verewigen. Und offenbar erst nach vollendeter Arbeit kam er dann auf die geniale Lösung, erneut das Hündchen stellvertretend handeln und den ominösen Biß ausführen zu lassen. (Denn daß dieser Biß gemeint sei, und nicht bloß ein abermaliges Verbellen, scheint mir doch sicher.)« Der Minner nennt den Biss der Dame jedoch zartlich!. 54 Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 52. 55 Dazu Schiendorfer, Johannes Hadlaub. Gedichte (Anm. 3), S. 197; Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 51f.
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seits eine motivische Verknüpfung der beiden Felder und Episoden, andererseits scheint er auch inhaltlich die Rolle aufzugreifen bzw. zu übernehmen, die in den Texten die Dame hat. Schoßhündchen tauchen auch sonst in der Manessischen Handschrift auf, die entsprechenden Beispiele sind die folgenden: – Dietmar von A(i)st: Hier wendet das Hündchen auf dem Arm der Dame dem Dichter den Rücken zu, der sich als fahrender Händler verkleidet hat, um sich seiner Dame zu nähern und ihr möglicherweise ein Geschenk zu machen (fol. 64r). – Heinrich von Morungen wird minnesiech auf dem Krankenlager dargestellt; seine Dame blickt ihn nicht an, sondern wendet sich von ihm ab, während ihr Hündchen sich an sie schmiegt und den Blick auf die Dame fixiert (fol. 76v). – Reinmar der Alte ist vertieft ins Gespräch mit der Dame, deren Gestus ein aufmerksames Zuhören bezeugt. Das Hündchen auf ihrem Arm wendet den Kopf zum Dichter und blickt ihn an (fol. 98r). – Auf Berngers von Horheim Illustration ist ein Vertrags- oder Treuegelöbnis dargestellt, das Hündchen schmiegt sich ganz in die Armbeuge der Dame; hier könnte der Hund also die Treue der Minnenden symbolisieren (fol. 178r). – Die Illustration des Goesli von Ehenheim wurde von einem der Nachtragsmaler gestaltet; auch das Hündchen auf der Zinne hat formal keine Ähnlichkeit mit den Schoßhündchen des Grundstockmalers (fol. 197v). – Herr Niune und seine Dame unternehmen eine Bootsfahrt und sind in eine angeregte Unterhaltung vertieft, der Hund verstärkt die Ausrichtung auf die zentralen Redegesten (fol. 319r). – Der von Obernburg überreicht seiner hohen Dame einen Brief oder ein Schriftstück. Das Hündchen nimmt die Blickrichtung der Dame auf und verstärkt die Blickdiagonale zwischen Dichter und Dame (fol. 342v). Alle diese Hündchen sind weiß, während der Hund von Hadlaubs Dame schwarz-weiß gefleckt ist, was ihn zumindest nochmals deutlich heraushebt. Zusammenfassend lässt sich anhand dieser Darstellungen von Damen und ihren Hündchen festhalten, dass die Hündchen die generelle
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Bildaussage aufnehmen und verdeutlichen oder verstärken. Sie sind mehr als rein dekorativ oder illustrativ.56 Die gängige ikonographische Bedeutung des Hundes ist wohlbekannt und fügt sich auch gut in die allgemeine Minnethematik ein: Er ist Begleiter des Menschen und steht für Treue und Wachsamkeit.57 Daher ist die Treue des Hundes wohl vergleichbar mit der stæte und triuwe eines Minners. Konkreter auf das Hadlaub-Beispiel bezogen könnte die Wachsamkeit des Hundes eine Rolle im unteren Feld spielen, wo er die Dame vor dem tobig man gewarnt haben könnte; andererseits greift er auch wieder den Blick der Dame auf.58 Die oben geschilderte Episode ist in diesem Rahmen jedoch weniger gut zu deuten. Eine weitere, heute nicht mehr allgemein bekannte Eigenschaft des Hundes kann jedoch Aufschluss geben, nämlich die im Mittelalter und noch lange danach volksmedizinisch verbreitete Anschauung, dass der Hund, und besonders die Zunge des Hundes, eine Heilwirkung hat. Diese Vorstellung ist im Mittelalter Allgemeingut, wie bereits die Überblicke in einschlägigen Handbuchartikeln belegen.59 Einige ausgewählte Belege aus weit verbreiteten und gut bekannten Texten mögen dies veranschaulichen. Hildegard von Bingen beschreibt ganz allgemein die Heilwirkung der Hundezunge: Et calor qui in lingua est, vulneribus et ulceribus sanitatem confert, si _____________ 56 57 58 59
Anders Leppin, Johannes Hadlaub (Anm. 23), S. 133, die zwar auch am Biss des Hündchens zweifelt, es jedoch »lediglich [als] ein Attribut der höfischen Dame« sieht. Vgl. Peter Gerlach, Art. »Hund«, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2/1994, Sp. 334f. Vgl. auch die Schilderung der Szene bei Gottfried Keller. Bei Christian Hünemörder, Art. »Hund«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 5/1991, Sp. 213f.; hier 214, findet sich der knappe Hinweis: »Volksmedizinisch wird häufig die heilende Kraft der Zunge erwähnt.« Der Artikel im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens belegt ausführlich die Bedeutung des Hundes in der Volksmedizin; in unserem Zusammenhang ist bedeutsam: »Auch Hoden, Hirn, Herz, Milz, Zunge und Geifer werden in der Volksmedizin verwandt, so daß Brehm den H[und] mit Recht eine wandelnde Hausapotheke nannte.« Hermann Güntert, Art. »Hund«, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 4/1931-32, Sp. 470-490, hier Sp. 481. Die Verwurzelung der Vorstellung von der Heilwirkung der Hunde-Zunge zeigt besonders schön die Bezeichnung einer geschätzten Heilpflanze mit ›Hundszunge‹ (Cynoglossum officinale), vgl. Heinrich Marzell, Art. »Hundszunge«, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. 4/1931-32, Sp. 501f., bes. Folgendes: »Höfler vermutet, daß die H[undszunge] als Pflanzenname eine Hermeneutik ist für die wirkliche Zunge des Hundes, die volksmedizinisch verwendet wurde.« (Sp. 501). Vgl. auch Lc 16, 20ff.
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ea calore linguæ suæ tetigerit.60 Auch Konrad von Megenberg bezeichnet sie in seinem Buch der Natur als »Ärztin«: des hundes zung hailt sein aigen wunden und auch ander wunden mit lecken, dar umb ist si ain ärzetinne.61 Eine Übertragung der Heilwirkung der Hundezunge auf die spirituelle Heilwirkung, die im Sakrament der Beichte und in der Predigt des Priesters liegt, findet sich sowohl bei Pseudo-Hugo von St. Viktor (Lingua canis dum lingit vulnus, sanat quia peccatorum in confessione emundantur vulnera sacerdoti facta confessione)62 als auch im Renner Hugos von Trimberg:63 Der priester gelîchet man den hunden, Wenne hundes zungen heilent wunden: Alsô sol des priesters heilsam zunge Rîche und arme, alte und junge Mit trôste heilen und salben linde […]. (Der Renner, 2864-2868)
Auch in Arzneibüchern finden sich zahlreiche Belege für die Heilwirkung des Hundes. Folgendes ist in unserem Deutungszusammenhang hervorzuheben: Erstens: Der Hund ist als Tier mit Heilwirkung bekannt, hier ist besonders die Zunge zu erwähnen und zweitens: Dies wird allegorisch übertragen auf den Priester, der mit seiner Predigt das spirituelle Heil bringt.64 Diesen Zusammenhang zwischen dem Bild des leckenden Hundes und den heilenden Worten des Priesters hat Meinolf Schuhmacher in seiner Arbeit über die ›Ärzte mit der Zunge‹ deutlich herausgearbeitet,65 die Fülle _____________ 60
61 62 63
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Hildegard von Bingen, »Physica VII De Animalibus«, Cap. XX »De Cane«, in: Patrologiae cursus completus. Series Latina (= PL), Jaques-Paul Migne (Hrsg.), 221 Bde. Paris u. a. 18791890, hier: Bd. 197, Sp. 1328B. Konrad von Megenberg, Das ›Buch der Natur‹. Bd. II: Kritischer Text nach den Handschriften, Robert Luff, Georg Steer (Hrsg.), Tübingen 2003, S. 151, Z. 3f. »De Bestiis et aliis Liber secundus«, Cap. XVII. »De canibus et eorum naturis«, in: PL (Anm. 60), Bd. 177, Sp. 65D-66A. Der Renner von Hugo von Trimberg, Gustav Ehrismann (Hrsg.), 4 Bde., Tübingen 1908-1911 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart Bde. 247, 248, 252, 256), Neuausgabe von Günther Schweikle, Berlin 1970 (Deutsche Neudrucke, Reihe: Texte des Mittelalters). Vgl. dazu auch Gerlach, Hund (Anm. 57), Sp. 335. Meinolf Schumacher, Ärzte mit der Zunge. Leckende Hunde in der europäischen Literatur. Von der patristischen Exegese des Lazarus-Gleichnisses (Lk. 16) bis zum Romanzero Heinrich Heines, Bielefeld 2003.
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der Zeugnisse, die er anführt, belegt die allgemeine Verbreitung und Bekanntheit des Bildes. VI. Deutung von Text und Bild Genau dieser Vorstellungskreis gibt meiner Ansicht nach den Schlüssel an die Hand, um die Rolle des Hündchens in der Hadlaubillustration zu deuten: In Strophe V des zweiten Liedes beschreibt der Dichter, wie der Biss der Dame bewirkt, dass er von all seinem Schmerz geheilt ist und er sich nie besser fühlte: ir bîzzen was so zartlich, wîblich, fîn, / des mir wê tet, daz so schiere zergangen was. / mir wart nie baz […] (2, V, 5-7). In der Heilwirkung des Bisses bzw. der Hundezunge liegt die Analogie von Text und Bild, die hier nun in ihrer Aussage in der Tat keineswegs voneinander abweichen, sondern sich vielmehr wesentlich genauer entsprechen, als es möglich gewesen wäre, wenn der Maler den Biss der Dame geschildert hätte, was er sicher gekonnt hätte, wenn er gewollt hätte. Gerade dadurch, dass in einer neuen Bildformulierung vom konkreten Text abgewichen wird, wird der gedankliche Gehalt der Biss-Metapher und damit eine zentrale Aussage des Liedes ins Bild gesetzt: Im Bild des (leckenden, nicht beißenden!) Hundes wird die heilende Wirkung des Bisses der Dame – Schmerz und Heil der Minne – dargestellt. Analysiert man unter diesem Gesichtspunkt nochmals die Darstellung des Hundes, so muss festgehalten werden, dass von einem Biss des Hundes eigentlich nichts zu sehen ist:66 Zum Vergleich lassen sich Illustrationen aus dem Codex Manesse heranziehen, die eindeutig zubeißende Hunde zeigen, zumeist bei Jagdszenen. – von Suonegge: mehrere Jagdhunde fallen einen Hirsch an, deutlich sind ihre Zähne in den spitzen Schnauzen zu sehen. Ganz offensichtlich handelt es sich um eine andere Rasse als bei den Damen-Schoßhündchen (fol. 202v). – Heinrich Hetzbold: Ein Keiler wird von Hunden gestellt, sie haben sich in ihn verbissen; er wird von den Jägern getötet (fol. 228r). _____________ 66
Fischer, Autorbild (Anm. 4), S. 52, Anm. 16, zweifelt ebenfalls am »Beißen«; anders Schiendorfer, Johannes Hadlaub. Gedichte (Anm. 3), S. 197; s. o. Anm. 54.
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– Geltar: Hier beißt der Hund einen Fuchs, wieder sind deutlich seine Zähne zu sehen (fol. 320v).67 Deutlich sind also die Zähne der Hunde und ihr Zubeißen gezeigt, wenn dies gemeint ist. Der Maler hätte also durchaus einen beißenden Hund zeichnen können, wenn er gewollt hätte. Beim Hadlaub-Bild wird also vielmehr das heilende Lecken des Hundes gezeigt, so dass eine komplexe Übertragung des Liedinhalts auf die Bildikonographie stattfindet. Dieses Bild konnte nur jemand entwerfen oder konzipieren, der den Inhalt der Lieder ganz genau kannte, und dafür kommt am ehesten der Hauptauftraggeber oder sogar Hadlaub selbst in Frage.68 VII. Zusammenfassung Die Illustration Hadlaubs lässt sich »lesen«, wenn man seine Texte und die Minnevorstellungen des Manesse-Kreises gut kennt, und darüber hinaus die Bildchiffren in ihrem gelehrten und zeitgenössischen Kontext sowie die Bildkomposition entschlüsselt. Die hier skizzierte Deutung des Hadlaub-Bildes zeigt ferner, dass der Maler respektive der Planer oder Auftraggeber den Text sehr genau gekannt haben muss; in diesem Falle vielleicht ein weiterer Hinweis auf die Beteiligung Hadlaubs selbst, zumindest an dieser Illustration.69 Schiendorfers Aussage von einem »besonders en_____________ 67
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Weitere Hunde: König Konrad wird von zwei Jagdhunden auf der Beizjagd begleitet (fol. 7r); Wachsmut von Künzingen wird von zwei die Symmetrie des heraldischen Bildaufbaus betonenden Bracken begleitet (fol. 160v); auch Kunz von Rosenheim wird von zwei stöbernden Bracken begleitet (fol. 394r). In diesem Zusammenhang soll noch einmal erwähnt werden, dass die Hunde in beiden Bildfeldern nachträglich hinzugefügt wurden; dies zeigt, wie wichtig das Detail und der Deutungsaspekt des »Geheiltwerdens« dem Planer/Maler des Bildes waren. Frühmorgen-Voss, Bildtypen (Anm. 21), charakterisiert die ›Leistungen‹ der Produzenten und Rezipienten des ›Gesamtkunstwerks‹ Manessehandschrift und beschreibt damit auch ihren kulturhistorischen Wert. Aus der Perspektive der Produzenten: »Die Breite der Tradition ikonographischer Muster, die sie [die Manessekünstler, A.R.] überblickten und heranzuziehen wussten, spricht für große Kenntnisse, gediegene Ausbildung und gedankliche Assoziationsfähigkeit.« (S. 86) Aus der Perspektive des (zeitgenössischen wie heutigen) Betrachters: »Zum Teil sind dem Betrachter wahre Bilderrätsel aufgegeben, denen er bei vielen versteckten Anspielungen oft nicht mehr gewachsen ist.« (S. 87); zur Einschätzung von Hadlaubs künstlerischer Leistung Schiendorfer, Regionalpolitisches Zeugnis (Anm. 10), S. 65.
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gen Kontakt zwischen Hadlaub und der Manessischen Handschriftenredaktion«70 bestätigt sich also einmal mehr. Methodisch bleibt schließlich festzuhalten, dass man einem so komplexen Gebilde wie der Manessischen Liederhandschrift mit ihren vielschichtigen Bezügen von Text und Bild nur gerecht werden kann, wenn man beide Medien in ihrem jeweils spezifischen Kontext analysiert und in Beziehung setzt.71 Unsere oft anachronistische Sichtweise auf die »naiv« und »dekorativ« und häufig sogar gleichförmig anmutenden Bilder führt bei der Deutung, sogar schon bei der Beschreibung in die Irre, wie der »beißende Hund«, der eben nicht beißt, zeigen kann. Gerade die scheinbaren Brüche, die Abweichungen zwischen Text und Bild eröffnen neue Perspektiven und Interpretationsmöglichkeiten. Der Rückgriff auf die Quellen und Zeugnisse selbst kann auch bei einem so bekannten und bereits vielseitig erforschten Relikt wie der Manessischen Liederhandschrift immer noch Überraschungen, neue Details und neue Erkenntnisse zu Tage fördern. Das Tier, hier der Schoßhund der Dame, erweist sich nicht nur als Sinnträger, sondern als Schlüssel zu einer zentralen Aussage des Textes bzw. zum Minneverständnis Hadlaubs.
_____________ 70 71
Schiendorfer, Johannes Hadlaub. Gedichte (Anm. 3), S. 196, Schiendorfer, Inszenierter Minnesang (Anm. 23), S. 258f. Dies stimmt mit Curschmanns Ansatz überein, der die Bilder als visuellen ›sub-text‹, der den Haupttext dramatisiert, feiert und gesellschaftlich integriert, beschreibt. Grundsätzlich aber gehören Bild und Text zusammen – als komplementäre Sinnträger, deren übergreifende gemeinsame Bedeutung sich erst im gesellschaftlichen Umgang audiovisuell enthüllt; Curschmann, Pictura (Anm. 14), S. 226f.
Literarische Tiere
Kathrin Prietzel (Belfast)
Animals in religious and non-religious Anglo-Saxon writings* Animals figure richly in extant Anglo-Saxon texts, coinage, artwork and sculpture. Poems like Beowulf, the Battle of Maldon, the Maxims, various riddles, the Physiologus and the Phoenix abound in recurrent animal symbolism and references.1 The Anglo-Saxon Chronicle reports of animals at battle sites and presents them as harbingers of bad times (so for example dragons accompanying the first Viking raiders in 793 [ASC D, E]). Animals were depicted on coins, like the lion by King Aldfrith of Northumbria as symbol of his power, or the lamb on the Agnus-Dei coin, issued by King Æthelred in the time of the severest Viking threats. Manuscripts contain animals in their margins and illuminations, such as the Lindisfarne Gospels (London, British Library, Cotton MS Nero D. IV) or the Marvels of the East (London, British Library, Cotton MS Tiberius B. V). Most famously perhaps, animals are depicted on jewellery, armour and weapons, as for example the interlaced pattern of snakes on the ornate Sutton-Hoo brooch or the boar on the famous Benty-Grange helmet. Especially in artworks and objects, the prominent place of animals is not surprising. Due to the Germanic heritage and the Nordic mythological influence of the Anglo_____________ * 1
I would like to thank the Lynne Grundy Trust for supporting the writing of this article and Professors Hugh Magennis and Thomas Honegger for their help and advice. For the poems, I use the Anglo-Saxon Poetic Records (= ASPR) editions: The Junius Manuscript, George Philip Krapp (ed.), New York 1931 (ASPR I); The Vercelli Book, George Philip Krapp (ed.), New York 1932 (ASPR II); The Exeter Book, George Philip Krapp / Elliott Van Kirk Dobbie (eds.), New York 1936 (ASPR III); Beowulf and Judith, Elliott Van Kirk Dobbie (ed.), New York 1953 (ASPR IV); The Anglo-Saxon Minor Poems, Elliott Van Kirk Dobbie (ed.), New York 1942 (ASPR VI). For Beowulf (text and translation), I use: Michael Swanton (ed. & trans.), Beowulf, Manchester 1997. All translations are taken from: Sid A. J. Bradley, Anglo-Saxon Poetry, London 1995.
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Saxons, certain animals were renowned for their qualities of protection and strength.2 Parts of the Anglo-Saxon animal inventory have already been investigated, most notably in regard to art and the Physiologus poems of the Exeter Book.3 However, what is missing so far is an exploration into the usage of animals and their symbolism particularly in religious texts. To begin to address this need, the focus of the following analysis is twofold: first, it considers the different perception of animals in religious and non-religious texts and second, it examines the resulting implications thereof. A comparative reading of religious texts and Anglo-Saxon poetry reveals two distinct treatments and interpretations of animals. While in poetry and art animals were most often used in regard to their mythic and apotropaic powers, religious writings mainly concentrated on animals teaching moral lessons. As will be evident from the following discussion, the treatment of animals was different in the secular and religious texts. While the secular ones concentrated more on the natural qualities of animals, their strength and ferocity for example, qualities that were sought after in men, religious texts rather emphasise their negative qualities, for example pigs wallowing in mud, as deterrent to the people. There are of course exceptions and ambiguities within the two usages. Nevertheless, both traditions co-existed and enriched the way animals were understood and perceived in AngloSaxon England, and it is interesting to note that neither interpretation contended or mixed with the other. The other important aspect, that is how ›animal powers‹ were understood within these two traditions, focuses on the transformative changes as effected by the animal onto the human _____________ 2
3
For a discussion of animal depictions as talismans see Stephen O. Glosecki, »Movable Beasts. The Manifold Implications of Early Germanic Animal Imagery«, in: Nona C. Flores (ed.), Animals in the Middle Ages. A Book of Essays, New York 1996, pp. 3-23. See e.g. Michelle C. Hoek, »Anglo-Saxon Innovation and the Use of the Senses in the Old English Physiologus Poems«, in: Studia Neophilologica, 69/1997, pp. 1-10; Andrea RossiReder, »The ›Physiologus‹ and Beast Lore in Anglo-Saxon England«, Dissertation Abstracts International 53, no. 8, Ann Arbor, Mich. 1993; Michael D. C. Drout, »›The Partridge‹ Is a Phoenix: Revising the Exeter Book Physiologus«, in: Neophilologus, 91/2007, pp. 487-503; Brian McFadden, »Sweet Odors and Interpretative Authority in the Exeter Book Physiologus and Phoenix«, in: Papers on Language and Literature, 42/2006, pp. 181-209; Frederick M. Biggs, »The Eschatological Conclusion of the Old English Physiologus«, in: Medium Aevum, 58/1989, pp. 286-297.
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or vice versa. The idea that an effigy of a strong animal conveys its abilities upon the bearer, led to the belief that animals possess some transformative powers and that participation in these powers results in changes within humans to the extent that they eventually become part of that person’s nature. Likewise, humans project their vices and virtues upon animals, as is the case in the religious writings. In particular saints’ lives speak of the miraculous change of wild beasts into tame animals when in contact with a saint. The character of humans and their qualities effect changes in the behaviour of animals, which then become part of that animals’ nature. Both transformations reveal a rather different notion of the animal-human-relationship, one that may look superstitious to the modern eye, but that nevertheless points to a careful and sophisticated psychological examination of human character and animal behaviour. Given the amount of available material, I have limited the scope of this analysis to the religious writings by Ælfric, in particular his homilies and saints’ lives, since he is the most prolific writer of the Anglo-Saxon period. Furthermore, animals appear in almost half of his homiletic output so that there is a substantial basis for such an investigation. Another limit I had to impose on this study is the animals selected for examination: though Ælfric mentions a variety of animals, from the bee to the seal, it is not possible to discuss each of them at length here. Hence, I have chosen the boar/swine, the lion, the wolf, the raven and the eagle. Not only do these animals figure richly in religious as well as non-religious writings, they also bear a cultural importance beyond the text. The Psychology of Animals Before beginning to investigate animals proper however, it is necessary to understand how the ›psychological‹ nature of animals was perceived from Classical Antiquity to the Anglo-Saxon period and in how far the souls of animal and human differ. The overall assumption was that animals lacked a soul and hence rationality. Furthermore, animals are much more subject to their appetitive senses and instincts than humans. Whereas an animal’s action is caused by its seeing or remembering an external object that it then tries to obtain, humans have the additional faculty of intellect that
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allows them to guide their actions. Likewise, human behaviour is the result of a conscious choice that is lacking in animals. Still, animals possess some kind of intelligent behaviour, specified as the power of imagination by the thinkers of Classical Antiquity. This is evidenced by bees building their hives and the ability to learn in dogs, for example.4 It was also believed that animals possess some kind of memory that influenced their behaviour.5 On the whole, however, animals and their actions received attention only in regard to the comparison of their behaviour with that of humans. What mattered was the driving force behind an animal’s action and whether this could be called a soul remained a matter of dispute for centuries. One of the first to assume an interrelation between humans and animals was Plato. He believed that animals originate from humans and the human character defines the animal species. Thus, birds derive from harmless persons who have a light mind and look at the heavens without recognising its laws. Animals that live on land originate from people who do not care about wisdom; ignorant people eventually lost their arms and legs and turned into reptiles and snakes while the foolhardy ones developed into fish or crustacean.6 The driving force in animals then, must be a kind of soul that also accounts for a variety of skills and abilities like learning, rationality and understanding. The difference to the equivalent human qualities is one of degree not of essence.7 _____________ 4 5
6
7
Simon Kemp, Medieval Psychology, New York 1990, p. 59. An example is found in Augustine who states that: »[T]he fact that fish have memory is beyond question. I myself have observed this fact […] There is at Bulla Regia a large fountain abundantly stocked with fish. Whenever an object is thrown into this pond by a person above, the fish carry it off as they swim by or tear it apart in their struggle to possess it. Having become used to being fed this way, whenever people walk by the edge of the fountain, the fish will swim in schools back and forth alongside of them, waiting for a morsel from those whose presence they perceive.« St Augustine. The Literal Meaning of Genesis, John H. Taylor (trans.), New York 1982, 2 vols., bk. 3, ch. 8.12, pp. 81-82. Henry Davis, The Works of Plato. A New and Literal Version Chiefly from the text of Stallbaum, vol. 2, London 1883, ch. 17 (p. 346f.) & 72f. (pp. 407-409); August Nitschke, »Verhalten und Bewegung der Tiere nach frühen christlichen Lehren«, in: Studium Generale, 20/1967, pp. 235-262, here p. 235. This view is strongly opposed by Augustine, see John H. Taylor, St Augustine. The Literal Meaning of Genesis, New York 1983, 2 vols., bk. 7, ch. 10, p. 12. As postulated by Porphyry and Aelian for example. See Maureen A. Tilley, »Martyrs, Monks, Insects, and Animals«, in: Joyce E. Salisbury (ed.), The Medieval World of Nature. A Book of Essays, New York 1993, pp. 93-107, here p. 97f. fn. 32 & 35.
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In Judaism, animals were regarded as a direct creation of God and hence were viewed positively, usually as instruments of divine aid or justice.8 Like humans, animals were affected by the Fall, reflecting the sin of Adam and Eve. Some Jewish traditions even assert that there were no carnivores in Paradise, and that because of the Fall animals now failed to obey humans.9 Still, animals were important for three reasons: first, they recognised the good in people and responded accordingly; second, they acted as witness to human deeds and give evidence on the Day of Judgement and third, they symbolised human vices and virtues.10 In early Christianity, the time of saints, martyrs and ascetics, the view of animals changed again. Here, animals both symbolised and strengthened the goodness of the early Christians, usually by refusing to harm them, protecting them from injury or nourishing them. Even if animals were unable to rescue a prospective saint from death, they at least protected their bodies until they could be properly buried. However, beastly protection and help was subject to the holiness of the Christian: if the Christian somehow fell into sin, the animal likewise returned to its carnivorous and wild state. Thus, in these stories we find animals helping and assisting humans subject to their good moral behaviour. Additionally, animals provide peace and opportunity to repent through their company and are in turn inspired to ›repent‹ by the monks and martyrs. In light of this close relationship, animals were believed to possess some kind of soul and rationality that directed their behaviour towards the early Christians.11 Christian theologians and the Church Fathers used animals to exemplify Christian virtues and vices, and hence mainly allegorically. Thus, for example the division of animals into clean and unclean corresponded to the categorisation of people as good and bad. The early Christian theologians favoured the Neoplatonist idea of animals as being fellow creatures possessing some kind of mind – how else to understand the close bond between martyrs and animals? The question of whether animals were ra_____________ 8 9 10 11
Tilley, »Martyrs« (fn. 7), p. 98. Tilley, »Martyrs« (fn. 7), p. 99. Tilley, »Martyrs« (fn. 7), p. 99. Tilley, »Martyrs« (fn. 7), pp. 100-102, cf. e. g. the accounts of Perpetua and Felicitas (bears and boars refuse to harm them), Anahid (wasps protect his body from mutilation) or Macarius (a hyena thanks him for healing her cub).
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tional became irrelevant. What mattered in the eyes of God was not rationality but virtue.12 But to understand rationality and virtue in humans, one must look at the surrounding world, that is the created universe, since it contains parts of God’s plan which can be inferred by analogy. In his book on Christian Instruction, Augustine acknowledges the importance of knowing the natural world: »An imperfect knowledge of things causes figurative passages [of Scripture] to be obscure; for example when we do not recognize the nature of animals, minerals, plants, or other things which are very often represented in the Scriptures for the sake of an analogy. It is well known that a serpent exposes its whole body, rather than its head, to those attacking it, and how clearly that explains the Lord’s meaning when He directed us to be ›wise as serpents‹. We should, therefore, expose our body to persecutors, rather than our head, which is Christ […] A knowledge of the nature of the serpent, therefore, explains many analogies which Holy Scripture habitually makes from that animal; so a lack of knowledge about other animals to which Scripture no less frequently alludes for comparisons hinders a reader very much.«13
Knowledge of animal behaviour therefore, is essential to understand the wider context and meaning of the creation as well as the Christian faith itself. Failure to obtain that knowledge results in misunderstanding religion and thus leads to errors and misinterpretation of religious doctrines. The purpose of animals in the Scriptures therefore rests on analogy and allegorisation, two methods with which virtue is illustrated and taught. The practices of allegorisation and analogy found their most creative expression in the Physiologus and bestiary tradition, in which animals were described first as natural beings and then in regard to their moral meaning. The well-known Old English poems The Panther, Whale, Partridge14 and Phoenix of the Exeter Book are fine examples of this practice. Apart from the obvious moral instruction, each poem contains religious significance. The Panther treats the nature of God, the Whale that of the devil, the Partridge that of man’s choice between the two and the Phoenix that of the _____________ 12 13 14
The discussion was also put to rest by stating that true understanding can only come from God. See Dan 4, 25-34 which has its parallel in the Old English poem Daniel, ll. 645-652. Saint Augustine. Christian Instruction, Admonition and Grace, the Christian Combat, Faith, Hope and Charity, John J. Gavigan (trans.), New York 1950, bk. II, ch. 1, pp. 82-83. The Partridge is an incomplete poem and hence the identification of the animal described is not certain. The majority of scholars however accept the partridge.
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righteous soul. On a higher level, the first three poems are interconnected through their homiletic structure and purpose. Although each poem is a self-contained part of a tripartite whole, instructing allegorically on the most important religious issues, their complex meaning is only revealed when seen as one single piece. According to Douglas R. Letson, this threefold structure of typology, tropology and anagogy is rare in AngloSaxon homilies proper, but its use heightens the effect of the poems as homily.15 This distinct homiletic style is also found in the Phoenix, where »it magnifies the poet’s homiletic intention.«16 Of course, the poems remain essentially didactic, but their resemblances to homilies create another level of Scriptural interpretation that might have helped in placing ›homiletic‹ animals in the right light. Ælfric on Animals One of the best known and certainly the most productive writer of the later Anglo-Saxon period was Ælfric, a Benedictine monk and abbot of Eynsham. Not much is known about his life except for the few scattered facts he himself gives in his various writings.17 He was born around the middle of the 10th c. and probably died around 1010. Ælfric is most famous for his collection of sermons and saints’ lives, amounting to more than a hundred texts. In them, he is careful to provide accurate information and orthodox teaching, since he is very concerned with the decline in knowing and correctly interpreting Scriptural texts amongst the monastic community. Hence, Ælfric frequently revised his writings and instructed future scribes to take great care, lest errors and false teaching should be in_____________ 15 16 17
Douglas R. Letson, »The Old English Physiologus and the Homiletic Tradition«, in: Florilegium, 1/1979, pp. 15-41, e-print of 17 pages, here p. 2. Letson, »Old English Physiologus« (fn. 15), p. 2. For further information see Malcolm Godden, »Ælfric of Eynsham (c. 950–c. 1010)«, in: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004: [http://www.oxforddnb.com/view/article/187 (accessed 19 Aug 2008)]; Joyce M. Hill, »Ælfric. His Life and Works«, in: Mary Swan / Hugh Magennis (eds.), A Companion to Ælfric, Leiden 2009 (forthcoming) and Jonathan Wilcox (ed.), Ælfric’s Prefaces, Durham 1994.
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troduced while copying.18 He dealt with a variety of topics, from close Biblical interpretation to discussions of the Trinity, heresy and bodily resurrection, but also referring to current historical and social circumstances like the severe Viking threats or the mismanagement of the AngloSaxon kingdom under Æthelred Unræd. Apart from his religious writings, Ælfric is also known for his grammar of Latin and a colloquy on the occupations and trades. While being competent in Latin, he wrote almost entirely in English in a prose-poetic style that testifies not only to the importance of the vernacular in Anglo-Saxon England but also to the capacity of Old English. When Ælfric wrote his homilies and saints’ lives, the animal-soulquestion had not been satisfactorily answered and was to receive new interest and treatment by Thomas St Aquinas, Albertus Magnus and, with the (re-)discovery of works by Aristotle, Averroes and Avicenna for example. As a monk, Ælfric was of course learned and well trained in the arts of Scriptural interpretation and homiletic exegesis. He also had recourse to a vast array of sources from which he quotes and compiles his own material, so for example from St Augustine, Bede, Gregory the Great, Paul the Deacon, Jerome, Haymo of Auxerre and Smaragdus of St Mihiel. Concerning animals, Ælfric does not add new ideas to the prevailing concepts, but his views and treatment were heir to previous assumptions and traditions. In about half of his homilies and saints’ lives, he makes use of animals, either referring to specific animals like bees or camels, or generically in regard to their nature or their significations. His purpose thereby differs from text to text. Animals are either used to specify a certain (moral) point, as comparison to human behaviour and characteristics, as metaphors for Christ and Christian living, or as symbols for evil and destructive forces, not least the devil himself. However, Ælfric is not consistent within his treatment of animals: the same animal can exhibit good as well as bad characteristics; in one text it can signify a Christian and virtuous be_____________ 18
See Ælfric’s prefaces to the two volumes of the Sermones Catholici and his Lives of Saints (in Wilcox, Prefaces (fn. 17), pp. 107-112, 119-121). The prefaces also testify to his firm belief that these teachings should be deeply orthodox and rooted in theological tradition. Instead of innovating the contents of his sermons, homilies and passions, Ælfric remains conservative but original in his writing style. See Milton McC. Gatch, Preaching and Theology in AngloSaxon England. Ælfric and Wulfstan, Toronto, Buffalo 1977, esp. ch. 2.
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haviour while in the next it is likened to the devil. This is for example the case with birds, either signifying teachers (ÆCHI 35.69f) or devils (ÆCHII 6.70-78), with fish, either signifying Christ (ÆCHII 16.186-199) and Christians (ÆSuppl 14.147-175) or again the devil (ÆCHI 14.172f).19 From his texts it is apparent that animals are there to serve a wider purpose, and even the most unassuming animal is assigned religious significance. In line with Augustine’s argument that it is necessary to understand nature in order to understand religion, Ælfric’s animals teach lessons in good and bad behaviour from which the observant Christians can infer guidelines for their own conduct.20 In his writings, Ælfric is concerned with the nature and purpose of animals in general as well as with the (allegorical) meaning of specific animals. On the whole, animals are there to serve humans and they are created as food for men, as stated in Genesis (Gen 1, 20-25) and explained in Ælfric’s homily Nativitas Domini (ÆSuppl 1 204-218). Concerning the nature of animals, Ælfric states the following: Ða gesceafta þe þæs an scyppend gesceop synden mænigfealde and mislices hiwes and ungelice farað. […] Sume syndan creopende on eorðan mid eallum lichoman, swa swa wurmas doð. Sume gað on twam fotum, sume on feower fotum. Sume fleoð mid fyðerum, sume on flodum swimmað, and hi ealle swaþæh alotene beoð to þære eorðan weard and þider wilniað oððe þæs þe him lyst oððe þæs þe hi beþurfon; ac se man ana gæð uprihte [.] The creatures whom this one Creator created are manifold, and of various forms, and more diversely. […] some creep on the earth with their whole body as worms do; some go on two feet, some on four feet, some fly with wings, some swim in the waters, and yet all these are bowed down earthward, and thither is their desire, either because it pleaseth them or because they needs must; but man alone goeth upright [.]
(ÆLS 1.49-57)
_____________ 19
20
Citation is by text number and line of the following editions: ÆCHI, Ælfric's Catholic Homilies. The First Series: Text, Peter Clemoes (ed.), Oxford 1997 (Early English Text Society = EETS 17); ÆCHII, Ælfric's Catholic Homilies. The Second Series: Text, Malcolm Godden (ed.), Oxford 1979 (EETS ss. 5); ÆSuppl, Homilies of Ælfric. A Supplementary Collection, John C. Pope (ed.), London 1967 (EETS 259); ÆLS, Ælfric’s Lives of Saints, Walter W. Skeat (ed. & transl.), 82, London 1882 (EETS 76) Except for ÆLS, the translations are my own. Ælfric himself points to the necessity of the ability of reading Scripture figuratively, especially in regard to the Old Testament, since a literal interpretation might contradict Christian teaching. See Ælfric’s preface to the translation of Genesis (Wilcox, Prefaces [fn. 17], pp. 116-119) and Hill, »Ælfric« (fn. 17).
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Animals in their locomotion are bent downward, which means that they do not possess any sense of higher intelligence that would allow to strive for higher (spiritual) goals. Their closeness to earth also refers to a more primordial, almost primitive, mode of being, serving no higher purpose. They are essentially a means for man’s survival, as provided and created by God. In this context, Ælfric comments on the animal-soul: Uþwytan sæcgað þæt þære sawle gecynd is ðryfeald: An dæl is on hire gewylnigendlic, oðer yrsigendlic, þrydde gesceadwislic. Twægen þissera d æla habbað deor and nytenu mid us, þæt is gewylnunge and yrre. Se man ana hæfð gescead and ræd and andgit. Philosophers say that the soul’s nature is threefold: the first part in her is capable of desire, the second of anger, the third of reason. Two of these parts, beasts and cattle have in common with us, that is to say, desire and anger; man only hath reason and speech and intelligence.
(ÆLS 1, ll. 96-100)21
Again, Ælfric follows the common belief that animals are fellow creatures that God gave to mankind to be ruled and used for sustenance. But regarding the soul, he seems trapped between the idea of animals having no soul at all and possessing some kind of ›two-third-soul‹ that allows for feelings of desire and anger but not for intelligence.22 Both, desire and anger, are powerful forces that either lead to salvation or vice. Since animals possess desire and anger, they are hence able to strive for a virtuous life and avoid sins.23 The part of the soul they do possess furnishes them with an instinct to distinguish right from wrong and good from bad. In hu_____________ 21
22
23
The animal-soul issue is also taken up in the following homilies and saints’ lives: ÆCHI (fn. 19), 1, 6, 20, 21; ÆCHII (fn. 19), 19, ÆLS (fn. 19), 17. There is however no clear statement of whether Ælfric believed animals to possess reason although he says that men who abuse reason resemble animals (ÆSuppl (fn. 19), 16.57-71) which might be taken as his opinion on the matter. A similar idea to that of a ›two-third-soul‹ can be found in Gregory of Nyssa: he assumes three forms of soul within beings that cause kinds of movement. Plants possess a capability for desire that allows for nourishment and growth; in addition to that animals possess desires like love, wrath and fear that cause them to turn to pleasure but refrain from threats; only humans then possess a soul that allows for a rational mind. Cf. Nitschke, Verhalten (fn. 6), p. 237. It might seem strange to speak of virtuous and non-virtuous animals and animal behaviour respectively since these are (human) moral categories. However, the application of human categories is necessary to grasp the idea of animals adopting human behaviour and characteristics.
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mans, this would be called empathy, the ability to sense and understand someone else’s feelings as if they were one’s own, or the power of entering into another’s personality and imaginatively experiencing his feelings. We find this power or ability in the many instances in the religious writings, where wild and carnivorous beasts are immediately tamed at the sight of, or contact with, a saint. The ferocity and savage nature of animals like lions, bears and wolves, is here juxtaposed with the meek and humble behaviour of holy humans.24 Animals do not only refrain from their typical beastly behaviour but also show protection and care for a human in need. In Ælfric’s homily on Saint Cuthbert (ÆCHII 10.79-94), we find two seals ministering to the saint: they dry his feet with their sealskin, warm his limbs with their breath and also ask for his blessing.25 This same empathic sense guides animal behaviour when in contact with evil and sinful persons. Animals then behave according to their nature and punish the sinners. In Ælfric’s sermon on the Book of Kings for example, horses and dogs act as punishers of Queen Jezebel’s sins: Þa beseah Hieu to þære sceande up, and het hi asceofon sona underbæc, heo wearð ða afylled ætforan ðam horsum, and þa hors hi oftrædan huxlice under fotum. Hieu þa […] cwæð to his þegnum. Gað to þære hætse þe ic het niþer asceofan, and bebyriað hire lic for hire gebyrdum. Hi eoden ardlice to ac heo wæs eall freten, butan þam handum anum and þam hæfde ufweardum, and þam fotwylmum, þurh fule hundas. Then Jehu looked up to the shameful one, and immediately commanded men to push her over from behind; so she was thrown down before the horses, and the horses trod her ignominiously under their feet. Then Jehu […] said to his servants, ›Go to this witch whom I bade men to throw down, and bury her corpse, for her birth’s sake‹ They went quickly, but she was all devoured, save only the hands and the upper part of the head, and the soles of her feet, by foul dogs.
(ÆLS 18.344-354)
Both examples illustrate that qualities like goodness and evil cause changes in both humans and animals. When in contact with saints, animals return to their pre-lapsarian nature; they again become tame and obedient to _____________ 24
25
See for example the Passion of St Julian and his Wife Basilissa (ÆLS [fn. 19], 4), in which fierce lions and bears dare not touch them but instead »inclined their heads to the feet of the saints, and licked their limbs with lithe tongues« (bigdon heora heafda to ðære halgea fotum and heora liða liccodon mid liðra tungan). These animal services are a common hagiographical archetypal motif, depicted in the lives of the ascetic saints, for example in Life of Anthony by St Anthanasius and Life of Paul the Hermit by St Jerome.
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man, though only as long as they are exposed to saintliness. It seems though that the reaction of animals is more imminent and purer than that of humans since they do not possess any evaluative faculty that might prompt them to assess their behaviour, reactions or perceptions. The empathic soul of animals is the reason and cause for their changed behaviour towards saints or sinners, and allows them to act accordingly. While empathy is a common device to fine-tune everyday contact among humans, it seems miraculous in the religious accounts on animals. It attests to the strong belief that vicious or virtuous behaviour transforms not only the persons themselves but also those in close contact with them. Hence, it is only natural that wild beasts should tear apart a sinner or be petted by a saint. Like humans, they are subject to vice and virtue and some animals are more prone to sin than others: there are inherently good animals as well as inherently bad ones. Animals in Anglo-Saxon Poetry and Religious Writings Although animals do not play a major role in Anglo-Saxon poetry, they nevertheless fulfil important functions whenever they make their appearance. A comparison of animals in poetic and religious texts reveals a distinct symbolism within each genre: if an animal has a positive connotation in the secular texts, it is (usually) depicted negatively in the religious ones. There are, of course, exceptions where the animal carries both positive and negative associations within a certain context and it is to the listener/ reader to attribute the appropriate sense. In the following paragraphs I will look at a handful of animals, the boar/swine, lion, wolf, eagle and raven, and compare their function, meaning and, most importantly, in how far their behaviour bears upon humans and influences the interspecific relationships. The Boar/Swine The animal that most clearly demonstrates the two connotations is the boar. In the Christian tradition, the boar or swine is an inherently bad ani-
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mal.26 Classified as unclean (Lev 11,7-8), it was forbidden meat among the Jews and being a swineherd was the most degrading of all employments (Luke 15,15; Matt 8,32). The reference to uncleanness is already implied in the very word for pig, as Isidore of Seville explains in his Etymologies: The pig (porcus) as if the name were ›unclean‹ (spurcus), for he gorges himself on filth, immerses himself in mud, and smears himself with lime. Horace (Epistles 1,2,26) says: And the sow, a friend to mud. Hence also ›uncleanness‹ (spurcitia) or ›illegitimate children‹ (spurius) are named.27
The association between this animal and filth is also exploited by Ælfric who adds an allegorical interpretation when he likens the swine and its behaviour to sinners and backsliders: Ða swyn hi gecuron for heora sweartum hiwe, & for þære fulnesse fenlices adelan. Se mann þe hæfð swynes þeawas, & wyle hine aþwean mid wope fram synnum, & eft hine befylan fullice mid leahtrum, swa swa swin deð, þe cyrð to meoxe æfter his þweale, þeawleas nyten, þonne byð he betæht þam atelicum deoflum for his fulum dædum, þe he fyrnlice geedlæcð. Se þe oft gegremað God þurh leahtras, & æfre geedlæcð his yfelan dæda, he byþ swyne gelic, & forscyldegod wið God. Then they chose swines for their black hue and for the foulness of their marshy mud. The man who has the manners of swine and often wants to wash himself from sin with cries and often he fully defiles himself with vice, like the swine does, that turns to dung after its bath, that ill-mannered cattle, then is he given over to the terrible devil for his foul deeds, which he wickedly repeats. He who often angers God through vices and often repeats his evil deeds, he is like the swine and is guilty against God.
(ÆSuppl 17.260-271)28
Like swine, that defile themselves in dirt and do not know how to remain (physically) clean, the sinner cannot abstain from sin and defiles his soul. The mud in which the swine delights is the sin in which the sinner wallows. _____________ 26
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The word ›swine‹ (OE swin) is used in the religious texts while the poetic ones use ›boar‹ (OE eofor) and swine. (In Modern English, the word ›pig‹ superseded the use of ›swine‹ but it is not attested in Old English.) The Etymologies of Isidore of Seville, Stephen A. Barney et al. (trans.), Cambridge 2006, p. 248. (Emphasis in the original). Isidore also explains that the boar (verres) derives its name from its strength (vis, pl. vires) and the wild boar (aper) is so called because of its ferocity (feritas), pp. 248. Cf. also ÆSuppl (fn. 19), 13.233-234. Ælfric uses the same example almost word by word in his homily Dominica III post Pentecosten: Alio narratio (ÆCHII (fn. 19), 23.177-194).
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In the Old English poetic texts the emphasis is placed on the ferocity and strength of that animal. The boar has been an important animal from the Iron Age onwards, mainly as food supply, and in time mythological and spiritual powers were associated with it. Already Tacitus testifies to the apotropaic powers of the boar: members of the Aestyan tribe carried boar effigies into battle as protection against weapons, but also as a religious symbol with which they honoured the mother goddess.29 The belief of the protective powers of the boar can also be found in Old English poems where the poet speaks of boar images on shining helmets, as for example in Beowulf: Ac se hwita helm hafelan werede, […] since geweorðad, befongen freawrasnum, swa hine fyrndagum worhte wæpna smið, wundrum teode, besette swinlicum, þæt hine syðþan no brond ne beadomecas bitan ne meahton. And a shining helmet guarded the head […] - it was decorated with rich ornament, encircled with a chain-mail guard, just as the weapon-smith had wrought it in days of old, wonderfully formed it, set about with boar-images so that thereafter no sword or battleblade might bite into it.. (Beowulf, 1448-1454)30
Apart from boar crests on helmets, as for example on the Benty Grange helmet, boars were frequently depicted on Anglo-Saxon ornamental works, like brooches or the famous Sutton Hoo shoulder clasps, but also on swords and spears (cf. Beowulf, 1437: eoforspreotum ›boar-spear‹). Another common association of the boar was kingship. There are frequent references to boar banners as emblems of sovereigns, for example in Elene (259) or in Beowulf (2512). Furthermore, there is a close linguistic affinity between Old English eofor and Icelandic jǫfurr as poetic terms for prince, king or chief. According to George Speake, the origin of the connection between boar and kingship derives from the cult of Woden/ _____________ 29
30
Tacitus. The Agricola and the Germania, Harold Mattingly (trans.), Harmondsworth 1970, ch. 45, p. 139. A similar custom is related by Plutarch about the Cimbri. He refers to helmets resembling the heads and jaws of wild beast without explicitly saying what animal they chose. See Plutarch’s »Live of Caius Marius«, in: Plutarch. Fall of the Roman Republic. Six Lives, Rex Warner (trans.), Harmondsworth 1958. Cf. also: Beowulf, ll. 1285f., 1327f., 1448-1454 and Elene, ll. 256-258.
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Odin.31 Since the god used a boar’s head as his emblem and almost every Anglo-Saxon dynasty claims its ancestry from the Norse gods, it is no wonder that kings should use the as symbol of their kingship and sovereignty.32 This animal was also linked to the Norse gods of fertility Freyr and Freyja. Freyr possessed the boar Gullinbursti (›golden bristles‹) or Slíðrugtanni (›dangerous tusks‹), which was forged by dwarfs, its coat shone in the dark, it was faster than any horse and it had golden bristles. Freyja’s boar was called Hildisvín (›battle swine‹).33 That this association is very old is testified by finds from the Elbe region in Northern Germany dating from the third century. There, boar-brooches have been found as offerings in women’s graves and votive deposits.34 The boar offers a variety of possible meanings: within the poetic corpus and popular belief the boar symbolised protection, kingship and fertility, while Ælfric only refers to its association with filth and hence sinning. These two traditions of interpretation strongly depended on their specific context and so they did not contradict each other. Hence, there was no need for Ælfric to root out superstitions as he could exploit the animal on another level of meaning. The secular boar then is a different species than the religious one. The Lion A similarly strong animal, the lion, is associated particularly with kingship. This association is an old one and as Isidore of Seville informs us, »the Greek word leo is translated as ›king‹ in Latin, because he is the ruler of all _____________ 31 32
33 34
George Speake, Anglo-Saxon Animal Art and its Germanic Background, Oxford 1980, pp. 79-80. The boar emblem might also have been connected with the royal house of the Merovingians. Furthermore, early Swedish kings held the boar in high esteem, e. g. King Athils who apparently owned a helmet called Hildigoltr (›battle-pig‹) and a neck-ring Sviagríss (›piglet of the Swedes‹). Speake, Animal Art (fn. 31), p. 80. See Hilda R. Ellis Davidson, Gods and Myths of Northern Europe, London 1990, pp. 29, 42, 98-99, 116. Speake, Animal Art (fn. 31), p. 81.
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beasts.«35 The lion is also, according to Anne Gannon, »the most commonly represented beast in the art of the early Christian Anglo-Saxon period [.] This is not surprising when one considers the role lions played in the iconography of power in the Ancient and the Classical world and in the imagery and exegesis in the Old and New Testament.«36 The lion, however, is an ambiguous animal in religious texts. It was admired for its strength, power, dignity and ferocity but in particular this last quality caused it to be taken as an emblem of Satan and of the enemies of the truth (1 Peter 5, 8; 2 Timothy 4, 17). In Jer 50, 17 and Ezek 32, 2, enemy kings are compared to predatory lions, while Christ himself is called the Lion of Judah in Gen 49, 9 and in Ælfric’s homily on The Nativity of St John the Baptist. In his Life of St Julian, we have already seen that lions turn tame when in contact with saints. However, in De falsis diis the lions seem far less willing to be tamed: ða let he hine niman & wurpan þam leonum þe lagon on þam seaðe. […] Darius þa se cining on dægred aras, eode to þam seaðe, & sarlice clypode, danihel, þu godes mann, mihte la þin god wið ða leon þe gehealdan? & he andwyrde sona, þu leofa cining, leofa þu on ecnysse; min god me asende to sona his engel, & he þæra leona muð beleac mid his bendum, þæt heora nan ne mihte minum limum derian, for þan þe on me is afunden ætforan gode rihtwisnyss, & ic wið ðe, cyning, ne worhte nanne gylt. Then he [King Darius] let them [the heathens] take him [Daniel] and throw him to the lions that lay in a den. […] When the King Darius rose in the morning, he went to the den and said sorrowfully: ›Daniel, you who are God’s man, was your god able to protect you against the lions?‹ And he answered immediately: ›Beloved king, be honoured in all eternity. My God soon sent an angel who bound the mouths of the lions with his chains, so that they could not harm my limbs, because God’s justice was revealed to me before and I did not commit any guilt against you, king.‹
(ÆSuppl 21.316-317, 323-332)
In this account, it is God instead who binds the lions’ mouths with chains. Here, Ælfric contrasts wildness with holiness. Daniel’s faith and trust in God are emphasised by the fierce lions that do not obey human laws. In Anglo-Saxon England, the lion was foremost a symbol of royal authority and power. Hence, it was often used on coins. King Aldfrith of Northumbria, reigning 685-704, was the first Northumbrian king to issue _____________ 35 36
Isidore of Seville, Etymologies (fn. 27), p. 251. Anne Gannon, »King of all Beasts – Beast of all Kings. Lions in Anglo-Saxon Art and Coinage«, in: Aleks Pluskowski (ed.), Medieval Animals, Cambridge 2002 (Archaeological Review from Cambridge 18), pp. 22-36.
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coins that depicted a lion on its reverse. Other kings, in particular Eadberht (737-758) and Ælfwald I (778-788) of Northumbria, followed this model, although it is not always clear whether the animal depicted is indeed a lion.37 Another means to symbolise power and leadership is a lion depiction on a battle standard as in the Old English poem Exodus: Hæfdon him to segne, þa hie on sund stigon, ofer bordhreoðan beacen aræred in þam garheape, gyldenne leon, drihtfolca mæst, deora cenost. They had as their standard, when they marched into the sea, an emblem raised up above the shield-phalanx within that spear-armed troop, a golden lion – the greatest of people the bravest of beasts.
(Exodus, 319-322)38
Although the lion was probably not used as an apotropaic symbol, its display at battle scenes, like the boar, had important psychological significance. It inspired courage and strength in the fighters and at the same time evoked fear and despair in the enemy. As we have seen, the lion carries many connotations. In religious as well as secular sources, the animal is foremost a symbol of kingship, hence the frequent appropriations of lion depictions on royal emblems. In Ælfric’s writings however, the lion as wild animal stands in the foreground: its ferociousness is tamed by sanctity and in that context the lion is used to symbolise the strength of faith. Although this animal was also used as an emblem of Satan, it is nevertheless rather positively connotated. In particular, in the later medieval bestiaries the lion becomes a symbol of Christ: the lion’s sleeping with open eyes symbolises the ever-vigilance of Christ. Furthermore, the lion is strongly associated with the resurrection theme because lions revive their dead cubs by either licking or breathing into their noses.
_____________ 37
38
See the early medieval coin collection at: http://www.fitzmuseum.cam.ac.uk/dept/coins/emc/. This website lists a vast amount of coins that have an animal on their reverse, mainly Northumbrian coins up to the 8th c. The source for the lion as ensign of the tribe of Juda is Gen 49, 8-11.
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Kathrin Prietzel
The Wolf Equally strong and ferocious, the wolf was usually associated with danger and threats. According to Isidore of Seville, the word wolf derives from the Greek lykos because of the animals’s behaviour, »it slaughters whatever it finds in a frenzy of violence.«39 Even the Anglo-Saxon religiously themed poetry does not speak favourably of that animal: in Daniel, Babylon’s king Nebuchadnezzar is frequently called wulfheort (›wolf-hearted‹; ll. 116a, 135a, 246a), in Andreas, the heathen Mermedonians are likened to murderous wolves (wælwulfas, l. 149a), and in Christ I the devil is called the accursed wolf and beast and agent of darkness that scatters the Lord’s flock (se awyrgda wulf; l. 256, and deor dædscua; l. 257a). Other Old English poems refer to the dangers and threats posed by the wolf: the Fortunes of Men speak of an unfortunate youth who is devoured by the grizzly wolf (Sceal hine wulf etan, har hæðstapa; ll. 12b-13a), the Maxims I relate the fate of the friendless man who chooses wolves as comrades that often, treacherously, will tear him (Wineleas, wonsælig mon genimeð him wulfas to geferan, felafæcne deor. Ful oft hine se gefera sliteð; ll. 146f), in Deor the Gothic king Eormanric is said to have a wolfish mentality (Eormanrices wylfenne geþoht; ll. 21b-22a), and the Maxims II refer to the wolf as a loner (wulf […], earm anhaga; ll. 18b-19a) which hints at the treachery in Maxims I. The Old English word wulf is also a frequent compound in AngloSaxon first names, in poetry as well as in real life.40 Examples include Æthelwulf (›noble wolf‹), Ealdwulf (›old wolf‹), Heahwulf (›high wolf‹), Herewulf (›army wolf‹), Sigewulf (›victory wolf‹), Wulfgar (›wolf spear‹), Wulfwynn (›joy wolf‹; fem.) and Wulfthryth (›wolf glory‹ or ›wolf majesty‹; fem.). Interestingly, the other element of these names is usually a word associated with aspects of fighting (e. g. beadu – ›war‹, ecg – ›blade of a sword‹, frið – ›peace‹, ord – ›vanguard‹ or ›spear-point‹, wig – ›battle‹ or ›army‹, helm – ›protection‹, hild – ›war‹, weard – ›guard‹). This is noteworthy in so far as many poetic heroes bear a wulf-compound name. Of course, they are not _____________ 39 40
Isidore of Seville, Etymologies (fn. 27), p. 253. There are roughly a hundred first names containing the compound wulf, either as second or, less frequent, as first element. Names for women only have ›wulf‹ as first element. See the Prosopography of Anglo-Saxon England project: http://www.pase.ac.uk/ (accessed 19 Aug 2008).
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fierce fighters because of that name, rather the poets ascribed these names because of their fighting. It is the association evoked by that animal which implies qualities of strength and ferocity in a hero and also in the audience. It is essentially the association between a man and a name, no matter how true the man is to the meaning of his name, that accounts for the variety of wulf-names among the Anglo-Saxon nobility. A king called the Noble Wolf (Æthelwulf) is more likely to evoke feelings of protection, security and honour than someone called Old Hostage (Aldgisl).41 For Ælfric, the wolf is the devil which tries to lure men into sin (ÆCHI 17).42 He also likens the wolf to thieves, since both live by rapine and »oftentimes snatched away from the righteous their subsistence« (and þam rihtwisum ætbrudon heora bigleofan foroft; LS 19.160). In Ælfric’s Life of St Edmund, he juxtaposes the beast’s very ferocity and strength with Godinspired meekness and obedience: Wæs eac micel wundor þæt an wulf wearð asend, þurh Godes wissunge to bewerigenne þæt heafod wið þa oþre deor, ofer dæg and niht. […] Þa læg se græga wulf þe bewiste þæt heafod, and mid his twam fotum hæfde þæt heafod beclypped, grædig and hungrig, and for Gode ne dorste þæs heafdes abyrian, and heold hit wið deor. Þa wurdon hi ofwundrode þæs wulfes hyrdrædenne, and þæt halige heafod ham feredon mid him, þancigende þam ælmihtigan ealra his wundra; ac se wulf folgode forð mid þam heafde oþþæt hi to tune comon, swylce he tam wære, and gewende eft siþþan to wuda ongean. There was eke a great wonder, that a wolf was sent, by God’s direction to guard the head against the other animals by day and night. […] There lay the gray wolf who guarded the head, and with his two feet had embraced the head, greedy and hungry, and for God’s care durst not taste the head, but kept it against (other) animals. Then they were astonished at the wolf’s guardianship, and carried the holy head home with them, thanking the Almighty for all His wonders; but the wolf followed forth with the head until they came to the town, as if he were tame, and then turned back again unto the wood.
(ÆLS 32.145-147, 154-163)
This fact is even more striking when considering the animal’s nature as a wild and ferocious beast. But here, the wolf acts as protector of a saint and although its beastly nature urges it to devour the head greedily, the wolf cannot infringe God’s command. Like the lions that were bound _____________ 41
42
Of course, not every name is a direct reference to the character traits of its bearer; it is the connotation of that name that is important. See also Hugh Magennis, Anglo-Saxon Appetites. Food and Drink and their Consumption in Old English and Related Literature, Dublin 1999, pp. 68-70. He also uses the simile of the wolf among the sheep. Cf. also ÆCHI (fn. 19), 2.
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with iron by God and so could not harm the prophet Daniel, the wolf is bound by Edmund’s saintliness and God’s care. The beast not only exhibits moral behaviour but emphasises the holiness of the martyr by overcoming its animal instincts. While the wolf bears connotations of strength, ferocity and even leadership that are important within the context of fighting, this animal is not regarded positively in the secular and religious texts. For the people of Anglo-Saxon England, the wolf was foremost a threat to their existence and even its strength was rather feared than coveted. They do make their appearance at battle sites, but only to feast on the slain, a theme to which I will return shortly. A friend to thieves and traitors, the wolf is an inherently bad animal. The one instance in which a wolf is seen in a positive light, in Ælfric’s Life of St Edmund, does not show goodness in the abhorred animal but points to the great holiness of St Edmund which can command even the wildest of animals. Birds: the Raven and Eagle Leaving the realm of the four-footed beasts and turning to the winged ones, we have the eagle and the raven as the most prominent birds in Anglo-Saxon texts and art. As Isidore of Seville tells us, the »eagle (aquila) is named from the acuity of its vision (acumen oculorum)« and »the raven (corvus), corax, takes its name from the sound of its throat, because it croaks (coracinare) with its voice.«43 Both feed on prey and the raven has a preference for the eyes of the corpses. Like the boar, the eagle was used as an emblem on helmet crests, which, as George Speake assumes, might have been an imitation of the Roman eagle-crested helmets.44 The eagle was then a symbol of imperial power but also an apotropaic protective device.45
_____________ 43 44 45
Isidore of Seville, Etymologies (fn. 27), pp. 264, 267 Speake, Animal Art (fn. 31), p. 83. Another interesting association is between the eagle and the world tree Yggdrasill in Norse mythology. Here, the eagle sits on the topmost bough and when it is flapping its wings, it causes the winds in the world of men. See Davidson, Gods and Myths (fn. 33), p. 27.
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Both birds were also esteemed for their prophetic powers. In the Nordic sagas, it was considered a good sign, if the raven followed the warrior into battle, for the beast could expect a feast and its presence meant victory.46 In Beowulf, the raven is a herald of victory over Grendel’s mother, when it announces »the joy of the sky« (heofones wynne; l. 1801b). Furthermore, it was also believed to be a bringer of victory, as related in the Anglo-Saxon Chronicle. In the troublesome year 878, a Viking leader was killed together with most of his men in Devon, and the battle standard that was called Raven was captured by the West Saxons. According to legend, »the banner was woven by the daughters of Ragnar Lothbrok, and the raven fluttered before victory, drooped before defeat; and this has often been proved.«47 Since both birds are renowned as greedy predators, it is not surprising that it is this quality that found entrance into religious interpretation and writing. In his Sermon on the Lord’s Epiphany, Ælfric uses the raven as a bird of vulture, symbolising guile-loving and greedy men: Se ðe facn lufað and smeað hu he mage him sylfum gestrynan and na gode, næfð he na culfran ðeawas, ac hæfð þæs blacan hremmes. He who loves guile, and devises how he may gain for himself and not for God, has not the qualities of a dove, but has those of the black raven.
(ÆCHII 3.183)
Except for the dove, Ælfric views birds in general rather negatively, associating all of them with devils which fly invisibly through the air as birds do visibly (see e. g. ÆCHII 6). As we have seen, both birds are rather negatively connotated. In poetry as well as religious writings, the eagle and the raven are mostly known for their greed and their preying on dead bodies. Although the predatory birds were considered to have similar apotropaic powers like the boar, their ability to prophesy the results of battles is more important. However, the significance of these prophesying birds derives from a pagan past and the renewed influx of pagan elements due to the Viking settlement in Anglo-Saxon England.48 It seems though that both birds alone were not _____________ 46 47 48
Speake, Animal Art (fn. 31), p. 83. See also p. 84 for the use of birds as prophets amongst the people on the Continent. Dorothy Whitelock, English Historical Documents 1 c. 500-1042, London 1979, p. 195 fn. 19. Speake, Animal Art (fn. 31), p. 85.
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that important in Old English literature, but only in company of the wolf as beasts of battle. The Beasts of Battle The ›beasts of battle‹ theme is a well-known topos in Old English literature. Although it is also common in the Norse skaldic literature, it probably did not derive from the worship of Odin, the divine connection between the war god and wulf and/or raven had no explicit importance in Anglo-Saxon poetry.49 Rather, the origin of the theme lies in the natural fact of carrion beasts gathering at battle sites to feed on the dead. Hence, we already find early traces of the theme in the Bible: Deut 28, 26; Jer 15, 3, 16, 4, 34, 20; Ezek 39, 4, 39, 17-19; Rev 19, 17-21; Ps 78, 2.50 Of course, they are not named as beasts of battle there. Instead, they attest to a well-known fact which was subsequently picked up by Anglo-Saxon poets and used as (formulaic) inventory in their works. References to the appearance of these scavengers add a level of actuality to the poetic realm, and reversed, they add a heroic poetic layer to an actual event. Letan him behindan hræw bryttian saluwigpadan, þone sweartan hræfn, hyrnednebban, and þane hasewanpadan, earn æftan hwit, æses brucan, grædigne guðhafoc and þæt græge deor, wulf on wealde. Behind them they left sharing out the corpses the dark-plumaged, horny-beaked black raven, and the dun-plumaged white-tailed eagle enjoying the carrion, the greedy war-hawk and that grey beast, the wolf of the forest.
(Battle of Brunanburh [ASC 937] 60-65a)
_____________ 49
50
Thomas Honegger, »Form and Function of the Beasts of Battle Revisited«, in: English Studies, 79/1998, p. 289-298, here p. 290; John Richard Hall, »Exodus 166b, cwyldrof; 162-167, The Beasts of Battle«, in: Neophilologus, 74/1990, pp. 112-121, here p. 114f. In Northern mythology, Odin was traditionally accompanied by two ravens, Huginn and Muginn, ›Thought‹ and ›Memory‹, and two wolves, Geri and Frekki, ›Greedy‹ and ›Ravenous‹, that would eat the meat offered to Odin in Walhall. See also Davidson, Gods and Myths (fn. 33), p. 65. Hall, Exodus (fn. 49), pp. 114 & 121.
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Furthermore, the association between this topos and reality was so strong that poets employed it before the describing the actual battle to evoke an atmosphere of imminent danger and death: Hreopon herefugolas, hilde grædige, deawigfeðere ofer drihtneum, wonn wælceasega. Wulfas sungon atol æfenleoð ætes on wenan, carleasan deor, cwyldrof beodan on laðra last leodmægnes fyl. Hreopon mearcweardas middum nihtum, fleah fæge gast, folc wæs gehæged. Birds of battle greedy for the clash, flecked-feathered, the dark scavenger of carrion, screeched in wheeling flight after the corpses of the armies. Wolves sang hideous vespers in anticipation of feasting; brazen beasts bold at dusk, they awaited in the wake of the antagonists the slaughter of a mighty throng of people. They would howl, these haunters of the hinterland, in the middle of the nights: the doomed soul would flit away and the populace was reduced.
(Exodus 162-169)51
While the fighters do not yet know whose side will be victorious, the scavengers act as harbingers of death; and death, like the carrion beasts, is not particular. It is the prescience of the beasts that reveal the deeper meaning behind the scene: the inexorability of faith.52 Conclusion Although the understanding of animals in the early Middle Ages was not scientifically correct and often subject to mythical lore, they were nevertheless important in philosophical debates around the soul and discussions concerning moral and virtuous behaviour. The main qualitative difference between humans and animals was whether they possessed reason, and hence a soul, as the condition for Christian behaviour. In this regard, Ælfric adopted the stance of the thinkers of his age and beyond, and argued _____________ 51
52
Descriptions of the carrion beasts gathering at the wælstow before or after the fight can also be found in e. g. Elene, ll. 27-30a, 110b-113; Beowulf, ll. 3024-3027; Judith, ll. 205b-212a; Fight at Finnsburh, ll. 5b-7a; Battle of Maldon, ll. 106f. Adrien Bonjour, »Beowulf and the Beasts of Battle«, in: Publications of the Modern Language Association of America, 72/1957, pp. 563-573, here p. 566.
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that only man owns all three parts of the soul which allows him to excel all others.53 Animals only possess the parts that allow for desire and passions so their reasonable behaviour, which they are capable of exhibiting, must stem from their human contact. The relationship between humans and animals, especially in the early Christian times, is a mystified one. Animals react almost humane, that is as if directed by reason, when they refrain from harming saints or protect martyrs. Instinctively they can tell good persons from bad ones and act accordingly. Here, it is the behaviour of humans that transforms the behaviour of animals. For Ælfric, this was important in so far as the transformed animal behaviour attests to the possibilites that lie within the strength of faith. Ultimately, this transformation is inspired by God and only manifests itself in the true and faithful believer. In Anglo-Saxon poetry, the direction of transformation is reversed: it is the animal that passes on its qualities onto the humans. In particular animals of ferocious strength like the boar, lion and wolf, bore a significant spiritual power that was coveted by the fighters of warring societies. A boar’s head or a boar banner assured the fighters of their own strength, but also caused fear in the adversaries. The belief in the apotropaic powers of an emblem, much like the superstitions of the modern world, caused changes within the bearer of that emblem, either making him stronger, more courageous or more royal. This transformation has its origin in the natural world and the knowledge of ›real‹ (as opposed to divinely inspired) animal behaviour. Our discussion here has shown how varied the perception of animals in the early medieval world actually was. The origins of the views on these animals differ: some were sprung from a Germanic-Nordic background while others derived from Scripture. While at this stage of animal interpretation there is no visible conflation of, nor contest between, the two perceptions as yet, it emerges that in time the Christian understanding of animals and the religious interpretation of their behaviour will supplant the secular (and pagan) one. The suitability of using animals to teach lessons in morally good behaviour is already exploited by Ælfric, but it is in _____________ 53
The source for the quoted example ÆLS (fn. 19), 1, ll. 96-100 is King Alfred’s translation of Boethius’ De Consolatione Philosophiae. (King Alfred’s Version of the Consolations of Boethius, Walter J. Sedgefield (ed.), Oxford 1900, ch. 33, p. 90).
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the later Middle Ages that great interest was placed on the allegorical explanation of beastly behaviour, and in how far an animal could function as an exemplar of good Christian living.
Leonie Franz (Mainz)
Im Anfang war das Tier. Zur Funktion und Bedeutung des Hirsches in mittelalterlichen Gründungslegenden I Unter den Stimmenimitationen von Gott bis Jandl des 2006 verstorbenen Dichters Robert Gernhardt findet sich folgende Legende von der Wundersam glücklichen Rettung der englischen Queen Victoria: »Wer schon einmal in London war, kennt sie sicher, die Victoria-Station, jenes längliche Bauwerk, das sich wie ein steinerner Zeuge mitten in der Millionenstadt erhebt. Aber wer weiß schon, wieso es gebaut wurde? Nun, einst hatte sich die Queen Victoria bei der Jagd verirrt, immer verzweifelter wurde ihre Lage, und schließlich brach sie mitten im Walde zusammen, die nackte Furcht in den Augen, ein Stoßgebet auf den Lippen, doch da teilte sich plötzlich das Gesträuch und ein Hirsch trat heraus, ein Hirsch, der ein Geweih auf dem Kreuz oder ein Kreuz zwischen dem Geweih trug, da gehen die Meinungen auseinander, verbürgt jedoch ist, dass der Hirsch eine segnende Bewegung mit der Hinterhand machte und also zur Königin sprach: ›habe keine Angst! Denn du wirst in Bälde errettet werden!‹ Da aber sank die Königin in die Knie und gelobte, an dieser Stelle einen Bahnhof zu errichten.«1
Es handelt sich hier um die gekonnte Nachbildung einer Gründungslegende, wie sie das Mittelalter in großer Zahl hervorgebracht hat. Dass Gernhardt einen Hirsch auftreten lässt, ist kein Zufall. Seit der Antike gehören Tiere zum festen Personal der Textsorte, der Hirsch ist dabei der mit Abstand prominenteste Tierprotagonist mittelalterlicher Gründungs_____________ 1
Robert Gernhardt, In Zungen reden. Stimmenimitationen von Gott bis Jandl, Frankfurt a. M. S. 77.
42003,
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Leonie Franz
legenden. Er soll daher im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen.2 In der parodistischen Brechung des Imitators treten noch zwei weitere Charakteristika der Textsorte deutlich hervor. Auf den ersten Blick ist ersichtlich, dass sich die wundersame Begegnung der englischen Königin mit einem sprechenden Hirsch so nie ereignet hat. Bei der Erzählung handelt es sich nicht um einen historischen Tatsachenbericht, sondern um eine fingierende Ausgestaltung der Vergangenheit, eine Retrofiktion. Mit den Ereignissen, die tatsächlich zur Errichtung des Bahnhofs geführt haben, hat sie nichts bzw. so gut wie nichts gemein. Gründungslegenden sind einerseits also fiktiv, andererseits fingieren sie jedoch im Dienst einer Vergangenheit, die geglaubt werden soll. Sie erheben Anspruch auf Authentizität. Darauf zielen die ironischen Überlegungen, die Gernhardt über die exakte Platzierung des Kreuzes im Geweih des Hirsches anstellt. Der moderne Autor und Leser sind sich des fiktiven Charakters des Gesagten natürlich bewusst. Nach mittelalterlicher Vorstellung waren Wunder wie diese jedoch durchaus möglich und wahrscheinlich. Bei den mittelalterlichen Gründungslegenden hat man es daher zwar mit Retrofiktionen, nicht aber mit fiktionaler Literatur zu tun. Dass es sich dabei um zwei unterschiedliche Phänomene handelt, wird bei der Beschäftigung mit der Textsorte nicht immer beachtet.3 Eine Definition von Fiktivität und Fiktionalität hat zuletzt Jan-Dirk Müller vorgenommen. Voraus_____________ 2
3
Im Quellenkatalog der Studie von Carlo Donà, Per le vie dell’altro mondo. L’animale guida e il mito del viaggio, Soveria Mannelli 2003 (Medioevo romanzo e orientale 13), S. 531-555, der zahlreiche Gründungslegenden aufführt, ist der Hirsch das am häufigsten belegte Tier. Auf ihn entfallen 120 der insgesamt 521 Belege. Neben dem Hirsch gehören jedoch noch zahlreiche andere Tiere zur Fauna der mittelalterlichen Gründungslegenden. Von Adler bis Ziege, von Frosch bis Fisch bevölkern nahezu alle im Mittelalter bekannten Tierarten und -gattungen die Quellen. Dabei dominieren jene Tiere, die als Jagd- und Haustiere, als Nahrungslieferanten, Arbeitskräfte oder sonstige Nutztiere im mittelalterlichen Leben allgegenwärtig waren und darüber hinaus in der mittelalterlichen Kultur – in Religion, Naturkunde, bildender Kunst und Literatur – einen wichtigen Platz einnahmen. Zur Frage von Fiktion und Fiktionalität im Mittelalter siehe Walter Haug, »Die Entdeckung der Fiktionalität«, in: ders., Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Tübingen 2003, S. 128-144; Brigitte Burrichter, Wahrheit und Fiktion. Der Status der Fiktionalität in der Artusliteratur des 12. Jhs., München 1996 (Beihefte zu Poetica 21); Fritz Peter Knapp / Manuela Niessner (Hrsg.), Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter, Berlin 2002 (Schriften zur Literaturwissenschaft 19) u. a.
Im Anfang war das Tier
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setzung dafür, dass ein Text als fiktional aufgefasst werden kann, ist, so Müller, »ein Bewußtsein des fiktiven Charakters des Fingierten.«4 Der Geltungs- und Wahrheitsanspruch fiktionaler Texte wird dabei durch »die (jederzeit mögliche) Aufdeckung des Fiktionscharakters […] nicht nur nicht zerstört, sondern überhaupt nicht tangiert.«5 Demgegenüber beruht die Wirkung von Fiktionen gerade darauf, dass sie als solche nicht erkannt werden. Fiktionen »sind mehr oder minder interessierte, mehr oder minder selegierende, mehr oder minder arrangierende Annahmen über die Wirklichkeit«, deren »Wahrheitsgehalt nicht überprüft wird, überprüft werden kann oder soll.«6 Die Gründungslegenden durften demnach gerade nicht als Retrofiktionen durchschaut oder auch nur in ihrem Wahrheitsanspruch in Frage gestellt werden. Nur solange das Fingierte als wirklich unterstellt wurde, konnten die Legenden den Anspruch auf Rang und Bedeutung erfüllen, der im Mittelalter hinter jeder Ursprungserzählung steht.7 Die eigentümliche Zwitterstellung der Textsorte zwischen factum und fictum, zwischen Geschichte und Dichtung, ist dafür verantwortlich, dass die mittelalterlichen Gründungslegenden und ihre Tierwunder von der Forschung bisher kaum oder zu einseitig betrachtet wurden. Während sie von der Geschichtswissenschaft lange Zeit als unhistorisch abgelehnt wurden, waren sie den Literaturwissenschaftlern – nicht zuletzt auch aufgrund der Kürze und scheinbaren Formlosigkeit der Texte – meist zu unpoetisch.8 Dabei wurde vielfach vergessen, dass es sich bei einem Großteil dieser der Chronistik inhärenten Ursprungsfiktionen gerade nicht um populäres Erzählgut handelt, sondern um gelehrte Spekulationen, meist aus _____________ 4 5 6 7
8
Jan-Dirk Müller, »Literarische und andere Spiele. Zum Fiktonalitätsproblem in vormoderner Literatur«, in: Poetica, 36/2004, S. 281-311, hier S. 284. Ebd., S. 285. Ebd., S. 283f. Fiktivität ist daher – anders als Fiktionalität – kein literaturspezifischer Begriff. Vgl. Gerd Althoff, »Formen und Funktionen von Mythen im Mittelalter«, in: Helmut Berding (Hrsg.), Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 3, Frankfurt a. M. 1996, Bd. 3, S. 1-33, bes. S. 16. Exemplarisch für viele Wilhelm Wattenbach / Rudolf Holtzmann, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, Bd. 2, Neuausgabe besorgt von Franz-Josef Schmale, Darmstadt 1967, Bd. 2, S. 558; Friedrich Ranke, »Grundfragen der Volkssagenforschung«, in: Leander Petzoldt (Hrsg.), Vergleichende Sagenforschung, Darmstadt 1969 (Wege der Forschung 152), S. 120, hier S. 1.
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Leonie Franz
der Feder von Klerikern, die über Jahrhunderte weiter tradiert wurden.9 Schon allein diese Feststellung lässt das Verdikt der Bedeutungs- und Belanglosigkeit der Gründungslegenden fraglich erscheinen. Zwar hat die Textsorte in den vergangenen Jahren – vor allem im Rahmen kulturwissenschaftlicher Überlegungen zu Mythos und Genealogie – eine Aufwertung erfahren, doch konzentrieren sich die Untersuchungen meist auf einschlägige Werke wie etwa das Annolied oder den Eneasroman. Die zahlreichen Gründungslegenden in Stadt- und Klosterchroniken sowie anderen historiographischen Werken finden dagegen häufig keine Beachtung.10 II Betrachtet man die Tiere in mittelalterlichen Gründungslegenden, fällt zuerst auf, dass zwischen dem Eigennamen der Gründung und der Bezeichnung des Tieres häufig lautliche Ähnlichkeiten bestehen. So erzählt die Gründungslegende des oberbayerischen Klosters Ebersberg von einem wilden Eber, der sich lange nicht vertreiben ließ,11 Bern soll der Legende zufolge nach einem Bären benannt worden sein, den der Stadtvater Herzog Berthold V. von Zähringen im Wald vor der Stadt fing,12 und an der _____________ 9 10
11 12
Vgl. František Graus, Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Wien u a. 1975, S. 374. Siehe die Beiträge im Sammelband von Udo Friedrich / Bruno Quast (Hrsg.), Präsenz des Mythos. Konfigurationen einer Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2004 (Trends in Medieval Philology 2); Beate Kellner, Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter, München 2004. In der Geschichtswissenschaft hat vor allem Gerd Althoff zur Aufwertung der Gründungslegenden beigetragen. Siehe Gerd Althoff, »Genealogische und andere Fiktionen in mittelalterlicher Historiographie«, in: ders., Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter, Darmstadt 2003, S. 2551.Vgl. auch Klaus Graf, »Ursprung und Herkommen. Funktionen vormoderner Gründungserzählungen«, in: Hans-Joachim Gehrke (Hrsg.), Geschichtsbilder und Gründungsmythen, Würzburg 2001 (Identitäten und Alteritäten 7), S. 23-36. »Chronicon Ebersbergense«, in: Monumenta Germaniae Historica SS 20, Wilhelm Arndt (Hrsg.), Hannover 1868, S. 9-15. Conrad Justinger, Berner-Chronik. Nebst vier Beilagen, Gottlieb Studer (Hrsg.), Bern 1871, S. 8. Vgl. Diebold Schilling, Berner Chronik 1483, 4 Bde., Bern 1943-45, Hans Bloesch / Paul Hilber (Hrsg.), Bd. 1, 1943; Bendicht Tschachtlan, Bilderchronik. Faksimile-Ausgabe der Handschrift MS. A 120 der Zentralbibliothek Zürich, Alfred A. Schmid (Hrsg.), Luzern 1988.
Im Anfang war das Tier
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Gründung des ersten Ordenshauses der Trinitarier in Cerfroid soll ein Hirsch (frz. cerf) mit einem Kreuz im zweifarbigen Geweih mitgewirkt haben.13 Das Erscheinen der Tiere ›erklärt‹ Herkunft und Bedeutung des jeweiligen Eigennamens. Es handelt sich also um etymologisierende Erzählungen. Das im Mittelalter ebenso verbreitete wie beliebte Verfahren des Etymologisierens war eines der wichtigsten Werkzeuge beim Fingieren von Gründungsgeschichten.14 Mit seiner Hilfe sind zahlreiche Tierlegenden entstanden. Dabei treten die Tiere nicht immer wie in den genannten Beispielen unmittelbar als Namengeber auf. Häufig sind sie als Akteure des Gründungsgeschehens auch nur mittelbar an der Namengebung beteiligt. So in der Legende von den Anfängen Frankfurts am Main, die Thietmar von Merseburg zu Beginn des 11. Jhs. in seiner berühmten Chronik aufgeschrieben hat. Sed ne huius nominis auctoritas te lectorem amplius lateat, sicut a credibilibus viris audivi, sic adnunciare cupio tibi.15 Mit diesen Worten leitet der Chronist seine Erzählung ein und weist sie damit sogleich als etymologisierende Gründungslegende aus. Über die Herkunft des Stadtnamens berichtet er anschließend Folgendes: Regnante Karolo imperatore magno, Pippini regis filio, bellum fit inter suos et predecessores nostros, in quo certamine Franci a nostris devicti, cum flumen Moin dictum sine aliqua vadi
_____________ 13
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Jacques Bourgeois, »Inventio ordinis sanctissimae Trinitatis et redemptionis captivorum, elegiaco carmine descripta«, in: L’ordre des Trinitaires pour le rachat des captifs, Paul Deslandres (Hrsg.), Toulouse, Paris 1903, Bd. 2, S. 141-143. Die Beispielreihe ließe sich beliebig fortsetzen, weisen Ortsnamen doch besonders häufig ein Tier als Bestimmungswort auf. Nach Althoff, Genealogische Fiktionen (Anm. 10), S. 28. In der Forschung wurden bisher vor allem jene Erzählungen betrachtet, die den Namen der Gründung auf eine ›geschichtliche‹ Gestalt, einen heros eponymos, zurückführen. Siehe Anneliese Grau, Der Gedanke der Herkunft in der deutschen Geschichtsschreibung des Mittelalters (Trojasage und Verwandtes), Leipzig 1938; Arnold Angenendt, »Der eine Adam und die vielen Stammväter. Idee und Wirklichkeit der Origo gentis im Mittelalter«, in: Peter Wunderli (Hrsg.), Herkunft und Ursprung. Historische und mythische Formen der Legitimation, Sigmaringen 1994, S. 27-52; Hannes Kästner, »›Der großmächtige Riese und Recke Theuton‹. Etymologische Spurensuche nach dem Urvater der Deutschen am Ende des Mittelalters«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 110/1991, S. 6897; Hartmut Kugler, »Das Eigene aus der Fremde. Über Herkunftssagen der Franken, Sachsen und Bayern«, in: ders. (Hrsg.), Interregionalität der deutschen Literatur im europäischen Mittelalter, Berlin u. a. 1995, S. 175-193. Thietmar von Merseburg, »Chronik«, in: Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, Werner Trillmich (Hrsg.), Darmstadt 1960, Bd. 9, S. 436.
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certitudine palantes transire cogerentur, cervam precedentem et divina miseracione quasi viam eis demonstrantem subsequuti optati littoris securitate pociuntur laeti. Inde locus hic Francorum dictus est vadum (S. 434).
Es handelt sich um einen jener seltenen Fälle, in denen die Retrofiktion die vom Standpunkt der modernen Sprachwissenschaft ›richtige‹ Etymologie enthält. Der Name Franconofurd, der 794 anlässlich der Frankfurter Synode erstmals urkundlich erwähnt wird, leitet sich tatsächlich von der Lage der fränkischen Siedlung am Mainübergang zwischen der Oberrheinebene und der Wetterau ab. Vermutlich bereits in merowingischer Zeit entstand an dieser Stelle ein Königshof, aus dem sich später die Stadt entwickelte.16 Das Tier tritt in der Legende in der klassischen Rolle eines Wegweisers auf. Ausdrücklich weist der Verfasser darauf hin, dass die Hirschkuh dem Heer Karls des Großen gleichsam den Weg gewiesen habe (quasi viam eis demonstrantem). Thietmar greift hier auf eine altbekannte und weit verbreitete Wanderlegende zurück. Wie Carl Pschmadt aufzeigt, blickt die Hinde als Führerin durch scheinbar undurchgängige Gewässer auf eine lange Tradition zurück.17 Bereits im 6. Jh. berichtet Jordanes in der Getica über die Auswanderung der Hunnen: Huius ergo gentis, ut adsolet, venatores, dum in interioris Meotidae ripam venationes inquirent, animadvertunt, quomodo ex improvisio cerva se illis optulit ingressaque paludem nunc progrediens nunc subsistens index viae se tribuit. quam secuti venatores paludem Meotidam, quem inpervium ut pelagus aestimant, pedibus transierunt. Mox quoque Scythica terra ignotis apparuit, cerva disparuit.18
Anders als Thietmar bindet der spätantike Autor das Tiermotiv in den Rahmen einer Jagdhandlung ein. Die Hirschkuh ist zunächst ein gejagtes Tier, aus dem jedoch unversehens ein führendes Tier wird, das seinen Verfolgern den Weg durch das mäotische Sumpfmeer weist. Markiert wird dieser Rollenwechsel durch die Formulierung index viae se tribuit. Nur fol_____________ 16
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Nach Dieter Berger, Duden. Geographische Namen in Deutschland. Herkunft und Bedeutung der Namen von Ländern, Städten, Bergen und Gewässern, Mannheim u. a. 1993, S. 101f.; Fred Schwind, Art. »Frankfurt«, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 4/1989, Sp. 735ff. Nach Carl Pschmadt, Die Sage von der verfolgten Hinde. Ihre Heimat und Wanderung, Bedeutung und Entwicklung mit besonderer Berücksichtung ihrer Verwendung in der Literatur des Mittelalters, Greifswald 1911, S. 30ff. Jordanes, »Getica«, in: Monumenta Germaniae Historica AA 5,1, Theodor Mommsen (Hrsg.), Hannover 1882, S. 89f.
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gerichtig ist es daher, dass die Hindenjagd nicht beendet wird. Nachdem das Tier die Hunnen ans andere Ufer geführt hat, verschwindet es aus der Erzählung (cerva disparuit). Es hat seine Aufgabe erfüllt.19 Im Anschluss an seinen Bericht bemerkt Jordanes: quod, credo, spiritus illi, unde progeniem trahunt, ad Scytharum invidia id egerunt (S. 90). Das plötzliche Erscheinen der Hinde führt der Geschichtsschreiber also auf numinose Mächte, und zwar auf böse Geister, zurück. Doch fügt er hinzu, die von Bewunderung für das neue Land ergriffenen Hunnen hätten natürlich gemeint, der Weg sei ihnen durch göttliche Fügung gezeigt worden.20 Als ein Fingerzeig Gottes wird das Tier von Gregor von Tours gedeutet, der die Hindenlegende im zweiten Buch seiner Libri historiarum decem anlässlich Chlodwigs Zug durch die Vienne erzählt. Den Zusammenhang zwischen dem Auftreten des Tieres und dem Willen Gottes arbeitet er dabei deutlich heraus. Die Hinde erscheint bei ihm nicht mehr ex improviso, sondern auf ein nächtliches Gebet des Königs hin. Cumque illa nocte Dominum depraecatus fuisset, ut ei vadum quo transire possit dignaretur ostendere, mane facto cerva mirae magnitudinis ante eos nuto Dei flumine ingreditur, illaque vadante, populus quo transire possit agnovit.21
Wie später bei Thietmar, ist das Jagdmotiv hier bereits vollständig hinter der Führerrolle des Tieres zurückgetreten. Gregor greift das Erzählmotiv später noch einmal auf. So berichtet er über den Einfall der Langobardenherzöge Anno, Zaban und Rodan ins Frankenreich: Sed cum Eseram fluvium exercitus laboriose transiret, nutu Dei animal amenem ingreditur, vadum ostendit.22 Das nicht näher bestimmte Tier agiert erneut in göttlichem Auftrag. Von Gregor aus gelangt die Hindenlegende in die Chansons de geste, wo sie »sich
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Eine fast identische Geschichte findet sich in der Kriegsgeschichte des Prokopios. Auch hier wird den Hunnen der Weg im Rahmen einer Hindenjagd gewiesen. Prokopios von Caesarea, »Gothenkrieg«, in: Werke. Griechisch-Deutsch, 5 Bde. Otto Veh (Hrsg.), München 1966, Bd. 2, S. 35. So wie diese bleiben viele Jagden in den mittelalterlichen Gründungslegenden unvollendet. Illo vero, qui praeter Meotidam alium mundum esse paenitus ignorabant, admiratione ducti terrae Scythicae et, ut sunt sollertes, iter illud nullae ante aetati notissimum divinitus sibi ostensum rati (S. 90). Gregor von Tours, »Historia Francorum«, in: Monumenta Germaniae Historica SS rer. Merov. 1,1, Bruno Krusch (Hrsg.), Hannover 1884, S. 86. Ebd. (Anm. 21) S. 179.
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am reichsten entfaltet und durch die Legende Karls des Grossen bis ins Hochmittelalter hineinreicht.«23 Die Vorstellung von der göttlichen Sendung der Hinde übernimmt auch Thietmar in seiner Gründungslegende. Erklärt er doch, das Tier habe den Franken durch göttliches Erbarmen (divina miseracione) den Weg gewiesen. Die Hindenerzählung liefert damit nicht nur ein passendes Benennungsmotiv, sondern verleiht der Gründung darüber hinaus eine besondere Legitimation. Das Erscheinen der Hinde beweist das unmittelbare Eingreifen Gottes in das Geschehen. Die Entstehung Frankfurts wird zu einem göttlichen Schöpfungsakt. Durch die Anbindung an Karl den Großen wird das Ansehen der Stadt zusätzlich gesteigert. Der Begründer des westlichen Kaisertums, der 1165 heilig gesprochen wurde, gehörte im Mittelalter zu den am meisten verehrten Persönlichkeiten. Der Glanz, der seinen Namen umgibt, strahlt ganz selbstverständlich auch auf seine Gründung ab.24 So sind es also gerade die offensichtlich fingierten Elemente, das Tier und Kaiser Karl, die der Gründungslegende von Frankfurt Sinn und damit Glaubwürdigkeit verleihen – und nicht die sprachgeschichtlich richtige Deutung des Ortsnamens. III Längst nicht immer lassen sich die Retrofiktionen der mittelalterlichen Legendenschreiber jedoch auf etymologische Überlegungen zurückführen. So liefert der Name Fécamp keinen Anhaltspunkt für die wunderbare _____________ 23
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Pschmadt, Verfolgte Hinde (Anm. 17), S. 40. So begegnet das Motiv im 13. Jh. z. B. in der nach französischen Gesten kompilierten Karlamagnus Saga. Auf dem Zug nach Spanien weist eine weiße Hinde auf ein Gebet Karls hin den Weg durch die Gironde. Karlamagnús saga ok Kappa hans, Carl R. Unger (Hrsg.), Christiania 1860, 1, 51. In der Chanson von Ogier li Danois ist es keine Hirschkuh, sondern ein schneeweißer Hirsch, der das Karlsheer über die Alpen führt. La Chevalerie d’Ogier de Danemarche, Mario Eusebi (Hrsg.), Mailand 1963, v. 262ff. Siehe weitere Belege bei Pschmadt, S. 40ff. Vgl. Sergio Cigada, La leggenda medievale del Cervo Bianco e le origini della ›matière de Bretagne‹, Rom 1965 (Atti della Accademia Nazionale dei Lincei 363), S. 54ff. Nach Grau, Gedanke der Herkunft (Anm. 14), S. 21. Neben Julius Caesar war Karl der Große einer der beliebtesten Gründerväter im Mittelalter. Zur Bedeutung Karls als Repräsentationsfigur im Mittelalter siehe František Graus, Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Wien u. a. 1975, S. 182-205.
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Hirschjagd, von der die Gründungsgeschichte der ehemaligen Benediktinerabtei in der Diözese Rouen erzählt. Überliefert ist die Legende im Libellus de revelatione, aedificatione et auctoritate Fiscannensis monasterii, das Ende des 11. Jhs. verfasst wurde. »Herzog Ansegisus, der sich zu Beginn des Mittelalters als Kämpfer gegen die Barbaren in Gallien einen Namen gemacht haben soll, begibt sich eines Tages mit seinem Gefolge in die Gegend von Fécamp, um in den Wäldern zu jagen. Bald stoßen die Jäger auf einen Hirsch, den sie sogleich verfolgen. Trotz größter Bemühungen gelingt es ihnen nicht, das prächtige Tier zu erjagen. An der Stelle, an der später der Altar des Klosters errichtet wird, bleibt der Hirsch stehen und blickt sich um. Die heraneilenden Hunde und Pferde erstarren sogleich. Nachdem der Herzog das Wunder betrachtet und seine göttliche Urheberschaft erkannt hat, wirft sich die ganze Jagdgesellschaft im Gebet zur Erde. Der Hirsch zeichnet daraufhin mit seinem Geweih einen kreisrunden Umriss auf dem Boden und verschwindet. Ansegisus lässt dort sofort eine Kapelle aus Ästen errichten. Bevor er jedoch sein Bauvorhaben weiterführen kann, stirbt er. Der Ort wird daraufhin verlassen. Später entdeckt ein Freund König Chlotars III., Waningus, den Platz wieder und vollendet die Gründung.«25
Im Gegensatz zu Thietmar, der die Gründungsereignisse nur knapp skizziert, hat der anonyme Autor von Fécamp die geschichtlichen Anfänge des Klosters bunt ausgemalt.26 Schon der morgendliche Aufbruch der Jagdgesellschaft ist äußerst plastisch geschildert. Von Netzen, Spießen und anderem Jagdgerät ist die Rede, vom Durchstreifen des Waldes und seiner Verstecke, vom Keuchen der erhitzten Jäger und von ihrem lauten Geschrei, als sie den Hirsch erblicken, vom gellenden Gebell der losstürzenden Hunde und von der fliegenden Hast der galoppierenden Pferde.27 _____________ 25
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»Libellus de revelatione, aedificatione et auctoritate Fiscannensis monasterii …«, in: Patrologia Latina (= PL): Patrologiae cursus completus. Series Latina, Jaques-Paul Migne (Hrsg.), Paris 1881, Bd. 151, Sp. 699-724, hier Sp. 705ff. Klostergründungslegenden sind in der Regel breiter ausgeführt als die Gründungsgeschichten von Städten. Nach Liebgard Priesner, Art. »Gründungssage«, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 6/1990, Sp. 264-271, hier Sp. 269. Quadam igitur die dux Ansegisus, solito maturus consurgens, suos venatores convocavit, canes copulari disposuit, plagas, venabula caeteraque venandi instrumenta ad saltum Fiscanensium, imas valles et arduos montes comportari praecepit. […] Tandem duci, et suis venatoribus, magno labore et multo inveniendi desiderio aestuantibus et anhelantibus, mirae magnitudinis occurrit cervus […]. Protinus obstupescentium venatorum clamore maximo, et irruentium canum latratu dissono sublimia aeris spatia complentur, et respondentes nemorosi, colles clamore feruntur: Absolvuntur canes omnibus copulis, dimissisque habenis totis viribus admittuntur equi (Sp. 705C).
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Wundervoll ausgestaltet ist auch die Erscheinung des Hirsches. Wie in Gernhardts Legendenimitation zeichnet sich das Tier durch eine ganze Reihe außergewöhnlicher Eigenschaften aus. So ist der Hirsch von erstaunlicher Größe (mira magnitudo, Sp. 705C) und trägt ein schneeweißes, völlig makelloses Fell (niveo corpore totus candidus, nullius varietatis macula distinguebatur, Sp. 705C). Wundersam ist auch sein Verhalten. Denn obwohl der Hirsch in mittelalterlichen Naturbüchern und Enzyklopädien stets als animal timidum beschrieben wird,28 zeigt er in der Legende weder Scheu noch Furcht. Er flieht nicht vor seinen Verfolgern, sondern non divertendo discurrens, aut discurrendo divertens, lento passu tranquillus incedebat (Sp. 705D). Er verspottet sogar den wilden Eifer seiner Jäger, indem er opposita retia aut transilibat, aut sui violentia pectoris illæsus dissolvebat (Sp. 705C). Wie in den Erzählungen von der verfolgten Hinde ist der Hirsch von Fécamp weniger ein gejagtes, denn ein führendes Tier. Die wegweisende Funktion des Hirsches wird dabei wieder ausdrücklich benannt: ad locum sui propositi suos persecutores fideliter adducebat (Sp. 705D). Doch begnügt sich der Verfasser des Libellus nicht mit dieser Feststellung, sondern fügt ihr eine ausführliche Erklärung hinzu. So lässt er Ansegisus seinen Begleitern zurufen: ›Cessate, […] cessate, venatores mei, non cervum, sed summi Dei nuntium agitare, vel persequi! Cervus iste, inquit, candidus, designat nobis locum propositum, et loci propositi aliquem summae vitutis habitatorem et patronum‹ (Sp. 706B).
Der Hirsch wird also erneut als göttlicher Bote gedeutet.29 Der Ausruf des Herzogs enthält dabei in nuce die Funktion des Tieres in der Gründungslegende: Cervus designat. Der Hirsch ›bezeichnet‹. Er bezeichnet den von _____________ 28
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Exemplarisch Vinzenz von Beauvais, Speculum naturale, Duai 1624, ND Graz 1964, Sp. 1345: Ceruus est animal timidum. In der Antike war der Hirsch ein beliebtes Symbol der Feigheit. In der Ilias verhöhnt Achilles die Feigheit Agamemnons, indem er ihm das »Herz eines Hirsches« nachsagt. »Gestalten der antiken Literatur, die mit Hirschen und Hinden verglichen werden, sind entweder Feiglinge und Versager (Turnus in der ›Aeneis‹, Penelopes Freier in der Odyssee) oder unschuldige Opfer (Vergils Dido).« Werner Rösener, Die Geschichte der Jagd. Kultur, Gesellschaft und Jagdwesen im Wandel der Zeit, Darmstadt 2004, S. 148. Das göttliche Eingreifen in die Gründungsvorgänge wird in der Legende immer wieder herausgestellt. So heißt es, der omnipoten[s] patron[us] (Sp. 705C) habe den Hirsch vor seinen Jägern beschützt. Wiederholt wird außerdem von der ultio divina (Sp. 706A) gesprochen, die Mensch, Hund und Pferd die Glieder zusammenreißt.
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Gott vorgesehenen Gründungsort. Und er tut dies im wahrsten Sinne des Wortes, wenn er den Plan für das Gotteshaus auf die Erde zeichnet. [C]ervus demisso capite, ad similitudinem sphaerae in eodem loco circuitum edidit, tacito motu innuens illic, illius nomine, aedificandum habitaculum, qui suae magnitudinis potentia orbem administraret universum (Sp. 706C).
Das Tier wird so gleichsam zum Architekten der Gründung.30 Der Hirsch setzt jedoch nicht nur ein Zeichen, er ist selbst ein Zeichen: ein Zeichen Gottes, das die Heiligkeit des Klosters beglaubigt. Dieser zeichenhafte Charakter des Tierwunders wird im Verlauf der Legende immer wieder betont. Als Ansegisus den Hirsch an der Klosterruine einholt, heißt es, er habe das miraculi signum aut signi miraculum (Sp. 706A) erblickt. Auch ist von der praesentis miraculi […] significatio[ ] (Sp. 706B) die Rede, die Gott eröffnet habe, als er die Ehrfurcht des Herzogs und seines Gefolges sah. In der bildenden Kunst des Mittelalters ist die Hirschjagd ein weit verbreitetes Sinnbild. Gewöhnlich wird sie auf »den Kampf zwischen Gut und Böse, genauer den Sieg des Guten und die Abwehr des Bösen« bezogen.31 Oft stellt sie die Verfolgung Christi durch die Unwissenden dar. Dabei verkörpern die Hunde meist die Ungläubigen und Unwissenden, die Jäger antike Herrscher u. a.32 Auf Christus wird der Hirsch außerdem bereits seit dem frühen Christentum ausgelegt. Dieser Deutung liegt die in der antiken Naturlehre beschriebene Feindschaft zwischen Hirsch und _____________ 30
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Das Tier als Architekt ist ein immer wiederkehrendes Motiv mittelalterlicher Gründungslegenden. So wird beispielsweise auch von Vögeln erzählt, die mit Holzspänen einen Plan auslegen. Siehe die Gründungslegende von Benediktbeuern und Dietramszell. »Chronicon Benedictoburanum«, in: Monumenta Boica, 7/1766, S. 17f. »Fundatio coenobii DietrammiCellae«, in: Monumenta Germaniae Historica SS 15,2, Oswald Holder-Egger (Hrsg.), Hannover 1888, S. 1070ff. Vgl. Stith Thompson, Motif-Index of Folk-Literature. A Classification of Narrative Elements in Folktales, Ballads, Myths, Fables, Mediaeval Romances, Exempla, Fabliaux, Jest-Books and Local Legends, Kopenhagen 21955-1958, V 111.3.1. »Birds indicate the site where a church is to be built«. Horst Appuhn, Die Jagd als Sinnbild in der norddeutschen Kunst des Mittelalters, Hamburg 1964 (Die Jagd in der Kunst), S. 7. Nach Peter Gerlach, Art. »Hirsch«, in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd. 2/1970, Sp. 286-289, hier Sp. 287. Die Actäon-Metamorphose und Jagd durch die eigenen Hunde in den Metamorphosen Ovids bietet ebenfalls den Hinweis auf das Leiden und Sterben Christi.
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Schlange zugrunde.33 Die Vorstellung, dass der Hirsch die giftige Schlange verschlingt, dann zu einer Quelle eilt, um sich dort zu laben und so wieder gesund zu werden, nimmt bereits im 2. Jh. der Physiologus auf. Unter Bezug auf Ps 41, 2 (Quemadmodum desiderat cervus ad fontes aquarum, ita desiderat anima mea ad te, Deus) deutet er den Hirsch allegorisch auf den Erlöser aus, der den Teufel mit dem himmlischen Wasser der göttlichen Heilslehre überwindet.34 Von den Kirchenvätern wird diese Auslegung aufgenommen und erweitert.35 In der Gründungslegende von Fécamp weist einiges darauf hin, dass ihr Verfasser bewusst auf die christliche Bedeutungstradition der Hirschjagd anspielt. So werden Ansegisus und sein Jagdgefolge wiederholt nicht als venatores, sondern als persecutores bezeichnet.36 Die Formulierung Ibi circumlatrantes innocentem nocentes canes (Sp. 706A) legt es ebenfalls nahe, die Hunde als die Ungläubigen zu deuten, die sich der Verfolgung des unschuldigen Hirsches, d. h. Christi, schuldig machen. Als ein weiteres Indiz kann die Beschreibung des Hirsches gewertet werden. Qui, niveo corpore totus candidus, nullius varietatis macula distinguebatur (Sp. 705C). Wie Meinolf Schumacher in seinen »Studien zur Metaphorik der Sünde in lateinischer und deutscher Literatur des Mittelalters« dargelegt hat, ist der Fleck (macula) eine der geläufigsten Sündenmetaphern in der mittelalterlichen Literatur. Als sine macula wird dabei immer wieder Jesus Christus bezeichnet. Sine peccati macula solus invenitur homo Jesus Christus.37 _____________ 33 34
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Plinius d. Ä., Histoire naturelle, Alfred Ernout u. a. (Hrsg.), Paris 1947ff., 8, 50; 28, 42. Nach Friedrich Lauchert (Hrsg.), Geschichte des Physiologus, Straßburg 1889, ND Genf 1974, S. 260. Die Art und Weise des Kampfs zwischen Hirsch und Schlange sowie seine allegorische Auslegung variiert in den verschiedenen Physiologus-Fassungen in Einzelheiten. Dazu ausführlich Herbert Kolb, »Der Hirsch, der Schlangen frißt. Bemerkungen zum Verhältnis von Naturkunde und Theologie in der mittelalterlichen Literatur«, in: Ursula Hennig / Herbert Kolb (Hrsg.), Mediaevalia litteraria. [Festschrift für Helmut de Boor], München 1971, S. 583-610. Cervus enim […] ad locum sui propositi suos persecutores fideliter adducebat. […] Illuc igitur perveniens subsitit, cujusdam benignitatis vultum praetendens, securus suos persecutores respexit (Sp. 705D). Auf diesen Umstand hat bereits Annie Renoux, Fécamp. Du Palais ducal au palais de Dieu. Bilan historique et archéologique des recherches menées sur le site du château des ducs de Normandie (IIe siècle A. C. – XVIIIe siècle P.C.), Paris 1991, S. 100, hingewiesen. Ps.-Gregor, »In septem psalmos poenitentiales«, in: PL (Anm. 25), Bd. 79, Sp. 562. Nach Meinolf Schumacher, Sündenschmutz und Herzensreinheit. Studien zur Metaphorik der Sünde in
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Versteht man den makellos weißen Hirsch der Legende als Sinnbild des unbefleckten, von jeder Sünde freien Gottessohns, so erhalten auch die auf den ersten Blick recht seltsam anmutenden Überlegungen über das Verschwinden des Tieres einen Sinn. Quo factus cervus evanuit, circumstantium notante nullo utrum sursum ascenderit, aut terram intraverit, aut aliter alias declinaverit (Sp. 706C). Die Vermutung, der Hirsch sei möglicherweise nach oben gestiegen, lässt sich dann als Anspielung auf die Auferstehung Christi begreifen. Die Hirschjagd-Legende von Fécamp, die mit dem ›Sieg‹ des Tieres und der Gründung des Klosters endet, wird so zur Allegorie der Christianisierung des ehemals heidnischen Gebiets an der Normandieküste. Ins Bild passt dabei auch die Beschreibung des Handlungsschauplatzes zu Beginn des Libellus. Ibi ergo eligitur Calciacensis provinciae Fiscannus, vallis maritima, quae silvarum et veprium densitate obscura, et ingentium supereminenti extollentia circommunita, non rerum Creatori habitaculum, verum feris et marinis latronibus credebatur praebere latibulum (Sp. 704C).
Die wilden Wälder, in denen sich das Jagdgeschehen ereignet, galten seit Eucherius von Lyon als Symbol für die heidnischen Völker.38 Die Retrofiktion erweist sich so einmal mehr nicht als willkürliche Erfindung, sondern als sorgsam konzipierte und äußerst sinnvolle Erzählung, als Erzählung voller Sinn. Die älteste überlieferte Klosterchronik von Fécamp, die zwischen 1015 und 1090 entstanden ist, weiß noch nichts von der wundersamen Hirschjagd Ansegisus’ zu berichten. Im Mittelpunkt steht die ›zweite‹ Gründung durch Waningus, der – im Gegensatz zu Ansegisus – als comes palatii König Chlotars III. historisch bezeugt ist.39 Auch diese Gründung ereignet sich anlässlich eines Jagdausflugs. In einem Nebensatz heißt es, dass Waningus, der gerne in der Gegend von Fécamp jagte, ignora[vit] Ducis Ansegisi revelationem.40 Der Verfasser des Libellus hat diese kurze Be_____________ 38 39 40
lateinischer und deutscher Literatur des Mittelalters, München 1996 (Münstersche MittelalterSchriften 73), S. 86f. Siehe dort weitere Belege. Eucherii episcopi Lugdunensis, »Formulae spiritalis intelligentiae«, in: Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum, Carolus Wotke (Hrsg.), Wien u. a. 1894, Bd. 31, Sp. 1-16, hier Sp. 17. Nach Renoux, Fécamp (Anm. 36), S. 103. »Vita S. Waningi confessoris in confessoris in monasterio Fiscamnensi«, in: Luc D'Achéry / Jean Mabillon (Hrsg.), Acta Sanctorum Ordinis Sancti Benedicti II, Sp. 972. Die Vita erzählt, wie Waningus auf der Jagd in seiner Domäne Fécamp erkrankt. Dort ruht er sich aus, doch die Heilung verzögert sich. Eine Serie von Visionen, in denen Ste Eulalie die Haupt-
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merkung offensichtlich zum Anlass für seine Fiktion von der ersten Gründung Fécamps genommen. Dass er dabei wohl ein konkretes Ziel im Auge hatte, weist Annie Renoux in ihrer historisch-archäologischen Untersuchung über Fécamp nach: Ende des 11. Jhs. stritt sich das Kloster mit dem Bischof von Rouen über die Exemption-Privilegien. In diesem Konflikt kam der Gründungslegende die Funktion einer literarischen Waffe, eines gladis spiritualis zu, bewies sie doch das hohe Alter und Ansehen des Klosters.41 IV Von gleich mehreren Hirscherscheinungen bzw. Erscheinungen von Hinden erzählt die Gründungslegende des ehemaligen Kanonissenstifts Böddeken. Überliefert ist sie in der Lebensbeschreibung des hl. Meinolf, der bald nach 836 das Stift in der Nähe von Paderborn gründete. Die älteste erhaltene Fassung der Vita S. Mainulfi stammt ebenfalls aus dem 11. Jh. Als ihr Verfasser nennt sich im Prolog Sigeward, der das Werk seinem Lehrer Albinus widmet.42 In über zehn Kapiteln erzählt er, wie Meinolf beabsichtigt, ein Kloster zu bauen und wie ihm der Gründungsort auf wundersame Weise bezeichnet wird. »Ein Hirte berichtet dem Heiligen von einer Lichterscheinung und einer Herde von Hirschkühen, die bald auf der Stelle getreten, bald im Kreis gelaufen seien.
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rolle spielt, und der Besuch von Ouen überzeugen ihn von der Notwendigkeit, an dieser Stelle, dessen Heiligkeit er bisher nicht erkannt hatte, ein Kloster zu bauen. Nach dieser Entscheidung wird er rasch wieder gesund. Nach Renoux, Fécamp (Anm. 36), S. 99f. Zur Funktion der Gründungslegende als gladis spiritualis siehe Jörg Kastner, Historiae fundationum monasteriorum. Frühformen monastischer Institutionsgeschichtsschreibung im Mittelalter, München 1974 (Münchener Beiträge zur Mediävistik und Renaissance-Forschung), S. 159ff. Sigeward, »Vita S. Mainulfi«, in: Acta Sanctorum Octobris III, Sp. 209-216, hier Sp. 209. Ob es sich bei dem Verfasser um Abt Sigeward von Fulda (1039-1043) handelt, wie in der Forschung gelegentlich vermutet wurde, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen. Sein Lehrer Albinus war vermutlich der gleichnamige Hersfelder Schulleiter und Probst (1035-1061). Bei Sigewards Werk handelt es sich um die Neubearbeitung einer nicht erhaltenen älteren Vita des Heiligen. Zu Sigewards Vorlage Georg Hüffer, Korveier Studien. Quellenkritische Untersuchungen zur Karolinger Geschichte, Münster 1898, S. 299; Klaus Löffler, »Gobelinus Persons Vita Meinulphi und sein Kosmodromius«, in: Historisches Jahrbuch, 25/1904, S. 190-192.
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Im Auftrag seines Bischofs, der ein teuflisches Blendwerk hinter den Erscheinungen befürchtet, begibt sich Meinolf selbst zur Stelle, um Gott persönlich in dieser Angelegenheit zu befragen. Und auch ihm erscheinen die Lichter und Tiere, von denen der Hirte berichtet hatte. Nachdem der Bischof noch ein drittes Wunder fordert, und auch dieses gewährt wird, erhält Meinolf die Erlaubnis, an dieser Stelle ein Kloster zu errichten. Als er aber zum Bauplatz kommt, erblickt er einen prächtigen Hirsch, der sogleich verschiedene Ehrfurchtsbezeugungen vor dem Heiligen macht. Bei genauerer Betrachtung erkennt Meinolf im Geweih des Hirsches ein Kreuz, das hell erstrahlt. Nachdem das Tier verschwunden ist, findet Meinolf an der gleichen Stelle einen Stab. Daraufhin beginnt er mit dem Bau des Klosters.«
Mit dem Licht- und Tierwunder sowie der wunderbaren Auffindung eines Kultgegenstands vereinigt die Erzählung gleich mehrere Topoi mittelalterlicher Gründungslegenden. Hirsch und Hirschkühe fungieren dabei wieder als Wegweiser. So umkreisen die Hinden jenen Ort, ubi nunc idem monasterium Deo auctore consistit (Sp. 211D). Der Kreuzhirsch aber, bei dessen Entstehung wohl die Eustachiuslegende Pate gestanden hat, bestimmt den Platz, der nunc principale ejusdem monasterii continet altare (Sp. 212D).43 Wie in den vorangegangenen Beispielen erfüllen die Tiere eine im doppelten Sinne weisende Funktion: So weisen sie Meinolf nicht nur zum Ort des künftigen Klosters, sondern beweisen darüber hinaus das unmittelbare Eingreifen Gottes in das Gründungsgeschehen. Das Kloster wird so als »Hierophanie, als möglichst deutliche Manifestation des Göttlichen in der irdischen Welt« propagiert.44 Die in der Gründungslegende von Fécamp lediglich angedeutete Christussymbolik des Hirsches benennt Sigeward explizit. Als Meinolf im Geweih des Hirsches das vexill(um) Domini sui erblickt, heißt es: simul cognovit Dominum suum præsto esse in auxilium sibi (Sp. 212C). Kurz darauf erklärt der Autor noch einmal: per cervum, qui apparuit solus, potest accipi […] Christus _____________ 43
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Pschmadt, Verfolgte Hinde (Anm. 17), S. 54, hat darauf hingewiesen, dass Teile der Vita Mainulfi fast wortwörtlich den Eustachius-Akten entsprechen. Der Hirsch zeichnet sich wie in der Gründungslegende von Fécamp durch eine ganze Reihe wundersamer Attribute aus. Vidit enim præstanti corpore cervum, membra quidem prostratum, sed cornua in sublime arrectum, utpote sic præstolantem Viri adventum. Qui viso Dei Homine, quodammodo indicavit, sibi non licere in adventum ejus accubare: sed se festinanter erexit, & quasi per orationem suam advenienti Sancto assurrexit [...] Cumque alterutrum occurentes jam cominus obvii essent, iterum cervus præconium sancti Viri confessus est, humiliter se prosternendo, cui prius assurrexit sese erigendo (Sp. 212Bf.). Das Motiv der Ehrfurchtsbezeugungen von Tieren ist ebenfalls ein hagiographischer Topos. Kastner, Historiae fundationum monasteriorum (Anm. 41), S. 161.
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(Sp. 212D). Anlässlich der Auffindung des Stabs, der an Stelle des Hirsches zurückbleibt, bekräftigt er diese Deutung schließlich ein drittes Mal. Der spätere Hauptaltar sei, so erklärt der Verfasser, bene praefiguratum […] in ligneo, quia ipse Christus, qui altari præsidet, regnavit a ligno (ebd.). Während Sigeward mit seiner Auslegung des Kreuzhirsches der christlichen Bedeutungstradition des Tieres folgt, schreibt er den Hinden eine ganz eigene Bedeutung zu. Quod autem cervas, non cervos, vidit, gregem illum Dominicum ex fæmineo sexu collectum iri præfiguravit (Sp. 211D). Diese Deutung der weiblichen Tiere als Präfiguration der Bewohnerinnen des künftigen Damenstifts, führt er anschließend weiter aus: Namque ut in præscripta visione, famulas Dei præfiguraverant cervæ; ita hic per cervum, qui apparuit solus, potest accipi ipse famularum suarum custos Christus, cui soli, sponso videlicet nobilissimo, debent adhærere sacræ virgines ibidem collectæ (Sp. 212D).
Die Hinden legitimieren also nicht nur den Ort, sondern auch die Art der Gründung, das Kanonissenstift. So wie an dieser Stelle unterbricht Sigeward immer wieder seinen Bericht, um die wundersamen Ereignisse zu erläutern. Wiederholt zieht er dabei Verbindungslinien zwischen dem Gründungsgeschehen und der Heilsgeschichte. So stellt er den Hirten, dem als Ersten die Lichter und Tiere erscheinen, in die Nachfolge der Hirten von Bethlehem, denen zuerst die Geburt Jesu offenbart wurde.45 Die Lichterscheinung aber vergleicht er mit der Erleuchtung der Apostel.46 Mit dem Hinweis, es handele sich lediglich um quibusdam contemplationibus nugisque miraculosis, hat Oswald Holder-Egger, der Herausgeber der Gründungslegende in der ScriptoresReihe der Monumenta Germaniae Historica, diese und andere Kommentare sowie einige Wundermotive fortgelassen.47 Damit hat er den Text jedoch wesentlicher Elemente beraubt. Denn gerade die Wunder und ihre Deutung geben der Erzählung ihren Sinn. Als Unsinn erscheint diese erst, wenn man alles wegstreicht, was nicht den Fakten entspricht. Das Uner_____________ 45
46 47
O ineffabilem Christi pietatem! dum Servi sui honorem dictavit, nativitatis suæ miraculum suscitavit. Namque ut illa primum revelata est pastoribus, sic hujus construendi monasterii visio pastori innotuit primitus (Sp. 211D). Si quis enim quærat mysterium de viso lumine, nihil prohibet eum præsentiam S. Spiritus per lumen intelligere, quæ & olim Apostolis per ignem voluit apparere (Sp. 211Df.). Sigeward, »Vita S. Mainulfi«, in: Monumenta Germaniae Historica SS 15,1, Oswald HolderEgger (Hrsg.), Hannover 1887, S. 412.
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hörte ist nicht das Wunder, sondern das reale Phänomen – das neu gegründete Kloster –, das erst durch die fiktive Ausdeutung begreiflich wird. Wie viele Gründungslegenden wurde die Geschichte des hl. Meinolf und der Gründung Böddekens im Mittelalter mehrfach umgeschrieben. Die erste Neufassung stammt von Gobelinus Person, der sich als Autor des Cosmodromius, einer umfassenden Weltchronik, einen Namen machte. Seine 1417 abgeschlossene Vita sancti Mainulphi stützt sich weitgehend auf die Darstellung Sigewards, die er gelegentlich wortwörtlich übernimmt. Seinem Vorgänger folgt Gobelinus Person auch in der Deutung des Gründungsgeschehens. Wie Sigeward legt er die Erscheinung des Kreuzhirsches auf Christus aus. Quo viso, Vir sanctus Dominum suum, cujus vexilli signo lætatur adesse, cognoscens, in hujusmodi verba prorupit: ›Jam mihi spes certa promittit, quod ille, qui quondam eodem vexillo inferni claustra penetravit, hujus loci protector contra diabolicos erit incursus‹ (Sp. 220).48
Die heilsgeschichtlichen Bezüge des Geschehens übernimmt der spätmittelalterliche Autor ebenfalls, wenn auch in reduzierter Form. Besonderes Augenmerk richtet er auf die geschichtlichen Hintergründe der Klostergründung. Die Errichtung des Kanonissenstifts führt er in erster Linie auf die kirchliche Reformgesetzgebung unter Kaiser Ludwig dem Frommen zurück, der 816 Kanoniker und Kanonissen auf eine einheitliche und allgemein verbindliche Lebensordnung (Institutiones Aquisgranenses) verpflichtete. Die Bedeutung des Hindenwunders als Präfiguration der Kanonissen tritt dagegen in den Hintergrund.49 Der Grund für diese Änderungen wird ersichtlich, wenn man den Entstehungskontext der neuen Vita betrachtet. Gegen Ende des 14. Jhs. befand sich das Damenstift von Böddeken, das inzwischen zu einer adligen Versorgungseinrichtung geworden war, innerlich und äußerlich im Niedergang. Wirtschaftliche Schwierigkeiten _____________ 48
49
Wie in diesem Fall wandelt Gobelinus Person immer wieder Kommentare Sigewards in Personenreden um. Seine Darstellung wirkt dadurch insgesamt lebendiger, der lehrhafte Duktus der Vorlage tritt etwas zurück. Cumque illis temporibus Lodewicus, filius Caroli Magni, sceptris imperii Romani susceptis, in concilio provinciali, quod Aquisgrani celebrari fecerat, imperii sui anno tertio statum seu Ordinem Canonicarum, quæ Sæculares appellantur, tunc noviter statuerat, & bestiæ solius sexus fæminei in loco visionum prædictarum apparuerant, sanctus Meinulfus divinæ Majestati placitum & imperatoris gratiæ acceptum esse, pie præsumpsit, si in loco memorato monasterium pro hujusmodi canonissis de suis bonis & in patrimonio suo fundaret, ut ibi sub custodia castitatis devotum Deo exhiberent famulatum (Sp. 219Ef.).
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trugen dazu bei, dass sich das Stift schnell leerte und die Gebäude zerfielen. In den Jahren 1408/09 übertrug der Paderborner Bischof Wilhelm von Berg den Besitz sowie die Rechtstitel des Stifts Augustinerchorherren aus dem niederländischen Zwolle, die wenigen noch in Böddeken ansässigen Kanonissen wurden abgefunden. Unter seinen neuen Bewohnern blühte das geistliche und wirtschaftliche Leben wieder auf. Böddeken wurde so im späten Mittelalter zu einem der größten und bedeutendsten Klöster in Deutschland. Als eine ihrer ersten Pflichten sahen es die eifrigen Chorherren an, den lange verkümmerten Ruhm des heiligen Meinolf neu zu beleben. Zu diesem Zweck beauftragten sie Gobelinus Person, der in der Paderborner Kirche hohe Ämter innehatte und zu den Befürwortern der nicht unumstrittenen Klosterreform gehörte, eine neue Lebensbeschreibung anzufertigen.50 Den neuen Bewohnern konnte natürlich nicht daran gelegen sein, die göttliche Vorsehung des inzwischen aufgelösten Kanonissenstifts zu betonen. Indem Gobelinus Person die historischen Zusammenhänge und damit die Zeitbedingtheit der Gründung besonders herausstellt, relativiert er gleichzeitig die Bedeutung des Hindenwunders. Seine Bearbeitung der Vita S. Mainulfi trägt so dazu bei, die Klosterreform von Böddeken zu legitimieren. Das gleiche Ziel verfolgt die zweite, anonym bleibende Bearbeitung der Lebensbeschreibung des hl. Meinolf. Wohl um die zahlreichen Laienbrüder des Klosters – Mitte des 15. Jhs. lebten neben etwa 30 Chorherren über 170 Laienbrüder in Böddeken, von denen kaum einer Latein verstanden haben dürfte – an der neu erwachten Meinolf-Verehrung vollen Anteil nehmen zu lassen und um für das neue Kloster zu werben, wurde die lateinische Vita des Gobelinus Person wenig später ins Mittelniederdeutsche übertragen. Entsprechend den Ansprüchen und Bedürfnissen ein_____________ 50
Nach Das Leben des hl. Meinolf. Eine niederdeutsche Handschrift, Heinrich Rüthing (Hrsg.), Paderborn 1991, S. 10. Die mit der Klosterreform eingehenden Schwierigkeiten beschreibt der Processus translacionis et reformacionis monasterii Budecensis, den Gobelinus Person seiner Vita angefügt hat. Gobelinus Person, Cosmidromius und als Anhang desselben Verfassers Processus translacionis et reformacionis monasterii Budecensis, Max Jansen (Hrsg.), Münster 1900, S. 231-243. Unter den Augustinerchorherren erlebte der Meinolf-Kult seine »eigentliche Blüteperiode.« Willhelm Stüwer, »Die Verehrung des hl. Meinolf. Eine kulturhistorische Skizze«, in: Westfalen, 19/1934, S. 227-239, hier S. 232. So entstanden in dieser Zeit auch zahlreiche bildliche Darstellungen, die den Klostergründer meist mit einem Hirsch an der Seite zeigen.
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facher Laien ist das Leven unses hl. vaders S. Maynulphi stark gekürzt und vereinfacht, seine Sprache schlichter.51 Das Wunder von den Hinden und dem Kreuzhirsch kommentiert der Verfasser wie folgt: So moge wy woll sehen, dat wy auch by unsen tyden seet, dat by dem herten, de na der tydt, als de hinden de stede verlaten haddenm und dat crüce twischen sinen hörnen droich, openbaer beteken were, dat de frolike versamblinge uü dat leste dar nicht bliven en solde, mer wanner van en de stede verlaten worde, so solde da tho wonnen kommen eine vergaderinge van Mannen, de ein herte und eine seele hebben solden und mit Christen dat crüce dragen.52
Das Verschwinden der Hinden und das Erscheinen des Kreuzhirsches an ihrer Stelle wird kurzerhand zum Vorzeichen für die Umwandlung des Damenstifts in ein Männerkloster erklärt. Der Hirsch bezeichnet nun sowohl Christus, als auch die Augustinerchorherren, die Böddeken mittlerweile bewohnen. Die umgedeuteten Tierwunder beweisen nicht mehr nur die Willenseinheit zwischen Gott und Gründer, sondern auch zwischen Gott und Reformern. Die Umschreibungen und Umdeutungen der Gründungslegende von Böddeken im 15. Jh. passen die Retrofiktion also an die Anforderungen der veränderten historischen Situation an und sichern damit zugleich ihren Wahrheitsanspruch. Neu ausgelegt bleibt das Wunder von den Hinden und dem Kreuzhirsch ein wahres Wunder. V An diesem letzten Beispiel wird noch einmal besonders deutlich, dass es sich bei den mittelalterlichen Gründungslegenden nicht um willkürliche Imaginationen handelt, sondern um äußerst sinnvolle Erzählungen. Die Retrofiktionen entspringen nicht der Fabulierlust der Verfasser, sondern sind das Produkt des mittelalterlichen Geschichtsverständnisses, eines Geschichtsverständnisses, das Geschichte als von Gott geleitete Heilsgeschichte begreift. Wahr ist demzufolge nicht allein, was sich tatsächlich er_____________ 51
52
Nach Katharina Colberg, Art. »Person, Gobelinus«, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 7/1989, Sp. 414. Der Text Sigewards ist nur selten herangezogen worden. Nach Leben des hl. Meinolf (Anm. 50), S. 11. »Leben des h. Meinolphus aus dem 15. Jh.e«, Wilhelm Engelbert Giefers (Hrsg.), in: Katholische Zeitschrift, 1/1851, S. 629-644, hier S. 641. In der Paderborner Handschrift fehlt die Darstellung vom Wiederaufbau des Böddeker Klosters nach 1409. Diese erweiterte Deutung findet sich bereits im Processus (Anm. 50), S. 232.
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eignet hat, sondern auch das, was als authentisch gilt, insofern es das Eingreifen Gottes in den irdischen Gang der Ereignisse beweist. Wahr ist folglich auch, dass ein Hirsch mit einem Kreuz im Geweih erscheint. Die Tiere sind also keinesfalls bloßes Beiwerk oder wunderbare Ausschmückung, sondern wichtige Funktions- und Bedeutungsträger. Sie fungieren als Lenkungsinstanzen, die zwischen Transzendentem und Irdischem, zwischen göttlichem Willen und menschlichem Handeln vermitteln. Die von ihnen bezeichnete Stätte wird zum Heilsort, die Gründung durch die Legende »narrativ sakralisiert«.53 Dem Sinn der Heilsgeschichte nachgeschrieben, nehmen die Tierwunder einen zentralen Platz innerhalb der Authentisierungsstrategie der Legendenschreiber ein. So sind es gerade die Tierwunder, deren fiktiver Charakter dem modernen Betrachter besonders ins Auge sticht, die den mittelalterlichen Gründungslegenden ihre Wahrheit verleihen. Mit dem Wandel des Weltund Geschichtsbilds am Ende des Mittelalters bzw. zu Beginn der Neuzeit musste sich auch die Funktion und Bedeutung der Gründungslegenden, und nicht zuletzt der Tiere in ihnen, verändern. In dem Augenblick, wo Geschichte nicht mehr als gottgeleitete Heilsgeschichte, sondern als vom Menschen gemacht, begriffen wurde, begann man, die Wahrheit der Wunder in Frage zu stellen. Ihr fiktiver Charakter konnte durchschaut, die Legende zur »Lügende« – so die polemische Verballhornung Martin Luthers – werden.54 Und so kann der sprechende Hirsch in Robert Gernhardts Legende von der Wundersam glücklichen Rettung der englischen Queen Victoria heute nur noch als Parodie verstanden werden.
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Ich übernehme hier einen Terminus von Graf, Ursprung und Herkommen (Anm. 10), S. 30. Vgl. Martin Luther, »Die Lügend vom St. Johanne Chrysostomo«, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 50, Weimar 1914, S. 52-64.
Bettina Bosold-DasGupta (Mainz)
Schweben, kreisen, gleiten, flattern... Zur Semantik der Vögel und Flugbewegungen in Dantes Divina Commedia Vorbemerkung Die Darstellung unterschiedlicher Naturerscheinungen in der Divina Commedia (Landschaften, Pflanzen, Tiere, Geräusche, Farben, Lichteffekte, usw.) hat von jeher die Aufmerksamkeit der Leser gebannt: Dies verdeutlichen bereits die Ausführungen früher Kommentatoren, die sich eingehend mit den betreffenden Passagen auseinandergesetzt haben.1 Dabei fällt auf, dass nicht nur erwartungsgemäß Quellen bzw. literarischen Traditionen genannt sind, sondern gerade auch der »realistisch-naturalistische« Charakter sowie die Präzision von Dantes Naturbeobachtung angesprochen werden. Vor diesem Hintergrund hebt auch Alexander von Humboldt im Kosmos hervor, dass Dante Alighieri, »der große und begeisterte Schöpfer einer neuen [Welt]« in der Divina Commedia »das tiefste Gefühl des irdischen _____________ 1
Vgl. exemplarisch die Ausführungen von Jacopo della Lana (in: Comedia di Dante degli Allaghieri col Commento di Jacopo della Lana bolognese (1324-28), Luciano Scarabelli (Hrsg.), Bologna 1866-67. Digitalisierte Version dieser Edition des Kommentars: http://dante.dartmouth.edu/biblio.php?comm_id=13247 (Stand: 31.1.2008)) zu Dantes Beschreibung des rauschenden Pinienwaldes, Purgatorio 28, 19-21: »Qui vuole l’autore esemplificare come ‘l suono nasce di movimento di fraschette e foglie, e dice che quando Eolo manda Scirocco nella pineta, che in quello luogo s’ode il suono delle foglie e delle frasche e delle pine. Ond’elli è da sapere che per li poeti è posto Eolo dio delli venti, lo quale Eolo manda e licenzia li venti per l’aire quando a lui piace; sichè quando elli ammolla Scirocco, che è uno vento robusto e forte, e ello viene in la pineta, che è sullo lito di Ravenna circa l’Abadìa di Chiassi, elli sbatte li albori dalle pigne insieme e le pigne l’una l’altra in tal modo, che lo romore s’ode di più miglia di lontano. Sichè chiaro appare come si può generare, per moto, suono nelli albori.«
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Naturlebens« zu vermitteln wisse.2 Während Humboldt insbesondere auf die Landschaftsbeschreibungen abhebt, betont Karl Witte 1867 die beeindruckende Anschaulichkeit von Dantes Tierbeschreibungen, die er mit einer Zusammenstellung von Textpassagen exemplifiziert.3 Die Neigung, Dante den Status eines Natur- oder Verhaltensforschers ante litteram zuzusprechen, ist keineswegs auf die Ära des Positivismus4 beschränkt, sondern stellt – natürlich mit Einschränkungen und unterschiedlicher Akzentuierung – eine bis in die jüngere Dante-Forschung hineinreichende Konstante dar: In einem Beitrag zu dem 1993 in Ravenna veranstalteten Kongress Dante e la scienza betrachten Giorgio Celli und Antonella Venturelli die Divina Commedia als ökologische Metapher, wobei sie sich auf den Shannon-Wiener-Index als Maß für die Mannigfaltigkeit der Arten (Biodiversität) beziehen. Die Verteilung der Tierarten auf die drei Ökosysteme der Divina Commedia (Hölle, Läuterungsberg, Paradies) zeige, dass die Hölle mit ihrer Artenvielfalt das stabilste System sei, während Läuterungsberg und Paradies aufgrund mangelnder Diversifikation als heterostatisch anzusehen seien.5 Es lässt sich kaum bestreiten, dass die irdische Tierwelt in der Divina Commedia tatsächlich in beeindruckender Vielfalt präsent ist. Schließt man die Nennung von Tiernamen als Verweise auf zoomorphe Sternzeichen
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5
Alexander von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Ottmar Ette / Oliver Lubrich (Hrsg.), Frankfurt a. M. 2004, S. 213-214. Karl Witte, »Die Thierwelt in Dante’s Göttlicher Komödie. Ein Vortrag gehalten in der zweiten Generalversammlung der deutschen Dante-Gesellschaft den 3. October 1867«, in: Jahrbuch der Deutschen Dante-Gesellschaft, 2/1869, S. 199-209, S. 199: »Nicht mindere Anerkennung verdienen aber die manchen, dem Leben der Thiere oft mit wunderbarem Geschick abgelauschten Züge, durch welche Dante, was er schildern will, so oft auf das Treffendste veranschaulicht.« Die von Witte ausgewählten Textpassagen behandeln Lamm, Ziege, Stier, Hund, Panther und Wolf sowie mehrere Vogelarten. Dass Dante die Naturdarstellung aus der moralisierend-fabelhaften Tradition der Bestiarien gelöst habe, wird in zahlreichen Arbeiten des ausgehenden 19. Jhs. betont. Einen Überblick über die entsprechenden Studien (Francesco Cipolla, 1885; Giovan Battista Zoppi, 1892; Michele Lessona, 1895; Antonio Stoppani, 1881, und weitere) gibt Valerio Zanone, L’ali alzate. Viaggio nell’ornitologia dantesca, Rom 2004, S. 18-21. Vgl. Giorgio Celli / Antonella Venturelli, »Gli animali nella Divina Commedia (tra fantasia e realtà)«, in: Patrick Boyde / Vittorio Russo (Hrsg.), Dante e la scienza, Ravenna 1995, S. 109-117, hier S. 114.
Zur Semantik der Vögel in Dantes Divina Commedia
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sowie die tierähnlichen Fabelwesen des Inferno6 nicht in die Zählung ein, verbleiben immer noch über 250 im Text erwähnte Tierarten. Es handelt sich (von wenigen Ausnahmen abgesehen)7 überwiegend um indirekte Präsenzen, die vom Erzähler über Vergleiche bzw. metaphorische Bilder,8 seltener in Form von Sprichwörtern oder Sentenzen9 in den Diskurs eingeführt werden. Die zu Recht betonte Anschaulichkeit der Tiervergleiche und -beschreibungen kann allerdings nur bedingt auf die subjektive Naturbeobachtung des Dichters zurückgeführt werden. Die nähere Betrachtung zeigt vielmehr, dass Dante ein herausragender Kenner natur- und tierkundlicher Quellen war: Der Trésor (bzw. Tesoretto) seines Lehrers Brunetto Latini, die zoologischen Hauptwerke des Albertus Magnus, die Naturalis historia des Plinius, Aristoteles’ De animalibus sowie das Falkenbuch De arte venandi cum avibus von Friedrich II. waren ihm ebenso vertraut wie weitere biblische, klassische und enzyklopädische Traditionen, unter denen vor allem die Bestiarien hervorzuheben sind.10 Angesichts der Überlagerung und Kontamination von Quellen ist es oftmals kaum möglich, die in einen Tiervergleich eingeflossenen Vorlagen im Einzelnen zu bestimmen. Neben den vielschichtigen Bezügen auf unterschiedliche Prätexte sind jedoch vor al_____________ 6
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Hierbei handelt es sich um Figuren wie Minosse, Cerbero, die Furien und einige weitere, deren Tierhaftigkeit der physischen Markierung des Dämonischen dient; vgl. hierzu Sonia Maura Barillari, »L’animalità come segno del demoniaco nell’ Inferno dantesco« in: Giornale storico della letteratura italiana, 174/1997, S. 98-119. Direkte Präsenzen sind die im 3. Gesang des Inferno (66 und 69) an der Qual der Sünder mitwirkenden Fliegen, Wespen und Würmer, die Hunde in Inferno 13, 125 sowie die Schlangen im Graben im 24. und 25. Gesang des Inferno. Im Purgatorio (8, 37) begegnet eine Natter; in 28, 14-21 werden die Vögel mit ihrem Gesang im Irdischen Paradies beschrieben. Im Paradiso gibt es selbstverständlich keine direkten Tierpräsenzen. Am häufigsten ist die Einführung von Tieren über die similitudo (etwa 80 Erwähnungen, davon 46 im Inferno, 21 im Purgatorio und 15 im Paradiso, so die Zählung von Elisa Curti, »Un esempio di bestiario dantesco: La cicogna o dell’amor materno«, in: Studi danteschi, 67/2002, S. 129-160, S. 130). Curti, »Un esempio di bestiario dantesco« (Anm. 8), S. 130 nennt drei Beispiele für die Verwendung von Sprichwörtern, die auf die Tierwelt Bezug nehmen (Inferno 15, 72; 22, 58 sowie Paradiso 16, 70-71). Vgl. die Einleitung zu Luigina Morini (Hrsg.), Bestiari medievali, Torino 1996, S. VII-XXII; Francesco Maspero / Aldo Granata, Bestiario medievale, Casale Monferrato 1999, S. 31-59 sowie Alfredo Cattabiani, Volario, Milano 2000, S. 10-17.
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lem die Verteilung und Instrumentalisierung der verschiedenen Tierarten im narrativen Kontext der Commedia von Interesse. Vögel und geflügelte Tiere in der Divina Commedia Eine Sonderstellung in Dantes »Zoo« nehmen Vögel und geflügelte (Fabel)wesen ein. Als flugfähige Spezies erscheinen sie zur Illustration der in der Reise des Protagonisten zum Empyreum angelegten Aufwärtsbewegung im Paradiso geradezu unabkömmlich zu sein. Augenfällig ist zudem ihr ambivalentes Deutungspotential: Einerseits stehen sie in engem Bezug zu den Engeln,11 andererseits zu den geflügelten Teufeln12 und natürlich auch zu Luzifer selbst, der als gefallener Seraphim über drei Flügelpaare verfügt. Diese Ambivalenz ist auch im Bereich der Flugmetaphorik zu beobachten: In den Gesängen des Paradiso zeigt sich Dantes Vorliebe, den Aufschwung zu Gott als Flug, als volo, zu bezeichnen (im Gegensatz zur erdverhafteten Philosophenweisheit), eine Vorliebe, die unzweifelhaft auf das reichhaltige Angebot von Interpretationsmöglichkeiten im Gegenstandsbereich des Fliegens in der Bibel zurückzuführen ist.13 Im Kontrast hierzu steht der niedere Flug, der volo perverso der Teufel, Geriones und das Flügelschlagen Luzifers, das die Eiseskälte des Koszytus am tiefsten Punkt des Inferno verursacht.14 Überblickt man den volario der Divina Commedia, lässt sich feststellen, dass ein vergleichsweise reichhaltiges Spektrum von Arten erwähnt wird: Abgesehen von mehreren geflügelten Insekten (insgesamt 12), einer Fle_____________ 11 12
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14
So wird in Purgatorio 2, 38 der Engel als »göttlicher Vogel«, uccel divino, bezeichnet. Der Oberteufel nennt die Teufelsfigur Farfarello in Inferno 22, 96 »bösartigen Vogel«, malvagio uccello. Ein weiteres Beispiel, in dem der Teufel als Vogel präsentiert wird, findet sich in Paradiso 29, 118; hier ist von einem Vogel die Rede, der in der Spitze der Kapuze eines Predigermönchs nistet, der seine Predigt als unterhaltsames Spektakel inszeniert; vgl. den Kommentar von Manfred Bambeck, Göttliche Komödie und Exegese, Berlin, New York 1975, S. 208-216. Vgl. hierzu Manfred Bambeck, Studien zu Dantes »Paradiso«, Wiesbaden 1979, S. 45-64; Bambeck stellt fest, dass Dantes Flugmetaphorik im Paradiso (10, 73-75; 11, 1-3; 32, 145-147; 15, 52-54) zu einem Ausdrucksbereich gehört, der in der einschlägigen theologischen Literatur zu Hause ist. Vgl. hierzu Guglielmo Gorni, Lettera come numero. L’ordine delle cose in Dante, Bologna 1990, S. 177.
Zur Semantik der Vögel in Dantes Divina Commedia
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dermaus (Inferno 34, 49), zwei Drachen (Inferno 25, 23; Purgatorio 32, 131), sechs allgemeinen Nennungen des Begriffs »Vogel« (augello / uccello), begegnen dem Leser Gans, Hahn, Elster, Nachtigall, Falke, Adler, Pelikan, Schwan, Ente, Lerche, Storch, Amsel, Krähe, Kranich, Star und Taube; hinzu kommen Fabelwesen wie etwa der Phönix, die Harpyien, der Greif und der drachenähnliche Gerione.15 Betrachtet man die Verteilung der verschiedenen Tierarten auf die drei Jenseitsreiche, ist festzustellen, dass im Inferno vor allem Reptilien, Amphibien sowie (aus dem Bereich der Säugetiere) Hunde und Schweine anzutreffen sind; unter den volatili dominieren lästige Insekten (mit Ausnahme der positiv konnotierten Glühwürmchen in 24, 29). Im Purgatorio treten zwar auch domestizierte Nutztiere (weidende Schafe, Ochsen, Ziegen) in Erscheinung, doch die Anzahl der erwähnten Vögel (insgesamt 30) übersteigt eindeutig die der im Text genannten Säugetiere, Reptilien und Amphibien. Diese Dominanz von Vögeln in der Fauna des Läuterungsbergs steht in engem Zusammenhang mit seinem Status als Ort des Emporsteigens und der Reinigung; er motiviert die verstärkte Einbeziehung von Bildern und Vergleichen, die Entlastung bzw. Leichtigkeit und nach oben gerichtete Bewegungen illustrieren. Im Paradiso, dem »tierärmsten« der drei Reiche, dessen erster Teil vor allem der Exposition des theologischen Apparats gewidmet ist, wendet sich Dante erst in den Gesängen 18-31 zur Illustration des himmlischen Fluges und Gesangs der Vogelwelt zu, wobei hier im Wesentlichen edle und in der christlichen Symbolik verhaftete Arten (Falke, Adler, Pelikan) erwähnt werden. Im Anschluss an diesen Überblick über die Frequenz und Verortung der Vögel in der Commedia ist nach ihrer unterschiedlichen Funktion und ihren Quellen zu fragen, wobei sich eine Aufteilung in folgende Gruppen anbietet: Vögel als Wappentiere, Vögel, die dem Verweis auf Mythen dienen, geflügelte Fabelwesen, symbolische Vögel und Vögel, deren Darstellung vor allem auf naturenzyklopädische Quellen verweist (oder vielleicht auch auf der persönlichen Beobachtung des Dichters beruht).
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Curti, Un esempio di bestiario dantesco (Anm. 8), S. 133 zählt (ohne die Fabelwesen) 17 Arten und insgesamt 78 Erwähnungen im Text.
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Die Funktion der Wappenvögel – Identifikation und moralische Wertung Vögel als Wappentiere dienen natürlich primär der Identifikation einer bestimmten Familie, Person oder Stadt;16 sie haben aber auch – wie die folgenden Beispiele verdeutlichen – ein beachtliches allegorisches bzw. konnotatives Potential. So wird im Inferno ein Wappen erwähnt, das eine Gans auf rotem Grund zeigt: Poi, procedendo di mio sguardo il curro vidine un’altra come sangue rossa, mostrando un’oca bianca più che burro. (Inferno 17, 61-63)17 Dann, als ich weiter mit den Blicken schweifte, / da sah ich einen anderen, blutig roten, / der zeigte eine Gans so weiß wie Butter.18
Hierbei handelt es sich um das Wappen einer Florentiner Wuchererfamilie, der Ebriachi oder Ubriachi. Gmelin weist in seinem Kommentar zu Vers 63 darauf hin, dass ein gewisser Lupus Ybriachi im Auftrag Karls II. in der Provence Geld von den Juden erpresst habe. Bei der Lektüre der Passage fällt auf, wie Dante mit Hilfe der Attribute des Wappens den Charakter der Familie unterstreicht: Der Grund wird als »blutrot« bezeichnet, ein Umstand, der immerhin einen der frühen Kommentatoren, Benvenuto da Imola, dazu veranlasst, anzumerken, dieser Vogel habe vielen das Blut ausgesaugt.19 Auch das Attribut der Gans (wörtlich »weißer noch als Butter«) scheint nicht zufällig gewählt, zumal für die Charakterisierung der Farbe durchaus Alternativen (Elfenbein, Schnee, etc.) zur Verfügung gestanden hätten; offensichtlich zielt der kulinarische Buttervergleich auf die _____________ 16 17 18
19
So verweist Dante mit dem Adler als Wappenvogel (aguglia) der Familie Polenta auf die Stadt Ravenna (Inferno 27, 41). Hier und im Folgenden zitierte Ausgabe: Dante Alighieri, La Divina Commedia, Giorgio Petrocchi (Hrsg.), Mailand 1966-67. Hier und im Folgenden zitierte deutsche Übersetzung: Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie. Italienisch und Deutsch. Übers. und kommentiert von Hermann Gmelin, 6 Bde., Stuttgart 1957. rossa come sangue: iste anser avis gurda imbibebat sanguinem multorum; ideo dicit: mostrando un’oca bianca, più che burro, idest plusquam butirus, et est vulgare de Apulia: Benvenuto da Imola, Comentum super Dantis Aldigherij Comoediam (1375-80), Guilielmi Warren Vernon / Jacobo Philippo Lacaita (Hrsg.), Florenz 1887. Digitalisierte Version dieser Edition des Kommentars: http://dante.dartmouth.edu/biblio.php?comm_id=13755 (Stand: 31.1.2008).
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Konnotationen »Fett« bzw. »Gier« ab. Augenfällig ist, dass hier die potentielle Symbolik der Gans (eheliche Treue, Wachsamkeit, u. a.) auf die eines negativ markierten Wohlstands reduziert wird.20 Ein weiterer Wappenvogel, der Hahn von Gallura (Wappentier der Pisaner Visconti, das von Nino Visconti geführt wurde) erscheint im Zusammenhang mit einer Kritik an Beatrice von Este: on le farà sì bella sepultura la vipera che Melanesi accampa, com’ avria fatto il gallo di Gallura. (Purgatorio 8, 79-81) Es wird ihr [Beatrice von Este] kein so schönes Grab bereiten / Die Schlange, die im Feld von Mailand lagert / Wie sie es fand beim Hahn von Gallura.
Entscheidend ist hier die aus der Gegenüberstellung der beiden Wappentiere entwickelte allegorische Deutung: Beatrice von Este wird getadelt, weil sie das edle Wappentier des Hahns mit dem bösen der Schlange (dem Wappentier der Mailänder Visconti) vertauscht hat. Dante unterstreicht mit diesem Vergleich einerseits die populäre positive Deutungstradition des Hahns,21 andererseits illustriert er damit prägnant das Schicksal Beatrices, die nach dem Tod ihres ersten Mannes Nino den ghibellinischen Herrn von Mailand, Galeazzo Visconti, geheiratet hatte. Da dieser zwei Jahre nach der Hochzeit vertrieben wurde und verarmt als Flüchtling in Lucca starb, steht die Schlange entsprechend für die unheilvolle Entwicklung in Beatrices Leben als wiederverheiratete Witwe (ein moralisch ohnehin problematischer Status).22 Beide Beispiele belegen die Verbindung der identifizierenden und der allegorischen Funktion von Wappentieren, wobei vor allem die aus dem Bezug zum Wappentier entwickelten allgemeinen oder subjektiven moralischen Wertungen im Vordergrund stehen. _____________ 20
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Die Wappentiere der von Dante in Inferno 17, 54-65, erwähnten Wuchererfamilien vermitteln zudem eine hierarchische Abstufung vom Löwen über die oben erwähnte Gans zur Sau. Vgl. den Kommentar von Richard Thayer Holbrook, Dante and the Animal Kingdom, New York 1966, S. 316-320. Gmelin, Kommentar (Anm. 18), erwähnt, dass nach ihrem Tod 1343 auf Beatrices eigenen Wunsch hin beide Wappentiere ihr Grabmal zierten, während sie zuvor als Siegel die Schlange mit dem väterlichen Adler geführt hatte; es könnte sich eventuell um eine Nachwirkung der Textpassage handeln.
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Mythologische Vögel – Die Evokation der Metamorphosen Einige der von Dante erwähnten Vögel dienen dem Transfer von im Mythos enthaltenen Deutungszusammenhängen in den jeweiligen narrativen Kontext. Zur dieser Gruppe gehören Schwalbe und Nachtigall (wobei die Nachtigall nicht bezeichnet, sondern nur umschrieben wird als »jener Vogel, der am liebsten singt«) im 9. und 17. Gesang des Purgatorio. Mit ihrer Erwähnung verweist Dante jeweils auf die Verwandlung von Prokne und Philomela im 6. Buch der Metamorphosen (wobei er, wie die Kommentare einmütig feststellen, die Zuordnung der beiden Vögel zu Prokne und Philomela umkehrt).23 Ein weiteres Beispiel sind die Elstern im ersten Gesang des Purgatorio, mit denen Dante ebenfalls eine Erzählung der Metamorphosen evoziert, die Verwandlung der Töchter des Pierius im 5. Buch. Die Schwalbe erscheint in eine längere Sequenz von Vergleichen eingereiht, mit denen der Dichter nach dem Erwachen des Protagonisten aus einem Traum im Übergang vom Vorpurgatorio zum eigentlichen Purgatorio die Stimmung des anbrechenden Tages beschreibt. Das Trauerlied der Schwalbe steht hier für die Erinnerung an vergangenen Schmerz, der durch die Anspielung auf das von Philomela erfahrene Leid vertieft wird: e l’ora che comincia i tristi lai la rondinella presso a la mattina, forse a memoria de’ suo’ primi guai (Purgatorio 9, 13-15) Zur Stunde, da in ihre Klagelieder / Die Schwalbe ausbricht bei des Morgens Nahen / Wohl zum Gedächtnis ihrer ersten Schmerzen.
Die Nachtigall führt Dante als erstes unter den Beispielen des bestraften Zorns im 3. Kreis des Purgatorio an und evoziert damit beim Leser die Wut Proknes, die ihrem Mann Tereus den eigenen Sohn als Speise vorsetzt, um damit die Vergewaltigung ihrer Schwester zu rächen: _____________ 23
Vgl. hierzu u. a. den Kommentar von Francesco Torraca zu Purgatorio 9, 15: »Dante, seguendo Aristotile (Rettorica, III, 3) e, come pare, Virgilio (Ecl., VI, 79), credè che Filomela fosse stata mutata in rondinella e Progne in usignolo (cfr. Purg., XVII, 19-21); Ovidio, pur narrando lungamente l’incesto, il parricidio e la trasformazione (Metam., VI, 423 segg.), non gli dava lume.«, in: La Divina Commedia di Dante Alighieri nuovamente commentata da Francesco Torraca, Milano, Roma, Napoli 41920. Digitalisierte Version dieser Edition des Kommentars: http://dante.dartmouth.edu/biblio.php?comm_id=19055 (Stand: 31.1.2008).
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e l’empiezza di lei che mutò forma ne l'uccel ch'a cantar più si diletta, ne l’imagine mia apparve l’orma; (Purgatorio 17, 19-21) Vom ganzen Bilde, das sich einst verwandelt / In jenen Vogel, der am liebsten singt, / Erschien die Spur zuerst in meinem Geiste.
Die Erwähnung der Elstern im Einleitungsgesang des Purgatorio stellt eine Fortsetzung der Musenanrufung dar, bei der sich Dante insbesondere an Kalliope wendet, die im Wettstreit zwischen den Musen und den 9 Töchtern des Pierius als Siegerin hervorgegangen war: eguitando il mio canto con quel suono di cui le Piche misere sentiro lo colpo tal, che disperar perdono. (Purgatorio 1, 10-12) Ich will mein Lied in jenem Tone singen, / Der einst die armen Elstern so geschlagen, / Daß sie niemals Vergebung hoffen konnten.
Bei diesen Referenzen handelt es sich um ein ökonomisches Verfahren, mit dem Dante dem jeweiligen Kontext eine zusätzliche Dimension verleiht: Mit der Nennung der »Referenzvögel« (Schwalbe/Nachtigall) werden die Gefühlsregungen Schmerz und Zorn jeweils durch die Suggestion eines mythologischen Erzählinhalts vertieft; das ehrgeizige Streben nach dichterischer Vollkommenheit erscheint als Gegenstück zu dem Versagen der Piche umso bedeutsamer. Auffallend ist zudem, dass die Verweise auf Vogelverwandlungen aus den Metamorphosen ausschließlich im Purgatorio vorkommen, ein Umstand, der den Status des Läuterungsbergs als Ort der seelischen Konversion bzw. Zustandsänderung zu unterstreichen scheint. Obwohl die Evokation des Mythos bei diesen Vogelvergleichen im Vordergrund steht, ist hier auch die für Dantes Tiererwähnungen charakteristische Überlagerung unterschiedlicher Quellen wahrnehmbar: Der Morgengesang der Schwalbe ist – wie Charles S. Singleton anmerkt – zugleich auch eine Referenz auf Albertus Magnus’ De animalibus.24 _____________ 24
Kommentar zu Purgatorio 9, 13-14: »Ne l’ora... rondinella: Cf. Albertus Magnus, De animalibus XXIII, xxiv, 56: ›Garrula est et diem praenuntiando praecinit.‹« The Divine Comedy, Translated, with a Commentary, Charles S. Singleton (Hrsg.), Princeton 1970-75. Digitalisierte Version dieser Edition des Kommentars: http://dante.dartmouth.edu/biblio.php?comm_id=19705 (Stand: 31.1.2008).
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Geflügelte Fabelwesen – Vom allegorischen Emblem zum Flugerlebnis Im Vergleich zu den relativ homogenen Verwendungen und Funktionen der Wappentiere und mythologischen Vögel weist die Gruppe der geflügelten Fabelwesen (Greif, Phönix, Harpyien, Geryon) kaum Gemeinsamkeiten auf – abgesehen von der Tatsache, dass sie mit Ausnahme des grifone25 im Inferno verortet sind. In dieser Gruppe überwiegen direkte Präsenzen (nur der Phönix wird durch einen Vergleich integriert), woraus sich die Fiktion der Beobachtung aus der Perspektive des Protagonisten bzw. die eines unmittelbaren Kontakts mit den Reisenden Dante und Virgil ergibt. Im 24. Gesang des Inferno beschreibt Dante den siebten Graben des achten Höllenkreises (Betrüger), in dem die Diebe ihre Strafe verbüßen. Der Graben ist mit Schlangen gefüllt, die durch ihre Bisse Vergiftungen, inneres Verbrennen und (wie im folgenden Gesang beschrieben) Gestaltsveränderungen bewirken. Hier kommt es zum Gespräch des Protagonisten mit Vanni Fucci, einem Dieb aus Pistoia, dem Dante schweren Kirchenraub zur Last legt.26 Zuvor wird beschrieben, wie der Dieb vollständig verbrennt und sich anschließend wieder zusammensetzt: Né O sì tosto mai né I si scrisse, com’ el s’accese e arse, e cener tutto convenne che cascando divenisse; e poi che fu a terra sì distrutto, la polver si raccolse per sé stessa e ‘n quel medesmo ritornò di butto. Così per li gran savi si confessa
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Eine eingehende Betrachtung des Greifen ist im Hinblick auf die hier interessierende Thematik der Vögel und Flugbewegungen entbehrlich, zumal es sich um eine symbolische Figur im Rahmen einer komplexen allegorischen Komposition handelt: In den letzten Gesängen des Purgatorio (29ff.) zieht Dantes grifone als Symbol Christi den Triumphwagen der Kirche vor der Prozession im Irdischen Paradies. Halb Adler, halb Löwe stellt der Greif beide Naturen Christi dar; ein Symbol, das auf Isidor von Sevilla (Orig. XII, 2) zurückgeht; vgl. den Kommentar von Gmelin, Kommentar (Anm. 18), zu Purgatorio 29, 108. Auf das Schicksal Fuccis und die Hintergründe des Raubs in der Jakobskapelle der Kathedrale von Pistoia geht Gmelin (Anm. 8) ausführlich in seinem Kommentar zu Inferno 24, 122 ein.
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che la fenice more e poi rinasce, quando al cinquecentesimo anno appressa; (Inferno 24, 100-108) Man kann das A und O nicht so schnell schreiben / Wie jener da entzündet ward und brannte / Und ganz als Asche in sich niederstürzte. / Und als er so vernichtet lag am Boden, / Da fügt die Asche selbst sich neu zusammen / Und wurde plötzlich der, der er gewesen / So stirbt nach den Berichten der Gelehrten / Der Phoenix um dann wieder aufzustehen / Sobald 500 Jahre sind vergangen.
Der ausführlich beschriebene Prozess (Brennen, Verwandlung in Asche, Zusammenstürzen der Asche, Wiederzusammenfügung der Asche, Wiederformung der ursprünglichen Gestalt) steht im Zentrum von Dantes Phönixvergleich, der – folgt man Gmelins Kommentar – auf einer Kontamination der Vorstellungen aus Ovids Metamorphosen (XV, 392ff.) und Vergils Georgica (IV, 440) mit der Darstellung bei Laktanz (De ave Phoenice, Poetae Lat. Min. III, 97ff.) beruht. Die Konzentration auf die Sequenz der Vernichtung und Wiedererstehung verdeutlicht die ausgeprägte Instrumentalisierung des Fabelwesens: Seine Erwähnung dient der Veranschaulichung eines Einzelschicksals an einem Ort und in einem narrativen Kontext, der keinerlei Motivation für die Referenz auf weitere Charakteristiken des Vogels (Wirkung seiner Tränen, Schönheit, Farben des Gefieders etc.) bietet. Es handelt sich also um eine Selektion von Eigenschaften des Phönix, die Dante aus der Überlieferung vertraut waren. Breiteren Raum gibt der Dichter dem Erscheinungsbild und Verhalten der Harpyien im 13. Gesang des Inferno, in dem der zweite Streifen des siebten Höllenkreises, der Ort der Gewalttätigen gegen sich selbst, beschrieben wird. Der Wald der Selbstmörder ist von den mythologischen Mischwesen mit Vogelkörpern und Frauenköpfen bevölkert; sie fungieren als allgegenwärtige Dämonen des Ortes, Allegorien der Verzweiflung und Gewissensqual:27 _____________ 27
Als Quelle ist Vergil (v.a. Aen. 3, 210-212; 3, 216-217; 3, 253-257) zu nennen; wo berichtet wird, wie die Harpyien über die Mahlzeit des Aeneas herfallen und eine von ihnen Unheil prophezeit; im 6. Buch (285f.) erscheinen sie mit anderen Monstra im vestibulum Orci. Vom Hl. Bernhard wurden sie als porci infernales bezeichnet. Zur klassischen Tradition (v. a. Lukan) vgl. Sonia Gentile, »›Ut canes infernales‹: Cerbero e le Arpie in Dante«, in: I »mostra« nell’»Inferno« dantesco: tradizione e simbologie, Spoleto (Centro italiano di studi sull’alto medioevo) 1997, S. 194-203. Zur ihrer unheilverkündenden Funktion vgl. William A. Stephany, »Dante’s Harpies: ›tristo annuzio di futuro danno‹«, in: Italica, 62/1985, S. 24-33.
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Quivi le brutte Arpie lor nidi fanno, che cacciar de le Strofade i Troiani con tristo annunzio di futuro danno. Ali hanno late, e colli e visi umani, piè con artigli, e pennuto ’l gran ventre; fanno lamenti in su li alberi strani. (Inferno 13, 10-15) Hier sind der häßlichen Harpyien Nester / Die die Trojaner einst von den Strophaden mit Trauerkunde künftigen Unheils jagten. / Weit sind die Flügel, menschlich Köpf und Hälse, / Am Fuße Krallen und am Bauch Gefieder; / Sie sitzen klagend auf den wüsten Bäumen.
Die physischen Qualen der Selbstmörder in diesem Kreis werden durch die Harpyien verursacht: Sie fressen die Blätter der Schösslinge und Sträucher, zu denen die Seelen der Verstorbenen heranwachsen und fügen den in die Bäume gebannten Sündern fortwährend grausamen Schmerz zu.28 Dante hat die prägnanten in der Aeneis geschilderten Merkmale – das Erscheinungsbild und das rachsüchtige Fressen – zwar grundsätzlich übernommen, aber in einen gänzlich anderen Erzählzusammenhang integriert. Die eigenständigste Gestaltung unter den Fabelwesen erfährt allerdings der drachenähnliche Geryon (Gerione), der nicht eigentlich zu den geflügelten Tieren gehört, aber aufgrund seiner Fähigkeit zu fliegen für den hier interessierenden Kontext von besonderem Interesse ist. Gerione fungiert als Wächtergestalt am Übergang vom achten zum neunten Höllenkreis (als Allegorie des Betruges, Inferno 16-17). Anstelle der in der antiken Tradition beschriebenen drei menschlichen Oberkörper vereint Gerione in sich die Naturen von Mensch, Schlange und Raubtier. Als Vorbild Dantes ist u. a. das Marintomorium bzw. Manticors bei Albertus Magnus und Brunetto Latini zu nennen, das sich durch einen menschlichen Kopf, einen löwenähnlichen Leib mit Löwenfüßen und einen Skorpionenschwanz sowie durch große Geschwindigkeit auszeichnet.29 _____________ 28
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Inferno 13, 100-102: Surge in vermena e in pianta silvestra: / l’Arpie, pascendo poi de le sue foglie, / fanno dolore, e al dolor fenestra. – »Sie wächst zum Schößling und zum wilden Strauche, / Und die Harpyien, in den Blättern weidend, / Bereiten Schmerzen, und diesem Schmerz ein Fenster.« Vgl. den ausführlichen Kommentar zu den Quellen bei Gmelin, Kommentar (Anm. 18), v. a. zu Inferno 17, 1-30. Unter den zahlreichen Beiträgen zu Gerione sind insbesondere die Studien von Roberto Mercuri, Semantica di Gerione: il motivo del viaggio della »Commedia« di Dante, Roma 1984 sowie der Beitrag von Franco Ferrucci, »Comedía: l’incontro con Gerione«, in:
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Gerione30 hat das Gesicht eines »gerechten, gütigen Menschen« (la faccia sua era faccia d’uom giusto/tanto benigna avea fuor la pelle), der schlangenähnliche Leib ist an Rücken, Brust und Seiten mit »Knoten und Schnörkeln« gezeichnet. Sein Schwanz ist wie der eines Skorpions mit einem langen giftigen und an der Spitze geteilten Stachel ausgestattet (la venenosa forca/ch’a guisa di scorpion la punta armava) und er verfügt über »zwei Pranken, die bis zu den Achseln mit Pelz behaart sind« (due branche avea pilose insin l’ascelle). Obwohl im Text Flügel nicht erwähnt werden, haben spätere Illustratoren Gerione häufig mit Flügeln dargestellt, zumal Dante eine besonders eindrucksvolle Schilderung seines Fluges gibt. Da für die Reisenden Dante und Virgil keine Möglichkeit besteht, aus eigener Kraft über den hohen Klippenrand herunterzusteigen, der den achten vom neunten Höllenkreis trennt, sind sie auf Gerione als Transportmedium angewiesen. Nachdem Virgil bereits Platz genommen hat, besteigt Dante nach einigem Zögern ebenfalls den Drachen, den Virgil vor dem Abflug ermahnt, wegen der »außergewöhnlichen Fracht« (17, 99), die er zu tragen habe, vorsichtig zu fliegen: »Nimm weite Bögen und ein leichtes Gefälle« (17, 98), woraufhin Geryon »wie ein Schiffchen aus dem Hafen« (17, 100) gleitet, allmählich zurückstößt und sich dreht (»Er dreht den Schwanz, wo erst die Brust gewesen« (17, 103)). Durch die »dicke Luft« der Hölle bewegt er sich wie ein Schwimmer oder Taucher, indem er mit den Pranken Luft schaufelt (con le branche l’aere a sé raccolse (17, 105)) und seine serpentinenförmige Flugbewegung »wie ein Aal« (17, 104) mit dem Schwanz steuert: Ella sen va notando lenta lenta; rota e discende, ma non me n’accorgo se non che al viso e di sotto mi venta. [...] Come ‘l falcon ch’è stato assai su l’ali, che sanza veder logoro o uccello fa dire al falconiere »Omè, tu cali!« discende lasso onde si move isnello, per cento rote, e da lunge si pone
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ders. (Hrsg.), Il giardino simbolico: modelli letterari e autobiografia dell’opera, Roma 1980, S. 9-37, hervorzuheben. Die folgenden Zitate stammen aus Inferno 13, 1-27, in denen Dante aus der Perspektive des Protagonisten eine detaillierte Beschreibung des Erscheinungsbildes gibt.
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dal suo maestro, disdegnoso e fello; così ne puose al fondo Gerïone al piè al piè de la stagliata rocca, e, discarcate le nostre persone, si dileguò come da corda cocca. (Inferno 17, 115-117; 127-136) Es ruderte dahin mit ruhigen Zügen, / In Kreisen abwärts, daß ich’s nur bemerkte / Am Wind, der mein Gesicht von unten streifte. / [...] / So wie der Falke, der genug geflogen / Den nicht mehr Vogel oder Beute locken / Beim Ruf des Falkners: »Ach, du gehst schon nieder!« / Sich müde senkt, wo er erst schnell gestiegen, / In hundert Kreisen, und dann bös und zornig / Sich fern von seinem Meister niederlässet, / So setzte uns Geryon auf dem Grunde / Am Fuße des zerrißnen Felsens nieder, / Und als er unsre Leiber abgeladen, / Flog er davon so wie ein Pfeil vom Bogen.
Bemerkenswert ist die realistische und technisch-phantasievoll anmutende Flugbeschreibung: der Aufwind, den der Protagonist als Druck auf sein Gesicht wahrnimmt, die propellerartigen Kreisbewegungen, mit denen Geriones Pranken die Luft verdrängen, das steuernde Sich-Winden des Körpers, der spiralförmige Gleitflug in die Tiefe und das pfeilartige Emporschnellen in die Höhe, das mit einem Falkenvergleich veranschaulicht wird. Dante transferiert hier die bei Bewegungen im Wasser erfahrbaren Sinneseindrücke in das Element der Luft (die aufgrund ihrer besonderen Dichte im Inferno ohnehin wasserähnliche Charakteristiken suggeriert). Die während des Fluges angeführten gelehrten mythologischen Vergleiche (Phäton und Ikarus, 17, 107; 17, 109) lassen die Diskrepanz zwischen den klassischen Flugbeschreibungen und dem fiktiven Flugerleben des Protagonisten umso deutlicher hervortreten. Die Anschaulichkeit und Realitätsnähe dieses volo bewirken, dass Gerione vom Leser nicht mehr – wie noch zu Beginn des Gesangs – als Emblem des Betrugs, sondern als belebtes Flugtier wahrgenommen wird, dessen allegorische Deutung schließlich in den Hintergrund tritt. Zur Präsenz und Funktion symbolischer Vögel Zu den Vögeln, die insbesondere aufgrund ihres symbolischen Charakters Eingang in den Text der Divina Commedia finden, gehören Pelikan und Adler sowie (mit Einschränkungen) die Falken. Der mittelalterlichen Ikonographie folgend fasst Dante den Pelikan als Christussymbol auf: Im 25. Gesang des Paradiso spricht er vom Evangelisten Johannes als dem
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Mann »der unserm Pelikan / an seiner Brust gelegen, und er wurde / vom Kreuz herab zu großem Amt erkoren.«31 Die als konventionell einzustufende Erwähnung des Pelikans als Bild für Christus ist bereits in der Bibel (Psalm 101, 7) geprägt und erscheint vor allem in der Symbolik der Eucharistie; allerdings beruht die Popularität des Symbols vor allem auf dem in nahezu allen Fassungen des Physiologus (u. a. auch bei Brunetto Latini) wiedergegebenen Bericht, wonach der Pelikan (der seine Jungen mit vorverdauter Nahrung, die er herauswürgt, ernährt) drei Tage über seinen toten Jungen im Nest wacht, um sie wieder zum Leben zu erwecken, indem er sich mit seinem Schnabel die Brust öffnet und sie mit seinem eigenen Blut speist.32 Während Dante den Pelikan nur einmal und ausschließlich in der hier skizzierten Bedeutung als Synonym für Christus erwähnt, nutzt er das Deutungsspektrum des Adlers in seiner ganzen Vielfalt, u. a. als Symbol des Römischen Imperiums, der Göttlichen Gnade, der Himmlischen Gerechtigkeit. Neben einer kurzen Erwähnung als Wappentier (Inferno 27, 41), der geläufigen Zuordnung des Adlers zum Evangelisten Johannes (l’aguglia di Cristo in Paradiso 26, 53) und der metaphorischen Charakterisierung Homers durch den Adlerflug (Inferno 4, 94-96) findet sich die Beschreibung eines Adlers mit goldenen Federn, der den Protagonisten im Traum »empor zum höchsten Feuer« (suso infino al fuoco) trägt (Purgatorio 9, 19-30). Dante hat hier die Sage von der Entführung Ganymeds durch den Adler Jupiters (bzw. durch Jupiter selbst in Gestalt eines Adlers) unter Rückgriff auf verschiedene Quellen als individuelles Erlebnis des Reisenden gestaltet.33 Neben klassischen und biblischen Vorlagen klingt mit dem geträumten Feuerbrand (Ivi parea che ella ed io ardesse; »Dort glaubte ich mit ihm zugleich zu brennen«, Purgatorio 9, 31) auch der Bericht vom Blick des Adlers in die Sonne an, der allen mittelalterlichen Tierbüchern gemein _____________ 31 32 33
Paradiso 25, 112-114: Questi è colui che giacque sopra ‘l petto/del nostro pellicano, e questi fue/di su la croce al grande officio eletto. Vgl. hierzu Holbrook, Dante and the Animal Kingdom (Anm. 21), S. 294-296 sowie Zanone, L’ali alzate (Anm. 4), S. 54-60. Der ausführlichste Kommentar zu dieser Passage mit Zitaten der relevanten Textstellen bei Vergil, Ovid und Statius findet sich bei Gmelin, Kommentar (Anm. 18), der auch auf das Anklingen des alttestamentlichen Vergleichs des Adlers für den Schutz, den Gott Moses gewährt, verweist (Anmerkung zu Paradiso 9, 19).
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ist.34 Diese besondere Fähigkeit des Adlers zieht Dante nochmals in Paradiso 1, 46-48 heran, wo der Protagonist beobachtet, wie Beatrice ihre Augen in die Sonne versenkt.35 Das aufgrund seiner komplexen Symbolik wohl interessanteste Adlerbild der Commedia entwirft Dante im 18. Gesang des Paradiso: resurger parver quindi più di mille luci e salir, qual assai e qual poco, sì come ’l sol che l’accende sortille; e quïetata ciascuna in suo loco, la testa e ’l collo d’un’aguglia vidi rappresentare a quel distinto foco. Quei che dipinge lì, non ha chi ’l guidi; ma esso guida, e da lui si rammenta quella virtù ch’è forma per li nidi. (Paradiso 18, 103-111) So sah ich dort wohl tausende von Lichtern / Aufstehen und alle hoch und höher steigen / So wie’s die Sonne will, die sie entzündet. / Und als dann jedes seinen Ort gefunden, / Da sah ich Hals und Haupt von einem Adler / Im klar begrenztem Lichte ausgestaltet. / Der dort gemalt hat, der braucht keinen Meister; / Er leitet selbst und von ihm selber stammen / die Kräfte, die die Nester bauen könne.
Die im Jupiterhimmel verorteten Seelen der gerechten Fürsten formieren auf dem silbernen Grund zunächst eine Inschrift (Diligite justitiam qui judicatis terram), aus deren letztem Buchstaben sich die im obigen Zitat geschilderte Formation entwickelt. Aus dem M (für Monarchie) wird sukzessive durch die Hinzufügung der Scharen fliegender Seelen Hals und Kopf des Adlers gebildet, des Symbols der Kaiserherrschaft. Der Schöpfer dieses himmlischen Adlerbilds ist, wie Dante betont, Gott selber (vgl. Verse 109111). Der durch die Flugformation gebildete Adler (der in den folgenden Gesängen als Sprecher fungiert) veranschaulicht die Verschmelzung imperialer und christlicher Symbolik, den Zusammenhang von Monarchie, irdischer und göttlicher Gerechtigkeit. _____________ 34
35
Dante war er vermutlich aus dem Trésor von Brunetto Latini (I, 145: »Aigle est li mieus veans oisaus du monde; et vole si en haut k’ele n’apert pas a la veue des homes […] Et sa nature est de garder contre le soleil si fermement que ses oils ne remuent goute.«) bekannt (zit. nach Gmelin, Kommentar (Anm. 18) zu Paradiso 1, 48). quando Beatrice in sul sinistro fianco / vidi rivolta e riguardar nel sole: / aguglia sì non li s’affisse unquanco; »Als ich Beatrice nach der linken Seite / Gewendet sah, das Auge hin zur Sonne; / Nie war ein Adler so darein versunken.«
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Die Erwähnung von Falken (Habichte und Sperber einbezogen) ist nur in einigen Fällen symbolisch motiviert; es überwiegen (im Gegensatz zu Pelikan und Adler) »naturalistische« Beschreibungen aus der Tradition der falconeria. Bezüglich des Symbolcharakters bleibt festzuhalten, dass sie (ebenso wie die Vögel im Allgemeinen) in der Commedia sowohl mit den himmlischen als auch mit den teuflischen Mächten in Bezug gesetzt werden:36 In Inferno 22, 139 wird die Teufelsfigur Calcabrina als raubgieriger Sperber (sparvier grifagno) bezeichnet, während die Engel, die die Schlange vertreiben in Purgatorio 8, 104 himmlische Habichte (astor celestiali) genannt werden.37 Allerdings sind diese Verweise nicht als typisch für die Funktion und Präsentation der Falken in der Commedia zu betrachten. Als Liebhaber der Falkenjagd gibt Dante der Beschreibung des Fluges und der Verhaltensweisen von Jagdfalken breiten Raum: Bereits der hier zitierte Falkenvergleich im Rahmen des Fluges auf Gerione (s. o.) verdeutlicht, dass Dantes Charakterisierung des Falkenflugs von einer scharfen tierpsychologischen Beobachtung begleitet ist: Gerione trägt Dante und Virgil widerwillig auf seinem Rücken – und senkt sich dementsprechend langsam wie ein vom langen Flug ermüdeter und enttäuschter Falke. Aufgrund der natur- und tierkundlichen Dimension erscheint es sinnvoll, die Falkenbilder im Rahmen der abschließend zu erörternden Gruppe von Vögeln zu betrachten, bei deren Darstellung der Aspekt der Naturbeobachtung im Vordergrund steht. Falken, Kraniche, Stare & Co. – Naturbeobachtung und tierkundliche Quellen Beim Blick auf die Falkenvergleiche in der Commedia fällt zunächst die symmetrische Verteilung auf: In jeder der drei Cantiche liegen jeweils zwei Vergleiche vor.38 Neben dem falkenähnlichen Flugverhalten Geriones findet sich im Inferno eine weitere Passage, in der Dante zur Illustration einer Szene, die sich zwischen einem geflügelten Teufel und einem Verdamm_____________ 36 37 38
Zanone, L’ali alzate (Anm. 4), S. 66 weist darauf hin, dass sie im anonymen Bestiario moralizzato von Gubbio in Opposition zu den Tauben als spiriti maligni erscheinen. Einige Kommentatoren weisen an dieser Stelle auf die Gewohnheit der Habichte hin, Reptilien und Schlangen zu jagen. Inferno 17, 127ff. und 22, 130ff.; Purgatorio 13, 70ff. und 19, 64ff.; Paradiso 18, 45 und 19, 34.
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ten abspielt, eine »falkenpsychologische« Beobachtung einfließen lässt. Die Flucht der verfolgten Seele wird mit dem schnellen Untertauchen der Ente beim Anblick des nahenden Falken verglichen, der zornig und niedergeschlagen auf den Verlust der Beute reagiert: non altrimenti l’anitra di botto, quando ‘l falcon s’appressa, giù s’attuffa, ed ei ritorna sù crucciato e rotto. (Inferno 22, 130-132) Genau so sieht man plötzlich eine Ente, / Wenn sich der Falke naht, ins Wasser tauchen, / Indes er zornig und geschlagen umkehrt.
Auffallend ist, dass bei beiden Falkenvergleichen des Inferno der (mit der jeweils zornigen Reaktion angesprochene) ungebändigte, ursprünglich wilde Charakter des Falken betont wird. Dagegen gibt Dante im Purgatorio Beispiele des ammaestramento, so etwa den Gebrauch der Falknerei, den Vögeln zur Zähmung die Lider mit einem Eisenfaden zu verschließen, wie es Friedrich II. in De arte venandi cum avibus (II, 53) schildert.39 Hierin besteht die Buße der Neidischen, die mit zugenähten Augen einherschreiten müssen.40 Das zweite Beispiel aus dem Purgatorio veranschaulicht den Eifer des gezähmten Jagdfalken, der sich auf den Zuruf des Falkners hin auf die Beute herabstürzt; Dante projiziert diesen Eifer auf den Drang des Protagonisten, nach der Aufforderung Virgils seinen Weg weiter fortzusetzen: Quale ‘l falcon, che prima a’ piè si mira, indi si volge al grido e si protende per lo disio del pasto che là il tira, tal mi fec’ io; e tal, quanto si fende la roccia per dar via a chi va suso, n’andai infin dove ‘l cerchiar si prende. (Purgatorio 19, 64-69) Dem Falken gleich, der erst nach unten blickt / Dann nach dem Ruf sich wendet und im Sturze / Herabstößt auf die heißersehnte Beute / So tat auch ich und ging, so weit die Spalte / Des Felsens für den Aufstieg Raum gewährte, / Hinauf bis zu dem Rand des neuen Kreises.
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Vgl. den Kommentar von Gmelin, Kommentar (Anm. 18), zu Purgatorio 13, 71. Purgatorio 13, 70-72: ché a tutti un fil di ferro i cigli fóra / e cusce sì, come a sparvier selvaggio / si fa però che queto non dimora; »Sie alle trugen einen Eisenfaden / Durch ihre Lider, wie ein wilder Sperber / Genäht wird, weil er anders nicht zu zähmen.«
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In Paradiso 18, 45 klingt die herausragende Bewunderung und Achtung Dantes gegenüber den Falken an: Der Reisende beobachtet die Seelen im Marshimmel, unter denen er Karl den Großen, Roland und weitere erkennt, auf die er seinen Blick richtet »so wie man dem Flug des Falken folgt« (com’occhio segue suo falcon volando). Den Höhepunkt von Dantes Falkenvergleichen bildet jedoch das zweite Beispiel im Paradiso, in dem der Protagonist das Verhalten des aus den Seelen der Gerechten formierten symbolischen Adlers mit dem des Jagdfalken in Bezug setzt: Quasi falcone ch’esce del cappello, move la testa e con l’ali si plaude, voglia mostrando e faccendosi bello vid’ io farsi quel segno, che di laude de la divina grazia era contesto, con canti quai si sa chi là sù gaude. (Paradiso 19, 34-39) So wie ein Falke, frei von seiner Haube, / Den Kopf bewegt und seine Flügel breitet, / sich schön zu machen / und voll gutem Willen, / So sah ich jenes Bild, das dort zum Lobe / Der göttlichen Gnade war gewoben worden / Mit Liedern, die nur kennt, wer droben jubelt.
Die Freude des zur Jagd losgelassenen Falken, der seine Flügel ausbreitet, illustriert an dieser Stelle, wie sehr es den symbolischen Adler danach drängt, seine Rede an den Protagonisten zu beginnen und sein Wissen weiterzugeben. Dantes Verwendung der Falkenvergleiche in der Commedia verdeutlicht, dass die Falkenjagd keineswegs den Status eines elitären sportlichen Vergnügens hatte; es handelt sich vielmehr um ein komplexes und in philosophischen Traditionen verwurzeltes Bildungsprogramm.41 Die im Text wahrnehmbaren Abstufungen Wildheit (Gerione und der fliegende Teufel im Inferno), Prozess der Zähmung (Purgatorio) und Perfektionierung des Wissens bzw. Könnens (Paradiso) belegen, dass Dante die Falknerei als exemplarischen Lehr- und Lernprozess deutet, der zu einer hohen Zivilisationsstufe führt. Zu den Vogeldarstellungen, die primär auf tierkundlichen Quellen bzw. Naturbeobachtung beruhen, zählen die des Schwans, der Ente, der _____________ 41
Daniela Boccassini verwendet in ihrer Studie Il volo della mente. Falconeria e Sofia nel mondo mediterraneo: Islam, Federico II, Dante, Ravenna 2003, den Begriff der »pratica sapienziale di ammaestramento«, mit der das »wilde Ich« über sich hinausgeführt wird. Zur Falknerei in Dantes Werk vgl. S. 335-388.
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Lerche, der Amsel, der Krähe, des Storchs, des Kranichs, des Staren und der Taube. Einige dieser Vogelarten tauchen nur in kurzen, schlaglichthaften Vergleichen auf, in denen eine bestimmte Charakteristik aufgegriffen wird: so etwa der Schwan in Purgatorio 19, 46, den Dante nur anführt, um das strahlende Weiß der Engelsflügel zu veranschaulichen; ebenso die bereits unter den Falkenvergleichen zitierte Ente (s. o.), als deren Charakteristik das schnelle Abtauchen erwähnt ist. Etwas breiteren Raum nimmt die Beschreibung der singenden Lerche ein, mit der Dante das zunehmende Glücksgefühl des Protagonisten im Jupiterhimmel unterstreicht:42 Quale allodetta che ’n aere si spazia prima cantando, e poi tace contenta de l’ultima dolcezza che la sazia, (Paradiso 20, 73-75) So wie die Lerche aufsteigt in die Lüfte, / Erst singend und dann schweigend und zufrieden / Mit jener Süße, die sie sättigt.
Die Amsel ist mit der Charakterisierung einer alten missgünstigen Frau, Sapía aus Siena, verbunden, von deren Schicksal keine Einzelheiten bekannt sind. Erwähnt ist nur ihre Schadenfreude über die Niederlage ihrer Landsleute in der Schlacht von Colle di Valdelsa 1269 durch die Florentiner; doch war sie vermutlich bei ihren Zeitgenossen ausreichend bekannt, da Dante nur ihren Vornamen nennt.43 Sapía kommentiert ihr eigenes freudiges Verhalten beim Anblick der Flüchtenden mit einem Amselvergleich: _____________ 42
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Als Quelle gilt das Lerchenlied Bernarts von Ventadorn, vgl. u. a. den Kommentar von Natalino Sapegno, La Divina Commedia a cura di Natalino Sapegno, Florenz 1968, Anmerkung zu Paradiso 20, 73-75: »L’immagine dell’allodola sopraffatta dalla dolcezza del proprio canto era già nei trovatori (Bernart de Ventadorn: ›Can vei la lauzeta mover De joi sas alas contral rai, Que s’oblid’ e ’s laissa chazer Per la doussor c’al cor li vai‹) e nei loro imitatori italiani (Bondie Dietaiuti: ›Com de la spera l’ascelletta vene, Che sormonta guardandola ’n altura, E poi dichina lassa immantenente Per lo dolzore c’a lo cor le vene, E frange in terra, tanto s’innamora‹); ma Dante la ravviva sottraendola all’atmosfera alquanto emblematica e convenzionale dei bestiari e imprimendole un tono di viva freschezza. È la terza, e la piú bella, la piú spaziosa e la piú lirica, delle tre similitudini, di cui il poeta si serve per conferire alla figura dell’Aquila movimento e vibrazione affettiva, sciogliendo anche gli elementi artificiosi e intellettualistici dell’invenzione nell’atmosfera poetica generale.« Digitalisierte Ausgabe dieses Kommentars: http://dante.dartmouth.edu/biblio.php?comm_id=19555 (Stand: 31.1.2008). Vgl. Gmelin, Kommentar (Anm. 18), zu Purgatorio 13, 121-123.
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tanto ch’io volsi in sù l’ardita faccia, gridando a Dio: ›Omai più non ti temo!’ come fé ‘l merlo per poca bonaccia. (Purgatorio 13, 121-123) so sehr [freute ich mich], daß ich erhob den frechen Blick / zu Gott und rief: Ich will dich nicht mehr fürchten / Wie eine Amsel tut an milden Tagen.
Das hier angesprochene Verhalten der Amsel, die an wärmeren Wintertagen singt, als meine sie, der Frühling sei bereits gekommen, ist eine populäre Redensart, die auf zahlreiche lombardische Volksmärchen und Lieder zurückgeht; die ersten wärmeren Januartage werden auch heute noch als »giorni della merla« bezeichnet.44 Als herausragendes Beispiel einer detailreichen Verhaltensbeschreibung ist Dantes Darstellung des Krähenschwarms im 21. Gesang des Paradiso anzusehen, für die es vermutlich keine klassische Quelle gibt:45 E come, per lo natural costume, le pole insieme, al cominciar del giorno, si movono a scaldar le fredde piume; poi altre vanno via senza ritorno, altre rivolgon sé onde son mosse, ed altre roteando fan soggiorno. (Paradiso 21, 34-39) Und wie nach ihrer Sitte sich die Krähen / Beim Anbeginn des Tags zu tummeln pflegen / um sich die kalten Federn zu erwärmen / Da einige ohne Wiederkehr entfliegen / andere zum Ausgangsort zurück sich wenden / und wieder andre auf der Stelle kreisen;
Mit dem Ausschwärmen der Krähen in der Morgensonne, ihrem Hin- und Herfliegen und den kreisförmigen Flugbewegungen wird das Verhalten der Seelen im Saturnhimmel charakterisiert: Einige von ihnen verbleiben ganz in der vita contemplativa, andere kehren zeitweise in die vita activa zurück.46 _____________ 44 45
46
Vgl. den Kommentar von Sapegno (Anm. 42) zu 13, 121-123; das Motiv wird auch von Sacchetti in Novelle 189 verwendet. Gmelin, Kommentar (Anm. 18) verneint die Existenz eines klassischen Vorbilds (Anmerkung zu Paradiso 21, 34). Holbrook, Dante and the animal kingdom (Anm. 21), S.304-308 stellt einen Anklang an Georg I, 388-389 fest, die er jedoch nicht als Vorbild für Dantes Beschreibung in Betracht zieht. Zur pola merkt er u. a. an, dass Francesco Sacchetti (Opere Div. 90) ihr diejenigen Eigenschaften zuweist, die im Physiologus der upupa zugeordnet sind. Vgl. hierzu Gmelin, Kommentar (Anm. 18) zu Paradiso 21, 34.
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Während für viele der hier betrachteten Vogelarten nur ein einziger Textbeleg existiert, hat Dante im Fall des Storchs – analog zu den Falkenbildern – eine symmetrische Verteilung von jeweils einer Beschreibung pro Cantica vorgenommen. Im Inferno wird das charakteristische Klappern zur Illustration des Geräuschs herangezogen, das vom Aufeinanderschlagen der Zähne der im Koszytus eingefrorenen Seelen verursacht wird: livide, insin là dove appar vergogna eran l’ombre dolenti ne la ghiaccia, mettendo i denti in nota di cicogna. (Inferno 32, 34-36) So steckten bis zur Scham, ganz blaugefroren / die schmerzenvollen Schatten in dem Eise / die Zähne klappernd nach der Art der Störche.
Als naturkundliche Quelle des in diesem grotesken Vergleich evozierten Schnabelklapperns ist insbesondere der Tesoretto von Brunetto Latini zu nennen.47 Dantes Motivation für die Integration des Storchs in die infernalische Geräuschkulisse ist wohl das bereits bei Plinius (Naturalis Historia 10, 62) belegte Fehlen der Zunge.48 Die hieraus resultierende Abwesenheit der Sprache als Kennzeichen des »Nichtmenschlichen« ist Merkmal der Qual der eingefrorenen Seelen.49 Im Gegensatz zu dieser dämonisch anmutenden Dimension steht die Präsentation des jungen Storchs, des cicognin, im Purgatorio: E quale il cicognin che leva l’ala per voglia di volare, e non s’attenta d’abbandonar lo nido, e giù la cala; tal era io con voglia accesa e spenta di dimandar, venendo infino a l’atto che fa colui ch’a dicer s’argomenta. (Purgatorio 25, 10-15) Und wie das Störchlein seine Flügel lüftet / Und fliegen möchte und doch nicht den Mut hat / Das Nest zu lassen und sich wieder senket / So war mein Wunsch entfacht und
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Tesoro I, 161: »Cicogna è uccello senza lingua; perciò le genti dicono che non canta, ma batte il suo becco e fa gran rumore«, zit. nach dem Kommentar von Torraca, Anmerkung zu Inferno 32, 34-36; Torraca (Anm. 23) nennt auch die Verweise auf das Schnabelklappern bei Ovid (Metam. 6, 37), Juvenal (Sat. 1, 116) und Persius (Sat. 1, 58). Vgl. die Interpretation und die Zusammenstellung der Quellen bei Curti, Un’esempio di bestiario dantesco (Anm. 8), S. 139-144. Curti, Un’esempio di bestiario dantesco (Anm. 8), S. 141f. weist darauf hin, dass das Motiv der lingua und ihrer unzureichenden Ausdrucksmöglichkeiten den gesamten Canto durchzieht.
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gleich erloschen / Zu fragen, und ich kam nur bis zur Geste, / Die der macht, der zum Sprechen sich entschlossen.
Der Protagonist projiziert hier seine Unsicherheit und sein Zögern auf das Verhalten des Jungen, das sich anschickt, sein Nest zu verlassen, sich den Flug aber noch nicht ganz zutraut. Von Interesse ist der anschließend geführte Vergleich mit demjenigen, der zum Sprechen anhebt, aber dann (aus Angst oder mangels passender Worte) verstummt und den Impuls zu sprechen unterdrückt – ein indirekter Verweis auf die Zungen- bzw. Sprachlosigkeit (das Schnabelklappern) der gequälten Seelen im 32. Gesang des Inferno. Das Bild des jungen Storchs beruht – wie Gmelin anmerkt – auf der in den Bestiarien verbreiteten Tradition der pia avis, einem Symbol familiärer Liebe.50 Vor demselben Hintergrund ist auch die Erwähnung der Störchin im Paradiso zu betrachten, die als Inbegriff mütterlicher Liebe erscheint: Quale sovresso il nido si rigira poi c’ha pasciuti la cicogna i figli, e come quel ch’è pasto la rimira; cotal si fece, e sì levai li cigli, la benedetta immgagine [...] (Paradiso 19, 91-95) Wie über ihrem Neste kreist die Störchin, / Wenn sie den Jungen ihre Nahrung brachte, / Und, wer etwas bekommen, sie betrachtet; / So tat das heilige Bildnis, und so hob ich / Die Brauen hoch zu ihm [...]
Der Vergleich mit der nach der Fütterung über dem Nest kreisenden Storchenmutter ist auf den kollektiven imperialen Adler bezogen, der seine Rede beendet hat; in die Rolle des Jungen (das gesättigt den Blick auf die Mutter richtet) versetzt Dante abermals den Protagonisten, dessen Wissensdurst durch das Erfahrene gestillt ist. Wie bei den dreistufigen Falkenbildern lässt sich eine aufsteigende Entwicklung erkennen, die jeweils durch ein Merkmal des Storchs exemplifiziert wird: Das Klappern als Ausdruck von Leid, das Verhalten des Jungen als Ausdruck des Lern- bzw. Erfahrungswillens, die Fürsorglichkeit der Mutter in Verbindung mit der Dankbarkeit des Jungen als Ausdruck der göttlichen Gnade. _____________ 50
Als Beleg benennt Gmelin, Kommentar (Anm. 18), Brunetto Latini (Trésor 1, 160) und nennt im Zusammenhang mit dem Motiv des Verlassens des Nests als Quelle Statius (Theb. 10, 458ff.). Auch Curti, Un’esempio di bestiario dantesco (Anm. 8), S. 147f. gibt – beginnend bei Aristophanes, Plinius und Solinus – einen umfangreichen Einblick in diese Tradition.
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Das allegorische und poetische Potential der Vogelbeschreibungen in der Commedia tritt auch im fünften Gesang des Inferno hervor, der eine außerordentliche »ornithologische Dichte« aufweist. Da es sich um eine der besonders ausgiebig kommentierten und populären Passagen der Commedia handelt, werden hier nur die für die Vogeldarstellung relevanten Aspekte aufgegriffen und kurz skizziert.51 Als grundlegende Motivation für die Einbeziehung der volatili sind die physikalischen Charakteristiken des zweiten Höllenkreises anzusehen, den Dante in diesem Canto beschreibt. Im Kreis der peccator carnali, der Wollüstigen, herrscht ein heftiger Sturm, der die Seelen ununterbrochen umhertreibt, d. h. die Liebessünder werden – weil sie sich im Leben von ihren Leidenschaften haben treiben lassen – in der Hölle ganz konkret vom Wind umhergetrieben. Den Eindruck der ungeordnet durcheinander fliegenden Seelen vermittelt Dante zunächst mit einem Starenvergleich: E come li stornei ne portan l’ali nel freddo tempo, a schiera larga e piena, così quel fiato li spiriti mali di qua, di là, di giù, di sù li mena; nulla speranza li conforta mai, non che di posa, ma di minor pena. (Inferno 5, 40-45) Und wie die Stare in der kalten Jahreszeit / Die Flügel heben oft in großen Scharen / So flogen vor dem Wind die bösen Geister / Er treibt sie hin und her und auf und nieder, / Und keine Hoffnung kann sie jemals trösten / Auf Ruhe, nicht einmal auf kleinre Plage.
Die Kommentare verweisen auf ähnliche Beschreibungen des Starenflugs bei Plinius (Hist. Nat. 10, 73) und Albertus Magnus (De animal. 23, 105), die Dante bekannt gewesen sein könnten; allerdings betont er – wie Gmelin hervorhebt – von diesen abweichend nicht das Zusammenstreben der Stare, sondern vor allem die Unruhe ihres Fluges, um damit das unstete Umhergetriebensein der Seelen besonders hervorzuheben. Aus dem fliegenden Schwarm lösen sich im Folgenden einige Figuren. Die Beschaffenheit dieser neuen Bewegung wird ebenfalls mit einem Vogelvergleich illustriert: _____________ 51
Vgl. hierzu insbesondere die eingehende Untersuchung der Vogelbilder von Lawrence V. Ryan, »Stornei, gru, colombe. The Bird Images in Inferno V«, in: Dante Studies, 94/1976, S. 25-45, in der auch die Quellen erschöpfend zitiert sind.
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E come i gru van cantando lor lai, faccendo in aere di sé lunga riga, così vid’ io venir, traendo guai, ombre portate da la detta briga; (Inferno 5, 46-48) Und wie die Kraniche, die klagend singen / Sich in der Luft zu langen Reihen scharen / So sah ich Schatten unter Weheklagen / Von jenem Sturm getrieben nahe kommen;
Mit dem – sowohl in der klassischen Literatur als auch in zahlreichen naturkundlichen Quellen geschilderten – »Höhenflug des Kranichs«,52 leitet Dante das Erscheinen der herausragenden Liebesgestalten der Antike ein, die nicht die niederen Instinkte der Wollust verkörpern, sondern für große Leidenschaften stehen.53 Hervorgehoben wird (neben den das Leiden der Seelen untermauernden klagenden Lauten der Kraniche) vor allem die geordnete, lineare Flugformation, die den erhabenen Charakter der hier verurteilten Figuren unterstreicht. Eine weitere Flugbewegung wird durch den Wunsch des Protagonisten ausgelöst, mehr über das Schicksal eines gemeinsam fliegenden Liebespaares (Paolo und Francesca) zu erfahren: Quali colombe dal disio chiamate con l’ali alzate e ferme al dolce nido vegnon per l’aere, dal voler portate; cotali uscir de la schiera ov’ è Dido, a noi venendo per l’aere maligno, sì forte fu l’affettüoso grido. (Inferno 5, 82-87) Und wie die Tauben, von der Sehnsucht angerufen / Mit offnen festen Flügeln durch die Lüfte / Zum lieben Neste fliegen voll Verlangen / So kamen sie heraus aus Didos Scharen / Zu uns geflogen durch die bösen Lüfte / So mächtig war das liebevolle Rufen.
Das Bild der mit »erhobenen, festen« Flügeln »voll Sehnsucht« zum Nest gleitenden Tauben verweist auf die innige Verbundenheit des Paares. Als Vorbild des Vergleichs wird in den Kommentaren insbesondere auf eine Passage der Aeneis (5, 213-217) verwiesen, die auch im Hinblick auf die Kernbegriffe (columba / dulces / nidis / alas) den klaren Bezug zu Dantes _____________ 52
53
Vgl. Gmelins Kommentar (Anm. 18) zu Inferno 5, 46, der auf Plinius, Cicero, Isidor von Sevilla, Albertus Magnus, Lukan und Statius verweist. In Purgatorio 26, 43 bedient sich Dante ebenfalls eines Kranichvergleichs, mit denen er das Verhalten der büßenden Wollüstigen illustriert. Erwähnt werden Semiramis, Dido, Kleopatra, Helena, Achilles, Paris, auf die später Tristan und das Liebespaar Paolo und Francesca folgen.
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Taubenvergleich erkennen lässt. Für die Funktion der drei Vogelbilder scheinen weniger die vielfältige und komplexe Symbolik (die sich insbesondere bei der Taube geradezu aufzudrängen scheint) und die entsprechend differenzierten allegorischen Auslegungstraditionen von Bedeutung zu sein: Entscheidend ist vielmehr ihre Reduzierung auf die typologische Abstufung der peccator carnali – von der allgemeinen »ungeordneten« Wollust (Starenflug) über die »hohe« Leidenschaft (Kranichflug) zum individualisierten Liebesempfinden (Taubenflug). Abschließend bleibt festzuhalten, dass sich die »Vogelwelt« der Commedia als vielschichtiges Verweissytem charakterisieren lässt, mit dem der Dichter einen Dialog mit klassischen und mittelalterlichen Text- und Wissenstraditionen etabliert. Dabei geht es ihm jedoch nicht um eine Fortschreibung oder gar Korrektur bestehender dichterischer oder enzyklopädischer Diskurse, sondern vielmehr um die Entfaltung ausgewählter artenspezifischer Verhaltensweisen der volatili (Flugbewegungen, Laute, Aufzucht, Fütterung) im narrativen Kontext des Werks. Da die Vogelbilder und -vergleiche jeweils entweder auf eine bestimmte Figur (Beatrice von Este, Vanni Fucci, Paolo und Francesca, den Protagonisten selbst) oder auf ein spezifisches Kollektiv (die Selbstmörder, die Neidischen, die Liebessünder, die Gerechten Seelen) bezogen sind, ergeben sich für Dante entsprechend variable Auswahlkriterien: Er greift vornehmlich diejenigen Merkmale und Verhaltensweisen der Vögel auf, die ihm zur Illustration ethischmoralischer und psychologische Aspekte menschlichen Handelns und Empfindens geeignet erscheinen. Dementsprechend existiert in der Commedia auch keine erschöpfende Charakterisierung einer bestimmten Vogelart, sondern Zuordnungen von einzelnen Phänomenen der »Vogelwelt« zu bestimmten Aspekten menschlicher Moral und Psyche: Eine Eigenschaft des Storchs kennzeichnet menschliches Leid (Sünder im Inferno), eine andere Unsicherheit (der Protagonist im Purgatorio), eine dritte Fürsorglichkeit (die Gerechten im Paradiso); jeweils unterschiedliche Verhaltensweisen des Falken veranschaulichen ungebändigte Wildheit und Wut (Inferno), aber auch herausragende Schönheit (Paradiso). Wenn – wie eingangs erwähnt – Dante aufgrund der Anschaulichkeit seiner Tierbeschreibungen im Ruf eines Verhaltensforschers ante litteram steht, so scheint es ebenso gerechtfertigt, ihn als Tierpsychologen ante litteram zu betrachten.
Ein Ausblick in die Neuzeit
Marco Lehmann (Mainz)
Ars Simia – Ästhetische und anthropologische Reflexion im Zeichen des Affen. Zum Fortleben mittelalterlicher Bildprogramme in der Romantik, bei Raabe und Kafka Einleitung »Der Mensch kommt unter allen Tieren in der Welt dem Affen am nächsten.«1 Die Ähnlichkeit, die Lichtenberg hier unter heimtückischer Verkehrung der Perspektive festhält, prädestiniert den Affen dazu, als Spiegelgestalt des Menschen, ja als Figur anthropologischer Beunruhigung in Szene gesetzt zu werden. Sie provoziert schon weit vor dem Heraufkommen des evolutionstheoretischen Paradigmas Erklärungsversuche und Phantasien, die dazu angetan sind, die uns nächstverwandte Spezies mit einem besonders breiten Spektrum von Bedeutungsdimensionen zu umgeben. Im Folgenden wird es zunächst darum gehen, im Anschluss vor allem an die souveräne Studie des Panofsky-Schülers Horst W. Janson2 einige der Sinnhorizonte zu rekonstruieren, die für das Affenbild in Mittelalter und Renaissance bestimmend sind. Sodann möchte ich aufweisen, dass die entsprechenden Traditionen ein bemerkenswertes Beharrungsvermögen an den Tag legen und, wie auch immer transformiert, Eingang noch in die ästhetischen Modellierungen unseres tierischen Helden im 19. und 20. Jh. finden.3 Sie dienen den ›äffischen‹ Erzählungen der Romantik als ein fort_____________ 1 2 3
Georg Christoph Lichtenberg, »Sudelbücher«, in: Georg Christoph Lichtenberg,. Schriften und Briefe, Bd. 1, Wolfgang Promies (Hrsg.), München 1968, S. 75. Horst W. Janson, Apes and Ape Lore in the Middle Ages and the Renaissance, London 1952, Reprint Nendeln, Liechtenstein 1976 (Studies of the Warburg Institute 20). Unter den übergreifenden Darstellungen zur Affenfigur in der neueren Literatur sind als grundlegend hervorzuheben: Patrick Bridgwater, »Rotpeters Ahnen oder: Der gelehrte Affe
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laufender Anspielungshintergrund und brechen selbst nach dem epistemologischen Einschnitt, der durch Darwins Forschungen markiert wird, nicht einfach weg. Die archäologische Perspektive, die wir hier einnehmen, lässt sichtbar werden, dass die literarische Figur des Affen in besonderer Weise geeignet ist, eine anthropologische mit einer genuin ästhetischen Selbstreflexion engzuführen – und dass die einschlägigen Inszenierungen in Romantik und Moderne diese Möglichkeit wiederholt ergreifen. Sie erkunden einerseits die Grenze zwischen Mensch und Tier, indem sie sie zum Objekt phantastischer Überschreitungen machen; gleichzeitig tendieren sie dazu, diese Recherche mit der doppelten Frage zu verschmelzen, wie es um die Macht der Kunst bestellt ist, zur Menschlichkeit zu erziehen, und als wie human die ungesellige, per definitionem a-soziale Tätigkeit des artistischen Schreibens selbst gelten kann. Sünder – Nachahmer – Feinschmecker: Einige Facetten des Affenbildes in Mittelalter und Renaissance Gilt der Affe dem frühen Mittelalter als eine der möglichen Verkörperungen des Teufels im Tierreich,4 so gewinnt seit dem 12. Jh. eine alternative Deutung an Boden. Sie meint im Affen vielmehr ein entstelltes Bild des
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4
in der deutschen Dichtung«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 56/1982, S. 447-462, sowie Gerhard Neumann, »Der Blick des Anderen. Zum Motiv des Hundes und des Affen in der Literatur«, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 40/1996, S. 87-122. Einen verschiedene Nationalliteraturen umfassenden Überblick über das Vorkommen des Motivs gibt: Horst-Jürgen Gerigk, Der Affe als Mensch in der deutschen, französischen, russischen, englischen und amerikanischen Literatur des 19. und 20. Jhs., Stuttgart 1989. Vgl. weiterhin: Dieter Arendt, »Der Affe im Spiegel der Literatur. Oder: Sind Affen denn auch Leute?«, in: Stimmen der Zeit, 201/1983, S. 533-545; Virginia Richter, »›Blurred copies of himself‹. Der Affe als Grenzfigur zwischen Mensch und Tier in der europäischen Literatur seit der Frühen Neuzeit«, in: Hartmut Böhme (Hrsg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart, Weimar 2005 (Germanistische Symposien Berichtsbände 27), S. 603-624, sowie Martina Wagner-Egelhaaf, »Vom Nachäffen. Menschen und Affen in der Literatur«, in: Nestroyana. Blätter der Internationalen Nestroy-Gesellschaft , 23/2003, S. 19-34. Vgl. dazu Janson, Apes and Ape Lore (Anm. 2), S. 13-27.
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Menschen zu erkennen, eine hominum deformis imago.5 In dieser Perspektive erscheint der Affe als eine Art Warnzeichen, das Gott in seiner Schöpfung aufgepflanzt hat; das Tier wird zu einer Metapher des sündigen Menschen stilisiert, der sich selbst gewissermaßen zum Affen macht, indem er die ihm im Horizont christlicher Anthropologie angesonnene Bestimmung verfehlt und sich weltlichen und körperlichen Freuden hingibt.6 Der Affe rückt in dieser Anschauung um einiges näher an den Menschen heran; er avanciert zur Verkörperung von dessen im christlichen Sinne schlechteren Möglichkeiten, zum Inbild seiner Sinnlichkeit und Weltverfallenheit. Ein zweites Moment in der kulturellen und ästhetischen Modellierung des Affen stellt die ihm unterstellte Neigung dar, die Handlungen des Menschen nachzuahmen – ein Zug, der sich von der Antike bis in die Neuzeit hält. Nicht zuletzt gibt das als charakteristisch für den Affen herausgestellte ›Nachäffen‹ einen Anlass, in ihm ein Sinnbild der Kunst respektive des Künstlers zu sehen, die ja nach klassischer Auffassung ihrerseits die Natur imitieren (dazu später mehr). Zum Topos vom Affen als zwanghaftem Nachahmer existiert eine emblematische Erzählung, die noch in den ästhetischen Inszenierungen des 19. Jhs., etwa in E. T. A. Hoffmanns Nachricht von einem gebildeten jungen Manne und in Wilhelm Buschs Fips der Affe zitiert wird:7 Bereits antike Autoren empfehlen, sich in Sichtweite des Affen ein Paar mit Blei beschwerte Stiefel überzustreifen, diese dann zurückzulassen und sich zu entfernen. Der neugierige Affe kann angeblich der Versuchung nicht widerstehen, alsbald selbst in die Stiefel zu schlüpfen, die er aber aufgrund ihres Gewichts nicht von der Stelle bringt, so dass er sich bequem einsammeln lässt. Ein drittes Charakteristikum in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Konzeption vom Affen ist schließlich die ihm zugesprochene besondere Beziehung zur Sphäre des Geschmacksvermögens. Die Auffassung vom Affen als einem in die Natur eingelassenen Spiegelbild menschlicher Sinnen- und Weltverfallenheit wird dabei noch einmal zugespitzt und auf den Bereich der Gaumenfreuden hin spezifiziert. Der Affe gilt der mittel_____________ 5 6 7
Zitiert nach Janson, Apes an Ape Lore (Anm. 2), S. 29. Das Zitat entstammt Bernhardus’ Silvestris Abhandlung De mundi universitate. Vgl. Janson, Apes and Ape Lore (Anm. 2), S. 29-71. Vgl. hierzu Bridgwater, Rotpeters Ahnen (Anm. 2), S. 451.
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alterlichen Vorstellung als das Lebewesen mit dem feinsten Geschmackssinn; entsprechend vertritt er in allegorischen Darstellungen der fünf Sinne üblicherweise dieses Vermögen.8 Es sind nun in erster Linie zwei Speisen, von denen unterstellt wird, dass sie auf unseren tierischen Anverwandten eine besondere Attraktion ausüben: Äpfel und Nüsse. Das in ikonischen Darstellungen häufiger anzutreffende Bild eines Affen, der gerade herzhaft in einen Apfel beißt, korrespondiert dabei, wie man leicht sieht, genau mit der Konvention, in den Vertretern dieser Gattung ein Gleichnis für den sündigen, gefallenen Menschen wahrzunehmen. Tatsächlich existieren ikonische Darstellungen des Sündenfalls, in die die Konstellation ›Affe mit Apfel‹ Eingang gefunden hat. Typischerweise wird dies so ausgestaltet, dass der Affe bereits kräftig in die Frucht beißt, während Adam und Eva noch zögern.9 Der äffische Feinschmecker drängt damit tendenziell an jenen Platz, den üblicherweise die Schlange einnimmt, den des Versuchers nämlich.10 Auch mit der sprichwörtlichen Schwäche des Affen für Nüsse hat es keine ganz so harmlose Bewandtnis, wie es auf den ersten Blick scheint. Hier ist eine schon in der Antike verbreitete Anekdote von Bedeutung, der am Beginn des 16. Jhs. Erasmus von Rotterdam zu neuer Popularität verhilft, indem er sie in seiner Sammlung erläuterter Sprichwörter und Redensarten, in seinen Adagia wiedergibt. Ihr zufolge soll ein ägyptischer Pharao sich eine Tanzgruppe gehalten haben, die aus dressierten, mit menschlichen Kleidungsstücken ausstaffierten Affen bestand; die zierliche Aufführung der abgerichteten Tiere sei jedoch sofort in Chaos und Tumult untergegangen, als einmal ein boshafter Zuschauer eine Handvoll Nüsse auf die Tanzfläche geschleudert habe.11 Erasmus illustriert anhand
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Vgl. dazu Janson, Apes and Ape Lore (Anm. 2), S. 240f. Ein gutes Beispiel hierfür liefert ein auf das Jahr 1514 datiertes Relief Ludwig Krugs, das im Deutschen Museum ausgestellt ist; vgl. Janson, Apes and Ape Lore (Anm. 2), S. 127. Eine Pointe dieses ikonographischen Arrangements besteht auch darin, dass es hier der Mensch ist, der den Affen nachahmt, was bereits eine grundlegende Verkehrung innerhalb der Hierarchie des Geschaffenen anzeigt. Zu dieser Anekdote und ihrer Überlieferung vgl. Janson, Apes and Ape Lore (Anm. 2), S. 155f. sowie Hans-Joachim Zimmermann, Der akademische Affe. Die Geschichte einer Allegorie aus Cesare Ripas ›Iconologia‹, Wiesbaden 1991, S. 136.
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dieser Geschichte das Sprichwort simia simia est, etiam si aurea gestet insignia.12 Ein Affe bleibt ein Affe, auch wenn er goldene Ehrenzeichen trägt. Affe und Spiegel Der Affe tritt, spätestens seit dem Hochmittelalter, in ästhetischen Inszenierungen regelmäßig als eine Spiegelfigur des Menschen auf. Es erscheint deshalb bemerkenswert, dass ihm verschiedene dieser ikonischen und literarischen Modellierungen das Requisit des Spiegels auch ausdrücklich zuordnen. Die Konfiguration ›Affe mit Spiegel‹ erweist sich als ausgesprochen langlebig, zweifelsohne auch deshalb, weil sie für ein breites Spektrum von Besetzungen offen ist. Der Spiegel spielt auf die sprichwörtliche Eitelkeit des Affen an, der von seiner eigenen Schönheit entzückt sein soll, auch wenn er sich aus anthropozentrischer Perspektive eher als die Karikatur eines an der menschlichen Gestalt orientierten ästhetischen Ideals ausnimmt. Zugleich ergibt sich eine Verbindung zu der Thematik des Nachahmens und -äffens, ist der Spiegel doch eine klassische Metapher der Mimesis. Schließlich scheint in der Konstellation, die uns hier interessiert, eben auch bereits als Möglichkeit angelegt, dass der Affe dem Menschen den Spiegel vorhält; die reflexive Qualität, die der Figur eignet, wird so von vornherein in ihre Darstellung hineingeholt. Unter ikonographischem Blickwinkel rückt das bezeichnete Utensil den Affen in die Nähe der mythisch-allegorischen Instanzen der Venus, der vanitas und der Narrheit, denen ja allen topisch ebenfalls das Attribut des Spiegels zugeordnet wird. Die offenbar ältesten pikturalen Ausformungen unseres Topos aus dem 15. Jh. finden sich allerdings in allegorischen Repräsentationen der acedia, der Trägheit also;13 auf ihnen bietet die Todsünde sich mit einem Helm versehen dar, der einen sich im Spiegel betrachtenden Affen zur _____________ 12
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Desiderius Erasmus Roterodamus, Opera omnia. Unveränderter reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leiden 1703, Bd. 2: Adagia, Joannes Clericus (Hrsg.), Hildesheim 1961, hier S. 265. Mit Blick auf diese Beziehung zur acedia ist daran zu erinnern, dass dem Affen traditionell auch die Eigenschaft der Faulheit zugeschrieben wird. Ein Abdruck hiervon hat sich im Begriff des Schlaraffenlandes erhalten, der sich von dem frühneuhochdeutschen schlûraffen ableitet, eben dem faulen Affen.
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Zierde hat.14 Das Bildformular der auf einem Esel reitenden acedia wird allerdings bald auf die ikonische Darbietung der ›Frau Narrheit‹ übertragen, die nun ihrerseits mit dem beschriebenen Helm gezeigt wird oder aber einen Affen in ihrem Gefolge bei sich führt. Die Angleichung von Narrheit, Venus und vanitas, die sich ikonographisch beobachten lässt, bestimmt den Affen dazu, als Gleichnis des törichten Menschen zu dienen, der sich den Freuden der sinnlichen Liebe widmet, ohne zu erkennen, dass hinter diesen der Tod bereits lauert.15 Auf dem Feld der deutschsprachigen Literatur findet sich ein Beispiel für die Konfiguration ›Affe und Spiegel‹, das um einiges älter ist als die soeben besprochenen ikonischen Ausprägungen. Es entstammt dem 13. Jh. und hat seinen Platz in Burkarts von Hohenvels Gedicht Nâch des aren site: Swie der affe sî gar wilde, / doch sô vâhet in sîn schîn, / so’r im spiegel siht sîn bilde. / sus nimt mir diu frouwe mîn / sin lîp herze muot und ougen/tougen, dest mîn ungewin.16 Wie ungezähmt der Affe auch sein mag, so nimmt ihn doch sein eigener Anblick gefangen, wenn er sich im Spiegel sieht. So raubt mir auch meine Dame auf wunderbare Weise Verstand, Leben, Herz, Besinnung und Sehkraft; das ist mein Schaden.
Diese Strophe kommt im Rahmen eines Gedichts zu stehen, das durchweg mit Tiervergleichen arbeitet und namentlich das Verhältnis des liebeskranken Sprechers zu seiner Minnedame mehrmals im Bild des gefangenen Tieres imaginiert. Mit der Behauptung, der ›wilde Affe‹ lasse sich durch sein Spiegelbild fangen, scheint so auf eine weitere phantastische Jagdmethode verwiesen zu sein. Tatsächlich ist zumindest aus späterer Zeit auch ausdrücklich der Burkart offenbar schon bekannte Ratschlag überliefert, man könne einen Affen mit Hilfe eines Spiegels festsetzen, da _____________ 14 15
16
Vgl. Janson, Apes and Ape Lore (Anm. 2), S. 204. Diesen Bildtypus repräsentiert etwa die Darstellung der Buolschaft in den Illustrationen zu Sebastian Brants Narrenschiff. Die Buolschaft kommentiert ihre eigene Erscheinung bei Brant wie folgt: An meynem seyl ich draffter yeich / Vil narren, affen, esel, geüch. / Die ich verfür betrüg und leych (An meinem Seil ziehe ich manchen Narren, Affen, Esel und Kuckuck hin und her, die ich in die Irre führe, betrüge und täusche) (Sebastian Brant, Das Narrenschiff. Nach der Erstausgabe (Basel 1494) mit den Zusätzen der Ausgaben von 1495 und 1499 sowie den Holzschnitten der deutschen Originalausgaben, Manfred Lemmer (Hrsg.), Tübingen ³1986, S. 33. Zur Ikonographie des Holzschnitts vgl. Janson, Apes and Ape Lore (Anm. 2), S. 206. Burkart von Hohenvels, »Nâch des âren site«, in: Deutsche Liederdichter des 13. Jhs.. Bd. 1: Text, Carl von Kraus (Hrsg.), Tübingen ²1978, S. 33f., hier S. 34.
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dieser sich durch sein eigenes Bild bannen lasse.17 In Burkarts Gedicht wird diese zweifelhafte Jagdempfehlung nun herangezogen, um die Beziehung des Sprecher-Ichs zu seiner Minnedame in einem bemerkenswert grotesken Licht erscheinen zu lassen. Auffällig dabei ist zunächst, dass der Text gerade nicht die Perspektive einer Domestizierung des Sprechers, der sich hier selbst als wildes Tier vorstellt, durch die Pädagogik des Minnediensts öffnet; es ist ja eben nur von einer Gefangensetzung des Affen, nicht aber von einer Zähmung die Rede. Burkarts Strophe scheint die Denkfigur von der zivilisatorischen Wirkung, die Liebe und weibliche Gesellschaft auf den Mann ausüben sollen, zwar abzurufen, sie aber ironisch ins Leere laufen zu lassen. Weiterhin wird über das Requisit des Spiegels eine selbstreflexive, poetologische Ebene in den Text eingezogen. Eine Implikation des Vergleichs besteht ja gerade darin, dass die Dame als ein bloßer schîn in den Blick kommt, als eine Projektion, die das Sprecher-Ich selbst hervorbringt. Unter der Hand räumt das Gedicht so ein, dass es sich bei der Minnedame, von der es spricht, um eine artifizielle Größe, um einen Entwurf poetischer Imagination handelt. Legt man den Akzent auf diese selbstreferentielle Dimension von Burkarts Text, so ist es vor allem das Verhältnis des Dichters zu seinem eigenen lyrischen Erzeugnis, das als ein besonders hartnäckiger Fall von Affenliebe vor Augen gestellt wird. Vergegenwärtigen wir uns nur anhand zweier überschaubarerer Beispiele, dass die Figuration ›Affe und Spiegel‹ in der neuzeitlichen Literatur keineswegs verschwindet. Offenkundig dient sie dem bekannten rezeptionsästhetischen Hinweis als Anspielungshintergrund, den Lichtenberg in seinen Sudelbüchern gibt: »Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinsieht, so kann kein Apostel heraus gucken.«18 In ähnlich sentenziöser Weise nimmt Georg Büchner bei einer Gelegenheit in Dantons Tod das Motiv von Affe und Spiegel auf, um es jedoch in einen markant anderen Bedeutungshorizont einzustellen. Im zentralen Dialogduell zwischen Robespierre und Danton (I, 6) hält Büchners Titelheld seinem Widersacher entgegen, dessen Berufung auf ein sinnenfeindliches Tugendideal sei unaufrichtig, weil selbst Ausdruck einer Lust, des Vergnügens nämlich, »andere
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Vgl. dazu Janson, Apes and Ape Lore (Anm. 2), S. 212. Lichtenberg, Sudelbücher (Anm. 1), S. 477.
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schlechter zu finden als [s]ich«.19 Robespierres lapidare Versicherung: »Mein Gewissen ist rein«20 kontert Danton mit dem folgenden Denkbild: »Das Gewissen ist ein Spiegel vor dem ein Affe sich quält«.21 Dantons Umwidmung der hier vorgestellten Konstellation enthält in nuce eine Genealogie des Gewissens, die dieses als Funktion einer sich selbst verkennenden Eigenliebe in den Blick bringt. Es wird, so lässt sich die Logik der Metapher erläutern, als ein Ich-Ideal perspektiviert, das einerseits narzisstischen Selbstgenuss spendet, andererseits jedoch frustriert, weil es niemals eingeholt werden kann. Dantons Satz ist abgründig, zählt man das Gewissen doch konventionell zu jenen Vermögen, durch die der Homo sapiens sich von Affen und anderen Tieren abhebt. Er formt die Konfiguration ›Affe und Spiegel‹ zu einer anthropologischen Trope um, die den Menschen als das im Zirkel der Reflexion gebannte Tier beschreibt und so das ihn kennzeichnende Selbstverhältnis in die Nähe einer neurotischen Störung rückt. Der Affe als Sinnbild der Kunst Die eingespielte literarische Rolle des Affen als problematische Reflexionsfigur des Menschen gewinnt dadurch an Brisanz, dass er seit dem Mittelalter und der Renaissance auch als Verkörperung der Kunst, als Emblemtier technischer und ästhetischer Fertigkeiten bekannt ist. Wenn etwa in den einschlägigen Texten Raabes und Kafkas Affen respektive Affenmenschen jeweils als Varietéartisten auftreten, so ist dies durch den Hinweis auf entsprechende zeitgenössische Zirkusnummern noch nicht vollständig abgegolten. Vielmehr müssen die älteren Bild- und Schrifttraditionen mitgelesen werden, die den Affen als das Tier ästhetischer Selbstreflexion auszeichnen und in ihm nicht zuletzt die bedenklichen Seiten der Kunst zur Anschauung bringen. Wie schon angedeutet, hängt die entsprechende Besetzung des Affen mit dem ihm zugesprochenen Nachahmungstrieb zusammen, in dem ein Vorbild artistischer Mimesis erkannt _____________ 19
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Georg Büchner, »Dantons Tod«, in: Georg Büchner, Werke und Briefe. Münchner Ausgabe, Karl Pörnbacher / Gerhard Schaub / Hans-Joachim Simm / Edda Ziegler (Hrsg.), München 61997, S. 67-133, hier S. 86. Ebd. Ebd.
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wurde. Im Mittelalter hat etwa Alanus von Lille in seinem Anticlaudianus die entsprechende Metaphorik aufgeboten, um die Malerei im Duktus platonischer Kunstkritik als eine bloße Vortäuschung von Sein zu denunzieren, die die Schatten der Dinge für diese selbst ausgibt. Alanus verdichtet diese Vorwürfe, indem er die Malerei als simia veri,22 als den Affen des Wahren anspricht. Interessanterweise hält sich in der bildenden Kunst selbst lange die Figur des Affen als Karikatur des schlechten, unoriginellen oder unaufrichtigen Malers.23 Seit der Renaissance kann sich die Vorstellung, die Kunst oder die Dichtung seien als die ›Affen der Natur‹ zu verstehen, durchaus auch mit einer positiven Bewertung verbinden. Mit Blick auf die modernen literarischen Texte, denen im Folgenden mein Interesse gilt, muss aus dem Umfeld des ars-simia-Topos vor allem die in der graphischen Kunst des Mittelalters und der frühen Neuzeit wiederholt anzutreffende Gestalt des schreibenden Affen hervorgehoben werden. Es ist nicht auszuschließen, dass in ihr noch eine ferne Erinnerung an den Gott Thot nachlebt, dem die ägyptische Mythologie die Erfindung der Schrift zurechnet und der, zumindest in einer seiner Inkarnationen, den Kopf eines Pavians trägt.24 Unter den Auspizien des lateinischen Mittelalters hat die Figur des schriftkundigen Affen jedoch die Dignität, die ehemals der ägyptischen Gottheit zukam, weitestgehend eingebüßt; sie tritt nun bevorzugt in satirischen Zusammenhängen auf, etwa in Darstellungen vom Typus der sogenannten Affenschule.25 Als Objekt des äffischen Nachahmungstriebs in der Sphäre der Schrift wird nicht so sehr die Natur, sondern eher die Ahnengalerie der ästhetischen Tradition angesetzt: Entsprechend muss der schreibende Affe als Sinnbild des geistlosen Epigonen und bloßen Kopisten herhalten – dies bezeugt etwa ein _____________ 22
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Alanus ab Insulis, »Anticlaudianus«, in: Patrologia Latina. Patrologiae cursus completus. Series Latina, accurante Jacques-Paul Migne, Bd. 210, Nachdruck der Ausgabe Paris 1855, Turnhout 1978 , Sp. 487-576, hier Sp. 491. Zum Zitat vgl. Janson, Apes and Ape Lore (Anm. 2), S. 289. Zum Topos von der Kunst als einem Affen (der Natur, des Wahren) insgesamt vgl. Janson, Apes and Ape Lore (Anm. 2), S. 287-325; sowie Curtius’ Exkurs »Der Affe als Metapher« in: Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, Bern, München 81973, S. 522f. Noch eines von Goyas Caprichos zeigt einen Porträtisten, der speichelleckerisch einen Esel zu einem stolzen Ross nobilitiert, in eben dieser Tiergestalt. Zum Nachleben Thots vgl. Zimmermann, Der akademische Affe (Anm. 11), S. 67-71. Zur Affenschule vgl. Janson, Apes and Ape Lore (Anm. 2), S. 168f.
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kalligraphisch beschlagener Vertreter in einer Fabel aus dem 14. Jh., der in seine visuell ansprechenden Hervorbringungen keinerlei eigene Gedanken investiert und schließlich einsehen muss: nihil scriptor operatur, corde si non meditatur.26 Die damit angezeigte Bedeutungsdimension wirkt lange fort und kann zumal im Horizont einer Originalität einfordernden Genie-Ästhetik reaktiviert werden.27 Die besondere Verbindung zum Feld der Ästhetik, die die Tradition dem Affen zuspricht, ist am Beginn des 19. Jhs. keineswegs in Vergessenheit geraten. Vielmehr bildet sie einen zentralen Antrieb für die Konjunktur, die die Gestalt des Affen(menschen) im Horizont der romantischen Literatur erlebt. Romantische Affenspiele: Klingemann, Nachtwachen von Bonaventura; Hoffmann, Nachricht von einem gebildeten jungen Mann; Arnim, Raphael und seine Nachbarinnen Wir wollen unsere Aufmerksamkeit zunächst auf eine satirische Phantasie aus August Klingemanns Nachtwachen richten, die sich anheischig macht, die Passage zwischen Affe und Mensch zu erforschen, indem sie sie in einen Zusammenhang mit der Evolution des Schreiborgans bringt. Die einschlägige Sequenz findet sich in dem »Prolog des Hanswurstes zu der Tragödie: der Mensch«, der in der achten der berühmten Nachtwachen zur Aufführung gelangt. Die ›komische Person‹ in Klingemanns Text weiß sich _____________ 26
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Zitiert nach: Janson, Apes and Ape Lore (Anm. 2), S. 168. Die referierte Fabel ist im Dialogus creaturarum enthalten. Auch als Sinnbild des unaufmerksamen, leicht abzulenkenden Kopisten dient der schreibende Affe bisweilen; vgl. dazu Zimmermann, Der akademische Affe (Anm. 11), S. 108. Als Beispiel für die Stigmatisierung des epigonalen Schreibers im Zeichen des Affen sei hier eine Passage aus Des Luftschiffers Gianozzo Seebuch von Jean Paul angeführt: »Und brütet nicht jedes Original gerade sein Gegenteil aus, den Nachahmer und Affen, und sitzt daher nicht in den deutschen und kritischen Wäldern der gemeine Affe – der SchweineschwanzAffe – der Hundskopf – der weiße Bartaffe – der schwarze – der mit dem flügelähnlichen Bart – der Hutaffe – der blau- – der weißmäulige – der Gibbon – unzählige Paviane – und noch mehrere Meerkatzen?« (Jean Paul, »Des Luftschiffers Gianozzos Seebuch«, in: Jean Paul. Sämtliche Werke, Abteilung I, Bd. 3: Titan, Komischer Anhang zum Titan, Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana, Norbert Miller (Hrsg.), Darmstadt 62000, S. 925-1010, hier S. 999.)
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rhetorisch gewandt sogleich dafür zu entschuldigen, dass sie, indem sie den Auftritt der menschlichen Gattung im Welttheater ankündigt, ein wenig schmeichelhaftes Licht auf diese zu werfen droht. Zu ihren Gunsten bringt sie eine keineswegs rühmlichere Besetzungsalternative ins Spiel und greift dabei verblüffend konkret auf das Heraufkommen des evolutionstheoretischen Modells vor: »Ein respektives zahlreiches Publikum wird es leichter übersehen, daß ich meiner Handthierung nach ein Narr bin, wenn ich für mich anführe, daß nach Doktor Darwin eigentlich der Affe, der doch ohnstreitig noch läppischer ist als ein bloßer Narr, der Vorredner und Prologist des ganzen Menschengeschlechts ist, und daß meine und ihre Gedanken und Gefühle sich nur blos mit der Zeit etwas verfeinert und kultiviert haben, obgleich sie ihrem Ursprunge gemäß doch immer nur Gedanken und Gefühle bleiben, wie sie in dem Kopfe und Herzen eines Affen entstehen konnten.«28
Selbstverständlich kann es sich bei dem ›Doktor Darwin‹, auf den sich Klingemanns Hanswurst in den 1805 publizierten Nachtwachen beruft, keinesfalls um den Urheber der Evolutionstheorie handeln. Gemeint ist hier nicht Charles, sondern Erasmus Darwin, der Großvater des Ersteren, dessen naturkundliche Forschungen nicht unwesentlich auf die Interessen des Enkels eingewirkt haben sollen. Wie man sieht, wurde bereits Darwin Senior die (von ihm in Wahrheit nur referierte) These zugeschrieben, der Affe sei der Ahnherr – oder, in der Diktion der Nachtwachen: der »Vorredner« – der menschlichen Gattung.29 Einmal mehr zeigt es sich, dass diese Annahme bereits weit vor der Veröffentlichung von Charles Darwins The Descent of Man im Bereich des Denkmöglichen lag. Klingemanns Hanswurst bringt den von ihm herbeizitierten ›Doktor Darwin‹ mit einer möglicherweise kühnen, in jedem Fall jedoch poetisch reizvollen anthropogenetischen Spekulation in Verbindung: Erasmus Darwin soll den Ursprung des Menschen bei einer am Mittelmeer ansässigen Affenart vermutet haben, der es gelungen sei, Daumen und Fingerspitzen zusammenzuführen, also die motorische Technik des Griffs auszubilden; von dieser sei sie alsbald, wie der Hanswurst mit einem impliziten Wort_____________ 28 29
August Klingemann, Nachtwachen von Bonaventura, Jost Schillemeit (Hrsg.). Frankfurt a. M. 1974, S. 104. Zu diesem Zusammenhang und Klingemanns Quelle vgl. Jost Schillemeit, Bonaventura. Der Verfasser der ›Nachtwachen‹, München 1973, S. 71f.
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spiel formuliert, »zu Begriffen«30 fortgeschritten. Untergründig arbeitet Klingemanns Prologist der Einspielung dieses Theorems bereits vor, wenn er in dem soeben zitierten Passus von der eigenen »Handthierung« spricht.31 Im Weiteren macht er die Einsicht in die anthropologische Bedeutung der Hand, die er dem ›Doktor Darwin‹ unterschiebt, für einen »philanthropischen Vorschlag«32 fruchtbar; er regt an, »daß wir unsere jüngeren Brüder, die Affen in allen Welttheilen, höher schäzen lernen, und sie, die jetzt nur unsere Parodisten sind, durch eine gründliche Anweisung, den Daumen und die Fingerspizen zusammen zu bringen, so daß sie mindestens eine Schreibfeder führen können, zu uns herauf ziehen mögen«.33 Klingemanns Text ruft damit das alte Bild vom Affen als Schreiber und Kopisten auf, das er mit einer heimtückischen Wendung sogleich zu einer Satire auf die idealistische Vorstellung von der humanisierenden Kraft der Poesie ausbaut. Der Appell, die tierischen Verwandten auf das menschliche Niveau »herauf [zu] ziehen«, indem man ihnen antrainiert, eine Schreibfeder zu halten, ihnen also zu der Minimalvoraussetzung einer literarischen Laufbahn verhilft, lässt nur zu deutlich seine parodistische Spitze gegen das Programm einer ästhetischen Erziehung hervorschauen. E. T. A. Hoffmann hat seine Erzählung von dem gelehrigen Affen Milo, dem es durch ein beachtliches Talent zur Mimikry gelingt, als Virtuose und homme de lettres in die feineren Kreise der menschlichen Gesellschaft vorzudringen, generell mit einer ganzen Reihe von Referenzen auf ältere Traditionen unterfüttert. So wird Milo schon dadurch als unorigineller Nachahmer bloßgestellt, dass er – wie erwähnt – ausgerechnet dem einschlägig konnotierten Trick mit den beschwerten Stiefeln aufsitzt. Hoffmanns Text steigert den komischen Effekt noch, indem er die Gefangennahme aus der Sicht des düpierten, in seinem Selbstvertrauen jedoch keineswegs erschütterten Tieres schildert; er gibt sich zu seinem größeren Teil als ein von Milo eigenhändig verfasster Brief aus, in dem der Protagonist seine äffische Freundin Pipi über seine Geschichte und die _____________ 30 31
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Klingemann, Nachtwachen (Anm. 28), S. 104. Es dürfte demnach wohlkalkuliert sein, wenn die Schreibung der Nachtwachen – die deshalb keinesfalls ›normalisiert‹ werden sollte – in diesem Wort die ›Hand‹ und das ›Thier‹ lesbar macht. Klingemann, Nachtwachen (Anm. 28), S. 105. Ebd.
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ihm beschiedenen erstaunlichen Erfolge in der Menschenwelt unterrichtet. Implizit weist die Erzählung Milo damit die ikonographisch etablierte Rolle des schreibenden Affen zu; auch von dieser Seite her umgibt sie ihren Helden mit Signalen, die ihn als Nachahmer und Kopisten vorführen, als die bloße Parodie eines schöpferisch produktiven Künstlers und Autors. In Milos Schilderung seines peinlichen Erlebnisses mit den manipulierten Stiefeln wird gleich noch ein zweites Moment aus dem um die Figur des Affen versammelten Bildrepertoire eingeblendet. Hoffmanns Protagonist erinnert sich schließlich daran, dass Pipi, der Adressatin seines Berichts, durchaus bekannt ist, unter welchen Umständen er den Menschen in die Hände gefallen ist: »[A]lles dieses weißt Du, Holde, da Du selbst ja heulend und jammernd Deinem Geliebten nachliefest und so auch freiwillig Dich in die Gefangenschaft begabst.«34 Es ist das hier so beiläufig lancierte Thema der vom Affen freiwillig auf sich genommenen Gefangenschaft, das auf eine nicht unerhebliche ikonographische Tradition zurückblicken kann: Im Hintergrund steht dabei die erwähnte allegorische Ausdeutung, die im Affen ein Gleichnis des sinnlichen Menschen zu erkennen meint; dass sein tierisches Double sich angeblich aus eigenem Antrieb in die Gefangenschaft begibt, soll dann die Tendenz des Letzteren veranschaulichen, sich bedenkenlos zum Sklaven seiner Leidenschaften zu machen.35 Hier nun kommt erneut die Schwäche des Affen für Nüsse ins Spiel, von der oben bereits die Rede war. Die Nuss kann in dem skizzierten Kontext die Nichtigkeit und Vergänglichkeit des sinnlichen Vergnügens bezeichnen, für das die Freiheit aufgeopfert wurde.36 Hoffmanns Er_____________ 34
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E. T. A. Hoffmann, »Nachricht von einem gebildeten jungen Mann«, in: E. T. A. Hoffmann. Sämtliche Werke in sieben Bänden, Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht (Hrsg.), Bd. 2,1: Fantasiestücke in Callot’s Manier, Werke 1814, Hartmut Steinecke unter Mitarbeit von Gerhard Allroggen und Wulf Segebrecht (Hrsg.), Frankfurt a. M. 1993, S. 418-428, hier S. 421. Zur mittelalterlichen Vorstellung vom gefangenen Affen als Verkörperung des »voluntary prisoner of vice« vgl. Janson, Apes and Ape Lore (Anm. 2), S. 147-157, hier S. 149. Dieser allegorische Hintersinn tritt etwa in ikonischen Darstellungen zutage, die einen melancholischen Affen an einer Kette, umgeben von leeren Nussschalen, zeigen. Das bekannteste Beispiel für den entsprechenden Bildtyp ist das Gemälde Zwei Affen von Pieter Breughel d. Ä.; Janson kommentiert die Nussschalen auf diesem Bild wie folgt: »Here, then, is the implication of the nutshells in the Breughel painting: the two apes have just finished the ›banquet of three hazelnuts‹ for which they have exchanged their freedom.
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zählung ist freilich nicht so sehr an den didaktischen Implikationen des entsprechenden Bildprogramms interessiert; sie greift lediglich einige seiner Elemente auf, um sie in parodistisch entstellter Form neu zusammenzufügen. Die Beziehung zwischen dem Motiv der freiwilligen Gefangenschaft und der Nuss bleibt dabei, obschon in witziger Abwandlung, sehr wohl erhalten: Während Pipi dem Jäger hinterherläuft, versucht ein Onkel Milos die Entführung des jungen Affen zu vereiteln, indem er »Kokosnüsse«37 als Wurfgeschosse einsetzt. Hoffmanns Nachricht versäumt es nicht, gleich noch einen weiteren Sinnhorizont ins Gedächtnis zu rufen, in den sich die Konstellation ›Affe mit Nuss‹ einrücken lässt. Schon am Beginn von Hoffmanns Text ist die Rede davon, dass zumindest missgünstige Beobachter dem gesellschaftlich arrivierten Milo unterstellen, er könne, aller erlernten Kultur zum Trotz, »ohne gewisse innere Bewegung nicht wohl mit Nüssen klappern hören«.38 Später in der Erzählung muss der gebildete Affe dann selbst einräumen, dass es ihm bisweilen Schwierigkeiten bereitet, die Rolle eines Künstlers und Gelehrten durchzuhalten: »Neulich gehe ich, elegant gekleidet, mit mehreren Freunden in dem Park spazieren: plötzlich stehen wir an einem herrlichen, himmelhohen, schlanken Nussbaum; eine unwiderstehliche Begierde raubt mir alle Besinnung – einige tüchtige Sätze, und – ich wiege mich hoch in den Wipfeln der Äste, nach den Nüssen haschend! Ein Schrei des Erstaunens, den die Gesellschaft ausstieß, begleitete mein Wagestück. Als ich, mich wieder besinnend auf die erhaltene Kultur, die dergleichen Extravagantes nicht erlaubt, hinabkletterte, sprach ein junger Mensch, der mich sehr ehrt: ›Ei, lieber Monsieur Milo, wie sind sie doch so flink auf den Beinen!‹ Aber ich schämte mich sehr.«39
Auf der Folie der in den Adagia des Erasmus mitgeteilten Anekdote über die Tanztruppe des Pharao liegt offen zutage, dass Hoffmanns Erzählung hier den Topos von den Nüssen zitiert, die den Affen alle andressierten Verhaltensmuster prompt wieder vergessen lassen. Sie gibt damit in quasiallegorischer Form zu verstehen, dass den Bemühungen um eine kulturelle und pädagogische Läuterung des animalischen Substrats im Menschen _____________ 37 38 39
What is more, they have given up all thought of freedom, so strongly are they attached to their sensuous appetites.« (Janson, Apes and Ape Lore [Anm. 2], S. 156.) Hoffmann, Nachricht (Anm. 34), S. 421. Hoffmann, Nachricht (Anm. 34), S. 419. Ebd., S. 427f.
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stets nur kurzfristige Erfolge beschieden sein können: Sobald man ein wenig an der Oberfläche kratzt beziehungsweise ein Paar Nüsse vorzeigt, kommen zuverlässig die alten tierischen Instinkte zum Vorschein. Hoffmanns Text, der seinem Helden schon einleitend in einer sich an Schiller anlehnenden Diktion die »Anmut seiner Sitten«40 nachrühmt, richtet seinen satirischen Stachel dabei vor allem gegen das idealistische Projekt einer ästhetischen Erziehung, gegen die Anschauung, es sei Aufgabe der Kunst, den Menschen erst im eigentlichen Sinn zum Menschen auszubilden.41 Demgegenüber insistiert Hoffmanns Nachricht darauf, dass alle ästhetisch-ethische Verfeinerung des Homo sapiens dessen äffische Natur nicht auf Dauer zum Verschwinden zu bringen vermag. Schließlich wird auch der Topos, der den unoriginellen, lediglich nachschaffenden Maler im Bild des Affen verspottet, innerhalb der romantischen Literatur neubelebt und variiert. In Achim von Arnims Erzählung Raphael und seine Nachbarinnen (1823) sieht sich der Titelheld – niemand anderes als der berühmte Renaissancekünstler Raffael Santi – mit Gemälden konfrontiert, die zwar unzweifelhaft von seiner Hand zu stammen scheinen, die er jedoch, wie er nur zu gut weiß, nicht selbst angefertigt hat. Als genauer Kenner der ikonographischen Tradition versäumt Arnim es nicht, den grotesken Epigonen, der Raphaels Manier so vollendet zu imitieren versteht, mit den Zügen eines »seltsamen, großen Affen«42 auszustatten. Außerdem kommt der unheimliche Nachahmer, ein gewisser Bäbe, nach und nach auch als Automat und gar als halbverbranntes Brot in den Blick. Arnims Erzählung inszeniert den äffischen Bäbe gezielt als das alter ego Raphaels, als den Schatten seiner ästhetischen Produktivität. Die AffenMaschine Bäbe verkörpert ein Moment der Determination, des Automatischen und der mechanischen Mimesis im artistischen Prozess, das sich offenbar nicht länger genieästhetisch gegenüber einer aus sich selbst schöpfenden, authentischen künstlerischen Praxis abgrenzen lässt. Wie hintergründig der Text Bäbes Malerei mit der Frage nach der technischen Pro_____________ 40 41 42
Ebd., S. 419. Zu dieser polemischen Stoßrichtung von Hoffmanns Erzählung vgl. Bridgwater, Rotpeters Ahnen (Anm. 2), S. 452f. Achim von Arnim, »Raphael und seine Nachbarinnen. Erzählung«, in: Achim von Arnim, Werke in sechs Bänden, Roswitha Burwick (Hrsg.), Bd. 4: Sämtliche Erzählungen 1818-1830, Renate Moering (Hrsg.). Frankfurt a. M. 1992, S. 259-315, hier S. 284.
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duzierbarkeit beziehungsweise Reproduzierbarkeit von Bildern verknüpft, kann dabei an dem auf den ersten Blick unscheinbaren Detail abgelesen werden, dass der Affen-Automat sich ausgerechnet in einem »dunklen Kämmerchen«43 versteckt hält. Man muss nur ins Lateinische zurückübersetzen, um zu erkennen, dass die »dunkle Kammer«,44 in der Bäbe haust, nichts anderes darstellt als eine camera obscura: So wird der äffische Maler implizit mit dem Prototyp der Kamera assoziiert und als Teil einer Apparatur vorgeführt, die für alle moderneren Instrumente zur Erzeugung technischer Bilder Pate gestanden hat. Der Affe und das Archiv der Kultur: Wilhelm Raabe, Die Akten des Vogelsangs In einer Schlüsselsequenz von Wilhelm Raabes Roman Die Akten des Vogelsangs (1896) tritt ein Varietékünstler mit dem vieldeutigen Namen German Fell auf, der über die außergewöhnliche Fähigkeit verfügt, sich kraft vollendeter Mimikry förmlich in einen Menschenaffen zu verwandeln. Mit dem Erscheinen dieses denkwürdigen Zwischenwesens situiert sich Raabes Roman – die selbstauferlegten Beschränkungen des realistischen Texts gegenüber dem Phantastischen eher notdürftig wahrend – in der Nachfolge von Hoffmanns Nachricht oder Arnims Raphael. Wie sie eröffnet er eine Zone der Unbestimmtheit zwischen Affe und Homo sapiens; diese steht bei Raabe nunmehr unter dem Vorzeichen der ausdrücklich zitierten Evolutionstheorie. Das ästhetische Reflexionspotential der Affenfigur gerät damit jedoch keineswegs aus dem Blick; die Akten lösen es im Gegenteil gezielt ein, um in der Inszenierung der anthropologischen Differenz die Frage lesbar werden zu lassen, welche Beziehungen der Wert der Humanität zur Kulturtechnik des Schreibens unterhält. Raabes Text erzählt, zumindest vordergründig, die Geschichte von Velten Andres, einer Figur, die sich einem bürgerlichen Lebensentwurf konsequent verweigert und im wilhelminischen Deutschland, zwischenzeitlich auch in den USA, versucht, eine poetische Existenz zu verwirklichen, um am Ende auf spektakuläre Weise mit der Kategorie des Eigen_____________ 43 44
Arnim, Raphael und seine Nachbarinnen (Anm. 42), S. 284. Ebd., S. 285.
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tums zu brechen. Rekonstruiert und zu den Akten genommen wird Veltens Biographie nach seinem Tod von seinem Jugendfreund Karl Krumhardt, der mit ihm gemeinsam in einer Vorstadtsiedlung, eben dem Vogelsang, aufgewachsen ist. Die Erzählergestalt Krumhardt, die eine mustergültige juristische Karriere absolviert hat, sich als verantwortungsvoller Familienvater gibt und insgesamt durchaus philiströse Züge ausstellt, ist dabei als offenkundiges Gegenbild zu Velten Andres angelegt; auf einer allusiv-symbolischen Ebene wird gleichzeitig jedoch in kaum verhohlener Manier bedeutet, die beiden Figuren seien als die zwei Seiten eines gespaltenen Selbst aufzufassen.45 Veltens Zurückweisung besitzbürgerlicher Ansprüche und Konzepte erreicht ihren im Motivgeflecht des Romans mächtig aufgeladenen Höhepunkt nach dem Tod seiner Mutter, offensichtlich der letzten von ihm akzeptierten Verbindung zu seiner gesellschaftlichen Umgebung. Statt sich in dem ihm zugefallenen Erbe einzurichten, beginnt Velten zunächst, es den Winter über im Holzofen zu verfeuern. Diejenigen Stücke, die sich für das am Familienbesitz verübte »Autodafé« (AV 371)46 ungeeignet zeigen, verschenkt er schließlich in einer potlatch-artigen Inszenierung an seine gierig zugreifenden Mitbewohner im Vogelsang. Eben im Verlauf dieser aufsehenerregenden Aktion tritt nun unter mehreren anwesenden Varietéartisten der besagte Affenmensch German Fell hervor, um Velten Andres gewissermaßen brüderlich47 die Hand zu reichen und ihn als seinesgleichen zu begrüßen. Velten aber bleibt nach dieser Begegnung mit seinem »unheimlichen Wandnachbar[n] aus dem Théâtre-Variété« (AV 381) sichtlich konsterniert zurück. Der erfolgreiche Schimpansendarsteller soll offenbar genau den Gegensatz in sich vereinigen, den das Motivsystem des Romans ansonsten auf Held und Erzähler verteilt. Denn unter der _____________ 45
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Zur Thematik der Ich-Spaltung im Roman vgl. vor allem Irmgard Roebling, Wilhelm Raabes doppelte Buchführung. Paradigma einer Spaltung, Tübingen 1988 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte 45), S. 105-199. Ich zitiere Raabes Roman unter der Sigle AV nach folgender Ausgabe: Wilhelm Raabe, »Die Akten des Vogelsangs«, in: Wilhelm Raabe. Sämtliche Werke. Bd. 19: Kloster Lugau, Die Akten des Vogelsangs. Bearb. von Hans Finck und Hans Jürgen Meinerts, Karl Hoppe (Hrsg.) Freiburg i. Br., Braunschweig 1977, S. 211-408. Der offenkundige Hinweis auf deutsche Verhältnisse, der mit dem Vornamen ›German‹ gegeben wird, sollte nicht vergessen machen, dass dieser sich von ›germanus‹ herleitet, lateinisch für ›Bruder von denselben Eltern‹.
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tierischen Hülle des Varietékünstlers verbirgt sich, aller betonten Wahlverwandtschaft zu Velten Andres unbeschadet, das Naturell eines geborenen Büroschreibers. Entsprechendes notiert wenigstens Krumhardt, nachdem Fell seine Metamorphose zurück ins Menschliche durchlaufen hat: Er beobachtet an dem aus seiner Rolle geschlüpften Artisten einen Zug, der diesen in einer überraschenden Nähe zu ihm selbst zeigt: »Herr German Fell aber trat auf Velten Andres mit einer Hölzernheit zu, die ihn in der Meinung verschiedener älterer Herren aus meiner Kanzleiverwandtschaft sehr gehoben haben würde […].« (AV 380f.) Raabes Roman versieht den Auftritt German Fells mit deutlichen Hinweisen auf das evolutionstheoretische Paradigma und seine populäre Quintessenz, der Mensch stamme vom Affen ab. Ausdrücklich werden die »Herren Darwin, Häckel, Virchow, Waldeyer« (AV 380) herbeizitiert.48 Als keineswegs weniger bedeutsam erweisen sich allerdings Spuren der älteren ikonographischen Tradition. Das gilt auffällig etwa für die ehrwürdige Verbindung des Affen zur Melancholie, wie sie sich aus seinem hergebrachten Amt als Begleittier der acedia ergibt. Ausdrücklich vermerkt Raabes Text den »melancholischen Schimpanseernst [sic]« (AV 382), mit dem der Varietékünstler dem verblüfften Velten ins Gesicht sieht. Auch unter diesem Aspekt rückt Fell eng an die Doppelidentität Andres/Krumhardt heran, zeigen die Akten doch sowohl ihren Erzähler als auch ihren Protagonisten mehr als einmal in den Posen des Saturnikers.49 Quasi als die Kehrseite dieser melancholischen Konstellation spielen die Akten nachdrücklich auch den Bezug des Affen zur allegorischen Persona der Narrheit und zur Figur des Narren aus. Wiederholt wird Velten Andres im Roman als »närrischer Mensch« (AV 382) beziehungsweise als »poeti_____________ 48
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Auf den evolutionswissenschaftlichen Hintergrund der German-Fell-Episode hat sich die Forschung denn auch konzentriert; vgl. Eberhard Rohse, »›Transzendentale Menschenkunde‹ im Zeichen des Affen. Raabes literarische Antworten auf die Darwinismusdebatte des 19. Jhs.«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 1988, S. 168-210; sowie Peter Sprengel, »Herr German Fell und seine Brüder. Darwinismus-Phantasien von Raabe bis Canetti«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 1998, S. 11-31. Verwiesen sei hier exemplarisch nur auf die Frage, die Krumhardts Gattin schon gleich am Beginn des Romans an den Erzähler richtet: »Was hältst du so den Kopf in beiden Händen?« (AV 215) Zur Melancholie-Ikonographie in den Akten allgemein vgl. Frauke Berndt, Anamnesis. Studien zur Topik der Erinnerung in der erzählenden Literatur zwischen 1800 und 1900 (Moritz-Keller-Raabe), Tübingen 1999 (Hermaea N. F. 89), S. 326-330.
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sche[r] Hanswurst« (AV 320) charakterisiert, seine Amerikaexkursion erscheint als »Narrenfahrt« (AV 311), seine Aufführungen kommen als »Narrenwesen« (AV 320) in den Blick.50 Genau in die Verlängerung dieser Motivreihe gehört es, wenn Velten im Text, wie seine Begegnung mit German Fell andeutet, Gefahr läuft, sich vollends zum Affen zu machen, sich also einem ikonographischen Äquivalent des Narren annähert. Dass Raabes Text die alte Verbindung zwischen dem Affen und dem Narren in Anspruch nimmt, wird durch die Rahmung von German Fells Auftritt eindrucksvoll unterstrichen. Veltens verausgabender Verzicht auf sein Erbe, der den Schimpansendarsteller auf den Plan ruft, trägt eine karnevalistische Farbe – die Kennzeichnung dieser Veranstaltung als »Kehraus« (AV 375f.) gibt hier einen besonders unzweideutigen Wink. Zugleich und in eins damit gilt es, der ästhetischen Dimension des Geschehens gewahr zu werden. Veltens Aktion zeigt die spezifischen Qualitäten eines künstlerischen happenings, das seinen Reiz gerade daraus bezieht, dass es nicht wiederholbar ist und die Grenze zwischen Teilnehmern und Zuschauern verwischt – indem sie ihrer Habgier freien Lauf lassen, erweisen sich die Bewohner des Vogelsangs als unverzichtbarer Bestandteil der skandalösen Inszenierung, deren Publikum sie zugleich stellen. Man kann Veltens Unternehmung so zwanglos durch eine Formel charakterisieren, die Michail Bachtin gerade auf den Karneval gemünzt hat, und sie als »Schauspiel ohne Rampe«51 beschreiben. Dies scheint auch deshalb angemessen, weil sie ohnehin semiotisch enge Verbindungen zu der breit aufgefächerten Theatermotivik des Romans unterhält: Mit Veltens Ausleerung der elterlichen Wohnung korrespondiert das im Text mehrmals beschworene Bild der leeren Bühne nach dem Ende der Vorstellung. Veltens »menschenfeindliche« (AV 377) Absage an das mütterliche Erbe figuriert in Raabes Roman einen radikalen Bruch mit dem Prin_____________ 50
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Für einen Überblick über das ›närrische‹ Wortregister des Romans vgl. Sven Meyer, »Narreteien ins Nichts. Intertextualität und Rollenmuster in Wilhelm Raabes ›Die Akten des Vogelsangs‹«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 1999, S. 95-111, hier S. 101. Vgl. Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Übersetzt v. Alexander Kaempfe. Frankfurt a. M. 1990 (=Fischer Wissenschaft 7434), S. 48. Bachtin erläutert diese Charakterisierung durch die Bemerkung, der Karneval kenne keine »Polarisierung der Teilnehmer in Akteure und Zuschauer« (ebd.). Julia Kristeva und Roland Barthes haben die Formulierung vom ›Schauspiel ohne Rampe‹ in texttheoretischer Wendung adoptiert.
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zip kultureller Weitergabe und Tradierung. Im Erscheinen des Affenmenschen legt der Text nahe, dass eine Kunst im Zeichen dieses Bruchs, die das kulturelle Erbe ausschlägt und nicht die Dauerhaftigkeit eines Werks anstrebt, die Grenzen des Humanen zu verlassen droht. Indem Velten tabula rasa macht, räumt er zugleich die Bühne frei für die Rückkehr des Affen, dem so die Rolle eines Epilogus zum Menschengeschlecht zufällt – Raabes Protagonist deutet diesen Zusammenhang selbst an, wenn er den eigenen Tod in einer Theatermetaphorik imaginiert, die ihrem Wortlaut nach eine sehr viel grundsätzlichere, gattungsgeschichtliche Perspektive öffnet: »Exit-homo-sapiens, Ab-geht-der-Narr« (AV 351). Unsere simiologische Perspektive erlaubt es uns hier, eine weitere Strähne aus dem kunstvoll geflochtenen Zitatteppich herauszupräparieren, als den Raabe seinen Roman angelegt hat.52 Die Stilisierung des Affen zum Epilogus der menschlichen Gattung, die in den Akten unternommen wird, kann als eine genaue intertextuelle Spiegelung der oben angeführten denkwürdigen Passage aus Klingemanns Nachtwachen gelesen werden; diese bringt den Affen ja im Gegenteil gerade als den »Prologist[en] und Vorredner des ganzen Menschengeschlechts« ins Gespräch. Der Bezug auf den »Prolog des Hanswurstes zu der Tragödie: der Mensch« fügt sich insgesamt gut zu dem Ineinander von Karneval- und Trauerspielreminiszenzen, das den Auftritt German Fells rahmt. Namentlich der im »Prolog des Hanswurstes« satirisch erprobte Gedanke, der Übergang vom Affen zum Menschen werde durch die Ausbildung der motorischen Fähigkeit bezeichnet, Daumen und Fingerspitzen zusammenzuführen, findet in Raabes Roman ein vernehmliches Echo. Das Bedingungsverhältnis zwischen Greifen und Schreiben, das Klingemanns Hanswurst nutzt, um seinen ätzenden Spott über das verklärte Selbstverständnis des homo poeta auszugießen, wird im Motivsystem der Akten auf ganz ähnliche Weise pointiert. Die Thematik des Griffs selbst ist im Roman unschwer auszumachen: Sie wird zum Beispiel hervorgekehrt, wenn der erwachsene Krumhardt einräumt, er spüre den »Griff« seines Vaters »heute noch am Oberarm« _____________ 52
Zur betont intertextuellen Verfasstheit des Romans, der ein Grossteil des neueren Forschungsinteresses gilt, vgl. etwa nur: Berndt, Anamnesis (Anm. 49), S. 313-411; Meyer, Narreteien ins Nichts (Anm. 50); sowie: Christoph Zeller, »Zeichen des Bösen. Raabes ›Die Akten des Vogelsangs‹ und Jean Pauls ›Titan‹«, in: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft, 1999, S. 112-143.
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(AV 254), um nur wenig später seinem Freund Velten einen im Vergleich »noch fast schärfer[en] Griff« (AV 257) zuzusprechen. Über die Verzweigungen des Klammerns und Kletterns reicht die Thematik des Greifens zudem in eine semantische Sphäre hinein, die in Raabes Text ein unverkennbar äffisches Vorzeichen trägt. Vor allem jedoch kommuniziert sie unterirdisch mit der ausdrücklichen Reflexion auf den Akt des Schreibens, die der Roman anstrengt – vornehmlich, aber nicht ausschließlich im Blick auf Krumhardts Arbeit an seinen ›Akten‹. Es ist das im Roman an bedeutsamer Stelle eingeführte Instrument des ›Griffels‹, das die intime Zusammengehörigkeit von Greifen und Schreiben sinnfällig werden lässt. Von ihm ist in jenem Brief die Rede, in dem Velten seine Erfahrungen mit der amerikanischen Demokratie resümiert: »Die Phrasen und den Tonfall, um eine ›Mäh‹ jauchzende Menschenansammlung zum ›Bäh‹jammern zu bringen und das politische Tier, Mensch genannt, mit einem Strick durch die Nase oder um den Hals für Klios ewige Tafeln und vergänglichen Griffel als notierungswert zu dressieren, lernt sich bald.« (AV 326; Hervorhebung von mir; M. L.)
Jenseits aller konkreten politischen Implikationen kann die zitierte Passage andeuten, wie die Thematik von Griff und Griffel in den Akten mit einer Untersuchung der Grenze zwischen Tier und Mensch, zwischen Natur und Geschichte verspannt wird. Auf der Spur von Nietzsches Genealogie der Moral bringt der Roman die Überschreitung dieser Schwelle mit einem Akt der Dressur in Verbindung; Letzterer gerät im Text keineswegs allein in der vergleichsweise sublimierten Form rhetorischer Manipulation in den Blick.53 Auf der Folie der Nachtwachen wird sichtbar, dass sich der Auftritt German Fells sehr genau im Horizont einer für die Akten insgesamt konstitutiven Unterscheidung deuten lässt: derjenigen zwischen Schreiben und Nichtschreiben.54 Veltens am eigenen Erbe verübter Potlatch kann als eine artistische performance verstanden werden, die auf größtmögliche Dis_____________ 53 54
Vgl. den Hinweis zum Peitschenmotiv des Romans im folgenden Abschnitt dieser Untersuchung. Überdeutlich wird dieser Gegensatz bereits durch den Titel des Romans annonciert: Während mit den Akten eine betont prosaische Ausprägung von Schriftlichkeit aufgerufen wird, verweist der Vogelsang gemäß einer eingespielten romantischen Metaphorik auf den Bereich von Mündlichkeit und Naturpoesie.
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tanz zum testamentarischen Medium der Schrift geht. Wie die Institution des Erbes repräsentiert die Schrift in den Akten das Prinzip einer die Generationen verbindenden Überlieferung; eben von ihm setzt sich Velten Andres im Zeichen rückhaltloser Entäußerung ab. Es hat demnach den Anschein, dass auch hier – analog zu dem »Prolog des Hanswurstes« aus den Nachtwachen – die Scheidelinie zwischen dem Affen und dem Menschen durch die Fähigkeit respektive den Willen zu schreiben bezeichnet wird: Dies wenigstens legt der Umstand nahe, dass der Schimpansendarsteller German Fell ausgerechnet anlässlich von Veltens karnevalistischem happening auf den Plan tritt, das im Roman den extremen Gegenpol zu Krumhardts akribischer Aufzeichnungs- und Archivierungspraxis bildet. Aus der Sicht von Raabes Roman macht sich Velten gerade mit seinem Versuch zum Affen, einen poetischen Akt zu vollziehen, der nicht zu Schrift gerinnt, und die Kunst stattdessen ins Leben zu übersetzen. Die kritische Perspektivierung dieses Vorhabens wird dadurch nur noch unterstrichen, dass sich in der Haut des Variétékünstlers Fell – wie oben ausgeführt – ein potentieller Kanzlist und Schreiber verbirgt. Anders als der notorische Ernstmacher Velten55 weiß Fell offenbar, Kunst und Leben, Existenz und artistische Rolle auseinanderzuhalten. Man kann bei alldem kaum übersehen, dass die Akten in ihrer alexandrinisch anmutenden Zitatkultur den genauen Gegenentwurf zu Veltens ›großem Aufräumen‹ verkörpern. Der Versuch des Protagonisten, tabula rasa zu machen, ist als eine Selbstbefragung des eigenen poetischen Verfahrens in Raabes Text eingelagert; dieses stellt sich in einem seiner zentralen Aspekte eben als an der Schrifttradition vollzogene Erinnerungsarbeit dar.56 Raabes Roman trägt so die Aporien aus, die sich für die künstlerische Produktion daraus ergeben, dass das Projekt einer ästhetischen Erziehung seine Glaubwürdigkeit verloren hat und die Überlieferung als Ansammlung von Kulturgütern zum Besitzstand des gründerzeitlichen Bildungsbürgertums erstarrt scheint. Indem sie dem Artisten German Fell zuschreiben, unter der Maske des äffischen Habitus das Na_____________ 55
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Bereits in ihrem am Anfang des Romans wiedergegebenen Brief hebt Helene als einen charakteristischen Zug Veltens bedeutungsvoll hervor, »daß er immer Ernst aus dem Spaße machte« (AV 214). Zur Erinnerungspoetik der Akten vgl. Berndt, Anamnesis (Anm. 49), S. 313-411; zu ergänzen bleibt dabei eben die Problematisierung dieses Konzepts im Roman selbst.
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turell eines Kanzlisten zu verbergen, geben die Akten zu bedenken, dass die ästhetische Aktivität eines archivarischen Einschlags nicht entbehren kann. Wo sie den radikalen Bruch mit den Formen kultureller Weitergabe nicht nur fingiert, sondern ›im Ernst‹ betreibt, fällt sie – so suggeriert es Raabes Roman – aus der Sphäre des Humanen heraus. Schreiben in der anthropologischen Grauzone: Franz Kafka, Ein Bericht für eine Akademie Versuchen wir, die sich abzeichnenden Linien bis zu Kafkas Bericht für eine Akademie auszuziehen, einem Text, der sich in verschiedener Hinsicht als eine Art Summe der literarischen Inszenierungen des Affen lesen lässt. Die kurze Erzählung ruft in grandioser Verdichtung ein breites Spektrum derjenigen Konnotationen auf, die sich um die literarische Gestalt des Affen angelagert haben. Dass der Bericht etwa den topischen Bezug zitiert, der zwischen dieser Spezies und der ästhetischen Kategorie der Nachahmung besteht, ist in der Forschung wiederholt angemerkt worden.57 Wir wollen im Folgenden genauer beleuchten, wie sich die Engführung von artistischer und anthropologischer Reflexion in Kafkas Erzählung aus dem Blickwinkel der Prätexte darstellt, die wir hier gelesen haben. Dabei fällt zunächst auf, dass der Bericht konsequent den Zweifel an dem humanisierenden Potential von Kunst und Bildung fortschreibt, der uns in ähnlicher Konstellation bereits bei Klingemann, Hoffmann und Raabe begegnete. Kafkas Rotpeter, dem es nach eigener Aussage gelungen ist, »[d]urch eine Anstrengung, die sich bisher auf der Erde nicht wiederholt hat«, »die Durchschnittsbildung eines Europäers« (BA 312)58 zu erwerben, zögert nicht, den Leser über die Kosten dieser Integrationsleis_____________ 57
58
Vgl. Walter H. Sokel, Franz Kafka – Tragik und Ironie. Zur Struktur seiner Kunst, München, Wien 1964, S. 342; Klaus-Peter Philippi, Reflexion und Wirklichkeit. Untersuchen zu Kafkas Roman ›Das Schloß‹, Tübingen 1966 (Studien zur deutschen Literatur 5), S. 145f.; Gerhard Neumann, ›»Ein Bericht für eine Akademie‹. Erwägungen zum ›Mimesis‹-Charakter Kafkascher Texte«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 49/1975, S. 166-183, hier S. 172; Wagner-Egelhaaf, Vom Nachäffen (Anm. 3), S. 28f. Ich zitiere Kafkas Erzählung unter der Sigle BA nach folgender Ausgabe: Franz Kafka, »Ein Bericht für eine Akademie«, in: Franz Kafka, Kritische Ausgabe, Jürgen Born u. a. (Hrsg.), Drucke zu Lebzeiten, Wolf Kittler / Hans-Gerd Koch / Gerhard Neumann (Hrsg.), New York 1994, S. 299-313.
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tung aufzuklären. In den Texten, die sich eines äffischen Akteurs bedienen, um die Funktionsweise von Erziehung und Sozialisation radikal auf die Probe zu stellen, muss man zumeist nicht sehr lange nach einer Peitsche Ausschau halten, durch die der Gewaltcharakter pädagogischer Bestrebungen emblematisch vor Augen geführt wird. Erinnert sei an die große »Hetzpeitsche«,59 die der ›Fremde‹ in Hauffs Erzählung Der Affe als Mensch schwingt, um seinen tierischen Schützling zur Räson zu rufen. Keinesfalls auch sollte man darüber hinweglesen, dass der scheinbar so gutmütige und verständnisvolle Vermieter Hartleben in Raabes Akten den Kindern des Vogelsangs, wie ohne weiteren Kommentar vermerkt wird, »mit der Peitsche« (AV 253) nachstellt – wobei der Roman lange vor dem Auftritt German Fells die Gelegenheit ergreift, Hartlebens Opfer im Bild eines ›kleinen Affen‹ zu imaginieren.60 Kafkas Rotpeter hingegen kann auf eine Erziehungsinstanz, die ihn durch entsprechende Strafmaßnahmen diszipliniert, sehr rasch verzichten. Er greift (zumindest metaphorisch) selbst zur Peitsche – und bestätigt so Kafkas grundlegende, an Nietzsche61 und Freud gleichermaßen geschulte Aufmerksamkeit für diejenigen Prozesse, durch die Gewalt internalisiert wird: »Und ich lernte, meine Herren. Ach, man lernt, wenn man muß; man lernt, wenn man einen Ausweg will;
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Wilhelm Hauff, »Der Affe als Mensch«, in: Wilhelm Hauff, Werke. Bd. 1: Romane, Märchen, Gedichte, Hermann Engelhard (Hrsg.), Stuttgart 1961, S. 736-756, hier S. 739. Die in dieser Hinsicht entscheidende Passage formuliert im Modus ›erlebter Rede‹ die Perspektive von Krumhardts Vater auf Helene Trotzendorff aus: »Und dann gar die verzogene Krabbe der entmündigungsreifen Amerikanerin aus dem Vogelsang! Dies junge Ding, das Hartleben heute mit der Peitsche aus seinem Lieblingsbirnenbaum herunterholen wollte, um ihm morgen den Korb mit der ganzen Ernte und einem Blumenstrauß drauf persönlich ins Dachstübchen auf seinem Anwesen hinaufzutragen! Diese [sic] ›kleine Affe‹, die einen selbst in diesen jungen Jahren zur Verzweiflung bringen konnte mit ihren angeborenen ›Allüren‹ […].« (AV 253; Hervorhebungen von mir, M. L.) Die Nähe von Kafkas Erzählung namentlich zu Nietzsches Genealogie der Moral, die sich in teils wörtlichen Anklängen niederschlägt, ist in der Forschung früh bemerkt und wiederholt reflektiert worden; vgl. dazu etwa Philippi, Reflexion und Wirklichkeit (Anm. 57), S. 121-124; Patrick Bridgwater, Kafka and Nietzsche, Bonn 1974 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 23), S. 127; Andreas Kilcher / Detlef Kremer, »Die Genealogie der Schrift. Eine transtextuelle Lektüre von Kafkas ›Bericht für eine Akademie‹«, in: Claudia Liebrand / Franziska Schößler (Hrsg.), Textverkehr. Kafka und die Tradition, Würzburg 2004, S. 45-72, hier S. 58-61.
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man lernt rücksichtslos. Man beaufsichtigt sich selbst mit der Peitsche; man zerfleischt sich beim geringsten Widerstand.« (BA 311) Es fällt nicht schwer, in Kafkas Bericht eine Satire auf Sozialisation als dressurartige Veranstaltung zu erkennen;62 doch bleibt die Erzählung dabei solange unterbestimmt, wie nicht ihr durchgehend selbstreflexives Gepräge in den Blick tritt. Nicht anders als die einschlägigen Texte Klingemanns, Hoffmanns und Raabes nimmt Kafkas Affen-Erzählung insbesondere das Konzept einer ästhetischen Erziehung aufs Korn – nicht umsonst führt Rotpeters Bildungsgang ihn auf das Feld der Kunst, wo ihm die Tätigkeit des Varietéartisten die Chance bietet, sich in der menschlichen Gesellschaft ›festzusetzen‹ (vgl. BA 300). In der Einsicht des gefangenen Affen, dass ihm allein das Variété einen »Ausweg« (BA 303 u. passim) aus seiner Käfigexistenz bieten kann, klingt in einer äußerst depotenzierten und ernüchterten Form das idealistische Motiv von der Kunst als dem Reich der Freiheit nach. Die Welt des Zirkus wird in Kafkas Bericht als die Schwundstufe dieses Reichs inszeniert; eben hier sieht sich Rotpeter denn auch herausgefordert, einen überschwänglichen Freiheitsbegriff auf den Boden seiner profanen Voraussetzungen zurückzuholen. Angesichts zweier Artisten unter der Zirkuskuppel urteilt er: »Sie schwangen sich, sie schaukelten, sie sprangen, sie schwebten einander in die Arme, einer trug den anderen an den Haaren mit dem Gebiß. ›Auch das ist Menschenfreiheit‹, dachte ich, ›selbstherrliche Bewegung.‹ Du Verspottung der heiligen Natur! Kein Bau würde standhalten vor dem Gelächter des Affentums bei diesem Anblick.« (BA 305) Rotpeters Beschreibung zitiert beinahe unverblümt Schillers Konzept der Anmut, durch das diese als »bewegliche Schönheit«63 respektive als »schöner Ausdruck der Seele in den willkürlichen Bewegungen«64 definiert wird. Das Ideal einer harmonisch-freien, schönen Bewegung – die Schiller selbstverständlich dem Menschen vorbe-
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64
Zur wiederholten Gleichsetzung von Kind und Affe in Kafkas Briefen vgl. Neumann, Erwägungen (Anm. 57), S. 182f. Friedrich Schiller, »Über Anmut und Würde«, in: Friedrich Schiller, Sämtliche Werke. Auf der Grundlage der Edition von Herbert G. Göpfert, Peter-André Alt / Albert Meier / Wolfgang Riedel (Hrsg.), Bd. 5: Erzählungen und theoretische Schriften, Wolfgang Riedel (Hrsg.), München, Wien 2004, S. 433-488, hier S. 434. Schiller hebt »bewegliche« hervor. Schiller, Über Anmut und Würde (Anm. 63), S. 437.
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hält65 – entlarvt Kafkas Affe sofort als gattungsspezifische Arroganz: »selbstherrliche Bewegung«. Das mit Bedacht gewählte Attribut deutet an, dass der Bericht die artistische Aktivität nicht als Ausdruck von Freiheit, sondern von Selbst-Beherrschung wertet, als Ergebnis eben jener internalisierten Dressur, die auch Rotpeters eigenhändig ›mit der Peitsche‹ vorangetriebener Bildungskarriere zugrunde liegt. Der Blick des Affen nimmt in der ästhetischen Tätigkeit den Willen zur Macht wahr, dem es gelingt, der Verinnerlichung von Gewalt Lust abzutrotzen, indem er sie zur Herrschaft des Selbst (über sich selbst beziehungsweise den eigenen Körper), zu Freiheit und Anmut verklärt.66 Die antiidealistische Stoßrichtung von Kafkas Erzählung wird durch ein Bildzitat bestätigt, das der Text in kryptierter Form ausspielt. Wenn Rotpeter Revue passieren lässt, welche Optionen sich ihm während der Überfahrt auf dem Ozeandampfer geboten haben, hebt er hervor, dass ein Fluchtversuch zu einem raschen Scheitern verurteilt gewesen wäre: »Man hätte mich, kaum war der Kopf hinausgesteckt, wieder eingefangen und in einen noch schlimmeren Käfig gesperrt; oder ich hätte mich unbemerkt zu andern Tieren, etwa zu den Riesenschlangen mir gegenüber flüchten können und mich in ihren Umarmungen ausgehaucht« (BA 307). Indem Kafkas Text den Leser zu der Vorstellung animiert, der Affe Rotpeter hätte sein Leben in den »Umarmungen« von Würgeschlangen ›aushauchen‹ können, parodiert er en passant die Ikone eines klassizistisch geglätteten Körperkonzepts schlechthin: die Laokoon-Plastik, die den trojanischen Priester und seine Söhne gerade in der tödlichen ›Umarmung‹ von Riesenschlangen darstellt. Der boshaft gesetzte Euphemismus ›sich aushauchen‹ macht die Satire auf ein idealistisch geschöntes Bild der menschlichen Physis besonders spürbar; er korrespondiert dem vielventilierten Umstand, dass der Laokoon der Plastik seinen Mund nicht zu einem _____________ 65
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Schiller lässt es sich in seiner Abhandlung generell angelegen sein, den »große[n] Unterschied« (Schiller, Über Anmut und Würde, S. 471) herauszuarbeiten, der zwischen Mensch und Tier bestehen soll. Kafka dürfte für die leise Komik empfänglich gewesen sein, die sich bei diesem Unterfangen einschleicht und in Formulierungen wie der folgenden ihren Ausdruck findet: »Das Tier muß streben, den Schmerz los zu sein, der Mensch kann sich entschließen, ihn zu behalten.« (Ebd.; Hervorhebung von Schiller) Rotpeters Absage an ein überhöhtes Konzept von Freiheit lässt sich zugleich als kritische Revision des Topos von der freiwilligen Gefangenschaft des Affen lesen, auf den ich oben anlässlich von Hoffmanns Nachricht eingegangen bin.
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Schrei aufreißt. Es existiert nun überdies ein prominentes Bildzeugnis, das das parodistische Motiv aus Kafkas Erzählung gewissermaßen vorwegnimmt. Ich meine eine Laokoon-Karikatur aus dem 16. Jh., deren Entwurf üblicherweise niemand Geringerem als Tizian zugeschrieben wird. Auf dem berühmten (und oft reproduzierten) Holzschnitt findet man den trojanischen Priester und seine beiden Söhne durch weitaus weniger ideale Gestalten ersetzt: An ihrer Stelle ringen drei Affen mit den mörderischen Riesenschlangen.67 Kafkas Text spitzt die Erkundung der Position, die der ästhetischen Tätigkeit im Grenzgebiet zwischen Tier und Mensch zukommt, auf eine Reflexion des eigenen Schriftcharakters zu. Er nimmt, wie vor ihm Hoffmanns Nachricht, implizit den Topos vom literaten Affen auf und variiert dabei auf subtile Weise die uns aus Klingemanns Nachtwachen vertraute Figur, der zufolge der Homo sapiens sich vom Affen gerade durch die Fähigkeit abhebt, eine Schreibfeder zu halten. Dass der assimilierte Schimpanse Rotpeter auf seinem Weg in die menschliche Kultur eine entsprechende Fertigkeit erworben haben muss, bestätigt die Existenz seines Berichts selbst, der als ein innerhalb der fiktionalen Welt materiell vorliegendes Schriftstück zu denken ist.68 Gleichzeitig räumt die Erzählung dem anthropologisch ausgezeichneten Organ der Hand den Rang eines Leitmotivs ein.69 Explizit blendet die Erzählung denn auch das Bild der schrei_____________ 67
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Zu dem wahrscheinlich von Niccolò Boldrini realisierten Holzschnitt und seiner Stellung im Streit um die Anatomie des Vesalius vgl. Janson, Apes and Ape Lore (Anm. 2), S. 355367. So wird allerdings nicht durchweg gelesen. Gerhard Neumann etwa scheint in einer neueren Auseinandersetzung mit Kafkas Erzählung die fiktionsinterne Mündlichkeit von Rotpeters Bericht zu unterstellen, formuliert er doch, der Text gebe eine »Rede« des ehemaligen Affen wieder, der sich dem Ritual »des akademischen Vortrags« unterziehe (Gerhard Neumann, »Kafka als Ethnologe«, in: Hansjörg Bay / Christoph Hamann (Hrsg.), Odradeks Lachen. Fremdheit bei Kafka, Freiburg i. Br., Berlin 2006 (Rombach Wissenschaften Reihe Litterae 136.), S. 325-345, hier S. 336). Für meine Begriffe wird die Schriftlichkeit von Rotpeters Bericht mit hinreichender Deutlichkeit im Einleitungssatz der Erzählung angezeigt; in ihm merkt Kafkas Protagonist an, die Akademie habe ihn aufgefordert, »einen Bericht über mein äffisches Vorleben einzureichen« (BA 299; Hervorhebung von mir; M. L.). Rotpeter streicht eigens heraus: »Das erste, was ich lernte, war: den Handschlag geben; Handschlag bezeugt Offenheit« (BA 300). Auf der Überfahrt nach Hamburg wiederum löscht der Seemann, der sich der Dressur des Affen widmet, das von ihm selbst entzündete Feuer in Rotpeters Fell »mit seiner riesigen guten Hand« (BA 311). Am Ende des Textes
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benden Hand ein, das, wie die Nachtwachen bezeugen, zum Emblem der Differenz zwischen dem Affen und dem Menschen taugt. Dies geschieht freilich in verschobener Form: Nicht von Rotpeters zum Schreibwerkzeug entwickelter Extremität ist ausdrücklich die Rede, sondern von der Hand eines Journalisten; diesem verübelt der humanisierte Affe die Behauptung, er habe seine animalische Natur nur scheinbar abgelegt. Der Publizist hatte sich darüber mokiert, dass der Varietékünstler bedenkenlos die ominöse Schussnarbe »unterhalb der Hüfte« (BA 301) vorzuzeigen pflegt, die ihm von seiner Gefangennahme geblieben ist. Dass er damit eine empfindliche Stelle berührt hat, verdeutlicht die Heftigkeit von Rotpeters Reaktion: »Dem Kerl sollte jedes Fingerchen seiner schreibenden Hand einzeln weggeknallt werden.« (BA 301f.; Hervorhebung von mir; M. L.) Rotpeters Rachephantasie projiziert offenkundig die Art der eigenen Verletzung auf die Glieder des Schreiborgans. So führt Kafkas Text den Eintritt in die Kultur und die Aktivität des Schreibens hintergründig zusammen – unter dem Signum der Kastration nämlich. Er siedelt die schriftstellerische Betätigung des Affen in der Verlängerung der initialen Verwundung an, die dessen erzwungenen Übergang in die menschliche Gesellschaft markiert. Kafkas Erzählung verweigert sich bei alldem wohlgemerkt jeder Entwicklungslogik, die Rotpeters Anpassung an seine neue Umgebung als Fortschrittsgeschichte ausweisen würde. Zwar ruft der Text die Vorstellung von einer Passage zwischen Tierischem und Humanem, zwischen Natur und Kultur geradezu in der Form einer realisierten Metapher ab, wenn er den äffischen Protagonisten ausgerechnet auf seiner Überfahrt von Afrika nach Hamburg die ersten menschlichen Verhaltensweisen einüben lässt. Alles in Rotpeters Bericht ist aber darauf berechnet, dieses einfache Modell zu durchkreuzen und in ein paradoxes Bewegungsmuster zu überführen. Das kann etwa an der Thematik des ›Offenen‹ verdeutlicht werden, die der Text mit einiger Beharrlichkeit durchspielt. Unter der Hand ruft er dabei die anthropologischen Sinnpotentiale dieser Kategorie _____________ müssen wir uns Kafkas Affen in seinem Schaukelstuhl liegend und zum Fenster hinaussehend vorstellen, die »Hände« – nicht etwa: Pfoten – »in den Hosentaschen« (BA 313) Ein genaues chiastisches Gegenbild zu dem Umstand, dass Kafkas Affe am Ende von seinen Greiforganen als Händen spricht, ist in Raabes Akten enthalten: Hier bezeichnet Velten Andres seine lädierte Hand brieflich als »dumme linke Vorderpfote« (AV 265).
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ab.70 Deshalb muss es auffallen, dass Rotpeter seine Flucht ins Menschliche gerade nicht als ein Hervorkommen ins Offene, in die Lichtung beschreibt, sondern sie vielmehr als ein »sich in die Büsche schlagen« (BA 312) anspricht. Diese Formulierung lässt das gattungshistorisch so bedeutungsvolle Hervortreten aus dem Urwald boshaft mit dem Wiedereintritt in eben denselben Urwald zusammenfallen; der Übergang vom Affen zum Menschen kommt damit als leerlaufende Bewegung in den Blick, anders gesagt: als Fortdauern von Naturgeschichte. Durch derart widerspenstige Bildfügungen hintertreibt der Bericht die optimistische Konzeption eines evolutionären Voranschreitens; so bereits, wenn Rotpeter versichert, das »Loch in der Ferne«, das ihn noch mit seinem tierischen Vorleben verbinde, sei inzwischen so klein geworden, dass er sich, »um bis dorthin zurückzulaufen, das Fell vom Leibe […] schinden müßte« (BA 300). Die Rückgewinnung der äffischen Vergangenheit wird damit, paradox, gerade an eine Bedingung gekoppelt, die ihrerseits ›offen‹ auf den Prozess der Anthropogenese anspielt: den Verlust des Fells. Die Imago des künstlerisch aktiven, malenden oder schreibenden Affen lebt – so zeigt es Kafkas Bericht – bis ins 20. Jh. fort; sie tritt dabei freilich in neue Sinnhorizonte ein. Unter den Texten, die wir hier betrachtet haben, wahrt Arnims Raphael-Erzählung noch einen engen Kontakt zu den bereits mittelalterlich etablierten Bedeutungsdimensionen: Die Produktion des äffischen Malers Bäbe wird im Text, ganz auf der Linie der Tradition, durchaus mit dem Stigma uneigenständiger, ›mechanischer‹ Nachahmung versehen; insgesamt legt es Arnims Erzählung aber gerade darauf an, die Differenz zwischen dem künstlerischen Originalgenie und seinem epigonalen ›Affen‹ zu unterlaufen. Der ästhetische Prozess als solcher kann auf ein Moment der Reproduktion, der an der Überlieferung vollzogenen Wiederholung nicht Verzicht tun – so zumindest suggeriert es Arnims Erzählung, nicht ohne diese Anschauung zugleich durch ihre eigene patchwork-artige Komplexion zu beglaubigen.71 Demgegenüber _____________ 70 71
Zum anthropologischen Bedeutungshof des ›Offenen‹ vgl. generell: Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier. Übers. von Davide Giuriato, Frankfurt a. M. 2003 (es 2441). Als Beispiel für Texte, die Arnim seiner Erzählung ausdrücklich oder doch kaum verhohlen zugrunde legt, sei hier nur summarisch auf die Überlieferung zur Biographie Raffaels, auf das Märchen vom Amor und Psyche, auf die Legende von der belebten Venusstatue sowie auf Hoffmanns Sandmann verwiesen.
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dient die Figur des schreibenden Affen in Klingemanns und Hoffmanns Satiren jeweils dazu, das Konzept einer ästhetischen Erziehung zur Humanität ironisch auf die Probe zu stellen. So wächst dem Motiv des Affen als Artisten eine weitere Sinnfacette zu, die deutlich auch noch auf die Inszenierungen Raabes und Kafkas ausstrahlt. Die Nachtwachen und Hoffmanns Nachricht legen parodistisch die Fähigkeit, eine Schreibfeder zu führen und ästhetische Muster zu kopieren, als das Herzstück jener Bildung bloß, die beansprucht, den Unterschied zwischen Mensch und Tier auszumachen. Raabes Akten wiederum binden in einer weniger ironisch denn melancholisch getönten Konstruktion Humanität tatsächlich an die Praxis des Schreibens als einer kulturellen Archivierungs- und Erinnerungsarbeit, die der Roman selbst ästhetisch ins Werk setzt und zugleich kritisch befragt. In grandioser Umkehrung der topischen Ordnung wird der Hang zur imitatio in den Akten als ein auszeichnendes Merkmal nicht länger des Affen, sondern des Menschen ausgegeben; zum Affen droht sich zu machen, wer ›im Ernst‹ glaubt, aus dem Prozess kultureller Fortschreibung herausspringen und mit dem Erbe der Tradition tabula rasa machen zu können. In zutiefst desillusionierter Form schließt endlich noch Kafkas »Jahrhundertwerk«72 an die Denkfigur von der humanisierenden Wirkung der Kunst an. Sie wird im Bericht keineswegs frontal zurückgewiesen; allerdings treibt ihr der Text alle Reste idealistischer Verklärung aus. Vor allem sabotiert die Topologie der Erzählung gerade die einfachen Unterscheidungen zwischen Natur und Kultur, Tier und Mensch, mittels derer Letzterer sich selbst aus seiner Umwelt ausklammert. Die Passage ins Humane erweist sich hier vielmehr als eine jener leeren Fahrten und fehlschlagenden Überschreitungen, die in Kafkas Literatur auf das engste mit der Bewegung des Schreibens assoziiert sind. Als der genuine Ort dieser artistischen Bewegung kommt im Bericht die Grauzone in den Blick, zu der sich die Grenze zwischen Mensch und Tier ausgeweitet hat. In der Künstlerexistenz des literaten Affen Rotpeter spiegelt Kafka sein eigenes Projekt als ein Schreiben an den Rändern des Humanen.
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Neumann, Kafka als Ethnologe (Anm. 68), S. 338.
Register der Tiere und Fabelwesen Die kursiv gesetzten Zahlen beziehen sich auf ganze Beiträge oder Beitragskapitel und schließen die Anmerkungen mit ein. Nicht aufgenommen wurden Tierbelege in Zitaten.
Adler 8 Anm. 38, 81, 83f., 91f., 91 Anm. 45, 147, 149-153, 155f., 159f., 164-166, 171-173, 175-179, 181f., 188-192, 194f., 197-200, 204f., 237, 246, 254-256, 254 Anm. 45, 262 Anm. 2, 285, 286 Anm. 22, 290 Anm. 25, 294-297 u. Anm. 33 u. 35, 299, 303 - Seeadler 8 Anm. 38 - Steinadler 8 Anm. 38 Affe 181f., 184, 187, 205, 309-338 Albatros 80 Anm. 2, 88 Anm. 33, 93 u. Anm. 49 Ameise 33, 41-54 Amsel 151, 285, 300f. - Merlette 151, 166, 179 Auerochse, siehe Rind Bär 5f., 8 u. Anm. 38, 147, 150, 173, 176, 179, 182, 239 Anm. 11, 245 u. Anm. 24, 264 Barbe, siehe Fisch Behemoth 105-129 Biber 22 Biene 5, 44, 46, 48-52, 237f., 242 Blässhuhn 93 Büffel, siehe Rind Chamäleon 170 Chimäre 162 Delfin 150f. Drache 109 u. Anm. 18, 111, 124 Anm. 58, 131-144, 150, 170-172, 179, 181f., 189-191, 193, 196, 198,
200-202, 203 Anm. 39, 204f., 235, 285, 292f. Dogge, siehe Hund Eber, siehe Schwein Echse 108, 124 Anm. 58 Eichhörnchen 99 Eidechse 33, 41, 49, 170 Einhorn 150, 153f., 173, 181 Elefant 20, 22, 150f., 171, 173, 179 Elster 285, 288f. Engerling 8 Ente 4, 7, 70, 285, 298-300 Esel 164, 182, 314 u. Anm. 15, 317 Anm. 23 Falke 6f., 15, 20, 55-78, bes. 58-61, 84 u. Anm. 17, 85 u. Anm. 20 u. 21, 86 u. Anm. 26, 89 Anm. 38, 93, 150, 153, 283, 285, 294, 297300, 302f., 306 - falco gentilis 58-60 - Gerfalk 59-61 u. Anm. 29 u. 30, 85 u. Anm. 20, 86f., 90-92 u. Anm. 45, 100 - Jagdfalke 85, 86 Anm. 26, 297299 - Lannerfalk 59f. - Roter Falke 62 - faucon saffir 59f. - Schwarzer Falke 59, 61f. - Wanderfalk 58-61, 85 Anm. 20 - Weißer Falke 59, 61f. - Würgfalk (Saker) 59f. u. Anm. 29 Fasan 7
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Register der Tiere und Fabelwesen
Fisch 93, 108f., 118, 122, 125, 150, 163, 166, 172, 175, 178f., 181, 238, 243, 262 Anm. 2 - Barbe 155 - Muräne, siehe dort - Neunauge, siehe dort Fledermaus 284f. Fliege 283 Anm. 7 Flusspferd 110, 124 Frettchen 5 Frosch 262 Anm. 2 Fuchs 16-19, 52, 163f., 231
- Henne 150, 163 Hummer 148 Hund 4, 7, 20, 52, 86 Anm. 26, 100, 107, 135, 150f., 171, 182, 207-232, bes. 225-231, 238, 245, 269, 270 Anm. 29, 271 u. Anm. 32, 272, 282 Anm. 3, 283 Anm. 7, 285 - Dogge 155 - Jagdhund 4f., 230, 231 Anm. 67 - Schoßhund 4, 6, 153, 214, 221 u. Anm. 36, 222f., 225, 227, 230, 232 Hyäne 239 Anm. 11
Gans 4, 161, 164, 285-287 u. Anm. 20 Geryon/Gerione 284f., 290, 292-294 u. Anm. 29, 297, 299 Glühwürmchen 285 Graureiher, siehe Reiher Greif 147, 150, 170-173, 181f., 185187, 189f., 197f., 200-202, 203 Anm. 39, 204f., 285, 290 u. Anm. 25
Igel 79, 96-101 Insekt 44, 48 Anm. 68, 284f.
Habicht 7, 58 u. Anm. 19, 61, 68 u. Anm. 57, 297 u. Anm. 37 Harpyie 285, 290f. u. Anm. 27, 292 u. Anm. 28 Hase 33, 41, 107, 173, 181, 188-190, 192, 200, 205 Hermelin 170f. Heuschrecke 33, 41 Hirsch 6-8, 20, 107 Anm. 8, 150f., 162f. 171, 181, 187f., 230, 261, 262 u. Anm. 2, 265, 268 Anm. 23, 269280 - Hinde/Hirschkuh 195-197, 203 u. Anm. 39, 205, 266-268 u. Anm. 23, 274-279 Huhn 4 - Hahn 148, 285, 287
Jagdhund, siehe Hund Kamel 107, 242 Kaninchen 5 u. Anm. 19 Katze 5 u. Anm. 18, 107 - Raubkatze 173, 203 u. Anm. 39 Kentaur 181, 187f., 195-198, 203 u. Anm. 39, 204f. Klippdachs 107 Krähe 285, 300f. Kranich 8 Anm. 38, 46, 52, 59, 70, 85, 150, 164, 285, 297, 300, 305 u. Anm. 52, 306 Krebs 238 Krokodil 109, 179 Kröte 5, 137 Anm. 25 Kuh, siehe Rind Lamm, siehe Schaf Lamprete, siehe Neunauge Laus 61, 69 Anm. 59, 70 Leopard 166, 171, 173, 175, 182 Lerche 285, 300 u. Anm. 42 Leviathan 105-129
Register der Tiere und Fabelwesen
Löwe 10-12, 17, 19 u. Anm. 94, 22, 147-149, 151, 155, 157 u. Anm. 26, 159f., 162, 164-168, 171-173, 175179, 181f., 184f., 187, 191, 195, 200-202, 203 u. Anm. 40, 204f., 235, 237, 245 u. Anm. 24, 246, 249-251, 253, 258, 287 Anm. 20, 290 Anm. 25, 292 - Löwin 12 Manticors 292 Maus 5 Merlette, siehe Amsel Milan 81 Mischwesen - Löwe/Drache 191 - Rind/Steinbock 107 Motte 61 Möwe 173 Muräne 93, 95 Muschel 179 Nachtigall 285, 288f. Natter 283 Anm. 7 Neunauge 79, 93-95 - Lamprete 93f. u. Anm. 51, 95 Nilpferd, siehe Flusspferd Ochse, siehe Rind Panther 149, 151, 170, 172, 175f., 178, 240, 282 Anm. 3 Pavian 317 Pelikan 22, 181, 285, 294f., 297 Pfau 151, 175, 181f. Pferd 4 u. Anm. 14, 5, 15, 19, 20 Anm. 95, 134, 147, 151, 153, 157, 164, 181f., 245, 249, 269, 270 Anm. 29 Phönix 116 Anm. 38, 181, 235, 240f., 285, 290f.
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Rabe 151, 164, 178, 237, 246, 254256 Rebhuhn 240 u. Anm. 14 Reh 8 Anm. 38 - Rehbock 171 Reiher 7, 79-93, 100 - Graureiher 86 Reptilien 42, 106, 108, 238, 285, 297 Anm. 37 Rind 124f. - Auerochse 124 Anm. 57 - Büffel 165 - Kuh 4 - Ochse 4, 124, 285 - Stier 110, 124 u. Anm. 57 u. 58, 147, 151, 155, 182, 282 Anm. 3 Sau, siehe Schwein Schaf 4, 253 Anm. 42, 285 - Lamm 21, 181, 235, 282 Anm. 3 - Widder 151, 164, 178, 181, 184f., 187, 205 Schildkröte 179 Schlange 23 Anm. 114, 109, 120, 137 Anm. 25, 151, 162, 169-171, 181f., 235, 238, 272 u. Anm. 34, 283 Anm. 7, 287 u. Anm. 22, 290, 292, 297 u. Anm. 37, 312 Schoßhund, siehe Hund Schwalbe 288f. Schwan 8 Anm. 38, 151, 171-173, 178, 285, 299f. Schwein 4, 8, 182, 236f., 246f. u. Anm. 26, 249, 285 - Eber 8, 20, 23 Anm. 114, 135, 150, 164, 175, 178, 235, 237, 239 Anm. 11, 246-249, 251, 254f., 258, 264 - Sau 9 Anm. 46, 182, 287 Anm. 20 - Wildschwein 5, 8 Anm. 38 Seeadler, siehe Adler Seehund 237, 245
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Register der Tiere und Fabelwesen
Seepferdchen 148 Seeungeheuer 108, 120 Skorpion 182, 292f. Sperber 7, 58 u. Anm. 19, 61, 68, 297 Stachelschwein 98, 100f. Star 285, 297, 300, 304, 306 Steinbock 107 u. Anm. 8, 151, 175, 178, 197 Stier, siehe Rind Storch 92f., 285, 300, 302f., 306 - Störchin 303 Strauß 148, 169f.
Vögel, siehe einzelne Vogelnamen
Taube 21, 170f., 255, 285, 297 Anm. 36, 300, 305f. Tiger - Tigerin 22 - Trappe 69f.
Ziege 4, 107 Anm. 8, 182, 262 Anm. 3, 282 Anm. 3, 285 - Ziegenbock 148 Ziz 108, 114-116 u. Anm. 38
Wal 118, 240 Wespe 46, 48, 239 Anm. 11, 283 Anm. 7 Widder, siehe Schaf Wolf 5, 16f., 151, 178f., 182, 237, 245f., 252-254, 256 u. Anm. 49, 258, 282 Anm. 3 - Wölfin 17 Wurm 5, 44, 46, 48, 51, 61, 283 Anm. 7
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