Texte Zur Selbsterkenntnis
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ERLEUCHTUNG IST SELBSTERKENNTNIS Texte zur Nondualität
Advaita 1x1 DIE PHILOSOPHIE DES ADVAITA, ODER DES VEDANTISCHEN Nondualismus, ist neben dem Buddhismus zu einem der populärsten spirituellen Wege geworden, dem heutzutage an Erleuchtung Interessierte folgen. Durch die stetig anwachsende Popularität von Ramana Maharshi, der von vielen als der spirituelle Gigant des modernen Indien betrachtet wird, erlangte Advaita im Westen in den letzten drei Jahrzehnten immer mehr Anerkennung. Zunächst kamen auch wir, wie so viele westliche spirituell Praktizierende, durch die Lehre des großen Ramana Maharshi in Kontakt mit der Advaita Philosophie, der HinduPhilosophie der Nondualität (Einssein, oder präziser gesagt NichtzweiSein). In dem Bemühen, ein tieferes Verständnis für den Hintergrund und philosophischen Zusammenhang dieser tief gehenden und stetig an Einfluss gewinnenden Lehre zu erhalten, sind wir bis zu ihrer Quelle zurückgegangen, zu dem Mann, der allgemein als ihr Begründer angesehen wird, dem Religionsphilosophen und Lehrmeister des achten Jahrhunderts namens Shankara. Advaita Vedanta wird als Kronjuwel indischer Philosophie angesehen und Shankaras mächtiger Einfluss ist in den meisten modernen Geistesschulen Indiens heute noch präsent. Zunächst einmal glaubten wir, er sei diese legendäre Gestalt, wie sie in den traditionellen Texten beschrieben wird: der erleuchtete, geniale Einzelgänger, der nicht nur die Vorrangstellung des Buddhismus und alle anderen, sich widersprechenden religiösen Ansichten im indischen Mittelalter vernichtete, sondern auch die Glorie und Herrschaft der traditionellen vedantischen Doktrin im Alleingang wieder herstellte. Aber als wir uns mit der populären Interpretation von Shankaras Leben tiefer beschäftigten, erwies sich vieles von dem, was man über ihn sagt, als Stoff, aus dem Mythen gewoben werden und tatsächlich sind die Kenntnisse über sein Leben bestenfalls sehr bruchstückhaft, und sogar Berichte über sein Geburtsdatum weichen bis zu 100 Jahre voneinander ab. Was wir aber wissen, ist, dass Shankara ein Meisterphilosoph und Weiser war, der großes Gewicht auf eine strenge Auslegung der vedantischen Schriften legte, auf genaue Übereinstimmung mit der Doktrin von Advaita oder der Nondualität. In der traditionellen Advaita Philosophie (die man einfach als die Aussage aus den Upanishaden definieren kann, die besagt: Du bist jenes unsterbliche Absolute Selbst!) wurde spirituelles Wissen nicht so sehr durch yogische Erfahrungen gesucht, sondern eher durch die systematische Übung, zwischen dem Echten und dem Unechten zu unterscheiden, was durch ein Studium der Schriften unterstützt wurde. Der bekannte Wissenschaftler Georg Feuerstein fasst die Advaita Erkenntnis wie folgt zusammen: „Das vielfältige Universum ist in Wahrheit nur eine einzige Realität. Es gibt nur ein großes Sein, das die Weisen Brahman nennen, dem all die unzähligen Formen der Existenz 2
innewohnen. Das große Sein ist höchstes Bewusstsein und Es ist die wirkliche Essenz, oder das Selbst (Atman), aller Lebewesen.“ Die besondere Glorie und die befreiende Macht dieser außerordentlich wichtigen Lehren der Nondualität (die als der direkteste Weg zur Erleuchtung bekannt sind) resultieren nicht nur aus ihrem Potenzial, den Suchenden in diesem Leben zu erleuchten, sondern vielmehr daraus, dass sie dem reifen Individuum die Möglichkeit bieten, sich augenblicklich von den Fesseln einer konditionierten Existenz zu befreien. In jüngerer Zeit gab es beeindruckende lebende Beispiele einer solch profunden Verwirklichung: der Weise und Heilige Ramana Maharshi, dann der beeindruckende, Zigaretten rauchende Jnani (ein selbstverwirklichter Mensch) Nisargadatta Maharaj aus Bombay, dann der kürzlich verstorbene abtrünnige Meister und „Löwe von Lucknow“ H. W. L. Poonja und der bescheidene Ajja, der mühelos in einem intensiven ununterbrochen glückseligen Gewahrsein des Selbst ruht und der in dieser Ausgabe von „Was ist Erleuchtung?“ der westlichen Welt zum ersten Mal vorgestellt wird. (Ich bin) das Wesen Reinen Bewusstseins. Ich bin immer dasselbe für die Lebewesen, eins allein; (ich bin) das höchste Brahman, das wie der Himmel alles durchdringt, unvergänglich ist, gütig, ungebrochen, ungeteilt und aller Handlung entbehrt. Ich gehöre zu nichts, denn ich bin frei von jeder Anhaftung. (Ich bin) das höchste Brahman ... immerleuchtend, ungeboren, eins allein, unvergänglich, unbefleckt, alles durchdringend und nondual das bin ich, und ich bin auf immer befreit. Shankara, Die Upadesasahasri Die profunde Inspiration und befreiende Macht von Advaita ist unbestritten, doch ihre Weltsicht findet auch Kritik. Obwohl die „moderne“ AdvaitaLehre die unteilbare Natur von Welt und Brahman, oder dem Absoluten Selbst, zu betonen scheint, hat die traditionelle Advaita Philosophie ein „tiefes metaphysisches Vorurteilgegen die Welt...“ zum Ausdruck gebracht, wie der bekannte Religionswissenschaftler Lance Nelson betont. „Letztlich versagt die AdvaitaTradition darin, einen wirklichen Nondualismus von der Welt und dem Absoluten zu zeigen. Sie ist eher ein akosmischer Monismus. Sie erreicht ihre Nondualität nicht auf einschließende, sondern auf ausschließende Weise. Die empirische Wirklichkeit wird auf vorläufiger Basis zugelassen, aber letztendlich wird sie aus dem Absoluten, aus der Existenz, hinausgeworfen. Aus der höchsten Perspektive gesehen ist die Welt einfach nicht da.“ (Hervorhebungen d. Red.) Um es noch einmal zu sagen: Obwohl moderne Vertreter von Advaita die Welt in ihrer Vision von Nondualität scheinbar nicht ausschließen, wird die Welt in der klassischen Interpretation ganz klar entweder als völlig irreal oder nur teilweise als real angesehen. Und dafür wurde Advaita im Verlauf der Geschichte immer wieder kritisiert. 3
Genau wegen ihrer Betonung der letztendlichen Unwirklichkeit und illusorischen Natur jeder körperlichen Existenz bietet sie überhaupt keine Lehre, die sich damit befasst, wie man in der Welt leben soll. Noch genauer gesagt, wendet sich die nonduale Lehre in keiner Weise der ethischen oder moralischen Dimension des Lebens zu. Und obwohl die moderne AdvaitaLehre in ihrer nondualen Sichtweise anscheinend die Welt nicht ausschließt, entbehrt sie immer noch einer Lehre, die sich mit der Realität des menschlichen Lebens befasst. Interessanterweise scheint es, dass Advaita, historisch gesehen, ethische oder moralische Fragen deswegen nicht anspricht, weil so sagt Nelson die höchsten nondualen Lehren „niemals für die Allgemeinheit bestimmt waren oder eine Philosophie sein sollten“. Tatsächlich stellt er fest, dass sie „von und für eine kleine spirituelle Elite von männlichen Brahmins (Angehörige der höchsten Priesterkaste) formuliert wurden, die hauptsächlich Sannyasi (Entsagende) waren, die man für qualifiziert genug hielt, sich diese Lehre anzueignen.“ Das bedeutet praktisch, dass derjenige, dem die absolute Lehre offenbart wurde, bereits die erforderliche moralische und ethische Eignung für eine Schülerschaft besaß. Und nicht nur das Shankara erklärt selbst, dass eine Eignung zur Schülerschaft auch noch ein ganz außergewöhnliches Maß an Loslösung und Transzendenz von weltlichen Begierden verlangt: Der Schüler muss allen sterblichen Dingen leidenschaftslos gegenüberstehen. ... (Er hat bereits) den Wunsch nach Söhnen, Wohlstand und nach der Welt aufgegeben und ist mit Selbstkontrolle (und) Barmherzigkeit ausgestattet, er ist ein Brahmin, der innerlich und äußerlich rein ist, dessen Gedanken ruhig sind, der Ruhe gefunden hat. ... (Deshalb) lass ihn zu einem spirituellen Lehrer gehen, der ein Gelehrter der Schrift ist und verwurzelt im Brahman. —Die Upadesasahasri Es gibt heute auf dem postmodernen spirituellen Markt ein ungewöhnliches Phänomen, das es niemals zuvor in der Geschichte gegeben hat. Das, was früher als höchste esoterische Lehre galt, die nur denjenigen offenbart wurde, die sich vorbereitet und der unvorstellbaren Tiefe und Differenziertheit als würdig erwiesen hatten, steht jetzt für jedermann zur Verfügung, der durch einen esoterischen Buchladen schlendert. Eine wichtige Frage scheint hier zu sein: Sind die meisten Suchenden wirklich auf den psychologischen Umbruch und die Welten zerschmetternde Veränderung der Wahrnehmung vorbereitet, die ein Vordringen in das Absolute entfesselt? Die Betonung der illusorischen Natur aller körperlichen Existenz bei Advaita könnte möglicherweise einen Freibrief für menschliche Schwäche und GenussSucht bieten, wenn das 4
Individuum noch nicht in einer fundamental gesunden Beziehung zum Leben verankert ist. Die ungesunden Tendenzen, die sich durch narzisstische, neurotische und heute weit verbreitete, zutiefst zynische Überzeugungen auszeichnen, schaffen ein gefährlich schwaches Fundament für eine nonduale Perspektive, die alle Gegensatzpaare transzendiert, „richtig“ und „falsch“ eingeschlossen. Während die große Stärke von Advaita darin liegt, dass sie einen einzigartigen unerschütterlichen Nachdruck auf die Absolute Dimension der Existenz legt, wird zugleich ihre Schwäche durch den begrenzten Rahmen ihrer Einzigartigkeit deutlich. Und obwohl natürlich jede absolute Sichtweise per definitionem jegliche Unterscheidung transzendieren muss, besitzt Advaita, oder der Nondualismus, ein enorm hohes Potenzial, zu einer Weltsicht anzuregen, die in gefährlicher Weise von jeglichen Werten entleert ist. In einer solch absoluten Lehre ist die Möglichkeit davonzulaufen, anstatt sich einer echten Transformation zu unterziehen, potenziell sehr groß. Es ist nämlich eine Sache, vom Absoluten angenommen, aufgesogen und völlig ausgelöscht zu werden es ist aber eine völlig andere, vor der ursprünglichen Komplexität des Lebens zu fliehen, um dem überwältigenden Anspruch wahrer Hingabe auszuweichen.
W er I st Ajja? Eine Begegnung mit dem Absoluten von Andrew Cohen
Im Vivekananda Kendra Ashram in der Nähe von Bangalore, Indien, wird jedes zweite Jahr eine Konferenz mit dem Titel „Grenzgebiete der Yoga Forschung und ihre Anwendung“ abgehalten. Das Thema ist immer die Beziehung zwischen Wissenschaft und Spiritualität, Bewusstseins forschung und medizinischer Anwendung von Yoga. Bei meinem ersten Besuch wusste ich nicht, was mich erwarten würde, aber als ich zum zweiten Mal dort war, als eingeladener Redner, um über „Erleuchtung“ zu sprechen, war mir bereits klar, dass bei dieser Konferenz alles möglich ist. Bei diesem Ereignis, wo sich das Weltliche und das Spirituelle treffen und gleichzeitig auf so vielen Niveaus vermischen, findet sich eine überaus ungewöhnliche Schar von Menschentypen in einer Art Eintopf zusammen, wie ihn nur Mutter Indien zubereiten kann. Aber obwohl ich das wusste, 5
ahnte ich noch nicht, als ich im letzten Dezember wieder nach Südindien kam, dass ich die seltene Gelegenheit haben würde, etwas Zeit mit diesem so kostbaren Juwel zu verbringen – mit einem voll erleuchteten Jnani, einem Menschen, der das ABSOLUTE SELBST verwirklicht. hat. Ajja, „Großvater“, wie ihn alle, die ihn kennen, liebevoll nennen, ist ein lebendiges Beispiel für das sagenhafte spirituelle Vermächtnis Indiens, und seine persönliche Geschichte ist ebenso seltsam und mysteriös wie wunderbar. Ramachandra, geboren 1916, war ein wohlhabender Bauer und Grundbesitzer, von dem es hieß, dass er von Natur aus eine ungewöhnliche Reinheit des Herzens und eine sehr seltene Schlichtheit des Wesens besaß; trotzdem zeigte er kein besonderes Interesse an spirituellen Dingen. Eines Tages, er war damals sechsunddreißig, spürte Ramachandra ohne ersichtlichen Grund einen sehr heftigen Schmerz im Herzen, der allmählich von seinem gesamten Körper Besitz ergriff. Sechs Monate lang litt er, wie er sagt, unerträgliche physische Schmerzen, wobei seine Familie die ganze Zeit verzweifelt versuchte herauszufinden, was ihm solches Leiden verursachte. Ihre Bemühungen blieben erfolglos, denn niemand konnte die Ursache seiner Qualen feststellen. Und dann verschwand der Schmerz so plötzlich, wie er aufgetaucht war, und hinterließ keinerlei Spuren. Während er zuvor nicht das war, was man einen tiefen Denker nennen würde, löste diese Erfahrung in ihm jedoch eine intensive Nachdenklichkeit aus, die, wie man uns berichtet, monatelang andauerte. „Was war dieser Schmerz, der meinen Körper gequält hat?“ fragte er sich. „Was ist Gefangensein? Was ist Befreiung?“ Dank seines schlichten Wesens und der Reinheit seines Geistes gelangte er in kürzester Zeit an die Wurzel dieser Fragen. In seinen Nachforschungen stellte er fest, dass Schmerz Gefangensein ist und dass die tiefere Ursache von Gefangensein Karma ist. Der Verstand schafft das Karma, erkannte er, und der Verstand ist die Summe aller Gedanken, die sich mit dem kleinen Selbst beschäftigen. Am letzten Abend seiner nach innen gerichteten Erforschung fragte er sich: Was ist die Wurzel von weltlichem Besitz? Von Geld? Geld, so schloss er, ist das Wichtigste in der Welt, und alle Angst und Unsicherheit basiert auf der Verhaftung damit. In dem Moment hatte er eine sehr kraftvolle Vision, die großartig und erschreckend zugleich war. Vor seinen Augen erschien eine außergewöhnlich schöne Frau, deren Körper ganz rot war und aus deren Mund sich zu seinem Entsetzen ein Strom von Blut ergoss. Er erkannte sie als die Verkörperung des Todes. Er betrachtete sie eine Weile, wobei ihn eine tief greifende Einsicht überkam. Die Wurzel des Geldes, so erkannte er, war Besitz. Und Besitz, so erkannte er, bedeutete Tod. Dann verschwand die Frauengestalt und eine Tür erschien; an diesem Punkt begann ein letztes Nachforschen in ihm. „Wer bin ich?“ fragte er sich. Da öffnete sich die Tür und er verließ seinen Körper durch den Scheitelpunkt seines Kopfes. „Göttliche Wesenheiten“ begrüßten ihn und begleiteten ihn weiter auf seiner Reise zu dem, was er „die dritte Ebene“ nennt. Während dieses ganzen Vorgangs, der mitten in der Nacht stattfand, lag er auf dem Boden seines Zimmers und war allem Anschein nach physisch tot. Die 6
ganze Zeit über saß Ishmael, ein muslimischer Bauer, der sein engster Schüler werden sollte, neben ihm; er wurde, so erzählte man uns, von etwas Unbekanntem angewiesen, sich um seinen Körper zu kümmern.
Dann tauchte eine Lichtkugel auf, kauerte sich neben seine leblose Gestalt und trat dann in ihn ein. Sobald das Licht Ajjas Körper betreten hatte, öffnete er seine Augen, und die ersten Worte, die er sprach, waren: „Der, der vorher da war, ist jetzt weg ein anderer ist gekommen.“ Er sprach weiter: „ Ich bin nicht der
Körper, ich habe keine Mutter, ich habe keinen Vater. Ich bin dieses Strahlen.“ Die nächsten drei Monate saß er ruhig in seinem Haus, während eine tiefe Stille in ihm immer intensiver wurde. Sein Geist stellte sich langsam auf seinen neuen Zustand ein, und er wurde so empfindlich, dass ihm schon das leiseste Geräusch absolut unerträglich war. Am Ende dieser Phase trat er gänzlich verändert aus seinem Haus. Völlig berauscht ging er nackt umher, manchmal sang und tanzte er stundenlang im Regen, und manchmal starrte er endlos in die Sonne. Er schlief auf Felsen und unter Bäumen. Seine Familie dachte, er sei verrückt geworden, und brachte ihn schließlich in einem Heim unter. Wenn ihn die Ärzte nach seinem Namen fragten, antwortete er: „Ich habe keinen Namen.“ Wenn sie ihn fragten, wo er lebte, antwortete er: „Überall.“ Nach zwei Monaten erklärten die Ärzte, dass er nicht verrückt sei, und entließen ihn. Die nächsten zwanzig Jahre zog er als Avadhuta (ein Wesen, das alle Sorgen abgelegt hat) umher und war so tief im Bewusstsein des SELBST absorbiert, dass er sich den überwiegenden Teil der Zeit der Welt um ihn herum nicht bewusst zu sein schien. Ishmael, jetzt sein ständiger Begleiter, kümmerte sich um seine körperlichen Bedürfnisse. Als er sich 1961 in Rishikesh in Nordindien befand, hörte er eine Stimme, die ihm zurief: „Komm zu mir. Du sollst zu mir kommen. Ich bin hier in Ganeshpuri.“ Er reagierte sofort darauf und ging nach Ganeshpuri, um den legendären Swami Nityananda zu treffen, mit dem er nur fünf Minuten verbrachte. Es fiel kein Wort, während sie sich fest in die Augen schauten. Diese Begegnung versetzte Ajja in die Lage, wieder „zur Erde zurückzukommen“, und kurz darauf begann er wieder Kleider zu tragen und mit anderen zu sprechen. Wieder zurück in seinem kleinen Dorf, verbrachte er weiterhin den Großteil seiner Zeit in völligem Schweigen. Vor sieben Jahren hielt der berühmte Pandit Bannanje Govindacharya in Ajjas Dorf einen Vortrag über Vedanta, worin er die Menschen aufforderte, „nach innen zu gehen.“ Ajja, der dem Vortrag zuhörte, folgte seinen Anweisungen auf den Buchstaben genau. Da bemerkte ihn der Pandit, denn Ajja war plötzlich in einer mystischen Trance und fiel um. Als der Pandit zu ihm hinging und fragte: 7
„Was ist mit dir?“ antwortete er unschuldig: „Du hast gesagt, ich soll nach innen gehen; ich bin nach innen gegangen.“ Govindacharya erkannte die Erfahrung Ajjas als übereinstimmend mit den Upanishaden (den klassischen Schriften über Vedanta) an, und als Ergebnis ihrer Begegnung, die sich zu einer warmen Freundschaft entwickelte, begann sich Ajjas Ruf als lebendiger Meister von Advaita, Nondualität, im ganzen südindischen Staat Karnataka zu verbreiten. Es war ein früher Abend während der Konferenz, als Ajja einfach und unprätentiös zu einem größtenteils indischen Publikum über das Wesen unserer wahren Identität zu sprechen begann. Seine überaus große Verletzlichkeit war fast schmerzhaft anzusehen, er schien sich unwohl zu fühlen und an der Rolle, in die er hineingedrängt worden war, nämlich vor einer großen Menschenmenge zu sitzen, geradezu zu ersticken. Er sprach langsam und bedächtig, seine Worte waren einfach und von dem Kern des Seins durchdrungen. Er sprach von unvorstellbarer Glückseligkeit und vom vollständigen Transzendieren des Verstandes. Er beschrieb eine ungeheure Energie, die sich in seiner Wirbelsäule bewegte, und davon, wie wichtig es wäre, den ungeteilten Wunsch nach Moksha, Befreiung, zu verspüren. Immer wieder betonte er, wie absolut unerlässlich es ist, den Verstand zur Ruhe zu bringen, um das, was jenseits davon liegt, direkt zu erfahren. Während er sprach, wurde seine Echtheit eher dadurch deutlich, wie er war, als durch das, was er sagte. Da saß ein Mann, der kein Gesicht zu haben schien, der keinen Namen, und, was vor allem anderen am beeindruckendsten war, allem Anschein nach keinen Verstand und keine Persönlichkeit im normalen Sinn hatte. Sein Unbehagen angesichts des gesprochenen Wortes war offensichtlich, und er wiederholte immer wieder, dass „man über diese Dinge nicht sprechen kann!“ sie könnten nur durch direkte Erfahrung verstanden werden. Zu meiner Überraschung schienen nicht viele Zuhörer zu begreifen, wer Ajja war, denn einige verlangten durchaus aggressiv Echtheitsbeweise von diesem sanften Mann. Alles wurde noch schlimmer, als einige seiner glühenden Anhänger anfingen, in eindeutigen Worten lautstark zu verkünden, dass ihr Guru ein lebendes Beispiel für die höchste Errungenschaft ist, wie sie in den Upanishaden beschrieben wird. Es breitete sich in der Menge bald eine Atmosphäre wie im Zirkus aus. Inmitten des ganzen Chaos zog Ajja es vor zu schweigen. Später am Abend ging ich mit einigen meiner Schüler zu Ajja, um mich mit ihm in seinem Zimmer zu treffen. Als wir ankamen, war er gerade Zielscheibe scharfer Fragen seitens des bekannten Physikers George Surdashan, der, abgesehen davon, dass er für den Nobelpreis nominiert gewesen war, auch engen Kontakt mit dem Maharishi Mahesh Yogi und dem großen J. Krishnamurti gehabt hatte. „Ajja“, fragte der Physiker, „wenn zwei Menschen nebeneinander stehen und den Mond hoch oben am Nachthimmel ansehen, warum empfindet dann der eine eine starke Neugier zu wissen, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und warum interessiert es den anderen gar nicht?“ Ajja antwortete so, wie er viele 8
Fragen beantwortet: „Man muss selbst die Erfahrung haben. Erst dann wird man verstehen können.“ Der Physiker wollte Ajjas Antwort nicht akzeptieren und behauptete, dass das wohl jeder sagen könnte, dass Ajja der Frage ausweiche und dass das ganz einfach keine akzeptable Antwort sei. Ich stellte fest, dass hinsichtlich des Geschehens, das hier ablief, zwei absolut unterschiedliche Empfindungen wechselweise in mir Gestalt annahmen. Auf der einen Seite beeindruckte mich die mutige Ablehnung des Physikers, etwas anderes als eine direkte Antwort von einem erleuchteten Menschen zu akzeptieren. Andererseits konnte ich aber auch nicht anders, als von dem bemerkenswerten Gleichmut Ajjas genauso beeindruckt zu sein. Auch wenn Ajja scheinbar nicht in der Lage war, direkt auf die Fragen zu antworten, war ich doch von der tiefen Sensibilität seines Wesens einfach berührt. Es erschien mir wie Ironie, dass auf der einen Seite der Physiker anscheinend die Größe des Mannes nicht erkannte, der ihm gegenüber saß, und dass auf der anderen Seite Ajja nicht verstehen konnte, warum seine Antwort für den Physiker keinen vernünftigen Sinn zu ergeben schien. Ich besuchte Ajja noch zweimal und fuhr dazu von dem eine halbe Autostunde von Bangalore entfernten Ashram in die Stadt, wo er sich in der Wohnung eines seiner Anhänger aufhielt. Die Aufgabe, Ajja für diese Ausgabe von Was ist Erleuchtung? zu interviewen, stellte sich als eine weit größere Herausforderung heraus, als wir im Vorhinein angenommen hatten. Da dieser Mann so tief und absolut in der nondualen Natur seines eigenen Selbst absorbiert ist, ist es ihm fast unmöglich, eine Frage zu verstehen, die es notwendig macht, eine SubjektObjektBeziehung in Betracht zu ziehen. Nachdem wir Bangalore nach unserem ersten DreiStundenInterview mit Ajja verließen, waren wir erstaunt, berührt, aber auch etwas verwirrt. In unseren Köpfen bestand kein Zweifel darüber, dass wir uns gerade in Gesellschaft eines tief erleuchteten Menschen befunden hatten, dessen „Zustand“ oder „das, was er erreicht hatte“ fraglos eine große Seltenheit war. In näherem Kontakt mit Ajja wurde uns sehr schnell klar, dass er jemand war, der diese Welt, und alle Menschen darin, bereits vor langer Zeit weit hinter sich gelassen hatte. Aber es gab da eigenartige Berichte von Seiten seiner Anhänger: Einer behauptete, Ajja sei tatsächlich die Reinkarnation von Mahatma Gandhi. Man sagte uns, dass der große Heilige und Pazifist, die revolutionäre Seele, Ramachandras leere Hülle betreten hatte, als dieser seinen Körper durch den Scheitel verließ. „Typisch Indien!“ dachte ich bei mir. Man erzählte uns auch, dass Ajja die hellsichtige Fähigkeit hatte, anderen zu offenbaren, wer sie in früheren Inkarnationen gewesen waren wenn er es aber tat, dann stellte sich praktisch immer heraus, dass es sich um Gefolgsmänner in Gandhis Revolution handelte. Also zwang ich mich bei unserem zweiten Besuch dazu, ihn zu fragen, ob das, was wir von einigen seiner Schüler gehört hatten, wahr wäre. War er die Reinkarnation von Mahatma Gandhi? Darauf antwortete er: „Ich habe die Universelle Seele erfahren.“ Aber diese Frage wurde nie völlig geklärt, denn Ajja ließ auch die Möglichkeit 9
offen, dass es wahr sei, wenn auch nur in der Vorstellung von anderen. „Wir können nicht unser eigenes Gesicht sehen“, sagte er auch. „Das bleibt anderen überlassen.“ Letztlich war ich vor allem von dem völligen Fehlen eines persönlichen Selbst in diesem außerordentlichen Mann zutiefst berührt. In der Tat scheint er buchstäblich ein Beispiel für jemanden zu sein, dessen Verstand und Körper wahrhaftig ein leeres Gefäß geworden sind, durch das das Eine ohne ein Zweites hindurchstrahlt, ohne den Makel der geringsten Spur von Individualität.
I nterview Ajja: Wir sollten uns einander zuerst vorstellen, um eine Basis für Verstehen und Harmonie zu schaffen. Dann können wir mit unserem Gespräch beginnen. Nur dann wird dieses Gespräch sinnvoll sein. Andernfalls bleiben die Worte nichts als Worte. Als wir uns neulich trafen, beschrieben Sie die Erfahrung ihres Erwachens, aber die anderen Leute hier waren damals nicht dabei; könnten Sie es bitte noch einmal beschreiben? Andrew Cohen: Ich war sechzehn. Ajja: Wer war sechzehn? AC: Das Individuum, der junge Mann, der davon überzeugt war, dass es ein Problem gab, dass etwas nicht in Ordnung war. Ajja: Sie können weitersprechen. AC: Plötzlich öffneten sich die Tore der Wahrnehmung. Es war so, als
wären die Mauern des Raumes verschwunden und als wäre da plötzlich unendlicher Raum. Und dieser unendliche Raum war voller Energie. Und diese Energie besaß Bewusstsein, sie war sich ihrer selbst bewusst. Ajja: Und das, was Sie jetzt sind ist das dieses Gewahrsein selbst? AC: Ja.. Ajja: Also meinen Sie nicht diesen Körper, wenn Sie sagen „Ich“. Das Gewahrsein, das sie damals erfuhren, ist das das „Ich“, das Sie auch jetzt spüren? AC: Ja, es ist dasselbe. Ajja: Es ist nicht dieser Körper? 10
AC: Es gibt nur ein „Ich“. Ajja: Und was geschah danach? AC: Dann erkannte ich, dass diese Energie, die sich ihrer selbst bewusst
war, Intelligenz besaß da war Intelligenz und dass ihr Wesen Liebe war. Unerträgliche Liebe. Beängstigend heftige Liebe. Und es wurde auch deutlich, dass alles das, was im manifesten Universum existiert, von derselben Substanz war, nämlich dieses Bewusstein. Und es wurde mir dabei klar, dass jeder Punkt im Raum genau derselbe Punkt war wie jeder andere. Wir sind zum Beispiel jetzt hier in diesem Zimmer. Wir sind gerade aus Prashanti gekommen. Davor war ich in Europa. Davor war ich in Amerika. All das scheinen verschiedene Orte zu sein, aber das, was ich in jenem Moment erkannte, war, dass jeder Ort, wo auch immer ich hätte sein können, derselbe Punkt ist, buchstäblich und tatsächlich. Und dann waren da auch Tränen, aber ich habe nicht geweint. Und meine Kehle schloss und öffnete sich. Schließlich wurde diese Erfahrung schwächer. Aber dann, sechs Jahre später, als ich zweiundzwanzig war, begann ich wieder nach dieser Erfahrung zu suchen, denn wenn ich in der Zwischenzeit auch das Gefühl hatte, dass sie sehr weit von mir weg war, wusste ich doch, dass sie die realste Erfahrung meines Lebens gewesen war. Ich begann Sadhana (spirituelle Praxis) zu machen, hatte mehrere Erfahrungen und war bei vielen verschiedenen Lehrern. Und als ich dann schließlich meinen letzten Lehrer traf, erzählte ich ihm davon. Im Laufe der Jahre hatte ich vielen Menschen von dieser Erfahrung erzählt, und sie hatten nie gewusst, was sie dazu sagen sollten, als ich es aber ihm erzählte, sagte er: „Dann hast du alles erfahren.“ Und als er das sagte, begann es zurückzukommen. Dann erlebte ich mehrere Wochen lang diese überwältigende Liebe und die Hitze und das Brennen. Nachdem das geschehen war, stellte ich fest, dass ich spontan über das Absolute sprach ich konnte nichts dagegen tun; ich begann davon zu sprechen, und dann kam es in den Raum. Und mein Körper füllte sich mit Glückseligkeit, und andere Menschen spürten diese Glückseligkeit und wurden in die Erfahrung hineingezogen. Ajja: Was ist Ihr augenblicklicher Zustand? AC: Das ist die Erfahrung, die ich jetzt habe. Es geschieht, wenn ich
Vorträge halte, wenn ich über das Absolute spreche. Dann kommt diese Erfahrung, und wenn ich aufhöre, davon zu sprechen, dann gehe ich wieder in einen etwas normaleren Zustand. Aber der Unterschied ist jetzt, dass ich keinen Zweifel mehr habe die Beschäftigung mit mir selbst und die Sorgen sind verschwunden , und diese Liebe, der ich damals begegnet bin, ist mein ganzes Leben. Ajja: Zuerst war „Ich“ ein eingeschränktes „Ich“. Später begann es sich auszudehnen, und dann erreichte es einen Zustand, wo es weder Raum 11
noch Zeit gibt, sogar jenseits von Emotionen. Darin werden „Du“ und „Ich“ eins, das höchste Göttliche. Wir gebrauchen nur das Wort „Ich“. Alles, was in diesem Körper ist, dafür sagen wir „Ich“ als eine einfache Beschreibung. Wir sagen, das bin „Ich“, aber ich bin nichts. Ich bin nicht der Körper. Ich bin nicht einmal eine Energie. Das, was wirklich existiert, ist das Es, das seinem Wesen nach Licht ist, sein Wesen ist Satya (die letztendliche Wirklichkeit). Es ist Wahrheit, es ist Glückseligkeit, es ist Frieden, und das ist das wirkliche Sein. Wer ist diese Energie, diese Kraft? Was ist die Quelle davon? Wer bin ich? Was ist meine Quelle? Ich bin diese Energie. Ich bin diese Kraft, die meine Quelle ist. Wenn ich mich also auf die Suche mache nach der Quelle dieses „Ich“, dann erreiche ich diese Erleuchtung meines Selbsts. Dann erhebt sich diese Energie, die in diesem Körper existiert, die diesen Körper bewohnt, auch selbst aus dieser Erleuchtung des Selbsts. Und sie besitzt alle Eigenschaften und das Wesen von diesem Es. Wenn ich das also weiß, beginne ich mich zu entwickeln. Dieses „Ich“ beginnt sich zu entwickeln, um „Es“ selbst zu werden. Das ist sein Wesen. Die totale Expansion ist sein natürliches Wesen. Was ist also dieses „Ich“, das wir „Ich“ nannten? Dieser Körper ist nicht „Ich“. Derjenige, der den Körper bewohnt, ist das wahre „Ich“. Diese Kraft, diese Shakti, ist Ich. Wenn ein Mensch in diesen selbsterleuchteten Zustand gelangt und erkennt, dass das sein wahres Wesen ist, dann wird er auch feststellen, dass es ihn mit den Eigenschaften der Erleuchtung, nämlich Ausdehnung und Mitgefühl, versehen hat. Das individuelle Selbst ist eins mit Dem geworden. Alles, was er um sich herum sieht, woher kommt es? Es ist klar, dass es immer aus dem Inneren kommt; in jedem Moment scheint es einfach aus dem Inneren zu entspringen. So sieht die ganze uns umgebende Welt für eine verwirklichte Seele aus. Alles ist aus diesem „Ich“ entstanden. Die wichtigsten Antworten, wie entstehen sie? Es ist nicht so, dass sie irgendwo niedergeschrieben worden wären. Diese Antworten sind einfach gekommen. Nicht aus dem individuellen Selbst, sondern aus diesem Zustand sind sie gekommen. Es gibt also kein kleines Selbst! Es taucht einfach nur spontan auf. Was ist also für die individuelle Seele, die die totale Befreiung anstrebt, der einfachste und direkteste Weg zur Befreiung aus dem Zyklus von Geburt und Tod? Die Antwort auf diese Frage kommt dann, wenn der Verstand ganz still geworden ist. Daher sind nicht meine Worte wichtig. Wir müssen diese Antworten selbst finden, und das können wir nur dann, wenn wir unseren Verstand zur Ruhe bringen. Jeder von uns hat die Fähigkeit, diese Antworten zu finden, denn jede Frage hat eine Antwort in der Stille. Wenn der Verstand einen Zustand der Ruhe erreicht hat, dann kommt die Antwort. Das geschieht nicht in ein, zwei Tagen, aber es ist absolut sicher, dass wir die Antwort in der Stille finden werden.
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AC: Ich verstehe Sie also so, dass es dann, wenn der Verstand ruhig ist,
kein Problem gibt, und dass es daher auch nicht notwendig ist, nach einer Lösung zu suchen. Ich hätte aber doch einige Fragen, die ich Ihnen gerne stellen würde, um der vielen Menschen willen, die das hier lesen werden. Ajja: Egal, welche Fragen Sie stellen, die Antwort, die hier herauskommt, ist: „Bringe den Verstand zur Ruhe.“ Zuerst muss der Verstand auf sich selbst konzentriert werden. Wenn Sie dann noch immer eine perfekte Antwort brauchen, dann ist mein Leben selbst die Antwort. Wenn Sie sehen, wie ich handle, können Sie es verstehen, können Sie Es verwirklichen. Das ist meine Botschaft. Das ist meine Antwort. AC: Darf ich Ihnen trotzdem eine Frage stellen? Es ist eine gute Frage. Ajja: Wenn ich eine Antwort gebe, dann sollte das auch zu etwas nütze sein. Worauf es ankommt, ist das Handeln. Wenn die Botschaft überbracht worden ist, werden die Menschen sie dann auch in die Tat umsetzen? AC: Eben darauf bezieht sich meine Frage: Was ist die Beziehung zwischen NichtExistenz und Handeln in Raum und Zeit? Ajja: Man verliert seine Existenz durch Erkenntnis und Handeln. Durch diese beiden wird man frei. Dann ist man selbst ein Jivan Mukta (ein Befreiter). Aber wenn dieses „Ich“ weg ist, was bleibt dann? Wo ist dann die Frage? AC: Aber drückt nicht der Jnani (das selbstverwirklichte Individuum), der Jivan Mukta, auch wenn er frei ist, noch immer etwas durch sein Handeln aus? Ajja: Ich habe nicht das Bewusstsein, „Ich bin ein Jnani“oder „Ich bin ein Jivan Mukta“ Ich habe gar nichts. Wenn das „Ich“ verschwunden ist, dann entsteht im Bewusstsein nicht einmal das Gefühl von „Ich“. Es ist total weg. Für einen Jnani stellt sich also diese Frage nicht einmal. Wenn von Denken gar nicht die Rede ist, dann findet kein normales Alltagshandeln statt. Unsere Gedanken haben sich in Kontemplation verwandelt. Dann werden unsere routinemäßigen Interaktionen im Alltag spirituell. So wird dann die normale Routine selbst zum spirituellen Leben. Das ist dann an und für sich das yogische Leben. Das ist an und für sich göttliches Leben. AC: Es gibt da ein Mysterium, das mich nicht loslässt. Aus nichts wurde etwas; es ist buchstäblich der Beginn von allem. So ist es auch beim Jivan Mukta: er ist nichts, er ist in nichts. Und doch entsteht aus nichts etwas: Worte, Handlungen usw. Darüber würde ich gerne mehr wissen. Ajja: Ich habe bereits beschrieben, wie die Alltagshandlungen selbst in spirituelle Handlungen verwandelt werden können. Wenn ein Mensch, der mit Alltagshandlungen und pflichten befasst ist, diese Absicht hat, dann 13
verändert er sich. In dem Maße, in dem er auf dem Pfad der Entwicklung voranschreitet, durch Kontemplation über den Gedanken „Wer bin ich?“ wer ist diese individuelle Seele? findet er vollständige Befreiung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod, auch wenn er noch in diesem Körper ist. Er wird das Selbst an sich, und das Selbst ist absolute Freiheit. Das ist wahre Freiheit. Diese Verwirklichung ist der Sinn der menschlichen Geburt. Nur aus diesem einzigen Grund wird eine menschliche Geburt genommen. Wenn dieser Zweck erfüllt ist, dann ist unser Leben erfüllt. Es ist ein Zustand, der keine weitere Geburt mehr nach sich zieht. Es ist ein Leben frei von Dualität und jenseits des Todes. Das kann überall auf der Welt geschehen. Das gilt für die gesamte Menschheit. Wenn die gesamte Menschheit das versteht und in die Tat umsetzt, wo ist dann die Frage? AC: Es wird keinen Unterschied zwischen Leben und Tod geben. Ajja: Ja. Nur wo es Geburt gibt, kann es Tod geben. Wo ist da die Geburt? Wir denken: „Ich bin dieser Körper. Alle Sinnesobjekte, die mit dem Körper in Beziehung stehen, gehören mir.“ Mit einem so eingeschränkten Empfinden wird ein Mensch, der in Handlung verstrickt ist und die Freuden und Leiden erlebt, die aus diesem Handeln entstehen, immer wieder in dieser Welt geboren werden. Seine Leben gehen also gemäß seinen Handlungen weiter. Das ist das Geheimnis von Geburt, Leben und Tod. Wenn das individuelle Selbst aber von den Banden der Handlungen und auch von der Bindung durch seinen Körper befreit ist, dann wird es eins mit dem höchsten Selbst. Wenn das Individuum durch Kontemplation über die Frage „Wer bin ich?“ frei von Karma wird, dann entwickelt es sich, es wird selbst das aus sich heraus strahlende Höchste. Das an sich ist das Selbst. Das an sich ist Glückseligkeit. Das an sich ist Satya, die letztendliche Realität. Das an sich ist Leben. Das an sich ist Selbstverwirklichung. Selbstverwirklichung ist also für das Wohl des Ganzen. Sie verheißt Glück und Gutes für das gesamte Universum. Das ist der Sinn des menschlichen Lebens. Wenn wir das Geheimnis verstehen, das darin liegt, werden wir wirklich die Beziehung zwischen der individuellen Seele, der höchsten Seele und dem Universum verstehen. Der einzelne Mensch ist Teil des Kosmos. Dieser Körper, dieses „Ich“, ist nichts anderes als ein Mikrokosmos dieses makrokosmischen Universums. Wenn wir die Mikro Ebene verstehen, dann müssen wir notwendigerweise auch das Makro Universum verstehen. Jeder, der hier sucht, muss notwendigerweise dorthin kommen, denn diese Individualität ist Teil von Dem. Und es enthält auch alles. Alle Geheimnisse von Dem enthält es auch. Durch das Erforschen des Individuums sogar des Atoms kann die Grundlage des gesamten Universums verstanden werden. Wie wird diese Freiheit verwirklicht? Allein durch Handeln kommt Verwirklichung. Das ist Jnana, das ist Freiheit, das ist Moksha (Befreiung). Wir müssen verstehen, wie wir durch Handeln diesen Zustand erreichen 14
können. Welche Art der Handlung wird uns dabei helfen, Befreiung zu finden? Das Singen von Gottes Namen, Kontemplation, Hingabe, Wahrhaftigkeit, Gewaltlosigkeit, unverhaftetes Handeln. Ein Mensch, der in seiner Lebensspanne die Selbsterkenntnis in Handlung umsetzen kann, verdient es, diesen erhabenen glückseligen Zustand zu verwirklichen. Nicht nur das, er wird Glückseligkeit an sich. „Wer bin ich? Was ist das Geheimnis meines Lebens, meiner Geburt?“ Wenn er das versteht, wenn er das durch seine Suche verwirklicht, auch wenn er mit Handlungen und Pflichten beschäftigt ist, dann gelangt er zu seiner ursprünglichen Natur, die Glückseligkeit ist. Also wird er durch Handeln transformiert. AC: Wenn Sie über Karma Yoga sprechen, über das ungebundene
Handeln, meinen Sie dann spezifisch die spirituelle Praxis? Oder jede Form von ungebundenem Handeln? Ajja: Jede Handlung, die als Pflicht ausgeführt wird, ohne Erwartung eines Ergebnisses. Jede Handlung verwandelt sich in Pflicht, wenn sie ohne Erwartungen und Selbstsucht ausgeführt wird. Das führt zu einem Zustand, in dem es keine Emotionen mehr gibt. Man handelt, aber man tut nicht. Es herrscht nicht das Gefühl: „Ich tue etwas.“ Was ist mit diesem „Ich“ geschehen? Diese Entwicklung erfolgt schrittweise. Sie geschieht nicht plötzlich. Sie muss verschiedene Phasen durchmachen. Auf jeden Fall ist allerdings auch der elementarste Zustand von Glückseligkeit bereits Glückseligkeit. Das Wesen von Glückseligkeit ist Glückseligkeit an sich. Glückseligkeit an sich ist das Wesen von Glückseligkeit. Glückseligkeit ist Glückseligkeit an sich. Glückseligkeit ist Glückseligkeit. Diese Glückseligkeit ist ewige Wirklichkeit. Diese Glückseligkeit ist ewige Wahrheit. Diese Glückseligkeit, die ewige Wirklichkeit ist, ist die ewige Glückseligkeit. Das ist höchste Glückseligkeit. Das ist die Glückseligkeit Brahmans (des Absoluten). Und das an sich ist Ananda (spirituelle Glückseligkeit). Da gibt es nichts keinen Zustand. Erfahrungen und Worte reichen dort nicht hin. Das wahre Wesen des individuellen Selbst an und für sich ist diese Glückseligkeit. Und der einfachste und kürzeste Weg ist es, immer in Sahaja (im natürlichen Zustand) zu verweilen, der unser ursprüngliches Wesen ist. Es könnte sich die Frage stellen: „Wo ist diese Glückseligkeit?“ Diese Glückseligkeit ist hier und jetzt, stets gegenwärtig. Wenn dieser Jivatma (das individuelle Selbst) abgeworfen worden ist, dann ist diese Glückseligkeit da, sie existiert bereits. Die individuelle Seele ist durch Handlungen gefesselt, das Höchste aber nicht. Es gibt für das Selbst auch keine Geburt. Gehen wir also über diese dualistische Welt des Handelns hinaus, entwickeln wir uns und erreichen den Paramatma (das höchste Selbst). Für all das ist Meditation der Ausgangspunkt. Zu Beginn sollte man sitzen. Man sollte diese innere Vorbereitung haben. Man sollte sich disziplinieren. Aber es genügt nicht, nur zu sitzen. Nicht nur der Körper muss sitzen; 15
auch der Verstand muss sitzen. Der Verstand sollte nicht umherwandern. Solange der Verstand nicht beherrscht wird, gibt es keine Meditation. Es ist das Wandern des Verstandes selbst, das die Welt ausmacht. AC: Ja. Der Verstand ist die Welt. Ajja: Der Verstand muss also zuerst ruhig werden. Der Verstand wandert herum, und das muss aufhören. Durch Meditation richtet sich der Geist nach innen. Und das sollte nicht nur in der Meditation so sein, sondern auch inmitten von Aktivität. Nichts von dem, was wir in dieser Welt für real halten, ist es auch tatsächlich. Wenn diese Welt für dich unwirklich wird, dann enthüllt sich die wahre Wirklichkeit. Das ist der Anfang. Da erkennen wir, dass es keinen Tod gibt, dass es kein Leben gibt, dass es nur die Existenz gibt. Früher oder später muss jeder von uns sterben. Aber ich meine nicht den Tod dieses Körpers. Es gibt eine andere Art von Tod einen Tod, aus dem es keine Wiedergeburt gibt. Wenn das stirbt, was immer wieder zur Reinkarnation zurückkommt, dann ist das der wirkliche Tod so wie in meinem Fall, wo alle Erfahrungen vergangen sind. Nun, hier in diesem Zustand, gibt es gar nichts. AC: Wenn Sie sagen, dass es hier gar nichts gibt, meinen Sie dann damit,
dass Sie eben in diesem Moment keine Erfahrung haben? Sie scheinen eine ganze Menge zum Ausdruck zu bringen. Ajja: Wessen Erfahrung? Es kommen Worte, das stimmt. Durch dieses Vehikel handelt irgendeine unbekannte Kraft, irgendeine Energie arbeitet, die diesen Körper als Werkzeug verwendet. Nicht dieser Körper hier spricht. Eine Energie inspiriert diesen Körper, Verstand und Intellekt. Dasselbe geschieht in jedem von uns, aber oft sagen wir: „Ich spreche.“ Hier geschieht das nicht. Die Worte kommen einfach. Das ist der Unterschied. Ich sage nicht: „Ich sage, ich spreche.“ AC: Meiner eigenen Erfahrung zufolge scheint die Beziehung zwischen
diesem Zustand der Glückseligkeit, in dem es kein „Ich“ gibt, und der vollkommenen Handlung in der Welt von Raum und Zeit eine sehr geheimnisvolle zu sein. Ich würde immer noch gerne mehr darüber wissen, wie Sie diese Beziehung für das Wesen definieren, das tatsächlich in diesem Bewusstsein von Glückseligkeit ruht, in dem es keinen Begriff von „Ich“ gibt. Wie drücken die Handlungen dieses Individuums in der Welt die Vollkommenheit seines Zustands aus? Was ist die Beziehung zwischen diesem Zustand und dem Ausdruck perfekten Handelns in dieser Welt der Illusion? Ajja: Ich befinde mich auf einer völlig anderen Ebene der Interaktion. Zwischen diesen beiden besteht in meinen Handlungen keine Beziehung. Wie verstehen Sie vollkommenes Handeln in der Welt? 16
AC: Vollkommenes Handeln ist ein Handeln, das aus reiner Liebe entsteht,
in der es kein Empfinden von Individualität gibt und keinerlei Eigennutzen. Es gibt keinen Stolz, es gibt keine Gier, es gibt keinen Egoismus, es gibt keine Selbstbezogenheit. Und es ist auch der Ausdruck reiner Liebe, der keine Wahrnehmung von sich selbst als getrenntes Wesen hat. Aber diese Handlung findet statt. Alle verwirklichten Seelen bringen das zum Ausdruck. Ajja: Das ist schwer zu erklären oder in Worte zu fassen, aber wenn man eine Weile mit einem Menschen zusammenlebt, der sich in einem so glückseligen Bewusstsein befindet, dann besteht die Möglichkeit, es zu verstehen. Ein solcher Mensch wird gar nichts sagen. Er wird nur durch Schweigen kommunizieren. Aber durch den Kontakt mit ihm kann ein Verstehen stattfinden. Das kann man nur durch die Erfahrung kennen lernen. Was ist Liebe? Sprechen wir über eine Liebe, die in Beziehung zu den Sinnen steht? Oder liegt sie jenseits der Sinne? Es gibt Menschen, die die Verkörperung von Liebe sind, aber das Wesen ihrer Liebe geht über die Sinne hinaus. Man kann es nicht mit den Augen sehen. Man kann es nicht mit Worten beschreiben. Sie sind die verkörperte Liebe. Diese Liebe kann nicht nach außen gezeigt werden. Sie ist ihr ursprüngliches Wesen. Sie ist nicht etwas, das sie nur zum Ausdruck bringen. Sie ist stets und ständig ihr Wesen. AC: Sie sind diese Liebe. Ajja: Sie existieren in dieser Welt, aber sie sind nicht diese Welt. Sie sind es, und sie sind es nicht. Das ist Erleuchtung. Das an sich ist Atman (das Selbst). Das an sich ist Glückseligkeit. Das an sich ist Wahrheit. Das an sich ist Leben. Welches Leben ist das? Es ist nicht das weltliche Leben. Es ist Leben jenseits von Dualität und Tod. AC: So, wie sie sind, ist dann also die Antwort auf die Frage. Wie sie sind,
ist die Antwort auf die Frage, was die Beziehung zwischen Nichts und Etwas ist. Ajja: Diese Dinge gehen über eine Beschreibung hinaus. Wir können das nicht erklären. Das kann man nur sehen und verstehen. Sie sprechen nicht, weil sie etwas zu sagen hätten. Glückseligkeit kann nicht beschrieben werden. Wenn man von Glückseligkeit erfüllt ist, dann ist das eine Erfahrung, aber da ist niemand, um darüber zu sprechen. Die Worte kommen, aber zwischen den Worten, die kommen, und der letztendlichen Wirklichkeit besteht keine Beziehung. Der wirkliche Zustand und die Worte, die ihn beschreiben, haben nichts miteinander zu tun. Dieses existiert nur als „Es“ selbst. Die Worte zeigen „Es“, sie manifestieren „Es“, aber sie sind „Es“ nicht. Die Existenz dieses Höchsten wird durch das Wort 17
„Ich“ angezeigt, nur um der Möglichkeit des zwischenmenschlichen Kontakts in der Welt willen der Welt zuliebe, aber nicht diesem „Es“ zuliebe. Ich habe nur die Erfahrung der universellen Seele, die Energie, Licht und Kraft ist das aus sich selbst strahlende höchste Universelle. Es kam um der Evolution willen, und es hat sich weiterentwickelt. Das Universelle Licht kommt um der Entwicklung willen, und es entwickelt sich. AC: Das Licht entwickelt sich? Ajja: Es kamen Licht und Kraft, aber jetzt blieb nur das Licht in seiner entwickelten Form zurück. Es gibt keine Kraft. Die Seele weilt in diesem physischen Körper, und sie ist nichts anderes als aus sich selbst strahlendes Licht und Kraft. Und in der Evolution löst sich die Kraft auf und lässt nur das Licht zurück. AC: Können Sie das noch einmal sagen? Ajja: Das dem Körper Innewohnende ist die universelle Kraft und universelles Licht. Und im Prozess der Evolution löst sich die Kraft auf und das Licht bleibt da. Aber die Wahrheit, die darin liegt, kann nicht wirklich mitgeteilt werden. Nur durch den Kontakt, dadurch, dass man sich in der Nähe einer verwirklichten Seele aufhält, kann man verstehen. Das ist eine dieser Fragen, deren Antwort man nur finden kann, wenn man in der Stille danach sucht. Sonst wird es zu einem bloßen Lehrvortrag, von dem keiner von uns etwas hat. AC: Ich verstehe, dass die wichtigste Antwort nicht in Worten gegeben
werden kann, dass sie nur vom Individuum selbst in der Stille gefunden werden kann. Und doch ist es meine Erfahrung, dass manchmal dadurch, dass man diese Art von Fragen stellt, magische und außergewöhnliche Dinge geschehen können. Ajja: Auch wenn die Wahrheit herauskommt oder wenn sich, wie Sie sagen, magische und wunderbare Dinge ereignen wenn die Worte kommen, sind sie doch nichts weiter als Worte. AC: Aber die Worte, die von einem Jnani kommen, haben die Kraft zu erleuchten. Ajja: Soviel zum Jnani. Aber wo sind die Jnanis? Wer ist ein Jnani? Und wer erkennt den Jnani? AC: Der Jnani und der, der den Jnani erkennt, sind ein und dasselbe. Ajja: Ist das Ihre Erfahrung?
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AC: Ja. Ajja: Ich stelle diese Erfahrung nicht in Abrede. Aber ein Jnani wird nie die Erfahrung haben: „Ich bin ein Jnani.“ Er ist einfach das, was er ist. Es ist sein Urzustand. Wenn ein unnatürlicher Zustand kommt, wird er darüber erstaunt sein. Das ist der ursprüngliche natürliche Zustand für einen Jnani. Es gibt nur Glückseligkeit. Niemand ist da, um diese Glückseligkeit zu erleben. Der Mensch, der sieht, ist nicht mehr da. Das ist Evolution. Was also in diesem Fall ist, ist ein Zustand, der kein Zustand ist. Das ist der ursprüngliche Zustand eines jeden Individuums. Aber man muss bereit sein, zu diesem ursprünglichen Zustand zu gehen. AC: Einer Ihrer Schüler sagte mir, dass Sie die früheren Leben von Menschen sehen können, wenn Sie sie näher kennen lernen. Stimmt das? Ajja: Ich bin kein Astrologe. Ich lese in niemandes Geist. Das wäre ein Widerspruch zu Spiritualität. Die Befreiung sollte in diesem Leben stattfinden. Manchmal sagt man uns, dass es aus irgendwelchen Gründen in diesem Leben nicht möglich ist, dass wir auf zukünftige Inkarnationen warten müssen. Aber wir wissen nicht, ob das wahr ist oder nicht, deshalb sollten wir hier und jetzt Befreiung finden. AC: Ich bin ganz Ihrer Meinung, und meine Frage beruht nur auf dem,
was ich von anderen Menschen hier gehört habe. Ich persönlich bin der Ansicht, dass es sich dabei um eine reine Zeitverschwendung handelt und auch, dass der Mensch in die andere Richtung schauen sollte, wenn er frei sein möchte. Wenn man frei sein möchte, möchte man das Selbst erkennen, das man ist, wenn es keine Zeit und keine Geschichte gibt. Etwas über frühere Leben zu erfahren, könnte einem niemals Auskunft über das geben, was nie passiert ist. Ajja: Ja. Lassen Sie uns doch dieses Leben verstehen. Wenn man das kennt, weiß man alles, was man wissen muss. Wir sind jetzt hier. Darum geht es jetzt. Warum sollten wir zurückgehen? Es gibt weder Gegenwart noch Zukunft. Wir sind hierher gekommen. Wir sind hier. Was ist das? Wer sind wir? Wer bin ich? Wer ist der, der gekommen ist? Das, was gekommen ist, ist aus sich selbst strahlende Kraft mit Licht. Das ist in sich schon das Fundament. Es gibt Ingenieure, die das Gebäude errichten, aber wir müssen uns nur das Fundament anschauen, uns kümmert nur das Fundament. „Wer bin ich?“ dieses Fragen ist das Fundament. Wenn man sich auf die Suche nach Dem macht, ist es möglich, die Antwort auf jede Frage dieser Welt zu finden. Wenn man sich auf die Suche nach „Wer bin ich?“ macht, wird man einen Zustand erreichen, in dem nichts ist. „Ich“ bedeutet den Zustand, wo es nichts gibt. Es ist vorbei. Dazu bedarf es keiner Sadhanas nur der Suche. AC: Der direkten Suche.
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Ajja: Ja, der direkten Erforschung. Wenn sich der Suchende auf die Suche nach Dem macht, dann gibt es den Suchenden nicht mehr. Dieser Zustand ist Atman, und das ist Glückseligkeit, die aus sich selbst heraus strahlt, Stille. Bis dahin besteht Ego. Dann ist es nicht mehr da. Manchmal geschieht es im Leben, dass auf Grund irgendeines Ereignisses eine vollständige Transformation stattfindet. Im Leben von vielen Menschen kommt es bedingt durch einen einzigen Vorfall zu einer totalen Transformation. Das finden wir in den Biografien aller großen südindischen Heiligen Valmiki, Tulsi Das, Ramana Maharshi, J. Krishnamurti. Es war ihr Karma, dass sie sich auf Grund kleiner Ereignisse verändert haben. Ein roter Faden zieht sich durch all diese Geschichten. In meinem Fall zum Beispiel waren das sechs Monate lang andauernde Schmerzen, und dann keine Schmerzen mehr. Damit begann die Kontemplation; Sorge wurde zu Kontemplation. Das Unwahre wurde zur Wahrheit. Die Dunkelheit wurde zu Licht. Wie bei der Frucht: unreif ist sie bitter. Sobald sie reif wird, ist sie süß. Aber diese Süße war immer da. Das Bittere hat sich in Süße verwandelt. Ebenso sollte Sorge zu Kontemplation werden. Nur aus diesem Grund sollten wir den Gedanken eine Bedeutung beimessen. Wir sollten uns nicht aufregen oder verloren fühlen, wenn wir Sorgen oder Probleme haben. Wir sollten sie erleben. Dann kommt es zu einer Explosion. AC: Meinen Sie, wir müssen uns ihnen voll und ganz stellen? Ajja: Ja. Es erleben. Und wie sollte der Verstand sein, wenn man das erlebt? Während dieser Zeit sollte der Verstand konzentriert sein, der Verstand sollte darüber kontemplieren. Und wenn der Verstand darauf fixiert ist, dann – AC: Sie meinen, man sollte der Erfahrung keinen Widerstand entgegensetzen? Ajja: Keinen Widerstand. Auf diese Weise geht derselbe Verstand, der alles andere erlebt, in Kontemplation. Jenseits davon gibt es gar keinen Verstand. Der Verstand selbst ist also sowohl die Ursache des Gefangenseins als auch das Mittel zur Befreiung. Diese Welt ist nichts anderes als das Getöse des Verstandes. Wenn die Arbeit des Verstandes getan ist, gibt es keinen Verstand mehr. Dann sind alle Wünsche verschwunden Wünsche, die eine Vorstellung des Verstandes sind. Alles ist nur eine Vorstellung; alles das ist Verstand. Der Verstand muss sich also zurückziehen. Alle Wünsche müssen verschwinden. Wenn auch nur ein einziger Wunsch vorhanden ist, kann man den Verstand nicht nach innen richten. Der Verstand muss sich ins Herz zurückziehen und mit der Suche beginnen. „Wer bin ich? Wer bin ich? Ich bin hier in diesem Körper. Wer bin ich?“ So müssen wir suchen. Wenn man auf der Suche ist, ist der 20
Verstand auch schon weg. Wir haben Angst davor, diesen Ort zu berühren. Aber der Verstand muss vollständig weg sein. Geben Sie ihn auf. AC: Sie sagten vorher, dass das universell anwendbar ist und die Menschheit in ihrer Gesamtheit betrifft. Ajja: Ja, das ist eine Frage, die die gesamte Menschheit betrifft. Wir brauchen Freiheit. Niemand möchte gefangen sein. Jeder möchte frei sein. Meine Botschaft für das ganze Universum ist nicht, dass nur ein einziger Befreiung finden soll. Auch die anderen sollten befreit werden. Die ganze Welt sollte frei werden. Das ist meine Botschaft. Was ist der Weg zur Freiheit? Wenn Sie ein klares Bild von den Erfahrungen haben, die ich im Laufe meines Lebens gemacht habe Freuden und Sorgen, Triumphe und Niederlagen, Ehre und Schmach, und wie ich darauf reagiert habe dann kann Ihnen das vielleicht helfen, Ihren eigenen Weg zu finden. Wie ich diesen Erfahrungen begegnet bin, wie ich mich in meinem Leben bewegt habe, wie ich den Tod akzeptiert habe. Wie Handlung ausgeführt wurde und wie Transformation stattgefunden hat. Mein ganzes Leben gibt, wenn es verstanden wird, ein klares Bild von diesem Weg. Wenn wir alle diese Dinge verstanden haben, dann müssen wir dieses Verstehen in unser praktisches Leben umsetzen. Dann werden wir frei. Wenn ein einziger Mensch auf diese Art und Weise Befreiung findet, dann ist die Mission meines Lebens erfüllt. Deshalb sage ich das alles damit es den Zuhörern helfen möge. Deshalb habe ich mich zu diesem Interview bereit erklärt. Ansonsten würde ich in vollständigem Schweigen verharren. Das Gesamtbild ist die integrierte Evolution des Individuums und dieser Kraft. Erst wenn wir in unserem Handeln vollständig frei werden, ist unsere Geburt fruchtbringend. Dann ist unser Leben wirklich erfüllt. Freiheit ist das Ziel. Jeder muss frei werden. Und alle sind nur aus diesem einzigen Grund ins Leben gekommen diese Freiheit an sich ist Glückseligkeit für alle, für jeden Einzelnen. Jeder Mensch sollte aus der Gefangenschaft erlöst werden. Wenn nur ich alleine frei werde, dann genügt das nicht, um mich glücklich zu machen. Jede Seele muss frei werden. Ich hatte einen kurzen Einblick in diese Möglichkeit, und wenn wir alle frei wären, dann wäre das die wahre Glückseligkeit für mich. AC: Dann geschieht dies also zum Wohle der Menschheit. Ajja: Ja. Diese Botschaft richtet sich an die Menschheit als Ganzes. Wenn Reinheit im Inneren ist, dann müssen Handlung, Verstand und Herz eins sein. Verstand und Herz müssen rein sein und unser Handeln ebenfalls. Wir alle müssen über das Denken hinausgehen, bis zu dem Zustand, wo es keinerlei Hindernisse mehr gibt. Nur allein durch dieses wirkliche Suchen wird der Mensch eine universelle Seele. Und diese Fähigkeit hat 21
jeder. Nicht nur einer. Jeder Mensch hat in sich die Fähigkeit, Das zu werden. Ich bin überhaupt nicht im Verstand. Ich bin in einem Zustand jenseits aller Gedanken und Emotionen. Ich spreche, aber ich weiß gar nichts. Ich denke nicht; ich lese keine Bücher. Für die wahre Erkenntnis ist nichts davon notwendig. Für die intellektuelle Debatte sind Bücher notwendig, aber für die Erfahrung des Selbst braucht man nichts. Auch wenn ich in irgendeinem abgelegenen Winkel bin, hört es nicht auf. Es breitet sich im gesamten Universum aus, sickert in das gesamte Universum ein. Wenn ein Mensch diesen Zustand von Ananda erreicht, wird es sich einfach verbreiten, auch wenn er sich in einem abgelegenen Winkel befindet. Auch wenn er sich zu verstecken versucht, strahlt es einfach von ihm aus. Es reicht überall hin in das ganze Universum, in den gesamten Kosmos. Nun? Was werden Sie mit Ihren Aufzeichnungen machen? AC: Sie werden Teil eines Artikels über Sie sein über Ihre Erfahrung und
über das, was Sie sagen das wird Menschen in Amerika und an anderen Orten helfen, von dem zu profitieren, was Sie entdeckt haben. Ajja: Ich habe das Gefühl, als ob wir uns gut kennen. Ich empfinde Sie nicht als Fremden. AC: Ja, mir geht es genauso. Ajja: Es gibt kein Amerika und kein Indien. Es gibt nur das ganze Universum.
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I ntime Begegnungen der A DVA I TA Art:
der euphorische Nihilismus des Ramesh Bals ekar von Chris Parish
Einleitung
Versuchen Sie sich bitte vorzustellen, Sie erwachen in einer anderen Welt. Sie reiben sich die Augen, um sich an die intensive Sonne zu gewöhnen, und sehen, dass diese andere Welt der Welt hier in vielerlei Hinsicht gar nicht unähnlich ist. Sie sind von Geschöpfen umgeben, die für Ihre Augen absolut genauso aussehen wie die Menschen, mit denen Sie gewöhnlich die Welt teilen. Sie beobachten, wie sie ihren Alltagsgeschäften nachgehen, ihr Leben leben, mit anderen sprechen und die zahllosen Entscheidungen treffen, die das Leben nun einmal verlangt. Es ist ein in beruhigender Weise bekanntes und normales Bild. Aber bald stellen Sie fest, dass in dieser Welt die Dinge nicht unbedingt so sind, wie sie zu sein scheinen. Denn das sind keine Menschen. Nein, es sind „KörperGeistOrganismen“, die im Unterschied zu ihren menschlichen Ebenbildern nicht die Fähigkeit zur Wahl zwischen verschiedenen Optionen haben und auch keine Entscheidungen treffen können. In der Tat besitzen diese Organismen absolut nichts, was dem entsprechen würde, was wir den freien Willen nennen. Die Drehbücher zu ihren Leben waren bereits lange, bevor sie geboren wurden, in Stein gemeißelt, und es bleibt ihnen nichts anderes zu tun als mechanisch die Schritte zu tun, die ihre Programmierung vorgibt. Diese scheinbar menschlichen Wesen, so könnte man meinen, sind Maschinen nicht unähnlich. Während sie sich allem Anschein nach wie normale frei denkende Wesen verhalten, die eifrig ihren Alltagsgeschäften nachgehen, sagen sie allerdings, wenn man sie danach fragt, immer wieder beharrlich, dass sie gar nichts tun. In dieser eigenartigen Welt, so sagen sie tatsächlich, gibt es „keinen Handelnden“. Außerdem kann in dieser Welt auch niemand jemals für irgendetwas verantwortlich gemacht werden. Selbst wenn es so aussieht, als würde eines dieser Wesen einem anderen Schaden zufügen, wird keine Reue empfunden und niemandem wird dafür die Schuld gegeben. Würde man einen dieser KörperGeistOrganismen dazu befragen, wäre die Antwort, dass es niemanden gibt, der etwas 23
getan hat. Ethik ist hier ein unbekannter Begriff. Die Naturgesetze scheinen in dieser schönen neuen Welt außer Kraft gesetzt zu sein. Oder sie wurden hier vielleicht neu formuliert, denn die Wesen scheinen einige seltsame Gesetze einzuhalten. Sie fragen sich, wo in aller Welt sie sich wohl befinden. Aber Sie sind nicht auf dieser Welt. Sie sind auf dem Planeten Advaita gelandet. Ich war nach Bombay gekommen, um Ramesh Balsekar, einen der bekanntesten heute lebenden Lehrer der AdvaitaVedantaLehre, zu interviewen. Er lebt im Herzen dieser riesigen chaotischen Stadt in einem exclusiven Wohngebiet direkt am Meer, das, wie mich mein Taxifahrer informierte, Wohnsitz zahlreicher VIPs ist. Der Portier seiner Wohnanlage zeigte mir mit der automatischen Annahme, dass ich als Westler wohl gekommen war, um Ramesh Balsekar zu sehen, den Weg zu einer oberen Etage, wo Balsekar in einer sehr geräumigen und gediegen eingerichteten Wohnung residiert. Balsekar war ein sehr höflicher Gastgeber und begrüßte mich herzlich in traditioneller indischer Manier. Er war strahlend und lebhaft und ich konnte nur schwer glauben, dass er achtzig Jahre alt sein sollte. Ramesh Balsekar hat einen ungewöhnlichen Background für einen indischen Guru. Er ist im Westen erzogen und ausgebildet worden, machte dann eine äußerst erfolgreiche Karriere in leitender Position und ging im Alter von sechzig Jahren als Präsident der Bank of India in den Ruhestand. Er sagte, dass er immer zum Fatalismus tendiert hätte; seine spirituelle Suche begann jedoch erst, nachdem er sich in den Ruhestand zurückgezogen hatte, eine Suche, die ihn auf raschem Wege zu seinem Guru dem bekannten AdvaitaMeister Sri Nisargadatta Maharaj führte. Nisargadatta war ein leidenschaftlicher Lehrer, der in den 70er Jahren im Westen Berühmtheit erlangte, als eine englische Übersetzung seiner Gespräche mit dem Titel I am That – erschien ein Buch, das ein moderner spiritueller Klassiker wurde. In weniger als einem Jahr nach seiner Begegnung mit Nisargadatta gelangte Balsekar spontan zu dem, was er „das letztendliche Verstehen“ nennt – Erleuchtung, während er für seinen Guru übersetzte. Laut Balsekars Darstellung erteilte ihm Nisargadatta kurz vor seinem Tod die Erlaubnis zu lehren, und seither hat er ohne Unterbrechung seine Botschaft als Nachfolger dieses hoch angesehenen Lehrers weitergegeben. Balsekar hat zahlreiche Bücher über seine Lehre veröffentlicht und in Europa, den Vereinigten Staaten sowie in weiten Teilen Indiens Vorträge gehalten. Er gibt jeden Morgen in seiner Wohnung Satsang (Begegnung mit einem spirituellen Meister), und ein stetiger Strom von fast ausschließlich westlichen Suchenden findet den Weg nach Bombay, um ihn zu treffen. Da wir in dieser Ausgabe von WIE unseren Fokus auf Advaita gerichtet haben, wollten wir Balsekar einerseits deshalb sprechen, weil er ein allgemein bekannter und sehr einflussreicher AdvaitaLehrer ist – jetzt mit Schülern, denen er die Berechtigung erteilt hat, eigenverantwortlich zu 24
lehren, – und andererseits, weil er von vielen als der Nachfolger eines der bekanntesten AdvaitaLehrer der modernen Zeit angesehen wird. Wie dem auch sei, beim Studium der Schriften von Balsekar erkannten wir bald, dass er eine durchaus ungewöhnliche und vielleicht auch von ihm persönlich geprägte Form von Advaita lehrt, die, so hatten wir ganz ehrlich gesagt das Gefühl, zu sehr fraglichen und sogar irritierenden Schlussfolgerungen geführt hat. Denn obwohl das indische Denken seit langem wegen seiner deterministischen Tendenzen kritisiert wird, scheint Balsekar diesen Fatalismus zu einem noch nie da gewesenen Extrem geführt zu haben. Letztendlich war es ebenso sehr der Wunsch, diese Bereiche, die solches Unbehagen hervorriefen, näher zu durchleuchten, wie auch unser allgemeines Interesse an der AdvaitaLehre, die mich schließlich nach Bombay führten, um mit ihm zu sprechen. Und obwohl ich in der Erwartung einer sicherlich herausfordernden Begegnung hierher gekommen war, wird mir jetzt rückblickend klar, dass es absolut unmöglich gewesen wäre, mich in irgendeiner Weise auf dieses Gespräch vorzubereiten, das stattfinden sollte, während uns Kaffee gereicht wurde und wir es uns in seinem Wohnzimmer bequem machten.
I nterview W I E: Sie werden sowohl in Indien als auch im Westen als Advaita
VedantaLehrer immer bekannter. Können Sie uns beschreiben, was Sie lehren? Ramesh Balsekar: Das kann ich tatsächlich mit einem einzigen Satz sagen. Der eine Satz, der meiner gesamten Lehre zugrunde liegt, ist: „Dein Wille geschehe.“ Oder wie die Moslems sagen: Inshallah „Wenn Gott es will.“ Oder mit den Worten Buddhas: „Dinge geschehen, Handlungen erfolgen, es gibt dabei keinen individuell Handelnden.“ Sehen Sie, der Grundkonflikt im Leben ist: „Ich mache immer alles richtig und deshalb will ich dafür auch belohnt werden, er macht immer etwas falsch und daher möchte ich, dass er bestraft wird.“ Darum geht es doch einzig und allein im Leben, nicht wahr? W I E: Nun ja, sicher ist das oft so. RB: Soweit ich beobachtet habe, ist das die Basis. Das ganze Problem entsteht, weil jemand sagt: „Ich habe etwas gemacht, und ich verdiene eine Belohnung, oder er hat etwas getan, und deshalb möchte ich ihn für das, was er getan hat, bestrafen.“ W I E: Wie gelingt es Ihnen, Menschen dazu zu bringen, das zu erkennen? RB: Das ist ganz einfach. Wenn Sie jede Handlung analysieren, von der Sie annehmen, es handle sich dabei um Ihre Handlung, werden Sie feststellen, dass es sich um die Reaktion des Gehirns auf ein äußeres 25
Ereignis handelt, über das Sie keine Kontrolle haben. Ein Gedanke kommt – man hat keine Kontrolle darüber, welcher Gedanke kommen wird. Man hört oder sieht etwas – man hat keine Kontrolle darüber, was man als Nächstes hören oder sehen wird. Es finden diese ganzen Ereignisse statt, die man nicht unter Kontrolle hat. Und was geschieht dann? Das Gehirn reagiert auf den Gedanken oder die Sache, die man gesehen, gehört, geschmeckt, gerochen oder berührt hat. Die Reaktion des Gehirns ist das, was Sie „Ihre eigene Handlung“ nennen. Aber das ist tatsächlich nur ein Konzept. W I E: Was ist dann der Unterschied zwischen den Gedanken, Gefühlen
und Handlungen eines erleuchteten Menschen und denen einer Person, die nicht erleuchtet ist? RB: Es ist derselbe Vorgang. Der einzige Unterschied ist der, dass der Weise versteht, dass genau das passiert. Daher weiß er, dass er nichts tut – alles geschieht einfach. Der Weise weiß, „ich tue nichts“. Der gewöhnliche Mensch hingegen sagt: „Ich tue etwas, und er oder sie tut etwas. Deshalb möchte ich meine Belohnung, und ich möchte, dass er oder sie bestraft wird.“ Belohnung und Strafe sind von der Vorstellung abhängig, dass er oder sie etwas tut oder ich etwas tue. W I E: Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich verstehen, dass wir es nicht
unter Kontrolle haben, welche Gedanken oder Gefühle aufkommen. Aber manchmal findet Handlung statt und manchmal nicht, und mir scheint es einen großen Unterschied zu machen, ob ein Gedanke einfach kommt oder ob eine Handlung stattfindet, die eine Auswirkung auf einen anderen Menschen hat. RB: Die Handlung, die stattfindet, ist das Ergebnis davon, dass das Gehirn auf den Gedanken reagiert. Wenn es geschieht, dass der Gedanke einfach nur wahrgenommen wird und das Gehirn nicht auf diesen Gedanken reagiert, erfolgt keine Handlung. W I E: Wenn es aber, wie Sie sagen, niemanden gibt, der über die Reaktion
entscheidet, was ist dann die Ursache dafür, dass eine Handlung stattfindet oder nicht? RB: Eine Handlung findet dann statt, wenn es Gottes Wille ist, dass diese Handlung stattfinden soll. Wenn es nicht Gottes Wille ist, dann findet die Handlung nicht statt. W I E: Wollen Sie damit sagen, dass jede Handlung, die stattfindet, der Wille Gottes ist? RB: Ja, es ist Gottes Wille. W I E: Der durch einen Menschen wirksam wird? 26
RB: Ja, durch einen Menschen. W I E: Egal, ob der Mensch erleuchtet ist oder nicht? Mit anderen Worten durch jeden? RB: Das ist richtig. Der einzige Unterschied, wie ich schon sagte, ist, dass der normale Mensch denkt: „Es ist meine Handlung“, der Weise hingegen weiß, dass es niemandes Handlung ist. Der Weise weiß, dass „Handlungen erfolgen, Ereignisse stattfinden, aber dass es keinen individuellen Handelnden gibt“. Das ist meines Erachtens der einzige Unterschied, soweit wie mein Konzept geht. Der einzige Unterschied zwischen einem Weisen und einem gewöhnlichen Menschen ist der, dass der gewöhnliche Mensch denkt, dass jeder einzelne Mensch das tut, was durch den Körper GeistOrganismus stattfindet. Der Weise weiß, dass es keine Handlung gibt, bei der er handelt; wenn eine Handlung zufällig jemanden verletzt, wird er daher alles ihm Mögliche tun, um diesem Menschen zu helfen – aber es wird keine Schuldgefühle geben. W I E: Wollen Sie damit sagen, dass ein Mensch, der immerhin durch sein
Handeln jemandem Schaden zufügt, oder der KörperGeistOrganismus, wie Sie es nennen, der es ausgeführt hat, dann dafür nicht verantwortlich ist? RB: Ich möchte damit sagen, dass nicht „ich“ es getan habe. Ich sage nicht, dass ich es nicht bedauere, dass jemandem Schaden zugefügt wurde. Die Tatsache, dass jemand verletzt wurde, lässt ein Gefühl von Mitleid entstehen, und dieses Gefühl von Mitleid wird dazu führen, dass ich alles versuchen werde, um den Schmerz zu lindern. Aber es wird kein Schuldgefühl geben: nicht ich habe es getan! Die andere Seite davon ist, dass auch Handlungen erfolgen, für die ich von der Gesellschaft gelobt und belohnt werde. Ich sage nicht, dass nicht durch Lob ein Gefühl von Glück entsteht. Genauso wie aufgrund der Verletzung Mitleid entstand, kann durch das Lob das Gefühl von Befriedigung oder Glück entstehen. Aber es wird kein Stolz da sein. W I E: Aber meinen Sie buchstäblich, dass nicht ich es tue, wenn ich jetzt jemanden schlage? Ich möchte das nur klarstellen. RB: Die ursprüngliche Tatsache, das ursprüngliche Konzept bleibt bestehen: Sie schlagen jemanden. Dann kommt das zusätzliche Konzept, nämlich, dass alles, was geschieht, Gottes Wille ist, und Gottes Wille in Bezug auf den individuellen KörperGeistOrganismus ist das Schicksal dieses KörperGeistOrganismus. W I E: Ich könnte also einfach nur sagen: „Nun, es ist Gottes Wille gewesen, dass ich das getan habe; es ist nicht mein Fehler.“ RB: Sicherlich. Eine Handlung erfolgt, weil es das Schicksal dieses Körper 27
GeistOrganismus ist und weil es Gottes Wille ist. Und die Folgen dieser Handlung sind ebenfalls das Schicksal dieses KörperGeistOrganismus. Wenn eine gute Tat geschieht, ist das Schicksal. Wir hatten zum Beispiel eine Mutter Teresa. Der KörperGeistOrganismus, der als „Mutter Teresa“ bekannt ist, war so programmiert, dass nur gute Handlungen entstanden. Die Tatsache, dass gute Handlungen erfolgten, war das Schicksal des KörperGeistOrganismus mit dem Namen Mutter Teresa. Und die Folgen waren: ein NobelPreis, Auszeichnungen, Nominierungen und Spenden für ihre Sache. All das war das Schicksal dieses KörperGeistOrganismus mit dem Namen Mutter Teresa. Andererseits gibt es einen psychopathischen Organismus, der so programmiert ist – von derselben Quelle –, dass nur böse und pervertierte Handlungen erfolgen. Der Umstand, dass diese schlechten und pervertierten Handlungen erfolgen, ist das Schicksal eines KörperGeistOrganismus, der von der Gesellschaft als Psychopath bezeichnet wird. Aber der Psychopath hat es sich nicht ausgesucht, ein Psychopath zu sein. Es gibt tatsächlich keinen Psychopathen; es gibt nur einen psychopathischen KörperGeistOrganismus, dessen Schicksal es ist, böse und pervertierte Handlungen hervorzubringen. Und die Folgen dieser Handlungen sind ebenfalls das Schicksal dieses KörperGeistOrganismus. W I E: Wollen Sie damit sagen, dass alles vorherbestimmt ist? Dass alles von Geburt an vorprogrammiert ist? RB: Ja. Ich verwende das Wort „Programmieren“, um auf die dem Körper GeistOrganismus innewohnenden Charakteristika hinzuweisen. „Programmierung“ heißt also: Gene plus umweltbedingte Konditionierung. Man konnte sich die Eltern nicht aussuchen, bei denen man geboren wurde, daher konnte man sich die Gene nicht aussuchen. Genauso wenig konnte man sich die Umgebung aussuchen, in der man geboren wurde. Daher konnte man sich nicht aussuchen, welche Konditionierung man in der Kindheitsumgebung erfahren würde, was die Konditionierung durch Heim, Gesellschaft, Schule oder Kirche miteinschließt. Die Psychologen sagen, dass die gesamten Konditionierungen, die man bis zum Alter von drei oder vier Jahren erhält, die Grundkonditionierung darstellen. Man wird noch weiter konditioniert, aber die Grundkonditionierung, die die Persönlichkeit ausmacht, sind die Gene plus umweltbedingte Konditionierung. Das nenne ich Programmierung. Jeder KörperGeist Organismus ist auf eine einmalige Weise programmiert. Es gibt keine zwei KörperGeistOrganismen, die sich gleichen. W I E: Ja, aber ist es nicht richtig, dass zwei Menschen sehr ähnlich
konditioniert sein könnten, und es doch möglich ist, dass sich der eine ganz anders entwickeln kann als der andere? RB: Richtig. Deshalb verwende ich zwei Begriffe: der eine ist Programmierung im KörperGeistOrganismus an sich, der andere ist Schicksal. Das Schicksal ist der Wille Gottes, in Bezug auf den Körper GeistOrganismus, der im Moment der Empfängnis festgelegt wurde. Das 28
Schicksal einer bestimmten Empfängnis mag es auch sein, überhaupt nicht geboren zu werden – in diesem Fall wird sie dann abgetrieben. Das alles ist ein Konzept. Bitte keine Missverständnisse. Das ist mein Konzept. W I E: Sie sagen, dass das ein Konzept ist, und natürlich sind alle Worte
Konzepte, aber wie können wir wissen, dass dieses Konzept die Wahrheit ist? Ich tendiere zu der Meinung, dass jeder Mensch individuell verantwortlich ist, und auch wenn es ein bestimmtes Maß an Konditionierung gibt, das wir erben, haben wir doch immer noch die Wahl, wie wir darauf reagieren. Dem einen ist es möglich, Aspekte seiner Konditionierung zu transzendieren, in denen ein anderer vielleicht sein ganzes Leben lang feststeckt. Da das vorkommt, würde ich sagen, dass es auf den Willen des Individuums zurückzuführen ist, die Konditionierung zu transzendieren und das mit Erfolg zu tun. RB: Wie kann das aber geschehen, wenn es nicht Gottes Wille ist? Nehmen wir an, da sind zwei Menschen: der eine versucht, seine Schwachstelle zu überwinden und tut es, der andere nicht. Ich will damit sagen, dass beide, der eine, dem es gelingt, und der andere, dem es nicht gelingt, das tun, weil es das Schicksal des einzelnen KörperGeist Organismus ist – und das wiederum ist Gottes Wille. W I E: Könnten wir dann aber nicht genauso leicht sagen, dass es Gottes
Wille ist, jedem Individuum die freie Wahl zu lassen, eigene Entscheidungen zu treffen? RB: Nein. Sehen Sie, meine Frage an Sie ist folgende: wessen Wille überwiegt? Der des Individuums oder der Gottes? Aus Ihrer eigenen Erfahrung, bis zu welchem Grad war Ihr eigener freier Wille ausschlaggebend? W I E: Nun, ich meine, dass zu gewissen Zeiten der Wille des Individuums auf jeden Fall überwiegen kann. RB: Über den Willen Gottes? Wenn Sie etwas wollen und dafür arbeiten und es tritt dann ein, dann ist das so, weil Ihr Wille mit dem Willen Gottes
übereingestimmt W I E: Nehmen wir das Beispiel eines Menschen, der drogensüchtig wird und es auch das ganze Leben bleibt. Genauso gut könnte man argumentieren, dass er die Wahl getroffen hat, sich gegen Gottes Willen zu stellen, und dabei erfolgreich war – eben deshalb, weil es den freien Willen gibt. RB: Ob man das nun aber akzeptiert oder nicht, ist für sich schon der Wille Gottes, verstehen Sie das nicht? Gottes Willen zu akzeptieren oder nicht zu akzeptieren ist an und für sich Gottes Wille!
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W I E: Ich würde sagen – nicht unbedingt. RB: Ich verstehe, Sie spielen des Teufels Advokat. W I E: Nein, eigentlich nicht, ich möchte die Wahrheit finden. RB: Aber was ist wahr? Ich habe bereits gesagt, dass alles, was ich behaupte, ein Konzept ist. W I E: Ja, ich verstehe, aber nicht alle Konzepte sind gleich. Manche stellen
etwas dar, das die Wahrheit ist, und andere haben vielleicht überhaupt nichts mit der Wahrheit zu tun. RB: Alle Konzepte versuchen, etwas darzustellen, trotzdem sind es alle nur Konzepte. Die eigentliche Frage wäre: „Was ist die Wahrheit, die kein Konzept ist?“ W I E: Was ich damit sagen will, ist, dass die Feststellung, dass alles
vorprogrammiert ist, dass alles Schicksal ist und dass es keine Wahlmöglichkeit gibt, eine äußerst extreme Form von Reduktionismus zu sein scheint. Nach dieser Sichtweise sind menschliche Wesen wie Computer; alles, was uns betrifft, ist total eingespeichert. RB: Ganz genau so ist es. W I E: Aber mir scheint, dass bei dieser Sichtweise das menschliche Herz
fehlt. Dann sind wir nichts anderes als Maschinen – alles geschieht mit uns. Wir können nichts tun, nichts verändern. RB: Ja, genau! W I E: Das könnte aber ganz leicht zu einer tiefen Gleichgültigkeit dem Leben gegenüber führen. RB: Ja, und wenn das so wäre, wäre das ganz wunderbar! W I E: Wirklich? Wäre es das? RB: Aber das ist genau der Punkt! Sicherlich. Dann kann man sagen, dass man alles, was passiert, annimmt. Dann gibt es kein Unglücklichsein, es gibt kein Leiden, keine Schuldgefühle, keinen Stolz, keinen Hass, keinen Neid. Was ist daran so falsch? W I E: Ist noch irgendwo ein Herz? RB: Verstehen Sie unter „Herz“, dass man Kummer hat oder sich schuldig fühlt?
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W I E: Nein, das meine ich nicht. RB: Was verstehen Sie dann unter Herz? W I E: Ich meine damit etwas in uns, das sich um das Leben im weiteren Sinne Gedanken macht. RB: Wie ich Ihnen schon sagte, eine Handlung erfolgt durch diesen KörperGeistOrganismus, und wenn dieses Individuum feststellt, dass die Handlung jemandem Schmerz zugefügt hat, entsteht Mitleid. Wie kann Mitleid entstehen, wenn kein Herz da ist? W I E: Aber scheint es nicht ein wenig seltsam zu sein, zuerst einmal
jemandem Schmerz zuzufügen und dann hinterher Mitleid mit ihm zu empfinden? Wäre es nicht besser, gleich von Anfang an niemanden zu verletzen? RB: Aber das hat man nicht unter Kontrolle! Hätte man das unter seiner Kontrolle, hätte man es von Anfang an gar nicht getan. W I E: Andererseits, wenn ein Mensch davon überzeugt wäre, dass er
Kontrolle haben kann, anstatt anzunehmen, dass er keine hat, wäre es vielleicht gar nicht erst geschehen! RB: Warum übt der Mensch dann nicht Kontrolle über alles aus, was geschieht? Ich würde Ihnen gerne eine Frage stellen: Der Mensch verfügt ganz offensichtlich über einen großartigen Intellekt, so viel Intellekt, dass der unbedeutende kleine Mensch in der Lage gewesen ist, einen Menschen auf den Mond zu schicken. W I E: Ja, das stimmt. RB: Und er besitzt den Intellekt auch, um zu wissen, dass schreckliche Dinge passieren werden, wenn er bestimmte Dinge tut. Er besitzt den Verstand, um zu wissen, dass, wenn er Atomwaffen oder chemische Waffen herstellt, die Menschen diese verwenden werden und dass mit der Welt Schreckliches passieren wird. Er hat den Intellekt – wenn er also den freien Willen hat, warum tut er es dann? Warum hat der Mensch die Welt dann in den beklagenswerten Zustand gebracht, in der sie sich befindet, wenn er den freien Willen hat? W I E: Ich gebe zu, die Situation, die Sie darstellen, ist tatsächlich
verrückt. Aber ich würde sagen, sie ist auf den Umstand zurückzuführen, dass die Menschen einen schwachen Willen haben. Und ich glaube, dass sich die Menschen ändern können, wenn sie es wollen – wenn es ihnen nicht egal ist. RB: Warum haben sie es dann nicht getan? 31
W I E: Manche Menschen ändern sich tatsächlich, aber, wie ich schon
sagte, die meisten Menschen haben anscheinend einen sehr schwachen Willen. RB: Was so viel heißt wie: sie haben keinen freien Willen! W I E: Im Besitz des freien Willens zu sein garantiert allein noch nicht,
dass wir klug handeln. Aus dem Beispiel, das Sie gerade angeführt haben, geht hervor, dass Menschen oft die Entscheidung treffen, Dinge zu tun, die ziemlich großen Schaden anrichten. RB: Sie meinen, wir haben den freien Willen, die Welt zu zerstören? Wenn Sie sagen, wir haben den freien Willen, die Welt zu zerstören, heißt das mit anderen Worten, dass wir die Welt zerstören, weil wir es tun wollen – in vollem Bewusstsein, dass die Welt zerstört werden wird! Freier Wille bedeutet, man will es tun. W I E: Ich glaube, das Problem ist eher das, dass die Menschen
normalerweise die Auswirkungen ihrer Handlungen nicht bedenken. Sie denken oft nur an sich selbst, ohne darüber nachzudenken, wohin ihr Handeln führen könnte. RB: Aber das menschliche Wesen ist unglaublich intelligent. Warum denken die Menschen dann nicht so? Meine Antwort darauf ist – weil sie es nicht sollen! W I E: Wenn Sie sagen „sie sollen es nicht“, was heißt das dann? RB: Es ist nicht Gottes Wille, dass Menschen in diesen Begriffen denken. Es ist nicht Gottes Wille, dass das menschliche Wesen vollkommen ist. Der Unterschied zwischen dem Weisen und dem gewöhnlichen Menschen ist der, dass der Weise das, was ist, als den Willen Gottes annimmt, aber – und das ist wichtig – das hält ihn nicht davon ab, das zu tun, von dem er meint, dass es getan werden müsse. Und das, wovon er annimmt, dass er es tun müsse, beruht auf seiner Programmierung. W I E: Aber warum sollte der Weise „das tun, wovon er denkt, dass er es
tun muss“, wenn er doch weiß, wie Sie bereits erklärten, dass in erster Linie nicht er es ist, der denkt? RB: Sie meinen, wie geschieht die Handlung? Die Antwort darauf ist, dass die Energie in diesem KörperGeistOrganismus die Handlung gemäß der Programmierung hervorbringt. W I E: Die Handlung, so wie Sie es beschreiben, kommt einfach durch den Menschen. RB: Ja, sie fließt. Die Handlung geschieht. Das ist der eigentliche Punkt 32
bei dem, was ich sage – um auf die Worte Buddhas zurückzukommen –: „Ereignisse geschehen, Handlungen erfolgen.“ W I E: Aber soviel ich über Buddha weiß, hatte er ebenfalls das sehr starke
Gefühl, dass das Individuum persönlich für seine Handlungen verantwortlich ist. Ist das nicht die Basis seiner gesamten Lehre über Karma, Ursache und Wirkung? RB: Nicht Buddha! W I E: Ich habe den Eindruck, dass Buddha ziemlich viel über das „richtige
Handeln“ lehrte. Er schien sich sehr damit befasst zu haben, was Menschen tun, und betonte sehr, dass die Menschen sich entsprechend bemühen müssten, sich zu ändern. RB:. Das ist eine spätere Interpretation des Buddhismus. Buddhas Worte sind sehr klar. Wer hat Kontrolle über die Dinge, die geschehen? Gott hat Kontrolle darüber. Das ist die Basis jeder Religion, wie wir gesehen haben. Und warum gibt es trotzdem Kriege im Namen der Religion, wenn das die Basis jeder Religion ist? Es sind die Menschen mit ihren Interpretationen, die diese Kriege verursachen! Und wie könnte das überhaupt geschehen, wenn es nicht Gottes Wille wäre? W I E: Es ist klar, dass Ihrer Meinung nach alles, was wir tun, deshalb
geschieht, weil Gott will, dass wir es tun. Aber ich habe den Eindruck, dass das nur in dem Fall wirklich einen Sinn ergibt, wenn ein Mensch am Ende des spirituellen Weges angekommen ist – wenn er zum Ende des Egos gelangt ist –, denn die Handlungen dieses Menschen dienen keinem Selbstzweck, und der Wille Gottes würde daher nicht verzerrt. Aber bis das der Fall ist, kann es gut sein, dass es sich um eine spontane – durch ein selbstsüchtiges Gefühl bedingte – Reaktion handelt, wenn sich ein Mensch einem anderen gegenüber niederträchtig verhält. Wenn es wirklich so wäre, könnte das, was Sie sagen, tatsächlich als Rechtfertigung für unangenehmes oder aggressives Verhalten verstanden werden. Dann könnte man einfach sagen: „All das ist Gottes Wille. Das macht doch nichts!“ RB: Ich weiß, aber es ist die Wahrheit. In Wirklichkeit stellen Sie die Frage: „Warum hat Gott die Welt so erschaffen, wie sie ist?“ Aber sehen Sie, ein Mensch ist nur etwas Erschaffenes, ein Teil der Gesamtheit der Schöpfung, die aus der Quelle kommt. Meine Antwort ist daher: Etwas Erschaffenes kann nie im Leben seinen Schöpfer verstehen! Mit einer Metapher ausgedrückt: Stellen Sie sich vor, Sie malen ein Bild, und auf diesem Bild malen Sie eine Figur. Dann möchte diese Figur erstens wissen, warum Sie, der Maler, genau dieses Bild gemalt haben und zweitens, warum Sie die Figur so hässlich gemacht haben! Verstehen Sie, wie kann etwas Erschaffenes jemals die Möglichkeit haben, den Willen des eigenen Schöpfers zu erkennen? Ich will aber sagen, dass Sie das nicht 33
davor bewahrt, das zu tun, was Sie meinen, tun zu müssen! Zu akzeptieren, dass nichts geschieht, wenn es nicht Gottes Wille ist, enthebt keinen Menschen der Aufgabe, das zu tun, wovon er denkt, dass er es tun muss. Was sonst kann man tun? W I E: Aber wie ich schon sagte, auf Grund dieser Argumentation könnte
man, glaube ich, ganz leicht den Schluss ziehen: „Es ist doch alles Gottes Wille, es ist ganz egal, was passiert“, und demzufolge einfach aufgeben. RB: Sie meinen: „Warum soll ich dann nicht den ganzen Tag im Bett bleiben?” W I E: Ja, warum überhaupt irgendeine Anstrengung unternehmen? RB: Die Antwort auf diese Frage ist, dass die in diesem KörperGeist Organismus vorhandene Energie es diesem KörperGeistOrganismus nicht gestatten wird, die ganze Zeit über untätig zu bleiben. Die Energie wird fortgesetzt Handlungen entstehen lassen, physisch oder geistig, in jedem Sekundenbruchteil, je nach der Programmierung des KörperGeist Organismus und je nach dem Schicksal des KörperGeistOrganismus, das der Wille Gottes ist. Und da Sie ja weiterhin denken, Sie seien ein Individuum, bewahrt Sie das nicht davor, das zu tun, was Sie glauben, tun zu müssen. Damit meine ich, dass das, was Sie in irgendeiner Situation in einem bestimmten Moment glauben, tun zu müssen, genau das ist, was Gott will, dass Sie denken, tun zu müssen! Der springende Punkt ist, dass es Sie nicht davor bewahrt, das zu tun, was Sie denken, tun zu müssen, nur deshalb weil Sie akzeptieren, dass es Gottes Wille ist. Verstehen Sie? Tatsächlich können Sie nicht anders, als es zu tun! W I E: Das klingt so, als ob nach Ihrer Weltsicht all das, was wir als freie
Wahl, Wille und Verantwortlichkeit sehen, sich weg vom Individuum, hin zu Gott oder dem Bewusstsein verlagert hätte. Meinen Sie das so? RB: Es hat sich nicht verlagert. Wenn Sie der Meinung sind, Sie tun es, was ist dann? Schuldgefühle, Stolz, Hass und Neid. Aber das hält die Dinge, die geschehen, nicht davon ab, weiter zu geschehen. Wenn Sie aber denken, Sie tun es nicht, dann – keine Schuldgefühle, kein Stolz, kein Hass, kein Neid! Das Leben wird friedlicher. W I E: Ich las in einem von einigen Ihrer Schüler verfassten Flugblatt
etwas, das in Bezug auf diesen Punkt wichtig zu sein scheint. Es heißt da: „Das, was dir angenehm ist, kann nur etwas sein, von dem Gott will, dass es dir angenehm ist. Es kann nichts geschehen, wenn es nicht Sein Wille ist.“ RB: Ja. Das ist richtig. W I E: In demselben Flugblatt heißt es: „Fühle dich nicht schuldig, auch
wenn Ehebruch geschieht. Du, die Quelle, bist immer rein.“ 34
RB: So sagte Ramana Maharshi. W I E: Ich denke, die Quelle kann durchaus immer rein sein, aber noch
einmal, es scheint mir doch so, als ob das ganz leicht als eine Berechtigung verstanden werden könnte, gewissenlos zu handeln. Man könnte sagen: „Es ist egal, ob ich Ehebruch begehe, es ist egal, ob ich meine Freunde verletze, denn das ist einfach nur passiert.“ Es könnte ganz leicht als die Rechtfertigung verstanden werden, einen Wunsch auszuleben, einfach nur deshalb, weil dieser Wunsch zufällig da ist. RB: Aber geschieht nicht genau das? W I E: Sicherlich geschieht das, aber... RB: Sie meinen, es würde öfter geschehen? W I E: Es könnte leicht sein, dass es öfter geschieht. Ich könnte sagen:
„Nun, es ist ganz egal, was ich jetzt mache. Ich brauche mich gar nicht bemühen, mich zu beherrschen, wenn ich einen Wunsch verspüre.“ Verstehen Sie, was ich meine? RB: Die Frage, die gewöhnlich gestellt wird, lautet so: „Wenn ich in Wahrheit eigentlich nichts tue, was sollte mich dann davon abhalten, ein Maschinengewehr in die Hand zu nehmen und damit zwanzig Menschen zu töten?“ Das ist doch Ihre Frage, richtig? W I E: Nun, das ist ein extremes Beispiel. RB: Ja, nehmen wir ein extremes Beispiel. W I E: Aber das Beispiel mit dem Ehebruch erscheint mir interessanter für
die Betrachtung, denn wenige Menschen würden etwas so Extremes tun wie andere Menschen mit einem Maschinengewehr umzubringen. RB: Gut. Es ist dasselbe, wenn wir über Ehebruch sprechen. Ich habe gelesen, dass Biologen und Psychologen aufgrund ihrer Forschungen zu dem Schluss gekommen sind, dass man sich nicht selbst die Schuld geben soll, wenn man seine Frau betrügt. W I E: Nun gut, aber ich glaube nicht, dass das die Meinung aller Wissenschaftler ist. RB: Ich meine damit, dass immer mehr Wissenschaftler zu dem Schluss gelangen, den der Mystiker seit jeher vertreten hat – dass alle Handlungen, die geschehen, auf die Programmierung zurückgeführt werden können.
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W I E: Ich kann verstehen, dass das in manchen Fällen stimmen mag, aber
sagen wir zum Beispiel, ich verspüre das Bedürfnis, Ehebruch zu begehen. Ich könnte dann sagen: „Es muss Gottes Wille sein, das ich es tue, also tue ich es“ – oder ich könnte mich beherrschen und es unterlassen, Menschen, die mir lieb sind, eine Menge Schmerz zuzufügen. Wäre es nicht besser, ich würde mich beherrschen? RB: Wer hält Sie denn davon ab, sich zu beherrschen? Tun Sie doch, was Sie wollen! Was hält Sie davon ab, sich zu beherrschen? Beherrschen Sie sich! W I E: Ich meine, es wäre besser, das zu tun! RB: Das ist auch meine Meinung. W I E: Aber Ihrer Meinung nach könnte ich genauso gut sagen: „Es muss Gottes Wille sein, denn ich spüre das Verlangen“, und mich dann nicht beherrschen. RB: Sie sagen, Sie wissen, dass Sie sich beherrschen sollten – warum beherrschen Sie sich dann nicht? Wenn ein KörperGeistOrganismus so programmiert ist, dass er seine Frau nicht betrügt, dann wird er es nicht tun, egal, was irgendjemand sagt. Wenn man so programmiert ist, dass man gegen niemanden die Hand erhebt, wird man dann beginnen, Leute umzubringen? Wenn ein Gesetz erlassen würde, dass man seine Frau schlagen kann, ohne dafür eine Bestrafung zu riskieren, wird man dann beginnen, seine Frau zu schlagen? Nicht, solange der KörperGeist Organismus nicht so programmiert ist, und wenn er so programmiert ist, das zu tun, dann hätte er es ohnehin getan. Wie ich also sagte: zu akzeptieren, dass es der Wille Gottes ist, bewahrt nicht davor, das zu tun, von dem man denkt, es tun zu müssen. Machen Sie es! Tun Sie genau das, was Sie meinen, tun zu müssen! W I E: Aber wie können wir in letzter Konsequenz wissen, ob es Schicksal
oder Gottes Wille ist? Wir wissen nur, dass bestimmte Dinge geschehen. Dann können wir auf etwas, das wir getan haben, zurückblicken und sagen: „Es ist einfach passiert“, und wenn wir wollen, können wir es Schicksal nennen. Aber ist es nicht exakter zu sagen, dass wir eigentlich nicht wissen, ob es Schicksal ist oder nicht? RB: Genau das ist es. Wir wissen es nicht. W I E: Aber zu sagen, dass wir es nicht wissen, ist etwas anderes als zu
sagen: „Wir wissen, dass es Gottes Wille ist.“ Es ist etwas anderes als zu sagen, wir wissen, dass alles festgelegt ist. Sehen Sie, für mich klingt das so, als sagten Sie, Sie wüssten, dass alles Gottes Wille ist. Ich dagegen meine, dass wir es einfach nicht wissen; wir wissen nicht, ob Gott diese 36
Dinge bestimmt, deshalb können wir eigentlich nicht sagen: „So funktioniert es“, oder „Alles ist von Gott schon festgeschrieben.“ RB: Wir wissen es nicht, und davon müssen wir ausgehen; wenn Sie also wollen, können Sie das Konzept des Schicksals weglassen und sagen, dass eigentlich niemand etwas wirklich wissen kann. Gut! Wir brauchen das Konzept des Schicksals nicht. Schließlich und endlich, wenn man akzeptiert, dass sich alles, was passiert, der eigenen Kontrolle entzieht, wer soll sich dann noch um das Schicksal kümmern? W I E: Da viele spirituell Suchende zu Ihnen kommen und Sie um Ihren Rat
in Bezug auf den spirituellen Weg bitten, würde ich Sie gerne fragen, welchen Wert Sie spiritueller Praxis beimessen, vorausgesetzt, es gibt einen, als Mittel, um Erleuchtung zu erlangen. RB: Wenn Sadhana (spirituelle Praxis) notwendig ist, dann ist ein Körper GeistOrganismus so programmiert, dass er Sadhana macht. W I E: Mit anderen Worten, wenn es sein soll, dann geschieht es auch. RB: Genau. W I E: Sie sprechen sich nicht dafür aus oder meinen, dass es hilfreich ist, es zu tun? RB: Manchmal fragen mich die Leute: „Wenn nichts in meinen eigenen Händen liegt, soll ich dann meditieren oder nicht?“ Meine Antwort ist sehr einfach. Wenn Sie meditieren wollen, dann meditieren Sie; wenn Sie nicht meditieren wollen, dann zwingen Sie sich nicht zum Meditieren. W I E: Ist die spirituelle Suche dann ein Hindernis für die Erleuchtung? RB: Ja, die Suche ist das größte Hindernis, und der Grund ist der Suchende. Der Suchende ist das Hindernis – nicht die Suche; die Suche geschieht von selbst. Die Suche findet deshalb statt, weil der Körper GeistOrganismus programmiert ist, das zu suchen, wonach er sucht. Wenn also die Suche nach Erleuchtung stattfindet, dann ist der Körper GeistOrganismus für die Suche programmiert worden. Das Hindernis ist der Suchende, der sagt: „Ich will Erleuchtung.“ W I E: Warum haben dann viele große Weise von der Wichtigkeit des
Bemühens gesprochen? Ramana Maharshi sagte, dass der Suchende die Erleuchtung so stark herbeisehnen muss wie der Ertrinkende die Luft – mit derselben Zielstrebigkeit und Wichtigkeit. RB: Sicherlich. Das heißt, dass diese Art von Intensität in der Suche sein muss. Er sagte aber auch: „Wenn man eine Anstrengung machen will, dann muss man eine Anstrengung machen; wenn die Anstrengung aber 37
nicht gemacht werden soll, dann wird die Anstrengung nicht gemacht werden.“ Das sagte Ramana Maharshi. Sehen Sie also, ob ein Mensch ein Suchender ist oder nicht, unterliegt nicht seiner Kontrolle. Ob es sich um eine Suche nach Gott oder eine Suche nach dem Geld handelt, ist weder das eigene Verdienst noch die eigene Schuld. W I E: Sie schreiben in einem Ihrer Bücher, dass man in der Tat zu einem
ziemlich tiefen Verstehen gelangt ist, wenn man sagen kann: „Es ist mir egal, ob in diesem KörperGeistOrganismus Erleuchtung eintritt oder nicht.“ RB: Das stimmt. Wenn diese Phase erlangt wurde, dann bedeutet das, dass der Suchende nicht mehr vorhanden ist. Es ist der Erleuchtung sehr ähnlich, denn wenn niemand da ist, der sich darum schert, dann ist kein Suchender mehr da. W I E: Aber könnte das Ergebnis nicht eine ganz außergewöhnlich tiefe Gleichgültigkeit sein – was dann nicht Erleuchtung ist? RB: Das könnte zu Erleuchtung führen! W I E: Ich möchte noch eine letzte Frage stellen. Sie sagen oft, wir müssen „einfach nur akzeptieren, was ist“ – RB: Ja, wenn Ihnen das möglich ist – und das haben Sie nicht unter Ihrer Kontrolle! NACHW ORT:
Als ich an dem Portier vorbei auf die belebten Straßen von Bombay hinausstolperte, drehte sich alles in meinem Kopf. Wie kann das sein, fragte ich mich, während ich mich durch die Menschenmassen kämpfte, dass ein intelligenter und gebildeter Mann wie Ramesh Balsekar tatsächlich glauben kann, dass alles vorherbestimmt ist, dass unser Geschick schon lange vor unserer Geburt in eine Art ewigen Granit eingemeißelt worden ist? Kann es ihm wirklich ernst damit sein, wenn er darauf beharrt, dass unser gesamtes Leben, mit seinem scheinbar nie endenden Strom von Entscheidungen und Wahlmöglichkeiten, den heiklen Möglichkeiten, uns zum Besseren oder Schlechteren zu bekehren, tatsächlich vom ersten Atemzug an ein fait accompli ist? Während ich auf der Suche nach einem Café den Gehsteig überquerte, um dort von dem Chaos zu verschnaufen, wirbelten die schwierigen Kehrtwendungen, die unser kurzes Gespräch genommen hatte, in meinem Kopf herum. Ja, „Dein Wille geschehe“ ist die Essenz zumindest der meisten Religionen, dachte ich bei mir, aber für die großen Mystiker und Weisen, die sich von jeher in dieser Weise geäußert hatten, bedeutet die Hingabe an den Willen Gottes weit mehr als schlicht und einfach zu akzeptieren, dass niemand etwas tun kann, um die eigenen Lebensumstände zu beeinflussen. Das, 38
was gemeinhin „der Wille Gottes“ genannt wird, ist sicherlich auch das, was man erfährt, wenn das Ego absolut aufgegeben worden ist, wenn alle selbstbezogenen Motive ausgelöscht sind und einem nichts anderes mehr zu tun verbleibt, als den göttlichen Willen in völliger Hingabe zu erfüllen, wie er auch aussehen mag! Von Jesus, Ramakrishna oder Ramana Maharshi zu sagen, dass sie sich Gottes Willen ergeben hatten, ist eine Sache. Aber zu sagen, dass das für jeden gilt, schien in diesem Moment Ausdruck eines seltsamen und sogar gefährlichen Wahns zu sein der dazu verwendet werden könnte, die extremsten Verhaltensformen zu rechtfertigen. Die Feststellung Balsekars „Das, was Sie glauben, in jeder Situation tun zu müssen, ... ist genau das, wovon Gott will, dass Sie glauben, es tun zu müssen“ bedeutet, dass ihm zufolge der erleuchtete Buddha den Willen Gottes nicht mehr erfüllt als der Massenmörder, der über sein nächstes Opfer herfällt. Ich war durchaus in der Erwartung von Meinungsverschiedenheiten zu dem Interview gekommen, aber in gewisser Weise hatten mich nicht einmal Balsekars Bücher – in denen alle diese Gedanken immer wieder klar zum Ausdruck kommen – auf meine direkte Begegnung mit dem Mann vorbereitet. Wie war er darauf gekommen? Das fragte ich mich. Und warum? Meine Gedanken gingen im Kreis, und ich erinnerte mich an alles, angefangen von seiner irritierenden Behauptung, dass man sich auch nicht schuldig zu fühlen braucht, wenn man jemandem Schmerz zufügt, weil wir für unser Handeln nicht verantwortlich sind, dass selbst „Hitler nur ein Werkzeug war, durch welches die schrecklichen Dinge, die geschehen mussten, geschahen“, bis zu seiner jedem gesunden Menschenverstand widersprechenden Behauptung, dass wir nicht die Macht haben, Kontrolle über unser Verhalten auszuüben oder etwa das Verhalten anderer zu beeinflussen, und das alles im Rahmen seiner an Sience Fiction erinnernden Beschreibung über uns alle als „KörperGeistOrganismen“, die ihre Programmierung ausagieren. Plötzlich tauchte der willkommene Anblick eines Teehauses aus dem Smog auf, und beim Hineingehen stellte ich mit Erleichterung fest, dass es sich dabei um die stille Oase handelte, die ich mir erhofft hatte. Und dort, an einem der vielen leeren Tische, als der erste Schluck von fast ekelhaft süßem Milchtee über meine Lippen floss, traf es mich wie ein Schlag. Nicht ich trank den Tee! Nicht ich saß an einem Tisch! Tatsächlich war ich es gar nicht gewesen, der das Teehaus betreten hatte. Und ich war auch nicht der, der gerade eine Stunde lang in einem Gespräch mit einem Mann gelitten hatte, der in jenem Moment schon fast wie der Vernünftigere von uns beiden ausgesehen hatte. Tatsächlich war ich es niemals gewesen, der etwas getan hatte. Es war, als ob eine Last, die ich mein ganzes Leben lang mit mir herumgeschleppt hatte, plötzlich mit einem Heißluftballon in den Himmel gehoben würde, davongeblasen, ohne Wiederkehr. All die Jahre hindurch hatte ich gekämpft, um ein besserer, ehrlicherer und großzügigerer Mensch zu sein – all diese Anstrengungen, die ich unternommen hatte, um meiner tendenziellen Arroganz, Selbstsucht und 39
Aggressivität zu entsagen – das Ganze war eine Verrücktheit gewesen, die dumm war und unnötigerweise auf der selbstgefälligen Vorstellung basiert hatte, dass ich irgendwie mein Schicksal unter Kontrolle hätte, in der kleinlichen Annahme, dass das, was ich „anderen“ antat, irgendwie von Wichtigkeit wäre. Wie konnte ich nur so in die Irre geführt worden sein? Aber, Moment mal, das war doch gar nicht ich, der in die Irre geführt worden war! Wie durch sich auflösende Wolken konnte ich plötzlich klar sehen, dass das, von dem ich angenommen hatte, es sei „mein Leben“, in der Tat doch nur ein mechanischer Prozess gewesen war. Der Mensch, von dem ich angenommen hatte, dass ich es sei, war nur eine Maschine. Und die Welt, von der ich angenommen hatte, dass ich darin lebte, war nicht, so wie ich gedacht hatte, eine komplexe und zutiefst menschliche Welt, sondern eine Welt von mechanistischer Einfachheit, vollkommener Ordnung, von Urzeiten an ein mathematisches Ausspielen von programmierten Bewegungen. Als sich die klinische Perfektion von Gottes wissenschaftlichem Plan vor meinen Augen darzulegen begann, strömte mit einem Mal der ekstatische Schauder absoluten Freiseins – von Sorge, Kummer, Verpflichtung und Schuld – durch meine Adern wie die Strömung in einem ungezähmten Fluss. Und damit einher ging ein einhüllender und widerhallender Friede, ein absolutes Aufhören jeglicher Spannung angesichts der Tatsache, dass ganz gleich, welche scheinbare Zweideutigkeit oder Unsicherheit mir danach noch begegnen könnte, ganz gleich, welche scheinbar schwierigen Entscheidungen ich eventuell würde treffen müssen, ich doch immer in der Sicherheit ruhen könnte, dass jede Wahl, die ich treffen würde, genau die Wahl sein würde, die Gott von mir erwartete. Das mysteriöse Gefühl des Unbekannten, das so lange an mir gezerrt hatte, hatte sich in Luft aufgelöst. Die anderen Leute im Café schauten sich um, als sich ein langes Lachen aus meinem Bauch löste und ich bei mir selbst dachte, welch fantastisches Spiel das Leben doch wäre, wenn jeder verstünde, wie das alles in Wahrheit funktioniert, wenn doch jeder wenigstens einen kleinen Schimmer von dem hätte, wie frei wir sein könnten, wenn wir alle auf dem Planeten Advaita leben würden.
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Advaita 1x1 Ein Interview mit Sw ami Dayan an da Saras w ati von Andrew Cohen
Einleitung
Es ist eine besondere Eigenheit von Advaita Vedanta, dass ihre bedeutendsten Gestalten der Gegenwart, diejenigen, die als strahlende Beispiele für die Kraft und Herrlichkeit Absoluter Verwirklichung herausragen, im Allgemeinen scheinbar wenig, wenn überhaupt, eine formelle traditionelle Ausbildung genossen haben. Ramana Maharshi zum Beispiel, wahrscheinlich der universell anerkannteste AdvaitaLehrer im zwanzigsten Jahrhundert, erfuhr im Alter von sechzehn Jahren spontan Erleuchtung, ohne vorher eine spirituelle Praxis oder ein Studium absolviert zu haben. Der leidenschaftliche AdvaitaMeister und Autor von I Am That, Sri Nisargadatta Maharaj, verwirklichte das Absolute, nachdem er nur drei Jahre mit seinem Guru verbracht hatte. Und als wir für diese Ausgabe mit einer Reihe von AdvaitaLehrern der heutigen Zeit sprachen, waren wir höchst erstaunt, als wir feststellten, dass beinahe alle diese Personen eine auffällige Unabhängigkeit von den Mönchsorden, Lehrsystemen und heiligen Texten der jeweiligen Tradition, aus der ihre Lehre entspringt, gemeinsam haben. Aber Advaita Vedanta ist tatsächlich eine 1300 Jahre alte Tradition, deren Spuren sogar noch weiter zurückzuverfolgen sind, bis hin zu den Upanishaden, einer Sammlung von mehr als 2500 Jahre alten göttlich inspirierten Schriften. Advaita ist Ausdruck der hinduistischen Philosophie des Nondualen und proklamiert, dass einzig und allein das eine Absolute, das ungeteilte Selbst, letztlich die Realität ist. Es verfügt über mehrere Mönchsorden, eine reichhaltige Literatur und eine lange Geschichte formalen philosophischen Diskurses. Der Umstand, dass wir durch unsere Untersuchungen über Advaita für diese Ausgabe von WiE mit einer solchen Vielfalt von Lehrern und Lehren unserer Zeit in Kontakt kamen, machte uns zunehmend neugierig darauf herauszufinden, was jemand mit einer klassischen Ausbildung in traditioneller Methodik und Doktrin auf unsere Fragen zu sagen haben würde. Unsere Suche nach einem solchen Traditionalisten führte uns schließlich bis in den Dschungel des südindischen Staates Tamil Nadu, in den Ashram von Swami Dayananda Saraswati.
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Swami Dayananda beschreibt sich selbst als traditionellen Advaita VedantaLehrer. Er war ein enger Schüler des allgemein hoch angesehenen verstorbenen VedantaLehrers Swami Chinmayananda und begann seine Lehrtätigkeit vor mehr als dreißig Jahren, nach einer disziplinierten spirituellen Suche, die sowohl ein intensives Studium der klassischen Schriften umfasste als auch einige Jahre der Zurückgezogenheit in den Vorgebirgen des Himalaya. In dieser Zeit hat er sich sowohl in Indien als auch im Ausland einen glänzenden Ruf als heftiger Verteidiger der Tradition erworben. Er hat einundzwanzig Bücher veröffentlicht, darunter mehrere Übersetzungen von traditionellen Texten und von Kommentaren dazu, und er hat drei Ashrams gegründet (zwei in Indien und einen in den Vereinigten Staaten), wo das ganze Jahr hindurch seine VedantaIntensivkurse gelehrt werden. Der jüngste Ashram von Swami Dayananda, Arsha Vidya Gurukulam, liegt mitten im tropischen Regenwald, dreißig Meilen von Coimbatore entfernt, und ist ein weit reichender Komplex von Hallen und Schlafsälen, in denen etwa dreihundert Menschen untergebracht werden können. Zur Zeit unseres Besuchs wohnten dort etwa hundert Schüler, die an einem drei Jahre dauernden Kurs teilnahmen; darunter waren auch etwa dreißig Schüler aus dem Westen, von denen viele, wie wir erfuhren, erfolgreiche Karrieren aufgegeben hatten, um daran teilnehmen zu können. Zusätzlich zu diesen Langzeitkursen, während derer die Schüler dort leben, empfängt der Ashram auch viele berühmte Kurzzeitbesucher, darunter, so wurde uns gesagt, einige der größten Filmstars Indiens und wichtige Politiker, unter anderem auch den früheren Präsidenten Indiens. An unserem ersten Tag im Ashram hatten wir Gelegenheit, einige von Swami Dayanandas Seminaren zu besuchen, und stellten dabei fest, dass Swami Dayananda in seinem Bestreben, die Tradition aufrecht zu erhalten, nicht das kontemplative Ambiente eines Retreat eingeführt hatte, das man vielleicht im Ashram eines indischen Gurus zu finden erwartet hätte, sondern vielmehr eine Art spiritueller Akademie, deren erstes und vorrangiges Ziel die Aneignung von Wissen über Vedanta ist. Die Schüler verbringen den Tag im Klassenzimmer, sitzen auf dem Boden hinter niedrigen Schreibtischen und hören Swami Dayananda zu, der aus den alten Sanskrittexten liest, nach jedem Vers eine Pause macht, um ihn dann, oftmals sehr ausführlich, zu kommentieren. Wenn die Schüler keinen Unterricht haben und auch nicht mit ihren Ashrampflichten beschäftigt sind, widmen sie sich entweder dem individuellen Studium oder treffen Swami Dayananda, der zusätzlich zum Unterricht von drei langen Seminarphasen pro Tag in den Pausen zwischen den einzelnen Unterrichtsstunden für weniger formelle Gespräche zur Verfügung steht. Das, was wir an Swami Dayanandas stark scholastischer Methode am erstaunlichsten fanden, war, dass ungewöhnlicherweise jegliche Betonung einer spirituellen Praxis fehlte. Die einzige formelle Übungszeit im Ashram sind dreißig Minuten Morgenmeditation. Wir sollten bald erfahren, dass spirituelle Praktiken keinen wichtigen Platz im Programm einnehmen, aus 42
einem sehr einfachen Grund: Für Swami Dayananda sind sie für den Weg völlig bedeutungslos. Das Einzige, was von Bedeutung ist, meint er, ist das Studium – das ernsthafte Studieren der heiligen VedantaTexte. Nach Ansicht von Swami Dayananda beschreiten die meisten der zeitgenössischen Verfechter von Advaita Vedanta mit ihrem Ansatz einen Irrweg. Er hat das Gefühl, dass sie durch die Überbetonung des Bemühens um transzendente Erfahrung am eigentlichen Hauptpunkt der alten Lehren vorbeigehen. Nach seiner Aussage gilt in der traditionellen Advaita Vedanta die Heilige Schrift als einziges sicheres Mittel, um Unwissenheit zu beseitigen und die direkte Erkenntnis des Absoluten zu offenbaren. Er schreibt: „So wie die Augen das direkte Mittel sind, um Farbe und Form wahrzunehmen, so ist Vedanta das direkte Mittel … um das eigene wahre Wesen zu erkennen und Verwirrung hinsichtlich des Atman (Selbst) aufzulösen.“ Daher, so ist er überzeugt, können wir nur durch ein diszipliniertes Studium der offenbarten Worte großer Weiser die Erkenntnis erlangen, die uns aus der Täuschung befreien wird. Angespornt durch seine Überzeugung von der allerhöchsten Effizienz des Studiums der Schriften kritisiert Swami Dayananda rückhaltslos „Mystiker“, die behaupten, der Weg zur Erleuchtung führe einzig und allein über die spirituelle Erfahrung. In der Tat ging er sowohl in seinen Schriften als auch in einem unserer Gespräche sogar so weit, seinem Zweifel an der Verwirklichung des allgemein anerkannten und hochverehrten, jedoch ungebildeten modernen Weisen Ramana Maharshi Ausdruck zu geben – und er fügte hinzu, dass es Millionen indischer Familienväter geben könnte, die ein ähnliches Niveau erlangt hätten! Anfangs waren wir über solche Statements sehr überrascht, aber in Gesprächen mit zahlreichen westlichen AdvaitaGelehrten sollten wir später feststellen, dass viele AdvaitaTraditionalisten diese Ansichten teilen. Sogar einer der lebenden Shankaracharyas – das Oberhaupt einer der vier monastischen Institutionen, die angeblich vom Gründer der Advaita, Shankara, eingerichtet worden sind, leugnet ebenfalls die Gültigkeit dessen, was Ramana erreicht hat, wie es scheint aus dem einfachen Grund, dass jemand, der keine formelle VedantaAusbildung genossen hat, unmöglich vollständig erleuchtet sein kann! Unser Besuch im Ashram von Swami Dayananda stellte sich als faszinierendes Lehrstück heraus. Im Laufe unseres dreitägigen Aufenthalts trafen wir Swami Dayananda viermal zu formellen Gesprächen, die sich als eine weit reichende Serie von Dialogen herausstellen sollten. Während dieser Zeit avancierte das Phänomen, das als AshramKuriosität begonnen hatte – nämlich dass eine kleine Gruppe von Westlern mit einem spirituellen Lehrer aus Amerika gekommen war, um ein Interview mit dem Guru zu machen – rasch zu einem der meistkommentierten und bestbesuchten Ereignisse im Ashram. Von unserer zweiten Sitzung an war der Versammlungsraum bis auf den Flur hinaus überfüllt mit Schülern, die gekommen waren, um der Diskussion zu folgen. Zwischen den Treffen 43
fanden wir uns regelmäßig im Gespräch mit den Schülern wieder, die eifrig mit uns Punkte besprechen wollten, die in der Diskussion aufgetaucht waren, und uns Fragen für die nächste Runde vorschlugen. Bei allen Begegnungen erwies sich Swami Dayananda in jeder Hinsicht als der Traditionalist, den wir erwartet hatten, wobei er uns in seinen Antworten auf unsere Fragen an seinem umfassenden Verständnis sowohl der eigentlichen Tradition als auch der Feinheiten der AdvaitaPhilosophie teilhaben ließ. Wir verließen seinen Ashram zwar in vielerlei Hinsicht sehr viel klarer in Bezug auf die Geschichte und Doktrin der AdvaitaTradition, aber unser Besuch hatte doch auch einige faszinierende Fragen aufgeworfen. War es nicht erstaunlich, fragten wir uns auf unserer Rückfahrt im Taxi zum Flughafen, dass es innerhalb einer Tradition, die sich der tiefen und radikalen Verwirklichung des Absoluten verschrieben hat, gelehrte und engagierte Autoritäten gibt, die sich veranlasst sehen, sich von den kraftvoll verwirklichten Mystikern zu distanzieren, bei denen viele der eigenen Anhänger selbst Inspiration suchen? Wenn sie dadurch die „Reinheit” der Tradition hochzuhalten versuchen, welche Bedeutung hat das dann hinsichtlich des Wesens von Erleuchtung, zu der der Advaita Weg führen soll? Ramana Maharshi sagte: „Man braucht weder gelehrt noch in den Schriften versiert zu sein, um das Selbst zu erkennen, so wie kein Mensch einen Spiegel braucht, um sich selbst zu sehen.“ Swami Dayananda hatte uns andererseits gerade gesagt, dass „wir kein Mittel der Erkenntnis haben, um Selbstverwirklichung direkt zu verstehen, und dass daher Vedanta das Mittel der Erkenntnis ist, das zu diesem Zweck angewendet werden muss. Kein anderes Mittel der Erkenntnis wird funktionieren.“ Was ist Erleuchtung? Ist es einfach eine Verlagerung des Verständnisses, die, wie Swami Dayananda insistiert, vollständig durch das Studium der heiligen Texte herbeigeführt werden kann? Oder ist es, wie einige der strahlendsten Verkünder dieser kraftvollen Lehre behauptet haben, die Offenbarung eines Mysteriums, das für immer und ewig jenseits des Verstandes liegt und das die Welt zum Zusammenbruch bringt?
Craig Hamilton
I nterview Das folgende Interview ist ein Auszug aus der über 80seitigen Transkription einer Serie von Gesprächen zwischen Swami Dayananda und Andrew Cohen im Februar 1998.
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W as ist Advaita? Andrew Cohen: Wie Sie wissen, gibt es seit etwa zwanzig Jahren im
Westen großes Interesse an Advaita, und ich habe den Eindruck, dass hinsichtlich dieser Lehre viel Verwirrung herrscht, dass sie sehr missverstanden und in manchen Fällen auch missbraucht worden ist. Wir wollten mit Ihnen sprechen, um auch einen maßgeblichen traditionellen Standpunkt darlegen zu können. Könnten Sie deshalb bitte zunächst erklären, was die AdvaitaVedantaPhilosophie ist? Sw ami Dayananda: Das Wort „Advaita“ ist ein sehr wichtiges Wort. Es ist eine Verneinung von dvaita, was „zwei“ bedeutet. Das „a“ ist eine verneinende Vorsilbe, die Bedeutung wäre also „das Nonduale“. Und es offenbart die Weisheit, dass alles, was es hier gibt, Eins ist, das heißt, es gibt nichts anderes als dieses Eine, und dieses Eine besteht auch nicht aus Teilen. Es ist ein Ganzes ohne Teile, und Das wird „Brahman“ (das Absolute) genannt, und Das bist du – denn das Nonduale kann nichts anderes sein als du, der Fragende. Wenn es sich von dir unterscheidet, ist es dual; dann bist du das Subjekt und es ist das Objekt. Es muss also du sein. Wenn du diesen Umstand also nicht erkennst, dann übersiehst du, dass du das Ganze bist. AC: Könnten Sie bitte den historischen Hintergrund erklären? SD: Die Veden (die heiligen Schriften der Hindus) sind das älteste Wissen, das die Menschheit besitzt. Laut Tradition sind die Veden nicht von einer bestimmten Person verfasst worden, sondern sie wurden den alten Rishis (den Sehern) als einheitliches Werk des Wissens offenbart. Es heißt, dass die Veden letztendlich auf den Herrn als die Quelle allen Wissens zurückgeführt werden können, und dieses Wissen ist die Quelle von Advaita. Die Upanishaden (die Abschnitte der Veden, die den Schlussteil bilden) sprechen von Gottverwirklichung – und sie sprechen nicht nur darüber, sie lehren sie systematisch. Das, was ich heutzutage tue, wird in den Upanishaden gelehrt. Die Upanishaden bilden für sich allein eine Lehre und Lehrtradition. Und es ist eine Tradition, die weitergegeben werden kann – es ist nichts Mystisches daran. Aber ich glaube nicht, dass Advaita nur in den Veden ist; ich meine, es ist überall – überall dort, wo die Vorstellung ist: „Du bist das Ganze“. Das ist Advaita, egal ob in Sanskrit, Latein oder Hebräisch. Aber der Vorteil von Vedanta ist, dass sie gelehrt werden kann und gelehrt wird. Wir haben eine Lehrtradition geschaffen und sie ist gewachsen. Wenn hingegen in Amerika beispielsweise Leute plötzlich Vegetarier werden, dann essen sie nur Tofu und Alfalfa und einige wenige andere Dinge, weil es keine Tradition der vegetarischen Küche gibt. Das dauert. Eine Tradition wird nicht über Nacht geschaffen! AC: Wer sind die wichtigsten Vertreter der AdvaitaLehre? 45
SD: Es gab viele Lehrer, die diese Tradition aufrecht erhalten haben, deren Namen wir nicht kennen. Aber von den Upanishaden an sagen wir: Vyasa, Gaudapada, Shankara, Suresvara – diese Namen rezitieren wir täglich. Dabei nimmt Shankara einen zentralen Platz ein, weil er einen schriftlichen Kommentar verfasst hat. Der schriftliche Kommentar ergibt die Lehrtradition und die Lehrmethode, und die Methode ist sehr wichtig bei dieser Tradition: Wie wird gelehrt? Es gibt viele Fallen bei diesem Prozess, und eine davon ist die Begrenzung, die in der Sprache liegt – die linguistische Begrenzung. Aber die Lehre muss mittels Worten weitergegeben werden, und das heißt, man braucht eine Methode – eine Methode, durch die man sicher sein kann, dass der Schüler versteht, denn Erleuchtung findet parallel zur Lehre statt und nicht nachher. Das sagt die Tradition. Shankara hat also wegen seiner Kommentare einen wichtigen Stellenwert, weil er uns auf Palmblättern geschriebene Kommentare hinterlassen hat. Ich würde aber nicht sagen, dass die anderen Lehrer weniger wichtig gewesen sind. AC: Gab es vor Shankara keine geschriebenen Kommentare? SD: Es gab einige wenige. In der Tat ist das, was ich jetzt jeden Morgen lehre, ein Kommentar zu einer der Upanishaden von Shankaras Lehrer, Gaudapada. Es gibt auch noch einige andere – die Sutren von Vyasa. Diese Sutren sind analytische Werke, die in einem Stil verfasst sind, der sich sehr knapper Aussagen bedient, eine nach der anderen, sodass man sie auswendig lernen kann. Auch sie sind Teile der Lehrtradition und durch sie immer belegt. Das Sutra wird geschrieben und dann an eine Gruppe von Menschen als Lehre weitergereicht, und beides zusammen ist das, was weitergegeben wird. Bei der Rezitation des Sutras wird dann der sogenannten „Tradition“ gedacht. In der Tat wird die gesamte Advaita Vedanta in den Sutren analysiert. AC: Warum meinen Sie, dass das Studium der Schriften, viel mehr als die spirituelle Erfahrung, das direkteste Mittel zur Selbstverwirklichung ist? SD: Wie ich schon sagte, ist Selbstverwirklichung das Entdecken, dass „das Selbst das Ganze ist“ – dass du der Herr bist; in der Tat, du bist Gott, die Ursache von allem. Nun fehlt es niemandem an der Erfahrung von Advaita, des Nondualen – Advaita ist immer da. Aber jede Erfahrung ist nur so gut wie die eigene Fähigkeit, sie zu interpretieren. Ein Arzt, der Sie untersucht, interpretiert Ihren Zustand auf eine Weise, ein Laie auf eine andere. Deshalb bedarf es der Interpretation, und die Erkenntnis ist nur so viel wert wie das Mittel der Erkenntnis, das dazu verwendet wird. Als dem kleinen Selbst steht uns kein Mittel der Erkenntnis zum direkten Verstehen der Selbsterkenntnis zur Verfügung; Vedanta ist also das Mittel der Erkenntnis, das zu diesem Zweck angewendet werden muss. Kein 46
anderes Mittel der Erkenntnis wird funktionieren, denn für diese Art der Erkenntnis sind unsere Möglichkeiten der Wahrnehmung und Schluss folgerung allein nicht ausreichend. Daher bin ich der Meinung, dass es auf dieser Welt nichts Dümmeres gibt als Erfahrung allein. In der Tat ist es gerade die Erfahrung, die uns zerstört hat. AC: Meine Erfahrung als Lehrer hat mir gezeigt, dass es, ganz allgemein
gesagt, für die meisten Menschen nicht ausreicht, die Lehre einfach nur zu hören. Normalerweise brauchen sie eine gewisse Art von Erfahrung, die die Bedeutung der Worte auf sehr direkte und anschauliche Weise klar macht. Und dann sagt der Mensch: „Oh mein Gott, jetzt habe ich verstanden! Ich habe es so viele Jahre gehört, aber jetzt erkenne ich die Wahrheit darin.“ SD: Ja, aber sogar diese Erfahrung ist ohne die richtige Interpretation nutzlos. Angenommen, Sie verlieren für einen Augenblick oder für zehn Minuten oder sogar für eine Stunde das Gefühl, ein getrenntes Wesen zu sein, und dann kommt diese scheinbare Dualität plötzlich wieder zurück. Heißt das dann, dass sich das eine wahre Selbst verlagert? Natürlich nicht! Warum sollte Erleuchtung dann eine Erfahrung erfordern? Erleuchtung ist nicht von der Erfahrung abhängig; sie hängt davon ab, dass ich meinen Irrtum und meine Unwissenheit ablege – davon ist sie abhängig, von nichts anderem. Die Menschen sagen, Advaita ist ewig, zeitlos, und gleichzeitig sagen sie, sie würden zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter bestimmten Bedingungen eine Erfahrung davon haben. Das entspricht nicht der Tradition! Aber das hören wir überall. Die Tradition sagt: „Das, was du jetzt in diesem Moment siehst, das ist Advaita.“ Angenommen, ein Mensch hat eine Erfahrung, und nachdem sie vorüber ist, sagt er: „Ich war eine Stunde lang ewig.“ Keine Zeit bedeutet zeitlos, und zeitlos bedeutet Ewigkeit. Ob es nun eine Stunde Ewigkeit ist oder ein Moment Ewigkeit, es ist immer dasselbe. Das Vertrauen in die Wahrheit kann also nicht von einem Erfahrungszustand abhängig sein. Das Vertrauen in die Wahrheit liegt in deiner Klarheit über das, was ist. Ansonsten passiert Folgendes: „Eine Stunde lang war ich das nonduale Brahman, und dann kam ich zurück und jetzt ist es weg.“ Dann wird jeder Gedanke zum Alptraum, denn wenn ich nicht in Nirvikalpa Samadhi (ekstatisches Aufgehen im nondualen Bewusstsein) bin, dann kann ich nicht einmal mit der Welt in Beziehung treten; ich muss für immer und ewig high sein, verstehen Sie? Erleuchtung dagegen heißt einfach zu wissen, was ist. Das heißt Sahaja, und dieses Wort bedeutet „natürlich“; es bedeutet nichts anderes als einfach klar zu sehen. Wenn die Menschen darauf bestehen, eine spezielle Erfahrung zu haben, dann bedeutet das einfach, dass sie die Lehre nicht verstanden haben. Auch gerade jetzt zum 47
Beispiel interpretieren wir unsere Erfahrungen. Zum Beispiel erleben Sie jetzt gerade mich. AC: Stimmt.. SD: Und Ihre Erfahrung scheint Ihnen zwei Dinge zu präsentieren: das eine ist das Subjekt, das andere ist das Objekt. Aber nehmen wir einmal an, beide sind zufälligerweise eine einzige Realität. AC: Gut. SD: Und hier mangelt es auch nicht an Rohmaterial. Die Erfahrung, mich zu sehen, irgendjemanden zu sehen, irgendetwas zu sehen oder zu hören, an irgendetwas zu denken – innerlich, äußerlich, was auch immer – diese Erfahrung ist Advaita. Und wenn das so ist, dann mangelt es uns nicht an Erfahrung, und daher brauchen wir auch nicht darauf zu warten, dass eine Erfahrung kommt. Welcher Erfahrung wir in unserem Inneren auch begegnen, die Erfahrung offenbart Advaita, offenbart Nondualität. Und wenn dann Ihre Interpretation dieser Erfahrung ist, dass es ein Objekt gibt, das etwas anderes ist als Sie selbst, dann ist es diese Interpretation an und für sich, die Dualität ist. Daher ist es ein Problem der Wahrnehmung, und dieses Wahrnehmungsproblem muss gelöst werden. AC: Wahrnehmung wovon? SD: Dieser Nondualität! Spreche ich über etwas, das mir absolut unbekannt ist? Nein. Ist es irgendjemandem unbekannt? Überhaupt nicht. Gerade jetzt zum Beispiel sehen Sie mich und sagen: „Swami sitzt hier.“ Wieso wissen Sie das? Sie sagen: „Weil ich Sie sehe und höre; deshalb sind Sie da.“ Deshalb bin ich für Sie erkennbar, denn Sie haben ein Mittel der Erkenntnis, Sie haben eine Möglichkeit zu sehen und zu hören; deshalb ist Swami. Swami ist, weil er für Sie erkennbar ist, so wie alles ist, weil es für Sie offensichtlich ist. Die Sonne ist, der Mond ist, der Stern ist, der Raum ist, die Zeit ist – all das ist für Sie offensichtlich. Dasselbe gilt für Ihre Erfahrung von sich selbst. Angenommen, ich fragte Sie: „Haben Sie einen physischen Körper?“ „Ja“, werden Sie sagen – weil es für Sie offensichtlich ist. „Können Sie sich erinnern, an diesem oder jenem Ort gewesen zu sein?“ Ja – weil es für Sie offensichtlich ist. Für wen ist all das offensichtlich? Für Sie! Für Sie selbst. Das heißt, Sie sind für sich selbst offensichtlich. Wann sind Sie nicht für sich selbst erkennbar? Sagen Sie es mir – wann? Weil nämlich Sie für sich selbst erkennbar sind, ist es nicht notwendig, dass Sie zu irgendeiner Zeit für sich selbst erkennbar werden. Alle meine Erfahrungen finden statt, weil ich für mich selbst erkennbar bin. Deshalb habe ich die Erfahrung des Selbst bereits gemacht – das will ich damit sagen. Das Selbst wird als der letztendliche Inhalt jeder Erfahrung 48
wahrgenommen. Ich sage, in der Tat ist unsere Erfahrung an sich das Selbst. Daher ist in jeder Erfahrung das Bewusstsein unveränderlich gegenwärtig und kein Objekt ist unabhängig davon. Und das Bewusstsein ist nicht abhängig von irgendwelchen Eigenschaften eines speziellen Objekts und es hat auch keine Eigenschaften. Bewusstsein ist Bewusstsein, es ist in allem, und es geht auch über alles hinaus. Darum sage ich: „Das ist Advaita, das ist nondual, das ist Brahman, das ist ohne Begrenzung; es hat keine zeitlichen Grenzen, es hat keine räumlichen Grenzen. Und daher ist es Brahman, und deshalb bist du bereits alles. Das ist die Lehre, und sie bedeutet, dass ich nicht auf eine Erfahrung zu warten brauche, denn jede Erfahrung ist Brahman, jede Erfahrung ist grenzenlos.“ AC: Aber das ist ein subtiler Punkt, der ohne vorhergehende direkte Erfahrung des Nondualen nicht unbedingt leicht zu erfassen ist. SD: Wenn die Menschen es nicht sehen, dann heißt das, dass ich umfassender lehren muss; vielleicht sehen sie aber doch und sagen trotzdem: „Ich habe da und dort noch immer einige Spinnweben.“ Aber das ist kein Problem; man braucht sie nur zu beseitigen. Zuerst hat man eine Einsicht, man weiß, und dann, in dem Maße wie Schwierigkeiten entstehen, kümmern wir uns darum. Ich sage nicht, dass es nicht eine Sache der Erfahrung ist, aber ich sage, dass die Erfahrung stets dein eigentliches Wesen ist. Bewusstsein ist Erfahrung, und jede Erfahrung offenbart die Tatsache, dass man für sich selbst offensichtlich ist. Und das, was sich selbst erkennt, ist per definitionem nondual. Daher sind Subjekt und Objekt bereits dasselbe. Hier ist zum Beispiel eine Welle, die über einen menschlichen Verstand verfügt. Sie denkt: „Ich bin eine kleine Welle.“ Dann wird sie zu einer großen Welle und verschlingt im Laufe dieses Prozesses viele andere Wellen und beginnt zu prahlen: „Ich bin eine große Welle.“ Dann verliert sie ihre Gestalt und wird wieder klein – erklärt Bankrott, wie man so schön sagt, Sie verstehen, was ich meine – und jetzt will sie irgendwie ans Ufer gelangen. Aber vom Ufer weg drängen andere Wellen zum Ozean, und vom Ozean her drängen Wellen ans Ufer, und die arme kleine Welle ist dazwischen gefangen, wie in einem Sandwich, und beginnt zu klagen: „Was soll ich tun?“ Da ist noch eine Welle, eine Welle, die sehr glücklich zu sein scheint, und die erste Welle fragt: „Wieso bist du so glücklich? Du bist auch klein – eigentlich bist du noch kleiner als ich! Wieso bist du so glücklich?“ Darauf sagt eine andere Welle: „Das ist eine erleuchtete Welle.“ Jetzt will die erste Welle wissen: „Was ist Erleuchtung? Was ist diese Erleuchtung?“ Die glückliche Welle sagt: „Jetzt komm schon! Du musst erkennen, wer du bist!“ „Gut. Wer bin ich?“ Und die erleuchtete Welle sagt: „Du bist der Ozean.“ „Was!? Ozean? Hast du gesagt, ich bin der Ozean, wegen all dem Wasser, das mich trägt und zu dem ich wieder 49
zurückkehren werde? Dieser Ozean bin ich?“ „Ja, du bist der Ozean.“ Und sie lacht: „Wie kann ich der Ozean sein? Das ist so, als würde man sagen, ich bin Gott. Der Ozean ist allmächtig, er erfüllt alles, er ist alles. Wie kann ich der Ozean sein?“ Wir können also die Aussagen der Vedanta über die nonduale Realität ignorieren, oder wir können fragen: „Wieso? Wieso bin ich Das?“ Die Lehre von der Nondualität ist nicht notwendig, wenn unsere Identität für uns offensichtlich ist, wenn das, was für uns erkennbar ist, nicht ein Unterschied, sondern ein grundlegender NichtUnterschied ist. Es handelt sich hier um einen NichtUnterschied. Es gibt keine Welle ohne Wasser und es gibt keinen Ozean ohne Wasser. Jede einzelne Welle, und auch der ganze Ozean, sind einzig und allein das eine Wasser.
Nonduale Verw irklichung und Aktivität in der W elt AC: Ein Thema, das mich besonders interessiert, ist die Beziehung
zwischen der nondualen Verwirklichung, die Sie beschrieben haben, und der Aktivität in der Welt von Raum und Zeit. Zum Beispiel in der empirischen Welt, in der empirischen Realität, stellt sogar die verwirklichte Seele, die keinen Zweifel hinsichtlich ihres wahren Wesens hat, fest, dass sie einen Standpunkt einnehmen muss – gegen, in Opposition zu den Kräften der Täuschung und Negativität, die hier am Werk sind. SD: Wir brauchen keine Regel aufzustellen, wie sollte und muss – er kann einen Standpunkt einnehmen. AC: Kann einen Standpunkt einnehmen? SD: Ja. Denn sobald er einmal frei ist, wer kann dann Regeln für ihn aufstellen? Sehen Sie, wenn er frei genug ist zu handeln, dann ist er ebenso frei nicht zu handeln – das meine ich. Er wird spontan das tun, was er zu tun hat. Vielleicht denkt er, alle sind ohnehin in Ordnung. Und das ist ja in der Tat auch die Wahrheit. Denn bevor Sie nicht zu mir sagen, Sie hätten ein Problem mit mir, habe ich kein Problem mit Ihnen. AC: Aber sagen wir einmal, zum Beispiel, dass die verwirklichte Seele sich
in einem Raum befindet und ein Mörder kommt und anfängt, Leute umzubringen. Manche Menschen sagen dann vielleicht: „Nun, das ist alles ein einziges Selbst, und es gibt hier keinen Gegner, deshalb braucht man auch nicht einzugreifen.“ Jemand anderer hingegen könnte sagen: „Ich habe keine Wahl; ich muss etwas tun.“ SD: Warum sollte man nicht eingreifen? Ganz klar, auf diesem Niveau kommt es zu Verletzung.
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AC: Ja. SD: Und vielleicht tötet er gar nicht, sondern sagt nur beleidigende Worte. Warum sollte diese verwirklichte Seele dann nicht sagen: „Törichter Mensch, sprich doch anders. Was tust du?“ Er kann ihm also helfen; er kann ihm helfen, sich zu verändern. Und er kann es tun, ohne für ihn ein riesiges Problem daraus zu machen; er kann zornig sein, ohne dass sich sein Zorn gegen diesen Menschen richtet, er kann zu dem Mann sprechen und ihm klarmachen, dass er bedingt durch seine Vergangenheit beleidigende Worte spricht, und kann ihm helfen, sich zu ändern. Das wird er dann tun. Aber wir können nicht sagen, er sollte korrigierend eingreifen. Wer kann mir dafür eine Regel aufstellen? Angenommen, ein Mensch ist erleuchtet; wer soll für diesen Menschen eine Verhaltensregel aufstellen, für diesen Erleuchteten? Niemand kann eine Regel aufstellen, denn er steht über den Regeln. AC: Er steht über den Regeln? SD: Ja, er steht über den Regeln und ist keiner Regel unterworfen. Niemand kann das Selbst zum Objekt machen; es gibt keinen Zweiten, um das Selbst zum Objekt zu machen. Und daher unterliegt das Selbst auch weder Verletzung noch Schuld und ist also frei von Verletzung und Schuld. Mit anderen Worten, es ist weder ein Subjekt noch ein Objekt, und da das so ist, taucht „sollen“ gar nicht erst in dem Bild auf – nicht einmal im Bild empirischer Interaktion – weil es einfach kein Thema ist. Das Thema ist: Da ist ein Mensch mit einem bestimmten Problem und deshalb beleidigt er, und diesem Menschen kann geholfen werden. Also wird er selbstverständlich helfen! AC: Alles, was Sie sagen, ist natürlich absolut wahr, denn letztlich kann
das Nonduale nicht in Mitleidenschaft gezogen werden und kennt auch keine Vorlieben. Ich meine aber, dass immer eine tiefe Wirkung auf die Persönlichkeit des Menschen erfolgt, der das Nonduale verwirklicht hat, und ich nehme dieses extreme Beispiel, um damit herauszustellen, dass es irgendein Kriterium geben muss. Historisch betrachtet brachten zum Beispiel Personen, die dieses nonduale Absolute tief verwirklicht hatten, ein sattvisches Wesen, Egolosigkeit, zum Ausdruck. Wenn ich auch weiß, dass die Erleuchtung viele Gesichter hat und sich von Mensch zu Mensch unterschiedlich ausdrückt, gibt es doch im Grunde immer einen Ausdruck der Selbstlosigkeit und des Mitgefühls, der uns gestattet zu sagen, dass ein Mensch, der tatsächlich verwirklicht ist, nicht in der Lage sein würde, zutieft selbstbezogen zu handeln. Deshalb gibt es bestimmte Dinge, die ein Mensch nicht tun würde, wenn er ein Erleuchteter ist. Das meine ich. SD: Wie beurteilen Sie dann eine erleuchtete Person? AC: Nun, wenn er Menschen vergewaltigt und tötet, dann können wir
zumindest sagen: „Dieser Mensch ist nicht erleuchtet.“ Richtig? 51
SD: Aber das kommt ohnehin nicht in Betracht, denn im traditionellen System muss er ein Leben der sehr strengen moralischen und spirituellen Ausbildung durchlaufen haben, und erst dann ist er erleuchtet, und dieser Bursche hat das nicht getan, deshalb ist es klar, dass er noch einige Probleme hat. Es heißt aber auch: „Nur ein Weiser kann den Weisen erkennen.“ Wenn Sie ein Weiser sind, dann brauchen Sie keinen anderen Weisen, um weise zu werden; wenn Sie es nicht sind, brauchen Sie einen Weisen, aber weil Sie nicht weise sind, können Sie ihn auch nicht erkennen. Sie befinden sich also in einem Dilemma. Daher ist das Kriterium für einen Weisen, das möchte ich Ihnen zum Schluss noch sagen – die Methode, um festzustellen, ob er weise ist oder nicht –, ob er Sie weise machen kann. Dann weiß er. Das ist das einzige Kriterium, und es gibt kein anderes, denn die Formen, die dieses Mitgefühl annehmen kann, sind überaus vielfältig, und nicht immer geben wir den Menschen mit jeder unserer Handlungen Trost.
Der Mystiker und der Vedantin AC: Shankara und Ramana Maharshi werden allgemein als die beiden
bedeutendsten Verfechter der AdvaitaLehre und AdvaitaVerwirklichung angesehen. Ich habe mich dennoch immer gefragt, warum die Lehre Shankaras ein monastisches System hervorgebracht hat, in dem der Mensch dazu ermutigt wird, der Welt zu entsagen, um ernsthaft das spirituelle Leben aufzunehmen, während Ramana Maharshi – der selbst ein Entsagender war – wenn Menschen ihn fragten: „Meister, soll ich die Welt aufgeben?“, sie oft dazu ermutigte, nach dem Wesen desjenigen zu forschen, der die Welt aufzugeben wünschte, und ihnen davon abriet, äußere Veränderungen in ihrem Leben vorzunehmen. SD: Shankara ist nur ein Glied in der Tradition, wie ich bereits sagte. Er ist nicht der Urheber irgendeines speziellen Systems oder Mönchsordens. Es stimmt, er selbst war ein Sannyasi, er hatte entsagt – als junger Mann entsagte er allem –, aber ein Sannyasi unterscheidet sich von einem Mönch. Ein Sannyasi gehört keinem speziellen Mönchsorden an. Er ist einfach jemand, der nicht am Konkurrenzkampf in der Gesellschaft teilnimmt. Er ist ein Mensch, der einen bestimmten Grad der Reife erlangt hat, ein gewisses Unterscheidungsvermögen, das ihn dazu treibt, mit besonderer Hingabe nach spiritueller Erkenntnis zu streben. Zu Zeiten Shankaras wurde ein solcher Mensch aller familiären, sozialen und religiösen Pflichten durch ein Ritual enthoben, in dem er sagte: „Ich gebe alles auf. Ich nehme nicht am Konkurrenzkampf teil. Ich habe kein Interesse an Geld, Macht, Sicherheit oder irgendetwas anderem hier.“ Das ist ein Sannyasi. Er ist nicht Mitglied einer Organisation oder eines Ordens. Es gibt kein Kloster zum Schutz dieser Person. Er lebt „unter freiem Himmel“.
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Aber es gibt noch eine tiefere Ebene der Entsagung, die dieser Sannyasi, dieser Entsagende erreichen muss, und das ist das Wissen: „Ich bin nicht der Handelnde, ich bin nicht der Erlebende, ich habe nie zuvor irgendein Karma geschaffen, nie irgendeine Handlung ausgeführt“ – die direkte Erkenntnis des nondualen Selbst, das auch Handlungslosigkeit ist. Handlung ist so lange da, wie es Täterschaft gibt. Auch „Nichthandeln“ ist Handeln. Daher ist das Freisein von Täterschaft, das mit dem Erkennen des Selbst einhergeht, kein Akt des Aufgebens. Es ist: „Ich weiß und daher bin ich frei. Und daher ist es nicht eine Frage der Wahl.“ Das wird dann wirkliches Sannyas genannt, das wahre Aufgeben allen Handelns zu jeder Zeit, und das ist Erleuchtung. AC: Es stimmt nicht, dass Shankara eine Mönchstradition begründet hat? SD: Nein, er hat keine Mönchstradition begründet. Nachher wurde das so gesagt, aber das resultierte daraus, dass er ein so beliebter Lehrer und ein Sannyasi war. Seine Schüler hatten Maths (Klöster), die sie geschaffen hatten, aber es war kein neuer Orden. Einige seiner Schüler waren vielleicht auf verschiedene Orte verteilt, aber wir wissen nicht, ob er sie dorthin gesandt hat oder ob sie von selbst gingen. Ich bin der Ansicht, sie taten es – er hat niemanden irgendwohin geschickt. So würde ich zumindest vorgehen, wenn ich Shankara wäre; ich würde sagen: „Geh, wohin du willst!“ Wenn nun schon eine kleine Person wie ich so handeln würde, dann denke ich nicht, dass Shankara irgendetwas anderes getan hätte. Soviel zu dem Thema. Dann ist da Ramana. Es gibt Menschen, die sagen, Ramana ist der Höchste, der, der in der modernen Welt Advaita vollständig erreicht hat. So wird es gesehen, weil einige Menschen ihn kennen, es könnte aber Millionen Unbekannter geben, von denen wir nichts wissen – darunter eventuell auch Familienväter, Menschen, die zu Hause leben, vielleicht sogar einige ganz normale Hausfrauen. In Indien, verstehen Sie, kann man bei diesen Menschen nichts für selbstverständlich nehmen; manche dieser Frauen sind erleuchtet. Wirklich! Und sie sind vielleicht Hausfrauen, Mütter von zehn Kindern. Wir wissen es nicht. Indien ist anders. Es gibt kein Kriterium, um festzustellen, ob dieser Mensch erleuchtet ist oder nicht. Und so heißt es, Ramana ist erleuchtet, aber wir sollten ihm die Frage stellen: „Bist du erleuchtet?“ Und er wird sagen: „Warum willst du das wissen? Wer bist du, der das wissen will? Finde heraus, wer du bist.“ Er hat diese Art und Weise, mit den Menschen zu sprechen, entdeckt, die ihn jeder Notwendigkeit des Antwortens enthoben hat. Da kommt einer und fragt: „Was ist Gott?“ und dann antwortet er: „Wer bist du, der diese Frage stellt?“ Das ist eine Methode zu antworten, mit der er versuchte, den Menschen dazu zu bringen, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Daher galt sein Interesse auch nicht irgendeinem besonderen Lebensstil. Er hat weder zu Sannyas noch zu irgendetwas anderem ermutigt. Er hat den Menschen nur gesagt: „Erkenne, wer du bist. Das ist das einzig Wichtige.“ 53
AC: Tatsächlich hat er den Menschen davon abgeraten, wenn sie sagten, sie wollten ihre Familie verlassen und Sannyas nehmen. SD: Das wird jeder Sannyasi sagen, ansonsten würden alle diese Menschen im Ashram landen! Ich würde in derselben Situation ganz sicher dasselbe sagen, denn jeder, der sagt: „Ich möchte alles aufgeben“, hat ein Problem. AC: Warum? SD: Weil er Zweifel hat! Hätte er keine Zweifel, dann wäre er schon weggegangen; er wäre nicht hergekommen, um mich zu fragen. Denn wenn die Mango reif ist, fällt sie ab; sie fragt nicht: „Soll ich abfallen?“ Ramana war nicht dumm; er wusste genau, was er sagen musste. Wenn ich er wäre, wissen Sie, was ich dann gesagt hätte? Ich hätte der Person geraten: „Komm schon, du brauchst nichts zu ändern. Bleibe dort, wo du bist; es ist eine Veränderung der Sichtweise.“ Auch Shankara würde dasselbe sagen. Shankara hatte nur vier Schüler. Er reiste zu Fuß kreuz und quer durch sein Land, er traf also Tausende von Menschen, und doch hatte er nur vier Schüler! Das heißt, er hat jedem gesagt: „Bleibe, wo du bist.“ AC: Dennoch haben wir sowohl über Buddha als auch über Jesus gehört,
dass sie Menschen dazu ermutigten, alles zurückzulassen und ihnen zu folgen, um das spirituelle Leben aufzunehmen. Das ist also eine faszinierende Frage. SD: Sie haben ermutigt, sie haben ermutigt – ich weiß nicht wozu. Vielleicht wollten sie, dass die Menschen Zeit mit sich alleine verbringen. Aber der Wert eines kontemplativen Lebens war in der vedischen Tradition stets gegeben, und ein kontemplatives Leben kann man überall haben. Und man kann inmitten aller Aktivitäten ein kontemplatives Leben führen, oder man kann alleine sein und dabei überhaupt nicht kontemplativ. AC: In einem Ihrer Bücher unterscheiden Sie zwischen einem Mystiker
und einem Vedantin. Wenn Sie zum Beispiel Ramana Maharshi als Mystiker bezeichnen, scheinen Sie ihn in gewisser Weise von einem Vedantin zu unterscheiden, und da ihn sehr viele Menschen als die Quintessenz der Vedanta betrachten, würde es mich interessieren zu erfahren, was jene Unterscheidung bedeutet. SD: Der einzige Unterschied hier ist, dass ein Mystiker keine Möglichkeit hat, um sich mitzuteilen und aus dem anderen Menschen einen Mystiker zu machen, einen ebenso großen Mystiker, wie er es selbst ist. AC: Um die empirische Verwirrung zu klären – meinen Sie das?
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SD: Ja. Angenommen, dieser Mystiker besitzt die Erkenntnis, dass er selbst immer Alles ist – diese Art mystischer Erfahrung. Der Mensch ist also ein Mystiker, aber er hat kein Kommunikationsmittel, um diese Erfahrung mitzuteilen. Wenn er ein Kommunikationsmittel besitzt, durch das er einen anderen Menschen in gleicher Weise zum Mystiker machen kann, dann ist nichts Mystisches an dem, was er weiß. Deshalb werde ich ihn nicht „Mystiker“ nennen. Ich werde ihn „Vedantin“ nennen. AC: Im Falle von Ramana sagten alle, er hätte durch sein Schweigen kommuniziert. SD: Um es noch einmal zu sagen, das ist eine Interpretation, denn ich kenne viele Menschen, die zu ihm gingen und dann zurückkamen und sagten, dass er gar nichts wüsste. AC: Es gibt aber auch sehr viele Menschen, die sagten, dass sie in seiner Gegenwart tiefe Erfahrungen hatten. SD: Jeder muss auf seine eigene Weise interpretieren. Aber wir können nur dann sagen, dass jemand ein Vedantin ist, wenn er Vedanta lehrt!
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Gott zum Lachen bringen Ein Interview mit Dr. Vijai Shankar von Simeon Alev
Einleitung
In unserem vierten und letzten Interview mit dem wir uns auf Entdeckungsreise in die mysteriöse, EinzigAbsolute Welt der Advaita VedantaLehre des absoluten Nondualismus begeben, haben wir die Freude, ein aufregendes, äußerst herausforderndes und zum Widerspruch reizendes Gespräch mit dem wirklich unglaublichen Dr. Vijai Shankar zu präsentieren. Wer ist Dr. Shankar? Nun, wie es seiner AdvaitaLehre entspricht, wollte er nicht über seine Vergangenheit sprechen (er hat sogar alles getan, damit bei seiner Verlegerin nicht der geringste Zweifel darüber entstehen konnte, dass jedes Detail, das wir ihr eventuell doch hatten entlocken können, nicht von ihm stammt!) Warum? Weil es ihn, wie Dr. Shankar ganz unbefangen und kühn feststellt, nicht gibt! Und uns alle natürlich genauso wenig. Advaita sagt uns ganz einfach, dass als einzige Realität, als einzige Wahrheit der Existenz, ausschließlich das Absolute Selbst existiert – jenseits von Namen, Formen und Begriffen – und jeder Mensch, der das zutiefst erkennt, wird ganz und gar und ein für alle Mal aus dem Alptraum der zeitlich begrenzten verkörperten Existenz befreit sein. Die Tatsache, dass Dr. Shankar so unerschütterlich dazu steht, sein absolutes Wesen verwirklicht zu haben, macht ihn zu einem derart bemerkenswerten Beispiel für diese kompromisslose Lehre. Und eben deshalb, weil er so völlig kompromisslos an seiner nondualen Perspektive der Advaita Philosophie festhält, könnte man ihn auch als Fundamentalisten bezeichnen! Und da er unter keinen Umständen gewillt ist, irgendetwas anderem als diesem nondualen Absoluten auch nur die geringste Spur von Realität zuzugestehen, waren wir für diese Ausgabe von WIE: „Was ist Erleuchtung? – Weiß überhaupt irgendjemand, worum es geht?“ an einem Treffen mit ihm – unserem eigenen Selbst? – interessiert. Sehen Sie, die interessanteste und widersprüchlichste Frage hinsichtlich dieser ganzen Problematik der Nondualität ist für uns diese: Was genau ist Nondualität in Beziehung zu Erleuchtung? Schließt sie, wie es klassische Interpretationen von Advaita uns meist lehren, die zeitlich begrenzte Existenz vollständig aus? Oder schließt sie, wie einige moderne Interpretationen das gerne sagen, diese Welt von Zeit und Raum ein? Ist 56
das Absolute ein ausschließendes oder ein einschließendes Prinzip – oder beides? Dr. Shankars unbeugsames Bestehen auf der Nichtrealität der zeitlich begrenzten Existenz fördert ganz automatisch einige recht schwierige Fragen hinsichtlich des eigentlichen Wesens, der Bedeutung und des Sinns der Existenz in einem Körper zu Tage – und ebenso hinsichtlich der erleuchteten Sichtweise selbst. Wenn wir nicht existieren, wie Dr. Shankar so leidenschaftlich bekennt, taucht automatisch eine Büchse der Pandora mit unbestreitbar wichtigen Fragen auf. Zum Beispiel: Was ist die richtige Beziehung zur Existenz im Körper, wenn es diese eigentlich gar nicht gibt? Was ist die falsche Beziehung zur Existenz im Körper, wenn es diese doch gar nicht gibt? Und schließlich: was ist keine Beziehung zur Existenz im Körper? Denn – wie kann man eine Beziehung zu etwas haben, das nicht existiert? Dass die AdvaitaLehre auf der Nichtrealität der Welt besteht, scheint uns ein unmögliches Paradox zu sein – ein unmögliches Paradox, weil gerade die Realität der Existenz im Körper stets sehr reale Fragen aufwirft, die durch die Sichtweise der „Nichtrealität“ allein nicht beantwortet werden können. Wir waren sehr inspiriert durch Dr. Shankars machtvolle und unerschütterliche Leidenschaft, mit der er die Nichtrealität von allem anderen außer DIESEM betonte. Er erklärte zum Beispiel ganz unverhohlen, dass dieses Interview völlig sinnlos ist, und behauptete, dass das leere weiße Papier, auf dem es gedruckt werden würde – frei von Worten, Konzepten und Meinungen – für den ernsthaft Suchenden mehr wert wäre als das Interview selbst. Gleichzeitig aber waren wir verwirrt, denn er bestand darauf, nach Beendigung des Interviews unsere gesamten Aufzeichnungen durchzusehen, und das war unseres Erachtens damit gänzlich unvereinbar! Sollen wir es wagen, die unvermeidliche Frage zu stellen: Wer will wissen? Und dann war da noch die besonders herausfordernde Feuerprobe der Verhandlungen mit ihm und seiner manchmal übereifrigen „PublicRelationsChefin“, die entsetzt darüber war, dass wir im Anschluss an unsere Interviews keine Kontaktadressen abdrucken, und daher ärgerlich fragte: „Also, was springt dann für uns dabei heraus?“ In Anbetracht dessen, dass genau genommen weder Dr. Shankar noch seine Repräsentantin noch wir selbst tatsächlich existieren, was konnte es schon für eine Rolle spielen, ob wir nun ihre Kontaktadresse drucken oder nicht? Und wir hatten ihr ohnehin mehrmals bestätigt, dass Anfragen in Bezug auf unsere Gesprächspartner stets sehr sorgfältig von uns weitergegeben werden. Gerade wegen diesen und ähnlichen, immer faszinierenden und letztlich unvermeidlichen Fragen zu dem absoluten Wesen von Erleuchtung und seiner Beziehung zur Existenz im Körper freuen wir uns, dieses provokante Interview mit dem bemerkenswerten Dr.Vijai Shankar bringen zu können. Ohne Zweifel meint er, was er sagt, aber die Frage ist: Ergibt das, was er sagt, einen Sinn? Und in Bezug darauf: Ist Advaita eine Lehre, 57
die gelebt werden kann? Was bedeutet: Beantwortet sie die ultimative Frage, lässt sie aber dennoch zu viele andere Fragen offen? Oder beseitigt das Finden der Antwort auf die ultimative Frage sofort ein und für alle Mal weitere Fragen? Entscheiden Sie selbst. Übrigens, auch wenn es, was ihn angeht, eine irrelevante Information ist, so dachten wir doch, dass es Sie vielleicht interessieren könnte, dass Dr. Shankar in einer Garage als WohnungcumAshram namens Kaivalya Shivalya („Sitz des Absoluten“) in Galveston, Texas, wissenschaftlich forscht, lebt und lehrt.
Unser couragierter, unabhängig denkender Redakteur Simeon Alev hat den Sprung ins kalte Wasser gewagt und am Telefon mit Dr. Shankar gesprochen.
I nterview W I E: Es ist nicht so, dass wir falsche Antworten bekommen hätten; es ist
nur so, dass es gewisse Fragen gibt, die verschiedene Personen unterschiedlich beantworten. VS: Jede Antwort ist auf ihre Art und Weise richtig, da es ganz auf den Standpunkt ankommt, von dem aus sie gegeben wird. Ich hätte gerne etwas Authentisches von Ihrer Seite gehört. Wenn Sie über Vedanta schreiben wollen, sollten Sie wissen, wonach Sie suchen. Wissen Sie, was Advaita ist? W I E: Würden Sie es uns bitte sagen? VS: Dann wissen Sie also nicht, wonach Sie suchen! W I E: Nun ja, ich frage nicht nur für mich selbst. Ich frage im Namen von Tausenden von Lesern. VS: Bitte missverstehen Sie mich nicht. Das, was ich Ihnen mitzuteilen versuche, ist: Wie können Sie wissen, ob sich die Antwort, die Sie erhalten werden, auf das Wort bezieht, nach dem Sie fragen, wenn Sie in Ihrem Geist oder in Ihrem so genannten Geist keine klare Vorstellung von der exakten Bedeutung des Wortes Advaita haben, davon, wofür das Wort steht? Sie sagen, in Ihrer Ausgabe geht es um Buddhismus und Advaita, aber wissen Sie auch, was Buddhismus ist? Und wissen Sie, wofür Advaita steht, was Advaita bedeutet? Sind Sie mit Advaita vertraut? Sie werden mir heute dazu Fragen stellen. Wenn das so ist, dann sollten Sie wissen, was Advaita bedeutet; ansonsten ist dieses Interview null und nichtig.
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W I E: Also gut. So wie ich es verstehe, ist die Lehre von Advaita Vedanta die Lehre des Nondualismus, die Lehre, dass – VS: Aber warum wird es "Nondualismus" genannt? Gott ist eins, nicht wahr? Wenn Gott eins ist, und ich bin ganz sicher, dass die meisten Menschen dem ohne Diskussion zustimmen werden, warum nennen es die Weisen im Sanskrit dann nicht "Ekant", was eins bedeutet, anstatt Advaita? Warum wurde das Wort Advaita gewählt? Hat sich darüber schon jemand Gedanken gemacht? Advaita heißt nicht zwei. Wenn Sie einmal darüber nachgedacht haben, dann brauchen Sie sonst nichts mehr zu wissen. Sobald Sie wissen, was Advaita bedeutet, sind Sie darüber hinausgegangen. Dann haben Sie den Verstand transzendiert. Warum haben die Weisen nicht "eins" gesagt? Warum haben sie "nicht zwei" gesagt? Sehen Sie, mein lieber Freund, ich will Sie gar nicht aufs Glatteis führen. Ich versuche vielmehr, Sie auf die richtige Spur zurückzubringen. W I E: Danke. VS: Das sollte aber auch eine Wirkung auf Sie haben! Was nützt es, wenn Sie Informationen sammeln, Informationen, Informationen, Informationen, und Zeitschriften drucken, wenn es keinerlei Auswirkung auf Ihr Leben hat? Sie werden sterben und davongehen, mein Sohn, so wie wir alle. Der Körper wird verschwinden. Wozu also den Geist mit Wissen vollstopfen? Welche Wirkung hat das auf Sie? Sie sollten längst darüber hinaus sein! Das sollte das Ziel Ihres Lebens sein! Der einzige Sinn des Lebens besteht darin herauszufinden, wer man ist. Wenn Sie glauben, dass das Anhäufen all diesen Wissens Ihnen Erleuchtung bringen wird, dann vergessen Sie es! Aber um auf den Punkt zurückzukommen, das Wort Advaita wird benutzt, um nicht zwei zu zeigen! Und das ist so, weil der Verstand sehr linear funktioniert vom Punkt A zu den Punkten B, C, D, E, F und so weiter, auf einer geraden Linie können Sie mir insoweit folgen? Sowie Sie "eins" sagen, bedeutet das: es gibt zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht und so weiter und so fort. Sobald Sie "eins" sagen, bedeutet das, dass die Möglichkeit von zwei existiert. Eins hat nur in Bezug zu den anderen Zahlen eine Bedeutung; ansonsten hat sie keine. Und sobald Sie "eins" sagen, hat sich bereits zwei eingeschlichen. Deshalb sagt man nicht "Ekant". Man sagt "NICHT ZWEI!" Und NICHT ZWEI heißt was? Dass die Vielfalt verschwunden ist. Aber das kann nur in Form einer Verneinung ausgedrückt werden. Und nun wissen Sie, was "Vedanta" heißt? W I E: So wie ich es verstehe, ist Vedanta der abschließende Teil der alten Hinduschriften, die Veden heißen – VS: Das ist schon wieder ein Irrtum. Das ist das Problem von uns allen 59
wir glauben einfach das, was man uns gesagt hat. Man hat das Geschriebene auf die eigene Art und Weise interpretiert, ohne genau darüber nachzudenken, was das Wort bedeutet. Und daher hat nie jemand etwas verstanden, egal, was der Meister gesagt hat, nicht einmal die, die ihm zugehört haben. Diese Leute haben ihn nicht wirklich gehört, haben ihm nicht wirklich zugehört. Sie haben ihn nur interpretiert. Niemand hat den Meistern zugehört, punktum niemand. Niemand hat den Meistern zugehört, und auch Sie hören mir jetzt nicht zu. Wussten Sie das? W I E: Dass ich Ihnen nicht zuhöre? VS: Genau. Sie hören mir nicht zu, mein Freund. Vielleicht haben Sie den Eindruck, Sie würden es tun, aber es ist nicht so. Wir alle haben die ganze Zeit gedacht, wir würden zuhören. Nein, nichts dergleichen. Wissen Sie, was Zuhören heißt? Ich bin sicher, Sie wissen es nicht. Die Menschen hören nie zu. Man blickt nur durch die Brille der eigenen Konzepte. Ich möchte Sie jetzt nicht erschrecken, aber vielleicht gehen Sie nach diesem Gespräch fort und wissen weniger, als Sie vorher wussten. Deshalb sollte man sich immer bewusst sein, in wessen Nähe man sich begibt, bevor man überhaupt das Risiko eingeht, mit ihm zu sprechen. Am Ende wird dieses Interview Ihr Ego sehr wahrscheinlich in kleine Stücke zerlegt haben, und wenn das so ist, wird das für Sie von größerem Nutzen sein. Sie werden weit mehr gewonnen als verloren haben. Bisher haben Sie die ganze Zeit nur verloren. Aber Ihr Karma ist so, dass für Sie die Zeit gekommen ist, eine Wirkung stattfinden zu lassen. Sie sollten wirklich erkennen, wer Sie sind. Dafür ist alles die Mühe wert. Jedenfalls beruht Ihre Vorstellung von Vedanta ebenfalls auf den Dingen, die man Ihnen dazu gesagt hat. Aber die Veden sind nichts anderes als Gebete zu Gott nichts als das, nur die Verherrlichung Gottes in vielen Formen, Farben und symbolischen Gesten. Und das alles sind nur Hinweise auf das letztendliche Eine, und das sind Sie. Und Vedanta heißt also "das Ende der Veden". Anta heißt "Ende", okay? Und das Ende der Veden kam durch die Upanishaden. "Upanishad" heißt nicht Fortsetzung der Veden nein, dies liegt auf einer ganz anderen Linie: Die Veden fordern zur Entsagung auf und die Upanishaden zur Freude. Deshalb kann es keine Fortsetzung geben. Wie dem auch sei, was wollen Sie sonst noch wissen? "Wissen wollen" das ist seltsam! Ich bin wirklich erstaunt darüber, wie die Menschen immer wissen und wissen und wissen wollen. Und für wie lange bis sie sterben? Hören Sie damit auf, all den Staub und Schmutz im Geiste anzusammeln. Wozu? Haben die Menschen nicht diese ganze Generation hindurch über die Veden und Advaita gehört? Wie lange werden Sie noch darüber lesen? Wie lange werden Sie Ihre Zeitschrift drucken? Sie werden sterben und davongehen! Jeder wird sterben und davongehen! Wozu dient es? Oh ja, … vermutlich bringt es Essen auf den Tisch. W I E: Nun, zumindest werden diejenigen, die das lesen, Ihre Aufforderung
hören, dass sie aufhören sollen, verstehen zu wollen, und so weiter. 60
VS: Das kann ich nur wünschen aber noch einmal, sie werden nicht lesen, sie werden nicht hören. Glauben Sie, sie hören zu? Nein. Das Einzige, was sie tun, ist mit ihrem eigenen Verständnis an die Worte heranzugehen, und deshalb werden sie letztlich nur in dem Verständnis, das sie ihren Konzepten zufolge bereits haben, bestärkt werden, wenn sie denken, dass das, was sie gehört haben, richtig ist. Also können sie vielleicht denken, dass sie zugehört haben, aber sie haben nicht zugehört sie haben nur ihre eigene Konditionierung verstärkt. Verstehen Sie, was ich sage? W I E: Ich glaube schon. VS: Sie glauben es! Ich hoffe es. Aber Ihr Verstehen beruht lediglich auf Ihren eigenen Wünschen und Ängsten, Ihren eigenen Fantasien, den eigenen Einstellungen dem Leben gegenüber. Das Wort "Einstellung" beschreibt etwas Fragmentarisches, eine Unterscheidung, die nur aus dem Verstand kommt. Aber das Leben ist keine Einstellung, und das Leben kann nicht zerlegt werden, um einer Einstellung zu genügen, denn es übersteigt den Verstand. Wenn sich Ihr Verständnis nach Ihrem eigenen Konzept, nach Ihren eigenen Einstellungen richtet, dann sind Sie vom Leben abgeschnitten können Sie mir folgen? Wenn Sie daher nur über bestimmte Worte reflektieren, darüber, was die Rishis (Weisen) damit meinten, dann ist das in Ordnung. Reflektieren Sie über Advaita, reflektieren Sie über Vedanta: warum wurde das Wort Advaita gewählt? Was bedeutet es? Ich spreche über Kontemplation, nicht über Nachdenken. Es besteht ein Unterschied zwischen Denken und Kontemplation. Was, glauben Sie, ist der Unterschied? Was ist der Unterschied zwischen Denken – W I E: Die Sache ist Dr. Vijai? VS: Ja? W I E: Ich würde Ihnen gerne in einem langen Gespräch alle meine Gedanken darlegen – VS: Wundervoll! W I E: Aber für dieses Interview, sehen Sie, ist unsere Zeit leider begrenzt. VS: Oh ja, wir sind in Raum und Zeit das ist unser Problem! W I E: Ja. Genau. VS: Es wird für Sie gar nicht leicht werden, mein Sohn. Sie sind nicht gekommen, um mit einem Verstand zu sprechen. Sie tun, was Sie können, um mit dem zu sprechen, was darüber hinausgeht. Kann der Verstand mit dem sprechen, was über ihn hinausgeht? 61
W I E: Lassen Sie es uns doch herausfinden. VS: Nein, das geht nicht. Bis jetzt haben Sie es nicht geschafft. Sie sprechen in Begriffen von Zeit und Raum, und es bleibt nichts mehr übrig. W I E: Also, Dr. Vijai, das ist meine nächste Frage zu dem, was darüber hinausgeht – VS: Nun, dann stellen Sie sie! Es gibt keine Antworten darauf, mein Sohn. W I E: Meine Frage ist: In der AdvaitaLehre hören wir oft, dass die Welt
eine Illusion ist. Und ich hätte gerne von Ihnen erfahren, was das bedeutet. VS: Gut. Sehen Sie, unser Problem ist, dass wir denken, dass es außerhalb von uns eine Welt gibt, und dass wir in dieser Welt leben. Aber das ist nicht so. Sie sind nicht in der Welt; die Welt ist in Ihnen. Haben Sie das nicht erkannt schon wenn Sie am Morgen die Augen öffnen, taucht die Welt auf, und wenn Sie am Abend schlafen gehen, verschwindet sie haben Sie erkannt, dass Sie, wenn Sie schlafen, trotzdem existieren? Und dass es derselbe ist, der im Schlaf existiert, der auch im Wachzustand existiert? Wenn die Welt also während der Nacht zu verschwinden scheint, und wenn man in der Tat zu existieren fortfährt und die Welt dies scheinbar nicht mehr tut, dann kann das nichts anderes bedeuten, als dass der, der du dir am Morgen zu sein einbildest, eine Illusion ist! Oder so. Wenn man in den Spiegel schaut, sieht man doch nur ein Gesicht, oder nicht? Man hat nicht den Eindruck, dass man zwei Gesichter sieht, eines im Spiegel und eines außerhalb des Spiegels. Man ist so völlig von seiner eigenen Reflexion in Anspruch genommen, die man für sich selbst hält, dass man sich in diesem Moment von seinem eigenen wirklichen Gesicht löst, das man nicht sehen kann. Wenn man aber nach dem Rasieren ein bisschen Blut auf dem Gesicht hat, und wenn man das Blut auf dem Spiegelbild sieht, dann greift man nicht zum Spiegelbild, man greift sich ans Gesicht, oder nicht? In ähnlicher Weise reflektiert das Atman (das Selbst) die gesamte Welt durch den Spiegel der Erkenntnis. Das Problem ist, dass sich das "Ich" dazwischenschiebt, mit dem Spiegelbild des Realen in Berührung kommt und dass man sich darin verfängt. Es ist so, als wollte man das Blut vom Spiegel wegwischen. Kann man das? W I E: Nein, natürlich nicht. VS: Aber genau das versuchen die Menschen, verstehen Sie? W I E: Ja. Das, was Sie sagen, ist sehr klar. VS: Ah, das freut mich für Sie! Wenn Sie nach diesem Interview 62
bereichert weggehen, bin ich glücklich. Es wäre mir auch egal, wenn Sie gar nichts in Ihrer Zeitschrift drucken würden, das ist ja doch nur schwarze Tinte auf weißem Papier. Wenn jemand in der Lage ist, nur die weiße Seite in Ihrer Zeitschrift zu lesen, dann bin ich glücklich. Nicht den schwarzen Druck, denn das ist ja doch nur eine Reflexion aus dem "Ich" des Lesers. Das wird also Illusion genannt, und die Welt ist eine pure Illusion. Sie müssen verstehen, dass Sie Ihre eigene Welt reflektieren, Ihre eigene Welt sehen. Aber das ist einfach das Problem, das auftritt, wenn wir uns nicht für andere Seinszustände interessieren, wenn wir uns nur um unseren Wachzustand Gedanken machen und nicht um Tiefschlaf und Traumzustand. Wir existieren in allen drei Zuständen, aber wir kümmern uns nur um einen einzigen. Das ist das Elend des Menschen. Aber in dem Moment, in dem der Mensch Zeuge aller drei Seinszustände wird, wird er verstehen, dass die Welt nichts als pure Illusion ist. W I E: Einige Gelehrte, mit denen wir gesprochen haben, sind der Ansicht,
dass Advaita "eine ihr innewohnende Ablehnung gegenüber der Welt" hat, weil sie den Begriff von der Welt als Illusion unterstreicht, und dass als Ergebnis davon die letztendliche Verwirklichung in der Advaita oft mit einer Weltflucht gleichgesetzt wird. Wenn möglich, würde ich daher sehr gerne besser verstehen, wie sich die Verwirklichung, die Sie eben beschrieben haben, in der Beziehung eines Menschen zur Welt von Raum und Zeit ausdrückt. VS: Gut. Der erste Punkt ist, dass es keine Menschen gibt. Das muss erst einmal klar sein. Sie sind ein spirituelles Wesen mit der Erfahrung eines Menschen. Sehen Sie sich nicht als ein menschliches Wesen, das einer spirituellen Erfahrung bedarf. Auch das ist eine Illusion. Nun sprechen die Menschen von "Weltflucht", aber worum geht es denn? Haben sie nicht verstanden, dass die Welt eine Illusion ist? Was soll's also? Wenn es eine Illusion ist, wem sollte man dann entsagen? Wie kann man einer Illusion entsagen? Dummheit! Absoluter Unsinn! Illusion? Wo ist das Problem? Diese Illusion ist für sie da, damit sie sich an ihr erfreuen. Haben Sie mich bisher nicht klar verstanden? Stellen Sie sich vor, Sie selbst oder jemand anders versucht zu flüchten wohin eigentlich? Auch in einer Höhle werden Tausende und Abertausende von Gedanken den Geist bombardieren. Man entflieht nie. Passen Sie auf. Wenn Sie ins Museum gehen, sehen Sie dort vielleicht ein riesiges Gemälde, das, sagen wir, eine alte Frau darstellt, eine ausgezehrte alte Frau in Fetzen, absolut Haut und Knochen mit kaum einem Krümel Essen auf ihrem Teller, und ein abgemagertes Baby neben ihr und ein großer sterbender Hund. Vielleicht verhungern auch gerade einige Kühe daneben, die Bäume sind dürr, die Erde ist ausgedörrt und alles scheint hier total widerwärtig. Aber da steht dann ein Mann vor diesem Bild und sagt: "Ein Meisterwerk!" Sagt er das oder nicht?
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W I E: Ja, das nehme ich an. VS: Und da ist vielleicht auch ein Blutender mit einem gebrochenen Bein und der Mann sagt noch immer: "Ein Meisterwerk!" Er wird nie sagen: "Oh, diese Frau tut mir so leid, ich hole jetzt eine Pizza und gebe sie ihr zu essen. Dieser Mann blutet, ich bringe ihn ins Krankenhaus. Der Hund stirbt, ich bringe ihn in die Tierklinik oder zum Tierarzt oder wo auch immer hin." Nein er sagt: "Es ist ein Meisterwerk!" In derselben Weise hat Gott dieses ganze, sich ständig verändernde Panoramabild gemalt, das nie konstant ist, sondern ständig weiter und weiter geht. Er hat Sein Meisterwerk nie vollendet, aber Er ist zu jeder Zeit in jedem, der sich daran erfreut und es genießt, denn es ist ja nur ein Gemälde. Der Umstand, dass man selbst in diesem Gemälde mitwirken will und es für real hält, ist das Problem, das so viel Leid für jeden Einzelnen und für alle entstehen lässt. Verstehen Sie? W I E: Nun, ja. Ich verstehe, was Sie sagen – VS: Gut für Sie. Es gibt also nichts, dem entsagt werden müsste, und nichts ist zu tun. Seien Sie einfach Sie selbst und finden Sie heraus, wer Sie sind. Das ist das Ende jeden Problems auf der Welt. Wissen Sie, es gibt keine Probleme im Leben das einzige Problem ist das Denken. Das Leben ist kein Problem; das Leben ist ein Mysterium. Das Leben ist Musik. Das Leben ist Tanz. Durch dieses Mysterium lebt diese Musik und lebt dieser Tanz. Erfreuen Sie sich an Shivas kosmischem Tanz! Das ist Advaita für Sie! In dem Moment, wo Sie zur Musik werden, wo Sie zum Tanz werden, in dem Moment, in dem Sie das Fließen des Wassers werden, die Festigkeit des Felsens, der Duft der Blume, in dem Augenblick, in dem Sie das Blühen der Blume werden, sind Sie Advaita. Können Sie mir folgen? Aber angenommen, Sie sehen eine schöne Blume, und wenn Sie plötzlich ein Gefühl von Schönheit in sich spüren, sagen Sie: "Eine schöne Blume!" Was ist da geschehen? Können Sie mir das sagen? W I E: Nun, einerseits scheint es etwas Schönes zu sein. Man findet Gefallen an etwas – VS: Und das ist Ihr Problem! In dem Moment, in dem man ein Wort sagt, kommen die Dinge zum Stillstand, und Sie sind in Ihre Vergangenheit eingetaucht. Wir führen ein totes Leben, das nur aus Bildern aus der Vergangenheit besteht und nicht aus dem Leben, so wie es direkt vor uns in seiner Herrlichkeit erblüht. Das entgeht uns. Wir sind immer in der Vergangenheit. Wir schütteln in jeder Minute einer Leiche die Hand. Wir denken, wir leben das Leben, aber es ist nicht so. Die Schönheit in der Blume ist Gott, sehen Sie? Gott ist keine Person; Gott ist eine Präsenz. Gott ist die Göttlichkeit, die nur jetzt, in diesem Augenblick JETZT da ist nicht in der Vergangenheit, nicht in der Zukunft. Der Augenblick, in dem man im Verstand ist, ist nicht Advaita. Aber der Augenblick, in dem man nur in einemAugenblickzumnächsten ist, das ist Advaita. 64
W I E: Manche AdvaitaLehrer sagen, dass ein Mensch, der das Selbst
verwirklicht hat, über weltliche Unterscheidungen wie gut und böse oder richtig und falsch hinausgegangen sein und dass ein solcher Mensch in der Tat niemandem Rechenschaft abzulegen habe. Einer dieser Lehrer ging so weit zu sagen, dass ein solcher Mensch nicht einmal Gott gegenüber Rechenschaft abzulegen hätte. Was sagen Sie dazu? VS: Schon wieder lauter falsche Konzepte! Niemand kann ein "Advaita Lehrer" sein. In dem Moment, in dem ein Lehrer kommt, heißt das, dass da ein Schüler ist. Das ist in keiner Weise Advaita, Punkt eins. In dem Moment, in dem er sagt, er ist ein Lehrer, laufen Sie rasch weg! Verstehen Sie, was ich sage? W I E: Was den Lehrer betrifft, ja. VS: Und was war der andere Punkt, den Sie erwähnten? W I E: Dass ein selbstverwirklichtes Individuum – VS: "Ein selbstverwirklichtes Individuum" wenn er selbstverwirklicht ist, wie kann er dann ein Individuum geblieben sein? Das ist ganz und gar abwegig! Advaita heißt: aufzuhören, dieselben alten Worte weiter zu verwenden und nicht zu wissen, was sie bedeuten. "Das selbstverwirklichte Individuum" das ist falsch. Gut, ist auch egal. Um des Interviews willen, okay. Was sagt er also? W I E: Dass sie niemandem Rechenschaft abzulegen haben dass sie über
Unterscheidungen wie gut und böse oder richtig und falsch hinausgegangen seien und dass sie nicht einmal Gott Rechenschaft abzulegen bräuchten. VS: Genau. "Gut" oder "böse" gibt es nicht. Das sind nichts als nur Ihre geistigen Konzepte. Nur deshalb, weil Sie denken, Sie seien ein Mensch und Gott sei anderswo, meinen Sie, Sie seien Gott Rechenschaft schuldig. Glauben Sie, Gott ist ein Jurist? Glauben Sie, Gott ist ein Voyeur? Glauben Sie, Gott ist ein Diktator, der darauf wartet, Sie zu bestrafen? Und dann sagen Sie: "Gott ist überall." Wenn Gott überall ist, wer sind Sie dann? Weil Sie glauben, Sie seien ein Mensch, der spirituelle Erfahrungen braucht, verstricken Sie sich in den Konzepten von gut und böse und oben und unten und links und rechts und innen und außen. Aber nichts davon gibt es, auch ohne Verwirklichung. Wenn Sie glauben, Sie müssten Gott Rechenschaft ablegen, wer sind Sie dann? Sind Sie von Gott getrennt? Das heißt dann, Gott ist nicht überall. Vergessen Sie es! Sagen Sie niemals: "Gott ist überall." In dem Moment, in dem Sie sagen: "Gott ist überall", existieren Sie nicht mehr. Natürlich existieren Sie nicht. Gott ist überall. Sie haben Ihr wahres Wesen vergessen, und weil Sie Ihr wahres Wesen vergessen haben, sagen Sie, Sie müssen Gott Rechenschaft ablegen. Aber in dem Moment, in dem Sie Gott erkennen, gibt es Sie nicht 65
mehr, wem sollten Sie also Rechenschaft ablegen? Ein Selbstver wirklichter, der den Geist transzendiert hat, ist eben keine Rechenschaft schuldig. Warum? Weil er Gott ist. Wie kann Gott sich selbst Rechenschaft ablegen müssen? Es gibt nichts, das Sünde heißt, es gibt nichts, das Gier heißt wie können diese Dinge in einem Gemälde existieren? Jemand geht ins Museum und sagt: "Dieses Gemälde ist nicht gut. Dieses Bild ist sehr gut." Sie hingegen meinen, er irrt sich: dieses ist gut, das andere ist schlecht. Was ist es nun? Es ist das eigene Konzept, die eigene Einstellung, das eigene geistige Kolorit. Okay, gut für Sie. Lassen Sie das jetzt alles sein und gehen Sie über den Geist hinaus. Dann werden Sie Gott erkennen. Dann werden Sie wissen, was "Selbstverwirklichung" bedeutet. Wissen Sie, was Selbstverwirklichung heißt? Sie haben "Was ist Erleuchtung?". Was ist also Erleuchtung? Sie wissen nicht einmal, was es ist, und drucken es. Fantastisch! Wunderbar! Blinde führen Blinde. "Geht alle weiter, weiter, weiter; kommt zum Abgrund und genießt den Sturz." So ist das. "Erleuchtet" heißt, wirklich zu erkennen, dass es nichts gibt, was Unwissenheit heißt, okay? Kauen Sie mal daran. An diesem einen Wort. Wenn Sie es gut durchkauen, werden Sie aufhören, irgendwelche Interviews mit irgendwelchen Leuten zu machen. Sie werden es werden. Sie werden über den Verstand hinausgehen. Wissen Sie, dass es nichts gibt, das Unwissenheit heißt? Wissen Sie, was Unwissenheit ist? Okay, vergessen Sie es. Ich will ja nicht, dass Ihr Interview ein Flop wird. Ich will nicht, dass Sie Ihren Job verlieren. W I E: Ist das Verstehen, dass es so etwas wie Unwissenheit nicht gibt,
tatsächlich dasselbe wie voll selbstverwirklicht zu sein oder steckt da noch mehr dahinter? VS: Sehen Sie, es ist so: Sie haben Ihr wahres Wesen vergessen, okay? Und Sie brauchen sich nur auf Ihr wahres Wesen zu besinnen mehr brauchen Sie nicht zu tun. Aber die Methode, um das zu tun, besteht nicht darin, zu versuchen, sich ständig daran zu erinnern, denn das ist dann erneut nichts anderes als ein weiteres mentales Konzept. Nein, Sie können Ihr wahres Wesen nur dadurch erkennen, dass Sie all das verneinen, von dem Sie glauben, dass Sie es sind, und in dem Augenblick, in dem Sie alles verneinen, von dem Sie glauben, dass Sie es sind, oder von dem man Ihnen gesagt hat, dass Sie es sind, dann werden Sie bei dem ankommen, was Sie wirklich sind. Und in dem Augenblick, in dem Sie zu dem Wissen gelangen, wer Sie sind, kommen Sie in einen Zustand, in dem Sie nie wieder ein Wort sagen werden. W I E: Wie bitte? VS: In dem Augenblick, in dem Sie alles vollständig verneint haben, gelangen Sie in einen Zustand, in dem Sie niemals darüber sprechen werden, niemals sagen werden, dass Sie verwirklicht sind, oder dieses 66
oder jenes oder etwas anderes. Wenn eine Glühbirne brennt, spricht sie dann von der Dunkelheit? Weiß die Sonne, wenn sie scheint, von ihrem eigenen Strahlen? Wenn die Blume blüht, kennt sie ihren eigenen Duft? Kann die Zunge ihren eigenen Geschmack erkennen? Kann sich ein Auge selbst sehen? Kann sich ein Messer selbst schneiden? Kann sich ein Dieb, der vor der Polizei wegläuft, in einen Polizisten verwandeln und selbst fangen? So ist das. Kapiert? Da sind wir an einem wundervollen Punkt angelangt. Jetzt macht mir das Ganze Spaß. W I E: Aber wenn Sie nicht darüber sprechen, wie helfen Sie dann anderen dabei, das zu verwirklichen, was Sie verwirklicht haben? VS: Was habe ich verwirklicht? Ich weiß es nicht. Es ist ein großartiger Scherz. Oh wunderbares Leben, ich danke dir dafür, dass du mich zum Lachen bringst. Ich weiß nicht, wozu die Menschen hierher kommen. Ich lehre sie nichts, kommt gar nicht in Frage! Ich lehre sie nie etwas. Wer sollte lehren? Was sollte gelehrt werden? Es gibt nichts zu lehren, mein Freund. Was wollen Sie über eine Illusion lehren? Du meine Güte, das ist so ein törichter Unsinn. Ich weiß nicht, warum die Menschen immer so weitermachen. Gestern habe ich ein sehr nettes sieben Seiten langes Fax von einem sehr vornehmen Herrn bekommen, der einige Zeit in der Nähe dieses Körpers verbracht hat. „In Vijais Gegenwart zu sitzen ist eine einzigartige Erfahrung“ – das sagt er jedenfalls. „Er stellt nie Anforderungen an seine Zuhörer, und deshalb ist die natürliche Reaktion auf ihn völlige Offenheit, ein Zustand, der viele Menschen erstaunt, wenn sie ihn entdecken. Mit Vijai verflüchtigt sich in dieser Arena der Einheit die Dualität und macht einer allmählichen Vereinigung Platz. Seine Methode ist eine Art von BasisSpiritualität; ohne Rücksicht auf Fragen, die ihm gestellt werden, bringt er den Fragenden zu diesem einen wahren, wonnevollen Zustand zurück, in dem sich Menschen glücklich fühlen.“ Sie sehen also, es geschieht ganz einfach. Ich tue nichts. Gar nichts. W I E: Und was geschieht? VS: Das weiß ich nicht. Sie sagen, sie fühlen sich glücklich. Alle gehen ins Kino, um Spannung zu erleben, nicht wahr? Wahrscheinlich kommen die Menschen also hierher, um sich glücklich zu fühlen. Warum möchten Sie glücklich sein? Können Sie mir das sagen? Weil Glück Ihre wahre Natur ist. Aber der Ort, an dem Sie es suchen, ist nicht der richtige. Es ist nicht da draußen, es ist in Ihnen. Also suchen die Menschen wahrscheinlich in ihrem eigenen Inneren, wenn sie hierher kommen. Aber ich weiß nicht, was geschieht. Sie stellen mir einige weltliche Fragen, so wie Sie gerade, und ich stelle nur ihren Kompass richtig ein, das ist alles. W I E: Vielen Dank. Eine letzte Frage?
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VS: Gibt es so etwas wie eine letzte Frage? Wenn Sie sagen, es ist die letzte, dann dürfen Sie in Ihrem ganzen Leben keine Fragen mehr stellen. Okay, bitte schön! W I E: Gibt es irgendwelche Handlungen, von denen wir mit Sicherheit
sagen könnten, dass sie ein verwirklichter Mensch nicht ausführen würde? Gewalt zum Beispiel, Töten, Unehrenhaftigkeit oder eine Handlung, die einem anderen Menschen Schaden zufügt? VS: Hören Sie zu. Gibt es Unehrenhaftigkeit? Gibt es tatsächlich ein Töten? Gibt es tatsächlich ein Verbrechen? Denken Sie darüber nach. Überlegen Sie es sich gut, bevor Sie überhaupt so etwas sagen. Wie könnte der Verstand jemals den erkennen, der ihn transzendiert hat? Wie könnte er es? Es ist nur eine Ausdehnung des Begrenzten ins Unbegrenzte. Das Einzige, was man also von ihm sagen kann, ist, dass er unberechenbar sein wird. Man kann ihn nicht vorausberechnen, denn er schwebt im Jetzt. W I E: Halten Sie es dann für möglich, dass ein solches Individuum, das
derart unberechenbar ist, in der Tat eine Handlung ausführen könnte, die – VS: Für Sie ist es eine Handlung. Für ihn ist es das nicht. Hier irren Sie. Es gibt keine äußeren Handlungen, mein Freund. Es scheint Ihnen nur so. Sie hängen daran. Sie glauben, es geschieht dort. Sie glauben, er tut es. Kümmern wir uns gar nicht darum. Alles geschieht einfach. Alles ist, wie es ist. Es ist nur dieses Gemälde und es wird weitergehen. Sie werden glauben, dass da draußen etwas passiert – etwas Böses, eine Sünde, eine Gewalttat, aber das ist Ihr Problem. Die Bhagavad Gita sagt: „Alles, was geschieht, geschieht zum Besten. Das, was geschehen ist, ist ebenfalls gut. Das, was geschehen wird, ist ebenfalls gut. Sie sind nicht der Handelnde. Der Herr ist der Handelnde. Er beobachtet alles.“ Das ist das Leben. Das Leben ist ein Mysterium; lebe es, interpretiere es nicht. In dem Moment, in dem man es interpretiert, geht man fehl. Es ist um Himmels willen nichts anderes als Gott, der sich überall manifestiert! Er amüsiert sich nur. Ich werde Ihnen etwas sagen: Möchten Sie Gott zum Lachen bringen? W I E: Klar. Ich habe das Gefühl, das haben wir ohnehin die ganze letzte Stunde getan. VS: Wissen Sie was? Wenn Sie Ihm von Ihren Plänen erzählen, dann lacht Gott. Erzählen Sie Gott von Ihren Plänen, und er wird sich köstlich amüsieren. Denken wir also nicht. Lassen Sie uns im Hier und Jetzt sein. Das genügt. Das ist absolut ausreichend. Sie sind ein spirituelles Wesen mit der Erfahrung eines Menschen. Hören Sie jetzt damit auf, mein Sohn. Hören 68
Sie jetzt damit auf und alles wird für Sie in Ordnung sein. Ich würde Sie so gerne in einem anderen Zustand sehen, in Ihrem wahren Zustand, wenn wir uns das nächste Mal begegnen. Das wäre schön. Es gibt nichts, zu dem Sie eines Tages werden. Wenn Sie zu etwas werden sollten, wird das das Ende sein – der Tod. Jeder wird der werden, der er ist. Was ist das Problem dabei? Ich sehe kein Problem. Hören Sie – eins noch. Haben Sie Spaß gehabt? W I E: Ja, sehr sogar. VS: Das ist sehr wichtig. Ich sage Ihnen etwas: Werfen Sie doch das ganze Interview in den Papierkorb! Was gibt es Wichtigeres als Spaß zu haben? Denken Sie über dieses Vergnügen nach. Stellen Sie sich diesem Vergnügen. Seien Sie in diesem Vergnügen. Das wird Ihnen mehr nützen.
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Buddhismus Buddhismus findet im Westen gerade sehr rasche Anerkennung als glaubhafter spiritueller Weg. In der Tat scheint es die Lehre des Buddha zu sein, die von allen spirituellen Philosophien, die vom Osten her in unser kollektives Bewusstsein Eingang gefunden haben, die größte Wirkung auf die westliche Psyche hat. Angefangen mit den leidenschaftlichen Appellen des Dalai Lama an uns alle, doch mitfühlender miteinander umzugehen, bis zu dem phänomenalen Ansteigen des Interesses an der buddhistischen Meditation der „Achtsamkeit“ ? nicht nur als Mittel, um das, was wir tun, bewusster zu tun, sondern auch als Methode, um dem physischen Schmerz einer lebensbedrohlichen Krankheit zu begegnen ? der wachsende Einfluss des Buddhismus ist überall spürbar. Und in dem Maße, in dem immer mehr Menschen die tiefe Weisheit von Buddhas Lehre entdecken, wird die Aura des „Befremdlichen“ und „Geheimnisvollen“ langsam aber sicher durch ein Anerkennen der tiefen Rationalität und befreienden Klarheit ihrer Sichtweise der menschlichen Konditionierung ersetzt. Es kam einer Provokation gleich, für diese Ausgabe von Was ist Erleuchtung? den postmodernen Zustand des Buddhismus im Westen unter dem Blickwinkel „Gibt es überhaupt jemanden, der weiß, wovon er spricht?“ zu beleuchten. Warum? Weil die Frage „Was ist Erleuchtung?“ einen sehr direkten Bezug zum Buddhismus hat schließlich und endlich wird das Wort „Erleuchtung“ ja verwendet, um den Zustand von Buddhas Erwachen zu beschreiben. Und am erstaunlichsten im Rahmen dieser ganzen Problematik war es festzustellen, dass erstens in den vielen verschiedenen buddhistischen Denkschulen eine beträchtliche Uneinigkeit darüber zu herrschen scheint, was Erleuchtung wirklich ist. Und zweitens gibt es offenbar nur wenige postmoderne westliche Buddhisten, die die Möglichkeit von Erleuchtung ernsthaft in Erwägung ziehen! Es scheint, als wäre die wachsende Attraktivität des Buddhismus sehr stark darauf zurückzuführen, dass es sich dabei allem Anschein nach um eine überaus rationalistische Philosophie handelt, die das eigene Bemühen betont und frei ist von einer obersten Gottheit oder einem Absoluten. Die oft zitierten letzten Worte von Buddha „Sei Dir selbst ein Licht“ lösen in den Herzen und den Köpfen so vieler Menschen, denen der Begriff eines jüdischchristlichen Gottes, der oft Gefühle von Schuld, Scham und Furcht einflößt und diejenigen verdammt, die nicht aus vollstem Herzen und kritiklos glauben können, ein lautes „Ja“ aus. In der Tat wird die Möglichkeit, an nichts glauben zu müssen, um Spiritualität zu erfahren, sehr oft als willkommene Erleichterung empfunden. Und die Gelegenheit, für sich selbst herauszufinden, was der Buddha damit meinte, als er sagte: „Ich bin erwacht“, ist sehr verlockend.
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Der Buddha beschrieb seine Erleuchtung als das Aufhören von Verlangen und Begehren und stellte schlicht und lakonisch fest, dass Erleuchtung durch das Aufhören von Verlangen und Begehren erreicht werden könne. „Ich bin der, der alles transzendiert hat, der alles weiß und in allen Vorstellungen ohne Makel ist, der allem entsagt hat und befreit ist, weil alles Verlangen zu einem Ende gekommen ist. Und das habe ich mir selbst zu verdanken. Wem sollte ich es anrechnen? „In der Welt bin ich der Lehrer ohne einen Gleichen; auch bin ich vollendet; ich allein bin erleuchtet, mein Durst ist gestillt, alle meine Feuer sind erloschen.“ Parallel zu seiner Lehre (er nannte sie „Das Gesetz“), dass allein das Begehren Ursache aller Unwissenheit ist, entwarf er einen präzisen, aus acht Anordnungen bestehenden spirituellen Weg, dem er den Namen „Der edle achtfache Pfad“ gab. Diese Anordnungen sind: rechte Anschauung, rechte Absicht, rechte Rede, rechtes Handeln, rechte Lebensweise, rechtes Bemühen, rechte Achtsamkeit und rechte Konzentration. Während es im Buddhismus keine oberste Gottheit gibt alle Buddhisten betonen nachdrücklich die Tatsache, dass es kein Selbst gibt, weder persönlich noch absolut –, sagt uns der Buddhismus, dass an Stelle eines höchsten Gottes, oder eines absoluten Prinzips, das letztendliche Wesen von allem, sei es manifest oder nicht manifest, sichtbar oder unsichtbar, Leere sei. „Form ist Leere und Leere ist Form“, erklärte Buddha den um ihn Versammelten auf dem Geierberg. Diese Tatsache – dass Leere oder Nichts dem Sein oder der Existenz zugrunde liegt – ist eines der hervorstechenden Merkmale der buddhistischen Doktrin. Denn es heißt, dass durch das direkte Erkennen, dass alle Phänomene von ihrem Wesen her leer sind, die Befreiung aus der bedingten Existenz erreicht werden kann. Nirwana, mittlerweile ein durchaus alltäglicher Begriff für den Himmel oder für einen Zustand vollendeten Glücks, wird als der Zustand gesehen, in dem der Erleuchtete weilt. Dieser Zustand wurde als „Unbedingtheit“ oder auch „Unsterblichkeit“ beschrieben. Als wir der Frage „Was ist Erleuchtung?“ Gibt es überhaupt jemanden, der weiß, worum es geht? nachgingen, war es für uns sehr interessant festzustellen, dass es im Buddhismus zutiefst kontroverse Auffassungen hinsichtlich des wirklichen Wesens des „ultimativen“ Seinszustandes gibt. So existieren zum Beispiel allein innerhalb des tibetischen Buddhismus einige Schulen, die behaupten, dass „Leere“ eine transzendente absolute Realität voraussetzt, die schon von Natur aus vorhanden ist, während andere darauf beharren, dass absolut überhaupt nichts von Natur aus existiert. Von dem Gesichtspunkt aus gesehen, dass man zu einem gewissen Verständnis kommen möchte, was Erleuchtung wirklich ist, sind dies keine Kleinigkeiten! Das Erlangen von Erleuchtung bringt eine grundlegende und beständige Verlagerung im Bewusstsein des Menschen mit sich, die in drastischem Gegensatz zum nicht erleuchteten Zustand steht. Es ist daher von sehr großer Bedeutung, worauf diese Verlagerung tatsächlich beruht, und es macht die ganze Frage, was Erleuchtung ist und was diejenigen, die davon wissen, dazu zu sagen haben, so wichtig.
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Als Ergebnis der weit verbreiteten Desillusionierung im Bereich von Politik und Religion leben wir in einer Zeit, wo eine nahezu fest verankerte Furcht und Skepsis gegenüber allem existiert, was von sich behauptet, absolut zu sein. Für viele stellt der zeitgenössische Buddhismus einen Weg der tiefen Selbsterforschung dar, der diese Art von Extrem, wie es scheint, vermeidet. Aber ist das wirklich so? Schließlich impliziert der sehr buddhistische Begriff von Erleuchtung automatisch etwas Absolutes, einfach deshalb, weil jemand entweder erleuchtet ist oder nicht – man ist nicht ein bißchen erleuchtet! Im Aufwallen des westlichen Interesses an Buddhismus in der letzten Zeit gab es etwas, das Helen Tworkov, die Begründerin der buddhistischen Zeitschrift Tricycle, eine „Säkularisierung der (buddhistischen) Lehre“ nennt. „Es gibt nur ganz wenige Menschen, die bereit sind, tatsächlich so weit zu gehen, ein wirklich reifes authentisches nonduales und autonomes Leben zu leben“, sagt sie. „Sehr wenige Menschen sind daran interessiert, Erleuchtung zu erlangen, sehr wenige Menschen sind daran interessiert, sich selbst aufzuwecken, sehr wenige Menschen sind daran interessiert, wahrhaftig in einer nondualen Sichtweise zu leben. Wenn man also von ‚Erleuchtung‘ spricht, spricht man nur von einer Hand voll Menschen. Und gleichzeitig leidet die ganze übrige Menschheit, und man tut, was man kann, um eine Umgebung oder ein Bewusstsein zu schaffen, das dazu beiträgt, diese Situation zu erleichtern.“ In der Tat ist es bezeichnend, dass der Buddhismus, der vor zwanzig Jahren von vielen jungen Menschen im Westen als authentischer Erleuchtungsweg erkannt wurde, allmählich in erster Linie eine säkularisierte Form von Spiritualität geworden ist, mit der Tendenz, die ethische Entwicklung und die persönliche Erfüllung über den Tod des Ego und das Transzendieren der Welt zu stellen. Während der Buddhismus noch vor kurzer Zeit als eine tief befreiende Alternative zum erstickenden Einfluss des jüdischchristlichen Dogmas gesehen worden ist, erfüllt er mittlerweile für viele Menschen im Westen auf dieselbe Art eine Funktion als Religion wie für Millionen im Osten. Das Herz des Buddhismus ist schon immer die Erleuchtung des Buddha gewesen, vielleicht ist jedoch das von ihm Erreichte – das das Rad des Dharma in Bewegung setzte – in Vergessenheit geraten. Um es noch einmal zu sagen, ein Großteil der Attraktivität des Buddha Dharma für den westlichen Geist ist seine tiefe Rationalität und Betonung auf dem eigenen Bemühen – und aus diesem Grund könnte es für viele so aussehen, als stelle das, was Buddha lehrte, überhaupt keine Gefahr für unsere liberalen und egalitären Ideale dar. Und dennoch – die absoluten Konsequenzen von Buddhas Erleuchtung müssten unsere grundlegende Weltsicht eigentlich in irgendeiner Weise bedrohen. Wenn das nicht der Fall ist, ist dann nicht der eigentliche Kern aus Buddhas Lehre herausgenommen worden – und bleiben somit für uns nicht nur ein Körper und ein Verstand übrig, die von ihrer Quelle getrennt sind? Oder ist die Reise des Buddhismus in den Westen, wie es uns manche Menschen glauben machen, nichts anderes als eine weitere originelle und kreative 72
Ausdrucksform der Lehre des Buddha, die sich stets an neue und sich verändernde Gegebenheiten anpasst? Wir sprachen mit einigen der brillantesten Köpfe des heutigen Buddhismus, um Antworten auf einige dieser sehr provokanten Fragen zu bekommen.
Keine unabhängige Existenz Ein Interview mit Sein er H eiligkeit dem Dalai Lama von Amy Edelstein
Einleitung
Wenn man die Möglichkeit hätte, einen Zeitgenossen dazu zu befragen, was der Kern von Buddhas Erleuchtungslehre wirklich ist, dann würde man sich höchstwahrscheinlich an den Mönch Tenzin Gyatso wenden. Und so begann eine Serie von Faxnachrichten und Telefonaten in die Bergenklave von Dharamsala, Sitz der tibetischen Exilregierung und Aufenthaltsort Seiner Heiligkeit, des XIV. Dalai Lama. Der Dalai Lama ist in der heutigen Zeit die wohl gefragteste Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, und von allen Seiten erhält er Terminanfragen, angefangen von Reportern der New York Times und Filmproduzenten aus Hollywood bis zu Vertretern der Vereinten Nationen und Staatsoberhäuptern. Neben all seinen weltlichen Verpflichtungen ist der Dalai Lama auch das spirituelle Oberhaupt des tibetischen Volkes, aktives Oberhaupt der vier Hauptsekten des tibetischen Buddhismus und die Person, an die sich seine bedrängte Nation zur Stärkung des Glaubens, der Inspiration und um Führung wendet. Der Dalai Lama empfing die Weihe in der GelugpaSchule des tibetischen Buddhismus. Die GelugpaLinie, die im vierzehnten Jahrhundert von dem großen Gelehrten Je Tsongkhapa gegründet wurde, ist besonders für ihre scholastischen Interpretationen der buddhistischen Lehre bekannt. Die klösterliche Ausbildung umfasst viele Jahre strengen Studiums, Auswendiglernens und der Erörterung. Tenzin Gyatso begann seine Ausbildung bereits als Kind, und wenn er über sich selbst auch schreibt, dass er ein schlechter Schüler war, glänzte er doch sowohl in der Erörterung als auch bei seinen schwierigen Prüfungen. 73
Er hält jetzt Vorträge, gibt BuddhismusPraktizierenden tantrische Einweihungen (die esoterischen Praktiken des Buddhismus) und hält manchmal Versammlungen ab, an denen mehr als 100.000 Mönche, Nonnen und Laien teilnehmen, die gespannt auf seine Erklärungen, Anweisungen und Einweihung warten. Als wir seinen Beratern Informationen über diese Ausgabe von WIE zukommen ließen, erregten wir ihre Neugier. Wir waren bestrebt, die essenziellen Fragen über das buddhistische Ziel der Erleuchtung zu stellen – Fragen, auf die Seine Heiligkeit ihrer Meinung nach gerne antworten würde. Es wurde uns ein Interview in seiner Residenz in Indien gewährt, und wir begannen aufgeregt mit unseren Vorbereitungen. In Indien ist es Ende Mai immer heiß, aber in diesem Jahr schwappte eine ungewöhnliche Hitzewelle über die Nation. In New Delhi herrschten 42 Grad, und sogar die nächtliche Brise erinnerte eher an einen bullernden TandooriOfen. Die Stadt Dharamsala liegt hoch oben auf einem Felskamm der DhauladharBergkette im Vorgebirge des Himalaya. Früher war sie eine Bergsommerfrische der Engländer und Zuflucht vor der Sommerhitze gewesen. Die Hänge sind mit duftenden immergrünen Bäumen und wildem, leuchtend rotem Rhododendron bedeckt. Mönche leben verborgen in Höhlen, die im Schatten der schneebedeckten Gipfel liegen. Unter Anleitung des Dalai Lama und anderer Lehrer machen diese Einsiedler über eine Dauer von vielen Jahren intensive Meditationsübungen. Das Land ist noch immer wild und rauh, und bedauerlicherweise fand vor einigen Wintern ein LangzeitAsket den Tod, als er von einem Gebirgsbären angegriffen wurde. Seit sich der Dalai Lama hier niedergelassen hat, ist Dharamsala von einem unorganisierten und eher zufälligen Flüchtlingsdorf zu einer blühenden Gemeinde angewachsen. Vor fünfzehn Jahren gab es nur eine Hand voll Restaurants, wie zum Beispiel das dunkle und rauchige „Tibet Memory“, wo neu angekommene Flüchtlinge aus Khampa auf rauhen Bettrollen neben westlichen Hippies und DharmaSuchern auf dem Boden schliefen. Heutzutage bieten saubere neue Hotels, die oft als eine Einkommensquelle für die Klöster fungieren, heißes Wasser, Faxgeräte, Gebirgsblick und sogar Email. Es wurden von freiwilligen Mitarbeitern betriebene Zentren eingerichtet, wo westliche Touristen den Tibetern Englisch und Microsoft Word beibringen, bei RecyclingProgrammen helfen oder bei regelmäßig stattfindenden Videovorführungen „Kundun” oder den letzten Dokumentarfilm über den Dalai Lama ansehen. Am Tage meiner Ankunft waren mehr als fünfhundert Westler im Tsuglakhang, dem Tempel Seiner Heiligkeit, und warteten darauf, den Mann zu treffen, in dem viele einen lebenden Buddha sehen, um ihm die Hand zu schütteln und vielleicht ein rotes geknotetes Segensband zu erhalten. Innerhalb von wenigen Stunden begrüßte er persönlich einige tausend Menschen, darunter ständig Ortsansässige und neu angekommene Flüchtlinge aus dem chinesisch besetzten Tibet. Um Mittag 74
stand dann nahezu jeder aus der gesamten Stadt an der engen kurvenreichen Bergstraße Spalier und wiederholte Friedensparolen und Gebete anlässlich der Ankunft von fünf Hungerstreikenden aus Neu Delhi. Einige Tage zuvor hatte sich ein Hungerstreikender selbst geopfert, in dem verzweifelten Versuch, die Aufmerksamkeit der Weltbevölkerung auf die unhaltbare Situation im Heimatland der Tibeter zu lenken. Der Dalai Lama, als eingeschworener Bekenner aktiver Gewaltlosigkeit und Gewinner des Friedensnobelpreises 1989, befand sich in einer heiklen Situation, als sich die Hungerstreikenden um Unterstützung an ihn wandten. Mit derartig schmerzhaften Dilemmas hat sich der „einfache Mönch“, wie er sich selbst bezeichnet, auseinanderzusetzen, seit er im Alter von fünfzehn Jahren die Aufgabe übernommen hat, das tibetische Volk zu regieren. Seine stets wachsende Popularität als Anführer einer gewaltfreien Widerstandsbewegung bewirkt, dass jetzt Millionen aus West und Ost auf ihn blicken, um Führung und Anleitung sowie um eine klare Antwort auf die Frage zu erhalten: „Welchen Weg würde der Buddha beschreiten?“ Am Tag vor unserem Interview traf ich seinen Privatsekretär, Tenzin Gyeche, einen liebenswürdigen und sympathischen Mann, der Seiner Heiligkeit seit vielen Jahren in allen Belangen behilflich ist, von internationalen Angelegenheiten bis zu Gesprächen mit spirituellen Lehrern aus dem Westen. Als wir uns hinsetzten und über diese Ausgabe von WIE sprachen, wurde Tenzin Gyeche sowohl sehr nachdenklich als auch lebhaft. „Fragen dieser Art werden Seiner Heiligkeit niemals gestellt“, sagte er interessiert und überlegte, wie wohl die Antworten ausfallen würden. „Vor nicht allzu langer Zeit ist bei den Vorträgen Seiner Heiligkeit endlich etwas in meinen dicken Kopf hineingegangen“, sinnierte er und klopfte sich mit den Fingerknöcheln leicht gegen den Kopf. „Seine Heiligkeit hatte erklärt, wie sogar die grundlegendsten buddhistischen Praktiken, so auch das Bekenntnis zum Dreifachen Juwel (Buddha, Dharma und Sangha), eine ganz andere Bedeutung bekommen, sobald man nur einen kurzen, aber echten Einblick in die Leere erhalten hat …. Ja, das sind sehr wichtige Fragen.“ Ich verließ dieses Zusammentreffen sehr angeregt und voller Erwartungen, was unser Interview wohl bringen würde. Als ich am nächsten Nachmittag durch den Hof seines Palastes ging, vorbei an dreihundert Mönchen, die auswendig gelernte Gebete als Teil einer einwöchigen Gebetszeremonie rezitierten, hoffte ich, ebenso viel über die persönliche Erfahrung Seiner Heiligkeit zu hören wie über das, was die traditionelle und methodische GelugpaLehre zu Leere, Erleuchtung und zur Buddhaschaft zu sagen hatte. Um 13.00 begleitete mich eine wunderschöne, mit einem Chuba bekleidete Tibeterin den blumengesäumten Fahrweg hinauf zum Büro Seiner Heiligkeit. Wir hatten vorher eine Passkontrolle durchlaufen und eine genaue Leibesvisitation – Maßnahmen, um das dünne Sicherheits 75
schild im Umkreis dieses Menschen aufrechtzuerhalten, dessen unerschütterliche religiöse Überzeugung von einer der mächtigsten Regierungen unserer Zeit als ernsthafte Bedrohung empfunden wird. Ich wurde direkt in einen Versammlungsraum geführt und erwartete, dass ich einige Minuten Zeit haben würde, um meinen Kassettenrekorder aufzustellen. Daher war ich überrascht, als sich der Mönch, der sich an der Klimaanlage zu schaffen machte, umdrehte und mich begrüßte. Strahlende schwarze Augen in einem vertrauten Gesicht blickten mich an, und völlig zwanglos bot mir der Dalai Lama einen Platz an. Er war bereit anzufangen. Da saß ein ernster, in sich ruhender Mensch vor mir, und die Sorgen, die auf seinen purpur gekleideten Schultern ruhten, waren absolut unsichtbar. Was also dachte dieser außergewöhnliche Mann über das Ziel des buddhistischen Weges? Die traditionelle tibetische Lehre folgt einer systematischen und vorhersagbaren Struktur. Wie die hochgradig stilisierten Thangkas (religiöse Gemälde, die die Buddhas darstellen) ist diese Lehre über das Wesen der menschlichen Situation und den Ausweg aus dem Leiden der zyklischen Existenz in einer präzisen und methodischen Form kodifiziert worden. Und obwohl sie eine sehr ausgefeilte Wissenschaft des spirituellen Strebens und eine komplexe und subtile Erklärung über das Wesen des menschlichen Geistes darstellt, erinnert sie oft mehr an technische Formeln als an den Ausdruck des höchsten Strebens des menschlichen Herzens. Bei den Vorbereitungen zu unserem Interview sahen wir, dass eine der Herausforderungen, denen wir gegenüberstanden, die Frage war, wie wir den Dalai Lama über seine eigene Erfahrung zu diesem Thema befragen sollten, die klassischen Definitionen einmal beiseite gelassen – wie fragt man jemanden, der so gründlich in der Kunst der Erörterung, der logischen Schlussfolgerung und der Analyse geschult ist, was er unter „Leere“ versteht. Diesen Mann zu interviewen, den Millionen als einen lebendigen Heiligen betrachten, war eine außergewöhnliche Erfahrung. Wenn man einfach mit ihm zusammensitzt, empfindet man seine seltene Güte, seinen tiefen Glauben an die Menschheit und seine Freude. In sein sanftes Gesicht zu blicken, nur einige Zentimeter von meinem entfernt, und sein unvergessliches Lachen zu hören, war, als würde ich von einem der tausend Arme des Chenrezig (Buddha des Mitgefühls) emporgezogen, dessen Inkarnationen die Dalai Lamas sein sollen. Im Laufe des gesamten Interviews, während sein Übersetzer und Berater für ausländische Religion, der ehrwürdige Mönch Lakhdor, sein Tibetisch übersetzte, lachte er immer wieder und sah mich warm an, so als wünschte er mehr mitzuteilen als das, was seine klassischen Antworten ausdrückten. Letzten Endes kam das, was er durch seine entwaffnende Herzlichkeit und Milde vermittelte, nicht in seinen herkömmlichen Antworten zum Ausdruck, die zumeist enttäuschend abstrakt waren. Sie waren, und das 76
war auch keine Überraschung, die klassische GelugpaLehre – gelehrte und festgeschriebene Erklärungen der Phasen und Kategorien von Erleuchtung und Leere, für die diese Schule bekannt ist. Auf meine Fragen, betreffend den eigentlichen Kern des buddhistischen Pfades, hatte der Dalai Lama die genaue MahayanaDoktrin gemäß ihrer fünfzehnhundert Jahre alten Tradition präsentiert. Seine akademischen Definitionen und sorgfältig abgewogenen Darstellungen schienen mehr die Sorge dafür auszudrücken, den traditionellen Standpunkt zu vermitteln als den einfachen unreflektierten Ausdruck seiner eigenen Erfahrung. Es war verwirrend und faszinierend, das unwiderstehliche, ansteckende und strahlende Mitgefühl Seiner Heiligkeit mit seinen oft trockenen und technischen Erklärungen über das eigentliche Herz der buddhistischen Lehre in Einklang zu bringen. Der tibetische Buddhismus bleibt trotz seiner wachsenden Popularität im Westen in vieler Hinsicht ein Geheimnis; der Kontrast zwischen der beeindruckenden Größe einiger seiner ehrenwerten Lamas und den auswendig gelernten Lehrsätzen, die sie so oft darlegen, lässt noch einmal die sehr herausfordernde Frage aufkommen: Was ist Erleuchtung? Als ich dann über unser Interview nachdachte, fragte ich mich wieder, was der Dalai Lama wirklich dachte. Denn als ich später im Warteraum stand, meinen Kassettenrekorder verstaute und dabei noch immer den warmen Druck seiner Hand auf meinem Arm spürte, wandte sich sein Übersetzer mit Begeisterung in den Augen an mich und sagte: „Sehr gute Fragen, sehr klar. Ich glaube, Seine Heiligkeit hat das wirklich genossen.“
I nterview Die W issenschaft vom Geist W I E: Es heißt, das Ziel der buddhistischen Praxis ist Erleuchtung. Das
Wort „Erleuchtung“ ist zwar jetzt im Westen zu einem ganz alltäglichen Begriff geworden, es gibt aber sehr viele ganz unterschiedliche Definitionen darüber, was Erleuchtung ist. Wenn Sie, ausgehend von Ihrer eigenen Praxis, an Erleuchtung denken, was ist es dann, wonach Sie streben? Welche Bedeutung hat das Ziel der Erleuchtung für Sie persönlich? H.H. THE DALAI LAMA: Erleuchtung also! „Das Bewusstsein“, oder „Verstand“, besitzt eine kognitive Fähigkeit – es gibt etwas, wodurch wir erkennen. Normalerweise sagen wir: „Ich sehe, ich erfahre, ich weiß, ich erinnere mich.“ Ein einziges Element fungiert als Medium, um alle Objekte wahrzunehmen. Auf unserer Ebene ist diese Kraft oder Fähigkeit zu erkennen sehr beschränkt, aber wir haben das Potenzial, diese Erkenntnisfähigkeit zu steigern. Von „Buddhaschaft“ oder „Buddhaschaft Erleuchtung“ sprechen wir dann, wenn das Potenzial dieser Erkenntnis 77
fähigkeit voll entwickelt worden ist. Das bloße Steigern der Erkenntnisfähigkeit ist auch eine Stufe der Erleuchtung. Der Begriff „Erleuchtung“ könnte sich also darauf beziehen, dass man etwas weiß, das man nicht gewusst hat, oder etwas erkennt, das man vorher nicht erkannt hat. Wenn wir aber von Erleuchtung im Zustand der Buddhaschaft sprechen, dann sprechen wir von einem Zustand der vollen Erleuchtung. Aus diesem Grund sagt der Buddhismus, sollten alle unsere Bemühungen letztlich darauf abzielen, unseren Geist zu schulen und zu formen. Emotionen wie Hass oder starkes Anhaften sind destruktiv und schädlich – wir nennen sie „negative Emotionen“. Wie also können wir diese negativen Emotionen reduzieren? Nicht durch Gebet, nicht durch Körperübungen, sondern durch Schulung des Geistes. Durch Schulung des Geistes versuchen wir, die entgegengesetzten Eigenschaften zu verstärken. Wenn echtes Mitgefühl, schrankenloses Mitgefühl, vorurteilsfreies Mitgefühl verstärkt wird, vermindert sich der Hass. Wenn Gleichmut verstärkt wird, vermindert sich das Anhaften. Alle diese zerstörerischen Emotionen basieren auf Unwissenheit, und das Gegenteil oder Gegenmittel zu Unwissenheit ist Erleuchtung. Deshalb ist es sehr wichtig, die Welt des Geistes zu analysieren und herauszufinden, was sein grundlegendes Wesen ist. Was sind die verschiedenen Kategorien des Geistes? Welche Arten von Geist sind destruktiv? Welche Arten von Geist sind konstruktiv? Und so weiter. Sobald wir alle diese Fragen analysiert haben, müssen wir versuchen, die Aspekte unseres Geistes unter Kontrolle zu bringen, indem wir immer mehr Gutes dazugeben und das Schlechte beseitigen. Manche modernen Gelehrten beschreiben aus ebendiesem Grund den Buddhismus als „Wissenschaft vom Geist“. W I E: In letzter Zeit haben viele Menschen angefangen, sich für
buddhistische Übungen zu interessieren, jedoch eher, um zu mehr geistigem Frieden, Entspannung oder Achtsamkeit zu kommen, und gar nicht so sehr spezifisch als ein Mittel, um Erleuchtung zu erlangen. Was ist Ihrer Ansicht nach der Unterschied zwischen der Anwendung buddhistischer Übungen, um relative Verbesserungen, wie die genannten, zu erreichen, und einer Praxis, die mit der ehrlichen Absicht ausgeübt wird, Erleuchtung zu erlangen? HHDL: Einige aus dem Buddhismus stammende Ideen können Anwendung finden, ohne dass man dazu notwendigerweise Buddhist werden oder auch nur an den Buddhismus glauben müsste – das ist kein Problem. Ein Mensch, der vollkommenes Vertrauen und Glauben in Buddha hat, kann versuchen, ein guter Mensch zu sein, und wäre dann als Buddhist zu sehen, auch wenn er kein besonderes Interesse am nächsten Leben oder am Erreichen von Nirwana hat. Aber damit die Praxis zu einer wahrhaft buddhistischen Praxis wird, ist es wichtig, ehrlich danach zu streben, Nirwana, oder Erleuchtung, zu erlangen. W I E: Können Sie erklären, warum dieses Streben grundlegend wichtig 78
ist? HHDL: Die Definition des Buddhismus liegt meines Erachtens in der Lehre von den Vier Edlen Wahrheiten. Sobald man weiß und anerkennt, dass es sich dabei um die grundlegende Lehre von der Wirklichkeit handelt, und dieser Lehre folgt und sie zur Anwendung bringt, dann ist das Buddhismus. Nun kann man aber auch ohne diese Art von Praxis trotzdem Buddhist sein. Es ist nicht notwendig, ein umfassendes Verständnis von der tieferen Bedeutung der Lehre von den Vier Edlen Wahrheiten zu haben, um ein einfacher normaler Buddhist zu sein. Man kann schlicht und einfach Zuflucht zu Buddha, dem Dharma (Lehre) und der Sangha (Gemeinschaft von Praktizierenden) nehmen und einfache Praktiken ausführen, um damit als einfacher BuddhismusPraktizierender eingestuft zu werden. Aber um ein echter praktizierender Buddhist im wahren Sinne zu werden, ist es wichtig, ein profundes Verständnis von den Vier Edlen Wahrheiten zu haben. Und für dieses Unterfangen ist es wichtig, eine klare Vorstellung von Nirwana und Erleuchtung zu haben. W I E: Die Doktrin der „Leere“ ist einer der zentralen Punkte von Buddhas
Lehre, und zu verstehen, was „Leere“ tatsächlich bedeutet, wird für jeden, der den buddhistischen Weg beschreitet, zum entscheidenden Faktor. Obwohl die Leere schon immer Gegenstand ausführlicher Kommentare, Analysen und Erörterungen gewesen ist, scheinen die Interpretationen darüber, was sie im Grunde wirklich ist, weit auseinander zu gehen. Wir haben festgestellt, dass manche buddhistische Schulen behaupten, „Leere“ stehe für Nichts, während andere sagen, dass „Leere“ die Existenz von etwas Transzendentem voraussetzt. Würden Sie uns in einfachen Worten erklären, was Ihrem Empfinden nach mit „Leere“ gemeint ist? HHDL: Selbst der Buddha lehrte verschiedene Stufen der Leere. Aber im Allgemeinen bedeutet Leere das Fehlen einer wirklichen Existenz des „Objekts der Verneinung“. Zunächst einmal müssen wir uns fragen: Was ist dieses Objekt der Verneinung? Es gibt verschiedene Methoden und Prozesse, um das Objekt der Verneinung zu identifizieren. Dazu gehören Prozesse zur Identifikation der Abwesenheit eines Selbst in der Person, der Abwesenheit eines Selbst in Phänomenen und so weiter. Und es gibt gemäß den verschiedenen Denkrichtungen unterschiedliche Interpretationen und Konzepte bezüglich der Leere. Nun sagt Madhyamika (die Philosophie des „Mittleren Weges“) ganz allgemein, dass Leere das Fehlen einer unabhängigen Existenz bedeutet. Das heißt also, dass etwas existiert, und dass Leere eine der Eigenschaften oder Charakteristika dessen ist, was existiert. Über diese Eigenschaften können wir nicht in Bezug auf ein nichtexistierendes Objekt sprechen; es gibt da schon eine Basis. Das Fehlen unabhängiger Existenz ist die Natur – es ist die Art und Weise der Existenz – und das Fehlen der unabhängigen Existenz ist nur möglich, weil es etwas gibt, das existiert. Daher bezieht sich „Leere“ nicht nur darauf, dass das zu bezeichnende 79
Objekt nicht auffindbar ist. Wenn wir nach einem gar nicht existierenden Objekt suchen und es nicht finden, dann ist das nicht Leere. Auf diesem Tisch ist zum Beispiel keine Blume. Wenn wir schauen, sehen wir, dass auf dem Tisch keine Blume ist. Dieses „Fehlen“ der Blume ist aber nicht Leere. Nehmen wir nun aber das Beispiel des Kassettenrekorders und untersuchen wir: Was ist das eigentliche Wesen des Kassettenrekorders? Wenn man Form, Material und Farbe des Kassettenrekorders getrennt betrachtet, dann existiert der „Kassettenrekorder“ nicht mehr. Sie sehen also, obwohl da ein Kassettenrekorder ist, können wir ihn nicht finden, wenn wir seine individuellen Eigenschaften und Charakteristika untersuchen. Man sieht also, dass „Kassettenrekorder“ nichts anderes ist als eine Bezeichnung. Aber um es noch einmal zu sagen, das bloße „Nichtvorhandensein“ der Blume ist nicht Leere. W I E: Es gibt ein Zitat aus den Pali Sutras, in dem einer der Mönche von Gautama, dem Buddha, ihn fragt, ob es „überhaupt nichts“ gebe, das
existiere. Diese Frage – ob es „Etwas“ gibt oder „Nichts“ gibt – ist sehr interessant, denn die Feststellung, dass „überhaupt nichts existiert“, könnte leicht zum Nihilismus führen. Es heißt, der Buddha habe diesem Mönch ganz eindeutig geantwortet, dass es etwas gebe, das ein „Ungeborenes“ genannt werde, und auf Grund dessen existiere die Möglichkeit, dem Leiden der weltlichen Existenz zu entgehen. Ich habe gehört, dass einige tibetische Sekten ebenfalls die Existenz von „Etwas“ beschreiben. Könnten Sie uns erklären, was der Buddha Ihrer Ansicht nach damit meinte, als er sagte: „Es gibt das, was nicht geboren ist, nicht geworden ist, nicht gemacht ist und nicht bedingt ist. Gäbe es nicht das, was nicht geboren ist, nicht geworden ist, nicht gemacht ist und nicht bedingt ist, könnte kein Ausweg gewiesen werden aus dem, was geboren ist, geworden ist, gemacht ist und bedingt ist. Da es aber das gibt, was nicht geboren ist, nicht geworden ist, nicht gemacht ist und nicht bedingt ist, ist der Ausweg aus dem, was geboren ist, geworden ist, gemacht ist und bedingt ist, gewiesen worden.” HHDL: Das trifft genau das, was vorher gesagt wurde. Wenn es innewohnende Existenz und innewohnende Ursächlichkeit gäbe, könnten wir nicht aus Samsara (der zyklischen Existenz) entkommen. Wir sagen daher, dass es auf dem konventionellen Niveau einen Pfad gibt, dass es Ursächlichkeit gibt und so weiter. Aber wegen der Tatsache, dass die Ursächlichkeit keine ihr innewohnende Existenz hat, ist es Unwissenheit, in der Ursächlichkeit eine ihr innewohnende Existenz wahrzunehmen. Und jenes Fehlen von Ursächlichkeit in der Natur der innewohnenden Existenz wahrnehmen zu können, ist Weisheit. Gäbe es unabhängige Existenz, dann wäre die Wahrnehmung dieser Existenz schlüssig. Gäbe es eine unabhängige Existenz, dann müssten wir, wenn wir nachforschen, um herauszufinden, ob ein Objekt unabhängig existiert oder nicht, in der Lage sein, dieses zu finden. Wenn wir aber genau analysieren, können wir diese Objekte, die unabhängig existieren, 80
nicht finden. So können wir sehen, dass die Wahrnehmung einer unabhängigen Existenz falsch, Unwissenheit ist, und dass die Wahrnehmung nichtunabhängiger Existenz gültig, Weisheit ist. Diese beiden Möglichkeiten stehen im Gegensatz zueinander, und wenn zwei solche Dinge in direktem Gegensatz zueinander stehen, dann können sie nicht gleichzeitig gelten; nur eines davon kann eine gültige Grundlage haben. W I E: Manche Menschen behaupten, dass die Handlungen eines
erleuchteten Wesens Güte zum Ausdruck bringen müssten. Es gibt aber andere Standpunkte, und sogar ganze Denkschulen, die behaupten, dass sich ein erleuchtetes Wesen jenseits von Gut und Böse befindet, und dass daher die Handlungen eines solchen Wesens von anderen nicht beurteilt werden können. Wie ist Ihre Sichtweise hierzu? HHDL: Im Wesen von Leere, im Wesen des Fehlens einer unabhängigen Existenz, in diesem Wesen sind Gut und Böse dasselbe. Wenn jemand also über die letztendliche Wirklichkeit meditiert, dann gibt es in dieser Wirklichkeit keine Unterschiede zwischen Böse und Gut. Von der Perspektive des Buddha aus gesehen, der sich in einem Zustand völliger Vereinigung befindet, gibt es keine Unterschiede zwischen Gut und Böse. Aber auch auf anderen Stufen der Praxis, wenn man ein wenig die Erfahrung von Shunya – der letztendlichen Wirklichkeit – macht, in jenem Moment, wenn der Geist vollkommen in jene Realität absorbiert worden ist, gibt es kein Gefühl von Gut und Böse mehr; dann ist alles gleichwertig. Wenn man die letztendliche Realität zutiefst erlebt, ist das so stark, dass das Verständnis einer konventionellen objektiven Realität sehr anders sein wird. Wenn zum Beispiel die Absorption des Geistes in die Leere wirklich stark ist – total absorbiert in den Zustand der letztendlichen Realität, oder der Leere –, dann werden der Einfluss und der Eindruck der konventionellen Realität beinahe vernachlässigbar sein. Das heißt aber nicht, dass es auf der konventionellen Ebene ebenfalls keine Unterschiede zwischen Gut und Böse gibt. Das stimmt einfach nicht. Es gibt Gut und es gibt Böse. Deshalb unterzog sich sogar der Buddha einer Selbstdisziplin. Gäbe es Gut und Böse nicht, dann hätte der Buddha ein sehr nachlässiges Leben führen können. Um also die Schulung der Weisheit zu erlangen, müssen wir die Konzentration und die meditative Stabilisierung trainieren; und um das zu tun, brauchen wir eine solide Grundlage in der Praxis von Moral und ethischer Disziplin.
Das dreifache J uw el W I E: Als Buddhist haben Sie formell Zuflucht zu Buddha, zum Dharma und zur Sangha genommen – das wird das „Dreifache Juwel“ genannt. Es 81
gibt im Westen heute zahlreiche Interpretationen zur Bedeutung jedes Aspekt des Dreifachen Juwels, und dazu, was es bedeutet, zu jedem dieser Aspekte Zuflucht zu nehmen, und auch dazu, ob es notwendig ist, zu allen dreien Zuflucht zu nehmen. Meinen Sie, dass alle drei Aspekte wesentliche Teile der Zufluchtnahme sind? Und könnten Sie bitte die Bedeutung jedes der drei erklären? HHDL: Von den drei Objekten der Zuflucht ist das wichtigste, zu dem man Zuflucht nimmt, der Dharma. Dann nimmt man Zuflucht zur Person, zur Quelle des Dharma, und schließlich verdienen auch die Wesen, die dem Dharma folgen und ihn praktizieren, Respekt. Diese drei Juwelen folgen aufeinander, aber üblicherweise kommt der Buddha zuerst. Warum? Wir nehmen normalerweise zuerst Zuflucht zum Buddha, in erster Linie deshalb, weil der Dharma zuerst von Lehrern weitergegeben wurde, von speziellen Buddhas. W I E: Es ist interessant, dass Sie sagen, dass man zuerst zum Buddha
Zuflucht nimmt. Es scheint fast unabdingbar für den Weg zu sein, einen Buddha oder vollkommenen Lehrer zu haben, der den Weg zeigt, und Sie sprachen oft über die tiefe Ehrerbietung und den Respekt, die Sie Ihren Lehrern gegenüber empfinden. Können Sie mehr über den Wert – oder die Notwendigkeit –, einen spirituellen Lehrer zu haben, sagen? HHDL: Ich denke, ohne Buddha ist es für einen Praktizierenden des Buddhismus sehr schwierig, die letztendliche Realität zu verstehen. Diese Dinge sind schwierig. Sobald uns der Buddha die Augen geöffnet hat, müssen wir natürlich selbst Anstrengungen machen und suchen. Aber es
muss jemanden geben, der unseren Geist öffnet oder uns die Richtung weist. Deshalb ist Buddha sehr wichtig. Es ist schwierig zu verstehen, was Buddha ist, ohne den Dharma zu kennen. Sobald man echten Glauben hat, der aus dem Eintauchen in das Dharma resultiert, wird ganz selbstverständlich ein Gefühl großer Nähe und des Respekts für Buddha entstehen. Das kommt automatisch. Und dasselbe geschieht mit der Sangha, denn die Sangha schließt alle großen Lehrer und großen Praktizierenden ein, wie Nargarjuna (ein verehrter buddhistischer Philosoph aus dem zweiten Jahrhundert), alle außergewöhnlichen Menschen. Natürlich waren alle diese Wesen nicht gleich von Anfang an außergewöhnlich, nein. Sie waren normale Menschen, normale empfindende Wesen. Sie wurden dann durch die Praxis des Buddha Dharma sehr außergewöhnlich. Ob man jedoch einen eigenen Lehrer braucht oder nicht – ganz allgemein gesagt, Bücher können Lehrer sein. Kurz vor seinem Tod sagte ein tibetischer Lama zu seinem Schüler: „Verlasse dich nun nicht mehr auf einen menschlichen Lehrer, sondern verlasse dich auf Bücher als deine Lehrer.“ Ich glaube, das ist sehr weise. Ohne genaue Nachforschung und ohne einen Menschen gut zu kennen, nimmt man vielleicht überstürzt jemanden als seinen Guru oder Lehrer an, und es hängt zu vieles mit der 82
Hingabe an den Guru oder Guru Yoga zusammen. Es könnte also in Schwierigkeiten enden. Die gründliche Prüfung eines Lehrers ist sehr, sehr wichtig. W I E: Sie haben über Ihre eigene spirituelle Praxis gesprochen und über
Ihren Wunsch, mehr Zeit dafür aufbringen zu können, und ich hoffe ganz gewiss für Sie, dass die Umstände dies eines Tages erlauben werden. Viele unserer Leser werden sich angesichts Ihres intensiven Reiseprogramms und Ihrer zahlreichen Verpflichtungen wahrscheinlich fragen, wie Sie es schaffen, Zeit für Ihre spirituelle Praxis finden. HHDL: Nun, meine Arbeit oder mein Programm beginnt gewöhnlich um sieben oder acht Uhr morgens. Also stehe ich um vier Uhr auf und habe dann wenigstens einige Stunden Zeit für etwas Meditation, Rezitation und einige Gebete. Und dann tue ich, was ich noch tun kann, wann immer ich die Zeit habe – wenn ich längere Auto oder Zugreisen mache, ist das eine sehr gute Gelegenheit für meine Rezitationen. So, also!
Copyright: Alle Texte wurden der Deutschen Ausgabe des „What is Enlightenment“ Magazin entnommen. Im Internet auch unter der nachfolgenden URL zu finden: http:/ / w w w .w ie.org/ de/ default.asp
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