suzanne_segal Kollision mit der Unendlichkeit
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Inhalt Vorwort 7 Einführung 13 Die frühen Jahre 17 Der transzendentale Bereich 27 Präludium der Leere 51 Kollision mit der Leere 61 Die entwertete Leere 89 Die Leere analysieren 101 Die Leere als die Weite erkennen 123 Das Geheimnis der Leere 145 Ein Leben in der unendlichen Weite 153 Epilog: Gespräche mit der unendlichen Weite 175 Anerkennung 187
Vorwort Es gibt nur eine Realität, eine Wahrheit, ein Bewußtsein, das in diesem Moment durch Deine wie durch meine Augen schaut. Sie ist das absolute Subjekt aller Objekte, die Basis des Seins, in der alle Manifestationen erscheinen und vergehen, und aus der sich alle scheinbar objektive Existenz zusammensetzt. Wie Meister Eckehart es ausgedrückt hat: «Die Augen, mit denen ich Gott sehe, sind die Augen, mit denen Gott mich sieht.» Egal wie man es nennt, die Buddhanatur oder der Geist, die Leere oder das Selbst - alle Religionen weisen in die gleiche Richtung und bieten verschiedene Methoden an, sich dieser Wahrheit zu nähern. Und doch ist, daran lassen die esoterischen Traditionen keinen Zweifel, das Ganze ein unbeschreibliches Mysterium, das der Verstand nicht erfassen kann. Das abgetrennte Selbst, das voller Sehnsucht die Wahrheit erfassen möchte, muß zuerst als das erkannt werden, was es ist — ein zwangsläufiges Gebilde bar jeglicher unvergänglicher Existenz -, bevor wir offen sein können für die Erkenntnis, daß wir nichts anderes sind als dieses Mysterium. So wie uns die großen Weisen immer wieder daran erinnern: «Der Suchende ist das, was er sucht; der Schauende ist das, wonach er Ausschau hält.» Es gibt nichts anderes, nur das! Und damit haben wir den Punkt erreicht, wo uns Worte nicht mehr weiterbringen und wir nur voller Ehrfurcht das Unfaßbare bewundern können. In jeder Epoche hat es einige seltene Individuen gegeben, die uns durch ihre unerschütterliche Überzeugung und Klarheit daran erinnern, daß wir genau dieses Unfaßbare sind. Eben weil sie jenseits aller begrenzenden Identitäten sind und andere in kei-
ner Weise als getrennt oder verblendet erachten, haben es diese Weisen typischerweise abgelehnt, die Rolle eines Lehrers oder Gu-rus anzunehmen. Für Ramana Maharshi zum Beispiel, den großen Weisen aus Südindien, waren alle, die zu ihm kamen, das eine heilige, untrennbare Selbst. Dieses Buch präsentiert uns eine weitere Stimme, die uns ohne Umwege auf unsere Identität mit dem Mysteriösen verweist - Suzanne Segal. Genau wie bei Ramana geschah Suzannes Verwirklichung sehr plötzlich, unerwartet und ohne jegliche Vorbereitungen. Sie stand an einer Haltestelle und wartete auf den Bus - und im nächsten Moment war sie niemand mehr. Ihre persönliche Identität als Suzanne Segal löste sich in einem kurzen Augenblick auf und kehrte niemals mehr zurück. Diese Autobiographie, die Sie in den Händen halten, beschreibt die außergewöhnliche Geschichte einer jungen, jüdischen Frau aus dem mittleren Westen und ihre Versuche, mit dieser übermächtigen Transformation klarzukommen, obwohl der Verstand es unerbittlich als etwas Krankhaftes abstempelt, und wie dann schließlich diese transformierende Erfahrung in eine vollkommene Selbst-Verwirklichung erblüht. Ich traf Suzanne Segal das erste Mal, als sie 1992 in meiner Praxis für Psychotherapie erschien, um Hilfe gegen ihre Angst zu suchen, die sie seit zehn Jahren gequält hatte. Seit dem Moment, wo sich ihre persönliche Identität aufgelöst hatte, hatte ihr Verstand darum gekämpft, diese Identität (allerdings ohne jeglichen Erfolg) wiederherzustellen und sie auf höchst beängstigende Weise davon überzeugt, daß mit ihr ganz entschieden etwas nicht stimmte. Bei ihrem Versuch, mit dieser Erfahrung klarzukommen, suchte sie Hilfe in der westlichen Psychologie und hat sogar ihren Doktor in klinischer Psychologie gemacht. Bevor sie zu mir kam, hatte sie fast ein Dutzend andere Therapeuten aufgesucht, die alle darin übereinstimmten, daß sie ein ernsthaftes Problem hätte obwohl sie natürlich niemand zu heilen vermochte.
Als mir Suzanne ihren andauernden Bewußtseinszustand beschrieb, erkannte ich augenblicklich, daß mit ihr ein tiefgehendes spirituelles Erwachen geschehen war, und teilte ihr dies auch mit. Ich konnte jedoch nicht verstehen, warum sie so starke Ängste hatte. Ich schlug ihr vor, mit ihren Fragen meinen Lehrer Jean Klein aufzusuchen, der zu diesem Zeitpunkt in der Nähe Gespräche über Advaita (Nicht-Dualismus) gab. Nachdem er bestätigt hatte, daß die Abwesenheit eines «Ich» alles andere als ein Problem sei, wie sie angenommen hatte, sondern der «vollkommene» Zustand des Seins, gab Jean ihr einige Ratschläge, wie sie mit der Angst umgehen sollte. Fast drei Jahre lang sah ich sie nicht wieder. Dann, im November 1994, erhielt ich einen Telefonanruf von Suzanne, und sie fragte mich, ob ich bereit wäre, ihr bei der Veröffentlichung ihrer spirituellen Autobiographie zu helfen. Sie hatte in Umrissen einen Bericht von ihrer « Kollision mit der Unendlichkeit» und den darauf folgenden Jahren niedergeschrieben. Ich war bereit, ihr zu helfen, diesen Kern in eine umfassendere Schilderung ihrer Reise zu entwickeln. Ich ermutigte sie sogleich, auch die Details einzubeziehen, besonders ihre Kindheit und ihre Jahre des Lernens und des Praktizierens bei TM. Obwohl sie sich nicht daran interessiert zeigte, über ihr persönliches Leben zu berichten - schließlich identifizierte sie sich nicht mehr mit einer Person —, akzeptierte sie meinen Vorschlag, denn ich gab zu bedenken, daß eine ausführlichere Beschreibung den Leser stärker einbeziehen würde und die Geschichte ihres Erwachens und des Kampfes des Verstandes, damit zu Rande zu kommen, zugänglicher machen würde. Kapitel für Kapitel nahm die Autobiographie die jetzt vorliegende Form an. Während unserer Zusammenarbeit wurde mir klar, daß die angsterfüllte Frau, die vor drei Jahren in meine Praxis gekommen war, um Hilfe zu suchen, transformiert worden war. Die Suzanne, die ich jetzt erlebte, war ein furchtloses, fröhliches Wesen, das Liebe ausstrahlte und dessen spirituelle
Weisheit auf einer Ebene war wie die der Meister des Zen und Ad-vaita, die ich aufs höchste respektiere. Zugleich erschien sie mir völlig normal, total zugänglich und ohne eine Spur von Heuchelei oder Ehrgeiz - Qualitäten, die ich aus den Tagen meiner Zen-Stu-dien als Gütezeichen eines erwachten Zustandes kennengelernt hatte. Ich fragte Suzanne, ob sie bereit wäre, unsere jeweiligen Arbeitsstunden gegeneinander aufzurechnen, und sie willigte ein. Im Gegenzug für jede Stunde, die ich an dem Buch arbeitete, verbrachten wir eine Stunde damit, daß sie mir half, mein eigenes spirituelles Verständnis zu vertiefen und zu verfeinern. Ganz besonders war ich immer davon überzeugt gewesen, daß die Gegenwart von Angst - die ich oft und ohne einen offensichtlichen Anlaß erlebte — bedeutete, daß ich trotz vieler Jahre des Praktizierens und zahlreicher Einblicke in die Natur des Seins etwas falsch machte, was mich wiederum daran hinderte, meine Einsichten ins tagtägliche Leben zu integrieren. Mein Argument war immer: «Wenn ich doch nur diese Angst loswerden könnte, dann wäre ich frei.» Doch je mehr ich dagegen ankämpfte und versuchte, sie weg-zu-atmen, weg-zuläutern oder weg-zu-lieben, desto mehr schien sie sich zu verhärten, sich festzusetzen. Suzanne half mir zu verstehen, daß die Gegenwart von Angst nichts weiter bedeutet, als daß Angst gegenwärtig ist. Sie vernebelt nicht unsere wahre Natur, es sei denn, wir gehen der Geschichte auf den Leim, die sie uns erzählt, oder halten die Angst für etwas, das sie gar nicht ist. Tatsächlich enthält das unbegrenzte Gewahrsein, welches unsere wahre Natur ist, absolut alles, auch alle mentalen und emotionalen Zustände. Angst, Ärger, Eifersucht, Traurigkeit und andere scheinbar «negativen» Emotionen sind ebenfalls darin enthalten, wie Seegras, das in dem unendlichen Ozean unseres Selbst schwimmt. Nur gibt es kein separates Selbst, auf das sie sich beziehen, denn wenn das Unendliche - das wir alle tat-
sächlich sind - wahrhaftig unendlich ist, wie könnte es dann anders sein? Nach ungefähr sechs Monaten und einigen wichtigen Durchbrüchen meinerseits schlug ich Suzanne vor, sie mit einigen meiner Freunde bekannt zu machen. Wie bei allen anderen Gelegenheiten sagte Suzanne, daß dies geschehen würde, wenn es «offensichtlich » wäre, und so ergab es sich erst in den letzten Tagen des Jahres 1995, daß ungefähr ein Dutzend von uns an einem Nachmittag im Haus eines Freundes zusammenkamen. Es folgten weitere Zusammenkünfte, jedesmal ein größerer Kreis als zuvor, und nach ein paar Monaten drängten sich mehrere hundert Menschen in einer nahe gelegenen Kirche, um ihr zuzuhören, wie sie ihre Geschichte erzählte und Fragen beantwortete. Trotz dieses wachsenden Zulaufs lehnt Suzanne es ab, sich als Lehrer zu bezeichnen. Statt dessen besteht sie darauf, eine «Beschreibende» des «natürlich auftretenden Zustandes» eines jeden von uns zu sein. Egal was wir zu sein oder wie mißgeleitet wir zu sein glauben, sie erinnert uns daran, daß wir in Wirklichkeit die Basis des Seins selbst sind - sie bezeichnet es als die «Unendliche Weite», jene unbegrenzte Substanz, aus der alles besteht und in der alles verweilt. Diese Unendliche Weite gehört niemand bestimmten, das heißt, es gibt gar kein getrenntes Selbst, dem sie möglicherweise gehören könnte. Als der Herausgeber des Yoga Journals seit zehn Jahren habe ich eine gesunde Skepsis gegenüber Menschen entwickelt, die sich als spirituelle Lehrer ausgeben. Nach vielen Stunden, die ich als Herausgeber, Berater und Freund mit Suzanne verbracht habe, kann ich aus vollster Überzeugung sagen, daß diese bemerkenswerte Frau — weder Lehrer oder Guru, noch Heilige — genau diejenige ist, als die sie sich auf diesen Seiten beschreibt. Es ist tatsächlich niemand zu Hause - und in dieser Abwesenheit enthüllt sich das Unendliche.
Ich bin davon überzeugt, daß Suzannes einmalige Art, die zeitlosen Wahrheiten auszudrücken, das Potential hat, viele Menschen zu erreichen, die sich vielleicht sonst nicht davon angezogen fühlen, und ich glaube, daß dieses kleine Buch dazu bestimmt ist, ein spiritueller Klassiker zu werden. Ich bin glücklich, eine Rolle bei seiner Geburt gespielt zu haben.
Stephan Bodian, Mill Valley /Kalifornien, Juni 1996
Einführung Als Menschen aus dem Westen, auf der Suche nach spiritueller Transformation, müssen wir uns gegenseitig unterstützen, indem wir über unsere Erlebnisse berichten. Da sich unsere spirituellen Erfahrungen von denen der Menschen im Osten unterscheiden, wäre es hilfreich, unsere Berichte über die Transformationen zu sammeln, um damit neue «altertümliche Texte» zu schaffen, welche als Landkarten westlichen Stils für das Territorium der Spiritualität dienen könnten. Die Geschichten unserer Vorfahren zeigen uns Wege auf, an denen seit ihrer Entstehung immer wieder Neues errichtet worden ist. Es ist genau wie auf unseren Straßen: Wenn wir glauben, wir kennen die Strecke wie im Schlaf, wird eine weitere Tankstelle gebaut, eine neue Ampelanlage oder ein Supermarkt errichtet, so daß wir uns wieder aufs Neue orientieren, neue Wegweiser benutzen müssen. Die Geschichte in diesem Buch ist mein Beitrag für die neue Version der altertümlichen Texte. Es ist der Bericht über die vierzehn Jahre, die der vollständigen und unwiderruflichen Zerstörung der persönlichen Identität folgten, der permanenten Auflösung und dem Abblättern von allem, was ich bislang als mein individuelles Selbst bezeichnet hatte. Diese tiefgreifende Transformation ist in vielen der klassischen spirituellen Texte des Ostens beschrieben worden. Ich jedoch habe diese Transformation aufgrund meiner kulturellen Überzeugungen, Erziehung, Werte und Ängste in einer speziell vom Westen geprägten Weise erlebt. Die Erfahrung war so völlig anders, als ich es mir bisher vorgestellt oder erwartet hatte, daß es mehr als ein Jahrzehnt dauerte, bis sich die Auswirkungen integriert hatten. Während dieser Zeit suchte
ich nach Berichten über ähnliche Erfahrungen, die mir vielleicht auf dem Weg durch diese höchst herausfordernden und beängstigenden Zeiten der Reaktionen des Verstandes auf diese unfaßbare Leere der «Ich-losigkeit» hätten helfen können - doch ich fand keine. Dieses Buch entstand aus dem Bedürfnis, einen Kontext und einen Weggefährten für diejenigen zu schaffen, deren Bestimmung es ist, die Leere des persönlichen Selbst zu erfahren — eine Leere, die sich auf unvorstellbare Weise in den Vordergrund schiebt. Die Erfahrung, ohne ein Selbst zu sein, vernichtet jegliche persönliche Vorgeschichte, löscht für immer die « Person » aus, auf die sich diese Ereignisse beziehen. Die persönliche Vergangenheit ist dann nur noch eine Erzählung ohne einen Autor und von Ereignissen ohne einen persönlichen Bezug; sie beziehen sich nicht mehr auf ein «Ich». Im Westen herrscht die Meinung, daß man ein persönliches Selbst haben muß, um in der Welt angemessen funktionieren zu können - daß es das Selbst ist, das alles zusammenhält und für all das steht, was man zu sein glaubt. Ohne ein Selbst, so lautet die Überzeugung, ist man reduziert zur Idiotie oder zum Wahnsinn, doch niemand würde es ernsthaft als das Erwachen in die Wahrheit bezeichnen. Als Westler kann uns die Vorstellung, daß sich das Selbst als völlig leer herausstellt, nur mit Schrecken erfüllen. Schließlich zählt das persönliche Selbst im Westen zu den allerhöchsten Werten. Die Beschreibung dieser Geschichte macht deutlich, daß ein Leben ohne persönlichen Bezugspunkt auf gar keinen Fall einen Zustand von Unfähigkeit, von Nicht-funktionieren bedeutet. Diese Chronik von einem «Leben jenseits des persönlichen Selbst» ist eine moderne Version dessen, was die Vorfahren beschrieben haben, doch sie bietet zusätzlich - was die Vorfahren nicht eingeschlossen haben - die Erfahrung der Reise selbst. Auch
wenn sie die Erfahrungen ihrer Reise beschrieben hätten, wären sie sicherlich recht unterschiedlich ausgefallen, da die Verfasser in einem Kulturkreis lebten, der ihre Erfahrungen zu schätzen wußte, anstatt sie niederzumachen oder zu pathologisieren. Mein Herausgeber hatte mir geraten, die Geschichte mit einzubeziehen, wer «Ich » war, bevor «Ich » nicht mehr war. Es war eine Herausforderung für mich, über jene Person zu schreiben, die einmal Suzanne Segal war, bevor das persönliche Selbst abfiel. Die Geschichte über jenes Leben ist die Fiktion einer Person, die nicht mehr existiert. Die Person hingegen, die dieses Buch schreibt, ist ohne eine persönliche Identität, doch sie lebt mit den Erinnerungen an eine Geschichte, die nicht den traditionellen Vorstellungen dessen entspricht, was man allgemein unter Erwachen versteht. Die Erkenntnis, daß Erwachen vielleicht nicht den traditionellen Bildern entspricht, ist einer der wichtigsten Punkte, den dieses bestimmte Leben verdeutlichen kann. Machen Sie nicht den Fehler, die Geschichte von Suzanne Segal zu lesen, die in ihrer Kindheit nach Erlebnissen fahndet, die «ursächlich» mit dem Abfallen des Selbst verbunden sind. Hier gibt es keine linearen Kausalitäten. Der machtvolle Einfluß der westlichen Psychologie in unserer Kultur hat viele Menschen davon überzeugt, daß die Wurzeln aller menschlichen Erfahrungen in der frühen Kindheit zu suchen sind und daß psychologische Theorien jeden Punkt eines Kontinuums belegen können. Die Ereignisse aus der Vergangenheit beziehen sich auf das Persönliche, auf das individuelle Selbst, nicht auf das Unpersönliche, das universelle Selbst. Es ist äußerst wichtig, diese Geschichte mit einem offenen Bewußtsein zu lesen, um beengende Kategorisierungen wie auch die Tendenzen der Psychologie, Dinge zu pathologisieren, zu vermeiden. Bitte vergessen Sie beim Lesen auch nicht, daß die Formalitäten der Sprache es erfordern, persönliche Fürwörter zu benutzen,
um eine Erfahrung zu beschreiben, die nichts Persönliches mehr hat. Das «Ich», wie Sie es auf dem Papier finden, bezieht sich auf niemanden, doch kann man unmöglich eine Geschichte erzählen, ohne die Worte «ich», «mir» und «mein» zu benutzen. Das Mysterium, dem alles unterliegt, ist unendlich groß.
Die frühen Jahre Wer spricht die Worte mit meinem Mund? RUMIAls Kind meditierte
ich auf meinen Namen. Als ich sieben oder acht war, setzte ich mich oft im Schneidersitz mit geschlossenen Augen auf die lange, weiße Couch im Wohnzimmer meiner Eltern und sagte immer wieder meinen Namen vor mich hin. Der Name hallte bei jedem Mal in meinem Verstand wider, anfangs voller Stärke und Intensität. Mein Name, wer ich war. Dann wurde er mit jeder Wiederholung schwächer, bis eine Schwelle überschritten wurde und die Identität mit dem Namen zerbrach, wie ein Schiff, das plötzlich von seinem Anker losgelöst auf den Wellen des Meeres dahintreibt. Eine unendliche Weite tat sich auf. Der Name war nur noch ein Wort, eine Ansammlung von Lauten, die in einer unendlich weiten Leere pulsierten. Es gab keine Person mehr, auf die sich der Name bezog, keine Identifizierung mit diesem Namen. Niemanden.Dann stieg langsam die Angst in mir auf, mein Herz schlug bis zum Hals, ich japste nach Luft, meine Lungen im eisernen Griff nackter Angst gefangen. An diesem Punkt brach ich es immer ab, wanderte umher, zwang mich zur Rückkehr aus der unendlichen Weite und zurück in die Identifizierung mit diesem Namen. Für ein kleines Mädchen meines Alters war es einfach zu beängstigend. Doch später am Tage kam ich zurück, setzte mich wieder auf die Couch und begann aufs Neue den Namen vor mich hin zu sagen.
Ich werde wohl nie erfahren, was mich dazu trieb, auf diese Reisen zu gehen, oder wie die Idee überhaupt entstanden ist. Doch dieses Abfallen jeglicher persönlicher Identität, die Auflösung des Ich-Gefühls während der täglichen Praktiken als ein kleines Mädchen war nur eine Art Vorbereitung, eine Vorandeutung auf den tiefgehenden und permanenten Zustand, der zu meiner bleibenden Realität werden sollte. Die Reise begann, als der Name verschwand und sich an seiner Stelle eine immense Leere auftat. Und genau dort beginnt diese Geschichte. Ich war das zweite Kind und die einzige Tochter meiner Eltern, die als Einwanderer in dieses Land kamen - mein Vater, als er gerade ein Junge von fünf Jahren war und meine Mutter mit acht-undzwanzig. Sie hatten beide sehr schwere Zeiten in ihrem Leben durchgemacht, doch besonders meine Mutter strahlte die schmerzliche Melancholie eines Menschen aus, der Jahrzehnte menschlicher Grausamkeiten erleben mußte. Sie hatte das Inferno der Judenvernichtung überlebt und trug eine abgrundtiefe Traurigkeit in sich, welche auch die Zeit nicht lindern konnte. Mein Vater überstand die harten Anfangszeiten, indem er nach außen hin härter wurde - eine Taktik, die dazu beitrug, ihn zu einem der erfolgreichsten Geschäftsleute auf seinem Gebiet zu machen. Als ein Mann der Tat stieg er aus einer Generation von Einwanderern empor, die es praktisch ohne jegliche Ausbildung zu immensem materiellen Erfolg gebracht hatten. Sein Ziel war es, ein Imperium aufzubauen, und das hat er auch erreicht. Er suchte sich eine Frau aus, die seinen Idealen von Schönheit und Kunstverstand entsprach, und machte ihr schon nach zwei Wochen einen Heiratsantrag. Sie war gerade erst aus Italien in dieses Land gekommen, nachdem sie während des Krieges aus einem polnischen Arbeitslager entflohen war. Als ich vier Jahre alt war, wollte ich unbedingt lesen lernen.
Ich ging mit meiner Mutter in die öffentliche Bücherei und saß mit ihr viele Stunden in der Kinderbuchabteilung, eines der großen, bunten Bücher gegen meine Knie gelehnt. Ich starrte auf die Schrift, diese schwarzen Zeichen auf dem weißen Papier, und verwandte all meine Konzentration darauf, diesen geheimnisvollen Kode zu brechen. Ich schaffte es, zwei oder drei Worte zu entschlüsseln, und jedesmal, wenn mir das gelungen war, überkam mich eine große Freude. Meine Mutter mußte mir mehrmals am Tag aus meinen liebsten Märchenbüchern vorlesen, übergroße, glänzende, cartoonähnliche Ausgaben. Während ich auf ihrem Schoß saß und sie genau beim Lesen beobachtete, prägte ich mir jedes Wort ein und wußte genau, wann die Seite umgeblättert werden mußte. Es machte mir ungeheure Freude, den Freunden meiner Mutter mein Können vorzuführen, voller Erregung mit meiner schönsten Erwachsenenstimme «vorzulesen» und die Seiten genau im richtigen Moment umzublättern. Immer wenn meine Eltern eine größere Gesellschaft bei uns gaben, holte ich den Hocker aus der Küche, kletterte darauf und rezitierte die Geschichten, die ich mir eingeprägt hatte. Es machte mir unglaubliche Freude, diese Geschichten zu kennen und ihr Erzähler zu sein. Auch heute noch, immer wenn ich Freunde meiner Eltern treffe, erinnern sie sich unweigerlich an die Zeiten, als ich in meinem Rüschenkleidchen und den glänzenden Lackschuhen auf dem Hocker stand, um Geschichten zu rezitieren. Das Vermächtnis meiner Mutter bestand jedoch nicht nur aus Trauigkeit, sondern auch aus Angst. Als ich noch klein war, hatte ich jedesmal unglaubliche Angst, wenn meine Mutter das Haus verließ. Es war so beängstigend, daß ich sie oftmals anrief, um die genaue Zeit zu erfahren, wann sie und mein Vater wieder heimkommen würden. Ich stand dann an dem Fenster, von dem ich die Einfahrt überblicken konnte, und starrte wie ein Wachposten in
die Nacht, um auf ihre Rückkehr zu warten. Erst wenn ihr Auto in die Einfahrt bog, ging ich schlafen. Die Angst von Generationen war durch meine Mutter an mich weitergegeben worden, und aus Liebe zu ihr übernahm ich sie, ohne weiter darüber nachzudenken. Vielleicht hoffte ich, dadurch ihre anscheinend überwältigende Last etwas leichter zu machen. Während meiner Zeit in der High School war meine Mutter sehr verzweifelt über meine Auswahl an Freunden. Sie war überzeugt davon, daß ich in «schlechten Kreisen» verkehrte und dies einen nachteiligen Einfluß auf mich hätte. Auch wenn sie damit recht hatte, daß meine Freunde zu der Zeit die «Revolutionäre» waren, so hat sie jedoch nie verstanden, daß ich dabei immer nur die Rolle des Beobachters spielte. Ich beobachtete die Gegenkultur der späten Sechziger und frühen Siebziger lediglich, ohne wirklich daran teilzunehmen. Ich suchte mir Freunde, die sich ohne jegliche Angst auf alle Erfahrungen stürzten, die ihnen über den Weg liefen, doch ich blieb in meiner eigenen Angst viel zu gefangen und konnte dem nur zuschauen. Als ich fünfzehn war, unternahm meine Mutter mit ihrer Tante eine Reise nach Italien, um die Leute zu besuchen, die ihr geholfen hatten, als sie sich nach dem Krieg dorthin geflüchtet hatte. Während dieser Reise erlag sie den Monstern ihres Leidens, und sie fiel in eine so tiefe Depression, daß sie nach ihrer Rückkehr für zehn Tage eine psychiatrische Klinik aufsuchen mußte. Während ihres Klinikaufenthaltes übernahm ich, so gut ich konnte, in der Familie die Rolle der «Ersatzmutter» und kümmerte mich um meine beiden Brüder und meinen Vater. Meine Mutter und ich haben damals unsere Rollen getauscht und sie nie wieder zurückgetauscht. Selbst nach ihrer Heimkehr fuhr ich sie überall hin, wo sie etwas zu erledigen hatte, half ihr beim Kauf ihrer Garderobe oder im Supermarkt und kümmerte mich ganz allgemein um die Belange der Familie, sobald ich aus der Schule heimkam.
Gleichzeitig bekam ich auch die Auswirkungen dieses Rollenspiels zu spüren, die für heftige Stürme in meinen Pubertätsjahren sorgten und sie mit Wut und Verzweiflung für die Zukunft erfüllten. Diese brisante Mischung, gepaart mit den weitgehenden kulturellen Umbrüchen, katapultierte mich, Angst oder nicht, in eine Suche nach Trost oder eine Flucht aus den Fängen der Traurigkeit, die in mir wie das Blut in meinen Venen zirkulierte. In dem Sommer, als ich meinen Schulabschluß machte, ging ich in die Berge von Wyoming, um an einem Ferienlager teilzunehmen. Die vier Jahre an der High School waren eine Zeit der Aufruhr, der Verwirrung und der Experimente gewesen - eine recht typische pubertäre Erfahrung -, und die Vorstadtgegend, wo wir lebten, schien mich zu erdrücken, schien meine Sensibilität zu ersticken und ein inneres Verlangen abzutöten, das nach einem undefinierbaren Frieden suchte. Ich meldete mich an, um sechs Wochen zusammen mit einer Gruppe von ungefähr zwanzig weiteren jungen Leuten und vier erwachsenen Führern in der Wildnis des Wind River Range zu verbringen: wandern, in den Bergen zelten, Überlebenstaktiken lernen, die Wildwasser befahren und Methoden lernen, der Erde mit Respekt zu begegnen. Ich sehnte mich nach einer Weite, die mir zwar sehr vertraut war, die ich jedoch bislang in dieser Welt nie gefunden hatte. Ich fand sie dort oben in diesen Bergen. Jede Nacht, wenn alle anderen aus der Gruppe bereits schliefen, wanderte ich durch die Umgebung des Lagers, über mir der unendliche Sternenhimmel, und ich war zutiefst berührt und beeindruckt von der unglaublichen Weite der Nacht. Dort in den Bergen habe ich die Stille wiedergefunden. Ich wußte zwar nicht, wann ich sie zum ersten Mal gefunden hatte, doch nur einen Moment diese Stille zu kosten, war ausreichend, um mich trunken mit Freude über die Heimkehr zu machen. Die Stille war meine erste große Liebe.
Mit achtzehn begann ich zu meditieren. Ich beendete gerade 21
mein erstes Jahr am Lake Forest College, einer kleinen Privatschule nicht weit von meinem Elternhaus. Eine unausgesprochene, doch sehr tiefempfundene Vereinbarung mit meiner Mutter hatte mich dazu bewogen, in der Nähe zu bleiben. Während der Osterferien erzählte mir mein älterer Bruder Dan von der Transzendentalen Meditation. Man schrieb das Jahr 1973, und TM hatte unter den Studenten ziemliche Wellen geschlagen. Zu der Zeit hatten die Beatles und Donovan gerade Ma-harishi in Indien aufgesucht und damit für eine ganze Generation seiner bestimmten Art der Meditation ein gewisses Gütesiegel verliehen. Von Lake Forest aus lag das nächste TMZentrum in einem kleinen Haus in der Nähe des Campus der Northwestern University in Evanstone, nördlich von Chicago. An einem milden Frühlingstag besuchte ich einen Einführungsabend im TM-Zentrum, den zwei große, schlanke, junge Männer gaben, die - recht unpassend für ihr Alter und die damalige Zeit — einen Anzug mit Schlips und Lederhalbschuhe trugen. Mit gefaßter, ruhiger Stimme sprachen sie von den Vorteilen der Meditation, den wissenschaftlichen Untersuchungen, die ihre Behauptungen untermauerten und von der Logistik und den Kosten für einen Meditationskurs. Am gleichen Abend schrieb ich mich für den nächsten Kurs ein, der am darauffolgenden Samstagmorgen stattfinden sollte. Morgens um neun sollte ich mich mit frischen Blumen, Obst und einem sauberen, weißen Taschentuch im Center melden. Ich erschien vor der angegebenen Zeit, und man reichte mir einige Formulare zum Ausfüllen, damit mein Lehrer die nötigen Informationen bekam, um ein Mantra für mich auszusuchen. Der Lehrer, sein Name war ROSS, führte mich vom Warteraum in ein kleines Zimmer mit einem Altar, auf dem ein großes, goldgerahmtes Foto von einem streng dreinschauenden Inder
stand, welcher mit gekreuzten Beinen auf einem Tigerfell saß. Meine Gaben, das
Obst, die Blumen und das Taschentuch, kamen in einen kleinen, geflochtenen Korb auf dem Altar, und ROSS überreichte mir kommentarlos eine der Blumen. Ich stand schweigend neben ihm, hielt die Blume in meinen Händen und starrte in die Augen des streng aussehenden Mannes auf dem Foto. ROSS nahm nun die restlichen Blumen, tauchte eine davon in eine kleine Messingschale, die anscheinend mit Wasser gefüllt war, und begann in Sanskrit zu singen. Er schaute kein einziges Mal in meine Richtung; also wartete ich lediglich und beobachtete das Ganze. Ich nahm an, daß er mir sagen würde, wenn die Meditation beginnen sollte. ROSS sang vier bis fünf Minuten lang und brachte die Blumen, die Früchte und das Taschentuch dem Mann auf dem Foto dar, indem er sie der Reihe nach auf ein rechteckiges Messingtablett zu seinen Füßen legte. Jede Gabe hatte ihr eigenes Lied. Als er schließlich alle Gaben dargebracht hatte, fiel ROSS vor dem Altar auf die Knie und legte seine Stirn für einen Moment auf den Boden. Als er sich wieder erhob, wandte er sich zu mir und begann zu singen. Ich hielt es zuerst für eines der Sanskritlieder, doch bald wurde mir klar, daß er mein Mantra sang. Er schaute mich feierlich an und forderte mich auf, das Mantra mit ihm zusammen zu wiederholen, es immer wieder mit normaler Stimme auszusprechen. Zustimmend nickte er mit seinem Kopf und forderte mich auf, auf dem Stuhl hinter mir Platz zu nehmen. Ich wiederholte weiterhin das Mantra, bis er mich anwies, es immer leiser zu sagen und schließlich nur noch im stillen zu mir selbst. Ich schloß meine Augen und begann zu meditieren. Nach wenigen Minuten wurde ich ruhiger, und nach ein paar weiteren Minuten wußte ich, daß ich für den Rest meines Lebens meditieren würde. Als ich dort auf dem Stuhl saß, das
Sanskritwort im Geiste wiederholend, sank ich auf sanfte Weise in die Arme meiner geliebten Stille.
Nachdem mein erstes Jahr am College zu Ende ging, wurde ich unruhig. Ich wußte, daß die Zeit gekommen war, meine vertraute Vorstadtwelt zu verlassen, und beschloß, zum College in Olympia, Washington, überzuwechseln. Dort hatte man gerade mit einem innovativen, experimentellen Programm begonnen, um die Visionen der Sechziger in ein staatliches Erziehungssystem zu integrieren. Am Evergreen State College erlebte ich in einer außergewöhnlich schönen Landschaft eine immense Freiheit, die die Gemeinschaft mit Gleichdenkenden mit sich brachte. Wir waren trunken von den unbegrenzten Möglichkeiten, die unser gemeinsamer Idealismus und unsere jugendliche Energie erschufen. Dort lernte ich Dan kennen, den örtlichen TM-Lehrer, durch dessen Freundschaft ich sehr viel mehr mit dem erstaunlichen Mysterium des spirituellen Bereiches vertraut wurde. Dan wurde mein engster Freund und zugleich mein erster spiritueller Reisegefährte, mit dem ich meine Begeisterung für das Unerklärliche, das Transzendentale, das Unbeschreibliche teilte. Wir waren Gefährten auf der Reise durch die Stille, während wir im Dämmerlicht durch die üppigen Farnwälder in der Nähe des Campus streiften und uns an der Stille berauschten. Eines Abends brachen wir ziemlich spät auf. Es war eine pechschwarze Nacht, selbst die Sterne waren hinter dichten Wolken verborgen. Während wir durch den Wald gingen, streckte Dan seinen Arm vor sich aus und machte eine weitausholende Geste von links nach rechts. Innerhalb von Sekunden war unser Weg von einem hauchdünnen Netz von Lichtpunkten überzogen, die von jedem Molekül in der Luft reflektiert wurden. Jede Pflanze erstrahlte sanft von innen heraus, und das Strahlen verstärkte sich noch, als wir tiefer in den Wald hineingingen. Als Dan mein Erstaunen wahrnahm,
sagte er mit einem Blick voll sanfter Wärme: «Schau, Suzanne, dieses Licht ist immer bei uns, es ist in allen Formen des Lebens enthalten. Wir sind selbst bei Nacht niemals der Dunkelheit ausgesetzt. Vergiß nie, daß die Welt, die du wahrnimmst, nicht das ist, was sie auf den ersten Blick zu sein scheint.» « Dan, wie hast du das gemacht?» fragte ich ihn. « Du warst es, der alles zum Strahlen gebracht hat.» « Nein, nicht ich habe es getan », erwiderte er. «Ich zeige dir lediglich, was in jedem Moment immer vorhanden ist. Wir brauchen nur unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten. Ich habe es nicht erschaffen, ich weise dich nur daraufhin.»
Der transzendentale Bereich Glaubst Du, daß ich weiß, was ich tue? Daß ich auch nur einen Atemzug lang oder einen halben mir selbst gehöre? So wie eine Feder weiß, was sie schreibt, oder der Ball ahnen kann, wo er hinrollen wird. RUMI
Während der Weihnachtsferien in Evergreen schrieb ich mich für einen Meditationskurs an einem College ganz in der Nähe von Lake Forest ein. Damals meditierte ich bereits seit acht Monaten, und ich hatte durch die tiefgehenden Erfahrungen in meinen Meditationen und den Einfluß meines Freundes Dan eine Affinität für den spirituellen Bereich entwickelt. Mein Bruder kam ebenfalls von seinem College, um an dem Kurs teilzunehmen, und er brachte einen Freund mit, Rick. In diesem Meditationskurs machte ich meine ersten tiefgehenden Erfahrungen im transzendentalen Bereich, die den Rahmen aller bisherigen Kategorien von Beschreibungen sprengten und mich mit einer bald sehr vertrauten Art von Frustration bekannt machten: dem Versuch, etwas zu beschreiben, das sich all meinen enthusiastischen und wohlgemeinten Versuchen einer Erklärung widersetzte. Die Erfahrung der Transformation war mir bisher auf verschiedene Weise beschrieben worden: eine Gedächtnislücke, wenn die Zeit stillzustehen scheint, eine Zeit der Stille, wenn das Mantra sich
auflöst, die « Quelle der Gedanken » - was
immer das bedeutete. Bislang hatte ich noch keine Beschreibung gehört, die dem nahe kam, was in meinem hocherfreuten Verstand ablief, während ich von einer ungeheuren magnetischen Kraft erfaßt wurde, die mich mit unendlicher Geschwindigkeit in einen Tunnel voller Licht saugte. Gleichzeitig erweiterte sich der Tunnel mit unglaublicher Geschwindigkeit und mit einem riesigen Donner, der sich zu einem ohrenzerreißenden Crescendo steigerte, explodierte die Unendlichkeit in reines Licht. Im Augenblick der Explosion wurde eine Schwelle überschritten, und im Bruchteil eines Augenblicks hatte das Feuer eines unsichtbaren Infernos alles erfaßt, kehrte alle Phänomene von innen nach außen und legte das Innere aller Schöpfung frei — Leere. Ungefähr drei Stunden, nachdem ich am ersten Morgen des Kurses zu meditieren begonnen hatte, öffnete ich meine Augen und erhob mich wie trunken von meinem Kissen. Ich bewegte mich, als ob ich keinen Körper mehr hätte. Die Welt war nicht mehr die gleiche. Alle feste Materie hatte sich in einer leuchtenden Transparenz der Stille aufgelöst. Ich erzählte meinem Bruder und seinem Freund, was geschehen war. Ich zwang meinem Mund Laute ab, und die einzelnen Worte kollidierten miteinander, während sie von meinen Lippen rollten. Sie bekamen erst eine Bedeutung, wenn sie in der Luft aufeinander stießen. Weder Dan noch Rick konnten etwas dazu sagen, und auch sie fanden, daß ich ziemlich verwirrt aussah. Vielleicht machte ich ja auch etwas falsch und sollte mit dem Lehrer darüber sprechen. Ich zog einen der Meditationslehrer zur Seite und beschrieb ihm meine Erlebnisse. Er lächelte mich sanft an. Meine Augen vermochten sein Gesicht nicht richtig zu erfassen, und aus seinem Mund schien Licht zu fließen, wenn er ihn zum Sprechen öffnete - wie Sonnenstrahlen, die durch das Geäst
eines Baumes fallen. Er erklärte mir, der Maharishi hätte uns gelehrt, daß uns in unserer
Meditation nichts schaden könne und alle Erfahrungen in der Meditation gute Erfahrungen seien. Er lächelte mich an und sagte mit sanfter Stimme: «Genieße die Glückseligkeit.» Als ich das Wort «Glückseligkeit» vernahm, durchzog mich eine Woge der Erkenntnis, eine willkommene Bestätigung durch das einzige Wort, das auch nur annähernd das beschreiben konnte, was ich fühlte - Glückseligkeit. Ja, dies war ohne Zweifel Glückseligkeit. Meine Art der Wahrnehmung war aus ihren gewohnten Angeln gehoben worden. Es war unmöglich, die einzelnen Objekte klar zu sehen, denn ihre Grenzen waren in den Hintergrund getreten und durch ein sehr helles Leuchten ersetzt worden, das so stark war, daß alles im visuellen Bereich in einer riesigen, strahlenden Masse verschmolz. Der Kurs ging weiter, und ich folgte dem vorgegebenen Tagesablauf: zu meditieren und Videos von Maharishis Vorträgen anzuschauen, während ich meine völlig veränderten Erfahrungen auch der einfachsten Dinge genoß — auf einem Stuhl zu sitzen, das Zimmer anzuschauen, zu sprechen, lachen, atmen, denken. Diese veränderte Wahrnehmung hielt mehrere Wochen an und begann dann in kaum wahrnehmbaren Veränderungen schwächer zu werden, sobald die Welt der Begrenzungen und Unterscheidungen wieder in den Vordergrund meines Wahrnehmungsbereiches rückte. Dieser Kurs war mein Eintritt in die Welt des Mysteriösen, weg von der Langeweile eines Heranwachsenden in die offenen Arme der Glückseligkeit. Um das Ganze vollständig zu machen. Rick und ich verliebten uns ineinander. Wir tanzten in der Eingangshalle und sangen, völlig falsch, bis zum Morgengrauen wie rollige Straßenkatzen, die den Mond anmiauen. Er war ein wunderbarer Mann - warmherzig, begabt, brillant, voller spiritueller Wißbegierde und emotionaler Tiefe,
bereit, mit einer Hingabe zu lieben, die mich begeisterte und zugleich ängstigte. Zum ersten Mal erlebte ich den Sturm romantischer Liebe. Unsere Beziehung war von unserer Meditation durchwoben, und unsere Verbindung vertiefte sich dadurch sowohl als Partner in der Welt als auch im Geiste. Es schien für uns beide eine sehr naheliegende Entscheidung zu sein, Meditationslehrer zu werden. Was hätten wir sonst auch machen sollen? Wir wollten das akademische Jahr beenden und uns dann für ein Jahr beurlauben lassen, um an einem sechsmonatigen Ausbildungskurs zum Lehrer teilzunehmen, der im August begann. Mein Bruder fühlte sich genauso von TM angezogen, und so flogen Rick, Dan und ich zusammen mit einer Gruppe von ungefähr hundert weiteren amerikanischen Meditierenden mit leuchtenden Augen 1974 in die norditalienischen Alpen, um uns als Lehrer für Transzendentale Meditation ausbilden zu lassen. Die TM-Organisation hatte in dem wunderschönen Alpenort Livigino in Italien mehrere Hotels angemietet, die uns eine angenehme Umgebung boten, um die «Heilige Tradition» zu erlernen. Wir wurden angewiesen, jeden Morgen und jeden Nachmittag jeweils fünf Stunden zu meditieren. Es war eine Abfolge von Meditation, Yoga Asanas und Pranayama, die als «Runden» bezeichnet wurden. Man erwartete von uns, daß wir jeden Tag zehn bis zwölf « Runden » machten, von denen jede ungefähr eine Stunde dauerte. Man warnte uns ausdrücklich davor, irgendwelche Entscheidungen zu treffen, denn die intensiven Meditationen würden etwas erzeugen, das als «Stresslösung» bezeichnet wurde, ein Zustand, den wir fürchteten und über den wir gleichzeitig Witze machten. An sich waren mehrere Besuche von Maharishi geplant, doch tatsächlich sahen wir ihn nur ein einziges Mal am Ende des Trainings, als er kam, um uns als Lehrer einzuweihen und uns unser Mantra zu geben, mit dem
wir wiederum unsere Studenten einweihen würden. Die Ausbildung in der Tradition des Maharishi war sehr streng. Er erwartete, daß wir alles Wort für Wort auswendig lernten, und das klang dann so, wie ein Inder englisch spricht und hatte nicht viel mit der amerikanischen Sprache gemein. «Es ist gut? Es ist ganz einfach?» Maharishi duldete keine Kreativität, wenn es um seine Lehren ging, nichts sollte ihre Reinheit verwässern. Das Ergebnis war, daß wir voller Respekt immer wieder die ganzen Texte durchgingen, jedes Wort, das er für jeden einzelnen Aspekt der Lehre ausgewählt hatte, und wir kontrollierten und bestätigten die Meditationen unserer zukünftigen Schüler, bis die Worte in unseren Träume widerhallten. Die langen Stunden der Meditation wirkten sich verheerend auf das Gedächtnis einiger Teilnehmer aus, doch insgesamt waren wir eine junge, unverwüstliche Gruppe, die den vielschichtigen Angriff auf unsere mentalen Fähigkeiten ganz gut verkraften konnte. Für manche war es jedoch zu intensiv, und ich beobachtete einige schmerzhafte Zusammenstöße zwischen diesen Individuen und Kursleitern, die entschieden hatten, daß jeder, bei dem zu starke Symptome von «Stresslösung» zu beobachten waren, nicht den Anforderungen der Ausbildung zum Lehrer entsprach und somit vom Kurs ausgeschlossen wurde. Eine Frau begann «Engelsstimmen» zu hören, und man verlegte sie in das Zimmer neben dem Kursleiter. Man wies sie an, die Meditationsdauer zu verkürzen, bis sie schließlich nur noch zwanzig Minuten täglich saß. Dann forderte man sie auf, den Kurs abzubrechen. Sie wurde ziemlich wütend und verlangte, persönlich mit dem Maharishi über die Angelegenheit zu sprechen. Ihr Wunsch wurde abgelehnt, und man postierte eine Wache vor ihrer Tür, um zu verhindern, daß sie ihr Zimmer verließ oder mit anderen im Kurs sprechen konnte. Aus ihrem Zimmer drangen Ge-schimpf, Schreie und hysterisches Weinen,
doch wir sahen sie nie wieder. Wir bekamen lediglich vom Kursleiter die Information, daß jemand von ihrer Familie sie abgeholt hätte. Am Ende des Kurses, kurz bevor der Maharishi erschien, erlitt ein junger Mann einen Anfall von Verfolgungswahn. Er geisterte durch die Hallen des Hotels, sprang aus Türeingängen hervor, redete wirres Zeug von kommunistischen Verschwörungen, von Ferngläsern, die auf sein Fenster gerichtet seien, und von Abhöreinrichtungen in seinem Zimmer. Er versuchte den Maharishi abzufangen, als er das Hotel betrat, um ihn vor den Gefahren zu warnen, die im Hotel auf ihn lauerten, doch Maharishi lächelte ihn nur an, und während er ihm eine rote Rose gab, wies er den Kursleiter an, ihm den jungen Mann vom Halse zu halten. Eilig wurden Vorkehrungen für die Abreise des jungen Mannes getroffen. Wir alle waren ein wenig besorgt um ihn und beteten im stillen, daß uns selbst so etwas nicht zustoßen möge. Rückblickend kann ich mich nur wundern, daß nicht mehr von uns «unruhig» wurden in Anbetracht der vielen Stunden der Meditation, die uns in hohem Maße einer sehr kraftvollen Technik aussetzten. Untereinander sprachen wir nicht viel über unsere eigene «Stresslösung», denn offenbar hatten wir alle eine intuitive Angst davor entwickelt, daß jemand mithörte, etwas aus dem Zusammenhang gerissen oder dem Kursleiter gemeldet wurde. Doch irgendwann wurde uns allen klar, daß sich eine Atmosphäre von Mißtrauen entwickelt hatte, die immer dichter wurde, obwohl sich niemand traute, die Ernsthaftigkeit der Lage zuzugeben. Für meinen Teil versuchte ich, nicht zuviel über das nachzudenken, was vor sich ging. Ich war begeistert und von dem inspiriert, was ich lernte. Ich fühlte mich geehrt, meinen eigenen Platz innerhalb der Heiligen Tradition einnehmen zu dürfen, während ich die Weisheit der Vorfahren studierte. Mein Gott, all das, und ich war doch erst zwanzig Jahre alt! Solange ich
nur meine Bedenken über die Organisation beiseite schob, hatte ich das Gefühl, der Perfektion so nahe zu sein, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte. Die Erfahrungen, die ich während der Meditation und mehrerer Monate der «Runden» machte, waren eine Mischung aus Ehrfurcht gebietend und Furcht erregend, und ich wurde vertrauter mit dem heißen Atem der Angst, der mein Inneres versengte und durch meine Knochen fuhr. Die Glückseligkeit hatte mich verlassen. Sobald ich meine Augen zum Meditieren schloß, tat sich eine unendliche Weite auf. Das Gefühl, über eine Schwelle in die Unendlichkeit gesogen zu werden, stellte sich immer schneller ein, so daß ich in meiner Meditation vorsichtiger wurde. Ich versuchte mich zurückzuhalten und war voller Angst vor dem Schritt in die Leere des transzendentalen Bereiches. Ich hatte Angst davor, niemals zurückzukehren und daß jemand einige Tage später meinen Körper finden würde, eine leere Hülle, die auf dem Bett sitzt. «Wenn ich nur jemanden mitnehmen könnte, dann wäre das Ganze nicht so beängstigend.» Ich konnte mir nicht vorstellen, daß dies tatsächlich ein normaler Bestandteil der Meditation war, und die ungeheure Intensität der Erfahrung gab mir das Gefühl, mich vielleicht in irgendeiner Gefahr zu befinden. Schließlich entschloß ich mich, den Maharishi zu fragen, doch es sollte ein weiteres Jahr vergehen, bevor ich ihm meine Fragen stellen konnte, ein Jahr, in dem meine Angst immer stärker wurde und sich in meinen Eingeweiden wie ein unkontrollierbarer Parasit einnistete. Soweit mir bekannt war, war ich die einzige, die mit solchen Ängsten zu kämpfen hatte oder solche Erfahrungen machte, was meine Not nur noch verstärkte. Der Maharishi hatte uns gesagt, daß wir garantiert erleuchtet würden, wenn wir sechs bis acht Jahre lang meditierten. Er gab uns genaue, detaillierte Beschreibungen der Zustände, die uns wie Wegweiser des Erwachens begegnen würden - Wegweiser, die anzeigten, daß das Bewußtsein in das Einssein des Einheit-
Bewußtseins befreit wurde. Erleuchtung, sagte er, geschehe in drei ver-
schiedenen Stadien. Das erste sei das Kosmische Bewußtsein, das Stadium des Beobachtens, ein Gewahrsein, das beobachte und dabei doch völlig getrennt bleibe von allen Phänomenen und nicht den Zyklen von Wachen, Traum und Schlaf unterliege. Der Beobachter bliebe also «wach», auch wenn der Körper und der Verstand schliefen, träumten oder am Leben teilnähmen. Das nächste Stadium wäre das Gottes-Bewußtsein, in dem man wahrnähme, daß die manifestierte Welt eine Heiligkeit ausstrahlte, auch wenn die Trennung zwischen «Ich» und den «Anderen » bestehen blieb. In diesem Zustand löste sich der Beobachter, der bis dahin losgelöst und ohne Tiefe gewirkt hatte, im Gottes-Bewußtsein auf, welches das erhabene Reich einer Wahrnehmung war, die von göttlicher Liebe durchdrungen ist. Das letzte Stadium war das Einheits-Bewußtsein, in welchem sich Trennungen jeglicher Art auflösten, wenn sich das Bewußtsein derart erweitert, daß es alle Schöpfung umfaßt. Der Einheits-Zustand duldete keine Art von Dualität, er war durch das reinigende Feuer der Einheit gegangen und war endgültig und vollständig. Der Maharishi hatte wiederholt daraufhingewiesen, daß niemand ohne einen Guru diese Einheit erreichen könnte, denn er wäre unfähig, den Zustand zu erkennen. Nur der Guru kann es erkennen, und mit diesem Erkennen vermittelt er dem Schüler die Endgültigkeit des Geschehens mit den Worten: «Jawohl, das ist es!» Ich war froh, daß der Maharishi den Zustand von EinheitsBewußtsein erkennen würde, denn damit war ich von der Bürde befreit, es selber herauszufinden. Mit diesen Erklärungen über Erleuchtung, die damals so einleuchtend und klar zu sein schienen, überantwortete ich mich dem Ozean des transzendentalen Gewahrseins, ich ließ meine Sorgen darin schwimmen, eingelullt von dem Versprechen, daß ich eines Tages an den Ufern des Ein-heits-Bewußtseins angespült würde.
Nachdem Rick, Dan und ich die Ausbildung zum Meditationslehrer beendet hatten, kehrten wir zurück in den Mittleren Westen. Wir waren voller Enthusiasmus und begannen sofort im Center von Evanston zu unterrichten, dort wo ich vor zwei Jahren mit dem Meditieren begonnen hatte. Es war aufregend, zu jener Zeit in der Organisation von TM zu arbeiten. Jeden Monat kamen Hunderte von Menschen, um die Übungen zu erlernen. Wir waren vollauf damit beschäftigt, Vorträge zu geben, einzuweihen und das Center in Schwung zu halten. Wann immer es möglich war, lehrten Rick und ich gemeinsam, und schon bald brüteten wir über Plänen von einem neuen Center in Highland Park, Ricks Heimatstadt, ungefähr dreißig Minuten nördlich von Evanston. Wir konnten Anne, eine erfahrene Lehrerin, für unseren Plan begeistern, und mit Hilfe ihrer Erfahrung und unserer Energie und Leidenschaft wurde das neue Center geboren. Die Monate vergingen wie im Flug, und das Center war ein Riesenerfolg. Meine Eltern lernten zu meditieren, und ich konnte meinen Vater dazu bewegen, mit mir zusammen einen Vortrag für die Geschäftsleute in der Gemeinde zu halten. Es war ein großer Erfolg. Meine Eltern waren recht erfreut über den Einfluß, den TM auf meinen Bruder und mich hatte; besonders wenn man in Betracht zog, welche Richtung wir eingeschlagen hatten, bevor wir zu meditieren begannen. Ganz besonders erleichtert waren sie über die Tatsache, daß wir nun Alkohol und Drogen jeglicher Art kategorisch ablehnten. Der Maharishi hatte sie als «Gift für das Nervensystem» bezeichnet, und wir wollten doch die Klarheit unserer Meditation durch nichts vernebeln lassen. Meine Eltern gaben in ihrem Haus mehrere Versammlungen, an denen Dan und ich über TM sprachen, und wir weihten viele ihrer Freunde und Nachbarn ein. Damals zirkulierten eine Menge Geschichten über die starken positiven Einflüsse von TM auf das Leben der Menschen. Jede
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einzelne erneuerte und verstärkte mein Vertrauen in die Kraft der Lehren. Zweifel kamen immer nur dann auf, wenn ich die TM-Organisation selbst in Aktion erlebte. Auch wenn es mir schwerfiel zuzugeben, viele der langjährigen Lehrer, besonders diejenigen, die eine gewisse Macht und Autorität in der Organisation besaßen, lebten nicht, was sie lehrten. Sie strahlten nicht die Eigenschaften aus, die von den Lehren als ein Zeichen der Reife in der Meditation beschrieben wurden Liebenswürdigkeit, Geduld, Wärme, Mitgefühl. Die meisten von ihnen waren genau das Gegenteil - kurz angebunden, ungehalten, beherrschend und nachtragend. Es gelang mir, meinen Enthusiasmus zu bewahren, indem ich den Kontakt mit diesen höheren Autoritäten vermied. 1976 hörte ich von Gerüchten über einen neuen Kurs, den der Maharishi für den kommenden September anbot. Die Gerüchte waren teilweise recht widersprüchlich, doch immer wieder war die Rede davon, daß er uns beibringen würde, übernatürliche Kräfte zu erlangen. Überflüssig zu sagen, daß alle dies für den Kurs des Jahrhunderts hielten, an dem man unbedingt teilnehmen mußte. Doch ich hatte recht gemischte Gefühle, als ich von diesen Siddhis (wie diese Kräfte in Sanskrit heißen) hörte. Mir klangen noch seine Antworten, die er auf diesbezügliche Fragen gab, in den Ohren: « Es ist nicht nötig. Es ist lediglich eine Ablenkung von dem wahren Ziel, dem transzendentalen Bereich.» Und nun ermutigte er uns, Siddhis zu erlernen, so daß «wir auf den feineren Ebenen der Schöpfung spielen können.» Meine Verwirrung und meine Zweifel wurden stärker, doch ich meldete mich trotzdem für den Kurs an. Vor dem sechsmonatigen Siddhi-Kurs nahm ich an einem vierwöchigen Training für Fortgeschrittene teil, das im Frühjahr 76 in einem kleinen Skiort in Frankreich stattfand. Dies war das erste Training, bei dem der Maharishi darauf bestand, daß Männer und Frauen getrennt untergebracht wurden, um bei unseren
Bemühungen Erleuchtung zu erfahren, unser « auf den Punkt gerichtet sein» zu verstärken. Auch wenn TM als eine Technik zur Verbesserung vom Blutdruck bis zum Sex verkauft wurde, waren wir alle, die an diesem Kurs für Fortgeschrittene teilnahmen, nur hinter einer Sache her - Erleuchtung. Wir hatten uns, jeder auf seine eigene Art, der Suche nach der schwer faßbaren und doch alles erfüllenden Erfahrung des EinheitsBewußtseins verschrieben, und unser Vertrauen, dies zu erreichen, solange wir alles taten, was der Maharishi uns anwies, ließ uns auf unserem Weg fortfahren. Einen Monat bevor wir zum Siddhi-Kurs aufbrachen, machte Rick mir einen Heiratsantrag. Er wisse genau, sagte er, daß es das einzig Richtige sei, denn wir wären offensichtlich füreinander geschaffen und er könne einfach nicht warten, bis wir zurückkämen. Ohne zu überlegen, nahm ich seinen Antrag an, völlig begeistert davon, einen Lebenspartner gefunden zu haben, der so viele Passionen mit mir teilte. Er hatte bereits meinen Eltern einen Brief mit seinen «Intentionen » geschickt und sie um ihren Segen gebeten. Er hatte sogar einen sehr schönen Diamantring für mich gekauft, den er mir an den Finger steckte, bevor wir unseren Familien die Neuigkeit überbrachten. Sie waren absolut begeistert von unseren Heiratsplänen, und zwei Wochen vor unserer Abreise arrangierten wir in Windeseile eine Feier. Wir wußten, daß wir für sechs Monate getrennt sein würden, denn bereits damals wurden Männer und Frauen in allen Kursen getrennt untergebracht. Doch das Glück über das Versprechen, ein Leben lang zusammen zu bleiben, das wir uns gegenseitig gegeben hatten, machte den Gedanken an solch eine lange Trennung tolerierbar. Hunderte von Lehrern aus der ganzen Welt waren auf dem Weg zu dem «Sechs-Monate-Kursus» in den Schweizer Alpen, und Dutzende von Hotels waren in den umliegenden Orten angemietet worden. Ich verbrachte die ersten drei Monate in Brunnen, einem lieblichen Ort am Ufer des Luzerner Sees. Ich medi-
tierte mit großer Hingabe. Ich konnte niemals genug bekommen, und meine Erfahrung der Transzendierung wurde klarer und klarer, auch wenn mich die Angst weiterhin mit alarmierender Regelmäßigkeit überfiel. Jeden Tag mußten wir Formulare ausfüllen, in denen unsere Erfahrungen beschrieben und die Klarheit der Transzendenz beurteilt werden mußten. Man teilte uns des weiteren mit, daß man aus unserer Gruppe einen Leiter auswählen würde, der dafür verantwortlich sei, diese Erfahrungsberichte jede Woche einzusammeln, um sie am Telefon einem Beauftragten des Maharishi vorzulesen. Dieser Leiter sollte auch täglich das Hauptquartier kontaktieren und alle organisatorischen Mitteilungen an die Gruppe weiterleiten. Man teilte mir mit, daß ich zum Gruppenleiter ausgewählt worden war. Ich war mir nicht sicher, wie ich auf diese Nachricht reagieren sollte, doch schien diese Entscheidung endgültig zu sein, und so gab ich meine Zustimmung und hoffte, daß alles gutgehen würde. Rick und ich schrieben uns fast jeden Tag. Er war genau wie ich ein begeisterter Meditierer. Oft beschrieb er die ekstatischen Zustände, die er erlebte, und all seine Briefe waren durchwoben von hingebungsvollen Liebeserklärungen und Dank für den Maharishi. Mehr als einmal schrieb er, daß er nun all diejenigen verstehen könne, die dem weltlichen Leben entsagten, um ein spirituelles Leben mit ihrem Guru zu führen. Mir war unklar, was in seinem Herzen vorging, doch ich beschloß, mir darüber keine Sorgen zu machen. Aus meiner eigenen Erfahrung wußte ich, daß die Emotionen während der langanhaltenden Runden sehr starken Schwankungen unterworfen waren, und ein jeder von uns erwog die Möglichkeit (die wir in höchstem Maße idealisierten), ein Leben der Entsagung zu führen, die Welt der May a zu verlassen und uns voll und ganz der Erleuchtung zu widmen. Wir wußten von denjenigen, die seit Jahren in der Nähe des Maharishi lebten
und studierten, ihm überallhin folgten und niemals in ihr früheres Leben in der Welt zurückkehren wollten. Diese Frauen und Männer wurden mit einer Mischung aus Neid und Bewunderung betrachtet. Man hatte ihnen den Titel «Verheiratet mit der Asana-Matte» verliehen. Zu jener Zeit lebte der Maharishi in der obersten Etage eines Hotels in Hertenstein, wo auch alle seine langjährigen weiblichen Anhänger (ohne Zweifel in der Kategorie «Verheiratet mit der Asana-Matte») und viele aus den höheren Rängen der TM-Organisation untergebracht waren. Er ordnete an, daß alle Gruppenleiter der Hotels, in denen Frauen untergebracht waren, nach Hertenstein verlegt werden sollten, um dort an dem Kurs teilzunehmen. Im Austausch sollte jeweils eine Frau aus Hertenstein in die anderen Hotels umziehen, um dort jeden in die Siddhis einzuweihen. Ich wurde angewiesen, meine Sachen zu packen und in der Lobby meines Hotels in Brunnen auf den Bus zu warten, der mich abholen würde. Ich war im Himmel. Ich sollte also im Hotel des Maharishi wohnen und eine der ersten sein, die in die Siddhi-Techniken eingeführt wurde. Etliche Stunden später traf der Bus endlich ein, und er war bereits voll besetzt mit Frauen, die aus den verschiedenen Hotels eingesammelt worden waren. Nach einer kalten, unbequemen Fahrt durch die nächtlichen Alpen erreichten wir ein mit Schnitzereien verziertes Hotel, das auf einer Anhöhe lag und eine wunderbare Aussicht auf den See und die umliegenden Berge bot. Als wir vorfuhren, empfingen uns drei Frauen in Saris und begrüßten uns. Man zeigte uns unsere Zimmer und überließ uns dann uns selbst. Mein Zimmer war geräumig und komfortabel mit einem wunderschönen Ausblick über den Luzerner See und die strahlenden Lichter der Orte, die sich wie eine Halskette um den See legten. Ich stellte meine Tasche ab, warf mich aufs Bett und fiel bis
zum Morgengrauen in einen tiefen Schlaf. Als ich erwachte, nahm ich eine Dusche und begann mit meinen morgendlichen Runden, gespannt darauf, ob es anders sein würde, im Hotel des Maharishi zu meditieren, denn es ging das Gerücht um, daß es der optimale Platz zum Transzendieren sei. Nachdem ich eilig meine Asanas und Pranayamas beendet hatte, schloß ich die Augen und begann mit meinem Mantra. Doch kaum, daß ich begonnen hatte, fühlte ich mich wie von einem Tornado aufgesogen. Eine ungeheure Kraft wirbelte mich mit einer Geschwindigkeit im Kreis umher, die nicht länger als ein paar Sekunden zu ertragen war, sie hätte mich ansonsten in Stücke zerrissen. Ich versuchte meine Augen zu öffnen, doch ich konnte sie nicht finden. Alle Empfindungen, einen Körper zu besitzen, hatten sich aufgelöst, und trotzdem wurde ich weiterhin umhergewirbelt. Einen Moment später hörte es ganz plötzlich auf, und alles war still. Ich legte mich aufs Bett, um meine Kräfte zu sammeln. Nun gab es keinen Zweifel mehr: Ich brauchte den Rat des Maharishi, um herauszufinden, was um Himmels willen mit mir in meiner Meditation passierte. Ich betete, daß ich recht bald dazu Gelegenheit bekommen möge. Unsere Ankunft in Hertenstein war der Beginn einer entscheidenden Veränderung, was den Ton des Kurses betraf. Für den folgenden Tag war unsere Einweihung in die Siddhis durch zwei leitende TM-Lehrer geplant. Danach sollten wir innerhalb der Gruppe unsere Übungen praktizieren. Ein Empfangssaal im Erdgeschoß war in einen Meditationsraum verwandelt worden. Der gesamte Boden war mit Schaumgummimatratzen ausgelegt, die mit Dutzenden von weißen Laken bedeckt waren. Auch die Fenster waren mit Matratzen und Laken verhängt worden, um dem Ganzen einen möglichst privaten Rahmen zu geben. Erst später erfuhr ich, daß man gleichzeitig verhindern wollte, durch den Lärm der siddhiübenden Frauen einen gewissen Argwohn bei un-
seren Schweizer Nachbarn aufkommen zu lassen. Der Raum wirkte wie eine riesige gepolsterte Zelle, und die würdevollen Kristallkronleuchter gaben dem Ganzen einen Hauch von eleganter Absurdität. Ich war nicht der einzige Neuankömmling, der in Gelächter ausbrach, als er zum ersten Mal den Raum betrat. Diese seltsame Szenerie schien das Gerücht zu bestätigen: Wir sollten «fliegen» lernen. Es konnte kaum eine andere Erklärung für diesen gepolsterten Raum geben, als daß er als «Landebahn» für fliegende Meditierer dienen sollte. Bislang hatten wir den Maharishi noch nicht zu Gesicht bekommen, doch Gerüchte besagten, daß er uns persönlich einweihen würde. Man wies uns an, im « Schaumgummiraum » im Kreis zu sitzen und auf weitere Anweisungen zu warten. Dabei formten sich von ganz allein zwei Gruppen: Die Neuankömmlinge mit einem etwas verlegenen Gesichtsausdruck und die Erfahreneren, umweht von einer Brise losgelöster Überheblichkeit. Wir waren so weit. Barbara, unsere Kursleiterin und langjährige Anhängerin des Maharishi, betrat den Raum mit einem Telefon in der Hand, das sie in die Mitte des Raumes plazierte. Sie sagte, daß uns der Maharishi die ersten fünf Siddhis per Telefon übermitteln würde, nachdem wir unsere Puja (hingebungsvolle Zeremonie) beendet hatten. Wir waren völlig schockiert. Der Maharishi war nur ein paar Stockwerke über uns, und doch wollte er per Telefon zu uns sprechen? Barbara begann den Tisch für die Puja aufzubauen, während einige Frauen Früchte und Blumen aus der Küche besorgten. Anschließend standen wir um den Altar herum, jeder hielt eine Blume in der Hand, und wir sangen im Chor die Puja. Die Zeremonie besänftigte meinen aufgewühlten Verstand, und in meinem Kopf wurde es wieder leichter. Wir verbeugten uns am Ende der Puja und bildeten einen Kreis um das Telefon. Es knackte zweimal, und dann kam Maharishis hohe Stimme durch die Leitung. Es klang, als ob er Tausende von Meilen entfernt wäre.
«Wie geht es meinen Damen?» säuselte seine Stimme. «Alle sind glücklich und entspannt?» «Wir sind alle sehr glücklich, Maharishi», antwortete Barbara. «Wir sind insgesamt zweiunddreißig Frauen hier unten, und wir haben gerade die Puja beendet.» « Sehr gut, sehr gut. Laßt uns also mit dem Prozeß beginnen, der euch zu Meistern des Zeitalters der Erleuchtung macht. Ihr werdet lernen, wie man auf den höchsten Gedankenebenen spielt, nachdem ihr von den vielen Jahren eurer Meditation reiche Früchte geerntet habt. Ihr habt alle die Erfahrung einer klaren Transzendierung erlebt, oder nicht? Sehr gut. Und nun wird eure klare Transzendierung dazu beitragen, jedem auf diesem Planeten Frieden zu bringen. Es sind die Auswirkungen der vielen Stunden eurer tiefen Meditation, die die Boten des Zeitalters der Erleuchtung sein werden. Schon sehr bald wird die ganze Welt den Frieden und die Glückseligkeit erfahren, die wir durch unsere Meditation wie Wellen zu jedem in dieser Welt aussenden werden.» Nachdem er die Siddhis recht detailliert erklärt hatte, gab er uns genaue Anweisungen für die Techniken, Sutras genannt, für fünf der Siddhis. Eines davon war das fliegende Sutra. Wir schrieben jedes Wort mit, und er erlaubte uns, unsere Zettel so lange benutzen zu dürfen, bis wir jedes Wort auswendig kannten. Er wies uns auch an, morgens drei Stunden lang auf unserem Zimmer zu meditieren und dann nach unten in den Saal zu kommen, um gemeinsam die Siddhis zu praktizieren. Am nächsten Morgen erschienen wir Neuankömmlinge pünktlich zur ersten Siddhi-Übung innerhalb der ganzen Gruppe. Ich setzte mich mit gekreuzten Beinen auf die Schaumgummimatratze, um mit meinen Sutras zu beginnen, als plötzlich der Raum von den bizarrsten Geräuschen widerhallte. Ich riß meine Augen auf und stellte fest, daß die Teilnehmer aus der früheren Gruppe, die schon seit drei Wochen die Siddhis praktizierten, vor- und
rückwärts oder seitlich hin und her schwankten und dabei die irrsinnigsten Laute ausstießen, die ich jemals gehört hatte: Schreie, Brüllen, Raunen, Knurren, Grunzen, Gelächter, Jaulen und Stöhnen. Der Raum vibrierte von den Bewegungen und Geräuschen. Wir starrten uns gegenseitig mit offenem Mund an und versuchten abzuschätzen, wie ernst die Lage war. Unsere Verwunderung ging schließlich in Gelächter über, als wir die Altmeditierer beim Abheben beobachteten. « Fliegen » war sicherlich nicht das passende Wort dafür, es ähnelte eher einem Hüpfen. Doch hier saßen sie vor uns, in Lotusposition, die Augen geschlossen, dabei Geräusche ausstoßend, die vom Kriegsgeschrei bis zum Kichern reichten, und sie hüpften auf der Schaumgummimatratze umher wie Frösche, die von einem Seerosenblatt zum nächsten sprangen. Welch ein Anblick! Ich berichtete Rick über alles, was in Hertenstein geschah. Auch seine Gruppe war in die ersten fünf Sutras eingeweiht worden, und er hatte die gleichen Erfahrungen gemacht: Kakophonie und alles andere. Doch im Gegensatz zu mir war er von den Siddhis absolut begeistert. Für ihn waren die Sutras wesentlich umwerfender, als er es sich in seinen kühnsten Träumen hätte vorstellen können, und er schien auf einer grenzenlosen Woge der Glückseligkeit dahinzugleiten. Der Kurs lief nun schon seit zwei Monaten in Hertenstein, doch bislang hatten wir den Maharishi noch nicht zu Gesicht bekommen. Wir hörten von allen möglichen Aktivitäten in der Suite des Maharishi, und Freunde in den anderen Hotels schrieben uns, daß sie uns beneideten, denn wir säßen ja mitten im Zentrum des Geschehens. Wir versicherten ihnen, daß es absolut keinen Grund gab, uns zu beneiden. Ununterbrochen kamen neue Schüler aus Seelisberg an, und manche von uns, die in Hertenstein untergebracht waren, mußten gelegentlich ihr Zimmer für einen Neuankömmling räumen.
Meine Freundin Ann, mit der ich in Brunnen zusammengewesen war, wurde aufgefordert, in ein winziges Zimmer ohne Bad umzuziehen. (Sie hätte das Badezimmer unten in der Lobby benutzen müssen.) Es war gerade ihr Geburtstag, und wir hatten ihre Zimmertür mit Karten und Briefchen vollgehängt. Sie bat um einen Tag Aufschub für den Umzug, damit sie noch ihren Geburtstag dort feiern konnte, doch die Antwort war ein rigoroses Nein von einer solchen Vehemenz, daß Ann in Tränen ausbrach. Während sie noch tränenüberströmt in der Tür stand, stürmten einige der Kursleiter in ihr Zimmer und begannen, ihre Sachen auf den Flur zu werfen. Einige andere Kursteilnehmer und auch ich schrien sie an, damit aufzuhören, und ein hitziges Wortgefecht begann. Barbara schrie dazwischen, daß es der Wunsch des Maharishi wäre, den sie ausführten - das war immer die Entschuldigung für alle nicht nachvollziehbaren Entscheidungen -, und daß es «für unsere eigene Entwicklung» sei, die Anweisungen des Maharishi auszuführen. Auch wenn solche Vorfälle nicht regelmäßig passierten, so geschahen doch mehr Dinge, als man von jemandem erwartet hätte, der mit Techniken arbeitet, die zu einem höheren Bewußtseinszu-stand führen sollen. Mir fiel es immer schwerer, die Augen davor zu verschließen, daß diejenigen aus dem inneren Kreis offensichtlich kein Mitgefühl empfanden, und das schürte wiederum altgehegte Zweifel an den Werten der Organisation. Zwei Wochen vor Kursende lag eine gewisse Begeisterung in der Luft, als wir mit den Vorbereitungen für unsere «Abschluß-Feier» begannen, die in Seelisberg stattfinden sollte. Dort wollte man uns unsere Diplome überreichen, die uns zu Meistern des Zeitalters der Erleuchtung machten. Der Maharishi hatte sich ausgebeten, daß die Damen Saris tragen sollten, und all diejenigen, die noch nie einen Sari getragen
hatten, befürchteten, sich zu blamieren. Eine Inderin aus einem der Kurse erklärte sich bereit, uns zu zeigen, wie man einen Sari bindet und mit so viel Grazie wie möglich schreitet - oder zumindest einfach geht. Den Maharishi hatten wir immer noch nicht zu Gesicht bekommen, doch er hatte im vergangenen Monat noch dreimal per Telefon mit uns gesprochen und uns weitere Sutras übermittelt. Die neuen Siddhi-Übungen zusammen mit der Meditation, dem Hatha Yoga und dem Pranayama, aus denen eine Runde bestand, dauerten jetzt drei Stunden. Ich begann mich zu wundern, ob man ein solches Programm zu Hause in den Staaten aufrechterhalten konnte. Schließlich nahmen eine Runde am Morgen und eine am Nachmittag, die empfohlene Praxis für ein Leben «in der Welt», bereits sechs Stunden in Anspruch. Weiterhin sollten wir jeden Monat einen Bericht über unsere Fortschritte an das Hauptquartier in Seelisberg schicken und über unsere Erfahrungen mit den Siddhis berichten. Es war ein wunderschöner, warmer Wintertag. Ich hatte gerade zu Mittag gegessen und wollte mich auf meinen täglichen Spaziergang in der Umgebung machen. Auf dem Weg hielt ich an der Rezeption an, um nach Post zu schauen. Ein Brief von Rick war angekommen, und ich riß ihn voller Freude auf. Ich las die ersten drei Sätze, und mein Herz begann derart zu rasen, daß ich mich hinsetzen mußte, um mein Gleichgewicht wiederzufinden. Ich las die Zeilen nochmals durch. Rick schrieb, er wolle nicht heiraten. Er hätte bereits an unsere Eltern geschrieben und nun an mich. Er wisse, daß mich dies verletzen würde, aber er habe beschlossen, nicht zu heiraten - niemals. Er wolle sein Leben dem Guru widmen, so nahe wie möglich in Maharishis Nähe leben, enthaltsam bleiben und Erleuchtung erlangen. Ich mußte nach Luft schnappen, während ich las. Es verschlug mir ganz einfach die Sprache. Mehrere Freunde versammelten sich um mich, während ich sprachlos und mit tränenüberström-tem Gesicht, unterbrochen von tiefen
Schluchzern, die Nachricht hervorstammelte. Schließlich konnte ich nur noch leise vor mich hinwimmern. Ich weinte mehrere Tage lang. Ich ging jeden einzelnen Brief durch, den ich von ihm erhalten hatte, um einen Hinweis für diese unerträgliche Entscheidung zu finden. Dann überkam mich die Wut, und diese Wut schien mein zerrissenes Herz wieder zusammenzufügen. Ich zog meinen Diamantring vom Finger, steckte ihn in einen Umschlag, adressierte ihn an Rick, klebte eine Briefmarke drauf und feuerte ihn in den Briefkasten. Ich wußte genau, daß ihn das treffen würde, doch in meiner Verletztheit war mir das völlig egal. Wir würden uns in einer knappen Woche bei der Abschlußfeier wiedersehen und dann zusammen zurück in die Staaten fliegen. Er sollte mir ins Gesicht sagen, daß dies tatsächlich das war, was er wollte. Am letzten Tag des Kurses brachen wir in aller Frühe nach Seelisberg auf. Unser Flug sollte am Abend um sieben Uhr von Zürich starten, und wir glaubten noch eine Menge Zeit zu haben. Doch wie üblich führten organisatorische Probleme zu Verspätungen. Als wir endlich ankamen, hatten wir gerade noch zwanzig Minuten Zeit bis zu unserem Aufbruch zum Flughafen und um unsere Diplome in Empfang zu nehmen. Ich sah Rick nur ganz kurz, als wir aus dem Bus stiegen. Er schien völlig ruhig zu sein, fast distanziert. In seinem Gesicht zeigten sich keinerlei Reaktionen, als er mich begrüßte und mir Komplimente über mein Aussehen in dem Sari machte. Der Flug verlief auch nicht anders. Rick war während der gesamten Reise in bester Laune. Er schien nicht im mindesten zu leiden nur daß ich ihm den Ring auf solch unverantwortliche Weise zurückgeschickt hatte, schien ihn erwartungsgemäß zu ärgern. Unsere Eltern erwarteten uns in Chicago mit recht gemischten Gefühlen. Sie warteten auf uns am O'HareFlughafen, beladen mit Blumensträußen, doch ihr fröhliches Lächeln verschwand sofort, als sie mich erblickten. Der
Schmerz war ihnen anzusehen und in ihren Umarmungen zu spüren, doch ich wußte ihre Bemühungen, ein fröhliches Gesicht aufzusetzen, zu schätzen. Allen blieben die Worte im Halse stecken, während wir den langen Korridor zum Gepäckempfang gingen. Die Geschäftigkeit der Welt um uns herum hatten Rick und mir völlig die Sprache verschlagen, während unsere Familien ununterbrochen über all das Essen plauderten, das wir doch sicher vermißt hätten, und in welche Restaurants wir wohl gerne zum Abendessen gehen möchten. Nachdem wir unser Gepäck eingesammelt hatten, brach Rick mit seiner Familie auf, und seine Mutter warf mir einen langen, forschenden Blick voller Entschuldigungen zu, für den sie eigentlich gar keinen Anlaß hatte. Kaum waren sie außer Sichtweite, brach meine Mutter in Tränen aus, und ich versuchte sie zu trösten und zu beruhigen. Diesmal war ich ausnahmsweise froh über die Ablenkung, die sie mir damit bot, und ich tätschelte ihren Rücken und versicherte ihr, daß sich alles zum Besten wenden würde. Ich war kaum zwei Tage wieder zu Hause, als ich mich entschied, für weitere drei Monate in die Schweiz zurückzugehen. Diese Möglichkeit hatte die ganze Zeit schon bestanden, und viele Frauen in Hertenstein waren gleich dortgeblieben. Meine Eltern stimmten sofort zu. Sie hofften wahrscheinlich, daß eine weitere Reise nach Europa mein gebrochenes Herz wieder heilen würde. Ich rief in der Schweiz an, um mich anzumelden, und zwei Tage später saß ich in einem Flugzeug der SwissAir zurück nach Zürich. Die nächsten drei Monate verbrachte ich in Arosa und fand endlich auch eine Gelegenheit, meine Frage über die Angst loszuwerden, als uns der Maharishi am Ende des Kurses aufsuchte. «Maharishi», legte ich los, «ich muß dich etwas über ein Erlebnis fragen, daß mich schon seit über einem Jahr beunruhigt. Immer, wenn ich ein klares Transzendieren
erlebe, überkommt 47
mich eine überwältigende Angst, und ich habe dann das Gefühl, daß ich augenblicklich tot umfalle, wenn ich die Meditation nicht abbreche.» Der Maharishi brach in schallendes Gelächter aus, eine Reaktion, die ich absolut nicht erwartet hatte. «Mach dir keine Sorgen wegen der Angst», sagte er unter Lachen. « Es ist lediglich der Körper, der an der Welt festhält. Um zu transzendieren, mußt du die Welt loslassen, doch der Körper bekommt Angst, denn er glaubt, daß es außer der Welt nichts anderes gäbe. Schenke der Angst deines Körpers keine Bedeutung - laß einfach los.» Da hatte ich nun endlich meine Antwort, auch wenn das Loslassen viel zu sehr mit Angst beladen war, als daß es eine akzeptable Lösung hätte sein können. Der Vorschlag des Maharishi machte rein theoretisch Sinn, doch es sollte noch viele Jahre dauern — viele Jahre voller Angst in einem Ausmaß, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte -, bevor schließlich aus reiner Erschöpfung das Loslassen geschah. Der dreimonatige Kursus war eine Fortsetzung des Kurses in Hertenstein, nur noch viel größer. Das Hotel Pratjali in Arosa war bis zum Bersten gefüllt: hundertachtzig Siddhi-Frauen, wie wir genannt wurden, waren aus den verschiedenen Orten in Europa angereist, wo sie gerade den sechsmonatigen Kurs beendet hatten. Der große Ballsaal war in eine höhlenartige Siddhi-Arena verwandelt worden, die von den Schreien und dem Aufheulen der Gruppe widerhallte und das ganze Hotel vibrieren ließ. Wir verbrachten täglich sechs Stunden auf unseren Zimmern und machten unsere Runden und drei weitere Stunden in der großen Gruppe mit den SiddhiÜbungen. Die Kakophonie war ohrenbetäubend. Ich sehnte mich nach meinen früheren Erfahrungen von tiefer Stille und Frieden zurück, die mich in den Schoß von TM geführt hatten,
in einer Zeit, als das transzendentale Gewahrsein
noch das einzige Ziel war. Die Siddhi-Kurse begannen, meinen inneren Frieden anzufressen und wühlten mich eher auf, als daß sie mir Glückseligkeit bescherten. Am Ende konnte ich es kaum erwarten, Arosa wieder zu verlassen, um nie mehr in das Irrenhaus zurückzukehren, das die TM-Organisation geworden war. Ich wollte dem Gefängnis des intellektuellen Überbaus entfliehen, den ich in den Mauern der Welt des Maharishi übernommen hatte. Ich wollte all dem entfliehen und keinen Blick zurückwerfen. Ich hoffte, daß das nächste Kapitel das bringen würde, was ich wirklich suchte.
Präludium der Leere Auf der langen Reise fort vom Selbst Gibt es viele Umwege, Ausgefahrene, holperige Wege, Auf denen der Schiefer gefährlich lose liegt Und die Hinterachse fast über die Klippe hängt, Falls ein plötzlicher Kurswechsel kommt, Der Moment der Wende. THEODORE ROETHKE
Zurück in den USA, schien Kalifornien offensichtlich das Ziel für mich zu sein. Ich packte meine Sachen und verabschiedete mich von meinen Eltern. Langsam wurde ich vertraut mit der Erfahrung, im Leben weiterzuschreiten, ohne erst die Möglichkeiten zu analysieren und das Für und Wider abzuwägen, sondern mich einfach in den nächsten Moment fallen zu lassen und zu tun, was es zu tun gab. Ich analysierte niemals meine Möglichkeiten oder die passenden Argumente, um zwischen den Optionen zu wählen. Schon recht früh hatte ich realisiert, völlig darauf vertrauen zu können, daß sich der nächste Schritt in recht offensichtlicher Weise präsentieren würde. Nach Kalifornien zu gehen, war ganz einfach das Naheliegenste, was es zu tun gab.Ich schrieb mich am Sonoma State College für das Wintersemester ein und stürzte mich mit einer bis dahin ungekannten Heftigkeit in das akademische Leben. Mir schien es eine Reaktion auf das Leben außerhalb einer geschlossenen spirituellen Ge-
meinschaft zu sein, vermischt mit einer ungezügelten Freude an neuen Ideen, die das spirituelle Wissen, von dem ich so sehr durchdrungen war, ergänzten. Ich versuchte, meinen Blick nach vorn zu richten, und hoffte, daß ich genügend aus meinen vergangenen Erfahrungen gelernt hatte, so daß mich davon nichts einholen oder verfolgen würde. Ich lebte überwiegend ohne Erinnerungen an die Vergangenheit, außer den Erfahrungen mit der Meditation, die mich weiterhin in den unendlichen Raum entführten, wann immer ich mich hinsetzte und meine Augen schloß. Nach meiner Rückkehr von dem Siddhi-Kurs meditierte ich nur noch sporadisch. Es fiel mir schwer, inmitten eines solch aktiven Lebens die Zeit dafür zu finden. Nach diesen Jahren eines weltabgeschiedenen Lebens stürzte ich mich voller Freude und Enthusiasmus in das Leben einer freien, unabhängigen Frau. Ich ertränkte meine Trauer über meine verlorene Liebe in einem Meer neuer Beziehungen. Ich genoß vollen Herzens, ein vertrautes Gebiet mit verschiedenen Partnern zu erkunden, und ein jeder von ihnen eröffnete mir einen neuen Aspekt der scheinbar unendlichen Möglichkeiten menschlichen Seins. Auch mein Studium bot mir reichlich Inspiration. Im Januar 1978 wechselte ich zur Universität von Kalifornien in Berkeley. Während ich mich durch die große Weltliteratur des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts arbeitete, begann für mich eine Zeit intensiver Entdeckungsreisen, die in mir eine Liebe für die Schicksale der Menschen erwachen ließ. Im Dezember 1979 machte ich mein Examen in englischer Literatur und hielt sofort nach dem nächsten Ziel Ausschau. Ich brauchte nicht lange zu warten: Wie üblich wartete das Naheliegenste, das es zu tun gab, gleich schon im nächsten Augenblick. Ich buchte einen Flug nach Paris.
Gern würde ich eine genauere Erklärung dafür abgeben, warum meine Wahl auf Paris fiel. Sicherlich gab es eine Menge unbekannter Einflüsse, die mich in diese Richtung getrieben haben, doch zu der Zeit konnte ich nur feststellen, daß genau dies offensichtlich das Naheliegenste war, was es zu tun gab. Ich hatte in der Schule Französisch gelernt und fühlte mich ungemein vertraut mit der Sprache, fast so, als ob ich mich an sie erinnern würde, anstatt sie neu zu erlernen. Als ich in Paris ankam, stellte ich fest, daß ich mit der Stadt so vertraut war, als ob ich dort schon einmal gelebt hätte und die engen Straßen und die vibrierende Energie bereits kannte. Fast auf Anhieb fand ich ein Appartement auf dem linken Ufer in St. Germain-des-Pres, einem der buntesten und lebendigsten Bezirke der Stadt. Ich schrieb mich an der Sorbonne ein, belegte die Semester für ausländische Studenten und stürzte mich in ein neues und aufregendes Leben. Ich schien die Stadt buchstäblich zu inhalieren und auf eine Art in mich aufzunehmen, daß es schon fast angsterregend wirkte, wenn ich mehr auf Vorsicht bedacht gewesen wäre. Doch Vorsicht war zu jener Zeit nicht meine Sache, und ich hatte meine wahre Freude an der Vollkommenheit der Dinge. Paris war voller Leben, wie ich es bislang noch von keiner Stadt kannte. Ich fühlte mich in seiner Energie zu Hause und war begeistert von seinem Zauber. Berauscht von freudiger Verwunderung wanderte ich im Morgengrauen durch die engen kopfsteingepflasterten Gassen und konnte kaum fassen, was sich meinen Augen eröffnete. Meine einzige Freundin in Paris war Juliette, die Schwester von einem der Teilnehmer, den ich in den TM-Kursen kennengelernt hatte. Juliette war eine wunderliche, träumerische Frau, die sich sofort in jedes Abenteuer stürzte. In der ersten Woche verbrachten wir viel Zeit miteinander, und ihr verdanke ich meine Einführung in das komplexe Leben von Paris. In ihrem Appartement bekam ich zum ersten Mal den Philosophen Bernard-Henri Levi zu Gesicht. Er gab gerade
einem sehr
bekannten Journalisten ein Interview für die Nachrichten im Fernsehen. Levi war der Kopf einer neuen Bewegung, die die traditionellen Werte der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts auseinandernahm. Ich verstand kein Wort von dem, was er sagte, doch seine leidenschaftliche Art faszinierte mich. Juliette erzählte mir, daß er auf einer Veranstaltung sprechen würde, die am nächsten Tag in Ivry, einer kleinen Vorstadt südlich von Paris, stattfinden sollte. Gemeinsam wollten wir daran teilnehmen. Ich traf noch vor Juliette in Ivry ein, mitten in einer Menschenmenge, die gekommen war, um Levi sprechen zu hören. Die Veranstaltung fand in einem großen Zelt statt, das extra dafür errichtet worden war. Man hatte viele Reihen mit Klappstühlen und eine erhöhte hölzerne Plattform mit mehreren bequemen Sesseln als Podium aufgebaut. Ich suchte in dem überfüllten Zelt nach zwei Stühlen und hoffte, daß Juliette mich finden würde. Schließlich entdeckte ich zwei Stühle am Mittelgang ungefähr in der zehnten Reihe und setzte mich. Immer wieder fragten mich Leute, ob der andere Stuhl bereits besetzt sei. Das Zelt füllte sich sehr schnell, und von Juliette war immer noch nichts zu sehen. Levi kam die Stufen hinauf zum Podium und sezte sich in einen der Sessel. Die Lampen wurden abgeblendet, und wer jetzt noch keinen Stuhl hatte, machte nun einen letzten Versuch, einen freien Platz zu ergattern. Ein gutaussehender Mann Ende zwanzig fragte mich, ob der Stuhl neben mir noch frei sei. Ich warf nochmals einen kurzen Blick durch das Zelt, ob Juliette irgendwo zu sehen war, und überließ ihm dann den Stuhl. Er begann sofort eine Unterhaltung. Er bemerkte zwar meinen Akzent, doch da er ihn nicht lokalisieren konnte, fragte er mich, woher ich sei. Er war höchst erfreut zu hören, daß ich Amerikanerin war, und begann sofort von seiner kürzlichen Reise
in die Staaten zu erzählen. Er war durch Kalifornien und Nevada gereist und erklärte voller Freude, daß dies einer der Höhepunkte in seinem Leben gewesen war. Er überwältigte mich mit seiner enthusiastischen Be-Igeisterung. Die anderen Zuhörer baten uns, unsere Unterhaltung leinzustellen, denn Levi stand bereits auf dem Podium und war be-Ireit, mit seinem Vortrag zu beginnen. Der Mann neben mir stellte sich als Claude Cohen vor, schüttelte höflich meine Hand und •fragte, ob wir unsere Unterhaltung nach dem Vortrag fortsetzen könnten. Ich willigte gerne ein und dachte, daß eine Unterhaltung lit solch einem leidenschaftlichen Gesrpächspartner für mich zu-lindest eine gute Lektion in Französisch sein würde. Claude und ich gingen nach dem Vortrag in ein Cafe, und wir schlängelten uns durch die Menschenmenge. Ich hatte die Hoff-lung aufgegeben, Juliette noch zu finden. Wir verbrachten die veiteren Stunden damit, uns zu unterhalten, Kaffee zu trinken ind uns voller Begeisterung gegenseitig so viel wie möglich voneinander zu erzählen. Wir lachten über die Unterschiede unserer beiden Kulturen und machten Witze über die typisch amerikanischen und französischen Eigenheiten. Claude hatte vor kurzem sein Medizinstudium beendet und arbeitete nun in einer privaten Arztpraxis. Er stammte aus einer jüdischen Familie, die sich 1967 nach der Vertreibung aus ihrem Heimatland Tunesien in Paris niedergelassen hatte. Für ihn war es eine traumatische Zeit gewesen, und er schilderte mir alles mit größter Genauigkeit. Egal worüber Claude sprach, er tat es mit einer solchen Leidenschaft, wie ich sie noch nie bei einem Menschen erlebt hatte. Er war sehr gut über alle möglichen Dinge informiert und hatte offensichtlich eine Menge Zeit damit verbracht, darüber nachzu-(., denken und zu diskutieren - über alles, vom Wetter bis zu den Auswirkungen der Machtergreifung der Sozialisten unter Mitterand. Ich mußte mich sehr anstrengen, um alles zu
verstehen, was er sagte, und manchmal bat ich ihn, langsamer zu sprechen oder etwas mit verständlicheren Worten auszudrücken. Als wir uns schließlich voneinander verabschiedeten, wußte ich, daß ich die Person gefunden hatte, die mir beibringen würde, französisch wie die Einheimischen zu sprechen. Wir tauschten unsere Telefonnummern aus, um uns in ein paar Tagen zum Abendessen und vielleicht zum Kino zu treffen. Nach dieser ersten Verabredung verbrachten Claude und ich jeden Moment zusammen. Es freute mich zu sehen, wie er sich an allen möglichen Aspekten des Lebens erfreuen konnte, vom kleinsten Detail eines Abendessens oder den Wolken am Himmel bis zu weitreichenden philosophischen oder politischen Theorien. Er schien einfach über ein unerschöpfliches Reservoir an Enthusiasmus zu verfügen. Sehr schnell wurde deutlich, daß unsere Beziehung ernster wurde, besonders als er nach der vierten Verabredung bei mir einzog, damit wir mehr Zeit miteinander verbringen konnten. Ich widersetzte mich nicht seiner Entschlossenheit, fühlte ich mich doch sehr von seiner energetischen und leidenschaftlichen Art angezogen. Doch es war seine Familie, die unsere Bindung wirklich besiegelte. Sie waren genauso mitteilsam und ausgelassen wie er und von einer Wärme, die mich mit einer natürlichen Liebe, die ich niemals in Frage stellte, in ihre Arme trieb. Es war ein ganz besonderes Erlebnis für mich, am Freitagabend zu ihnen zum Abendessen zu gehen - zu seinen Eltern, seinen beiden Schwestern mit ihren Ehemännern, seinem Bruder und jedem aus der Verwandtschaft, der gerade in der Nähe war. Alle redeten auf einmal, ein Ansturm von Stimmen und Fragen, und sie taten wirklich alles, damit ich mich in ihrer Mitte wohlfühlte. Im November 1980, acht Monate nachdem wir uns getroffen hatten, heirateten wir. Zwei Monate lang bereitete es uns wahre Alpträume, all die Papiere zu besorgen, welche die französische Bürokratie verlangte. Wir mußten daher einen Hochzeitstermin
im späten Herbst auswählen - sehr zum Verdruß meiner Familie. Niemand ist davon begeistert, zum ersten Mal nach Paris zu kommen, während es eiskalt und der Himmel voll grauer Regenwolken ist. Mein Vater konnte an der Hochzeit nicht teilnehmen. Zwei Jahre zuvor hatten sich bei ihm Symptome von Alzheimer entwickelt, und dies verwandelte ihn in kürzester Zeit zu einem Schatten seiner selbst. Sein Verstand löste sich in einem tragischen Verfallsprozeß auf, und wir waren hilflos dazu verurteilt, dem mit Entsetzen zuzuschauen. Nachdem sich die Aufregung über das neue Eheleben nach einem Monat etwas gelegt hatte, begann ich meinen Versuch, mich in die Rolle einer Pariser Ehefrau einzuleben. Ich hatte mit meinen Meditationen kurz nach meiner Ankunft in Paris völlig aufgehört und das vor mir damit begründet, daß ich später wieder damit beginnen würde - kein Grund zur Aufregung. Doch es war inzwischen ein Jahr vergangen, und ich spürte auch weiterhin kein Bedürfnis, wieder zu meditieren, zumal ich befürchtete, daß Claude -und ich vermutete jeder in Paris - es mißbilligen würde. Ich war auch wütend auf den Maharishi und zutiefst von der spirituellen Welt, wie er sie repräsentierte, enttäuscht. Ich fühlte mich verletzt, weil ich nicht die Erleuchtung gefunden hatte, die er nach sechs bis acht Jahren Meditation versprochen hatte. Vielleicht war es auch die Trauer über den Tod meiner eigenen Naivität, wenn ich in meinen Gedanken gegen den Maharishi wetterte. Oder vielleicht war es einfach die Angst davor, einer tieferen Welt zu vertrauen. Rechtfertigung hin, Rechtfertigung her: Ich umarmte den «Kult der Oberflächen», den das Leben in Paris repräsentierte. Ich konnte aber auch feststellen, daß es mich außergewöhnlich betrübte, immerzu französisch zu sprechen. Obwohl ich die Sprache fast perfekt beherrschte und mich ohne weiteres verständlich machen konnte, hatte ich nie das erleichternde Gefühl, wirklich kommuniziert zu haben, was ich vermitteln wollte. Wenn wir kommunizieren, dann teilen wir
anderen das mit, was wir zu vermitteln versuchen, auch wenn der andere es nicht vollständig versteht. Doch die französische Sprache schien meine Mitteilungen nur unvollständig wiederzugeben. Es kam mir vor, wie Laute zu erzeugen, die keine Bedeutung für mich hatten. Das Ergebnis war, daß ich eine Menge Mitteilungen mit mir herumtrug, die dazu verurteilt waren, niemals ausgesendet zu werden - nicht weil es Probleme mit den Empfängern gab, sondern weil das mir verfügbare Medium wenig Verbindung mit dem hatte, was in mir vor sich ging. Ich begann, mich wie in einer Falle zu fühlen. Das Glück und die Fröhlichkeit, die ich während meiner Jahre der regelmäßigen Meditation empfunden hatte, waren zu einer schwachen Erinnerung verblaßt. Ein Mantel von Verzweiflung und Zynismus hatte sich über mich gelegt, und es war nicht mehr zu leugnen, daß mich eine tiefe Einsamkeit erfaßt hatte. Die Einsamkeit verstärkte sich bald zu einer tiefen Besorgnis, die mit alarmierender Regelmäßigkeit in Panik endete. Ich versank in völliger Verwirrung, und trotzdem versuchte ich verzweifelt den Eindruck zu erwek-ken, alles unter Kontrolle zu haben. Ungefähr zu dieser Zeit begann Claude davon zu sprechen, ein Kind haben zu wollen. Obwohl mich das überhaupt nicht überraschte, war ich trotzdem nicht sofort davon begeistert. Ich wußte genau, seit ich zum ersten Mal Claudes Familie kennengelernt hatte, daß eine Heirat mit ihm bedeutete, Kinder zu haben -so viele und so schnell wie nur möglich. Auch mir gefiel diese Vorstellung sehr, besonders als ein Teil dieses großen, ausgelassenen und warmherzigen Familienclans. Doch die Aussicht auf ein Kind, während ich in den Fängen einer tiefgehenden inneren Krise steckte, schreckte mich zunächst einmal ab. Ich war nicht bereit, Claude über mein Dilemma aufzuklären, und so schlug ich ihm vor, daß wir noch ein wenig
die Welt erkunden sollten, bevor wir eine Familie gründeten. Widerwillig ging er darauf ein, und es dämmerte ihm, daß er eine Frau geheif*
ratet hatte, die er nur schwer verstehen konnte und die vielleicht versuchen würde, die Regeln zu ändern, um die sie bei ihrer lochzeit wußte und in die sie eingewilligt hatte. Er verstand nicht, daß ich niemals einen konkreten Plan ausgeheckt hatte, der darauf abzielte, seine Wünsche zu durchkreuzen. Ich wußte nur zu dem Zeitpunkt ganz einfach, daß nicht die Zeit für ein Kind war, sondern zum Reisen. Die Zeit für ein Kind würde früh genug kommen. 1981 war das Jahr unserer Reise. Wir zogen durch Marokko, Italien, Amsterdam und Südfrankreich, verbrachten Tage voller luße in malerischen Dörfern auf dem Lande, wo ich eine Zeitlo-sigkeit erlebte, die mein Gefühl, gefangen zu sein, schwächer wer-ien ließ. Ich fühlte mich freier, als ich aus Paris herauskam, und lein Herz wurde ruhiger, berührt von der Stille der Natur und ihrer wunderbaren Palette der unendlichen Vielfalt der Landschaften. Die Erinnerung an die Freude kehrte zurück. Nach unserer Rückkehr von Sizilien im Januar 1982 teilte ich Claude mit, daß ich bereit sei, ein Kind zu haben. Innerhalb weniger Wochen, Mitte Februar, wurde ich schwanger und damit augenblicklich in die zeitlose Übelkeit einer Schwangerschaft gestoßen. Erfüllt von den kulturellen Phantasien einer strahlenden Mutter in spe war ich nur schlecht auf die physischen Herausforderungen einer Schwangerschaft vorbereitet. Die Übelkeit und Müdigkeit von der ersten Woche an markierten den Anfang vom Ende meiner Erfahrung einer persönlichen Vergangenheit. Nach diesen ersten Monaten der Schwangerschaft sollte nichts mehr so sein, wie es einmal gewesen war, und ich steuerte auf den Zusammenprall mit einer
Kraft zu, so mysteriös und unbeschreiblich, daß niemand mich auf die Auswirkungen hätte vorbereiten können.
Kollision mit der Leere Lobpreise die Leere, die die Existenz ausblendet. Existenz: Dieser Ort, geschaffen aus unserer Liebe für die Leere! jedoch wenn die Leere erscheint, entschwindet diese Existenz. Lobpreise dieses Geschehen immer wieder! Jahr um Jahr habe ich meine eigene Existenz aus der Leere bezogen. Und dann mit einem Stoß, mit einer Bewegung des Armes, ist diese Arbeit vollbracht. Frei von dem, was ich war, befreit von der Gegenwart, befreit von gefährlichen Ängsten und Hoffnungen, befreit von Bergen von Wünschen. Der Hier-und-]etzt-Berg ist wie ein winziges Stück von einem Strohhalm, hinausgeblasen in die Leere. RUMI
Während der ersten Monate meiner Schwangerschaft wurde das Leben zu einer immer größeren Herausforderung. Rückblikkend erkenne ich nun, daß die radikale Veränderung der Realität, die recht bald geschehen sollte, bereits in dem Moment begann, als ich erfuhr, daß ich schwanger war. Nachdem wir die endgültige Bestätigung bekommen hatten, daß ich tatsächlich schwanger war, fuhren wir die zwanzig Meilen zur Wohnung von Claudes Eltern hinaus, um ihnen die Nachricht
zu überbringen, daß sie bald Großeltern würden. Während wir uns durch den dichten Autobahnverkehr schoben, überkam mich ein äußerst seltsames Gefühl. Mein Körper schien sich aufzulösen, seine Festigkeit zu verlieren und in der Luft in seine Bestandteile zu zerfallen. Während ich durch meine Augen nach draußen schaute, nahm ich tatsächlich wahr, wie sich die Form meines Körpers verwandelte und von einer weiten, nebligen Helligkeit erfüllt wurde, die alle bis dahin vorhandenen klaren Grenzen auslöschte. Die Luft bestand aus der gleichen Helligkeit, die sich in alle Richtungen ausbreitete, so weit das Auge reichte. Ich fühlte mich immer weniger lokalisierbar, so als ob «Ich» an keinem bestimmten Platz in diesem strahlenden Nebel war, sondern überall zur gleichen Zeit. Als ich Claude neben mir anschaute, der mir gerade von einem seiner Patienten erzählte, schien er sehr weit entfernt und in dieser unendlichen Helligkeit unerreichbar zu sein. Er schaute kurz zu mir hinüber, um festzustellen, ob ich ihm auch zuhörte, und fragte dann, ob alles mit mir in Ordnung sei. «Wunderbar,» antwortete ich schwach, «alles in Ordnung.» Langsam stieg Panik in mir auf, und ich konnte nicht weiterreden. Die Panik verstärkte sich, und fürchterliche Gedanken durchblitzten meinen Verstand. Ich werde wahnsinnig, dachte ich, ich verliere den Bezug zur Realität und kann nicht mehr funktionieren. Ich wandte mich Claude zu und suchte nach etwas, über das wir sprechen konnten; alles war mir recht, um mich von dieser Erfahrung, mich in Luft aufzulösen, abzulenken. Wir sprachen für eine Weile über die neueste Romanze seines Bruders - wie alt sie war, wie sie sich kennengelernt hatten -, und dann begann Claude mit einer ausschweifenden und recht komplizierten Geschichte von irgend etwas, das ihm sein Bruder am Tag zuvor am Telefon erzählt hatte. Ich lehnte
mich in meinem Sitz zurück und hörte ihm zu. Ich versuchte, mich auf seine Worte zu konzentrieren, um mich wieder zurück in die Realität zu bringen. Doch das Gefühl, sehr weit weg zu sein, blieb und hielt auch noch für mehrere Tage an. Genauso blieb die klare Wahrnehmung, daß die Luft mit einem strahlenden Nebel erfüllt war. Diese veränderte Wahrnehmung war so besorgniserregend, daß ich nichts anderes tun konnte als zu versuchen, mich ganz bewußt und exzessiv von den Geschehnissen abzulenken. Als wir schließlich das Haus seiner Eltern erreichten, verkündete ich voller Begeisterung meine Schwangerschaft und unterhielt mich angeregt mit allen über die bevorstehende Mutterschaft und Kindererziehung. In den folgenden Tagen konzentrierte ich mich auf den alltäglichen Tagesablauf, nur um mich von meiner veränderten Wahrnehmung abzulenken und sie möglichst ganz auszulöschen. Ungefähr zu dieser Zeit begann sich noch eine weitere Veränderung in meiner Wahrnehmung durch kleine Begebenheiten zu manifestieren, die manchmal einige Minuten und manchmal mehrere Stunden dauerte. In solchen Momenten schien die Welt zweidimensional zu sein, wie eine Filmkulisse aus Pappe mit nichts dahinter. Die Pariser Szenerie erschien völlig flach, leer, wie eine Skizze, ohne Raum oder Festigkeit. Des weiteren verflüssigten sich jene klaren Umrisse, die bislang die Trennung zwischen den Dingen markiert hatten, und gingen in einer Wellenbewegung ineinander über. Objekte, die bislang stabil zu sein schienen, schienen gleichzeitig größer und weiter entfernt zu sein, sie pulsierten sanft in einem Lebensrhythmus ihrer eigenen Sphäre, die für meinen erstaunten Verstand unerreichbar war. Jedesmal, wenn eine solche Veränderung in meiner Wahrnehmung geschah, überfiel mich augenblicklich panische Angst, die auch anhielt und manchmal noch stärker wurde. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was mit mir vor sich
ging, und konnte nur vermuten, daß mich die Schwangerschaft auf höchst ungewöhnliche Weise beeinflußte. Ich war über alle Maßen erleichtert, als diese Brüche in meiner Wahrnehmung schließlich aufhörten und ich zu dem, was ich für meine normale Wahrnehmung hielt, zurückkehrte. Diese Brüche versetzten mich in Angst und Schrecken, doch sie bereiteten mich sicherlich nicht auf etwas noch wesentlich Radikaleres vor. Ich beobachtete aufs genaueste jede Veränderung in meiner üblichen Art der Wahrnehmung, um dadurch vielleicht die Ursache herauszufinden. Ich hakte eine lange Liste von Möglichkeiten ab: bestimmte Speisen, wieviel ich schlief oder ob ich mich genügend bewegte. Doch ich fand nichts, was diese Veränderungen auf Dauer hätte hervorrufen können. Das Ganze war ein völliges Mysterium - und dieses Mysterium sollte sich noch tausendfach verstärken. Es war Frühling, als es geschah. Nachdem ich an einem Kurs für schwangere Frauen teilgenommen hatte, der im Krankenhaus auf der anderen Seite der Stadt stattfand, wo ich in sechs Monaten mein Kind bekommen würde, war ich auf dem Heimweg zu unserer Wohnung auf dem linken Ufer. Es war in der zehnten Woche meiner Schwangerschaft, und ich hatte zum ersten Mal eine schwache Bewegung meiner Tochter verspürt, so als ob mich jemand sanft mit einer Feder von innen berührte. Es war Mai, und die Sonne strahlte warm in mein Gesicht, als ich an der Bushaltestelle auf der Avenue de la Grande Armee stand. Ich war nicht in Eile und hatte daher den Bus anstatt der Metro genommen, um das schöne Wetter zu genießen. Mehrere Busse kamen, bevor ich schließlich meine Linie 37 die weite Avenue herunterkommen sah. Sieben oder acht Leute warteten an der Haltestelle. Wir sprachen über das Wetter und kommentierten die neue Werbekampagne, die auf allen Plakatwänden zu sehen war. Als der Bus näher kam, stellten wir uns am Straßenrand auf. Schließlich hielt der Bus an
und stieß einen beißenden Geruch von heißem Gummi und Auspuffgasen in die warme Frühlingsluft aus.
Als ich mich in die Reihe stellte, fühlte ich plötzlich einen Druck auf meinen Ohren, so wie in einem Flugzeug, wenn sich beim Landen der Druck in der Kabine verändert. Ich fühlte mich völlig vom Geschehen um mich herum isoliert wie in einer Blase und konnte mich nur noch auf völlig mechanische Weise bewegen. Ich hob mein rechtes Bein, um in den Bus zu steigen und prallte mit voller Wucht auf eine unsichtbare Kraft, die wie eine Stange Dynamit lautlos in meinem Gewahrsein explodierte, die Türen meines normalen Bewußtseins aus den Angeln sprengend und mich in zwei Teile zerspaltend. Was ich bislang als «Ich » bezeichnet hatte, wurde mit Gewalt aus seinem üblichen Platz in mir gerissen und an einen neuen verlagert, ungefähr dreißig Zentimeter links hinter meinem Kopf. «Ich » befand mich nun hinter meinem Körper und betrachtete die Welt, ohne die Augen im Körper zu benutzen. Von dieser nicht lokalisierbaren Stelle irgendwo links hinter mir konnte ich den Körper vor mir und auch sehr weit entfernt erkennen. Alle Signale des Körpers schienen recht lange zu brauchen, um diese nicht lokalisierbare Stelle zu erreichen, als ob es ein Licht sei, das von einem sehr fernen Stern ausgesendet wurde. Ich war steif vor Angst und schaute mich um, ob irgend jemand etwas bemerkt hätte. Doch alle anderen Passagiere suchten sich einen Platz, und der Busfahrer forderte mich auf, meinen gelben Fahrschein zu entwerten, damit wir losfahren konnten. Ich schüttelte mehrmals meinen Kopf und hoffte wohl, mein Bewußtsein wieder an die alte Stelle zu versetzen, doch nichts veränderte sich. Ganz entfernt fühlte ich, wie meine Finger versuchten, den Fahrschein in den Entwerter zu stecken und wie ich mich durch den Bus bewegte, um einen Sitz zu finden. Ich setzte mich neben eine ältere Dame, mit der ich an der Haltestelle geplaudert hatte, und versuchte, unsere
Konversation fortzusetzen. Mein Verstand war völlig zum Stillstand gekommen durch den Schock
der plötzlichen Kollision mit dem, was meine bisherige Wahrnehmung aus den Angeln gehoben hatte. Auch wenn meine Stimme weiterhin zusammenhängend sprechen konnte, fühlte ich mich von ihr völlig getrennt. Das Gesicht der Frau neben mir schien sehr weit entfernt und die Luft zwischen uns neblig zu sein, wie eine dicke, leuchtende Suppe. Sie wandte sich von mit ab, um für einen Moment aus dem Fenster zu schauen, und zog dann an der Glocke, damit der Fahrer sie an der nächsten Haltestelle aussteigen lassen konnte. Nachdem sie aufgestanden war, rutschte ich auf ihren Fensterplatz und verabschiedete mich von ihr mit einem Lächeln. Dabei fühlte ich, wie der Schweiß über mein Gesicht perlte und an meinen Armen hinunterfloß. Ich hatte panische Angst. Schließlich hielt der Bus an meiner Haltestelle in der Rue Le-courbe, und ich stieg aus. Auf dem kurzen Weg zurück zu unserer Wohnung versuchte ich die zwei Teile von mir wieder zu einem Stück zusammenzusetzen, indem ich mich auf den Körper konzentrierte. Mit aller Willenskraft versuchte ich mich in den Zustand zurückzuversetzen, den ich für meinen Normalzustand hielt, und in bisher gewohnter Weise wieder durch die Augen meines Körpers zu sehen, mit der Stimme meines Körpers zu sprechen und mit den Ohren des Körpers zu hören. Meine Willenskraft versagte aufs kläglichste. Anstatt mit den physischen Sinnen wahrzunehmen, schaukelte ich wie eine Boje auf dem Meer dem Körper hinterher. Losgelöst von jeglichen Sinneseindrücken, abgetrennt vom Körper und ihn lediglich aus weiter Ferne beobachtend, bewegte ich mich auf der Straße wie eine Wolke von Gewahrsein, die einem Körper folgte, welcher mir vertraut und zugleich fremd vorkam. Auch
wenn dieser Körper nicht mehr «meiner» zu sein schien, gab es trotzdem eine unverständliche Verbundenheit mit ihm. Er sendete weiterhin die Signale seiner sensorischen Wahr-
nehmungen aus, doch wie und wo diese Signale empfangen wurden, war absolut unbegreiflich. Unfähig, diesen Zustand einzuordnen, raste der Verstand hin und her und versuchte, «mich» wieder zusammenzufügen oder ganz abzuschalten, aber es hallte nur ein leeres Sirren in meinen Ohren wider. Der Beobachter war ganz deutlich vom Verstand getrennt, doch der Körper, die Emotionen und seine Position links hinter dem Kopf blieben konstant. Durch das Gefühl, mit der physischen Existenz so schwach verbunden zu sein, schien der große Abstand zwischen dem Beobachter einerseits und dem Verstand, dem Körper und den Emotionen andererseits Panik auszulösen. In diesem Zustand des Beobachtern wurde die physische Existenz in einem Zustand von bevorstehender Auflösung wahrgenommen, und alles Körperliche reagierte darauf mit einer Angst von bislang unbekanntem Ausmaß. Ich kehrte zu unserer Wohnung zurück. Claude schaute von seinem Buch auf, um mich zu begrüßen und zu fragen, wie mein Tag verlaufen war. Er schien meine Angst nicht sofort zu bemerken, was mich seltsamerweise beruhigte. Völlig gefaßt begrüßte ich ihn, so als ob nichts geschehen sei. Ich erzählte ihm von der Schwangerschaftsgruppe in der Klinik und zeigte ihm das Buch, das ich auf dem Heimweg in der amerikanischen Buchhandlung gekauft hatte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihm das alles erklären sollte, also versuchte ich es erst gar nicht. Die Angst wurde immer stärker, und der Körper war von Panik wie gelähmt. Der Schweiß rann in kleinen Bächen an mir hinab, die Hände waren kalt und zitterten, das Herz schlug mir bis zum Hals. Der Verstand schaltete aufs Überlebensprogramm und begann nach Ablenkungen Ausschau zu halten: Vielleicht sollte ich ein Bad nehmen oder ein Schläfchen machen, etwas essen, ein Buch lesen oder jemanden anrufen.
Das Ganze war ein einziger Alptraum. Der Verstand (ich
konnte ihn nicht einmal mehr als «meinen» Verstand bezeichnen) versuchte, eine Erklärung für all die unerklärlichen Ereignisse zu finden. Der Körper schaltete in seiner Panik in einen höheren Gang und wurde nun von grenzenlosem Entsetzen erfaßt. Das wiederum führte zu einer solch starken physischen Erschöpfung, daß der Schlaf zum einzigen Ausweg wurde. Ich legte mich ins Bett, bat Claude darum, nicht gestört zu werden, und hoffte, daß der Schlaf mich alles vergessen lassen würde. Ich schlief zwar ein, doch der Beobachter blieb, und er beobachtete den Schlaf aus seiner Position hinter dem Körper. Es war eine äußerst seltsame Erfahrung. Ohne Zweifel schlief der Verstand, doch etwas war gleichzeitig wach. Im Moment, wo sich am nächsten Morgen die Augen öffneten, explodierte ein Feuerwerk von Sorgen in meinem Kopf. Ist das nun Wahnsinn, Psychose oder Schizophrenie? Ist es das, was man einen Nervenzusammenbruch nennt? Eine Depression? Was war geschehen? Wird es jemals wieder aufhören? Claude begann meine innere Aufruhr zu bemerken und wartete offenbar auf eine Erklärung. Am Tag zuvor hatte ich den Versuch unternommen, ihm zu erklären, was vorgefallen war, doch ich war einfach zu weit entrückt, um sprechen zu können. Der Beobachter schien sich dort zu befinden, wo «Ich» mich befand, und das hinterließ den Körper, den Verstand und die Emotionen ohne eine Person. Erstaunlich war nur, daß all die Funktionen weiterhin abliefen. Es war völlig aussichtslos, Claude eine Erklärung zu geben, und zum ersten Mal war ich froh darüber, daß es nicht in Claudes Natur lag, auf etwas zu bestehen, in das ich nicht tiefer einsteigen wollte. Der Verstand war dermaßen überwältigt von seiner Unfähigkeit, den momentanen Existenzzustand zu begreifen, daß er sich einfach nicht ablenken ließ. Er blieb weiterhin wie
angenagelt auf das unfaßbare, nicht zu beantwortende Dilemma fixiert, das ununterbrochen von diesem beobachtenden Zustand des Gewahr-
seins gefüttert wurde. Es war ein Gefühl, wie auf des Messers Schneide zu sitzen, an einer Grenze zwischen Existenz und Nicht-ixistenz. Der Verstand war davon überzeugt, den Gedanken an die Existenz aufrechterhalten zu müssen, weil sich sonst die Existenz selbst auflösen würde. Angefeuert von dieser scheinbaren Frage von Leben oder Tod kämpfte der Verstand verbissen darum, an diesem Gedanken festzuhalten, um schließlich nach mehreren unruhigen Stunden erschöpft aufzugeben. Unter großen Qualen versuchte der Verstand tapfer etwas zu verstehen, was er niemals begreifen konnte, und der Körper reagierte auf die Qualen des Verstandes, indem er aufs Überlebensprogramm schaltete, Adrenalin produzierte, die Sinne schärfte und auf die drohende Auflösung in jedem einzelnen Moment eine Antwort fand. Es tauchte auch der Gedanke auf, daß diese Erfahrung des Be-}bachtens vielleicht jener Zustand des Kosmischen Bewußtseins sin könnte, den der Maharishi vor langer Zeit als die erste Stufe eines erwachten Gewahrseins beschrieben hatte. Doch der Verstand verwarf augenblicklich diese Möglichkeit, denn es schien ausgeschlossen zu sein, daß das Reich der Hölle, in dem ich lebte, etwas mit dem Kosmischen Bewußtsein zu tun haben könnte. Das Beobachten setzte sich über mehrere Monate fort, und jeder Moment war fürchterlich. Woche um Woche an der Schwelle zur Auflösung zu leben ist unvorstellbar anstrengend, und das Vergessen im Schlaf bot die einzige Ruhepause, in die ich mich so oft wie möglich flüchtete. Im Schlaf hörte der Verstand endlich auf, seine unaufhörlichen SchreckensLitaneien des Terrors abzuspulen, und der Beobachter konnte lediglich einen bewußt-losen Verstand beobachten. Nach Monaten dieses mysteriösen Beobachter-Gewahrseins
veränderte sich wieder etwas: Der Beobachter verschwand. Dieser neue Zustand war noch wesentlich verblüffender als die Erfahrung der vergangenen Monate, und somit konsequenterweise noch beängstigender. Man könnte eigentlich annehmen, daß die Auflösung des Beobachters eine wesentliche Erleichterung mit sich gebracht hätte, doch das Gegenteil war der Fall. Die Auflösung des Beobachters bedeutete zugleich auch die Auflösung der letzten Spuren einer persönlichen Identität. Der Beobachter hatte zumindest einen Standort für das «Ich » geboten, wenn auch einen sehr entfernten. Mit dem Beobachter verschwand auch endgültig jede Erfahrung von einem «Ich». Die Erfahrung einer persönlichen Identität wurde abgeschaltet und kehrte niemals mehr zurück. Das persönliche Selbst war verschwunden, aber es existierten trotzdem weiterhin ein Körper und ein Verstand - nur ohne jemanden, der sie bewohnte. Die Erfahrung, ohne eine persönliche Identität zu leben, ohne die Erfahrung, jemand Bestimmtes zu sein, ohne ein «Ich» oder «mich» ist äußerst schwierig zu beschreiben, aber sie ist absolut unmißverständlich. Man kann es unmöglich damit verwechseln, einen schlechten Tag zu haben, eine Erkältung zu bekommen, verärgert oder wütend oder entrückt zu sein. Wenn sich das persönliche Selbst auflöst, dann gibt es im Inneren niemanden mehr, den man für sich selbst halten könnte. Der Körper ist nur noch eine Silhouette, entleert von allem, mit dem er bislang erfüllt zu sein schien. Verstand, Körper und Emotionen bezogen sich nicht mehr auf jemanden - es gab niemanden, der dachte, niemanden, der fühlte, niemanden, der wahrnahm. Trotzdem funktionierten der Verstand, der Körper und die Emotionen weiterhin unvermindert und von allem unbeeinflußt. Sie benötigten offensichtlich kein «Ich», um weiterhin das zu tun, was sie schon immer getan hatten. Denken, fühlen, wahrnehmen, sprechen, alles geschah wie bisher und funktionierte mit einer
Reibungslosigkeit, die in keiner Weise die Leere hinter all dem vermuten ließ. Niemand hegte auch nur den geringsten Verdacht, daß eine solch radikale Veränderung stattgefunden hatte. Alle Konversationen gingen weiter wie bisher, und auch die Sprache wurde in der gleichen Weise weiter benutzt. Fragen konnten gestellt und Anworten gegeben werden, Autos gefahren, Essen gekocht, Bücher gelesen, Telefonate beantwortet und Briefe geschrieben werden. Äußerlich schien alles ganz normal weiterzulaufen, so als ob die gleiche Suzanne ihr normales Leben weiterführen würde. Bei seinem Versuch zu verstehen, was geschehen war, legte der Verstand Überstunden ein und entwarf endlose Fragengebilde, die aber sämtlich nicht zu beantworten waren. Wer dachte? Wer fühlte? Wer hatte Angst? Mit wem redeten die Leute, wenn sie mit mir sprachen? Wen schauten sie dabei an? Wieso konnte man ein Spiegelbild sehen, wenn es doch niemanden gab? Warum öffneten sich morgens diese Augen? Warum existierte der Körper auch weiterhin? Wer lebte? Das Leben wurde zu einem endlosen, ungelösten Koan, für immer unlösbar, für immer mysteriös, völlig außerhalb der Möglichkeiten des Verstandes. Es ergaben sich besonders seltsame Momente, wenn mein Name ins Spiel kam, wenn ich zum Beispiel meine Unterschrift unter einen Scheck setzte oder einen Brief unterschrieb. Dann starrte ich jedesmal auf die Buchstaben auf dem Papier, und der Verstand war völlig verblüfft. Der Name bezog sich auf niemanden. Es gab keine Suzanne Segal mehr; vielleicht hatte es nie eine gegeben. Wenn der Verstand nach inneren Informationen sucht, egal ob sie sich auf Gefühle oder Gedanken beziehen oder in Verbindung mit einem Namen oder irgendwelchen inneren Erfahrungen stehen, dann geschieht ein Nach-Innen-Kehren. Das bezeichnet man normalerweise als Selbstbeobachtung. Ohne ein persönliches Selbst aber existierte dieses Innere nicht. Die Bewegung des Verstandes nach innen
wurde zu einer bizarren Erfahrung, als er dort immer wieder nur auf Leere stieß, wo er früher ein Objekt wahrgenommen hatte, ein Selbst-Konzept. Je verwirrter der Verstand wurde, desto mehr verstärkte sich die Angst. Das extreme Ausmaß an Angst, auf das sich der Körper mittlerweile eingestellt hatte, versetzte die Arme und Beine in ein ununterbrochenes Zittern und ließ den Schweiß in Strömen fließen. Meine Kleidung war immer feucht, und die Bettlaken mußten jeden Morgen zum Trocknen aufgehängt werden. Doch noch viel schlimmer als die Auflösung der persönlichen Identität war die völlig veränderte Erfahrung vom Schlaf. Ich hatte keine Möglichkeit mehr, dem konstanten Gewahrsein der Leere des Selbst zu entfliehen. Schlaf und Traum beinhalteten nun beide das Gewahrsein, daß es niemanden gab, der schlief oder träumte - so wie der Wachzustand des Bewußtseins das Gewahrsein beinhaltete, daß es niemanden gab, der wach war. Mir schien jetzt der Zeitpunkt gekommen, wenigstens den Versuch zu machen, Claude alles zu erklären. Er hatte ein deutliches Anschwellen meiner Angst und meines inneren Aufruhrs bemerkt und schon seit Monaten versucht, mich zum Sprechen zu bringen. «Irgend etwas ist mit mir passiert, Claude», begann ich auf französisch und versuchte, die richtigen Worte zu finden. «Ich habe keine Ahnung, was es ist, aber ... mir kommt es so vor, als ob ich nicht mehr existiere. Es gibt kein , keine persönliche. Identität mehr. Es begann vor ein paar Monaten, als ich vom Unterricht in der Klinik nach Hause kam. Ich wollte gerade in den Bus steigen, als sich plötzlich etwas veränderte, und jetzt - nun, ich scheine einfach kein < Ich > mehr zu erfahren, so wie es bislang immer gewesen ist. Du kennst das, wenn man keine Zweifel darüber hat, wer man ist. So als ob dich jemand fragt: , und du weißt ganz genau: Aber ich kann nun
kein mehr feststellen. Es gibt niemanden mehr.» «Was meinst du damit, es gibt dich nicht mehr?» antwortete er. «Selbstverständlich gibt es dich, du sitzt hier vor mir und sprichst mit mir.» «Aber ich nehme kein mehr wahr ».schrie ich fast. «Es ist das Schlimmste, was mir jemals passiert ist. Wenn ich in den Spiegel schaue, dann bin ich schockiert, ein Spiegelbild zu sehen. Wenn ich auf der Straße gehe und die Leute schauen mich an, dann frage ich mich, wen sie anschauen. Wenn ich spreche, dann höre ich zwar eine Stimme, doch es gibt niemanden hinter der Stimme. Oh Gott, es ist unmöglich, dir das zu erklären. Es ist einfach nicht in Worte zu fassen, es ist fürchterlich! Vielleicht bin ich völlig wahnsinnig geworden. Ist das möglich?» «Suzanne, beruhige dich doch. Laß uns zu einem Psychiater gehen, was meinst du? Glaubst du, daß dir das helfen könnte?» «Ich habe keine Ahnung», antwortete ich. Inzwischen zitterte ich buchstäblich vor Angst. «Es macht absolut keinen Sinn. Wie kann alles einfach so weitergehen wie bisher, Sprechen und Gehen, Schlafen und Träumen, Lachen und Weinen, während es kein gibt, das all diese Dinge ausführt?» Claude wußte offensichtlich auch keine Antwort. Nachdem er mir noch einige weitere Fragen gestellt hatte, verließ er das Zimmer, um uns bei einem Psychiater anzumelden, den ihm einer seiner Kollegen empfohlen hatte. Er begleitete mich auch zur Sprechstunde und saß schweigend neben mir. Während ich dem Arzt alles erklärte, warfen die beiden sich sorgenvolle Blicke zu. Es war nicht einfach, für diesen Zustand die richtigen Worte im Französischen zu finden, und der Psychiater starrte mich die ganze Zeit über ungläubig an. Ich erzählte ihm von dem Beobachter und dem leuchtenden Nebel. So gut ich konnte, beschrieb ich ihm die Erfahrung, keine Person mehr zu sein,
daß das Gefühl einer persönlichen Identität verschwunden war und anscheinend nie mehr zurückkehren würde. Ich beschrieb ihm die panische Angst, die niemals nachließ, und daß es niemanden gab, der diese Angst empfand, auch wenn der Körper und der Verstand sie ununterbrochen erzeugten. Ich erzählte ihm auch, daß sich mein Name auf niemanden mehr bezog. Als ich fertig war, suchte er verzweifelt nach Worten. «Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll», begann er. «Ich bin mir nicht sicher, was Ihnen fehlt, aber ich kann Ihnen etwas verschreiben, das Ihre Angst reduziert. Da Sie schwanger sind, kann ich Ihnen nichts Starkes geben. Doch sobald Sie Ihr Baby bekommen haben, können wir versuchen, die passende Medikation für Sie zu finden. Irgend etwas ist mit Ihrem Verstand passiert, das sich vielleicht noch verschlimmert, wenn Sie nicht recht bald ein Medikament dagegen nehmen.» «Doch was ist geschehen? Wohin ist mein entschwunden? Wird es jemals wieder zurückkehren?» platzte ich heraus. «Haben Sie jemals von etwas Vergleichbarem gehört?» Er schüttelte nur seinen Kopf, erhob sich und signalisierte damit, daß unser Gespräch beendet sei. Auf dem Weg zur Tür drehte ich mich um und sah, wie er Claude die Hand schüttelte und ihm voller Mitgefühl auf die Schulter klopfte. «Bon courage», sagte er, als er die Tür öffnete, offensichtlich darauf erpicht, uns loszuwerden. «Viel Glück. Rufen Sie mich an, wenn das Baby da ist, und lassen Sie mich wissen, wie es Ihnen geht.» Claude warf mir einen traurigen Blick zu. Er wußte, daß es nichts weiter zu sagen gab. Seit dem Besuch bei dem Psychiater war mein Verstand permanent mit Gedanken an meine Mutter beschäftigt. Wenn ich nur bei meiner Mutter sein könnte, sagten diese Gedanken, dann wäre alles in Ordnung. Ich müßte ihr nur gegenübertreten, dieser Frau, die mich geboren, mich
aufgezogen und mir einen Namen gegeben hat. Ich war davon überzeugt, daß sie zu sehen schon ausreichend wäre, diese seltsame Krankheit dadurch zu heilen, daß
meine persönliche Identität wieder zum Vorschein käme. Der Verstand versuchte weiterhin verzweifelt einen Weg zu finden, um das Gefühl eines «Ich» zurückzubringen. Claude war bereit, mich auf dem Flug nach Chicago zu begleiten. Da ich bereits im siebten Monat schwanger war, mußten wir diese Reise sofort antreten. Ich telefonierte mit meiner Mutter und meinem Bruder Dan, und sie wollten uns vom Flughafen abholen. Während des Fluges produzierte der Verstand Phantasien einer augenblicklichen Erlösung von dieser alptraummäßigen Erfahrung, den Verlust der persönlichen Identität begreifen zu wollen. Claude war glücklich, zum ersten Mal seit Monaten wieder ein Lächeln auf meinem Gesicht zu sehen. Wir landeten in O'Hare und machten uns auf den Weg, um unser Gepäck abzuholen. Der Verstand war weiterhin davon überzeugt, daß alles wieder ins Lot kommen würde, sobald ich meine Mutter erblickte. Wir traten aus dem Aufzug, und da war sie. Sie war kleiner als in meiner Erinnerung, und sie hatte sich ihre Haare blond gefärbt. In dem Moment, wo ich sie erblickte, rutschte mir das Herz in die Hose. Sie zu sehen, erzeugte nicht die mindeste Reaktion, die Leere blieb absolut unverändert, kein «Ich » weit und breit. Sie lief auf mich zu und umarmte mich, dann lehnte sie sich zurück und suchte nach einem Lächeln in meinem Gesicht, doch da war keines. In dem Moment wurde mein Verstand von einer tiefen Verzweiflung erfaßt, denn ihm wurde klar, daß er niemals wieder ein persönliches Selbst erfahren würde, auch wenn er nicht fähig war zu erfassen, wie das möglich sein sollte. Meine Mutter begann, mir von all den faszinierenden Leuten zu erzählen, mit denen sie verkehrte, und all den
interessanten Dingen, die sie erlebte. Sie schaute mich immer wieder an, doch sie schien nicht zu bemerken, daß etwas nicht in Ordnung war. Ich brachte einfach kein Wort heraus, und so starrte ich sie lediglieh schweigend an und nickte von Zeit zu Zeit, um den Eindruck zu erwecken, daß ich dem folgte, was sie mir erzählte. Schließlich konnte ich einen Blick von meinem Bruder auffangen, und ich signalisierte ihm, daß ich mit ihm sprechen wollte. Zusammen gingen wir zum Gepäckband, um auf die Koffer zu warten. Ich begann ihm zu beschreiben, was mit mir geschehen war, doch ich konnte ihm nicht allzuviel erzählen, weil meine Mutter und Claude schon bald wieder zu uns stießen. Wir sammelten unser Gepäck ein und gingen zum Auto, um nach Hause zu fahren. Während unserer Fahrt durch die vertrauten Vorstädte von Chicago wurde der Verstand von einer Welle von Fragen überflutet, auf die es keine Antworten gab. «Wer ist es, der sich an diese Szenerie erinnert? Wer ist es, der weiß, ob wir rechts oder links abbiegen müssen? Wer sind diese Leute im Auto?» Ich schaute meine Mutter und meinen Bruder an und wunderte mich, wer sie waren. Alles wirkte absolut vertraut und gleichzeitig völlig fremd. Es gab nichts mehr, das sich wie eine «Verbindung» anfühlte, denn es gab niemanden mehr, der sich verbunden fühlte. Wie sollte es weiterhin Beziehungen geben, jetzt, da es keine Person mehr gab, die zu jemandem ein Verhältnis haben könnte? Als wir schließlich das Haus meiner Mutter erreichten, war jedem von uns klar, daß es mir nicht gut ging. Ich saß zusammen mit meiner Mutter hinten im Auto. Sie tätschelte meine Hand und erzählte mir, wie schwer eine Schwangerschaft sei und versicherte mir, daß bald alles vorüber sein würde. Dan saß am Steuer und warf mir im Rückspiegel sorgenvolle Blicke zu. Ich beantwortete seinen Blick mit den Augen und schüttelte meine Schultern. Er fixierte mich mit
einem fragenden Blick, bog dann in die Einfahrt ein und schaltete den Motor ab. Mehrere Minuten lang saßen wir alle schweigend im Auto, bis Claude schließlich die Tür öffnete und ausstieg. Meine Mutter sah mich an und begann zu weinen. Mein Bruder beugte sich über die Lehne und streichelte ihr über den Rücken. Ich sagte kein Wort. Während wir das Abendessen vorbereiteten, unterhielt uns meine Mutter mit einem Strom von Geschichten, Meinungen und Gerüchten. Dann begann sie mit Claude eine Unterhaltung über seine Familie und unser Leben in Paris, und so konnten Dan und ich in Ruhe miteinander reden. Ich beschrieb ihm kurz meine Erfahrung an der Bushaltestelle bis zu meinem augenblicklichen Zustand, kein Selbst zu besitzen, was auf den Verstand so extrem beunruhigend wirkte. Er vertraute mir an, daß ihm gelegentlich Ähnliches passierte, was er als ein «Entrücktsein» beschrieb, bei dem er keine Verbindung mehr zu seinem Körper empfand oder das Gefühl hatte, nicht wirklich vorhanden zu sein. Er sagte, daß er einfach sein Leben weiterlebte wie bisher und dem Ganzen keine große Beachtung schenkte. Ich antwortete ihm, daß ich eine solche Erfahrung sicherlich nicht als Entrücktsein beschreiben würde, sondern eher als die Auflösung des Gefühls, jemand zu sein. Nach dem Abendessen traf mein jüngerer Bruder Bob ein er lebte in der Innenstadt von Chicago -, um den Abend mit uns zu verbringen. Er hatte sich mehrere Jahre mit Primärtherapie beschäftigt, und als er meine Geschichte hörte, schlug er vor, daß ich seinen Therapeuten Paul aufsuchen sollte. Ich stimmte dem zu, da die Angst immer stärker wurde und damit auch die Sorge, daß dieser Zustand ein Zeichen von Wahnsinn sei. Das Gefühl, sich permanent an der Schwelle zur Auflösung zu befinden, war für den Verstand und den Körper unglaublich anstrengend, und das führte den Verstand zu der logischen Schlußfolgerung, daß ein Zusammenbruch aller Funktionsfähigkeiten unmittelbar bevorstand. Der Gedanke, daß jemand diesen bevorstehenden Zusammenbruch abwehren
oder zumindest einen Schimmer von Bestätigung bieten könnte, war äußerst anziehend. Bob meldete mich
für den nächsten Tag an und beschrieb mir den Weg zu Pauls Praxis. Die Erfahrung, einem Psychotherapeuten die Auflösung der persönlichen Identität zu beschreiben, sollte sich in den nächsten zehn Jahren noch oft wiederholen. Paul war gewiß ein warmherziger Mensch, erfüllt von dem Wunsch, mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu helfen. Er war jedoch völlig verwirrt von dem, was ich ihm erzählte, und diese Verwirrung schien ihm Angst zu machen - für mich sicherlich keine hilfreiche Reaktion. Als ich schließlich sein Büro verließ, war mein Körper vor Angst wie steif. Ich fuhr zurück in das Haus meiner Mutter, zog die Vorhänge zu und schlief 13 Stunden lang. Mir zu Ehren hatte meine Mutter für den nächsten Tag eine Party arrangiert, zu der sie viele ihrer alten Freunde eingeladen hatte, die mich seit meiner Kindheit kannten und ganz begeistert davon waren, meine bevorstehende Mutterschaft zu feiern. So traf sich eine Gruppe von ungefähr 30 Leuten am späten Nachmittag in einem bekannten Vorstadtrestaurant. Während jeder der Gäste auf mich zukam, um mir zu gratulieren, versuchte ich, mich wie ein normaler Mensch zu benehmen. Ich schüttelte ihre Hände, lächelte und stellte Fragen über ihre Gesundheit oder ihre Kinder. Woher kannte ich diese Menschen? Wer erinnerte sich an ihre Namen und all die Jahre, in denen wir uns gegenseitig besucht und Geschichten über unser Leben ausgetauscht hatten? Die Person jedenfalls, die sie bislang gekannt hatten, existierte nicht mehr, doch niemand schien es zu bemerken. Die Rückkehr nach Paris war der Beginn einer grenzenlosen Verzweiflung. Ich wandelte umher und fragte mich, wer noch
am Leben war. Ich ging durch die Straßen, starrte in jedes Schaufenster und betete, daß der nächste Anblick meines Spiegelbildes wenigstens einen Anflug von Wiedererkennen bringen würde. Ich betete, in den Augen, die mich aus der reflektierenden Schaufensterscheibe anstarrten, eine wirkliche Erfahrung meiner selbst wiederzufinden. Ich betete vergebens. Nicht nur das Selbst hatte sich aufgelöst, auch die Filter, die bislang als Schutz vor den ununterbrochenen sensorischen Eindrücken der Welt gedient hatten, waren außer Kraft gesetzt worden. Ich konnte mich nicht mehr in Kaufhäusern oder anderen belebten Orten aufhalten, da diese sensorische Stimmulation die inzwischen sehr empfindlich gewordenen Kreisläufe eines bereits überlasteten Verstandes zu überfordern schien. Der Verstand kämpfte um das Überleben der Vorstellung von meiner Existenz, denn für meinen Verstand hing davon meine Existenz ab. Wurde er zu stark gefordert, dann konnte er dieses Gedankengerüst nicht aufrechterhalten, und die panische Angst, mich vollständig aufzulösen, brach wie eine Woge über mir zusammen. Alles schien sich direkt vor meinen Augen permanent aufzulösen. Überall war nur Leere, die aus jeder Pore der Gesichter drang, in die ich schaute, und die aus Spalten scheinbar fester Objekte hervorquoll. Der Körper, der Verstand, die Sprache, die Gedanken und Emotionen waren alle leer, es gab keinen Besitzer, keine Person dahinter. All meine bisherigen Vorstellungen von der Realität waren vollständig zerstört worden. Als ich noch in Kalifornien studierte, hatte ich einen bekannten Psychologen konsultiert, der ebenfalls ein begeisterter Schüler von Meher Baba war. Ich hatte großes Vertrauen in seine Ansichten über den spirituellen als auch den psychologischen Bereich. Nun hatte ich mich entschieden, ihn anzurufen. Es gelang mir schließlich herauszufinden, daß er den Sommer über an einer Universität an der Ostküste arbeitete.
Er war überrascht, meine Stimme zu hören, und erstaunt, daß ich ihn aufgespürt hatte. Ich beschrieb ihm meine Erfahrungen das Beobachten, den Raum, die Leere, die Abwesenheit einer persönlichen Identität -, und ich flehte ihn an, mir zu versichern, daß ich nicht wahnsinnig wäre, daß er mir helfen solle zu verstehen, was hier vor sich ging. Er hörte mir aufmerksam zu und stellte mehrere klärende Fragen. Doch dann, zu meiner größten Verwunderung, beglückwünschte er mich. «Absolut phantastisch!» stieß er hervor. «Es gibt eine Menge Leute, die sich jahrelang in irgendwelchen Höhlen verkriechen, um so etwas zu erleben. Dafür kannst du den Oskar des Bewußtseins bekommen!» «Aber Alan», schluchzte ich, «du verstehst mich nicht. Das kann niemals ein spirituelles Erwachen sein. Es fühlt sich schrecklich an. Ich will es loswerden. Ich lebe permanent in Angst und Schrecken und möchte wieder so sein, wie ich vorher war.» «Wiederhole Babas Namen», sagte er, «und alles wird sich zum Besten wenden.» Er versicherte mir, daß ich keineswegs ein pathologischer Fall sei, daß ich mir keine Sorgen machen sollte und daß dies tatsächlich ein höchst erstrebenswerter spiritueller Zustand sei. Doch mich konnte das nicht im mindesten überzeugen, denn alle Vorstellungen, die ich von einer spirituellen Entwicklung hatte, basierten ausschließlich auf dem Gedanken von Glückseligkeit und Ekstase. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß ein echtes spirituelles Erlebnis so fürchterlich sein konnte wie der Zustand, in dem ich mich befand. «Wenn Menschen dafür jahrelang in Höhlen hausen,» sagte ich zu ihm, «dann müssen sie verrückt sein.» Im November 1982 wurde meine Tochter geboren. Die Wehen und die Geburt dauerten insgesamt drei Tage, und die Erschöpfung stellte alles, was ich jemals erlebt hatte, weit in den Schatten. Doch selbst eine so extreme physische wie auch
emotionale Erschöpfung konnte die Erfahrung, ohne ein Selbst zu sein, nicht überschatten, sie war weiterhin ohne irgendeine Unterbrechung präsent. Während der Geburt wurde ohne Zweifel deutlich, daß alles im Leben von einer unsichtbaren Hand gelenkt wird, die nicht lokalisierbar ist. Das bisherige Gefühl von einem «Ich», das die Handlungen ausführte, schien eine völlige Illusion zu sein. Das perönliche «Ich» war niemals der Handelnde gewesen - es hatte lediglich dessen Maske getragen. Alles ging weiter wie bisher, nur die Person, die zu handeln glaubte, war abwesend. Auf der Angst, von der der Verstand befallen wurde, als er in den ständigen direkten Kontakt mit der Erfahrung einer völlig grenzenlosen Bezugslosigkeit gestoßen wurde, basierte die Sorge, daß die Schwangerschaft nicht weitergehen bzw. niemals stattfinden würde, da es niemanden gab, der gebären konnte. Es schien so absolut unvorstellbar, daß alles wie bisher weitergeschehen sollte, nachdem alles als leer erkannt worden war, was vorher so voll zu sein schien. Doch es ging weiter, so wie bisher - meistens sogar leichter. Die Geburt meiner Tochter vollzog sich mit all den Sinneseindrücken, Gefühlen und Gedanken, von denen jede Geburt begleitet wird. Es gab Sorgen um die Gesundheit des Kindes, Gedanken über die Intensität der Gefühle, Ängste wegen der Fürsorge für ein Neugeborenes und Ehrfurcht vor dem Mysterium von allem. Die Klinik in Paris, wo die Geburt stattfand, war von Frederic Lamaze gegründet worden. Es war ein Krankenhaus der kommunistischen Arbeiterpartei in einem heruntergekommenen Teil der Stadt, in dem fast nur Hebammen angestellt waren. Nur ein Arzt war in jeder achtstündigen Schicht in Bereitschaft, doch ich bekam ihn kein einziges Mal zu Gesicht. Als die Wehen einsetzten, fuhr Claude mich in die Klinik, und eine der Hebammen untersuchte mich. Sie schickte mich
wieder nach Hause und wies mich an wiederzukommen, wenn die Wehen alle zwei Minuten aufträten. Wir fuhren heim und warteten, doch die Wehen kamen auch weiterhin im FünfMinuten-Takt. Acht Stunden später fuhren wir erneut ins Krankenhaus. Wiederum untersuchte mich die Hebamme und wies mich an zu warten. Sie besprach sich mit jemand anderem, und als sie zurückkam, sagte sie, daß ich mich hinlegen sollte. Sie führte uns nach oben in ein winziges Zimmer, wo ich mich auf den Tisch legte und auf die nächste Welle der Wehen wartete. Der ununterbrochene Zustand von Leere war sicherlich kein Thema für diesen Ort. Ich hatte Claude alles erzählt, was ich ihm sagen wollte, und er hatte mir vor einigen Wochen sehr deutlich zu verstehen gegeben, daß er nichts mehr von diesem «Wahnsinn » hören wollte. Der Verstand versuchte ununterbrochen, jemanden zu lokalisieren, dem das alles widerfuhr. Da es ihm immer wieder mißlang, schraubte er die Angst höher und entwarf grausige Szenarios von dem, was ganz sicher geschehen müsse, da «Ich» nicht länger existierte. Nun ja, wie kann man ein Baby bekommen, wenn man gar nicht vorhanden ist? Während der Wehen produzierte der Verstand unaufhörlich die Vorstellung, daß die Geburt niemals stattfinden würde, es sei denn, man würde jemanden finden, der gebären könnte. Trotzdem liefen die einzelnen Funktionen einer Geburt völlig normal ab - wenn auch recht langsam. Claude fragte die Hebammen, ob er eine Akupunktur ausprobieren dürfe, um mir zu helfen, die Preßwehen effektiver werden zu lassen. Alle waren daran interessiert, dieses kleine Experiment zu beobachten; also packte er seine Nadeln und das elektrische Stimmulationsgerät aus und begann mit seiner Arbeit. Er setzte mir ungefähr 25 Nadeln an die verschiedenen Meridianpunkte auf beiden Seiten des Körpers und verband jede einzelne Nadel mit dem elektrischen Stimulator. Sofort nachdem er den Strom eingeschaltet hatte, begannen die Preßwehen
wesentlich stärker zu werden. Die vier Hebammen, die anwesend waren, schienen sehr beeindruckt. Die verstärkten Preßwehen hielten für ungefähr 20 Mi-
nuten an, dann kontrollierte die leitende Hebamme, ob sich der Muttermund geöffnet hatte. Das war jedoch nicht der Fall. Auch wenn sich die Preßwehen durch die Akupunktur wesentlich intensiviert hatten, waren sie keineswegs effektiver geworden. Daraufhin entschied man sich, mir Pitocin zu geben, ein Medikament, das die Wehen fördert. Man sagte mir, daß ein Kaiserschnitt notwendig würde, wenn das Baby nicht innerhalb von sechs Stunden, nachdem man mir Pitocin verabreicht hatte, geboren sei. Eine intravenöse Kanüle wurde angeschlossen, und innerhalb von 40 Minuten wurden die Preßwehen wesentlich stärker. Nach weiteren 45 Minuten kamen sie im Minutenabstand und erweiterten die Öffnung des Muttermundes ganz erheblich. Drei Stunden, nachdem man mir Pitocin verabreicht hatte, begann das Baby sich in den Geburtskanal zu bewegen und kam dann 40 Minuten später zur Welt. Entsprechend den Ansichten von Frederic LeBoyer, dessen Philosophie diese Klinik als erste übernommen hatte, wurde meine Tochter in einem abgedunkelten Raum geboren, um sie nicht dem gleißenden Licht der Lampen auszusetzen. Sie wurde in ein großes Becken mit warmem Wasser gelegt, damit der Übergang aus dem Mutterschoß in die Welt sanfter vonstatten ging. Wie könnte man möglicherweise beschreiben, wie ein Baby von niemandem geboren wird? Sie hatte keine Mutter, und doch verlief die Geburt ohne Probleme. In den folgenden Jahren kümmerten sich die mütterlichen Funktionen um sie und zogen sie mit absoluter Kompetenz auf. Der Verstand hörte nie auf zu fragen, wie die mütterlichen Funktionen ohne jemanden geschehen konnten, der sie ausführte, doch er wurde dazu gezwungen, ohne Widerstand die mütterlichen Verrichtungen zu beobachten.
Die Geburt hatte fast drei Tage gedauert, wobei der Körper in regelmäßigen Abständen intensivste Wehen durchlebt und kaum geschlafen hatte, so daß seine physischen Funktionen völlig erschöpft waren. Man legte mich auf ein Zimmer mit einer Frau zusammen, die ihr Kind einen Tag zuvor bekommen hatte. In Frankreich bleiben die Mütter nach der Geburt eine Woche lang im Krankenhaus. Beide Babys blieben bei uns im Zimmer, denn die Philosophie von Lamaze besagte, daß das Neugeborene nach der Geburt nicht von seiner Mutter getrennt werden sollte. In der ersten Woche schlief ich nie länger als zwei Stunden an einem Stück. Eines der beiden Babys war fast immer wach, und die Erschöpfung wurde immer stärker. Die Art und Weise, wie der Körper die Erschöpfung erlebte, änderte sich auch angesichts eines fehlenden Bezugspunktes nicht. Bis heute hat sich das nicht geändert - die Funktionen des Körpers benötigen auch weiterhin Ruhe, Nahrung und Pflege. Das erste Lebensjahr meiner Tochter verlief sowohl anstrengend als auch höchst aufregend. Anfangs schien sie, für ein Neugeborenes durchaus normal, nicht allzuviel Schlaf zu brauchen, doch für den Körper eines Erwachsenen schien es manchmal unerträglich, so lange ohne regelmäßigen Schlaf auszukommen. Je weniger Schlaf der Körper bekam, desto mehr versteifte sich der Verstand auf die Überzeugung, daß die Auswirkungen des Ereignisses an der Bushaltestelle tatsächlich zum Wahnsinn geführt hatten - und dies um so mehr, weil sich mit der wachsenden Erschöpfung des Körpers eine immer krasser wirkende Leere auftat. Trotzdem entwickelte sich die Beziehung zwischen meiner Tochter Arielle und ihrer Mutter, die niemand ist, so wunderbar, daß die Versuche des Verstandes, die Leere des persönlichen Selbst zu pathologisieren oder als Wahnsinn abzustempeln, unvermeidlicherweise fehlschlugen. Jeder, der unsere Beziehung miterlebte oder mit Arielle irgendwie in Kontakt kam, bestätigte,
daß sie ein sehr ungewöhnliches Kind war und ganz gewiß keine Anzeichen irgendeines Traumas zeigte. Da nun niemand an äußeren Anzeichen feststellen konnte, daß ich diese bemerkenswert unterschiedlichen Erfahrungen machte, konnte ich jeden « zum Narren halten » und davon überzeugen, daß ich noch genauso sei, wie ich immer gewesen war. Meine Schwiegereltern waren über ihre neue Enkelin ganz aus dem Häuschen und nahmen dieses Ereignis zum Anlaß für eine große Familienfeier. Sie gaben eine riesige Party, um sie in der Familie willkommen zu heißen. Obwohl auch weiterhin Wellen von Angst durch mein Gewahrsein rauschten, ging der völlig normale Funktionsablauf der «Suzanne», für die mich jeder hielt, wie gewohnt weiter. Niemand nahm irgend etwas Ungewöhnliches an meinem Verhalten wahr, während sie freudestrahlend meine Tochter bewunderten und mir ihre herzlichsten Glückwünsche aussprachen. Absolut unfaßbar! dachte der Verstand. Meine Tochter wird niemals eine Mutter haben. Es gibt niemanden, und es ist auch gar nicht nötig, jemand zu sein, damit die Funktionen einer Mutter ausgeführt werden. So wie das Sprechen spricht und das Denken denkt, so bemuttert die Mütterlichkeit. Der Verstand hatte große Schwierigkeiten, sich daran zu gewöhnen. Als meine Tochter acht Monate alt war, wurde mir klar, daß die Zeit gekommen war, Paris zu verlassen. Claude versuchte alles, um mich davon abzubringen, aber ich wußte, daß die Rückkehr in die Staaten ganz simpel und klar das nächste war, was zu geschehen hatte. Obwohl inzwischen etwas mehr als ein Jahr seit der Zerstörung des «Ich», vergangen war, konnte gewiß keine Rede davon sein, sich an die Erbarmungslosigkeit eines Lebens ohne ein Selbst gewöhnt zu haben. Meine Beziehung zu Claude hatte sich, während ich darum kämpfte, eine absolut
unfaßbare Erfahrung zu begreifen, ganz entscheidend verändert, und ich konnte von Claude erst recht nicht erwarten, das alles zu verstehen. Unsere if1 Beziehung hatte sich inzwischen praktisch aufgelöst. Die Person, i die er geheiratet hatte, gab es nicht mehr. Ich war unfähig, weiterhin «persönliche» Beziehungen zu unterhalten, und so sollte es auch bleiben. Claude entschied sich, mit mir zu gehen, um unsere Familie zusammenzuhalten. Als französischer Arzt mußte er jedoch ein Examen ablegen und für ein Jahr ein Medizinpraktikum machen, um in Amerika seine Zulassung zu bekommen. In den Monaten vor unserem Umzug begann Claude intensiv für das Examen zu lernen, während ich anfing, unser Leben in Paris aufzulösen. Claudes Familie war äußerst traurig über die Neuigkeit von unserem Umzug, doch sie machten keine Anstalten, uns umzustimmen. Ihnen allen war bewußt, daß mir das Leben in Paris Schwierigkeiten bereitete, auch wenn sie keine Ahnung davon hatten, warum. Insgeheim hofften sie wahrscheinlich, daß eine Ortsveränderung mich vielleicht glücklicher machen würde. Anscheinend waren sich alle einig über mein Problem - ich hatte Heimweh und war deprimiert -, und ich bin mir sicher, daß alle darum beteten, daß sich unsere Ehe wieder bessern möge. Meine Tochter jedoch konnte nichts verunsichern. Sie war ein wunderbares, glückliches Kind, das jeden immer wieder mit ihrer Frühreife beeindruckte. Sie hatte die Gabe, jeder Herausforderung ins Gesicht zu lachen, ihre Grübchen zu zeigen und ihre blonden Locken zu schütteln, bis sie schließlich jeden mit ihrem Charme dazu brachte, seine Verstimmung zu vergessen. Es war für mich eine ungeheure Erleichterung, sie so glücklich zu sehen, denn ich hatte mich immer wieder gewundert, ob der Terror und jener radikale Bruch in meinem Bewußtsein während der letzten fünf Monate meiner Schwangerschaft irgendwelche problematischen Auswirkungen bei ihr hinterlassen hatten.
Aber was es auch immer für Auswirkungen gehabt haben mag, es schien sie in keiner Weise traumatisiert zu haben. Auch jetzt, da sie zu einem Teenager herangewachsen ist, strahlt sie immer noch diese kluge Fröhlichkeit aus, die sie schon immer ausgestrahlt hat, seit sie geboren wurde. Indes hat sie tatsächlich öfter zu verstehen gegeben, daß ihr sehr bewußt ist, genauso wie die anderen zu sein - doch zugleich auch recht unterschiedlich. Manchmal verwirrt sie das, doch meistens redet sie am liebsten gar nicht darüber. Mindestens einmal jedoch hat sie gesagt: «Weißt du, wie das ist, Mama, wenn Menschen dich anschauen und glauben, du bist jemand, doch du weißt, daß du nicht diese Person bist?» «Ja, mein Liebling», antwortete ich, «dieses Gefühl kenne ich sehr genau.»
Die entwertete Leere Ich habe an der Schwelle zum Wahnsinn gelebt, wollte die Gründe wissen und klopfte an eine Tür. Sie öffnete sich. Ich hatte von innen geklopft! RUMI
Im Frühjahr 1984, fast zwei Jahre nach dem Beginn der Erfahrung, ohne ein Selbst zu sein, verließen wir Paris und kehrten in die Gegend von Chicago zurück. Ich hoffte, daß die vertraute Umgebung hilfreich dabei sein würde, die Angst zu reduzieren. Doch das war nicht der Fall. Es machte mir große Schwierigkeiten, meine Familie, besonders meine Mutter, um mich zu haben. Sie empfand mich als sehr depressiv und bestand wiederholt darauf, daß ich ihren Psychiater aufsuchte, um mir eine Medikation verschreiben zu lassen. Es gelang mir zwar, mich um den Psychiater zu drücken, doch wesentlich schwieriger war es, dem Ausdruck von Hoffnungslosigkeit und Traurigkeit in den Augen meiner Mutter zu entgehen, wann immer wir uns begegneten. Die Rückkehr in die Staaten und in das Haus meiner Mutter konfrontierte mich mit der Angst, wahnsinnig zu werden. Sie symbolisierte die Tendenz der westlichen Welt, nur vernünftige, verständliche Erfahrungen als einleuchtend und stichhaltig zu
akzeptieren. Meine Erfahrung machte weder vom wissenschaftlichen noch vom psychologischen Standpunkt aus betrachtet einen Sinn und wurde daher als pathologisch abgestempelt.
Ich beschloß daher, zu niemandem über meine Erfahrung zu sprechen. Ich wollte einfach mit meinem Leben fortfahren und vergessen, daß ich kein Selbst mehr hatte. Selbstverständlich war das ein absurdes Vorhaben, denn schließlich kann man nicht einfach verdrängen, kein Selbst mehr zu haben. Doch zu dem Zeitpunkt schien alles absurd zu sein. Wie viele Menschen gibt es schließlich, die ohne ein persönliches Selbst leben? Der Verstand hatte unglaubliche Schwierigkeiten mit dieser Erfahrung. Er schien mit aller Macht beweisen zu wollen, daß mit mir etwas nicht stimmte, und er führte alle möglichen Beweise an, um diese Überzeugung durchzudrücken. Das zwingendste Beweisstück war die Anwesenheit der panischen Angst. Alle Beschreibungen einer spirituellen Entwicklung, von denen ich jemals gehört hatte, beinhalteten in irgendeiner Form Glückseligkeit, Ekstase oder Freude. Doch diese Erfahrung, ohne ein Selbst zu sein, hatte nichts mit Glückseligkeit zu tun. Immer wieder, wenn sich der Verstand auf seiner Suche nach einem Selbst-Konzept, nach jemandem, der die Erfahrung macht, nach innen richtete, fand er nur Leere - und seine einzige Antwort daraufwar panische Angst. Die Beziehungen zu anderen Menschen hatten sich radikal verändert. Ohne ein persönliches «Ich» gab es keine Instanz, die die Erfahrungen zu reflektieren in der Lage war. Das Gefühl, mit anderen verbunden zu sein, hatte sich aufgelöst, denn es gab keine Person mehr, mit der es hätte verbunden sein können. Doch ich muß nochmals wiederholen, daß trotzdem alle Gefühle in angemessener Weise weiterbestanden. Was sich aufgelöst hatte, war der Bezugspunkt eines persönlichen Selbst, das diese Gefühle selbst empfand. Die Leere existierte immer im Zusammenhang mit allen emotionalen oder mentalen Zuständen, und dies Nebeneinander schloß jegliche persönliche Eigenschaften gänzlich
aus. Gedanken, Gefühle oder Handlungen entstanden nicht mehr für irgendeinen persönlichen Zweck. Doch das Seltsame all dieser Phänomene war die Tatsache, buchstäblich keinen Namen mehr zu haben. Der Name, mit dem ich mich bislang identifiziert hatte, bezog sich auf niemanden mehr. Den Namen geschrieben zu sehen, erzeugte kein Gefühl des Wiedererkennens, ihn ausgesprochen zu hören kein Gefühl für die Person, auf die er sich bezog. Auch heute noch verstärkt sich diese Leere, wenn der Name ausgesprochen oder niedergeschrieben wird. Diese Intensivierung wird als eine Ausweitung der Leere erlebt, als ob die Leere sich nach innen kehrt, um sich selbst zu betrachten, und dieser Blick erzeugt die Erinnerung daran, wie leer sie tatsächlich ist. Viele Jahre später erinnerte sich der Verstand an die Praktiken als Kind, meinen Namen so lange zu wiederholen, bis ich mich mit der beängstigenden Wahrheit konfrontiert sah, daß ich keine persönliche Identität besaß. Diese Erinnerung brachte eine gewisse Beruhigung, auch wenn der Verstand weiterhin darauf bestand, daß der Verlust der persönlichen Identität etwas Krankhaftes sei. Bestenfalls konnte man wohl nur darauf hoffen, daß sich der Verstand schließlich an diesen Zustand gewöhnen und nicht mehr die Botschaft aussenden würde, daß mit mir etwas nicht stimmte. Doch das sollte mehr als ein Jahrzehnt auf sich warten lassen. In dem Jahr nach unserer Rückkehr in die Staaten legte Claude mit Erfolg sein medizinisches Examen ab und wurde am Cook County Hospital in Chicago für sein Medizinpraktikum angenommen. Bevor er jedoch mit seinem Praktikum beginnen konnte, war ihm bereits klar, daß sowohl die Belastung durch unsere unwiderruflich veränderte Beziehung als auch das Leben in einem fremden Land, das auf ihn nicht sehr einladend wirkte, für ihn unerträglich geworden war. Im Januar 1985 beschlossen wir,
uns zu trennen, und Claude zog in ein Appartement in der Chicagoer Innenstadt. Er wohnte dort für sechs Monate, bis wir offiziell geschieden wurden. Im September, zwei Monate nach unserer Scheidung, verließ er enttäuscht und mit gebrochenem Herzen das Land, um ein neues Leben in einer vertrauteren und mehr Rückhalt bietenden Umgebung zu beginnen. Ich kann nur feststellen, daß mich die Trennung von ihm nicht traurig machte. Unsere Beziehung hatte sich bereits vor zwei Jahren aufgelöst, als es deutlich wurde, daß er nicht mehr daran interessiert war, ein Partner für ein dermaßen wunderliches Mysterium zu sein. Wir einigten uns darauf, daß unsere Tochter bei mir in den Staaten bleiben und ihn mehrmals im Jahr in Paris besuchen würde. Als Claude schließlich abreiste, begann ich Pläne für eine Rückkehr nach Kalifornien zu schmieden. Es war ganz offensichtlich das Naheliegenste, was es zu tun gab. Während dieser Zeit, als Claude und ich uns trennten, erzählte mir mein Bruder Dan von einem spirituellen Lehrer, den er kennengelernt hatte und der angeblich während einer Ausbildung in der Schweiz zum TM-Lehrer erleuchtet worden war. Robert Peter-sen war ein charismatischer Kanadier, dessen Ruf als Rebell und Bilderstürmer große Aufmerksamkeit in der TM-Gemeinde, besonders in Fairfield, Iowa, erzeut hatte - dort also, wo sich die Internationale Universität des Maharishi befand. Wir beide meinten, daß es mir vielleicht helfen könnte, Robert kennenzulernen, und so arrangierte Dan, daß ich ihn auf einem seiner Trips nach Fairfield begleitete. Ungefähr 60 Leute hatten sich eingefunden, und sobald Dan und ich den Raum betraten, bat mich Robert, zu einem Dialog mit ihm ans Mikrophon zu kommen. «Willkommen, Suzanne», sagte Robert voller Enthusiasmus. «Erzähle mir etwas über dich und dein Leben.»
«Nun, ich bin gerade aus Paris zurückgekehrt, wo ich die letzten dreieinhalb Jahre gelebt habe. 1975 habe ich die Ausbildung zum TM-Lehrer abgeschlossen, doch die letzten sechs Jahre habe ich nicht mehr meditiert. Man hat mir erzählt, daß du mit Leuten arbeitest, die von Maharishis Lehren enttäuscht sind.» «Ich glaube, das kann man so sagen - doch viel wichtiger ist, daß ich die Dramatik vom Licht des Bewußtseins zu allen Menschen bringe. Ich muß dir sagen, daß es sehr eindeutig ist, daß du etwas Besonderes bist. Ich fühle sehr deutlich, daß du den Ort, an dem du jetzt lebst, verlassen solltest, um in meiner Gemeinschaft in Victoria zu leben. Du bist tatsächlich etwas ganz, ganz Besonderes. Bitte, Suzanne, kannst du zu mir kommen?» «Ich weiß nicht, Robert, doch ich werde gewiß darüber nachdenken. Kanada? Vielleicht...» Nachdem wir noch ein paar Minuten lang miteinander gesprochen hatten, sah ich mich plötzlich von einigen seiner Anhänger umringt. Sie versicherten mir, daß Robert noch nie zuvor jemandem ein solch direktes Angebot, sich ihm anzuschließen, gemacht hätte. Ich antwortete, daß ich mir sein Angebot überlegen würde, denn nichts schien mich irgendwo anders zu halten. Auf unserem Heimweg am nächsten Tag nach Chicago diskutierten Dan und ich ausgiebig diese neue Möglichkeit. Ich wollte meine Mutter bitten, sich für ein paar Tage um Arielle zu kümmern, während ich nach Victoria flog, um mir alles näher anzusehen. Sie willigte gerne ein, und so flog ich zwei Wochen später. Als ich in einem neunsitzigen Pendelflugzeug von Seattle auf dem winzigen Flughafen von Victoria landete, wurde ich von einem von Dans Freunden abgeholt. Er hatte mich eingeladen, während meines Besuches in seinem Haus zu wohnen. Am nächsten Morgen brachen wir frühzeitig auf, um an dem Wochenendkurs von Robert teilzunehmen, den er in einer Vorlesungshalle der Universität von Victoria gab.
Es war aufregend, Robert wiederzusehen. Die Gruppe von Leuten um ihn war von seinem Charisma wie gebannt. Er präsentierte seine Lehren mit einer solchen Kraft, daß ihr eigentlicher Inhalt gar keine große Rolle spielte. William, sein bester Freund und gleichzeitig auch seine rechte Hand, begrüßte mich voller Enthusiasmus, und es wurde sehr schnell deutlich, daß William und ich uns voneinander angezogen fühlten. Während des Wochenendes wartete ich gespannt auf eine Möglichkeit, mit jemandem über meine Erfahrung, ohne ein Selbst zu sein, zu sprechen. Obwohl dies das erste Mal war, daß ich mich in einer spirituellen Umgebung aufhielt, seit sich die Leere des persönlichen Selbst aufgetan hatte, schien hier nicht der Ort zu sein, um eine Selbst-lose Erfahrung zu diskutieren. Schließlich war Robert ein Anhänger von Maharishi Mahesh Yogi, und der hatte niemals in seinen Lehren einen Selbst-losen Zustand erwähnt. Der Verstand produzierte aufgrund der Leere weiterhin eine unglaubliche Angst, die sich auch nicht verringerte, als ich dem zuhörte, was Robert zu sagen hatte. Während der nächsten fünf Monate pendelte ich zwischen Victoria und Chicago hin und her. Da Claude und ich uns mitten im Prozeß der Scheidung befanden, mußten die Gespräche mit dem Rechtsanwalt in Chicago sowie Arielles Besuche bei Claude arrangiert werden. Doch immer, wenn ich keine derartigen Verpflichtungen hatte, flogen Arielle und ich nach Victoria. Nach einigen Wochen, in denen ich Robert näher kennengelernt hatte, wurden William und ich ein Paar, und man bot mir an, in sein Appartement im ersten Stock eines wunderschönen Hauses einzuziehen, das einer Gruppe von Roberts Studenten gehörte. Die Beziehung zu William ergab sich aus derselben Leere, die nach wie vor als der nichtlokalisierbare Handelnde präsent war. Ein Paar zu werden, war offensichtlich das Naheliegenste, doch es war nicht das Ergebnis eines persönlichen Bedürfnisses
oder Wunsches. Die Funktionen, die in einer Beziehung ablaufen, liefen weiterhin ab, auch wenn es niemanden gab, auf den sie sich bezogen. Kein Ereignis basierte auf Gründen oder Entscheidungen. Es gab nichts mehr, das in irgendeiner Weise jemandem ähnelte, der die Entscheidungen traf, jemandem, der die Entscheidung zu treffen schien, ob eine Beziehung beginnen sollte oder nicht, oder ob die Person der richtige Partner war oder nicht. Die Beziehung schien zwar eine persönliche zu sein, doch das war sie nicht, und für den Verstand war das verwirrend und beängstigend. Robert hatte die Angewohnheit, seine Studenten zu « konfrontieren», wenn er der Meinung war, daß sie etwas falsch gemacht hätten. Nachdem ich öfter an seinen Gesprächen teilgenommen hatte, wurde mir klar, daß er die Welt und alle Menschen auf der Ebene von gut und böse betrachtete. Wenn er jemanden konfrontierte, dann basierte seine Attacke darauf, daß er diese Person als böse bezeichnete, und sie wurde unmittelbar nach der Konfrontation aus der Gemeinschaft verbannt. Einige von ihnen waren mehrmals konfrontiert und verbannt worden und kehrten trotzdem im Laufe der Jahre immer wieder in den Schoß der Gemeinschaft zurück. Andere wurden konfrontiert und verließen die Gemeinschaft für immer. Eines Tages traf eine Frau zu einem Wochenendkurs ein, die Robert als «psychotisch» bezeichnet hatte. Sie war attraktiv und sprach zusammenhängend und anschaulich über verschiedene Themen. Niemand außer Robert hielt sie für «verrückt», aber für Robert waren verrückt und böse das gleiche. Die Frau wurde aufgefordert, vor die Gruppe zu treten und ihre Erfahrung zu beschreiben. Sie war nervös und erklärte: «Mein Problem ist, daß ich kein Selbst habe.» Als ich das hörte, gefror mir das Blut in den Adern. Es war die schlimmste Bestätigung, die ich jemals vernommen hatte, daß die
Leere genau das war, wofür sie der Verstand hielt: Wahnsinn. Robert antwortete auf die Beschreibung der Frau, indem er behauptete, sie am Abend zuvor dadurch «geheilt» zu haben, daß er ihr «ein Selbst zurückgegeben hatte». Sie bestätigte, daß das tatsächlich geschehen sei und drückte ihm ihre grenzenlose Dankbarkeit aus. Er lächelte nur und akzeptierte voller Stolz ihr Lob. Eine gewaltige Welle panischer Angst schlug über mir zusammen. Drei Tage später blieben William und ich die ganze Nacht auf und diskutierten darüber, welch schreckliche Angst mir das eingejagt hatte (obwohl ich ihm niemals von meiner Erfahrung, ohne ein Selbst zu sein, erzählt hatte). William schlug vor, daß wir Robert aufsuchen sollten. Ich gab zu bedenken, daß er um diese Zeit sicherlich nicht mehr wach sei, denn es war bereits halb fünf Uhr morgens, doch William bestand darauf, daß wir ihn anriefen. Robert meldete sich am Telefon und forderte uns auf, ihn augenblicklich aufzusuchen. Zehn Minuten später begrüßte er uns mit einem breiten Lächeln. Unser Gespräch dauerte eine Stunde, und es drehte sich hauptsächlich um das, was Robert gerade in den Sinn kam. Danach verabschiedeten William und ich uns wieder. Eine Woche später, William hatte für zwei Tage die Stadt verlassen, rief mich Robert spät abends noch an. Er gab vor, sich seit unserem Gespräch vor einer Woche seltsam gefühlt zu haben, und er wunderte sich, was ich wohl mit ihm angestellt hatte. Das war genau die Art von Anschuldigung, die er oft gegen andere erhob. Immer wenn er sich in der Gegenwart einer Person «abgetrennt, entrückt oder aufgelöst» fühlte, dann schloß er daraus, daß diese Person böse sein mußte. William hatte mir schon einmal etwas Ähnliches erzählt. Nachdem er von einem späten Mittagsschlaf erwacht war, wunderte er sich, was ich wohl mit ihm im Schlaf angestellt hatte, denn nach dem Aufwachen fühlte er sich nicht wohl. Robert und ich beendeten unser Telefonat, und ich ging schla-
fen. Am nächsten Morgen gegen sechs Uhr kam Roberts Frau Tessa in mein Zimmer, weckte mich und sagte, Robert wartete draußen im Flur und wollte mit mir sprechen. Sie erwähnte jedoch mit keiner Silbe, daß Robert den anderen Studenten im Haus bereits erzählt hatte, ich wäre böse, denn ich wäre eine Jüdin. Eine Woche zuvor war er nämlich zu der dramatischen Erkenntnis gekommen, daß alle Juden böse seien. Er traf sich mit einigen seiner langjährigen Studenten in der Eingangshalle und drängte sie, mich aus dem Haus zu werfen. Ich traf Robert in der Eingangshalle, und er bat mich, ihm in das Appartement einer seiner Studenten zu folgen, um miteinander zu reden. Zwölf Leute hatten sich dort versammelt, um unserer Unterhaltung beizuwohnen. Er begann mit der Anklage, daß ich in der vergangenen Woche ein «seltsames» Gefühl auf ihn übertragen hätte und fuhr fort, all die Dinge anzuführen, die ich ihm angetan hätte. Schließlich eröffnete er mir, daß ich sofort gehen sollte, denn alle Juden wären böse und in diesem Haus, das für ihn ein heiliger Platz sei, nicht mehr willkommen. Man schickte mich zurück auf mein Zimmer. Ich sollte meine Sachen packen, und man organisierte für Arielle und mich die Wohnung eines anderen Studenten, der ein paar Meilen entfernt lebte. Zwar wollte ich auf William warten, um seine Reaktion auf diese Neuigkeit zu hören, doch ich durfte nicht mehr länger als eine Stunde im Haus bleiben. Eiligst packte ich meine Sachen zusammen, und zwei Männer brachten mich in die andere Wohnung. Bei seiner Rückkehr am nächsten Tag wurde William von einem der Hausbewohner abgefangen und über die Ereignisse vom vergangenen Tag informiert. William kam niemals vorbei, um mich zu sehen, und rief auch nicht an, um herauszufinden, wie es mir ging. Robert hatte ihn davor gewarnt, mit mir in Kontakt zu treten.
Innerhalb einer Woche organisierte ich alles für meine Abreise von Victoria. Noch während der Vorbereitungen für meine Rückkehr in die Staaten hörte ich, daß Robert William konfrontiert und beschuldigt hatte, selbst der Teufel zu sein. Das Drama von Roberts Beziehung zu dem, was er als böse bezeichnete, wertete der Verstand als überzeugenden Beweis gegen die Leere des persönlichen Selbst. Da dies die erste spirituelle Gemeinschaft war, mit der ich seit dem plötzlichen Abfallen der persönlichen Identität vor drei Jahren in Kontakt gekommen war, schloß der Verstand daraus, daß alle spirituellen Lehren meine Erfahrung als einen pathologischen Fall betrachten würden, so wie es Robert getan hatte. Verständlicherweise bot der spirituelle Bereich keinen weiteren Anreiz mehr, um bei der Suche nach einer Erklärung für diesen mysteriösen Zustand hilfreich sein zu können. Während meiner letzten Tage in Victoria erreichte mich die Nachricht vom Tod meines Vaters. Seit meiner Rückkehr von Paris hatte ich ihn des öfteren in der Privatklinik besucht, wo er seit sechs Monaten untergebracht war. Seit zehn Jahren litt er an Alzheimer, und sein unaufhaltsamer Verfall hatte das Feuer der ständigen Angst des Verstandes weiter geschürt, daß in der Leere des persönlichen Selbst alle Funktionen zum Stillstand kommen oder zumindest eingeschränkt würden. Denn schließlich war es ganz eindeutig, daß jegliche Form von jemand zu sein sich aufgelöst hatte, und man konnte sehen, welche Auswirkungen das bei ihm hatte: Er erkannte weder seine Frau noch seine Kinder, und er wußte nicht mehr, wer er war. Er sprach nicht mehr, und er las, fuhr oder ging nicht mehr. Sein Anblick schürte die Angst, daß ich bald so enden würde wie er. Als ich von seinem Tod erfuhr, weinte ich. Es gab zwar niemanden, der sich traurig fühlte, und dennoch erfolgte die emotionale Reaktion genau wie zuvor und bezog sich anscheinend auf je-
manden, obwohl das nicht der Fall war. Das Weinen fand statt -nicht mehr und nicht weniger. Für andere schien es jemanden zu geben, der traurig war, doch da war niemand. Für den Verstand war es ungemein schwierig zu erleben, daß die emotionalen Funktionen im Angesicht der Selbstlosigkeit weiter abliefen, und er begann wiederum Beweise dafür zu sammeln, daß etwas mit dieser Erfahrung nicht stimmte. Gleichzeitig versuchte ich so zu wirken, als ob ich jemand wäre, der in angemessener Weise auf den Tod seines Vaters reagierte. Ich flog augenblicklich nach Chicago zurück und half meinen Brüdern und meiner Mutter bei den Vorbereitungen für die Beerdigung. In ihrer Anwesenheit weinte ich regelmäßig und ausgiebig, wann immer wir von unserem Vater sprachen. Der «Versuch, jemand zu sein», wirkte sehr überzeugend, und ich sprach mit niemandem darüber, daß all diese Emotionen sich für keinen einzigen Moment auf ein «Mich» bezogen.
Die Leere analysieren Bang verlangen wir nach einem Halte, Wir zu Jungen manchmal für das Alte Und zu alt für das, was niemals war. RAINER MARIA RILKE
Im Januar 1986 machte ich mich mit meiner Tochter auf den Weg nach San Francisco. Wir mieteten eine Wohnung im obersten Geschoß eines wunderschön restaurierten viktorianischen Hauses in einem ruhigen Stadtteil und genossen einen sehr angenehmen Tagesablauf: faule Vormittage, lange Nachmittage im Park und Abende, an denen wir uns im Wohnzimmer auf dem Sofa zusammenkuschelten und Geschichten lasen. Auf diese Weise vergingen die ersten Wochen wie im Flug und boten uns eine willkommene Abwechslung von den vergangenen Monaten, die sich immer nur um die Scheidung, intensive Konfrontationen und den Tod meines Vaters gedreht hatten. Arielle blieb nach wie vor eine wunderbare Gefährtin, deren stets fröhliches Lachen alle Situationen in wunderschöne Erlebnisse verwandelte. Ihre Präsenz linderte die Angst, die meine Erfahrungen auch drei Jahre nach dieser schicksalhaften Begegnung mit der Leere bestimmte. Ich wurde abhängig von ihrem Lachen; es beruhigte meinen Verstand, wenn er voller Enthusiasmus sein breitgefächertes Angebot angsterfüllter Vorstellungen ausbreitete. Sie half mir damals und auch in den darauffolgenden Jahren mehr
als jeder andere, mich daran zu erinnern, daß man sich auch in den angstvollsten Momenten sicher fühlen kann, solange man nicht seinen Humor verliert. Der Prozeß, sich daran zu gewöhnen, kein individuelles Selbst zu haben, setzte sich ohne Unterbrechung fort. Der Verstand überwachte aufs genaueste, wie unterschiedlich die Ereignisse im Leben aufgenommen wurden, und er registrierte und kommentierte (wie es ein Verstand nun einmal tut) alles Positive und Negative eines jeden Momentes. Da der Verstand die Verschiebung im Bewußtsein bereits als negativ abgestempelt hatte, gab es nur wenig Spielraum, um etwas Positives wahrzunehmen. In diesen seltenen Momenten, wenn die Leere scheinbar in den Hintergrund rückte (auch wenn das nur ansatzweise geschah), ergriff der Verstand die Gelegenheit, um eine Rückkehr zum «Normalzustand» des Bewußtseins festzustellen. Diese Verlagerung der Leere in den Hintergrund war das einzige, was der Verstand als positiv bezeichnete. Die erhöhte Wachsamkeit des Verstandes war äußerst anstrengend. Da er ununterbrochen damit beschäftigt war, die Erfahrung der Leere abzuwehren, blieb wenig Aufmerksamkeit für irgend etwas anderes übrig. Mein Leben war erfüllt davon, die Selbst-lo-sigkeit zu erkennen, sie zu fürchten und zu beurteilen, sie zu vergessen, sie abzulehnen, sich Sorgen über sie zu machen und Fragen über sie aufzuwerfen. Selbst im Schlaf setzte sich die Leere der persönlichen Identität ungehindert fort. Keine Form mentaler Aktivität veränderte jemals in irgendeiner Weise die Erfahrung, ohne ein Selbst zu sein, und keiner der Versuche, sie zu begreifen, zu organisieren oder zu bewerten, brachte jemals das Gefühl einer persönlichen Identität zurück. Der Verstand schien davon besessen zu sein zu verstehen, was geschehen war, doch die Suche nach einer Antwort im Bereich des
Verstandes brachte keine Ergebnisse. Folglich verstärkte sich langsam die Meinung, daß jemand anderer vielleicht dieses Phänomen Ierklären könnte. Wer könnte möglicherweise verstehen, was geschehen war? Die Angst vor dem Wahnsinn blieb auch weiterhin die größte Sorge, und obwohl ich bisher kein Glück gehabt hatte, einen Psychotherapeuten zu finden, der mir helfen konnte, meine Erfahrung zu verstehen, schien die Psychotherapie immer noch der einzige Weg zu sein. Ein Freund, der in einer Telefonnothilfe für Suizidgefährdete arbeitete, erzählte mir von einem Psychiater, der einen der regelmäßigen Anrufer behandelte. Diese Patientin schwärmte von seiner unglaublichen Fähigkeit, ihr dabei zu helfen, den Humor im Leben wiederzuentdecken - und Humor, das hatte meine Tochter mir gezeigt, war lebenswichtig. Ich rief ihn an, um einen Termin zu vereinbaren, und in der darauffolgenden Woche fuhr ich eine Stunde lang gen Süden, um ihn in seiner Praxis in Los Gatos in der Nähe von San Jose aufzusuchen. Die Praxis von Carl Trimble befand sich in einem kleinen Wohnkomplex, einen Steinwurf von der Schnellstraße entfernt, die sich durch die wunderschönen Santa Cruz-Berge schlängelte. Carl begrüßte mich herzlich und bat mich, in einem der bequemen Stühle, die seinem Schaukelstuhl gegenüber standen, Platz zu nehmen. Er zündete sich seine Pfeife an und fragte, wie er mir helfen könnte. Ich begann, ihm meine Erfahrungen zu beschreiben und beobachtete dabei sehr genau seine Reaktionen. Er hörte mir einige Zeit schweigend zu und stellte dann verschiedene Fragen über mein Leben in Paris, meine Ehe und meine Gefühle während der Schwangerschaft. Ich antwortete ihm so präzise wie möglich. Mir war klar, daß er versuchte, ein bestimmtes Problem zu lokalisieren, das möglicherweise meine Erfahrung hätte auslösen können. Ich erzählte ihm, daß mein Vater vor sechs Monaten gestorben war, und er notierte das auf einem Block, auf dem er
während unseres Gespräches ab und zu Notizen machte. Ich fragte ihn, ob er jemals zuvor von einer solchen Erfahrung gehört hatte, und er bejahte das. «Tatsächlich?» fragte ich zögernd und mit einer gewissen Angst in der Stimme. «Nun, was ist es denn?» «Man nennt es Depersonalisation», sagte er, ohne eine Miene zu verziehen. « Diese Erfahrung tritt relativ häufig bei Menschen auf, die einen schweren Schock erlitten haben, zum Beispiel wenn jemand stirbt, an dem sie sehr gehangen haben, oder wenn ihnen eine besonders schlimme Nachricht überbracht wird. Es kann auch etwas unglaublich Positives sein, wie ein Lottogewinn. Normalerweise geht es nach ein paar Stunden oder maximal nach einigen Tagen wieder vorbei. Ehrlich gesagt, habe ich noch nie von einem Fall gehört, wo es so lange anhält wie bei Ihnen. Doch ich bin mir sicher, daß es sich um eine solche Störung handelt, und ich kann Ihnen sicherlich helfen.» «Mir dabei helfen, daß es wieder verschwindet?» fragte ich. «Genau», antwortete er. «Es sollte sich nach einiger Zeit auflösen, wenn ich Ihnen behilflich sein kann herauszufinden, was Sie so sehr schockiert hat. Es könnte etwas vor langer Zeit in Ihrer Kindheit gewesen sein oder auch etwas, das in Paris geschehen ist. Doch wenn wir erst die Wurzeln freigelegt haben, indem wir Ihre Vergangenheit näher untersuchen, dann sollte es wieder vergehen. Natürlich kann das einige Zeit dauern. Es ist schwer zu sagen, wie lange.» «Depersonalisation», wiederholte ich. «Ist das der Name dafür? » Er nickte mit dem Kopf. « Und machen tatsächlich andere Leute genau die gleiche Erfahrung? » «Gewiß doch», erwiderte er. «Es ist sogar recht weit verbreitet.»
«Recht weit verbreitet», sinnierte ich kopfschüttelnd. «Das Gefühl, keine persönliche Identität zu haben, ist recht weit verbreitet? » « Das einzig Ungewöhnliche in Ihrem Fall ist, daß es ohne Unterbrechung so lange anhält», erwiderte er. «Manche Leute machen die gleiche Erfahrung relativ häufig, jedoch nur für kurze Momente. Ich würde auch vorschlagen, daß Sie ein Antidepressi-vum ausprobieren, um zu sehen, ob das die Symptome lindert.» Ich schüttelte meinen Kopf. « Nein danke. Ich möchte wirklich keine Medikamente nehmen. Meine Mutter hat jahrelang Antide-pressiva genommen, aber ich lehne das völlig ab - besonders wegen der Art und Weise, wie sie ihren Psychiater dafür als eine Art Gott betrachtet, daß er ihr das Medikament verschrieben hat.» «Kein Problem», sagte er mit einem Lächeln. «Wir wollen ja nicht, daß das geschieht, oder?» Carl und ich gingen auf die Jagd nach einem «Heilverfahren» für die Erfahrung, ohne ein Selbst zu sein. Einmal die Woche fuhr ich zu ihm in die Praxis und sprach über meine Kindheit, meine Beziehungen und mein Interesse an einem Psychologiestudium. Vielleicht würde ich ja dort eine Antwort finden. Vielleicht würde die quälende Angst endlich verschwinden. Vielleicht würde ja mein «Ich» tatsächlich zurückkehren, wenn ich die tieferliegenden Ursachen seines Verschwindens entdeckte. Inspiriert von Carls völligem Vertrauen in die heilende Kraft des therapeutischen Prozesses, begann ich mich ernsthaft für ein Psychologiestudium zu interessieren. Im Herbst 1986 schrieb ich mich an der John FRAGE Kennedy-Universität ein und belegte ein Semester in klinischer Psychologie. Carl versicherte mir des öfteren, er sei zuversichtlich, daß das «Ich» zurückkehren werde -es wäre lediglich eine Frage der Zeit. Wir beide sahen als Ziel der Therapie die Rückkehr des «Ich-Gefühls», ein Bestreben, das wir beide mit ganzem Herzen verfolgten.
Drei Monate, nachdem ich Carl zum ersten Mal aufgesucht hatte, nahm ich eine deutliche Veränderung in seiner Verhaltensweise mir gegenüber wahr. Er begann, des öfteren über sich selbst zu sprechen und streute Bemerkungen über seinen Wunsch nach eigenen Kindern und über sein neuerworbenes Haus in den Bergen von Santa Cruz ein. Immer wenn ich darauf mit Fragen meinerseits einging, reagierte er mit großer Offenheit, und unsere Diskussionen bekamen eine sehr persönliche Note. Er zeigte mir Fotos von seinem neuen Haus und seinem Hund, und wir saßen dann nebeneinander auf der Couch, während wir uns die Bilder gemeinsam anschauten. Mir gefiel die Aufmerksamkeit, die Carl mir widmete. Er war der erste Mensch, der mir einen Schimmer von Hoffnung geschenkt hatte und der erste mit einer klaren Aussage darüber, was seiner Meinung nach meine Erfahrung zu bedeuten hatte. Obwohl mir klar war, daß meiner Erfahrung durch die Bezeichnung Depersonalisation der Stempel des Pathologischen aufgedrückt wurde, schien das unwichtig zu sein, weil er die Aussicht auf Heilung als sehr vielversprechend bezeichnete. Zumindest hatte ich einen Namen für das Problem, und Carl würde mir dabei helfen, es zu lösen. Sein wachsendes Interesse an mir bestärkte meine Hoffnung, nicht für immer in der Leere des «Ich» verfangen zu bleiben. Es bedeutete auch, daß ich nicht hoffnungslos verrückt war, denn ansonsten würde dieser eindeutig vernünftige, sympathische Mann nicht all die Signale aussenden, daß er sich Hals über Kopf in mich zu verlieben begann. Fünf Monate nach dem Beginn der Therapie beendete Carl unsere therapeutische Beziehung. Er sagte, daß er mich auf andere Art und Weise näher kennenlernen wollte und er daher nicht mehr mein Therapeut sein konnte. Zwischen uns begann sich eine Liebesbeziehung zu entwickeln, und bald wurde er ein regelmäßiger Wochenendbesucher in meinem Heim in San Francisco.
Er machte mich mit seinen Freunden bekannt, wobei er sorgfältig darauf bedacht war zu verschleiern, wie wir uns getroffen hatten. Er erfand verschiedene Geschichten, bis er schließlich dabei blieb, daß wir uns durch gemeinsame Freunde kennengelernt hatten. Sehr bald verbrachten wir jedes Wochenende zusammen, entweder in San Francisco oder in Los Gatos, und unter der Woche telefonierten wir jeden Abend miteinander. Als ich Carl näher kennenlernte, stellte ich fest, daß er nicht mehr dieselbe Begeisterung zeigte, Dinge in unserer Beziehung auszudiskutieren, so wie er es in unseren Therapiesitzungen getan hatte. Meistens sagte er bei solchen Gelegenheiten, daß er sich bereits in der Praxis verausgabt hätte und nicht daran interessiert sei, jetzt noch Probleme zwischen uns zu erörtern. Er schien ebenfalls davon auszugehen, daß meine Erfahrung, ohne ein Selbst zu sein, sich irgendwie aufgelöst hätte. Vielleicht wollte er auch andeuten, daß ich ihn als einen Partner gebraucht hätte, um mein «Selbst» wieder zurückzubekommen. Da ich nach wie vor fest davon überzeugt war, daß meine Erfahrung ein Problem war, das verborgen bleiben mußte, sprach ich auch mit ihm nicht mehr darüber. Meine Beziehung zu Carl endete schließlich nach sechs Monaten, als ich ihm eröffnete, daß ich wieder mit einer Therapie beginnen würde. «Warum?» fragte er. «Ich dachte, du wärest von deinen Problemen geheilt.» «Carl», erwiderte ich. «Du sprichst überhaupt nicht mehr mit mir. Du glaubst, daß alles in Ordnung ist, aber das stimmt einfach nicht. Ich verspüre immer noch kein , und ich brauche Hilfe, um zu verstehen, was das zu bedeuten hat. Diese schrecklichen Ängste sind immer noch da.» « Du meinst, diese Erfahrung hat nie aufgehört?» «Nicht für einen einzigen Augenblick. Keinen Moment lang ist das Gefühl, eine individuelle Person mit einer persönlichen
Identität zu sein, zurückgekehrt. Das geht jetzt schon seit fünf Jahren so. Vielleicht ist es auch hoffnungslos ...» «Und ich glaubte, daß es dir besser ginge», sagte er. «Doch du solltest wissen, daß eine Depersonalisation kommt und geht. In manchen Fällen löst sie sich nie ganz auf.» «Carl», erwiderte ich mit einer gewissen Schärfe, «diese sogenannte Depersonalisation ist für keinen Augenblick vergangen. Begreifst du das denn nicht? Es begann vor fünf Jahren, in einem kurzen Augenblick, und es hat sich seitdem nie verändert oder sich aufgelöst, noch nicht einmal, wenn ich schlafe!» «Ich weiß nicht, was es außer einer Depersonalisation sonst noch sein könnte», antwortete er. «Vielleicht dramatisierst du das Ganze auch ein bißchen. Schau mal, du behauptest seit längerem schon, daß du als eine individuelle Person nicht existierst, und trotzdem stehst du hier vor mir und sprichst mit mir. Du bist hier, verstehst du? Du glaubst nur, daß das nicht so ist.» «Warum sagt nur jeder das gleiche? Glaubst du etwa, daß ich das alles erfinde? Daß du einen Körper vor dir siehst und einen Mund sprechen hörst, heißt noch gar nichts. Tatsache ist: In meinen Erfahrungen gibt es keine Person. Es ist nichts, was man von außen erkennen könnte, und das versuche ich dir nun schon seit fast einem Jahr klarzumachen!» Carls Gesicht versteinerte sich. Mit einer Handbewegung gab er zu verstehen, daß unsere Diskussion beendet war, und sagte, daß er einen Spaziergang mache. Als er zu seinem Haus zurückkehrte, war ich im Begriff, Arielle und unsere Sachen ins Auto zu laden. Er stand in der Auffahrt, als ich zurücksetzte, und winkte uns zu, als wir in Richtung San Francisco losfuhren. Das war das letzte Mal, daß ich ihn gesehen habe. In den Wochen nach der Trennung von Carl wurde die Angst wieder stärker und verwandelte meinen Verstand in ein Schlachtfeld, auf dem die Leere des Selbst die feindliche Armee zu sein
schien. Und sie wuchs noch ganz ungemein, während die Angst gegen sie ins Feld zog. Sie rückte nicht im mindesten in den Hintergrund, egal wie vehement sich der Verstand auf andere Dinge stürzte. Ich versuchte, meine Aufmerksamkeit auf die Studienarbeit an der John FRAGE Kennedy-Universität zu konzentrieren und ging gänzlich in einem interessanten akademischen Leben auf, das den Verstand damit beschäftigt hielt, neue Bücher zu lesen, sich psychologische Theorien einzuprägen und Abhandlungen zu schreiben. Die Leere begleitete indes jeden Moment von Aufmerksamkeit, immer gegenwärtig, immer unveränderlich, so wie ein ungebetener Gast, den man gezwungenermaßen beherbergen muß. Carls Diagnose ging mir nicht mehr aus dem Kopf, und ich verbrachte eine Menge Zeit damit, über «Dissoziations-Störungen», Depersonalisation, Realitätsverlust und Dissoziierung nachzulesen. Sicherlich waren gewisse Charakteristiken dieser Funktionsstörungen auch in meinen Erfahrungen aufgetreten, doch sie beschrieben in keiner Weise das auffälligste Symptom die völlige Abwesenheit einer persönlichen «Ich-heit», die mit einer unbe-einträchtigten (teilweise sogar verbesserten) Funktionsfähigkeit in der Welt einherging. Wie ließ es sich erklären, daß in der psychologischen Literatur keine Antwort zu finden war? Nach fast sechs Jahren ohne ein Selbst hatte ich noch immer niemanden gefunden, der zumindest eine Ahnung davon hatte, was das zu bedeuten hatte. Flüchtig erinnerte ich mich an die Erklärung meines Freundes Alan: «Manche Menschen verbringen viele Jahre in Höhlen, um eine solche Erfahrung zu machen.» Wenn in den psychologischen Texten nichts darüber zu finden war, könnte es vielleicht doch eine spirituelle Erfahrung sein? Doch der Verstand verwarf immer noch diese Möglichkeit. Es gab noch nicht einmal einen Anflug von Glückseligkeit, Freude oder Glück - und es war so völlig leer.
Doch warum hatte Alan meine Erfahrung bestätigt, selbst nachdem ich ihm erzählt hatte, wie fürchterlich die ganze Sache war? Vielleicht sollte ich doch nach jemandem Ausschau halten, der etwas von spirituellen Erfahrungen verstand. Es schien keine andere Möglichkeit zu geben. Zu diesem Zeitpunkt war ich noch nicht bereit, mich allzuweit vom psychologischen Bereich zu entfernen, also versuchte ich es nochmals mit Therapie. Diesmal jedoch wählte ich einen Therapeuten aus, der eine akademische Ausbildung sowohl in transpersonaler als auch in klinischer Psychologie besaß. Er schien die ideale wissenschaftliche Kombination zu besitzen, um dieses Dilemma zu lösen: Erlebte ich nun einen pathologischen oder einen spirituellen Zustand? Seine Anzeige in einem lokalen Blatt für Transpersonalität war sehr wortgewandt abgefaßt und machte deutlich, daß er mit spirituellen Erfahrungen vertraut und auch bereit war, andere einfühlsam bei allen möglichen Schwierigkeiten, die sie durchmachten, zu begleiten. Zu unserer ersten Verabredung kam ich zu spät, weil ich die falsche Autobahnausfahrt genommen hatte. So folgte ich völlig außer Atem Sam Goldfarb in sein Haus, das in einer ruhigen Gegend in den Hügeln von Richmond gelegen war. Er führte mich in ein Zimmer hinter dem Haus, das als sein Sprechzimmer diente. Ich tauchte wieder in meine Geschichte ein und erzählte ihm so viele Details wie möglich über die Leere, über das fehlende Selbst und die Angst. «Nun ja», sagte er, «mir scheint, daß du entweder eine recht dramatische Öffnung des siebten Chakras erlebst, eine tiefgehende spirituelle Erfahrung, oder du befindest dich in einem Dis-soziierungszustand, in dem du versuchst, der Realität zu entfliehen.» «Das sagt mir nicht viel», erwiderte ich, «es sei denn, du kennst den Unterschied zwischen den beiden Zuständen.»
«Nun, der Unterschied ist nicht so einfach festzustellen», sagte er. «Ich denke, wir werden zusammen daran arbeiten müssen und dann sehen, ob es auf irgendeine Weise deutlich wird.» Drei Jahre lang machte ich Therapie bei Sam Kindheitserinnerungen und Gefühle auszugraben und sie zu analysieren. Zu Beginn der Behandlung verwarf Sam die Möglichkeit, daß es eine spirituelle Erfahrung sein könnte, und so setzten wir die Suche fort in der (unausgesprochenen) Annahme, daß ich in den Zustand, ohne ein Selbst zu sein, eingetaucht war, um in Sams Worten «den Gefühlen von Angst, Traurigkeit oder anderen problematischen Gefühlen zu entfliehen». Mit anderen Worten war es ein Abwehrmechanismus, eine psychologische Überlebensstrategie. Nach Sams Auffassung war ich als Kind nicht genügend «gespiegelt» worden, und die Wunden, die aus diesem in der Jugend « nicht von anderen gesehen zu werden» geblieben waren, manifestierten sich nun in dieser Leere. Er sprach davon, daß ich narzißtisch verletzt worden war und nun dieses «riesige Loch» in mir hatte, was ich vergeblich zu füllen versuchte. Sam trieb mich dazu, meinen Schmerz dadurch auszudrükken, daß ich schrie, weinte und auf Kissen einschlug. Er sagte, daß die Schmerzen meine Flucht in die Leere begünstigt hätten, weil ich nicht bereit war, ihnen voll und ganz von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten, und solange ich sie mir nicht anschauen konnte, ohne vor ihnen davonzulaufen, könnte ich auch nicht davon geheilt werden. Die Selbst-losigkeit war also ein weiteres Mal pathologisiert worden, was die Erfahrung nicht im mindesten veränderte, sondern die Angst davor nur noch verstärkte. Es gab Tage, an denen ich nicht einmal mein Haus verlassen konnte, weil ich buchstäblich vor Angst zitterte. Meine Gespräche mit Sam überzeugten den Verstand immer mehr davon, daß mein Problem wesentlich schlimmer sei, als ich jemals vermutet hatte.
«Die Angst wird immer stärker, Sam», schluchzte ich jede Woche. «Wovor hast du eigentlich solche Angst?» fragte er mit seiner sanftesten und mitfühlendsten Stimme. «Ich habe Angst davor, wahnsinnig zu werden, überhaupt nicht mehr funktionieren zu können, mich nicht mehr um meine Tochter kümmern zu können. Ich kann diese Angst kaum noch ertragen.» Die Tränen flössen in Strömen über mein Gesicht. «Nur zu, versuche, wahnsinnig zu werden», sagte er. «Ich werde hier sein, um dich zurückzuholen.» «Sicher», schrie ich ihn an. «Du bist hier. Na und? Ich bin wie gelähmt vor Angst, und du sagst mir, ich soll mich da hineinfallen lassen, du würdest mich schon erretten. Ich glaube, du hast keine Ahnung, was hier wirklich vor sich geht, und du weißt nicht, was du sonst noch ausprobieren solltest. Vielleicht bist du einfach mal ehrlich und gibst zu, daß du nicht weiterweißt, anstatt meine Angst noch schlimmer zu machen, als sie vorher schon war.» «Suzanne», erwiderte er scharf, «du warst äußerst schwierig in diesen letzten Monaten. Du bist immer wütend auf mich. Ich habe das Gefühl, daß ich dir überhaupt nichts recht machen kann. Ich würde dir gerne meine Notizen von unserer letzten Sitzung vorlesen. Wärest du damit einverstanden? Ich möchte dich wissen lassen, wie ich diese Wut beurteile, die du gegen mich richtest.» «Du willst mir deine Notizen vorlesen?» fragte ich ungläubig. «Wozu soll das gut sein?» «Ich möchte dir meine Eindrücke und Gedanken über das mitteilen, was du durchmachst.» «Einverstanden», sagte ich immer noch verblüfft. «Lies sie mir vor, wenn du meinst.» Er blätterte sein Notizbuch durch, bis er die betreffende Seite gefunden hatte. Er atmete tief durch und begann zu lesen.
«Schon seit mehreren Monaten wertet sie mich ab, weil ich nicht auf ihr Bedürfnis eingehe, etwas Besonderes zu sein. Für eine Weile hatte sie mich als die gesehen, das hegende Objekt, das durch und durch gut war, vollkommen und nachahmenswert. Jetzt sieht sie mich als die < schlechte Mutterbrust», das Objekt, das durch und durch schlecht ist, in Ungnade gefallen, zutiefst enttäuschend, frustrierend, unerfüllend. Ihre vorödipale Verletzung wird immer deutlicher, und ihr primitiver Abwehrmechanismus arbeitet auf Hochtouren. Sie spaltet ab und betrachtet mich als den durch und durch schlechten Vollstrecker der Strafe. Sie ist wütend darüber, daß ich sie nicht als etwas ganz Besonderes in meinem Leben liebe.» Mit offenem Mund und völlig ungläubig starrte ich Sam für eine Weile an, unfähig, überhaupt zu sprechen. War dies tatsächlich das Bild, das er in den vergangenen drei Jahren von mir entwickelt hatte? Hatte er all das, was ich ihm von der panischen Angst, der Verwirrung, den Schwierigkeiten mit der Erfahrung der Auflösung einer persönlichen Identität erzählt hatte, tatsächlich als ein Zeichen von Objekt-BeziehungsAbspaltung und Borderline Syndrom interpretiert? Ich schaute Sam in die Augen. Er wirkte ruhig, fast fröhlich, ein Lächeln auf den Lippen, während er mich friedvoll anschaute. Er war stolz auf seine Analyse und stolz darauf, sie mir mitgeteilt zu haben. Für mehrere Minuten wartete er auf meine Antwort, und als keine kam, schloß er seine Augen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Ich war immer noch völlig sprachlos, und der Verstand war durch den Schock zum Stillstand gekommen. Ich starrte ihn immer noch an, während ich mich erhob, meine Jacke und meine Tasche nahm und langsam zur Tür ging. Sam öffnete seine Augen und schaute auf die Uhr. Es waren noch 30 Minuten bis zum Ende unserer Sitzung, und er warf mir einen verdutzten Blick zu.
«Wir sind noch nicht fertig», sagte er. «Wohin gehst du?» «Ich gehe», erwiderte ich, kaum fähig, die Worte auszusprechen. «Ich habe nichts mehr zu sagen. Ich kann nicht fassen, was du mir gerade vorgelesen hast. Ich ...» Es gab nichts mehr zu sagen. Ich verließ sein Sprechzimmer wie benebelt und schmetterte dabei seine beharrlichen Appelle zu bleiben ab. Was gab es da noch zu sagen? Er hatte sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, daß er die Erfahrung, ohne ein Selbst zu sein, als etwas Pathologisches betrachtete, als eine tiefe Verletzung in der frühen Lebensphase, und die Prognose dafür war nicht gut. Das war die gleiche Stimme, die aus meiner Angst sprach - die eiskalte, nachhallende Stimme von panischer Angst, die in meinem Verstand zirkulierte und jeden Moment des Friedens und der Zufriedenheit wie mit einer scharfen Klinge durchtrennte. Während ich bei Sam in Therapie war, begann ich eine Beziehung mit einem Mann, den ich in einer der Arbeitsgemeinschaften an der JFK-Uni kennengelernt hatte. Es stellte sich heraus, daß er seit Jahren ein guter Freund von Sam war. Steve und ich fanden im Rahmen des psychologischen Kontextes zueinander. Wir diskutierten psychologische Angelegenheiten, theoretische Modelle und Beziehungsfragen in einer Weise, die zwischen uns eine Verbindung fürs Leben schuf. Wir stimmten beide darin überein, daß die intensive Angst, die mein Leben unablässig durchdrang und die ich ihm regelmäßig schilderte, ein Zeichen von tieferliegenden psychologischen Problemen war. Da wir uns beide in der Ausbildung zum Psychotherapeuten befanden, betrachteten wir alles, was zwischen uns geschah, aus der psychologischen Perspektive. Wir analysierten und interpretierten Verhaltensweisen, wir sprachen regelmäßig über die symbolische Bedeutung von Dingen, und wir erzählten uns gegenseitig unsere Familiengeschichten, um die tieferliegenden «Muster» oder
«Probleme» kennenzulernen, die unsere Beziehung beeinflußten. Genau wie Claude hatte Steve Schwierigkeiten zu verstehen, was ich damit meinte, wenn ich davon sprach, daß es für mich kein «Ich » gab. Soweit es ihn betraf, hatte er eine Beziehung zu einer Frau, die alle Anzeichen aufwies, jemand zu sein. In der mysteriösen Entfaltung der Leere entwickelte sich die Beziehung zu Steve und sollte für ganze neun Jahre fortbestehen. Daß wir zusammenblieben, hatte keinen erkennbaren Grund, und die Beziehung selbst brachte für keinen einzigen Moment einen persönlichen Bezugspunkt zurück, obwohl der Verstand sich darum bemühte, den äußeren Anschein zu erwecken, jemand zu sein. Da wir unter dem Vorzeichen der Angst zueinander gefunden hatten, fühlte sich der Verstand gezwungen, das Sich-aufein-ander-zu-beziehen als etwas Persönliches darzustellen, indem er aus der Erinnerung etwas erschuf, was dem ähnelte, was er sich unter einer «Frau in einer Beziehung» vorstellte. In all diesen neun Jahren jedoch gab es zwischen Steve und mir in keinem einzigen Moment eine persönliche Beziehung, denn es gab kein «Ich», mit dem Steve eine Beziehung hätte haben können. Seit dem Ereignis der Leere des individuellen Selbst im Frühling 1982 bis zum Abbruch meiner Therapie mit Sam hatte ich zehn Psychotherapeuten konsultiert. Obwohl all die Therapien nichts anderes bewirkt hatten, als die Ängste zu intensivieren, war ich immer noch davon überzeugt, daß es keine anderen von der Gesellschaft akzeptierten Möglichkeiten der Hilfe gab, um zu verstehen, was geschehen war. Und so suchte ich nach Sam noch einen weiteren Therapeuten auf. Lauren Spock war eine klinische Psychologin, Anfang 50, die in transpersonalen Kreisen ein hohes Ansehen sowohl als Therapeutin als auch als spirituelle Lehrerin genoß. Nachdem ich ihr meine Erfahrung beschrieben hatte, gab sie mir den Rat, niemals in die Leere einzutauchen; es sei einfach zu gefährlich.
Was sie mit gefährlich meinte, werde ich wohl niemals erfahren, denn kaum waren diese Worte einmal ausgesprochen, wurde die Angst so überwältigend, daß es mir unmöglich war, nach einer Erklärung zu fragen. Sie warnte mich des weiteren davor, niemals von jemandem den Rat anzunehmen, in die Leere einzutauchen, denn genau dieser Rat wäre ein Zeichen dafür, daß die Person keine Ahnung davon hätte. Sie sagte, daß sie um mich besorgt sei und daß ich bald nicht mehr in der Lage sein würde zu funktionieren, falls ich so weitermachte wie bisher. In den drei Monaten, in denen ich Lauren konsultierte, wurde meine Angst vor dem, was mit mir passiert war, immer schlimmer. Während ihres alljährlichen Sommeraufenthaltes in New York setzten wir unsere Therapie am Telefon fort. Im Verlaufe unserer dritten Telefonsitzung sagte sie mir, daß ich zu labil sei und sie über diese Entfernung keine Verantwortung mehr für mich übernehmen könnte. Sie hatte beschlossen, unsere Therapie abzubrechen, und gab mir den Namen eines anderen Therapeuten, der ganz in meiner Nähe lebte. Sie bat mich, eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter zu hinterlassen, ob ich jemand anderen gefunden hätte, mit dem ich an meinem Problem arbeiten konnte. Trotz der quälenden Angst wußte die ganze Zeit etwas in mir, daß Lauren unrecht hatte. Es war das gleiche Etwas, welches zugleich wußte, daß alle Therapeuten, die sich mit der Stimme der Angst verbunden hatten, falsch lagen. Es schien töricht, einen weiteren Therapeuten aufzusuchen, der wahrscheinlich der gleichen Meinung war, also versuchte ich einen neuen Weg. Ich fand eine traditionelle, psychodynamisch orientierte Psychologin, eine Frau, die an einigen der örtlichen Hochschulen lehrte, und begann, bei ihr in Therapie zu gehen. Der neue Weg bestand darin, daß ich ihr nichts von der Erfahrung, ohne eine Selbst zu sein, erzählte. Überflüssig zu erwähnen, daß die Therapie fruchtlos war. Sie wußte zu keiner
Zeit, was mich in Wirklichkeit beschäftigte, und ich hatte kein Vertrauen in sie, daß sie meine Erfahrung auch aus einer anderen als nur der pathologischen Perspektive sehen könnte. Für ein volles Jahr lang machte ich bei ihr Therapie, wobei ich mit ihr über die Hochschule, Beziehungen und psychologische Theorien sprach. Als es schließlich deutlich wurde, daß ich ihr niemals meine wirklichen Sorgen erzählen würde, brach ich die Therapie ab. Mehrere Monate später versuchte ich einen Therapeuten, den mir eine Freundin empfohlen hatte. Sie war seit Jahren bei David Kaye in Behandlung und vertraute ihm absolut. Er nahm kein Blatt vor den Mund, war sehr offen und konfrontierend. David kam nach einem Monat zu der Schlußfolgerung, daß ich auf keinen Fall Therapeut werden sollte, solange ich nicht wisse, wer ich sei. Seiner Meinung nach bedeutete die Erfahrung der Leere, daß ich eine psychotische Erfahrung durchmachte und zweimal pro Woche zur Therapie kommen sollte, um «all die Schmerzen aufzuarbeiten, die ich verdrängte». Wenige Minuten, nachdem unsere sechste Therapiesitzung begonnen hatte, teilte David mir mit, daß er das Gefühl hätte, niemals genug für mich tun zu können. Daraufhin stand ich auf, erklärte ihm, daß die Therapie für mich zu Ende sei, und ging. Mein letzter Versuch mit einer Psychotherapie endete bereits vor der ersten Sitzung. Ich hatte nach einem Therapeuten gesucht, der eigene, persönliche Erfahrungen mit einer Depersona-lisation gemacht hatte. Mir schien, wenn ich weiterhin im Bereich der Psychologie suchte, sollte ich auch die Erfahrung bei seinem klinischen Namen nennen und hoffen, daß es jemand erkennen würde. Man verwies mich an eine Frau, die mir jedoch eröffnete, daß sie völlig ausgebucht sei und mich daher nicht annehmen könne. Sie fragte mich, ob sie mir die Namen von anderen Therapeuten geben sollte, an die ich mich wenden könnte. «Nein, vielen Dank», sagte ich, «ich glaube nicht. Ich
habe das Gefühl, daß mir sowieso niemand helfen kann.» «Was für ein schreckliches Gefühl», erwiderte sie. «Tja, mir scheint, daß nach all den Jahren der Therapie, nachdem ich zwölf verschiedene Therapeuten aufgesucht habe, mir entweder absolut nicht mehr zu helfen ist oder ich die ganze Therapie vielleicht an den Nagel hängen sollte.» «Rufen Sie mich an, wenn Sie Ihre Meinung ändern», sagte sie. «Vielleicht habe ich in ein paar Monaten einen freien Platz.»Nachdem ich die Therapie bei Sam beendet hatte, befand ich mich bereits im zweiten Jahr meines Promotionsprogrammes in Psychologie. Im Herbst 1987, nach meinem Jahr an der JFK-Uni, wechselte ich zum Wright Institute, denn ich wollte meinen Doktortitel anstatt des Magisters machen. Alle folgenden Therapieerfahrungen machte ich während meines Abschlußexamens. Das Wright Institute bot ein traditionelles, psychodynamisch ausgerichtetes Psychologieprogramm, und der überwiegende Teil des Lehrkörpers und der Doktorväter an dieser Anstalt hatten eine rigoros analytische, theoretische Ausrichtung. Meine Ausbildung zielte darauf ab, eine Psychotherapie entsprechend des Freudschen Modells «leere Leinwand» zu praktizieren, wobei der Therapeut so wenig wie möglich sagt und gleichzeitig versucht, brillante, analytische Interventionen aufzuzeigen, die das Leben seines Patienten auf dramatische Weise verändern sollen. Man ermutigte uns, «in der Übertragung zu arbeiten» und «unsere Aufmerksamkeit auf die Gegenübertragung zu richten», um dieses Material im therapeutischen Prozeß zu benutzen, denn alles in der Therapie «geschieht in der Beziehung» zwischen dem Patienten und dem Therapeuten. Wiederholt warnte man uns davor, jemals «den Patienten zufriedenzustellen», was alles mögliche einzuschließen schien, wie ihm nicht unser Alter zu sagen oder wie wir uns fühlten, falls man uns danach fragen sollte, oder ihnen nach einer
besonders schweren Sitzung lediglich die Hand zu schütteln, selbst beim Abschluß einer Therapie nach vielen Jahren. Die analytische Einstellung fühlte sich an wie eine Zwangsjacke, und es war schwer zu verstehen, wie das für den Patienten hilfreich sein konnte, denn dessen Bild von sich selbst war in vielen Fällen nachher schlechter als vor Beginn der Therapie. Ich jedenfalls übernahm Patienten gegenüber, mit denen ich über das Wright Institute in Kontakt kam, niemals diese Einstellung, obwohl ich das meinen Doktorvätern gegenüber selbstverständlich nie erwähnte. Ich konnte einfach die natürlichen, menschlichen Gesten meiner Klienten nicht zurückweisen oder diese Gesten auf sie selbst zurückwerfen oder gar ihre Fragen mit Schweigen beantworten. Die analytische Einstellung geht davon aus, daß positive Gefühle des Patienten dem Therapeuten gegenüber eine Übertragung bedeuten und diese aufgearbeitet werden müssen. Genauso bedeuteten negative Gefühle gegenüber dem Therapeuten eine Übertragung und müssen daher ebenfalls aufgearbeitet werden. Entwickelt der Therapeut dem Patienten gegenüber Gefühle, dann wird das entweder als Gegenübertragung oder projizierende Identifikation bezeichnet, ein Abwehrmechanismus, durch den der Patient unterdrückte Gefühle auf den Therapeuten projiziert und sie ihn fühlen läßt, anstatt sie selber zu erleben. Mir war es immer unbegreiflich, warum man einer Person eine Menge Geld bezahlen sollte, die einem so wenig sagt, die sich weigert, auch nur die einfachsten Fragen zu beantworten, die irgendwelche Handlungen versteckte, negative Motive unterstellt (« Die Tatsache, daß Sie zwei Minuten zu spät zur Therapie erscheinen, bedeutet, daß Sie sich der Behandlung widersetzen») und die seine Erfahrungen pathologisiert, indem sie alles, was man tut, als Zeichen eines tieferen, unterschwelligen Problems hinstellt. Die traditionelle Psychotherapie scheint auf der ursprünglichen Angst vor
dem Mysterium zu beruhen, und diese Angst scheint dahin zu tendieren, alle Manifestierungen des Bewußtseins, die nicht die kulturelle Norm erfüllen, zu reduzieren, zu interpretieren oder zu pathologisieren. Auch wenn mir sehr bewußt ist, daß nicht alle Therapeuten auf diese Weise arbeiten, war dies das Modell, an dem sich meine Ausbildung orientierte. Ähnlich erschreckend war es zu erleben, wie analytisch orientierte Psychotherapeuten untereinander über ihre Patienten sprachen. Selten vernahm ich ein Wort des Mitgefühls, der Sympathie oder gar eines menschlichen Verständnisses. Statt dessen bekam jeder Patient ein ihrer Diagnose entsprechendes Etikett. «Sie können sich gar nicht vorstellen, was mein Borderline Patient gestern gemacht hat.» Oder: «Der Zwanghafte, der um zehn Uhr kommt, treibt mich zum Wahnsinn.» Gegen Ende meiner Ausbildung wurde mir klar, daß ich an der falschen Stelle suchte, um die Erfahrung, ohne ein Selbst zu sein, zu verstehen. Um es in der Sprache der Psychologie auszudrücken, war nämlich diese Erfahrung etwas, von dem ich geheilt werden mußte. Der Begriff «Heilung» beinhaltet, etwas zu eliminieren, anzuhalten oder zu verändern, was man - oder noch wichtiger der Therapeut — nicht als angemessen akzeptieren kann. Offensichtlich war es völlig ausgeschlossen, daß die Erfahrung einer individuellen Identität wiederkehren würde, und es wurde auf erschreckende Weise deutlich, daß der Bereich der Psychologie nicht die geringste Ahnung davon hatte, was hier vor sich ging. Trotzdem beendete ich mein Doktorat und erhielt meine Zulassung als Psychologin, denn es war offensichtlich das Naheliegendste, was es zu tun gab. Ich hätte nicht erklären können, warum ich es tat. Ich agierte niemals auf der Basis von Gründen, die vom Verstand produziert wurden. Selbstverständlich erzeugte die Angst weiterhin ihre eigene Logik, die besagte, daß ich eine Karriere als Psychologin einschla-
gen sollte, denn schließlich hatte ich die Rolle zu übernehmen, jemand zu sein. Zu wissen, daß man niemand ist, paßt nicht in uner kulturelles Bild. Leere ist in dieser Welt kein akzeptierbares Ziel. Etliche Jahre später brachte mich mein Bruder immer noch zum Lachen, wenn er erklärte, daß ich die einzige in der Familie war, die «etwas aus sich gemacht hatte». Der Verstand hattesich anscheinend mit Erfolg darum bemüht, mich als eine Person wiealle anderen auch erscheinen zu lassen.
Die Leere als die Weite erkennen Für den Hörenden, der im Schnee horcht Und, er selbst ein Nichts, Erblickt das Nichts, Das nicht vorhanden ist Und das Nichts, das vorhanden ist. WALLACH STEVEN
Ein Jahrzehnt war vergangen, seit sich der persönliche Bezugspunkt aufgelöst hatte, ein Jahrzehnt der Suche nach dem Verständnis, während die Angst an mir nagte. Egal wieviel Angst auch hochkam, die Leere schwankte für keinen Moment. Ich hatte diejenigen aufgesucht, die als die Weisen in unserer Kultur galten, diese gebildeten Seelen, deren Intellekt durch strenge akademische Ausbildung weiterentwickelt worden war. Diese «Lehrer des postmodernen Zeitalters», Psychotherapeuten genannt, hatten ihr Bestes gegeben, um mir ein Verstehen meiner Erfahrung, wie ich sie ihnen beschrieben hatte, zu vermitteln. Sie hatten versucht, erklärende Worte für etwas zu finden, das sie selbst nicht verstanden. Alle Therapeuten, mit denen ich gesprochen hatte, waren, auch wenn sie die besten Absichten hatten, von den Mauern ihrer Vorstellungen über die Interpretationen des Lebens umgeben und unfähig, die Möglichkeit zu erwägen, daß die Realität auf unterschiedlichste Weise erfahren werden konnte. Das Fazit davon war: •Jiemand war bereit zuzugeben, daß er keine Ahnung hatte.
Im Frühjahr 1992, ein Jahr nach meinem Hochschulabschluß, begann ich nach einer spirituellen Perspektive für die Leere des persönlichen Selbst Ausschau zu halten. Ich fing an, Bücher zu verschlingen und endlos Buchläden zu durchforsten auf der Suche nach etwas, das ein wenig Licht auf meine Erfahrung werfen konnte. Diese Mühen brachten eine reiche Ernte, als ich den Buddhismus entdeckte. Ganze Bände waren über Anatttt (NichtSelbst) und Shunyata. (Leere) verfaßt worden. Seiten über Seiten hatte man der Beschreibung, Diskussion und Untersuchung der Erfahrung gewidmet, mit der ich seit zehn Jahren gelebt hatte. Ich las alles, was ich finden konnte. Es war verblüffend, daß ich niemals zuvor etwas von diesem Material entdeckt hatte. Ganz besonders war ich von der folgenden Passage vom Dalai Lama beeindruckt: «Selbst-losigkeit (Nicht-Selbst) hat nichts damit zu tun, daß etwas, was in der Vergangenheit existierte, aufhört zu existieren. Vielmehr hat ein solches -Kultur die absolute Autorität. Der Wahnsinn dieser Überzeugung in unserer Kultur hat persönliche, soziale und globale Konsequenzen.» Des weiteren sagte er, daß der Grund für die Abwesenheit jeglicher Freude oder tiefster Wertschätzung der Erfahrung darin zu suchen sei, daß ich sie nicht wirklich verstehe. «Wie könntest du auch?» schrieb er. «Du hast bislang keine Anhaltspunkte für ein solches Geschehen. Wie kann das das < Nicht-Ich > verstehen?» Er empfahl mir, jemanden in meiner Nähe aufzusuchen, der meiner Meinung nach «deine Erfahrungen versteht, solche Erfahrungen selbst erlebt hat, und der den Wert und die Freude der Erkenntnis der Leere des zu schätzen weiß.» Während Christopher im Sommer in Nordkalifornien ein Seminar gab, trafen wir uns zu weiteren Diskussionen. Er erklärte mir, daß eine stille Akzeptanz der Erfahrung unweigerlich zu einer Beruhigung der Gedanken und Gefühle, die die Angst erzeugten, führen würde. «Was du brauchst, ist Bestätigung», sagte er. Ich spürte die tiefe Integrität, die aus seinen Worten sprach. «Die Bestätigung wird die Angst abklingen lassen, und dadurch wird sich die unendliche Fülle der Erfahrung eröffnen und auch eine Vertiefung der Einsicht.» Er fuhr fort: «Wenn jemand zu mir kommt und berichtet, daß er die Leere verwirklicht hat, dann antworte ich normalerweise: < Komm nach einem Jahr und einem Tag wieder zurück und laß uns dann sehen, wo du stehst.) Wenn er dann immer noch das gleiche zu mir sagt und sein Leben zutiefst davon beeinflußt worden ist, dann sage ich: « Sind zwölf Jahre genug?» fragte ich. «Ich würde sagen, du bist völlig ausreichend qualifiziert - so-
gar überqualifiziert», erwiderte er, und wir lachten beide aus vollem Herzen. Was mir offenbar während der zwölf Jahre langen Reise gefehlt hatte, war ohne Frage eine stille Akzeptanz. Zwölf Jahre lang hatte ich keine Bestätigung bekommen, war völlig auf mich selbst gestellt. Der Verstand wußte einfach nicht, was er damit anfangen sollte, und er suchte ständig nach einem Sinn und einem Verständnis der Ereignisse. Es dauerte fast elf Jahre, um letztendlich zu akzeptieren, daß der Verstand ganz einfach nur unfähig war, das Ausmaß der Erfahrung, ohne ein persönliches Selbst zu sein, zu erfassen. Diese Akzeptanz ebnete dem Verstand den Weg, um annehmen zu können, daß eine unfaßbare Erfahrung nichts weiter ist als eine unfaßbare Erfahrung. Sie ist weder falsch noch verrückt - sie ist lediglich unfaßbar. «Laß uns in mein Büro gehen, wir können dort weiterreden», sagte Reb Anderson, der Abt des Green Gulch Zen Centers, welches nicht weit nördlich der Golden Gate Bridge an der Küste lag. Ich folgte ihm auf dem steilen Steinpfad den Berg hinauf, vorbei an dem kleinen, hölzernen Gebäude, das als Büro und Buchladen der Zen-Gemeinde diente. Wir traten hinaus auf eine große Wiese, auf der riesige Eukalyptusbäume standen und bunte Blumenbeete eingestreut waren. Wir setzten uns auf eine niedrige, hölzerne Bank, die vom Licht der Herbstsonne überflutet war. «Ein schönes Büro», bemerkte ich. Er lächelte und fixierte mich dann mit seinem direkten, intensiven Blick. Ich erzählte ihm meine Geschichte und bat ihn um seine Meinung darüber, warum ich absolut keine Freude an dieser Erfahrung finden konnte. « Die Erfahrung der Leere des Selbst ist in sich selbst Glückseligkeit, doch es ist nicht die gleiche wie die relative Glückseligkeit. Für mich ist ganz eindeutig, daß du genau in diesem Moment völlig in der Glückseligkeit bist.» Er erklärte weiter, daß der relative Mechanismus der Skandhas
nicht die Glückseligkeit der Leere wahrnehmen könne und es somit durchaus verständlich sei, daß die Glückseligkeit, die auftrat, sehr schwer als solche zu erkennen sei. Rebs Beschreibung lockerte eine gewisse Verhärtung in der Interpretation des Verstandes über dieses Ereignis. Jack Kornfield, Vipassana-Lehrer und Mitbegründer des Spirit Rock Meditation Center im Marin County, sowie Ram Dass, ein sehr bekannter Autor, Redner und Schüler von Neem Karoli Baba schickten mir ebenfalls hilfreiche und ermutigende Worte. Beide gaben ihr Bestes, um mir Bestätigung und Begleitung auf dem Weg zu bieten. Sie erinnerten mich daran, daß es Jahre dauert, bis man sich an eine solch tiefgehende Veränderung im Bewußtsein gewöhnt hat und sie integrieren kann. Während eines Telefongesprächs sagte Jack zu mir: «Dies ist eine wunderbare Erfahrung. Da ist absolut nichts, vor dem man Angst haben müßte ... Im Osten benutzt man das Wort Akinchina, um eine Person zu beschreiben, die völlig erwacht ist. Übersetzt bedeutet das: Jemand, der nichts hat, sich nichts wünscht, keine Bestätigung braucht und zu nichts wird.» Ram Dass äußerte: « Du hast das Ganze außerordentlich gut gemeistert und warst fähig, ein Leben mit Familie und Beruf aufzubauen und durchzuhalten. Das zeugt von enormer Kraft.» Er fügte hinzu, daß wir «das Nicht-Selbst mit dem Maharaji teilen» und daß es einen großen Wunsch für die Tibeter gibt, den man zur Ehre des Gurus ausspricht: «Möge dein weiser Verstand und der meinige untrennbar bleiben. Der weise Verstand», sagte Ram Dass, «ist der Ort des Nicht-Selbst.» Hameed Ali (A. H. Almaas), ein spirituell ausgerichteter Psychologe, antwortete folgendermaßen auf meinen Brief: «Ich erkenne deine Erfahrung als etwas Wahres, als ein spirituelles Erwachen. Es ist auf keinen Fall etwas Pathologisches, und es ist sehr bezeichnend, daß viele Leute es nicht verstehen können. Ich hatte
ähnliche Erwachenserfahrungen als Teil eines fortlaufenden Prozesses, und daher ist mir deine Beschreibung vertraut. Die Art und Weise, wie es bei dir geschehen ist, unterscheidet sich von meinem Prozeß des Erwachens und davon, was ich in meiner Arbeit lehre. Die Tatsache, daß deine Erfahrung Stufen und Entwicklungen durchläuft, ist ebenfalls real und entspricht dem Prozeß des Erwachens, wie er vielen anderen Individuen widerfahren ist. Ich glaube, daß dich deine Kindheitserlebnisse darauf vorbereitet haben, und die Meditationskurse, an denen du teilgenommen hast, haben ebenfalls dazu beigetragen. Die Angst und der Terror, von denen du berichtest, sind unter den gegebenen Umständen völlig normal, und es erfordert ein tiefes Verständnis, um das zu durchschauen und darüber hinauszugehen. Du scheinst auch ohne die Führung eines Lehrers sehr gut damit zurechtgekommen zu sein.» Doch die klarste Bestätigung meiner Erfahrung erhielt ich von einem spirituellen Lehrer, der nicht mehr am Leben ist. Als mir Ramana Maharshi in den Dialogen mit seinen Schülern «begegnete», wußte ich, daß ich meinen spirituellen Lehrer gefunden hatte. Er beschrieb meine Erfahrung auf solch direkte und einfache Weise, daß absolut kein Raum mehr für irgendwelche Zweifel bezüglich meiner Erlebnisse blieb. RAMANA Nach der Transzendierung von Dehatma Buddhi (die Überzeugung: Ich-bin-der-Körper) wird man zum Jnani. Ohne diese Überzeugung kann es weder ein Handeln noch einen Handelnden geben. Somit führt der Jnani keine Handlungen aus. Das ist seine Erfahrung. FRAGE Ich sehe, wie Sie Dinge tun. Wie können Sie dann behaupten, niemals etwas zu tun? RAMANA Das Radio singt und spricht, doch wenn Sie es öffnen, finden Sie niemanden darin. Ganz ähnlich ist meine Existenz
wie der Raum: Auch wenn dieser Körper wie das Radio spricht, gibt es im Inneren niemanden, der die Handlungen vollbringt. FRAGE Es fällt mir schwer, das zu verstehen. Könnten Sie das etwas näher erläutern? R AM AN A Die Töpferscheibe dreht sich weiter, auch wenn der Töpfer aufgehört hat, sie anzutreiben. Genauso dreht sich der Ventilator für einige Zeit weiter, nachdem wir den Strom abgestellt haben. Das vorbestimmte Karma, welches den Körper erschaffen hat, läßt ihn all die Aktivitäten vollziehen, für die er bestimmt ist, und der Jnani durchläuft all diese Aktivitäten ohne das Gefühl, der Handelnde zu sein - denn er ist nicht der Handelnde. Es ist sehr schwer zu verstehen, wie das möglich ist, doch der Jnani weiß darum und hat keine Zweifel ... Er weiß, daß er nicht der Körper ist, daß er nichts tut, auch wenn sein Körper bestimmte Aktivitäten ausführt. Diese Erklärungen sind nur für Außenstehende, die glauben, daß der Jnani und der Körper eine Einheit sind und nicht anders können, als ihn mit dem Körper zu identifizieren. FRAGE Es wird behauptet, daß bei der Verwirklichung der Schock so groß ist, daß der Körper es nicht überlebt. RAMANA Wenn jemand im Moment der Verwirklichung des Selbst seinen Körper verlassen muß, dann frage ich mich, wie irgendein Wissen vom Selbst oder vom Zustand der Verwirklichung an andere weitergegeben werden kann ... Tatsache ist, daß durch den Jnani alle möglichen Aktivitäten ausgeführt werden und sogar sehr gut ausgeführt werden können, ohne daß er sich in irgendeiner Weise damit identifiziert oder sich gar für den Ausführenden dieser Aktivitäten hält. Irgendeine Kraft wirkt durch seinen Körper und benutzt ihn, um die Arbeiten auszuführen.
FRAGE Sie behaupten, daß es für den Jnani keine Unterschiede gibt, doch mir scheint, daß er sich der Unterschiede stärker bewußt ist als ein normaler Mensch. Für mich ist Zucker süß und Wermut bitter, für ihn scheint das genauso zu sein. Tatsächlich scheint jede Form, jedes Geräusch, jeder Geschmack etc. auf ihn genauso zu wirken wie auf jeden anderen auch. Wenn das zutrifft: Wie kann man sie dann lediglich als Erscheinungen bezeichnen? Sind sie nicht Teil seiner Lebenserfahrungen? l A M AN A Wie ich bereits gesagt habe, ist Gleichheit das wahre Merkmal eines Jnani. Der eigentlich Begriff Gleichheit impliziert indes das Vorhandensein von Unterschieden. In all den Unterschieden nimmt der Jnani eine Einheit wahr, die ich Gleichheit nenne. Gleichheit bedeutet nicht, die Unterschiede nicht zu erkennen. Wenn Sie verwirklicht haben, dann erkennen Sie die Unterschiede als etwas sehr Oberflächliches, sie haben keine Substanz, sie sind nicht von Dauer. Doch das Essentielle, das all diesen Erscheinungen inne-wohnt, ist die eine Wahrheit, das Reale. Das bezeichne ich als die Einheit. Während ich mehr und mehr von Ramanas Ausführungen las, stieß ich auf eine interessante Passage. Auf die Frage eines Schülers, ob es nötig sei, sich mit der Weisheit (Sat-Sanga) zu verbinden, damit das Selbst verwirklicht werden könne, antwortete Ramana: «Jawohl, (was nötig ist, ist) die Verbindung mit dem un-manifestierten Sät oder der absoluten Existenz ... Die Sastras besagen, daß man dem unmanifestierten Sät für zwölf Jahre dienen muß (damit verbunden sein muß), um die SelbstVerwirklichung zu erreichen... doch da sehr wenige dazu fähig sind, müssen sie den zweitbesten Weg einschlagen: Die Verbindung mit dem manifestierten Sät, dem Guru.»
Poonjaji, ein sehr bekannter und respektierter Schüler von Ramana Maharshi, schrieb: «In dem Moment, bevor der Bus ankam und Du einsteigen wolltest, war da nur die Leere, in der es weder die Vergangenheit noch die Zukunft gab. Diese Leere gab sich selbst zu erkennen. Das war das Ergebnis Deiner Verdienste aus vielen vergangenen Leben. Das ist ein wunderbares Erlebnis. Es mußte für immer bei Dir bleiben ... Dies ist die vollkommene Freiheit ... Du bist die Befreiung (Moksha) der verwirklichten Heiligen geworden.» Gangaji, eine Lehrerin der Schule von Ramana Maharshi und Poonjaji, antwortete mir, offenbar begeistert von dem, was ich ihr beschrieben hatte, folgendes: «Ich war von Deinem Brief absolut begeistert! Selbstverständlich müssen wir uns treffen. Ich bin sehr, sehr glücklich darüber, daß Du unmittelbar erfahren hast, daß Du kein individuelles bist. Die Verwirklichung der innewohnenden Leere - das reine Bewußtsein - aller Phänomene ist die wirkliche Erfüllung. Im Angesicht der konditionier-ten Existenz kann anfangs eine Menge Angst aufkommen, doch letztendlich zeigt sich, daß auch diese Angst das gleiche leere Bewußtsein ist.» Andrew Cohen, ein spiritueller Lehrer, der ebenfalls bei Poonjaji studierte, hat mehrere Bücher über seine Erfahrung, in das Gewahrsein zu erwachen, daß es kein persönliches Selbst gibt, geschrieben. Er antwortete mir, daß er mich sehr gerne treffen möchte, um die Erfahrung, die ich in meinem Brief beschrieben hatte, zu diskutieren. Wir sprachen mehrere Stunden über die Leere des persönlichen Selbst. Er machte deutlich, wie aufregend es sei, in dem Gewahrsein zu leben, daß es für nichts einen persönlichen Bezugspunkt gibt und auch nie einen gegeben hat. Ich schrieb ihm noch einmal und teilte ihm mit, wie wunderbar unser Gespräch gewesen war und wie das Gewahrsein, « niemand zu sein, sich selbst als das Gewahrsein des nicht-lokalisier-
baren Mysteriums enthüllte, welches immer die handelnde Kraft hinter allen Dingen gewesen war.» Nach meinem Gespräch mit Andrew begann ich zu erkennen, wie sehr die Leere des «Ich» von einmaliger Unendlichkeit erfüllt war. Dieses Gewahrsein sollte sich in den nächsten Monaten noch vertiefen und sehr stark in den Vordergrund rücken. Andrew antwortete mir: «Ich bin außerordentlich froh darüber, daß unser Zusammentreffen eine derart tiefe Auswirkung auf deinen bereits erwachten Zustand gehabt hat. Als wir zum ersten Mal miteinander sprachen, hatte ich das Gefühl, daß Du ein tieferes Verständnis von der Erleuchtung hattest als dir selber bewußt war. Du bist wahrlich ein seltenes Individuum, denn in den meisten Fällen, wenn ein Individuum sich so weit entwickelt hat wie in Deinem Fall (was sehr selten geschieht), dann bezieht es unbewußt in seiner Erfahrung eine Position, die es schwierig, wenn nicht gar unmöglich macht, sich weiterzuentwickeln. Deine Offenheit und Deine Empfänglichkeit sind ein Zeichen wahrer Demut, welche allein alles möglich macht.» Im Sommer 1993 erzählte mir ein Freund von einem Zenlehrer, bei dem er mehrere Jahre studiert hatte. Der Dharma, Nachfolger eines bekannten westlichen buddhistischen Roshi, so hieß es, war ein sehr kompetenter spiritueller Lehrer. Er lebte ganz in meiner Nähe, wo er einer Gemeinde von Schülern die Zen-Prak-tiken lehrte und gleichzeitig eine private Praxis für Psychotherapie unterhielt. Als ich Richard McGuire zum ersten Mal traf, wußte ich, daß ich einen verständnisvollen Freund gefunden hatte. Richard meinte, nachdem er sich meine Geschichte angehört hatte, daß ich mich anscheinend noch im Winter meiner Erfahrung befände und daß die Blüte des Frühlings die Freude mit sich bringen würde, die ich suchte. Sein Gleichnis der spirituellen Ent-
wicklung in Form von Jahreszeiten war sehr zutreffend und beruhigte mich. Die Jahreszeiten kommen und gehen entsprechend ihres eigenen uralten Rhythmus. Sie sind das Werk des Mysteriums und wurden nicht von einem Individuum erschaffen. Eine der anderen folgend, entstehen sie in einem ewigen, zuverlässigen Kreislauf. Der Frühling kommt immer. Immer. Richard versicherte mir, daß ich im Moment lediglich eine Jahreszeit der Leere erlebte und darauf vertrauen könnte, daß ein Wandel gewiß geschehen würde, so sicher wie der Frühling auch nach dem längsten Winter immer wieder kommt. Richard war in der Lage, mir einen stichhaltigen Kontext einer Tradition zu vermitteln, die sehr vertraut mit der Leere des individuellen Selbst war. Er erzählte mir Zen-Geschichten und Anekdoten über uralte chinesische Meister und machte mir klar, daß ich «mit den gleichen Augen sah» wie die Vorfahren. Als er mir erzählte, daß er noch nie von so einer klassischen Erfahrung -genau wie in den uralten Texten beschrieben — gehört hatte, mußte ich lachen und sagte: «Mein Gott, und ich dachte, es sei tatsächlich Wahnsinn!» «Auch das ist klassisch», antwortete er. Richards größtes Geschenk an mich war schließlich das Wissen, daß der Frühling kommen würde. Und er kam tatsächlich. Ein Winter, der zwölf Jahre dauert, ist sehr schwer zu ertragen. Maharishis Behauptung, daß der Guru nötig ist, um festzustellen: « Das ist es!» deutet an, wie sehr man, wenn man alleine ist, von einer Angst überwältigt werden kann, die sich selbst als die Wahrheit ausgibt. Die scheinbar persönlichen Aspekte, die auch in der Leere eines persönlichen Selbst vorhanden bleiben, werden ständig von der Angst beeinflußt. Sie bleiben bei den Funktionsabläufen hängen wie eine Schallplatte, bei der die Nadel hängt, wenn einen die Angst mit einer derart vehementen Wucht überfällt. Wenn sie dabei hängenbleiben, erstarrt die Erfahrung, wird in
eine Ecke gedrückt, und die Jahreszeiten können ihrem natürlichen, einfachen Zyklus der Entfaltung nicht folgen. Ich kam mit der Leere nicht zurecht — Richard nannte das die «Zen-Krankheit» - und es hatte sich ein teuflischer Kreislauf entwickelt. Aus Angst vor dem, was geschehen war, hatte ich mich fast völlig isoliert, was dann nur noch mehr Angst und noch mehr Isolation erzeugte. Er sagte mir auch noch, wie ungewöhnlich es sei, daß der Übergang in die Leere so unvermittelt und so vollständig geschah. Bei anderen hatte er ein solches Ereignis mehr in Abschnitten erlebt, mit diskreten Einblicken, die eine Periode der Gewöhnung erlaubten. Da ein solch plötzlicher Wandel im Bewußtsein ungewöhnlich und daher eine einsame Angelegenheit ist, kann er zu immensen Ängsten führen, bis man «die Erfahrung nachvollziehen» und sie in einen Zusammenhang setzen kann. Der Verstand muß zu der Einsicht kommen, daß er die Erfahrung der Leere nicht verstehen kann - und tatsächlich ist es auch gar nicht nötig. Doch der Verstand tut sich schwer mit unfaßbaren Erfahrungen und tendiert dazu, sie zu pathologisieren, weil er sie ganz einfach nicht verstehen kann. Da der Verstand unfähig war, das zu verstehen, sendete er die Botschaft aus, daß solche Erfahrungen schlecht oder der reine Wahnsinn sind. Wiederholt fragte ich Richard, warum die Angst immer noch existiere. Er schloß sich der buddhistischen Sichtweise an. Das Vorhandensein von Angst bedeutet, daß etwas unvollständig ist, und er schlug mir vor, mit verschiedenen Praktiken zu beginnen, um sie loszuwerden. Ich wandte ein, daß es niemanden gab, der irgendeine dieser Praktiken ausführen könnte, da es keinen lokalisierbaren Handelnden und somit auch keinen Praktizierenden gab. Diese Zeit unserer Freundschaft wurde zu einem Wendepunkt. Bei seinem Vorschlag, ich solle einen Weg finden, um die
Angst loszuwerden, ging Richard ganz offensichtlich von der Voraussetzung aus, daß es einen persönlichen Handelnden gibt, der diese Aufgabe erfüllen könnte. Ebenso schloß er aus der Anwesenheit der Angst, daß etwas nicht in Ordnung war und somit beseitigt werden müßte. Anscheinend lebte er nicht in der Erfahrung der Leere der «Ich-heit». Er schloß des weiteren aus der Anwesenheit der Angst, daß es einen persönlichen Bezugspunkt gäbe, der Angst hatte. Ich hatte jedoch während der ganzen Zeit unserer Diskussionen darauf bestanden, daß die Angst sich niemals auf irgend jemanden bezog. Ich begann mich ernsthaft zu fragen, ob Richard tatsächlich die Erfahrung teilte, in jedem Moment zu wissen, daß es keinen persönlichen Handelnden gab. Er gab schließlich zu, daß dies nicht der Fall sei, obwohl er versucht hatte, diesen Eindruck zu erwecken. Er bestätigte meine Erfahrung aufgrund seiner jahrelangen Studien uralter Texte und seiner eigenen Einblicke in die Leere der gesamten Phänomenalität, die Minuten, Tage oder Wochen angedauert hatten. Da er mit großer Autorität aus der Sicht des traditionellen Zen-Buddhismus gesprochen hatte, hatte er den Eindruck eines Experten erweckt, der er in Wirklichkeit gar nicht war. Jedenfalls konnte er mir hinsichtlich der Angst nicht weiterhelfen, denn sein Verstehen der Leere war begrenzt. Ihn hatten sowohl die psychologischen Theorien beeinflußt als auch die Überzeugung des Zen, daß man «an seinem Charakter arbeiten muß», um sich weiterzu-entwickeln. Als er zum ersten Mal davon sprach, daß ich an meinem Charakter zu arbeiten hätte, wußte ich augenblicklich, daß seine Empfehlungen auf der Annahme basierten, daß es einen individuellen Handelnden gäbe, der an seinem Charakter arbeiten kann. Ich hatte erkannt, daß es einen solchen Handelnden gar nicht gibt, und somit schien allein die Vorstellung einer Charakterarbeit absurd.
Ich erinnerte ihn daran, daß ich kein «Ich» erlebte, das eine innere Arbeit erledigen könnte, denn es gab gar kein «Innen», an dem man hätte arbeiten können. Als schließlich klarwurde, daß Richard die Erfahrung, wie ich sie ihm beschrieben hatte, nicht in gleicher Weise teilte, bedankte ich mich für seine Begleitung und verabschiedete mich.
Das Geheimnis der Leere Mitternacht. Keine Wellen, kein Wind, das leere Boot ist vom Mondlicht überflutet. DOGEN Ich existiere nicht, doch das Universum ist mein Selbst. SHIH t'OU
Auch wenn mir die Menschen, die ich wegen meiner Erfahrungen kontaktiert hatte, sehr viel Bestätigung gaben, brachte die Winterzeit des Nicht-Selbst immer noch keine Freude. Wie sich herausstellte, wurde die Freude wie von einer riesigen Flutwelle plötzlich und unwiderruflich ans Ufer des Gewahrseins angespült, so wie die erste Welle des Abfallens des Selbst vor zwölf Jahren. Ausgehend von der klaren Erfahrung der Leere des Selbst sollte mein Bewußtseinszustand ganz plötzlich in die nächste Jahreszeit überwechseln - in die Erfahrung, daß es nicht nur kein persönliches Selbst gibt, sondern auch keine anderen. Mit anderen Worten: Ich war im Begriff, für immer in das Gewahrsein der Einheit überzuwechseln, wo die Leere, die mein Bewußtsein beherrschte, als die eigentliche Substanz aller Schöpfung erkannt wurde. Nachdem sich das Geheimnis der Leere auf diese Weise offenbart hatte, begann ich es als die «unendliche Weite» zu beschreiben.
Inmitten einer besonders ereignisreichen Woche befand ich mich auf einer Fahrt nach Norden, um Freunde zu besuchen, als mir plötzlich bewußt wurde, daß ich durch mich selbst fuhr. Viele Jahre lang hatte es überhaupt kein Selbst gegeben, doch plötzlich, hier auf dieser Straße, war alles ich selbst, und ich fuhr durch mich, um dorthin zu gelangen, wo ich bereits war. Genaugenommen fuhr ich nirgendwohin, denn ich war bereits überall. Die unendliche Leere, als die ich mich erkannt hatte, offenbarte sich nun als die unendliche Substanz all dessen, was ich sah. Während sich dieser Übergang in die unendliche Weite der Leere vollzog, begann ich intensiv zu meditieren. Sowohl morgens als auch am Abend verbrachte ich mehrere Stunden damit, einfach nur in dieser unendlichen Weite zu verweilen, während am Baum der Leere die Blüten zum Vorschein kamen. Mich überfiel ein starkes Bedürfnis nach einem stillen Meditationsretreat, und so meldete ich mich für ein verlängertes Wochenende im Januar in einem buddhistischen Center in den Bergen von Santa Cruz an. Auf meiner Fahrt dorthin durch die winterliche Landschaft erschien mir alles viel fließender. Die Berge, Bäume, Felsen, Vögel und der Himmel hatten ihre Unterschiede verloren. Wenn ich mich umschaute, dann sah ich zuerst, wie sie alle eins waren, und dann, wie in einer zweiten Welle der Wahrnehmung, sah ich die Unterschiede. Doch die Wahrnehmung der Substanz, aus der sie alle geschaffen waren, erfolgte nicht durch den physischen Körper. Es war eher, als ob die unendliche Weite sich selbst aus sich selbst heraus an jedem Punkt ihrer selbst wahrnahm. Alles war von einer wunderschönen Stille durchdrungen - keine Ekstase, keine Glückseligkeit, einfach nur Stille. Gleichzeitig begann noch etwas anderes zu entstehen, das sich bis zum heutigen Tag fortgesetzt hat - ich kann es nur als «Verdichtung in die Einheit» beschreiben - und es war beides, eine Erfahrung und eine Wahrnehmung. Seit diesem Tag wurde es meine
ununterbrochene Erfahrung, mich durch die «Substanz», aus der alles gemacht ist, zu bewegen und gleichzeitig aus ihr zu bestehen. Was man zuerst wahrnimmt, ist der Stoff der Einheit, seine Beschaffenheit, sein Geschmack und seine Substanz. Diese nicht lokalisierbare, unendliche Substanz kann weder mit den Augen, den Ohren oder der Nase wahrgenommen werden, sondern nur von der Substanz selber, aus sich selbst heraus. Wenn die Substanz der Einheit auf sich selbst trifft, nimmt sie sich durch ihre eigenen Sinnesorgane wahr. Die Form ist wie ein Gemälde auf der Leinwand der Einheit, in welcher alle - das Gemälde, die Leinwand und die Hand, die es malt - eins sind. Alleine mit der unendlichen Weite war ich genau auf diese Einsicht gestoßen, die schließlich die Angst bloßlegte und ihren eisernen Griff lockerte. Ich erkannte, daß sich der Verstand hartnäckig an die falsche Vorstellung geklammert hatte, daß die Präsenz von Angst die Gültigkeit der Erfahrung des NichtSelbst in irgendeiner Weise beeinflussen würde. Die Angst hatte den Verstand überlistet und davon überzeugt, daß ihre Präsenz etwas zu bedeuten hätte, was gar nicht der Fall war. Die Angst war vorhanden, jawohl, und das war auch schon alles! Die Präsenz der Angst tat der Erfahrung, daß kein persönliches Selbst existierte, nicht den geringsten Abbruch. Es bedeutete lediglich, daß Angst vorhanden war. Die Angst mußte nicht irgendwohin verschwinden, um das persönliche Selbst als nicht-existent zu erkennen. Wo hätte sie denn auch hingehen können? Sie hatte niemals existiert. Nichts mußte sich verändern, nichts mußte ausgerottet werden, nichts brauchte irgend etwas zu tun - außer lediglich zu sein. Alles erscheint völlig simultan - Form und Leere, Schmerz und Erleuchtung, Angst und Erwachen. Hatte man dies einmal erkannt, schien alles so lächerlich einfach. Der lähmende Griff der Angst begann sich zu lösen, und mit
einem Schlag kam die Freude auf. Die Erfahrung der Leere hatte ihr Geheimnis preisgegeben. Die Leere wurde als das erkannt, was sie ist: die eigentliche Substanz von allem. Ich erkannte schließlich, was schon immer direkt vor meinen Augen existiert hatte, jedoch durch die Angst verschleiert worden war: Es gibt nicht nur kein individuelles Selbst, sondern es gibt auch keine anderen. Kein Selbst, keine anderen. Alles besteht aus der gleichen Substanz der unendlichen Weite. Als ich das Meditationszentrum erreichte, brachte ich mein Gepäck aufs Zimmer und machte einen Spaziergang in den umliegenden Wäldern. Ich wußte, daß ich aus nichts und zugleich aus allem bestand, so wie alles in der Schöpfung. Wie konnte ich das nur so lange übersehen haben? Es war die ganze Zeit direkt vor meinen Augen gewesen, so nahe wie die Leere, so leer wie die Leere und gleichzeitig so erfüllt. Mit einem Schlag erinnerte ich mich an all die ZenGeschich-ten, die Richard mir erzählt hatte, und ich begann herzhaft zu lachen und gleichzeitig zu weinen, unfähig, es anzuhalten. Schließlich fiel ich auf den Waldboden nieder, erschöpft von der unglaublichen Vision von allem. Zwölf Jahre lang hatte ich um die Leere gewußt, sie gesehen, geatmet, und nun ergoß sie sich in riesigen Flutwellen von leerer Fülle in das gesamte Universum. Daß alles in dieser Leere vereint war, schien auf einmal das Normalste auf der Welt zu sein, doch ich hatte sehr lange gebraucht, um darauf zu stoßen. Ich glaube, es war auf sich selbst gestoßen. Überflüssig zu erwähnen, daß seitdem nichts mehr so war wie zuvor. Die Tatsache, daß «Ich» nicht mehr existierte, daß es keine Person mehr gab, ebnete schließlich vollständig den Weg für die Erkenntnis, daß es nichts gibt, was ich nicht selbst bin. Was übrigbleibt, wenn es kein Selbst mehr gibt, ist alles, was es gibt. Maharishis Beschreibung der drei Stufen des Erwachens -Kos-
misches Bewußtsein, Gottes-Bewußtsein und Einheits-Bewußtsein - erschien mit einem Mal höchst zutreffend. Die ersten Monate meiner Erfahrung, in denen das BeobachterBewußtsein im Wachzustand, im Traum und im Schlaf andauerten, waren ganz eindeutig der Zustand des Kosmischen Bewußtseins. Und weil sich alle vorherigen Arten der Wahrnehmung so abrupt und radikal verändert hatten, versetzte dieser Bewußtseinszustand den Verstand in Panik. Der dramatische Wandel zum Einheits-Bewußtsein war ebenfalls eindeutig. Wenn als erstes die Substanz aller Schöpfung und die Unterschiede erst an zweiter Stelle wahrgenommen werden, dann gibt es keinen Zweifel, welcher Bewußtseinszustand vorherrscht. Und trotzdem wunderte ich mich immer noch, was der Maharishi mit Gottes-Bewußtsein gemeint hatte. Er hatte es immer als einen Zustand beschrieben, in dem man wahrnimmt, daß alle Schöpfung von der Heiligkeit, vom Göttlichen erfüllt ist. Der Wahrnehmende nimmt direkt durch das Gewahrsein Gottes wahr. Nichts, was ich jemals erlebt hatte, paßte auf diese bestimmte Beschreibung. Ich hatte auch niemals vom Maharishi eine ähnliche Beschreibung der Erfahrung gehört, daß man kein individuelles Selbst ist, was im Buddhismus dagegen so klar beschrieben wird. Erst als ich auf eine Geschichte von Jörge Luis Borges über Shakespeare stieß, erwog ich die Möglichkeit, daß das GottesBewußtsein tatsächlich das Bewußtsein sein könnte, niemand zu sein. «In ihm gab es niemanden», beginnt die Geschichte und berichtet weiter, daß Shakespeare in seiner Kindheit glaubte, alle anderen Menschen wüßten auch, daß sie niemand sind. Als er jedoch über diese Erfahrung mit seinen Freunden sprach, erntete er nur verwunderte Blicke, « die ihm seinen Fehler deutlich machten, und er erkannte, daß ein Individuum innerhalb seiner Gattung
besser nicht aus der Rolle fällt». Die Geschichte beschreibt ein Leben in der Winterzeit der Leere, in der der Verstand, angefeuert von der Angst, alles versuchte, was auch mein Verstand unternommen hatte, um die Rückkehr eines persönlichen Bezugspunktes in Gang zu bringen. Der Verstand suchte ihn bei Freunden, in intensiven emotionalen Zuständen und sexuellen Beziehungen, doch all diese Dinge bezogen sich für keinen einzigen Augenblick auf irgend jemanden. Als Shakespeare Schauspieler wurde, so fährt die Geschichte fort, hatte er seinen idealen Beruf gefunden, bei dem er «spielen konnte, jemand zu sein, vor einer Audienz, die spielte, ihn für diese Person zu halten». Obwohl er sein ganzes Leben lang versuchte, das Gefühl wiederherzustellen, jemand zu sein, ist ihm das nie gelungen. Für alle anderen schien er ganz gewiß jemand zu sein. Am Ende heißt es dann: «In der Geschichte steht, als er (Shakespeare) vor oder nach seinem Tod vor Gottes Angesicht trat, sagte er zu Ihm: < Ich, der vergeblich so viele Männer gespielt habe, möchte nur ein Mann sein: Ich selbst.) Und aus dem Wirbelwind kam Gottes Stimme und sagte:
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