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Foto © Sabine Sauer | DER SPIEGEL
HAUSMITTEILUNG
Eine Bank unter freiem Himmel, ein Tisch davor, so sah es im späten Mittelalter aus, wenn in Florenz, Venedig oder Genua Geldgeschäfte abgewickelt wurden – auf der „Bank“ eben. In den Jahrhunderten seither ist die Welt der Finanzen immer komplexer und auch gefährlicher geworden. Dieses Heft beschreibt den erstaunlichen Kosmos des Kapitals, in dem Spekulationsblasen entstehen und vergehen wie rätselhafte Sonnen. In vorzüglichem Deutsch
Kalter Krieg am Nordpol Gebunden | 288 Seiten mit Abb. | € 19,95 [D] | ISBN 978-3-421-04415-0
begrüßte der schottische Historiker Niall Ferguson die SPIEGEL-Redakteure Alexander Jung und Thomas Schulz und führte sie in sein Büro, ein winziges Zimmer der HarvardUniversität. Ferguson hält sich dort zurzeit ohnehin selten auf, er ist weltweit gefragt als Spezialist für die Geschichte des Geldes: Auch Politiker und Notenbanker suchen seinen Rat. Jung, Ferguson, Schulz in Harvard Im Gespräch erklärt Ferguson, dass er Finanzkrisen für unausweichlich hält, „seit die alten Mesopotamier den Preis für Getreide danach kalkuliert haben, wie wohl die nächste Ernte ausfallen würde“ (Seite 12). Sein Deutsch hat er übrigens in Hamburg und Berlin perfektioniert: Dort erforschte er die Inflation von 1897 bis 1927.
Als Washington-Korrespondentin Cor-
DENNIS DRENNER (R.); JASON GROW (O.)
dula Meyer im Herbst 2007 ihren Job antrat, hatte die US-Hypothekenkrise gerade begonnen. Bei ihren Recherchen erlebte sie hautnah, wie die faulen Kredite Schockwellen durchs gesamte Finanzsystem schickten. Sie reiste kreuz und quer durchs Land, sprach mit Ökonomen und sah die halbfertigen Neubausiedlungen und verödeten Innenstädte. Sie hörte die Geschichte der Paula Taylor, die ihre Wohnung in einem Vorort von Boston räumen musste, nachdem Kreditfirmen ihr einen sittenwidrigen Vertrag aufgeschwatzt hatten. „Es gibt viele Gesichter der Krise“, sagt Meyer, „jeder hat die Verantwortung von sich weggeschoben und angenommen, es würde schon gutgehen“ (Seite 130).
Die massive Eisschmelze in der Nordpolarregion hat bei den Anrainern einen Wettstreit um die dort vermuteten Öl- und Gasreserven entfacht. Doch was gibt es in der Arktis wirklich zu holen? Meyer in Washington
Mit John Maynard Keynes hat sich Hauke Janssen schon in seiner Dissertation über „Nationalökonomie und Nationalsozialismus“ beschäftigt, hier porträtiert er den vielleicht einflussreichsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts (Seite 102). Janssen leitet seit 1998 die SPIEGEL-Dokumentation, die zu jeder Ausgabe ihr immenses Fachwissen beisteuert und sämtliche Fakten überprüft; seine Kollegen Sonny Krauspe und Rainer Lübbert haben zu diesem Heft besonders beigetragen. André Geicke, der über die Erfindung des Geldes in der Antike promoviert hat, schreibt über die Entwicklung „vom Gold zur Buchung“ (Seite 38).
SPIEGEL GESCHICHTE
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Christoph Seidler beschreibt anschaulich, welche Möglichkeiten sich rund um den Nordpol bieten, aber er schildert auch, welche Gefahren der Kampf um die Ressourcen birgt – politisch, wirtschaftlich und ökologisch.
Erhältlich im Buchhandel und bei www.spiegel.de/shop
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Nach langer Stagnation blühten im späten Mittelalter Fernhandel und Finanzgeschäfte auf. (Miniatur, 15. Jh.)
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Von mächtigen Bankiers wie den Fuggern waren selbst Kaiser wie Karl V. abhängig. (Münze von 1556)
IN DIESEM HEFT
DIE ERSTE GLOBALISIERUNG
Bildseiten Werte und Wertvernichtung im Lauf der Jahrhunderte
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Die Ausplünderung der Neuen Welt beschleunigte Europas Aufstieg
DER AUFSTIEG DES KAPITALS
12
„Wir brauchen neue Banken“ Der Harvard-Historiker Niall Ferguson über die Geschichte des Geldes und Lehren aus dem aktuellen Crash
19 20
Chronik 1096 bis 1480
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Wie es wirklich war
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Glanz und Niedergang der Medici
32
38
4
47 48
Chronik 1480 bis 1800 „Große Gartenhure“
52
Zocker an der Notenpresse
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Eine Revolution auf Pump
60
Der Heller-Wahn
Die kommerzielle Revolution Mit dem Seehandel an den Küsten des Mittelmeers stieg Italien zur ersten europäischen Bankenmacht auf Das christliche Zinstabu Die Florentiner Finanzdynastie beherrschte die Politik und den Kapitalmarkt ihrer Zeit – und förderte die Künste
Hintergrund Vom Gold zur Buchung
Warum Holland dem Tulpen-Wahn verfiel Der geniale Glücksspieler und Spekulant John Law wird heute als Geldtheoretiker gerühmt Der Versuch, die bürgerliche Ära in Frankreich auf Papiergeld zu gründen, endete im Desaster Eine chaotische Währungsvielfalt machte Reisen und Handel im alten Europa zum Geduldsspiel GLANZ UND ELEND NACH 1800
64
Im Eisenbahnfieber Die Industrielle Revolution in England schuf die Bedingungen für große Spekulationen und zyklische Krisen
Schmiergeld für den Kaiser Die Fugger aus Augsburg waren die mächtigsten Bankiers im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation
Fluch des Silbers
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Chronik 1800 bis 1900 Das liebe Geld und seine Rätsel Karl Marx, der Erzkritiker des Kapitalismus, war viele Jahre lang auf Spenden angewiesen
SPIEGEL GESCHICHTE
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ULLSTEIN BILD (L.); BPK (M. L.); AKG (M. R.); HORST FRIEDRICHS / ANZENBERGER (R.)
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Mit ungeahnter Zerstörungskraft brachen 2008 die Finanzmärkte zusammen – neue Regeln sind dringend nötig. (Proteste in London im März 2009)
106 78
Nach dem Ende der Inflation in Deutschland 1923 dienten die Geldschein-Billionen als Spielzeug.
Der märchenhafte Aufstieg der Rothschilds aus der Frankfurter Judengasse
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„Ich werde sie töten!“
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Lehren aus dem Gründerkrach
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ABSTURZ NACH DEM BOOM
Broker der Könige 118
Im amerikanischen Bretton Woods wurden 1944 Regeln für die Weltwirtschaft festgelegt – sie hielten nicht lange
Der 1832 in den USA beginnende „Bank War“ war auch ein Streit um den Kapitalismus Das Börsendesaster, das 1873 die Weltwirtschaft erschütterte, zog die Grundlegung des Sozialstaats nach sich
Ortstermin
125 126
Chronik 1945 bis 2009 Das Ende der Ente
130
Der Dollar-Orkan
138
Arroganz am Abgrund
140
Das Glücksrad wird sich weiterdrehen
„Die Fledermaus“ und die Börse DER DOPPELSCHOCK
92
Das Fanal von 1929 Mit dem Crash an der Wall Street begann die schlimmste Wirtschaftskrise der Welt
101 102
Chronik 1900 bis 1945 Lob der Verschwendung
106
Nationales Trauma
114 116
Seitenblick Staatliche Tricks gegen Schulden Betrogene Betrüger
Vom Berghotel ins Casino
Ist Dagobert Duck, der Zillionär mit dem Zylinder, eine „Heuschrecke in Entengestalt“? Laxe US-Geldpolitik, waghalsige Kredite und mangelnde Kontrolle waren die Zutaten, aus denen sich die heutige Krise zusammenbraute Was bei der deutschen Skandalbank Hypo Real Estate schieflief Vernünftige Regeln für die Finanzmärkte sind möglich – ein Essay von Michael C. Burda
John Maynard Keynes wälzte die moderne Volkswirtschaftslehre um Die deutsche Hyperinflation von 1922/23 trieb Millionen Menschen ins Elend
KZ-Häftlinge mussten auf Befehl der Nazis massenhaft britische Pfund-Noten fälschen
Titelbild: Collage DER SPIEGEL auf Basis eines Gemäldes von Hans Holbein d. J. („Bildnis der Lais Corinthiaca“, 1526); Foto Bridgemanart.com
3 Hausmitteilung | 144 Schauplätze | 144 Buchempfehlungen | 146 Vorschau | 146 Impressum
SPIEGEL GESCHICHTE
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Exzesse gehören von jeher zum Geldgeschäft. Danach wird aufgeräumt. Und die nächste Übertreibung lässt meist nicht lange auf sich warten.
ULLSTEIN BILD (L.); GETTY IMAGES (R.)
PAPIERGELD, BÖRSENKURSE Nach dem Ende der deutschen Hyperinflation 1923 sollen wertlos gewordene Scheine verbrannt werden. Am Abend eines Tages mit hohen Kursverlusten im September 2008 flimmern weiterhin die Bildschirme der Aktienhändler in New York.
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AKG (L.); MANFRED HAMM (R.)
Immer höher und prächtiger baut das Bürgertum die Kathedralen des Kapitals. Zusammenbrüche sind nicht vorgesehen, kommen aber vor. ANLEGER, HANDELSSAAL In den Krisenjahren nach 1873 bangen Kunden einer österreichischen Volksbank um ihre Einlagen. Die Börse von Madrid ist ein Prunkbau des 19. Jahrhunderts.
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Wenn großer Reichtum lockt, können Vernunft und Moral nicht mehr viel ausrichten. Erst aus Schaden mag die Klugheit wachsen.
GETTY IMAGES (R.)
PAMPHLET, SCHATZFUND Der „Teufel des Geldes“ karikiert das Spekulationsfieber während der Ära des Finanzjongleurs John Law in Frankreich (siehe Seite 52). Münzen aus dem Wrack der spanischen Brigg „El Cazador“, die 1784 im Golf von Mexiko gesunken ist.
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Goldbarren in einem Tresorraum der Schweizer Nationalbank
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KAPITEL I
DER AUFSTIEG DES KAPITALS
„Wir brauchen neue Banken“ Der Harvard-Historiker Niall Ferguson über die wechselvolle Geschichte des Geldes, die Unausweichlichkeit von Finanzkrisen und den fatalen Einfluss der Mathematiker auf das monetäre System
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DER AUFSTIEG DES KAPITALS
SEITE 12/13: DPA; S. 14-15: ERICH LESSING / AKG (L.); JASON GROW (R.)
Griechischer Tonkrug und Drachmen aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. – die Münzen zeigen das Abbild Alexanders des Großen.
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SPIEGEL GESCHICHTE
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SPIEGEL: Professor Ferguson, würden Ferguson: Das entspricht derzeit dem gewisse demokratische Tradition, und Sie bitte einmal Ihr Portemonnaie öff- Wert von annähernd einer halben Unze es besaß das allgemeine Wahlrecht. Dass nen? Gold, also ungefähr 15 Gramm. Nun stel- sich dennoch der Nationalsozialismus Ferguson: Wenn Sie möchten, gern. len Sie sich vor, Sie wollten bloß einen ausbreiten konnte, dafür sind in großem Maß die fiskalischen Traumata verantSchauen Sie nach, ich habe ungefähr Apfel mit Gold bezahlen … hundert Dollar dabei. SPIEGEL: Aber über Jahrhunderte, so- wortlich, die das Land in kurzer AbSPIEGEL: Warum halten die Menschen gar Jahrtausende bestand doch eine en- folge erlitten hatte: die Hyperinflation solche Scheine aus grünbedrucktem Pa- ge Verbindung zwischen Geld und Edel- 1922/23 und die Deflation während der metallen. Warum hat sie sich aufgelöst? Weltwirtschaftskrise nach 1929. pier für wertvoll? Ferguson: Diese Papierstücke sind zu- Ferguson: Dieses System hat sich als SPIEGEL: Welche Rolle spielt Geld übergleich auch Zahlungsversprechen. Vor überaus unflexibel erwiesen. Wenn die haupt in der Geschichte? 4000 Jahren im alten Babylon übernah- Geldmenge an den Bestand von Edel- Ferguson: Geld kommt beim Aufstieg der men Tontafeln diese Funktion, heute metallen gekoppelt ist, lässt sie sich Menschheit eine wesentliche Bedeutung operieren wir mit Banknoten. Sie sind nicht so einfach erweitern, die Wirt- zu. Der Barterhandel, der direkte Ausnur das wert, was ein anderer dafür zu schaft kann wegen der Knappheit von tausch von Ware gegen Ware, war nicht geben bereit ist. Geld ist Verbesonders effizient. Die Defizite trauenssache, egal, ob es sich zeigten sich, seit die Arbeitsteibeim Trägermaterial um Ton, lung begann, als die einen als Gold, Papier oder auch einen Bauern tätig waren, andere als Computermonitor mit FlüssigHandwerker, wieder andere als kristallanzeige handelt. Händler: Geld erleichterte es ihnen, Geschäfte miteinander zu SPIEGEL: Der Dollar hat innermachen. Ich glaube, Geld ist die halb von 50 Jahren rund 86 ProQuelle – oder besser der Gezent seiner Kaufkraft verloren. burtshelfer – beinahe allen FortWieso erschüttert ein solcher schritts in der Geschichte. Wertverlust nicht das Vertrauen in Papiergeld? SPIEGEL: Eine kühne These. Wie lässt sie sich belegen? Ferguson: Ganz einfach: weil Papiergeld so bequem ist. Die Ferguson: Der Ruhm von FloMenschen verfügen damit über renz, der Boom der Architektur ein Tauschmittel und eine Verund des Kunstmarktes, beruhte rechnungseinheit, die standarbeispielsweise darauf, dass die disiert ist und allgemein akMedici Bankiers waren und mit zeptiert wird. Dafür nehmen sie dem Geldwechsel ein Vermögen ein gewisses Maß an Inflation machten; Botticellis Gemälde in Kauf. Es ist der Preis, den wären ohne die Medici kaum wir für ein Papiergeldsystem denkbar. Oder nehmen Sie die zahlen. Französische Revolution: Sie ist zumindest indirekt die Folge daSPIEGEL: Diese Geldordnung, von, dass die Monarchie nach die allein auf Papier basiert, hat den Kriegen des Sonnenkönigs keine lange Tradition. Bis 1971 NIALL FERGUSON Ludwig XIV. in eine finanzielle war der Dollar noch an Gold In seinen Büchern und Fernsehdokumentationen Notlage geraten war. Oder das gekoppelt. Ist Edelmetall nicht packt er gern die großen Themen an: den Ersten das viel bessere Geld? Weltkrieg, das britische Empire, die Familiensaga der Ende von Napoleon 1815 bei Waterloo: Die Schlacht war auch Ferguson: Es mag zwar für Rothschilds, zuletzt den „Aufstieg des Geldes“ manchen gerade in diesen Zei- (2009). Der 1964 geborene Schotte lehrt in Harvard. ein Wettstreit zwischen zwei Finanzsystemen. Die Franzosen ten attraktiv sein, Gold in seinem Portfolio zu haben. Und zweifellos Gold oder Silber nicht recht wachsen. finanzierten den militärischen Konflikt besitzt Gold eine besondere Ausstrah- So besteht die Gefahr einer Deflation, durch Plünderung, die Engländer dagelung: Ich habe kürzlich in Athen die also eines andauernden Preisverfalls, der gen nutzten den Anleihemarkt und nahTotenmaske des Agamemnon gesehen; die Wirtschaft lähmt. Die Deflation im men Schulden auf. So gelang ihnen der sie stammt aus dem 16. Jahrhundert Deutschland der frühen dreißiger Jahre Aufstieg zur Weltmacht. vor Christus und hat nichts von ihrem beispielsweise ist vom Goldstandard SPIEGEL: Das klingt so, als sei die GeGlanz verloren. Ich halte es aber für mitverursacht worden. schichte des Geldes in großen Teilen ausgeschlossen, dass Gold jemals wie- SPIEGEL: Sie meinen, dass finanzpoliti- eine Geschichte der Kriegsfinanzierung? der die Funktion von Geld überneh- sche Gründe zum Niedergang der Wei- Ferguson: Die Erfordernisse des Kriemen wird. Es wäre doch höchst un- marer Republik beigetragen haben? ges spielten tatsächlich eine große Rolpraktisch, wenn Sie beispielsweise Ihr Ferguson: Der Aufstieg Adolf Hitlers hat le. Wahrscheinlich begann der Staat Flugticket nach Boston in Gold hät- viel mit der deutschen Finanzgeschich- überhaupt erst mit dem Schuldenmaten bezahlen müssten. Was hat es ge- te zu tun. Deutschland hatte Anfang des chen, als die Venezianer im 13. Jahrhunkostet? 20. Jahrhunderts das beste Bildungs- dert entdeckten, dass sie auf diese Weisystem der Welt, es verfügte über eine se Kriege leichter finanziert bekommen: SPIEGEL: Knapp 400 Euro.
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DER AUFSTIEG DES KAPITALS
Die Schlacht bei Waterloo 1815 war auch ein Wettkampf zwischen Plünderern und Schuldnern. (Gemälde von Denis Dighton)
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BRIDGEMANART.COM
wenn sie sich nämlich das Geld von den Bürgern leihen, anstatt diese zu besteuern. Hier liegt der Ursprung des Rentenmarktes. Hinter jedem großen historischen Ereignis verbirgt sich ein finanzielles Geheimnis. SPIEGEL: Aber es spielen doch für den Fortgang der Geschichte auch andere Einflüsse eine Rolle, technische Innovationen zum Beispiel. Geht von Geld oftmals nicht eine eher destruktive Kraft aus? Ferguson: Ich glaube, man muss sich die Entwicklung der Geldordnung wie eine Gebirgskette vorstellen: Der Aufstieg verläuft nie gradlinig, es gibt sogar Abschnitte, wo das Gelände steil abfällt, doch auf lange Sicht geht die Richtung eindeutig nach oben. Selbst ein Deutscher, der die Große Inflation, die Deflation und die Währungsreform von 1948 durchlitten hat, lebte danach in größerem Wohlstand als Anfang des 20. Jahrhunderts. SPIEGEL: Man könnte doch ebenso gut behaupten, die Geschichte des Geldes ist eine Abfolge von Katastrophen, von Staatsbankrotten und Wertverlust? Ferguson: Dann nehmen Sie nur den krisenhaften Teil der Geschichte wahr. Das ist verständlich, weil Börsen-Crashs oder Währungsschnitte aufregend sind. Doch solche Ereignisse sind die Ausnahme, der Normalfall ist die Stabilität, zugegeben sind es die langweiligeren Jahre. SPIEGEL: Aber das Leben jedes Bürgers wird doch vornehmlich durch einzelne Katastrophen geprägt, deren Ursache auch finanzieller Natur sein können. Sind solche Krisen unausweichlich? Ferguson: Ein Finanzsystem, das nicht Gefahr läuft, irgendwann einmal zu kollabieren, ist kaum vorstellbar. Das liegt vor allem an der Natur des Menschen: Er stellt Vermutungen über die Zukunft an, die oft fehlerhaft sind. Das Gehirn ist nicht gerade eine Rechenmaschine auf dem Niveau des 21. Jahrhunderts; wir sind eher dazu geschaffen, wilde Tiere in der Serengeti zu jagen. Unsere Wahrnehmung ist sehr selektiv, Einstellungen ändern sich sprunghaft: In einem Moment regiert die Gier, in einem anderen die Furcht. SPIEGEL: Und aufgrund dieses irrationalen Verhaltens werden Krisensymptome stets zu spät erkannt? Ferguson: Meist jedenfalls. Die Instabilität gehört zum Finanzsystem, seit die alten Mesopotamier den Preis für Getreide danach kalkuliert haben, wie wohl
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die nächste Ernte ausfallen würde. Auch vor der aktuellen Krise haben die Fachleute bekanntlich die ökonomische Zukunft falsch eingeschätzt. SPIEGEL: Was an dieser Finanzkrise ähnelt jenen der Vergangenheit? Ferguson: Typisch ist der Ursprung der Krise: Sie begann mit einem Übermaß an billigem Geld, Kredite waren leicht zu bekommen, es entstand eine Blase, in diesem Fall am US-Immobilienmarkt, die dann platzte. SPIEGEL: Hätte man diese Blase verhindern können? Ferguson: Es ist sehr schwer zu sagen, wann eine Blase zu groß geworden ist. Manche Blasen platzen gar nicht, sondern dümpeln so dahin. Andere vergrößern sich noch lange und explodieren dann regelrecht. Der damalige USZentralbankchef Alan Greenspan warn-
„Ein Finanzsystem, das nicht Gefahr läuft, irgendwann einmal zu kollabieren, ist kaum vorstellbar.“ te schon 1996 vor „irrationalen Übertreibungen“, aber die Internet-Blase wuchs noch weitere vier Jahre. SPIEGEL: Auch vor der US-Immobilienblase wurde schon jahrelang gewarnt. Kaum jemand aber hat geahnt, welche globalen Folgen daraus entstehen würden. Was macht das Besondere an dieser Krise aus? Ferguson: Es ist zum einen die außergewöhnliche Rolle, die Derivate spielen, vor allem Forderungen aus Kreditbürgschaften. Zum anderen liegt bei den Rating-Agenturen ein bemerkenswerter Fall von Versagen vor: Sie haben nur wenige Unternehmen auf der höchsten Bonitätsstufe eingeordnet, aber gleichzeitig Tausende strukturierte Finanzprodukte mit dem Stempel der Unbedenklichkeit versehen, die sich dann als äußerst fragwürdig herausstellten. SPIEGEL: Was wird nun aus dem Finanzsystem? Wie wird es sich verändern? Ferguson: Nach meinem Verständnis ist die Finanzgeschichte im Wesentlichen das Ergebnis von natürlicher Auslese. Die Krise ist Teil dieses evolutionären
Prozesses, die Marktauslese ihre treibende Kraft. Wenn sich die Umgebung verändert, können komplexe Systeme zusammenbrechen. Wie einst die Dinosaurier haben auch große Finanzinstitute nun Schwierigkeiten, mit der massiven Veränderung der Umgebung fertigzuwerden. SPIEGEL: Sie glauben also, dass wie in der Natur auch in der Finanzwelt nur der Stärkste und gleichzeitig Anpassungsfähigste überlebt? Ferguson: Im Prinzip, ja. Die Akteure konkurrieren miteinander um begrenzte Ressourcen. Einige setzen sich mit ihren Innovationen durch, sie verhindern, dass sich eine Monokultur ausbildet. SPIEGEL: Bundespräsident Horst Köhler sprach davon, dass sich „die Finanzmärkte zu einem Monster entwickelt haben, das in die Schranken verwiesen werden muss“. Ferguson: Das war eine törichte Bemerkung. Man könnte ebenso behaupten, die Demokratie sei ein Monster. Die Finanzmärkte sind doch nur der Spiegel unseres ökonomischen Handelns, und es ist nicht der Fehler des Spiegels, wenn er unsere Makel widergibt. Wir sollten die Finanzmärkte nicht dämonisieren. Wir erleben doch gerade, wie sich die Märkte bereinigen, wie das „Unangepasste und Lebensunfähige“ verschwindet, so hat es der Ökonom Joseph Schumpeter einmal beschrieben. SPIEGEL: Aber dieser Prozess ist überaus schmerzhaft. Hätte man nicht vorher durch schärfere staatliche Kontrollen die schlimmsten Auswüchse verhindern sollen? Ist also die Deregulierung schuld an der Finanzkrise? Ferguson: Das ist ein populäres Argument, ich halte es für Quatsch. Der Prozess der Deregulierung begann schon in den frühen achtziger Jahren, seitdem hat die Weltwirtschaft einen enormen Aufschwung erlebt. Außerdem gab es Finanzprobleme schon in den Jahrzehnten zuvor, als die Märkte noch weitaus regulierter waren. Überhaupt gehören Banken zu den am stärksten kontrollierten Institutionen, doch gerade bei ihnen hatte die Krise ihren Ausgang genommen. Die Hypothekenbank Fannie Mae beispielsweise stand unter direkter Aufsicht des US-Kongresses. Es geht nicht um mehr Regulierung, sondern höchstens um bessere Regulierung. SPIEGEL: Worauf sollte die Bankenaufsicht denn achten?
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Ferguson: Sie muss der Liquiditätslage
mehr Aufmerksamkeit schenken. Die Banken haben Geld langfristig verliehen, konnten es sich selbst aber immer nur kurzfristig besorgen. Viele Institute haben enorme Schulden angehäuft, teilweise bis zu 30- oder 40-mal mehr, als sie an Eigenkapital verfügen. Ein solches Verhalten führt, wenn der Geldfluss stockt, zum Kollaps. Außerdem darf die Aufsicht die Banken nicht zu groß werden lassen. Nun sind viele große Institute praktisch pleite, sie sind gleichsam Zombie-Banken: halb tot, aber auch halb lebendig dank staatlicher Hilfe. Wir müssen uns genau überlegen, wie lange wir uns das leisten wollen. SPIEGEL: Soll der Staat denn die Problem-Banken einfach fallen lassen? Ferguson: Dafür sind einige wohl zu groß. Man sollte sie kontrolliert abwickeln. Wenn sie dauerhaft im Genuss staatlicher Hilfe bleiben, behindert diese Subventionierung den Wettbewerb. Der Erfolg eines Finanzsystems bemisst sich an seiner Innovationsfähigkeit, wir brauchen neue Banken. Und wir müssen sehen, wie wir unsere Währungsordnung fortentwickeln können. SPIEGEL: Was meinen Sie damit?
Ferguson: Derzeit ist das Schicksal vieler Volkswirtschaften an die Entwicklung des Dollar gekoppelt. Wenn die USWährung an Wert verliert, was durchaus wahrscheinlich ist, spüren Japan oder Deutschland den Effekt besonders schmerzlich, weil sich ihre Exporte verteuern. Es sollte also gerade im deutschen Interesse liegen, dass sich die Währungsordnung verändert. SPIEGEL: Und wie könnte diese neue Ordnung aussehen? Ferguson: Vielleicht ähnlich wie im 19. Jahrhundert, als es mehrere Reservewährungen gab: das britische Pfund, den amerikanischen Dollar, die deutsche Mark, den französischen Franc. So könnte auch künftig die Dominanz des Dollar abnehmen, zugunsten von Euro, japanischem Yen und auch chinesischem Yuan. SPIEGEL: Heißt das, die Menschheit kann aus der Geschichte der Finanzkrisen und des Geldes etwas lernen? Ferguson: Natürlich können wir Lehren ziehen. Wir wissen etwa seit der Großen Depression, wie gefährlich Bankenkrisen sind. Wir können von Glück reden, dass mit Ben Bernanke jemand an der Spitze der US-Zentralbank steht, der über seine gesamte akademische Karriere hinweg die Weltwirtschaftskrise gründlich studiert hat. Deshalb
wusste er genau, was zu tun ist, als diese Krise kam. SPIEGEL: Über solches historisches Wissen verfügt aber nicht jeder Banker oder Manager. Ferguson: In der Tat. In den Unternehmen sitzen Mathematiker, die Risiken auf der Basis von manchmal nur drei Jahren kalkulieren. Wenn die Modelle nicht einmal den Zeithorizont eines normalen Geschäftszyklus berücksichtigen und alle Akteure nur den Aktienkurs am Quartalsende im Auge haben, dann darf es niemanden wundern, wenn das Ergebnis der Rechnung lautet: Es gibt kein Risiko. Hier wurden auf allen Ebenen die historischen Lehren ignoriert. SPIEGEL: Sollten die Unternehmen an Stelle von Mathematikern also mehr Historiker einstellen? Ferguson: Das wäre bestimmt kein Fehler. Zumindest sollte Finanzgeschichte ein bedeutender Teil der Ausbildung an jeder Business-Schule sein. Das Wissen darüber ist zu wichtig, um es Spezialisten wie mir zu überlassen. Aber leider sind die typischen Leser finanzhistorischer Literatur pensionierte Banker. Es wäre besser gewesen, sie hätten diese Bücher früher gelesen. SPIEGEL: Professor Ferguson, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
„Viele große Institute sind gleichsam Zombie-Banken: halb tot, aber auch halb lebendig dank staatlicher Hilfe.“ 18
SPIEGEL GESCHICHTE
4 | 2009
NICHOLAS ROBERTS / AFP
Protest gegen US-Bankenrettungsplan vor der New Yorker Börse, September 2008
CHRONIK 1096–1480
GELDHANDEL IM MITTELALTER 1096
Der Beginn der christlichen Kreuzzüge in den Nahen Osten bringt das Geldsystem in Mitteleuropa in Bewegung. Die Finanzierung des Krieges gegen den Islam, die militärischen Beutefeldzüge und die christliche Rückeroberung von bis dahin muslimischen Mittelmeerstädten lassen Handel und Geldgeschäfte vor allem in Oberitalien aufblühen.
ab 1100
schichte des Abendlandes eingeht. Anfangs sind die Anleihen freiwillig, später gibt es Zwangsanleihen.
um 1180
König Heinrich II. von England lässt eine neue Silbermünze schlagen, die später unter dem Namen „Sterling“ berühmt wird. Einige Wissenschaftler glauben, dass der Name von „Easterling“ kommt, weil die Münzpräger aus dem Osten (East) kamen.
zu einem Zentrum des europäischen Warenhandels.
1295
Marco Polo berichtet von seiner China-Reise über Erfindung und Gebrauch des Papiergeldes.
1285 bis 1314
König Philipp der Schöne von Frankreich erhält wegen seiner skrupellosen Münz-Verschlechterungen den Beinamen „der Falschmünzer“ – und löst Hortungen von Gold aus.
Auf Tischen und Bänken unter freiem Himmel werden in Florenz, Venedig, Siena, Lucca und Mailand von Kaufleuten Kredit- und Wechselgeschäfte abgewickelt. Obwohl die Städte größtenteils nicht in der Lombardei liegen, bürgert sich aufgrund eines geografischen Irrtums für Kreditgeber das Wort „Lombarden“ ein.
12. Jahrhundert
Im Überseehandel italienischer Stadtstaaten wie Venedig und Genua verbreitet sich in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts der Seehandelskredit (Prestito Maritimo oder Commenda) mit Risikoteilung zwischen Unternehmer und Kreditgeber.
SIPA PRESS
1156
In der Republik Venedig, die durch teure Kriege mit dem Byzantinischen Reich in Finanznot ist, wird der Monte Vecchio gegründet – eine Staatsgläubigerversammlung vermögender Bürger, die als erste Vorläuferbank in die Ge-
SPIEGEL GESCHICHTE
4 | 2009
dem die Florentiner Bankiersfamilien der Bardi und Peruzzi riesige Summen geliehen haben, ziehen deren Ruin und den ersten Bankenkrach des Frühkapitalismus nach sich.
1402
Der Rat der Stadt Frankfurt am Main beschließt, eine Wechselbank mit festgelegtem Grundkapital zu gründen. Der „Wessil“ gilt als erste Bank der deutschen Geschichte.
1409
In Brügge entsteht Europas erste Börse.
1434
In Florenz kommt der Bankier Cosimo de’ Medici als Führer der Volkspartei an die Macht.
1457 bis 1460
König Adolf von Nassau finanziert seine Wahl durch ein verzinstes Darlehen von Frankfurter Bürgern.
Dramatischer Geldwertverfall in den Habsburger Ländern, weil Kaiser Friedrich III. einen Erbstreit mit seinem Bruder Herzog Albrecht über die Münzverschlechterung austrägt. Die Zeit der schlechten Münzen, Schinderlinge, gilt als erste große Inflation auf deutschem Boden.
um 1300
1462
Kreuzritter Gottfried von Bouillon (Buchmalerei, 14. Jhdt.)
um 1202
Leonardo da Pisa, genannt Fibonacci, veröffentlicht das „Liber Abaci“ („Buch der Rechenkunst“), das anstelle des unpraktischen römischen Ziffernsystems die indisch-arabische Zählweise in Mitteleuropa einführt und die numerischen Voraussetzungen des modernen Finanzwesens schafft.
1240
Frankfurt am Main erhält als erste deutsche Stadt das urkundlich belegte Messeprivileg und entwickelt sich
1292
In oberitalienischen und flämischen Städten florieren Geldgeschäfte – meist verleihen Kaufleute ihre flüssigen Reserven an Kollegen. In Florenz entstehen die ersten Banken.
1343 bis 1346
Währungsspekulationen und die Zahlungsunfähigkeit des englischen Königs,
In Perugia wird, um die Ärmeren vor Wucherern zu schützen, eine neuartige Bank, Monte di Pietà, gegründet. Sie bezieht ihr Kapital aus Schenkungen und soll es zu möglichst niedrigen Zinsen verleihen. Mancherorts entwickeln sich solche Wohltätigkeitseinrichtungen zu Geschäftsbanken.
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DER AUFSTIEG DES KAPITALS
Umwälzungen in Seefahrt und Handel beendeten zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert eine lange Ära des Stillstands. In Italien nahm das moderne Bankwesen seinen Anfang.
Die kommerzielle Revolution Von RAINER TRAUB
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SPIEGEL GESCHICHTE
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JEAN-CLAUDE VARGA / KEYSTONE PARIS
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ls Karl der Große sich im gionale Absatzmärkte noch eine nen- taloniens, rissen im 11. bis 13. JahrhunJahr 800 in Rom zum nenswerte städtische Zivilisation gab. dert die Herrschaft über das Mittelmeer Kaiser krönen ließ, hatte „Vom Ende des achten Jahrhunderts an an sich. Venedig sicherte sich schon vor Westeuropa einen tie- fiel das westliche Europa in einen Zu- dem ersten Kreuzzug den Warenverkehr fen geschichtlichen Ein- stand der reinen Landwirtschaft zu- mit dem Heiligen Land. Zudem zahlte schnitt hinter sich. Denn durch den Ein- rück“, resümierte Henri Pirenne in sei- es sich aus, dass die Stadt ihre Flotte in bruch des Islam war der intensive Han- ner klassischen „Sozial- und Wirtschafts- den ersten christlichen Feldzug schickdels- und Ideenaustausch rund um das geschichte Europas im Mittelalter“ die te. Spätestens ab dem vierten Kreuzzug (1202 bis 1204) erwarb die Stadt die Mittelmeer, der den Kontinent jahrhun- große Stagnation. Herrschaft über den Bosporus und nahm dertelang befruchtet hatte, jäh gestoppt worden. Die muslimischen Eroberer Es dauerte knapp 300 Jahre, bis der im Orienthandel die Stelle von Byzanz hatten im Verlauf des siebten und frühen erste christliche Kreuzzug von 1096 ge- ein. So waren das veränderte Kräfteverachten Jahrhunderts die Süd- und West- waltsam die Wende einleitete, indem er hältnis im Mittelmeerraum und die straküsten des Meeres besetzt. den Islam erheblich zurückdrängte. Die tegische Lage der italienischen StadtDas große Wasser, das als Hauptver- italienischen Hafenstädte, in geringe- staaten Voraussetzung für das synchrokehrsader bis in die Spätantike Orient rem Maß auch die der Provence und Ka- ne Aufblühen von Fernhandel, Geld- und Kreditwirtschaft geraund Okzident verbunde in dieser Region. den hatte, verwandelte Historiker sprechen sich in ein Element der von der „kommerzielTrennung: Muslimische len Revolution“, die in Piraten machten es so Europa im späten 12. unsicher, dass der araund im 13. Jahrhundert bische Historiker Ibndie Epoche hochmittelHaldun schrieb: „Die alterlicher UnbewegChristen können darlichkeit beendete und auf kein Brett mehr die Bedingungen für schwimmen lassen.“ den Frühkapitalismus Kaiser Karl befehligund das städtische Bürte im Gegensatz zum gertum schuf. Wie unImperium Romanum, auflöslich beide verbundas er doch fortsetzen den waren, geht schon wollte, eine reine Kondaraus hervor, dass die tinentalmacht. Grund lateinischen Wörter und Boden wurden nun mercator und burgenzum entscheidenden sis, Händler und BürWirtschaftsfaktor. Die ger, ursprünglich Synlokalen Erzeuger beonyme waren. schränkten ihre ProItalien entwickelte duktion auf die unmitsich dabei zur Drehtelbaren Lebensbedürfscheibe zwischen dem nisse. Der KaufmannsNahen Osten und den stand verschwand. HanMärkten in Nordeurodel und Wandel kamen pa, die von den Hanseim Frühmittelalter zum städten beherrscht wurErliegen, da es weder regionale und überre- „Der Geldverleiher und seine Frau“ (Gemälde von Quentin Metsys, 1514) den.
NORTH WIND PICTURE ARCHIVES / AKG
Marco Polo verlässt Venedig und begibt sich auf die Reise nach China. (Lithografie, 1338)
Die entscheidende Triebkraft war anfangs der Seehandel. Der Kompass, von den Arabern im Mittelmeerraum eingeführt, war seit dem 12. Jahrhundert hier allgemein in Gebrauch. Die Städte in Nordafrika oder an der Nordsee waren dank seiner Hilfe mit viel weniger Risiko und schneller als zuvor zu erreichen. Und die Transportkosten auf dem Seeweg lagen, wie der französische Mediävist Jean Favier betont, entscheidend niedriger als auf dem Landweg. Die überseeische Expansion und die Ausweitung der Märkte in Europa brachten eine Reihe grundlegender Neuerungen mit sich. Denn erstens waren Prägung und Umlauf von Bargeld begrenzt durch mangelnde Kenntnis über Existenz und Lage abbaufähiger Minen und unzureichende Förderung von Edelmetall. Und zweitens war es für Kaufleute beschwerlich und überaus riskant, größere Geldmengen in Form von Gold- und Silbermünzen über erhebliche Entfernungen zu transportieren – etwa aus Italien zu den größten
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Handelsmessen des Mittelalters in der Champagne. Die gefährliche Mühsal des Geldtransports wurde verschärft durch die weitverbreitete Unsitte von Landesherren, ihre Finanzen durch Münzverschlechterung zu sanieren: Der Edelmetallgehalt der Münzen verminderte sich schleichend, während mit dem Anteil nichtedler Metalle das Gesamtgewicht eines gegebenen Geldwerts stieg. So entstand im Zuge der kommerziellen Revolution aus den Bedürfnissen der Kaufleute eine Kreditform, die den Münztransport überflüssig machte: Bei Erhalt einer Ware übergab der Empfänger dem Lieferanten den Wechselbrief. kurz Wechsel. Er funktionierte wie ein Scheck und garantierte das Recht, die vereinbarte Kaufsumme zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort entweder vom Wechselaussteller selbst oder von einer dritten Person zu bekommen. Der Wechsel ist der Ursprung des modernen bargeldlosen Zahlungsverkehrs.
Handel und Kredit waren von Anfang an eng verbunden. Die großen Kaufleute machten ihre Vermögen mit Tuchen, Gewürzen oder anderen Waren, bevor sie den Handel mit Geld zu einem weiteren Erwerbszweig ausbauten, der dann oft der einträglichste wurde. Die Banken verdanken ihren Namen der Tatsache, dass die italienischen Händler in Venedig, Genua und anderswo ihre Geschäfte ursprünglich unter freiem Himmel abwickelten – auf Bänken (banchi) sitzend. Sie hatten alle Hände voll mit der verwirrenden Vielfalt und Wertigkeit von Münzen und Währungen zu tun; das Geldsystem im ausgehenden Mittelalter war kompliziert und schwer überschaubar. Allein in Pisa mussten Kaufleute „mit sieben verschiedenen in Umlauf befindlichen Münzarten zurechtkommen“, wie der Historiker Niall Ferguson schreibt. Er erinnert auch daran, dass Italien, die Wiege des Frühkapitalismus, zu Beginn des 13. Jahrhunderts in eine Vielzahl rivalisierender Stadtstaaten zersplittert
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DER AUFSTIEG DES KAPITALS
Kauf leute im Aufbruch
Ost s e e
Nords e e Lübeck
Seehandel im 13. bis 15. Jahrhundert
Danzig
Rostock Hamburg
London
Amsterdam Bremen Antwerpen
Brügge Gent Rouen St. Malo
A T L A N T I K
Nantes La Rochelle
Genua
Bilbao
Porto
Montpellier
Venedig
Marseille
Pisa Ragusa (Dubrovnik)
Barcelona
Lissabon
Korsika
Valencia
Rom
Palma
Neapel
Cádiz Almeria Ceuta
M
I
T
T
E
L
-
Lepanto
Messina Bona
Syrakus
Tunis Mahdia
Koroni Nauplia
M
E
E
R
Kreta
Tripolis
250 km
war. Sie bekriegten sich periodisch und verlangten von ihren Bürgern im 14. Jahrhundert Zwangsdarlehen, um die angeheuerten Söldner (condottieri) bezahlen zu können. Trotzdem explodierten die Schulden – in Florenz enstand damals der Begriff monte commune: städtischer Schuldenberg. Für das heraufziehende Zeitalter der Kapital- und Kreditwirtschaft war das vom alten Rom geerbte Zahlensystem nicht gemacht. Römische Ziffern erwie-
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sen sich als ungeeignet für den alltäglichen Umgang mit hohen Beträgen, für Multiplikation und Division, für Bruchrechnen und kompliziertere mathematische Operationen aller Art. Hier schuf der Sohn eines Pisaner Zollbeamten und Notars Abhilfe. Leonardo da Pisa, genannt Fibonacci (circa 1170 bis circa 1250) folgte im Alter von etwa 12 Jahren seinem Vater nach Nordafrika. Der war für die Pisaner Kaufmannschaft in deren algerischer Nie-
derlassung tätig. Er ließ dort seinen Sohn Mathematik nach jenem System lernen, das die Araber von den Indern übernommen hatten.
Im Jahr 1202 vollendete Fibonnacci sein „Liber Abaci“ („Buch der Rechenkunst“), das ihn zum bedeutendsten Mathematiker des Mittelalters machte. Er brachte damit nicht nur das indo-arabische Dezimalsystem nach Europa, das gegenüber dem römischen System alle
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Verbreitung der großen Religionen im Hochmittelalter römisch-katholische Christen griechisch-orthodoxe Christen Muslime Besitzungen, Handelsstützpunkte Genuas Besitzungen, Handelsstützpunkte Pisas Besitzungen, Handelsstützpunkte Venedigs Bedeutende Hansestädte um 1400 sonstige Handelszentren wichtige Seehandelsrouten Mauro Castro Kaffa Sudak
Taman
S C H W A R Z E S M E E R Sinope
Trapezunt
Samsun Konstantinopel
Lajazzo Adalia Antiochia Famagusta
Tripoli Beirut Tyrus Akkon
Jaffa Jerusalem
ULLSTEIN BILD
Alexandria
zur Zeit der Kreuzzüge: verschiedene christliche Kleinstaaten
Berechnungen vereinfachte – die Zahl 2378 etwa notierte sich leichter als ihr römisches Pendant MMCCCLXXVIII. Der praktisch wie theoretisch gewiefte Autor erklärte auch, wie das System auf Buchhaltung, Währungsumrechnung und Zinsrechnung anzuwenden sei. Mit seinem Beitrag zur Globalisierung der Mathematik hat Fibonacci den frühen Handelskapitalismus rechnerisch ermöglicht. Auf dem europäischen Geldmarkt waren im 13. Jahrhundert drei Arten von
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Händlern anzutreffen: erstens Pfand- schüttet wurden, um potentiellen Invesleiher, wegen ihrer italienischen Her- toren die Existenz einer gesunden Rekunft auch als „Lombarden“ bezeichnet, serve vor Augen zu führen. Die Pracht, deren die frühen Bankiers die kurzfristige Gebrauchsdarlehen für Leute aus kleinen und mittleren Ver- sich erfreuten, war freilich erkauft mit hältnissen anboten. Zweitens Geld- enormen Pleiterisiken. Das verliehene Kapital konnte zuwechsler, die ihr Geschäft auf offener Straße betrieben und neben dem Münz- sammen mit den Schiffen untergehen, und Währungstausch den Handel mit deren Erwerb oder Ladung es finanziert Edelmetall beherrschten; in Florenz hatte. Im 14. Jahrhundert begannen wurden diese Geschäfte „banchi minu- zwar einzelne Kaufleute in der Toskana, ti“, Kleinbanken, genannt. Als „banchi sich auf die Versicherung von Schiffen grossi“, Großbanken, wurde die dritte zu spezialisieren, doch solche RisikoGruppe tituliert, die im Fernhandel en- minderung etablierte sich erst allmähgagierten Kaufmannsbankiers, die meist lich. Piraten und Straßenräuber lauerten zu Wasser und zu Lande den Händin Familienverbänden organisiert lern auf, deren Waren die Banwaren. Aus deren Mitte ginkiers mit ihren Krediten vorfigen die Finanzmoguln des nanziert hatten. Gekrönte Mittelalters hervor. Häupter konnten als GroßEine kaum zu überschuldner jederzeit zahlungsschätzende Erschwerung unfähig werden, weil sich das der Bankenentwicklung war Kriegsglück oder auch die eidas offizielle kirchliche Zinsgene Prunk- und Verschwenverbot (siehe Seite 24) – seit der dungssucht gegen sie gewenHerrschaft Karls des Großen det hatte. auch Teil des säkularen Allein im bankenRechts. Der Zweck geschichtlich gut ermenschlicher Arbeit forschten Venedig war demnach nicht scheiterten 96 von Bereicherung, son103 Privatbanken, dern die Erhaltung die zwischen dem 13. des Zustands, in dem Jahrhundert und dem der Mensch von Gott geEnde des 16. Jahrhunschaffen war – in ErwarLeonardo Fibonacci derts gezählt wurden. tung des wahren, ewigen (Stich, 18. Jahrhundert) Der Begriff Bankrott erLebens im Paradies. Das Streben nach Reichtum war mit der innert bis heute an den italienischen Ursprung: banca rotta. Todsünde Geiz identisch. Die meisten zahlungsunfähigen GeldDer Zins, ohne den keine Bank funk- händler versuchten, sich ihrer Veranttioniert, wurde deshalb mit allerlei rech- wortung und Inhaftierung durch Flucht nerischen Tricks versteckt – bevorzugt zu entziehen. Diese Erfahrung war so war die Camouflage durch Rückzah- prägend, dass der offizielle lateinische lung in anderer Währung und an ande- Begriff für verkrachte Bankiers „fugitirem Ort. So ging die Entwicklung der vus“, Flüchtling, lautete – unabhängig daGeldwirtschaft mit Doppelmoral und von, ob die Gemeinten tatsächlich zu flieHeuchelei einher. Der große Wirtschafts- hen versuchten. Wer seine Schulden historiker Raymond de Roover hat ver- nicht in vollem Umfang zurückzahlte, sichert, dass die frühe Bankengeschich- wurde für alle Zukunft vom öffentlichen te ohne das Zinstabu ganz anders ver- und wirtschaftlichen Leben der Stadt ausgeschlossen. In weiten Teilen Italiens, laufen wäre. Die Eröffnung einer Bank wurde mit wenn auch nicht in Venedig, war darüber viel Brimborium begangen. In Venedig hinaus ein öffentliches Schmähritual übfolgte einem kirchlichen Hochamt die lich: Das nackte Hinterteil gescheiterter gemeinsame Prozession der Bankchefs Geldhändler wurde dreimal gegen einen und ihrer Sippe zum Sitz des neuen „Schandstein“ im Zentrum des lokalen Geldhauses – begleitet von Pauken und Hauptplatzes gestoßen, während der Trompeten, manchmal auch von hohen Bankrotteur die Kapitulationsformel Regierungsvertretern. Höhepunkt der „Cedo bonis“ aufsagen musste: „Ich verFestlichkeit war die Präsentation von zichte auf mein Hab und Gut.“ Säcken mit Silber- und Goldmünzen, die Ungeachtet solcher Berufsrisiken bemitunter auf dem Banktresen ausge- tätigten sich immer neue Kaufmanns-
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WIE ES WIRKLICH WAR
Christen umgingen das Zinsverbot, Juden wurden stigmatisiert.
SÜNDIGE GESCHÄFTE „Dreitausend Dukaten – gut.“
Shakespeares Hauptquelle war der Schon im ersten Satz, mit dem der jüdische Wucherer in einer italienijüdische Geldverleiher Shylock im schen Novelle aus dem späten 14. „Kaufmann von Venedig“ vorgestellt Jahrhundert. Zu dieser Zeit war der wird, geht es um Geld. Und kaum Geldmarkt in Mitteleuropa hart umist dieser Satz gefallen, macht Autor kämpft. Ein jüdisches Monopol gab William Shakespeare das Publikum mit der niederträchtigen Bedingung bekannt, die sein Kaufmann Antonio hinnehmen muss, um an das Geld zu kommen: Ein Pfund Fleisch soll Shylock bei Nichtzurückzahlung aus Antonios Leib schneiden dürfen. Im Jahr 1605 fielen Shylocks Eingangsworte das erste Mal vor Publikum. Sie enthielten bereits alles, was an Juden abstoßend erscheint, glaubt der amerikanische Schriftsteller Philip Roth, selbst jüdischer Herkunft. Die Worte, so Roth, hätWucherer ten zur jahrhundertelangen und Teufel Stigmatisierung der Juden (Kathedrale beigetragen. Kaum eine Fivon Chartres) gur hat sich in der europäischen Imagination so festgesetzt wie der erbarmungslose jüdische Wucherer. Kaum ein Stereotyp wird so grenzübergreifend verstanden. Verfolgung und Vernichtung der Juden waren stets eng mit diesem Bild verbunden. Dabei taugt Shakespeares Geldhändler bei genauer Lektüre nicht zur antisemitischen es nicht, wenn auch israelitische Blaupause. Er ist zu komplex und Geldhändler nicht selten waren. Juwidersprüchlich. Denn der Dramati- den durften nach dem Talmud, ihrer ker befreit sein Geschöpf in einem religiösen Lehre, zwar nicht unter Schlüsselmoment des Stücks aus dem sich, wohl aber von Christen Zinsen Käfig des Klischees. Er entdämoni- nehmen. Das verschaffte ihnen eine siert es – und bringt Shylock den Sonderstellung in der von der mächZuschauern als ihresgleichen nah: tigen katholischen Kirche geprägten „Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir mittelalterlichen Gesellschaft, in der nicht? Wenn ihr uns vergiftet, ster- Zins als Sünde galt und verboten war. Zudem war der Geldhandel eine der ben wir nicht?“
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wenigen Berufsnischen, die den Juden überhaupt noch geblieben waren. Seit dem Ersten Kreuzzug von 1096 herrschte eine latente Pogromstimmung gegen sie. Schon länger waren sie aus den Zünften ausgeschlossen und schrittweise entrechtet worden. Es blieb die Finanzbranche – wofür sie dann auch noch stigmatisiert wurden. Dennoch hatten die Juden starke christliche Konkurrenz. In der Praxis blieb nämlich das Zinsverbot oft wirkungslos, auch wenn es unter Karl dem Großen sogar säkulares Recht geworden war und durch Konzilsbeschlüsse und päpstliche Dekrete im 12. und 13. Jahrhundert immer wieder verschärft wurde. „Das war wie im Bankensektor kurz vor der momentanen Krise – es hat sich kaum jemand an die Regeln gehalten“, sagt der Wirtschaftshistoriker Winfried Reichert. „Das Verbot wurde umgangen, der Zins etwa nur anders genannt.“ Er wurde als Entschädigung verpackt oder als Disagio verschleiert. Später wurde das Kreditbedürfnis so stark, dass Kirchenjuristen mit allerlei Rabulistik eine „Entschädigung“ des Geldgebers rechtfertigten. Die Verstöße gegen das kirchliche Zinsverbot begannen früh. Bereits im 4. Jahrhundert hatte die junge christliche Kirche ihren Klerikern das Zinsnehmen untersagt – und musste sie in der Folge immer wieder an das Verbot erinnern. Durch die zunehmende Monetarisierung des Handels nach der Jahrtausendwende hatte die kirchliche Agitation gegen Zinsgeschäfte noch ein-
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DER AUFSTIEG DES KAPITALS
mal Auftrieb bekommen. Der Kirchenlehrer Thomas von Aquin sah den Grund der Zinssünde darin, dass gegen Gottes Willen ohne Arbeit und nur mit der Zeit Geld verdient werde. Doch an Königshöfen, in der Aristokratie und im Klerus wuchs der Finanzbedarf. Und statt Silber und Schmuck einzuschmelzen, lag es näher, sich fehlendes Geld von Kaufleuten vorstrecken zu lassen. Zwischen Rhein und Maas füllten diese Lücke vor allem die sogenannten Lombarden, die allerdings meist aus dem Piemont kamen. Die italienischen Frühkapitalisten gründeten Hunderte von Pfandleihbanken – und ihr Geschäft hat im Geldhandel bis heute Spuren hinterlassen. So geht beispielsweise der „Lombardsatz“, zu dem die Zentralbanken Geld verleihen, auf sie zurück. Zwar waren die Lombarden ähnlich schlecht angesehen wie die Juden. Ihre Kenntnisse im Wechsel- und Kreditgeschäft waren aber so ausgereift, dass an ihren mächtigen Gesellschaften kaum ein Kunde vorbeikam. Die Könige von Frankreich und England, Fürsten, Bischöfe, Äbte und Päpste ließen ihr Vermögen von Lombarden verwalten. Der damals übliche Zinssatz schwankte zwischen 10 und 16 Prozent – und konnte bei Verzug auf 50 Prozent, ja bis über 100 Prozent steigen. Während die jüdischen Händler etwa in Flandern stets in der Minderheit waren, nahm ihr Anteil Richtung Osten zu. Vor allem in Polen, Böhmen und Ungarn waren sie stark vertreten. Mehrere Faktoren trugen dazu bei, dass sich Juden auf den Geldverleih spezialisierten. Beim Verkauf und selbst bei der zwangsweisen Auflösung ihrer Besitztümer etwa durch Ausweisungen hatten manche von ihnen beträchtliche Vermögen erzielt. Etliche waren am Transport von Gold und Silber aus den Bergwerken der islamischen Länder und Afrikas beteiligt. Andere importierten Luxusgüter für europäische Adlige oder Geistliche aus dem Orient. Ihr Schicksal war immer von der Stimmung des jeweiligen Schutzherrn abhängig. Während etwa Friedrich I. Barbarossa (1152 bis 1190) seinen Juden völlige Freiheit im Geldhandel zu-
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gestand, ließ König Ludwig IX. („Der Heilige“) von Frankreich (1226 bis 1270) bei seinen Untertanen Umfragen über deren Klagen gegen Juden durchführen. Ludwigs Judenhass war berüchtigt, und er versuchte, jüdische Zinsnehmer aus dem Land zu jagen – obwohl ihm einige seiner Berater versichert hatten, dass ohne Geldleihe weder das Land bebaut noch nennenswert Handel betrieben werden könne. Wenn Machthaber Juden ansiedelten, geschah das selten aus Toleranz. Es sei gewissen weltlichen Herrschern unangenehm, selbst Zinsen zu kassieren, schrieb Papst Innozenz III. im Jahr 1208. Deshalb holten sie Juden in ihre Dörfer und Städte, „um sie für das Kassieren der Zinsen in ihren Dienst zu nehmen, diese peinigen dann bedenkenlos Gottes Kirchen und die Armen Christi“. Die soziale Brisanz der Zinsfrage zeigte sich im 14. Jahrhundert besonders in Trier, das lange vergebens versuchte, sich aus klerikaler Herrschaft zu befreien und reichsunmittelbare Stadt zu werden. Erzbischof Balduin von Luxemburg (1307 bis 1354) provozierte mit seiner jüdisch geprägten Finanzverwaltung scharfe Kritik. Die Stadtgemeinde klagte, der Erzbischof lasse nicht einmal Gerichtsbeschwerden gegen jüdische Wucherer zu, wodurch viele Bürger in Verderbnis gestürzt worden seien. Dagegen hatte Balduin einer christlichen Wucherin das Begräbnis verweigert, was die Bürger so aufbrachte, dass sie es mit Gewalt durchsetzten. Nach den Pestpogromen Mitte des 14. Jahrhunderts verebbten die finanziellen Aktivitäten der Juden mehr und mehr – bis sie 1419 für hundert Jahre aus dem Erzstift ausgewiesen wurden. Die andere Randgruppe der Finanzdienstleister, die Lombarden, hatte weniger zu leiden: Auf dem Sterbebett wurden sie fromm und schickten Wagenladungen voller Geld symbolisch gen Himmel – damals die gängige Spendenpraxis. „Die Kirche“, so Historiker Reichert, „war zu der Zeit nicht weniger geschäftstüchtig als heute.“ Und das Seelenheil am Ende nur eine Frage der Finanzierung. Nils Klawitter
dynastien als Bankiers. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts waren die Florentiner Bankhäuser der Familien Peruzzi und Bardi die weltweit größten Unternehmen – „die Säulen des christlichen Handels“, wie sie ein italienischer Historiker nannte. Als reichste Bankiers ihrer Ära übertrafen sie sogar die ihnen folgenden, legendären Medici; in Sachen Nachruhm sollten die Medici allerdings aufgrund ihrer politischen Rolle und ihres kulturellen Renaissance-Nimbus die Vorgänger überstrahlen. Wirtschaftsgeschichtler sehen in den Peruzzi und Bardi eher Unternehmenskonglomerate („super companies“) ihrer Epoche als reine Banken: Der Warenhandel machte einen Großteil ihrer Geschäfte aus, in vielen Teilen Europas unterhielten sie Kontore. Trotz aller zeittypischen Gefahren können die größten Geldhändler des 14. Jahrhunderts rückblickend als vergleichsweise solide Geschäftsleute er-
König Edward trieb die Banken in den Ruin. scheinen – gemessen jedenfalls an manchen Gewinnerwartungen gegenwärtiger Banken. Die durchschnittliche Peruzzi-Rendite auf das gesamte eingesetzte Kapital schätzt Historiker de Roover auf zehn bis zwölf Prozent – weniger als die Hälfte des erklärten Renditeziels von Josef Ackermann im Jahr 2009. Der Chef der Deutschen Bank hat erst kürzlich, ungerührt vom internationalen Finanzdesaster, seine Gewinnvorstellungen von 25 Prozent bekräftigt. Die Peruzzi und Bardi allerdings bewahrten auch ihr großer Geschäftsumfang und ihre Filialisierung nicht vor dem Bankrott. Gerade die kommerzielle Überdehnung trug einiges zu ihrem Scheitern bei. Den entscheidenden Schlag aber versetzte den Florentiner „Säulen des christlichen Handels“ die Zahlungsunfähigkeit ihres größten Schuldners: Englands König Edward III., der seit 1337 in den hundertjährigen Krieg gegen Frankreich verstrickt war, konnte seine Kredite nicht mehr bedienen. 1343 erwischte es die Peruzzi, 1346 die Bardi. Es waren die spektakulärsten Bankenpleiten des Mittelalters.
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WIE ES WIRKLICH WAR
Christen umgingen das Zinsverbot, Juden wurden stigmatisiert.
SÜNDIGE GESCHÄFTE „Dreitausend Dukaten – gut.“
Shakespeares Hauptquelle war der Schon im ersten Satz, mit dem der jüdische Wucherer in einer italienijüdische Geldverleiher Shylock im schen Novelle aus dem späten 14. „Kaufmann von Venedig“ vorgestellt Jahrhundert. Zu dieser Zeit war der wird, geht es um Geld. Und kaum Geldmarkt in Mitteleuropa hart umist dieser Satz gefallen, macht Autor kämpft. Ein jüdisches Monopol gab William Shakespeare das Publikum mit der niederträchtigen Bedingung bekannt, die sein Kaufmann Antonio hinnehmen muss, um an das Geld zu kommen: Ein Pfund Fleisch soll Shylock bei Nichtzurückzahlung aus Antonios Leib schneiden dürfen. Im Jahr 1605 fielen Shylocks Eingangsworte das erste Mal vor Publikum. Sie enthielten bereits alles, was an Juden abstoßend erscheint, glaubt der amerikanische Schriftsteller Philip Roth, selbst jüdischer Herkunft. Die Worte, so Roth, hätWucherer ten zur jahrhundertelangen und Teufel Stigmatisierung der Juden (Kathedrale beigetragen. Kaum eine Fivon Chartres) gur hat sich in der europäischen Imagination so festgesetzt wie der erbarmungslose jüdische Wucherer. Kaum ein Stereotyp wird so grenzübergreifend verstanden. Verfolgung und Vernichtung der Juden waren stets eng mit diesem Bild verbunden. Dabei taugt Shakespeares Geldhändler bei genauer Lektüre nicht zur antisemitischen es nicht, wenn auch israelitische Blaupause. Er ist zu komplex und Geldhändler nicht selten waren. Juwidersprüchlich. Denn der Dramati- den durften nach dem Talmud, ihrer ker befreit sein Geschöpf in einem religiösen Lehre, zwar nicht unter Schlüsselmoment des Stücks aus dem sich, wohl aber von Christen Zinsen Käfig des Klischees. Er entdämoni- nehmen. Das verschaffte ihnen eine siert es – und bringt Shylock den Sonderstellung in der von der mächZuschauern als ihresgleichen nah: tigen katholischen Kirche geprägten „Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir mittelalterlichen Gesellschaft, in der nicht? Wenn ihr uns vergiftet, ster- Zins als Sünde galt und verboten war. Zudem war der Geldhandel eine der ben wir nicht?“
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wenigen Berufsnischen, die den Juden überhaupt noch geblieben waren. Seit dem Ersten Kreuzzug von 1096 herrschte eine latente Pogromstimmung gegen sie. Schon länger waren sie aus den Zünften ausgeschlossen und schrittweise entrechtet worden. Es blieb die Finanzbranche – wofür sie dann auch noch stigmatisiert wurden. Dennoch hatten die Juden starke christliche Konkurrenz. In der Praxis blieb nämlich das Zinsverbot oft wirkungslos, auch wenn es unter Karl dem Großen sogar säkulares Recht geworden war und durch Konzilsbeschlüsse und päpstliche Dekrete im 12. und 13. Jahrhundert immer wieder verschärft wurde. „Das war wie im Bankensektor kurz vor der momentanen Krise – es hat sich kaum jemand an die Regeln gehalten“, sagt der Wirtschaftshistoriker Winfried Reichert. „Das Verbot wurde umgangen, der Zins etwa nur anders genannt.“ Er wurde als Entschädigung verpackt oder als Disagio verschleiert. Später wurde das Kreditbedürfnis so stark, dass Kirchenjuristen mit allerlei Rabulistik eine „Entschädigung“ des Geldgebers rechtfertigten. Die Verstöße gegen das kirchliche Zinsverbot begannen früh. Bereits im 4. Jahrhundert hatte die junge christliche Kirche ihren Klerikern das Zinsnehmen untersagt – und musste sie in der Folge immer wieder an das Verbot erinnern. Durch die zunehmende Monetarisierung des Handels nach der Jahrtausendwende hatte die kirchliche Agitation gegen Zinsgeschäfte noch ein-
SPIEGEL GESCHICHTE
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DER AUFSTIEG DES KAPITALS
mal Auftrieb bekommen. Der Kirchenlehrer Thomas von Aquin sah den Grund der Zinssünde darin, dass gegen Gottes Willen ohne Arbeit und nur mit der Zeit Geld verdient werde. Doch an Königshöfen, in der Aristokratie und im Klerus wuchs der Finanzbedarf. Und statt Silber und Schmuck einzuschmelzen, lag es näher, sich fehlendes Geld von Kaufleuten vorstrecken zu lassen. Zwischen Rhein und Maas füllten diese Lücke vor allem die sogenannten Lombarden, die allerdings meist aus dem Piemont kamen. Die italienischen Frühkapitalisten gründeten Hunderte von Pfandleihbanken – und ihr Geschäft hat im Geldhandel bis heute Spuren hinterlassen. So geht beispielsweise der „Lombardsatz“, zu dem die Zentralbanken Geld verleihen, auf sie zurück. Zwar waren die Lombarden ähnlich schlecht angesehen wie die Juden. Ihre Kenntnisse im Wechsel- und Kreditgeschäft waren aber so ausgereift, dass an ihren mächtigen Gesellschaften kaum ein Kunde vorbeikam. Die Könige von Frankreich und England, Fürsten, Bischöfe, Äbte und Päpste ließen ihr Vermögen von Lombarden verwalten. Der damals übliche Zinssatz schwankte zwischen 10 und 16 Prozent – und konnte bei Verzug auf 50 Prozent, ja bis über 100 Prozent steigen. Während die jüdischen Händler etwa in Flandern stets in der Minderheit waren, nahm ihr Anteil Richtung Osten zu. Vor allem in Polen, Böhmen und Ungarn waren sie stark vertreten. Mehrere Faktoren trugen dazu bei, dass sich Juden auf den Geldverleih spezialisierten. Beim Verkauf und selbst bei der zwangsweisen Auflösung ihrer Besitztümer etwa durch Ausweisungen hatten manche von ihnen beträchtliche Vermögen erzielt. Etliche waren am Transport von Gold und Silber aus den Bergwerken der islamischen Länder und Afrikas beteiligt. Andere importierten Luxusgüter für europäische Adlige oder Geistliche aus dem Orient. Ihr Schicksal war immer von der Stimmung des jeweiligen Schutzherrn abhängig. Während etwa Friedrich I. Barbarossa (1152 bis 1190) seinen Juden völlige Freiheit im Geldhandel zu-
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gestand, ließ König Ludwig IX. („Der Heilige“) von Frankreich (1226 bis 1270) bei seinen Untertanen Umfragen über deren Klagen gegen Juden durchführen. Ludwigs Judenhass war berüchtigt, und er versuchte, jüdische Zinsnehmer aus dem Land zu jagen – obwohl ihm einige seiner Berater versichert hatten, dass ohne Geldleihe weder das Land bebaut noch nennenswert Handel betrieben werden könne. Wenn Machthaber Juden ansiedelten, geschah das selten aus Toleranz. Es sei gewissen weltlichen Herrschern unangenehm, selbst Zinsen zu kassieren, schrieb Papst Innozenz III. im Jahr 1208. Deshalb holten sie Juden in ihre Dörfer und Städte, „um sie für das Kassieren der Zinsen in ihren Dienst zu nehmen, diese peinigen dann bedenkenlos Gottes Kirchen und die Armen Christi“. Die soziale Brisanz der Zinsfrage zeigte sich im 14. Jahrhundert besonders in Trier, das lange vergebens versuchte, sich aus klerikaler Herrschaft zu befreien und reichsunmittelbare Stadt zu werden. Erzbischof Balduin von Luxemburg (1307 bis 1354) provozierte mit seiner jüdisch geprägten Finanzverwaltung scharfe Kritik. Die Stadtgemeinde klagte, der Erzbischof lasse nicht einmal Gerichtsbeschwerden gegen jüdische Wucherer zu, wodurch viele Bürger in Verderbnis gestürzt worden seien. Dagegen hatte Balduin einer christlichen Wucherin das Begräbnis verweigert, was die Bürger so aufbrachte, dass sie es mit Gewalt durchsetzten. Nach den Pestpogromen Mitte des 14. Jahrhunderts verebbten die finanziellen Aktivitäten der Juden mehr und mehr – bis sie 1419 für hundert Jahre aus dem Erzstift ausgewiesen wurden. Die andere Randgruppe der Finanzdienstleister, die Lombarden, hatte weniger zu leiden: Auf dem Sterbebett wurden sie fromm und schickten Wagenladungen voller Geld symbolisch gen Himmel – damals die gängige Spendenpraxis. „Die Kirche“, so Historiker Reichert, „war zu der Zeit nicht weniger geschäftstüchtig als heute.“ Und das Seelenheil am Ende nur eine Frage der Finanzierung. Nils Klawitter
dynastien als Bankiers. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts waren die Florentiner Bankhäuser der Familien Peruzzi und Bardi die weltweit größten Unternehmen – „die Säulen des christlichen Handels“, wie sie ein italienischer Historiker nannte. Als reichste Bankiers ihrer Ära übertrafen sie sogar die ihnen folgenden, legendären Medici; in Sachen Nachruhm sollten die Medici allerdings aufgrund ihrer politischen Rolle und ihres kulturellen Renaissance-Nimbus die Vorgänger überstrahlen. Wirtschaftsgeschichtler sehen in den Peruzzi und Bardi eher Unternehmenskonglomerate („super companies“) ihrer Epoche als reine Banken: Der Warenhandel machte einen Großteil ihrer Geschäfte aus, in vielen Teilen Europas unterhielten sie Kontore. Trotz aller zeittypischen Gefahren können die größten Geldhändler des 14. Jahrhunderts rückblickend als vergleichsweise solide Geschäftsleute er-
König Edward trieb die Banken in den Ruin. scheinen – gemessen jedenfalls an manchen Gewinnerwartungen gegenwärtiger Banken. Die durchschnittliche Peruzzi-Rendite auf das gesamte eingesetzte Kapital schätzt Historiker de Roover auf zehn bis zwölf Prozent – weniger als die Hälfte des erklärten Renditeziels von Josef Ackermann im Jahr 2009. Der Chef der Deutschen Bank hat erst kürzlich, ungerührt vom internationalen Finanzdesaster, seine Gewinnvorstellungen von 25 Prozent bekräftigt. Die Peruzzi und Bardi allerdings bewahrten auch ihr großer Geschäftsumfang und ihre Filialisierung nicht vor dem Bankrott. Gerade die kommerzielle Überdehnung trug einiges zu ihrem Scheitern bei. Den entscheidenden Schlag aber versetzte den Florentiner „Säulen des christlichen Handels“ die Zahlungsunfähigkeit ihres größten Schuldners: Englands König Edward III., der seit 1337 in den hundertjährigen Krieg gegen Frankreich verstrickt war, konnte seine Kredite nicht mehr bedienen. 1343 erwischte es die Peruzzi, 1346 die Bardi. Es waren die spektakulärsten Bankenpleiten des Mittelalters.
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DER AUFSTIEG DES KAPITALS
Filialen im In- und Ausland, riskante Jumbo-Kredite und hochspekulative Anlagen – das Firmengeflecht der Medici ähnelte schon vor fast 600 Jahren in manchem einer heutigen Großbank.
Glanz und Niedergang einer Geld-Dynastie Von HANS-JÜRGEN SCHLAMP
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terkreuz eines Hauses am Strick, sein Bruder im Nebenfenster. Ihre Söldner wurden aus den Fenstern umstehender Häuser auf die Piazza della Signoria geworfen – und dort von einem entfesselten Mob in Stücke gehackt. Andere Leichname wurden, wie ein Florentiner Tagebuchschreiber notierte, an die Flügelfenster des Rathauses gelehnt, „wo sie, nackt und aufrecht, stehenblieben und aussahen wie nach dem Leben gemalte Porträts“. Wieder einmal hatten die Medici, die größten Überlebenskünstler des späten italienischen Mittelalters und der Renaissance, ihre Macht gerettet. Über drei Jahrhunderte lang beherrschte diese Familie Florenz. Sie machte den kleinen toskanischen Stadtstaat zu einem der damals wichtigsten europäischen Handels- und Kulturzentren – und bereicherte sich dabei schamlos aus den öffentlichen Kassen. Voltaire rühmte sie als „Urheber einer kulturellen Blütezeit“. Der Dichter Vittorio Alfieri verdammte sie dagegen als „Meuchelmörder des demokratischen Volksgeistes“. Niccolò Machiavelli hat ihre Geschichte aufgeschrieben. Es ist ein Lehrbuch geworden, wie man klug, kaltblütig und skrupellos die Macht erobert und verteidigt. Überliefert ist, dass die Töchter der Medici mit Königen vermählt wurden, obwohl sie von sprichwörtlicher Hässlichkeit waren. Von den Söhnen der Dynastie wurden die schlichteren Gemüter Kardinäle oder Päpste, die klügeren Ban-
kiers. Schon Lorenzos Großvater Cosimo der Ältere (1389 bis 1464) galt als reichster Mann Europas, seine Bank damals als größtes Geldhaus aller Zeiten. Nicht als Fürsten, Kardinäle oder Kriegsherren wurden die Medici mächtig, sondern als Finanzunternehmer.
Alles, was eine Großbank heute ausmacht, konnte ihr Konzern schon vor fast 600 Jahren anbieten: Filialen in Metropolen des In- und Auslands, bargeldlosen Zahlungsverkehr, Überweisungen bis in entlegene Regionen, hochspekulative Papiere für Zocker. Und geringe Skrupel: Die Medici finanzierten europäische Päpste und Könige – und, wenn es profitabel war, auch deren Kontrahenten in Konstantinopel und Damaskus. Die Urväter der Sippe sind vermutlich als Ärzte, italienisch: „medici“, aus der toskanischen Provinz nach Florenz gekommen. Im 12. und 13. Jahrhundert schieben sie sich aus der bürgerlichen Namenlosigkeit nach oben. Da taucht etwa 1220 ein „Ritter Johann de Medicis“ in den Dokumenten auf, dessen Familienname damals noch lateinisch dekliniert wird. 1230 wird ein „Stadtvogt Averardo de Medici“ aus Lucca erwähnt. Dessen Enkel, auch der heißt Averardo, eröffnet in Florenz ein Geldwechselgeschäft nebst Pfandleihe und wird dabei wohlhabend. Sein Sohn Giovanni, 1368 geboren, macht daraus ein Wirtschaftsimperium. Besonders angesehen ist die Sippe der Medici deshalb nicht. Sie sei „als
Nach dem Mordversuch begann der Rachefeldzug.
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BRIDGEMANART.COM (O. L. + U. L.); PICTURE-ALLIANCE / DPA / MAXPPP (O. R.); TED SPIEGEL / CORBIS (U. R.)
N
ach Tagen der Folter, den Tod vor Augen, legte der Söldnerführer Giovan Battista, Graf von Montesecco, ein Geständnis ab: Der Erzbischof von Pisa und der florentinische Bankier Francesco de’ Pazzi hatten ihn für das Komplott angeworben. Die Macht der Medici in Florenz sollte gebrochen, ihr Anführer „Lorenzo der Prächtige“ mitsamt seinem Bruder Giuliano getötet werden. Selbst Papst Sixtus IV. hatte gedrängt: „Ich will, dass Lorenzo die Regierungsgewalt aus den Händen genommen wird, weil er ein Schuft ist und niederträchtig und keinerlei Respekt vor uns hat.“ Der Anschlag wurde auf den 26. April 1478 festgelegt: In der Stadt standen Monteseccos Söldner bereit, im Dom zu Florenz stürzten sich während der Heiligen Messe Francesco de’ Pazzi und ein Freund, der laut schrie „Hier, du Verräter“, auf Giuliano de’ Medici und stachen ihn nieder. Sekunden später fielen zwei Priester mit langen Messern auch über Lorenzo her, der am anderen Ende des weitläufigen Gotteshauses mit Freunden plauderte. Der erste Stoß streifte ihn am Hals. Lorenzo „gelang es, ein oder zwei weitere Hiebe zu parieren, dann hatten Freunde und Anhänger ihm den Rückweg gesichert“, heißt es in Augenzeugenberichten. Die Flüchtigen eilten zum nahen Palast der Medici und verbarrikadierten sich. Das Volk von Florenz griff nicht ein, sondern wartete ab – bis die Attentäter die Nerven verloren und aufgaben. Schon am Nachmittag begann der blutige Rachefeldzug der Medici: Francesco de’ Pazzi endete in einem Fens-
Das Grabmal des Lorenzo de’ Medici ziert eine Skulptur von Michelangelo.
Cosimo de’ Medici (Gemälde von Jacopo Pontormo)
Zeremonie zur Hochzeit der Medici-Tochter Marie mit dem französischen König Henri IV. im Oktober 1600 in Florenz (Gemälde von Peter Paul Rubens)
Medici-Münzen, geheime Journale der Medici-Bank
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chronisch unzuverlässig abgestempelt“ und „ihres unfriedfertigen Sozialverhaltens wegen breiteren Kreisen, speziell den unteren Schichten, suspekt“ gewesen, schreibt der Geschichtsprofessor Volker Reinhardt. Daran ändern auch noble Eheschließungen nichts. Giovanni verheiratet seinen ältesten Sohn Cosimo mit Contessina de Bardi di Vernio, Tochter einer alten, aber im Bankenkrach von 1346 verarmten Bankiersfamilie. Die noble Dame feilscht bei jedem Bäcker und jedem Metzger unnachgiebig um Rabatte – auch als ihr Gatte längst der reichste Mann Europas geworden ist.
Fleißig, geschickt und erfolgreich baut erst Giovanni und dann Sohn Cosimo die Bank aus. Sie kreditieren Händler und Kriegsherren in Italien, Ungarn, Deutschland, Frankreich. Ihr Hauptgeschäft aber machen sie mit der Kurie in Rom. Da geht es in jenen Zeiten drunter und drüber, neben Päpsten gibt es Gegenpäpste, einmal sogar drei Heilige Väter gleichzeitig. Den Medici ist jeder recht, aber manche sind ihnen besonders lieb. Als Baldassare Cossa 1410 Papst Johannes XXIII. wird (die Amtskirche führt ihn später als Gegenpapst, so dass es im 20. Jahrhundert noch einen Johannes XXIII. geben konnte), kommt ein alter Freund des Hauses Medici an die Spitze des Kirchenstaates. Nun avanciert die Familie zu den ersten Bankiers des
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Vatikans. Kein lukratives Geschäft läuft mehr an ihr vorbei. Auch als Johannes 1415 abgesetzt wird, ändert sich daran nichts. Es folgen Benedikt XIII. und Martin V. Vor allem Martin braucht mehr Geld für seinen Lebensstil, als die Steuerzahler des Kirchenstaates und die spendenfreudigen Rom-Pilger aufbringen können. Andere Kirchenobere haben dagegen viel zu viel Geld, wollen es investieren. Giovanni und Cosimo finanzieren mit den Anlagen der einen die Kredite der anderen und verdienen dabei üppig.
Lorenzo de’ Medici (Gemälde von Giorgio Vasari)
Ob an den wichtigen Handelsplätzen oder dort, wo die christliche Geistlichkeit sich zum Konzil versammelt – die Medici sind mit ihren Zweigstellen vor Ort. Solche Bankfilialen kommen in jenen Zeiten mit wenig Personal aus. Die Basler beispielsweise wird von einem leitenden Angestellten geführt, dem „Faktor“. Einige junge Leute, „giovani“, sind für den Transport von Wertsachen, für Sekretariats- und Buchhaltungsarbeiten zuständig. Dazu gibt es natürlich einen Diener und einen Koch. Jede Filiale schickt regelmäßig Bilanzen nach Florenz, in denen der Verantwortliche für jedes Geschäft vermerkt ist – wenn es schiefläuft, wird er zur Rechenschaft gezogen. Außerdem schreiben die Filialleiter den Medici sogenannte „lettere private“, vertrauliche Mitteilungen über private, wirtschaftliche und politische Vorgänge. So ist die Konzernzentrale in Florenz immer gut darüber informiert, was Europas Mächtige umtreibt. Die heiklen Stellen dieser oft hochbrisanten Informationen werden mit einem Namenscode verschlüsselt: „Gioioso“ habe mit „78“ gebrochen, heißt es da beispielsweise. Zinsen durfte eine Bank offiziell nicht nehmen, weil die Kirche den „Zinswucher“ grundsätzlich verboten hatte. Großanleger wurden deshalb mit einem bestimmten Prozentsatz am Gewinn der mit ihrem Geld getätigten Investition beteiligt. Bei Anlagen, die ohne Risiko wachsen
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DER AUFSTIEG DES KAPITALS
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Vieles von der Pracht und dem kulturellen Reichtum in Florenz geht auf die oft brutale, mehr als drei Jahrhunderte währende Herrschaft der Medici zurück.
sollten, wurden die Zinsen in der Buch- vanni de’ Medici 1429 starb, ging „nicht haltung versteckt: Anlagebeträge und nur der größte ‚Wechselherr‘ Italiens, Darlehen wurden einfach entsprechend einer der reichsten Kaufleute von Florenz ins Grab“, so der Leipziger Wirterhöht eingetragen. Auch spekuliert wurde schon kräftig. schaftshistoriker Otto Meltzing, „sonEtwa mit einem „lettera di cambio“, ei- dern auch der anerkannte Führer einer nem Wechselbrief, der eigentlich ein politischen Partei, mit der der Name MeWarengeschäft absicherte oder wie ein dici von nun an eng verknüpft war“. Reisescheck benutzt wurde. So kaufte zum Beispiel am 21. August 1436 ein ge- Etwa alle fünf Jahre durfte rund ein wisser Giovanni Amelonch in Basel eine Fünftel der volljährigen männlichen Flo„lettera“ für 100 florentinische Gold- rentiner, nämlich vor allem die vermünzen und löste sie am 20. September gleichsweise Wohlhabenden, diejenigen in Venedig in die dort umlaufende benennen, die zur politischen Klasse Währung ein. Auf den dabei aktuell geltenden Wechselkurs Die Pazzi-Verschwörung konnte man natürlich auch speam 26. April 1478 kulieren, ohne zu verreisen. (Stich aus dem 19. Jh.) Dumm für die Bankiers dieser Zeit war, wenn ein Papst oder ein Fürst aus dem Amt gejagt wurde – meist ging dann der ausstehende Kredit verloren. So hüteten sich kluge Bankiers, einzelnen Kunden allzu große Darlehen zu geben. Und die meisten Geldhäuser waren zur Absicherung noch anderweitig aktiv. So produzierten die Medici auch Stoffe und verkauften Farben und Gewürze. Zugleich mischten sie immer stärker in der Politik mit. Während die bis dahin vorherrschenden, meist adligen Familien versuchten, nachwachsende Konkurrenz mit willkürlicher Besteuerung klein zu halten, sahen Kleinbürger und Handwerker die neuen Großkaufleute, die nicht zur regierenden Oligarchie gehörten, als Verbündete an. Als Gio-
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gehören sollten. Aus ihr etablierte sich dann die Stadtregierung „Signoria“. Am 5. September 1433 wollten die MediciGegner, angeführt von Rinaldo degli Albizzi, für die diese „Wahlen“ zur Signoria gut gelaufen waren, dem Aufstieg der Medici ein Ende setzen. Während einer Beratung der Bürgerschaft im heutigen Palazzo Vecchio ließ Albizzi Cosimo de’ Medici verhaften. Der schrieb in sein Tagebuch: „Nach einiger Zeit (im Stadtpalast) wurde ich von der Signoria aufgefordert, mich ins obere Stockwerk zu begeben, wo ich vom Hauptmann der städtischen Wache in eine ‚Barberia‘ genannte Gefängniszelle eingeschlossen wurde.“ Durch „Volksbeschluss“ wurde er zunächst auf fünf Jahre, später auf zehn Jahre nach Padua verbannt. Gnädig gewährte man ihm bald die Bitte, die Verbannung in Venedig zu verbüßen. Cosimo notierte: „Die Gegner wollten uns in den Bankrott treiben, doch ihr Plan scheiterte. Auswärtige Kaufleute und Herrscher boten uns eine große Geldsumme.“ In Florenz dagegen wurde das Geld knapp. Viele kleine Händler, die von ihren Geschäftsbeziehungen zu den Medici gelebt hatten, verloren ihre Einnahmequelle. Handwerker, die in den Tuchund Seidenmanufakturen der Medici gearbeitet hatten, fanden keine Arbeit mehr. Die Stimmung der Bevölkerung sank, das Ansehen der Medici-Gegner fiel auf null – nach einem Jahr, am 6. Ok-
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DER AUFSTIEG DES KAPITALS
Wann immer Krieg drohte – und der drohte damals häufig –, schoss Cosimo der Staatskasse Geld zur Bezahlung der Söldner zu. Das linderte die Steuerlast der Mittel- und Oberschichten und stellte diese ruhig. Großzügig vergab Cosimo Darlehen, oft zinslos, und machte damit viele einflussreiche Bürger von sich abhängig. Machiavelli erkannte: „Hinter dem Rücken des Staates gewinnt man Bekanntheit und Beliebtheit, indem man dem einen oder anderen Bürger Gunst erweist, ihn gegen die Behörden schützt, ihm Geld gibt oder zu Ämtern verhilft, die er nicht verdient hat.“ Familien, die gegen ihn waren oder ihm wegen ihres Vermögens gefährlich werden konnten, ließ der Medici-Patriarch dagegen mit einer „Progressivsteuer“ ausbluten. „Es ist ganz unglaublich, wie viel von einzelnen Familien erhoben wurde“, staunte der Wirtschaftshistoriker Meltzing, Familien, „von denen einige gänzlich verarmten und im Elend verkamen, während andere, besonders handelstreibende Geschlechter, es vorzogen, Florenz zu verlassen“. 1464 starb Cosimo. Sein einziger überlebender Sohn Piero führte die Geschäfte weiter – meistens vom Bett aus. Denn er erbte vom Vater nicht nur das Vermögen, sondern auch die Gicht. Er konnte kaum laufen und stehen. „Piero
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sich gegen den Versuch Lorenzos, seinem Sohn Giovanni die Kardinalswürde zu verschaffen. Im Gegenzug versuchte Lorenzo zu verhindern, dass Sixtus IV. einem seiner Verwandten die Herrschaft von Imola verschaffte. Daraufhin entzog der Papst den Medici die vatikanischen Finanzgeschäfte – und, als das alles nichts half, schickte er 1478 Attentäter nach Florenz, zumindest ermunterte er sie nach Kräften. Der Rachefeldzug der Medici endete für beide Seiten böse: Nach zwei Jahren Krieg war die Dynastie ärmer und der Papst nahezu pleite. Man raufte sich wieder zusammen, und 1483 bekam Lorenzo gegen Bargeld Anteile am Viehzoll- und Salzsteueraufkommen im Kirchenstaat. Noch ehe der Sixtus-Nachfolger Innocenz VIII. den Kirchenthron bestieg, war auch er bei den Medici hoch verschuldet: Die standesgemäße Beerdigung seines Vorgängers hatte die Kirche nur auf Pump in Szene setzen können. Auch Innocenz war ständig in Geldnot und borgte Unsummen bei den Medici. Er verscherbelte kircheneigene Juwelen und Schmuck, dennoch blieb seine finanzielle Situation bedrohlich. Angesichts der gewaltigen Summen, mit denen das Bankhaus jonglierte, war der Medici-Konzern ständig existentiell bedroht. So etwa 1483 nach dem Tod des französischen Königs Ludwig XI.: Die Florentiner Geldherren blieben nicht nur auf ungedeckten Krediten sitzen. Zahlreiche Hofbeamte forderten plötzlich ihre Einlagen zurück und entzogen der Bank Summen, die diese gar nicht hatte. Lorenzo setzte die Erbschaften seiner minderjährigen Verwandten ein und verkaufte seinen Mailänder Palast, um an Bargeld zu kommen. Und er griff immer tiefer in die Staatskasse.
Medici-Villa in Rom
Cosimo wurde „der Pate von Florenz“. der Gichtige“ hieß er in der Stadt. Nach dem gewaltigen, oft auch riskanten Aufstieg des Vaters setzte er auf Stabilität. Das Haus Medici wünsche, schrieb er etwa 1469 an seinen Agenten in Brügge, „das Geschäft zu betreiben, um sein Vermögen, seinen Kredit und seine Ehre zu erhalten, nicht aber, um auf riskante Weise sich zu bereichern“. Aber da war es schon zu spät. Nach fünf Jahren an der Spitze des Medici-Clans starb Piero. Eine Vermögensaufstellung aus jener Zeit zeigt, dass sich die Besitztümer der Medici in den knapp 30 Jahren unter Cosimo und Piero verdoppelt hatten. Ihnen gehörte ein Imperium aus Handelsfirmen, Landbesitz, Häusern, unzähligen Pretiosen und viel, viel Geld. Doch der Höhepunkt ihres ökonomischen Erfolgs war nun überschritten. Dabei war das Unternehmen nach wie vor eine kommerzielle Großmacht. Es wickelte die Finanzgeschäfte vieler Herrscherhäuser ab und fungierte als erstes Bankhaus der Christenheit. Als Cosimos Enkel Lorenzo (1449 bis 1492), genannt „Il magnifico“ („Der Prächtige“), 1471 nach Rom reiste, um dem neuen Papst Sixtus IV. zu huldigen, überschüttete der ihn mit Geschenken und machte ihn zum apostolischen Schatzmeister. Aber die Koexistenz hielt nicht lange. Sixtus bemühte sich, seinen zahlreichen Verwandten lukrative Jobs zu verschaffen und seinen Kirchenstaat auszudehnen. Der Florentiner Lorenzo wollte dagegen die Macht der Kurie eingrenzen. Das Klima kühlte ab. Der Papst sperrte
Nach Lorenzos Ableben im Jahr 1492 hatten die Medici als kommerzielle Großmacht, „als erstes Handelshaus der Christenheit“, so der Historiker Meltzing, „ausgespielt für immer“. Noch gut 200 Jahre lang dominierten sie wenigstens die Stadt Florenz. Zweimal noch schafften es Söhne der Familie sogar auf den Papst-Thron – der eine 1513 als Leo X., der andere 1523 als Clemens VII. Aber als das Geschlecht der Medici im Jahr 1737 schließlich ausstarb, war sein alter Glanz längst Geschichte.
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tober 1434, kehrte Cosimo wieder nach Florenz zurück. Rinaldo degli Albizzi wurde ins Exil geschickt, und Cosimo übernahm wieder die Macht in seiner Vaterstadt. „Nun war die Kommune zum Exklusivbesitz einer Interessengruppe geworden“, analysiert der Historiker Reinhardt. Und Cosimo wurde „der Pate von Florenz“. Dem verbreiteten Eindruck, die Republik verkomme zur Tyrannei, trat er mit massiver Propaganda entgegen. In den Kunstwerken, die Cosimo in Auftrag gab, wurde er bis ins Abstruse verherrlicht: so etwa als einer der Heiligen Drei Könige im Konvent von S. Marco, als Retter vor der Sintflut im Kreuzgang von S. Maria Novella. Andere große Familien eiferten den Medici nach. In Florenz wurde in Paläste, Statuen, Fresken investiert wie nirgendwo sonst. In der Stadt, die 1434 mit etwa 40 000 Einwohnern zu den großen urbanen Zentren Europas zählte, arbeiteten Donatello, Leonardo da Vinci, der junge Michelangelo und viele weitere Spitzenkünstler jener Zeit.
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Geschäfte in „Mayland“ und „Lisbona“: Jakob Fugger in seinem Kontor (Buchillustration, 1518)
DER AUFSTIEG DES KAPITALS Verschiffung von Handelsgütern (Farblithografie von Franz Bukacz, um 1909)
Die Fugger waren die erfolgreichsten Bankiers im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Jakob Fugger der Jüngere erwarb so viel Reichtum und Macht, dass selbst Monarchen vor ihm einknickten.
Schmiergeld für den Kaiser Von KAREN ANDRESEN
FOTOS: AKG
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ie Ehe versprach beste Perspektiven. Maria, die Auserwählte, war Tochter des Herzogs von Burgund und damit Erbin eines Landes, das von Dijon bis nach Brüssel reichte. Sein „kostbarstes Juwel“ nannte Karl der Kühne voller Stolz das hübsche Kind. Da machte es sich gar nicht gut, dass der junge Freier, Maximilian von Habsburg, aus einem Herrschergeschlecht stammte, das ständig über seine Verhältnisse lebte. Selbst bei Metzgern, Bäckern und Kramern hatte der Vater des
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jungen Thronfolgers, Kaiser Friedrich III., Schulden. An die Ausstattung des einzigen Sohnes für eine standesgemäße Brautwerbung war da gar nicht zu denken, wenigstens nicht ohne beträchtliche Geldspritzen. Kredite kamen in jener Zeit häufig aus dem reichen Augsburg, aber diesmal verschlossen die finanzstarken Familien ihre Schatullen vor dem verschwenderischen Monarchen. Augsburg war, als das Haus Habsburg 1473 um die schöne Maria warb, eine aufstrebende Kommune im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.
König Rudolf von Habsburg hatte sie 1276 zur reichsunmittelbaren „Freien Stadt“ gemacht und sie damit direkt seiner Herrschaft unterstellt. Neben Köln und Nürnberg zählte die Stadt am Lech zu den wichtigsten Handelszentren Deutschlands, ihre Kaufmannsfamilien – die Welser, die Rehlinger oder die Fugger – waren über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Während die Welser und die Rehlinger auch zum Patriziat, also zur alteingesessenen höchsten ständischen Gruppe der Reichsstadt gehörten und damit die Geschicke der Kommune bestimm-
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ten, waren die Fugger noch dabei, sich von unten hochzuarbeiten. Der erste Fugger, der in Augsburg sein Glück versuchte, war Hans, ein Weber aus dem nahegelegenen Dorf Graben. 1367 vermerkt das Steuerbuch „Fukker advenit“ – Fugger ist angekommen. Damit begann der Aufstieg einer Familie, die als Händler und Bankiers mehr als alle anderen das Zeitalter des Frühkapitalismus prägte. Kaiser, Könige und die Kurie waren von ihren Finanzoperationen abhängig, ihr feingesponnenes internationa-
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les Handelsnetz machte sie zu frühen Globalisierern. Schon Mitte des 15. Jahrhunderts waren aus der Weberfamilie einflussreiche Kaufleute geworden, die mit wertvollen Tuchen und exotischen Gewürzen handelten und Niederlassungen in Nürnberg und Venedig unterhielten. An der Spitze des Betriebs stand nun Ulrich, ein Enkel des Augsburger Firmengründers, und der erkannte, dass es sich durchaus lohnen könnte, den klammen Habsburgern aus der Klemme zu helfen. Also beschloss er, die hohen Herr-
schaften auf seine Kosten in feinstes Tuch zu kleiden und auch sonst dafür zu sorgen, dass es dem jungen Maximilian bei der Brautwerbung an nichts fehlte.
Als Gegenleistung gewährte der Habsburger Kaiser Ulrich Fugger und dessen Brüdern „ohn alle Bezahlung frei geschenkt und verehrt“ das Recht, ein Familienwappen zu führen. Dieses Wappen, mit einer blauen und einer goldenen Lilie verziert, findet sich bis heute an den Fuggerschen Anwesen und Institutionen. SPIEGEL GESCHICHTE
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Karl V. zu Besuch im Hause Fugger in Augsburg. Im Kamin verbrennt Anton Fugger Schuldverschreibungen des Herrschers. (Gemälde von Wilhelm Toller, 1871)
1490 war der verschwenderische Mann pleite und musste seine Herrschaft über Tirol an seinen Verwandten Maximilian I. abtreten. Das aber war jener Maximilian, dessen Brautwerbung Ulrich Fugger 17 Jahre zuvor ausgestattet hatte – für die finanzielle Zukunft der Augsburger war gesorgt.
Bereits im Jahr darauf nahm Maximilian einen ersten großen Kredit bei der Familie auf und bot zum Ausgleich seiner Schulden wiederum Silber an. Es war der Beginn ausgedehnter Geldgeschäfte. Die Fugger finanzierten den Aufstieg des Habsburgers zum Kaiser, beglichen seine Schulden, bezahlten seine Beamten und seine Kriege. Als Gegenleistung erhielten sie außer Silber zunehmend auch Kupfer, das sich zur Herstellung von Töpfen und Pfannen, aber auch Waffen, steigender Nachfrage erfreute. Und als sie schließlich von Metallen genug hatten, gingen ausgedehnte Ländereien in ihren Besitz über.
SOTHEBY'S / AKG
Der Konzern reichte von Ungarn bis Spanien.
Wichtiger noch war: Fuggers Gefälligkeiten für Friedrich III. begründeten eine Finanzbeziehung, die über zwei Jahrhunderte währen sollte. Der Nächste, bei dem sich die Augsburger mit ihrem Kapital unentbehrlich machten, war Sigismund, der Erzherzog von Tirol. Der „Münzreiche“ wurde er genannt, was aber nichts daran änderte, dass der Mann ständig in Geldnöten war. Zwar gehörten ihm ertragreiche Silbergruben in Tirol, aber weder für seinen aufwendigen Lebensstil noch für seine Feldzüge hatte er die Finanzmittel.
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Die Fugger gaben zunächst kleine und dann immer größere Summen. Verzinst wurden die Darlehen nicht, stattdessen bekam die Familie Silberlieferungen aus den Gruben des Landesherrn. Die Fugger übernahmen das Edelmetall zum Festpreis, um es dann auf dem freien Markt zu verkaufen. Über Gewinnspannen von 15 bis 40 Prozent wussten Konkurrenten und Neider zu berichten. Was für die Augsburger ein vorzügliches Geschäft war, bedeutete für Sigismund den Weg in den Ruin. Im März
Innerhalb von 24 Jahren verzehnfachte sich die Steuerleistung der Firma. Über die wahren Vermögensverhältnisse im Hause Fugger gibt diese Zahl allerdings keine Auskunft, denn die Familie hatte es geschickt verstanden, sich bei der Stadt steuerliche Vorteile zu sichern. Seit 1516 musste sie ihr Vermögen nicht mehr angeben und führte an den Fiskus nur noch Pauschalbeträge ab. Zu verdanken war das Jakob Fugger dem Jüngeren. Der Bruder Ulrich Fuggers hatte schon seit längerem in der Firma die Zügel in der Hand. Ein von Albrecht Dürer gemaltes Porträt zeigt einen selbstwussten Mann mit ernstem Gesicht und kantigem Charakterkopf, darauf eine Kappe aus Seidenbrokat. Unter seiner Ägide stieg die Firma zu einem Konzern auf, der von Skandinavien bis Süditalien, von Ungarn bis Spanien mit allem handelte, was Profit verhieß: Metalle und Textilien, Geld und Gewürze, Pelze und Juwelen. Selbst Stiche Albrecht Dürers vertrieben die Fugger mit Gewinn. Doch die Einnahmen aus den lukrativen Geschäften reichten bei weitem
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nicht aus, um den enormen Finanzbe- Fugger sogar die Zecca, die Münzanstalt der es in Italien zu Macht und Anerkendarf der Habsburger und anderer Herr- des Heiligen Stuhls. Auf Hartgeld aus nung gebracht hatte. Im Mai 1511 wurde Jakob Fugger in scherhäuser zu decken. Die Fugger päpstlicher Prägung fand sich fortan das Handelszeichen der Augsburger, den Adelsstand erhoben. Wie ein abbrauchten Fremdkapital. solutistischer Herrscher führte er seiEiner von denen, die ihr beträcht- Dreizack und Ring. ne Firma, residierte standesgemäß am liches Vermögen, gut verzinst versteht sich, bei ihnen anlegten, war Melchior Bereits 1476 hatte die Firma damit Weinmarkt, mitten in Augsburg, wo er von Meckau, Fürstbischof von Brixen begonnen, auch Servitien und Anna- sich ein prächtiges Wohn- und Geund später Kardinal, ein Mann mit er- ten an die Kurie weiterzuleiten – jene schäftshaus hatte bauen lassen, das mit giebigen Pfründen. Die Geschäfte mit Zwangsabgaben, die in der mittelalterli- seinen Fresken und Arkaden ein wenig dem Gottesmann waren allerdings deli- chen Kirche jeder zahlen musste, der zu italienisch anmutete. Hier empfing er die regierenden kat. Zinsen zu kassieren war nach kano- Ämtern und Pfründen kommen wollte. nischem Recht nicht gestattet und für Als Rom dann seinen Handel mit Ab- Häupter Europas und bewirtete sie einen Kardinal natürlich besonders ver- lassbriefen forcierte, waren die Fugger fürstlich. Von einem „Nachtmahl“ mit werflich. mit ihrem verzweigten Banksystem wie- „20 Essen“, darunter „8 Essen von Fisch“, einer damals beDoch Bankhaus und sonders exquisiten SpeiKirchenmann agierten Reval se, berichtet ein Chronist. mit größter Diskretion, Zusätzlich sorgten Jakob Fugger selbst zeichwertvolle Geschenke danete die Schuldscheine Das Handelsimperium der Fugger Riga Helsingör für, dass die Mächtigen in seines klerikalen GeldgeKirche und Politik den bers. 1509, als Meckau Danzig Interessen des Hauses starb, machten dessen HamFaktoreien London burg gewogen blieben. Hier Einlagen etwa drei VierAgenturen Leipzig Köln ein teurer Pelz für die tel des Fuggerschen GeBerg- und Hüttenwerke Antwerpen Krakau schöne Diplomatengattin, schäftskapitals aus. Ein Handelswege Paris dort ein golddurchwirkter Anteil, der, wie sich Wien Augsburg Stoff für den Herrn Präschnell zeigen sollte, laten. Und für den Kaiser hochriskant war, denn Budapest Lyon in Innsbruck kostbarste Rom beanspruchte nach Venedig Juwelen. Meckaus Tod das Geld des Genua Auch sonst war der Kardinals für sich – und Lissabon Herr des Hauses „Jacob zwar sofort. Die AuszahMadrid Rom Barcelona Fugger und seiner gelung einer so großen SumNeapel brueder süne“ einfallsme auf einmal hätte wohl reich, wenn es darum den Ruin des Bank- und Sevilla Quelle: Großer ging, Macht und Einfluss Handelshauses bedeutet. Historischer Weltatlas; Bayerischer seiner Familie zu sichern, Jakob Fugger hatte die Azoren, Kanarische Inseln, Schulbuch-Verlag Karibik, Venezuela, Indien etwa durch den Unterhalt rettende Idee: Er ließ Maeines weitverzweigten ximilian wissen, dass sein Haus „jählings nicht bei Gelde“ sei, und der gefragt. Schließlich konnten die Nachrichtendienstes. Erste Quelle wader Habsburger wehrte Roms Ansprü- päpstlichen Kassenwarte schlecht selbst ren die Fuggerschen Firmenniederche ab. Die Fugger waren gerettet und durchs Land fahren, um die umstritte- lassungen, die inzwischen wie ein dichtder ewig klamme Maximilian, der es nen Gelder zu kassieren, mit denen sich gewebtes Netz ganz Europa durchsich schon wegen seiner vielen kost- sündige Katholiken von der Hölle oder zogen. In handschriftlichen Notizen, spieligen Feldzüge gar nicht leisten wenigstens vom Fegefeuer freizukaufen „Fuggerzeitungen“ genannt, schilderten die Angestellten ihrem Chef alles, konnte, dass sein Geldgeber pleiteging, hofften. ebenso. Das Geschäft florierte. „Sobald das was sie über missgünstige KonkurrenGanz so tief stand die Kurie bei den Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem ten oder intrigante Herrscher in ErAugsburgern zwar nicht in der Schuld, Fegefeuer springt“, versprach der Do- fahrung bringen konnten. Dazu kaaber auch Rom nahm deren finanzielle minikanermönch Johann Tetzel, der men Informationen bezahlter Agenten. Dienste gern an. Der Papst borgte sich selbst auch mit dem Akquirieren von Ab- Selbst hochgestellte Persönlichkeiten Geld bei ihnen, die anfallenden Zinsen lasszahlungen beschäftigt war. Sogar die waren sich nicht zu schade, Bericht zu ließ er listig als päpstliche Geschenke Sünden Verstorbener wusste Rom noch erstatten. Im Januar 1519 starb Maximilian I., deklarieren. Und auch Anwerbung und in klingende Münze umzuwandeln – für Jakob Fugger erneut eine GelegenSold der Soldaten, aus denen 1506 zum und die Fugger verdienten immer mit. ersten Mal die noch heute bestehende So machten Kaiser und Kurie sie heit, seine Macht zu zeigen. Als NachSchweizergarde des Vatikans formiert schließlich zur ersten Kapitalmacht im folger auf dem Kaiserthron war Karl I. wurde, bezahlten die Fugger. Reich. Die Augsburger seien, befand der im Gespräch, ein Enkel Maximilians, Gleichzeitig war der Kirchenstaat ein Theologe Philipp Melanchthon, „den Herzog von Burgund und König von begieriger Abnehmer Fuggerschen Kup- Medici an die Seite zu stellen“, jenem Spanien. Aber auch die Herrscher Engfers und Silbers. 1509 pachtete Jakob legendären Florentiner Familienclan, lands und Frankreichs, Heinrich VIII.
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WERNER OTTO
und Franz I., hatten Ambitionen, Franz spitze, spielen. Doch diesmal bedurfte es offenbar mehr als nur diskreter HinI. wurde sogar vom Papst unterstützt. Am Ende aber entschied nicht geist- weise. In einem Brief erinnerte Fugger liche Fürsprache, sondern der schnö- den „Allerdurchlauchtigsten, großmächde Mammon, und davon hatte Jakob tigsten Römischen Kaiser“ ganz unverFugger, der in Spanien neue ökonomi- blümt daran, dass er es war, der dem sche Perspektiven witterte und deshalb Monarchen für „eine treffliche Summe Karl I. unterstützte, am meisten zu bie- Geldes“ seinen Thron verschafft hatte. Karl V. verstand, die Klage kam vom ten. Mit horrenden Bestechungssummen, „Handsalben“ genannt, machte er Tisch, und in einem Edikt pries der Kaidie deutschen Kurfürsten dem spani- ser die mächtigen Handelshäuser mit Worten, wie sie sich heute so ähnlich in schen Herrscher gewogen. Auch das andere berühmte Augsbur- mancher Regierungserklärung finden. ger Kaufmannsgeschlecht, die Familie Die großen Gesellschaften seien, so der der Welser, schmierte kräftig mit. Am Monarch, „größte Gabe und Nutzbar28. Juni 1519 wurde der Favorit beider Häuser einstimmig als Karl V. zum deutschen König und künftigen römischen Kaiser gewählt. Doch der Erfolg konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zeiten schwieriger geworden waren. Am 31. Oktober 1517 hatte sich der Augustinermönch Martin Luther mit seinen 95 Thesen gegen Rom und dessen Ablasshandel gewandt. Die Resonanz darauf war überwältigend. Nicht nur in Kirchenkreisen, auch im gemeinen Volk gärte es. Zu Idylle bis heute: viel Unmut hatte sich bei Die „Fuggerei“ Bauern, Handwerkern und in Augsburg Bergleuten aufgestaut, über Leibeigenschaft und Abgabenlast, über Rom, den Klerus und das Handelsmonopol rei- keit“ und sicherten mit ihren Aktivitäten cher Kaufleute. Die „jetzigen Händel Hunderttausenden von Menschen den mit dem Gelde“ seien „unrecht und wi- Lebensunterhalt. der Gott“, befeuerte Luther, Sohn eines Bergmanns, die Wut und fügte hinzu: Die Geschäfte konnten weiterge„Man müsste wirklich dem Fugger und hen, und als Jakob Fugger 66-jährig am dergleichen Gesellschaft einen Zaum ins 30. Dezember 1525 starb, hinterließ er Maul legen.“ seinem Nachfolger und Neffen Anton Sogar in Reichsritterschaft und ein wohlbestelltes Haus. 15,7 Prozent Hochadel fand der Aufstand gegen das durchschnittlichen Jahresgewinn, so haMonopol von Kirche und Kaufleuten Be- ben Historiker ausgerechnet, hatte der fürworter. „Heillose Ablasskrämer“ wie Kaufmann in seinen letzten Lebensjahdie Fugger sollten, so der Reichsritter ren verbuchen können. Ulrich von Hutten, „je eher, je lieber, aus Anton, ein ernster, ein wenig verbitunserem Vaterlande vertrieben werden“. tert wirkender Mann mit schmalem Ge1523 wurde es für die Fugger dann sicht und hoher Stirn, wusste das Erbe wirklich eng: Der Reichsfiskal, der zu bewahren, ja sogar noch zu mehren. höchste Ankläger, verklagte sie und an- Allerdings machten auch ihm die unrudere Augsburger Firmen wegen Mono- higen Zeiten zu schaffen, die schon seipolvergehens. nen Onkel beschäftigt hatten. Wieder ließ Jakob Fugger seine BeIn der Slowakei und in Tirol erhoben ziehungen nach ganz oben, zur Reichs- sich die Bergknappen, überall im Lande
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revoltierten Bauern gegen Leibeigenschaft und Abgabenlast. Aufstände wurden blutig niedergeschlagen. Der Protestantismus breitete sich aus, sehr zum Missfallen der Fugger, die, als Bankhaus des Papstes, ihren katholischen Glauben eisern verteidigten. Als der Kaiser 1546 im Schmalkaldischen Krieg gegen die religiösen Abweichler zu Felde zog, waren es wieder die Fugger, die den Waffengang finanzierten. Doch auch die Kreditgeschäfte mit dem Hof waren längt nicht mehr das, was sie einmal waren, das Kaiserhaus blieb zusehends seine Leistungen schuldig: Kredite wurden nicht zurückgezahlt, was als Sicherheit geboten wurde, war immer weniger wert. Frustriert spielte Anton Fugger gegen Ende seines Lebens mit dem Gedanken, das Geschäft einzustellen. Er habe, ließ er seine Umgebung wissen, „gar keine Lust zu solcher Handlung, also genug davon“. So weit kam es vorerst zwar nicht, die Firma konnte sich noch über den Dreißigjährigen Krieg retten und wurde erst 1658 aufgelöst. Aber die goldene Zeit der Fugger war mit Antons Tod im September 1560 vorbei. Für Nachruhm hatte lange zuvor schon Antons Onkel Jakob gesorgt. 1516, ein Jahr bevor Martin Luther seine 95 Thesen veröffentlichte, beschloss er, in der Augsburger Jakobervorstadt eine Armensiedlung zu bauen, den „fleißigen, doch armen Mitbürgern gestiftet, gewidmet und geweiht“. 52 Häuser, eine Stadt in der Stadt, mit Mauern und Toren, die nachts geschlossen wurden. Wer in der „Fuggerei“ wohnen wollte, musste katholisch sein, pro Jahr einen Rheinischen Gulden – den Wochenlohn eines Tagelöhners – zahlen und täglich „für die Fundatores“ beten. Die Armensiedlung, finanziert aus Stiftungsgeldern der Familie Fugger, existiert noch heute. Nur 88 Cent kostet die jährliche Kaltmiete. Katholisch müssen die Bewohner nach wie vor sein und täglich beten auch, ein Ave Maria, ein Paternoster und ein Credo für jenen Mann, den sie vor 500 Jahren Jakob den Reichen nannten.
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HINTERGRUND
Je intensiver die Menschen Handel trieben, desto mehr Geld brauchten sie und desto schneller musste es umlaufen. Geld zum Anfassen gab es immer weniger.
VOM GOLD ZUR BUCHUNG
Geld – das ist das, womit man bezahlt. Es können Zigaretten sein, wie auf den Schwarzmärkten der Nachkriegszeit. Oder ein Dutzend Eier im Tausch für ein Hufeisen. Alles, was einen Abnehmer findet, kann zu Geld werden. Doch nicht alle Güter finden einen. Das ideale Geld sollte aus einem Stoff sein, der hochgeschätzt ist und viel Wert in geringem Volumen birgt. Er sollte beliebig teilbar und wieder zusammenzufügen und nicht verderblich, ja unvergänglich sein, wie das edelste Metall. Gold und Silber waren deshalb lange Zeit das Geldmaterial schlechthin. Das Geld erfuhr seine Vervollkommnung als Münze: als beidseitig geprägte Metallscheibe. Ihren Wert garantierte der Staat, der auch abgenutzte Stücke ersetzte. Die ersten Münzen entstanden vor 2600 Jahren in den griechischen Handelsstädten der Ägäis. Der Untergang der Alten Welt warf die europäische Wirtschaftsentwicklung zurück (siehe Seite 20). In den ersten Jahrhunderten des Mittelalters ermöglichten Frondienste und Naturaltausch nur einen mageren Güterverkehr. Geld war fast verschwunden. Erst vom 12. Jahrhundert an gewann der Handel wieder an Bedeutung. Über Genua und Venedig gelangten Waren der Levante nach Europa, Wanderkaufleute kamen auf Messen zusammen. Die Bergwerke Mitteleuropas lieferten Silber. Gold kam aus Afrika. Gold und Silber waren ganz besondere Waren – und gleichzeitig Waren wie alle anderen. Damit der Handel blühen konnte, musste eine entsprechende Menge Edelmetall in Umlauf sein. Geld konnte nicht geschöpft werden. Es wurde produziert. Dazu waren Lagerstätten erforderlich, und der Landesherr, der über Minen verfügte, musste den Geldstoff feilbieten. Ein Machtwechsel konnte den Materialstrom versiegen lassen. So ging etwa Venedig in der Mitte des 15. Jahrhunderts das Geld aus – aber nicht aufgrund wirtschaftlicher Verarmung, sondern weil der Rohstoff fehl-
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te, nachdem die Türken die Silberminen in Serbien besetzt hatten. Mit steigendem Handelsvolumen wurde die Geldversorgung schwieriger. So ist die Geschichte des Geldes auch eine Geschichte seiner Substitution durch Kreditmittel. Im 13. Jahrhundert schlossen sich italienische Kaufleute zu Handelsgesellschaften zusammen, gründeten Kontore an mehreren Orten und wickelten ihre Geschäfte häufig bargeldlos per Wechsel ab. Ein Kaufmann konnte sich in Brügge Geld leihen, indem er seinem Geldgeber einen Wechsel gab, bezogen auf seine Bank in Genua. Der Wechselnehmer schickte das Papier an einen Partner in Italien, der den Wechsel bei der Bank einlöste. So vermied man riskante Geldtransporte, die zudem das Geld für die Dauer der Reise brachliegen ließen. Auf die kommerzielle Revolution des 13. Jahrhunderts folgte erneut eine Zeit des ökonomischen Niedergangs. Epidemien und Kriege dezimierten die Bevölkerung Europas bis ins 15. Jahrhundert um ein Drittel, die Münzproduktion verringerte sich um 80 Prozent. Edelmetall floss in den Orient ab. Geld wurde versteckt, um es vor „Verruf“, der Außerkurssetzung und Umtausch in schlechtere Münze, zu retten. Derart betrügerische Währungsreformen zur Aufbesserung der Staatskasse waren gängige Praxis bei den Münzherren. Der Edelmetallgehalt der Münze, das Korn, wurde beständig verringert, das Gesamt- oder Schrotgewicht durch Beimengung von Kupfer erhalten. Das hatte dramatische Folgen: Gutes Geld verschwand. Pfandleihe avancierte zur wichtigsten Kreditform, Schulden wurden auf Kerbhölzern verzeichnet. Um 1500, nach der Entdeckung neuer Silberadern im Erzgebirge, nahm die Münzproduktion einen Aufschwung. Die bedeutendste Silbermünze kam aus der böhmischen Münzstätte Joachimstal. Der Joachimstaler Gulden wurde zum Namenspatron von Taler und Dollar.
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Mitte des 16. Jahrhunderts stießen die Spanier in Mexiko und Peru auf Silber. Bald stiegen die Silberimporte auf jährlich rund 220 Tonnen. Doch Spaniens europäische Handelsbilanz war negativ – das Silber floss auf die Märkte von Genua, Mailand, Rom oder Nürnberg, wo es in lokale Münzen oder zu Schmuck und Tafelsilber verarbeitet wurde. In Spanien kursierten derweil Kupfermünzen. Neue Kredittechniken etablierten sich im Laufe des 16. Jahrhunderts. In Antwerpen wurden Inhaberschuldscheine populär. Der Empfänger eines Schuldscheins nutzte diesen zur Bezahlung anderer Verpflichtungen, der
In England verdrängten im Laufe des 19. Jahrhunderts Aktiengesellschaften die traditionellen Privatbanken. Indem sie Einlagen verzinsten und Wechsel der Geschäftsleute schon vor der Fälligkeit annahmen, zogen sie Kapital an und erhöhten ihr Kreditvolumen. Vom Jahr 1870 an überflügelten Schecks und Kontokorrentkredite – Kredite für Kaufleute zur wechselseitigen Verrechnung von Zahlungsansprüchen – das Wechselgeschäft. England hatte nicht nur die leistungsstärkste Industrie, sondern auch das modernste Bankwesen. Gleich zweimal wurden im 20. Jahrhundert in-
Auf dem „Kerbholz“ wurden früher Schulden und Schuldner verzeichnet.
Schein zirkulierte bis zur Fälligkeit. Der Schuldner zahlte dann an den letzten Inhaber. Ebenso verfuhr man mit Wechseln, die auch vorzeitig bei einer Bank gegen Gebühr eingelöst, „diskontiert“, werden konnten. In Italien entstanden städtische Girobanken, auf die die Kaufleute Wechsel zogen. Die Forderungen wurden gegeneinander verrechnet – „in banco“. Mit dem Dreißigjährigen Krieg begann 1618 wieder eine Periode der Münzverschlechterung durch „Kipper und Wipper“, es waren Jahre der Inflation und des monetären Chaos. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts liefen in London Quittungen als Zahlungsmittel um, die Goldschmiede und Bankiers auf die Einlagen ihrer Kunden ausgaben. Dabei wurde der jeweilige Besitzer einer solchen „Goldsmith Note“ auf der Rückseite des Papiers eingetragen, „in dosso“. Die englische Regierung schließlich ging noch einen Schritt weiter und bezahlte selbst mit Banknoten der 1694 gegründeten Bank of England. Banknoten des 18. Jahrhunderts, inzwischen meistens Staatspapiere, waren Bargeldquittungen, die befristet zirkulierten. Ein neuer Wirtschaftsaufschwung wurde vom Gold Brasiliens befördert, das nach Portugal gelangte und von da weiter nach England, zur dominierenden europäischen Macht. 1774 wurden dort Goldmünzen gesetzliches Zahlungsmittel. 1833 erhob England dann die Noten der Bank of England zum gesetzlichen Zahlungsmittel mit Annahmepflicht. Sie waren gegen Gold eintauschbar. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts folgten Frankreich und Österreich dem britischen Beispiel.
folge der beiden Weltkriege europäische Staatspapiere wertlos. Aus den Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg versuchten die Teilnehmer der Konferenz in Bretton Woods 1944 Lehren zu ziehen; nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ein System fester Wechselkurse etabliert (siehe Seite 114). Leitwährung wurde der Dollar, der als einzige Währung durch Gold gedeckt war. Eine D-Mark entsprach 0,238095 Dollar oder 0,211588 Gramm Feingold. Doch dann untergruben die Kosten des Vietnam-Kriegs den Wert der Leitwährung, so dass die Regierung ihre Goldeinlösepflicht 1971 aufkündigte. Bald gaben die meisten Industriestaaten die Dollarparität auf. Die Länder der Europäischen Gemeinschaft installierten ein System begrenzt flexibler Wechselkurse. Die Sicherheit, die eine moderne Währung bietet, ist die Möglichkeit zur Flucht in andere Währungen. Gold hat als Geld ausgedient und wird gerade noch als Notgroschen für schlechte Zeiten zurückgelegt. Die harte Münze aus Edelmetall ist Geschichte. Handel und Warenproduktion haben ein solches Ausmaß angenommen und die Umschlagzeiten eine derartige Geschwindigkeit erreicht, dass Gebirge von Gold und Silber nötig wären, um die Werte abzubilden. Das ideale Geld der globalisierten Wirtschaft ist nicht mehr Gold, sondern der pure Kredit, auf den Cent genau im elektronischen Gedächtnis der Banken verbucht. Gedeckt ist er einzig durch unser Vertrauen, einen vom Konto abzubuchenden Betrag jederzeit gegen einen gleichwertigen Teil des Sozialprodukts eintauschen zu können. André Geicke
SCIENCE & SOCIETY PICTURE LIBRAR / INTERFOTO
Der Taler gab dem Dollar seinen Namen.
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KAPITEL II
DIE ERSTE GLOBALISIERUNG
Der Fluch des Silbers
Die Ausplünderung der Neuen Welt nach ihrer Entdeckung durch Kolumbus beschleunigte Europas Aufstieg, hat das Schicksal Lateinamerikas aber nicht so ausschließlich geprägt, wie linke Kritiker behaupten. Dennoch trägt der Kontinent bis heute schwer an seinem kolonialen Erbe. Von JENS GLÜSING
GORDON GAHAN/NGS IMAGE COLLECTION
Blick über Potosí auf den „Cerro Rico“
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DIE ERSTE GLOBALISIERUNG
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in stahlblauer Himmel wölbt sich über der Kuppe des „Cerro Rico“, des „Reichen Berges“ hoch in den bolivianischen Anden. Der Atem gefriert, jeder Schritt wiegt wie Blei in der dünnen Luft. Vor dem Eingang zur Mine der Kooperative „26. März“ sammelt sich eine Gruppe von Bergleuten. Ihre Wangen sind ausgebeult von den Kokablättern, die sie gegen Hunger und Erschöpfung kauen. Sie schultern Talglampen, Dynamitstangen und Eisenpickel und ziehen in den Berg. Zwölf Stunden und mehr hocken die Minenarbeiter in den engen Stollen. In Handarbeit klopfen sie das Erz aus den Wänden. Die meisten Männer sind klein und von indianischer Abstammung. Kaum einer ist älter als 30, aber sie haben Havanna
schen Kolonialreichs verlief. Mit dem Silber aus dem Cerro Rico finanzierten Spaniens Könige ihre Armada, bezahlten sie ihre Paläste, kauften sie Stoffe, Möbel und Tücher für ihren Hofstaat. Ein Mitglied des englischen Parlaments warnte um 1620, das Silber aus Potosí nähre „den ehrgeizigen Wunsch des spanischen Königs, eine universelle Monarchie zu errichten“. Das Silber, das Indios aus dem Cerro Rico kratzten, nährte Europas moderne Geldwirtschaft. Der Indianer Diego Huallpa hatte 1545 zufällig eine Silberader im Cerro Rico entdeckt. Bald darauf bemächtigten sich die Spanier des erzhaltigen Berges. Sie zwangen die Indios zur Fronarbeit in den Minen. Hunderttausende verreckten im Cerro Rico, während die Kolonialelite in Saus und Braus lebte. Gold
In den Silberminen des Cerro Rico schuften die Zwangsarbeiter. (Kolorierter Kupferstich von 1597)
Sklaven aus Afrika
Tabak, Kakao, Häute 1000 km
Caracas
Gold, Schiffbaumaterialien
Tabak, Zucker Baumwolle, Farbhölzer
Belem do Pará
Europäische Herrschaft Die Kolonialisierung Lateinamerikas spanisch 1650 spanisch 1750 portugiesisch 1650 portugiesisch 1750 britisch 1750 niederländisch 1750 französisch 1750
Recife Bahia Potosi
Rio de Janeiro
Silber
Rindfleisch Buenos Aires Kupfer, Getreide
Handelsgüter
die Gesichter alter Männer. Wenn sie abends aus dem Berg kommen, sind sie zu erschöpft zum Schwatzen. Schweigend trotten sie hinunter in die Stadt. Potosí, 4000 Meter hoch am Fuß des Cerro Rico gelegen, ist ein ungewöhnlich stiller Ort im lärmigen Bolivien. Indianerfrauen huschen durch die schmalen Gassen, ein paar Rucksacktouristen in Pullovern aus Alpaca-Wolle ziehen schwer atmend durchs hügelige Stadtzentrum. Die Kälte ist trocken und schneidend. Heute fällt es schwer, sich vorzustellen, dass in dieser unwirtlichen Stadt einst die Hauptschlagader des spani-
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Gold, Diamanten
Häute, Silber
Quelle: Putzger, Historischer Weltatlas
1572 ließ der damalige Vizekönig Francisco de Toledo die erste Münzpresse in Potosí errichten. In Truhen wurden die Silbertaler über Lima nach Spanien verschifft. Der Name Potosí wurde zum Symbol für Reichtum, Ruhm und Macht. Miguel de Cervantes nahm den Satz „Vale un Potosí“ (Das ist ein Potosí wert) in seinen „Don Quijote“ auf. Hunderttausende Tonnen Gestein haben die Bergarbeiter im Laufe der Jahrhunderte vom Cerro Rico abgetragen. Noch immer treiben sie neue Stollen in den Berg, er ist von Hunderten Tunnel ausgehöhlt und niedriger als zu Kolonialzeiten. Eine staatliche Minen-
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BILDARCHIV HANSMANN / INTERFOTO
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gesellschaft und mehrere private Kooperativen bauen vor allem Zinn ab. Die „Casa de la Moneda“, die berühmte Münzpresse, ist heute ein Museum. Über dem Eingang hängt eine lachende Fratze, die Herkunft des Kunstwerks ist unklar. Historiker spekulieren, das feixende Antlitz zeige den Weingott Bacchus. Die Einwohner von Potosí erzählen eine andere Version: Die Fratze aus dem 19. Jahrhundert stelle einen Indio dar, der den Spaniern zum Abschied hinterhergrinse, nachdem Bolivien unabhängig geworden war. Dabei hatten Boliviens Ureinwohner auch nach dem Abzug der Besatzer nichts zu lachen: Die Arbeitsbedingungen für die Bergarbeiter besserten sich kaum, noch heute sterben jedes Jahr etliche bei Unfällen in den Stollen. Die berüchtigte Staublunge rafft die meisten Männer dahin, bevor sie 50 werden. Bolivien, genannt der „Bettler auf dem silbernen Thron“, ist das zweitärmste Land Südamerikas.
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Oder verharrt das Land womöglich gerade wegen seines natürlichen Reichtums im Elend? Beuten die reichen Länder der sogenannten Ersten Welt auch 500 Jahre nach der Eroberung Lateinamerikas die ehemaligen Kolonien aus? Sind sie noch immer verantwortlich für das Elend der Indios? Diese These stellte der uruguayische Autor Eduardo Galeano in seinem Buch „Die offenen Adern Lateinamerikas“ auf, der Bibel der lateinamerikanischen Linken. Jüngst machte das fast 40 Jahre alte Werk wieder Furore: Venezuelas linkspopulistischer Präsident Hugo Chávez überreichte das Buch im April seinem amerikanischen Kollegen Barack Obama als Geschenk bei einem gesamtamerikanischen Gipfeltreffen – damit der US-Amerikaner „die Region besser ver-
steht“, so Chávez. Sogleich schnellte das Brevier in der Verkaufsstatistik von Amazon unter die Top Ten. Auch an europäischen und amerikanischen Universitäten haben Generationen von Studenten Galeanos Werk verschlungen. Es gilt als Standardwerk der „Dependenztheorie“, die eine ganze Denkschule von Sozialwissenschaftlern geprägt hat. Zusammengefasst besagt sie, dass die Abhängigkeit der ehemaligen Kolonialstaaten von den Metropolen in Europa und den USA nach der Unabhängigkeit weiterbestehe. Solange die kapitalistische Erste Welt die Dritte Welt ausbeute, gebe es keine Chance für eine Besserung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in den Ex-Kolonien. Galeano zieht eine direkte Linie von der Conquista zu den ökonomischen
Bolivien ist der „Bettler auf dem silbernen Thron“. SPIEGEL GESCHICHTE
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PABLO CORRAL VEGA/CORBIS (O.); GETTY IMAGES (R.)
Bis heute schürfen die Bergarbeiter von Potosí unter härtesten Bedingungen nach Erz.
und politischen Interventionen der USA in Mittelamerika. So wie die Spanier die Indios unterwarfen, so beute im 20. Jahrhundert ein Unternehmen wie die United Fruit Company die Arbeiter auf seinen Bananenplantagen aus. Aber hält seine Analyse einer historischen Überprüfung stand? Ist das Elend in Lateinamerika wirklich nur eine Folge der Ausbeutung? „Die Kolonialwirtschaft und die Handelsbeziehungen mit Europa waren komplexer, als es die Dependenztheoretiker wahrhaben wollen“, sagt der brasilianische Historiker Carlos Gabriel Guimarães. In den Kolonien regte sich früh Widerstand gegen das Wirtschaftsmonopol der Metropole. Das Silber aus den Minen bewirkte Inflation. Vor allem Grundnahrungsmittel wurden teuer, Hungersnöte drohten. Der unstillbare Hunger des Hofes nach Silbermünzen führte dazu, dass in den Kolonien oft Geldstücke fehlten. In vielen Regionen
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des spanischen Kolonialreiches entstand deshalb eine rege Tauschwirtschaft. Spanien war ein Agrarland, es schickte vor allem Wein, Getreide und Olivenöl in die Kolonien. Textilien und andere Fertigprodukte ließ die Krone aus Genua oder Flandern nach Amerika schaffen, Direktimport war den Kolonien verboten. Schmuggel blühte. Weil Madrid die Nachfrage der Kolonien nach Luxusgütern nicht befriedigen konnte, lebte der Handel zwischen den überseeischen Besitzungen auf. Die Eliten von Mexiko kauften chinesische Seide und Stoffe in Manila, der Hauptstadt der spanisch beherrschten Philippinen. 1597 schickte Mexiko mehr Silber auf die Philippinen als nach Spanien. 1631 verbot Madrid den Handel zwischen Peru und Mexiko. Der Hof entsandte neue Statthalter nach Amerika, sie sollten über das Handelsmonopol der Krone wachen und bei den lokalen Händlern Steuern eintreiben. Doch die Einheimischen fanden immer neue Wege, wie sie die Kolonialverwaltung austricksen konnten. Fleisch und Getreide wurden bald in den Kolonien produziert. Rinderzüchter trugen wesentlich zur Erschließung des Landesinneren bei, sie ließen sich nicht von der Kolonialverwaltung gängeln. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann der Niedergang der Kolonialmacht Spanien. Der spanische Hof war hochverschuldet, er schickte immer
Mexico City und Lima wuchsen zu Handelszentren heran.
Nach und nach entglitt Madrid die Kontrolle. Die aufstrebenden Mächte aus Nordeuropa verdrängten die Spanier auf den Weltmeeren. Piraten und Freibeuter, die im Auftrag der britischen und französischen Krone agierten, machten die „Carrera de las Indias“, wie die Hauptverkehrsroute zwischen Sevilla und den Kolonien genannt wurde, zu einem Abenteuer. Sie kaperten und versenkten ungezählte spanische Karavellen und Galeonen. Vor allem in der Karibik trauten sich spanische Schiffe nur in großen Flottenverbänden und begleitet von Kriegsschiffen aufs offene Meer. Der Niedergang des spanischen Weltreichs ging einher mit Dürren und Hungersnöten auf der iberischen Halbinsel. Die einstige Weltmacht war Ende des 17. Jahrhunderts Peripherie geworden. Erst die Herrschaft der Bourbonen bescherte Spanien im 18. Jahrhundert ein neues, wenn auch kurzes goldenes Zeitalter. Madrid straffte die Verwaltung in seinen überseeischen Kolonien und baute die Silberproduktion in Mexiko aus. Der Handel zwischen den Kolonien blühte auf, viele von ihnen erlebten „eine wahre Wiedergeburt“, so der Lateinamerika-Historiker Murdo MacLeod. Vor allem Kuba profitierte von der Liberalisierung des Seehandels. HavanDas Silber dieser Münzen stammt aus dem Cerro Rico.
weniger Waren. So erhöhten die Kolonien ihre eigene Produktion. Mexiko, Peru und Chile wurden zu Selbstversorgern bei Getreide und bis zu einem gewissen Grad auch bei Wein, Öl, Eisen, Holz und Möbeln. Durch den Austausch zwischen den Kolonien bildete sich eine eigene amerikanische Wirtschaft heraus.
na wurde zur wichtigsten Hafenstadt der Karibik, mit 70 000 Einwohnern war es Ende des 18. Jahrhunderts die zweitgrößte Stadt Hispanoamerikas. Eine „komplexe und vielfältige“ interne Wirtschaft und Gesellschaft attestiert der britische Historiker David Brading den spanischen Kolonien jener Ära.
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Nur in Potosí kam der Aufschwung nicht an. Die Silberminen waren weitgehend versiegt. Das Edelmetall, das in Europa zur Geburt des Kapitalismus, zur industriellen Revolution und zur Vorherrschaft über den Rest der Welt so viel beigetragen hatte, hatte in Südamerika eine Feudalgesellschaft genährt. Es verhinderte die Herausbildung eines bürgerlichen Standes und damit die Entstehung eines modernen Kapitalismus. Was das Silber für das spanischsprachige Amerika bedeutete, war der Zucker für Brasilien und das portugiesische Kolonialreich. Portugal war traditionell eine Nation von Seefahrern. Als im 15. Jahrhundert in Europa das Gold knapp wurde und deshalb an Wert gewann, suchten die Portugiesen zunächst in Afrika nach dem Edelmetall. Von dort brachten sie Leder, Färbemittel und Sklaven mit, die in Europa teuer gehandelt wurden. Im Jahr 1500 entdeckte der Seefahrer Pedro Álvares Cabral Brasilien. Die Portugiesen errichteten sogenannte Feitorias, Verwaltungseinheiten, die den Vizekönigreichen in Hispanoamerika entsprachen und später in „Capitanias“ umbenannt wurden. Zunächst exportierte die junge Kolonie vor allem Brasilholz nach Europa, Mitte des 16. Jahrhunderts wuchs die Nachfrage nach Zucker. Grundlage der brasilianischen Kolonialwirtschaft waren die Fazendas: riesige Farmen, die meist
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Zuckerrohr oder Getreide in Monokultur anbauten. Der portugiesische König besaß das Handelsmonopol, er vergab Lizenzen für private Geschäftsleute. In den Kolonien herrschte Tauschwirtschaft. Sklaven stellten die wichtigste Währung dar. „Die Sklaverei war der Motor der Kolonialwirtschaft“, sagt der brasilianische Historiker Oswaldo Munteal Filho. Die Capitanias importierten Sklaven aus Afrika, die sie gegen Zucker, Pfeffer und andere Produkte eintauschten. Zunächst hatten sie versucht, Brasiliens Ureinwohner zu versklaven, aber die Indios lehnten sich gegen die Kolonialherren auf. Afrikaner galten als kräftiger, fleißiger und gehorsamer. Seefahrer vermieteten Stauraum in den Karavellen, die im Dreieckshandel zwischen Portugal, Afrika und Brasilien verkehrten. In Afrika begaben sich viele Stammesfürsten in den Dienst der Portugiesen. Sie tauschten Angehörige unterworfener Stämme gegen Stoffe, Salz und Tand aus Europa ein.
Das kleine Portugal war bald von seinen Übersee-Besitzungen abhängig. „Im 16. Jahrhundert stand Portugal an der Spitze der Weltökonomie“, sagt Historiker Munteal Filho. „Aber die Iberi-
„Die Sklaverei war der Motor der Kolonialwirtschaft.“ SPIEGEL GESCHICHTE
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Die Spanier erwiesen sich als grausame Kolonialherren. (Kolor. Kupferstich von 1595)
sche Halbinsel schaffte es nicht, sich aus der Abhängigkeit von den Kolonien zu lösen. Wirtschaftlich wurde Portugal zu einem Anhang Brasiliens.“ Bis Ende des 17. Jahrhunderts dominierte der Zuckerhandel das portugiesische Kolonialsystem; der süße Stoff stieg neben den Sklaven zur wichtigsten Tauschwährung auf. Erst 1694, als im Hinterland von Rio de Janeiro Gold gefunden wurde, errichtete die Kolonialverwaltung von Bahia, der wichtigsten Capitania, eine Münzpresse, um eine eigene Kolonialwährung auszugeben. In Brasilien führte der Gold- und später Diamantenrausch zur Entstehung neuer Städte und der Erschließung des Landesinneren. „Der Bergbau erlaubte die Ausweitung der Geldzirkulation und beschleunigte den Austausch von Gütern“, schreibt der Historiker Arno Wehling. „Das trug dazu bei, die verschiedenen Wirtschaftsregionen der Kolonie untereinander zu verbinden und transformierte sie in einen relativ geeinten Kontinent namens Brasilien.“ Aber die Sklaverei wurde in Brasilien erst 1888 endgültig abgeschafft. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein dominierte die Plantagenwirtschaft der Kolonialzeit Brasiliens Wirtschafts- und Sozialstruktur. Die Abschaffung der Sklaverei führte nicht zu einer Landreform, der Großgrundbesitz blieb bestehen. Die „befreiten“ Sklaven verdingten sich zumeist als Lohnarbeiter auf den Fazendas. Oft erhielten sie nur Verpflegung und eine Schlafstätte. Immer noch wird Landbesitz in Brasilien höher geachtet als Geld und produktive Investitionen. Viele Politiker sind Großgrundbesitzer. Wer etwas Geld angespart hat, kauft eine Fazenda oder andere Immobilien. Europas Aufstieg zum Handels- und Wirtschaftszentrum der Welt wurde vom Reichtum seiner Kolonien begünstigt. Doch in Lateinamerika zementierte der Überfluss natürlicher Ressourcen Großgrundbesitz und Sklavenwirtschaft. Die Ideen der Aufklärung erreichten in Lateinamerika nur die Eliten, die industrielle Revolution blieb aus. So ist Lateinamerika bis heute in vieler Hinsicht vom Erbe der Kolonialepoche geprägt. Auch deshalb ist der moderne Kapitalismus dort nie angekommen.
CHRONIK 1480–1800
DAS GELD STRÖMT UM DIE WELT 1487
Das Unternehmen der Familie Fugger, die durch Handelsgeschäfte und durch Abbau von Edelmetallen wie Silber aus Europas Bergwerken reich geworden ist, wird in den Augsburger Annalen erstmals als Bank bezeichnet.
1492
Kolumbus entdeckt Amerika. Binnen zehn Jahren verdoppelt sich die den Europäern bekannte Ausdehnung der Welt. Hauptmotiv der Entdeckungen ist aber nicht Landgewinn, sondern die Suche nach neuen Handelswegen.
ab 1511
Die Portugiesen kontrollieren die Gewürzinseln der Molukken. Lissabon wird zum Hauptumschlagplatz für Gewürze, später von Amsterdam gefolgt, das zugleich zum wichtigsten Finanzzentrum aufsteigt.
1515
In Joachimstal im Erzgebirge werden riesige Silbervorkommen entdeckt. Im Volksmund heißen die daraus geschlagenen Münzen bald nur noch Taler. Dieser Name steht Pate für verschiedene Währungen bis hin zum Dollar.
Aufhebung des Zinsverbots für Christen.
in Rom die erste Staatsbank Europas.
1545
1618 bis 1623
Am Fuße des Silberbergs Cerro Rico („Reicher Berg“) wird die Siedlung Potosí gegründet – und schnell zum Inbegriff unvorstellbaren Reichtums.
1557
Frankreich und Spanien müssen fast gleichzeitig den Bankrott erklären – ihre kreditgebenden Banken, darunter die Fugger und die Welser in Augsburg, geraten in schwere Bedrängnis.
Luca Pacioli erklärt in seiner theoretischen Darstellung „Summa de Arithmetica“ das Prinzip der in Italien schon lange praktizierten doppelten Buchführung mit Soll und Haben. Das Buch wird nach 1500 auch in Deutschland verbreitet. Verschriftlichung und Entmaterialisierung des Geld- und Warenverkehrs setzen ein.
THE GALLERY COLLECTION/CORBIS
Vasco da Gama erreicht auf dem Seeweg Indien – es folgt ein Aufschwung des Fernhandels und auch der Kapitalgesellschaften, die das Risiko des einzelnen Investors begrenzen.
1500 bis 1540
Durchschnittlich 1000 bis 1500 Kilo Gold aus der Neuen Welt erreichen jährlich Spanien – anfangs unmittelbarer Raub, dann Abbau aus Goldminen.
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1661
Als in Schweden die Silbermünzen knapp werden, beginnt eine schwedische Bank in Stockholm, das erste offizielle Papiergeld Europas zu drucken.
1716 bis 1720
Der Schotte John Law führt in Frankreich Papiergeld ein. Als Generalkontrolleur der Finanzen gibt er Aktien aus, die eine ungeheure Spekulationsblase auslösen. 1720 platzt sie. John Law flieht überstürzt.
1494
1498
Der Dreißigjährige Krieg führt zu einer dramatischen Münzverschlechterung in Europa. Die daraus folgende Inflation heißt in Deutschland die Zeit der Kipper und Wipper.
1765
Inka-Skulpturen aus Silber (angefertigt um 1500 im heutigen Bolivien)
1542 bis 1553
In England bessern Heinrich VIII. und sein Nachfolger durch systematische Münzverschlechterung ihre Finanzen auf – auch anderenorts ist das üblich.
1543
Kaiser Karl V. erlaubt niederländischen Kaufleuten erstmals offiziell, Geld gegen Zinsen zu verleihen –
1574
Der Staatshaushalt in Kastilien besteht zu rund 70 Prozent aus Militärausgaben, fast alle europäischen Staaten sind chronisch defizitär. Langfristige Schuldverschreibungen (Staatsanleihen) bürgern sich ein.
1605
Papst Paul V. gründet mit der Banco di Santo Spirito
Friedrich der Große gründet die erste Notenbank der deutschen Geschichte. Seine Königliche Giround Lehn-Banco ist die Vorgängerin der deutschen Reichsbank.
1789 bis 1797
Im Verlauf der Französischen Revolution werden für beschlagnahmte Kirchen- und Emigrantengüter Staatsobligationen als „Assignaten“ ausgegeben. Zwei Inflationswellen binnen weniger Jahre folgen, dann beendet Napoleon den Versuch. Die Ära des Papiergeldes ist aber nur kurz hinauszuschieben.
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DIE ERSTE GLOBALISIERUNG
Gier, Leichtgläubigkeit, Geschäftemacherei: Der holländische TulpenWahn von 1637 ist der Prototyp für viele spätere Finanzkrisen.
„Große Gartenhure“ Von JAN FRIEDMANN
D
ie Königin der Tulpen trug ihr Haupt hoch, so kamen die leuchtenden Farben noch besser zur Geltung: Blau am Blütenboden, wo der schlanke Stil ansetzte, nach oben übergehend in ein reines Weiß, aus dem blutrote Flammen zur Spitze hin züngelten. „Semper Augustus“ tauften die Züchter ihr Wunderwerk. Das Privileg, es in natura betrachten zu dürfen, war nur wenigen Zeitgenossen vergönnt. Von der seltensten und teuersten Sorte zirkulierten in ganz Holland zeitweilig nur rund ein Dutzend Tulpen-Zwiebeln, und die waren unerschwinglich: 10 000 Gulden verlangten Händler zu Beginn des Jahres 1637 für eine „Semper Augustus“, („Allzeit erhaben“), eine Summe, mit der sich mühelos ein großes Stadthaus an einer der vornehmsten Grachten Amsterdams erwerben ließ. Es war der Höhepunkt des „Großen Tulpen-Wahns“, jener Manie, die als frühe und exemplarische Spekulationsblase in die Wirtschaftsgeschichte eingehen sollte. Im Lauf einiger Monate hatten sich die Preise vervielfacht, zu denen die Tulpen in den Wirtshäusern gehandelt wurden. Im Februar 1637
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fielen die Kurse binnen weniger Tage ins Nichts. Viele Menschen waren auf einen Schlag ruiniert: „Edelleute, Kaufleute, Handwerker, Schiffer, Torfträger, Schornsteinfeger, Knechte, Mägde, Trödelweiber, alles war von gleicher Sucht befallen“, berichten die Annalen. Nicht Aktien oder Staatsanleihen, nicht Rinderhälften oder Eisenerz, nein: Blumen hatten die Begierde der Investoren in der damals dynamischsten Volkswirtschaft Europas geweckt. Ein hochsensibles und pflegeintensives Spekulationsobjekt: Es dauert fast so lang wie eine menschliche Schwangerschaft, bis aus einer im Herbst eingepflanzten unscheinbaren Zwiebel im Frühjahr eine blühende Tulpe erwächst. Und eine einfarbige Pflanze überrascht ihren Besitzer bisweilen im Frühjahr mit geflammten, zweifarbigen Blütenblättern. Dafür sorgt das Mosaikvirus – ein im 17. Jahrhundert noch unbekannter, durch Blattläuse übertragener Befall. Vielleicht war es diese Unberechenbarkeit, mit der die Preziose die Herzen der calvinistisch spröden Niederländer gewann. Ursprünglich eine Wildpflanze in den Hochtälern Zentralasiens, fand die Tulpe ihren Weg über Persien und das Osmanische Reich nach Europa. Der
BRIDGEMANART.COM
Die „Tulipa Octaviani del pont“ (l.) glich der höchst seltenen „Semper Augustus“. (Kolorierter Stich, 1614/15)
DIE ERSTE GLOBALISIERUNG
Zeitgenössische Satire auf den Tulpen-Wahn (Stich, 1637)
gelehrte Humanist und bedeutende Botaniker Carolus Clusius trug maßgeblich zur Verbreitung der Tulpe in Holland bei, seit er 1593 an die Universität Leiden berufen wurde. Bald avancierte die Tulpe zur Modeblume der Reichen und Schönen, sie verlieh den Gärten ihrer Besitzer eine Aura von Extravaganz und östlicher Exotik. Ein Statussymbol ganz nach dem Geschmack der Holländer, erlaubte sie doch aufstrebenden Bürgern und Kaufleuten, auf botanisch-bescheidene Art den eigenen Reichtum zur Schau zu stel-
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len. Exklusiv war das Luxusgut im Beet obendrein: Eine Tulpen-Mutterzwiebel bringt nur wenige Brutzwiebeln hervor, die Pflanze kann nicht in kurzer Zeit vermehrt werden.
Ein kleiner Kreis von findigen Züchtern befriedigte die anspruchsvolle Nachfrage mit immer neuen und prächtigeren Kreationen. Gefragt waren in den Niederlanden des 17. Jahrhunderts gleichmäßige Blütenblätter und auffällige Farbmuster. Wie die prächtigsten Blüten aussahen, das zeigten sich die
Reichen anhand eigens angefertigter Tulpen-Bücher, in denen die schönsten Sorten im Aquarell ausgemalt waren. Bald lockten die komfortablen Margen Quereinsteiger und Abenteurer ins Geschäft. Die Tulpe wurde zum Synonym für leicht verdientes Geld. Verkörperte sie nicht schon durch ihre Gestalt den größtmöglichen Kontrast zum entbehrungsreichen Leben der einfachen Leute? Ein Leben, in dem 14 Stunden harter Arbeit an sechs Wochentagen kaum genug einbrachten, um die Mieten in den überfüllten Städten zu bezahlen.
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MARY EVANS / INTERFOTO (L.); BRITISH LIBRARY / AKG (R.)
Die Tulpen-Profis lebten hingegen in Saus und Braus, für die Organisatoren der Auktionen fielen reichlich Provisionen ab. Eine zeitgenössische Schrift vermittelt einen Eindruck: „Ich bin auf mehreren Runden gewesen, von denen ich mehr Geld nach Hause brachte, als ich in das Wirthaus mitgenommen hatte. Und dabei habe ich Wein und Bier getrunken, Tabak geraucht, gekochten oder gebratenen Fisch, Fleisch, Hühnchen und Kaninchen sowie zum Abschluss Süßigkeiten gegessen, und das vom Morgen bis um drei oder vier in der Nacht.“ Solchen Verheißungen erlagen immer mehr Menschen. Sie vernachlässigten ihre gelernten Berufe und verdingten sich fortan in den Gärtnereien als Tulpen-Händler – oder vertrauten als Kleinanleger den Verheißungen der Edelzwiebel. Der zunächst ungebrochene Boom schien ihnen recht zu geben und ließ letzte Zauderer als Ewiggestrige erscheinen. 1633 wurde in der Stadt Hoorn bereits ein Haus für drei Tulpen-Zwiebeln verkauft, in den drei Jahren darauf vervielfachten sich die Preise. Die kostbaren Pflanzen wurden nun selbst zur Währung, die Anleger verkauften ihr Hab und Gut und verpfändeten ihre Häuser, in dem sicheren Glauben, dass es in dem Markt immer nur eine Richtung geben werde: nach oben. Schon während der Hausse fehlte es nicht an Warnzeichen. In den Archiven sind mehrere Fälle von Anlegerbetrug belegt: Manche Händler drehten ihren Kunden als angeblich kostbare Raritäten Tulpen-Zwiebeln an, die sich beim Aufblühen als Allerweltsgewächse entpuppten. Andere versuchten sich an Imitaten teurer Sorten wie der „Viceroy“ oder raunten von noch extravaganteren Produkten wie der Schwarzen Tulpe –
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rein schwarze Blütenblätter zu züchten war schon biologisch unmöglich. Von 1635 an dealten die Spekulanten mit Tulpen-Derivaten, es gab Anteilsscheine auf Tulpen-Zwiebeln und handelbare Bezugsrechte. Im herkömmlichen Handel wurde die Tulpe kurz nach der Blüte ausgegraben und eingetrocknet, so dass der Käufer sehen konnte, was er im kommenden Jahr von sei-
Ab 1635 dealten Spekulanten mit Tulpen-Derivaten. nem Erwerb zu erwarten hatte. Nun wurden ganzjährig Terminkontrakte abgeschlossen und Zwiebeln gehandelt, die noch in der Erde steckten. Schuldscheine und Schilder in den Beeten wiesen die künftigen Besitzer und das Datum des Bezugs aus.
Die Preisexplosion verlockte zu Zwischengeschäften und Luftbuchungen: Floristen verkauften Tulpen, die sie nicht liefern konnten, an Käufer, die nie die Absicht hatten, diese Zwiebeln einzupflanzen. Manche Tulpen wechselten zehnmal pro Tag den Besitzer, ohne dass auch nur einer von ihnen die Zwiebel, geschweige denn die Blüte jemals zu Gesicht bekommen hätte. „Windhandel“ nannten die Chronisten diese Phase des Booms, doch die Flaute blieb so lange aus, wie immer neues Kapital in den Spekulationskreislauf floss. Die Katastrophe nahm am ersten Dienstag des Monats Februar im Jahr
1637 ihren Lauf: Bei einer Auktion in einem Schankkollegium von Haarlem konnte der Auktionator die geforderten Preise nicht erzielen und musste Abschläge zugestehen. Diejenigen Investoren, die erst spät eingestiegen waren, fuhren nun plötzlich Verluste ein. Die Neuigkeit machte die Runden durch alle Schenken der Stadt und bald darauf durchs ganze Land. Immer mehr Besitzer von Tulpen-Zwiebeln wollten schnell verkaufen, die Preise fielen ins Bodenlose. Der durchschnittliche Tulpen-Anleger verzeichnete binnen Wochen ein Minus im Depot von 95 Prozent, die meisten Derivate waren mit einem Schlag völlig wertlos geworden. Nun hub der Chor derer an, die alles schon immer geahnt hatten und sich nun am Verlust der anderen weideten. Traktate und Flugblätter mit Titeln wie „Floras Krankenlager“, „Der Untergang der großen Gartenhure“ oder „Schurkengöttin Flora“ machten die Runde. Ein zeitgenössisches Bild über den TulpenWahn war erläutert mit dem Satz: „Darstellung des seltsamen Jahres 1637, als der eine und der andere Narr den Plan ausheckte, ohne Fähigkeit reich und ohne Verstand weise zu werden.“ Wie in vielen folgenden Finanzkrisen griff die Obrigkeit ein, um das vollständige Chaos zu vermeiden. Die Städte bildeten Schlichtungskommissionen, die festlegten, dass alle offenstehenden vertraglichen Verpflichtungen durch Zahlung von 3,5 Prozent des ursprünglichen Kaufpreises abgegolten werden konnten. Diese Regelung ging zu Lasten der Züchter und sollte dazu dienen, ein Übergreifen der Krise auf andere Wirtschaftssektoren zu vermeiden. In ihrem Ablauf war der TulpenWahn typisch für viele weitere Krisen: Auf die Phase der Insider, der Kenner und Liebhaber folgte der systematische Ausbau des gewinnträchtigen Sektors, dann das massenhafte Auftreten von Spekulanten mit undurchsichtigen Finanzprodukten und schließlich die Intervention der Ordnungshüter nach dem Crash. Besonders in Zeiten der Rezession wird die Blase von 1637 immer wieder zum Vergleich herangezogen. Derzeit bietet etwa ein findiger Reiseanbieter seine Spaziergänge durch Amsterdam in der Variante der „Krisentour“ an. Sie führt zu einigen Schauplätzen des Tulpen-Wahns, darunter auch zum „Ellendigen Kerkhof“: Dort fanden die Selbstmörder ihre letzte Ruhe.
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aris, Mai 1720, die ganze Stadt ist in Aufruhr. Die Menge hat es auf John Law abgesehen, den vom Regenten gefeuerten Generalkontrolleur der Finanzen. Der Mob will den gebürtigen Schotten lynchen und hetzt ihn durch die Straßen. Im letzten Moment kann Law sich in einem Palast verbarrikadieren, muss aber seine Kutsche zurücklassen. Sie wird von den erbosten Parisern zu Kleinholz gemacht. Die Leute mögen ihren John Law nicht mehr, der sie im Handumdrehen reich und dann genauso schnell wieder arm gemacht hat. Er war Verführer und Guru zugleich und hat es in wenigen Jahren zum reichsten Menschen der Welt gebracht, wahrscheinlich sogar zum reichsten Mann aller Zeiten. Er rettete Frankreich vor dem Staatsbankrott, lenkte den Handel mit Ostindien, China und halb Nordamerika. Er besaß eine bedeutende Kunstsammlung, war ein genialer Mathematiker und der Erfinder des modernen Papiergeldes. Dazu ein zum Tode verurteilter Mörder und professioneller Spieler, der am Kartentisch auch noch die Liebe seines Lebens fand. Glück im Spiel und in der Liebe – das verzeihen die Götter nicht. Der Moralist Montesquieu zerriss sich das Maul über den lästerlichen Lebenswandel des in Frankreich naturalisierten Einwanderers. Ist Law ein Gott, ein Schurke oder ein Scharlatan?, fragte Voltaire. Karl Marx nannte ihn im „Kapital“ mit Bezug auf sein Kreditsystem einen „angenehmen Mischcharakter von Schwindler und Prophet“. Joseph Schumpeter, der große Ökonom, zählte ihn zu den „ersten Geldtheoretikern aller Zeiten“. Neuerdings hat es der legendäre Schotte auch zum irrlichternden Helden eines historischen Romans gebracht*. John Law wurde 1671 in Edinburgh als ältester Sohn des Goldschmieds und
Münzprüfers William Law geboren. William war zu Geld und Ansehen gekommen, hatte Lauriston Castle erworben und durfte sich von da an „Law of Lauriston“ nennen. Filius John war ein blitzgescheiter Kerl mit einem Händchen für Zahlen, das er beim damals beliebten Glücksspiel „Pharao“ nutzbringend einzusetzen wusste. Die Damen umschwärmten den jungen Glücksritter, der zu einem stattlichen Jüngling von über 1,80 Meter heranwuchs. Mit seinen schwarzen Locken hieß er in London „Beau Law“, immer aufs Feinste gewandet in Samtrock, Damastweste und Brüsseler Spitze.
Finanztheorie, grübelte über das Wesen des Geldes. Er begriff, dass Geldpolitik zugleich Wirtschaftspolitik ist, da die Geldmenge Handel und Wandel und damit den allgemeinen Wohlstand beeinflusst. Mit solcher Einsicht in volkswirtschaftliche Zusammenhänge war er seiner Zeit weit voraus: Mehr Geld, so Laws Entdeckung, bedeutet auch mehr Produktion, weil Kredite billiger und Investitionen reizvoller werden. Auf diese Weise, überlegte er, könnte sich die Produktion in den aufkommenden Manufakturen ankurbeln lassen, könnten Menschen in Arbeit kommen. Zahlungsmittel sollten künftig nicht mehr aus Gold und Silber bestehen, da Edelmetall nur beschränkt verfügbar sei, sondern aus Banknoten, abgesichert durch Grund und Boden. Außerdem sei Geld nur dann wirklich von Nutzen, wenn es auch schnell zirkuliere, schrieb er 1705 in seinen „Betrachtungen über das Geld und den Handel einschließlich eines Vorschlags zur Geldbeschaffung für die Nation“. Das schottische Parlament verwarf ein entsprechendes Law-Konzept, erst 200 Jahre später sollten Ökonomen diese geldpolitischen Ideen aufgreifen. Wegen seiner lockeren Lebensart musste er Venedig und Genua verlassen. Die Polizeibehörden fürchteten, er könne die Jugend zu jenem Glücksspiel verführen, mit dem er seinen aufwendigen Lebenswandel bestritt. Auch aus Frankreich wurde er mehrfach ausgewiesen und bei seinem Besuch in Paris umgehend wieder zur Grenze eskortiert. Schließlich machte er sich aber um Venedig verdient, weil er eine originelle Lotterie einführte. Law kombinierte das Zahlenlotto mit einer Staatsanleihe. Jedes Wertpapier nahm gleichzeitig an der Lotterie teil. Der Erfolg war überwältigend, Venedig saniert, und der Wundertäter Law wurde über Nacht vom wohlhabenden zum gemachten Mann, von dem Europa sprach. Erneut in Paris, suchte er 1714 die Nähe des Herzogs von Orléans, um über
Ein Finanzgenie wie den Schotten John Law gab es kein zweites Mal. Als Glücksspieler, Geldtheoretiker und Aktienspekulant wurde er zum reichsten Mann seiner Zeit.
Der Zocker an der Notenpresse
* Claude Cueni: „Das Große Spiel“. Heyne Verlag, München; 448 Seiten, 8,95 Euro.
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Von LUTZ SPENNEBERG
Sein Erfolg war für manchen anderen Mann schwer erträglich. Es kam zu einem Duell, das mit dem schnellen Erfolg des geübten Fechters John Law und mit dem Tod seines Rivalen endete. Bald darauf schmachtete Beau Law im Gefängnis von Newgate – die einflussreiche Familie des Opfers bezichtigte ihn des Mordes, das Urteil folgte rasch. Bevor man den Dandy hängen konnte, gelang ihm, wahrscheinlich mit Hilfe von Freunden, die Flucht.
Die nächsten 20 Jahre tourte der Hasardeur nun in Begleitung seiner Geliebten Catherine Seigneur durch Europa. Mit ihr hatte er, ohne sie jemals zu ehelichen, zwei Kinder. „Ich bin nicht verheiratet, aber meine Frau“, pflegte er auf Nachfragen zu antworten. Kein Spielcasino war vor ihm sicher. Aber der nächtliche Müßiggang füllte ihn nicht aus, er strebte nach Höherem. Tagsüber beschäftigte er sich mit
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ihn an den Sonnenkönig Louis XIV. heranzukommen. Der gealterte Monarch, der schon 71 Jahre regiert hatte, so lange, wie kein anderer Franzose vor ihm, hatte sein Reich ruiniert. Absolutistischer Pomp, Vetternwirtschaft, Korruption und zahlreiche Kriege hatten das Land ausgezehrt. Die Wirtschaft lag darnieder, das Volk hungerte. Der Staat war bankrott. Doch von einem hergelaufenen Ausländer, einem Protestanten noch dazu, wollte sich der greise König nicht helfen lassen. Als Louis XIV. am 1. September 1715 starb, waren die Schulden auf unerhörte drei Milliarden Livres gestiegen, die Zinslast dafür erdrückend, von einer Tilgung ganz zu schweigen. Staatseinnahmen von 145 Millionen standen ohne die Zins- und Tilgungslast Ausgaben von 142 Millionen gegenüber, Einnahmen waren auf Jahre verpfändet. Im Staatsrat planten die Minister, Frankreich ganz offiziell für zahlungsunfähig zu erklären. Jetzt schlug die Stunde des John Law of Lauriston. Von seinem Gönner, dem Herzog von Orléans, der als Regent für den minderjährigen Louis XV. die Krone verwaltete, erwirkte er Anfang Mai 1716 die Erlaubnis zur Gründung einer Bank. Ihr Kapital von sechs Millionen Livres sollte durch die Ausgabe von 1200 Aktien zu je 5000 Livres aufgebracht werden, zahlbar zu einem Viertel in Bargeld und zu drei Vierteln in Staatsanleihen. Dass diese Anleihen wenig wert waren, wusste jeder. Law bot also seine Aktien zum Tausch gegen die Papiere des Staates an und machte so die Zinslast für die Krone erträglicher – ein genialer Schachzug. Man könnte auch von einer Art Bad Bank sprechen, nur dass in diesem Fall ein Privatier Schulden des Staates übernahm. Zudem versprach Law eine Dividende von 7,5 Prozent binnen sechs Monaten. Bald hatte seine Ban-
que Générale Niederlassungen in Lyon, La Rochelle, Tours, Amiens und Orléans. Und Frankreich atmete durch.
John Law (Gemälde aus dem 19. Jahrhundert)
Der dankbare Regent unterstützte nun auch Laws nächsten Schritt. Law erwarb das Handelsmonopol für die französischen Überseeterritorien in Louisiana und am Mississippi, wo man ähnliche Gold- und Silbervorkommen vermutete wie in Lateinamerika. Dahinter steckte die marktwirtschaftlich triftige Überlegung, durch Fusionen ein beherrschendes, hochprofitables Unternehmen zu schaffen. Zur Finanzierung des Geschäfts gründete Law die „Compagnie des Indes Occidentales“ als Aktiengesellschaft. Die Franzosen sahen schon eine gigantische Goldflotte auf dem Atlantik kreuzen. Deshalb sollte das Kapital diesmal 100 Millionen Livres betragen, deutlich mehr als bei der Bank. 200 000 Aktien wurden ausgegeben zum Wert von 500 Livres, damit auch die kleinen Leute sich beteiligen konnten. So kamen ganz neue Schichten an die Börse, was Law populär machte und seiner Sache zusätzlichen Schub verlieh. Außerdem gründete er an der Mississippi-Mündung, als Reverenz an seinen adligen Schirmherrn, die Stadt La Nouvelle-Orléans – das heutige New Orleans. Den Geldsegen nutzte Law, um das Tabakmonopol und die staatliche Münze zu erwerben – und somit auch das offizielle Recht, staatliche Banknoten zu drucken. Laws Bank firmierte um in die staatliche Banque Royale, und sogleich warf er die Notenpresse an. Mit dem frischen Geld ersteigerte er weitere Handelsrechte in Afrika, Ostindien, China und im Pazifik. Nun ging in seinem weltumspannenden Imperium die Sonne nicht mehr unter. Das Fundament war allerdings brüchig. Längst beruhte es auf Spekulation und nicht mehr, 53
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Vor dem Hauptsitz von Laws Mississippi Compagnie in der Pariser Rue Quincampoix strömen die Anleger zusammen. (Zeitgenöss. Stich)
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wie von Law ursprünglich geplant, auf Grund und Boden. Dem großen Spieler war die Kontrolle über die phantastische Spekulationsblase entglitten, die er mit billigem Geld und einer scheinbar verlockenden Investment-Idee erzeugt hatte.
Innerhalb weniger Monate explodierte der Kurs der Mississippi Compagnie, wie Laws Handelsgesellschaft genannt wurde. In der Rue Quincampoix, wo die Comptoirs der mittlerweile größten Handelsgesellschaft der Welt lagen, bildeten sich täglich lange Warteschlangen. Darin traten sich Herrschaften und ihre Bediensteten auf die Füße – eine völlig neue Erfahrung im französischen Ständestaat. Jahrzehnte bevor alle Franzosen vor Gesetz und Guillotine gleichgemacht wurden, waren sie vor Law bereits gleich. Die Leute drängten dem Unternehmen ihr Geld förmlich auf. Über Nacht wurden aus gewöhnlichen Bürgern vermögende Spekulanten. Dienstmägde promenierten, mit Juwelen behängt, in Samt und Seide. Auf diese Neureichen war der Begriff „Millionär“ gemünzt, der damals geboren wurde. Aus aller Herren Länder drängten die Aktienkäufer nach Paris. Binnen eines Monats kamen allein 25 000 Besucher aus anderen großen Handelsstädten, was die Preise für Fremdenzimmer in die Höhe trieb. In der Nachbarschaft der Mississippi Compagnie schossen die Häusermieten von 1000 auf 16 000 Livres im Jahr nach oben. Ein Buckliger verdiente ein Vermögen, indem er seinen Rücken als mobilen Schreibtisch vermietete, auf dem der Schriftverkehr abgewickelt werden konnte. Da die Menschen enorme Summen an Bargeld mit sich führten, zogen sie Straßenräuber aus ganz Europa an. Spitze, Seide und Samt vervierfachten ihren Preis. Mittlerweile war der Kurs der Mississipi-Aktien von 500 auf über 10 000 Livres gestiegen. Alles hing an der vagen Hoffnung auf Reichtümer an fernen Ufern. Ein Schiff brauchte Monate für beide Überfahrten. Kursrelevante Nachrichten waren folglich lange unterwegs. Die Aktionäre berauschten sich an Gerüchten vom neuen Dorado. Die über-
bordenden Phantasien waren selbst Law bald nicht mehr geheuer. Er drängte den Regenten, den Aktien-Höchstkurs auf 9000 Livres zu fixieren. Was die Spekulation eindämmen sollte, nährte Misstrauen und leitete die Flucht aus der Aktie ein. Zunächst kehrten die ersten Siedler zurück und erzählten vom Sumpffieber, von mörderischen Indianern und einem dürftigen Leben unter sengender Sonne. Von Gold und Edelsteinen war nicht die Rede. Die Anleger wollten ihr Geld so schnell zurück, dass es zu ersten Börsentumulten kam. Law versuchte mit allen Tricks, den Zusammenbruch zu verhindern. Er heuerte 6000 Tagediebe und Bettler an, die er mit Schaufeln und Spitzhacken durch Paris paradieren ließ, angeblich auf dem Weg zu den Goldminen in Amerika. Doch auf dem Weg zum Hafen La Rochelle zerstreute sich die gerissene Bagage, um erneut von Law angeworben zu werden. Die Börse verlor nun gänzlich ihr Vertrauen in Laws Verheißungen, der Kurs brach ein, Panik packte die Spekulanten. Law griff zu rigorosen Maßnahmen. Als Generalkontrolleur der Finanzen schränkte er den Besitz von Edelmetallen ein, um so die Flucht ins Gold zu verhindern. Es half alles nichts. Law hatte nicht damit gerechnet, dass die Anleger ihre Aktien genauso schnell wieder abstoßen würden, wie sie diese erworben hatten. Er war felsenfest davon überzeugt, dass die Aktionäre eine Entscheidung fürs Leben getroffen hätten und ihm Jahrzehnte treu bleiben würden – ein schwerer Irrtum. Mit massiven Aktienrückkäufen versuchte Law den Kurs zu stützen, blähte dadurch aber die Geldmenge enorm auf und trieb die Inflation in neue Höhen. Wie die modernen Notenbanker von heute musste er lernen, dass die weiche Landung nach einem Boom nur schwer zu arrangieren ist. Der französische Staatsrat stellte fest, dass sein oberster Währungshüter Banknoten für über 2,6 Milliarden Livres in Umlauf gebracht hatte. Der Herzog von Orléans hatte heimlich noch ein hübsches Sümmchen auf eigene Rechnung drucken lassen. So brach Laws wundersame Geldvermehrung wie ein Karten-
haus zusammen. Im Mai 1720 wurde er aus allen Ämtern gejagt und anschließend enteignet und mit Schimpf und Schande ins Ausland verbannt. Vom größten Vermögen, das die Welt gesehen hatte, war ihm nur seine Gemäldesammlung geblieben. Die ausgedehnten Ländereien verfielen der Krone, seine Paläste wurden beschlagnahmt. 1729 starb er, keine 58 Jahre alt, während des Karnevals in Venedig einsam an einer Lungenentzündung. Laws Papiergeld blieb eine Episode. Frankreich kehrte reumütig zu Goldund Silbermünzen zurück. Für lange Zeit galten Banknoten dort nun als Teufelszeug.
Die Nachwelt urteilte ganz anders über John Law als die Zeitgenossen. Der große Publizist Charles Mackay widmete 1841 ein Kapitel seines Buchs „Memoirs of Extraordinary Popular Delusions and the Madness of the Crowds“ dem Wahnsinn der Massen während der Mississippi-Krise in Frankreich. Law sei eher getäuscht worden, als dass er selbst getäuscht habe, befand Mackay. Der Schotte sei umfassend vertraut gewesen mit den wahren Prinzipien des Kreditwesens und habe sich in den Finanzen besser ausgekannt als jeder andere zu seiner Zeit. Womit er aber nicht gerechnet hatte, „war die wahnsinnige Gier einer ganzen Nation. Wie konnte er ahnen, dass die Franzosen die Gans töten würden, die er dazu gebracht hatte, so viele goldene Eier zu legen“. Aus heutiger Sicht wertet der Wirtschaftshistoriker Paul-Günther Schmidt von der Frankfurt School of Finance & Management, der sich intensiv mit der Mississippi-Krise beschäftigt hat, John Laws Leistung sogar noch positiver. Er würdigt den Schotten als Visionär und unkonventionellen Idealisten, der mit dem Rohstoff Geld die Welt und die Lebensbedingungen der Menschen verbessern wollte. Schmidt zählt Law zu den „genialsten Volkswirten, die je gelebt haben“. In vielem habe er John Maynard Keynes, den wichtigsten Nationalökonom der Neuzeit, vorweggenommen. So widerfährt einem der größten Finanzjongleure der Weltgeschichte die überraschende Ehrenrettung.
Der Aktienkurs stieg von 500 auf über 10 000 Livres. Alles hing an der vagen Hoffnung auf Reichtümer an fernen Ufern. SPIEGEL GESCHICHTE
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Der Sturz des Ancien Régime in Frankreich war auch die Folge einer Finanzmisere. Aber der Versuch, die neue Ära auf Papiergeld zu gründen, endete ebenfalls in einem Wirtschaftsdesaster.
Revolution auf Pump Von STEFAN SIMONS
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INTERFOTO (L.); MUSÉE CARNAVALET / ROGER-VIOLLET (O.)
Enthauptung Ludwigs XVI. im Januar 1793 (zeitgenössische Darstellung)
as ist eine Revolte“, meint Ludwig XVI. gelassen, als er am Abend des 14. Juli 1789 in der bukolischen Ruhe des Schlosses von Versailles von Ausschreitungen im nahen Paris erfährt. „Nein, Sire, das ist eine Revolution“, wagt der „Großmeister der Königlichen Garderobe“, der Herzog de La RochefoucauldLiancourt, zu widersprechen – offenbar ohne den Herrscher vom Ernst der Lage zu überzeugen. Denn der summiert in seinem Jagdalmanach, der ihm als Tagebuch dient, die Geschehnisse nur mit einem einzigen, hingekritzelten Wort: „Nichts“. Der lakonische Eintrag sollte sich als monumentales Missverständnis erweisen, Beleg für die Torheit des Regierenden an jenem Tag, der bald zur welthistorischen Zäsur erhoben wurde: Der Sturm auf die Pariser Bastille am 14. Juli ist der Auftakt der Französischen Revolution. Was in der damaligen Gemengelage von Wirtschaftskrise, Steuerbür-
Assignaten und anderes Papiergeld aus der Zeit der Französischen Revolution (zeitgenössischer Stich im Pariser Musée Carnavalet)
den, sozialer Not und politischem Aufbegehren den Zündfunken des Jahrhundertereignisses bildete, bleibt unter Historikern umstritten. Die Attacke auf die Festung des Stadtbezirks Saint-Antoine wurde jedenfalls zum Fanal im Kampf gegen eine morsche Gesellschaftsordnung. Die Bastille beherbergte damals zwar nur sieben Häftlinge. Doch die Menge, die an jenem Morgen vor den mächtigen Gemäuern aufzog, fürchtete ein „Komplott der Aristokraten“ und rottete sich vor dem verhassten Symbol der königlichen Willkürherrschaft zusammen. Die Eroberung gegen 17 Uhr, später dargestellt als heroische Großtat, war ein kurzes Scharmützel – aber auch der Anfang vom Ende des Ancien Régime. Auf tönernen Füßen stand das Reich schon seit Jahrzehnten. Während der Herrschaft Ludwigs XIV., der von 1643 bis 1715 regierte, hatte die Kluft zwischen Ausgaben und Einnahmen schwindelerregende Ausmaße angenommen. Unter dem Nachfolger des Sonnenkönigs
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erlebte das Land zwar einen intellektuellen Aufbruch mit Denkern wie Montesquieu, Voltaire, Diderot und Rousseau. Die Bevölkerung wuchs, die Kolonialwirtschaft florierte, und auch der Sklavenhandel, von den Großreedern als Geschäft mit „Ebenholz“ verniedlicht, warf hohe Gewinne ab. Trotzdem schob der Staat ein dramatisches Defizit und eine erdrückende Schuldenlast vor sich her. Als Ludwig XVI. 1774 mit 19 Jahren Amt und Würden übernahm, lavierte das Reich, nach mehreren gescheiterten Versuchen der Finanzreform, an der Schwelle des Bankrotts.
Der neue König, der mit seiner 17jährigen Gemahlin in Paris festlichen Einzug hielt, vermittelte dennoch den Eindruck, der Ruin sei abwendbar. Trotz „erdrückender Steuerlasten“, berichtete Marie-Antoinette ihrer Mutter, der habsburgischen Herrscherin Maria Theresia, seien ihr und ihrem Gemahl nur „Liebe und Begeisterung des armen Volkes“ begegnet.
Das sollte sich ändern. Denn die Königin entpuppte sich als kapriziöse und leichtsinnige Regentin, die Unsummen für luxuriöse Bälle, Maskeraden und Glücksspiel ausgab. Im Schlosspark von Versailles ließ sie neben dem Petit Trianon eine heile bäuerliche Kulisse nachbauen – künstlicher See inklusive – und genoss, angetan mit Strohhut und in weißer Gaze, neckische Schäferspiele. Vom Volk als „Fremde“ verhöhnt, geriet die Königin in einen Strudel von Skandalen und Affären. Marie-Antoinette wurde das Sinnbild einer höfischen Verschwendungssucht, für die etwa sechs Prozent des Staatshaushalts aufgewendet wurde. Die Luxuswelt von Versailles hatte mit der bitteren Wirklichkeit der Bauern nichts gemein. Die Landbevölkerung, überwältigende Mehrheit der 26 Millionen Franzosen, bildete die breite Basis der feudalen Herrschaftspyramide, geknechtet durch Grundherren, abgezockt durch allerlei Abgaben für das Mahlen von Korn, Wegezoll und Pachtgebüh-
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ren. Die höheren Stände waren indes von Steuern befreit. Der Klerus mit 150 000 Geistlichen bildete den Ersten Stand und verklärte die bestehende Ordnung als gottgegeben. Neben wohlhabenden Bischöfen, Äbten oder Chorherren gehörten dem geistlichen Stand aber auch Mönche und Landpfarrer an, die sich mit weit geringeren Einkünften begnügen mussten. Etwa 350 000 Adlige gehörten zum Zweiten Stand. Städtische Bürger, Juristen, Kaufleute und Beamte bilden den aufstrebenden Dritten Stand („Tiers état“). Schuld am Niedergang des Reiches war jedoch nicht allein die Tatsache, dass der Staat sich nicht das Geld von denen holen konnte, die es besaßen, oder der höfische Prunk. Vor allem die Kriegsausgaben leerten die öffentlichen Kassen: der österreichische Erbfolgekrieg, der Siebenjährige Krieg und schließlich Frankreichs Unterstützung für den amerikanischen Unabhängigkeitskampf. Der Einsatz in Übersee erwies sich nicht nur als kostspielig, sondern auch als politisch riskant. Denn der demokratische Aufbruch in der Neuen Welt fand Widerhall unter den freigeistigen Denkern des alten Regimes. Die militärischen Abenteuer hatten einen hohen Preis: steigende Ausgaben, ständig aufgelegte Kriegsanleihen, Schuldverschreibungen und Darlehen, die gleich auf Jahre vorweg die Staatseinnahmen an findige Finanziers verpfändeten. Der Winter von 1789 war besonders streng; Kälte, Hunger und Unzufrieden-
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heit verbündeten sich gegen den lethargischen König, der von seinem „Metier als Monarch“ nur noch gelangweilt war. Das Defizit hatte derweil die schwindelnde Höhe von einer Milliarde Livres erreicht, der Staat stand vor dem Konkurs.
Ludwigs Generaldirektor für Finanzen, der Genfer Bankier Jacques Necker, hatte zwar keinen Erfolg mit einer Steuerreform – seine Versuche, Privilegien von Klerus und Adel aufzuheben, scheiterten. Bei der verzweifelten Suche nach einem Ausweg drängte der Schweizer auf die Einberufung der Generalstände nach Versailles – nach einer Unterbrechung von 175 Jahren –, denn sie hatten traditionell das Recht, neue Steuern zu bewilligen. Als am 5. Mai 1789 die Vertreter der drei Gesellschaftsschichten feierlich im Schloss von Versailles zusammenkommen, hat Necker erreicht, dass die Zahl der Abgeordneten des Dritten Standes etwa so groß ist wie die der privilegierten Stände zusammen. Strittig bleibt, ob nach Köpfen oder nach Ständen abgestimmt wird. Nach wochenlangem Streit erklären sich die bürgerlichen Vertreter zur „Nationalversammlung“. Ludwig XVI. versucht noch, das selbsternannte Gremium auszusperren. Doch die Abgeordneten besetzen das nahe gelegene Ballhaus. Hier schwören die 578 Repräsentanten des Dritten Standes am 20. Juni, nicht auseinanderzugehen, ehe eine neue Verfassung verabschiedet ist. Und als der Monarch am 11. Juli seinen populären Finanzexperten
Necker entlässt, kündigt sich der Volksaufstand an: Drei Tage später entlädt sich die Wut im Sturm auf die Bastille. Während auf dem Land die Bauern Schlösser und Abteien plündern und Adlige sich hastig in die Nachbarländer absetzen, kassiert die Nationalversammlung im Namen von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ die überkommene Ordnung: Abschaffung der Leibeigenschaft, der Gutsgerichtsbarkeit, des Jagdrechts, des Zehnten, der Käuflichkeit von Posten oder Kirchenämtern. Im September 1792 wird die konstitutionelle Monarchie liquidiert, im Januar darauf auch ihr Repräsentant: Ludwig XVI. stirbt unter dem Fallbeil, der effizienten Erfindung des Doktors Guillotin. Die Revolution regiert. Die Nationalversammlung proklamiert die Charta der Menschenrechte, Frankreich wird in Departements aufgeteilt, die Beamten werden gewählt, die Steuern gesenkt – doch die Staatssäckel bleiben leer. Um den optimistischen Aufbruch in die Republik nicht gleich mit saftigen Abgaben zu befrachten, verfallen Talleyrand und andere Mitglieder der verfassunggebenden Versammlung auf einen famosen Plan: die Sanierung der Staatsfinanzen durch den Verkauf beschlagnahmter kirchlicher Besitztümer – „zur Verfügung gestellt für die Nation“, so die beschönigende Formulierung. Bis die Immobilien der aufgelösten Orden verscherbelt sein würden, sollten die Güter vorweg schon mal als Pfand für staatliche Schuldverschreibungen – die sogenannten Assignaten – herhalten.
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Szene aus dem Historienfilm „Marie Antoinette“ (2006)
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„Das Ziel der Revolutionäre bestand nicht nur darin, die drängende Frage des Finanzbedarfs zu lösen“, erklärt der Historiker Joël Félix, Direktor des Zentrums für französische Geschichte im britischen Reading. „Zudem hofften sie, unter den künftigen Käufern der Kirchenimmobilien politische Unterstützung zu finden.“ Die wohlhabenden und königstreuen Schichten, so der Verfasser eines Standardwerks über das Monarchenpaar („Ludwig XVI. und MarieAntoinette. Ein Paar in der Politik“), sollten durch den Schnäppchenkauf fortan in dankbarer Loyalität zu den neuen Machthabern halten: „Die Revolutionäre wollten vermeiden, dass die Schaffung der neuen Institutionen an Geldnot scheiterte, denn das Chaos drohte die Gegenrevolution anzuheizen, die seit Juni 1789 befürchtet wurde.“ Dennoch war die Ausgabe der Assignaten unter den Volksvertretern durchaus umstritten. Papiergeld hatte keinen guten Ruf, seit unter Ludwig XV. der schottische Hasardeur John Law mit der Ausgabe von Banknoten und Aktien ei-
Erfolg der Assignaten verlockt, durch den Druck von weiteren Papieren der Schuldenfalle zu entkommen. Schon die nächste Tranche belief sich auf eine Summe von 800 Millionen Livres, im April 1790 wurden die Scheine per Dekret zur Banknote der Revolution.
Damit begann ein spektakulärer Werteverfall, angetrieben vom Misstrauen des Volkes, den Tricks der Spekulanten und den Nachahmungen der Geldfälscher – ausländische Regierungen inklusive. Die Obrigkeit verordnete eine Annahmepflicht; für Wein, Brot und andere Lebensmittel wurden Höchstpreise festgesetzt. Doch während die Druckerpressen Assignaten wie am Fließband fabrizierten, kletterten die Preise, verschwanden Silber- und Goldmünzen aus dem Zahlungsverkehr. Zugleich wurden die Waren knapper, der Schwarzmarkt blühte. „Wir wissen, dass jetzt Freiheit herrscht“, heißt es in einer Petition von Bürgern an die Nationalversammlung vom 17. Mai 1792. „Dennoch können wir, wenn wir in Châtillon den Markt besu-
Die Assignaten sind die Urahnen der amerikanischen „Subprimes“. nen Spekulationsboom mit folgendem Kolossalkrach ausgelöst hatte (siehe Seite 52). Immerhin: Die Immobilien waren meist von bester Güte. Der Wert bischöflicher Stadtpalais, Klosterbauten und ländlicher Abteien – „die fromme Anhäufung von 1500 Jahren“, so der USHistoriker Andrew Dickson White – summierte sich auf mehr als ein Viertel des gesamten französischen Haus- und Grundbesitzes. Grund genug, dass die Ausgabe der Papiere, anfangs verzinst mit fünf Prozent, zunächst ein positives Echo fand. Schließlich standen Schuldverschreibungen von 400 Millionen Livres Immobilienwerte in vielfacher Höhe gegenüber. Dennoch misslang das Finanzexperiment. Die Assignaten gerieten – wie es der belgische Wirtschaftswissenschaftler und Börsenchef Bruno Colmant in Anspielung auf die jüngste US-Immobilienkrise formuliert – zum „Urahn der Subprimes“. Denn der Kapitalzufluss reichte nicht aus, um das Haushaltsloch zu stopfen, die Lage blieb kritisch. Umso mehr war die Regierung nach dem ersten
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chen, nichts kaufen, weder Butter noch Käse, noch Eier.“ Innere Wirren und außenpolitische Konflikte verschärften die Not. Die Lebensmittelproduktion der Republik ging zurück, die Produktion von Papiergeld stieg – Anfang 1793 waren bereits zwei Milliarden Livres in Umlauf. Wer Zweifel an der Solidität der Währung erhob oder die Assignaten nicht zum aufgedruckten Wert akzeptierte, dem drohte ein promptes Ende unter der Guillotine: Für zweckdienliche Hinweise auf derart unpatriotisches Verhalten kassierten Denunzianten Prämien. Der unablässige Notenausstoß führte auch zu technischer Innovation: Ein gedruckter Stempel ersetzte die handschriftliche Zeichnung der Papiere, die im Stahlstich gefertigt wurden; ein mechanisches Zählgerät versah die Scheine mit durchlaufender Nummerierung. Indes waren 1795 bereits 7,3 Milliarden Assignaten unter das Volk gebracht, ein Jahr darauf stieg die Summe auf astronomische 30 Milliarden und mehr. Die Revolutionsnoten, die mit demonstrativem Patriotismus als „Francs“ aus-
gegeben wurden, verloren trotz Zwangskurs immer mehr an Kaufkraft: „Jenseits von Sèvres“, spottet der Volksmund, „gibt es für Assignaten nicht mal ein Glas Wasser.“ Bestenfalls in der Hauptstadt zirkulierten die Scheine noch als „Pariser Papier“, in der Provinz rechnete der Handel wieder mit harter metallischer Münze. Der Abschied vom neuen Zahlungsmittel gestaltete sich schwierig, zumal sich das Finanzwesen an das praktische Papiergeld gewöhnt hatte. „Es war eine gute Zeit für die Verwaltung, damals, als man mit einer unbegrenzten Zahl von Geldscheinen nicht nur alle bekannten und unbekannten Bedürfnisse befriedigen konnte, sondern auch für jeden Eventualfall die nötigen Beträge bereithalten konnte“, konstatierte Ex-Finanzchef Necker ironisch. „Zum Funktionieren der Staatskasse bedurfte es nur einer Papierfabrik, eines Stempels und einer Druckerei.“ Im Januar 1796 wurden die Noten radikal abgewertet – auf gerade ein Prozent ihres Nominalwertes. Im Februar zertrümmerte man die Pressen samt Druckstöcken und Matrizen und verbrannte die Gerätschaften auf einem Scheiterhaufen. Nach dem propagandistischen Feuerzauber, diesem „vielleicht letzten großen Fest der Revolution“ (so der Historiker Michel Bruguière), wurden die Assignaten in sogenannte Territorialmandate umgetauscht; ein gutes Jahr später wurden die Wunderpapiere der Revolution für ungültig erklärt.
Als Napoleon im November 1799 die Führung Frankreichs übernahm, befand sich die Nation erst recht in finanziellem Dauernotstand. Immense Schulden waren angehäuft, die Steuererhebung funktionierte nicht, weil die alten Besteuerungsgrundlagen entfallen waren. An der Ostgrenze Frankreichs, am Rhein, herrschte ebenso Krieg wie in Italien, in der Vendée kam es immer noch zu blutigen Aufständen. Die Armeen waren lang ohne Sold geblieben. Das größte Darlehen, das die Regierung erhalten konnte, deckte allenfalls die Ausgaben eines einzelnen Tages. Gleich bei der ersten Kabinettssitzung wurde der Erste Konsul gefragt, wie er das Land finanziell stabilisieren wolle. Die knappe Antwort Bonapartes signalisierte eine radikale Abkehr von der folgenreichen Schuldenpolitik seiner Vorgänger: „Ich zahle bar oder gar nicht.“
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Bis ins 19. Jahrhundert machte eine chaotische Währungsvielfalt Handel und Reisen in Europa zum Geduldsspiel. Erst lange nach den Nöten der Napoleonischen Zeit wurde der monetäre Wirrwarr überwunden.
Der Heller-Wahn Von JOHANNES SALTZWEDEL
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Zum Glück fuhr der Poet und Ge- habt. Zwar galt in den meisten Ländern m 24. Mai 1815 brach Goethe frühmorgens aus heimrat in der eigenen Kutsche und der Reichstaler zu 24 oder 28 „Guten Weimar auf. Wie im Jahr brauchte so nicht den üblichen Postmei- Groschen“, doch schon in Frankfurt zuvor wollte der Dichter lentarif samt Chaussee-, Schmier- und rechneten die Händler lieber nach oberzur Kur – im Gepäck hatte Brückengeldern zu zahlen. Für Zeche deutschem Brauch in Gulden und Kreuer auch die ersten Gedichte des späte- und Logis nahmen die Gastwirte mit zern ab. Für vier Pfennige in Fulda zählren „West-östlichen Divan“. Über Erfurt fremden Münzen vorlieb. Andernfalls te man in Wiesbaden sechs Heller. Derlei Kleckerbeträge waren im feiund Gotha rollte der gefederte Wagen hätte Diener Karl Stadelmann wohl einach Eisenach, tags darauf bis Fulda. Am nen Sack Hartgeld herumzuwuchten ge- nen Badeort natürlich schnell ausgegeben. „Man spürt hier sehr daß 26. abends kam man in Goedie Münze rund ist“, hatte thes Geburtsstadt Frankfurt Goethe schon während des voam Main an. Am folgenden rigen Aufenthaltes seinem FaMittag gegen zwei Uhr war milienfreund und treuen Konendlich das feine Hotel „Bätoführer, dem reichen Frankren“ in Wiesbaden erreicht. furter Juristen Fritz Schlosser, Was heute nur Stunden signalisiert. „Haben Sie meine dauert, war damals eine Reise Assignation realisirt und findurch mindestens sechs Staaden Gelegenheit, mir einige ten: das heimische SachsenHundert Gulden zuzusenden, Weimar-Eisenach, gerade im so geschieht mir Gefälligkeit.“ Begriff, Großherzogtum zu Selbstverständlich bekam werden, Preußen – Erfurts Goethe prompt sein Bares; Obrigkeit –, das Herzogtum auch über den Kurs brauchte Sachsen-Gotha-Altenburg, das er sich keine Sorgen zu maKurfürstentum Hessen, die chen – perfekter Service inFreie Stadt Frankfurt und mitten einer Finanzwelt, die schließlich das Herzogtum Nassau. Goethe auf Italien-Reise (Gemälde von J. H W. Tischbein) vertrackt war wie nirgendwo
OBEN V. L.: BILDAG. HUBER; CW/ULLSTEIN BILD; INTERFOTO; PLEUL/DPA; ARTCOLOR/INTERFOTO; WALDHAEUSL; GENTSCH/DPA
sonst in Europa. Buchstäblich an jedem Heller offenbarte sich das Chaos, das Jahrhunderte territorialer Zersplitterung auch auf monetärem Gebiet hervorgerufen hatten. Was war da nicht alles in Umlauf: Rheinische Gulden, Lübische Kurantmark, nord- und mitteldeutsche Taler, dazu prächtige Goldstücke wie Dukaten, Carolin oder Louisd’or, erst recht kleinere Münzen namens Kopfstück, Groschen, Albus, Ort, Denar, Stüber, Grot, Schilling, Batzen, Pfennig, Kreuzer und manches andere – die schier uferlose Vielfalt überblickten allenfalls Postprofis, Fernhändler und Bankiers. Trickreich wussten solche Experten mit Kurs-Stückelungen, aktuellen Aufund Abwertungen und den überall verborgenen Tauschkursen zu jonglieren. Kaufleute waren zwar längst darin geübt, dem verlustreichen Bargeschäft durch Wechsel, Schuldverschreibungen oder auf andere Art zu trotzen. Aber noch immer beförderten die Postkutschen rollenweise Hartgeld.
Musste das sein? Eine Weile hatte es ausgesehen, als würden Napoleons Feldzüge die Geldkonfusion endlich bereinigen. So waren etwa im neuentstandenen Königreich Westphalen unter Jérôme Bonaparte 1808 alle wichtigen Münzen auf einen Kurs in Francs und Centimes taxiert worden – vom preußischen Friedrichsd’or zu 20 Francs 80 Centimes bis zum hessischen Dreigroschenstück zu 48 9/16 Centimes. Europaweit hatten Frankreichs Revolutionäre großen Eindruck damit gemacht, dass ihre neue Währung nach dem aufklärerischen Dezimalsystem funktionierte.
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WERTSTÜCKE, EDEL AUSGEMÜNZT Im Uhrzeigersinn: Angeblich ältester Taler der Welt, geprägt 1486 in Hall (Tirol), Kurmainzer Heller von 1759, Maria-Theresien-Taler von 1780, Halbtaler Friedrichs des Großen 1750, Madonnentaler von 1626, österreichischer Kreuzer von 1816 und bayerischer Golddukat von 1855.
Als Leitwährung taugte das Geld der politisch instabilen Grande Nation dann aber doch nicht – schon weil zu viele ältere Münzen in Umlauf waren. „Das Verhältnis eines Franken gegen den vorigen Livre“, erläuterte 1811 das Reise-Handbuch „Der Passagier“ von Heinrich August Ottokar Reichard, „ist wie 81 gegen 80, oder ein Franke hält gerade einen alten französischen Livre, und ein Centime, (eine kleine Kupfermünze, etwa in der Größe eines Reichspfennigs,) wonach also die alten Laubthaler von 6 Livres, um 6 Centimes weniger als 6 Francs geachtet, und in den Cassen dafür angenommen werden.“ So musste man also weiter mit Zwölfteln, Sechzehnteln, Sechzigsteln oder noch krummeren Stückelungen rechnen. Wer abseits vom Heimatort nicht fortgesetzt ausgenommen und übers Ohr gehauen wurde, bewies damit gewöhnlich mehr Glück als Verstand. Natürlich waren Schlauere und Reichere immer schon einigermaßen durchgekommen. So hatte der nie sehr knauserige, aber achtsame Goethe die laufenden Kosten seiner Italien-Rei-
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zu einem Gulden, und der sollte üblicherweise einem Zwanzigstel – oder auch Vierundzwanzigstel – der alten Kölnischen Mark Feinsilber zu 233,855 Gramm entsprechen. Faustregeln gab es viele, aber oft galt eben schon im nächsten Dorf etwas anderes. Wurde in Hamburg und Lübeck ein preußischer Taler zu 2 1/2 Kurantmark in 40 Schillinge à 2 SechslinÜberfall auf eine Postkutsche in Italien (Kreidelithografie, um 1840) ge oder 12 PfenniGut oder schlecht: Das war in den ge gestückelt, waren es im benachbarten se 1786 bis 1788 ohne allzu große Tauschverluste bestritten, indem er bei Jahrhunderten seit Einführung des Sil- Mecklenburg-Schwerin schon 48 Schildeutschen Bankiers oder Vertrauens- bergeldes stets eine heikle Frage gewe- linge. Bremens welthändlerisch gesinnleuten am Ort vorweg überwiesenes sen. Mittlerweile wurde das Feingewicht te Ratsherren hatten sich, als wollten sie Geld in brauchbarer Währung abhob – der Münzen zwar kaum noch manipu- alle anderen ärgern, den Louisd’or – sein gewiefter Diener Philipp Seidel liert. Aber gerade deutsche Duodez- auch Pistole genannt – zu 5 Talern Gold sorgte von Weimar aus für das nötige fürsten versuchten nach 1800 besonders als Grundmaß gewählt, das sie in 72 Grononchalant mit Sonderprägungen, ver- te zu 5 Schwaren einteilten. Guthaben und akkurate Buchführung. Zwar waren selbst die alten GuldenDer unbetuchte Literat Johann Gott- kappten Abwertungen und allerlei fried Seume hingegen tauschte für den „Bancozetteln“ ihre strapazierten Staats- länder Österreich und Bayern 1753 in eieigenen, später in einem kernig-klugen finanzen in Gang zu halten. Viele private ner Münzkonvention parallel zur TalerBuch geschilderten „Spaziergang nach Notenbanken machten die Lage noch währung übergegangen – aber auch dieSyrakus im Jahre 1802“ stattliche Teile heikler; der Umrechnungsdschungel ser „Konventionstaler“ oder „Speziestaler“ im angeblichen Wert von 32 Guten seines kleinen Kapitals in Gold um. Die kam hinzu. Groschen, 120 Kreuzern, 480 Pfennigen meisten der Unzenstücke transportierte der furchtlose, nur mit einem Knoten- Die lebenskluge Caroline von oder 2 Gulden brachte keine Klarheit. stock bewaffnete Weltenbummler in ei- Humboldt, vom Wohnsitz Rom aus auf Reichards Reise-Ratgeber erklärte 1811 nem Büchlein, das sich in einer beson- Deutschland-Reise, meldete am 11. April die wichtigsten deutschen Umrechnunderen Tasche seines Wamses unter der 1804 ihrem diplomatisch engagierten gen auf 14 eng bedruckten Seiten; der linken Achsel befand. Tatsächlich blieb Mann Wilhelm: „Ich schreibe Dir hier gleiche Raum genügte für fast ganz Restdie Geheimbörse, zu der auch eine mit zwei Worten die Summe ab, so meine europa mit Brabanter Dukaten, enggoldene Uhr zählte, bei zwei Raubüber- Reise bis hierher gekostet hat: 148 Fran- lischen Guineen, Schweizer Franken fällen auf den einsamen Landstraßen cesconi – 103 1/2 hab ich noch und habe oder italienischen Scudi. Dabei kursierten beileibe nicht nur Italiens unentdeckt. sie zu meiner Rückreise behalten. 68 DuDennoch bekam Seume vom europa- katen – 2 hab ich noch, 24 1/2 Laubtha- solide Münzen. „Man sieht auch hier in weiten Wirrwarr der Währungen, der ler, 22 Carolinen, 40 röm. Scudi.“ Alles in der Residenz nichts als Papier und seit Beginn der napoleonischen Feld- allem, überschlug die Aristokratin, seien schlechtes Geld“, beobachtete Seume in züge noch zugenommen hatte, einiges es an die 700 Taler, eine stattliche Sum- Wien; „das Kassenpapier ist noch das zu spüren. „Ich bezahlte gestern meine me. Aber sie sei nun einmal „ungeschickt unschuldigste Mittel die Armut zu Mittagsmahlzeit in guten Zehnern, die …, die verschiedenen Münzsorten auf decken, so lange der Kredit hält.“ Ernüchternde Bilanz des welterfahrein Sachsen eben noch nicht sonderlich einen Wert zurückzubringen“. gut sind“, schrieb er beispielsweise, So ging es wohl den allermeisten. Ein nen Wanderers: „Eingerechnet unsere noch bevor er Wien erreicht hatte. „Das „Guter Groschen“, wovon nach altem Privilegien und Immunitäten … zahlen sah ein Tabuletkrämer, machte mich Herkommen 24 auf einen Reichstaler die Ärmeren fast durchaus fünf Sechsaufmerksam wieviel ich verlöre, und gingen, wurde in der Regel mit zwölf teile der Staatsbedürfnisse. Die Inhaber nahm hastig … die guten Zehner weg Pfennigen verrechnet. Andere indessen der Staatspapiere, sie mögen Namen haund legte dem Wirt, der eben nicht zu- zählten 90 Kreuzer auf den Taler, was 15 ben wie sie wollen, gehören aber meisgegen war, neue schlechte Zwölfer Pfennigen auf den Groschen entsprach. tens zu den Reichen … Die Interessen dafür hin.“ 16 Groschen wiederum summierten sich werden wieder aus den Staatseinkünften
MÜNZKABINETT, SMB / BPK (O.); AKG (M:); GUDRUN STENZEL / MÜNZKABINETT, SMB / BPK (U.)
Taler Friedrichs des Großen, ein preußischer Silbergroschen von 1873, norddeutscher Taler 1846.
bezahlt, die meistens von den Ärmern bestritten werden.“ Manche dieser gleich mehrfach Geschröpften entwickelten reichlich brachiale Methoden, ihren Anteil am Volksvermögen zu erhöhen. „In Wien und hier auf dem Wege überall wurde erzählt, daß man die Preßburger Post angefallen, ausgeplündert und den Postillon und den Schaffner erschlagen habe“, notierte Seume einige Stationen später. „Das waren aber gewiß Leute, die vorher gehörig rekognosziert hatten, daß die Post beträchtliche Summen führte, die sich auch wirklich zusammen über hundertunddreißigtausend Gulden belaufen haben sollen.“ Das war wirklich ein kapitaler Betrag: Selbst nach sehr vorsichtiger Rechnung beförderte der Wagen etwa zwei Fünftel dessen, was Weimars Staatsminister Goethe während seines ganzen Lebens an Gehalt einnahm. Kein Wunder, dass Posträuber bis weit ins 19. Jahrhundert regelmäßig den Geldverkehr unsicher machten, so grauenvolle Strafen ihnen auch drohten. Noch jahrzehntelang hatten Touristen wie Geschäftsleute quer durch Europa mit Kurs-Chaos, Wechseltricks und Wegelagerei zu kämpfen – Metternichs Restauration der vornapoleonischen Herrschaftsverhältnisse ließ auch das alte Münzlabyrinth kaum gemildert wiederkehren. Zwar erkannten immer mehr Staatsmänner, dass irgendwie aufgeräumt werden musste. Doch vorerst behielten Kirchturmpolitiker die Oberhand. Einen Anlauf zur Klärung machte das erstarkte Preußen, als es im Münzgesetz vom 30. September 1821 den Taler auf 30 Silbergroschen à 12 Pfennige umstellte. Tatsächlich passten sich bis 1838 die meisten Staaten Norddeutschlands der neuen, ungewohnten Stückelung an, aber eben wieder nicht alle: Sachsen prägte für jeden Neugroschen nur 10 Pfennige, Hannover blieb bei 24 Guten Groschen von 12 Pfennig – für biedere Portemonnaie-Besitzer nur neuer Hohn.
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Nicht einmal der Deutsche Zollverein von 1834 ließ Hoheitsdünkel und Prägeeifer erlahmen. Mit eigenem „Vereinsgeld“, zuletzt nach einer Erweiterungsallianz mit Österreich 1857 noch der goldenen „Vereinskrone“ sowie dem „Vereinstaler“ zu 1 3/4 Gulden süddeutscher und 1 1/2 Gulden österreichischer Währung, glaubten die Finanzpolitiker ihren Mut in klingender Münze feiern zu müssen.
Am Ende blieb es dann doch der kriegerischen Gewalt vorbehalten, auch auf währungspolitischem Feld die aberwitzige Flickschusterei zu beenden. Zwei Jahre nach dem Sieg über Frankreich und der Ausrufung des Deutschen Reiches wurde am 9. Juli 1873 die Mark mit 100 Pfennigen zum Hauptzahlungsmittel von Hadersleben bis Berchtesgaden und von Trier bis Tilsit. Bald war sie ein überwältigender Erfolg. Für den Anfang hatte man das neue, auch dank der französischen Reparationen goldgedeckte Zahlungsmittel als „hinkende“ Währung, also mit festem Silberkurs konstruiert, um die vielen früheren Silbermünzen aufzufangen. Obendrein galten großzügige Umtauschfristen: In Bayern blieb der Heller als halber Pfennig noch lange weiter in Gebrauch; alte Taler aus der Familienspardose konnte man bis zum 30. September 1908 in je drei Mark umtauschen. Die Lenker der Preußischen Bank, die 1876 ihr Institut in die neue „Reichsbank“ überführten, durften sich bestätigt fühlen. Die befreite Wirtschaft boomte; Banken, Industrie und Handel erlebten einen Aufschwung von ungeahnter Wucht. Der alte Goethe hatte es 1828 vorausgewünscht: „Mir ist nicht bange, daß Deutschland nicht eins werde … Es sei eins, daß der deutsche Thaler und Groschen im ganzen Reiche gleichen Werth habe; eins, daß mein Reisekoffer durch alle sechsunddreißig Staaten ungeöffnet passiren könne.“ Erst die erfolgsverwöhnte Unternehmergeneration der Gründerjahre musste dann leidvoll erfahren, dass die Bereinigung auch neue Risiken mit sich gebracht hatte. 63
KAPITEL III
GLANZ UND ELEND NACH 1800
Das Eisenbahnfieber Die Industrielle Revolution in England brachte nicht nur die Fabrik, das Proletariat und den modernen Kapitalismus hervor – sie schuf auch die Bedingungen für riesige Spekulationen und zyklische Wirtschaftskrisen.
Baumwollverarbeitung in England (Stich, 19. Jahrhundert)
GLANZ UND ELEND NACH 1800
Lokschuppen in Camden Town, London (Farblithografie von James Bourne, 1839)
Von GEORG BÖNISCH
E
in paar Jahrzehnte nur, vielleicht acht, vielleicht zwölf, es waren Wimpernschläge in der Geschichte der Menschheit. Und doch brachten sie die „gründlichste Umwälzung, die jemals in schriftlichen Dokumenten festgehalten wurde“, schreibt der große Sozialhistoriker Eric Hobsbawm.
wollerzeugnisse, fünf Siebtel der (noch recht geringen) Stahlmenge, sie förderten zwei Drittel aller Kohle. Und sie bewiesen sich immer wieder als Entdecker und Erfinder: automatisch arbeitende Webstühle, das Prinzip Fabrik, die Dampfmaschine, deren Kraft Tausende Hände ersetzte. Schließlich die Eisenbahn als Dampfmaschine auf Schienen: für viele Zeitgenossen ein Höllengerät, aber eines mit starkem Zug in die Zukunft.
Insel unter Dampf Entwicklung der britischen Eisenbahnstrecken Glasgow
Edinburgh
1840
Glasgow
Edinburgh
1872
35 000
32184 30 000 25 000
Manchester Liverpool
Manchester Liverpool
20 000
Ausbau des Schienennetzes in Großbritannien
15 000
London
London
Cardiff
Cardiff Quelle: Atlas of Industrializing Britain 1780-1914
S. 64-65: ULLSTEIN BILD; S. 66: THE STAPLETON COLLECTION / BRIDGEMANART.COM
Southampton
10 000
in Streckenkilometern 5000
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Quelle: Mitchell, Then
Southampton
Das epochale Geschehen ist als Industrielle Revolution in die Geschichte eingegangen. Sie fand in Hobsbawms Heimat Großbritannien statt, und sie erzeugte den ersten kapitalistischen Industriestaat. Seit Beginn des Ackerbaus, seit der Entdeckung der Metalle und seit den Siedlungen in der Jungsteinzeit, so Hobsbawms Befund, sei „keine Veränderung im Leben der Menschen … so fundamental“ gewesen. Sie machte die Reichen noch reicher, während die Armen in der Regel arm blieben. Großbritannien, das lange schon eine bedeutende Handels- und Seemacht gewesen war, stieg auf zur Nummer eins, zur Werkstatt der Welt – mit so viel Macht wie kein anderer Staat dieser Größe zuvor oder danach. Binnen eines Jahrhunderts, zwischen 1740 und 1840, hatte sich die Zahl britischer Bürger fast verdreifacht und deren Wirtschaftsleistung mehr als vervierfacht. Die Briten produzierten damals etwa die Hälfte der weltweiten Eisen- und Baum-
1825 1830
1850
1870
1890
1910
Jetzt konnten in wenigen Stunden Strecken überwunden werden, für die ein Pferdegespann Tage benötigte. Eine „Verkehrsrevolution“, schreibt der Geschichtswissenschaftler Hans Rosenberg, komplettierte die Industrielle Revolution. Denn der Eisenbahnbau habe als „Marktbildner“ gewirkt, „indem er die Schwierigkeiten der Raumüberwindung beseitigte“. Die Ingenieurleistung Eisenbahn wurde ganz schnell zu einer Erfolgsgeschichte und zum Synonym für Ultramodernes, „ähnlich wie ,atomar‘ nach dem Zweiten Weltkrieg“ (Hobsbawm). Und so begann die ungeheure Expansion der Wirtschaftsmacht Großbritannien – und eine Art erste Globalisierung. Dazu gehörte der Umbau des englischen Finanzmarktes. Plötzlich spielten Aktien eine große Rolle und der Ort, an dem sie gehandelt wurden – die Börse. Der Staatskredit verbreitete sich ebenso wie private Investitionskredite, Fonds, öffentliche Anleihen, eben „neue Me-
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GLANZ UND ELEND NACH 1800
thoden der Kapitalbeschaffung“ (Rosenberg). Ganz weit öffnete sich nun auch das Tor zur Spekulation, die bis dahin in der Wirtschaftsgeschichte nur episodisch aufgetreten war. Das Geld- und Bankensystem wurde instabil und fragil und glich einem Mikadospiel. Eine falsche Bewegung, und alles konnte zusammenbrechen. Genauso kam es 1857, im Jahr der ersten Weltwirtschaftskrise. Serienweise wurden zunächst amerikanische Unternehmen in den Ruin getrieben, Hunderttausende Menschen mussten darben. „Pleite“, schlagzeilte eine Zeitung, „ist ein anderes Wort für Hunger.“ Schuld war das Symbol der neuen Zeit: die Eisenbahn.
Ein gutes Jahrhundert früher. Manchester im Nordwesten Englands ist weltweit die erste Großstadt der Industrialisierung. Hier, so berichtete es ein Reisender, „bemerken wir Hunderte fünfbis sechsgeschossiger Fabriken, jede mit einem turmhohen Schornstein daneben, der schwarzen Kohlenrauch ausstößt“. Da wurde Baumwolle gesponnen – wer heute über den Beginn der Industriellen Revolution spricht, der meint Baumwolle – nicht Kohle, nicht Eisen, nicht die Schwerindustrie. Und Manchester steht symbolisch für eine Neuausrichtung der Wirtschaft, deren Bewertung abhängig ist von der Betrachtungsweise. Wer vor allem das Leid der Arbeiter sieht, der spricht vom Manchesterkapitalismus; wer die Vorzüge meint – den Freihandel, keinen Protektionismus –, der spricht vom Manchesterliberalismus. Was an unmenschlich langen Arbeitstagen – 12 bis 16 Stunden am Stück
waren keine Seltenheit, auch nicht für Kinder – mit Maschinenhilfe produziert wurde, musste schnellstmöglich zu den Käufern gebracht werden. Großbritannien besaß, im Gegensatz zum europäischen Festland, ein gutausgebautes Kanal- und Straßensystem. Doch Kähne und Gäule sind langsam. Der Erste, der die wundersame Erfindung Dampfmaschine im Verkehr einsetzte, war der Ingenieur Richard Trevithick. Sein Vehikel zog, 1804, auf dem Schienenweg nahe Merthyr Tydfil bei Cardiff, immerhin eine tonnenschwere Last. Doch dauerte es noch fast eine Generation, bis die Lokomotive „aus dem experimentellen in das wirtschaftlich lebensfähige Stadium trat“, notiert die englische Historikerin Phyllis Deane. Anfang Oktober 1829 war vor den Toren Liverpools, nicht weit von Manchester entfernt, ein neuntägiger Wettbewerb ausgeschrieben. Die „Rainhill trials“ fanden auf einem Abschnitt von knapp drei Kilometern statt: dem ersten Teilstück der allerersten Eisenbahnlinie Liverpool–Manchester. Die Siegermaschine hieß „Rocket“, Rakete. Tatsächlich war die gemessene Geschwindigkeit von 39 Stundenkilometern in jener Zeit eine ungeheure Sensation. Und die von Robert Stephenson konstruierte Lok erreichte sie gleich mehrfach, ohne jede technische Störung. Die „Rocket“ wurde später auch in Deutschland ein Ver-
kaufsschlager. Auf der Insel löste sie jenen Boom aus, den man „railway mania“ nannte, Eisenbahnwahn. Innerhalb von 20 Jahren nur, zwischen 1830 und 1850, erschloss ein fast 10 000 Kilometer langes Schienennetz das Land. So etwas gab es sonst nirgendwo auf der Welt. Bis 1857 kamen noch einmal über 2500 Kilometer hinzu. Jeder Hafen, jede Stadt, jeder Flecken war nun in ungeahntem Tempo zu erreichen, egal, ob Kohle, Eisen, Holz oder Stoffballen geliefert wurden. Alte Märkte wurden ausgebaut, neue rasch erschlossen. Das „Maß der Bewegungsgeschwindigkeit“ habe das „Gefühl einer riesenhaften, die ganze Nation umspannenden, komplexen, genau aufeinander abgestimmten Ordnung“ erzeugt, urteilt Hobsbawm. Damit habe es sich ausgewirkt „auf das Leben aller Bürger des Landes“.
Das Tempo der „Rocket“, 39 Stundenkilometer, war eine Sensation.
Die Eisenbahngesellschaften waren private Unternehmen, nicht etwa staatliche, ob sie nun „Grand Junction Railway“ hießen oder „London and South Western Railway“ oder „Stockton and Darlington Railway“. Folgerichtig musste das investierte Geld aus privater Hand kommen. Ein riesiger Kapitalmarkt entstand. Lange vorher schon, beim Ausbau des Kanalsystems, hatten sich etliche Sparer überreden lassen, ihr Geld in Aktien an-
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zulegen, „ohne direktes Interesse am Ergebnis des Vorhabens“ wie Historikerin Deane unterstreicht. Man könne, sagt sie, diese Tatsache als großen Schritt zum Kapitalismus betrachten. Als es dann für die Finanzierung der Eisenbahnen erheblich höherer Summen bedurfte, sei „das institutionelle Modell“ bereits vorhanden gewesen – „und die Aktiengesellschaft erfüllte abermals die Funktion, die Ersparnisse der nicht aktiven Anleger loszueisen und sie produktiven Unternehmen zuzuleiten“. Auf dem Höhepunkt der Entwicklung war das Kapital dieses Wirtschaftszweiges auf 315 Millionen Pfund Sterling angewachsen – nach heutigem Wert 25,6 Milliarden Euro. Anders gerechnet: Allein die Eisenbahn machte ein Zehntel des britischen Bruttosozialprodukts aus. Was da geschah, war ohne jedes geschichtliche Vorbild. Und immer noch galt die Maxime, alles sei weiter im Fluss und der Fortschritt unbegrenzt. Doch nicht jeder strahlte Zuversicht aus. Es gab genug Skeptiker, die bezweifelten, dass sie „in der besten aller möglichen Welten lebten“, wie es der USamerikanische Wirtschaftshistoriker David Landes formuliert. Waren vor allem Angehörige der Mittel- und Oberschicht vom Fortschritt fast berauscht, so trauerten viele Briten auch den alten Zeiten nach. Sie beklagten die schlechte Luft und die Hässlichkeit der neuen Fabrikstädte, bedauerten den wachsenden politischen Einfluss einer Clique von Neureichen und verurteilten die „Armut eines entwurzelten Proletariats“ (Landes). Denn die Industrielle Revolution hatte auch eine neue soziale Klasse ge-
schaffen: die Fabrikarbeiter. So glänzend der wirtschaftliche Aufstieg sich für einige wenige gestaltete, so radikal änderten sich für den Durchschnittsmenschen die Umstände seines täglichen Lebens. Er war nicht mehr Herr seiner selbst. Den „bloßen Lohnstatus in den Fabriken zu akzeptieren“, so betont der Autor Christopher Hill, „bedeutete die Aufgabe des Geburtsrechts eines Menschen, den Verlust der Unabhängigkeit, Sicherheit, Freiheit“. Ein Riesenreservoir an billigen Arbeitskräften war vorhanden. Besonders nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft drängten zu Beginn der Friedenszeit Zehntausende ehemaliger Soldaten auf den Arbeitsmarkt. Dieses Überangebot drückte die Löhne und förderte die beispiellose Expansion der britischen Wirtschaft. Zwischen 1820 und 1850 stiegen die Unternehmergewinne ständig. Noch zu Ende des 18. Jahrhunderts hatten die Friedensrichter in der Region Speenhamland angeordnet, dass der Lohn eines Arbeiters in fairem Verhältnis zum Brotpreis und zur Zahl der durchzufütternden Kinder zu stehen habe. Hier war also eine Art Mindestlohn festgelegt. Etliche Kommunen übernahmen diese Regelung, die Deane als „eine der letzten Akte des alten paternalistischen Wirtschaftstyps“ charakterisiert.
Das hielt nicht lange. Per Gesetz senkte der Staat 1834 den Anspruch auf eine Unterstützung nach dem Armenrecht. Notleidende wurden in die gefängnisartigen Arbeitshäuser abgeschoben. Und die Position der Arbeiter war noch zu schwach, um dagegen anzu-
kämpfen. Viele verdingten sich als Handwerker oder nur Gelegenheitsarbeiter, etwa beim Eisenbahnbau. In den Fabriken schufteten größtenteils Frauen, Jugendliche und Kinder – also Bevölkerungsteile, die nicht unbedingt für Streit oder Streik gerüstet waren. Männliche Arbeitskräfte stellten nur ein knappes Viertel der Beschäftigten, eine auf den ersten Blick verblüffend geringe Quote. Denn mit der Einführung des mechanischen Webstuhls wurden viele Weber entlassen. Hinzu kam eine Bevölkerungsexplosion, die immer neue Arbeitskräfte auf den Markt schleuderte. Zeitweise lag die Wachstumsrate bei 17 Prozent pro Jahrzehnt. Jeder lechzte nach Beschäftigung, denn Arbeitslosigkeit hieß nacktes Elend. Als eine große Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts Heerscharen von Iren auf die Nachbarinsel England trieb, verschärfte sich die dortige Lage noch einmal dramatisch. Was die Chefs verlangten, wurde akzeptiert, „wie niedrig der Lohn und wie lang der Arbeitstag auch sein sollte“ (Deane). Im Rhythmus der Maschinen arbeitete das Personal Tag und Nacht. Liefen die Geschäfte gut, so peitschten die Unternehmer ihre Leute noch gnadenloser an. Liefen sie schlechter, dann hieß es: raus oder Kurzarbeit zu Hungerlöhnen. Auf der Straße standen genug Menschen bereit, noch länger für noch weniger Geld zu schuften – die „industrielle Reservearmee“, wie Karl Marx sie nannte. Das Establishment in Großbritannien hielt sich die weniger erfreulichen Realitäten nach Kräften vom Leib. Aber manchmal kam es nicht umhin, sich mit den Schattenseiten seiner Lieblingsun-
Die Industriestadt Leeds (Farblithografie von Alphonse Dousseau, 1840)
ternehmen, den Eisenbahnen, zu befassen. Als 1836/37 feststand, dass viel mehr Linien projektiert worden waren als wirtschaftlich vernünftig, bekam der Boom eine tiefe Delle. Enttäuschte Spekulanten verkauften ihre Aktien oder versuchten, ihre Einlagen rasch zu versilbern. Ein Jahrzehnt später, 1847, wiederholte sich die Geschichte, und diesmal schienen die Dimensionen noch viel dramatischer. Mittlerweile arbeiteten über 300 000 Menschen beim Bau oder Betrieb der Eisenbahnen. Was dabei erwirtschaftet wurde, entsprach dem deklarierten Gegenwert aller britischen Exportwaren. Jetzt gerieten die Spekulanten in Panik und zogen vor allem Gold ab. Was
folgte, war ein wundersames Auf und Ab von „Depression, Aufschwung und Hochspannung“ (Rosenberg) – oder, wie es der Kapitalismuskritiker Friedrich Engels ausdrückte: ein „industrieller, kommerzieller, kreditlicher und spekulativer Steeplechase, um endlich nach den halsbrechendsten Sprüngen wieder anzulangen – im Graben des Krachs“.
Genauso kam es. Im Mittelpunkt des „Steeplechase“, zu Deutsch Hindernisrennens: die Eisenbahn. Briten, die daheim reichlich Geld mit ihr verdienten, hatten mindestens 80 Millionen Pfund angelegt in amerikanischen Fonds- und Aktienunternehmen, auch die Banken jenseits des Atlantiks verfielen alsbald dem „Eisenbahnfieber“.
Vor allem die New Yorker Filiale der „Ohio Life Insurance and Trust Company“, die bis dahin im Ruf der Seriosität, ja besonderer Vertrauenswürdigkeit gestanden hatte, tat sich hervor. Deren Chef Edward C. Ludlow galt als begnadeter Akquisiteur. Lange hatte er einen guten Job gemacht, keine Bank verfügte über mehr Spareinlagen. Aber kein Manager zockte so rücksichtslos wie Ludlow mit Eisenbahnaktien. Er verzockte sich bis zum Crash: Binnen Tagen geriet das amerikanische Bankensystem an den Abgrund. „Beautiful“, jubelte Marx voller Revolutionshoffnung – und Freund Engels antwortete gleichermaßen entzückt: „Die Rückwirkung auf England scheint eröffnet.“ Tatsächlich verbreitete sich die Krise in rasantem Tempo, Telegrafie machte es möglich. Geldhäuser brachen zusammen, in London, Liverpool und Glasgow. Allein zwischen September und November 1857 verschwanden 85 Firmen von der Bildfläche, die Höhe ihrer Verbindlichkeiten lag bei 42 Millionen Pfund, umgerechnet etwa 3,4 Milliarden Euro. Großbritannien als Hauptfinanzier des Welthandels wankte kurzzeitig. Doch eine kluge Politik der Bank of England und die Tatsache, dass zur Konjunkturbelebung das Geld der Bürger „aus seinen Schlupfwinkeln“ (Rosenberg) schnell wieder hervorkam, beförderte einen raschen Wiederaufstieg. Die Eisenbahn wurde zum Exportschlager, vor allem in den britischen Kolonien. Und es entstand, auch dank der Eisenbahngewinnler, eine neue Gesellschaftsschicht: die Rentiers, definiert als „Personen von Rang und Besitz“, aber ohne erkennbare Beschäftigung. Es handelte sich um glückliche Nutznießer und Erben des Booms. Ihre Zahl wird auf 170 000 beziffert. Die meisten von ihnen waren Frauen, viele davon unverheiratet. Sie wohnten gern im vornehmen Londoner Stadtteil Kensington, kurten in Seebädern, urlaubten in den Schweizer Bergen oder in den Hügeln der italienischen Toskana. Das „Zeitalter der Eisenbahn“, urteilt Eric Hobsbawm mit gehöriger Ironie, hätte auch die „wirtschaftliche Basis für den viktorianischen Ästheten“ geschaffen. Doch nie war es weit zum nächsten Wirtschaftskrach.
Auf der Straße standen genug Menschen bereit, noch länger für noch weniger Geld zu schuften. 70
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BETTMANN / CORBIS
„Die Armen von Whitechapel“ (zeitgenössische Darstellung)
CHRONIK 1800–1900
DIE ENTFESSELUNG DES GELDES 1800
Frankreich bekommt eine Nationalbank – mehr als hundert Jahre nach England und Schweden.
1815
Nach dem Wiener Kongress zerfällt Deutschland in 35 Fürstenstaaten und 4 freie Reichsstädte mit weitgehender Souveränität – und einer wirren Vielfalt von Münzen.
Bund ein norddeutsches Taler- und ein süddeutsches Guldengebiet.
1841
Thomas Cook eröffnet das Zeitalter der Pauschalreisen mit einem Vergnügungszug von Leicester nach Loughborough. Tee und Schinkenbrote sind im Reisepreis inbegriffen. Schon sind Cook-Reisende
1852
Die Brüder Péreire gründen in Paris den Crédit Mobilier, eine Bürgerbank unter staatlicher Aufsicht. Sie ist eine Vorläuferin europäischer Aktienbanken.
1866
Im Deutschen Bund gibt es jetzt 59 Notenbanken. Deren Noten kursieren
1820
Die Frankfurter Bundesversammlung erhält viele Vorschläge zur Vereinheitlichung des Münzwesens in Deutschland. Flugschriften fordern dasselbe.
1838
Reichsbank in Berlin (Holzstich von 1875) mit Hotelcoupons und „Circular Notes“ – frühen Reiseschecks – unterwegs.
statt eines einheitlichen Staats-Papiergelds.
1848
Durch die Währungsvielfalt begünstigt, erreicht die Geldfälschung einen Gipfel. Eine neue Zeitschrift, die Fälschungsmethoden beschreibt und Falsifikate zeigt, ist sehr gefragt.
Wirtschaftskrise und Kapitalknappheit führen im Revolutionsjahr dazu, dass einige deutsche Staaten Papiergeld ausgeben.
1849
Hermann Schulze-Delitzsch und Friedrich Wilhelm Raiffeisen gründen die ersten deutschen Kreditgenossenschaften. Binnen 30 Jahren werden daraus wegen stark wachsender Nachfrage 1000 Institute.
1867
1871
Nach der Gründung des Deutschen Reichs wird das Geld- und Kreditwesen vereinheitlicht. Gesetzliches Zahlungsmittel, auf Goldbasis, ist die Markwährung.
Nachdem die Städtische Sparkasse Mülheim an der Ruhr die Einführung des Scheckverkehrs beantragt hat, lehnt Preußen das Zahlungsmittel Scheck, das in England und Amerika schon weit verbreitet ist, per Erlass generell ab. Erst 1908 wird ein Scheckgesetz den bargeldlosen Zahlungsverkehr in Deutschland erlauben.
1891
Am 5. August akzeptiert das Leipziger Hotel „Hauffe“ erstmals den Reisescheck eines Amerikaners.
1900
Die USA erklären den Goldstandard offiziell zur Währungseinheit („GoldStandard-Act“).
AKG
Eine Münzkonferenz der Zollvereinsstaaten beschließt im Deutschen
Gründung der Reichsbank als Vorläufer der Bundesbank. Sie regelt den Geldumlauf im Reichsgebiet.
1886
1832
Der Vertrag zum Deutschen Zollverein verpflichtet die Unterzeichnerstaaten, eine Vereinheitlichung ihrer Maß- und Münzsysteme anzustreben.
1875
Auf der internationalen Münzkonferenz von Paris wird gefordert, Silber und Gold als Doppelwährung einzuführen („Bimetallismus“), da weltweit zu wenig Gold gefördert werde.
Binnen eines Jahres brechen in England während einer großen Finanzkrise 60 Banken zusammen.
1834
Eine riesige Spekulationswelle treibt viele Aktiengesellschaften und Banken in den Ruin. Das Kapital ist international so stark verflochten, dass kaum ein entwickeltes Land der Krise entgeht.
1878
1825/26
In Großbritannien wird die Todesstrafe für Geldfälscher in lebenslange Haft umgewandelt. Im Verlauf von 30 Jahren sind bis dahin über 600 Fälscher gehängt worden. Auch in deutschen Staaten wird das Strafmaß für Fälscher allmählich gemildert.
1873
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Der bahnbrechende Kapitalismuskritiker Karl Marx war gewöhnlich klamm. Nur Freund Engels ersparte dem Stammkunden der Londoner Pfandhäuser ein Ende in Armut.
Das liebe Geld und seine Rätsel Von MICHAEL SONTHEIMER
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Marx in selbstbewusster Denker-Pose, 1875
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BPK (L.); AKG (R.)
A
ls Karl Marx die Schulden Notgedrungen arbeitete Marx als Jour- liche, nie versagende Mithilfe geistiger und finanzieller Natur von Friedrich Enmal wieder über den Kopf nalist. Seine Verlobte Jenny von Westpha- gels schwerlich das Tageslicht erblickt“. gewachsen waren, überKurz nachdem Marx und Engels sich kam ihn eine große De- len warnte ihn davor, „sich gar noch in pression. Reumütig stell- die Politik zu mengelieren“, was ihrer in Paris getroffen hatten, schrieben sie te er fest, dass seine Kritik am Kapita- Meinung nach das „Halsbrechenste“ schon ihr erstes Buch zusammen: „Die lismus kaum Profit abgeworfen hatte; war. Doch ihr Karl schloss sich in Köln heilige Familie“. Das Honorar in Höhe sein Kampf für den Kommunismus einem Kreis junger, fortschrittlicher In- von 1000 Francs ging an Marx. ebenso wenig. Ruhm hatte er keinen ge- tellektueller an und wurde „Redakteur erntet; seine Bücher hatten sich mehr en Chef“ der „Rheinischen Zeitung“. Als Marx nach der Ausweisung Der König von Preußen, der das Blatt aus Frankreich nach Brüssel weiterzieschlecht als recht verkauft. Der aus Deutschland vertriebene Phi- als „Hure am Rhein“ schmähte, ließ hen musste, sammelte Engels Geld für losoph war 45 Jahre alt und klagte im es bald schließen, und Marx verließ ihn und schrieb: „Die Hunde sollen weLondoner Exil: „Wüsste ich nur irgend- Deutschland: „Man verfälscht sich hier nigstens das Pläsier nicht haben, Dich ein business anzufangen! Grau, teurer selbst.“ Er ging nach Paris, wo rund durch ihre Infamie in pekuniäre VerleFreund, ist alle Theorie, und nur das bu- 85 000 deutsche Emigranten lebten und genheit zu bringen.“ siness ist grün. Ich bin leider zu spät zu wo er sich mit dem Dichter Heinrich Im Frühjahr 1848, als das Gespenst Heine anfreundete. dieser Einsicht gekommen.“ der Revolution in Europa umging, kehrDer abenteuerlustige, idealistische te Marx nach Deutschland zurück und Doch ob frühere Erkenntnis den revolutionären Denker wirklich zum er- Jüngling heiratete nach siebenjähriger gründete in Köln die „Neue Rheinische folgreichen Geschäftsmann gemacht hät- Verlobung die aus einer konservativen Zeitung“. Er musste aber nach einem te, ist zu bezweifeln. Die Familientradi- Familie stammende Jenny. Auf ihrer Jahr erneut und für immer Deutschland tion des 1818 in Trier geborenen Marx Hochzeitsreise hatten sie einen Kasten verlassen. Von Paris aus schrieb Marx war nicht die von Kaufleuten. Sein Vater mit Geld dabei, der offen in ihrem Ho- an einen Freund: „Ich sage Dir, dass, arbeitete als Rechtsanwalt, wenn mir nicht Hülfe von doch vor diesem hatten, irgendeiner Seite wird, ich auch auf der mütterlichen bin perdu.“ Auf einen BetSeite, Generationen von telbrief hin zeigte sich sein Rabbinern gestanden: jüdivermögender Freund und sche Schriftgelehrte, MänGenosse Ferdinand Lasner des Wortes, nicht der salle hilfsbereit. Zahlen, Meister des ArguNachdem Marx aufments und der Polemik. gefordert worden war, PaDer Philosoph, der die ris zu verlassen, ging er Proletarier zur Hoffnung im Sommer 1849 nach der Menschheit erhob, der London. In der britischen Erzkritiker des KapitalisHauptstadt stürzte er mit mus, kam aus einer durch seiner Familie in bittere und durch bürgerlichen FaArmut. Als sie die Miete in milie. Als er in Bonn und einem Boarding House dann in Berlin Jura und schuldig blieben, ließ die später Philosophie studierWirtin sie pfänden, einte, lebte er auf derart groschließlich der Spielsaßem Fuße, dass sein Vater chen der Kinder. Polizisten Marx-Notizen für das „Kommunistische Manifest“, 1848 ihm schrieb: „Als wären wir wachten darüber, dass die Goldmännchen, verfügt der Herr Sohn telzimmer stand. Freunde konnten sich Flüchtlinge nicht Hausrat verkauften, in einem Jahre über beinahe 700 Taler daraus bedienen, bald war er leer. Kom- der ihnen nicht gehörte. „In weniger als gegen alle Abrede, gegen alle Gebräuche, munismus. fünf Minuten stehen mehr als zwei- bis Dieser noch vagen Idee hing auch ein dreihundert Menschen gaffend vor unwährend die Reichsten keine 500 ausgeben.“ In der Tat verdiente damals ein junger Mann an, den Marx in Paris nä- serer Tür“, schrieb Jenny Marx, „der Stadtrat in Berlin kaum mehr als Marx her kennenlernte und der zu seinem ganze Mob von Chelsea.“ Junior ausgab. Einen guten Teil seiner engsten Freund wurde, Friedrich EnDrei Jahre nach der Ankunft im engApanage brachte der gesellige Student gels. Der Fabrikantensohn aus Barmen lischen Exil erscheint die Lage hoffbeim „Kneipen“ durch und landete auch hatte eine Lehre in der väterlichen Tex- nungslos. „Seit einer Woche habe ich mal wegen „nächtlichen ruhestörenden tilfabrik absolviert und besaß ein prak- den angenehmen Punkt erreicht“, tisches Verhältnis zum Geld. Lärmens und Trunkenheit“ im Karzer. schreibt Marx an Engels, „wo ich aus August Bebel und Eduard Bernstein, Mangel an den im Pfandhaus untergeMarx ging nicht so weit, nach seiner Promotion in Philosophie eine or- zwei führende Köpfe der deutschen So- brachten Röcken nicht mehr ausgehe.“ dentlich Stellung abzulehnen. Doch ei- zialdemokratie, schrieben: „Der größte Als kurz darauf die Tochter Franzisnem Freund, der ihm an der Universität Teil der schöpferischen Arbeiten und ka stirbt, fehlt das Geld für einen Sarg. in Bonn eine Position verschaffen woll- wissenschaftlichen Entdeckungen eines Was Karl und Jenny Marx noch mehr te, wurde die Lehrerlaubnis entzogen. Karl Marx“ hätte „ohne die unermüd- zusetzt als die chronische Finanzmisere:
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Von ihren sieben Kindern erreichen nur drei Mädchen das zehnte Lebensjahr. Ein Spitzel Ihrer Majestät berichtet über die beiden von der siebenköpfigen Familie in Soho bewohnten Zimmer: „Eine Trödlerbude müsste vor diesem merkwürdigen Ensemble beschämt zurückweichen.“
„Seit 8 bis 10 Tagen habe ich die family mit Brot und Kartoffeln durchgefüttert“, klagt der Emigrant, „von denen es noch fraglich ist, ob ich sie heute auftreiben kann.“ Gattin Jenny ist krank, die Gläubiger sind nicht mehr hinzuhalten, die Händler lassen nicht mehr anschreiben. Marx fragt: „Wie soll ich mit all dem Teufelsdreck fertig werden?“ Er ist Stammkunde in den Londoner Pfandhäusern. Als er allerdings ein Stück kostbares Silber seiner Frau versetzen will, ruft der Pfandleiher die Polizei. Ein Wochenende darbt Marx in Gewahrsam, bis er den rechtmäßigen Besitz des Silbers nachweisen kann. Der treue Friedrich Engels, der seine Familie in Manchester in der Niederlassung der Firma Ermen & Engels vertritt, springt immer wieder ein. Er bewundert Marx, er schätzt seinen scharfen Verstand. Er will, dass sein Freund die Kritik des Kapitalismus und die Theorie des Kommunismus voranbringt. In manchen Jahren stellt „Onkel Angels“, wie die Töchter von Marx ihn nennen, der * Anlass war der dritte Kongress der Zweiten Internationale; auf dem Foto: Ferdinand Simon und seine Frau Frieda (Tochter Bebels), Clara Zetkin, Friedrich Engels, Julie Bebel, August Bebel, Ernst Schaffer, Regine Bernstein, Eduard Bernstein.
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Familie mehr Geld zur Verfügung, als er selbst verbraucht. Marx leidet trotz allen Elends nicht an proletarischer, sondern an bürgerlicher Armut. Zum Haushalt zählt beispielsweise auch das Dienstmädchen Lenchen Demuth – das Marx nach Herrenart schwängert. Später steht außer Frage, dass die Marx-Töchter Privatschulen besuchen, Klavierunterricht erhalten und einen Ball geben. Das Ehepaar Marx versucht stets, das Bild bürgerlicher Respektabilität zu wahren. Vor allem aber können die beiden einfach nicht mit Geld umgehen. Sie bezahlen für eine kleine Wohnung im edlen Stadtteil Chelsea zunächst mehr Miete, als ein ganzes Haus in einem Arbeiterviertel gekostet hätte. Und wenn
In der Nähe von Zürich treffen sich 1893 die führenden Sozialisten*.
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AKG (O.); BPK (U.)
Marx (r.) mit Engels und seinen Töchtern Laura, Eleanor und Jenny, um 1864
sie zufällig mal Geld haben, unterstützen sie andere Emigranten. Als Korrespondent der „New York Daily Tribune“, die mit einer Auflage von bis zu 200 000 Exemplaren damals die weltgrößte Zeitung ist, kann Marx ein paar Pfund verdienen. Doch er klagt bald: „Das beständige Zeitungsschmieren langweilt mich. Es nimmt mir viel Zeit weg, zersplittert und ist doch nichts.“ Marx sieht seine historische Aufgabe keineswegs darin, möglichst viel Geld zu verdienen. Er will stattdessen das Wesen des Geldes ergründen und endlich lösen, was er das „Geldrätsel“ nennt. Trotzig schreibt er: „Ich muss meinen Zweck durch dick und dünn verfolgen und der bürgerlichen Gesellschaft nicht erlauben, mich in eine money-making machine zu verwandeln.“ Die Gefahr besteht nicht ernsthaft. Als die Schulden wieder einmal übermächtig sind und auch Freund Engels gerade nicht flüssig ist, bewirbt sich Marx als Schreibkraft bei einer Eisenbahngesellschaft. Er wird abgelehnt, weil seine Handschrift kaum lesbar ist. War es Marx zunächst schwergefallen, Bettelbriefe zu schrieben, so legt er diese Scheu im Lauf der Jahre ab. Als ob ihm die Welt das schulde, fordert er mit großer Selbstverständlichkeit Bares. Zudem hat er die Hoffnung nicht aufgegeben, dass seine Bücher eines Tages gutes Geld einbringen werden. Über einen Brief seiner Mutter berichtet er Engels: „Von meiner Alten erhielt ich gestern Antwort. Nichts als ‚zärtliche‘ Redensarten, but no cash.“ Mit seinen unablässigen Geldforderungen gefährdet Marx sogar seine
Mit seinen unablässigen Geldforderungen gefährdet Marx sogar seine Freundschaft mit Engels. Freundschaft mit Engels. Als dessen langjährige Lebensgefährtin Mary Burns stirbt, vergreift sich Marx böse im Ton, um dann gleich wieder seinen Geldmangel zu bejammern.
SIPA / ULLSTEIN BILD
Zwei Erbschaften bringen schließlich Erleichterung. Ende 1863 stirbt Marx’ Mutter, die ihm an die 7000 Taler vermacht. Wenige Monate später vererbt ihm völlig unverhofft sein alter kommunistischer Mitkämpfer Wilhelm Wolff 800 Pfund – und erspart damit Engels mehr als ein Jahr lang die Marxschen Bettelbriefe. Die Familie Marx zieht in London sofort in einen „wahren Palast“, wie Ehefrau Jenny das neue Haus im Londoner Stadtteil Hampstead beschreibt. Marx verfügt nun über ein behagliches Arbeitszimmer mit Blick auf einen Park. Nur wenige Monate nach dem Umzug wendet er sich an Engels, obwohl er mit Börsenspekulationen 400 Pfund verdient hat: „Ich versichere Dir, ich hätte mir lieber den Daumen abhauen lassen, als diesen Brief an Dich zu schreiben. Es ist wahrhaft niederschmetternd, sein halbes Leben abhängig zu bleiben.“ Engels schickt postwendend 50 Pfund. Da er Marx für dessen ökonomische Studien den Rücken freihalten will, stellt er ihm künftige Zuwendungen von jährlich 200 Pfund in Aussicht. Im April 1867 hat Marx tatsächlich den ersten Band seines Hauptwerks „Das Kapital“ abgeschlossen. Da er die letzten Seiten des Manuskripts persönlich seinem Verleger in Hamburg übergeben will, weist er Engels darauf hin, er benötige seinen guten Anzug und seine Uhr, „die im Pfandhaus wohnen“. „Das Kapital – Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band“ erscheint endlich im September 1867. Der erste Abschnitt des mit philosophischer Dialektik gesättigten Jahrhundertwerks trägt den Titel „Ware und Geld“. Marx definiert darin die Ware, beschreibt den Austauschprozess und erörtert im dritten Kapitel „Das Geld oder die Warenzirkulation“. Schließlich schilderte er die „Verwandlung von Geld in Kapital“. Marx wollte, wie er es ausdrückte, die „Genesis dieser Geldform“ nachweisen und die Entwicklung des Wertausdrucks verfolgen, „von seiner einfachsten un-
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scheinbarsten Gestalt bis zur blendenden Geldform“. Damit verschwinde „zugleich das Geldrätsel“. Im Gegensatz zu nationalökonomischen Vorgängern wie David Ricardo hatte Marx es darauf abgesehen, das Geld nicht nur quantitativ zu betrachten, sondern auch qualitativ die „Geldform“ zu ergründen. Wie kann Geld – zunächst
die einzelnen Warenproduzenten überhaupt erst in einen gesellschaftlichen Zusammenhang treten. Diese „Vergesellschaftung“, so die Kritik, finde im Kapitalismus unter verkehrten Vorzeichen statt. Als das epochale Werk fertig war, schrieb Marx an Engels: „Bloß Dir verdanke ich es, dass dies möglich war!“ Seinem Freund hatte er es auch zu danken, dass er nach Jahrzehnten der Geldnöte einen Lebensabend ohne finanzielle Sorgen verbringen konnte. Engels setzte Marx eine jährliche Apanage von 350 Pfund aus. Der Rentier konnte nun englische Seebäder besuchen oder nach Karlsbad reisen, wo ein Polizeispitzel ihn diskret im Auge behielt. Marx war kein gänzlich Unbekannter mehr, aber den Siegeszug seiner Ideen, zunächst bei den Sozialdemokraten, dann bei den Kommunisten, erlebte er nicht mehr. Hätte er die Honorare für seine postum verkauften Bücher zu Lebzeiten kassiert, wären ihm die Jahre des Existenzkampfs erspart geblieben.
Das zusammen mit Engels verfasste
Jenny Marx, die Ehefrau, 1880
nur ein Stück Metall oder Papier – zugleich als Tauschmittel fungieren, Werte aufbewahren und Kreditgeld werden, mithin die Grundlage des modernen Finanzsystems bilden? Marx dechiffrierte das Geld als „wahres Gemeinwesen“; die Krisen der Produktionsverhältnisse fänden daher ihren dramatischsten Ausdruck als Krisen des Geldes – als Finanzkrisen. Die Lösung des Geldrätsels leitete der Ökonom Marx aus der Analyse der Wertform her: Sobald ein Arbeitsprodukt als Ware auftritt, verwandelt es sich in ein von seinen stofflichen Eigenschaften losgelöstes, übersinnliches Ding und bekommt „Fetischcharakter“. Was beim Blick auf Luxusuhren oder Designerjeans sofort einleuchtet, gilt prinzipiell auch für Brot und Gemüse auf dem Markt. Das Geld, den „Gott der Waren“, beschreibt Marx als Medium, durch das
„Kommunistische Manifest“ gilt nach der Bibel als der am weitesten verbreitete Text der Menschheit. Die Gesamtauflage von Marx lässt sich kaum schätzen, dürfte aber im dreistelligen Millionenbereich liegen. Er war der Philosoph, der wie kein anderer das 20. Jahrhundert prägte. Als er im März 1883 in London starb, hatte er kaum etwas zu vererben. Er war staatenlos und und hinterließ kein Testament. Den einzigen wertvollen Besitz, seine Papiere, Manuskripte und Bücher, sichteten seine Töchter und Freund Engels, bevor sie diesen Nachlass deutschen Sozialdemokraten und Moskauer Kommunisten übereigneten. Widersprüchlich war Marx nicht nur im Verhältnis zum Geld. Die Gattin eines Bewunderers fragte ihn einmal, wer denn im Kommunismus die niedrigen, unangenehmen Arbeiten verrichten werde. Einen wie Karl Marx, mit seinen „durchaus aristokratischen Neigungen und Gewohnheiten“ konnte sie sich nicht dabei vorstellen. „Ich auch nicht“, antwortete der Vater des Kommunismus. „Diese Zeiten werden kommen, aber wir müssen dann fort sein.“
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Der Aufstieg der Rothschilds ist eine der ungewöhnlichsten Erfolgsgeschichten des modernen Kapitalismus – und der jüdischen Emanzipation.
Die Broker der Könige
S
chon früh am Morgen jenes Dezembertages 1862 hatten Bedienstete auf dem Bahnsteig des kleinen Bahnhofs von Ozouer-la-Ferrière unweit von Paris einen grünen Samtteppich ausgelegt. Immerhin wurde der Kaiser erwartet, und sein Fuß sollte beim Aussteigen sanft auftreten. Der Stoff war mit goldenen Bienen bestickt, dem Herrschersymbol Napoleons III. Nach einem opulenten Frühstück im Schloss ging die kaiserliche Gesellschaft zur Jagd. Mehr als 1200 Tiere wurden erlegt, auch wenn einer der Teilnehmer lästerte, viele Fasane seien verfehlt worden, weil die Schützen zuvor „zehn oder zwölf verschiedene Weine getrunken hatten“ und sehr schlecht schossen. Zum Abschied erklang ein Jägerchor, den der italienische Meister Gioachino Rossini eigens komponiert hatte. Dass Napoleon III. jagte, war nichts Besonderes, wohl aber sein Partner beim Vergnügen. Denn der spendable Gast-
geber stammte nicht aus altem Adel, er war Jude und noch nicht mal Franzose: James de Rothschild, jüngster Sohn des verstorbenen Frankfurter Wechselhändlers Mayer Amschel Rothschild, der zum Bankier avanciert war. Welchen Einfluss dessen Söhne inzwischen besaßen, zeigt diese kaiserliche Aufwartung. Die Rothschilds hatten etwas, was Regenten wie Napoleon dringend brauchten: Geld. James, Chef der Pariser Rothschild-Bank, galt damals als einer der reichsten Männer der Welt. In den Wäldern von Ferrières hatte er sich ein Schloss bauen lassen, das prächtiger war als viele Königspaläste. Bei Rothschild habe Napoleon „dem Geld einen Staatsbesuch abgestattet“, lästerten die Schriftsteller-Brüder Goncourt.
Auch der Kaiser aller Franzosen war knapp bei Kasse. Er saß auf zwei Milliarden Francs Schulden, dazu kamen noch die Kosten für die beiden jüngsten Feldzüge, den Krimkrieg und den Ita-
Aus der Enge der Frankfurter Judengasse stieg Mayer Amschel Rothschild zu einem Finanzier von Weltrang auf.
lienischen Krieg. Die Bank von Frankreich steckte in Liquiditätsschwierigkeiten. Da schien es dem Monarchen angeraten, mit Rothschild gut zu stehen, auch wenn der eng mit der gegnerischen Vorgängerregierung verbandelt gewesen war. Nicht nur in Paris, in ganz Europa waren die Rothschilds damals die Bankiers der Könige, die „fürstlichen Seckelmeister“, wie Heinrich Heine sie nannte: „Geld ist der Gott unserer Zeit, und Rothschild ist sein Prophet.“ Mitunter hing die Zahlungsfähigkeit ganzer Staaten von dieser einen Familie ab. Ihr Aufstieg zur beherrschenden Finanzdynastie des 19. Jahrhunderts ist eine der grandiosesten Erfolgsgeschichten der modernen Historie. Zu Rothschilds Kunden zählten die Mächtigen: die Herrscher von Frankreich, Russland, Österreich, Preußen, der Kurfürst von Hessen, zeitweise einer der reichsten Regenten Europas, Metternich, der gefürchtete österreichische Kanzler, die
ELKE WALFORD / HAMBURGER KUNSTHALLE / BPK (L.); AKG (R.)
Von ANNETTE GROSSBONGARDT
Rothschild-Söhne der 1. Generation und Sitz der von ihnen geleiteten Dependancen Mayer Amschel
Gutle Schnapper
1744 – 1812
Amschel
DIETMAR KATZ / BPK (L.); EDMUND L. DE ROTHSCHILD / THORBECKE VERLAG (R.)
1773 – 1855 Frankfurt a. M.
Salomon
1774 – 1855 Wien
1753 – 1849
Nathan
1777 – 1836 London
britischen Premiers Disraeli und Gladstone. Mit Bankhäusern in London, Paris, Wien, Frankfurt und Neapel bildeten die Rothschilds früh einen multinationalen Familienkonzern. Jede Niederlassung führte einer der fünf Söhne: Nathan, James, Salomon, Amschel und Carl. Ihr Kundenstamm reichte bis in die USA, nach Südamerika und Südafrika. Kaum ein Finanzunternehmen ist so wie sie mit dem Triumphzug des Kapitalismus im 19. Jahrhundert verbunden. Das Zeitalter der Industrialisierung brachte rasanten Fortschritt, die Herausbildung der modernen Kapitalmärkte, Elektrizität und die Eisenbahn, erste Verfassungen und bürgerliche Rechte, aber auch Aufruhr und Massenelend, Börsenkräche, Revolutionen und viele Kriege. Weil die Rothschilds finanziell überall mitmischten, bei Feldzügen wie beim Schienenbau oder dem Unternehmen Suezkanal, entstand bald der Mythos, wie ein Zeitgenosse notierte, sie bestimmten „das Schicksal von ganz Europa“. Ohne die Familie Rothschild, meinte der illustre Fürst von PücklerMuskau, „scheint keine Macht in Europa Krieg führen zu können“. Tatsächlich füllten sie die Kriegskasse des eng-
Carl
1788 – 1855 Neapel
Jakob/James 1792 – 1868 Paris
lischen Generals Wellington gegen Napoleon oder versetzten mit ihrem Kredit Österreich in die Lage, 1821 den national-liberalen Aufstand in Neapel niederzuschlagen. Aber selbst ein Rothschild, so zeigte sich bald, war nicht gefeit gegen schwere Verluste. Die große Wirtschaftskrise von 1836 stürzte einen Teil der Familie ebenso in Turbulenzen wie die französische Julirevolution – mindestens zwei Millionen Francs soll James allein durch den Absturz der Rentenkurse in Paris verloren haben. Die Brüder kamen ihm zu Hilfe. 1848 wiederum, als die Revolutionen in Europa eine Börsenkrise auslösten und zahlreiche befreundete Banken zusammenbrachen, war es das Londoner Haus, das die Liquidität sicherte. So blieb das transeuropäische Familienunternehmen, bei dem nur männliche Erben an die Spitze nachrücken durften, resistenter als andere. Mitunter erwiesen sie sich gar als Krisengewinnler. Waren die Adligen, mit denen die Rothschilds handelten, in den Reichtum meist hineingeboren, mussten sich die jüdischen Aufsteiger geduldig hocharbeiten. Stammvater Mayer Amschel wurde 1744 als Sohn eines Geldwechslers in den erbärmlichen Verhältnissen
In prächtigen Schlössern wie Ferrières bei Paris zeigten die Rothschilds ihren Reichtum; rechts: Nathan und Familie in London.
der Frankfurter Judengasse geboren – im Ghetto. Die nur drei bis vier Meter breite Gasse des Judenbezirks, in dem rund 3000 Menschen hinter hohen Mauern lebten, wurde abends sowie an den christlichen Sonn- und Feiertagen zugesperrt. In der übrigen Stadt durften Juden weder Häuser noch Geschäfte besitzen. Selbst das Betreten der Promenaden war ihnen in der „Freien Reichsstadt Frankfurt“, die die Juden wie wohl keine andere deutsche Stadt der Zeit gängelte, bei Strafe untersagt: „Kein Jud und kein Schwein darf hier hinein“, stand warnend auf einem Schild davor.
„Die Enge, der Schmutz, das Gewimmel, der Akzent einer unerfreulichen Sprache, alles zusammen machte den unangenehmsten Eindruck“, beschrieb Goethe einmal schaudernd die Judengasse. Der Dichter war nur fünf Jahre nach Mayer Amschel und gar nicht weit entfernt in der Handelsstadt auf die Welt gekommen, allerdings in einem reichen Patrizierhaus mit an die 20 Zimmern und großem Garten. Nach einer traditionell jüdischen Erziehung in einer Talmud-Schule und einer Lehre im Bankhaus Oppenheimer in Hannover, das damals zur englischen Krone gehörte und weit liberaler war, kehrte Mayer Amschel 1763 nach Frankfurt zurück. Im düsteren, feuchten Erdgeschoss des Ghettohauses betrieben seine zwei Brüder schon ein Pfandgeschäft und eine Wechselstube, Mayer Amschel handelte dazu nun mit Münzen, Medaillen und anderen Pretiosen.
Seine Münzkenntnisse halfen ihm, in Kontakt mit dem reichen Erbprinzen von Hessen-Kassel und späteren Kurfürsten Wilhelm zu kommen. Aber bis zu den ersten lukrativen Aufträgen musste er viel Geduld aufbringen, um das Misstrauen des Regenten und die Konkurrenz der etablierten Hofjuden zu überwinden. Wie so oft war dabei ein Verbindungsmann im Vorzimmer der Macht dienlich, den Mayer Amschel mit diskreten Zuwendungen schmierte. In Hessen erfüllte diese Funktion der Chef der landgräflichen Kabinettskasse, Carl Buderus. In Wien machte sich Sohn Salomon später den einflussreichen Berater des Staatskanzlers Fürst von Metternich, Friedrich von Gentz, zunutze. Der erzkonservative Publizist verschaffte Zugang zum mächtigen Fürsten und lieferte überdies beste politische Informationen, setzte Zeitungen unter Druck, die schlecht über die Rothschilds schrieben und rang sich auch schon mal eine judenfreundliche Schrift ab. Auch der erste, überaus schmeichelnde Beitrag über „das Haus Rothschild“ im Brockhaus von 1827 geht auf ihn zurück. Dafür zahlte Salomon nicht nur ein stattliches Gehalt, er beteiligte ihn auch an lukrativen Anleihen oder gab ihm Darlehen – die Gentz frech als Geschenk nahm.
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Bestechung war damals übliche Praxis. Und Vater Rothschild wollte den Vorsprung der christlichen Banken einholen. Seinen Söhnen schärfte er ein, nicht nur den Regierungen attraktive Angebote zu machen, sondern auch die Beamten mit Provisionen und zinsfreien Darlehen günstig zu stimmen. Der Heeresbeschaffer und spätere britische Schatzkanzler John Charles Herries etwa war auch Abnehmer ihrer Anleihen. Die Rothschilds machten besonders auserlesene Geschenke: juwelenbesetzte Schatullen, Tranchierbestecke mit Elfenbeingriffen, Schildkröten oder Reitpferde für die Damen.
Um den judenfeindlichen Beschränkungen zu entkommen, bemühte sich Mayer Amschel bei möglichst vielen Höfen um Positionen und Titel wie Hoffaktor und Kommerzienrat. Sie öffneten ihm die Vorzimmer der Macht. Nun bekam er auch einen Pass, mit dem er die Judengasse frei verlassen konnte. Nachdem die Söhne erfolgreich die britischen Kontributionszahlungen an die europäischen Alliierten im Kampf gegen Napoleon abgewickelt hatten, drängten sie auf weitere Anerkennung. Tatsächlich erhob sie der österreichische Kaiser Franz I. 1816 in den einfachen Adelsstand, 1822 wurden sie Barone.
Ihr Geschäft machten die Rothschilds vor allem auf dem Rentenmarkt. Da die Staaten damals wenig Steuern einnahmen, wegen der ständigen Kriege aber enorme Kosten hatten, suchten sie neue Kreditmöglichkeiten. Mit einer Staatsanleihe konnten sie sich von vielen anonymen Gläubigern Geld beschaffen, denen sie Zinsen dafür zahlten. Für Broker wie die Rothschilds, die die Anleihen auflegten und vermittelten, lockten satte Gewinne: Die Provision für die Abwicklung war ihnen sicher, dazu verdienten sie an der mitunter großen Differenz zwischen dem Kurs, zu dem das Bankhaus die Anleihe übernahm, und dem Kurs, zu dem sie beim Publikum untergebracht wurde. So erwarben die Rothschilds, bilanziert ihr Monograf Niall Ferguson, den Großteil ihres Vermögens mit Staatskrediten und der Spekulation mit den umlaufenden Anleihen. Die jüdischen Bankiers standen bald im Ruf, schneller, zuverlässiger und häufig zu besseren Konditionen mehr Geld aufzubringen als ihre Konkurrenten. Und politisch zeigten sie wenig Skrupel – problemlos versorgten sie etwa Frankreich mit den Mitteln, um die Revolution der Liberalen in Spanien niederzuschlagen. Allerdings gelang James nach der Julirevolution von 1830 auch scheinbar mühelos der Schwenk auf die Seite
SPIEGEL GESCHICHTE
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DIETMAR KATZ / BPK
Die antisemitische Karikatur (um 1850) zeigt die Rothschilds als gierige Macht, die mit den Fürsten der Welt spielt.
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der Liberalen mit ihrem „Bürgerkönig“ Louis Philippe. Ihre Kritiker aus dem freiheitlichen Lager warfen ihnen aber vor allem ihre Geschäfte mit Metternich vor, der die nationalen und liberalen Strömungen Europas mit Zensur, Polizei und Militär bekämpfte. Ein großer europäischer Krieg war auch für die Rothschilds eine Bedrohung, und so setzten sie sich mit wachsendem Reichtum auch mehr und mehr dafür ein, den Frieden zu bewahren. Von Mutter Gutle Rothschild ist der Ausspruch überliefert: „Es kommt nicht zum Krieg – meine Söhne geben kein Geld dazu her.“ Hartnäckig hält sich die Legende, die ersten Millionen ihres Vermögens hätten die Bankiers aus Frankfurt damit gemacht, dass sie über ihre Kuriere als Erste von Napoleons Niederlage in Waterloo erfuhren und das nutzten, um an der Londoner Börse gewinnbringend zu spekulieren. Doch in Wahrheit, so Rothschild-Experte Ferguson, habe Waterloo auch ihnen Verluste gebracht. Richtig ist aber, dass die Rothschilds durch ihr hochprofessionelles Kuriernetz früher über die Schlacht informiert waren als das britische Kabinett. Nathan, der bald zum Herrn der Londoner Börse aufstieg, hatte die Briten schon damit beeindruckt, wie er in einem Husarenstück über die Kontinentalsperre Napoleons hinweg die Kriegsgelder aus England zu Wellington in Portugal geschafft hatte. Damals wurden die Rothschilds, so Ferguson, zur „wichtigsten Geldleitung zwischen der britischen Regierung und den Schlachtfeldern des Kontinents, auf denen in den Jahren 1814 und 1815 das Schicksal Europas entschieden wurde“. Kein Wunder, dass der gut versorgte Schatzbeamte Herries seinen Partner Rothschild über die Maßen lobte: Er habe seine Dienste „bewundernswert gut“ ausgeführt, und „wir setzen, obwohl er ein Jude ist, großes Vertrauen in ihn“.
Die Operation Wellington brachte den Rothschilds keinen bemerkenswerten Gewinn, aber dafür einen hübschen Folgeauftrag: Die Kontributionen an die europäischen Alliierten sollen ihnen rund eine Million Pfund Provision beschert haben. Dazu konnten sie noch die Wechselkursschwankungen von Regierung zu Regierung ausnutzen. Der große Erfolg der Rothschilds sei wohl „in erster Linie Nathans Finanzgenie zu verdanken“, urteilt der britiSPIEGEL GESCHICHTE
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sche Wirtschaftshistoriker Stanley Chapman. Nathan war 1798 nach England gegangen, ins Kernland der industriellen Revolution, um hier die erste europäische Dependance zu gründen. Ihm half dabei, dass er und seine Brüder vom Hessischen Kurfürsten, der vor Napoleon ins Exil nach Prag geflohen war, Vollmacht über den Großteil seines geretteten Vermögens erhielten, das vor allem in englischen Anleihen angelegt war. Dadurch verfügte er zeitweise über große Summen. Nathans Sohn Lionel gelang es, 1847 als erster Jude ins britische Parlament gewählt zu werden. Es dauerte aber elf Jahre, bis er seinen Sitz einnehmen konnte, erst dann wurde die diskriminierende Eidesformel („Im wahren Glauben eines Christen“) geändert. Seinem Großvater Mayer Amschel, der sich stark für die rechtliche Gleichstellung der Juden einsetzte, war es immerhin
schmeichelhaft gelten. Hasserfüllte Abwehr rührte vor allem aus dem Antisemitismus.
Als „blutsaugende Bande“, die im Europa dieses Jahrhunderts „für unermessliches Elend und Unglück verantwortlich war“, geißelte 1891 etwa die britische Sozialistenzeitung „Labour Leader“ die Rothschilds. Sie bedient dabei das Klischee vom „hakennasigen Rothschild“ – das alles sollte 1940 im NaziPropagandafilm „Die Rothschilds“ gipfeln, der bald vom noch übleren Hetzwerk „Jud Süß“ übertrumpft wurde. Auch Bismarck, der Rothschild & Söhne zeitweise als Privatbank nutzte, verbarg seine antijüdische Einstellung nicht, als er 1867 überraschend sein Frankfurter Konto schloss. Seine Begründung: „Man braucht sich die Juden nicht über den Kopf wachsen zu lassen, oder sich finanziell von ihnen in einem
„Es kommt nicht zum Krieg – meine Söhne geben kein Geld dazu her.“ noch selbst gelungen, in Frankfurt den Bürgereid leisten zu können. Der Bürgermeister schlug allerdings noch 1816 Einladungen bei den Rothschilds aus. Vor seinem Tode 1812 hatte der Dynastiebegründer den Söhnen das Versprechen abgenommen, einig zu bleiben – daran hielten sie sich im Großen und Ganzen, auch wenn es immer wieder zu vorübergehenden Zerwürfnissen kam. Vor allem folgten sie dem Grundsatz des Vaters, nicht in erster Linie an den kurzfristigen Profit zu denken, sondern an den möglichen späteren Nutzen einer Beziehung. So begnügte sich James 1816 mit einen mageren Gewinn von nur zehn Pfund aus einem Geschäft mit Dänemark – das aber sicherte ihm die Verbindung zum Hofe. Ihre erstklassigen Kontakte verschafften den Rothschilds häufig auch die Insider-Informationen, um im richtigen Moment an der Börse zuzugreifen. Bei all ihren Erfolgen und trotz ihrer immensen Wohltätigkeit auch gegenüber Christen sahen sich die Rothschilds, die in prächtigen Landsitzen und Schlössern extravagant lebten und Hof hielten, heftigen Angriffen ausgesetzt. Diese rührten nicht nur aus Konkurrenzneid und der Kritik der Liberalen. Dass Ludwig Börne sie als „Finanzbonaparten“ titulierte, konnte noch als
Maße abhängig zu machen, wie es in vielen Ländern leider der Fall ist.“ Allen Anfeindungen zum Trotz hielt die Glanzzeit der Rothschilds an – bis etwa 1880. Da übernahmen die neuen Aktienbanken den Geldmarkt, der allmähliche Niedergang von Privatbanken wie jener der Rothschilds begann. Als im Juni 1901 das Frankfurter Rothschild-Bankhaus schließen musste, wurde es bezeichnenderweise von einer Berliner Aktienbank übernommen. Mit der Industrialisierung wuchsen nun auch die Steuereinnahmen der Staaten. Ganz unterkriegen ließen sich die Rothschilds nie, sie überstanden selbst die Verfolgung durch die Nazis. Bis heute führen die Erben der großen Dynastie eine angesehene, multinationale Finanzund Bankengruppe. Zu den Firmen im Familienbesitz zählen auch die wohl berühmtesten Weingüter der Welt – Château Mouton Rothschild und Château Lafite. Die exquisiten Lagen erwarben James und seine Neffe Nathaniel de Rothschild bereits 1853 und 1868. Da hatten sie die Frankfurter Judengasse schon lange hinter sich gelassen. „Ich habe nie gezweifelt“, schrieb der selbstbewusste James seinen Brüdern einmal, „dass wir, wenn wir so fortfahren, die reichsten Männer von Europa werden.“
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Hauptsitz der Bank of the United States in Philadelphia (Stich von William Henry Bartlett)
In den ersten Jahrzehnten nach der Staatsgründung wogte in den USA ein heftiger Streit über Art und Ausmaß des kapitalistischen Wirtschaftens. Höhepunkt war der 1832 beginnende „Bank War“.
„Ich werde sie töten!“ Von PAUL NOLTE
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ls die Finanz- und Bankenkrise noch einige Monate von der gewaltigen Implosion des vergangenen Herbstes entfernt war, drückte der Bundespräsident seine Besorgnis über die unkontrollierbaren Strukturen des internationalen Finanzsystems auf drastische Weise aus. In einem Interview bezeichnete Horst Köhler die Weltfinanzmärkte im Mai 2008 als ein „Monster“, das endlich in die Schranken gewiesen werden müsse: „Die Überkomplexität der Finanzprodukte und die Möglichkeit, mit geringstem eigenem Haftungskapital große He-
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belkräfte in Gang zu setzen, haben das Monster wachsen lassen.“ Über Köhlers „Monster“ ist seither viel diskutiert worden, teils kritisch, weil die Beschwörung eines Ungeheuers auch nicht weiter helfe als die Angst vor einer Heuschreckenplage, größtenteils zustimmend, schon weil der Vergleich offensichtlich „saß“ und die weitere Entwicklung dem Präsidenten und Finanzfachmann Köhler nicht gerade unrecht gab. Fraglich ist dagegen, ob der Wahl dieses Begriffs auch historische Bildung zugrunde lag. Denn schon 176 Jahre zuvor hatte ein anderes Staatsoberhaupt, der amerikanische Präsident
Andrew Jackson, das Bild vom Monster beschworen, um Finanz- und Bankgeschäfte anzuprangern, die seiner Meinung nach nur noch der Bereicherung einer kleinen Minderheit auf Kosten der Allgemeinheit dienten.
Am 10. Juli 1832 legte der siebte Präsident der USA in dramatischen Worten sein Veto ein, als der Kongress die Lizenz der mächtigsten Bank des Landes, der Bank of the United States, verlängern wollte. Für den Ex-General, einen kernigen Südstaatler, der bald an seine Wiederwahl denken musste, war das die Stunde des populistischen Appells an SPIEGEL GESCHICHTE
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Präsident Jackson attackiert die B. U. S. (Zeitgenössische Karikatur)
die Interessen der kleinen Leute. Zu- hend unbestrittenen Kapitalismus, wähgleich war es der Höhepunkt seines per- rend die Europäer in den Rollen der sönlichen Feldzugs gegen Nicholas Skeptiker, der Warner, vielleicht auch: Biddle, den Chef der in Philadelphia an- der Leidtragenden der amerikanischen sässigen Bank; für Jackson die Personi- Marktexzesse waren und sind? Und fizierung eines elitären, rücksichtslosen brach nicht im mittleren Drittel des Kapitalismus. Diesen Kapitalismus galt 19. Jahrhunderts der gewerbliche und es in die Schranken zu weisen, und dafür industrielle Kapitalismus mit Vehemenz musste die Bank, das „Monster“, zerstört auf, mit der Gründung von Fabriken, werden. Das gelang ihm auch. Mindes- dem Bau von Eisenbahnen zur Ertens kurzfristig stand Jackson als strah- schließung von Märkten, und befeuerte lender Sieger da, auch als Gewinner der den individualistischen „pursuit of hapPräsidentenwahl im November gegen piness“ noch einmal zusätzlich, den sich die Amerikaner schon in den marktliberalen Herder Unabhängigkeitserausforderer Henry Clay. klärung auf die Fahnen Ist es nicht übergeschrieben hatten? raschend, ausgerechnet Das ist alles nicht im Amerika des frühen ganz falsch, aber zumal 19. Jahrhunderts nicht aus europäischer Sicht nur den Ursprung von unterschätzt man häufig Köhlers Monster-Verdie scharfen Kontrovergleich zu finden, sondern sen um den Kapitalisauch Parallelen in der PAUL NOLTE mus, die bis weit in das Problembeschreibung, 20. Jahrhundert hinein etwa in der Angst vor Seit 2005 ist der Wissendie Geschichte der USA einer tiefen Spaltung der schaftler Professor für geprägt haben. Gesellschaft? Sind nicht Neuere Geschichte an der Seit der Gründung die Amerikaner seit je die FU Berlin. Der 46-Jährige der Republik wurde Verfechter eines zügel- hat sich auch als Essayist immer wieder erbittert losen und in der öffent- und Politikberater über richtige und fallichen Debatte weitge- einen Namen gemacht. SPIEGEL GESCHICHTE
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sche Wege der wirtschaftlichen Entwicklung gestritten. Es ging um die Industrialisierung und den damit verbundenen Reichtum für wenige, es ging um die Rolle des Staates, vor allem der Bundesregierung in Washington: Sollte sie sich ganz heraushalten, oder sollte sie eine aktive Rolle übernehmen – und wenn ja, in welchem Sinne: zur Förderung der kommerziellen Entwicklung oder um sie einzuhegen, um die kleinen Leute vor ihren Auswüchsen zu schützen und damit die auf Gleichheit angewiesene Demokratie zu bewahren? Denn Demokratie und Kapitalismus waren auch in den USA keineswegs immer Verbündete.
Schon die Gründung des amerikanischen Bundesstaates mit seiner bis heute gültigen Verfassung war eng mit dieser Frage nach wirtschaftlicher Entwicklung und guter Gesellschaft verknüpft. Am Ende des 18. Jahrhunderts fürchteten die Anhänger Thomas Jeffersons eine übermäßige Stärkung der Zentralgewalt. Der Macht des Geldes, den internationalen Kaufleuten, den großen Städten an der Küste als Zentren von Produktion, Handel und Spekulation be83
gegnete man mit Skepsis. Dahinter verbarg sich, so die Befürchtung, Reichtum für wenige und die Herrschaft einer „Geldaristokratie“. Stattdessen sollte sich, so der Virginier Jefferson, die Expansion Amerikas auf die ländliche Entwicklung, auf die Ausweitung seiner agrarischen Grundlagen stützen.
Eine Gesellschaft von Farmern mit je eigenem Stück Land, deren bescheidener Reichtum auf ihrer Hände Arbeit beruhte statt auf undurchschaubaren Tausch- und Spekulationsgeschäften, war das Ideal dieser Richtung, in deren Kontinuität sich auch Andrew Jackson stellte. Die Sklaverei war dafür übrigens kein Hindernis, im Gegenteil, denn die Alternative war ja eine kapitalistische Landwirtschaft, in der Boden und Arbeitskraft schlicht zu Marktgütern, zu Waren wurden. Die andere Seite scharte sich um den New Yorker Alexander Hamilton, „Founding Father“ und Anwalt nicht nur der relativ zentralistischen Bundesverfassung von 1787, sondern auch einer dezidiert kommerziell-kapitalistischen Entwicklung. Als einflussreicher Finanzminister unter dem ersten Präsidenten George Washington setzte sich Hamilton für den Vorrang der gewerblichen Entwicklung in Manufakturen und Fabriken ein. Dem Staat fiel dabei eine wichtige Rolle zu: Er sollte den heimischen Markt durch hohe Schutzzölle vor allem gegen die verhassten Briten abschotten und die Herausbildung einer national integrierten Marktgesellschaft durch den Bau von Eisenbahnen, Straßen, Kanälen fördern. Das nannte man „internal improvements“; im heutigen Sprachgebrauch: Infrastrukturen. Auch ein staatlich gefördertes Finanzsystem gehörte dazu. So entstand 1791 die erste nationale Bank der Vereinigten Staaten in der Hauptstadt Philadelphia (das neue Washington war noch in Planung), die auch als ökonomisches Zentrum noch nicht von New York überholt war. Das Lager Hamiltons bezog dafür heftige Schläge von seinen Gegnern, die hinter dieser offensiven kapitalistischen Strategie eine Spaltung der Gesellschaft in eine kleine, reiche Elite und eine verarmte Masse aufscheinen sahen: das Schreckbild Europas, von dem man sich doch durch Gleichheit und Freiheit unterscheiden wollte. Mal behielten die einen, mal die anderen die Oberhand. Auf Hamiltons Ära
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folgte im Jahr 1800 der triumphale Wahlsieg Thomas Jeffersons, der damit seine egalitäre Vision politisch umzusetzen versuchte. Das war kein Anti-Kapitalismus, geschweige denn ein ProtoSozialismus, wie er wenig später in Europa entstand. Es war die Vision einer Gesellschaft gleicher und unabhängiger Produzenten – unabhängig, ob als Farmer oder Handwerker, von Banken, städtischen Großhändlern und Industrie. „Small-producer capitalism“ nennen die Amerikaner das. Die späten 1820er und die 1830er Jahre, also die Ära Jacksons, zeigten ein Janusgesicht. Einerseits vollzog sich, vergleichbar mit dem Rheinland oder Sach-
Bankchef Nicholas Biddle
sen zur selben Zeit, der Durchbruch des industriellen Kapitalismus und überhaupt einer bis in feine Verästelungen hinein marktförmig organisierten Gesellschaft. In den städtischen Zentren am Atlantik schossen Fabriken aus dem Boden; der Handel mit Waren drang gleichzeitig bis in die Dörfer vor, wo die Farmer immer weniger mit Selbstversorgung und Nachbarschaftstausch operierten, sondern für Märkte verkauften, also in die „Cash-Ökonomie“ einbezogen wurden, sich verschuldeten.
Die „Marktrevolution“ des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts, von der Historiker heute sprechen, war im Grunde ein Vorläufer der heutigen Welle der Globalisierung. Im Horizont der 1830er Jahre war ein nationaler Markt von Waren und Kapital, der von New
York bis St. Louis reichte, so neu und umwälzend, wie es für uns die globalen Waren- und Finanzströme sind. Auch die Erfahrungen und Ängste der Menschen, die sich damit verknüpften, liegen nicht so weit auseinander. Andererseits war das für Amerika nicht nur eine Phase der territorialen Expansion, sondern auch eine Zeit der politischen Demokratisierung, in der beispielsweise die letzten Einschränkungen des allgemeinen Wahlrechts für die weißen Männer verschwanden. Den Triumph der einfachen Leute, des „common man“, um 1830 beschreibt das bis heute berühmteste Amerika-Buch überhaupt: Alexis de Tocquevilles „Über die Demokratie in Amerika“, der Reisebericht eines französischen Adligen, den das Ausmaß an sozialer Gleichheit und politischer Beteiligung verblüffte. Andrew Jackson und sein Aufstieg ins Präsidentenamt symbolisierten schon für die Zeitgenossen genau das: Der 1767 geborene Gründer der Demokratischen Partei war ein Aufsteiger, der nicht an der vornehmen Ostküste, sondern im rauen Grenzland Tennessees sein Glück versuchte; ein militärischer Draufgänger, dessen früher Ruhm in Siegen über die Creek-Indianer und die Briten im Krieg von 1812/15 gründete; seine naturwüchsige Härte trug ihm den Spitznamen „Old Hickory“ ein. Seine Amtsübernahme am 4. März 1829 war, gemessen an den Verhältnissen, ein größeres Spektakel als die Einführung Barack Obamas 2009. Statt distinguierten Trinksprüchen zu lauschen, stürmte eine begeisterte Volksmenge das Weiße Haus und plünderte das bereitstehende Büfett. Die traditionellen Eliten waren entsetzt, andere feierten den Siegeszug volkstümlicher Demokratie. Mit Beginn seiner Präsidentschaft war Andrew Jackson entschlossen, sein Programm der Eindämmung einer kapitalistischen Entwicklung zu Lasten – wie er es sah – des einfachen Volkes umzusetzen. Bereits im Frühjahr 1830 legte er sein Veto gegen ein Infrastrukturgesetz ein, das eine Beteiligung an einem kommerziellen Fernstraßenprojekt in Kentucky vorgesehen hatte. Das war das Signal und Vorspiel. Seitdem trat der Kampf gegen die Bank of the United States (B. U. S.) immer mehr in den Vordergrund. Diese zweite Bank der Vereinigten Staaten (nach dem ersten Anlauf Hamiltons von 1791) war 1816 gegründet und mit einer „Charter“, einer Art Li-
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zenz des Bundes, für die Dauer von 20 Jahren ausgestattet worden. Die B. U. S. stellte, nach heutigen Maßstäben, eine seltsame Mischung dar, halb staatlichen, halb privaten Charakters. Im Prinzip handelte es sich um eine Aktiengesellschaft, also um ein privates Geschäft, an dem der Bund jedoch zum einen Anteile hielt, das zweitens unter seiner besonderen Privilegierung stand und damit eine Sonderstellung genoss, und das drittens Aufgaben der nationalen Geldpolitik und der außenwirtschaftlichen Finanzierung übernahm, wie später (und bis heute) eine Zentralbank. So war diese Bank unter der energischen Füh-
jedoch der Fall, und es zeigte sich, dass Jackson die Stimmung der breiten Bevölkerung besser kannte. Er nahm die Herausforderung an und stilisierte den Kampf gegen die Bank zu einem persönlichen Duell auf Leben und Tod. Als das Pro-Bank-Gesetz im Kongress verabschiedet war, rief Jackson aus: „Die Bank versucht mich zu töten, aber ich werde sie töten!“ Eine Woche später, am 10. Juli 1832, legte er sein Veto ein, mit dem er das „Monster“ am Ende tatsächlich zu Fall brachte. Denn der Kampf gegen die Bank war populär, Andrew Jackson gewann am Ende des Jahres die Wahl haushoch. Der Bund zog zunächst
Der Kampf gegen die Bank war populär, Jackson gewann die Wahl. rung von Nicholas Biddle – seinerseits ein typischer Aufsteiger der frühen Republik – zu einem höchst einflussreichen Gestalter der amerikanischen Marktrevolution geworden. Durch ein System von Filialen ebenso wie die faktische Abhängigkeit von Banken der Einzelstaaten strahlte die Macht ihrer geldpolitischen Vorgaben von Philadelphia bis in die tiefste Provinz, gewissermaßen bis in das Portemonnaie des Farmers an der Siedlungsgrenze, an der „frontier“, aus. Zugleich gab die B. U. S. ein Beispiel für die enge Verflechtung politischer Macht und ökonomischer Interessen. Im Vorfeld der Wahlen von 1832 witterten die Befürworter der Bank die Chance, die Verlängerung ihrer Lizenz schon lange vor deren Ablauf durchzusetzen, denn der Präsident werde es nicht wagen – so das Kalkül –, seine Wiederwahl durch einen Streit über die Bank zu gefährden. Das Gegenteil war
seine Einlagen, später auch seine Anteile ab, und 1836 lief die Lizenz der B. U. S. tatsächlich aus; die Bank war am Ende.
Jackson begründete sein Veto in einer langen und dramatischen Botschaft. Er warf der Bank vor, nicht national, nicht patriotisch genug zu sein: Die „ausländischen“, und das hieß vor allem: die britischen Einflüsse seien eine „Gefahr für unsere Freiheit und Unabhängigkeit“. Und er beschuldigte das Geldhaus, zu einer Schieflage der Gesellschaft beizutragen: „Es ist bedauerlich, dass die Reichen und Mächtigen allzu oft die Gesetze in ihre egoistischen Richtungen biegen.“ Zwar gebe es keine vollkommene natürliche Gleichheit, sondern Unterschiede in Begabung, Bildung und Reichtum in der Gesellschaft. Aber die Regierung dürfe nichts tun, diese Unterschiede auch noch zu vergrößern, „die Reichen reicher zu machen und die Mächtigen mächtiger“. Sonst hätten die „ein-
fachen Mitglieder der Gesellschaft – die Farmer, Handwerker und Arbeiter ¬, die weder Zeit noch Mittel haben, um sich auf ähnliche Weise Vorteile zu sichern, das Recht, sich bei der Regierung über solche Ungerechtigkeit zu beschweren“. Das war nicht nur Rhetorik, sondern auch tiefe Überzeugung eines demokratischen Egalitarismus, der in der Bank, ja den Banken und dem Finanzsystem überhaupt die „Hydra der Korruption“ am Werke sah. Ob Andrew Jacksons Bankkrieg politisch und ökonomisch klug war, steht auf einem anderen Blatt. Dass er die Dynamik von Kommerzialisierung und expandierender Geldwirtschaft, von Landspekulation und Kapitalismus nicht aufhalten konnte und seiner Vision insofern etwas Nostalgisches anhaftete, muss man ihm noch nicht einmal vorwerfen. Der unflexible Kampf gegen das „Monster“, der sich in der Finanz- und Wirtschaftspolitik der folgenden Jahre fortsetzte, trug jedoch auch zur Entstehung und besonderen Schärfe der Finanzkrise und Rezession von 1837 bei – der schlimmsten, die die USA bis dahin erlebt hatten. Sie traf die „humble members of society“, um die sich Jackson doch so sorgte, am schwersten mit Arbeitslosigkeit und Armut. Politisch musste das sein Nachfolger Martin Van Buren, ein enger Gefolgsmann Jacksons über viele Jahre, ausbaden, der als „Martin Van Ruin“ verspottet wurde. Den Zusammenbruch des Kapitalismus läutete diese Krise nicht ein – die Ära der Vanderbilts und Rockefellers stand erst noch bevor, von deren exzessivem Reichtum sich Jackson oder Tocqueville keine Vorstellung hätten machen können. Das Monster blieb lebendig, aber lebendig blieb auch der immer wieder erneuerte Versuch, es in die Schranken der Moral, der Demokratie und der Gleichheit zu weisen.
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1873, zwei Jahre nach Gründung des Deutschen Reiches, erschütterte ein Börsen-Crash die Weltwirtschaft. Die heute höchst aufschlussreiche Krise beförderte den Aufstieg des Sozialstaats in Deutschland.
Lehren aus dem Gründerkrach
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istorische Vergleiche Dies umso mehr, weil die Ratlosigkeit sind gegenwärtig be- allgemein ist; keiner der derzeitigen Reliebt. Wenn uns schon gierungslenker und Ökonomen kennt der Durchblick in der Krisen großen Ausmaßes aus eigener aktuellen Wirtschafts- Erfahrung. So ist es zur eigentümlichen Situation gekommen, krise fehlt, so hoffen dass parallel aus der wir, im Rückblick auf Entwicklung ganz unWeltwirtschaftskrisen terschiedliche Schlüsse wie die von 1929 das gezogen werden. mögliche Ausmaß des Grob vereinfacht gederzeitigen Desasters sagt, kommen die entermessen zu können. gegengesetzten Lager Bestenfalls wäre dann der modernen Volkszu erkennen, was unbewirtschaftslehre, Keynedingt vermieden wersianer und Monetarisden muss, damit die WERNER PLUMPE ten, plötzlich beide zum Krise sich nicht zu eiZug. In den Augen der ner allgemeinen gesell- Der Wissenschaftler, 45, Ersteren hängt die Krise schaftlichen Bedrohung unterrichtet an der Frankdamit zusammen, dass ausweitet. furter Goethe-Universität der Staat seiner konDie vermeintlichen Wirtschafts- und Sozialjunkturpolitischen AufLehren dieses Vergleichs geschichte. Er ist Vorsitgabe nicht gerecht wurfinden bei Bürgern und zender des Verbandes de. In den Augen der Politikern offene Ohren. deutscher Historiker.
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Letzteren war es die Weigerung der Zentralbanken, genügend Liquidität in die Märkte zu pumpen, die ins Verderben führte. Wir erleben, dass die Antikrisen-Rezepte der beiden rivalisierenden Doktrinen gleichzeitig angewendet werden: gigantische staatliche Konjunkturprogramme – begleitet von einer Liquiditätsüberschwemmung durch die Zentralbanken. Ob das gutgeht, wird kaum gefragt, solange man glaubt, Schlimmeres zu verhüten. Der Vergleich (im Sinne von Gleichsetzung oder Ähnlichkeit) zwischen 2009 und 1929 wird dabei stillschweigend als sinnvoll akzeptiert. Jedoch spricht bisher nichts dafür, dass der derzeitige Krisenverlauf Ähnlichkeiten mit den Jahren nach 1929 hat – abgesehen von der Schwere des Konjunktureinbruchs seit 2008. Weder ist die Weltwirtschaft institutionell und strukturell so zerrüttet, wie sie das nach dem Ersten Weltkrieg war.
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AKG (R.)
Von WERNER PLUMPE
„Die Börsenkatastrophe in Wien am 9. Mai“ heißt dieses Bild, das im Juni 1873 in der Leipziger „Illustrirten Zeitung“ erschien.
Noch stehen sich die europäischen Staaten feindselig gegenüber wie damals – revanchelüstern und erpicht darauf, vermeintliche Konkurrenten wo immer möglich zu schwächen. Die Industriestaaten sind keineswegs so verarmt, wie es besonders Deutschland nach der großen Inflation von 1923 war. Auch herrschen nicht Massenelend und Hoffnungslosigkeit, wie sie etwa für große Teile der amerikanischen Landbevölkerung nach 1929 typisch wurden. Zudem sind totalitäre Neigungen zumindest in den großen Staaten des Westens derzeit kaum zu erkennen. Nein: Ein ernsthafter Vergleich zeigt gerade, dass man die Krisenphänomene und -verläufe, soweit das heute bereits zu beurteilen ist, eben nicht gleichsetzen kann. Aus wirtschaftshistorischer Sicht ist es lohnender, den Blick zu weiten. Denn in gewisser Weise hat uns die Fixierung auf die Weltwirtschaftskrise 1929 von allen älteren Erfahrungen ab-
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geschnitten. Dabei bietet gerade das 19. Jahrhundert reichlich Stoff, um Krisen mit ihren Ursachen, Verläufen und Folgen genau zu beobachten. Die modernen Wirtschaftskrisen entstanden im Jahrhundert vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Ein großer Teil der heute noch verwendeten Begriffe und Theorien entstammt jener Epoche. Die seinerzeitigen Vorstellungen von der „Normalität“ von Krisen oder das Marxsche Theorem von der systemimmanenten Unvermeidlichkeit zyklischer Überproduktionskrisen im Kapitalismus muss man deshalb nicht übernehmen. Ein Blick auf die Krisen jener Zeit kann aber helfen, die Gegenwart in einen größeren Kontext zu stellen und nüchterner zu betrachten.
Mit einem abrupten Kurssturz an der Wiener Börse endete Anfang Mai 1873 eine lange Spekulationsphase. In den Jahren zuvor hatte eine Welle von
Scheingründungen, insbesondere im Immobilienbereich, eine Blase an den Aktienmärkten entstehen lassen. Erst erlitt das Börsenpublikum dramatische Vermögensverluste, dann drohte der Crash die beteiligten Banken mit in den Abgrund zu reißen. Die Regierung griff ein, konnte aber die Panik nicht beenden. Nach dem Ende eines einwöchigen Moratoriums kam es zu einer neuen Welle von Bankrotten. Erst die Schaffung eines großen Hilfsfonds unter Beteiligung der österreichischen Nationalbank beruhigte die Lage einigermaßen, freilich auf niedrigem Niveau. Eine Vielzahl neugegründeter Banken war pleite. Das Kursniveau hatte sich bis September 1873 gegenüber dem vom Mai mehr als halbiert; es sollte sich so schnell nicht wieder erholen. Bis in einzelne Ereignisse hinein erinnert die damalige Entwicklung an manche gegenwärtige Nachricht. So berichtete eine Wiener Zeitung, dass einige Börsen-
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händler „Selbstmord fingierten, indem sie ihre alten Kleider an einer Brücke niederlegten und in neuen das Weite suchten“. Der Wiener Crash war dabei nicht einmal das Zentrum jenes Debakels, das als Gründerkrach des Jahres 1873 in die Wirtschaftsgeschichte eingegangen ist. Denn die Spekulationsblase in der k. u. k. Metropole resultierte nur zum Teil aus der Immobilien- und Bauspekulation. Zum anderen Teil nährte sie sich davon, dass die Aufbruchstimmung in Deutschland nach dem Sieg über Frankreich und der anschließenden Reichsgründung den südlichen Nachbarn mit erfasste – wobei man auch ein wenig von den Auswirkungen der französischen Reparationszahlungen an Deutschland zu profitieren hoffte. Schwerer als das Wiener Debakel wirkte sich der Zusammenbruch der US-Bank Jay Cooke & Company am 18. September 1873 aus. Weil sie geholfen hatte, den Bürgerkrieg zu finanzieren, stand sie in hohem Ansehen bei der Regierung der USA. Dann aber hatte Cooke sich an der Spekulation auf die Northern Pacific Railroad beteiligt. Schließlich hatte sich das Eisenbahngeschäft im Boom der vorangegangenen Jahre als außerordentlich ertragreich erwiesen. Faktisch ohne größere Einzahlungen der Aktionäre wurden Eisenbahnprojekte begonnen und über
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Anleihen finanziert, die später aus den Einnahmen des Eisenbahnbetriebs gedeckt werden sollten. In der Boom-Phase schossen Aktien und Anleihen nach oben, viel Geld wurde gemacht. Im Jahr 1873 aber verschlechterten sich aufgrund verschiedener Umstände die Bedingungen des Eisenbahnbaus. Insbesondere die rasch steigenden Bauund Betriebskosten stellten den Erfolg in Frage. Die Aktionäre konnten sich nicht mehr an steigenden Kursen erfreuen – sie wurden im Gegenteil zur Zahlung des gezeichneten Kapitals aufgefordert, wodurch Cooke zahlungsunfähig wurde und die Kurse an den Börsen aufgrund von Panikverkäufen zusammenbrachen.
Eine große Pleitewelle war die Folge, die New Yorker Börse musste zeitweilig geschlossen werden. Das Finanzsystem stand am Abgrund. Sein Zusammenbruch konnte nur durch einen gemeinsamen Rettungsakt der Banken und der New Yorker Handelsfirmen verhindert werden: Man verabredete untereinander, kein Geld aus den Depots über einen bestimmten Betrag hinaus abzuziehen. Höhere Summen wurden von den Banken nur quittiert und dann einer neueingerichteten Clearing-Stelle des Finanzsektors vorgelegt. Die übergeordnete Instanz sollte eine Gefährdung des Gesamtsystems ver-
hindern. Dieses Clearing-System hatte Erfolg. In Berlin begann der Zusammenbruch erst im Oktober 1873, als die Quistorpsche Vereinsbank zahlungsunfähig wurde, die besonders eng mit Immobilien- und Bauspekulationen verbunden war. Die Aktienkurse in Berlin hatten zu diesem Zeitpunkt bereits ihren Zenit überschritten, nachdem sie sich zuvor in den beiden ersten Jahren nach der Reichsgründung verdoppelt hatten. Unter dem Eindruck des Wiener Debakels fielen sie weiter, erholten sich zeitweilig und sanken schließlich 1874 und 1875 unter das Niveau von 1870. Erst am Ende des Jahrzehnts begann eine langsame Erholung. In Berlin führte die Krise vor allem zu einem Massenbankrott neugegründeter Aktiengesellschaften. Im Jahr 1870 hatte man das Aktienrecht weitgehend liberalisiert und die Konzessionspflicht abgeschafft. Daraufhin wurden mit einem nominellen Kapital von 1,5 Milliarden Mark 479 solche Gesellschaften allein 1872 gegründet. Innerhalb von drei Jahren, zwischen 1871 und 1873, entstanden in Deutschland 938 Aktiengesellschaften mit einem Nominalkapital von 2,75 Milliarden Mark. Zur Jahreswende 1873/74 waren etwa 700 von ihnen zahlungsunfähig. Bei diesen AG handelte es sich zumeist nicht um neue Unternehmen.
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ULLSTEIN BILD
Stolz präsentierte sich der deutsche Maschinenbau auf der Weltausstellung in Wien 1873. (Holzstich)
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Den Anfang machte die HandelspoliNeben reinen Spekulationsgründungen rück. Der deutliche Druck auf die Erwurden häufig vorhandene Unterneh- zeugerpreise in Landwirtschaft und tik, in der Deutschland 1879 zu einem men an die haussierende Börse gebracht, Industrie bedingte vielmehr einen star- moderaten Zollschutz für Getreide, Eium dort erhebliche Zeichnungsgewinne ken Rückgang der Unternehmensein- sen und Textilien zurückkehrte. An diezu erzielen – in der Sprache der Zeit kommen und einen Einbruch der Inves- ser Entwicklung beteiligten sich nach und nach alle größeren Staaten außer „Agiotage“. Der bedeutende, von den titionen. Ende der 1870er Jahre zog zwar die Großbritannien, das eisern am FreihanNationalsozialisten vertriebene Wirtschaftsjournalist Felix Pinner hat in sei- Nachfrage wieder an, und technische del festhielt. Deutschland lag mit seinen ner bis heute lesenswerten Darstellung Neuerungen stimulierten die Massen- Zollsätzen schließlich im unteren Mit„Die großen Weltkrisen“ (1937) diese produktion. Durch die starke inter- telfeld; an der Spitze der Protektionisten Entwicklung prägnant dargestellt. In nationale Konkurrenz blieb das Preis- standen vor 1914 die USA. Der gemäßigeinem fast vergessenen Detail nimmt sie niveau aber gedrückt. Erst Mitte der te Protektionismus behinderte die Ex1890er Jahre setzte ein massiver, jetzt pansion des Welthandels seit den 1890er die Gegenwart exakt vorweg: Die deutschen Banken erkannten da- von Chemie und Elektrotechnik getra- Jahren („erste Globalisierung“) kaum. Der sich in den 1870er Jahren abmals die erheblichen Gewinnmöglich- gener neuer Wachstumszyklus ein, in keiten von Börsengängen, aber auch de- dem Preise, Gewinne und Investitionen zeichnende Aufstieg der Sozialdemokraren Gefahren. Und sie scheuten das Ri- der Unternehmen wieder stark anstie- tie und die politische Brisanz der sozialen Frage bedingten schließlich siko, selbst und direkt aktiv Bismarcks Doppelschlag von zu werden. Stattdessen hatten repressivem Sozialistengesetz sie die zündende Idee, Investund vorsorgender Sozialgesetzmentbanken („Maklerbanken“) gebung. Bei Letzterer konnte er zu gründen, die das Risiko der sich auf einen breiten gesellBörsengänge und die Kundenschaftlichen Konsens stützen, verpflichtungen übernahmen. den im Grunde nur die Indu1871 wurden 58 Aktienbanken strie und mancher Liberalkonaus der Taufe gehoben und servative nicht teilten. Sozial1872 weitere 49, von denen viepolitik war populär – und das le dem Zweck dienten, UnterReich sollte gerade auf seine nehmen als AktiengesellschafUnfall-, Alters- und Krankenten an die Börse zu bringen. versicherung auch in Zukunft Der deutsche Gründer-Boom immer wieder stolz verweisen. nährte sich nicht nur von der Mit dem Sozialistengesetz, wundersamen Vermehrung der das 1890 nicht mehr verlängert Banken, sondern auch von anwurde, scheiterte Bismarck im deren Entwicklungen: von der Übrigen genauso wie mit seiBau- und Bodenspekulation, nen Plänen zu einer steuervon der auslaufenden Spekulafinanzierten, staatlichen Sozialtion im Eisenbahngeschäft und versicherung. Die Mehrheit im nicht zuletzt vom realwirtReichstag wollte dem „Eiserschaftlichen Boom im KohlenDer liberale Politiker Eduard Lasker (r.) wandelte sich nen Kanzler“ ein derart popubergbau und in der Eisen- und vom Unterstützer zum Gegner Bismarcks. (Karikatur) läres Instrument nicht in die Stahlindustrie. Auch Letztere suchte ihre Expansion durch die ver- gen. Jetzt kehrten auch die Finanz- und Hand geben – und setzte die bis heute mehrte Gründung von Aktiengesell- Kapitalmärkte allmählich zu ihrer alten gültige Selbstverwaltung der Sozialverschaften voranzutreiben. Dynamik zurück. Die Jahre von 1873 bis sicherung durch. Ob seinerzeit aus der Abkehr vom Die von den genannten Faktoren ge- 1896, die auch als „Große Depression“ triebene Blase platzte 1873; am Ende (der Historiker Hans Rosenberg) be- Liberalismus der „moderne Intervenjenes Jahres war der Spuk vorbei. Dem zeichnet werden, waren zwar keines- tionsstaat“ entstand, ist unter FachleuBoom folgte eine mehrjährige Depres- wegs von absoluter Stagnation gekenn- ten umstritten. Es spricht aber nicht viel sionsphase (Gründerkrach und Grün- zeichnet. Nur fehlte ihnen eben der dafür, da der Umfang der Staatstätigkeit weiter überschaubar blieb: Die deutderkrise), bis schließlich 1878/79 die Da- Glanz der Gründerzeit. ten verhalten nach oben wiesen. Dafür fanden in diesen Jahren unter sche Staatsquote beschränkte sich vor dem Eindruck von Gründerkrach und 1914 auf etwa 14 Prozent. Doch hatte Die Folgen der Krise waren ein- Gründerkrise besonders in Deutschland der Liberalismus als Leitvorstellung ausschneidend – wenngleich weniger für grundlegende wirtschaftspolitische Aus- gedient; seine normative Kraft war erdie Arbeiterschaft, da sich die Arbeits- einandersetzungen statt. Der Wirt- schöpft, zumal auch seine bisherilosigkeit in Grenzen hielt, nicht zu- schaftsliberalismus, der 1870 mit der De- gen Protagonisten der Reihe nach vom letzt auch wegen einer bis in die 1880er regulierung des Aktienrechts und 1873 Freihandel zum Protektionismus umJahre anhaltenden erneuten Auswan- mit der weitgehenden Beseitigung der schwenkten. Neu war dabei die Entstehung einer derungswelle in die USA; angesichts letzten Zollschranken seinen Höhedeutlich sinkender Preise gingen auch punkt erreicht hatte, wurde dabei in Lobbyarbeit im modernen Sinne. Nun bedrängte man den Staat, gründete Verdie Realeinkommen nur zeitweilig zu- wichtigen Fragen korrigiert.
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bände und Gewerkschaften und betrieb als gemeinsame ordnungspolitische derkrach so weit ähnelte, dass die historischen Reaktionen auf ihn Rezepte für öffentliche Kampagnen, etwa zur Durch- Überzeugung war. Kurzum: Als Folge der Krise wandel- richtiges Handeln hätten liefern können. setzung des Schutzzolls. Es war wohl weniger der Staat selbst, der seine te sich in Deutschland der Charakter des Auch die Zukunft wird keine Wiederkehr wirtschaftsliberalen Grundsätze über Kapitalismus. Die Ära des „Manchester- der damaligen Konstellation bringen. Bord warf. Vielmehr drängten die ge- Liberalismus“ war vorbei, die Vorboten Letztlich ist jede einzelne Krise zu sehr sellschaftlichen Interessengruppen den von „Sozialer Marktwirtschaft“ und durch ihre historischen Besonderheiten Staat, zu ihren Gunsten zu interve- „Deutschland AG“ machten sich be- geprägt, als dass daraus zeitübergreimerkbar. nieren. fende Schlüsse zu ziehen wären. Dem entsprach auch die ZeitstimDem Niedergang des liberalen DenAuf den zweiten Blick enthält aber kens folgte nicht nur die Geburt von Lob- mung. Die Zusammenbrüche an den auch diese These eine Art historische byismus und Sozialstaat. Auch die Börsen und das Platzen der spekulati- Botschaft. In der Tat ist die BeschäftiDeutschland AG hat hier ihre histori- ven Blase hatten schließlich auch viele gung mit vergangenen Krisen überaus schen Wurzeln. Die Spekulation hatte Kleinanleger um ihr Erspartes gebracht. nützlich – nur eben nicht im Sinn einer mit den Maklerbanken die ersten In- Entsprechend groß war nach 1873 bei konkreten Handlungsanleitung. Durch vestmenthäuser hervorgebracht; sie gin- vielen die Wut auf die „Börsenjobber“ die historische Betrachtung werden die und die großen Spekulanten. Der Anti- Dimensionen des Krisengeschehens gen mit der Krise unter. In der Folgezeit schworen die deut- semitismus schwoll an, weil nun nach aber klarer konturiert. schen Banken, nicht zuletzt aus Angst Sündenböcken gesucht wurde. Dabei geZu lernen ist, dass nicht jede Krise, um ihre Industriekredite, dem spekula- riet schnell in Vergessenheit, dass sich und sei sie auch tief und langanhaltend, tiven Engagement ab und konzentrier- insbesondere an der Wiener Börse wei- so verhängnisvoll verlaufen muss wie in ten sich auf strategische Beziehungen te Teile des Adels an der Spekulation den Jahren nach 1929. Der Gründerzu „ihren“ Unternehmen. Die wieder- beteiligt, ja ihre Namen geradezu für krach zeigt vielmehr, dass Gesellschafum scheuten eine zu große Abhängigkeit Werbezwecken angeboten hatten. ten imstande sind, auch schwere Krivon Fremdkapitalsen zu bewältigen. Sie können sogar gebern. Sie bemüh- +80% zum Ausgangsten sich in den punkt werden für Jahren nach der +60% eine neue soziale Krise, ihre UnabVeränderung deutscher Aktien gegenüber Januar 1871 Übereinkunft behängigkeit durch züglich der wirtSteigerung der Ei- +40% Quelle: NBER, Vierteljahreshefte für Konjunkturforschung schaftlichen Ziele genkapitalquoten Insolvenz der und der dafür tragzu erhöhen. +20% Quistorpschen baren Risiken. Es entstanden Vereinsbank Überdies bein dieser Zeit aber ±0 weist der Grüngleichwohl stratederkrach eine Tatgische Allianzen sache, die nicht oft und Überkreuzbe- –20% genug unterstriteiligungen. Einige chen werden kann von ihnen existier1871 1872 1873 1874 1875 1876 1877 1878 1879 – so trivial sie auch ten bis zum Ende –40% scheinen mag: Jeder 1990er Jahre Auch die Kritik des liberalen Reichs- de Wachstumsphase geht einmal zu und erwiesen sich als sehr erfolgreich. Der deutsche „kooperative Kapitalis- tagsabgeordneten Eduard Lasker an den Ende; sie mündet nicht automatisch mus“, der Unternehmen vor den Gefah- Übertreibungen der Börse provozierte in neue Wachstumszyklen. Unter Umren der Spekulation schützen wollte, Widerspruch bei den sogenannten bes- ständen kann es zu länger dauernden hatte mit der Entstehung und Durch- seren, hochadligen Kreisen, die gern Such- und Anpassungsprozessen komsetzung von Kartellen zudem eine stark mitverdienen wollten. In der Mehrheits- men, bevor schließlich ein neuer Kongesellschaft aber hatte sich die Stim- sens erzielt wird und die Basis für ein marktregulierende Dimension. Deutschland wurde seit den 1870er mung gedreht: War man in den Jahren neues Kapitel wirtschaftlicher EntwickJahren zum Land der Kartelle, mit de- vor 1873 geradezu euphorisch gewesen, lung legt. Insofern lehrt die Geschichte, sich nen die Preise stabilisiert werden soll- so machte sich jetzt ein schwerer „Katen. Dies gelang zwar nur selten, för- ter“ bemerkbar, dessen Überwindung von der Hybris eines immerwährenden derte aber bei vielen Unternehmen im Zeit brauchte. Die Börse wurde ihren Wachstumsprozesses zu befreien und Zweifelsfall eine Neigung zu Marktab- schlechten Ruf in großen Teilen der Be- die Kraft aufzubringen, auch Phasen der Schrumpfung oder der Stagnation nicht sprachen, um „ruinöser Konkurrenz“ zu völkerung lange nicht mehr los. als bedrohlich zu empfinden. entgehen. Während die Inlandspreise Die Selbsthysterisierung der Gegenauf diese Weise hochgehalten wurden, Gibt es Lehren, die man aus dem etwa in der Eisen- und Stahlindustrie, Gründerkrach ziehen kann? Auf den wart, die jedes Krisenphänomen zur betrieb mancher Unternehmer unge- ersten Blick wird man die Frage verneinen Schicksalsfrage stilisiert, lässt sich mit niert Export-Dumping. Das zeigt, dass müssen. Denn seither ist keine wirtschaft- historischen Kenntnissen jedenfalls gedie Triebkraft eher schlichter Eigennutz liche Situation eingetreten, die dem Grün- lassener hinnehmen.
Turbulente Gründerjahre
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ORTSTERMIN
KAPITEL
Was die „Fledermaus“ mit dem Wiener Börsenfieber zu tun hat
„GLÜCKLICH IST, WER VERGISST“ Es war nur ein kurzes, verheißungs-
AKG
nun vergangen war: Reichtum ohne Arbeit, lockere Sexualmoral, volles Aufschäumen, kurz: ungehemmter ganz so, wie wenn Hedonismus. Champagner in die Johann Strauß, längst Kelche perlt. Und wie schon der Walzer-Ködie Blasen des Schaumnig, kam mit seiner weins schnell im Gla„Fledermaus“ einfach se platzen, so war es zu spät. Nicht zu spät auch mit der Euphofür den Weltruhm, rie bald vorbei. den das Werk verdienDabei standen die termaßen im Lauf der Aussichten für langen Jahre erlangte, sonWohlstand recht gut. dern zu spät für das Theoretisch. Der KaiWien von 1874. ser hatte sein Reich Es war, als hielte das befriedet, die schöne Stück mit seinem Sisi geheiratet und seiSchwung, seinen seline Residenzstadt hergen Melodien, seinen ausgeputzt. Die alten Walzern, mit Schmäh Stadt-Wälle waren geund Schmiss den verschleift, Prachtbauten armten Spekulanten mit Stuck und Marmor hochgezogen, Champagner auf der Bühne („Fledermaus“-Lithografie um 1875) hämisch einen Spiegel vor. und zur Krönung des neuen Protzes entstand eine funkelnde Hofoper. Der Bau Gabriel von Eisenstein, ein reicher Nichtstuer, der an war ein bisschen groß und aufdringlich geraten, ja gera- der Börse Glück hatte, soll wegen Beamtenbeleidigung dezu neureich, aber das war halt der Zeitgeist. Und die ins Gefängnis. Doch stattdessen lässt er sich überreden, Oper passte haargenau zu den Menschen, die sich am auf den Ball des dekadenten russischen Prinzen Orlofsky zu gehen. Dort trifft er, erotisch aufgeladen, auf seine als liebsten in ihr zeigten. Denn das bis dato eher biedere Österreich in der zweiten ungarische Gräfin verkleidete Frau, deren StubenmädHälfte des 19. Jahrhunderts hatte einen neuen Typus her- chen Adele (ebenfalls inkognito) und allerlei andere Menvorgebracht: den Spekulanten. Eine lebenslustige Spe- schen, die nicht sind, was sie vorgeben zu sein. Am Ende zies, die gern feierte, moralisch kaum gefestigt war und ein landet Eisenstein, mit schwerem Brummschädel, doch Lieblingsgetränk hatte, den zuvor kaum konsumierten noch im Knast. Das alles ist eine so geglückte, von unsterblicher Musik beChampagner. Kaiser Franz Joseph hatte den Boom in die Wege geleitet: feuerte Farce auf das freizügige Leben vor dem Crash, Er ließ Eisenbahnlinien bauen, förderte neue Industrien; dass die Premierenbesucher eher pikiert als begeistert und alle, die ein paar tausend Gulden übrig hatten, trugen waren. Erst später in Berlin, ausgerechnet in der Hauptdas Geld zur Börse und konnten Millionär werden. So stadt des Landes, das die österreichische Armee 1866 bei Königgrätz vernichtend geschlagen hatte, wurde die Opewie 130 Jahre später beim Hype ums Internet. Und genauso schnell wie im Jahr 2000 zerfielen auch in rette ein überwältigender Erfolg. „Die Fledermaus“ erlebte in Wien in der ersten AufWien die Träume vom ewigen Reichtum. Kaum hatte der Kaiser die Weltausstellung 1873 eröff- führungsserie nur 16 Vorstellungen. Und das, obwohl sie net – sie sollte schöner, größer, bedeutender werden als die Hymne aller Verdrängungsakrobaten, Optimisten und die Vorgänger-Schauen in London und Paris –, platzte Geldmenschen enthält, die Nationalhymne aller internadie Spekulationsblase. Das Geld war weg, die Cham- tionalen Zocker und Lebenskünstler: „Glücklich ist, wer pagnerlaune verflogen, und es blieb ein riesengroßer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.“ Ein Couplet, dem, immer neuen geplatzten Blasen sei Dank, nie die Aktuaschmerzhafter Kater. Da passte es gar nicht ins Bild, dass im April des Folgejah- lität fehlen wird. Joachim Kronsbein res eine Operette herauskam, die alles das beschrieb, was Prosit!
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UPI / CORBIS / PICTURE PRESS
Am 25. Oktober 1929, dem „Schwarzen Freitag“, versammeln sich aufgeregte Aktionäre vor dem Börsengebäude in der New Yorker Wall Street.
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KAPITEL IV
DER DOPPELSCHOCK
Das Fanal von 1929
FOTOCREDIT
Mit dem Crash an der New Yorker Börse begann vor 80 Jahren die schlimmste Wirtschaftskrise, die die Welt je erlebt hat. Anleger verloren ihr Vermögen, Beschäftigte ihren Arbeitsplatz, die Bürger das Vertrauen in den Markt. Vieles war wie heute. Wiederholt sich die Geschichte?
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DER DOPPELSCHOCK
Während der tiefsten Krise Anfang der dreißiger Jahre wird in Manhattan das Rockefeller Center errichtet; höchstes Gebäude ist mit 259 Metern das RCA Victor Building, das 1988 in General Electric Building umbenannt wird. (Aufnahme von 1939)
Der Ölmagnat John D. Rockefeller feiert im Juli 1929 seinen 90. Geburtstag.
Hoffnungsvoll bewirbt sich der Republikaner Herbert Hoover 1928 um das US-Präsidentenamt. Seine im März 1929 beginnende Amtszeit wird bald von der Krise überschattet.
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Von ALEXANDER JUNG
J
ohn D. Rockefeller war der reichste Mann seiner Zeit. Mit Öl und Raffinerien hatte der Amerikaner Anfang des 20. Jahrhunderts ein Vermögen gemacht, sein Riecher für Geschäfte war legendär. Aber selbst einen Rockefeller kann sein Gespür einmal trügen. Am Mittwoch, dem 30. Oktober 1929, sechs Tage nach Beginn des New Yorker Börsen-Crashs, teilte er den verblüfften Beobachtern mit, er sei schon wieder in den Markt eingestiegen: „In dem Glauben, dass die Situation des Landes gesund ist, haben mein Sohn und ich seit Tagen gesunde Stammaktien gekauft.“ Rockefeller lag mit seiner Einschätzung
die Dauer der Rezession, die sich bald zur Depression und zur Weltwirtschaftskrise auswachsen sollte. Mit einer solchen Katastrophe hatte niemand gerechnet. In den Vereinigten Staaten schrumpfte die Wirtschaft zwischen 1929 und 1933 um fast ein Drittel, die Arbeitslosenquote stieg von 3 auf fast 25 Prozent. Noch schlimmer erwischte es das Deutsche Reich: Das Bruttosozialprodukt brach um 27 Prozent ein, die Zahl der registrierten Arbeitslosen wuchs bis Februar 1932 auf mehr als sechs Millionen, in Wahrheit waren aber wesentlich mehr Deutsche ohne Beschäftigung. Das Volk verarmte, die Not war groß, das wirtschaftliche Leben lag am Boden. In den Harzer Kurorten ging das Geschäft der Gastwirte 1930 zeitweise um rund ein Drittel zurück. „Jede irgend zu
Der amerikanische Korrespondent Hubert Renfro Knickerbocker beobachtete, dass höchstens zehn Prozent der Gäste in Berliner Wirtshäusern ein Bier vor sich stehen hatten. Sein Fazit: „Wenn der Deutsche zu arm geworden ist, um sich ein Bier zu kaufen, ist er am Verzweiflungspunkt angelangt.“ Die Große Depression Anfang der dreißiger Jahre war für beinahe jeden, der sie erlebte, eine Grenzerfahrung, materiell wie psychologisch. Ganz anders die Wirtschaftskrise dieser Tage: Sie trifft nur wenige in wirklich existentieller Weise, bislang jedenfalls. Die Weltwirtschaft ist heute weit entfernt von der katastrophalen Situation, in der sie sich Anfang der dreißiger Jahre befand. Und doch sind Parallelen zwischen beiden Krisen augenfällig.
Blaupause des Niedergangs?
aktuelle Krise Beginn: April 2008 Große Depression Beginn: Juni 1929
Weltweite Entwicklung von Wirtschaft und Finanzen in der Depression nach 1929 und heute + 10
0
INDUSTRIEPRODUKTION
Veränderung seit Beginn der Krise in Prozent
– 10
WELTHANDEL
Veränderung seit Beginn der Krise in Prozent
0 – 10
– 20 – 20
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG PHOTO (L.); UNDERWOOD & UNDERWOOD/CORBIS (O.); TOPICAL PRESS AGENCY/GETTY IMAGES (U.)
– 30
– 30 Monate nach Beginn der Krise
– 40
– 40 5
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+ 10 0
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– 50
–6
Monate nach Beginn der Krise 10
15
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Quelle: „A Tale of Two Depressions“– Studie der Ökonomen Barry Eichengreen (University of California, Berkley), Kevin O’Rourke (Trinity College, Dublin)
ziemlich daneben. Den tatsächlichen Tiefpunkt erreichten die Aktienmärkte drei Jahre später, im Juli 1932. Und es sollte noch 22 Jahre dauern, bis die Börse wieder auf das Niveau der Vorkriegszeit gelangte. Wie Rockefeller unterschätzten fast alle Zeitgenossen die Tiefe und vor allem
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Defizit/Überschuss in Prozent des Bruttoinlandsprodukts
–2
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STAATSHAUSHALTE
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Veränderung seit Beginn der Krise in Prozent
– 30
– 70
5
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AKTIENMÄRKTE
– 10
Monate nach Beginn der Krise
Im Vergleich zu 1929 nehmen die Staaten höhere Defizite in Kauf, um dem Abschwung zu begegnen. 1925 2004
vermeidende Ausgabe wird unterlassen“, klagte das „Göttinger Tageblatt“. In den Ausflugslokalen der Hauptstadt, so meldete der „Berliner Lokalanzeiger“, würden Autobesitzer vorfahren, die oft „nur eine Flasche Selters bestellen und dazu von zu Hause mitgebrachten Kuchen verzehren“.
1927 2006
2009 und 2010: IWF-Prognose
1929 2008
1931 2010
1933
1934
Damals wie heute ist das Vertrauen in den Markt und in die Solidität die Banken verlorengegangen. Damals wie heute bemühen sich Unternehmen vergebens um Kredite und kämpfen deshalb ums Überleben. Vor allem aber ging damals wie heute dem Crash eine Phase wilder Spekulation und maßloser Verschuldung voraus.
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Die Menschen die das Leid und die Entbehrungen des Ersten Weltkriegs noch in frischer Erinnerung hatten, sehnten sich nach Frieden und Wohlstand. Sie waren fasziniert vom Fortschritt und den bahnbrechenden Produkten, die er hervorbrachte: von Autos und Flugzeugen, von Radiogeräten und Telefonen. Und sie konnten teilhaben an den technischen Errungenschaften: Zwei Monatslöhne reichten einem Arbeiter aus, um sich das Ford-Modell „Tin-Lizzy“ leisten zu können.
Der Zauber der Moderne übertrug sich auf die Aktienmärkte, mehr und mehr Bürger begeisterten sich für die Börse und legten ihre Ersparnisse dort an, das Fieber erfasste alle Schichten. Unglaubliche Geschichten machten die Runde, etwa die vom Kammerdiener, der an der Börse eine Viertelmillion Dollar gewonnen hatte, oder von der Krankenschwester, die dank eines Tipps um 30 000 Dollar reicher geworden war. Der US-Journalist Frederick Lewis Allen beschrieb, wie sich die Amerikaner dem Börsenrausch hingaben: „Der Chauffeur des reichen Mannes lenkt den Wagen mit zurückgelegten Ohren, um Nachrichten über eine bedeutende Kursveränderung von Bethlehem Steel aufzufangen, denn er besitzt selbst 50 Anteile. Der Fensterputzer im Büro des Maklers macht eine Pause, um den Ticker zu beobachten, denn er überlegt, ob er die Früchte seiner Arbeit in einige Anteile von Simmons umtauschen soll.“ Nicht wenige spekulierten mit geliehenem Geld im festen Glauben, mit den Kursgewinnen ihre Schulden tilgen zu können. Der Hang der Amerikaner, auf Pump einzukaufen, verfestigte sich zum Lebensstil. Mehr als die Hälfte aller Autos und drei Viertel aller Möbel waren auf Kredit finanziert. John Kenneth Galbraith, der große Erforscher der Weltwirtschaftskrise, nannte es den „Triumph der Phantasie“, der die Märkte derart in Bewegung versetzt habe: „nicht in langsamen, gesetzten Schritten, sondern mit sprunghaften Sätzen“, so der Ökonom: „Die Massenflucht in die Scheinwelt, wichtiger Bestandteil jeder Spekulationsorgie, begann ernsthafte Formen anzunehmen.“ Fast jeden zweiten Tag wurden neue Investmentgesellschaften gegründet. 1927 verkauften sie den Anlegern Papiere im Wert von 400 Millionen Dollar, zwei Jahre später war das Volumen auf drei Milliarden Dollar gewachsen. Alle 96
Franklin D. Roosevelt wird 1933 US-Präsident und bleibt bis 1945 im Amt. Sein „New Deal“ gegen die Depression ist legendär.
waren überzeugt: Der Aktienboom in „God’s own country“ sollte noch viele Jahre weitergehen. Die modernen Unternehmen schienen schließlich noch gewaltige Potentiale in sich zu tragen. Die 1919 gegründete Radio Corporation of America beispielsweise konnte ihren Börsenwert vom Frühjahr 1928 bis zum Herbst 1929 um das Fünffache steigern, ohne je eine Dividende gezahlt zu haben. Vom Aktienfieber ließen sich auch die Unternehmer anstecken. Sie nutzten ihre Gewinne selten noch für Investitionen; an der Börse zu spekulieren, schien weit lukrativer – und müheloser obendrein. „In Amerika sind wir heute dem Triumph über die Armut näher als jemals zuvor in der Geschichte irgendeines Landes“, jubelte US-Präsident Herbert Hoover im Wahlkampf 1928. Der Manager und Politiker John Raskob, der später das Empire State Building errichtete, verbreitete die These, wer 20 Jahre lang jeden Monat Aktien im Wert von 15 Dollar kaufe, würde am Ende rund 80 000 Dollar verdienen: „Jeder sollte reich sein“, lautete sein Credo. Noch zwei Wochen vor dem Crash meinte der bekannte Yale-Ökonom Irving Fisher, „dass Aktienkurse, wie es scheint, ein dauerhaft hohes Niveau erreicht haben“ – und ruinierte damit seinen Ruf. Die Harvard Economic Society erklärte im November 1929, dass eine ernstliche Depression „außerhalb des Bereiches des Möglichen“ liege. Und Präsident Hoover versicherte im Dezember 1929, dass es „die starke und gesicherte Lage der Banken“ gewesen sei, die „das gesamte Kreditsystem ohne Schwächung des Kapitals sicher durch die Krise getragen hat“. Da stand die wirkliche Bankenkrise noch bevor. Ähnlich blauäugig wie ihre Großeltern waren bis vor gut einem Jahr auch viele Besitzer von Wohnungen und Häusern in den USA. Sie vertrauten darauf, dass die Preise für Immobilien stetig steigen würden und finanzierten sie oft ohne einen Cent Eigenkapital (siehe Seite 130). Manche Anleger waren auch überzeugt, dass Rohstoffe immer knapper, begehrter und teurer würden und die Menschheit am Beginn eines langen „Super-Zyklus“ stehe. Beide Generationen ließen sich also blenden von der verlockenden Aussicht auf Reichtum im Handumdrehen, beide ließen sich dazu verführen, weit über ihre Verhältnisse zu leben. Ihre Naivität, aber auch ihre Gier rächte sich bitter,
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als die Blasen platzten und sie die Kredite nicht mehr bedienen konnten. Dabei waren die Anzeichen für den Abschwung bereits vor dem Crash zu erkennen. Von Frühjahr bis Herbst 1929 war die Autoproduktion in den USA um rund ein Drittel auf 416 000 Einheiten abgesackt. Die Kapazitäten waren bei weitem nicht ausgelastet, ganz so, wie heute: Es gibt Fertigungsstraßen für 90 Millionen Fahrzeuge, der Bedarf liegt aber nur bei rund 50 Millionen. Dennoch beschloss General Motors noch 1929, die Adam Opel AG in Rüsselsheim zu übernehmen. Die amerikanisch-deutsche Firmenehe stand also von Beginn an unter keinem guten Stern.
wurden, ihn zurückzudrängen, ein unerwartetes Comeback. Eine weitere Analogie: Damals wie heute belasten Ungleichgewichte die Weltwirtschaft. Hochverschuldete Staaten wie Rumänien, Lettland oder die Ukraine stehen am Rande des Bankrotts, weil Investoren aus dem Westen ihr Geld abziehen. Entsprach der Kapitalstrom in die Schwellenländer Osteuropas, Asiens oder Lateinamerikas vor zwei Jahren noch dem Wert von 929 Milliarden Dollar, so erwartet das Institute of International Finance für dieses Jahr nur noch einen dramatisch gesunkenen Wert von 165 Milliarden Dollar.
Städte und Gemeinden nahmen Anleihen auf, bauten Kläranlagen, Brücken und Wohnungen. Nach dem BörsenCrash brach der Geldfluss abrupt ab, die Amerikaner benötigten nun die Mittel selbst. Schlagartig wurde jedem im Deutschen Reich bewusst, dass es sich beim Boom der Goldenen Zwanziger bloß um eine „Dollarscheinblüte“ gehandelt hatte, so ein geflügeltes Wort jener Jahre. An den Baustellen drehte sich keine Mischmaschine mehr, über die Hälfte aller Bauarbeiter verloren ihre Stelle.
Vor allem Osteuropas Wirtschaft leidet unter dem Kapitalentzug, die Währungen verlieren rapide an Wert. Der Absturz trifft Banken in Österreich, Deutschland und Italien, die in der Region engagiert sind. Besonders leidet je-
weg. Möbelhändler büßten zwischen 1929 und 1932 die Hälfte ihres Geschäfts ein, selbst nennenswerte Preisabschläge verführten die Verbraucher nicht zum Einkauf. Die Industrie drosselte darauf die Produktion und entließ weitere Arbeiter: in den Baubetrieben, bei der Reichsbahn, in den Zechen, bei den Stahlverarbeitern. „Das abgeschlossene Geschäftsjahr gestaltete sich so schwierig wie noch keines seit Bestehen unserer Gesellschaft“, hieß es im Bericht der Vereinigten Stahlwerke für 1930. „Scharfe Senkungen unserer Kosten und Lasten“ seien notwendig, ansonsten würden „immer weitere Stilllegungen, schließlich auch der besten Betriebe“, unvermeidlich. Die deutsche Wirtschaft war in einer Abwärtsspirale gefangen. Täglich annoncierten die Zeitungen spaltenweise Termine für Zwangsversteigerungen. Die Bäcker verzierten Pfefferkuchen mit Sprüchen wie „Dieser Kuchen ist nicht groß, denn auch ich bin
Die Nachfrage nach Gütern aller Art sank dramatisch, die Umsätze sackten
Zum „New Deal“ gehören auch staatliche Programme für arbeitslose Jugendliche, hier beim Straßenbau in Kalifornien.
Weitere Parallelen zwischen den Jahren 1929 und 2009 drängen sich auf: Das Vertrauen in die Märkte ist tief erschüttert, damals wie heute, es wird wieder nach dem Staat gerufen, nach der starken, ordnenden Hand.
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Auch in der heutigen Krise avanciert der Staat zum Retter. Damals schlug die Stunde des britischen Ökonomen John Maynard Keynes, der nicht mehr den Selbstheilungskräften des Marktes vertrauen wollte, der „unsichtbaren Hand“, die alles richtet (siehe Seite 102). Auch in der heutigen Krise avanciert der Staat zum Retter in der Not, zur letzten Instanz, die Sicherheit gewährleisten und den Notstand überwinden kann. Der Staat erlebt nach Jahren, in denen viele Anstrengungen unternommen
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ner Teil der Bevölkerung, der seinen Wohlstand großenteils in Euro oder Dollar finanziert hat. In manchen Ländern wurden mehr als die Hälfte aller Kredite in Fremdwährung vergeben. In einer ähnlichen Lage befand sich das Deutsche Reich Anfang der dreißiger Jahre. Die Amerikaner hatten zu einem großen Teil den Wiederaufbau Deutschlands finanziert, fast die Hälfte der Nettoinvestitionen zwischen 1924 und 1929 lieh sich die deutsche Wirtschaft im Ausland, vor allem in den USA.
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arbeitslos!“ Die Caféhäuser sparten sich die Kapellen, die Musik kam nun aus dem Radio.
Der deutsche Reichskanzler Heinrich Brüning, der im Frühjahr 1930 ins Amt kam, verschlimmerte die Misere noch mit seiner restriktiven Geldpolitik. Sein Handlungsspielraum mag begrenzt gewesen sein und die traumatische Erfahrung der Hyperinflation von 1922/23 noch frisch im Gedächtnis (siehe Seite 106), doch Brünings scharfer Sparkurs erstickte alle Chancen, die Konjunktur wiederzubeleben. Der Zentrumspolitiker war wie besessen von dem Gedanken, die Krise durch eisernes Sparen meistern zu können, die Volkswirtschaft gleichsam gesundzuschrumpfen. Eine amtliche Mitteilung vom 28. Oktober 1930 atmet diesen Geist; darin wird das Volk aufgefordert, „jedes Übermaß an Feiern und Vergnügungen“ zu vermeiden. Kein Wunder, dass die deutsche Wirtschaft alsbald in der Depression versank. Die gleichzeitige Kapitalflucht der Amerikaner brachte vor allem die deutschen Banken in Schwierigkeiten. Sie hatten riskanterweise langfristige Projekte mit kurzfristigen Krediten finanziert, und ihr ohnehin geringes Eigenkapital schmolz dahin. Als erstes Institut kollabierte im Frühjahr 1931 die österreichische Creditanstalt. Die Insolvenz erschütterte die Bankhäuser in ganz Europa – so wie im Herbst 2008 die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers auf die gesamte Finanzwelt ausstrahlte.
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Die Bankenkrise versetzte der Wirtschaft den nächsten schweren Schlag. Das Drama erreichte am Abend des 11. Mai 1931 einen ersten Höhepunkt, als Jakob Goldschmidt, Chef der DanatBank, bei einem Essen erfuhr, dass sein wichtigster Kunde, der Bremer Textilriese Nordwolle, die Bilanzen gefälscht hatte und hoffnungslos überschuldet war. „Die Nordwolle ist hin, die DanatBank ist hin, die Dresdner Bank ist hin, ich bin hin“, rief er verzweifelt aus. Mit der Einschätzung lag Goldschmidt nicht falsch. Alle Berliner Großbanken waren geschwächt, die DanatBank am Ende. Bald folgte ein Krisentreffen von Politikern und Bankern am
Reichskanzler a. D. Brüning 1940 im amerikanischen Exil
Samstag und Sonntag, vom 11. auf den 12. Juli. Der hektische Aktionismus erinnert frappierend an die Wochenendzusammenkunft im Oktober 2008, als im Kanzleramt die Hypo Real Estate erstmals vor der Pleite gerettet werden musste (siehe Seite 138). Im großen Konferenzsaal der Reichskanzlei in der Wilhelmstraße 77 war die Atmosphäre äußerst gespannt. Die Bankdirektoren hätten sich gegenseitig „mit Vorwürfen über ihren finanziellen Stand und über ihre Geschäftsgebarung“ überhäuft, erinnerte sich Hjalmar Schacht, Reichsbankpräsident von 1923 bis 1930 und von 1933 bis 1939. Gegenüber der Politik aber verharmlosten die Bankiers den Ernst der Lage. Der Deutsche-Bank-Chef Oskar Wassermann versichert gar, die Lage der Großbanken sei „nicht schlechter als sonst irgendwo auf der Welt“. Sie wollten die Danat-Schieflage als Sonderfall darstellen und behandelten Goldschmidt „wie einen Pestkranken“, so Brüning in seinen Memoiren. Der Reichskanzler fragte, wie es denn um die Dresdner Bank bestellt sei: „Schon die Frage wurde als Beleidigung aufgefasst“, erinnerte sich Brüning. Drei Tage später war auch sie reif für die Rettung. Konzepte wurden ausgearbeitet und verworfen, Vorschläge erörtert und zerredet. Am Ende waren alle überreizt, erschöpft und ratlos, als sie um vier Uhr früh am Montag das Treffen auflösten. „Man sah die Dinge wie durch einen Nebel“, so der Zeitzeuge Hans Priester. Entsprechend unklar fiel das Ergebnis aus: Die Danat-Bank wurde liquidiert,
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Nach Unruhen räumen Polizisten den Platz vor der Berliner Börse, 1931.
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die Einlagen aber gesichert. Man glaubte tatsächlich, man könne die Turbulenzen auf die Danat-Bank begrenzen. Wenige Stunden später brach Panik aus. Verunsicherte Anleger wollten die Institute stürmen. Die Reichsregierung verordnete darauf, die Schalter zwei Tage zu schließen, danach dauerte es noch drei Wochen, bis sie den Zahlungsverkehr wieder vollständig freigab.
damals gelten nach wie vor. Ein Reichskommissar für das Kreditwesen wurde installiert, wer ihm falsche Auskünfte erteilte, dem drohten eine Geldstrafe oder sogar Gefängnis.
Zudem eröffnete die Regierung den Banken mit der Gründung der Akzeptund Garantiebank eine neue Kreditquelle. Sie hatte den Zweck, dass sich
Erstmals gab es eine staatliche Aufsicht über alle deutschen Banken. Die Politik nutzte die Zeit, um ein Sanierungskonzept auszuarbeiten. So dilettantisch sie die Wochenendkrise gemanagt hatte, so gründlich arbeitete sie nun diesen langfristigen Plan aus. Was damals geschaffen wurde, existiert zum Teil noch heute. Die heutige Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) beispielsweise leitet ihre Existenz davon ab, dass 1931 erstmals eine staatliche Aufsicht über alle deutschen Banken installiert wurde, die Grundprinzipien von
die Banken leichter kurzfristig refinanzieren und so ihre Liquidität verbessern konnten. Knapp eine Milliarde Reichsmark musste der Staat aufbringen, um die Bankbilanzen zu glätten, im Gegenzug übernahm die Reichsbank Aktienpakete: Sie war zu 30 Prozent an der Deutschen Bank beteiligt und zu 70 Prozent an der Commerz- und Privatbank. Die Dresdner Bank, die mit der Danat-Bank fusioniert war, kam sogar zu 91 Prozent in Staatsbesitz. Damit waren die deutschen
Großbanken faktisch verstaatlicht, zumindest für einige Jahre: Bis 1936 waren die Institute wieder so solvent, dass sie die Anteile zurückkaufen konnten. Am Ende waren zwei große Filialbanken zusammengebrochen, fast alle Vorstände hatten ihre Posten verloren. Doch die große Katastrophe konnte noch einmal abgewendet werden, das Vertrauen der Bürger in das Finanzsystem war wiederhergestellt.
Weniger glimpflich verlief die deutsche Bankenkrise für die Geschäftswelt. Die zögerliche Kreditvergabe machte vielen Unternehmen schwer zu schaffen. Klangvolle Namen wie Borsig, Flick oder auch Karstadt gerieten plötzlich in finanzielle Schwierigkeiten. Die Essener Warenhauskette war angeschlagen „und, wie es vielen schien, sogar hoffnungslos überschuldet“, so der Historiker Lothar Gall. Damals endete die Ära von Karstadt als Familienunternehmen. Fortan hatten bis in die neunziger Jahre Banken das Sagen. In den USA ging der 1932 gewählte Präsident Franklin Delano Roosevelt noch resoluter vor. Zwei Tage nach
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Amtsantritt verordnete er sogenannte Bank-Feiertage: Nur die stärksten Institute durften nach gut einer Woche wieder öffnen, viele wurden unter staatliche Kuratel gestellt. Rund 2500 Häuser mussten schließen. Im Gedächtnis aber wird Roosevelt für den „New Deal“ bleiben – jenes gewaltige Konjunkturpaket, das im krassen Gegensatz zum Sparkurs stand, den zuvor Brüning in Deutschland verfolgt hatte. „Es geht darum, den Ball ins Rollen zu bringen“, empfahl der Ökonom Keynes am 31. Dezember 1933 in einem offenen Brief an Roosevelt. Diesen Rat hat der Präsident beherzigt. Roosevelt ließ Straßen und Brücken, Schulen und Staudämme bauen, in der Spitze waren drei Millionen Menschen in öffentlichen Stellen beschäftigt. Arbeitslose Frauen bastelten Puppen, Musiker bauten Volksmusiksammlungen auf, Journalisten schrieben Reiseführer. Alles auf Rechnung des Staates. Heute bezweifeln viele Historiker, dass es Roosevelts Konjunkturprogramm war, das Amerika aus der Krise gezogen hat. „Der ,New Deal‘ hat die Strukturprobleme der USA nach der Weltwirtschaftskrise nicht gelöst“, meint der Frankfurter Historiker Werner Plumpe. Tatsächlich stieg gegen Ende der dreißiger Jahre die Arbeitslosigkeit in den USA wieder an, die Wirtschaft schrumpfte erneut. Erst mit der Aufrüstung zu Kriegsbeginn entspannte sich die ökonomische Lage. Wichtiger als die Ökonomie war wohl die Psychologie des „New Deal“: die starken Worte, die symbolhaften Taten, der griffige Slogan – das alles war dazu angetan, die Moral zu stärken.
Auch jetzt, in der schwersten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression, schnüren die Regierungen wieder milliardenschwere Pakete in der Hoffnung, die Konjunktur damit in Schwung zu bringen. Die Programme haben die Stimmung aufhellen können. Ob sie auch in der gewünschten Weise wirken, ist aber heute so fraglich wie damals. Zumindest einige andere Konsequenzen hat die Politik freilich aus dem Debakel von 1929 gezogen. Es wird mehr miteinander gesprochen und abgestimmt, auf internationalen Gipfeln, aber auch in Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds oder der Weltbank. Niemals würde heute ein Notenbankchef der USA, Japans oder in Europa eine marktbewe-
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gende Entscheidung treffen, ohne seine Kollegen zu informieren. Vor 80 Jahren herrschte tiefes Misstrauen zwischen Berlin, Paris, London und Washington. Und zur kollektiven historischen Erfahrung gehört auch die Erkenntnis, dass eine globale Wirtschaftskrise die Gefahr in sich birgt, protektionistische Tendenzen zu verstärken. „Über jeder modernen Gesellschaft schwebt das Gespenst des Protektionismus“, ist eine der Lebenserfahrungen des 94-jährigen USÖkonomen Paul Samuelson: „Vielleicht sind unserer darwinistischen Wurzeln dafür verantwortlich: Im Dschungel überlebt man nur, wenn man Fremden gegenüber vorsichtig ist.“ 1930 erhöhten die Vereinigten Staaten die Zölle auf viele Importwaren massiv, mit entsprechend negativen Folgen für den US-Außenhandel. Großbritan-
„Es geht darum, den Ball ins Rollen zu bringen.“ nien verabschiedete sich vom Goldstandard, wertete das Pfund ab, um seine Exportwirtschaft wettbewerbsfähiger zu machen – und provozierte damit Revancheaktionen. Die Folge: Das Volumen des Welthandels verringerte sich von 1929 bis 1933 von drei auf eine Milliarde Dollar. Der Protektionismus trug maßgeblich dazu bei, dass sich aus der Rezession überhaupt erst eine globale Depression entwickelte. Jetzt versuchen Staaten wieder, ihre Industrien vor ausländischer Konkurrenz zu schützen: mit Zöllen, Quoten oder Subventionen. Auch Konjunkturprogramme tragen den Keim des Protektionismus in sich, schließlich ist ihre Wirkung auf den heimischen Raum begrenzt. Ein Wettbewerb entbrennt, den keiner gewinnen kann. Es lassen sich also eine Menge Ähnlichkeiten erkennen zwischen gestern und heute. Aus solchen Parallelen kann aber niemand ableiten, was morgen passieren wird. Der erste Unterschied: Einst brach zunächst die Börse zusammen, dann erst folgte der realwirtschaftliche Abschwung und schließlich die Bankenkrise. Heute steht die Bankenkrise am Anfang, sie hat die weltweiten Turbulenzen ausgelöst.
Heute werden zudem die Opfer der Wirtschaftskrise vom Staat aufgefangen, in Westeuropa zumindest muss dank Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe niemand im Elend versinken. Die „automatischen Stabilisatoren“, wie Ökonomen solche Hilfen nennen, entfalten ihre Wirkung. Sie verringern die Gefahr politischer Radikalisierung.
Was ebenfalls anders ist: Damals lebte man noch in der einfachen Welt der Wechsel. Heute bestimmen komplizierte Wetten das Finanzsystem, die eine ungeheure Hebelwirkung ausüben können: Mit überschaubarem Einsatz werden Milliarden bewegt – gewonnen und verloren. Und damals spuckte der Börsenticker die Kurse noch auf einem Papierstreifen aus, heute jagen die Nachrichten elektronisch in Echtzeit um die Welt. Vor allem: Heute besitzen die Notenbanker das Wissen um die Abläufe, die 1929 das Geschehen bestimmten. Diese Erfahrung hat sie gelehrt, dass sie den Markt in solchen Stresssituationen mit Liquidität versorgen müssen. Ben Bernanke, der US-Notenbankchef, hat die Zeit der Großen Depression so gründlich studiert wie kaum ein anderer. Es sei das Verdienst von USPräsident Roosevelt gewesen, in dieser Situation „aggressiv und experimentierfreudig“ vorgegangen zu sein, betont Bernanke. Und so steht er ihm darin in nichts nach. In den vergangenen Monaten hat Bernanke alle Register gezogen: die Zinsen gesenkt, die Banken gestützt, die Märkte mit Geld förmlich geflutet. Hätte einst die Zentralbank dem Markt und den Unternehmen mehr Liquidität geboten, so Bernanke vor Jahren in einem Aufsatz, wäre „auf den Crash von 1929 wahrscheinlich nur eine mäßige Konjunkturdelle gefolgt“. Fraglich ist bloß, ob die vermutete Lösung für die Krise von 1929 auch das richtige Konzept für jene von 2009 darstellt. Und vollkommen unklar ist, ob die Welt das Gröbste schon überstanden hat, wie viele bereits hoffen. Oder ob es doch noch schlimmer kommt. Dass man nicht zu früh Entwarnung geben darf, ist vielleicht die wichtigste Lehre aus der Geschichte, wie Warren Buffett, einer der reichsten Amerikaner der Gegenwart, leidvoll erfahren musste. Ihm erging es ähnlich wie einst Rockefeller. Er investierte gut eine Woche nach der Lehman-Brothers-Pleite im September vorigen Jahres im großen Stil in die Investmentbank Goldman Sachs. Da fing die Krise gerade erst an. SPIEGEL GESCHICHTE
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CHRONIK 1900–1945
WELTKRIEGE UND WELTKRISE 1906/07
Kurssturz und Panik in New York – Beginn einer Bankenkrise. Nach mehrjähriger Hausse, in der der Dow erstmals die Marke von 100 Punkten überschreitet, hat sich der Aktienmarkt heißgelaufen. Hunderte US-Banken brechen zusammen.
1909
Banknoten der Deutschen Reichsbank werden gesetzliches Zahlungsmittel.
1914
Vertrag besetzen Truppen das Ruhrgebiet.
1929
„Schwarzer Freitag“: Am 24. Oktober kommt es an der New Yorker Börse nach einer Euphorie, die allen Warnsignalen trotzte, zum großen Crash. Dieser läutet die Weltwirtschaftskrise („Great Depression“) ein. Die dramatischen, durch staatliche Sparpolitik und Protektionismus verschärften Folgen offenbaren die intensive Ver-
ken und Börsen. Die Arbeitslosigkeit steigt sprunghaft an und erreicht 1932 ihren Höhepunkt.
1933
Nach Hitlers Machtergreifung erhält er bei einem Treffen mit Wirtschaftsund Finanzgrößen deren Unterstützung. Die NSAufrüstungspolitik ist mit massiven Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für insgesamt fünf Milliarden Reichsmark verbunden. Bis 1938 verdoppelt sich
Während des Weltkriegs legt Deutschland insgesamt neun Kriegsanleihen über fast hundert Milliarden Mark auf. Das Geldsystem gerät aus den Fugen: Inflation, Geldscheinvermehrung, Kleingeldmangel. An der Wall Street wird der Aktienhandel für Monate ausgesetzt. Die Wirtschaft der USA, die erst 1917 in den Krieg eintreten, profitiert von Großeinkäufen der Alliierten.
G. W. KING / PICTURE-ALLIANCE / DOD
Der Friedensvertrag von Versailles legt Deutschland hohe Reparationslasten auf. Ein Gesamtbetrag wird nicht festgesetzt. Beginnende Inflation.
flechtung des internationalen Finanz- und Wirtschaftssystems.
1922/23
1930/31
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1940
Bald nach Kriegsausbruch gilt das Hamstern von Münzen als Straftat. Hartgeldstücke im Wert von 50 Pfennig und einer Mark werden eingezogen, weil der Nickel-Bestandteil des Geldes für Kriegszwecke gebraucht wird. Auch kleine Pfennigmünzen requiriert der Staat, um das darin enthaltene Kupfer herauszulösen. Als Ersatz werden Münzen aus Zink in Umlauf gebracht.
1943
1919
Hyperinflation in Deutschland. Mitunter werden Löhne zweimal am Tag gezahlt, damit das Geld ausgegeben werden kann, bevor es schon wieder an Wert verloren hat. Zur Bekräftigung der französischen Reparationsansprüche aus dem Versailler
strategischen Zielen der Nazis dient. In den USA herrscht bei hohen Staatsschulden Wachstum, während die Wirtschaft in den meisten europäischen Ländern am Boden liegt. Militärisch und wirtschaftlich verdrängen die USA Großbritannien als erste Weltmacht.
US-Militärfahrzeuge in Pennsylvania, 1918
Reichspräsident Hindenburg erlässt die erste Notverordnung „Zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen“, die weitreichende Sparmaßnahmen vorsieht. Ein Ansturm auf die Bankschalter infolge der Wirtschaftskrise führt zur Schließung von Ban-
die Industrieproduktion, die Reallöhne sind wieder so hoch wie vor der Weltwirtschaftskrise. Der Aufschwung trägt entscheidend zur Popularität des Regimes bei. In den USA leitet Präsident Roosevelt die Reformpolitik des „New Deal“ ein.
1939
Im Weltkrieg ist die deutsche Ökonomie eine Kommandowirtschaft, die den
Anfang des Jahres wird Hitler eine Fünf-Mark-Münze vorgelegt, die als erstes Geldstück mit seinem Konterfei versehen ist. Er befiehlt jedoch, mit dieser Huldigung bis nach dem „Endsieg“ zu warten.
1944
Im US-Kurort Bretton Woods beraten 44 Staaten über den Wiederaufbau Europas und eine neue Weltwährungsordnung. Ein neues System fester Wechselkurse wird vereinbart. Gründung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Entwicklung eines Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens.
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Der bis heute höchst einflussreiche Denker Keynes führte ein bewegtes Privatleben. (Aufnahme um 1940)
John Maynard Keynes wälzte vor und nach der Weltkrise von 1929 die Volkswirtschaftslehre um. Zum ökonomischen Genie wurde er auch als stolzer Freigeist mit einem illustren Freundeskreis.
Lob der Verschwendung
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DER DOPPELSCHOCK
Von HAUKE JANSSEN
thematischen Arbeit zur Wahrscheinlichkeitstheorie. Bereits 1911 avancierte der erst 28-jährige Akademiker zum ls im Oktober 1929 die groHerausgeber des „Economic Journal“, ße Aktienblase an der Wall einer der weltweit führenden FachzeitStreet platzte, stürzte die schriften. Außerdem betraute man den Weltwirtschaft in eine lanjungen Fellow mit der Finanzverwalge Abwärtsspirale. Weder tung der Universität. Politiker noch Wissenschaftler hatten die Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs ausweglos erscheinende Krise vorhergegelang ihm der ersehnte Sprung ins sehen, und sie waren heillos zerstritten Schatzamt. Ausgerechnet der Pazifist über die Frage, was zu tun sei. Die WirtKeynes wurde nun zuständig für Kriegsschaftskatastrophe schien begleitet vom finanzierung. Virginia Woolf fürchtete, „Bankrott der Nationalökonomie“, so er sei nun „für die Menschheit verloder britische Historiker Harold James. ren“. Aus Gewissensgründen verweiIn dieser Situation wurde ein Revogerte er den Dienst an der Waffe. Aber lutionär zum Star. Der Ökonom John das Schatzamt hatte ihn ohnehin unMaynard Keynes gab dem volkswirtabkömmlich gestellt. So drohten Keynes schaftlichen Denken eine ganz neue – anders als BertRichtung. Bis heurand Russell, der te glauben viele für seine pazifisHistoriker, rechttischen Aktivitäzeitige Maßnahten ins Gefängnis men zur Arbeitsging – kaum Konbeschaffung gesequenzen. mäß den VorschläDass Keynes gen des britischen doch nicht für die Ökonomen wären Menschheit verlogeeignet gewesen, ren war, glaubten eine Verschärfung die Bloomsburyder Krise zu verFreunde erst, als er hindern. Womögim März 1918 den lich hätten solche günstigen Erwerb Eingriffe sogar den einiger wertvoller verheerenden poliBilder aus Franktischen Folgen – reich für die britider NS-Diktatur und dem Zweiten Der Pariser Autosalon im Oktober 1929 war eine funkelnde Leistungsschau der sche Nationalgalerie einfädelte. Ein Weltkrieg – vorIndustrie. Im selben Monat stürzte die New Yorker Börse ins Bodenlose. ehemaliger, mehrbeugen können. In der aktuellen Wirtschaftskrise be- nahm aber nur den Besten. Keynes, dem jähriger Keynes-Liebhaber, der Maler trachten nun selbst Ökonomen, die in- Zweiten, blieb lediglich ein Platz im In- Duncan Grant, hatte den Hinweis auf die Sammlung aus dem Atelier Edgar terventionistische Eingriffe in den Markt dia-Office. In London trafen sich einige der Degas’ gegeben. Paris lag damals unter bislang höchst kritisch sahen, den Staat Apostel im Stadtteil Bloomsbury wieder, deutschem Beschuss. Ganz selbstlos war als letzten Retter. So viel Einhelligkeit provoziert Skep- im Haus der Geschwister Virginia und die Tat allerdings nicht. Keynes sichersis. Wer war der Vielzitierte überhaupt? Vanessa Stephen – Erstere sollte als Vir- te sich unter anderem einen Cézanne – Wie sehr war er von seiner eigenen Zeit ginia Woolf eine weltberühmte Schrift- Grundstock seiner später berühmten geprägt? Was hat er den Menschen des stellerin werden. Die Bloomsbury-Grup- Sammlung. Und Virginia Woolf reimte: pe führte das Leben einer intellektuel- „Mr. Keynes / Because of his brains / 21. Jahrhunderts wirklich zu sagen? John Maynard Keynes wurde am len Boheme. Auf der Suche nach dem During the war / Became richer than be5. Juni 1883 in Cambridge geboren. Sei- richtigen Leben teilte man literarische, fore“ – Herr Keynes mit seinem Grips ne Mutter Florence gehörte zu den ers- künstlerische, auch politische Interes- wurde während des Kriegs reicher als ten Frauen, die an der dortigen Tradi- sen – und pflegte einen provozierend zuvor. Nach der deutschen Kapitulation enttionsuniversität studierten. Sie brachte offenen sexuellen Umgang, in alle es bis zur Bürgermeisterin. Der etwas Richtungen. Neben Virginia Woolf und sandte das Finanzministerium sein Sukonservativere Vater John Neville lehr- Keynes gehörten andere illustre Zeitge- perhirn Keynes zu den Verhandlungen te Ökonomie und arbeitete in der Ver- nossen wie Lytton Strachey, E. M. Fors- nach Paris und Versailles. Doch schnell waltung der Hochschule. John Maynard ter und Robert Fry zum engeren Kreis. wurde klar, dass es weder zu einem ge1908 kehrte Keynes als Dozent nach rechten noch zu einem wirtschaftlich wuchs in einer offenen intellektuellen Atmosphäre heran und war ein schlag- Cambridge zurück. Er lehrte mit schnell vernünftigen Frieden kommen würde. Keynes quittierte den Dienst. Er zog fertiger Junge, der es manchmal am ge- wachsendem Erfolg Ökonomie und promovierte ein Jahr darauf mit einer ma- sich ins Landhaus von Bloomsburybotenen Respekt fehlen ließ.
CORBIS (L.); KEYSTONE PARIS (R.)
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Keynes durchlief die typische englische Eliteausbildung: Eton School, dann King’s College in Cambridge. Die ehrgeizigen Eltern hatten ihm das Bewusstsein mitgegeben, dass nur wirklich zählt, wer den Durchschnitt weit überragt. So gehörte er den „Cambridge Apostles“ an – einem geheimen Debattierclub, der von einer elitären, homoerotischen Atmosphäre geprägt war. Damals scharten sich die Apostel um die Philosophen George E. Moore und Bertrand Russell. Keynes studierte Mathematik und klassische Philologie – und beim berühmten Alfred Marshall ein wenig Ökonomie. Dann legte er die Prüfung für den Staatsdienst ab. Das begehrte Schatzamt
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Freunden zurück und schrieb im Sommer 1919 den Bestseller „The Economic Consequences of the Peace“. Das Buch erschien noch im selben Jahr und machte den Autor schlagartig weltberühmt. Dabei faszinierte die fachliche Souveränität ebenso wie der elegante, manchmal herablassende Stil. Im scharfen Licht dieser Analyse erschien US-Präsident Woodrow Wilson als ein Tor voll edler Absichten – mit der Moral eines Pastors, aber ohne Verstand und ohne Chance gegen den zynischen französischen Regierungschef Georges Clemenceau und den prinzipienlosen britischen Premier David Lloyd George. Keynes legte detailliert dar, weshalb das geschwächte Deutschland die Reparationen nicht aufbringen konnte. Er befürchtete angesichts der intensiven wirtschaftlichen Verflechtungen Mitteleuropas, dass der Vertrag den ganzen Kontinent ruinieren würde. Prophetisch sah er einen europäische Bürgerkrieg kommen, vor dem „die Schrecken des vergangenen Deutschen Krieges verblassen werden und der, gleichgültig wer Sieger ist, die Zivilisation und den Fortschritt unserer Generation zerstören wird“. Wegen solcher Unkenrufe verpasste ihm Virginia Woolfs Ehemann Leonard 1931 den Spottnamen „Keynessandra“. Das „furiose Pamphlet“, so die Historikerin Dorothea Hauser, war zugleich eine Werbeschrift für die europäische Integration. Mit seinem Vorschlag einer US-Anleihe für den Wiederaufbau nahm Keynes darin die Idee des MarshallPlans zur Rekonstruktion Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg vorweg.
Der Ökonom leichtfüßig mit seiner Ehefrau Lydia Lopokova
Das Buch, das Keynes 1919 berühmt machte
In den zwanziger und dreißiger Jahren pendelte Keynes geschäftig zwischen Cambridge, London und seinem Landsitz Tilton. Er reduzierte seine Lehrverpflichtungen, gewann Millionen an der Börse, war ein gesuchter Ratgeber und Redner sowie ein gefürchteter Publizist. Er fehlte nicht bei gesellschaftlichen Anlässen, sammelte eifrig Bilder und Bücher und förderte mit seinem Vermögen das Theater wie die Künste. Zum Erstaunen nicht nur seiner männlichen Freunde heiratete er 1925 die Ballerina Lydia Lopokova, die einem Degas-Gemälde entstiegen schien und mit Sergej Djagilews berühmtem Ballets Russes nach England gekommen war. Die Hochglanzzeitschrift „Vogue“ widmete dem Ereignis ein ganzseitiges Foto und die Zeile: „Die Heirat des bril-
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Virginia Woolf, Freundin aus dem Bloomsbury-Kreis
lantesten englischen Volkswirtschaftlers mit der beliebtesten russischen Tänzerin ist ein schönes Symbol für die gegenseitige Abhängigkeit von Kunst und Wissenschaft.“ Scheinbar nebenher veröffentlichte Keynes Studien zur Geldtheorie wie „Tract on Monetary Reform“ (1923) und „Treatise on Money“ (1930). Im „Tract“ findet sich das bekannteste aller KeynesZitate: „Langfristig sind wir alle tot.“ Weiter: „Die Ökonomen machen es sich zu leicht, wenn sie uns in stürmischen Zeiten nur sagen können, dass, nachdem der Sturm lang vorüber ist, der Ozean wieder ruhig sein wird.“ Das war auf jene Zeitgenossen gemünzt, die auch in Krisenzeiten nur die Hände in den Schoß legen und auf die Selbstheilungskräfte des freien Marktes setzen wollten. Umfassend begründete Keynes die Theorie von einer zyklischen Bewegung des Wirtschaftsgeschehens 1936 mit seiner berühmtesten Schrift „General Theory of Employment, Interest, and Money“. Damit ließ er die Annahme des quasi automatischen volkswirtschaftlichen Gleichgewichts bei Vollbeschäftigung, das die ökonomischen Klassiker unterstellt hatten, hinter sich. Der Normalzustand, „in dem sich unser wirkliches Sein abspielt“, so Keynes, sei vielmehr der Übergang zwischen nie erreichten Gleichgewichtspositionen. Die Botschaft hieß: Der Kapitalismus ist instabil, und die freie Marktwirtschaft kann aus sich selbst heraus keine Vollbeschäftigung garantieren. Allerdings gebe es Mittel, so Keynes, um diese „Krankheit zu heilen“. Die lieben Kollegen, so formulierte er ziemlich arrogant im Vorwort der „General Theory“, müssten allerdings bereit sein, die grundlegenden Irrtümer, Fehler und Versäumnisse ihrer Zunft aufzugeben. Der Stammvater der liberalen Volkswirtschaftslehre, Adam Smith, im 18. Jahrhundert Professor für „Moral Philosophy“ im schottischen Glasgow, hatte seine Lehre vom „Wohlstand der Nationen“ 1776 auf dem gleichermaßen ethischen wie ökonomischen Dogma errichtet, dass „jeder Verschwender ein Feind der Allgemeinheit, jeder sparsame Mensch dagegen ihr Wohltäter“ sei. Keynes hielt dagegen eine Lobrede auf die Verschwendung: „Private Laster“ verwandelten sich in „öffentliche Wohltaten“. Der Wohlstand eines Landes beruhe nicht auf Sparsamkeit, sondern auf Konsum.
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AGE / MAURITIUS IMAGES (U.)
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In gewisser Weise zog der Volkswirtschaftler Keynes die Nutzanwendung aus der tabufrei-libertären Existenz des Privatmanns Keynes, wenn er zeigte: Die Lösung liegt nicht in den sterilen viktorianischen Tugendpredigten, sondern im guten Leben. Vor Keynes hatte in der Nationalökonomie die Auffassung geherrscht, dass die im Laufe der Produktion entstehenden Einkommen immer ausreichten, um das Gesamtangebot aufzukaufen („Say’sches Theorem“). Eine allgemeine Überproduktion war demzufolge undenkbar. Keynes aber kehrte die Kausalität um. Er definierte die Nachfrage als bestimmenden Faktor für die Höhe des Sozialprodukts. Mit der Nachfrage steigt zwar auch der Konsum. Aber nicht im vollen Maß des Einkommenszuwachses: Ein größerer Teil des Einkommens wird gespart, und der Konsum bleibt relativ zurück. Deshalb stellt sich in einer wachsenden Volkswirtschaft nicht automatisch eine für Vollbeschäftigung ausreichende Nachfrage ein.
Abhilfe kann Keynes zufolge eine Politik schaffen, die verstärkt die unteren Einkommen und damit die Konsumquote, die Nachfrage und schließlich das Sozialprodukt erhöht. Hier findet die anhaltende Liebe der Gewerkschaften zur keynesianischen Theorie ihre Erklärung. Vollbeschäftigung sichern könnten auch ausreichende Investitionen. Denn die Nachfrage besteht aus Konsum und Investitionen. Letztere hängen in der keynesianischen Theorie von der Gewinnerwartung der Unternehmen ab. Diese beruht aber auf Einschätzungen, die sich auf eine prinzipiell unsichere Zukunft beziehen. Sie bilden sich nicht rational, sondern intuitiv und spekulativ, manchmal im hysterischen Auf und Ab der Börsen, so dass, wie Keynes derzeit viel zitiert wird, „die Kapitalbildung eines Landes“ immer wieder „zum Nebenprodukt des Geschehens in einem Kasino“ gerät. Um die Nachfrage im Konjunkturzyklus zu stabilisieren, schlug Keynes eine weitreichende gesellschaftliche Investitionskontrolle vor. In Zeiten der Depression sollte der Staat die private Initiative ersetzen und die Nachfragelücke schließen – am besten über zusätzliche, kreditfinanzierte Ausgaben. Keynes wollte Privatinitiative und Marktwirtschaft erhalten und misstraute als Liberaler der politischen Klasse. Deshalb sah er den geeigneten Träger SPIEGEL GESCHICHTE
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zukünftiger investitionslenkender Maßnahmen auch nicht im Staat, sondern in öffentlichen Organen nach dem Vorbild der Bank von England. Ein Sozialist war Keynes gewiss nicht, auch wenn seine Anhänger meist zur Linken tendierten. Beatrice Webb, die große alte Dame der britischen Sozialisten, klagte, dass Keynes den gemeinen Mann und die Masse verachte. Eine ausgesprochene Antipathie hegte der Cambridge-Zögling nicht nur gegen die Gewerkschaften, sondern auch gegen den überschäumenden Nationalismus seiner Zeit. Virginia Woolf fragte sich 1933, ob Keynes’ Interventionismus nicht auf eine „Form des Faschismus“ hinauslaufe. Auch nach Meinung des liberalen Ökonomen und Nobelpreisträgers Friedrich von Hayek führte der Weg, den Keynes und seine Anhänger beschritten, direkt in die politische „Knechtschaft“. Solch bösen Verdacht nährte ein Vorwort, das Keynes 1936 der deutschen Ausgabe seiner „General Theory“ voranstellte. Drei Jahre nach der NS-„Machtergreifung“ rechnete er mit einer positiven Aufnahme des Buches, weil seine Lehre in einem „totalen Staat“ leichter anzuwenden sei als in der freien Marktwirtschaft, wie er da schreibt. Der ominöse Satz, der mindestens von teilweiser politischer Blindheit zeugt, wird von Keynesianern gern unterschlagen. Doch Keynes war ebenso wenig Faschist wie Sozialist. Er war eher der Typ des politisch manchmal erstaunlich naiven, „frei schwebenden“ Intellektuellen und Sozialtechnikers. Keynes glaubte, die Wirtschaft müsse Sache von Spezialisten sein, die konkrete Probleme präzis lösen – so wie Zahnärzte Plomben setzen. Nach der Erholung von einem 1937 erlittenen Herzanfall erarbeitete Keynes ab Herbst 1941 im Schatzamt Vorschläge für ein neues Weltwirtschaftssystem, über das 1944 im amerikanischen Bretton Woods verhandelt werden sollte (siehe Seite 118).
Der Keynes-Plan sah die Schaffung einer internationalen Zentralbank vor, um künftig globalen Währungs- und Zahlungsproblemen besser begegnen zu können. Diese Weltbank sollte mit einer unabhängigen Währung ausgestattet sein, dem Bancor. Aber gegen die US-Interessen war die Idee nicht durchzusetzen. Nicht der Bancor, sondern der US-Dollar wurde die Reservewährung
im Bretton-Woods-System. Dennoch ist Keynes einer der Väter der damals geschaffenen Institutionen Weltbank und Internationaler Währungsfonds. Unmittelbar nach den aufreibenden Verhandlungen in den USA erlitt Keynes einen weiteren Herzanfall, von dem er sich nicht mehr vollständig erholte. Als der 1942 zum „Baron Keynes of Tilton“ Geadelte an Ostern 1946 starb, war die internationale Öffentlichkeit einig: Die Welt hatte den bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts verloren. In der gegenwärtigen Krise wird der Ruf nach einer Renaissance des Keynesianismus immer lauter. Was könnte das bedeuten? • Ein weiteres, kreditfinanziertes Milliardenprogramm? Ja, vor allem wenn es Haushalte mit niedrigem Einkommen begünstigt. • Steuersenkungen? Eher nicht, weil davon meist höhere Einkommen mit hoher Sparquote profitieren und eine Steigerung der Nachfrage unsicher bleibt. • Zinssenkungen? Nützen wenig, solange die Gewinnerwartungen im Keller sind. • Eine Erhöhung der Geldmenge, ein Schuss Inflation? Gefährlich, aber steigende Preise können die Gewinnerwartungen der Unternehmer stimulieren und die Reallöhne senken. • Die zeitweise Verstaatlichung von Banken und notleidenden Unternehmen? Grundsätzlich ja, doch es hängt vom Einzelfall ab. Aber die Verhältnisse von 2009 sind anders als die von 1929. Manche keynesianischen „Tricks“ greifen auch nicht mehr. So hat sogar der Durchschnittsbürger mittlerweile gelernt, sein Verhalten auf Maßnahmen der Wirtschaftspolitik abzustellen. Er weiß heute, dass die Preise steigen werden, wenn der Staat Geld in den Wirtschaftskreislauf pumpt oder wenn die Löhne wachsen. Er ahnt zumindest, dass Steuererhöhungen drohen, wenn der Staat neue Ausgaben beschließt. Dann schränkt er womöglich, ganz entgegen der keynesianischen Theorie, aus Gründen der Zukunftssicherung seinen Konsum ein – und bremst damit die volkswirtschaftliche Nachfrage. Keynes hätte darin vielleicht selbstironisch die historische Pointe gesehen: Die ökonomischen Ideen der Politiker, so spottete der Brite gern, sind im Allgemeinen eben nicht die neuesten. Und schon gar nicht die besten.
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Geldschein 1923
Millionen, Milliarden, Billionen: In der Hyperinflation von 1922/23 spielte die deutsche Währung verrückt. Die Bürger verloren ihre Ersparnisse – und der Staat entledigte sich seiner Schulden.
Nationales Trauma
W
as dem Journalisten Eugeni Xammar widerfuhr, darf man wohl Reporterglück nennen. Im Herbst 1922 schickte ihn Barcelonas Tageszeitung „La Veu de Catalunya“ in einem geschichtlichen Moment nach Berlin: Die deutsche Finanzordnung kollabierte, und die Mark begann sich in Luft aufzulösen. In den folgenden Monaten gab es von keinem anderen Ort der Welt Aufregenderes zu berichten. „Jede Woche steigen die Preise für Straßenbahn und Rindfleisch, Theater und Schule, Zeitung und Friseure, Zucker und Speck“, schrieb Xammar im Februar 1923. „Das hat zur Folge, dass niemand weiß, wie lange das Geld reichen wird, das er in Händen hält, und
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die Menschen in ständiger Unruhe leben, dass niemand an etwas anderes denkt als ans Essen und Trinken, ans Kaufen und Verkaufen, und dass es in ganz Berlin nur ein Gesprächsthema gibt: den Dollar, die Mark, die Preise … Haben Sie das gesehen? Hören Sie bloß auf! Ich habe eben Wurst, Schinken und Käse für die nächsten anderthalb Monate gekauft.“ Fast jeden Tag sandte der Katalane neue Geschichten von der Hyperinflation in seine Heimat – Berichte vom alltäglichen Wahnsinn in einem Land, dessen Währung verrückt spielte. Zu Kriegsbeginn 1914 hatte ein Dollar noch 4,20 Mark gekostet. Danach verlor die deutsche Währung stetig an Wert, vom Herbst 1922 an sackte sie ins Bodenlose. Im November 1923 gab es für einen
Dollar 4,2 Billionen Mark. Bald darauf war der Spuk vorbei, ein Dollar kostete wieder 4,20 – nun aber Rentenmark. Kaum jemand begriff, was da geschehen war. Vieles klingt auch heute, drei Generationen später, geradezu unglaublich. Da verkauft eine Familie ihr Haus und will nach Amerika auswandern, muss aber am Hamburger Hafen feststellen, dass ihr Geld nicht mehr für die Überfahrt reicht, ja nicht einmal für das Ticket zurück nach Hause. Da trinkt ein CaféBesucher zwei Tassen Kaffee für je 5000 Mark, erhält aber eine Rechnung über 14 000 Mark, Begründung: Dann hätte er beide Tassen gleichzeitig bestellen müssen, in der Zwischenzeit sei der Preis gestiegen. Da kommen Theatergänger mit ein paar hundert Millionen Mark an die Abendkasse, aber die Geldbündel
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AKG
Von ALEXANDER JUNG
genügen nicht: Die Eintrittskarte kostet mittlerweile eine Milliarde Mark. Zigtausend Prozent betrug damals die Inflationsrate – im Monat. Und das zu einer Zeit ohne Taschenrechner. Nur wenige Zeitzeugen wie der Schriftsteller Klaus Mann konnten sich über „den makabren Jux der Inflation“ amüsieren: „Welch atembeklemmende Lustbarkeit, die Welt aus den Fugen gehen zu sehen“, schrieb er damals fasziniert. Die Deutschen erlebten nun „die totale Entwertung des einzigen Wertes, an den eine entgötterte Epoche wahrhaft geglaubt hatte: der des Geldes“.
Sein Bruder Golo Mann, der Historiker, kümmerte sich mehr um die Einordnung der Ereignisse. „Die Entwertung des deutschen Geldes war in ihrer Wirkung eine zweite Revolution, nach der ersten des Krieges und Nachkrieges“, lautete seine Analyse. Es wurde „uraltes Vertrauen zerstört und ersetzt durch Furcht und Zynismus“, diagnostizierte er und fragte: „Auf was war noch Verlass, auf wen konnte man bauen, wenn dergleichen möglich war?“ In der Tat schien nichts mehr sicher, alle Ordnung ging verloren und mit ihr
Das Vertrauen in die Demokratie ging verloren. SPIEGEL GESCHICHTE
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das Vertrauen in die Republik, die Demokratie, überhaupt in die Zukunft. Was sollte man auch erwarten, wenn sich ein Großteil der Bürger seiner Ersparnisse beraubt sah, während der Staat sich seiner Schulden entledigen konnte: „Die Inflation hatte rechtsstaatliche Grundprinzipien von ,Treu und Glauben‘ ad absurdum geführt“, so der Münchner Historiker Martin Geyer. Geblieben ist ein nationales Trauma, das bis heute nachwirkt. Die Inflationsangst ist in Deutschland weit verbreitet, die Geldpolitik hierzulande fühlt sich mehr als anderswo der Stabilität verpflichtet, die Erfahrung von 1923 sitzt tief im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Aber musste es damals überhaupt so weit kommen? Oder wäre die Kata-
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strophe abzuwenden gewesen? Und wenn ja, wie? Die Weichen wurden jedenfalls früh gestellt, im Grunde begann die Große Inflation mit dem Ersten Weltkrieg. Die Ausgaben für Armee und Gerät übertrafen jede Vorstellungskraft, das Kaiserreich zahlte für den Krieg geschätzte 160 Milliarden Mark, eine Unsumme. Zu finanzieren war dies nur, wenn sich das Reich auf unkonventionellem Wege Geld beschaffte.
Die rapide Geldentwertung machte Banknoten zu Altpapier, das gewogen und verkauft wurde.
Dazu verabschiedete das Parlament am 4. August 1914, nur drei Tage nachdem das Deutsche Reich Russland den Krieg erklärt hatte, die sogenannten
Das Volumen an Bargeld, das im Umlauf war, erhöhte sich sprunghaft: von 13 Milliarden Mark 1913 auf 60 Milliarden Mark am Kriegsende. Die Notenpresse allein aber reichte nicht aus, um die Ausgaben zu decken. „Wie die Dinge liegen, bleibt also vorläufig nur der Weg, die endgültige Regelung der Kriegskosten durch das Mittel des Kredits auf die Zukunft zu verschieben“, räumte der Finanzpolitiker Karl Helfferich 1915 ein. Das Reich verschuldete sich massiv bei den eigenen Bürgern, es legte immer neue Anleihen auf, insgesamt fast 100 Milliarden Mark. Die Deutschen zeichneten diese Papiere anfangs beinahe blindlings, in der sicheren Erwartung
Hyperinflation Preisindex der Lebenshaltung in der Weimarer Republik (Januar 1921 =100); logarithmierte Darstellung
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ULLSTEIN / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Quelle: Deutsches Historisches Museum, UniCredit Research
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Währungsgesetze, sie veränderten den deutschen Geldmarkt grundlegend. Die Golddeckung der Mark wurde „bis auf weiteres“ aufgehoben; in Kriegszeiten sei „eine außerordentliche Steigerung des ungedeckten Notenumlaufs“, so die Begründung, eine „wirtschaftliche Notwendigkeit“. Mit anderen Worten: Das Deutsche Reich bestritt die Kriegskosten, indem es ohne Unterlass Banknoten druckte.
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eines schnellen militärischen Sieges. Die Staatsschulden schossen von 5 auf 156 Milliarden Mark in die Höhe. „Es gibt eine Grenze, wo die Notenpresse als Inflation auf die Kaufkraft des Geldes einwirkt“, warnte 1918 der Sozialist Eduard Bernstein, doch solche Einwände verhallten. Die Geldmenge wuchs stetig an, der Gütermarkt hingegen schrumpfte. Zu viel Geld trifft auf zu wenig Ware: eine klassische Konstellation, die in In-
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flation mündet. Da half es auch nichts, dass die Reichsregierung Höchstpreise für wichtige Güter des täglichen Bedarfs wie Getreide oder Kohle verordnete. Solche künstlichen Dämme bewirkten bloß, dass sich die Inflation aufstaute und sich der Liquiditätsschwall mit dem Ende von Krieg und Bewirtschaftung noch kräftiger entlud. Damit war die Weimarer Republik zwar nicht von Beginn an bankrott, aber doch nur bedingt kreditwürdig, der neue Staat war mit dem Geburtsfehler der Inflation zur Welt gekommen. Allerdings zeigte die Geldentwertung jedenfalls zu Anfang, in ihrer milderen Form, auch eine stimulierende Wirkung. Denn die im Vergleich zu Dollar, Pfund oder Franc
ten, als Folge der Reparationen „müssten jede Schaffensfreude, jede Arbeitslust, jeder Unternehmermut für alle Zeiten in Deutschland zugrunde gehen“ – obwohl zu dieser Zeit noch gar keine endgültige Summe festgelegt war. Erst später brach der Streit um die Höhe offen aus. 1921 taxierten die Alliierten die Schuld auf 132 Milliarden Goldmark (eine Goldmark entsprach dem Wert der Mark von 1913), bis 1932 wurden Geldzahlungen und Güterlieferungen im Wert von schätzungsweise 26 Milliarden Goldmark geleistet, also jährlich etwa zehn Prozent des damaligen Volkseinkommens. Mit anderen Worten: Die Belastung war gewiss hoch, aber doch einigermaßen verkraftbar.
billige Mark beflügelte die deutsche Exportwirtschaft zu Beginn der Weimarer Republik. Die Industrie wuchs innerhalb eines Jahres um 20 Prozent. Die Arbeitslosenquote sank 1922 auf unter ein Prozent, die Reallöhne stiegen ordentlich. Das „Schmiermittel der Inflation“, so der Berliner Wirtschaftshistoriker CarlLudwig Holtfrerich, habe die private Wirtschaftstätigkeit wiederbelebt.
Der Nachkriegsboom ist umso bemerkenswerter, da zur gleichen Zeit der Rest der Weltwirtschaft in tiefer Rezession versank. Die USA und Großbritannien achteten auf die Stabilität ihrer Währung und nahmen hohe Arbeitslosenraten von bis zu 20 Prozent in Kauf. Die Weimarer Regierungen verhielten sich umgekehrt: Sie erkauften sich Aufschwung und Vollbeschäftigung um den Preis einer schwindsüchtigen Mark. Zwar mögen die Politiker in Berlin die Inflation vielleicht nicht bewusst vorangetrieben haben, doch sie stemmten sich ihr auch nicht gerade machtvoll entgegen. Die Strategie war eine Zeitlang bequem, aber brandgefährlich, wie sich herausstellte. Das enorme Budgetdefizit und der wachsende Zinsdienst schränkten den Spielraum der deutschen Politik erheblich ein. Vor allem die enormen Reparationen, die Deutschland für Kriegsschäden zu leisten hatte, belasteten die junge Republik. Schon auf der Versailler Konferenz 1919 jammerten die deutschen Delegier-
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Weniger die Höhe der Summe wirkte darum destabilisierend als vielmehr die andauernde Unklarheit darüber. Entsprechend giftig war die Atmosphäre innerhalb der Reparationskommission; insbesondere die Franzosen, die Revanche für die militärische Niederlage von 1871 wollten, zeigten sich unnachgiebig. So genügte ein relativ geringer Rückstand bei den Lieferungen von Holz, Kohle und Telegrafenmasten, um den Konflikt im Januar 1923 zum Eskalieren zu bringen. Die Franzosen schickten 100 000 Mann ins Ruhrgebiet, übernahmen die Kontrolle der Zechen und beschlagnahmten die Kohle. „Damit war die industrielle Produktion Deutschlands sozusagen im Herzen getroffen“, so Holtfrerich. Eine ganze Region war lahmgelegt, eine wichtige Steuerquelle versiegte. Das Ruhrgebiet durfte keine Kohle mehr liefern, das Reich musste sich den Heizstoff zum Teil teuer aus dem Ausland besorgen, bezahlt mit kostbaren Devisen. Zugleich litten Millionen Menschen bitterste Not. „Derartige Scharen von Menschen, die hungern und herumziehen, habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen“, bekannte der spätere Bochumer Bürgermeister Franz Geyer. Viele Kleinkinder litten an Mangelkrankheiten wie Rachitis, die Tuberkulose nahm zum Teil epidemische Ausmaße an. In Mannheim war die Lungenkrankheit in einer Straße mit
AKG
Viele Kleinkinder litten an Mangelkrankheiten wie Rachitis.
In der Not stahlen die Menschen Kartoffeln. (Aufnahme von 1922 aus Berlin)
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Die Franzosen (hier in der allegorischen Gestalt der Marianne) galten vielen Deutschen als Quell allen Unheils. (Plakat von Theo Matejko 1923)
220 Haushalten bei 43 Familien ausgebrochen.
Wer die Schuld an der Misere trug, war in der öffentlichen Meinung unstreitig. Die Franzosen und ihre kompromisslose Haltung wurden als Quell allen Unheils ausgemacht. Gegen sie formierte sich der Widerstand: Ladenbesitzer weigerten sich, Franzosen zu bedienen. Bürger wechselten die Straßenseite, wenn ihnen Franzosen begegneten. „Der Feind steht im Lande“, kommentierte die „Hildesheimer Allgemeine Zeitung“ empört die Ruhrbesetzung, „er hat sich in dem Herz der deutschen
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Wirtschaft eingenistet, um unser Herzblut zu trinken und unsere staatliche Existenz zu vernichten.“ Der im Jahr zuvor ausgegebene 10 000-Mark-Schein bekam den Beinamen „Vampir-Note“: Er zeigte einen Mann, der am Hals scheinbar von einer Bisswunde gezeichnet war. Der Wert der Mark war schon 1922, vor dem Einmarsch der Franzosen ins Ruhrgebiet, rapide gefallen. Das Drama nahm seinen Lauf, die trabende Inflation (bis 50 Prozent Entwertung im Jahr) steigerte sich zur galoppierenden (mehr als 50 Prozent im Jahr) und forcierte sich zur Hyperinflation (mehr als
50 Prozent im Monat). Der Geldwert entglitt der staatlichen Kontrolle. Mit rein quantitativen Ursachen lässt sich dieser Wertverlust kaum erklären. Wie so oft in der Ökonomie spielten Erwartungen die entscheidende Rolle. Mit dem nervenaufreibenden Hickhack um die Reparationen war das Vertrauen in die wirtschaftliche Zukunft des Landes komplett abhanden gekommen. Der Beginn der Hyperinflation sei „ohne diesen Einbruch an Vertrauen in die Währung kaum zu erklären“, meint jedenfalls Holtfrerich. Dadurch hätten sich „die Erwartungen über die zukünftige Entwicklung des inneren und äußeren Geldwerts“ zum Negativen verändert. Deutliches Zeichen für diesen Vertrauensverlust war der fast schlagartige Rückzug ausländischer Kreditgeber vom deutschen Kapitalmarkt. Sie stießen im großen Stil Reichsanleihen ab. Bereits als Außenminister Walter Rathenau am 22. Juni 1922 von Rechtsextremisten ermordet wurde, war alle Hoffnung auf eine Rückkehr zu stabilen Verhältnissen begraben. Doch erst im Frühsommer des Folgejahres ging der Wechselkurs in den freien Fall über. Die Mark hatte alle drei Funktionen verloren, die eine Währung ausmachen: Sie taugte weder als Recheneinheit noch als Zahlungsmittel und schon gar nicht zur Wertaufbewahrung. „Die Mark war Mitte Oktober 1922 bereits tot“, stellt der Bielefelder Historiker Helmut Kerstingjohänner fest. Im Dezember 1922 gab es für einen Dollar noch 2000 Mark, im April 1923 waren es schon 20 000 Mark, im August über eine Million. Die Republik trat den „Weg über den Abgrund“ an, so der damalige Innenminister Wilhelm Sollmann: „Es kann auch den Beherztesten schwindeln, wenn er die Brüchigkeit des Steges und die Ferne des jeweiligen Ufers der Rettung abwägt.“ Neben der Reichsdruckerei waren zeitweise über 130 weitere Betriebe damit beschäftigt, Geldnoten herzustellen, 1783 Pressen waren im Einsatz, sofern nicht gerade das Papier knapp wurde. Angestellte brachten Rucksäcke mit zum Gehaltsbüro, um das Geld zu verstauen – und setzten es sofort in Ware um. Bei Junkers in Dessau zahlte der Betrieb den Arbeitern jeden Morgen um neun Uhr den Tagespreis für dreieinhalb Brote aus. Ihre Frauen warteten bereits am Werkstor, nahmen das Geld in Empfang und eilten in die Geschäfte.
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PULFER / INTERFOTO
DER DOPPELSCHOCK
Denn gegen Mittag wurde der neue Dollarkurs veröffentlicht. Viele Ärzte akzeptierten als Honorar nur noch Naturalien: Wurst, Eier oder Briketts. Geschäfte verzichteten wegen ständiger Erhöhungen auf die Preisauszeichnung in Schaufenstern; als sie von den preußischen Behörden dazu gezwungen wurden, trieb dies die Preise nur noch höher, weil die Händler künftige Steigerungen vorwegnahmen. Selbst die Feuerbestattung wurde für viele Bürger unerschwinglich, weil ihr Preis an den von Koks gekoppelt war. Also beerdigte man die Toten wieder konventionell, beliebt war ein nur 50 Zentimeter hohes Sargmodell, im Volksmund „Nasenquetscher“ genannt. Die Menschen lebten in einer eigentümlichen Spannung: Einerseits führten sie einen täglichen Kampf ums Überleben, um Nahrung und Heizmaterial. „Wenn es uns einigermaßen gelingt, die Stadt Köln vor dem Zusammenbruch zu retten“, so Oberbürgermeister Konrad Adenauer damals, „dann will ich meinem Schöpfer auf den Knien danken.“ Paradoxerweise war ja genügend Ware vorhanden. Aber es fehlte das stabile Geld, um sie zu kaufen. Deutschland drohte, wie der spätere Reichskanzler Hans Luther 1923 bemerkte, „bei vollen Scheuern zu verhungern“. Andererseits ist die Zeit gekennzeichnet von unfassbarer Verschwendung. Eine regelrechte Kaufpanik erfasste die Bürger. Die Menschen prassten und lebten in den Tag hinein. „Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen“, lautete der Gassenhauer jener Tage.
Was wirklich zählte, waren Sachwerte: Diamanten und Münzen, aber auch Antiquitäten, Klaviere oder Kunst; gefragt waren die Werke zeitgenössischer Künstler wie Lyonel Feininger, Paul Klee, Max Pechstein oder Karl Schmidt-Rottluff. Und wer über Devisen verfügte, war sowieso der König. Ein Oberpostinspektor flog auf, weil er Briefe mit ausländischen Banknoten abfing: 1717 Dollar, 1102 Schweizer Franken, 114 französische Francs. Die Summe reichte aus, um sich zwei Häuser zu kaufen, einer Freundin ein Klavier zu schenken und den Rest, wohl als Ablass, der Kirche zu spenden. Überhaupt nahm die Kleinkriminalität sprunghaft zu. Es wurden Kartoffeläcker geplündert, Bäckereien gestürmt, Schaufenster eingeworfen. Nicht nur die Preise waren außer Kontrolle geraten, SPIEGEL GESCHICHTE
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alle Werte schienen nun verrückt. In den großen Städten öffneten Tanzlokale oder Nacktbars, Kokain fand reißenden Absatz. Die Menschen vergnügten sich, als gäbe es kein Morgen. Der Ökonom Joseph Schumpeter beobachtete die „desorganisierenden Wirkungen der Währungszerrüttung auf den Volkscharakter, die Moral und auf alle Verästelungen des Kulturlebens“. In dieser Situation, da sich die Mark diskreditiert hatte, gingen viele Städte oder Unternehmen dazu über, ihre eigene Währung zu schaffen und druckten Notgeld. Eine süddeutsche Industriegesellschaft gab einen 500 000Mark-Schein heraus, auf dem der sinnige Spruch stand: „Sollt’ ein Brikett noch teurer sein, steck’ ruhig mich in’ Ofen rein.“ Nur ein radikaler Währungsschnitt, das war klar, konnte die permanente Geldentwertung noch aufhalten und wieder geordnete Verhältnisse schaffen. Mitte November 1923 begann die Regierung, die sogenannte Rentenmark auszugeben. Es hieß, die neue Währung sei
einem Großteil ihres Geschäfts von vorn anfangen.
Gewinner waren hingegen alle, die hoch verschuldet waren: allen voran der Staat, aber auch Privatleute, die auf Pump Häuser, Bauland oder Äcker gekauft hatten und deren Verbindlichkeiten sich dank der Umstellung auf die Rentenmark entwerteten. Einige Industrielle profitierten ganz besonders von der Inflation. Hugo Stinnes, der „neue Kaiser von Deutschland“, wie „Time“ schrieb, kaufte sich ein gewaltiges Firmenimperium zusammen – Schwerindustrie, Zeitungen, Schiffe, Hotels –, aufgebaut auf immensen Schulden. „Die Waffe der Inflation“, forderte Stinnes noch im Sommer 1922, müsse „auch weiter benutzt werden“. Überhaupt gehörten Fabrikanten und Handwerker zu den Krisengewinnern: Sie besaßen Maschinen und Gebäude, also Sachwerte, die den Währungsschnitt überdauerten. Auch den meisten Bauern ging es prächtig. „Sie hatten Geld wie Heu und
Einige Industrielle profitierten ganz besonders von der Inflation. gedeckt durch den Grundbesitz der Industrie und der Landwirtschaft, was natürlich eine Fiktion war. Wäre es zum Schwur gekommen, hätte gewiss kein Unternehmer oder Bauer Land für Geld gegeben. Aber nach den zermürbenden Jahren der Geldentwertung sehnte man sich derart nach Stabilität, dass man dem neuen Geld blind vertraute. Was als „Wunder der Rentenmark“ in die Geschichte eingegangen ist, glich in Wahrheit einem Offenbarungseid für das Deutsche Reich: Der Staat war bankrott. Den Preis zahlten, wie immer, in erster Linie die Bürger. Die Dummen waren all jene, die über Geldvermögen verfügten: die Sparer, die Inhaber öffentlicher Anleihen, vor allem aber die Rentiers, die Bürger also, die Einkommen bezogen, ohne zu arbeiten – die von der Rente oder von ihren Kapitaleinkünften lebten. Große Teile der Mittelschicht sahen sich enteignet; sie verloren praktisch alles, was sie über Jahre angespart hatten. Aber auch Banken, Sparkassen und Versicherungen erlitten herbe Verluste an Eigenkapital und blieben auf dem Papiergeld sitzen. Sie mussten 1924 mit
schmissen damit um sich“, erinnerte sich der Schriftsteller Lion Feuchtwanger. Manche kauften sich einen Stall voller Rennpferde, andere ein teures Auto: „Der Landwirt Greindlberger fuhr aus der schmutzigen Dorfstraße von Englschalking nach München in einer eleganten Limousine mit livriertem Chauffeur“, beschrieb Feuchtwanger den ländlichen Wohlstand, „er selber saß darin in brauner Samtweste, mit grünem Hut und Gamsbart.“ Nie zuvor hat Deutschland eine so grundlegende Umverteilung von Vermögen erlebt, und auf der Gewinnerseite fanden sich viele wieder, die schon zuvor vermögend waren. Um die Katastrophe zu verhindern, hätte in der Dekade zwischen 1914 und 1924 einiges anders laufen müssen: Es hätte einer entscheidungsfähigen Staatsgewalt bedurft, also starker, vom Volk getragener Regierungen, die Wert auf eine sparsame Haushaltsführung gelegt und die sich mit den Alliierten besser arrangiert hätten. Zugleich hätte das Ausland, insbesondere Frankreich, die schwierige Situation der hochverschuldeten Republik stärker berücksichtigen und sensi-
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Wie Staaten in der Vergangenheit ihre Schuldenprobleme lösten
SCHNITT DURCH DEN SCHEIN Die militärische Niederlage war verheerend, die Griechenland 1922 gegen die Türken erlitten hatte. Zigtausende starben, Familien wurden vertrieben, noch heute spricht man von der „kleinasiatischen Katastrophe“. Der Krieg hinterließ einen hoffnungslos verschuldeten Staat, Griechenland stand vor dem Bankrott. Da kam Finanzminister Petros Protopapadakis eine Idee. Der Politiker ordnete an, sämtliche Banknoten in der Mitte durchzuschneiden. Die eine Hälfte behielt ihre Funktion als Zahlungsmittel, allerdings zum halben Wert; die andere Hälfte mussten die Bürger zwangsweise gegen eine Staatsanleihe eintauschen. Ein Währungsschnitt der besonderen Art. Die Weltgeschichte bietet eine Fülle an Beispielen, wie Staaten, die in finanzielle Notlage geraten sind, sich mit zuweilen aberwitzigen Mitteln aus ihr zu befreien suchen. In einer Studie für den Internationalen Währungsfonds haben die US-Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff Finanzkrisen der vergangenen acht Jahrhunderte untersucht. Ihr Ergebnis: Der Staatsbankrott stelle „ein beinahe universelles Phänomen“ dar. Viele Länder gerieten sogar mehrfach in die Klemme. Frankreich beispielsweise konnte zwischen 1500 und 1800 achtmal den Forderungen nicht mehr nachkommen. Der spanische Staat war im 19. Jahrhundert siebenmal pleite. Solche Ausfälle habe es zu jeder Zeit gegeben, so die Wissenschaftler. Es sei deshalb falsch zu glauben, dass der Staatsbankrott „eine Besonderheit der modernen Finanzwelt“ sei. In den meisten Fällen war der immense Kapitalbedarf, den ein Krieg verursacht, verantwortlich für die Schieflage. Immer wieder aber ist es den Regierungen gelungen, den Ruin hinauszuzögern. Sie erwiesen sich als außerordentlich findig, ihre Verbind-
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lichkeiten loszuwerden – auf Kosten vor allem der Bürger. Die einfachste Lösung: Die Staaten verweigerten schlicht, die Schulden zu begleichen. So geschah es, als der Habsburger König Philipp II. von Spanien 1557 seine Darlehen nach den teuren Feldzügen gegen Niederländer und Osmanen nicht zurückzahlte; die kreditgebenden Augsburger Finanzhäuser der Fugger und der Welser kamen darauf in schwere Bedrängnis, sie
gie: Sie vermehren das Geld – und entwerten es damit zugleich. Diesen Weg beschritten bereits die Römer, sie sparten bei der Münzherstellung an Edelmetall. Solche Manipulationen entwickelten sich zur gängigen Praxis: Der Silbergehalt des Wiener Kreuzers sank zwischen 1500 und 1800 um rund 60 Prozent, der Augsburger Pfennig verlor im gleichen Zeitraum mehr als 70 Prozent. Schlechtes Geld verdrängt gutes Geld, lautet das Prinzip, das sogenannte
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Durchschnittlicher Silbergehalt europäischer Münzen* in Gramm
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1812: Abwertung der österreichischen Währung
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1799 bis 1815: Napoleonische Kriege
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*zehn Währungen, Quelle: Allen und Unger
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erlangten nie mehr ihre alte Stärke zurück. Auch nach der Französischen Revolution wählten die neuen Regenten die harte Tour. Statt die Altschulden zu bezahlen, machten sie mit vielen Gläubigern kurzen Prozess: Sie ließen sie hinrichten. Eine weitere Option: Die Herrscher beschafften sich frische Mittel, indem sie besetzte Gebiete plündern ließen. Ganz nach der Devise des kaiserlichen Feldherrn Wallenstein Anfang des 17. Jahrhunderts: „Der Krieg ernährt den Krieg.“ Solche brutalen Methoden der Haushaltssanierung kamen vor allem in Momenten des Umsturzes zum Einsatz. Üblicherweise aber bevorzugen Regierungen eine elegantere Strate-
1650
1700
1750
1800
1850
Greshamsche Gesetz, benannt nach einem britischen Geschäftsmann des 16. Jahrhunderts. Aus der wachsenden Differenz zwischen Schrot, dem Gesamtgewicht einer Münze, und Korn, ihrem Feingewicht, finanzierten die Herrscherhäuser vor allem Feldzüge. „Krieg und Aufruhr waren die häufigsten Ursachen für die starken Abwertungen“, so der Greifswalder Historiker Michael North. Noch leichter ließ sich die Staatskasse auffüllen, als Papiergeld Verbreitung fand. Seitdem bedurfte es nur noch einer Druckerpresse, um den Geldwert zu manipulieren. Die Franzosen praktizierten dieses Verfahren Anfang des 18. Jahrhunderts erstmals in großem Stil, um den Schuldenberg abzutragen, den ihnen
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DER DOPPELSCHOCK
wurden Bürger mit einem Einkommen von mehr als 100 000 Mark gezwungen, sie zu zeichnen. Doch bevor der Staat die Schulden zurückzahlte, war die alte Währung Geschichte. Die Anleger gingen leer aus. Auch der Zweite Weltkrieg wurde zum großen Teil über Anleihen finanziert. Zur Kapitalbeschaffung für die Aufrüstung hatte Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht 1934 MefoWechsel entworfen, benannt nach der Metallurgischen Forschungsgesellschaft. Der Clou: Mit ihnen konnte der Staat Geld aufnehmen, ohne dass es als Kredit zu erkennen war. Die Rüstungsfirmen stellten die Wechsel gegenüber der Mefo, und damit letztlich gegenüber dem Staat aus, gaben ihm also Kredit – und blieben am Ende auf Papieren im Wert von acht Milliarden Reichsmark sitzen. Dass nach dem Krieg die Welt nicht in die Rezession versunken ist, gehört zu den bemerkenswertesten Phänomenen der Zeitgeschichte. Das starke globale Wirtschaftswachstum half maßgeblich dabei, die Hypothek der Vergangenheit abzutragen. Zudem kam Westdeutschland schnell wieder auf die Beine, auch weil der jungen Republik 1953 ein Großteil der Schulden erlassen wurde. Dennoch blieb das Geld auch in Friedenszeiten keinesfalls wertstabil. Der US-Dollar beispielsweise hat in 50 Jahren rund 86 Prozent seiner einstigen Kaufkraft eingebüßt. „Die unentrinnbare Wahrheit ist“, resümiert der Historiker Ferguson, „dass die Auflösung der Verbindung zwischen Geldschöpfung und Metallverankerung ein beispielloses Geldmengenwachstum nach sich zog – und mit ihm einen Kreditboom, den die Welt noch nicht gesehen hatte.“ Geldentwertung, Zwangsanleihen, Zahlungsausfälle: Staaten haben vielfältige Möglichkeiten genutzt, den Bankrott abzuwenden. Es sei eine Illusion zu glauben, sie hätten aus den Fehlern gelernt, warnen die Ökonomen Reinhart und Rogoff. Tatsächlich könne jederzeit wieder ein Staat in die Pleite treiben, mit allen Konsequenzen für die Bürger. Als Irrtum habe sich jedenfalls erwiesen, wenn Politiker versicherten: „Diesmal ist es anders.“ Alexander Jung
Nationalsozialist Adolf Hitler 1924 in Landsberg
AKG
der Sonnenkönig Ludwig XIV. hinterlassen hatte. Seitdem sind Regierungen in Krisenzeiten immer wieder der Versuchung erlegen. Das Deutsche Reich etwa weichte 1914 mit Beginn des Ersten Weltkriegs die Golddeckung auf; bis dahin konnte jeder, der wollte, Banknoten in Edelmetall eintauschen. Darauf wuchs die Geldmenge bis Kriegsende sprunghaft von 13 auf 60 Milliarden Mark, das Güterangebot dagegen sank um ein Drittel. Und die Preise schossen in die Höhe. Mehr als ein halbes Jahrhundert später sah sich erneut eine Regierung gezwungen, ihre Währung vom Goldstandard abzukoppeln: Die USA hatten als Folge des Vietnam-Krieges gewaltige Defizite angehäuft, US-Präsident Richard Nixon kündigte das Bretton-Woods-Abkommen von 1944 auf und damit die Verpflichtung, jederzeit 35 Dollar in eine Unze Gold tauschen zu können. Fortan konnten die Amerikaner Dollar-Noten nach Belieben drucken. Neben solcher Praxis der Geldentwertung setzen Staaten gewöhnlich noch ein weiteres Instrument ein, um ihrer Schulden Herr zu werden: Sie geben neue Anleihen aus. Mit anderen Worten: Der Staat nimmt weitere Kredite bei den Bürgern auf. Diesen Weg hatte das britische Königreich vor der Schlacht von Waterloo eingeschlagen. Seine Staatsschuld war infolge der massenhaften Ausgabe von Wertpapieren auf das Doppelte des Sozialprodukts angewachsen. „Nie zuvor waren derart viele Anleihen aufgelegt worden, um einen militärischen Konflikt zu finanzieren“, so der Historiker Niall Ferguson. Die Deutschen zeichneten während des Ersten Weltkriegs Anleihen im Wert von 98 Milliarden Mark, damit waren die Kriegskosten großenteils gedeckt. Das funktionierte nur, weil es Millionen Gläubiger als vaterländische Pflicht ansahen, mit dem Kauf solcher Wertpapiere die Armee zu unterstützen. Sie spekulierten zugleich auf einen schnellen Sieg und eine ordentliche Verzinsung. Der Krieg ging verloren, mehr noch: Die Alliierten forderten große Reparationssummen. Deutschland gab 1922 erneut eine Anleihe aus, diesmal aber
bler vorgehen müssen. Vor allem hätten die Alliierten schneller Klarheit über die Höhe der Reparationen schaffen müssen. So aber verfiel das Deutsche Reich in eine Art Fiskal-Anarchie. Entnervt entzogen sich viele Deutsche der bitteren Realität. Sie verließen das Land – 1923 zählten die Behörden dreimal mehr Auswanderer als im Jahr zuvor –, sie wandten sich Sekten zu, manche begingen Selbstmord. Und Millionen Menschen radikalisierten sich. Der Aufstieg von Adolf Hitler begann nicht zufällig im November 1923, auf dem Höhepunkt der Inflation, als er im Münchner Bürgerbräukeller den sogenannten Bierhallen-Putsch anzettelte. Der katalanische Deutschland-Korrespondent Xammar erlebte das Spektakel hautnah mit – kurz zuvor hatte er ein Interview mit dem „zukünftigen Ex-
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Diktator von Deutschland“ geführt. „Das wichtigste Problem heutzutage sind die hohen Lebenshaltungskosten“, erklärte Hitler darin und versprach: „Wir wollen das Leben billiger machen.“ Dazu müssten die Kaufhäuser, die vielfach in jüdischer Hand seien, unter staatliche Führung gebracht werden, forderte Hitler und betonte: „Von diesen nationalen Kaufhäusern erwarten wir alle möglichen Wunder.“ Der Journalist aus Barcelona äußerte damals unverblümt, was er von seinem Gesprächspartner hielt: Hitler sei, so Xammar, „der dümmste Mensch, den wir jemals das Vergnügen hatten kennenzulernen“. Fatalerweise sahen die meisten Deutschen den Mann bald ganz anders.
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Wie Staaten in der Vergangenheit ihre Schuldenprobleme lösten
SCHNITT DURCH DEN SCHEIN Die militärische Niederlage war verheerend, die Griechenland 1922 gegen die Türken erlitten hatte. Zigtausende starben, Familien wurden vertrieben, noch heute spricht man von der „kleinasiatischen Katastrophe“. Der Krieg hinterließ einen hoffnungslos verschuldeten Staat, Griechenland stand vor dem Bankrott. Da kam Finanzminister Petros Protopapadakis eine Idee. Der Politiker ordnete an, sämtliche Banknoten in der Mitte durchzuschneiden. Die eine Hälfte behielt ihre Funktion als Zahlungsmittel, allerdings zum halben Wert; die andere Hälfte mussten die Bürger zwangsweise gegen eine Staatsanleihe eintauschen. Ein Währungsschnitt der besonderen Art. Die Weltgeschichte bietet eine Fülle an Beispielen, wie Staaten, die in finanzielle Notlage geraten sind, sich mit zuweilen aberwitzigen Mitteln aus ihr zu befreien suchen. In einer Studie für den Internationalen Währungsfonds haben die US-Ökonomen Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff Finanzkrisen der vergangenen acht Jahrhunderte untersucht. Ihr Ergebnis: Der Staatsbankrott stelle „ein beinahe universelles Phänomen“ dar. Viele Länder gerieten sogar mehrfach in die Klemme. Frankreich beispielsweise konnte zwischen 1500 und 1800 achtmal den Forderungen nicht mehr nachkommen. Der spanische Staat war im 19. Jahrhundert siebenmal pleite. Solche Ausfälle habe es zu jeder Zeit gegeben, so die Wissenschaftler. Es sei deshalb falsch zu glauben, dass der Staatsbankrott „eine Besonderheit der modernen Finanzwelt“ sei. In den meisten Fällen war der immense Kapitalbedarf, den ein Krieg verursacht, verantwortlich für die Schieflage. Immer wieder aber ist es den Regierungen gelungen, den Ruin hinauszuzögern. Sie erwiesen sich als außerordentlich findig, ihre Verbind-
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lichkeiten loszuwerden – auf Kosten vor allem der Bürger. Die einfachste Lösung: Die Staaten verweigerten schlicht, die Schulden zu begleichen. So geschah es, als der Habsburger König Philipp II. von Spanien 1557 seine Darlehen nach den teuren Feldzügen gegen Niederländer und Osmanen nicht zurückzahlte; die kreditgebenden Augsburger Finanzhäuser der Fugger und der Welser kamen darauf in schwere Bedrängnis, sie
gie: Sie vermehren das Geld – und entwerten es damit zugleich. Diesen Weg beschritten bereits die Römer, sie sparten bei der Münzherstellung an Edelmetall. Solche Manipulationen entwickelten sich zur gängigen Praxis: Der Silbergehalt des Wiener Kreuzers sank zwischen 1500 und 1800 um rund 60 Prozent, der Augsburger Pfennig verlor im gleichen Zeitraum mehr als 70 Prozent. Schlechtes Geld verdrängt gutes Geld, lautet das Prinzip, das sogenannte
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*zehn Währungen, Quelle: Allen und Unger
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erlangten nie mehr ihre alte Stärke zurück. Auch nach der Französischen Revolution wählten die neuen Regenten die harte Tour. Statt die Altschulden zu bezahlen, machten sie mit vielen Gläubigern kurzen Prozess: Sie ließen sie hinrichten. Eine weitere Option: Die Herrscher beschafften sich frische Mittel, indem sie besetzte Gebiete plündern ließen. Ganz nach der Devise des kaiserlichen Feldherrn Wallenstein Anfang des 17. Jahrhunderts: „Der Krieg ernährt den Krieg.“ Solche brutalen Methoden der Haushaltssanierung kamen vor allem in Momenten des Umsturzes zum Einsatz. Üblicherweise aber bevorzugen Regierungen eine elegantere Strate-
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Greshamsche Gesetz, benannt nach einem britischen Geschäftsmann des 16. Jahrhunderts. Aus der wachsenden Differenz zwischen Schrot, dem Gesamtgewicht einer Münze, und Korn, ihrem Feingewicht, finanzierten die Herrscherhäuser vor allem Feldzüge. „Krieg und Aufruhr waren die häufigsten Ursachen für die starken Abwertungen“, so der Greifswalder Historiker Michael North. Noch leichter ließ sich die Staatskasse auffüllen, als Papiergeld Verbreitung fand. Seitdem bedurfte es nur noch einer Druckerpresse, um den Geldwert zu manipulieren. Die Franzosen praktizierten dieses Verfahren Anfang des 18. Jahrhunderts erstmals in großem Stil, um den Schuldenberg abzutragen, den ihnen
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wurden Bürger mit einem Einkommen von mehr als 100 000 Mark gezwungen, sie zu zeichnen. Doch bevor der Staat die Schulden zurückzahlte, war die alte Währung Geschichte. Die Anleger gingen leer aus. Auch der Zweite Weltkrieg wurde zum großen Teil über Anleihen finanziert. Zur Kapitalbeschaffung für die Aufrüstung hatte Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht 1934 MefoWechsel entworfen, benannt nach der Metallurgischen Forschungsgesellschaft. Der Clou: Mit ihnen konnte der Staat Geld aufnehmen, ohne dass es als Kredit zu erkennen war. Die Rüstungsfirmen stellten die Wechsel gegenüber der Mefo, und damit letztlich gegenüber dem Staat aus, gaben ihm also Kredit – und blieben am Ende auf Papieren im Wert von acht Milliarden Reichsmark sitzen. Dass nach dem Krieg die Welt nicht in die Rezession versunken ist, gehört zu den bemerkenswertesten Phänomenen der Zeitgeschichte. Das starke globale Wirtschaftswachstum half maßgeblich dabei, die Hypothek der Vergangenheit abzutragen. Zudem kam Westdeutschland schnell wieder auf die Beine, auch weil der jungen Republik 1953 ein Großteil der Schulden erlassen wurde. Dennoch blieb das Geld auch in Friedenszeiten keinesfalls wertstabil. Der US-Dollar beispielsweise hat in 50 Jahren rund 86 Prozent seiner einstigen Kaufkraft eingebüßt. „Die unentrinnbare Wahrheit ist“, resümiert der Historiker Ferguson, „dass die Auflösung der Verbindung zwischen Geldschöpfung und Metallverankerung ein beispielloses Geldmengenwachstum nach sich zog – und mit ihm einen Kreditboom, den die Welt noch nicht gesehen hatte.“ Geldentwertung, Zwangsanleihen, Zahlungsausfälle: Staaten haben vielfältige Möglichkeiten genutzt, den Bankrott abzuwenden. Es sei eine Illusion zu glauben, sie hätten aus den Fehlern gelernt, warnen die Ökonomen Reinhart und Rogoff. Tatsächlich könne jederzeit wieder ein Staat in die Pleite treiben, mit allen Konsequenzen für die Bürger. Als Irrtum habe sich jedenfalls erwiesen, wenn Politiker versicherten: „Diesmal ist es anders.“ Alexander Jung
Nationalsozialist Adolf Hitler 1924 in Landsberg
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der Sonnenkönig Ludwig XIV. hinterlassen hatte. Seitdem sind Regierungen in Krisenzeiten immer wieder der Versuchung erlegen. Das Deutsche Reich etwa weichte 1914 mit Beginn des Ersten Weltkriegs die Golddeckung auf; bis dahin konnte jeder, der wollte, Banknoten in Edelmetall eintauschen. Darauf wuchs die Geldmenge bis Kriegsende sprunghaft von 13 auf 60 Milliarden Mark, das Güterangebot dagegen sank um ein Drittel. Und die Preise schossen in die Höhe. Mehr als ein halbes Jahrhundert später sah sich erneut eine Regierung gezwungen, ihre Währung vom Goldstandard abzukoppeln: Die USA hatten als Folge des Vietnam-Krieges gewaltige Defizite angehäuft, US-Präsident Richard Nixon kündigte das Bretton-Woods-Abkommen von 1944 auf und damit die Verpflichtung, jederzeit 35 Dollar in eine Unze Gold tauschen zu können. Fortan konnten die Amerikaner Dollar-Noten nach Belieben drucken. Neben solcher Praxis der Geldentwertung setzen Staaten gewöhnlich noch ein weiteres Instrument ein, um ihrer Schulden Herr zu werden: Sie geben neue Anleihen aus. Mit anderen Worten: Der Staat nimmt weitere Kredite bei den Bürgern auf. Diesen Weg hatte das britische Königreich vor der Schlacht von Waterloo eingeschlagen. Seine Staatsschuld war infolge der massenhaften Ausgabe von Wertpapieren auf das Doppelte des Sozialprodukts angewachsen. „Nie zuvor waren derart viele Anleihen aufgelegt worden, um einen militärischen Konflikt zu finanzieren“, so der Historiker Niall Ferguson. Die Deutschen zeichneten während des Ersten Weltkriegs Anleihen im Wert von 98 Milliarden Mark, damit waren die Kriegskosten großenteils gedeckt. Das funktionierte nur, weil es Millionen Gläubiger als vaterländische Pflicht ansahen, mit dem Kauf solcher Wertpapiere die Armee zu unterstützen. Sie spekulierten zugleich auf einen schnellen Sieg und eine ordentliche Verzinsung. Der Krieg ging verloren, mehr noch: Die Alliierten forderten große Reparationssummen. Deutschland gab 1922 erneut eine Anleihe aus, diesmal aber
bler vorgehen müssen. Vor allem hätten die Alliierten schneller Klarheit über die Höhe der Reparationen schaffen müssen. So aber verfiel das Deutsche Reich in eine Art Fiskal-Anarchie. Entnervt entzogen sich viele Deutsche der bitteren Realität. Sie verließen das Land – 1923 zählten die Behörden dreimal mehr Auswanderer als im Jahr zuvor –, sie wandten sich Sekten zu, manche begingen Selbstmord. Und Millionen Menschen radikalisierten sich. Der Aufstieg von Adolf Hitler begann nicht zufällig im November 1923, auf dem Höhepunkt der Inflation, als er im Münchner Bürgerbräukeller den sogenannten Bierhallen-Putsch anzettelte. Der katalanische Deutschland-Korrespondent Xammar erlebte das Spektakel hautnah mit – kurz zuvor hatte er ein Interview mit dem „zukünftigen Ex-
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Diktator von Deutschland“ geführt. „Das wichtigste Problem heutzutage sind die hohen Lebenshaltungskosten“, erklärte Hitler darin und versprach: „Wir wollen das Leben billiger machen.“ Dazu müssten die Kaufhäuser, die vielfach in jüdischer Hand seien, unter staatliche Führung gebracht werden, forderte Hitler und betonte: „Von diesen nationalen Kaufhäusern erwarten wir alle möglichen Wunder.“ Der Journalist aus Barcelona äußerte damals unverblümt, was er von seinem Gesprächspartner hielt: Hitler sei, so Xammar, „der dümmste Mensch, den wir jemals das Vergnügen hatten kennenzulernen“. Fatalerweise sahen die meisten Deutschen den Mann bald ganz anders.
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Im Zweiten Weltkrieg rekrutierten die Nazis KZ-Häftlinge, um britische Pfund-Noten zu fälschen. Auch Agenten bezahlte das Regime mit Blüten.
Betrogene Betrüger Von GEORG BÖNISCH
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pione verdienen meist gut am Verrat. So ging es auch dem Albaner Elyesa Bazna, der von Mitte 1943 bis März 1944 beim Botschafter Großbritanniens in der Türkei als Kammerdiener und Vertrauter fungierte. Auf dem Tisch des Diplomaten Sir Hughe Knatchbull-Hugessen landeten heiße Informationen wie Protokolle alliierter Gipfelkonferenzen oder Strategiepapiere zur Vernichtung HitlerDeutschlands vom Osten, Westen und Süden her. Wohl 150 geheime Dokumente lichtete Bazna ab und vertickte sie gegen Bares dem Sicherheitsdienst (SD) der Nazi-Führung. Sein Tarnname: „Cicero“. Eine gute Wahl. Denn schon die römische Geistesgröße wusste, dass Geld die Welt „auch im Krieg“ regiert. Als Honorar strich Bazna über 300 000 britische Pfund ein, über 11 Millionen Euro nach heutigem Wert. Die Hälfte davon verjubelte er schnell. Als er aber Jahre nach Kriegsende den Rest umsetzen wollte, musste Bazna eine überaus betrübliche Erfahrung machen: Die Pfund-Noten entpuppten sich als Blüten. Es war kein Trost für Bazna, dass ein Experte der Bank of England größten Respekt vor deren professioneller Qualität äußerte: Es handle sich um die „gefährlichste Fälschung aller Zeiten“. Der Fall des geleimten Agenten gehört zu einer der bizarrsten Episoden im „Dritten Reich“. Die ursprüngliche Strategie der Nazis hieß: Geld als Waffe, natürlich Falschgeld. Davon sollte so viel in den britischen Markt gepumpt werden, bis eine Inflation und das daraus resultierende Misstrauen die Wirtschaft im gesamten Empire kollabieren ließe – ein mächtiger Gegner weniger. Knapp neun Millionen Geldscheine im Nennwert von über 134 Millionen Pfund wurden ab Anfang 1943 gedruckt, immerhin 13 Prozent der zirkulierenden
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Aus dem österreichischen Toplitzsee bergen Taucher Falschgeld, das die Nazis gegen Kriegsende versenkt haben. Der KZÜberlebende Adolf Burger zeigt eine Pfund-Blüte.
Menge echter Banknoten. Die Hersteller, die ganz am Ende auch US-Dollar produzierten, waren keine Kriminellen, sondern todgeweihte Häftlinge aus Konzentrationslagern, die den passenden Beruf hatten: Drucker und Graveure, Schriftsetzer oder Lithografen – selbst Friseure, die den Auftraggebern als „geschickte Handwerker“ galten. Fast alle der 144 Zwangsfälscher haben die Haft überlebt – als Mitarbeiter beim „Unternehmen Bernhard“, das nach dem leitenden SS-Mann Bernhard Krüger benannt war. Es gilt bis heute als größte Geldfälscheraktion der Kriminalgeschichte.
Am 18. September 1939, vor gut zwei Wochen hat der Zweite Weltkrieg
begonnen, steht im Konferenzsaal des Reichsfinanzministeriums in der Berliner Wilhelmstraße 61 nur ein Thema auf der Tagesordnung: Wie attackiere ich das Wirtschaftssystem einer Weltmacht? Historische Vorbilder gibt es genug. So schleusten die Briten Ende des 18. Jahrhunderts große Mengen gefälschten Papiergeldes („Assignaten“) nach Frankreich ein, um dort die Inflation zu verschlimmern und die Revolution zu sabotieren (siehe Seite 56). Napoleons abgefeimter Polizeiminister Joseph Fouché operierte in umgekehrter Richtung mit Falsifikaten gegen London, Wien und Moskau. Plan A hieß: Abwurf von Blüten über Großbritannien, gleich tonnenweise. Hitlers Propagandachef Joseph Goebbels nannte diese Idee zwar „grotesk“,
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lehnte sie jedoch, so der Publizist Lawrence Malkin, „nicht von vornherein“ ab. Der „einzige seriöse Einwand“ sei vom Wirtschaftsminister und Reichsbankpräsidenten Walther Funk gekommen. Der habe vor der Verletzung internationalen Rechts gewarnt – ein verblüffendes Argument inmitten eines Unrechtsstaats. Weil auf Funk kaum jemand hörte, bekam Tage später der SS-Offizier Alfred Naujocks den Auftrag, eine Fälscherwerkstatt einzurichten. Naujocks war Spezialist für Kommandounterneh-
wichtige Grundfragen zu klären, etwa die Beschaffenheit des Papiers oder die komplexe mathematische Zusammensetzung der Seriennummern. Wohl 400 000 Scheine wurden gedruckt, zu Fünf- und Zehn-Pfund-Noten. Entgegen anderslautenden Legenden scheint die Qualität dieser ersten Fälschungen aber nicht die beste gewesen zu sein. Zeitweilig sah es sogar so aus, als hätten die NS-Gewaltigen den hochfliegenden Plan begraben. Am 16. Juli 1942 notierte SS-Reichsführer Heinrich Himmler dann aber im Dienstkalender:
Krüger. Solches Wasser nutzten auch die Briten. Vom Sommer 1943 an lief die Produktion von Noten im Wert von 5, 10, 20 und 50 Pfund auf Hochtouren, Krüger war voll des Lobes. Eines Morgens hielt er triumphierend einen Schein hoch und erklärte den Häftlingen, „britische Banken“ hätten ihn „als echt akzeptiert“: „Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer ausgezeichneten Arbeit.“ Dennoch ließ die NS-Führung den Plan, das Vertrauen der Briten in ihre Währung durch perfekt gefälschte, ton-
KEYSTONE (L.); RICCARDO DE LUCA / MAXPPP / PICTURE-ALLIANCE / DPA (R.)
Im KZ Sachsenhausen wurde eine Geheimdruckerei eingerichtet.
men. Kurz zuvor hatte er den angeblichen polnischen Überfall auf den grenznahen Sender Gleiwitz inszeniert und damit Hitler den Vorwand geliefert, die Wehrmacht in Polen einfallen zu lassen. „Der Mann, der den Zweiten Weltkrieg auslöste“, wurde Naujocks später genannt. Kripo-Chef Arthur Nebe hatte empfohlen, die besten Falschmünzer aus dem Knast zu holen, doch Naujocks bevorzugte Wissenschaftler der SS, dazu zivile Techniker und Handwerker. Die Werkstatt befand sich im Berliner Ortsteil Grunewald, Delbrückstraße 6a. Knapp zwei Jahre experimentierte der Naujocks-Trupp, sein Etat lag bei zwei Millionen Reichsmark. Zwar gelang es, für die Blütenproduktion
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„Pfund-Noten zunächst Verwendung genehmigt“. Naujocks Vorarbeit setzte dessen SSKollege Bernhard Krüger fort – wohl der talentierteste Fälscher in der SD-Abteilung „Auslandsaufklärung“, die der junge SS-Brigadeführer Walter Schellenberg dirigierte. Und der ordnete an, im KZ Sachsenhausen nahe Berlin eine Geheimdruckerei einzurichten. Perfekter konnte eine Tarnung nicht sein. Krüger rekrutierte seine Helfer in den Konzentrations- und Vernichtungslagern, zum Teil mit bemerkenswerter Höflichkeit. Der slowakische Jude Adolf Burger schildert die Anwerbung in seinen Erinnerungen so: „Häftling Burger?“ – „Jawohl“. – „Beruf Typograf?“ – „Jawohl“. Daraufhin habe ihm der SSMann die Hand gereicht, „seine raue Stimme wurde plötzlich freundlich. Ich traute meinen Sinnen nicht . . .“ Die Gefangenen, die gewissermaßen um ihr Leben fälschten, dienten ihrem Chef Krüger mit äußerster Akribie. Der jüngste von ihnen war nicht mal 20, der älteste fast 60. Jeder Winzigkeit gingen sie nach – und entdeckten beispielsweise, dass manche Buchstaben zum Schutz vor Nachahmungen absichtlich minimal verformt waren. Oder dass Scheine fast unsichtbare Fleckchen aufwiesen – sie nannten sie „Fliegenschisse“. Sie fanden die erstaunlichsten Details heraus. So bestand die Tinte, die die Bank of England verwendete, teils aus der Kohle verbrannter deutscher Weinstöcke, die in Leinsamenöl gekocht wurde. Das Papier für die Blüten lieferte eine Mühle, die Wasser aus einem klaren, forellenreichen Bach mit „verhältnismäßig wenig Schwebestoffen“ bezog, notierte
nenweise aus deutschen Flugzeugen abgeworfene Pfundnoten zu zerstören, schließlich fallen. Der Hauptgrund dafür war der Widerstand der Luftwaffenführung, die angesichts der angespannten Treibstofflage das knappe Flugbenzin dringend für unmittelbare Kriegseinsätze selbst benötigte.
Nun trat Plan B in Kraft: Mit dem Falschgeld sollte in großem Stil bezahlt werden: für Gold, Edelsteine, Valuten, Rohstoffe für die Rüstungsindustrie oder Bewaffnung von SS-Verbänden. Und Agenten wie „Cicero“, die man für ihr Doppelspiel mit Falschgeld entlohnte, wurden zu betrogenen Betrügern. Eines der Hauptquartiere der dafür eingerichteten Vertriebsorganisation lag zeitweise in einem beschlagnahmten Hotel in den Weinbergen oberhalb von Meran. „Sonderstab Generalkommando III. Germanisches Panzerkorps“ lautete die offizielle Bezeichnung der Dienststelle, zu der 50 Mitarbeiter zählten. Ihr Leiter war der Kaufmann Friedrich Schwend alias Doktor Wendig, der den Dienstgrad eines SS-Sturmbannführers bekam. Über 33 Prozent des Nennwerts aller Blüten kassierten er und seine Leute. Der ehemalige Zwangsfälscher und Memoirenautor Burger war überzeugt davon, dass viele als „ehrenwerte Bürger geltende Männer“ mit Bernhard-Geldern Villen, Hotels, Unternehmen kauften. Keiner hat das je durchblickt. Die Bank of England aber, die fahrlässigerweise ihr Geld für absolut fälschungssicher gehalten hatte, war nachhaltig beeindruckt vom Coup der Nazis: Noch heute, berichten Kenner, lässt sie ihre Scheine fast jeden Monat prüfen.
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KAPITEL V
ABSTURZ NACH DEM BOOM
Vom Berghotel ins Casino Es war eine der bedeutendsten Finanzrunden, die es je gab: In Bretton Woods wurde 1944 die internationale Währungsordnung festgelegt. Jahrzehnte später übernahmen Zocker die Regie.
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Teilnehmer der Konferenz von Bretton Woods vor dem Hotel „Mount Washington“, 1944
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on Portland aus, der Stadt am Atlantik, führt die Straße 302 nach Westen, in die White Mountains hinauf. Gut zwei Stunden dauert die landschaftlich reizvolle Tour über 95 Meilen, dann ist man angekommen. In einem Ort, der praktisch nur aus einem riesigen Hotelkasten besteht. Protzig steht das „Mount Washington“ in dieser ruhigen Berglandschaft. Ein Hotelgigant, wie ihn die Amerikaner lieben. Golf, Angeln, Schwimmen im Sommer, Ski fahren im Winter. Das Standardzimmer für rund 250 Dollar. Das Hotel, der Ort – es sind keine gewöhnlichen Touristenziele, sondern zeitgeschichtliche Denkmäler, für viele ein Mythos. Willkommen in Bretton Woods. Hier war es, wo im Sommer 1944 die globale Geld- und Währungsordnung für die ersten Jahrzehnte nach dem Weltkrieg ausgehandelt wurde. Lord John Maynard Keynes, der führende Ökonom jener Zeit und englische Verhandlungsführer, hatte den Anstoß geliefert, die Konferenz in das abgelegene Berghotel zu legen. „Laden Sie um Himmels willen nicht nach Washington ein. Das wäre sehr unfreundlich“, schrieb Keynes an Harry Dexter White, den Staatssekretär im amerikanischen Finanzministerium. Keynes war damals schon schwer herzkrank und scheute das feuchtheiße Sommerklima der US-Hauptstadt. So zog der Tross nach Bretton Woods und sorgte dafür, dass ein Ortsname zum Symbol für eine Ära wurde. Einer mit historisch einmaliger Wohlstandsmehrung, mit einer Gesellschaft nahezu ohne Arbeitslosigkeit, mit stabilen Wechselkursen, mit einer erfolgreichen Kooperation aller westlichen Nationen. Wann immer in den Krisenjahren 2008 und 2009 über eine neue Ordnung für die Weltwirtschaft geredet wurde – stets war und ist die Rede von einem „neuen Bretton Woods“. Das Abkommen, das im „Gold Room“ des „Mount Washington“ am 22. Juli 1944 paraphiert wurde, sah für das Welt-
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währungssystem feste Wechselkurse vor, die um ein Prozent nach oben und unten schwanken durften. Wenn diese Austauschverhältnisse („Paritäten“) nicht mehr die tatsächliche Stärke der Währungen zueinander widerspiegelten, sollten die Notenbanken und Regierungen neue Wechselkurse festlegen. In der Praxis bedeutete dies, dass die Notenbanken sich verpflichteten, zu garantierten Preisen ausländische Valuta anzukaufen, beziehungsweise die heimische Währung zu verkaufen – unabhängig von der angebotenen Menge.
Gleichzeitig verabredeten die Teilnehmer in Bretton Woods die Gründung des Internationalen Währungsfonds. Der sollte das neue System überwachen und unterstützen. Und er sollte – mit Zahlungsmitteln seiner Mitglieder ausgestattet – jenen Ländern beistehen, deren Zahlungsbilanz in die Miesen gerutscht war. Der Rahmen für die Ordnung der Weltwirtschaft nach dem Desaster der Weltwirtschaftskrise und den verheerenden Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs war geschaffen. Die Jahrzehnte, die folgen sollten, zeigten allerdings, dass auch ein anscheinend gut konstruiertes ökonomisches Gerüst nur für begrenzte Zeit tauglich sein kann. Für die meisten Veränderungen und Reformen der vergangenen 65 Jahre gibt es einen gemeinsamen Nenner, und der heißt: mehr Markt, weniger Staat. Die Akteure auf den Geldund Währungsmärkten konnten frohlocken. Sie erhielten über die Jahrzehnte hinweg immer mehr Freiheiten – bis schließlich dieser Prozess der Deregulierung überzogen wurde und in der großen Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 sein teures Ende fand.
Das System von Bretton Woods wies noch viele Charakteristika einer Zentralverwaltungswirtschaft auf. Staatliche Organe legten die Währungsparitäten fest, die Notenbanken garantierten diese hoheitlichen Preise für den Austausch von Währungen. Noch Jahre nach dem Abschluss des Vertrags US-Goldbarrenlager kontrollierten viele Länder die in Fort Knox grenzüberschreitenden Kapitalströme. Das System brauchte Kontrollen, weil Der freie Markt war ausgeschaltet. Zumindest so lange, wie Regierungen und es sonst schon früh von der Spekulation Notenbanken die Kurse nicht an die aus den Angeln gehoben worden wäre. grundlegenden Kräfteverhältnisse an- Konkret: Jeder Erwerb von Devisen, also ausländischem Geld, jeder Export von passten. Der US-Dollar wurde die Leit- Kapital musste von Behörden genehmigt währung des Systems, alle Devisen- werden. Was den internationalen Hantransaktionen richteten sich nach dem del und Investitionen im Ausland sehr Austauschverhältnis der einzelnen schwerfällig machte. Schnell stellte sich heraus, dass die Währungen zum Dollar. Und: Die Amerikaner verpflichteten sich, die Dollar- vorgesehene Anpassung der WechselReserven jedes Landes gegen Gold ein- kurse an eine veränderte Situation der zutauschen, zum festen Kurs von einer Märkte – man sprach von „Stufenflexibilität“ – eine Illusion war. Unze Gold für 35 Dollar. SPIEGEL GESCHICHTE
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S. 118/119: BETTMANN / CORBIS; BILL STRODE / AGENTUR FOCUS
Von WOLFGANG KADEN
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HEINRICH SANDEN / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Die betroffenen Regierungen zögerten meist viel zu lange, bis sie neue Austauschverhältnisse festlegten, ihre Währungen also auf- oder abwerteten.
Bretton Woods litt darunter, dass es nicht elastisch genug war, um auf eine sich rasch verändernde und wachsende Weltwirtschaft zu reagieren. Je mehr die nationalen Volkswirtschaften zu einem einzigen großen Markt zusammenwuchsen, umso schwerer war es, die grenzüberschreitenden Kapitalbewegungen zu kontrollieren. „Rückblickend lässt sich sagen, dass es außerordentlich naiv war zu glauben, dieses System könne funktionieren“, schreibt der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Barry Eichengreen. Die Volkswirtschaften der nichtkommunistischen Hemisphäre prosperierten, aber sie taten dies auf höchst unterschiedliche Weise. Die einen, vor allem die Deutschen, waren nach der Hyperinflation darauf fixiert, dass ihre Mark möglichst wenig an Wert verlor. Andere, in Europa beispielsweise die Italiener oder die Franzosen, nahmen ein gewisses Maß an Teuerung locker hin. Die einen, wiederum die Deutschen, waren überaus erfolgreich auf ausländischen Märkten, exportierten mehr, als sie importierten, und legten sich beachtliche Devisenüberschüsse zu. Andere, so die Briten, kauften mehr Güter und Dienste im Ausland, als sie dorthin ausführten; ihre Zahlungsbilanz geriet immer tiefer ins Minus. In dem Maße, wie sich die Wirtschaft und der Geldwert in den einzelnen Ländern unterschiedlich entwickelten, hätten sich die Preise (oder: Kurse) für die einzelnen Währungen verändern müssen. Doch dieser Mechanismus funktionierte nicht. Symptomatisch war das Verhalten der Deutschen. Ende der Sechziger wäre eine Aufwertung der Mark zwingend gewesen. Doch die Unternehmerlobby stemmte sich mit aller Gewalt gegen das ökonomisch Gebotene. Eine Aufwertung hätte ihre Produkte im Ausland verteuert und womöglich zu weniger Exporten geführt. SPIEGEL GESCHICHTE
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Diese Dollar-Flut machte schließlich Anfang der siebziger Jahre Bretton Woods den Garaus. Deutschlands Wirtschaftsminister Schiller legte den Hebel um. Im Mai 1971 gab er den Wechselkurs der Mark frei und löste damit, wie der damalige Spitzenbeamte und spätere Bundesbankpräsident Karl Otto Pöhl schreibt, „ein kleines internationales Erdbeben aus“. Zwei Jahre später, nach einer nicht enden wollenden Abfolge von Krisentreffen, musste das System endgültig aufgegeben werden. Alle Länder gingen zum „Floaten“ über. Die Kurse sollten sich fortan nach Angebot und Nachfrage bilden. Der freie Markt hatte gesiegt. Für die Welt der Währungen und des internationalen Handels begann ein neues Zeitalter. Eine neue Ära war aber auch für jenen Teil der Geldwirtschaft angebrochen, der als verlängerter Arm der Notenbanken für die Geldversorgung in den einzelnen Nationalstaaten zuständig ist – für die kommerziell betriebenen Geschäftsbanken. Wie beim Austausch von Devisen hieß nun auch bei den übrigen Geschäften der Geldkaufleute der Trend: Deregulierung, Liberalisierung, weniger Staat und mehr Markt. Banken wurden traditionell schon immer stärker durch staatliche Vorschriften kontrolliert als andere Bereiche der privaten Wirtschaft. Und das mit gutem Grund: Sie sorgen dafür, dass die produzierende Wirtschaft und die Verbraucher ausreichend mit ZahlungsmitWirtschafts- und teln versorgt werden. Wenn Finanzminister der Geldkreislauf gestört ist, Karl Schiller, 1971 leidet die gesamte Volkswirtschaft. Im Extremfall kollabiert zutage: die dominante Position des sie, wie Ende 2008 allenthalben beDollar, über den der Austausch aller fürchtet wurde. Währungen lief. Im Vietnam-Krieg warfen die Ameri- Deutschlands Banken beispielskaner ihre Gelddruckmaschinen an, um weise mussten in den ersten Jahrzehnalle Auslandsrechnungen bezahlen zu ten nach dem Krieg ihre Soll- und Hakönnen. Die Welt wurde mit Dollar re- benzinsen – also die Zinsen, die sie für gelrecht überschwemmt. Für Deutsch- Spareinlagen zahlten, und jene, die sie land bedeutete das: Die Bundesbank für Kredite kassierten – genehmigen lasmusste Unmengen von Dollar ankau- sen. In den USA, wo offiziell jeder Dollar fen. Die wurden in Mark umgetauscht mit Gold hinterlegt war, hatte die Reund erhöhten im Inland die Geldmen- gierung ihren Bürgern verboten, Goldge. Man klagte über die „importierte In- münzen zu sammeln. Amerikaner durfflation“. ten auch kein Gold im Ausland halten. So wurde die Währungspolitik, ein eher sperriges Sujet, zum Top-Thema im Wahlkampf 1969. Der Sozialdemokrat Karl Schiller, Wirtschaftsminister der damaligen Großen Koalition, focht für die Aufwertung. Franz Josef Strauß, sein Finanzminister-Kollege von der CSU, und die gesamte Union waren dagegen. Erst mit der Bildung der SPDFDP-Koalition im Herbst 1969 wurde dann die Mark – zum zweiten Mal nach 1961 – aufgewertet, um 8,5 Prozent. Noch eine weitere Fehlkonstruktion im System von Bretton Woods trat bald
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Amerikaner und Engländer, traditionell eher auf der wirtschaftsliberalen Seite, waren die Ersten, die solche Beschränkungen hinwegräumten. Sie hatten verstanden: Die zunehmende Globalisierung der Realwirtschaft bedeutete auch eine weltweit grenzenlose Geldwirtschaft. Da schien es wenig Sinn zu haben, diese Branche durch vielerlei Regeln einzuengen, die nur national, also sehr unzulänglich zu kontrollieren waren. Mit zu starken Restriktionen für die Banken, so die Philosophie, hätten sich die Volkswirtschaften Wachstumsverluste eingehandelt. Die Deregulierung zog sich über viele Jahrzehnte hin. Es war ein evolutionärer Prozess, mit unterschiedlichem Tempo in den einzelnen Ländern. Bei den Währungen hingegen fand mit der Freigabe der Wechselkurse eine regelrechte Revolution statt, ein Big Bang. Was mit der neuen Freiheit auf den Währungsmärkten geschah, war für viele Ökonomen lange unvorstellbar gewesen, selbst für ausgewiesene Marktwirtschaftler. So plädierte ein liberaler Wirtschaftswissenschaftler wie Herbert Giersch lange für feste Wechselkurse, erst Mitte der Sechziger änderte er seine Meinung.
Milton Friedman, neben Keynes der wohl einflussreichste Ökonom des vorigen Jahrhunderts. Der ultraliberale Amerikaner setzte voll auf die Kräfte des Marktes. Nicht nur was die Währungen anbelangte, sondern auch und vor allem in der Geldpolitik der Notenbanken. Friedman stellte sich gegen die lange Zeit gültige Lehre, dass die Zentralbank mit der Steuerung der Geldmenge für stabile Beschäftigung sorgen könne, wie Keynes gelehrt hatte. Er verlangte von den Notenbanken, auf konjunkturpolitische Manöver zu verzichten und die
Die Skepsis gründete vor allem in der Befürchtung, ein womöglich heftiges Schwanken der Paritäten würde den Unternehmen im Export die Preiskalkulation unmöglich machen und sich schädlich auf die Realwirtschaft auswirken. Kanzler Helmut Schmidt, Wer für frei schwankende Besucher Valéry Giscard d’Estaing in Wechselkurse plädierte, gehörSchmidts Haus in Hamburg, 1978 te unter den Wirtschaftswissenschaftlern zu den Außenseitern. Das, was 1973 dann endgültig voll- Geldmenge stabil zu halten, das sei die zogen wurde, war ja tatsächlich „ein beste Beschäftigungspolitik. Sein „MoSprung ins Ungewisse“, wie Barry Ei- netarismus“, wie diese Lehre genannt chengreen schreibt. Aber er musste ge- wird, beherrschte Ende des zwanzigsten wagt werden. Es gab nach dem Schei- Jahrhunderts das ökonomische Denken tern von Bretton Woods keine Alterna- und sorgte für zusätzlichen Schub Richtive. Längst wissen wir auch: Der Wech- tung Deregulierung. Die europäischen Politiker blieben sel zu flexiblen Kursen war ökonomisch richtig. Das befürchtete Währungschaos auch nach dem Scheitern von Bretton blieb aus, die Wirtschaft gewöhnte sich Woods skeptisch gegenüber dem Spiel der freien Kräfte. Und das vor allem aus an das Auf und Ab der Wechselkurse. Einer, der schon früh, im Jahr 1950, einem Grund: Die Europäische Gefür flexible Kurse eintrat, war der ame- meinschaft der damals neun Länder verrikanische Wirtschaftswissenschaftler trug sich nur schwer mit stark schwan122
kenden Wechselkursen. Vor allem der gemeinsame Agrarmarkt, eine gigantische europäische Subventions- und Geldverteilungsmaschine, war in seiner damaligen Konstruktion nicht mit ständig wechselnden Paritäten denkbar. So suchten die Europäer, als das Ende von Bretton Woods unvermeidbar war, eine europäische Alternative – und schufen sich eine eigene Nachfolgeregelung, quasi ein Mini-Bretton-Woods. Sie wollten die Schwankungen ihrer Währungen beschränken und führten daher Ober- und Untergrenzen ein, innerhalb deren sich die Kurse bewegen konnten. Verließen die Kurse die festgelegten Bandbreiten, mussten die Notenbanken einschreiten, also Währungen zu festen Preisen kaufen oder verkaufen. Zunächst war dies die sogenannte Währungsschlange, später dann, vom deutschen Kanzler Helmut Schmidt und Frankreichs Präsident Valéry Giscard d’Estaing ins Leben gerufen, das Europäische Währungssystem (EWS). So wuchs Europa geldpolitisch zusammen. Mit dem EWS war der Grundstein gelegt für ein wahrhaft historisches Großprojekt: eine gemeinsame Währung für das Europa der Brüsseler Gemeinschaft. Es waren vor allem die Franzosen, die auf eine einzige Gemeinschaftswährung drängten. Sie störten sich mächtig an der Führungsrolle, die inzwischen der D-Mark in Europa zugefallen war. Frankreichs Politiker wollten mehr Macht in der Geldpolitik, und das ging nur mit einer europäischen Notenbank und mit europäischem Geld. Die Skepsis allerdings war groß gegenüber diesem historischen Projekt, unter den Fachleuten wie bei den währungspolitischen Laien. Das galt vor allem für Deutschland, wo die Mark das nationale Erfolgssymbol der Nachkriegsära geworden war. Würde eine europäische Zentralbank den Geldwert ähnlich stabil halten wie es die deutschen Bundesbanker jahrzehntelang getan hatten? Deutschlands Kanzler Helmut Kohl setzte sich über die zahlreichen Bedenkenträger, die auch im Direktorium der
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BUNDESBILDSTELLE BPA
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Bundesbank saßen, hinweg. Seit dem 1. Januar 2002 haben die Europäer, die Mitglieder der Währungsunion sind, ein gemeinsames Geld, den Euro; schon drei Jahre vor dem gemeinsamen Papiergeld waren das Buchgeld und damit die Wechselkurse endgültig festgelegt worden. Bereits 1998 hatte die Europäische Zentralbank ihre Arbeit aufgenommen.
MICHAEL JUNG / PICTURE-ALLIANCE / DPA
Der Euro war und ist in der Ge-
tenbank durch Käufe und Verkäufe den Markt zu manipulieren versucht. Noch mehr gilt das für den Yuan, dessen (viel zu niedriger) Wert von den Kommunisten in Peking festgelegt wird und der zu hohen Überschüssen der Chinesen im Handel mit den USA führt. Nicht zuletzt sorgen aber auch Stimmungen oder Gerüchte dafür, dass eine Valuta im Wert steigt oder fällt – und womöglich ganze Volkswirtschaften in den Abgrund reißt. Ein wunderbares Betätigungsfeld für die Geldhändler rund um die Erde.
schichte des Geldes ein wagemutiges Großexperiment. Bislang scheint er die Kritiker und Skeptiker Lügen zu strafen. Er bietet den Unternehmen eine sichere KalkulationsgrundEuro-Befürworter lage für den gemeinsamen Helmut Kohl, 1998 Markt. Für die Bürger entfällt das lästige Geldwechseln bei Reisen über die Grenzen. Und, nicht zuletzt: Der Euro glänzt mit niedrigen Inflationsraten, niedrigeren jedenfalls, als die meisten europäischen Währungen lange Zeit aufwiesen. Er hat sich zudem als Stabilisator für den Kontinent bewährt: Ohne den Euro hätte Europa in der jüngsten großen Krise nicht nur einen Beinahe-Crash der Geschäftsbanken überstehen müssen, sondern auch noch unter heftigsten Währungsturbulenzen gelitten. Nicht zuletzt hat der Euro die dominante Stellung des Dollar in Frage gestellt. Drei große Währungsblöcke beherrschen heute das Geschehen: Der Dollar, an den sich viele asiatische Währungen, darunter der chinesische Yuan, gehängt haben; der Euro, an dem sich auch Länder orientieren, die nicht Clubmitglieder sind; und der japanische Yen. Keine dieser drei Währungen ist mit den anderen über feste Nie zuvor jedenfalls hat die SpekulaWechselkurse verbunden, bei allen bestimmen letztendlich die Märkte die Kur- tion solche Triumphe gefeiert wie in se. Es ist dies keineswegs ein perfektes den vergangenen 10, 20 Jahren. Das gilt System, die Währungen irritieren immer allerdings nicht nur für den Devisenwieder mit starken Ausschlägen. Aber ein handel, sondern für die gesamte Palette der Finanzmärkte. Und für diese Entbesseres wurde bislang nicht erfunden. In erster Linie bestimmen heute öko- wicklung hat nicht allein und nicht nomische Fakten die Wechselkurse – mal entscheidend der globale Übergang Exporte/Importe, Zahlungsbilanzdefi- zu freien Wechselkursen gesorgt. Sonzite/-überschüsse, Zinshöhen oder In- dern eine Politik, die in praktisch alflationsraten. Manche Regierungen ver- len entwickelten Volkswirtschaften den suchen allerdings auch, die Märkte aus- privaten Akteuren an den Finanzzutricksen. Beim Yen bestand jahrelang märkten immer mehr Freiheiten geder Verdacht, dass die japanische No- währte.
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Etwa Mitte der Achtziger hatte ein Wettlauf der sogenannten Deregulierung eingesetzt. Jene Regierungen, die den bei ihnen ansässigen Geldinstituten die geringsten Auflagen machten, konnten darauf zählen, dass sich bei ihnen die meisten Geldhändler niederließen. London stieg mit dieser Standortstrategie zum globalen Finanzzentrum auf. Der ökonomische Ultraliberalismus im Geiste Milton Friedmans hatte gesiegt – und er verwandelte die Welt in ein globales Casino.Die Schaltstellen übernahm eine neue Finanzelite, die „Masters of the Universe“, wie sie der USSchriftsteller Tom Wolfe nannte. Sie betrieb und betreibt ihre Geschäfte im rechts- und kontrollfreien Raum über die Grenzen hinweg. Es sind Geschäfte, die sich zunehmend von der sogenannten Realwirtschaft abgekoppelt haben, längst nicht mehr mit dem Handel mit Gütern und dem Verkauf von Dienstleistungen verknüpft sind.
Doch die Freiheit setzt nicht nur Kräfte frei, sie hat ihren Preis: Das Finanzsystem wurde immer krisenanfälliger. Ein Crash jagte den nächsten: • Ende der Achtziger kollabierten in der Savings & Loan-Krise in den USA reihenweise mittelständische Banken, sie mussten mit staatlicher Hilfe aufgefangen werden. • Ende der Neunziger kam es zum milliardenschweren Zusammenbruch des Hedgefonds LTCM, der das gesamte Bankensystem bedrohte; etwa zur gleichen Zeit standen nach Devisenspekulationen und übermäßiger Verschuldung von Banken einige asiatische Staaten am Abgrund. • Anfang dieses Jahrzehnts brachen weltweit die Aktienmärkte ein; auf Pump finanzierte Gründungen von Internet-Unternehmen hatten zu einer riesigen Spekulationsblase geführt. • Ende dieses Jahrzehnts dann die große Krise, die bedrohlichste seit der Weltwirtschaftskrise der Dreißiger. Ausgelöst vom schuldenfinanzierten Häuserboom in den USA, aber in Wahrheit ein Ergebnis globaler Maßlosigkeit. Allein der DerivateMarkt war von 142 Billionen Dollar 123
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breiten Bevölkerung; nicht nur in den entwickelten Industriestaaten, auch in vielen sogenannten Schwellenländern Asiens und Südamerikas. Wenn die große Krise überwunden ist, wenn die Real- und die Kreditwirtschaft wieder einigermaßen ins Laufen kommen – dann stehen neue Probleme an: Die enormen Staatsschulden müssen abgetragen, das gewaltige Defizit in der amerikanischen Leistungsbilanz muss zurückgefahren werden. Womöglich wird mit der Staatsverschuldung, in die sich nun viele Länder
Börsen-Crash in Hongkong, 1997
Hatte der Kapitalismus versagt, oder waren nur die Kontrollen ungenügend? Marktversagen oder Staatsversagen? Unzweifelhaft ist, dass der Prozess der Deregulierung, der schon unter dem Regime von Bretton Woods in den Fünfzigern eingesetzt hatte, in den vergangenen beiden Jahrzehnten gnadenlos überdehnt wurde. Den Akteuren auf den Finanzmärkten waren immer mehr Freiheiten zugestanden worden, Kredite zu schöpfen, die Risiken über die ganze Welt zu verstreuen, nicht mehr kontrollierbar. Der marktwirtschaftliche Grundsatz, dass der Kaufmann für die Folgen seines Tuns haften muss, war für die Finanzwelt weitestgehend abgeschafft. Das konnte nicht gutgehen. Doch trotz dieser Jahrhundertkrise; trotz der immensen Schulden, die nun zur Abwehr des finalen Crashs von den Staaten aufgenommen und von den Steuerbürgern zurückgezahlt werden: Die Jahrzehnte von Bretton Woods bis heute, bis zum Fast-Zusammenbruch eines zum globalen Casino verkommenen Finanzsystems, waren Jahrzehnte einer beispiellosen Wohlstandsmehrung. Nicht nur bei den Reichen, auch bei der
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gestürzt haben, der Grundstein gelegt für die nächste große Krise. Durch die zunehmende weltweite Verflechtung der Wirtschaft steigt offenkundig das Risiko, dass die Menschheit von Crashs überrascht wird. Jene Ökonomen, die meinten, Depressionen könnten durch kluge Politik beherrschbar werden, unterlagen offenbar einem Irrtum. Der kürzlich ausgeschiedene Vorstandschef des Software-Unternehmens SAP, Henning Kagermann, hat wohl leider recht, wenn er sagt: „Ich bin felsenfest der Meinung, dass wir bei komple-
xen Systemen mehr Instabilität haben. Die Krisen werden häufiger, sie werden unvorhersehbarer, und sie werden kräftiger werden.“ Dennoch: Es wäre schon sehr beruhigend, wenn nach den jüngsten Erfahrungen der angelsächsisch geprägte Raubtierkapitalismus gebändigt werden könnte; wenn die Geldwirtschaft wieder zum Diener der Realwirtschaft gemacht würde, statt die Güter und Dienste produzierenden Unternehmen zu beherrschen.
Sicher ist: Die Politiker werden die Banken und die Banker wieder enger an die Leine nehmen. Nach 60 Jahren ständiger Deregulierung geht es nun erst mal in die entgegengesetzte Richtung. Die Geldhäuser erhalten strengere Eigenkapitalvorschriften, sie werden konsequenter überwacht, womöglich grenzüberschreitend. Auf der Finanzkonferenz in London im März 2009 gab es immerhin schon eine grundsätzliche Übereinstimmung unter den führenden Industriestaaten und etlichen Schwellenländern, den Geld-Profis die Freiheiten zu beschneiden. Der Härtetest jedoch, die detaillierte Ausarbeitung neuer Regeln, steht noch bevor. Wird es wirklich zu einer „neuen globalen Finanzarchitektur“ kommen, wie Kanzlerin Angela Merkel fordert? Wird das globale Casino geschlossen – oder werden nur kosmetische Korrekturen vorgenommen? Wird es gelingen, „ein neues Bretton Woods“ zu schaffen, wie manch einer hofft? Ein Finanzsystem, das wie das historische Vertragswerk bei allen unvermeidlichen Krisen ein Mindestmaß an Stabilität und Berechenbarkeit bietet? Vielleicht wäre es gar nicht verkehrt, den Mythos von Bretton Woods zu nutzen und die führenden Staatsmänner nebst ihren Spitzenökonomen an diesem historischen Ort in den Weißen Bergen zu versammeln. Das „Mount Washington“ jedenfalls ist bereit. Patrick Corso, der Chef des Hotels, hat schon Ende vergangenen Jahres an den neugewählten Präsidenten Barack Obama geschrieben und sein Haus für eine neue große Konferenz angeboten. SPIEGEL GESCHICHTE
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CHENG / AFP
im Jahr 2002 auf unfassbare 596 Billionen Dollar Ende 2007 angeschwollen. Die „Entartungen auf den Finanzmärkten“ (Ex-Kanzler Helmut Schmidt) hatten der Menschheit ein Debakel beschert, mit dem angesichts der Fortschritte in den Wirtschaftswissenschaften, im Risikomanagement von Banken und bei den Techniken der Währungshüter kaum noch einer gerechnet hatte. Eine „systemische Krise“ bedrohte die Welt, was heißt, dass die gesamte, in den Jahrzehnten nach dem Krieg gewachsene Finanzarchitektur vor dem Zusammenbruch stand. Rund um den Erdball mussten nun die Regierungen mit unfassbaren Beträgen an (gepumptem) Staatsgeld einspringen, um den finalen Crash des Bankensystems gerade noch abzuwenden; jene Regierungen, deren Auflagen und Kontrollen die Bankenwelt viele Jahre lang für hinderlich und unnötig erklärt hatte, mussten nun die hilflosen Banker heraushauen.
CHRONIK 1945–2009
KARUSSELL DES KAPITALS 1945
In den letzten Kriegsmonaten werden aus Geldmangel in einigen süddeutschen Reichsbankfilialen Banknoten kopiert – es tauchen 50-Mark-Scheine mit leerer Rückseite auf. Bei Kriegsende funktioniert im Ruinenland auch die Währung nicht mehr. Sie wird durch Alltagsgüter auf dem Schwarzmarkt und durch Mark-Noten der Besatzungsmächte ersetzt.
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Mit dem sogenannten Marshallplan fließt US-Kapital in den Wiederaufbau Westeuropas; auch Deutschland profitiert erheblich. Der Internationale Währungsfonds, der 1944 in Bretton Woods gegründet wurde, nimmt die Arbeit auf.
nicht zahlen konnte, weil er das Geld vergessen hatte, erfindet er weiß-rote Pappkarten, die ihrem Besitzer in einem Dutzend aufgeführter Restaurants von Manhattan Kredit verschaffen. „Diners’ Club“ wird die erste Kreditkartengesellschaft der Welt.
1957
Am 25. März 1957 wird die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge durch Belgien, Frankreich, Italien, Luxemburg, die Niederlan-
ropäisches Zahlungsmittel beschlossen
1979
Auf Initiative von Frankreichs Präsident Valéry Giscard d’Estaing und Bundeskanzler Helmut Schmidt wird das Europäische Währungssystem gegründet – Vorstufe einer gemeinsamen Währung.
1986
Eine neue Ära für die Finanzmärkte beginnt mit dem sogenannten Big Bang an der Londoner Börse. Die Freigabe der
1950
Der New Yorker Frank McNamara macht aus Geldnot eine Tugend: Nachdem er in einem Restaurant
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Am 1. Juli beginnt die deutsch-deutsche Währungsunion: Auf dem Gebiet der DDR wird die DM eingeführt.
1991
Nach der Auflösung der Sowjetunion am Jahresende wuchert ein wilder Kapitalismus, weite Teile der Bevölkerung verlieren ihre Ersparnisse und verarmen.
1995
Die britische Traditionsbank Barings kollabiert aufgrund der betrügerischen Geschäfte des Börsenhändlers Nick Leeson.
1997
Die rasant gewachsenen Volkswirtschaften Asiens erleiden nach einem Börsencrash in der Asien-Krise schwere Rückschläge.
1948
Bei der Währungsreform ersetzt die Deutsche Mark (DM) die Reichsmark. Guthaben werden anfangs im Verhältnis 10:1, später im Verhältnis 100:6,5 in DM umgetauscht. Sparer sind die Verlierer, während alle Sachwert- und Fabrikbesitzer als Gewinner aus der Währungsreform hervorgehen. Als Startgeld erhält jeder Westzonen-Bewohner 40 DM. Die Ostzone führt im Zuge der deutschen Teilung die Ostmark, 1968 die Mark der DDR ein.
1990
2000
Anfangs ein Privileg, heute alltäglich: die Kreditkarte, hier ein frühes Muster von „Diners’ Club“ de und die Bundesrepublik Deutschland gegründet.
1962
Turbulenzen und Kursstürze an den internationalen Finanzmärkten infolge von Mauerbau und Kuba-Krise.
1968
Das Eurocheque-System, das aus Papierschecks in Verbindung mit einer Plastikkarte besteht, wird von Bankenvertretern aus 15 Ländern als erstes eu-
Provisionen im Wertpapiergeschäft, die volle Computerisierung des Handels und die Aufhebungen vieler Beschränkungen entfesseln eine kaum kontrollierte Dynamik.
1987
Die Weltbörsen erleben am 19. Oktober ihren „Schwarzen Montag“ – die größten Kursstürze seit Jahrzehnten. Die Globalisierung der Kapitalmärkte verstärkt den Crash.
Das Platzen der InternetBlase führt im März zu einem Börsenabsturz, der infolge der Terrorattacken vom 11. September 2001 noch verstärkt wird.
2008
Der Zusammenbruch der US-Bank Lehman Brothers am 15. September zieht die tiefste internationale Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg nach sich.
2009
Der deutsche Staat steigt bei der Commerzbank ein und übernimmt die Mehrheit des von der Pleite bedrohten Immobilienfinanzierers Hypo Real Estate.
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ABSTURZ NACH DEM BOOM
In der globalen Finanzkrise suchen Politiker und Professoren Rat bei Dagobert Duck, während Leitartikler darüber streiten, ob der Zillionär mit dem Zylinder eine „Heuschrecke in Entengestalt“ ist.
Das Ende der Ente Von JOCHEN BÖLSCHE
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bzuschätzen, wer der reichste Mensch der Welt ist, fällt auch den Experten des US-Wirtschaftsmagazins „Forbes“ nicht immer leicht. Denn die Vermögen der Spitzenreiter unter den Superreichen schwanken. Bill Gates, zurzeit die Nummer eins, liegt auf der „Forbes“-Liste mit geschätzten 40 Milliarden Dollar relativ knapp vor dem US-Spekulanten Warren Buffett (37 Milliarden Dollar) und dem mexikanischen Telekom-Magnaten Carlos Slim (35 Milliarden Dollar); beide Verfolger hatten den Microsoft-Gründer im Vorjahr vorübergehend zu entthronen vermocht. Wie viel übersichtlicher schienen da doch lange Zeit die Verhältnisse in der Welt der fiktiven Reichen – Thema einer weiteren, alle Jahre wieder zu Weihnachten veröffentlichten „Forbes“Liste. Nachdem der „unermesslich reiche“ Santa Claus nach Protest amerikanischer Kinder (Begründung: den Weihnachtsmann gebe es doch wirklich) aus der Liste getilgt worden war, rückte Dagobert Duck in die Spitze der „Forbes Fictional 15“. Zwar schwankt das Vermögen des Scrooge McDuck, wie die reichste Ente der Welt in Walt Disneys Originalversion heißt, ganz beträchtlich. In der USFassung besitzt der Krösus mit dem Bürzel mal „four fantasticatillion nine trillion dollars and sixteen cents“, dann wieder „five billion quadroplatillion umtuplatillion multiplatillion fantasticatillion centrifugalillion dollars and sixteen cents“. Auch in der deutschen Comic-Version, die jahrzehntelang geprägt war vom Wortwitz und der Weltklugheit der un-
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Das heißgeliebte Geldbad (Zeichnung von Carl Barks, 1959)
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übertrefflichen Übersetzerin und Chefredakteurin Erika Fuchs (1906 bis 2005), differieren die Angaben erheblich – zwischen „50 Phantastilliarden“ und „5 Pimpillionen 396 Tripstrillionen“ Talern.
hältnis zu Nuggets, Münzen und Scheinen nie etwas abgewonnen hätte; der Enterich schwimmt bekanntlich im Wortsinne im Geld und liebt es, „wie ein Seehund hineinzuspringen, wie ein Maulwurf darin herumzuwühlen und es in die Luft zu werfen“, dass die Penunze ihm „auf die Glatze prasselt“. Am Beispiel Dagobert Duck zeigten sich jedenfalls, sinniert „SZ“-Kolumnist Axel Hacke, die Vorzüge eines „konkreten Verhältnisses zum Geld“: „Kommt nicht das Unheil, das die Weltwirtschaft befallen hat, davon, dass man sich zu weit von dieser Realbeziehung entfernt hat?“ Mit Dagobert aus der Krise? Wohl kaum. Denn für viele Duck-Kenner symbolisiert der Zillionär mit dem Zylinder seit Jahrzehnten alle Übel des Kapitalismus. Insofern tauge der „Vorläufer des heutigen Finanzkapitalismus“ geradezu als Lehrbeispiel, schreibt der Berliner „Tagesspiegel“: „Hat uns irgendjemand, die Marx-Engels-Gesamtausgabe eingeschlossen, derart das
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Und doch existiert neben dem telleräugigen Enterich mit dem großen Schnabel niemand sonst auf der Welt, kein Mensch und auch kein anderes anthropomorphes Tierwesen, dessen Vermögen zurzeit ähnlich häufig zitiert wird, wenn es gilt, die Dimensionen der Finanzkrise zu demonstrieren. Wenn, so schreibt die „Frankfurter Allgemeine“, Schätzungen zufolge weltweit ein Anlagevermögen von 50 Billionen Dollar vernichtet worden sei (in Ziffern: 50 000 000 000 000), dann scheine die „Phantastilliarden-Sphäre“ des Onkel Dagobert „nicht mehr weit entfernt“. Auch Politiker und Professoren bemühen den Tycoon aus Entenhausen, wenn sie Gründe und Folgen des Finanzdesasters aufzeigen wollen. So greift etwa der prominente Würzburger Volkswirt Peter Bofinger gern auf den plattfüßigen Geizhals aus Entenhausen an der Gumpe zurück. Die Ursache der Krise sieht der Wirtschaftsweise in „glo-
balen Ungleichgewichten“ zwischen zehn „Dagobert Ducks im Milliardenmaßstab“, vornweg China und Deutschland, die „unglaublich viel gespart haben“, und zehn anderen Ländern, „die unglaublich viel Geld rausgeschmissen haben“, vor allem die USA. „Schluss mit dem Dagobert-Duck-Deutschland“, lautet daher die Devise Bofingers, der dem Bund zur Überwindung der globalen Kluft Milliardeninvestitionen in die Bildung empfiehlt. Laut „Süddeutscher Zeitung“ („SZ“) wiederum rührt das derzeitige Übel womöglich daher, dass zunehmend mit fiktiven Werten gehandelt wird, denen ein Geldfetischist wie Dagobert Duck mit seinem geradezu erotischen Ver-
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Vielleicht liegen all die Unsicherhei- sen, dass er diesen unverschämten Auge für das Wolfsgesetz des Kapitalisten darin begründet, dass die Kommen- Reichtum wirklich verdient hat.“ mus geschärft?“ Ungewiss ist, ob die Image-KorrekAls lehrreich empfindet sogar ein tatoren ganz unterschiedliche DagobertCDU-Politiker wie Hamburgs Bürger- Geschichten konsumiert haben. Denn turen auf Wunsch des Disney-Konzerns meister Ole von Beust die Storys um den seit der Multimilliardär zu Weihnach- erfolgten. Belegbar ist nur, dass Barks habgierigen Alten. Der bekennende Co- ten 1947 erstmals in einer „Donald Anweisung hatte, Daisy Duck und andemic-Leser („Ja, ich mag auch leichte Duck“-Ausgabe aufgetaucht ist, hat sich re Entenhausenerinnen ohne Busen zu zeichnen. Barks: „Es gab bei meinen EnKost“) schätzt an den Erzählungen aus sein Charakter radikal gewandelt. ten keinen Sex – nur Eier.“ Entenhausen, dass deren Sprechblasen Noch ein Stück weiter weg vom Kotz„viel über die Schwierigkeiten des un- Ein Fiesling und Bösewicht, der vor gebremsten Marktes“ verraten: „Immer illegaler Geldbeschaffung nicht zurück- brocken-Image verschob der Comic-Auwenn Dagobert Duck über die Stränge schreckte – so trat der Ur-Dagobert tor und -Zeichner Keno Don Rosa das schlägt, scheitert er schließlich.“ Scrooge McDuck auf, der von seinem Charakterbild des Protagonisten: In den Das Beispiel des hanseatischen Erfinder, dem späteren Kultautor Carl neunziger Jahren weitete er Barks’ Christdemokraten zeigt, dass die Fami- Barks, nicht zufällig nach Ebenezer Rückblickpassagen zu einer umfangreilie Duck das Amerikabild ganzer Ge- Scrooge benannt worden war, dem hart- chen Lebensgeschichte Dagoberts aus, nerationen junger Deutscher geprägt herzigen Menschenschinder aus Charles die den Zeitraum zwischen 1867 und 1947 umfaßt und statt eines knallharten hat. „Als ich das erste Mal in die USA Dickens’ „Weihnachtsgeschichte“. kam, war mir alles sehr vertraut“, offenSpäter, nachdem Dagobert vom Co- Ausbeuters und Unterdrückers über barte der deutsche Verleger Bene- mic-Komparsen zur Titelfigur einer ei- weite Strecken einen sympathischen Abenteurer und Selfmademan dikt Taschen voriges Jahr der zeigt. Als unlängst, mitten in der „Financial Times Deutschland“: Krise, in Deutschland eine Neu„Das war wie in den Donaldausgabe der Rosa-Retrospektive Duck-Geschichten“ mit „dem erschien (Titel: „Onkel Dagobert großen Gewinner Dagobert, der – Sein Leben, seine Milliarden“), den Geldspeicher irre voll hat, bewertete ein SPIEGEL-ONund dem ewigen Verlierer DoLINE-Rezensent den Prachtnald“ – halt „symptomatisch für band als „Liebeserklärung an die den Kapitalismus“. Figur Dagobert“ – und als „drinWeit auseinander gehen gend notwendige Image-Kamallerdings die Ansichten, ob pagne für den Milliardär und Disneys Comics diesen KapitaBanker an sich“. lismus auf sublime Weise proDer glühende Carl-Barkspagieren, wie Soziologen befanVerehrer Don Rosa, der in seiden, oder ob sie ihn demaskienen Geschichten die Widmung ren, wie 68er glaubten, für die D.U.C.K. versteckt hat („DedicaDagobert der „Prototyp des ted to Uncle Carl from Keno“) Monopolkapitalisten“ war und und der den Barks-Dagobert für die Panzerknacker die „Jünger die „größte Figur der WeltliteMaos“ darstellten (SPIEGEL ratur“ hält, erklärt die Retusche 43/1969) . am üblen Dagobert-Bild von Neoliberale Ideologen wie einst damit, er habe „es nicht erder Marktradikale Gérard tragen können, Geschichten zu Bökenkamp wiederum argwöhschreiben über einen Typen, der nen heute, die Dagobert-Geewig gierig ist“. schichten leisteten der „antikaDon Rosa zeichnet den Entepitalistischen Phrase“ Vorschub, Ur-Dagobert (Zeichnung von Carl Barks, 1947) rich aus verarmtem Schottendass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher würden genen Heftreihe aufgestiegen war, ließ Adel denn auch als eifrigen Knaben, der – bis am Ende ein „steinreicher Magnat“ Barks den skrupellosen, menschenver- sich mit Schuhputzen seinen ersten à la Dagobert über alles Geld der Erde achtenden Großkapitalisten der An- Zehner verdient, und als emsigen Jüngverfüge. Böckenkamp: „Viele Menschen fangsjahre allmählich zum lustigen On- ling, der mit Uropas goldenem Gebiss behalten diese Vorstellung ihr Leben kel und schließlich zum schrulligen, fast im Gepäck nach Amerika auswandert lang.“ bemitleidenswerten Alten mutieren. Im- und in Alaska einen Goldklumpen von Uneins sind sich die Exegeten auch mer wieder mal fügte er nun in seine der Größe eines Straußeneis findet, der darüber, ob der Erzkapitalist Dagobert Storys Rückblenden ein, mit denen er den Grundstock seines Vermögens bildet. eine „Heuschrecke in Entengestalt“ ist Dagoberts dunkle Vergangenheit aufDon Rosas Dagobert-Biografie hat („Westdeutsche Allgemeine“) oder aber, hellte. niemand so gründlich analysiert wie weil er sein Geld lieber mit Bodenschät„Ich ging zurück“, gestand Barks ei- jene Duck-Fans, die sich zur Deutzen als mit Finanztransaktionen ver- nem Interviewer, „bis in die Tage, als er schen Organisation Nichtkommerzieldient, eher eine „Anti-Heuschrecke“ noch Blasen an den Händen und erfro- ler Anhänger des lauteren Donaldismus („Die Welt“). rene Füße hatte, alles nur, um zu bewei- (D.O.N.A.L.D.) zusammengetan haben.
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Die Panzerknacker, endlich am Ziel? (Zeichnung von Keno Don Rosa, um 1992)
Gleichgesinnte unterhalten im Internet ein Speziallexikon namens Duckipedia. Hier wie dort gehen Wissenschaftler und Pseudowissenschaftler in „dadaistischen Debatten auf hohem Niveau“ („taz“) kniffligen Fragen nach – etwa, warum lediglich die weiblichen Ducks Schuhe tragen, warum Enten nur in Entenhausen Zähne haben und warum Dagobert an der Gedächtnisschwäche „Perduftia spiriti“ leidet (in der US-Version „blinkus of the thinkus“ genannt). Natürlich ist auch der Charakterwandel der lebenden Legende Dagobert Thema ausführlicher Erörterungen. Der junge böse Dagobert hatte einst gar ein afrikanisches Dorf niederbrennen lassen, nur weil der Stamm sich weigerte, ihm das Land für einen halben Taler zu verkaufen. Die spätere Läuterung des üblen Imperialisten zu einer Art gefiedertem Indiana Jones führen die Dagobert-Forscher auf die allmähliche Entfremdung zwischen der Entenfamilie und dem amoralischen Enterich und die spätere Wiederversöhnung des „armen reichen Manns“ mit seiner Ver-
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wandtschaft zurück, die ihn motiviert habe, „wieder aktiv zu handeln und neue Abenteuer zu erleben“ (Duckipedia). Dagoberts immenser Reichtum erscheint in Barks’ Spätwerk wie in Rosas Reminiszenzen nicht mehr als Ausdruck asozialer Habgier. Seine heißgeliebten Taler schätzt der Erpel vielmehr als Erinnerungsstücke an vergangene Heldentaten. „Dagobert“, so will ihn Don Rosa sehen, „ist ein Abenteurer, und Geld ist seine Trophäe.“
Dem Charakterwandel des Billiardärs mit dem Bürzel haben auch Deutschlands Donaldisten Rechnung getragen, als ihr Präsident, genannt „PräsidEnte“, 2005 erstmals einen Orden für Manager verlieh, die „ihre wirtschaftlichen Interessen frei von den Fesseln moralischer Bedenken“ durchsetzen und „den Entenhausener Wirtschaftslenkern in nichts nachstehen“. Der Preis, der an den Deutschbankier Josef Ackermann ging, war bemerkenswerterweise nicht nach Dagobert benannt, sondern nach dessen übler beleumdetem Gegenspieler MacMoneysac.
Ob ergaunert, ob erarbeitet – Dagoberts Nettovermögen hat sich selbst in der aktuellen Finanzkrise, jedenfalls laut „Forbes“, dank emporschnellender Goldpreise weiter vermehrt. Dennoch rutschte er auf der jüngsten Liste der „Forbes Fictional 15“ ab auf den zweiten Platz. Deklassiert worden ist Dagobert weder von den Panzerknackern, die seit Jahrzehnten vergebens versuchen, seine Geldspeicher anzubohren, noch von seinem ewigen Rivalen MacMoneysac. Auf Platz eins vorgeschoben hat sich kein Geringerer als Uncle Sam, die 200 Jahre alte Symbolfigur der US-Obrigkeit, die dem Geldjäger und -sammler Dagobert, so die Jury, in einem entscheidenden Punkt überlegen ist: „Dieser Kerl kann sein eigenes Geld drucken.“ Mit einem Wort des Trostes bedachten die „Forbes“-Macher den Absteiger Dagobert und all die anderen Krisenopfer: „Dies sind harte Zeiten für jedermann – sogar für diejenigen, die nicht existieren.“ Schnief.
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Leerstand, Ausverkauf, Zwangsversteigerung: Die geplatzte US-Immobilienblase schickte Schockwellen rund um die Welt.
Bis 2010 könnte die Wirtschaftskrise Werte in Höhe von weltweit vier Billionen Dollar vernichtet haben. Ein obskures US-Finanzprodukt brachte die globale Ökonomie an den Abgrund, ohne dass es jemand merkte.
Von CORDULA MEYER
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n Halloween 1991 trifft ein Orkan die Ostküste der Vereinigten Staaten. Kein Meteorologe hat ihn vorhergesehen: Ein stürmisches Tiefdruckgebiet war auf den Atlantik hinausgezogen und dort mit kalten Luftmassen eines Hochdruckgebietes kollidiert. Dazu lieferte ein sterbender Hurrikan feuchtheiße Energie. Jedes dieser Wetterphänomene ist normal. Aber die Kombination bringt nun die Katastrophe – den perfekten Sturm: Er türmt 30 Meter hohe Wellen auf, er verursacht mehr als 200 Millionen Dollar Schaden.
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Der perfekte Sturm der Weltwirtschaft beginnt unmerklich am 25. Juni 2003 in der US-Hauptstadt Washington: Der Chef der Notenbank, Alan Greenspan, senkt den Leitzins auf ein Prozent. Geld ist jetzt so billig wie seit 45 Jahren nicht. Greenspan entscheidet so, weil die US-Konjunktur lahmt: 2000 war die Internet-Blase geplatzt, 2001 hatten die Terroranschläge des 11. September die Finanzwelt verstört, der Beginn des Irak-Kriegs im März 2003 schickte den Dow Jones auf historische Tiefstände. Wenn das Geld so billig ist, sinkt häufig sein Wert, galoppiert die Inflation. Aber: Einen Kontinent weiter arbeiten in China 150 Millionen Menschen nun am Fließband und nicht mehr auf dem
Acker. Die Chinesen produzieren zu Spottpreisen T-Shirts, Computer, Spielzeug. Die Amerikaner kaufen, es ist billig, deshalb gibt es 2003 keine Inflation in Amerika. Der perfekte Sturm der Weltwirtschaft beginnt auch Ende der siebziger Jahre bei der Wall-Street-Bank Salomon Brothers: Lewis Ranieri, ein raubeiniger Uni-Abbrecher aus Brooklyn, steigt aus der Poststelle zum Top-Banker auf. Er erfindet ein Finanzprodukt, das ein Multi-Milliarden-Dollar-Geschäft wird: die Mortgage Backed Securities (MBS), hypothekengesicherte Wertpapiere. Das Prinzip geht so: Normalerweise nimmt ein Hauskäufer bei seiner Bank einen Kredit auf, den er dann über Jahr-
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JEFF HAYNES / AFP
Der Dollar-Orkan
zehnte mit Zins abstottert. Die Bank verdient an der Differenz zwischen den Zinsen, die sie dem Kreditnehmer abnimmt, und jenen, die sie ihren eigenen Sparern für deren Einlagen zahlt.
ben eine sichere Geldanlage. Jeder profitiert. So zumindest ist die Idee. Der perfekte Sturm der Weltwirtschaft ist schon ziemlich nah, als sich Paula Taylor im Sommer 2006 ein Apart-
Paula Taylor bekommt einen Kredit – aber sie verdient nicht 7300 Dollar. Bei den MBS aber behält die Bank die Kreditforderung nicht in ihren Büchern, sondern verkauft sie als Bündel weiter, oft an große Investoren. Die Bank hat dann Geld, um neue Kredite zu vergeben, zukünftige Hausbesitzer kommen leichter an Darlehen, und Investoren ha-
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ment für 269 000 Dollar im Bostoner Vorort Roxbury kauft. Die 42-jährige Fitnesstrainerin hat bis dahin keine eigene Wohnung, sie schläft mal bei ihrer Mutter, mal bei Freunden. Um zu ihrem Gehalt von 1500 Dollar etwas hinzuzuverdienen, kocht sie für Bekannte. Pau-
la Taylor bekommt ein Darlehen der Firma Countrywide Financial. „Ich komme aus einer Familie mit 13 Kindern, und nun gehörte mir eine Immobilie. Das fühlte sich gut an“, sagt Taylor. Das sei „der amerikanische Traum“. Monatlich soll sie nun 2200 Dollar abbezahlen. Das ist aber mehr, als sie verdient. Im Kreditvertrag steht, sie verdiene über das Dreifache: 7300 Dollar. Das habe wohl der Vermittler hingeschrieben, meint Taylor, so genau habe sie den Vertrag nicht gelesen. Sie habe angenommen, die Bankberater „rechnen das durch und sagen dir, ob du es dir leisten kannst“. Nach einem Jahr kann Taylor nicht mehr zahlen. Aber der Kreditgeber,
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antwortlich. Aber niemand war es“, sagt Mark Zandi, Chefökonom bei der Rating-Agentur Moody’s. Niemand machte sich die Mühe, nach Orange County in Kalifornien zu fahren oder nach Palm Beach in Florida, wo Entwickler ganze Vororte neu hochzogen. Niemand schaute nach, wer hier alles Kredit bekam. Von 2000 bis 2005 stiegen in den USA die Preise für Häuser im Schnitt um mehr als die Hälfte. Die meisten dachten, es müsse immer so weitergehen. Schließlich sind Häuser aus Stein, sie stehen auf echtem Grund. Es gab ein paar Vorsichtige, ein paar Zweifler. Es gab warnende Artikel im „Wall Street Journal“, einige wenige sorgenvolle Ökonomen. Sie wurden ignoriert.
DER TRAUM VOM EIGENEN HAUS Die Amerikaner lieben ihre Häuser, da kommen nicht mal schwäbische Häuslebauer mit. Ein eigenes Haus ist Zeichen von Moral und Wohlstand in einem. Ein Drittel ihres Einkommens geben die US-Amerikaner für ihre Häuser aus. Die Kreditzinsen fürs Eigenheim sind in den USA steuerlich absetzbar. Seit Jahrzehnten helfen zwei staatliche Immobilienfinanzierer mit Krediten. Sie heißen Fannie Mae und Freddie Mac. Als Bill Clinton Präsident ist, besitzen 64 Prozent der Amerikaner ihr eigenes Haus. Bei den Deutschen sind das nur 43 Prozent. Aber Clinton reicht das nicht. Er verlangt von Fannie Mae und Freddie Mac, dass sie mindestens die Hälfte ihrer Kredite an Arme, Schwarze oder Latinos vergeben. Das befeuert den Markt. Clintons Nachfolger George W. Bush macht genau da weiter: „Wir wollen, dass jeder in Amerika sein eigenes Haus besitzt“, sagt er 2002. Er erlässt sogar ein Gesetz, das armen Hausbesitzern in spe staatliches Geld für einen Eigenanteil zuspricht. Die Nachfrage steigt. Dazu kommen Millionen Amerikaner, die bereits ein Haus haben, das sie jetzt aber mit einem günstigeren Kredit finanzieren können – viele kaufen ein schickeres Eigenheim. Immobilien- und Kreditmakler verdienen großartig. Steigt die Nachfrage, steigen auch die Preise. OBEN UND UNTEN Alan Greenspan, Chef der US-Notenbank von 1987 bis 2006 (o.). Lewis Ranieri, Wall-Street-Banker (M.). Paula Taylor, Kredit-Opfer.
DER BOOM 2004 erhöht Greenspan den Leitzins. Aber die Immobilienfinanzierer suchen noch mehr Kunden: So erfinden sie „nichttraditionelle“ Kredite. „Das ist
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JARED LEEDS (U.); LOUIS PSIHOYOS / AGENTUR FOCUS (M.); KEVIN LAMARQUE / REUTERS (O.)
Countrywide Financial, hat das Darlehen längst über die Bank of New York weiterverkauft. Es landet in milliardenschweren Wertpapieren, den MBS, zusammen mit vielen ähnlichen SubprimeKrediten, die so heißen, weil die Kreditnehmer keine sicheren Kunden sind. „Was als ein ziemlich begrenzter Niedergang von Teilen des Subprime-Marktes begann“, schreibt der Internationale Währungsfonds (IWF) in einem Bericht, „ist in die Kredit- und Finanzmärkte der USA und weltweit metastasiert.“ Subprime-Kredite wie der von Paula Taylor aus einer Schmuddelnische der Finanzwelt haben die globale Wirtschaft jetzt an den Abgrund gebracht: Seit dem Ausbruch der Krise mussten Werte von 1,5 Billionen Dollar abgeschrieben werden. „Es könnten auch vier Billionen werden“, warnte der IWF im April mit Blick auf die Zeit bis Ende 2010. Wie konnte das passieren? Es war Gier, es war ungezügelter Kapitalismus, es war totale Hybris der Banker, sagen viele. Das alles hätte aber nicht gereicht. „Enorme Fehler wurden gemacht“, sagt der ehemalige Zentralbanker und New Yorker Wirtschaftsberater Lyle Gramley: „Wenn man nach den Bösewichten sucht – es gibt viele.“ Zuallererst die US-Notenbanker, die das Geld billig auf den Markt warfen. Dann Familien, die sich Hausträume verwirklichten, die sie sich niemals hätten leisten können. Zu den Bösewichten gehören natürlich Häuserspekulanten, die sich schnell bereichern wollten, und Kreditinstitute, die „jedem, der einen Puls hatte“, Immobiliendarlehen gaben, so ein früherer Kreditmakler. Weil die Institute dadurch Gebühren einstrichen und weil Wall-Street-Banker schon ungeduldig auf die Papiere warteten. Schuldig sind auch die Rating-Agenturen, die auf diese undurchsichtigen Bündel ihre Gütesiegel pappten. Und Investoren aus China und Europa, die den US-Bankern die Produkte aus der Hand rissen. Wer Angst hatte, sicherte sein Geld mit „Credit Default Swaps“ ab. Das sind Versicherungen, die einspringen sollten, falls Kredite faul würden. Vielen kam es vor, als gäbe es kein Risiko. Das Risiko verschwand scheinbar, weil Kreditnehmer und Geldgeber nichts mehr voneinander wussten. Die Bosse der großen Pensionsfonds wussten nicht, dass Paula Taylor viel zu wenig verdiente für ihre große Wohnung. „Jeder dachte, jemand anders sei ver-
Aufgeblähtes Geschäft
Juni 2008
Nominalwerte der außerbörslich gehandelten Finanzderivate weltweit, in Milliarden US-Dollar; Vergleich von Dezember 2004 und Juni 2008 (vor dem Einbruch der Finanzmärkte)
Gesamtvolumen der Derivate
Quelle: BIZ
683 726
Dezember 2004
257 894 Ausfallversicherungen Credit Default Swaps (CDS)
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eine der wichtigen Ursachen der Hypothekenblase“, sagt der Washingtoner Analyst und Fonds-Manager Michael Youngblood. Ein Hypothekenkredit war in den USA bis dahin unkompliziert: 30 Jahre Laufzeit, fester Zinssatz. 20 Prozent des Hauspreises mussten die künftigen Eigentümer vorher angespart haben. Nun überbieten sich die neugegründeten Kreditfirmen mit Subprime-Krediten. Die sind eigentlich für Kunden gedacht, die schon einen Offenbarungseid hinter sich haben, für Risikokandidaten aller Art. Solche Leute müssen höhere Zinsen zahlen, bis zu 16 Prozent. Aber die Banken kommen auf die Idee, dass man damit auch warten kann. Paula Taylor bekommt einen dieser neuen Kredite mit Zeitzünder: Die Bank leiht ihr erst mal 80 Prozent des Kaufpreises zu einem Zins von acht Prozent. Nach zwei Jahren soll die Rate dann nach oben schießen, je nach Lage am
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Kreditmarkt und Laune der Bank. Als Berechnungsgrundlage, ob sich jemand den Kredit leisten kann, werden jedoch die niedrigen Raten herangezogen. Und weil Paula Taylor nichts gespart hat, bekommt sie einen zweiten, einen Huckepackkredit für die restlichen 20 Prozent des Kaufpreises. Sie versteht nicht so genau, was sie da unterschreibt. Nach einer Umfrage der US-Notenbank aus dem Jahr 2006 kennt knapp die Hälfte der Subprime-Kreditnehmer nicht einmal die grundlegendsten Fakten ihrer Hypotheken. „Warum werden die riskantesten Kredite an die am wenigsten gebildeten Schuldner verkauft?“, fragt 2006 der Vorsitzende des US-Notenbankausschusses für Verbraucherangelegenheiten, Edward Gramlich. Die Kreditinstitute erfinden auch noch den „Optionskredit“: Die Schuldner müssen pro Rate nicht mal die vollen Zinsen zahlen. Der Haken: Die Schulden wachsen jeden Monat. „Negative
Amortisation“ heißt das im Branchenjargon. Dass diese Leute das Geld niemals würden zurückzahlen können, darum machen sich die Kreditgeber keine Gedanken. Sie kassieren ja nur die Provision, 5000 Dollar und weit mehr pro Kredit, ihre Firma verkauft dann den Kreditvertrag weiter an die Wall Street. Wenn ein Schuldner Fragen stellt, sagen die Kreditmakler, das Haus sei in ein paar Jahren ohnehin das Doppelte wert. Dann könne man weitersehen. Oft geben die Kreditnehmer auch nur selbst ihr Einkommen an, die Banken prüfen nicht. 2006 sind die Hälfte der Subprime-Kredite solche „Liar Loans“, reine Lügenkredite. Auf den Anträgen von Putzfrauen findet sich ein Monatseinkommen von über 10 000 Dollar. Im Jahr 2006 ist der durchschnittliche Subprime-Kunde, und davon gibt es nun zehn Millionen, mit 95 Prozent des Kaufpreises bei der Bank verschul-
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det. Jeder Branchen-Insider weiß: Wenn die Preise nur leicht fallen, schulden all diese Menschen der Bank mehr Geld, als ihr Haus wert ist. Rund 20 Prozent aller neuvergebenen Immobilienkredite sind jetzt Subprime. Ihr Volumen liegt bei über einer Billion Dollar.
DIE DUMMEN AUSLÄNDER Auf der ganzen Welt gieren Investoren trotzdem danach, Kredite wie den von
luste. Die Chinesen kaufen. Auch die deutsche IKB und die Bayerische Landesbank decken sich im großen Stil ein. Im Jahr 2006 besitzen Ausländer ein Drittel aller US-Hypothekenkredite. Die Investoren wollen immer mehr dieser Hypothekenbündel. Und Wall Street liefert, maßgeschneidert. Die Banker verfeinern das Securitization-Prinzip von Lewis Ranieri. Sie kaufen Kredite, bündeln sie und schaffen dabei so-
Aber die Banker machen nicht halt: Sie erfinden immer neue „Buchstabensuppen von Finanzprodukten“, sagt Ökonom Mark Zandi. Am beliebtesten sind bald „Asset Backed Security Collateralized Debt Obligations“ – kurz ABS CDO. Ähnlich wie bei Aktienfonds stellen die Banken nun Hypothekenkredite aus verschiedenen Regionen und Lagen zu einem Paket zusammen, ein breiterer Mix als beim Urprodukt von Ranieri. Diese Papiere vermi-
Es ist wie beim Goldrausch. Reich werden die Schaufelverkäufer. Paula Taylor zu kaufen. Da sind die Chinesen, die Geld anlegen müssen: Zwischen 1998 und 2008 hat China seinen Anteil an der weltweiten industriellen Fertigung verdoppelt. Die Regale von Wal-Mart, dem größten US-Einzelhändler, sind voll von chinesischen Billigprodukten. Die Chinesen produzieren, die Amerikaner konsumieren. Gern auch auf Pump – der typische US-Haushalt hat 13 Kreditkarten. Die Banker sagen den Anlegern, dass es in den vergangenen 50 Jahren Kredite an Hausbesitzer in Höhe von mehreren Billionen Dollar gab, aber kaum Ver-
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genannte Tranchen: Die erste ist gedacht für vorsichtige Investoren, sie besteht aus Krediten, die zuerst zurückgezahlt werden. Die Sicherheit bezahlen die Investoren natürlich mit niedrigeren Renditen. Dann folgen Schichten mit mittlerem Risiko, und am Ende gibt es zwei Prozent Hochrisikoschichten im Innersten. Wenn etwas schiefgeht, verlieren diese Investoren als Erste ihr Geld. Wenn nicht, verdienen sie Rekordrenditen. 2005 verkauft Wall Street hypothekengesicherte Papiere im Wert von zwei Billionen Dollar.
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DAVID MCNEW / GETTY IMAGES
Kunden, die um ihre Einlagen fürchten, harren vor einer kalifornischen Filiale der in Schieflage geratenen IndyMac-Bank aus (Juli 2008).
GETTY IMAGES (L.); ACTION PRESS (M.); AP (R.)
schen die Banker wieder miteinander und schaffen CDOs von CDOs. Von 2004 bis 2006 wächst der Verkauf von CDOs um das Dreifache auf 551 Milliarden Dollar. Das nächste Produkt sind die „Credit Default Swaps“ (CDS), eine Art Kreditausfallversicherungen. Sie sollen greifen, falls die Kredite faul werden. Auch diese werden am Markt gehandelt. Besonders stark steigt der US-Megakonzern AIG in dieses Geschäft ein.
Es ist wie beim Goldrausch. Wirklich reich werden nicht die Schürfer, sondern die Schaufelverkäufer. Die Schaufelverkäufer in diesem Boom sind die New Yorker Investmentbanker, die innerhalb weniger Jahre gigantische Beträge unter sich aufteilen. Allein 2006 sind es 34,1 Milliarden Dollar Boni. Ein New Yorker Investmentbanker beschreibt eine Hedgefonds-Konferenz der Firma Goldman Sachs im Frühjahr
2007: Ungefähr 80 Banker sind da, fast alles Männer. Und ihm fällt auf, dass jeder von ihnen im Jahr zuvor mehr als 100 Millionen Dollar verdient hat. Kann das sein? Er beginnt zu zweifeln. Von wirklichen Werten sind die Papiere, die diese Zocker unters Volk bringen, immer weiter entfernt. Sie heißen Derivate, weil sie ihren Wert ableiten. Zum Beispiel von der Zahlungsfähigkeit Paula Taylors. Investoren-Guru Warren Buffett nannte Derivate schon mal „finanzielle Massenvernichtungswaffen“. Die Banken kaufen die Papiere auch selbst. Aber für jeden Dollar ihres eigenen Geldes, den sie investieren, leihen sie sich 15, manchmal auch 40 Dollar. Von anderen Banken, von Hedgefonds. Die Rating-Agenturen sollen eigentlich all diese Papiere prüfen, feststellen, welche Werte wirklich dahinterstehen. Sie hätten ins Central Valley fahren sollen und kontrollieren, wie Countrywide Financial seine Kredite vergibt. Aber die Agenturen versagen vollständig, und das ist kein Wunder, denn sie sind eng verquickt mit den Investmentbanken. Auf den meisten der windigen Immobilienpapiere kleben die drei großen RatingAgenturen ihr bestes Gütesiegel: AAA. Die Investoren glauben ihnen. Nach der Jahrtausendwende erreicht der Anteil der Finanzbranche an allen Unternehmensgewinnen in den USA 41 Prozent. Die Finanzbranche soll dafür sorgen, dass das Geld dahin kommt, wo es am produktivsten ist. Wenn sie selber die größte Industrie ist, scheint etwas faul zu sein. Der Chef von Lehman Brothers, Richard Fuld, verdiente in seinen 15 Jahren ABZOCKER Angelo Mozilo, Gründer der Countrywide Financial. Richard Fuld, langjähriger Boss von Lehman Brothers. Jimmy Caine, von 1993 bis 2008 Vorstandsvorsitzender der Investmentbank Bear Stearns.
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dite zu kaufen. Es war ein gewaltiges Kartenhaus. Und als AIG dann zahlen sollte, brach die Firma einfach ein. „Der zentrale Punkt ist“, sagt Christopher Whalen, Direktor der Firma Institutional Risk Analytics, „dass die Credit Default Swaps von AIG Betrug waren – ohne Zusammenhang zwischen den Prämien und dem Risiko, das die Firma übernahm.“
DIE HELLSICHTIGEN
EINSAME WARNERIN Brooksley Born, missliebige Leiterin einer US-Aufsichtsbehörde (M.). Joseph Cassano, Ex-Chef der AIG in London (o.). Larry Summers, Präsidentenberater.
Es gibt zwei staatliche Aufpasser, die das Desaster kommen sahen. Jeder von ihnen hätte es wohl verhindern können – wenn man nicht beide mundtot gemacht hätte. 1996 wird Brooksley Born Chefin der kleinen Regulierungsbehörde Commodity Futures Trading Commission. Sie sei „in kaltem Schweiß“ nachts aufgewacht wegen der Derivate. „Ich hatte große Bedenken wegen der dunklen Natur dieser Märkte.“ Brooksley Born, immer mit Brosche und Handtasche, warnt sogar den Kongress vor den Risiken. Insgesamt 17-mal. Niemand will diese Warnungen im Boom der Clinton-Jahre hören. Born legt sich mit Notenbank-Chef Alan Greenspan an, mit Finanzminister Robert Rubin und seinem Vize Larry Summers. Borns Gegner argumentieren sogar, die Frau würde „einen florierenden Markt“ verunsichern. Wohl so, wie Polizisten Bankräuber verunsichern. Schlecht für Polizisten ist es nur, wenn die Kumpel der Bankräuber im Weißen Haus sitzen. Born wird politisch isoliert. Das „Wall Street Journal“ schreibt: „Die obersten Aufsichtsbehörden des Landes wünschen sich, dass Brooksley Born endlich die Klappe hält.“ Im Mai 1999 gibt sie auf. Normalerweise gibt es für einen scheidenden Direktor eine rauschende Party, Born muss selbst einen kleinen Eiswagen mieten. Ihr Nachfolger erklärt, er werde „den Märkten keine unnötigen Regulierungen aufbürden“. Eineinhalb Jahre später paukt der republikanische Senator Phil Gramm aus Texas sogar ein Gesetz durch den Kongress, das die Regulierung von Derivaten ganz aufhebt. Ein einziger Beamter versucht, diesen Wahnsinn zu stoppen: Edward Gramlich, Ökonomieprofessor und Gouverneur bei der US-Notenbank. Im Jahr 2000 bedrängt er Greenspan, die Kreditfirmen stärker zu regulieren. Gramlich will sogar Ermittler losschicken. Aber Greenspan bügelt ihn hart ab.
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MARK WILSON / GETTY IMAGES (U.); ERIKA LARSEN/REDUX/LAIF (M.); ZUMA PRESS/ACTION PRESS (O.)
dort über eine halbe Milliarde Dollar und bekam im Jahr vor der LehmanPleite noch 22 Millionen. Der Chef von Bear Stearns, James Cayne, hatte zeitweise fast eine Milliarde Dollar in Aktien angehäuft, obwohl er oft Bridgeturniere spielte, statt die Firma zu leiten. Er ließ sich gern mit dem Helikopter zum Golf abholen, immer donnerstags. Der Chef von Countrywide Financial – jener Firma, die Paula Taylor ihren Kredit gab – schob 406 Millionen aufs eigene Konto. In einer internen E-Mail bezeichnete er Kredite seiner Firma als „toxisch“. Die 400 Angestellten in jener Einheit von AIG, die mit den speziellen Kreditversicherungen handelte, verdienten, so heißt es, in den letzten sieben Jahren zusammen 3,5 Milliarden Dollar. Alle diese Firmen sind jetzt gescheitert. Warum? Weil es für ihre Chefs lukrativer gewesen sei, nach kurzfristigen Erlösen zu jagen, sagt Jeremy Siegel von der renommierten Wharton School in Philadelphia. „Als die Firmen noch den Partnern gehörten, hatten die Vorstandsvorsitzenden ihr Leben in die Firma investiert“, so Siegel. Nun, da die Firmen den Aktionären gehörten, gingen die Chefs immer mehr Risiken ein – für die ihre Aktionäre dann bezahlen müssen. Auch wer seine Firma ruiniert hat, darf immer noch mit einem goldenen Handschlag rechnen. Wie Joseph Cassano von AIG. Bis 2005 verkauft er als Chef der Abteilung für neue Finanzprodukte in London CDS-Verträge. Die Investoren lieben seine Papiere, schließlich sind sie so gegen jedes Risiko abgesichert – glauben sie. AIG liebt die Papiere auch: Schließlich bekommen sie Prämien für einen Fall, der sowieso nie eintritt – glauben sie. Tausende Unternehmen weltweit erwerben diese angeblichen Versicherungen. So schonen sie ihr Eigenkapital und können noch mehr Geschäfte machen. Sie sind ja versichert – glauben sie. AIG beschäftigt Mathematiker und Risikoanalysten. Sie geben Modelle in ihre Computer ein und rechnen. Heute wissen alle, dass sie mit den falschen Zahlen gerechnet haben. Ohne AIG, zeitweilig der wertvollste Versicherungskonzern der Welt, hätte es die Finanzkrise so nicht geben können: Die Credit Default Swaps ließen das Risiko verschwinden und verleiteten Investoren dazu, immer noch mehr Kre-
AIG-Zentrale in New York
Ab 2005 dreht die Subprime-Branche heiß. Jeder, der Kredit will, bekommt ihn. Werbespots für Darlehen laufen im Fernsehen in der Endlosschleife, vor allem nachts. Die alleinerziehende Mutter Leesa Robinson aus Milwaukee, Wisconsin, glaubt den Versprechen vom schnellen Reichtum. Sie ist eine kleine Angestellte, sie verdient 20 000 Dollar im Jahr. Aber innerhalb von zwei Jahren kauft sie acht Häuser in der Innenstadt Milwaukees für fast eine Million Dollar, meist ohne Eigenkapital.
Gleichzeitig sind die Preise viel zu hoch. Eine Million Eigentümer können inzwischen ihre Kredite nicht bezahlen. Die kleinen Spekulanten wie Leesa Robinson aus Milwaukee gehen jetzt pleite. Das ist die erste Welle. Die zweite Welle folgt schnell. Bald können Hauskäufer nicht mehr zahlen, deren Kreditraten nach zwei Jahren nun hochschießen. Bis Mitte 2007 überweisen aufs Jahr gerechnet anderthalb Millionen Amerikaner ihre Raten nicht. In Arizona fallen die Hauspreise um 35 Prozent. Ende Juli 2007 erfährt die
DENNIS VAN TINE / ABACA
Vielen der Schuldigen geht es trotz der Krise großartig. Ab Ende 2006 können immer mehr Menschen ihre Kredite nicht mehr abstottern. Die Wall-Street-Banker kennen die Zahlen. Im Dezember 2006 hält der Erfinder der Zeitbombe, Lewis Ranieri, eine Rede, in der er vor der Bombe warnt. „Dieses Zeug wird an die Öffentlichkeit und an ausländische Investoren verkauft, die keine Ahnung haben, worauf sie aufpassen müssen.“ Danach waren die Analysten alarmiert: „Sicherlich wusste nach der Rede jeder an der Wall Street, dass ein Desaster kommt“, sagt Fondsmanager Youngblood. 2006 kann der Markt die zwei Millionen neuen Häuser, die jedes Jahr in den USA gebaut werden, nicht mehr absorbieren. Das Angebot ist zu groß.
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Wall Street, dass zwei große Hedgefonds der Investmentbank Bear Stearns, die rund 1,5 Milliarden Dollar in riskante Hauskredite investiert hatten, liquidiert werden. Das ist der Crash. Alles ist zusammengekommen. Der perfekte Sturm bricht los. Banken und Investoren wollen die Papiere abstoßen, sofort. Die Geldquellen für Kreditgeber versiegen. Auf einmal kann niemand mehr Kredit geben, selbst wenn er will. Das Kreditgeschäft kollabiert. Der Wert der Hypothekenpapiere bricht ein. Die Investmentbanken schaffen es nicht, sich schnell genug Kapital zu besorgen, um weiter handeln zu können. Wie Gift verteilen sich die faulen Kredite durch das ganze System. Firmen ge-
hen pleite – und bald nicht mehr nur Finanzunternehmen. Weil die Banken wackeln, wackelt bald alles. Vielen der Schuldigen geht es trotz der Krise großartig: Alan Greenspan etwa streitet bis heute jede Verantwortung ab. Privat kassiert er prächtig. Der 83-Jährige berät die Investmentfirma Paulson & Co. – die Milliarden am Niedergang des Immobilienmarktes verdient hat. Oder Larry Summers, der half, die Warnerin Brooksley Born kaltzustellen. Der Politiker und Professor kommt mit der Krise, an der er Mitschuld trägt, ebenfalls gut klar: Präsident Barack Obama hat ihn als ökonomischen Chefberater geholt. Richtig erwischt hat es die Leute, die nie verstanden haben, was sie da wirklich taten. Paula Taylor etwa, die obdachlose Fitnesstrainerin, die sich mit einem Countrywide-Kredit ein Apartment gekauft hatte, muss jetzt wieder bei Bekannten unterschlüpfen. Fast jeder zehnte Hauskäufer in den USA kann nicht mehr zahlen und wird sein Haus wohl verlieren. Die Bayerische Landesbank und die IKB gehören zu den 20 Banken weltweit mit den größten Abschreibungen. Zusammen haben die beiden Institute über 30 Milliarden Dollar verloren. Die deutschen Steuerzahler begleichen nun die Rechnung für die Dummheit der Banker. 2,25 Millionen Häuser stehen jetzt in den USA leer. Es sind die Denkmäler der Verwüstung, die der perfekte Sturm hinterlassen hat.
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Die Finanzholding Hypo Real Estate wurde mit unverantwortlichen Spekulationen in ein Multimilliarden-Desaster getrieben.
Arroganz am Abgrund Von MICHAELA SCHIESSL
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on Andacht war nichts zu spüren an diesem 2. Juni 2009, an dem Geschichte geschrieben wurde. Im Gegenteil: Die Aktionäre der Hypo Real Estate (HRE), die zur Hauptversammlung nach München gekommen waren, pöbelten, schrien und tobten. „Hängt sie auf“, kreischte einer von ihnen Richtung Podium. Dort saßen Vorstände und Aufsichtsräte, bemüht, Fassung zu bewahren. Es half nichts. Heute, das wussten alle im Saal, ist der Tag, an dem erstmals seit Gründung der Bundesrepublik eine deutsche Bank faktisch verstaatlicht würde. Aus Notwehr. Um sie zu retten. Und gerettet werden muss sie, seit die Experten das Zauberwort ausgesprochen haben: systemrelevant. Was bedeutet: Wenn diese Bank fällt, reißt sie andere mit in den Abgrund. Das gesamte Finanzsystem geriete ins Wanken, nicht nur hierzulande. Denn die HRE ist nicht irgendein Geldhaus: Sie ist der größte Emittent von Pfandbriefen, mit einer Bilanzsumme von knapp 400 Milliarden Euro. Pfandbriefe gelten in Deutschland als solidestes Finanzprodukt überhaupt. Banken, Sparkassen, Versicherungen refinanzieren sich damit, Opa und Oma haben einen im Sparstrumpf. Wenn der Pfandbrief wackelt, wackelt die Nation. Um das zu verhindern, greift die Regierung unfassbar tief in die Tasche. Über 90 Milliarden Euro staatlicher Liquiditätsgarantien verschlingt das Finanzdesaster der HRE bereits. Schuld an diesem ungeheuerlichen Aderlass am Steuerzahler will niemand sein. Nicht die Aufseher von der Bundesbank und der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Nicht der geschasste Vorstandschef Georg Funke, der ungerührt auf Lohnfortzahlung klagt. Auch nicht das Bundesfinanzministerium, dessen Rolle nun
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ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zu klären versucht.
Doch wie konnte es zu einem derartigen Versagen kommen? Was war geschehen, dass eine einzige, relativ unbekannte Bank ein ganzes Land in Geiselhaft nehmen konnte? Die Geschichte der Hypo Real Estate begann vor sechs Jahren. 2003 hatte sich die HypoVereinsbank (HVB) auf dem Immobilienmarkt verspekuliert. Um sich ihrer gefährlichen Geschäfte zu entledigen, lagerte sie diese in einem neuen Institut aus, der Hypo Real Estate. An die Spitze der Holding, die rasch an die Börse gebracht wurde, kam der
Milliarden Euro, die sein Haus an Krediten für mehrjährige Staatsfinanzierungen bereitstellte, mussten innerhalb von nur drei Monaten mit neuaufgenommenen Krediten zurückgezahlt oder umgeschichtet werden. Ende 2006 hielt die Depfa Positionen von über 90 Milliarden Euro mit einer Laufzeit von weniger als drei Monaten. Die Bank verdiente großartig an der Differenz zwischen den relativ niedrigen Zinsen, die sie für ihre kurzfristigen Refinanzierungen zahlen musste, und den relative hohen Zinsen, die sie für die längerfristigen Staatsfinanzierungen einstrich. Dieses Geschäft würde allerdings in dem Moment nicht mehr funktionieren, wo der Finanzmarkt
Die Übernahme der Depfa war der Anfang vom Ende. damals 48-jährige Georg Funke. Der Mann aus der zweiten Reihe witterte die Chance seines Lebens. Ausgerüstet mit einem Risikoschirm der HVB über mehrere hundert Millionen Euro legte er los. Er verlagerte eine Konzerntochter ins Steuerparadies Dublin und verscherbelte für knapp vier Milliarden Euro Ramschkredite. Bald schon tummelte er sich im Geschäft mit hochriskanten Finanzprodukten. Ende 2005 stieg die HRE in den Aktienindex Dax 30 auf. Die Aktie kletterte im April 2006 auf den Rekordwert von 57,30 Euro. Doch Funke wollte weiterwachsen. Er hatte ein Auge auf ein weiteres Institut geworfen, die Deutsche Pfandbriefbank (Depfa) mit Sitz in Dublin, ein Staatsfinanzierer mit scheinbar bester Rendite und Bonität. Tatsächlich war die Depfa zu diesem Zeitpunkt längst über ihrem Zenit. Ihr Chef Gerhard Bruckermann ahnte, dass das hohe Risiko, das er einging, nicht mehr lange zu bewältigen war. Die vielen
keine neuen Kredite mehr hergab, die Banken einander kein Geld mehr liehen. Aber wer dachte schon, dass so etwas geschehen konnte? Georg Funke offenbar nicht. Obwohl in den USA die Immobilienblase zu platzen begann, kündigte die HRE am 23. Juli 2007 den Kauf der Depfa für 5,7 Milliarden Euro an. Es sollte der Anfang vom Ende sein. Die Börse strafte die Übernahme brutal ab: Der HRE-Kurs fiel unter 40 Euro. Während Funke verkündete, das Geschäft der Depfa sei „langfristig profitabel, sehr solide und mit ganz geringem Risiko“ behaftet, setzte sich Depfa-Chef Bruckermann nach dem Verkauf seiner Anteile mit 100 Millionen Euro zum Orangenzüchten nach Spanien ab. Noch im August 2007 erklärte Funke: „Die Märkte werden sich relativ schnell beruhigen. Das ist eine Frage von Wochen, allenfalls Monaten.“ Seine Bank sei von der US-Krise nicht belastet, im Gegenteil, man sehe Chancen.
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HENNING SCHACHT / ACTION PRESS
In den USA begann der Geldmarkt, auf dem sich die Depfa Ende September 2007 noch 56 Milliarden Euro besorgt hatte, zu versiegen. Dennoch hieß es auf einer Analystenkonferenz Ende Oktober großspurig, der direkte Draht zu großen Investoren wie Zentralbanken und Pensionskassen „beschütze“ die Depfa als Tochter der HRE-Holding. Beamten der BaFin war jedoch schon im Frühling 2007 nicht mehr wohl. Die ungewöhnliche Struktur von Funkes Holding, unter deren Dach sich mehrere unabhängige Töchter tummelten, machte ihnen Sorgen. Sie alarmierten das Bundesfinanzministerium und schlugen ihrem Dienstherrn vor, Finanzholdings grundsätzlich der BaFin-Aufsicht zu unterstellen. Doch am Sitz von Finanzminister Peer Steinbrück herrschte Schweigen – ein schwerer Fehler, wie sich bald herausstellte.
Am 15. Januar 2008 kam es zum ersten Knall. Funke meldete eine Abschreibung von 390 Millionen Euro auf amerikanische Papiere. Die Börse war schockiert. Die HRE-Aktie fiel um 38 Prozent. Wohl deshalb gewann Funke im April 2008 einen neuen Großaktionär. Der US-Investor J. Christopher Flowers sicherte sich für 1,1 Milliarden Euro 24,1 Prozent an der HRE. Gleichzeitig drückte Funke bei der Depfa aufs Gas. Ende Juni 2008 hatten die Dubliner auf dem bereits hypernervösen Geldmarkt 54 Milliarden Euro aufgenommen. Im Sommer 2008, mitten im Orkan, erkannten Steinbrücks Helfer endlich die Brisanz der Lage. Eiligst zimmerten sie einen Entwurf zur „Kreditwesengesetz-Änderung zur Aufsicht von Finanzholding-Gesellschaften“. Die Korrektur kam zu spät. Am 15. September 2008 kollabierte die US-Investmentbank Lehman Brothers. Am 16. meldete sich Georg Funke bei den Bankaufsehern der BaFin: „Wir bekommen keine Liquidität mehr.“ Wenige Tage später stand die HRE am Abgrund. In einer dramatischen Verhandlungsnacht feilschten Banker, Politiker und Aufseher am 28. September in Frankfurt am Main über die Kosten der HRERettung. BaFin-Chef Jochen Sanio drohte, die HRE zu schließen. Erst ein Telefonat zwischen Deutsche-Bank-Chef Josef Ackermann und Kanzlerin Angela Merkel brachte im letzten Moment eine SPIEGEL GESCHICHTE
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Der frühere HRE-Chef Funke im Juni 2009 in Berlin
Lösung: Ein Notkredit über 35 Milliarden Euro wurde gewährt. 40 Prozent des Verlustrisikos trägt der Bund, 60 Prozent die Banken. Er habe in einen Abgrund geblickt, sagte Minister Steinbrück danach. Und sprach, weil er so sauer war auf Funke, von einer „geordneten Abwicklung“ der Bank. Spätestens damit war die Kreditwürdigkeit der HRE zerstört. Sofort machten die Anwälte der HRE den Finanzminister mitverantwortlich für die immer schwierigere Lage des Instituts. Vier Tage nach dem ersten Rettungspaket benötigte Funke weitere 15 Milliarden Euro. Am 7. Oktober erzwang Berlin seinen Rücktritt. Ackermanns bester Mann, der 42-jährige Chefstratege der Deutschen Bank, Axel Wieandt, übernahm. Auch er konnte nichts mehr retten. Wieandt beschwor einen schnellen Einstieg des Bundes. Ihm war klar, dass die Garantien und Kredite – schwindelerregende 80 Milliarden Euro Ende Dezember – nicht reichen würden. Am 20. März 2009 beschloss der Bundestag das umstrittene Banken-Enteignungsgesetz. Das war nötig geworden, weil sich besonders Großaktionär Flowers einer Rettungsübernahme durch den Staat verweigert hatte. Anfang April stimmte der Bundesrat zu. Nun war der Weg zum Einstieg des Bundes frei. In der Hauptversammlung übernahm der Staat im Wege einer Kapitalerhöhung 90 Prozent der HRE. Gegen Ex-Chef Funke, weitere Vorstände und Aufsichtsratschef Kurt Viermetz ermittelt die Staatsanwaltschaft. Es geht um Veruntreuung und den Verdacht der unrichtigen Darstellung. Die Bundestagsfraktionen von SPD und Union erwägen gar eine Schadensersatzklage der HRE gegen die einstigen Lenker. Auch an Finanzminister Steinbrück wird die Rekord-Rettungsaktion nicht spurlos vorübergehen. 102 Milliarden Euro sind bislang als Garantien und Kapitalhilfen in die Skandalbank geflossen, größtenteils aus Steuergeldern. Und wie der Untersuchungsausschuss herausfand, war das Ministerium frühzeitig von der Misere der HRE informiert. Bereits im Januar 2008 erhielt Steinbrücks Haus einen Bericht von BaFin-Chef Sanio, der explizit beschrieb, dass im Falle einer Schieflage der HRE Verluste „kaum durch externe Kapitalzuführungen kompensiert werden können“. Der Abgrund, den Steinbrück erst im September entdeckt hat, er war schon im Januar da.
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Seit Jahrhunderten folgen alle Finanzkrisen dem gleichen Grundschema, und dennoch haben die Menschen bisher nichts daraus gelernt. Eine vernünftige Regulierung ist aber möglich.
DAS GLÜCKSRAD WIRD SICH WEITERDREHEN Von MICHAEL C. BURDA
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ILJA C. HENDEL / VISUM
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er Internationale Währungsfonds hat im Sep- Institutionen und unternehmerische Menschen. Nach der tember 2008 das Ausmaß der Finanzkrise, ge- Anpassung, Beschneidung oder Vernichtung dieser Ansprüche messen an den weltweiten Verlusten aus Kre- wird die reale Wirtschaft mit ihrem Produktionspotential ditgeschäften, auf 1,3 Billionen Dollar bezif- weiter existieren und weiter wachsen – wie sie es in den verfert: $ 1 300 000 000 000. Das waren damals gangenen 150 Jahren getan hat. Um die Krise zu bewältigen, muss der Konflikt der Anschon zwei Prozent der geschätzten globalen Wirtschaftsleistung. Sechs Monate später hat die US-Finanzagentur RGE sprüche schnell und transparent gelöst und das verlorene Monitor eine noch weit höhere Verlustschätzung vorgelegt, Vertrauen wieder hergestellt werden. Die Überwindung der die allein für US-Wertpapiere und Derivate auf 3,6 Billionen Krise wird schon deshalb gelingen, weil die damit verbundekommt. Das entspricht einem guten Viertel der jährlichen nen Kosten, so hoch sie absolut auch sein mögen, relativ gering sind – jedenfalls im Vergleich zum ansonsten drohenden Wirtschaftsleistung der weltgrößten Volkswirtschaft. Wären die Verluste in dieser Höhe realisiert worden, hät- Totalverlust ökonomischer Funktionsfähigkeit. Ein solches ten sie die Gesamtkapitalisierung der US-Banken überstie- Risiko für unser Wirtschaftssystem, das Wohlstand und Sogen und viele Finanzinstitute ruiniert. Deshalb mussten große zialstaat ermöglicht, wird niemand eingehen. Aber auch dann, wenn wir aus der Krise herauskommen, Teile des Bankensektors erhebliche staatliche Hilfen in Ansteht die Frage im Raum, ob so etwas wieder geschehen kann spruch nehmen. Trotz des keimenden Optimismus ist die Krise noch nicht und darf. Von der Finanzkrise erfasst wurden selbst Länder, ausgestanden: Vor allem das Bankensystem in den USA ist die eigentlich völlig unbeteiligt waren. Ob man das alles stillkaum in der Lage, weitere Störungen der Weltwirtschaft aus- schweigend hinnehmen muss – das zu fragen, ist das gute zuhalten. Weil die heutige Ökonomie so sehr auf die Funkti- Recht der Steuerzahler, die nun die Aufräumarbeit zu finanonsfähigkeiten von Banken angewiesen ist, wuchs sich die zieren haben. Um zu verhindern, dass dergleichen wieder Finanzkrise zu einer Wirtschaftskrise aus: Der Schock brach- passiert, müssen wir die Finanzwelt mittel- und langfristig te das Kreditwesen zum Stillstand – mit drastischen Folgen für verändern. Gegen unheilvolle Krisen dieser Größenordnung, die riesige Kollateralschäden anrichten, tut den Außenhandel, für die Anschaffung von Vorbeugung not. langlebigen Gebrauchsgütern und für den AusErstens ist festzuhalten, dass die US-Zenbau von Produktionskapazitäten. Deutschland tralbank nach dem 11. September 2001 bis Mitals stolzer Exportweltmeister wurde im Autote 2005 die Leitzinsen zu niedrig gehalten hat. und Maschinenbau besonders hart getroffen. Geld war so leicht zu bekommen, dass enorm Die Weltrezession ist der gigantische Kollateviel Liquidität nach neuen Anlagemöglichkeiralschaden der Finanzkrise. ten suchte. Wegen der billigen Importe aus Ungeachtet dieser düsteren Ausgangslage China und anderen Ländern führte die Niedbin ich mir sicher, dass die Herausforderungen rigzinsphase nicht sofort in die Inflation, wie der globalen Finanzkrise, so unfassbar ihre Dies sonst fast immer der Fall ist, sondern blähmensionen scheinen, zu meistern sind. Jede MICHAEL C. BURDA te die Märkte für Vermögenswerte auf. Finanzkrise besteht letztlich, stark vereinfacht Zweitens hat eine besonders lasche Regugesagt, in der Ausdehnung endloser finanziel- Seit 1993 lehrt der 50 Jahlierung des Marktes für Immobilienfinanzieler Ansprüche auf eine endliche, reale Wirt- re alte US-Amerikaner rung in den USA Häuser und Grundstücke zum schaft: auf Büros und Fabriken, auf die darin Wirtschaftstheorie an der beschäftigten Arbeitskräfte, auf Wohnungen Berliner Humboldt-Univer- unmittelbaren Objekt der Spekulationswelle gemacht. Die Politik der Regierungen Clinton und Land, aber auch auf Ideen, Technologien, sität.
Börsenmakler in Chicago, 2005
und Bush ermutigte viele US-Bürger, die keinerlei Sicherheiten bieten konnten, sich Geld zu leihen. Anderen verhalf sie aufgrund der gestiegenen Immobilienpreise zu unverhofftem Reichtum: Die Preise kletterten laut dem Case-Shiller-Index, der die Entwicklung in den 20 wichtigsten US-Metropolenregionen wiedergibt, zwischen 1995 und 2006 um kaum glaubliche sieben Prozent pro Jahr – und zwar inflationsbereinigt. Im Gegensatz dazu hatten sie sich zuvor mehr als ein Jahrhundert lang, zwischen 1890 und 1995, kaum verändert. Drittens haben Erneuerungen im Finanzbereich dazu geführt, dass sich die gesamte globalisierte Welt am US-Immobilienboom beteiligen konnte. Die Hypotheken, die sich vor dem Entstehen der Spekulationsblase in lokalen US-Bankbilanzen befunden hatten, wurden aus diesen herausgelöst. Man schnürte viele Einzelhypotheken zu unüberschaubaren Kreditbündeln zusammen, die unter klangvollen Begriffen wie Mortgage Backed Securities oder Collateralized Debt Obligations an Großinvestoren rund um die Erde weiterverkauft wurden. Jene Banken, die ursprünglich die Hypotheken bewilligt hatten, konnten sich auf diese Weise ihres Verlustrisikos entledigen. Es wurde in kaum noch erkennbarer Form an Dritte weitergereicht. So entstand das Problem des „moralischen Risikos“ – die lokalen Banken und Makler, die die Kreditvergabe beschlossen und das Geld gegeben hatten, waren nicht mehr unmittelbar für die Qualität der Hypotheken verantwortlich. Die neuen Wertpapiere wanderten in den Besitz von Hedgefonds, Versicherungen, Kommunen, US-Rentenversicherungen und nicht zuletzt von deutschen Landesbanken. Wer sollte sich anmaßen, an diesen Transaktionen herumzumäkeln, wo doch die Emittenten der Papiere laut international renommierten Rating-Agenturen wie Standard & Poor’s, Moody’s und Fitch beste Bonität aufwiesen? Versicherungsverträge sorgten sogar dafür, dass diese Papiere noch „sicherer“ erschienen.
NAM Y. HUH / AP
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rst als die US-Hauspreisblase 2007 platzte, verloren die Papiere plötzlich an Wert. Und keiner weiß so recht, was sie jetzt noch wert sind. Oder was die Finanzinstitute wert sind, die diese giftigen Papiere in ihren Bilanzen stecken haben. Doch eine bloße Beschreibung dessen, was geschehen ist, greift viel zu kurz, wenn man künftige Crashs dieser Art verhindern will. Jede Finanzkrise ist im Detail anders nuanciert – und folgt dabei dem immer gleichen allgemeinen Schema. Diese Schlussfolgerung zog John Kenneth Galbraith in seinem bereits 1993 veröffentlichten Buch „A Short History of Fi-
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nancial Euphoria“. Der 2006 verstorbene Galbraith hat in dem empfehlenswerten Werk alles auf den Punkt gebracht. Finanzblasen und die daraus resultierenden Krisen ähneln sich zwar immer: als kollektiver Verlust der Vernunft und Anhäufung von Übermut bei ansonsten vernünftigen Menschen. Und doch wird man sie immer verschieden benennen und beschreiben – und mittendrin werden die meisten nicht wahrhaben wollen, was gerade passiert.
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rotz der ständigen Neuerungen in der Finanzwelt der letzten 350 Jahre geht es grundsätzlich immer um Hebelwirkung („leverage“), das heißt um Investitionen mit geborgtem Geld. Das Risikoniveau wird hochgedreht, weil dabei weit höhere Renditen locken. Es gibt jede Menge Investoren, die glauben, hohe Renditen seien ganz ohne Risiko zu haben. Doch Jahrhunderte von Finanzkrisen lehren, dass nichts umsonst ist – besonders hohe Renditen gibt es nur um den Preis einer besonders hohen Wahrscheinlichkeit, dass alles verlorengeht. Leider wird diese elementare Einsicht der Finanztheorie immer wieder kollektiv vergessen oder verdrängt. Voraussetzung großer Finanzkrisen sind des Weiteren als vertrauenswürdig geltende Instanzen, die den Markt mit Geld versorgen und dabei ihren mühsam aufgebauten Ruf der Honorigkeit aufs Spiel setzen. Wie uns die holländische TulpenBlase von 1637 lehrt (siehe Seite 48), müssen das nicht unbedingt Zentralbanken sein. Besonders interessant ist auch die deutsche Getreidespekulation von 1763, die mangels „echtem“ Geld (damals Gold oder Silber) mit Hilfe von privaten holländischen Finanzhäusern betrieben wurde. Diese gaben Wechsel heraus, die für die Getreidespekulation in Zahlung genommen wurden – solange Vertrauen in die Emittenten der Wechsel bestand. Das Vertrauen verschwand aber über Nacht, als die Blase so überdimensional geworden war, dass sich blitzartig Ernüchterung ausbreitete. Jetzt entpuppten sich die phantastischen Gewinnerwartungen als reine Hirngespinste – wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ die prachtvollen Gewänder des in Wahrheit nackten Herrschers. Die Bankhäuser brachen zusammen. Die Analyse von Galbraith ist überzeugend. Es wird immer wieder Finanzkrisen geben, solange es Nachfrage (uninformierte, naive und gierige Menschen) und Angebot (gewinnorientierte, innovative Finanziers) gibt. Als Ökonom kann ich jedoch diese Gier nicht verurteilen. Ich muss sie sogar loben! Ohne das Streben nach Gewinn, das der Motor unseres Wirtschaftssystems ist, wäre der Wohlstand, den
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wir genießen, unmöglich. Wer weiß, wie viele große Erfindungen der letzten zwei Jahrhunderte – die Dampfmaschine, die Eisenbahn, das Auto, der Computer, das Internet – nicht adäquat finanziert worden wären, wenn es einen Kapitalmarkt nicht gegeben hätte? Risiken sind der Preis der Freiheit. Einerseits. Andererseits können und müssen wir versuchen, Lehren aus der gegenwärtigen Krise zu ziehen. Der Überschätzung der eigenen Fähigkeiten, im Lotto oder an den Börsen überdurchschnittliche Renditen zu erzielen, sollten wir entgegenwirken. Der Entstehung von Blasen muss auf kluge Art vorgebeugt werden. Ein passender Vergleich für die erforderlichen Maßnahmen im internationalen Finanzverkehr sind die Sicherheitsvorschriften im Straßenverkehr. Auf den Finanzautobahnen rasen die Geldströme zunehmend schneller um die Welt – wenn es kracht, gibt es immer mehr Opfer und immer größere Schäden. Als die Höchstgeschwindigkeit von Autos in der Frühphase ihrer Entwicklung noch bei 30 Kilometern lag, waren die Konsequenzen eines Unfalls überschaubar. Mit Hochleistungsfahrzeugen auf deutschen Autobahnen sieht die Sache anders aus. Fahrlässigkeit kann fürchterliche Unfälle auslösen und für andere Verkehrsteilnehmer katastrophale Folgen haben. Auch wenn ich es nicht besonders gern zugebe, muss ich einräumen, dass der Markt zur Selbstregulierung wenig geeignet ist – von der Behebung der Kollateralschäden ganz zu schweigen. Bei dieser Aufgabe hat er bereits massiv versagt. Weil es aber immer wieder Finanzkrisen geben wird, müssen wir zumindest dafür sorgen, dass die dabei entstehenden Schäden auf die dafür Verantwortlichen beschränkt bleiben. Wir brauchen eine intelligente Regulierung. Dazu gehört gewiss nicht, dass alles Neue, Innovative verboten wird. Diese typische Reaktion bringt fast immer mehr Schaden als Nutzen. Übrigens hat manches in diesem Bereich,
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das uns topmodern erscheint, eine sehr lange Geschichte. Dazu gehören die Finanzderivate, die nicht per se Teufelszeug sind, sondern nützliche Funktionen haben können. Nehmen wir Warenterminkontrakte – auch das sind Derivate. Schon die alten Römer sicherten sich damit gegen Ernteausfälle ab: Sie schlossen Verträge über die Lieferung bestimmter Mengen von Getreide zu einem festgelegten Preis und an einem festgelegten, in der Zukunft liegenden Datum. Ich bin fest davon überzeugt, dass in zehn Jahren viele der heute verpönten Derivate zum Finanzalltag gehören werden, denn sie dienen dazu, Risiken neu zu verteilen und abzuwälzen. Korrekt gehandhabt, können „Credit Default Swaps“ – also Versicherungen gegen Kredit- und Schuldenrisiken – die Zinsbelastungen von Unternehmen und Staaten erheblich reduzieren.
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iele mögen die Exzesse der Finanzwelt abstoßend finden. Aber Fakt bleibt: Wir brauchen diesen Sektor. Ohne ihn gibt es keine reale Wirtschaft, wie wir sie kennen. Er vermittelt nicht nur zwischen dem Sparer und dem Investor, der Arbeitsplätze finanzieren will. Er stellt auch die Bankkonten zur Verfügung, die Haushalte und Unternehmen für ihre Transaktionen nutzen. Daher gibt es ein öffentliches Interesse daran, das Bankensystem gegen die größten (selbst verursachten) Störungen abzusichern. Das gesamte Finanzsystem beruht auf Vertrauen. Jede Krise setzt dieses Vertrauen aufs Spiel. Wie kann man das verhindern? Am besten nicht durch Verbote, sondern durch die richtigen Verhaltensanreize – und durch ein ordentliches Maß an Information. Dazu gehört hinreichende Transparenz in der Finanzindustrie. Die Rating-Agenturen haben in ihrer primären
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Funktion als Frühwarnsystem eklatant versagt; sie haben sich in der Qualität der verbrieften Wertpapiere schwerwiegend verschätzt. Das ist kein Grund für die Verstaatlichung von Rating-Agenturen, sondern für mehr Wettbewerb unter ihnen. Wenn Staaten ganze Banken verstaatlichen können, müsste es möglich sein, eine staatliche Rating-Agentur als Konkurrenz für die existierenden Unternehmen zu gründen. Außerdem müssten Finanzinstitute in guten Zeiten gezwungen werden, höhere Eigenkapitalauflagen zu erfüllen. Diese sollten mit der Höhe der Bilanzsumme steigen. Nur so kann man der Tendenz entgegenwirken, dass zeitweilig im Wert gestiegene Papiere automatisch als gewachsenes Realvermögen der Banken angesehen werden – und als neues Eigenkapital, das dann als Basis für noch mehr und noch riskantere Geschäfte eingesetzt werden kann. Vor allem dürfen Banken ohne Kapitaldeckung auf diese Weise niemals so groß werden, dass sie systemische Risiken darstellen. Zu einer vernünftigen Reform gehören vorausschauende und gut entlohnte Angestellte in staatlichen Funktionen, die das Finanzsystem aktiv überwachen. Es darf nicht mehr vorkommen, dass der Staat nicht eingreifen kann, weil seinen Beamten die Kompetenzen fehlen. Und vor allem muss es eine internationale Koordination geben, denn jedes Land, das im Alleingang Reformmaßnahmen ergriffe, handelte sich Wettbewerbsnachteile ein. Man sollte vielleicht auch überlegen, ob private Partnerschaften als Rechtsform von Finanzunternehmen zu bevorzugen sind, statt mit steuerlichen Anreizen Aktiengesellschaften mit beschränkt haftenden Managern zu fördern. Am vorsichtigsten ist man immer mit dem eigenen Geld. Und es wäre auch nicht verkehrt, die Gewährung von Krediten immer mit einer Teilhaftung der Institute – einem haftenden Residualinteresse – zu verknüpfen, um die Anreize zu stärken, dass Banker die gebotene Sorgfalt (due diligence) walten lassen. Allerdings bezweifle ich, dass es gelingen wird, die Finanzwelt anders zu organisieren. Denn sobald wieder Normalität einkehrt, wird der Änderungsdruck entfallen. Die vorgeschlagenen Reformschritte und viele, die noch darüber hinausgehen, würden die Finanzmärkte ziemlich langweilig machen. Vor allem würden sie auf schärfsten Widerstand treffen. Schließlich waren es Lobbyisten, die unter Präsident Bill Clinton im Jahr 1999 die Annullierung eines alten US-Gesetzes zum Schutz der Giro- und Sparkontoinhaber vor riskanten Bankgeschäften durchsetzten, das 1933 aufgrund böser Erfahrungen in der Weltwirtschaftskrise eingeführt worden war. Durch Vorschriften für die Geschäfte, die normale Banken mit den Einlagen vornehmen durften, sollte dieser „Glass-Steagall Act“ die Transaktions- von den Investmentbankfunktionen trennen und Bankkunden davor bewahren, mit ihren Einlagen für die Folgen riskanter Bankenstrategien bezahlen zu müssen. Lobbyisten steckten auch hinter einer anderen fatalen Entscheidung: Das war der Beschluss der US-Behörde für die Aufsicht über den Wertpapierhandel, die fünf größten Investmentbanken (Goldman Sachs, Merrill Lynch, Lehman Brothers, Bear Stearns, Morgan Stanley) aus den Vorschriften über die Kapitalhinterlegung zu entlassen, die das Risiko begrenzten. Ihr Verhältnis von Fremdkapital zu Eigenkapital ist demzufolge von 12:1 auf 30:1 bis 40:1 angestiegen. Einige Jahre später fielen diese einst großmächtigen Investmentbanken, weil sie sich gewaltig verhoben hatten, den
„normalen“ (von der Einlagensicherung geschützten) Banken in den Schoß – und den Steuerzahlern zu Last. Überhaupt sind Finanzblasen dadurch gekennzeichnet, dass Leichtsinn und Herdentrieb an die Stelle von Sorgfalt und Diskussionskultur rücken. Die Menschheit scheint dabei einem Kollektivrausch zu verfallen: Das Denken wird gleichgeschaltet, aus Angst vor Blamagen und Demütigungen wagt niemand mehr, etwas gegen den Mainstream zu sagen. Alles was man über Lehman Brothers und ihre riskanten Geschäfte hätte wissen wollen, stand schon immer in deren Jahresberichten – im Anhang zwar, aber deutlich lesbar. Offensichtlich haben auch Analysten und Wirtschaftsjournalisten versagt, die diese Informationen hätten publizieren müssen – oder die Investoren waren selbst zu faul, sich damit auseinanderzusetzen. Es wird heutzutage gern gegen die Ökonomen polemisiert, die vor der Krise nicht gewarnt hätten. So einfach ist es nicht. Unter anderen haben Robert Shiller, Nouriel Roubini, Raghuram Rajan und der Deutsche Max Otte frühzeitig auf die Gefahren hingewiesen.
Aus Angst wird das Denken gleichgeschaltet.
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ahr ist aber, dass diese Sachkenner als „ewige Kassandras“ verpönt, wenn nicht einfach ignoriert wurden. Genauso erging es übrigens dem gebürtigen Hamburger Bankier Paul Warburg, der als eingebürgerter Amerikaner zum geistigen Vater der US-Zentralbank wurde: Als er Anfang 1929 vor der Aktienspekulation auf Pump warnte, schlug ihm vernichtende Kritik mit antisemitischer Tendenz entgegen. Auch die prophetischen Warnungen des US-Börsenchefs Alan Greenspan vor „irrationalem Überschwang“ an den Börsen quittierte man 1996 mit Hohn und Spott. Und die Clinton-Regierung mobbte die Anwältin Brooksley Born, die an der Spitze der US-Aufsichtsbehörde Commodity Futures Trading Commission stand, aus dem Amt. Sie wurde dafür abgestraft, dass sie 1998 vor dem unüberwachten und unregulierten Handel mit Finanzderivaten gewarnt hatte. Nicht nur die Ökonomen schwiegen. Wo waren die Wirtschaftsjournalisten, als Herr Ackermann Renditen von 25 Prozent auf das Eigenkapital seiner Deutschen Bank ankündigte? Jeder Volkswirtschaftsstudent weiß aus der Einführung in die Finanztheorie, dass dieses Versprechen auf Dauer mit ganz erheblichen Risiken verbunden ist. Das Fatale aber ist, dass Vorstände den Wünschen ihrer Aktionäre nachgeben müssen. Und wenn US-amerikanische Banken eine Kapitalrendite von 25 Prozent erwirtschaften, will das natürlich auch die Deutsche Bank – sonst verliert sie ihre Wettbewerbsfähigkeit auf dem internationalen Kapitalmarkt und Herr Ackermann vielleicht auch seinen Job. „Solange die Musik gespielt wird, musst du weitertanzen“: So drückte es der gescheiterte Citi-Banker Charles Prince aus. Ich fürchte, dass sich das Glücksrad weiter drehen wird und muss. Diese Krise ist nicht die letzte Heimsuchung ihrer Art. Die nächste lauert schon um die Ecke. Wir können bestenfalls versuchen, den Kollateralschaden intelligent zu begrenzen und die Kosten so eng wie möglich mit den Verursachern zu verbinden. Und deshalb müssen wir die richtigen Konsequenzen aus den Fehlern ziehen.
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SCHAUPLÄTZE
Wo das Geld zu Hause ist
GRAL DES KAPITALS Frankfurter Wertpapierbörse Börsenplatz 4, Frankfurt am Main Die Anfänge des bedeutendsten deutschen Geld- und Wertpapier-Handelsplatzes reichen bis ins Mittelalter zurück. Im Jahr 1150 wurde erstmals die Frankfurter Herbstmesse erwähnt, 1330 kam eine Frühjahrsmesse hinzu. Die Messekaufleute legten 1585 einheitliche Wechselkurse fest. Bald danach trafen
sie sich regelmäßig, um die Kurse zu aktualisieren. Für die Versammlungen ist seit 1605 der Ausdruck Börse verbürgt. Ihr internationaler Bedeutungszuwachs im 19. Jahrhundert hing eng mit dem Aufstieg der Familie Rothschild als Finanzier europäischer Fürstenhäuser zusammen. Neben London und Paris wurde die Stadt am Main zur Weltbörse. Von der Bedeutung und dem Selbstbewusstsein
des hessischen Handelsplatzes zeugt die repräsentative Architektur des 1843 eröffneten Gebäudes nahe der Hauptwache. Es ist heute der Sitz des Wertpapiergeschäfts, hier schlägt der Puls des Aktienhandels, von dem täglich mehrere Fernsehsender live berichten. Individuelle und Gruppenbesichtigungen der Frankfurter Wertpapierbörse inklusive kostenfreier Einführungsvorträge mit Stippvisite des Parketthandels sind möglich, doch ist eine Anmeldung erforderlich (Tel. 069/21111515, E-Mail:
[email protected]). Das Besucherzentrum hat montags bis freitags von 10 bis 18 Uhr geöffnet.
BUCHEMPFEHLUNGEN Charles P. Kindleberger: Manien, Paniken, Crashs. Die Geschichte der Finanzkrisen.
Börsenmedien; 344 Seiten; 39,90 Euro. Klassiker der Crash-Literatur. Der 2003 verstorbene Autor nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die turbulente Geschichte des Geldes. Edward Chancellor: Devil Take The Hindmost. A History of Financial Speculation.
Macmillan Publishers; 388 Seiten; antiquarisch. Eine Geschichte der Finanz-
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spekulationen, die deren Motiv nicht auf Gier reduziert, sondern auch eine Rebellion gegen die nüchterne Logik realer Ungleichheit erkennt. Niall Ferguson: Der Aufstieg des Geldes. Die Währung der Geschichte.
Econ Verlag; 368 Seiten; 24,90 Euro. Den Finanzen kommt nach Ansicht des britischen Historikers große Bedeutung beim zivilisatorischen Fortschritt zu – er beschreibt die Rolle des Geldes sehr farbig.
Hans-Werner Sinn: Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist.
Econ Verlag; 352 Seiten; 22,90 Euro. Der Münchner Ökonom und Präsident des Ifo-Instituts zeichnet akribisch nach, wie das Versagen von Banken, Aufsichtsorganen, RatingAgenturen und Politikern die aktuelle Krise verursachte. Gerald D. Feldman: The Great Disorder. Politics, Economics, and Society in the German Inflation, 1914 – 1924.
Oxford University Press; 1032 Seiten; 45 brit. Pfund. Das Standardwerk zum Thema – leider unübersetzt. Heinz D. Kurz (Hg.): Klassiker des ökonomischen Denkens.
2 Bände. Verlag C. H. Beck; 360 und 368 Seiten; je 14,95 Euro. Knappe, zuverlässige Übersicht über die großen Theoretiker der Volkswirtschaft. Michael North: Kleine Geschichte des Geldes. Vom Mittelalter bis heute.
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HANNELORE FOERSTER
Handelssaal der Frankfurter Börse
Geldmuseum
Museum of American Finance
Wilhelm-Epstein-Str. 14, Frankfurt am Main
48, Wall Street – New York
Von der Deutschen Bundesbank vor zehn Jahren eingerichtet, bietet das Geldmuseum bei freiem Eintritt Führungen für verschiedene Altersgruppen sowie ein spezielles Kinder-Ferienprogramm an. Gezeigt werden Exponate, die Funktion, Geschichte und Herstellung des Geldes beleuchten. Auch die Aufgaben der Währungspolitik und der Zentralbanken werden erklärt, ebenso die Etappen der Euro-Einführung. Öffnungszeiten: Mo., Di., Do., Fr., Sonn-und Feiertage: 10 bis 17 Uhr. Mi. 10 bis 21 Uhr.
Verlag C. H. Beck; 256 Seiten; 14,95 Euro. Ein Überblick des Greifswalder Wirtschaftshistorikers über die Geschichte des Geldes in Europa – von den Münzstätten des Mittelalters bis zu den spekula-
Seit 21 Jahren leistet sich Amerika ein Finanzmuseum, das im legendären Zentrum der Weltwirtschaft liegt. Die Dauerausstellung ist in sechs Räumen untergebracht, die sich jeweils einem Thema widmen. Eines zeigt die gegenwärtige Weltfinanzkrise: mit Video-Präsentationen und auf einer monumentalen, mit Grafiken bedeckten Wandfläche. Die Darstellung reicht vom Platzen der USImmobilienblase Ende 2006 bis ins Jahr 2009. Weitere Ausstellungsräume: GELD erzählt die Geschichte der US-Währung
tiven Finanzprodukten von heute. Wolfram Weimer: Geschichte des Geldes. Eine Chronik mit Texten und Bildern.
Suhrkamp Verlag; 272 Seiten; 7,99 Euro.
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von den frühesten Dollar-Formen bis zur Gegenwart. BANKEN informiert über die Entwicklung des Bankensystems und der amerikanischen Zentralbank. UNTERNEHMER präsentiert beispielsweise Video-Interviews mit 16 Firmenchefs von heute. Die FINANZMÄRKTE füllen den größten aller Ausstellungsräume und geben Einblick in das Börsengeschehen. Dem ersten Finanzminister der Vereinigten Staaten, der die Grundlagen des US-Kapitalismus legte, ist der ALEXANDER HAMILTON ROOM gewidmet. Öffnungszeiten: Di. bis Sa.: 10 bis 16 Uhr. Eintritt 5 bis 8 Dollar; in den Sommermonaten freier Eintritt von 10 bis 11 Uhr.
Vom Nephritbeilchen bis zur Kreditkarte: In zehn Kapiteln führt das lehrreiche und unterhaltsame Brevier, dem auch die Chroniken in dieser Ausgabe viel verdanken, durch die Geschichte.
John Kenneth Galbraith: Finanzgenies. Eine kurze Geschichte der Spekulation. Eichborn Verlag; 96 Seiten; antiquarisch.
Immergrüner Klassiker des großen amerikanischen Ökonomen.
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VORSCHAU
Die nächste Ausgabe von SPIEGEL GESCHICHTE erscheint am Dienstag, 29. September 2009
Urknall der Neuzeit Die Jahrzehnte um 1500 gehören zu den aufregendsten Abschnitten der Geschichte: Entdecker, Eroberer und Erfinder revolutionieren das Weltbild und den Alltag der Menschen. Epochale Persönlichkeiten wie der Buchdruck-Erfinder Gutenberg, der Reformator Luther oder der Astronom Kopernikus stehen neben weiblichen Ausnahmegestalten wie Lucrezia Borgia und Margarete von Navarra. Aber der Aufbruch in die Moderne ist überschattet von Ausbeutung und Aberglauben.
IMPRESSUM SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG Brandstwiete 19, 20457 Hamburg TELEFON (040) 3007-0 TELEFAX (040) 3007-2246 (Verlag), (040) 3007-2247 (Redaktion) E-MAIL
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Mathias Müller von Blumencron STELLV. CHEFREDAKTEUR Dr. Martin Doerry VERANTWORTLICH Dietmar Pieper, Norbert F. Pötzl REDAKTION Karen Andresen, Annette Bruhns, Angela Gatterburg, Annette Großbongardt, Joachim Mohr, Bettina Musall, Dr. Johannes Saltzwedel, Dr. Rainer Traub; Autor: Stephan Burgdorff REDAKTEUR DIESER AUSGABE
Dr. Rainer Traub CHEF VOM DIENST Thomas Schäfer, Holger Wolters GESTALTUNG Rainer Sennewald BILDREDAKTION Claus-Dieter Schmidt, Anke Wellnitz INFOGRAFIK Cornelia Baumermann, Ludger Bollen, Gernot Matzke, Cornelia Pfauter, Julia Saur, Johannes Unselt SCHLUSSREDAKTION Reinhold Bussmann, Lutz Diedrichs, Bianca Hunekuhl DOKUMENTATION Sonny Krauspe; Jörg-Hinrich Ahrens, Johannes Eltzschig, Johannes Erasmus, Cordelia Freiwald, AnneSophie Fröhlich, Dr. André Geicke, Silke Geister, Maike Haselmann, Ulrich Klötzer, Peter Kühn, Dr. Walter Lehmann, Rainer Lübbert, Nicola Naber, Margret Nitsche, Thomas Riedel, Rolf G. Schierhorn, Stefan Storz, Holger Wilkop TITELBILD Stefan Kiefer; Constanze von Kitzing, Iris Kuhlmann, Gershom Schwalfenberg, Arne Vogt ORGANISATION Angelika Kummer, Antje Wallasch PRODUKTION Solveig Binroth, Christiane Stauder, Petra Thormann HERSTELLUNG Mark Asher VERANTWORTLICH FÜR ANZEIGEN
Norbert Facklam ANZEIGENOBJEKTLEITUNG Arne Stefan Stiller VERANTWORTLICH FÜR VERTRIEB
Thomas Hass DRUCK appl druck GmbH & Co. KG, Wemding OBJEKTLEITUNG Sabine Krecker GESCHÄFTSFÜHRUNG Ove Saffe © SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, Juli 2009 ISSN 3632-6037
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Abonnementbestellung Coupon bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an: SPIEGEL-Verlag, Kunden-Service 20637 Hamburg oder per Fax: (040) 3007-3070 Ich bestelle mindestens sechs Hefte SPIEGEL GESCHICHTE frei Haus für nur € 6,10 pro Ausgabe statt € 6,80 im Einzelkauf. Der Bezug verlängert sich um ein weiteres Jahr, wenn nicht sechs Wochen vor Ende des Bezugszeitraums gekündigt wird. Das Angebot gilt nur in Deutschland. Bitte liefern Sie SPIEGEL GESCHICHTE an: Name, Vorname des neuen Abonnenten Straße, Hausnummer oder Postfach
LEONARDO Der Mann aus Vinci bei Florenz war eines der universellsten Genies aller Zeiten. Als Maler, Erfinder, Forscher, Ingenieur und Architekt schuf er visionäre Werke.
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HEXENWAHN Die Jagd auf Frauen, die angeblich mit dem Satan im Bunde sind, erreicht erst nach dem Ende des Mittelalters ihren grausigen Höhepunkt.
GEOGRAFIE Im selben Jahr, als Kolumbus in Amerika landet, lässt der Nürnberger Martin Behaim den ersten Globus bauen – noch fehlt die Neue Welt.
PLZ, Ort
Ich bezahle bequem und bargeldlos per Bankeinzug ( jährlich € 36,60) Bankleitzahl, Kontonummer Geldinstitut, in Datum, Unterschrift des neuen Abonnenten SG09-016
SPIEGEL GESCHICHTE
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JOSEPH MARTIN / AKG (O.); CULTURE-IMAGES/LM&A (L.); AKG (M.); DANIEL KARMANN/DPA (R.)
KOLUMBUS Einen neuen Seeweg nach Indien wollen sie finden, doch bald stellt sich heraus, dass Christoph Kolumbus und seine Mannschaft 1492 einen damals unbekannten Kontinent betreten haben; er wird später Amerika heißen. (Gemälde von 1862)