RUDOLF STEINER - TTB 11 - SPIRITUELLE PSYCHOLOGIE

February 24, 2018 | Author: PetitJerome | Category: Rudolf Steiner, Soul, Consciousness, Unconscious Mind, Metaphysical Theories
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Anthroposophie; Rudolf Steiner; Vorträge aus dem Gesamtwerk; Thementaschenbücher; INHALT: Anthroposophie und Psychologie...

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Dieses E-BOOK ist nur zum nichtkommerziellen Gebrauch bestimmt!

R U D O L F

STEINER

Themen aus dem Gesamtwerk Band n

Das Werk Rudolf Steiners gründet sich methodisch und erkenntniswissenschaftlich auf die Darstellungen der grundlegenden Schriften. Diese bilden zusammen mit den übrigen Schriften und den Aufsatzbänden das geschriebene Werk von überschaubarem Umfang, rund 4 0 Bände. Daneben ist die Fülle der nachgeschriebenen Vorträge außerordentlich, in der Gesamtausgabe mehr als 2 5 0 Bände. Diese Vorträge waren alle frei gehalten und nicht zum Druck bestimmt. Ihre Herausgabe erfolgt nach von Rudolf Steiner nicht durchgesehenen Nachschriften. Sie enthalten jedoch den Ausbau und die Entfaltung der in den Schriften entwickelten Grundkonzeptionen nach den verschiedensten Richtungen und Lebensbereichen. Sie stellen in ihrer thematischen Mannigfaltigkeit auch heute noch eine nicht bewältigte Aufgabe dar. So ist das M o t i v dieser Taschenbuchreihe: unter den in unserer Zeit aktuellen Gesichtspunkten den Zugang z u verschiedenen i m Vortragswerk verstreuten und nicht zusammenhängend ausgearbeiteten Themenkomplexen z u eröffnen und damit zugleich den Ansatz der anthroposophischen Erkenntnismethode an bestimmten Problemkreisen z u verdeutlichen; die jeweilige Z u sammenstellung von Vorträgen beansprucht dabei inhaltlich keine Vollständigkeit.

R U D O L F STEINER

Spirituelle Psychologie Grundbegriffe einer anthroposophischen Seelenkunde Vorträge, ausgewählt und herausgegeben von Markus Treichler

V E R L A G FREIES G E I S T E S L E B E N

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Steiner,

Rudolf:

Themen aus dem Gesamtwerk / Rudolf Steiner. Stuttgart: Verlag Freies Geistesleben N E : Steiner, Rudolf: [Sammlung] B d . i i . Spirituelle Psychologie: Grundbegriffe e. anthroposoph. Seelenkunde; Vorträge / ausgew. u. hrsg. von Markus Treichler. - 1 9 8 4 ISBN 3-7725-0081-1 N E : Treichler, Markus [Hrsg.]

Einbandgestaltung: Martin Diethelm Alle Rechte an den Texten von Rudolf Steiner, insbesondere das Recht der Ubersetzung, bei der Rudolf-SteinerNachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz © 1 9 8 4 Verlag Freies Geistesleben G m b H , Stuttgart Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck

Inhalt

V o r w o r t (des Herausgebers)

6

A n t h r o p o s o p h i e u n d Psychologie (2. 6. 1922) Theosophische Seelenlehre (16. 3. 1904) Geist, Seele u n d L e i b des Menschen

(28.2.

9 33

1918)

53

D i e vorgeburtliche u n d nachtodliche W u r z e l des Seelischen i n B i l d u n d K e i m (22. 8. 1919)

83

D i e Dreigliederung der Seele (30.10.1921)

99

D i e leibliche, seelische u n d geistige Seite des Seelenlebens (1. 11. 1910)

119

Seelenkräfte zwischen Vorstellen u n d Begehren (3. 11. 1910)

141

V o m Wesen des Bewußtseins. Das Entstehen des Urteils und der Ich-Vorstellung (4. 11. 1910) D e r menschliche Charakter

(14.3.

1910)

i6j 203

D e n k e n - Fühlen - W o l l e n (1 j . 7. 1921)

233

G r u n d l i n i e n einer okkulten Psychologie (30. 9. 1921)

253

A n m e r k u n g e n (des Herausgebers)

271

Nachwort

279

Quellennachweis

310

Vorwort

Spirituelle Psychologie durchzieht das gesamte geisteswissenschaftliche Werk Rudolf Steiners. Es gibt keinen speziell psychologischen Kurs, wie es pädagogische, landwirtschaftliche, naturwissenschaftliche, medizinische und andere Fachkurse von Rudolf Steiner gibt. Eine spirituelle Psychologie aus anthroposophischer Welt- und Menschenerkenntnis soll nicht eine neue psychologische Theorie sein. D i e anthroposophisch-spirituelle psychologische Anschauung soll fruchtbar werden im Umgang mit Menschen. «Die Psychologie muß aus der Bewußtseinsseele heraus neu begründet werden. Die Psychologie sollte aber keine neue Theorie, sondern eine spirituelle Betätigung werden, mit der man dem Niedergang entgegenarbeitet, denn die Menschen verlieren das Seelische. Dies wäre Ihre anthroposophische Aufgabe.»' Die psychologische Wissenschaft, wie sie heute betrieben wird, ist in den beiden letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts entstanden, zu der Zeit, als Rudolf Steiner neben der Herausgabe von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften seine eigenen philosophischen Werke verfaßte. E r beobachtete und kommentierte aufmerksam die Entstehung und Entwicklung der neuen Wissenschaft vom Seelenleben, die vor ihrer Geburt schon den Geist und unter der Geburt ihre Seele verloren hatte. Heute, so könnte man als k r i tischer und skeptischer Beobachter hinzufügen, habe diese Wissenschaft i m Alter von gerade 1 0 0 Jahren - für eine Wissenschaft noch kein Alter - vorzeitig den Verstand und zuletzt auch noch das Bewußtsein verloren. So wenigstens die Richtungen der orthodoxen Verhaltenspsychologie und der Lerntheorien, die ihre als H u m a n psychologie verbreiteten Erkenntnisse fast ausschließlich i n Experimenten mit Ratten gewonnen haben. Freilich gibt es auch andere psychologische Theorien, für die die «Psychologie des Menschlichen» nicht nur Lippenbekenntnisse sind. Die in diesem Band zusammengefaßten Vorträge Rudolf Steiners stellen nun weder eine vollständige noch eine systematische A b handlung einer anthroposophischen Psychologie dar. Sie wollen dem an Psychologie interessierten Leser das Kennenlernen einiger wesentlicher Gesichtspunkte einer spirituellen Psychologie aus dem 2

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6

Werk Rudolf Steiners erleichtern. Daß es dabei auf die «spirituelle Betätigung» ankommt, sollte nicht vergessen werden. Die Reihenfolge der Vorträge, die der Rudolf-Steiner-Gesamtausgabe entnommen sind, ist nicht chronologisch, sondern folgt einem inhaltlichen Aufbau, der im einzelnen in den den Vorträgen vorangestellten Bemerkungen unter Berücksichtigung der ursprünglichen Umstände der Vorträge angesprochen wird. Verzichtet wurde in der vorliegenden Auswahl auf die Wiedergabe von Darstellungen Rudolf Steiners zum Komplex des Unterbewußtseins ', weil es hier darauf ankam, die Grundlagen und Methoden einer anthroposophisch-spirituellen Psychologie aufzuzeigen. Ihre Stellung zur gegenwärtigen Psychologie, in der dieser Komplex eine bedeutende Rolle spielt, wird unter dem Gesichtspunkt der Selbsterkenntnis i m Nachwort z u beschreiben versucht.

Anmerkungen

1 R. Steiner am 6. Juli 1 9 2 4 , siehe Kurt Vieri: «Selbsterziehung in der Heilpädagogik» 1 9 7 9 . Dazu auch Kurt Vieri: «Psychologie - eine spirituelle Betätigung?»; i n : Mitteilungen aus der anthroposophischen Arbeit in Deutschland, Heft 4 , Weihnachten 1 9 8 3 . 2 Vgl. A n m . 11 zu den Vorträgen, S. 2 7 1 f. 3 K. Holzkamp: «Verborgene anthropologische Voraussetzungen der allgemeinen Psychologie»; in: Neue Anthropologie Bd. 5: Psychologische Anthropologie 1 9 7 3 . 4 C . F . Graumann: «Bericht zur Lage der Psychologie 1 9 7 0 » ; in: «Psychologie in Deutschland, ein Bericht zur Lage von Forschung und Lehre» 1 9 8 3 . 5 In unserer Auswahl ist das «Unterbewußte» angesprochen in dem Vortrag vom 4. n . 1 9 1 0 . Vgl. dazu im weiteren die beiden Vorträge von Rudolf Steiner «Uber die Psychoanalyse» vom 1 0 . und 1 1 . 1 1 . 1 9 1 7 in G A

178.

D e r nachfolgende erste Vortrag der vorliegenden Zusammenstellung wurde als öffentlicher Vortrag am 2. Juni 1 9 2 2 auf dem von ca. zweitausend Menschen aus ganz Europa besuchten Wiener WestOst-Kongreß gehalten. Es ist der zweite von fünf Vorträgen, die unter dem Oberthema «Anthroposophie und Wissenschaften» gehalten wurden. D e r erste Abendvortrag des Kongresses war dem Verhältnis Anthroposophie und Naturwissenschaft gewidmet. Der zweite, hier abgedruckte Vortrag behandelt den Zusammenhang von Anthroposophie und Psychologie. Rudolf Steiner führt darin in einem großen Bogen den Weg von dem fragenden und staunenden Erleben des Menschen seiner eigenen Seele gegenüber zu den methodischen Schritten einer anthroposophisch-geisteswissenschaftlich fundierten Psychologie. Bestimmte Seelenübungen werden charakterisiert, um sich den höchsten Fragen der Psychologie zu nähern und die Seele z u einem Geistorgan zu bilden. Durch seinen umfassenden Charakter und die enthaltenen methodischen Hinweise ist dieser öffentliche Vortrag eine geeignete Einführung i n das Gebiet einer spirituellen Psychologie. 8

Anthroposophie und Psychologie

M e i n e sehr verehrten Anwesenden! W e n n die Daseinsrätsel des Lebens die menschliche Seele selbst betreffen, so werden sie nicht n u r z u großen Lebensfragen, sondern sie werden i n einem intimen Sinn z u m Leben selbst. Sie werden Glück oder L e i d des Daseins des Menschen. U n d zwar nicht bloß vorübergehendes G l ü c k oder L e i d , sondern Glück oder L e i d , das der M e n s c h durch eine gewisse D a u e r durch das Leben tragen muß, so daß er durch dieses Glücks- oder Leideserlebnis tüchtig oder untüchtig für das Leben w i r d . N u n steht der M e n s c h seiner eigenen Seele so gegenüber, daß i h m die wichtigsten Daseinsfragen i n bezug auf diese Seele und ihre geistige Wesenheit eigentlich nicht aus dem G r u n d e aufgehen, w e i l er irgendwie zweifeln könnte an dem Geistig-Seelischen seines eigenen Wesens. Gerade w e i l er i n einer gewissen Beziehung dieser seiner eigenen geistigen u n d seelischen Wesenheit gewiß ist, w e i l er i n dieser geistigen u n d seelischen Wesenheit seine eigentliche Bedeutung als M e n s c h u n d seine Würde als M e n s c h sehen m u ß , w i r d i h m die Frage nach dem Weltenschicksal seiner Seele z u m großen, gewaltigen Daseinsrätsel. Das G e i stige i n dem Menschen selbst z u leugnen, fällt ja selbstverständlich auch dem strammsten Materialisten nicht ein. E r w i r d das Geistige als solches anerkennen, es gewissermaßen nur ansehen als Ergebnis der physischen, materiellen Vorgänge. D e r jenige aber, der ohne solche Theorie, einfach aus den tiefsten Empfindungsbedürfnissen seiner Seele, nach dem Schicksal dieses seelischen Selbstes fragt, der w i r d sich i m Leben gegenübergestellt finden einer U n s u m m e v o n Erscheinungen, v o n Erfahrungen, die i h m gerade deshalb z u Rätselfragen werden, w e i l er sich des seelisch-geistigen Lebens v o l l bewußt ist, u n d weil er gerade deshalb fragen m u ß : Ist dieses geistig-seelische Leben ein vorübergehender H a u c h , aufsteigend aus dem physischen D a -

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sein u n d m i t i h m wiederum i n die allgemeine Naturtatsachenwelt zurückkehrend, oder hängt dieses Geistig-Seelische mit einer geistig-seelischen Welt selbst zusammen, innerhalb welcher es eine ewige Bedeutung hat? Ich möchte v o n den vielen Erlebnissen des Seelischen, die an den Menschen herantreten und die i h m die Rätselfragen der Seele vor das geistige A u g e führen, n u r z w e i herausgreifen. M a n kann sagen: Wenigen Menschen werden sich vielleicht diese Erlebnisse so aufdrängen, daß sie sie z u bewußten oder gar z u theoretischen Seelenfragen machen. Das ist aber auch gar nicht das Wichtige. Das Wichtige ist, daß solche Erlebnisse gerade die unterbewußten oder unbewußten Seelenregionen ergreifen, i n diesen sich festlegen u n d i n das Bewußtsein n u r heraufströmen als allgemeine Seelenstimmung oder auch Seelenverstimmung, als dasjenige, was uns m u t i g u n d kraftvoll i m Leben macht, oder als dasjenige, was uns niedergeschlagen macht, so daß w i r an keiner Stelle i n der Lage sind, uns selbst richtig i n das Leben hineinzufinden oder auch dieses Leben i n der für uns geeigneten Weise z u erfassen. W i e gesagt, nur zwei v o n diesen E r lebnissen möchte i c h herausheben. Das eine tritt dem Menschen jeden A b e n d , wenn er einschläft, v o r das Seelenauge, w e n n das, was während des wachen Tageslebens auf u n d ab wallt u n d webt i m seelischen Erleben, wie ausgelöscht hinuntersinkt i n die Unbewußtheit. D a n n , w e n n der M e n s c h hinschaut auf dieses Erlebnis oder, wie es bei den meisten M e n s c h e n der Fall ist, w e n n er die unbewußten E m p f i n d u n gen dieses Erlebnisses i n seiner Seele w i r k s a m hat, dann überk o m m t i h n etwas wie die O h n m a c h t dieses Seelenlebens gegenüber dem äußeren Weltengang. U n d gerade weil der M e n s c h i m Seelenleben sein Wertvollstes, sein Würdigstes sieht, w e i l er nicht ableugnen kann, daß er i m wahren Sinn des Wortes eben ein geistig-seelisches Wesen ist, so bestürmt ihn v o n innen heraus dasjenige, was er also als O h n m a c h t des seelischen Lebens empfindet, u n d er muß sich fragen: Übernimmt, wenn der M e n s c h durch die Pforte des Todes schreitet, das allgemeine Naturgeschehen ebenso die seelischen Erlebnisse, wie dieses allgemeine Naturgeschehen sie jedesmal beim Einschlafen übernimmt? 10

Ich möchte sagen, das eine Erlebnis ist die O h n m a c h t des Seelenlebens. Das andere Erlebnis ist dem ersten i n einer gewissen Weise polarisch entgegengesetzt. W i r erfühlen es mehr oder weniger bestimmt oder unbestimmt, bewußt oder unbewußt, w e n n w i r i m Aufwachen, vielleicht nach dem Ubergang durch eine phantastisch chaotische, mit der W i r k l i c h k e i t nicht übereinstimmende Traumwelt, mit dem, was w i r als unser Geistig-Seelisches erfühlen u n d erleben, untertauchen i n unsere Leiblichkeit. W i r empfinden dann, wie dieses Geistig-Seelische unsere Sinne ergreift, wie w i r d u r c h die Wechselbeziehungen zwischen der A u ßenwelt u n d unseren Sinnen, die ja physisch-physiologischer N a t u r sind, unser seelisches Erleben durchsetzt haben. W i r empfinden, wie dieses Geistig-Seelische weiter hinuntersteigt i n unsere Leiblichkeit, wie w i r unsere Willensorgane mit diesem Geistig-Seelischen ergreifen u n d dann z u m wachen, besonnenen Menschen werden, der sich seines Leibes, seines Organismus bedienen kann. A b e r w e n n w i r uns n u n besinnen, so müssen w i r uns sagen: T r o t z aller A n a t o m i e u n d Physiologie, die ja v o n außen i n großartiger Weise die Leibesfunktionen z u durchschauen, z u analysieren bestrebt sind: v o n innen angeschaut, wissen w i r Menschen durch das gewöhnliche Bewußtsein zunächst nichts v o n dem, was da als ein Wechselverhältnis besteht zwischen unserem Geistig-Seelischen u n d unseren leiblichen Verrichtungen. W e n n w i r die einfachste Leibesverrichtung, die aus dem W i l l e n hervorgeht, ins A u g e fassen, das Erheben des A r m e s , das Bewegen der H a n d , müssen w i r uns sagen: Zunächst sitzt i n uns die Vorstellung, der Gedanke dieses Armhebens, dieser H a n d b e w e gung. W i e aber dieser Gedanke, diese Vorstellung hinunterströmt i n unseren Organismus, wie er eingreift i n unser Muskelsystem, wie zuletzt das zustande k o m m t , was w i r doch wiederum nur durch Anschauung selber kennen: was da i m Innern eigentlich vorgeht, bleibt dem gewöhnlichen Bewußtsein verborgen, ebenso wie verborgen bleibt i n jenem wunderbaren Mechanismus, den uns die P h y s i k u n d Physiologie zeigen, i m menschlichen A u g e oder i n einem anderen Sinnesorgan das Geistig-Seelische, das i n diesen wunderbaren Mechanismus eingreift.

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So, müssen w i r sagen, ist es die O h n m a c h t des Seelenlebens auf der einen Seite, die uns Rätsel aufdrängt, so ist es die Finsternis, i n die w i r untertauchen m i t unserem Geistig-Seelischen, w e n n w i r i n den eigenen L e i b dieses Geistig-Seelische einströmen fühlen, was uns die Rätselfragen weiter aufwirft. W i r müssen uns sagen - gewiß, die meisten Menschen tun das wieder nicht bewußt, aber sie empfinden es als die Stimmung ihrer Seele-: Dieses Geistig-Seelische i n seinem Wechselverhältnis mit dem Organismus ist uns als Schöpferisches unbekannt, es ist uns da unbekannt, w o es gerade i m physischen Erdenleben seine eigentliche B e s t i m m u n g nach außen i m Dasein offenbart. Was auf diese A r t jeder naive M e n s c h erlebt, erstreckt sich i n einer etwas veränderten F o r m hinein i n die Seelenwissenschaft. Es müßte allerdings lange gesprochen werden, wenn die A r t u n d Weise, wie sich diese Rätselfragen i n die Wissenschaft hineinschleichen, wissenschaftsgemäß erörtert werden sollten; aber es kann wenigstens, m i t einer gewissen Äußerlichkeit vielleicht, i n der folgenden Weise gesagt werden. A u f der einen Seite sieht die Wissenschaft nach dem Seelischen h i n u n d fragt sich: W i e steht dieses Seelische mit dem Körperlichen, mit dem Äußerlich-Leiblichen i m Wechselverhältnis? I n dem sie nach der anderen Seite, nach dem Körperlichen h i n schauen u n d nach all dem, was die äußere Naturwissenschaft über dieses Körperliche z u sagen hat, sind dann die einen - u n d die Seelenkunde hat i n dieser Beziehung eine lange Geschichte der M e i n u n g , man müsse das Seelische vorstellen als die eigentlich wirksame Ursache des L e i b l i c h e n ; die andern sind der M e i nung, man müsse das Leibliche ansehen als das, was das eigentlich Kraftende dabei ist, u n d das Seelische n u r als eine A r t W i r kung des Leiblichen. Das Unbefriedigende dieser beiden A n schauungen haben neuere Seelenforscher oder -denker durchschaut, u n d sie haben daher die sonderbare Anschauung v o n dem psychophysischen Parallelismus aufgestellt, nach welcher man nicht sagen kann, das Leibliche w i r k e auf das Seelische oder das Seelische auf das Leibliche, sondern n u r : leibliche Vorgänge seien dem seelischen Geschehen parallel u n d seelische Vorgänge dem leiblichen; man könne i m m e r n u r sagen, welche seelischen 1

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Vorgänge die leiblichen begleiten oder welche leiblichen die seelischen. A b e r diese Seelenkunde empfindet ja selbst auf der einen Seite etwas wie die O h n m a c h t des Seelenlebens. W e n n man mit dem gewöhnlichen Bewußtsein dieses Seelenleben, auch wie es dem Seelenforscher, dem Psychologen, vorliegt, z u durchschauen unternimmt, so hat es etwas innerlich Passives, es hat etwas, dem man nicht anschauen kann, daß es kraftend eingreift i n das L e i besleben. W e r die seelischen Wesenhaftigkeiten v o n D e n k e n u n d Fühlen - beim W o l l e n ist es so, daß es nicht durchschaut werden k a n n ; daher gilt i n einer gewissen Beziehung für die Seelenforschung gegenüber dem W o l l e n dasselbe wie gegenüber dem D e n k e n u n d Fühlen - , wer dieses D e n k e n u n d Fühlen mit den M i t t e l n der Seelenkunde anschaut, dem k o m m t es kraftlos vor, so daß er nirgends etwas finden kann, was w i r k s a m w i r k l i c h eingreifen könnte i n das Leibliche. D a empfindet dann der Seelenforscher, was man nennen könnte die O h n m a c h t des Seelenlebens für das gewöhnliche Bewußtsein. Allerdings ist ja i n der verschiedensten Weise versucht w o r d e n , dieses Gefühl der O h n macht des Seelenlebens z u überwinden. A b e r der Streit der P h i losophen, die Wandlungen der einzelnen philosophischen Weltanschauungen, die i m Laufe der Zeit aufgetaucht sind, liefern dem unbefangenen Menschenbetrachter einen Tatsachenbeweis, w i e unmöglich es dem gewöhnlichen Bewußtsein ist, diesem seelischen Erleben b e i z u k o m m e n , weil sich überall das Gefühl v o n der O h n m a c h t jenes Seelischen aufdrängt, das eben dieses gewöhnliche Bewußtsein beobachten kann. Gerade i n bezug auf eine solche Beobachtung des Seelenlebens v o r dem gewöhnlichen Bewußtsein ist hier i n W i e n eine Reihe klassischer Literaturwerke aufgetreten, die wie Marksteine dastehen innerhalb der philosophischen Entwickelung. Ich meine, trotzdem i c h nicht i m entferntesten m i c h selber irgendwie z u dem Inhalt dieser Bücher bekennen kann, daß diese Bücher gerade v o m Standpunkt des gewöhnlichen Bewußtseins aus außerordentlich bedeutsam sind. Ich meine Richard Wahles «Das G a n z e der Philosophie u n d ihr Ende», i n dem dargestellt werden soll, wie dieses gewöhnliche Bewußtsein eigentlich z u keinen er13

heblichen Resultaten gegenüber dem Seelenleben k o m m e n könne, wie dann abgegeben werden müsse, was philosophische F o r s c h u n g i n dieser R i c h t u n g z u erstreben versucht, an T h e o l o gie, Physiologie, Ästhetik, Sozialpädagogik. U n d i n einer n o c h schärferen Weise hat dann R i c h a r d Wahle die Gedanken dieses Buches i n seinem «Mechanismus des geistigen Lebens» ausgeführt. W i r können sagen: D a w i r d w i r k l i c h einmal gezeigt, daß das gewöhnliche Bewußtsein i m G r u n d e genommen ohnmächtig ist, irgendwie etwas auszusagen gegenüber den Fragen des seelischen Lebens. Das Ich, die seelische Einheit, alles das, was eine ältere Psychologie an die Oberfläche gebracht hat, sie zerfallen v o r der K r i t i k , die dieses gewöhnliche Bewußtsein gegenüber sich selbst ausübt. A u f der anderen Seite ist i n der neueren Zeit i n begreiflicher, ja man muß sagen, i n notwendiger Weise versucht w o r d e n , mit der Seelenkunde nicht direkt auf das Seelische loszugehen, demgegenüber das gewöhnliche Bewußtsein eben ohnmächtig ist, sondern auf dem U m w e g e durch die Leibeserscheinungen, die aus dem sogenannten Seelischen hervorquellen, irgend etwas z u erkunden über dasjenige, was man gewöhnlich seelische Erscheinungen nennt. So ist experimentelle Psychologie entstanden. Diese ist durchaus ein notwendiges P r o d u k t unserer gegenwärtigen Weltanschauung u n d unserer gegenwärtigen Forschungsmethode. U n d w e r auf dem B o d e n steht, v o n dem aus ich hier heute z u Ihnen spreche, der w i r d die volle Berechtigung dieser experimentellen Seelenkunde niemals leugnen. E r w i r d vielleicht i m einzelnen s o w o h l mit den Forschungswegen wie auch mit den Forschungsergebnissen nicht ganz einverstanden sein; aber die Berechtigung dieser experimentellen Psychologie oder Seelenkunde darf nicht geleugnet werden. D a erhebt sich dann gerade das andere Seelenrätsel. W e n n w i r n o c h soviel erfahren über das, was durch experimentelle Seelenkunde m i t dem menschlichen Leibe erlebt werden kann, so müssen w i r d o c h sagen: Alles was i n dieser Weise auf dem U m w e g e durch den L e i b erkundet w i r d , oder auch was erkundet w i r d scheinbar über reine Seelenfunktionen, ist doch nur, wenn man sich nicht täuschen w i l l , auf dem U m w e g durch den L e i b er14

kannt. A l l e s das gehört d o c h einer Sphäre an, die mit dem T o d des M e n s c h e n übergeben w i r d dem allgemeinen Naturgeschehen, so daß dadurch nichts erfahren werden kann über das G e i stig-Seelische, dessen Weltschicksal dem Menschen eine so große, gewaltige Angelegenheit ist. U n d so können w i r sagen, i n einer gewissen Weise ist auch für diese Seelenkunde das große Seelenrätsel neu aufgetaucht. W i e d e r ist es ein neuerer Seelenforscher, der lange hier i n W i e n gelebt u n d gewirkt hat, der allen denen unvergeßlich sein w i r d , die jemals v o r i h m auf den Schulbänken hier i n W i e n gesessen haben, wie i c h selber, der i c h z u Ihnen spreche. E s ist ein moderner Seelenforscher, der i n dem ersten Bande seines unvollendet gebliebenen Werkes über Psychologie es ausgesprochen hat: Was könnte uns alle Seelenkunde bringen, w e n n sie uns aufklärte - sei es n u n , das füge i c h ein, auf experimentellem oder nichtexperimentellem Wege - über die A r t u n d Weise, wie sich die Vorstellungen verbinden oder lösen, wie die Aufmerksamkeit w i r k t , wie das Gedächtnis etwa zustande k o m m t i m Leben zwischen G e b u r t u n d T o d u n d so weiter, wenn w i r gerade wegen der W i s senschaftlichkeit dieser Seelenkunde, die der Naturwissenschaft nacheifern w i l l , verzichten müßten, z u erkennen, welches das Schicksal der menschlichen Seele ist, wenn der menschliche L e i b in seine Elemente zerfällt? Das, meine sehr verehrten Anwesenden, hat nicht irgendein Phantast ausgesprochen, sondern der strenge D e n k e r F r a n z B r e n t a n o , der die Seelenkunde i m wesentlichen z u r Aufgabe seines Lebens gemacht hat u n d der i n der Seelenkunde so arbeiten wollte, wie es der strengen naturwissenschaftlichen M e t h o d e der neueren Zeit gemäß ist. D e n n o c h hat gerade er das Seelenrätsel i n der Weise, wie ich es eben angedeutet habe, als ein wissenschaftlich Notwendiges vor seine M i t w e l t hingestellt. 2

A u s alledem m u ß doch der unbefangene M e n s c h heute eine Konsequenz ziehen. Es ist diese, daß w i r m i t den naturwissenschaftlichen M e t h o d e n bis z u dem P u n k t , bis z u dem sie heute ausgebildet sind, i n der Erforschung des Menschen k o m m e n können, daß w i r aber, w e n n w i r mit dem gewöhnlichen Bewußtsein, das für die Naturwissenschaft vollberechtigt ist, wie es auch

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vollberechtigt ist für das gewöhnliche Leben, an das Seelische herangehen, gegenüber dem Seelischen nicht zurechtkommen. U n d aus diesem G r u n d e , w e i l diese Einsicht gerade aus wissenschaftlichen Untergründen sich heute dem unbefangenen M e n schen ergeben muß, spreche ich z u Ihnen v o m Gesichtspunkt einer Weltanschauung, die sich n u n sagt: Es kann eben nicht mit den Seelenkräften, die sich für das gewöhnliche Bewußtsein offenbaren, die da i m gewöhnlichen Leben u n d i n der gewöhnlichen Wissenschaft arbeiten, das seelische Leben erforscht werden. D a müssen i n dieser Seele andere Seelenkräfte entwickelt werden, die für das gewöhnliche Bewußtsein i n der Seele nur mehr oder weniger schlummern oder, wenn ich m i c h eines wissenschaftlichen A u s d r u c k s bedienen w i l l , latent sind. Wenn man die richtige Stellung z u einer solchen Lebensauffassung gewinnen w i l l , dann braucht es allerdings etwas, was heute i m Menschen nur i n einem geringen Maße - lassen Sie m i c h das schon aussprechen - eigentlich vorhanden ist. Es braucht das, was i c h nennen möchte intellektuelle Bescheidenheit. Es muß ein M o m e n t i m Leben k o m m e n , w o man sich sagt: Ich war ein kleines K i n d , i c h habe dazumal seelisches Leben entwickelt, das so hindämmernd traumhaft war, daß es auch so vergessen ist wie ein Traum. Erst allmählich tauchte aus diesem traumhaften k i n d l i chen Seelenleben nach u n d nach dasjenige auf, was m i c h dazu bringt, daß ich mich i m Leben orientieren kann, daß i c h meine Gedanken, meine Gefühlsimpulse, meine Willensentschlüsse einfügen kann dem G a n g der Welt, daß ich ein arbeitsfähiger M e n s c h geworden b i n . A u s dem Unbestimmten und Undifferenzierten des mit dem Leibe verwobenen kindlichen Seelenlebens ist aufgetaucht dasjenige Erleben, das w i r durch unsere vererbten Eigenschaften haben, die sich dann mit dem H e r a n w a c h sen des Leibes ausbilden, das w i r auch durch unsere gebräuchliche E r z i e h u n g haben. Wer so zurückschaut, i n intellektueller Bescheidenheit, wie er i n diesem Erdenleben geworden ist, w i r d es auch nicht verschmähen, sich i n einem gewissen Zeitpunkt seines Lebens z u sagen: W a r u m sollte denn das nicht weitergehen? Diejenigen seelischen Kräfte, die m i r heute die wichtigsten sind, durch die ich 16

m i c h i m Leben orientiere, durch die ich ein arbeitsfähiger M e n s c h werde, sind schlummernde gewesen während meines kindlichen Daseins. W a r u m sollten i n meiner Seele nicht auch Kräfte schlummern, die i c h weiter aus ihr hervorentwickeln kann? M a n muß z u diesem aus der intellektuellen Bescheidenheit hervorgehenden Entschluß k o m m e n . Intellektuelle Bescheidenheit nenne i c h das aus dem G r u n d e , weil der M e n s c h geneigt ist z u sagen: D i e F o r m des Bewußtseins, die i c h einmal als erwachsener M e n s c h habe, ist die des normalen Menschen; was anders sein w i l l i m inneren Seelenleben als dieses sogenannte normale Bewußtsein, das ist entweder Phantasterei oder Halluzination oder V i s i o n oder dergleichen. D i e Weltanschauung, v o n der ich hier spreche, geht durchaus v o m gesunden Seelenleben aus u n d versucht v o m gesunden Seelenleben aus i n der Seele schlummernde Kräfte, auch Erkenntniskräfte, z u entwickeln, die dann Seherkräfte werden i n dem Sinn, wie ich gestern v o n exakten Seherkräften gesprochen habe. Das, was die Seele da mit sich vorzunehmen hat, habe i c h gestern i n einem gewissen Sinne angedeutet. Ich habe auch auf mein B u c h «Wie erlangt man E r kenntnisse der höheren Welten?» hingewiesen, auf meine «Geheimwissenschaft», auf «Von Seelenrätseln» u n d so weiter. D o r t findet man die Einzelheiten jener Seelenübungen, die, ausgehend v o m gesunden Seelenleben, hinaufführen z u einer Entwickelung der Seele, so daß diese tatsächlich z u einer A r t geistigen Schauens k o m m t , d u r c h das sie hineinblicken k a n n i n eine geistig-seelische Welt, wie sie durch die gewöhnlichen Sinnesorgane wahrnehmen kann die physisch-sinnliche Welt. Sie werden i n den genannten Büchern überall einen ersten Teil finden; dieser erste Teil, der w i r d selbst v o n manchen Gegnern der Weltanschauung, die ich hier vertrete, als etwas anerkannt, was dem Menschen durchaus nütze sein könnte. E r handelt davon, daß sich der M e n s c h durch gewisse Übungen intellektueller, gefühlsmäßiger, moralischer A r t i n eine Seelenverfassung und i n eine Leibesverfassung bringt, die durchaus als gesund gelten können, die durchaus dahin streben, daß der M e n s c h auch i n die Lage k o m m e , wachsam innerlich sein z u können gegenüber all dem, was, aus krankhaftem 3

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Seelenleben herauskommend, z u m M e d i u m i s m u s , z u H a l l u z i nationen u n d V i s i o n e n führt. D e n n alles das, was auf diesem Wege zustande k o m m t , muß abgewiesen werden für eine w i r k l i che Seelenkunde. Gerade z u V i s i o n e n k o m m t der M e n s c h nicht aus dem Seelischen heraus, sondern dadurch, daß krankhafte Bildungen innerhalb seines Organismus sich finden; ebenso z u m M e d i u m i s m u s . Das alles hat mit einer gesunden Seelenkunde u n d Seelenentwickelung nichts z u tun, muß selbst seiner Bedeutung nach v o m Gesichtspunkt dieser gesunden Seelenkunde beurteilt werden. Gegner finden heute aber die Übungen, die dann als Fortsetzung dieser vorbereitenden auftreten, die n u n aus der Seele hervorholen sollen diejenigen Kräfte des Denkens, Fühlens u n d Wollens, die, wenn sie ausgebildet sind, den Menschen i n eine geistige Welt so einführen, daß er sich i n ihr orientieren lernt, daß er auch m i t seinem W i l l e n i n sie einzutreten i n die Lage k o m m t , phantastisch u n d schädlich. Andeutungsweise habe i c h gestern schon davon gesprochen, wie w i r zunächst als moderne Menschen durch gewisse D e n k übungen dazu k o m m e n , das D e n k e n aus dem gewöhnlichen Zustand herauszubringen, i n dem es sich passiv hingibt an die Erscheinungen der Außenwelt u n d an das, was innerlich als Erinnerungen auftaucht, was sich ja auch an die Außenwelt anknüpft. W i r k o m m e n dadurch über dieses D e n k e n hinaus, daß w i r Meditationsübungen i n ernster, geduldiger u n d energischer Weise machen, daß w i r sie immer wieder u n d wiederum machen. Je nach den A n l a g e n dauert es bei dem einen jahrelang, bei dem andern weniger lang; aber jeder kann merken, wenn er an dem entscheidenden P u n k t angelangt ist, wie sein D e n k e n dann aus dem, was i c h gestern das abstrakte, tote D e n k e n nannte, ein i n nerlich lebendiges D e n k e n w i r d , ein innerlich lebendiges D e n ken, das den Weltrhythmus mitzuerleben i n der Lage ist. D a strebt eine besonnene Welt- u n d Lebensauffassung nicht danach, Visionen oder H a l l u z i n a t i o n e n aus der Seele herauszuzaubern, sondern danach, das, was Vorstellungsleben, was Gedankenleben ist, i n einer solchen Intensität z u erleben, wie man sonst n u r erlebt, was den äußeren Sinnen gegeben w i r d . Sie brauchen ja n u r ehrlich z u vergleichen die Lebendigkeit, 18

mit der w i r leben i n den Farben, wenn w i r durch das A u g e diese Farben wahrnehmen, i n den Tönen, wenn w i r durch das O h r die Töne hören, mit der Blaßheit des Gedankenerlebens i m gewöhnlichen Bewußtsein. D u r c h jenes Energisieren des Gedankenlebens von dem ich gestern gesprochen habe, machen w i r allmählich das bloße Vorstellungsleben, das bloße Gedankenleben i n nerlich so intensiv, wie sonst nur das Sinnenleben ist. N i c h t also sucht der moderne M e n s c h , der Geistiges erkennen w i l l , wenn er ein besonnener M e n s c h ist, die auftauchenden Halluzinationen und V i s i o n e n ; er strebt gerade nach dem Ideal, möchte ich sagen, des Sinneslebens i n bezug auf dessen Intensität u n d dessen B i l d haftigkeit, i n v o l l besonnener Weise i m Gedankenleben, i m V o r stellungsleben selbst. U n d w e n n Sie sich solchen Meditationen als Geistesforscher hingeben, wie ich sie charakterisiert habe, so dürfen Sie nicht irgendwie abhängig sein v o m Unbewußten oder Unterbewußten, sondern das, was da vollzogen w i r d - Sie können die Übungen nachlesen, alle sind sie auf das gestimmt, was ich jetzt charakterisieren w i l l - , alles, was da i m intimen Seelenleben an Übungen vollführt w i r d , verläuft so bewußt, so besonnen, man darf sagen, so exakt, wie sonst nur die mathematischen oder geometrischen Verrichtungen verlaufen. D a h e r darf gesagt werden: M a n hat es hier nicht mit dem alten nebulosen Hellsehen, sondern mit einem Hellsehen z u tun, das durch vollbewußte, besonnene Seelenerlebnisse u n d Seelenübungen herbeigeführt ist. D i e Besonnenheit ist dabei auf jedem Schritt so, daß man das, was der M e n s c h erlebt u n d aus sich selber macht, eben mit dem vergleichen k a n n , was man sonst an einem geometrischen P r o b l e m erlebt. Sonst ist dieses Üben nicht tauglich. D a n n aber, wenn der moderne Mensch z u einem solchen V o r stellungsleben k o m m t , das nun energisiert ist, das nun auch u n abhängig w i r d v o m Atmungsleben, das aber auch leibfrei w i r d , das eine bloße geistig-seelische F u n k t i o n ist, demgegenüber man durch die unmittelbare Wahrnehmung weiß: man vollzieht nicht mit dem Körper dieses D e n k e n , sondern i m rein Geistig-Seelischen - , dann fühlt er erst dieses D e n k e n gegenüber dem abstrakten D e n k e n wie ein Lebendiges gegenüber dem Toten. G e 19

rade so wie w e n n w i r einen toten Organismus plötzlich z u m L e ben erwacht fänden, so erleben w i r , w e n n w i r den Ubergang gew a h r w e r d e n v o n dem gewöhnlichen abstrakten D e n k e n z u dem lebendigen D e n k e n . U n d dieses lebendige D e n k e n ist, trotzdem es geistig-seelischer Vorgang ist, nicht so linienhaft, nicht so flächenhaft n u r w i e das gewöhnliche abstrakte D e n k e n . Es ist i n nerlich gesättigt u n d bildhaft. U n d auf diese Bildhaftigkeit k o m m t es an. D a n n aber k o m m t des weiteren außerordentlich viel darauf an, daß w i r jene Besonnenheit, die w i r während des Ubens haben müssen, ausdehnen auf den A u g e n b l i c k , w o dieses belebte D e n ken, dieses bildsame D e n k e n i n uns auftritt. W e n n w i r i n diesem Augenblicke uns hingeben den B i l d e r n , z u denen w i r uns selber hingerungen haben, u n d glauben, i n ihnen schon Realitäten geistiger A r t z u finden, dann sind w i r nicht Geistesforscher, dann sind w i r eben Phantasten. Das dürfen w i r gewiß nicht werden; denn das könnte uns nicht eine auf festem G r u n d e erbaute Weltanschauung für den modernen Menschen geben. Erst dann, w e n n w i r uns sagen: W i r haben einen Inhalt des seelischen L e bens erlangt, aber dieser Inhalt ist ein Bildinhalt, dieser Inhalt sagt uns n u r etwas über Kräfte, die i n uns selber walten, über das, was w i r selber durch unsere eigene menschliche Wesenheit i m Innern vermögen; erst w e n n w i r uns i m vollen Sinn des Wortes sagen: Über keinerlei Außenwelt, auch nicht über das, was w i r sind i n der Außenwelt, vermag uns diese, ich nenne sie gewöhnl i c h imaginative Erkenntnis, eine A u s k u n f t z u geben; sondern allein, wenn w i r uns i n diesem B i l d w e r d e n , i n diesem B i l d w e b e n erfühlen, w e n n w i r uns drinnen lebend wissen als eine Kraftheit: erst dann stehen w i r auf dem rechten Standpunkt diesem E r l e b nis gegenüber, dann fühlen w i r uns i n unserem Selbst, dann fühlen w i r uns als geistig-seelisches Wesen außerhalb des Leibes fühlen uns aber eben nur i n unserem Selbst, mit einem innerlichen Bildcharakter unseres Wesens. U n d erst w e n n w i r dann den M u t haben, die Übungen bis z u r nächsten Stufe fortzusetzen, k o m m e n w i r z u einer w i r k l i c h e n geistigen Anschauung. Dieser nächste Schritt muß nicht n u r darin bestehen, daß w i r jetzt die Fähigkeit entwickeln, gewisse 20

Vorstellungen, die w i r leicht überschauen - so etwa, wie w i r geometrische Vorstellungen überschauen, denen gegenüber w i r wissen: es ist nicht etwas Unbewußtes i n ihnen w i r k s a m - , i n den M i t t e l p u n k t unseres Bewußtseins z u rücken, u m an ihnen unsere seelische Kraft z u verstärken, sondern darin, daß w i r i n die Lage k o m m e n , diese Vorstellungen mit Besonnenheit u n d W i l l k ü r aus unserem Bewußtsein fortzuschaffen. Das ist unter Umständen eine schwierige Aufgabe. I m gewöhnlichen Leben ist das Vergessen nicht etwas so Schwieriges, wie ja das gewöhnliche Bewußtsein weiß. A b e r w e n n man sich erst angestrengt hat auch ohne daß man sich i n irgendeine Selbstsuggestion hineintreibt; das k a n n ja bei Besonnenheit nicht stattfinden - , gewisse Vorstellungen i n den M i t t e l p u n k t seines Bewußtseins z u rücken, dann hat man eine stärkere Kraft, als sie sonst i m Seelenleben angewendet z u werden braucht, nötig, u m diese Vorstellungen wiederum aus dem Bewußtsein fortzuschaffen. M a n muß aber diese starke Kraft allmählich entwickeln, so daß man ebenso, w i e man zuerst alle Aufmerksamkeit, alle innere Seelenkraft, Seelenspannkraft zusammengenommen hat, u m z u ruhen auf einer solchen Vorstellung i m Meditationszustand, nun dazu k o m m e n muß, diese Vorstellungen, u n d überhaupt alle Vorstellungen, mit besonnener Willkür aus dem Bewußtsein fortzuschaffen. U n d es muß eintreten können aus unserem W i l l e n heraus, was man nennen könnte «leeres Bewußtsein». Was «leeres Bewußtsein» heißt, auch nur für einige Augenblicke, das w i r d der ermessen, der unbefangen darüber nachdenkt, wie es dem Menschen mit dem gewöhnlichen Bewußtsein ergeht, wenn dieses Bewußtsein entbehren muß der Sinneseindrücke, entbehren muß auch der Erinnerungsvorstellungen, w e n n durch irgendwelche V o r kommnisse dem Menschen die äußeren Eindrücke, auch die Erinnerungen genommen werden: er k o m m t z u m Einschlafen, das heißt, das Bewußtsein w i r d herabgedämpft u n d herabgedämmert. Das Gegenteil davon muß eintreten: vollständig besonnenes, bewußtes Wachsein, trotzdem alles durch inneren W i l l e n aus dem Bewußtsein herausgeschafft w o r d e n ist. 4

W e n n man so erst die Seele erkraftet u n d sie dann leer gemacht und bei Bewußtsein erhalten hat, dann tritt ebenso, wie vor das 21

A u g e die Farbe tritt, wie vor das O h r die Töne treten, v o r dieser Seele, die sich also dazu vorbereitet hat, eine geistige U m w e l t auf. W i r schauen i n die geistige Welt hinein. U n d so können w i r sagen: Gerade der hier gemeinten Geistesforschung ist es v o l l k o m m e n begreiflich, daß für das gewöhnliche Bewußtsein Geist u n d Seele nicht erreicht werden können, ja daß sich als ein R i c h tiges - wie z u m Beispiel für Richard W a h l e - herausstellen m u ß : das gewöhnliche Bewußtsein sollte gar nicht v o n einem Ich reden. D e n n alles, was da, i c h möchte sagen, wie D u n k e l h e i t gegenüber der H e l l i g k e i t hereintaucht u n d i m gewöhnlichen L e b e n eigentlich n u r mit W o r t e n bezeichnet w i r d , das taucht eben erst auf, w e n n solche Kräfte entwickelt werden, die gewöhnlich n o c h nicht da sind. Gerade die nüchterne Erkenntnis, was das gewöhnliche, an den L e i b gebundene Bewußtsein vermag, spornt uns an, solche Kräfte i n uns z u entwickeln, die n u n die Seele u n d den Geist erst w i r k l i c h entdecken können. s

D a b e i ist aber n o c h eins z u berücksichtigen, wenn man auf diesem Wege z u einer gesunden u n d nicht z u einer krankhaften Seelenkunde k o m m e n w i l l . N e h m e n Sie als krankhaft das M e diumistische, Visionäre, Halluzinatorische, so ist es so, daß der, der i n ein solches krankhaftes Seelenleben verfällt, mit seiner ganzen Wesenheit i n i h m aufgeht. E r w i r d eins - wenigstens für den Verlauf seiner seelischen E r k r a n k u n g - mit dem, was als krankhaftes Seelenleben auftritt. N i c h t so ist es, wenn solche Übungen vorgenommen werden, wie sie hier angegeben w u r den. Derjenige, der auf diese A r t ein Seelenforscher w i r d , der läßt zwar seinen physischen L e i b zurück mit den Fähigkeiten, die da sein müssen für das gewöhnliche D e n k e n , für gewöhnliche O r i e n t i e r u n g i m L e b e n ; er tritt heraus aus diesem Leibe, lernt leibfrei imaginativ schauen; ein schauendes D e n k e n entwickelt er: aber keinen M o m e n t geht er vollständig auf i n diesem - w e n n ich es so nennen darf, es ist nicht i m H o c h m u t so genannt - , i n diesem höheren Menschen, sondern er ist i m m e r i n der Lage, ebenso besonnen wiederum innerhalb seines Leibes z u w i r k e n wie sonst, so daß der gewöhnliche M e n s c h mit seinem gesunden Menschenverstand immer neben diesem höher entwickelten Menschen steht - der gewöhnliche M e n s c h mit seinem 22

gesunden Menschenverstand, der ein nüchterner K r i t i k e r alles dessen ist, w o z u i m Schauen dieser höhere M e n s c h k o m m t . Gegenüber der eigenen seelischen Wesenheit gelangen w i r z u nächst dadurch, daß w i r das bildhafte lebendige D e n k e n ausbilden u n d dann das leere Bewußtsein herstellen, z u einer A n s c h a u ung, die als eine Bildeinheit alles umfaßt, was w i r durchgemacht haben in dem Erdenleben seit unserer Geburt, seit w i r eingetreten sind i n dieses Erdenleben. N i c h t so wie es sonst i n der E r i n nerung ist, i n der einzelne Reminiszenzen auftauchen-selbständig oder durch Anstrengung —, nicht so steht dieses vergangene Erdenleben jetzt vor der Seele, sondern es w i r d auf einmal überschaut wie ein mächtiges Tableau, das aber nicht i m R a u m , sondern i n der Zeit v o r uns steht. W i r überblicken auf einmal, mit einem Seelenblick, dieses L e b e n ; aber so, wie es auch eingreift i n unsere Wachstumsverhältnisse, i n die Kraftwirksamkeiten unseres physischen Leibes. W i r schauen uns, wie w i r auf dieser Erde hier als denkende, fühlende, wollende Wesen waren, aber so, daß D e n k e n , Fühlen u n d W o l l e n sich jetzt verdichten u n d sich z u gleicher Zeit hineinorganisieren i n die menschliche Wesenheit. W i r durchschauen unser geistig-seelisches Leben, wie es i n unmittelbarer Verbindung steht mit dem Körperlichen. W i r geben es auf, durch philosophische Spekulation z u ergründen, wie die Seele auf den L e i b w i r k t . Wenn w i r die Seele schauen, dann schauen w i r auch, wie i n jedem Augenblick das, was uns so i n dem Tableau erscheint, i n unser physisches Erdenleben eingegriffen hat. D i e Einzelheiten werden in den nächsten Tagen z u schildern sein. D e r nächste Schritt muß n u n darin bestehen, daß wir, indem w i r die Kraftvorstellungen, die w i r selbst i n uns versetzt haben, wegschaffen aus unserem Bewußtsein, diese Kraftvorstellungen immer mehr u n d mehr verstärken. W i r verstärken sie, indem w i r diese Übungen i m m e r mehr u n d mehr fortsetzen, wie w i r die M u s k e l n verstärken, w e n n w i r sie immer u n d immer üben. U n d indem w i r diese Kraftvorstellungen fortsetzen, gelangen w i r dahin, dieses ganze Tableau des Seelenlebens, z u dem w i r uns selbst erst durchgerungen haben, dieses ganze Tableau des Seelenlebens zwischen unserer G e b u r t u n d dem M o m e n t , w o w i r stehen, nun

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auch aus dem Bewußtsein wegzuschaffen. Das erfordert allerdings eine größere Anstrengung, als bloß Bildvorstellungen wegzuschaffen; aber man gelangt zuletzt dazu. U n d w e n n es uns gelingt, dieses eigene Leben, das w i r i m Erdendasein unser I n nenleben nennen, aus dem Bewußtsein so fortzuschaffen, daß jetzt nicht n u r unser Bewußtsein gegenüber gegenwärtigen E i n drücken leer w i r d , sondern daß es leer w i r d v o n alledem, was w i r innerlich als i n einem zweiten Leibe, i n einem feineren Leibe, der aber i n unsere Wachstums- u n d Erinnerungsverhältnisse selbst eingreift, erleben, was w i r so wie i n einem feineren Menschen, gleichsam i n einem ätherischen M e n s c h e n , einem ersten übersinnlichen M e n s c h e n erleben - dann w i r d unser Bewußtsein, das n u n bei vollständigem Wachsein z w a r leer ist, aber eine stärkere innere Kraft sich errungen hat, weiter schauen können i n der geistigen Welt. U n d es kann jetzt auf das schauen, was das eigene Seelenwesen war, bevor es aus geistig-seelischen Welten heruntergestiegen ist z u einem physischen Erdendasein. Jetzt w i r d das, was w i r die E w i g k e i t der Menschenseele nennen, A n s c h a u ung, w i r d herausgehoben aus der Sphäre der bloß p h i l o sophischen Spekulation. Jetzt lernen w i r hinschauen auf ein rein Geistig-Seelisches, das w i r waren i n einer geistig-seelischen Welt, bevor w i r heruntergestiegen sind, u m durch K o n z e p t i o n , Keimleben u n d G e b u r t uns mit einem physischen Erdenleib z u umkleiden. So phantastisch das schon für manchen Menschen der Gegenwart ist - w e n n es auch auf einem so exakten Weg erworben ist wie nur die mathematischen Vorstellungen - , noch paradoxer mag erscheinen, was nun noch gesagt werden muß: nicht n u r über die Seele, als sie n o c h ein geistig-seelisches Dasein hatte, sondern über das K o n k r e t e dieses Erlebnisses. N u r andeutungsweise kann darüber gesprochen werden i n diesem Vortrage; w e i teres w i r d i n den nächsten Vorträgen gesagt werden. Was so angedeutet werden soll, kann vielleicht auf die folgende A r t verständlich gemacht werden. Fragen w i r uns zunächst: Was schauen w i r denn eigentlich, wenn w i r i m gewöhnlichen Erdenleben als erkennender, als verstehender, als wahrnehmender M e n s c h i n das Wechselverhältnis 24

treten mit unserer natürlichen U m g e b u n g ? W i r schauen eigentlich nur die Außenwelt. Schon aus dem, was i c h heute eingangs erwähnt habe, geht das hervor. W i r schauen eigentlich nur die Außenwelt, den K o s m o s . A b e r das, was sich i n unserem Innern abspielt, schauen w i r auch n u r dadurch, daß w i r es z u einem Äußerlichen machen i n Physiologie, A n a t o m i e . W e n n es auch großartig ist, w i r schauen das Innere doch nur, indem w i r es z u erst z u einem Äußerlichen machen u n d die Untersuchungen dann so machen, wie w i r sie an äußeren Vorgängen z u machen gewohnt sind. A b e r es ist Finsternis da unten i n dem Gebiet, i n das w i r eintauchen, i n das w i r unser Geistig-Seelisches hinunterströmen fühlen i n die Organe. W i r schauen i m gewöhnlichen Leben, zwischen G e b u r t u n d T o d , i m G r u n d e genommen nur das, was außer uns ist; d u r c h unmittelbares Anschauen können wir nicht ins Innere des M e n s c h e n hineinblicken u n d sehen, wie das Geistig-Seelische eingreift i n die Leibesorgane. D e r aber, der ein wenig i n unbefangener Weise v o n dem Standpunkt einer geistigen A n s c h a u u n g , wie i c h i h n entwickelt habe, auf das Leben forschend hinzuschauen vermag, w i r d z u dem Folgenden k o m men. E r w i r d sagen: Großartig u n d gewaltig ist schon der äußere A n b l i c k , sind die Gesetzmäßigkeiten, die w i r erkunden i n der äußeren Welt der Sterne, i n der äußeren Welt der Sonne, die uns zusendet L i c h t u n d Wärme; großartig und gewaltig ist das, was w i r erleben, w e n n w i r entweder nur anschauen u n d ganze M e n schen sind bei diesem Anschauen, oder w e n n w i r wissenschaftlich erkunden, was da an Gesetzmäßigkeiten vorliegt, wenn die Sonne uns L i c h t u n d Wärme zusendet u n d hervorzaubert das Grün der Pflanzen; großartig u n d gewaltig ist das. A b e r könnten w i r hineinschauen i n den B a u des menschlichen Herzens, so wäre die innere Gesetzmäßigkeit dieses Herzens eine großartigere u n d gewaltigere als das, was w i r äußerlich erblicken! Das kann der M e n s c h mit dem gewöhnlichen Bewußtsein ahnen. A b e r die Wissenschaft, die auf exaktem Hellsehen beruht, kann es auch z u einem w i r k l i c h e n Forschungsresultat erheben. Sie k a n n sagen: G r o ß u n d gewaltig erscheinen uns die Veränderungen i m Luftkreis; u n d es liegt ein Ideal vor der Wissenschaft, die auch hier in größere und gewaltigere Gesetzmäßigkeiten h i n -

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einschauen w i r d ; aber n o c h größer ist das, was i m B a u u n d i n den F u n k t i o n e n der menschlichen L u n g e vorhanden ist u n d v o r sich geht! N i c h t auf die G r ö ß e k o m m t es an. D e r M e n s c h ist eine kleine Welt gegenüber der großen. A l l e i n schon Schiller sagt: I m R a u m w o h n t , F r e u n d , das Erhabene nicht. - E r meint das höchste Erhabene. Dieses höchste Erhabene kann erst erlebt werden, w e n n man es i n der menschlichen Organisation selber erlebt. Z w i s c h e n G e b u r t u n d T o d w i r d es v o m Menschen mit seinem gewöhnlichen Bewußtsein nicht erkundet. A b e r i n dem Dasein, i n d e m w i r sind, bevor w i r uns mit dem Leibesdasein vereinigen, i n dem geistig-seelischen Dasein, i n einer geistig-seelischen U m gebung, da liegt gerade das Umgekehrte vor. W i e uns hier finster ist die innere Menschenwelt und hell u n d t o n v o l l die äußere Welt des K o s m o s , so ist uns i n dem rein geistig-seelischen Leben v o r unserer Erdenverkörperung d u n k e l die äußere kosmische Welt; dagegen ist unsere Welt dann das menschliche Innere. W i r schauen das menschliche Innere! U n d wahrhaftig, es erscheint uns da nicht kleiner u n d ungewaltiger, als uns der K o s m o s erscheint, w e n n w i r i h n durch unsere physischen A u g e n während unseres Erdendaseins erschauen. W i r finden uns hinein als i n u n sere «Außenwelt» i n dasjenige, was die Gesetzmäßigkeit unseres menschlichen Innern, unseres geistig-seelischen menschlichen Innern ist, u n d w i r bereiten uns vor, nun i m Geistig-Seelischen innere Berater unserer Leibesfunktionen z u werden, Bearbeiter dessen z u werden, was w i r sind zwischen G e b u r t u n d T o d . Was w i r zwischen G e b u r t u n d T o d sein werden, das liegt offen als eine Welt v o r uns ausgebreitet, bevor w i r heruntersteigen i n dieses physische Erdendasein. M e i n e sehr verehrten Anwesenden! Das ist keine Spekulation. Das ist unmittelbare Anschauung, die sich dem exakten Hellsehen ergibt. Das ist etwas, was v o m Gesichtspunkt dieses exakten Hellsefiens aus uns ein Stück hineinführt i n das, was w i r den Zusammenhang des menschlichen E w i g e n mit dem Leben z w i schen G e b u r t u n d T o d nennen können - des menschlichen E w i gen, das uns verborgen bleibt zwischen G e b u r t u n d T o d , das uns erst aufleuchtet, wenn w i r es anzuschauen vermögen i n dem n o c h unverkörperten Zustand. Es ist ein Teil der menschlichen 26

Ewigkeit selbst damit erkundet. Für diesen Teil der menschlichen E w i g k e i t haben w i r i n den neueren Sprachen nicht einmal ein W o r t . W i r reden v o n Unsterblichkeit mit Recht; aber w i r sollten auch reden von Ungeborenheit. D e n n diese tritt uns als unmittelbare Erkenntnis zunächst auf. Das ist die eine Seite des exakten Hellsehens, die eine Seite der menschlichen E w i g k e i t , der großen Rätselfrage des menschlichen Seelenlebens, damit der höchsten Frage der Psychologie überhaupt. D i e andere Seite ergibt sich, wenn w i r jene anderen Übungen machen, die ich gestern als Willensübungen bezeichnet habe, durch die w i r unseren W i l l e n so i n die H a n d nehmen, daß w i r uns dieses Willens leibfrei, unabhängig v o m L e i b bedienen lernen. Ich habe ausgeführt, daß diese Übungen dazu führen, Schmerz u n d L e i d innerhalb der Seele überwinden z u müssen, u m diese Seele, uneigentlich gesprochen, ganz z u m «Sinnesorgan», eigentlich gesprochen, z u m geistigen A n s c h a u ungsorgan z u machen, so daß w i r das Geistige nicht nur anschauen, sondern i n seiner Verbürgtheit anschauen. D a n n aber, wenn w i r lernen, i n dieser A r t außerhalb unseres Leibes nicht nur mit unseren Gedanken, sondern mit unserem W i l l e n selbst, also m i t unserer ganzen menschlichen Wesenheit, leibfrei z u erleben, dann tritt v o r die A n s c h a u u n g der Seele das B i l d des T o des i n der A r t , daß w i r jetzt wissen, wie das Erleben ist ohne den L e i b : s o w o h l i m D e n k e n , wie i m W i l l e n u n d i n dem, was dazwischenliegt, i m Fühlen. W i r lernen i n bildhafter Weise ohne den L e i b leben. Das gibt uns ein B i l d davon, wie w i r h i n ausgehen durch die Pforte des Todes, wie w i r den L e i b auch i n der Realität entbehren können u n d wie wir, durch die Pforte des Todes hindurchgehend, wiederum i n jene geistig-seelische Sphäre k o m m e n , aus der w i r heruntergestiegen sind i n diese Leiblichkeit. N i c h t nur z u einer philosophischen Gewißheit, sondern z u unmittelbarer Anschauung w i r d das, was i n uns als Ewiges, Unsterbliches lebt. D u r c h die W i l l e n s b i l d u n g w i r d die andere Seite der E w i g k e i t , die Unsterblichkeit, ebenso enthüllt für die seelische Anschauung, wie die Ungeborenheit für die Gedankenbildung enthüllt w i r d . D a n n aber, w e n n die Seele i n dieser A r t ein Geistorgan w i r d , 27

dann ist es i n der Tat so, als ob, i n einer niedrigeren Region, ein Blindgeborener operiert würde. D e r Blindgeborene war bisher gewohnt, das, was für den Sehenden Farbenwelt ist, nur durch das Tasten wahrzunehmen. E r schaut ganz Neues, w e n n er n u n operiert w o r d e n ist. Dieselbe Welt, i n der er früher lebte, w i r d jetzt für i h n eine andere. So w i r d für den, dessen seelisches A u g e i n der geschilderten Weise geöffnet w i r d , diese U m w e l t eine andere. U n d i c h w i l l n u r i n bezug auf einen P u n k t heute n o c h hervorheben, inwiefern sie eine andere w i r d . W i r sehen sonst i m Leben mit dem ungeöffneten Seelenauge, wie z u m Beispiel ein M e n s c h da lebt, indem er zuerst seine k i n d lichen Lebensschritte unternimmt, dann heranwächst, z u einem Schicksalsereignis seines Lebens k o m m t : E r trifft einen anderen Menschen; die Seelen verbinden sich so, daß die beiden M e n schen durch diese Verbindung der Seelen ihr Schicksal aneinanderbinden, ihren Lebensweg n u n weiter zusammen verfolgen nur ein einzelnes Ereignis w i l l i c h , wie gesagt, herausgreifen. W i r sind angewiesen i m gewöhnlichen Bewußtsein, das, was eintritt i m L e b e n , wie eine Summe v o n Zufälligkeiten anzusehen u n d mehr oder weniger auch als einen Zufall, daß w i r zuletzt z u diesem Schicksalsereignis, z u dem Treffen mit dem andern M e n schen geführt w o r d e n sind. N u r einzelne Menschen, wie Goethes F r e u n d K n e b e l , erwerben sich, gewissermaßen rein durch i h r Alter, eine innere Lebensweisheit. E r sprach es einmal aus seinem F r e u n d Goethe gegenüber: W e n n man zurückschaut i n vorgerückterem A l t e r auf seine Lebensschritte, da findet man etwas i n ihnen, was wie planvoll geordnet erscheint, so daß v o n vornherein alles so keimhaft veranlagt erscheint u n d sich das Weitere so entwickelt, daß man wie durch innere N o t w e n d i g k e i t hingeführt w i r d z u dem, was dann als Schicksalsereignis erscheint. M i t dem geöffneten Seelenauge erblicken w i r allerdings ein Leben der Menschen, das sich z u dem Leben, welches man mit dem ungeöffneten Auge schaut, verhält wie die farbige Welt z u der bloß getasteten des B l i n d e n . M a n schaut h i n , wie aus dem kindlichen Seelenleben, aus dem Wechselspiel v o n Sympathie u n d Antipathie, sich die ersten Schritte des Kindes entwickeln, wie dann, aus dem innersten 28

Menschenwesen hervorquellend, der M e n s c h selbst, wie aus i n nersten Sehnsüchten, seine Schritte lenkt, wie er sich selbst h i n führt z u dem Schicksalsereignis. Das ist nüchterne Lebensbeobachtung. W e n n man aber das Leben so ansieht, dann steht es vor einem wie etwa das Leben eines Greises: w i r werden nicht sagen, das Leben des Greises sei «an u n d für sich da»; durch die L o g i k wissen w i r das Greisenleben auf ein Kindesleben zurückzuführen; durch seine eigenen Eigentümlichkeiten müssen w i r es auf ein Kindesleben zurückführen. Was für das Greisenleben die bloße L o g i k tut, das tut für das Menschenleben überhaupt, durch das exakte Hellsehen, das Anschauen: W e n n w i r das L e ben, wie es sich aus den innersten Seelensehnsüchten entwickelt, w i r k l i c h schauen, dann müssen w i r es schauend zurückverfolgen. U n d dann k o m m e n w i r z u früheren Erdenleben, i n denen sich dasjenige vorbereitet hat, was i n der Gegenwart als Seelensehnsüchte sich herausentwickelt, was dann z u unseren Betätigungen führt u n d so weiter. Ich konnte heute nur andeuten, daß nicht irgendeine Phantasterei, sondern ein ganz exakter Weg z u einer solchen umfassenden Lebensbetrachtung führt, die i n der Tat durch eine entwikkelte Seelenkunde hineindringt z u dem E w i g e n in der M e n schennatur. D a n n aber erhebt sich auf einem solchen U n t e r b o den, der manchem n o c h abstrakt erscheinen mag, etwas, was nun Gewißheit w i r d , etwas, was aus der gegenwärtig uns als m o dernen Menschen angemessenen Erkenntnis herausquillt u n d eine Erkenntnisgrundlage für eine wahre innere Frömmigkeit, für ein wahres inneres religiöses Leben bietet. Wer einmal eingesehen hat, u n d zwar meine ich jetzt das Wort «eingesehen» i m wörtlichen Sinne, wer geschaut hat, wie sich die einzelne Seele aus dem Leibe losringt, u m i n ein geistig-seelisches Reich einzugehen, der schaut auch unser soziales Leben anders an. E r schaut, ausgerüstet i n seiner Gesinnung, h i n , wie unter den Menschen sich Freundschaften, Liebesverhältnisse, andere soziale Zusammenhänge bilden; er schaut hin, wie Seele z u Seele sich findet aus der Familie, aus anderen Gemeinschaften heraus; er findet, wie das körperliche Beisammensein die seelische G e meinschaft, das seelische Ineinanderfühlen u n d Ineinanderleben 29

vermittelt; er weiß n u n , daß ebenso wie v o n der einzelnen Seele der L e i b abfällt, so die irdischen Leiblichkeiten u n d Geschehnisse abfallen v o n den Freundschaften, v o n den Liebeszusammenhängen, u n d er schaut, wie sich das, was seelisch geworden ist v o n M e n s c h z u M e n s c h , fortsetzt i n eine geistig-seelische Welt, w o es auch geistig-seelisch erlebt werden kann. U n d dann k a n n gesagt werden, jetzt auf einer Erkenntnis-, nicht auf einer Glaubensgrundlage: D i e Menschen finden sich, indem sie d u r c h die Pforte des Todes schreiten, wiederum z u sammen. U n d gerade wie i n der geistigen Welt der L e i b als H i n dernis für das Schauen des Geistigen wegfällt, so fällt jedes H i n dernis für Freundschaft u n d Liebe n u n hinweg i n der geistigen Welt. D i e Menschen sind da näher zusammen als i n der L e i b l i c h keit. E i n e E r k e n n t n i s , die noch abstrakt ausschauen mag i n bez u g auf wahre Psychologie, gipfelt i n diesem religiösen E m p f i n den, i n diesem religiösen Schauen, ohne daß diejenige Weltanschauung, v o n deren B o d e n aus ich hier spreche, irgendein R e l i gionsbekenntnis antasten w i l l . Sie kann tolerant sein, sie kann jedes einzelne Religionsbekenntnis i n seinem Wert v o l l anerkennen, es auch praktisch ausüben; aber sie führt z u gleicher Zeit als eine H e l f e r i n des religiösen Lebens eine Erkenntnisgrundlage auch dieses religiösen Lebens herbei. N u n , damit wollte ich heute n u r einiges Grundlegende über das Verhältnis einer modernen geistmäßigen Weltanschauung zur Seelenkunde ausführen. Ich weiß vielleicht besser als mancher Gegner, was heute n o c h alles eingewendet werden kann, wenn so die Anfänge einer solchen Weltanschauung dargestellt werden. A b e r ich glaube auch z u wissen, daß die Sehnsüchte nach einer solchen Seelenkunde, wenn auch ganz i m U n b e w u ß ten, bei unzähligen Seelen heute vorhanden sind, so daß es i m mer u n d i m m e r wiederum gesagt werden muß: W i e man kein M a l e r z u sein braucht, u m die Schönheit eines Bildes z u empfinden, so braucht man selbst nicht Geistesforscher z u sein - obw o h l man es bis z u einem gewissen Grade werden kann - , u m prüfen z u können, ob das wahr ist, was i c h hier sage. W i e man die Schönheit eines Bildes empfinden kann, ohne selbst M a l e r z u sein, so k a n n man mit dem gewöhnlichen, gesunden Menschen3°

verstand heute einsehen, was der Geistesforscher der Seele sagt. Daß man es einsehen kann, das glaube ich u m so mehr erhärtet z u haben, als i c h z u erkennen glaube, wie die Seelen nach einer Vertiefung der Seelenkunde, der großen Daseinsrätsel des Lebens i n bezug auf die Seele dürsten, wie tatsächlich das, was mit einer solchen modernen Weltanschauung, wie sie hier skizziert wurde, versucht w i r d , heute den D r a n g zahlloser Menschen b i l det, die es auch gar nicht wissen i n ihrem gewöhnlichen Bewußtsein, wie es den Schmerz, das L e i d , die Entbehrung, den Wunsch unzähliger Menschen bildet, all derer, die es ernst meinen mit dem, was w i r finden müssen als aufsteigende Kräfte gegenüber so vielen i n unserer Gegenwart vorhandenen Niedergangskräften. U n d dessen muß sich heute jeder, der v o n einer zeitgemäßen Weltanschauung spricht, bewußt sein: daß er i m Einklang sprechen, denken u n d w o l l e n muß mit dem, was unsere so ernste Zeit in den Seelen, w e n n auch vielfach unbewußt, erstrebt. U n d ich glaube - lassen Sie m i c h damit schließen - , daß gerade i n solchen Weltanschauungsansätzen, w i e ich sie heute entwickelt habe, etwas v o n dem liegt, was zahlreiche Seelen heute erstreben, weil sie es brauchen als geistigen Inhalt, als lebendiges Geistesleben für die Gegenwart u n d für die nächste Z u k u n f t .

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«Die Entwicklung der Wissenschaften im letzten Jahrhundert könnte man nicht mit Unrecht eine Eroberung des naturwissenschaftlichen Geistes über fast alle Gebiete des menschlichen Erkennens nennen. Was für eine sieghafte Gewalt diesem Zuge eigen ist, das sieht man w o h l nirgends besser als an dem Charakter, den die Erforschung der menschlichen Seele in fachwissenschaftlichen Kreisen während der letzten Jahrzehnte angenommen hat. Der moderne Psychologe, der mit seinen Zähl- und Meßapparaten den auf- und abflutenden Erscheinungen unseres Innern beizukommen sucht, hat wenig Ähnlichkeit mit dem früheren Seelenforscher, der bloß mit dem geistigen Auge nach der eigenen Seele sehen wollte; dafür sieht er um so ähnlicher dem physikalischen oder chemischen Experimentator.» M i t diesen Worten charakterisierte Rudolf Steiner 1 9 0 1 i n einem Zeitschriftenartikel die Situation der damaligen psychologischen Forschung. Im weiteren Kontext dieses Aufsatzes würdigt Rudolf Steiner, wie auch in unserem ersten Vortrag, die Bedeutung einer experimentellen, physiologischen Psychologie. In dem folgenden Vortrag w i r d demgegenüber, wie auch schon in unserem ersten Vortrag, als Methode der hier gemeinten geisteswissenschaftlichen Psychologie die zu schulende Selbstbeobachtung betont. In ihrem historischen Zusammenhang w i r d auf die Bedeutung der anthropologischen Dreigliederung des Menschen nach Leib, Seele und Geist hingewiesen und die bis heute folgenschwere «Abschaffung» des Geistes durch das 8. ökumenische K o n z i l von K o n stantinopel i m Jahre 8 6 9 erwähnt. Ausdrücklich thematisiert wird die Dreiheit von Geist, Seele und Leib dann in dem dritten Vortrag unseres Bandes, einem öffentlichen Vortrag v o m 2 8 . Februar 1 9 1 8 in Berlin. A u c h in methodischer Hinsicht finden w i r in diesem Vortrag konkrete Hinweise für die Erlernung und Übung der Selbstbeobachtung. Denn es ist nicht das ständige Reflektieren, das «Viel-übersich-Sprechen, dieses Viel-über-sich-Nachdenken» gemeint, das «wirklich der schlechteste Weg zur Selbsterkenntnis ist» , sondern ein streng methodisches Vorgehen, eine «innere Empirie», durch die äußere Psychologie und Anthropologie erst zu einer wirklichen A n throposophie werden. 6

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Theosophische Seelenlehre

U m die H i m m e l s w e i s h e i t den Menschen mitteilen z u können, bedarf es der Selbsterkenntnis. Plato verehrte seinen großen Lehrer Sokrates aus d e m G r u n d e besonders, w e i l Sokrates durch die Selbsterkenntnis z u m Höchsten, z u r Gotteserkenntnis k o m men konnte, w e i l er mehr als alle Erkenntnis der äußeren N a t u r , mehr als alles dasjenige, was sich auf irgend etwas jenseits unserer Welt bezieht, die Erkenntnis der eigenen Seele schätzte. Sokrates ist gerade dadurch einer der Märtyrer der Erkenntnis u n d Wahrheit geworden, w e i l er mißverstanden w u r d e i n dieser seiner Seelenerkenntnis. M a n hat i h n beschuldigt, daß er die Götter leugne, während er sie d o c h n u r auf einem anderen Wege gesucht hat als andere, auf dem Wege d u r c h die eigene Seele; beschuldigt um dieser Seelenerkenntnis willen, welche z u m Ziele nicht bloß die Erkenntnis der eigenen Menschenseele hatj sondern auch das K l e i n o d , das diese Menschenseele an Erkenntnis birgt, nämlich die Erkenntnis des göttlichen Weltengrundes. V o n dieser Seelenerkenntnis sollen diese drei Vorträge handeln. N i c h t willkürlich ist die Z a h l der Vorträge festgesetzt w o r den u n d auch nicht zufällig, sondern wohlüberlegt ist sie aus dem Entwicklungsgang der Seele heraus. D e n n i n den Zeiten, i n denen das Seelenwissen u n d die Seelenweisheit i n den M i t t e l p u n k t des ganzen menschlichen Sinnens u n d Trachtens gerückt w o r d e n ist, i n den Zeiten der alten indischen Vedantaweisheit, die dem Buddhismus vorangegangen ist u n d wiederum z u r Zeit des B u d dhismus, als er i n seiner Blüte war, u n d wiederum z u r Zeit auch, als die griechische Philosophie ihre Blüte hatte, u n d wiederum i n der ersten u n d späteren besten Zeit der christlichen E n t w i c k lung hat man das Wesen des Menschen i n drei Teile geteilt, i n Körper, Seele u n d Geist. W i l l man die Seele i m richtigen Sinne betrachten, dann muß man sie i n Beziehung setzen z u den beiden anderen G l i e d e r n der menschlichen Wesenheit, z u m Körper auf 8

der einen Seite u n d z u m Geist auf der anderen Seite. D a h e r muß dieser erste einleitende Vortrag handeln v o n den Beziehungen der Seele z u m Körper. D e r zweite Vortrag w i r d v o n dem eigentlichen inneren Wesen der Menschenseele handeln u n d der dritte v o n dem A u f b l i c k , den sie gewinnen kann v o n der menschlichen Seele aus z u m göttlich-geistigen Urgründe des Weltendaseins. D u r c h eine merkwürdige Fügung der Geschichte ist diese dreigliedrige Einteilung der menschlichen Wesenheit dem abendländischen Forschen abhanden gekommen, denn, w o Sie auch heute die Seelenwissenschaft aufsuchen, überall werden Sie finden, daß m a n die Seelenwissenschaft oder Psychologie einfach der Naturwissenschaft oder der Körperlehre entgegensetzt, u n d überall können Sie hören, daß man dabei ausgeht v o n der M e i n u n g , daß der M e n s c h z u betrachten sei nach z w e i Gesichtspunkten : nach dem Gesichtspunkte, der über die Körperlichkeit aufklärt, u n d nach dem Gesichtspunkte, der über die Seele aufklärt. Populär ausgedrückt besagt das, der M e n s c h besteht aus L e i b u n d Seele. Dieser Satz, auf dem i m G r u n d e genommen u n sere ganze Ihnen bekannte Psychologie fußt und auf den viele Irrtümer i n der Psychologie zurückzuführen sind, dieser Satz hat eine merkwürdige Geschichte. Bis i n die ersten Zeiten des Christentums hinein hat niemand, wenn man über den M e n schen nachgedacht hat u n d sein Wesen z u erklären suchte, den Menschen anders als i n drei Glieder unterschieden, als i n Körper, Seele u n d Geist. G e h e n Sie z u den ersten christlichen K i r chenlehrern, gehen Sie z u den G n o s t i k e r n , dann werden Sie überall diese Einteilung finden. Bis ins 2., 3 . Jahrhundert hinein tritt Ihnen die auch v o n der christlichen Wissenschaft u n d D o g matik anerkannte Dreiteilung des Menschen entgegen. M a n hat später diese Lehre innerhalb des Christentums für gefährlich gehalten. M a n hat gemeint, daß der M e n s c h dadurch, daß er über seine Seele hinaus aufsteigt z u dem Geist, z u hoffärtig würde, daß er sich z u sehr vermessen würde, über den G r u n d der Dinge Aufklärungen z u bringen, über den nur die Offenbarung aufklären sollte. D a h e r hat man auf verschiedenen K o n z i l i e n beraten u n d beschlossen, daß als D o g m a für die Z u k u n f t z u lehren sei: der M e n s c h bestehe aus L e i b u n d Seele. Angesehene Theologen

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haben i n gewisser H i n s i c h t festgehalten an der Dreiteilung, wie Johannes Scotus Erigena u n d Thomas v o n A q u i n o . A b e r immer mehr u n d mehr ging der christlichen Wissenschaft, der v o r allen Dingen i m Mittelalter die Pflege der Seelenwissenschaft oblag, das Bewußtsein der D r e i t e i l u n g verloren. U n d bei dem Aufblühen der Wissenschaft i m 1 5 . u n d 16. Jahrhundert hatte man k e i n Bewußtsein mehr v o n der alten Einteilung. Selbst C a r t e s i u s unterschied nur zwischen Seele, die er Geist nennt, u n d Körper. U n d so blieb es. Diejenigen, welche heute v o n der Psychologie oder Seelenwissenschaft sprechen, wissen nicht, daß sie unter dem Einfluß eines christlichen Dogmas sprechen. M a n glaubt und kann es aus den Handbüchern lesen, daß der M e n s c h n u r aus Leib u n d Seele besteht. M a n hat damit aber nur ein jahrhundertealtes V o r u r t e i l fortgepflanzt, u n d darauf fußt man n o c h heute. Das w i r d sich uns i m Laufe dieser Vorträge auch zeigen. 9

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V o r allem obliegt es uns jetzt z u zeigen, welche Beziehung v o n dem unbefangenen Seelenbetrachter angenommen werden m u ß zwischen Seele u n d Körper; denn es scheint mit ein Ergebnis der modernen Naturwissenschaft z u sein, daß man überhaupt nicht mehr v o n der Seele sprechen s o l l , wie man Jahrtausende v o r unserer Zeit v o n Seele gesprochen hat. D i e Naturforschung, w e l che dem 1 9 . Jahrhundert u n d seiner geistigen E n t w i c k e l u n g den Stempel aufgedrückt hat, hat immer u n d i m m e r wieder erklärt, daß mit ihren Anschauungen eine Seelenwissenschaft i m alten Sinne des Wortes - wie z u m Beispiel die Goethesche u n d teilweise die des Aristoteles - nicht vereinbar u n d daher nicht haltbar ist. Sie können Handbücher über Psychologie nehmen, oder nehmen Sie die «Welträtsel» v o n H a e c k e l , Sie werden überall finden, daß die dogmatischen Vorurteile bestehen u n d man der M e i n u n g ist, daß die alten Anschauungsweisen, unter denen man sich der Seele z u nähern suchte, überwunden sind. N i e m a n d kann - das sage i c h für die Naturwissenschafter u n d die Verehrer von Ernst H a e c k e l - H a e c k e l mehr verehren als ich selbst, als eine G r ö ß e , als eine monumentale wissenschaftliche Größe. A b e r große Menschen haben auch große Fehler, u n d so ziemt es sich w o h l , ganz unbefangen ein Vorurteil unserer Zeit z u prüfen. 1 1

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Was w i r d uns v o n dieser Seite gesagt? M a n sagt uns: Seht ein35

mal z u , dasjenige, was i h r Seele genannt habt, ist ja unter unseren Händen verschwunden. W i r Naturforscher haben euch gezeigt, daß alle Sinnesempfindungen, alles dasjenige, was sich als V o r stellungsleben entwickelt, alles D e n k e n , alles W o l l e n , alles Fühlen, daß alles dies gebunden ist an ganz bestimmte Organe unseres G e h i r n s u n d unseres N e r v e n s y s t e m s . " D i e N a t u r w i s s e n schaft des 1 9 . Jahrhunderts hat gezeigt, so sagt man, daß gewisse Partien unserer Großhirnrinde, w e n n sie nicht vollständig intakt sind, es uns unmöglich machen, gewisse geistige Äußerungen z u vollbringen. Daraus zieht man den Schluß, daß i n diesen einzelnen Partien unseres G e h i r n s diese geistigen Äußerungen l o k a l i siert sind, daß sie, w i e man sagt, v o n diesen Partien unseres G e hirns abhängen. M a n hat das drastisch ausgedrückt, i n d e m man sagt: E i n gewisser P u n k t des Gehirns ist das Z e n t r u m für die Sprache, eine andere Partie für diese Seelentätigkeit, eine andere Partie für eine andere, so daß man Stück für Stück der Seele abtragen k a n n . - M a n hat gezeigt, daß mit der E r k r a n k u n g ganz bestimmter G e h i r n p a r t i e n z u gleicher Zeit der Verlust bestimmter Seelenfähigkeiten einhergeht. Was man sich seit Jahrtausenden unter Seele vorgestellt hat, das k a n n kein Naturforscher finden, das ist ein Begriff, mit dem der Naturforscher nichts anzufangen weiß. W i r finden den Körper u n d seine F u n k t i o n e n , aber nirgends eine Seele. D e r große Sittenlehrer des D a r w i n i s m u s , Bartholomäus C a r n e r i , ' der eine E t h i k des D a r w i n i s m u s geschrieben hat, hat seine Überzeugung klar z u m A u s d r u c k gebracht, w i e sie vielleicht niemals deutlicher aus diesen Kreisen der Naturforscher gegeben werden kann. E r sagt: N e h m e n w i r einmal eine U h r . D i e Zeiger rücken vor, das U h r w e r k ist i n Bewegung. Das alles geschieht d u r c h den Mechanismus, der v o r uns steht. W i e w i r i n dem, was die U h r vollbringt, eine Ä u ß e rung des U h r m e c h a n i s m u s haben, so haben w i r i n dem, was der M e n s c h fühlt u n d denkt u n d w i l l , eine Äußerung des ganzen Nervenmechanismus vor uns. Ebensowenig wie man annehmen kann, i n der U h r sitze ein kleines Seelenwesen, das die Räder bewegt, die Zeiger vorrückt, ebensowenig können w i r annehmen, daß außer dem Organismus eine Seele ist, welche das D e n ken, Fühlen u n d W o l l e n bewirkt. - Das ist das Bekenntnis eines 13

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Naturforschers i n geistiger Beziehung, das ist es, was die N a t u r forscher z u r Grundlage eines neuen Glaubens, einer solchen reinen naturalistischen R e l i g i o n gemacht haben. D e r Naturforscher glaubt, daß er durch die Ergebnisse der Wissenschaft z u diesem Bekenntnis gezwungen sei, u n d er glaubt, daß er jeden für einen kindlichen Geist halten darf, der unter dem Einfluß der Wissenschaft nicht z u diesen Schlüssen k o m m t . Bartholomäus C a r n e r i hat es unbeschönigt gezeigt. Solange die Menschen K i n d e r waren, haben sie gesprochen wie Aristoteles; da sie n u n aber Männer geworden sind u n d die Wissenschaft verstehen, müssen sie v o n den Kinderanschauungen abkommen. D i e Auffassung der N a turforscher, die sie i n den Menschen nichts anderes sehen läßt als einen Mechanismus, deckt sich mit dem Gleichnis v o n der U h r . Diese Anschauung ist radikal ausgesprochen. Sie w i r d als die einzige angesehen, die der Gegenwart würdig ist. Sie w i r d so hingestellt, daß die naturwissenschaftlichen Entdeckungen des Zeitalters uns z w i n g e n , z u diesen Bekenntnissen z u k o m m e n . N u n aber müssen w i r uns fragen: Sind es w i r k l i c h vor allen Dingen die Naturwissenschaft, die genaue Untersuchung unseres Nervensystems, die genaue Untersuchung unserer Organe und deren F u n k t i o n e n , die uns gezwungen haben z u dieser A n schauung? N e i n , denn i m 1 8 . Jahrhundert lag alles dasjenige, was man heute anführt als auf wissenschaftlicher Höhe stehend und als maßgebend, n o c h i m K e i m . D a gab es nichts v o n moderner Psychologie, nichts v o n den Entdeckungen des großen J o hannes M ü l l e r u n d seiner Schule, nichts v o n den Entdeckungen, die die Naturforscher i m 1 9 . Jahrhundert gemacht haben. U n d damals, i m 1 8 . Jahrhundert, waren diese Anschauungen i n der radikalsten Weise ausgesprochen w o r d e n i n der französischen Aufklärung, die nicht auf Naturwissenschaft bauen konnte, da erklangen z u m erstenmal die W o r t e : D e r M e n s c h ist eine M a schine. - A u s dieser Zeit stammt ein B u c h v o n H o l b a c h , betitelt: «Systeme de la nature», v o n dem Goethe sagte, daß er sich abgestoßen gefühlt habe v o n der Oberflächlichkeit u n d Gehaltlosigkeit desselben. Dies z u m Beweis dafür, daß diese Anschauung vor der modernen Naturwissenschaft da war. M a n darf sagen, daß i m Gegenteil der Materialismus des 1 8 . Jahrhunderts über 1!

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den Geistern des 1 9 . Jahrhunderts lag u n d daß das materialistische Glaubensbekenntnis tonangebend war für die Denkweise, die man dann erst i n die Naturwissenschaft hineingetragen hat. Das i n bezug auf die historische Wahrheit. D e n n wäre es nicht so, dann müßte man geradezu die A n s c h a u u n g , welche die m o derne Naturwissenschaft hat, nämlich, daß man von der Seele i n dem alten Sinne nicht sprechen könne, w e i l man die Seele abtragen kann i n derselben Weise, wie m a n gezeigt hat, daß man das G e h i r n abtragen kann - man müßte diese Ansicht kindlich nennen. D e n n , was ist mit dieser A n s i c h t besonders gewonnen? K e i n Forscher auf dem Gebiete des Seelenlebens, der i m Sinne des Aristoteles, i m Sinne der alten G r i e c h e n , oder - sagen w i r trotz allen Widerspruchs, der von manchen Seiten herankommen w i r d - kein Seelenforscher, der i m Sinne des christlichen Mittelalters die Seele z u erkennen sucht, kann A n s t o ß nehmen an den W a h r heiten der heutigen Naturwissenschaft. Jeder vernünftige Seelenforscher w i r d mit demjenigen, was die Naturwissenschaft über das Nervensystem u n d das G e h i r n als die Vermittler unserer Seelenfunktionen sagt, einverstanden sein. E r ist nicht überrascht, daß, w e n n eine gewisse Partie des Gehirns erkrankt, man nicht mehr sprechen kann. Darüber ist der alte Forscher nicht mehr erstaunt als darüber, daß er nicht mehr denken kann, wenn er erschlagen w i r d . D i e moderne Wissenschaft tut nichts anderes, als daß sie i m einzelnen festlegt, was die Menschen schon i m allgemeinen eingesehen haben. U n d genauso, weil der M e n s c h weiß, daß er ohne gewisse Gehirnpartien nicht sprechen, nicht Vorstellungen bilden kann, genauso müßte es ein Beweis sein, daß er keine Seele hat, wenn er erschlagen werden kann. A u c h die Vedantisten, auch Plato u n d so weiter, sind sich klar darüber, daß die Seelentätigkeit des Menschen aufhört, wenn i h m ein großer Feldstein auf den K o p f fällt u n d i h n zertrümmert. Etwas anderes hat die alte Seelenlehre auch nicht gelehrt. Darüber können w i r uns klar sein. W i r können die ganze Naturwissenschaft akzeptieren u n d die Seelenlehre d o c h anders fassen. In früheren Jahrhunderten war man sich darüber klar, daß der Weg, den die Naturwissenschaft einschlug, nicht z u r Erkenntnis der Seele führt u n d daher auch nicht z u ihrer Widerlegung eingeschlagen

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werden kann. Würden diejenigen, welche v o m Standpunkte der Naturwissenschaft die alte Seelenwissenschaft z u widerlegen sich bemühen, bewandert sein i n den Gedankengängen früherer Zeiten, als man noch nicht so befangen war i m äußeren Leben, als man noch nicht gewohnt war, das eigene Seelenleben, ja das Seelenleben überhaupt z u beobachten, würden die naturalistischen Gläubigen eingehen auf die Gedankengänge uralter W e i ser, dann würden sie gerade durch diese Gedankengänge einsehen können, welche Donquichotterie es ist, i n diesem naturwissenschaftlichen Sinne gegen die Seelenlehre z u kämpfen. Dieser ganze K a m p f ist schon dargestellt i n einem Gespräch, das Sie i n der buddhistischen Literatur f i n d e n , i n einem G e spräche, das nicht den Reden Buddhas selbst angehört, das erst i n den ersten Jahren v o r C h r i s t i G e b u r t aufgezeichnet wurde. Wer aber das Gespräch untersucht, der sieht, daß es sich u m die älteren echten Anschauungen des Buddhismus handelt, welche i n der Unterhaltung des mit griechischer Weisheit u n d D i a l e k t i k ausgestatteten Königs M i l i n d a mit dem buddhistischen Weisen Nagasena z u m A u s d r u c k k o m m t . Dieser König tritt v o r den i n dischen Weisen h i n u n d fragt: Sage einmal, als w e n erkennt man dich ? - Darauf gibt der weise Nagasena zur A n t w o r t : M a n nennt m i c h Nagasena. A b e r das ist nur ein N a m e . Es steckt kein Subjekt, keine Persönlichkeit dahinter. - W i e ? - sagte da der König M i l i n d a , welcher die griechische D i a l e k t i k u n d die ganze Fähigkeit u n d M a c h t des griechischen Denkens i n sich barg - , hört einmal, die ihr herbeigekommen seid, der Weise behauptet, daß hinter dem N a m e n Nagasena nichts stecke. Was ist denn das, was da v o r m i r steht? Sind deine Hände, deine Beine Nagasena? N e i n . Sind deine E m p f i n d u n g e n , Gefühle u n d Vorstellungen Nagasena? N e i n , alles das ist nicht Nagasena. N u n , dann ist der Zusammenhang v o n allem Nagasena. Aber, da er nun behauptet, daß alles das nicht Nagasena ist, daß nur ein N a m e da ist, der alles zusammenhält, wer ist er denn dann u n d was ist denn dann eigentlich Nagasena? Ist dasjenige, was hinter dem H i r n , hinter den Organen, hinter der Körperlichkeit, hinter den Gefühlen und Vorstellungen lebt, ein N i c h t s ? Ist ein N i c h t s derjenige, welcher anderen Wohltaten erweist? Ist der ein N i c h t s , welcher 17

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Gutes u n d Böses tut? Ist ein N i c h t s derjenige, welcher nach H e i ligkeit strebt? Steckt nichts hinter alledem als der bloße Name? D a antwortete Nagasena mit einem anderen Gleichnis: W i e bist du hergekommen, großer König, z u Fuß oder z u Wagen? - D e r König antwortete: Z u Wagen. - N u n , erkläre m i r den Wagen. Ist die Deichsel dein Wagen? Sind die Räder dein Wagen? Ist der Wagenkasten dein Wagen? — N e i n , antwortet der König. - Was ist also dann dein Wagen? Es ist ein N a m e , der sich n u r auf den Zusammenhang der verschiedenen G l i e d e r bezieht. Was wollte der Weise Nagasena, der i n den buddhistischen Lehren groß geworden ist, mit seiner A n t w o r t sagen? - O K ö nig, der d u i n Griechenland, i n der griechischen Philosophie eine große, gewaltige Fähigkeit dir errungen hast, du mußt verstehen, daß du ebensowenig, wenn du die Glieder des Wagens in ihrem Zusammenhang betrachtest, z u etwas anderem als z u einem N a men kommst, wie wenn du die G l i e d e r des Menschen zusammenhältst. N e h m e n Sie diese uralte Lehre, die sich zurückverfolgen läßt bis i n die ältesten Zeiten der buddhistischen Weltanschauung, u n d fragen Sie sich, was ist i n ihr gesagt? N i c h t s anderes, als daß der Weg, durch die Betrachtung der äußeren Organe, ganz gleich ob grob oder fein betrachtet- die Betrachtung des Wechselspieles der Vorstellungen, welche ein großer A n a t o m , M e t s c h n i k o w , ' auf eine M i l l i a r d e geschätzt hat - , zur Kenntnis der Seele z u gelangen, ein Irrweg ist. I m Sinne dieses richtigen Ausspruches des Weisen Nagasena können w i r auf diese Weise die Seele nicht finden. Das ist ein falscher Weg. Niemals hat man sich i n den Z e i ten, i n welchen man wußte, auf welchem Wege man die Seele z u finden u n d z u studieren hat, auf diesem Wege der Seele z u nähern versucht. Das war eine geschichtliche Notwendigkeit, daß die feinen, intimen Wege, auf denen noch die alten Weisen des christlichen Mittelalters die Seele suchten, etwas zurücktraten, als unsere Naturwissenschaft sich mehr auf die äußere Welt z u verlegen begann. D e n n , was sind denn diejenigen M e t h o d e n u n d Anschauungsweisen und die Gesichtspunkte, welche die N a t u r wissenschaft ganz besonders ausgebildet hat? Sie können i n den nachgelassenen Werken eines der genialsten Naturforscher unse8



rer unmittelbaren Gegenwart, der große Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektrizitätstheorie gemacht hat, finden, daß die m o derne Naturwissenschaft auf ihre Fahne geschrieben hat: E i n fachheit u n d Zweckmäßigkeit. U n d Sie können bei einem Psychologen, der auch i m Sinne der Naturwissenschaft arbeitet, z u diesen zwei Forderungen der Einfachheit u n d der Zweckmäßigkeit n o c h die Anschaulichkeit hinzugefügt finden. U n d man kann sagen, daß durch diese drei - Einfachheit, Zweckmäßigkeit und Anschaulichkeit - die Naturwissenschaft geradezu Wunder gewirkt hat. A b e r das ist nicht auf die Seelenweisheit anwendbar. A n s c h a u lichkeit i n bezug auf die Betrachtung der äußeren Glieder, Zweckmäßigkeit i n bezug auf die äußere Erscheinung, das war es, weshalb die Naturwissenschaft darauf gekommen ist, den Zusammenhang der Teile z u suchen, z u errechnen, z u erforschen. Das war es aber auch gerade, was i m Sinne des A u s s p r u ches des Weisen Nagasena niemals zur Seele führen kann. W e i l die Naturwissenschaft n u n diesen Weg genommen hat, ist es nur z u begreiflich, daß sie v o n den Wegen der Seele abgekommen ist. N i c h t einmal ein Bewußtsein hat man heute v o n dem, was Seelenforscher durch Jahrhunderte hindurch angestrebt haben. Es ist geradezu fabelhaft, was i n dieser Beziehung ausgesprochen w i r d u n d welche Summe v o n U n k e n n t n i s dabei zutage tritt, w e n n heute i n scheinbar maßgebenden Kreisen über die Seelenlehre des A r i s t o t e l e s oder über die Seelenlehre der ersten christlichen Forscher, über die Seelenlehre des Mittelalters gesprochen w i r d . U n d dennoch, wenn jemand das Wesen der Seele wissenschaftlich verstehen w i l l , dann gibt es keinen arideren Z u gang als den der sorgfältigen inneren A r b e i t , sich die Vorstellungen des Aristoteles anzueignen, die Vorstellungen, welche die ersten C h r i s t e n u n d die großen christlichen Kirchenlehrer zur Kenntnis der Seele geführt haben. Es gibt keine andere Methode. Sie ist ebenso w i c h t i g für dieses Gebiet wie die Methode der N a turwissenschaft für die äußere Wissenschaft. A b e r diese M e t h o den der Seelenwissenschaft sind uns z u m großen Teil verlorengegangen. W i r k l i c h innere Beobachtungen werden gar nicht als wissenschaftliches Gebiet angesehen. 19

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D i e theosophische Bewegung hat sich zur Aufgabe gestellt, die Wege der Seele wieder z u erforschen. A u f die verschiedenste A r t kann der Zugang zur Seele gefunden werden. In anderen Vorträgen versuchte i c h , auf rein geisteswissenschaftlichem Wege, durch rein theosophische M e t h o d e die Erkenntnis der Seele z u vermitteln. H i e r aber soll zunächst gesprochen werden in dem Sinne, w i e der große Aristoteles am Abschluß der griechischen, großen philosophischen E p o c h e diese Seelenwissenschaft begründet hat. D e n n anders als bei Aristoteles war die Seelenweisheit i n der früheren Zeit gepflogen worden. W i r werden verstehen, wie die Seelenweisheit gepflegt worden ist i n der alten ägyptischen Weisheit, gepflegt w o r d e n ist i n der alten Vedenweisheit. Das aber für später. H e u t e lassen Sie mich sprechen v o n der Seelenlehre des Aristoteles, der Jahrhunderte vor C h r i s t i G e burt als Gelehrter, als Wissenschaftler dasjenige, was auf ganz anderen Wegen gefunden worden ist, z u m Abschluß gebracht hat. W i r können sagen, daß w i r i n der Seelenlehre des Aristoteles etwas haben, was die Besten auf dem Gebiete der Seelenlehre z u geben vermochten. U n d w e i l Aristoteles das Beste vermittelt, muß vor allen D i n g e n von Aristoteles gesprochen werden. U n d doch war dieser Riesengeist seiner Zeit - seine Schriften sind eine Schatzkammer i n bezug auf das Wissen der alten Zeit, u n d wer sich i n Aristoteles vertieft, der weiß, was vor seiner Zeit geleistet war - , dieser Riesengeist war kein Hellseher wie Plato, er war Wissenschafter. Derjenige, welcher auf wissenschaftlichem G e biete der Seele näherkommen w i l l , der muß es auf dem Wege des Aristoteles tun. Aristoteles ist eine Persönlichkeit, die i n jeder Beziehung - w e n n man die Zeit berücksichtigt - die A n f o r d e r u n gen naturwissenschaftlichen Denkens befriedigt. N u r , wie w i r sehen werden, i n einem einzigen Punkte nicht. U n d dieser einzige P u n k t , i n dem w i r Aristoteles unbefriedigend finden werden für die Seelenlehre, dieser ist das große Verhängnis aller wissenschaftlichen Seelenlehren des Abendlandes geworden. E i n naturwissenschaftlicher Entwicklungslehrer war A r i s t o teles. E r stand ganz auf dem Standpunkte der E n t w i c k l u n g s lehre. E r nahm an, daß sich alle Wesen i n streng naturwissenschaftlicher N o t w e n d i g k e i t entwickelt haben. D i e u n v o l l k o m 42

mensten Wesenheiten Heß er sogar durch U r z e u g u n g erstehen, durch das bloße Zusammentreten von leblosen Naturstoffen, auf rein natürliche Weise. Das ist eine H y p o t h e s e , die ein wichtiger wissenschaftlicher Zankapfel ist, aber eine Hypothese, die H a e c k e l mit Aristoteles teilt. U n d Haeckel teilt auch mit A r i s t o teles die Überzeugung, daß eine gerade Stufenleiter hinaufführt bis z u m Menschen. Aristoteles schließt auch alle Seelenentwicklung i n diese E n t w i c k e l u n g ein u n d ist überzeugt, daß zwischen Seele u n d Körperlichkeit nicht ein radikaler, sondern nur ein gradweiser Unterschied ist. Das heißt, Aristoteles ist der Überzeugung, daß bei der E n t w i c k l u n g v o m U n v o l l k o m m e n e n z u m V o l l k o m m e n e n der M o m e n t eintritt, w o die Stufe erreicht ist, daß alles Leblose seine Gestaltung gefunden hat u n d dann ganz v o n selbst die Möglichkeit eintritt, daß aus dem Leblosen das Seelische sich herauf entwickelt. U n d n u n unterscheidet er stufenweise eine sogenannte Pflanzenseele, die i n der ganzen Pflanzenwelt lebt, eine Tierseele, die i m Tierreich lebt, u n d endlich unterscheidet er eine höhere Stufe dieser Tierseele, die i m M e n schen lebt. Sie sehen, der richtig verstandene Aristoteles stimmt vollständig überein mit alledem, was die moderne Naturwissenschaft lehrt. U n d n u n nehmen Sie die «Welträtsel» von Haeckel, die ersten Seiten, w o er auf dem B o d e n der richtigen Naturgesetze steht, u n d vergleichen Sie das mit der Naturwissenschaft u n d Seelenlehre des Aristoteles, dann werden Sie finden, w e n n Sie die durch die Zeit gegebene Differenz abrechnen, daß eine w i r k l i c h e Differenz nicht besteht. A b e r n u n k o m m t das, w o Aristoteles hinausgeht über die Seelenwissenschaft, z u welcher die moderne Naturwissenschaft z u k o m m e n glaubt. D a zeigt Aristoteles, daß er imstande ist, w i r k liches Innenleben z u beobachten. D e n n wer dasjenige, was A r i stoteles n u n m e h r aufbaut auf diese naturgesetzliche Erkenntnistheorie, verfolgt m i t tiefem Verständnis, der sieht, daß alle diejenigen, welche gegen diese Anschauung des Aristoteles etwas einwenden, diese A n s c h a u u n g einfach nicht i m wahren Sinne des Wortes verstanden haben. U n e n d l i c h einfach ist es, einzusehen, daß w i r v o n der Tierseele z u r Menschenseele einen Schritt, einen gewaltigen Schritt machen müssen. U n e n d l i c h leicht ist es einzu43

sehen. N i c h t s hindert diesen Schritt z u machen mit Aristoteles als lediglich die Denkgewohnheiten, die sich i m Laufe der n e u zeitlichen Geistesrichtung herausgebildet haben. D e n n Aristoteles ist sich klar darüber, daß innerhalb der Menschenseele etwas auftritt, was sich wesentlich unterscheidet v o n allem, was als Seelisches außerhalb gefunden w i r d . S c h o n die alten Pythagoreer haben ja übrigens gesagt, derjenige, der die Wahrheit, daß der M e n s c h das einzige Wesen ist, das zählen lernen kann, w i r k l i c h einsieht, der weiß, w o r i n sich der M e n s c h v o m Tiere unterscheidet. A b e r es ist nicht so leicht einzusehen, was es eigentlich heißt, daß nur der M e n s c h zählen lernen kann. D e r griechische Weise Plato hat niemand für seine Philosophenschule für reif erklärt, der nicht zuerst Mathematik gelernt hat, wenigstens die Elemente, die Anfangsgründe. Das heißt: nichts anderes wollte Plato, als daß diejenigen, die er i n die Seelenwissenschaft einführte, etwas wissen über die N a t u r des Mathematischen, etwas wissen über die N a t u r dieser eigentümlichen Geistestätigkeit, die der M e n s c h ausübt, wenn er Mathematik treibt. Das ist aber auch Aristoteles klar; es k o m m t nicht darauf an, Mathematik z u treiben, als vielmehr darauf, z u verstehen: dem Menschen ist es möglich, Mathematik z u treiben. Das heißt nichts anderes, als der M e n s c h ist imstande, Gesetze aufzufinden, streng i n sich geschlossene Gesetze, die i h m keine Außenwelt geben kann. N u r derjenige, welcher nicht i m D e n k e n geschult ist, n u r derjenige, der nicht Selbstbeobachtung z u erreichen versteht, n u r der macht sich nicht klar, daß niemals durch bloße Beobachtung auch n u r der einfachste mathematische Lehrsatz gewonnen werden könnte. N i r g e n d s i n der N a t u r ist ein wirklicher K r e i s , nirgends i n der N a t u r ist eine wirkliche gerade L i n i e , nirgends eine Ellipse, aber i n der Mathematik erforschen w i r diese, u n d die Welt, die w i r aus dem Inneren heraus gewonnen haben, wenden w i r auf das Außere an. Das ist eine Tatsache, ohne deren D u r c h denken man niemals z u einer wahren Anschauung über das Wesen der Seele k o m m e n kann. Deshalb verlangt die Theosophie v o n ihren Zöglingen, die sich tiefer i n sie einlassen w o l l e n , eine strenge Schulung des Denkens; nicht das irrlichtelierende D e n ken des Alltags, nicht das irrlichtelierende D e n k e n der abendlän-

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dischen Philosophie, sondern das D e n k e n , welches i n innerlicher Gründlichkeit Selbstbeobachtung übt. Dieses D e n k e n läßt die Tragweite dieses Satzes erkennen. U n d diejenigen, welche durch ihre mathematische Schulung die größten Eroberungen auf d e m Gebiete der H i m m e l s k u n d e z u verzeichnen hatten, sehen die Tragweite ein u n d sprechen sie aus. Lesen Sie die Schriften v o n Kepler, diesem großen A s t r o n o m e n , lesen Sie das d u r c h , was er über diese Grunderscheinung der menschlichen Selbstbeobachtung sagt, dann werden Sie sehen, was diese Persönlichkeit darüber ausspricht. D i e wußte, welche Tragweite mathematisches D e n k e n bis i n die fernsten Himmelsräume hinauf hat. E r sagt: E s ist wunderbar, die Übereinstimmung, die w i r finden, wenn w i r i n einsamer Studierstube gesessen u n d über Kreise u n d Ellipsen nachgedacht haben, lediglich aus unserem D e n k e n heraus, u n d dann hinaufblicken z u m H i m m e l u n d deren Übereinstimmung finden mit den Sphären des H i m m e l s . - N i c h t u m äußere Forschung handelt es sich bei solchen Lehren, sondern u m die Vertiefung solcher Erkenntnisse. Schon i n der Vorhalle sollte es sich zeigen bei denen, die i n die Philosophenschule aufgenommen werden w o l l t e n , wer v o n ihnen zugelassen werden kann. D e n n dann wußte man, daß wie derjenige, der seine fünf Sinne hat, die äußere Welt erforschen kann, sie ebenso denkerisch das Wesen der Seele erforschen können. N i c h t früher war das möglich. A b e r man verlangte noch etwas anderes. Das mathematische D e n k e n genügt nicht. Es ist die erste Stufe, w o w i r ganz i n uns selbst leben, w o sich uns der Geist der Welt aus unserem Inneren heraus entwickelt. Es ist die trivialste, die untergeordnetste Stufe, die zuerst beschritten werden muß, über die w i r aber hinausschreiten müssen. Das verlangte gerade der ältere Seelenforscher, die höchsten Gebiete der menschlichen Erkenntnis auf dieselbe A r t aus den Tiefen der Seele herauszuholen, wie die Mathematik die Wahrheiten des gestirnten H i m m e l s aus den Tiefen der Seele herausholt. Das war d i e ' F o r d e r u n g , welche Plato i n d e m Satze verbarg: Jeder, der eintreten w i l l i n meine Schule, muß zuerst einen mathematischen K u r s u s durchgemacht haben. - N i c h t Mathematik ist nötig, aber eine Erkenntnis, w e l che die Unabhängigkeit des mathematischen Denkens hat. U n d

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sieht man ein, daß der M e n s c h i n s i c h ein Leben hat, das unabhängig ist v o m äußeren N a t u r l e b e n , daß er aus sich heraus die höchsten Wahrheiten holen muß, d a n n sieht man auch ein, daß des Menschen beste W i r k s a m k e i t s i c h auf etwas erstreckt, das jenseits aller Naturtätigkeit ist. Sehen Sie sich das T i e r an. Seine Tätigkeit verläuft rein gattungsmäßig. Jedes T i e r tut, was unzählige seiner Vorfahren auch getan haben. D e r Gattungsbegriff beherrscht das T i e r ganz. M o r g e n tut es dasselbe, was es gestern getan hat. D i e Ameise baut an ihrem Wunderbau, der B i b e r an dem seinigen, i n zehn, hundert, tausend Jahren so wie heute. E n t w i c k l u n g ist auch darin, aber nicht Geschichte. W e r sich klarmacht, daß die menschliche E n t w i c k l u n g nicht bloß E n t w i c k l u n g , sondern G e schichte ist, der kann i n ähnlicher Weise sich klar sein über die M e t h o d e der Seelenbeobachtung, w i e derjenige, welcher sich klargemacht hat, was mathematische Wahrheiten sind. Es gibt n o c h w i l d e Völker. Sie sind zwar i m Aussterben begriffen, aber es gibt n o c h solche, welche keinen Zusammenhang erkennen können zwischen heute u n d morgen. Es gibt solche, welche, wenn es des Abends kalt w i r d , sich zudecken mit Baumblättern. A m M o r g e n werfen sie diese wieder weg, u n d abends müssen sie sie wieder v o n neuem suchen. Sie sind nicht imstande, die E r f a h rung v o n gestern hinüberzutragen i n das Heute u n d M o r g e n . Was ist notwendig, wenn w i r die Erfahrung von gestern i n das H e u t e u n d M o r g e n hinübertragen wollen? W i r können nicht sagen, w e n n w i r heute wissen, was w i r gestern getan haben, dann werden w i r morgen auch tun, was w i r gestern getan haben. Das ist Eigenart der Tierseele. D i e kann fortschreiten, sie kann i m Laufe der Zeiten etwas anderes werden, aber dann ist das A n derswerden nicht ein Geschichtliches. E i n Geschichtliches besteht darin, daß das I n d i v i d u u m Mensch sich dasjenige, was es erfahren hat, i n der Weise zunutze macht, daß es auf ein N i c h t e r fahrenes, auf ein M o r g e n schließen kann. Ich lerne den Sinn, den Geist des Gestern u n d baue darauf, daß die Gesetze, die meine Seele aus der Beobachtung gewinnt, i n dasjenige, was i c h n o c h nicht beobachtet habe, also i n die Zukunft, hinübertragen. R e i sende erzählen uns, daß es vorgekommen sei, daß irgendwelche

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Wanderer sich Feuer angefacht hätten i n Gegenden, w o A f f e n wohnten. Sie seien weggezogen u n d hätten das Feuer brennen und das H o l z liegen lassen. D i e Affen seien herangekommen u n d hätten sich erwärmt am Feuer. A b e r sie konnten das Feuer nicht schüren. Sie können sich nicht unabhängig machen v o n den Beobachtungen u n d Erfahrungen, sie können keine Schlüsse ziehen. D e r M e n s c h schließt aus seinen Beobachtungen u n d Erfahrungen heraus u n d w i r d dadurch z u m selbstherrlichen Bestimmer seiner Z u k u n f t . E r sendet seine Erfahrungen i n das M o r g e n hinein, er verwandelt die E n t w i c k l u n g in Geschichte. So wie er die Erfahrung i n Theorie verwandelt, aus der N a t u r die Wahrheiten des Geistes herausholt, so holt er aus dem Vergangenen die Regeln der Z u k u n f t u n d w i r d dadurch z u m Erbauer der Zukunft. Wer diese beiden D i n g e gründlich durchdenkt, daß der M e n s c h sich i n zweifacher Weise unabhängig machen kann, daß er nicht bloß beobachten, sondern auch Theorien aufstellen kann, daß er nicht bloß wie die Tierseele E n t w i c k l u n g , sondern auch Geschichte hat, wer sich diese beiden D i n g e klarmacht, der versteht, was ich meinte, w e n n ich sagte, i m Menschen lebt nicht nur die Tierseele, sondern die Tierseele entwickelt sich so weit herauf, daß sie aufnehmen kann den sogenannten N u s , den Weltengeist. Das hält Aristoteles für notwendig, damit der M e n s c h Geschichte bilden könne, daß i n die Tierseele sich der Weltengeist hineinsenkt. D i e Seele des Menschen unterscheidet sich i m Sinne des Aristoteles v o n der Tierseele dadurch, daß sie heraufgehoben w o r d e n ist v o n dem, w o z u sie sich innerhalb der Tierentwicklung erhoben hat, bis z u den F u n k t i o n e n u n d Tätigkeiten, durch die sie i n den Besitz des Geistes gekommen ist. U n d w e n n der große K e p l e r sagt, daß die i n einsamer Studierstube gewonnenen Gesetze anwendbar sind auf die äußeren N a t u r e r eignisse, so erklärt sich das dadurch, daß der Weltengeist, der N u s , der Mahat, sich hineinsenkt u n d die Menschenseele eine weitere Stufe hinaufhebt. D i e Menschenseele w i r d gleichsam hinausgehoben aus dem Tiersein. D e r Geist ist es, der sie heraushebt. D e r Geist lebt i n der Seele. E r entwickelt sich aus der Seele heraus. E r entwickelt sich so, wie sich die Seele stufenweise aus d e m Körper heraushebt.

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A b e r gerade dieses letztere sagte Aristoteles nicht oder nicht klar. E r sagt z w a r immer wieder u n d wieder: die Seele entwickelt sich stufenweise bis z u r Menschenseele auf einem ganz naturgemäßen Wege - aber nun k o m m t d e r Geist v o n außen i n diese naturgemäß entwickelte Menschenseele hinein. N u s ist i m Sinne des Aristoteles etwas, was v o n außen d u r c h schöpferische Tätigkeit i n die Menschenseele hineingelegt w i r d . U n d das wurde das Verhängnis der Seelenwissenschaft des Abendlandes. Es ist das ein Verhängnis des Aristoteles, daß er nicht imstande ist, seine richtige A n s i c h t , daß durch das E i n s e n k e n des N u s i n die M e n schenseele diese Menschenseele heraufgehoben w i r d , z u einer Theorie des Geschichtsverlaufes z u gestalten. Diese E n t w i c k lung ist er nicht imstande ebenso naturgemäß z u begreifen, wie die E n t w i c k l u n g der Seele z u begreifen ist. Das haben aber schon griechische Weise, schon indische Weise getan. Sie haben K ö r per, Seele u n d Geist i n naturgemäßer Weise bis z u m Menschengeist i n ihrer E n t w i c k l u n g begriffen. B e i Aristoteles ist es ein B r u c h . E s k o m m t der Schöpfungsgedanke in die Auffassung h i n ein. W i r werden sehen, wie die theosophische Seelenlehre diesen Schöpfungsgedanken überwindet, wie sie dasjenige ist, was i m wahren Sinne die letzten Konsequenzen der naturwissenschaftlichen Weltanschauung, allerdings v o m geistigen Gesichtspunkte aus, zieht. A b e r n u r dadurch, daß w i r uns klarwerden, daß w i r wieder zurückkehren müssen z u r alten Einteilung i n Körper, Seele u n d Geist, n u r dadurch werden w i r diese naturgemäße E n t w i c k l u n g des Menschen w i r k l i c h verstehen. N i c h t aber dürfen w i r glauben, daß jemals auf dem durch die moderne Naturwissenschaft gepflegten, scheinbar unwiderlegten Wege, durch die Betrachtung der einzelnen Teile des Gehirnes, der Zugang zur Seele gefunden w i r d . Einsehen müssen wir, daß die Einwendungen des indischen Weisen Nagasena auch der heutigen naturalistischen Seelenlehre gegenüber gelten. Einsehen müssen w i r vor allen D i n g e n , daß tiefere, innere Selbstbeobachtung, tiefere Geistesforschung notwendig ist, u m den Zugang z u Seele u n d Geist z u finden. E i n e falsche Vorstellung macht man sich v o n denjenigen, welche glauben, daß die verschiedenen Religionsbekenntnisse 48

und die verschiedenen Weisen, welche aus den verschiedenen Religionsbekenntnissen hervorgegangen sind, das gesagt hätten, was die moderne Naturwissenschaft z u widerlegen sucht. Das haben sie nie gesagt, nie versucht. Wer die E n t w i c k l u n g der Seelenlehre verfolgt, der kann klar u n d deutlich sehen, daß die, w e l che v o n den M e t h o d e n der Seelenlehre etwas gewußt haben, niemals die M e t h o d e n der Naturwissenschaft angewendet haben, so daß sie sie widerlegen müßten. N i c h t diese können z u r Seele finden. O nein, auf diesem Wege haben die Seelenforscher, die noch gewußt haben, was Seele ist, niemals die Seele gesucht. Ich w i l l Ihnen einen nennen, den Verpöntesten unter den A u f klärern, den man aber auch am wenigsten kennt, ich w i l l mit ein paar W o r t e n v o n der Seelenlehre des 1 3 . Jahrhunderts sprechen, v o n der Seelenlehre des Thomas v o n A q u i n o . Es gehört z u den charakteristischen Eigenschaften dieser Seelenlehre, daß der A u tor derselben sagt: Dasjenige, was der Menschengeist mitnimmt, wenn er diesen Körper verläßt, dasjenige, was der Menschengeist i n die rein geistige Welt mitnimmt, das läßt sich nicht mehr vergleichen mit alledem, was der M e n s c h innerhalb seines Körpers erlebt. J a , Thomas v o n A q u i n o sagt, die Aufgabe der R e l i gion i n ihrem idealsten Sinne besteht darin, den Menschen dazu z u erziehen, daß er aus diesem Leibe etwas mitnehmen kann, was nicht sinnlich ist, was nicht an die Erforschung, an die B e trachtung u n d Erfahrung der äußeren N a t u r gebunden ist. Solange w i r i n diesem Körper leben, sehen w i r durch unser Auge u n d hören d u r c h unsere O h r e n Sinnliches. W i r nehmen durch unsere Sinnesorgane alles Sinnliche wahr. A b e r der Geist verarbeitet dieses Sinnliche. D e r Geist ist das eigentlich Tätige. D e r Geist ist dasjenige, was das E w i g e ist. U n d n u n beachten Sie die tiefe Anschauung, die da gewonnen w o r d e n ist auf G r u n d jahrtausendealter Seelenlehre, die sich in den W o r t e n ausdrückt: D e r jenige Geist, welcher wenig während dieses Lebens gesammelt hat, was unabhängig ist v o n äußerer sinnlicher Beobachtung, unabhängig ist v o m äußeren Sinnesleben, der ist nicht glückl i c h daran, w e n n er entkörpert ist. Thomas v o n A q u i n o sagt: Dasjenige, was w i r in unserer sinnlichen U m g e b u n g sehen, ist fortwährend durchdrungen v o n sinnlichen Phantasmen. - D e r 20

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Geist aber, gerade der Geist, den ich geschildert habe i m Sinne der Mathematik, geschildert habe als N u s , der sich ergibt i n einfacher A r t , wie sich aus dem Gestern u n d Heute das M o r g e n ergibt, dieser Geist, indem er sich frei macht, sammelt Früchte für die E w i g k e i t . U n e n d l i c h vereinsamt u n d leer fühlt sich der Geist - das ist Thomas von A q u i n o s Lehre - , wenn er i n das Geisterland eintritt, ohne so weit gekommen z u sein, daß er v o n allen Phantasmen der Sinnenwelt frei ist. D e r tiefe Sinn der griechischen M y t h e v o n dem T r i n k e n aus dem Lethestrom enthüllt sich uns damit als ein Gedanke: D e r Geist i n seinem rein geistigen Dasein w i r d immer höher u n d höher sich entwickeln, je freier u n d freier er w i r d v o n allen sinnlichen Phantasmen. Wer daher den Geist auf sinnliche A r t sucht, der kann i h n nicht finden; denn der Geist, w e n n er v o n der Sinnlichkeit frei geworden ist, hat nichts mehr mit der Sinnlichkeit z u tun. Thomas von A q u i n o verpönt daher auf das entschiedenste die M e t h o d e n , mit denen er auf sinnlichem Wege gesucht w i r d . Dieser Karchenlehrer ist ein G egner von j edem Experiment u n d Versuch, auf sinnlichem Wege i n Verkehr mit Entkörperten u n d Verstorbenen z u k o m m e n . D e r Geist muß am reinsten sein, wenn er von sinnlichen Phantasmen u n d v o n dem Haften an der Sinnlichkeit frei ist. Ist er das nicht, dann fühlt er sich i n der geistigen Welt unendlich vereinsamt. D e r Geist, der angewiesen ist auf die sinnliche Beobachtung, der aufgeht i n sinnlichen Beobachtungen, der lebt i n der geistigen Welt wie i n einer unbekannten Welt. Diese Vereinsamung ist sein Schicksal, sein L o s , w e i l er nicht gelernt hat, frei z u sein v o n sinnlichen Phantasmen. Dies werden w i r erst völlig durchdringen, wenn w i r z u m zweiten Vortrage k o m m e n . Sie sehen, gerade auf dem entgegengesetzten Wege wurde die Seele gesucht i n den Zeiten, i n denen die Innenbeobachtung, die Beobachtung dessen, was i m eigenen Inneren des Menschen lebt, den Ausschlag gegeben hat für die Seelenwissenschaft. Das ist dasjenige, was als ein G r u n d i r r t u m i n der modernen Wissenschaft lebt u n d was dazu geführt hat, geradezu das Schlagwort v o n der Seelenwissenschaft ohne Seele hinauszuposaunen als naturalistisches Glaubensbekenntnis des 1 9 . Jahrhunderts. Diese Wissenschaft, die bloß auf die äußeren Anschauungen geht, 5°

glaubt die A l t e n widerlegen z u können. A b e r diese Wissenschaft weiß nichts v o n den Wegen, auf denen die Seele gesucht worden ist. N i c h t s , nicht das geringste soll gesagt werden gegen die m o derne Wissenschaft. W i r w o l l e n i m Gegenteil gerade als Theosophen i m Sinne dieser modernen Wissenschaft das Gebiet der Seele so durchforschen, wie diese das Gebiet der rein räumlichen N a t u r durchforscht, aber w i r w o l l e n nicht i n der äußeren N a t u r die Seele suchen, sondern i n unserem Inneren. W i r w o l l e n den Geist suchen da, w o er sich enthüllt, indem w i r die Wege der Seele wandeln u n d durch Seelenerkenntnis zur Geist-Erkenntnis k o m m e n . Das ist der durch jahrtausendealte Lehren vorgeschriebene Weg, den man n u r verstehen muß, u m i h n i n seiner Wahrheit u n d Gültigkeit z u erfassen. Das macht uns aber auch klar u n d w i r d uns immer klarer machen, was der tiefere M e n s c h , wenn er die Seele erkennen w i l l , gerade an der modernen kalten Wissenschaft ebenso vermissen w i r d , wie es Goethe vermißt hat, als i h m diese kalte Wissenschaft im «Systeme de la nature» v o n H o l b a c h entgegengetreten ist. W i r können i n der äußeren N a t u r z w a r verfolgen, wie der M e n s c h sich hinsichtlich der Äußerlichkeit entwickelt hat, wie er geworden ist, wie die M o n a d e i n den feineren Gebilden arbeitet, wie das mittlere Organsystem für einen A u s d r u c k der Seele gelten kann, aber das alles führt uns nur zur Erkenntnis der Äußerlichkeit. D a bleibt n o c h i m m e r die große Frage nach dem Schicksal des Menschen. H a b e n w i r einen Menschen auch noch so gut verstanden i n bezug auf seine Äußerlichkeit, w i r haben i h n nicht verstanden, insofern er i n dieser oder jener Weise dieses oder jenes Schicksal hat, w i r haben nicht begriffen, welche R o l l e spielt das Gute u n d Böse, das V o l l k o m m e n e u n d U n v o l l k o m m e n e . Was der M e n s c h i m Inneren erlebt, darüber kann uns die äußere Wissenschaft keinen Aufschluß geben; darüber kann uns n u r die Seelenlehre, die auf Selbstbeobachtung gegründet ist, eine G e dankenantwort geben. D a n n k o m m e n die großen Fragen: W o her k o m m e n wir, w o h i n gehen wir, was ist unser Ziel? - diese größten Fragen aller Religionen. Diese Fragen, die den M e n schen erheben können z u erhabener Stimmung, diese Fragen werden es sein, die uns hinüberführen aus der Seelenwelt z u dem

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Geiste, z u dem die Welt durchflutenden Gottesgeist. Das muß der Inhalt des nächsten Vortrages sein: D u r c h die Seele z u m Geist. Das w i r d uns zeigen, daß es durchaus wahr ist - nicht bloß ein bildlicher A u s d r u c k - , daß auch die vollkommene Tierseele, die geworden ist d u r c h rein äußerliche E n t w i c k l u n g , i m M e n schen nur dadurch Menschenseele ist, daß sie heute ein n o c h H ö heres, ein Vollkommeneres darstellt, u n d daß sie die A n w a r t schaft, den K e i m z u einem n o c h weit Höheren, z u einem grenzenlos V o l l k o m m e n e n i n sich trägt; daß diese Menschenseele aber i m Sinne desselben Ausspruches als etwas z u gelten hat, was nicht den Geist u n d nicht die Seelenerscheinungen aus der T i e r heit hervorbringt, sondern daß das T i e r i m Menschen sich entw i c k e l n muß z u Höherem, u m dadurch seine Bestimmung, seine Aufgabe u n d auch sein Schicksal z u erhalten. Das drückt die mittelalterliche Seelenlehre mit den W o r t e n aus, daß nur der die Wahrheit i m w i r k l i c h e n Sinne erkennt, der sie nicht so betrachtet, wie sie i h m erscheint, w e n n er m i t äußerem O h r e hört, mit äußerem A u g e zuschaut, sondern so, wie sie erscheint, w e n n w i r sie i m Abglanze des höchsten Geistes sehen. So möchte i c h den ersten Vortrag mit den Worten schließen, die Thomas v o n A q u i n o i n seinem Vortrag gebrauchte: Des Menschen Seele gleicht dem M o n d e , der leuchtet, aber sein L i c h t v o n der Sonne empfängt. - Des Menschen Seele gleicht dem Wasser, das nicht kalt u n d nicht w a r m für sich ist, sondern seine Wärme v o m Feuer erhält. - D i e Menschenseele gleicht nur einer höheren Tierseele, aber sie ist Menschenseele dadurch, daß sie ihr L i c h t v o n dem Menschengeist erhält. I m E i n k l a n g mit dieser mittelalterlichen Überzeugung sagt Goethe: «Des Menschen Seele/Gleicht dem W a s s e r : / V o m H i m m e l k o m m t e s , / Z u m H i m m e l steigt e s , / U n d wieder nied e r / Z u r E r d e muß e s , / E w i g wechselnd.» D a n n erst versteht man die Menschenseele, wenn man sie i n diesem Sinne faßt, wenn man sie faßt i n dem Sinne, daß sie begriffen w i r d als ein A b g l a n z der höchsten Wesenheit, die w i r überall i m Weltenall finden können, als ein Abglanz des das Weltall durchflutenden Weltengeistes. S

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Geist, Seele und Leib des Menschen

Wer heute ein populäres oder auch wissenschaftliches B u c h i n die H a n d nimmt, u m darin irgendwelche Belehrungen z u suchen über das Verhältnis des menschlichen Geist- u n d Seelenwesens z u der äußeren Leibesorganisation, der w i r d zumeist auf so etwas wie das folgende Gleichnis stoßen können: Daß die Sinneseindrücke, die der M e n s c h v o n der Außenwelt empfängt, gewissermaßen telegraphische Nachrichten seien, die zur Zentralstat i o n des Nervensystems, z u m G e h i r n , über die N e r v e n wie Drähte geleitet u n d v o n dort wiederum i n den Organismus ausgesendet werden, u m die Impulse des Wollens hervorzurufen, u n d so weiter. So einnehmend für manche heute ein solches oder ein ähnliches Gleichnis z u sein scheint, so kann man doch sagen, daß i m G r u n d e m i t einem solchen Gleichnis n u r verdeckt werden soll die Hilflosigkeit gegenüber dem großen Seelen- u n d Geisträtsel, das man einschließen kann i n die Worte, die den G e genstand der heutigen Betrachtung charakterisieren sollen: Geist, Seele u n d L e i b des Menschen. N u n habe ich schon i n den vorangehenden Vorträgen angedeutet, daß die heutigen Betrachtungen auf diesem Gebiete an einem G r u n d m a n g e l leiden. Gerade wenn man sich mit einer solchen Betrachtung auf den B o d e n der auf anderen Gebieten so erfolgreichen naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise stellt, dann tritt einem heute n o c h die Unmöglichkeit i n den Weg, über das V o r u r t e i l h i n w e g z u k o m m e n , das da zusammenwirft i m menschlichen Wesen das Seelenleben mit den Wirksamkeiten des eigentlichen Geisteslebens. Seele und Geist werden heute fast überall i n naturwissenschaftlichen, i n philosophischen, i n p o p u lären Betrachtungsweisen durcheinandergeworfen. Es geht mit solchen Betrachtungen heute i n der Tat n o c h so, wie es einem C h e m i k e r gehen würde, der eine zusammengesetzte Substanz analysieren wollte u n d sich durchaus einbildete, es müßten zwei 21

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Glieder, z w e i Teilsubstanzen, i n dieser zusammengesetzten Substanz sein, der dann ganz unter diesem Vorurteil handelte u n d infolgedessen nichts Ordentliches herausbringen kann, w e i l er eben nicht berücksichtigt, daß die Untersuchung nur fruchtbar werden k a n n , w e n n er auf eine Dreigliedrigkeit losgeht. So bleiben die Untersuchungen heute häufig aus dem G r u n d e unfruchtbar - neben dem Umstände, daß sie es auch aus mannigfachen anderen Gründen sind - , w e i l man sich nicht lossagen w i l l von dem V o r u r t e i l , der M e n s c h könne betrachtet werden, ohne daß man seine Gliederung in die drei Wesenheiten, wenn i c h sie so nennen darf, oder i n die drei Wesensglieder L e i b , Seele u n d Geist, ins A u g e fasse. Ich habe auch schon i n einem früheren Vortrage angedeutet, daß es sich für dasjenige, was hier unter Geisteswissenschaft gemeint ist, darum handelt, ebenso von dem seelischen Leben aus die Brücke z u m Geist z u schlagen, wie es sich für die physische Wissenschaft u n d Biologie darum handelt, die Brücke z u schlagen v o m seelischen Leben herüber z u m leiblichen Wesen des Menschen. N o c h einmal möchte i c h auf das aufmerksam m a chen, worauf ich schon hingedeutet habe zur Erläuterung dessen, was eigentlich gemeint ist. Seelisches Erleben, allerdings i m w e i teren Sinne, ist es zweifellos - w e n n das seelische Erleben i n diesem Falle auch auf körperlichen u n d leiblichen Grundlagen beruht - , w e n n der M e n s c h Hunger, D u r s t , Sättigung, Atmungsbedürfnis u n d dergleichen empfindet. A b e r w e n n man auch diese Empfindungen n o c h so sehr ausbildet, wenn man n o c h so sehr versucht, den H u n g e r größer oder kleiner z u machen, u m i h n innerlich seelisch z u beobachten, oder w e n n man das Hungergefühl vergleicht mit der Sättigung u n d dergleichen, es ist unmögl i c h , durch diese bloße innere Beobachtung, durch das, was m a n seelisch erlebt, darauf z u k o m m e n , welche leiblichen, körperlichen Grundlagen diesem seelischen Erleben als Bedingung dienen. D a muß i n der Ihnen ja allbekannten Weise die Brücke durch wissenschaftliche M e t h o d e n so geschlagen werden, daß man übergeht v o n dem bloßen seelischen Erleben z u demjenigen, was sich, während dieses oder jenes seelische Erleben da ist, i n der leiblichen Organisation des Menschen abspielt. 22

Ebenso aber ist es unmöglich, z u irgendeiner fruchtbaren A n 54

schauung z u k o m m e n über den Menschen als Geistwesen, wenn man bloß stehenbleiben w i l l bei dem, was der M e n s c h innerlichseelisch i n seinem Vorstellungsleben, i n seinem Gefühlsleben, i n seinem Willensleben durchmacht. Vorstellungen, Gefühle, W i l lensimpulse sind ja der Inhalt der Seele. Sie wogen auf u n d ab i m alltäglichen wachen Tagesleben. M a n versucht, sie zuweilen dadurch z u vertiefen, daß man übergeht v o n dem bloßen alltäglichen seelischen Erleben i m Vorstellen, Fühlen, W o l l e n z u einer A r t mystischer Versenkung i n sein Inneres, z u einem vertieften D u r c h l e b e n desjenigen, was die Seele eben nach dieser R i c h t u n g h i n durchleben k a n n . A l l e i n , wieweit man auch gehen mag mit einem solchen mystischen Versenken, z u einer Geisterkenntnis des Menschen kann man durch solche M y s t i k , u n d sei sie noch so subtil, nicht k o m m e n . Es muß vielmehr, w e n n Geisterkenntnis angestrebt werden soll - allerdings nach der anderen Seite h i n , aber i n ebenso ernster wissenschaftlicher Weise - , die Brücke geschlagen werden v o n dem bloßen seelischen Erleben z u dem geistigen, wie auf dem Gebiete der physischen Wissenschaft d u r c h ernste, strenge M e t h o d e n die Brücke geschlagen w i r d von dem seelischen Erleben z u den leiblichen Vorgängen, z u den chemischen oder physischen Vorgängen, die dem Hungergefühl, dem Sättigungsgefühl, dem Atmungsbedürfnis u n d dergleichen zugrunde liegen. N u n kann man allerdings nicht i n einer ebensolchen Weise, wie man v o n der Seele übergeht z u der Betrachtung der leiblichen Organisation des Menschen, übergehen z u einer Betrachtung des geistigen Lebens des Menschen. D a sind andere M e t h o d e n notwendig. A u f diese M e t h o d e n habe ich schon i n einer prinzipiellen Weise hingedeutet. D i e Einzelheiten können natürlich i n einem k u r z e n Vortrage nicht erörtert werden. Sie finden sie i n den schon öfter genannten Büchern «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», i n meiner «Geheimwissenschaft», i n den Büchern «Vom Menschenrätsel», «Von Seelenrätseln» u n d so weiter. A b e r einige bemerkenswerte Eigenschaften jener M e t h o d e n , welche die Brücke schlagen können v o m gewöhnlichen menschlichen Seelenleben z u m geistigen Wesen des Menschen, möchte ich auch heute wiederum einleitungsweise vorbringen.

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D a handelt es sich vor allen D i n g e n u m eines - auch darauf habe i c h v o n anderen Gesichtspunkten aus i n diesen Vorträgen schon hingedeutet - , es handelt sich darum, daß gerade viele Seelenforscher der Gegenwart glauben, daß gewisse D i n g e einfach unmöglich sind, die für die Geistesforschung unbedingt angestrebt werden müssen. W i e oft findet man heute v o n Seelenforschern erwähnt, daß das eigentliche Seelenleben nicht beobachtet werden könne. M a n findet darauf hingewiesen, daß z u m Beispiel zarte Gefühle nicht beobachtet werden können, w e i l sie einem entschlüpfen, w e n n man mit der beobachtenden Seelentätigkeit an sie herantreten w i l l . Es w i r d mit Recht darauf hingewiesen, wie w i r uns gestört fühlen, wenn w i r z u m Beispiel etwas auswendig gelernt haben, es hersagen, u n d uns selbst beobachten w o l l e n . Das w i r d so angeführt, als ob es eine d u r c h greifende Eigentümlichkeit des Seelenlebens wäre. Gerade das ist aber notwendig einzusehen, daß, was da wie eine U n m ö g lichkeit, wie eine charakteristische Unfähigkeit des Seelenlebens hingestellt w i r d , gerade als geisteswissenschaftliche M e t h o d e angestrebt werden muß. Was der Biologe, was der Physiologe für den L e i b verrichtet, das verrichtet der Geistesforscher für den Geist, indem er v o n der bloßen alltäglichen u n d v o n der bloßen mystischen Selbstbeobachtung z u jener wahren Seelenbeobachtung aufzusteigen bestrebt ist, deren Unmöglichkeit mit dem erwähnten H i n w e i s e dargetan werden soll, daß w i r uns beim H e r sagen eines Gedichtes nicht selber beobachten können, w e i l w i r uns dadurch stören. N u n ist es ja nicht notwendig, daß man gerade i n solch äußerlichen D i n g e n , wie dem Hersagen eines memorierten Stoffes, z u einer Möglichkeit der Selbstbeobachtung k o m m t , o b w o h l das für den, der Geistesforscher werden w i l l , auch eine N o t w e n d i g k e i t ist. N o t w e n d i g aber ist es, daß der G e i stes- u n d Seelenforscher dazu vordringt, wirkliche Selbstbeobachtung dadurch z u erringen, daß er einen Vorstellungsverlauf, eine Gedankenfolge, auch den Verlauf von Willensimpulsen, von Gemütszuständen w i r k l i c h so v o r sich hat, daß er gewissermaßen, während das i n seiner Seele abläuft, wie sein eigener Z u schauer dabeisteht u n d sich w i r k l i c h innerlich selbst beobachten lernt, so selbst beobachten lernt, daß Beobachter u n d Beobach-

tetes eigentlich vollständig auseinanderfallen. Diese Möglichkeit w i r d oftmals als etwas sehr Leichtes hingestellt, u n d diejenigen, die dies als etwas sehr Leichtes hinstellen, o b w o h l sie natürlich sie nicht i n der ganzen Schwierigkeit ihres Wesens anstreben, die sind es auch, die da glauben, während der Naturwissenschaft strenge M e t h o d e n obliegen, sei Geisteswissenschaft irgend etwas, was leichten H e r z e n s auf leichte Weise erlangt werden könne. Z u w i r k l i c h e r Geistesforschung, die z u sagen vermag, worauf es dem geistigen Leben gegenüber ankommt, ist aber ebensolches, w e n n auch nur i m Geistigen angewendetes, methodisch strenges, geduldiges, energisches Fortschreiten i n einer bestimmten Weise notwendig, u n d zwar nicht nur wie das auf äußerlich naturwissenschaftlichem Gebiete geschieht, sondern so, daß der, der beides kennt, naturwissenschaftliches Forschen u n d geisteswissenschaftliches Forschen, sagen muß, daß gegenüber dem oftmals jahrelangen Streben, das notwendig ist, u m z u ernsten geisteswissenschaftlichen Resultaten z u k o m m e n , man sich die M e t h o d e n der Naturwissenschaft i m G r u n d e doch noch auf eine leichtere Weise aneignen kann. Für diese wahre Selbstbeobachtung w i r d eine Grundlage dadurch geschaffen, daß man versucht, ganz methodisch regelrecht den inneren W i l l e n des Menschen einzuführen i n das Vorstellungsleben. D a d u r c h gelangt man z u dem, was man i m wahren Sinne des Wortes, nicht i n einem dunklen, mystischen Sinne, nennen kann M e d i t a t i o n , meditatives inneres Leben. In unserem gewöhnlichen alltäglichen Bewußtsein sind w i r ja an solches meditatives Leben durchaus nicht gewöhnt, da richten w i r die Folge der Gedanken ganz nach dem Verlauf der äußeren Welt mit ihren Eindrücken ein; w i r lassen einen Gedanken auf den anderen folgen, je nachdem der äußere E i n d r u c k auf den andern folgt. D i e Folge der äußeren Eindrücke gibt uns den Faden, nach dem u n sere Gedanken verlaufen. A u f der Grundlage dessen, was sich dann der M e n s c h als eine Lebenserfahrung oder auch Lebensweisheit angeeignet hat, regelt er sich sein inneres Leben, seinen Gedankenverlauf, so daß er dann dazu k o m m t , v o n innen heraus seinen Gedanken Folge geben z u können. A l l e i n alles das kann höchstens Vorbereitung z u dem sein, was hier gemeint ist. Das 57

muß i n langsamer, geduldiger, energischer A r b e i t erlangt werden. Es w i r d dadurch erlangt, daß man zunächst die Vorsicht anwendet, i n seine Gedanken eine solche Regelmäßigkeit u n d dennoch, i c h möchte sagen, solche Willkür hineinzubringen, daß man sicher ist: In dem, was man so übt, w i r k t nichts v o n einer bloßen Reminiszenz, nichts v o n dem, was heraufsteigen kann aus irgendwelchen mehr oder weniger vergessenen Vorstellungswelten, Lebenserfahrungen u n d dergleichen. Daher ist es notwendig, daß derjenige, der z u r Geistesforschung k o m m e n w i l l , sich einlebt i n ein solches Verfolgen der Vorstellungen, die er sich i n übersichtlicher Weise selber zubereitet, oder v o n da oder dort her i n übersichtlicher u n d kunstgerechter Weise zubereitet erhält, daß er w i r k l i c h i n dem Augenblick, i n dem er sich diesem Vorstellungsverlaufe hingibt, sagen kann: Ich überschaue, wie ich die eine Vorstellung an die andere reihe, wie ich durch den W i l l e n beeinflusse den Vorstellungsverlauf. 23

Das alles muß man dahin bringen, daß es nichts weiter ist als eine Vorbereitung z u dem, was eigentlich für das Seelen- u n d Geistesleben eintreten soll. D e n n das muß zwar auf diese A r t sorgfältig vorbereitet werden, stellt sich aber i n einem bestimmten P u n k t der E n t w i c k l u n g als etwas Objektives ein, als eine v o n der geistigen Außenwelt kommende W i r k l i c h k e i t . N u r derjenige, der sich eine Zeitlang sorgfältig solchen inneren Übungen hingibt - es ist individuell verschieden, wieviel Zeit man dazu braucht - , d u r c h die er den W i l l e n i n die Vorstellungswelt einführt, d u r c h die er dahin k o m m t , sich z u sagen: Ich lasse die Vorstellungen nicht nach ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit oder nach der v o n außen aufgenommenen Gesetzmäßigkeit aufeinander folgen, sondern i c h bringe durch meinen W i l l e n selber jene Regelmäßigkeit i n mein Vorstellungsleben, w o d u r c h eine V o r stellung an die andere angereiht w i r d — der bringt es nach u n d nach dahin - , w e n n er i n die Vorstellungsfolge die Willkür eingeführt u n d wieder überwunden hat, etwas innerlich z u entdecken, das ebenso notwendig v o m geistigen Gebiete her eine Vorstellung, einen Gedanken an den anderen reiht, u n d so ein inneres Seelenleben, beherrscht v o n einer geistigen W i r k l i c h k e i t , hervorruft. W i e die äußere Beobachtung das Vorstellungsleben re-

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gelt u n d dadurch, daß die Folge der äußeren Ereignisse, die charakteristischen Eigenschaften der äußeren Wesenheiten, den Vorstellungen zugrunde liegen, N o t w e n d i g k e i t i n die Vorstellungen hineinbringt, so daß sie z u m Vermittler der äußeren W i r k l i c h k e i t werden, so w i r d nach u n d nach das Vorstellungsleben z u einem Vermittler einer geistigen W i r k l i c h k e i t . M a n m u ß n u r eben dasjenige, was hier gemeint ist, i n demselben Sinne als etwas ernst Wissenschaftliches erkennen wie die N a t u r w i s senschaft u n d sich nicht dem Vorurteil hingeben, daß man dad u r c h i n irgendwelche Phantastik hineingerät, w e i l man allerdings i n eine innere Willkür hineinkommt, u n d einsehen, daß man auf diese Weise ein geistig Lebendiges, ein geistig W i r k l i ches ergreifen k a n n , das v o n der anderen Seite her an unser V o r stellen herankommt, als die Seite ist, die der äußeren physischen W i r k l i c h k e i t entspricht. Es ist für denjenigen, der sich mit solchen D i n g e n nicht viel befaßt hat, ja zunächst schwierig, sich vorzustellen, was mit diesen D i n g e n eigentlich gemeint ist. A l lein diese D i n g e , die einer kommenden Geisteswissenschaft z u grunde hegen sollen, die eine kommende geisteswissenschaftliche Forschungsweise abgeben sollen, sind ebenso wie die naturwissenschaftlichen Verrichtungen i m L a b o r a t o r i u m u n d so w e i ter nichts weiter als feinere Ausbildungen der auch sonst i n der Außenwelt erfolgenden Hantierungen. Diese inneren, wenn ich m i c h des A u s d r u c k s bedienen darf, Hantierungen des Geistesforschers sind nichts anderes als die Fortsetzung desjenigen, was das Seelenleben sonst auch vollbringt, u m die Beziehung z w i schen menschlichem Seelenleben u n d Geistesleben herzustellen, die eigentlich immer da ist, die aber durch diese Übungen mehr oder weniger ins Bewußtsein hineingerufen w i r d . Ich möchte von etwas, das leichter verständlich sein kann, ausgehen, u m das, was i c h eigentlich meine, z u charakterisieren. W e r sich befaßt mit allerlei Betrachtungen über diese oder jene menschlichen oder sonstigen Lebensverhältnisse, der kann ja, w e n n er sich nach u n d nach eine E m p f i n d u n g dafür aneignet, Unterschiede herausfinden zwischen den Darstellungen des einen Menschen u n d den Darstellungen eines anderen Menschen. E r w i r d bei dem einen Schriftsteller finden, daß er mit dem, was 59

er sagt, ja recht gelehrt sein kann, recht streng seine bestimmte M e t h o d e handhaben kann, daß er aber durch die A r t , wie er die D i n g e sagt, i m G r u n d e recht fern steht dem, was sich eigentlich i n dem Wesen der D i n g e abspielt. Dagegen kann man bei einem anderen Schriftsteller oftmals, ohne daß man vielleicht geneigt ist, z u untersuchen, u m was es sich handelt, sich sagen: D e r ist einfach durch die A r t , wie er über die D i n g e spricht, ein den D i n g e n , ihrem inneren Wesen nahestehender M e n s c h . E r vermittelt einem, während man seine Zeilen liest, etwas, was einen so recht an die D i n g e heranbringt. Dafür ein Beispiel: M a n kann sehr viel haben gegen eine solche Kunstbetrachtung, wie sie der anregende, so sympathische Schriftsteller H e r man G r i m m geübt hat, aber man w i r d doch, wenn man dafür eine E m p f i n d u n g hat, selbst dann, wenn man oftmals mit irgendwelchen Ausführungen H e r m a n G r i m m s nicht einverstanden ist, wenn man i h n sogar dilettantisch findet gegenüber dem, was strenge Gelehrte z u sagen haben, zugeben müssen: In seinen Ausführungen liegt etwas, w o d u r c h man herangeführt w i r d an die K u n s t w e r k e , an die Künstler, an deren persönlichen Charakter sogar. E s ist, i c h möchte sagen, etwas von Atmosphäre i n den Schriften H e r m a n G r i m m s , die unmittelbar hinüberführt v o n dem, was er sagt, z u dem Wesen dessen, worüber er spricht. M a n kann sich die Frage vorlegen: W i e k o m m t ein solcher Geist dazu, sich gerade i n solcher charakteristischer Weise von anderen, die recht gelehrt sein mögen, z u unterscheiden? Für den, der gew o h n t ist, über solche Dinge nicht i m allgemeinen Abstrakten herumzureden, sondern wirkliche Gründe für eine solche E r scheinung z u suchen, für den kann sich dann eben das Folgende ergeben: Sie werden z u m Beispiel an einer Stelle - Sie können aber ähnliche Beobachtungen i n den Schriften H e r m a n G r i m m s auch an anderen Stellen machen —, w o H e r m a n G r i m m i n einem sehr schönen Aufsatz über Raffael spricht, auf einige Sätze stoßen, welche für den, der ein trockener, pedantischer, nüchterner Gelehrter ist, wahrscheinlich aufreizend, ärgerlich klingen m ö gen. D a sagt H e r m a n G r i m m , was man nach seiner M e i n u n g empfinden würde, w e n n einem heute Raffael begegnete, u n d wie man ganz anders empfinden würde, wenn einem heute M i c h e l 60

angelo begegnete. - N i c h t wahr, i n einer wissenschaftlichen A b handlung solches Zeug z u reden, ist ja für manche von vornherein Träumerei. Selbstverständlich, man kann ein solches U r t e i l durchaus begreifen. B e i H e r m a n G r i m m finden Sie an zahlreichen Stellen solche sonderbaren Bemerkungen. M a n möchte sagen, er gibt sich da v o n vornherein gewissen Vorstellungszusammenhängen hin, v o n denen er ja natürlich weiß, daß sie sich nicht i n der unmittelbaren W i r k l i c h k e i t realisieren können, u n d w i l l selbstverständlich auch gar nichts Besonderes i n bezug auf die äußere W i r k l i c h k e i t mit solchen Bemerkungen sagen. A b e r wer sich immer wieder u n d wieder gerade solchen Gedankengängen hingegeben hat, der hätte - allerdings jetzt nicht auf diesem G e biete, denn auf diesem Gebiete führen solche Gedankengänge z u gar nichts - w o h l aber auf anderen Gebieten, i n anderen P u n k t e n seiner Betrachtung, das Ergebnis, daß dann seine Seelenkräfte so i n Bewegung versetzt w o r d e n sind, daß er tiefer i n die Dinge hineinschauen k a n n , sie treffsicherer z u m A u s d r u c k bringen kann als andere, die es verschmähen, solche «unnötigen» G e d a n kengänge anzustellen. Das ist es, worauf es ankommt, u n d was ich hervorheben möchte. W e n n man Gedankengänge anstellt i n seinem Innern, nur u m diese Gedankengänge herzustellen, bloß u m sein D e n k e n i n Bewegung z u bringen, i n eine solche Bewegung z u bringen, daß es eine mögliche Beziehung zur W i r k l i c h k e i t hat, u n d w e n n man darauf verzichtet, mit diesen Gedankengängen etwas anderes z u w o l l e n als sein D e n k e n i n eine gewisse Entwicklungsströmung hineinzubringen, dann führt einen zunächst das, was man da tut, z u nichts anderem als z u einem Beweglicherwerden seines D e n kens, z u einem Beweglicherwerden der seelischen Fähigkeiten überhaupt. D i e F r u c h t davon tritt dann auf ganz anderen Gebieten der Betrachtung zutage. M a n muß beides streng voneinander scheiden können. Wer das nicht kann, wer da mit solch einem I n Bewegung-Bringen des Denkens etwas W i r k l i c h e s erfassen w i l l , wer etwas anderes w i l l als sein D e n k e n erst herzurichten, u m dann i n eine W i r k l i c h k e i t einzudringen, der k o m m t i n Phantastereien, i n Träumereien, i n allerlei Hypothesenmacherei hinein. Wer aber die Selbstbeherrschung u n d Selbstkontrolle hat, genau 61

z u wissen, daß ein solches In-Bewegung-Bringen des Denkens zunächst n u r subjektive Bedeutung hat, wer dann die Kraft, die aus einem solchen Sichbetätigen des Denkens i n der Seele w i r k t , in Bewegung bringt, für den treten die Früchte davon z u einer ganz andern Zeit ein. V o n da ausgehend war H e r m a n G r i m m w i r k l i c h imstande, i n seinen Abhandlungen über Macaulay, Friedrich den Großen u n d so weiter historische Bemerkungen z u machen, welche hart an das anklingen, was Geisteswissenschaft über das Leben der menschlichen Seele u n d des menschlichen Geistes z u sagen hat. Ich w i l l damit nicht sagen, daß H e r man G r i m m schon ein Geistesforscher war; das lehnt er ja gerade ab. Ich w i l l damit auch nicht sagen, daß das, was i c h bei i h m charakterisiert habe, mehr ist als etwas, was schon i m gewöhnlichen Bewußtsein v o r sich gehen kann. So etwas ausgebildet, so etwas immer weiter u n d weiter betrieben, das führt dazu, den W i l l e n einzuführen i n das Vorstellungsleben u n d die geistige N o t w e n d i g k e i t i m Vorstellungsleben z u ergreifen. D a z u muß allerdings etwas anderes k o m m e n . Ich habe auch darauf schon hingewiesen, daß ja i n der E n t w i c k l u n g des Geistesforschers dem eine besondere Wichtigkeit zugeschrieben werden muß, daß er sich an die sogenannten G r e n z p u n k t e des Erkennens hingeben kann. D u B o i s - R e y m o n d spricht v o n sieben Welträtseln, denen sich der M e n s c h gegenübergestellt sehen kann, als v o n G r e n z p u n k t e n , über die das menschliche E r k e n n e n nicht hinauskommen kann. W e n n der M e n s c h sich an solchen G r e n z p u n k t e n ein Doppeltes sagt, dann bilden sie gerade den Ausgangspunkt geisteswissenschaftlicher Untersuchungen. Das eine ist, daß man zunächst i m vollen inneren Leben empfindet, was mit einer solchen Grenzfrage eigentlich gesagt ist. Ich mache bei einer solchen Gelegenheit gern aufmerksam auf w i r k l i c h e , echte Ringer nach Erkenntnis. A l s B e i spiel sei angeführt Friedrich T h e o d o r V i s c h e r . A l s dieser das wichtige T h e m a der menschlichen Traumphantasie behandelte, kam er auf eine solche Grenzfrage. E r sagte sich: Betrachtet man das Verhältnis des menschlichen Seelenlebens z u m menschlichen Leibesleben, so muß man sich sagen: Es ist ganz gewiß, daß die Seele nicht i m Leibe sein kann, aber ebenso gewiß ist, daß die 2 4

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Seele nicht irgendwo außer dem Leibe sein kann. Wer solch ein D e n k e n entwickelt, das nicht nach landläufigen, schulmäßig gegebenen M e t h o d e n , sondern nach inneren notwendigen Strömungen des Seelenlebens nach Erkenntnis ringt, der k o m m t i n zahlreichen Fällen dahin, daß er sich sagen muß: D u stehst an einem P u n k t , w o alle die Vorstellungen, die sich dir ergeben haben aus deinen Sinnesbeobachtungen, aus dem ganzen bewußten Leben, das sich unter dem Einfluß der Sinnesbeobachtung Tag für Tag abspielt, d i c h gar nicht weiterführen. M a n kann n u n , wie das so vielfach i n der Gegenwart geschieht, an solchen G r e n z punkten stehenbleiben u n d sagen, n u n ja, da ist eben eine G r e n z e , darüber kann der M e n s c h nicht hinaus! M a n täuscht sich schon, indem man dies sagt. A b e r darüber w i l l ich nicht sprechen. Das, u m was es sich handelt, ist, daß man gerade an solchen G r e n z p u n k t e n versucht, mit dem vollen Leben der Seele einzudringen, daß man versucht, sich i n einen w i r k l i c h e n W i d e r spruch einzuleben, der die geistig-seelische W i r k l i c h k e i t uns darstellt, wie sich als äußere widerspruchsvolle W i r k l i c h k e i t darstellt, w e n n an einer Pflanze einmal ein grünes Pflanzenblatt, ein andermal ein gelbes Blumenblatt erscheint. In der W i r k l i c h k e i t realisieren sich auch die Widersprüche. W e n n man sie erlebt, statt mit seinem logischen D e n k e n , mit seiner gewöhnlichen, nüchternen Urteilskraft an sie heranzugehen, wenn man statt dessen an sie herangeht m i t dem vollen lebendigen inneren Seelenwesen, w e n n man einen W i d e r s p r u c h i n der Seele selbst sich ausleben läßt und nicht mit dem Vorurteil des Lebens an ihn herankommt und i h n auflösen w i l l , dann merkt man, wie er aufquillt, wie sich da w i r k l i c h etwas einstellt, das man mit folgendem vergleichen kann, wie ich das i n meinem Buche «Von Seelenrätseln» getan habe. W e n n ein niederes Lebewesen zunächst keinen Tastsinn hat, sondern n u r ein inneres wogendes Leben, u n d nach u n d nach i n der Außenwelt anstößt, so bildet sich das, was vorher nur inneres wogendes Leben war, u m i n Tastsinn - es ist das ja eine gebräuchliche naturwissenschaftliche Vorstellung - , und der Tastsinn wiederum differenziert sich, so daß gewissermaßen nach u n d nach i m Zusammenstoßen dieses inneren Lebens mit der 63

Außenwelt diese selber erst inneres Erlebnis w i r d . Dieses B i l d v o m Tastsinn kann man anwenden auf jenes seelisch-geistige E r leben, das beim Geistesforscher eintreten muß. Solchen G r e n z punkten des Erkennens gegenüberstehend, läßt er sie sich i n seiner Seele ausleben, läßt er sie i n ihrer Eigengeltung. D a n n ist es so, als w e n n das innere Leben nicht an eine physische Außenwelt stieße, sondern an eine geistige Welt u n d ein geistiger Tastsinn sich w i r k l i c h entwickelt, dann sich weiter differenziert u n d z u dem werden w i l l , was man i n übertragener Bedeutung mit Goethe Geistesaugen, Geistesohren nennen kann. Es ist allerdings weit h i n v o n einer Beschäftigung mit solchen Grenzfragen des Erkennens bis z u dem, was i c h i n meinem Buche «Vom M e n schenrätsel» schauendes Bewußtsein genannt habe. A b e r dieses schauende Bewußtsein kann entwickelt werden. Das ist das eine, was z u berücksichtigen ist. Das andere ist, daß man n u n gerade i n einer solchen inneren geistig-seelischen Betätigung erfährt, daß man nicht mit dem, was man auf der Grundlage der Beobachtung der Sinneswelt an Urteilskraft gewonnen hat, i n die geistige Welt darf eindringen wollen, nicht einmal i n dem negativen Sinne, daß man sagt, es könne das menschliche E r k e n n e n an diesem P u n k t über sich selbst nicht hinaus. M a n muß vielmehr darauf verzichten, i n die geistige Welt einzudringen mit dem, was man vorher i n der Seele hatte, bevor m a n sich erst durch diese u n d ähnliche Übungen bereit machte, i n die geistige Welt w i r k l i c h einzudringen. D a z u gehört eine gewisse Resignation, dazu gehört überhaupt Verzicht. Während i n der Regel der M e n s c h gewohnt ist, mit dem, was er an der äußeren Welt sich erobert hat, Hypothesen u n d allerlei logische Schlußfolgerungen aufzustellen über das, was jenseits der physischen Erfahrung sein könnte oder nicht sein könnte, muß der Geistesforscher es sich w i r k l i c h nicht nur z u einer inneren Überzeugung, sondern - ich sage ausdrücklich - z u einer inneren intellektuellen Tugend machen, das nicht z u gebrauchen für die Charakteristik der geistigen Welt, für die A n schauung der geistigen Welt, was n u r aus der physisch-sinnlichen W i r k l i c h k e i t stammt. Diesen V e r z i c h t muß man sich erst aneignen, er muß habituelle Eigenschaft der Seele werden, so daß 64

man es sich versagt, bloße H y p o t h e s e n oder bloße p h i l o sophische Erörterungen anzustellen über das, was jenseits der physisch-sinnlichen Beobachtung liegt. M a n ringt sich dann d u r c h z u der Erkenntnis, daß, u m i n die geistige Welt einzudringen, die Seele sich dafür selber erst reif machen muß. Das, was sich allmählich d u r c h das volle Festsetzen dieser intellektuellen Tugend ausbildet, unterstützt durch die Einführung des Willens in das Vorstellungsleben, wie i c h es geschildert habe, das bringt einen dahin, jene Selbstbeobachtung üben z u können, v o n der ich v o r h i n gesprochen habe, die w i r k l i c h i n die Lage k o m m t , gewissermaßen der eigene Zuschauer z u sein, während die G e danken, Gefühle u n d Willensimpulse ablaufen. N u r durch solche wahre Selbstbeobachtung gelangt der M e n s c h dazu, eine geistige Tätigkeit z u entwickeln, v o n der er durch Erleben weiß, sie w i r d nicht mit H i l f e des Leibes vollführt, sondern sie w i r d v o l l führt, indem der M e n s c h mit seinem wahren Ich nunmehr außerhalb des Leibes steht. Das ist eine Vorstellung, v o n der ja zugegeben werden muß, sie ist ganz ungewohnt für die Weltanschauungen, die ihre festen W u r z e l n aus jenem B o d e n ziehen, aus dem fast einzig u n d allein i n der Gegenwart die Weltanschauungen ihre W u r z e l n ziehen w o l l e n . D e n n alles geht i n diesen Weltanschauungen dahin, die Möglichkeit z u verneinen, daß der M e n s c h ein Seelenleben entw i c k e l n könne, das unabhängig v o m Leibe ist, u n d , wenn auf diese Weise die Ergebnisse der Selbstbeobachtung angeführt werden, sie z u kritisieren mit demjenigen, was man an der äußeren Welt gewonnen hat oder was sich für die Urteilskraft aus dieser äußeren Welt ergeben hat. D a m i t k o m m t man nicht z u recht. M a n schafft Mißverständnisse über Mißverständnisse aus dem einfachen G r u n d e , w e i l aller Geistesforschung ein gerade Entgegengesetztes zugrunde liegen muß v o n dem, was zugrunde liegen muß der naturwissenschaftlichen Denkungsweise, obw o h l Geistesforschung ganz nach dem M u s t e r naturwissenschaftlicher Forschung aufgebaut ist. D a werden das D e n k e n u n d der methodische A u s b a u des Denkens i m Experimentieren u n d so weiter so eingerichtet, daß der M e n s c h die v o n der Urteilskraft u n d dem Verstände ausgebildeten wissenschaftlichen M e 65

thoden anwendet, u m der N a t u r ihre Geheimnisse abzulauschen, daß er durch seinen Verstand die D i n g e i n diese oder jene Verbindung bringt, w o d u r c h sie i h r Wesen, ihre Geheimnisse aussprechen. Das ist ganz selbstverständlich auf dem B o d e n naturwissenschaftlicher Denkungsweise. A l l e i n dieselbe Kraft des Denkens und Vorstellens, die da verwendet w i r d , u m allerlei wissenschaftliche M e t h o d e n auszubilden, w i r d i n der Geisteswissenschaft dazu verwendet, die Seele erst vorzubereiten, damit sie dann beobachten k a n n , was das Ergebnis der Geisteswissenschaft ist. Das dient dazu, die Seele z u präparieren, damit sie auf eine v o m Leibe völlig freie Weise die Erscheinungen des Seelenlebens beobachten kann. D a d u r c h kann der M e n s c h herausrücken von der Seele z u m Geiste, wie er nach der andern Seite h i n durch wissenschaftliche M e t h o d e n herausgerückt w i r d von der Seele i n den L e i b . So daß man sagen k a n n , schon die ganze A r t des beweisenden, des urteilenden Denkens muß eine andere werden i n der Geisteswissenschaft. Sie darf nicht fehlen, aber was damit erreicht w i r d , ist dann nicht ein Erwägen nach Gründen u n d Folgen i n derselben Weise wie i n der äußeren Wissenschaft, sondern es ist ein Beobachtenkönnen, w e i l m a n die M e t h o d e n der äußeren Wissenschaft zuerst auf die E n t w i c k e l u n g der Seele selbst angewendet hat. So bereitet sich der Geistesforscher durch dieselben M i t t e l , mit denen die Wissenschaft sonst z u ihrem Schlußresultat k o m m t , i m A n f a n g vor, u m geistig beobachten z u können, so daß das Geistige für i h n eben als Erfahrung auftritt, wie für die äußeren Sinne die physisch-sinnliche Welt. D a d u r c h k o m m t dasjenige zustande, was ich ungern hellsichtiges Anschauen der geistigen Welt nenne, ungern aus dem G r u n d e , w e i l ja heute noch vielfach, w e n n man v o n einem hellsichtigen Anschauen der äußeren Welt spricht, auf ältere abnorme Zustände des menschlichen Seelenlebens hingewiesen w i r d u n d man absichtlich oder unabsichtlich die ernste, strenge M e t h o d e der Geisteswissenschaft verwechselt mit allerlei krankhaften u n d dilettantischen Methoden, durch welche die Menschheit heute oftmals i n die geistige Welt eindringen w i l l . U b e r solche D i n g e werde ich näher i n dem Vortrage über die «Offenbarungen des Unbewußten» sprechen. 26

M a n gelangt nunmehr dazu, das Seelenleben so z u beobachten, 66

daß die Beobachtung nicht bloß i m seelischen Erleben stehen bleibt, sondern auf den Geist hinweist. Z w e i Punkte möchte ich zunächst erwähnen, o b w o h l sie verhundertfältigt werden können, die aber wichtige K e r n p u n k t e sind. Indem der M e n s c h i n dieser Weise z u r wahren Selbstbeobachtung k o m m t , die außerhalb des Leibes ausgeführt w i r d u n d dadurch dem Geiste gegenübersteht, gelangt er dazu, als unmittelbares Beobachtungsresultat eine A n s c h a u u n g z u bekommen nicht nur über das Verhältnis des gewöhnlichen Wachens z u m gewöhnlichen Schlafen, sondern v o r allen D i n g e n über das, was die Phänomene des A u f w a chens u n d Einschlafens sind. Es ist einmal heute noch das Schicksal der Geisteswissenschaft, daß sie nicht nur v o n heute vielfach U n b e k a n n t e m spricht, sondern daß sie über das, was i n das Bewußtsein eines jeden Menschen hineinspielt, was eigentlich alltäglich Bekanntes ist, i n einer ganz andern Weise sprechen m u ß , als sonst gesprochen w i r d . D a z u k o m m t , daß die Geisteswissenschaft ja Worte verwenden muß, die geprägt sind für das äußere, gewöhnliche L e b e n . Das bietet viele Schwierigkeiten, da Geisteswissenschaft dieselben Worte zuweilen schon i n einer andern R i c h t u n g gebrauchen muß. Sie muß anknüpfen an bekannte Erscheinungen des Lebens, u m v o n diesen ausgehend i n das geistige Gebiet hineinleuchten z u können. D e n Wechselzustand v o n Schlafen u n d Wachen kennt ja der M e n s c h , w e n n man z u nächst v o m Bewußtseinsstandpunkt aus spricht, nicht v o m naturwissenschaftlichen Standpunkt - der soll heute nicht Gegenstand unserer Betrachtung sein - , auf der einen Seite als die Zeit, i n der das Bewußtsein des Menschen vorhanden ist v o m A u f w a chen bis z u m Einschlafen, u n d auf der andern Seite als die Zeit, i n der das Bewußtsein i n eine Finsternis hinuntergetaucht ist, i n das Schlafbewußtsein. D e r Geistesforscher weiß, daß es so schwach ist, daß man gewöhnlich v o m Nichtvorhandensein des Bewußtseins i m Schlafe spricht. N u n , diese beiden, für das Leben wahrhaftig gleich notwendigen Wechselzustände des menschlichen Wesens, sie sind geeignet, d u r c h eine wirklichkeitsgemäße Betrachtung schon ein Stück i n das Menschenrätsel hineinzuführen. V o n vornherein müßte ja jedem auffallen, daß das eigentliche menschliche Wesen unmöglich mit dem Einschlafen u n d

Aufwachen w i e d e r u m neu beginnen kann. Das, was i m M e n schen seelisch-geistiges Wesen ist, das sonst i m Wachzustande als Bewußtsein lebt, das muß auch i m Schlafe vorhanden sein. A b e r für das gewöhnliche Bewußtsein ist ja die Sache so, daß der M e n s c h i n eigener Selbstbeobachtung sich i m Schlafe nicht betrachten k a n n , daß er daher den Wachzustand mit dem Schlafzustand innerlich geistig nicht vergleichen kann. Äußerlich naturwissenschaftlich ist das eine andere Sache. N u n handelt es sich darum, daß man diesen D i n g e n näher k o m m t , wenn man w i r k lich von der gewöhnlichen Sinnesbeobachtung zur geistigen Beobachtung i n der geschilderten Weise so aufsteigt, daß man ins innere geistige A u g e faßt das Vorstellungsleben, Gefühlsleben u n d Willensleben. Richten w i r unsere Aufmerksamkeit zunächst auf das Vorstellungsleben. D e r M e n s c h betrachtet es i n der Regel so, daß er weiß: Ich b i n wach v o m Aufwachen bis z u m Einschlafen. M e i n e Gedanken, herrührend von Wahrnehmungen oder auch innerlich aufsteigend, sie stellen sich hinein i n mein gewöhnliches Wachleben. E s kann das gewöhnliche Bewußtsein gar nicht z u einem andern U r t e i l k o m m e n . A n d e r s ist es, wenn das menschliche Seelenleben durch solche Übungen z u einer geistigen Beobachtung vorbereitet ist. D a gelangt man dazu, diese ganze innere Ausdehnungswelt, das Wachbewußtsein überhaupt, v o m A u f wachen bis z u m Einschlafen z u beobachten. Es ist merkwürdig, wie auch hier, wie auf so vielen anderen Punkten, ernsthafte N a turforscher heute sich begegnen mit dem, was Geisteswissenschaft v o n einer ganz andern Seite her zutage fördert. A b e r N a turforschung kann ja nur, ausgehend von der Leibesuntersuchung, die Brücke herüberschlagen z u m Seelenleben. Sie lehnt es heute n o c h ab, über dasjenige z u sprechen, über das hier gesprochen w i r d . D a h e r reden heute die Naturforscher, wenn sie v o n diesen D i n g e n reden, eine ganz andere Sprache als der Geistesforscher. A b e r die Dinge werden sich finden, so sicher zusammenfinden, wie die nach richtigen geologischen u n d geometrischen M e t h o d e n zur Herstellung eines Tunnels unternommene D u r c h b o h r u n g eines Berges sich i n der M i t t e zusammenfindet. So sind z u m Beispiel seit kurzer Zeit auf naturwissenschaftli68

chem Gebiete interessante Untersuchungen erschienen von dem Forscher Julius P i k l e r , der das Wachbewußtsein des Menschen ganz anders, als man es i n der Biologie bisher gewohnt war, ins A u g e faßt. N u r k o m m t er natürlich nicht darauf, so etwas geisteswissenschaftlich z u untersuchen. E r legt daher etwas z u grunde, was auch nicht viel mehr ist als ein W o r t . Pikler spricht v o n einem Wachtrieb, der den Menschen v o m Aufwachen bis z u m Einschlafen einfach wachhält, der da ist, auch w e n n keine besonderen Gedanken u n d Vorstellungen vorliegen, der sich als solcher insbesondere i n der Langeweile zeigen soll. Darauf wollte i c h nur hinweisen, u m z u zeigen, wie auch v o n der andern Seite gebohrt w i r d . 27

Geisteswissenschaft kann nicht einfach da, w o eine Erscheinung vorhegt, irgendein W o r t oder irgendeine hypothetisch angenommene Kraft zugrunde legen, sondern muß beobachten. Sie beobachtet in der Tat das, was die menschliche Seele erlebt, indem sie i n dem für jeden erlebbaren Wachzustande ist. Sie beobachtet das gleichmäßige Hinfließen des bewußten Tageslebens v o m Aufwachen bis z u m Einschlafen. Was findet die Geisteswissenschaft? Sie findet sich insbesondere dann zurecht, w e n n sie mit ihren Beobachtungsmethoden das H i n e i n d r i n g e n v o n G e danken u n d Vorstellungen i n diesen einfachen Wachzustand beobachtet. Was beobachtet der Geistesforscher, wenn er den r u h i gen Strom des Wachlebens verfolgt u n d dann das Hineindringen v o n Vorstellungen? D a ergibt sich für den Geistesforscher, daß der gewöhnliche helle Wachzustand, der sonst wie ein ruhiger Strom dahinfließt, unterbrochen w i r d dadurch, daß ein partielles Einschlafen im Gedankenfassen, i m Gedankenerleben eintritt. W i r wachen so, daß w i r fortwährend den Wachzustand herunterdämpfen z u einem partiellen Schlafen, indem w i r i n den Wachzustand die Vorstellungen hineinrücken. W i r lernen nur dadurch das Verhalten der Seele z u m Vorstellungsleben kennen, daß w i r beobachten können, wie der sonst intensive W a c h z u stand zwar nicht so stark herabgestimmt w i r d wie i m traumlosen Schlaf, daß er aber d o c h herabgestimmt w i r d u n d i n diese H e r a b stimmung jedesmal der Gedanke, der v o n einer Wahrnehmung hervorgerufen werden k a n n , hineinfällt. W i r machen also den 69

gewöhnlichen Wachzustand nicht i n einer gleichmäßigen Intensität durch, sondern er w i r d fortwährend abgedämpft u n d abgedämmert, indem w i r Gedanken fassen. Es setzt sich also i m V o r stellen, i m Gedankenleben das, was sonst i n stärkerer oder völliger A b s t u m p f u n g i m Schlaf vorhanden ist, ins Wachleben hinein fort. D a d u r c h k o m m t man darauf, das, was man sonst eigentlich als ein buntes Aufeinanderfolgen v o n Vorstellungen i m W a c h z u stande hat, n u n z u differenzieren. Was man sonst als Wachen u n d Schlafen mit einem einheitlichen Intensitätsgrad kennt, das muß man mit anderen Intensitätsgraden vorstellen lernen. M a n muß beobachten können völligen Wachzustand, abgeschwächten Wachzustand, weiter völligen Schlafzustand, abgeschwächten Schlafzustand u n d so weiter. So lernt man allmählich das, was sonst gar nicht beachtet w i r d , i m Bewußtseinsleben w i r k l i c h beachten. Indem man so hineindringt i n das gewöhnliche Seelenleben, gelangt man dazu, n u n auch den Wachzustand selber ins A u g e fassen z u können durch Beobachtung, z u der das geistige A u g e erst geschaffen sein muß, wie das physische A u g e für die Sinnenwelt geschaffen ist. D a n n braucht man keine Beweise für das, was man sieht, sondern man schaut es eben. D a gelangt man dazu, eine A n s i c h t als die richtige, als die unmittelbare, d u r c h Erfahrung gegebene einzusehen, v o n der i n der bisherigen Seelenlehre außerordentlich selten, aber d o c h einmal sehr schön gesprochen w i r d , nämlich v o n dem viel z u wenig beachteten Seelenforscher Fortlage. H i e r steht man an einem derjenigen Punkte, die so interessant sind für die E n t w i c k l u n g desjenigen, was heute zusammenfassend als Geistesforschung auftreten w i l l . Das ist nicht etwas völlig Neues, sondern etwas, was nur i n systematischer Zusammenfassung aufgebaut werden soll, wofür aber die Anfänge bei solchen, die auf diesem Gebiete da oder dort mit der Erkenntnis gerungen haben, schon zutage getreten sind. Fortlage spricht einmal dav o n , u n d E d u a r d v o n H a r t m a n n tadelt i h n deshalb, daß eigentlich das gewöhnliche Bewußtsein der menschlichen Seele ein fortwährendes abgeschwächtes Sterben sei. Es ist eine sonderbare, kühne Behauptung, aber eine Behauptung, die naturwissenschaftlich z u erhärten ist, o b w o h l die Naturwissenschaft die 28

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entsprechenden Tatsachen falsch deutet; man lese z u m Beispiel die Untersuchungen v o n G a s w i t z . Fortlage k o m m t darauf, einzusehen, daß das, w o d u r c h Bewußtsein entsteht, nicht allein beruht auf einem Zutagetreten des wachsenden, sprossenden, gedeihenden Lebens, sondern daß gerade, w e n n bewußtes L e ben i n der Seele auftritt, das sprossende, wachsende, gedeihende Leben i m menschlichen Organismus absterben muß, so daß w i r den T o d durch unser ganzes Leben partiell i n uns tragen, sofern es ein bewußtes ist. Indem w i r Vorstellungen b i l den, w i r d etwas i n unserm Nervensystem zerstört, das sich aber gleich nachher wieder neu bildet. D e m A b b a u folgt wieder ein A u f b a u . A u f Abbauprozessen, nicht auf sprossenden, sprießenden Aufbauprozessen, beruht das bewußte Seelenleben. Fortlage sagt sehr schön: W e n n dasjenige, was beim Bilden des Bewußtseins immer i n einem Teil des Leibes, i m G e h i r n , auftritt, das partielle Sterben, jedesmal den ganzen L e i b ergreifen würde, wie es der physische T o d tut, so würde der M e n s c h fortwährend sterben müssen. D e r physische T o d bringt für Fortlage nur einmal das summiert z u m A u s d r u c k , worauf das Bewußtsein fortwährend beruht. Daher kann Fortlage, freilich nur hypothetisch, w e i l er noch nicht Geistesschau hat, z u der Schlußfolgerung übergehen, daß er sagt, w e n n w i r es jedesmal, w e n n unser gewöhnliches Bewußtsein auftaucht, mit einem partiellen Tode z u tun haben, so ist der generelle T o d das A u f gehen eines Bewußtseins unter anderen Bedingungen, welches der M e n s c h dann für die geistige Welt entwickelt, wenn er durch die Pforte des Todes hindurchgeschritten ist. D a zeigt sich wie ein L i c h t b l i c k klar u n d deutlich, was Geisteswissenschaft genauer u n d i m m e r genauer entwickeln w i r d , indem sie ihre Beobachtungsmethoden auf das menschliche Wesen anwendet. 30

D a zeigt die Wissenschaft, daß das Gesamtwesen des M e n schen, das mit Recht heute v o n der einen Seite her unter den Entwicklungsgedanken gestellt w i r d , nicht bloß unter den Entwicklungsgedanken gestellt werden darf. Ich dehne jetzt diese Betrachtung nicht über den Menschen hinaus aus; w i r werden später eingehend über die N a t u r sprechen, w o solche 7i

Fragen behandelt werden können. Es muß, wenn man beim Menschen stehen bleibt, dieses Menschenwesen so betrachtet werden, daß man weiß, es findet eine Entwicklung v o n sprießendem, sprossendem, wachsendem L e b e n , aber fortwährend auch ein Abbauprozeß, rückschreitende E n t w i c k l u n g statt. D i e O r gane dieses Abbauprozesses, die Organe, i n denen nicht eine fortschreitende, sondern eine rückführende E n t w i c k l u n g stattfindet, sind i m menschlichen Leibe vorzugsweise das N e r v e n s y stem. Das seelische Bewußtsein greift in den Menschen ein dadurch, daß es die wachsenden, sprossenden Prozesse abwechseln läßt mit Prozessen, die eine rückläufige E n t w i c k l u n g darstellen. Das gesamte Wachleben v o m Aufwachen bis z u m Einschlafen beruht darauf, daß mit dem Aufwachen das Seelisch-Geistige, das sich m i t dem Einschlafen v o m L e i b e getrennt hat, i n den L e i b untertaucht u n d das, was v o m Einschlafen bis z u m A u f w a c h e n fortschreitende E n t w i c k l u n g ist, i n bezug auf das Nervensystem sich i n rückschreitende E n t w i c k l u n g verwandelt. Indem der M e n s c h denkt, indem er vorstellt, muß er abbauen, muß er L e i chenprozesse i n seinen N e r v e n hervorrufen, u m dem W i r k e n des Geistig-Seelischen Platz z u machen. Das w i r d N a t u r w i s s e n schaft v o n der andern Seite i m m e r mehr bezeugen. D e r G e i stesforscher rückt v o m Geistig-Seelischen an das Leibliche heran u n d zeigt, daß, indem mit dem Aufwachen das Geistig-Seelische i n das Leibliche einströmt, abgebaut w i r d , bis der A b b a u so weit gediehen ist, daß wiederum die fortschreitende E n t w i c k l u n g mit dem Beginn des Schlafens auftreten muß. D e r gleichmäßig fortschreitende Wachzustand beruht darauf, daß durch das SeelischGeistige i m menschlichen Leibe immer wieder ein ordnungsgemäßer, ein gesetzmäßiger Abbauprozeß, eine Rückentwicklung stattfindet, entgegengesetzt derjenigen Strömung, die lebt i n dem gewöhnlichen Wachen, die tätig ist i n den Kräften, die uns als K i n d wachsen u n d gedeihen lassen. Stellen w i r i n den gewöhnlichen Wachzustand das Vorstellen, den Gedanken hinein, so w i r k e n w i r wiederum entgegengesetzt. D a bringen w i r i n den Abbauprozeß v o n der Leibesseite aus Stücke von Fortentw i c k l u n g hinein, partielle Schlafzustände, so daß w i r sagen können: Abgeschwächt w i r d durch Prozesse, die ganz schwach 31

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dasjenige darstellen, was i m Wachstum vorhanden ist, jener Z u stand, der sich ausdehnt über das gewöhnliche Wachleben dadurch, daß abgebaut w i r d . N u n zeigt sich für den Geistesforscher, daß dieses A b b a u e n , dieser kontinuierlich fortschreitende Prozeß v o m Aufwachen bis z u m Einschlafen, die W i r k u n g desjenigen ist, was der Geistesforscher mit der wahren Selbstbeobachtung als den Geist i m Menschen erkennt. Geist baut ab, u n d innerhalb dieses Abbaues machen sich wiederum jene Tätigkeiten des Vorstellens u n d Denkens geltend, i n denen die Seele die Aufbauprozesse benutzt, u m sie i n die geistigen Abbauprozesse hineinzustellen. H i e r sehen w i r ineinanderwirken Geistig-Seelisches u n d Leibliches. D e r Geistesforscher ist nicht geneigt, d i lettantisch über Geistig-Seelisches z u sprechen mit Außerachtlassung desjenigen, was sich i m Leibe abspielt, gerade weil er selber beobachtet, wie der Geist nicht so w i r k t , daß er die P r o zesse des Wachsens, der E n t w i c k l u n g , die reine Naturprozesse sind, z u m A u s d r u c k bringt, sondern diesen entgegengesetzte Prozesse. Indem der Geistesforscher das, was der Geist am Leibe vollbringt, kennenlernt, lernt er auch wieder erkennen, wie sich die Seele der Leibesprozesse bedient, u m die geistigen Prozesse abzudämpfen, indem sie die Vorstellungen hineinrückt i n den Abbauprozeß, den der Geist vollführt. D a m i t deute ich nur an, wie der Geistesforscher dazu k o m m t , das Wechselverhältnis, die Wechselwirkung des Geistigen, des Seelischen u n d des L e i b l i chen i m Menschen anzuschauen. So wie er auf der einen Seite i n den Vorstellungen, die i n den gewöhnlichen Wachzustand hineinspielen, ein partielles E i n schlafen erkennt, so lernt er auf der andern Seite erkennen, wie jedesmal, w e n n ein Willensimpuls sich i n das Seelenleben hineinstellt, dieser sich wie eine A r t Erhöhung des Wachzustandes, wie ein Aufwachen hineinstellt. Das Vorstellen ist wie ein Abdämpfen des Wachzustandes, der Willensimpuls wie ein Aufwachen, wie ein Aufleuchten desjenigen Zustandes, der fortlaufend ist v o m Aufwachen bis z u m Einschlafen i n bezug auf das Willensleben, das ja so d u m p f ist, daß man es auch, w e n n man wacht, als ein Schlafleben bezeichnen kann. Was weiß der M e n s c h , indem er irgendeinen Willensimpuls ausführt, was da i n seinem A r m 73

vor sich geht? A b e r jedesmal w e n n ein Willensimpuls auftaucht, ist es wie ein A u f w a c h e n . D a m i t habe i c h Ihnen angedeutet, wie der wirkliche Beobachter, der z u r wahren Selbstbeobachtung aufgestiegen ist, das W i r ken der menschlichen Seelenkräfte und Geisteskräfte i m Geistigen auffassen kann. E r kann, i n d e m er mit seinen M e t h o d e n weiter vorrückt, gerade so, wie man das gewöhnliche, alltägliche Ich kennenlernt, dasjenige Ich kennenlernen, das er i n dieser Selbstbeobachtung i n sich selber erlebt, mit dem er eben die Selbstbeobachtung anstellt. Dieses Ich läßt sich nicht durch philosophische Spekulationen erkennen, es läßt sich nur erleben. W i r d es erlebt, dann lernt man durch unmittelbare Anschauung das k e n nen, was i c h jetzt skizzenhaft charakterisiert habe. D e r M e n s c h mit dem gewöhnlichen Bewußtsein kann gar nicht anders als glauben, indem er nur die wachsenden, sprossenden, sprießenden Entwicklungskräfte ins A u g e faßt, daß, indem das K i n d heranwächst aus der dumpfen Bewußtseinslage u n d allmählich dazu übergeht, Ich z u sagen, überhaupt z u m Selbstbewußtsein z u k o m m e n , allmählich aus den Entwicklungsvorgängen des L e i bes das, was i m Seelischen als I c h z u m A u s d r u c k k o m m t , sich heranentwickelt. Für den, der das Ich d u r c h wahre Selbstbeobachtung kennenlernt, w i r d klar, daß dies irrtümlich ist - aber es ist ein notwendiger Irrtum für das gewöhnliche Bewußtsein - , so wie es irrtümlich wäre, w e n n man glauben würde, w e i l der M e n s c h L u f t i n der Lunge hat, steige die L u f t , die er ausatmet, aus der Lunge heraus. H i e r kann man schon durch äußere, tatsächliche Beobachtung erfahren, daß es U n s i n n wäre, die Luft, die mit der menschlichen Lunge verbunden ist, als irgend etwas anzusehen, das aus der menschlichen Lunge entspringt. W i l l man die Luft erkennen, so muß man aus der Lunge herausgehen; w i l l man die L u f t i n ihrer eigenen Wesenheit erkennen, so muß man z u m äußeren L u f t r a u m übergehen. Dasselbe tut man, w e n n man i n der hier charakterisierten Weise z u r Selbstbeobachtung aufgestiegen ist. D a lernt man erkennen, daß das, was sich i m Leibe abspielt i n den fortlaufenden sprießenden, sprossenden Entwicklungsprozessen, z u dem I c h des Menschen, z u dem wahren Selbst sich so verhält wie die Lunge zur Luft. Sowenig

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die L u n g e Luftschöpferin ist, sowenig ist dieser menschliche L e i b irgendwie Ichschöpfer. N u r solange man das wirkliche G e i stig-Seelische nicht kennt, k o m m t man z u dem notwendigen Irrt u m , als ob dieses Ich irgend etwas mit d e m Leibe z u tun habe. D e r Geistesforscher geht aber durch seine M e t h o d e n bei der E r forschung des Ich hinaus aus dem Leibe, so wie der, der die L u f t für sich betrachten w i l l , aus der Lunge herausgeht. So k o m m t der Geistesforscher dazu, durch w i r k l i c h e Beobachtung z u erkennen, wie dieses Selbst, dieses Geistig-Seelische des Menschen - w e n n ich m i c h eines bildhaften A u s d r u c k s bedienen darf - , i n den physischen L e i b mit der Geburt, respektive Empfängnis eingeht, den es durch die Vererbungsströmung bekommt, wie dieses Ich, das aus der geistigen Welt herabsteigt, den L e i b hinzuerhält, so wie z u der L u f t die Lunge h i n z u k o m m t , daß der L e i b dieses Ich einatmet, u n d indem der M e n s c h durch die Pforte des Todes tritt, wieder ausatmet. Es ist das ein bildhafter A u s d r u c k für die Verbindung des Geistig-Seelischen, das aus der geistigen Welt heruntersteigt, mit dem Physisch-Leiblichen. W i e man, w e n n man die L u f t i n ihrer Wesenheit kennenlernt, diese Wesenheit i n dem äußeren L u f t r a u m , nicht i n der Lunge sucht, ebensowenig sucht man i n der äußeren physischen Leiblichkeit die Wesenhaftigkeit des geistig-seelischen Ich, sobald man das Ich w i r k l i c h kennengelernt hat. 32

Gerade dann aber ergibt sich für den Geistesforscher eine wesentliche Unterscheidung des Geistigen u n d des Seelischen auch beim Ubergang v o m Menschen z u der seelisch-geistigen U m g e bung, i n der der M e n s c h lebt mit jenem Teil seiner Wesenheit, der durch G e b u r t u n d T o d geht, der gegenüber der Vergänglichkeit des Leibes das E w i g e , Unsterbliche i m Menschen ist. Dieser Unterschied des Seelischen u n d des Geistigen ergibt sich dadurch, daß w i r i n dem Seelischen, das sich loslöst v o n dem M e n schen, das nicht unmittelbar mit dem Menschen verbunden ist, erkennen lernen etwas, das v o n dem, was man sonst i m Seelenleben erlebt als Vorstellen, Fühlen u n d W o l l e n , gewissermaßen nur ein verklungener G r u n d t o n ist. Ich möchte m i c h durch F o l gendes ausdrücken: N e h m e n w i r ein gesungenes L i e d . W i r können die Worte, w i r können das L i e d zunächst als D i c h t u n g be75

trachten u n d können diese Betrachtung fortsetzen in dem A n h ö ren des gesungenen Liedes. A b e r w i r können auch beim Singen absehen v o n dem Inhalt der Worte, v o n den Sätzen, u n d können auf das bloß Tonliche, auf das bloß Melodische achten, auf dasjenige also, das zutage tritt, w e n n w i r gerade v o n dem Inhaltlichen der Worte absehen. Es ist nur ein Vergleich, den ich brauche, aber der Vergleich hat reale Bedeutung i n bezug auf dasjenige, was i c h hier sage. Es läßt sich das ganze Erleben des Menschen i m Vorstellen, Fühlen u n d W o l l e n so ergreifen, daß man auch da einen U n t e r t o n erfassen kann, w e n n man nicht eingeht auf den Inhalt des Vorstellens, des Fühlens u n d Wollens, wie sie sich i m gewöhnlichen Bewußtsein darstellen. U m m i c h n o c h deutlicher auszudrücken, möchte i c h die Sache noch v o n einer andern Seite charakterisieren. Ihnen allen ist bekannt, daß gewisse orientalische Völker z u dem Geistig-Seelischen aufsteigen d u r c h M e t h o d e n , v o n denen i c h i n den Vorträgen, die ich hier gehalten habe, u n d auch i n meinen Büchern immer wieder gesagt habe, daß sie für unsere abendländische K u l t u r e n t w i c k e l u n g nicht i n derselben Weise anwendbar sind, daß vielmehr hier z u r bewußten Geistesforschung andere M e thoden angewendet werden müssen. A b e r es kann doch z u m Vergleich einiges herangezogen werden. Es ist Ihnen bekannt, daß die Morgenländer z u einem gewissen Erkennen des Seelischen - was sie vielleicht nicht zugeben, d o c h darauf k o m m t es jetzt nicht an — dadurch k o m m e n , daß sie mantrische Sprüche immer wieder hersagen. M a n lacht i m Abendlande über die W i e derholungen i n den Reden des B u d d h a u n d weiß nicht, daß für den morgenländischen Menschen diese Wiederholung gewisser Sätze eine N o t w e n d i g k e i t ist, w e i l dadurch eben ein gewisser U n t e r t o n i n der innerlichen Aufnahme des Stoffes erreicht w i r d , mit Außerachtlassung dessen, was unmittelbarer Inhalt ist. Es w i r d , i c h möchte sagen, i n der Seele gewissermaßen eine i n diesen Sprüchen lebende M u s i k gehört oder gesprochen. D i e Seele versetzt sich i n so etwas. In meinen Büchern können Sie finden, wie w i r das i n der abendländischen Geistesentwicklung auf eine geistig-seelischere Weise machen, daß w i r nicht i n ein solches Absingen oder Absprechen v o n mantrischen Sprüchen oder W i e -

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derholungen verfallen. A b e r was da auf andere Weise erreicht w i r d , kann erläutert werden dadurch, daß man aufmerksam macht, wie i m Vorstellen, Fühlen u n d W o l l e n etwas miterlebt w i r d , was ein G r u n d - oder U n t e r t o n ist. Verlegt man sich darauf, zur vollen Selbstbeobachtung z u k o m m e n , unter Aufrechterhaltung des Inhalts des Vorstellens, Fühlens u n d Wollens, wie Sie i h n i m gewöhnlichen Wachbewußtsein haben, so entdeckt man zumeist am leichtesten das W i r k e n des Geistes. Dagegen ist das Seelische ein Intimeres, das entzieht sich vielfach. M a n muß schon schwierige u n d langandauernde Übungen anstellen, wenn man darauf k o m m e n w i l l . Während man verhältnismäßig leichter darauf k o m m e n kann, wie der Geist abbaut i m fortströmenden Wachzustande, muß man feinere, intimere Übungen anwenden, u m z u beobachten, wie die Vorstellungen, die da auftauchen, partielle Schlafzustände sind. A b e r w e n n man dann z u diesem intimeren Erleben i m Seelischen k o m m t durch M e t h o d e n , wie i c h sie i n meinen Büchern beschrieben habe, so gelangt man auch von dem bloßen subjektiven Seelenleben i n das objektive Seelenleben hinaus. M a n verfolgt dann nicht bloß das Geistig-Seelische als solches, wie man die L u f t aus der Lunge i n den L u f t r a u m hinaus verfolgt, i n jenen Geistesraum hinaus, den der M e n s c h zwischen T o d u n d einer neuen G e b u r t durchlebt, i n einem rein geistigen Erleben, sondern man kann dann das Seelische verfolgen i n seinem Z u stande v o r der G e b u r t u n d i n seinem Zustande nach dem Tode. So sonderbar das für den heutigen Menschen noch klingt, diese D i n g e können erfahren werden. U n d auf G r u n d dieser Erfahrung, die der Orientale gerade auf eine dem intimen Seelenleben so naheliegende A r t ausbildet, k a m er eher als der Abendländer darauf, wie sich das gesamte menschliche Seelenleben i m wiederholten Erdenleben abspielt, wie sich das wiederholte Erdenleben w i r k l i c h als Beobachtungsresultat ergibt. Es ist ein Beobachtungsresultat des seelischen Erlebens. Das ewige Unvergängliche, das durch Geburten u n d Tode geht, i n seiner Geistigkeit z u erleben, ist n u n etwas anderes als dieses seelische Erleben, wie es i m wiederholten Erdenleben auftritt. Es ist wie eine Spezialisierung, eine Differenzierung des geistigen Erlebens.

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W i e man beim einzelnen M e n s c h e n i m seelischen D u r c h w i r ken des allgemeinen Geisteslebens das Vorstellen als ein partielles Schlafen hineinspielen sieht, so kann man i n der äußeren Welt beobachten - auf diese Dinge werde ich i n dem nächsten V o r trage genauer eingehen - , wie i n jenen Geistesraum, den man als Schauplatz des ewigen Geistigen i m Menschen entdeckt, h i n einspielt das Seelische, indem es spezialisiert das allgemein-ewige Geistesleben i n wiederholte Erdenleben, die allerdings einmal einen A n f a n g genommen haben u n d ein Ende nehmen werden. D a v o n werde i c h i n dem nächsten Vortrage sprechen. 33

D a z u gelangt man durch w i r k l i c h e A u s b i l d u n g der seelischen Fähigkeiten, die sich nicht jeder anzueignen braucht. A b e r jeder M e n s c h hat den Sinn für Wahrheit. W e n n dieser Sinn für Wahrheit nicht getrübt w i r d durch Vorurteile, die heute nur allzu leicht i n populären oder wissenschaftlichen Weltanschauungen z u finden sind, so w i r d man dem, was der Geistesforscher z u sagen hat, zustimmen können, auch bevor man selber ein G e i stesforscher geworden ist. D e n n der Seher unterscheidet sich v o n anderen Menschen - ich habe das auch hier schon als G l e i c h nis z u m A u s d r u c k gebracht - wie derjenige, der dem U h r m a c h e r zuschaut, v o n dem, der nur die U h r sieht. D e r die U h r sieht, der weiß, daß sie d u r c h intellektuelle Tätigkeit des Uhrmachers entstanden ist, dazu braucht man dem U h r m a c h e r nicht zugeschaut z u haben. Indem der Geistesforscher aus seiner Forschung heraus durch seherische Beobachtung schildert, wie zustande k o m m t , was i m alltäglichen Leben darinnen steht, w i r d derjenige, der dieses unmittelbar beobachtet, daraus überall die Bestätigung für das Gesagte finden, auch w e n n er nicht selbst ein G e i stesforscher ist. W e n n das auch heute noch wie etwas Paradoxes sich hineinstellt i n die allgemeine geistige K u l t u r e n t w i c k l u n g , wie der Geistesforscher z u denken hat über L e i b , Seele u n d Geist des Menschen, es w i r d sich i m Laufe der Zeit, indem die N a t u r wissenschaft entgegenarbeitet dem, was die Geistesforschung z u sagen hat, auch für die Geistesforschung dasjenige ergeben, was sich für die Naturforschung auch langsam u n d allmählich ergeben hat. Bedenken Sie nur, es hat ja auch eine Zeit gegeben, i n der gewisse Vorurteile das Entstehen von Physiologie u n d Biologie

i m heutigen Sinne verhindert haben. So hat man heute ein V o r u r teil dagegen, die Brücke z u schlagen v o m menschlichen Seelenleben z u dem hinüber, was i m menschlichen Leibe vor sich geht, während das Seelenleben dahinfließt. A n a t o m i e z u studieren, ist auch erst i m Laufe des Mittelalters aufgekommen. Vorher stand ein V o r u r t e i l dagegen, das, was sich da i m Leibe abspielt, h i n z u zufügen z u dem, was die Seele i m Innern erleben kann. In derselben Lage ist heute die Geisteswissenschaft. U n d wenn man es auch nicht glaubt, die heutigen Vorurteile sind v o n demselben Wert u n d stammen aus denselben Ursachen. W i e man i m M i t t e l alter den L e i b nicht sezieren lassen wollte, u m das, was sich i m Leibe abspielt, als Bedingung für das seelische Leben z u erkennen, so sträubt sich heute noch selbst der ernsteste Wissenschaftler dagegen, den Geist z u erforschen durch geisteswissenschaftliche M e t h o d e n . U n d wie das Mittelalter erst nach u n d nach dazu gekommen ist, die Untersuchung des Menschenleibes der W i s senschaft freizugeben, so w i r d auch die K u l t u r e n t w i c k l u n g der Menschheit es notwendig machen, daß auch die Erforschung des Geistes, der nicht einerlei ist mit der Seele, der Geisteswissenschaft freigegeben w i r d . O b man heute z u naturforscherisch denkenden Menschen, ob man z u sonstigen Seelenforschern geht u n d m i t geisteswissenschaftlichen Resultaten k o m m t , man erlebt w i r k l i c h dasselbe, nur auf einem andern Gebiete, w o v o n die Biographie Galileis erzählt. Bis z u Galileis Zeiten galt das alte n o c h gegenüber den Leibeserscheinungen z u überwindende Vorurteil, das sich durch eine mißverständliche Auffassung des Aristoteles durch das ganze Mittelalter fortgepflanzt hat, daß die N e r v e n aus dem H e r z e n entspringen. Galilei hatte einem Freunde die Mitteilung gemacht, daß das ein V o r u r t e i l sei. D e r F r e u n d war ein strenggläubiger Anhänger des Aristoteles. E r sagte, was i m Aristoteles steht, ist wahr, u n d da steht, daß die N e r v e n aus dem H e r z e n entspringen. D a zeigte Galilei dem Betreffenden an einer Leiche, wie der Augenschein lehre, daß die N e r v e n aus dem G e h i r n entspringen, nicht aus dem H e r z e n , daß Aristoteles das nicht beachtet hatte, w e i l i h m noch keine solche Leibesbeobachtung möglich war. D e r Aristoteles-Gläubige blieb trotzdem ungläu79

big. O b g l e i c h er sah, daß die N e r v e n aus dem G e h i r n entspringen, sagte er, der Augenschein spricht zwar für dich, aber A r i stoteles sagt anders, u n d w e n n ein W i d e r s p r u c h vorliegt z w i schen Aristoteles u n d der N a t u r , so glaube ich nicht der N a t u r , sondern Aristoteles. Das ist w i r k l i c h vorgekommen. U n d so ist es noch heute. G e h e n Sie heute z u denjenigen, die i m alten Sinne v o m philosophischen Standpunkt aus Seelenforschung begründen w o l l e n , gehen Sie z u denjenigen, die Seelenforschung auf naturforscherische A r t begründen w o l l e n , sie werden behaupten, daß man das, was aus dem Geiste oder Leibe stammend den seelischen Erscheinungen zugrunde liegt, bloß aus dem Seelischen heraus irgendwie z u erklären habe; u n d wenn man noch so sehr auf Tatsachen der geistigen Beobachtung hinweist - sie ist ja nicht so leicht anzustellen wie unsere naturwissenschaftliche Beobachtung, u n d geistige A n a t o m i e w i r d schwerer z u treiben sein als physische A n a t o m i e - , es w i r d einem heute aus demselben Geiste heraus erwidert werden: W e n n ein Widerspruch besteht zwischen dem, was W u n d t oder Paulsen oder irgendeine A u t o r i tät sagt, u n d demjenigen, was Geisteswissenschaft d u r c h geistige Beobachtung zeigt, so glauben w i r nicht der geistigen Beobachtung, sondern demjenigen, was i n den Büchern steht, an die w i r in dieser autoritätslosen Zeit gewöhnt sind. D e n n heute glaubt man ja nicht mehr an Autoritäten, sondern - allerdings so, daß man es nicht bemerkt - an das, was irgendwie offiziell abgestempelt ist. Geisteswissenschaft w i r d sich ebenso durchringen, wie sich Naturwissenschaft mit Bezug auf die Leibesforschung durchgerungen hat. Naturforscher wie D u B o i s - R e y m o n d u n d ähnliche sprechen davon, daß, w o das Übersinnliche beginne, Wissenschaft aufhören müsse. Ich habe schon i n einem früheren Vortrage auf den Irrtum hingedeutet, der da zutage tritt. W o d u r c h ist er entstanden? M a n hat zwar gefühlt - u n d D u B o i s - R e y m o n d fühlt es recht deutlich - , daß das menschliche Wesen i n einem Geistigen wurzelt. A b e r dieses Geistige muß erst durch A u s b i l d u n g v o n geisteswissenschaftlichen Methoden als der B o d e n erkannt werden, aus dem das Seelische des Menschen fließt. H a b e i c h einen B a u m v o r m i r u n d sehe, wie seine W u r z e l n i n den B o d e n hinein-

reichen, so kann i c h vielleicht ungehalten darüber sein, daß er m i r den A n b l i c k seiner W u r z e l n entzieht, u n d i c h w i l l den B a u m übersichtlich haben. D i e heutige Wissenschaft w i l l die Dinge übersichtlich machen, indem sie dasjenige ins Auge faßt, was sinnlich anschaubar ist; denn das Wurzelhafte i m geistigen B o den entzieht sich ihr. D i e Wissenschaft macht es wie jemand, der, u m einen B a u m übersichtlich, anschaulich vor sich z u haben, i h n aus dem B o d e n herausreißt oder herausgräbt. E r hat i h n dann übersichtlich v o r sich, aber der B a u m verdorrt. So hat die heutige Wissenschaft, die nicht auf den Geist eingehen w i l l , den B a u m der Erkenntnis ausgerissen. A b e r ebenso wahr, wie der aus seinem W u r z e l b o d e n herausgerissene B a u m , w e n n er auch übersichtlich anzuschauen ist, verdorrt, ebenso verdorrt die E r kenntnis, die m a n aus dem geistigen M u t t e r b o d e n herausreißt. E i n solcher A u s s p r u c h wie der v o n D u B o i s - R e y m o n d , daß die Wissenschaft da aufhört, w o das Übersinnliche anfängt, w i r d i n der Z u k u n f t z u der entgegengesetzten Überzeugung übergeleitet werden. M a n w i r d erkennen: W e n n man das Übersinnliche nicht anerkennen w i l l bis i n die Naturerscheinungen hinein, so reißt man den B a u m der Erkenntnis aus seinem M u t t e r b o d e n heraus u n d bringt die Erkenntnis z u m Verdorren. M a n w i r d i n Z u k u n f t nicht sagen, w o das Übersinnliche anfängt, hört die Wissenschaft auf, sondern man w i r d , w e n n man Wissenschaft auf die Weise begründen w i l l , daß m a n sie aus dem B o d e n des Übersinnlichen herausriimmt, erfahren, daß da, w o i m menschlichen G e i stesleben das Übersinnliche aufhört, Wissenschaft nicht gedeihen kann, daß da nicht außerhalb des Übersinnlichen eine w i r k liche Wissenschaft entstehen w i r d , sondern daß da, w o das Übersinnliche aufhört, es n u r eine tote Wissenschaft geben w i r d .

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Waren die ersten drei Vorträge dieser Ausgabe noch Hinführungen z u dem Gegenstand einer Seelenkunde, mit notwendigen methodischen Wegweisern, wie man sich ihr geisteswissenschaftlich nähern kann, so führt der folgende Vortrag mitten i n das Gebiet der menschlichen Seele hinein. Zentrale Begriffe des Seelenlebens werden im großen Zusammenhang des anthroposophischen Welt- und Menschenbildes charakterisiert. Dieser Vortrag ist der zweite aus der «Allgemeinen Menschenkunde», jenem pädagogischen «Gründungskurs» i m August/September 1 9 1 9 für das Lehrerkollegium der anschließend an diesen Kurs eröffneten ersten Freien Waldorfschule in Stuttgart. N a c h dem ersten, i n die Aufgabe der Pädagogik einführenden Vortrag der «Allgemeinen Menschenkunde» beginnt in dem hier abgedruckten zweiten Vortrag die Betrachtung des Menschen vom seelischen Gesichtspunkt. W i r haben diesen Vortrag hier aufgenommen, weil die darin charakterisierten Elemente des Seelischen von grundlegender Bedeutung für eine anthroposophische Psychologie sind.

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Die vorgeburtliche und nachtodliche Wurzel des Seelischen in B i l d und K e i m

Jeder Unterricht i n der Z u k u n f t w i r d gebaut werden müssen auf eine w i r k l i c h e Psychologie, welche herausgeholt ist aus anthroposophischer Welterkenntnis. Daß der U n t e r r i c h t u n d das E r ziehungswesen überhaupt auf Psychologie gebaut werden müssen, erkannte man selbstverständlich an den verschiedensten O r ten, u n d Sie wissen ja w o h l , daß z u m Beispiel die i n der Vergangenheit i n sehr weiten Kreisen wirkende Herbartsche Pädagogik ihre Erziehungsmaßnahmen auf die Herbartsche Psychologie aufgebaut hat. N u n hegt heute u n d auch i n der Vergangenheit der letzten Jahrhunderte eine gewisse Tatsache vor, welche eigentlich eine w i r k l i c h e , eine brauchbare Psychologie gar nicht aufkommen ließ. Das muß darauf zurückgeführt werden, daß i n dem Zeitalter, i n welchem w i r jetzt sind, i n dem Bewußtseinsseelenzeitalter, bisher noch nicht eine solche geistige Vertiefung erreicht w o r d e n ist, daß man w i r k l i c h z u einer tatsächlichen Erfassung der menschlichen Seele hätte k o m m e n können. Diejenigen Begriffe aber, die m a n sich früher auf psychologischem Gebiete, auf dem Gebiete der Seelenkunde gebildet hatte aus dem alten Wissen n o c h des vierten nachatlantischen Zeitraumes heraus, diese Begriffe sind eigentlich heute mehr oder weniger inhaltleer, sind z u r Phrase geworden. Wer heute irgendeine Psychologie oder auch n u r irgend etwas i n die H a n d n i m m t , das mit Psychologiebegriffen z u tun hat, der w i r d finden, daß ein w i r k l i c h e r Inhalt heute i n solchen Schriftwerken nicht mehr drinnen ist. M a n hat das Gefühl, daß die Psychologen n u r mit Begriffen spielen. W e r entwickelt heute z u m Beispiel einen richtigen deutlichen Begriff von dem, was Vorstellung, was W i l l e ist? Sie können heute Definitionen nach Definitionen aus Psychologien u n d Pädagogiken nehmen über Vorstellung, über W i l l e : eine eigene Vorstellung über die Vorstellung, eine eigentliche Vorstellung v o m W i l l e n werden Ihnen diese Definitionen nicht geben kön34

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nen. M a n hat eben vollständig versäumt - natürlich aus einer äußeren geschichtlichen N o t w e n d i g k e i t heraus - , den einzelnen Menschen anzuschließen auch seelisch an das ganze Weltenall. M a n war nicht imstande z u begreifen, wie das Seelische des Menschen i n Zusammenhang steht mit dem ganzen Weltenall. Erst dann, w e n n man den Zusammenhang des einzelnen M e n schen mit dem ganzen Weltenall ins Auge fassen kann, ergibt sich ja eine Idee v o n der Wesenheit M e n s c h als solcher. Sehen w i r einmal auf das, was man gewöhnlich die Vorstellung nennt. W i r müssen ja Vorstellen, Fühlen u n d W o l l e n bei den K i n d e r n entwickeln. A l s o w i r müssen zunächst für uns einen deutlichen Begriff gewinnen v o n dem, was Vorstellung ist. Wer w i r k l i c h unbefangen das anschaut, was als Vorstellung i m Menschen lebt, dem w i r d w o h l sogleich der Bildcharakter der Vorstellung auffallen: Vorstellung hat einen Bildcharakter. U n d wer einen Seins-Charakter i n der Vorstellung sucht, wer eine wirkliche Existenz i n der Vorstellung sucht, der gibt sich einer großen Illusion h i n . Was sollte für uns aber auch Vorstellung sein, w e n n sie ein Sein wäre? W i r haben zweifellos auch SeinsElemente i n uns. N e h m e n Sie n u r unsere leiblichen Seins-Elemente, nehmen Sie nur das, was ich jetzt sage, ganz grob: z u m Beispiel Ihre A u g e n , die Seins-Elemente sind, Ihre Nase, die ein Seins-Element ist, oder auch Ihren Magen, der ein SeinsElement ist. Sie werden sich sagen, i n diesen Seins-Elementen leben Sie zwar, aber Sie können mit ihnen nicht vorstellen. Sie fließen mit Ihrem eigenen Wesen i n die Seins-Elemente aus, Sie identifizieren sich mit den Seins-Elementen. Gerade das ergibt die Möglickeit, daß w i r mit den Vorstellungen etwas ergreifen, etwas erfassen können, daß sie Bildcharakter haben, daß sie nicht so mit uns zusammenfließen, daß w i r i n ihnen sind. Sie sind also eigentlich nicht, sie sind bloße Bilder. Es ist der große Fehler gerade i m Ausgange der letzten Entwicklungsepoche der Menschheit i n den letzten Jahrhunderten gemacht w o r d e n , das Sein mit dem D e n k e n als solchem z u identifizieren. «Cogito, ergo sum» ist der größte Irrtum, der an die Spitze der neueren Weltanschauung gestellt worden ist; denn i n dem ganzen U m fange des «cogito» liegt nicht das «sum», sondern das «non

sum». Das heißt, soweit meine Erkenntnis reicht, b i n i c h nicht, sondern ist nur B i l d . N u n müssen Sie, wenn Sie den Bildcharakter des Vorstellens ins A u g e fassen, i h n vor allem qualitativ ins A u g e fassen. Sie müssen auf die Beweglichkeit des Vorstellens sehen, müssen sich gewissermaßen einen nicht ganz zutreffenden Begriff v o m Tätigsein machen, was ja anklingen würde an das Sein. A b e r w i r müssen uns vorstellen, daß w i r auch i m gedanklichen Tätigsein nur eine bildhafte Tätigkeit haben. A l s o alles, was auch nur B e wegung ist i m Vorstellen, ist Bewegung v o n Bildern. A b e r Bilder müssen B i l d e r v o n etwas sein, können nicht bloß an sich sein. W e n n Sie reflektieren auf den Vergleich mit den Spiegelbildern, so können Sie sich sagen: A u s dem Spiegel heraus erscheinen zwar die Spiegelbilder, aber alles, was i n den Spiegelbildern liegt, ist nicht hinter dem Spiegel, sondern ganz unabhängig v o n i h m irgendwo anders vorhanden, u n d es ist für den Spiegel ziemlich gleichgültig, was sich i n i h m spiegelt; es kann sich alles mögliche i n i h m spiegeln. - W e n n w i r genau i n diesem Sinne v o n der vorstellenden Tätigkeit wissen, daß sie bildhaft ist, so handelt es sich darum, z u fragen: W o v o n ist das Vorstellen B i l d ? Darüber gibt natürlich keine äußere Wissenschaft A u s k u n f t ; darüber kann nur anthroposophisch orientierte Wissenschaft A u s k u n f t geben. Vorstellen ist B i l d v o n all den Erlebnissen, die vorgeburtlich beziehungsweise v o r der Empfängnis von uns erlebt sind. Sie k o m men nicht anders z u einem w i r k l i c h e n Begreifen des Vorstellens, als w e n n Sie sich darüber klar sind, daß Sie ein Leben vor der G e b u r t , vor der Empfängnis durchlebt haben. U n d so wie die gewöhnlichen Spiegelbilder räumlich als Spiegelbilder entstehen, so spiegelt sich Ihr Leben zwischen T o d u n d neuer Geburt i n dem jetzigen Leben drinnen, u n d diese Spiegelung ist das V o r stellen. A l s o Sie müssen sich geradezu vorstellen - wenn Sie es sich bildhaft v o r s t e l l e n - , Ihren Lebensgang verlaufend zwischen den beiden horizontalen L i n i e n , begrenzt rechts u n d links durch G e b u r t u n d T o d . Sie müssen sich dann weiter vorstellen, daß fortwährend v o n jenseits der G e b u r t das Vorstellen hereinspielt und durch die menschliche Wesenheit selber zurückgeworfen w i r d . U n d auf diese Weise, indem die Tätigkeit, die Sie vor der

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Geburt

Tod

G e b u r t beziehungsweise der Empfängnis ausgeführt haben i n der geistigen Welt, zurückgeworfen w i r d durch Ihre L e i b l i c h keit, dadurch erfahren Sie das Vorstellen. Für w i r k l i c h E r k e n nende ist einfach das Vorstellen selbst ein Beweis des vorgeburtlichen Daseins, w e i l es B i l d dieses vorgeburtlichen Daseins ist. Ich wollte dies zunächst als Idee hinstellen - w i r k o m m e n auf die eigendichen Erläuterungen der D i n g e noch zurück - , u m Sie darauf aufmerksam z u machen, daß w i r auf die Weise aus den bloßen Worterklärungen, die Sie i n den Psychologien u n d Pädagogiken finden, herauskommen u n d daß w i r z u einem w i r k l i chen Ergreifen dessen, was vorstellende Tätigkeit ist, k o m m e n , indem w i r wissen lernen, daß w i r i m Vorstellen die Tätigkeit gespiegelt haben, die vor der G e b u r t oder Empfängnis v o n der Seele i n der rein geistigen Welt ausgeübt w o r d e n ist. Alles übrige Definieren des Vorstellens nützt gar nichts, w e i l man keine w i r k liche Idee v o n dem bekommt, was das Vorstellen i n uns ist. N u n w o l l e n w i r uns i n derselben A r t nach dem W i l l e n fragen. D e r W i l l e ist eigentlich für das gewöhnliche Bewußtsein etwas außerordentlich Rätselhaftes; er ist eine C r u x der Psychologen, einfach aus dem G r u n d e , w e i l dem Psychologen der W i l l e entgegentritt als etwas sehr Reales, aber i m G r u n d e genommen d o c h keinen rechten Inhalt hat. D e n n w e n n Sie bei den Psychologen nachsehen, welchen Inhalt sie dem W i l l e n verleihen, dann werden Sie immer finden: solcher Inhalt rührt v o m Vorstellen her. Für sich selber hat der W i l l e zunächst einen eigentlichen Inhalt nicht. N u n ist es wiederum so, daß keine Definitionen da sind für den W i l l e n ; diese Definitionen sind beim W i l l e n u m so schwieriger, w e i l er keinen rechten Inhalt hat. Was ist er aber eigentlich? E r ist nichts anderes, als schon der K e i m i n uns für

das, was nach dem Tode i n uns geistig-seelische Realität sein w i r d . A l s o w e n n Sie sich vorstellen, was nach dem Tode geistigseelische Realität v o n uns w i r d , u n d w e n n Sie es sich keimhaft i n uns vorstellen, dann bekommen Sie den W i l l e n . I n unserer Zeichnung endet der Lebenslauf auf der Seite des Todes, u n d der W i l l e geht darüber hinaus. W i r haben uns also vorzustellen: Vorstellung auf der einen Seite, die w i r als B i l d aufzufassen haben v o m vorgeburtlichen L e b e n ; W i l l e n auf der anderen Seite, den w i r als K e i m aufzufassen haben für späteres. Ich bitte, den Unterschied zwischen K e i m u n d B i l d recht ins A u g e z u fassen. D e n n ein K e i m ist etwas Überreales, ein B i l d ist etwas Unterreales; ein K e i m w i r d später erst z u einem Realen, trägt also der Anlage nach das spätere Reale in sich, so daß der W i l l e i n der Tat sehr geistiger N a t u r ist. Das hat Schopenhauer geahnt; aber er konnte natürlich nicht bis z u der Erkenntnis vordringen, daß der W i l l e der K e i m des GeistigSeelischen ist, wie dieses Geistig-Seelische sich nach dem Tode i n der geistigen Welt entfaltet. N u n haben Sie i n einer gewissen Weise das menschliche Seelenleben i n z w e i Gebiete zerteilt: i n das bildhafte Vorstellen u n d i n den keimhaften W i l l e n ; u n d zwischen B i l d u n d K e i m liegt eine G r e n z e . Diese G r e n z e ist das ganze Ausleben des physischen Menschen selbst, der das Vorgeburtliche zurückwirft, dadurch die B i l d e r der Vorstellung erzeugt, u n d der den W i l l e n nicht sich ausleben läßt u n d dadurch i h n fortwährend als K e i m erhält, bloß K e i m sein läßt. D u r c h welche Kräfte, so müssen w i r fragen, geschieht denn das eigentlich? W i r müssen uns klar sein, daß i m Menschen gewisse Kräfte vorhanden sein müssen, d u r c h welche die Zurückwerfung der vorgeburtlichen Realität u n d das Im-Keime-Behalten der nachtodlichen Realität bewirkt w i r d ; u n d hier k o m m e n w i r auf die wichtigsten psychologischen Begriffe v o n den Tatsachen, die Spiegelung desjenigen sind, was Sie aus dem Buche «Theosophie» schon kennen: Spiegelungen v o n Antipathie u n d Sympathie. W i r werden - u n d jetzt knüpfen w i r an das i m ersten V o r trage Gesagte an - , w e i l w i r nicht mehr i n der geistigen Welt bleiben können, herunterversetzt i n die physische Welt. W i r ent87

wickeln, i n dem w i r i n diese herunterversetzt werden, gegen alles, was geistig ist, Antipathie, so daß w i r die geistige vorgeburtliche Realität zurückstrahlen i n einer uns unbewußten A n t i pathie. W i r tragen die Kraft der Antipathie i n uns u n d verwandeln d u r c h sie das vorgeburtliche Element i n ein bloßes Vorstellungsbild. U n d m i t demjenigen, was als Willensrealität nach dem Tode hinausstrahlt z u unserem Dasein, verbinden w i r uns i n Sympathie. Dieser z w e i , der Sympathie u n d der Antipathie, werden w i r uns nicht unmittelbar bewußt, aber sie leben i n uns unbewußt, u n d sie bedeuten unser Fühlen, das fortwährend aus einem R h y t h m u s , aus einem Wechselspiel zwischen Sympathie und Antipathie sich zusammensetzt.

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Vorstellung

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