Rüdiger Lutz (Hrsg.) - Bewusstseins (R)evolution

March 29, 2017 | Author: spiritsnake | Category: N/A
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Bewußtseins (R)evolution Veränderungsmodelle von Gregory Bateson, Robert Jungk, Fritjof Capra, Marilyn Ferguson, Stanislav Grof, John C. Lilly, Charlene Spretnak u.a.

ÖKO-LOG-Buch 2 Rüdiger Lutz (Hrsg.)

BELTZ

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bewußtseins-(R)evolution: Veränderungsmodelle von Gregory Bateson, Fritjof Capra, Marilyn Ferguson, Stanislav Grof, Michael Harner, Robert Jungk, Karl Popper, John C. Lilly, Charlene Spretnak u.a. / Rüdiger Lutz (Hrsg.). - 1. Aufl. - Weinheim ; Basel : Beltz, 1983. (Öko-Log-Buch ; 2) ISBN 3-407-85037-9 NE: Lutz, Rüdiger [Hrsg.]; GT

Erste Auflage 1983 © Beltz Verlag, Weinheim und Basel Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung Vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlaqes reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Barbara Scharioth Umschlaggestaltung und Innenlayout: Arti Umschlagmotiv nach einem Holzschnitt des 19. Jahrhunderts Satz: Schulz, 6941 Laudenbach Druck und buchbinderische Verarbeitung: Offsetdruckerei Beltz, 6944 Hemsbach Printed in Germany ISBN 3-407-

85037g

Scan & OCR von Shiva2012

Bildnachweis: Archiv für Kunst und Geschichte (Berlin), dpa, Esalen Institute, Jerry Howard, Piper Verlag, Pressefoto Mrotzkowski, Sphinx-Magazin, Die Zeit Übersetzungen: Holger Fliessbach, Wolfgang Rhiel

Inhalt Prolog

8

Revolution Von Punk bis Popper: Weltbilder im Wandel

13

Karl R. Popper Bemerkungen zur Geschichte unseres Weltbildes

17

Fritjof Capra Krise und Wandel in Wissenschaft und Gesellschaft

27

Charlene Spretnak Ganzheitliche Spiritualität und systemüber­ schreitende Politik

36

Das I Ging Das Buch vom Wandel, älter als die Bibel

43

Rüdiger Lutz Die unbewußte Revolution

44

Stephen Nachmanovitch Gregory Bateson

57

Marilyn Ferguson Wir brauchen ein Weltgewissen

72

5

Evolution

6

Von Castaneda bis Zen: Die Reise nach innen

81

Stanislav Grof Die LSD-Kontroverse

84

Rüdiger Lutz Rolfing-Aerobics für die Psyche

91

Don Johnson Die Transformation des Körpers

95

AI Chung-Iiang Huang Das Tao der Bewegung

104

Norbert R. Müllert Yoga

113

Rüdiger Lutz Die Esalen-Erfahrung

118

Frank Kretschmer Die Geschichte einer Transformation

121

Rüdiger Lutz John C. Lilly Pionier der Bewußtseinsforschung

126

Susanne G. Seiler Delphine und Menschen: John C. Lillys Studien

128

Michael Harner Der Weg des Schamanen

135

Dean Gengle Neoschamanismus in den 80er Jahren

144

Transformation Die Megakrise: Chancen zur ganzheitlichen Erneuerung

151

Michael N. Nagler Friede als Paradigmenwechsel

155

Anita Pennington Vom Umgang mit der Ohnmacht

159

Peter Paulich Die Zerstörung des Eurozentrismus

162

Rüdiger Lutz Die Friedenswerkstatt

173

Robert Jungk In einer außerordentlichen Lage muß das Außerordentliche versucht werden

179

Dieter Duhm Gewaltlosigkeit? Versuch einer Antwort

182

Hazel Henderson Global denken, lokal handeln

186

Epilog Macaca Fuscata

198

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Prolog

Der notwendige Wandel ist nicht von oben machbar. Es gibt keine Instru­ mentarien, Methoden und Konzepte, um die erforderliche Einsicht in die „Die freigelassene Kraft des Atoms hat Lage unseres Planeten Erde von oben alles geändert, außer unserer Art zu jedem Menschen aufzuoktroieren. Ein denken.“ So schrieb einer der Väter der wirklich effektiver Wandel muß von un­ ten kommen und im Lebensgefühl der Atombombe, der Physiker Albert Ein­ Menschen verankert sein. Die Forde­ stein, und nie waren diese Worte aktu­ eller als heute, wo wir uns schon nicht rung nach einem grundlegenden Be­ mehr in einer Nachkriegszeit, sondern wußtseinswandel steht also im Raum. in einer Vorkriegszeit wähnen. Doch wie sieht die Realität aus? Wie Doch nicht nur angesichts einer fortgeschritten ist das neue Denken in möglichen nuklearen Katastrophe, unserer oder in anderen Gesellschaf­ sondern auch aufgrund vieler anderer ten? Gibt es Anzeichen von Hoffnung? gegenwärtiger Krisen und Probleme Wenn wir dort hinschauen, wo tradi­ kommt die Forderung eines Umden­ tionsgemäß die Hoffnung liegen sollte, nämlich bei der Jugend, dann sieht es kens und einer Bewußtseinsverände­ rung zum Tragen. Die Essenz aller sehr bedrückend aus. Da gibt es einer­ Doomsday-Berichte der letzten Jahre, seits die No-Future-Punks, die „null angefangen von „Grenzen des Wachs­ Bock“ auf gar nichts mehr haben und tums“ bis hin zu „Global 2000“, vom somit wenig Anlaß zu einem Zukunfts­ Brandt-Report über den Nord-Süd- vertrauen geben. Andererseits ent­ Konflikt bis hin zum letzten Club-of- stand eine modische New-Wave-MaRome-Bericht über das menschliche sche, die uns auf rotzig freche Art ver­ Dilemma, ist immer wieder die Forde­ mittelt, daß es irgendwie schon weiter­ rung nach einem radikalen Umdenken geht bzw. zum Leben etwas Spaß gehö­ in breiten Kreisen der Bevölkerung. ren muß. Neben diesen Extrempositio­ nen gibt es natürlich noch die unver­ meidlichen Alt-Linken, die immer noch etwas von Klassenkampf murmeln, ob­ wohl dies gegenwärtig nicht gerade weiterhilft. Eine gewisse Integrität und Tatkraft ist lediglich bei den Ökologisten zu spüren, deren Argumente in­ zwischen zwar von allen benutzt, aber nicht unbedingt ernst genommen werden. Im letzten Öko-Log-Buch stellten wir die Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer alternativen sanften Technik und Gesellschaft vor. Es wurde jedoch of­ fensichtlich, daß diese sanften Alterna­ tiven nur realisierbar werden, wenn ein allgemeines Umdenken, eine allgemei­ ne Umorientierung erfolgt, die einer kopernikanischen Wende in der Welt­ anschauung gleichkäme. Damit war für viele Leser die Machbarkeit einer öko­ logischen Zukunft schon infragege­ 8

stellt. Doch in unserer Öko-Log-BuchReihe bleiben wir nicht auf halbem We­ ge stehen. Wir wollen keine faszinieren­ den Luftschlösser bauen, die lediglich amüsant zu lesen, aber außerhalb jeder Realisierbarkeit liegen. Mit dem ÖkoLog-Buch zwei knüpfen wir deshalb an der Stelle an, wo die sanften Alternati­ ven geendet hatten, wir wollen in die Problematik des Bewußtseinswandels einsteigen. Die in diesem Öko-LogBuch belegte These lautet: Wir stehen an einem historischen Wendepunkt in den Industriegesellschaften, welcher globale Konsequenzen hat. Diese Wen­ de ist einerseits eine konsequente Wei­ terentwicklung gesellschaftlicher Ent­ wicklungen, und deshalb als Evolution zu verstehen und ist jedoch anderer­ seits gegenüber unserer bisherigen Vorstellung von Wirklichkeit als Revo­ lution zu sehen. Natürlich können wir nicht wissen, ob diese Bewußtseinsre­ volution noch rechtzeitig geschieht, aber daß sie geschieht, ist aus verschie­ denen Entwicklungen ablesbar und au­ ßerdem unsere einzige Überlebens­ chance. Auch müssen wir uns von dem Kri­ sendruck etwas befreien, der auf uns lastet, denn in Panikstimmung lassen sich keine sinnvollen Lösungen finden. Das Argument, daß wir keine Zeit mehr hätten, ist kontraproduktiv: Denn wenn wir keine Zeit haben, dann können wir auch nichts machen. Aus diesem Grunde ist es nicht Spielerei oder irrele­ vante Philosophiererei, wenn wir in die­ sem Öko-Log-Buch Bereiche anspre­ chen, die auf den ersten Blick schein­

bar gar nichts mit unserer Problematik zu tun haben. Doch auch bezüglich der anstehenden Krisen und Katastrophen ist es ähnlich wie in vielen anderen Fällen: Die Lösung liegt oft dort, wo sie nicht vermutet wird. Und aus erst un­ sinnig erscheinenden Zusammenhän­ gen gestaltet sich eine Antwort auf die brennenden Fragen unserer Zeit. Die Bewußtseinsrevolution ist eine sehr vielgestaltige Angelegenheit und setzt sich aus manchmal oft erst wider­ sprüchlich erscheinenden Entwicklun­ gen zusammen. Doch im Endeffekt gibt dieses Kaleidoskop bizarrer Einzelakti­ vitäten das Muster für ein neues Be­ wußtsein. Um dieses neue Muster und das entsprechende dazugehörige Be­ wußtsein überhaupt zu erkennen, gilt es, alle unsere menschlichen Fähigkei­ ten zu mobilisieren. Der Club-of-RomeBericht über das menschliche Dilemma appelliert an die Lernfähigkeit des Men­ schen, die aufs Äußerste gefordert wird und werden muß in dieser Zeit. Damit ist dasselbe gemeint, wie der Zukunfts­ forscher Alvin Toffler in seinem „Zu­ kunftsschock“ ausführte, nämlich, daß die Umwelt uns einen neuen Lernrhythmus aufzwingt, der vielen Menschen scheinbar zu schnell ist. Doch wir ha­ ben keine Wahl, wenn wir überleben

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wollen. Wir müssen diesen evolutionä­ ren Schrittmacherreiz annehmen, und schnell umlernen. Je mehr wir an den alten überkommenen Theorien und Konzepten festhalten, umso weniger sind wir frei für die notwendigen Ände­ rungen. Öffnen wir uns jedoch gegen­ über allen möglichen kommenden In­ novationen, dann sehen wir auch die Muster und Strukturen der neuen Welt­ anschauung. Es ist wie beim Radiohören, wenn wir ein Gerät immer auf UKW, auf einen bestimmten Sender gestellt haben und uns wundern, daß wir immer diesselben Nachrichten erhalten, so liegt es nicht an diesem Gerät, sondern daran, daß wir es nicht auf einen anderen Sender einstellen. Mit jedem weiteren Sender erweitern wir unser Informa­ tionsuniversum und schalten wir gar auf Kurzwelle, so eröffnet sich uns eine Vielfalt, die wir uns zuvor gar nicht vorstellen konnten. Was wir allerdings benötigen, ist etwas Geduld und einen

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hochempfindlichen Radioempfänger. Das heißt, je empfindlicher, sensitiver, dieses Gerät ist, umso mehr und ver­ schiedene Radioprogramme aus aller Welt können wir empfangen. Die Sen­ dewellen erreichten uns vorher schon, nur wir haben sie nicht wahrnehmen können, weil wir uns selbst beschränk­ ten, auf diesen einen „Gewohnheits­ sender“. Diese Analogie mit dem Ra­ diogerät ist in vielerlei Hinsicht für die Bewußtseinsrevolution relevant. Der Empfänger, die Wahrnehmenden, sind wir, der einzelne Mensch mit seinem hochentwickelten Gehirn und einem optimal ausgestatteten Körper. Dieses System ist so hochempfindlich bezüg­ lich aller möglichen Phänomene und wahrzunehmenden Informationen, wie wir es heute noch kaum ahnen. Redu­ zieren wir jedoch dieses Instrument auf einige wenige Funktionen und haben wir seinen Wahrnehmungskanal ledig­ lich auf einen kleinen Ausschnitt seines Gesamtpotentials eingestellt, dann ist unser Dilemma verständlich. Es ist heute bekannt, daß wir nur einen sehr kleinen Teil unseres Gehirns tatsächlich nutzen. Und innerhalb die­ ses kleinen Teiles verlassen wir uns dann auch noch auf eine ganz be­ stimmte Denkstruktur, die sich in eini­ gen Jahrhunderten entwickelte. Fast

alles andere bleibt außer acht. Wir trau­ ung, und mit dem Begriff Weltanschau­ en unseren Gefühlen nicht, unseren ung ist auch tatsächlich diese Größen­ Stimmungen, ja, oft nicht einmal unse­ ordnung gemeint. Es geht um das globale, planetare Bewußtsein, das ren Augen. Alle Wahrnehmung wird gefiltert sich auf verschiedene Weise in ver­ durch eine ganz bestimmte Weltan­ schiedenen Kulturen ausdrückt. War schauung, die nicht hinterfragt wird. das Öko-Log-Buch eins ein Reiseführer Nun wissen wir aber, daß eben diese zu verschiedenen Punkten alternativer Weltanschauung die Krise produziert Entwicklungen auf der Erde, so ist die­ hat, vor der wir heute stehen. In unserer ses Öko-Log-Buch eine Anleitung zum Analogie mit dem Rundfunkgerät wür­ Trip nach innen, dorthin, wo sich die de dies bedeuten, daß wir von dem gesamte Wirklichkeit der „Welt da Regierungssender, dessen Regierung draußen“ manifestiert. Haben wir die­ gerade einen internationalen Konflikt sen Punkt erst einmal erreicht, dann verursacht hat, eine objektive Beschrei­ ergibt sich der Weg zur Lösung, bzw. bung des Hergangs erwarten. Daß dies Bewältigung der Weltkrisen „da drau­ nicht der Fall sein kann, ist in der Analo­ ßen“ fast wie von selbst. Rüdiger Lutz gie selbstverständlich. Doch bei unse­ rem Bewußtsein erwarten wir dies. Wir versuchen, mit den Denkstrukturen, die das Problem hervorriefen, es zu lösen. Wie Münchhausen, der sich am eige­ nen Schopfe aus dem Sumpf zog, ver­ langen wir, daß das Problem zur Lö­ sung wird. In Wirklichkeit jedoch müs­ sen wir über unseren eigenen Schatten springen und uns einer alternativen Wahrnehmung der Realität aussetzen. Dazu genügt es, jeden möglichen Wahrnehmungsmodus zu entwickeln, um damit neue Sichtweisen und Lö­ sungskonzepte zu ermöglichen. Dieses Öko-Log-Buch will deshalb neue Bewußtseinsparadigmen aufzei­ gen. Nicht eines, nicht zwei, sondern mehrere alternative Konzepte und An­ regungen zum Umdenken werden prä­ sentiert. So unterschiedlich die Quellen dieser alternativen Strategien sind, so haben sie doch eines gemeinsam: Eine ganzheitlich - ja, man könnte sagen ökologisch orientierte Weltanschau­

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Revolution Von Punk bis Popper: Weltbilder im Wandel

13

Daß wir inmitten einer Revolutionierung unseres Weltbildes stehen, ist heute nicht nur ein Thema der Wissen­ schaft, sondern Allgemeingut. Die Auf­ lösung der bestehenden Wertstruktur pfeifen sozusagen die Vögel von den Dächern bzw. es tönt zeitgemäß aus den Jukeboxen und Lautsprechern un­ serer Massenmedien. Die Popkultur vom Rock’n roll über die Beatgenera­ tion bis hin zum Punk ist gefüllt mit Anspielungen auf die Irrelevanz und Obsoleszenz bisheriger Weltanschau­ ungen. Selbst wenn die Texte nicht immer verstanden werden oder auch rein akustisch nicht verständlich sind, so vermittelt diese Musik doch das Ge­ fühl, daß alles im Umbruch ist, daß eine Veränderung und Neuorientierung vor der Tür steht. Progressive Popmusik gibt sich immer gern revolutionär, de­ struktiv oder gar nihilistisch. Schon die Namen der gegenwärtigen Topbands spiegeln den Trend zum Protest, zur Revolte. Doch wie schon immer in der Ge­ schichte der Kultur und Kunst stellen solche Produkte lediglich die Spitze des Eisberges dar. Die wirkliche Revo­ lution findet im Saale statt, genauer gesagt in den Labors und den Studier­ zimmern der Wissenschaftler. Die Grundlagen der neuen Weltanschau­ ungen sind in Arbeit: Teilweise ent­ stammen sie den Naturwissenschaften, teilweise den Sozial- und Geisteswis­ senschaften. Um aufzuzeigen, welche Spannbrei­ te des Denkens im neuen Weltbild schon erarbeitet wurde, stellen wir im folgenden wichtige Vertreter verschie­ dener Fachrichtungen vor. Aus der Me­ dizin, Physik, Psychologie, Anthropolo­ gie, Theologie bzw. Spiritualität und der Sozialforschung kommen Persön­ lichkeiten zu Wort, die man als revolu­ tionäre Wissenschaftler bezeichnen könnte, wenn man die Terminologie von Thomas S. Kuhn zugrundelegt, dem Wissenschaftssoziologen, der den 14

Begriff Paradigmenwechsel erfand und von dem noch öfter die Rede sein wird. Kuhn unterschied nämlich die NormalWissenschaft von der revolutionären Wissenschaft anhand des Auftauchens neuer Paradigmen. Wissenschaftler, die kritiklos das alte Paradigma hinneh­ men und sämtliche ihrer Theorien und ihrer Experimente im Rahmen dieses Paradigmas abwickeln, sind Vertreter der normalen Wissenschaft. Die Revo­ lutionäre dagegen sprengen das alte Paradigma, indem sie es in Frage stel­ len, erweitern oder modifizieren. Sol­ che kreativen Sprünge kommen natür­ lich nicht allzu oft vor, aber gegenwär­ tig befinden wir uns in einem solchen Paradigmenwechsel und Umbruch un­ seres Weltbildes. Daß dieser Wandel des wissenschaft­ lichen und auch kulturellen Weltbildes keine These einiger Randwissenschaft­ ler ist, sondern inzwischen von allen akzeptiert wird, die sich ernsthaft mit dieser Fragestellung auseinanderset­ zen, zeigt das Beispiel des Philoso­ phen, Wissenschaftstheoretikers und Erkenntnisforschers Karl Popper. Ge­ rade Popper widersprach nämlich der These Kuhns vom Paradigmenwechsel. Als Kuhn 1962 sein Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ ver­ öffentlichte, kritisierte Karl Popper die­ se Abhandlung als eine Psychologisie­ rung der Wissenschaft. Es begann ein regelrechter Paradigmenstreit. Popper beharrte darauf, daß die rationale Logik des Voranschreitens wissenschaftli­ cher Erkenntnisse in der Aufstellung und schrittweisen Verifizierung oder Falsifizierung einer Hypothese be­ stand. Kuhn dagegen propagierte seine zeitlich und gesellschaftlich bedingten Weltbilder der Wissenschaftler, die jeg­ liche inhaltliche Arbeit beeinflussen. Viele Wissenschaftler hatten damals das Gefühl, daß Kuhn nicht ganz un­ recht hatte mit seiner Paradigmentheo­ rie. Andererseits war Popper logisch nicht zu widerlegen.

Heute, Anfang der 80er Jahre, kön­ nen wir behaupten, daß beide völlig recht hatten. Lediglich die Vorgehens­ weise war verschieden. Daß der Para­ digmenwechsel stattgefunden hat, da­ für zeugt heute Karl Poppers letztes Werk, das er zusammen mit dem Ge­ hirnforscher John Eccles schrieb. Dar­ in befaßt sich Popper ausführlich mit der Entwicklung von Bewußt­ seinsstrukturen von Weltanschauun­ gen, ja Paradigmen. Doch während Thomas Kuhn die Sprunghaftigkeit und somit die Veränderung eines Paradig­ mas betont, zeigt Karl Popper die große Linie, die evolutionäre schrittweise Ent­ wicklung von Weltbildern auf. Deshalb haben wir seine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung unse­ rer Weltbilder an den Anfang gestellt. Viele der Innovationen und der Neu­ heiten, die später immer wieder in der Bewußtseinsforschung und der Dar­ stellung neuer Denkweisen auftau­ chen, bekommen durch Poppers ge­ schichtliche Darstellung Tradition und ideelle Wurzel. Außerdem zeigt Pop­ pers Beitrag und die Zusammenschau mit den anderen Autoren des ersten Kapitels, daß scheinbar gegensätzliche Positionen gar nicht so unvereinbar sind, wie es einmal schien, kurz gesagt, der Weg von Popper zu Castaneda oder zur Punkkultur ist nicht so weit, wie man auf den ersten Blick meinen möchte.

Hexagramm 49: Ko Die Revolution Dieses Zeichen aus dem Hexagramm-System des I Ging heißt Ko und bedeutet „Revolution“. Es be­ steht aus zwei Trigrammen, dem unteren, der Son­ ne, und dem oberen, dem Marschland oder Sumpf. Die genaue Bedeutung dieses Hexagramms wird im I Ging folgendermaßen angegeben: Der Wandel ist ewig und unaufhaltsam. Wenn das Leben stabil, statisch und unveränderbar erscheint, dann findet der Wandel auf Ebenen statt, die nicht Teil der Form und der Idee sind, die wir die Wirklichkeit nennen. Die Veränderungen betreffen uns und sind auf uns bezogen, aber wir können sie nicht wahrnehmen oder definieren Die echte Wahrnehmung dieser auf andere Weise nicht erfahrbaren Veränderungen werden in religiösen oder spirituellen Erfahrungen als Ganzheitstotalität des Selbst im All gemacht. Du magst dich frei und ungebunden in diesem Wandel bewegen wollen, aber Du bist eingefangen in Widersprüchen, Paradoxien und Sackgassen. Du magst es spüren, daß die Wirklichkeit Deinem Ver­ ständnis von Veränderungen entgegensteht, aber Du brauchst nicht auf Wunder oder Magie zu war­ ten, um die tatsächlichen Vorgänge zu deuten. Der Fluß des ganzheitlichen Wandel manifestiert sich auch in der Existenz der realen Welt. Was immer Deine Frage ist, Dein Problem oder Krise, die Lösung kann in den Veränderungen ge­ funden werden, die in der Welt um Dich herum vorgehen. Widerstehe diesem Wandel nicht, igno­ riere ihn nicht oder erachte ihn nicht für irrelevant, als eine Art Spiel. Revolution ist ein Spiel, so wie jede andere Handlung, aber zu diesem Zeitpunkt ist dieses Spiel nichi irrelevant, sondern eine direkte Manifestation des ganzheitlichen Wandels. Du mußt in diesem Wandel aufgehen, ihn akzeptieren, Teil von ihm sein. Sieh Dich als eine Welle im Meeresuniversum, getroffen von einer anderen grö­ ßeren Welle, der sogenannten Wirklichkeit. Deine kleine Welle trifft die große. Die entfernte Welle der Zukunft gibt es nicht mehr. Diese Welle ist jetzt Gegenwart und Du bist in ihr. Wenn Du versuchst, Dich an dem festzuhalten, was bisher die solide Wirklichkeit war, wirst du Dein Gleichgewicht ver­ lieren. Wenn Du die gegenwärtige Veränderung akzeptierst und die kreative Kraft in ihr aufnimmst, dann wirst Du ganz natürlich von ihr aufgenommen und die Lösung zu Deinem Problem wird spontan auftauchen. Gib Dich in die Bewegungen der Verän­ derungen um dich herum. Zum 1 Ging siehe Seite 43

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Karl R. Popper

Bemerkungen zur Geschichte unserem Weltbildes Das menschliche Denken im allge­ meinen und die Wissenschaft im besonderen sind aus der mensch­ lichen Geschichte hervorgegan­ gen. Daher hängen sie von vielen Zufälligkeiten ab: Wäre unsere Ge­ schichte anders verlaufen, dann wären auch unser gegenwärtiges Denken und unsere gegenwärtige Wissenschaft (sofern es sie über­ haupt gäbe) anders. Solche Argumente haben viele zu relativistischen oder skepti­ schen Folgerungen geführt. Doch die sind keineswegs unausweich­ lich. Wir können es als Tatsache ansehen, daß es zufällige (und na­ türlich auch irrationale) Elemente in unserem Denken gibt; aber wir sollten relativistische Folgerun­ gen als selbstzerstörerisch und defätistisch ablehnen. Denn wir können darauf verweisen, daß wir aus unseren Fehlern lernen kön­ nen und es manchmal auch tun, und daß das der Weg ist, auf dem die Wissenschaft vorankommt. Wie falsch auch immer unsere Ausgangspunkte sein mögen, sie können korrigiert und somit über­ wunden werden, vor allem wenn wir bewußt danach trachten, unse­ re Fehler durch Kritik zur Rechen­ schaft zu ziehen, wie es in den Naturwissenschaften geschieht. Wissenschaftliches Denken kann somit unter einem rationalen Ge­ sichtspunkt progressiv sein, unge­ achtet seiner mehr oder weniger

zufälligen Ausgangspunkte. Und wir können es aktiv durch Kritik fördern und dadurch der Wahrheit näher kommen. Die augenblickli­ chen wissenschaftlichen Theorien sind das gemeinsame Ergebnis unserer vielfach zufälligen (oder vielleicht historisch bedingten) Vorurteile und kritischer Fehlerbe­ seitigung. Unter dem Ansporn von Kritik und Fehlerbeseitigung ten­ dieren sie zu größerer Wahrheits­ ähnlichkeit. Vielleicht sollte ich nicht sagen „tendieren“; denn es ist nicht eine unseren Theorien oder Hypothe­ sen innewohnende Tendenz, wahrheitsähnlicherzu werden: Es ist mehr das Ergebnis unserer ei­ genen kritischen Einstellung, die eine neue Hypothese nur zuläßt, wenn sie gegenüber den voraus­ gegangenen eine Verbesserung darzustellen scheint. Was wir von einer neuen Hypothese verlangen, bevor sie an die Stelle einer frühe­ ren treten darf, ist das: (1) Sie muß die Probleme, die ihre Vorläuferin löste, mindestens so gut wie diese lösen. (2) Sie sollte die Ableitung von Voraussagen ermöglichen, die sich aus der älteren Theorie nicht ergeben. Das sollten vornehmlich Voraussagen sein, die der alten Theorie widersprechen, das heißt entscheidende Experimente. Wenn eine neue Theorie diesen Bedingungen genügt, dann stellt

sie einen möglichen Fortschritt dar. Der Fortschritt findet wirklich statt, wenn das entscheidende Ex­ periment für die neue Theorie spricht. Punkt (1) ist eine notwendige Bedingung und eine bewahrende Bedingung. Er verhindert Regres­ sion. Punkt (2) ist freigestellt und erstrebenswert. Er ist revolutionär. Nicht jeder Fortschritt in der Wis­ senschaft ist revolutionär, wenn auch jeder bedeutende Durch­ bruch in der Wissenschaft revolu­ tionär ist. Beide Forderungen zu­ sammen sichern die Rationalität wissenschaftlichen Fortschritts, und das heißt die Zunahme an Wahrheitsähnlichkeit. Diese Auffassung vom wissen­ schaftlichen Fortschritt scheint mir in striktem Gegensatz zum Re­ lativismus und auch zu den mei­ sten Formen des Skeptizismus zu stehen. Es ist eine Auffassung, die es uns erlaubt, Wissenschaft von Ideologie zu unterscheiden und die Wissenschaft ernst zu nehmen, ohne ihre oftmals blendenden Er­ gebnisse zu überschätzen oder zu dogmatisieren. Manche Ergebnisse der Wissen­ schaft sind nicht nur blendend, sondern auch ungewöhnlich und häufig ganz unerwartet. Sie schei­ nen uns zu sagen, daß wir in einem unermeßlichen Universum leben, das fast gänzlich aus von Materie entleertem Raum besteht und von Strahlung erfüllt ist. Es enthält nur wenig Materie, die meiste davon in heftiger Bewegung; dazu einen verschwindend kleinen Betrag an lebender Materie; und einen noch kleineren Betrag von lebender Ma­ terie, die mit Bewußtsein begabt ist. Nicht nur riesige Raumbereiche, sondern auch unermeßliche Zeit­ räume sind nach gegenwärtiger wissenschaftlicher Ansicht ohne jegliche lebende Materie. Man kann von der Molekularbiologie lernen, daß die Entstehung des Le­ bens aus lebloser Materie ein Er­ eignis von extremer Unwahr­ scheinlichkeit gewesen sein muß. Selbst unter sehr günstigen Bedin­ gungen - die ihrerseits unwahr­ 17

scheinlich sind - konnte Leben anscheinend nur nach zahllosen und langen Ereignisfolgen entste­ hen, von denen jeder beinahe, aber nie ganz, das Hervorbringen von Leben gelang. Man kann nicht sagen, daß die­ ses Bild vom Universum, wie es die zeitgenössische Wissenschaft zeichnet, uns vertraut vorkommt oder daß es intuitiv befriedigend ist (auch wenn es sicherlich intel­ lektuell und für den unmittelbaren Eindruck aufregend ist). Doch warum sollte es uns vertraut er­ scheinen? Es kann durchaus wahr sein oder der Wahrheit nahekom­ men: Wir sollten endlich gelernt haben, daß die Wahrheit oft be­ fremdlich ist. Andererseits könnte es auch weit von der Wahrheit ent­ fernt sein - wir könnten unvorher­ gesehenerweise die ganze Ge­ schichte oder das, was wir für ein­ leuchtende Belege dieser Ge­ schichte halten, falsch gelesen ha­ ben. Und dennoch ist es unwahr­ scheinlich, daß es in der kritischen Evolution dieser Geschichte keine Zunahme an Wahrheitsähnlichkeit gegeben hat. Es gibt, wie sich zeigt, unbelebte Materie, Leben und Bewußtsein. Es ist unsere Auf­ gabe, über diese drei Phänomene und ihre Beziehungen zueinander nachzudenken, und besonders über den Platz des Menschen im Universum und über die menschli­ che Erkenntnis. Ich möchte beiläufig erwähnen, daß mir die Fremdartigkeit des wissenschaftlichen Weltbildes die subjektivistische (und die fideistische) Wahrscheinlichkeitstheorie zu widerlegen scheint, ebenso die subjektivistische Induktionstheo­ rie oder genauer: den „Wahr­ scheinlichkeitsglauben“. Denn nach dieser Theorie sollte das uns Vertraute, das uns Gewohnte auch das rational und wissenschaftlich Akzeptable sein; während in Wirk­ lichkeit die Evolution der Wissen­ schaft das Vertraute durch das Un­ vertraute korrigiert und ersetzt. Den neuesten Theorien zufolge könnten diese kosmologischen Tatbestände kaum unvertrauter aussehen; was nebenbei zeigt, wie 18

weit sich die Wissenschaft unter dem Druck der Kritik von ihren Anfängen anthropomorpher My­ then entfernt hat. Das physikali­ sche Universum weist - so scheint es wenigstens - mehrere vonein­ ander unabhängige und überein­ stimmende Spuren dafür auf, daß es durch eine gewaltige Explosion entstanden ist, durch den „Ur­ knall“. Und die wohl zuverlässig­ sten heutigen Theorien sagen vor­ aus, daß es schließlich wieder in sich zusammenfallen wird. Diese beiden Grenzereignisse sind so­ gar als Anfang und Ende von Raum und Zeit interpretiert wor­ den - obzwar wir offenbar bei sol­ chen Reden kaum verstehen, was wir sagen. Das Befremdliche einer wissen­ schaftlichen Theorie, im Vergleich zur naiveren Ansicht, hat Aristote­ les erörtert, der zum Beweis der Unmeßbarkeit der Diagonalen durch die Seite des Quadrats sag­ te: „Der Erwerb von Wissen muß zu einem Geisteszustand führen, der demjenigen, von dem aus wir ursprünglich unsere Suche be­ gannen, genau entgegengesetzt ist ... Denn jemandem, der den Grund noch nicht eingesehen hat, muß es als ein Wunder erscheinen, daß es etwas geben kann (nämlich die Diagonale des Quadrats), das nicht gemessen werden kann, nicht einmal durch die kleinste Einheit (durch die man die Seite des Quadrats messen kann).“ Was aber Aristoteles anschei­ nend nicht gesehen hat, ist, daß der „Erwerb von Wissen“ ein nie endender Prozeß ist, und daß wir ständig vom Erkenntnisfortschritt überrascht werden können. Dafür gibt es kaum ein dramati­ scheres Beispiel als die Entwick­ lungsgeschichte der Theorie der Materie. Vom griechischen „hyle", das wir mit „Materie“ übersetzen und das bei Homer häufig Feuer­ holz bedeutet, sind wir zu dem fortgeschritten, was ich als die Selbstüberwindung des Materia­ lismus beschrieben habe. Einige führende Physiker sind in der Auf­ lösung der Materie noch weiter gegangen. (Nicht, daß ich bereit

bin, ihnen darin zu folgen.) Unter dem Einfluß von Mach, einem Phy­ siker, der weder an Materie noch an Atome glaubte, und der eine Erkenntnistheorie vorschlug, die an Berkeleys subjektiven Idealis­ mus erinnert, und unter dem Ein­ fluß Einsteins - der in seiner Ju­ gend ein Anhänger Machs war wurden von einigen großen Pio­ nieren der Quantenmechanik idealistische und sogar solipsistische Interpretationen der Quan­ tenmechanik vorgelegt, vor allem von Heisenberg und Wigner. „Die Vorstellung von der objektiven Realität der Elementarteilchen hat sich also in einer merkwürdigen Weise verflüchtigt“, sagte Heisen­ berg 1954 (S. 1158). Und Bertrand Russell erklärte: „Es sieht allmäh­ lich so aus, als ob die Materie wie die Cheshire Katze allmählich durchscheinend wird, bis von ihr nichts übrigbleibt als ein Lächeln, das offenbar von der Belustigung über diejenigen kommt, die immer noch glauben, daß sie da ist.“ Meine Bemerkungen zur Ideen­ geschichte werden sehr skizzen­ haft sein. Das ist unvermeidbar, selbst wenn es meine eigentliche Absicht wäre, diese Geschichte zu erzählen, was aber nicht der Fall ist. Meine eigentliche Absicht ist es, die gegenwärtige Problemsi­ tuation der Leib-Seele-Beziehung dadurch verständlicher zu ma­ chen, daß ich zeige, wie sie aus früheren Lösungsversuchen nicht nur des Leib-Seele-Problems - entstanden ist. Nebenbei sollte das meine These illustrieren, daß Geschichte als Geschichte von Problemsituationen geschrieben werden wollte.

Ein im Folgenden zu lösendes Problem Die eigentliche Absicht meiner Ausführungen über die frühe Ge­ schichte des Leib-Seele-Problems ist es zu zeigen, wie unbegründet jene These ist, die besagt, daß die­ ses Problem zu einer modernen Ideologie gehöre und in der Antike unbekannt gewesen sei. Diese These enthält ein propagandisti­

sches Vorurteil. Sie hauptet, daß ein Mensch, der keiner Gehirnwä­ sche durch eine dualistische Reli­ gion oder Philosophie unterzogen worden ist, selbstverständlich den Materialismus annehmen würde. Sie behauptet, daß die antike Phi­ losophie materialistisch war - eine Behauptung, die, so irreführend sie auch sein mag, ein Körnchen Wahrheit enthält; und sie behaup­ tet, daß diejenigen unter uns, die sich für das Bewußtsein und das Leib-Seele-Problem interessieren, von Descartes und seinen Nachfol­ gern einer Gehirnwäsche unterzo­ gen worden seien. Die Geschichte der Theorien über das Ich oder den Geist unterschei­ den sich sehr von der Geschichte der Theorien über die Materie. Man gewinnt den Eindruck, daß die größten Entdeckungen in prä­ historischen Zeiten und durch die Schulen des Pythagoras und Hippokrates gemacht wurden. In neuerer Zeit hat es viele kritische Versuche gegeben, doch sie ha­ ben kaum zu großen revolutionä­ ren Ideen geführt. Die größten Errungenschaften der Menschheit liegen in der Ver­ gangenheit. Zu ihnen gehören die Erfindung der Sprache und der Gebrauch künstlicher Werkzeuge zur Herstellung anderer Kunstpro­ dukte; die Verwendung des Feuers als Werkzeug; die Entdeckung des eigenen Selbst-Bewußtseins und des Selbst-Bewußtseins der ande­ ren Menschen und das Wissen, daß wir alle sterben müssen. Die letzten beiden Entdeckun­ gen hängen anscheinend mit der Erfindung der Sprache zusam­ men, die anderen vielleicht auch. Sprache ist sicher die älteste die­ ser Errungenschaften, und zwar diejenige, die am tiefsten in unse­ rer genetischen Ausstattung ver­ wurzelt ist (obwohl natürlich eine spezifische Sprache durch Tradi­ tion erworben werden muß). Die Entdeckung des Todes und das Gefühl für Verlust, für Berau­ bung müssen ebenfalls sehr alt sein. Die alten Beerdigungssitten, die bis zum Neandertaler zurück­

reichen, lassen vermuten, daß die­ se Menschen sich nicht nur des Todes bewußt waren, sondern daß sie auch an ein Fortleben glaub­ ten. Denn sie begruben ihre Toten mit Geschenken - höchstwahr­ scheinlich mit Geschenken, die sie für die Reise in eine andere Welt und für ein anderes Leben als nützlich betrachteten. Weiterhin berichtet R. S. Solecki 1971, daß er in der Shanidar-Höhle im Nordirak das Grab eines Neandertalers (oder auch von mehreren) gefun­ den hat, der offensichtlich auf ei­ nem Bett aus Zweigen und mit Blumen geschmückt begraben worden war. Er berichtet ferner, daß er die Skelette zweier alter Männer fand, von denen der eine „sehr behindert“, der andere „ein Rehabilitationsfall“ war. Es scheint, daß sie nicht nur geduldet wurden, sondern daß ihnen auch von ihrer Familie oder Sippe ge­ holfen wurde. Anscheinend ist die humanitäre Idee, den Schwachen zu helfen, sehr alt, und unsere Vor­ stellungen von der Primitivität des Neandertalers, den man in die Zeit vor 60000 bis 35000 Jahren da­ tiert, müssen revidiert werden. Vieles scheint auch dafür zu sprechen, daß der Vorstellung vom Fortleben nach dem Tode ei­ ne Art Leib-Seele-Dualismus zu­ grundeliegt. Zweifellos war dieser Dualismus nicht cartesianisch. Al­ les spricht dafür, daß die Seele als ausgedehnt betrachtet wurde: als ein Geist oder eine Geistererschei­ nung - als ein Schatten mit einem physischen, dem Körper ähneln­ den Umriß. Das jedenfalls ist die Vorstellung, die wir in den ältesten literarischen Quellen, besonders bei Homer, in Sagen und Märchen (und auch noch bei Shakespeare) finden. In gewissem Sinne ist das eine Form von Materialismus, vor allem wenn wir die cartesianische Vor­ stellung übernehmen, daß die Ma­ terie durch dreidimensionale Aus­ dehnung bestimmt ist. Gleichwohl ist der dualistische Charakter klar: Die geistartige Seele ist vom Kör­ per verschieden, sie ist weniger materiell als der Körper, feiner,

mehr Luft, Dampf oder Atem. Bei Homer gibt es viele Worte für den Geist oder die Seele und deren Funktionen, die „Bewußtseinspro­ zesse“, wie R. B. Onians sie nennt: Fühlen, Wahrnehmen, Denken, Verachten, Zorn und so weiter. Ich werde hier nur auf drei dieser Wor­ te eingehen. Von größter Bedeutung bei Ho­ mer ist thymos, der Lebenswille, die dampfförmige Atemseele, der mit dem Blut verbundene, aktive, lebenserhaltende, fühlende und denkende Stoff. Er verläßt uns, wenn wir ohnmächtig werden, oder beim letzten Atemzug, wenn wir sterben. Später wird dieser Be­ griff in seiner Bedeutung oft einge­ schränkt: Er bedeutet dann Mut, Energie, Leidenschaft, Kraft. Im Gegensatz dazu ist psyche bei Ho­ mer (wenn auch manchmal als Synonym von thymos gebraucht) kaum ein Lebensprinzip wie bei den späteren Autoren Parmenides, Empedokles, Demokrit, Pla­ ton, Aristoteles. Bei Homer ist sie eher der traurige Rest, der übrig­ bleibt, wenn wir sterben. Der arm­ selige, verstandlose Schatten, das Geisterhafte, das den Körper über­ lebt: Sie hat nichts mit dem „ge­ wöhnlichen Bewußtsein zu tun“; sie ist das, was „im Haus des Ha­ des fortdauert, doch ohne ge­ wöhnliches Bewußtsein (oder ge­ wöhnliches Leben),... die sichtba­ re, doch ungreifbare Erscheinung des einst lebenden“ Körpers. Wenn Odysseus im elften Gesang der Odyssee die Unterwelt auf­ sucht, das dunkle und traurige Haus des Hades, bemerkt er, daß die Schatten der Toten fast völlig leblos sind, bis er sie mit Blut ge­ nährt hat, dem Stoff, der die Kraft hat, dem Schatten, der psyche, ei­ nen Schein von Leben zurückzu­ geben. Das ist eine Szene von äußerster Traurigkeit, von verzweifel­ tem Mitleid mit dem Zustand, in dem die Toten dahinleben. Für Homer ist nur der lebende Körper ein voll-bewußtes Ich. Der dritte Begriff nus, noos (oder nous, in der entscheidend wichtigen Passage Odyssee 10, 240, die jetzt behandelt werden 19

soll), wird im Deutschen meist zu­ treffend mit „Verstand“ oder „Ein­ sicht“ übersetzt (im Englischen mit „mind“ oder „understanding“). Im Allgemeinen handelt es sich um zweckhaftes, absichtsvol­ les Verstehen oder Deuten (Odys­ see 24, 474). Onians bezeichnet es gut als „absichtsvolles Bewußt­ sein“. Es schließt meist das Verste­ hen einer Situation ein und bedeu­ tet bei Homer manchmal bewußte Einsicht oder auch verständiges Bewußtsein seiner selbst. Da manchmal stillschweigend bestritten wird, daß die dualisti­ sche Vorstellung des Bewußtseins schon vor Descartes vorkommt wonach es dann schlicht unhisto­ risch wäre, wenn ich diese Vorstel­ lung Homer zuschreibe möchte ich auf eine Stelle (Odyssee 10, 239ff.) hinweisen, die mir als abso­ lut entscheidend für die Vor- und Frühgeschichte des Leib-SeeleProblems erscheint. Die Geschichte von der Verzau­ berung des Körpers, einer Ver­ wandlung, die den Geist unverän­ dert läßt, ist eines der ältesten und populärsten Themen in Märchen und Volkssagen. In diesem viel­ leicht ältesten überlieferten litera­ rischen Dokument unserer westli­ chen Zivilisation wird ausdrück­ lich festgestellt, daß die durch Zauber bewirkte Verwandlung des Körpers die Selbstidentität des Geistes, des Bewußtseins intakt läßt. Die erwähnte Stelle im 10. Buch der Odyssee schildert, wie Kirke einige Begleiter des Odysseus mit ihrem Zauberstab verwandelt:

vielen Verzauberungen und Ver­ wandlungen der klassischen Anti­ ke und der Märchen entsprechend zu interpretieren: Das bewußte Ich ist also kein künstliches Produkt cartesianischer Ideologie. Es ist ei­ ne universale Erfahrung der Menschheit, was auch immer zeit­ genössische Anti-Cartesianer sa­ gen mögen. Hat man das einmal gesehen, dann sieht man auch, daß der LeibSeele-Dualismus überall bei Ho­ mer und natürlich bei den späte­ ren griechischen Autoren auf­ taucht. Dieser Dualismus ist ty­ pisch gerade für die antike Nei­ gung, in Polaritäten wie der Anti­ these „sterblich-unsterblich“ zu denken. Agamemnon sagt zum Beispiel von Chryseis (Ilias 1,113115): „Denn ich ziehe sie der Klytämnestra, meiner Frau vor, da sie ihr nicht unterlegen ist, weder an Körper noch an Haltung, weder in ihrem Geist noch in ihrer Kunstfer­ tigkeit.“ Die Entgegensetzung oder der Dualismus von Körper und Geist ist ganz charakteristisch für Homer; und da der Geist ja gewöhnlich als materiell begriffen wird, gibt es keinerlei Hindernis für die naheliegende Lehre der Wech­ selwirkung von Körper und Geist, Leib und Seele. Beim Dualismus sollte klarge­ stellt werden, daß der Gegensatz oder die Polarität von Körper und Geist nicht übertrieben werden darf: „mein Geist“ und „mein Kör­ per“ können durchaus als Synony­ me für „meine Person“ Vorkom­ men, wenn sie auch selten Syn­ onyme füreinander sind. Ein Bei­ spiel findet sich bei Sophokles, „Sie nun hatten von Schweinen wenn Ödipus sagt: „meine Seele die Köpfe, die Stimme, die Borsten (psyche) trägt den Druck meiner Und auch den Körper („demas“); und deiner Sorgen“ und, an einer jedoch der Verstand blieb dersel­ anderen Stelle: „Er (Kreon) hat be wie vorher. sich schlau gegen meinen Körper Weinend wurden sie eingesperrt, (soma) verschworen“. In beiden aber die Kirke warf ihnen Eckern Fällen wäre im Deutschen „meine und Eicheln v o r . . . “ Person“ oder einfach „mich“ ge­ nauso gut oder besser; doch so­ Offenbar verstanden sie ihre ver­ wohl im Griechischen als auch im zweifelte Lage und blieben sich Deutschen können wir nicht an diesen Stellen den einen Ausdruck ihrer Selbstidentität bewußt. Das ist, meine ich, klar genug; (psyche) durch den anderen (so­ und wir haben guten Grund, die ma) ersetzen, ohne den Sinn zu 20

ändern. Das geht eben nicht im­ mer und das gilt für Homer und Sophokles ebenso wie für uns. Ich will dem, was ich hier über die Theorie der Wechselwirkung gesagt habe - die Wechselwirkung zwischen einer materiellen Seele und einem materiellen Körper nicht andeuten, daß man sich Wechselwirkung in mechanisti­ scher Weise dachte. Konsequen­ tes mechanistisches Denken ge­ winnt erst viel später Bedeutung, nämlich durch die Atomisten Leukipp und Demokrit, obwohl es na­ türlich vor ihnen zahlreiche ge­ schickte Nutznießer der Mechanik gab. Vieles verstand man zu Zeiten Homers und noch lange danach nicht richtig, weder in mechanisti­ schen noch in anderen Ausdrükken; es wurde in grob „aniministischer“ Weise gedeutet, etwa wie der Blitz des Zeus. Ursächlichkeit war ein Problem, und animistische Ursächlichkeit war etwas, das ans Göttliche grenzte. Und es gab nach damaliger Vorstellung göttli­ che Eingriffe in den Körper und in die Seele. Verblendung, wie bei Helena, blinde Wut und Starrsinn wie bei Agamemnon wurden der Einwirkung von Göttern zuge­ schrieben. Es war „ein abnormaler Zustand, der eine übernormale Er­ klärung (verlangte)“, wie E. R. Dodds (1951) es ausdrückte. Es gibt eine Fülle wichtiger prä­ historischer und natürlich histori­ scher Beweise zur Unterstützung der Hypothese, daß der dualisti­ sche Glaube und der Glaube an Wechselwirkung zwischen Körper und Bewußtsein sehr alt ist. Abge­ sehen von Folklore und Märchen wird er durch alles das belegt, was wir über primitive Religion, My­ thos und magischen Glauben wissen. Da ist zum Beispiel der Schama­ nismus mit seiner charakteristi­ schen Lehre, daß die Seele des Schamanen den Körper verläßt und auf die Reise geht; bei den Eskimos sogar zum Mond. Der Körper bleibt inzwischen in einem Zustand des Tiefschlafs oder Ko­ mas zurück und lebt ohne Nah­ rung weiter. „In dieser Verfassung

denkt man sich ihn (den Schama­ nen) nicht wie die Pythia oder ein modernes Medium, von einem fremden Geist besessen; sondern seine eigene Seele, so denkt man es sich, verläßt den Körper Dodds zitiert eine lange Liste prä­ historischer und historischer grie­ chischer Schamanen, von den prä­ historischen künden nur noch Le­ genden, die aber ein ausreichen­ der Beleg für den Dualismus sind. Die Geschichte von den SiebenSchläfern von Ephesus gehört wahrscheinlich in diese Tradition, vielleicht auch die Theorie der Seelenwanderung oder Reinkar­ nation. Zu den Schamanen histori­ scher Zeiten zählt Dodds Pythago­ ras und Empedokles. Für unseren Standpunkt ist die Unterscheidung zwischen Hexen (männlichen oder weiblichen) und Zauberern interessant, die auf den Sozialanthropologen E. E. EvansPritchard zurückgeht. In seiner Analyse der Vorstellung des Azande-Volkes unterscheidet er Hexen von Zauberern, je nachdem ob be­ wußte Absicht eine Rolle spielt oder nicht. Nach der Anschauung der Zande haben Hexen ererbte, besondere angeborene übernatür­ liche Kräfte, um anderen Schaden zuzufügen, doch diese gefährli­ chen Fähigkeiten sind ihnen voll­ kommen unbewußt. Der böse Blick ist ein Beispiel dafür. Im Ge­ gensatz dazu haben sich Zauberer Techniken für den Umgang mit Substanzen und Zauberformeln angeeignet, durch die sie vorsätz­ lich anderen Schaden zufügen können. Diese Unterscheidung scheint für zahlreiche, wenn auch nicht alle primitiven afrikanischen Kulturen zuzutreffen. Das zeigt die weitverbreitete primitive Unter­ scheidung zwischen bewußt beab­ sichtigten Handlungen und unbe­ wußten Wirkungen. Mythen und religiöser Glaube sind Versuche, uns die Welt - na­ türlich mitsamt der sozialen Welt, in der wir leben und die Art, wie sie auf uns und unsere Lebensweise einwirkt, theoretisch zu erklären. Es scheint so, daß die alte Unter­ scheidung zwischen Seele und

Sir Karl R. Popper, geb. 1902 in Wien, Prof. Emeritus der Univer­ sität London, Mitglied der Royal Society und zahlreicher wissen­ schaftlicher Akademien und Ge­ sellschaften. Wichtigste Veröf­ fentlichungen in deutscher Spra­ che: Logik der Forschung, 1976; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 1977; Das Elend des Hi­ storizismus, 1979; Objektive Er­ kenntnis, 1974; Ausgangspunkte, 1981.

Körper das Beispiel einer solchen theoretischen Erklärung ist. Doch was sie erklärt, ist die Erfahrung des Bewußtseins - des Verstan­ des, des Willens, der Planung und der Durchführung unserer Pläne; des Gebrauchs unserer Hände und Füße als Werkzeuge; des Ge­ brauchs künstlicher, materieller Werkzeuge und deren Wirkung auf uns. Diese Erlebnisse sind keine philosophischen Ideologien. Sie führen zur Lehre von der substan­ tiellen (oder auch materiellen) Seele, und diese Lehre kann durchaus ein Mythos sein; tat­ sächlich vermute ich, daß die Sub­ stanztheorie als solche ein Mythos ist. Doch wenn sie ein Mythos ist, ist sie als das Ergebnis dessen zu verstehen, was wir als Realität und als Wirksamkeit unseres Gewis­ sens und unseres Willens erfas­ sen. Und der Versuch, die Realität zu erfassen, veranlaßt uns, die Seele als materiell vorzustellen, als feinste Materie, später dann dazu, sie als nichtmaterielle „Sub­ stanz“ aufzufassen.

Ich darf vielleicht abschließend die größeren Entdeckungen auf diesem Gebiet zusammenfassen, die, wie sich zeigt, vom primitiven und prähistorischen Menschen gemacht wurden, zum Teil schon vom Neandertaler, der gewöhnlich als früherer Mensch eingestuft wird, der sich von unserer eigenen Spezies unterscheidet und dessen Blut, wie man seit kurzem an­ nimmt, sich mit dem des Homo sapiens vermischt hat. Der Tod und seine Unausweich­ lichkeit werden entdeckt; die Theorie wird aufgestellt, daß der Zustand des Schlafs und der Be­ wußtlosigkeit dem Tod verwandt und daß es das Bewußtsein, die Seele, der Geist oder das Gemüt (thymos) seien, die uns beim Tode „verlassen“. Die Lehre von der Wirklichkeit und daher der Mate­ rialität und Substantialität des Be­ wußtseins - der Seele (oder des Geistes) - wird entwickelt, ferner die Lehre von der Komplexität der Seele oder des Geistes: Verlan­ gen, Furcht, Zorn, Intellekt, Ver­ nunft oder Erkenntnis (nous) wer­ den unterschieden. Traumerfah­ rung und die Zustände göttlicher Inspiration und Besessenheit und andere abnormale Zustände wer­ den anerkannt, auch dem Willen entzogene und unbewußte psychi­ sche Zustände (wie bei „Hexen“). Die Seele wird als der „Beweger“ des lebenden Körpers oder als das Prinzip des Lebens betrachtet. Auch das Problem, ob wir für un­ beabsichtigte, in abnormalen Zu­ ständen (von Wahnsinn) begange­ ne Handlungen noch verantwort­ lich sind, wird begriffen. Man stellt die Frage nach dem Sitz der Seele im Körper und beantwortet sie ge­ wöhnlich durch die Theorie, daß sie zwar den Körper durchdringe, doch im Herz und in den Lungen konzentriert sei. Einige dieser Lehren sind ohne Zweifel Verdinglichungen, die durch Kritik modifiziert wurden oder modifiziert werden sollten. Andere sind falsch. Doch sie ste­ hen modernen Ansichten und mo­ dernen Problemen näher als die vor-jonischen oder auch die joni21

schen Theorien der Materie, ob­ kung. Ihm wurde zum Problem, wohl das sicher an der primitiven wie eine nichtmaterielle Seele auf Art unserer modernen Ansichten eine physikalische Welt von Uhr­ vom Bewußtsein liegt. werkmechanismen, in der alle phy­ sikalische Verursachung wesent­ lich und notwendig auf mechani­ Descartes: Ein Wandel schem Stoß beruhte, einwirken im Leib-Seele-Problem konnte. Meine These ist, daß Des­ cartes dadurch, daß er die Theorie Seele und Körper, so meine ich, der Körperlosigkeit der Seele und reagieren sympathetisch aufein­ der Wechselwirkung mit einem ander: eine Veränderung in dem mechanistischen und monisti­ Zustand der Seele erzeugt eine schen Prinzip physikalischer Ver­ Veränderung in der Gestalt des ursachung zu kombinieren ver­ Körpers und umgekehrt: eine Ver­ suchte, eine gänzlich neue und änderung in der Gestalt des Kör­ unnötige Schwierigkeit schuf. Die­ pers erzeugt eine Veränderung in se Schwierigkeit führte zu einem dem Zustand der Seele. Umschwung im Leib-Seele-ProAristoteles blem (und, bei den Nachfolgern Ob diese programmatische Erklä­ Descartes, zum Leib-Seele-Paralrung zu Beginn von Kapitel IV der lelismus und später zur Identitäts­ Physiognomik (Nebenwerke, these). Descartes war, wie ich schon 808b11) von Aristoteles selbst stammt, unter dessen Namen sie sagte, ein Essentialist, und seine jedenfalls überliefert ist, oder ob physikalischen Ansichten beruh­ sie einem seiner Schüler (vielleicht ten auf einer intuitiven Vorstellung Theophrastus) zuzuschreiben ist, vom Wesen des Körpers. (Mit „We­ spielt für meinen Zweck keine Rol­ sen“, „Essenz“ meint Descartes le, nämlich zu zeigen, daß das die eigentlichen oder unveränder­ Leib-Seele-Problem und seine Lö­ lichen Eigenschaften einer Sub­ sung durch die Theorie der Wech­ stanz-ganz ähnlich wie bei Aristo­ selwirkung Allgemeingut der ari­ teles oder Newton [der sagte, Gra­ stotelischen Schule waren. Die vitation könne der Materie nicht Mitglieder dieser Schule, die die wesentlich sein, weil sie mit der These akzeptierten, daß der Geist Entfernung abnimmt].) Die Verläß­ körperlos sei, akzeptieren auch lichkeit dieser Einsicht wurde als stillschweigend aber gleichwohl von Gott garantiert angenommen. offenkundig, daß die Leib-Seele- Descartes wollte mit Argumenten, Beziehung auf einer Wechselwir­ die von seinem „Ich denke, also kung beruht, die selbstverständ­ bin ich“ ausgingen, zeigen, daß lich nicht-mechanisch war. Auf Gott existiert, und daß Gott als diese Weise wurde das Leib-Seele- Vollkommener nicht zulassen kön­ Problem, wie ich bereits angedeu­ ne, daß wir getäuscht werden, tet habe, von allen Denkern der wenn wir eine klare und deutliche Zeit gelöst, mit Ausnahme der Ato- Vorstellung oder Wahrnehmung misten, die an eine mechanische haben. Somit sind Klarheit und Wechselwirkung glaubten. Deutlichkeit unserer Wahrneh­ Meine These in diesem Ab­ mungen (und anderer subjektiver schnitt ist einfach. Erstens möchte Gedanken) für Descartes zuverläs­ ich behaupten, daß Aristoteles und sige Wahrheitskriterien. Descartes im Falle der Lehren von Descartes definierte einen Kör­ der Körperlosigkeit der Seele und per als etwas, das (dreidimensio­ der Wechselwirkung und auch im nal) räumlich ausgedehnt ist. Aus­ Falle ihrer Billigung der Idee einer dehnung war also das Wesen der essentialistischen Erklärung auf Körperlichkeit oder Materialität. gemeinsamem Boden standen. (Das war nicht viel anderes als Pla­ Descartes verwickelte sich aller­ tons Raumtheorie im Timaios oder dings in besondere Schwierigkei­ Aristoteles’ Theorie der ersten Ma­ ten beim Problem der Wechselwir­ terie oder Substanz.) Descartes 22

teilte mit vielen früheren Denkern (Platon, Aristoteles, Augustinus) die Auffassung, daß Geist und Selbstbewußtsein nicht-körper­ lich sind. Mit der Annahme der These, Ausdehnung sei das Wesen der Materie, mußte er auch erklä­ ren, daß die unkörperliche Sub­ stanz, die Seele, „unausgedehnt“ sei. (Deshalb identifizierte Leibniz Seelen mit unausgedehnten Eukli­ dischen Punkten - das heißt mit „Monaden“.) Wesen der Seelen­ substanz bedeutete nach Descar­ tes, daß sie eine „denkende“ Sub­ stanz war. „Denkend“ ist hier ein­ deutig als Synonym von „bewußt“ gemeint. Die Definition der Mate­ rie oder des Körpers als ausge­ dehnt führte Descartes direkt zur besonderen Form seiner mechani­ stischen Kausalitätstheorie - zu der Theorie, daß alle Verursa­ chung in Welt 1 durch Stoß erfolgt. (Plato glaubte, daß die materielle Welt das Produkt unserer Ideen und Gedanken ist. Dies würde be­ deuten, daß wir unsere Realität durch Bewußtsein verändern können. Karl Popper differenziert dieses Konzept in seinem Drei-EbenenModell der Realität. Seine DreiWelten-Theorie eignet sich zur Veranschaulichung vieler Hypo­ thesen, die heute in der Bewußt­ seinsforschung bestehen. Welt 1 ist bei Popper die mate­ rielle Umwelt: unser Körper, Häu­ ser, Bäume usw. Welt 2 ist die Bewußtseinsphäre des Gehirns, wo sich Gedanken bewußt und un­ terbewußt abspielen. Welt 3 ent­ hält die Produkte des Geistes: Konzepte, Legenden, Mythen und Theorien (John Lilly würde es das Metaprogramm nennen). Sprache z.B. ist in allen drei Welten vorhanden: als gedrucktes Wort in Welt 1, als elektrochemi­ sche Struktur in Welt 2 und als Symbol und Bedeutung in Welt 3. Anmerkung R. Lutz) Das war in gewisser Weise eine alte Theorie. Es war die Theorie des Kriegers, der das Schwert oder den Speer schwingt und sich mit einem Schild und einem Helm ver­ teidigt; und es ist die Theorie des

Handwerker, des Töpfers, des Schiffbauers, des Schmiedes. Es ist nicht so sehr die Theorie des Bronzeoder Eisenschmelzers, denn die Verwendung von Hitze bedeutet einen vom bloßen Stoß verschiedenen Kausalfaktor; sie ist auch nicht die Theorie des Al­ chimisten oder Chemikers; ebensowenig die Theorie des Schamanen oder des Wahrsagers oder des Astrologen; aber natür­ lich ist der Stoß ein nahezu univer­ sales Prinzip und jedem Menschen von Kindheit an vertraut. Der erste Philosoph, der den Stoß zur (fast) universal wirkenden kausalen Kraft machte, war Demo­ krit; sogar die Verbindung von Atomen beruhte (teilweise) auf dem Stoß, dann nämlich, wenn die Häkchen der Atome sich ineinan­ der einhängten. Auf diese Weise „reduzierte“ er den Zug auf den Stoß. Im Gegensatz dazu akzeptierte Descartes den Atomismus nicht. Seine Identifizierung von geome­ trischer Ausdehnung und Körperhaftigkeit oder Materialität ließ das nicht zu. Diese Identifikation brachte ihn auf zwei Argumente gegen den Atomismus. Es konnte keine Le^re, keinen leeren Raum geben; denn geometrischer Raum war Ausdehnung und somit das Wesen des Körpers oder der Mate­ rie selbst. Und es konnte keine letzte Grenze der Teilbarkeit ge­ ben: Denn der geometrische Raum war unendlich teilbar. Den­ noch übernahm Descartes neben der Theorie des Stoßes viele kos­ mologische Ideen der Atomisten (wie es schon Platon und Aristote­ les getan hatten); vor allem die Theorie der Wirbel. Er mußte zwangsläufig diese Theorie wegen seiner Definition des Wesens der Materie übernehmen. Da diese De­ finition ihn ja zu der Annahme zwang, daß der Raum gefüllt ist, mußte jede Bewegung im Prinzip von der Art eines Wirbels sein, wie die Bewegung von Teeblättern in einer Teetasse. In Descartes wie in der Kosmolo­ gie der Atomisten war die Welt ein

riesiges mechanisches Uhrwerk mit Zahnrädern: Wirbel griffen in­ einander und stießen einander vorwärts. Alle Lebewesen waren Teil dieses riesigen Uhrmechanis­ mus. Jedes Lebewesen war ein Teiluhrwerk, wie die automati­ schen, von Wasser getriebenen Pumpen, die zu seiner Zeit modi­ sche Schaustücke in den Gärten mancher Adeliger waren. Der menschliche Körper bildete keine Ausnahme. Er war ein Auto­ mat - mit Ausnahme seiner Wil­ lensbewegungen. Hier war die ein­ zige Ausnahme im Universum: Der immaterielle menschliche Geist konnte im menschlichen Körper Bewegungen verursachen. Er konnte sich auch einiger mechani­ scher Eindrücke bewußt werden, wie sie durch Licht, Geräusche und Berührung im menschlichen Körper entstehen Es ist klar, daß diese Theorie der Wechselwirkung von Leib und Seele nicht besonders gut in eine sonst völlig mechanische Kosmo­ logie paßt. Um das zu sehen, braucht man nur Descartes Kosmologie mit der des Aristoteles zu vergleichen. Die immaterielle und unsterbli­ che menschliche Seele in der Phi­ losophie von Descartes entspricht weitgehend der rationalen Seele oder dem Geist (nous) in der Phi­ losophie des Aristoteles. Beide sind eindeutig mit Selbstbewußt­ sein begabt. Beide sind immate­ riell und unsterblich. Beide kön­ nen bewußt ein Ziel verfolgen und den Körper als ein Instrument, ein Organ zur Erreichung ihrer Ziele einsetzen. Die vegetative Seele und die empfindende Seele (und die trieb­ hafte und fortbewegende Seele) bei Aristoteles entsprechen dem, was Descartes die „Lebens-Geister“ nennt. Entgegen dem ersten, durch den Begriff „Geist' entste­ henden Eindruck, sind die LebensGeister bei Descartes Teil des rein mechanischen Apparates des Kör­ pers. Sie sind Flüssigkeiten - sehr seltene Flüssigkeiten die bei al­ len Tieren und beim Menschen ei­ ne Menge mechanischer Gehirn-

Tätigkeit verrichten und das Ge­ hirn mit den Sinnesorganen und den Muskeln derGlieder in Verbin­ dung setzen. Sie werden in die Nerven geleitet (und sind somit Vorwegnahmen nervöser elektri­ scher Signale). Bis dahin besteht kaum ein Un­ terschied zwischen den Theorien von Aristoteles und denen von Descartes. Die Diskrepanz wird je­ doch sehr groß, wenn wir das kos­ mologische Bild als Ganzes be­ trachten. Aristoteles sieht den Menschen als ein höheres Tier, ein vernunftbegabtes Tier. Aber alle Tiere und Pflanzen und sogar der gesamte unbelebte Kosmos stre­ ben auf Ziele oder Zwecke hin; und die Pflanzen und Tiere stellen Stu­ fen dar (möglicherweise sogar evolutionäre Stufen), die von der unbelebten Natur zum Menschen führen. Aristoteles denkt teleolo­ gisch. Descartes Welt ist völlig anders. Sie besteht fast ausschließlich aus leblosen mechanischen Appara­ ten. Alle Pflanzen oder Tiere sind solche Apparate, nur der Mensch ist wirklich beseelt, wirklich leben­ dig. Dieses Bild des Universums war für viele unannehmbar, ja er­ schreckend. Es weckte Zweifel an der Aufrichtigkeit Descartes’ - ob er nicht vielleicht ein verkappter Materialist sei, der die Seele nur deshalb in sein System einführte, weil er die katholische Kirche fürchtete. (Daß er die Kirche fürch­ tete, ist dadurch bekannt, daß er den Plan zur Veröffentlichung sei­ nes ersten Buches Über die Welt aufgab, als er vom Prozeß und der Verurteilung Galileis hörte.) Dieser Verdacht ist wahrschein­ lich unbegründet. Doch es ist schwierig, ihn loszuwerden. Des­ cartes bejahte das kopernikani­ sche System und das unendliche Universum Giordano Brunos (weil der Euklidische Raum endlos ist). Im Rahmen einer vorkopernikanischen Kosmologie mag es ver­ ständlich gewesen sein, daß die einzige Ausnahme für den Men­ schen gemacht wurde. Aber in die kopernikanische Kosmologie paßt sie schlecht. 23

Porträt des Rene Descartes von Frans Hals, ca. 1649

Die Descartessche Seele ist un­ ausgedehnt, aber sie hat einen Ort. Deshalb wird sie in einem unaus­ gedehnten Euklidischen Punkt im Raum lokalisiert. Descartes scheint diesen Schluß nicht (wie Leibniz) aus seinen Prämissen ge­ zogen zu haben. Sondern er ver­ legte die Seele „hauptsächlich“ in ein sehr kleines Organ - die Hypo­ physe. Die Hypophyse war das Or­ gan, das unmittelbar durch die menschliche Seele bewegt wurde. Seinerseits wirkte es auf die Lebens-Geister wie eine Klappe in einem elektrischen Verstärker: Es steuerte die Bewegung der Lebens-Geister und durch sie die Be­ wegung des Körpers. Diese Theorie brachte nun zwei schwerwiegende Schwierigkeiten. Die gewichtigste davon war diese: Die animalischen Geister (die aus­ gedehnt sind) bewegten den Kör­ 24

per durch Stoß, und sie ihrerseits wurden ebenfalls durch Stoß be­ wegt: Das war eine notwendige Folge der Descartesschen Kausali­ tätstheorie. Doch wie konnte die unausgedehnte Seele so etwas wie einen Stoß auf einen ausge­ dehnten Körper ausüben? Hier lag eine Unstimmigkeit. Diese besondere Unstimmigkeit war das Hauptmotiv für die Ent­ wicklung des Cartesianismus. Sie wurde endgültig von Leibniz be­ seitigt; und bei der Lösung des Problems war Leibniz von Thomas Hobbes beeinflußt, der ihm in mancher Hinsicht Vorgriff. Die zweite Schwierigkeit ist we­ niger ernst. Descartes glaubte, daß die Wirkung der Seele auf die Lebens-Geister darin bestand, die Richtung ihrer Bewegung abzu­ lenken; und er glaubte, daß das ohne Verletzung eines Gesetzes

der Physik geschehen könne, so lange nur die „Bewegungsmenge“, Masse multipliziert mit Ge­ schwindigkeit, erhalten blieb. Leibniz zeigte, daß das ein Irrtum war. Er entdeckte das Gesetz von der Erhaltung des Impulses (Mas­ se multipliziert mit Bewegung in einer gegebenen Richtung), und er betonte wiederholt, daß das Ge­ setz von der Erhaltung des Impul­ ses verlangt, daß der Impuls, und damit die Richtung der Bewegung, erhalten bleiben muß. Ich halte das zwar für einen ein­ drucksvollen Einwand namentlich gegen die Auffassung Descartes’, glaube aber nicht, daß physikali­ sche Erhaltungsgesetze für die Vertreter der Wechselwirkung ein ernstes Problem darstellen. Das läßt sich dadurch zeigen, daß ein Schiff oder ein Fahrzeug von in­ nen gesteuert werden kann, ohne irgendein physikalisches Gesetz zu verletzen. (Und zwar durch so schwache Kräfte wie drahtlose Si­ gnale). Dazu gehört nur (1), daß das Fahrzeug eine Energiequelle mit sich führt und (2) daß es seine Richtungsänderungen dadurch ausgleichen kann, daß es eine Masse - zum Beispiel die Erde odereine gewisse Wassermengein die entgegengesetzte Richtung stoßen kann. (Man könnte auch sagen: Gäbe es hier eine ernste Schwierigkeit, dann könnten wir niemals unsere eigene Richtung ändern; schon wenn wir von einem Stuhl aufstehen, stoßen wir die ganze Erde, wenn auch noch so geringfügig, in die entgegenge­ setzte Richtung. Damit ist das Ge­ setz von der Erhaltung des Impul­ ses gewahrt.) Wenn wir darüberhinaus Des­ cartes mechanische „Lebens-Gei­ ster“ nicht mechanisch, sondern physikalistisch als elektrische Phänomene interpretieren, dann läßt sich diese besondere Schwie­ rigkeit völlig vernachlässigen, da ja die Masse des abgelenkten elek­ trischen Stroms fast gleich Null ist, so daß es für einen Schalter, der die Stromrichtung ändert, kein Ausgleichsproblem gibt. Ich fasse zusammen: Die große

Schwierigkeit der Descartesschen Theorie der Wechselwirkung von Leib und Seele liegt in der Descar­ tesschen Theorie der physikali­ schen Kausalität, nach der jedes physikalische Geschehen durch mechanischen Stoß erfolgen muß.

Ein Abschiedsblick auf den Materialismus Es gibt zwei Sprachen, eine psy­ chologische, „mentale“Sprache und eine „physikalische" Sprache. Wir können jedoch durch philoso­ phische und wissenschaftliche Analyse die mentale Sprache eli­ minieren, entweder jetzt („radika­ ler Materialismus“) oder in einer unbestimmten Zukunft („verspre­ chender Materialismus“). (Ent­ sprechend könnte natürlich ein Mentalist oder Spiritualist ein ähn­ liches Programm zur Eliminierung der physikalischen Sprache vor­ schlagen). Ich bin von solchen Vorschlä­ gen nicht sehr beeindruckt, ob­ wohl ich für die Idee bin, daß wir eine wissenschaftliche Reduktion versuchen sollten. Werfen wir jedoch einen kurzen Abschiedsblick auf den Materialis­ mus und seine Geschichte seit Descartes.Descartes war Mechanist und Materialist, soweit es die Welt oh­ ne den Menschen anging. Allein der Mensch war keine bloße Ma­ schine, denn er bestand aus Leib und Seele. Wer glaubte, daß diese Denk­ weise die Kluft zwischen Mensch und Tier übertrieb, reagierte auf zweierlei Art. Man konnte sagen, wie es Arnauld in seinen Einwän­ den gegen Descartes Meditatio­ nen tut, daß Tiere mehr als Maschi­ nen sind und Seelen haben, das heißt eine Art Bewußtsein; oder man konnte radikaler als Descar­ tes sein und erklären, daß der Mensch eine Maschine ist, weil er ja ein Tier sei. Man würde jedoch nicht erwar­ ten, daß jemand, deran die Überle­ genheit des Menschen über ande­ re Lebewesen glaubt, sowohl der Meinung ist, Tiere seien mehr als Maschinen als auch der Mensch

sei eine Maschine. Dieser Stand­ punkt wurde jedoch zögernd von Pierre Bayle und nach ihm von Julien Offray de la Mettrie, dem berühmten Autor von Der Mensch eine Maschine (1748) vertreten. Weniger bekannt ist, daß La Mett­ rie zwei Jahre später ein Buch un­ ter dem Titel Les animaux plus que machines veröffentlichte. Man muß sich deshalb den Ma­ terialismus dieses berühmtesten aller Materialisten etwas näher ansehen. Es stellt sich dann heraus, daß er mit Bestimmtheit lehrte, die Seele hinge vom Körper ab. Aber er bestritt nicht, daß es Bewußt­ sein gibt (das Descartes den Tie­ ren abgesprochen hatte), weder für Tiere noch für Menschen. Im übrigen schlug er eine Art empiri­ scher und naturalistischer Auffas­ sung vor, in der auch evolutionäre Emergenz einen Platz hatte. (Sei­ ne Auffassung könnte vielleicht als eine solche bezeichnet werden, die an den Epiphänomenalismus angrenzt.) Er gestand Tieren und Menschen zweckvolles Tätigsein zu. Seine Hauptthese war, daß der Zustand der Seele von dem des Körpers abhängt. Wenn auch La Mettries Einfluß auf die Entwicklung einer materia­ listischen Mensch-MaschineTheorie sicher sehr groß war, so war er selbst doch kein radikaler Materialist, denn er bestritt keines­ wegs die Tatsache subjektiven Er­ lebens. Es ist interessant zu sehen, daß viele, die sich selbst Materiali­ sten oder Physikalisten nennen, keine radikalen Materialisten sind - weder Häckel noch Schlick, An­ thony Quinton oder Herbert Feigl oder sogar die „dialektischen Ma­ terialisten“. Ich glaube auch die nicht, die bloß die Existenz körper­ losen Bewußtseins bestreiten (wo­ zu ich auch neige), und auch die nicht, die betonen, daß das Be­ wußtsein ein Produkt des Gehirns oder der Evolution ist; auch die nicht, die erklären, daß Materie, wenn sie nur hochorganisiert ge­ nug ist, denken kann. Nicht daß ich nun alle diese Ansichten für an­ nehmbar halte. Ich halte es viel­ mehr für wichtig, daran zu erin­

nern, daß sich die Verfechter der­ artiger Ansichten zwar gelegent­ lich Materialisten nennen, den­ noch aber die Existenz des Be­ wußtseins bejahen, auch wenn sie seine Bedeutung herunterspielen! Ob die Theorien von Demokrit und Epikur zutreffend als radikaler Materialismus zu bezeichnen sind, ist schwer zu sagen. Anscheinend sind sie Realisten in ihrem Pro­ gramm, kaum aber in dessen Aus­ führung. Sie glaubten an die Exi­ stenz der Seele, die sie, wie viele vor ihnen, als sehr feine Materie erklären wollten, doch ich glaube, daß sie dem Geist einen vom Kör­ per verschiedenen moralischen Status zugeschrieben haben. Mirsind übrigens nur drei Typen des Materialismus bekannt, die wirklich die Existenz des Bewußt­ seins leugnen: die Theorien von Denkern wie Quine, der ausdrück­ lich eine Form des radikalen Beha­ viorismus übernimmt; die Theo­ rien von Armstrong und Smart; und das, was ich den „verspre­ chenden Materialismus“ nenne. Der letztere scheint mir keiner wei­ teren Besprechung wert. Was die beiden ersten angeht, so nannte Schopenhauer einen solchen radi­ kalen Materialismus „die Philoso­ phie des Subjekts, das vergessen hat, an sich selbst zu denken“. Das ist zwar eine gute Bemerkung, sie geht aber nicht weit genug; denn es gibt völlig objektive, durch in­ tersubjektives Verhalten überprüf­ bare Regelmäßigkeiten, was der radikale Materialist und der radi­ kale Behaviorist gerne vergessen oder mit weithergeholten Argu­ menten wegerklären wollen. Die Hauptmotive aller materiali­ stischen Theorien sind intuitiv. Es ist der reduktionistische Glaube, daß es keine „Verursachung nach unten“ geben kann. Das andere ist der intuitive Glaube an die kausale Abgeschlossenheit der physikali­ schen Welt 1 - eine intuitiv höchst zwingende Auffassung, die, wie ich meine, ganz klar durch die technischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen der Menschheit widerlegt wird, mit anderen Worten: durch die Exi25

stenz von Welt 3. Selbst die die glauben, daß das Bewußtsein „bloß“ das ursprüngliche Ergeb­ nis der sich selbst organisieren­ den Materie ist, müßten doch spü­ ren, daß es schwierig ist, die Neun­ te Symphonie oder „Othello“ oder die Gravitationstheorie so zu sehen. Ich habe bisher eine Frage nicht erwähnt, über die ziemlich viel de­ battiert wird: nämlich die, ob wir eines Tages eine Maschine bauen können, die denken kann. Darüber ist unter dem Titel „Können Com­ puter denken?“ viel geredet wor­ den. Ich würde ohne Zögern sa­ gen, daß wir es nicht können, un­ geachtet meines grenzenlosen Re­ spekts für A. M. Turing, der das Gegenteil meinte. Wir können viel­ leicht einem Schimpansen das Sprechen beibringen - in ganz ru­ dimentärer Art; und wenn die Menschheit lange genug weiterbe­ steht, könnten wir vielleicht sogar die natürliche Auslese beschleuni­ gen und durch künstliche Auslese eine Spezies züchten, die mit uns konkurrieren kann. Vielleicht kön­ nen wir eines Tages auch einen künstlichen Mikroorganismus schaffen, der sich in einer entspre­ chend aufbereiteten Umwelt aus Enzymen selbst reproduzieren kann. So vieles, das unglaublich schien, ist gemacht worden, so daß es voreilig wäre zu behaupten, daß es unmöglich ist. Aber ich sa­ ge voraus, daß es uns nicht gelin­ gen wird, elektronische Computer mit bewußter subjektiver Erlebnis­ fähigkeit zu bauen. Wie ich vor vielen Jahren, ganz zu Anfang der Debatte über Com­ puter, schrieb, ist ein Computer nur ein hochgepriesener Bleistift. Einstein sagte einmal: „Mein Blei­ stift ist schlauer als ich“. Was er meinte, läßt sich vielleicht so ausdrücken: mit einem Bleistift kön­ nen wir mehr als doppelt so lei­ stungsfähig sein als ohne ihn. Mit einem Computer (einem typischen Gegenstand der Welt 3) können wir vielleicht mehr als hundertmal so leistungsfähig sein; und mit ver­ besserten Computern ist dem kei­ ne obere Grenze gesetzt. 26

Turing (1950) sagte es einmal ungefähr so: Gib genau an, worin deiner Meinung nach ein Mensch einem Computer überlegen sein soll, und ich werde einen Compu­ ter bauen, der deinen Glauben wi­ derlegt. Wir sollten Turings Her­ ausforderung nicht annehmen; denn jede hinreichend genaue Be­ stimmung könnte prinzipiell zur Programmierung eines Compu­ ters verwendet werden. Die Her­ ausforderung hat auch mehr mit dem Verhalten - zugegebenerma­ ßen einschließlich des verbalen Verhaltens - als mit subjektivem Erleben zu tun. Ich glaube keinesfalls, daß wir es fertigbringen werden, künstlich Leben zu schaffen; doch nachdem wir den Mond erreicht und mehre­ re Raumsonden auf dem Mars ge­ landet haben, ist mir klar, daß mein Unglaube sehr wenig bedeutet. Doch Computer sind völlig anders als Gehirne, deren Funktion nicht primärdie ist,zu rechnen, sondern einen Organismus zu leiten und zu stabilisieren und ihm zu helfen, am Leben zu bleiben. Aus diesem Grunde war der erste Schritt der Natur auf ein vernunftbegabtes Bewußtsein hin die Schaffung von Leben, und ich glaube, wir müßten den gleichen Weg gehen, wollten wir je künstlich vernunftbegabtes Bewußtsein schaffen. Dieser Text entstammt dem fünften Kapitel von Das Ich und sein Gehirn, von Karl R. Popper und John C. Eccles, Piper Verlag 1982

Fritjof Capra

Krise und Wandel in Wissenschaft und Gesellschaft „Der kosmische Reigen", so hieß sein Buch bei uns, und dieser Titel ist nicht ganz so klar wie das engli­ sche Original, dort hieß es näm­ lich: „ The Tao of Physics“. Das Tao der Physik ist die erste Zusammenschau westlicher Wis­ senschaft und östlicher Philoso­ phie am Beispiel modernster Teil­ chenphysik. Damit hat Fritjof Capra eine wichtige Arbeit gelei­ stet, er konnte anschaulich zeigen, daß sich „harte" naturwissen­ schaftliche Forschung und östli­ che mystische Traditionen nicht widersprechen, sondern einander ergänzen, ja sogar Analogien zu­ einander bilden. Wie kommt aber ein Physiker dazu, nach Analogien zur westli­ chen Naturwissenschaft in östli­ chen Weisheiten zu suchen ? Dazu muß man Capras interessante Wanderjahre kennen: 1969 pro­ movierte er an der Universität Wien auf dem Gebiet der Hoch­ energiephysik. Danach ging er an die Universität Paris - und geriet gerade in die heiße 68er Zeit, als die professorale Autorität infrage gestellt wurde. Diese Befreiungs­ bewegung und das Aufbegehren der Minderheiten oder Unter­ drückten, beeinflußten Fritjof Capra zutiefst. 1969 ging er nach Kalifornien (an die Universität in Santa Cruz) und kam damit noch stärker mit der politischen Strömung einer

neuen sozialen Kraft in Berüh­ rung. Die Vietnamproteste, die Hippies und die Gegenkulturbe­ wegung Ende der sechziger Jahre, machten Kalifornien zu einem Ideenquell und Innovationsland ganz besonderer Qualität. Doch Fritjof Capra blieb dennoch nicht länger als zwei Jahre dort, weil er ein weiteres Erfahrungsfeld such­ te. Von 1971-74 arbeitete er in London am Imperial-College und ging erst danach zurück nach Kali­ fornien, und zwar ins Zentrum der Teilchenphysik, dem Lawrence Berkeley Laboratory der University of California in Berkeley. Zu dieser Zeit hatte er sein „ Tao der Physik“ schon fast fertig, den größten Teil schrieb er in London, und 1975 kam es dann heraus. Man spürt in diesem Buch seine Kontakte mit den Protagonisten der „neuen Gesellschaft“ - mit Alan Watts, R. D. Laing, Krishnamurti, Gregory Bateson und E. F. Schumacher. Schnell wurde das „Tao der Physik" zum Klassiker der ganzheitlichen Wissenschaft und „neuen“ Physik. Capra wurde zum gesuchten Redner für NewAge-Konferenzen und ..alternati­ ven “ Wissenschaftsdiskussionen! Durch diese Öffentlichkeitsar­ beit begann er immer mehr seine physikalischen Modelle auf gesell­ schaftliche und kulturelle Prozes­ se anzuwenden. Außerdem schenkte er den aktuellen Bewe­

gungen der Siebziger Jahre große Beachtung. Insbesondere Femi­ nismus und Spiritualismus inter­ essierten ihn - der Frauenbewe­ gung spricht er sogar die größte Innovationskraft für die Achtziger . und Neunziger Jahre zu. Sein ge­ rade erschienenes neues Werk „Wendezeit“ (The Turning Point) enthält nun diese Verbindung von Physik, Philosophie und Kul­ turbetrachtung aus einem ganz­ heitlichen Blickwinkel heraus. Damit hat Fritjof Capra gezeigt, daß ein „harter“ Physiker sehr wohl in der Lage sein kann, hoch­ spezielle Forschungsarbeit und gesamtgesellschaftliche Frage­ stellungen zu verbinden und nicht dazu verdammt ist, ein „Fachidiot“ zu sein! Gerade die Vertiefung und exak­ te Arbeit auf einem Spezialgebiet kann auch ein Schlüssel zum Ver­ ständnis des Ganzen sein, wenn man die Augen offenhält. Fritjof Capra hat bewiesen, daß es nicht nur möglich, sondern sogar not­ wendig ist in heutiger Zeit. Mein Hauptinteresse in meinem Leben als Physiker war immer der dramatische Wandel der Grundbe­ griffe und Ideen, der sich in der Physik während der ersten drei Jahrzehnte unseres Jahrhunderts vollzogen hat und der jetzt noch in unseren neuen Theorien der Mate­ rie ausgearbeitet wird. Die neuen Begriffe der Physik führten zu ei­ nem radikalen Umsturz unseres Weltbilds; von der mechanisti­ schen Weltanschauung eines Des­ cartes und Newton zu einer ganz­ heitlichen und ökologischen Sicht, einer Sicht, die der der My­ stiker aller Zeiten und Traditionen sehr nahe kommt. Das neue Bild des Universums war für die Physiker am Beginn des Jahrhunderts keineswegs leicht zu akzeptieren. Die Erfor­ schung der atomaren und subato­ maren Welt brachte diese Wissen­ schaftler in Kontakt mit einer selt­ samen und gänzlich unerwarteten Wirklichkeit. Zum ersten Mal in der Geschichte der Wissenschaft wur­ de ihre Fähigkeit, das Universum 27

zu verstehen, ernstlich herausge­ fordert. In ihrem Ringen um das Verständnis dieser neuen Wirk­ lichkeit wurden sich die Wissen­ schaftler schmerzlich bewußt, daß ihre Grundbegriffe, ihre Sprache, und ihre ganze Denkweise für die Beschreibung der atomaren Phä­ nomene ungeeignet waren. Dies waren nicht nur intellektuelle Pro­ bleme; die Physiker der 20er Jahre befanden sich in einer starken emotionalen und, man könnte fast sagen, existentiellen Krise. Sie be­ nötigten eine lange Zeit um diese Krise zu überwinden, doch am En­ de wurden sie mit tiefen Einsich­ ten in das Wesen der Materie und ihr Verhältnis zum menschlichen Geist belohnt. Ich bin der Meinung, daß sich unsere Gesellschaft heute in einer ähnlichen Krise befindet. Unsere Zeitungen berichten täglich von hoher Inflation und Arbeitslosig­ keit, von Energiekrise, Umweltver­ schmutzung und Vergiftung, von der Drohung des Atomkrieges, ei­ ner Krise des Gesundheitswesens usw. Ich denke, dies sind Manife­ stationen ein und derselben Krise; und diese Krise ist im wesentli­ chen eine Krise der Wahrneh­ mung. Wir versuchen, die Begriffe eines veralteten Weltbildes auf ei­ ne Wirklichkeit anzuwenden, die nicht mehr mit diesen Begriffen beschrieben und verstanden wer­ den kann. In der Physik verloren die kartesianisch-newtonschen Begriffe ihre Gültigkeit, als die Physiker eine neue Schicht der Materie zu untersuchen began­ nen, diejenige der Atome und der subatomaren Teilchen. In der heu­ tigen Medizin, Psychologie, Volks­ wirtschaft und Politik sind die kartesianischen Begriffe nicht mehr anwendbar, da wir in einer Welt leben, die grundlegend verknüpft und vernetzt ist; in einer Welt, in der biologische, psychologische, soziale und ökologische Phäno­ mene voneinander abhängig sind. Um dieser Welt gerecht zu werden, benötigen wir eine ökologische Perspektive, die das mechanisti­ sche kartesianische Weltbild nicht bietet. 28

Was wir jetzt brauchen ist ein neues „Paradigma“, d.h. ein neu­ es Weltbild, einen grundlegenden Wandel in unseren Gedanken, Wahrnehmungen und Werten. Die Anfänge dieses Wandels - vom mechanistischen zum ökologi­ schen Weltbild - sind schon auf allen Gebieten wahrnehmbar und dieser Paradigmenwechsel wird unser ganzes Jahrzehnt beherr­ schen. Die Schwere und die globa­ le Ausdehnung unserer Krise wei­ sen darauf hin, daß die derzeitigen Veränderungen wahrscheinlich zu einem Wandel von noch nie dage­ wesenen Dimensionen führen werden. Die Wendezeit, in der wir uns befinden, ist eine Wendezeit für jeden Einzelnen von uns, für unsere Gesellschaft und für unse­ ren ganzen Planeten. Um die verschiedenen Aspekte und Folgen des gegenwärtigen Paradigmenwechsels darzustel­ len, möchte ich zuerst die Grund­ begriffe des kartesianischen Welt­ bilds und seinen Einfluß auf unse­ re Wissenschaft und Gesellschaft behandeln, und danach das neu entstehende ökologische Weltbild und seine Folgen zur Diskussion vorlegen.

Das mechanistische kartesianische Weltbild Das mechanistische Weltbild wur­ de im 17. Jahrhundert entwikkelt, im wesentlichen von Galilei, Descartes und Newton. Descartes verankerte sein Weltbild in derfundamentalen Trennung der Natur in zwei unabhängige Bereiche: Geist und Materie. Das materielle Uni­ versum, laut Descartes, war eine Maschine. Die Natur funktionierte nach streng mechanischen Geset­ zen und alles in der materiellen Umwelt konnte durch die Untersu­ chung der Lage und Bewegung von kleineren Bestandteilen ver­ standen werden. Descartes dehnte dieses mechanistische Bild der Materie auf lebende Organismen aus. Pflanzen und Tiere waren ein­ fach Maschinen. Die Menschen hatten eine rationale Seele, doch der menschliche Körper war eine

Maschine ähnlich der der Tiere. Das wesentliche an der kartesia­ nischen Erkenntnislehre war die analytische Denkweise. Diese be­ steht darin, Gedanken und Proble­ me in Teile zu zerlegen, und dann die Teile in ihrer logischen Ord­ nung zusammenzufügen. Diese Methode bekam ein wesentliches Merkmal des modernen wissen­ schaftlichen Denkens und hat sich in der Entwicklung von wissen­ schaftlichen Theorien und in der Ausführung von komplexen tech­ nischen Projekten als außeror­ dentlich nützlich erwiesen. Ande­ rerseits jedoch führte die Überbe­ tonung der kartesianischen Me­ thode zu der Fragmentation, die heute ein Merkmal unseres allge­ meinen Denkens und unserer aka­ demischen Disziplinen ist. Die kar­ tesianische Denkweise führte auch zu einem weitverbreiteten Reduktionismus in der Wissen­ schaft, d.h. zum Glauben, daß alle Aspekte von komplexen Phäno­ menen dadurch verstanden wer­ den können, daß man sie auf ihre kleinsten Bestandteile reduziert. Während Descartes die grundle­ gende Trennung von Geist und Materie postulierte und sein me­ chanistisches Weltbild entwarf,, vereinte Galilei zum ersten Mal wissenschaftliche Versuche mit dem Gebrauch von Mathematik, um die Naturgesetze, die er ent­ deckte, präzis zu formulieren. Um es den Wissenschaftlern möglich zu machen, die Natur mathema­ tisch zu beschreiben, postulierte Galilei, daß sich die Wissenschaft darauf beschränken sollte, die we­ sentlichen Eigenschaften mate­ rieller Körper zu untersuchen, nämlich Formen, Zahlen und Be­ wegung; d.h. Eigenschaften, die gemessen und quantifiziert wer­ den konnten. Andere Eigenschaf­ ten, wie z.B. Farbe, Ton, Ge­ schmack oder Geruch waren le­ diglich subjektive geistige Projek­ tionen, die aus dem Bereich der Wissenschaft ausgeschlossen werden sollten. Diese Strategie hat sich im Lauf der modernen Wis­ senschaft als äußerst erfolgreich erwiesen, doch sie hatte auch

schwerwiegende Konsequenzen. Eine Wissenschaft, die sich nur mit Quantität abgibt und ausschließ­ lich auf Messung beruht, ist nicht im Stande, sich mit Erlebnis, Qua­ lität oder Werten zu befassen. In der Tat, seit Galilei sind die Wis­ senschaftler allen ethischen Fra­ gen beharrlich ausgewichen, und diese Einstellung hat jetzt verhee­ rende Folgen. Das Gedankengebäude des Descartes und Galilei wurde von Newton triumphal vollendet, der eine präzise mathematische For­ mulierung des mechanistischen Weltbilds entwickelte. Von der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun­ derts bis zum Ende des 19. Jahr­ hunderts beherrschte das mecha­ nistische newtonsche Modell des Universums das gesamte wissen­ schaftliche Denken. Sowohl die Naturwissenschaften als auch die Geistes- und Sozialwissenschaf­ ten akzeptierten das Bild der klas­ sischen Physik als die korrekte Be­ schreibung der Wirklichkeit und lehnten sich in der Formulierung ihrer eigenen Theorien daran an. Wann immer Psychologen, Sozio­ logen oder Ökonomen wissen­ schaftlich sein wollten, hatten sie die Grundbegriffe der newtonschen Physik als Modell vor Au­ gen, und viele dieser Wissen­ schaftler halten an den newtonschen Begriffen sogar heute noch fest.

Einfluß kartesianischnewtonschen Denkens auf Wissenschaft und Gesellschaft ln der Biologie stellt das kartesianische Bild eines Lebewe­ sens als Maschine, bestehend aus Einzelteilen, immer noch das be­ herrschende Modell dar. Obwohl Descartes' einfache mechanisti­ sche Biologie nicht sehr weit reichte und in den darauffolgen­ den drei Jahrzehnten wesentlich verändert werden mußte, liegt doch der Glaube, daß alle Aspekte von lebenden Organismen ver­ standen werden können, wenn

man die Mechanismen untersucht, durch die sie miteinander in Wech­ selwirkung stehen, dem biologi­ schen Denken von heute wesent­ lich zu Grunde. Der Einfluß der reduktionistischen Biologie auf die Medizin führte zum sogenannten bio-medi­ zinischen Modell, welches die konzeptuelle Grundlage der mo­ dernen wissenschaftlichen Medi­ zin bildet. Der menschliche Körper wird als Maschine behandelt, die begrifflich in ihre Teile zerlegt wer­ den kann. Krankheit wird als Funk­ tionsfehler von biologischen Me­ chanismen angesehen, die mit Hil­ fe der Zell- und Molekularbiologie untersucht werden. Die Rolle des Arztes ist es, in diese Mechanis­ men einzugreifen, entweder phy­ sisch (durch Operation) oder che­ misch (durch Medikamente), um die Fehlleistung eines spezifi­ schen Mechanismus zu korrigie­ ren; dabei werden die verschiede­ nen Körperteile von unterschiedli­ chen Spezialisten behandelt. Das mechanistische Bild des menschlichen Organismus führte dazu, daß viele Ärzte sich von Hei­ lern zu Ingenieuren oder Mechani­ kern entwickelten, die Krankheit als ein mechanisches Problem an­ sahen und entsprechend Therapie als mechanische Manipulation. Diese Einstellung brachte eine Überbetonung der medizinischen Technologie mit sich, was heute einen der Hauptgründe für das starke Ansteigen der medizini­ schen Kosten darstellt. Medizini­ sche Praxis, die auf einer so engen Grundlage beruht, ist jedoch in der Verbreitung und Erhaltung der Gesundheit nicht sehr wirkungsvoll. Die bio-medizinische Wissen­ schaft hat in unserem Jahrhundert im Verständnis von biologischen Mechanismen gewaltige Fort­ schritte gemacht. Da diese jedoch nur sehr selten die einzigen Ursa­ chen von Krankheiten sind, bedeu­ tet ein solches Wissen nicht not­ wendigerweise Fortschritt in der Gesundheitspflege. Tatsächlich erleben wir jetzt eine tiefgehende Krise im Gesundheitswesen in Eu­ ropa und Nordamerika. Für die

weit verbreitete Unzufriedenheit mit medizinischen Institutionen gibt es viele Gründe, doch das Zentralthema aller Kritik ist das erstaunliche Mißverhältnis zwi­ schen den Kosten und Erfolgen der modernen Medizin. Trotzeines enormen Anstiegs der Kosten in den letzten drei Jahrzehnten und trotz dauernden Versicherungen von Seiten der Ärzteschaft, daß unsere medizinische Wissen­ schaft und Technologie erstklas­ sig seien, hat sich die Gesundheit der Bevölkerung während dieser Zeit nicht wesentlich verbessert. Dieser Zustand wird sich nicht än­ dern, solange Ärzte und Wissen­ schaftler nicht in der Lage sind, über das reduktionistische bio­ medizinische Modell hinauszu­ gehen. Wie die Biologie und die Medi­ zin, so wurde auch die Psycholo­ gie durch das kartesianische Welt­ bild geprägt. Auf Grund der kartesianischen Trennung von Geist und Körper wurden zwei Metho­ den zum Studium der menschli­ chen Psyche entwickelt. Die Strukturalisten untersuchten die Psy­ che durch Selbstbetrachtung (In­ trospektion) und versuchten, das Bewußtsein in seine Grundele­ mente zu zerlegen. Die Behaviori­ sten andererseits, konzentrierten sich ausschließlich auf die Unter­ suchung des Verhaltens, was sie dazu führte, die Existenz der Psy­ che vollkommen zu ignorieren oder gar zu leugnen. Beide Schu­ len entstanden zu einer Zeit, als wissenschaftliches Denken vom newtonschen Gedankenmodell beherrscht war, und daher nah­ men beide die klassische Physik als ihr Modell und integrierten die Grundbegriffe der newtonschen Mechanik in ihr Denkgebäude. Zur selben Zeit arbeitete Sig­ mund Freud in seiner Praxis und in der psychiatrischen Klinik; er be­ diente sich der neu entwickelten Methode der freien Assoziation, um seine Pschoanalyse zu entwikkeln. Obwohl dies eine ganz ver­ schiedene und revolutionäre Theorie der menschlichen Psyche war, waren ihre Grundbegriffe 29

ebenfalls in Einklang mit dem newtonschen Modell. Wir sehen also, daß die drei Hauptströmungen im psychologischen Denken wäh­ rend der ersten Jahrzehnte des Jahrhunderts nicht nur auf dem kartesianischen Weltbild beruh­ ten, sondern auch ganz spezifisch auf den newtonschen Grundbe­ griffen. Zum Abschluß dieses kurzen Überblicks über den Einfluß des kartesianisch-newtonschen Den­ kens möchte ich mich mit den So­ zialwissenschaften befasen, und speziell mit der Ökonomie. Die heutige Volkswirtschaftslehre ist, wie die meisten Sozialwissen­ schaften, fragmentarisch und re­ duktionistisch. Volkswirtschaftler sehen oft nicht, daß die Wirtschaft nur ein Aspekt eines ökologischen und sozialen Gewebes ist. Es be­ steht die Tendenz, die Wirtschaft aus diesem Gewebe herauszurei­ ßen, und zwar sowohl theoretisch als auch praktisch, und sie mit äußerst unrealistischen, theoreti­ schen Modellen zu beschreiben. Die meisten Grundkonzepte der heutigen Volkswirtschaft - Pro­ duktivität, Effizienz, Bruttosozial­ produkt usw. - werden äußerst eng definiert und ohne ihren brei­ teren sozialen und ökologischen Zusammenhang angewendet. Ins­ besondere werden die Sozial- und Umweltkosten, die durch jede wirt­ schaftliche Tätigkeit entstehen, meistens vernachlässigt. Folglich sind die heutigen wirtschaftlichen Begriffe und Modelle nicht mehr dazu geeignet, wirtschaftliche Phänomene in einer grundlegend verknüpften Welt darzustellen. Wirtschaftsfachleute sind daher im allgemeinen unfähig, die we­ sentlichen wirtschaftlichen Pro­ bleme unserer Zeit zu verstehen. Das Problem der Inflation ist ein typisches Beispiel. Eine der ein­ drucksvollsten Kritiken der kon­ ventionellen Volkswirtschaft kommt von Hazel Henderson, die die Inflation definiert als „die Sum­ me aller Variablen, die die Volks­ wirtschaftler aus ihren Modellen ausgelassen haben“. Wegen ihres engen, reduktioni30

stischen Gedankengebäudes ist die heutige Volkswirtschaft ihrem Wesen nach anti-ökologisch. Während jedes Ökosystem in un­ serer Umwelt ein organisches Ganzes bildet, das sich von selbst auf ein Gleichgewicht einstellt, kennen unsere Wirtschaft und Technologie keine Selbstbegren­ zung. Undifferenziertes Wachs­ tum wird immer noch von den mei­ sten Wirtschaftswissenschaftlern als das Zeichen einer „gesunden" Volkswirtschaft angesehen, ob­ wohl es ökologische Verheerun­ gen, kriminelle Handlungen der multinationalen Konzerne, sozia­ len Zerfall und die zunehmende Drohung des Atomkrieges zur Fol­ ge hat. Die Lage wird dadurch weiter verschlimmert, daß die meisten Volkswirtschaftler in einem fal­ schen Streben nach wissenschaft­ licher Präzision es vermeiden, das Wertesystem, auf dem ihre Model­ le beruhen, explizit in Betracht zu ziehen. In Wirklichkeit akzeptieren sie dadurch das außerordentlich einseitige Wertsystem, das unsere heutige Kultur beherrscht, und das in unseren gesellschaftlichen In­ stitutionen verkörpert ist. Ich habe die chinesische Terminologie des Yin und Yang besonders nützlich gefunden, um diese Lage zu be­ schreiben. Während das mechani­ stische Weltbild entwickelt wurde, hat unsere Gesellschaft konse­ quent Werte und Einstellungen, die die Chinesen mit Yang be­ zeichnen, gefördert, und hat die komplementären Werte und Ein­ stellungen des Yin vernachlässigt. Wir haben zum Beispiel Selbstbe­ hauptung der Integrierung vorge­ zogen, die Analyse der Synthese, das rationale Wissen der intuitiven Weisheit, die Wissenschaft der Re­ ligion, die Konkurrenz der Zusam­ menarbeit, die Expansion und Ausbeutung der Erhaltung usw. Seit der frühesten Zeit der chi­ nesischen Kultur, war das Yin auch dem weiblichen zugeordnet und das Yang dem männlichen, und in unserer Zeit haben die Feministinnen wiederholt darauf hin­ gewiesen, daß die Werte und Hal­

tungen, die in unserer Gesell­ schaft gefördert werden, typische Merkmale der patriarchalischen Gesellschaft sind. Das kartesiani­ sche Weltbild und das dazugehöri­ ge Wertesystem wurden durch die patriarchalische Kultur unter­ stützt, doch zugleich mit dem kar­ tesianischen Weltbild steigt jetzt auch das patriarchalische System ab. Die feministische Perspektive wird ein wesentlicher Bestandteil des neuen Weltbilds sein. Als Folge des kartesianischen Weltbilds und des dazugehörigen Wertesystems wurde unsere Ge­ sellschaft immer mehr zerspalten und entwickelte Technologien, In­ stitutionen und Lebensstile, die zutiefst ungesund sind. Sie för­ dern nicht nur individuelle Krank­ heiten, sondern auch soziale Pa­ thologien - Verbrechen, Drogen­ mißbrauch, Gewalttätigkeit usw. und bringen dazu noch unsere Umwelt aus dem Gleichgewicht, was sich ebenfalls auf unsere Ge­ sundheit auswirkt. Die meisten schädlichen Ein­ flüsse in unserer Umwelt sind eine direkte Folge unserer Besessen­ heit von uneingeschränktem Wachstum. Sie sind nicht zufällige Nebenprodukte unseres technolo­ gischen Fortschritts, die überse­ hen wurden, sondern stellen viel­ mehr integrale Bestandteile eines Wirtschaftssystems dar, das total auf Wachstum und Expansion aus­ gerichtet ist und laufend versucht, seine Technologie zu intensivie­ ren, um dadurch die Produktivität zu erhöhen. Die größte Bedrohung unseres Wohlbefindens kommt heute von den Kernwaffen und der damit ver­ bundenen Gefahr des Atomkrie­ ges. Diese kritische Lage ist eine Folge der Überbetonung von Selbstbehauptung, Kontrolle und Macht, von geschäftlichem Wett­ bewerb, und von einer pathologi­ schen Fixierung auf Siege in einer Situation, in der der Begriff des Sieges seine Bedeutung vollkom­ men verloren hat: In einem Atom­ krieg gibt es keine Sieger! Die Kernwaffen sind das tragischste Beispiel des alten Paradigmas, das

seine Nützlichkeit längst verloren hat. Die fixe Idee des ständigen Wachstums macht die Geschäfts­ welt blind gegenüber unserem Wohlbefinden, das natürlich das Wohlbefinden derselben Ge­ schäftsleute mit einschließt. Die Energiekonzerne sind nicht haupt­ sächlich daran interessiert, uns mit sicheren und billigen Energie­ quellen zu versorgen; die Nah­ rungsmittelindustrie ist nicht hauptsächlich daran interessiert, nahrhafte Produkte herzustellen; die pharmazeutische Industrie ist nicht hauptsächlich an Gesund­ heit interessiert; das Agrarbusi­ ness ist nicht hauptsächlich daran interessiert, den weltweiten Hun­ ger zu lindern usw. Das Hauptin­ teresse der Konzerne, die an die­ sen Industrien beteiligt sind, liegt in der Erhaltung und Stärkung ih­ rer wirtschaftlichen und politi­ schen Macht. In diesem Streben sind die Kon­ zerne äußerst erfolgreich, denn das kartesianische Weltbild und das dazugehörige Wertesystem liegen sowohl ihren Technologien als auch ihren wirtschaftlichen und politischen Motiven zu Grun­ de. Daher werden die Technolo­ gien und Geschäftsmethoden der Konzerne, die im allgemeinen anti­ ökologisch und ungesund sind, vom wissenschaftlichen Establish­ ment fest unterstützt. Eine Ände­ rung dieses Zustands ist für unser Wohlbefinden und Überleben dringend notwendig. Doch ein Wandel wird nur möglich sein, wenn wir als Gesellschaft im Stan­ de sind, uns auf das ganzheitliche und ökologische Weltbild einzu­ lassen.

Das neue ökologische Weltbild Das neue Paradigma, oder Welt­ bild, entstand in der Physik am Beginn des Jahrhunderts und wird jetzt auf mehreren anderen Gebieten entwickelt. Es besteht nicht nur aus neuen Begriffen, sondern auch aus einem neuen Wertesystem, und es spiegelt sich

in neuen Formen der sozialen Or­ ganisation und in neuen Institutio­ nen wider. Es wird zur Zeit haupt­ sächlich außerhalb unserer akade­ mischen Institutionen formuliert, die der kartesianischen Denkwei­ se zu eng verhaftet sind, um den Wert der neuen Ideen zu erkennen. Um das neue Paradigma zu be­ schreiben, möchte ich mit dem neuen Weltbild der Physik begin­ nen und dann seine Auswirkungen auf lebende Organismen, Geist, und soziale und Umweltphänome­ ne behandeln. Die materielle Welt, gemäß der modernen Physik, ist kein mecha­ nisches System, das aus getrenn­ ten Objekten besteht, sondern er­ scheint als ein komplexes Gewebe von Beziehungen. Subatomare Teilchen können nicht als isolierte Einheiten verstanden werden, sondern müssen als Verknüpfun­ gen, oder Korrelationen, in einem Netzwerk von Vorgängen angese­ hen werden. Der Begriff eines ge­ trennten Gegenstandes ist oft sehr nützlich, stellt aber immer eine Idealisierung dar, die keine funda­ mentale Geltung hat. Alle solche Gegenstände sind Strukturen in einem untrennbaren kosmischen Prozeß, und diese Strukturen sind in sich selbst dynamisch. Subato­ mare Teilchen bestehen nicht aus irgendeiner materiellen Substanz. Sie besitzen eine gewisse Masse, doch diese Masse ist eine Form von Energie. Energie aber ist im­ mer mit Prozessen verbunden, mit Aktivität; sie ist ein Maß der Aktivi­ tät. Subatomare Teilchen sind so­ mit Energiebündel, oder Aktivi­ tätsstrukturen. Die Energiestrukturen der sub­ atomaren Welt bilden stabile ato­ mare und molekulare Formen, die ihrerseits die Materie aufbauen und ihr die makroskopische feste Erscheinungsweise verleihen, so daß wir geneigt sind zu glauben, daß die Materie aus irgendwelcher Substanz besteht. In der alltägli­ chen, makroskopischen Welt ist der Substanzbegriff sehr nützlich, doch auf der atomaren Ebene ver­ liert er seine Gültigkeit. Atome be­ stehen aus Teilchen und diese

Teilchen bestehen aus keinerlei materiellem Stoff. Wenn wir sie beobachten, sehen wir nie eine Substanz; wir beobachten dyna­ mische Strukturen, die sich dau­ ernd ineinander verwandeln - ein ständiger Energietanz. Das Weltbild der modernen Phy­ sik ist ganzheitlich und ökolo­ gisch. Es betont die grundlegende Verknüpftheit und gegenseitige Abhängigkeit aller Phänomene, und auch die innerlich dynami­ sche Natur der physikalischen Wirklichkeit. Um dieses Bild auf die Beschreibung von lebenden Organismen auszudehnen, müs­ sen wir über die Physik hinausge­ hen. Es gibt jetzt ein Denkgebäu­ de, das eine natürliche Erweite­ rung der Konzepte der modernen Physik darstellt. Dieses Denkge­ bäude ist als Systemtheorie be­ kannt und wird manchmal auch allgemeine Systemtheorie ge­ nannt. Das Systembild beschreibt die Welt mit Hilfe von Beziehungen und Integration. Systeme sind in­ tegrierte Ganzheiten, deren Eigen­ schaften nicht auf diejenigen von kleineren Einheiten reduziert wer­ den können. Anstatt sich auf Grundbausteine zu konzentrieren, betont die Systemtheorie Grund­ prinzipien der Organisation. Bei­ spiele von Systemen gibt es über­ all in der Natur. Jeder Organismus -von der kleinsten Bakterie durch das weite Spektrum von Pflanzen und Tieren zu den Menschen - ist ein integriertes Ganzes und daher ein lebendes System. Zellen sind lebende Systeme, und desglei­ chen die verschiedenen Gewebe und Organe im Körper, wobei das menschliche Gehirn das kompli­ zierteste Beispiel darstellt. Doch Systeme sind nicht auf individuelle Organismen und deren Teile be­ schränkt. Die gleichen Aspekte der Ganzheit zeigen sich in sozialen Systemen (z.B. einer Familie oder einer Gemeinschaft) und auch in Ökosystemen, die aus einer Viel­ zahl von Organismen, in ständiger Wechselwirkung mit lebloser Ma­ terie, bestehen. Alle diese natürlichen Systeme 31

sind Ganzheiten, deren spezifi­ sche Strukturen sich aus den Wechselwirkungen und gegensei­ tigen Abhängigkeiten der Teile er­ geben. Systemeigenschaften wer­ den zerstört, wenn ein System in isolierte Elemente zerlegt wird, sei es physisch oder theoretisch. Ob­ wohl wir individuelle Teile in je­ dem System unterscheiden kön­ nen, ist die Natur der Ganzheit immer von der bloßen Summe sei­ ner Teile verschieden. Ein weiterer wichtiger Aspekt von Systemen ist ihre innerlich dynamische Natur. Ihre Formen sind nicht starre Strukturen, sondern flexible und zugleich stabile Manifestationen von darunterliegenden Prozessen. Systemdenken ist immer Prozeß­ denken; Form wird assoziiert mit Prozeß, Verknüpfung mit Wech­ selwirkung, Gegensätze werden durch Schwingungen vereinigt. Ein wichtiges Merkmal von le­ benden Systemen ist ihre Ten­ denz, mehrschichtige Strukturen zu formen, d. h. Strukturen von Sy­ stemen innerhalb anderer Syste­ me. Zum Beispiel, der menschli­ che Körper enthält Organsysteme (Nervensystem, Verdauungssy­ stem usw.), die aus verschiedenen Organen bestehen; jedes Organ besteht aus Geweben und jedes Gewebe aus Zellen. Alle diese sind lebende Organismen, oder leben­ de Systeme, die aus kleineren Tei­ len bestehen und zugleich die Tei­ le von größeren Ganzheiten bil­ den. Lebende Systeme zeigen so­ mit eine vielschichtige Ordnung, in der zwischen allen Systemebe­ nen Verknüpfungen und gegen­ seitige Abhängigkeiten bestehen, so daß jede Ebene mit ihrertotalen Umgebung in Verbindung steht. Wir sehen, daß das Systembild ein ökologisches Bild ist. Wie das Weltbild der Physik betont es die gegenseitige Verknüpfung und Abhängigkeit aller Phänomene und ebenso die dynamische Natur aller lebenden Systeme. Jegliche Struktur wird als Manifestation von darunterliegenden Prozessen angesehen und lebende Systeme werden durch Organisationsmo­ delle dargestellt. 32

Was sind die Organisations­ strukturen, die charakteristisch für Lebewesen sind? Sie bestehen aus einer Vielfalt von Prozessen und Phänomenen, die alle als ver­ schiedene Aspekte ein und dessel­ ben dynamischen Prinzips ange­ sehen werden können; des Prin­ zips der Selbstorganisation. Ein le­ bender Organismus ist ein selbst­ organisierendes System, d.h. sei­ ne Ordnung wird ihm nicht durch die Umwelt auferlegt, sondern wird vom System selbst bestimmt. Mit anderen Worten, selbst-organisierende Systeme zeigen einen gewißen Grad von Autonomie. Das heißt jetzt nicht, daß lebende Sy­ steme von ihrer Umwelt isoliert sind; im Gegenteil, sie stehen mit dieser in ständiger Wechselwir­ kung, doch diese Wechselwirkung ist nicht maßgebend für ihre Orga­ nisation. Eine Theorie der Selbstorgani­ sation wurde im letzten Jahrzehnt in beachtlichem Detail ausgear­ beitet, und zwar von einer Anzahl von Forschern aus mehreren Dis­ ziplinen unter der Leitung des bel­ gischen Nobelpreisträgers llya Prigogine. Diese Theorie beschreibt eine Reihe von Aspekten der Selbstorganisation: einerseits Prozesse der Selbsterhaltung Selbsterneuerung, Regeneration, Anpassung und Umweltsverände­ rungen usw. - andererseits die Tendenz zur Selbsttranszendenz, die sich in den Phänomenen der Entwicklung, des Lernens und der Evolution zeigt. Um das Systembild des Lebens auf höhere Organismen und insbe­ sondere auf den Menschen anzu­ wenden, ist es nötig sich mit dem Phänomen des Geistes auseinan­ derzusetzen. Gregory Bateson schlug vor, den Geist als System­ phänomen zu definieren, das für lebende Organismen, Gesellschaf­ ten und Ökosysteme charakteri­ stisch ist. Er stellte einen Satz von Kriterien auf, die Systeme zu erfül­ len haben, um Geist zu besitzen. Jedes System, das diese Kriterien erfüllt, wird in der Lage sein, Infor­ mation zu verwerten und verschie­ dene Phänomene zu entwickeln,

die wir mit Verstand assoziieren Denken, Lernen, Erinnerung usw. Laut Bateson sind Geist, Verstand und Intelligenz eine notwendige und unausweichliche Konsequenz einer gewissen Komplexität, die lange bevor Organismen ein Ge­ hirn und höheres Nervensystem entwickeln auftritt.

Fritjof Capra studierte Physik in Wien, Paris und London. Heute ist er Professor für theoretische Physik an der University of Cali­ fornia, Berkeley, und forscht am Lawrence Berkeley Laboratory. Er beschrieb in seinem Buch „Der kosmische Reigen“ die Übereinstimmung alter esoteri­ scher Schriften und östlichen Philosophien mit den Erkenntnis­ sen der modernen Physik. Sein neuestes Buch „Wendezeit“ stellt die Implikationen der neuen Physik für unsere Gesellschaft dar. Zum Weltbestseller „Die sanfte Verschwörung“ von Mari­ lyn Ferguson schrieb er die viel­ beachtete Einleitung.

Batesons Kriterien für die Exi­ stenz des Geistes sind eng mit den Kriterien für die Selbstorganisa­ tion verbunden. In der Tat, der Geist ist eine wesentliche Eigen­ schaft lebender Systeme, „die Es­ senz des Lebens“, wie Bateson es ausdrückte. Vom Standpunkt der Systemtheorie ist das Leben keine Substanz und keine Kraft, und der Geist ist kein „Ding", das mit der Materie in Wechselwirkung steht. Leben und Geist sind beide Mani­

festationen desselben Satzes von Systemeigenschaften; eines Sat­ zes von Prozessen, die die Dyna­ mik der Selbstorganisation dar­ stellen. Dieser neue Geistesbegriff wird in unserem Bestreben, die karte­ sianische Spaltung zu überwin­ den, ungeheuer wertvoll sein. Geist und Materie scheinen jetzt nicht mehr zwei verschiedenen Kategorien anzugehören, sondern können als lediglich verschiedene Aspekte desselben Phänomens angesehen werden. Zum Beispiel wird die Beziehung zwischen Geist und Gehirn, die seit Descar­ tes zahllose Wissenschaftler und Philosophen verwirrt hat, jetzt viel klarer. Der Geist stellt die Dynamik der Selbstorganisation dar, und das Gehirn ist die biologische Struktur, mit Hilfe deren diese Dy­ namik ausgeführt wird. Weil die lebende Welt in viel­ schichtigen Strukturen organisiert ist, gibt es auch Schichten oder Ebenen des Geistes. Im menschli­ chen Organismus, zum Beispiel, sind verschiedene Ebenen der Mentation, oder geistigen Aktivität vorhanden, die Zellen, Gewebe und Organe involvieren; und dann gibt es den neutralen Geist des Gehirns, der selbst aus mehreren Ebenen zusammengesetzt ist, ent­ sprechend den verschiedenen Stadien in unserer Evolution. Die Gesamtheit dieser Mentationen bildet, was wir den menschlichen Geist, oder die Psyche, nennen können. Diese integrierte Gesamt­ heit von geistigen Aktivitäten um­ faßt Selbstbewußtsein, bewußtes Erleben, konzeptuelles Denken und symbolische Sprache - die charakteristischen Merkmale des menschlichen Geistes. In der vielschichtigen Ordnung der Natur ist der individuelle menschliche Geist in den Geist von sozialen und ökologischen Sy­ stemen eingebettet, welcher wie­ derum in das geistige System der Planeten integriert ist, das seiner­ seits an einem universalen oder kosmischen Geist teilnehmen muß. Es ist klar, daß dieses Bild des Geistes radikale Folgen für un­

Gesundheitsdienst Tätige ihre Perspektive erweitern müssen, um den menschlichen Organismus als selbstorganisierendes und selbst­ heilendes System zu sehen; ein System, in dem physische und psy­ chologische Prozesse in engem Wechsel stehen und welches in größere Systeme physischer, sozi­ aler und kultureller Art eingebettet ist. Die Sozialwissenschaften wer­ den diese größeren Systeme in entsprechender Weise behandeln müssen, d.h. sie werden die jetzi­ gen Grenzen ihrer Disziplinen überschreiten müssen, um ihre Grundbegriffe in ein breites ökolo­ gisches Gedankengebäude einzu­ bauen. Ich möchte jetzt etwas näher auf die Folgen des ökologischen Welt­ bildes für unsere Gesellschaft eingehen. Ökosysteme sind selbstor­ ganisierende und selbst-regulierende Systeme, in denen Tiere, Pflanzen, Mikroorganismen und leblose Substanzen in einem kom­ plexen Gewebe von gegenseitigen Beziehungen und Wechselwirkun­ gen verknüpft sind, wobei Materie und Energie in ununterbrochenen Zyklen ausgetauscht werden. Li­ neare Beziehungen von Ursache und Wirkung bestehen in diesen Ökosystemen nur sehr selten, und lineare Modelle sind im allgemei­ nen nicht sehr nützlich, um die Funktionen der in die Ökosysteme eingebetteten sozialen und wirt­ schaftlichen Systeme zu be­ schreiben. Die Erkenntnis der Nichtlineari­ tät aller Systemdynamik ist für mich der Kern des ökologischen Bewußtseins. Es ist die Art von Soziale Folgen des „Systemweisheit“, die wir in vielen ökologischen Weltbilds ursprünglichen Kulturen beob­ Das Systembild des Lebens hat achten können, die wir aber in un­ viele wichtige Folgen, nicht nur serer eigenen Kultur stark ver­ für Wissenschaft und Philoso­ nachlässigt haben. Von der Nicht­ phie, sondern auch für unsere Ge­ linearität der Ökosysteme können sellschaft und unser tägliches Le­ wir sofort zwei wichtige Regeln ben. Es wird unsere Einstellung zu ableiten: Gesundheit und Krankheit beein­ flussen, unsere Beziehung zur na­ Erstens: Wenn wir etwas tun, das türlichen Umwelt, und viele unse­ gut ist, so wird mehr von dieser rer sozialen und politischen Struk­ Tätigkeit nicht unbedingt besser turen. Zum Beispiel werden Ärzte, sein. In dem nichtlinearen Netz­ werk von Zusammenhängen gibt Psychotherapeuten und andere im seren Umgang mit der natürlichen Umwelt hat, Folgen die mit den Ansichten religiöser Traditionen durchaus im Einklang sind. Die Konvergenz zwischen dem Systembild und den Anschauun­ gen von mystischen Traditionen ist keineswegs zufällig. Das neue Weltbild ist ein ökologisches Bild in einem weit über das unmittelba­ re Anliegen des Umweltschutzes hinausgehenden Sinn. Das ökolo­ gische Paradigma wird von der modernen Wissenschaft bestätigt, beruht aber auf einer Wahrneh­ mung der Wirklichkeit, die über den Bereich der Wissenschaft hin­ aus geht; auf einem intuitiven Be­ wußtsein der Einheit alles Lebens, der Verknüpftheit seiner zahlrei­ chen Manifestationen und seiner Zyklen des Wandels. Wenn religiöses Bewußtsein verstanden wird als ein Bewußt­ seinszustand, in dem sich der indi­ viduelle Mensch mit dem ganzen Kosmos verbunden fühlt, dann wird es klar, daß ökologisches Be­ wußtsein wahrhaft religiös ist. In der Tat, die Idee der Verbunden­ heit zwischen Individuum und Kosmos kommt in der Wurzel des Wortes „Religion“ zum Ausdruck, das vom lateinischen religio („star­ ke Bindung“) kommt. Im östlichen Sprachgebrauch ist es ähnlich. Das Wort Yoga, das in gewissem Sinn unserem Wort Religion ent­ spricht, heißt Verbindung. Es ist daher nicht überraschend, daß das neue ökologische Weltbild mit vie­ len Ideen der Mystiker im Einklang steht.

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es optimale Größen für jede Struk­ tur, Organisation oder Institution, und das Maximieren von einzelnen Variablen, wie z.B. Profit und Effi­ zienz, wird sich auf das einbetten­ de, größere System immer störend auswirken. Zweitens: Je mehr eine Gesell­ schaft und ihre Wirtschaft auf Re­ cycling, d.h. auf Wiederverwer­ tung ihrer Rohstoffe beruht, desto mehr wird sie mit ihrer Umwelt im Einklang sein. Die erste Regel zeigt, daß die Frage der Größenordnung in der Umorganisierung unserer Wirt­ schafts- und Sozialstrukturen eine zentrale Rolle spielen wird. Das Kriterium ist hier der Vergleich mit menschlichen Dimensionen. Was zu groß, schnell oder dicht ist, im Vergleich zum menschlichen Maß­ stab, ist schädlich. Dezentralisie­ rung wird oft notwendig sein, um das ökologische Gleichgewicht wieder herzustellen, ebenso wie die Einschränkung des Wachs­ tums unserer Städte, der Abbau einiger riesiger Konzerne und die Neuverteilung des Vermögens, so­ wohl innerhalb einzelner Staaten als auch zwischen den Industrie­ ländern und der Dritten Welt. Der Übergang zu einer mensch­ licheren Größenordnung bedeutet keine Rückkehr in die Vergangen­ heit, sondern setzt die Entwick­ lung von einfallsreichen neuen Formen der Technologie und so­ zialen Organisation voraus. Viele unserer konventionellen, Roh­ stoff-intensiven und stark zentrali­ sierten Technologien sind heute veraltet. Atomkraftwerke, benzin­ verschwendende Autos, chemisch-synthetischer Ackerbau und viele andere Auswüchse der Hochtechnik sind antiökologisch, inflationär und ungesund. Obwohl diese Technologien oft die letzten Entdeckungen der modernen Elektronik oder Chemie auswer­ ten, ist der Zusammenhang, in dem sie entwickelt und angewandt werden, der der kartesianischen Weltanschauung, die jetzt über­ holt ist. Sie werden durch neue Formen der Technik ersetzt wer­ 34

den müssen, die auf ökologischen sere Segelboote und Windmühlen Prinzipien beruhen und mit dem antreibt, ist eine Luftströmung, die neuen Wertesystem in Einklang durch das Aufsteigen anderer, von der Sonne erhitzter Luftmassen stehen. Viele dieser alternativen Tech­ hervorgerufen wird. Ebenso ist nologien werden jetzt schon ent­ das Wasser, das unsere Turbinen wickelt. Sie tendieren dazu, klein treibt, ein Teil eines Kreislaufs, der und dezentralisiert zu sein, ange­ durch Sonnenbestrahlung auf­ paßt an lokale Bedingungen und rechterhalten wird. So versorgen uns also alle unsere Energiequel­ auf Selbstversorgung hin ausge­ len mit Sonnenenergie der einen richtet, so daß sie maximale Flexi­ oder anderen Form. Nicht alle die­ bilität bieten. Sie werden oft „sanf­ te“ Technologien genannt, da ihr ser Energieformen sind jedoch er­ neuerbar. In der gegenwärtigen Einfluß auf die Umwelt stark redu­ Energiedebatte wird der Ausdruck ziert ist, dadurch daß hauptsäch­ „Sonnenenergie“ spezifisch für je­ lich erneuerbare Rohstoffe ver­ wendet werden und alles so weit ne Energieformen verwendet, die als möglich wiederverwertet wird. von unerschöpflichen oder erneu­ Beispiele solcher Formen der erbaren Quellen kommen. Sonnenenergie in diesem Sinne sanften Technik wären Solar-Kollektoren, Windgeneratoren, orga­ ist so vielfältig wie die Erde selbst. nischer Ackerbau oder Abfallwie- In Waldgegenden steht sie als fe­ derverwertung. Dadurch, daß sie ster Brennstoff (Holz) zur Verfü­ gung, in Ackerbauzonen kann sie kleinmaßstäblich und dezentrali­ siert sind, sind diese Technologien als flüssiger oder gasförmiger Brennstoff erzeugt werden (in der arbeitsintensiv statt rohstoffinten­ Form von Alkohol oder Methan), in siv, und daher viel weniger inflatio­ när und umweltfeindlich. Berggegenden als Wasserkraft, in Der Wechsel von „harten“ zu windigen Gebieten als wind-er„sanften“ Technologien ist am zeugte Elektrizität; in sonnigen notwendigsten auf dem Gebiet der Gegenden kann sie durch Solar­ zellen in Elektrizität umgewandelt Energieproduktion. Um ein ökolo­ werden, und fast überall kann sie gisches Gleichgewicht zu erlan­ direkt als Wärme gesammelt gen, müssen wir unsere Energie­ werden. produktion von nichterneuerba­ ren zu erneuerbaren Quellen um­ Die meisten dieser Energiefor­ men wurden von der Menschheit stellen. Die Energiequelle der Zu­ kunft muß erneuerbar, wirtschaft­ im Laufe von Jahrhunderten durch lich und umweltfreundlich sein. althergebrachte Technologien ge­ Die Sonnenenergie ist die einzige wonnen. Sonnenenergie ist kei­ Energiequelle, die allen diesen Kri­ neswegs eine neue, „exotische“ terien genügt, was nicht überra­ Energiequelle und benötigt auch schend ist, wenn wir die Frage von keine wesentlichen neuen Erfin­ einer breiten Perspektive aus be­ dungen. Es bedarf einfach der klu­ trachten. Die Sonne ist seit Milliar­ gen Integration von lang bekann­ den Jahren die Energiequelle für ten landwirtschaftlichen und tech­ unseren Planeten, und das Leben nischen Prozessen in das Leben in seiner großen Vielfalt hat sich an unserer modernen Gesellschaft. diese Energiequelle im langen Mehrere Untersuchungen haben Lauf der planetarischen Evolution gezeigt, daß die bestehenden in feinstem Maße angepaßt. Alle Technologien dazu genügen, um Energie, die wir benützen, außer allem langfristigen Energiebedarf der Atomenergie, stellt irgendeine gerecht zu werden. Und, in der Tat, Form von gespeicherter Sonnen­ viele von diesen werden schon er­ energie dar. Ob wir Holz, Kohle, Öl folgreich von sonnenbewußten oder Gas verbrennen, wir gewin­ Gemeinschaften benützt. Die Haupthindernisse für den nen dadurch Energie, die ur­ sprünglich von der Sonne zur Erde Übergang zur Sonnenenergie sind gestrahlt wurde. Der Wind, der un­ nicht technischer sondern politi­

scher Natur. Die Umstellung von nichterneuerbaren zu erneuerba­ ren Energiequellen wird die Öl­ konzerne dazu zwingen, ihre do­ minierende Rolle in der Weltwirt­ schaft aufzugeben und ihre Funk­ tionen grundlegend zu ändern. Ähnliche Probleme werden auf an­ deren industriellen Sektoren er­ wachsen, wenn der Übergang zur Sonnenenergie Konflikte zwi­ schen sozialen und privaten Inter­ essen hervorbringen wird. Die „sanften“ Energiequellen liegen im Interesse der überwiegenden Mehrheit der Energieverbraucher, doch ein einigermaßen reibungs­ loser Übergang zum „Sonnenzeit­ alter“ wird nur möglich sein, wenn wir als Gesellschaft dazu in der Lage sind, die langfristigen sozia­ len Vorteile den kurzfristigen pri­ vaten Gewinnen vorzuziehen.

Absteigende und aufsteigende Kulturen Der Übergang zum Sonnenzeit­ alter findet jetzt nicht nur in Form von neuen Technologien statt, sondern in einem allgemei­ neren Sinn als eine tiefgreifende Wandlung unserer ganzen Gesell­ schaft und Kultur. Der Wechsel vom mechanistischen zum ökolo­ gischen Weltbild wird nicht ir­ gendwann in der Zukunft stattfin­ den, sondern beginnt schon heu­ te. Die 60er und 70er Jahre haben eine ganze Reihe von sozialen Be­ wegungen hervorgebracht, die al­ le in die gleiche Richtung zu gehen scheinen; sie alle betonen ver­ schiedene Aspekte desselben neu­ en Weltbilds. Die wichtigsten die­ ser Bewegungen sind die Ökolo­ giebewegung, der Feminismus, die verschiedenen Konsumenten­ bewegungen, die Friedensbewe­ gung und Antinuklearbewegung, die ganzheitliche Medizin, die „Human Potential“-Bewegung (Persönlichkeitsentfaltung); und es gibt noch mehrere andere. Bis jetzt haben diese Bewegun­ gen noch verhältnismäßig ge­ trennt operiert und haben noch nicht erkannt, wie ihre Bestrebun­ gen miteinander in Beziehung ste­

hen. Doch in letzter Zeit haben sich einige Koalitionen und Allian­ zen zwischen verschiedenen Be­ wegungen ergeben, und ich glau­ be, daß diese sozialen Strömun­ gen im Laufe dieses Jahrzehnts zusammenfließen werden zu einer starken Kraft des sozialen Um­ schwungs. Der Wandel, der sich jetzt in un­ serer Gesellschaft vollzieht, kann sehr gut mit dem Bild, das Arnold Toynbee von kultureller Evolution entworfen hat, verstanden wer­ den. Laut Toynbee ist diese Evolu­ tion durch einen regelmäßigen Rhythmus von Ansteigen, Kulmi­ nation, Abstieg und Auflösung ge­ kennzeichnet. Der Abstieg setzt ein, wenn eine Kultur zu starr wird, und zwar in ihrer Technik, in ihren Ideen oder in ihrer Gesellschafts­ ordnung - zu starr, um neue Pro­ bleme kreativ lösen zu können. Dieser Verlust von Flexibilität bringt gewöhnlich einen allgemei­ nen Verlust an Harmonie mit sich, der notwendigerweise zu sozialen Spannungen, Reibungen und Konflikten führt. Während dieses Prozesses des Abstiegs und Zer­ falls verbeißt sich der starre Haupt­ strom der Kultur immer mehr in seine veralteten Ideen und Einstel­ lungen; andererseits jedoch ent­ stehen spontan neue kreative Min­ derheiten, die neue Ideen und Me­ thoden entwickeln und die neue aufsteigende Kultur formen. Dieses Schauspiel können wir jetzt in Europa und Nordamerika deutlich beobachten. Die traditio­ nellen politischen Parteien, die großen Industriekonzerne und die meisten unserer akademischen In­ stitutionen gehören zur absteigen­ den Kultur. Sie gehen langsam dem Zerfall und der Auflösung ent­ gegen. Die sozialen Bewegungen der 60er und 70er Jahre bilden die ansteigende Kultur. Während der Umschwung vor sich geht, weigert sich die absteigende Kultur, die alten Modelle aufzugeben und steigert sich, im Gegenteil, immer mehr in die überholten Ideen; die dominierenden sozialen Institutio­ nen sind keineswegs bereit, ihre Vormachtstellung an die neuen

Kulturkräfte abzugeben. Doch sie werden unaufhaltsam weiter absteigen, während die ansteigende Kultur sich weiter entwickelt und schließlich die Führungsrolle übernehmen wird. Die Erkenntnis, daß dieser evolutionäre Rhythmus nicht von kurzfristigen politischen Aktivitäten verhindert werden kann, ist, meiner Meinung nach, unsere größte Hoffnung für die Zu­ kunft.

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Charlene Spretnak

Ganzheitliche Spiritualität und systemüberschreitende Politik Seit der letzten großen Bewußt­ seinsrevolution im Abendland, die mit dem Aufstieg des mechanisti­ schen Paradigmas im 16. und 17.Jahrhundert endete, hat man „das Weltliche“ und „das Heilige“ als zwei voneinander getrennte Wesenheiten betrachtet. Politik der Bereich des Säkularen - ist fast ausschließlich materialistisch gewesen. Der Bereich des Sakra­ len dagegen wurde vom patriar­ chalischen Weltbild beherrscht: ein Gott-Vater hatte (einige von) uns nach seinem Bilde erschaffen und lenkte unsere Geschicke mit seinen Gesetzen und Vorschriften. Mitunter hat der säkulare Bereich auf den sakralen zurückgegriffen, um von dort passende Rationali­ sierungen zu beziehen, etwa wenn , kriegführenden Völkern versichert werden mußte: „Gott ist auf unse­ rer Seite“, oder wenn den Frauen Bürgerrechte vorenthalten wer­ den, weil sie angeblich von Gott dazu erschaffen wurden, nur die „Gehilfin“ des Mannes zu sein, oder wenn neuerdings Phyllis Schlafly, eine der Wortführerinnen der Neuen Rechten in Amerika, erklärt: „Die Atombombe ist ein wunderbares Geschenk, das ein wohlweiser Gott Amerika gemacht hat.“ Die „neue“ Spiritualität, deren Wurzeln in den ältesten sakralen Traditionen zu finden sind, die bis in die Altsteinzeit (rund 35000 Jah­ re v. Chr.) zurückreichen, verwirft 36

die hierarchischen, patriarchali­ schen Vorstellungen: Es gibt kei­ nen „lieben Gott“, der über den Wolken thront; die Menschheit schafft sich selbst ihr Geschick. Vor allem ist die neue Spiritualität dabei, den Begriff des Heiligen selbst neu zu definieren: Heilig sind unsere Körper, unser Blut, unsere Kinder. Mutter Erde mit ih­ ren strömenden Gewässern und alle lebende Kreatur- sie alle sind heilig und darum wert, vor der Ver­ wüstung durch industrielle Um­ weltverschmutzung und nuklea­ ren Wahnsinn geschützt zu werden. Ganzheitliche Spiritualität bein­ haltet ein umfassendes, integratives Modell über den Zusammen­ hang zwischen dem Säkularen und dem Sakralen, dem Materiel­ len und dem Spirituellen -ein Mo­ dell, das im wesentlichen auf den parallelen Entdeckungen der mo­ dernen Physik und gewisser fern­ östlicher Systeme der Geistfor­ schung beruht. Diese beiden Diszi­ plinen - mögen sie mit Zyklotro­ nen, mit Linear-Beschleunigern oder mit Meditationspraktiken ar­ beiten - haben entdeckt, daß die „absoluten“ Größen, die wir auf einer groben Ebene der Wahrneh­ mung messen, relativ sind, daß „Grenzen“ und „Trennungen“ Illu­ sion und die „festen“ Zustände in Wirklichkeit im Fluß sind. In Wahr­ heit ist alles in Fluß, ein kosmi­ scher Tanz von Energiewellen/Ma­

terieteilchen, die billionenmal pro Sekunde aufsteigen und zurück­ fallen, aufsteigen und zurückfal­ len. .. In allem und jedem webt der­ selbe vibrierende Tanz von sub­ atomaren Teilchen/Wellen und fügt sich zu einem Geflecht un­ sichtbarer Allverbundenheit. AllEinheit und Wandel sind die einzi­ gen Konstanten; das ist der haupt­ sächliche Glaubenssatz ganzheit­ licher Spiritualität. Wenn ein Mensch - gewöhnlich durch anhaltende Meditationspra­ xis oder andere geistliche Exerzi­ tien - erlebt, daß das Wesen des Seins All-Einheit und Wandel ist, erkennt er oder sie, daß es nichts Festes oder Absolutes gibt, woran sich zu klammern und wonach sich zu sehnen die Hauptursache aller geistigen Qual ist. Nach dem Erleben solcher Einsicht drängt es uns, das Bewußtsein des gegen­ wärtigen Augenblicks, der Allver­ bundenheit und des Wandels in uns heranzubilden. Aber auch wenn man nur auf intellektuellem Wege erkennt, daß das Wesen des Seins All-Einheit und Fluß ist, ergeben sich daraus zahlreiche politische Folge­ rungen. Erstens: Das mechanistisch-hierarchisch-patriarchalische Para­ digma, das der leitende Begriff der westlichen Kultur seit mehreren Jahrhunderten gewesen ist, er­ weist sich als ein ungenaues und auf falschen Voraussetzungen be­ ruhendes Modell. Da das Univer­ sum kein mechanisches System ist, das sich aus isolierten, mate­ riellen Bausteinen zusammen­ setzt, kann kein einziges techni­ sches Projekt entworfen und ver­ wirklicht werden, das nicht auf my­ riadenfache Weise das umgeben­ de Materie-Energie-Geflecht tan­ gieren würde. Und nachdem die­ ses Geflecht der Natur nicht iso­ liert ist vom menschlichen Leben, können wir den Schluß ziehen, daß der Versuch des Menschen, sich „die Erde untertan zu machen“, wie die Bibel empfiehlt, ein schlechter Rat ist. Er hat dazu ge­ führt, daß wir Ressourcen ver­ schleudern und die Erde vergiften,

in stolzer Unkenntnis der elemen­ taren ganzheitlichen Tatsache, daß wir uns selbst verwüsten und vergiften, wenn wir die Natur ver­ wüsten und vergiften. Zweitens: Die Vorstellung, daß al­ le Dinge von Natur aus in hierar­ chischer Anordnung existieren, findet weder in der modernen Phy­ sik noch in den Grunderkenntnis­ sen der Geisttätigkeit, d.h. der Me­ ditation, eine empirische Stütze. Die „Große Kette des Seins“ (Gott Vater —> Jesus —» weiße Männer-» weiße Frauen —> weiße Kinder —» farbige Männer -» farbige Frauen —»farbige Kinder-*Tiere—»Natur/ Erde), ein Konzept, das die westli­ che Kultur, Biologie und Politik nachhaltig beeinflußt hat, wird heute als schlechte Wissenschaft, getränkt mit patriarchalischer, ras­ sistischer Arroganz, erkannt. Hier­ archie ist eine wirksame Methode, um Menschen zu kontrollieren, trägt aber nicht dazu bei, neue und schöpferische Lösungen für unse­ re Probleme zu fördern. In system­ überschreitender Politik bevorzu­ gen wir daher Netzwerke, Kollekti­ ve und auf Affinität gegründete Gruppen. Der „Eine Große Führer“ ist für uns uninteressant. Drittens: Ganzheitliche Spirituali­ tät lehrt uns, unseren Frieden mit dem Faktum des Wandels zu schließen. Im mechanistisch-hier­ archisch-patriarchalischen Para­ digma wird kontrollierter Still­ stand versprochen, obwohl das unmöglich zu erreichen ist, wäh­ rend Wandel als etwas Erschrekkendes gilt. Aber das Wesen der Wirklichkeit ist dynamischer Fluß auf allen Ebenen: nichts ge­ schieht, was nicht Wandel ist. Ganzheitliches Bewußtsein hat da­ her einen hohen Respekt vor Vor­ gang und Verlauf in system­ überschreitende Politik hineinge­ tragen. Wie wir verfahren, ist ebenso wichtig wie das, was wir bezwecken, und diese Zwecke selbst werden sich stets neu ent­ falten. Wir arbeiten zwar hart dar­ an, langfristige Alternativen zu un­ vernünftiger Technologie, indu­ strieller Umweltverschmutzung, nuklearem Wahnsinn und dem pa­

triarchalischen Flirt mit Krieg und Dominanz zu entwickeln- aber die Wirklichkeit ist der gegenwärtige Augenblick. Viertens: Patriarchalische Denkund Verhaltensweisen sind nicht die „naturgegebene“ menschliche Lebensform. Die männliche Exi­ stenzweise gilt in der patriarchali­ schen Kultur als Norm; die Frau ist dann ein geringeres Geschöpf, le­ diglich ein Nichtmann. Aber geüb­ te buddhistische Meditatoren sind aus dem Nirwana-Zustand, d.h. dem un-bedingten Zustand, zu­ rückgekehrt und haben säuerlich gefragt: „Wenn der Geist stumm ist, ist er Mann oder Frau?“ Unter der Oberfläche ihrer scheinbaren Isoliertheit sind alle Menschen, ohne eine Hierarchie des Ge­ schlechts, miteinander verwoben. Während die Archäologie ent­ deckt hat, daß die menschliche Kultur mindestens seit 35000 v. Chr. (wahrscheinlich aber schon viel länger) bis zum mittleren Neo­ lithikum matrifokal war, und zwar in den meisten Gegenden der Welt (in Alt-Europa wurde die patriar­ chalische Kultur mit den ersten Einfällen indoeuropäischer Barbaren-Stämme aus den eurasischen Steppen um 4500 v. Chr. brutal eingeführt), waren die präpatriar­ chalen Gesellschaften frei von Un­ terdrückung und Dominanz. Alt­ europäische Grabstellen waren egalitär; Zeugnisse für wehrhafte Befestigungen und Kriege fehlen; die Kunst war hoch entwickelt; und die elementare Macht des Weiblichen wurde wegen der My­ sterien in Ehren gehalten, die uns mit den zyklischen Abläufen in der Natur verbinden, z.B. den Blutun­ gen im Rhythmus des Mondes, der Verwandlung von Nahrung aus der Mutter Erde in Menschen und in Milch usw. Die Kunst, auf die Göt­ tin ausgerichtet, drückte unser Einssein mit der Natur aus, und das außerordentlich weit verbrei­ tete Schlangensymbol kündete von zyklischer Wiedergeburt und Erneuerung. Seit jenes Zeitalter durch den Aufstieg des Patriar­ chats zerstört wurde, leben wir in Kulturen, in denen Beherrschung,

Aggressivität, Gefühlsroheit, Hier­ archie und streng „rationales“ Denken geschätzt werden. Solche patriarchalische Politik der Isolie­ rung hat uns in Angst und Entfrem­ dung getrieben; der Weg zum Frie­ den ist der Pfad, der über jenes Paradigma hinausführt.

Zur Geschichte der „Neuen“ Spiritualität ln den 60er Jahren entdeckten wir den Unterschied zwischen Reli­ gion und Spiritualität. Vielen Men­ schen wurde der Weg zum erle­ benden Gewahrwerden der AllEinheit aller Dinge und des fein vibrierenden Flußes der Materie/ Energie durch die Einnahme psy­ chedelischer Drogen erleichtert. Solche Drogen sind stark kontext­ abhängig; die Einnahme von LSD in einem Zimmer, mit dem Blick auf lauter Rock’n'Roll-Poster, hat eine ganz andere Wirkung als die Einnahme in der freien Natur. Aber die meisten der Menschen, die LSD im Freien nahmen, erlebten die elektrisierende Allverbunden­ heit aller Dinge und das „Leben“ der sie verbindenden, vibrieren­ den Energie. (Siehe Varieties of Psychedelic Experience von R. E. L. Masters und Jean Houston. New York: Dell/Delta Publishers 1966.) Darauf folgte ein starkes Interesse für all die alten spirituellen Tradi­ tionen, die erweiterte Bewußt­ seinszustände und Innewerdungen durch natürliche Geisttätig­ keit, d.h. ohne Drogen erreichen. Wir begannen, Bücher über Bud­ dhismus, Taoismus, raga yoga, Tantra und Indianerspiritualität zu lesen, und wir begannen, Medita­ tion, hatha yoga, Sufi-Tanz zu praktizieren. Der innere Reichtum der ganz­ heitlichen, integrativen Formen von Spiritualität sorgte für einen Exodus aus der hierarchischen, patriarchalischen Religion, die freilich viele Menschen ohnehin schon aufgegeben hatten, weil sie das jüdisch-christliche System als leer empfanden. Während die abendländische Religion in der Geschichte als Instrument zur 37

Kontrolle von Menschen gedient hat, erkannten wir in der ganzheit­ lichen Spiritualität eine Förderung der Erweiterung und Fortentwick­ lung unseres Geistes/Leibes und der menschlichen Gemeinschaft. „Spiritualität“ heißt einfach: eine besondere Einstellung zum Leben auf Erden. Das Interesse für die neue Spiri­ tualität gehörte zu der Suche nach einer neuen Lebensphilosophie in den 60er Jahren, einerSuche nach neuen Wegen zur Gestaltung der menschlichen Beziehungen, der menschlichen Arbeit, Ausbildung, Gesundheitsvorsorge und Politik. Wir ersehnten Alternativen zu der materiell übersättigten, spirituell bankrotten, reduktionistischen, entfremdeten, bürgerlichen Le­ bensweise, in der die amerikani­ sche Nachkriegsgeneration aufge­ wachsen war. Die Gegenkultur ex­ perimentierte mit mancherlei al­ ternativen Lebens- und Denkfor­ men, doch gab es noch keinen politischen Rahmen für einen sol­ chen Wandel. Die Neue Linke hatte zwar viel Zulauf wegen ihrer AntiVietnam-Aktivitäten, fand aber darüber hinaus keine breite Unter­ stützung, weil sie sich auf traditio­ nell materialistische Fragen fest­ gelegt hatte, jegliche Spiritualität bekämpfte, das Thema Feminis­ mus auf einen Zeitpunkt „nach der Revolution“ verschieben wollte und überhaupt ganzheitliche Wei­ sen des Denkens, Erziehens, Hei­ lens und Mit-der-Umwelt-Umgehens für unwesentlich hielt. Von den vier establishment­ feindlichen Bewegungen der 60er Jahre (Anti-Kriegs-Bewegung, Ge­ genkultur, Neue Linke und Femi­ nismus) haben sich im Laufe der 70er Jahre alle gespalten, abge­ schwächt und/oder aufgelöst-mit Ausnahme der feministischen Be­ wegung, die an Stärke immer mehr gewann. In ihr begegnete die neue Spiritualität zum ersten Mal der neuen Politik. 1971 sprang der erste Funke nachpatriarchalischer Spiritualität in Amerika auf, und zwar aus dem Buch The First Sex von Elizabeth Gould Davis, jenem Buch, das das

„Große Schweigen“ über präpa­ triarchalische Kultur und Spiritua­ lität, über das große Zeitalter matrifokaler Zivilisation brach. Mit der Wissenschaftlichkeit haperte es bei Davis, aber das Buch wirkte als Katalysator für weitere, sorgfäl­ tigere Forschungen und weckte verbreitetes Interesse für das The­ ma. In dieser Zeit kamen wichtige frühere Texte als Taschenbuch wieder heraus (siehe untenstehen­ de Aufstellung):

weis erbrachten, daß patriarchali­ sche Kultur und Religion nicht „naturgegeben“ sind und daß die Menschheit ein Erbe friedlicher, ganzheitlicher Alternativen zum patriarchalischen Paradigma be­ sitzt. Um die Mitte der 70er Jahre stimmten bereits viele Männer wie Frauen der 50 Jahre alten Beob­ achtung Robert Briffaults zu, daß die Männer „die patriarchalische Theorie“ verlernen müßten: „Wir leben in einer patriarchalischen Gesellschaft, in der patriarchali­ sche Prinzipien ihre Gültigkeit ein­ 1971: Women’s Mysteries, Angebüßt haben.“ (Briffault benann­ cient and Modern von M. Est­ te sein Werk The Mothers nach her Harding (zuerst England den Müttern im zweiten Teil von 1955); 1972: The Great Mother: Goethes Faust: „Gestaltung, Um­ An Analysis of the Archetype gestaltung / Des ew’gen Sinnes von Erich Neumann (zuerst auf ew'ge Unterhaltung.“) Nach 1975 deutsch 1955); 1973: Mothers erschienen Dutzende von Büchern and Amazons: The First Femi­ über präpatriarchalische Spiritua­ nine History of Culture von lität und Kultur und über postpa­ „Helen Diner“, d.i. Bertha Eck­ triarchalische Alternativen. stein-Diener (zuerst deutsch Außer für die Geschichte von 1929). Diese neuen Überset­ Alternativen zum Patriarchat be­ zungen belebten das Interesse gannen viele Feministinnen in der für andere frühe Werke: Myth, zweiten Hälfte der 70er Jahre, sich Religion, and Mother Rightvon für das Element des Rituellen in J. J. Bachofen (auf deutsch zu­ der ganzheitlichen Spiritualität zu erst 1861: Das Mutterrecht); interessieren. Da viele von uns Prolegomena to the Study of schon in den 60er Jahren Erfah­ Greek Fleligion von Jane Ellen rungen mit Meditation, Trancezu­ Harrison (England 1903); The ständen, ekstatischem Tanz und Mothers: A Study of the Origins Gruppenritualen hatten, verstan­ of Sentiments and Institutions den wir auf einer erlebnismäßigen von Robert Briffault (England Ebene vieles vom Inhalt jener Re­ 1927); The White Goddess von liefs, Fresken und Figurengrup­ Robert Graves (England 1948); pen, auf denen rituelle Praktiken The Gate of Horn: A Study of weiblicher Gottheit dargestellt the Religious Conceptions of sind. (Ich würde sogar behaupten, the Stone Age und Their Infludaß wir die sakrale Kunst des Alter­ ence upon European Thought tums, wenngleich unvollständig, von G. Rachel Levy (England doch auf eine Weise verstehen, die 1948); and The Cult of the Mot­ den meisten Archäologen fremd her Goddess: An Archeologiist; sie sehen in solchen Funden cal and Documentary Study oft nur „bizarre heidnische Zere­ von E. 0. James (England monien mit Fetischobjekten“. Wir 1959). 1974 erschien gleichzei­ finden die Erdichtungen patriar­ tig in England und in den USA chalischer Religion bei weitem bi­ Goddesses and Gods of Old zarrer als die natürliche Art der Europe, 6500-3500 B. C. von Alten Religion mit ihrer Verehrung Marija Gimbutas. der Natur und der Lebenskraft und ihrer Achtung vor der Frau.) Die Spiritualität der Frauen fand Diese neuen und wiederentdeck­ ihren Weg aus dem Neolithikum in ten Bücher waren wichtig für den unsere Gegenwart mit der Ent­ Feminismus, weil sie den Nach­ wicklung des feministischen Ritu­

als. Frauen fanden sich in Grup­ pen zusammen, um nicht-hierar­ chische, leib-seele-orientierte, kraftspendende Rituale zu bege­ hen, aus denen eine aus dem Bild­ haften strömende Erneuerung des persönlichen Kraftfeldes und des kollektiven Bandes fließt. Frauen bildeten Kraftflußkreise, übten so­ lidarisches tiefes Atmen, psalmodierten, sangen und erlebten die verwandelnde Kraft überrationaler Prozesse. Zum ersten Mal seit dem Auf­ stieg der patriarchalischen Reli­ gion im Abendland benannten und erschufen wir heilige Stätten, an denen die Kraft im Inneren des Menschen genährt und gefeiert wird, nicht aber die Macht und Kontrolle über Menschen wie an den Kultstätten der jüdisch-christ­ lichen Religion. Manche Frauen interessierten sich dafür, die alte Religion als Hexe oder als Spiri­ tualität der Muttergottheit zu prak­ tizieren; anderen war dies weniger wichtig. Wir alle aber, die wir an der Entfaltung feministischer Spi­ ritualität mitgewirkt haben, haben die Verflochtenheit geist-seelischer Kraftspendung mit politi­ schem Aktivismus erlebt. Ende der 70er Jahre gab es erst­ mals feministische Konferenzen und Demonstrationen, bei denen das Ritual eine Rolle spielte, so etwa Konferenzen über Gewalt ge­ gen Frauen und Demonstrationen gegen die Pornographie. Die erste große politische Aktion, in der fe­ ministische Spiritualität und rituel­ les Agieren eine wesentliche Be­ deutung hatten, war die „Women’s Pentagon Action“ in Washington (D. C.) im November 1980 und 1981. Ausgangspunkt, Struktur und Gehalt dieser Aktion unter­ schieden sich radikal vom traditio­ nellen patriarchalischen Modell ei­ ner Demonstration. Die Frauen verfaßten und verteilten eine Er­ klärung („Unity Statement“), in der sie die Aufmerksamkeit auf die Zu­ sammenhänge zwischen diversen ökonomischen Aspekten von Mili­ tarismus und Wettrüsten lenkten und abschließend den Grundsatz der ganzheitlichen Spiritualität be­

kräftigten, daß alles Lebendige und die Erde selbst heilig ist: „Wir wollen das Ende des Wettrüstens. Keine neuen Bomben. Keine neu­ en todbringenden Erfindungen mehr. Wir glauben, daß alles mit allem verknüpft ist. Die Erde ernährt uns, so wie wir sie einst mit unserem Leib nähren werden. Durch uns haben unsere Mütter die Vergan­ genheit des Menschen verknüpft mit der Zukunft des Menschen. Mit diesem Glauben, mit diesem ökologischen Grundrecht be­ kämpfen wir die finanziellen Ver­ bindungen zwischen dem Penta­ gon und den multinationalen Kon­ zernen sowie den Banken, denen das Pentagon dient. Diese Verbindungen sind aus Gold und Öl gemacht. Wir sind gemacht aus Blut und Knochen; wir sind gemacht aus jenem köstlichen Stoff, dem Wasser. Wir werden nicht zulassen, daß diese gewalttätigen Spiele weiter­ gehen. Wir wissen, daß es eine gesunde, vernünftige, liebevolle Weise gibt, zu leben, und wir wer­ den auf diese Weise leben - in unserem Stadtviertel und auf un­ seren Farmen in diesen Vereinig­ ten Staaten und mit unseren Schwestern und Brüdern in allen Ländern der Erde.“ Im Gegensatz zur patriarchali­ schen Struktur herkömmlicher Demonstrationen, bei denen die Spit­ ze einer Hierarchie stundenlang auf eine passive Zuhörerschaft einredet, war die „Women's Penta­ gon Action" kollektiv und partizipatorisch und bot reichlich Stoff für symbolisches und rituelles Er­ leben. Diese Frauen räumten auch mit der patriarchalischen Vorstel­ lung auf, Politik müsse sich streng im Bereich des Intellekts abspielen und frei von „Gefühlsduselei“ sein. Statt dessen erklärten diese Frauen, daß unsere gefühlsmäßige Reaktion auf Fragen des Überle­ bens ein zentraler Bestandteil un­ serer politischen Reaktion auf sie ist; so bauten sie ihre Aktion um vier Stufen der Emotion auf: Trau­

er, Wut, Kraftspendung und Wider­ stand. Trauernd zogen sie über den Soldatenfriedhof Arlington, in Schwarz gekleidet und eine große, trauernde Puppe in Schwarz vor sich hertragend; sie gedachten der Millionen Opfer des Militaris­ mus und stellten vor dem Penta­ gon symbolische Grabsteine aus Pappe mit den Namen von Frauen auf, die von Militarismus und pa­ triarchalischer Gewalt ermordet wurden. Wütend zogen sie hinter einer großen, wütenden Puppe in Rot her und bildeten einen Ring um das riesige Gebäude des Pen­ tagon; sie stießen wütende Klage­ rufe und Schreie aus und schlugen auf mitgebrachte Trommeln und Töpfe. Zu Kraftspendung und Wi­ derstand griffen sie auf die uralte Metapher von der Frau als Webe­ rin zurück (Weberinnen der Kultur, der Alten Religion, der Folge der Geschlechter) und überwoben die Türen zum Pentagon mit gewöhn­ lichen Materialien wie Garn, Band und Bindfaden. Die Weberinnen waren Frauen, die zuvor in Work­ shops für den gewaltfreien Wider­ stand geschult worden waren; sie wurden verhaftet und einen Monat lang eingesperrt. Die rituelle Form der „Women's Pentagon Action“ ist mit Abwand­ lungen von verschiedenen ande­ ren feministischen Friedensde­ monstrationen übernommen wor­ den, so bei der Frauenaktion vor dem Bohemian Club (einer EliteSpielwiese in San Francisco für Führer des militärisch-industriel­ len Komplexes), wo wir im Novem­ ber 1981 ein riesiges Netz um das Gebäude woben und Dutzende von symbolischen Grabsteinen aufstellten. Die strukturelle Formel von Trauer/Wut/Kraftspendung/ Heilung/Verwandlung lag auch der „Women’s Halloween Ritual/ Action“ vor den Toren des Lawren­ ce Livermore National Laboratory zu Grunde; in diesem Forschungs­ zentrum in der Nähe von San Fran­ cisco werden sämtliche amerika­ nischen Kernwaffen entworfen. Ri­ tuelle Aktionen sind auch in ver­ schiedene Blockaden von Kern­ kraftwerken integriert worden. 39

Der Aufschwung der neuen Spiritualität Eine beachtliche Zahl von Men­ schen erkennt mittlerweile, daß wir uns mitten in einer grundle­ genden Veränderung unserer Pa­ radigmen und archetypischen Vi­ sionen befinden. Gary Snyder, ein bekannter amerikanischer Dichter und Umweltschützer, hat die Ver­ änderungen folgendermaßen be­ schrieben: „Heute vollzieht sich ein Wandel von der archetypischen Vorstel­ lung, daß das Universum der zen­ tralen Kontrolle einer männlichen Gottheit untersteht, zu einer neu­ en archetypischen Vision, daß das Universum der dezentralisierten Nichtkontrolle einer weiblichen Gestalt untersteht. Und das ist ein wesentlicher Archetypenwandel. In der sogenannten entwickel­ ten Welt zeigen sich heute zwei dynamische Prozesse, die sich be­ schleunigen. Das eine ist die fort­ dauernde, sehr mächtige Trägheit des chiliastischen protestanti­ schen Kapitalismus, Materialis­ mus und Industrialismus, in die so ungeheuer viel investiert worden ist. Die enorme Zähigkeit dieser Prozesse haben wir tagtäglich vor Augen. Die andere Kraft ist die natürliche, intuitive, anpassungs­ willige Seele der Menschheit und vielleicht des ganzen Planeten, die Seele der Gaia selbst, die verzwei­ felt versucht, Schritte in die richti­ ge Richtung zu tun. Das Leben selbst versucht, sich zu retten. Der Widerhall hiervon ist allenthalben vernehmbar und kommt wahr­ scheinlich noch in solchen All­ tagsdingen zum Vorschein wie dem Schreiben von Briefen an Ab­ geordnete. Es geht nicht bloß um den Kampf lebensbejahender ge­ gen lebenzerstörende Kräfte; denn auch im Industrie-Kapitalismus steckt eine Menge interessan­ tes Leben und eine Menge ver­ spielter Intelligenz. Aber die tief­ empfundene Sehnsucht danach, den Prozeß der organischen Evo­ lution unversehrt zu erhalten, ge­ winnt allmählich Gestalt als eine neue Religion in der westlichen 40

Charlene Spretnak wurde 1946 in Pittsburgh, Pennsylvania, gebo­ ren. Aufgewachsen ist sie aber vor allem in Columbus, Ohio. An der Universität von St. Louis stu­ dierte sie Literaturwissenschaf­ ten sowie Philosophie und Psy­ chologie. Von der Universität in Kalifornien in Berkeley bekam sie dann ihren Master of Arts. Dort erlebte sie auch die Wirren und Höhen der Studentenrevolu­ tion; die Vietnam- und Frauenbe­ wegung und die freie Meinungs­ äußerung waren auch ihre ganz persönlichen Themen dieser Zeit. Danach, ab 1969, ging sie auf große Europa-Tour. Im An­ schluß reiste sie allein sechs Mo­ nate lang durch Indien und den Himalaya. Seit Anfang der 70er Jahre ist Charlene Spretnak nun vor allem mit Frauenpolitik beschäftigt. Als Mitbegründerin des amerikani­ schen Schriftstellerinnenverban­ des organisierte sie einen Groß­ teil der politisch aktiven Frauen. Ihr spezielles Anliegen ist die Ge­ schichte weiblicher Spiritualität bis hin zurück zur Rekonstruktion vorolympischer Mythen aus Grie­ chenland. In einem Buch über verlorene Gottheiten des frühen Griechenlands (das 1978 er­ schien) sammelte sie diese vorhelenischen Mythen. 1982 schließlich publizierte sie eine Anthologie über die neue femini­ ne Spiritualität. Als persönliches Ziel sieht Charlene Spretnak die Synthese von spirituellen Ein­ sichten und politischem Aktivis­ mus. Zusammen mit ihrer Tochter Lissa lebt Charlene Spretnak heute in Berkeley und ist ein Mit­ glied der Women’s Party for Survival, einer Initiative von Helen Caldicott.

Welt. Es ist eine Vision, die bereits viele Menschen ergriffen hat und noch viele mehr ergreifen wird. Es mag eine Funktion dieses Archety­ penwandels sein, oder vielleicht ist es die Seele der Evolution selbst, die einige verzweifelte Schritte zu tun sucht, vielleicht schon zu spät und zu langsam, um der fatalen Bedrohung unserer Welt entgegenzuwirken.“ In den 80er Jahren sprechen vie­ le Menschen, Männer wie Frauen, bei ihren Umweltaktivitäten von der Unversehrtheit der „Mutter Er­ de“, der „Gaia" (das war der prä­ hellenische Name für die Erde als unsere Mutter-Gottheit). Von die­ sen Begriffen war in der Anfangs­ phase der Ökologie-Bewegung Endeder60er Jahre noch nichtdie Rede; sie traten im wesentlichen durch das ganzheitliche Denken innerhalb der feministischen Be­ wegung auf und haben seither weitere Kreise erfaßt. (Als Zeit­ punkt für den Internationalen Tag des Protestes gegen Kernwaffen 1983 wurde die Sommersonnen­ wende gewählt, ein alter heiliger Tag der Mutter Erde.) In der Tat weist heute vieles in der feministischen Bewegung auf systemüberschreitende Politik; dasselbe gilt für die Umwelt- und die Friedensbewegung. Fritjof Capra hat in seinem Buch The Turning Point (deutsch Wendezeit, 1983) vorausgesagt: „Mit der Re­ naissance der Göttin-Imago ist die Frauenbewegung dabei, ein neues Selbstverständnis für Frauen, neue Denkweisen und ein neues Wertesystem zu schaffen. So wird feministische Spiritualität (die nur ein Aspekt ganzheitlicher Spiritua­ lität ist) einen tiefreichenden Ein­ fluß nicht nur auf Religion und Philosophie, sondern auch auf un­ ser gesellschaftliches und politi­ sches Leben haben.“ Endlich interessieren sich auch Menschen für ganzheitliche Spiri­ tualität, die ein Modell für unsere Zukunft suchen, welches den gan­ zen Menschen anspricht. Viele Frauen und Männer, die in den 60er und 70er Jahren an streng materialistischer Politik mitge-

wirkt haben, sind zu der Erkennt­ nis gelangt, daß dieses Anliegen zu kurz kam, daß ein Teil ihres Wesens unterdrückt und vernach­ lässigt wurde. Viele haben die spürbaren Folgen von Energie-Tä­ tigkeit und Geist-Seelen-Tätigkeit erfahren, die sich im Ritual ereig­ nen kann. Wir wollen eine Politik, die die spirituelle Dimension des Lebens anerkennt und achtet.

Widerstände Der Gedanke, daß es nichts Abso­ lutes, nichts Isoliertes, keine wirk­ lich fixen Zustände gibt, hat für manche Leute etwas Erschrecken­ des. Solange man nicht erlebnis­ mäßig oder intellektuell erkannt hat, daß ständiger Fluß und AllEinheit das Wesen der Wirklichkeit sind, klammert man sich an die alten Illusionen einer mechanisti­ schen, statischen, hierarchisch geordneten Welt, weil diese Vor­ stellungen psychologisch trost­ reich sind. Darüber hinaus sind die mechanistischen Illusionen be­ sonders attraktiv für die Macht­ struktur in unseren patriarchali­ schen Kulturen, die verzweifelt be­ haupten, daß ihre Konzepte uns vor dem Chaos bewahren. So gibt es eine sehr einflußreiche Gruppe der Neuen Rechten in Amerika, die humanistisches Material in Schul­ büchern kritisiert, zu diesem Zweck riesige Boykotte organi­ siert und die Eltern vor „abnorma­ len Einstellungen“ und „fremdarti­ gen Gedanken“ warnt, die seit den 60er Jahren in den Schulen vermit­ telt würden. Die Wortführer dieser Gruppe, Norma und Mel Gabler, sind der Überzeugung: „Ein Be­ griff wird einem Menschen nie­ mals so viel bringen wie eine Tat­ sache. Schulen sollen den Schü­ lern etwas Absolutes beibringen. Wenn ein Schüler in seinem Ma­ thematikbuch liest, daß es nichts Absolutes gibt, wird mit einem Schlag jeder Wert zunichte ge­ macht, den er gelernt hat. Und das nächste ist dann, daß dieser Schü­ ler kriminell wird und Rauschgift nimmt.“ Diese Argumentationsli­ nie ist natürlich lachhaft; wenn sie

zuträfe, müßten alle modernen Physiker Verbrecher und Rausch­ giftsüchtige sein! Die Rechten sind aber nicht die einzigen, die das ganzheitliche Pa­ radigma mißverstehen und Angst davor haben. Die Linke in Amerika steht i.a. ganzheitlicher Theorie und systemüberschreitender Poli­ tik ebenfalls ausgesprochen feind­ selig gegenüber. Die Kraft der Um­ weltschutzbewegung, der Frauen­ bewegung, das starke politische Interesse an der neuen Spirituali­ tät und die Friedensbewegung stö­ ren das traditionelle marxistische Szenario dessen, was angeblich als nächstes geschieht. In den USA werden ganzheitliche Bücher von linken Zeitschriften konsequent verrissen, und die meisten marxi­ stischen Feministinnen bekämp­ fen alle Ausdrucksformen femini­ stischer Spiritualität als Rückzug von (ihrer) „wirklichen politischen Arbeit“. Weder den Rechten noch den Linken ist wohl bei dem nach vorne offenen, nicht-absoluten Zu­ kunftsmodell der systemüber­ schreitenden Politik, weil es sich der Kontrolle durch ihre (rechte oder linke) Dogmatik entzieht. Es ist neu und vital. Manche Leute erkennen zwar die Gültigkeit des ganzheitlichen Paradigmas und die wesentliche Rolle ganzheitlicher Spiritualität an, befürchten aber, daß der Be­ griff der „heiligen Erde“ ungute Erinnerungen an nationalistisches und sogar faschistisches Gedan­ kengut („Blut und Boden") wekken könnte, nachdem er in der Vergangenheit in dieser Weise mißbraucht worden ist. Nun ist aber eine bedeutsame Dimension systemüberschreitender Politik das globale Netzwerk und das Be­ wußtsein der Interdependenz aller Menschen auf unserem relativ kleinen Planeten. Es gibt nichts im ganzheitlichen Denken, was es rechtfertigen würde, irgendeinen bestimmten Teil der Mutter Erde für „heiliger“ zu halten als die um­ liegenden Länder. Ebensowenig gibt es eine Rechtfertigung dafür, daß Frankreich und die USA mit der Erprobung von Raketen und

Sprengköpfen im Pazifik fortfah­ ren, als ob die pazifischen Inseln und Gewässer der Achtung weni­ ger wert seien als die eigene Heimat. Ein problematischer Aspekt bei der Verbreitung ganzheitlicher Spiritualität ist das Auftauchen von nicht-authentischen Versio­ nen. Viele Menschen, die ihren in­ neren Frieden außerhalb der For­ men des jüdisch-christlichen Sy­ stems suchen, haben sich auf hy­ bride Machenschaften eingelas­ sen wie etwa kostspielige Wochenend-„Trainingsseminare“, in denen sich wahllos zusammenge­ suchte Gedanken aus der östli­ chen Psychologie mit ein paar fre­ chen Rationalisierungen trübe vermischen. Im Gegensatz zu den ernsthaften Erneuerungen antiker spiritueller Traditionen verkaufen die neuen „Trainingsseminare“ ei­ ne Art Geist-Arbeit, die gering an Mitleid, groß in Selbstsucht und gewöhnlich bar jedes sozialen Verantwortungsgefühls ist. Ihre „lch-zuerst“-Botschaft fördert ma­ ximalen Konsum als Beweis des „Erfolges“, während die ganzheit­ liche Botschaft genau das Gegen­ teil besagt: daß wir unseren Le­ bensstil einschränken und einan­ der helfen müssen. Es ist klar, daß diese Art von bürgerlichem Um­ weg, den die in den 70er Jahren außerordentlich populären „Trai­ ningsseminare“ anbieten, sich den Einsichten und dauernden Ak­ tivitäten widersetzt, die notwendig sind, um eine wesentliche Verän­ derung unserer Politik zu errei­ chen. Eine weitere Quelle des Wider­ standes gegen die Befassung mit holistischer Spiritualität ist das ge­ schichtlich apolitische Wesen der meisten dieser Traditionen. (Das beste Beispiel für eine Ausnahme von dieser Regel dürfte Gandhis gewaltfreie, spirituelle Bewegung für Dezentralisierung, Autarkie und die Unabhängigkeit Indiens sein.) Allerdings war unser Planet auch nie zuvor von einem so ho­ hen Maß an Umweltverschmut­ zung und potentieller nuklearer Vernichtung bedroht wie heute. 41

Die ganzheitlichen Traditionen be­ tonen samt und sonders das Inne­ werden des gegenwärtigen Au­ genblicks, und unsere Gegenwart ist verdüstert vom Schatten der Kriegsvorbereitung und mögli­ chen Vernichtung. Aus diesem Grund erscheinen heute in Zeit­ schriften und Mitteilungsblättern über Buddhismus, Yoga, einheimi­ sche amerikanische indianische Spiritualität, Muttergottheit-Spiritualität, feministische Spiritualität usw. viele Aufsätze über Friedens­ arbeit und aktivistische Netzwer­ ke. Über das unmittelbare Ziel ei­ nessicheren Friedens hinaus stim­ men die Vorstellungen system­ überschreitender Politik mit der Weltanschauung von Menschen überein, die bisher ernsthaft ei­ nem ganzheitlichen spirituellen Pfad gefolgt sind.

Eine Vision für die Zukunft Ganzheitliche Spiritualität wird immer mehr geistigen Einfluß auf die neue Politik gewinnen, inso­ fern sie sich die Schlußfolgerun­ gen aus der modernen Physik an­ eignet und die ökologische Not­ wendigkeit deutlich wird, unsere Naturverhaftetheit anzuerkennen. Aber damit ist es nicht getan. Eine neue Welt zu schaffen, die auf dem neuen Paradigma gründet, fordert „neuen Geist“. Wenn wir weiter mit unseren alten, mechanisti­ schen Schemata des Intellekts ar­ beiten, können wir das ganzheitli­ che Paradigma und die ganzheitli­ che Systemtheorie nicht wirklich begreifen und anwenden. Unsere patriarchalisch - hierarchisch - me­ chanistischen Gesellschaften ma­ chen heute eine „Konzeptualisierungskrise“ durch, die weithin je­ ner entspricht, mit der die Pioniere der modernen Physik in den 20er Jahren zu kämpfen hatten. Zuerst konnten diese Forscher die Para­ doxa einfach nicht glauben, wel­ che die Natur vor ihnen enthüllte. Schließlich ließen sie ihre alten Konzeptionen fahren und dran­ gen, wie Heisenberg es ausdrück­ te, „irgendwie in den Geist der 42

Quantentheorie ein“, um danach weitere Fortschritte in ihrem Ver­ ständnis des Flusses und der All­ verflochtenheit zu machen. Wir müssen sogar über die wis­ senschaftlichen Formulierungen der neuen Physik hinausgehen und zu einem erlebnismäßigen Verstehen des ganzheitlichen We­ sens des Seins Vordringen. Zu die­ sem Zweck sollten wir uns nicht scheuen, täglich oder doch häufig die eine oder andere Form ganz­ heitlicher Leib-Seele-Arbeit zu praktizieren, sei es Meditation oder t'ai chi, um zu überrationaler Weisheit zu gelangen. Suzuki Roshi, ein Lehrer der Zen-Meditation, hat einmal die Descartes’sche For­ mel für das Wesen des Seins wie folgt korrigiert: Agito ergo sum. Ist eine solche tägliche Medita­ tionspraxis zu viel verlangt? Mao hat einmal gesagt: „Die Revolution ist keine Teegesellschaft“ - das­ selbe gilt für eine soziale Transformation. Im Gegensatz zu den selbstquälerischen, dominanzbe­ ladenen Ritualen des jüdisch­ christlichen Systems sind die Vor­ stellungen und Praktiken ganz­ heitlicher Spiritualität oft fröhlich und spielerisch, aber es bleibt doch dabei, daß man in der Weis­ heit keine Fortschritte macht, wenn man keine eigenen Anstren­ gungen unternimmt. Ebenso we­ nig, wie wir zu träge sein dürfen für die fortwährende, tägliche Arbeit systemüberschreitender Politik, ebenso wenig sollten wir zu träge sein, an der Befreiung unseres Be­ wußtseins von den Illusionen der oberflächlichen Wirklichkeit zu ar­ beiten. Jeder von uns muß selbst seine eigene Befreiung erwirken; diese Aufgabe kann uns niemand abnehmen. Doch dürfen wir bei unseren individuellen und kollekti­ ven Anstrengungen niemals das Bewußtsein für die notwendige Balance zwischen den Bedürfnis­ sen der Menschheit und denen der Natur verlieren. Die alten Konzeptualisierungen, basierend auf Un­ wissenheit, Selbstsucht und Hab­ gier, haben uns Entfremdung, Angst und unermeßliches Leid auf persönlicher, gesellschaftlicher

und planetarischer Ebene be­ schert. An der Schwelle zur Aus­ rottung unserer Spezies stehend, können wir heute sehen, daß die menschliche Rasse drauf und dran ist, an ihrer eigenen Dummheit zu­ grunde zu gehen. Um dieses Zeit­ alter hinter uns lassen zu können, ist ein ernsthaftes Bemühen äuße­ rer und innerlicher Art notwendig. Das Bewußtsein und die Ein­ sicht, die wir aus einer gewissen­ haften Übung ganzheitlicher Spiri­ tualität gewinnen, muß immer mit dem Mit-Leiden einhergehen, dem aktiven Ausdruck unserer All-Einheit. Aus diesem Grund enden vie­ le buddhistische Formen der Me­ ditation mit einer „metta“-Medita­ tion, bei der man Wohlwollen und liebende Zuwendung an die ganze fühlende Kreatur hinausschickt. In ähnlicher Weise enden Muttergöttin- und Hexenrituale oft damit, daß die Gruppe positive, liebevolle Energie zur Mutter Erde und allen Ihren Kindern hinausschickt. Wir werden Prozeß, Entdekkung, Harmonie in Ehren halten. Unsere Zukunft wird stets eine sol­ che des Werdens sein. ..Der Sinn des Anfängers“, so mahnen ZenLehrer, „enthält viele Möglichkei­ ten; der Sinn des Geübten enthält ihrer sehr wenige“. Wir werden in­ teragieren im geistigen Willen zu Gewaltlosigkeit, Mitleid und ein­ fühlender Freude; denn wir wissen durch unsere Meditation, unsere Rituale, unsere Energieflußkreise, daß es kein „Anderes“ gibt, das erniedrigt und beherrscht werden muß. Wir werden die heiligen Tage der Erde begehen - Ihre Sonnen­ wenden und Tagundnachtglei­ chen -, damit wir nicht vergessen, daß uns die überströmende Güte der Großen Mutter ernährt und er­ hält und daß wir in Ihren Schoß zurückkehren werden, wenn wir sterben. Wir sind zuhause. Wir sind in Sicherheit. Langsam wer­ den die erstickenden Ängste der alten Ordnung von uns abfallen, und unsere Seelen werden in dem neuen Gleichgewicht zu sich selbst kommen. Das ist die Zukunft, die wir schon heute schaffen.

Das I Ging Das Buch vom Wandel, älter als die Bibel Im Zuge des Aufkeimens einer neuen Spiritualität wurde auch bei uns das I Ging, das „Buch der Wandlungen“ wieder be­ kannter. Mit der Drogenkultur kam auch eine allgemeine Be­ wußtseinsveränderung und -erweiterung vor allem Ju­ gendlicher zustande. Aldous Huxleys „geöffnete Türen der Wahrnehmung“ stehen für ei­ ne solche neue Sichtweise der Welt. Damit war auch der Weg geebnet für den Einzug altchi­ nesischer Philosophie. Der Taoismus, Zen-Buddhismus und andere Traditionen erleb­ ten ein Come-back. Das Tibetanische Totenbuch, die indi­ sche Baghavadghita und vor­ neweg das chinesische I Ging wurden zu Grundlagentexten der neuen Weltanschauung. Die vielen verschiedenen Autoren des I Gings drücken eine Sache gemeinsam immer wieder aus, die Wichtigkeit des Tao, des Weges, der Prozeßhaftigkeit und des Wandels al­ ler Dinge. Das Tao ist das dyna­ mische Etwas, das auch nicht benannt werden kann, aber dennoch allgegenwärtig vor­ handen ist. Ausgedrückt wird das Tao begrifflich dann in ei­ nem Dualismus, in den Prinzi­ pien von Yin und Yang. Das Yin und Yang reflektiert die immer verändernde zwischen zwei Polen sich bewegende Wirk­ lichkeit. Das Eigentliche, was dahinter steht, ist das Tao, und dies ist begrifflich nicht mehr faßbar. Das I Ging nun versucht die noch begriffliche Welt dieses Systems zu erfas­ sen und darzustellen. Während also die Realität in einer unendlichen Anzahl von We­ gen, Taos, besteht, reduziert das I Ging-Konzept die Wege und Situationen in eine endli­ che Menge von Prototypen. Nach einer längeren Ge­ schichte dieser Systement­

wicklung waren 64 Situationen offenbar das allgemein akzep­ tierte Optimum zur Darstellung der Wirklichkeit. Die 64 bei­ spielhaften Situationen, die selbstverständlich in der Spra­ che der Mandarine präsentiert wurden, stellen 64 unter­ schiedliche Möglichkeiten dar, mit Entscheidungen bzw. Le­ benssituationen fertig zu wer­ den. Ähnlich wie die zwölf astrologischen Tierkreiszei­ chen, die ursprünglich 108 Tarotkarten oder die 22 Karten des Arkana, stellen die 64 I Ging-Hexagramme, die Tota-

Hexagramm 49: Ko

lität unseres Daseins dar. Das mathematisch formale Sy­ stem des I Ging besteht aus 64 sogenannten Hexagrammen, welche sich wiederum in zwei Trigramme unterteilen. Diese Trigramme bestehen jeweils aus drei übereinander stehen­ den unterbrochenen oder durchgezogenen Linien. Das Yin-Element ist durch eine un­ terbrochene Linie repräsen­ tiert, und die durchgezogene Linie symbolisiert das Yang. Die Symbolik ist einfach und systematisch, und in den letz­ ten Jahren stellte es sich sogar heraus, daß es mit der Struktur der DNS, also der Grundsub­ stanz unseres Lebens, große Ähnlichkeit hat. Wir wissen natürlich nicht, ob diese Übereinstimmung zu­ fällig ist oder ob die Chinesen tatsächlich, wenigstens intui­

tiv, die DNS-Struktur kannten. Doch hauptsächlich soll ja das I Ging eine Entscheidungshilfe darstellen. So ist es auch be­ kannt geworden als Orakel­ buch und entsprechend unse­ rer materialistisch wissen­ schaftlichen Weltanschauun­ gen nicht mehr ernst genom­ men worden. Nimmt man je­ doch das I Ging in seiner tat­ sächlichen Bedeutung wahr und meditiert über die persön­ lichen Fragen sowie die durch das I Ging ermittelte Antwort, dann können wir wirklich Er­ staunliches damit anfangen. Ohne hier auf die Methode und die einzelnen Inhalte des I Ging weiter einzugehen (da­ für gibt es gegenwärtig genü­ gend Bücher auf dem Markt), können wir konstatieren, daß bei einem intensiven Studium des I Ging Strukturen offenbar werden, die der Qualität wis­ senschaftlicher Aussagen in nichts nachstehen. So gibt es z. B. an der Univer­ sität von Wisconsin ein Simula­ tionsprogramm volkswirt­ schaftlicher Entwicklungen, daß auf der I Ging-Struktur be­ ruht. Von der Firma IBM wur­ den größere Forschungspro­ jekte in Angriff genommen, die mit der I Ging Methodik und Systematik arbeiten. Auch im sozialwissenschaftlichen und psychologischen Bereich wird man mehr und mehr auf das Buch der Wandlungen auf­ merksam. Das Universalsy­ stem des I Ging erlaubt es, eine unbegrenzte Fülle von Mög­ lichkeiten der Anwendung in sich zu bergen. Nicht von un­ gefähr haben wir deshalb in diesem Öko-Log-Buch 2 die drei Kapitel unter das Thema jeweils eines Hexagramms ge­ setzt. Revolution, Evolution und Transformation entspre­ chen den Hexagrammen Ko, Kwai und Fiu.

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Rüdiger Lutz

Die unbewußte Revolution Die These des folgenden Beitrags mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, aber mit Paradoxien werden wir in diesem Ökologbuch sowieso noch öfter zu tun haben. Kurz, es geht um den so oft beschwörten und prognostizierten sowie auch konstatierten Werte­ wandel und der dahinterstehen­ den Veränderung des Bewußt­ seins, vor allem der jungen Gene­ ration in den Industriestaaten. Dieser Bewußtseinswandel, der sich ausdrückt in einer Abkehr von der industrialisierten, technischen Zivilisation und in einer Hinwen­ dung zu einem mehr einfachen, naturbezogenen Lebensstil sowie einer Sinnsuche im nichtmateriel­ len Bereich, dieser Bewußt­ seinswandel ist mitverursacht durch eben jene technische Ent­ wicklung und Industriekultur, die dadurch überwunden werden soll. Gleich vorneweg möchte ich da­ bei klarstellen, daß dies keinesfalls eine monokausale Begründung ist. Andere Faktoren spielten und spielen selbstverständlich auch ei­ ne Rolle. Aber in diesem Beitrag soll der Zusammenhang von Indu­ striekultur und Alternativkultur einmal von einer Seite beleuchtet werden, die meiner Meinung bis­ her zuwenig Beachtung fand. Das, was wir heute „alternativ“ oder „grün“ nennen, begann vor 15 bis 20 Jahren, vor allem in den hochindustrialisierten Ländern. Ausgehend von den USA war da­ mals eine Aufbruchstimmung der jüngeren Generation zu spüren, die heute längst verebbt ist. Die Studentenrevolte, der Hippie-Kult und die antiautoritäre Bewegung sind vorüber. Das Rockfestival in 44

Woodstock und eine Athmosphäre von Haight-Ashbury, der berühm­ ten Straßenkreuzung in San Fran­ cisco, lassen sich nicht wiederho­ len, auch wenn es schon mehrfach versucht wurde. Nach diesen auf­ regenden 60er Jahren begann in den 70ern die Analyse und Be­ trachtung der Ereignisse, und so blieb es nicht aus, daß die Intellek­ tuellen, die Schriftsteller, Philoso­ phen und Gesellschaftskritiker ih­ re Stunde kommen sahen. Die kri­ tische Reflektion von Wachstums­ wirtschaft, Leistungsorientierung und des weltweit propagierten „American Way of Life“ wurde zum Dauerthema. Während einige, eher Konservative, in der außer­ parlamentarischen Opposition und den Protestbewegungen, den Zerfall der zivilisierten Welt sahen, erkannten andere darin eine zu­ kunftsträchtige und hoffnungsvol­ le Bewegung. Der Sozialpsycholo­ ge und Philosoph Erich Fromm setzte auf die „Revolution der Hoffnung“ dieser jungen System­ verweigerer. Der Historiker Theo­ dor Roszak beschrieb das Entste­ hen einer Gegengesellschaft, und Charles A. Reich prophezeite eine Bewußtseinserweiterung und Ver­ jüngung unserer Kultur in seinem millionenfach verkauften Bestsel­ ler „The Greening of America“. Sämtliche Phänomene der damali­ gen Kulturrevolution von den lan­ gen Haaren bis zum Konsum psy­ chedelischer Drogen - von der se­ xuellen Revolution bis zum Kon­ sumverzicht - wurden als Indikato­ ren einer tiefgreifenden gesell­ schaftlichen Umorientierung ge­ deutet. Die Schlägereien zwischen Studenten und Polizisten auf den

Universitäts-Camps oder Straßen wurden als Teil einer weltweiten Kulturrevolution gesehen, die das bestehende Gesellschaftssystem überwinden werde. Doch die Revolution fand nicht statt. Das bestehende Sozialsy­ stem stellte sich als überlebensfä­ higer heraus als es die jungen Re­ voluzzer glauben wollten. Doch et­ was veränderte sich schon, etwas, was nicht gleich sichtbar wurde und erst heute - zehn/15 Jahre danach - mehr und mehr zum Vor­ schein kommt! Die neue Wert­ orientierung, die nicht mehr mit den traditionellen Werten überein­ stimmt und die betont andere al­ ternative Lebensweise, welche heute ein gesellschaftliches Fak­ tum darstellt, begann damals, En­ de der 60er Jahre. Und dann ist da noch etwas, eine Entwicklung, die nicht ganz so logisch linear aus den bestehenden Verhältnissen ableitbar ist, sondern ganz uner­ wartete Gründe hat: Ich meine die andere Denkungsart der heute 30jährigen und Jüngeren. Diese Generation kennt Woodstock oder die 68er-Bewegung teilweise nur vom Hörensagen, und dennoch sind die damals vermittelten Inhal­ te ihnen so selbstverständlich und einleuchtend, daß sich jede Erklä­ rung erübrigt. Offenbar hat da eine Verände­ rung in den Köpfen stattgefunden, die der marxistischen Annahme, daß nur durch die Herbeiführung anderer Lebensumstände auch ein Verändern des Bewußtseins möglich ist, entgegenstehen. Wo­ her dann aber haben diese Ju­ gendlichen dieses andere Bewußt­ sein? Welche Ursachen führten zu dem heute vorherrschenden neu­ en Bewußtsein. Innerhalb der So­ zialwissenschaften geistert schon längere Zeit das Akronym NST für „Neuen Sozialisationstypus" um­ her, welcher zwar viel beschrie­ ben, aber kaum erklärt wird. Wenn also offensichtlich die Ursachen für die Umorientierung des Den­ kens in der jüngeren Generation nicht rational logisch abzuleiten sind aus veränderten Lebensbe­ dingungen, dann müssen wir in

einem anderen evtl. auch irratio­ nalen Bereich nach den Gründen suchen. Wir müssen uns fragen, was sind die Mittel, Instrumente und Umwelten, die das Bewußt­ sein in der Richtung programmie­ ren, die das neue Denken, die neue Weltanschauung bestimmen. Vom heutigen Standpunkt aus betrachtet kann man aus verschie­ denen Gründen insbesondere die folgenden drei Ursachen und ihre Kombinationen für die Bewußt­ seinsveränderung bzw. -erweiterung innerhalb der Gegenkulturre­ volution der sechziger Jahre be­ nennen: Erstens: Die halluzinogenen und psychedelischen Drogen sowie ih­ re Kombinationen mit etablierten Rausch- und Genußmitteln. (Ge­ meint sind besonders LSD, Ha­ schisch, Peyole, Meskalin, Marihu­ ana, Kokain und verschiedene Auf­ putschmittel.) Zweitens: Die Gesamtheit der elektronischen Medien (insbeson­ dere Fernsehen, Musikkonserven in Form von Platten und Tonbän­ dern und Musikkassetten, Compu­ ter und Computerspiele, sowie neuerdings Kabelfernsehen, Bild­ schirmtext usw.). Drittens: Die Informationsüberflu­ tung einerseits sowie die zuneh­ mende Monotonisierung der Real­ umwelt - Stadt, Landwirtschaft andererseits.

Die Drogen Die Hippie- und Jugendrevolte der 60er Jahre war untrennbar verknüpft mit einer Verbreitung sogenannter bewußtseinserwei­ ternder Drogen. Speziell die von dem Schweizer Albert Hoffmann durch Zufall erfundene syntheti­ sche Droge LSD 25 wurde zum Symbol einer geistigen Befrei­ ungsbewegung. Der amerikani­ sche Geheimdienst CIA wurde so­ mit zum Auslöser einer sicherlich nicht geplanten Kulturrevolution, weil nämlich die ersten größeren Mengen LSD, die Sandoz in der Schweiz produzierte, von dem CIA unter das Volk gebracht wurden, um auf diese Weise diese neue

unbekannte Droge zu testen. Schon bald machten natürlich cle­ vere Chemiestudenten das belieb­ te LSD selbst. Timothy Leary, Pro­ fessor für Psychologie an der Har­ vard-Universität in Boston/Cam­ bridge, verteilte in seinen Semina­ ren LSD, um damit seinen Studen­ ten ein „grandioses Erlebnis“ zu ermöglichen. Doch je populärer die Droge wurde, umso härter wur­ de sie auch bekämpft. Schon bald kam sie auf die Liste illegaler Dro­ gen, und Timothy Leary, der den Konsum von LSD propagierte, ver­ lor seine Professur und mußte so­ gar ins Gefängnis. Doch die Ver­ breitung der bewußtseinserwei­ ternden Säure (im Englischen „Acid" genannt) war nicht mehr aufzuhalten. Millionen junger Menschen in den USA, in England und auch in Kontinentaleuropa, machten ihre ersten Trips und sa­ hen die andere Realität ihres eige­ nen Unterbewußtseins. Die Popund Beatkultur der damaligen Zeit spiegelte den verbreiteten Kon­ sum psychedelischer Drogen. Als die Beatles ihren Hit „Lucy in the Sky with Diamonds“ spielten, gab es viel verständnisvolles Zuzwin­ kern unter den LSD-Freaks. Denn die im Titel versteckten drei Buch­ staben erkannte jeder. Das Album „Sergeant Peppers Lonely Hearts Club-Band“ wurde dann sogar als psychedelische Oper bezeichnet. Ebenso Musik und Film „Yellow Submarine“. Die Gruppe „Grateful Dead“ machte geradezu einen LSD-Kult auf. Ihre Musik war dazu gedacht, in Kombination mit LSD konsumiert zu werden. Als beson­ ders extravaganten Trip boten die „Grateful Dead“ sogar mehrmals gemeinsame Flüge zur CheopsPyramide in Ägypten an, wo dann an einem Vollmondabend ein LSDRock-Spektakel zu Füßen der Py­ ramide stattfand. Der Spaß kostete die erlauchten Teilnehmer jeweils 2000 Dollar. Was soll nun der bewußtseinserweiternde Aspekt solch teurer Verrücktheiten sein? Sind es nicht vielmehr dekadente Spielchen einer übersatten Frei­ zeitgesellschaft? Sicherlich ist ein Teil der Drogenkonsumenten in

diese Kategorie einzuordnen. Aber erklärt ist damit die Faszination und vor allem die Wirkungsweise von LSD noch lange nicht. Medizi­ nisch streiten sich auch heute noch die Experten über die Neuro­ physiologie beim LSD-Konsum. Zwar ist die physiologische Un­ schädlichkeit von LSD inzwischen nachgewiesen, das heißt, LSD kann physisch nicht süchtig ma­ chen, noch kann es zu irgendwel­ chen bleibenden Schäden in Ge­ hirn und Körper führen. Was es uns jedoch bewußtseinsmäßig an­ tut, ist weniger eindeutig. Und ob dies positiv oder negativ zu bewer­ ten ist, ist völlig umstritten. Im all­ gemeinen spricht man heute von einer durch LSD künstlich herbei­ geführten Schizophrenie. Und da­ mit ist auch schon gekennzeich­ net, was die andere Wirklichkeit ist. Schizophrenie ist ja nicht nur einfach ein Krankheitszustand, sondern die Spaltung der Persön­ lichkeit in zwei verschiedene We­ senheiten. Mit LSD können wir dieses andere Ich, dieses andere Selbst, für einige Stunden erleben, ohne für immer schizophren blei­ ben zu müssen. Und diese andere Wirklichkeit hat vielen Menschen die Augen geöffnet über diese uns allen vertraute Wirklichkeit. Timo­ thy Leary schrieb schon 1962: „Wenn du einmal diesen Trip durch den zellularen Zeittunnel gemacht hast, bist du nicht mehr derselbe.“ Viele andere LSD-Tripper beschrieben den LSD-Zustand als eine Art Erleuchtung. Es gab in den 60er Jahren ernsthafte Diskus­ sionen unter Theologen über die Legitimität, LSD zu verwenden, um religiös ekstatische Erfahrun­ gen zu machen. Wenn ich hier nun immer von LSD spreche, so nehme ich diese besonders starke Droge nur als beispielhaftes Synonym für eine ganze Anzahl anderer Halluzi­ nogene und Psychedelika, die bei vielen Menschen ähnliche Wirkun­ gen erzielten. So sind die berühm­ ten Zauberpilze, die Carlos Castaneda in seinen Romanen be­ schrieb, natürlich von ähnlich gro­ ßer Bedeutung für die 60er Jahre gewesen. Tausende von jungen 45

Amerikanern zogen nach Mexiko, um dort nach dem „magic mushroom“ zu suchen, und den Sprung in die andere Wirklichkeit zu wa­ gen. Die Erfahrungsberichte der LSD-Schlucker, Pilzesser, Marihu­ ana-Raucher und anderen Dro­ genkonsumenten in diesen Pha­ sen ähneln sich sehr. Ziel war na­ türlich meistens der gute Trip, der „kosmische“ Bewußtseinssprung. Doch der große Teil hatte anfangs recht unangenehme Horrortrips. Da wurden längst verdrängte Kind­ heitserlebnisse wieder allgegen­ wärtig, Freunde und Begleiter, die dabei waren, wurden plötzlich zu Ungeheuern oder die ganze Welt verwandelte sich in ein einziges schwarzes Loch. Doch selbst die­ se Schreckensreisen konnte die Psychonauten der sechziger Jahre nicht von einem weiteren Versuch abhalten. Es war die Kraft, die Stär­ ke und Energie dieser sowohl ne­ gativen wie positiven Erfahrun­ gen, welche die jungen Menschen motivierte, den inneren Weg wei­ terzugehen. Konsequenterweise kamen viele Jugendliche über die Drogen anderen Religionen und Kulturen näher. Carlos Castanedas Beschreibungen des Scha­ manismus wurden zur Grundla­ genliteratur der jungen Bewußt­ seinsforscher. Indianische Tradi­ tionen und Erkenntniswege wur­ den erforscht und ausprobiert. Ri­ chard Alpert, ein Kollege von Ti­ mothy Leary von Harvard, der jah­ relang mit LSD versucht hatte, die Erleuchtung zu erreichen, ließ von dieser Droge ab und pilgerte nach Indien. Dort suchte er sich einen Meister, einen Guru, und wurde sein Schüler. Tausende von Nord­ amerikanern und später auch Westeuropäer folgten ihm auf die­ sen Weg in den Osten. Noch heute wirkt diese Form von Alternativ­ tourismus nach. Der neue drogen­ lose Trip hieß Meditation. Durch Wochen, Monate, ja jahrelanges Meditieren, sollte nun das Eigentli­ che passieren. Auch hier würden wir auf den ersten Blick meinen, daß Meditation und Drogenkon­ sum so verschieden ist, wie eine Weltraumrakete von einem Regen­ 46

wurm. Aber neurophysiologisch sind diese beiden Erfahrungen recht nah beieinander, insbeson­ dere durch die Biofeedback-Forschung und ihre Messungen konn­ te man feststellen, daß die bei rich­ tiger und trainierter Meditation er­ reichten Gehirnwellenmuster de­ nen gleichen, die entstehen, wenn man bestimmte psychedelische Drogen einnimmt. Relevant sind dabei vor allem die Alpha-Wellen mit einer Schwingung von acht bis 13 Hertz. Dieser Wellenbereich deutet immer auf ein hohes Kon­ zentrationsniveau hin und zeigt weiterhin - und dieses ist nun die Besonderheit - eine Aktivität der rechten Gehirnhälfte an. Psychedelika und Meditation hängen also zusammen mit einer Aktivierung der rechten Gehirnhälfte. Es ist neurophysiologisch noch nicht ganz geklärt, ob es sich dabei um eine Unterdrückung der Aktivität der linken Gehirnhälfte handelt, ei­ ne Blockierung des Datenstroms zwischen den Gehirnhälften durch Beeinträchtigung der Aktivität des „Großen Balkens“ oder um eine Stimulierung der rechten Hemi­ sphäre. Ohne Zweifel sind jedoch die Effekte, die ein verstärkt rechts­ hemisphärisches Denken zur Fol­ ge hat. Nichtbewußtes, unterbe­ wußtes und angeblich eben auch überbewußtes Material taucht auf der inneren Leinwand auf. Sowohl Meditation als auch die Drogen führen also faktisch zu einem Hemisphärenshift, zu einer Verlage­ rung der dominanten Gehirnhälfte von der linken zu der rechten Sei­ te. War unser Industriezeitalter bisher geprägt von der linear-rationalen Denkweise der linken Ge­ hirnhälfte, so ist die Alternativbe­ wegung und Gegenkultur von der intuitiv-bildhaften assoziativen Vorstellungswelt der rechten He­ misphäre gekennzeichnet. Auf­ grund einer synthetischen Chemi­ kalie fanden also Millionen junger Menschen den Zugang zu einer Vorstellungswelt, die der Indu­ striekultur diametral entgegen­ steht. Daß altchinesische, indische und andere orientalische Philoso­ phien und Religionen für junge

Westler interessant und relevant wurden, ist auf diesen beschriebe­ nen Hemisphärenshift zurückzu­ führen. Das I Ging, das Buch vom Tao, das Tibetanische Totenbuch oder die Bhagavad Gita wurden zu Bibeln der jungen Ausbrecher. Hermann Hesse, Carlos Castenada, Allan Watts, Timothy Leary wa­ ren die Helden dieser Kulturrevo­ lution. Die Beteiligten waren vom eigenen Erlebnis dieser Bewußt­ seinsveränderung derart einge­ nommen, daß sie es für das univer­ selle Lösungskonzept aller Proble­ me hielten. So hatte eine Gruppe um Timothy Leary herum den Plan, die amerikanische Regierung, in­ klusive des Präsidenten, zu einer Sitzung einzuladen, wo dann heimlich LSD in die Getränke ge­ geben werden sollte. Man glaubte ernstlich, daß durch die erfolgen­ de Erfahrung die rigide Bewußt­ seinsstruktur der Regierenden aufzubrechen sei und damit die großen Weltprobleme lösbar wür­ den. Solche euphorischen Erwar­ tungen bezüglich der bewußt­ seinserweiternden Kraft der Psychedelika sind verständlicherwei­ se verstummt. Dennoch steht es heute außer Frage, daß die psyche­ delischen Drogen ein wichtiger Faktor in der Kulturrevolution der 60er Jahre waren. Wie kommt es aber, daß der durch die Drogenkultur initiierte Bewußtseinswandel eine derart große Resonanz in der gesamten Bevölkerung fand? Es war ja schließlich nicht so, daß eine ge­ samte Generation LSD und andere Halluzinogene schluckte, sondern nur ein sehr kleiner Teil der Ju­ gendlichen hatte überhaupt Erfah­ rungen mit Drogen. Mit dieser Fra­ ge kommen wir nun zum nächsten Mitverursacher der Bewußtseinsrevolution, den elektroni­ schen Informationsmedien, spe­ ziell dem Fernsehen.

Der elektronische Trip Fernsehen nimmt in den Indu­ striestaaten einen ähnlich gro­ ßen Zeitraum ein wie Ernährung. Zwischen zwei und fünf Stunden

täglich ist der durchschnittliche Westeuropäer vor dem Fernsehge­ rät. Japan und die USA halten noch immer den Rekord, bis zu sieben Studen täglich sitzen man­ che japanischen Kinder vor der Flimmerkiste. Und mit Flimmerki­ ste ist auch sehr treffend der Aspekt des Fernsehen beschrie­ ben, den wir hier untersuchen wol­ len. Bezüglich der bewußtseinsverändernden Faktoren geht es näm­ lich nicht um die Inhalte oder For­ men des Fernsehprogramms, son­ dern um die spezifische TV-Technologie. Die Kathodenstrahlröhre, also der Bildschirm, ist das be­ wußtseinsverändernde Kernstück der gesamten Technologie. Zum erstenmal in der Geschichte der Menschheit können wir Licht­ punkte in elektronischer Ge­ schwindigkeit sehen. Das heißt, wir sehen eigentlich gar nichts. Denn unser Auge und unsere an reale Objekte gewöhntes Wahr­ nehmungssystem kann derart schnelle Reize nicht verarbeiten. Die Lichtimpulse des schnell­ wechselnden Bildes können nur an einer Stelle in unserem gesam­ ten Gehirn adäquat verarbeitet werden, im visuellen Zentrum der rechten Gehirnhälfte. Wenn nun Tag für Tag, Abend für Abend die­ ser Wahrnehmungsmodus gefragt ist, dann erfolgt nach einigen Jah­ ren allmählich besagter Hemisphärenshift von der linken zur rechten Gehirnhälfte. Verschie­ denste Forschungen zeigen, daß tatsächlich die linke Gehirnhälfte in eine Art Halbschlaf übergeht; ein Wissenschaftler nannte es das Bewußtseinsstadium eines Som­ nambulen, und lediglich ein Teil der rechten Gehirnhälfte ist aktiv. Sogar Alphawellen sind nach eini­ ger Zeit meßbar. Fernsehinforma­ tionen werden somit in einem me­ ditativen Zustand aufgenommen und entsprechend unkritisch ver­ arbeitet. Doch wir wollen über die Inhalte an dieser Stelle nicht re­ den. Was entscheidend ist, ist viel­ mehr die Tatsache, daß die junge Fernsehgeneration, also diejeni­ gen, die von klein auf dieser neuar­ tigen Technologie ausgesetzt wa­

ren, eine Bewußtseinsverände­ rung erleben, die in einigen Aspek­ ten dem entspricht, was die esote­ rischen Traditionen oder psyche­ delische Drogen verursachen. Fernsehen ist eine Dauerübung in Mustererkennung, welche nur von der komplex arbeitenden rechten Gehirnhälfte geleistet werden kann. Aber dort, wo solche Muster­ erkennung geschieht, laufen auch noch ganz andere Prozesse zu­ sammen. Träume, unterbewußtes Material, Emotionen, Bilder aus Vergangenheit und Zukunft ver­ schmelzen im Visualisierungszen­ trum zusammen mit den Fernseh­ bildern zu einem untrennbaren Ganzen. Im Endeffekt ist nicht mehr feststellbar für den Betroffe­ nen, ob er eine Information vom Fernsehen oder von einer anderen inneren Quelle erhalten hat. Unter­ suchungen mit Kindern und Ju­ gendlichen haben gezeigt, daß mit dem Fernsehen dargebotene In­ formationen im Nachhinein von gleicher Bedeutung und nicht un­ terscheidbar sind von Informatio­ nen, die aus Träumen, sonstigen Bildern oder Filmen stammen. Das Fernsehen ist ein derartig über­ wältigendes Bilderlieferungssy­ stem, daß es bald alle anderen In­ formationen überdeckt. Am Ende ist selbst die Realität nicht mehr vom Fernsehen unterscheidbar. Das ist die große Gefahr dieser Technologie, die Vermischung und Vermengung von Schein - al­ so Fernsehen - und Wirklichkeit. Die Fernsehgeneration lebt ein­ deutig in dieser Welt hybrider Ima­ ges, wie wir es heute alle tun, doch diejenigen, die mit dem Fernseh­ gerät aufwuchsen, haben schon einen ganz anderen Verabeitungsmodus entwickelt als diejenigen, die noch keine Fernseherziehung genossen hatten. Es ist eine sehr ambivalente Angelegenheit, diese Tatsache zu bewerten, keinesfalls kann man sagen, daß mit dem Fernsehen auch eine Verdum­ mung einhergeht. Dies konnte auch in Langzeituntersuchungen bewiesen werden, aber anderer­ seits kann man auch nicht sagen, daß der Fernsehkonsum beson­

ders förderlich wäre. Was wir fest­ stellen können, ist lediglich der qualitative Unterschied zwischen der Fernsehgeneration und da­ von noch nicht berührten Men­ schen. Und bezüglich dieser bei­ den Gruppen können wir die in der Psychologie üblichen Denkkate­ gorien vom Konvergierer und Divergierer anwenden. Der divergen­ te Denkstil, der eher mit der rech­ ten Gehirnhälfte zusammenhängt, arbeitet intuitiv und hat immer mehrere Dinge „auf der Pfanne“.

Wolf-Rüdiger Lutz, geboren am 1.10. 1953 in Tübingen. Studium der Architektur, Psychologie und Ökologie in Stuttgart, Dortmund, Berlin und Berkeley/USA (Stu­ dienund Forschungsstipen­ dien). Aufbau und Mitarbeit bei verschiedenen Alternativtech­ nikprojekten, z. B. PROKOL-Gruppe Berlin und Farallones Institute in Kalifornien. Danach Projektlei­ ter beim Institut für Zukunftsfor­ schung. Zahlreiche Veröffentli­ chungen. Seit 1980 Entwicklung und Realisierung der Zukunfts­ werkstatt als „soziales Experimentierlabor zur Gestaltung alter­ nativer Zukünfte“.

Dies würde dem Denkstil entspre­ chen, der auch durch Fernsehkon­ sum provoziert wird. Dagegen ist der konvergente Denker eher linkshemisphärisch-rational orien­ tiert und sucht linear Schritt für Schritt nach Lösungen für ein bestimmtes Problem. Selbstver­ ständlich ist kein Mensch lediglich das eine oder das andere. Aber tendenziell kann man diese Unter­ scheidung machen und sie mit der elektronischen Revolution ver­ knüpfen. 47

Die Informations­ überflutung und Umweltmonotonisierung Diesen Bereich kennt jeder min­ destens ebensogut wie den vor­ herigen, den Fernsehkonsum. In jedem Berufszweig, der mit Ver­ arbeitung von Informationen in ir­ gendeiner Form zu tun hat, und das sind fast 80 Prozent aller Beru­ fe, wuchsen und wachsen die An­ zahl von Fachmagazinen, Zeit­ schriften, Büchern und sonstigem berufsrelevanten Informationsma­ terial exponentiell an. Für Medizi­ ner, Naturwissenschaftler und In­ genieure ist es heute nachweislich schon gar nicht mehr möglich, auf dem Stand aller verfügbarer Infor­ mation zu sein. Zuviel wird produ­ ziert. Diese Wissens- oder besser Informationsexplosion der letzten Jahrzehnte bewirkt eine neue Form des Streß, den sogenannten Informationsstreß. Besonders die Verfügbarkeit von neuen Medien, also Computer-Terminals, Infor­ mationssystemen, Telefon, Telex, Rundfunk, Fernsehen usw. tragen mit dazu bei, daß eine linear logi­ sche Bearbeitung der dargebote­ nen Informationen nicht mehr möglich ist. Was aber macht das Gehirn bei einer derartigen Reiz­ überflutung und faktischem Infor­ mationsstreß? Es schaltet auf Mu­ sterverarbeitung, genau wie beim Fernsehen. Es speichert nicht mehr die Information als solche, sondern eine Struktur über die In­ formation. Man könnte sagen, es ist eine Art „wissen-wo-es-stehtSystematik“, anstelle der tatsächlichen Detailinformation. Anstatt Fakten anzuhäufen, schaltet der informationsgestreßte Manager oder Wissenschaftler also auf strukturierende, jedoch unvoll­ ständige Mustererkennung. Diese Fähigkeit ist wiederum die Domä­ ne der rechten Gehirnhälfte, also auch für diese Entwicklung trifft die These vom gesellschaftlichen Rechtsdrift, von der linken zur rechten Gehirnhälfte zu. Nur ge­ schieht im Gegensatz zu Drogen­ konsum und Fernsehen hier im dritten Falle der Hemisphärenshift 48

in einersehr bewußten und aktiven Phase. Im Falle der Informations­ überlastung ist nämlich keine un­ bewußte oder hypnotische Infiltra­ tion möglich, sondern alle Infor­ mationen werden erst einmal kri­ tisch durchleuchtet und dann strukturiert. Entsprechend dieser Annahme müßten wir also unter informationsgestreßten Kopfar­ beitern eine Zunahme von diver­ genten Denkern feststellen kön­ nen, und dies ist auch tatsächlich der Fall. Diese Tatsache hängt da­ mit zusammen, daß gerade auf­ grund der Verfügbarkeit von De­ tailinformationen aus Informa­ tionssystemen bzw. vielerlei ge­ drucktem Material die Notwendig­ keit exakter Detailinformation nicht mehr so relevant ist wie noch Vorjahren. Entscheidend ist heute die Übersicht, die Fähigkeit, Ge­ samtstrukturen zu erkennen, Zu­ sammenhänge zu bilden und ein Gefühl, Gespür dafür zu haben, welche Lösung die richtige ist. In diesem Zusammenhang ist interes­ sant, daß Spitzenmanager offen­ bar - und dies wurde in einer Reihe von Tests nachgewiesen - sich nicht so sehr auf Fachinformatio­ nen und objektive Daten verlas­ sen, sondern vielmehr auf ihr intui­ tives Gespür. Da ist natürlich die rechte Gehirnhälfte weit mehr im Spiel, als bei sogenannten rationa­ len Planern. Wenn wir nun hier drei Entwick­ lungslinien verfolgten, und bei al­ len feststellen konnten, daß ein Hemisphärenshift und eine Denk­ stilveränderung zu einer Bewußt­ seinserweiterung führte, dann hat dies zweifelsohne gesamtgesell­ schaftliche Konsequenzen. Die be­ schriebenen Bewußtseinsbeein­ flussungen sagen natürlich noch gar nichts darüber aus, wie die faktische gesellschaftliche Ent­ wicklung verlaufen wird, denn so­ lange das neue Bewußtsein nur im Unterbewußtsein schlummert oder sich gar nur im Freizeitbe­ reich oder in gesellschaftlichen Randgruppen auswirkt, kann es insgesamt natürlich nicht system­ verändernd wirken. Aber die heuti­ ge Bedeutung der Umweltschutz­

bewegung, der Grünen, der Alter­ nativen Lebensgemeinschaft oder der Selbsthilfegruppen, sind doch Ausdruck dieser existenten Be­ wußtseinsveränderungen. Alle diese Gruppierungen basieren auf den hybriden Images, der durch die drei genannten Gründe verur­ sachten Wertumorientierungsund Einstellungsveränderung. Die ökologische oder alternative Ge­ sellschaft ist sogar überhaupt nicht vorstellbar ohne die „Basis­ arbeit“, die die elektronischen Me­ dien, die Drogen und die dadurch bedingte Informationsüberlastung geleistet haben. Der Gedanke, daß alles mit allem zusammenhängt, daß wir auf einer kleinen, zusam­ mengehörigen Erde wohnen und jeder vom anderen abhängig ist, diese Konzeption ist viel besser vorstellbar, seit uns die Fernseh­ bilder weit entfernte Länder in je­ des Wohnzimmer tragen. Wenn wir dann noch unbewußt spüren, daß uns hier elektromagnetische Wellen körperlich durchdringen, daß es kein klares Innen und Au­ ßen gibt, sondern daß selbst die Haut als Körpergrenze kein undurchdringbares Mauerwerk dar­ stellt, daß, was die einen kosmi­ sches Bewußtsein und die ande­ ren Erleuchtung nennen, mehr und mehr zum erlebbaren Faktum wird, dann hat sich tatsächlich ein Bewußtseinssprunq ereignet. Doch diese positive Entwicklung ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere betrifft die Manipula­ tionsmöglichkeiten des neuen Be­ wußtseins. Der amerikanische Präsident Ronald Reagan ist ein wohldoku­ mentiertes Zeugnis für einen Profiteur dieser Bewußtseinsrevolu­ tion. Nichts, aber auch gar nichts haben seine Auftritte und Reden mit rationaler, logischer, sachli­ cher Argumentation zu tun. Alles ist Schau, könnte man verkürzt sa­ gen oder: Alles ist so program­ miert, daß es für den neuen rechts­ hemisphärischen Denkstil akzep­ tabel ist. Reagan strahlt - wenig­ stens für einen Teil seiner Bevölke­ rung in den USA - Vertrauen aus. Er kann die obskursten Inhalte auf

eine Art und Weise in Rundfunk und Fernsehen vertreten, daß die einzelnen Bürger es für eine Selbstverständlichkeit halten. Er kann von Kriegsvorbereitungen sprechen, als ob es sich nur um die Frage handelt, wer den Müll raus­ bringt. Reagan ist meiner Meinung nach nur der Anfang einer neuen Form von Politik, der wir noch gar nicht gewachsen sind. Der welt­ weite Medienimperialismus führt zwangsweise dazu, daß einige we­ nige Persönlichkeiten derart po­ pulär werden, daß mit ihnen jegli­ cher Inhalt transportiert werden kann, und es ist nicht das Vorrecht der Konservativen oder Reaktionä­ re, diese Medien zu nutzen. Auf der anderen Seite stehen auch schon entsprechende Persönlichkeiten bereit. Die Schauspieler Robert Redford, Paul Newman, Jane Fonda und neuerdings auch Brigitte Bardot, haben allesamt politische Ambitionen. Popularität heißt heu­ te Politik. Eine Umweltorganisa­ tion wie z.B. Greenpeace, macht ganz deutlich, welche Wirkung er­ zielt werden kann, wenn man kon­ sequente Medienarbeit macht. Greenpeace - und inzwischen auch eine weitere Gruppe, ge­ nannt Robin Wood - sind erste ökologische Gegenstücke zu den Bewußtseinsmanipulateuren aus Industrie und Wirtschaft, die diese Strategie schon seit einem Jahr­ zehnt aufgenommen haben. Bevor wir zu einer reifen Hand­ habung bewußtseinserweiternder Technologien, Medien und Dro­ gen kommen, müssen wir noch viel lernen. Was dazu an Entwick­ lung noch zu leisten ist, mag viel­ leicht folgende Wortspielerei ver­ anschaulichen. Auf einer Haus­ wand in einem Universitätsgelän­ de stand einmal folgender Satz: „Drogen sind für diejenigen, die nicht mit der Realität mitgehen können.“ Darunter hatte ein ande­ rer Witzbold geschrieben: „Die Realität ist für diejenigen, die nicht mit Drogen umgehen können,“ Ich glaube, die wichtigste Erkenntnis, die man darunter noch schreiben sollte, wäre: „Die Realität ist die stärkste Droge überhaupt.“

Das globale Netz der neuen Medien Auf alle Fälle gilt es erst einmal die Faktizität der Medienwelt zu erkennen. Die Gesellschaft hat diese neue Umwelt produziert und internalisiert - dieser Prozeß ist gelaufen und wir müssen damit fertig werden. In das vorelektroni­ sche Zeitalter zurückzugehen ist illusionär angesichts des ständi­ gen Wachstums und der globalen Ausbreitung dieser Technologie. Das Mediennetz umgarnt unseren gesamten Planeten und produziert eine andere Realität, eine elektro­ nische Wirklichkeit, die wir mit ver­ schiedensten Apparaten emp­ fangen. Und heute, kurz vor 1984 stehen wir an der entscheidenden Schwelle zur Komplettierung die­ ser Medienwelt. Mit der Mikroelek­ tronik wird unsere Welt zum com­ puterisierten Netzwerk, zum glo­ balen Dorf, von welchem McLuhan in den 60er Jahren so verheißungs­ voll schrieb. Die vorher beschriebene TVTechnologie spielt dabei eine ent­ scheidende Rolle: Sie ist das uns inzwischen bekannte Verbin­ dungsglied zwischen der Unter­ haltungselektronik und der kom­ menden Netzwerktechnologie. Der Bildschirm ist das „Interface“, das Gesicht und das Format aller elektronisch sichtbar gemachten Daten und Informationen. In den letzten fünf Jahren hat der Bildschirm seinen Weg in sämtliche Lebensbereiche gefun­ den, nicht nurals Heimkino, Nach­ richten- und Informationsapparat, sondern eben auch als universel­ les Arbeitsmittel in Verbindung mit dem elektronischen Non-plus Ul­ tra: Dem Computer! Tastatur und Bildschirm sind die beiden „Sin­ nesorgane“ jedes Computers, über welche wir mit diesem Gerät kom­ munizieren. Durch diese Tatsache ist die oben dargelegte Auswir­ kung elektronischer Kathoden­ strahlröhren auf die Wahrnehmungs- und Verarbeitungsmecha­ nismen unseres Gehirns noch viel bedeutsamer geworden, als wenn

diese Technologie auf das häusli­ che traditionelle Fernsehgerät be­ schränkt wäre. Ohne Fernsehen kann man sein -ohne Computer bald nicht mehr! Schon heute sehen wir, wie sämtli­ che Arbeitsplätze in Büros oder anderen informationsverarbeiten­ den Stellen (Banken, Post, Bahn etc.) mit Computerbildschirmen ausgestattet werden. Die Computerisierung unserer Gesellschaft ist vorprogrammiert und ließe sich nur noch durch extremen Wider­ stand aufhalten, der jedoch sehr unwahrscheinlich ist, da große Teile der Bevölkerung weder die Möglichkeiten noch die Gefahren dieser Technologie kennen. Viel­ mehr ist eine weitgehende Akzep­ tanz der Computer festzustellen, da diese Maschine große Arbeits­ erleichterungen und Arbeitsbe­ freiung (bis hin zur Arbeitslosig­ keit?) verspricht. „Rationalisierung“ heißt das Stichwort, welches der Computerisierung wie ein Schatten voraus­ eilt und für den einen das Paradies und für den „wegrationalisierten“ Arbeitnehmer die Hölle ist. Unter dem Gesichtspunkt psy­ chologischer und neurophysiologischer Auswirkungen ist, wie schon dargelegt, der Begriff ..Ra­ tionalisierung“ bezogen auf Bild­ schirmarbeitsplätze genau das Gegenteil dessen, was in den Köp­ fen der Bildschirmarbeiter tat­ sächlich geschieht. Der eintretende HemisphärenShift bedeutet nämlich eine „Irra­ tionalisierung“, wenn man die mit dem Begriff Rationalität gemein­ ten Denkqualitäten zugrunde legt. Die an den Bildschirmplätzen sit­ zenden Menschen können sich der geradezu hypnotisch wirken­ den „Fernsehkrankheit“ keines­ falls entziehen. Sie befinden sich sogar in einem ganz speziellen Druck, ständig den Bildschirm zu betrachten, weil sie ja diese Infor­ mationen lesen müssen - ganz an­ ders als der Freizeit-Fernsehkonsument, der das Gesehene keines­ falls rekapitulieren muß. Damit sind die psychologischen Voraussetzungen für „Informa­ 49

tionsstreß“ gegeben! Informa­ tionsstreß ist gekennzeichnet durch eine Überlastung mit zu ver­ arbeitenden Informationen einer­ seits und fehlenden Strukturie­ rungsmöglichkeiten andererseits. Bei den üblichen Bildschirmar­ beitsplätzen ist dieser „Informa­ tionsstreß“ nun hauptsächlich durch den Konflikt gegeben, daß ein Fernsehbild linear logisch ver­ arbeitet werden soll, jedoch auf unser Wahrnehmungssystem eher dahin tendiert, assoziativ und nichtlinear verarbeitet zu werden. Das Gehirn gerät dadurch in ei­ ne geradezu schizophrene Situa­ tion: Wahrnehmungsmodus und Wahrnehmungsinhalt widerspre­ chen sich. Das Resultat ist Streß, einer der Gründe für das schnelle Ermüden an Bildschirmarbeits­ plätzen. Einfacher ausgedrückt: Auf dem Bildschirm erscheinen Symbole und Zeichen, die das Ar­ beitsmaterial des Betrachters dar­ stellen - die vermittelnde Technik präsentiert dieses Material jedoch als flackerndes, sich in jeder Se­ kunde hundertmal aufbauendes unstetes Bild. Unser Gehirn rea­ giert auf solch unstete Bilder mit Verdrängung in die assoziativ ar­ beitende rechte Gehirnhälfte, wo eigentlich unterbewußte, intuitive und emotionale Informationen sit­ zen. Da der Bildschirmarbeiter je­ doch das Material intellektuell ver­ arbeiten muß, sind große Anstren­ gungen nötig, um dieses „ent­ schwindende“ Informationsmate­ rial in die linke Gehirnhälfte zu­ rückzuholen. Diese Anstrengun­ gen ermüden und können auch nicht verhindern, daß eine subtile Aktivierung der rechten Gehirn­ hälfte erfolgt: Der Hemisphären­ shift als Berufskrankheit? Es sieht ganz so aus, daß dies der Fall sein wird, denn selbst die Neuentwicklung sogenannter flakkerfreier Bildschirme bringt nur scheinbare Verbesserungen. So­ lange die Computerdisplays (Bild­ schirme) auf der Kathodenstrahl­ röhre beruhen, sind die genannten neurophysiologischen Implikatio­ nen unvermeidbar. (Qualitative Verbesserungen [und neue Pro­ 50

bleme] sind erst möglich, wenn die in der Entwicklung befindlichen Flüssigkeitskristall - Bildschirme Anwendung finden.) Vorerst scheint sich jedoch überall die „alte“ Kathodenstrahl­ röhre durchzusetzen und damit ei­ nen profunden Bewußtseinswan­ del anzuzetteln, der sicher nicht im Sinne der „Erfinder“ ist. Damit meine ich, daß der Einsatz solcher bewußtseinsverändernder Me­ dien, wie es die Kathodenstrahl­ röhre zweifelsfrei darstellt, nicht den Intentionen einer rationaleren Wirtschaft entspricht. Mit dieser Technologie werden vielerlei neue Probleme geradezu provoziert. Ganz im Gegensatz zu der landläufigen Meinung, daß Computerarbeitsplätze die Men­ schen mechanisch, kalt und ratio­ nalistisch werden läßt - kommt es nämlich zu völlig irrationalen un­ terbewußten und unbewußten Re­ aktionen. Selbstredend sind die Kontrollmechanismen des einzelnen Indi­ viduums im Betrieb groß genug, um irgendwelche Ausbrüche zu vermeiden. Im Freizeitbereich sieht es jedoch ganz anders aus hier wird die entfesselte Intuitivität losgelasse oder wenigstens beru­ higt. Schon heute zeigt das Ange­ bot am Freizeitkonsum die Rich­ tung, wohin die Reise gehen wird: Eskapismus, Da Da, Erlebniskon­ sum, totale Emigration in die eige­ ne Innenwelt. Diese Entwicklungen sind nicht zufällig, sondern hängen mit der Technologie der elektronischen Medien zusammen. Millionen von Menschen erleben am Arbeitsplatz oder vor dem Fernsehgerät einen Bewußtseinstrip, der sie unfreiwil­ lig in andere Dimensionen drängt. Es ist die Ironie unserer Zeit, daß die geplante Rationalisierung und damit verbundene Enthumanisie­ rung durch elektronische, compu­ terisierte Arbeitsplätze geradezu das Gegenteil bewirkt, nämlich die Entwicklung intuitiv-emotionaler, also auch irrationaler Fähigkeiten. Doch damit nicht genug! Fern­ sehschirme zu Hause, am Arbeits­ platz und in der Freizeit (Spielau­

tomaten) sind ja nur ein Teil der heute genutzten elektronischen Medien. Was ist mit den Videospie­ len, den tragbaren Stereoradiore­ cordern und drahtlosen Kopfhö­ rern, den Quadro- bis zehnkanal Heimstudio-Disco-Maschinen und Mini - micro - hifi - Cassettenrecordern für die Westentasche? Wir können hier nicht diese Vielfalt elektronischer (Hör- und Seh-) Spielzeuge untersuchen und ein­ schätzen. Die genannten Geräte haben auch nicht derartig weitge­ hende Implikationen wie der TVBildschirm. Aber in ihrer Gesamt­ heit und in ihrem Zusammenwir­ ken erzeugen sie das Netzwerk von Medien, welches unseren All­ tag bestimmt. So ist z. B. die musikalische Dau­ erberieselung auch ein psycholo­ gisches Abhängigkeitsproblem. Durch die Miniaturisierung hoch­ wertiger Musikwiedergabeanla­ gen wurde es möglich, immer und überall Radio oder Musikcassetten in Hifi-Qualität zu hören. Es ist heute durchaus üblich, daß Schü­ ler während des Unterrichts, Ar­ beiter am Fließband oder Ange­ stellte im Büro mit einem kleinen Stereokopfhörer ihre Lieblings­ musik anhören - privat, individu­ ell, träumend versunken oderauch rhythmisch aktiv. Mit Musik geht offenbar alles besser - die kleinen elektronischen Stimmungsma­ cher werden immer noch kleiner und noch weniger erkennbar: So gibt es jetzt ein Sterechifiradio, welches ohne Kopfhörer aus­ kommt, sondern wie ein Handtuch über die Schulter gelegt wird und über die Knochen resoniert - die Klangfülle ist erstaunlich und nur für den Träger hörbar. Die Verhaltensveränderungen durch diese Minielektronik sind offensichtlich: Soziale Interaktion wird ausgeschlossen, einen Innen­ orientierung wird provoziert oder verstärkt, Kommunikation aut eine passive Empfangsfunktion redu­ ziert. Die Bewußtseinslage wird dage­ gen ganz anders berührt, und hier liegt auch das Erfolgsgeheimnis der elektronischen Musikdrogen.

Im Gegensatz zur TV-Wirkung ist in diesem Fall der Inhalt, also die Musik der entscheidende Faktor und nicht die Technik. Zum größten Teil werden mit den Minirecordern und Kopfhörer­ geräten Rock-, Pop-, New Wave und andere neuere Musik konsu­ miert. Diese Musikproduktionen basieren sämtlich auf einer star­ ken Rhythmusbetonung (dem „Drive“) und mehr oder weniger eingängigen Melodie- bzw. The­ maläufen. Erst seit diese Mini-Geräte (wie­ der aufgrund der Mikro-Elektronik Entwicklung) diese Art von Musik in guter Qualität wiedergeben kön­ nen, daß heißt insbesondere Bässe und die hohen Frequenzen der Schlagzeug-hats hörbar werden (Frequenzgang = 40 - 14000Hz), wurde der Mini-recorder Markt be­ deutsam. Denn damit ist die Disko­ thek tragbar geworden: Alle hör­ baren Effekte können nun mit Kopfhörer erlebt werden. Ähnlich wie in der Diskothek kann man sich in diese Musik fallen lassen, kann den Körper vibrieren und den Rausch der Power-Musik erleben. Und die Vibration, die Schwin­ gung ist es, was diese Musik aus­ macht und was unsere Gefühle und Stimmung hebt. Besonders die sogennante Disco- und FunkyMusik nutzt den bewußtseinsver­ ändernden Effekt niederfrequen­ ter Baß-Rhythmen voll aus. Ähnlich wie traditionelle India­ nertrommelrhythmen und afrika­ nische Tanzrituale produziert die­ se Musik einen Ekstasezustand aufgrund der monotonen Taxie­ rung (bei 4-8 Hz). Unser Gehirn reagiert darauf nach einiger Zeit mit einem gleichfrequenten Wel­ lenmuster, dem sogenannten Al­ pha-Zustand, der als beruhigend und entspannend empfunden wird und hauptsächlich in der rechten Gehirnhälfte entsteht (vgl. Hemisphären-shift). Inzwischen sind diese Wirkun­ gen der Musik auch vielen Musi­ kern voll bewußt, und es werden mittels Bio-Feed-back-Geräten Schwingungsmuster in hörbare Musik verwandelt, die je nach

Wunsch entspannend, anregend, meditativ oder einschläfernd wirkt. Die technische Entwicklung geht dahin, daß binnen kurzem computerisierte Biofeedback-Mu­ sikgeneratoren auf dem Markt sein werden, die je nach Programmie­ rung von dem augenblicklichen Gehirnwellenmuster ausgehend eine allmähliche Beruhigung durch entsprechende Tonmuster bewirken (wird durch Koppelung von Sensorcomputern mit Musik­ synthesizern erreicht). Damit wäre eine individualisierte Musikpro­ duktion möglich, deren künstleri­ schen Gehalt wir jedoch noch nicht einschätzen können (und wollen)! Ähnliches ist für den Videobe­ reich zu sagen. Auch dort ist durch die Verbreitung von Heimvideore­ cordern die individuelle Pro­ grammgestaltung möglich gewor­ den. Wer will, kann seinen Lieb­ lingsfilm hundertemal anschauen, so wie eine Schallplatte. Die Ge­ fühlsmassage steht sozialen Kon­ takten und Begegnungen entge­ gen, bindet den Zuschauer an den Bildschirm (der die bekannten Ef­ fekte zeitigt) und ersetzt die per­ sönliche Aktivität durch vorfabri­ zierte Massenprodukte. Darüberhinaus ist der Inhalt der meistgekauften Video-konserven mehr als fragwürdig: Schmalzige HerzSchmerz Komödien, brutalste Kri­ mi und Western sowie Pornogra­ phie beherrschen den VideoMarkt (siehe: Der Medien-Blues). Die individuelle Programmfrei­ heit kann dadurch zur krankhaften Isolation führen: Alleinsein mit dem Videorecorder, der Hifi-Anlage oder der Lieblingsmusikcassette kann das Ende jeglicher persön­ licher Entwicklung bedeuten denn unvorhergesehene Stimula­ tion ist ausgeschlossen. Auch die neuesten Videospiele (Computerspiele) oder VideoFeedbackgeräte können diese Grundproblematik nicht aus dem Weg räumen. Sie alle rekapitulie­ ren und modifizieren Bekannteskönnen kreative, soziale Interak­ tion nicht ersetzen.

Diese Aussage trifft auch für die kommenden elektronischen Vi­ deo-Wunder zu, die jedoch zwei­ fellos eine magnetische Faszina­ tion ausüben. Gemeint sind die computergestützten Videoanima­ tionen. Diese neue Technologie stellt eine Revolution der Trick­ filmproduktion dar und bietet die Möglichkeit, zu Hause am Bild­ schirm einen eigenen Zeichen­ trickfilm zu gestalten. Ein Computer macht die Zei­ chenarbeit und somit ist in kürze­ ster Zeit schon was zu sehen. Wei­ terhin sind graphische Spielereien möglich, die eine Unzahl geome­ trischer Muster erzeugen und be­ wegen. Auf diese Weise wird es möglich werden, vollständige Hypnose oder Meditationsstadien durch Fernsehen zu erreichen - eventu­ ell sogar das oft zitierte unterbe­ wußte Lernen! Ganz sicher aber zieht es den Betrachter in seinen Bann, denn wer immer schon einmal bewegte farbige Computergraphik angese­ hen hat, weiß wie verführend und packend diese Bildfolgen sind. Das Auge kann man kaum abwen­ den, weil sich in jedem Moment das Bild verändert und man nie weiß, wie es weitergeht - aber schon wieder etwas anderes sieht - unaufhörlich. Der Trick dabei ist, daß die Formänderungen schnel­ ler ablaufen als unser Gehirn dar­ über nachdenken kann - somit fängt ein unwillkürlicher Prozeß und Stimulierung an, die wir willig mit den Augen aufsaugen - visuel­ le Fütterung unserer Vorstellung ohne eigenes Zutun - ein elektro­ nischer Trip - jedoch auf Kosten unserer eigenen Imagination. Denn wir füllen dabei unser Ge­ hirn mit Fremdmaterial, das so perfekt aussieht, daß wir kaum noch wagen, selbst derartiges zu gestalten. Wenn wir jedoch aufhö­ ren, unsere Vorstellungskraft zu nutzen und zu trainieren, beginnt ein Intuitions- und Kreativitätsver­ fall, der sehr gefährlich ist. Ande­ rerseits kann auch bei manchen Menschen eine Weckung, Aktivie­ rung und Anregung durch den „Vi­ 51

deosynthesizer“ erfolgen - aller­ dings nur bis zu einem gewissen Maß. Wo jedoch die individuelle oder gar die gesellschaftlich ak­ zeptable Grenze zwischen Aktivie­ rung und Überflutung liegt, ist un­ bekannt. Diese feine Linie zwi­ schen Nutzen und Übermaß ist je­ doch das entscheidende zu erfor­ schende Kriterium für den Einsatz aller hier genannten Medien.

Und endlich alles in einem: Der Computer Die vorgenannten elektronischen Medien haben eines gemein­ sam. Wenn immer von der technischen Weiterentwicklung die Rede war, kam das Stichwort Computer (oder computerisiert). Und diese Feststellung beschränkt sich nicht auf die elektronischen Medien, sondern ist ein techni­ sches Merkmal der Zukunft gene­ rell. Etwas vereinfacht gilt die Faustformel: Alle technologischen Systeme der Zukunft sind compu­ terisiert oder mit Computern ver­ bunden! Diese Generalisierung zeigt das wahre Ausmaß der mikro­ elektronischen Revolution und da­ mit ihre gesellschaftliche Bedeu­ tung. So wie die Industrialisierung eine weltweite Maschinisierung der Handarbeit bewirkte, wird die globale Computerisierung zur (teilweisen) Maschinisierung der Kopfarbeit sowie aller informati­ ven und kommunikativen Prozes­ se führen. Dies ist noch sehr viel dramati­ scher als die vorher beschriebe­ nen Mensch-Computer Kontakte via Bildschirm. Ohne hier in allzu ferne Zukunft abzuschweifen und Aspekte künstlicher Intelligenz und „Computerbewußtsein“ zu thematisieren, kommen wir jedoch nicht umhin, die sozialpsychologi­ schen Konsequenzen der „Mikros“, „Chips“ oder „Bugs“ zu un­ tersuchen. Leider bleiben ja viele derartige Analysen an den äußerlichen For­ men dieser Computer kleben (z.B. „Bildschirmarbeitsplatz“ oder „In­ 52

dustrieroboter“) und kommen nicht zu „des Pudels Kern“, dem hochintegrierten Schaltkreis, der ja beliebige „Körper“ haben kann. Wie eine Gehirnzelle ist ein „Chip“ ein Stück „Intelligenz“, welches verschiedenste ..Denk-“aufgaben erledigen kann, z.B. eine Wasch­ maschine steuern, Adressen speichern, ein Autobremssystem regulieren oder eine Atombombe ins Ziel lenken, Schach oder Bingo spielen, einen Herzschrittmacher überwachen oder ein Musikstück komponieren. Diese Aufzählung zeigt schon einen wichtigen Aspekt der Mikros: ihre Universalität. Es ist ab­ zusehen, daß mehr und mehr Funktionen in unserem Alltag von ein- und derselben Maschine, die­ sem Mikroprozessor, bearbeitet oder unterstützt werden. Das läßt sich heute schon an der derzeiti­ gen Anzahl handelsüblicher Chips ablesen. Während es nämlich hunderte (scheinbar) verschiedener Mikro-Computer gibt, sind es nur ein gutes Dutzend verschiedener Chips, die jeweils das Herzstück des Computers darstellen und um die herum natürlich verschieden­ ste „Peripherie“ (Tastatur, Bild­ schirm, Drucker etc.) gebaut wer­ den kann. Dieses „Herz“ des Computers ist eine Modifikation der immer glei­ chen Logik, die jedoch von vielen Menschen als so undurchschau­ bar empfunden wird, daß sie sich gar nicht erst damit befassen. Andere sind geradezu fasziniert von diesem neuen Denk-Konkurrenten und werden zu wahren Computer-Fans, die ohne diese Maschine nicht mehr sein wollen. Besonders Kinder in ihrer kognitiven Entwicklungsphase finden derartigen Gefallen an vollpro­ grammierbaren Computern, daß sie in jungen Jahren schon Er­ staunliches darauf leisten können. Also ein neues Generationspro­ blem? In „Time“ (März 1982) beschrieb ein erfahrener Computerkritiker: „Wer vor 1965 geboren wurde hat sowieso den Anschluß verpaßt“, so meinte dieser Pessimist auf­

grund seiner Beobachtungen jun­ ger „Computerzauberer“ (Compu­ terwizards), die mit 6 — 10 Jahren schon so kompetent mit Compu­ tern arbeiten, daß Erwachsene nur fassungslos zuschauen können. Doch auch Erwachsene können natürlich lernen, mit diesen Gerä­ ten umzugehen, wenn erst einmal der selbst erzeugte Computermy­ thos abgebaut wurde und eine rea­ listische und praktische Haltung gegenüber dem kleinen „Mikro" entwickelt ist. Die Computerher­ steller wissen genau, daß die Angstnahme vor den Computern das Haupthindernis ihrer Einfüh­ rung ist. Nicht von ungefährtragen die Computer deshalb so niedliche Namen wie PET (Schoßtier), Apple (Apfel) oder gar VC (Volkscompu­ ter) (wie war das mit dem Volks­ empfänger?). Hier zeigt sich schon die Intention, diese Geräte in alle Heime und Wohnungen zu bringen; solange es noch nichts zu „Computern“ gibt, eben als Video­ spielcomputer - Hauptsache, ein Mikroprozessor ist erst einmal im Haus! Der Rest ist ein Kinderspiel. Wo immer es was zu steuern und zu regeln gibt, etwas zu erinnern oder abzurufen ist, eine Information zu speichern oder einzuordnen ist überall, wo also Informationsein­ heiten verarbeitet werden, hilft der Mikro. Eine Hilfe und eine Gefahr, die sich gegenseitig bedingen, er­ wächst aus dieser technologi­ schen Innovation: Bei kompeten­ ter Nutzung und Programmierung kann der Mikro hilfreich sein doch diese Kompetenz ist bisher nur wenigen Menschen zuzuspre­ chen. Wie also kann diese Kompe­ tenz erreicht werden? Durch die massenhafte Verbreitung von Computern?

Ja und Nein! Es sind keine Wunder bezüglich der Lerngeschwindigkeit in un­ serer Gesellschaft zu erwarten. Deshalb können wir von der ge­ genwärtigen Situation ausgehen, d.h. daß ein kleiner gebildeter, jün­

gerer und sozial besser gestellter Teil der Bevölkerung mit dem Computer kompetent arbeiten wird und daraus Nutzen ziehen wird. Der weit größere andere Teil wird den Computer genauso in­ kompetent nutzen wie es mit frü­ heren Medien geschah. Für diese Computernutzer pro­ duzieren die Hersteller schon jetzt vorgefertigte Programme und In­ formations-Pakete, die den Nutzer zum Konsumenten, Empfänger und Anwender abstempeln. Angesichts der kommenden In­ formationsflut spricht man des­ halb schon seit Jahren von einer neuen sozialen Klassenunter­ scheidung: - den Informationsreichen und - den Informationsarmen. Diese beiden Klassen werden sich auch in materieller Hinsicht deut­ lich unterscheiden, denn Informa­ tionsreichtum heißt auch, daß die­ jenigen, die mit dieser neuen Technologie besser umgehen können, einen Vorsprung und „Wettbewerbsvorteil" in einer ka­ pitalistisch orientierten Gesell­ schaft haben. Vorhandene Unter­ schiede werden somit vertieft, so­ wohl innerhalb einer Gesellschaft als auch weltweit. Die Kluft zwi­ schen der reichen nördlichen Halbkugel und der armen südli­ chen Hälfte unserer Erde wird durch die Computerisierung eben­ falls verschärft. Der „Nord-SüdDialog“ wird also durch die elek­ tronischen Kommunikationsme­ dien keinen qualitativen Wandel erfahren - außer, wenn, und das ist nur eine ganz kleine Hoffnung, durch die Medien eine Bewußt­ seinsbildung über die Lage der un­ terentwickelten Länder in alle Wohnzimmer dringt. Dies würde jedoch eine globaldemokratische Medienpolitik voraussetzen, und dies ist gegenwärtig nicht ab­ sehbar. Vielmehr sind die Weichen schon für eine ganz andere Infor­ mationspolitik gestellt, die eine Weiterführung uns recht bekann­ ter Marktstrategien darstellt. Die Konzentration der Medienkonzer­

ne hat längst begonnen, und es ist nur noch eine Frage von wenigen Jahren, bis in der gesamten westli­ chen Welt eine nach Mac DonaldsManier aufgebaute Lieferung von „Info-Burgers“ stattfindet. Diese billigen und massenhaft produ­ zierten Informationseinheiten können in Form von Speicher­ chips, Magnetbändern, Videoplat­ te oder Floppy-Disc (flexible Ma­ gnetplatte) beliebige Inhalte (von der Tageszeitung bis zum Fußball­ spiel) darbieten. Gegenwärtig tobt noch der Kampf um Marktanteile in dieser „Software" Branche. Es ist noch nicht eindeutig, welche Form (Standards) die „Info-Burger“ ha­ ben werden, aber sie werden schon in Serie hergestellt. Eine schon existierende Varia­ tion der Info-Burger ist der VideoText oder Tele-Text. Diese mit ei­ nem speziell ausgestatteten Fern­ sehgerät erhältlichen Informa­ tionshappen geben einen Vorge­ schmack auf die vorfabrizierten In­ fo-Burger der Zukunft. Prinzipiell und technologisch kann jede Nachricht über Video-Text gesen­ det werden - in der Praxis jedoch sieht es so aus, daß jemand bzw. eine Organisation, Redaktion o.ä. diese Nachricht produzieren muß. Eine Zensur ist also gar nicht nö­ tig, weil nur solche Video-Texte „geschrieben" werden, die zwei­ felsfrei „o.k.“ sind. (Ein Grund, warum die derzeitigen Video-Text „Info-Burger“ so unglaublich fade sind). Dies könnte natürlich sofort ver­ ändert werden, wenn man die technischen Möglichkeiten dieser Medien voll ausnutzen würde und die Dialogfähigkeit dieser Geräte zuließe. Dies ist auch langfristig die einzige logische und mögliche Weiterentwicklung, wird jedoch zur Zeit durch technische und or­ ganisatorische Umwege verhin­ dert.

Das Netzwerk Hier kommen wir nun zu dem Be­ reich, der das globale Dorf aus­ macht: das weltumspannende

Netz elektronischer Medien und Kommunikationskanäle. Im Ein­ zelnen sind damit folgende Tech­ nologien und ihre Vernetzung ge­ meint: • Rundfunk (FM, AM) und Radio­ satelliten • Fernsehen und Fernsehsatel­ liten • Kabelfernsehen, Teletext, Vi­ deotext • Telefon und Telex • Computernetze, Informations­ systeme • „Software“: Computerpro­ gramme Unterhaltungskonserven (Video) Musikkonserven (Musikcassetten) Lehrprogramme Spielprogramme Auf den ersten Blick vielleicht eine ungewöhnliche Zusammenstel­ lung - aber schon beim zweiten Hinsehen wird deutlich, daß genau diese Medien binnen der nächsten fünf Jahre durch ein einziges Heimterminal zugänglich sein werden. Die Aussage des Compu­ terkritikers Theodor Nelson, der 1975 in seinem Buch „The HomeComputer Revolution“ schrieb, daß das Bildschirmterminal zur neuen Heimat des Menschen wird, scheint sich zehn Jahre später zu erfüllen. Eine Kombination von Computer, Telefon und Bildschirm wird zum Universal-Kommunikations-Apparat, der die wohl größte technologische Umwälzung unse­ rer Zeit darstellt. Die sozialen, wirt­ schaftlichen und politischen Impli­ kationen dieser „Netzwerk-Tech­ nologie sind so immens, daß wir nur andeutungsweise ein paar we­ nige herausgreifen wollen. • Dezentralisierung sämtlicher Informationsverarbeitenden Beru­ fe und Aufgaben. Räumliche Kon­ zentration und Zentralisierung ist nicht notwendig bei überall ver­ fügbarer elektronischer Informa­ tionskapazität. Ökonomische Zwänge (Energieeinsparung, Ar­ beitsplatzrationalisierung) werden zu einer neuen Form qualifizierter Heimarbeit führen und dadurch die „Bürozentren“ unserer Städte auflösen! 53

• „Heimcomputerarbeit“ wird an­ fänglich zu Isolation und psychi­ schen Problemen führen (Compu­ ter als Lebensgefährte), dann je­ doch die Revitalisierung der hei­ mischen Nachbarschaft bewirken. Freizeit und Arbeitszeit werden nicht mehr räumlich getrennt er­ lebt und dadurch die Möglichkeit zur „Umweltaneignung“ verstärkt. Soziale Beziehungen werden viel­ fältiger. • Die fast unbegrenzte Informa­ tionsfülle, die durch das Heimter­ minal abfragbar ist, wird zu „information-overload“ und Informa­ tions-Entropie führen. Damit ist die geradezu sinnlose Vielfalt möglicher Informationen gemeint, die keinem anderen Zweck dienen, als die vorhandene Kanalkapazität zu füllen. Auswahl und Strukturie­ rung der Informationsmassen wird dabei zum entscheidenden Pro­ blem der Netzwerk-Gesellschaft. • Bestehende Bildungs- und In­ telligenzunterschiede werden durch die Netzwerk-Technologie noch verstärkt. Wer mit den neuen Medien nicht arbeiten kann, ist aus dem gesamten Informations- und auch Wirtschaftsfluß ausgeschlos­ sen. Die „Informationsreichen“ werden den „Informationsarmen“ nicht nur an Wissen, sondern auch an materiellem Reichtum weit überlegen sein. Dies ist nicht nur innerhalb einer Gesellschaft, son­ dern ganz bezüglich des globalen Nord-Süd-Gefälles relevant. • Informationsproduzenten und -konsumenten lassen sich schon heute unterscheiden. Diese Ten­ denz wird sich fortsetzen, falls nicht starke Gegenströmungen ei­ ne Demokratisierung der Informa­ tionspolitik bewirken. Die Netz­ werktechnologie selbst bietet die Möglichkeit zur egalitären Infor­ mationspolitik. • Die vergrößerten Informations­ und Kommunikationskanäle be­ einflussen die politischen Struktu­ ren. Formen repräsentativer De­ mokratie können in der NetzwerkGesellschaft durch Direkt-Demokratie und plebiszitäre Entschei­ dungsstrukturen ersetzt werden. In totalitären Systemen kann es 54

jedoch zu einer verschärften Hier­ archisierung und Kontrolle kom­ men. Die Überwachungs-wie auch die Kommunikationsmöglichkei­ ten sind fast unbegrenzt. • Die elektronische Umwelt birgt die Gefahr in sich, zum Ersatz der Realwelt zu werden. Diese visuelle Scheinwelt bietet große Manipula­ tionsmöglichkeiten, wenn der Be­ zug zur realen „Primärwelt“ nicht mehr gesichert ist. Insbesondere sehr junge und alte Menschen, Be­ hinderte oder sonstwie sozial iso­ lierte Individuen können sich in der Medienwelt verlieren und lang­ sam Realität und Information über die Realität verwechseln. • Wenn die Medienkanäle oder gar das gesamte Netzwerk von we­ nigen Entscheidungsträgern ge­ steuert werden, ist die Gefahr ei­ ner globalen „Gleichschaltung“ gegeben. Die Vielfältigkeit und Wi­ dersprüchlichkeit lokaler, regio­ naler und interessengebundener Nachrichten wäre dann durch die Monotonie weltweiter Informa­ tionssteuerung ersetzt. Diese Gleichschaltung hätte eine Homo­ genisierung der Weltkulturen zur Folge. Anfänge dazu sind heute in der anglo-amerikanischen Popund Medienkultur schon gegeben. • Dementgegen könnte eine „von unten“ demokratisch aufbauende Netzwerkstruktur diese Medien derart nutzen, daß eine vielfältige heterogene und die regionalen und kulturellen Unterschiede be­ rücksichtigende Gesellschaft ent­ steht. Der Austausch und das „Voneinanderwissen“ würde eine größere Toleranz und Akzeptanz der Völker und Kulturen unterein­ ander bewirken. Damit wäre eine Art globales Bewußtsein geschaf­ fen, das ein friedliches Zusam­ menleben und kooperatives, ko­ ordiniertes Handeln der Men­ schen ermöglicht. Der letztgenannte Punkt ist of­ fensichtlich mehr eine wünschenswerte Hoffnung als ein gegebener Trend. Dennoch drückt er die In­ tentionen derjenigen Verfechter globaler Kommunikationsnetze aus, die nicht aus Verkaufs- oder Profitinteresse für die Weiterfüh­

rung und den Ausbau solcher Me­ dien eintreten.

Alternative Netzwerke Eigentlich ist im deutschsprachi­ gen Raum der Begriff „Netz­ werk“ oder „Netz“ mit anderen As­ soziationen gefüllt, als die hier dargebrachte Diskussion um Me­ dien und Technologien es tut. Mit Netzwerk ist meist eine alternative, nichthierarchische, neue Form so­ zialer Organisation gemeint. Dies ist auch die Essenz des in diesem Aufsatz verwendeten Netzwerkbe­ griffs. In unserem technologi­ schen Zeitalter ist es jedoch völlig logisch, daß wieder zuerst die technische und dann (vielleicht) die soziale Netzwerkstruktur Rea­ lität wird. Damit will ich sagen, daß das Mittel, das Medium oder In­ strument der Netzwerkorganisa­ tion in seiner technischen Ausprä­ gung vorhanden ist, während die soziale, politische und ökonomi­ sche Form des Netzwerks noch nicht existiert (höchstens als Gruppenexperiment). Ohne die sozialen Netze hat aber das technisch-mediale Netz­ werk überhaupt keinen Sinn bzw. es erfüllt dann die Zwecke der al­ ten, also hierarchischen Interes­ senstruktur. Die Hoffnung, daß durch das technische Netzwerk­ medium die Netzwerkgesellschaft möglich wird, teile ich nur inso­ weit, als daß es wirklich eine untermehreren Möglichkeiten ist. Ge­ nausogut sind Dogmatismus, Fa­ schismus, Terrorsysteme mit den Mediennetzen vereinbar. Dennoch stellt das elektroni­ sche „globale Dorf“ zweifellos ein schlagkräftiges und weitreichen­ des (in jeder Hinsicht) Instrument für eine starke soziale Bewegung dar, welche über die nationalen Grenzen hinweg und quer durch bestehende hierarchische Struk­ turen für ein humanes Überleben auf unserer kleiner gewordenen Erde eintritt! Von dieser Perspekti­ ve sind die vielen alternativen Gruppierungen zu sehen, die seit einiger Zeit ebenfalls am „globa­ len Dorf“ mittels Computer oder

anderer Medien (Video, Telex etc.) teilhaben. Mehr und mehr Alterna­ tivprojekte haben heute Computer und werden deshalb oft von einer geschockten „Szene“ attackiert. Offenbar bedeutet für viele Alternativler der Computer einen Kom­ promiß oder gar ein Überlaufen zum nicht-alternativen Big Busi­ ness, der Welt der Konzerne und Hierarchien. Wäre dann ein Tele­ fon nicht dasselbe? Es gilt also, nicht am Medium hängenbleiben, sondern am In­ halt, am Ziel, an der Intention. Wenn dazu elektronische Medien förderlich, wenn Kommunikation und Informationsaustausch not­ wendig sind - warum nicht? Twin Oaks, Findhorn, New Alchemy Institute, Synopsis, Auroville, Farallones Institute, Esalen,

TRÄNET, um nur einige der New Age oder Alternativgruppen zu nennen, die inzwischen zum Netz­ werk globaler elektronischer Me­ dien gehören, sie alle sind auf grund dieser „Vernetzung" nicht weniger „alternativ“ oder fort­ schrittlich, sie sind aber informell besser verbunden, und das kann eine große Hilfe sein. Die folgende Auflistung mag zum Verständnis des qualitativen Unterschiedes zwischen Netzwerk und Hierarchie, zwischen altem und zukünftigem System beitra­ gen, sie mag auch die Kategorie linker und rechter Gehirnhälften besser verständlich machen - je­ doch muß klar sein, daß diese Liste eine vereinfachte, tendenzielle Aufteilung darstellt und nicht ab­ solut gesehen werden darf.

Hierarchie contra Netzwerk

Hierarchie Objekt-Orientierung Konvergenz Yang linke Hemisphäre eindeutiges „oben“ u. „unten“ fixierte Rollen u. Funktionen Abhängigkeit von „oben“ Fremdsteurung Führungsschicht bestimmt Informationsfluß wird von „oben“ geregelt u. strukturiert Entscheidungen werden von „oben“ nach „unten“ durchgeführt Gruppen- u. Einzelinteressen bestimmen die Gesamtstruktur Divide et Impera

Heterarchie Meta-Orientierung Divergenz Yin rechte Hemisphäre relatives, rotatives „oben u. „unten“ flexible Rollen u. Funktionen Unabhängigkeit u. Interdependenz Selbstbestimmung „Ad-hoc“ Führungsgruppen Information fließt frei durch das gesamte Netz Entscheidungen werden lokal von Betroffenen nach Befragung des Gesamtnetzes getroffen Globales Ganzheitsbewußtsein bestimmt die Einzelentscheidungen Thinking Globally Acting Locally

Fortschritt oder Götterdämmerung Eine letzte Bemerkung will ich diesem Versuch einer Netzwerk­ analyse unserer Medienwelt noch anschließen und damit auch die größte und gefährlichste Konse­ quenz des „globalen Dorfes“ be­ nennen: Der Trend zum autoritä­ ren System, ja zum Faschismus! Aus dem Studium und der Ana­ lyse der Entstehung des National­ sozialismus in Deutschland erga­ ben sich einige für unser Thema relevante Theorien und Konzepte. Speziell Gregory Batesons Modell sozialer Schismogenese und Geoffrey Vicker’s Konzept sich selbst erregender Systeme lassen sich auf die Entwicklung einer elektronisch vernetzten Welt über­ tragen. Mit Schismogenese bezeichnet Bateson eine gesellschaftliche Entwicklung, die eine immer grö­ ßere Spaltung zwischen tatsächli­ chen sozialen, menschlichen In­ teraktionen und den kommunizier­ ten, ausgesprochenen und ver­ breiteten Ideen beinhaltet. Im Na­ tionalsozialismus waren es Aus­ drücke wie „Triumph des Willens“, die dann in der Realität „Beses­ senheit und Fanatismus“ hießen, „Glaube und Hoffnung“ wurde zu Blindheit und Verzweiflung. Wenn Hitler von der „Sicherheit eines Schlafwandlers“ sprach, so mein­ te er die Bewußtlosigkeit seiner ohnmächtig gemachten Soldaten. Typisch für die gesellschaftliche Schismogenese ist die ins Extrem getriebene Polarisierung von mo­ ralischen und ethischen Werthal­ tungen. Da gab es nur noch „gute" Arierund „Untermenschen“, „mu­ tige Kämpfer“ und „feige Deser­ teure". Mit der rhetorischen Ver­ kettung von Gegensätzen wie z. B. bei: „Wir gehen in diesen Krieg wie in einen Gottesdienst“ wird die schismogene Situation offensicht­ lich. Und hier wird auch die Analogie zum Mediennetzwerk deutlich: Die vorher aufgezeigten Aspekte und Effekte der elektronischen Umwelt erlauben auf noch nie dagewese55

Der Medien-Blues Wie weit die Fernsehkonitionierung heute schon reichen kann, enthüllt ein neues Buch des Neurologen Richard M. Restak. In „The Self-Seekers“ berichtet Re­ stak über die exponentielle Zunah­ me sogenannter „borderline-personalities“. „Borderline“ ist eine Psychose scheinbar normaler Menschen, die sich äußerlich nur in Apathie, Lustlosigkeit, Lange­ weile und sonstiger „cooler“ Ver­ haltensweise zeigt. Innerlich tobt jedoch ein Sturm, ein Verlangen nach Sensation, Gefühl und Eksta­ se. Das Resultat aus diesen beiden widerstrebenden Momenten ist zumeist Destruktion, Aggression gegen sich selbst und gegen ande­ re! Fälle von Selbstverstümme­ lung, Folter und Mord gehören zu dieser neuen Krankheit. In etwas abgeschwächter Form ist es die Sicherheitsnadel in Ohr oder Wan­ ge bei Punkern, die Rasierklinge im Handtäschchen der schrill auf­ gemachten Punk-Lady. Ein kleiner Schnitt in den Arm, ein Stich unter die Haut, das bringt den coolen „borderline“ Typen in Fahrt, in Ek­ stase - ja vielleicht sogar zum Or­ gasmus. Wer nur auf diese Weise noch fühlen kann, ist ein Opfer unserer reizüberfluteten Gesellschaft und die elektronischen Medien

ne Weise eine globale Schismogenese zwischen Wirklichkeit und Medienwelt. Die durch die elektronischen Medien verbreiteten Informatio­ nen über die Realität können auf­ grund technischer, ökonomi­ scher, politischer oder sonstiger Strukturen von dieser Realität ab­ weichen und gar das Gegenteil aussagen. Wenn diese Medien auch noch die einzige Informationsquelle für das Individuum darstellen, wird die Schismogenese zur Gesell­ schaftsform. 56

tragen dabei eine Hauptschuld. Restak sieht in den „Sex und Crime"-Spielen unserer Medien die Ursache bzw. den Auslöser für die borderline-Psychose. Die Verbin­ dung brutalster Gewalt mit Porno­ graphie bringt den Medienkonsu­ menten immer weiter von seiner weniger aufregenden Alltagswirk­ lichkeit weg. Eine gefühlsmäßige Abstumpfung gegenüber den Rei­ zen und Stimulationen in der Rea­ lität ist die Folge. Was bleibt ist die Sensation des physischen Schmerzes. Hier haben wir die Er­ klärung für die unglaublich bruta­ len Schlägereien und Folterun­ gen, die sich in unseren Großstäd­ ten oft abspielen. Die Gefühlsmas­ sagen in den Pornokinos und die Schlachtereien der Brutal-Western und -Eastern zeigen Resulta­ te. Was in der harten Wirklichkeit bleibt, ist die kümmerliche Suche nach dem Schmerz als einzige Möglichkeit, sich selbst und ande­ re zu fühlen und zu erleben. Doch die Medien hätten nicht diese Wirkung, wenn nicht der so­ ziale Kontext dazu aufforderte. Ei­ ne Ursache ist niemals ausrei­ chend für derartige Phänomene. Fehlende Orientierungsmuster und Strukturen in unseren Indu­ striegesellschaften stellen den Brutkasten für solche Mißgebur­ ten persönlicher Entfaltung!

Schon heute ist, wie oben ange­ deutet, eine Tendenz zur Flucht in die Schein- und Traumwelt der Medien und Unterhaltungselektro­ nik vorhanden. Auf diese Weise entstehen realitätsfremde schismoide Persönlichkeiten, die große Schwierigkeiten mit ihrer „ech­ ten“ Umwelt haben. Und hier be­ ginnt der Teufelskreis: Weil diese Menschen soziale Probleme habe, flüchten sie sich wieder in die Si­ cherheit der Medienwelt, wo auf Knopfdruck das gewünschte Pro­ gramm läuft. Dies wiederum ist ei­ ne weitere Abkapselung usw. usw.

Diesen Effekt der Aufschaukelung oder auch positiven Rückkoppe­ lung, wie es Kybernetiker nennen, machte Geoffrey Vickers zur Grundlage seiner Theorie sich selbsterregender Systeme. (Geof­ frey Vickers: „Freedom in a Rokking Boat“ Penguin 1972) Am Beispiel des Nationalsozia­ lismus können wir den Teufels­ kreis der Selbsterregung bis zu seiner Selbstzerstörung verfolgen. Tote und Verschleppte in den Kon­ zentrationslagern erforderten grö­ ßere innere Selbstrechtfertigung und damit noch irrationalere Argu­ mente, die wiederum weitere Mor­ de gestatteten - bis schließlich aus purem Fanatismus die letzten üb­ riggebliebenen Soldaten bei Kriegsende als Deserteure er­ schossen wurden. Diese sich selbst-erregenden Systeme sind auf Selbstvernich­ tung programmiert - oder sie be­ nötigen einen Deus ex machina, so wie in Wagners „Götterdämme­ rung“, Hitlers Lieblingsoper, die er wohl hundertmal sah. Daß unser globales elektroni­ sches Mediennetz ein solches sich selbst-erregendes System dar­ stellt, wird anhand der aufgezeig­ ten Faktoren und Auswirkungen der einzelnen Technologien sicht­ bar. Noch ist der Aufschauke­ lungsrhythmus noch relativ lang­ sam, aber es gibt schon Bereiche und Menschen, die im Netzwerk­ takt resonieren und vibrieren. Das soll nicht heißen, daß damit die Ouvertüre zur „Götterdämme­ rung“ im globalen Dorf geblasen wird - noch können wir die Wirk­ lichkeit und Medienwelt so syn­ chronisieren, daß eine harmoni­ sche Synthese und ganzheitliche Welt, statt einer globalen Schis­ mogenese entsteht, aber wir müs­ sen uns der Gefahr bewußt sein, die in der kritiklosen Nutzung des elektronischen Netzwerkes liegt.

Stephen Nachmanovitch

Gregory Bateson Ein Porträt des englischen Anthropologen, Denkers, Sehers Old men ought to be explorers1 (Im Alter sollte man auf Forschungsreisen gehen) Wir wir alle wissen, kann es durch­ aus sein, daß diese Erde zerstört wird, bevor unsere Kinder erwach­ sen sind. Wir denken da sogleich an Atomkrieg, aber das ist nur die sichtbarste Seite eines vielschich­ tigen Katastrophenfalles, in wel­ chem die Erde uns den Schaden zurückzuzahlen beginnt, den wir ihr zugefügt haben. Auf der Ebene von Waffen, Na­ tionalismen, Vernichtung von Tierund Pflanzenumwelten und von Boden, Luft, Wasser und Städten ist die Gefahr nicht endgültig zu beseitigen. All diese Einzelsym­ ptome schließen zu einem riesen­ großen System zusammen, das uns das Fürchten lehrt und nichts anderes ist als die Konsequenz aus unseren eigenen Voraussetzun­ gen und Denkgewohnheiten, die unserem Alltagsleben als soge­ nannter „gesunder Menschenver­ stand“ innewohnen. Unsere ganze Art und Weise des Denkens und Sehens muß von Grund auf umge­ krempelt werden. Es geht um eine Krise des Gei­ stes. Es geht um Aufwachen oder Sterben. Aus der ganzen alptraum­ haften Geschichte politischer Re­ volutionen gegen blutige Regi­ mes, die durch noch blutigere Re­ gimes abgelöst wurden, wissen wir, daß das kein Ausweg ist. Der einzige Ausweg ist eine spirituelle, geistige und emotionale Revolu­ tion, in der wir die ineinandergrei­ fenden Verflechtungen von Mensch und Mensch, Organismus und Umwelt, Handlung und Kon­ sequenz als biologische Tatsa­

chen, aus erster Hand, zu erfahren lernen; wenn wir eine Sprache sprechen können, die bei jedem Gedanken den Kontext mitdenkt. Unsere gegenwärtige Sprache sperrt den Kontext aus. Ich hatte einen lieben Freund und Lehrer mit Namen Gregory Bateson, einen gewaltigen engli­ schen Anthropologen, der diese Art eines erneuerten Denkens und Sehens beispielhaft vorlebte. Er formulierte ein Corpus von Ideen, das die Bindegliederzwischen den Symptomen aufzeigt, das Gewebe des Gesamtmusters, und - nicht Antworten, sondern eine Art, bes­ sere Fragen zu stellen; Werkzeuge („Schritte"), um den Ausweg zu erdenken. Ich möchte auf diesen Seiten sein Porträt malen, ein Gefühl mei­ ner eigenen Erfahrung von ihm vermitteln - nicht bloß um dessentwillen, der er war, sondern weil er auf etwas sehr Wichtiges gezeigt hat und weil der, der er war, und das, worauf er zeigte, so innig miteinander zusammenhin­ gen. Deshalb ist er es wert, be­ schrieben und erinnert zu werden; denn er war gewiß nicht an persön­ lichen Denkmälern und Gedächt­ nisfeiern interessiert, und wahr­ scheinlich tobt er in seinem Refu­ gium im Unbedingten schon jetzt über mich! Das erste Mal begegneten wir einander im Sommer 1972, an sei­ nem und meinem ersten Tag auf dem waldigen Campus der University of California in Santa Cruz. Auf einem Pfad rempelten wir uns fast an. Ich war graduate Student der Psychologie und wollte weg von den Bildungsfließbändern in Ber­ keley. Er hatte, obwohl er mit sei­ nen 68 Jahren eine führende Ge­ stalt in einem halben Dutzend Wis­ senschaften war. nie in eine der konventionellen Nischen der aka­ demischen Welt gepaßt und kam

jetzt als part-time lecturer nach Santa Cruz. Seine körperliche Er­ scheinung war imposant: langsam in den Bewegungen, mit weißem Haarschopf wie Jehova und einem gütigen Lächeln, in dem sich uner­ schöpflicher Humor mit der Trauer dessen vermischte, der es alles ge­ sehen hat. Die Stimme war ein tie­ fes, sonores King’s English. Wir brauchten einige Zeit, um uns zu beschnuppern; sagten nicht viel. Aber es gab das packende Gefühl des Wiedererkennens - wovon? Dafür gab es an jenem Tag keine Worte, aber es war das, was er später „das Muster, das verbindet“ nennen sollte. In der folgenden Woche zog ich nach Santa Cruz, um Gregorys Schüler zu werden. Am Unabhängigkeitstag (4. Juli) 1980, gegen Mittag, starb er, 76 Jahre alt, im Gästehaus des Zen Center von San Francisco. Was dazwischen geschah, war für mich eine permanente Verän­ derung in der Art, wie ich die Welt sah; oder vielmehr die sichere Be­ stätigung einer Sehensweise, die immer dagewesen war, im Hinter­ grund, aber nur in Bruchstücken, in Andeutungen und Ahnungen.

Gregory hatte einen Lieblings­ trick, wenn er wollte, daß eine neue Gruppe von Leuten „sich die Füße naß machte“, um herauszu­ kriegen, „worum es geht“. Ich se­ he ihn noch hereinstampfen, wuchtig und ungelenk, mit seinem verrückten Hawaihemd, und ir­ gendwie herausfordernd den Kör­ per eines großen Krebses mitten auf den Tisch werfen. Mit boshaft funkelndem Blick bat er uns, uns vorzustellen, wir seien Anthropo­ logen vom Mars, d.h. intelligente Wesen (was immer das bedeutet), die keinerlei vorgefaßte Annah­ men darüber haben, was „Leben auf Erden“ sein oder wie es aussehen könnte. Unter diesem Ge­ sichtspunktsollten wirzeigen, daß dieses Objekt von einem lebendi­ gen Wesen (was immer das bedeu­ tet) hervorgebracht worden sei. Im Laufe der Jahre benutzte er Krebse, Muscheln oder 'andere 57

Überreste von Organismen; oder er legte ein Gemälde von Blake oder eine Eingeborenenarbeit aus der Südsee auf den Tisch; oder den Text des Bodhisattva-Gelübdes, alle lebenden Wesen zu scho­ nen. In jedem Falle bestand unsere Aufgabe darin, von einem konkre­ ten Gegenstand auszugehen, der gerade so groß war, daß wir ihn in die Hand nehmen und umdrehen konnten; und Schritt für Schritt mußten wir ihm (oder vielmehr un­ serer sich anbahnenden Bezie­ hung zu ihm) ein Verständnis da­ für abgewinnen, was es heißt, Teil einer lebendigen - und daher heili­ gen - Welt zu sein. Von da an war es wie das Sich-Auftun einer unendlichen Serie chinesischer Kästchen (nur daß jedes neue Kästchen größer war als das vor­ herige!); man geriet in sehr ab­ strakte, formale, globale Fragen, aber stets auf der zuverlässigen Basis jenes Krebses oder eines an­ deren Materials, das wirsehen und anfassen konnten. * Sein wesentlicher Beitrag war die Erweiterung unserer Idee von bio­ logischen Prozessen um die Di­ mension des Geistes (Organismen sondern nicht nur Knochen und Gewebe ab, sondern auch Verhal­ ten, Kommunikation, Künste, Reli­ gionen); und die Erweiterung un­ serer Idee des Geistes um die Di­ mension der Natur (Lernen und Evolution spiegeln sich ineinan­ der; der Embryo weiß, wenn seine Hände und Füße mit ihren verwikkelten Mustern von Furchungen, Auffächerungen und Symmetrien wachsen; eine Kultur weiß, wenn sie im Laufe von Generationen Ri­ tuale entwickelt). Alle biologi­ schen Daten, der Krebs ebenso wie das Gedicht, sind nach Warren McCullochs Ausdruck „Embodiments of Mind“, Verkörperungen des Geistes. Die Folge dieser Auffassung ist nicht das „Herabziehen" des Psy­ chologischen und Spirituellen auf die „Ebene“ des Materiellen (wie im Behaviorismus oder Positivis­ mus) noch das „Emporheben“ der 58

Welt der Körper und des Verhal­ tens auf die Ebene von Geist und Seele. Die Scheidelinie verläuft gar nicht so. Blake hat ge­ schrieben: „Der Mensch hat keinen von seiner Seele geschiedenen Leib. Denn was Leib genannt wird, ist ein Teil der Seele, der durch die fünf Sinne wahrgenommen wird, die Haupt­ zugänge zu dieser Seele in dieser Zeitlichkeit. “2 Das alles ist natürlich in den östli­ chen Philosophien ein alter Hut, namentlich im Taoismus und Buddhismus. Aber Gregory zeigte, daß die Daten und die theoretische Grundlagenarbeit unserer eige­ nen dualistischen Wissenschaft, wenn wir ihnen sehr sorgfältig nachgehen, uns geradewegs aus dem Dualismus heraus und dem entgegenführen werden, was wir heute Paradigmenwechsel nen­ nen. Es gibt eine Gattung des wissen­ schaftlichen Schrifttums, die sich „Principia“ nennt und mit Grund­ lagen befaßt. Geist und Natur, Gre­ gorys letzte Zusammenfassung seines Werkes vor seinem Auf­ bruch in neues Gelände, bietet ei­ ne Art von Principia creatura; es ist ein Werk, das fragt: welches sind die Axiome, die einer Wissen­ schaft von allen lebenden, kom­ munizierenden, sich fortentwikkelnden Systemen = allen Geist­ formen (minds) zugrunde liegen: „Welches Muster verbindet den Krebs mit dem Hummer und die Orchidee mit der Primel und all diese vier mit mir? Und mich mit Ihnen ? Und uns alle sechs mit den Amöben in einer Richtung und mit dem eingeschüchterten Schizo­ phrenen in einer anderen ? Ich möchte Ihnen sagen, warum ich mein ganzes Leben lang Biolo­ ge war, was es ist, das ich immer versucht habe zu studieren. Wel­ che Gedanken kann ich hinsicht­ lich der gesamten biologischen Welt, in der wir leben und unser Dasein fristen, mit anderen teilen? Wie ist diese Welt zusammenge­ setzt?

Was jetzt gesagt werden muß, ist schwierig, scheint ganz „leer" zu sein und ist doch von sehr großer und tiefer Bedeutung für Sie und mich. In diesem historischen Zeit­ punkt halte ich es für wichtig, was das Überleben der gesamten Bio­ sphäre, die, wie Sie wissen, be­ droht ist. Welches ist das Muster, das alle Lebewesen verbindet?“3 II. Unterrichten ...

„ Und fast jedes Jahr kam so etwas auf wie eine Klage, die gewöhnlich in Form eines Gerüchts bis zu mir drang. Es wurde vorgebracht, daß ,Bateson etwas weiß, das er uns nicht sagt', oder,Hinter dem, was Bateson sagt, steckt etwas, aber er verrät nie, was es ist. “4 Kai: „Hm - da ist so eine kleine Kurve ... da ist so eine kleine Stel­ le, wo du um die Ecke biegst, und ich sehe dich gerade noch ver­ schwinden, wenn du vorträgst.“ Gregory: „Du solltest auch um die­ se Ecke biegen!“

Vielleicht am produktivsten war Gregory als Lehrer. In den letzten vier Jahrzehnten hatte er eine gro­ ße Schar geistiger Kinder, die ei­ nen bestimmten Geist und Ge­ sichtspunkt in ihre unterschiedli­ chen Gebiete trugen. Vielfache Form der Beziehung: Wir alle sind anders und sehen Gregory anders - er versuchte nicht - und hätte es auch nicht vermocht-, uns zu lau­ ter kleinen Batesons zu machen. Trotzdem gibt es etwas, was sich nicht ganz definieren läßt, eine ge­ meinsame Erfahrung von Integri­ tät und Echtheit. Wenn wir uns kennenlernen, werden wir leicht Freunde. Oft begegneten wir ein­ ander zum ersten Male in Bate­ sons Haus und wurden in lebhafte, fruchtbare Gespräche verwickelt, die bis in die Nacht hinein dauer­ ten. Gerade, wenn wir richtig in Fahrt waren, pflegte Gregory sich zu entschuldigen und ins Bett zu gehen, wobei er beim Hinausge­ hen murmelte: „Sie brüten!" Er hatte seinen Teil getan, und das Übrige lag bei uns.

Alles, was ich „über Gregory“ schreibe, ist in gewissem Sinne Täuschung; denn es gab keinen anderen Gregory als Gregory-inBeziehung-zu ... Das kam so deut­ lich in seiner Unterrichtsweise zum Ausdruck, die nicht dozie­ rend, sondern dramatisch (sokratisch) war. Als Dozent, der eine Einweg-Botschaft vermittelte, konnte er geradezu unverständ­ lich sein, wenn man nicht schon wußte, worüber er sprach. Aber in kleinen Seminaren und Bespre­ chungen war er von einer umwer­ fenden Effektivität: er verschmolz mit einer Gruppe von Menschen, die er zusammenwob und inspi­ rierte, die aber ungehindert ihre eigenen Kräfte und Ideen entfalte­ ten und so ein Kollektiv schufen, das wirklich denkt. Er sagte: „Es braucht zwei, um einen zu kennen." Deshalb sind für mich seine Me­ taloge die klarste, präziseste Ex­ position seines Materials - die platonisierten Vater-Tochter-Gespräche, die er im Laufe der Jahre veröffentlichte und im ersten Teil der Ökologie des Geistes zusam­ menfaßte. Dasselbe gilt für Our Own Metaphor, ein Buch, in dem Mary Catherine Bateson die Kon­ ferenz ihres Vaters über die „Aus­ wirkungen des bewußten Zweckes auf die menschliche Anpassung" von 1968 schildert- hier sehen wir Gregorys Denkweise eingebettet in eine Matrix des Gebens-undNehmens mit anderen, einen le­ bendigen stochastischen Prozeß von Menschen und Ideen, die sich vermischen, entzweien und zu ei­ nem unabgeschlossenen Ganzen gemeinsam fortentwickeln. Ein Metalog ist eine Diskussion, in der die Sprache dem, worüber gesprochen wird, isomorph (von gleicher Form) ist. Normalerweise redete er immer in Metalogen - seiner Metapher; was man vor sich hatte, war Bate­ son in Reinkultur. Wenn ich mit Gregory über irgend etwas sprach, hatte ich den Eindruck, daß das Gespräch diesem Etwas näher kam als bei irgendwem sonst, den ich kannte.

Er besaß „seine“ Ideen nicht; er „hatte“ sie nicht (ebensowenig wie man einen Körper „haben" kann!). In den letzten Jahren sind gleich­ artige Ideen aus tausenderlei Quellen in das System eingeflos­ sen, und müssen es auch, wenn wir überleben sollen: nicht Ich, sondern Organismus-plus-Umwelt; nicht Kausalität, sondern Wechselbezüglichkeit. Bateson fungierte mehr als eine Art Nexus, in dem sich die Ideen trafen und nach außen fortpflanzten. * Er lehrte uns eine Menge einzelner Informationen, Daten aus Experi­ menten, aus der Erfahrung, aus der Kunst, Gedichte und treffende Zitate, die er gern anführte; alles war an und für sich wichtig, aber noch nicht das: vielmehr war es eine Illustration für ,Das'. Er besaß ein Repertoire von Geschichten, drei bis vier Dutzend Mehrzweck­ parabeln. Gregorys Erklärungen waren aus diesen Geschichten zu­ sammengebaut, kombiniert, um­ gekehrt, auf verschiedene Weise verknüpft, ganz so wie RiesenProteinmoleküle aus einem festen Repertoire von 20 Aminosäuren aufgebaut sind. Und dann gab es die Lücken und Leerstellen, die er ließ, damit jenes unaussprechliche, greifbare Gefühl für Komplexitätvon uns Besitz ergriff, damit die vielfachen Be­ deutungsschichten in uns reiften; dann rezitierte er: „It was when I said, ,There is no such thing as truth,' That the grapes seemed fatter. The fox ran out of his hole. It was at that time, that the silence was largest And longe'st, the night was roundest, The fragrance of the autumn wär­ mest, Closest and strongest.“5 (Gerade als ich sagte: ..Wahrheit, das gibt es ja nicht“, da war es, daß die Trauben fetter schienen. Der Fuchs lief aus seinem Bau. ... Da war es, daß das Schweigen am

größten war und am längsten, die Nacht am rundesten, der Duft des Herbstes am wärmsten, am stärk­ sten, ganz nah.) Er hatte null Toleranz für „geist­ reiche“ Bermerkungen und Sichin-Szene-Setzen. Ich erinnere mich, wie er mir eines Tages - ich war damals sein Assistent im Un­ terricht- nach der Stunde die Höl­ le heiß machte: „Sie Affe! Ich hatte gerade so ein schönes saftiges kleines Schweigen am köcheln, und Sie müssen mit Ihren dicken Latschen mitten hinein trampeln!“ Die hauptsächliche Fähigkeit, die er lehrte, war: Kontextbe­ wußtsein: die Welt nicht als eine Ansammlung von Dingen oder Personen zu sehen, sondern als ein Netz aus Beziehung, zusam­ mengehalten durch Kommunika­ tion. Diese Weise des Sehens ist keine Abstraktion, sondern eine greifbare Erfahrung, die durch Übung kultiviert werden kann. Sie ist an sich eine der Antworten auf die tiefe Krise des Geistes, die un­ sere Zivilisation behext. „Bateson weiß etwas, was er dir nicht verrät.“ Viele Leute sagen, „Bateson“ sei eine so fürchterlich schwierige Lektüre, daß sie erst­ mal ausgepackt werden muß: Ist es Anthropologie oder Psycholo­ gie oder Systemtheorie oder was? - irgendeine abschreckende Bindestrich-Kombination aus Gebie­ ten und Fächern? Wir sagen: inter­ disziplinär. Aber das ist es noch keineswegs. Kein Bastard oderein Gebiet, das sich das Material eines anderen „zunutze macht“. Worauf es Gregory ankam - nein: sein Standpunkt - war die notwendige Einheit aus Wissenschaft, Kunst und Religion; der Gedanke, daß es monströs ist. diese drei auseinan­ derzubrechen und in Kästchen zu stecken; daß der Schlamassel, in dem wir uns heute befinden, we­ nigstens teilweise auf das Ausein­ anderbrechen unseres kulturellen Wissens in Fakultäten und Spe­ zialgebiete zurückgeht. Aber zugegeben, er hatte Mühe, seinem Thema einen Namen zu geben. Manchmal legte er sich ei­ nen zurecht - Erkenntnistheorie, 59

oder Ökologie des Geistes aber oft pflegte er nur zu sagen „diese Sachen", „worum es eigentlich geht“, „das Wesen dieses ganzen Geschäftes“. Oft sprach er von Zeugs oder Dingsbums oder von „Themen, die noch nicht ordentlich formali­ siert worden sind“. Er sprach da­ von, Paradigmen in seiner Vorrats­ kammer aufzuhängen. Nichtdualistische Gedanken auf Englisch oder in verwandten Spra­ chen auszudrücken, ist sehr schwierig. Nichtdualistische Gedanken oder Grundzusammenhänge prä­ verbalen Lernens auszudrücken ist in fast jeder akademischen Dis­ ziplin so gut wie unmöglich. Es ist so schwer, über „es“ zu sprechen, nicht weil „es“ zu kom­ pliziert wäre, sondern weil „es“ zu einfach ist. Wir neigen dazu, uns das Wissen als eine Art Pyramide vorzustellen: ganz unten das, was wir auf dem Arm der Mutter lern­ ten, darüber das, was wir im Kin­ dergarten lernen, und so weiter bis zur obersten Spitze. Wir denken uns „schwierige“ Ideen in der Py­ ramide „höher“ angesiedelt als den „gesunden Menschenver­ stand“. Nun, „Bateson“ setzt unterdem gesunden Menschenverstand an, bei den elementaren Annah­ men oder Axiomen, die dem ge­ sunden Menschenverstand zu­ grunde liegen, den unbewußten Evidenzregeln (= Epistemologie), die wir in Gerichten, gesetzgeben­ den Körperschaften, Universitä­ ten, den Medien benutzen: Axiome wie den Glauben an den Materia­ lismus (die Welt besteht aus „Din­ gen“ sowie aus „Kräften", die auf die „Dinge“ einwirken), den Glau­ ben an das lineare Ursache-Wirkung-Verhältnis, an lineare Zeit, Objektivität, Spezialisierung. Die Axiome sind wie der Geno­ typ oder die Tiefenstruktur, die tat­ sächlichen Geschehnisse in der Kultur sind wie der Phänotyp oder die Oberflächenstruktur. Axiome sind ihrer Natur nach selbstkonservierend und gegen Veränderung sehr resistent. So hatte sich Gregory eine recht er­ 60

kleckliche Aufgabe gestellt, als er erklärte, er wolle uns „vom Denken in materiellen und logischen Be­ griffen befreien, wenn ihr ver­ sucht, über lebendige Dinge nach­ zudenken“. Wir mußten eine ganze Men­ ge von dem verlernen, was wir vom Kindergarten aufwärts in uns aufgenommen hatten. Es war schon etwas, das zu erleben und später nachfolgenden Räumen voll Menschen zuzusehen und zu helfen, sich selbst aufzugeben (da­ bei jeden Zollbreit Weges verteidi­ gend!) und der Intensität dessen zu überlassen, was um diesen Tisch herum vorging, wobei ihre Wurzeln kräftig gezaust wurden. Sich die Wurzeln zausen zu lassen nicht „von“ Gregory, sondern von ihm und dem jeweiligen anderen und dem ganzen Prozeß - Grego­ rys „kleines Herz“, bekannte er freimütig, schlug „poch-poch im Einklang mit uns allen“. ... und hinsehen

Ray Birdwhistell erzählt von einem Anthropologieseminar von gradu­ ierten Studenten, wo man „den Film ,Trance and Dance in Bali‘ sowie die Bücher ,Balinese Character‘ und ,Naven‘ diskutiert hatte, als ein Student fragte, ob Bateson und Mead eine Methodo­ logie hätten. Die anderen Studen­ ten fanden diese Frage augen­ scheinlich verdienstvoll und schie­ nen nicht zu begreifen, als ich zur Antwort gab:,Natürlich nicht. Das sind erfahrene Ethnographen und keine Techniker. “'6 Bis heute hat kein Anthropologe irgend etwas vorgelegt, was es ernsthaft mit Balinese Character aufnehmen könnte, dem photo­ graphischen Bericht Gregory Batesons und Margaret Meads über ihre Feldarbeit in Bali in den 30er Jahren. Ungeachtet ihrer sehr ver­ schiedenen Karrieren waren beide übereinstimmend damit befaßt, ein möglichst klares Bild von den Daten zu vermitteln, indem sie auf die Erfahrung selbst hinzeigten statt auf statistische Zusammen­ klumpungen von Erfahrung oder

auf induktive Projektionen aus der Erfahrung. Bateson brach dem Medium des anthropologischen Films Bahn, das heute zu einem immer kostbareren Denkmal der Menschheit wird, wo auch die letz­ ten, verstecktesten primitiven Kul­ turen von der globalen Geldwirt­ schaft eingeholt und geschluckt werden. Während ich dies schreibe, fällt mein Blick auf Gregorys Photogra­ phie eines majestätischen Trios afrikanischer Löwen. Präsenz, Leichtigkeit, Anmut. Sie scheinen hier bei mir im Zimmer zu sein und zu schnauben. Er warein hervorra­ gender Kameramann - technisch wie künstlerisch. Der Photograph-als-Ethnologe (Beobachter anderer Kulturen) oder als Ethologe (Beobachter an­ derer Arten) muß die Fähigkeit ent­ wickeln, seine Augen zu gebrau­ chen, still zu sitzen und zu beob­ achten, zu warten, wenn es sein muß Stunden oder Monate, bis das Ereignis, das er studieren will, auf natürliche Weise eintritt. Das sind die Tugenden des altmodischen Naturforschers des vorigen Jahr­ hunderts, im Gegensatz zum mo­ dernen Laboratoriumsforscher. Es sind auch Zen-Tugenden. Sowohl Zen als auch Gregorys besondere Art von Wissenschaft entspringen der genauen Beob­ achtung dessen, wie die Dinge sind, nicht, wie wir sie haben wollen. Und seltsam: wenn diese Treue zur Beobachtung wirklich durch­ gehalten wird, werden die höher­ rangigen Abstraktionen, Kontexte und Kontextkontexte plötzlich sichtbar und fühlbar! Gregory glaubte daran, daß wir ein Ding-an-sich nicht unmittelbar wahrnehmen können, ohne es zu verzerren - immer gibt es vielfache Schichten von Neuronen und Ge­ wohnheiten, Sprachen und Codes, der Verarbeitung und Wiederver­ arbeitung von Information, ihrer Filterung durch kaum wißbare physiologische, persönliche, kul­ turelle Voreingenommenheiten. Diese Voreingenommenheiten sind unsere Epistemologie.

Gregory Bateson (Epistemologie bedeutet norma­ lerweise: Erkenntnistheorie: wie erkennen wir? was erkennen wir? wie sortieren wir unsere In­ puts in Erkenntnis/Trivialitäten/ Unsinn/Halluzinationen usw.? Gregory und Warren McCulloch verpflanzten dieses Wort in die Biologie, weil sie erkannt hatten, daß auch eine Ratte in einem Lernexperiment eine Epistemologie „hat“, eine verinnerlichte Erkennt­ nistheorie, die ihre Wahrnehmun­ gen kalibriert. „Epistemologie“ er­ fährt somit eine erhebliche Erwei­ terung der Bedeutung: die von den Nerven besorgte Filterung, die das Auge des Frosches für Bewegun­ gen von kleinen Punkten sensibili­ siert, die möglicherweise Fliegen sind, und die von der Kultur be­ sorgte Filterung, die einen Men­ schen dazu disponiert, an Wunder oder an den ökonomischen Deter­

minismus zu glauben oder nicht zu glauben, sind beides Epistemo­ logie.) Gregory zitierte immer wieder Korzybski: „Die Karte ist nicht das Gelände“, der Name ist nicht das Benannte; und Wallace Stevens: „They said, ,You have a blue guitar, You do not play things as they are. ‘ The man replied,, Things as they are Are changed upon the blue guitar. “‘7 (Sie sagten: „Du hast eine .blaue' Gitarre, du spielst die Dinge nicht so, wie sie sind.“ Der Mann erwi­ derte: „Die Dinge, wie sie sind, werden anders auf der ,blauen' Gi­ tarre.“) Er schätzte auch Castanedas

Gebrauch des Wortes „Glossen"8 zur Beschreibung der Begriffe und Bilder, die wir uns von unserer Welt machen und die wir, um den Preis aller möglichen milden oder schweren Pathologien, irrigerwei­ se für die Welt selbst halten. Die „Objekte“, die wir „da draußen" wahrnehmen, sind Glossen Randbemerkungen und Erläute­ rungen -zum wirklichen Ding. (Es konnte nicht ausbleiben, daß einer von Gregorys Studenten eines Abends aufsprang und ihn an­ schrie: „Steck Dir doch Deine Glossen sonst wohin!“/„Schmink Dir doch endlich Deine Glossen ab!“) Kultur und Persönlichkeit perfo­ rieren die Wirklichkeit, brechen sie in Einzelstücke auseinander, die wir als real behandeln. „Die große Erleuchtung kommt, wenn du plötzlich erkennst, daß das ganze Zeug Beschreibung ist.“9 Eingedenk der provisorischen Natur von Begriffen und Worten sagt er an einer Stelle in Geist und Natur: „Streng genommen müßte jedes Wort in diesem Buch in An­ führungszeichen stehen.“10 Nährt unsere Sprache generell den Trugschluß einer verfehlten Konkretheit, so sind es besonders die Hauptwörter-„Substantive“-, die uns daran hindern, den Fluß und die Allverflochtenheit unserer Welt zu sehen. „Und vergeßt nicht, es gibt keine Substanz“, sagte Gregory eines Abends, mit einem Seitenblick auf sein deftiges mexi­ kanisches Essen, das in der Tat sehr substanziell aussah. Doch das Problem sind nicht so sehr die Worte als solche, sondern unser Verhältnis zu ihnen. „Die Sprache ist eine bemerkenswerte Dienerin, aber eine schreckliche Herrin.“ Es gibt etwas, was sich Dichtung nennt und darin besteht, Wörter zu gebrauchen, um zu sa­ gen, was mit Wörtern unmöglich gesagt werden kann. Gewappnet mit seinem Unglau­ ben an Objektivität und unmittel­ bare Wahrnehmung, war Gregory paradoxerweise doch fähig, auf Beobachtung fußende Forschung der unmittelbarsten Art auszufüh­ 61

ren und zu lehren. Er verbrachte den größeren Teil seines Lebens damit, daß er sich an allen Ecken und Enden des Stillen Ozeans um­ sah und nach den Lebensformen schaute, Ausschau hielt: Schmet­ terlinge, Tümmler, Religionen, Ge­ sellschaftsstrukturen - ein Natur­ forscher. Daten wurden für Gregory durch eine Art Sandwich erzeugt, den man aus den Grundwahrheiten der Wissenschaft und den direkten Empfindungen des Lebendigen, der Dinge, die der Naturforscher sieht, zusammenstellen muß. In seiner eigenen Theoriebil­ dung applizierte er unerbittlich Occams Rasiermesser (entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem - die erklärenden Grund­ sätze dürfen nicht ohne Not ver­ mehrt werden), um die oft sinnlo­ sen Begriffe loszuwerden, in de­ nen sich die Sozialwissenschaften verfangen. Er war für „einfaches Denken". Oft las er die folgenden Zeilen aus Blake vor: „Zwing'den Vernünftler, zu bewei­ sen mit unbehauenen Beweisen. Laß das Unbegrenzte erkundet werden, und möge jeder Mensch beurteilt werden nach seinen Wer­ ken; alles Unbegrenzte werde um­ gemünzt in Beweise, zu Staub zer­ stoßen und zerschmolzen in den Feueröfen der Anfechtung; Wer aber Gutes tun will einem anderen, der tue es in kleinwinzigen Stück­ chen; das Allgemeine Gute ist die Losung des Schuftes, des Heuch­ lers und Schmeichlers: Denn Kunst und Wissenschaft können nur in kleinwinzig organisierten Stückchen bestehen und nicht in verallgemeinernden Beweisen der Verstandeskraft. Das Unendliche allein wohnt im begrenzten, be­ stimmten Sich-selbst-Gleichen. "11

kümmertersich nicht um so illuso­ rische Themen wie Gut & Böse (Gott ist kein Theologe!), sondern er spricht vom Regen und vom Tau, und von Steinblöcken und den Fundamenten der Erde, womit Er andeutet, daß die Weisheit in den winzigen Partikeln der Natur­ geschichte liegt. Gregory sagte, das Korrektiv zur Frömmigkeit Hiobs - seinem über­ triebenen Vertrauen auf abstrakte Voraussetzungen - sei die Natur­ geschichte. Den Plan (design) als Sakra­ ments-Objekt sehen. Die Definition von „Sakrament“ als geeignetes Problem für die Biologie sehen. Die Symmetrie und Gliederung eines Blattes oder einer Kultur als die immanente Gegenwart eines Gesamtmusters sehen - und dar­ über hinaus eines Musters aller Muster. In diesem Sinne begann ich zu verstehen, warum mir Gre­ gorys Werk stets so konkret und von gesundem Menschenverstand getragen schien, denn schon in sehr jungen Jahren hatte meine Mutter in mir Ideen und Gefühle des Pantheismus geweckt; Waldals-Gott, Ozean-als-Gott, Kosmosals-Gott. Die Daten bergen Bot­ schaften, die Daten sind Botschaf­ ten, vor allem aber sind die Daten eine „Trägerwelle" für Botschaf­ ten einer höheren Ordnung der Musterbildung. „Höher" bedeutet hier nicht „über" oder „getrennt von“, es bedeutet inklusiver: keine Dualismen, keine Frömmigkeitüber-den-Wolken. Gregory brüstete sich gerne da­ mit, daß er ein in fünfter Genera­ tion ungetaufter Atheist sei. Unter diesem Tarnmantel konnte er sich in seinen letzten Jahren unbehel­ ligt zu einer spirituellen „Ehrlichzu-Gott“-Gestalt entwickeln.

Stephen Nachmanovitch ist Mu­ siker, Schriftsteller und Gelehr­ ter. Er studierte in Harvard und an der University of California und promovierte zur Geschichte des Bewußtseins (Psychologie und Literatur). Er führte zahlreiche Lehrveranstaltungen durch und ist Mitglied der Guild of Tutors of International College, Los Ange­ les, für die Bereiche Philosophie und Musik. Seine Schriften umfassen wis­ senschaftliche Werke zu Psycho­ logie, Anthropologie, Poesie und Mythos. Seine gegenwärtigen Aufführungen bestehen in vielen Solokonzerten seiner eigenen Musik; Multimedia-Arbeiten zu Tanz, Poesie, Musik, Film und zur visuellen Kunst; sowie zahlrei­ chen Lesungen und Rundfunk­ auftritten. Derzeit schreibt er über Blake und Jung, und been­ det ein Buch über die Natur der Phantasie und Kreativität.

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ge, erweitert den Geist nach außen hin. Und beide Veränderungen re­ duzieren die Reichweite des be­ wußten Selbst. Eine gewisse De­ mut erweist sich als angemessen, die gemildert wird durch die Wür­ de oder Freude, Teil von etwas viel Größerem zu sein. Ein Teil - wenn Bei Hiob, einem weiteren wichti­ „Die Freudsche Psychologie hat Sie so wollen - von Gott. “13 gen Lehrmeister Gregorys, treten den Begriff des Geistes nach innen uns all die unbeantwortbaren gro­ ausgedehnt, so daß er auch das ßen kosmischen Fragen entgegen: ganze Kommunikationssystem in­ Warum gibt es das Böse? was be­ nerhalb des Körpers einschließt deutet das alles? warum ich? Aber den autonomen und den habituel­ wenn der Herr endlich aus dem len Bereich, sowie den riesigen Ungewitter zu Hiob spricht, dann unbewußter Prozesse. Was ich sa­ 62

III. Die Gründe des Herzens

„Die Menschen werden auf ge­ nommen in den Himmel nicht, weil sie ihre Leidenschaften bezähmt und beherrscht hätten oder keine Leidenschaften haben, sondern weil sie ihr Begreifen entwickelt haben. Die Schätze des Himmels sind nicht Negationen der Leiden­ schaft, sondern Wirklichkeiten des Geistes, aus denen alle Leiden­ schaften ungezähmt hervorgehen in ihrem ewigen Glanz. “14 Stell dir ein weißes, grummelndes Gebirge von einem Mann vor, wie er sich räuspert und wie er spuckt, der dich durch sich einen Blick auf Bali, auf warme Strände werfen läßt. Fesselndes, fast pho­ tographisch genaues Erzählen, seine Erfahrungen weitergebend, deutlich, hell, scharf umrissen. Sein mächtiger, lachender Bauch und sein Sinn für Humor waren etwas so Zentrales in sei­ nem Wesen - ich erinnere mich an so viele Ausbrüche eines unglaub­ lichen Wieherns, Schnaubens, Kicherns, Grunzens, Brummens, Grummelns und Stöhnens aller Art. Und eine Sprechstimme, die zwanglos über anderthalb Okta­ ven reichte, flexibel und genau, entspannt, äußerer, hörbarer Klang einer inneren, spirituellen Anmut. Wenn Gregory NonsenseVerse rezitierte (was er mit beson­ derer Vorliebe tat), war die Qualität ■ seiner Stimme schon ausreichend, um seine elementare Botschaft zu vermitteln, die Botschaft von einer Realität, die sich zusammensetzt aus Beziehung, Kommunikation und einer gemeinsamen Wissen­ schaft! ich-ästhetischen Wahrheit. Er konnte inspirierend sein, wenn er Dichtung vorlas. Sein eigenes Entzücken brach aus ihm hervor, wenn er Stücke von Shakespeare, Blake, Eliot, Cummings rezitierte — oder auch Limericks, die er von den Toilettenwänden der Universi­ tät Cambridge abgeschrieben hatte. Seine Tagungsbeiträge, Bü­ cher, Aufsätze sind da und können gelesen werden, und sie sollen ge­ lesen werden; aber für mich liegen die wirklich wichtigen Dinge an­

derswo. Was er sagte, erhielt seine besondere Bedeutung durch eige­ nes Gefühl, das seine Aussagen begleitete. Sein weites Herz kam in seiner Stimme zum Ausdruck, die­ ses Herz, das seinen Ideen Leben einhauchte. Trotzdem machte er sich so viele Gedanken darüber, ob die Worte und der Inhalt auch herüberkamen; als Intellektueller lag ihm so viel daran, daß man die Eleganz seiner Arbeit und seiner Aussagen würdigte, und er konnte so über das ganze Gesicht strah­ len, wenn er (oder irgendein ande­ rer!) eine ganz neue Weise fand, um etwas zu sagen; während un­ tergründig die wirkliche Bedeu­ tung in der Musik seiner Stimme durchdrang, frei und ungehindert. Wir lernten bei ihm, daß das er­ ste, was flötengehen kann, wenn man Ethnographie treibt und ver­ sucht, die Materialien der einen Kultur in den Kategorien der ande­ ren wiederzugeben - der Humor ist. Wie viele Anthropologen ha­ ben nicht pflichtschuldigst jede Menge von Daten zusammenge­ stellt, ohne zu wissen, daß ihre einheimischen Gewährsleute ih­ nen einen Bären aufgebunden hatten. Das ist deshalb so, weil der Hu­ mor-wie die Liebe, wie die Kultur - fast völlig kontextabhängig ist; er ist ein Meta- ... zu den jeweili­ gen Worten und Taten. Als Grego­ ry Anfang der 50er Jahre zu erken­ nen begann, daß das Studium des Kontexts das entscheidende Bin­ deglied zwischen seinen For­ schungen auf den Gebieten der Biologie, Kultur, Psychiatrie und Kommunikation war, wandte er sich als nächstes dem Studium des Spiels zu. Seine double-bindTheorie der Schizophrenie ist auch die double-bind-Theorie des Lachens und des Humors. Und der Kreativität.

und sang „Näher, mein Gott, zu Dir!“ * Er machte einem alles schmack­ haft, auch die schlimmsten Wahr­ heiten - durch seinen überwälti­ genden Charme, Kompromißlos. Ihm lag so sehr viel an dem, was er das kritische Vermögen nannte. (Immer wieder erzählte er die Geschichte von Samuel Johnsons Schlaganfall: Dr. Johnson lag im Bett, als plötzlich dieser schreckli­ che Schmerz kam und Lichter in seinem Kopf aufflammten; angst­ erregend; so stieg Johnson aus dem Bett, kniete nieder und betete zu Gott: Mach mit meinem Körper, was Du willst, aber bitte erhalte mir meinen Verstand. Gebete verrich­ tete man damals auf Lateinisch. Als Dr. Johnson wieder ins Bett kletterte, bemerkte er, daß er sein Gebet in schlechtem Latein ge­ sprochen hatte. So kniete er wie­ der nieder und dankte Gott dafür, daß Er ihm sein kritisches Vermö­ gen erhalten habe.) Bücher von Gregory Bateson: Ökologie des Geistes. Übersetzt von Hans Günter Holl. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1981. Zweite Auflage: 1983. (Enthält ein Verzeichnis der Veröffent­ lichungen von Gregory Bateson.) Geist und Natur. Übersetzt von Hans Günter. Holl. Frankfurt/Main: Suhr­ kamp 1982.

Bücher über Gregory Bateson Mary Catherine Bateson: Ourown metaphor. A personal account of a Confe­ rence on the Effects of Conscious Pur­ pose on Human Adaptation. Alfred A. Knopf 1972. David Lipset: Gregory Bateson. Legacy of a scientist. Prentice-Hall 1980. About Bateson. Hrsg. von John Brockman. Dutton 1977. Margaret Mead: Blackberry winter. Si­ mon & Schuster 1972.

* Jemand kam in sein Arbeitszim­ mer im Kresge College in Santa Cruz und fing an, ganz ernsthaft über Erforschung des höheren Be­ wußtseins zu sprechen. Gregory lehnte sich in seinem Stuhl zurück

Bei Gregory manifestierte sich das in seiner makellosen Lauter­ keit und seiner Beharrlichkeit. Manchmal konnte er eigensinnig und engstirnig sein; dann ging er davon aus, daß jedermann seine 63

Vorlieben und sein Vokabular teil­ te. Er konnte so arrogant werden, wenn er von Leuten sprach, die Worte wie „Impuls“ gebrauchten, statt zu sagen „Nachricht von ei­ nem Unterschied“; oder schrecklichster der Schrecken „psychische Energie“. Aristokratisch. Intuitiv. Enervie­ rend. Vornehm. Dominierend. „Hinterfotzig“. Präsent. Verspielt. Es gab Zeiten, wo er wirklich die Verkörperung dessen war, was er lehrte. Es gab Zeiten, wo er das genaue Gegenteil war. Beide Pole. Anspruchslosigkeit der Erschei­ nung. Alte, bequeme Klamotten. Struppig. Freude am Essen, Trin­ ken, Schlafen, Im-Stuhl-Sitzen, Späße, Geschenke und andere Ar­ ten von Information austauschen. Leichtigkeit im Umgang mit Kin­ dern. Leichte Kommunikation mit Tieren. „Bateson weiß etwas, was er dir nicht verrät.“ Doch verriet er es - aber in seiner eigenen koanSprache. „Eigentlich kommt es nur auf eins an“, sagte er mir eines Mor­ gens, am Rande der schimmern­ den Klippen von Big Sur, „daß man ordentlich pinkeln kann.“ Sein Kind-Ich war so stark; es war nie aus ihm heraus-erzogen worden. Fast ein halbes Jahrhun­ dert trennte uns, aber wir konnten zusammen wie Drei- oder Vierjäh­ rige sein: krakeelend. Weise. Schalkhaft. Albern. Phantasievoll. Langweilig. Ich denke an opulente Mahlzei­ ten und langwierige Schachpar­ tien, aber auch an den gräßlichen Abend, als er mir einreden wollte, man könne Nieren sautieren. Die Zeit in seinen letzten paar Lebens­ jahren in Esalen, als wir ganze Morgen in erfülltem Schweigen verbrachten. Durch die Berge um Santa Cruz streifen; die Gezeiten­ tümpel absuchen. Der kleine Freu­ dentanz in der Küche in Ben Lomond, der wir eines Morgens auf­ führten, weil wir der meist- und zweitmeist-unterschätzte Autor Englands waren. Das scheint alles so privat, so nahe, aber doch ir­ gendwie auch direkt verknüpft mit dem, was „Sache“ war, der Ökolo­ 64

gie des Geistes; das Intimste ist das Inklusivste. Deshalb hatte er so viele Freunde, denen Anthropo­ logie oder große Ideen nicht das Geringste bedeuteten, die aber leicht zu ihm selbst Kontakt fanden. Gregory war sicherlich ein „Hirnling“, beschäftigt mit seinem kritischen Vermögen, und doch konnte er auf den wilden, leiden­ schaftlichen Engländer Blake auf­ merksam machen, als denjenigen, der mehr als jeder andere gewußt habe, was es heißt, lebendig zu sein. Seine Lieblingsfilme waren Marcel Carnes Les enfants du paradis und Frangoise Sagans One More Winter - zwei Liebesge­ schichten voller unverfälschter Romantik. Ich erinnere mich, wie ihm die Tränen herunterkullerten, als wir uns eines Abends One More Winter ansahen. Bezeichnender­ weise sind diese Filme sehrfranzösisch -eine Kultur, die fürGregory den Pascalschen Satz veran­ schaulichte: „Das Herz hat seine Gründe, von denen der Verstand nichts weiß.“ Die Gründe des Her­ zens: Geist und Leidenschaft sind einander nicht entgegengesetzt, sie sind einfach Bestandteile oder Aspekte eines Etwas, das gewaltig groß ist. „Was ist Schönheit?“, fragte ich ihn eines Nachts. Er sag­ te: „Wenn man das Muster er­ kennt, das verbindet.“

zu verstehen, warum Gregory eine so intuitive Sympathie für die In­ nenwelt von Schizophrenen emp­ fand. Es gibt Algorithmen des Her­ zens, präzise Algorithmen. Er re zi­ tierte Blake: „For a Tear is an Intellectual Thing And a Sigh is the Sword of an Angel King And the bitter groan of the Martyrs woe Is an Arrow from the Almighties Bo w."15 (Denn die Träne ist ein geist-wirk­ lich Ding, Und ein Seufzer das Schwert, das ein Erzengel schwingt, Und des Märtyrers Stöhnen ist in der Welt Ein Pfeil, von dem Bogen der All­ macht geschnellt. Übs.: Alexander von Bernus)

IV. Synthese

Gregorys Kindheits- und Jugend­ geschichte-nachzulesen in David Lipsets 1980 erschienener Biogra­ phie - enthält das bedeutsame Faktum, daß er der dritte Sohn eines brillanten, berühmten, impo­ santen Biologen war, eines Rek­ tors von Cambridge. Der älteste Bruder, John, hätte eigentlich in die Fußstapfen William Batesons * treten sollen. Der zweite Bruder, Er lebte mit seiner solch scharfen, Martin, war - in einer Art klassi­ wütenden Bewußtheit darüber, scher Gegenreaktion - ungeheuer was für eine „tierische“, „unge­ romantisch, ein aufstrebender heuerliche“ Welt dies ist, ironisiert Dichter. Der dritte Bruder, Grego­ von seiner nicht weniger scharfen ry, war eine unbekannte Größe. Bewußtheit darüber, was für eine Aber John fiel im Ersten Weltkrieg, unauslotbar herrliche Welt das ist: und wenig späterjagte sich Martin die „fearful symmetry“! (Anspie­ wegen eines unglücklichen Lie­ lung auf Blakes „The Tiger") Die besabenteuers eine Kugel durch Spannung kann nur im Humor Ver­ den Kopf (unter der Eros-Statue söhnung finden, sei er sardonisch am Picadilly Circus!). So blieb nur und bitter, oder einfach wohlwol­ Gregory übrig, um das Erbe einer lend und kauzig. Denn wenn auch großer Menge dessen anzutreten, seine persönliche Versöhnung der was wir heute Karma nennen. widersprüchlichen Stimmen Spätere Schritte führten ihn so schöpferisch und glücklich war, weit fort, wie er nur kommen konn­ das Leben am Rande des Paradox te; zur Anthropologie und dann zu ist in der Tat dem Wahnsinn ver­ den Kopfjägern von Neu-Guinea. wandt - es fällt mir nicht schwer, Doch schließlich vollendete er in

der Tat - auf Wegen, die damals nicht abzusehen waren - eine ein­ zigartige Synthese aus Biologie und Dichtung. Er lieferte Beiträge zu vielen ver­ schiedenen Forschungsgebieten; seinen Kollegen kam es oft so vor, als ob er von Disziplin zu Disziplin „hüpfe“. Während er so dahin­ hüpfte, den Fingerzeigen seiner Daten folgend und gezogen von Analogien und Homologien, be­ gann er alle diese Gebiete als ver­ streute Stücke eines einzigen Mu­ sters zu erblicken, das selbst noch nicht recht sichtbar oder sagbar war. Durchweg aber wurde die Fär­ bung dieses halbfertigen Musters - dieser Metawissenschaft - be­ einflußt von seiner ersten Wissen­ schaft, einer Biologie im Stil des 19. Jahrhunderts: als Naturge­ schichte. Er wurde tief und nach­ haltig von seinem Vater geprägt, der ihn lehrte, in erster Linie auf die Struktur und makroskopische Form von Organismen zu blicken, auf die formalen Beziehungen zwi­ schen den Teilen, während diese sich in dieser Zeit entwickeln. Im Jahre 1906 (Gregory war damals zwei Jahre alt) schrieb sein Vater:

ner tierischen Wirbelsäule oder der zeitlichen Gliederung von Bachs Goldberg-Variationen? Als er in den 60er Jahren be­ gann, Arbeiten zu schreiben, in denen er seine besondere Art von Systemtheorie mit dem wieder auf­ lebenden Bewußtsein für die Exi­ stenz von so etwas wie „Ökologie“ verband, wurde deutlich, daß alle seine Gebiete und Stückwerke von Daten „Schritte zu ...“ etwas wa­ ren. Zu einerökologiedes Geistes. Dies war für ihn eine Art Durch­ bruch - kein sofortiger, sondern einer, der im Lauf der Jahre kam, als sein Werk seine eigentliche Na­ tur realisierte (im buddhistischen Sinn).

„Erst Ende 1969 wurde mir voll­ kommen klar, was ich eigentlich gemacht hatte. Mit der Nieder­ schrift der Korzybski-Vorlesung 'Form, Substanz und Differenz' fand ich heraus, daß ich bei meiner Arbeit mit primitiven Völkern, Schizophrenie, biologischer Sym­ metrie und in meiner Abweichung von der herkömmlichen Evolutions- und Lerntheorie eine weit verstreute Menge von Fix- oder Bezugspunkten festgelegt hatte, von denen aus ein neues wissen­ „ Wir denken uns Tiere und Pflan­ schaftliches Arbeitsfeld abge­ zen für gewöhnlich als Materie; in grenzt werden konnte. Diese Fix­ Wirklichkeit sind sie Systeme, punkte habe ich im Titel dieses durch welche Materie kontinu­ Buchs als ,Schritte‘ bezeichnet. ierlich hindurchgeht. Die geordne­ (Der Titel der amerikanischen Ori­ ten Beziehungen ihrer Teile zuein­ ginalausgabe lautet ,Steps to an ander unterstehen ebensosehr Ecology of Mind')“17 geometrischer Kontrolle wie die konzentrischen Wellen, die sich Das war also der Mann, den ich um einen Spritzer im Teich 1972 kennenlernte: obwohl er fast legen."16 ein halbes Jahrhundert damit zu­ Als Gregory später Anthropologe gebracht hatte, in verschiedenen wurde, Psychologe, Kommunika­ Wissenschaften Neuland zu er­ tionstheoretiker, Fachmann für obern, hatte er erst jetzt in einer ökologische und Gesundheitspro­ expliziten Weise entdeckt, worum bleme, da drehten sich seine Fra­ eseigentlich geht. Gerne zitierte er gen darum, in welcher Weise ein Eliots Vers: Ritual, eine Gesellschaft, ein „ We shall not cease from exploKunstwerk, eine streitende Fami­ ration, lie, ein Nadelwald in der Blüte sei­ and the end of all our exploring ner Jahre einem lebenden Körper will be to arrive where we started gleichen: welches sind die Sym­ and know the place for the first metrien, Ausfächerungen, Gliede­ time. “ rungen; wie ist der Geist immanent in der räumlichen Gliederung ei­

(Wir werden nicht nachlassen in unserem Forschen. Und das Ende unseres Forschens Ist, an den Ausgangspunkt zu kommen Und zum erstenmal den Ort zu erkennen.)18 * Der Bateson-Weg, das BatesonTao gründen auf dem Monismus. (Gregory glaubte an eine Welt, ein interagierendes, sich regenerie­ rendes Ganzes; aber man kann es von zwei Seiten ansehen. Diese Weisen, das Universum zu erklä­ ren, nannte er pleroma und creatura - gnostische Begriffe, die er sie mißverstehend - aus C. G. Jung übernahm. Bei ihm bedeutete „pleroma“, die Welt als ein nichtle­ bendiges System von Gegenstän­ den und Kräften anzusehen, „creatura“, sie als lebendiges System aus Form und Kommunikation zu begreifen.) Monismus: das Wissen nicht aufgespalten in Wissenschaft kon­ tra Religion und deren Unterglie­ derungen, die Welt nicht aufge­ spalten in Gott als Regent und Wi­ dersacher Seiner Schöpfung, in „den“ Menschen als Regent und Widersacher anderer Arten. Gre­ gory vertrat den Standpunkt, daß Gott in der Komplexität der Welt immanent anwesend ist, daß Wis­ sen und Lernen in der Art und Weise, wie eine Rose wächst, im­ manent vorhanden sind. Geist ist Natur. Schluß also mit dem uralten Geist/Körper-Problem, das unsere Zivilisation lange genug behext hat. Schluß mit unserer dominie­ renden Wissensstruktur: ererbt von Bacon, Newton & Locke, Des­ cartes & Aristoteles; befrachtet mit Dualismus, Atomismus, Reduktio­ nismus, Materialismus; mit über­ vereinfachten Fragen bei der Hand, die zu hoffnungslos verwikkelten und verdrehten Antworten führen - Antworten, die Organis­ men, Kulturen und die Biosphäre selbst in kleine Stücke zerschla­ gen, die heute nicht mehr zusam­ menzupassen scheinen. Wie Humpty Dumpty in Finnegans Wa­ 65

ke, wie der Riese Albion bei Blake. Die neue Wissenschaft, in ihren Kinderschuhen steckend schon vorhanden, verweist uns an die Holismen, an die Algorithmen der Gleichwertigkeit von Geist/Leib, Subjekt/Objekt, Kultur/Natur, wie es einst die Relativitätstheorie für Materie/Energie und Raum/Zeit geleistet hat. Er hatte den Eindruck, daß in jeder nur möglichen lebbaren Zu­ kunft unsere Dualismen Mu­ seumsstücke sein würden, ehr­ fürchtig betrachtet als monströser Aberglaube, der uns fast umge­ bracht hätte. * Konfrontiert mit der heutigen Krise des Geistes und der Natur, sind viele Leute der Meinung, wir müß­ ten zu irgendeiner Form von politi­ scher Aktion greifen. Gregory war fast sein ganzes Leben lang sehr zynisch, was Politik welcher Art auch immer betraf, und meinte, daß auch die bestgemeinte und bestinformierte derartige Aktion zuletzt doch ein Schuß sein müs­ se, der nach hinten losgeht. Er ging nie zu einer Wahl. Aber in seinen letzten paar Lebensjahren, vor allem als Regent der üniversity of California, begann er, sich an­ ders zu besinnen. Er nahm kein Blatt vor den Mund, als er hartnäkkig versuchte, unsere immer be­ drohlicher werdende Sucht nach Kernwaffen zu bremsen19, an der die Universität - wie viele anderer unserer Institutionen auch - kei­ neswegs unschuldig ist. Aber in seinen Augen war die Sache unendlich viel tiefer und komplexer, als daß es gereicht hät­ te, Nein zur Politik und zu ange­ stammten Interessen zu sagen, so schwierig das an sich schon sein mag. Was aus seinem Werk hervor­ ging, waren Fragen: Welches sind die Voraussetzungen, auf denen diese Kultur und insbesondere ih­ re Wissenschaft beruht und die uns bewogen haben, eine ökologi­ sche Krise auszulösen, die das Überleben alles Lebendigen be­ droht? Welches sind die struktu­ 66

rellen Besonderheiten, die sol­ chen Phänomenen einer negati­ ven Rückkoppelung wie Sucht, Rüstungswettlauf, Krebs, Schizo­ phrenie zugrunde liegen? Vor al­ lem aber: welches sind die richti­ gen Fragen, die es zu stellen gilt? Die Welt, die wir mit unserem Denken geschaffen haben, hat Probleme hervorgebracht, die wir mit dieser Art des Denkens nicht mehr lösen können. Wir müssen graben. Sehr tiefer, paradigmatischer Wandel vollzieht sich nicht auf der Ebene eines rein rationalen Diskurses:

Diese modernen Vorstellungen aus Kybernetik und Ökologie sind keineswegs so neu. Platon sagt im Timaios, daß Musik und die ande­ ren Künste/Wissenschaften nicht nur dem Vergnügen dienen, son­ dern unsere wichtigsten Verbün­ deten bei der Wiederentdeckung unserer verlorenen Ganzheit sind:

„Dem Göttlichen in uns verwandte Bewegungen sind die Gedanken und Kreisläufe des All. Ihnen muß jeder nachgehen und unsere bei der Geburt verdorbenen Umläufe im Haupte berichtigen, indem er die Einklänge und Kreisläufe des „Eine bloß zweckorientierte Ratio­ Alls begreift und so das Erkennen­ nalität, die ohne Rücksicht auf de dem Erkannten gleichmacht Phänomene wie Kunst, Religion, gemäß der ursprünglichen Na­ Traum und ähnliches verfährt, ist t u r . . . "21 notwendig pathogen und lebens­ zerstörend ... ihre Virulenz Gregory spürte, daß das Korrektiv (folgt) besonders aus dem Um­ der Kunst (in der Religion, der Wis­ stand . . d a ß Leben auf eng inein­ senschaft, dem täglichen Leben) andergreifenden „ Kreisläufen “ darin besteht, die Welt in einer von Zufälligkeiten beruht, wäh­ Weise ansehen zu lernen, die die rend das Bewußtsein nur so kurze unbewußte Totalität, die inhären­ Bögen solcher Kreisläufe erken­ ten Paradoxa in sich schließt. nen kann, wie sie die menschli­ Ästhetik, Paradox, Sakrament chen Zwecke festlegen können. sind eben jene Dinge, die unsere Mit einem Wort, das bloße Bewußt­ moderne Epistemologie am Wege sein muß den Menschen immer in fallen läßt. Bei seinem Tod hinter­ der Art von Dummheit einbezie­ ließ Gregory ein noch zu Ende zu hen, der sich die Evolution schul­ schreibendes Buch über die Natur dig machte, als sie den Dinosauri­ der Kunst und der Schönheit, über ern die „ Common sense “-Werte ei­ das Wesen der Metapher als eines nes Rüstungswettlaufs aufzwäng­ verbindenden Prinzips, das „nicht te. Sie hat ihren Fehler unaus­ nur reizvolle Poesie ist, sondern weichlich eine Million Jahre später der Leim, die Logik, auf der leben­ bemerkt und diese vernichtet. de Dinge aufgebaut sind.“ Bloßes Bewußtsein muß immer Die Welt, die wir durch unsere zum Haß neigen; nicht nur, weil es Glossen sehen, ist Beschreibung, guter „Common sense" ist, den aber sie ist nicht „bloß“ Beschrei­ anderen auszumerzen, sondern bung; unterschiedliche Beschrei­ auch aus dem tieferen Grund, daß bungen haben unterschiedliche das Individuum, welches nur Konsequenzen, die nur allzu real Kreislaufbögen sieht, ständig sein mögen. Der Endzweck von überrascht und notwendig verär­ Gregorys Wissenschaft (zu dem gert ist, wenn seine sturen Maß­ sein eigenes Werk nur ein Anfang nahmen zurückwirken und den Er­ war) besteht darin, inklusivere Be­ finder peinigen... schreibungen zu entdecken, in In einer solchen Welt leben wir- uns selbst die „Strenge und Phan­ einer Welt von Kreislaufstruktu­ tasie“ zu finden, die wir brauchen, ren -, und Liebe kann nur überle­ um uns von der objektiven, um­ ben, wenn die Einsicht (d.h. ein häuteten Idee unseres heißgelieb­ Sinn oder eine Anerkennung für ten Ich zu befreien und in etwas die Tatsache der Kreislaufstruktur) Größeres vorzustoßen: eine wirksame Stimme hat. “20

„Man denke an einen Mann, der einen Baum mit einer Axt fällt. Je­ der Hieb der Axt wird entspre­ chend dem Aussehen der Schnitt­ kerbe des Baumes, die durch den vorherigen Schlag hinterlassen wurde, modifiziert oder korrigiert. Dieser selbstregulierende (d. h. geistige) Prozeß wird herbeige­ führt durch ein Gesamtsystem Baum-Augen-Gehirn-Muskeln-AxtHieb-Baum; und es ist dieses Ge­ samtsystem, das die Charakteristi­ ka des immanenten Geistes hat.... Das ist aber nicht die Weise, in der ein durchschnittlicher Abend­ länder die Abfolge der Ereignisse eines fallenden Baumes sieht. Er sagt: ,lch habe einen Baum ge­ fällt', und glaubt sogar, daß es ei­ nen abgegrenzten Vermittler, das ,Selbst1 gibt, der eine abgegrenzte ,zweckgerichtete' Handlung an ei­ nem abgegrenzten Gegenstand ausführte.... Die gesamte selbstregulierende Einheit, die Informationen verar­ beitet oder, wie ich sage, , denkt', ,handelt‘ und,entscheidet', ist ein System, dessen Grenzen keines­ wegs mit den Grenzen des Körpers oder dessen, was man gewöhnlich als ,Selbst' oder ,Bewußtsein' be­ zeichnet, zusammenfallen... Was wird in dem erkenntnis­ theoretisch faulen Entschluß ,lch werde gegen die Flasche ankämp­ fen' überhaupt gegen was ins Feld geführt?..."22 „ Wenn ich recht habe, muß un­ ser ganzes Denken über das, was wir sind und was andere Men­ schen sind, umstrukturiert wer­ den. Das ist nicht lustig, und ich weiß nicht, wieviel Zeit wir haben, um es zu erledigen. ... Niemand weiß, wieviel Zeit wir unter dem gegenwärtigen System noch ha­ ben, bevor uns eine Katastrophe heimsucht, die schwerwiegender sein wird als nur die Vernichtung irgendeiner Gruppe von Nationen. Die wichtigste Aufgabe heute be­ steht vielleicht darin, in der neuen Weise denken zu lernen. Lassen Sie mich sagen, daß ich nicht weiß, wie man in dieser Weise denkt. Intellektuell gesehen kann ich mich hier hinstellen und Ihnen ei­

ne durchdachte Darstellung des Problems geben; wenn ich aber einen Baum fälle, denke ich wei­ terhin, ,Gregory Bateson‘ fällt den Baum. Ich fälle den Baum. ,lch selbst‘ ist für mich weiterhin ein viel zu konkretes Objekt, das sich von dem Rest dessen unterschei­ det, was ich hier als ,Geist' be­ zeichnet habe." (Ich weiß nicht recht. Ich habe Gre­ gory zwar nie eine Axt an einem Baum erproben sehen; aber ich habe ihn in Esalen einmal einen Zweig absägen sehen, der einem etwas betulichen Essensgast stän­ dig um die Ohren wischte. Gregory sägte und sägte, grunzend, sich räuspernd, mit Wonne und Hinga­ be: da gab es wirklich nicht hier einen separaten Gregory und da eine separate Säge oder einen se­ paraten Baum, soweit ich sehen konnte. Es war ein herrlicher Tanz. -S. N.) „Der Schritt zur Realisierung - zur Angewöhnung der anderen Denkweise, so daß man natürli­ cherweise auf diese Art denkt, wenn man nach einem Glas Was­ ser greift oder einen Baum fällt dieser Schritt ist nicht leicht.... Es gibt Erfahrungen und Diszi­ plinen, die mir bei der Vorstellung helfen können, wie es wäre, diese richtige Denkgewohnheit zu ha­ ben. ... Die Dichter wußten dies durch alle Jahrhunderte hindurch, wäh­ rend wir anderen uns in alle mögli­ chen Arten von falschen Verding­ lichungen des ,Selbst' und der Trennungen von ,Selbst' und ,Er­ fahrung‘ verirrt haben. Ungeheuerlich ist der Versuch, den Intellekt vom Gefühl, abzuson­ dern', und ich nehme an. daß es genauso ungeheuerlich - und ge­ fährlich - ist, den äußeren Geist vom inneren trennen zu wollen. Oder den Geist vom Körper zu se­ parieren. ... Und schließlich ist da der Tod. Es ist verständlich, daß wir in einer Zivilisation, die den Geist vom Kör­ per absondert, entweder versu­ chen, den Tod zu vergessen oder

Mythologien über das Überleben des transzendenten Geistes zu bil­ den. Wenn aber der Geist nicht nur den Informationsbahnen imma­ nent ist, die im Körper lokalisiert sind, sondern auch denen, die au­ ßerhalb liegen, dann nimmt der Tod einen anderen Aspekt an. Der individuelle Nexus von Bahnen, den ich als,Ich' bezeichne, ist nun nicht mehr so kostbar, weil dieser Nexus nur ein Teil eines größeren Geistes ist. Die Ideen, die, ich ‘ zu sein schie­ nen, können auch Ihnen immanent werden. Mögen sie überleben wenn sie wahr sind. “2S V. Sterben

„Das Brüllen von Löwen, das Heu­ len von Wölfen, das Wüten der stürmischen See und das zerstö­ rende Schwert sind Teil der Ewig­ keit, zu groß für das Auge des Menschen. “ Blake24 Wenn ich heute daran zurückden­ ke, so gehört zu den außerordentli­ chen Dingen für mich, miterlebt zu haben, wie Gregory noch als alter Mann sich wandelte und wuchs. Nach seiner Krebserfahrung im Jahre 1978, als man ihm sagte, er habe nur noch ein paar Wochen zu leben, und es ihm statt dessen ra­ dikal besser ging, kam seine unter­ gründige Weichheit und Freund­ lichkeit, die sich normalerweise als brummiger, bärbeißiger Char­ me zeigte, unverstellt zum Vor­ schein. Er war eher bereit, Leute zu umarmen. Er fing an, Gedichte zu schreiben. Er erreichte eine be­ stimmte äußere Klarheit bei dem, was er sagte - und gleichzeitig nahm sein Publikum erheblich zu. Früher hatte er zu Fachgenossen in der Anthropologie, Psychologie und so fort gesprochen; jetzt inter­ essierten sich alle Arten von Men­ schen für das, was er zu sagen hatte. Wenn ich ihn in Esalen besuch­ te, änderte sich allmählich unsere alte Gewohnheit, sofort in lang­ wierige, lebhafte Diskussionen über Gott und die Welt einzutre­ ten. Nun saßen wir oft stundenlang beisammen, ohne ein Wort zu sa­ 67

gen, schauten dem Spiel der For­ men und Farben auf dem Stillen Ozean oder in seinem Kamin zu oder spielten Schach. Beredtes, tiefes Schweigen. In Geist und Natur formulierteer schließlich seinen Beitrag zu den Grundprinzipien der Wissen­ schaft, zollte William Bateson und dem lebhaften, stets gegenwärti­ gen Geist Charles Darwins den schuldigen Tribut. In Esalen be­ gann er, sich wirklich auf seine lebenslangen Interessen zu kon­ zentrieren: Ästhetik, Dichtung, Re­ ligion, Bildungswesen. In seinem 75. und 76. Jahr war er auf man­ cherlei Weise bereit, in eine ganz neue Sphäre der Betätigung ein­ zutreten. Und er war dabei, sich die Ansicht zu eigen zu machen, daß es wichtig ist, Ideen nicht nur zu propagieren, sondern auch nach ihnen zu handeln. Er stellte aber fest, daß Handeln, das Verändern von Menschen und Köpfen, weithin eine Sisyphusar­ beit ist; man kämpft entweder ge­ gen eine Machtstruktur, die zäh an ihren materialistischen Prämissen festhält, oder gegen die Sucher eines neuen Zeitalters, die über­ haupt keine Prämissen anerken­ nen. Er hatte einfach nicht die Energie zu diesem Kampf. Ein Vor­ teil, den er in der Tatsache gese­ hen hatte, daß er seine Nische erst in späteren Lebensjahren gefun­ den hatte, war, daß die Leute mit ihm die Klingen kreuzten, die schöpferische Erregung einer in­ tensiven Diskussion hervorriefen. In den letzten paar Jahren hinge­ gen, als sich sein verspäteter Ruhm verbreitete, wollten viele von denen, die gekommen waren, um den „großen Mann“ zu hören, gar nicht streiten und provozieren, sondern waren nur allzu gern be­ reit, „neue“ Ideen ohne irgendeine geistige Auseinandersetzung zu akzeptieren. So war es schwierig, sich auf einer tieferen Ebene zu engagieren. Er klagte darüber, daß im „neuen Zeitalter“ diejenigen, die den Bankrott der alten Prämis­ sen verkünden, oft in eine gewisse geistfeindliche Haltung verfallen, daß „anything goes“. „Gott läßt 68

seiner nicht spotten“, zitierte er aus dem hl. Paulus (Galater 6:7). Die Wahrheit hat viele Facetten, aber sie ist nicht schlechthin alles. Er wollte „weniger bewundert, doch fleißiger gelesen sein“. So gab es am Ende seines Le­ bens neue, spannende Dinge für ihn, und gleichzeitig war er sehr, sehr müde. * Gregory war fast sein ganzes Le­ ben lang ein heftiger Kettenrau­ cher. Es entbehrt nicht der Ironie, daß er die vielleicht ausgezeich­ netste Studie geschrieben hat, die je über das Wesen der Sucht ver­ faßt wurde: Erst am Sonderfall der Alkoholsucht25, dann, indem er grundsätzlich darauf aufmerksam machte, wie viele der uns bedro­ henden sozialen Überlebensfra­ gen - Wettrüsten, wirtschaftliche und ökologisch Inflation/Explo­ sion usw. - nur im Kontext der Sucht verständlich werden und bewältigt werden können. Er hatte 1970 ein Lungenemphy­ sem und 1978 Lungenkrebs ge­ habt und überstanden; in der gan­ zen Zeit, die ich ihn gekannt habe, hielt er seinen massiven Körper mit einem sehr kleinen Stück Lun­ gengewebe in Gang. Ich weiß noch, wie Gregory im­ mer sagte, daß Husten eine solche Arbeit sei! * Ich sehe immer wieder eine Szene vor mir, die sich an so manchem Morgen meiner Besuche bei ihm in seinem letzten Lebensjahr ab­ spielte. Esalen ist berühmt für sei­ ne prachtvollen heißen Mineral­ quellen und Heilbäder, die sich an die felsige Küste des Big Sur drän­ gen. In der kühlen, frischen Luft wanderten wir langsam bergauf nach Hause; Gregory hustete und prustete, blieb stehen, um zu ver­ schnaufen und Luft zu holen, hu­ stete etwas Blut, blickte über den majestätischen Ozean, spuckte aus. Dann sah er mich an und machte „hmm!“, wobei er bestäti­ gend mit dem Kopf nickte. „Das war gut.“ (Er meinte das Blut.)

Erneut auf den Ozean schau­ end, dessen dunkle, klarschwin­ gende Wellen zum Horizontziehen und so sehr viel Information kodie­ ren, die wir Menschen niemals ver­ stehen werden, zeigte er auf ir­ gendein Stück Natur - immer auf ein anderes (er kannte alle Pflan­ zen und Tiere mit Namen); das bedeutete, daß die Biosphäre, wie wir sie kennen, ebenfalls mit dem Tod konfrontiert ist. Wir sahen Fischotter, die mit unglaublicher Anmut und Leichtigkeit im Wasser plantschten und spielten. Aber 20 Jahre zuvor hatte Gregory 50 Otter dort unten gesehen; heute waren es nur fünf. Der Tang war dünner und weiter draußen im Meer. Die Vögel weniger - geringere Zahlen und weniger Arten. Dann pflegte Gregory etwas über die Bedeutung des Todes zur Aufrechterhaltung der Evolution zu sagen - „Recycling“ von Mate­ rie, Ideen, Arten, Zivilisationen -; egal, wie großartig sie gewesen sein mochten, sie mußten abtre­ ten, um Raum für den nächsten Schritt zu machen, „Lest one good custom should corrupt the world" (Tennyson26: „Daß nicht ein guter Brauch die Welt verderbe“). Bei Gregorys Konferenz über „Die Auswirkungen des bewußten Zwecks auf die menschliche An­ passung“ im Jahre 1968 sagte Anatol Holt: „,Sie alle werden sich an die Über­ schwemmungskatastrophe in Flo­ renz und an den großen Schaden erinnern, den das Wasser den dor­ tigen Kunstwerken zugefügt hat. Meine eigenen Gefühle hierüber waren sehr gemischt. Von einem gewissen Gesichtspunkt aus be­ trachtet, hatte die Sache auch et­ was Gutes; das heißt - es ist gewiß ein Grund zum Trauern, zugege­ ben, aber auf der anderen Seite schafft es Platz. Wissen Sie, es kann nur soundsoviel Meisterwer­ ke in der Welt geben, ganz abgese­ hen von dem physischen Raum, den sie für ihre Aufbewahrung be­ nötigen, und neue Meisterwerke müssen geschaffen werden - sol­ che, deren Beziehungen zu den

alten Meisterwerken vielleicht schwer zu verstehen sind.' Gregory hob den Tafel­ schwamm hoch, ,Ohne das hier kann man nicht leben. ‘ ,Ja, richtig.' ,Also ohne den Tod.“'27 Die Otter mögen einer sterbenden Welt angehört haben, aber - Gott, wie sie spielten! Von der mächti­ gen Brandung umhergeworfen, tanzten und schaukelten sie hin und her - wieder und wieder ge­ gen die zerklüfteten Felsen ge­ schleudert, schnellten sie zurück ins Wasser, begierig nach mehr. „Sie kümmern sich einen Dreck um die Felsen!“, sagte Gregory mit jenem besonderen Grinsen, das er benutzte, um anzuzeigen, daß hier einmal ein prachtvolles kleines Stück Information war, etwas dort draußen in der Welt, das man be­ wundern mußte - die Zähigkeit und Anmut eines lebendigen Or­ ganismus. Dieses besondere Grinsen, die­ ser Ton seiner Stimme: Das war das Wesen von Gregory Bateson. * Am 11. Juni 1980 rief Gregorys Arzt, Dr. Michael Stulbarg, an, um mitzuteilen, daß Gregory ins Kran­ kenhaus eingeliefert worden war. Die Diagnose lautete auf Pneumo­ nie. Man rechnete damit, ihn bald wieder entlassen zu können. Was sich statt dessen entwickelte, war eine einmonatige tödliche Erkran­ kung. Eine kleine Gruppe von Fa­ milienangehörigen und Freunden kam täglich zusammen, um Gre­ gorys Frau, Lois, bei der Pflege zu helfen. Ungefähr nach der Hälfte jener Zeit stand fest, daß Gregory im Sterben lag. Zuletzt wurde er ins Zen-Center von San Francisco verlegt, wo er seine letzten Tage verbrachte.28 * Zu Anfang war er säuberlich in seinem Bett verpackt (das Kran­ kenhaus konnte nie ein Bett fin­ den, das groß genug für ihn war!); er war sehr müde, aber er scherzte und lachte noch und war ganz er

selbst. Aber dann setzte der uner­ klärliche Schmerz, an dem er gelit­ ten hatte, mit voller Wucht ein. Das dauerte Tage, und die Wirkung der Schmerzmittel kam dazu; er ver­ wandelte sich in eine nackte, ge­ quälte Figur des Alten Testaments; er seufzte und rief „Ach! - Ach!“ mit einer Stimme, die uns ins Herz schnitt. Zeiten, in denen die Schmerzen wie Wellen heranbran­ deten, wechselten mit Zeiten der Erleichterung und eines stillen Lä­ chelns, das wie heller Sonnen­ schein aus all dem hervorbrach. Es war, als hätte die Erdrotation sich unermeßlich beschleunigt, so daß die Sonne nur so herumwirbelte milde Tage und schlimme, kalte Nächte wechselten halbstündlich. Auslaugend! Das Leiden war unglaublich: in einer urtümlichen Weise wirklich. Ich bemerkte, daß ich mir wünsch­ te, Gregory einiges von seinem Schmerz abnehmen zu können. Aber irgendwie schien Gregorys Hinscheiden nicht falsch oder schlimm oder deprimierend (wie es noch bei seiner Krankheit zwei­ einhalb Jahre zuvor gewesen war, als so deutlich war, daß seine Zeit noch nicht gekommen war). Lois, die so tapfer und so weise war, alles zusammenhielt und die rechten Hilfeleistungen für Grego­ ry koordinierte - Lois sagte: „Wenn wir nur lernen könnten, so zu handeln, als ob das Universum gütig ist-dann wird alles anders.“ Und so war es. In Geist und Na­ tur hatte Gregory geschrieben:

mation, das er mir verpaßte, als ich sein Schüler war, war der elfte Kupferstich von Blake zu Hiob, das Hiob auf seinem Schmerzenslager zeigt. „Die Nacht durchbohrt mein Gebein an mir; und was an mir naget ruhet nicht. ... Warum ver­ folget ihr mich, wie Gott; und wol­ let nicht satt werden an meinem Fleische? O, würden doch aufge­ schrieben meine Worte; würden doch in ein Buch sie eingegraben! Mit eisernem Griffel und Blei auf ewig in Felsen eingehauen! ,..“30 Mit Gregorys Ermutigung ver­ brachte ich Monate und schließ­ lich Jahre damit, alle Bedeutungs­ ebenen in diesen 21 Kupferstichen zu Hiob zu erforschen, diesem großartigen Mythos über das Lei­ den und seinen Sinn. Und hier lag der alte Mann selbst, durchlitt das Leiden in seinem Fleisch, und es gab nichts, was ich tun konnte, außer ihn füttern und säubern hel­ fen, und zusehen. Ihm Musik Vor­ spielen. * Suzuki-roshi, der Gründer des Zen-Zentrums von San Francisco, soll einmal gesagt haben: „Das Be­ ste lernt man von dem, was stirbt.“ *

Während sie hinübergleiten, wer­ den die Sterbenden oft wieder zu Säuglingen in dem Sinne, daß sie von ihren Kindern gefüttert und gesäubert werden müssen, die sie einst gefüttert und gesäubert ha­ ben. Aber hier war noch etwas Tieferes beteiligt. Als in den letzten Tagen der Schmerz nachließ und „Ich bekenne mich zu dem Glau­ der Atem ruhiger und stetiger wur­ ben, daß mein Wissen ein kleiner de, kam in Gregory ein exploratiTeil eines umfassenderen inte­ ves und sogar spielerisches Ele­ grierten Wissens ist, das die ge­ ment zum Vorschein. Er hatte eine samte Biosphäre oder Schöpfung Art, seine eigene Hand zu studie­ ren, als wäre sie das Allerneueste verbindet. “29 auf der Welt. Stilles Erforschen * seines neuen Körpers-eines-SterEs war mir unmöglich, dazusitzen benden. * und ihn auf seinem Sterbebett lie­ gen zu sehen, ohne mir meinen Ich fragte ihn: „Wie ist es dort, wo eigenen Tod vorzustellen, wie im­ du bist, Gregory?“ mer er auch aussehen mochte. Ich „Es ist alles so einfach." Breites versetzte mich in ihn, in sein Lächeln. Fleisch und Blut. * Eines der ersten Stücke Infor­ 69

Die Weichheit dieses Lächelns war schöner als alles, was ich je gese­ hen hatte. Aber auch das Abstoßende. Bei­ de Pole. Ganz nah beieinander. * Eine ermüdete Lois Tages, daß Gregory, er stöhnend und nur wußtsein dalag, noch Lehrer blieb.

sagte eines selbst wenn halb bei Be­ immer unser

* Während dieser Zeit begannen einige von uns mit Zazen-Yoga. Für meine eigene, kontinuierliche Fortbildung in dem, „worum es eigentlich geht“, war das eine sehr wichtige Stufe. Die prinzipielle Lücke, die in Gregorys Werk klafft, war folgende: Er zeigte zwar, was mit unserer herkömmlichen duali­ stischen Denkweise nicht stimmt, und er artikulierte auch, wie eine bessere Art des Denkens, eine bes­ sere Art von Wissenschaft aussehen könnten. Aber was fehlt, istdie Technik: wie wir, sobald wir Er­ wachsene sind, unseren DenkKontext verändern sollen. Das ist genau das Stück im Mosaik, das Zen beisteuert - diese systemati­ sche, praktische Übung in Nicht­ dualismus. Ich glaube, es war kein Zufall, daß die Zen-Gemeinde in San Francisco von Gregory so an­ gezogen wurde; oder daß er, der Nicht-Buddhist, von ihnen so an­ getan war; oder daß er und Lois sich entschlossen, Gregorys Ster­ ben ihrer Pflege anzuvertrauen. Sie hatten die besondere Eigen­ schaft, an allem, was geschah, un­ mittelbar teilzunehmen: strenge Präzision und Offenheit. Für mich persönlich bedeutete sein Sterben an diesem besonde­ ren Platz einen Hinweis auf die nächste Stufe meiner Arbeit. Aber das ist eine andere Geschichte, und ich stelle mir vor, daß es noch eine ganze Weile dauern wird, be­ vor ich dazu befugt bin, sie zu erzählen.

In seinen letzten Lebenswochen fiel Gregory das Sprechen schwer 70

und strengte ihn an. Die Kehle war verstopft, die Artikulation undeut­ lich, seine Gedanken kamen nicht mehr „organisiert“ heraus. Trotz­ dem wurde eine Menge kommuni­ ziert, es war wie ein Um-die-Eckedes-Todes-Spähen, er sagte uns noch vieles, mit wenig Worten, aber mit Blicken und einem Lä­ cheln, stärker als je zuvor. Jedem einzelnen von uns sagte er auf eine besondere Weise Lebewohl. Jeder, der diese intensiven Tage miterlebt hat, hat sein eigenes Ge­ fühl dafür, was das alles bedeutet hat.

Aber da gab es auch einen ande­ ren Augenblick, am Morgen vor seinem Tod, als er in einem ergrei­ fen Ton, der ernst und illusionslos klang, flüsterte: „Ich glaube, die­ ser Besuch geht bald zu Ende.“ * Er fragte mich: „Kannst du denn sprechen?“ „Ja, Gregory?“ Ich kam mir vor wie ein kleiner Junge. „Gut. Ich nicht.“ *

Mein Abschied von Gregory, eine endlose halbe Stunde widerhal­ * lenden Schweigens, Lächelns, Er schien zwar die Fähigkeit zum Schauens, Zeigens. Vor der Inten­ normalen Gespräch verloren zu sität des Fingers, der auf mich haben, aber er bewahrte sich weit­ zeigte, verkümmert jede andere gehend seine Art, in vieldeutigen Erfahrung meines Lebens. Ich Metaphern zu reden, die irgendei­ wurde an jene Stelle auf dem Dekne Wahrheit behaupten und sie kengemälde Michelangelos erin­ zugleich durch den Kakao ziehen. nert, wo der Finger Elohims auf Adam zeigt, über einen kleinen * leeren Raum, der von Millionen Er fragte mich: „Wie kommt man Volt zu vibrieren scheint. Und die­ von dieser Seite hier weg, wenn ser Satz, der Zen in sich schließt: man von dieser Seite nicht weg­ direkt auf den menschlichen Geist kommt?“ zeigend; ein Finger direkt ins „Vom Bett, Gregory - ?“ menschliche Herz. Eine Art Aus­ „Vom Leben.“ Breites Lächeln. gießung fand statt. Ich weiß heute noch nicht, wie ich es sagen soll. * Einmal verließen mehrere Perso­ nen gleichzeitig den Raum. Er ki­ cherte in sich hinein: „Alle in einer Prozession ... aus dem Leib her­ aus!“ Da lag dieser sterbende Mann, verwirrt, am Ende seiner Kraft, aber sein spitzbübisches Grinsen war noch da, sein Spott über Seelenwanderung und ande­ ren übernatürlichen Todesglau­ ben. Wie oft hatte er all die Jahre gesagt, daß man tot ist, wenn man tot ist; weiterleben tut man in dem Sinn, daß die Moleküle zur Auf­ rechterhaltung der Biosphäre neu zusammenschießen, und die Ideen zur Aufrechterhaltung der Evolu­ tion. Das Übernatürliche und die Wunder, pflegte er gerne zu sagen, sind der Versuch des Materiali­ sten, seinem Materialismus zu ent­ fliehen. *

*

Gregory Bateson ist nicht wichtig. Wichtig ist, vom Ich loszukommen. Wichtig ist, von unserer Idee über das, was wir sind, loszukommen. Die Macher in den Hauptstädten der Welt leben wohl nicht in dem bewußten Wunsch, uns alle umzu­ bringen. Sie leben verzweifelt, ge­ fangen in einer schrecklichen Fal­ le. „Die anderen tun es, also müs­ sen wir es auch tun“; und die Ma­ cher auf der anderen Seite sagen: „Die anderen tun es, also müssen wir es auch tun.“ Und mir scheint, es besteht ein tiefer Zusammen­ hang zwischen solcher Verzweif­ lung und der weltverzehrenden Gier, die wirum (und in) uns vorfin­ den. Sich vom Leim des Ich loszu­ reißen heißt, sich von der Frömmigkeit-über-den-Wolken losrei­ ßen: heißt glauben, daß die Geset­ ze des Lebens, die Axiome, so und

so sind und daß wir „keine Wahl“ haben als das Spiel bis zu Ende mitzuspielen. (Blake sagte dazu „geistgeschmiedete Fesseln“.) Wir können sterben und uns los­ reißen. Aber vielleicht brauchen wir nicht zu sterben, um unser kleines Ich in das größere System zu gießen, das uns hält, in das Muster, das verbindet. Wichtig ist die Er­ kenntnis, „daß das ganze Zeug Be­ schreibung ist“; wichtig ist, daß jeder von uns, auf seine eigene Weise, seine kleinwinzige Idee von dem, was er ist, wegwirft. * Das Sanfte, das Eindringende (Wind, Holz). Ich denke zuletzt an die Asche Gregorys, in dem klei­ nen Pappkarton. In langem Zug wanderten wir hinunterzu den Ge­ zeitentümpeln unterhalb des gro­ ßen Hauses. Wir waren über die Felsen verstreut wie jene Scharen von großen Vögeln, die Gregory so gern beobachtete, wenn er von den Heilbädern langsam nach Hause ging. Heute waren wir eine solche Schar. Reb, der Zenprie­ ster, öffnete den Karton und streu­ te etwas von der Asche hinaus in das Meer. In dem Augenblick kam ein Windstoß und blies uns die staubfeine weiße Masse ins Ge­ sicht. Partikel von Gregory im Haar, in den Brauen, im Bart, machten wir kehrt und stiegen wieder die Klippe empor.

Anmerkungen Bateson-Zitate ohne Anmerkungszahl sind persönliche Mitteilungen. Die bei­ den auf Deutsch erschienenen Bücher von Bateson (s.o.) werden wie folgt abgekürzt: ÖG = Ökologie des Geistes. GN = Geist und Natur. 1. T. S. Eliot: Vier Quartette. „East Coker.“ Deutsch von Nora Wydenbruck. Amandus-Verlag (o.O., o. J.; ca. 1959). 2. William Blake: „Die Hochzeit von Himmel und Hölle.“ In: Werke. Deutsch von Walter Wilhelm. Ber­ lin: Aufbau-Verlag 1958. 3. GN, 15, 16. 4. ÖG, 18. 5. Wallace Stevens: „On the road home.“ Palm at the endof the mind, S. 164. 6. Ray L. Birdwhistell: „Some discussions of ethnography, theory, and method.“ About Bateson, hrsg. von John Brockman, Dutton 1977, S. 103-104. 7. Wailace Stevens: „The man with the blue guitar.“ In Palm ... 8. Carlos Castaneda: Journey to Ixtlan und Tales of Power, Simon & Schuster 1972 bzw. 1974. 9. Gregory Bateson: „The thing of it is“. Earth’s answer. Lindisfarne/ Harper & Row 1977, S. 146. 10. GN 11. Blake: Jerusalem (1808). In: Complete Poetry and Prose. Hrsg. von David Erdman. Anchor 1973. 12. Buch Hiob, 38:28, 39:1-4. 13. ÖG, 593 („Form, Substanz und Dif­ ferenz“). 14. 3lake: A Vision of the Last Judgment. In: complete Poetry . . . S. 553. 15. Blake: „Dergraue Mönch.“ In: Eng-

lische Lyriker. Herausgegeben von Alexander von Bernus. William Blake. Heidelberg 1958, S. 54. 16. Beatrice Bateson: William Bate­ son, naturalist. Cambridge 1928, S. 209. 17. ÖG, 16. 18. T. S. Eliot: Vier Quartette. „Little Gidding.“ Deutsch von Nora Wydenbruck. Amandus-Verlag (o.O., o.J.; ca. 1959). 19. Gregory Bateson: Letters to the regents: „Armament races as epistemological error.“ Abgedruckt in Zero. A quarterly of Buddhist thought. 1979. 20. ÖG, 204-205 („Stil, Grazie und In­ formation in der primitiven Kunst“). 21. Platon: Timaios und Kritias. Deutsch von Kurt Hildebrandt. Leipzig: Philipp Reclam jun. 1942. Absatz 90 d. 22. ÖG, 410-412, 414 („Die Kybernetik des,Selbst': Eine Theorie des Alko­ holismus“). 23. ÖG, 594-597 („Form, Substanz und Differenz“). 24. Blake: „Die Hochzeit von Himmel und Hölle.“ In: Werke. Deutsch von Walter Wilhelm. Berlin: AufbauVerlag 1958. 25. „Die Kybernetik des .Selbst': Eine Theorie des Alkoholismus“, ÖG, 400 ff. 26. Tennyson: Idylls of the King. 27. Mary Catherine Bateson: Our own metaphor. Knopf 1972, S. 310. 28. Mary Catherine Bateson schildert sehr bewegend das Sterben Gre­ gorys und die Tage vor und nach seinem Tod in „Six days of dying“. CoEvoiution Quarterly, Winter 1980. 29. GN, 112. 30. Buch Hiob, 30:17, 19:22.

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Marilyn Ferguson

Wir brauchen ein Weltgewissen Im Gespräch mit Peggy Taylor Als Marilyn Fergusons Buch „The Aquarian Conspiracy“ 1980 in den USA erschien, räumte ihm kaum jemand Chancen für einen Platz auf den Bestsellerlisten ein. Der Entwurf für eine bessere Welt schien nur dazu da zu sein, die ohnehin von der Notwendigkeit einer Wende über­ zeugten Leser anzusprechen: die idealistischen Rand­ gruppen und Träumer. Doch die Verkaufszahlen stiegen und stiegen von Zehn­ tausenden in den ersten Monaten auf eine Viertelmillion bis heute. Im letzten Jahr erschien das Buch auch in deutscher Sprache. Was die ersten Voraussagen offen­ sichtlich nicht berücksichtigt hatten, war das Phänomen, über das Marilyn Ferguson schrieb: die sehr große Gruppe von Menschen, die sich nicht offiziell artikulierten und doch eine Hauptströmung repräsentierten, und die dafür eintraten, die Möglichkeiten des Menschen erheb­ lich auszubauen und seine Erfahrungen zu verändern. Das Buch, das sich durch Mundpropaganda verkaufte, fand in der ganzen Welt Anhänger und wurde ins Franzö­ sische, Deutsche, Holländische, Schwedische, Japani­ sche, Koreanische und ins Esperanto übersetzt. Peggy Taylor, Journalistin des amerikanischen „New Age Magazin“, sprach mit Marilyn Ferguson über ihr Buch, ihre Ideen und Wünsche. sehr großen Einfluß haben würde. Aber wenn Sie Schriftstellerin sind, und wie alle Schriftsteller schon berufliche Enttäuschungen erlebt haben, sind Sie mit Ihren Hoffnungen ein wenig vorsichti­ Ferguson: Ich weiß nicht genau, ger. Ich meine, daß ich mich daher was ich wirklich erwartet habe. Ich nicht allzusehr habe hinreißen las­ weiß, daß es während der Arbeit an sen, weil ich mich in einem Zu­ diesem Buch Augenblicke gege­ stand ständigen Erstauntseins be­ ben hat, wo ich mich meinen Ge­ finde. Es vergeht tatsächlich kein danken hingegeben und mir vor­ einziger Tag, an dem nicht irgend­ gestellt habe, daß das Buch einen eine Nachricht kommt, bei der ich Peggy Taylor: Haben Sie sich träu­ men lassen, daß The Aquarian Conspiracy (dt. Die sanfte Ver­ schwörung) eine solche Wirkung haben würde?

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stutze und sage, das kann ich nicht glauben. Die Aufgeschlossenheit, die die Leute dieser Art, die Dinge zu sehen, entgegenbringen, die Vorstellung, daß wir gemeinsam an einem neuen Anfang arbeiten, ist einfach faszinierend. Ich habe nie damit gerechnet, daß The Aquarian Conspiracy zum Teil die Leser erreicht, die das Buch tatsächlich erreicht hat. Ich habe die Fotokopie eines Briefs von Anwar el-Sadat gesehen, in dem er sich bei einer Frau be­ dankt, die ihm das Buch geschickt hatte; eine andere Frau erklärte, die Führer der Solidarität hätten sie gebeten, ihnen zehn weitere Exemplare zu schicken - sie hät­ ten zwar eins, bräuchten aber noch mehr. Einen sehr netten und anerkennenden Brief habe ich von einem führenden sowjetischen Soziologen bekommen. Ich bin ge­ beten worden, über das Buch vor Mitgliedern des amerikanischen Kongresses zu sprechen, vor Krie­ gerwitwen, der American Hospital Association und dem American Council of Life Insurance - vor vielen Leuten also, die die offizielle Linie vertreten. Und die Leute fin­ gen schon zu diskutieren an, bevor wir uns noch richtig über die Dis­ kussionsmodalitäten verständigt hatten. Es gibt Gruppen, die von Vista-FreiwiIIigen geleitet werden, von Kirchen in sehr vielen Fällen, von Mitgliedern der medizinischen Fakultät der University of Colora­ do ... Gruppen in Deutschland, England, Frankreich, Australien, Neuseeland ... Es ist erstaunlich!) P. Taylor: Wie erklärt sich Ihrer Meinung nach die breite Anzie­ hungskraft des Buches? Ferguson: Anscheinend ist das Buch ein Spiegel für die Men­ schen. Es spiegelt entweder ihre Erfahrungen wider oder nicht. Wenn es das tut, befassen sich die Leser mit dem Teil, der in ihnen auf irgendeine Weise etwas anrührt. Es gibt in der heutigen Gesell­ schaft so viele Menschen, die in der evolutionären Randzone le­ ben, die über das „Normale“ hin­ ausgegangen sind, mit allen Mög-

lichkeiten des Menschen experi­ mentiert und sie erforscht haben und beginnen, sie zu nutzen. P. Taylor: Sie sind seit vielen Jah­ ren eine der wichtigsten Chronistinnen der Explosion menschli­ cher Möglichkeiten. Wie kam es, daß Sie sich für dieses Gebiet in­ teressierten? Ferguson: Ich habe mich schon sehr früh für Biofeedback interes­ siert, und dann kam ich über mei­ nen jüngeren Bruder mit transzen­ dentaler Meditation in Berührung. Ich war hingerissen von den Erfah­ rungen, die ich beim Meditieren machte. Ich fragte mich, was im Gehirn und dem Nervensystem vor sich geht, die all diese Phänomene hervorrufen konnten. Und diese Neugier veranlaßte mich, mich mit der Forschung zu befassen, die betrieben wurde. Im Grunde habe ich 1973 The Brain Revolution nur geschrieben, weil ich eine berufli­ che Ausrede dafür brauchte, daß ich soviel Zeit für die Erforschung dieses Gebiets aufbrachte. Als ich dann 1975 anfing, das Brain/Mind Bulletin herauszuge­ ben, sammelten sich bei mir fast von Beginn an auch Informatio­ nen, die mit dem Inhalt dieses In­ formationsbriefes eigentlich nicht sehr viel zu tun hatten. Wir berich­ teten mehr über Kreativität und Lernen, Hypnose, Psychiatrie und diese Dinge. Und was da herein­ kam, war von Leuten, die an gesell­ schaftlichen Veränderungen ar­ beiteten und diese auch bewirken wollten. Es faszinierte mich, und ich versuchte daher, gelegentlich etwas davon in den Informations­ briefen unterzubringen, aber das Gebiet Gehirn/Gedächtnis war es nicht. Noch bevor ich den Informa­ tionsbrief herausbrachte, wußte ich, daß ich mein nächstes Buch über die aufkommenden Alternati­ ven in unserer Gesellschaft schrei­ ben würde, über die neuen Wahl­ möglichkeiten, die verschiedene Einrichtungen boten. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto deutlicher wurde es, daß das, was wir sahen, keine bloße Ansamm­

Marilyn Ferguson ist Lesern des ersten ÖKO-LOG-Buches mit dem Titel „Sanfte Alternativen“ bereits bekannt. Dort druckten wir ihren Beitrag „Die Kraft der Frauen“. Gegenwärtig arbeitet Marilyn Ferguson an einem neuen Buch. Außerdem gibt sie seit Jahren zwei hervorragende Informationsbriefe heraus: „Brain/Mind Bulletin“, derdie neuesten Entwicklungen in der Gehirn- und Bewußtseinsforschung behandelt, und „The Leading Edge“, der sich mit der Resonanz auf ihr Buch „The Aquarian Conspiracy“ (dt.: „Die sanfte Verschwörung“, Sphinx Verlag, 1982) beschäftigt

lung von Veränderungen und Al­ Wissenschaftsgeschichte, der ihn ternativen war - in der Gesell­ stutzig gemacht hatte. Die alten schaft vollzog sich ein tiefer, griechischen Philosophen werden grundlegender Wandel, der auf ei­ noch heute in ihrer allgemeinen ne Veränderung der Wertvorstel­ und umfassenden Weisheit zitiert. lungen, eine Veränderung der Was Kuhn verwunderte, war, wie­ Wirklichkeit hinauslief. so sie sich in ihrer Physik so sicher P. Taylor: Wie würden Sie dieses waren. So klug sie waren, wie konnten sie der Physik vertrauen, Muster beschreiben? der sie vertrauten? Ferguson: Ich glaube, es hilft uns Kuhn erlebte die Veränderung weiter, wenn wir die Veränderun­ des eigenen Paradigmas, des eige­ gen, die wir mitmachen, anhand nen Verständnisses, ganz unver­ einiger Modelle betrachten. Eins hofft eines Tages, als ihm klar wur­ wäre die Vorstellung vom Paradig­ de, daß die Griechen sämtliche Er­ ma, wie es der Wissenschaftshi­ fahrungen, die sie bis dahin ge­ storiker Thomas Kuhn in den 60er macht hatten, all ihre Beobachtun­ Jahren eingeführt hat. Der aus gen, in einer Deutung zusammen­ dem Griechischen kommende gefaßt hatten, die ihnen sinnvoll Ausdruck Paradigma besagt soviel erschien. Sie war nicht unwissen­ wie Muster, Beispiel. Als Kuhn schaftlich, sie war alles, was sie bis dieser Gedanke kam. bemühte er dahin wußten. Sie ergab einen sich gerade um das grundsätzli­ Rahmen, der zwar nicht perfekt che Verständnis eines Aspekts der war, aber bezüglich dessen, was 73

sie zu der Zeit wußten, funktionier­ te. Ganz ähnlich sind die Deutun­ gen, die wissenschaftlichen Theo­ rien, die wir heute haben, ebenso Stückwerk. Wir haben sie lediglich aufgrund dessen, was wir bisher kennen, zusammengesetzt. Weiter erkannte Kuhn, daß alle bedeutenden Schritte in der Wis­ senschaft nicht die Folge immer neuen Wissens waren, das wir ein­ fach Tag um Tag, Jahr um Jahr ansammeln. Die wirklich bedeut­ samen Schritte waren Revolutio­ nen. Sie waren radikale Verände­ rungen der Betrachtungsweise, die zu ihrer Zeit im allgemeinen so ausgefallen waren, daß sie als hirnverbrannt und maßlos angese­ hen und nicht anerkannt wurden. Die Geschichte der Wissenschaft war demnach eine Geschichte der Revolution und nicht, wie die Lehr­ bücher es hinstellen, eine zwangs­ läufige Entfaltung von Erkennt­ nissen. Thomas Kuhn leistete somit Ge­ waltiges, als er diesen Prozeß be­ schrieb. Wenn man eine Theorie, ein wissenschaftliches Modell oder einen Rahmen hat (und das auch noch in jede mögliche Ge­ sellschaftstheorie oder persönli­ che Lebens-, Wert- oder Bezie­ hungstheorie übersetzen kann), hat man eine Art Matrix, durch die man alles interpretiert und ver­ steht. Sobald feststeht, wie die Dinge sind, arbeitet man im Rah­ men dieser Theorie, innerhalb der Grenzen dessen, was Kuhn die „normale“ Wissenschaft nennt, und man erwartet ganz bestimmte vernünftige Ergebnisse. Im Verlauf der Arbeit mit der „normalen“ Wissenschaft stoßen die Menschen jedoch hier und da auf anomale Ergebnisse. Zunächst werden sie nicht beachtet, son­ dern auf die eine oder andere Art unter den Teppich gekehrt, denn sie passen nicht in das Modell. Wir entwickeln eine gewisse Einäugig­ keit oder zumindest Abneigung bei allem, was nicht ins Modell paßt. Wir sagen, „Ich muß einen Fehler gemacht haben“, „Die müs­ sen einen Fehler gemacht haben“, oder wenn es etwas wirklich Fre­ 74

velhaftes ist, „Die müssen gelogen haben“. Auf diese Weise vermei­ den wir, an dem Modell herumpfu­ schen zu müssen, denn wir mer­ ken intuitiv, wenn wir anfangen, am Modell zu drehen, entdecken wir sehr bald, daß irgend etwas Grundsätzliches nicht stimmt. Doch mit der Zeit werden so viele Ungereimtheiten unter den Teppich gekehrt, daß man bald nicht mehr darauf eingehen kann. Es gibt, Gott sei Dank, immer eini­ ge Leute, die bereit und darauf versessen sind, sich mit diesen Un­ gereimtheiten auseinanderzuset­ zen. Sie mühen sich ab und ent­ decken schließlich irgendwo im al­ ten, dem beherrschenden Muster eine grundlegende Annahme, die falsch ist. Nur so erfolgt die Verän­ derung eines Musters. Etwas, das alle als selbstverständlich angese­ hen haben, das so unbestritten war, daß niemand es hinterfragt hat, erweist sich als anders. Und wenn das in Frage gestellt, wenn dieses zentrale Stück des alten Musters herausgezogen wird, fällt alles in sich zusammen. Der Kriminalroman ist ein guter Vergleich. Jeder Kriminalroman ist die Geschichte der Veränderung eines Musters, denn sobald das Verbrechen geschehen ist, entwikkelt sich um dieses Verbrechen ein Muster, das auf Beweisen aufbaut, die sich aus den Umständen erge­ ben. Viele Schlüsse werden gezo­ gen: Die Leiche wurde in der Bi­ bliothek gefunden, die Tat muß demnach im Haus geschehen sein; das Opfer hat um acht Uhr abends noch mit dem und dem am Telefon gesprochen, so daß es nicht vor zehn Uhr passiert sein kann; eine Schwägerin, die sich sehr verdächtig gemacht hat, kann es nicht gewesen sein, weil sie in London war. (Ich habe sehr viel von Agatha Christie gelesen.) Dann tauchen hier und da kleine Ungereimtheiten auf, doch das be­ wegt den Polizeiinspektor nicht, seine Meinung zu ändern. Der Held ist schließlich derjenige, der plötzlich bemerkt, daß etwas mit den Annahmen des Musters nicht stimmt: Die Tür war gar nicht ver­

schlossen; die Stimme kam von einer Tonbandaufnahme; die Schwägerin war gar nicht in Lon­ don, sonder ihre Zwillingsschwe­ ster. Wo immer der Fehler liegt, der Detektiv zieht diese Annahme heraus, und die ganze Geschichte fällt zusammen, wir haben die Lö­ sung, und der Detektiv ist derHeld. Leider ist der Detektiv im Roman der einzige, der ein Held wird, weil er ein neues Muster gefunden hat - zumindest solange die anderen noch leben. Denn es ist so, daß wir nicht dankbar für das neue Muster sind und es lieber sähen, das alte, bequeme Modell ergäbe keinen Sinn, als ein neues zu finden, das mehr erklärt, auch wenn das viel­ leicht niemand glaubt. Was Tho­ mas Kuhn gesagt hat, ist folgen­ des: Die alten Wissenschaftler diejenigen, die sich einen Ruf er­ worben haben und innerhalb des herrschenden Musters etabliert sind - müssen erst sterben, denn sie würden das neue Muster buch­ stäblich blockieren. Lediglich die jüngere Generation der Wissen­ schaftler, die nicht diese emotio­ nale Bindung an das alte Muster hat und nicht so sehr darauf fixiert ist, wird bereit sein, ihre Meinung zu ändern. Es gibt selbstverständ­ lich Ausnahmen von der Regel, aber normalerweise war es bisher meistens so. Der große Physiker Max Planck hat einmal gesagt: „Die Wissenschaft schreitet von Beerdigung zu Beerdigung fort.“ In mancher Hinsicht läßt sich vielleicht das gleiche von uns als Gesellschaft sagen, wenn es um die Veränderung der Wertvorstel­ lungen geht; denn wir neigen da­ zu, uns auf etwas zu versteifen, und bei den Veränderungen unse­ rer persönlichen Muster erleben wir im wesentlichen das gleiche, wie die Wissenschaftler bei den ihren. Ich glaube, das Problem ist gar nicht so sehr die Angst vordem neuen Muster oder die Liebe zum alten, sondern der Bereich dazwi­ schen. Es ist so, als befände man sich zwischen zwei Trapezen. Es ist dieses Nichtwissen - als ob Li­ nus sein Bettuch im Wäschetrock­ ner hat. Man weiß, es ist sehr unan­

genehm, wenn man seine alten Wertvorstellungen aufgegeben hat und die neuen noch nicht kennt. Es ist schwierig, zwischen zwei Mustern zu leben. P. Taylor: Wie können wir diese Zeit „dazwischen“ besser in den Griff bekommen? Ferguson: Es gibt ein anderes Mo­ dell, das uns hilft, unsere gegen­ wärtige Situation zu verstehen das Modell des kulturellen Erwa­ chens, das der Anthropologe An­ thony Wallace in den 50er Jahren vorgelegt hat. Wallace erklärte, je­ de Gesellschaft habe bestimmte normale Wege, die die Menschen gehen, und sie erwarten, ihr Le­ bend auf bestimmte Art zu führen, weil es schon immer so gewesen ist. Doch irgendwann kommt die Gesellschaft unweigerlich an eine Stelle, wo diese „kulturellen Irrwe­ ge“ blockiert sind. Irgend etwas geschieht, das es den Menschen oder zumindest bestimmten Ele­ menten der Gesellschaft - unmög­ lich macht, ihr Leben weiter auf diesen Irrwegen zu verwirklichen. Bei einem primitiven Stamm könn­ te es so sein, daß er ständig in einem bestimmten Gebiet gelebt hat, das mehrere Jahre hinterein­ ander Dürrezeiten erlebt hat, und plötzlich muß der gesamte Stamm alle Bindungen abbrechen und in eine andere Gegend ziehen. In un­ serer heutigen Gesellschaft könn­ te es zum Beispiel für die älteren Menschen so kommen, die ge­ glaubt haben, an ihrem Lebens­ abend über ein gesichertes Ein­ kommen zu verfügen und plötzlich feststellen, daß sie aufgrund der Inflation nicht zurechtkommen. In einer Gesellschaft kann vieles pas­ sieren, das alle Erwartungen über den Haufen wirft.Wenn nun eine Gesellschaft nach Wallace an die blockierten Irrwege kommt, er­ folgt ein allgemeiner Ausstieg, zu­ erst bei den nicht gefestigten Mit­ gliedern der Gesellschaft, der sich dann aber auf alle erstreckt, und es herrschen große Aufregung und Besorgnis. Ähnlich den Unge­ reimtheiten beim wissenschaftli­ chen Muster ergeben bestimmte Dinge keinen Sinn mehr.

Wie bei den Wissenschaftlern, die sich Ungereimtheiten gegen­ übersehen und daraufhin neue Ideen entwickeln, gehen in der Ge­ sellschaft nun hier und dort be­ stimmte Leute - Wallace nannte sie „neue Lichter“ - daran und stellen sich den Leiden und Kon­ flikten und zeigen Alternativen auf. Weil die „neuen Lichter“ aber Auf-

Peggy Taylor ist seit sechs Jah­ ren Herausgeberin und Verlege­ rin des „New Age Magazine“. Sie ist außerdem Lehrerin der Bates Method of Vision Training und Präsidentin der Association for Humanistic Psychology. Sie ist Mutter eines elfjährigen Sohnes.

merksamkeit erregen, ziehen sie auch die Angriffe derjenigen auf sich, die ein berechtigtes Interesse daran haben, den Status quo zu erhalten, oder die einfach zu unbe­ weglich sind, auf neue Ideen ein­ zugehen. Wallace nannte diese Menschen „Nativisten“ und erklär­ te, daß sie, gleichgültig in welcher Gesellschaft man sich befindet, immer die gleiche Diagnose stel­ len und die gleichen Vorschriften erlassen. Die Diagnose lautet: Das Problem geht auf einen Mangel an Disziplin zurück. Und vorgeschrie­ ben wird: Wir müssen es auf die bisherige Art machen, aber besser. Würden wir den Regentanz so tan­ zen, wie unsere Vorfahren itin ge­ tanzt haben, hätten wir nicht diese

Dürre. Wir müssen zurück zu ... Und hier kann man nun einsetzen, was man will: zurück zu Bibel, zu­ rück zu den Grundlagen, zurück aufs Land, zurück zu konservati­ ven-Ansichten, zurück zu liberalen Ansichten, denn das ist es, was wir brauchen. Aber das Problem bei der Lösung der Krise nach der Art der Nativisten ist, daß eine härtere Gangart nichts hilft, wenn etwas nicht funktioniert. Nach Wallace werden die Nativi­ sten zwar immer Gehör finden, aber ihre Lösungen bewirken nichts, weil sich die Zeiten geän­ dert haben. Letztlich wird sich die Betrachtungsweise der „neuen Lichter“ durchsetzen. An einem bestimmten Punkt wird das neue Muster zum vorherrschenden Mu­ ster - vielleicht gerade dann, wenn die neuen Lichter seiner überdrüs­ sig geworden sind und etwas noch Neueres in Angriff genommen haben. P. Taylor. Was schwebt den „neuen Lichtern“ heute vor? Wo kommt es Ihrer Meinung nach zu den meisten Veränderungen? Ferguson: Die fortgeschrittenste Veränderung, die gegenwärtig ab­ läuft, ist meines Erachtens die auf dem Gebiet der Gesundheitsvor­ sorge. Noch bis vor kurzem kreiste in diesem Land die ganze Frage darum, wie man Gesundheitspro­ bleme behandeln solle, also um Pathologie und Medizin. Dann fin­ gen die Menschen an, die Frage anders zu stellen und kamen zu anderen Antworten. Wir starrten nicht mehr so sehr auf die Krank­ heit und fingen an, uns zu fragen: Was ist Gesundheit? Inzwischen haben mehrere Staaten Gesund­ heits-Kommissionen eingesetzt. Wir erkennen außerdem allmäh­ lich die Verbindung zwischen Geist und Körper. Die Forschung auf diesem Gebiet war sehr inten­ siv. Wir fangen an, die Verbindung zwischen Persönlichkeitstypen und bestimmten Krankheitstypen zu erkennen. Jeder muß sich heute verantwortlich für seine Gesund­ heit und seinen Lebensstil zeigen. Vielleicht will er es gar nicht, aber

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die Forderung ist da. Wohlergehen ist „in“. Eine andere große Veränderung vollzieht sich, wenn auch bei wei­ tem nicht schnell genug, auf dem Gebiet der Erziehung und Ausbil­ dung. Wir bewegen uns offenbar von der Vorstellung der Schule und Schulung zum umfassende­ ren Muster des Lernens. Das ist interessant, denn den Zusammen­ hang auf diese Weise zu erweitern, erlaubt uns, etwas mehr Hoffnung zu schöpfen. Wenn wir nur auf die Schulen blickten, könnten wir wirklich sehr niedergeschlagen sein - ich meine, sie funktionieren einfach nicht, und ich bin sicher, daß die meisten engagierten Erzie­ her und sehr viele Menschen in der Gemeinschaft insgesamt es für ei­ ne ausgezeichnete Sache halten würden, wenn wir uns alle viel Zeit nehmen und erneut darüber nachdenken könnten, worum es bei all­ dem gehen soll. Aber mittlerweile kommt etwas ganz Unglaubliches auf, das le­ benslange Lernen - Erwachsenen­ bildung, weiterführende Kurse, Volkshochschulen. Die Menschen entdecken, daß man nicht „fertig“ sein muß, sondern unbegrenzt weitermachen kann, sich als Teil einer lernenden Gesellschaft bil­ det und weiterbildet. Das ist ein äußerst faszinierendes Gebiet. Auch wenn die Welt der Ausbil­ dung dadurch nicht auf den Kopf gestellt worden ist, hat sich doch die Metapher vom Lernen mit der rechten und linken Gehirnhälfte ein wenig ausgewirkt. Die heute bestehenden Schulen gehen nicht „gehirnkonform“ vor; sie berück­ sichtigen die verschiedenen neu­ rologischen Typen nicht, was be­ deutet, daß einige der Begabte­ sten in unserer Gesellschaft, bei denen überwiegend die rechte Ge­ hirnhälfte aktiv ist und die holistisch wahrnehmen, als „lernbehindert“ bezeichnet werden, weil sie nicht auf genau die gleiche Weise lesen lernen. Doch die Ent­ deckung, daß das Gehirn mehr als nur eine Art des Denkens kennt (was gute Lehrer seit jeher wuß­ ten), läßt auf einen lebendigeren 76

Unterricht als bisher hoffen - bei dem das gesamte Gehirn aktiviert wird. Ein weiteres hoffnungsvolles Zeichen in der Erziehung und Aus­ bildung - auch wenn da etwas Iro­ nie mit im Spiel ist - besteht darin, daß die Aufgabe, die Fähigkeiten des Unterrichtens zu verfeinern, offenbar zunehmend den profesionellen Managementberatern zufällt, Leuten, die Ausbildungs­ kurse für Wirtschaftsunternehmen und Verbände abhalten. Ich glau­ be, daß dieser Trend zu einem Feedback in unser Unterrichtssy­ stem führt und es vielleicht einem gewissen Zwang zu Verbesserun­ gen aussetzt. Denn im Grunde ist es ja so, daß die Organisationen vor allem die Wirtschaft - feststel­ len, daß sie uns eine Menge Nach­ hilfeunterricht geben müssen, wenn wir die Schule abgeschlos­ sen haben. Das Problem ist, daß man uns nicht beibringt, wie man denkt, wie man organisiert, wie man kreativ ist und wie man Neues in Angriff nimmt. Heute benötigt unsere Gesellschaft dringend Neuerungen und unkonventionel­ les Denken, was die Schulen ein­ fach nicht hervorbringen. Die Un­ ternehmen müssen also zahllose Außenseiter unterbringen. Eine sehr große Branche hat sich dar­ aus entwickelt, in Unternehmen und sonstige Organisationen zu gehen und den Leuten zu erklären, daß sie gescheiter sind als sie den­ ken, und ihnen zu sagen, wie sie kreativer sein können, und daß sie doch bitte jene Grenzen verges­ sen, die sie zu haben glauben.

ßerst bemerkenswert, denn falls sich das in diesem Bereich aus­ wirkt, hätte es wahrscheinlich auch größte Bedeutung für die Ge­ sellschaft insgesamt. Ich glaube, es war ein Anhänger der Psychotherapie von Ida Rolf, der mir erzählte, daß niemand sich schneller umstellt als Geschäfts­ leute, wofür es, wie ich glaube, mehrere Gründe gibt. Zunächst einmal, wenn man es mit absolu­ ten Spitzenleuten zu tun hat, dann sind das Leute mit unternehmeri­ schen Fähigkeiten, das heißt, sie sind bereit, Risiken einzugehen (ich spreche hier weniger vom Mit­ telmanagement oder von Leuten, die mehr administrative Funktio­ nen in den Stäben wahrnehmen). Verschiedene Untersuchungen haben außerdem gezeigt, daß Füh­ rungskräfte oft eine aktivere rech­ te Gehirnhälfte haben oder zumin­ dest sehr spontan, kreativ und in­ tuitiv in ihrem Denken sind. Und sie sind darüber hinaus außerge­ wöhnlich pragmatisch - sie haben an allem Interesse, was funktio­ niert. Das Schöne an allen Um­ wandlungstechnologien ist nun, daß sie funktionieren. Manchmal denkt man kaum noch daran, weil wir dazu neigen, sie zu verklären, aber sie sind sehr, sehr pragma­ tisch. Geschäftsleute stehen die­ ser Art von Veränderungen daher meistens offen gegenüber.

P. Taylor: Stand nach Ihrer Fest­ stellung die Wirtschaft dem Ge­ danken, die Möglichkeiten des Menschen auszuweiten, relativ of­ fen gegenüber?

Ferguson: In dem Umfang, in dem es Veränderungen gibt, ist das of­ fenbar eine Frage, Dinge begriff­ lich neu zu fassen. Sehr viel an diesen Veränderungen ist wieder pragmatisch bedingt. Unser im Vergleich zu anderen industriali­ sierten Ländern mangelhaftes Produktivitätsniveau hat uns bei­ spielsweise veranlaßt, zahlreiche unterschiedliche Management­ techniken zu prüfen, insbesonde­ re diejenigen der Japaner. (Es ist schon seltsam, daß wir von den Japanern lernen mußten, was Ab­

Ferguson: Einer der Umstände, der mich am meisten überrascht hat, seit das Buch erschienen ist, ist der, daß die Wirtschaft das auf­ geschlossenste Publikum über­ haupt zu sein scheint. Topleute aus der Wirtschaft haben offenbar das richtige Gespür für das, was heute eine Rolle spielt. Das ist äu­

P. Taylor: Meinen Sie wirklich, daß sich der militärisch-industrielle Bereich ändert? Unser „business as usual“ scheint so tief verwurzelt zu sein.

raham Maslow alles zu sagen hat­ te.) Es zeigt sich, daß das, was beim japanischen Vorgehen in Ma­ nagementfragen klug ist, nicht die Tatsache ist, daß sie gemeinsam Lieder singen, Gymnastik machen und zusammen in Urlaub gehen. Es hat mit einer stärker intuitiv ausgeprägten und einfühlsameren Behandlung der Menschen zu tun, die ihr Selbstwertgefühl erhöht und sie anregt, sich als Beteiligte zu fühlen, und ihnen das Gefühl vermittelt, daß ihre Entscheidun­ gen wichtig sind. Es schafft ein Gefühl des Zusammenwirkens, in­ dem es den Menschen hilft, selb­ ständig zu sein und sich gleichzei­ tig der Gruppe sehr stark verpflich­ tet zu fühlen. Nun eignen sich nicht alle japa­ nischen Entwürfe, Systeme oder Methoden für uns. Aber die dahin­ ter stehende Idee ist, daß das Un­ ternehmen einen Auftrag hat, und die amerikanische Wirtschaft in­ teressiert sich in der Tat sehr da­ für, welche Rolle die visionäre Kraft in der Führungsposition spielt, das Gefühl für den Auftrag, etwas, das die Menschen erheben und ihrer Arbeit einen Sinn geben kann. Mittlerweile haben wir er­ kannt, daß Führung nicht das ist, wofür wir sie gehalten haben. Wie James MacGregor Burns in sei­ nem Buch Leadership sagt: Bisher haben wir Führen als das Ausüben von Macht betrachtet, und allmäh­ lich erkennen wir, daß echte Füh­ rung, oder was er die umgestalten­ de Führung nennt, die Fähigkeit ist, die Untergebenen zu qualitativ mehr Leistung und Mitdenken an­ zuregen - die Mitarbeit zu fördern und eine sich gegenseitig stützen­ de Gemeinschaft oder Infrastruk­ tur zu schaffen. Wir beginnen, neue Kraftquellen zu entdecken: die Kraft, viele Alternativen zu ha­ ben, die Kraft der Verflechtung und die Kraft von Menschen, die Zusammenarbeiten. Wir können gemeinsam mit anderen Macht ausüben, anstatt Macht über sie. Es macht mehr Spaß, ist anregen­ der und funktioniert besser. So wie ich es sehe, setzt sich dieses stärker integrierte Füh­

rungsmodell immer mehr durch. Und was mir zum Teil aufgefallen ist, ist, daß die Leute in den wirkli­ chen Führungspositionen schöp­ ferischer und von umfassenderer Intelligenz sind, als die meisten von uns das glauben, wenn man es an ihrer Fähigkeit mißt, einen Ge­ danken aufzugreifen und etwas daraus zu machen. P. Taylor: Wie steht es mit der, wie es scheint, letzten Bastion, dem militärischen Establishment?

werden sich hier wie zu Hause füh­ len. Hier sind viele, die Ihr Buch gelesen haben.“ Und tatsächlich wurden mir einige zerlesene Ex­ emplare mit der Bitte um ein Auto­ gramm hingehalten. All das hat mich wohl angeregt, etwas zu tun, was damals ein bißchen verrückt schien. Ich sprach vor der Gruppe über die unglaubliche Breitenwir­ kung der Friedensbewegung und sagte: „Wissen Sie, wenn ich im Land herumreise und erwähne, daß es beim Militär Leute gibt, die an Transformation interessiert sind, glaubt mir das kaum jemand, weil die meisten Menschen zu der Annahme neigen, das Militär will den Krieg.“ Die Zuhörer, rund 100 Personen, von denen etwa zwei Drittel Militärangehörige, der Rest Berater waren, waren entsetzt, denn das wollen sie ganz und gar nicht. Wer hat schließlich mehr zu verlieren als sie? Und wer kennt die Schrecken des Krieges besser als sie? Ich sagte: „Wir sprechen hier über Führung in der Armee. Wie wäre es mit Führung durch die Armee? Sehen Sie, auch wenn sich die Ärzte mit der Pathologie und Krankheiten befassen, so mei­ nen wir doch, sie sollten eher das Gesundsein fördern. Was würde passieren, wenn Sie anfingen, den Frieden zu fördern?“ Wieder wa­ ren die Zuhörer erstaunt, aber das möchte ich doch nicht unterschla­ gen: Sie standen auf und klatschten Beifall.

Ferguson: Die bisher angenehm­ ste Überraschung seit Erscheinen des Buchs habe ich vor einigen Monaten erlebt. Es gibt in der USArmee einen sogenannten Kampf­ verband Delta, eine Art Ideen­ schmiede, wo über zukünftige Vorstellungen von Führung etc. nachgedacht wird. Eines der Mit­ glieder ist Oberstleutnant Jim Channon, der die Idee eines Ersten Erdbataillons hatte, ein futuristi­ sches Szenario eines umgewan­ delten Militärs, das die Aufgabe hat, sich unseres Planeten anzu­ nehmen. (Er erklärt beispielswei­ se, daß die Armee durchaus in der Lage sei, das erste experimentelle Ökotop herzustellen; man hat das notwendige Personal, genügend Geld ...) Jim lud mich zu einem Delta-Treffen im Army War College in Carlisle im US-Bundesstaat Pennsylvania ein. Als ich dort an­ kam, erfuhr ich, daß der FootballTrainer der Dallas Cowboys so­ eben als Hauptredner einer Ta­ P. Taylor: Waren Sie überrascht, gung über „Führung in der Armee“ daß sie diesen Vorschlag offenbar abgesagt hatte, und man hatte so aufgeschlossen annahmen? mich geholt. Ich wußte nicht recht, was ich daraus machen sollte. Ferguson: Wenn man darüber Dann lernte ich die Psychologin nachdenkt, warum sollte es über­ Sharon Lord kennen, neue Abtei­ raschend sein? Ich meine, es ist lungsleiterin im Verteidigungsmi­ heute entscheidend, daß wir mit­ nisterium. Sie erzählte mir privat, einander reden und nicht einfach daß sie The Aquarian Conspiracy annehmen, daß andere in anderen in Panama eingeführt habe, als sie Gruppen das „nicht kapieren“. Es vor zwei Jahren dort gewesen war, ist ganz interessant: Psychologi­ und daß sie, bevor sie den Posten sche Untersuchungen haben erge­ im Pentagon angenommen hatte, ben, daß die meisten Menschen eine Woche in einem holistischen glauben, besorgter, aufrichtiger Heilzentrum der Sufis zugebracht und verantwortungsbewußter zu hatte. Es ist also nicht immer alles sein als die meisten anderen Men­ so, wie es zunächst scheint. schen - aber wir handeln nicht so, Jim hatte mir gesagt: ..Oh, Sie weil wir meinen, „da draußen“ sei

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ein Dschungel. So erfüllt sich die Prophezeiung von selbst, weil wir nicht bereit sind, einander zu ver­ trauen. P. Taylor: Sie meinen also, daß ein Teil dessen, was man die Bewe­ gung der neuen Zeit nennen könn­ te, sich einer gewissen Isolation schuldig gemacht hat. Ferguson: Das, und noch etwas.

Ich glaube, es hat sich im Lauf der Jahre unter anderem eins erge­ ben: Diejenigen von uns, die an gesellschaftlichen Reformen, am Aufbau einer neuen Welt interes­ siert waren, hatten eine Vision, und wir projizierten in die Zukunft, wie es sein sollte, verwandten aber nicht sehr viel Zeit auf den Gedan­ ken, wie die Welt wohl in der Über­ gangszeit aussehen würde; wir dachten nicht sehr intensiv über die eigentliche und entscheidende Transformation der bestehenden Einrichtungen und Organisatio­ nen nach. Es war so, als hätten wir angenommen, wir wachen eines Morgens auf, und es gibt keine Armee mehr, keine multinationa­ len Konzerne - nur noch Hirsebrei und Leute, die „Om“ sagen. Das Problem ist, daß wir mög­ licherweise nicht erkennen, daß sich eine Transformation vollzieht, wenn sie nämlich nicht so aus­ sieht, wie wir es erwarten, oder wenn sie sich an Orten ereignet, wo wir nicht damit gerechnet ha­ ben. Und wenn wir sie nicht be­ merken, könnte die ganze Revolu­ tion gewissermaßen an uns vorbei­ gleiten. Diejenigen, die gedacht haben, daß sie, wenn es zu einem neuen Zeitalter kommen sollte, seine Sachverständigen wären, stellen fest, daß es bereits da ist, und daß es sehr kluge Leute da draußen gibt, die, sobald sie die Möglichkeiten dieser Vision ein­ mal erkennen und sich dafür be­ geistern, auch bereit sind, sie auf­ zugreifen und in Begriffe umzuset­ zen, die jeder verstehen kann. P. Taylor: Können Sie ein paar Bei­ spiele nennen? Ferguson: Nun, ich habe zum Bei­ spiel vor einiger Zeit entdeckt, daß

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das New Yorker Verbraucherbera­ es sind Leute mit traditionellen tungsbüro des J. C. Penney Kon­ Wertvorstellungen. In den Inter­ zerns das schönste Beratungsma­ views spreche ich davon, daß die terial im Sinne der Transformation Menschen schöpferischer und seit 1974 vorbereitet und verteilt kraftvoller sein, stärker Zusam­ hat. In Los Angeles haben Ange­ menhalten und einander helfen stellte von mindestens 17 Firmen sollten und wie die Welt dann aus­ der Luft- und Raumfahrtindustrie sähe. Und dann rufen die Leute an, sogenannte „Making a Differen- ältere Menschen, mit schwerfälli­ ce“-Clubs gegründet. Die Vorsit­ gem Dialekt, einfache Menschen, zenden der Gewerkschaften der und sagen, „Sie sprechen davon LKW-Fahrer und der Zimmerleute zusammenzuarbeiten, anstatt sich im Bezirk Orange in Kalifornien Konkurenz zu machen. Das war unterstützen finanziell und ideell schon immer das, woran ich ge­ eine Vorsorge-Klinik, und 20 Ge­ glaubt habe.“ Oder, „Ist das wech­ werkschaftsfunktionäre haben ei­ selseitige Abhängigkeit, worüber nen Intensivkurs in Gesundheits­ wir da sprechen? Ich war schon vorsorge absolviert, der auch Me­ immer der Meinung, daß das eine ditation beinhaltete. gute Sache ist.“ Wohin man schaut, hat es den Sie sehen, diese Wertvorstellun­ Anschein, als versuchten die Men­ gen sind untrennbar mit der ameri­ schen, ihre Entfaltung in den Ar­ kanischen Kultur verbunden; sie beitsplatz einzubringen. Und die spiegeln die Mentalität aus den Tatsache, daß das von innen her Anfängen der Pionierzeit wider, geschieht, ist, glaube ich, unge­ wo Zusammenarbeit eine absolute wöhnlich vielversprechend. Einige Notwendigkeit war, wenn man Leute aus der Bewegung der neu­ überleben wollte, und sie existie­ en Zeit sind gelegentlich ziemlich ren an vielen Orten noch immer. hart mit Geschäftsleuten, Politi­ Diese Werte sind nicht schwer zu kern oder anderen Gruppen, die verstehen; sie sind einfach, direkt anders zu sein schienen als sie und nicht mit philosophischen selbst, ins Gericht gegangen, und Überlegungen überladen. Nach­ zwar auf eine Art, die sehr polari­ barschaftsvereinigungen, Tausch­ sierend wirken kann; wenn wir an­ handel, Nahrungsmittelgenossen­ dere Bevölkerungsgruppen ab­ schaften - sie alle gehören zu die­ stempeln, erlegen wir ihnen mei­ sem Phänomen. Und ob diese For­ stens künstliche Beschränkungen men der Zusammenarbeit nun auf. Aber wenn man diese Gedan­ neumodische Namen haben oder ken wirklich verbreiten will, dann nicht, ist egal - sie sind, was sie bietet sich auch eine Möglichkeit, sind. Es sind Möglichkeiten der über Transformation zu sprechen, Menschen, sich zu helfen und ein die sich in fast alle Sprachen über­ Gemeinsamkeitsgefühl zu entwiktragen läßt. keln. Und wenn wir das sehen, brauchen wir nicht das Gefühl zu P. Taylor: Wie geht das? haben, daß es eine einsame Be­ Ferguson: Zunächst einmal würde schäftigung sein muß, sich eine man nicht den Begriff Transforma­ bessere Welt auszumalen, denn tion gebrauchen, jedenfalls nicht Millionen Menschen arbeiten be­ dann, wenn man möglichst viele reits an ihr. Menschen erreichen will. Ich ha­ ben im Rundfunk viele Telefonin­ P. Taylor: Glauben Sie wirklich, terviews aus verschiedenen Teilen daß die Bewegung auf dem Vor­ des Landes gemacht. Der Redak­ marsch ist? Es scheint so viele teur im Studio ruft vor der Sen­ Rückfälle und Ausrutscher zu ge­ dung oft an und sagt: „Ich sehe ben, ob sich nun die ehemaligen schwarz, die Leute da draußen Radikalen entschließen, „zur Sa­ werden das wahrscheinlich nicht che“ zu gehen, oder eine Kampag­ ganz mitkriegen,“ - die kommen ne gestartet wird, den weltlichen aus dem erzkonservativen Süden, Humanismus an den Schulen zu

unterdrücken. Was macht Sie so daß wir es nicht sind. Aufgrund all sicher, daß wir den Übergang mei­ unserer früheren Erfahrungen ha­ stern? ben wir Angst, daß wir nicht beliebt sind, und so lernen wir, die Men­ Ferguson: Ich glaube, wir entdek- schen zurückzuweisen, damit wir ken immer mehr über das Wesen uns deswegen nicht grämen müs­ unseres Widerstands gegen das sen, oder wir klammern uns an und Neue, über unsere Angst vor ihm, werden abhängig - wir entwickeln und wir machen die Erfahrung, alle nur denkbaren Arten von Stra­ daß wir uns dagegen durchsetzen tegien oder Neurosen. Im Lauf ei­ können - daß wir es in den Griff nes Lebens legen wir uns eine gan­ bekommen, Konflikte und Wider­ ze Sammlung davon zu. sprüche umwandeln und uns nach Dann geschieht folgendes: wie vor ändern und bewegen Wenn wir auf unerwartete Schwie­ können. rigkeiten stoßen, suchen wir nach Esgibt noch ein anderes Modell, Hilfe. Nun sagte Karen Horney, daß das äußerst hilfreich für das Ver­ wir im Grunde fast nie zum Thera­ ständnis sowohl der persönlichen peuten gehen, um unsere Neurose Veränderungen wie auch dessen loszuwerden. Wir wollen vielmehr, sein kann, wohin wir uns als Ge­ daß sie sich etwas festigt. Es läuft meinschaft bewegen; es ist das nicht mehr so gut, wie vorher. Aus Neurosenmodell der neofreudiani- diesem Grund sind viele Klienten schen Analytikerin Karen Horney, oft nicht so kooperativ beim Thera­ die Anfang der 50er Jahre starb. peuten, weil er die grundlegenden Nehmen wir nun aus Zweckmäßig­ Vorstellungen angreift, die sie von keitsgründen an, wir wären alle sich haben. neurotisch (Jean Houston hat ein­ Schließlich wird nach Karen mal gesagt, „Der einzige normale Horney ein Punkt erreicht, wo sich Mensch ist derjenige, der sich das Schlachtfeld verändert. Die nicht so genau auskennt“). Die Neurose wird untergraben, und Frage ist dann nicht mehr, Haben das wahre Selbst, das seit der Sie eine Neurose? sondern, Hat Kindheit gefesselt und geknebelt, die Neurose Sie? Und bei ihren oder zumindest in irgendeiner Klienten stellte Karen Horney fest, Form behindert war, wird zuneh­ daß die Neurose in den meisten mend stärker. Und unvermittelt kommt es zu einem, wie Karen Fällen sie (die Klienten) hatte. Sie sagte folgendes: Als Kinder Horney sagt, zentralen, inneren entdecken wir, daß wir den Men­ Konflikt: Die neurotische Persön­ schen in unserer Umgebung nicht lichkeit glaubt, sie müsse sterben, ganz genügen, wir entsprechen weil diese wirkliche Person mit ih­ nicht ganz dem, was sie sich vor­ ren eigenen Plänen, welche die stellen. Sie wollen uns anders, und neurotische Persönlichkeit über­ mit der Zeit werden wir tatsächlich haupt nicht versteht, die Oberhand anders. Schritt für Schritt bauen gewinnt. Dieser Punkt ist der Stolperstein wir eine unwirkliche Persönlich­ keit auf, die Karen Horney das neu­ bei unserer persönlichen Verände­ rotische oder idealisierte Selbst rung. Das ist der Punkt, an dem die nannte, und schon bald meinen Leute glauben, nun, nach all den wir, daß wir dieses idealisierte Gewinnen, würden sie straucheln Selbst sind. Es ist eine Ansamm­ oder Rückschläge erleiden, und lung von Merkmalen und Meinun­ alles erscheint viel, viel schlimmer. gen. Es setzt sich selbst völlig un­ Es ist eine Art Kampf darum, wer in mögliche Maßstäbe, und wir ent­ dem Rührstück die Hauptrolle wickeln um dieses Selbst, was Ka­ spielen soll. Ich glaube nicht, daß ren Horney das neurotische Sy­ wir uns unserer neurotischen Per­ stem des Stolzes nannte: Wir wer­ sönlichkeit jemals ganz entledigen den äußerst empfindlich, weil wir können, doch die Frage ist, ob sie versuchen, perfekt zu sein, doch die Hauptfigur in unserem Leben wir verzweifeln, weil wir wissen, bleiben muß.

P. Taylor: Und Sie meinen, daß dies die Art von Konflikt ist, die wir im Moment durchmachen, als Indi­ viduen und als Gesellschaft. Ferguson: Ja, und irgendwie hat es etwas unglaublich Hoffnungs­ volles. Der Prozeß unserer persön­ lichen Veränderung initiiert und bewirkt auch kollektive Verände­ rungen, und auf beiden Ebenen fangen wir an, unsere neuroti­ schen Vorstellungen herauszufor­ dern. Das alte Bild, das wir vom Wesen des Menschen gehabt ha­ ben, wandelt sich. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, daß, wenn die Leute sagen, „Das liegt im Wesen des Menschen“, es sich nie um etwas Gutes handelt? Wir haben uns selbst als nicht vertrauenswür­ dige, neurotische Geschöpfe be­ trachtet. Es galt Stamm gegen Stamm, Linke gegen Rechte, Na­ tion gegen Nation - diese Polari­ sierung und neurotischen Konflik­ te haben jahrtausendelang statt­ gefunden. Das ist unser großes neurotisch kontrolliertes Selbst. Aber in den letzten zehn, fünfzehn Jahren haben wir offenbar begon­ nen, ein neues Bild von uns zu entwerfen. Es ist richtig, es hat in der Menschheitsgeschichte eine Menge Andeutungen dazu gege­ ben. Viele Mystiker, Seher, Wis­ senschaftler und Dichter hatten ein anderes Bild von unseren Mög­ lichkeiten, von dem, was wir sind und sein könnten. Heute haben Millionen Menschen dieses Bild; es scheint ansteckend zu sein. Un­ ser wahres Selbst weiß, wie es eine Beziehung aufnimmt, wie es schöpferisch wirkt, wie es uns da­ bei hilft, uns aus unserer gegen­ wärtigen mißlichen Lage zu befrei­ en. Wir haben die ganze Situation geschaffen, wir können sie auch wieder rückgängig machen.

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Evolution Von Castaneda bis Zen: Die Reise nach innen

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„Die Welt ist nur so und so, weil Du Dir immer sagst, daß sie so und so ist. Wenn Du aufhörst damit, wird die Welt auf hören, so und so zu sein. “ Don Juan in Carlos Castanedas Reise nach Ixtlan. Wenn Weltbilder sich wandeln, ein neu­ es Paradigma entsteht, dann ist das oft wie ein Aha-Effekt. Man verändert den Standpunkt und schon zeigt einem die neue Perspektive eine ganz andere Wirklichkeit. Theoretisch und abstrakt ist das alles sehr einfach und leicht verständlich. Doch getan oder gelebt ist es damit noch nicht. Das Austau­ schen von Weltbildern fällt besonders theoretisch orientierten Menschen oft scheinbar recht leicht, gleichzeitig aber können wir bemerken, daß bestimmte Verhaltensmuster beibehalten werden, das neue Bewußtsein sich im Sein noch nicht ausdrückt. Diese Erkenntnis ha­ ben wir in der Bundesrepublik durch­ lebt am Beispiel der Studentenrevolu­ tion. Wurden ’68 die großen Parolen ge­ schwungen, so hieß das noch lange nicht, daß derjenige, der diese Parole erfand, sie auch mit Leben füllen konn­ te. Das Auseinanderfallen von An­ spruch und Wirklichkeit, von Theorie und Praxis, wurde zum großen Thema der 70er Jahre. Nach dem Scheitern theoretischer Ideale und Ansprüche fand ein Rückzug ins Innere der Part­ nerbeziehungen, des eigenen Ichs und oft auch ein Rückfall in eigentlich längst aufgegebene Positionen statt. Selbsterfahrungsgruppen, Therapien und neue spirituelle Orientierungen wurden zum Alltag einer neuen Kultur, einer Kultur der Innerlichkeit. Einige nannten es schon die innere Emigra­ tion, die da stattfand. Doch es war und ist mehr als das. Was da vor sich ging, war der Prozeß einer gründlichen Durcharbeitung durch den eigenen Körper, die Psyche hin zur Basis, der Erde. Das, was vorher 82

lediglich im Neocortex, in der äußer­ sten Gehirnschale, an abstrakten Strukturen verstanden wurde, mußte begriffen werden, seelisch, emotional, körperlich, ökologisch. Erster literarischer Ausdruck dieser Bewußtseinsarbeit wurden die Romane von Carlos Castaneda, einem Anthro­ pologiestudenten der Universität von Californien, der nach Mexiko eigentlich nur zu Zwecken einer Fallstudie und eines Praktikums fuhr und dann dort mit der Welt indianischer Schamanen konfrontiert wurde. Diese ließ ihn nicht mehr los, und er beschrieb seine Erfah­ rungen mit einem Schamanenlehrer, dem Indio Don Juan. Diese in Roman­ form verfaßten Berichte aus dem Alltag des Schamanismus faszinierten im ra­ tionalen Westen Millionen hauptsäch­ lich jugendlicher Leser. Die andere Wirklichkeit wurde zum Ziel und Fluchtpunkt einer ganzen Generation. Wege und Fahrzeuge zu diesen alterna­ tiven Realitäten gab es viele: Drogen, Pilze, Ekstase, Musik, Meditation, Fa­ sten und Sport (Jogging). Alles wurde ausprobiert und erprobt. Jetzt fand die Revolution nicht mehr im Saale, son­ dern in dem eigenen Körper statt. Nicht mehr die objektive Wahrheit war von Relevanz, sondern die subjektiv erlebte, andere Wirklichkeit. Doch der Körper reagiert anders als unsere auf das Ge­ hirn begrenzte Denkstruktur. Wer nur den kurzen Trip suchte, kam auch sehr schnell wieder zurück oder fiel gerade die Abgründe hinab, die er besser ver­ mieden hätte. Die körperliche Bewußt­ seinsarbeit erwies sich als schwieriger als das Erstellen neuer Theorien. In den heißen Tagen des Bewußtseinsauf­ bruchs gab es einige Psychonauten, die meinten durch täglichen erhöhten Konsum von LSD umso schneller in die andere Welt zu kommen. Sie schafften es nicht, genauso wenig wie die jungen Alternativ-Touristen, die für drei Mona­ te im Jahr nach Indien pilgerten und dort die Erleuchtung buchten, - ein

Instantkarma gab und gibt es nicht. Aber zwischen all diesen Irrungen und Verwirrungen entwickelten sich ernstzunehmende Reisende in die an­ dere Wirklichkeit ihres Unterbewußt­ seins und der Wirklichkeit. Von Mei­ stern ihres Faches soll im folgenden die Rede sein. Es sind einige der Pioniere einer neuen Wissenschaft und Lebens­ form. Man könnte sie als die Schama­ nen der Moderne bezeichnen. Erstaun­ licherweise sind es gerade hochqualifi­ zierte Wissenschaftler, die da auf neu­ en Wegen wandeln. Ein herausragen­ des Beispiel dafür ist der amerikani­ sche Bewußtseinsforscher John C. Lil­ ly. Dieser Mann, der oft eine wandelnde Enzyklopädie der Menschheitsge­ schichtegenanntwird, ist Mediziner und Elektronikingenieur. Doch er sprengte die Paradigmen seiner Fächer, ja der Wissenschaft insgesamt. Lilly hat heute eine Form von Wissenschaft wie­ der eingeführt, die es lange Zeit über­ haupt nicht mehr gab. Bewußtseinsfor­ schung an sich und durch sich selber, eine Art moderne Alchimie zum Zwekke der Erkenntnis über die Struktur der Realität.

Hexagramm 43: Kway

Die Evolution Bedrohliche Mächte gefährden Dich. Doch im Moment sind diese Bedrohungen abgeschwächt. Nut­ ze die Situation, um Dich zu entwickeln. Um stärker zu werden und die Bedrohung auszuschalten, muß Deine Opposition standhaft und unerschütterlich sein. Behalte Deine Ängste nicht für Dich, sondern drücke sie in jeder nur möglichen Form aus. Behal­ te auch Deine Pläne und Ziele nicht für Dich, son­ dern gib Deine Intentionen und Motive an andere weiter. Jede mögliche äußere Hilfe solltest Du in Anspruch nehmen. Bleibe gewaltlos, die Kräfte, die Dich bedrohen, sind gewalttätig, wenn Du dagegen ebenfalls mit Gewalt antwortest, hat die andere Seite schon gesiegt. Bleibe konstant aktiv in der Verbreitung Deiner gewaltfreien Vorstellung. Dies ist ein freiheitliches politisches Statement im Gleichgewicht des Universums, im Gleichgewicht zwischen Yin und Yang. Werde Dir klar darüber, daß Du Deine bisherigen kulturell geprägten Illusionen loswerden mußt, z.B. die Vorstellung rassischer Unterschiede, der Bedeutung materieller Akkumu­ lation, den Begriff des Besitzes sowie fast aller Dualismen, z. B. den Gegensatz von Leben und Tod, Gut und Böse, Körper und Geist. Wenn Du diese Illusionen hinter Dir gelassen hast, blockieren noch weitere, viel schwieriger zu überwindende Illusio­ nen Deinen Weg. Das sind die Illusionen über Deine eigene Bedeutung, die Illusion von Raum und Zeit, Form und Geschichte, die Illusion der Logik. In diesem Moment sind aus verschiedenen Gründen alle diese Illusionen sehr brüchig und veränderbar, nutze diese Chance. Zum I Ging siehe Seite 43

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Stanislav Grof

Die LSDKontroverse Jedes Forschungsgebiet hat seine Methoden, Techniken und Instrumente. Oft wurden entscheidende wissen­ schaftliche Durchbrüche erst durch das Vorhandensein bestimmter Instrumente möglich. Galilei konnte seine revolutionären Erkenntnisse über unser Sonnensystem nur mit Hilfe des gerade erfunde­ nen Fernrohrs machen, Louis Pasteur wäre ohne Mikro­ skop hilflos gewesen und ein Flug zum Mond ist ohne Computer heute undenkbar. Die Bewußtseinsforschung hat nun auch ihr entscheiden­ des Instrument gefunden, so wenigstens meint Stanislav Grof, ein Arzt und Psychiater, der heute als LSD-Forscher und Therapeut weltbekannt ist. „LSD ist für die Psychia­ trie, was das Mikroskop für den Biologen darstellt - ein unentbehrliches Instrument“ schreibt Grof und er muß es wissen, denn seit über einem Vierteljahrhundert arbeitet er mit LSD in der therapeutischen Praxis. Seine Erfahrun­ gen und wissenschaftlichen Folgerungen hat Stan Grof in zahlreichen Veröffentlichungen niedergelegt. Gerade ist auch sein neuestes Buch „LSD Psychotherapie“ auf deutsch erschienen, das als Standardwerk der LSD-Forschung bezeichnet werden kann. Begonnen hat Grof mit der LSD-Arbeit in seiner Heimat Tschechoslowakei doch erst in den USA, wohin er durch ein Forschungssti­ pendium 1967 kam, entfaltete sich das Konzept, das Grof heute noch beschäftigt. Mehr als ein Vierteljahrhundert ist vergangen, seit der Schweizer Chemiker Albert Hofmann durch Zufall die hochwirksamen psychoaktiven Eigenschaften des Diäthylamid der d-Lysergsäure - besser bekannt als LSD-25 - entdeckte. Schon kurz danach wurde diese Substanz zum Gegenstand einer beträchtlichen Kontroverse, die im Laufe der Jahre außergewöhnli­ che Dimensionen annahm. Die Entdeckung der Eigenschaf­ ten von LSD wurde in wissen­ schaftlichen Kreisen zu einer Sen­ sation und hatte eine stimulieren­ de Wirkung auf Forscher aus vie­ 84

len verschiedenen Disziplinen. Viele der frühen Abhandlungen betonten die Ähnlichkeit zwischen der durch LSD herbeigeführten „experimentellen Psychose“ oder „Modell-Psychose“ und den natür­ lich vorkommenden Psychosen, insbesondere der Schizophrenie. Die Möglichkeit, schizophrene Symptome bei normalen freiwilli­ gen Versuchspersonen unter La­ boratoriumsbedingungen nachzu­ ahmen und vor, während und nach dieser vorübergehenden „experi­ mentellen Psychose" komplizierte Laboratoriumstests und Untersu­ chungen durchzuführen, schien

einen erfolgversprechenden Schlüssel zum Verständnis der rät­ selhaftesten Krankheit in der Psychiatrie anzubieten. Als eine Droge, die eine kurze, reversible Reise in die Welt des Schizophre­ nen ermöglicht, wurde LSD als ein konkurrenzloses Instrument zur Ausbildung von Psychiatern, Psy­ chologen, Medizinstudenten und psychiatrischem Pflegepersonal empfohlen. Es wurde in diesem Zusammenhang wiederholt be­ richtet, daß eine einzige LSD-Erfahrung eine erhebliche Steige­ rung der Fähigkeit bewirken kön­ ne, psychotische Patienten zu ver­ stehen, ihnen mit größerem Ein­ fühlungsvermögen gegenüberzu­ treten und sie wirkungsvoller zu behandeln. Die LSD-Kontroverse setzte ein, als die Konzeption des LSD-Zustandes als einer „experimentellen Psychose“ von vielen phänomeno­ logisch und psychoanalytisch orientierten Psychiatern ernsthaft angegriffen und schließlich von den meisten klinischen Forschern verworfen wurde. Es wurde offen­ kundig, daß es trotz gewisser ober­ flächlicher Ähnlichkeiten auch sehr grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Zuständen gab. Die Hoffnung, daß Forschun­ gen und Experimente mit LSD zu einer einfachen Reagenzglas-Lö­ sung des Geheimnisses der Schi­ zophrenie führen würden, verblaß­ te allmählich und wurde schließ­ lich aufgegeben. Der „psychomimetische“ (eine Psychose simulierende) Akzent in der LSD-Forschung wurde bald von einer zunehmenden Zahl en­ thusiastischer Aufsätze über­ schattet, die darauf hinwiesen, LSD besitze möglicherweise ein ungeahntes therapeutisches Po­ tential. Nach der Meinung vieler klinischer Forscher schien eine LSD-unterstützte Psychotherapie eine erhebliche Abkürzung der Be­ handlungsdauer zu erlauben. Au­ ßerdem wurden therapeutische Erfolge bei verschiedenen Katego­ rien psychiatrischer Patienten mit­ geteilt, deren Prognose als ungün­ stig betrachtet worden war oder

die auf konventionelle Behand­ lungsmethoden nicht ansprachen; dazu gehörten chronische Alko­ holiker, Drogensüchtige, kriminel­ le Psychopathen, sexuell Abartige und schwere Charakterneurotiker. Diese Behauptungen blieben nicht unangefochten. Viele Kliniker, die wußten, wie schwer es ist, tief ver­ wurzelte psychopathologische Symptome oder gar die Charakter­ struktur zu verändern, glaubten nicht an die innerhalb von einigen Tagen oder Wochen erreichten dramatischen Resultate. Kritiker dieser Berichte wiesen auf das Fehlen kontrollierter Untersu­ chungen hin, die einen Beweis für die Nützlichkeit der LSD-Psychotherapie liefern würden; ganz ähn­ liche Einwände wurden jedoch da­ mals auch gegen die Psychoanaly­ se und andere Formen anerkann­ ter und praktizierter Psychothera­ pie ohne Drogenanwendung erho­ ben. Die meisten Einwände waren in der Hauptsache methodologischerNatur, und keiner der Skepti­ ker stellte die Ungefährlichkeit dieser Methode ernsthaft in Frage. Sidney Cohen legte diesbezüglich in einem 1960 veröffentlichten Aufsatz dar, daß die mit der verant­ wortungsvollen und professionel­ len Anwendung von LSD bei nor­ malen freiwilligen Versuchsperso­ nen verbundenen Risiken minimal sind. Geringfügig höher war das Risiko, wenn LSD bei psychiatri­ schen Patienten angewandt wur­ de, aber im allgemeinen schien doch die LSD-Psychotherapie weitaus sicherer zu sein als viele andere Verfahren, die in der psychiatrischen Therapie immer noch weit verbreitet sind, wie z. B. Elektroschock-Therapie, Insulinkoma-Behandlung und Psychochirurgie. Alles in allem schien in den frühen sechziger Jahren das LSD in der Psychiatrie einen festen Platz zu haben, als ein wertvolles Werkzeug der Grundlagenfor­ schung, der psychiatrischen Aus­ bildung und therapeutischer Ex­ perimente. Darüber hinaus gab es zumin­ dest zwei weitere Bereiche, in de­ nen die Anwendung von LSD erre­

gende neue Perspektiven und in­ teressante Möglichkeiten eröffne­ te. Viele LSD-Testpersonen be­ richteten in ihren Sitzungen über ungewöhnliche ästhetische Erfah­ rungen und Einblicke in das We­ sen des schöpferischen Prozes­ ses; sie entwickelten häufig ein neues Verständnis für Kunst, ins­ besondere für moderne Kunstbe­ wegungen. Maler, Bildhauer und Musiker waren in der Lage, unter dem Einfluß von LSD hochinteres­ sante und unkonventionelle Kunstwerke hervorzubringen, die sich erheblich von ihren gewöhnli­ chen Ausdrucksformen unter­ schieden. Es wurde offensichtlich, daß die Experimente mit LSD zu wichtigen Erkenntnissen über die Psychologie und die Psychopa­ thologie der Kunst führten. Ein weiteres Gebiet, auf dem die Anwendung von LSD recht umwäl­ zende Folgen zu haben schien, war die Religionspsychologie. Man hatte beobachtet, daß man­ che LSD-Sitzungen die Gestalt tie­ fer religiöser und mystischer Er­ fahrungen hatten, die denen ganz ähnlich waren, wie sie in den heili­ gen Schriften der großen Weltreli­ gionen geschildert werden und von denen Heilige, Propheten und religiöse Lehrer aller Zeiten be­ richten. Die Möglichkeit, solche Erlebnisse vermittels einer chemi­ schen Substanz auslösen zu kön­ nen, setzte eine interessante und höcht kontroverse Diskussion über die Frage einer „chemischen Mystik“ (auch „instant mysticism“ genannt, eine „Mystik auf Knopf­ druck“ sozusagen) und die Validi­ tät und spirituelle Echtheit dieser Phänomene in Gang. Die von Ver­ haltenswissenschaftlern, Philoso­ phen und Theologen geführte De­ batte schwankte zwischen drei ex­ tremen Standpunkten. Viele Expe­ rimentatoren waren der Überzeu­ gung, die Beobachtungen aus psy­ chedelischen Sitzungen machten es möglich, religiöse Phänomene aus dem Bereich des Geheiligten herauszulösen, sie im Laborato­ rium willkürlich hervorzurufen, zu untersuchen und schließlich mit wissenschaftlichen Kategorien zu

erklären. Letztlich werde dann nichts Geheimnisvolles und Heili­ ges an der Religion mehr übrig­ bleiben, und man werde sie mit den Begriffen der Gehirnphysiolo­ gie und der Biochemie erklären können. Einige Theologen neigten dazu, LSD und andere psychedeli­ sche Substanzen als etwas Heili­ ges und die Sitzungen als Sakra­ mente zu betrachten, weil sie den einzelnen in Berührung mit trans­ zendentalen Wirklichkeiten zu bringen vermöchten. Die entge­ gengesetzte Tendenz leugnete, daß die LSD-Erfahrungen echte re­ ligiöse Erscheinungen und mit je­ nen vergleichbar seien, die als „Gnade Gottes“ oder als Folge von Selbstzucht, Selbstverleugnung, frommer Versenkung oder asketi­ scher Übungen eintreten; in die­ sem Denkrahmen nahm die scheinbare Leichtigkeit, mit der diese Erlebnisse durch ein chemi­ sches4 Mittel zustande gebracht werden konnten, ihnen jeglichen spirituellen Wert. Mitte der sechziger Jahre, als LSD auf dem schwarzen Markt in weitem Umfang zugänglich wurde und Massen von jungen Menschen die „Straßendroge“ als Werkzeug für unkontrollierte Laienexperi­ mente benützten, wurde die LSDKontroverse um neue Dimensio­ nen erweitert. Die nun entstehen­ de Situation unterschied sich er­ heblich von der zwar recht leiden­ schaftlichen, aber im Grunde noch wissenschaftlichen und akademi­ schen Atmosphäre der Auseinan­ dersetzungen der vorangegange­ nen Jahre. Nüchterne und rationa­ le Argumente verschwanden fast völlig von der Szene, die Bühne wurde von der emotional aufgela­ denen, feindseligen Begegnung zwischen zwei unversöhnlichen Gruppen beherrscht. Auf der einen Seite verkündeten LSD-Proselyten das Zeitalter einer neuen Religion mit einem Messias in Gestalt eines chemischen Mittels. Für sie war LSD ein Allheilmittel für eine tod­ kranke Menschheit, die einzige vernünftige Alternative zum Mas­ senselbstmord in einer Atomkata­ strophe. Es wurde empfohlen, je­ 85

dermann ohne Ausnahme sollte so häufig wie möglich und unter allen Umständen LSD nehmen; die Risi­ ken wurden geleugnet oder unter­ schätzt, und soweit man sie zugab, hielt man es im Hinblick auf das Endziel für der Mühe wert, sie ein­ zugehen. Auf der ändern Seite wurde eine an Massenhysterie grenzende Atmosphäre in der Öf­ fentlichkeit geschaffen, die von dieser neuen Bewegung er­ schreckt war und auf das heftigste gegen sie Partei ergriff. Fast jeden Tag brachten sensationslüsterne Journalisten neue Berichte über schreckliche und katastrophale Folgen unkontrollierter Selbstex­ perimente: über Menschen, die der Abendsonne entgegen aus dem Fenster eines Hochhauses hinaus ins Leere traten, die umka­ men, weil sie Autos mit ihrem Kör­ per aufhalten wollten, die erblin­ deten, weil sie stundenlang in die Sonne starrten, sich Verletzungen zufügten, indem sie sich mit dem Küchenmesser Fettlappen aus dem Körper schnitten, die ihre Ge­ liebten oder Schwiegermütter er­ mordeten oder in den geschlosse­ nen Abteilungen psychiatrischer Anstalten im Zustand permanenter Psychose endeten. Die Berichte ließen LSD als eine Teufelsdroge erscheinen und bildeten die Grundlage für eine hexenjagdähn­ liche Reaktion von seiten von El­ tern, Lehrern, Geistlichen, Polizei­ behörden und Mitgliedern der Par­ lamente. Bedauerlicherweise machten sich auch viele Beamte und Fachleute auf dem Gebiet der Psychohygiene in gewissem Um­ fang diese irrationale Einstellung zu eigen; obwohl ihnen in der psychiatrischen und psychologi­ schen Literatur zahlreiche Berich­ te über wissenschaftliche Experi­ mente mit LSD aus zwei Jahrzehn­ ten zur Verfügung standen, waren ihre Vorstellungen von dieser Dro­ ge doch weitgehend durch Zei­ tungsüberschriften bestimmt. Die Verbindung der Drogensze­ ne mit der „Hippie“-Bewegung und der Revolte in der Gegenkul­ tur erweiterte die schon vorhande­ nen Probleme noch um eine wich­ 86

tige soziopolitische Dimension. Noch weiter verschärft wurde die Auseinandersetzung durch wider­ sprüchliche Berichte über den möglichen Zusammenhang zwi­ schen LSD und Chromoso­ menschädigungen, genetischen Schädigungen, Leukämie und Krebs. Die Auffassungen über LSD erstreckten sich also überein brei­ tes Spektrum, von der Vorstellung, die Droge sei ein geistiges, seeli­ sches und soziales Allheilmittel für die Menschheit, oder sie sei ein hochwirksames therapeutisches Hilfsmittel für Menschen, die an ernsten psychischen oder psycho­ somatischen Störungen leiden, bis zu der Meinung, LSD sei etwas Teuflisches, etwas das organische Gehirnschäden hervorrufe und die Gesundheit künftiger Generatio­ nen gefährde. Um das kontroverse Bild von LSD zu vervollständigen, muß noch erwähnt werden, daß die Droge von einigen Leuten ernsthaft als wirksames Hilfsmittel bei den Methoden der Gehirnwä­ sche und als hochwirksames Mit­ tel der chemischen Kriegführung in Betracht gezogen wurde. Die Atmosphäre der Hysterie und der Mangel an ernsthaften Forschungen erschwerten es au­ ßerordentlich, die wissenschaftli­ che Bedeutung vieler in diese Kon­ troverse einbezogenen Phänome­ ne zu erkennen. Laien, die Selbst­ experimente mit LSD vornehmen, treten häufig in Erlebnisbereiche ein, die den praktizierenden Psychiater und Psychologen völlig verwirren und vor unlösbare Rät­ sel stellen, wenn er in einer durch diese Droge herbeigeführten Not­ fallsituation zu Hilfe gerufen wird. Auf der einen Seite passen die LSD-Erlebnisse in keines der vor­ handenen theoretischen Systeme; auf der ändern Seite erkennen vie­ le Kliniker mit Einfühlungsvermö­ gen, daß es unzutreffend und un­ angemessen ist, LSD-Erfahrungen einfach als psychotisch zu etiket­ tieren. Dazuhin treten als Folge solcher Selbstexperimente bei zahlreichen Menschen dramati­ sche Persönlichkeitsveränderun­ gen auf, welche die gesamte Wert­

ordnung, die religiösen und welt­ anschaulichen Überzeugungen und den allgemeinen Lebensstil erfassen. Mangels eines theoreti­ schen Systems zur Erklärung der hierbei wirksamen Mechanismen blieben solche Verwandlungen Medizinern und Psychologen ganz unverständlich. Selbst manche ne­ gativen Ereignisse, die als Folge der Einnahme von LSD Vorkom­ men können, wie z.B. psychoti­ sche Zusammenbrüche oder Selbstmordversuche, können sehr wichtige Daten über die Dynamik dieser Phänomene liefern, wenn man anfängt, sie wissenschaftlich und nicht emotional zu be­ trachten. Wenn wir das Wesen und die Reichweite der LSD-Kontroverse betrachten, scheint es offensicht­ lich, daß sie etwas viel Grundsätz­ licheres reflektiert als die pharma­ kologischen Wirkungen eines ein­ zelnen chemischen Wirkstoffes. Obwohl es bei allen diesen Diskus­ sionen scheinbar nur um LSD geht, beziehen sie doch ihre emo­ tionale Brisanz aus anderen Pro­ blemen, die solchen Auseinander­ setzungen inhärent sind. Mehrere Jahrzehnte Forschungsarbeit über LSD haben umfangreiches Material über das Wesen des für diese Situation verantwortlichen gemeinsamen Nenners zutage ge­ fördert. Eine sorgfältige Analyse der LSD-Daten führt zu der zwin­ genden Annahme, daß diese Sub­ stanz ein unspezifischer Verstär­ ker psychischer Prozesse ist, der aus der Tiefe des Unbewußten Ele­ mente der verschiedensten Art an die Oberfläche bringt. Was wir bei den LSD-Erfahrungen und in manigfaltigen, damit zusammenhän­ genden Situationen beobachten, ist offenbar eine Materialisation und Steigerung der Konflikte, die der menschlichen Natur und Kul­ tur wesensmäßig eigen sind. Tritt man unter diesem Gesichtspunkt an die LSD-Phänomene heran, dann stellen sie tatsächlich äu­ ßerst interessantes Material für ein tieferes Verständnis der Psyche, der Natur des Menschen und der menschlichen Gesellschaft dar.

LSD und seine Wirkungen beim Menschen LSD ist in den letzten Jahren in der allgemeinen Öffentlichkeit zuneh­ mend bekannter geworden. Infor­ mationen über die Droge erreich­ ten ein breites Publikum durch die Tagespresse, Artikel in Zeitschrif­ ten aller Art, durch Propagan­ dabroschüren gegen die Drogen­ sucht, durch Radio, Fernsehen und Film und durch das Hörensa­ gen. Die allermeisten Erwachse­ nen und jungen Leute haben dar­ über gehört und gelesen. Diese Informationen waren jedoch, vor­ sichtig ausgedrückt, größtenteils nicht sehr systematisch; viele von ihnen gingen auf Vorurteile zurück und waren durch kommerzielle und politische Interessen verzerrt. Aus diesem Grund will ich einen kurzen synoptischen Überblick über die grundlegenden Daten der LSD-Forschung geben, um für die weiteren Erörterungen eine allge­ meine deskriptive Grundlage zu schaffen. Eine solche Einführung dürfte für ein besseres Verständ­ nis einiger der spezifischeren, dy­ namischen Aspekte der LSD-Erfahrung nützlich sein; dies stellt das hauptsächliche Ziel unserer Untersuchung dar. LSD-25 oder Diäthylamid der dLysergsäure ist eine halbsyntheti­ sche chemische Zusammenset­ zung; ihre natürliche Komponente ist Lysergsäure, welche die Grund­ lage aller wichtigeren MutterkornAlkaloide bildet; die DiäthylamidGruppe wird im Laboratorium hin­ zugefügt. LSD als solches ist in keiner organischen Substanz fest­ gestellt worden, obwohl die natür­ liche Produktion von LSD in den Gehirnen von mit Toxoplasmose infizierten Tieren vermutet wurde. Die Synthese verschiedener ande­ rer Amide der Lysergsäure wurde in Kulturen des Pilzes Claviceps paspaii demonstriert. Ähnliche Amide wurden in Samenkörnern einer Winde festgestellt, die in Me­ xiko durch Jahrhunderte zu rituel­ len Zwecken in Form von Ololiuqui genannten Salben und Tränken verwendet wurden.

Es ist interessant, sich ins Ge­ dächtnis zu rufen, daß LSD zum erstenmal im Jahre 1938 in den Laboratorien der Sandoz-Werke in der Schweiz synthetisiert wurde; man nahm an, die Droge könne möglicherweise in der Geburtshil­ fe und Gynäkologie und bei der Behandlung der Migräne von Nut­ zen sein. Die Substanz wurde rou­ tinemäßig an Tieren getestet und für uninteressant befunden, so daß man die Untersuchungen nicht weiterverfolgte. Die halluzinogenen Eigenschaften des LSD wurden ungefähr fünf Jahre spä­ ter, im April 1943, von Albert Hof­ mann entdeckt. Bei der Durchsicht der Ergebnisse früherer For­ schungsarbeiten mit dieser Sub­ stanz gelangte Hofmann zu dem Schluß, die Daten deuteten darauf hin, daß sie eine interessante sti­ mulierende Wirkung auf das Zen­ tralnervensystem haben könne. Bei der Arbeit an der Synthetisierung einer neuen Probe LSD für weitere Untersuchungen be­ rauschte er sich versehentlich bei der Purifizierung der Kondensa­ tionsprodukte und erlebte sehr dramatische psychische Verände­ rungen. Er war in der Lage, die hypothetische Verbindung zwi­ schen seinem abnormen geistigen Zustand und der Droge, mit der er arbeitete, herzustellen; später nahm er absichtlich 250 Mikro­ gramm LSD ein, um seine Vermu­ tung einem einwandfreien wissen­ schaftlichen Test zu unterziehen. Seine Reaktion auf diese Dosis war seiner ersten Erfahrung sehr ähnlich, jedoch sehr viel intensiver und dramatischer. Ein winziges Quantum LSD veränderte die gei­ stigen Funktionsweisen Hof­ manns in drastischer Weise, und zwar für die Dauer von mehreren Stunden; er verbrachte diese Zeit in einer phantastischen Welt inten­ siver Gefühle, leuchtender Farben und wogender Formen. Hofmann schilderte seine ungewöhnliche Erfahrung dann Professor Stoll von der psychiatrischen Klinik in Zürich; dieser war so beeindruckt, daß er die erste wissenschaftliche Untersuchung von LSD an norma­

len freiwilligen Versuchspersonen und an psychisch kranken Patien­ ten durchführte. Seine Beobach­ tungen der Wirkungen von LSD bei diesen beiden Kategorien von Testpersonen wurden 1947 veröf­ fentlicht. Die Mitteilungen erreg­ ten ungeheuer großes Interesse und lösten weitere Forschungen in vielen Ländern der Welt aus. Nach­ folgende Untersuchungen bestä­ tigten Stolls Feststellungen, daß LSD die wirksamste psychoaktive Droge war, die jemals bekannt ge­ worden war. In unglaublich klei­ nen Dosierungen, schon von 10 bis 20 Mikrogramm an (1 Mikro­ gramm oder Gamma = ein mil­ lionste! Gramm), konnte es sehr tiefgehende, unterschiedliche psychische Veränderungen her­ vorrufen, die mehrere Stunden an­ hielten. LSD war mithin ungefähr fünftausendmal wirksamer als das bereits bekannte Meskalin und einhundertfünfzigmal wirksamer als das später entdeckte Psilocybin. Weitere Forschungen zeigten, daß LSD in allen üblichen Anwen­ dungsformen verabreicht werden kann. Es kann oral eingenommen und intramuskulär, intravenös, in­ traperitoneal oder direkt in die Rückenmarksflüssigkeit des Wir­ belsäulenkanals injiziert werden. Der Bereich, innerhalb dessen LSD ohne Gefährdung angewandt werden kann, scheint ungewöhn­ lich ausgedehnt zu sein. Tierversu­ che über akute und chronische toxische Wirkungen zeigten, daß LSD einen niedrigen Toxizitäts­ grad und einen breiten Sicher­ heitsbereich hat; die bei klini­ schen Experimenten ohne erkenn­ bare biologische Nebenwirkungen verabreichten Dosen bewegten sich zwischen 10 und 2000 Mikro­ gramm. Das Einsetzen der LSD-Reaktion folgt nach einer Latenzperio­ de, deren Dauer in Extremfällen zwischen zehn Minuten und drei Stunden schwanken kann, und zwar abhängig von der betreffen­ den Person, der Verabreichungs­ form, der Dosis, des Grades des psychischen Widerstandes und 87

anderer Variablen. Eine solche La­ tenzperiode gibt es nicht, wenn LSD direkt in die Rückenmarks­ flüssigkeit injiziert wird. In diesem Fall tritt eine fast sofortige Wir­ kung ein. Eine unkomplizierte LSD-Sitzung kann zwischen vier und zwölf Stunden dauern; die wichtigsten Faktoren, die ihre Dauer bestimmen, sind die Per­ sönlichkeit der Versuchsperson, die Natur und Dynamik des unbe­ wußten Materials, das während der Sitzung aktiviert wird, und die verabreichte Dosis. Verlängerte Reaktionen, die bei der Arbeit mit LSD gelegentlich Vorkommen, können Tage oder Wochen anhalten. Die Intensität der LSD-Erfahrung kann dadurch gemildert wer­ den, daß man die Augen öffnet und sich umherbewegt, und sie kann verstärkt werden, indem der Be­ treffende in zurückgelehnter Hal­ tung sitzen bleibt, einen Augen­ schirm aufsetzt und stereophone Musik hört. Die LSD-Phänomene erstrecken sich über einen außer­ ordentlich weiten Bereich und auf fast alle geistigen und physischen Funktionen. Wir wollen sie an die­ ser Stelle nur kurz skizzieren:

Physische Symptome stellen einen typischen, normalen Aspekt der LSD-Reaktion dar; die meisten von ihnen lassen sich als Stimulierung der vegetativen (au­ tonomen), der motorischen und der sensorischen Nerven erklären. Vegetative Manifestationen kön­ nen sympathetischer oder para­ sympathetischer Art oder auch beider Art zugleich sein. Die sym­ pathetischen Wirkungen schlie­ ßen ein: Beschleunigung der Puls­ frequenz, Ansteigen des Blut­ drucks, Erweiterung der Pupillen, Verschwimmen der Seheindrücke und Schwierigkeiten bei der Schärfeneinstellung des Auges, Absonderung von dickem Spei­ chel, heftiges Schwitzen, Zusam­ menziehen der peripheren Arte­ rien, mit der Folge, daß Hände und Füße kalt werden und sich bläulich färben, Sichsträuben der Körper­ haare. An parasympathetischen 88

Wirkungen treten auf: Verlangsa­ mung der Pulsfrequenz, Absinken des Blutdrucks, übermäßige Spei­ chelbildung, Tränenfluß, Diarrhöe, Übelkeit und Erbrechen. Häufig sind ferner Symptome mehr allge­ meiner Natur, wie Unbehagen, Fie­ bergefühl, Erschöpfung und ab­ wechselnd Frieren und Hitzewal­ lungen. Die häufigsten motori­ schen Erscheinungen sind: ver­ stärkte Muskelspannung, mannig­ faltige Formen von Zittern, Zukkungen und Krämpfen, kompli­ zierte Verrenkungsbewegungen. Obwohl die eben genannten Er­ scheinungen häufiger sind, kommt es bei manchen Versuchs­ personen auch zu einer umfassen­ den und völligen Lockerung sämt­ licher Körpermuskeln. Neben den vegetativen und motorischen Er­ scheinungen wurde eine Reihe un­ terschiedlicher Veränderungen der neurologischen Reflexe bei LSD-Testpersonen beschrieben. Symptome, die mit der Aktivierung der Empfindungsnerven Zusam­ menhängen, sind Kopfschmerz, Schmerzen in verschiedenen an­ deren Teilen des Körpers, Schwe­ regefühle in den Gliedmaßen, eine Vielzahl absonderlicher Empfin­ dungen und sexuelle Gefühle.

Veränderungen der Wahrnehmung bilden die häufigste und konstante Form der LSD-Reaktion. Obwohl sie in allen Sinnesbereichen auftreten können, scheinen die visu­ ellen Phänomene eindeutig zu überwiegen. Sie erstrecken sich von elementaren Visionen auf­ flammender Lichter, geometri­ scher Figuren und scheinbarer Verwandlungen der Umwelt bis zu komplexen Bildern mit ganzen Gruppen von Personen, verschie­ denen Tieren und einer spezifi­ schen Szenerie. Weniger häufig sind perzeptuelle Veränderungen im akustischen Bereich. Typische Erscheinungen sind hier: Über­ empfindlichkeit gegen Laute, die Schwierigkeit, zwischen verschie­ denen akustischen Reizen zu un­ terscheiden, akustische Täu­ schungen und Pseudohalluzina­

tionen. Veränderungen im Bereich des Riechens und Schmeckens sind bei manchen normalen Ver­ suchspersonen wie auch bei psychiatrischen Patienten ziem­ lich häufig; sie können die beherr­ schende Erscheinung bei Sitzun­ gen von Menschen mit angebore­ ner Blindheit sein, die in der Regel keine optischen Erscheinungen nach der Einnahme von LSD erle­ ben. Typischerweise sind Ge­ ruchs- und Geschmacksempfin­ dung während des Höhepunkts der Sitzung ausgeschaltet, hinge­ gen außerordentlich gesteigert in der Endphase der Sitzungen mit einem guten Abschluß. Geruchs­ und Geschmackstäuschungen oder Pseudohalluzinationen sind besonders häufig während einer tiefen Regression in die frühe Kindheit. Bei den perzeptuellen Verzerrungen im Bereich desTastsinns kommt es sowohl zu einer abgeschwächten wie auch gele­ gentlich zu einer verstärkten Emp­ findlichkeit verschiedener Körper­ teile; ungewöhnliche Empfindun­ gen aller Art sind gleichfalls ziem­ lich häufig bei LSD-Sitzungen. Be­ sonders interessant sind komple­ xe und oft absonderliche Verände­ rungen der Körpervorstellung.

Verzerrungen in der Wahrnehmung von Zeit und Raum sind einer der auffallendsten und konstantesten Aspekte von LSDSitzungen. Die Wahrnehmung der Zeit verändert sich fast immer; am häufigsten kommt es vor, daß eine kurze Zeitspanne als viel länger dauernd erlebt wird, manchmal aber auch das Gegenteil. Im Ex­ tremfall können Minuten als Jahr­ hunderte oder Jahrtausende er­ lebt werden, umgekehrt wird manchmal eine lange Zeitspanne in einer Sitzung als nur ein paar Sekunden dauernd wahrgenom­ men. Gelegentlich ist die Zeit nicht nur quantitativ verändert, sondern auch als Dimension. Sie kann völ­ lig zum Stillstand kommen, so daß der Abfolgecharakter von Ereig­ nissen verschwindet; Vergangen­ heit, Gegenwart und Zukunft wer­

den als parallel ablaufend erfah­ ren. Eine spezielle Kategorie der Zeitveränderung ist die Erfahrung der Regression in verschiedene Perioden der persönlichen Le­ bensgeschichte. Die Wahrnehmung des Raums ist gleichfalls in typischer Weise verändert; Entfernungen können größer erscheinen oder unter­ schätzt werden; Objekte werden als größer oder kleiner wahrge­ nommen, als sie tatsächlich sind, und der Raum kann als horizontal oder vertikal zusammengepreßt erscheinen. Die Versuchsperso­ nen können das Gefühl des Verlusts der Perspektive haben oder Fluktuationen der Raumkonsi­ stenz, wie die Verdünnung oder Kondensation des Raumes, erle­ ben. Sie können ferner beliebig viele subjektive Räume und indivi­ duelle Mikrowelten erschaffen, die autonom und ohne Zusammen­ hang mit unserem Zeit-Raum-Kontinuum sind. Erfahrungen der Ver­ schmelzung mit dem Raum, des Sichauflösens in ihm, kommen häufig vor; sie können Ekstasege­ fühle hervorrufen oder mit der Angst vor Tod und Vernichtung verbunden sein. Eine extreme Er­ fahrung der Veränderung von Zeit und Raum ist das Gewahrwerden von Unendlichkeit oder Ewigkeit.

Emotionale Veränderungen erscheinen als eine der ersten Ma­ nifestationen der LSD-Reaktion und treten sehr regelmäßig und konstant auf. Frühe Berichte über LSD betonten die Euphorie, die für Sitzungen mit mittlerer Dosierung bei normalen Versuchspersonen ganz typisch ist. Sie kann mehrere verschiedene Formen annehmen: heitere Ausgelassenheit mit un­ motiviertem Lachen, überströ­ mende Freude, tiefe Gefühle des Friedens, der Gelassenheit und Entspannung, orgiastische Eksta­ se, hedonistisches Vergnügen oder Gefühle der Wollust und Sinnlichkeit. Wenn die Versuchs­ personen psychiatrische Patien­ ten sind und höhere Dosen verab­ reicht werden, nimmt die Häufig­

keit negativer Stimmungsqualitä­ ten beträchtlich zu. Angst kann die Sitzungen beherrschen und in völ­ liger Panik und äußerster Todes­ furcht kulminieren. Depressionen können die Form ruhiger Trauer und tränenloser Melancholie ha­ ben oder aber erregter Verzweif­ lung mit recht dramatischen Er­ scheinungen. In manchen Sitzun­ gen kann es zu ernsthaften Selbst­ mordvorstellungen oder sogar -neigungen kommen, die die sorg­ fältigste Überwachung der betref­ fenden Person unerläßlich ma­ chen. Quälende Minderwertig­ keitsgefühle und Schuldgefühle sind häufig, besonders in thera­ peutischen Sitzungen mit gestör­ ten Patienten. Affektive Labilität oder im Gegenteil affektive Apat­ hie kommen häufig vor. In man­ chen Sitzungen bilden quälende Ambivalenz und Entschlußlosigkeit das typische Charakteristi­ kum. Aggressive Gefühle sind zwar ziemlich häufig, doch wird die Aggression gewöhnlich nicht in unkontrollierbarer und destruk­ tiver Weise ausagiert und bietet keine ernsteren Probleme; es gibt natürlich Ausnahmen von dieser Regel.

Veränderungen des Denkens, des Intellekts und des Gedächtnisses sind recht deutlich erkennbar, wenn sie sich auch nicht immer in psychologischen Tests eindeutig demonstrieren lassen. Bei man­ chen Typen der LSD-Erfahrung sind die Denkprozesse beschleu­ nigt, in anderen verlangsamt. Lo­ gisches und abstraktes Denken ist gewöhnlich möglich, fällt jedoch einzelnen schwerer als sonst; alo­ gisches und frei assoziierendes bildliches Denken ähnlich wie in Träumen tritt in den Vordergrund. Das kann gelegentlich zu einer plötzlichen Vereinfachung und zur Lösung bestimmter Probleme füh­ ren, ähnlich der künstlerischen In­ spiration oder der kreativen Er­ leuchtung eines Wissenschaftlers oder Erfinders. Solche grundle­ genden intuitiven Einsichten kön­

nen in manchen Fällen Informatio­ nen aus verschiedenen Bereichen in schöpferischer Weise integrie­ ren. Ebenso häufig ist jedoch eine verzerrte Wahrnehmung der Ge­ schehnisse und ihre wahnhafte Deutung in Gestalt von Verfol­ gungsvorstellungen, Größenwahn oder Beziehungswahn. In jedem Fall sollte man während einer LSDSitzung dem praktischen Urteils­ vermögen nicht trauen, und wer unter der Einwirkung der Droge steht, darf keine ernsten, unwider­ ruflichen Entscheidungen treffen. Untersuchungen der intellektu­ ellen Funktionen und des Ge­ dächtnisses während der Sitzun­ gen mit Hilfe der üblichen psycho­ logischen Tests ergaben in der Re­ gel eine leichte Minderung des Leistungsvermögens. Die Deu­ tung dieser Ergebnisse ist jedoch schwierig; es ist nicht klar, ob das Resultat auf eine Regression der intellektuellen Funktionen auf ei­ ne frühere Entwicklungsphase zu­ rückzuführen ist, auf eine toxische Beeinträchtigung des Gehirns oder auf Mangel an Interesse und Motivation der Versuchsperson bzw. darauf, daß die Betroffenen ganz von ihren faszinierenden in­ neren Erlebnissen in Anspruch ge­ nommen werden. In der Regel erinnern sich die Versuchspersonen mehr oder we­ niger klar an alles, was während der Sitzung klar wahrgenommen und erlebt wurde. Amnesie kommt ziemlich selten vor, außer wenn hohe Dosierungen verabreicht wurden oder wenn es sich um emotional extrem belastendes Ma­ terial handelt. Gelegentlich kann das LSD-Erlebnis so überwälti­ gend sein, daß die Versuchsper­ son nicht einmal während der Sit­ zung selbst in der Lage ist, die verschiedenen Facetten des Erleb­ nisses deutlich zu unterscheiden. In diesen Fällen bleiben weniger bestimmte Einzelheiten als viel­ mehr die allgemeine Atmosphäre in Erinnerung.

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lich einen sehr ungewöhnlichen heiligen Schriften der großen Charakter; sie können sadistische Weltreligionen und in den gehei­ oder perverse Elemente enthalten men mystischen Texten alter Kul­ sind gewöhnlich recht eindrück­ oder die Gestalt satanischer, oze­ turen. lich, weisen jedoch nicht alle in die anischer oder tantrischer Sexuali­ gleiche Richtung. Manche Ver­ tät annehmen. In der Schlußperio­ Seit dem Beginn der Experimente suchspersonen zeigen eine ein­ de von Sitzungen mit gutem Aus­ mit LSD bis heute steht man vor deutige Handlungshemmung, ei­ gang ist die Orgasmusfähigkeit dem verwirrenden Problem, wie es nen Mangel an Spontaneität und gewöhnlich in hohem Maße ge­ zu erklären ist, daß eine einzige Initiative. Bei anderen tritt eine steigert, und zwar bei männlichen Droge ein so ungeheuer breites deutliche psychomotorische Erre­ wie bei weiblichen Teilnehmern. Spektrum verschiedener Erfah­ gung zutage, gelegentlich mit ei­ Sexueller Verkehr am Tage der Sit­ rungen hervorruft, die in vielfälti­ nem Element unangemessenen zung kann zum stärksten Erlebnis gen Kombinationen und anschei­ Verhaltens, wie z. B. unmotiviertes dieser Art im Leben des Betroffe­ nend auf dem gleichen Kontinuum Lachen, diffuse Aggression, the­ auftreten. Es war offensichtlich, nen werden. atralisches Verhalten oder Aus­ daß eine langfristige, systemati­ agieren der verschiedensten Im­ sche Untersuchung des LSD-VerDas Kunsterlebnis pulse. fahrens an einer großen Zahl von ist oft ein wichtiger Aspekt der Personen erforderlich sein würde, LSD-Sitzung. Die einzigartige Die Veränderungen des um eine Typologie der Erfahrungs­ Wahrnehmung von Farben und Bewußtseins muster und der Abfolge der Erfah­ Formen wie auch der überwälti­ rungen zu entwickeln, diese zuein­ sind ganz besonderer Natur. Ge­ gende Eindruck von Musik vermit­ ander und zu der Persönlichkeit wöhnlich sind keinerlei Anzeichen teln häufig ein neues Verständnis einer quantitativen Beeinträchti­ von Kunst und künstlerischen Be­ der Versuchsperson in Beziehung gung, wie Schläfrigkeit, Benom­ wegungen. Diese Fähigkeit, unge­ zu setzen und die Prinzipien zu menheitoderein tiefer Dämmerzu­ wöhnliche Aspekte der Kunst zu entdecken, die dieser scheinbar stand, zu erkennen. Typischerwei­ erleben, kann nach einer einzigen chaotischen Situation zugrunde liegen. se kommt es auch nicht zu jener Sitzung auf unbestimmte Dauer Verwirrung und Desorientierung bestehenbleiben. Gelegentlich in bezug auf die persönliche Iden­ wurde auch eine auffallende Stei­ Dieser Text entstammt Stanislav Grofs Buch „Topographie des Unbewußten“, tität oder auf Ort und Zeit der Sit­ gerung der Kreativität in und nach Klett-Cotta, 1978 zung, denen man nach der Verab­ einer LSD-Sitzung beobachtet; reichung üblicher delirogener das ist jedoch keine allgemeine Stoffe wie Atropin, Skopolamin Regel. oder Benaktyzin begegnet. Das Bewußtsein zeigt nach der Einnah­ Religiöse und mystische me von LSD eine charakteristische Erfahrungen qualitative Veränderung ähnlich wie in Träumen. Es kann seine stellen die interessanteste und gewöhnlichen Grenzen über­ provokativste Kategorie von LSDschreiten und Phänomene aus Phänomenen dar. Ihre Häufigkeit dem tiefen Unbewußten mit auf­ scheint in direkter Relation zu der nehmen, die unter normalen Um­ Dosierung und der Anzahl der vor­ ständen nicht zugänglich sind. ausgegangenen Sitzungen zu ste­ Dieser Vorgang wird häufig als Be­ hen. Sie können ferner gefördert werden durch die spezielle Vorbe­ wußtseinserweiterung bezeichnet. reitung, durch „set and setting“ Die Sexualität (die inneren und äußeren Umstän­ kann auf unterschiedliche Weise de) der psychedelischen Behand­ beeinflußt werden. Manchmal ist lung. Das Erlebnis von Tod und sie so gehemmt, daß nichts frem­ Wiedergeburt, der Vereinigung der zu sein scheint als eben das mit dem All oder mit Gott, Begeg­ Sexuelle. Die Sexualität kann je­ nungen mit dämonischen Erschei­ doch auch so gesteigert sein, daß nungen oder das Wiedererleben lange Zeitabschnitte in den Sitzun­ „früherer Inkarnationen", wie sie gen von intensiven sexuellen Ge­ bei LSD-Sitzungen beobachtet fühlen und Bildern beherrscht werden, erscheinen phänomeno­ werden. Sexuelle Erfahrungen in logisch ununterscheidbar von LSD-Sitzungen haben gelegent­ ähnlichen Schilderungen in den

Die psychomotorischen Veränderungen

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Rüdiger Lutz

Rolfing — Aerobics für die Psyche „Körperbewußtsein“ ist „in“: Jog­ ging, Trimming, Tennis, Squash und neuerdings vor allem Aero­ bics sind ein populärer und kom­ merzieller Ausdruck der gegen­ wärtigen Fitness- und Gesund­ heitswelle. Doch was uns da so schweißgebadet sexy aus jedem Schaufenster und Fitness-Center entgegenlacht, ist nur ein fader Abklatsch dessen, was tatsächlich an Veränderung im letzten Jahr­ zehnt bezüglich unserer Bezie­ hung zum Körper und seiner Be­ deutung geschah. Daß heute alles von Body-building bis zum Marathon-Lauf so gut verkaufbar ist, zeigt, daß ein Be­ wußtseinssprung stattgefunden hat, der auch von noch so cleveren Marketing-Leuten nicht geplant werden konnte. Der kommerzielle Aspekt der neuen Bewegungsfreu­ de darf nicht zu einer vorschnellen Verdammung dieser Entwicklung führen. Gerade am Beispiel des Massen­ phänomens Aerobics kann man aufzeigen, daß die Verwässerung und kommerzielle Ausbeutung den Grundgedanken nicht beein­ trächtigt. Wenige wissen, daß Aerobics ei­ gentlich fast 20 Jahre alt ist. Ein Major und Arzt der amerikani­ schen Airforce, Dr. Kenneth H. Cooper, entwickelte für seine Pilo­ tenschülerein Programm körperli­ cher Ertüchtigung, das er Aero­ bics nannte. Entsprechend dem militäri­ schen Rahmen gestaltete er ein äußerst effizentes und auch ex­ erziermäßig angehauchtes Gym­ nastikprogramm zur Konditions­

steigerung und Kraftentwicklung. Diese Methode wurde Ende der 60er Jahre in den USA recht popu­ lär, jedoch lange nicht so, wie es heute der Fall ist. Als wiederum zehn Jahre später die Schauspie­ lerin Jane Fonda das AerobicsKonzept auf griff und mit zeitgemä­ ßer Disco-Musik verband, kam der Durchbruch. Dabei konnte Jane Fonda nicht ahnen, welch große Resonanz die Aerobics-Idee finden würde. Sie wollte nur eine Art Wahlkampfun­ terstützung für ihren Mann, Tom Hayden, dem ehemaligen Studen­ tenführer und jetzigen Parteichef der „Californiens for Economic Democracy“, einer Art grünen Par­ tei, leisten. Jane Fonda nutzte ihre Medien­ popularität und baute mehrere Aerobics-Studios auf. Die relativ hohen Teilnehmergebühren soll­ ten den Wahlkampf der „Califor­ niens for Economic Democracy“ finanzieren. Völlig unabhängig von dieser Konzeption entwickelte sich Aerobics jedoch zum Selbst­ läufer: Hatte Jane Fonda noch emanzipatorische und feministi­ sche Gedanken hinter der Aero­ bics-Idee, so nach dem St ich wort : „Frauen, ihr müßt stark sein“, so kam Aerobics zu uns nach Europa bar jeder emanzipatorischen Kon­ zeption. Doch selbst ohne dieses Hinter­ grundwissen bewirkt die Aus­ übung von Aerobics eine positive Veränderung unserer körperli­ chen und seelischen Verfassung und das ist die besondere Qualität sämtlicher körperorientierten Techniken und Therapien: Sie

funktionieren, auch wenn die Ideo­ logie oder Theorie nicht verstan­ den oder akzeptiert wird. Daß Rolfing heute ein weltbekann­ ter Begriff ist, liegt daran, daß Ida Rolf in den 60er Jahren in Esalen wirkte und lebte. Das Esalen-Institut ist eine Art Verstärker oder Lautsprecher für Menschen, die neue Konzepte wagen und Umset­ zen. Heute gibt es ein Rolf-Institut in Bolder, Colorado. Dort be­ kommt man nach einer entspre­ chenden Ausbildung auch ein Zer­ tifikat als Rolfer. Aber, was ist das nun eigentlich: „Rolfing“, benannt nach Ida Rolf? Ida Rolfs Buch „Rolfing, die Inte­ gration der Körperstruktur“ ist ein großes, kompliziertes Werk voller Illustrationen und Anweisungen für eine bestimmte Art, mit dem Körper umzugehen, ja ihn zu mas­ sieren. Rolfing ist also - so könn­ ten wir verkürzt sagen - eine Art neue Massage. Aber hier würde Ida Rolf wahrscheinlich schon strikt widersprechen - Massage nicht im uns bekannten, alten Sin­ ne, sondern einer Integration des Menschen, physisch, psychisch und spirituell. Um also diese wun­ dersame psychisch-physische Massage zu verstehen, müssen wir doch den Entwicklungsweg des Rolfing erklären. Und dies istkeine leichte Sache, denn Ida Rolf hielt nie viel von Persönlichkeitskult und gab deshalb wenig Informa­ tionen über sich heraus. Dennoch wissen wir, daß Ida Rolf 1896 in New York geboren wurde und am dortigen BernardCollege 1916 - also mitten im Er­ sten Weltkrieg - einen naturwis­ senschaftlichen Abschluß machte. Aufgrund ihrer guten Leistungen konnte sie an der Rockefeller-Universität in New York City ungefähr 1920 ihren Doktor in Biochemie am Medizinischen Fachbereich machen. Durch Zufälle und fami­ liäre Umstände begann sie, sich für die Arbeit mit Menschen zu interessieren, also sie zu beraten, gesundheitlich wie auch psycho­ logisch. Gleichzeitig jedoch lernte sie eine ganze Menge Yoga und 91

Osteopathie sowie Homöopathie. Dies tat sie jedoch nicht aus rein professionellem Interesse, son­ dern weil sie selbst körperlich et­ was angeschlagen war, und zwar buchstäblich: Als junges Mädchen wurde sie von einem Pferd getre­ ten und hatte darunter lange zu leiden. Durch den Unfall lernte sie die Grundbegriffe der Osteopa­ thie, nämlich daß die Struktur die Funktion bestimmt. Im Falle von Ida Rolf war dies ganz simpel. Durch den Pferdetritt wurde näm­ lich eine Rippe derart gebrochen, daß die Atmung beeinträchtigt war. Die gebrochene Rippe wieder so in Ordnung zu bringen, daß das Atmen erleichtert wird, war des­ halb logischerweise der einzige Weg für Idas Heilung. Durch diese Erfahrung wurde Ida Rolf für ihre eigenen Studien motiviert. Und Rolfing ist soviel anders nicht. Durch strukturelle Veränderung bzw. im Idealfall Integration ver­ sucht Rolfing, die physische und psychische Funktion zu verbes­ sern. Der Erfolg ist tatsächlich um­ werfend, man kann ihn buchstäb­ lich sehen. Doch dies waren nur blasse Anfänge. Durch einen For­ schungsaufenthalt in Zürich lernte Ida Rolf die Homöopathie kennen, eine damals in den USA völlig un­ bekannte Theorie und Therapie. Aus der Homöopathie lernte Ida Rolf schnell, was der Begründer der Homöopathie, Dr. Hahnemann, das Gesetz der Heilung nannte, nämlich sich rückwärts in die Geschichte des Patienten hin­ einzuarbeiten und nicht - wie es die Allopathie tut - von der jeweili­ gen Diagnose ausgehend einfach ein Gegenmittel zu geben. Homöo­ pathie basiert auf den Selbsthei­ lungskräften des Patienten. Osteo­ pathie und Homöopathie zusam­ men mit ihrer Praxis des Yoga bil­ deten somit die persönliche Grundlage für die Studien von Dr. Rolf. Speziell Hatha-Yoga hatte es ihrangetan. Die zugrundeliegende Annahme dieser Yoga-Technik ist, durch bestimmte Bewegungen oder Haltungen den Körper auszu­ dehnen und ihm damit Raum zu geben für seine Entwicklung. Die­ 92

se Idee faszinierte Dr. Rolf derart, daß sie allmählich aus den YogaHaltungen Techniken ableitete, die ihr für ihre medizinische Arbeit sinnvoll erschienen. Um die origi­ nelle Vorgehensweise von Ida Rolf zu verstehen, wollen wir hier eine kleine Geschichte erzählen, die zeigt, wie Ida Rolf immer wieder grundsätzliche Prinzipien suchte, verstand und durchsetzte. Ida Rolf mochte es nicht, wenn Leute einen Gedanken intellektuell nicht aus­ einander nehmen konnten, um ihn zu verstehen. Dies war nämlich of­ fenbar ihre Stärke. Am Beispiel eines Falles von Poisson Oak, einer Art Brennessel­ reizung, zeigt sich, wie Ida Rolf an solche Fragen herangeht. Der Patient war in dem üblichen unan­ genehmen Stadium, wo er den Schmerz beklagte aber nichts da­ gegen tun konnte. Ida Rolf sagte zu ihm: „Nimm eine harte Bürste und etwas Seife. Reibe mit der harten Bürste über die „verbrann­ ten“ Stellen und reibe die Seife hinein.“ Das Prinzip dabei ist ein­ fach. Der Erreger in dem Poisson Oak ist eine Säure. Die Seife ent­ hält eine Lauge. Die Seife wird somit die Säure neutralisieren, wenn man sie miteinander in Kon­ takt bringt. Das allerdings erfor­ dert, daß man die kleinen Bläs­ chen mit der Bürste tatsächlich öffnet, was natürlich etwas Über­ windung erfordert. Auf so etwas nahm Ida Rolf niemals Rücksicht. Sie schrubbte die Blasen auf und rieb die Seife hinein, und der Schmerz war vorbei. Über die Jahre hinweg entwikkelte Ida Rolf ein Studienprinzip aus Yoga, Osteopathie, Homöo­ pathie und natürlich ihren medizi­ nischen und biochemischen Grundlagenkenntnissen. Aber erst, als sie gezwungen war zu lehren, begann die Formulierung ihrer Rolfing-Technik. Auch ihr in­ tellektuell orientiertes Studium darf nicht vergessen werden. Sie hatte engen Kontakt mit Leuten, die die Alexander-Technik lehrten sowie mit Schülern von Alfred Korzybski, dem Begründer der allge­ meinen Semantik. Durch allgemei­

ne Semantik und speziell durch die Zeitschrift „Systematics“ fand dann Ida Rolf eines Tages ein Idiom, das ihre Ideen über die Struktur des menschlichen Kör­ pers sowie seine Funktionen um­ faßte. 1963 verfaßte sie einen Arti­ kel in dem gerade neu erschiene­ nen Journal „Systematics“. Er lau­ tete: „Gravitation, ein unerklärter Faktor einer menschlicheren Nut­ zung des menschlichen Körpers“. In diesem Aufsatz explizierte Ida Rolf zum ersten Mal ihre Theorie über die Bedeutung der Gravita­ tion für den menschlichen Körper. Gravitation ist allgegenwärtig, all­ mächtig und ein fehlerhaftes Rea­ gieren des Körpers gegenüber der Gravitation führt zu verschieden­ sten Krankheiten und Problemen. Damit machte sie die mechani­ schen Gesetze auch für den Men­ schen und seinen Körper deutlich. Alle Massen müssen im Gleichge­ wicht zueinander stehen. Der Mensch besteht mehr oder weni­ ger aus solchen kleinen Masseele­ menten, die gravitationsrichtig ge­ ordnet sein müssen. Die Knochen und das Bindegewebe bestimmten die Positionen aller Masseteil­ chen. Manipuliert man durch Massage das Bindegewebe, so reagieren auch die Knochen. Sind die Zugund Druckkräfte auf dem Bindege­ webe ausbalanciert, dann erfährt der Körper eine Art Leichtigkeit und einen - wie sie es nannte Energiedurchfluß der Gravitation. Ab diesem Zeitpunkt verfeinerte Ida Rolf ihre Lehre über die Struk­ tur des Körpers. Ihre Logik aus Gravitation, Körpermechanismen und Massagearbeiten führten schließlich zu ihrem zehnstündi­ gen Programm, welches sie struk­ turelle Integration nannte und das später dann kurz „Rolfing“ hieß. Dieses Rolfing-Programm wurde lehr- und lernbar, hatte eine ge­ schlossene Theorie und Konzep­ tion, welches konsequenterweise dann auch schnelle Verbreitung fand. Allerdings begannen mit die­ ser Popularisierung auch einige Probleme. So war die äußere Me­ chanik der Rolfing-Technik oft et­

was widersprüchlich. Ida Rolf hat­ te Schwierigkeiten, ihren jeweili­ gen Schülern die innere psychi­ sche und heilende Bedeutung der Handgriffe klarzumachen, die die­ se an irgendwelchen Körpern un­ ternahmen. Obwohl Ida Rolf selbst von mechanischen Gesetzen aus­ ging, so blieb sie nicht bei dieser Körperphysik stehen. Sie wußte, daß mit jedem Druck und Hand­ griff bedeutsame emotionale und psychische Veränderungen eintreten konnten. Diesen therapeuti­ schen Effekt versuchte Ida Rolf deshalb ihren Studenten nahezu­ bringen. Sie sollten die Wechsel­ wirkung zwischen Psyche und Physik des Körpers begreifen, be­ greifen mit den Händen. Sie soll­ ten fühlen lernen, was in dem Men­ schen, an dem sie arbeiteten, vor­ ging. Verstärkt wurde diese Inten­ tion durch Ida Rolf, als sie mit ihrer Arbeit nach Esalen kam. Dort näm­ lich traf sie auf Fritz Perls, den bekannten Gestalttherapeuten. In der Mitte der 60er Jahre führte Ida Rolf jeden Sommer deshalb ihre Kurse in Esalen durch. Positive Berichte als auch Hor­ rorstorys über das Rolfing began­ nen sich zu verbreiten. Doch die Übertreibungen wichen bald einer sehr, verständnisvollen Anerken­ nung für diese neue systematisch aufgebaute innere und äußere Massage. Durch die Unterstützung von dem damaligen Forschungs­ direktor vom Esalen Institut, Julian Silverman, bekam Ida Rolf die Möglichkeit, ein Forschungspro­ gramm über die Wirkung des Rol­ fing zu beginnen. Sie erhielt sogar Gelegenheit, in einem Rehabilita­ tionsprogramm kalifornischer Krankenhäuser Rolfing vorzufüh­ ren. Allerdings endete dieses Un­ ternehmen nicht unbedingt posi­ tiv. Einige Krankenhausdirektoren waren zwar begeistert von Frau Rolf, aber ihre Massagetechnik fanden sie weder bedeutsam noch neu. Aufgrund dieser Erfahrungen begannen Esalen-Forscher zu­ sammen mit Ida Rolf, ein wissen­ schaftliches Programm zusam­ menzustellen. Gehirnwellen, das psychologische Profil, Blut und

Dr. Ida Rolf

Urin sowie weitere meßbare Indi­ katoren sollten vor und nach einer zehnstündigen Rolfing-Session untersucht werden. Und tatsäch­ lich, nach zwei Jahren For­ schungsarbeit und Sammlung un­ geheurer Mengen von Daten konn­ te festgestellt werden, daß die Energie-Effizienz eines Körpers durch die Rolfing-Methode ver­ bessert wurde, d.h. nach der Rolfing-Massage nutzt der jeweilige Körper einen günstigeren Ener­ gieumsatz als er es zuvor tat. Diese Forschungsergebnisse waren für die amerikanische Fachwelt offen­ bar nicht interessant genug, und deshalb erschienen sie in einem schweizerischen Journal „Confinia Psychiatrica“. Doch Ida Rolf gab nicht auf. Durch private Spen­ den und weitere Unterstützung von Esalen suchte sie nach ande­ ren Indikatoren für die Verände­ rung des Körpers durch Rolfing. So wurde begonnen, Elektroden an den verschiedenen Muskelpar­

tien des Körpers anzuschließen und das Muskelpotential, die Mus­ kelspannung zu messen. Weiter­ hin konsultierte Ida Rolf einen Au­ ra-Leser, d.h. jemanden, der eine Art Energie- oder Lichtstrahlung des Körpers sehen konnte. Und tatsächlich, in wiederholten Expe­ rimenten konnte gezeigt werden, daß durch Rolfing die Aura eines Menschen verstärkt und vergrö­ ßert wird. Diese Phänomene konn­ ten durch Daten in der Muskel­ spannungsmessung belegt werden. Aufgrund der Nähe im EsalenInstitut kam Fritz Perls nicht um­ hin, sich eines Tages auch von Ida Rolf massieren zu lassen. Eigent­ lich war Perls’ Methode ja eher verbal, aber nachdem er systema­ tisch gerolft war, konnte auch er nicht umhin, diese Technik zu wür­ digen. Denn - und er hat es in einem seiner Bücher beschrieben - „Frau Ellenbogen", wie er sie nannte, befreite ihn von körperli­ 93

chen Schmerzen, die er durch jah­ relange gestalttherapeutische Me­ thoden nicht einmal berührt hatte. In den 70er Jahren wurde Rolfing allmählich sehr populär. Es paßte so richtig in den modischen Auf­ schwung neuer radikaler Psycho­ therapiemethoden. Rolfing tat nämlich weh, war kompromißlos systematisch und hatte eine natur­ wissenschaftliche Grundlage. Be­ sonders die Schmerzensaspekte des Rolfings werden immer wieder als Pro- oder auch Kontraargu­ mente benutzt. Was hat es nun damit auf sich? In den Worten von Fritz Perls können wir sagen, „Schmerz ist auch nur eine Mei­ nung“. D.h. dieses Aua-Erlebnis stammt aus einer Ablehnung ge­ genüber einer körperlichen Erfah­ rung. Als ich selbst gerolft wurde, fand ich auch am Anfang den Druck auf meinem Körper als fast unertragbar schmerzhaft. Doch da es keine Möglichkeit gab und ich auch nicht aufhören wollte, diesen Schmerz zu stoppen, ließ ich mich allmählich in diese Körpererfah­ rung einfließen. Und das ist die Essenz beim Rolfing. Sobald man nämlich diesen Schmerz zuläßt, spürt man die Energie, die in ihm steckt, und man kann an mögliche Ursachen herankommen, warum an dieser Körperstelle überhaupt ein Schmerz auftritt. Es ist ja kei­ nesfalls so, daß der Rolfer, also der Masseur, uns foltern will bei dieser Massage, sondern es liegt daran, daß wir an verschiedenen Stellen des Körpers verschieden wider­ standsfähig bzw. unterschiedliche Körperpanzerungen entwickelt haben. Man könnte mit der glei­ chen Kraft jemanden auf den Oberarm drücken und es wäre überhaupt nichts zu spüren, dann auf die Schulter, und er würde vor Schmerzen laut aufschreien. Und dieses Schmerzzentrum in der Schulter ist dann als Problembe­ reich zu lokalisieren, und daran gilt es zu arbeiten. Läßt man diese Körperarbeit zu, dann erlebt man nach der Rolfing-Stunde ein Ge­ fühl der Befreiung, Erleichterung, ja, man könnte buchstäblich weg­ fliegen. Aber da die Leute die posi­ 94

tiven Erlebnisse meist gegenüber den sensationell schlechten, schlimmen Erfahrungen verges­ sen, erzählen sie lieber Kriegsge­ schichten über die Schmerzen beim Rolfing. Trotz allem, was im­ mer gegen Rolfing gesagt werden könnte, man kann nicht ignorie­ ren, daß es funktioniert, was selten von Psychotherapien zu behaup­ ten ist. Dabei legt Ida Rolf über­ haupt keinen Wert darauf, von Rol­ fing als einer Psychotherapie zu sprechen. In einem Handbuch der Psychotherapie schrieb Ida Rolf sogar: „Rolfing ist nicht primär ein psychotherapeutischer Ansatz, um menschliche Probleme zu lö­ sen, aber die Auswirkungen dieser Massagetechnik auf die menschli­ che Psyche sind so unübersehbar, daß viele Menschen es eben als Psychotherapie definieren möch­ ten. Ich sehe Rolfing als eine Mög­ lichkeit, die Persönlichkeit durch Manipulation des Bindegewebes zu heilen. Rolfing integriert und balanciert den Körper des Men­ schen sowie seiner anderen Kör­ per, die wir astral oder ätherisch nennen mögen. Mir waren die er­ staunlichen psychologischen Ver­ änderungen beim Rolfing selbst anfangs ungeheuer, denn sie ka­ men gänzlich unerwartet. Somit drängte sich mir die Vermutung auf, daß Verhalten physische und psychische Energiestrukturen wi­ derspiegelt. Diesen Effekt können wir nur verstehen, wenn wir Ver­ haltensmuster selbst als eine hö­ here Form der physischen und Bindegewebsstruktur des menschlichen Körpers betrach­ ten. Deshalb können wir nun be­ haupten, daß der menschliche Körper eigentlich ein Energiefeld darstellt, das in einem größeren Energiefeld - der Erde - enthalten ist. Dieses können wir mit dem Gravitationsfeld gleichsetzen. So­ mit läßt sich das menschlich per­ sönliche Energiefeld erweitern oder anpassen an die räumlichen Bedingungen des irdischen Schwerkraftfeldes. Rolfing ver­ sucht, diese zwei Energiefelder dadurch zu harmonisieren, indem es die uns manipulierbarere klei­

nere Energiestruktur des Men­ schen befreit.“ Diese Aussage im Handbuch der Psychotherapie kann von ihrem theoretischen Ansatz her infrage gestellt werden. Doch Ida Rolf geht es nicht darum, Kosmologien oder neue wissenschaftliche Welt­ anschauungen zu entwerfen. Was sie will, sagte sie in einem ihrer Kurse recht deutlich: „Ich weiß nicht, warum es funktioniert. Ich weiß nur, daß es gut funktioniert. Die rationalistischen Erklärungen für dieses Funktionieren sollen an­ dere entwickeln." So gesehen, war Ida Rolf keine Wissenschaftlerin, sondern eine begnadete Praktike­ rin, und das ist es auch, was Stu­ denten und Schüler von ihr immer wieder sagen. Viele behaupten so­ gar, Ida Rolf hatte den Röntgen­ blick. Obwohl bekannt war, daß besonders in ihren späteren Jah­ ren ihre Augen immer schlechter wurden, so hatte sie einfach einen Blick für menschliche Körper und deren internale Struktur. Zweifel­ los arbeitete Ida Rolf zu einem Großteil mit Intuition. Sie wußte intuitiv, was richtig war und ver­ suchte, es sich dann hinterher zu erklären. Und genau dasselbe pas­ siert jedem, der Rolfing selbst er­ fährt. Wahrnehmungen, Emotio­ nen, Imaginationen geschehen, und man kann sich nach der Rol­ fing-Stunde fragen, was es war, kann es untersuchen und in das Wachbewußtsein integrieren, denn Rolfing ist ein anderer Be­ wußtseinszustand.

Don Johnson

Die Transformation des Körpers Vor ein paar Jahren hatte ich einen Traum: Ich war mit Freunden in der Fillmore-Halle in San Franzisko. Wir standen in einem riesigen Foyer, das der Lobby des alten Fox-Theaters glich, und mit uns bildeten Hunderte von Menschen einen Kreis um drei tanzende Frau­ en und schauten ihnen zu. Aber die Frauen waren wie Hologram­ me, dreidimensionale Bilder, her­ vorgerufen von sich schneidenden Laserstrahlen. Obwohl sie aussa­ hen wie aus Fleisch und Blut, nahm ich sie als dreidimensionale Projektionen in der Luft zwischen uns wahr, so, als würden sie von unzähligen Projektoren um uns herum geschaffen. Sie tanzten ei­ ne Handbreit über dem Boden. Unsere Körper sind wie die Kör­ per dieser drei Frauen. In jedem Augenblick sind sie dreidimensio­ nale Projektionen von Energie aus vielen Quellen. Wir sind wie Ho­ mers Proteus, der altertümliche Gott des Meeres, der sich in Was­ ser, Feuer oder irgend etwas ande­ res auf der Welt verwandeln konn­ te. Festigkeit und Unveränderbarkeit sind Mythen. Mit diesem Text möchte ich das Bewußtsein von den Grenzen des menschlichen Körpers und seiner Fähigkeit zur Veränderung erweitern. Ich möch­ te vermitteln, daß der Körper Ver­ änderung ist. „Der menschliche Körper ist kein vorgegebenes Ding odereine Substanz, sondern eine fortdau­ ernde Schöpfung. Der menschli­ che Körper ist ein energetisches System, das nie vollständig zur Struktur wird und niemals statisch ist. Er befindet sich in einem stän­ digen Prozeß der Selbstschöpfung

und der Selbstzerstörung; wir zer­ stören ihn, um ihn zu erneuern.“1 Es war im Jahre 1968, als ich mit Ned Hoke in meiner Wohnung in New Haven zusammensaß; er leite­ te gerade einen Massage-Workshop in Yale. Er erzählte mir, daß er, wann immer er allein oder ge­ langweilt sei, seine Aufmerksam­ keit einfach seinen Beinen zuwen­ de, die mit so viel Kraft und Schön­ heit angefüllt seien wie das Meer bei Sturm. Ich konnte mir nicht vorstellen, worüberer sprach. Mei­ ne Beine fühlten sich wie massive hölzerne Balken an. Heute, sieben Jahre später, weiß ich, was er meinte. Mit Bewußtheit durch mei­ ne Knöchel, Knie oder Ellbogen zu wandern, kann so aufregend sein wie ein Streifzug durch den Ur­ wald. Ich treffe dort auf sonderba­ re Menschen, Ruinen aus alten Zeiten und Geister aller Art. Der Körper ist flexibel, ein flie­ ßendes Energiefeld, das sich vom Augenblick der Empfängnis bis zum Moment des Todes in einem Veränderungsprozeß befindet. Fleisch ist keine feste, dichte Mas­ se; es ist voll von Leben, Bewußt­ heit und Energie. Obwohl wir rela­ tiv leicht bereit sind, diese Eigen­ schaften des Gewebes anzuerken­ nen, sind sie doch nur selten be­ wußte und wirksame Realität für uns. Sind Ihnen im Moment diese Formen des Lebens bewußt, zum Beispiel in Ihren Händen, die die­ ses Buch halten, oder in Ihrem Rücken, der die Lehne Ihres Stuhls berührt, oder in der Bewegung Ih­ rer Lungen? Eine wesentliche Barriere ge­ gen die Fülle des menschlichen Lebens besteht in der Vorstellung,

die Realität sei identisch mit den gegenwärtig gerade populären Annahmen über das Wesen der Wirklichkeit, wie sie uns von Kin­ desbeinen an vermittelt werden. „Ich bin sehr verletzlich. So bin ich nun einmal. Mein Vater war auch schon so.“ „Ich werde immer wü­ tend, wenn mich jemand kritisiert. So bin ich nun mal.“ „Ich leide an einer Skoliose (Verkrümmung der Wirbelsäule). Das ist vererbt. Mein Vater und mein Großvater hatten auch eine.“ Die Zerstörung dieser Vorstellung von dem, was real ist, schafft einem die Freiheit, in einer aufregenden Welt zu leben, in der man für sich selbst entdecken kann, was wirklich ist. Diese Welt ist voll mit Unerwartetem und reich an Überraschungen. In den letzten 40 Jahren ist die allgemeine Vorstellung von der Wirklichkeit heftig attackiert wor­ den. Die Revolution der Atomphy­ sik, die Forschung auf dem Gebiet der Wahrnehmungspsychologie und die Entwicklung der philoso­ phischen Phänomenologie sowie der Linguistik haben das Ansehen dessen, was bis dahin für real, un­ zweifelhaft und unveränderlich gehalten wurde, zerstört. In Le­ bensläufen wie denen von C. G. Jung und Carlos Castaneda ver­ dichtet sich, was in diesen Jahren geschehen ist. Jung berichtet in seiner Autobiographie die Einzel­ heiten des 50 Jahre dauernden Prozesses, während dessen er lernte, daß das „Reale“ nicht ist, für was er und seine Kultur es gehalten hatten. Castaneda ver­ brachte zwölf Jahre mit dem Scha­ manen Don Juan Matus vom Stamm der Yaqui und erfuhr, daß alles, was er als real, solide und unzweifelhaft angenommen hatte, nicht auf Erfahrungen, sondern auf Vorannahmen beruhte. Im Jahre 1967 hörte ich Vorle­ sungen an der Universität von Kali­ fornien in Berkeley, die ein briti­ scher empiristischer Philosoph aus Cambridge hielt. Er machte sich sehr über Descartes lustig, den französischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, der ernst­ hafte Zweifel an der Gültigkeit un­ 95

mittelbarer Wahrnehmungen an­ gemeldet hatte. „Wir alle wissen natürlich, wenn wir die Straße hin­ abschlendern und den Campanile sehen, daß er da ist. Es gibt keinen Zweifel über seine relative Höhe, seine Form und Farbe.“ Ein lang­ haariger Student in Jeans und ei­ nem indianischen Hemd meldete sich: „Also, wissen Sie, ich habe gesehen, wie sich der Campanile in eine rote Schlange und einen runden schwarzen Mond verwan­ delte; dann wurde er ein kleiner Wurm und ein riesiges Seeunge­ heuer." Der Professor kicherte nervös und kehrte zu seinem Text zurück. Der weitverbreitete Gebrauch psychedelischer Drogen hat der Zuverlässigkeit der Realität einen schweren Schlag versetzt. Wir, die wir von unserem Studium der Phy­ sik her wußten, daß ein scheinbar fester Tisch im Grunde aus einer zahllosen Menge von Partikeln be­ steht, die sich mit unglaublicher Geschwindigkeit im Raum bewe­ gen, wir können den Tisch jetzt auch so wahrnehmen. Die Popula­ rität verschiedener Meditations­ formen, die Entwicklung von Bio­ feedback-Geräten und die Nut­ zung der menschlichen Phantasie mittels bestimmter psychologi­ scher Techniken haben zur Ver­ breitung einer Form von Bewußt­ sein geführt, von der man noch vor 20 Jahren gedacht hätte, sie gehö­ re in die Welt von Schamanen, Schizophrenen oder Mystikern. Dieses Bewußtsein stellt eine un­ mittelbare Bedrohung für die all­ gemeine Vorstellung von der Rea­ lität dar. Sowohl in der persönlichen als auch in der universellen Geschich­ te des Menschen gibt es ein Mu­ ster, das in seiner Entwicklung zum Vorschein kommt. Menschen scheinen sich zunächst nach au­ ßen zu projizieren, indem sie un­ wissentlich äußere Objekte benut­ zen, um ihr inneres Drama zu ent­ falten. An einem bestimmten Punkt entsteht dann später übli­ cherweise die Erkenntnis, daß die äußere Welt etwas über die innere lehrt, und das Bewußtsein wendet 96

sich wieder sich selbst zu. Unser Leben ist ein ständiges Pendeln zwischen äußerer Aktivität und in­ nerem Gewahrwerden. Obwohl es heutzutage nicht nur akzeptiert, sondern in manchen Kreisen so­ gar in Mode ist, vom illusorischen Charakter der Realität zu reden, wird dieser Standpunkt nur selten, wenn überhaupt, auf den mensch­ lichen Körper selbst angewandt. Ein 45jähriger Atomphysiker rief mich eines Abends an, um mit mir über seinen 17jährigen Sohn zu sprechen, der eine schwere Sko­ liose (Verkrümmung der Wirbel­ säule) hatte. „Ich bekam in diesem Alter auch eine Skoliose, die meh­ rere Jahre lang mit einem Korsett und physikalischer Therapie be­ handelt wurde, jedoch chronisch verlief.“ Ich war erstaunt über die Widersprüchlichkeit der wissen­ schaftlichen Anschauungen die­ ses Mannes einerseits und sein Verhaftetsein in volkstümlichen Überzeugungen andererseits. Sei­ ne physikalische Welt ist nicht­ substanziell und bestenfalls von Wahrscheinlichkeiten regiert. Sei­ ne Sicht der Alltagswelt aber ist solide und sicher. Dabei ist aber gerade die Beständigkeit der gro­ ben Körperstruktur noch fragli­ cher als der Zusammenhalt ihrer konstituierenden Teile. Wenn man jene Welt hinter sich läßt, in der das real ist, was die Leute so nennen, was uns so dar­ gestellt wurde und was für wahr gehalten wird, dann betritt man ein grenzenloses, unerforschtes Land. Die festen Welten der Physi­ ker vergangener Jahrhunderte und die von Freud und Archie Bun­ ker lösen sich im Säurebad eines weiteren Bewußtseins auf. Der Weg in eine andere Welt ist nicht immer leicht und erfreulich; er ist manchmal dunkel und voller Schrecken. In der Nacht, bevor ich begann, an diesem Text zu schrei­ ben, brachte sich eine Klientin und Freundin von mir um. Sie war auf traditionelle Weise religiös erzo­ gen worden, hatte einen erfolgrei­ chen Geschäftsmann geheiratet und war Mutter geworden. Ihre Welt war ihr nicht verständlich;

irgend etwas fehlte. Sie war zwölf Jahre in Psychotherapie. Die Wirk­ lichkeit ihrer Weltglitt ihrStückfür Stück aus den Händen und sie fühlte sich von Dunkelheit umge­ ben. Kurz bevor sie starb, rief sie mich an und sagte, sie könne ab­ solut keinen Sinn im Leben sehen; es gäbe für sie keinen Grund zu leben.

Eine Fallstudie Ray ist zwanzig Jahre alt, studiert Chemie und möchte promovieren. Er reitet, schwimmt und macht täglich Dauerläufe. Mit acht Jah­ ren ging er bereits zum Bergstei­ gen. Sein Körper ist mager und athletisch. Einen Monat lang hatte er ständig Schmerzen und war drauf und dran, sein Studium abzubrechen. Untersuchungen durch verschiedene Spezialisten brachten keine Ergebnisse. Als letzte Chance hatte ihn sein Arzt zum Rolfing geschickt. Als ich sei­ ne medizinische Vorgeschichte aufnahm, berichtete er nur von ei­ nem leichten Beckenbruch im vor­ angegangenen Jahr, der „keinerlei Auswirkungen irgendwo“ gehabt habe. Außerdem habe ihn einmal ein Pferd mit dem Huf im Gesicht getroffen. Davon abgesehen habe er sich bester Gesundheit erfreut, keinerlei Unfälle oder Krankheiten gehabt - bis vor einem Monat. Wenn ich meine Augen ge­ schlossen gehabt hätte, wäre ich dem Eindruck erlegen, mit einem wesentlich älteren Mann zu spre­ chen, vielleicht mit einem kultivier­ ten Intellektuellen von besten Um­ gangsformen. Er lieferte mir viele Bilder davon, wer er war: „Ich bin der Typ, der . . . " „Ich kann das einfach nicht verstehen.“ „Ich ha­ be eine unglaublich geringe Schmerztoleranz.“ Sein Muskelsy­ stem glich einem Netz aus ge­ spannten Klaviersaiten. Als wir damit begannen, die Fas­ zien des großen Brustmuskels (pectoralis major) zu lockern, um einen leichteren Atemfluß zu er­ möglichen, strömten Tränen aus seinen Augen. Sie schienen von sehr tief zu kommen und voller

Qual zu sein. Ich sagte ihm, ich hätte den Eindruck, daß viele Jah­ re mit schmerzhaften Erfahrungen hinter ihm lägen. Er antwortete: „Es ging mir immer schlecht seit meinem neunten Schuljahr.“ Ich fragte ihn, was damals passiert sei. „Wir lebten in Marokko. Meine El­ tern schickten mich nach Paris zur Schule. Seither habe ich nicht mehr zu Hause gewohnt. Als ich in Paris war, kam ich ins Kranken­ haus wegen Schmerzen wie de­ nen, die ich in der letzten Zeit hat­ te. Man hat nie herausgefunden, was die Ursache war."Die Tränen wichen einem starken Zittern, als wir das Hüftgelenk in dem Bereich lockerten, wo er sich das Becken gebrochen hatte. Die Funktion des Menschen seine Emotionen und Gefühle, sei­ ne Gesundheit, das Aussehen sei­ nes Körpers, sein Wohlbefinden ändern sich von Tag zu Tag; diese Behauptung wird sicher weitge­ hend akzeptiert. Aber nur wenige Menschen leben mit dem Gefühl, daß ihre Struktur veränderbar ist. Die Annahme, daß die Körper­ struktur festgelegt sei, führt oft zu einem Gefühl von Aussichtslosig­ keit. Trotz Übungen, gesunder Er­ nährung, Psychotherapie und Me­ ditation finden sich viele von uns immer wieder gefangen in alten körperlichen oder seelischen Schmerzen. Manch einer hat fest­ gestellt, daß die Körperstruktur die Falle ist, in der er festsitzt: ein gekipptes Becken, ein nach vorne vorgeschobener Hals, eine ver­ drehte Lendenwirbelsäule. Eine 26jährige Klientin von mir war im Alter von fünf Jahren er­ folgreich am offenen Herzen ope­ riert worden. Sie hatte sich eines im wesentlichen friedlichen und glücklichen Lebens erfreut. Sie war gesund und hübsch, hatte vie­ le Freunde und eine Arbeit, die sie befriedigte. Sie war lange Zeit in Psychotherapie gewesen. Als sie zu ihrer ersten Rolfing-Sitzung er­ schien, bemerkte ich, daß ihr ge­ samter Körper sozusagen um die große Narbe zwischen der sech­ sten und siebten Rippe herumge­ wachsen war, die von der Opera­

tion geblieben war. Während der zehn Sitzungen, als wir diesen Schutzwall langsam abtrugen, der bis zu ihren Fußsohlen reichte, kam scheinbar endlose Trauer zum Vorschein; die Tränen ström­ ten, ohne daß sie mit bestimmten Inhalten verbunden zu sein schienen. Verdauung und sexuelle Erreg­ barkeit, zum Beispiel, gehören zu den grundlegenderen Angelegen­ heiten eines Körpers auf dieser Welt. Ihr richtiges Funktionieren hängt von der Struktur des Kör­ pers ab, und diese Struktur ist ver­ änderbar. Ein weiteres Anliegen des Rol­ fing ist es, Ihr Bewußtsein davon, in welchem Maße körperliches Verhalten programmiert ist, zu er­ weitern. Wir verhalten uns mit un­ seren Körpern im allgemeinen nicht entsprechend einem inneren Gefühl von Angemessenheit und Leichtigkeit. Vielmehr richten wir uns nach dem, was man uns über den Gebrauch unseres Körpers beigebracht hat, oder danach, wie wir anderen damit gefallen könn­ ten. Auf diesem Weg durch die Evolution hat der Mensch sich ein sehr wertvolles Gut angeeignet: seine praktisch unbegrenzte An­ passungsfähigkeit. Er kann auf ei­ nen einzelnen oder eine Menge von Reizen mit unzähligen Reak­ tionen antworten. Aber bereits in unseren ersten Lebensmonaten beginnen wir, unsere Anpassungs­ fähigkeit einzuschränken. Unsere Reaktionen werden rigide und vor­ hersagbar - bis wir mit 40 Jahren unsere Kinder so reden hören: „Ach, ich weiß schon, was er dazu sagen wird. Die gleiche alte Ge­ schichte.“ Der natürliche Prozeß der Evolu­ tion hat aus der Welt der Primaten Tänzer und Künstlerentstehen las­ sen, aber mit unserem Bewußtsein haben wir die Natur bekämpft und aus Tänzern und Künstlern Ma­ schinen zu machen versucht. Es gefällt uns nicht, uns selbst als Maschinen zu sehen, deren Verhalten vorgeformt ist und die vorhersagbare Reaktionen auf ei­ ne Reihe von Reizen produzieren.

Viel lieber halten wir uns für war­ me, liebevolle, frei und kreative Wesen. Lassen Sie uns das von nahem betrachten. Beobachten Sie beispielsweise einmal Ihren Körper immer dann, wenn Sie spü­ ren, daß Sie wütend werden. Ach­ ten Sie darauf, welche Körperteile dabei in der Regel angespannt oder verkrampft sind. Machen Sie dasselbe, wenn Sie Angst haben. Finden Sie heraus, ob Ihre Wut eine persönliche, kreative Reak­ tion auf einen völlig neuen Reiz ist oder ob sie nur die Wiederholung eines abgedroschenen alten Mu­ sters darstellt. Entschuldigen Sie nicht vielleicht sogar Ihr mechani­ sches Verhalten, indem Sie zum Beispiel sagen: „Aber es ist ja auch derselbe Reiz; mein Sohn hat sei­ ne Brille schon so oft zerbro­ chen.“? Einen Moment, bitte. Ihr Sohn ist heute einen Tag älter; er hat andere Gefühle und nimmt an­ dere Dinge wahr. Zumindest zer­ brach er eine andere Brille. Ein Rancher, mit dem ich be­ freundet bin, hat in seiner Vergan­ genheit eine Reihe von Verletzun­ gen bei Rodeos erlitten. Diese ha­ ben in Verbindung mit den Auswir­ kungen einer Kinderlähmung eine unverwechselbare Drehung in sei­ nen Beinen hervorgerufen und zu einem ungewöhnlichen Gang ge­ führt. Sein zwölfjähriger Sohn geht auf dieselbe ungewöhnliche Weise, obwohl er weder Unfall noch Polio hatte. Indem wir uns in einer bestimm­ ten Art aufführen, um Eltern, Lieb­ habern oder einem Publikum zu gefallen, errichten wir ein Boll­ werk gegen unsere kreative An­ passungsfähigkeit, die eigentlich unser natürlicher Besitz ist. Weil wir uns bedroht oder leer fühlen, haben wir es nötig, uns für Liebe zu verkaufen. Und wir sind bereit, jeden Preis dafür zu bezahlen, selbst wenn das dazu führt, daß wir unsere Seele verlieren und zur Ma­ schine werden. Drei Tage später kam Ray zu seiner zweiten Rolfing-Sitzung. Er erwähnte leichthin, welch quälen­ de Schmerzen er nach der ersten Sitzung zu ertragen hatte. Seine 97

Brust hatte weh getan, und die Rückenschmerzen waren uner­ träglich gewesen. Als ich fragte, ob sonst irgend etwas passiert sei, erzählte er mir, daß er zum ersten Mal seit einem Monat weder Co­ dein noch Aspirin genommen ha­ be und täglich lange Spaziergänge mache. Er klagte über die S-förmi­ ge Biegung seiner Wirbelsäule; er sei der einzige in der Familie, der nicht aufrecht sei. Seine Skoliose war durchaus nicht ungewöhnlich ausgeprägt und hatte sich drama­ tisch verbessert, nachdem er sei­ nem Atem mehr Platz in seiner Brust geschaffen hatte, wodurch auch sein Kopf sich aufgerichtet hatte. Als ich anfing, an seinen Füßen zu arbeiten, fiel mir auf, daß sie eine Art Stauchung aufwiesen, wie sie für Füße charakteristisch ist, die in jungen Jahren in orthopä­ dische Schuhe gezwängt werden. „Ja. Jeder in meiner Familie hat orthopädische Schuhe getragen. Aber ich trug sie nur, bis ich fünf Jahre alt war. Ich weiß nicht mehr, warum.“ „Übrigens“, fuhr er fort, „fällt mir gerade ein, daß irgendein riesiger Zwei-Zentner-Mann miran meinem ersten Schultag in Paris auf den Fuß trat. Er war übel ver­ staucht." Fünf Wochen später er­ zählte er mir, daß jener Mann über­ haupt nicht groß und schwer ge­ wesen sei. Während wir weiterarbeiteten, fragte ich ihn, ob er jemals eine gewisse Zeit nur für sich ist. „Ja. Immer. Ich kann alles um mich herum ausblenden.“ „Nein, ich meine, ob Sie einfach bei sich selbst sein können ohne das Ge­ fühl, über etwas nachdenken oder etwas tun zu müssen?“ „Nein. Ich muß immer etwas zu tun haben oder über etwas nachdenken.“ Ich schlug ihm vor, sich täglich zehn Minuten hinzulegen, seinen Atem gehen zu lassen und zu schauen, was dabei passiert. Jeder weiß, daß der Körper sich verändert. Wenn Sie zu viel essen, werden die Hosen zu eng, und Sie brauchen eine andere Kleidergrö­ ße. Ein paar Monate später sind Ihre neuen Hosen zu weit, und Sie 98

können sie nicht mehr tragen. Wenn Sie auf die 40 zugehen, fängt ihr Körper an schlaffer zu werden. Ihre Tochter bricht sich ein Bein und kann nicht mehr ganz so schnell rennen wie vorher; sie klagt sogar über Schmerzen. Die Haut wird pickelig, dann wieder rein, verhärtet sich, wird trocken und im Alter faltig. Ihr Kreislauf funktioniert besser, wenn Sie sich gesünder ernähren oder mehr be­ wegen. Sogar Ihre Größe ändert sich, Sie werden im Alter norma­ lerweise kleiner. Manchmal wer­ den Sie auch größer, zum Beispiel wenn Sie aus einer schweren De­ pression herauskommen oder an Bord einer Weltraumkapsel waren. Ich brauche Ihnen nicht zu er­ zählen, daß sich Ihr Körper verän­ dert; Sie wissen das längst. Was ich sagen will, ist, daß er sich stär­ ker verändert, als Sie vermuten, und daß er radikaler verändert werden kann, als Sie denken. Es gibt verschiedene Ansätze zur Veränderung des Körpers. Me­ dizinische Wissenschaft und Technologie haben inzwischen ei­ nen ganzen Industriezweig hervor­ gebracht, der Veränderungen im Körper zum Ziel hat. Kurorte, Schönheitsfarmen, Yogakurse und Trainingsprogramme für Ath­ leten basieren auf der Formbarkeit des Körpers. Ich möchte die folgenden Aspekte untersuchen: 1. Die individuelle Geschichte. Ihr Körper repräsentiert Ihre einzigar­ tige Vergangenheit, unter ande­ rem auch alles, was Ihre Eltern Ihnen über den Gebrauch Ihres Körpers vermittelt haben, sei es durch Worte oder durch ihr Vor­ bild. Er enthält Ihre Geburtserfah­ rung, die häufig traumatisch ist, Unfälle, Krankheiten und Ihre psy­ chische Geschichte in ihrer Bezie­ hung zum Körper. 2. Die Kultur. Ihr individueller Kör­ per ist eine spezielle Ausformung universellerer Muster,die sich ih­ rerseits in einem kaum wahrnehm­ baren Veränderungsprozeß befin­ den. Die Vorstellung von weibli­ cher Schönheit wird Ihnen durch die Medien von Kindheit auf ver­

mittelt: Mannequins, Filmschau­ spieler, Sänger und Spielkamera­ den nehmen eine bestimmte Kör­ perhaltung ein. Dasselbe trifft auf Männer zu. Der athletische Mann, der Marlboro-Mann und der ver­ führerische Filmstar bestimmen die Normen, an denen wir uns messen und nach denen wir uns in unserem Körper gut oder schlecht fühlen. Die morphologische Evo­ lution spielt auch eine Rolle. Eines Tages fragte ich einen Klienten, warum er sich so aufrecht hinsetz­ te, während sein Körper doch so verspannt sei, besonders sein von Geschwülsten befallener Bauch. Er antwortete, daß er aussehen wollte wie bestimmte Männer, die er bewunderte. Sie machten einen großen und stattlichen Eindruck auf ihn. Ich wies ihn darauf hin, daß diese Männer weder aufrecht noch offen und entspannt seien, daß ihre Köpfe vielmehr wie der seine von den verkürzten Muskeln an der Vorderseite ihres Körpers nach vorne gezogen würden. Was wir beobachten können, ist jeweils abhängig von dem speziellen Punkt in der Geschichte, an dem wir uns gerade befinden. Was die Griechen des Goldenen Zeitalters als gerade und offen ansahen, hält ein bioenergetischer Therapeut des 20. Jahrhunderts für ange­ spannt und verschlossen. 3. Die Schwerkraft. Wir sind den­ selben Gesetzen unterworfen wie jede physikalische Form. Wir be­ wegen uns ein Leben lang durch das Feld der Schwerkraft. Diese stellt eine Belastung dar, mit der wir sowohl auf individuelle wie auch auf vorgegebene Weise um­ gehen. Die Form, die unser Körper zu jedem denkbaren Zeitpunkt hat, ist eine Funktion dieser statischen und dynamischen Kräfte. 4. Der Lebensstil. Unsere Intentio­ nen formen uns: Wie wir unsere Umwelt, unsere Ängste und ande­ ren Gefühle handhaben, für wel­ che Tätigkeit wir uns entscheiden, der Lebensstil, den wir entwickeln, das Essen, das wir zu uns nehmen, wie wir uns trainieren, wie wir mit Streß umgehen - all das schlägt sich in unserem Körper nieder.

Der Begriff der Struktur ist für mich entscheidend. Ich möchte er­ klären, wie ich ihn benutze. Wäh­ rend Sie diesen Text lesen, befin­ den Sie sich in einer bestimmten Haltung, möglicherweise an die Lehne eines Stuhles gelehnt, den Kopf nach vorn, einen Großteil Ih­ res Gewichtes auf Ihrer rechten Hüfte, den Kopf leicht nach links geneigt, die Arme bequem im Schoß. Jetzt stehen Sie auf - oder stellen Sie sich vor aufzustehen und versuchen Sie, Ihren Körper in der Vertikalen so angenehm und ausbalanciert zu halten, wie Sie können. Spüren Sie in die Berei­ che Ihres Körpers, in denen Sie ein angespanntes, unangenehmes oder auch nur dumpfes Gefühl ha­ ben. Wenn Sie sich auf dieses Ex­ periment ganz und gar einlassen wollen, dann stellen Sie sich vor einen Spiegel, in dem Sie Ihren gesamten Körper sehen können, oder lassen Sie ein Foto von sich machen. Sie werden bemerken, daß manche Stellen Ihres Körpers verkürzt oder verfestigt sind, so vielleicht die Rückseite Ihrer Bei­ ne, Ihre Taille, die Leistengegend oder der Nacken. Jetzt werden Sie sich langsam Ihrer Struktur be­ wußt. Struktur meint das relativ stabile Verhältnis großer Körpersegmen­ te (Kopf, Brustkorb, Becken, Bei­ ne, Füße) zueinander. Diese Ver­ hältnisse sind eine Funktion der Länge und des Tonus von Mus­ keln, Faszien, Sehnen, Bändern, Knorpeln und Knochen. Falls Sie noch ein Foto von sich besitzen, das gemacht wurde, als Sie zwölf Jahre alt waren, am besten im Ba­ deanzug und stehend, und dieses Bild mit dem vergleichen, wie Ihr Körper heute aussieht, dann wer­ den Sie vielleicht feststellen, daß sowohl damals wie heute eine leichte Drehung in Ihren Schultern zu erkennen ist, die rechte Schul­ ter weiter zurückgezogen ist als die linke, und Ihre Hüften eine ähn­ liche Drehung in umgekehrter Richtung aufweisen. Möglicher­ weise hat ein Arzt bei Ihnen eine leichte Skoliose diagnostiziert oder Ihr Masseur hat eine Rotation

des fünften Lendenwirbels be­ merkt. Das sind alles Dinge, wie Sie körperlich sind. Haltung ist, was Sie mit all dem machen, wäh­ rend Sie durchs Leben gehen. Hal­ tung meint, wie Sie sich setzen, stellen, legen. Struktur und Haltung haben of­ fensichtlich etwas miteinander zu tun. Angenommen, Sie haben eine Rotation in Ihrer Halswirbelsäule; dann finden Sie es wahrscheinlich bequemer, Kopf und Augen häufi­ ger nach rechts zu drehen. Weil die Struktur die eine Haltung be­ quemer macht als die andere, macht sie uns vorhersagbar und trägt dazu bei, daß wir in mancher Hinsicht wie Maschinen sind. Wenn die eine Seite Ihres Körpers chronisch angespannt ist, werden Sie sich in der Regel so hinsetzen, daß Sie diese Spannung möglichst wenig spüren. Wenn Sie einen Tänzer oder einen Läufer beob­ achten, werden Sie bestimmte un­ ausgeglichene Bewegungsmuster bemerken: Der Tänzer wird viel­ leicht häufig kraftvolle, dramati­ sche Bewegungen nach links ma­ chen, jedoch viel seltener und mit viel weniger Anmut nach rechts. Der Läufer mag sich weicher be­ wegen, wenn er das linke Bein nach vorn bringt, als wenn er das mit dem rechten tut. Haltung hat auch einen Einfluß auf die Struktur. So wird ein Ten­ nisspieler mit den Jahren zwei völ­ lig unterschiedliche Schultern ent­ wickeln. Bei jemandem, der einen großen Teil seiner Kindheit damit verbracht hat, in einem Sessel her­ umzuhängen und bei schwachem Licht zu lesen, und später seinen Werdegang zum Gelehrten fort­ setzt, wird man die charakteristi­ schen abfallenden Schultern, eine eingesunkene Brust und einen hängenden Kopf antreffen. Diese Überlegungen zur Varia­ bilität der Körperstruktur haben weitreichende Implikationen. Wenn unser Selbstvertrauen als grundsätzlich körperliche Wesen flexibler und differenzierter wird, tritt auch eine Veränderung in un­ serem Verhältnis zu größeren Pro­ blemkreisen der Menschheit ein.

Ich mußte mit Ray drei Sitzun­ gen innerhalb von fünf Tagen aus­ machen, weil er aufgrund seiner starken Schmerzen nicht mehr zur Universität gehen konnte und ich herausfinden wollte, wie weit ich ihm helfen konnte. Am Tage nach seiner zweiten kam er zur dritten Sitzung; er sah viel glücklicher und unbeschwerter aus. Er hatte den Tag damit verbracht, bei sei­ nen Eltern im Stall zu arbeiten, Heu zu wenden, zu reiten und spa­ zierenzugehen. Der Zustand sei­ nes Rückens hatte sich so sehr gebessert, daß er daran dachte, am nächsten Tag wieder zur Uni zu gehen. Er hatte meinen Vorschlag ausgeführt, sich Zeit für sich selbst zu nehmen, hatte sich hingelegt und war sofort eingeschlafen. Ich arbeitete hauptsächlich in dem Bereich zwischen den unte­ ren Rippen und der oberen Hälfte des Beckens. Er reagierte hervor­ ragend darauf, arbeitete mit und ließ seinen Atem frei fließen. Am Ende der Sitzung machten wir ein paar Fotos, die zeigten, wie sehr sich sein Körper sowohl zu den Seiten als auch in der Vertikalen im Verlauf der ersten drei Sitzun­ gen ausgedehnt hatte. Er fühlte sich sehr leicht und spürte sehr viel Energie an der Rückenseite seines Kopfes.

Die Anatomie der Formbarkeit Wenn Sie Kopfschmerzen haben, denken Sie dann, es sei ein Pro­ blem mit Ihrem Kopf, oder spüren Sie es mehr im Bauch, daß Sie Schwierigkeiten mit Ihrem Kopf haben, obwohl Sie vielleicht gele­ sen oder gehört haben, daß Kopf­ schmerzen etwas mit Nervosität zu tun haben? Wenn Sie ein Magen­ geschwür entwickeln, denken Sie, das Problem sei in Ihrem Bauch zu suchen? Kommen Sie auf die Idee, die Kopfschmerzen oder das Ma­ gengeschwür könnten Teil eines größeren Zusammenhangs sein, der ein gekipptes Becken, be­ grenzte sexuelle Erregbarkeit, se­ xuelle Frustration und Wut mit ein­ schließt? 99

Es gibt einen tiefgreifenden Irr­ tum im zeitgenössischen Ver­ ständnis des Körpers, der von der modernen Medizin nach Kräften gefördert wird. Dieser Irrtum be­ steht darin, daß einzelnen Körper­ teilen wesentlich mehr Aufmerk­ samkeit und Beachtung ge­ schenkt wird als dem Organismus als einem Ganzen. Wissen entsteht aus Verwunde­ rung, aus Fragen, die wir in bezug auf die Phänomene stellen, die uns beschäftigen. Unsere Fragen füh­ ren zu Meinungen, Vermutungen, Theorien, die alle mehr oder weni­ ger richtig oder wahrscheinlich oder vielleicht nur eben möglich sind. Im Verlauf der Jahrhunderte sind bestimmte Fragestellungen und die verschiedenen Versuche ihrer Beantwortung in einzelnen Wissenschaftszweigen zusam­ mengefaßt worden. Galilei, der Va­ ter jener analytischen Denkfor­ men, die in der modernen Medizin dominieren, beschäftigte sich zunächst mit dem Rhythmus der pen­ delnden Lampe im Allerheiligsten des Doms zu Pisa. Abbe Mendel legte den Grundstein für die mo­ derne Genetik, indem er Jahre da­ mit verbrachte, die Farbmuster von Erbsenblüten zu beobachten. Vesalius und Leonardo da Vinci staunten über die Komplexität menschlicher Bewegung und be­ gründeten die Anatomie. Von einigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen, versagt unser Schulsystem bei der Aufga­ be, den Prozeß zu vermitteln, der von den Fragen zu möglichen Ant­ worten führt. Statt dessen werden die zeitgenössischen Antworten als Wissen hingestellt und gelehrt, so als lieferten sie ein Bild von dem, was ist. Studenten wird bei­ gebracht, daß ihr Körper jene An­ sammlung fragmentierter Syste­ me ist, als die er von den heute gebräuchlichen Anatomiebüchern dargestellt wird. In Wirklichkeit ist diese Sichtweise jedoch nur eine Erklärung für das Phänomen des menschlichen Körpers. Im Mythos von Frankenstein ver­ dichtet sich die Illusion des medi­ zinischen Modells vom Körper. 100

Frankenstein glaubt, einen Men­ schen zusammensetzen zu kön­ nen, weil die Medizin ihn gelehrt hat, daß der Mensch eine „un­ glaubliche Maschine“ sei. Könnte man nur alle Teile beschaffen, sie richtig zusammenfügen und sie dann mit Energie aufladen, hätte man einen Menschen. Dieses unausgereifte Bild vom Körper baut unwissentlich auf den Grundsteinen moderner Wissen­ schaft auf, wie sie im 17. Jahrhun­ dert besonders durch Descartes und Galilei gelegt wurden. Galilei schockierte die christliche Welt, indem er das Teleskop der Bibel gegenüberstellte. Descartes trug zu diesem Schock bei, indem er die Subjektivität menschlichen Fühlens und Wahrnehmens aus dem Bereich gedanklicher Verläß­ lichkeit verbannte. Die Bühne war frei für die Entstehung einer mo­ dernen Wissenschaft, die sich dar­ in einig war, daß die einzige Me­ thode zur Erlangung gültigen Wis­ sens auf der exakten Messung von Materie in Bewegung basierte, un­ abhängig von menschlicher Wahr­ nehmung, Gefühlen und Werten. Wie heute gab es auch im 17. Jahrhundert das Bedürfnis, Erfah­ rung von etablierten Dogmen und Ansichten des „gesunden Men­ schenverstandes“ über das Wesen der Realität zu befreien. Aus der Befreiung wurde jedoch Metaphy­ sik: Das Modell, das man von der Wirklichkeit, insbesondere der menschlichen, entwarf, beruhte auf der Trennung von Geist und Materie. Das Modell des Körpers, das ich hier diskutiere, ist ein Überbleibsel jener Zeit. Die neueren Entwick­ lungen in der Physik, der Chemie, in Psychologie und Philosophie weisen alle auf die Unrichtigkeit dieses Modells hin. Weder das öf­ fentliche Bewußtsein noch medizi­ nisches Denken haben jedoch da­ mit Schritt gehalten - oder weit genug zurückgedacht. Mit einer Woche Abstand von der dritten kam Ray zu seiner vier­ ten Sitzung. Nach seinen ersten drei Rolfings hatte er noch zwei Tage lang leichte Schmerzen ge­

habt. Er ging wieder zur Universi­ tät, wo er eine Menge nachzuholen hatte, und erlebte, wie seine alten Schmerzen auf der linken Seite erneut auftraten. Mittwochs war er bewußtlos geworden und eine lan­ ge Treppe hinabgestürzt. Er be­ richtete, daß er wenigstens fähig gewesen sei, täglich einen ausge­ dehnten Spaziergang zu machen. „Nach einer Weile habe ich manchmal starke Schmerzen, aber ich gehe trotzdem noch wei­ tere vier.“ Ich riet ihm, auf seinen Körper zu hören, sich von ihm er­ ziehen zu lassen. Lachend antwor­ tete er, daß er seinen Körper immer nur angetrieben habe, daß er je­ doch verstehe, was ich meinte. Er erzählte auch, wieviel Spaß es ihm machte, sich Zeit für sich zu neh­ men und täglich eine Weile nur zu liegen und zu atmen. Er war allerdings sehr irritiert über eine Veränderung in seinem Verhältnis zu Menschen. „Ich war früher wie eine Schildkröte. Ich war in meinem Panzer, konnte an­ dere Leute nicht leiden und hatte keine Lust, irgendwelche Bezie­ hungen aufzunehmen. Auf der Oberschule habe ich mich lang­ sam verändert; ich begann, Freu­ de am Kontakt zu haben. Aber jetzt bin ich wieder am Anfang. Ich mag die Leute nicht.“ Ich fragte ihn, ob er sich vorstellen könne, mit ande­ ren Menschen auf dieselbe Weise zusammen zu sein, wie er es täg­ lich mit sich selbst tat, nur da zu sein, wie er sich gerade fühlte. „Nein, ich will immer etwas für sie tun. So bin ich nun mal.“ Ich frag­ te, wie es für ihn sei, wenn jemand einfach nur bei ihm sei, gleichgül­ tig, ob er sich nun traurig, glück­ lich, deprimiert oder sonstwie füh­ le. „Das mag ich. Das bedeutet für mich, daß er mir vertraut.“ Das allgemeine Ziel das Rolfing besteht in einer Veränderung der bisherigen Körperstruktur: alte Streßfaktoren, alte Haltungen und alte Muster in der Art, wie jemand körperlich mit der Welt in Bezie­ hung tritt, werden abgebaut. Alles, was auf einer Ebene menschlicher Existenz geschieht, hat jedoch Folgen für alle anderen Ebenen.

Nach den ersten Rolfing-Sitzungen berichten die Klienten häufig über Gefühle von Orientierungslo­ sigkeit, Launigkeit oder Fremdheit in der Welt. Sie fühlen sich nicht in der Lage, sich gegenüber anderen Menschen zu verhalten wie zuvor. Manche haben den Eindruck, ihre Körperteile paßten nicht mehr zu­ sammen; sie fallen häufig hin oder renken sich irgendwelche Wirbel aus, wenn sie versuchen, körperli­ che Arbeit auf die gewohnte Weise zu verrichten. Häufig sagen sie, sie fühlten sich wie Babys kurz nach der Geburt. Um zu erklären, was der Prozeß des Rolfings bewirkt, möchte ich mich auf eine alte Methode bezie­ hen, die menschliche Existenz zu analysieren. Sie geht davon aus, daß es jedem von uns möglich ist, drei qualitativ unterschiedliche Ebenen der Erfahrung zu erleben: (1) In seltenen Augenblicken neh­ men wir uns als Teil des Univer­ sums wahr; so wie wir sind, emp­ finden wir uns als wertvoll und mit der Welt im Einklang. Man nennt dies traditionell unser „essentiel­ les Selbst“, das uns in sogenann­ ten „peak experiences“, also au­ ßergewöhnlichen Erfahrungen, bewußt wird. Es sind mystische Bewußtseinszustände oder Mo­ mente künstlerischer Erleuchtung und Kreativität. Auf körperlicher Ebene sind sie verbunden mit Wohlbefinden, Leichtigkeit, Be­ weglichkeit und dem Gefühl gro­ ßer Kraft. (2) Eine weitere Ebene der Erfahrung liegt in dem Be­ wußtsein völliger Unzulänglich­ keit. Dies ist die Ebene von Selbst­ zweifeln, Depressionen und Ver­ zweiflung. Körperlich findet sie in starkem Schmerz, verzerrter Struktur und Narben ihren Aus­ druck. (3) Die verbreitetste Erfah­ rungsebene ist das Selbst, das wir in unserem alltäglichen Leben nach außen hin zeigen. Es dient dazu, den Selbsthaß der zweiten Ebene im Verborgenen zu halten, der aus dem Vergessen unseres essentiellen Selbst erwächst. Auf dieser Ebene tun wir so, als sei alles in Ordnung, obwohl das in Wirklichkeit nicht der Fall ist. Wir

verstecken unsere Wut und Feind­ seligkeit und sind höflich und ma­ nipulativ. Im Körper ist dies die Ebene muskulärer Verspannun­ gen, mit denen wir uns gegen tiefe­ res Unbehagen schützen. Jeder Mensch erlebt jede dieser drei Ebenen dann und wann. Eine dieser Ebenen ist allerdings cha­ rakteristisch für unsere Grundein­ stellung gegenüber dem Leben. Die meisten Menschen leben über­ wiegend auf der dritten Ebene, nur kurzzeitig unterbrochen von de­ pressiven Phasen, psychotischen Episoden oder Angstzuständen. Einige von uns verbringen einen Großteil ihres Lebensauf der zwei­ ten Ebene, meistens in Kliniken oder Anstalten. Nur sehr selten kommt es vor, daß jemand sich überwiegend auf der ersten Ebene befindet. Diese Dreiteilung soll kein „Bild" vom Menschen, sondern ei­ nen Schlüssel liefern, mit dem die Türen zu unserer Existenz er­ schlossen werden können. Es ist hilfreich, sich bewußt zu machen, daß viele Menschen sich gegen die Schmerzen geschützt haben, die ihnen zum Beispiel durch schwere Unfälle zugefügt wurden. Wenn man jetzt beginnt, den Körper zu öffnen, um zu einer Ebene mit mehr Energie vorzudringen, treten oft die ursprünglichen Schmerzen wieder auf, die abgewehrt wurden. Es gibt viele Ansichten, die der geläufigen Anschauung vom Kör­ per als einer unglaublichen Ma­ schine aus vielen Teilen wider­ sprechen. Das chinesische System mit seinen in der Akupunktur be­ deutsamen Meridianen und das in­ dische System mit den Chakras gründen in jahrhundertelangen Beobachtungen der Kanäle des Energieflusses durch den Körper. Im Westen gab es das Modell der Alchimisten, das auf dem Prinzip der Harmonie zwischen Mikround Makrokosmos aufbaute. Die Grundlage des Phänomens, über das ich rede, liegt in jenem System des Körpers, das aus dem Mesoderm entsteht, einer primiti­ ven Schicht von Zellen, die sich in den frühesten Differenzierungs­

phasen des befruchteten Eis bil­ det. Sie enthält die Anlage für Fas­ zien, Muskeln, Sehnen, Bänder, Knorpel und Knochen. Es sind die Beziehungen dieser Elemente zu­ einander, die die Struktur des Kör­ pers formen. Sie bestimmen, wie der Körper eines Menschen aus­ sieht und wie er funktioniert. Sie entscheiden auch über die relative Position und die Funktion anderer Elemente des Körpers wie Nerven­ system, Blutbahnen, Verdauungs­ organe, Lymphsystem und Atem­ wege. Mit Ausnahme von Muskel­ gewebe setzt sich alles Gewebe aus demselben Grundstoff zusam­ men: Eiweißfasern - Collagen ge­ nannt -, elastischen und retikulä­ ren Fasern sowie gallertartigem Material. Eine Art von Gewebe, zum Beispiel eine Sehne, unter­ scheidet sich von einer anderen, zum Beispiel einem Knochen, in dem relativen Verhältnis dieser Komponenten. Faszien sind ein vergessenes Körperorgan. Sie beginnen direkt unter der Haut und bilden eine innere Hülle um den ganzen Kör­ per. An bestimmten, für die Funk­ tion des Körpers wichtigen Stellen verdicken sie sich zu ringförmigen Bändern zur Stabilisierung von Sehnen in der Nähe von Gelenken, wie zum Beispiel dem Hand- oder Fußgelenk, oder sie bilden breite Flächen, die man Aponeurosen nennt. Bei vielen Menschen ver­ dicken sich die oberen Faszien des Unterarms am Handgelenk. An anderen Stellen versenken sie sich, um sich mit einer tieferen Schicht von Faszien zu verbinden, die ihrerseits den Körper auf einer tieferen Ebene umgeben. Beim Embryo entwickeln sich einzelne Muskelfasern innerhalb einer Fas­ zienhülle, formen Bündel, die wie­ derum von Faszien umschlossen sind. Faszien sind das vorrangige Me­ dium für Veränderungen im Kör­ per, sei es zum Guten oder zum Schlechten. Ein schwerer Bein­ bruch beispielsweise bewirkt, daß die Faszien in dem betroffenen Be­ reich ähnlich wie Knorpel werden. Ein solcher „Knoten“ behindert 101

Don Johnson ist Leiter eines kli­ nischen Programs für psychoso­ matische Studien an der Antioch University, San Francisco. Seit 1970 arbeitet er als Rolfing-Therapeut in einer privaten Praxis. Er ist Autor des Buches The Protean Body, dt. Rolfing und die menschliche Flexibilität, Synthe­ sis Verlag, 1980, dem dieser Text entstammt. Don Johnson kommt regelmäßig zu Trainingssemina­ ren nach Europa.

die Bewegungsfreiheit angrenzen­ der Muskeln. Andernorts kann Be­ wegungsmangel oder schlechte Haltung zu einem Schrumpfen der Faszien und einem Verkleben mit Muskeln und Knochen führen, was gleichfalls den Bewegungsspiel­ raum einengt und die Zirkulation der Körperflüssigkeiten hemmt. An vielen Stellen, wie dem Gesäß, kann die Faszienhülle einer Mus­ kelgruppe (mm. glutaei) mit der einer anderen (m. biceps femoris) verwachsen; das Resultat ist eine begrenzte Bewegungsfähigkeit in diesem Gebiet. Dies ist die klassische Lehrmei­ nung über die Faszien: „Die Fas­ zien bilden, im unsezierten Zu­ stand, auf verschiedenen Ebenen eine Hülle aus Bindegewebe, die in ihrer Stärke und Dichte von Ort zu Ort variiert. Sie bedeckt und um­ hüllt alle sogenannten höheren Strukturen wie Muskeln und Seh­ nen, Schleimbeutel, Blutgefäße, Nerven, Eingeweide, Bänder, Ge­ lenke, sogar Knorpel und Kno­ chen, die letzteren in enger Ver­ bindung mit Perichondrium und Periost zwischen den Ansätzen der Muskeln.“2 102

Dieses Zitat stammt aus dem sich dabei um ein unterstützendes einzigen Buch, das jemals über Organ handelt - ein elastisches, Faszien geschrieben wurde, wenn einheitliches Gerüst, das Bewe­ man von einer Erweiterung durch gungen einleitet, überträgt und Edward Singer, einen Schüler des begrenzt und darüber hinaus alle Autors absieht. Und dennoch sind anderen Körperteile umgibt und die Faszien das Organ, das dem stützt. Muskeln funktionieren als Körper Einheit gibt. Es liefert die ein untereinander verbundenes Grundlage für einen funktionie­ und balanciertes System und nicht renden Stoffwechsel, einen stabi­ als vereinzelte Motoren für ver­ len Kreislauf und gesunde Nerven­ schiedene Teile des Körpers. Sie tätigkeit. Verkürzungen und Ver­ sind eher physiologische Systeme dickungen von Faszien bewirken als anatomische Elemente. Das Verzerrungen im ganzen Körper. myofasziale System und seine ent­ Durch das Lockern und Bewegen sprechende neurale Versorgung der Faszien kann man den Körper bestimmen die räumliche Bewe­ radikal verändern. gung der Gelenke und von daher Unser Sprachgebrauch verleitet sowohl die Richtung als auch die dazu, verschiedene Aspekte des Qualität aller Bewegungen. Umge­ Körpers als einzelne, miteinander kehrt wirkt Bewegung als eine Art in Verbindung stehende Teile zu Pumpmechanismus; deshalb ist begreifen. Wenn Sie sich die Dinge das myofasziale System ein be­ jedoch aus der Nähe betrachten, deutender Faktor für den Aus­ zum Beispiel den Ansatz des tausch von Flüssigkeiten auf allen Brustmuskels mittels der dazuge­ Ebenen des Organismus. Aus die­ hörigen Sehne am Oberarmkno­ sem Grund spielt das myofasziale chen, dann werden Sie keine Rei­ System eine entscheidende Rolle he miteinander verbundener Ein­ für den Stoffwechsel in einzelnen zelteile finden. Zum Ende des Mus­ Bereichen und im Körper als Gan­ kels hin, der ja selbst ein Bündel zem. So wird es zu einem vitalen von in Faszien eingebetteten Fa­ Faktor für die bioenergetische Re­ sern ist, tritt eine Verdickung der gulation des Körpers und sein ho­ Fasern auf, die dann fließend in möostatisches und thermodyna­ das übergehen, was man Sehne misches Gleichgewicht."3 Unser auf Unterteilung abzielen­ nennt; diese wiederum beginnt sich aufzufächern, verwandelt des Denken, das wir von Descartes sich in das sogenannte Periost, die und seinen Nachfolgern geerbt ha­ Faszienhülle des Knochens, die ben, geht uns buchstäblich bis ins mikroskopisch vom Knochen Mark. Während es sinnvoll ist, zwi­ schen verschiedenen Körperteilen selbst nicht unterscheidbar ist. Die Struktur des Körpers ergibt zu unterscheiden, wie es auch nützlich ist, emotionale und phy­ Sich im Grunde nuraus einer funk­ tionellen Differenzierung des glei­ siologische Erscheinungen von­ chen Ausgangsmaterials. An Stel­ einander zu trennen, verfällt man len extremer Belastung verdickt einem Irrtum, wenn man diese Un­ sich das Gewebe aufgrund einer terscheidungen für ein Bild von Zunahme der collagenen Anteile. der Wirklichkeit hält. Aufgrund un­ verführerischen SprachAn Orten, an denen Härte notwen­ serer dig ist, werden Kalziumsalze vom struktur meinen wir, es gäbe so Blut angeliefert, und man hat ei­ eine Sache wie ein Gefühl, eine nen Knochen. Wieder andere Be­ weitere Sache sei das Nervensy­ reiche machen die Flexibilität ei­ stem und noch eine andere Sache nes weichen, von Faszien umge­ sei ein verspannter Muskel. Der Mensch ist wie eine Pflanze, deren benen Muskels erforderlich. von ihrem Nährboden kaum unter­ „Wenn man sich das myofasziale System als ein funktionelles scheidbare Fibrillen in die Wurzeln Ganzes vorstellt und nicht als ei­ übergehen, welche sich zum nen nur additiven Gewebekom­ Stamm verdichten, der sich dann plex, wird offensichtlich, daß es wiederum in Äste, Blätter und Blü­

ten differenziert und sich in dem ihn umgebenden elektrischen Feld fortsetzt. Spirituelles Bewußt­ sein, Emotionen und Gefühle, In­ telligenz, physiochemische Funk­ tionen, Muskeln und Skelett sind alle nur Standpunkte, von denen aus man die einheitliche Wirklich­ keit unserer Existenz untersuchen kann. Bemerkenswerterweise ist der Stoff, aus dem wir gemacht sind, hochgradig elastisch. Die Zusam­ mensetzung allen Bindegewebes im Körper ist gleich. Die Gewebe variieren hinsichtlich ihrer Elasti­ zität, angefangen bei den relativ unelastischen Knochen bis hin zu den extrem elastischen faszialen Hüllen der Muskelfasern. „Und was ist mit den Knochen? Sie sind doch starr.“ „Mein Rükken ist ziemlich krumm, aber ich glaube, daran ist nichts zu ändern. Es liegt an der Wirbelsäule.“ „Die vertrockneten, rigiden, nackten Knochen eines präparier­ ten Skeletts haben keine Ähnlich­ keit mit den Qualitäten eines le­ bendigen Knochens. Diese sind von vaskulären Membranen umge­ ben, dem Periost, und haben zahl­ reiche Blutgefäße an ihren Enden; sie sind mit großer Elastizität aus­ gestattet, wie sich an der Spann­ kraft eines Schlüsselbeins oder durch Zusammendrücken und Loslassen des Gabelbeins von ei­ nem Huhn zeigen läßt. Sie sind in der Lage, die schwersten Wieder­ herstellungsarbeiten an einem Bruch zu leisten, bis der Knochen wieder wie neu ist, und die feine Architektur seiner Struktur auf den Umgang mit neuen Belastungen einzurichten , . . “ 4 Diese elastischen Elemente der Körperstruktur bilden ein zur Ver­ änderung fähiges Netzwerk. Man denke nur an die vielfältigen Mög­ lichkeiten zur Bewegung, Anpas­ sung, Zerrung und Veränderung im Bereich von Gelenken. Es gibt Gelenke, die den meisten Menschen bewußt sind: Ellbogen, Handgelenke, Knie, Fußgelenke, Hüften usw. An jeder dieser Stellen besteht die Möglichkeit zur Verän­ derung, wie Ihnen unzweifelhaft

deutlich wird, wenn Sie sich zum Beispiel den Fuß verstaucht haben. Weniger bekannte Gelenke fin­ den sich in Füßen und Händen. Es gibt 28 Fußknochen mit 32 Gelen­ ken. Stellen Sie sich einmal vor, wie viele Möglichkeiten zu Verän­ derung eine derartige Struktur bie­ tet! In der Hand gibt es 27 Knochen mit 32 Gelenken. Die Wirbelsäule hat 134 bewegli­ che Gelenke, die Bandscheiben nicht mitgezählt. Jede der oberen zehn Rippen hat an zwei Punkten Bewegungsfreiheit: an ihrer Ver­ bindung mit der Wirbelsäule und an ihrer vorderen Befestigung am Brustbein, beziehungsweise am Rippenbogen. „Aber wenigstens Becken und Schädel sind fest." Zum Teufel, nein! Nichts ist unbeweglich. Es gibt im Becken drei Gelenke, eins in der Mitte des Schambeins und zwei an der Verbindung zwischen dem unteren Teil der Wirbelsäule und den beiden Beckenknochen. Verschiedene Fachleute haben festgestellt, daß man mit entspre­ chender Behandlung, Atmung und Bewegung diese Gelenke sein ganzes Leben lang beweglich hal­ ten kann. Der Schädel besteht aus 16 Kno­ chen, den Unterkiefer nicht mitge­ rechnet. William Sutherland, ein Schüler von Andrew Still, dem Be­ gründer der Osteopathie, entdeck­ te, daß man die beinahe fünfzig Gelenke dieser Struktur, die beim Kleinkind beweglich sind, mit rich­ tiger Behandlung auch beim Durchschnittsmenschen beweg­ lich halten kann. Da haben Sie Ihre solide Körperstrukur: Hunderte von elastischen Knochen, von denen jeder einzel­ ne durch Druck verzerrt, gebro­ chen, gekrümmt und verdreht wer­ den kann. Sie alle sind mit Hunder­ ten von Gelenken miteinander ver­ bunden, an denen unendlich viele Bewegungen stattfinden können, Verschiebungen, Drehungen und nachfolgende Korrekturen einge­ schlossen. Sie sind noch die sta­ bilste Komponente unseres Pro­ teus-Körpers.

Die anderen Aspekte der Kör­ perstruktur - die aus Knorpel be­ stehenden Teile der Gelenke, die Bänder, von denen die Gelenke zusammengehalten werden, die Sehnen, die die Muskeln mit den Knochen verbinden, die allgegen­ wärtigen Faszien - sind noch viel elastischer und deshalb durch Be­ lastungen, Unfälle, Dehnungen, Zerrungen und Manipulationen al­ ler Art weitaus leichter zu verän­ dern. Es ist erstaunlich, daß wir heute noch so ähnlich aussehen wie letz­ te Woche. Vom Augenblick der Be­ fruchtung des mütterlichen Eis bis heute befindet sich die Grundsub­ stanz unseres Seins in einem stän­ digen Fluß und wird sich weiter verändern, bis wir sterben. Anmerkungen 1 Norman 0. Brown: Love’s Body. New York, 1966, S. 155. 2 B. B. Gallaudet: A Description ofthe Planes ofFascia ofthe Human Body. New York, 1931, S. 1. 3 Ida P. Rolf: Structural Integration: A Contribution to the Understanding of Stress. In: Confinia Psychiatrica 16, 1973. S. 71. 4 Robert D. Lockhart: Anatomy of the Human Body. Philadelphia, 1972. S. 11.

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AI Chung-Iiang Huang

Das Tao der Bewegung Porträt, Interview und pro­ grammatische Erklärungen zum Tai Chi unternehmen den Versuch, diese Art kör­ perlicher Ausdrucksformen näher zu bringen Man sieht ihm seine 46 Lebensjah­ re keinesfalls an - oder ist er schon 64 ? Tai Chi Meister AI Chung-Iiang Huang, kann über die Frage seines wirklichen Alters nur lachen - ge­ rade gestern wurde er in China geboren. Im Laufe der Kulturrevo­ lution floh seine Familie nach Tai­ wan (Formosa), und dort erlernte er das klassische chinesische Tai Chi. 1955, er war so ungefähr 17 (?!), brach AI Huang nach Amerika auf. In Oregon studierte er dann Architektur und verdiente seinen Lebensunterhalt mit Theaterspie­ len und Ballett. Als er später nach Hollywood ging, übernahm er oft Tanzeinlagen und trat in einer Tournee mit Sammy Davis jr. als Solotänzer auf. Doch diese westliche Tänzerei genügte AI Huang nicht, und so­ bald sich die Möglichkeit bot, be­ gann er in der Tradition des Tai Chi zu arbeiten. Als Gastprofessor kehrte er nach Taiwan zurück und lehrte klassischen Tanz. Dabei be­ griff er die Harmonie und Zusam­ mengehörigkeit seiner Kultur und des Tai Chi. Und er spürte, daß er diese Harmonie in den Westen zu bringen hatte. Je mehr sich die westlichen Kul­ turen für den Osten zu interessie­ ren begannen, umsomehr mußte er Tai Chi machen, statt Opern­ ballett aufzuführen. Zurück in den USA, begann er Tai Chi-Schulen aufzubauen und 104

lehrte sein Tai Chi, keine spezielle Richtung, von denen es so viele gibt. Wer AI Huang in Aktion erlebt, versteht erst, was Tai Chi eigent­ lich ist: Die selbstverständliche Bewegung im Beziehungsfeld zwi­ schen Natur und Mensch, Himmel und Erde, Materie und Geist. AI Huangs Tai Chi klebt nicht an der Form, sondern arbeitet damit, drückt sie aus, perfektioniert sie in der Improvisation. Dieses lebendi­ ge Tai Chi wirkt nicht so gekünstelt wie oft bei vielen Tai Chi-Schülern, sondern natürlich. Man spürt di­ rekt, daß diese Bewegung richtig, gesund und optimal sein muß. Kung Fu und viele andere asiati­ sche Kampfsportarten basieren Bewegung im Raum - AI Huang

auf den Grundbewegungen des Tai Chi, und bei AI Huang kann man sehen, wie und warum. Wenn er plötzlich mit höchster Ge­ schwindigkeit eine Tai Chi-Bewegung vollendet, dann weiß man, daß in dieser Schnelligkeit eine Kraft steckt, die jeden eventuellen Gegner ausschaltet. Seine Schüler spüren das und wollen es ebenfalls lernen, und sie wissen, daß sie es nicht erzwingen können, sondern die Bewegungs­ form wachsen lassen müssen erst dann entfaltet sich der „Schmetterling", womit AI Huang die Leichtigkeit und Schnelligkeit symbolisiert: „Beim Tai Chi träumt der innere Schmetterling, er sei ein Mensch“, meint AI Huang. Seine Tai Chi-Schule ist heute wohl die bekannteste Einrichtung dieser Art und mit der „Living Tao Foundation “ reist er um die ganze Welt, um Workshops abzuhalten. Wo immer über die Verbindung von Ost und West, Kopf und Hand, Wissenschaft und Kunst, Geist und Materie gesprochen wird, ist AI Huang willkommen, diese Syn-

AI Chung-Iiang Huang

these darzustellen und in Bewe­ gung umzusetzen. Er ist ein leben­ diges und ausdrucksfähiges Ver­ bindungsglied zweier verschiede­ ner Kulturen, ja zweier verschiede­ ner Zeitalter. Tai Chi ist älter als beide Zeit­ alter. Das Kind, das in den Dörfern Chi­ nas aufwächst, lernt schon von klein auf, uneingeschränkte Ach­ tung vor der Weisheit seines Kör­ pers zu haben, der die Vereinigung unserer Väter und Mütter ist, des Yin und des Yang, des Himmels und der Erde. Die körperliche Be­ wegung ist die Bewegung der Weltordnung, die wir als das Tao begreifen. Ihre vitale Kraft und of­ fene Spontaneität spiegeln unser

Bewußtsein bezüglich der natürli­ chen Phänomene in unserem All­ tagsleben wider. Das Tao der Be­ wegung ist der Tanz des Alltagsle­ bens, während wir von Augenblick zu Augenblick beobachten und üben. Tai Chi, die kunstlose Kunst der Meditation durch Bewegung, lern­ te ich nicht in schematischen 08/ 15-Lektionen autoritärer Meister, sondern durch lebendige Erfah­ rungen mit einigen wenigen Män­ nern und Frauen, die sich selbst als immerwährende Anfänger sa­ hen. Ihre schöpferischen Kräfte des Lernens/Lehrens trotzten je­ der Klassifizierung und Definition; sie kannten weder System noch Stil. Sie vertrauten auf ihre Einzig­ artigkeit, auf ihr eigenes Werden/

Wachsen in klarster Bewußtheit ih­ rer Beziehung zur Natur - die un­ trennbar ist von der Welt des Menschlichen. Von diesen Menschen inspiriert und geführt, begann ich allmäh­ lich, das Tao als die fruchtbare Leere zu begreifen - sie scheint leer zu sein, ist niemals ganz voll, hat stets Raum, der noch erfüllt werden kann. Ich lernte, an jedem neuen Morgen im neuen Sonnen­ licht zu tanzen und mich zu freuen, mich zu bewegen mit dem Wind und dem Wasser, den Wolken und den Vögeln, und still zu sein in der scheinbaren Stummheit des Aus­ gesetztseins in Zeit und Raum des Morgens auf Bergeshöhen zu sinnen, des Abends in den Wäl­ dern, am Mittag aber an der spie­ gelnden Klarheit eines frühlings­ frischen Teichs. Indem wir Natur unmittelbar durch unsere Leibsee­ le erfahren, wird uns mehr und mehr bewußt, daß unsere Leibna­ tur so frisch ist wie der Frühling, unerschöpflich wie die Sonne, er­ neuerbar wie die vier Jahreszeiten. Der Leib fließt und bewegt sich natürlich und organisch. Der Leib lebt jetzt und funktioniert instink­ tiv. Tai Chi (wörtlich übersetzt „das eigentlich Wahre“) gestattet dem Menschen, im Laufe seines All­ tagslebens immer klarer und einfa­ cher zu werden. Tai Chi-Bewegung hat, wie in der Natur, wenig zu schaffen mit menschlicher Zweckgerichtetheit, Ichkontrolle, berechnender Analyse. Sie ist ein­ fach. Deshalb beschreiben wir Tai Chi oft als den intellekt-losen, kon­ trolle-losen, zweck-losen Tanz der Natur, des Lebendigen. Leider hat man den meisten von uns eingebläut, daß Kontrolle Zweckhaftigkeit - Analyse das „Gute“ sind, den komplementären menschlichen Fähigkeiten des Fühlens, der Spontaneität und des Loslassens streng entgegenge­ setzt. Die Absolutheit des „einen und einzig richtigen Weges“, die korrekte Antwort: Das ist die Anti­ these zum alles umgreifenden, al­ les durchdringenden offenen Raum des Tao. Denen, die Tai Chi praktizieren, 105

wird klar, daß zweckgerichtete, steigen nach oben, um Himmel ten auf den Fußsohlen, lockern egozentrische Kontrolle des und Erde zu verbinden, mit uns in den Nacken. Bringt das Tai ChiSymbol aus dem Kopf herunter in „Lernerfolgs“ grundsätzlich der Mitte. Nimm dir ein wenig Zeit, um dich den Unterbauch, in das strömende fruchtlos und umsonst ist. Wir werden nie lernen, Tai Chi zu leben, wieder an diese lebhaften Körper­ Zentrum des Körpers. Werdet da­ wenn wir uns unausgesetzt zwin­ gefühle zu erinnern; wie wir als bei weder introvertiert noch extra­ gen, immer noch härter zu üben. Kinder die Hügel hinabsprangen, vertiert. Stimmt euch von außen mit weit ausgebreiteten Armen, ein in das Ch’i (Lebensenergie, Im Tao üben wir sanfter. wie wir auf der Bergeshöhe nach universale Kraft) in uns und um Diejenigen unter euch, die sich dem Himmel griffen, am Strand uns. Wir schleudern Arme und Bei­ etwas auf ihre Rationalität, Logik des Meeres nach dem Horizont. ne von uns weg in die Luft: Jedes­ und Verständigkeit zugute halten, Wie leicht ist es immer gewesen, mal kommen sie wieder zu uns werden mir nun vorwerfen, ich mit dem Fluß zu strömen und im zurückgeschnellt, haben bei je­ spielte die Rolle des unergründli­ chen Orientalen: Paradox... Para­ Wald zu hausen und wolkengleich dem Mal mehr Vitalität gespei­ dox ... Hahahahaha ... Hmmm! mit der östlichen Sonne aufzuge­ chert. Unser Leib weiß, wirklich, Wahr bleibt aber: Das Tao, das ge- hen, und bei jeglichem Sonnenun­ was der Leib tut. Um die Angst vor dem anstren­ taot werden kann, wird niemals tergang „ruhig zu sitzen, nichts zu genden Tai Chi-Training abzubau­ das wirkliche Tao sein. Das ur­ tun“. Bewege dich, laß die Bewegung en („schaffe ich das auch?“), versprüngliche Tao ist untilgbar, un­ definierbar, leer, offen, ständig im in dir los, fühle dich in der Bewe­ geßt alle oberflächlichen Struktu­ Wandel, stets einen neuen Augen­ gung in dir, der immer bewegten. ren und falschen Versprechungen Geh mit ihr, ströme, folge nach. und beginnt einfach damit, leichte, blick, eine neue Weise gebärend. Alltagsbewegungen Tai Chi praktizieren heißt: unse­ Ergreift von Zeit zu Zeit die Initiati­ natürliche rem Körper zu erlauben beginnen, ve, widersteht der Versuchung, die des Körpers zu erleben. Die ur­ Tai Chi-Ch’uansich leicht und unbefangen zu be­ unausweichliche Bewegtheit zu sprüngliche wegen. Beobachte einfach die Na­ manipulieren. Erlebt, wie Welle um Form ist vielleicht die ide­ tur; werde Natur. Blicke, schaue, Welle jeden Ort in eurem Körper alste, nahezu perfekte menschli­ versenke dich in das Herz allersich mit jedem anderen verbindet. che Choreographie, die wir ken­ bewegenden Wesen, die Gott Fühlt die Energie, die von den Fuß­ nen. Aber leider sind die heute (nicht der Mensch) erschaffen hat. sohlen bis zur Scheitelspitze, von gängigen sogenannten „Formen“ Lerne über die lächerliche Paralle­ den Fingerspitzen bis zu den Ze­ bestenfalls ein Rest und Abklatsch le lachen, man wolle „die Fische hen in euch zirkuliert. Werdet des des Alltags-Tanzes, den einige we­ das Schwimmen lehren und die Kreuzungspunktes in eurer Kör­ nige schöpferische Meister ge­ Vögel das Fliegen“. Gestehen wir permitte inne, den wir tant' tanzt haben. Die wahren Lehrer uns ehrlich unsere affektierten ien nennen (Zentrum, hara, cha- wachsen und bleiben nicht ste­ Verschrobenheiten ein; geben wir kra, kath, Eingeweide), Laßt euch hen; die Nachahmer „kleben“ an zu, daß wir verlernen müssen, um vom tant’ien an Balance und Zahlen, Namen und Gestalten von Gleichgewicht erinnern. Genießt sinnlosen steifen Körperhal­ zu den Ursprüngen zurückzufin­ auch das Ungleichgewicht. Klam­ tungen. den. (Wie traurig ist doch der Ge­ danke, daß wir aus Büchern und mert euch nicht fest an das Gefühl Die Metaphern für die Tai ChiAnleitungen lernen müssen, der Mitte. Achtet auf die Gegensät­ Motive sind von wunderbarer Aus­ menschliche Wärme zu fühlen, ze und ihre andere Weise der Ver­ druckskraft und Kinästhesie: „mit „Liebe zu machen“, aus Freude zu wandlung. (Harmonie kann nur den Händen wie Wolken winken, tanzen!) durch die Vereinigung von Unter­ den Tiger umarmen, zum Berg zu­ rückkehren“. Das sind poetische Vielleicht ist es an der Zeit, daß schieden sinnvoll sein.) Einheit ist ein Tanz in Form der Bilder, die uns inspirieren sollen, wir den prätentiösen Ausdruck liegenden Acht: Unendlichkeit, die nicht gängeln. Die Chinesen drükvon unseren „Kulturmasken“ wi­ magische Zahl, das Möbius’sche ken das so aus: „Benutze die Brükschen, um wieder das Ursprüngli­ che Gesicht darunter zu entdek- Band, das vieldimensionale Eins­ ke, um über das große Wasser zu sein. kommen; aber du brauchst die ken. Wieder die Arme auszubrei­ Nun haltet einen Augenblick in­ Brücke nicht auf der Schulter mit­ ten, um die ganze Welt zu umar­ men. den Himmel zu empfangen, ne und sinnt über das Tai Chi- zuschleppen und nach dem näch­ Symbol nach. sten Wasser Ausschau halten.“ die Erde in uns aufzunehmen; un­ Seht und fühlt, wie das Yin und Mein Freund, der verstorbene Alan seren irdischen Mitwesen zu ge­ ben und von ihnen zu nehmen - das Yang sich bewegen, wogen, Watts, formulierte es noch mar­ einschließlich des Tier-, Pflanzen- sich ändern. Übertragt es jetzt auf kanter: „Wenn du die Botschaft und Mineralienreichs. Lassen wir den Körper: Wir kreisen mit den kapiert hast, leg auf!“ Auf den Körper bezogen, ge­ die Quelle der Erde durch unser Armen, schwingen um das Rück­ grat, kreisen mit dem Becken, glei­ langt die Energie der Erde (Ch'i) ganzes physisches Sein empor­ 106

durch unsere Wurzeln beim Ste­ hen in uns; sie ernährt unseren Körper genauso, wie die Nahrung in die Wurzeln eines Baumes ein­ dringt und in den Stamm und die Äste emporsteigt. Diese Erdkraft verbindet uns mit dem Himmel über uns durch den menschlichen Leib. Das kosmische Ch’i (nicht zu verwechseln mit dem Chi in Tai Chi) ist die allmächtige, stets ge­ genwärtige lebendige Kraft in un­ serem Leben. Ch’i strömt durch uns, in uns, trotz uns, wie Wasser, das alle Umwege und Stockungen mitmacht (die geistigen Blocka­ den im menschlichen Denken). Die Kraft und Freude des Tai Chi-Machens besteht darin, diese Ener­ giequelle lebendig zu erhalten. Ein Konzentrat aller Tai Chi-Bewegungen kann man in der einfa­ chen, uralten Spirale finden, die Wu Hsi heißt: „Fünf Elemente“ oder „Fünf bewegende Kräfte". Der Leib meditiert mit den zykli­ schen Regenerationskräften ErdeFeuer-Wasser-Holz (dasselbe wie Wind)-Metall und zurück zur Erde. Feuer entstammt dem Mittel­ punkt der Erde\ es wird freigesetzt vom Körperzentrum (tant'ien), das sich nach vorne und nach oben ausdehnt. Wasser löst und vollen­ det den Kreis, indem es in einer empfangenden, nach unten strö­ menden Bewegung an den Aus­ gangspunkt zurückkehrt. Eineein­ fache Schrittbewegung nach vorn mit aneinanderliegenden Händen, wobei die Handflächen nach au­ ßen zeigen und aus dem tant’ien vorstoßen, setzt das Feuer frei und löst sich dann in Wasser auf, wäh­ rend die Bewegung sich vertikal nach oben schraubt und zu unse­ rer Basis zurückkehrt. Diese Übung kann mehrere Male hintereinander wiederholt werden, um den Ch’iStrom einzuatmen und in ihm warm zu werden. Zur Fortsetzung der Fünf-Elemente-Spirale beugen wir uns nach einer Seite, mit den aneinan­ dergelegten Händen wieder aus dem tant’ien stoßend, bis die Arme in Schulterhöhe sind. Dann krei­ sen wir leicht mit den entspannten, horizontal gehaltenen Armen im

Holz-Element quer über die fä­ cherförmige Fläche vor der Brust und drehen dabei den Rumpf zur anderen Seite, bis der Leib sich wie eine acht windet und in der Tai Chi-Form, die diese Bewegung bil­ det, Yin und Yang sich scheiden. Diese momentane Körperhaltung symbolisiert das Metall (Gold, Dia­ mantenkristallisation). Das ist die idealisierte begriffliche Einheit. Es kann aber auch sehr unbequem sein, wenn wir aus dieser Position des Absoluten nicht loskommen. Die folgende Lösung aus der Metall-Form ist ein Loslassen und Freisetzen, so daß die Arme frei schwingen und alle Kräfte, die um uns sind, in unser Körperzentrum einschaufeln. Das zurückgesetzte Bein darf den unvermeidlichen Schritt zur Seite tun. Die nach vor­ ne gehaltenen Arme locker lassen, so daß sie herabsinken und sich öffnen können. Nun mit den Ar­ men abwechselnd gegen den Bauch schlagen, während das Rückgrat hin- und herpendelt. Endlich wird die Schwerkraft der Erde beide Hände anziehen, die zwischen den Beinen zum Boden langen. Schaufle mit den Händen die Erde auf; dann sauge die auf­ steigende Energie aus der Erde in deinen Körper ein. Wir lassen sie durch das Rückgrat nach oben und über uns hinaus steigen, um den Himmel zu berühren. Empor­ langen, öffnen, zurückschwingen in einer einzigen großzügigen kreisförmigen Bewegung: den Ti­ ger umarmen, zum Berg zurück­ kehren. Diese einfache, konzentrierte Form zu üben, ist ein wunderbarer Anfang. Versucht es noch einmal, sowohl in Gedanken als in Wirk­ lichkeit: Gebt ein wenig (Feuer, das nach außen und oben drängt) und nehmt etwas dafür entgegen (Was­ ser, das zu eurer Basis zurück­ strömt); verteilt diese gute Energie ein wenig um euch (horizontale Holz-Wind-Kreise) und sammelt al­ le euch günstigen Kräfte in euch (Freisetzung des Metalls, das die Leere absorbiert). Laßt los, über­ laßt der Erde allen unnötigen Bal­

last, den ihr mit euch herum­ schleppt. Laßt die Hände fallen, langt zum Mittelpunkt der Erde. Schaltet euch ein in den Ursprung der Erde und die spendende Kraft vom Himmel, den Kraftstrom von unten und von oben, greift aus, sammelt ein, ihr seid Alle Eins! Die Verheißung der Frucht liegt in der Saat, die wir säen. Freut euch des Pflanzens; lernt, die le­ bendige Kraft in unserer Saat zu ernähren. Der Körper tut mit. Ja, er spielt, wie das vollkommene Instrument einer Bambusflöte - hebt sie em­ por in den Wind, sie spielt von selbst, und der Klang kommt aus ihrer Leere. Eine „gestopfte“ Flöte kann man nicht spielen! Auch du kannst einen leeren Raum in dir haben, der spielt. Versuche nicht so angestrengt, dich vollzustopfen mit kontrollierten Muskeln, An­ häufungen von Ideen, steriler In­ formation. Ein vollgestopfter, stei­ fer menschlicher Körper kann nicht tanzen; er hat kein wirkliches Leben in sich! Wenn die vielen Beine eines Tausendfüßlers von den Denkme­ chanismen kontrolliert würden, die sich einmischen wollen, würde das arme Tier keinen einzigen Schritt mehr tun. Flieg, Tausend­ füßler! Laßt unsere Beine unbehin­ dert sein vom Nachdenken über Beine. Lassen wir das Ch’i unseres Körpers durch das Rückgrat und alle Glieder bis in ihre Spitzen strö­ men. Die Schlangenkraft - das kundalini - in uns wird uns in einen Drachen verwandeln - Auf dem Wind reitend. Tai Chi, die Urkaft, ist wie ein Baum. Er hat einen Stamm und hat Äste, und Zweige und Blüten und Blätter. Er wächst immerzu ... Sobald eine Frucht an ihm gewachsen ist, ist in ihr das Prin­ zip verborgen, durch das sie im­ merzu wachsen muß. Und so wird sie wachsen und einmal mehr zu der Urkraft Tai Chi wer­ den, und man kann sie nicht aufhalten. - Chu Hsi, 12. Jh. n. Chr.

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erkennen nicht das tieferliegende Prinzip. Darin sehe ich meine Auf­ gabe. Dieses Mehr, das gewisse Etwas, wenigstens ansatzweise zu vermitteln. Wenn Tai Chi popu­ lär ist, so ist das eine sehr wider­ Lutz: AL du bist Begründer der sprüchliche Sache. Einerseits Living-Tao-Foundation. Wenn freue ich mich, daß so viele Men­ man die Satzung und die Program­ schen sich für Tai Chi interessie­ matik dieser Vereinigung an­ ren, andererseits kann es zur ober­ schaut, fällt auf, daß hier nicht nur flächlichen Formstudie verkom­ über Tai Chi und die chinesische men. Wenn jemand Tai Chi nur Lehre gesprochen wird, sondern haben möchte als Tanzstil oder ein sozialer, ja politischer Wandel Bewegungsübung und keine Zeit intendiert wird. investieren möchte und keine Energie, um sich daran zu vervoll­ AI Huang: Das Living-Tao umfaßt kommnen, dann braucht er gar eben alle Aspekte unseres Lebens. nicht damit anzufangen. Tai Chi ist Ich versuche jeden meiner Work­ einfach und ich versuche es auch shops, meine Auftritte, meine Ar­ einfach zu machen, am Anfang, beitsgruppen, zu einem Element in aber es braucht ein Leben und viel dem großen Tanz des Living Tao viel Energie, um es zu beherr­ zu machen. Explizit politisch ist schen. Wer meint, er könne Tai Chi dies erst einmal nicht gemeint, kurz mal lernen und es auch noch öderes ist so politisch oder unpoliin einem Crash-Kurs, in einem Intisch wie wenn ich Tai Chi in der UBahn mache, in der Straßenbahn Lutz: Ja, das fiel mir sofort auf. In tensiv-Kurs, machen, der hat oder in einer Bahnhofshalle. Na­ deinem Tai Chi-Unterricht schon von Anfang an die Chance türlich berichten dann die Medien schwingt eine Leichtigkeit und vertan, Tai Chi zu lernen. darüber und wenn es auch noch in Freude mit, die einen selbst moti­ Lutz: AI, du hast aufgrund deiner Zusammenhang mit einem Kon­ viert, Tai Chi weiterzutanzen. Es ist Arbeit hier in Amerika die Livinggreß über Frieden oder Umwelt keine schwierige, anstrengende Tao-Foundation gegründet. geschieht, dann kann es natürlich Übung. Du machst daraus einen Kannst du etwas mehr darüber er­ politisch verstanden werden. Aber Tanz, der so selbstverständlich ist zählen? für mich ist es immer nur Tai Chi. wie unser alltägliches Laufen und Es ist oft ein falsches Verständnis, Bewegen. Gerade im Vergleich zu AI Huang: Die Living-Tao-Founda­ daß Tai Chi nur an ausgesucht anderen Bewegungs- und Sportar­ tion entstand über die letzten 20 schönen Plätzen oder in Medita­ ten, die aus China kommen, wie Jahre hinweg aus meinen Schü­ tionsräumen aus-geübt werden zum Beispiel Aikido oder Kung Fu, lern und Mitarbeitern, die bei mir kann. Ich will Tai Chi in den Alltag ist Tai Chi geradezu einfach. Tai Chi gelernt haben und dieses bringen, in die Welt, die wir haben. Prinzip in ihrem Alltag umsetzen Mein Anliegen ist es, den Men­ AI Huang: Ja, so soll es auch sein, wollten. Und aus diesen Menschen schen hier zu lehren, was ich in aber wenn du wirklich Tai Chi stu­ wurde allmählich ein Netzwerk ge­ China gelernt habe. Heute lebe ich dieren willst, ist es eine Lebensauf­ genseitiger Hilfe und Unterstüt­ gabe. Ich lerne und übe täglich zung zur Verwirklichung des Tai in Amerika und sehe, daß die west­ lichen Menschen die östlichen und werde niemals perfekt sein. Es Chi im Alltag. Dieses lebendige, Philosophien brauchen. Und da ist mit Tai Chi wie mit dem Buch ständig sich verändernde Netz­ ich es noch unmittelbar erlebt und I Ging. Natürlich kann man das werk haben wir Living Tao ge­ Buch kaufen und eine Münze wer­ nannt. Inzwischen ist dieses Ligelernt habe, kann ich es nun di­ rekter vermitteln, als jemand, der fen und danach das I Ging lesen, ving-Tao-Netzwerk schon über die es sich nur angelesen hat. Dabei aber das ist nicht die Essenz. Um ganze westliche Welt verbreitet. Es will ich nicht die Kaukasier, also wirklich zu verstehen, was das gibt Gruppen in Paris, in London, die westlichen Menschen, umfor- I Ging ist, muß man sich lange, lan­ in der Schweiz, auch in Deutsch­ men und sie zu Pseudo-Chinesen ge Zeit damit befassen und darin land. Sie organisieren Tai Chimachen, sondern mit dem Tai Chi eintauchen. Deshalb versuche ich Workshops und natürlich, sie sind versuchen wir eine Synthese, eine bei dem Tai Chi den Menschen zu verbunden mit dem hiesigen Orga­ Integration von Ost und West zu zeigen, daß es mehr ist als nur ein nisationsbüro zur Vorbereitung paar Bewegungsformen. Viele meiner Tai Chi-Workshops. Doch leisten. bleiben an der Form kleben an es ist wichtig zu verstehen, daß Lutz: AI, wie lange lebst du eigent­ einer bestimmten Bewegung und nicht nur die Organisation, also lich schon hier in den USA?

Rüdiger Lutz im Gespräch mit AI Chung-Iiang Huang

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AI Huang: Ich bin jetzt seit 1955 in

Amerika, bin also den größten Teil meines Lebens schon hier und ver­ stehe den amerikanischen Le­ bensstil. China verließ ich bzw. mußte ich verlassen, als ich 16 war. Doch trotz dieser langen Zeit fühle ich mich noch immer verwurzelt in der chinesischen Tradition, denn ich hatte eine sehr klassi­ sche chinesische Erziehung und die wirkt weiterhin in mir. In mei­ nem Tai Chi-Unterricht hier in Amerika verwende ich jedoch nicht die Rituale und Formen die­ ser altchinesischen Tradition, denn das wäre aufgesetzt, unreali­ stisch. Ich habe Tai Chi so modifi­ ziert, daß es für einen westlichen Menschen akzeptabel und mög­ lich ist, es auszuüben. Wir sind hier nicht in China und wir können nicht die altchinesische Erziehung in einem Tai Chi-Workshop aufar­ beiten oder ersetzen.

die reine Funktion, eine Rolle spielt, sondern der Rythmus des Tao, des Tai Chi selbst. Alle diese Menschen, die Living-Tao-Gruppen aufbauen, haben mindestens ein, zwei Monate mit mir gearbei­ tet und meistens treffen wir uns jedes Jahr, um weiter zusammen Tai Chi zu machen. Dadurch be­ greifen sie allmählich das Prinzip, die Bewegung, den Rhythmus des Tai Chi. Das ist dann das lebende Tao. Lutz: Mit diesem fast weltweiten Netzwerk bist du ja Teil einer neu­ en planetaren Kultur, wie sie heute von verschiedenen Gesellschafts­ kritikern und Zukunftsforschern gesehen wird, also z. B. von Fritjof Capra, Marilyn Ferguson oder Wil­ lis Harman. AI Huang: Ja, Marilyn Ferguson

gab mir ihr Buch „Die sanfte Ver­ schwörung“ mit den Worten: „Für einen Verbündeten“, und ich fühl­ te mich schon immer als Weltbür­ ger und nicht nur einer Nation zu­ gehörig. Als Planetarier, Erden­ bürger, oder Transnationaler muß sich eigentlich jeder verstehen, der Tai Chi macht. Es ist das Ele­ mentarste, was uns das Tao ver­ mittelt. Daß wir alle eins sind, eine globale Familie auf einem einzigen Planeten. Tao ist ein ewiges Ler­ nen, eine ständige Bewegung, ganz entgegengesetzt dem Ver­ ständnis von Wissensakkumula­ tion, der Anhäufung von Kenntnis­ sen und Fähigkeiten, die man dann hat. In Tao hat man am Ende immer nichts. Da ist immer die Leere. Entscheidend ist der Pro­ zeß, die Bewegung, das Voran­ kommen. Und deswegen ist die Unterscheidung, die ich machen möchte, daß wir hier im Westen eine ganze Menge wissender und intelligenter Menschen haben, aber wir haben nur ganz ganz we­ nige Weise. Mein Interesse und Schwergewicht liegt auf Weis­ heit und nicht so sehr auf Infor­ mationen und Wissensvermittlung. Lutz: Und diese Weisheit möchtest du durch Tai Chi vermitteln, durch Körperweisheit, Körperwissen? Ist das Dein Weg der Erkenntnis?

AI Huang: Ja, der Körper ist das

uns Nächstliegende, wovon wir lernen können. Es ist so grund­ sätzlich richtig und weise, daß wir auf ihn hören lernen müssen, um damit richtig umzugehen, weise zu handeln. Auch der Austausch mit der Natur kann aus der Bewegung des Körpers direkt gelernt werden. Der Körper ist viel klarer und ehrli­ cher als es unser Geist, unser Ge­ hirn, ist, denn der Körper kann nicht soviele Tricks und Spielchen mit uns machen. Ich benutze den Körper als einen Spiegel und eine Richtschnur für unser Dasein und unser Handeln. Der Körper kann uns Hinweise geben, wie wir unse­ ren Geist benutzen können. Beim Tanzen im Tai Chi denken wir mit dem Körper, und wir erkennen, daß der Körper ganz für sich selber denkt, wenn wir ihn nur lassen. Er bewegt sich automatisch richtig, intern und extern. Doch für uns verkopfte Menschen hier im We­ sten ist es oft ein weiter Weg, die­ ses Körperbewußtsein, diese Selbststeuerung des Körpers wie­ der zuzulassen und zu erfahren. Mit dem Human Potential-Movement und der Ausrichtung der hu­ manistischen Psychologie kam in den letzten zwanzig Jahren eine Art Vorstellung von Gleichgewicht zwischen Körper und Geist, Kopf und Bauch, mehr und mehr zum Vorschein, speziell hier in Kalifor­ nien. Dennoch denken doch die meisten Menschen in den Katego­ rien der Trennung von Körper und Geist. Sie sehen es als zwei Dinge an, anstatt es als Einheit zu erken­ nen. Wir sprechen zum Beispiel von unserer rechten und unserer linken Hand. Das sind zwei Dinge. In Tai Chi jedoch führen diese Hän­ de immer gemeinsame Bewegun­ gen aus. Sie sind eines, sowohl in ihrer symmetrischen wie manch­ mal auch asymmetrischen Bewe­ gung. Wenn man auf den Körper richtig hört, spürt man diese Ein­ heit sämtlicher Organe, sämtlicher Bewegungen. Wir können beim Tai Chi nicht sagen: Jetzt mit der rechten Hand, dann mit dem lin­ ken Fuß, jetzt mit der linken Hand, jetzt den Kopf, dann den Körper.

Es ist alles ein Fluß, eine Bewe­ gung, ein gemeinsames Spiel des Körpers. Wir müssen erkennen, daß wir den Körper niemals aus­ schalten können, genausowenig wie wir unserem Denken nicht ent­ rinnen können. Es ist das Schwie­ rigste überhaupt zu versuchen, nicht zu denken. Aber ich glaube, mehr und mehr werden diese tao­ istischen Vorstellungen verstan­ den. Lutz: Siehst du wirklich einen Fort­ schritt, eine Entwicklung hier im Westen? Kannst du eine Tendenz zur ganzheitlichen Entwicklung in den USA und anderen westlichen Ländern erkennen? AI Huang: O ja, in meinen 20 Jah­

ren Lernen und Lehren hier in den USA sehe ich große Fortschritte. Die Menschen, die zu meinen Workshops kommen, sind inzwi­ schen viel, viel aufgeschlossener und verständiger, gerade was Kör­ perweisheit, Suche nach Gleich­ gewicht und innerer Erkenntnis betrifft. Und das trifft sowohl für Amerika wie für Europa zu. Überall ist eine größere Bereitschaft zu erkennen, um vom Körper zu ler­ nen, aus dem Kopf herauszukom­ men. Ich sehe es als einen großen evolutionären Zyklus. Wir müssen zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu einem neuen Bewußtsein kommen und als Taoist bin ich auch optimi­ stisch. Ich sehe den Sonnenauf­ gang, den Sonnenuntergang, die vier Jahreszeiten, das Leben als Bewegungsprozeß von Geburt, Wachstum, Tod und Wiedergeburt und neues Leben. Und so sehe ich auch das Aufsteigen der neuen Kultur, des neuen Bewußtseins als eine selbstverständliche Folge der bisherigen Verengung des westli­ chen Denkens. Lutz: Aber du siehst es nicht als eine gänzlich selbstablaufende Entwicklung, sondern du bist aktiv und wirkst auf diesen Prozeß ein, unterstützt ihn? AI Huang: Ja, du mußt partizipie­

ren. Du kannst dich nicht zurück­ lehnen und abwarten, was ge­ schieht. Es geschieht nur, weil du 109

partizipierst. Als Teil des Lebens auf diesem Planeten mußt du die Augen offenhalten, um zu sehen, was um dich herum vorgeht. Im Tai Chi haben wir eine wunderschöne Bewegungsform, die von deinem Zentrum aus, von der Körperachse eine Drehung nach außen hin und ein Ergreifen und damit Begreifen der Welt um dich herum darstellt. Dies ist ein Einsaugen und Sehen dessen, was die Welt um dich her­ um an Schönheit, an Verände­ rung, an Neuem bringt. Es ist der Wahrnehmungsprozeß selbst. Er ist nicht statisch, sondern so, wie du in eine Kreisbewegung die ver­ schiedenen Phänomene erkennst und siehst, wie die Welt sich be­ wegt und verändert. Und diese Be­ wegung macht auch deutlich, daß du diese Welt nur wahrnehmen kannst, wenn du innerlich zentriert bist, wenn du deine eigene Posi­ tion bewahrst und im Gleichge­ wicht bleibst. Du kannst nicht vor dir selbst davonrennen, sondern mußt klar und aufrecht stehenblei­ ben, um die Dinge so wahrzuneh­ men, wie sie sind. Viele der heuti­ gen Probleme in der Welt da drau­ ßen - seien es gesellschaftliche Krisen, Umweltverschmutzung, Atomwaffen und Atomverseu­ chung, halte ich für Spiegelungen unserer inneren Verschmutzung und inneren Ungleichgewichtig­ keit. Weil wir in unserem innersten Wesen nicht rein sind, verschmut­ zen wir auch unsere Umwelt. Ein altes chinesisches Sprichwort sagt: „Um die Welt zu formen, mußt du dich selbst formen.“ Du beginnst in deinem Zentrum, dei­ nem eigenen inneren Universum. Dann bist du auch stark genug, um die Umwelt zu gestalten. Viele Menschen gehen los und wollen die Welt verändern, und haben sich selbst noch nicht verändert. Wenn du wirklich was verändern willst, mußt du bei dir selber anfan­ gen und sehr schnell wird deine soziale Umwelt mitziehen. Sie wird nicht unberührt bleiben von deiner persönlichen Veränderung. Und für jedes Argument, das du ma­ chen möchtest, hast du tausend­ mal mehr Gewicht, wenn es spür­ 110

bar wird, daß du selbst es in dir realisiert hast. Und dieser Verän­ derungsprozeß geht wirklich sehr schnell, wenn er wirklich aus dei­ nem eigenen Zentrum kommt. Ich kann dich, Rüdiger, zum Beispiel nicht verändern, mit irgendwel­ chen Worten, die nicht aus meiner innersten Identität ablesbar sind. Ich kann dich aber sogar ohne Worte verändern, einfach durch meine Taten, durch mein Sein, ja durch mein Unterbewußtsein. Dieses andere Sein oder Wesen an mir wird dich verändern. Das reicht dann in das ganze Univer­ sum. Der andere Weg dagegen, zuerst das Universum verändern wollen und dann zurück bis hin zum Kleinsten, bis hin zum Selbst, kann niemals funktionieren. Lutz: Was hältst du von den Millio­ nen von Menschen, die jetzt für Frieden, für Abrüstung, für Ökolo­ gie, demonstrieren? Gehen sie den falschen Weg oder welche Be­ deutung haben solche Massende­ monstrationen? AI Huang: Wenn diejenigen, die da

demonstrieren, an sich selbst die Veränderung schon vollzogen ha­ ben, dann wird diese Demonstra­ tion sehr effektiv sein. Wenn es nur eine äußere Aktion darstellt, wird sie keinen großen Einfluß haben. Ich glaube, derzeit, jetzt in den 80er Jahren, haben diese Großde­ monstrationen einen sehr großen Wert. Ich war vor kurzem auf der Riesendemonstration in New York für Frieden und es war ein wunder­ volles Erlebnis. Es war spürbar, daß diese Menschen etwas Wichti­ ges zu sagen haben, und ich glau­ be den Unterschied zu den De­ monstrationen der 60er Jahre hat jeder erkannt, auch die Polizisten, auch die Passanten, die am Rande standen und die gesamte Demon­ stration beobachteten. In den 60er Jahren war viel Aggression, Rebel­ lion, Angst und Protest zu spüren. Alle diese negativen Stimmungen und Emotionen wurden damals ausgedrückt. Und die Leute woll­ ten das Richtige mit den falschen Mitteln. Heute spricht aus diesen Demonstrationen etwas anderes.

Es ist nicht mehr diese Unreife, Unzufriedenheit mit sich selbst, sondern eine neue Hoffnung, Stär­ ke und Zuversicht sprechen aus diesen Demonstrationen für den Frieden. Es ist keine Antikriegs­ kundgebung, sondern eine proFrieden-Demonstration. Dieser Unterschied ist so wichtig, daß man ihn gar nicht genug betonen kann. Lutz: So bist du auch der Meinung, daß der wirkliche Wandel sich jetzt vollzieht und nicht in den 60er Jah­ ren, daß wir also jetzt vor dem gesellschaftlichen Veränderungs­ prozeß stehen. AI Huang: Ja, ganz sicherlich, der

Wandel ist jetzt spürbar. Er wird nicht nur beschrieben, sondern er wird gelebt und die Leute, die ihn vertreten, kommen von einem in­ nerlich gefestigten, starken und selbstsicheren Zentrum. Sie ge­ hen nicht zu den Demonstratio­ nen, um Krach zu schlagen, Putz zu machen, zu schreien und Ag­ gressionen auszuleben, wie es in den 60ern oft der Fall war, sondern sie treten für ihre Sache ein, für ihren, schon bei sich selbst vollzo­ genen Wandel. Wenn Demon­ stranten auf die Straße gehen und schreien: Verschmutzt eure Um­ welt nicht und gleichzeitig an ih­ ren Zigaretten nuckeln und die Kippen und Plastikbecher achtlos auf die Straße werfen, dann haben sie das Problem der Umwelt- und Innenweltverschmutzung noch nicht einmal bei sich selber ge­ klärt. Sie achten nicht auf die Rein­ heit ihrer Nahrung, achten nicht auf das, was sie in ihren Körper schütten, werden wahrscheinlich in ihrem Familienleben nicht auf emotionale Verschmutzungen achten und ebensowenig, was sie an geistiger Nahrung zu sich neh­ men bzw. womit sie ihr Bewußt­ sein verschmutzen. Solche De­ monstranten können uns nicht das Vertrauen geben, daß sie für eine Verbesserung der Umweltsitua­ tion eintreten werden. Sie mögen intellektuell ein Problem erkannt haben, aber sie haben weder für sich selbst noch für die Gesamtge­

sellschaft eine Lösung zu bieten, richtige Weg zur Erkenntnis, und denn sonst würden sie bewußter der ist hier im Westen ein bißchen mit sich selbst umgehen. Gerade anders als in China. Aber er ist im politischen Bereich treffen wir immer taoistisch, nämlich den Be­ viele solcher Großmäuler an, die dingungen angepaßt, um optimal bei sich selbst und in ihrem Le­ zu leben bzw. das Leben wahrzu­ bensbereich nicht das verwirkli­ nehmen. Tao heißt nichts anderes, chen, was sie nach außen hin ver­ als den Lebensstil für sich zu fin­ treten. Das gibt auch der Politikein den, der am besten für dich selbst so schlechtes Image, den schlech­ und deine Umwelt ist. Das Opti­ ten Ruf. Was wir brauchen und mum des Daseins zu finden, egal entwickeln müssen, sind politi­ wo und wann du lebst. Wenn nun sche Institutionen und Menschen, zufällig ein chinesischer Philos­ die das tun, was sie vertreten, die oph gute und richtige Worte für das leben, was sie nach außen hin das Tao gefunden hat, so heißt das versprechen. Ohne diese innere noch lange nicht, daß dies alles ist, Säuberung und Katharsis bei den das gesamte Tao ist. Genausogut im politischen Leben stehenden kann irgendein Europäer oder ein Menschen wird ein wirklicher Afrikaner für seinen Bereich das Wandel und weltpolitischer Eini­ Tao erkennen und ausdrücken. gungsprozeß niemals stattfinden. Das Tao selbst ist universell und Der Wandel muß von den Men­ nicht auf China beschränkt. schen kommen, die sich selber ge­ Lutz: In diesem Zusammenhang ändert haben. fällt mir ein, daß Rudolf Steiner Lutz: Du bringst dein Verständnis Anfang dieses Jahrhunderts durch vom Wandel aus einer östlichen den Kontakt mit einer Frau, die Tai Kultur, aus dem Taoismus und Chi tanzte, auf den Gedanken kam, dem chinesischen I Ging und Tai eine europäische Form des Tai Chi Chi. Welche Verbindungen oder zu entwickeln, die er dann EurythÜbereinstimmung siehst du in mie nannte. Siehst du ein solches westlichen Philosophien und Beispiel als eine angepaßte Form des Tao hier in Europa? Denkrichtungen? AI Huang: Als Chinese mache ich

AI Huang: Ja Eurythmie ist eine

selber diesen Wandel vom Osten zum Westen durch und mit. Du siehst, daß ich hier Tai Chi für Westler mache, ich nehme keine chinesische Musik, sondern west­ liche klassische oder gar Pop-Musik. Das ist der Rhythmus und die Musik des Westens und es geht auch damit. Im Moment sitzen wir in der Nähe der schönsten Musik für das Tai Chi, nämlich dem Oze­ an. Und der hört sich in China wie hier, in Kalifornien wie in Europa, immer gleich an. Da gibt es kein kulturspezifisches oder nationales Wellengeräusch. Es ist universell. Gerade die Ozeane verbinden den Osten mit dem Westen, den Süden mit dem Norden. Diese Verbindun­ gen sind für mich entscheidend, nicht die unterschiedlichen Orte der Welt. Heute ist das Wort Tao nicht mehr chinesisch. Es ist inter­ national, so international wie Zen. Tao heißt hier: der angepaßte,

europäische Form des Tai Chi. Steiner hat sich sehr verdient ge­ macht mit dieser Leistung, Tai Chi auf diese Weise zu europäisieren, denn damals war die in China übli­ che Form des Tai Chi für Europäer nicht verständlich oder akzepta­ bel. Tai Chi ist eben nicht nur auf eine Form, einen Stil, zu bringen, sondern kann viele Ausprägungen haben. Die reinste Form des Tai Chi kommt aus dem selbstver­ ständlichen Umgang der Bewe­ gung in Beziehung zu der Erde, dem Himmel und der Natur. Aus diesem Beziehungsgefüge entwikkelt man Bewegungsformen, und die können entstehen, wenn ver­ schiedene Formen resonieren. Steiner machte daraus die Eu­ rythmie. Ein anderer chinesischer Meister entwickelte das Tai Chi Chuan, ein spezieller Stil und eine Schule. Auch die anderen Kultu­ ren entwickelten Volkstänze und

andere Rituale. Entscheidend ist lediglich, daß der menschliche Körper in Bewegung ist, daß ein Fluß und eine Offenheit gegen­ über der Natur und den anderen Menschen darin ausgedrückt wird. Den Rest macht der Körper selber. Aus diesem Grundver­ ständnis heraus kann man dann viele Choreographien entwickeln. Aber die Choreographie, der je­ weilige Stil, die Form, ist nicht der eigentliche Tanz. Der Tanz steht über der Choreographie. Er ist rei­ ner, purer und absoluter, als es der Stil und die formelhaften Choreo­ graphien sein können. Lutz: Das gefiel mir besonders an deiner Art, Tai Chi zu lehren, daß der Inhalt über der Form steht, daß der Tanz nicht formalisiert wird, und somit sieht bei jedem Men­ schen das Tai Chi ein klein biß­ chen anders aus. Es ist nicht wich­ tig, ob der kleine Finger so und soviel Winkelgrad von der Hand absteht oder weniger. Entschei­ dend ist, die innere Energie, Kraft und Bewegung zu sehen. Das glaube ich, ist eine ganz besonde­ re Qualität, die eben nicht jeder Lehrer zu bieten hat. AI Huang: Das ist es, was ich ver­ suche, zu lehren. Die Formen sind nicht das Primäre. Die kommen von selber, wenn nur der Körper klar wird, eine innere Balance oder ein Gleichgewicht sich einstellt, das Zentrum des Körpers aktiviert ist und der Geist frei und offen wehen kann. Das alles wird sich dann im Körper ausdrücken. Der Körper selbst wird offen, frei und fließend sich bewegen. Der ge­ samte Körper wird zu einer Anten­ ne für den Rhythmus des Univer­ sums. Und auf diese Weise kommt dann die Kraft und Energie in dei­ nen Körper, in deinen Geist. Und wenn diese Antenne, dieser Kör­ per richtig eingestimmt ist, dann wirst du bemerken, daß die gesam­ te Natur, daß der Baum neben dir und das Meer vor dir in dem gleichen Rhythmus sich bewegen. Es ist ein ökologischer Tanz, den das Tai Chi ermöglicht. Die Vögel, die Schmetterlinge, die Fische, die

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Pflanzen und der Boden selbst so­ wie die Lüfte und das Universum bewegen sich in einem endlosen Tanz, und in Tai Chi werden wir Teil davon und tanzen mit. Alles, was wir über die Natur wissen müssen, drückt sich in diesem Tanz aus. Und es gibt keine besse­ re Möglichkeit, dieses Wissen zu erfahren, als selber mitzutanzen. Erst dann macht sich in unserem Körper das ökologische Bewußt­ sein manifest.

viele psychisch oder psychosoma­ tisch Kranke durch das Tai ChiTanzen geheilt?

AI Huang: Oh, eine große Anzahl von Leuten haben durch das Tai Chi wieder zu sich selbst gefun­ den, ihr Zentrum gefunden. Die Katharsis, die Selbstreinigung, ist wohl das häufigste Therapiesta­ dium, das anfangs beim Tai Chi auftritt. Probleme kommen hoch und werden artikuliert oder blei­ ben auch im diffusen Raum, aber Lutz: Tai Chi hat ja aufgrund dieser durch das kontinuierliche Tai Chipositiven Charakteristiken thera­ Training werden auch unbewußte peutischen Wert und wird ja dafür Probleme mit der Zeit gelöst. oft auch eingesetzt. Was hältst du, Lutz: Gegenüber solchen Klein­ AI, von diesen Therapieaspekten? gruppen oder der Einzelarbeit in AI Huang: So wie bei dem kosmi­ Tai Chi machst du ja auch Massen­ schen Tanz, dem Rhythmus des veranstaltungen, wo du mit hunUniversums alles anstrengungslos derten oder tausenden von Men­ verläuft, so sehe ich es auch mit schen in einem Saal, einer Kon­ den therapeutischen Elementen zerthalle, Tai Chi tanzt. Was für des Tai Chi. Es geschieht wie ein Gefühl ist es denn, in solchen selbstverständlich, natürlich und großen, ja anonymen Massen Taiohne großen Aufwand. Ich finde Chi vorzuführen? oft, daß in Therapien der beschrei­ bende Teil übertrieben wird. Man AI Huang: Ja es ist natürlich eine macht sich zuviel Sorgen, was wie andere Kommunikation, ein ande­ auf welche Weise wirkt und sieht rer Stil notwendig. Aber die Essenz dann nicht mehr die Selbsthei­ ist immer dieselbe. Wir geben ja lungskräfte der Natur, des Univer­ Konzerte, wo ich oft zusammen sums, der Welt, die auch wirken, mit Musikern oder Orchestern auf wenn sie nicht beschrieben wer­ der Bühne Tai Chi vortanze, und den. Tai Chi tut gut. Dies zu wis­ immer ist ein Teil der Vorstellung, sen, reicht eigentlich erst einmal daß wir alle zusammen, daß der aus. Wenn jemand dann fragt, ja, ganze Saal, ein bißchen Tai Chi wie und warum und welche einzel­ macht, selbst wenn es 10000 Men­ nen Effekte hat das denn, dann schen sind. In dem Moment, wo kommt ein gar nicht so sinnvoller alle gemeinsame Tai Chi-Beweintellektueller Disput zustande, gungen machen, spürt man eine der mit der Heilung selbst nichts Intimität, als ob es nur Wenige wä­ zu tun hat. Beim Tai Chi verwen­ ren. Diese Nähe der Menschen den wir Metaphern aus der Natur: kommt ganz allein durch die Be­ Feuer, Erde, Wind, Wasser, und wegung, durch das gemeinsame diese stehen für viele Emotionen. Gefühl, in einem Energiefluß sich Feuer zum Beispiel kann für Fru­ zu bewegen, und es waren die strationen, Aggressionen, früh­ schönsten Augenblicke meines kindliche Konflikte und sonstige Lebens oder meiner professionel­ Probleme stehen. Das ist völlig len Tätigkeit, bei Massenveranstal­ gleichgültig, wie wir es benennen. tungen dieses Gefühl zu spüren. Entscheidend ist, daß dieses Feuer Lutz: Tai Chi hat ja viel mit Bewußt­ ausgetanzt wird. Daß es sich in der seinsentwicklung, Bewußtseins­ Bewegung ausdrückt und fließt bildung, zu tun. Welche Be­ und damit bewältigt wird. deutung ordnest du eigentlich sel­ Lutz: Wie sind denn so deine Er­ ber solchen höheren Bewußt­ fahrungen mit dem Erfolg des Tai seinsstufen zu. Wie bezieht sich Chi als Therapie. Hast du schon das auf den Tanz des Tai Chi?

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AI Huang: Aus der Erkenntnis her­

aus, daß alle lebenden Dinge in Bewegung sind und einen Tanz ausführen, daß die Blumen, die Tiere, die Erde, der Kosmos, tanzt, aus dieser Vorstellung heraus kann ich mir gar kein höheres Be­ wußtsein denken, als in diesem Tanz mitzuspielen. Und wenn ich in diesem Tanz der Natur partizi­ piere, dann bin ich im Zustand höchster Wahrnehmung und könnte es kosmisches Bewußtsein nennen. Der Tai Chi-Tanz ermög­ licht diese Form von Bewußt­ seinserweiterung auf sehr einfa­ che Art und Weise. Wir brauchen also keine Drogen einzunehmen, uns nicht zu Tode zu hungern oder in die Einsamkeit der Wüste oder der Berge zurückzuziehen. Der universelle Tanz des Tai Chi ist immer und an jeder Stelle aufzu­ greifen; er ist allgegenwärtig. Lutz: Ist es eigentlich ähnlich den schamanischen Tanzritualen an­ derer Kulturen? Huang: Weitestgehend. Die Form ist anders, aber gemeint ist dasselbe. Ich habe ja auch Anthro­ pologie studiert und mich deshalb mit den Schamanen und ihren Tänzen beschäftigt. Auch die Schamanen suchen nur die Ver­ bindung zu der Natur, dem alles verbindenden Muster, und ihre Tanzrituale sind dazu der Weg. So­ gar einige Formen überschneiden sich oder sind identisch mit Tai Chi-Bewegungen. Es tauchen im­ mer wieder Bewegungen auf wie der Griff nach dem Himmel, die Bewegung zum All, dann die Sen­ kung zum Boden hin, zur Erde, und das Greifen, Berühren, der umgebenden Natur. Und wenn im­ mer du das machst, bist du sofort in einem anderen Stadium, in ei­ nem anderen Bewußtseinszu­ stand. Dein Verhältnis zur Umwelt hat sich verändert. Das ganze Uni­ versum öffnet sich, wenn man sich in diese Elementarbewegungen einbringt. Das Universum spürt die Resonanz in deiner Bewegung und du spürst die Resonanz des Universums in deinem Körper. AI

Norbert R. Müllert

Yoga Auf dem Weg zu einer Veränderung von Körper und Bewußtsein

Es fing ganz harmlos an. Wie schon oft hatte ich bei einem mit mir befreundeten Künstlerehepaar Unterschlupf gefunden. In ländli­ cher Umgebung, mehr noch in ge­ meinsamen Unternehmungen und Gesprächen wollte ich für ein paar Tage Abstand gewinnen. Bei die­ sen Besuchen schlief ich gewöhn­ lich länger und erschien erst ge­ gen neun Uhr zum Frühstück. Ich weiß nicht warum, doch eines Mor­ gens trieb es mich bereits kurz nach sieben aus dem Bett. Unter­ nehmungslustig polterte ich ins Atelier, um aber sofort erschrokken innezuhalten: Mein Freund, der Künstler stand auf dem Kopf, die Beine reglos nach oben ge­ streckt. Meine Anwesenheit schien ihn überhaupt nicht zu stö­ ren; ratlos zog ich mich schnell wieder zurück. Nach diesem Erlebnis war natür­ lich meine Neugier groß, was es mit dem Kopfstand auf sich hatte. Während des Frühstücks erzählte mein Freund, daß er seit Jahren morgens einige Yoga-Übungen mache. Darunter seien für ihn Kopfstand und vollkommene Ent­ spannung am Ende die wichtig­ sten. Seine Spannkraft, Beweg­ lichkeit, Schaffensfreude, ja, sein gesamtes Wohlbefinden mit nun über 70 Jahren verdanke er weit­ gehend Yoga. Er kenne kein ande­ res so wohl durchdachtes und ge­ waltloses System von Körper-Hal­ tungen, Atemtechniken und medi­ tativen Übungen, die sowohl zur ganzheitlichen Gesunderhaltung betrügen als sich auch harmoni­ sierend auf Körper, Seele und Geist auswirkten. Ich erfuhr, daß sich die Yoga-

Lehre eine einfache Erkenntnis zu­ nutze mache: nämlich die Reak­ tion, die beim Entspannen bzw. Loslassen nach einer Anspannung auftritt. Um zu verstehen, was er meinte, ließ er mich die rechte Handinnenfläche anschauen und fragte: Welche Farbe hat sie? Wie fühlt sie sich an? Dann mußte ich die Finger, so fest es ging, zu einer Faust zusammenballen und die Spannung 30 Sekunden halten. Wirklich, nach dem Öffnen, hatte sich die Haut leicht gerötet, die Hand fühlte sich wärmer an, war besser durchblutet! Er erklärte zu dieser Verände­ rung, es sei zwar bekannt, daß Be­ wegung eine erhöhte Durchblu­ tung schaffe, aber kaum bekannt sei, daß sich das Halten einer Spannung noch günstiger be­ merkbar mache. Die Blutzufuhr steigere sich stark. Zu beachten sei dabei, solche Anspannungen langsam und bewußt vorzuneh­ men. Nachdem sie beispielsweise eine Minute lang gehalten worden seien, müßte in den entspannten Zustand vorsichtig zurückgekehrt und in ihm auch etwa eine Minute zur Erholung verharrt werden. Was in den Gefäßen, Muskeln, Bändern, Organen passiert, be­ schrieb er folgendermaßen: Durch Anspannen, Abknicken oder Ver­ drehen eines Körperteils wird die Blutzufuhr zunächst gedrosselt, um beim Lösen und Entspannen enorm anzuschwellen. Der Vor­ gang läßt sich mit der Biegung eines träge dahinfließenden Flus­ ses vergleichen. In ihr lagert sich mit der Zeit allerlei Unrat ab. Wird nun der Fluß gestaut, und der Stau dann plötzlich entfernt, schwemmt das hineinschießende Wasser allen Schmutz fort. Ähnli­ ches geschieht in den Gefäßen. Die Stoffwechselschlacken wer­ den durch das plötzlich wieder hineinströmende Blut mit wegge­

rissen. Diese „Säuberung“ trägt zur Regeneration des betreffen­ den Organs bei, was wiederum auf den ganzen Organismus positiv ausstrahlt. Das Prinzip des Anspannens, Haltens und Loslassens gilt auch für Atemkontrolle, Kon­ zentration und Meditation, jedoch hier mehr in übertragenem Sinne. Um ehrlich zu sein, mir leuchte­ ten zwar die Erklärungen für die Reaktionen des Körpers auf YogaStellungen ein, doch insgesamt blieb mir die Materie fremd. Gleichwohl hatte mich das Ganze beeindruckt. Was sich jedoch bei mir besonders festsetzte, war der Gedanke: Den Kopfstand müßtest du auch schaffen!

Die Annäherung Wieder zuhause, kaufte ich mir ein Yoga-Buch und fing an, laut Pro­ gramm täglich zu üben. Das ge­ lang eher schlecht als recht: Mein Körper, Mitte 30, ächzte und stöhnte unter den ungewohnten Drehungen, Dehnungen, Beugun­ gen, Anspannungen. Hinzu traten viele Kleinigkeiten, die beim Ein­ nehmen und Halten der Stellun­ gen zu beachten waren, wie Kopf­ oder Handhaltung oder die Kon­ zentration auf einen bestimmten Körperteil. Ich glaubte, niemals auch nur annähernd die Haltung einnehmen zu können, die im Bu­ che abgebildet war. Damals wußte ich nicht, daß im Yoga jedes Indivi­ duum sein eigenes Maß verkörpert und es letztlich um das persönli­ che Wohlbefinden in der einge­ nommenen Position geht. Obwohl ich jeden Tag die vorge­ gebene Übungsfolge hinter mich brachte, wurde ich zunehmend unzufriedener. Dabei kann ich nicht sagen, daß ich mich danach schlecht fühlte, aber was mir fehl­ te, war die rechte Motivation, auch der Spaß. Bald empfand ich das Ganze als eine Art Fron, deren Sinn und Zweck mir nur ver­ schwommen klar war. So wurde mein Üben nachlässig und mecha­ nisch, dann unregelmäßig, und schließlich hörte ich auf. Trotzdem, irgendwie hatte mich 113

der Yoga doch gepackt, denn ich beschäftigte mich weiter mit ihm vor allem durch Lesen von Bü­ chern und Besuchen von Vorträ­ gen. So wurde mir langsam das Yoga-System verständlich. Ich lernte, daß sich Yoga grob in zwei große Bereiche unterteilen läßt:

1. in Hatha-Yoga (körperlicher Yo­ ga), an dem ich mich versucht hat­ te und der sich überwiegend auf die Physis konzentrierte und 6. Dharana 2. in Raja-Yoga (geistiger Yoga), der die geistig-seelische Seite des Menschen zu entwickeln trachtet; als Vorbedingung für diesen Yoga wird von vielen Autoritäten ein ge­ sunder Körper und damit das Prak­ 7. Dhyana tizieren von Hatha-Yoga ange­ sehen. Wie vielschichtig das Yoga-Ge­ biet ist, wie ethische Verbote und Gebote, körperliche und geistige Übungen ineinanderfließen und aufeinander aufbauen, zeigt Patanjali, ein Yogi aus dem zweiten Jahrhundert vor Christi, in seinem achtstufigen Yoga-Pfad. Der Schüler unterwirft sich hier ethi­ schen und moralischen Regeln, übt Körperhaltungen und das rich­ tige Atmen, um sich dann von Stu­ fe zu Stufe immer mehr mit seinen Gedanken aus der Außenwelt zu­ rückzuziehen und durch Konzen­ tration, Meditation und Kontem­ plation einszuwerden mit seinem Betrachtungsgegenstand. Die Stufen im einzelnen:

Norbert R. Müllert. Auseinander­ setzung mit den Grenzen der In­ dustriezivilisation und den Chan­ cen für vom einzelnen selbstbe­ stimmte Lebens- und Technikfor­ men - Lehrtätigkeit an der Tech­ nischen Universität Berlin (Ge­ sellschaftliche Implikationen der Informatik), an Volkshochschu­ len (u.a. Zukunft der Arbeit/Alter­ natives Leben) und Yoga-Kurse u.a. für Studenten sowie Veran­ staltung von Zukunftswerkstät­ ten - größere Publikationen als Autor bzw. Herausgeber: „Der sanfte Weg - Technik in einer neuen Gesellschaft“ (DVA), „Da­ tenbanken und Datenschutz Bürger in automatisierten Infor­ mationssystemen“ (TUB), „Enzyklopödie der Zukunft - Eine An­ stiftung zur praktischen Zu­ kunftsgestaltung“ (iva), „Sanfte Technik“ (Rowohlt), „Alternati­ ves Leben“ (Signal), „Daten­ schutz“ (BMP), „Zukunftswerk­ stätten“ (Hoffman und Campe), „Schöne elektronische Welt“ (Rowohlt).

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8. Samadhi

ßenwelt - Aufmerk­ samkeit nach innen gerichtet Konzentration aut einen Punkt-Auf­ merksamkeit auf einen einzigen Ge­ genstand Meditation - Körper, Geist und Seele auf einen Gegenstand gerichtet Selbsterkenntnis Zustand geistiger Erleuchtung und vollkommener Glückseligkeit

Im engeren Sinne werden die Stu­ fen der Asanas und das Pranayama zum eigentlichen Hatha-Yoga gezählt, im weiteren Sinne gehö­ ren auch die Stufen bis zum Sa­ madhi dazu, denn das Erreichen des Stadiums der totalen Versen­ kung bedarf geistiger Übungen, die ohne sittliche, körperliche und atemgemäße Vorbereitung nicht auskommen. Dieser Zusammen­ hang wird in einem alten YogaText, der Goraksha Samhita, so ausgedrückt: „Hatha-Yoga ist die 1. Yama sittliche Ausrich­ Leiter, die diejenigen hinaufstei­ tung durch gen, die in die höheren Gefilde des - Gewaltlosigkeit königlichen Weges (Raja-Yoga) - Wahrheitsliebe gelangen möchten.“ - Nicht-Stehlen Bei meiner Auseinandersetzung - Enthaltsamkeit mit der Yoga-Lehre begriff ich all­ - Begierdelosigkeit mählich, daß es bei Yoga um den 2. Niyama ganzen Menschen in seinen Le­ geistige Ausrich­ bensumständen geht. Sich körper­ tung durch lich wie moralisch-ethisch zu ver­ - Heinheit vollkommnen, bedeutete nur ein - Zufriedenheit erster Schritt auf dem Weg zur - Selbstzucht geistigen Vervollkommnung. Da­ - Studium mit umfaßt Yoga für den, der ihn - Gottesfurcht ernsthaft betreibt, das ganze Le­ 3. Asana Haltungen - Reglo­ ben, oder nach Sri Aurobindo, ei­ sigkeit des Körpers nem bedeutenden Yogi und Phi­ in Sitz- und Körper­ losophen dieses Jahrhunderts: Al­ haltungen les Leben ist Yoga. Auf diesem Hintergrund begann mein zweiter 4. Pranayama Atemkontrolle Anlauf. - Lehre vom Atem und Atembe­ wußtsein 5. Pratyahara Zurückziehen der Sinne von der Au-

Das Üben ln meinem Verlangen nach Anlei­ tung bewahrheitete sich eine alte . Yoga-Weisheit, daß sich ein Guru, ein Meister oder Lehrer finde, wenn der Schüler reif bzw. bereit sei. Was lag näher, als meinen Künstler-Freund aufzusuchen und mit ihm zusammen einige Zeit zu üben. Unsere morgendliche Yoga­ stunde wurde für mich zum Erleb­ nis. Zwischen einem anfänglichen Sich-Sammeln und einer abschlie­ ßenden meditativen Betrachtung lagen Reinigungs-, Atmungs- und Körperübungen sowie die voll­ kommene Entspannung. Die ruhi­ ge Art, mit der mein Freund mich in die jeweilige Stellung hineinführte und mir ihre Eigenheiten erläuter­ te, halfen mir, mich in sie hineinzu­ fühlen und bewußt ihre Ausstrah­ lung auf den Körper zu erleben. Gleiche Übungen, die mir zuvor schwergefallen waren und mich gelangweilt hatten, gelangen jetzt und zeigten überraschende Wir­ kungen. Ich begann zu erahnen, welche Kraft in der Yoga-Lehre steckt. Um zu veranschaulichen, was mit ganz einfachen Mitteln ge­ schah, der Umriß einer solchen Stunde: Zu Anfang setzten wir uns drei bis fünf Minuten still mit ge­ schlossenen Augen hin, Wirbel­ säule aufrecht und sammelten uns, bereiteten uns mit allen unse­ ren Sinnen auf die Stunde vor. Wir fingen mit Reinigungsübungen an; damit der Atem frei fließen konnte, atmeten wir beispielswei­ se mehrmals kräftig durch ein Na­ senloch aus - bei gleichzeitigem Vorsinkenlassen des Oberkörpers. Erst nachdem die Nasengänge von schleimigen Rückständen gerei­ nigt waren, kamen Atemübungen - wie rhythmisches Bauchatmen oder schnelles, schnupperhaftes Aus- und Einatmen, die sogenann­ te Bhastrika. Nach dem Abklingen der Atemwirkungen begannen wir mit den Asanas, den eigentlichen Körperübungen. Meist führten wir erst im Stehen Vorwärts-, Rück­ wärts- und Seitbeugen durch, die

oft bis zu einer Minute in der äu­ ßersten Beugung gehalten wur­ den. Die anschließende Entspan­ nung war wunderbar, denn ich merkte, wie das Blut wohltuend zurückpulsierte. Auf diese Weise etwas gelenkiger geworden, nah­ men wir Haltungen aus der Rükkenlage ein - wie z.B. die Kopfzur-Knie-Stellung, ein Vorbeugen des Oberkörpers auf die Knie hin­ unter und die Gegenbewegung, den Fisch, eine Rückwärtsbeuge der Wirbelsäule, bei der die Brust hochgewölbt und der Kopf fest in den Nacken gedrückt wird, so daß der Körper in der Endstellung nur noch auf dem Hinterkopf, dem Ge­ säß und den Beinen ruht. Und wei­ ter ging es z. B. aus der Bauchlage heraus mit der Kobra, wobei Kopf und Oberkörper so weit wie mög­ lich vom Boden abgehoben wer­ den, oft gefolgt von der Heu­ schrecke, einer Ausgleichshal­ tung, welche das Hochheben der gestreckten Beine und des Bekkens erfordert. Nach dem Halten der einzelnen Stellungen, in denen möglichst normal geatmet wurde, entspannten wir uns jeweils, um dem Organismus Ruhe zur Erho­ lung zu gönnen. Die Übungsfolge wurde mit dem Kopfstand abge­ schlossen, von mir mit dem Schul­ terstand und in die vollkommene Entspannung übergeleitet, zehn bis 15 Minuten lang, während der nach und nach alle Muskeln gelokkert und losgelassen werden, ja sogar versucht wird, die Gedanken zu beruhigen. Wir beendeten die Stunde häufig, indem wir uns nochmals aufrecht hinsetzten und fünf bis zehn Minuten meditierten, z.B. über das selbsttätige Kom­ men und Gehen des Atems, über ein Bild, ein Wort oder einen Satz. Schon nach dem ersten gemein­ samen Üben fühlte ich mich selt­ sam beschwingt und leicht, ener­ giegeladen und heiter. Dieses Wohlgefühl steigerte sich in den folgenden Tagen. Es ist schwierig, mein Empfinden in Worte zu fas­ sen: Mir war, als ob ich Bäume ausreißen könnte, als ob ich auf Wolken ginge, alsob ich mit Leich­ tigkeit so hoch wie ich wollte zu

springen vermochte. Und das nach 30- bis 45-minütigem KörperYoga. Ich fühlte, daß ich einen für mich richtigen Weg betreten hatte. Natürlich gab es in den näch­ sten Monaten Rückschläge, wäh­ rend der ich allein und in kleinen Gruppen vornehmlich in die kör­ perliche Seite des Yoga tiefer ein­ drang. So wollten und wollten Hal­ tungen nicht gelingen, Zerrungen traten auf, Unlustgefühle äußerten sich. An solchen Tiefpunkten erin­ nerte ich mich der Warnung mei­ nes Freundes: Nichts im Yoga er­ zwingen zu suchen, sondern es geschehen zu lassen, beispiels­ weise das Herunterbringen der Handflächen auf den Boden; es seien die kleinen, fast unmerkli­ chen Fortschritte, die plötzlich zu größeren würden, wenn wir es gar nicht erwarteten; außerdem würde der Körper anfänglich gegen das Ungewohnte, seinen Trott rebellie­ ren, gegen seine grundlegende Regenerierung und Aktivierung; es sei zu empfehlen, in solchen Problemzeiten für einige Tage mit dem Üben auszusetzen; der Wie­ deranfang danach geschehe desto freudiger. Derartige Krisen gingen in der Tat schnell vorüber und wur> den allmählich seltener. Yoga war ein Bestandteil meines Lebens ge­ worden.

Die Veränderung Wenn ich zurückdenke, faszinier­ ten mich die spürbaren, wohltuen­ den Wirkungen auf meine Physis, auf meinen ganzen Organismus, die mich für weitergehende YogaErfahrungen öffneten. Was ich bei den ersten Versuchen als Fron empfunden hatte, das genaue Be­ achten der Anleitungen, das Mit­ denken und die Konzentration beim Einnehmen und Halten der Asanas, erschien nun in einem an­ deren Licht! Disziplin, Regeln und Auflagen für den Schüler waren notwendig, um zum vollen Erleben zu gelangen, um schrittweise Kör­ per, Geist und Seele so zusam­ menzubringen und anzujochen Yoga bedeutet übersetzt Joch -, daß sie sich zu einem ausgewoge­ nen Ganzen entwickeln können. 115

Wer Yoga kennenlernen will, steht vor der Schwierigkeit, ei­ nen Lehrer zu finden, der nicht nur Techniken vermittelt, son­ dern es auch versteht, sich in seine Schüler hineinzufühlen und auf sie einzugehen. Hier helfen nur das Ausprobieren und das Folgen der eigenen Gefühle, d.h. vielleicht den Lehrer zu wechseln, weil er für die eigenen Bedürfnisse unzu­ gänglich geblieben ist. Einen gewissen Standard an Ausbil­ dung bieten die im ,Berufsver­ band Deutscher Yogalehrer e. V.' (Scheckertstr. 38/8702 Zell) zusammengeschlosse­ nen Lehrer; dort kann hinge­ schrieben werden, um An­ schriften von Yoga-Lehrern in Wohnortnähe zu erfahren. Ich möchte noch drei Taschenbü­ cher erwähnen, durch die ein erstes Hineinfinden in die Yo­ ga-Lehre und Üben möglich wird, die unterstützend helfen, jedoch nur teilweise einen Leh­ rer ersetzen können. R. Hittleman: Yoga - Das 28Tage-Programm (Heyne), Mün­ chen 1977 - Ein sehr reichhal­ tig bebildertes Anleitungs­ buch, das schrittweise den Übenden zum Gelenkig werden und dann zu ausgefeilten Yo­ ga-Stellungen führt. A. v. Lysebeth: Yoga - Klassi­ sche Hatha-Übungen für Men­ schen von heute (Heyne), Mün­ chen 1977 - Eine gute Einfüh­ rung in die Yoga-Lehre und ei­ ne klare Beschreibung in Wort und Bild einer klassischen Fol­ ge von 12 Yoga-Übungen, die im einzelnen auch in ihren Wir­ kungen erklärt werden. AS. Hoare: Yoga-Geschichte, Philosophie und ein komplet­ tes Übungsprogramm (Otto Maier), Ravensburg 1980 - Ein Buch, das anschaulich in den Yoga, seine geschichtliche und philosophische Bedeu­ tung bis heute und für uns als Europäer hinein führt, um dann ausführlich eine Reihe YogaHaltungen darzustellen. 116

Mein Yoga-Weg hatte mit dem Bemühen begonnen, Körper und Atem beherrschen zu lernen. Nur am Rande bemühte ich mich ein wenig um Konzentration und Me­ ditation; ebenso spielten die mora­ lisch-ethischen Grundsätze eine untergeordnete Rolle. Aber schon diese recht einseitige Näherung, das Sich-Herantasten an die Pra­ xis des Hatha-Yoga und des At­ mens erweiterten meinen Erfah­ rungsraum beträchtlich und lös­ ten tiefgreifende Veränderungen aus, die zwar von Körperbetäti­ gungen ausgingen, doch bis in die Psyche hineinreichten. Für die Außenwelt sichtbar ver­ besserte sich meine Gesundheit. Eine Reihe Quälgeister, die mein Wohlbefinden beeinträchtigten, verschwanden. So hörten die leichten Kopfschmerzen auf, ver­ ursacht durch zu niedrigen Blut­ druck, die ich mit Kaffee und gele­ gentlich mit Tabletten bekämpft hatte. Auch mein nächtliches Zäh­ neknirschen versiegte nach und nach; viele Jahre lang hatte es mich durch Gereiztheit, Zahnschä­ den und -schmerzen belastet und die Ärzte ratlos gelassen. Eben­ falls kenne ich inzwischen keine Rückenschmerzen mehr, die mich zuweilen nach langem Sitzen hin­ ter der Schreibmaschine plagten. Außerdem normalisierten sich Stuhlgang und Gewicht. Griff ich früher bei Unpäßlichkeiten wie Er­ kältungen oder Kopfschmerzen manchmal nach Tabletten, so ha­ be ich seit Jahren keine mehr be­ nötigt. Erstaunlich ist, daß ich heu­ te kaum noch anfällig bin gegen­ über Krankheiten. Meine Umge­ bung kann verschnupft oder vergrippt sein, die Bazillen scheinen mich nicht zu berühren - und wenn, dann klingen höchstens die Krankheitssymptome an, ohne sich durchsetzen zu können. Alles in allem genommen kommt es mir so vor, daß Körperto­ nus und Elastizität besser sind als mit zwanzig Jahren. Ich fühle mich wohl frisch - und das den ganzen Tag über. Wenn andere, oft viel Jüngere, bei aufreibenden Arbei­ ten oder Diskussionen merklich

abschlaffen, bin ich noch voll da. Ich verstehe heute den Ausspruch eines Yogi, der einmal äußerte: Wer ernsthaft Yoga treibe, bekäme in seinem Leben nur zweimal ei­ nen Arzt zu Gesicht, einmal zum Beurkunden der Geburt und ein­ mal beim Ausstellen des Toten­ scheins. In der Anfangszeit war mein Or­ ganismus mehrere Monate lang im Umbruch, in einer Art Regenerationsund Verjüngungsphase. Diese Veränderungsvorgänge wurden wesentlich durch die kon­ zentrierte Aufmerksamkeit beim Üben beeinflußt. War ich zerstreut oder mit meinen Gedanken woan­ ders, schwächten sich die Wirkun­ gen merklich ab. Dagegen konnte ich, wenn ich voll dabeiwar, mei­ nen Körper, die Muskelstränge und Gelenke, die inneren Organe und die Atemräume bewußt spü­ ren. Es schien mir, daß sich Den­ ken und Fühlen zu einer durch und durch gehenden Kraft miteinander verbanden. Rückwirkungen auf mich, meine Gesamtverfassung, meine Lebensumstände blieben nicht aus. Es begann damit, daß der Kör­ per Bedürfnisse anmeldete, die ich zuvor niemals so klar wahrgenom­ men hatte. Er verlangte nach ande­ rer Nahrung, nach mehr Frischem, nach Gemüse und Obst. Gleichzei­ tig verlor ich die Lust an Fleischund Wurstwaren. Auch das Inter­ esse an Alkohol schwand. Nicht, daß ich Vegetarier oder Abstinenz­ ler wurde, doch der Fleisch- und Alkoholgenuß verminderten sich ganz von alleine auf ein Minimum, das für meine Ernährung kaum noch von Bedeutung ist. Langsam, über mehrere Jahre hinweg verän­ derten sich meine Eßgewohnhei­ ten. Heute beginnt der Tag mit einem Vollkornbreifrühstück, be-, reichert um etwas Honig und Früchte der Jahreszeit. Überhaupt machen naturbelassene Lebens­ mittel einen großen Teil meiner Ernährung aus - z. B. viel Obst und Gemüse, aber auch Vollkornpro­ dukte, Reis, Nüsse und Samen. Parallel zu den körper- und er­ nährungsbedingten Umwälzun­

gen entwickelte sich bei mir eine neue Einstellung zum Leben und zu meiner sozialen Umgebung. Meine Persönlichkeit, mein Wesen wandelte sich zum Versöhnlichen hin. Ich lernte zu lächeln. Trauri­ gen Sachverhalten versuchte ich, eine positive Seite abzugewinnen. Zusehends wuchs mein Optimis­ mus. Was mich früher aufregte und oft bis in den Schlaf hinein verfolgte, zum Beispiel ins Persön­ liche gehende Auseinanderset­ zungen oder Angriffe, dem begeg­ ne ich heute gelassen. Unvorher­ gesehene Ereignisse finden mich ruhig überlegend, ohne Hast, trotzdem aktiv. Ich bin gesetzt und damit stärker geworden. Gewis­ sermaßen haben die Übungen mein Leben entkrampft und ent­ spannt. Ich fühle mich mit mir selbst im Einklang und so fällt es mir leichter, mit Kollegen, Bekann­ ten, Nachbarn, Freunden jederzeit freundlich umzugehen. Mir ist zu­ mute, als ob ich auf einer Anhöhe stände und von dort herabschaue - mit Abstand auf mich und die Menschen, mit denen ich zu tun habe. Wenn ich es nicht selbst erlebt hätte, ich hätte es nicht für mög­ lich gehalten, was solche Körperü­ bungen bewirken können. Hier be­ stätigt sich, daß Körper und Geist einander bedingen, daß erst die körperlich-seelisch-geistige Ganz­ heitlichkeit den Menschen, das Menschliche hervorbringt. Diese Einheit erschließt eine große Re­ serve an Energie und Kraft, die es erlauben, durch geduldiges, ein­ fühlsames Zuhören und Verstehen anderen gerechter und aufmerk­ samer zu begegnen. Natürlich vollziehen sich solche Veränderungen sacht und unauf­ fällig. Erst Bekannten, die mich lange nicht gesehen hatten, fiel mein anderes Verhalten, meine ge­ wandelte Sicht auf, indem sie plötzlich die Unterhaltung unter­ brachen und ausriefen: „So kenne ich dich gar nicht!" Zu den Zusam­ menhängen, die zwischen körper­ licher und geistiger Entfaltung be­ stehen, bemerkte der Psychoana­ lytiker C. G. Jung: Für ihn bedeute­

ten die vielfältigen, rein körperli­ chen Prozeduren des Yoga auch eine psychologische Hygiene, wel­ che gewöhnlichen Gymnastikund Atemübungen dadurch über­ legen sei, daß sie nicht bloß me­ chanisch und verwissenschaft­ licht zustandekommt, sondern sich zugleich philosophisch be­ gründet; denn beim Training der einzelnen Körperteile ergebe sich eine Verbindung mit der gesamten geistigen und seelischen Wesen­ heit des Menschen. Das Besitzergreifen und Durch­ dringen des ganzen Menschen ist das Herausragende am Yoga. An mir stelle ich fest, nachdem ich gut sechs Jahre überwiegend körper­ lich geübt habe, daß ich nun im­ mer mehr zur Meditation dränge. Hier wird die Langsamkeit des Voranschreitens erkennbar, das sich nicht erzwingen läßt, sondern das sich ereignet. Yoga verlangt Diszi­ plin, möglichst tägliches Üben und Mäßigkeit in allem. Er ist die Suche nach dem Leben im Ausgleich mit sich selbst und der natürlichen wie sozialen Umwelt. Ihm sind alle Ex­ treme fremd, weder Asketentum noch Ausschweifung passen zu ihm. Der Schüler lernt allmählich, seinen Yoga-Weg zu finden, be­ gleitet von Fehlern und Sackgas­ sen, bis er das für ihn Richtige entdeckt hat. Es gibt soviele YogaAusprägungen wie es Yogis gibt. Was sie jedoch gemeinsam haben, sind die Wurzeln, die sittlichen Verhaltensmaßregeln und die kör­ perlichen Haltungen sowie das Streben nach einer Vervollkomm­ nung im Geistigen wie im Mensch­ lichen. Deshalb läßt sich Yoga auch nicht aus Büchern erlernen. Ob er zum einzelnen paßt oder nicht, muß jeder selbst ergründen. So wie ich Tee nur schmecken kann, wenn ich ihn trinke, so muß ich Yoga praktizieren, um seine Bedeutung für mich zu erfahren. Yoga weist eine Möglichkeit zu mehr Ausgeglichenheit und Zu­ friedenheit im Leben. Jeder muß für sich herausfinden, ob er sein Weg sein kann

Rüdiger Lutz hat die in diesem Öko-Log-Buch dargestellten Kör­ pertherapien und Bewußt­ seinsforschung „am eigenen Lei­ be“ erfahren. Insbesondere in Kalifornien und anderen speziel­ len Orten der USA lernte er die „ganz“ neuen und auch alten ver­ gessenen Praktiken der Körper­ arbeit kennen. Der Zugang zu den asiatischen Formen und Weltbil­ dern war ihm dadurch erleichtert, daß er schon als junger Schüler ein aktiver Judoka war und mit diesem Training vieles übte, was in den heutigen Methoden der humanistischen Psychologie ei­ nen bedeutsamen Inhalt dar­ stellt. Er trägt den schwarzen Gürtel im Judo und versucht nach längerer „intellektualisierender‘ Pause die Synthese von geistigei und körperlicher Arbeit innerhalb der von ihm konzipierten Zu kunftswerkstätten herzustellen.

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Rüdiger Lutz

Die EsalenErfahrung „Esalen, das ist nicht nur ein Ort, sondern ein Bewußtseinssta­ dium.“ So steht es in dem halbjähr­ lich erscheinenden Katalog des Esalen-Institutes von Big Sur/Kali­ fornien. Wer mit Psychotherapie oder humanistischer Psychologie zu tun hat, stößt in irgendeinem Zusammenhang immer auf das Esalen-Institut. Sowohl die Ge­ stalt-Psychologie als auch Encounter-Gruppentherapie und vie­ le andere, heute übliche Methoden der Psychotherapie, wurden im Esalen-Institut entwickelt oder we­ nigstens entscheidend mitgeprägt. Als ich 1978 zum erstenmal nach Esalen kam, so war das recht zufäl­ lig. Als Student der Universität von Kalifornien in Berkeley wollte ich mich mit einem meiner Professo­ ren treffen, und zwar mit Gregory Bateson, der für meine system­ theoretischen und ökologischen Arbeiten wichtig war, so wenig­ stens sagte mir mein Advisor. Und Gregory Bateson hielt sich nun mal die meiste Zeit in Esalen auf. Also fuhr ich die schöngelegene Highway Nr. 1 von San Francisco runter nach Big Sur, das ungefähr auf halber Strecke zwischen San Francisco und Los Angeles liegt. Einmalig gelegen zwischen dem Pazifik und den Santa Lucia-Bergen, liegt Esalen in einer geschützten Bucht. Bekannt ist dieser Ort schon länger als es das EsalenInstitut gibt wegen seiner heißen Schwefelquellen. Als Bad und Mo­ tel wurde es schon vor dem Zwei­ ten Weltkrieg berühmt. Insbeson­ dere als die Highway 1 gebaut wur­ de, um das Jahr 1938 herum, be­ deutete dies den Durchbruch für den Esalen-Ort. Besitzer dieses Gebietes war und ist die Murphy-Familie. Sie kauften schon 1910 dieses schöne 118

Fleckchen Erde und bauten dann mehrere Anlagen und Häuser, die auch heute noch im Esalen-Institut stehen. Als Gründer des EsalenInstituts - wie es heute besteht gelten Michael Murphy und Ri­ chard Price, die sich als Studenten der Stanford-Universität in einem Kurs über asiatische Studien tra­ fen. Inmitten der unruhigen Jahre der Studentenbewegung - Anfang der 60er Jahre - begannen Murphy und Price darüber nachzudenken, welcher innere Wandel dem äuße­ ren angestrebten Wechsel ent­ sprechen könnte. Beide sahen die Widersprüche der Verbalakroba­ ten innerhalb der Studentenbewe­ gung, die menschlich und sozial nicht erfüllen konnten, was sie theoretisch von sich und anderen forderten. Die Distanz zwischen Anspruch und Sein - Theorie und Praxis der Revolution - wurde zum Aus­ gangspunkt der Anstrengungen von Mike Murphy und Dick Price. Um sich selber klarzuwerden, was eigentlich das Wesentliche der Veränderung ist, ging Mike Mur­ phy nach Indien und verbrachte achtzehn Monate in Srreeaurobindo Ashram in Pondisherry, wo er hauptsächlich mit der „Mutter“ ar­ beitete. Das Leben im Ashram war geprägt durch Sport und gymna­ stische Übungen, Yoga-Techniken, Meditation und theoretische Studien. Nachdem Mike Murphy zurück in Kalifornien war, kam er mit Richard Price und seiner Fami­ lie überein, daß in Esalen ein Be­ wußtseinszentrum und Experi­ mentierzentrum entstehen sollte. Anfangs gab es erst einmal viel praktische Arbeit zu tun. Insbeson­ dere Richard Price und Mike Mur­ phy bauten die Häuser um, mach­ ten Gartenbau und gestalteten die Bäder aus. Durch ihre akademi­

schen Kontakte wurde Esalen schnell ein Treffpunkt für die Avantgarde der Bewußtseinsfor­ scher. Fritz Perls, Willi Schutz, Ab­ raham Maslow, Carlos Castaneda, John Lilly und viele andere be­ kannte Namen der humanisti­ schen Psychologie sowie auch an­ derer Wissenschaften lehrten und arbeiteten in Esalen. Anfangs wur­ de in Esalen mit allem experimen­ tiert, was irgendwie sinnvoll, oder wenigstens „anders“ erschien. Hauptthema war jedoch immer die Integration von Körper und Geist. Es wurde also - im Gegensatz zu den Universitäten, wo viele der neuen Gedanken geboren wurden - in Esalen Körperarbeit betrieben. Das sich selber Kennenlernen und Fühlenlernen wurde zur Primär­ aufgabe der Gruppenleiter in Esa­ len. Doch diese Körperarbeit ist nicht Selbstzweck, sondern dient der gewünschten Bewußtseins­ veränderung bzw. -erweiterung. Einen ersten Popularitätshöhe­ punkt erreichte Esalen gegen En­ de der 60er Jahre, als die Hippies in Esalen ihre Zelte aufschlugen, und man erzählt auch noch von den Tagen, wo unangemeldet die Beatles mit einem Hubschrauber in Esalen landeten, um sich vom Streß ihrer Tourneen zu erholen. Auch der spätere Gouverneur von Kalifornien, Jerry Brown, machte oft in Esalen halt. In diesen wilden Zeiten kam Esalen in Verruf, weil mit den Hippies natürlich auch die Drogen kamen. Noch heute muß Esalen unter diesem Image leiden. In einem im Jahre 1982 verfaßten und gesendeten Kurzbericht einer kalifornischen Fernsehanstalt wurde Esalen immer noch - ob­ wohl dies nun über zehn Jahre her ist - als ein „Sex + Drug-Center“ bezeichnet. Dieses Image wird auch heute noch auf folgende Wei­ se erklärt: Drogen, das wird hergeleitet durch die Tatsache, daß in Esalen der berühmteste LSD-Forscher der Welt, nämlich Stanislav Grof, lebt und arbeitet. Sex, das ergibt sich für die Ameri­ kaner allein aus der Tatsache, daß in Esalen eine Freikörperkultur möglich ist. Nackte Körper werden

mit Sex gleichgesetzt. Wenn man sich in Esalen aufhält, ist davon jedoch keine Rede. Heute kommt es einem schon wie ein zu gut organisiertes Seminarzentrum vor. Allerdings ist diese Organisa­ tion notwendig, denn bei täglich über 300 Teilnehmern, die sich in Esalen aufhalten, muß schon et­ was Planung gegeben sein. Aller­ dings kommt mit der Organisation auch ein anderer Aspekt mit ins Spiel, der Esalen ganz deutlich un­ terscheidet von vielen anderen Alternativ-Kultur-Projekten. Esalen ist nämlich ein kommerziell ge­ führtes Unternehmen. Es erhält keine Förderzuschüsse und ist kein Teil des Universitätssystems. Jeder Teilnehmer muß also für sei­ nen Aufenthalt oder seine Teilnah­ me an einem Workshop bezahlen, für deutsche Verhältnisse erstaun­ lich viel. Eine Woche Esalen kostet zwischen 1000 und 1500Mark. Darin enthalten sind die jeweiligen Seminare und Workshops sowie die Unterbringung und ein wirk­ lich hervorragendes ökologisches und auf Wunsch auch vegetari­ sches Essen. Diese Entwicklung ergab sich aus den chaotischen Verhältnissen während der Hippieund Studentenrevolution. Damals war alles „umsonst und draußen“ und in Esalen entwickelten sich Verhältnisse, die, wie mir einer der damaligen Gruppenleiter erklärte, oft nur noch mit dem Revolver in der Hand zu klären waren. Heute ist das Esalen-Gebiet säuberlich umzäunt und niemand, der nicht speziell eingeladen ist oder voran­ gemeldet, kann dieses Ressort be­ treten. „By Reservation only“ steht auf dem Eingangsschild zum Esalen-lnstitut. Aus dem einstmals ex­ perimentellen Bewußtseinszen­ trum wurde ein exklusiver Trip für solche, die es sich leisten können. Diejenigen, die weniger Geld ha­ ben und dennoch nach Esalen kommen wollen, müssen dafür ar­ beiten. Workscholar nennen sich die überall auf dem Gelände sicht­ baren und unsichtbaren Arbeiter, die dafür sorgen, daß das Essen rechtzeitig auf dem Tisch steht, daß die Räumlichkeiten alle sau­

ber sind, daß der Garten gepflegt ist und daß die Kurse organisiert ablaufen. Ein Workscholar zahlt zirka 1000 Mark für einen Monat und muß dafür 30 Stunden in der Woche arbeiten. Am Abend sind dann Kurse angesagt und hin und wieder kann man auch einen Wo­ chenendkurs mitmachen. Obwohl dieses Angebot gar nicht so attrak­ tiv aussieht, kann sich das EsalenInstitut vor Anmeldungen kaum retten. Dieser Ort und was dort ge­ schieht, übt eine derartige Faszi­ nation aus, daß viele Leute ihren Job aufgeben, nur, um nach Esa­ len kommen zu können. Was für mich in Esalen anders war als in anderen Therapie- oder Entspannungszentren, ist die Tat­ sache, daß keine bestimmte Schu­ le der Therapie dort vorherrscht. Nicht einmal die Therapie selber ist Pflichtpensum. Man kann ein­ fach nur dort sein und die Atmo­ sphäre genießen, und hin und wie­ der mal eine Massage nehmen. Esalen läßt dich sein, was du gera­ de willst, läßt dich mitmachen, was du gerade meinst zu brauchen und versucht dich dort abzuholen, wo du gerade stehst. Daß dies ein sehr langer und ein individueller Weg sein muß, wird in Esalen akzep­ tiert. Es werden nicht - wie in an­ deren entsprechenden Zentren, bestimmte Grundlagen verlangt oder bestimmte zeitliche Verein­ barungen getroffen. Ironisch könnte man sagen: Esalen ist ein Supermarkt der Bewußtseinsent­ wicklung: Du kannst kommen und nehmen was du willst, du kannst aber auch nur einfach durchgehen und schauen. Diese besondere Qualität, so glaube ich, macht Esa­ len aus. Es ist selbstverständlich, daß in einem derart großen Super­ markt nicht alle Kurse etwas Be­ sonderes sein können. Doch dies zu erkennen und zu beurteilen, muß dem Teilnehmer überlassen bleiben. Eine Vorzensur gibt es nicht. Alles, wofür sich genügend Teilnehmer finden, wird auch durchgeführt. Julien Silverman. einer der Ma­ nager von Esalen und gleichzeitig

fachbekannter Schizophreniefor­ scher, sagte mir mal so ganz ne­ benbei beim Mittagsessen: „Esa­ len ist ein Kindergarten, doch wir brauchen solche Kindergärten, denn unser Bewußtsein ist noch derart infantil, daß es solcher Frei­ räume bedarf, um erwachsen zu werden.“ Damit machte Silverman auch gleich die Konzeption klar, die auch Mike Murphy und Ri­ chard Price im Sinne hatten, alssie Esalen gründeten. Esalen ist ein Durchgangs- oder Übergangssta­ dium, das in einer zukünftigen, weiterentwickelten Gesellschaft nicht mehr nötig sein wird. Daraus leitet sich auch der Anspruch der Esalen-Gründer und Väter ab, daß man in Esalen nicht für immer blei­ ben sollte. Selbst die Manager und Gruppenleiter des Instituts sollen nach einiger Zeit Esalen wieder verlassen. Dies allerdings hat sich für einige Personen nicht realisie­ ren lassen, da sie sich allmählich mehr und mehr in Esalen etablie­ ren und nicht mehr von dort weg­ wollen. Anders die Initiatoren von Esalen. Mike Murphy ist schon seit Jahren nicht mehr in Esalen ansäs­ sig, sondern in Marin County, nördlich von San Francisco und hat dort ein Zentrum für theoreti­ sche Bewußtseinsstudien aufge­ baut. Richard Price ist inzwischen auch von Esalen weggegangen, um in einem anderen Kontext wei­ terzumachen. Esalen als Entwick­ lungsstufe, also? Ja, so meinen es ihre Gründer. Leider wollen viele andere Gäste und Mitarbeiter die­ ses Prinzip nicht verstehen. Sogar schon Workscholars, die nur eini­ ge Monate in Esalen verbrachten, sind oft nicht mehr von diesem Ort wegzukriegen. Es kommt einem so vor, als würde die Vertreibung aus dem Paradies verlangt. Ich habe selber mehrmals mitansehen müs­ sen, wie sich sowohl jüngere als auch ältere „Esalenies“ strikt wei­ gerten zu gehen. Obwohl ihre Auf­ gabe beendet oder ihr Vertrag aus­ gelaufen war, blieben sie einfach und wollten auf diese Weise ver­ meiden, der Realität ins Auge zu sehen, daß es nun an der Zeit war, wieder hinaus in die Welt zu ge­ 119

Die heißen Schwefelbäder von Esalen

hen. In diesem Verhalten drückt sich auch das Gefährliche eines solch schönen und freien Entwick­ lungszentrums aus. Die Vorzüge und natürliche Schönheit der Landschaft sowie die vielleicht vorher nicht gekannte Intensität sozialer Beziehungen und das Sichgeborgenfühlen in Esalen führen bei manchen Menschen nicht zu einer Weiterentwicklung, sondern zu einem bequemen Sichfallenlassen in diese Strukturen, in diesen „Kindergarten“. Aber Esalen wurde nicht ge­ gründet, um die Welt zu einem Esalen zu machen, sondern um einigen Menschen die Möglichkeit zu geben, eine Persönlichkeitsent­ wicklung durchzumachen, die sie befähigt, später in die Welt hinaus­ zugehen und dieses Prinzip auch 120

woanders zu verwirklichen. Mi­ chael Murphy hat wohl am ehesten diese gefährliche Entwicklung in Esalen erkannt und versucht des­ halb, das Institut nun in seiner Aus­ richtung etwas umzugestalten. Sein eigenes Zentrum für theoreti­ sche Studien zeigt schon, wo er den Schwerpunkt sieht. Heute, in den 80er Jahren, geht es darum, allmählich wieder in den Kopf zu kommen, während 15 und zehn Jahre davor das Anliegen war, aus dem Kopf heraus, in den Körper, in die Seele hineinzuarbeiten. Esalen soll deswegen in größerem Maße wissenschaftliche Konferenzen abhalten. Zu diesem Zweck hat Murphy gerade solche Leute, wie Stanislav Grof oder Physiker wie Fritjof Capra, Rupert Sheldrik oder die Ökonomin Hazel Henderson

nach Esalen geholt. Natürlich ist die Lücke, die Gregory Bateson nach seinem Tod 1980 hinterlas­ sen hat, auch nicht annähernd da­ mit zu füllen. Gregory Bateson war derjenige, der lange Zeit in Esalen für die notwendige Ausgewogen­ heit zwischen Kopf und Bauch, zwischen Denken und Fühlen, sorgte. Heute strebt diese Ent­ wicklung auseinander. Gerade diejenigen, die von Esalen nicht wegwollen, sind meistens nicht die originellsten Denker und Initia­ toren neuer Konzepte. Entspre­ chend abgeflacht sind die Ange­ bote des Instituts. Doch mit dem Konzept von Mike Murphy, den wissenschaftlichen Austausch in Esalen voranzutreiben, könnte sich das wieder verbessern. Schon Anfang 1983 begann deswegen der bekannte Publizist George Leonard, in Esalen ein mehr wis­ senschaftlich ausgerichtetes Kör­ perbewußtseinsprogramm zu ent­ wickeln. Auch Stan und Christina Grof machen in ihren Ein-MonatsSeminaren eine gelungene Mi­ schung von erfahrungsorientierter und wissensorientierter Kurse. Nach wie vor bleibt Esalen rele­ vant für das Geschehen individuel­ ler und sozialer Emanzipation. Selbst technologisch ausgerichte­ te Workshops, die vor zehn Jahren in Esalen undenkbar gewesen wä­ ren, werden heute angeboten. So gibt es zum Beispiel Wochenend­ seminare zum Thema „program­ mieren von Heimcomputern“. In der Esaleneigenen Schule werden sogar schon die kleinen Kinder mit Mikrocomputer vertraut gemacht. Sieht man also diese Entwicklun­ gen in einem der fortschrittlich­ sten Zentren humanistischer Psy­ chologie und vergleicht sie mit dem Stand ähnlicher Zentren in Europa, so muß man sagen, daß wir in Europa fünf bis zehn Jahre den dortigen Gegebenheiten hin­ terherhinken. Hier bei uns ist noch immer das Hauptthema der Be­ wußtseinsarbeit aus dem Kopf her­ auszukommen. Hoffen wir, daß wir nicht über zehn Jahre brauchen, um zu der notwendigen Synthese hinzufinden.

Frank Kretschmer

Die Geschichte einer Transformation Wenn Du zur Fahrt auf brichst nach Ithaka, So bete, daß ein weiter Weg es werde, voller Umschwünge, voller Einsichten. Die Haistrogynen oder die Kyklopen, Den zornigen Poseidon fürchte nicht: Dergleichen triffst Du nie auf Deinem Weg, Solang Dein Denken hoch bleibt und erlesene Erregung Dir an Geist und Körper rührt. Ithaka schenkte dir die schöne Reise. Findest Du’s arm, Ithaka trog Dich nicht. So weise, wie Du wurdest, so erfahren, Erkanntest Du nun wohl, was Inseln Ithaka bedeuten. Kavafis (gekürzt) Nach einem morgendlichen Semi­ nar schlendere ich über das Esalen-Gelände, um Rita Rohen zu­ treffen, die eng mit Stanislav und Christina Grof zusammenarbeitet. In Esalen scheint alles zu blühen. Der Garten, mit dem Buddha als Zentrum, entfaltet Duft und Far­ benpracht. Rita Rohens bunte Kleidung und der neckische Schimmerin ihren Augen weistauf eine bedachte Lebensweise hin. Während wir langsam in Richtung Küche und Restaurant laufen, er­ zählt mir Rita von ihrer Arbeit. „In meinen therapeutischen Grup­ pen“, sagt sie, „treffen sich Men­ schen, die im Grunde miteinander teilen wollen, was sie über Leben schlechthin bisher gelernt haben. Ich bemühe mich, ihnen gut zuzu­ hören. Mir ist es wichtig, einen leeren Raum zu schaffen, in dem wir miteinander reden.“ Mit einem Blick auf mich fährt sie fort: „Wir sollten uns so wenig wie möglich gegenseitig beurteilen. Ich unter­ halte mich nicht mit dir, um alle möglichen Antworten auf deine

Fragen vorzubringen. Wir sollten in einen Dialog eintreten, damit wir beide voneinander lernen. Der Raum, in dem dies geschieht, soll­ te sanft und warm sein. Lange be­ vor ich damit begann, Psycholo­ giebücher zu lesen, habe ich Bera­ tungsgruppen geleitet. Ein alter Jesuit, sein Name ist Curran, hat mich darauf aufmerksam ge­ macht, wie wichtig es ist, Men­ schen unvoreingenommen also ,leer‘ zu begegnen.“ Inzwischen sitzen wir in Esalens gemütlichem Restaurant, das ganz einfach und in Holz gehalten ist. Die Bänke sind etwas unbe­ quem, dafür entschädigt aber der Blick auf das Schwimmbecken und den Ozean. Auf einer Veranda, morgens in aller Frühe, versam­ meln sich dort Anhänger des asia­ tischen Bewegungstanzes Tai Chi, der Bewegung und Meditation ver­ eint. Das Meeresrauschen als mu­ sikalische Untermalung läßt die sachten Bewegungen doppelt vir­ tuos erscheinen. Fast nebensächlich erwähnt Ri­

ta Rohen, daß sie sechs Kinder großgezogen hat und aus dem amerikanischen mittleren Westen stammt. „In meiner Kindheit spiel­ te Geld immer eine Rolle“, erklärt sie mir. „Meine Familie hatte seit jeher viel Geld, aber wir gaben kaum jemals Geld aus oder spra­ chen darüber. Uns gehörten einige Mietshäuser und wir Kinder sam­ melten manchmal die Miete ein. Wir mußten den Mietern erzählen, daß die Häuser nicht uns gehörten. Ich denke, daß meine Eltern große Angst davor hatten, daß ihnen je­ mand ihr Geld wegnehmen könnte oder sie um Geld bitten würde. Meine Eltern waren sehr wohlha­ bend, aber ihr Denken war arm. Schon als Kind war ich unabhän­ gig und fühlte mich nicht zu mei­ ner Familie gehörig. In einer Hyp­ nosesitzung ging ich zum Zeit­ punkt meiner Geburt zurück. Ich fühlte mich frei und unabhängig. Es scheint, daß das von Anfang an für mich wichtig war. Bevor ich nach Esalen kam, war ich außeror­ dentlich beschäftigt. Mein Mann starb, und ich stand vor der Aufga­ be, unsere sechs Kinder alleine zu versorgen. Das war keine leichte Aufgabe für mich, denn nach dem Tod meines Mannes fühlte ich mich wie ein Mensch, dem ein Teil seiner Selbst genommen wurde. Ich arbeitete als Leiterin einer Familienberatungsstelle, kümmer­ te mich um jugendliche Straftäter, beschäftigte mich mit Unterneh­ mensberatung und arbeitete als Labortechnikerin in der nuklearen Medizin. Schließlich studierte ich an einer Universität. Du kannst dir vorstellen, daß jede Minute meines Lebens ausgefüllt war. Wie konnte ich das alles schaffen? Mein Stern­ zeichen ist Zwilling. Wir Zwillinge können mindestens zehn Dinge gleichzeitig tun.“ Das Restaurant füllt sich allmäh­ lich mit Besuchern und wir ent­ schließen uns, die heißen Bäder zu besuchen. Ein abschüssiger, in den Felsen geschlagener Weg führt uns zum Badehaus. Auf dem Dach beobachte ich nackte Son­ nenhungrige, die den strahlenden Tag nutzen, um auf den Massage­ 121

bänken ihre Yoga-Übungen voran­ zutreiben oder um sich genüßlich einer Massage hinzugeben. Nach­ dem wir uns unserer Kleidung ent­ ledigten, heißt es, sich langsam an die Temperatur des schwefelhalti­ gen Wassers zu gewöhnen. Wir teilen ein schmales Becken, daß aus Naturstein gebaut wurde und den Blick auf den Ozean freigibt, mit anderen Besuchern. Man be­ grüßt sich freundlich, und wenn es sein muß, rutscht man zusammen. Die Thermen dienen nicht nur der körperlichen Erquickung, sondern das Schwimmbecken und die Häu­ ser auf dem Gelände werden von hier aus beheizt. „Vor zehn Jahren hörte ich zum ersten Mal von Esalen“, erzählt Ri­ ta und sinkt tief ins Wasser, „In einem Artikel, ich glaube es war in Time, beschrieb der Autor den Le­ bensstil in Esalen. Damals wohnte und lebte ich mit meinen Kindern im mittleren Westen der USA. Mir schien, daß die Gemeinschaft in Esalen, und das sind vor allem die Mitarbeiter des Instituts, in einer Weise zusammenlebten, von der ich einerseits träumte aber ander­ seits in die Tat umsetzen wollte. So arbeitete ich mit Freunden und experimentierte mit Gestalt­ therapie, lange bevor ich von Fritz Perls hörte, der die Gestaltthera­ pie entwickelte und einen kleinen Bungalow in Esalen bewohnte. Mein Plan, mich auf den Weg nach Esalen zu machen, reifte, nach­ dem mir bewußt wurde, daß meine Kinder mich bald nicht mehr brau­ chen würden. Etwas geschah, das mich jedoch zurückhielt. Mein Sohn Tom verunglückte tödlich beim Drachenfliegen, und ich ver­ lor jeden Elan und viele meiner Ambitionen. Erst ein Jahr später faßte ich erneut den Entschluß auf­ zubrechen. Diesmal hielt mich meine Tochter Marilyn zurück, die gerade ihre Schulausbildung be­ endete. ich blieb, wo ich war, und im Juni 1978 war es endlich so­ weit: Ich verkaufte mein Haus und kündigte meine Arbeit. Ich hatte nie das Gefühl, zum Aussteiger zu werden, sondern im Gegenteil, ich wollte die Gesellschaft erobern.“ 122

Wir beenden unseren Abstecher zum Badehaus und schlendern zu Rita Rohens Haus, das nicht mehr unmittelbar auf dem Esalen Gelän­ de liegt, sondern etwas nördlich zwischen Pinienbäumen in die Steilküste gebaut wurde. Der schmale Bach, der das Esalen Ge­ lände teilt, ist leicht über eine klei­ ne Holzbrücke zu überqueren. Ich freue mich an dem rundlichen Holzhaus, das unmittelbar am Bach steht. Auf dem Dach des Hauses, das von Daniel, dem in Esalen für Essen und Trinken Ver­ antwortlichen, bewohnt wird, sind große Muscheln zu einem spiritu­ ellen Zeichen aufgereiht. Rita erzählt, daß sie es nicht eilig hatte, Kalifornien zu erreichen. Zu­ nächst besuchte sie ihren Bruder im Bundesstaat New York. Als sie ihm ihren Plan erzählte, sich in die Berge von Big Sur zurückzuzie­ hen, schien es, als kreuzten sich ihre Wege. Ihr Bruder lebte lange als Einsiedler in den Wäldern von Pennsylvania. Inzwischen unter­ richtete er an zwei Colleges, schrieb eine wöchentliche Kolum­ ne für eine Zeitung und lebte mit seiner Frau in einem Naturschutz­ gebiet. Von New York aus besuch­ te Rita Freunde in Washington, machte Halt in Texas und ver­ brachte das Weihnachtsfest in Los Angeles. Schließlich endete ihre Reise in einem Einführungssemi­ nar in Esalen. Rita Rohen wollte erst einmal Esalen kennenlernen und dann einen Monat lang in den Bergen leben. Überraschend wur­ de ihr jedoch eine Arbeit angeboten. Sie sollte Pförtner werden und den Eingang vor unliebsamem Be­ such schützen. „Dieses Angebot entsetzte mich“, entfährt es ihr, „ich sollte den Eingang bewachen, wo ich doch höchstens einmeterfünfzig groß bin?“ Rita entgegnete die­ sem Angebot, daß sie nicht stark genug aussähe, um jemanden zu erschrecken oder Respekt einzu­ flößen. Einer der Esalen-Manager erwiderte: „Wir mögen deine Ener­ gie, und wir wollen niemanden als Pförtner, der sich mit Besuchern auf einen Streit einläßt. Du be­

kommst genau die Energiezurück, die du ausstrahlst.“ „Ich mochte es, Nachtpförtner zu sein“, schwärmt Rita, „ich liebe die Nächte. Es war wunderbar. Minde­ stens einmal in der Woche verlieb­ te ich mich in einen neuen Besu­ cher. Ich traf tolle Menschen. Men­ schen, die z.B. um die Bedeutung eines nächtlichen Bades wissen. Viele, die nach Esalen kommen, um ein Vollmondbad zu nehmen, stammen aus der Big Sur Gegend. Für mich ist die Art und Weise, wie diese Leute leben, einfach „wild“, denn sie leben ein bißchen so wie die alten Pioniere. Ich erinnere mich z.B. an Paul, einen Maurer, der in den Big Sur Bergen lebt. Paul erzählte mir von der Gemein­ schaft und der gegenseitigen Hil­ fe, die sich die Menschen hier zu­ kommen lassen. Jemand benötigt ein neues Haus - alle fassen mit an. Außerdem erzählte er mir Inter­ essantes über Esalens Geschich­ te. Die Esalen-Indianer gaben der Gegend ihren Namen. Sie versam­ melten sich, um die heilende Kraft der heißen Quellen zu genießen und um ihre Toten zu bestatten. Noch heute fanden sich beim Bau eines Hauses Reste der ehemali­ gen Beerdigungsstätte. Die Toten wurden in fötaler Position, dem Meer zugewandt, bestattet. Paul erzählte, wie einige aus der Umge­ bung zusammenkamen, um eine neue Feuerstelle für Esalen zu bauen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie die riesigen Fels­ brocken bewegt wurden. Letztes Jahr bauten wir eine neue Feuer­ stelle. Ich nahm einen kleinen Stein, plazierte ihn an geeigneter Stelle und kann jetzt behaupten, mitgebaut zu haben.“ Plötzlich verändert sich Ritas Stimmung, und ihr Gesicht wird traurig. „Als ich in Esalen ankam, saß ich lange an der Feuerstelle. Ich hatte alle Papiere meines ver­ unglückten Jungen um mich ver­ streut. Langsam verbrannte ich seine Papiere: seinen Ausweis, sein Universitätsdiplom - einfach alle seine Papiere. Während dieser stillen Zeremonie gelang es mir loszulassen, was ich bisher

krampfhaft versucht hatte, von mich, die Kinder auf eine Fantasie­ nehmen, um mit den Kindern über ihm festzuhalten. Jemand gesellte reise zu schicken: Wir alle sitzen die Schönheit und die Bedeutung sich zu mir, und ich war dankbar, an einem Strand und beginnen, einer Träne zu sprechen.“ einfach einen Menschen neben die Klippen hinaufzusteigen, wo Auf unserem Weg zu Ritas Haus eine große Burg auf uns wartet. erreichen wir die Esalen Farm. Ein mir zu spüren.“ Ich fühle mich betroffen und be­ Jeder betritt die Burg, erforscht ihr kleines Areal dient zum Anbau von vor ich etwas sagen kann, wech­ Inneres und sucht nach einem Ge­ Kartoffeln und verschiedenen Ge­ selt Rita des Thema. „Eine meiner genstand, den er oder sie zurück müsesorten. Wie von Ferne beob­ früheren Aufgaben in Esalen“, an den Strand bringen kann. Nora achten wir eine Schar von Esalen sagt sie mit einem immer noch Bateson bringt ein Bild ihres Va­ Begeisterten, die den Boden um­ traurigen Unterton, „war die Be­ ters mit sich an den Strand, das in graben und Kompost verteilen. treuung der Kinder. Die Kinder hier einem kostbaren Rahmen steckt. „Gregory Bateson war gleich­ lernen sehr früh, mit ihren Gefüh­ Als sie das Wasser erreicht, wirft zeitig Vater und Großvater für len umzugehen. Dazu gehört z.B., sie das Bild hinein. Langsam löst mich“, fährt Rita fort, „wenn er ein daß kindliche Wutausbrüche tole­ es sich aus dem Rahmen, und No­ Seminar veranstaltete, war ich im­ riert und in sichere Bahnen gelei­ ra atmet auf: jetzt ist er frei! mer dabei. Er schätzte es, daß ich Auch die anderen Geschichten immer an den richtigen Stellen sei­ tet werden. Ich erinnere mich gut an den Tag, an dem Gregory Bate­ der Kinder berühren mich tief. Mei­ nes Vortrags lachte. Manchmal son, einer der bedeutenden An­ ne Geschichte beginnt damit, daß waren wir beide die einzigen im thropologen und Philosophen un­ ich die Burg betrete und nach dem ganzen Raum, die lachten. Grego­ seres Jahrhunderts, beerdigt wur­ ry kam nach Esalen, als er erfuhr, de. Ich sollte an diesem Tag eine daß ein apfelsinengroßer Tumor in Wanderung mit den sieben- bis seiner Brust wuchs. Er hatte nach vierzehnjährigen Kindern unter­ Meinung der Ärzte nur noch weni­ nehmen. Gregorys Tochter Nora ge Wochen zu leben. Gregory ver­ wollte uns begleiten. Alle Kinder brachte viel Zeit im Bad, und alle bestanden darauf, zunächst der Heiler der Esalen-Gemeinschaft Beerdigung beizuwohnen, um behandelten ihn. Als er nach Jah­ dann anschließend aufzubrechen. ren starb, war es nicht der Krebs, Die Zeremonie war bewegend. der ihn tötete, sondern er erzählte Selbst Fritjof Capra, der sonst sehr seiner Tochter Nora, daß er zu mü­ gefaßt ist, weinte, als er über Gre­ de sei, um weiter zu leben. Bate­ gory Bateson sprach. Nach diesem son wurde 76 Jahre alt. Er fühlte traurigen Tagesbeginn machte immer, daß er seiner Zeit weit vor­ sich unsere kleine Gruppe auf den aus war, und daß viele Menschen Frank Kretschmer, Dipl.-Psych., Weg. Wir erstürmten eine Reihe ihn nicht verstanden. Er starb mit­ geb. 1957 in Berlin, studierte Psy­ von Hügeln und errichteten unser tags, am amerikanischen Unab­ chologie und Psychotherapie an Camp am späten Nachmittag. Als hängigkeitstag!“ der Freien Universität Berlin und wir uns abends um das Feuer an der Western Michigan UniverRita Rohen lebt in einem groß­ sity. Z.Zt. arbeitet er als Psycho­ gruppierten, fragten mich die Kin­ angelegten Haus, das über dem therapeut für START in Köln und der, ob ich nicht eine Prozeßgrup­ Pazifik thront. Morgens schwim­ koordiniert das FORUM für Trans­ pe mit ihnen machen wollte. Ich men Delphine in eiliger Reise vor­ personale Psychologie und Psy­ fühlte mich hochgeehrt. Das war bei und Rita begrüßt sie nicht sel­ chotherapie in Köln. Sein beson­ wirklich das beste Angebot, thera­ ten mit: „Hallo, Jungs!“ Auf ihrem derer Arbeitsschwerpunkt liegt peutisch zu arbeiten, das mir je­ Schreibtisch türmen sich Dutzen­ auf dem Gebiet neuer Ansätze mals gemacht wurde. Diese Kinder de von Anfragen, die sie als Direk­ zur Bewußtseinsforschung. haben die Nase voll: Sie wollen torin des „Spiritual Emergency keinen Prozeß und keine Therapie, Zentrum des Gebäudes suche. Ich Networks (SEN)“ beantwortet. Das denn sie leben in einem Prozeß weiß, daß es einen Raum gibt, um ehemalige Haus von Julian Silver­ und die Idee, durch sein eigenes den herum die gesamte Burg ent­ man, einem Pionier auf dem Ge­ Dilemma zu arbeiten, ist ihnen von standen ist. Dieser Raum hat viele biet der Schizophrenieforschung, klein auf vertraut. Ihre Lehrer z. B. Fenster, und das Licht sammelt beherbergt neben Rita vier weitere verhindern Raufereien nicht, son­ sich in seiner Mitte, wo eine kleine Mitarbeiter, die sich für kurze Zeit dern achten darauf, daß die Kinder Statue auf einem Podest steht. Ich verpflichten, sie bei ihrer Arbeit zu gehe auf das Gebilde zu, um bes­ unterstützen und neue Behand­ ihre Kräfte und Grenzen kennen­ ser erkennen zu können, worum es lungsmethoden von Psychosen lernen, niemanden ernsthaft ver­ letzen und Respekt vor Schwäche sich handelt. Es ist eine Träne, kennenzulernen. Das Netzwerk und Stärke entwickeln. Nach kur­ eine einzige Träne. Mir ist wichtig, basiert auf den Überlegungen von zem Überlegen entschloß ich diese Träne mit an den Strand zu Stanislav und Christina Grof, die 123

das gegenwärtige Verständnis von Psychosen als durch die mechani­ stisch orientierte Wissenschaft be­ stimmt sehen. Nach ihrer Auffas­ sung wird Wissenschaft heute durch das newtonisch-cartesische Denken beherrscht. Das Verständ­ nis und die Behandlung soge­ nannter „psychotischer Erfahrun­ gen“ sind geprägt von der Tatsa­ che, daß die Psychiatrie als eine Disziplin innerhalb der Medizin an­ gesehen wird. Damit sind „Ge­ sundheit“ und „Krankheit“ durch das medizinische Modell definiert. Alle herkömmlichen Definitionen von Psychose betonen die Unfä­ higkeit der betroffenen Individuen, zwischen „subjektiver Erfahrung“ und „objektiver Wirklichkeit“ zu unterscheiden. Eine Person wird als „normal“ betrachtet, wenn ihre Erfahrung mit dem herrschenden wissenschaftlichen Weltbild über­ einstimmt, denn das Weltbild defi­ niert, was als „objektive Wirklich­ keit“ anerkannt wird. Fallen die Erfahrungen nicht in diesen Rah­ men, wird eine Person als „krank“ oder „gestört“ bezeichnet. Diese Anomalität wird dann als eine strukturelle, biochemische oder physiologische Störung des Ge­ hirns aufgefaßt und als eine „Krankheit“ mit unbekannter Her­ kunft bezeichnet, obwohl für die meisten psychotischen Zustände keine medizinischen Ursachen ge­ funden wurden. Die revolutionä­ ren Entwicklungen in den wissen­ schaftlichen Disziplinen wie z.B. Physik, Bewußtseinsforschung und System- und Informations­ theorie haben einen Wandel in der Auffassung über das erbracht, was Realität ist. Das wissenschaftliche Weltbild befindet sich in einem Prozeß der Veränderung, der als „Paradigmenwandel“ bezeichnet werden kann. Während meiner eigenen Tätig­ keit für das Netzwerk haben Perso­ nen mit uns Kontakt aufgenom­ men, die sich nicht in einer akuten Krise befanden, sondern die sich durch Erlebnisse oder Erfahrun­ gen tief verunsichert fühlten, die während oder nach z.B. Medita­ tion, spiritueller Praxis, intensiver 124

Körpertraining in Esalen

Selbsterfahrung, Lebenskrisen, Psychotherapie oder einer Reihe anderer Lebensumstände auftra­ ten. Die Vielzahl der ungewöhnli­ chen Erfahrungen spricht für sich: Hitze- oder Kälteempfindungen, Energieströme, die durch den gan­ zen Körper gehen, heftige Schmerzen ohne medizinische Ur­ sachen und religiöse Erfahrungen. Nach der Auffassung von Grof sind solche Ereignisse mögliche Sym­ ptome eines evolutionären Trans­ formationsprozesses, der zu einer Neuorientierung und spirituellen Öffnung der betroffenen Personen führen kann. „Alles, was das Netzwerk zur Zeit leisten kann“, erklärt Rita Ro­ hen, „ist Hilfesuchende mit Thera­ peuten oder interessierten Laien zu verbinden, so daß eine qualifi­ zierte Hilfe möglich wird. Bis heute haben etwa 7000 Personen aus 27 Ländern mit uns Kontakt aufge­ nommen. Ein Computer hilft uns bei der Organisation des Netz­ werks.“ Esalen ist für Rita Rohen so et­ was wie ein „Elternhaus“, das sie im mittleren Westen nie besaß. „Die Gemeinschaft“, sagt sie, „kümmert sich um mich und gibt mir Kraft und Liebe. Die Leute sorgten während meines ersten Monats für mein Essen, mein Woh­ nen und meine Ausbildung. Als ich ankam, war ich ein Kleinkind, das

alles in sich aufnimmt. Morgens, mittags und abends sorgte man für Unterhaltung. Die Gemeinschaft ermöglichte mir, an Gestaltsemi­ naren teilzunehmen, damit ich den Schmerz über den Tod meines Sohnes ausdrücken und verarbei­ ten konnte. Ich machte wirklich erstaunliche Erfahrungen. Lehrer, wie z.B. Gregory Bateson, Stan Grof, Joseph Campbell und John Lilly veränderten mein Weltbild. In den ersten drei Monaten in Esalen war ich ungefähr ein bis fünf Jahre alt; genau die frühen, lehrreichen Jahre. Ich kam nach Esalen, be­ zahlte einen bestimmten Geldbe­ trag, arbeitet 32 Stunden in der Woche als Pförtner, und die Esalen-Gemeinschaft kümmerte sich um den Rest: schlafen, essen usw., eine wunderbare Fürsorge. Im April 1979 begann ich in Esalens Büro zu arbeiten. Ich fand es anregend, die erste zu sein, die viele Besucher begrüß­ te. Was machte den Reiz dieser Arbeit aus? Vor allem die große Zuneigung, die mir die Menschen entgegenbrachten, die nach Esa­ len kamen und bereit waren, die Menschen hier anzunehmen. Ein­ mal hatte ich mit einer älteren Frau zu tun, die nach dem Kofferträger fragte. Ein junger Mann erwiderte ihr, daß sie sich Esalen als so et­ was wie Luxuscamping vorstellen müsse. Viele, die hierher kommen,

wollen lernen und sich unterhal­ ten. Andere wollen sich ausruhen. Es gibt immer wieder Leute, die beweisen wollen, daß die ganze Bewegung um die menschlichen Potentiale Unsinn ist. Einige wol­ len ärgerlich oder traurig bleiben, wenn sie Esalen besuchen. Andere wollen sich von bestimmten Schwierigkeiten befreien. In den ersten Monaten meiner Bürotätig­ keit war ich ungefähr sechs bis acht Jahre alt. Es war, als ginge ich zur Schule. Die Zeit der reinen „Unterhaltung“ war für mich vor­ bei, und ich besuchte Massage­ klassen. Um mich zu schulen, ver­ suchte ich, möglichst viele ver­ schiedene Menschen zu massie­ ren. Ich erinnere mich an einen Athleten, der einen Workshop be­ suchte und wunderbare Muskeln hatte. Ich bat ihn darum, ihm eine Massage geben zu dürfen. Er wehrte ab und erklärte mir, daß es andere Wege gäbe, um ihn ken­ nenzulernen. Langsam wurde ich erwachsen. Im Herbst fühlte ich mich wie eine Jugendliche, die Streit sucht, alte Strukturen zum Einsturz bringen will und die im­ mer Dinge findet, die nicht in Ord­ nung sind. Viele dieser Auseinan­ dersetzungen hatten mit meinem Gefühl der Abhängigkeit zu tun. Mir wurde bewußt, daß ich einen Großteil meiner Privatsphäre der Gemeinschaft opfern mußte. Ich war eine revoltierende Jugendli­ che. Im November wählte man mich in den Esalen-Gemeinderat. Dieses Amt war meine Initiation in die Welt der Erwachsenen. Zur gleichen Zeit veranstaltete ich Se­ minare außerhalb des Instituts. Am Ende, es war bereits Januar, wollte ich Esalen verlassen. Die Möglich­ keit, für das ,Spiritual Emergency Network' zu arbeiten, bewog mich jedoch zu bleiben.“ Wenn Rita Rohen über Men­ schen spricht, fällt mir auf, daß sie stets die Verbundenheit aller Men­ schen betont. Auf der anderen Sei­ te spricht sie von ihrer Verzweif­ lung darüber, wie sehr sich Men­ schen verletzen. „Ich denke z.B. an die Gedächtniskirche in Ber­ lin“, sagt sie betroffen, „wie kön­

nen wir nur ernsthaft ein solches Gebäude zerstören? Bei einem Se­ minar in Japan schrie ein Mann auf eine schreckliche Weise. In einer erlebnisorientierten psychothera­ peutischen Sitzung erinnerte er sich an den Atombombenabwurf. Woran ich glaube und wofür ich kämpfe, ist, daß wir aufhören, uns zu verletzen. Und ich beginne bei mir selbst: wie ärgerlich oder angstvoll ich auch immer sein mag, ich will nicht denen wehtun, die ich liebhabe. In meinen Semi­ naren stelle ich sicher, daß die Teilnehmer um die Verbundenheit aller Menschen wissen. Oftmals begegnen uns Menschen, die sich nicht so verhalten, wie wir es tun. Wir erschrecken und fürchten uns vor ihnen, denn sie erzählen uns die Wahrheit über uns selbst. Sie halten uns vor Augen, daß auch unser Verhalten, unser Denken und Fühlen nicht konstant sind, sondern daß wir immer wieder aufs neue entscheiden müssen, welches Verhalten angemessen ist. Solange wir wissen, wer in un­ serer Nachbarschaft verrückt ist, solange können wir sicher sein, daß wir es nicht sind. Wir sind allzu bereit, Menschen, die sich unge­ wöhnlich verhalten, zu verletzen. Wir versuchen diese .Kranken' zu verändern, indem wir ihr unge­ wöhnliches Verhalten oder Den­ ken zum Stillstand bringen. Wir geben ihnen Drogen oder sperren sie ein, damit wir uns nicht mehr mit ihnen zu konfrontieren brau­ chen. Dabei mißachten wir, daß sich jeder von uns in seinem eige­ nen persönlichen psychischen Prozeß entfaltet. Es gibt Personen, deren Prozeß heute etwas „merk­ würdig“ ist, - morgen kann es der unsere sein. Das Netzwerk und an­ dere Organisationen sind bemüht, Zentren aufzubauen, in denen Menschen ihre seelischen Krisen durchleben können. Wir alle durchlaufen einen täglichen Transformationsprozeß und brau­ chen manchmal Unterstützung.

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Rüdiger Lutz

John C. Lilly: Pionier der Bewußtseins' forschung Um den Bewußtseinsforscher Dr. John Lilly adäquat vorzustellen, lassen wir am besten sämtliche Sekundärliteratur aus dem Auge und beziehen uns auf seine von ihm selbst geschriebene Autobio­ graphie. 1978 gab John Lilly seine Auto­ biographie heraus unter dem Titel „The Scientist“. Viele seiner Theo­ rien und Ergebnisse aus seiner Selbsterforschung finden dort ih­ ren Niederschlag und werden von ihm selbst zusammengefaßt. Schon der Beginn dieser Autobio­ graphie, die mit dem Kapitel „Null“ anfängt, zeigt die ungewöhnliche Spannbreite seines Denkens. So beschreibt Lilly vor den Daten sei­ ner eigentlichen Geburt die vorge­ burtliche Erfahrung, die er in psy­ choanalytischen Sitzungen in den fünfziger Jahren erfuhr. Diese Analyse scheint auch ein wichtiger Auslöser für die weitere Arbeit von John Lilly zu sein. Sein Interesse Biophysik und Elektronik zum Zwecke der Bewußtseinserfor­ schung einzusetzen, stammt aus diesen Tagen seiner Eigenanalyse. Er erfand in dieser Zeit auch den inzwischen bekannten Isolations­ oder Samadhitank, der aus­ schließlich den Zweck hat, den Körper und das Gehirn von allen äußeren Einflüssen fernzuhalten und somit einen sogenannten Minimum-Stimulus-Level zu erzeu­ gen. In diesem Tank hatte John Lilly lange vor der allgemeinen Po­ pularität selbst induzierter Be­ 126

wußtseinstrips die Erfahrung an­ derer innerer Realitäten. Speziell nennt er den Kontakt mit drei We­ senheiten, die in diesen außerge­ wöhnlichen Bewußtseinszustän­ den auftraten und die er seine Wächter und Beschützer nannte. Aufgrund seines wissenschaftli­ chen Skeptizismus hielt er jedoch lange Zeit diese Wesenheiten für Projektionen seines eigenen Ge­ hirns. Dennoch ließ er nicht locker, die Objektivität bzw. Wahrheit heraus­ zufordern. Bald begann John Lilly, inzwischen hauptamtlich in einem Delphin-Forschungslabor be­ schäftigt, mit neuen Bewußt­ seinsexperimenten, die auf einer Kombination von LSD 25 und dem Isolationstank beruhen. Diese weitaus intensivere Bewußt­ seinsforschung führte dazu, daß Lilly das staatlich und militärisch finanzierte Forschungslabor in Florida verließ und zum EsalenInstitut nach Big Sur in Kalifornien umzog. Kurze Zeit später begab sich John Lilly nach Chile, um dort das Arika-Training aufzunehmen, ein speziell entwickeltes psycholo­ gisches Programm von Oskar Ichazo. Dort traf er auch seine jet­ zige Frau Antonietta, kurz Toni. Mit ihr zusammen baute er in Malibu, Kalifornien, neue Isolations­ tank-Experimentierstätten auf. In dieser Zeit begann er auch mit einer neuen psycholytischen Dro­ ge zu arbeiten, die er immer kurz „Vitamin K“ nennt. K steht keines­

wegs für Kokain, sondern ist das auch in bundesdeutschen Kran­ kenhäusern verwendete Ketanest. Diese extrem wirksame Droge wirkt schneller und kürzer als LSD 25. Mit K und dem Isolationstank machte nun Lilly seine entschei­ denden theoretischen Durchbrü­ che. Seine drei spirituellen Be­ schützer tauchten in der inneren Realität des Samadhitanks wieder auf. Lilly steigerte die Dosen von K und befand sich mehrmals in le­ bensgefährlichen Zuständen. Alle diese Erfahrungen hat Lilly jedoch äußerst ehrlich wiedergegeben und damit auch die menschlichen Erfahrungsgrenzen aufgezeigt. Nicht zu vergessen ist in diesem Zusammenhang die Delphinfor­ schung, für die John Lilly haupt­ sächlich in der wissenschaftlichen Welt bekannt ist. Lilly baute so­ wohl bewußtseins-telepathische als auch informative Kommunika­ tion mit Delphinen und Walen auf. Seit 1980 arbeitet er auch haupt­ sächlich wieder in der Marin World, einem großen natürlich an­ gelegten Delphinaquarium und Forschungslabor. Dort stehen die weitest entwickelten Computersy­ steme und Programme zur Kom­ munikation zwischen Mensch und Delphin. Dies klingt nun alles sehr ungewöhnlich, und John Lilly tut auch nicht das geringste, um die­ sen Eindruckzu entkräften. Selbst im persönlichen Kontakt mit Lilly kann es passieren, daß er nicht auf normale, also uns übliche Kommu­ nikationsformen anspricht. Er identifiziert sich so stark mit sei­ nem Forschungsinhalt, daß ersieh fast 90 Prozent seiner Zeit in die-* sen anderen Bewußtseinszustän­ den aufhält. Ein Film, der nach derGeschichte John Lillys gedreht wurde, ist der 79 produzierte amerikanische Spielfilm „Altered States“, der in Deutschland mit dem unglückli­ chen Titel „Der Höllentrip“ in die Kinos kam. Obwohl der Film einige unpassende Sensationsgags ent­ hält, so zeigt er doch die innere Vorstellungswelt, um die es bei dieser Art von Bewußtseinsfor­ schung geht. Um einen Eindruck

zu geben, was die theoretischen und auch spekulativen Ergebnisse von Lillys Forschung sind, möchte ich einige Grundsätze wiederge­ ben, die John Lilly in seinem Buch „Programmierung und Metaprogrammierung des menschlichen Biocomputers“ dargelegt hat. Da­ bei nutzt der Arzt John Lilly seinen physikalisch elektronischen Hin­ tergrund, um eine Analogie für ver­ schiedene Bewußtseinszustände zu finden. Einige in technischer Sprache und damit für seine wis­ senschaftliche Umwelt gut ver­ ständliche Definitionen helfen vielleicht, den Forschungsgegen­ stand von John Lilly zu verstehen. Im genannten Buch präsentiert er ein sogenanntes Metaglaubens­ system über die internale Realität. Diese interne Realität ist diejenige, die wir mit unserem Geist in ver­ schiedenen Bewußtseinszustän­ den erleben können und die nicht übereinstimmen mit der externellen Realität, also z.B. daß wir in einem Tank liegen oder in einem Sessel sitzen und eine bestimmte Droge eingenommen haben. In diesen anderen Bewußtseinszu­ ständen nun, so behauptet Lilly, kann jedes Programm, d.h. jedes Glaubenssystem, frei entwickelt werden und damit Teil unseres Be­ wußtseins darstellen. Es geht ins­ gesamt um nicht mehr und nicht weniger als den Bewußtseinsin­ halt unseres Geistes. Die interes­ sante Aussage dieses Buches ist vor allem, daß die Bewußtseins­ veränderung in der internen Reali­ tät Einfluß hat auf die externe Rea­ lität, d.h. daß über veränderte Be­ wußtseinszustände die Welt da draußen beeinflußbar ist. Esoterikern wird dieses Wissen nicht neu sein, entscheidend ist jedoch, daß Lilly Experimente ge­ macht hat, die diese Tatsache in Form von wiederholbaren Erleb­ nissen erfahrbar machen. In letzter Konsequenz ausgelegt sagt Lilly mit anderen Worten, daß die Per­ sönlichkeit und das Programm dieser Persönlichkeit identisch sind. Das Bewußtseinsprogramm ist veränderbar und metaprogram­ mierbar, und somit ist die Persön­

lichkeit über diesen Umweg ge­ staltbar. Damit ist auch die These aufge­ stellt, daß das Bewußtsein über dem Gehirn bzw. dem physischen Körper steht. Der Körper sowie die „hardware“ unseres Gehirnes sind lediglich Ausdruck und Form des viel umfassenderen Bewußt­ seinszustandes, in welchem wir le­ ben. In der Terminologie der Com­ puter hieße das, entscheidend ist ausschließlich die Software, die Hardware richtet sich nach den vorhandenen Programmen. Damit spricht Lilly ähnliche Vorstellun­ gen an, wie sie z. B. Gregory Bate­ son und andere neuzeitliche Phi­ losophen ausgedrückt haben. Wer nun das Vorhergesagte mit kriti­ schen Augen gelesen hat, der wird sicherlich bemerkt haben, daß ei­ ne derartige Metaprogrammie­ rung in unserem Sprachgebrauch kurz „Gehirnwäsche“ heißt, eine Tatsache, die Lilly keinesfalls un­ bekannt ist, und die er auch gründ­ lichst erforscht hat. Auch die Nut­ zung eines Isolationstankes, der eine sensorische Deprivation er­ möglicht, stammt aus den Nach­ kriegszeiten des Geheimdienstes. Doch diese von Lilly sogenannte erzwunge Indoktrination schließt er mit neun Kriterien, die für seine Art von Bewußtseinsforschung Voraussetzung sind, aus. Diese Kriterien sind derart bedeutsam und nicht nur für die Arbeit im Tank, sondern für jede Form von Lernen, wie wir ja die Metapro­ grammierung im allgemeinen nen­ nen, daß wir sie hier wiedergeben wollen. Die folgenden neun Punk­ te müssen also bei einer freien Bewußtseinsforschung ausge­ schlossen sein: • Die soziale Isolation der Person sowie ihre Trennung von ihrem gewohnten, sozialen Umfeld • die physische Isolation, also die körperliche Freiheitsberaubung • die Unterbrechung des ge­ wöhnlichen Schlafzyklus • die Veränderung der Nahrungs­ aufnahme, gemeint ist das er­ zwungene Hungern bis hin zur Einnahme vergifteten Essens

• ein System jeglicher Art von Strafe und Belohnung • Drohungen oder Angst erzeu­ gende Informationen • die Beeinträchtigung der kör­ perlichen Verfassung durch che­ mische oder psychoaktive Sub­ stanzen • die mentale Isolation von per­ sönlichen Zuneigungsobjekten sowie • die Unterbindung und Verhin­ derung sexueller Aktivitäten. Wenn wir diese Kriterien genauer studieren, so merken wir, wieviel in den „wilden“ 60er Jahren oder auch heute noch im Zusammen­ hang z. B. mit der scheinbar harm­ losen Einnahme psychoaktiver Drogen falsch gemacht wurde. Die Nichterfüllung dieser genannten Kriterien ist es auch, die diese neu­ artige Bewußtseinsforschung oft in Verruf bringt. Dennoch, selbst bei Einhaltung der dargestellten Forschungskriterien, besteht im­ mer noch die Forderung unserer bestehenden Wissenschaftsethik, daß Experimente am Menschen verboten sind. Dies ist auch der Grund, warum Lilly lediglich mit sich selber experimentierte, bzw. anderen Interessierten keine di­ rekte Unterweisung erteilt. Lilly weiß selbst am besten, wie gefähr­ lich eine individuelle Forschungs­ arbeit in diesem Bereich noch ist, weil es keinerlei Vorbereitungs­ stätten, Schulen oder Universitä­ ten gibt, die ein derartiges Wissen­ schaftskonzept überhaupt lehren. Dennoch ist zu erkennen, daß mit dieser neuartigen Vorgehenswei­ se Erkenntnisse gewonnen wer­ den können, die mit unserer bishe­ rigen Wissenschaft überhaupt nicht berührt werden. Der Wissen­ schaftler ist in dieser Arbeit nicht nur Betrachter und außenstehen­ der Experimentator, sondern indi­ viduell ganzheitlich psychisch und physisch beteiligt. Als Partizipant in einem geistigen Veränderungs­ prozeß überwindet er die SubjektObjekt-Trennung, die von unserer heutigen Wissenschaft sehr oft so beklagt wird.

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Schon als junger Mann galt Lil­ lys Interesse unseren Wahrneh­ mungen und warum wir wissen, was wir sehen, hören, schmecken, fühlen ... Die Suche nach Ur­ sprung und Sitz unseres Bewußt­ seins hat ihn auf einen abenteuer­ lichen Weg durch die Gehirnfor­ schung der letzten 40 Jahre ge­ führt. Dabei war sein oberster Grund­ satz stets, nur an anderen zu erproben, was er auch an sich selbst versuchen würde. In seiner frühen Arbeit mit Schimpansen entwickelte er deshalb ein System, Man nimmt an, daß Bewußtsein und Intelligenz des Del­ das erlaubte, den Versuchstieren gewünschten Gehirnreize phins, einem Meeressäuger der Ordnung der Wale (Ceta- die schmerzlos zu vermitteln. Dazu ceen), viel entwickelter sind, als dies beim Menschen der pflanzte er den Affen Dutzende Fall ist. Dies gibt Anlaß zu den verschiedensten Spekula­ von Elektroden direkt unter der tionen. John C. Lilly, amerikanischer Wissenschaftler, Kopfhaut ein, ohne daß sie jeweils Arzt, Bewußtseins- und Delphinforscher, kennt diese mehr als nur einen schwachen bedrohte Tierart wahrscheinlich am besten. Doch muß Stich verspürten. Doch wurde die­ man von Antonietta und John Lilly sprechen, da John und se Methode bald mißbraucht und Lilly, der alle seine Forschungen, seine Frau Toni nicht nur ein Paar, sondern eine richtigge­ auch als Regierungsangestellter, hende Symbiose darstellen. Toni Lilly ist Vorsitzende der prinzipiell „offen“, also niemals Human/Dolphin Foundation, einer von den Lillys und ande­ geheim betrieb, gab enttäuscht ren ins Leben gerufenen Stiftung, deren Ziel die Förderung auf, als er erfuhr, daß Militärfor­ der Interspezies-Kommunikation zwischen Menschen und scher Maultieren dieselben Elek­ troden eingepflanzt hatten, um sie Meeressäugern ist. Auch wenn Toni von sich selbst sagt, zu entlegenen Orten in den Anden sie hätte eigentlich nur den Delphin-Mann geheiratet... zu steuern, wo sie Sprengsätze ab­ John Lilly hat eine im wahrsten entrückter Mystiker, der genauso zuladen hatten. Darauf unternahm er Versuche Sinne des Wortes brillante akade­ gerne über wissenschaftliche Fak­ mische Karriere hinter sich und ten spricht wie über Wesenheiten, mit dem im zweiten Weltkrieg für hat bis jetzt 126 Publikationen ver­ die ihm irgendwo da draußen im Taucher entwickelten, sogenann­ öffentlicht, sei es als Autor oder Weltraum Anweisungen darüber ten Isolationstank, einer schalliso­ Mitautor. geben, wie er sein Leben gestalten lierten Art Dunkelkammer. Er er­ brachte den Nachweis, daß man, soll. Gleichzeitig ist er ein ziemlich

Susanne G. Seiler

Delphine und Menschen: John Lillys Studien

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entgegen der damaligen Annah­ me, nicht automatisch einschläft, wenn kein äußerer Sinnesreiz vor­ handen ist und unternahm unter anderem mutige Versuche mit LSD, als dieses noch legal war. Durch diese Versuche fand er sei­ ne Theorie bestätigt, daß das Be­ wußtsein des Menschen nicht nur innerhalb unseres Gehirns statt­ findet, sondern auch durch Impul­ se von außen beeinflußt wird. Lilly hält deshalb nicht viel vom Ausdruck „Sinnesentzug“, von dem er launisch meint, dieser sei von irgendwelchen Idioten in Mas­ sachusetts geprägt worden. Er nennt es korrekterweise „Stimulus-Entzug“, denn auch in der Dunkelheit des Isolationstanks hört das Auge nicht auf, zu sehen, und auch das Ohr nimmt weiterhin Geräusche wahr, auch wenn es sich dabei nur um den eigenen Herzschlag und ähnliche organi­ sche Vorgänge handelt. Die im Isolationstank erfahrene Entspan­ nung von Körper und Geist, die daher kommt, daß man nicht nur völlige Ruhe genießt, sondern in einer Salzwasserlösung beinahe schwerelos schwebt, hat dazu ge­ führt, daß man Lillys Entwicklung auch Samadhi-tank nennt, eben weil er es dem Menschen erlaubt, diesen im Buddhismus angestreb­ ten Zustand höchster Seligkeit und Einswerdung zu erfahren. Nun hatte John sein Element ge­ funden und stieß so auf die Mee­ ressäuger, die als einzige uns ver­ wandten Tiere im Wasser leben, und wandte sich insbesondere bald jenen unter ihnen zu, denen während vieler Jahre sein ganzes Interesse gelten sollte: den Del­ phinen. Nach vielen erfolgreichen Ver­ suchen als Neurophysiologe der US-Marine an dem von ihm gelei­ teten Communications Research Institute auf den Virgin Islands, ließ er seine Tiere frei, als seine Arbeit wiederum militärisch miß­ braucht wurde, wie dies in einem Film mit George C. Scott als John Lilly in der Hauptrolle überspitzt dargestellt wurde. Auf der Suche nach Selbsterfah­

rung und neuen Dimensio­ nen menschlichen Bewußtseins durchlief Lilly in dem auf SufiGrundsätzen aufgebauten AricaInstitut von Oscar Ichazo, als Gruppenleiter und Therapeut in Esalen und durch einen immer wieder aufgegriffenen Prozeß der Psychoanalyse weitere Wandlun­ gen, bis er 1978 wieder zur Inter­ spezies-Kommunikation zurück­ fand. Zur Zeit dient Lilly der Human/ Dolphin Foundation nur mehr als Berater und Verwalter. Der administrative Sitz der Stiftung befindet sich deshalb in seinem Heim in der Nähe von Malibu, Kalifornien, doch findet die eigentliche Arbeit in zwei Schwimmbecken und zwei zu einem Büro und einem Labor umfunktionierten Camping-Wa­ gen statt, die sich außerhalb des Geländes von Marineworld Africa, USA in Redwood City, unweit von San Francisco befinden. Delphine haben den Menschen schon seit Urzeiten fasziniert. Sie galten schon bei unseren Vorfah­ ren als gutes Omen, sind als Retter von Fischern und Matrosen, als Helfer beim Fischfang und als Freunde ganzer Dörfer und Stäm­ me bekannt. 1888 z.B. begleitete ein RissoDelphin mit Namen Pelorus Jack Schiffe durch die Cook-Straße in Neuseeland, und dieses Ritual fand über eine Zeitspanne von fünfundzwanzig Jahren immer wieder statt. 1956 trauerte eine ganze Küstenstadt, Opononi Beach, auch in Neuseeland, um ihren geliebten Tümmler Opo. Auch in der Nähe von La Corogna in Spanien tauchte immer wieder derselbe Tümmler auf, den Jac­ ques Renoir, ein Gefährte von Jac­ ques Cousteau irrtümlicherweise Nino nannte, bis es sich heraus­ stellte, daß es sich in Wirklichkeit um eine Nina handelte. An den beiden Orten wurde dem geliebten Freund ein Denkmal gesetzt. Den Imragen in Mauretanien helfen Delphine seit Tausenden von Jahren beim Fischfang, indem sie die Seebarben, von denen der Stamm lebt, in deren Netze trei­

ben. Deshalb wird der Delphin von diesem Fischervolk als hilfreicher Gott verehrt, dem niemand Scha­ den zufügen darf. Viele Zivilisationen der Antike, wie die Etrusker, die Ägäer, die Phönizier, die Minnoer und die Kreter kannten Geschichten über Delphin-Reiter und Schiffe und Fi­ scher, die von Delphinen gerettet wurden. So nahm Apollo die Form eines Delphins an, um ein Schiff der Kreter nach Delphi (!) zu füh­ ren. Aristoteles pries ihr sanftes Wesen und ihre Stimme, die er mit der des Menschen verglich. Aristoteles’ Beschreibungen von Delphinen, auf denen kleine Knaben reiten, wurden durch die Jahrhunderte nie richtig ernst genommen - es war John Lilly, der in Flipper den jungen Schauspieler dazu brachte, sich von einem Del­ phin durchs Wasser ziehen zu lassen. „Eine moderne Bestätigung von Aristoteles’ Bemerkung über klei­ ne Knaben und Delphine wurde in Zusammenhang mit Ivan Tors bei den Dreharbeiten zu seinem Film Flipper auf den Bahamas ge­ macht. Ivan bat mich, als Berater an diesem Film mitzuwirken. Wir diskutierten die Möglichkeit, den Hauptdarsteller des Films mit dem Flipper genannten Delphin schwimmen zu lassen. Diese Ge­ schichte wurde von Santini, dem Mann, der die Delphine für diesen Film gefangen hatte, verneint. Er sagte: ,Es ist unmöglich.‘ Ivan fragte mich, ob ich eine Vorführung zum Test von Aristote­ les’ Bemerkung arrangieren könne. Ivan, seine Frau, die zwei Kna­ ben und ich begaben uns darauf ins Wasser. Wir verbrachten etwa drei Stunden damit, die Hände auszustrecken, um zu versuchen, die drei Delphine zu berühren. Als sie festgestellt hatten, daß unsere Hände weich waren und wir ihnen kein Leid zu fügen wollten, kamen sie langsam näher, um schließlich in ihrer ganzen Länge an uns vor­ beizugleiten, was uns erlaubte, sie von Kopf bis Fuß zu streicheln. 129

Am nächsten Tag (...) konnten die zwei Knaben auf die Rücken­ flosse des Mutter-Delphins klet­ tern; dieser trug sie aufs offene Meer hinaus und tauchte nur so lange mit ihnen, wie ihr Atem reichte; dann brachte sie die bei­ den zurück und setzte sie im seich­ ten Wasser beim Strand ab. “ Doch können Delphine weitaus mehr als der berühmte Flipper aus der beliebten Kinderserie. Sie sind nicht nur zutrauliche und intelli­ gente Geschöpfe, sondern suchen die Nähe der Menschen, auch wenn dies manchmal bedeutet, daß sie sich dazu in unsere Gefan­ genschaft begeben müssen. Sind sie nämlich einmal in einem Bekken gefangen, suchen sie auch dann die Freiheit nicht, wenn ih­ nen die Möglichkeit geboten wird, dieses wieder zu verlassen, wie dies einige Tierfreunde kürzlich erstaunt feststellten, als sie zwei Beluga-Wale der amerikanischen Marine befreien wollten: Einer der beiden Wale unternahm lediglich eine kleine Spritztour und kam dann wieder zurück, der andere verließ nicht einmal sein Gehege! Delphine sind sichere Psycholo­ gen und schubsen den, der den starken Mann vor ihnen spielt, ger­ ne eine bißchen herum. Scheuere Menschen werden entsprechend sanfter behandelt. Wenn man die Delphine respektiert und sich ih­ nen so nähert, wie man einem Menschen begegnet, den man schätzt, sind Delphine spielerisch, anhänglich und zärtlich. Delphine haben eine intensive geistige Präsenz. Man spürt ein fremdes und doch vertrautes Be­ wußtsein, wenn sie einen betrach­ ten. Dies mag sehr romantisch klingen, doch haben zum Beispiel gerade Tümmler ein Gehirn, das sich punkto Masse ziemlich mit dem des Menschen deckt. Es scheint gar nicht so unsinnig an­ zunehmen, daß Delphine über ein Bewußtsein verfügen, das unsere menschliche Spiritualität bei wei­ tem übersteigt. Daß es die Cetaceen schon seit rund 30 Millionen Jahren gibt und ihre hintere Ge­ 130

hirnrinde, wo unser Geist assozia­ Cetaceen haben keine Stimm­ tive Prozesse vollzieht, tiefere Fur­ bänder, und doch können sieTöne chen aufweist, sind Hinweise da­ hervorbringen. Die über dem Was­ für. Auch scheint das Delphinge­ ser gehörten Töne stammen von hirn über etwa gleich viele Zellen einer Reihe von Luftkammern wie unseres zu verfügen, und de­ knapp unter der Nasenöffnung, ren größerer Abstand zueinander die bei den meisten Meeressäu­ gibt zu verschiedenen Spekulatio­ gern oben auf dem Kopf liegt. Tö­ nen über Länge und Verwindun­ ne, die man unter Wasser wahr­ gen von Dendriten und Neuriten nimmt, entspringen derselben Anlaß. Die Gehirne der zweiund­ Quelle und können in jede beliebi­ fünfzig Delphinarten wiegen zwi­ ge Richtung ausgesandt werden. schen 300 Gramm, der Größe ei­ Das Quieken, Schnattern und Pfei­ nes Schimpansengehirns, bis zu 6 fen wird durch Wechseln der Luft Kilogramm - vier Mal mehr als das von einer Kammer zur anderen menschliche Gehirn. hervorgebracht und gleicht den Tönen, die ein Ballon macht, wenn „Wenn ein Wal oder ein Delphin man daraus die Luft entweichen dich anschaut, weißt du, daß dich läßt. Das Tier kontrolliert den Luft­ etwas betrachtet. Es ist nicht das­ austausch zwischen den einzel­ selbe wie bei Hunden und Katzen. nen Kammern und kann so sowohl Nicht daß ich Hunde und Katzen sehr hohe als auch sehr tiefe Töne nicht mag; ich liebe Hunde, und hervorbringen. Eine bestimmte ich liebe Katzen, doch ist es nicht Frequenz dient zur kurz- oder dasselbe. Du weißt, daß hinter die­ langstreckigen Echolotung, eine sem Blick eine ungeheure Präsenz andere zur Kommunikation. Auch liegt. Sie analysieren und verwer­ haben die Delphine eine Art Notruf ten ihre Eindrücke ganz anders als entwickelt, der sich von allen ihren ein Hund oder eine Katze. Sie sind anderen Äußerungen unter­ uns Menschen ähnlicher, doch scheidet. wiederum auf ganz andere Art. Wir Menschen können nur mit Und sie sind größer. Wenn du ei­ unseren Augen «sehen. Dazu nen Schuß von diesem Bewußt­ braucht es Licht. Delphine können sein abbekommst, wie mir das mit auch anders „sehen“, indem sie einem Beluga-Wal passiert ist ... Echolotung einsetzen, eine Art Nun, ich hatte einfach keinen Platz biologischer Radar, das ihnen er­ für die Information, die da auf mich möglicht, in dunklem oder trübem eindrang. Mein Gehirn ist nicht Wasser Nahrung und andere Ge­ groß genug, um sie zu absorbie­ genstände über mehrere Meilen zu ren, und doch wurde eine riesige lokalisieren. Menge an Information registriert.“ Fledermäuse und gewisse asia­ (Toni Lilly bei einem Gespräch mit tische und südamerikanische Vo­ dem SM im Juni 1982 in Malibu, gelarten verfügen ebenfalls über Kalifornien.) Radar. Sie stoßen in der Luft schrille Töne aus, die von Gegen­ Anatomisches ständen ab- und zurückprallen Delphine atmen willentlich, das und ihnen so vermitteln, in wel­ heißt, daß sie nur dann atmen kön­ cher Richtung sie fliegen. Der Del­ nen, wenn sie bei Bewußtsein sind. phin verfügt über ein ähnliches, So müssen sie alle drei bis vier doch weitaus entwickelteres Ra­ Minuten auftauchen. Bei Krank­ dar-System. Schnattergeräusche heit oder Unfall sind sie auf ihre und Pfiffe werden durch die soge­ Artgenossen angewiesen, die sie nannte Melone (der vorstehenden tatsächlich so lange an der Ober­ Stirn der Zahnwale) ausgesendet. fläche tragen, bis sie wieder zu Diese zieht sich je nach der ge­ sich selbst schauen können. Da­ wünschten Frequenz zusammen her kommt es sicher auch, daß sie oder dehnt sich aus. Die hervorge­ schon so oft ertrinkenden Men­ brachten Töne verlassen die Melo­ schen geholfen haben. ne entweder auf direktem Weg

oder gelangen durch den Kiefer ins Wasser, wo sie von den Gegen­ ständen abprallen und reflektiert werden. Das Echo wird vom Tier durch den Unterkiefer empfangen. Die Schwingungen durchqueren eine dünne, fettige Substanz im Kiefer, gelangen zum sogenann­ ten akustischen Fenster im hinte­ ren Kieferteil und schließlich zum Innenohr. Das entstandene akusti­ sche Bild erlaubt dem Delphin, Größe, Dichte, Lage und Ge­ schwindigkeit des angepeilten Ge­ genstandes zu erkennen. Eine Del­ phinart, der Ganges-Delphin, ist z.B. völlig blind, doch verläßt er sich auf seinen äußerst differen­ zierten Bioradar, um sich fortbe­ wegen und Nahrung finden zu können. Das Herz des Delphins weist die für Säuger typischen vier Kam­ mern auf, doch kommt es im kar­ diovaskulären System zu Abwei­ chungen gegenüber anderen Säu­ getieren. Delphine und andere Cetaceen reisen während der Wan­ derzeit oft durch kaltes und war­ mes Wasser. In tropischen Gewäs­ sern setzen der obere Teil des Nakkens und die Flossen Körperhitze frei, um die erhöhte Temperatur auszugleichen. Nacken und Flos­ sen sind Partien von massiver und komplexer Durchblutung. In kälte­ ren Gewässern wird in den Win­ dungen der Blutgefäße Wärme konserviert. Delphine können über längere Zeit bis zu 400 Meter tief tauchen, ohne unter dem starken Druck zu leiden. Anders als wir Menschen können Delphine beim Atmen gro­ ße Mengen Sauerstoff in ihrem Muskelgewebe speichern. Beim Tauchen wird, außer zu den wich­ tigsten Organen, die gesamte Blut­ zirkulation abgeblockt. Unter­ drück wird vermieden, da die Mus­ keln den Abgang von Stickstoff­ blasen in den Blutstrom unter­ binden. Auch wenn man die Schlafmu­ ster der Delphine nur wenig ver­ steht, scheint es, daß nur eine Hälfte des Delphingehirns auf einmal ruht. Sie schlafen überhaupt sehr wenig. Eine Theorie besagt, daß

Delphine weniger Schlaf brau­ chen, weil sie in einem Zustand der relativen Schwerelosigkeit leben. Dieses konstante Bewußtsein wird jedoch nicht von allen Arten auf­ rechterhalten. So scheint zum Bei­ spiel der Amazonas-Delphin, eine der vier Süßwasser-Delphinarten, weitaus mehr Schlaf zu brauchen als irgendein anderer Cetacea. Die Haut des Delphins besteht aus drei Schichten. Die äußere Schicht, die Epidermis, ist sehr dünn und geschmeidig. Die mittle­ re Schicht, oder Dermis, ist eben­ falls sehr dünn und stützt die Epi­ dermis. Die innere Schicht oder Hypodermis besteht aus vielen Fettzellen und ist sehr dick. Man nennt sie den Speck. Dieser Speck dient sowohl dazu, den Körper im kalten Wasser zu schützen als auch dazu, die Nahrung zu spei­ chern. Die Verdauung beginnt beim Delphin nicht im Rachen, wie bei den meisten Säugern. Auch wenn Delphine mehr Zähne haben als irgendein anderes Säugetier (bis zu zweihundert bei manchen Ar­ ten), können sie aufgrund deren konischer Form und der Beschaf­ fenheit ihrer Kiefer nicht kauen. Die Nahrung wird deshalb ganz verschlungen und geht durch vier Magen (einem Vormagen und drei Magenpartien - gleich wie bei den Wiederkäuern), die so entwickelt sind, um ganze Fische zu ver­ dauen. Das Alter eines Delphins wird an den Ringen am Zahnbelag um den inneren Teil der Zähne bestimmt. Wie bei den Bäumen entspricht jeder Ring einem Jahr. Die durch­ schnittliche Lebenserwartung liegt bei fünfundzwanzig bis vier­ zig Jahren, doch können sie so alt wie wir Menschen werden. Delphine sind sehr soziale Tiere und leben nicht gerne allein. Sie bewegen sich meist in großen Her­ den; bei manchen Arten können dies bis zu 5000 Tiere sein, die in Familienverbänden überviele Mei­ len verstreut leben. Während der Pubertät (im Alter von 3-5 Jahren) trennen sich die Jungtiere nach Geschlecht in Gruppen und kom­

men erst zur Herde zurück, wenn sie die Geschlechtsreife erreicht haben. Cetaceen sind sehr sinnliche Wesen. Sexuelle Kontakte spielen in ihrem Leben eine wichtige Rol­ le, sei es in Form von zärtlichem Reiben, Beißen oder Kratzen. Nach einer Schwangerschaft von neun bis zehn Monaten kommen die Jungen zur Welt. Diese „Einzel­ kinder“ sind normalerweise rund 90 cm lang und wiegen um die 12 kg. Sie kommen meist schwanzvoran zur Welt, da sie ja unter Wasser geboren werden, doch sind auch „Kopfgeburten“ keine Seltenheit. Ein kleiner Del­ phin trinkt etwa ein Jahr lang Mut­ termilch, während er „fischen“ lernt. Die Mütter wachen sehr um­ sichtig über ihre Jungen und blei­ ben bis zu fünf Jahren bei ihnen. Es scheint, daß die älteren Del­ phin-Bullen sich kaum mit der Kin­ dererziehung befassen, doch Kü­ he und Kälber hängen sehr anein­ ander, und es ist schon vorgekom­ men, daß Delphinmütter in ein Fi­ schernetz sprangen, in dem sich ihr Junges verfangen hatte. „Delphine bekommen ihre Jungen ziemlich tief unter der Wasser­ oberfläche. Wenn eine Delphin­ mutter dabei ist, ein Junges zu gebären, wird sie von einem Schwarm weiblicher Delphine be­ gleitet, die man „Tanten“ (oder Hebammen!) nennen könnte. Wenn das Junge geboren ist, steigt es normalerweise sofort an die Oberfläche, um seinen ersten Atemzug zu tun. Ist es aus irgend­ einem Grund nicht dazu bereit, so wird es von den „Tanten“ an die Wasseroberfläche gedrängt und zum Atmen gezwungen." (Aus „Bewußt fruchtbar sein", Haldenwang 1980) Ein oft beobachtetes Phänomen ist das des Strandens. Es scheint, als würden Delphine manchmal den Freitod wählen, wie dies vor­ gekommen ist, wenn ein Delphin von einem menschlichen Freund getrennt wurde. Plinius erzählt von einem armen Jungen, der sich 131

mit einem Delphin anfreundete, der ihn darauf jeden Tag übers Wasser ans andere Ufer trug. Als der Junge starb, wollte auch der Delphin nicht mehr länger leben. Manchmal kommt es zu regel­ rechten Massenstrandungen von Delphinen und Walen. Eine mögli­ che Erklärung dafür ist, daß diese Tiere an einer parasitären WurmErkrankung leiden, die ihren Orientierungssinn derart durch­ einanderbringt, daß sie keine Nah­ rung mehr finden. Auch können hohes Alter oder Verletzungen da­ für verantwortlich sein, wie auch ein sterbender Führer, der durch Hilferufe ganze Herden anzieht. (Sollte man übrigens je einen gestrandeten Delphin finden, ist es vor allem wichtig, seine Haut naß­ zuhalten. Es darf jedoch auf gar keinen Fall Wasser in die Nasen­ öffnung geraten!)

Gedanken zur InterSpezies-Kommunikation „Wie die Astronauten beim Hin­ unterschauen auf die Erde eine tiefe geistige Neuorientierung er­ fuhren, werden wir alle einen wich­ tigen spirituellen Durchbruch er­ fahren, wenn wir das erste Mal mit einer anderen Spezies kommuni­ zieren. Der Mensch wird sich sei­ ner Einsamkeit als , Krone der Schöpfung' zum ersten Mal wirk­ lich bewußt werden, denn er ist immer einsam gewesen und hat nie eine andere Perspektive erfah­ ren. Wenn man eine andere Spe­ zies als intelligent und auf dersel­ ben Stufe wie das eigene Gehirn akzeptiert, wird man den Planeten mit ganz anderen Augen betrach­ ten, denn man wird nicht länger der einzige dort sein." (Toni, im Gespräch mit dem SM.) Wie Ted Grail in dem John Lilly gewidmeten Kapitel seines Buchs Apetalk and Whalespeech (Bo­ ston/Los Angeles 1982) bemerkt, gleicht die Suche nach einer Inter­ spezies-Kommunikation der Su­ che nach der Doppelhelix der DNA wie auch der nach dem Heiligen Gral. Es ist also sowohl eine wis­ 132

senschaftliche als auch eine spiri­ tuelle Suche. Die wissenschaftliche Arbeit be­ steht zur Zeit hauptsächtlich aus einer Reihe von Versuchen, den Delphinen das Sprechen beizu­ bringen. Nur wenige Menschen, meist der jüngeren Generation, glauben, wie John traurig be­ merkt, an die Intelligenz und die alte Weisheit der Meeressäuger, weil derlei Ansichten natürlich kaum in das traditionelle Schema der Wissenschaft passen. „In der Vergangenheit (vor 1965) meinte ich, daß die wissenschaftli­ che Warte der totalen Objektivität, des unparteiischen Beobachters, das Alpha und Omega eines Le­ bens sei. Ich glaube nicht länger, daß eine solche leidenschaftslose, unberührte Sicht der Ökologie je funktionieren wird. Ein Wissen­ schaftler, der keine soziale Verant­ wortung, jenes Feedback aller Mit­ glieder seiner Art, übernimmt, übernimmt keine Verantwortung dafür, über eine beschränkte, ei­ gennützige Rolle in der Gesell­ schaft hinaus, ein Mensch zu sein. “ So lassen z.B. Robert Anton Wil­ son und Robert Shea in der llluminatusl-Trilogie auch einen Delphin auftreten. Howard ist ein tief philo­ sophisches Tier, das am liebsten lange Epen deklamiert, in denen in Gedichtform von der Geschichte der Delphine, der Wale und der Ozeane die Rede ist. Howard und seine Artgenossen werden als op­ ferbereite und äußerst mitfühlen­ de Wesen dargestellt, die auch den Tod nicht scheuen, wenn es darum geht, uns Menschen in ihren dunk­ len Stunden, der grandios insze­ nierten Immanentisierung des Eschatons zu helfen. Lilly argumentiert ähnlich, und aus seinen Büchern dürften die meisten in llluminatus! aufbereite­ ten Ideen auch stammen. Auch bei ihm reichen die Sagas über die Kultur der Delphine 30 Millionen Jahre zurück und sprechen von der totalen gegenseitigen Abhän­ gigkeit aller Meeresorganismen.

Sie zeigen die Mittel auf, durch die diese gegenseitige Abhängigkeit zustande kam, und warum sich im Meer die verschiedenen Spezies tolerieren und akzeptieren; einen Respekt, den es unter den Landar­ ten in diesem Ausmaß nicht gibt, vor allem bei uns Menschen nicht! Sie erklären uns die Toleranz der Spezies mit größerem Gehirn ge­ genüber jenen, die nur über ein kleineres Denkorgan verfügen und erklären, wie diese Überlebensre­ geln über die Jahrmillionen ent­ standen. In den Geschichten der Wale und Delphine hören wir von gro­ ßen planetarischen Katastrophen, von riesigen Erdbeben, Verschie­ bungen der Erdachse, der Zerstö­ rung ganzer Meere und der Ge­ walttätigkeit derer, die diese Kataklismen überlebten. Die miteinan­ der verbundenen Ozeane erlaub­ ten genügend Cetaceen zu überle­ ben, da der polsternde Effekt der Wassermassen sie vor Schaden bewahrte. Die Wale erzählen ihren menschlichen Freunden von ihrer eigenen Evolution. Sie berichten über vergangene Kontakte zwi­ schen Cetaceen und Menschen in prähistorischen Zeiten. Sie wissen von eigenartigen Gefährten zu er­ zählen, die vom Himmel herunter­ kamen und alle Lebewesen stau­ nen ließen. Sie lehren uns alles, was sie über diese Raumfahrer und ihre Schiffe wissen, damit wir aus diesem Wissen Nutzen für un­ sere eigene Eroberung des Welt­ alls ziehen können. Sie führen uns zu einer Evolu­ tion der menschlichen Wissen­ schaft jenseits ihrer gegenwärti­ gen Grenzen und weisen auf Kom­ munikationsmittel, die weit über das hinausgehen, was wir mit un­ serer menschenzentrierten Wis­ senschaft der Vergangenheit er­ reicht haben. Die Wale und Delphi­ ne lehren uns Menschen, daß ga­ laktisches Überleben von der Übermittlung der grundsätzlichen Überlebensprogramme aller Le­ bensformen abhängt, ganz gleich, welcher Art diese sein mögen. Die Menschen einer solchen Zu­

ches Massaker unter den dortigen Delphinen veranstaltet, und es ist kein Ende in Sicht, obwohl sich Wissenschaftler verschiedener Länder zusammengefunden ha­ ben, um zu versuchen, die bedroh­ ten Tiere mittels akustischen Gerä­ ten anderswo hinzulocken. Gegenwärtig gibt es verschiede­ ne Gruppen wie Greenpeace und die Foundation Weber oder einzel­ ne wie Brigitte Bardot, die vor al­ lem auf das brutale Abschlachten von Walen und Robben hingewie­ sen haben. Doch ist bis jetzt keine dieser Gruppen an die Öffentlich­ keit getreten, um für den Glauben an die Intelligenz und die kultu­ rellen Errungenschaften der Cetaceen Informationen zu verbreiten. Also scheint es, als würde die Kul­ „Ich bin weder Optimist noch Pes­ tur der Meeressäuger, wie die der simist, ich bin Realist.“ (John im Inkas, Mayas oder Azteken, bald SM-Gespräch in Malibu) auf immer zerstört werden.

kunft lösen ihre nationalen und internationalen Streitigkeiten im Licht des neuen Wissens. Sie tre­ ten mit entfernten Zivilisationen in der Galaxis in Verbindung und ler­ nen nicht zuletzt von Walen und Delphinen, wie sie mit diesen kom­ munizieren können. Sie lernen In­ telligenzen kennen, die viel höher entwickelt sind als jene von Cetacea oder Mensch. Die Menschen jener Zukunft beginnen ihren Platz im Universum zu verstehen. Der neue Gott dieser Menschen, die eine wahre Humanität erreicht haben, wird groß genug sein, um das ganze Universum zu umfas­ sen. Und Er spricht zu ihnen: „Ver­ ehrt keine kleineren Götter als mich.“

Doch sieht die Wirklichkeit auf ver­ heerende Weise anders aus, wenn John das Träumen läßt, und er weiß dies nur zu genau: Die gegenwärtigen Schutzgesetze für Mee­ ressäuger aus den Jahren 1972 und 1973, die jedoch nicht von allen meeresanwohnenden Län­ dern unterschrieben worden sind, gehen immer noch davon aus, daß alle Lebewesen eine natürliche Nutzquelle für den Menschen dar­ stellen, wie dies auch die Bibel lehrt: Daß wir da sind, um uns die ganze Schöpfung untertan zu ma­ chen. Den Cetaceen und Robben wird zwar ein Minimum an Schutz gewährt, doch vor allem die Thun­ fischer der ganzen Welt schlach­ ten unsere Delphine immer noch zu Tausenden ab, weil sie in ihnen einen natürlichen Feind sehen, der ihnen die Beute abjagt und ihre Netze beschädigt. Seit 1959 sind über sechs Millionen Delphine in den Netzen dieser Fischer zugrun­ de gegangen. Trotz der seit 1976 in den Vereinigten Staaten gesetz­ lich festgelegten Fangquoten für Delphine durften 1980 allerdings immer noch zwanzigtausend Del­ phine abgeschossen werden. Auf den Iki-Inseln vor Japan ha­ ben Fischer kürzlich ein schreckli­

„Die Delphine suchen unsere Nä­ he. Sie tun dies auf der ganzen Welt. Es gibt Orte in Australien, wo Delphine schon seit Generationen hinkommen. Sie bringen den Men­ schen ihre Jungen, damit wir sie anschauen können. Sie sind ein­ fach faszinierend und haben uns bestimmt viel zu lehren." (Toni Lil­ ly gegenüber dem SM.)

Die Human/Dolphin Foundation John Lillys erste Versuchsreihe mit Delphinen auf den Virgin Is­ lands endete tragisch, als sechs seiner Tiere starben. John ist da­ von überzeugt, daß sie aus seeli­ schen Nöten Selbstmord begin­ gen, eine Ansicht, die kein anderer Wissenschaftler mit ihm teilt. Wie Ted Grail bemerkt, ließ er die drei restlichen Tiere mit einer für ihn typischen Bemerkung frei. Er sag­ te: „Ich wollte meine Freunde nicht länger in einem Konzentra­ tionslager gefangen halten.“ Im übrigen hatte die Meinung der ört­ lichen Behörden schon das ihrige zu diesem Debakel beigetragen: Man drohte den vermeintlich sata­ nisch grausamen Wissenschaftler auszuweisen!

Diese ersten Delphine waren nach streng wissenschaftlichem Muster gehalten und nur mit Fi­ schen oder durch direkte Gehirn­ belohnung mittels Elektroden er­ zogen worden, einem Modell, dem Lilly und seine Mitarbeiter nun schon seit längerer Zeit eine lie­ bevolle „Mutter-Kind-Beziehung“ gegenüberstellen. Die erste solche „Mutter“ war Margaret Howe. Sie verbrachte 1967 zweieinhalb Monate mit dem Delphin Peter. Zu diesem Zweck war eine eigens geschaffene „Naß-

Susanne G. Seiler, geboren in Amsterdam, studierte Soziologie und Linguistik. Sie ist Redakteu­ rin des Sphinx Magazin, Überset­ zerin, freie Journalistin, Frau, Hausfrau und Mutter und lebt und arbeitet in Basel.

wohnung“ eingerichtet worden. Ein regelrechtes Apartment, das 70 cm unter Wasser stand, damit Peter und Margaret Tag und Nacht beisammen sein konnten. Peter lernte besser Englisch als irgend­ ein Delphin vor oder nach ihm, obwohl Delphine nur Vokale und keine Konsonanten aussprechen können. Auch sprechen sie nie durch den Mund, wie man uns in dem Film Am Tag des Delphins glauben machen möchte, sondern immer und ausschließlich durch die Nasenöffnung. Delphine ah­ men vor allem unsere Klangfarbe und Betonung, die Länge und Fre­ quenz unserer Worte nach. Aus Margaret wurde deshalb der Ein­ fachheit halber „Margrit“. Sie und Peter hatten ein sehr zärtliches Verhältnis zueinander.

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Heute arbeitet die Human/Dolphin Foundation unter Lillys Bera­ tung mit einer simulierten Compu­ ter-Sprache, JANUS, einer Spra­ che, die eine Synthese zwischen „Delphinesisch“ und Englisch dar­ stellt. Mittels Tastendruck können Worte zusammengesetzt werden, in Klänge übersetzt ausgestrahlt und von den Delphinen empfan­ gen werden. Die von den beiden Tümmlern Joe und Rosie hervor­ gebrachten Töne werden eben­ falls aufgenommen und auf eine Frequenz „hinuntergeschraubt“, die von uns Menschen wahrge­ nommen werden kann. Die so er­ haltene, schematische Darstel­ lung auf dem Computer-Bild­ schirm wird mit den Mustern der vorgesagten Worte verglichen. Joe und Rosie üben jeden Tag einfache Worte wie „spring“, „sprich“ oder einfache Sätze wie „Joe - Flosse berühr Ball“ und kommen diesen Aufforderungen getreu nach. Ihre Namen können sie schon längst aussprechen. Sie lernen schnell und blasen einan­ der oft die richtigen Antworten ein. Wir Menschen erlernen unsere Sprache durch Nachahmung und assoziieren die gelernten Laute erst mit einer bestimmten Bedeu­ tung, wenn wir sie besser ausspre­ chen können. Auch innerhalb einund derselben Spezies ist dies ein Prozeß, der Jahre erfordert, des­ halb ist JANUS ein Langzeit-Pro­ jekt. Nebst den Sprachlektionen wird zur Zeit ein ganz neues Projekt erforscht, das Klarheit darüber schaffen soll, ob Joe und Rosie bestimmte, ihnen vertraute Perso­ nen auch außerhalb des Wassers erkennen. Dazu stellen sich einige ähnlich gekleidete Betreuer ums Bassin. Einer von ihnen stellt ei­ nen Kessel mit Fischen vor sich hin. In einer ersten Stufe lernen die Delphine, immer zu der Person zu schwimmen, die die Fische hat, wobei diese den Standort immer wieder wechselt. Spätere Versu­ che sollen aufzeigen, ob Joe und Rosie ihre Freunde auch ohne ent­ sprechende Belohnung erkennen, denn sie wollen gar nicht immer 134

essen, sondern mögen auch Strei­ cheleinheiten, und reagieren er­ freut auf Bravo-Rufe und Hände­ klatschen. Etwas wird von den Lillys jedoch bei diesen Versuchen immer wie­ der bedauert, nämlich daß es für die intelligenten Delphine viel leichter ist, von uns zu lernen, als umgekehrt, denn die Kommunika­ tion zwischen Mensch und Del­ phin läuft nebst Spielerei, Essen und Erotik wohl hauptsächlich te­ lepathisch ab. Joe und Toni hoffen deshalb, ihre Delphine auch tatsächlich bald freilassen zu können. (Joe und Rosie wurden sehr jung ge­ fangen und kennen ihre eigene Kultur wahrscheinlich kaum.) Sie arbeiten dazu an einem neuen Pro­ jekt der Stiftung, laut dem „Schu­ len“ zur Interspezies-Kommunika­ tion auf Hawaii und in Mexiko ein­ gerichtet werden sollen, die vor allem auf Familien mit Kleinkin­ dern abzielen. Kinder lieben Del­ phine, und sogar schwer autisti­ sche Kinder, solche also, die ihre ganze Wirklichkeit nach innen projizieren und nur wenig Kontakt zur Außenwelt finden, sprechen sofort auf sie an und können von ihren Tierfreunden lernen, was es heißt, eine Beziehung zu ge­ stalten. Ein weiteres Interesse der Lillys gilt der menschlichen Geburt un­ ter Wasser, wie sie gegenwärtig vor allem in Rußland erforscht wird. Bei einer solchen Geburt schwimmt das Neugeborene un­ mittelbar nach der Entbindung erst unter der Wasseroberfläche der Wanne, in der auch seine Mut­ ter liegt, bis es sich dann langsam nach oben treiben läßt, um an der Oberfläche den ersten Atemzug zu tun. Die Gebärende soll durch den Faktor der relativen Schwerelosig­ keit weniger an Geburtswehen lei­ den als bei den herkömmlichen Methoden. Unter Wasser gebore­ ne Babies, sogenannte „Superbabies", lernen schneller sprechen und laufen als die „normal“ zur Welt gekommenen Kinder und gel­ ten überhaupt als intelligenter. Die Parallelen zwischen

schwimmenden Säuglingen und Delphinbabies liegen auf der Hand. In tropischen Gewässern sollen Menschen- und Delphinkin­ der gemeinsam aufwachsen, um so zu einem schnelleren Verständ­ nis zwischen unseren Arten beizuVeröffentlichungen Man and Dolphin, New York 1961; The Mind of the Dolphin, New York 1967; Programming and Metaprogram­ ming in the Human Biocomputer, New York 1974; Im Zentrum des Zyklons: Ein,e Rei­ se in die Inneren Räume, Frankfurt 1981; Simulations of God: The Science of Belief, New York 1981; Lilly on Dolphins, New York 1975; mit Antonietta Lilly: The Dyadic Cyclone, New York 1975 (Der Dyadische Zyklon, Basel 1983); The Deep Seif: Profound Relaxa­ tion and the Tank Isolation Techni­ que, New York 1977 + 1981: The Scientist: a Novel Autobiography, Philadelphia + New York, 1978 + 1981; Communication between Man and Dolphin: The Possibilities of Tal­ king with Another Species, New York 1978. Dr. Lilly arbeitet zur Zeit an einem neuen Buch mit dem vielverspre­ chendenden Titel Don’t bore God.

tragen, in der Hoffnung, so das erste Hindernis einer wirklichen gemeinsamen Zukunft schneller aus dem Weg zu räumen: Es gilt nach wie vor, die Sprachbarriere zu überwinden! Wo nicht anders erwähnt, sind alle Zitate aus John C. Lilly: Communica­ tion between Man and Dolphin. © Sphinx Magazin Nr. 18,1982

Michael Harner

Der Weg des Schamanen Carlos Castaneda hat mit seinen Büchern über die „andere Wirklichkeit“ der Schamanen Millionen von Menschen begeistert. Durch seinen mexikanischen Lehrund Zaubermeister Don Juan erlebte Castaneda viele ungewöhnliche und unglaubliche Geschichten. Er verstand es, seine anthropologischen Erkenntnisse spannend zu vermitteln - ja, er ging in seinen Büchern sogar so weit, den Übergang vom „normalen“ zum „scha­ manischen“ Bewußtseinszustand zu verwischen, so daß der Leser nicht mehr weiß, was „Wirklichkeit“ und was Traum ist. Es gab regelrechte Glaubenskämpfe unter den Millionen Castaneda-Lesern über die „Echtheit“ der Erlebnisse und Reisen des Zauberlehrlings Carlos Casta­ neda. Den Castaneda-Geschichten liegen nämlich recht viele eindeutige Erkenntnisse und Forschungen zugrunde, die jedermann zugänglich sind. Was jedoch neuartig und seltsam für uns Europäer anmutet, ist die Form, die Technik oder Kunst, wie man an diese „andere Wirklich­ keit“ herankommt. Statt einer weiteren „phantastischen Reise“ à la Casta­ neda stellen wir deshalb einen Anthropologen vor, der all das erforscht und erlebt hat, was Castaneda behauptet getan zu haben - und der uns einführt in die schamani­ sche Methode. Michael Harner ist ein Anthropologe, der sich auf Schamanismus spezialisiert und Erfahrungen vor allem bei Indianerstämmen des oberen Amazonas gesammelt hat, die kaum jemand vorweisen kann. Als „echter“ Schamane schafft Harner auch die Verbin­ dung des schamanischen Bewußtseinszustands mit unserem Alltag. Er schlägt die Brücke von der Indianer­ kultur zum wissenschaftlich-technischen Industriezeit­ alter. Wenn man ihn bei einem seiner Workshops ganz selbst­ versunken die Indianertrommel schlagen hört, vermag man kaum zu glauben, daß dieser „Zauberer“ am näch­ sten Tag in der Universität von New York Vorlesungen halten wird. Doch gerade dieser Zusammenhang ist es, der den wirklichen Schamanen ausmacht. Weder die abstrakte Wissenschaft, noch die entrückte Träumerei sind für sich genommen von Wert. Erst durch die Verbin­ dung können neue Erkenntnisse gewonnen werden.

Schamane ist ein Wort aus der Sprache der Tungusen Sibiriens1 und wurde von Anthropologen weitgehend übernommen für ganz unterschiedliche Menschen nicht­ westlicher Kulturen, die früher un­ ter folgenden Bezeichnungen be­ kannt waren: Hexe, Hexendoktor, Medizinmann, Zauberer, Hexen­ künstler, magischer Mensch, Ma­ gier und Seher. Einer der Vorteile bei der Verwendung dieses Be­ griffs besteht darin, daß ihm die nachteiligen Obertöne und sich widersprechenden Bedeutungen fehlen, die mit den bisher üblichen Bezeichnungen verbunden waren. Im übrigen aber ist nicht jede Art Medizinmann oder Hexendoktor ein Schamane. Ein Schamane ist ein Mann oder eine Frau, der - willentlich - in einen anderen Bewußtseinszu­ stand eintritt, um mit einer norma­ lerweise verborgenen Wirklichkeit in Berührung zu kommen und sie auszuwerten, um Wissen, Kraft und Hilfe für andere zu erhalten. Der Schamane hat wenigstens ei­ nen und meistens mehrere „Gei­ ster“ zu seiner persönlichen Verfü­ gung.2 Wie Mircea Eliade feststellt, un­ terscheidet sich der Schamane von Magiern und Medizinmännern durch seinen Übergang in einen Bewußtseinszustand, den Eliade entsprechend der westlichen my­ stischen Tradition „Ekstase" nennt. Aber die Ekstasetechnik al­ lein, so betont er richtig, erklärt nicht das Wesen des Schamanen; denn der Schamane hat besonde­ re Techniken der Ekstase. So sagt Eliade: „Man kann daher nicht ei­ nen jeden Ekstatiker als Schama­ nen betrachten; der Schamane ist Spezialist einer Trance, in der sei­ ne Seele den Körper verläßt und gen Himmel fliegt oder in die Un­ terwelt hinabsteigt.“3 Dem möchte ich hinzufügen, daß er in seiner Trance im allgemeinen daran ar­ beitet, einen Patienten zu heilen, indem er gesundmachende Le­ benskraft erneuert oder schädli­ che Kräfte herauszieht. Die Reise, auf die Eliade hinweist, wird insbe­ sondere unternommen, um Kraft 135

oder eine verlorene Seele zurück­ zuholen. Der „ekstatische“ oder verän­ derte Bewußtseinszustand und die wissenschaftliche Ausgangsbasis, die die schamanische Wirkweise charakterisieren, können am be­ sten einfach als „schamanischer Bewußtseinszustand'1 bezeichnet werden. Der schamanische Be­ wußtseinszustand umfaßt nicht nur eine „Trance“ oder eine trans­ zendente Wahrnehmung, sondern auch eine wissenschaftliche Wahrnehmung schamanischer Methoden und Voraussetzungen während eines solch veränderten Zustandes. Der schamanische Be­ wußtseinszustand steht im Gegen­ satz zum normalen Bewußt­ seinszustand, in den der Schama­ ne zurückkehrt, nachdem er sich einer bestimmten Aufgabe gewid­ met hat. Der schamanische Be­ wußtseinszustand ist die kognitive Voraussetzung, in welcher man die „nichtalltägliche Wirklichkeit“ des Carlos Castaneda und die „au­ ßergewöhnlichen Manifestationen der Wirklichkeit“ des Robert Lowie erkennt.4 Die wissenschaftliche Seite des schamanischen Bewußtseinszu­ standes umfaßt Informationen über die kosmische Geographie der nichtalltäglichen Wirklichkeit, so daß man wissen kann, wohin man reisen muß, um entsprechen­ de Tiere, Pflanzen und andere Kräfte zu finden. Dies schließt das Wissen darüber ein, wie der scha­ manische Bewußtseinszustand Zugang zur schamanischen Unter­ welt verschafft. Dieses Wissen schließt das Be­ wußtsein des Schamanen ein, daß er eine bestimmte beabsichtigte Mission erfüllen muß, während er im schamanischen Bewußt­ seinszustand weilt. Nichtalltägli­ che Wirklichkeit betritt man nicht aus Spielerei, sondern aus ernst­ haften Gründen. Der Schamane ist ein Mensch, der im schamani­ schen Bewußtheitsraum eine Ar­ beit verrichten muß, wozu er die grundlegenden Methoden kennen muß, die zur Erfüllung dieser Auf­ gabe notwendig sind. Wenn er 136

zum Beispiel die Schutztierkraft eines Patienten aus der Unterwelt zurückholen will, muß er die Tech­ nik kennen, wie man die Unterwelt erreicht, wie man eintritt, wie man die Tierkraft findet und sie unbe­ schädigt zurückbringt. Anschlie­ ßend muß er im normalen Bewußt­ seinszustand wissen, welche An­ weisungen er dem Patienten zu geben hat. Im schamanischen Bewußt­ seinszustand erfährt der Schama­ ne grundsätzlich eine unaus­ sprechbare Freude über das, was er sieht, eine Ehrfurcht vor den schönen und geheimnisvollen Welten, die sich vor ihm auftun. Seine Erlebnisse sind wie Träume, aber wache, die real empfunden werden und in welchen er seine Handlungen kontrollieren und sei­ ne Abenteuer bestimmen kann. Während er sich im schamani­ schen Bewußtseinszustand befin­ det, ist er oft bestürzt über die Wirklichkeit dessen, was sich ihm darstellt. Er erhält Zugang zu ei­ nem gänzlich neuen und doch alt­ vertrauten Universum, das ihm ge­ naue Informationen über die Be­ deutung seines eigenen Lebens und Todes und seinen Platz inner­ halb der Gesamtheit aller Existenz gibt. Während seiner großen Abenteuer im schamanischen Be­ wußtheitsraum behält er bewußte Kontrolle über die Richtung seiner Reisen, weiß aber nicht, was er entdecken wird. Er ist ein selbst­ verantwortlicher Entdecker der unendlichen Wohnungen eines großartigen, verborgenen Univer­ sums. Schließlich bringt er seine Entdeckungen zurück, um sein Wissen zu erweitern und anderen zu helfen. Der Schamane ist ein vorzügli­ cher Seher, der typisch in der Dun­ kelheit arbeitet oder mindestens mit bedeckten Augen, um klar zu sehen. Aus diesem Grunde sind die Schamanen meistens nachts tätig. Einige Formen schamani­ schen Sehens können mit offenen Augen durchgeführt werden; doch ist diese Art der Wahrnehmung von weniger tiefer Natur. In der Dunkelheit sind die Ablenkungen

aus der normalen Wirklichkeit von vermindertem Einfluß auf das Be­ wußtsein, wodurch es dem Scha­ manen möglich wird, sich auf die Aspekte der nichtalltäglichen Wirklichkeit zu konzentrieren, die für sein Wirken wesentlich sind. Aber Dunkelheit allein genügt nicht für das schamanische Se­ hen. Der Seher muß auch in den schamanischen Bewußtseinszu­ stand eintreten, wobei er oft durch Trommeln, Rasseln, Singen und Tanzen unterstützt wird. Schamanische Erleuchtung ist buchstäblich die Fähigkeit, die Dunkelheit zu erhellen, in jener Dunkelheit zu sehen, was andere nicht erkennen können. Dies könnte in der Tat die älteste Be­ deutung des Wortes „Erleuch­ tung“ sein. So wird zum Beispiel die besondere Fähigkeit zu sehen beim Iglulik Eskimo Schamanen genannt: sein qaumanEq, sein „Beleuchten“ oder „Erleuchtung“, „... die ihn befähigt, in der Dunkel­ heit zu sehen, sowohl buchstäb­ lich als bildlich gesprochen; denn er kann jetzt auch mit geschlosse­ nen Augen durch die Dunkelheit sehen, Dinge und kommende Er­ eignisse erkennen, die vor ande­ ren verborgen sind; so sehen sie in die Zukunft und in die Geheimnis­ se anderer“.5 Aua, ein Iglulik Eskimo Schama­ ne, beschrieb seine schamanische Erleuchtung wie folgt: ...Ich bemühte mich, mit Hilfe an­ derer ein Schamane zu werden; aber damit hatte ich keinen Erfolg. Ich suchte viele berühmte Scha­ manen auf und gab ihnen große Geschenke ... Ich suchte die Ein­ samkeit, und hier wurde ich bald sehr melancholisch. Ich mußte manchmal weinen und fühlte mich unglücklich, ohne zu wissen war­ um. Dann war plötzlich ohne Grund alles verändert, und ich spürte eine große, unaussprechli­ che Freude, eine Freude so kraft­ voll, daß ich sie nicht unterdrükken konnte, sondern singen muß­ te, ein mächtiges Lied, das nur Platz für das eine Wort hatte: Freu­ de, Freude! Und ich mußte die gan­

Er hatte getrunken, und nun sang er leise. Nach und nach erschie­ nen schwache Linien und Formen in der Dunkelheit, und die schrille Musik der tsentsak, der Hilfsgei­ ster, erhob sich um ihn. Die Kraft des Getränkes nährte sie. Er rief, und sie kamen. Zuerst ringelte sich pangi, die Anakonda, um seinen Kopf, verwandelt in eine Krone aus Gold. Dann schwebte wampang, der Riesen-Schmetterling, über seiner Schulter und sang für ihn mit seinen Flügeln. Schlangen, Spinnen, Vögel und Fledermäuse tanzten über ihm in der Luft. Auf seinen Armen erschienen tausend Augen, als seine Dämonenhelfer auftauchten, um die Nacht nach Feinden zu durchsuchen. Das Geräusch von herabstür­ zendem Wasser füllte seine Ohren, Unter den Wiradjeri von Australien und als er dessen Flauschen ver­ wird der schamanische Neophyt nahm, wußte er, daß er die Kraft dadurch „erleuchtet“, daß er mit von Tsungi, dem ersten Schama­ einem „heiligen mächtigen Was­ nen, besaß. Jetzt konnte ersehen.8 ser“ besprengt wird, welches als verflüssigter Quarz angesehen Schamanen arbeiten oft in einem wird. Eliade bemerkt dazu: „Damit völlig in Dunkelheit getauchten soll gesagt werden, daß man ein Haus oder lassen allenfalls ein Schamane wird, wenn man mit kleines Feuer oder eine Lampe ,verdichtetem Licht', nämlich mit brennen; aber manchmal stört Quarzkristallen, angefüllt ist. Er auch wenig Licht das schamani­ meint, „sie spüren eine Verwandt­ sche Sehen. So wird von den schaft zwischen dem Zustand ei­ Chukchee in Sibirien berichtet, nes übernatürlichen Wesens und daß die schamanische Sitzung: einer Überfülle an Licht“.7 ... wie gewöhnlich im Dunkeln be­ Die Vorstellung vom Schama­ gann; aber als der Schamane nen als einem Menschen, der Licht plötzlich auf hörte, die Trommel zu abgibt, insbesondere in Form ei­ schlagen, wurde die Lampe wieder ner „Krone“, einer Aura vom Kopf entzündet und das Gesicht des ausgehend, gilt auch für den Jiva- Schamanen sofort mit einem ro. Der Strahlenkranz, der mehr­ Stück Tuch zu gedeckt. Die Frau farbig ist, bildet sich nur, wenn des Hauses, welche die Ehefrau sich der Schamane in einem durch des Schamanen war, ergriff die ayahuasca herbeigeführten verän­ Trommel und fing an, mit leichten, derten Bewußtseinszustand befin­ langsamen Schlägen zu trom­ det. Er kann nur von einem ande­ meln. Das ging so die ganze ren Schamanen gesehen werden, Zeit..."9 der sich in einem ähnlichen Be­ wußtseinszustand befindet. Ich persönlich lasse gewöhnlich ze Kraft meiner Stimme einsetzen. Und dann mitten in einem solchen Anfall von geheimnisvollem und überwältigendem Entzücken wur­ de ich ein Schamane, ohne daß ich selbst wußte, wie mir geschah. Aber ich war ein Schamane. Ich konnte sehen und hören in einer gänzlich anderen Art. Ich hatte meine qaumanEq, meine Erleuch­ tung, erhalten, das Schamanen­ licht für Gehirn und Körper, und zwar auf solch eine Weise, daß nicht nur ich durch die Dunkelheit des Lebens sehen konnte, son­ dern das Licht schien auch aus mir heraus, unerkennbar für menschli­ che Wesen, aber sichtbar für alle Geister von Erde und Himmel und Meer, und sie kamen nun zu mir und wurden meine Hilfsgeister.6

Augen einfach mit meinem linken Unterarm, um alles Licht auszu­ schließen. Wenn der Schamane entweder langsam oder plötzlich auf den Fußboden des Hauses fällt, sagen die Chukchee: „Er sinkt“, was sich nicht nur auf den körperlichen Vorgang bezieht, den die ändern im Hause auch sehen, sondern auch auf „den Glauben, daß der Schamane während der Ekstase fähig ist, andere Welten zu besu­ chen, ganz besonders jene Unter­ welt.“10 Auf eine ähnliche Art spricht man vom Eskimo Schamanen, der sich für die Reise fertig macht, als von „jemand, der hinunterfällt auf den Grund des Meeres“.11 Er fällt nicht nur auf den Boden des Hau­ ses (normaler Bewußtseinszu­ stand), sondern in die ozeanische Unterwelt (= schamanischer Be­ wußtseinszustand). Die schamanische Reise ist eine der wichtigsten, vom Schamanen durchzuführenden Aufgaben. Die Grundform dieser Reise, meistens auch am leichtesten zu erlernen, ist die Reise in die Unterwelt. Um sie durchzuführen, hat der Scha­ mane typischerweise ein besonde­ res Loch oder Tor in die Unterwelt. Dieser Eingang ist sowohl in der normalen als auch in der anorma­ len Wirklichkeit vorhanden. So war zum Beispiel für die kaliforni­ schen Indianerschamanen dieser Eingang häufig eine Quelle, be­ sonders eine heiße Quelle. Man wußte von Schamanen, die Hun­ derte von Kilometern unter der Er­ de reisten, dabei an einer be­ stimmten heißen Quelle hinunter­ stiegen und an einer anderen her­ auskamen. Von den australischen Schamanen des Chepara Stam­ mes wurde ähnlich gesagt, daß sie in die Erde hinuntertauchten und wo immer sie wollten wieder her­ auskämen, und von denen der Fra­ ser Insel wurde gesagt, „sie wür­ eine Kerze irgendwo auf dem Bo­ Gleichzeitig mit der Ausstrah­ den in die Erde gehen und in einer den des sonst dunklen Zimmers lung von Licht ist der Jfvaro Scha­ beträchtlichen Entfernung wieder brennen, wenn ich in den schama­ mane fähig, in der Dunkelheit zu nischen Bewußtseinszustand ein­ herauskommen“.12 Ähnlich be­ sehen und dies sogar durch nor­ richtete ein Kung Buschmann trete, und wenn ich mich dann auf malerweise undurchsichtiges Ma­ terial. Ich habe es an einer Stelle den Boden lege oder fallen lasse, Schamane in der Kalahari Wüste bedecke ich meine geschlossenen Südafrikas: wie folgt beschrieben: 137

Mein Freund, das ist die Art dieser n/um (= Kraft). Wenn Menschen singen, tanze ich. Ich gehe in die Erde. Ich gehe an einer Stelle hin­ ein ähnlich einer Stelle, wo Men­ schen Wasser trinken (= eine Quelle). Ich reise einen langen Weg, sehr weit.13 Ein anderer Eingang, der von den kalifornischen Indianern benutzt wurde, war ein hohler Baum­ stumpf. Bei den Arunta (Aranda) von Australien war ein hohler Baum der Eingang in die Unterwelt.14 Die Conibo Indianer lehrten mich, den Wurzeln des R'\esen-catahua-Baumes unter die Erde zu folgen, um die Unterwelt zu erreichen. Im schamanischen Bewußtsein ver­ wandelten sich die Wurzeln für mich und meine Conibo Freunde in schwarze Schlangen, deren Rücken wir hinunterglitten, um Gebiete zu erreichen mit Wäldern, Seen und Flüssen, seltsamen Städten hell wie am Tag, erleuch­ tet durch eine Sonne, die aus der normalen Welt oben verschwun­ den war - denn diese Reisen wur­ den bei Nacht durchgeführt. Andere Schamanen-Eingänge in die Unterwelt sind Höhlen, Lö­ cher von Kriechtieren und sogar besondere Löcher im Fußboden der Häuser. Bei den Twana von der Nordwestküste Nordamerikas zum Beispiel wird berichtet, daß die Oberfläche des Erdbodens oft­ mals physisch für einen Abstieg aufgebrochen wurde.15 Eingänge in die Unterwelt füh­ ren im allgemeinen hinunter in ei­ nen Tunnel oder ein Rohr, das den Schamanen zu einem Ausgang lei­ tet, der sich in strahlende und wundervolle Landschaften öffnet. Von dort reist der Schamane minuten- oder sogar stundenlang, wo­ hin er will, kehrt schließlich durch das Rohr (von nun an „Tunnel“ genannt) nach oben zurück, um an der Stelle der Oberfläche aufzu­ tauchen, wo er hineingegangen war. Die prächtige Beschreibung eines Schamanen, der diese klas­ sische und weitverbreitete Metho­ de anwendet, wird von Rasmussen 138

für die Iglulik Eskimos der Hudson Bay gegeben: ... Für die allergrößten (= Schama­ nen) öffnet sich ein Weg direkt aus dem Haus, worin sie ihre Hilfsgei­ ster anrufen; eine Straße hinunter durch die Erde, wenn sie in einem Zelt an der Küste sind, oder hinun­ ter durch das Meer, wenn es in einer Schneehütte auf dem Meereseis ist, und auf dieser Stra­ ße wird der Schamane hinunterge­ führt, ohne irgendeinem Wider­ stand zu begegnen. Er gleitet so­ zusagen, als ob er durch ein Rohr fällt, welches so genau um seinen Körper paßt, daß er sein Voran­ kommen dadurch prüfen kann, daß er sich gegen die Seitenwände drückt, und nicht wirklich wie bei einem Sturz hinunterzufallen braucht. Dieses Rohr wird für ihn von allen Seelen seiner Namens­ vettern offengehalten, bis er auf seinem Weg zur Erde zurück­ kehrt. 16 Wenn der Eskimo Schamane von seiner Reise in die Unterwelt zu­ rückkehrt, können die Menschen im Zelt oder Iglu „ihn von weither kommen hören; das Rascheln bei seinem Durchgang durch das Rohr, das für ihn von seinen Gei­ stern offengehalten wird, kommt immer näher, und mit einem mäch­ tigen ,Plu-a-he-he‘ schießt er hin­ aus an seinen Platz hinter dem Vorhang“.17 Die meisten von uns, die im schamanischen Werk tätig sind, finden den Tunnel keineswegs ein­ engend. Fast immer ist er breit und läßt genug Raum für Bewe­ gung. Manchmal versperren Wi­ derstände im Tunnel den Durch­ gang, aber gewöhnlich findet man einen Spalt oder eine Bruchstelle, um durchzuschlüpfen. Mit Geduld gelingt es einem meistens hin­ durchzukommen, ohne daß man die Reise aufgeben und zurück­ kehren muß. Wenn der Schamane durch die Öffnung hinuntersteigt, findet er manchmal auch, daß er an einem Strom oder Fluß auf- oder absteigt, welcher Teil des Tunnels sein kann

oder nicht. Ähnlich erzählt ein Tavgi Samoyed Schamane von seiner ersten Reise durch das Tor zur Unterwelt. Als ich umherschaute, entdeckte ich ein Loch in der Erde ... Das Loch wurde immer größer. Wir (nämlich er selbst und sein Schutzgeistbegleiter) stiegen da hinunter und kamen an einen Fluß mit zwei Strombetten, deren Was­ serin entgegengesetzten Richtun­ gen flössen. „Nun wohl, finde nun das richtige heraus!" sagte mein Begleiter. „Ein Strom fließt vom Mittelpunkt nach Norden, der an­ dere nach Süden - zur sonnigen Seite. “w Hervorragende Schamanen sehen nicht nur im schamanischen Be­ wußtseinszustand, sondern hören, fühlen und erfahren sogar Mittei­ lungen oder Wahrnehmungen über die normalen Sinne hinaus. So hörte dieser Samoyed Schama­ ne seinen Schutzgeist, und ähn­ lich berichtete mir eine Schama­ nenfrau der Pomo Indianer in Kali­ fornien, daß sie eine riesige Tier­ kraft sich unter ihr bewegen spür­ te, als sie in einem Berg durch den Tunnel reiste.19 Bei den Bellacoola Indianern an der Nordwestküste der USA hatte gerüchtweise jedes Haus ein Loch im Erdboden, das als Eingang in die Unterwelt benutzt wurde: Die Welt unter uns wird... genannt Asiutâ’nEm. Beschreibungen die­ ser (Unterwelt) werden hauptsäch­ lich von Schamanen gegeben, die glauben, daß sie jenes Land wäh­ rend einer Trance besucht haben. Nach der Aussage einer alten Frau, die meinte, daß sie als kleines Mädchen während einer Trance die (Unterwelt) besucht habe, ist ... der Eingang ein Loch, das es in jedem Haus zwischen der Tür und der Feuerstelle gibt.20 In auffallend ähnliche Weise ist der Eingang in die Unterwelt bei den kreisförmigen kivas (= Zeremonialkammern) der Zuni Indianerim amerikanischen Südwesten ein im

Zeitgenössisches Gemälde eines Hopi-Künstlers (nach: Harner)

Boden befindliches Loch. Der Hauptunterschied zu den Bellacoola besteht darin, daß das Loch, genannt ein sipapu, sich im Fuß­ boden zwischen der Feuerstelle und der Wand (dieTür ist im Dach) befindet.21 Solche sipapu Löcher waren in den prähistorischen kivas der Pueblo Völker üblich, fehlen aber bei denjenigen der heutigen Pueblos. Interessant ist, daß in Zuni, wo das sipapu in der kreisrun­ den Form der kiva überlebt, auch die schamanischen Medizinbünde erhalten blieben.22 Obwohl ich kei­ nen festen Beweis habe, wäre ich nicht überrascht, wenn die Mitglie­ der der Medizinbünde in Zuni die Löcher dazu benutzen würden, um in Trance in die Unterwelt hinabzu­ steigen. Die orthodoxe ethnologi­ sche Ansicht ist jedoch, daß das kiva sipapu nur „ein Symbol sei, welches die mythische Öffnung in die Unterwelt darstellt, durch wel­ che die Ahnen die Welt erreicht haben sollen“.23 Die Pueblo Hopi Indianer haben entgegen den Zuni keine sipapu in den Fußböden ih­

rer kivas,24 Sie glauben jedoch, ei­ ne merkwürdige Felsformation in einiger Entfernung von ihnen, die ein Loch an der Spitze hat, sei das ursprüngliche sipapu oder der Eingang in die Unterwelt. Daß die Hopi es bei schamani­ schen Visualisierungen für Reisen in die Unterwelt benutzen, ist eine unbewiesene, aber verständliche Möglichkeit. Da die Arbeit der Me­ dizinbünde bei den Pueblo Völ­ kern äußerst geheim ist, können Nicht-Hopi niemals mit Bestimmt­ heit etwas wissen. Das neue Ge­ mälde eines Hopi Künstlers, beti­ telt „Se Pa Po Nah“ (= sipapu-nah) ist sehr suggestiv, jedoch von Mandala-ähnlicher Tunnel-Erfah­ rung. Nebenbei ähnlich die konzentri­ schen Kreise eines Mandalas häu­ fig dem gerippten Anblick, den der Tunnel meistens darstellt, und die Meditation mit einem Mandala kann zu einer Erfahrung führen, die dem Eintritt in den Tunnel gleicht. Wie Joan M. Vastokas in ihrer Besprechung gewisser

Aspekte schamanischer Kunst festgestellt hat, "... scheint das konzentrische Motiv charakteri­ stisch für die visionäre Erfahrung selbst zu sein und steht für die Öffnung, durch welche der Scha­ mane in die Unterwelt oder den Himmel eintritt und das physiche Universum transzendiert“.25 Wie sie weiterhin hervorhebt, haben Masken der Alaska Eskimo Schamanen manchmal die Form von „konzentrischen Kreisen, die sich von einem zentralen Nichts ausbreiten“. Auf ähnliche Weise kann im Ti­ betischen Buddhismus, der stark vom Schamanismus beeinflußt ist, ein sehr vielfältiges Mandala den tunnelähnlichen Kreis nur im Mit­ telpunkt haben, um als Eingangs­ ort zu den Welten der Götter und Geister zu dienen, die rundherum dargestellt sind. Mit Hilfe der Dun­ kelheit und begleitet von Trom­ meln konzentriert sich der Scha­ mane nicht auf ein Mandala, son­ dern geht direkt hinein in den Tun­ nel und dann darüberhinaus.26

Erste Reise Jetzt sind Sie vorbereitet für Ihre erste Erfahrungsübung im Scha­ manismus. Es wird eine einfache Entdeckungsreise hinunter durch den Tunnel in die Unterwelt sein. Ihre Aufgabe besteht einzig und allein darin, den Tunnel zu durch­ queren, vielleicht auch nachzuse­ hen, was dahinter liegt, und dann zurückzukehren. Seien Sie sich ganz sicher, daß Sie diese Anwei­ sungen durch und durch verste­ hen, bevor Sie anfangen. Um die Übung durchzuführen, brauchen Sie eine Trommel (oder eine Kassette, die schamanisches Trommeln wiedergibt) und jeman­ den, der Ihnen beim Schlagen der Trommel hilft. Wenn sie keine Trommel haben, versuchen Sie einfach, mit einem Löffel auf einen Buchdeckel zu schlagen, während Sie ausgestreckt auf dem Fußbo­ den liegen. Besser noch ist es, wenn jemand anders dieses Schla­ gen für Sie tut, und zwar gleich 139

neben Ihrem Kopf. Manche Men­ schen brauchen überhaupt kein Trommeln oder Schlagen, voraus­ gesetzt, sie sind entspannt und können ihren Geist von der Be­ schäftigung mit Dingen der nor­ malen Wirklichkeit lösen. Warten Sie so lange, bis Sie ru­ hig und entspannt sind, bevor Sie diese oder eine andere schamani­ sche Übung beginnen. Meiden Sie psychedelische oder alkoholische Substanzen während der vorange­ henden vierundzwanzig Stunden, damit Ihre Ausrichtung und Kon­ zentrationskraft gut sind und Ihr Geist frei von verwirrenden Vor­ stellungen ist. Essen Sie nur leicht oder überhaupt nichts während der vorangehenden vier Stunden. Suchen Sie sich einen dunklen und ruhigen Raum aus. Ziehen Sie Ihre Schuhe aus, öffnen Sie Ihre Kleider und liegen Sie bequem auf dem Fußboden, ohne ein Kissen. Machen Sie ein paar tiefe Atemzü­ ge. Lockern Sie Ihre Arme und Beine. Bleiben Sie einige Minuten ruhig liegen, und denken Sie über Ihre bevorstehende Aufgabe nach. Schließen Sie dann Ihre Augen, indem Sie eine Hand oder den Un­ terarm darüber leben, um alles Licht auszuschließen. Stellen Sie sich nun eine Öff­ nung in der Erde vor, an die Sie sich aus irgendeiner Zeit in Ihrem Leben erinnern. Es kann eine Öff­ nung sein, an die Sie sich aus Ihrer Kindheit erinnern, oder eine sol­ che, die Sie gerade in der vergan­ genen Woche sahen, oder auch heute. Jede Art von Eingang in die Erde genügt - es kann ein Loch sein, das von einem Kriechtier ge­ macht wurde, eine Höhle, ein hoh­ ler Baumstumpf, eine Quelle oder sogar ein Moor. Es kann auch eine von Menschen angelegte Öffnung sein. Diejenige Öffnung ist richtig, bei der Sie ein gutes Gefühl haben und die Sie sich leicht vorstellen können. Verbringen Sie einige Mi­ nuten im Anblick des Loches, oh­ ne hineinzugehen. Merken Sie sich deutlich seine Besonder­ heiten. Nun geben Sie Ihrem Begleiter Anweisung, mit dem Trommeln in 140

einem harten, eintönigen, gleich­ mäßigen und schnellen Schlag zu beginnen. Es soll kein Unterschied in der Stärke des Trommelschlags oder in den Intervallen dazwischen eintreten. Ein Trommeln von etwa 205 bis 220 Schlägen pro Minute ist normalerweise für diese Reise ausreichend. Nehmen Sie sich et­ wa zehn Minuten Zeit für diese Reise. Weisen Sie Ihren Begleiter an, das Trommeln nach zehn Mi­ nuten einzustellen, wobei er zum Abschluß viermal hart zuschlägt, um Ihnen zu signalisieren, daß es Zeit zur Rückkehr ist. Dann sollte Ihr Helfer die Trommel sofort etwa eine halbe Minute lang sehr schnell schlagen, um Sie bei der Rückreise zu begleiten, und mit vier weiteren harten Schiägen auf die Trommel aufhören, um anzu­ zeigen, daß die Reise beendet ist. Wenn das Trommeln beginnt, stellen Sie sich die Ihnen vertraute Öffnung in die Erde vor, gehen Sie dann hinein und beginnen Ihre Reise. Gehen Sie hinunter durch die Öffnung, und betreten Sie den Tunnel. Zuerst mag der Tunnel dunkel und undeutlich sein. Es geht meistens in einem kleinen Winkel in die Erde, aber manchmal auch steil bergab. Gelegentlich er­ scheint der Tunnel gerippt und macht auch oft eine Biegung. Manchmal geht es so schnell durch den Tunnel, daß man ihn gar nicht wahrnimmt. Beim Durchque­ ren des Tunnels könnten Sie auch gegen eine natürliche Steinmauer oder einen anderen Widerstand laufen. Wenn das eintritt, gehen Sie einfach drum herum oder durch eine darin befindliche Spal­ te hindurch. Wenn das nicht geht, kehren Sie einfach zurück und ver­ suchen es noch einmal. Auf keinen Fall sollten Sie sich bei der Reise zu sehr anstrengen. Wenn Sie die­ se Aufgabe richtig durchführen, geht es fast ohne Kraftaufwand. Erfolg im Reisen und Sehen hängt von einer Haltung ab, die zwischen zu großer und zu kleiner Anstren­ gung liegt. Am Ende des Tunnels tauchen Sie draußen auf. Prüfen Sie die Landschaft im einzelnen, laufen

Sie hindurch, und erinnern Sie sich an Einzelheiten. Untersuchen Sie so lange, bis Ihnen das Zeichen zur Rückkehr gegeben wird, und kehren Sie dann durch den Tunnel auf dieselbe Weise nach oben zu­ rück, wie Sie hinuntergegangen sind. Nehmen Sie nichts von dort mit. Dies ist nur eine Informations­ reise. Wenn Sie oben angekommen sind, setzen Sie sich auf und öff­ nen Ihre Augen. Seien Sie nicht entmutigt, wenn Sie beim ersten Mal keinen Erfolg hatten. Versu­ chen Sie es noch einmal, wobei das Trommeln langsamer oder schneller geschehen sollte. Ande­ re Menschen brauchen zu anderen Zeiten ein anderes Tempo! Wenn die Übung vollbracht ist, beschreiben Sie Ihrem Begleiter, was Sie gesehen haben, damit Sie die Einzelheiten Ihrer Erfahrung nicht vergessen. Sie können sie auch niederschreiben oder auf ei­ nen Kassettenrecorder sprechen. Das Festhalten dieser Erfahrungs­ daten ist der Anfang Ihrer Speiche­ rung von Wissen aus dem schama­ nischen Bewußtseinszustand. Einige Personen aus meinen Workshops waren so freundlich, mir Unterlagen über ihre Erfahrun­ gen während dieser ersten Übung zur Verfügung zu stellen. Viel­ leicht halten Sie es für lehrreich, Ihre eigene Erfahrung mit der dor­ tigen zu vergleichen. Es folgen einige dieser Berichte, denen ich meine Anmerkungen hinzufüge. Dabei werden Sie feststellen, daß manchmal erwähnt wird, wie ich die Betreffenden von ihrer Reise zurückrief. Das tue ich in Gruppen­ sitzungen meistens aus dem ein­ fach Grunde, um die Teilnehmer aufeinander abzustimmen.

Reisen Es folgen unmittelbare Erfah­ rungsberichte von Personen, wel­ che die Reise in die Unterwelt zum ersten Mal unternahmen, so wie sie hinterher von ihnen erzählt wurde. Die Berichterstatter sind hauptsächlich Amerikaner des Mittelstandes mit ganz unter­

schiedlicher Ausbildung. In ihren Beschreibungen werden Sie das Fehlen irgendwelcher urteilender Ausdrücke feststellen, so wie „ich stellte mir vor, daß...“ oder „ich phantasierte, daß...“ Mitgetragen von der Trommel und auf die gera­ de beschriebene einfache Art machten sie Erfahrungen, die sie auf eine neue Weise für Wirklich­ keit hielten und die sie oftmals hinterher als die tiefsten ihres bis­ herigen Lebens beschrieben. Sie müßten eine ähnliche Erfahrung machen, wenn Sie die einfache, oben beschriebene Methode an­ wenden. Der erste Bericht vermittelt eine hervorragende Beschreibung der häufigen Erscheinung der Wände des Tunnels in konzentrischen Kreisen.

wegte. Zuerst waren die Ringe kreisrund, aber sie änderten ihre Gestalt und wurden senkrechte El­ lipsen, immer konzentrisch und immer sich bewegend. Die wech­ selnden Muster von Dunkelheit und Licht erinnerten schwach an einen Glanz, der zwischen den Ril­ len eines Wellbleches gefangen war. Ab und zu wurde ich ungedul­ dig, daß der Tunnel immer weiter­ ging; dann erinnerte ich mich obwohl es schön gewesen wäre, zu erfahren, was außerhalb des Tunnels sein würde -, daß es ge­ nug sei, den Tunnel zu erfahren. Die senkrechten Ellipsen verscho­ ben sich und wurden durch hori­ zontale ersetzt, die sich nach und nach entlang der horizontalen Achse öffneten und aufzubrechen begannen, wodurch sie eine graue und schwach erleuchtete Land­ schaft freigaben - einen See im Untergrund über den ich eine lange Zeit hinwegglitt und dabei genau beobachtete, wie die Wel­ len stiegen, sich kräuselten und sich unter mir hinwegbewegten. Der Tunnel, der mich an diesen Ort brachte, war leicht abwärts ge­ neigt mit etwa fünfzehn Grad; nun aber lenkte mich der verdunkelte Himmel über diesem See im Unter­ grund in einen anderen Tunnel, der eine direkte und abwärtsfüh­ rende Biegung von neunzig Grad machte, und ich wurde wieder hin­ durchgetragen, von ihm. Seine Wände bestanden wieder aus den bereits vertrauten konzentrischen Kreisen von Licht und Schatten, fast mich durchpulsend; es war kein Gefühl des Fallens, sondern einer ganz bewußten Bewegung. Ich war überrascht zu hören, daß ich zurückgerufen wurde, und ungern gab ich nach, um umzu­ kehren, etwas enttäuscht, daß ich nicht an das Ende des Tunnels gelangt war, und gleichzeitig ver­ wirrt durch die Erfahrung. Die Rückkehr ging schnell und leicht. Das Gefühl der Entdeckung und Ehrfurcht bleibt.

Als die Trommel zu schlagen be­ gann, suchte ich in meinem Geist Orte, die ich kannte und die mir den Zugang gewähren würden, den ich suchte. Ich erkannte einige Plätze, die mir wichtig gewesen waren und, wie ich dachte, sich eignen würden... aber keiner schien richtig zu sein; dann war da plötzlich eine große Höhle bei Pyramid Lake in Nevada, geheimnis­ voll und mit einem großartigen Blick, aber er erschien mir als ein schrecklich langer Tunnel, den ich von dort oben durchqueren müß­ te; schließlich war da eine majestä­ tische Höhle aus meiner Kindheit, einer jener Touristenplätze; wurde sie „Ruby Cave“ genannt? Sie war irgendwo im Süden, vielleicht Georgia oder Nord Carolina. Ganz gleich, sie war voller Sta­ laktiten und Stalakmiten - eine WIRKLICHE Höhle. Ich bewegte mich fort in eine dunkle und enge Gegend und fand - nicht die Höhle meiner Kindheitsphantasien mit Tieren und Drachen und Vieh aller Art, sondern eine ganz neue Höh­ le. Konzentrische Kreise aus Licht und Dunkelheit öffneten sich um mich her und schienen mich mit sich zu tragen. Es war eigentlich nicht das Gefühl, als ob ich mich durch den Tunnel bewegte, son­ Die zweite Person benutzte eben­ dern als ob er sich neben mir be­ falls eine Höhle als Eingang in die

Erde und notierte, sie habe einen schlafähnlichen Bewußtseinszu­ stand erfahren. Ich wählte eine Höhle, die ich kannte. Ich bin dort vier- oder fünf­ mal gewesen. Sie liegt in einem bewaldeten Gebiet, und der Ein­ gang ist etwas übereinen Meter im Durchmesser. Man geht hinunter in einen großen Raum mit mehre­ ren Gängen. Die Höhle setzt sich nach unten in den Berg fort. Ich mußte über einige Spalten klet­ tern, die ziemlich tief waren, und dann kam eine Stelle, wo ich mich buchstäblich hindurchschlängeln mußte - sehr schwierig, wenn man ganz allein ist. Ich ging weiter hinunter, zur tief­ sten Stelle der Höhle, die ich je erreicht habe. Ich war wirklich nie­ mals weiter gekommen. Aber ir­ gendwie ging ich weiter und kam zu einem anderen Eingang oder besser einem Ausgang, und ich kam heraus auf eine tropische In­ sel mit einem wunderschönen gro­ ßen Strand, richtigen tropischen Vögeln und einer Menge tropi­ scher Vegetation. Ein tropisches Paradies! Dann kam ich zurück. Es war fast so, als ob ich geschlafen hätte; aber ich kenne mich zu gut, daß ich weiß, wenn ich schlafe; und ich habe nicht geschlafen. Der nächste Fall ist ein weiteres Beispiel für die Benutzung einer Höhle als Eingang: Es schien mir eine lange Zeit zu vergehen, bis ich anfing. Ich kon­ zentrierte mich schließlich auf ei­ ne Höhle, die ich in Frankreich besucht hatte, wo Urmenschen ge­ lebt hatten. Ich ging hinein, immer weiter und weiter. Sie schien über­ haupt nicht kleiner als meine Kör­ pergröße zu werden, so daß ich nicht zu kriechen brauchte. So ging ich einfach immer weiter. Schließlich verbreiterte sie sich zu einer großen Öffnung. Ich ging hinaus, und da war eine Klippe. Ich ging herum und kletterte auf den Hügel, so daß ich über der Öffnung saß. Ich genoß die Aussicht, die sehr tief und weit war. Dann kam ich zurück. 141

Menschen mit außergewöhnlicher schamanischer Kraft können schon bei ihrer ersten Erfahrung nicht nur sehen, sondern bei ihren Erfahrungen auch fühlen, hören und riechen. Im folgenden Bei­ spiel spürte die Person die Wahr­ nehmung des Kletterns an Händen und Füßen, das Gefühl des Glei­ tens und die Kälte des Wassers zusätzlich zum bloßen Sehen. Ich begann in einer kleinen Quelle, die sich auf dem Land befindet, wo ich jetzt wohne. Ich spürte, wie ich sehr klein wurde, als ich unter ei­ nem großen Felsen herging. Ich ging in einen winzig kleinen feuch­ ten Kanal, und es ging eine ganze Zeit bergauf. Ich spürte, wie ich auf meinen Händen und Füßen kletter­ te. Es war darin sehr dunkel. Es wurde ganz dunkel, als ich die Öff­ nung nicht mehr sehen konnte. Darin begann ein sehr plötzlicher Abstieg, und ich wußte nicht, wo­ hin es ging. Ich spürte, wie ich die nassen Felsen hinunterglitt und in einem sehr großen Raum ankam, wo sich eine Wasserlache befand. Das Wasser war sehr kalt. Jenseits des Wassers war ein winziges Licht, und ich hatte das Gefühl, da hinten oder draußen müßte etwas sein; deshalb ging ich durch das Wasser, konnte teil­ weise waten oder mußte schwim­ men. Ich erinnere mich, daß es sehr kalt war. Dann kam ein sehr steiler Aufstieg durch einen Kanal, ähnlich einer Höhle. Ich kam auf einer Wiese heraus, die sehr grün war und von einer riesigen Eiche beschattet wurde. Ich setzte mich unter die Eiche und stellte fest, daß ich Lederkleidung trug, wie India­ nerhosen und ein Indianerhemd. Ich fühlte mich sehr wohl unter jenem Baum, als es Zeit wurde, umzukehren. Ich war ärgerlich, daß ich umkehren sollte; doch da ich ein guter Schüler bin, folgte ich den Anweisungen und kam in das Gebiet, wo ich aus dem Teich her­ ausklettern mußte. Da stellte ich fest, daß ich die Indianerhosen nicht mehr trug: ich hatte wieder meine blue jeans und meine Klet­ terstiefel an. Dann kam ich an der 142

kleinen Quelle wieder heraus. Der zurückzugehen. Ich wurde etwas Himmel war etwas grau, bezogen. ängstlich, als die Trommel schnel­ Ich fühlte mich wie zu Hause, als ler wurde, als ob mein Herz schnel­ ob ich wieder dort wäre, wohin ich ler schlagen würde; es war ein Gefühl, als ob ich nicht sicher wä­ gehörte. re, ob ich rechtzeitig zurück sein Im folgenden Fall spürte der Rei­ würde. Tatsächlich versuchte ich sende nicht nur einen „kühlen, zurückzukommen, aber es war ei­ feuchten Boden“, sondern hörte ne kleine Öffnung. Als Sie schließ­ auch das Plätschern von Wasser lich die Trommel zum letzten Mal und spürte den Wind, während er schlugen, hatte ich eine Art Licht­ auf einem Hügel in der Unterwelt blitz. stand. Im folgenden Beispiel hatte die Ich hatte einige Schwierigkeiten, Person nicht nur die Erfahrung mich auf den Weg zu machen, weil des Riechens, sondern fand auch ich zwei Bilder in meinem Kopf unterirdisch einen neuen Aus­ hatte, als Sie uns sagten, eine Öff­ gang, um dadurch zur Oberfläche nung zum Eintritt zu wählen. Ich zurückzukehren. versuchte zuerst die eine, die nur eine Art Höhle neben einem Hügel war, die ein Bagger ausgegraben hatte. Ich kletterte hinauf in die Höhle und kam nirgendwo hin ich konnte sie nicht sichtbar für mich öffnen. Deshalb ging ich an die andere Stelle, wo ein hohler Baumstumpf auf einem Stück Land steht, das einem meiner Freunde gehört ich war dort vor etwa einem Monat gewesen. Ich kletterte also hinein und ging hinunter durch eine klei­ ne Öffnung, die gerade groß ge­ nug für mich war. Ich kroch auf meinem Bauch durch. Es war kein Michael Harner lehrt Anthropolo­ unangenehmes Gefühl wie Mat­ gie an der New School for Social sche, sondern einfach kühler, Research in New York. Von 1956 bis 1973 betrieb er ausgiebig feuchter Erdboden. Ich konnte ir­ Feldforschung über die Kulturen gendwo ein Plätschern hören. Auf der nord- und südamerikani­ diesem speziellen Land, von dem schen Indianer. Zu diesem Ge­ ich berichte, gibt es einen Bach, biet veröffentlichte er zahlreiche der quer hindurch fließt. Ich konnte Artikel und Bücher. so etwas wie Wasser rauschen hö­ ren, als ob ich mich unter dem Bach bewegte. Ich kroch ein lan­ Ich begann in den Ozean hinaus­ ges Stück und kam dann auf einem zuschwimmen. Dann geriet ich in Hügel heraus. einen ungeheuren Wirbel, an die Ich fühlte mich wirklich gut, als hundert Meter breit oder mehr. Er ich von der Höhe des Berges in alle drehte mich einfach hinunter und Richtungen schaute. Als ich so da­ hinunter und hinunter und hinun­ stand, konnte ich spüren, wie der ter. Das dauerte die meiste Zeit der Wind von hinten herankam. Es war Reise. Ich dachte darüber nach, etwa so, als ob der Wind mich wie ich wohl sicher landen könn­ auffüllte mit einem wirklich ange­ te? Ich brach schließlich durch nehmen Gefühl. und fiel auf dieses riesige Gänse­ Als Sie uns dann sagten, wir blümchen. Es war so groß, daß es sollten zurückkommen, ging ich meinen Fall dämpfte. Es duftete auf den Grund zurück und begann ganz prächtig. Dann riefen Sie uns

zurückzukommen, und ich fand ei­ ne Höhle, ein System von Höhlen, und ich huschte sozusagen da­ durch nach oben. Ähnlich lernt der Schamane im schamanischen Bewußtheitszu­ stand, wie er sich in andere For­ men aus Materie verwandeln kann, wie es im folgenden Fall geschah. Erkennen Sie auch, wie diese Per­ son mitten in einer solch radikalen Verwandlung sich gleichzeitig der Existenz der normalen Wirklich­ keit bewußt war. Das ist in der schamanischen Arbeit üblich: man bleibt mit einem kleinen Teil seines Bewußtseins im normalen Bewußtseinszustand, um die nor­ male Wirklichkeit zu überwachen und dadurch eine Brücke für eine ziemlich schnelle vollständige Rückkehr in den normalen Be­ wußtseinszustand vorzusehen. Ich ging durch eine Lichtung im Wald, an die ich mich aus der Zeit erinnere, als ich noch sehr jung war. Als ich hindurchging, war ich mir deutlich bewußt, wie klein ich war, wie alles so viel größer als ich war. Es war so, als ob ich in einem Tunnel sei. Ich nahm sehr wohl Geräusche wahr, den Geruch des Waldes und meine Größe. Auf einmal kam ich in eine Höh­ le, aber sie war nicht sehr tief. Ganz plötzlich löste ich mich da auf. Ich wurde Wasser, um in die Spalten zu kommen, einfach durch Hinlegen. Ich nahm auch sehr genau wahr, was hier im Raum vor sich ging, wo ich Sie die Trommel schlagen hörte. So war ich also gleichzeitig in zwei Wirk­ lichkeiten. Dann kam ich auf dem­ selben Weg zurück. Der Text entstammt M. Harners Buch Der Weg des Schamanen. Ein praktischer Füh­ rer zu innerer Heilkraft, 1982, Ansata Ver­ lag, Postfach 165, CH-3800 Interlaken

An merkungen 14 Spencer/Gillen: The Arunta: A Stu­ dy of a Stone Age People, Seite 1 Eine genaue Untersuchung des Ur­ 424, 266. sprungs hat Mircea Eiiade in sei­ 15 Myron Eells: The Twana, Seite 667. nem Buch: Schamanismus und ar­ 16 Rasmussen a.a.O., Seite 126. chaische Ekstasetechnik, Seite 17 Rasmussen wie vor, Seite 127. 457ff. durchgeführt, worin er sich 18 A. A. Popov: How Sereptie Djaruosder Meinung anschließt, daß das kin of the Nganasans became a Wort „Schamane“ mit dem buddhi­ Shaman, Seite 138. stischen „samana“ zusammen­ 19 Persönliche Mitteilung von Essie . hängt: Asket, ein nach Weisheit Parrish der Kashia Pomo an Harner Strebender. Joan Halifax: Die an­ 1965. dere Wirklichkeit der Schamanen, Seite 11, weist auf den Zusammen­ 20 Franz Boas: The Mythology of the Bella Coola Indians, Band 2, Seite hang mit dem vedischen sram hin: 37; von Franz Boas sind 1895 in ,sich aufheizen oder Entsagung Berlin erschienen: Indianische Sa­ üben“. Nach Halifax reicht das gen von der Nord-Pazifischen Kü­ Schamanentum bis in die Zeit des ste Amerikas. Neandertalers zurück. 2 Harner fügt hier ein, daß er im wei­ 21 John C. McGregor: Southwestern Archaeology, Seite 304-305. teren Verlauf des Buches der Ein­ 22 Ruth L. Bunzel: Introduction to Zufachheit halber nur die männliche ni Ceremonialism, Seite 528-534; pronominale Form verwendet, ferner persönliche Mitteilung an wenn er vom Schamanen oder sei­ Harner von 1980. Über die „Gehei­ nem Patienten spricht, wobei aber men Medizinbünde“ schreibt auch eindeutig gesagt werden müsse, Wolfgang Lindig: Geheimbünde daß Schamanen wie auch Patien­ und Männerbünde der Prärie- und ten beiderlei Geschlechts sein der Waldlandindianer Nordameri­ können. kas, Seite 168-204. Er berichtet 3 Zitiert aus Mircea Eiiade a.a.O., von helfenden Tieren, die be­ Seite 15. stimmte Medizinen aus Kräutern 4 So zitiert aus Robert H. Lowie: Pri­ zubereiten und ein Medizinlied sin­ mitive Religion, Seite XVI-XVII. Lo­ gen (Seite 171). Den schamanisti­ wie hat 1950/51 vier Vorträge aus schen „Geheimbruderschaften“ seinen völkerkundlichen For­ hat auch Eiiade a.a.O. Seite 301 schungsgebieten gehalten. 309 ein Kapitel gewidmet. 5 Zitiert aus Knud Rasmussen: Intel23 McGregor a. a. O., Seite 259-260. lectual Culture of the Iglulik Eski­ 24 So berichtet z.B. McGregor a.a.O., mos, Seite 112. Von Knud Rasmus­ Seite 301 -302. Das „Buch der Hosen gibt es in deutscher Überset­ pi“ von Frank Waters ist 1980 bei zung von F. Sieburg: Rasmussens Eugen Diederichs herausgekom­ Thulefahrt, Frankfurt/Main, 1926, men. Auch bei den Hopi bedeutet und: Die große Schlittenreise, die kiva „unterirdische Zeremonien­ 1980 bei Engelbert wieder nachge­ kammer“ (Seite 364) und sipäpuni, druckt wurde. „kleines Loch im Boden der kiva, 6 Rasmussen: Intellectual Culture, stellt den Ort des Aufstiegs dar Seite 118-119. (Seite 368). Ausführlich berichtete 7 Zitiert nach Eiiade a.a.O., Seite über kiva und sipapu auch die Ka142-143; Elkin (1945) Seite 96-97; china Ausstellung aus der Studien­ A. W. Howitt: The Native Tribes, sammlung Horst Antes, Katalog Seite 406 und 582-583. Seite 25. 8 Zitiert aus Harner: The Sound of Rushing Water (1968), Seite 28 und 25 Joan M. Vastokas: The Shamanic Tree of Life, Seite 137. (1973a) Seite 15-16. 26 Nach C. G. Jung ist das Mandala 9 Zitiert nach Waldemar Bogoras: (Sanskrit = Kreis) das älteste Sym­ The Chukchee, Seite 441. bol des Menschen. Er schreibt dar­ 10 Bogoras wie vor, Seite 438. Am über: „Die ersten Mandala-Darstel­ 24.1.82 zeigte Adolf Holl im Zwei­ lungen stammen aus der Alt-Stein­ ten Deutschen Fernsehen ein Ex­ zeit, lange vor der Erfindung des periment mit Trancen, ausgeführt Rades: es sind kreisförmige Fels­ durch Prof. Felicitas Goodman ritzungen, die meist als Sonnenrä­ (Colombus, Ohio), beschrieben in der gedeutet werden. Ihr Alter wird seinem Buch: Religionen, ab S. bis zu 25000 oder 30000 Jahren 154. Eine der Versuchspersonen geschätzt." (Aus C. G. Jung: Bild erlebte dabei eine außerkörperli­ und Wort, Seite 77) Wir verweisen che Reise. auch auf Manfred Lurker: Der Kreis 11 Rasmussen: Intellectual Culture, als Symbol im Denken, Glauben Seite 124. und künstlerischen Gestalten. Sol­ 12 Elkin (1945), Seite 107,108. che Felsbilder aus Nordamerika 13 Joan Halifax: Die andere Wirklich­ bringt Wellmann: Muzzinabikon, keit der Schamanen, Seite 80, nach Seite 21. 25, 31,46. 61 und 65. Biesele.

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Dean Gengle

Wenn man anfängt, die anthro­ pologische und geschichtliche Li­ teratur darüber zu lesen, entdeckt man tatsächlich, daß die meisten vielleicht nicht gerade alle - Scha­ manen auf der „Kinsey-Skala“ der sexuellen Orientierung Sechser waren (K-6), das heißt, sie waren homosexuell. Die indianischen Berdachen des nordamerikani­ schen Kontinents waren Mitglie­ der eines Geschlechts, das die Kleidung und Eigenschaften des anderen Geschlechts annahm. Diese Schamanen hatten sexuelle Der traditionelle Schamanismus Beziehungen zu Personen des ei­ warein Beruf; in einem orthodoxe­ genen Geschlechtes. Der Berda­ ren Zeitalter hätten die Katholiken che war ein Zauberer, der eine ihn „eine Berufung“ genannt. Die­ zentrale Rolle in der indianischen se Rolle wurde von allen Mitglie­ dern des Stammes, der Kultur oder Kultur spielte. Er wurde wegen sei­ Gruppe als etwas Spezielles - je­ nes Wissens und seiner Gewandt­ doch nicht Spezialisiertes - aner­ heit respektiert und um Rat ge­ kannt. Der Junge oder das Mäd­ beten. chen, welche diese Berufung be­ Homosexuelle Schamanen gab saßen, zeigten schon früh Anzei­ es auch in Afrika, zum Beispiel die chen, die für alle sichtbar waren, transvestiten Omasenge des Am­ jedoch von Wenigen richtig ge­ bo-Volkes in Südwestafrika. Unter deutet werden konnten. Obwohl den Bantu und Kwanyama waren Mädchen vielleicht seltener diese alle Medizinleute Transvestiten. In Berufung besaßen, kam es trotz­ unserem eigenen primitiven Zeit­ dem vor. Es konnte die Kräuter alter nennen wir sie „schwul“. K-6deuten, die Kranken heilen, das Medizinleute wurden von Anthro­ Unheil in einem ganzen Familien­ pologen unter den folgenden Völ­ netzwerk ahnen und allmählich kern entdeckt: die Ovimbundu und die Knoten entwirren. Kimbundu von Nordangola; die Heiler, Medizinmann, Hexe, Lango von Uganda; die Konso von Priester, Berdache, Schamane: Südabessinien; die Chilengasie/er hatte viele solcher Traumna- Humbi von Südquillenges; und die men, die wir nur noch teilweise Barea-Kunuma, Korongo und Mekennen. sakin, alle aus Nordostafrika. Nehmen wir ein Beispiel aus der Doch genug davon. Literatur der alten Griechen: Die Bevor ich einige Namen heuti­ Gesellschaft des Festlandes war ger Stammesleute aufzähle, die nicht nur „matrilinear“ sondern Teil einer ununterbrochenen Linie auch schamanistisch. der schamanistischen Tradition Laut dem italienischen Gelehr­ sind, die zu unserem Neoschama­ ten, Carlo Ginzburg, waren die Benandanti (die Wanderer) das Über­ nen führen, möchte ich Sie an eini­ Schlüsselideen/Voraussetzun­ bleibsel eines schamanistischen ge Kults. Zu bestimmten Jahreszeiten gen erinnern. Als erstes gibt es das mcluhaniunternahmen die Wanderer Be­ stische Konzept der elektroni­ wußtseinsveränderungen, verlie­ ßen ihre Körper und unterhielten schen „retribalization“ der Kultur. sich mit Tieren. Sie wurden deswe­ Die Informations- und Medien­ gen von der heiligen Inquisition als netzwelt ist global, sowie die her­ Hexer gebrandmarkt. Sowohl vorgebrachte Kultur, welche trotz­ männliche als auch weibliche ho­ dem ihren lokalen Charakter bei­ mosexuelle Riten waren mit die­ behält. sem Schamanismus verbunden. Die Netzwelt beruht auf Freund-

Neoschamanismus in den 80er Jahren Neulich fragte mich jemand, war­ um ich „erfundene“ Wörter in' manchen meiner Veröffentlichun­ gen verwende. Zumeist jedoch sind sie nicht nur „erfunden": Wenn von den 80er Jahren die Re­ de ist, fällt es schwer jene Wörter, die kürzlich in unseren Wortschatz aufgenommen wurden, nicht zu verwenden und deshalb verwen­ de ich sie. Nach einer gewissen Zeit wird es selbstverständlich sein, in diesen Ausdrücken zu den­ ken und dadurch immer schwieri­ ger sich zu erinnern, wo in wel­ chem Zusammenhang ein Wort zum ersten Mal verwendet wurde. Eine Sprache lebt. Laut dem Biologie-Wächter Lewis Thomas ist die Schöpfung einer Sprache - ir­ gendeiner - jedermanns Sache: Wir beteiligen uns daran wie die Ameisen oder Termiten am Bau ihrer Bauten. Wenn Wandel das Losungswort der Gegenwart und die einzige Gewißheit der 80er Jah­ re ist. dann sind Sprachneuerungen die Kennzeichen jenes Wan­ dels. Diese unmittelbare Zukunft, die­ ses Jahrzehnt, welches vielleicht erst seit zwei Jahren oder seit dem Urknall im Bewußtsein existiert, ist die Zeitspanne, durch die unsere globale Kultur die Wiedererste­ hung und die erneute Bejahung einer uralten sozialen Rolle erle­ ben wird: nämlich die des Scha­ manen/Zauberers. Ich habe das Wort „Neoschamanismus“ ver­ wendet, um meine Vermutungen über diese Art von Existenz zu be­ schreiben, weil es gleichzeitig tra­ ditionell und durchwegs nachin­ dustriell ist. 144

Schaft, die weit über nationale und politische Grenzen hinausreicht. Manche sehen darin eine interna­ tionale Verschwörung der Aqua­ rien Die elektronische Menschheit nennen wir tribal, weil sie dazu neigt, sich auf den Kosmos wie primitive oder sogenannt primitive Stämme zu beziehen. Stammes­ primaten bedienen sich aller ihrer Sinne, um ihr Modell des Univer­ sums zusammenzusetzen. Die Stammesfrauen/Männer sprachen mit den Bäumen, lauschten dem Wind und spürten unmittelbar die Wandlungen der Mutter Erde. Während die authentischen präli­ nearen Stammesvölker ihren Input ausschließlich von Wiese, Wald und Dorf bezogen, umfaßt das Sip­ penleben von heute augenblickli­ che Daten über die ganze Welt, ihre gesamte Geschichte und an­ dere Welten darüber hinaus. Wenn McLuhan von einem „globalen Dorf“ spricht, meint er damit eine einheitliche Gemeinschaft der ganzen Erde; und „tribal“ deutet eher auf eine Familie der Mensch­ heit als auf aufgesplitterte Grup­ pen hin. Die zweite Idee, die für die Erfor­ schung des Neoschamanismus wichtig scheint, ist die Reaktivie­ rung visionärer Erfahrung durch eine weitverbreitete Einnahme psychedelischer Chemikalien. Tim Learys konzeptuelles Schema der acht Schaltkreise des Gehirns ist hier sehr nützlich. Der Gebrauch psychedelischer Drogen aktiviert bestimmt nicht automatisch die höheren Schaltkreise des Gehirns, aber statistisch gesehen gibt es seit der Verbreitung des LSD viel mehr Visionäre unter uns. Darun­ ter befinden sich jene neoschamanistischen Krieger, die intellektu­ elle und wissenschaftliche Talente auf der Höhe ihrer visionären Er­ fahrungen besitzen. Das führt zu einer Verschmelzung von Bewußt­ sein und Intelligenz, was Leary „contelligence“ nennt. Als Begriff ist es viel nützlicher als Intelligenz oder Bewußtsein voneinander ge­ trennt. Die dritte Idee stammt aus der Arbeit Alvin Tofflers, der in den

frühen 60er Jahren den Ausdruck technisch" technische Neuheiten „Zukunftsschock“ erfunden hat. und Werkzeuge für die Erfor­ Etwas verfeinert und dem heuti­ schung des Bewußtseins und der gen Denken angepaßt, können wir Intelligenz, wie zum Beispiel, sagen, daß der Zukunftsschock wechselwirkende Computersyste­ aus technologischen und ökologi­ me, neue Gehirnchemikalien und schen Synergismen besteht, die Biofeedback-Forschung. Die Ver­ das unvorbereitete Nervensystem bindung von Yoga mit Biofeed­ weiter in den Zustand eines Zom­ back-Geräten zum Beispiel ist eine bie oder Schlafwandlers ver­ neurotechnische Neuerung, die setzen. die uralten Praktikanten des Yoga nicht Voraussagen konnten. Tat­ sächlich haben wir heute auf der Erde ein globales, wachsendes Kommunikationsnetzwerk ausge­ legt. Alle Kommunikationen wir­ ken auf das zentrale Nervensystem des Menschen; oder auf den Ge­ hirn/Geisteskomplex, wenn sie wollen. Ich würde sogar sagen, daß solche Aktionen neurologi­ sche Veränderungen auslösen; einige mehr als andere. Die Tiefe und Bedeutung dieser Verände­ rungen hängen zweifellos von der vorhergehenden Anlage des be­ Dean Gengle wurde in Detroit ge­ stimmten Geistes/Gehirns ab, das boren und wuchs im nördlichen diese Signale empfängt und die Michigan auf. Seine Hauptinter­ Art und Weise wie das Mitgeteilte essen galten der Elektronik, Psy­ und diese Anlage zusammenpas­ chologie, der frühen Kindheits­ sen. Mit anderen Worten: Kommu­ entwicklung, generelle Systeme nikation gleicht der Chemie. Die und Informationstheorie, Anthro­ Worte auf diesem Papier lösen im pologie und Schamanismus, Dro­ Augenblick des Lesens Neuro­ gen, emanzipatorischen Bewe­ transmitter in Ihrem Gehirn aus. gungen, Alternativgruppen, Mi­ krocomputern und der Kunst. Er Die Verbindung zwischen Kom­ ist ein Computer-Freak, einer der munikation und Gehirnchemie die Kunst liebt, mehr mit weniger wurde elementär von der Kirche Einsatz zu tun. Augenblicklich verstanden. Bis heute versucht sie schreibt er ein Buch über Mög­ diese Beziehungen zu manipulie­ lichkeiten und Gebrauch kleiner ren, in ihren Äußerungen über die Computer-Netzwerke, das vor al­ menschliche Sexualenergie, die lem auf seinen Erfahrungen als sie verbietet, für tabu erklärt und Mitbegründer einer Software-Fir­ gar niederknüppelt. Die moderne ma für Tele-Kommunikation be­ Werbung ignoriert weitgehend die ruht. Er lebt, liebt und arbeitet in seiner Lieblingsstadt San Fran­ Kirche durch Gebrauch sexueller cisco. Energie, um die Beeinflußbarkeit © für diesen Artikel: Sphinx Magazin, des Nervensystems beim Empfang Nr. 8,1980 von Verkaufsbotschaften zu erhö­ hen. Die USA-Reise des Papstes im Die Rolle des neuen Schamanen Jahre 1979, mit Medienvoodoo in der globalen Kultur ist die eines und politischer Kriecherei, kann Puffers in der Körper-Politik, der man als Versuch eines nicht sehr beim Steuern/Führen/Lenken von meisterhaften Zauberers sehen, Individuen durch neue psychoso­ der den sexuellen Bann der Kirche ziale und neurotechnische Umwel­ über die amerikanischen Massen ten hilft. Mit „psychosozial“ meine verstärken sollte. Ob er damit Er­ ich neue Formen von Institutionen folg hatte, wird sich noch herausund Beziehungen; und mit „neuro- stellen. 145

Durch ihre/seine Tätigkeit ist der Schamane von gewöhnlichen Ta­ bus. einschließlich den sexuellenbzw. ganz besonders von den se­ xuellen, losgelöst. Zum Beispiel: Die Zuni-Medizinleute - die Neweke - werden für die weisesten und kühnsten Leute im ganzen Pueblo angesehen. Zu den schamanisti­ schen Kräften, die durch Mitglied­ schaft bei den Neweke erworben werden, zählen: die Fähigkeit jede Menge und Art von Essen oder Abfall, einschließlich Menschen­ kot, zu verzehren, und die Fähig­ keit sich ohne Scham sexuell öf­ fentlich zur Schau zu stellen. Kenneth Grant betonte in sei­ nem Werk (über Tantrismus) Mei­ ster Crowley and the Hidden God ausdrücklich die Machtverbin­ dung von Sexualität und Kommu­ nikation. Grant schrieb: Das Christentum lehrt, daß Sex etwas Unsittliches ist, wenn es nicht von allerlei Schranken um­ geben ist. Während der osirischen Epoche stellte Sex eine der größ­ ten Probleme für Regierungen und Herrscher dar, weil sie eine vage Ahnung hatten, daß das Sexualele­ ment auf irgendeine dunkle Weise mit einem individuellen schöpferi­ schen Potential verbunden war. Sollte es sich entfalten können, so würde dieses Potential unaufhalt­ bar seine Souveränität behaupten und es ablehnen, sich den künstli­ chen Normen der Sittlichkeit zu beugen, die es versklaven wollen. Durch diese Versklavung - wovon die Institution der Ehe ein potenter Faktor ist - wurde der Sexualin­ stinkt in großem Maße blockiert. Um nur zwei Trends zu nennen, die in allen der untereinander elektronisch miteinander verbunde­ nen Teilen des Globus zur Zeit manifest sind, stellen die Emanzi­ pationsbewegungen der Frauen und Homosexuellen eine „De-Repression“ der sexuellen Energie dar, und dies hat eine ganz deutli­ che und auflösende Wirkung auf das, was wir Zivilisation nennen. In den Worten der Bibel heißt das soviel wie das Ende der Welt, oder zumindest das Ende einer be­ 146

stimmten Art von „Realitäts­ tunnel“. Der Schamane der 80er Jahre steht an der harten, sehnigen Scheide dieser Zersetzung. Sie/er befindet sich unter den „anstekkenden“ Ursprüngen der Unge­ wißheit und spielt die Hebamme des neuen Äons. Wir nennen das normalerweise Risiko. Ich habe Angst, jedoch erheitert mich diese Angst und pumpt gerade genug „Dr. Dents Adrenalin“ in meine Adern und ich rutsche ohne Bos­ heit in den existentiellen Schrekken. So geben wir unseren Genies die Werkzeuge für ihre Arbeit. Die männlichen und weiblichen Schamanen der80er Jahre werden uns weiterhin an eine alternative Weltanschauung erinnern, sogar dann, wenn diese Absicht klar sichtbar und zu einer greifbaren, erzeugten Realität wird. Nach die­ ser Ansicht wird es möglich sein, Vieldeutigkeit und Widerspruch als fundamentale Gesichtspunkte des Universums zu akzeptieren, so wie es Kommunikationstheoreti­ ker, Mathematiklogiker und sogar Atomphysiker demonstriert ha­ ben. Das Unbekannte stellt keine Bedrohung von „Recht und Ord­ nung“ mehr dar, sondern ruft Staunen hervor und verspricht furchterregende neue Dinge. Durch ihr/sein Tun/Sein zeigt der Neoschamane, daß die Suche nach Deutung - durch die Erfin­ dung neuer Mythen und Symbole, Riten und Bräuche, verbunden mit den besten der alten - eine unver­ meidliche Aufgabe des Menschen ist. Mehr und mehr werden zu die­ ser Aufgabe berufen, bis in jedem Menschen „Christus wiederge­ kommen ist“. Die Deutungen, die auf diese Art und Weise erlangt werden, sind nicht zu fürchten, weil sie uns von einer „rationalen Objektivität“ ab­ bringen - viel eher sollen sie als Anreiz verstanden werden, Erleb­ nisse und Existenz tiefer zu emp­ finden. Bewußtheit, Selektivität und Aufmerksamkeit werden uns den Ausgleich zwischen dem „Ob­ jektiven“ und „Überpersönlichen“ sichern.

Information wird immer zugänglicher, sei es durch Bücher, Zeit­ schriften oder Computer. Dadurch wird auch die eigene Geistesbil­ dung und ihr Gehalt zugänglicher. Erhöhte Selbsterkenntnis folgt, die auch eine positive Rückwir­ kung auf die Zugänglichkeit der Kunsterzeugnisse und Notwendig­ keiten des „Lebens-in-Kultur“ zur Folge hat. Mit anderen Worten er­ höht die Zugänglichkeit der inne­ ren Realität die der äußeren Reali­ tät. Diese Prozesse sind synerge­ tisch. Daher das Bild der Schlange, die ihren eigenen Schwanz ver­ schlingt. Der Schamane ist ein le­ bendiges Zugangsmedium, ein Zeigefinger für die Erforschung des/der sozialen Wandels/Füh­ rung/Steuerung durch Informa­ tion über das Selbst, Gruppen, Or­ ganisationen und die Herausbil­ dung neuer Netzwerke der Macht. Die Strategie des Wandels liegt jetzt im Gebiet der kybernetischen „Kontrolle“, der „Schlacht um Herzen und Geister“, des globalen Medienkriegs - die andere Art von Krieg ist durch Atomwaffen gro­ ßenteils veraltet. In diesem Krieg wird der Schamane zu einer Art Filter. Es kann vielleicht gezeigt wer­ den, daß durch verschiedene Tra­ ditionen und Lehren die alte Idee des Schamanen direkt mit der Neuen verbunden ist. Die Frage ist legitim: „Wer sind die heutigen Vertreter dieser Tradition?“ Mit anderen Worten: wer sind die Schamanen von heute und der jüngsten Vergangenheit? Ich wer­ de einige Namen erwähnen, aber es soll klar sein, daß, wenn nichts anderes der Schamane ein Symbol ist; folglich wird der Neoschama­ nismus sich auf die Vertreter der schamanistischen Tradition beru­ fen, ohne ihnen zu gleichen: Wil­ liam S. Burroughs; Aleister Crow­ ley; Allen Ginsberg; Timothy Leary; R. Buckminster Füller; John Lilly; Joyce Martin; Jean Housman; Salvador Dali; Aldous Huxley; und Robert A. Wilson. Es wird eine bestimmte Eigen­ schaft der Schamanen der 80er-

Jahre sein, sich nicht mit dem Auf­ bau von Anhängerorganisationen zu beschäftigen. Nach diesem Kri­ terium werden viele der sogenannten Gurus der 70er-Jahre während der 80er-Jahre auf der Strecke bleiben. Neoschamanen in Dut­ zenden werden weiterhin das Establishment infiltrieren, seine Strukturen durchdringen und von innen auflösen. Das geschieht be­ reits und ist die Antwort auf die Frage: „Was ist aus den idealisti­ schen Jugendlichen der 60er-Jahre geworden?“ Gleich den alten Jägern, noch über Instinkte verfü­ gend, besitzt der neue Schamane Geschick in der Kunst des Einfühlens und im Erkennen von pulsie­ renden Farben der hierarchischen Institutionen. Wenn sie/er ihre/sei­ ne Phase bei der Zielinstitution an­ stimmt, kann der Schamane (von Leary Agent des Wandels oder kosmischer Geheimagent ge­ nannt) von der sogenannten Esta­ blishmentinstitution aufgedeckt werden. Präzise eingestimmt, wirkt der Schamane als Resonanz­ körper, aber dann, durch eine leichte Phasenverschiebung, entkristallisiert sie/er das Establish­ ment. Diese überlegte Phasenver­ schiebung wird seit langem von CIA-Agenten eingesetzt, um aus­ ländische Regierungen und Füh­ rer zu „entstabilisieren“ und zu stürzen. Diese kybernetische Funktion von Kommunikation/ Kontrolle kann von einem eingeweihten Schamanen - besonders durch die Werke von Norbert Wie­ ner, et al, - erlernt werden. Dem Neoschamanen ist es be­ wußt, daß zwischen den Dingen subtile und desoterische/magische/verborgene Verbindungen bestehen. Viele dieser Verbindun­ gen sind in den Begriffsräumen der globalen Informationsumwelt (totaler elektronischer Umge­ bung) zu finden und deshalb wird der Schamane der 80er Jahre, be­ waffnet mit ihr/seinem vertrauten Mikrocomputer, diese Kraftlinien wahrnehmen. Außerdem wird sie/ er die mehr oder weniger offen­ sichtlichen Arten der Wechselwir­ kung der Dinge erfassen, und auf

dem Universum durch sein Infor­ mationsgehalt wie ein Cembalist auf ihr/seinem Instrument spielen. Sehen Sie: sie/er kennt die Geset­ ze der Übereinstimmung unter welchen ein kleiner Handgriff - mit kybernetischer Präzision im richti­ gen Augenblick ausgeführt - weit­ läufige Auswirkungen durch Reso­ nanz in höheren lnformations-/Dimensionssphären haben kann. Der Neoschamane hat viele Freunde, Verbündete und Diener­ sichtbare und unsichtbare. Aber mit jedem gibt es eine Zeit der Begegnung, eine Zeit des Zwi­ schenspiels und eine Zeit des Ab­ schieds. Letztlich geht sie/er allein durch die auf wunderbare Weise

ineinandergreifenden Felder. Sie/ er folgt Wegen, deren Spuren und Markierungen kaum erkennbar sind. Wie Jacob Needleman einst sag­ te: „Denn darin liegt die echte Macht - die dunkle Macht, wenn Sie wollen - der Figur des Zaube­ rers. Er steht außerhalb der sank­ tionierten Gesetze und Formen. Er tritt aus den Schatten hervor, in Kontakt mit einer Kraft, die, auf unheimliche, vielleicht gefährliche Art, größer als irgendetwas Menschliches - größer als irgend­ etwas in der Schöpfung außer der Macht Gottes ist.“ Der Neoschamane weiß, daß die Kontrolle und Manipulation emo­ tioneller Energie eine kyberneti­ sche Auswirkung hat: kleine An­ stöße können sehr große Kräfte lenken/befreien. Darin liegt das Geheimnis aller Magie, sei sie schwarz oder weiß, und veranlaßt den Schamanen mit doppelter Sorgfalt an ihr/sein Werk zu gehen. Zeremonielle Magie, unter der Führung des noch nicht in Er­ scheinung getretenen Neo­ schamanismus, wird sich zum Me­ dium des wechselwirkenden Computer-Bildschirms verlegen. Wir dürfen aber nicht glauben, daß diese Magie nur wegen einem er­ hofften Kontakt zu „höherer Intelli­ genz“ wichtig ist, obwohl das ge­ wiß Vorkommen könnte. Viel mehr wird das Ritual selbst eine Art kul­ tureller Katharsis bewirken, die, abgesehen von anderen Folgen, die Beteiligten erneuert und er­ freut. Diese Veranlagung der west­ lichen zeremoniellen Magie hin zum Bildschirm wird fast parallel gefolgt von der Verlagerung des Tantrismus der Hindus und Bud­ dhisten und des esoterischen Taoismus, für die die Ideen der Initiation, Riten, Realitätsverände­ rungen und Visualisierung/Hervorrufung von höheren Intelligen­ zen auch eine zentrale Rolle spielen. Ob er Magier, Zauberer, mächti­ ger Eingeweihter des Himalaya, oder Schamane heißt, dieser indi­ viduelle Synthesizer personifiziert 147

ein Muster, eine Lebensweise. Sie/ er ist in erster Linie ein Eingeweih­ ter. Der Neoschamanismus be­ sagt, daß, außer den mehr oder weniger natürlichen Einweihun­ gen des Lebens (Crowley meint, daß über einen gewissen Punkt hinaus, das Leben selbst zu einer Einweihung wird), wieGeburt, Hei­ rat, Sprechen lernen, Computer programmieren lernen, etc., es an­ dere gibt, denen man sich absicht­ lich unterziehen kann. Auf Kosten großer Anstrengung und Risiko bieten sie kosmische Bewußthei­ ten und persönliche Befriedigun­ gen, völlig jenseits der schlafen­ den Männer oder Frauen. Was könnte ich mit Sicherheit über diese Initiationserfahrung sa­ gen? Daß sie selbsterfüllend ist? Daß sie von nirgends herstammt und ihre Herkunft so weit zurück­ liegt, wie die Zeit des Urknalls? Was gibt es zu tun, nachdem man alles getan hat, was es zu tun gibt? Wir haben alle Möglichkeiten er­ forscht und die Äonen nach Deu­ tung abgesucht. „Aber andere noch unerforschte Welten existieren“, sagt Dali, „die die Menschen nie gesehen haben. Sie sind alle auf einem einzelnen Planeten konzentriert - die Erde. Deshalb war der erste Makrokos­ mos, den ich malte, ein phönizischer Krug. In den Kurven der Ter­ rakotta sah ich das Wasser meines Lebens vorbeifließen, durch das große Loch mit Daten gefüllt und durch das kleine Loch meinen Durst stillend. Genau so wie der Planet Erde, der sich in einen flüs­ sigen Computer verwandelt.“ Die meisten Schamanen der 80er Jahre werden sich damit be­ schäftigen, dem aufkommenden globalen Glaubenssystem ein Ge­ füge zu geben. Das nennt man auch „Noosphären“, nach dem Werke Chardins. Dieses Glaubens­ system kann als ein ineinander­ greifender Satz von Ideen/Tatsa­ chen/Mythen/Modellen des Plane­ ten Erde gesehen werden, und das darin vorhandene Bewußtsein wurde als Sammelbegriff nach der griechischen Göttin der Erde „Gaia“ genannt. Gaia wird auch in 148

der Form einer Arbeitshypothese gebraucht, um globale atmosphä­ rische/meteorologische/ökologi­ sche Wechselwirkungen im Be­ reich der Forschung des Planeten­ systems zu verstehen, dessen Nachkomme als „Terraforming“ bekannt werden wird. Ein Schamane ist nichts ande­ res als eine Verbindung in jenem Teil des Gehirns von Gaia, der selbstbewußt wird. Es ist die Auf­ gabe der Schamanen, durch eine bestimmte Lebensweise, der Sip­ pe zu einer größeren Harmonie zu verhelfen. Sogar diese Beschrei­ bung ist jedoch unzulässig, da es einen vollkommenen Mangel an Konflikt voraussetzt. Was weiß der Schamane? Know-how. Know-what. Knowwhere. Know-why. Der Schama­ nismus beschäftigt sich mit Visio­ nen und der Geschichte der Visio­ nen. Es ist ein Beruf und eine Auf­ gabe, die zu leisten ist. Während andere es vorziehen, sie/ihn „Schriftsteller“ oder „Dichter“, oder „Wissenschaftler“ odersogar „Verrückter“, „Mystiker“ oder „Guru“ zu nennen, weiß der Scha­ mane, daß ihr/seine Berufung weit über diese willkürliche Betonung von spezifischen Leistungen des Schamanen hinausgeht. Der Schamane ist Teil einer Pro­ jektstrategie der Evolution. Durch die Zusammenführung von Wis­ senschaft und Religion, die in der allgemeinen Systemtheorie zu fin­ den ist und durch die Verbindung von Silikon-Chip-Computer und organischen Biocomputern ver­ körpert der Schamane die Dezen­ tralisierung von Macht/Informa­ tion. Der Schamane ist die traditio­ nelle Verbindung zwischen dem Zeitalter des Fisches und dem des Wassermanns. Außer dem Mikro­ computer stehen dem Schamanen folgende Werkzeuge zur Verfü­ gung: Video, Bücher und Schrif­ ten, Musik, Rundfunk, Film, psy­ chedelische Drogen, Hypnose und Gnosis, Elektronik und Sexener­ gie (denn, was nützt die Evolution ohne allgemeine Begattung?). Wandel wird heißen: die richtige Information, im richtigen Kanal, in

das richtige Netzwerk, zur richti­ gen Zeit. Alle diese Wege führen in Richtung Realitätsaufbaugesell­ schaften, und Realitäten werden sich verbreiten wie auch Meinun­ gen global werden. Gleichgewicht, sagt der Neo­ schamane. Eine ausgewogene Er­ ziehung des Intuitiven und des Ra­ tionalen. Ein System aller Syste­ me. Die transzendentale Einheit des gesamten religiösen Denkens. Wie bringt man es zum Ausdruck? In der unaussprechlichen Mathe­ matik von Relativität, Atomphysik und Feldtheorie? Im hierarchi­ schen Wirken von Soziologie und Psychologie? In den Mythen und Symbolen, die es uns ermögli­ chen, die dunklen Kräfte - böse nur, wenn sie unbekannt und un­ beleuchtet bleiben - zu überwin­ den? In den neuen Bereichen, die von mehr und mehr Leuten ent­ deckt werden, in dem sie das „pattern-finding game“ spielen? Wäh­ rend das Niveau von realzeitlicher, menschlicher Bewußtheit immer hinaufundsichdrehend nach aus­ wärts wächst? Einer davon wird der meinige sein. Einer davon, oder etwas ähnliches, wird Dein Wille sein, der sich offenbaren muß. Zeit das I Ging zu werfen, bereits computerisiert... Sie/er ist der weiseste aller Ein­ geweihten und gleichzeitig, an­ scheinend, der dümmste aller Dorfbewohner, der nicht auf ihre/ seine Sicherheit acht gibt und de­ nen manchmal fehlt, was wir Men­ schenverstand nennen. Dieser Neoschamane lebt in Wi­ dersprüchen. Sie sind ihr/sein Ele­ ment. Sie überbrücken mehrere Welten für die Leute um ihn her­ um. Sie entreißen das Wissen dem Schattenbereich, um ihre/seine Leute mit dem Geist und den Orten zu verbinden, die einst allen zu­ gänglich waren und, dank ihrer/ seiner Arbeit, es bald wieder sein werden. Weder an das Weltliche der „hardware“, noch an das Meta­ physische der „Software“ gebun­ den, vermittelt der Schamane mit einer äußerst feinen Ausgewogen­ heit. Sie/er muß ein einzigartiger Könner der psychologischen

Selbstbeherrschung sein, denn ihr/sein Beruf verlangt wiederholt, daß sie/er intensive, sogenannte „abnormale“, psychologische Zu­ stände freiwillig erfahren: das heißt, in Trance fallen und Visio­ nen sehen. Sie/er kann nicht mehr betrachtet werden, als ob sie/er eine Kur nötig hätte, denn ihr/sein Leben ist ihre/'seine Kur. Ihre/seine scheinbare Weltlichkeit vertieft ih­ re/seine Identität, eher als sie zu stören. Der Schamane der 80er-Jahre wird uns weiterhin daran erinnern, daß es ohne Böses kein Gutes ge­ ben kann; ohne Schmerz keine Freude; ohne Teufel keinen Gott; oder ohne Haß keine Liebe. Diese Art von Spannung ist am größten beim Zusammentreffen solcher entgegengesetzter Kräfte; und dieser Dualismus scheint ein Teil der menschlichen Existenz zu sein. Aber der Schamane bewegt sich der Schnittlinie der Gegensät­ ze entlang, dialektisch tanzend zwischen den Polaritäten, ohne sie unbedingt für irgendjemanden zu lösen - sich selber inbegriffen. Ein Teil von dem, das wegen Heute, wegen jetzt, wegen dem Hiersein jetzt, gemacht wird, wird Zukunft. Dennoch entwischt die Zukunft den kontrollierenden Kräften. Man kann Überraschung weder kontrollieren, noch aus dem Kosmos verbannen. Das Bedürfnis frei zu sein und das Bedürfnis sei­ ne eigene Zukunft frei planen zu können, greifen ineinander, ir­ gendwie. Ekstase ist die höhere Freiheit, die vom Schamanen in allen Aspekten ergründet wird. Wenn, in der Freiheit der Ekstase, wir noch einem Evolutionsplan fol­ gen, oder einem Weg, den wir sel­ ber nicht entworfen haben, was nützt die Freiheit? Was nützt die Ekstase? Selbst jetzt wallen die Fleischteile in Millionen Bluejeans frenetisch mit den Reptilien im Un­ terbewußtsein der Gaia auf. Kein Wunder, daß Satan als Schlange dargestellt wird. Die Schlange ist die Kraft der Kundalini, die Kennt­ nis des Lebens, die durch eine Untersuchung der Fesseln, ge­ nannt Tabus, entsteht. Tabus und

Ketten können im Licht verbotener Anleitung des Schamanen, schaue Ikonen vom Bringer des Lichts ge­ gut zu, während sich die Oberflä­ löst werden. che des Teiges zur Schlange und Licht ist Information/Energie. wieder zurück verwandelt. Bringer der Einsamkeit und des Der größte Teil der Information, die wir empfangen und worauf wir Wunders, kriecht das Reptil des als Spezies reagieren, wird von Lichtes in mein Gehirn, sucht ei­ elektromagnetischen Strahlen in nen Schutz vor dem Aussterben, der Form von Lichtwellen über hier, zuunterst in meinem Gehirn, Entfernungen zwischen ein paar unter Mathematik, Musik und Lite­ Zentimetern und zwischengalakti­ ratur in unruhigem Frieden ver­ schen Lichtjahren befördert, schlungen. Falls sie die Kontrolle durch einen Kanal, der überall im übernimmt, was dann? Wird sie Weltall durchdringt. Obwohl der mein Leben zu einem langen, wol­ Kanal in manchen Abschnitten des lüstigen Klagelied machen? Wäre Spektrums sowie auch in be­ nicht die Qual eines entfesselten stimmten Teilen des Universums Hedonismus genau so unerträg­ sehr „lärmig“ ist, ist seine Kapazi­ lich wie die Qual Hiobs? tät im wesentlichen unbegrenzt Die Schlange ist drinnen, einge­ bzw. unendlich und er befördert sperrt in dem zähmenden Scha­ Signale über jegliche Entfernung manen. Sie ist das Reittier der Evo­ mit der laut Menschenkenntnis lution ... aber in welche unbekann­ höchsten Geschwindigkeit: rund te, unvorstellbare, unkontrollierte 300000 Kilometer/Sekunde Zukunft teilend? Zu welch alten Genüssen, wiederholt erlebt im (2 9 9 7 9 25 x 108 Meter/Sekunde). Silikon-Computer werden jetzt Schleim der Zeit? gebaut, die Licht für ihre internen Ich werde die Bestie reiten, sagt Kommunikationen und für Kom­ der Schamane. Und so ist sie/eres, munikationen mit anderen Ma­ der als erster das Pferd, das Feuer, schinen verwenden. Kanäle im das Saatzeug selbst zähmt. Ich Nervensystem des Menschen je­ werde diese Fahrt unternehmen. doch übertragen Impulse mit einer Diesem Weg folgen. Diese Ener­ Geschwindigkeit von ungefähr 3 gien im freien Dienst verpflichten, oder 4 bis etwa 10 Meter/Sek. Im­ damit die Menschheit weiter kopu­ pulse, die die Position der ver­ lieren, suckeln, und Kinder in das schiedenen Glieder angeben, sind Weltall setzen kann, in die Sterne, am schnellsten, Schmerzsignale die Galaxien und Planeten, für die sind am langsamsten. Wie schnell Beute der Schlangen, Bringer des Lichts, immer stoßend, immerzu sind Genußsignale? Und da sind wir, wie Neuronen, stoßend. Dem dient der Schama­ zusammengescharrt auf dem Fel­ ne. Dafür widersteht der Schama­ sen Terra, wo wir nach und nach ne ihren/seinen Versuchungen Illusionen der Autonomie erzeu­ durch Ekstase. Das kommt von sehr tief, sagt gen. Hier ist eine Schlange, riesig, lang, aufgewunden dicht unter un­ der Schamane. Respektiere es und seren Füßen. Sie kann ergriffen es wird wir nichts antun. Das und mit beiden Händen auseinan­ kommt von Ich-bin-der-ist, sagt dergerissen werden, und sie wird der Schamane, nimm es und miß­ dabei ganz gefügig bleiben, wie brauche es nicht, und du wirst lan­ Brotteig in kleinen Haufen pulsie­ ge leben und gedeihen. Was tun renden Protoplasmas. Handhabe wir mit dieser Schwülstigkeit, die sie. Gestalte sie, forme sie, spiele Leben genannt? Das was unkon­ mit ihr, verstehe sie. Dann werden trolliert in die Welt hinaus geht, sich die Teigklümpchen wieder zu- möchte es wissen. Erhebe dich sammensetzen und sich in eine dann, schlecke den Schleim von Schlange zurückverwandeln. Das deinen Fingern, während du dein ist so beeindruckend, daß sich die Raumschiff zwischen den Porta­ len von was-wenn nicht was-denn mehrfache Wiederholung lohnt. zu den Sternen, ins Licht führst. Diese Mal unter Führung und 149

Transformation Die Megakrise: Chancen zur ganzheitlichen Erneuerung

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Überall auf der Welt bilden sich jetzt ten. Dies ist nun keine politische Rheto­ Gruppen der Planetaren Initiative. Es ist rik oder simple Werbestrategie, son­ ein grenzüberschreitendes Netzwerk dern eine faktische klare Notwendig­ keit. Es ist nämlich die Lehre aus den von Menschen, die etwas gegen inhalt­ liche und ideologische Scheuklappen Katastrophenstudien der letzten Jahre, haben. Die traditionellen Organisatio­ von den Grenzen des Wachstums über Global 2000, dem Brandt-Report und nen, Vereine, Parteien, können die Pro­ bleme unserer Welt offenbar nicht vielen anderen, daß nur durch einen mehr lösen. Donald Keys, ehemaliger radikalen Bewußtseinswandel und ei­ Mitarbeiter der Vereinten Nationen und nen rapiden grundsätzlichen Lernpro­ heute Präsident der Planetaren Initiati­ zeß der gesamten Menschheit - eben ve, begann 1979 mit einer Kampagne nicht nur einer Elite - die globalen Probleme zu lösen sind und eine mögli­ zur Vereinigung weltweit verstreuter Al­ che Katastrophe zu verhindern ist. Die ternativgruppen und Friedensinitiati­ ven: „Es wird keinen plötzlichen Mo­ gegenwärtig feststellbare Kulmination ment des Erwachens des Weltbewußt­ verschiedener Krisen wird innerhalb seins geben, sondern eher eine Reihe der Planetaren Initiative die Megakrise vieler kaum merklicher Aktivitäten, die genannt. Hungersnöte, Wirtschaftszu­ insgesamt zu einem planetaren ge­ sammenbruch, ökologische und so­ meinschaftlichen Handeln führen und ziale Gefahren, alle diese Probleme damit das ganzheitliche Denken der sind nicht isoliert voneinander zu be­ Menschheit vorantreiben.“ trachten, sondern hängen miteinander 1981 kam es dann zu einem ersten zusammen. Es bedarf einer Mega-Lö­ Treffen der global denkenden und zu­ sung, diese Megakrise zu verhindern. kunftsbesorgten Vertreter entspre­ Aus diesem ganzheitlichen Denken chender Organisationen. Vom bekann­ heraus kam es dazu, daß Gruppen ganz ten Club of Rome, über die Vereinigung verschiedener Provinienz und Zielrich­ für humanistische Psychologie bis hin tung sich für diesen Zweck zusammen­ zu Amnesty International, den Freun­ fanden. Die Realisten und die Utopi­ den der Erde und vielen anderen Grup­ sten, die Naturwissenschaftler und die pierungen. Sie alle trafen sich in Stony Geisteswissenschaftler, die zwei Kultu­ Point, New York, und gründeten die ren in der Definition von C. P. Snow, Planetare Initiative für die Welt unserer alle diese Gegensätze müssen Zusam­ Wahl. Der frühere Generalsekretär der menwirken, wenn unser Planet ange­ Vereinten Nationen, U Thant, der Präsi­ sichts der Megakrise noch eine Chance dent des Club of Rome, Aurelio Peccei, haben soll. die Nobelpreisträger Linus Pauling, Jan Innerhalb der Planetaren Initiative Tinbergen, Konrad Lorenz und über wird deswegen eine Art globale Öku­ 100 weitere prominente Persönlichkei­ mene versucht. Das praktische Vorge­ ten aus aller Welt waren spontan bereit, hen entspricht weitgehend der Form diese Planetare Initiative zu unter­ von Workshops, wie wir es hier im Ökostützen. Log-Buch am Beispiel der Friedens­ Aber neben diesen bekannten Multi­ werkstatt ausführen. Sogenannte plikatoren war vor allem jeder einzelne Issue-Exploration-Groups treffen sich angesprochen, insbesondere diejeni­ wöchentlich oder monatlich, um die gen, die eben nie ihre Meinung oder verschiedenen Problemaspekte der ihren Willen artikulieren dürfen. Die Megakrise zu behandeln. Dies ge­ Planetare Initiative wendet sich direkt schieht nicht rein intellektuell informa­ an das schwache Individuum, die tiv, sondern in der Hereinnahme ganz machtlosen schweigenden Mehrhei­ persönlicher Erfahrungen und Trans­ 152

formationsprozesse. Der Zusammen­ hang von äußerer Veränderung und innerer Entwicklung wird in diesen Issue-Exploration-Groups speziell be­ handelt. Der gemeinsame und globale Lernprozeß kann nur greifen, wenn die einzelnen Individuen nicht nur von der Faktizität des Problems überzeugt sind, sondern von der Kraft ihrer eigenen Handlungsfähigkeit. Die häufige Erfahrung mit vielen kon­ ventionellen Problemlösungsgruppen ist die, daß eine Gruppe angesichts bestehender Probleme eher gelähmt als aktiviert wird, daß die Vermittlung negativer Informationen zu einer Hand­ lungsunfähigkeit und Verängstigung der Teilnehmer führt, statt zu Kraft und Vertrauen in die eigenen Po­ tentiale hinzuleiten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Publikation „Global 2000“ von einer Forschungsgruppe noch in der Regierungszeit von Präsident Car­ ter. Seminare über „Global 2000“ sind in den häufigsten Fällen Reflektionen über ein Schreckensbild des ökologi­ schen Zustandes der Erde. Die infor­ mierten Referenten produzieren mit ih­ rer Fachkompetenz somit meist das Gegenteil von dem, was der Bericht „Global 2000“ eigentlich versucht, nämlich über die Bekanntgabe der be­ drohlichen Zustände zu Gegenreaktio­ nen aufzurufen. In der gegenwärtigen Praxis sieht es jedoch so aus, daß die schon vorhandene Depression und Machtlosigkeit bzw. Hilflosigkeit ge­ genüber den Problemen unserer Welt von der Verbreitung der Inhalte von „Global 2000“ nur noch potenziert wer­ den. Dieser kontraproduktive Effekt kann nur ausgeschaltet werden, wenn rechtzeitig im Zusammenhang mit der Darstellung der ökologischen Proble­ me alternative Entwicklungsgänge auf­ gezeigt werden. Erst in der Gewinnung eines neuen Maßstabes kann die Ist-Situation reali­ stisch eingeschätzt und die soziale Phantasie dadurch angeregt werden.

Dieses Ziel haben die Issue-Explorations-Groups der Planetaren Initiative, und damit ähneln sie in vielen Punkten den sogenannten AlternativtechnikGruppen des letzten Jahrzehnts. Statt oberflächlicher, abstrakter Information über ein Problem entsteht die per­ sönliche Motivierung zu eigenem öko­ logischen Handeln. Dies darf sich nicht beschränken in den derzeit üblichen Beschwichtigungsmaßnahmen wie z.B. Energiesparen durch Fensterab­ dichtungen bzw. Reduzierung der Raumwärme um ein Grad Celsius. Wirksames ökologisches Handeln setzt qualitativ ganz woanders an als bei kleinen technologischen Modifikatio­ nen oder Verhaltensbeschränkungen des Einzelnen. Doch derart radikale Veränderungen müssen in der Bewußtseinsstruktur des Handelnden verankert sein. Bewußt­ seinsentwicklung und -erweiterung ist deshalb ein Grundthema innerhalb der Issue-Exploration-Groups. Das, was in den vorangegangenen Kapiteln ange­ sprochen wurde, findet deshalb seine Synthese und seinen Ausdruck in den schwerwiegenden Problembereichen, die wir in diesem Kapitel behandeln, vorneweg die Krieg- bzw. Friedenssi­ cherung. Dieser Bereich wird hier ex­ emplarisch für alle anderen behandelt, weil sich im grundsätzlichen Herange­ hen und den zugrundeliegenden Be­ wußtseinsstrukturen nichts ändern würde, wenn wir z.B. die ökologische Problematik oder Wirtschaftsfragen hier bearbeiten würden. Das brennen­ de Problem unserer Zeit ist jedoch die Friedenssicherung bzw. die Schaffung eines globalen Friedens. Dieser Frage nachgeordnet sind sämtliche anderen, denn was nützen uns Wirtschaftsregulative oder ökolo­ gische, lokale Maßnahmen, wenn wir nicht gewährleisten können, daß nicht jederzeit ein nuklearer Holocaust er­ folgt. Voraussetzung zur Erreichung dieses großen Zieles ist erst einmal die 153

klare innere Akzeptanz und Erkenntnis, daß Frieden machbar ist. Die Beiträge des dritten Kapitels ent­ halten somit viele Aspekte, die wir schon in den vorangegangenen behan­ delt haben und nehmen manche Ideen auf, die nun zu einer problemorientier­ ten Anwendung kommen. Auch gehört dazu die Transzendenz des Problems, ansonsten würden wir in der Fragestel­ lung, wie wir Krieg verhindern können, stecken bleiben. Friede ist nur erreich­ bar, wenn weitergehende Vorstellun­ gen angesprochen und entwickelt wer­ den. Erst in der Utopie liegen die Lö­ sungsansätze für gegenwärtige Proble­ me. Aus dieser Gegenüberstellung kann Neues entstehen. Nicht zufällig bedeutet das chinesische Schriftzei­ chen für Krise gleichzeitig Chance und Veränderung. Das Neue ist im Zusam­ menbruch des Alten schon vorhanden.

Hexagramm 24: Fiu Eine Zeit der Stagnation ist überwunden Im Rhythmus natürlicher Bewegung, so wie die Yang-Linie in das Hexagramm in der untersten Stelle einfließt, wird eine Veränderung und Verbes­ serung der Situation eintreten. Zusammen mit an­ deren Menschen wird eine Entwicklung eintreten zum Besseren, die weder geplant, organisiert noch willentlich verfolgt wird. Weil alle weiteren Linien aufnahmebereite Yin-zeichen sind, wird das Yang keinen Widerstand erfahren, wenn es sich durch­ setzt. Die neuen positiven Kräfte, die auftreten, sind vitaler und ungebrochener als die bisherigen. Der allgemeine Enthusiasmus für diesen Wechsel wird Feinde zu Freunden machen und Widerstände überwinden. Versuche diesen Wechsel nicht zu beschleunigen. Der allmählichen Entwicklung muß Raum und Zeit gegeben werden und kann nicht erzwungen werden. Let it happen, let it be. Zum I Ging siehe Seite 43

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Michael N. Nagler

Friede als Paradigmen­ wechsel Der wissenschaftliche Fortschritt vollzieht sich, nach der bekannten Beschreibung Thomas S. Kuhns, in einer Folge von „Paradigmen“ oder Bezugsrahmen, die häufig miteinander unverträglich sind. Der Ausdruck „Paradigma“, in den Sozialwissenschaften gang und gäbe geworden, ist dabei, sich auch in der Umgangssprache ei­ nen festen Platz zu erobern. Dabei droht er freilich, seine Be­ deutung ganz oder teilweise ein­ zubüßen. Die Leute sprechen heu­ te schon von „Paradigma", wenn zwei oder drei Begriffe den Schat­ ten eines systematischen Zusam­ menhanges aufweisen. Sie reden auch so, als ob die unterschied­ lichsten Paradigmen fröhlich ne­ beneinander existieren könnten „das marxistische und das realisti­ sche, das traditionalistische, das Friedensforschungs - Paradigma, das feministische, das behaviori­ stische“, um einen jüngst aufge­ stellten Katalog zu zitieren. Jeder­ mann hat das Recht, den Ausdruck so zu gebrauchen, wie er will; aber das ist nicht der Sinn, in dem Kuhn den Ausdruck gemeint hat. Kuhn kam es darauf an, zu zei­ gen, daß selbst in der Naturwissen­ schaft, in der die Rohdaten der wissenschaftlichen Beobachtung begrenzt und kontrolliert werden können, diese Rohdaten ohne ei­ nen vorgängig vereinbarten Be­ zugsrahmen von unüberschauba­ rer Komplexität wären. Kuhn zeig­ te, daß ein solcher Bezugsrahmen aus vorgefaßten Kategorien be­ steht, die im Wahrnehmungs- und Denkprozeß des Wissenschaftlers schon bald tief verwurzelt sind, und daß er, sofern es nicht zu ei­

nem „Paradigmenzusammen­ bruch“ und „Paradigmenwechsel“ kommt, von allen am wissen­ schaftlichen Diskurs Beteiligten praktisch einhellig geteilt wird. Man kann Marxist und gleichzeitig Feminist sein; aber man kann nicht gleichzeitig an ein ptolemäisches und ein kopernikanisches Universum glauben. Das soll nicht heißen, daß die Leute im täglichen Leben, anders als in der Wissenschaft, keine vor­ gefaßten Kategorien benutzen würden; im Gegenteil. Ohne eine selektive Wahrnehmung, mit der wir die Mehrzahl unserer Sinnes­ daten und unserer eigenen Gedan­ ken wegfiltern, wäre das Leben wie William James betont hat noch weniger zu bewältigen als die Wissenschaft. Wie Hazlitt es ausdrückt: „Ohne die Hilfe von Vorurteil und Gewohnheit wäre ich nicht imstande, mir einen Weg durch mein Zimmer zu bahnen.“ Trotzdem können Paradigmen im Leben, noch mehr als in der Wissenschaft, katastrophale Fehl­ schläge sein. Oder um es histo­ risch zu formulieren: Paradigmen, die sich eine Zeitlang als nützli­ ches System von selektiver Wahr­ nehmung, Bewertung und Ent­ scheidung bewährt haben, kön­ nen zu nutzlosem Ballast und noch Schlimmerem werden und ihre restlose Beseitigung und Er­ setzung durch neue Paradigmen erfordern, wenn es mit der Gesell­ schaft vorangehen soll. Genau das ist die Situation, die wir heute bezüglich der herr­ schenden Einstellungen zu Milita­ rismus und Krieg vorfinden. Viele Friedensforscher würden heute

dem Satz zustimmen, daß die Er­ reichung stabiler Friedensbedin­ gungen in der Welt einen Paradig­ menwechsel erfordert. Aber nicht alle von ihnen dürften erkennen, daß der gebotene Wechsel nicht der des lockeren sozialwissen­ schaftlichen Sprachgebrauchs ist, sondern jene viel tiefergehende und allgemein akzeptierte Verän­ derung der Weitsicht, von der Kuhn sprach. Was wir brauchen, ist nicht bloß ein Umschwung der Meinung, wie er einst in der amerikanischen Öf­ fentlichkeit bezüglich der Legiti­ mität des Vietnamkrieges zu ver­ zeichnen war, sondern ein dauer­ hafter Wechsel unserer Art, die Welt anzuschauen, Feindseligkeit zu kanalisieren, über sie nachzu­ denken - fast ein Wechsel unserer Realitätswahrnehmung. In einem Stein, der am Ende einer Schnur hin- und herpendelte, hat Aristote­ les tatsächlich den gehemmten freien Fall „gesehen“, während Galilei in genau derselben Er­ scheinung die Anfänge der Schwerkraft erkannte. Solange sich die Leute wohlfühlen, wenn sie Drohungen gegen andere Völ­ ker ausstoßen, die sie als Feinde betrachten, und nicht wahrneh­ men, daß diese „Feinde“ mit Ge­ gendrohungen reagieren (genau wie sie selber), so lange wird es nicht gelingen, den Krieg abzu­ schaffen. Es ist richtig, daß einzelne Krie­ ge durch bessere Diplomatie ver­ hindert werden können. Es ist auch richtig, daß die Neigung von Völkern, sich auf gefährliche Kon­ frontationen einzulassen, durch rationalere politische und gesell­ schaftliche Systeme in diesen Völ­ kern entschärft werden kann. Aber wenn wir die Wurzelursache des Krieges beseitigen wollen - und in diesem Nuklearzeitalter können wir es uns nicht leisten, weniger zu wollen -; wenn wir in dem sicheren Wissen leben wollen, daß die aus­ beuterischen Wirtschaftssysteme, die die Völker gegeneinander auf­ hetzen, endgültig abgeschafft wurden und daß die Völker nicht mehr (wie Norman Cousins einmal 155

formulierte) mit der gefährlichen Irrationalität von Halbwüchsigen auf dem Schulhof agieren: dann müssen wir den Ursachen des Krieges nachgehen, die „in den Köpfen der Menschen“ liegen. Emerson sagt ganz richtig: „Ein Gedanke war es, der diese ganze unheilschwangere Kriegseinrich­ tung schuf, und ein Gedanke wird sie wieder dahinschmelzen las­ sen.“ Doch was er in poetischer Verkürzung „Gedanke" nennt, ist eine ganze Denkungsart. Wenn ein echter Paradigmenwechsel in der Wissenschaft schon ein seltenes Ereignis ist, das nur alle paar Jahr­ hunderte vorkommt, so ist der Wechsel, von dem wir sprechen, noch viel seltener. Er stellt eine Umorientierung der Einstellungen breitester Menschenmassen nicht nur zu einem bestimmten Krieg, nicht nur zum Krieg überhaupt, sondern zu unseren Beziehungen untereinander dar. Er bedeutet ei­ nen Schritt nach vorne nicht nur in der menschlichen Geschichte, sondern auch in der biologischen Evolution. Die beiden Fragen, die sich je­ der vorlegen muß, der heute um den Frieden besorgt ist, lauten daher: • Ist der Zeitpunkt für eine Revo­ lution der Wahrnehmung in dieser Größenordnung gekommen? • Wenn ja: was kann ich tun, um diese Revolution herbeiführen zu helfen? Auf die erste Frage haben wir eine ebenso einfache wie bemer­ kenswerte Antwort, und zwar von Kenneth Boulding, dem früheren Präsidenten der American Asso­ ciation for the Advancement of Science. In seinem neuesten Buch Stable Peace (1978) formuliert er die einzigartige Wasserscheide, an der sich die Menschheit heute bezüglich der allerwichtigsten Frage ihres weiteren Überlebens befindet: „Krieg ist nicht länger legitim; aber Friede ist noch nicht legitim.“ Falls dies zutrifft, haben wir das erreicht, was Kuhn einen bevorstehenden Paradigmenzu­ sammenbruch nennen würde, der 156

sich in Ermangelung eines Para­ digmenwechsels noch nicht voll­ zogen hat. Und natürlich trifft Bouldings These zu. Kaum ein Tag vergeht ohne neue, verwirrende Anoma­ lien, die jenen zu denken geben müßten, die noch immer über­ zeugt sind, daß politische Macht aus dem Lauf eines Gewehres oder einem Raketensilo - kommt: Die militärisch stärkste Nation der Erde ist unfähig, die Ereignisse in einem winzigen Land Südost­ asiens zu kontrollieren; sie ist nicht imstande, wirksam zu reagie­ ren, wenn ihr diplomatischer Stab im Mittleren Osten als Geisel ge­ nommen wird; ihre Volkswirt­ schaft zu schützen; einen außen­ politischen Konsens im Lande auf­ rechtzuerhalten oder die Sicher­ heit ihrer Bürger auf der Straße zu gewährleisten. Die militärische Großmacht Nummer Zwei befindet sich in einem ähnlichen Dilemma. Beide vermehren die eigene Unsi­ cherheit und die des anderen mit jeder neuen Waffengeneration, die sie produzieren, um Sicherheit zu gewinnen. Die Mehrheit der Menschen sind gute Ptolemäer, und für sie sind diese Probleme (die ohne Ausnah­ me unmittelbar oder mittelbar aus unserem Glauben an militärische Macht resultieren) noch immer das, was Kuhn „Rätsel“ in einem System nennt, das „im Kern ge­ sund“ ist. Doch für eine immer größer werdende Zahl von nach­ denklicheren „Kopernikanern“ aus allen Bereichen des Lebens sind diese Probleme keine Rätsel, sondern echte „Gegenbeispiele“, die zeigen, daß das ganze Paradig­ ma, in dem sie Vorkommen, falsch ist. Kann man die Leute dazu brin­ gen, das alte Paradigma fallenzu­ lassen? Nur, wenn wir sie dazu bringen können, ein neues Para­ digma zu sehen. Wie Kuhn fest­ stellt: „Sobald sie einmal den Sta­ tus eines Paradigmas erlangt hat, wird eine wissenschaftliche Theo­ rie erst dann für ungültig erklärt, wenn ein alternativer Theorie-Kan­ didat zur Verfügung steht, ihren

Platz einzunehmen ... Der Ent­ schluß, ein Paradigma zu verwer­ fen, ist stets zugleich der Ent­ schluß, ein anderes zu akzeptie­ ren.“ Ohne Paradigma kann es Fragen der Wahrnehmung, Bewer­ tung und Entscheidung nicht ge­ ben. Dem Mystiker mag das mög­ lich sein, aber der normale Prozeß menschlicher Entscheidungsfin­ dung in der Wissenschaft, ge­ schweige denn in der Politik, ist es nicht. Eine beträchtliche Zahl von Menschen wird nicht aufhören, Entscheidungen zu treffen, die zwangsläufig zum Krieg führen, selbst wenn diese Kriege alles ver­ nichten, wofür diese Leute leben, solange sie nicht ein völlig neues Entscheidungssystem gebrau­ chen, verstehen und schätzen ler­ nen, das zum Frieden führt. Glück­ licherweise ist ein solches System bereits bekannt. Die folgenden Worte Albert Szent-Gyeorgyis ver­ weisen sehr deutlich darauf: „Zwischen den beiden Weltkrie­ gen, während der Hochblüte des Kolonialismus, regierte Gewalt die Stunde. Sie hatte eine verführeri­ sche Macht, und es war ganz na­ türlich, daß der Schwächere sich vor dem Stärkeren beugte. Dann kam Gandhi, der sozusa­ gen mit bloßer Hand die größte Militärmacht auf Erden aus seiner Heimat jagte. Er lehrte die Welt, daß es höhere Dinge als die Ge­ walt, ja selbst als das Leben gibt; er bewies, daß die Gewalt ihre ver­ führerische Macht eingebüßt hatte. “ Jede erfolgreiche Anwendung der Gewaltlosigkeit - die Befrei­ ung Indiens von britischer Herr­ schaft ist ein augenfälliges Bei­ spiel - bietet nicht nur ein zwin­ gendes Gegenbeispiel gegen das alte Paradigma einer schädlichen Gewalt, sondern auch einen deut­ lichen Hinweis auf das neue Para­ digma. Es basiert auf einem völlig anderen System von Vorausset­ zungen und einem anderen Sy­ stem der menschlichen Beziehun­ gen. Der Ausdruck „Gewaltlosig­

keit“ ist, genauso wie der Aus­ druck „Paradigma“, im sozialwis­ senschaftlichen Sprachgebrauch und in seiner (seltenen) Anwen­ dung in der Umgangssprache ab­ geschwächt worden. Recht ver­ standen, bietet er ein völlig neues Begriffssystem, und richtig ange­ wendet, bietet er der Menschheit, mit den Worten Gandhis, „die größte Kraft, die ihr jemals ge­ schenkt worden ist“. Natürlich sind Lebenstheorien Michael Nagler ist Professor für interdisziplinäre religiöse Stu­ dien an der Universität von Kali­ fornien in Berkeley. Er befaßt sich mit der Theorieder Gewaltlo­ sigkeit und generell der Frie­ densforschung. Schon seit Jah­ ren versuchen er und eine Reihe seiner Kollegen, in Berkeley ei­ nen Studiengang Friedens- und Konfliktforschung einzurichten, sowie ein eigenes Institut dafür aufzubauen. Bisher gelang diese Anstrengung noch nicht. Berke­ ley ist wie viele andere der Spit­ zenuniversitäten der USA abhän­ gig von Militärgeldern, d.h. For­ schungsmitteln, die an die Uni­ versität gegeben werden z.B. für Atomforschung oder Technolo­ gieentwicklung. Friedensund Konfliktforschung wären für sol­ che Auftraggeber eher Anlaß, sich eine andere Universität für ihre Aufträge zu suchen. Den­ noch ist das Berkeley Peace Studies Project, das Professor Nag­ ler mitbegründet hat, schon weit über die Grenzen der USA be­ kannt geworden und qualifiziert sich auch durch die Ausbildung sogenannter Peaceworkers, also Friedensarbeiter. Letztes Jahr, 1982, kam Naglers bekanntes Buch „Amerika ohne Gewalt“ heraus, welches seine Intentio­ nen und Theorien in populärer Form umreißt. Beim Lesen des Buches fiel mir auf, daß Nagler sich erst seit einigen, wenigen Jahren mit der Friedensfor­ schung befaßt. Davor war er ein konventioneller Literaturprofes­ sor, der sich auf Griechisch, La­ tein und Altenglisch spezialisiert hatte. Erst das allmähliche Er­ kennen unserer politischen und strategischen Weltsituation wur­ de für Nagler zum Anlaß, sich

noch schwerer zu verändern als wissenschaftliche Theorien. Aber die Methode, die die Geschichte uns zeigt, ist dieselbe: Erst sind es nur einige wenige kühne Geister, die das neue Paradigma entdekken - ein Kopernikus, ein Galilei, ein Einstein oder, wie in unserem Falle, ein Gandhi. Dann greifen es gewisse Meinungsführer auf und demonstrieren seine Macht. Im Laufe der Zeit wird es zum fest eingeführten Bezugsrahmen. Des­

neuen Inhalten zuzuwenden. So lehrt er heute neben Einführung in den Mystizismus oder alte Sprachen auch Einführung in Friedens- und Konfliktforschung. So grundsätzlich wie diese Ver­ änderung sind auch noch andere ähnliche Vorgänge in seinem Le­ ben zu finden. Eigentlich stammt Michael Nagler aus dem tiefsten New York, aus Brooklyn, wo er am 20. Januar 1937 geboren wur­ de. Er besuchte die Cornell Uni­ versität und dann die New York State-Medizinische Hochschule. Diese Ausbildungen schloß er je­ doch nicht ab, sondern wechselte plötzlich über auf das Fach Eng­ lisch und vergleichende Litera­ turwissenschaften. 1962 und 1963 verbrachte er in Deutsch­ land an der bei Amerikanern so beliebten Heidelberger Universi­ tät. Danach kehrte er nicht zurück nach New York, sondern ging nach Californien, nach San Franzisco, wurde dort Assistenzpro­ fessor für klassische Literatur und 1966 zum ordentlichen Pro­ fessor berufen. Er lebt heute mit seiner Frau und zwei Kindern in Tomalis, ganz in der Nähe von San Franzisco.

halb konnte Einstein vorrechnen, daß der Frieden erreicht werden würde, wenn nur 5 Prozent der Menschen aktiv für ihn arbeiten würden! Der Friede ist nicht nur an sich wünschenswerter, sondern in der Praxis auch leichter „mach­ bar“ als der Krieg, und es ist hier wie mit jeder derartigen Verände­ rung: Sobald Meinungsführer das neue Paradigma zu gebrauchen beginnen, wird das, was zuerst der „lunatic fringe" war, unmerklich, aber rasch genug zum Teppich, auf dem die Mehrheit steht. Unsere zweite Frage - was kann ich persönlich tun? - hat sich da­ mit fast schon von selbst beant­ wortet. Was immer wir tun können, um die Sichtbarkeit dieses neuen Paradigmas zu verstärken: Es wird der bei weitem wirksamste Beitrag sein, den wir zur Etablierung eines dauerhaften Friedens leisten kön­ nen. Es gibt viele Möglichkeiten, an dieses Abenteuer heranzuge­ hen, doch scheint mir, daß für uns als Angehörige der Intelligenz die Aufgabe darin besteht, uns mit der Geschichte der Gewaltlosigkeit vertraut zu machen, die ihr zu­ grunde liegende Theorie zu verste­ hen und sie vor allem anwenden zu lernen. Noch heute ist leider nur allzu wahr, was der Report from Iron Mountain (von Leonard C. Le­ win) schon 1967 feststellte: daß wir „bis heute kaum mehr als einen furchtsamen Blick über die Schwelle des Friedens geworfen“ haben. Gegenwärtig sind es, wie wir zu unserem Schaden wissen, gewis­ se Reizwörter wie „Stärke“, „Be­ reitschaft“ und vor allem „Sicher­ heit“, die, weil sie nur ein dürftiges Feigenblatt für militärische Stärke, militärische Sicherheit sind, die politischen Entscheidungen der Menschen auf allen Ebenen der politischen Hierarchie durch sy­ stematische Irreführung nachhal­ tig beeinflussen. Die wirksamste Methode, diese Art überholten Denkens anzugreifen, besteht in dem Hinweis - und wenn möglich in dem Nachweis-, daß in Koope­ ration und „gegenseitiger Hilfe“ mehr Stärke liegt als in Kriegsbe­ 157

reitschaft; daß Sicherheit, die ih­ ren Namen verdient, einzig und allein davon herrühren kann, daß man keine Feinde hat, nicht aber von der Bedrohung jener, die wir als Feinde wahrnehmen. Wir müs­ sen über die erfolgreichen Ver­ wendungsmöglichkeiten gewaltfreier Schutzmechanismen wie et­ wa des zivilen Ungehorsams Be­ scheid wissen und über andere Aspekte des gewaltfreien Instru­ mentariums, um diesen Nachweis führen zu können. Nicht selten liest man eine Schlagzeile wie die folgende: „What U. S. Could Do to Iran“ (ge­ meint ist natürlich: was wir dem Iran Schlimmes zufügen könnten). Solche Fragen gehören in diesel­ be Kategorie wie „wann haben Sie zum letzten Mal Ihre Frau geprü­ gelt?“. Sie schließen jedes Nach­ denken über die eine Frage aus, die in Wirklichkeit die wichtigste ist: „Sollen wir dem Iran überhaupt etwas zufügen?“ Die wirksamste Weise, den Leuten die Augen für diese nicht vorkommende Frage zu öffnen, besteht nicht in dem Hinweis, wie wir unsererseits als erste die Iraner provozierten, in­ dem wir ihnen als erste Schaden zufügten. (Das mag zwarzutreffen, scheint aber keine wirksame Me­ thode zu sein.) Vielmehr kommt es darauf an, zu zeigen, wie koopera­ tives und versöhnliches Verhalten eine wirkungsvollere Weise wäre, mit den Iranern umzugehen, als kämpferische Aggression. Ohne einen definitiven Wechsel unserer Erziehungs- und Bil­ dungsziele ist ein dauerhafter Wechsel unserer Weitsicht kaum zu erhoffen. Alles, was die ver­ schiedenen Menschen auf unse­ rem Globus eint, müßte interes­ santer gemacht werden als unser derzeitiges Fasziniertsein von Un­ terschieden und Differenzen. Ein solcher Wechsel würde das oben erwähnte Öffnen der Augen vorbe­ reiten helfen. Wir müßten nicht nur wissen, wie das Prinzip des Frie­ dens allüberall auf der Welt ver­ letzt wird, sondern wir müßten auch genau wissen, was erforder­ lich ist, um den Frieden stabiler zu 158

machen. Soweit ich sehe, kann das nur durch konsequente Ge­ waltlosigkeit geschehen. Dem alten, zunehmend ver­ wundbaren, aber immer noch sehr gefährlichen Paradigma von Macht und Gewalt liegt die zentra­ le Annahme zugrunde, daß die Menschen getrennte Einzelwesen sind - ganz so, wie sie dem Sinnes­ eindruck erscheinen. Wir werden den Krieg niemals zuverlässig ab­ schaffen, wenn wir diese Grund­ voraussetzung nicht anzweifeln; und das neue Paradigma zweifelt sie an. Gewaltlosigkeit basiert auf der Hypothese, daß alles Leben auf Erden eines ist. So wie Einstein das moderne Zeitalter der Physik einleitete, in­ dem er das anerkannte Axiom an­ zweifelte, Zeit und Raum seien ab­ solute Koordinaten, so stellen er und andere uns heute vor die noch gravierendere Herausforderung derThese, daß Männer und Frauen nicht voneinander und der übrigen Umwelt getrennt sind. Der Tag wird kommen - und wir müssen dafür sorgen, daß er kommt -, wo die folgenden Worte Einsteins ebenso oft angeführt werden wie seine berühmte Formel über die Umrechenbarkeit von Energie in Materie: „Das Menschenwesen ist Teil ei­ nes Ganzen, das wir ,Universum“ nennen, ein zeitlich und räumlich begrenzter Teil. Der Mensch er­ fährt sich selbst, seine Gedanken und Gefühle, als etwas von allem anderen Getrenntes - eine Art op­ tischer Täuschung seines Bewußt­ seins. Diese Täuschung ist eine Art Gefängnis für uns, das uns auf unsere persönlichen Wünsche und auf die Zuneigung zu weni­ gen, uns besonders nahe stehen­ den Personen beschränkt. Unsere Aufgabe muß es sein, uns aus die­ sem Gefängnis zu befreien, indem wir den Bereich unseres Mitlei­ dens auf alle lebenden Geschöpfe und auf die ganze Natur in ihrer Schönheit ausweiten. “ Als Gandhi die Gewaltlosigkeit eine Wissenschaft nannte, was er häufig tat, und sein eigenes Leben

als eine Serie von Experimenten mit der Wahrheit bezeichnete, war das keine metaphorische Rede­ weise. Gewaltlosigkeit ist zweifel­ los eine Wissenschaft. Man kann sie lernen, und man kann sie leh­ ren. Sie verfügt über eine zentrale Hypothese, von der man ein Sy­ stem von theoretischen und prak­ tischen Konstrukten über das We­ sen der Wirklichkeit abzuleiten und zu überprüfen begonnen hat. Ihr Laboratorium ist die Gesamt­ heit des Lebens, und die kompe­ tenten Forscher sind buchstäblich wir alle. Im Verlauf der jüngsten Debatte über die Verbindung der University of California zu amerikanischen Kernwaffenlaboratorien sprach sich ein hervorragender Physiker für die Beibehaltung dieser Ver­ bindung aus, mit der Begründung: „Ich bin vermutlich älter als die meisten von Ihnen, und ich erinne­ re mich an das, was 1939 mit Frankreich geschah.“ Wenn mein Kollege sich an das erinnern konn­ te, was 1939 mit Frankreich ge­ schah, warum konnte er sich nicht auch an das erinnern, was am 15. August 1947 mit Indien geschah, als die letzten britischen Abord­ nungen, unter dem Jubel riesiger, freundlich gesinnter Massen von Indern, freiwillig in ihre Heimat zu­ rückfuhren? Die Ursache für solche selektive Wahrnehmung und die auf ihr ba­ sierende Entscheidung ist nicht ein Mangel an Erfahrung, sondern das Fehlen eines zureichenden Paradigmas zur Interpretation die­ ser Erfahrung. Unsere Aufgabe lautet nicht: den Leuten etwas aus­ zureden, sondern: sie aufzuklären. Jeder einzelne Mensch soll genau erfahren, was mit einem Land ge­ schieht, das nur militärische Stär­ ke wahrnehmen kann und von mi­ litärischer Verteidigung abhängig wird, und was geschieht, wenn ein Land lernt, „die größte Kraft, die der Menschheit je geschenkt wor­ den ist“, in seinen Dienst zu neh­ men. Ich habe genügend Vertrau­ en in die menschliche Natur, um zu wissen, wie dieser Mensch sich entscheiden wird.

Anita Pennington

Vom Umgang mit der Ohnmacht „Lieber sterbe ich, als daß ich mir meine Angst vor dem Ster­ ben ein gestehe." Macht und Ohnmacht bilden einen teuflischen Kreislauf in der menschlichen Einstellung zum Le­ ben, zum Kosmos. Seine Auswir­ kungen und Zeichen sind allent­ halben zu beobachten. Viel - wenn nicht alles menschliche Denken, Glauben, Handeln - läßt sich dar­ auf zurückführen. Wir sind ohn­ mächtig, in dem Sinne, daß wir dem Geborenwerden und vor al­ lem dem Sterben, ausgeliefert sind. Wir sind sterblich. Wir wissen es; Millionen Tote vor uns, das Sterben von unseren Nächsten und Liebsten beweisen es uns. Und dennoch wollen wir es nicht wahrhaben. Wir versuchen, uns auf vielfache Weise an der Angst vor dem Sterben und sogar am Sterben selbst vorbeizuschwin­ deln. Warum bin ich hier? Eine simple Frage, aber Ausdruck der mensch­ lichen Fähigkeit, über sich und sei­ nem Umstand bewußt nachzuden­ ken. So simpel sie auch sein mag, bildet diese Frage die Grundlage ganzer Religionen und Philoso­ phien. In unserer Ohnmacht be­ darf diese Frage dringend einer Antwort, so daß wir bereit sind, je nachdem wann und wo wir gebo­ ren werden, die unterschiedlich­ sten „Wahrheiten“ und Lebensre­ geln für die richtigen zu halten. Es gibt potentiell so viele Auswege aus der Sinnlosigkeit, die wir uns denken oder an die wir glauben können, wie es Menschen gibt. Durch einen Konsens von Grup­ pen entstehen Zusammenschlüs­

se (die offiziellen Religionen), die sich in Phasen immer wieder ab­ spalten, unterteilen, verwandeln. Ein Paradies im Jenseits wird an­ gestrebt, Reinkarnations- und Auf­ erstehungslehren entstehen, die zumindest auf die Unsterblichkeit unserer Seelen hoffen lassen und auf diese Weise uns einen Fortbe­ stand sichern. In einem Zeitalter atomarer Be­ drohung ist auch eine starke Rück­ kehrtendenz zu den Kirchen zu verzeichnen - nicht unbedingt aus dem tiefen spirituellen Glauben heraus, sondern eher als eine Ver­ sicherung auf die Zukunft. Das Aufblühen von Sekten hat wahr­ scheinlich ihren Ursprung auch hier, zumal wir in einer Zeit leben, in der Lebensqualität mit materiel­ lem Haben gleichgesetzt wird, wir aber bemerken, daß wir letztend­ lich dadurch niemals einen tiefe­ ren Sinn unseres Daseins erfahren können. Die Gefahr, die ich hier sehe, liegt keineswegs in der Frage nach dem Sinn des Lebens, sondern in den vermeintlichen Antworten, Grundlagen von Dogmen und Heilslehren, die oftmals weiteres Infragestellen verunmöglichen. Nur wer immer wieder Fragen stellt, stellt sich auch seiner Ohn­ macht. Daß der Mensch mit seinem Inder-Welt-sein nicht im Einklang steht, ist ein Zustand, der schon mit der Vertreibung aus dem Para­ dies versinnbildlicht wurde. Was hat Adam getan? Er hat von der Frucht vom Baum der Erkenntnis gegessen. Das war ihm verboten worden. Lanzo del Vasto interpre­ tiert den Sündenfall wie folgt: „Es­

sen bedeutet sich aneignen, abrei­ ßen, beschädigen, sich einverlei­ ben. Frucht bedeutet Nutznie­ ßung, Vergnügen, Ausbeute, Pro­ fit. Die Sünde war also die Inbesitz­ nahme und die Auswertung der Erkenntnis zum Zweck des Genus­ ses und des Nutzens.“ „Die Erkenntnis hatte Adam in lebendiger Fülle, denn sie war wie ein grüner Baum in die Mitte sei­ nes Gartens gepflanzt. Und Gott hatte ihm nicht verboten, den Baum anzusehen und sich in sei­ nem Schatten niederzulassen.“ (Lanzo del Vasto Die Macht der Friedfertigen, 1982). Hierin sehe ich eine zweifache Aufforderung: einerseits, daß die Menschheit einen Weg suchen muß, mit der Natur, statt von der Natur zu leben und andererseits, daß wir lernen müssen, mit unse­ ren Fragen und Zweifeln zu leben, statt immer auf die Sicherheit ei­ ner vermeintlich richtigen Antwort zu setzen. Wir haben aber, in mit stets zu­ nehmender Geschwindigkeit, die Natur und soweit es uns bisher gelungen ist, den Kosmos zu er­ obern gesucht. Immer weniger eingebunden in ihren Rhythmus haben wir immer größere Eingriffe vorgenommen, die das komplizier­ te Netzwerk schöpferischer Kraft, bei der jedes Insekt, jedes Tier, jede Pflanze eine ganz eigene Rol­ le im Fortbestand und Wandel spielt, zu zerstören drohen. Die Aufforderung der Bibel „Seid fruchtbar, mehret Euch und erfül­ let die Erde, macht sie Euch unter­ tan“ (Genesis 1/28) scheint uns vergessen zu lassen, daß wir die Erde zu erfüllen haben, nicht ein­ fach zu Übervölkern und auszu­ beuten als wären wir getrennt von dieser Erde, als würden wir uns nicht selber dabei unterjochen und kaputtmachen. Statt respekt­ voll die Teile des Ganzen zu ehren, zu dem wir auch gehören („Du bist Staub und sollst wieder Staub wer­ den“), haben wir versucht, uns aus diesem Zyklus, aus dem Netzwerk herauszulösen und leben die Illu­ sion dieser Trennung mit den ver­ heerendsten Konsequenzen. 159

Judy Grahn gibteine interessan­ te Definition von Kraft und Macht (im Sinne des Kontrollierens), die auf eine Alternative zum Macht/ Ohnmacht-Denken hinweist. „Ein Apfel ist etwas, was gewachsen ist und er beinhaltet Kraft. Nur ein Apfelbaum vermag einen Apfel hervorzubringen - sonst niemand. Auch der reichste Mensch auf Er­ den kann niemals einen Apfel ma­ chen ... Er hat nicht die Kraft eines Apfelbaumes, Äpfel zu schaffen. Er kann sie besitzen, einzäunen, transportieren, pflegen, sie ver­ wenden, kaputtmachen. Er kann die Macht (Kontrolle) über sie er­ langen, aber nie die Kraft des Ap­ felbaumes“ (Judy Grahn From Sacred Btood to the Curse and Beyond in Charlene Spretnak (Hrsg.) The Politics of Women's Sprituality, New York, 1982). Frauen haben - durch ihre Fä­ higkeit ihre eigenen Äpfel (Babys) hervorzubringen - einen direkten Ausdruck für ihre Kraft, den sie gebären, halten und ernähren kön­ nen. In diesem Einssein mit der schöpferischen Kraft der Natur schwindet die Notwendigkeit, der Zwang, aus einem Gefühl des Ge­ trenntseins heraus, sich diesem Netzwerk und der Unendlichkeit durch aktive Kreativität anzu­ schließen, bzw. zu ergründen, in­ dem man(n) immer weiter die Grenzen des Wissens und des Könnens auszudehnen trachtet. Ich will damit nicht behaupten, wir bräuchten alle nur immer mehr Ba­ bys zu produzieren, um uns in Ein­ heit mit dem Kosmos zu erleben. Was hat aber der Mensch getan, um seine Ohnmacht, seine Isoliert­ heit zu bewältigen? Wie schon er­ wähnt, hat er Religionen und Heilslehren gefunden. Die Arbeit des Alchemisten als einer der Vor­ läufer der modernen Wissenschaft ist interessant zu betrachten. Das Wesentliche bestand nicht allein darin, unedles Metall in edles (Gold) zu verwandeln. Ihnen ging es um das „innere Verstehen“; „Al­ les kommt von dem Einen und kehrt zu dem Einen zurück, durch den Einen und für den Einen“. Eliphas Levi beschreibt das Gro160

Anita Pennington, geb. 1948 in England; Kindheit und Schulzeit in England. 1965 Universität Straßburg; 1966-1967 Sprachstu­ dium an der Universität Heidel­ berg. Mitarbeit an einem Institut für interkulturelle Forschung. Seit 1974 Begegnungen mit The­ rapien und Methoden der Huma­ nistischen Psychologie. Seit 1980 Leitung von Selbsterfahrungs­ gruppen im Therapiezentrum Coloman und an bayerischen Volks­ hochschulen.

ße Werk des Alchemisten als „vor allem die Erschaffung des Men­ schen durch ihn selber, das heißt, die volle und gänzliche Inbesitz­ nahme seiner Fähigkeiten und sei­ ner Zukunft; es ist insbesondere die vollkommene Befreiung seines Willens“ (in: Transcendental Ma­ gic, London 1964). Hier strebte der Mensch nicht nach materiellem Reichtum und weltlichen Ehren, sondern nach dem Allheilmittel, der Panazee, die zum Schlüssel der Unsterblichkeit wird. Er ver­ suchte, im Einklang mit der Einheit allen Lebens, die Ohnmacht vor der Sterblichkeit zu überwinden. Die Suche nach dem Schlüssel der Unsterblichkeit hat nicht des­ halb aufgehört, weil sich der Mensch in zunehmendem Maße von einem Bewußtsein von der Einheit allen Lebens entfernt hat. Im Gegenteil, er hat Naturwissen­ schaften und Technologien ent­ wickelt, die von einer großartigen Kreativität zeugen. Er kann Roh­ stoffe verwandeln, er beherrscht biochemische, neurophysiologische, elektronische Vorgänge, er

kann Organe verpflanzen und Genmanipulationen betreiben, er kann Kernenergie und Massenver­ nichtungswaffen verschiedenster Gattung herstellen, und er ist' be­ reit, für Vorstellungen und Über­ zeugungen zu kämpfen und zu tö­ ten - vielleicht sogar das ganze Leben auf unserem Planeten zu vernichten - ohne das Geheimnis des Lebens zu durchdringen, ohne der Unsterblichkeit näher zu kom­ men und ohne eine größere Zufrie­ denheit oder innere Ruhe erreicht zu haben. Er steht nach wie vor ohnmächtig da. Ohnmächtiger vielleicht noch, da sich zeigt, daß alle diese Versuche, die Macht über das Leben zu erlangen, alle Revolutionen, alle medizinischen, technischen Fortschritte nicht ver­ mocht haben, ihn aus seiner Ohn­ macht zu befreien. Bisher habe ich versucht, ge­ samtgesellschaftliche Tendenzen im Umgang mit der Ohnmacht auf­ zuzeigen. Aber wie reagieren wir als Einzelne auf sie? Ehe wir überhaupt geboren wur­ den, bei der Geburt und sicherlich kurz danach geht diese Geschich­ te an. Es mag sein, daß wir uns in der Gebärmutter aufgehoben, stark, eins mit der Mutter und der Schöpfung erlebt haben. Da muß­ ten wir aber raus. Oftmals früher und gewalttätiger als uns recht war. Und bei unserem Eintritt in die Welt, mag er noch so sanft und liebevoll gewesen sein, dennoch waren wir hilflos und angewiesen auf die „mächtigen“ Erwachse­ nen, um Nahrung, Schutz, Zuwen­ dung und in zunehmendem Maße Erziehung und Sozialisation zu er­ halten. Die Muster, nach denen wir lernen, mit unserer konkreten Si­ tuation der Ohnmacht umzuge­ hen, entwickeln wir schon sehr früh. In der Regel entscheiden wir uns für eine von zwei Möglichkeiten. Entweder bekennen wir uns zu un­ serer Ohnmacht, Hilflosigkeit, Schwäche, die wir spüren. Wir ler­ nen, das Opfer zu sein, und geben es auf, gegen die elterliche Gewalt vorzugehen. Wir werden brav, lieb, angepaßt. Die Macht ist bei den

„ohnmächtige Wut“. anderen, außerhalb von uns. Diese Männern Haltung (in seiner überhöhten Über diese Antwort habe ich lange Form als Masochismus) erfordert nachgedacht, und mir wurde im­ eine Macht außerhalb von uns mer klarer, daß jeder Ausdruck von selbst, eine Größe, die einer hat Macht aus einer Schwäche, einer Ohnmacht herrührt. und ein anderer nicht. Oder wir nehmen eine „mich Je nachdem wie unsere Ent­ kriegst Du nicht“ - Haltung ein. scheidung ausgefallen ist, unter­ Wir beschließen, die Macht an uns werfen wir uns, delegieren die zu nehmen, Macht über andere Macht an andere, oder ergreifen auszuüben, um uns aus der Ohn­ die Macht und setzen sie ein, um macht zu befreien. Bedrohung mit Bedrohung zu be­ H. E. Richter schreibt: „Ein häu­ gegnen. (Für eine sehr differen­ figer Beziehungskonflikt zwischen zierte Problematisierung dieses Kind und Eltern in einer bestimm­ Punktes empfehle ich die Lektüre ten Entwicklungsphase ist es, daß von H. E. Richter Zur Psychologie jede Seite die andere durch maxi­ des Friedens, Rowohlt 1982) male Abschreckung in Schach hal­ Was macht ein Mensch in einer ten zu können glaubt ... unnach­ Situation extremster Verzweiflung giebig ringen Kind und Eltern um über z . B . die Sinnlosigkeit und die Macht bis - in der Regel das Leere seines Lebens, oder ange­ Kind - äußerlich kapituliert“; oder sichts einer tödlichen Krankheit? ist das Kind „ganz und gar von Er kann beschließen, sich das Le­ dem Mißtrauen erfüllt, daß es ben zu nehmen. Dadurch kann er Schaden erleiden wird, wenn es aus dieser Sinnlosigkeit und Leere diese (Eltern) nicht unabläßig un­ flüchten, und gleichzeitig erreicht ter Kontrolle hält und beherrscht er eine Macht über das eigene ... das tyrannische Kind be­ Sterben. Er kann auf diese Weise herrscht seine Eltern. Es übt diese sicherlich nicht Sinn und Fülle in Tyrannei nicht etwa aus Übermut sein Leben bringen, er kann aber aus, sondern aus der tiefen Über­ die Grenzen durchbrechen. Das zeugung und Angst, Ohnmacht sei Potential, das dadurch gewonnen lebensgefährlich, und Macht wurde, daß die Menschheit immer schütze vor der Katastrophe ... danach getrachtet hat, die Gren­ Seine Mittel sind oft Schreien, zen des Wissens zu erweitern, die Nahrungsverweigerung etc.... die Geheimnisse des Lebens zu er­ dazugehörigen Eltern findet man gründen, dient keineswegs dazu, zwischen Angst und Wut schwan­ die Sterblichkeit zu überwinden, kend. Sie fühlen sich durch ein sondern sie um ein Vielfaches nä­ solches Kind gepeinigt und ge­ her bringt, bis sie zu einer fast kränkt. Mal schimpfen und drohen unausweichlichen Gewißheit ge­ sie, mal unterwerfen sie sich wie­ worden ist. Auch dieser Tod könn­ der aus Furcht, die Widerspenstig­ te als Flucht aus einem sinnlos keit des Kindes ins Unerträgliche gewordenen, leeren, materialisti­ zu steigern ... An sich wäre es schem Leben in einer ohnehin angemessen, dem Kind mit Ge­ zum Tode verurteilten Umwelt ge­ duld und Besonnenheit zu helfen.“ sehen werden. Die Menschheit hält in eigenen Händen das Poten­ Aber diese Eltern sind selbst Pro­ dukte eines Paradoxon: Unsere tial, sich selbst auszulöschen. In Kultur verlangt „Größe, Macht, geradezu fataler Weise haben wir unseren Allmachtsanspruch so Stärke als Ideale einer erfolgrei­ chen Selbstverwirklichung, ver­ weitergetrieben, daß wir diese ma­ kabre Form der Kontrolle über Le­ langt aber zugleich eine perma­ nente Anpassung und Zügelung ben und Tod errungen haben. Die Alternative? Den Mut haben dieses Strebens“. Gefragt nach dem Gefühl, das sie hatten, als sie stehenzubleiben. Fragen zu stel­ ihre Frauen schlugen bzw. zu len, ohne eine uns vergewissern­ schlagen drohten, erhielt ich die de, beruhigende Antwort zu erwar­ ten; den Mut haben, unsere eige­ Antwort von einer Gruppe von

nen Fehlentwicklungen und Moti­ vationen zu erkennen; den Mut ha­ ben, uns unsere Unsicherheiten und Ängste einzugestehen; den Mut haben, den Tod und unsere Ohnmacht wahr zu haben, mit ih­ nen zu leben und uns so dem Fluß des Einen zu öffnen. Diese (Revo­ lution kann nur von jedem Einzel­ nen vollzogen werden, niemals für ihn durch andere. Hierin liegt mei­ ne Hoffnung.

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Peter Paulich

Die Zerstörung des Eurozentrismus Über kollektive Formen der Verdrängung und einen Versuch „multinationalen“ Lernens Vom 30. August bis zum 10. Sep­ tember 1982 fanden zum zweiten Male die „Cursos Internacionales del Universidad de Alicante“ statt. Eingeladen waren Postgradu­ ierte und Engagierte aus Projek­ ten, die sich mit Modellen „grüner Entwicklung" (green develop­ ment) beschäftigten. Ort des Ge­ schehens: Das Touristen-Manhattan Benidorm. Mentor und verantwortlich für Gestaltung und Einladung: Johan Gattung. Die Idee der „Cursos Internacio­ nales“ entsprang einem For­ schungsprojekt der Vereinten Na­ tionen. Unter der Leitung des nor­ wegischen Soziologen und Frie­ densforschers Professor Johan Galtung arbeitete ein internationa­ les Team von Wissenschaftlern über Vor- und Nachteile unter­ schiedlicher Entwicklungsmodel­ le unter besonderer Berücksichti­ gung der spezifischen „Neben-Effekte“ (side-effects) und ihrer Be­ deutung in Ländern der Dritten Welt. Die meisten Referenten der „Cursos Internacionales“ kannten sich aus der gemeinsamen Arbeit an dem Forschungsprojekt. Die eindrücklichste Erfahrung lag für mich in der großen Entspre­ chung, mit der Menschen auf die globalen Probleme der Welt und die Konflikte der psychischen In­ nenwelt reagieren. Ich habe versucht, über die „Cursos Internacionales“ zu be­ 162

richten. Der Bericht enthält Infor­ mationen. Er gibt Eindrücke wieder. Die Auswahl von Situationen und Fakten hat sich an der Leitfra­ ge orientiert: Sind wir auf eine sich zuspitzende gesellschaftliche Kri­ se vorbereitet? Sind wir uns der Konsequenzen der Auflösung un­ seres eurozentristischen Weltbil­ des bewußt? Vermeidung, Verdrängung und Reaktionsbildung sind Ausdrücke, die wir zumeist bereit sind als Fachtermini zu akzeptieren, wenn man sich mit den psychischen Konflikten „gestörter“ Individuen beschäftigt. Ein besonderes Schutzbedürf­ nis des „Patienten", der sich mit lange erfolgreich abgespaltenen Widersprüchen einläßt, ist gesi­ cherte Grundannahme aller thera­ peutischer Schulen. Die zunehmende Annäherung an die Erfahrungen, die in (mehr oder weniger) ferner Vergangen­ heit so leidvoll waren, daß ihre Abspaltung zur Aufrechterhaltung einer handlungsfähig machenden Balance des psychischen Systems notwendig wurde, ist nur als ein kontinuierlicher Prozeß zu sehen, dessen Ende keineswegs präzise zu bestimmen ist. Oft ist die Ein­ sicht in die eigene Schutzbedürf­ tigkeit, in das Ausmaß von Verletz­ lichkeit und Gefährdung das ein­ zig qualitative Kriterium, der einzi­ ge Hinweis auf „Gesundheit“. Die globalen Probleme, die sich hinter der gegenwärtigen Wirt­ schaftskrise verbergen, werden auf gar nicht so andere Weise ab­ gespalten. Das verbreitete „Kon­ junkturbewußtsein“ (wann geht es

wieder aufwärts?) entspricht auf augenfällige Weise derjenigen Einstellung, die sich über das eingrenzbare und zeitlich um reißbare Problem beruhigen möchte. Würde man von einer Gesell­ schaftskrise statt von einer Wirt­ schaftskrise sprechen, käme das Strukturelle in den Vordergrund. Mit dem Strukturellen könnte die Suche nach den relevanten Ursa­ chen erst beginnen. Kann man die Gedanken den „Gefahren“, die unsere Wahrneh­ mungen leiten oder besser: umoder wegleiten, auf kollektive Phä­ nomene übertragen ? Kann es sein, daß die Wahrneh­ mung und das Bewußtsein von ei­ ner strukturellen gesellschaftli­ chen Krise gerade in einem Land schwerfällt, das sein Selbstbe­ wußtsein, seine „Identität“, über das „ Wirtschaftswunder“ und das Schmidtsche „Modell Deutsch­ land“ beziehen sollte? Derartige Fragen beantworten sich m. E. nur an ihrem Nutzen, an ihrem Erklärungswert. Wem es darum geht, trotz Hungertod von Millionen, trotz Kriegen und noch grauenvolleren Kriegsgefahren nach Wegen zu suchen, sich ge­ gen den Irrsinn unserer herrschen­ den, funktionstüchtigen Realität zu stellen, muß sich gut rüsten. Die Augen lassen sich nicht mehr schließen, wenn man sich angesteckt hat. Man wird gerade dort an fangen sehen zu wollen, wo sich alles sträubt, wo „Wahrneh­ mungsunlust“ zu spüren ist. Ein Weg, der nicht darauf verzichten kann, sich die Frage nach der ei­ genen Schutzbedürftigkeit zu stellen. Ich habe einige Wahrnehmun­ gen, Eindrücke und Informationen zusammengestellt, weil ich von dem Erklärungswert derartiger Parallelen mehr und mehr über­ zeugt bin. Nach Benidorm, nach der Ansteckung noch mehr. Zwei Menschen sind an dem fol­ genden Bericht unmittelbar betei­ ligt gewesen. Helene Quatmann, Ethnologie-Studentin in Köln, schrieb das Manuskript und stellte beunruhigt beunruhigende Fra­

gen. Bea: Glur. mit Fragen der Friedensund Konfliktforschung befaßter Jurist aus Bern, war Ge­ sprächspartner in Benidorm, blieb es danach, wurde zum Freund in bedrohlichen Phasen der Anstekkung und las beharrlich und kon­ kretisierend Zeile für Zeile. Ein Ar­ beitsbündnis.

Spanien ein grünes Land? Es war eigentlich wegen der Rück­ fahrt, daß ich mich entschieden hatte, mit dem Zug zu fahren. Ich wollte endlich einmal Ibiza und vor allem Formentera gesehen haben. Außerdem waren Freunde in Süd­ frankreich. Der Talgo-Expreß. Ich hatte ihn mir donnernder vorgestellt, schneller, so, wie er aussieht und sein Name klingt. Mit mir drängeln sich drei junge Männer, die ich schon seit Köln immer mal wieder im Zug gesehen hatte, durch das Zollgebäude in Port-Bou. Hier, in diesem halblee­ ren, großräumig-eleganten Silber­ pfeil sitzen wir uns auf den weni­ gen nichtreservierten Plätzen ge­ genüber. Man kommt ins Ge­ spräch. Sie sind aus Hattingen und bei der Bundesbahn beschäftigt. Im Ausbesserungswerk. „Fliegen? In Spanien? Wir sind doch nicht le­ bensmüde!“ Sie sind laut: zum er­ sten Mal in Spanien. „Kennen Sie Benidorm?“ Ich verneine. „Aber ehrlich, zweitausend Kilometer, das ist wirklich nen Schlauch. Ich hab ja gleich gesagt, warum nicht Sauerland, aber nein: Benidorm! Da versteht einen kein Schwein.“ Einer - er hatte das Ganze wohl organisiert - bleibt ruhig: „Die Ver­ mieter der Apartments sind Deut­ sche.“ Mir gefallen die Strände auch nicht, an denen wir vorbeifahren. Bahnlinie; zur einen Seite Straße, Parkplätze, Strand; flache, karge Ebenen auf der anderen Seite; ho­ he, baumlose Berge am Horizont. Die Häuser einfach und schmuck­ los; Neubauten wirken wie Roh­ bauten, auch wenn sie bewohnt

sind. In Valencia merken wir, wo­ für wir den Zuschlag gezahlt ha­ ben: schwere, fast räumliche, schwüle Luft schlägt einem entge­ gen, wenn man auf den Bahnsteig tritt. Der Zug biegt ab in die Berge. Es ist leerer geworden. Die Rucksack­ touristen von Port Bou sind ver­ schwunden. Außer uns nur noch Spanier. Man müht sich um Kon­ takt und ist sehr freundlich. Ein Paar, sehr arm aussehend, kommt in den Großraumwagen. Er hält eine Rede. Sie hat ein Kind auf dem Arm. Es dauert eine Weile, bis ich begreife, daß sie Geld haben wollen. Bettler im Zug. Die mitreisenden Spanier sind kühl und ab­ weisend, nur wenige zeigen über­ haupt eine Reaktion. Bei uns Ver­ legenheit. „Also ehrlich“, sagt ei­ ner von den Dreien aus Hattingen, „das sollte bei uns mal einer versu­ chen. Im Zug!“ Zwischendurch, wo die Erde be­ wässert ist, ziehen große, üppige Plantagen an den Fenstern vorbei. Orangen, Oliven, Zitronen. Dann wieder Steinwüste. Gelegentlich Felder mit abgeknickten Sonnen­ blumen. Wenige Ortschaften. Der Zug wird immer langsamer. Ist Spanien ein „grünes“ Land? Es will in die EG, und Spaniens Sozialisten ziehen in die bevorste­ henden Wahlen mit der Parole „modernizaciön“. Der norwegische Soziologe und Entwicklungsforscher Johan Galtung - er hat aktiv gegen den nor­ wegischen EG-Beitritt gekämpftzählt zu den Ländern, die er „green“ nennt, die Ärmsten der Armen. So gesehen, gehört Spa­ nien nicht dazu: Nimmt man das Brutto-Sozialprodukt pro Kopf je­ weils als Maßstab, dann liegt Spa­ nien auf Platz 33 (Grundlage sind 170 Staaten der Welt). Innerhalb der EG würde Spanien bei seinem Eintritt zu den Ärmsten gehören, weit hinter Frankreich, auch hinter Italien, etwa auf dem gleichen Rang wie Irland. Es ist ein Agrar­ land, und der Kampf mit der Natur ist sichtbar. Ohne künstliche Be­ wässerung wächst unter der alles ausdörrenden Sonne nichts. Es

müßte in besonderem Maße aufge­ schlossen für die Ideen „grüner“ Entwicklung (green development) sein. Mit drei Stunden Verspätung kommen wir nach zwölfstündiger Fahrt durch Spanien in Alicante an. Meine Mitreisenden aus Hattin­ gen sind genervt. Die Lok hatte einen Defekt und fuhr mit halber Kraft. „Da bauen die nun solche Prachtapparate und technisch isses Schund.“ Sie müssen noch den Bus nach Benidorm bekom­ men. „Also das nächste Mal flie­ gen oder ins Sauerland!“ Wir ver­ abschieden uns. Ich will meinen Koffer am Bahn­ hof lassen, um mir zuerst ein Hotel zu suchen. Es gibt keine Schließfä­ cher und keine Möglichkeit zur Gepäckaufbewahrung: „In ganz Spanien nicht!“, bekomme ich zu hören, „wegen der vielen An­ schläge“.

Leerer Internationalismus: Image-Korrektur eines Touristenghettos? Beim Hineinfahren nach Beni­ dorm habe ich unten an der Strandpromenade ein zwischen zwei Fahnenmasten gespanntes Transparent gesehen: Cursos Internacionales de Benidorm. Bunte Fahnen aus vielen Ländern flattern drumherum. Auch die Flagge der BRD. (Später sollte sich herausstellen, daß ich der einzige Teil­ nehmer aus der BRD war.) Der Taxifahrer hat keine Ahnung. Er fuhr von einem Taxistand zum an­ deren, um herauszubekommen, wo diese „Cursos Internacionales“ stattfinden. Endlich angekommen, bekam ich noch die letzten Worte der Be­ grüßungsansprache eines Reprä­ sentanten der Stadt zu hören. Vie­ len war es so wie mir ergangen. „Benidorm hat einen ungeheuren Aufschwung als Touristenmetro­ pole genommen. Wir sind glück­ lich, nun auch ein herausragendes Ereignis im kulturellen Bereich in unserer Stadt zu haben.“ Labilisiert von der langen Sucherei und

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dem Schrecken, den mir der An­ blick dieses Urlauber-Manhattans bereitet hatte, bestärken diese auf­ geblähten Begrüßungsworte mei­ nen Zweifel, ob meine Entschei­ dung zur Teilnahme an diesen „Cursos Internacionales“ nicht doch zu plötzlich gefällt war.

Begegnung als Voraussetzung zum „multinationalen“ Lernen Als ich die Einladung erhielt, war ich gleich entschlossen. Schon lange hatte ich mir gewünscht, mein Wissen über internationale Entwicklungen auffrischen und er­ weitern zu können. Außerdem war mir der Name Galtung auf eindrückliche Weise vertraut. Vor et­ wa sechs Jahren hörte ich ihn zum ersten Mai. Es war auf einer Ta­ gung der Evangelischen Akade­ mie Tutzing zum Thema „Alternati­ ve Lebensformen“. Ein Teilneh­ mer - er war Ingenieur und kam aus Schweden - berichtete von einem seiner Meinung nach ganz typischen Konflikt: Er arbeitete und lebte in einer Gemeinschaft, die sich mit der Re­ cyclingproduktion beschäftigte. Die aus Abfallprodukten herge­ stellten Güter wurden an Unab­ hängigkeitsbewegungen in der Dritten Welt geliefert. Teilweise wurden sie in Schweden verkauft und der Erlös floß direkt an Bewe­ gungen und Organisationen, de­ ren Arbeit man selbst in Augen­ schein genommen hatte. Sie selbst lebten auf niedrigstem Le­ bensniveau. Bei ihren Aufenthal­ ten in Ländern der Dritten Welt waren sie zu der Überzeugung ge­ langt, daß die Förderung großflä­ chiger Monokulturen die Abhän­ gigkeit von den industrialisierten Gesellschaften vergrößerte (von ökologischen Problemen sprach man seinerzeit - etwa 1976 - noch wenig). Konsequenterweise ver­ suchten sie daheim in Schweden, die Verschiffung von Großmaschi­ nen für Dritte Welt-Staaten zu ver­ hindern. Nicht nur die Unterneh­ mensspitze habe ihnen vorgehal­ ten, daß sie Arbeitsplätze gefähr­ 164

Die „Rangplätze“ der ersten 35 Staaten (von 170) bezogen auf das Bruttosozialprodukt pro Einwohner. Stand 1980. Hinter dem jeweiligen Staat die Einwohnerzahl und in Klammern der „Rang­ platz“ bezogen auf die absolute Höhe des Bruttosozialprodukts. (Bei der absoluter Höhe liegt die UdSSR auf Rang 3 nach Japan und den USA). 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. i 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31. 32. 33. 34. 35.

Vereinigte Arabische Emirate 800000 (47) Otar 220000 (77) Kuweit 1360000 (46) Schweiz 6370000 (19) Luxemburg 360000 (80) Schweden 8300000 (18) BRD 61300000 (4) Dänemark 5100000 (28) Norwegen 4100000 (34) Belgien 9900000 (17) Borneo 190000 (101) Frankreich 53900000 (5) Niederlande 14200000 (12) Island 230000 (99) USA 229800000 (1) Österreich 7500000 (24) Kanada 24100000 (10) Finnland 4800000 (35) Japan 47800000 (2) Saudi-Arabien 10400000 (21) Australien 14800000 (15) Lybien 3100000 (48) Großbritannien 55900000 (6) Neukaledonien 150000 (127) Neuseeland 3100000 (52) Guam 120000 (142) Franz. Polynesien 160000 (129) Italien 57200000 (7) Jungfrauen-Inseln 107000 (144) DDR 16700000 (20) Bahrein 360000 (104) Tschechoslowakei 15400000 (23) Spanien 37800000 (11) Irland 3400000 (60) Martinique 330000 (115)

Quelle: Zusammengestellt aus Angaben des „Atlaseco - Atlas Economique Mondial 1982“, Hrsg. v. der Redaktion des „Nouvel Observateur", Paris

deten, auch die Gewerkschaften hatten wenig Verständnis: Derarti­ ge Maschinen - so die Argumenta­ tion - seien doch ein Segen, wenn man bedenke, wieviele Menschen wie hart arbeiten müßten, um ein gleich hohes Produktionsergebnis zu bekommen. Er hatte auf ein von Galtung ent­ wickeltes Modell über die unter­ schiedlichen Kommunikations­ und Verständigungsmöglichkei­ ten zwischen Erster und Dritter Welt hingewiesen: Die Verbindun­ gen zwischen den herrschenden Eliten sind ungleich besser und

tendentiell von größerer Interes­ sensidentität als die der abhängi­ gen Massen. Er formulierte einen verblüffend simplen Appell: Wenn es so ist, daß wir den Dialog über die Grenzen und Erdteile hinweg nicht mehr den Eliten in Politik und Wirtschaft überlassen wollen, dann müßten wir sofort, wo immer sich Gelegenheit bietet, das Ge­ spräch beginnen. Ich erinnerte noch gut seine ruhige und lächeln­ de Art, in der er uns aufforderte: „Wo immer Ihr seid und steht, sucht, wenn Ihr Menschen aus an­ deren Kulturen seht, den Kontakt,

schreibt Briefe und lernt Spra­ chen, und wenn Ihr niemanden in Eurer Umgebung habt, dann seid Ihr nicht am richtigen Platz. “ Das klang mir noch im Ohr und vertrug sich so gar nicht mit der wichtig­ pathetischen Beschwörung kultu­ reller Attribute eines gigantischen Touristenghettos.

Die Talfahrt hört nicht auf Das Zeremonielle der Begrüßung war bald als Pflichtübung ver­ gessen. Mats Friberg, Professor für Öko­ nomie an der Universität Göte­ borg, führt Fakten vor: • Steigende Arbeitslosigkeit und beginnende Verelendung breiter Bevölkerungsschichten in den rein marktwirtschaftlich orientier­ ten kapitalistischen Staaten (blue countries). • Steigende Staatsverschuldung, vor allem in den sozialdemokrati­ schen „Wohlfahrtsstaaten“ (pink countries), die sich ohne jegliche Neu-Investitionen allein aus der Erfüllung der Folgekosten sozial­ staatlicher Aktivitäten und aus der Erfüllung bestehender Zinslasten bei sinkenden Einnahmen (z.B. im Steueraufkommen) ergibt. • Ausnahme (damit aberzugleich Beschleuniger des Down-swings in den kapitalistischen Staaten): Japan und seine wirtschaftlichen Satelliten - von Galtung wie Fri­ berg yellow (oder golden) coun­ tries genannt. Die systematische Erforschung von Konjunkturzyklen in den kapi­ talistischen Ökonomien unter­ mauert die Grundannahme: Be­ trachten wir die gegenwärtige weltweite Wirtschaftskrise mit ge­ schichtlichem Blick, ist es äußerst unwahrscheinlich, daß es zu ei­ nem anhaltenden und dauernden Up-swing (Aufschwung) kommen wird. Der Down-swing, die Talfahrt wird nicht aufhören. Die Tiefpunkte der Down-swing sind zu fixieren: um 1815, um 1873, um 1917, um 1970. Der dazwi­ schenliegende Zeitraum läßt sich mit jeweils ungefähr sechzig Jah­

ren bestimmen. Die den Tiefpunk­ ten des Down-swings jeweils vor­ hergehenden Phasen des Upswings sind jeweils charakterisier­ bar durch grundlegende Verände­ rungen der Produktionsmethoden und der Organisationsformen des Kapitals: Im Zeitraum vor 1815 war es vor allem die Erfindung der Dampfmaschine, die den Upswing trug. Das Fabriksystem, von Familienunternehmen verwaltet, breitete sich aus. Vor 1873 lagen die wesentlichen Neuerungen im Bereich der Transportmöglichkei­ ten wie Eisenbahn und Dampf­ schiffahrt, die vor allem den Familien-Handelsfirmen bei der Aus­ dehnung vom internen zum exter­ nen Handel zugute kamen. Dieentscheidenden Innovationen des dem Down-swing von 1917 voran­ gegangenen Up-swing sind im Be­ reich der Stahlproduktion und der ersten chemischen industrie zu se­ hen. Die Elektrifizierung machte neue Produktionsmethoden mög­ lich; die Aktiengesellschaften sind die neuen Organisationsformen. Vor 1970 waren es vor allem die Petrochemie, das Automobil, die Luftfahrt und im Organisationsbe­ reich die transnationalen Korpora­ tionen (Multis). Friberg entwickelt die techni­ schen Dimensionen heute bereits möglicher Produktion: Der Einbe­ zug von Robotern (robotisation) läßt sich in großem Umfang erwei­ tern. In der BRD sind gegenwärtig etwa 900 robotisierte Verfahren im Einsatz, in Japan 6000 und in Schweden 10000. Im Bereich der Mikroprozessoren (Chips) sind derzeit 500 Produktarten ge­ bräuchlich; die Zahl der entwickelten, aber noch nicht eingesetzten wird auf etwa 2500 geschätzt. Da­ tenbanken für den geschäftlichen und privaten Gebrauch sind erst ansatzweise entwickelt und einge­ setzt. Der dem Down-swing zugrunde­ liegende Effekt einer reduzierten Nachfrage läßt sich nur auffangen durch die Verringerung der Zahl der Arbeitenden oder der Arbeits­ stunden und/oder durch die Erhö­ hung der Produktivität. Die neue

industrielle Revolution und damit die Steigerung der Produktivität ist blockiert, solange sich die Zahl von Arbeitslosen nicht beliebig vergrößern läßt; die Senkung der Arbeitsstunden andererseits poli­ tisch (noch) nicht zu verwirklichen ist. Zwei Fragen bleiben im Mittel­ punkt: Gibt es objektive Grenzwer­ te, die den Tiefpunkt des Downswing markieren? Oder - salopp formuliert-: wie weit kann es noch bergab gehen? Und: Welche Be­ deutung werden die yellow coun­ tries bekommen? Beide Fragen sollten uns - die Teilnehmer, die sich für den Basiskurs „The eco­ nomic crisis“ eingeschrieben hat­ ten - vor allem im Hinblick auf die Auswirkungen auf die Entwick­ lungskonzepte in der Dritten Welt beschäftigen.

Die Atombomben der Dritten Welt fallen täglich Die Tiefpunkte des Down-swing sind dem Geschichtskundigen auch aus anderen Zusammenhän­ gen bekannt. Es waren Kriegszei­ ten. Der Rüstungswettlauf be­ schleunigt in Krisenzeiten das In­ novationsniveau von Produktions­ methoden, die aufgrund der er­ wähnten Blockaden in der priva­ ten, nicht-militärischen Produk­ tion nicht eingesetzt werden kön­ nen. Von 1917 bis zum II. Weltkrieg ist viel Zeit vergangen. Dem Tief­ punkt des Down-swing folgte die ungeheuere Vernichtung von Menschen und Gütern. Der Wie­ deraufbau setzte der Up-swing fort. Von 1970 bis heute, vom letz­ ten Tiefpunkt des Down-swing al­ so (Vietnamkrieg) bis zur jetzigen Wirtschaftskrise, ist schon viel Zeit vergangen. Ein anderer der zweiwöchigen Kurse hatte folgerichtig die The­ matik: Peace and War, Frieden und Krieg. Also nicht die uns vom Tonfall geläufige Stellung: Krieg und Frieden. Neben den Fakten, die aus der Höhe der Militärausgaben und dem technischen Niveau der Pro­ 165

dukte im militärischen Bereich in Friedenszeiten auf die Gefahr von bevorstehenden Kriegen schlie­ ßen lassen, beschäftigte sich der Kurs unter Leitung von Prof. Wiberg (Universität Lund, Schwe­ den) und Friedens- und Konflikt­ forschern aus New York, Oslo und Genf mit Möglichkeiten pazifisti­ scher Friedenssicherung. Aktivisten waren geladen, und sie konfrontieren Wissenschaftler und Teilnehmer mit den frischen Erfahrungen aufgebrochener Apathie. Zwei schwedische Teil­ nehmerinnen des Friedensmar­ sches durch Skandinavien und Teile der UdSSR und ein spani­ scher Mitorganisator des aktiven Protestes gegen die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen auf US-Stützpunkten in Sizilien berichten über ihre Erfahrungen mit sich selbst und mit der Bevöl­ kerung. Lim Teck Ghee vom Center for Policy Research der Universität Malysia löst Betroffenheit aus, als Max Horkheimer (1932) Wie der Verlauf früherer Krisen zeigt, wird sich das wirtschaftliche Gleichgewicht erst auf dem Weg der in ungeheurem Umfang statt­ findenden Vernichtung menschli­ cher und sachlicher Werte wieder­ herstellen. Aus: Bemerkungen über Wissenschaft und Krise, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang 1/1932, S. 2

er der westeuropäischen Frie­ densbewegung die moralische Le­ gitimation für ihr Engagement ab­ spricht, sofern sich der Protest auf Atomwaffen beschränkt. „Unsere Atombomben sind schon gefallen und fallen täglich.“ Er weist auf die etwa sechzig mit konventionellen Waffen geführten Kriege seit dem letzten Weltkrieg hin. Wo sind sie denn geführt worden, fragt er ein­ dringlich. Wer hat die Waffen ge­ liefert, wer hat den Profit eingestri­ chen? Zu fragen sei aber auch: Wer hat sie produziert und sich damit den sogenannten Lebens­ standard verdient? Er weiß, daß er 166

seine Fragen nicht beantworten muß. Trotzdem: Man vergißt die Antworten, wenn man die Fragen nicht stellt. Erhört nicht auf: Was heißt denn Arbeitslosigkeit? Zwei Prozent in Japan, sechs Prozent in der BRD, zehn Prozent in den USA? Wer in der Dritten Welt soll dafür ange­ sichts des täglichen mehr oder we­ niger direkten Hungertodes von Millionen ein Wort des Bedauerns haben? Wie soll man sich etwa die Ermittlung einer Arbeitslosenzahl in der Dritten Welt vorstellen? Viel­ leicht bezogen auf den Proteinan­ teil, der es jemandem erlaubt, vier Stunden täglich leichtere Feldar­ beit zu verrichten, ohne erschöpft zusammenzusinken? Das - so re­ sümiert er - ist unsere täglich ex­ plodierende Atombombe.

Das verführerische make-up des neuen Kolonialismus Die Neben-Effekte der bislang noch wenig hinterfragten EntwicklungswoöeWe verstärken die stei­ gende Ablehnung in den Ländern der Dritten Welt. Das Problem stelle sich, wie man die Menschen bei uns in ih­ rem natürlichen Widerwillen be­ stärken kann, in so etwas - und Lim Teck Ghee blickt hinunter auf die zwanzig- bis dreißigstöckigen Urlauber-Silos - einzuziehen, oh­ ne daß sie es andererseits denjeni­ gen gleichmachen, die mit ausge­ breiteten Armen anrollenden Dampflokomotiven entgegenlau­ fen, weil sie ein Ding des Teufels, eine Höllenmaschine aufhalten wollen. Das Dilemma neuangesiedelter Industrien in der Dritten Welt, mit einträglichen Offerten ins Land geholt, ist die Verschiebung der Werte-Prioritäten. Freihandels-Zo­ nen gewähren Steuervorteile für ausländische Investoren. Man baut internationale Großflughä­ fen, neben deren Pisten die Zu­ fahrtswege in Sandwege überge­ hen. Dort in den International Air­ ports verbrauchen Klimaanlagen große Mengen an Energie, wäh­

rend es keine zehn Kilometer wei­ ter keine noch so simple Infra­ struktur gibt. Überwiegend Frauen gehen in die Fabriken, montieren Transisto­ ren, nähen Hemden und bekom­ men in Verkaufsausstellungen und Modeschauen vorgeführt, was das jeweils Aktuellste ist. Die Frauen bringen in die einfachen Häuser ihrer Familien einen neuar­ tigen Zeitrhythmus. Sie bringen die sogenannten Errungenschaf­ ten entwickelter Länder mit. Vom neuesten Rekorder über die neue­ ste Mode bis zum Lippenstift. Sie bringen also zum mühsam und spärlich verdienten Geld gleich die Ideen mit, es wieder loszuwerden. Der Mechanismus greife vor allem deshalb, weil es für die großen Familien ein Zeichen von Erfolg sei, junge Frauen in den neuen Fabriken untergebracht zu haben. Natürlich symbolisiert sich ein sol­ cher Aufstieg am besten im Besitz der Produkte, die man nun zu ha­ ben hat. Wen wundert es - so geht die Argumentation weiter -, daß eine Unternehmensverwaltung, wenn sie in ihrer Produktion nicht zur völligen Automatisation überge­ hen kann, lieber mit einem Tages­ lohn von vier Dollar in einem Land der Dritten Welt kalkuliert als mit einem gleich hohen Stundenlohn in Philadelphia? Die Ignorierung der Auswirkungen internationaler Arbeitsteilung müsse von den Ge­ werkschaften europäischer und nordamerikanischer Staaten un­ verzüglich und konsequent korri­ giert werden. Wer begreifen lernt, womit der vermeintlich höhere Lebensstan­ dard erkauft wird, tut sich schwer zu differenzieren, wer in den Indu­ strienationen die heute so beklag­ te Wirtschaftskrise „verdient" habe. Ein anderes Beispiel: Die Nach­ frage nach Langusten in Japan, Nordamerika und europäischen Ländern hat z.B. in Malaysia zur Anwendung neuer Fangmethoden geführt. Moderne Fangschiffe er­ setzen die kleinen Boote, kleinma­ schige Kunststoffnetze die groß­

maschigen handgeknüpften. Au­ ßer den Langusten wird neunzig Prozent „Abfall“ gefangen: kleine Fische, Algen, Eier. Der „Abfall“ wird noch auf See vernichtet. Er hat - in diesem Arbeitsgang - kei­ ne Verwendung. Wenn diese Ent­ wicklung nicht gestoppt werden kann, ist absehbar, wann die Eig­ ner-Firmen die angeheuerten Fi­ scher entlassen müssen. Womit sollen sie dann fangen? Und was vor allem?

Das „goldene“ Japan Vorreiter oder Nachzügler? Die Probleme der Ersten Welt (und zwar sowohl der pink als auch der blue countries) zeigen sich am deutlichsten in der Gegenüber­ stellung zu Japan. Die japanische Ökonomin Fumiko Nishimura beginnt ihre Darstel­ lung der aktuellen Situation in Ja­ pan mit einer Erwiderung der am häufigsten zu hörenden Kritik aus dem Ausland: Die meisten westeu­ ropäischen und US-amerikani­ schen Unternehmen könnten sich deshalb so schwer auf den japani­ schen Inlandsmarkt einstellen, weil ihre Erwartungen zu kurzfri­ stig seien. Die japanische Marke­ tingpolitik sei mit der anderer kapi­ talistischer Länder nur schwer zu vergleichen. Der Hinweis darauf, daß das rei­ ne Verkaufen (only selling), ohne irgendwelche Sonderleistungen und Besonderheiten (something extra), in Japan unüblich und ver­ pönt sei, enthält alle scheinbaren Mirakel des japanischen Kapitalis­ mus. Zugleich wird all denen von uns, die sich noch nicht eingehen­ der mit der japanischen Situation beschäftigt haben, deutlich, wie völlig ungeeignet die vertrauten Kategorien sind, um die yellow countries zu verstehen. Galtung zählt außer Japan auch Taiwan, Südkorea, Hongkong und Singa­ pur zu den Ländern, die er yellow oder golden nennt. Japan vereint eine aufgrund ver­ schiedener Faktoren technolo­ gisch hochentwickelte Industrie­

produktion mit einer traditionell strukturierten Gesellschaft: verti­ kale Hierarchie, basierend auf der Tradition großer Familien. Die Mo­ ral ist kollektivistisch. Individualis­ mus gilt als Stigma, und es er­ scheint unvorstellbar, daß man auf Symbole, die Ausdruck von Indivi­ dualismus sind, Stolz begründen kann. Mitsubishi ist nicht nur ein Indu­ striegigant. Es gehören eigene Krankenhäuser, Schulen und nur für Mitsubishi-Arbeiter offenste­ hende Gewerkschaften dazu. Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß die Firmenleitung ihre Aufga­ be auch darin sieht, Ehen zu stif­ ten, natürlich unter MitsubishiMitarbeitern. Daß eine alleinste­ hende Frau das Elternhaus verläßt, um etwa eine eigene Wohnung zu beziehen, sei einfach undenkbar. Der Schintuismus, die traditio­ nelle, dem Buddhismus verwandte Religion, vereint sich auf einzigar­ tige Weise mit dem Konfuzianis­ mus. Die kollektive Moral des Kon­ fuzianismus macht individuelle Segregation unmöglich. Sie läßt zum Beispiel das Gebot der le­ benslangen Arbeit (bis zum Alter von 55 Jahren) zur moralischen Pflicht werden. Die Arbeitslosig­ keit beträgt nach wie vor kaum mehr als zwei Prozent. Der Schin­ tuismus führt in die kollektive Mo­ ral das Element absoluter Loyalität gegenüber dem Gott-Kaiser ein. Es gibt kein kapitalistisches Land der Welt, das eine derart starke nationalistische Tendenz hat. Kein Ausländer kann Eigentum an japa­ nischem Grund erwerben. Als stig­ matisierender Ausdruck, als Feindbild gilt immer noch der Aus­ länder, der „zu viele Erfahrungen“ mit Japan hat. Mit Ausnahme von 400000 seit 30 Jahren in Japan lebenden Koreanern gibt es keine immigrierte Bevölkerung. Die nationale Homogenität ist ein für moderne europäische Staa­ ten unbekannt gewordenes Zei­ chen geschlossener Gesellschaf­ ten. Nimmt man als objektiven In­ dikator etwa das Verhältnis der Kriminalitätsrate (bezogen auf Tö­ tungsdelikte) zur Selbstmordrate,

dann ergeben sich signifikante Unterschiede: Pro 100000 Ein­ wohner kommen in Japan 1,1 Men­ schen durch Fremdtötung gegen­ über 17,6 bei Selbsttötungen ums Leben. (In den USA liegt das Ver­ hältnis bei 9,2 zu 13,3.) Eine hohe Selbstmordrate gegenüber einer relativ niedrigen Kriminalitätsrate wird als Ausdruck der besonderen Probleme geschlossener Gesell­ schaften gewertet. Die Entwicklung der japani­ schen Wirtschaft verdeutlicht, daß ökonomische Stabilität eng vom Ausmaß der sozialen Stabilität ei­ ner Gesellschaft abhängt, oder andersherum Tiefpunkte öko­ nomischer Entwicklungen sind nur in Abhängigkeit vom Ausmaß der Krise gesellschaftlicher Stabi­ lität zu denken. Japan, - so ist das einhellige Resümee - kann kein Modell für andere Staaten der Ersten und Dritten Welt sein. Der Grund dafür wird nicht nur darin gesehen, daß sowohl die spezifischen ideologi­ schen und religiösen Traditionen als auch die besonderen Bedin­ gungen der ökonomischen Nach­ kriegsentwicklung nicht übertrag­ bar sind. Trotz der besonderen Be­ dingungen wird sich das gegen­ wärtige Japan dem globalen Down-swing nicht entziehen können: Japan ist die einzige kapitalisti­ sche Industrienation, die vor der Sättigung der Inlandsnachfrage in forciertem Maße den Export geför­ dert hat. Auch wenn die Auslands­ nachfrage nicht mehr in gleichem Maße den hohen Anstieg des wirt­ schaftlichen Wachstums (4,8 Pro­ zent in 1982) bewirken würde, könnte die noch lange nicht gesät­ tigte inländische Nachfrage einen gleich hohen Anstieg erbringen. (So liegt etwa im privaten Bereich der Pro-Kopf-Anteil an Fernsehap­ paraten, Telephongeräten und PKWs weit unter den Vergleichs­ zahlen etwa für die USA). Anderer­ seits ist Japan trotz des bei fast fünf Milliarden Dollar (1981) lie­ genden Export-Überschusses ex­ trem importabhängig. Japan muß etwa ein Drittel aller Nahrungsmit­

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tel importieren und fast die Ge­ samtheit aller Rohstoffe. So be­ trachtet, steht und fällt die japani­ sche Wirtschaft mit dem Dollar. Das heißt: Trotz aller nationalisti­ schen Tendenzen und der traditio­ nell größeren Ausweichmöglich­ keiten auf andere asiatische Märk­ te hängt Japan unmittelbar von der wirtschaftlichen Entwicklung der blue und pink countries ab.

Ökonomische und gesellschaftliche Krise Zwei Fragen sind zu Beginn des Kurses eng miteinander verknüpft worden: Gibt es objektive Indika­ toren, die als Tief- bzw. Endpunkte des Down-swing bezeichnet wer­ den können? Und: Welche Bedeu­ tung werden die yellow countries für die Entwicklungskonzepte der Dritten Welt haben? Es wird deutlich, daß es keine isolierbaren, aus dem Zusammen­ hang zu nehmenden Faktoren gibt, die einen maximalen Tief­ punkt ökonomischer Entwicklung markieren. Wer hätte zum Beispiel für die BRD vor acht bis zehn Jah­ ren eine Arbeitslosenzahl nahe der Zwei-Millionengrenze für möglich gehalten? Wer hätte zu dieser Zeit ein reales Nicht-Wachstum, heute Null-Wachstum genannt, als Dauererscheinung für vorstellbar gehalten? Die im Stabilitätsgesetz 1967 festgelegten Margen werden konstant weit überschritten bzw. nicht eingehalten. Eine Arbeitslosenquote von 20 Prozent in den USA scheint nicht mehr unvorstellbar. Große, tradi­ tionelle Konzerne können zum Vergleichsund Konkursrichter gehen. Abgesehen von den gesell­ schaftlichen Spannungen, die durch die Öffnung für Gedanken individueller Emanzipation, zum Beispiel der westlichen Women Liberation Movements, entstehen, sind in der japanischen Gesell­ schaft prototypisch die neuen Konfliktkonstellationen für die so­ ziale Stabilität in den Gesellschaf­ ten der Ersten Welt auszumachen: Aufrüstung und ökologisch kriti­ 168

sierbare Neben-Effekte (side-effects) technologischer Entwick­ lungsmodelle. Auch in Japan hat es 1982 einen deutlichen Anstieg des MilitärBudgets gegeben. Die Ausgaben stiegen um 7,75 Prozent. (Die Ge­ samtausgaben liegen damit aller­ dings noch unter ein Prozent des Brutto-Sozialproduktes; im Ver­ gleich etwa Frankreich: 3,9 Pro­ zent.) Trotzdem wurde die zuneh­ mende Militarisierung Japans zum innenpolitischen Thema Nummer Eins. Die Proteste und Aktionen der japanischen Pazifisten beru­ fen sich vor allem auf die besonde­ re strategische Situation Japans (nahe China und der UdSSR) und die besondere historische Erfah­ rung des Landes (Abwurf der er­ sten Atombomben, Korea-Krieg, amerikanische Besatzung bis 1956). Die innenpolitischen Aus­ einandersetzungen müssen sich dabei gegen traditionell nationali­ stische Strömungen wenden, die Japan als führende Supermacht des 21. Jahrhunderts sehen wollen. Die „Neben-Effekte“ technolo­ gischen Fortschritts werden in al­ len hochentwickelten Industriege­ sellschaften zum zentralen Thema politischer Auseinandersetzung. Es wird uns Teilnehmern nicht nur am Beispiel Japans deutlich, daß bislang von den ökologisch argu­ mentierenden politischen Grup­ pen nur ein Bruchteil der weit komplexeren Problematik aufge­

griffen wird. Die Vorträge des Nor­ wegers Dog Poleszynski (Universi­ tät Oslo) über Ernährungsproble­ me und des Spaniers Jesus de Mi­ guel (Universität Madrid) über die Probleme medizinischer Versor­ gung eröffnen ein Verständnis für ökologische Grundfragen, das weit über die tagespolitischen Um­ weltthemen hinausweist. Ein Beispiel aus einem Randbe­ reich soll für viele stehen: In vielen Ländern der Dritten Welt ist die Geburtenrate trotz intensiver Ver­ breitung empfängnisverhütender Mittel gestiegen, und zwar rascher als zuvor. Unbewußter Widerwille gegen die chemischen Produkte der pharmazeutischen Industrie reichen zur Erklärung dieses Phä­ nomens so wenig aus wie mögli­ che Anwendungsfehler. Der Ex­ port von Pulvermilch in die Dritte Welt hatte zusammen mit HygieneKampagnen gegen das Stillen da­ zu geführt, daß die natürliche „Ge­ burtenkontrolle“ (Unfruchtbarkeit während des häufigen Stillens mit Abständen von weniger als sechs Stunden) außer Kraft gesetzt wurde.

Spezialist und „Generalist“ Eine derart breit angelegte Ta­ gung neigt zur Generalisierung und in der Generalisierung zur Simplifizierung. Der „Generalist“ gilt in einer hoch spezialisierten Gesellschaft zwangsläufig wenig. Womit - das war die Frage, die

mich persönlich in und seit diesen Tagen am meisten beschäftigt legitimiert sich der Bezug auf eine Kategorie, die die Gefahr voreili­ ger Vereinfachung komplexer Zu­ sammenhänge beinhaltet? Wer sich auf die Welt bezieht, wird im­ mer wieder mit zwei Erfahrungen konfrontiert: Erstens, daß er nichts weiß, und zweitens, daß es ihm schwer fällt, sich mit den vorgege­ benen Strukturen tages-, oder wie es so modern heißt: realpolitischer Argumentationen und Auseinan­ dersetzungen abzufinden. Als ich vor ungefähr einem Jahr im Radio während einer Autofahrt die Nachricht hörte, daß der offi­ zielle, von der Bundesregierung eingesetzte Gutachter bei seinen Untersuchungen zur ökologi­ schen Situation der Nordsee zu dem Ergebnis gekommen war, es sei - so wörtlich - fünf vor zwölf, war ich für eine Weile wie benom­ men. Ich war unfähig weiterzufah­ ren und hielt an einem Rastplatz an. Wohlgemerkt: Es war das Zitat eines anerkannten Wissenschaft­ lers, der jetzt - regierungsamtlich - verkündete, was man zuvor als übertriebene Generalisierung von „grünen Spinnern“ abgetan hatte. Während ich an diesem Artikel arbeite, lese ich eine Meldung, die auf ähnliche Weise bestätigt, was mir als Ergebnis der Cursos in Be­ nidorm einleuchtend, aber doch keineswegs eindeutig gesichert scheint: Die EG-Kommission hat am Donnerstag, den 30. Septem­ ber 1982, in Brüssel eine Neuorien­ tierung der EG-Entwicklungspolitik verlangt. Die EG-Entwicklungspolitik der letzten 20 Jahre wurde als historischer Skandal bezeich­ net. Ich zitiere aus der Nachricht: „Statt .spektakuläre Investitionen' zu finanzieren, müsse künftig der Entwicklung der Landwirtschaft in der Dritten Welt Vorrang einge­ räumt werden. Gegenwärtig im­ portiere die Dritte Welt jährlich 85 Millionen Tonnen Getreide. Bis zum Jahre 2000 drohe dies auf 200 Millionen Tonnen anzu­ wachsen.“

Ein neuer Galilei-Effekt Multinationales Lernen? Nach den offiziellen Begrüßungsworten ist das übliche Gehabe internationa­ ler Veranstaltungen vergessen. Die Manager in multinationalen Konzernen arbeiten ja auch in schlichter Sachbezogenheit, meinte ein Teilnehmer aus den USA, während die politischen Re­ präsentanten Ehrengarden ab­ schreiten und Nationalhymnen an­ hören. Es herrscht Arbeitsatmo­ sphäre im Urlaubseldorado. Auch und gerade außerhalb der Vormit­ tagslektionen. Die Regionalzeitung schreibt vom Babel der Sprachmischung. Wenn man sich etwas zu sagen hat, dann stört keine Rücksicht­ nahme auf korrekte Aussprache, dann werden Sprachen gemischt. Immer wieder, in jeder neuen Be­ gegnung wird das eigene, auch simpel geographische Bild der Welt einer Prüfung unterzogen: Ein Teilnehmer aus Ceylon, mit neuem entkolonialisierten Namen Sri Lanka, berichtet eine Episode: Er stellt einem alten Einheimi­ schen einen Freund aus Europa vor. Sein Neffe, erzählt der alte Mann voll Stolz, studiere auch dort, in Pittsburgh. Das sei - wird ihm erwidert - aber in Amerika. Das mache nichts, es sei jedenfalls auch da oben, erwidert der alte Mann. Einige Tage später habe man in einem Reisebüro die offi­ ziellen Weltkarten ausgetauscht: der südostasiatische Raum im Mit­ telpunkt. Sie hätten den alten Mann ganz verstört vor dem Schaufenster gefunden. Europa klebte am linken oberen Rand, Amerika rechts außen. Der Teil­ nehmer aus den USA berichtet auch von seiner eigenen und der noch viel größeren Verwirrung sei­ nes europäischen Freundes. Mir fällt die eindrucksvolle Sze­ ne in Brechts Galilei ein: Sein Wis­ sen dürfe nicht verbreitet werden. Welch' ungeheure Verunsiche­ rung käme auf die einfachen Bau­ ern zu, die ihr Feld bestellen, wenn unter dem Boden nicht länger der Teufel und oben im Himmel nicht

Gott säße. Die Erde eine Kugel und nicht einmal im Mittelpunkt des Planetensystems? Das könne nur Chaos und Anarchie bringen! Verhält es sich nicht ähnlich mit dem Wissen um die Probleme der Welt? Leben wir nicht alle mehr oder weniger in der nämlichen Si­ cherheit, die eigentlich nur eine scheinbare ist? Trotz Vietnam­ krieg, Ölkrise, islamischer Revolu­ tion: Stehen wir nicht nach wie vor in einem Prozeß ungeheurer Bedro­ hung, in dem wir - wenn auch mühsamer als vor zehn oder fünf­ zehn Jahren - unser eurozentristisches Weltbild retten wollen? Kann es multinationales Lernen geben, solange wir bis in die tief­ sten Schichten unseres bewußten Denkens und unserer unbewußten Assoziationen von im Grunde na­ tionalistischen und rassistischen Weltbildern geprägt sind?

Die Ohnmacht des Pazifisten in der Dritten Welt Dreißig Prozent der Weltbevölke­ rung leben in unserem, entwickelt genannten Teil der Welt. Derzeit siebzig, bis zum Jahre 2000 acht­ zig Prozent leben in Staaten, die sich an irgendwelchen, zumeist importierten Modellen von Ent­ wicklung orientieren. Das wichtigste Problem dieser Länder - darauf weisen die Refe­ renten und Gäste aus diesem Teil der Welt hin - sei die Entwicklung der Landwirtschaft. Drei Viertel der Menschen in der Dritten Weit sind Bauern. Dem überwiegenden Teil dieser Bauern stehe nur ein halber Hektar Land zur Verfügung. In Europa sind es durchschnittlich hundert Hektar. Können diese Bauern darauf hoffen, daß die importierten Mo­ delle technologisch-industrieller Entwicklung ihre Probleme lösen helfen? Die Position Lim Teck Ghees ist radikal. Mit seinen Kollegen von der University Sains Malaysia in Penang hat er Schulungsprogramme für Bauern entwickelt. Der ein­ 169

zige Ausweg aus immer neuen Ab­ hängigkeiten sei das intensive Ver­ trautwerden mit den Grundproble­ men ökologischer Produktion. Die Arbeit sei hart und der Wunsch nach einfachen und schnellen Lö­ sungen groß. Er fordert seine Kol­ legen aus der Dritten Welt auf, sich nicht von den Verlockungen der westlichen Universitätsstädte blenden zu lassen. Man braucht Euch bei uns, lautet sein heftig umstrittener Appell. Lim Teck Ghee ist Pazifist. Auch er beruft sich - wie Galtung - auf die Ideen Ghandis und Mao Tse Tungs. Er ist Pazifist und weiß trotzdem, daß alle Schulungspro­ gramme nicht greifen werden oh­ ne grundlegende strukturelle Neuorientierungen. Wer das Ei­ gentum an Grund und Boden für 999 Jahre verpachtet - wie es von den Zwischenregierungen übli­ cherweise gemacht wurde hin­ terläßt beim Rückzug der Kolonial­ truppen die Strukturen bestehen­ der Ungleichheit. Die neuen Groß­ grundbesitzer sind - auch wenn es Einheimische sind - ein Teil des Erbes kolonialer Entwicklungen. Die gescheiterten Landrefor­ men in Thailand, Indien und den Philipinen werden als Beweis der These analysiert, daß eine bedin­ gungslose Enteignung der Groß­ grundbesitzer die weit vor dem ei­ gentlich Notwendigen liegende Voraussetzung bedeute. Taiwan und Süd-Korea hätten Schritte in die richtige Richtung gemacht. Cuba, Burma, China und Nicara­ gua verdeutlichen die Probleme der vom Gesichtspunkt der Reali­ sierbarkeit einer grundlegenden Landreform wichtigsten Entschei­ dung: der - zumindest zeitweisen - Schließung der Grenzen. Wie er sich das vorstelle? „Ich bin zusammen mit meinen Kolle­ gen von der ökonomischen und politischen Notwendigkeit zu die­ sem Schritt als Voraussetzung der Umsetzung eines Modells von green development überzeugt. Ich sehe allerdings derzeit keine pazi­ fistische Lösung dieses Pro­ blems.“ Wie er denn die Zukunft der Dritten Welt sehe? „I’m a paci170

novation bestehender, in die Sack­ gasse gekommener ökonomi­ scher Strukturen? Die Frage stellt ein Schweizer. Sie ist nicht un­ wichtig, aber eigentlich wirkt sie akademisch. „Green-Development“ Galtung ist ein Reformer. Er ist in Europa beseelt vom Machen, vom Anfän­ Auf dem Programm steht die Be­ gen. Und zwar heute und überall. sichtigung eines ökologischen Er ist der Ideologe des qualitativen Musterdorfes. „Los Molinos“, in Ausstiegs, der produktiven Ver­ den Bergen hinter den riesigen weigerung. Er ist Norweger. Norwegen hat Palmenhainen von Elche. Auf der Fahrt dorthin regnet es. vier Millionen Einwohner. Das Sehr wenig. Wir bemerken es ei­ Land ist um ein Drittel größer als gentlich erst, als wir in der prope­ die Bundesrepublik. Die größte ren Siedlung am Hang der kargen Stadt hat gerade knappe 650000 Höhen ankommen. Es herrscht Einwohner. Er lebt derzeit als Gast große Aufregung. Es ist der erste des Wissenschaftskollegs in Ber­ lin. Wie kann green development Regen seit zweieinhalb Jahren! Die Niederschlagsmenge liegt in Industriestaaten, in Zechenre­ im Jahresdurchschnitt bei 200 vieren und Millionenstädten ausmm. Wenn sie kommen, diese 200 sehen? mm, dann kommen sie meist in solchen Mengen, daß sie keines­ Green-Development wegs ein Segen sind. Die Erosion und Sozialdemokratie ist groß. Der mühsam auf dem Fels gehaltene Boden wird zumeist mit Die Auseinandersetzung wird an der Wucht der Regenfälle wegge­ einer simplen Rechnung hitzig: schwemmt. P = h x L x p. Zu deutsch: Die Die Anlage gilt als vorbildlich. Produktion (P) ist das Ergebnisder Man ist auf Besuch eingerichtet. aufgewandten Arbeitsstunden Im schlichten Schulungsraum (hours) mal Anzahl der Arbeiten­ Stellwände, Modelle, Prospekte den (Labours) mal Niveau der Pro­ und Diaprojektion. Nach der Füh­ duktion (p). Bleibe die Nachfrage rung gibt es im scheunenartigen, konstant oder wolle man aus ande­ großen Hauptgebäude ein üppiges ren Gründen die Gesamtproduk­ Paella-Essen an einer überdimen­ tion nicht erhöhen, gäbe es bei sionalen Tafel für vierzig Per­ trotzdem steigender Produktivität sonen. (Rationalisierung, RoboterisieEin Teilnehmer aus Zaire macht rung, Computerisierung) nur die auf etwas aufmerksam, was den Alternative von immer höher und meisten entgangen ist: Die Toilet­ schneller steigenden Arbeitslo­ ten sind zahlreich. Sie haben Was­ senzahlen oder die Senkung der serspülung. Arbeitsstunden. Man weist darauf hin, daß es Die in die Diskussion gebrachte wieder geändert werden soll. Ein Alternative zum Status quo in den Planungsfehler. Die Fragen wur­ meisten blue und pink countries den drängend: Wer unser Essen war der „doppelte Weg“: gezügelzahle, und wer denn eigentlich ge­ ter und kontrollierter Anstieg der plant habe? Es handelt sich um die Produktivität und Senkung der Ar­ gleiche Organisation, die auch die beitsstunden, auch bei Lohnver­ Cursos in Benidorm sowie das zicht. dortige, üppig ausgestattete Bil­ Französische und spanische dungszentrum mitfinanziert hat: Gewerkschafter ereifern sich. Der­ Die Caja de Ahorros de Alicante y artige Überlegungen seien - auch Murcia, eine Sparkasse, die keinen nur als Denkmodell - gefährlich, Gewinn machen dürfe. weil sie ein Schlag gegen die Ge­ Ökologische Gedanken als In­ schichte der Kämpfe der Arbeiter­

fist. That’s why you can’t help me a Pessimist.“ Und mit einem freund­ lichen Lächeln fügt er hinzu: „But I do my work.“

bewegung seien. „Der nationalisti­ schen Arbeiterbewegung!“ Es ist ein Teilnehmer aus der Dritten Welt, der es lakonisch anfügt. Es kommt der vertraute Hinweis, daß den meisten westlichen Gewerk­ schaften die internationale Ar­ beitsteilung aus dem Blick gekom­ men sei. Ein spanischer Senator, der nach der Verschiebung des Papst­ besuches noch siegesgewisser für die Sozialisten des Felipe Gonza­ lez in den Wahlkampf gezogen war, kommt als Gast. Natürlich sei die Anhebung der Produktivität das vorrangige Ziel der „modernisaçión“ - neben der Erneuerung demokratischer Strukturen. Natür­ lich. Das sei der einzige Weg, um Anschluß an Europa zu bekom­ men. Es sei auch der einzige Weg zum Abbau der Arbeitslosigkeit. Er weiß sich einig mit den ihn beglei­ tenden Funktionären der Gewerk­ schaften. Wie er sich so sicher sein könne, die Auswirkungen der globalen Krise in allen kapitalistischen Län­ dern durch engeren Anschluß Spaniens an die EG lösen zu kön­ nen? Eine Dänin stellt die Frage und weist ihn darauf hin, daß der­ zeit alle seine politischen Freunde in den EG-Staaten entweder froh seien, gar keine Regierungsver­ antwortung zu haben, oder nach Wegen suchen, sich aus der Re­ gierungsverantwortung davonzu­ machen. Massenarbeitslosigkeit vertrage sich so wenig mit sozial­ demokratischer Politik wie eine Si­ cherung von Arbeitsplätzen über steigende Militärausgaben. Als nach einigen Appellen die nicht zu verbergende Sprachlosig­ keit des Herrn Senators mit dem Namen des „lieben Genossen“ Mitterrand gefüllt wird, ereifert sich ein Franzose, ob sie zu ihrer Modernisierung auch den Ausbau der Kernenergie und die Verlänge­ rung des Wehrdienstes zählten. Beides wird verneint. Gattung, der seinerzeit gegen den EG-Beitritt Norwegens auf viel beachtete Weise protestierte, kommentiert kurz und bündig: „Sie sprechen sich wenigstens gegen beides

aus.“ Und nach einer Pause: „Zu­ mindest vor den Wahlen.“

nen Klimaanlagen, ganz zu schweigen von den Konsequen­ zen des nur wenige Kilometer von den weißen Stränden erfolgenden Vereinnahmende Akte Ausstoßes sämtlicher Abwässer der Obrigkeit und Fäkalien. Derartige Planungs­ und „Planungsfehler“ fehlerwerden sich wohl nicht von Am letzten Abend der kaum zu selbst regeln. Nicht nur in Spanien nicht. verdeckende Eklat: Der Anblick ei­ nes großen Aufgebots schwerbe­ waffneter Polizisten, die das uns Reise-Kolonialismus: vertraut gewordene Tagungszen­ Düsseldorf fällt ein trum „Ciutad Patricia“ belagern, überrascht uns. Drinnen, große Es wackelt ein wenig. Nur schwer Reden im feierlichen Rahmen. Der kann ich mich von meiner Zeitung Minister für Tourismus spricht. Es losreißen. In der späten Abend­ ist brechend voll. Viele „Gäste“. dämmerung sieht man die ersten Von den Teilnehmern hat kaum erleuchteten Buchten von Ibiza einer mit dieser für den letzten unter sich. Es ist romantisch, was Abend angesetzten Übergabe der man von oben aus dem Fenster „Diplome“ gerechnet. Die Hälfte sieht. Der Artikel, der mich so fes­ ist schon abgefahren. Die Dank­ selt, steht in der aktuellen FAZ, die adressen sind zahlreich. Galtung, ich mir am Flughafen von Alicante den noch wenige Tage vorher die gekauft habe, 9. September: „Sie Regionalpresse als „Picasso der sind überall ,in’ und kommen nir­ Sozialwissenschaften“ feierte, gends an.“ Ein Bericht über Ibiza. wird eher beiläufig erwähnt. Spre­ Der Artikel enthält neben allen cher der Gruppen erhalten die rie­ aktuellen Informationen und Tips, sigen Diplomurkunden. Während wen man wo mit wem sieht und die einen nicht wissen, wo sie mit finden kann, die übliche Larihren überdimensionalen Papp­ moyanz, in der über zerstörte Pa­ deckeln hin sollen, machen sich radiese geschrieben wird. Walter die anderen - wer mögen sie wohl Benjamin hätte es schon voraus­ sein? - über das üppige Buffet her. gesehen. Irgendeine Hippy-BeViele werden zu viel gegessen ha- rühmtheit habe sich auf eine Finca ben-auch dies allesein Planungs­ zurückgezogen, baue Makrobioti­ fehler? Bezahlt hat es jedenfalls sches an und trinke nur noch Mi­ ebenfalls die besagte Caja de neralwasser. Doch: Roman PoAhorros. lanski habe sich jüngst ein Haus Auf der Rückfahrt nach Alicante gekauft, Soraya esse im Sausolito fallen mir zugemauerte Laden­ and so on. Plötzlich sieht man - es stimmt fronten in den neu erbauten Apart­ menthäusern ins Auge. Man hat tatsächlich - die Ruine eines zu­ sich - auch hier - verplant. Die sammengesprengten Hotels. Erst Kaufkraft der anreisenden Touri­ nach heftigem Protest der Piloten sten ist überschätzt worden. Wer sei dieses, direkt in der Einflug­ nicht genug Gewinn macht, muß schneise erbaute Hochhaus ge­ schließen. Es regelt sich von sprengt worden. Es wackelt noch mehr. Wir sind selbst. In Benidorm leben 35000 regi­ nicht viele in der kleinen, ganz und strierte Einwohner. Im Sommer gar nicht neu aussehenden Ma­ sind es 350000. Um die Zahl zu schine. Warum, meldet sich die am Lufthansa-Standard orientierte ermitteln, wird der Wasserver­ brauch geschätzt. Er verzehnfacht Angst, mag dieser innerspanische sich in den Ferienmonaten. Als Flug gerade nur 100 Peseten teu­ man die Apartmenthäuser gebaut rer als die aufwendige Schiffsfahrt hat, wird daran so wenig gedacht sein? (Das Spantax-Unglück von Malaga geschah erst wenige Tage worden sein wie an den Energie­ verbrauch der überall vorhande­ später.) 171

Wir stehen nach einer nicht nur Die bewußte Entscheidung zum anstrengenden, sondern wirklich einfachen Leben ist ernster, reflek­ nicht ungefährlichen Landung am tierter. Sie wird wissen um die Un­ Gepäckförderband. Neben uns ist lösbarkeit vieler, eigentlich uner­ Düsseldorf gelandet. Fröhliche träglicher Probleme. Gesichter mehrerer Kegelclubs, die für vier Tage kommen.

Arbeitsbündnisse

Der Tourismus hat Formen ent­ wickelt, die einer kolonialen Ein­ gemeindung entsprechen. Ohne die Erwartung, etwas Neues, Fremdes zu erleben, fällt man in eine Umgebung ein, die an die Erwartungen angepaßt wurde. Ibi­ za-Stadt ist ein Riesen-Rummel, Oktoberfest im Disco-Stil und alles open air. Hier in der Absurdität eines Tingel-Tangel-Urlauberparadieses er­ scheint mir nun auch die spekula­ tive Frage nicht mehr gänzlich ab­ surd zu sein, ob jenes Hochhaus, das den Piloten die Landung be­ hindert, nicht vielleicht doch vonwenn auch unbewußten - Insel­ schützern gebaut wurde. Mir fällt wieder ein, was ein Teil­ nehmer von den Philippinen über erste Attentate gegen Sex-Touri­ sten erzählt hatte ...

Lim Teck Ghee hatte von dem Wunsch nach einfachen Lösun­ gen berichtet. Er hatte ihn bei den Bauern ihrer Schulungen über ökologische Grundfragen land­ wirtschaftlicher Produktion erlebt. Auch in der therapeutischen Ar­ beit ist die Sehnsucht nach einfa­ chen Lösungen bekannt. Wenig­ stens ein kleiner organischer Be­ fund? Wenn schon das nicht, dann wenigstens so etwas wie beispiels­ weise ein eindeutiges traumatisierendes Erlebnis? Möglichst in der Pubertät, oder vielleicht sogar erst danach?

Veränderte Formen von Widerstand Man ist schnell - wenn sich auch viele Bootsgäste der rauhen See beugen müssen - auf Formentera. Schneller vielleicht als auf Ibiza findet man Plätze, wo man von den Einheimischen noch gegrüßt wird, wenn man vorbeiradelt. Es gibt bauliche und leibliche Rückbleibsel aus der Zeit, als Hip­ pies zum Inbegriff von Widerstand stilisiert wurden. Vieles wird noch mit einem Odium des Legendären erzählt. Das einfache Leben wird auch heute wieder gepriesen. Mir scheint, daß das, was Galtung die freiwillige Selbstbeschränkung nennt, bewußter geschieht. Die Rebellion des Pubertierenden bleibt dem System der familialen Struktur verhaftet. Zu viel Ener­ gie geht in der emotionalen Not­ wendigkeit der Abgrenzung ver­ loren. 172

Peter Paulich, Jahrgang 1950, Dipl. Soziologe, Gruppenpädago­ ge und -therapeut, lebt und arbei­ tet derzeit in Hamburg. Mitbegründung und Mitarbeit im „STIGMA-Zentrum für Soziale Bildungsarbeit und Handlungs­ forschung e.V.“, München, 197578. Mitarbeit in einem Modellprojekt der PRO FAMILIA. Ko-Autor (mit Senta Fricke und Michael Klotz) von „Sexualerziehung?“ (Köln 1980, Reinbek 1983) Freiberufliche Tätigkeit für psy­ chosoziale Einrichtungen, u.a. Mitarbeiter des „Gesundheits­ park München“, Dozent an der Fachhochschule für Sozialarbeit Köln, 1980-83. Stellv. Landesvor­ sitzender von PRO FAMILIA NRW, 1981-83. Weitere Veröffentlichung: „Wider die Kolonialisierung des Sinnli­ chen“ (Köln, 1981).

Wer sich scheut, radikal - im wörtlichen Sinne: an die Wurzeln gehend - an die Wirklichkeit her­ anzugehen, wird den Strukturen des Alltagsbewußtseins verhaftet bleiben. Die Wurzeln des Heutigen führen zurück in die Vergangen­ heit. Sie werden uns vor allem mit Widersprüchen konfrontieren. Manche sind - zumindest aktuell — nicht lösbar. Die subjektive Fähigkeit, aktuell unlösbare Widersprüche auszu­ halten, statt sich vorschnell der einen oder anderen Eindeutigkeit zuzuschlagen, ist die Vorausset­ zung für eine Vergrößerung der Wahrnehmungsfähigkeit. Zeitwei­ lige oder langdauernde Blockie­ rungen der Wahrnehmung haben ihren, wenn auch nicht gleich und immer offenkundigen Sinn. Wenn man sich den lebenslan­ gen Lern- und Erfahrungsprozeß im optimalen Fall als sukzessiv sich vollziehenden Prozeß der Auf­ hebung von Blockierungen der Wahrnehmung vorstellt, dann hät­ ten wir einen Anhaltspunkt für eine sinnvolle Unterscheidung zwi­ schen Zerstreuung und Arbeit: Ar­ beit (im Sinne eines Lernprozes­ ses) läßt sich dann genau an der Grenze verorten, die entsteht, wenn wir uns häufiger mit der Fra­ ge beschäftigen würden, was wir vermeiden. Auch und gerade da­ durch, daß wir etwas tun. Eine solche Fragestellung er­ gibt sich nicht nur im Hinblick auf das einzelne Individuum, sie stellt sich auch für Kollektive wie Grup­ pen, Organisationen und Gesell­ schaften. Es liegt auf der Hand, daß eine solcher Art nach der Vermeidung zielende Fragestellung immer konfrontiert mit Zuständen der Verunsicherung und Angst. Sucht man an diesem Punkt wiederum im therapeutischen Be­ reich nach einer Antwort, dann wird man auf die besondere Schutz- und Sicherheitsbedürftig­ keit desjenigen kommen, der sich vor der Wahrnehmung leidvoller und schmerzhafter Erfahrungen schützen zu müssen meint. Diesen Schutz sollte - optimalerweise -

der therapeutische Raum bieten. Im Sinne der psychoanalytischen Methode vollzieht sich dieser Schutz in der personalen Bezie­ hung, die dem Arbeitsbündnis, das Analysand und Analytiker mitein­ ander schließen, zugrundeliegt. Ein Arbeitsbündnis, das als ein Prototyp möglicher partnerschaft­ licher Kooperation gegen gesell­ schaftliche Repression bezeichnet werden könnte. Je weniger unsere alltäglichen (erotischen, freundschaftlichen und kollegialen) Beziehungen den Belastungen und Anstrengungen eines vergleichbaren „Arbeits­ bündnisses“ standhalten, desto größer wird der Wunsch nach ein­ fachen Lösungen oder der Hang zu einzelgängerischem, unpro­ duktivem Skeptizismus sein. Das Plädoyer, das sich - auch wenn es so nicht ausgesprochen wurde durch alle Veranstaltungen in Be­ nidorm zog, war eindeutig. Was anfänglich schnell - auch von mir - als Sozialromantik abklassifiziert wurde, bekommt einen neuen Sinn: Die Herstellung tragfähiger Ar­ beitsbündnisse ist die subjektive Voraussetzung der Öffnung zu Menschen und Gruppen in ande­ ren Teilen der Welt. Sie ist auch die Voraussetzung zur Beteiligung an dem normalen Irrsinn vieler realund tagespolitischer Argumenta­ tionen und Aktionen. Und sie ist schließlich die Voraussetzung sinnhaften Überlebens in einer sich zuspitzenden wirtschaftli­ chen und gesellschaftlichen Krise.

Rüdiger Lutz

Die Friedenswerkstatt Ein Weg zur Überwindung der apokalyptischen Verzweiflung Vor über zehn Jahren umriß der damalige Generalsekretär der Ver­ einten Nationen, U Thant, die Welt­ problematik folgendermaßen: „Ich möchte nicht übertreiben, aber aufgrund der Informationen, die mir als Generalsekretär der United Nations zugänglich sind, habe ich den Schluß zu ziehen, daß den Mitgliedern der Vereinten Natio­ nen, also den Ländern dieser Erde, vielleicht noch zehn Jahre bleiben, um ihre ureigenen Zwistigkeiten beizulegen und eine globale Part­ nerschaft einzugehen, um dem Wettrüsten, der Umweltver­ schmutzung, der Bevölkerungsex­ plosion und der Hungersnot Ein­ halt zu gebieten. Wenn eine derar­ tige globale Partnerschaft nicht in­ nerhalb der nächsten Dekade rea­ lisiert werden kann, dann fürchte ich, daß die Probleme, vor denen wir stehen, derart angewachsen sind, daß sie jenseits unserer Mög­ lichkeiten zur Lösung und Kontrol­ le liegen.“ Dies war eine Anspra­ che 1969, und heute müssen wir eingestehen, daß die Menschheit ihre Zwistigkeiten nicht regeln konnte, sondern im Gegenteil, daß sämtliche genannten Faktoren sich verschlimmert haben. Ange­ sichts des wahnwitzigen Rü­ stungswettlaufs, der ständig noch zunehmenden Umweltzerstörung und der sichtbar werdenden Kluft zwischen Bevölkerungswachstum und Nahrungsmittelvorrat ist nur zu verständlich, daß viele Men­ schen in eine Art apokalyptische Verzweiflung verfallen. Arthur Koestler, der vor kurzem verstor­ bene Kulturphilosoph und Gesell­

schaftskritiker, meinte: „Wir leben jetzt im Zeitalter der Angst, doch wir wollen es nicht einsehen, daß es so ist.“ Dies mag die Schizo­ phrenie unserer Gegenwart sein, daß wir die kommende Apokalypse spüren, aber unfähig sind, sie zu erkennen und evtl. zu überwinden. Statt den großen Problemkreis, der die gesamte Menschheit be­ trifft, anzugehen, flüchten sich vie­ le Menschen - auch gerade Aktivi­ sten im politischen und sozialen Bereich - in Nebenkriegs-Schauplätze. Weil die Weltprobleme so schwierig und komplex sind, so unlösbar scheinen, sucht man sich eine andere Aufgabe, eine kleine­ re, lösbare. Doch irgendwo im tief­ sten Innern weiß jeder von uns, daß es nur um die eine große Frage geht: Um das Überleben der Menschheit insgesamt. Wir können keine kleinen positi­ ven Bereiche mehr schaffen, wenn das Gesamtsystem unserer Welt aus den Angeln zu kippen droht oder sich aufzulösen beginnt. Und hier treffen wir auf den Kern der Arbeit, die die Zukunftswerkstatt im Auftrag der Deutschen Gesell­ schaft für Friedens- und Konflikt­ forschung unternommen hat. Die Problematik von Krieg und Frie­ den öffentlich anzugehen und nicht unter den Teppich zu kehren, sondern sich dieser schwierigen Aufgabe zu stellen, und zu erfor­ schen, welche Möglichkeiten es gibt für jeden einzelnen von uns, an diesem Problem zu arbeiten. Die Friedenswerkstatt ist eine speziell ausgearbeitete Methode zur Erfahrung, Erforschung und Überwindung der eigenen Vorstel­ lungen und speziell der Ängste vor einem möglichen apokalyptischen nuklearen Ende der Menschheit. Die Verzweiflung, die dem allem 173

zugrunde liegt, ist der Hauptfor­ schungsgegenstand der Studie, wie wir durch viele Befragungen und Veranstaltungen herausfan­ den. Die Erziehung zum Frieden ist ungleich jeder anderen pädagogi­ schen Arbeit derart verknüpft mit den Ängsten und eben der Ver­ zweiflung des einzelnen Men­ schen, daß es nur noch darum ge­ hen kann, wie wir mit dieser Ver­ zweiflung umgehen. Verzweiflung kann nicht einfach verlernt wer­ den. Positives Denken allein ge­ nügt nicht, um den tiefsitzenden Vorahnungen des kommenden möglichen Endes zu entgegnen. Man muß durch die Verzweiflung hindurcharbeiten; ähnlich einer Trauer um den verstorbenen Part­ ner oder Verwandten gilt es, die Verzweiflung zu akzeptieren und ihr Zeit zu geben zu wirken. Später muß man jedoch erkennen, daß aus dieser Empfindung auch Kräf­ te wachsen, die wiederum für die produktive Arbeit gewonnen wer­ den können. Als wir mit den Überlegungen zur Gestaltung von Friedenswerk­ stätten begannen, hatten wir noch nicht diese Essenz und Bedeutung der Verzweiflung erkannt, sondern verstanden unsere Workshops einfach als Methode der Vermitt­ lung friedens- bzw. kriegsrelevan­ ter Inhalte. Bald jedoch stellte sich heraus, daß diese Informationen keinerlei Verhaltensveränderungen bedeu­ teten, sondern lediglich die Ver­ zweiflung bewußter machten bzw. Menschen, die vorher ihre Atom­ angst einfach unterdrückten, in die Verzweiflung trieb. Schnell ka­ men wir deshalb darauf, mit den Emotionen, Erwartungen und Zu­ kunftsängsten der Teilnehmer zu arbeiten, statt Vorträge über Frie­ densforschung und Kriegsvorbe­ reitung zu halten. Wir entwickelten eine Dia-Serie mit Kriegsbildern, Bildern, wie wir sie von Hiroshima her kennen, aus dem Zweiten Weltkrieg sowie auch alten tradi­ tionellen Darstellungen des Ster­ bens auf dem „Schlachtfeld der Ehre“. Schnell kamen die Teilneh­ mer durch diese Stimulierung in 174

ihre eigene Gefühlswelt bezüglich der Vorstellung des Krieges. Es wurde deutlich, daß viele diesen Aspekt des Lebens bzw. Sterbens einfach ignorierten. Plattitüden wie „Wenn die Atombombe fällt, dann ist es eben aus“ oder „Es wird schon nicht passieren“ bzw. „Es wird doch niemand so verrückt sein, einen Krieg zu beginnen“ ka­ men zum Vorschein. Andere wieder verbreiteten eine Art Pseudooptimismus, der da hieß: „Ich weiß, wo ich hingehe, wenn ein Atomkrieg anfängt“ oder „Mein Keller ist atombombensi­ cher“, „Auch nach dem Dritten Weltkrieg wird es irgendwie wei­ tergehen“. All diese Aussagen sind Flucht­ reaktionen. Sie eröffnen keine Dis­ kussion, sondern beenden sie. Wir kennen diese Unterhaltungen am Stammtisch im Lokal zur Ge­ nüge. Wenn man auf derartige Probleme zu sprechen kommt, dann wird offener Fatalismus, blanker Zynismus oder auch ein überhöhter Optimismus verbrei­ tet. Mit der Wirklichkeit der eige­ nen Gefühlswelt sowie mit der Weltsituation haben derlei Aussa­ gen nichts zu tun. Sie sind Blocka­ den des Denkens, Ausflüchte, um die Wirklichkeit nicht akzeptieren zu müssen. Innerhalb der Frie­ denswerkstatt muß deshalb an der Akzeptanz der tatsächlichen Ge­ fahr und unserem menschlichen Verhalten demgegenüber primär gearbeitet werden. Dies ist der Inhalt der ersten Phase, des ersten Teils der Frie­ denswerkstatt, genannt Katharsis. Selbstverständlich kann die menschheitsbedrohende Gefahr nicht in dieser Friedenswerkstatt „ausgetrieben“ werden. Mit Ka­ tharsis ist viel eher gemeint, die persönliche Handlungsunfähig­ keit, die aus der Verzweiflung er­ wächst, zu erfahren und auszu­ drücken. Bekanntlich werden durch die Artikulation oder auch die körperliche Abreaktion gewis­ ser Ängste Energien freigesetzt, die dann tatsächlich zum Positiven gewendet werden können. Dies ist die Arbeitshypothese der Frie­

denswerkstatt in dieser ersten Phase. Die kathartische Arbeit wird also - wie schon angedeutet mit stimulierenden Bildern von Kriegssituationen eingeleitet. Schon dabei beginnen die Teil­ nehmer, die den Krieg aus eigener Erfahrung kennen oder eben, die sehr sensibel gegenüber diesen Darstellungen sind, in das Sta­ dium ihrer persönlichen Verzweif­ lung einzutauchen. Emotionen werden artikuliert und ausge­ tauscht, man hört voneinander, welche Ängste den einzelnen pla­ gen. Kriegsangst bedeutet ja für jeden Menschen etwas anderes. Da gibt es die Angst vor dem eige­ nen Tod, vor dem Leidenmüssen, die Angst um die Angehörigen, die Kinder, die Frau, den Mann, und es gibt auch die kollektive Angst um die eigene Kultur oder gar um die Menschheit. Dieses Ergebnis ist eindeutig so, daß wir nicht davon ausgehen können, daß es nur eine Angst um das eigene Überleben oder das Überleben der engsten Anverwandten geht. Viele Men­ schen plagt tatsächlich der Ge­ danke des Untergangs der eige­ nen Rasse. Mittels einer weiteren Technik, nämlich einer angeleiteten Phan­ tasiemeditation kann dieses Ge­ fühl noch stärker individuell erfah­ ren werden. Die Phantasiemedita­ tion läuft so ab, daß eine leise, beruhigende Hintergrundmusik ein Grundmuster der Entspan­ nung bietet, und dazu spricht der Gruppenmoderator z.B. folgende Sätze: „Wir atmen ganz ruhig und tief. Wir verfolgen den Weg unse­ res Atems bis hinunter in den Ma­ gen. Wir spüren die Energie, die durch den Atem in unseren Körper fließt, bis in die Finger- und Zehen­ spitzen. Wir fühlen den Unter­ grund, auf dem wir liegen, und sinken allmählich immer tiefer. Gedanken ziehen vorbei, und wir beachten sie nicht. Wir achten nur auf den Atem. Das immer langsa­ mer werdende Ein und Aus des Atems ist unser Hauptinteresse. Jetzt stellen wir uns vor, wir liegen auf einer Wiese vor einer großen Stadt. Wir sehen den blauen Him­

mel über uns, und eine helle Son­ ne strahlt und erwärmt uns. Die große Stadt am Horizont liegt im gleißenden Sonnenlicht und er­ scheint ruhig und würdevoll. Es könnte unsere Heimatstadt sein. Wir denken an all die Menschen, die wir dort kennen, mit denen wir Zeit verbracht haben, die unsere Freunde sind. Wir erinnern uns an Situationen mit ihnen. Ein Gefühl von Sympathie und Zuneigung zu diesen Menschen in dieser Stadt, die unsere eigene ist, steigt in un­ serem Inneren hoch. Doch wie wir dieses Gefühl empfinden, sehen wir, wie sich der Himmel verdun­ kelt und große Schwärme - oder sind es Flugzeugverbände? - in Richtung unserer Stadt fliegen. Die Luft vibriert, und ein dumpfer lauter Ton erfüllt alles um uns her­ um. Wir sehen, wie das Land und wie die Stadt allmählich verschaf­ fet werden von den kommenden Flugzeugverbänden. Wie in Zeitlu­ pe sehen wir dann das blitzschnel­ le Verwandeln dieser Stadt in ei­ nen einzigen blutroten Feuerball. Wir wissen, daß die ganze Stadt einen einzigen Brandherd dar­ stellt. Alles, was darin war, ist auf­ gelöst, tot, vernichtet. Wir spüren die Druckwelle und die Strah­ lungswärme bis zu uns, wo wir liegen. Und wir wissen, daß es kei­ ne Rettung mehr gibt für diese Menschen und wahrscheinlich auch nicht mehr für uns selbst. Wir spüren die Verzweiflung, die uns erfüllt angesichts dieses Bildes.“ Diese Phantasiemeditation dau­ ert ungefähr 40 Minuten, d.h. die Worte werden sehr langsam und in Abstimmung mit der Musik sowie den entsprechend notwendigen Pausen vorgetragen. Es ist selbst­ verständlich, daß eine derartige Meditation weitaus schwieriger ist als sog. positive Gefühle zu produ­ zieren. Jeder Mensch hat innere Ausschließungsmechanismen sol­ cher Situationen, wie sie hier ex­ plizit hervorgerufen werden. Es muß also vor der Meditation erklärt werden, zu welchem Zweck dieses unangenehme, schmerzliche und aufreibende Unterfangen gemacht wird. Um eigene Einstellungen so­

wie Empfindungen kennenzuler­ nen, ist es notwendig, die im Nor­ malbewußtsein ausgeschalteten Materialien einmal zu berühren. Wir hatten in den Friedenswerk­ stätten oft Menschen, die zum er­ sten Mal den Gedanken eines Atomkrieges durchspielten. Die alltägliche Ignorierung wird in der Friedenswerkstatt aufgehoben, um die eigenen Gefühle auch wirk­ lich kennenzulernen. Verständ­ licherweise brechen die Men­ schen in Tränen aus oder können die Meditation nicht zu Ende füh­ ren. Aber dennoch ist die Bewußtmachung einer derartigen Situa­ tion unbedingte Voraussetzung für die weitere Arbeit. Die darauf-folgenden Gesprä­ che sind gänzlich anderer Natur, als man sie sonst bei Friedens­ initiativen oder auch Gruppen kennt, die entsprechende Arbeits­ kreise haben. Statt einer intellek­ tuellen und argumentativen Aus­ einandersetzung über Kriegsmög­ lichkeiten, strategische Fragen und Vorgehensweisen zur Verhin­ derung des Krieges wird nach der Einstimmung durch die Medita­ tion und den davor gezeigten Bil­ dern vom Krieg eine weit tiefere Ebene und Intensität des Gesprä­ ches erreicht. Auch ist nach dieser Phase die Intimität der einzelnen Teilnehmer untereinander sehr viel größer. Sich weinen zu sehen, berührt zu sehen, angegriffen zu sein, bedeutet eine Öffnung: Die Masken dürfen fallen. Der thera­ peutische kathartische Effekt die­ ser ersten Phase betrifft nun hauptsächlich die Nachbereitung der Erfahrungen in der Meditation. Die Ängste und Vorstellungen, die nun ausgedrückt werden, werden sämtlichst protokolliert und auf ei­ ne große Wandzeitung geschrie­ ben. Auf diese Weise entsteht ein Gruppenbild von Aspekten der Verzweiflung und Kriegsangst. So deprimierend diese Beschreibung nun auch aussieht, so entgegen­ gesetzt ist die tatsächliche Reak­ tion. Die Verbalisierung, Artikulierung und Darstellung der eigenen Ängste befreit die Menschen von den sowieso in ihren Herzen vor­

handenen Ängsten. Es gilt zu er­ kennen, daß nicht die Angst als solche das Problem ist, sondern ihre Nichtverarbeitung und Nicht­ akzeptanz. Werden diese Gefühle jedoch erst einmal ausgesprochen und wird in der Gruppe erkannt, daß die anderen so „vernünftig“ erscheinenden Menschen ähnliche oder dieselben Gefühle haben, dann entsteht ein befreiender, ent­ lastender Moment. Natürlich ist von Individuum zu Individuum die Reaktion auf die dargestellte Übung verschieden. Doch hier muß der Kompetenz des Moderators der jeweiligen Frie­ denswerkstatt ein Freiraum einge­ räumt werden, verschiedene Tech­ niken zu nutzen. Für den Schluß­ teil dieser kathartischen Phase hat es sich oft als nützlich erwiesen, bestimmte bioenergetische Übun­ gen zu veranstalten. So ist z. B. die folgende einfache Methode sehr effektiv gewesen, wenn die Grup­ pe in eine Art depressive Melan­ cholie zu verfallen droht: Alle Teil­ nehmer bilden einen großen Kreis, so daß jeder Ellenbogenfreiheit besitzt. Jeder stellt sich mit den Beinen schulterbreit hin, versucht sich also gut zu „gründen“. Des weiteren wird gemeinsam lang­ sam ein- und ausgeatmet und die Muskeln allmählich gespannt. Da­ zu werden nun Fäuste gebildet und dann auf Zeichen und gemein­ sames Einstimmen des Gruppen­ leiters ein lautes „Nein“ ausgesto­ ßen. Dieser Schrei sollte aus dem Innersten, also von unten, vom Bauch her kommen. Meist ist es notwendig, diese Übung drei- bis viermal zu wiederholen, bis tat­ sächlich ein kraftvoller, vibrieren­ der Schrei erfolgt. In diesem Zu­ sammenhang ist auch der inhaltli­ che Kontext für diese Verneinung klar ersichtlich. Es geht hier um ein Nein zum Atomkrieg, Nein zu der Bedrohung und der damit pro­ duzierten Angst. Aber auch unab­ hängig von diesen Inhalten erweist sich die Übung als energetisierend und motivierend für den einzelnen und für die Gruppe. Es ist darauf zu achten, daß die Körper tatsäch­ lich vibrieren. Es geht nicht so sehr 175

um die Lautstärke des Schreies, sondern um die innere Vibration. Das Heilende dieser bioenergeti­ schen Übung ist die kraftvolle Kör­ perhaltung und das Erzittern des ganzen Körpers bei dem Ausstoß des „Neins“. Aufgrund unserer kulturellen und sozialen Konditio­ nierung sind viele Menschen einer derartigen Übung erst einmal ab­ geneigt. Erst durch das Mitmachen ent­ steht eine Art Akzeptanz und Ver­ ständnis für den Nutzen der Übung, und oft bekamen wir Wo­ chen oder Monate später die Rückmeldung, daß nun die Teil­ nehmer im stillen Kämmerchen zu Hause diese Übung wiederholen. Als Abschluß der kathartischen er­ sten Phase der Friedenswerkstatt hat es sich jedenfalls als sehr pro­ duktiv erwiesen. Der Übergang zur zweiten Pha­ se, nämlich der „friedlichen Uto­ pie“, gestaltet sich dadurch, daß die an der Wandzeitung befindli­ chen Angst- und Verzweiflungs­ aspekte ausgewertet werden. Durch simple Punktvergabe - also jeder Teilnehmer erhält z.B. fünf Punkte (Klebepunkte) und soll da­ mit die ihm am wichtigsten er­ scheinenden Probleme oder Äng­ ste benennen. Mit dieser Methode erreicht man zweierlei. Zum einen ergibt sich durch diese Abstim­ mung eine Strukturierung des ge­ sammelten Materials. Hauptanlie­ gen und gruppendemokratisch er­ mittelte Prioritäten lassen sich so herausfinden. Zum anderen wird jeder Teilnehmer durch diese Punktvergabe aufgefordert, das gesamte Material noch mal zu le­ sen, was durch die bloße Aufforde­ rung alleine erfahrungsgemäß nicht geschieht. Für die zweite Phase nun werden die meistbepunkteten Begriffe oder Aussagen in positive Fragestellungen umfor­ muliert. Nehmen wir z.B. an, daß die Gruppe den Aspekt der Macht­ losigkeit gegenüber den Kriegs­ vorbereitungen der Supermächte als das Hauptproblem und die Hauptangst ansieht. Dieser Begriff wird nun beispielsweise umformu­ liert in die Frage: „Wie können wir 176

Einfluß nehmen auf die Machtin­ teressen der Staaten oder Super­ mächte?“ Diese Fragestellung kann nun zum Ausgangspunkt der friedli­ chen Utopie werden. Die Phase der friedlichen Utopie ist nun der ersten kathartischen Phase diame­ tral entgegengesetzt. In der Uto­ piephase geht nämlich alles, Äng­ ste gibt es quasi nicht mehr, alles wird positiv, ja euphorisch bear­ beitet. Dieser Stimmungsum­ schwung ist natürlich nicht von einer Minute auf die andere mach­ bar, sondern meist durch einen Tag getrennt; d.h., der erste Tag, der die Katharsis enthielt, wird ge­ folgt von einem nächsten der uto­ pischen Phase. Verschiedene theatralische und spielerische Ele­ mente können die friedliche Uto­ pie unterstützen. So können Em­ pathiespiele die Entspannung in der Gruppe fördern. Körperliche Berührungen und Bewegungsfor­ men fördern diesen Prozeß. Auch eine Meditation, die nun statt in den Atomkrieg wie bei der ersten Phase in eine Art „kollektives Para­ dies“ führt, hat sich als sehr positiv erwiesen. Auch die vielbekannten „New Games“ eignen sich als Ele­ mente am Anfang der Utopie­ phase. Kernstück diese Abschnittes der Friedenswerkstatt ist jedoch die Erarbeitung kreativer Lösungsan­ sätze für die Friedensarbeit. Auf die vorgenannte Frage werden deshalb nun im BrainstormingVerfahren Antworten gesucht. Ei­ ne erste Brainstormingrunde, die vielleicht eine Stunde dauern darf, ergibt schon bei 20 Teilnehmern ungefähr 100 bis 300 Stichworte. Es muß also unbedingt nach die­ ser freien assoziativen Sammlung das Material strukturiert werden. Diese Strukturierung kann eben­ falls wieder durch Punktvergabe geschehen, genauso aber durch klar ersichtliche inhaltliche Zu­ sammenhänge, die die Gruppe sieht, erkennt. Erfahrungsgemäß wird jedoch die Punktvergabe ef­ fektiver sein. Denn während bei einer inhaltlichen Strukturierung gruppendynamische Prozesse zu

heißen Kontroversen führen kön­ nen, wird durch die reine Punktab­ stimmung sehr schnell ein Kon­ sens gefunden. Die ermittelten Schwerpunkte werden dann auf Kleingruppen verteilt, d.h. zu je­ dem Schwerpunktbereich finden sich drei bis fünf Menschen, die daran Weiterarbeiten wollen. Sie entwickeln zusammen ein kleines Szenario, das sehr utopisch oder unrealistisch sein darf, welches dann wieder der Gesamtgruppe präsentiert wird. Entscheidend für die zweite Phase ist immer wieder, daß der Moderator darauf achtet, daß kei­ ne Killerphrasen oder negativen Aspekte von den Teilnehmern kommen. Denn in dieser Utopie­ phase ist alles möglich: die Kreati­ vität und schöpferische Entfaltung des einzelnen soll provoziert wer­ den. Es soll kein Argumentations­ wechsel stattfinden. Dies ist der kommenden dritten Phase Vorbe­ halten. Die inhaltliche Seite der zweiten utopischen Phase betrifft die Ausgestaltung der friedlichen Utopie. Dies hat seine ganz beson­ dere Schwierigkeit darin, daß wir zwar gewohnt sind, Konflikte, Krie­ ge und Probleme uns vorzustellen, aber uns äußerst schwertun, den Frieden zu konkretisieren. Wenn Frieden mehr sein soll als die Ab­ wesenheit von Krieg, dann stehen wir vor der Aufgabe, den Frieden uns erst einmal vorstellbar zu ma­ chen. Im Gegensatz zur Phase 1, wo wir archetypische Vorstellun­ gen von Krieg und Zerstörung aus unserem Unterbewußtsein hervor­ rufen konnten, können wir dies in der zweiten Phase nur mit Mühe. Der Friede ist erst einmal nicht visualisierbar oder er kommt schnell auf die Ebene kitschig-ro­ mantischer „Friede-Freude-Eierkuchen-Bilder". Die Erfahrungen innerhalb der Friedenswerkstatt zeigten, daß über die anfänglichen Trivialitä­ ten, die ruhig einmal ausgespro­ chen werden sollten, ein konsens­ fähiges Bild vom Frieden erarbeit­ bar ist. Allerdings berührt diese Friedensvorstellung sehr tiefge­ hende und gleichzeitig abstrakte

Bereiche. Es zeigte sich, daß die Vorstellung einer friedlichen Welt zusammenhängt mit weltanschau­ lichen ideologischen Konzepten. So ist z.B. das westliche Ideal der Kleinfamilie mit Häuschen im Grü­ nen und wirtschaftlich hohem Le­ bensstandard eine innerhalb der Friedensutopie auftauchende Vor­ stellung. Mit dem Wissen jedoch, daß genau diese Lebensform für andere Menschen die Vernichtung bedeuten kann, sind diese Kon­ zepte relativierbar. Die Funktion der Einsicht in die Ambivalenz in­ dividueller Friedensträume ist ein notwendiger Schritt innerhalb der Friedensutopie. Praktisch ge­ schieht dies in der Kleingruppen­ arbeit, d.h. wo drei bis fünf Perso­ nen ihre Friedensvorstellungen austauschen und dann der Ge­ samtgruppe wieder vorstellen. Des einen Frieden kann des anderen Problem sein oder werden. Diese Erkenntnis muß in der zweiten Phase an irgendeiner Stelle auf­ tauchen, d.h. man muß dies nicht programmieren, sondern es ge­ schieht von selbst, wenn die Grup­ pe ausreichend interagiert. Konse­ quenterweise berührt also dann die Konstruierung eines Friedens­ szenarios sämtliche lebensrele­ vanten Bereiche: Wirtschaft, Ge­ sellschaft, Technik und persönli­ che Beziehungen spielen alle mit bei der Frage: Wie ist Frieden er­ reichbar, wie können wir einen sta­ bilen Frieden in dieser Welt schaf­ fen? Damit unterscheidet sich die­ se Friedenswerkstatt von vielen Friedensinitiativen, die oft stekkenbleiben in der Frage der Ver­ hinderung der Stationierung von Waffen oder anderen Antikonzep­ ten zu existenten Entwicklungen. Damit soll diese Arbeit nicht ange­ griffen werden. Es ist richtig und wichtig, daß Menschen sich heute gegenüber den von oben aufok­ troyierten, strategischen Konzep­ ten wehren. In der Friedenswerk­ statt jedoch gehen wir weiter. Wir versuchen die Ausgestaltung des Friedens, und dazu ist die Erfor­ schung unserer eigenen Zukunfts­ vorstellungen notwendig. Wie schon Mahatma Gandhi sagte: „Es

gibt keinen Weg zum Frieden, also der Frieden kann kein Ziel sein, sondern der Friede ist der Weg.“ So versuchen wir innerhalb der Friedenswerkstatt alternative Zu­ kunftskonzepte zu entwickeln, die auf friedlichem Wege erreichbar sind. Oft tauchte das Problem auf, daß die Teilnehmer die Notwen­ digkeit der Entwicklung alternati­ ver Zukünfte angesichts der beste­ henden Kriegsbedrohung nicht akzeptieren wollten, - zuerst. Die­ se Reaktion ist verständlich. Wer sich die alltägliche Gefahr vor Au­ gen führt, glaubt, daß es erst ein­ mal notwendig ist, diese Gefahr zu bannen und dann über die bessere Zukunft nachzudenken. Doch die­ se Logik greift zu kurz. Gerade wenn wir verstehen, daß Frieden ein Weg in eine bessere Zukunft ist, dann müssen wir uns befreien von der Problemlast und dem Mo­ ment der Gefahr selbst. Die Fokus­ sierung auf die Kriegsgefahr führt letztendlich dazu, daß wir, wie vie­ le Friedensforscher es leider tun, uns nur noch über Strategien, Waffensysteme und Kriege unter­ halten. Diese Problemfixierung lähmt die Beteiligten schließlich derart, daß es zu überhaupt keiner Aktion mehr kommt bzw. daß die Realität so akzeptiert wird, wie sie ist. Aus der Lernpsychologie ist die­ ses Phänomen sehr bekannt. Die Problemorientierung kann zum Denkgefängnis werden. Tiefen­ psychologisch gesprochen könn­ te man sogar von einer Verliebtheit in das Problem sprechen bzw. von einer Identifikation mit der Pro­ blemlage. Diese Identifizierung hilft jedoch leider bei der Lösung des Problems nicht. Aus der aus­ schließlichen Beschäftigung mit dem Problem kommt nicht zwangsläufig eine Lösung. In der Friedenswerkstatt wird diese Erkenntnis deshalb so um­ gesetzt, daß Alternativen produ­ ziert werden, die das bestehende Denkgefängnis erweitern und durchbrechen. Unser Gehirn ar­ beitet nicht nur linear sequentiell, sondern eben auch assoziativ pa­

rallel. Und die größten Ressourcen an Kreativität liegen eben in der assoziativen Verarbeitung von In­ formationen und Erzeugung von Ideen. Deshalb basiert die Frie­ denswerkstatt auf dem intellektu­ ellen logischen Konzept des fol­ genden Dreischrittes: • Identifizierung und Vertiefung des Problems - das ist der Inhalt der ersten, der kathartischen Phase. • Die Erzeugung alternativer Möglichkeiten, Zukünfte, Vorstel­ lungen. • Die Synthese dieses Prozesses. Dieser dreistufige Prozeß ist von derart allgemeingültiger Kraft, daß wir es sowohl in der Logik, in der Technik, in der Medizin, ja überall dort wiederfinden, wo Probleme gelöst werden müssen. Aus der Krebsforschung z.B. wissen wir, daß schon alleine durch diese Vor­ gehensweise, nämlich zuerst die Akzeptierung, daß man Krebs hat und evtl. unheilbar krank ist, zum zweiten die völlig befreite Produk­ tion alternativer Weltanschauun­ gen für sich persönlich und drit­ tens die pragmatische Synthese, der Krebs zurückgebildet werden kann. Übertragen wir dieses Modell nun auf die Friedensforschung und -gestaltung, dann wird ver­ ständlich, warum es so wichtig ist, Zukunftsvorstellungen auszuge­ stalten und nicht an der Kriegsge­ fahr alleine hängenzubleiben. Der Weg zum Frieden ist ein Heilungs­ prozeß, und als solchen begreifen wir auch die Arbeit in der Friedens­ werkstatt. Da der Friede in uns selber anfangen muß, gilt es, auch die eigene Einstellung zu Krieg und Frieden zu ermitteln. Es war z.B. nicht selten, daß bei einer mehrtägigen Friedenswerkstatt bei einigen Teilnehmern heraus­ kam, daß für sie eine wirklich fried­ liche Welt auch sehr langweilig erscheint. Es kamen somit Vorstel­ lungen hoch, daß Konflikt und evtl. auch die kriegerische Auseinan­ dersetzung einen erregenden dy­ namischen Charakter haben, so177

Die drei Phasen der Friedens­ werkstatt

mit das Salz in der Suppe des Le­ bens sind. Friedensforscher und -Pädago­ gen umgehen oft diese heimliche Konflikt- und Kriegsbereitschaft des Individuums, aber dennoch wissen wir, daß diese Verhaltens­ weise vorhanden ist. Wenn wir die Werbungen für Bundeswehr und andere Armeen der Welt betrach­ ten, wird deutlich, daß mit dieser inneren Konstellation auch gear­ beitet wird. Dies wird nun nicht nur auf die Weise getan, daß im Sinne von Konrad Lorenz der niedere Instinkt und die Aggression im Menschen angesprochen wird, sondern sehr wohl auch höhere ethische Werte wie z.B. Verantwortung, Patriotis­ mus usw. Diese Werte sind uns allen nur zu gut bekannt. Kurz Um­ rissen ist es das, was man als Hel­ dentum bezeichnet, und sowohl Männer wie Frauen haben diesen archetypischen Helden noch sehr oft in ihrer Brust. Der Heldenmy­ 178

thos wurde schon vielfach als inzwischen auch nachzuvollzie­ ideologisch entlarvt, insbesonde­ hen innerhalb der Friedensbewe­ re bezüglich der Ausnutzung gung. Da werden Friedenskonzep­ durch politische Mächte. Aus der tionen und alternative Verhaltens­ therapeutischen Arbeit jedoch weisen propagiert, gleichzeitig je­ wissen wir, daß diese Entideologi- doch individuelle, kollektive und sierung den Mythos nicht ab­ nationalistische Heldenmytholo­ schafft. Unsere Filme, Romane gien beibehalten. Aus dem Urund sonstiges fabriziertes Traum­ sumpf solcher Vorstellungen material sind noch voll von Helden schöpfen dann auch immer wieder dieser Art. Der gegenwärtige die nationalstaatlich orientierte Boom sog. Phantasie- und pseu­ Politik und die entsprechenden dohistorischer Produktionen, wie Machtinteressen. Die Herausar­ z.B. „Conan, der Barbar“ oder beitung verborgener und auch we­ „Am Anfang wardas Feuer" bis hin niger erkennbarer eigener Vorstel­ zu Tolkiens „Herr der Ringe“ be­ lung in diese Richtung ist deshalb weisen zur Genüge den Bedarf an mit eine Hauptaufgabe der Frie­ archetypischer Heldenmythologie. denswerkstatt. Erst wenn die „hidDaß dies nicht nur eine Modewelle den Images“, die verborgenen Bil­ aus Hollywoods Traumfabriken ist, der unserer Vorstellungswelt frei­ sondern eine real existierende Be­ gelegt sind, kommt eine wirklich Auseinandersetzung deutung hat, zeigt die Resonanz, rationale die solchen Produktionen entge­ zum Tragen. Die kritische Betrach­ gengebracht wird. Es wäre völlig tung der produzierten Utopien in­ unmöglich, ein nicht vorhandenes nerhalb der dritten Phase hängt somit weitgehend davon ab, wie Bedürfnis derart zu produzieren. Dieser Auseinandersetzung gilt intensiv und durchdringend die deshalb hauptsächlich die dritte Selbsterforschung in den vorher­ Phase der Friedenswerkstatt, die gehenden Phasen ablief. Auch die Synthese und Konkretion. Dort Konkretion der dritten Phase, also versuchen wir, aufgestellte Hypo­ die Detaillierung einzelner mach­ thesen alternativer Zukünfte und barer Schritte in der näheren Zu­ Entwürfe zu hinterfragen. Denn kunft, wird umso präziser, je um­ was nützt uns die schönste Utopie, fassender, weitgehender und tief­ wenn wir in unserem tiefsten Inne­ gehender die Arbeit davor war. Im ren doch an eine ganz andere Idealfalle könnte in der dritten Wirklichkeit glauben? Solche Pa­ Phase schließlich eine Art Stufen­ radoxien sind vorhanden und be­ plan entwickelt werden, der genau darstellt, wer welche Aktionen kannt z. B. aus der Problematik um demnächst in welchen Zusam­ menhängen wahrnimmt. Die per­ Wer an einer solchen Friedens­ sönliche Einhaltung der hier werkstatt interessiert ist, wende sich an die: planerisch gemachten Verspre­ Zukunftswerkstatt chen ist natürlich nicht mehr Teil Rappstr. 2 der Friedenswerkstatt, aber eines 2000 Hamburg 13 der Ziele der gesamten Veranstal­ tung. Persönliche Verantwortung die Frauenbewegung. Viele Män­ zu übernehmen und teilzuhaben ner, die sich äußerlich aufge­ an der gemeinsamen Aufgabe, ei­ schlossen, offen und emanzipiert nen friedlichen Weg in die Zukunft gaben, hatten in Wirklichkeit ihre zu gestalten, hängt davon ab, wie innere Einstellung gegenüber der ernsthaft die Individuen sich mit Frau noch lange nicht realisiert dieser Vorstellung identifizieren. und überwunden. Sie änderten le­ Die Friedenswerkstatt selbst diglich die Form, das Verhalten kann den Frieden nicht schaffen, nach außen gegenüber Frauen, ih­ sie kann lediglich einzelne Men­ re Grundeinstellung war jedoch schen motivieren und somit einen nach wie vor dieselbe. Ausgangspunkt für mögliche Ver­ Ähnliches ist zu erwarten und änderungsprozesse einleiten.

Robert Jungk

In einer außerordentlichen Lage muß das Außerordentliche versucht werden Rede zum Abschluß des zweiten europäischen Kongresses für Atomabrüstung, Mai 1983 Wir haben sechs Tage am Bau des Berliner Turm zu Babel mitge­ wirkt, eines Turms aus Millionen Worten und Hunderttausenden Sätzen, Wir haben gefragt und Antworten gehört, haben mitein­ ander gestritten und uns wieder versöhnt. Wir waren so viele, daß alte Freunde einander nicht wie­ derfinden konnten und waren doch zu wenige, weil andere Freunde, die wir gerne bei uns gehabt hätten, nicht kommen durf­ ten. Ihnen, die hinter engen und landesweiten Mauern gefangen­ gehalten werden, gilt unser Gruß. Was nun? Wie geht es weiter? Lassen wir die Ruine eines Gebäu­ des zurück, das zu hoch hinaus­ strebte? Oder sind wir dem Him­ mel des Friedens um ein Stück nähergekommen? Ich meine dieses Treffen hat sich gelohnt. Mehr noch: Dieses Treffen war unentbehrlich, weil hier - besonders am Rande der Konferenz - zahlreiche neue Ver­ bindungen, mehr noch: neue Freundschaften geknüpft wurden, Beziehungen, die über politische Gemeinsamkeiten hinausgehend,

auch auf persönliche Sympathie, Zuneigung ja - ich wage hier ein Wort auszusprechen, das man in diesem furchtbaren Steinklotz ver­ mutlich nur selten oder noch gar nicht gehört hat - auf Liebe be­ ruhen. Dieses menschliche, ganz per­ sönliche Interesse der Teilnehmer aneinander ist ein wichtiges Ele­ ment, das die Friedensbewegung, wie mir scheint, besonders cha­ rakterisiert und von anderen frü­ heren wie gegenwärtigen Massen­ bewegungen unterscheidet. Es ist eine neue Qualität, die uns anders und stärker verbindet, als es allein die Gemeinsamkeit der Gedanken und der Zielsetzungen sein könn­ te. Das gibt uns eine Kraft, die nicht nur aus dem Kopf, sondern auch aus dem Bauch kommt, ein kreatürliches Gefühl der Zusam­ mengehörigkeit, das stärker ist als alles das, was uns denkend, pla­ nend, handelnd trennen kann. In den kommenden Wochen und Monaten werden wir diese Kraft so notwendig haben wie noch nie. Denn die unerhörte, geschichtlich einmalige Bedrohung, die uns zu­ einander getrieben hat, Menschen aus allen Kontinenten und den meisten Ländern der Erde, rückt in diesem Jahr 1983 so nah wie nie zuvor. Wir haben oft und viel über diese Gefahr gesprochen, so oft und so viel, daß wir, wie ich meine beob­

achtet zu haben, beginnen, uns in gewisser Weise an sie zu gewöh­ nen. Das Vokabular des Schrekkens ist auch unseres geworden. Wir sprechen von Ungeheuerlich­ keiten, wir diskutieren Unfaßbares mit einer Selbstverständlichkeit, ja Routine, die sie geheuerlich und faßbar zu machen scheinen. Das kann vorläufig auch nicht anders sein, denn die Sprache, die wir sprechen, entwickelte sich im vor­ atomaren Zeitalter und eine neue Sprache, die dem alle Vorstellun­ gen übersteigenden Vorgang des menschenverschuldeten Infernos entspräche, gibt es noch nicht. Dennoch haben wir die Aufga­ be, uns immer wieder und noch intensiver als bisher mit dem Un­ gewöhnlichen, dem Außerordent­ lichen zu befassen, das bevor­ steht. Uns und unseren Mitmen­ schen ohne Unterlaß klarzuma­ chen, wie ungewöhnlich, wie au­ ßerordentlich diese Situation am Vorabend eines möglichen Unter­ gangs ist. Ich will versuchen, auf die er­ schütternde Einzigartigkeit der Lage hinzuweisen. Sie ist vor allem durch die Tatsache geprägt, daß ein atomarer Konflikt Zerstörun­ gen mit sich bringen müßte, die endgültig wären, unumkehrbar, nie wiedergutzumachen. Während nach allen früheren Konflikten spätere Regeneration, Wiederauf­ bau und Wiedergutmachung mög­ lich waren, ist diesmal keine sol­ che Hoffnung mehr erlaubt. Wir haben also nicht nur gegen einen Krieg zu kämpfen, sondern gegen sehr viel mehr: gegen ein teilweises oder sogar totales Ende des Lebens auf dieser Erde für alle voraussehbaren Zeiten. Tod und Geburt, Aufstieg und Verfall und neuer Aufstieg - sie wird es nicht mehr geben, wenn die Superwaf­ fen nicht nur die Existenz der im Zeitpunkt des Unglücks auf dieser Erde Lebenden, sondern auch die Zukunft der Spezies ein für allemal beenden. Wenn wir uns gegen dieses durch keine bisherige Erfahrung zu begreifende Schicksal wehren, tun wir das nicht nur für uns, unse­ 179

re Kinder und unsere Enkel, son­ dern für alle künftigen Generatio­ nen, denen das Leben verweigert werden könnte. Wir sind deshalb auch die Verteidiger aller noch nicht Geborenen. Unsere und ihre Existenz könnten einem ideologi­ schen Streit geopfert werden, der künftigen Menschen, wenn es sie überhaupt geben wird, so unver­ ständlich erscheinen wird wie uns heute die theologischen Haarspal­ tereien, die im Dreißigjährigen Krieg große Teile Europas zer­ störten. Außerordentliche Umstände müßten auch außerordentliche Veränderungen im Denken und in der Verhaltensweise bewirken. Daß die politischen Entschei­ dungsträger in West und Ost, in Nord und Süd auf die ganz unge­ wöhnliche Herausforderung, die wahrhaft einmalige Herausforde­ rung nur auf gewöhnliche Weise antworten, daß sie den Mut zum anderen, zum radikal anderen im Grunde so naheliegenden Verhal­ ten der tätigen Friedfertigkeit nicht aufbringen und auf dem ver­ hängnisvollen Weg in den siche­ ren Tod des Menschenge­ schlechts weder haltmachen noch gar - wie es notwendig wäre umkehren können, hat uns die von diesen Perspektiven tief Erschüt­ terten auf den Plan gebracht und zu Erschütterern gemacht. Wir 180

wehren uns nicht nur gegen die an mittelalterliche Trutzburgen erin­ nernden Stützpunkte und Arsena­ le der Massenvernichtung, son­ dern auch gegen die von sichtba­ ren und unsichtbaren Barrieren gefangengehaltene, betonierte und pervertierte Phantasie der Blinden, der Schwerhörigen, der Voreingenommenen, die uns die äußerste Unsicherheit als Sicher­ heit vorgaukeln wollen. Robert Jungk, geboren 11.5.1913 in Berlin; Emigration 1933 (Frank­ reich, Schweiz, USA), bis 1957. Seit 1968 Lehrauftrag für Zu­ kunftsforschung an der TU Berlin. Studium Zürich, Dr. phil. seit 1944. Professor h.c. der TU Berlin seit 1970; publizistisch tätig seit 1933; Bücher (in zahlreiche Sprachen übersetzt): Die Zukunft hat schon begonnen (1952), Heller als tau­ send Sonnen (1956), Der Jahrtau­ sendmensch (1973), Der Atom­ staat (1977); zuletzt: Menschen­ beben (1983)

Was der Friedensbewegung heute schon gelingt, ist mehr als eine gewiß imponierende Mobili­ sierung vieler Menschen, es ist ih­ re Fähigkeit, zahllose Einzelne zur Selbstbesinnung anzuregen, zu ei­ ner Umkehr, die den Weg ins Nichts verläßt und es riskiert, in eine andere Richtung zu streben,

die Weiterleben und Überleben möglich macht. Es gibt auf diesem Weg keine Gewißheiten, es gibt auch nicht die Garantie der Risikolosigkeit. Die von den Anhängern beschwo­ renen Gefahren, die uns da bedro­ hen könnten, wie die des Verlusts der Freiheit und des Verlusts der Menschenwürde, bedrohen uns auch „von innen“, wenn als Ne­ benwirkung der ständigen militäri­ schen Aufrüstung auch die Spirale der Polizeiaufrüstung sich immer schneller zu drehen beginnt, wenn angeblich unverzichtbare Wach­ samkeit gegen einen vermeintli­ chen äußeren Feind zur Überwa­ chung gegen immer mehr ver­ meintliche innere Feinde führt. 1984 ist sehr nah. Der große Bru­ der lebt schon unter uns. Wer wird denn ihn, wer wird denn einen im­ mer totaleren Überwachungsstaat mit demokratischer Maske noch verteidigen wollen? Wir meinen, daß unser Beispiel des ständigen, nicht mehr zu „be­ ruhigenden“ auch in Voraussicht existentieller, persönlicher Opfer sich steigernden und erweitern­ den Widerstandes gegen die toll­ kühne Aufrüstungspolitik unserer Regierungen besonders auf dieje­ nigen beispielhaft wirken wird, die durch die fast perfekten Methoden der geistigen und materiellen Kon­ trolle daran gehindert sind, das zu

sagen und zu tun, was ihnen ihr Gewissen aufträgt. Wir erleben schon heute, wie die westliche Friedensbewegung über die Blockgrenzen hinaus erste, wenn auch nur vereinzelte und zaghafte Erscheinungen der Auflockerung bewirkt hat. Würden unsere Regie­ rungen eine ernsthafte Entspan­ nungspolitik wagen, nicht nur vom Frieden reden, sondern durch dra­ stische erste Maßnahmen wie ein Einfrieren oder sogar eine teilwei­ se Abrüstung echte Signale der Hoffnung setzen, dann könnte sich dieser Vorgang grenzüber­ schreitend fortsetzen. Eine solche neue Entspannung wäre kein utopisches Unterfan­ gen, sondern ein dringend not­ wendiger Anfang, der sofort von einem Tag auf den anderen be­ schlossen und begonnen werden könnte. Es ist weitgehend in Vergessen­ heit geraten, daß ein solcher muti­ ger Entschluß schon einmal nach dem Zweiten Weltkrieg eine weite­ re Eskalation des Rüstungswett­ laufs verhindern konnte: Der ehe­ malige Berater der amerikani­ schen Regierung, Freeman Dyson, hat in seinen Erinnerungen ge­ schildert, wie ein einseitiger Ent­ schluß der USA auf die Weiterent­ wicklung biologisch-bakterieller Vernichtungsmittel fast sofort eine ähnliche Entscheidung auf sowje­ tischer Seite bewirkte. Das enorme Arsenal der beiden Supermächte zielt letztlich auf den Geist und die Seele der „anderen Seite“. Sie sind „psychologische Waffen“, die ihr Ziel verfehlen, denn sie haben eine ganz andere Wirkung als beabsichtigt: sie ma­ chen den von Angst geschüttelten Gegner nicht vorsichtiger, son­ dern aggressiver. Die Friedensbewegung im We­ sten, der vorgeworfen wird, daß sie die eigene Seite „schwäche“, hat diese in Wahrheit enorm gestärkt. Denn sie zeigt den Regierenden wie den Bürgern im anderen Block, daß es auf dieser Seite im­ mer mehr Menschen gibt, auf de­ ren Friedenswillen sie vertrauen können. Wir vertreten einen noch

vorhandenen Rest von glaubwür­ digem Verständigungswillen und echter Gesprächsbereitschaft. Wir werden diesen „Rest“ ständig ver­ größern, bis daraus ein so starkes Gewicht entsteht, daß die Waage des Schicksals sich wieder auf die Seite der Hoffnung senkt. Diese Hoffnung zu erweitern, zu vertie­ fen, zu vergrößern erscheint mir als eine Hauptaufgabe der Frie­ denskräfte. Erst mit dem Auftreten dieser neuen sozialen Bewegung haben viele Menschen, die schon resigniert hatten und verzweifel­ ten, wieder Mut gefaßt. Diese Rolle als Mutmacher wird von vielen unserer Freunde noch zu wenig wahrgenommen. Wir müssen in dieser Zeit der Dunkel­ heit nach jedem Fünkchen Licht suchen und daraus eine neue Son­ ne der Hoffnung formen. Wir soll­ ten nicht nur vor den Katastrophen warnen, sondern auch daran ar­ beiten, das immense Reservoire von schlummernder ungenutzter Schöpferkraft in den Herzen und Köpfen der Menschen zu öffnen und mit ihrer Hilfe konkrete Vor­ stellungen von wünschenswerten humanen Zukünften entwerfen. Friede ist mehr als die Abwesen­ heit von Krieg. Ihn auf tausenderlei Weise in tausenderlei Einzelheiten zu entwerfen und diese Vorstellun­ gen den Alpträumen der Hochrü­ ster entgegenzustellen, ist eine unserer dringendsten Aufgaben. Es genügt nicht, daß wir demon­ strieren, marschieren und blockie­ ren. Das sind nur die ersten, die dringendsten Aufgaben, die sich uns besonders in diesem Jahr stel­ len. Aber im Kampf gegen das, was uns gefährdet, müssen wir stets auch an das denken, für das wir uns einsetzen: eine Welt in der es sich zu leben lohnt, eine Welt ohne Streß, ohne Furcht, ohne Konkur­ renzkämpfe, eine Welt der Freund­ schaft und Freundlichkeit. Wir werden sie gewiß nie ganz erreichen. Das wäre nicht nur zu schön, sondern wohl auch zu lang­ weilig. Aber wir können ihr immer näher kommen, dieser besseren Zukunft. Was ich hier, mehr noch was ich

„vor Ort“ an den Plätzen der Aus­ einandersetzung zwischen den in­ nerlich schon angeschlagenen Apparaten der Tyrannei mit ihren zum Teil schon zweifelnden Bedie­ nern und ihren gewaltlosen Geg­ nern erlebt habe, bewegt mich tief. Die Pazifisten vergangener Jahre waren noch viel zu wenige, um Kriege zu verhindern. Heute ist das anders. Wir sind mehr als die mei­ sten von uns wissen, unsere Bun­ desgenossen in aller Welt sind zahlreicher als wir in unserem lo­ kal, regional, national oder konti­ nental begrenzten Informations­ stand vermuten. Erst auf einem Treffen wie diesem bekommen wir einen schwachen Eindruck von der weiten Verbreitung und dem ständigen Wachstum der verzwei­ felten Bemühung um das Über­ leben. Und die Unbeweglichen, die in Denkmustern und Handlungswei­ sen der Vergangenheit Befange­ nen, sind in Wahrheit viel schwä­ cher als sie scheinen. Auch in ih­ ren Reihen beginnt sich Zweifel zu regen. Auch bei ihnen beginnt ein Umdenken, das sich immer häufi­ ger im „Abspringen“ einiger ihrer führenden Persönlichkeiten zeigt. Wir müssen mit immer mehr Phantasie und immer mehr Kraft mit einem Einsatz wie nie zuvor die Schwerhörigen zwingen, auf das Volk zu hören. Wir werden mit un­ serem „Menschenbeben“ die Mauern zum Bersten bringen und die Herren über den Menschheits­ tod so sehr beeindrucken, daß sie nicht mehr wagen, was sie vorge­ ben, wagen zu dürfen. We shall overcome! Das ist mehr als ein Versprechen, es ist eine kommende Gewißheit, die kein po­ litisch Denkender und Handelnder mehr übersehen kann: We shall overcome! Aber nicht mit der Faust, sondern mit ge­ kreuzten oder ausgestreckten Armen.

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Dieter Duhm

Gewaltlosigkeit? Versuch einer Antwort Ich war etwa 14, als ich zum ersten Mal von Konzentrationslagern und Judenvernichtung hörte. Es war eine Information aus dem Ge­ schichtsunterricht, sie wurde mein Startsignal. Ich hatte immer Angst vor Gewalt. Im Jahr 1948 - ich war kaum sechs Jahre alt-geriet ich in einem Dorf am Bodensee in ein Massaker, das einheimische Schuljungen, aufgehetzt von ihren Eltern, an eingewanderten Flücht­ lingskindern begingen. Ich war auch Flüchtling und verließ die Szene mit deutlichen Veränderun­ gen. Sie hatten mich geschlagen und dann von oben bis unten mit Teer bestrichen, „damit die Wun­ den besser heilen“. Ein paar Tage später banden sie mich an eine Telegrafenstange und bewarfen mich mit Pferdeäpfeln. So wurde ich eingeweiht in die Psychologie des Menschen. Als ich dann mit 14 erfuhr, daß das, was ich latent ahnte, tatsäch­ lich begangen worden war, wollte ich nichts davon glauben. Ich wehrte mich mit allen geistigen Waffen, die mir zur Verfügung standen. Habe versucht, mir einzureden, daß die Opfer in Wirklich­ keit Verbrecher waren, zumindest aber „Erwachsene“, die nicht so leiden unter dem Schmerz. Dann fing ich an, meine Eltern und ihren Bekanntenkreis auszufragen. Ich muß ihnen ziemlich auf die Nerven gegangen sein. Meine Hoffnung, etwas Tröstliches, Milderndes, Schmerzlinderndes zu erfahren, zerrann mit zunehmender Recher­ che. Es gab keine Tröstung. Auschwitz, das war die Wirklich­ keit, jedenfalls ein unausrottbarer Teil von ihr. 182

Es blieb eine letzte Hoffnung: Das war die Wirklichkeit, ist sie aber nicht mehr. Die Hoffnung ver­ ging. Ich sah -zehn Jahre späterdie Fotos von vietnamesischen Frauen mit abgeschnittenen Brü­ sten. Ich sah die Bilder von Na­ palmverbrannten. Ich sah die Kehrseite der abendländischen Moral und Kultur. Dann kam die Zeit der untergehenden Studen­ tenbewegung und der linken Frak­ tionskämpfe. Die KPD/ML trug Sta­ lin-Plakate. Ich erlebte den Tod eines angeblichen Spitzels. Ich er­ lebte die Tyrannei der politischen Doktrin gegen jede „Sentimentali­ tät“. Ich erlebte die Inhumanität einer Revolution, welche die inne­ ren Strukturen des Systems, das sie bekämpft, in sich nicht über­ wunden hatte. Ich begriff eine Grundtatsache, die mich fortan zum Außenseiter machte: Die ideologischen Bekenntnisse sind austauschbar, solange die inneren Strukturen dieselben sind. Struk­ turen der Verdrängung. Struktu­ ren der Gewalt. Ich bin fixiert auf das Entsetzli­ che. Wenn ich von Tierversuchen höre, muß ich an die Methoden denken, mit denen sie durchge­ führt werden. Wenn ich an einem Feuer stehe, muß ich an die den­ ken, die darin verbrannt worden sind. Bei teuren Pelzmänteln den­ ke ich an die Methode des Fangei­ sens. Ich habe keine Beruhigung und möchte auch keine mehr. Ich finde das Entsetzliche nichts als entsetzlich. Jeder Versuch, darin eine höhere Weisheit oder Fügung zu sehen, ist mir zuwider. DerTrost der Religionen war eine Aufforde­ rung an die menschliche Bestie,

mit ihren Exzessen fortzufahren. Alle meine geistigen Übungen ha­ ben mich nicht heroischer ge­ macht. Ich bin eine wehleidige Kreatur. Selbst Nietzsche, den ich für den tiefsten Philosophen der deutschen Sprache halte, konnte mich nicht erlösen. Seine Tenden­ zen zur Verherrlichung der Gewalt verstoßen ein für allemal gegen das Dogma meiner Körperzellen. Bevor ich zum Eigentlichen komme, muß ich noch etwas be­ richten. Ich hatte in meinem Pri­ vatstudium bemerkt, daß die Greu­ eltaten der Geschichte oft einen sexuellen Reiz hatten, sowohl für die Akteure als auch für uns Heuti­ ge, wenn wir davon hören. Ich ken­ ne meine Onaniephantasien und weiß, daß ich meinen sexuellen Imaginationen das Format eines Sadisten habe. II. Die überschaubare Geschichte des Menschen war vor allem ande­ ren eine Geschichte der Gewalt. Grausamkeit ist, wie Nietzsche sagte, die älteste Festfreude der Menschheit. Die Methoden, mit denen sie ausgeübt wurde, ma­ chen eine adäquate Beschreibung unmöglich. Machen wir einen Längsschnitt durch die letzten 3000 Jahre Geschichte oder einen Querschnitt durch alles, was jetzt, in diesem Augenblick, auf unse­ rem Planeten zwischen Menschen (und auch zwischen Menschen und Tieren) geschieht, so gibt es für das Sehvermögen des naiven Auges eine schnelle Grenze: die Grenze des nicht weiter mehr stra­ pazierbaren Entsetzens. Der Versuch, das Entsetzliche am Menschen durch Moral und Religion zu überwinden, ist histo­ risch gescheitert. Jede Bindung des Monstrums Mensch an einen Sittenkodex, eine Bibel, einen Gott, brachte eine neue Blutspur, einen neuen Anreiz zur Grausam­ keit, eine neue Leidenschaft des Tötens. Die Existenz eines huma­ nitären Gottes ist - spätestens seit Auschwitz und Hiroshima - ge­ schichtlich widerlegt. Angesichts der überschaubaren Vergangen-

heit und angesichts der Gegen­ wart, angesichts einer in Ekstase geratenen Tötungstechnologie und einer sich abzeichnenden glo­ balen Apokalypse drängt sich die Frage auf, ob in den klassischen Definitionen des „Humanen“ nicht ein systematischer Fehler steckte. Ob es nicht vielmehr notwendig ist, das Phänomen Mensch gänz­ lich herauszuheben aus der ideo­ logischen Sphäre humanistischer Vorstellungen, um ihm auf die Fährte zu kommen? Angesichts der fortdauernden Permanenz der Gewalt und der Vergeblichkeit al­ ler Friedensbemühungen müssen wir ernsthaft fragen: Hat die Hoff­ nung auf Frieden irgendeine ob­ jektive, im Weltenbau und in der psychischen Anatomie des Men­ schen verankerte Chance, oder beruht sie schlicht auf einem Irr­ tum, einem Fehler in der Perspek­ tive, einem Wunschdenken ohne Realitätskontrolle? Wir stehen in einer Situation, in der es keinen Sinn mehr hat, Fra­ gen und Antworten an die Ge­ wohnheiten des Geschmacks und der Moral zu binden. Wenn es noch eine Lösung des Problems gibt, dann liegt sie außerhalb un­ seres Geschmacks, außerhalb un­ serer Moral und außerhalb aller Denkgewohnheiten. Wie auch die Wirklichkeit des Menschen und die Wirklichkeit unserer präapoka­ lyptischen Situation außerhalb un­ serer Vorstellungskraft liegt. Er­ forderlich ist ein Mutationssprung in der Wahrnehmung und ein gei­ stiger Perspektivenwechsel, der herausführt aus allen Vertrauthei­ ten; ein Kappen aller emotionellen Bindungen an Vorstellungen, die sich längst als unhaltbar erwiesen haben. Die Frage des Friedens ist noch nicht entschieden, weder positiv noch negativ. Die Extrapolation der empirischen Vergangenheit und Gegenwart deutet jetzt auf ei­ nen schnellen kollektiven Unter­ gang. Aber eine 3000jährige Epo­ che des Schlachtens ist noch kein Beweis dafür, daß es so bleiben muß. Wo die Fakten mit solcher Übermacht gegen eine positive

Antwort stehen, müssen diejeni­ gen, die trotzdem nicht aufgeben wollen, zu anderen Mitteln, ande­ ren Ideen, anderen Konsequenzen greifen. Die bisherigen Konzepte des Menschen und der menschlichen Gesellschaft waren de facto Kon­ zepte zur Produktion von Gewalt. Ein ernsthaftes Plädoyer für den Frieden ist deshalb ein Plädoyer für ein neues Konzept des Men­ schen und der menschlichen Ge­ sellschaft. Wo eine ganze Mensch­ heitsepoche von Gewalt geprägt war, da wird die Frage des Frie­ dens zur Frage einer neuen Epo­ che. Der Übergang von der struk­ turellen Gewalt zum strukturellen Frieden wäre ein Epochenwech­ sel, der einem Mutationssprung in der Evolution des Menschen gleichkäme. Der bisherige Typus des Menschen müßte in einen neu­ en übergehen. Dies jedenfalls ist die Perspektive, die sich von selbst ergibt, wenn wir die Frage aus dem nötigen Abstand betrachten. Eine Friedensbewegung in diesem Sinn wäre dann nicht mehr nur eine Widerstandsbewegung, sondern sie wäre die organisierte Vorberei­ tung und Durchführung des ge­ nannten Epochenwandels. Ihr Thema wäre nicht nur die Verhin­ derung des Schlimmsten (dies wä­ re allerdings ihre Voraussetzung), sondern die reale Transformation des Menschen und die konkrete Neukonzeption der menschlichen Gesellschaft bis in ihre Elementar­ bereiche der Sexualität, der Er­ nährung, der Forschung und der Arbeit. Fundamentalopposition verbände sich mit fundamentaler Neukonstruktion menschlicher Werte, menschlicher Lebensfor­ men, menschlicher Axiome. Der Totalität des bedrohenden Unter­ gangs entspräche die Totalität ei­ ner neuen Bemühung, die ohne die Totalität eines Paradigmen­ wechsels im Denken und in der politischen Praxis nicht mehr aus­ käme. (Wir befinden uns in einem Gedankenexperiment, noch nicht bei der Frage, was daran realisier­ bar ist.)

III.

Es folgt jetzt ein Versuch der in­ haltlichen Bestimmung einer sol­ chen Transformation. Vorauszu­ schicken ist, daß - wo wir von Gewaltlosigkeit sprechen - nicht nur äußere, sondern auch innere Gewaltlosigkeit gemeint ist; nicht nur physische Gewaltlosigkeit ge­ genüber physischen Lebewesen, sondern auch psychische Gewalt­ losigkeit gegenüber allen inneren Kräften des Wachstums, der Wär­ me und der Liebe. Wo diese innere Gewaltlosigkeit nicht gegeben ist, ist auch auf die äußere kein Verlaß. Eine Kultur, die Opportunisten und Untertanen hervorbringt, weil sie die Wachstumskräfte der Indi­ viduen schon in früher Kindheit bricht, ist immer zu explosiven Ge­ walttaten bereit, wie die Geschich­ te des christlichen Abendlandes und ganz besonders die jüngste Vergangenheit unseres eigenen Landes beweist. Zu überwinden wäre im Sinne eines strukturellen Friedens vor allem jene immanen­ te Doppelbödigkeit des Charak­ ters, wo plötzlich hinter angepaß­ ten Familienvätern KZ-Henkerzum Vorschein kommen; wo sich ne­ ben der genormten Sexualität sa­ distische und masochistische Phantasmagorien stauen, wo ne­ ben der zur Schau getragenen Normalität ein böser Hang zum Ex­ zeß die Sinne trübt. Zu überwinden ist nicht nur der Exzeß, sondern die ihm zugrundeliegende psycho­ soziale Gesamtstruktur (wir hof­ fen, daß dabei eine weit erfreu­ lichere Art des Exzesses durchaus gerettet werden könnte, die Erotik hatte ja noch kaum eine Chance). Die Transformationsarbeit einer neuen Friedensbewegung wäre sich der Tatsache bewußt, daß Ge­ walt in der modernen Welt nicht ein Produkt überschüssiger, son­ dern ein Produkt unterdrückter und eingeengter Energien ist. Ge­ walt kommt aus der Enge. Ratten beißen um sich, wenn man zu viele von ihnen in einen Käfig sperrt. Das Bild der Enge gilt physisch und psychisch. Zu eng sind die gesellschaftlichen Formen der All­ täglichkeit, der Liebe, der Arbeit, 183

der Kommunikation. Zu eng sind die gebügelten Umgangsformen unserer Zeit, um das Phänomen Mensch in seiner ganzen Band­ breite aufzunehmen. Zu eng sind die geistigen Orientierungen, um sich von den alltäglichen Sorgen erheben und ins Freie blicken zu können. Zu eng ist die Moral, um die menschlichen Trieb- und Le­ benspotentiale zu ihrem schöpfe­ rischen Ausdruck kommen zu las­ sen. Asozial und gewalttätig sucht das Verdrängte seinen Ausweg. Besinnungslos und mit Gewalt versucht der bedrängte Organis­ mus die Enge eines Konflikts zu sprengen, der nach keiner Seite hin zu lösen ist. Gewalt ist mei­ stens die Eruption blockierter Le­ bensenergien. Glaubhaft wäre deshalb nur eine Humanität ohne Verdrängung. Das hieße zum Bei­ spiel: eine sexuelle Humanität oh­ ne Verdrängung der aggressiven und „perversen“ Elemente; eine Ästhetik ohne Verdrängung der Dissonanzen; ein Frieden ohne Verdrängung der Aggressionen. Die Transformation des Systems der strukturellen Gewalt in ein Sy­ stem des strukturellen Friedens vollzöge sich auf allen Ebenen der menschlich-gesellschaftli­ chen Existenz. Sie erforderte den Aufbau andersartiger ökonomi­ scher und politischer Systeme; sie erforderte eine fundamentale Neu­ gestaltung menschlicher Elemen­ tarbereiche der Geschlechterbe­ ziehung, der Gemeinschaftsbil­ dung und der Kindererziehung; und sie erforderte ein neues geisti­ ges Rüstzeug, welches in der Lage wäre, die Wertorientierungen, die eingefleischten Programme und die Axiome der patriarchalen Epo­ che radikal zu überwinden (ohne in eine matriarchale zurückzufal­ len). Die Transformation hätte u.a. folgende Postulate zu erfüllen, die wir bei dem heute zur Verfügung stehenden Wissen als „Parameter einer gewaltfreien Gesellschaft“ bezeichnen können: 1. Entwicklung eines ethischen Standpunktes jenseits der (bishe­ rigen) Moral.

Indem die herkömmliche Moral 184

das „Böse“ und die Triebe zu un­ terdrücken versuchte, erreichte sie das Gegenteil: die Verselbstän­ digung asozialer Strukturen in den verdrängten Zonen des Charak­ ters. Auf diese Weise schuf sie fort­ während das Böse, das sie be­ kämpfte. Jede Unterdrückung erzeugt strukturelle Gewalt. Der Unter­ drückungsgedanke selbst, auch wo er sich gegen das Böse richtet, gehört zu den Paradigmen der ge­ walttätigen Epoche. Er ist zu erset­ zen durch einen neuen Gedanken aus dem Ideenkreis „Integration Selbstorganisation - Synthese“. Eine gewaltfreie Humanität verla­ gerte sich vom Begriffsfeld der Moral zu den Begriffsfeldern Iden­ tität, Bewußtsein, Entwicklung. 2. Überwindung des Strafgedankens.

Strafe erzeugt Angst, Angst er­ zeugt strukturelle Gewalt. Die al­ ten Erziehungsmittel von Strafe und Angst müßten ersetzt werden durch ein System sozialer Selbst­ organisation, welches verankert wäre in einer unmittelbaren, trans­ parenten menschlichen Rückkop­ pelung und in den aus dieser Rückkoppelung gewonnenen Er­ fahrungen der Einzelnen. Das überindividuelle Regulativ wäre nicht mehr eine abstrakte Moral oder eine äußere Instanz, sondern die konkrete Gemeinschaft. 3. Volle Integration aller Trieb­ kräfte und psychischen Energien in die individuelle und gesell­ schaftliche Lebensgestaltung.

Überwindung der charakterlichen Doppelbödigkeit und der Teilung des Menschen in eine soziale und eine asoziale Person. Aufbau von Tätigkeitsfeldern und sozialen Verhaltensmustern, worin sich die verdrängten Energien in positive Gestaltungskräfte transformieren können. 4. Neue soziale Formen für Liebe und Sexualität.

Befreiung der Geschlechterliebe aus den zu engen und zu starren Formen der Ehe und Familie. Freie

Gestaltung des sexuellen Lebens nach den autonomen Funktions­ prinzipien der Erotik und nach der autonomen Ethik der Beteiligten. Ein Kernproblem der gewalttäti­ gen Gesellschaft ist das Thema der unbewältigten und unbewältigbaren Liebe. Vielleicht erzeugt die­ ses Thema heute mehr Gewalt, Kindesmißhandlungen und Ver­ kehrstote, als alle anderen Fakto­ ren zusammen. Die Transforma­ tionsarbeit hätte hier folgende Aufgaben:Entwicklung eines ein­ deutigen, positiven und weichen Verhältnisses zu allen sinnlichen und kreatürlichen Betätigungen des Menschentiers; Überwindung der Ehegrenzen durch den Aufbau größerer Systeme von personalen Beziehungen und interessierter Kommunikation; Abbau von Ver­ lustangst und Eifersucht durch ei­ ne allgemeine Bereicherung der Beziehungen und Tätigkeiten; Aufbau kommunitärer Versor­ gungssysteme zur Überwindung sozialer und ökonomischer Ab­ hängigkeiten. 5. Neue soziale und emotionelle Strukturen für das Aufwachsen der Kinder.

Die bestehenden Gewaltpotentiale werden meist in früher Kindheit schon angelegt. Die familiäre Si­ tuation ist zu eng, zu launisch und zu überlastet, um dem Kind eine freie Entwicklung zu ermöglichen. Die emotionelle Verknotung von Liebe, Verlustangst und Haß, die fast jede spätere Liebesbeziehung kennzeichnet, ist u.a. eine Folge der kleinfamiliären Situation. Als psychische Dauerstruktur ist sie eine der wesentlichen Grundlagen struktureller Gewalt. Die Enttäu­ schung kindlichen Vertrauens ist oft das Urtrauma, welches die Di­ spositionen schafft zu allen späte­ ren Formen der Rache, des Zynis­ mus und der erbarmungslosen Brutalität. Die Familienstrukturen wären aufzuheben durch die Bil­ dung funktionierender kommuni­ tärer Systeme, die dem Kind freie Partnerwahl, verläßlichere Zuwen­ dung und eine entlastetere Mutter gewährleisteten.

6. Ökologische Gesamtintegra­ tion der menschlichen Lebenfcsphäre in die Biosphäre.

Reintegration des menschlichen Lebens in die ..weichen“ Struktu­ ren und Funktionszusammenhän­ ge des Lebendigen. Convivale Or­ ganisation der Lebenssphären von Pflanzen, Tieren, Kindern und Er­ wachsenen. Ersetzung von biolo­ gischen und geistigen Monokultu­ ren durch ökologische Vielfalt. Schaffung von sich gegenseitig er­ gänzenden und unterstützenden Systemen im Sinne der Permakultur. Übertragung dieser Ideen in den sozialen Bereich. Ersetzung des alten Typs von Naturbeherr­ schung durch einen neuen Typ der Kooperation mit der Natur. Ent­ wicklung einer auf Kontakt basie­ renden selbstverständlichen Ethik gegenüber allen Mitgeschöpfen. 7. Kategoriaie Veränderung des Denksystems.

Konkrete Entwicklung neuer gei­ stiger Strukturen und Axiome ge­ mäß der Funktionslogik des Le­ bendigen. Abkehr von den „männ­ lichen'' Programmen der Härte, der Eindeutigkeit, der Zweckmä­ ßigkeit und des Weges ohne Um­ weg. Hinwendung zu den biologi­ schen Prinzipien der „weichen Kraft", der Integration und Überla­ gerung. des Tastens und Krei­ seins. der funktioneilen Gegen­ sätzlichkeit, der Pulsation, der Schwingung und Resonanz, der Entwicklung und der Systemoffen­ heit, der Komplexität und der dia­ lektischen Verquickung des Teiles mit dem Ganzen. Kategoriaie Ver­ änderung auch des politischen Denkens. Die anstehende Revolu­ tion ist zu tief, um mit Gewalt be­ werkstelligt werden zu können. Die neue Epoche entstünde aus der „weichen Kraft' Die Losungs­ worte ihrer Politik wären: nicht Konfrontation, sondern Subver­ sion; nicht laute Parolen, sondern Resonanz: nicht Gewalt, sondern Homöopathie. Voraussetzung für eine gemeinsame und organisierte Transformationsarbeit wäre eine an der Funktionsweise des Leben­ digen orientierte politische Theo­

Dieter Duhm, Jahrgang 1942, ist Initiator eines Projekts, welches die in diesem Aufsatz aufgeführ­ ten „Parameter einer gewaltfrei­ en Gesellschaft“ experimentell verwirklichen will. Das Projekt („Bauhütte e.V.“) wurde 1978 ge­ gründet und betreibt jetzt den Aufbau eines „Zentrums für kon­ krete Utopie“. Mitarbeit ist er­ wünscht.

genügenden Anzahl von Men­ schen in der noch verbleibenden Zeit möglich ist und ob er zu einer globalen politischen Kraft werden könnte, mag bezweifelt werden. Ansätze in der genannten Rich­ tung sind vorhanden. Vielleicht gibt es berechtigte Hoffnungen von neuer Art. Die Veränderungen im Kräftesystem unserer Zeit un­ terliegen nicht mehr politischen Kalkulationen alten Typs, sondern den spezifischen Funktionen und Sprüngen einer sich in qualitati­ vem Umschlag befindlichen Ge­ samtsituation. Die fermentartige Wirkung einer gewaltfreien Kraft könnte von überraschender Effi­ zienz sein, wenn sie verbunden wäre mit dem Durchbruch einer überzeugenden positiven Vision einer neuen Kultur, einer neuen Daseinsweise und einer neuen menschlichen Identität.

rie neuen Typs. In dem Begriff der „weichen Kraft“ nähme sie auch Elemente einer neuen Spiritualität in sich auf. IV.

Dies waren Thesen zu dem, was notwendig wäre, nicht zur Frage der Realisierbarkeit. Die genann­ ten Punkte verlangen alle den Auf­ bau neuer Systeme für menschli­ che Kommunikation und mensch­ liche Gemeinschaft. Noch sind die Debatten der Ökologie- und Frie­ densbewegung weit von solchen Aspekten entfernt. Zur Realisie­ rung der genannten Punkte wären bei den Beteiligten Basisentschei­ dungen von persönlich-existentieller Art erforderlich, die in hefti­ gem Gegensatz stünden zu unse­ ren eingefleischten Lebens- und Denkgewohnheiten. Ob ein sol­ cher „Paradigmenwechsel des persönlichen Lebens“ bei einer 185

Hazel Henderson

Global denken, lokal handeln Politik und Ethik im Solarzeitalter Unsere globale Umwelt ist heute in einem Ausmaß bedroht, das in der menschlichen Geschichte bei­ spiellos dasteht - angefangen bei der Ausrottung ganzer Arten von Lebewesen und dem Verlust der genetischen Vielfalt über die An­ häufung toxischer und radioakti­ ver Abfälle bis hin zu Waldvernich­ tung, Wüstenausbreitung und der massiven Veränderung des Erdkli­ mas.1 Während diese Umweltzer­ störung fortschreitet und zwi­ schen den Völkern immer bedroh­ lichere Konflikte um schwindende Ölreserven, Bodenschätze, Was­ ser und Lebensmittel heraufbe­ schwört, müssen wir erleben, daß die amerikanische Regierung sich aus internationalen Programmen, wie etwas dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen, zurück­ zieht und Verträge über die Nut­ zung jener Ressourcen blockiert, die gemeinsames Erbe aller Men­ schen sind: in der Tiefsee, in der Luft, im Weltraum und auf dem Mond. Statt dessen kehrt Amerika zu überholten laissez-faire-Strategien zurück, zur „Politik des letz­ ten Hurra“ einer Wildwest- und Cowboy-Ökonomie, der wir die ganze Misere überhaupt erst ver­ danken. Ich werde im folgenden versu­ chen, die heutigen Paradoxa unter dem Aspekt dieses globalen Zu­ sammenbruchs einer unhaltbar gewordenen industriellen Ord­ nung mit ihren konkurrenzbeses­ senen, expansionistischen, milita­ ristisch-patriarchalischen „Machismo"-Staaten zu entziffern und die Paradigmenwechsel zu unter­ 186

suchen, die in der industriellen Kultur selbst vor sich gehen. Ich werde aber zugleich versuchen, die sich mehrenden Anzeichen für einen ebenfalls stattfindenden Durchbruch anzuführen - einen Durchbruch, der sich vollzieht, in­ dem eine neue planetarische Kul­ tur ans Licht drängt, deren Ethik und Politik dem Überleben des Menschen im heraufdämmernden Solarzeitalter besser entspricht. Wir haben heute gut zwei Jahre dessen hinter uns, was John Oakes, ein ehemaliger Redakteur der New York Times, bezeichnet hat als „Ronald Reagans schlim­ men und radikalen Anschlag auf Amerikas Umweltschutzsystem ... und die rabiate Verschwendung amerikanischer Bodenschätze in öffentlichem Besitz“.2 Was wir heute sehen, spricht für sich: Die Rocky Mountains und Alaska wer­ den zur „Erschließung“ freigege­ ben, die Prioritäten in der Energie­ politik werden drastisch geändert und liegen wieder bei den nicht­ erneuerbaren Energiequellen wie Atomkraft, Erdöl, Kohle und Öl­ sand, und die Optionen für solare, erneuerbare und umweltschonen­ de Energiequellen werden redu­ ziert.3 Als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre, müssen wir noch die Attacken gegen das Ge­ setz zur Luftreinhaltung (Clean Air Act) und gegen die Umweltschutz­ behörde (EPA) erwähnen; damit sollen gesetzliche Handhaben ge­ gen Wasserverschmutzung, Lärm­ belästigung, toxische Substanzen und vor allem gegen die schreck­ lichste Umweltbedrohung, näm­ lich den Wahnsinn der Atomkraft­ werke und Kernwaffen, konse­ quent abgebaut werden. Paradoxerweise geraten mittler­ weile sogar viele jener Unterneh­

men in Besorgnis, zu deren Be­ schwichtigung die erwähnten Maßnahmen eigentlich gedacht waren. Der Vizepräsident der Au­ tomobilfirma Ford, H. L. Misch, be­ tonte, daß der gesamte soziale Re­ gulierungsprozeß in Unordnung geraten sei, und warnte die Indu­ strie davor, nachhaltige Verstim­ mung in der Gesellschaft zu erzeu­ gen.4 Breck Arrington von der Fir­ ma Atlantic Richfield fügte hinzu: „Die Vorstellung, daß die Wirt­ schaft zu allem ja und Amen sagt, was Reagan tut, ist einfach falsch. Wir wollen das Wertesystem, das diese Regulierungen repräsentie­ ren, nicht in Gefahr gebracht se­ hen.“5 Aber der eigentliche Punkt ist der, daß Riesenkonzerne sol­ che nationalen Regulierungen, politische Zentralisierung, ja so­ gar die internationale Einheitlich­ keit der Regulierungen brauchen, um globale Märkte, Produktion und Technologie rationalisieren zu können. Oder wie Mr. Arrington über den Neuen Föderalismus la­ mentierte: „Das läuft auf einen Turm von Babel hinaus .. ein Wirr­ warr widersprüchlicher Richtli­ nien von der Regierung, Tausende und Abertausende von Zuständig­ keiten. Wenn sich die Wirtschaft in vergangenen Jahren auf etwas verlassen konnte, dann darauf, daß es für die meisten dieser Ge­ biete nur eine einzige, zentrale Zu­ ständigkeit gab.6 Bei der Verpach­ tung von Ölbohrstellen vor der amerikanischen Küste ergibt sich ein ähnliches Bild. Michael Savage, der Präsident der Sohio Petro­ leum Co., äußerte kürzlich gegen­ über der Zeitschrift Business Week: „Wir würden unsere Res­ sourcen besser nutzen können, wenn frühere Pläne beibehalten worden wären“7, und von anderen Ölfirmen hört man ähnliche Kla­ gen überden „Druck aus Washing­ ton“8. Auch in anderen Industrien beginnt man daran zu zweifeln, ob die unterschiedslose Lockerung gesetzlicher Regulierungen (nach der man freilich früher hartnäckig verlangt hatte) wirklich so segens­ reich ist. Bruce Smart von derContinental Group meint: „Die Wirt­

schaft muß einsehen, daß die len­ kende Hand des Marktes nicht im­ mer an die Folgen ihrer Handlun­ gen für Dritte oder für künftige Generationen denkt. Die Natur al­ lein kann toxische Abfälle, die Ver­ nichtung landwirtschaftlicher Flä­ chen und die Ausrottung von Arten nicht verkraften - dazu bedarf es staatlicher Kontrollen.“9 Die Unternehmer haben also of­ fenbar nicht nur die Meinungsum­ fragen studiert, sie haben sich auch gezwungen gesehen, mit so manchen sozialen Kosten zu rech­ nen, die sie bisher auf uns und unsere Umwelt abgewälzt haben. Eine neuere Umfrage von Roper für das American Enterprise Insti­ tute (ein von der Wirtschaft finan­ zierter Denktank)10 hat gezeigt, daß die Mehrheit der Amerikaner der Meinung ist, die Regierung solle eine maßgebliche Rolle beim Umweltschutz, im Gesundheits­ wesen, bei der Sicherung der Bür­ gerrechte und in der Armenfürsor­ ge spielen. Ferner wurde festge­ stellt, daß die Amerikaner die ge­ samten staatlichen und privaten Ausgaben für die Bedürfnisse der Alten, für Lehrstellen, Bildungswe­ sen und Grundlagenforschung be­ reits für zu niedrig halten. Und zwei von drei Amerikanern stim­ men der Aussage zu, daß jeder Wirtschaftszweig ein soziales Ge­ wissen haben und daß die Wirt­ schaft sich verpflichten sollte, auf eigene Kosten soziale Probleme zu lösen und die Lebensqualität zu verbessern, indem sie die Gewinne auf einem bescheidenen Niveau hält. Sie lehnten die Vorstellung ab, daß die Wirtschaft sich darauf beschränken sollte, Waren und Dienstleistungen mit maximalem Gewinn zu produzieren und ihren sozialen Beitrag in Form eines Ma­ ximums an Steuerdollars zu lei­ sten, die es anderen erlauben, so­ ziale Probleme anzupacken. Nota bene, Milton Friedman! In ähnli­ chem Sinne ergab eine neuere Meinungsumfrage der Firma Har­ ris Poll, daß eine Mehrheit von 65 zu 32 Prozent dagegen ist, die Ge­ sundheitsrichtwerte im Umweltbe­ reich zu lockern, gleichgültig, wie

hoch die entstehenden Kosten sein mögen. In Kalifornien denken sogar 72 Prozent der Befragten so.11 Aber noch mehr Industriellen beginnt es zu dämmern, daß diese „abgewälzten“ Kosten vieler ihrer Projekte heute unmittelbar auf ih­ re eigenen Unternehmensbilanzen Zurückschlagen - und nicht mehr nur auf den Steuerzahler, auf Ver­ braucher und unsere Kinder. Diese sozialen Rechnungen, die nun­ mehr präsentiert werden, sind ein wesentlicher Faktor in dem allge­ meinen Gejammer über den „Rückgang der Produktivität“. Na­ türlich geht die Produktivität zu­ rück!12 Die Fachleute haben bloß bisher mit der Produktivität zu dick aufgetragen! Heute müssen Unter­ nehmen oft das Wasser reinigen lassen, bevor sie es auch nur für ihre eigenen industriellen Zwecke gebrauchen können; sie müssen sich für Krankheits- und Todesfäl­ le ihrer Mitarbeiter im vergange­ nen Vierteljahrhundert verantwor­ ten (Stichwort: Krebserkrankung durch Asbest) und ihr Scherflein zum Abbau toxischer Müll- und Abfallhalden beitragen. Der FastBankrott vieler Elektrizitätswerke, der auf jahrzehntelanges Mismanagement zurückzuführen ist, wä­ re ein weiteres Beispiel. Ihr kata­ strophaler Ausflug in die Kernkraft ist steckengeblieben in irrigen Nachfrageschätzungen13, fehler­ haften Entwürfen, Bauten und Ka­ pazitätsberechnungen14 sowie in Störfällen - gar nicht zu reden von hohen Zinssätzen und dem dunk­ len Schatten von Three Mile Is­ land15. Nachdem seit 1978 28 Kernkraftwerke in den USA stillge­ legt wurden, fragt es sich heute laut Jim Harding von den Friends of the Earth ob die 20 noch im Bau befindlichen KKWs jemals fer­ tiggestellt oder in Betrieb genom­ men werden. Um die Enthüllung des Kernkraftskandals und der Ir­ reführung von Investoren und Öf­ fentlichkeit haben sich besonders die tapferen Bürger Kaliforniens, namentlich im Diablo Canyon, ver­ dient gemacht. Heute sind es wie­ der Kalifornien die mit ihrer Nucle-

ar Freeze Initiative an der Spitze der Nation marschieren. Aus Kali­ fornien kommen auch beherzte Unternehmer wie Harold Willens, der heute Investoren, Steuerzahler und Wähler darüber aufklärt, daß wir unsere „nationale Sicherheit“ nicht damit erkaufen können, daß wir uns kolossale, inflationäre Rü­ stungshaushalte für wenig wirksa­ mes, unzuverlässiges, hochge­ züchtetes Gerät und Kernwaffen leisten, die die Gefahr eines ver­ hängnisvollen „Krieges aus Verse­ hen“ nur vergrößern.16 Während die Wirtschaft dabei ist, Reagans rigorose Durchfor­ stung der staatlichen Regulierun­ gen skeptisch zu überdenken, ge­ langen die Investoren mehr und mehr zu der Überzeugung, daß der Rüstungshaushalt gekürzt werden muß; auch die Gouverneure der Bundesstaaten und die Bürger­ meister der großen Städte (und aus beiden politischen Lagern) proben den Aufstand gegen den „Neuen Föderalismus". Was ich persönlich von Reagans neuestem Schlagwort, dem „Dezentralis­ mus“, halte? Nichts als fauler Zau­ ber, mit dem soziale Kosten und Probleme dezentralisiert, die Pro­ fite und Chancen für den privaten Sektor aber zentralisiert werden sollen. In der Tat habe ich die „Reaganomics“ von Anfang an so eingeschätzt: Eine angebotsorien­ tierte Wirtschaft ist lediglich die Kehrseite der keynesianischen Medaille, wo die Wirtschaftswis­ senschaftler und Politiker in Wa­ shington versuchen, mit Hilfe von Steuervergünstigungen für Unter­ nehmer und Investoren das „Ange­ bot“ hochzupäppeln, um einer in­ flationsgeschädigten „Nachfrage“ gerecht werden zu können. Er­ reicht werden soll dies durch ei­ nen weiteren Kahlschlag auf so­ zialem und öffentlichem Gebiet, bei den Rohstoffreserven und der Umwelt, damit die BSP-Statistik besser dasteht. David Stockman hat natürlich recht; es handelt sich um nichts anderes als einen gut getarnten „Durchsicker“-Effekt. Die beste Definition für eine ange­ botsorientierte Wirtschaft ist denn 187

auch, wenn man David Rockefeiler eine steuerliche Vergünstigung gewährt, die schließlich zu Jay Rockefeller „durchsickert“! So sind es in zunehmendem Ma­ ße gerade Reagans frühere Bun­ desgenossen, die jetzt von ihm abfallen. Die Redakteure der Busi­ ness Week entdeckten Ende 1981, daß ein „privater Sektor“ ohne ei­ nen ihn fundierenden „öffentli­ chen Sektor“ nicht zu haben ist meine Rede seit einem Jahrzehnt! Ich habe schon immer gesagt, daß es gedanklicher Unfug ist, sich das nahtlose Gewebe unseres sozioökonomisch-technischen Sy­ stems in zwei sauber getrennte Ka­ tegorien namens „öffentlicher Sektor“ und „privater Sektor“ zer­ legt zu denken und dann so zu tun, als sei nur der letztere „produktiv“, während „der öffentliche Sektor“ ein überflüssiges Ärgernis ist! In Wirklichkeit hat der Produktions­ prozeß zwei Aspekte, die nicht voneinander zu trennen sind, Er­ stens: all jene Produkte - Häuser, Autos, Stühle, Raumfahrzeuge die ganze greifbare, physische „hardware“, an die unsere Kultur ihr Herz gehängt hat. Zweitens: der Unterhalt von Fabriken, Gerät und sozialer Infrastruktur, ohne die jene hardware überhaupt nicht produziert werden könnte. Nun kann man sich aber in der wirkli­ chen Welt keine Produktion den­ ken, die nicht der Stützung und Sicherung durch diese fundamen­ tale Struktur der Produktionser­ haltung bedürfte. Physiker und In­ genieure wissen das - es gehört zum thermodynamischen Grund­ wissen: der Satz von der Entropie, d. h. Fabrikanlagen nutzen sich ab, ebenso Straßen, U-Bahnen, Brükken, Dämme und Flughäfen, und man kann kein Ding mit hundert­ prozentiger Effizienz herstellen wenn es eine fünfzigprozentige ist, kann man sich glücklich preisen! (Die anderen 50 Prozent gehen durch Reibungs- und Wärmever­ lust, Oxidation, Unfälle, divergie­ rende Zielvorstellungen usw. ver­ loren.) Aber die Ökonomen sind ewige Kinder, die blauäugig vom Perpe­ 188

tuum mobile träumen. Sie stellen sich vor, daß man jene sozialen Kosten „externalisieren“ und ignorieren kann, wenn man nur im Geist alle die lästigen Erhaltungs­ funktionen (natürlich einschließ­ lich der wirklich gravierenden wie etwa Ausbildung der arbeitenden Bevölkerung, Aufzucht der näch­ sten Generation, Erhaltung le­ bensfähiger Gemeinschaften und Umwelten und Gesundheitsvor­ sorge usw.) aus dem „Zauber­ kreis“ des „privaten Sektors“ ver­ bannt. Es kommt einfach darauf an, wo man diese imaginäre Gren­ ze zwischen „privatem“ und öf­ fentlichem“ Sektor zieht und wen man zum „Gewinner“ ernennt, der in klingender Münze bezahlt und registriert wird bzw. wen man aus diesem Zauberkreis des geld- und bruttosozialproduktfixierten Pri­ vatsektors verbannt und zum „Ver­ lierer“ stempelt (das sind jene „un­ produktiven“ Erhaltungsfunktio­ nen und Beschäftigten, bei denen der Trick darin besteht, für sie we­ nig oder am liebsten überhaupt nichts auszugeben - beispielswei­ se Krankenschwestern, Hausfrau­ en, Gärtner, Straßenkehrer, Kö­ chinnen, Lehrer, Bibliothekare, Sozialarbeiter, Pflichtverteidiger usw.). Man kann für jede abstrakte, geld- und BSP-fixierte ,,Volks(!)wirtschaft“ eine „Erfolgs“-Bilanz aufmachen, wenn man nur die imaginäre Grenze entsprechend zieht! Allmählich erkennt aber auch die Wirtschaftswelt die Naivi­ tät derartiger nationalökonomi­ scher Modelle und macht sich klar, daß Handel und Verkehr ohne all diese Erhaltungs- und Stützungs­ funktionen nicht fortbestehen können und daß mittlerweile auch Mutter Natur nach Bezahlung ver­ langt, ebenso wie Frauen, Minder­ heiten und jedes andere Glied der Gesellschaft, das bisher verborge­ ne Beiträge zu den Unternehmun­ gen des „privaten Sektors“ gelei­ stet hat. Die Wirtschaftsführer sind jetzt gezwungen, zuzugeben, daß die Pflege und Fütterung dieser viel gepriesenen „goldenen Gans“

(= des privaten Sektors) enorme öffentliche Investitionen erfordert und nicht nur die sattsam bekann­ ten Steuervergünstigungen, Sub­ ventionen, Investitionsanreize, Preisnachlässe, Bürgschaften u. dgl. m. Die Ökonomen können uns hierüber keinen Sand mehr in die Augen streuen, die sozialen Kosten sind allzu offensichtlich. Wir wissen, daß die „goldene Gans“ etwas unter sich läßt - aber wir sind nicht mehr sicher, daß es goldene Eier sind!17 Abgesehen davon hören wir sie über ihre zarte Gesundheit klagen - sie fordert ein besonderes „Wirtschaftsklima“ oder droht damit, in den (amerika­ nischen) Sonnengürtel oder ins Ausland abzuwandern! Sie braucht eine besondere Diät aus Steuerguthaben und Subventio­ nen und will nicht einmal mehr ihr Kapital riskieren. Ja sie scheint mittlerweile Bezieher einer Leib­ rente auf Lebenszeit zu sein, für die der Staat und die Steuerzahler aufzukommen haben. Wenn wir al­ le jetzt zu sozialen Investitionen in diese goldene Gans gezwungen sind, damit sie schön schwimmt, überlegen wir uns, ob wir nicht lieber unsere sozialen Investitio­ nen direkt tätigen und ein anderes Angebot an öffentlichen Dienstlei­ stungen und privaten Gütern kau­ fen wollen! Manche von uns wür­ den vielleicht lieber gesündere, besser ausgebildete Kinder kau­ fen, die Aufwertung der menschli­ chen Fähigkeiten und Kreativität, ein erschwingliches Produktions­ system auf der Grundlage erneuer­ barer Ressourcen, reine Luft und sauberes Wasser, Rekultivierung von Wäldern, Grünanlagen, Parks, bessere Hilfe für unsere Behinder­ ten und Alten und die Befähigung unserer Armen und Benachteilig­ ten zur Selbsthilfe. Zahlen müssen wir so oder so! Die Bürger, die Beamten, aber auch Bürgermei­ ster und Gouverneure stehen die­ sen Realitäten viel näher als die Ökonomen und die Washingtoner Politiker und Bürokraten. Der New Yorker Gouverneur Hugh Carey meinte über das Programm des „Neuen Föderalismus“18, es erin­

nere ihn an den Mann, der in ein Restaurant ging, ein großes Essen bestellte, es verzehrte und sichdann weigerte zu zahlen, wobei er noch die Stirn hatte, zu behaup­ ten, er trage zur Senkung der Le­ bensmittelpreise bei! Bedauerli­ cherweise sind es die multinatio­ nalen Banken und Unternehmen, die die Politik in Washington kon­ trollieren, und ihren Interessen dient der Neue Förderalismus, wie man ebenfalls an Reagans Steuerund Ausgabenkürzungen sieht. Ich habe die Reaganschen Pro­ gramme als „die Politik des letzten Hurra“ bezeichnet, was auch für die „Thatchernomics“ in England gilt, wo man sich weigert, den rapi­ den Wandel zur Kenntnis zu neh­ men, der sich in allen Industriege­ sellschaften und ihrer Kultur sowie in ihren technisch-ökonomischen Strukturen vollzieht (Übergang von nicht-erneuerbaren zu erneu­ erbaren Ressourcen). Die einzige Reaktion auf diese Veränderung besteht darin, daß man seine An­ strengungen verdoppelt, überhol­ te und als untauglich erwiesene Heilmittel anzuwenden - anstatt die Situation zu überdenken. Mr. Reagan ist dabei, den New Deal durch den Raw Deal zu ersetzen. Lane Kirkland vom Gewerk­ schaftsverband AFL-CIO äußerte sich ebenso abfällig darüber wie Ron Dellums aus Berkeley, der die Reaganomics in prophetischer Kritik von Anfang an als „ökonomi­ schen Wahnsinn“ bezeichnete. Die Western Governors Conferen­ ce verlangte im November 1981: „Keine weiteren Haushaltskürzun­ gen ohne vorherige Konsultation“ (sc. der Gouverneure) und forderte „eine breite, gemeinsame Ent­ scheidungsfindung über alle Ent­ scheidungen bezüglich der Ver­ pachtung und der Nutzung ameri­ kanischer Bodenschätze“.19 Sie äußerten ihre Skepsis bezüglich der vollständigen Übertragung von Rechtstiteln auf die einzelnen Bundesstaaten. Dies alles beweist, daß auch „Dezentralismus“ eine verwickelte Sache ist. Die Ameri­ kaner erkennen jetzt mehr und mehr, daß die 80er Jahre eine Ära

des Paradigmenwechsels sein werden, die eine Politik des Um­ denkens und der Neudefinition der Grundlagen erfordern. Paradoxerweise ist aber gerade das die positive Seite der ReaganAdministration! zum Beispiel: Erstens: Noch nie seit dem New Deal haben Handlungen des Präsi­ denten so viele elementare Fragen aufgeworfen und so viele Bürger durch die unmittelbare Konfronta­ tion mit ihren Auswirkungen von diesen Fragen unterrichtet. Zweitens: Noch nie zuvor hat ein Präsident es geschafft, den Bankrott der Wirtschaftswissen­ schaft“ und die schlichte Wahr­ heit, daß sie keine Wissenschaft ist und nie eine war, sichtbar zu ma­ chen. Dank der Diskussionen und Härten, die die „Reaganomics“ mit sich brachten, steht die ganze na­ tionalökonomische Zunft im Hemd da - angefangen bei den Ideolo­ gen des „freien Marktes“ à la Mil­ ton Friedman e tutti quanti über den Keynesianismus und NachKeynesianismus bis auch zum So­ zialismus; meine Rede seit zehn Jahren! Jetzt ist für jedermann klar ersichtlich, daß Nationalökonomie nichts anderes ist als verschleierte Politik! Ihr elementarster Irrtum besteht darin, daß sie sich nur mit monetarisierten Transaktionen befaßt (gleichgültig, ob es sich nun um Dollar, Yen, Franc, Zloty oder Ru­ bel handelt). So ist auf der Land­ karte der Ökonomen nur das halbe Territorium erfaßt, eine blasse Ab­ straktion der soziotechnischen Produktion und der Systeme der Ressourcenallokation, die sie „die Wirtschaft“ nennen. Dann nehmen diese einäugigen Ökonomen diese kleine, abstrakte Landkarte und versuchen, mit ihr Sozialpolitik zu machen. Das ist der Fehler der Makroökonomik. Danach poten­ ziert die Nationalökonomie diesen Irrtum noch durch heroische Kraft­ akte der Datenaggregation, indem sie den „nationalen Durchschnitt“ für so aberwitzige Abstraktionen berechnet wie „Arbeitslosigkeit“, „Inflation“, „Produktivität“, „An­ gebot“ und „Nachfrage“, während

Washington (oder Brüssel oder Moskau oder London) diese stati­ stischen Illusionen, denen kein einziger Fall in der ganzen realen Welt entspricht, noch fleißig mani­ puliert! Analog dazu ebnet eine Kosten/Nutzen-Analyse die Kosten und Nutzen, die sie erfaßt, mit Durchschnittsberechnungen ein, so daß sie verschleiert, wer die Gewinner und wer die Verlierer sind: wer die Kosten zu tragen ha­ ben wird und wer die Gewinne/ Profite und den Nutzen davon­ trägt. Ich habe oft darüber nachge­ dacht, ob es überhaupt so etwas wie „Gewinne“ gibt, denen nicht ein gleich großer und nicht ver­ buchter Soll-Eintrag in irgendei­ nem sozialen oder ökologischen Hauptbuch oder in der Zukunft entsprechen muß. Ich rätsele noch immer daran herum. Vielleicht kann man von „Gewinn“ reden, wenn zwei Menschen gehaltvolle Informationen und tief empfunde­ ne Einsichten oder gar Weisheit austauschen. Vielleicht kann man von Gewinn sprechen, wenn wir wirklich lernen, wie man mehr mit weniger tut, und unsere Bedürfnis­ se unter minimaler Ausnutzung von Ressourcen und minimaler Störung anderer Menschen und des Ökosystems, dessen Teil wir sind, befriedigen. Vielleicht kann man von Gewinn sprechen, wenn zwei Arten von Lebewesen lernen, symbiotisch zu leben und sich fort­ zuentwickeln und die Entropie des anderen ebenso zu schätzen wie seine „Produktion“. Denn Produk­ tion und Entropie sind zwei Seiten derselben Münze. Übriggebliebe­ nes und Verfallendes ist ebenso­ viel Potential wie zeitweilig struk­ turierte Formen. Ordnung und Un­ ordnung liegen im Auge des Be­ trachters. Wann lernen wir end­ lich, daß es so etwas wie „Abfall“ nicht gibt - nur unverwertete Res­ sourcen? Das Huhn ist die Weise des Eies, ein neues Ei zu erschaf­ fen. In gleicherweise haben Pflan­ zen und Bäume die Menschen und Tiere als „Mülldeponien“ für über­ schüssigen Sauerstoff sowie als ihre Lieferanten von C02 und 189

Nährstoffen erfunden. Aber das ist die Ökonomie des Kosmos, die Ökonomie der Natur. Die Men­ schen täten gut daran, sie sich bald anzueignen, und die wichtig­ ste Lektion ist die, daß wir nicht Vormund und Verwalter der Natur sind, sondern ihre Diener und Nutznießer. Drittens: Erfreulich ist an den Reaganomics ferner, daß sie dazu beitragen werden, den schwammi­ gen Begriff „Dezentralismus“ zu klären, der nicht besser ist als all die anderen Schlagworte, mit de­ nen man uns dumm macht: „Frei­ heit“ (meine Freiheit ist vielleicht deine Hörigkeit), „Effizienz“ (für wen?), „Angebot“ (mein Angebot ist vielleicht deine Ausbeutung), „Nachfrage“ (die Bedürfnisse, Wünsche, Schnapsideen und Süchte von jemandem, der Geld hat), „Innovation“ (rauschgifthalti­ ge Nahrungsmittel, neue Zigaret­ tenmarken, proteinhaltiges Hun­ deshampoon, Mikroprozessoren, Genmanipulation, Neutronen­ bomben, chemische Kriegsfüh­ rung), „Produktivität“ (wovon? Ar­ beitskraft, Kapital, Management, Bioproduktivität? und über wel­ chen Zeitraum?). Wenn ich also gefragt werde, ob ich den Neuen Föderalismus gut finde, weil er doch „den Staat dezentralisiert", dann muß ich antworten: „Das kommt ganz darauf an, was dezen­ tralisiert wird und an welche Machtblöcke und politischen Kräf­ te in den einzelnen Staaten. Be­ stimmte Funktionen müssen zen­ tral und national bleiben: Siche­ rung der Menschenrechte, glei­ ches Recht nach gleichem Gesetz, Mindeststandards der Wohlfahrt, der medizinischen Versorgung und der Leistungen bestimmter Berufe sowie einheitliche Umwelt­ schutzvorschriften in bezug auf to­ xische Substanzen. Wie dann die­ se auf nationaler Ebene vereinbar­ ten Standards und Grundprinzi­ pien in die Tat umgesetzt werden, kann von Staat zu Staat enorm verschieden sein. Wenn die politi­ schen Prozesse in einem Staat von ein oder zwei Großindustrien oder Sonderinteressen beherrscht wer­ 190

den (man denke an einen Kohle­ staat wie Kentucky), dann wird uns der Neue Förderalismus mehr Grubenunfälle und Staublungen be­ scheren. Politische Macht geht Hand in Hand mit wirtschaftlicher Macht, und arme Staaten werden schließ­ lich noch ärmer und umweltge­ schädigter und ausgepowerter sein, während die reichen Staaten eher noch reicher werden. Groß­ zügige Staaten werden einen grö­ ßeren Zuzug von Arbeitslosen und Wohlfahrtsempfängern verzeich­ nen, weniger großzügige Staaten werden diesen Leuten die Fahrkar­ te dorthin schenken! Das sind doch die Dinge derentwegen wir den New Deal gehabt haben! Wenn ein Staat demokratisch von zahlreichen Graswurzelinteressen und Koalitionen von Bürgern mit geringeren angestammten wirt­ schaftlichen Interessen kontrol­ liert wird, hat er zuletzt vielleicht ein überlegenes Bildungs- und Ge­ sundheitswesen, eine sauberere Umwelt, aber vielleicht auch schon die Ansätze eines postindu­ striellen Produktionssystems und einer öffentlichen Infrastruktur, in der erneuerbare Ressourcen ver­ wendet werden, in der die Unter­ nehmen sich mit Sonnen- und Windenergie, Recycling, Kommu­ nikation, Software, Grundlagen­ forschung befassen und in der es eine andere, ökologisch orientier­ te Architektur, einen kooperativen Lebensstil und Gemeinschaftsun­ ternehmungen gibt. Der Neue Fö­ deralismus ist bestrebt, einige der Spielregeln zu verändern. Es wird neue Gewinner und neue Verlierer geben - aber wir dürfen nicht vergessen, daß es im Augenblick noch für die Reichen und Mächtigen leichter ist, die Spielregeln zu ändern, als für die Schwachen - und zwar auf allen politischen Ebenen! Und deshalb haben auch viele Menschen er­ kannt, wie dringend wir auch eine Veränderung unserer Werte brau­ chen, ein allgemeineres Öffnen der Augen und ein planetarisches Bewußtsein, das uns sagt, daß in Wirklichkeit alle unsere einzelnen

Selbstinteressen miteinander Zu­ sammenhängen und daß in der Welt von heute Nullsummenspiele nicht mehr funktionieren können. Nur Spiele, bei denen alle gewin­ nen, können funktionieren, und da wir endlich der planetarischen In­ terdependenz innegeworden sind, begreifen wir, daß Moral etwas Wissenschaftliches und Pragmati­ sches ist.“ Viertens: Letzter Punkt: nicht alle Haushaltskürzungen auf Bun­ desebene sind schlecht, und we­ nigstens hat Mr. Reagan die Ange­ legenheit an die Spitze der Tages­ ordnung gesetzt. So wie man Kür­ zungen bei der militärischen Ver­ schwendung und der Subventio­ nierung von Kernkraft, Solarsatel­ liten und anderem gefährlichen Unsinn vornehmen kann, ließen sich auch Milliarden Dollar an überflüssigen Wasserprojekten sparen oder in die Erhaltung des Wassers und das Recycling stekken. Wir könnten die Gelder statt in den Fernstraßenbau in das öffentliche Verkehrswesen stekken19a, die Subventionierung von Grundstücks- und Bauspekulan­ ten abschaffen und die Unterstüt­ zung des Tabak- und Zuckerprei­ ses aufgeben, um diese enormen Ersparnisse dann für die Gesund­ heitsvorsorge und die Bekämp­ fung von Krankheit und Leid auf­ zuwenden20. Wir könnten die Zu­ kunft schaffen und mit Kapital ver­ sorgen und langfristig ein Produk­ tionssystem auf der Grundlage von erneuerbaren Ressourcen aufbauen. Wir könnten in unseren größten Aktivposten investieren: die Menschen, und ihnen helfen, sich voll zu entfalten, während wir gleichzeitig die Gesundheit unse­ rer natürlichen Umwelt wiederher­ stellen und erhalten würden. Darum wollen wir die alte öko­ nomische Formel zur letzten Ruhe betten, die fälschlicherweise die Produktions-Inputs als Boden, Ar­ beitskraft und Kapital angab. Die künftige Formel heißt: die Gesell­ schaft mit Mindest-Entropie, de­ ren Inputs Kapital, Ressourcen und Wissen und deren Outputs ge­ sunde Menschen, gesunde Bio-

Regionen auf einem friedlichen, gesunden, gerechten, ökologisch lebensfähigen Planeten sind! Dies alles bedarf keiner größeren An­ strengung als unsere gegenwärti­ ge Anstrengung zur Selbstver­ nichtung. Wahrscheinlich wird es sogar leichter und entspannter sein: ja es muß sogar leichter sein, weil wir viele unserer Ängste wer­ den abschütteln müssen, die alle jene konterproduktiven Tenden­ zen erzeugen, auf denen alle Indu­ striegesellschaften aufbauen und die heute zu deren gegenseitigem Patt geführt haben. Teile der neuen planetarischen Tagesordnung werden schon überall auf der Erde sichtbar. War­ um sollten wir uns darüber wun­ dern, oder über die Tatsache, daß diese Elemente dabei sind, zu ei­ ner neuen, gesunden „kritischen Masse“ sich zusammenzuschlie­ ßen? Der Planet Gaia und das Uni­ versum haben die Belehrung des Menschen selbst in die Hand ge­ Hazel Henderson nommen - sie bugsieren uns sanft in die Richtung, in der wir uns und unbekannten Bereich" betre­ verändern müssen, und bringen ten habe. Deshalb habe ich mei­ uns wieder in Kontakt mit der ele­ nem Buch Creating Alternative Fu­ mentarsten Lebenskraft: der tures den Untertitel gegeben „The Sehnsucht, das zu werden, was wir End of Economics“. Reduktionisti­ werden können, uns zu entfalten sche Wissenschaft ist zum Dogma und darüber zu freuen! Dieses und zur Religion geworden. Wir „Optimalprogramm“ ist als Code haben sowohl den Kreationismus in den Proteinen unserer DNA ent­ (den biblischen Schöpfungsglau­ halten. Wir wissen, wie man ge­ ben) hinter uns gelassen als auch sund sein kann, wie man koope­ die Darwinsche Evolution.21 riert und konkurriert. Diese Pro­ Unterdessen ist der überquel­ gramme sind älter und tiefer in uns lende Reichtum unserer ganzen, verwurzelt als unsere kulturelle köstlichen Biosphäre unser bestes Programmierung. Wir lernen heu­ Lehrbuch geworden, nicht anders te wieder, uns in sie einzustimmen als die unausgeloteten Tiefen un­ und der Natur zu vertrauen - unse­ serer selbst. Neue wissenschaftli­ rer zuverlässigsten Lehrmeisterin. che Forschungen und Theorien Noch wissen wir nicht genug (viele von ihnen hat Marilyn Fergu­ über unseren herrlichen, geheim­ son in Brain-MindBulletin und The nisvollen größeren Körper - den Aquarian Conspiracy22 liebevoll Planeten Gaia-, um pessimistisch zusammengetragen und vor uns zu sein. Daher ist es unrealistisch, ausgebreitet) geben uns eine neue kein Vertrauen in die Zukunft zu Grundlage für das Verständnis un­ haben. Heutzutage sind die Ideali­ serer eigenen Kraft und gemeinsa­ sten und Visionäre die wahren men Verantwortung. Vor allem gilt Pragmatiker. Die „Realität“ der das für die jüngst veröffentlichten „Realisten“ ist zu einer Legende Theorien des Biologen Rupert geworden! Heute geben sogar Sheldrak. Sheldrak beschreibt die Wirtschaftswissenschaftler zu, Möglichkeit sogenannter „mordaß die Wirtschaft „einen neuen phogenetischer Felder“ sowie

Forschungsergebnisse, die den Schluß zu erlauben scheinen, daß Arten als ganze aus der isolierten Neuerung irgendeiner kleinen Gruppe lernen können.23 Man ma­ lesich aus, welche neuen Möglich­ keiten es gibt, falls Lernen sich als ansteckend heraussteilen sollte! Das würde uns eine neue wissen­ schaftliche Grundlage für den Glauben an uns selbst und an die Möglichkeit geben, daß wir mit vereinten Kräften von der Schwel­ le zum Abgrund wegkommen; daß wir einen ganz neuen Kurs unter neuer Führung einschlagen kön­ nen, die auf der „Herrschaft der Weisheit“24 gründet, wo immer sie begegnet, mit geteilter Macht und gemeinsamer Information in Netz­ werken autonomer Menschen und Gemeinschaften, die eine gemein­ same Vision der Menschenfamilie auf unserem kostbaren kleinen Planeten haben. Ähnlich schwindelerregende Perspektiven eröffnen die mit dem Nobelpreis ausgezeichneten che­ mischen Forschungen llya Prigogines, der 1977 zeigte, wie lebende Systeme, die in einem Ungleichge­ 191

wichtszustand arbeiten, eine ge­ ordnetere Strukturierung durch Fluktuationen erzeugen können. Zwar behauptet Prigogine nicht wie manche Leute glauben -, daß er den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik aufgehoben und die Entropie überwunden habe25, aber er hat gezeigt, daß lebende Systeme auch als eine komple­ mentär ordnende, evolutionäre Kraft in der Natur wirken. Wir brau­ chen unsere Phantasie nicht län­ ger von der düsteren, deterministi­ schen Aussicht in Fesseln schla­ gen zu lassen, daß das Universum abläuft wie ein geschlossenes Sy­ stem. Seit Prigogine wissen wir, daß das Universum voller Über­ raschungen, Innovationen und evolutionärer Möglichkeiten steckt. Die Suche der cartesianischen Wissenschaft nach Gewiß­ heit, Gleichgewicht, Prognostizierbarkeit und Kontrolle ist denn auch eine gute Definition - des Todes. Wir sollten uns freudig der neuen Auffassung öffnen, daß al­ les sich im Handumdrehen verän­ dern kann - zum Besseren! Wäh­ rend wir zur nach-cartesianischen Wissenschaft übergehen, können wir die frühere Periode der wissen­ schaftlichen Aufklärung durch Descartes und Newton, Leibniz und Galilei mit ihrer instrumentellen Rationalität und Manipulation der Natur würdigen, die zu jenem reißenden Strom von technologi­ scher Hardware und Virtuosität der Naturbeherrschung geführt hat, den wir Industrielle Revolu­ tion nennen. Heute kommt das reiche, neue Ferment von kulturellen, spirituel­ len und Handlungs-Alternativen von „Amateur"-Wissenschaftlern, die sich von ihren zünftigen Kolle­ gen nicht die Schneid abkaufen lassen, und gerade von jenen Gruppen, die während der indu­ striellen Ära und deren immer stär­ ker werdendem Konformitäts­ druck unterdrückt oder zurückge­ setzt wurden. Jede Kultur ist ein System der Ex-pression und der Re-pression des vollen Spektrums menschlicher Seins- und Verhal­ tensmöglichkeiten. Heute beob­ 192

achten wir das Hervortreten dieser Alternativen bei ethnischen Grup­ pen und Eingeborenenvölkern, bei Alternativkulturen, im Schatz der überlieferten Weisheit; aber auch bei den Frauen der Welt und beim neuen Geschlecht von „gentlemen“ {sanften Männern), die das weibliche Prinzip und die aus ihm fließenden nährenden Energien in sich reifen lassen. Sie alle werfen die Fesseln des industriellen „macho“ ab: den Zwang, miteinander zu konkurrieren, und den schreck­ lichen Zwang, nicht nur einander, sondern auch Frauen, Kinder, Tie­ re, Pflanzen und die ganze Mutter Natur zu kontrollieren, zu beherr­ schen und zu „besitzen“. Psycho­ logen wissen, daß diese ungesun­ den Tendenzen in der Todesfurcht wurzeln, im Gefühl der Entfrem­ dung von der natürlichen Welt, die aus dem Zusammenbruch des Zweikammer-Hirns26 entstand und von der dualistischen Kultur des Abendlandes noch verstärkt wur­ de. Wie Ken Wilber in Up From Eden (1981) bemerkt: „Immer, wenn es ein Anderes gibt, entsteht Angst.“ Jedes isolierte, egoisti­ sche Bewußtsein wird, insoweit es sich von jedem Leben isoliert fühlt, seinen individuellen Tod als abso­ lute Vernichtung, als totalen SinnVerlust fürchten, der zu existen­ zieller Angst führen muß. Diese Furcht liegt Jahrtausenden des Dualismus in der menschlichen Kultur zugrunde. Sie hat die abendländische Kunst, Literatur und Wissenschaft seit Aristoteles und seinem logischen EntwederOder geprägt, seinem Satz vom ausgeschlossenen Dritten (wenn A, dann nicht zugleich auch NichtA). Dieselbe Angst vor Tod und Sinnverlust führte zu der neuroti­ schen Vorstellung einer wissen­ schaftlichen Objektivität, die schließlich durch die Physik Wer­ ner Heisenbergs und sein Unge­ wißheitsprinzip zum alten Eisen geworfen, wenn auch nicht aus dem Verkehr gezogen wurde. Wir sehen diese Angst auch in der lan­ gen Reihe patriarchalischer Lite­ ratur: angefangen bei den griechi­ schen Heldensagen mit der Fahrt

des Helden hinaus in Angst und Entfremdung von der Natur, über Hegel, Marx und die Frankfurter Schule bis zu Hermann Hesse, den Existentialisten, zu Sigmund Freud und seinen Nachfolgern. Nach meiner Überzeugung mündet diese Art des Denkens und der Welterfahrung sowie die re­ duktionistische cartesianische Wissenschaft heute in eine neue Sackgasse: intellektuelle Spiele des unendlichen Regresses, die in einem logischen double-bind en­ den. Dies ist vielleicht ein Aspekt des Dilemmas des Patriarchats. Denn diese Angst vor der „Ent­ fremdung“ ist, wie ich zu behaup­ ten wage, eine eher männliche Er­ Die Engländerin Hazel Henderson wurde 1933 in London gebo­ ren und lebt seit Mitte der 50er Jahre in den USA. Sie hat nie eine Universität besucht, aber sie hat Kinder großgezogen und eine Fa­ milie versorgt (was den Men­ schen der Wirklichkeit unseres Lebens oft näherbringt als ein akademisches Studium). Sie war in den 60er Jahren eine der er­ sten, die gegen Smog in ihrer Wahlheimat New York kämpfte. Zusammen mit Ralph Nader hat sie eine jahrelange Auseinander­ setzung mit dem damals größten Konzern der Vereinigten Staaten, General Motors, geführt, über die Haftung bei Produktionsmän­ geln. Hazel Henderson, wirt­ schaftswissenschaftlicher Auto­ didakt, ist Autor der vielleicht an­ gesehensten Wirtschaftszeit­ schrift der Welt, des Harvard Bu­ siness Review. Sie hat das Office of Technology Assessment, eine der wenigen funktionierenden Behörden des amerikanischen Kongresses, jahrelang geleitet und ist heute unter anderem Mit­ glied der „Economic Task Force“.

fahrung. Biologisch gesehen, kommen die Menschen ja in der Tat in zwei asymmetrischen kör­ perlichen Formen zur Welt, und es macht offenkundig einen Unter­ schied aus, ob man das Leben in einem männlichen oder einem weiblichen Körper erfährt. Biolo­ gisch erleben die meisten Frauen

der Erde noch immer sehr lebhaft ihr Eingebettetsein in die Natur und können sich bezüglich ihrer Freiheit oder Losgelöstheit von den Zyklen von Geburt und Tod kaum Illusionen hingeben. Die Er­ fahrung des Mannes mag ihm das Gefühl einer etwas größeren Frei­ heit, eines größeren Individualis­ mus geben, und die vergangenen 6000 Jahre haben dieses Gefühl, und die mit ihm verbundene Ent­ fremdung, intensiviert. Jede pa­ triarchalische Kultur, Wissen­ schaft und Geschichte hat die männliche Erfahrung reflektiert und intensiviert und dann so ver­ allgemeinert, als wäre sie die ge­ samtmenschliche Erfahrung. Das ist sie natürlich nicht. Aber die Frauen haben sich bis in die jüng­ ste Zeit hinein über ihre eigene Erfahrung mehr oder weniger aus­ geschwiegen; Subjekt der Ge­ schichte war man, nicht frau. Die Geschichte der Frau ist jedoch, wie wir aus feministischer Litera­ tur und Kunst wissen, eine radikal andere. Auf eben diesem Gebiet feiert die weibliche Spiritualität das Eingebettetsein des Men­ schen in die Natur und bestätigtes durch die Erforschung der frühen matrifokalen Kulturen und der er­ sten großen Weltreligion der Menschheit: des Kultes der Gro­ ßen Mutter-Göttin.27 Heute ist der Öko-Feminismus dabei, diese frühere Vorgeschich­ te mit ihrer Kunst und ihren Ritua­ len neu zu beleben, die die Natur als eine Ordnung feiern, die prinzi­ piell nicht völlig erkennbar ist, weil Menschen ein Bestandteil dieser Ordnung sind. Öko-Feminismus bedeutet Re-Sakralisierung der Natur. Er begreift den heuristi­ schen Wert der Ungewißheit, wel­ che es jeder Generation aufs neue erlaubt, ihre Erfahrung, ihre Denk­ prozesse, Erkenntnistheorie und Wertsysteme im Lichte neuer Ge­ gebenheiten umzuformulieren. Ungewißheit ist wertvoll, weil sie uns wach und alert erhält, wohin­ gegen Gewißheit und Genauigkeit es uns erlauben, unsere Reaktio­ nen auf die Umwelt fest „vorzupro­ grammieren“, innerlich zu erstar­

ren oder in einen geistigen „Win­ terschlaf“ zu verfallen. Der ÖköFeminismus sieht auch in der Mut­ terschaft und der Aufzucht von Kindern sowie in der Erhaltung be­ wohnbarer Umwelten und leben­ dig zusammenhaltender Gemein­ schaften die produktivste Arbeit der Gesellschaft - und nicht die wert-loseste, wie nach der patriar­ chalischen Wertskala und Wirt­ schaftsordnung, in der diese Auf­ gaben ignoriert werden und unbe­ zahlt bleiben. Die patriarchalische Wissen­ schaft ist heute dabei, von sich aus - zum Teil erfahrungs/erlebnismä­ ßig - auf viele dieser subtileren Aspekte der Gesellschaft aufmerk­ sam zu werden, nachdem viele der auf Frauenarbeit ruhenden Stüt­ zungssysteme der Gesellschaft zu­ sammenbrechen. Auch in der tra­ ditionellen Wissenschaft kommt man heute zu der Erkenntnis, daß Entfremdung und die ich-individualistische, dualistische Weitsicht möglicherweise nur ein Streich sind, den uns das Gehirn gespielt hat. Frappierenderweise gelangt man heute zu diesen neuen Ein­ sichten des Holismus auf dem We­ ge über die Anomalien und Para­ digmenwechsel in der Wissen­ schaft selbst. Die neue, offene Per­ spektive auf ein voller Überra­ schungen steckendes, lebendes, autopoietisches, sich entfaltendes Universum kommt zum Ausdruck in den Werken von Sheldrake und Prigogine, von David Bohm, Karl Pribram, Gregory Bateson, Erich Jantsch, E. F. Schumacher, Fritjof Capra, Humberto Maturana, Fran­ cisco Varela, Heinz von Foerster, James Lovelock, Ludwig von Bertalanffy, Ken Wilber, Rene Thom, Manfred Eigen, C. H. Waddington, Kenneth Boulding und anderen. Dieser neue Strom der Erkennt­ nisse sowie die außerordentlich reiche Summe des Wissens, das sich auf die Ökologie gründet, kann zusammenfassend als ÖkoPhilosophie bezeichnet werden; sie bedeutet die Vollendung, Ver­ dichtung und Überschreitung cartesianischer Darstellungsund Diskursweisen. Der eigenständi­

ge, aber parallele Strom der Er­ kenntnisse, den der Öko-Feminis­ mus darstellt, dokumentiert haar­ genau dieselben Einsichten, doch ist der Öko-Feminismus erlebnis­ mäßig zu ihnen gelangt - ver­ gleichbar gewissen östlichen Er­ kenntnis- und Darstellungswei­ sen. So hat es bisher so gut wie keine Kommunikation zwischen Öko-Philosophie und Öko-Femi­ nismus gegeben, weil beide sich denselben Phänomenen genähert haben, aber aus verschiedenen Richtungen. Der Öko-Feminismus hat die funkelnden Dome, welche ein heroischer geistiger Kraftakt zur abstrakt-mathematisch-rational-patriarchalischen Verherrli­ chung dieser menschlichen AllEinheit aufgeführt hat, für banal, um nicht zu sagen trivial angese­ hen. („Wozu das ganze Getue und Gerede? Weiß/fühlt das denn nicht jeder im kleinen Finger?“) Die Öko-Philosophie hinwiederum spürt dieses Desinteresse und geht davon aus, daß Frauen eben keinen Sinn für solche heroischen wissenschaftlichen Bemühungen haben. (Schließlich ist die Fahrt des Helden hinaus zur „Selbstfin­ dung“ ja wirklich ein echt männli­ cher trip!) Außerdem sind diese feministischen Bücher alle so „schwammig“ und unlesbar ganz zu schweigen davon, daß sie bedrohlich sind, mit ihrer Verherr­ lichung von Göttinnen, Bäumen, Orgien, magischen Kreisen, Vibra­ tionen, Tänzen, Sexualität, Analo­ gie, Liedern, Hexen, Geistern, Fruchtbarkeit, Baal, deva, Myste­ rium, Hedonismus und Zulassen, mit ihrer Hinnahme unserer Kör­ per, der Schmerzen, des Verfalls, der Entropie und der endlosen Zyklen von Geburt und Tod. Ich glaube, daß diese beiden ge­ trennten Ströme der Erkenntnisse und Weltsichten heute ineinander­ zufließen beginnen, um eine neue kulturelle Synthese sowie ein mehr androgynisiertes Bewußt­ sein in Männern und Frauen zu schaffen. Die Kommunikation ist vorläufig noch stockend und mit alten Ängsten, Ressentiments und Unsicherheiten belastet. Aber 193

wenn wir für die heute fast tödliche Krankheit menschlicher Gesell­ schaften ein Rezept finden sollen, müssen wir für unsere Diagnosen in der Tiefe schürfen. Wir können uns nicht länger damit begnügen, Oberflächensymptome zu konsta­ tieren, wie sie die Nationalökono­ men uns anbieten: „Arbeitslosig­ keit“; „Inflation“; „Produktivitäts­ rückgang“; „das Gebot der natio­ nalen Sicherheit“; „Bekämpfung des Kommunismus“; „Wiederher­ stellung des freien Marktes“; „mehr Innovation“ und „Ange­ bot“, um die „Nachfrage“ zu be­ friedigen, und wie es in der psy­ chotischen Sprache der Entfrem­ dung, Angst und Unsicherheit sonst noch heißen mag. Die nachhaltigsten Spannungen in der menschlichen Seele haben sich um diese Entfremdung und Todesfurcht des Ich gedreht, um den Konflikt zwischen dem wahr­ genommenen Willen des einzel­ nen und den Erfordernissen der Gruppe oder Gesellschaft, den diese Gefühle hervorriefen. Diese Ängste haben nicht nur zu dem von mir so genannten „Kilroy-washere“-Syndrom geführt, bei dem man nach Unsterblichkeittrachtet, indem man in der Umwelt seine „Duftmarke“ hinterläßt - sei es in Form eines Monuments oder eines abgeholzten Urwalds. Sie haben auch zu dem erwähnten funda­ mentalen Konflikt zwischen den Interessen des einzelnen und de­ nen der Gruppe oder Gesellschaft geführt, der die ganze politische Wissenschaft, die Theorien sozia­ ler Kontrolle und die Kunst des Regierens, aber auch die Auf­ fassungen vom „Wesen des Men­ schen“, sein Gut oder Böse und endlich die wünschenswerte Mi­ schung aus Anarchie und Autoritarismus beherrscht. Ich glaube, es gibt eine tiefere Schicht unter diesem alten Dilem­ ma - Individuum kontra Staat -, von der neues Licht auf die Frage fallen kann, warum matrifokale Kulturen und Religionen beseitigt wurden und dem Aufstieg der (mittlerweile ihrerseits zusammen­ brechenden) patriarchalischen 194

Kultur weichen mußten. Der tiefere und biologisch unversöhnliche Konflikt ist vielleicht der zwischen dem individuell-menschlichen Phänotyp und dem Genotyp der menschlichen Art. Bei anderen Arten als dem Men­ schen mag dieses schmähliche Schicksal keinen besonderen psy­ chologischen Konflikt im Phäno­ typ hervorrufen. Jedenfalls haben wir noch nicht hinreichend ge­ lernt, mit anderen Lebensformen (Walen, Delphinen, Schimpansen usw.) zu kommunizieren, um hier­ über etwas Positives oder Negati­ ves zu wissen. Was wir hingegen wissen, ist, daß menschliche Lebe­ wesen dieses destabilisierte Zwei­ kammerhirn besitzen, das sich be­ wußt ist, sich seiner selbst bewußt zu sein. Wir leben als Phänotypen mit Willen und Zwecken, die über diejenigen unseres Art-Genotyps hinausgehen, und bewegen uns jenseits des prähumanen einge­ betteten Bewußtseins unserer on­ tologischen Erfahrung, aber auch jenseits der phylogenetischen Säuglingserfahrung des Einsseins mit der Mutter und der Welt. Ich glaube, daß im Zentrum der matrifokalen Ära der Menschheits­ entwicklung ein Wertesystem ge­ standen haben mag, das dem Ge­ notyp zuneigte, indem es die Le­ bens-Prozesse verherrlichte, die Zyklen des Wandels, Jahreszeiten, subtile Kräfte, aber auch den posi­ tiven Wert von Verfall, Entropie und Tod, was erst die Entfaltung des großartigen Experiments der Evolution erlaubt. Phänotypen müssen sterben, wenn jede neue Generation, d. h. unsere Kinder, ei­ ne Chance haben sollen. Aber das Absterben des Leibes auf der ma­ teriellen Ebene der Existenz ist nur ein weiterer Übergang - wenn wir uns als integralen Bestandteil der Schöpfung verstehen, der sich vorübergehend als sinnesbegabte Zelle am Leib der Gaia verkörperte - und wenn wir auch die transzen­ dente Dimension nicht vergessen, die in allen unseren spirituellen Traditionen beschrieben wird. Ich glaube, daß die frühe patriarchali­ sche Revolte gegen die Gesell­

schaften der Mutterreligion zum Teil der gequälte Aufschrei des neu individuierten Ich-Bewußtseins des Phänotyps war, der ge­ gen die große, unerbittliche Göt­ tin/Mutter/Erde aufbegehrte: ge­ gen die Metapher des Genotyps, der über den Phänotyp das Todes­ urteil sprach und ihn opferte. Falls an dieser Hypothese etwas Richti­ ges ist, könnte sie die sehr tief sitzende Furcht vor der Frau, der Mutter und der Erde und ihrem mythischen Zusammenhang mit Verfall, Entropie und Tod erklären, die sich als roter Faden durch alle Mythologie zieht und neuerdings in der Psychologie des Mannes untersucht worden ist.28 Wir sind heute vielleicht dabei, aus diesem Zeitalter der Revolte des individuierten Ich-Bewußtseins herauszutreten, das sich in der patriarchalischen Epoche zu unhaltbaren Formen des Dualis­ mus intensiviert hatte. Diese pa­ triarchalische Epoche zeigte eine glänzende Kreativität in der Mani­ pulation der Natur, der menschli­ chen Kultur und Biologie, die ihren Höhepunkt in der Explosion cartesianischer Wissenschaft und Technik, der expliziten Führung von Institutionen und Regierun­ gen und der globalen Verbreitung des Industrialismus fand. Die menschliche Art hat in dieser au­ ßerordentliche Epoche viel gelernt - fast zu viel des Guten in dieser „Kunst“ des Hirnlich-Manipulativen, die uns heute vorder Möglich­ keit stehen läßt, daß wir uns aus Versehen selbst auslöschen. Die heraufziehende Kultur sucht also ein neues Gleichgewicht, in­ dem sie unterdrückte Seinsweisen in sich aufnimmt, die auf dem Her­ zen und der Seele und nicht allein auf dem Hirn basieren: Gefühl, In­ tuition, Hinnahme der Ungewiß­ heit, Verfall neben Wachstum, Überschreitung der Ich-Todesfurcht, Verzicht auf das Bedürfnis, einander und die uns umgebende Welt zu beherrschen und zu „be­ sitzen". Diese heraufziehende Kul­ tur scheint auch ein neues Gleich­ gewicht im Sinne des Genotyps und der Evolution zu suchen, etwa

in der Sorge über nukleare Strah­ lung, mutagene Chemikalien und andere generationsübergreifende Risiko-Transfers, über die die Öko­ nomie und die politische Wissen­ schaft wenig sagen kann. Deshalb gibt es wohl auch keine Rückkehr mehr zu einem hemdsärmeligen Denzentralismus oder dem „autar­ ken“ Wildwest-Lebensstil jener, die vom „Abenteuer Überleben“ träumen, komplett mit Schutzhüt­ te, getrockneten Lebensmitteln, Geigerzähler und Flinte. Ebenso wenig können wir zu der individu­ alistischen, auf dem Privateigen­ tum basierenden Sicherheit zu­ rückkehren, die uns die Liberalen verheißen. Indessen sind viele liberale Vor­ schläge zur Abschaffung unter­ drückender, bürokratischer Be­ schränkungen und Gesetze, die das persönliche Verhalten von und zwischen willigen Erwachsenen betreffen, durchaus nützlich, ob es um die Abwehr des Versuchs der Moral Majoritygeht, unser privates 1 z. B. Global 2000 Report (1980) und Global Future: Time to Act, Gus Speth. Chm. President’s Council on Environmental Quality, Jan. 1981. 2 New York Times. 1. Mai 1981. „Reaganvironmentalism“. John B. Oakes. 3. Solar Age. Juni 1981. „Reaganomics: The Future Through a Rearview Mirror.“ Hazel Henderson. 4. Christian Science Monitor. 18. Febr. 1982. „Deregulation: Some Corporate Leaders Cheer, Others Urge Caution“. 5. ibid. 6. ibid. 7. Business Week. 8. Juni 1981. „No Bonanza in Offshore Oil“. 8. ibid. 9. Christian Science Monitor. 17. Febr. 1982. „Businessmen See New Moderation in National Debate on Environment“. 10. Christian Science Monitor. 11. Dez. 1981. „Despite Reagan Revo­ lution, Public Looks To Wa­ shington“. 11. Milwaukee Journal. 15. Okt. 1981. „Pollution Standards Supported by Public“.

Sexualleben und den von uns be­ vorzugten Lebensstil zu kontrollie­ ren, oder um die Anti-AbtreibungsKampagne der katholischen Kir­ che mit ihrer überzogenen Defini­ tion des Beginns menschlichen Lebens, die. falls sie Gesetz würde, für Millionen von Amerikanerin­ nen die Aussicht auf schwedische Gardinen bedeuten würde. Trotz­ dem schmeckt all das nach densel­ ben Ängsten der alten Patriarchen, die noch immer an der Spitze der meisten Nationen, Unternehmen, Kirchen, Gewerkschaften und son­ stigen zivilen und militärischen Einrichtungen stehen. Noch im­ mer schicken sie ihre Söhne aus, damit sie für sie kämpfen und ster­ ben, und noch immer trachten sie danach, ihre Frauen und Kinder in einer männlich-autoritären Fami­ lie zu „besitzen“ (einer Familie, von der sich heute herausstellt, daß sie erfüllt ist von Gewalttätig­ keit, Repression, Mißhandlung der Frau, Inzest und Mißbrauch von Kindern).

Literatur 12. H. Henderson. The Politics of the Solar Age. Kap.10. „Dissecting The Declining Productivity Flap“ S. 283. 13 ibid., S. 133. 14 Charles Komanoff. Power Plant Cost Escalation (1981). Komanoff Energy Associate, 333 West End Ave, New York, N. Y. 10023. 15. Christian Science Monitor. 15. Sept. 1981. „Financial Doubts Loom over Nuclear Industry". 16. Christian Science Monitor. 18. Jan. 1982. Contact: Californians for the Nuclear Freeze, 7250 Franklin Ave # 103, Los Angeles, CA. 90046. 17. H. Henderson. Creating Alternative Futures. G. P. Putnams (1978). Ch. „Autopsying the Golden Goose“. 18. Business Week. Special Report: „State and Local Government in Trouble“ 24. Okt. 1981 S. 135. 19. Christian Science Monitor. 9. Nov. 1981. „Cry from West“. 19a Z. B. Alternative Budget Proposals for the Environment, Fiscai 1983, Conservation Organization, Was­ hington DC, 19. Mai. 20. H. Henderson. The Politics of the Solar Age. Kap 6 „The Transition to

Angst liegt der „Politik des letz­ ten Hurra“ zugrunde, den Reaganomics, der ausbeuterischen Po­ litik von Umweltminister James Watt, der miesen, sexistischen Ökonomie in George Gilders Buch Wealth and Poverty (1980), das der Präsident so bewundert, und den Nachhutgefechten der Moral Majority, die versucht, die emanzi­ pierten Frauen wieder in die Küche zu stecken, die Schwulen wieder in die Klos zu verbannen und die Schwarzen und Hispanier wieder ans Ende der Schlange zu stellen. Aber der Geist wird nicht mehr in die Flasche zurückkehren - die kulturelle Revolution ist bereits im Gange! Die Politik vermag einen sozialen Wandel erst mit einer Ver­ spätung von mindestens zehn Jah­ ren zu ratifizieren. Noch er­ schreckender für die alten Patriar­ chen und ihre weiblichen Mario­ netten ist das Wissen, daß die gan­ ze Kultur auf wackeligen Füßen steht. So könnte sie sich beispiels­ weise in weniger als einer Genera­ Renewable Resource Societies“ S. 128-143. 21. Z.B. Erich Jantsch The Seif Organizing Universe, Pergamon, NY, 1980. 22. Brain Mind Bulletin. P.O. Box 42111, Los Angeles, California, 90042. 23 Rupert Sheldrake. A New Science of Life, J. P. Tarcher, 9100 Sunset Blvd, Los Angeles, Cal. 90069. 24 nach Robert Theobald. 25 Ilya Prigogine. From Being To Becoming. W. H. Freeman, San Fran­ cisco, 1981. 26 Julian Jaynes, The Origin of consciousness in the Breakdown of the Bi-Cameral Mind. Houghton Mifflin, Boston, 1976. 27 siehe The Politics of Women’s Spirituality, by Charlene Spretnak, Doubleday, NY. 1981. 28 z. B. Wolfgang Lederer, The Fearof Women. Harcourt, Brace, NY. 1968. 29 Christian Science Monitor. 18. Febr. 1982. „Catching up With Parents Who Don't Pay Child Support“. 30 H. Henderson. The Politics of the Solar Age. Kap. 13, op. cit.

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tion grundlegend verändern, wenn die Frauen sich einfach die ihnen von der Biologie und der Natur verliehenen Fortpflanzungsrechte zurückholten. Das einzige, was die Frauen tun müßten, um eine stille Revolution zu bewirken, wäre, daß sie zu der alten Übung zurückkehr­ ten, die Vaterschaft ihrer Kinder fürsichzu behalten - nur sie allein wissen, wer ihre Eier befruchtet. Mit einem Schlag wären die vom Mann beherrschte Familie, die Erbschaftseinrichtungen, das Ei­ gentumsrecht an Frauen und Kin­ dern untergraben. Die Akkumula­ tion von Großgrundbesitz wäre weniger wahrscheinlich, es könn­ ten demokratisiertere Familien und Gesellschaftsgruppen entste­ hen. Kinder - gleichgültig, in wel­ cher Gruppenkonstellation sie aufgezogen würden - hätten per­ sönliche Rechte, anstatt durch ei­ nen Ehevertrag „legitimiert“ zu werden. In der Tat müssen wir heute der Tatsache ins Auge sehen, daß die traditionelle Kernfamilie mit dem Vater als „Ernährer“, der Mutter als Hausfrau und zwei Kin­ dern nur mehr zwölf Prozent aller amerikanischen Familien aus­ macht und daß 85 Prozent der So­ zialleistungen, die Aid to Dependent Families für den Unterhalt von Kindern zur Verfügung stellt, an Frauen und Kinder geschiede­ ner Väter gehen, die sich ihren gerichtlich angeordneten Zah­ lungsverpflichtungen entziehen.29 Wer heute noch nach der Kernfa­ milie ruft, verteidigt eine verlorene Sache. Gerade dieses Auseinan­ derfallen der Kernfamilie ist es, was heute mit Megatonnengewalt unsere Gesellschaft erschüttert auch dies eine Dimension des Wandels, mit dem wir es zu tun bekommen, neben der Anreiche­ rung unserer Atmosphäre mit CO2, der Vernichtung der großen Äqua­ torialurwälder des Planeten, der Aufopferung des Amazonasbekkens zur Begleichung der brasilia­ nischen Auslandsschulden und den Instabilitäten des Weltwäh­ rungssystems. Allein ein biologisches morphogenetisches Modell des Wandels 196

kann die planetarische Transfor­ mation sichtbar machen, die heute in so vielen Dimensionen zugleich vor sich geht. Dieses Modell des Wandels - den Biologen als das Modell vertraut, nach dem die Lar­ ve sich in einen Schmetterling ver­ wandelt - besagt, daß der Wandel charakterisiert ist durch Beschleu­ nigung der Veränderungen sowie durch die Unmöglichkeit, aus ir­ gendeinem der existierenden Zu­ stände des Systems auf seinen künftigen Zustand zu schließen. Sowohl Öko-Philosophie als auch Öko-Feminismus haben gezeigt, daß sie imstande sind, in solchen Dimensionen des Zusammen­ bruchs und Durchbruchs zu den­ ken. Ihre Synthese, verbunden mit Einsichten aus der Ökologie und der allgemeinen Systemtheorie sowie vielen der spirituellen Tradi­ tionen und der philosophia peren­ nis, ist vielleicht geeignet, die Ethik und das Werte-System des Solarzeitalters zu stellen. Im letz­ ten Kapitel meines Buches The Politics of the Solar Age habe ich versucht, dies im einzelnen darzu­ legen und auch Anhaltspunkte da­ für beizubringen, daß diese neue planetarische Kultur im Aufstieg begriffen ist. Die Logik der sich abzeichnenden nachcartesianischen Wissenschaft wird zuletzt „Objektivität“ und Dualismus transzendieren. Sie wird auf einer selbstbezüglichen, autopoietischen Logik fußen, in der die Be­ obachter ihre eigene logische Po­ sition in dem System, das sie be­ schreiben wollen, in Ansatz brin­ gen müssen.30 Dies wird zu einer ehrlicheren Wissenschaft führen, in der die Rolle und der Einfluß des Beobachters auf die Phänomene oder das Experiment klar in Rech­ nung gestellt wird. Es wird auch vollen Aufschluß über die persönli­ chen Gründe und Motive gewäh­ ren, die den Wissenschaftler dazu veranlassen, gerade dieses und kein anderes Phänomen zu unter­ suchen, da die erste normative Entscheidung jedes Wissenschaft­ lers darin besteht, zu entscheiden, auf was er- angesichts der unend­ lichen Zahl von Daten „dort drau­

ßen“ - seine Aufmerksamkeit rich­ ten soll. Nachcartesianische Wis­ senschaft wird eine Wissenschaft mit Ehrfurcht sein, die sanft be­ schreibt und erkundet, ohne zwanghaft eingreifen zu müssen. Sie wird eine technologische Re­ volution weg von der “Hardware“ und hin zur „Software“ herbeifüh­ ren, wo wir sorgfältiger nachdenken, bevor wir eingreifen, und ein Produktionsproblem nicht gleich den Gedanken an Fabriken und Maschinen heraufbeschwören wird. Stattdessen werden wir ÖkoSysteme auf redundantes Poten­ tial und die Möglichkeit zur Ver­ mehrung der natürlichen Produk­ tion des Öko-Systems hin prüfen, wie ich dies im einzelnen in mei­ nen Büchern beschrieben habe. Diese nachcartesianische Wissen­ schaft basiert auf einer grundsätz­ lich heterarchischen Anschauung, die sich aus ihrer besonderen Lo­ gik ergibt. Hierarchie ist eine Illu­ sion, die durch einen fixierten Be­ obachter erzeugt wird. Der Syn­ these von Öko-Philosophie und Öko-Feminismus, die ich hier skiz­ ziert habe, wird heute von Frauen und vielen Männern zum Leben verholten; genannt seien William Irwin Thompsons neue Synthese The Time Falling Bodies Take To Light (1981), Fritjof Capras The Turning Point (1982, deutsche Übersetzung Wendezeit. München 1983), James Robertsons The Sane Alternative (1980), Philip Slaters Wealth Addiction (1981), Theodore Roszaks Person/Planet (1979) und Kirkpatrick Sales Hu­ man Scale (1981). Alle diese Auto­ ren habe ich die Ehre zu meinen Freunden rechnen zu dürfen. Im großen und ganzen wissen wir also recht gut Bescheid über die wesentlichen Grundsätze, auf denen die Neue Weltordnung auf­ bauen muß. Im Prinzip werden die­ se Grundsätze von manchen der neuen Entwicklungs-Indices er­ faßt, die über das Wachstum des BSP hinausgehen, etwa der PLQ (Physische Lebensqualität) oder den MGB (Menschliche Grundbe­ dürfnisse): • der Wert aller Menschen

• das Recht auf Befriedigung klassischen Thermodynamik: der menschlicher Grundbedürfnisse Satz von der Erhaltung der Ener­ (physischer, psychologischer und gie und der Entropiesatz besagen, metaphysischer) für alle Men­ daß alle menschlichen Gesell­ schen schaften (und alle lebenden Syste­ • Chancengleichheit für die me) Negentropie aufnehmen und sie in unterschiedlichem Tempo in Selbstentfaltung aller Menschen entropischen „Abfall“ verwandeln • Einsicht, daß diese Grundsätze und daß wir diese ordnende Tätig­ und Ziele nur innerhalb ökologi­ keit und die durch sie anderswo scher Toleranzen in bezug auf Bo­ erzeugte Unordnung messen und den, Meere, Luft, Wälder und die beobachten können, z.B. die Gesamtbelastungskapazität der Strukturierung europäischer Län­ Biosphäre erreicht werden dürfen der in ihrer kolonialen Periode um • Einsicht, daß alle diese Grund­ den Preis der mit ihr einhergehen­ sätze ebenso nachdrücklich für den Unordnung ihrer Kolonien künftige Generationen von Men­ kulturell und im Hinblick auf ein­ schen und deren biosphärische heimische Ressourcen; Lebenserhaltungssysteme gelten Zweitens: in die Begriffe der Bio­ und daher den Respekt vor allen logie und des evolutionären Prin­ anderen Lebensformen und der zips: „Nichts ist so erfolglos wie der Erfolg“, d.h. die Bilanz zwi­ Erde selbst in sich schließen. schen kurzfristiger und langfristi­ Historisch läßt sich die menschli­ ger Stabilität und Struktur, Anpas­ che Entwicklungsgeschichte an- sung kontra Anpassungsfähigkeit; sehen als eine Vielzahl lokaler Ex­ Drittens: systemtheoretisch in das perimente zur Erschaffung sozia­ Phänomen der Unteroptimierung, ler Ordnungen unterschiedlich­ d.h. es werden bestimmte Syste­ ster Art, doch für gewöhnlich ba­ me auf Kosten der sie umgeben­ sierend auf Teilkonzepten, d.h. den Systeme optimiert; diese sozialen Ordnungen funktio­ Viertens: in die Begriffe der Öko­ nierten für einige Menschen auf logie: als Verletzung des allgemei­ Kosten anderer Menschen und ba­ nen Grundsatzes der Verflochten­ sierten auf der Ausbeutung der Na­ heit aller Ökosysteme und der ge­ tur. Außerdem funktionierten sie samten Biosphäre, d.h. des konti­ zwar kurzfristig, scheinen aber nuierlichen Kreisens aller Res­ langfristig versagt zu haben. Be­ sourcen, Elemente, Stoffe, Ener­ trachtet man alle diese Experimen­ gien und Strukturen. Diese Ver­ te einer lokalen und partiellen flochtenheit aller Subsysteme auf menschlichen Entwicklung heute dem Planeten Erde ist viel elemen­ unter planetarischer Perspektive, tarer als die Interdependenz von Völkern, Kulturen, so erweisen sie sich in der einen Menschen, oder anderen Weise als Fehlschlä­ Technologien usw. Das Streben nach einer Neuen ge, die auf irgendeiner Form von kurzfristiger Ausbeutung (Destabi­ Weltordnung gründet also nicht allein auf ethisch-sittlichen Prinzi­ lisierung) basierten. Wir wissen heute, daß solche pien, so wichtig diese sich entfal­ Gesellschaften nicht aufrechtzu­ tenden planetarischen Werte für erhalten sind und daß die Destabi­ das Überleben unserer Spezies lisierungen, auf denen sie aufbau­ auch sein mögen. Die Notwendig­ en, nunmehr ihre innere politische keit einer Neuen Weltordnung Stabilität und die globale Stabilität kann heute wissenschaftlich be­ des Planeten gefährden. Interes­ wiesen werden. Wir sehen heute santerweise können alle diese In­ den Grundsatz der Allverflochten­ stabilitäten in wissenschaftliche heit aus der reduktionistischen Wissenschaft selbst hervorgehen Begriffe gefaßt werden: - nicht anders als die damit einher­ Erstens: in die Begriffe des Ersten gehende ökologische Wahrheit, und des Zweiten Hauptsatzes der daß Redistribution (Umverteilung)

ebenfalls ein Grundprinzip der Na­ tur ist. Da alle Ökosystem in regel­ mäßigen Abständen Energie, Ma­ terialien, Strukturen umverteilen, und zwar durch biochemische und geophysikalische Prozesse und Zyklen, müssen auch alle sozialen Systeme des Menschen den Prin­ zipien der Umverteilung eben die­ ser Ressourcen, die sie gebrau­ chen und umformen, gehorchen, seien es primäre Energien und Ma­ terialien oder abgeleiteter „Wohl­ stand“ (Kapital, Geld, Strukturen, Produktionsmittel und „Macht") oder kontinuierlich sich wandeln­ de Institutionen. Wir sehen also heute sechs Grundsätze aus der verwestlichten Wissenschaft hervorgehen, die ei­ ne Anpassungsleistung des menschlichen Verhaltens von der heute zutage tretenden Art bein­ halten: • Verflochtenheit (planetarische Kooperation menschlicher Gesell­ schaften) • Umverteilung (Gerechtigkeit, Gleichheit, Gleichgewicht, Rezi­ prozität) • Wandel (Neuentwurf von Insti­ tutionen, Vervollkommnung von Produktionsmitteln, Wandel von Paradigmen und Werten) • Komplementarität (Einheit und Vielfalt, vom Entweder/Oder zum Sowohl/Als auch) • Heterarchie (nicht Hierarchie) • Unbestimmtheit (viele Modelle, Standpunkte, Kompromiß, Demut, Offenheit, Evolution, „lernende Gesellschaften“) Was wird es sein: Zusammen­ bruch oder Durchbruch? „Stress" ist das Werkzeug, mit dem die Evo­ lution arbeitet, und wir stehen heu­ te wie niemals zuvor unter dem „Stress“, uns wandeln und fortent­ wickeln zu müssen. In diesem Sin­ ne sind die Begrenztheit unserer Ressourcen und die vor uns lie­ genden Herausforderungen eine gute Nachricht! Sie nötigen uns, zu Er-Wachsen - das zu werden, was wir werden können - den „möglichen Menschen“ zu ent­ decken, der wir sind. 197

Epilog Macaca Fuscata Auf der Insel von Koshima in Japan untersuchten Wissenschaftler 1952 das Verhalten der einheimischen Affen, ge­ nannt Macaca Fuscata. Die Wissen­ schaftler gaben den Affen süße Kartof­ feln, die sie vor ihnen in den Sand warfen. Die Affen mochten die süßen Kartoffeln sehr gerne, aber den Sand, den sie mitessen mußten, überhaupt nicht. Ein 18 Monate altes, weibliches Affenkind fand schließlich die Lösung des Problems, indem sie die Kartoffeln in einem Fluß vom Sand reinigte. Die­ sen Trick zeigte sie nun ihrer Mutter. Auch ihre Geschwister und Spielkame­ raden lernten die Kartoffeln zu wa­ schen. Immer mehr Affen aus diesem Stamm lernten auf diese Weise, die süßen Kartoffeln im Wasser zu wa­ schen und dann, befreit vom Sande, zu essen. Es dauerte bis 1958, bis alle Affen auf dieser Insel die sandigen, süßen Kartof­ feln wuschen, bevor sie sie aßen. Aller­ dings war zu beobachten, daß nur die erwachsenen Affen, die ihre Kinder

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imitierten, diesen Trick lernten. Einige andere alte Affen aßen auch weiterhin nur sandige süße Kartoffeln. Doch dann, im Herbst 1958, geschah etwas Sonderbares: Eine gewisse Anzahl von Koshima-Affen konnten nun ihre süßen Kartoffeln im Wasser waschen, um sie dann ohne Sand zu essen. Wir wissen nicht genau, wieviele Affen auf dieser Insel waren, aber der Einfachheit hal­ ber können wir hier sagen, daß es 99 Affen waren. Nehmen wir weiterhin an, daß am nächsten Morgen ein hundert­ ster Affe gelernt hatte, seine Kartoffeln zu waschen. Und mit diesem einhun­ dertsten Affen geschah ein ideologi­ scher Durchbruch, ein Paradigmen­ wechsel: mit diesem hundertsten Affen sprang das gelernte Wissen plötzlich auf andere Inseln über. Es ist wissenschaftlich untersucht worden und kein anderer Schluß zuläs­ sig, als daß hier ein auf einer Insel erlerntes Verhalten plötzlich auf den anderen Inseln üblich wurde, ohne daß es diesen Affen dort irgendwie beige­ bracht wurde. Die Affenstämme der an­ deren Inseln und des Festlandes Taka Sakiyama, allesamt begannen sie, ihre süßen Kartoffeln zu waschen. Wir kön­ nen daraus keinen anderen Schluß zie­ hen als denjenigen, daß, wenn eine bestimmte kritische Masse ein neues Bewußtsein erreicht hat, daß dann die­ ses Bewußtsein quasi telepathisch wei­ tervermittelt wird.

Für uns heißt es, daß, wenn nur eine begrenzte Anzahl von Menschen einen neuen Weg, eine neue Lösung gefun­ den hat, so mag dieses gewonnene Wissen auf besagte Menschen be­ schränkt bleiben. Aber es gibt einen Punkt, wo nur eine zusätzliche Person dieses Wissen haben muß, um es allge­ meingültig zu machen, das heißt, das neue Bewußtseinsfeld wird derart ver­ stärkt, daß es jeden Menschen auf der Erde erreicht. Daß Bewußtsein keine Angelegenheit ist, die sich nur in einem Kopf oder innerhalb mehrerer Köpfe abspielt, ist heute bekannt. Auch wis­ sen wir, daß außersinnliche Wahrneh­ mung möglich ist und auch verstärkt werden kann, sogar zu einem derart hohen Energielevel, daß es an andere, bisher nicht zugehörige Personen wei­ tergegeben werden kann. Somit ist je­ der von uns der vielleicht entschei­ dendste hundertste Affe.. Vielleicht ist es gerade dein Bewußt­ sein, das notwendig ist, um die Welt vor einem atomaren Krieg zu bewahren. Vielleicht ist es gerade dein Anteil, das ökologische Bewußtsein an die Allge­ meinheit weiterzugeben. Da wir heute immer noch nicht genau wissen, wie dieses Bewußtseinskommunikations­ system funktioniert, können wir nur al­ les in unserer Kraft stehende tun, auch, wenn es auf den ersten Blick noch so verrückt erscheint, um den erforderli­ chen Bewußtseinswandel zu bewerk­ stelligen.

Auf keinen Fall jedoch dürfen wir uns wie die „alten Affen“ in unserem Gleichnis verhalten. Denn wie unzurei­ chend unsere Hypothese auch immer sein mag, diese alten Affen erfuhren auf keinen Fall einen Bewußtseinssprung. Jeder von uns muß die Chance wagen, der einhundertste Affe, der Multiplika­ tor, für ein neues Weltbewußtsein zu sein. Dies ist die Verantwortung, die wir gemeinsam tragen und niemand-auch die Gesetzmäßigkeit der Bewußt­ seinssphäre nicht, kann uns aus dieser Verantwortung entlassen. Wir alle sind Mannschaft auf dem Raumschiff Erde, blinde Passagiere gibt es nicht. Rüdiger Lutz

PS. Wer diese Geschichte nicht glauben kann oder will - hier sind die wissenschaftli­ chen Quellenangaben: Imaniski, K., Social Behavior in Japanese Monkeys, Psychologia 1, 1957 Kawai, M., On the newly acquired precuitural behavior of the natural troops of Japanese Monkeys on Koshima Island, Primates 4, 1963 Kawamura, S., The process of sub-cultural propagation among Japanese Monkeys, in South-wick 497

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Die Katastrophen- und Krisenliteratur der letzten Jahre hat immer wieder die Forderung nach einer grundlegenden Umorientierung und Veränderung des Bewußtseins aller Bevölkerungsschichten gestellt. Die Lösungsversuche „von oben" sind gescheitert, ja, sie haben die Probleme eher noch verschlimmert. Doch die verschiedenartigen Befreiungsbewegungen - der Bürger, der Frauen, der Pazifisten, der Alternativen - bildeten den Auftakt zu einer kommenden sozialen Transformation: Der Bewußtseinswandel hat schon begonnen, und dieses Öko-Log-Buch stellt seine Zeichen und Signale vor. Die fundamentale Neuorientierung unseres Denkens kommt einer kopernikanischen Wende gleich -, daß dies keine Übertreibung, sondern nachzuweisende Erkenntnisse sind, zeigen die hier vorgestellten Pioniere der Bewußtseinsforschung.

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