Psychologie Riemann, Fritz - Grundformen Der Angst
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Fritz Riemann, 1979 im Alter von 77 Jahren verstorben, war nach einem Studium der Psychologie und der Ausbildung zum Psychoanalytiker in Leipzig und Berlin Mitbegründer des Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie in München. Dort wirkte er als Dozent und Lehranalytiker und führte eine eigene psychotherapeutische Praxis. Seine Verdienste um die Psychoanalyse brachten ihm die Ehrenmitgliedschaft der »American Academy of Psychoanalysis« in New York. In diesem Buch entwirft der Autor, ausgehend von den Grundängsten der menschlichen Existenz, eine Charakterkunde, die den fachgebundenen Rahmen sprengt und Lesern aller Schichten Einsicht in die psychoanatytische Praxis gewährt. Seine »Grundformen« — schizoide, depressive, zwanghafte und hysterische Persönlichkeiten — sind fester Bestandteil der Psychologie geworden.
Fritz Riemann
Grundformen der Angst Eine tiefenpsychologische Studie
Ernst Reinhardt Verlag München Basel
Die Deutsche Bibliothek - CiP-Einheilsaufnahme Riemann, Fritz: Grundformen der Angst: eine tiefenpsychologische Studie / Fritz Riemann. - 600. Tsd. - München ; Basel: E. Reinhardt, 1997 ISBN 3-497-00749-8
© 1961,1997 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co, Verlag, München Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis
Einleitung Vom Wesen der Angst und von den Antinomien des Lebens
7 7
Die schizoiden Persönlichkeiten Der schizoide Mensch und die Liebe Der schizoide Mensch und die Aggression Der lebensgeschichtliche Hintergrund Beispiele für schizoide Erlebnisweisen Ergänzende Betrachtungen
20 24 30 34 41 47
Die depressiven Persönlichkeiten Der depressive Mensch und die Liebe Der depressive Mensch und die Aggression Der lebensgeschichtliche Hintergrund Beispiele für depressive Erlebnisweisen Ergänzende Betrachtungen
59 66 70 74 85 96
Die zwanghaften Persönlichkeiten Der zwanghafte Mensch und die Liebe Der zwanghafte Mensch und die Aggression Der lebensgeschichtliche Hintergrund Beispiele für zwanghafte Erlebnisweisen Ergänzende Betrachtungen
105 117 123 129 137 146
Die hysterischen Persönlichkeiten Der hysterische Mensch und die Liebe Der hysterische Mensch und die Aggression Der lebensgeschichtliche Hintergrund Beispiele für hysterische Erlebnisweisen Ergänzende Betrachtungen
156 163 170 173 184 193
Schlußbetrachtung
199
Meiner Frau
Einleitung
Vom Wesen der Angst und von den Antinomien des Lebens Angst gehört unvermeidlich zu unserem Leben. In immer neuen Abwandlungen begleitet sie uns von der Geburt bis zum Tode. Die Geschichte der Menschheit läßt immer neue Versuche erkennen, Angst zu bewältigen, zu vermindern, zu überwinden oder zu binden. Magie, Religion und Wissenschaft haben sich darum bemüht. Geborgenheit in Gott, hingebende Liebe, Erforschung der Naturgesetze oder weltentsagende Askese und philosophische Erkenntnisse heben zwar die Angst nicht auf, können aber helfen, sie zu ertragen und sie vielleicht für unsere Entwicklung fruchtbar zu machen. Es bleibt wohl eine unserer Illusionen, zu glauben, ein Leben ohne Angst leben zu können; sie gehört zu unserer Existenz und ist eine Spiegelung unserer Abhängigkeiten und des Wissens um unsere Sterblichkeit. Wir können nur versuchen, Gegenkräfte gegen sie zu entwickeln: Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe. Diese können uns helfen, Angst anzunehmen, uns mit ihr auseinanderzusetzen, sie immer wieder neu zu besiegen. Methoden, welcher Art auch immer, die uns Angstfreiheit versprechen, sollten wir mit Skepsis betrachten; sie werden der Wirklichkeit menschlichen Seins nicht gerecht und erwecken illusorische Erwartungen. Wenn nun auch Angst unausweichlich zu unserem Leben gehört, will das nicht heißen, daß wir uns dauernd ihrer bewußt wären. Doch ist sie gleichsam immer gegenwärtig und kann jeden Augenblick ins Bewußtsein treten, wenn sie innen oder außen durch ein Erlebnis konstelliert wird. Wir haben dann meist die Neigung, ihr auszuweichen, sie zu vermeiden, und wir haben mancherlei Techniken und Methoden entwickelt, sie zu verdrängen, sie zu betäuben oder zu überspielen und zu leugnen. Aber wie der Tod nicht aufhört zu existieren, wenn wir nicht an ihn denken, so auch nicht die Angst. Angst gibt es auch unabhängig von der Kultur und der Entwicklungshöhe eines Volkes oder eines Einzelnen - was sich ändert, sind lediglich die Angstobjekte, das, was jeweils die Angst auslöst, und andererseits die Mittel und Maßnahmen, die wir anwenden, um Angst zu bekämpfen. So haben wir heute im allgemeinen keine Angst mehr vor Donner und Blitz; Sonnen- und Mondfinsternisse sind für uns ein interessantes Naturschauspiel geworden, aber
nicht mehr ein Angsterleben, denn wir wissen, daß sie kein endgültiges Verschwinden dieser Gestirne oder gar einen möglichen Wettuntergang bedeuten. Dafür kennen wir heute Ängste, die frühere Kulturen nicht kannten - wir haben etwa Angst vor Bakterien, vor neuen Krankheitsbedrohungen, vor Verkehrsunfällen, vor Alter und Einsamkeit. Die Methoden der Angstbekämpfung haben sich dagegen gar nicht so sehr gewandelt. Nur sind an die Stelle von Opfern und magischem Gegenzauber heute moderne, die Angst zudeckende pharmazeutische Mittel getreten - die Angst ist uns geblieben. Die wohl wichtigste neue Möglichkeit der Angstverarbeitung ist heute die Psychotherapie in ihren verschiedenen Gestalten geworden: sie deckt erstmalig die Geschichte der Angstentwicklung im Individuum auf, erforscht ihre Zusammenhänge mit individuell-familiären und soziokulturellen Bedingungen und ermöglicht die Konfrontation mit der Angst, mit dem Ziel fruchtbarer Angstverarbeitung durch Nachreifen. Offenbar besteht hier eine der Ausgewogenheiten des Lebens: Gelingt es uns, durch Wissenschaft und Technik Fortschritte in der Welteroberung zu machen und dadurch bestimmte Ängste auszuschalten, zu beseitigen, tauschen wir dafür andere Ängste ein. An der Tatsache, daß Angst unvermeidlich zum Leben gehört, ändert sich dadurch nichts. Nur eine neue Angst scheint zu unserem heutigen Leben zu gehören: Wir kennen zunehmend Ängste, die durch unser eigenes Tun und Handeln gesetzt werden, das sich gegen uns wendet. Wir kennen die Angst vor den zerstörerischen Kräften in uns selbst - denken wir nur an die Gefahren, die der Mißbrauch der atomaren Kräfte mit sich bringen kann, oder an die Machtmöglichkeiten, die durch Eingriffe in natürliche Lebensabläufe gegeben sind. Unsere Hybris scheint sich wie ein Bumerang gegen uns selbst zu richten; der Wille zur Macht, dem es an Liebe und Demut fehlt, der Wille zur Macht über die Natur und das Leben, läßt in uns die Angst entstehen, zu manipulierten, sinnentleerten Wesen gemacht zu werden. Hatte der Mensch früherer Zeiten Angst vor den Naturgewalten, denen er hilflos ausgeliefert war, vor bedrohenden Dämonen und rächenden Göttern, müssen wir heute Angst vor uns selbst haben. So ist es wieder eine Illusion, zu meinen, daß der »Fortschritt« der immer zugleich auch ein Rückschritt ist - uns unsere Ängste nehmen werde; manche gewiß, aber er wird neue Ängste zur Folge haben. Das Erlebnis Angst gehört also zu unserem Dasein. So allgemeingültig das ist, erlebt doch jeder Mensch seine persönlichen
Abwandlungen der Angst, »der« Angst, die es so wenig gibt, wie »den« Tod oder »die« Liebe und andere Abstraktionen. Jeder Mensch hat seine persönliche, individuelle Form der Angst, die zu ihm und seinem Wesen gehört, wie er seine Form der Liebe hat und seinen eigenen Tod sterben muß. Es gibt also Angst nur erlebt und gespiegelt von einem bestimmten Menschen und sie hat darum immer eine persönliche Prägung, bei aller Gemeinsamkeit des Erlebnisses Angst an sich. Diese unsere persönliche Angst hängt mit unseren individuellen Lebensbedingungen, mit unseren Anlagen und unserer Umwelt zusammen; sie hat eine Entwicklungsgeschichte, die praktisch mit unserer Geburt beginnt. Wenn wir Angst einmal »ohne Angst« betrachten, bekommen wir den Eindruck, daß sie einen Doppelaspekt hat: einerseits kann sie uns aktiv machen, andererseits kann sie uns lähmen. Angst ist immer ein Signal und eine Warnung bei Gefahren, und sie enthält gleichzeitig einen Aufforderungscharakter, nämlich den Impuls, sie zu überwinden. Das Annehmen und das Meistern der Angst bedeutet einen Entwicklungsschritt, läßt uns ein Stück reifen. Das Ausweichen vor ihr und vor der Auseinandersetzung mit ihr, läßt uns dagegen stagnieren; es hemmt unsere Weiterentwicklung und läßt uns dort kindlich bleiben, wo wir die Angstschranke nicht überwinden. Angst tritt immer dort auf, wo wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht oder noch nicht gewachsen sind. Jede Entwicklung, jeder Reifungsschritt ist mit Angst verbunden, denn er führt uns in etwas Neues, bisher nicht Gekanntes und Gekonntes, in innere oder äußere Situationen, die wir noch nicht und in denen wir uns noch nicht erlebt haben. Alles Neue, Unbekannte, Erstmals-zu-Tuende oder Zu-Erlebende enthält, neben dem Reiz des Neuen, der Lust am Abenteuer und der Freude am Risiko, auch Angst. Da unser Leben immer wieder in Neues, Unvertrautes und noch nicht Erfahrenes führt, begleitet uns Angst immerwährend. Sie kommt am ehesten ins Bewußtsein an besonders wichtigen Stellen unserer Entwicklung, da, wo alte, vertraute Bahnen verlassen werden müssen, wo neue Aufgaben zu bewältigen oder Wandlungen fällig sind. Entwicklung, Erwachsen-Werden und Reifen haben also offenbar viel zu tun mit Angstüberwindung, und jedes Alter hat seine ihm entsprechenden Reifungsschritte mit den dazugehörenden Ängsten, die gemeistert werden müssen, wenn der Schritt gelingen soll. Es gibt demnach völlig normale, alters- und entwicklungsgemäße Ängste, die der gesunde Mensch durchsteht und überwächst, deren Bewältigung für seine Fortentwicklung wichtig ist. Denken
wir etwa an die ersten selbständigen Laufschritte des Kindes, bei denen es erstmals die haltende Hand der Mutter loslassen und die Angst vor dem Alleingehen, vor dem Alleingelassen werden im freien Raum überwinden muß. Oder denken wir an die großen Zäsuren in unserem Leben. Nehmen wir den Schulanfang, wo das Kind aus dem Schoß der Familie in eine neue und zunächst fremde Gemeinschaft hineinwachsen und sich in ihr behaupten soll. Nehmen wir die Pubertät und die ersten Begegnungen mit dem anderen Geschlecht unter dem Drang erotischer Sehnsucht und sexuellen Begehrens; oder denken wir an den Berufsbeginn, an die Gründung einer eigenen Familie, an die Mutterschaft und schließlich an das Altern und die Begegnung mit dem Tod - immer ist an einen Anfang oder vor ein erstmals zu Erfahrendes auch eine Angst gesetzt. Alle diese Ängste gehören gleichsam organisch zu unserem Leben, weil sie mit körperlichen, seelischen oder sozialen Entwicklungsschritten zusammenhängen, mit der Übernahme neuer Funktionen in der Gemeinschaft oder der Gesellschaft auftreten. Immer bedeutet ein solcher Schritt eine Grenzüberschreitung und fordert von uns, von etwas Gewohntem, Vertrautem uns zu lösen und uns in Neues, Unvertrautes zu wagen. Neben diesen Ängsten gibt es eine Fülle individueller Ängste, die nicht im obigen Sinne typisch für bestimmte Grenzsituationen sind, die wir deshalb bei anderen oft nicht verstehen können, weil wir sie bei uns selbst nicht kennen. So kann bei dem einen Einsamkeit schwere Angst auslösen, bei einem anderen Menschenansammlungen; ein dritter bekommt Angstanfälle, wenn er über eine Brücke oder über einen freien Platz gehen will; ein vierter kann sich nicht in geschlossenen Räumen aufhalten; wieder ein anderer hat Angst vor harmlosen Tieren, vor Käfern, Spinnen oder Mäusen usf. So vielfältig demnach das Phänomen Angst bei verschiedenen Menschen ist - es gibt praktisch nichts, wovor wir nicht Angst entwickeln können - geht es bei genauerem Hinsehen doch immer wieder um Varianten ganz bestimmter Ängste, die ich deshalb als »Grundformen der Angst« bezeichnen und beschreiben möchte. Alle überhaupt möglichen Ängste haben mit diesen Grundformen der Angst zu tun. Sie sind entweder Extremvarianten und Zerrformen von ihnen, oder aber Verschiebungen auf andere Objekte. Wir haben nämlich die Neigung, nicht verarbeitete, nicht gemeisterte Ängste an harmlosere Ersatzobjekte zu heften, die leichter vermeidbar sind, als die eigentlichen Angstauslöser, vor denen wir nicht ausweichen können.
Die Grundformen der Angst hängen mit unserer Befindlichkeit in der Welt zusammen, mit unserem Ausgespanntsein zwischen zwei großen Antinomien, die wir in ihrer unauflösbaren Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit leben sollen. Ich möchte diese beiden Antinomien an einem Gleichnis verdeutlichen, das uns in überpersönliche Ordnungen und Gesetzmäßigkeiten einfügt, deren wir uns im allgemeinen nicht bewußt sind, die aber dennoch wirklich sind. Wir werden in eine Welt hineingeboren, die vier mächtigen Impulsen gehorcht: Unsere Erde umkreist in bestimmtem Rhythmus die Sonne, bewegt sich also um das Zentralgestirn unseres engeren Weltsystems, welche Bewegung wir als Revolution, »Umwälzung«, bezeichnen. Gleichzeitig dreht sich dabei die Erde um ihre eigene Achse, führt also die Rotation, »Eigendrehung« benannte Bewegung aus. Damit sind zugleich zwei weitere gegensätzliche bzw. sich ergänzende Impulse gesetzt, die unser Weltsystem sowohl in Bewegung halten, wie diese Bewegung in bestimmte Bahnen zwingen: die Schwerkraft und die Fliehkraft. Die Schwerkraft hält unsere Welt gleichsam zusammen, richtet sie zentripetal nach innen, nach der Mitte strebend, aus, und hat etwas von einem festhalten und anziehen wollenden Sog. Die Riehkraft strebt zentrifugal, die Mitte fliehend, nach außen, sie drängt in die Weite und hat etwas von einem loslassen, sich ablösen wollenden Zug. Nur die Ausgewogenheit dieser vier Impulse garantiert die gesetzmäßige, lebendige Ordnung, in der wir leben, die wir Kosmos nennen. Das Überwiegen oder das Ausfallen einer solchen Bewegung würde die große Ordnung stören bzw. zerstören und ins Chaos führen. Stellen wir uns einmal vor, die Erde würde einen dieser Grundimpulse aufgeben. Gäbe sie z. B. die Revolution, die Umkreisung der Sonne auf und würde nur noch die Rotation, die Drehung um die eigene Achse vollziehen, würde sie die Größenordnung eines Planeten übersteigen und sich als Sonne gebärden, als Mittelpunkt, um den sich die anderen Planeten zu drehen hätten. Sie würde sich also nicht mehr in die ihr vorgeschriebene Bahn um die Sonne einfügen, sondern nur noch ihr eigenes Gesetz leben. Gäbe die Erde dagegen die Rotation, ihre Eigendrehung, auf und würde sie nur noch um die Sonne kreisen, sänke sie von der Planetenstufe auf die eines Trabanten, eines Mondes herab, der Sonne immer die gleiche Seite zuwendend in größter Abhängigkeit. In beiden Fällen würde sie also ihre Planeten gesetzlichkeit, abhängiges Sicheinfügen und dennoch unabhängige Eigendrehung zu haben, durchbrechen.
Weiter: Hätte die Erde keine Schwerkraft, das Zentripetale, würde sie nur der Fliehkraft unterliegen und chaotisch zerbersten, aus der Bahn kommen, und vielleicht mit anderen Weltkörpern zusammenstoßen. Und würde sie schließlich nur der Schwerkraft gehorchen ohne den Gegenimpuls der Fliehkraft, des Zentrifugalen, müßte das zu völliger Erstarrung und Unveränderlichkeit führen, oder zu passivem Aus-der-Bahn-gezogen-Werden durch andere Kräfte, denen sie keine eigene Kraft entgegenzusetzen hätte. Und nun zu dem Gleichnis: Nehmen wir einmal an - was eigentlich sehr nahe liegt - daß der Mensch als Bewohner unserer Erde und als winziges Teilchen unseres Sonnensystems auch dessen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sei, und daß er damit die beschriebenen Impulse als unbewußte Triebkräfte und zugleich als latente Forderungen in sich trage, so führt uns das zu sehr überraschenden Entsprechungen. Wir brauchen nämlich nur jene Grundimpulse auf der menschlichen Ebene ins Psychologische zu übersetzen, also nach ihren Entsprechungen im seelischen Erleben zu fragen, dann stoßen wir auf die erwähnten Antinomien, zwischen denen unser Leben ausgespannt ist und, wie wir sehen werden, zugleich auf jene Grundformen der Angst, die im Zusammenhang damit stehen und so einen tieferen Sinn bekommen. Der Rotation, der Eigendrehung, entspräche psychologisch sinngemäß die Forderung zur Individuation, also dazu, ein einmaliges Einzelwesen, ein Individuum zu werden. Der Revolution, der Bewegung um die Sonne als unserem Zentralgestirn, entspräche die Forderung, sich einzuordnen in ein größeres Ganzes, unsere Eigengesetzlichkeit, unser eigenes Wollen zu begrenzen zugunsten überpersönlicher Zusammenhänge. Damit hätten wir die erste Antinomie umschrieben, die die gegensätzlichen Forderungen enthält, daß wir sowohl wir selbst werden, als uns in überindividuelle Zusammenhänge einfügen sollen. Dem Zentripetalen, der Schwerkraft, entspräche auf der seelischen Ebene unser Impuls nach Dauer und Beständigkeit; und schließlich dem Zentrifugalen, der Fliehkraft, entspräche der Impuls, der uns immer wieder vorwärts, zur Veränderung und Wandlung treibt. Damit haben wir auch die andere Antinomie umschrieben: Sie enthält die wiederum gegensätzlichen Forderungen, daß wir nach Dauer und andererseits nach Wandlung streben sollen. Nach dieser kosmischen Analogie sind wir vier grundlegenden Forderungen ausgesetzt, die wir als einander widersprechende und doch zugleich sich ergänzende Strebungen in uns wiederfinden. In wechselnder Gestalt durchziehen sie unser ganzes Leben und wollen in immer neuer Weise von uns beantwortet werden.
Die erste Forderung, in unserem Gleichnis der Rotation entsprechend, ist, daß wir ein einmaliges Individuum werden sollen, unser Eigensein bejahend und gegen andere abgrenzend, daß wir unverwechselbare Persönlichkeiten werden sollen, kein austauschbarer Massenmensch. Damit ist aber alle Angst gegeben, die uns droht, wenn wir uns von anderen unterscheiden und dadurch aus der Geborgenheit des Dazugehörens und der Gemeinsamkeit herausfallen, was Einsamkeit und Isolierung bedeuten würde. Bei aller Breite, in der wir durch Rasse, Familien- und Volkszugehörigkeit, durch Alter, Geschlecht, durch unseren Glauben oder unseren Beruf usf. bestimmten Gruppen angehören, denen wir uns verwandt und vertraut fühlen, sind wir doch zugleich Individuen und damit etwas Einmaliges, von allen anderen Menschen deutlich Unterschiedenes. Das kommt schon in der bemerkenswerten Tatsache zum Ausdruck, daß allein unser Daumenabdruck genügt, um uns von jedem anderen Menschen unverwechselbar zu unterscheiden und eindeutig zu identifizieren. So gleicht unsere Existenz einer Pyramide, deren breite Basis sich aus Typischem und Gemeinsamkeiten aufbaut, die aber zur Spitze hin sich immer mehr aus den verbindenden Gemeinsamkeiten herauslöst und im einmalig Individuellen endet. Mit dem Annehmen und Entwickeln unserer Einmaligkeit, mit dem Individuationsprozeß, wie C.G.Jung diesen Entwicklungsvorgang genannt hat, fallen wir aus der Geborgenheit des Dazugehörens, des »Auch-wie-die-anderen-Seins« heraus, und erleben die Einsamkeit des Individuums mit Angst. Denn je mehr wir uns von anderen unterscheiden, um so einsamer werden wir, und sind damit der Unsicherheit, dem Nichtverstanden-, dem Abgelehnt-, u.U. dem Bekämpftwerden ausgesetzt. Riskieren wir aber andererseits nicht, uns zu eigenständigen Individuen zu entwickeln, bleiben wir zu sehr im Kollektiven, im Typischen stecken, und bleiben unserer menschlichen Würde etwas Entscheidendes schuldig. Die zweite Forderung, in unserem Gleichnis der Revolution entsprechend, ist die, daß wir uns der Welt, dem Leben und den Mitmenschen vertrauend öffnen, uns einlassen sollen mit dem Nicht-Ich, dem Fremden, in Austausch treten sollen mit dem Außer-uns-Seienden. Es ist damit gemeint, die Seite der Hingabe - im weitesten Sinne - an das Leben. Damit ist aber verbunden alle Angst, unser Ich zu verlieren, abhängig zu werden, uns auszuliefern, unser Eigensein nicht angemessen leben zu können, es anderen opfern und in der geforderten Anpassung zu viel von uns selbst aufgeben zu müssen. Es geht hier also vor allem um die
Seite unserer Abhängigkeiten, um unser »Geworfensein«, und darum, daß wir trotz dieser Abhängigkeiten und Gefährdungen unseres Ichs, die uns unsere Ohnmacht fühlen lassen, uns dem Leben zuwenden, uns aufschließen sollen. Riskieren wir das nicht, bleiben wir isolierte Einzelwesen ohne Bindung, ohne Zugehörigkeit zu etwas über uns Hinausreichendem, letztlich ohne Geborgenheit und werden so weder uns selbst noch die Welt kennenlernen. Wir sind mit dieser ersten Antinomie auf die eine paradoxe Zumutung gestoßen, die das Leben uns auferlegt: Wir sollen sowohl die Selbstbewahrung und Selbstverwirklichung leben, als auch die Selbsthingabe und Selbstvergessenheit, sollen zugleich die Angst vor der Ich-Aufgabe, wie die Angst vor der Ich-Werdung überwinden. Und nun zu den beiden anderen Forderungen, die wiederum im polaren Verhältnis des Widerspruches und der Ergänzung stehen, wie die eben beschriebenen: Die dritte Forderung, in unserem Gleichnis dem Zentripetalen, der Schwerkraft entsprechend, ist, daß wir die Dauer anstreben sollen. Wir sollen uns auf dieser Welt gleichsam häuslich niederlassen und einrichten, in die Zukunft planen, zielstrebig sein, als ob wir unbegrenzt leben würden, als ob die Welt stabil wäre und die Zukunft voraussehbar, als ob wir mit Bleibendem rechnen könnten - mit dem gleichzeitigen Wissen, daß wir »media in vita morte sumus«, daß unser Leben jeden Augenblick zu Ende sein kann. Mit dieser Forderung, zu dauern, uns in eine Ungewisse Zukunft zu entwerfen, ja, überhaupt Zukunft zu haben, als ob wir damit etwas Festes und Sicheres vor uns hätten - mit dieser Forderung sind alle Ängste gegeben, die mit dem Wissen um die Vergänglichkeit, um unsere Abhängigkeiten und um die irrationale Unberechenbarkeit unseres Daseins zusammenhängen: Die Angst vor dem Wagnis des Neuen, vor dem Planen ins Ungewisse, davor, sich dem ewigen Fließen des Lebens zu überlassen, das nie stillsteht und auch uns selbst wandelnd ergreift. Das liegt wohl in dem Ausspruch, daß niemand zweimal in den gleichen Fluß steigen könne - der Fluß und auch man selbst ist stets ein anderer. Würden wir aber andererseits auf die Dauer verzichten, könnten wir nichts schaffen und verwirklichen; alles Geschaffene muß in unserer Vorstellung etwas von dieser Dauer haben - sonst würden wir gar nicht anfangen, unsere Ziele zu verwirklichen. So leben wir immer, als ob wir glaubten, unbegrenzt Zeit zu haben, als ob das endlich Erreichte stabil wäre, und diese uns vorschwebende Stabilität und Dauer,
diese illusionäre Ewigkeit, ist ein wesentlicher Impuls, der uns zum Handeln treibt. Und schließlich die vierte Forderung, im Gleichnis dem Zentrifugalen, der Fliehkraft entsprechend. Sie besteht darin, daß wir immer bereit sein sollen, uns zu wandeln, Veränderungen und Entwicklungen zu bejahen, Vertrautes aufzugeben, Traditionen und Gewohntes hinter uns zu lassen, uns immer wieder vom gerade Erreichten zu lösen und Abschied zu nehmen, alles nur als Durchgang zu erleben. Mit dieser Forderung, uns immer lebendig weiterzuentwickeln, uns nicht aufzuhalten, nicht zu haften, dem Neuen geöffnet und das Unbekannte wagend, ist nun die Angst verbunden, durch Ordnungen, Notwendigkeiten, Regeln und Gesetze, durch den Sog der Vergangenheit und Gewohnheit festgelegt, festgehalten zu werden, eingeengt, begrenzt zu werden in unseren Möglichkeiten und unserem Freiheitsdrang. Es droht also hier letztlich, im Gegensatz zur vorbeschriebenen Angst, wo der Tod als Vergänglichkeit erschien, der Tod als Erstarrung und Endgültigkeit. Würden wir aber den Impuls zur Wandlung, zum Wagnis des Neuen, aufgeben, so blieben wir im Gewohnten haften, einförmig schon Daseiendes wiederholend und festhaltend, und die Zeit und die Mitwelt würde uns überholen und vergessen. Damit haben wir die andere Antinomie skizziert, die weitere Zumutung des Lebens an uns: Daß wir zugleich nach Dauer und nach Wandlung streben sollen, daß wir dabei sowohl die Angst vor der nicht aufzuhaltenden Vergänglichkeit, wie die Angst vor der unausweichlichen Notwendigkeit überwinden müssen. So haben wir vier Grundformen der Angst kennengelernt, die ich noch einmal zusammenstellen will: 1. Die Angst vor der Selbsthingabe, als Ich-Verlust und Abhängigkeit erlebt; 2. Die Angst vor der Selbstwerdung, als Ungeborgenheit und Isolierung erlebt; 3. Die Angst vor der Wandlung, als Vergänglichkeit und Unsicherheit erlebt; 4. Die Angst vor der Notwendigkeit, als Endgültigkeit und Unfreiheit erlebt. Alle möglichen Ängste sind letztlich immer Varianten dieser vier Grundängste und hängen mit den vier Grundimpulsen zusammen, die ebenfalls zu unserem Dasein gehören und sich auch paarweise ergänzen und widersprechen: Als Streben nach Selbstbewahrung und Absonderung, mit dem Gegenstreben nach Selbsthingabe und
Zugehörigkeit; und andererseits als Streben nach Dauer und Sicherheit, mit dem Gegenstreben nach Wandlung und Risiko. Zu jeder Strebung gehört die Angst vor der Gegenstrebung. Und doch, wenn wir noch einmal auf unser kosmisches Gleichnis zurückgreifen, scheint eine lebendige Ordnung nur möglich zu sein, wenn wir eine Gleichgewichtigkeit zwischen diesen antinomischen Impulsen zu leben versuchen. Eine solche Gleichgewichtigkeit bedeutet indessen nicht etwas Statisches, wie man meinen könnte, sondern sie ist voll ungemeiner innerer Dynamik, weil sie nie etwas Erreichtes, sondern etwas immer wieder Herzustellendes ist. Dabei müssen wir beachten, daß die Art der jeweils erlebten Angst und ihr Intensitätsgrad in großem Maße abhängig sind sowohl von unserer mitgebrachten Anlage, von unserem »Erbe«, als auch von den Umweltbedingungen, in die wir hineingeboren werden; sowohl von unserer körperlichen und seelisch-geistigen Konstitution also, wie auch von unserer persönlichen Biographie, der Geschichte unseres Gewordenseins. Denn auch unsere Ängste haben eine Geschichte, und wir werden sehen, von wie großer Bedeutung dafür unsere Kindheit ist. So ist Angst bei jedem Menschen durch Anlage und Umwelteinflüsse mitgetönt, was zum Teil auch erklärt, warum uns manche Ängste anderer schwer einfühlbar sind - sie entstanden bei ihnen aus Lebensbedingungen, die von den unseren zu sehr abwichen. Anlage und Umwelt - zu welcher neben der Familie, dem »Milieu«, auch die Gesellschaft gehört - können also bestimmte Ängste begünstigen, andere zurücktreten lassen. Der weitgehend gesunde Mensch - der in seiner Entwicklung nicht Gestörte - wird im allgemeinen mit den Ängsten umgehen und sie vielleicht auch überwinden können. Der in seiner Entwicklung Gestörte erlebt Ängste sowohl intensiver als häufiger, und eine der Grundformen der Angst wird bei ihm das Übergewicht haben. Schwer belastend und krank machend kann eine Angst werden, wenn sie entweder ein gewisses Maß übersteigt, oder wenn sie zu lange anhält. Am schwersten belastend sind Ängste, die zu früh in der Kindheit erlebt werden, in einem Alter, wo das Kind noch keine Abwehrkräfte gegen sie entwickeln konnte. Immer, wenn eine Angst durch Intensität oder Dauer zu groß wird, oder wenn sie uns in einem Alter trifft, wo wir ihr noch nicht gewachsen sind, kann sie schwer verarbeitet werden. Der aktivierende positive Aspekt der Angst fällt dann fort; Entwicklungshemmungen, Stehenbleiben oder auch Zurückgleiten in frühere, kindlichere Verhaltensweisen, sowie Symptombildungen sind die Folge. Verständlicherweise werden wir nicht altersgemäße Angsterlebnisse
sowie zu große Angstquantitäten, die das Maß des Erträglichen übersteigen, besonders im Kindesalter antreffen. Das schwache, in der Entwicklung begriffene Ich des Kindes kann gewisse Angstquantitäten noch nicht verarbeiten; es ist dafür auch die Hilfe von außen angewiesen und wird Schädigungen davontragen, wenn es mit solchen übergroßen Ängsten alleingelassen wird. Beim Erwachsenen können seltenere Ausnahmesituationen wie Krieg, Gefangenschaft, Lebensgefährdungen, Natur- und sonstige Katastrophen, aber auch innerseelische Erlebnisse und Prozesse ebenfalls seine Toleranzgrenze für Ängste überschreiten, so daß er mit Panik, mit Kurzschlußhandlungen oder Neurosen darauf reagiert. Unter normalen Bedingungen hat aber der Erwachsene dem Kinde gegenüber eine viel reichere Auswahl an Antwortmöglichkeiten und Gegenkräften gegen die Angst: Er kann sich wehren, seine Situation durchdenken und die Angstauslöser erkennen; er kann vor allem verstehen, woher seine Angst stammt; er kann sie mitteilen und so Verständnis und Hilfe bekommen, und er kann die möglichen Gefährdungen richtig einschätzen. All das steht dem Kind noch nicht zur Verfügung; je kleiner es ist, desto mehr ist es nur Objekt seiner Ängste, ihnen hilflos ausgeliefert, ohne Wissen, wie lange sie anhalten werden und was alles geschehen kann. Wir werden sehen, wie das Überwertigwerden einer der vier Grundängste - oder, von der anderen Sicht her gesehen, das weitgehende Aufgeben eines der vier Grundimpulse - uns zu vier Persönlichkeitsstrukturen führt, zu vier Arten des In-der-Welt-Seins, die wir in Abstufungen alle kennen und an denen wir alle mehr oder weniger akzentuiert Anteil haben. Diese Persönlichkeitsstrukturen sind also zu verstehen als einseitige Akzentuierung in bezug auf die vier Grundängste. Je ausgeprägter und einseitiger die zu beschreibenden Persönlichkeitsstrukturen sind, desto wahrscheinlicher ist es, daß sie aufgrund frühkindlicher Entwicklungsstörungen entstanden sind. Dementsprechend wäre es als ein Zeichen von seelischer Gesundheit anzusehen, wenn jemand die vier Grundimpulse in lebendiger Ausgewogenheit zu leben vermöchte was zugleich bedeutete, daß er sich auch mit den vier Grundformen der Angst auseinandergesetzt hat. Die vier Persönlichkeitsstrukturen sind zunächst Normalstrukturen mit gewissen Akzentuierungen. Wird indessen die Akzentuierung zu ausgesprochener Einseitigkeit, erreicht sie Grenzwerte, die als Zerrformen oder Extremvarianten der vier normalen Grundstrukturen zu verstehen sind. Wir stoßen damit auf die neurotischen Varianten der Strukturtypen, wie sie die Psychotherapie
und Tiefenpsychologie in den vier großen Neuroseformen der Schizoidie, der Depression, der Zwangsneurose und der Hysterie beschrieben hat. Diese neurotischen Persönlichkeiten spiegeln also jeweils nur in zugespitzter oder extremer Form allgemeinmenschliche Daseinsformen, die wir alle kennen. Es handelt sich damit letztlich um vier verschiedene Arten des In-der-Welt-Seins; bei ihrer Schilderung will ich die Folgen jener Einseitigkeit von noch durchaus gesund zu nennenden Erscheinungsformen über leichtere, schwere bis zu den schwersten Störungen beschreiben. Konstitutionell entgegenkommende Anlagen sollen dabei berücksichtigt werden; vor allem aber wird unser Interesse den lebensgeschichtlichen Hintergründen gelten. Zuvor noch eine Zwischenbemerkung: Soweit die Beschreibung der vier Persönlichkeitsstrukturen den Charakter einer Typenlehre anzunehmen scheint, unterschiede sich diese von anderen Typologien insofern, als sie - vorwiegend auf psychoanalytischen Erkenntnissen und Erfahrungen der Psychotherapie und Tiefenpsychologie aufbauend - weniger fatalistisch und endgültig festlegend wäre, als vergleichsweise aus der Konstitution oder dem Temperament abgeleitete Typen; die letzteren stellen sich als schicksalhaft gegeben und unabänderlich dar - sie sind nur hinzunehmen. Mir geht es hier um anderes. Nicht nur, weil ich einen bestimmten Körperbau habe, bin ich so oder so, sondern weil ich eine bestimmte Einstellung, ein bestimmtes Verhalten zur Welt, zum Leben habe, das ich aus meiner Lebensgeschichte erworben habe, prägt das meine Persönlichkeit und verleiht ihr bestimmte strukturelle Züge. Was daran schicksalhaft ist - die mitgebrachte psychophysische Anlage, die Umwelt unserer Kindheit mit den Persönlichkeiten unserer Eltern und Erzieher, sowie die Gesellschaft mit ihren Spielregeln, in die wir hineingeboren werden - ist in gewissen Grenzen durch uns selbst zu gestalten, kann verändert werden, ist jedenfalls nicht nur ein Hinzunehmendes. Die hier gemeinten Persönlichkeitsstrukturen wollen als Teilaspekte eines ganzheitlichen Menschenbildes verstanden werden. Die Nachentwicklung zunächst schicksalhaft ungenügend entwickelter, vernachlässigter, fehlgeleiteter oder überfremdeter und unterdrückter Teilaspekte unseres Wesens kann die erworbene Struktur verändern und vervollständigen zugunsten jener vorschwebenden Ganzheit oder Reife, Abrundung, in dem Ausmaß, wie es der einzelne für sich zu erlangen vermag. Wir gehen also hier von vier allgemeingültigen Grundeinstellungen und Verhaltensmöglichkeiten aus gegenüber den Bedingungen und Abhängigkeiten unseres Daseins, wobei uns das kos-
mische Vorbild der lebendigen Ordnung und Ausgewogenheit scheinbar unvereinbarer Gegensätze vorschwebt. Das Beibehalten der Begriffsbezeichnungen aus der Neurosenlehre für die vier Strukturtypen, auch für den sogenannten Gesunden, hat praktische Vorteile, weil bei diesen Begriffen immer zugleich die lebensgeschichtliche Entstehung und die neurotische Variante mitgesehen werden kann; zugleich haben sie sich inzwischen so weit eingebürgert, daß eine Neubenennung überflüssig erscheint. Der Leser wird das vermutlich bald verstehen, wenn ihm die Begriffe der Schizoidie, Depression usf. aus der Schilderung geläufig und plastisch in seiner Vorstellung geworden sind. Ich habe es in diesem Buch vermieden, die im Schrifttum meist anzutreffende Unterscheidung zwischen Angst und Furcht aufzugreifen. Sie war mir für mein Grundkonzept unwesentlich; zudem erscheint sie mir auch nicht zwingend und überzeugend genug, wie es in der Unsicherheit der Verwendung beider Begriffe im üblichen Sprachgebrauch zum Ausdruck kommt: Wir sprechen sowohl von Todesangst wie von Todesfurcht und können die beiden Begriffe nicht ohne Gewaltsamkeit differenzieren. Der gewöhnlich gemachte Unterschied, Furcht auf etwas Bestimmtes, Konkretes zu beziehen, Angst dagegen auf etwas Unbestimmtes, mehr Irrationales, mag eine gewisse Berechtigung haben, ist aber auch nicht immer stichhaltig, wie etwa bei der Gottesfurcht, die nach obiger Unterscheidung Gottesangst heißen müßte. Ich habe daher bewußt darauf verzichtet, eine begriffliche Trennung von Angst und Furcht hier vorzunehmen. Dieses Buch ist geschrieben, um dem einzelnen leben zu helfen, um ihm mehr Selbst- und Fremdverständnis zu vermitteln, und um die Wichtigkeit unserer Anfangsjahre für unsere Entwicklung deutlich zu machen. Es ist auch geschrieben, um den Sinn zu wekken, wieder zu erwecken, für die großen Zusammenhänge, denen wir eingefügt sind und von denen wir, wie ich meine, Wesentliches lernen können.
Die schizoiden Persönlichkeiten »Auf, laß uns anders werden als die Vielen, die da wimmeln in dem allgemeinen Haufen.« (Spitteler)
Wir wollen uns nun den Persönlichkeiten zuwenden, deren grundlegendes Problem - von der Seite der Angst her gesehen - die Angst vor der Hingabe ist und die zugleich - von der Seite der Grundimpulse her betrachtet - den Impuls zur »Eigendrehung«, das hieße psychologisch also: zur Selbstbewahrung und Ich-Abgrenzung, überwertig leben. Wir nennen sie die schizoiden Menschen. Wir alle haben den Wunsch, ein unverwechselbares Individuum zu sein. Wie sehr, merken wir etwa daran, wie empfindlich wir reagieren, wenn jemand unseren Namen verwechselt oder entstellt: wir wollen nicht beliebig austauschbar sein; wir wollen das Bewußtsein unserer Einmaligkeit als Individuum haben. Das Bestreben, uns von anderen zu unterscheiden, ist uns ebenso mitgegeben wie das dazu gegensätzliche, als soziale Wesen zu Gruppen oder Kollektiven dazuzugehören. Wir wollen sowohl unseren persönlichen Interessen leben dürfen, als wir auch in partnerschaftlicher Verbundenheit und mitmenschlicher Bezogenheit und Verantwortung stehen möchten. Wie wird es sich nun auswirken, wenn ein Mensch, die Hingabeseite vermeidend, vorwiegend die Selbstbewahrung zu leben versucht? Sein Streben wird vor allem dahin gehen, so unabhängig und autark wie möglich zu werden. Auf niemanden angewiesen zu sein, niemanden zu brauchen, niemandem verpflichtet zu sein ist ihm entscheidend wichtig. Deshalb distanziert er sich von den Mitmenschen, braucht er Abstand zu ihnen, läßt er sie sich nicht zu nahe kommen, läßt er sich nur begrenzt mit ihnen ein. Wird diese Distanz überschritten, empfindet er das als Bedrohung seines Lebensraumes, als Gefährdung seines Unabhängigkeitsbedürfnisses, seiner Integrität, und wehrt sich schroff dagegen. So entwickelt er die für ihn typische Angst vor mitmenschlicher Nähe. Nun läßt sich aber Nähe im Leben nicht vermeiden, und daher sucht er nach Schutzhaltungen, hinter denen er sich gegen sie abschirmen kann. Er wird dann vor allem persönlich-nahe Kontakte vermeiden, niemanden im Intimen an sich heranlassen. Er scheut Begegnungen mit einem Einzelnen, einem Partner, und versucht, menschliche Beziehungen zu versachlichen. Wenn er sich unter Menschen begibt, fühlt er sich am wohlsten in Gruppen oder Kollektiven, wo
er anonym bleiben kann, und doch über gemeinsame Interessen ein Dazugehören erlebt. Am liebsten hätte er die Tarnkappe des Märchens verfügbar, unter deren Schutz er unerkannt am Leben der anderen teilnehmen und in es eingreifen könnte, ohne etwas von sich preisgeben zu müssen. Auf die Umwelt wirken solche Menschen fern, kühl, distanziert, schwer ansprechbar, unpersönlich bis kalt. Oft erscheinen sie seltsam, absonderlich, in ihren Reaktionen unverständlich oder befremdend. Man kann sie lange kennen, ohne sie wirklich zu kennen. Hat man heute zu ihnen scheinbar einen guten Kontakt gehabt, verhalten sie sich morgen so, als hätten sie uns nie gesehen; ja, je näher sie uns gerade gekommen waren, um so schroffer wenden sie sich plötzlich von uns ab, uneinfühlbar, oft mit grundlos erscheinender Aggression oder Feindseligkeit, die verletzend für uns ist. Das Vermeiden jeder vertrauten Nähe aus Angst vor dem Du, vor sich öffnender Hingabe, läßt den schizoiden Menschen mehr und mehr isoliert und einsam werden. Seine Angst vor der Nähe wird besonders da konstelliert, wo jemand ihm oder wo er jemandem zu nahe kommt. Da Gefühle der Zuneigung, der Sympathie, der Zärtlichkeit und Liebe uns einander am nächsten kommen lassen, erlebt er sie als besonders gefährlich. Das erklärt, warum er gerade in solchen Situationen abweisend, ja feindlich wird, den anderen abrupt zurückstößt: Er schaltet plötzlich ab, bricht den Kontakt ab, zieht sich auf sich selbst zurück und ist nicht mehr zu erreichen. Zwischen ihm und der Umwelt klafft dadurch eine breite Kontaktlücke, die mit den Jahren immer breiter wird und ihn mehr und mehr isoliert. Das hat nun immer problematischere Folgen: Durch die Ferne zur mitmenschlichen Umwelt weiß er zu wenig von anderen; es entstehen zunehmend Lücken in der Erfahrung über sie, und daraus Unsicherheiten im mitmenschlichen Umgang. So weiß er nie recht, was im anderen vorgeht, denn das erfährt man, wenn überhaupt, ja nur in vertrauter Nähe und liebender Zuwendung. Daher ist er auf Vermuten und Wähnen angewiesen in seiner mitmenschlichen Orientierung, und deshalb wieder zutiefst unsicher, ob seine Eindrücke und Vorstellungen von anderen, ja schließlich sogar, ob seine Wahrnehmungen nur seine Einbildung und Projektion, oder aber Wirklichkeit sind. Ein Bild, das wohl Schultz-Hencke zuerst in diesem Zusammenhang gebraucht hat für die Schilderung der Weltbefindlichkeit dieser Menschen, soll das Gemeinte deutlicher machen - wir haben diese Situation alle schon einmal erlebt: Wir sitzen in einem Zug
im Bahnhof; auf dem Nachbargleis steht ebenfalls ein Zug; plötzlich bemerken wir, daß einer der beiden Züge sich bewegt. Da die Züge heute sehr sanft und fast unmerklich anfahren, haben wir keine Erschütterung, keinen Ruck verspürt, so daß wir nur den optischen Eindruck einer Bewegung feststellen. Wir vermögen uns nun nicht gleich zu orientieren, welcher der beiden Züge fährt, bis wir an einem feststehenden Gegenstand draußen zu realisieren vermögen, daß etwa unser Zug noch steht, und der Nachbarzug sich in Bewegung gesetzt hat, oder umgekehrt. Dieses Bild kann uns sehr treffend die innere Situation eines schizoiden Menschen deutlich machen: Er weiß nie genau - in einem Ausmaß, das alle auch beim Gesunden mögliche Unsicherheit weit übersteigt - ob das, was er fühlt, wahrnimmt, denkt oder sich vorstellt, nur in ihm selbst existiert, oder auch draußen. Durch seinen lockeren Kontakt zur mitmenschlichen Welt fehlt ihm die Orientierungsmöglichkeit in ihr, und so schwankt er in der Beurteilung seiner Erlebnisse und Eindrücke zwischen dem Zweifel, ob er sie als Wirklichkeit hinaus verlegen kann, oder ob sie nur seine »Einbildung« sind, nur seiner Innenwelt angehören: Blickt mich der andere wirklich spöttisch an oder bilde ich mir das nur ein? War der Chef heute wirklich besonders kühl mir gegenüber, hat er etwas gegen mich, war er anders als sonst - oder meine ich das nur? Habe ich etwas Auffälliges an mir, stimmt etwas nicht an mir, oder tausche ich mich, daß mich die Leute so komisch ansehen? Diese Unsicherheit kann alle Schweregrade annehmen, von immer wachem Mißtrauen und krankhafter Eigenbezüghchkeit bis zu eigentlich wahnhaften Einbildungen und Wahrnehmungstäuschungen, bei denen man dann innen und außen tatsächlich verwechselt, ohne daß die Verwechslung als solche erkannt wird, weil man nun seine Projektionen für die Wirklichkeit hält. Man kann sich vorstellen, wie quälend und zutiefst beunruhigend es sein muß, wenn diese Unsicherheit ein Dauerzustand ist, vor allem, weil man ja gerade wegen des erwähnten Mangels an Nahkontakt, sie nicht korrigieren kann. Denn jemanden darüber zu befragen, ihm seine Unsicherheit und Angst mitzuteilen, würde eine vertraute Nähe voraussetzen; da man diese zu niemandem hat, glaubt man befürchten zu müssen, nicht verstanden, verlacht oder gar für verrückt gehalten zu werden. Voller Mißtrauen und aus ihrer tiefen Ungeborgenheit heraus, die, wie wir noch sehen werden, sowohl primär Ursache als sekundär auch Folge ihres lockeren mitmenschlichen Kontaktes ist, werden schizoide Menschen zur Sicherung nun besonders stark die Funktionen und Fähigkeiten entwickeln, die ihnen zu einer besse-
ren Orientierung in der Welt zu verhelfen versprechen: Die Wahrnehmung durch die Sinnesorgane, den erkennenden Intellekt, das Bewußtsein, die Ratio. Da sie besonders alles Emotionale, Gefühlshafte verunsichert, streben sie die von Gefühlen abgelöste »reine« Erkenntnis an, die ihnen Resultate zu liefern verspricht, auf die sie sich verlassen können. Man kann schon hier verstehen, daß sich schizoide Menschen vor allem den exakten Wissenschaften zuwenden, die ihnen diese Sicherheit und AbgelÖstheit vom subjektiven Erleben vermitteln sollen. Gegenüber der Entwicklung dieser rationalen Seiten bleibt die des Gefühlslebens zurück; denn dafür ist man auf ein Du, auf einen Partner angewiesen, auf emotionale Bezogenheit und Gefühlsaustausch. So ist es für diese Menschen charakteristisch, daß sie, bei oft überdurchschnittlicher Intelligenzentwicklung, im Emotionalen zurückgeblieben wirken; das Gefühlshafte bleibt bei ihnen oft unterentwickelt, ja zuweilen verkümmert. Das ergibt eine breite Kontaktunsicherheit, die der Grund für unendlich viele Schwierigkeiten im Alltagsleben bei ihnen werden kann; es fehlen ihnen die »Mitteltöne« im mitmenschlichen Umgang, sie haben dafür keine Nuancen verfügbar, so daß ihnen schon einfachste Kontakte zum Problem werden können. Dafür ein Beispiel: Im Rahmen seiner Ausbildung sollte ein Student ein Referat halten. Kontaktlos, wie er war, zugleich »arrogant« - hinter welcher Haltung er seine Unsicherheit verbarg - kam er nicht auf den Gedanken, einen Kollegen zu fragen, wie so etwas üblicherweise gehandhabt würde. Er quälte sich allein mit Problemen herum, die nur in ihm, nicht in der Sache lagen. Er war sich völlig unsicher darüber, ob seine Ausführungen den Erwartungen entsprechen würden, schwankte in ihrer Beurteilung zwischen Selbstüberschätzung und Minderwertigkeitsgefühlen, indem sie ihm einmal großartig, ja einmalig-genial erschienen, dann wieder als völlig banal und ungenügend. Es fehlten ihm eben die Vergleiche mit den Referaten anderer. Er meinte, es sei vor den Kollegen peinlich und er würde sich etwas vergeben, wenn er sie um Rat gefragt hätte - er wußte nicht, daß so etwas durchaus üblich war. So hatte er wegen seiner Unbezogenheit ganz überflüssige und überwertige Ängste, die er sich weitgehend hätte ersparen können, wäre er in natürlichem, kollegialem Kontakt gestanden. Solche und ähnliche Situationen und Verhaltensweisen häufen sich im Leben schizoider Menschen; sie tragen viel dazu bei, ihnen schon banale und alltägliche Situationen ungemein zu erschweren; sie realisieren nicht, daß ihre Schwierigkeiten auf der Kontaktebene liegen und nicht in einem Mangel an Fähigkeiten.
Der schizoide Mensch und die Liebe Wie schon gesagt, werden dem schizoiden Menschen besonders die Entwicklungsschritte zum Problem, bei denen es um mitmenschlichen Kontakt geht: Der Eintritt in den Kindergarten, in die Klassengemeinschaft; die Pubertät und die Begegnung mit dem anderen Geschlecht; die partnerschaftlichen Beziehungen und alle Bindungen. Da bei ihm jede Nähe Angst auslöst, muß er sich um so mehr zurücknehmen, je näher er jemandem kommt, je mehr er vor allem in die Gefahr des Liebens oder des Geliebtwerdens kommt, das er sich nur als ein Sichausliefern und Abhängigwerden vorstellen kann. In der Kindheit auftretende Schwierigkeiten im mitmenschlichen Kontakt sollten von Eltern und Erziehern als beginnende schizoide Problematik erkannt werden, die vielleicht noch aufzufangen oder doch gemildert werden kann, bevor sie sich tiefer eingespurt hat: Wenn ein Kind Kontaktschwierigkeiten im Kindergarten oder in der Klasse hat; wenn es keinen Freund findet; wenn es sich als Außenseiter und Einzelgänger erlebt oder von anderen so erlebt wird; wenn ein junger Mensch um die Pubertät herum Beziehungen zum anderen Geschlecht meidet, sich statt dessen in Bücher vergräbt, Kontakten aus dem Weg geht, Basteleien oder sonstige Dinge tut, bei denen er immer allein ist; wenn er schwere weltanschauliche Krisen in dieser Zeit durchmacht, mit einsamen Grübeleien über den Sinn des Lebens, ohne sich mit anderen darüber auszutauschen - all das sind Alarmzeichen, die man verstehen, bei denen sich die Eltern beraten lassen sollten. Noch problematischer pflegt für schizoide Persönlichkeiten die Zeit der zur Partnerschaft drängenden Nachpubertät zu werden. Denn in der Liebe kommen wir einander am nächsten, seelisch und körperlich. In jeder liebenden Begegnung ist unser Eigen-Sein und unsere Unabhängigkeit gleichsam gefährdet, um so mehr, je mehr wir uns dem Du öffnen, um so mehr aber auch, je mehr wir uns selbst bewahren wollen. Daher werden diese Begegnungen oft zu den Klippen, an denen ihnen ihre Problematik, die bisher vielleicht noch unbewußt, ihnen selbst verborgen war, nun schmerzlich bewußt wird. Wie soll ein solcher Mensch die nun wachsende Sehnsucht nach Nähe und Austausch, nach Zärtlichkeit und Liebe, wie soll er vor allem das aufkommende sexuelle Begehren an einen anderen herantragen? Auf Grund der beschriebenen Kontaktlücken und der fehlenden »Mitteltöne« im mitmenschlichen Umgang, die sich bis zu diesem Alter bereits zu einer weitgehenden Ungeübtheit im Verkehr mit Menschen ausgewachsen haben,
ist für ihn das Integrieren der Sexualität besonders schwierig. Ihm fehlen die Zwischentöne des Sich-Verhaltens auch hier: Ihm steht weder die werbend-erobemde, noch die verführend-hingebende Seite zur Verfügung. Zärtlichkeit, verbaler oder emotionaler Ausdruck von Zuneigung, sind ihm fremd, und ihm fehlt auch weitgehend die Einfühlung, das Sich-in-einen-anderen-versetzen-Können. Die Lösungsversuche des Konfliktes zwischen dem drängenden Begehren und der Angst vor mitmenschlicher Nähe können verschieden aussehen. Häufig so, daß er sich nur auf unverbindliche, leicht zu lösende, oder auf rein sexuelle Beziehungen einläßt, in denen er die Sexualität von seinem Gefühlserleben gleichsam abspaltet. Der Partner ist für ihn dann nur noch »Sexualobjekt«, das der Befriedigung seiner Sinne dient, darüber hinaus nicht mehr interessiert. Aber auch wegen der emotionalen Unbeteiligtheit sind seine partnerschaftlichen Beziehungen leicht austauschbar. So schützt er sich davor, daß, bei tieferem Sicheinlassen mit dem Du, seine ganze Unbeholfenheit und Unerfahrenheit in Gefühlsdingen offenbar würde, zugleich auch vor der Gefahr des Liebens. Aus dem gleichen Grund pflegt er auch Zeichen der Zuneigung von seiten des Partners abzuwehren - er weiß nicht, wie er sie beantworten soll, sie sind ihm eher peinlich. Ein Mann ging auf ein Ehevermittlungsbüro und suchte sich nach den ihm vorgelegten Fotografien die Frau aus, die ihm am wenigsten gefiel - sie konnte ihm wenigstens nicht gefährlich werden, konnte keine Liebesgefühle in ihm auslösen. Eine Frau konnte sich einem Mann nur dann körperlich hingeben, wenn sie wußte, daß sie ihn danach wahrscheinlich nie wiedersehen würde. Ein verheirateter Mann hatte in der gleichen Stadt, in der er mit seiner Familie wohnte, noch eine geheime Wohnung; in Abständen zog er sich in diese zurück, war dann für jedermann unerreichbar, bis er wieder die Neigung fühlte, zu seiner Familie zu gehen. Er brauchte das, um sich vor zuviel Nähe und dem Gefühlsanspruch seiner Frau und seiner Familie abzuschirmen (die ihrerseits gerade wegen diesem Sichentziehen ihn fester zu binden versuchten, damit nun wieder sein Bedürfnis nach seiner Zuflucht verstärkten). Aus den Beispielen läßt sich ersehen, wie groß die Angst schizoider Menschen ist, sich zu binden, sich festzulegen, abhängig oder überrannt zu werden; nur so lassen sich ihre oft seltsam und unverständlich anmutenden Reaktionen begreifen. Das einzige, was dem schizoiden Menschen wirklich gehört und ihm einigermaßen vertraut ist, ist er selbst; daher seine Empfindlichkeit gegen
wirkliche oder vermeintliche Gefährdung seiner Integrität, gegen Übergriffe und ihn überfremdende Einbrüche in seine Distanz, die er braucht, um seinen Halt an sich selbst nicht zu verlieren. Natürlich läßt solches Verhalten eine Atmosphäre von Vertrautheit oder gar Innigkeit gar nicht aufkommen. Aus seinem Lebensgefühl heraus empfindet er Bindungen als Zwang, zu viel von sich aufgeben zu müssen, was natürlich vor allem bei Partnern möglich wird, die viel Zuwendung und Nähe des anderen brauchen. Die Bindungsscheu kann soweit gehen, daß er noch vor dem Traualtar oder dem Standesamt umkehrt. Ein junger Mann verlobte sich auf das Drängen seiner Freundin sie kannten sich schon seit Jahren, er wollte sich aber nicht binden. Er kam mit den Ringen zu ihr und sie feierten zusammen die Verlobung. Als er ihr Haus verließ, warf er einen bereits vorher geschriebenen Brief in ihren Briefkasten, der die eben geschlossene Verlobung wieder aufhob. Ähnliche Verhaltensweisen sind bei schizoiden Menschen gar nicht selten. Oft sind sie aus der Ferne gute und zugewandte Briefschreiber, nehmen sich aber im persönlichen Nahkontakt sofort wieder zurück und verschließen sich. Durch die erwähnte Abspaltung der Sexualität vom Gefühlsleben wird das Triebhafte gleichsam isoliert gelebt; der Partner wird dadurch nicht nur zum »Sexualobjekt«, sondern das ganze Liebesleben kann, sich in einem nur noch funktionellen Vorgang erschöpfen. Er kennt dann kein zärtliches Vorspiel, keine Erotik, sondern geht unbekümmert um die Bedürfnisse des Partners direkt auf sein Ziel los. Zärtlichkeit artet leicht in dem Partner Wehtun aus, in harten Zugriff oder sonstiges Zufügen von Schmerzen. Dahinter kann unbewußt der Wunsch nach einer spürbaren Reaktion des Partners stehen. Weiterhin besteht die Neigung, den Partner nach der erreichten Befriedigung baldmöglichst wieder loszuwerden. »Nachher« - gemeint war der Geschlechtsakt - hätte ich sie am liebsten hinausgeworfen« war der charakteristische Ausspruch eines schizoiden Mannes, der seine Angst vor den Gefühlsansprüchen der Partnerin zeigt. Schwieriger wird es, wenn der Schizoide die schroffe Ambivalenz zwischen Liebes- und Haßgefühlen, seinen tiefen Zweifel in das Geliebtwerdenkönnen, am Partner austrägt. Dann setzt er diesen immer neuen Bewährungsproben aus, fordert von ihm immer neue Liebesbeweise, die seinen Zweifel beheben sollen. Das kann sich bis zum seelischen und zum eigentlichen Sadismus steigern. Sein Verhalten kann dann ausgesprochen destruktiv werden; Liebesbeweise und Zeichen der Zuneigung des Partners werden abge-
wertet, bagatellisiert, analysiert, angezweifelt oder in diabolisch geschickter Weise als Tendenz umgedeutet. So wird etwa eine spontane Zuwendung des Partners als Ausdruck eines schlechten Gewissens, von Schuldgefühlen oder als Bestechungsversuch (»was willst du damit erreichen?«; »du hast wohl etwas gutzumachen?«) gedeutet. Die meist vorhandene gute theoretisch-abstrakte psychologische Kombinationsgabe bietet unendliche Möglichkeiten für solche tendenziösen Umdeutungen. In dem Roman »Das Ruhekissen« hat Christiane Rochefort eine solche Beziehung ausgezeichnet geschildert, besonders überzeugend auch dargestellt, wie eine liebesfähige Frau durch den schizoiden Partner mit der Zeit an ihre Toleranzgrenze gebracht wird. Nicht selten zerstört der schizoide Partner auch alle zärtlichen Regungen bei sich und dem Partner durch Zynismus, um sich von ihnen nicht erfassen zu lassen. In einem Augenblick besonders inniger Zuwendung des Partners, trifft er diesen seelisch an seiner verletzlichsten Stelle, indem er seine Haltung, seinen Gesichtsausdruck oder seine Worte ironisierend ins Lächerliche zieht: »Mach doch nicht so hündisch treue Augen«; »wenn du wüßtest, wie komisch du eben ausgesehen hast«; oder: »laß doch diese albernen Liebesbeteuerungen und kommen wir endlich zur Sache« usf. Natürlich wird so im Partner systematisch alle Liebesbereitschaft zerstört, es sei denn, daß er eine ungewöhnliche Liebesfähigkeit hat, oder der masochistisehe Gegentypus ist, der aus Schuldgefühlen, aus Verlustangst oder anderer Motivierung glaubt, das alles mit in Kauf nehmen zu müssen, oder Lust am Gequältwerden empfindet. Sonst muß er sich schließlich zurücknehmen oder zu hassen beginnen, was dann von dem schizoiden Partner mit einem Triumphgefühl erlebt werden kann (»jetzt kommt dein wahres Wesen zum Vorschein«), ohne zu realisieren, wie weit er den anderen durch sein Verhalten erst soweit gebracht hat. Die autobiographischen Romane Strindbergs enthalten viel von solcher schizoiden Tragik, bringen zugleich eindrucksvolle Beschreibungen der lebensgeschichtlichen Hintergründe solcher Persönlichkeitsentwicklungen (z.B. »Der Sohn einer Magd«). Auch Axel Borg, die Hauptgestalt seines Romanes »Am offenen Meer«, ist ein glänzend geschilderter schizoider Mensch, mit deutlich autobiographischen Zügen. Ist die Gefühlskälte noch weiter fortgeschritten, steigert sie sich ins Extreme und Krankhafte, kann die Grenze zu Vergewaltigungen bis zum Lustmord schmal sein, vor allem, wenn auf den Partner unverarbeitete Haßgefühle und Rachehaltungen unbewußt projiziert, »übertragen« werden, wie die Psychoanalyse es nennt,
die ursprünglich den ehemaligen Bezugspersonen der Kindheit gegolten haben. Eine nicht in das Persönlichkeitsganze integrierte, abgespaltene Triebseite ist indessen immer gefährlich; kommt dazu die weitgehende Unfähigkeit, sich in den Partner einzufühlen und die Gefühlsverkümmerung, sind alle Triebverbrechen denkbar. Aus der Schwierigkeit, mit einem Partner eine Gefühlsverbindung einzugehen, ja überhaupt einen Partner zu finden, suchen Schizoide auch oft, allein auszukommen, gleichsam sich selbst zum Partner zu nehmen in ausschließlicher Selbstbefriedigung. Oder sie weichen auf Ersatzobjekte aus, wie es etwa beim Fetischismus der Fall ist. Natürlich kann sich an solchen Ersatzobjekten ihre Liebesfähigkeit nicht entwickeln, obwohl auch diese Formen gestörter Liebesfähigkeit noch Elemente des Liebenwollens enthalten, noch Ausdruck ihrer suchenden Sehnsucht sind. Man findet bei schizoiden Menschen nicht selten eine infantil gebliebene Sexualentwicklung auch bei sonst hochdifferenzierten Persönlichkeiten. Die manchmal anzutreffende Wahl geschlechtlich unreifer Kinder oder Jugendlicher als Sexualpartner läßt sich daraus verstehen, daß der schwer Kontaktgestörte diesen gegenüber weniger Angst hat und mit dem kindlichen Zutrauen rechnen kann. Manchmal kommt bei ihm die unterdrückte Liebesfähigkeit und Hingabesehnsucht als extreme Eifersucht bis zum Eifersuchtswahn zum Durchbruch. Er spürt, wie wenig liebenswert er sich verhält, wie wenig liebesfähig er ist, und ahnt, daß er so kaum jemanden halten kann. Daher muß er überall Rivalen wittern, die er - oft mit Recht - für bessere Liebende und für liebenswerter hält. Harmlose, ganz natürliche Verhaltensweisen des Partners werden dann von ihm voller Spitzfindigkeit und Haarspalterei ins Hintergründige, Absichtliche und Dämonische umgedeutet. Das kann sich bis zum Beziehungswahn steigern, die Partnerschaft mit der Zeit unerträglich werden lassen und sie schließlich zerstören, mit einer Lust am Zerstören, unter der er selbst leidet, sich aber nicht anders verhalten kann. Die Motivierung kann dann so aussehen: Wenn es schon nicht möglich scheint, daß ich geliebt werden kann, zerstöre ich lieber selbst, was ich doch nicht halten kann - dann bin ich wenigstens der Handelnde und nicht nur der Erleidende. So kann man Verhaltensweisen verstehen, daß er gerade da, wo er lieben und geliebt werden möchte, sich besonders wenig liebenswert gibt. Wendet sich dann der Partner von ihm ab, ist ihm das weniger schmerzlich, als wenn er sich wirklich um ihn bemüht hätte, und dennoch verlassen würde. Solche Enttäuschungspro-
phylaxe ist bei schizoiden Menschen nicht selten; sie enthält meist unbewußt - zugleich den Aspekt einer Bewährungsprobe für den Partner: Wenn er mich trotz meines Verhaltens noch liebt, liebt er mich wirklich. Überall läßt sich dahinter erkennen, wie schwer es solchen Menschen ist, sich für liebenswert zu halten. In Extremfällen kann das Mißtrauen und die Eifersucht bis zum Mord führen: Wenn der Partner mich nicht liebt, soll er auch keinen anderen lieben können. Bewußt wird die Hingabeangst von schizoiden Menschen meist nur als Bindungsangst erlebt. Die Sehnsucht nach Hingabe, die ja auch zu unserem Wesen gehört, staut sich durch die Unterdrükkung auf und verstärkt die Angst, so daß Hingabe dann nur noch als völliges Sichausliefern, als Ich-Aufgabe und Verschlungen werden vom Du vorgestellt werden kann. Dadurch kommt es zu einer Dämonisierung des Partners, die nun rückwirkend wieder die Angst verstärkt, und manche sonst unverständliche Verhaltensweisen schizoider Menschen verständlicher macht, vor allem ihren plötzlichen Haß, der aus dem Gefühl der Bedrohtheit durch ein übermächtiges Du entsteht, ohne daß sie erkennen, daß ihre eigene Projektion dem anderen erst solche Macht verleiht. So fällt es dem schizoiden Menschen schwer, eine dauerhafte Gefühlsbeziehung zu wagen. Er neigt mehr zu kurzfristigen, intensiven, aber wechselnden Beziehungen. Die Ehe ist für ihn eine Institution mit allen Unvollkommenheiten menschlicher Einrichtungen, daher selbstverständlich auflösbar, wenn sie nicht mehr als befriedigend erlebt wird. Sie sollte den menschlichen Bedürfnissen mehr Rechnung tragen, und an sie angepaßt werden. Untreue ist seiner Meinung nach in einer Dauerbeziehung unvermeidlich; er fordert für sich Freiheit und ist - das allerdings mehr theoretisch und nicht immer so selbstverständlich in der Realität - bereit, sie auch dem Partner zuzugestehen. Oft ist er ein Theoretiker der Ehe, ein Ehereformer; zumindest wagt er es, gegen Konventionen und Traditionen seinen eigenen Lebensstil durchzusetzen und nach seiner Überzeugung zu leben. Darin zeigt er oft mehr Ehrlichkeit und Zivilcourage als viele andere. Manchmal hat er durchaus dauerhafte Beziehungen, schreckt nur vor deren Legalisierung zurück, weshalb es bei ihm häufiger zu eheähnlichen Bindungen ohne Heirat kommt. Bei frühem Ausfall einer Mutterbeziehung oder nach Enttäuschungen an der Mutter, findet man nicht selten Bindungen an ältere, mütterliche Frauen; diese können ihn vieles nachholen lassen, was er als Kind entbehren mußte. Solche Frauen vermögen manchmal Wärme und Geborgenheit zu geben ohne große eigene Ansprüche; es sind schenkende Frauen, die ein un-
mittelbares Verständnis für seine Situation haben, von ihm nicht erwarten, was er nicht geben kann, und ihn gerade dadurch mehr binden, als er es sonst zulassen könnte. Nur die tiefer Gestörten mit entsprechenden Früherfahrungen entwickeln einen ausgesprochenen Frauenhaß mit Racheimpulsen der Frau gegenüber. Da von dem Schizoiden in seiner Lebensgeschichte das Weibliche als unvertraut und bedrohlich erlebt wurde, finden wir bei ihm nicht selten die Hinwendung zum gleichen Geschlecht; oder sie wählen eine Partnerin, die durch quasi männliche Züge ihm nicht so »ganz anders« erscheint, wie eine sehr weibliche Frau. Die Beziehung ist dann oft eine mehr geschwisterlich-kameradschaftliche, fußt mehr auf gemeinsamen Interessen, als auf der erotischen Anziehung der Geschlechter. In allen Beziehungen erträgt er dauernde Nähe schwer - getrennte Schlafzimmer etwa sind ihm selbstverständliches Bedürfnis, und die Partnerin muß Verständnis dafür haben, will sie ihn nicht in die Abwehr und eine dann erzwungene Distanzierung treiben. Zusammenfassend können wir sagen, daß der schizoide Mensch aus welchen Gründen, werden wir noch besser verstehen - es wohl am schwersten hat, seine Liebesfähigkeit zu entwickeln. Er ist ungemein empfindlich gegen alles, was seine Freiheit und Unabhängigkeit einzuschränken droht; er ist in der Gefühlsäußerung karg und am dankbarsten, wenn ihm der Partner eine unaufdringliche Zuneigung, ein Stück Heimat und Geborgenheit gibt. Wer ihn zu nehmen versteht, kann mit seiner tiefen Zuneigung rechnen, die er nur nicht recht zeigen und zugeben kann. Der schizoide Mensch und die Aggression Hier und in den folgenden Abschnitten über die Aggression habe ich es vorgezogen, von Aggression statt von Haß zu sprechen, weil Aggression die häufigste Ausdrucksform des Hasses ist und in ihren verschiedenen Erscheinungsformen einleuchtender zu beschreiben ist. Angst und Aggression hängen eng zusammen; wahrscheinlich lösen ursprünglich Unlust und Angst erst die Aggression aus, wobei Unlust wohl die Vorform, die archaische Form der Angst in unserer Frühzeit ist. In dieser haben wir die späteren Möglichkeiten der Unlustverarbeitung und Angstüberwindung noch nicht zur Verfügung, sondern sind der Unlust und Angst hilflos ausgeliefert. Was sie in der Frühzeit auslöst, sind intensive Frustrationen wie Hunger, Kälte, Schmerzen; Störungen des Ei-
Penrhythmus und der Integrität des Lebensraumes; Überbelastungen der Sinnesorgane und Einschränkung der Bewegungsfreiheit; Überfremdung des Eigen-Seins durch zuviel überrennende Nähe und Eingriffe anderer; Einsamkeit. Angst ist in dieser Zeit also vor allem intensive Unlust; in jenen Situationen fallen beim Kleinstkind Angst und Aggression zeitlich praktisch noch zusammen: was Unlust und Angst auslöst, löst gleichzeitig Aggression, Wut aus. Was hat das Kleinstkind nun für die Angstbewältigung und für die Abfuhr von Unlust zur Verfügung? Zunächst nur ohnmächtige Wut, die sich im Schreien, später im Strampeln und Umsichschlagen, also in motorischer Entladung und Abreaktion äußert. Da es in der Frühstzeit noch keine Unterscheidung von Ich und Du gibt, sind diese Aggressionsäußerungen noch ganz ungerichtet, auf niemanden bezogen -sie sind einfach Abreaktionen von Unbehagen und Unlust zur Entlastung der Befindlichkeit, zur Entlastung des Organismus. Wir können hier von der archaischen Form der Aggression sprechen; sie äußert sich elementar, spontan, unkontrolliert und menschlich noch unbezogen, daher rücksichtslos und ohne Schuldgefühle - diese würden ja eine mitmenschliche Bezogenheit voraussetzen. Die Intensität der archaischen Angst ist ungemein groß, weil sie durch die völlige Hilflosigkeit des Kleinstkindes, von ihm als seine Existenz bedrohend erlebt wird, als Bedrohung seines gesamten Daseins. Entsprechend total wird die Aggression und die Wut erlebt - das Kind ist in solchen Situationen »ganz Wut« oder »ganz Angst«, nur noch besessen von dem Drang, sie abzureagieren, sie loszuwerden. Reflexhaftes sich Zusammenziehen, sich Zurücknehmen von der Welt, oder der beschriebene Bewegungssturm sind wohl die beiden Urformen der Reaktion auf Angst und Unlust auch bei anderen Lebewesen: die Flucht nach hinten, das sich Zurücknehmen bis zum Totstellreflex, oder die Flucht nach vorn, der Bewegungssturm, der Angriff. Bleibt nun ein schizoider Mensch weiterhin bindungslos, erlebt er sich auch weiterhin als ungeborgen, ungeschützt, ausgesetzt und gefährdet, wird er wirkliche oder vermeintliche Angriffe und Bedrohungen weiterhin als seine gesamte Existenz gefährdend erleben. Dementsprechend sind seine Reaktionen darauf noch ganz archaisch im oben beschriebenen Sinne: sofortige rücksichtslose Aggression, die nur bedacht ist auf das Beseitigen der Angst bzw. des Angstauslösers, auf die Entlastung seiner Befindlichkeit - »to get it out of one's System« sagen die Engländer sehr treffend. Man kann sich wohl vorstellen, wie gefährlich diese archaischen schizoiden Aggressionen werden können, die aus dem Gefühl der
existentiellen Bedrohtheit bei Menschen stammen, die kaum Bindungen kennen. Sie werden bei ihnen durch nichts gehalten, gebunden, sie sind nicht integriert in ihre Gesamtpersönlichkeit. So bleiben sie elementare Triebabfuhr ohne Rücksicht. Wie wir es schon bei der Sexualität gesehen hatten, bleibt auch ihre Aggression, bleiben ihre Affekte vom Gesamterleben isolierte, abgespaltene, rein triebhafte Abreaktion, sind nicht eingeschmolzen in ein ganzheitliches emotionales Erleben. Da es ihnen auch weitgehend an Einfühlung mangelt, sind praktisch keine bremsenden Kräfte vorhanden. So dient die Aggression weiterhin nur der Entlastung von Spannungen, wird unkontrolliert und ohne Schuldgefühle ausgelebt. Hinzu kommt, daß schizoide Menschen aus ihrer mitmenschlichen Unbezogenheit heraus keine Vorstellung von der Wirkung ihrer Affekte und Aggressionen auf andere haben - sie haben sich ja »nur« abreagiert; der andere ist ihnen dabei gar nicht so wichtig gewesen. Daher sind sie oft zu scharf, verletzend und brüsk, ohne es zu wissen. In einer Tageszeitung war zu lesen, daß ein Jugendlicher einen Knaben umgebracht hatte. Auf die Frage nach seinen Motiven gab er achselzuckend zur Antwort, er hätte keine besonderen Gründe gehabt - der Junge habe ihn irgendwie gestört. So gefährlich kann eine isolierte, vom Gesamterleben abgespaltene, durch nichts gebundene Aggression werden, die aus einer Bereitschaft zum Haß kommt, die durch kleinste Anlässe ausgelöst werden kann. Sie kann sich verselbständigen und alle denkbaren Extremformen annehmen, besonders, wenn sie sich mit dem ebenfalls nicht integrierten Sexualtrieb verbündet. Das »Selbstporträt des Jürgen Bartsch« gibt davon ein erschütterndes Zeugnis. Der amerikanische Psychiater Kinzel hat an Gefangenen festgestellt, daß die Aggressiven unter ihnen (violent men) einen doppelt so großen Schutzkreis (circle of protection) hatten, wie die nicht Aggressiven. Die Aggressiven - wir würden sie unter die Schizoiden rechnen - reagierten beim Überschreiten dieses Schutzkreises, dieser unsichtbaren, imaginären Grenze durch einen anderen, mit Panik, die sofort in wilden Angriff umschlug. Ein eindrucksvolles Beispiel für schizoide Weltbefindlichkeit, die ein Patient einmal so formulierte: »Wenn man meine Distanz durchbricht, kommt Haß auf.« Man wird an die von Konrad Lorenz beschriebenen Reaktionen bei Tieren erinnert, die mit heftiger Aggression den angreifenden, der ihre Reviergrenze übertritt (Konrad Lorenz: »Das sogenannte Böse«). Seine mitmenschliche Ungeborgenheit und Bindungslosigkeit, sowie das aus ihnen resultierende Mißtrauen, lassen den schizo-
iden Menschen die Annäherung eines anderen als Bedrohung erleben, die er zuerst mit Angst, der sofort die Aggression folgt, beantwortet. Dieses Lebensgrundgefühl Schizoider macht manche oft unverständlichen Reaktionen verstehbar. Eine archaische, nicht integrierte, abgespaltene Aggression kann bis zur Gewalttätigkeit gehen, die einen anderen wie ein lästiges Insekt beseitigt, wenn man sich durch ihn bedrängt fühlt. Wie alle ungebundenen, vom Gesamterleben abgespaltenen Triebe, kann sich auch die Aggression gefährlich verselbständigen und dann ins Asoziale oder Kriminelle führen. Aber auch abgesehen von solchen Extrembeispielen ist es für schizoide Menschen nicht leicht, ihre Aggressionen zu kontrollieren. Sie selbst leiden im allgemeinen nicht unter ihnen, um so mehr leidet aber ihre Umwelt. Was ursprünglich Angstabwehr war, kann bei ihnen zur lustvollen Aggressivität werden, die dann um ihrer selbst willen ausgeübt wird, bis zu allen möglichen Formen der Grausamkeit, des Sadismus. Schroffheit, plötzliche verletzende Schärfe, eisige Kälte und Unerreichbarkeit, Zynismus und sekundenschnelles Umschlagen von Zuwendung in feindselige Ablehnung sind ihre häufigsten Ausdrucksmöglichkeiten von Aggressionen. Ihnen fehlen auch hier die »Mitteltöne« beherrschter, gekonnter, situationsangemessener Aggression - letzteres allerdings nur von außen gesehen, denn aus ihrem Erleben heraus finden sie ihr Verhalten durchaus situationsadäquat. Bei schizoiden Menschen hat aber die Aggression oft noch eine andere Funktion als die der Abwehr und des Schutzes. Im Sinne der Urbedeutung des Wortes ad-gredi — an jemanden herangehen, ist sie für ihn ein Mittel, Kontakt aufzunehmen, oft das einzige, das ihm hierfür zur Verfügung steht. Aggression kann bei ihm daher eine Form der Werbung sein, die uns vergleichsweise erinnert an die noch ungekonnten Versuche der Annäherung an das andere Geschlecht, wie sie für die Pubertät charakteristisch sind. Hier wie beim Schizoiden besteht die gleiche Mischung aus Angst und Begehren, das Verbergen der Gefühle, das rauhe, aggressive Anfassen statt der nicht gewagten oder nicht gekonnten Zärtlichkeit, die Angst, sich zu blamieren, die Bereitschaft, sich sofort zurückzunehmen, das Umschlagen von Zuneigung in Abneigung und der Zynismus bei wirklichem oder vermeintlichem Abgelehntwerden. Es ist für den Umgang mit schizoiden Menschen wichtig, zu wissen, daß bei ihnen Aggressionen auch diese Bedeutung einer Werbung haben können. Aggressivität fällt ihnen leichter, als das Äußern von Zuneigung und anderen positiven Gefühlen. Auf
Grund ihrer großen Lücken im mitmenschlichen Kontakt haben sie auch hier eine breite Unsicherheit. Aus der psychotherapeutischen Arbeit mit ihnen wissen wir, daß, wenn man ihnen in gleichmäßiger Zuwendung die Zeit dafür läßt, ihre Kontaktlücken aufzufüllen, es ihnen am ehesten möglich wird, ihre Aggressionen zu integrieren, es zu lernen, mit ihnen adäquat umzugehen. Der lebensgeschichtliche Hintergrund Wie kann es nun zu schizoiden Persönlichkeitsentwicklungen kommen, zu jener überwertigen Angst vor der Hingabe und, entsprechend, zu dem überwertigen Betonen der »Eigendrehung«, der Selbstbewahrung? Konstitutionell entgegenkommend ist dafür einmal eine zartsensible Anlage, eine große seelische Empfindsamkeit, Labilität und Verwundbarkeit. Als Selbstschutz legt man dann eine Distanz zwischen sich und die Umwelt, weil man zu große physische und psychische Nähe wegen der radarähnlich fein reagierenden Sensibilität und gleichsam Durchlässigkeit als zu »laut« empfindet. So ist für den Schizoiden die Distanz notwendig, damit er überhaupt der Welt und dem Leben gewachsen ist. Die Distanz schafft ihm die Sicherheit und den Schutz, nicht von anderen überfremdet, überrannt zu werden; er ist von der Anlage her gleichsam ein zu offenes System, zu »hautlos«, muß sich daher abgrenzen und teilweise verschließen, um nicht von der Fülle aller aufgenommenen Reize überschwemmt zu werden. Die andere Möglichkeit ist die, daß eine besonders intensive motorisch-expansive, aggressiv-triebhafte Anlage vorliegt, eine geringe Bindungsneigung oder -fähigkeit, Anlagen, durch die man von früh an leichter als lästig oder störend empfunden wird. Dann macht man immer wieder die Erfahrung, daß man abgewiesen, zurechtgewiesen, in seiner Eigenart nicht bejaht und angenommen wird, und entwickelt daran das mißtrauische Sichzurücknehmen, das für diese Menschen so charakteristisch ist, zu einem typischen Wesenszug von ihnen wird. Nicht eigentlich zur Konstitution im eben verwendeten engeren Sinne zu rechnen, aber doch im Körperlichen liegend, zugleich aber bereits deutlicher auf die Umwelt als auslösenden Faktor weisend, wären körperliche oder sonstige Wesensmerkmale zu nennen, durch die ein Kind von Anfang an die Erwartungen und Wunschvorstellungen seiner Eltern, vor allem der Mutter, enttäuscht. Das kann schon darin liegen, daß es nicht das erwünschte
Geschlecht hat, aber auch an beliebigen anderen physischen Merkmalen, die es der Mutter schwer machen, ihm die Zuwendung und Zuneigung zu geben, die es hier braucht; auch unerwünschte Kinder sind hier zu erwähnen. Zu diesen konstitutionellen Aspekten - bei denen aber oft die Reaktion der Umwelt darauf mehr für die schizoide Entwicklung verantwortlich zu sein pflegt, als die Anlage selbst - kommen aber nun Umweltfaktoren als wesentlichste Auslöser schizoider Persönlichkeitsentwicklungen hinzu. Um das besser verstehen zu können, müssen wir uns die Situation des Kindes nach der Geburt und in den ersten Lebenswochen vor Augen führen. Im Gegensatz zu anderen Lebewesen ist das Kind nach der Geburt in einer sehr lange währenden extremen Hilflosigkeit und völligen Abhängigkeit von seiner Umgebung. Adolf Portmann hat in diesem Zusammenhang vom Menschen als einem zu früh Geborenen gesprochen. Damit sich das Kind allmählich vertrauend der Umwelt zuwenden und die erste Du-Findung vollziehen kann, muß ihm diese Umwelt annehmbar und vertrauenerweckend erscheinen. Annehmbar im Sinne von altersgemäß seinen Bedürfnissen entsprechend. Das Kleinstkind braucht eine Atmosphäre, die man am ehesten als Geborgenheit, sich Aufgehobenfühlen, sich Behaglichfühlen beschreiben kann, als Eingebettetsein in ihm angemessene Lebensbedingungen. Diese »paradiesische« Phase selbstverständlich erfüllter Bedürfnisse sollte es erleben dürfen, weil erst aus solchem Urvertrauen es allmählich wagen kann, die Hingabe an das Leben zu riskieren, ohne die Angst, vernichtet zu werden. Seltsamerweise haben wir von diesen dem Kleinstkind nötigen Lebensbedingungen lange nur sehr unbestimmte Vorstellungen gehabt; meist wurde die Differenziertheit und Wahrnehmungsfähigkeit des Säuglings weit unterschätzt, die Wirkung von Außeneinflüssen auf ihn ebenfalls. Sehr eindrucksvoll dafür sind die Untersuchungen des Schweizer Kinderarztes Stirnimann an Neugeborenen. Aus seinem Buch »Psychologie des neugeborenen Kindes« nur ein paar Zitate dafür: »In durchaus seriösen Büchern . . . wird die Schmerzempfindung bis zur 6. Woche für ausgeschlossen gehalten; . . . Daß dies nicht der Fall ist, beobachtete ich bei Injektionen, bei denen ich mit der Sicherheit eines Experimentes . . . voraussagen konnte, daß Neugeborene bei der zweiten Injektion am folgenden Tage schon bei der Desinfektion weinen.« Und über das Gedächtnis: ».. . es gibt auch eine vorgeburtliche Erinnerung: Kinder von Wirtsfrauen sind nach den Beobachtungen unserer Nachtschwestern oft bis nach Mitternacht wach, ohne dabei zu
schreien, während Kinder von Bäckersfrauen morgens 2 bis 3 Uhr häufig unruhig werden. Durch die Tagesarbeit und die Nachtruhe der Mutter hat sich das Kind vor der Geburt schon an den rhythmischen Wechsel zwischen Bewegung und Ruhe gewöhnt.« Hier ist offensichtlich noch viel zu erforschen; mit Sicherheit dürfte aber aus diesen und anderen Beobachtungen Stirnimanns hervorgehen, daß wir das Empfindungs-, Wahrnehmungs- und Gefühlsleben des Neugeborenen weit unterschätzt haben. Sachgemäße Säuglingspflege, Ernährung und Hygiene schienen lange Zeit das Wichtigste und völlig Ausreichende für das Kleinstkind zu sein. Erst durch die sorgfältige Erforschung der frühen Kindheit, vor allem auch durch die Psychoanalyse Freuds und seiner Schüler, haben wir hier ganz neue Einsichten gewonnen, ergänzt durch die Verhaltensforschung. Wir verdanken ihnen das Wissen um die prägende Bedeutung von Ersteindrücken und Früherfahrungen, besonders auch das Wissen um die Bedeutung der ersten Lebenswochen. Zwar hatte schon Goethe (Gespräch mit Knebel 1810) die gleiche Erkenntnis gehabt, wenn er sagte: »Ein Grundübel bei uns ist, daß auf die erste Erziehung zu wenig gewandt wird. In dieser aber liegt größtenteils der ganze Charakter, das ganze Sein des künftigen Menschen«. Solche intuitiven Einsichten blieben aber vereinzelt, und es wurden nicht die nötigen Folgerungen daraus gezogen. Heute wissen wir, daß die erste Umwelt dem Kinde neben der erwähnten unerläßlichen Säuglingspflege auch emotionale Wärme, Zuwendung, ein ihm angemessenes Maß sowohl an Reizen wie an Ruhe und eine gewisse Stabilität des Lebensraumes bieten muß, damit es sich vertrauend und aufgeschlossen antwortend zu ihr einstellen kann. Von großer Wichtigkeit ist dabei besonders, daß das Kind genügend körpernahe Zärtlichkeit erlebt. Erfährt das Kind dagegen in dieser Frühstzeit die Welt als unheimlich und unzuverlässig, als leer, oder aber als überrennend und überschwemmend, wird es sich von ihr zurücknehmen, abgeschreckt werden. Anstatt sich vertrauend der Welt zuzuwenden, wird es ein ganz frühes und tiefes Mißtrauen erwerben. Sowohl die Leere der Welt, die das Kind erlebt, wenn es zu oft und zu lange allein gelassen wird, als auch ein Übermaß an Reizen und wechselnden Eindrücken, oder eine zu große Intensität der Reize, wirken schizoidisierend auf es; es wird dann bereits im ersten Ansatz seiner Weltzuwendung gestört und gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen. Rene Spitz hat in seinen Untersuchungen an Heimkindern gezeigt, daß Kinder, die in den ersten Lebenswochen zu lange von
der Mutter getrennt wurden, und so einen ganz frühen Ausfall an mütterlicher Zuwendung erlebten, schwere bis irreparable Schädigungen in ihrer Entwicklung nahmen - selbst bei bester Ernährung und einwandfreien hygienischen Bedingungen, die sie in einem Heim vorfanden, in dem 10 Kinder auf eine Kinderschwester kamen. Alle ganz früh vernachlässigten oder durch ein Reizüberangebot verschreckten Kinder werden zumindest erhebliche Verspätungen, Einseitigkeiten, Ausfälle oder nicht altersangemessene Frühreife in ihrer Entwicklung aufweisen, weil sie die hier notwendigen Lebensbedingungen nicht oder nicht ausreichend erhielten, und dadurch altersunangemessenen Ängsten ausgesetzt waren. Besonders leicht kommt es zu solchen frühen schizoidisierenden Schädigungen auch bei den von Anfang an ungeliebten oder unerwünschten Kindern; weiter bei solchen, die frühen Trennungen etwa durch längeren Klinikaufenthalt wegen Erkrankungen, oder dem Verlust der Mutter ausgesetzt waren. Gleiches gilt bei lieblosen oder zu gleichgültigen Müttern, bei zu jungen Müttern, die für die Mutterschaft noch nicht reif waren, gilt auch für die »goldeneKäfig-Kinder«, die oft lieblosem oder gleichgültigem »Personal« überlassen werden, weil die Mutter »keine Zeit« für sie hat; auch die Mütter, die nach der Geburt zu früh wieder arbeiten und das Kind zu lange sich selbst überlassen müssen, können ihm nicht das geben, was es hier braucht. Neben solchem Mangel an liebender Zuwendung in der Frühstzeit als einer Quelle für schizoide Persönlichkeitsentwicklungen, ist die andere das Reizüberangebot, wie es bei den Müttern vorliegt, die das Kind nicht in Ruhe lassen und keine Einfühlung in seine Bedürfnisse haben. Das erscheint vielleicht weniger einleuchtend und soll deshalb noch näher beschrieben werden: Für die beginnende Orientierung des Kleinstkindes ist es unerläßlich, daß seine Umgebung eine gewisse Stabilität aufweist, wodurch sie ihm allmählich vertraut wird, so daß es Vertrauen zu ihr fassen kann - Vertrautwerden ist die Basis des Vertrauenkönnens. Ein zu häufiger Wechsel der Bezugspersonen, ein Zuviel an Wechsel der Umgebung und an Sinneseindrücken, kann von ihm nicht verarbeitet werden (z. B. anhaltende lärmende Geräuschkulissen durch Radio und Fernsehen, helle Beleuchtung bis in die Schlafenszeit des Kindes, häufige unruhige Reisen usf.). Solche Unruhe der Umgebung und die Mütter, die gleichsam in das Kind einbrechen, sein Bedürfnis nach Ruhe und Alleinsein überrennen, indem sie sich zuviel mit ihm beschäftigen, es überall mit sich herumschleppen und ihm keine Möglichkeit zu seinen Eigenimpulsen lassen, bewirken ebenfalls, daß das Kind sich zurücknimmt und sich
ängstlich und irritiert verschließt. Neben diesen Milieus gibt es auch solche, die das Kind früh überfordern und dadurch schizoidisierend wirken, weil sie ihm kein organisches Wachstum ermöglichen. Es sind diejenigen, in denen sich das Kind zwischen sehr schwierigen oder unreifen Erwachsenen hindurchlavieren muß, die mit ihren eigenen Schwierigkeiten bzw. mit dem Leben nicht fertig werden. Es muß dann zu früh Stimmungen erspüren und Situationen verstehen, um die an sich gespannte und zugleich labile Atmosphäre nicht noch mit sich selbst zu belasten, ja, es muß nicht selten die Elternrolle für sich selbst und die Eltern übernehmen, weil es an ihnen keinen Halt findet und sie selbst keinen in sich haben. Das ist natürlich eine grenzenlose Überforderung für ein Kind; bevor es sich selbst gefunden hat, wird es in die Elternrolle geschoben, muß ein Verständnis für die Erwachsenen aufbringen, daß es gar nicht dazu kommt, es selbst zu sein, weil es immer nach allen Seiten denken, vermitteln, verstehen und ausgleichen muß, auf solche Weise das Leben der anderen mehr leben muß als es sein eigenes leben kann. Damit wird es nicht nur um seine Kindheit betrogen, sondern es bleibt auch sein Wesenskern unentwickelt, die Sicherheit in sich selbst, und es wird ihm zum Lebensgrundgefühl, auf brüchigem Boden zu stehen. Stand man so in der Welt, wird man bemüht sein, sich unverletzlich zu machen wie Siegfried durch das Bad im Drachenblut, um wenigstens der Welt keine Blößen zu zeigen - es werden aber immer verwundbare Stellen übrig bleiben. Wie kann man sich unverletzlich machen? Offenbar, indem man sich gefühlsmäßig nicht mehr erreichen läßt, indem man gleichsam mit einer Tarnkappe unerkannt und anonym durch die Welt geht. Man legt sich eine glatte Fassade zu, hinter die niemand blicken kann, so daß andere nie wissen, woran sie mit einem sind. Soweit dennoch Gefühle nicht vermeidbar sind, entwickelt man die Fähigkeit, sie bewußt zu steuern, zu dosieren. Man reflektiert sie also und lernt es, sie bewußt zuzulassen oder abzustellen, wird sich ihnen aber keinesfalls spontan überlassen, denn das könnte gefährlich werden. Als die Freundin einer jungen Patientin dieser mitteilte, ihre Eltern hätten sich bei ihr beschwert, daß die Patientin so kalt und feindselig zu ihnen sei, sagte sie nach kurzem Überlegen: »Gut, dann werde ich meinen Haß abstellen« - woraufhin ihr Verhältnis zu den Eltern noch ferner und unbezogener wurde. Es sei hier angefügt, daß wir auch noch als Erwachsene eine Toleranzgrenze gegenüber Sinneseindrücken haben; es ist bekannt, daß wir, wie es in manchen Ländern bei Verhören angewendet wird, durch anhaltende Geräuschkulissen oder Lichtein-
Wirkung, sowie durch Abgehaltenwerden vom Schlaf seelisch zermürbt werden können; lang anhaltende Einsamkeit und Dunkelheit können ähnliche Wirkungen hervorrufen. Natürlich ist die Toleranzgrenze des Kleinkindes eine viel engere. Von hier aus gesehen bekommt es auch eine besondere Bedeutung, ob ein Kind an der Brust oder mit der Rasche gestillt wird. Die regelmäßige Wiederkehr der Mutter und die beide beglückende Innigkeit beim Bruststillen ermöglicht dem Kinde nicht nur das allmähliche Wiedererkennen der Person, von der ihm so verläßlich alle Bedürfnisbefriedigung kommt, sondern läßt in ihm auch die ersten Ansätze von auf einen Menschen gerichteter Hoffnung, von Dankbarkeit und Liebe entstehen. Beim Flaschenkind können immer wieder wechselnde Personen, die sich dazu noch sehr verschieden dem Kind gegenüber verhalten mögen, diesen Entwicklungsvorgang zumindest erschweren. Es ist dabei komplizierteren Lernvorgängen ausgesetzt, und wird sich schwerer so intensiv an einen Menschen gebunden fühlen, wie das Brustkind. Wenn wir für die Entstehung der Schizoidie den Mangel an Bindung als ein entscheidendes Charakteristikum erkannten, können Ansätze dazu schon hier gelegt werden durch den Ausfall der geschilderten Innigkeit zwischen Mutter und Kind. Die Folge aller beschriebenen Störungen ist jedenfalls, daß das Kind sich von Beginn an gegen die Welt wehren und vor ihr schützen muß, oder von ihr enttäuscht wird. Wenn es draußen keinen adäquaten Partner findet, greift es auf sich selbst zurück, nimmt sich selbst zum Partner, und vollzieht den Schritt von sich weg auf das Du hin unzureichend. In der Weiterentwicklung und wenn es später keine korrigierenden Erfahrungen machen kann, entstehen daraus die oben beschriebenen Lücken, die Neigung zur Unabhängigkeit und die Egozentrizität, die Selbstbezogenheit. So sehen in großen Zügen die Umweltfaktoren aus, die schizoide Persönlichkeitsentwicklungen begünstigen. Wir können hier nur andeuten, daß die Generation, in deren Frühzeit der Krieg fiel, der für viele Kleinkinder ähnliche wie die oben erwähnten Umweltbedingungen bedeutete (Unruhe in den ersten Lebenswochen und darüber hinaus durch nächtliche Bombenangriffe, Flüchtlingsschicksale, Trennung der Familie, Verlust der Heimat usf.), daß diese Generation gehäuft schizoide Züge aufweist: ihre Abneigung gegen familiäre Bindungen; die Neigung zu Gruppenbildungen und Massenveranstaltungen, bei denen man sich als zugehörig erleben und doch anonym bleiben kann; und die Unverbindlichkeit in der Beziehung der Geschlechter, können hierher gerechnet werden. Das Halbstarkenproblem ist hiermit in Zusam-
menhang zu sehen, das auftrat, als diese Generation in die Pubertät kam. Auch manche Züge der modernen Kunst, die durch den »Verlust der Mitte«, wie man es genannt hat, charakterisiert werden können. Schizoide Kunst wirkt am ehesten aufrüttelnd, oft ist sie aber abstoßend. Nach Fuhrmeister und Wiesenhütter (»Metamusik«) soll sich in Orchestern, die vorwiegend moderne Kompositionen aufführen, häufig das gesamte Musikerensemble nach Proben solcher Stücke krank fühlen. Aber auch die gesamte Umweltsituation des westlichen Menschen wirkt sich schizoidisierend aus: die Welt gibt uns immer weniger Geborgenheit; trotz allem Komfort fühlen wir uns immer gefährdeter, und unser Lebensgefühl wird labilisiert durch die Überfülle an Reizen, denen wir ausgesetzt sind und gegen die wir uns nur schwer abschirmen können; das Schreckgespenst möglicher Kriege und das Wissen, daß wir heute in der Lage sind, uns selbst total zu vernichten, die gefährliche Machbarkeit und Beeinflußbarkeit auch lebendiger Entwicklungen durch Technik und Naturwissenschaften, haben in uns ein Gefühl existentieller Bedrohtheit entstehen lassen, wie wir es für die Entstehung schizoider Strukturmerkmale erkannt hatten. Als Gegenbewegung läßt sich die zunehmende Neigung zum Yoga, zu meditativen Übungen bewerten, und das spürbar werdende Bedürfnis nach einer Rückbesinnung auf die Innenwelt läßt sich noch im Gebrauch der Drogen erkennen; die Hippies und Gammler wollen bewußt auf die Errungenschaften einer Technik und Zivilisation verzichten, deren unkontrollierte Herrschaft uns allen immer fragwürdiger geworden ist. Die Beherrschung der Natur, die Zeit und Raum überwindende Technik, und die Lebensbedingungen, unter denen wir unseren Existenzkampf durchführen müssen, drohen unsere gemüthaften Seiten immer mehr verkümmern zu lassen, so daß wir von einem Schizoidisierungsprozeß der westlichen Gesellschaft sprechen können. Mangel an altersgemäßer Geborgenheit in der frühesten Kindheit ist also gleichsam die Kurzformel für die Entwicklung schizoider Persönlichkeitsstrukturen, soweit sie mit den Umwelteinflüssen zusammenhängen. Ob und wie weit vorgeburtliche, intrauterine Einflüsse über den mütterlichen Organismus hier schon mit hereinwirken, ist noch zu wenig erforscht, wenn auch durchaus wahrscheinlich. So gibt Stirnimann in seinem schon erwähnten Buch an, daß es gelang, die Hörfähigkeit schon vor der Geburt nachzuweisen: Man stellte eine schwangere Frau vor den Röntgenschirm und ließ eine Autohupe ertönen, woraufhin das Kind zusammenzuckte. Möglicherweise kann über das emotionale und af-
fektive Erleben der Mutter, über ihre gefühlsmäßige Einstellung zur Schwangerschaft und zum Kinde, jene Ungeborgenheit bereits im Mutterleib beginnen, wenn die Mutter statt Bejahung und freudiger Erwartung - aus welchen Gründen auch immer - feindselige, ablehnende oder haßerfüllte Einstellungen zu dem werdenden Kind hat. Beispiele für schizoide Erlebnisweisen Ein begabter, aber sehr eigenwilliger und fast kontaktloser Musiker lebte in einer schwierigen finanziellen Situation. Von einem Bekannten bekam er eine Stellung vermittelt, die gut bezahlt war, auch im Rahmen seiner Interessen lag, und so eine entscheidende Hilfe für ihn bedeutet hätte. Am Tage, an dem er die Stelle antreten sollte, die er bereits zugesagt hatte, blieb er unentschuldigt weg und verlor die Chance. Vor sich selbst argumentierte er, der Freund habe ihm nur seine Überlegenheit zeigen und ihm seine klägliche Lage vor Augen führen wollen - vielleicht habe er sogar homosexuelle Motive gehabt. Statt also annehmen zu können, was ihm wohlwollend angeboten worden war, bekam er Angst, abhängig zu werden und dem anderen dankbar verpflichtet sein zu müssen. Er mußte das vor sich selbst umdeuten, indem er dem Freunde fragwürdige Motive unterschob. Etwas tiefer unter dieser schwer verständlichen Haltung lag aber zugleich, daß er dem anderen eine Bewährungsprobe zumutete: Wenn er es mit seinem Helfenwollen wirklich ernst meint, und sich durch mein Verhalten nicht abschrecken läßt, wenn er mich trotzdem nicht fallen läßt, bedeute ich ihm wirklich etwas. Hier sieht man recht klar die Aussichtslosigkeit, aus solchem verhängnisvollen Zirkel herauszukommen und neue Erfahrungen mit Menschen zu machen: Wann ist für ihn die Garantie gegeben, daß er an eine echte Zuwendung glauben könnte? Und wer wäre andererseits bereit, sich soviel zumuten zu lassen, und sich um das Verständnis der Hintergründe solchen Verhaltens zu bemühen? Dazu ist die Welt im allgemeinen in keiner Weise geneigt. Dabei lag die Situation bei diesem Mann insofern noch komplizierter, als er fast gleich stark wünschte, der Bekannte möchte sich trotz seines Verhaltens weiter um ihn bemühen, wie daß er ihn fallen ließe. Im ersten Falle hätte er nämlich seine Meinung von den Menschen einmal korrigieren müssen und vertrauen können, wonach er sich sehnte. Im zweiten Falle wäre er in seiner Weltan-
schauung, daß die Menschen doch nicht vertrauenswürdig seien, bestärkt worden, und hätte sich weiter »berechtigt« voll Bitterkeit in seine heroische Einsamkeit und seine Menschenverachtung zurückziehen können, was bequemer war. Dieser Musiker hatte häufig wechselnde Freundinnen, die er jeweils bald verließ, weil ihm bei der einen die Art wie sie sich kleidete, bei der anderen die Beine, bei einer dritten ihre Bildung usf. nicht zusagten - Rationalisierungen für seine Bindungsangst und zugleich ein Schutz davor, jemanden vielleicht doch einmal zu lieben und sich damit allen Gefährdungen auszusetzen, die »Lieben« bedeutet. Biographisch sei hier nur angedeutet, daß er ein außereheliches Kind war, das früh immer wieder zu verschiedenen Verwandten gegeben und von diesen als lästig empfunden wurde. Ein weiteres Beispiel für diese Persönlichkeitsstruktur: Ein Mann in mittleren Jahren erlebte sich immer wieder in quälender Form als Außenseiter. Er hatte das Gefühl, daß er nirgends wirklich dazugehörte, daß andere Menschen ihn ablehnten oder spöttischkritisch ansahen. Er litt darunter, es machte ihn unsicher, und seine berufliche Laufbahn drohte immer wieder daran zu scheitern, daß er von anderen als Fremdkörper und als »äußerst schwierig« empfunden wurde und nun, im typischen verhängnisvollen Zirkel, in seiner Reaktion darauf tatsächlich immer schwieriger zu behandeln war. Er wurde öfter plötzlich, scheinbar ganz unmotiviert, ausfällig, gegen Vorgesetzte verletzend ironisch, »schnitt« Arbeitskollegen grundlos, fiel in Kleidung und Lebensführung so aus dem Üblichen heraus, daß man sich immer mehr von ihm zurückzog, nichts Gemeinsames mit ihm hatte. Auf Grund der zunehmenden Distanz und Vereinsamung projizierte nun nicht nur er vieles auf seine Umwelt, sondern, wie es dann in regelmäßig zu findender Wechselseitigkeit zu sein pflegt, die Umwelt projezierte ihrerseits ebensoviel auf ihn, wie wir ja immer dazu neigen, auf uns fremd, ungewohnt oder unheimlich Erscheinendes eigene Probleme und nicht integrierte, unbewußte Seelenanteile zu projizieren. So wurde er mehr und mehr gleichsam zum schwarzen Schaf, zum Sündenbock des jeweiligen Kollektivs, in dem er lebte und wirkte. Da man ihn wenig wirklich kannte, war er den meisten Kollegen irgendwie unheimlich, ohne daß sie sich indessen jemals bemühten, sich über die Gründe ihrer Ablehnung klar zu werden. So bildeten sich bald Gerüchte um ihn; vielleicht sei er »nicht ganz in Ordnung«; vielleicht stimme es mit seiner Sexualität nicht; vielleicht sei er politisch nicht zuverlässig usf., kurz - er schien verdächtig zu sein, ohne daß man recht wußte wie und warum. Daß man dabei eigene unverarbeitete Probleme
auf ihn projizierte, war niemandem bewußt. Nichts von alledem wurde indessen ihm gegenüber je ausgesprochen; er verspürte nur die wachsende, ihm unverständliche Distanzierung der anderen, erfaßte hier und da einen mißtrauischen Blick oder sah, wie sie sich untereinander mit Blicken verständigten, die er nicht deuten konnte - kurz, von beiden Seiten sich aufschaukelnd, ergab sich ein Teufelskreis, der unlösbar wurde. Ich will nun den biographischen Hintergrund dieses Mannes etwas breiter schildern, um aufzuzeigen, wie dort die Keime gelegt wurden zu seiner Schizoidie, zu den späteren sozialen und Kontaktschwierigkeiten, die er selbst zunächst gar nicht in diesem Zusammenhang sehen konnte; er empfand sie nur als rätselhaft und wie schicksalhaft. Er stammte aus einem ungewöhnlichen Milieu. Der Vater war Reiseschriftsteller und in der frühen Kindheit des Sohnes, des einzigen Kindes, sehr erfolgreich. Er verdiente damals viel Geld und lebte in großem Stil mit rauschenden Festen. Die Mutter ging in diesem gesellschaftlichen und luxuriösen Leben ganz auf und hatte für das Kind wenig Zeit - tiefer gesehen, wenig Interesse und Liebe. So war er von klein auf weitgehend einem Hausmädchen und danach, ebenfalls noch sehr früh, einem schwarzen Diener überlassen. Er meinte zu erinnern, daß beide immerhin nicht ausgesprochen unfreundlich zu ihm gewesen seien. Als er 5 Jahre alt war, erfolgte die Scheidung der elterlichen Ehe, die schon in den Jahren vorher kaum eine wirkliche Gemeinschaft genannt werden konnte, da beide Eltern - sie hielten das für modern und für ein Zeichen von Freizügigkeit - mehrfach auch intime Beziehungen zu anderen Partnern hatten. Er blieb beim Vater, und ihm wurde zunächst nur mitgeteilt, die Mutter ginge »für längere Zeit fort«, ohne Kommentar. Bald darauf kam übrigens die Mutter - was er erst viel später erfuhr - für etwa 2 Jahre in eine Nervenklinik wegen einer Geisteskrankheit. Wir können danach vermuten, daß sie auch vorher seelisch nicht gesund gewesen war. Der Vater heiratete kurz nach der Scheidung eine Schwester der Mutter - es war seine dritte Ehe. Diese Stiefmutter hatte einen alten Haß gegen ihre Schwester, die zu Hause immer die Bevorzugte gewesen war; sie beging später, als der Junge 15 Jahre alt war, Selbstmord, worauf der Vater ein viertes Mal heiratete. In diesem Milieu wuchs Herr X. auf. Er fühlte sich immer als fünftes Rad am Wagen; niemand kümmerte sich wirklich um ihn; er hatte schon früh das Gefühl, zu stören, eigentlich überflüssig und letztlich unerwünscht zu sein. Verstärkt wurde das noch durch folgende Umstände: Das elterliche Haus lag außerhalb der Stadt auf
einem isolierten Hügel in einer noch wenig besiedelten Umgebung, so daß für den Jungen auch keine Spielkameraden verfügbar waren. Der Vater, ein Eigenbrötler, trank häufig und lebte einen eigenwilligen Lebensstil; er machte die Nacht zum Tage, arbeitete nur nachts, weil er da am ungestörtesten war, und schlief am Tage, so daß der Sohn ihn kaum zu Gesicht bekam; auch war er oft wochenlang auf Reisen. Er hielt nicht viel von kollektiven Ordnungen, machte sich über sie lustig - sie seien nur für die Dummen und Schwachen, war seine Argumentation. So wurde der Sohn, als er ins Schulalter kam, auch nicht in die Schule geschickt, sondern bekam Privatunterricht von - wieder mehrfach wechselnden - Hauslehrern. Erst mit 10 Jahren wurde er eingeschult. Nun tauchten seine Kontaktprobleme erstmals auf, nach der angedeuteten Vorgeschichte kaum verwunderlich. Er hatte ja buchstäblich keine Erfahrungen mit Gleichaltrigen bis dahin gemacht, war noch nie in einer Gemeinschaft gewesen. Aus Unsicherheit suchte er nun nach einer Rolle, die er in der Klasse spielen, hinter der er sich verstecken konnte. Da er bei einigen Gelegenheiten, wo er ungewollt komisch wirkte, Sympathie und wohlwollendes Lachen erlebt hatte, wurde er erst zum Klassenclown, später zu dem, was wir heute einen Halbstarken nennen würden. Er warb um die Sympathie seiner Kameraden, indem er alles ironisierte, die Lehrer verulkte, gleichgültig gegen Warnungen und Strafen war, die Schule schwänzte usf. Seinem Vater machte das bei seiner Einstellung eher Spaß, so daß er sogar noch etwas an väterlicher Sympathie bekam - der Vater war stolz, daß sich der Sohn genauso wenig wie er kollektiven Ordnungen beugte. Ein freundschaftlicher Kontakt gelang ihm bei aller Sehnsucht danach nicht, weil er von den anderen als zwar interessanter und amüsanter, aber letztlich doch komischer Außenseiter empfunden wurde. Da er zugleich sehr begabt und gescheit war, hatte er eine gewisse Anerkennung der Kameraden, aber keinen wirklichen Freund. Mit 12 Jahren begann dann, was er selbst später seine »große Krankheit« nannte: Schmal, blaß, hoch aufgeschossen und anfällig für Krankheiten, wie er war, ließ ihn die Stiefmutter vom Turnen befreien und untersagte ihm jede Art von Sport, »wegen deines Herzens und weil du zu schnell gewachsen bist«. Das Ergebnis war unter anderem, daß er kein gesundes Körpergefühl entwickeln konnte, sich in seinem Körper nicht zu Hause fühlte, und die dafür charakteristischen Züge von Gehemmtheit und Linkischkeit aufwies; damit fiel ein weiteres Glied möglichen Kontaktes, leiblicher Nähe und gesunden Rivalisierens aus.
Die Stiefmutter schleppte ihn, hinter Überbesorgtheit ihre Abneigung gegen ihn verbergend, von Arzt zu Arzt. Er mußte lange im Bett liegen, ohne daß etwas Bestimmtes gefunden wurde. Die Ärzte spielten das Spiel mit, bis es endlich einem von ihnen gelang, eine latente Lungentuberkulose festzustellen. Nun wurde er für über 2 Jahre auf sein Zimmer und meist sogar auf das Bett beschränkt. In dieser Zeit las er Unmengen von Büchern, wahllos, was ihm gerade zugänglich wurde, aus der reichhaltigen väterlichen Bibliothek. Er formulierte einmal in der Behandlung sehr treffend über sich: »Ich bin emotional 10 Jahre jünger als intellektuell« - was ein typischer Ausspruch schizoider Menschen sein könnte. »Ich weiß nicht, ob ich homo- oder heterosexuell bin«, war eine andere Feststellung von ihm, die Unsicherheit über sein Geschlechtsempfinden ausdrükkend. Mit über 14 Jahren kam er dann erst wieder in die Schule, und dieser zweite Versuch verlief kontaktmäßig nicht glücklicher als der erste. Die 2 Jahre der Isolierung, gerade um die Pubertät herum, die er wieder abgesondert von Gleichaltrigen erlebte, wodurch er vorwiegend auf seine Phantasie angewiesen und ohne Partner war, hatten ihn verständlicherweise noch mehr auf sich selbst zurückgeworfen und seine Kommunikationsschwierigkeiten verstärkt. Wieder wurde er von den anderen als Fremdkörper erlebt - er kam ja zudem als Neuling in ein Klassenkollektiv, das schon durch Jahre zusammengewachsen war. In einem Testfragebogen nach zukünftigen Berufswünschen schrieb der 15jährige »Berufsraucher«. Man reagierte sauer auf diese Halbstarkenironie und sah nicht die dahinterstehende Not und Hilflosigkeit, verstand sein Verhalten nicht als Alarmsignal an die Umwelt. Als Student trat er in eine schlagende Verbindung ein -etwas ihm völlig Ungemäßes, aber ein erneuter Versuch, »dazuzugehören«, sich mit Gleichaltrigen zu messen und sich männlich zu bewähren. Aus den gleichen Beweggründen meldete er sich später freiwillig zum Militär, blieb aber auch hier ein Sonderling, der nur häufig durch seine Ungeschicklichkeit die anderen zu gutmütigem Spott reizte. Nach dem Militär setzte er seine Studien fort; er studierte Geschichte, Sprachen und Literatur. Nach Abschluß des Studiums ging er ins Lehrfach und wurde ein fachlich anerkannter Eigenbrötler, der nur in der Welt der Bücher zu Hause war. Die Schüler schätzten seine profunden Kenntnisse und sahen ihm seine Schwächen nach. Mit 24 Jahren heiratete er - richtiger wäre es zu sagen: wurde er geheiratet. Die Frau beklagte sich bald, daß ihn seine Bücher und Studien mehr interessierten als sie - was er gar nicht
verstand, da er ihr das ihm mögliche Maß an Zuwendung gab, und seinerseits enttäuscht war, daß sie zu wenig auf seine geistige Welt und seine Interessen einging. So fielen in die noch junge Ehe bald beiderseitige Untreuen, auf seiner Seite auch homosexuelle Erlebnisse, auf die er dann mit schweren Schuldgefühlen und an Verfolgungswahn grenzenden Reaktionen antwortete, die ihn schließlich zur Psychotherapie brachten. Die mitgeteilte Biographie enthält manches Typische in bezug auf den lebensgeschichtlichen Hintergrund schizoider Persönlichkeitsentwicklungen: Zu große Ferne, Gleichgültigkeit und unregelmäßige Verfügbarkeit der Bezugspersonen von Beginn an; dazu Mangel an körpernaher Zärtlichkeit und Verständnis für die Bedürfnisse des Kindes. Ferner der Ausfall an Führung, und Alleingelassenwerden bei wichtigen Entwicklungsschritten; zu wenig Kontakt und gemeinsames Erleben mit Gleichaltrigen, zu wenig Zugehörigkeit zu Gruppen, zu einer Gemeinschaft. Ungenügende Entwicklungsmöglichkeiten für die Gefühlsseite, für das Vertrauenkönnen. All das läßt Lücken im Umgehen mit anderen Menschen entstehen, einen Mangel an Lebenstechnik, der einen immer wieder auf sich selbst zurückwirft, nicht zuletzt durch die Reaktionen der Welt, die einen solchen Menschen noch mehr auf die Rolle des Außenseiters festlegen. Man kann wohl verstehen, daß auf solcher Basis die eine Grundform der Angst, die vor der Hingabe und Nähe, sich entwickelt, daß dementsprechend der Impuls zur Selbstbewahrung überwertig werden muß, und die Autarkie als einzige Möglichkeit der Selbsterhaltung erscheint. Denn nun macht der Schizoide sozusagen aus der Not eine Tugend, indem er seine Einsamkeit zu einem Wert erhebt. Das kann sich steigern bis zu extremen Formen des Narzißmus und zu verbitterter Feindschaft gegen alle und alles, zur Menschenverachtung, zum Zynismus und Nihilismus. Dahinter indessen, von niemandem bemerkt und ängstlich verborgen, besteht eine tiefe Sehnsucht nach Nähe, Vertrauen, nach Lieben und Geliebtwerdenwollen. Man kann wohl auch verstehen, daß von hier aus die Entwicklung leicht ins Asoziale und Kriminelle gehen kann - es bedarf manchmal nur noch einiger zusätzlicher Auslöser dafür. Die Steigerung der Verhaltensweisen Schizoider von anfänglichem Mißtrauen über Ablehnung, Indifferenz, Kälte bis zum Haß und zur Menschenverachtung, ist meist die Reaktion auf ihre Umwelterfahrungen, die zu dem oben beschriebenen Teufelskreis führen. Noch ein kurzes Beispiel, eine Selbstschilderung, die die fehlende emotionale Kontaktbezogenheit und den Versuch, sie durch
rationale Mittel der Orientierung zu ersetzen, besonders plastisch schildert - ein schizoider Patient sagte einmal: »Ich habe immer den Eindruck, daß da, wo andere aus dem Gefühl heraus reagieren, bei mir ganz schnell eine Reihe von Schaltprozessen abläuft.« Eine ausgezeichnete Beschreibung davon, daß bei schizoiden Menschen die ungeübte Gefühlsbeziehung durch intellektuelle Wachheit und radarähnliche Sensibilität der Sinnesorgane und Denkvorgänge - die »Schaltprozesse« - ersetzt wird. Schwere Belastungen und Konflikte, die sie nicht bewältigen können, setzen sich dann in körperliche Symptome um; bei ihnen werden entsprechend ihrer Problematik vor allem die Sinnesorgane, sowie die Organe des Kontaktes und des Austausches betroffen, die Haut und die Atmung; asthmatische Beschwerden und Ekzeme gehören hierher, die manchmal schon sehr früh auftreten. Die Haut ist ja das Organ, das uns sowohl abgrenzt von der Umwelt, als auch mit ihr in Berührung bringt, und an ihr drücken sich die Kontaktschwierigkeiten schizoider Menschen bevorzugt aus, in Durchblutungsstörungen, Psoriasis und Schweißen usf. Ergänzende Betrachtungen Fassen wir noch einmal zusammen: Beim schizoiden, »gespaltenen« Menschen ist der ganzheitliche Erlebniszusammenhang seiner seelischen Eindrücke, Antriebe und Reaktionen in verschieden hohem Maße zerrissen; vor allem seine Vitalimpulse sind isoliert, vom Gefühlserleben abgespalten. Bei ihm ist, mit anderen Worten, die Integration der verschiedenen Erlebnis- oder Persönlichkeitsschichten durch das einschmelzende Gefühl nicht geglückt. Vor allem zwischen Verstand und Gefühl, zwischen Rationalität und Emotionalität, besteht ein großer Unterschied des Reifegrades; Gefühlsabläufe und Verstandeserfahrungen laufen gleichsam getrennt, verschmelzen nicht zu einheitlichem Erleben. Weil er sich von früh an durch den Verstand und die Sinneswahrnehmungen orientieren mußte, da er keine ausreichende emotionale Orientierung lernen konnte, stehen ihm keine Gefühlsnuancen zur Verfügung; er kennt vorwiegend die primitiven Vorformen des Gefühls, die Affekte; es ist, als ob auf der Palette seiner Ausdrucksmöglichkeiten die Mitteltöne fehlten, nur die Extreme schwarz und weiß vorhanden sind. All das sind Folgen des Ausfalls an emotionalen mitmenschlichen Bindungen. Als Schutz gegen seine Angst vor der Nähe versucht der schizoide Mensch die größtmögliche Unabhängigkeit zu erreichen. Mit
solcher Neigung zur Autarkie und mit dem Ausweichen vor Nahkontakten ist aber ein Kreisen um sich selbst, eine zunehmende Egozentrizität unvermeidbar verbunden, die ihn mehr und mehr in die Isolierung treibt. Man kann verstehen, daß solche Menschen wohl die intensivsten Ängste überhaupt erleben, denn Einsamkeit und Isolierung wirken angstverstärkend. Vor allem die Angst, verrückt zu werden, kann bei ihnen unerträgliche Grade annehmen auch in ihr spiegelt sich das Erleben des Anders-als-die-anderenSeins und der Ungeborgenheit in der Welt. Ein solcher Patient sagte einmal: »Angst ist die einzige Realität, die ich kenne«; charakteristischerweise konnte er die Angst nicht als Angst vor etwas Bestimmtem, Konkretem, schildern, sondern er erlebte sie als total. Und ein anderer: »Ich kenne keine Angst; irgendwo hat etwas in mir wahrscheinlich Angst, aber diese Angst ist nicht in meinem Ich« - er hatte sich völlig von seiner Angst distanziert, sie schien gar nicht mehr in seinem Bewußtsein zu sein; aber man kann sich denken, wie labil ein solcher Zustand ist, wie leicht das Ich von der abgespaltenen Angst überschwemmt werden kann. Schon das Mitteilenkönnen einer Angst ist eine Erleichterung. Wenn man das aber nie wagt, weil man fürchtet, sich dadurch den anderen auszuliefern oder für verrückt gehalten zu werden, wenn man sich ihnen in seiner ganzen Schwäche und Ungeschütztheit zeigen würde, kann Angst durch Anhäufung über lange Zeit Grade erreichen, die nicht mehr auszuhalten sind. Dann kann es zu Durchbrüchen der Angst kommen bis zur Psychose als letztem verzweifelten Versuch, der Angst zu entrinnen. Man wird »verrückt«, man »ver-rückt« die realen Maßstäbe und rettet sich in eine irreale Welt, in der man selbst gesund und die Außenwelt krank erscheint - was in manchen Fällen sogar stimmen kann. Man verlegt damit seine Ängste auf Objekte der Außenwelt, wo man sie leichter vermeiden, bekämpfen oder beseitigen kann; vor der Innenangst gibt es kein Entrinnen. Mit wachsendem Autismus verliert der schizoide Mensch immer mehr das Interesse an der Welt und den Menschen, ein Vorgang, den man als Objektverlust bezeichnet hat und der von ihm selbst oft als Weltuntergangserlebnis beschrieben wird. Wenn man nämlich seine interessierte Anteilnahme an der Welt, seine emotionale Zuwendung zu ihr, immer mehr zurücknimmt, verarmt die Welt, sie »geht unter«, wird zu nichts, wird ver-nichtet. Ein solches Lebensgefühl drücken die Träume schizoider Menschen oft aus: »Ich befinde mich auf einer großen rotierenden Scheibe, wie ein Teufelsrad, das schneller und schneller kreist; ich kann mich kaum noch halten, rutsche dem äußeren Rand immer näher und kann jeden
Augenblick ins Nichts hinausgeschleudert werden.« Oder: »Eine Festung aus Zementmauern mit wenigen kleinen Gucklöchern in einer riesigen Sandwüste; die Festung ist schwer bewaffnet und mit Lebensmitteln für Jahre ausgestattet; ich bewohne sie allein.« Die Einsamkeit, Abschirmung, die Angstabwehr und das Autarkiebedürfnis lassen sich kaum treffender darstellen. »Eine öde Schneelandschaft; im Hintergrund ein paar abgeknickte Bäume, im Vordergrund eine kleine Wanne mit warmem Wasser; ich fühle mich sehr einsam.« Dieser Traum stammt von einem Jugendlichen und schildert seine Situation: Er wurde als drittes und letztes Kind nach der Rückkehr des Vaters aus dem ersten Weltkrieg geboren. Der Vater hatte eine Kopfverwundung, durch die er ungemein störbar und reizbar war, und für die Verwaltung des Bauernhofes, auf dem die Familie lebte, weitgehend ausfiel. Die Mutter war sehr um ihn bemüht, übernahm zugleich die Führung des Hofes und hatte für das Kind wenig Zeit in der Sprache des Traumes: Das Wenige an Wärme, wie es in der Wanne dargestellt ist. Der Junge fühlte sich sehr einsam und konstruierte als etwa 12jähriger folgende »Verbindung« zu der Mutter: sie pflegte abends, wenn er schon im Bett lag, Klavier zu spielen; er verband eine Taste durch einen Draht und eine Batterie mit einem Lämpchen an seiner Bettwand, das aufleuchtete, wenn die Mutter beim Spielen diese Taste niederdrückte. Ähnliche psychodynamische Hintergründe liegen nicht selten technischen Erfindungen zugrunde, die unbewußt ein Mangelerlebnis der Kindheit korrigieren sollen, hier ein ungesättigtes Kontaktbedürfnis. Man könnte schizoides In-der-Welt-Sein kaum prägnanter darstellen als es solche Träume tun. Eine ähnliche Gestimmtheit scheint Maxim Gorki gekannt zu haben, der eine sehr schwere Kindheit hatte und sehr früh auf Wanderschaft ziehen mußte, um Geld zu verdienen. Als er einmal Tolstoi besuchte, erzählte er diesem einen Traum, in dem er auf einer der endlosen winterlichen russischen Straßen ein paar Stiefel marschieren sah - nur die Stiefel. Man könnte Einsamkeit kaum knapper darstellen. Das sich Zurücknehmen von der Welt und das sich auf sich selbst Zurückziehen führt also allmählich zum Weltverlust, der mit großer Angst erlebt wird, als ein Fallen ins Nichts, in die absolute Leere, wie im Traum mit dem Teufelsrad. Häufig nehmen bei schizoiden Menschen Angstvorstellungen und Träume auch die Form von Weltkatastrophen apokalyptischer Art an. Wer sich selbst zu fest halten will, droht die Welt zu verlieren, so daß er schließlich nur noch allein zu existieren meint.
Schildern wir die Folgen, die sich aus der Angst vor der Nähe und der überwertigen »Eigendrehung« ergeben, noch an einigen Beispielen. Die damit gegebene mißtrauische Wachheit droht dann immer mehr zu krankhafter Eigenbezüglichkeit zu werden; solche Menschen hören dann, wie der Volksmund sagt, »das Gras wachsen« und »die Flöhe husten«, das heißt, sie vermeinen immer und überall Gefahren zu wittern und vermuten noch hinter der harmlosesten Bemerkung beunruhigende Motive. Als ich in meinem Praxisraum einmal ein Bild umgehängt hatte, vermutete ein schizoider Patient sofort, daß ich damit eine bestimmte, auf ihn bezogene Absicht gehabt, seine Reaktion auf die Veränderung hätte testen wollen. Neben der fast paranoiden Eigenbezüglichkeit fällt an diesem Beispiel auf, mit welcher fein registrierenden Sinnenwachheit Schizoide auch die geringsten Änderungen in der Umwelt wahrzunehmen pflegen, die anderen überhaupt nicht auffallen. Sie sind eben zu ihrer Weltorientierung fast ausschließlich auf ihre Sinneswahrnehmungen angewiesen, die sie deshalb so geschärft haben. Ein anderes Mal, als während seiner Therapiestunde das Telefon ein paarmal klingelte, meinte der gleiche Patient, ich hätte diese Anrufe bestellt, um zu prüfen, wie er auf die Störung reagieren würde. Wenn man so fast alles, was man draußen wahrnimmt, in Beziehung zu sich setzt - was jemandem anderen mit mehr Kontakt und lebendigerer Beziehung zur mitmenschlichen Umwelt gar nicht in den Sinn käme - unterliegt man mehr und mehr einem Beziehungs- und Bedeutungswahn, der bis zum eigentlichen Wahnsystem ausgebaut werden kann und dann nicht mehr zu korrigieren ist. Dann begegnet einem nichts und niemand mehr zufällig, dann geschieht draußen nichts mehr, was nicht in einer geheimen Beziehung zu einem selbst steht und eine besondere Bedeutung hat, die man nun zu ergründen bemüht ist. Das ist natürlich äußerst quälend und beunruhigend; so verliert man nicht nur alle Unbefangenheit, sondern man ist gleichsam dauernd auf dem »qui vive?«, immer bereit, sich gegen plötzliche Überraschungen und vermeintliche Gefahren abzuschirmen. Man streckt daher nur äußerst vorsichtig seine Kontaktfühler wie eine Schnecke auf die Welt hin aus, bereit, sie sofort zurückzuziehen, wenn einem jemand zu nahe kommt. Ein junger Mann, der schon mehrfach im Berufe versagt und gerade wieder einen Mißerfolg erlitten hatte, verarbeitete das Gefühl des Versagthabens wahnhaft. Er wollte sich sozial emporarbeiten, aber er hatte ein zu geringes Selbstvertrauen und auch keine Unterstützung von zu Hause, wo man meinte, er wolle nur unbedingt
etwas »Besseres« sein und »zu hoch hinaus«, er solle doch lieber in die väterlichen Fußstapfen treten und auf dem Bauernhof bleiben -Schuster bleib' bei deinen Leisten! So war er besonders ehrgeizig bemüht, es zu schaffen, es den anderen zu zeigen; daher trafen ihn seine Mißerfolge besonders schwer - schienen sie doch der Familie Recht zu geben. Wir hatten diese Zusammenhänge schon mehrfach zu verstehen versucht, uns bemüht, seine wahnhaften Vorstellungen durch genaue Realitätsprüfung aufzulösen. Aber als er die oben erwähnte Niederlage erlebt hatte, verfiel er wieder in die wahnhafte Verarbeitung: Er kam niedergeschlagen in die Behandlung und sagte bitter und fast herausfordernd: »Wollen Sie diesmal vielleicht wieder sagen, daß es nur ein Zufall war, daß ich heute auf dem Bahnhof einen Mann sah, der einen abgerissenen Anzug anhatte, der genau meinem einzigen guten Anzug glich in Farbe und Stoffart - ist das nicht ein eindeutiger Hinweis, daß er mir damit zu verstehen geben wollte, daß ich ein Versager, heruntergekommen bin?« Hier können wir die wahnhafte Verarbeitung seines Minderwertigkeitsgefühls, seines Versagthabens gut erkennen, auch die psychodynamischen Hintergründe, die ich kurz angedeutet habe. Hier sieht man auch, wie nahe Vorurteile an solche wahnhaften Vorstellungen grenzen - wir könnten cum grano salis sagen, daß ein Vorurteil schon einen Ansatz zum Wahn aufzeigen kann: Wir pflegen an Vorurteilen genauso affektiv festzuhalten, nicht bereit, sie einer gründlichen Realitätsprüfung zu unterziehen, um sie vielleicht zu korrigieren, wie jener Patient an seiner wahnhaften Vorstellung festhielt. Ansätze zu solchem Beziehungswahn kennen wir aber auch bei uns selbst, in seelisch belastenden Zeiten, oder wenn wir nicht verarbeitete Ängste oder Schuldgefühle haben. Wer etwa im Dritten Reich gegen die Partei und die Machthaber eingestellt war und öfter etwas gegen sie geäußert hatte, unterlag leicht einem gewissen Verfolgungswahn und sah in jedem SA- oder SS-Mann einen gefährlichen Feind, der vielleicht durch Denunziation gehört hatte, was man gesagt hatte, oder sonst etwas über einen wußte, was ausgereicht hätte, einen ins Konzentrationslager zu bringen. Einsamkeit und Isolierung sowie mitmenschliche Ungeborgenheit und reale Gefährdungen begünstigen wahnhafte Reaktionen. Wer nachts allein in einem fremden Haus, vielleicht noch in einem fremden Land ist und ein ihm unbekanntes Geräusch hört, wird leichter dazu neigen, es falsch und gleichsam wahnhaft zu deuten, besonders wenn er seelisch aufgewühlt oder voll Angst oder Schuldgefühl ist, als wenn er entspannt in der schützenden Gesellschaft ihm vertrauter Menschen sich befindet. So enthüllt uns der
Beziehungswahn schizoider Menschen auch nur wieder ihr Grundproblem: ihre Isoliertheit und ihre mitmenschliche Ungeborgenheit. Die Beispiele zeigen aber zugleich, wie schmal die Grenze zwischen gesund und krank ist, wie wir in Ausnahmesituationen Reaktionen zeigen, die wir sonst nur bei Kranken kennen - weil eben diese Kranken lange Zeit unter solchen Ausnahmebedingungen standen, an denen sie ihre »krankhaften« Reaktionen entwikkelten - entwickeln mußten als Selbstschutz. Noch ein Beispiel dafür, wie bei einem anderen schizoiden Patienten seine unterdrückte Kontaktsehnsucht und seine Zärtlichkeitswünsche wahnhaft verarbeitet wurden: Ein sehr einsamer und fast kontaktloser Mann in den späten Zwanzigern saß einmal im Konzert neben einem jungen Mann, der ihn außerordentlich anzog. Immer wieder blickte er ihn unauffällig von der Seite an und verspürte ein zunehmendes Verlangen, Kontakt mit ihm aufzunehmen, ihn anzusprechen. Ungeübt im Umgang mit Menschen und mit seinen eigenen Impulsen, wurde er mehr und mehr von einer Angst ergriffen, die ihn zunächst nur unbestimmt beunruhigte, dann aber sich zu einer Panik steigerte, als er vermeinte, von dem Mann farbige Kreise ausgehen zu sehen, die sich um ihn legen wollten, als ob jener ihn damit einkreisen, einfangen wolle, kalter Schweiß brach ihm aus und er mußte den Konzertsaal fluchtartig verlassen. Hier ist gut zu erkennen, wie die unterdrückten Wünsche nach Kontakt, Zärtlichkeit und dahinter auch nach homosexueller Annäherung, die er dem Manne gegenüber nicht anzudeuten, zu erkennen zu geben wagte, nun von ihm als von jenem ausgehende Bemächtigung projiziert wurden. Auch hier ist die wirkliche Situation gleichsam ver-rückt, die Innenangst wird nach außen als Bedrohung verlegt, der er sich nur durch Flucht entziehen konnte. Ist man so labil und ungeschützt der Welt innen und außen ausgesetzt, kann man verstehen, daß schizoide Menschen eine Lebenstechnik zu entwickeln versuchen, durch die sie nichts mehr wirklich an sich heranlassen, die es ihnen ermöglicht, unberührt und ungerührt zu bleiben, immer sachlich, distanziert und möglichst überlegen, durch nichts aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber auch durch nichts mehr wirklich zu erreichen. Das kann alle Grade von kühler Distanz, Arroganz, Unnahbarkeit bis zu Eiseskälte und Gefühllosigkeit annehmen, oder, wenn diese Schutzhaltungen nicht mehr ausreichen, zu plötzlichen Schärfen und explosiven Aggressionen führen, wie wir sie beschrieben hatten. Hier kann die jeweilige Umwelt eine echte Hilfe für ihn werden, wenn sie mehr von den Zusammenhängen seines Verhaltens weiß, wenn
sie versteht, aus welcher inneren Not seine Verhaltensweisen kommen. In der Therapie schizoider Menschen kommt man mit Grenzzuständen in Berührung, die die Gefährdetheit menschlicher Existenz aufleuchten lassen. Gerade deshalb können wir von ihnen lernen, was für den Menschen existentiell wichtig ist, welche familiären und sozialen Umweltfaktoren andererseits unsere Entwicklung in einem Ausmaß gefährden, das, wenn überhaupt, nur sehr schwer ausgeglichen werden kann. Geniale Menschen entwickeln sich manchmal auf solchem Hintergrund, im Annehmen des Gefühls totalen In-Frage-gestellt-Seins, womit wir die oft schmale Grenze zwischen Genialität und Psychose angedeutet haben. So viel ist jedenfalls sicher: wenn diese Menschen es vermögen, ihr Leid und ihre Ängste durchzustehen und zu überwinden, können sie höchste Menschlichkeit erreichen. Es sei noch betont, daß schizoide Züge sehr verschiedene Intensität annehmen können. Wenn wir versuchen, eine Reihe schizoider Persönlichkeiten aufzustellen, die von durchaus noch gesund zu nennenden, über leichter und schwerer Gestörte bis zu den schwerst Gestörten führt, kämen wir etwa auf die folgende: leicht Kontaktgehemmte - Übersensible - Einzelgänger - Originale Eigenbrötler - Käuze - Sonderlinge - Außenseiter - Asoziale Kriminelle - Psychotiker. Es finden sich unter ihnen gar nicht selten geniale Begabungen. Beim Genialen wirkt sich die Einsamkeit und Ungebundenheit positiv aus, indem er freier von Traditionen und Rücksichten Dinge erkennen kann, die der Geborgene und Traditionsgebundene nicht sieht oder zu sehen wagt. Seine exponierte Situation läßt ihn zu Erkenntnissen kommen, die Grenzen überschreiten können, von denen andere sich respektvoll fernhalten. Wenn ihr Gefühlsleben nicht verarmt ist, nur scheu zurückgehalten wird, sind Schizoide sehr differenzierte und sensible Menschen, die eine tiefe Abneigung gegen alles Banale und Flache haben. Nur bei Gefühlsverarmung und Gefühlskälte können sie hinter dem eigentlich Menschlichen zurückbleiben. In ihrem Verhältnis zur Religion sind sie meist Skeptiker, oft Zyniker, scharfsinnig im Aufweisen der »Unsinnigkeit« des Glaubens, kritisch gegen Riten, Traditionen und alles Formalistische. Sie entzaubern und ernüchtern überhaupt gern, bis zur ehrfurchtslosen »Erklärung« des Unerklärlichen - wofür ja eine aufgeklärte und vorwiegend naturwissenschaftlich orientierte Zeit Möglichkeiten genug anbietet. So sind sie oft die Rationalisten, denen für bestimmte Erlebnisgebiete das Organ fehlt, weshalb man mit ihnen auch darüber nicht diskutieren kann.
Aber oft scheint es, als ob diese Einstellung zur Religion oder zum Glauben auch eine unbewußte Enttäuschungsprophylaxe ist: Sie wagen es nicht zu glauben, um nicht enttäuscht zu werden, und warten heimlich doch auf den »Beweis«, der sie überzeugen könnte. Manchmal sind sie nihilistisch und destruktiv, genießen es diabolisch, wenn sie anderen ihren Glauben zerstören können. Aber in dem Bestreben, andere zu ihrem eigenen Unglauben zu bekehren, läßt sich doch wieder die Fragwürdigkeit ihrer Einstellung erkennen; vielleicht wollen sie auch nur mit ihrem Unglauben nicht allein bleiben. Die Schwergestörten unter ihnen können aus nie erlebter Geborgenheit und Liebe nicht gläubig sein und neigen zum Atheismus. Sie machen sich dann oft selbst zum Maßstab aller Dinge, was bis zu größenwahnsinniger Überheblichkeit und zur Selbstvergottung führen kann. Es ist dann, als ob die Zurücknahme ihres Interesses an der Welt und die immer ausschließlichere Zuwendung des Interesses auf die eigene Person, dieser eine Macht und eine Bedeutung gibt, die allmählich das ganze Bewußtsein ausfüllt. Manche können aber auch im Religiösen die nie erlebte Geborgenheit suchen und finden; es wird aber kein kindlicher Glaube sein, auch kein Glaube an einen persönlichen liebenden Gott. Viel eher das Annehmen von etwas überpersönlich Unerforschlichem, dem er die Würde des bedingt freien Individuums gegenüberstellt und das Bewußtsein der humanen Aufgabe des Menschen als Mensch, die für ihn verpflichtend ist. Ethik und Moral erscheinen dem Schizoiden eher fragwürdig. Er hält nicht viel von Forderungen, die den Menschen, wie er nun einmal ist, überfordern und dadurch in Schuldgefühle stürzen. Er neigt überhaupt weniger als andere zu Schuldgefühlen. Durch seinen Kontaktmangel ist er weniger sozial angepaßt; egozentrisch, lebt er mehr die selbstbewahrenden Seiten und wertet danach, was ihm angemessen ist. So kann er eine »Herrenmoral« entwickeln, die er nur für sich selbst als gültig anerkennt, voll Verachtung für die »Schwachen«, die sich durch moralische Bedenken gebunden fühlen, was ihm vorwiegend als Feigheit und mangelnder Mut zu autonomer Eigenständigkeit erscheint. Sind sie starke Persönlichkeiten, leben sie eine Eigengesetzlichkeit, für die der Satz »der Starke ist am mächtigsten allein« mit allen darin liegenden Möglichkeiten und Gefahren gilt. Nur der Starke hat die Kraft, sein früh ihm bewußt gewordenes Anderssein als die anderen als Wert zu setzen, wie es das Motto in diesem Kapitel ausdrückt. Der Schwächere und Brüchigere zieht sich beobachtend von der Welt zurück und sucht sich durch den Ausbau einer Privatwelt einen Ausgleich zu schaffen, um die anderen nicht zu brauchen. Auffal-
lende, manchmal fast ausschließliche Hinwendung zu Tieren oder zur toten Materie kann so zustande kommen. Sind sie tiefer gestört, haben sie oft eine destruktiv-zersetzende Wirkung, werden asozial und benutzen andere skrupellos für ihre Zwecke. Schizoide Eltern und Erzieher geben dem Kind zu wenig Wärme; sie bleiben ihm zu fern, können die Gefühlsbedürfnisse des Kindes nicht adäquat annehmen und erwidern, ironisieren oft alles Gefühlshafte bei ihm. Sie verunsichern das Kind leicht, indem sie es durchschauen und seine Motive zu früh psychologisch aufdekken, drängen es dadurch zu früh in die Selbstreflexion. Es friert in ihrer Umgebung und wird gestört durch ihre abrupten, ihm schwer einfühlbaren Reaktionen, die es gleichsam in Alarmbereitschaft halten. Es findet bei ihnen zu wenig Möglichkeiten für die liebende Identifikation, sie sind zu unerreichbar für das Kind. Sie haben aber oft eine gute Beziehung zum Kleinkind, demgegenüber sie auch Zärtlichkeit zulassen können. Später verbergen sie ihre Zuneigung gern hinter spöttischer Ironie, die es dem Kinde schwer macht, das Gefühl zu bekommen, daß seine Liebe ein Wert sein, dem anderen etwas bedeuten könnte, weil es sich im Gefühl nie ernstgenommen erlebt. (»Mein Herr Sohn hat ja plötzlich zärtliche Anwandlungen«; »Mein Fräulein Tochter möchte wohl etwas aus mir herausholen, weil sie heute so liebenswürdig zu mir ist«.) Auf Grund ihrer Struktur bevorzugen sie Berufe, die sie nicht in nahen Kontakt mit anderen bringen. Sie haben eine Neigung zu theoretisch-abstrakten Gebieten. Exakte Naturwissenschaftler, Astronomen, Physiker, Mathematiker und Ingenieure finden sich unter ihnen besonders häufig. Wenn sie sich wissenschaftlich mit dem Menschen beschäftigen, geschieht dies gleichsam indirekt, auf Umwegen: über psychologische Testverfahren, über Mikroskope und Röntgenapparate oder, wie in der Pathologie, über den Toten. Die Seele wird ihnen leicht zu einer Anhäufung physiologischer Reflexe, und sie könnten mit Schopenhauer sagen: »Lieber Gott, wenn es dich gibt, rette meine Seele, wenn ich eine habe.« Ihre Psychologie hat oft etwas Aufdeckendes, Entlarven-Wollendes. Sie sind als Ärzte mehr Forscher als Therapeuten, oft mit einer besonderen Beziehung zur Psychiatrie und zu den Grenzwissenschaften; als Theologen neigen sie mehr zur Religionswissenschaft als zum praktizierenden Geistlichen. Oft wenden sie sich vom Menschen ab, den Tieren, Pflanzen und Gesteinen zu, und erforschen die Welt mit den verbesserten Sinnesorganen von Mikroskop und Fernrohr mikro- und makroskopisch. Man kann sich vorstellen, wie gefährlich in den Händen eines schwer schizoiden Wissenschaftlers Erkenntnisse und Machtmög-
lichkeiten werden können, der, menschlich ungebunden, autistisch nur seinen Ideen lebt und sie zu verwirklichen sucht. Neben Neigung und Begabung wird die Berufswahl bei ihnen oft dadurch motiviert, daß sie Gebiete suchen, auf denen sie eine von subjektiven Gefühlen ungetrübte verläßliche Erkenntnis zu finden hoffen. Als Philosophen sind sie oft die lebensfernen abstrakten Denker, wie ihnen ganz allgemein die Theorie mehr liegt als die Praxis. In der Politik vertreten sie gern die revolutionären bis anarchistischen Elemente, ausgeprägte Extremstandpunkte, den Radikalismus; oder aber, sie sind politisch weitgehend desinteressiert Politik »geht sie nichts an«, aus ihrem solipsistischen Standpunkt heraus, den die Gemeinschaft, welcher Art auch immer, nicht interessiert. In der Kunst liegt ihnen mehr die abstrakt-ungegenständliche Richtung, sie versuchen, ihre komplizierten Innenerlebnisse zu gestalten und drücken diese eher verschlüsselt und symbolisch aus; oder sie sind die scharfen Kritiker, Satiriker und Karikaturisten. Ihr Stil ist meist eigenwillig, unkonventionell, jedenfalls originell, manchmal zukunftweisend. Wenn sie sich in ihrer Unbezogenheit an kein bestimmtes Publikum wenden, sondern über sich hinaus allgemein Menschliches und Grundsätzliches ausdrücken, können sie neue Entwicklungen auslösen. Sie erfassen oft psychologischatmosphärische Dinge, deuten Unsagbares an und ragen in Bezirke, die von anderen nicht gesehen oder gemieden werden, so daß ihre Werke unser Wissen vom Menschen vertiefen können. Sie sind selten zu ihren Lebzeiten populär. Der Beruf wird ihnen leicht zum Job, weil es für sie letztlich unwichtig ist, womit sie ihren Unterhalt verdienen - sie führen ihr Eigenleben außerhalb des Berufes, bei ihnen findet man die meisten Liebhabereien und Hobbys. Sie ergreifen auch gern Berufe, die mit viel Einsamkeit verbunden sind und die wenig mitmenschliche Kontakte erfordern. Die Hinwendung zur Welt der Tiere, Pflanzen und Mineralien in irgendeiner Form ist nicht selten. Elektriker, das Verkehrswesen und andere Berufe, in denen sie unbewußt und symbolisch ihr Bedürfnis nach Kontakt und Verbundenheit gleichsam abstrakt erfüllen können, liegen ihnen. Schizoide Menschen von Format können die Auslöser großer Umschwünge, Pioniere und Initiatoren sein. Denn diese die Fragwürdigkeit des menschlichen Daseins intensivst Erlebenden nehmen Dinge wahr, erleben Inferni und erleiden in ihrer Einsamkeit und Ausgesetztheit Grenzzustände, von denen sich Geborgenere keine Vorstellung machen.
Das Alter kann sie noch mehr vereinsamen und eigenartiger werden lassen. Aber manche verstehen es auch, weise zu werden. Im allgemeinen kann man sagen, daß schizoide Menschen leichter als andere zu altern verstehen; dank ihrer ihnen schon gewohnten Unabhängigkeit und Isolierung ertragen sie die Vereinsamung besser. Sie haben sich schon früh eine Eigenwelt aufgebaut, in der sie leben können, ohne zu sehr auf mitmenschliche Anteilnahme angewiesen zu sein. Sie fürchten auch den Tod weniger, nehmen ihn als Faktum unsentimental und stoisch hin. Da sie nicht so viel in die Welt und in die Menschen investiert haben, haben sie auch weniger zu verlieren und aufzugeben; sie hängen an nichts besonders stark, nicht einmal an sich selbst, und können daher leichter loslassen. Die positiven Seiten schizoider Menschen zeigen sich vor allem in souveräner Selbständigkeit und Unabhängigkeit, im Mut zu sich selbst, zur Autonomie des Individuums. Scharfe Beobachtungsgabe, affektlos-kühle Sachlichkeit, kritisch-unbestechlicher Blick für Tatsachen, der Mut, die Dinge so zu sehen wie sie sind, ohne mildernde oder beschönigende Verbrämungen, gehören zu ihren Stärken. Sie sind am wenigsten beengt durch Traditionen und Dogmen irgendwelcher Art, sie machen sich von nichts abhängig, übernehmen nichts, bevor sie es nicht geprüft und durchdacht haben. Unsentimental, hassen sie allen Überschwang, alle Unklarheit und Gefühlsduselei. Sie vertreten ihre Überzeugungen klar und kompromißlos und haben über alles ihre eigene selbständige Meinung. Sie haben meist eine ironisch-satirische Seite und einen scharfen Blick für die Schwächen anderer; man kann sie daher schwer täuschen und sie sind im mitmenschlichen Kontakt oft »unbequem«, weil wenig bereit, Unechtheit und Fassadenhaftes gelten zu lassen. Sie glauben an ihre Fähigkeiten und vermögen es, weitgehend ohne Illusionen zu leben; das Geschick möchten sie meistern, Schicksal ist ihnen etwas zu Überwindendes - der Mensch als Selbstgestalter seines Schicksals. Zu erwähnen sind noch die schizoiden Menschen, die eine starke schizoide Struktur haben, aber darunter nicht leiden, sich daher als gesund empfinden. Sie bejahen ihre Autarkie und Bindungslosigkeit als Wert und leben sie auf Kosten anderer aus, die unter ihrer Rücksichtslosigkeit leiden. Hierher gehören viele Machthaber, überhaupt Menschen, die über andere verfügen und sie ohne Bedenken für ihre Zwecke benutzen - aus einer tiefen Menschenverachtung heraus. Wenn hier und im folgenden die »positiven« Vertreter der einzelnen Strukturtypen in der Beschreibung zu kurz kommen, liegt
es daran, daß das Prinzipielle der vier Persönlichkeitsstmkturen gerade an den randständigen Formen klarer aufzuzeigen ist; ich hoffe, daß niemand daraus eine Wertung ableitet; jede Struktur hat ihre Möglichkeiten der Entfaltung zu hohem Niveau. Für den schizoiden Menschen ist es am wichtigsten, den Gegenpol zu seinem Streben nach Selbstbewahrung und Autarkie, die Seite der Hingabe, nicht zu vernachlässigen, sondern sie zur Ergänzung in dem Maße zu integrieren, daß die einseitige und überwertige »Eigendrehung« sich nicht verabsolutiert und ihn in die krankmachende Isolierung treibt, die ihn aus allen Bindungen fallen läßt. »Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei«; der Bindungslose wird zu leicht unmenschlich. Wie wir im letzten Kapitel sehen werden, besteht bei allen vier Persönlichkeitsstrukturen die Neigung zur Faszination durch den jeweiligen Gegentypus; darin möchte ich einen uns unbewußten Drang zur Ergänzung, zur Befreiung von krankmachender Einseitigkeit sehen; denn wir können keinen der vier Grundimpulse einfach auslassen und vor der ihm entsprechenden Angst ausweichen, ohne Schaden zu nehmen. Im Wagen vertrauenden sich Zuwendens, im Wagen der Selbstvergessenheit liegt die Hilfe, die aus gefährdender Vereinzelung herausfinden läßt und die Chance enthält, Zuneigung und Bindung nicht nur als Last, Fessel und Gefahr zu erleben, sondern auch als Gehaltenwerden, als Gemeinsamkeit des Erlebens und der Entwicklung und als Erweiterung unserer Ichbegrenzung durch einen Partner.
Die depressiven Persönlichkeiten »Vergiß dein Ich, dich selbst verliere nie« (Herder)
Wenden wir uns nun der zweiten Grundform der Angst zu, der Angst, ein eigenständiges Ich zu werden, die zutiefst erlebt wird als das Herausfallen aus der Geborgenheit. Von den Grundimpulsen her gesehen, handelt es sich dabei nach unserem Gleichnis um die Menschen, die die »Revolution«, also die Bewegung um ein größeres Zentrum, überwertig leben und die »Eigendrehung« vermeiden wollen; wir bezeichneten damit die Seite der Hingabe im weitesten Sinne. Der Wunsch nach vertrautem Nahkontakt, die Sehnsucht, lieben zu können und geliebt zu werden, gehört zu unserem Wesen und ist eines der Merkmale der Menschlichkeit überhaupt. Als Liebende haben wir den Wunsch, den geliebten Menschen glücklich zu machen; wir fühlen uns in ihn ein, wir wollen seine Wünsche erraten, denken mehr an ihn als an uns selbst, können uns selbst vergessen und den beglückenden Austausch des Gebens und Nehmens erleben, der uns mit ihm zu einem Wir zusammenschmilzt, das die Getrenntheit der Individuen aufhebt, wenigstens für Augenblicke. Das Urbild solcher Liebe ist die Mutter-KindBeziehung, und vielleicht sucht alle Liebe das wieder herzustellen, wieder zu finden, was wir in der frühesten Kindheit erlebten: bedingungslos uns geliebt zu fühlen, einfach als die wir sind, und zu erfahren, daß unser Dasein, das, was wir zu geben haben, was wir sind, den anderen ebenso beglückt. Wir bringen die Liebesfähigkeit als eine unserer Anlagen mit; aber sie muß angesprochen, geweckt werden, um sich entfalten zu können. So gibt uns die empfangene Liebe sowohl das Gefühl unseres eigenen Wertes, als sie auch unsere Liebesbereitschaft ermöglicht, die Empfangenes zurückgeben möchte. Wir wollen uns nun wieder überlegen, wie es aussehen wird, wenn ein Mensch, die Ich-Werdung vermeidend, überwiegend die Ich-Aufgabe und Hingabe zu leben versucht. Die erste Folge wird sein, daß dadurch das Du, der jeweilige Partner, einen Überwert bekommt. Liebendes Sich-hingebenWollen bedarf eines Partners, ist gebunden an das Da-Sein eines anderen Menschen und ohne ihn nicht möglich. Damit ist bereits eine Abhängigkeit gesetzt, und hier liegt das zentrale Problem der Menschen, die wir als die depressiven bezeichnen wollen: Sie sind
mehr als andere auf einen Partner angewiesen. Sei es durch ihre Liebesfähigkeit und Liebesbereitschaft, sei es durch ihr Bedürfnis nach Geliebtwerden - zwei Seiten, die sich mit Erich Fromms Worten aus seinem Buch »Die Kunst des Liebens« in die beiden Sätze zusammenfassen lassen: »Ich brauche dich, weil ich dich liebe« und »Ich liebe dich, weil ich dich brauche«. Einmal braucht man also jemanden, um ihn zu lieben, um seine Liebesfähigkeit anwenden zu können; oder man braucht den anderen, weil man von ihm geliebt werden will und Bedürfnisse hat, die man aus sich selbst heraus nicht glaubt erfüllen zu können. Wenn nun ein Mensch einen anderen so dringend braucht, wird er danach streben, die trennende Distanz zwischen sich und ihm soweit wie möglich aufzuheben. Ihn quält die trennende Kluft zwischen Ich und Du - die Distanz also, die der schizoide Mensch gerade so unbedingt brauchte und aufrecht zu erhalten bemüht war zum Selbstschutz. Im Gegensatz dazu will der Depressive dem Du so nahe wie möglich sein und bleiben. Je weniger er an »Eigendrehung« entwickelt hat, um so mehr erlebt er jede Distanz, jede Entfernung und Trennung von einem Partner mit Angst, und wird versuchen, es nicht dazu kommen zu lassen. Für ihn bedeutet Ferne: Alleingelassenwerden, Verlassen werden, und das kann ihn in tiefe Depressionen bis zur Verzweiflung führen. Was kann man aber tun, um nicht der quälenden Trennungsund Verlustangst ausgesetzt zu sein? Die einzige Hilfe wäre, so viel an Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu entwickeln, daß man nicht so restlos auf einem Partner angewiesen ist. Aber gerade das fällt dem Depressiven schwer, denn dafür müßte er ja die enge Bindung an den anderen lockern, und das würde sofort wieder die Verlustangst auslösen. So sucht er nach anderen Sicherheiten, die sein Problem lösen sollen, aber, wie wir sehen werden, es nur verschlimmern. Abhängigkeit scheint ihm solche Sicherheit zu geben; entweder indem er sich von einem anderen, oder diesen von sich abhängig zu machen sucht. Wer von jemandem abhängig ist, braucht ihn, und Gebrauchtwerden verspricht daher scheinbar eine gewisse Garantie, die Garantie, nicht verlassen zu werden. Die eine Möglichkeit scheint also zu sein, einen Menschen fest an sich zu binden, indem man möglichst kindlich-hilflos und abhängig von ihm bleibt, um damit zu demonstrieren, daß man nicht verlassen werden darf - wer könnte so hart und lieblos sein, ein hilfloses Wesen zu verlassen? Die andere Möglichkeit scheint darin zu liegen, den anderen von sich abhängig zu machen, indem man ihn gleichsam zum Kinde macht; sie ist das Gegenbild des
vorbeschriebenen Bildes, mit umgekehrten Vorzeichen - die Motivation ist die gleiche: eine Abhängigkeit herzustellen. Bei den depressiven Persönlichkeiten ist die Verlustangst die dominierende, in ihren verschiedenen Ausformungen als Angst vor isolierender Distanz, vor Trennung, Ungeborgenheit und Einsamkeit, vor dem Verlassenwerden. Sie suchen die größtmögliche Nähe und Bindung, wo der vorbeschriebene schizoide Gegentypus die größtmögliche Distanz und Ungebundenheit suchte, um sich vor seiner Angst zu schützen. Bedeutet dem Depressiven Nähe: Sicherheit und Geborgenheit, so dem Schizoiden: Bedrohung und Einschränkung seiner Autarkie; bedeutete dem Schizoiden Distanz: Sicherheit und Unabhängigkeit, so dem Depressiven Bedrohung und Alleingelassenwerden. Wenn der Depressive erkennt, daß schon das Ich-Werden, die Individuation, unvermeidlich ein trennendes Anderssein bedeutet, verzichtet er entweder bei sich darauf, oder er gesteht es dem Partner nicht zu. In der Sprache unseres Gleichnisses: Der Depressive versucht seiner Angst dadurch zu entgehen, daß er die »Eigendrehung« aufgibt oder sie dem anderen nicht zugesteht. Er ist der Trabant eines anderen, oder er macht diesen zu seinem Trabanten. So lebt er ein gleichsam mondhaftes, echohaftes, nur zurückspiegelndes Leben, oder er drängt es dem anderen auf. Bewußt ist ihm dabei höchstens die Verlustangst; die Angst vor der Individuation, die das eigentliche Problem ist, bleibt weitgehend unbewußt. Seine Angst, daß die eigene oder die Selbständigkeit des Partners zu einem sich voneinander Wegentwickeln und damit zu einem möglichen Verlust führen könne, enthält den richtigen Kern, daß jede Individuation und Eigenständigkeit uns ein Stück isoliert. Je mehr wir wir selbst werden, um so mehr unterscheiden wir uns von anderen, um so weniger Gemeinsames haben wir mit ihnen. Individuation bedeutet immer auch, aus der Geborgenheit des Auch-wie-andere-Seins herauszufallen, und ist daher mit Angst verbunden; der Herdentrieb will diese Angst aufheben, wie auch das Eintauchen in eine Masse die Angst vor der Individuation aufhebt. Der depressive Mensch ist dieser Angst besonders ausgesetzt. Bei ihm kann schon ein sich von anderen Unterscheiden, ein anderes Denken oder Fühlen die Verlustangst konstellieren, weil er es als Entfernung und Entfremdung erlebt. Deshalb versucht er, alles ihn vom anderen Unterscheidende aufzugeben. Machen wir uns das noch etwas deutlicher. Je weniger wir gelernt haben, unser Eigen-Sein, unsere Selbständigkeit zu entwikkeln, um so mehr brauchen wir andere. So stellt sich die Verlustangst heraus als die Kehrseite der Ich-Schwäche. Daher muß der !•••
Versuch, sich gegen die Verlustangst dadurch zu sichern, daß man immer mehr von sich aufgibt, scheitern, ja das Gegenteil bewirken. Denn wer sein Ich nicht stark entwickelt, braucht ein stärkeres Ich draußen als Halt, von dem er immer abhängiger wird, je schwächer er selbst bleibt. Wer aber so abhängig wird, muß eine immerwährende Angst haben, diesen Halt zu verlieren - hat er doch alles auf den anderen gesetzt, an ihn so viel delegiert, daß er ohne ihn nicht lebensfähig zu sein glaubt, weil seine Existenz ganz im anderen ruht. Depressive Menschen suchen daher die Abhängigkeit, die ihnen Sicherheit zu geben verspricht; mit der Abhängigkeit steigert sich aber die Verlustangst; daher wollen sie so dicht wie möglich am anderen haften, reagieren deshalb schon bei kurzen Trennungen mit Panik. So kommt es zu dem hier typischen Teufelskreis, der nur im Wagnis der Ich-Werdung, des autonomen Subjekt-Seins durchbrochen werden kann. Wenn der schizoide Mensch sich vor vertrauender Nähe unter anderem dadurch schützte, daß er an der Meinung festhielt, die Menschen seien gefährlich und nicht vertrauenswürdig, um damit seiner Angst vor der Hingabe auszuweichen, neigt der Depressive auch hierin zum Gegenteil: Er idealisiert die Menschen eher, vor allem die ihm nahestehenden, verharmlost sie, entschuldigt ihre Schwächen oder übersieht ihre dunklen Seiten. Er will nichts Erschreckendes oder Beunruhigendes an ihnen wahrnehmen, weil das seine vertrauenwollende Beziehung gefährden würde. Dadurch entwickelt er zu wenig Phantasie für das Böse im Menschen - im anderen und in sich selbst; denn um so restlos vertrauen und uneingeschränkt lieben zu können, muß er Zweifel und Kritik unterdrücken, läßt er sie gar nicht bewußt werden; er geht Spannungen aus dem Weg, vermeidet Auseinandersetzungen »um des lieben Friedens willen«, und weil sie ihm vom Partner zu entfremden drohen. Er idealisiert den Partner und sieht überhaupt die Menschen also zu gut, was neben naheliegenden Gefahren des Ausgenutztwerdens, eine bei ihm häufig zu findende, lang anhaltende Naivität und Kindlichkeit mit sich bringt. So betreibt er Vogel-Strauß-Politik und versteckt seinen Kopf vor den Abgründen des Lebens im Sand, indem er an dem Glauben festhält, daß der Mensch gut sei. Für die erstrebte Harmonie und ungetrübte Nähe muß der Depressive nun seinerseits »gut« sein, und befleißigt sich daher aller altruistischen Tugenden: Bescheidenheit, Verzichtsbereitschaft, Friedfertigkeit, Selbstlosigkeit, Mitgefühl und Mitleid, um nur die wichtigsten zu nennen. Sie können bei ihm alle Grade annehmen: Überwertige Bescheidenheit, die für sich selbst nichts fordert;
Überanpassung und Unterordnung bis zur Selbstaufgabe, im Extrem bis zu masochisti seh-hörigen Verhaltensweisen. All das läßt sich auf den gemeinsamen Nenner bringen: durch das Aufgeben eigener Wünsche, durch den Verzicht auf das Eigen-Sein, die Verlustangst, die Angst vor der Einsamkeit zu bannen, und sich der deshalb gefürchteten Individuation zu entziehen. Hierbei kann es zu einer gefährlichen Selbsttäuschung kommen: Indem er aus diesen Verhaltensweisen eine Ideologie macht, verbirgt er nicht nur deren Motivierung aus der Verlustangst vor sich selbst, sondern er kann sich auch noch moralisch überlegen vorkommen gegenüber denen, die weniger bescheiden, friedfertig usf. sind. So macht er recht eigentlich aus der Not eine Tugend und meint, etwas hinzugeben und zu opfern, was er noch gar nicht entwickelt hat und besitzt: sein Ich. Dieses Ausweichen vor der Individuation wird aber teuer bezahlt. Damit, daß er alles, was an Wünschen, Impulsen, Affekten und Trieben in ihm ist, nicht zu leben wagt. Er erlaubt sie sich aus Angst oder aus seiner Ideologie heraus nicht - er kann doch nicht auf einmal selbst das tun, was er an anderen verurteilt hat. Dadurch ist er aber immer mehr darauf angewiesen, daß ihm seine Wünsche und Erwartungen, die er natürlich weiter hat, von anderen erfüllt werden. Wer nicht nehmen kann, hofft, zu bekommen vielleicht sogar als Belohnung für seine Besheidenheit; und wenn nicht hinieden, dann wenigstens im Himmel, wie es die christliche Ideologie verspricht. Daraus entstehen die passiven Erwartungshaltungen Depressiver, die sie indessen nicht vor Enttäuschungen und daraus folgenden Depressionen schützen, weil das Leben diese Erwartungen nicht erfüllt. Verzichten sie andererseits auch noch auf diese Belohnungserwartung, käme die Depression erst richtig zum Durchbruch. Depressive Menschen kommen im Leben gleichsam immer wieder in die Lage des Tantalus: Sie sehen die Früchte und das Wasser vor sich, die sich aber ihnen entziehen, weil sie nicht zugreifen gelernt haben, oder es sich nicht erlauben. Sie können nicht fordern, sich etwas nehmen; sie können nicht gesund aggressiv sein, und all das wirkt sich zusätzlich so aus, daß sie ein geringes Selbstwertgefühl entwickeln, das nun seinerseits wieder ihren Mut zum Fordern und Zupacken schwächt. Einige Beispiele für depressives Verhalten: Eine verheiratete junge Frau sagt: »Mein Mann geht jetzt öfters mit einem jungen Mädchen aus; ich kenne es auch, es ist sehr attraktiv und mein Mann ist leicht verführbar. Ich sitze dann zu Hause und heule; aber das soll er nicht merken. Wenn ich ihm Vorwürfe
machen würde, hielte er mich für kleinbürgerlich eifersüchtig, und ich habe Angst, ihm dadurch auf die Nerven zu fallen und ihn erst recht von mir fortzutreiben. Er sagt, Männer seien nun einmal so, und wenn ich ihn wirklich liebte, würde ich es ihm zugestehen.« Sie ist offensichtlich unsicher, was sie ihrem Mann »zugestehen muß«, um seine Vorstellung moderner Partnerschaft nicht zu enttäuschen, die sie selbst nicht teilt. Sie ist unsicher darüber, was sie hinnehmen muß, oder wo sie sich gegen etwas ihrem Wesen Fremdes wehren könnte; da sie zugleich ein geringes Selbstwertgefühl hat, überschätzt sie jede Rivalin. Anstatt ihre Meinung zu vertreten, und sich zu ihrer Toleranzgrenze zu bekennen, anstatt vielleicht ihrerseits den Mann eifersüchtig zu machen, der ihrer viel zu sicher zu sein glaubt, hat sie zuviel Angst, ihn zu verlieren. Sie überfordert sich, um nicht kleinbürgerlich zu wirken, meint, sich immer mehr anpassen zu müssen an seine Wünsche, was er nun wieder ausnützt. Als sie spürte, daß er ihr immer mehr zu entgleiten drohte, glaubte sie durch noch mehr Bereitschaft zum Verständnis ihn halten zu können. Sie war völlig ratlos als sie erkennen mußte, daß er sie daraufhin nur verachtete. Da sie sich selbst nicht ernst nahm, wurde sie auch von ihm nicht ernst genommen. Heute findet man häufig ähnliche Situationen; eine allgemeine Unsicherheit über Freiheit und Bindung, über Treue und sexuelles Sichausleben, die durch manche Propaganda noch unterstützt wird, läßt viele, vor allem depressive Menschen, sich überfordern und Dinge tun, die sie eigentlich gar nicht wollen, aus der Angst »nicht modern« zu sein und den »Trend der Zeit« nicht begriffen zu haben. Diese junge Frau stand auch sonst im Leben unter vielen altruistischen Forderungen, die sie an sich stellte: Zu Weihnachten hatte sie alljährlich eine Liste von annähernd hundert Personen, an die sie schreiben oder denen sie ein Geschenk machen »mußte«, so daß sie schon Wochen vor dem Fest in Zeitängste und Depressionen geriet, wie sie das alles schaffen sollte neben den üblichen Aufgaben des Alltags. Sie kam aber nie auf den Gedanken, daß sie das ändern könnte, und bekam schon Schuldgefühle, wenn sie manchmal Unlust darüber empfand, die vielen Solls erfüllen zu müssen. In die Richtung des »Pechvogels«, den wir unter Depressiven häufiger finden, geht folgendes Beispiel: »Ich kann mir noch so viel Mühe geben, es geht doch immer wieder alles schief bei mir. Gestern war ich beim Friseur; der hat mir die Frisur völlig verpatzt, völlig verschnitten. Dann hat mich ein bestellter Handwerker sitzengelassen - so was passiert auch nur mir. Zum Trost wollte ich mir
eine Bluse kaufen; zu Hause gefiel sie mir nicht mehr - ich hatte eigentlich ganz was anderes gewollt.« Hier läßt sich gut erkennen, wie solche Menschen ihre Wünsche nicht klar genug ausdrücken, oder daß sie überhaupt unklare, unbestimmte Wünsche haben. Dadurch werden sie immer wieder enttäuscht und lasten es irgendwelchen äußeren Umständen, oder eben ihrem Pech an. Weder hatte sie dem Friseur eindeutig genug gesagt, wie sie ihr Haar haben wollte, noch hatte sie beim Blusenkauf eine bestimmte Vorstellung davon, was sie wirklich wollte sie wollte sich nur zum Ausgleich für die Enttäuschungen »etwas Gutes« tun. Sie hatte Mitleid mit sich selbst und das Gefühl, immer Pech zu haben, vom Leben benachteiligt zu werden; sie realisierte aber nicht, daß die Unbestimmtheit ihrer Wünsche und das nicht gekonnte Fordern das eigentliche Problem war. Die Erfahrung mit dem Handwerker, die ja heute an der Tagesordnung ist, legte sie sich auch tendenziös so aus, daß sie sich bedauern und für einen Pechvogel halten konnte, und verschleierte sich damit die Möglichkeit, ihren eigenen Anteil an dem Geschehenen zu erkennen. In dem »50 etwas kann auch nur mir passieren« verschob sie die Ursache von sich weg auf die »böse Welt«, und konnte damit ihre Gehemmtheit und Angst als Schuld des Schicksals sehen, das sie zum Pechvogel verdammte. Sie bezog aus diesem Selbstmitleid eine gewisse Befriedigung - und brauchte sich nicht zu ändern. Die Konflikte Depressiver drücken sich körperlich bevorzugt in Störungen des Aufnahmetraktes aus, der ja symbolisch-repräsentativ für alles sich Nehmen, sich Einverleiben, Zugreifen und Fordern steht. Es kommt bei ihnen in Konfliktsituationen psychosomatisch leicht zu Affektionen des Schlundes, der Rachenmandeln, der Speiseröhre und des Magens. Auch Fettsucht und Magersucht können psychodynamisch mit solchen Konflikten zusammenhängen. Der Volksmund spricht treffend vom »Kummerspeck« und bezeichnet damit die Erfahrung, daß wir nach Enttäuschungen oder Verlusten uns gern durch Essen oder Trinken entschädigen. Von hier führt oft eine schmale Grenze zu Süchten aller Art, die als Ersatzbefriedigung oder als Weltflucht zu verstehen sind. Die Schwierigkeit, sich etwas anzueignen, von etwas Besitz zu ergreifen, kann sich bei Depressiven auch in, wie sie es zu nennen pflegen, »Gedächtnisschwäche« äußern. Sie können sich schwer etwas merken, vergessen schnell, und meinen, das sei ein organisches Symptom. Bei genauerem Hinsehen stellt sich indessen meist heraus, daß sie Eindrücke gar nicht voll apperzipieren, sie nicht wirklich mit Interesse und Aufmerksamkeit aufnehmen, weil
sie Angst haben, starke Reize zuzulassen; denn das brächte sie in den Konflikt, intensiv etwas zu wollen und es sich doch nicht nehmen zu können; so schalten sie vor viele Reize gleichsam einen Filter und resignieren zu früh. Das kann auch zu Lernschwierigkeiten oder zu einer allgemeinen Müdigkeit und Teilnahmslosigkeit führen, die die gleiche Funktion eines Schutzfilters haben und nun rückwirkend die Depressionen verstärken, weil man so immer wieder versagt und von sich enttäuscht wird. Solche scheinbare Gedächtnisschwäche Depressiver ist also häufig nur ein Anzeichen für ihre Resignation, für ihre tiefe Überzeugung, daß es ihnen doch nicht glücken würde, von etwas Besitz zu ergreifen. Sie verzichten dann lieber im voraus - dann können sie höchstens noch angenehm enttäuscht werden. So betreiben sie eine Saure-Trauben-Politik, indem sie das, was sie eigentlich möchten, aber nicht glauben sich nehmen zu können oder zu dürfen, vor sich abwerten, als nicht erstrebenswert hinstellen. Damit ersparen sie sich zwar die mögliche Enttäuschung, etwas haben zu wollen und doch nicht zu bekommen - aber zugleich wird die Welt damit für sie immer farbloser, grauer und reizloser, denn ohne eigene Wünsche an das Leben wird es zunehmend leerer und langweiliger. So sitzen sie gleichsam an der vollgedeckten Tafel des Lebens und trauen sich nicht, zuzulangen, müssen dann aber voller Neid sehen, daß andere frisch zugreifen und es sich schmecken lassen - und sich dabei auch noch wohlfühlen. Immer wieder kommt der Depressive an die Grenze seiner Anpassungsfähigkeit und Verzichtsbereitschaft. Im Erkennen, daß er vor dem Subjektsein nicht ausweichen kann, will er nicht zugrunde gehen an einer dauernden Überforderung durch seine »Tugenden«, oder aber einen »fressenden Neid« empfinden denen gegenüber, die sich ohne Schuldgefühl und Angst vom Leben das nehmen, was sie bekommen können, kann der Gesundungsansatz liegen. Der depressive Mensch und die Liebe Liebe, Liebenwollen und Geliebtwerdenwollen ist dem depressiven Menschen das Wichtigste im Leben. Hier kann er seine besten Seiten entwickeln, hier liegen zugleich seine größten Gefährdungen. Nach dem bisher Geschilderten ist es verständlich, daß es bei ihm vor allem in seinen partnerschaftlichen Beziehungen zu Krisen kommen kann. Spannungen, Auseinandersetzungen, Konflikte in diesen sind ihm quälend, ja unerträglich, und sie belasten ihn meist
mehr als nötig, weil sie seine Verlustangst aktivieren. Für ihn unverständlich, führen oft gerade seine Bemühungen um den Partner zu Krisen, weil dieser sich aus der zu engen Umklammerung zu befreien versucht. Der Depressive reagiert dann mit Panik, mit tiefen Depressionen, und in seiner Angst greift er manchmal zu erpresserischen Mitteln bis zum angedrohten, auch versuchten Selbstmord. Er kann sich schwer vorstellen, daß der Partner nicht das gleiche Bedürfnis nach Nähe hat wie er selbst, der gar nicht genug davon bekommen kann. Das Bedürfnis nach Distanz beim Partner erlebt er daher schon als mangelnde Zuneigung oder als Anzeichen, daß der ihn nicht mehr liebt. Die Fähigkeit zur einfühlenden Identifikation, dazu also, einen anderen Menschen in liebender Zuneigung in seinem Wesen zu erfassen, und in transzendierender Teilhabe ihn mitzuerleben, ist für depressive Menschen besonders charakteristisch, und eine ihrer schönsten Eigenschaften. Echt gelebt ist sie ein wesentliches Element alles Liebens, ja aller Menschlichkeit. Ihre Identifikationsbereitschaft kann sich bis zu medialer Einfühlung steigern, in der dann tatsächlich die trennende Grenze zwischen Ich und Du aufgehoben ist - Ursehnsucht aller Liebenden, und Sehnsucht der Mystiker, in grenzauflösender Transzendenz eins zu werden mit dem Göttlichen oder der Schöpfung, worin sie vielleicht unbewußt die grenzenlose Beziehung zur Mutter in der frühen Kindheit auf höherer Ebene wiederzufinden hoffen. Wir werden noch sehen, daß für die Entwicklung unserer Liebesfähigkeit unsere frühe Muttererfahrung von entscheidender Bedeutung ist. Im gesunden Menschen mit depressiven Einschlägen liegt eine große Liebesfähigkeit, Hingabe- und Opferbereitschaft, die Fähigkeit auch Schweres mit dem Partner durchzutragen; er kann Geborgenheit geben, Gefühlsinnigkeit und Unbedingtheit der Zuwendung. Beim tiefer gestörten Depressiven überwiegt in der Liebesbeziehung die Verlustangst; bei ihm kommt es dadurch zu den schwierigeren, den eigentlich depressiven Partnerbeziehungen. Die beiden häufigsten Formen sehen etwa folgendermaßen aus: Man versucht, gleichsam nur noch durch den Partner zu leben, in völliger Identifikation mit ihm. Das ermöglicht tatsächlich die größte Nähe. Man ist gleichsam der Andere geworden, hat aufgehört, ein von ihm getrenntes Eigenwesen zu sein, ein Eigenleben zu haben. Man denkt und fühlt wie er, man errät seine Wünsche, »liest sie ihm von den Augen ab«; man weiß, was er ablehnt und was ihn stört, und räumt es ihm aus dem Weg; man übernimmt seine Ansichten und teilt seine Meinungen - kurz, man lebt, als ob schon ein Andersdenken, eine andere Meinung, ein anderer Geschmack,
überhaupt ein Sich-von-ihm-Unterscheiden und Man-selbst-Sein gefährlich wäre und die Verlustangst heraufbeschwören würde. So geht man ganz im Partner auf und lebt im Bewußtsein aufopfernder Liebe und Selbstlosigkeit. Die Echtheit oder Unechtheit solcher Liebe unterscheidet sich darin, ob man vor der »Eigendrehung« und der zu ihr gehörenden Verlustangst ausweichen will, oder ob man trotz des Bewußtseins der Gefährdetheit alles Liebens, sich selbst und den anderen für die Eigenentwicklung freigeben kann und ihn trotzdem zu lieben wagt. Hier wird das »wo du hingehst, da will ich auch hingehen« gleichsam verabsolutiert. Für den Partner ist zwar eine solche Beziehung in vieler Hinsicht recht bequem; wer aber mehr von einer Partnerschaft erwartet, als im anderen ein Echo von sich selbst zu finden oder einen immer dienstbaren Geist, wird darin enttäuscht werden. In ähnlicher Richtung liegt es, wenn man aus Verlustangst sich selbst so weit aufgibt, daß man praktisch wieder zum Kind wird. Man delegiert dann alles an den Partner, was man eigentlich selbst tun könnte und sollte, wird damit immer abhängiger von ihm und hilfloser ohne ihn, aus der Vorstellung heraus, der andere könnte meinen, man brauche ihn nicht mehr, wenn man selbständiger würde, ja man glaubt, ihn durch die eigene Hilfsbedürftigkeit am sichersten halten zu können. Hier wiederholt man unbewußt deutlich eine Vater- oder Mutter-Kind-Beziehung in der Partnerschaft - es sind gar nicht wenig Ehen, die so aussehen. Ähnlich liegen die Dinge auch bei den Menschen, die, verwitwet, möglichst sofort wieder heiraten, obwohl sie den verstorbenen Partner auf ihre Weise geliebt haben: Sie haben zu wenig Eigenleben und können sich auf jeden neuen Partner einstellen und sich anpassen Hauptsache sie bleiben nicht allein. Was auf diesen Wegen angestrebt wird gleicht einer Symbiose, einer Aufhebung der trennenden Grenze zwischen Ich und Du. Man erstrebt eine Verschmelzung, in der sich Ich und Du nicht mehr unterscheiden und wo, wie einmal ein Depressiver sagte »man nicht mehr weiß, wo man selbst aufhört und der andere anfängt.« Am liebsten würde man sich ganz im anderen auflösen oder ihn »vor Liebe auffressen«, so daß man unverlierbar im anderen enthalten wäre oder ihn unverlierbar in sich trüge. In beiden Fällen liegt das Problem darin, daß man selbst vor der Individuation ausweicht oder sie dem anderen nicht zugesteht. Häufig findet man in der Partnerbeziehung auch die Form des »wenn ich dich Hebe, was geht's dich an«. Das ist ein großartiger Versuch, die Verlustangst zu vermeiden: Der Partner kann sich verhalten wie er will - man liebt letztlich sein Gefühl zu ihm mehr
als ihn selbst, und ist damit nur noch von sich selbst und seiner Liebesbereitschaft abhängig; so kann man Ewigkeit und Unverlierbarkeit erreichen. Schwieriger ist die andere Form depressiver Partnerbeziehung, die erpresserische Liebe. Sie kleidet sich gern in Überbesorgtheit, hinter der sich Herrschsucht, die hier auch aus der Verlustangst stammt, verbirgt. Erreicht man damit nicht, was man erreichen möchte, greift man zu stärkeren Mitteln, zu Selbstmordandrohungen und vor allem zum Erwecken von Schuldgefühlen im Partner; wenn auch das nicht ausreicht, verfällt man in tiefe Depressionen und Verzweiflung. Formulierungen wie »wenn du mich nicht mehr liebst, will ich nicht mehr leben«, bürden dem Partner die Verantwortung auf, daß von seinem Verhalten das Leben des anderen abhängt. Ist er zu weich und neigt er zu Schuldgefühlen, durchschaut er die Situation nicht, können sich hier Tragödien abspielen, die ausweglos werden, wenn die gegenseitige Verstrickung schon zu tief ist. Dann ergibt es jene Beziehungen, die vom Partner nur noch aus Angst, Mitleid und Schuldgefühlen gehalten werden, in denen Haß und Todeswünsche unter der Oberfläche schwelen. Auch Krankheit kann als erpresserische Waffe gebraucht werden und zu ähnlichen Tragödien führen. Wir können wieder sehen, daß auch die Ängste und Konflikte depressiver Menschen etwas allgemein Gültiges haben: Je tiefer wir lieben, umsomehr haben wir zu verlieren, und bei der Gefährdetheit menschlichen Lebens suchen wir alle nach einem Stück Geborgenheit, die wir am tiefsten in der Liebe zu finden hoffen. Wir haben aber auch gesehen, daß das Ausweichen vor der Individuation keine Sicherheit vor der Verlustangst gibt. Im Gegenteil; weil wir damit vor etwas uns Aufgegebenem ausweichen, konstellieren wir gerade das, was wir vermeiden wollten. Zum PartnerSein gehört eine schöpferische Distanz, die es beiden Partnern ermöglicht, sie selbst zu sein, sich zu sich selbst zu entwickeln. Wirkliche Partnerschaft ist nur möglich, zwischen zwei eigenständigen Individuen, nicht in einem Abhängigkeitsverhältnis des einen vom anderen, wobei der eine zum Objekt gemacht würde. Wer sich nicht traut, ein eigenständiger Partner zu sein, dem droht gerade dadurch die Gefahr des Verlustes; denn durch die Abhängigkeit und die zu geringe Selbstachtung gerät er in die Gefahr, die Achtung des anderen zu verlieren und fordert damit heraus, nicht »für voll« genommen zu werden. Wer andererseits den Partner zum unmündigen Kinde zu machen versucht, muß damit rechnen, daß dieser sich irgendwann befreien und seinerseits ernst genommen werden will, oder daß er seine Toleranzgrenze überschreitet,
und Liebe sich in Haß verwandelt. Es sei denn, man lebt eine Neurose zu zweien, die aber ein stagnierendes Verhältnis ist, ohne Weiterentwicklung, meist eine fast wörtliche Wiederholung einer Kindheitsbeziehung. Die Sexualität ist depressiven Menschen weniger wichtig als Liebe, Zuneigung und Zärtlichkeit. Bekommen sie diese, können sie sich auch im Körperlichen beglückend schenken, sind auch hier einfühlend und haben die Einstellung, daß Liebe keine Grenzen verträgt hinsichtlich dessen, was erlaubt oder unerlaubt ist. In Fällen großer Abhängigkeit finden sich hier alle möglichen Formen des Masochismus bis zur Hörigkeit, wohinter nicht selten die Vorstellung steht, es sei die einzige Möglichkeit, den Partner zu halten, indem man sich völlig seinem Willen ausliefert. Wieviel Freiheit oder Bindung der einzelne braucht, erträgt oder nicht erträgt, ist nie durch allgemeine Regelung zu lösen; hier muß jeder die ihm gemäße Lösung finden. Die Menschen selbst, ihre Anlagen, ihre Lebensgeschichte und ihre soziale Situation sind zu verschieden, als daß man für alle gültige Forderungen für die Partnerschaft aufstellen, davon abweichende als falsch oder schlecht verurteilen könnte. Wir müssen wohl soviel menschliches Verständnis füreinander aufbringen, daß wir auch uns ferner liegende Liebesformen respektieren; sonst verurteilen wir zu leicht gerade die, die an sich schon Mangelerlebnisse in ihrer Kindheit erlebten, daher schwer zu einer reifen Liebe finden konnten und nun noch dafür bestraft werden. Der depressive Mensch und die Aggression Nach allem Vorhergesagten wird man verstehen, daß das Umgehen mit seinen Aggressionen und Affekten für den depressiven Menschen ein großes Problem ist. Wie kann er aggressiv sein, sich behaupten und sich durchsetzen, wenn er voller Verlustangst ist, sich als abhängig erlebt und so auf Liebe angewiesen ist? Der Abhängige kann doch den nicht angreifen, von dem er abhängig ist, den er braucht. Das würde bedeuten, den Ast abzusägen, auf dem er sitzt. Andererseits sind Aggressionen und Affekte unvermeidlich, so wie die Welt und die Menschen sind, und wie man natürlich auch selbst ist. Was kann man aber mit seinen Aggressionen machen, wenn sie einem so gefährlich erscheinen? Eine Möglichkeit ist es, ihnen auszuweichen. Das läßt sich vielleicht dadurch erreichen, daß man eine Ideologie der Friedfertigkeit entwickelt. Dann nimmt man Gelegenheiten zur Aggression
und diese selbst nicht mehr wahr, in und außer sich. Wo man sich durchsetzen, sich auseinandersetzen sollte, wo man sich eigentlich wehren müßte, entschärft man die Situation, indem man sie umdeutet und verharmlost - der andere hat es ja gar nicht so gemeint; es lohnt sich doch nicht, wegen einer Kleinigkeit aggressiv zu werden, man vergibt sich damit nur etwas. Je mehr man im Rahmen einer solchen Ideologie sich zurücknimmt, sich kränken läßt, ohne sich zu wehren, sich eigene Affekte nicht erlaubt, umsomehr muß man zum Ausgleich diese Haltungen kompensieren durch das Gefühl moralischer Überlegenheit - ohne daß man indessen erkennt, daß das auch eine - sublime - Form der Aggression ist. Diese Haltung läßt sich steigern bis zur Dulderrolle, die bis zum seelischen, moralischen oder sexuellen Masochismus führen kann. Dabei kommt es zu jener seltsamen Wechselwirkung, daß man das nicht Gelebte, nicht Gewagte, in der Identifikation mit dem anderen miterlebt, an den man es gewissermaßen abtritt, delegiert. Wer sich so zum Objekt eines fordernden, zugreifenden und aggressiven Partners macht, erlebt in der Identifikation mit ihm nicht nur diese in sich unterdrückten Seiten mit, sondern er hat besonders stark jenes Gefühl moralischer Überlegenheit: Als der Erleidende ist er der Bessere und glaubt, nicht schuldig zu sein, wenn er den anderen schuldig werden läßt. Hieran kann die Fragwürdigkeit einseitig gelebter »Tugenden« deutlich werden: Während man bewußt der Leidende zu sein glaubt, macht man unbewußt den anderen zum Leidenden; das sadomasochistische Verhältnis kehrt sich um; der »Heilige« wird zum Quäler, der »Sünder« zum Gequälten. - »Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig« heißt ein Bühnenstück von Franz Werfel. Denn indem man den anderen aggressiv, »böse« und damit schuldig werden läßt in duldender Demut, erweckt man in ihm immer mehr Schuldgefühle; wird man gar noch wegen ihm krank, kommt er aus den Schuldgefühlen gar nicht mehr heraus, während man selbst der unschuldig Leidende bleibt. Hier können sich makabre Dinge abspielen, die etwas von der Intensität der Affekte ahnen lassen, die hinter schweren Depressionen stehen, ohne daß sie dem Betreffenden als Aggression bewußt werden - er würde tief erschrecken, wenn man ihm diese Deutung anböte. Wir hatten schon erwähnt, daß sich auch hinter der überbesorgten Liebe depressiver Menschen unbewußte Aggressionen verbergen; mit solcher Überbesorgtheit kann er den Partner geradezu ersticken, ihn »weich vergewaltigen«. Ebenfalls unbewußt bleiben die Aggressionen, in der vielleicht häufigsten Form depressiver Aggression: im Jammern, Klagen
und Lamentieren. Daß diese auf den Partner zermürbend wirken können, ist den Depressiven nicht bewußt. Sie jammern, daß ihnen alles zuviel ist, daß die Menschen so böse sind, so rücksichtslos; sie tragen eine Miene zur Schau, die wortlos anklagt und erwecken auf vielerlei Weise im anderen Schuldgefühle, so daß er sich zu immer größerer Rücksicht und Anteilnahme im Umgang mit ihnen gezwungen sieht. Oder aber, es wird dem Partner zuviel, er durchschaut die Situation und befreit sich von den Schuldgefühlen, die ihm der Depressive auflastet. Findet die Aggression keinen der hier angedeuteten Wege, kann sie sich zunächst in Selbstmitleid äußern und sich schließlich gegen die eigene Person richten, wie es am intensivsten beim Melancholiker der Fall ist. Aus dem ihm unlösbar gewordenen Konflikt zwischen Aggression, Schuldgefühlen und gleichzeitiger Angst vor Liebesverlust, muß er alle ursprünglich einem anderen geltenden Anklagen, Vorwürfe und seinen Haß gegen sich selbst richten, bis zum Selbsthaß und zur bewußten oder unbewußten Selbstzerstörung. Wahrhaft tragisch ist solche Selbstzerstörung aus ehemals berechtigten Haß- und Neidgefühlen der Kindheit, die man nie äußern durfte, weil man seine Situation dadurch nur verschlimmert und sich als böse erlebt hätte. Weil man keine Möglichkeit, kein Ventil fand, seine Affekte loszuwerden, und weil man sie mit Schuldgefühlen erlebte, mußte man sie gegen sich selbst richten, auch als Selbstbestrafung. Die größten Tragödien spielen sich in der Kindheit ab; hier darin, daß das Kind sein Abgelehntwordensein als Selbsthaß nach innen nehmen und aus Verlustangst und Ungeborgen heit seine Aggression als zu große Belastung seiner gefährdeten Situation erleben mußte. So lernt es der später Depressive von früh an nicht, mit seinen Aggressionen umzugehen. Das hat weiterhin regelmäßig zur Folge, daß er zu spät oder nicht realisiert, wo und wann er hätte aggressiv sein können oder sollen; daß er falsche Vorstellungen davon hat, welches Ausmaß an Aggression er einsetzen müßte, um etwas zu erreichen, sich zu behaupten oder sich durchzusetzen - er resigniert vor der Vorstellung, daß dafür enorme Aggressionsquanten nötig wären, die er nicht zur Verfügung hat; und daß er schließlich weit übertriebene Vorstellungen auch davon hat, was die möglichen Folgen einer geäußerten Aggression sein würden, die er sich aus seiner Angst und aus seiner Schuldgefühlsbereitschaft heraus viel zu groß vorstellt - er hat immer die Angst vor einem Bumerang, der ihn mit der doppelten Wucht trifft, mit der er geworfen wurde. Erkennen, wann er aggressiv sein sollte; erkennen, daß oft nur ein fester Blick, eine bestimmte Haltung ausreichen können, um respektiert
zu werden, und die Einsicht in die Überschätzung der möglichen Folgen seiner Aggressionsäußerung sind die Nahtstellen, an denen der Depressive es üben kann, neue Erfahrungen mit seinen Aggressionen zu machen. Wir können sagen, daß die unterdrückte Aggression Depressiver eine ansteigende Linie erkennen läßt, die von der Überbesorgtheit, dem Ideologisieren von Bescheidenheit, Friedfertigkeit und Demut, über das lamentierende Jammern und die Dulderhaltung zur Wendung gegen sich selbst in Selbstvorwürfen, Selbstanklagen, Selbstbestrafungen bis zur Selbstzerstörung führt. Zur Wendung der Aggression gegen sich selbst gehört auch die bereits erwähnte Somatisierung; manche schweren oder unheilbaren Krankheiten können sich psychodynamisch auf solchem Boden entwickeln, gleichsam als letzte unbewußte Selbstbestrafung und zugleich Rache in der Selbstzerstörung. Affekte und Aggressionen, die man nicht äußern kann oder darf, die somit kein Ventil finden, werden nicht nur äußerst quälend; sie führen auch zu einer allgemeinen Antriebsschwäche bis zur Passivität und Indolenz, die gleichzeitig Folge der gehemmten Aggressivität sind, sekundär wieder zu deren erneuter Hemmung werden. Haß, Wut und Neid sind auch im Leben des Kindes unvermeidbar, werden aber erst dann gefährlich, wenn sie sich innen aufstauen und zum Hintergrund von Depressionen werden. Ohnmächtige Wut, frustrierte Aggressionen, Haß- und Neidgefühle, die wir unterdrücken müssen, machen uns auch im späteren Leben noch depressiv, »nieder-geschlagen« - wieviel mehr als Kind, wenn wir sie wegen unserer Abhängigkeit und Hilflosigkeit nicht zulassen dürfen. Erst wenn das Kind seine Affekte und seine Aggressivität äußern durfte, kann es lernen, mit ihnen umzugehen, sie je nach der Situation angemessen einzusetzen oder auf sie zu verzichten. Wenn ein Kind auffallend still und brav ist, wenn es sich langweilt und mit der Welt nichts anfangen kann, wenn es keine Initiative zeigt und zu jeder Aktivität angeregt werden muß, wenn es eine unkindliche Neigung zu Antriebslosigkeit hat, wenn es sich nicht allein beschäftigen kann und auf Alleingelassenwerden überwertig reagiert, sind das Anzeichen einer beginnenden Depressivitä't, auf die man achten sollte. Die reife Form der Aggressionsverarbeitung kann man nur dadurch erwerben, daß man Erfahrungen mit seiner Aggressivität macht. Die gesunde und gekonnte Aggressivität ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Selbstwertgefühles, des Gefühls für die Würde unserer Persönlichkeit und für einen gesunden Stolz. Das geringe Selbstwertgefühl Depressiver hat eine wichtige Wurzel
in ihrer nicht gewagten, nicht gekonnten Aggressivität. Goethes Wort aus den »Wahlverwandtschaften«: »Gegen große Vorzüge eines anderen gibt es keine Rettung als die Liebe«, ist eine Sublimierung des Neides, aber - sublimieren kann ein Kind noch nicht. Wir wollen uns nun wieder fragen, wie es zu depressiven Persönlichkeitsentwicklungen kommen kann, wie in einem Menschen die Verlustangst und die Angst vor der Ich-Werdung so überwertig werden können. Der lebensgeschichtliche Hintergrund Konstitutionell entgegenkommend kann eine betont gemüthaftgefühlswarme Anlage sein, Liebesbereitschaft und Liebesfähigkeit, sowie eine große Einfühlungsgabe. Oft sind diese Züge verbunden mit einer gewissen haftenden Schwerblütigkeit und Anhänglichkeit im Gefühl, die es dem Depressiven überhaupt schwer machen, sich von etwas zu lösen, was ihm gefühlsmäßig etwas bedeutet und in das er viel investiert hat. Eine Gefühlsstruktur also, die zur Treue, Beständigkeit und zur liebenden Einfühlung neigen läßt, wie man es bei Menschen mit leichten melancholischen Einschlägen häufig findet. Dabei müssen wir es offen lassen, wie weit diese Züge auch schon wieder Folge der erkannten Unmöglichkeit oder zumindest der dauernden Gefährdetheit sind, seine Veranlagung so zu leben, wie man es möchte. Zugleich tritt bei diesen Menschen - ebenfalls anlagemäßig - meist das aggressive Durchsetzungsvermögen zurück; sie haben zu wenig »Ellenbogen«, sind von Natur friedfertig, gutartig und wenig kämpferisch. Eine andere konstitutionelle Komponente kann in einer sensiblen Vitalschwäche liegen, in einer Durchlässigkeit und gleichsam Hautlosigkeit, einem Mangel an »dickem Fell«, das sie mehr angewiesen sein läßt auf Beschütztwerden und Gestütztwerden, wodurch sie leicht eine Bevaterung oder Bemutterung unbewußt herausfordern. Wahrscheinlich kann auch eine angeborene Neigung zum Phlegma und zur Bequemlichkeit zu den anlagemäßig begünstigenden Faktoren gerechnet werden - obwohl auch hierbei die Frage, was Anlage, was reaktive Antwort ist, schwer beantwortet werden kann. Wieder werden sich die konstitutionellen mit den biographischen Gegebenheiten überschneiden. Die biographischen Zusammenhänge, die depressive Persönlichkeitsentwicklungen begünstigen, verstehen wir am besten, wenn wir uns wieder die Situation
des Kleinkindes vergegenwärtigen, jetzt in der zweiten Phase seiner Entwicklung. Im Unterschied zur Frühstphase, in der das Kind ganz allmählich begann, seine Umwelt bewußt wahrzunehmen, hat es nun schon die Mutter als die Quelle aller seiner Bedürfnisbefriedigungen erkannt, wofür ihre regelmäßige und verläßliche Wiederkehr entscheidend wichtig ist. Das Kleinkind bildet für längere Zeit mit der Mutter ein »Wir«, wie das Kunkel einmal formuliert hat: Mutter und Kind leben in einer Symbiose, bilden so weitgehend eine Einheit, daß das Kind nur allmählich beginnt, sich von der Mutter zu unterscheiden. Zunächst ist die trennende Grenze zwischen ihm und der Mutter für sein Bewußtsein noch nicht vorhanden. Im Maße es nun die Mutter als etwas außerhalb von ihm Seiendes begreift und zugleich erkennt, daß von ihr alle Befriedigung und Beglückung kommt, erkennt es auch seine Abhängigkeit von ihr. Es braucht die Mutter und ist voller Angst, wenn sie sich entfernt. Es ist ganz auf sie angewiesen und auf sie ausgerichtet, sie ist sein wichtigster Bezugspunkt. Das Kind nimmt ihr Bild und ihr Wesen mit allen Sinnen in sich auf. Durch die lange Dauer seiner totalen Abhängigkeit von der Mutter prägt sich ihr Bild tief in seine Seele ein. So wird die Mutter »ver-innerlicht«, wird zu einem ungemein wichtigen Seelenbestandteil des Kindes: Wie es die Mutter in ihrer Einstellung zu sich erlebt hat, das ergibt die Grundlagen dafür, wie es auch später im Tiefsten zu sich selbst steht. Das innen sich abbildende, wie die Psychoanalyse sagt »introjizierte« oder »inkorporierte« Mutter-Bild, die individuelle Muttererfahrung, spiegelt sich später in unserer Einstellung zu uns selbst. Wer das Glück hatte, eine liebende Mutter sich einbilden zu können, hält sich zutiefst für liebenswert; wer das Unglück hatte, eine harte und ablehnende Mutter in sich abbilden zu müssen, hält sich zutiefst für nicht liebenswert, und er wird lange Zeit und viel neue Erfahrungen brauchen, um glauben zu können, daß auch er liebenswert ist. So liegt in einer geglückten Muttererfahrung ein Kapital, das man gar nicht hoch genug einschätzen kann. Bei einer guten Mutterbeziehung besteht ein Verhältnis wechselseitigen Gebens und Nehmens, das von Mutter und Kind als beglückend empfunden wird. Echohaft spiegelt das Kind, was ihm entgegengebracht wird; es beantwortet das Lächeln der Mutter mit Lächeln, und später ruft sein Lächeln das Lächeln der Mutter hervor. Es besteht eine innige Verbundenheit, ein erratendes Verstehen zwischen beiden, das zum Beglückendsten gehört, was das Leben gewähren kann, und wir können verstehen, daß sich hier die ersten Ansätze von Dankbarkeit, Hoffnung und liebender Zu-
neigung bilden. Noch ist das Kind in der kurzen Paradieszeit seines Lebens, in der nichts von ihm gefordert wird, in der seine Bedürfnisse erraten und befriedigt werden und es sein Dasein mit Lust und Behagen erlebt - erleben sollte. Was also vor allem neu ist in dieser zweiten Phase der flühkindlichen Entwicklung, ist die nun erkannte Abhängigkeit von einem Menschen und zugleich das erwachende Bedürfnis nach vertrauter Nähe zu ihm, üblicherweise zur Mutter. Es ist von größter Wichtigkeit, daß die Mutter dem Kind diese Möglichkeiten bietet, damit es in die Lage kommt, einen Menschen »in sein Herz zu schließen«. Das Bild der Mutter und ihres Wesens bildet sich ja dem Kinde zugleich als seine ersten Eindrükke vom Menschen, vom Menschlichen überhaupt, ein. Ob es hier erstmals Zuneigung oder Ablehnung erfährt, sich als geliebt oder ungeliebt erlebt, hängt davon ab, wie die Mutter es anblickt, anfaßt, behandelt und mit ihm umgeht, wobei die Sensibilität und Beeindruckbarkeit des Kindes schon auf feinste Eindrücke reagiert. Sein Verhältnis zu sich selbst wird hier grundlegend »eingespurt« und ergibt die tiefste Basis für sein Selbstwertgefühl - »wie man in den Wald hineinruft, so schallt es zurück«. Fragen wir uns nun, worin die Störungsmöglichkeiten in dieser Phase Hegen, durch die der Impuls zur »Eigendrehung« statt mit Freude, mit Angst und Schuldgefühlen erlebt wird. Es gibt dafür zwei charakteristische Fehlhaltungen der Mütter, die wir mit Verwöhnung und Versagung bezeichnen können. Zunächst zur Verwöhnung. Hier finden wir vor allem die ausgesprochenen Kleinkindmütter, die »Gluckenmütter«, denen es am üebsten wäre, wenn das Kind immer ein Baby bliebe, hilflos und abhängig, sie brauchend und auf sie angewiesen. Mütter also, die oft selbst zum depressiven Strukturkreis gehören und aus unbewußter Verlustangst und Lebensängstlichkeit, oder aus Angst vor Liebesverlust das Kind verwöhnen. Sie überschütten es mit Zärtlichkeit, wagen ihm nichts zuzumuten an gesunden und notwendigen Verzichten. Manchmal kommen schicksalhafte Faktoren hinzu; so bei Frauen, die von der Ehe enttäuscht sind oder den Partner verloren haben, und für die das Kind nun der ganze Lebensinhalt wird. Sie brauchen das Kind zu sehr, brauchen seine Liebe, und tun alles, was es ihnen dankbar verpflichten soll. Je älter das Kind wird, um so problematischer werden sie für das Kind. Sie sehen mit Schrekken, wie seine Entwicklung vorangeht, wie es größer und selbständiger wird. Das bedeutet für sie: Es entwickelt sich von mir fort, es wird mich bald nicht mehr brauchen und sich anderen Menschen
zuwenden. Wahrscheinlich kommt diesem Festhalten- und Kleinhaltenwollen des Kindes ein tiefer Mutterinstinkt entgegen; darüber hinaus darf man die großen Opfer über lange Zeit, die eine Mutter dem Kind bringen muß, nicht unterschätzen - wer läßt schon gern los, was er über lange Zeit liebend aufgezogen hat. Sie verwöhnen das Kind von Anfang an, schon mit dem Stillen, nehmen es bei jedem Schreien - das oft nur vitale Selbstbetätigung ist, auf, und ersticken so eine Vitalimpulse, beantworten jede Unlustreaktion des Kindes mit zudeckender Zärtlichkeit, so daß es kaum eine Chance hat, Affekte zu äußern oder eigene Lösungen für seine Unbehagen zu finden. Sie sind dauernd für das Kind da, ziehen wie ein Magnet seine Aufmerksamkeit und seine Gefühle auf sich und leben mit ihm, in der Boxersprache ausgedrückt, in einem dauernden Clinch, in einer gegenseitig verstrickten Nähe, in der keiner sich mehr frei bewegen kann. Auch weiterhin versuchen sie aus den gleichen Motiven, dem Kind alles abzunehmen, vorwegzunehmen, ihm alles »vorzukauen« und sich als Puffer zwischen das Kind und die Welt zu schieben, es auf jede Weise zu beschirmen. Sie können gesunde und unvermeidliche Affekte des Kindes nicht annehmen und reagieren darauf gekränkt oder mit Tränen, so daß es Schuldgefühle bekommt, schon wegen ganz normaler Verhaltensweisen, die altersadäquat sind. Das alles bindet das Kind nicht nur immer mehr an die Mutter, sondern führt auch dazu, daß es zu wenig Chancen für seine Eigenimpulse hat und von früh an es gar nicht anders kennt, etwas ohne die Mutter oder ohne die Genehmigung der Mutter zu tun. Das kann so weit gehen, daß es schließlich nicht einmal mehr eigene Wünsche hat; es hat dann resigniert und gleitet in eine passive Indolenz, gleichzeitig aber mit der Erwartung, daß man nun seine Wünsche erraten und erfüllen müßte, weil es selbst das Wünschen verlernt, aufgegeben hat. So entstehen Bequemlichkeitshaltungen, passive Erwartungshaltungen, die Vorstellung vom Leben als einem Schlaraffenland, die die darunterliegende Depression verdecken. In seinem Roman »Oblomow« hat Gontscharow eine solche Entwicklung glänzend dargestellt. Der weitgehende Ausfall an Wünschen, Wollen und Impulsen, bringt weiterhin eine allgemeine Ungeübtheit im Umgang mit der Welt mit sich, durch die man sekundär wieder mehr auf andere angewiesen bleibt. Häufig schildern solche Mütter dem Kind noch die Welt draußen als böse und gefährlich, so daß es in seiner Weiterentwicklung das Gefühl bekommt, Wärme, Geborgenheit, Verständnis und Sicherheit gibt es nur daheim bei der Mutter. Das schwächt zusätzlich seine Impulse, sich der Welt zuzuwenden,
glaubt es doch, daheim das Bestmögliche zu haben. Solche Mütter lassen nach Möglichkeit niemanden an das Kind heran und hüten es eifersüchtig; Freunde und Freundinnen werden abgewertet, oder die Mutter reagiert traurig und gekränkt auf Freundschaften, wie auf eine Untreue ihr gegenüber, da sie in jedem anderen einen potentiellen Rivalen sieht, der ihr das Kind nehmen könnte. So wird das Kind »weich vergewaltigt«, oft bis weit über die Pubertät hinaus; seine Eigenimpulse werden erstickt in der einhüllenden Watte mütterlich besorgter Liebe. Nichts Rauhes, Hartes und Kaltes kann an das Kind herankommen, an dem es sich bewähren könnte. Es bleibt darauf angewiesen, daß die Welt draußen weiterhin so verwöhnend ist und versagt, wenn es mit ihr zusammenprallt. Dann erlebt es die eigene Untüchtigkeit und Schwäche, vor der es wieder in die alte Geborgenheit flüchtet. Durch seine IchSchwäche erscheint ihm die Lebensbewältigung als eine so ungeheure Aufgabe, daß es davor zurückschreckt und resigniert. Solche Mütter können also das Kind nicht rechtzeitig und jeweils altersgemäß loslassen und freigeben für seine eigene Entwicklung. Sie binden es durch ihren Liebesanspruch an sich, der nicht einmal die Zuneigung des Kindes sich frei äußern läßt, sondern sie fordert: »Sei lieb zu mir«, »gib mir einen Kuß«. Sie nehmen ihm alles ab: »Laß nur, ick mach es dir schon«, »das ist noch zu schwer für dich«; »das kannst du ja doch noch nicht«, und durchbrechen seine Eigenimpulse »willst du nicht damit spielen?«, »hör doch jetzt damit auf«, ohne zu ahnen, was sie damit anrichten. Denn so töten sie im Kind alle gesunde Selbstentfaltung und schließlich auch die so wichtigen vorübenden Phantasien auf das Leben hin in den ersten Ansätzen vorausgreifener Weltbewältigung. Kann das Kind unter solchen Bedingungen seine »Eigendrehung« nicht lernen, bleibt es an die Mutter fixiert, bleibt reagierendes Echo, und lernt so weder die Welt noch seine eigenen Möglichkeiten und Grenzen kennen. Es bleibt passiv und anpassungsbereit mit Erwartungen an das Leben als einer weiterhin verwöhnenden Mutterinstanz. Natürlich sind so Enttäuschungen unvermeidlich, und sie pflegen zum Ausbruch der bisher latenten, schleichenden Depression zu führen. Die Situation der Mutter dem Kinde gegenüber kann durch Schicksale verschiedener Art erschwert werden, durch Scheidung, Verwitwung, durch Geburt des Kindes in eine schwierige Ehephase, durch zu dicht aufeinanderfolgende Geburten usf. Einzelkinder sind verständlicherweise im allgemeinen in dieser Hinsicht gefährdeter als Kinder mit Geschwistern, wo sich die bemächtigende Liebe der Mutter nicht nur auf ein Kind ergießt. Ein Patient, ein
Einzelkind, sagte einmal sehr drastisch: »Wenn meine Mutter das Füllhorn ihrer Liebe über mir ausschüttet, bekomme ich blaue Flekke davon.« Das Loslassenmüssen der Kinder ist eine Notwendigkeit, die alles Mutter-Sein in diesem Sinne zu einer undankbaren Aufgabe macht, umsomehr, je mehr man Dank erwartet oder gar fordert. Wenn man nicht die Reife besitzt oder erwirbt, das gesunde SichEntwickeln der Kinder als Belohnung seiner Liebe, seiner Mühen, Opfer und Verzichte zu sehen, wird man sich und ihnen vermeidbares Leid zufügen. Die innere Situation solcher Kinder ist aber noch komplizierter. Sie können gar nicht anders, als auch Haß zu empfinden gegen die Mutter, die sie so entmachtet und sich ihrer bemächtigt. Wagen sie aber, nur etwas davon zu äußern, erweckt sie in ihnen Schuldgefühle durch das Aufzählen, was sie alles für das Kind getan und geopfert habe. Das ist natürlich auch richtig, nur von dem Kind ja so nicht gefordert worden, so daß es für etwas dankbar sein muß, was es nicht nur gar nicht gewollt hatte, sondern was es sogar geschädigt hat. Es muß sich beschämt als äußerst undankbar vorkommen und seine Befreiungsversuche aus Schuldgefühlen aufgeben. Vor allem sensible Kinder können darunter schwer leiden und Schädigungen davontragen, wie wir sie in den Beispielen noch kennenlernen werden. Sie wagen die altersentsprechenden Schritte der Ablösung von der Mutter nicht zu vollziehen. Die ganze Gefahr zu enger Bindung und zu großer Abhängigkeit leuchtet hier auf. Das Kind muß dann eher auf seine Eigenentwicklung verzichten, sie opfern, als daß es die Schuldgefühle ertragen kann, der Mutter so viel Kummer zu machen - eine vom Kind her gesehen gar nicht anders zu lösende Situation. Es gibt kaum etwas Belastenderes für ein Kind, als eine solche »Erziehung« durch Schuldgefühlserweckung; es ist eine der großen Sünden, die der Erwachsene später seinen Eltern schwer verzeihen kann, wenn er je so weit kommt, sich davon zu distanzieren und das unnötige Leiden zu erkennen, das ihm aus vermeintlicher Liebe zugefügt wurde. Dafür ein im Typischen gar nicht so seltenes Beispiel: Wenn das Kind in den Augen seiner Mutter ungezogen war - was meist nur hieß, daß es nicht sofort gehorchte, oder etwas tat, was ihr nicht paßte - legte sie sich auf das Sofa und »starb« - das heißt, sie rührte sich längere Zeit nicht und reagierte auf die Bitten des Kindes nicht, bis es in verzweifeltes Weinen ausbrach. Ähnliche, Schuldgefühle erweckende Drohungen sind häufig - »ich gehe und komme nicht wieder«, »du bringst mich noch ins Grab« usf.
War die erste Motivierung der Verwöhnung der Wunsch, vom Kind geliebt zu werden und es sich dankbar zu verpflichten, ist die zweite Motivierung wieder anders kompliziert und für das Kind meist noch tragischer. Gemeint ist die Situation, wo eine Mutter das Kind nicht gewollt hat oder es, aus welchen Gründen auch immer, ablehnt und feindselige Gefühle gegen es hat, gleichzeitig aber von sich verlangt, ihm eine gute Mutter zu sein und Schuldgefühle bekommt, weil sie es nicht sein kann. Sie verwöhnt dann das Kind aus Schuldgefühlen und gleichsam Wiedergutmachungsbestreben. Ist das schon für die Mutter schwierig genug - diese Situation ergibt sich verständlicherweise besonders leicht Stiefkindern gegenüber - so erst recht für das Kind. Es spürt die Bemühung, aber dahinter auch die Ablehnung oder Feindseligkeit, den Mangel an echter Liebe, den die Verwöhnung nicht nur nicht ausgleichen kann, sondern die es zudem in die Lage bringt, für etwas dankbar sein zu müssen, was ihm nicht gern gegeben wird. Hier kann es dazu kommen, daß das Kind schon sein Dasein als Schuld empfindet, sich als Zumutung erlebt, weil es spürt, daß es der Mutter eine Last ist, daß es eigentlich kein Lebensrecht hat und froh sein muß, wenn es geduldet wird. Wir wollen nun die Seite der Versagung betrachten, die den anderen biographischen Hintergrund depressiver Persönlichkeitsentwicklungen abgibt. Die hier gemeinten kargen, wenig mütterlich-liebesfähigen, oft harten Frauen sind meist in ihrer eigenen Kindheit liebesmäßig zu kurz gekommen und haben aus eigener Erfahrung kein Vorbild für das Mutter-Sein, wissen zu wenig über die Bedürfnisse des Kindes Bescheid. Noch relativ harmlos sind die »Programm-Mütter«, die aus Unsicherheit und mangelnder Einfühlung das Kind nach einem starren Schema stillen und erziehen, ohne Rücksicht auf seine individuellen Bedürfnisse, wie es aus folgendem Tagebuch einer Mutter, ihren erstgeborenen Sohn betreffend, hervorgeht: »Der Knabe schreit seit mehreren Stunden, aber seine Zeit zum Füttern ist noch nicht gekommen.« Diese Eintragung wiederholt sich im Tagebuch über längere Zeit. Wir wollen nicht unerwähnt lassen, daß hierbei - wie auch sonst so oft - als »wissenschaftlich« ausgegebene Privatmeinungen von Ärzten eine manchmal verhängnisvolle Rolle spielen. Das Kind wird aber überfordert, wenn ihm zu früh eine Anpassung an Lebensbedingungen zugemutet wird, die seinem individuellen Bedürfnis zu wenig Rechnung tragen. Wenn es zu unregelmäßig gestillt wird, wenn es nach dem Stillen sofort in sein Bettchen zurückgelegt wird ohne darauffolgende längere Zuwendung, wenn die Mutter zu wenig Zeit für es hat und den Stillakt hastig
und ungeduldig vornimmt, sind das einige der häufigsten Beispiele für hier mögliche Überforderungen. Da es sich noch nicht wehren und seine Bedürfnisse ausdrücken kann, nimmt das Kind allmählich resignierend die Welt hin, wie sie ist, stellt sich darauf ein, daß von ihr offenbar nicht mehr zu erwarten ist. Das ergibt das Lebensgrundgefühl vieler Depressiver: eine weitgehende Hoffnungslosigkeit; sie können nicht an die Zukunft glauben, auch nicht an sich selbst und ihre Möglichkeiten, sie haben es nur gelernt, sich anzupassen. Das Gefühl der Aussichtslosigkeit beherrscht sie, sie sind nur stark im Ertragen und Verzichten. Anstatt erwartungsvoll und hoffend in der Welt zu sein, erwarten sie immer das Schlimmste, sind ausgesprochene Pessimisten und können sich schwer vorstellen, daß das Leben auch für sie einmal etwas Frohes, Leichtes und Beglückendes bringen könnte. Und wenn es doch einmal geschieht, bekommen sie Schuldgefühle und fragen sich, womit sie das verdient haben. Sie können sich gar nicht richtig freuen und zerstören sich manche Glücksmöglichkeiten durch ihre Enttäuschungsprophylaxe: Da sie meinen, daß ihnen doch nichts glücken kann, versuchen sie es gar nicht mit der nötigen Intensität, weil dann das Mißglücken nur noch schmerzlicher wäre; wenn man von vornherein nichts Gutes erwartet, kann man nur noch angenehm enttäuscht werden. Ein Beispiel für solche frühen Versagungserlebnisse, die prägend wirken, wieder aus dem Tagebuch einer Mutter: »Du warst von Anfang an ein mickeriges Kind. Ich habe dich die ersten 6 Wochen ganz genährt, mußte aber sehr oft nachfüttern, weil du erbrachst und ich dann nichts mehr hatte. Schon in den ersten 10 Tagen, wo ich in der Klinik lag, weigertest du dich, die Brust zu nehmen. Es dauerte oft 5-10 Minuten, bis man dich darangequält hatte mit Nase zuhalten usf. Dein Kotzen hing sicher nicht mit Cardiospasmus zusammen, wenigstens stritten die Ärzte das ab. Es war mehr eine allgemeine Überempfindlichkeit und Nervosität, wie du ja auch nie eine Nacht durchschliefst die ersten 6 Monate. Zu Hause hatte ich nach 3 Wochen, wo ich wieder mit Arbeit anfing, nicht sehr viel Zeit. Als du nach 3-4 Monaten das Normalgewicht noch nicht erreicht hattest, ließ ich dich nochmals untersuchen; der Arzt fand nichts, aber ich gab dich der Sicherheit halber in eine Kinderklinik; die Kinderärztin dort sagte, daß du für dein Alter einen so »vernünftigen Blick« hättest. Du hattest in der Kinderklinik einen Fensterplatz und warst nur mit einer Decke bedeckt; zu Hause hatten wir dich wärmer gehalten. Erfolg: du bekamst eine Lungenentzündung. Ich war in dieser Zeit schrecklich nervös, ging aber wenigstens die ersten Tage hin zum Nähren; ich fing damals an,
alles schwarz zu sehen. Im übrigen warst du in deiner Kindheit mein einziger fester Halt, da Pappi in diesen Jahren durch seine öfteren Ausbrüche und Unberechenbarkeiten äußerst schwierig war. Dadurch habe ich zweifellos vielleicht in deiner Erziehung Fehler gemacht, oft ein gewisses System mit viel Ausgehen und früh schlafen zu krampfhaft festgehalten, sonst wäre nie Ordnung und Gleichmäßigkeit in dein Leben gekommen. Riesenschiß hattest du immer vor ärztlichen Behandlungen, da hast du gebrüllt. Als du mal eine Otitis hattest, mußte der herbeigerufene Arzt unverrichteter Sache abziehen, ziemlich angeekelt und verärgert über die schlechte Erziehungsüß< be-
zeichnet wird - um andererseits dir auch das zu holen, was du brauchst. Und wenn sie dich nicht so lieben, daß du dein Ziel mit Zärtlichkeit erreichst, dann wird dich ihre Sorge um dich zum Ziel bringen. Je mehr krank, um so mehr geliebt. Der Konflikt kam erst in der Pubertät und vor allem, seit ich erwachsen bin. Einmal, ich mochte 12 oder 13 sein, kam eine Tante auf Besuch. Ich stürzte in altgewohnter Weise die Treppe hinunter und ihr um den Hals; >sei nicht so exaltiert, mahnte meine Mutter. >Was ist exaltiert? Übertrieben, überspannt. < Ich verstand überhaupt nichts. Was bisher immer >süßreizend< gewesen war, sollte nun plötzlich überspannt sein? Langsam begriff ich, daß jedes Alter seine Gesetze hat. Daß man einem Kind alles verzeiht, einem Teenager schon viel weniger und einem Erwachsenen nichts. Ich lernte eine neue Masche, die sich aufs Beste bewähren sollte beim starken Geschlecht: die Masche des naiven, unschuldigen, unerfahrenen Mädchens, das mit hilflosen, großen, rührenden Augen der Welt nur alles Gute zutraut.< Gott, ich war ja wirklich naiv, aber sobald mir eine ältere Bekannte klarmachte, wie himmlisch naiv ich sei, wurde ich auch sehr berechnend naiv. Die größten Don Juans waren angesichts meiner Naivität hilflos und wagten plötzlich nicht mehr, sich mir mit unsittlichen Anträgen zu nähern. Meine Mutter sagte vorgestern, als ich sie über meine Kindheit ausquetschte: >Als du im Kinderheim warst, vergaß ich dich zuzeiten direkt. Ich dachte immer, du seiest sehr glücklich im Kinderheim, deine Briefe klangen immer sehr fröhliche Sie, die hellhörige Mutter, die sonst das Gras wachsen hört, was mich betrifft, sie hat sich von diesen zensierten Briefen blenden lassen! Ich mußte im Kinderheim bleiben, trotz meiner flehentlichen Bitten. Da gibt es nur eine Waffe: Krankheit.« Ein anderes junges Mädchen sagte: »Warum soll ich in einer Welt von Narren« (sie meinte ihre Familie) »erwachsen werden und vernünftig sein? Da müßte ich viel zu sehr leiden.« Ein weiteres Beispiel für hysterisierende Milieuverhältnisse: Ein Mann, Mitte der Dreißig, kommt wegen phobischer Symptomatik in die Behandlung; er konnte im Kino nur auf einem Eckplatz sitzen, konnte nicht mit einem Schnellzug (»wegen der langen Strekken zwischen zwei Stationen; wenn ich der Zugführer wäre, ginge es - dann könnte ich halten und aussteigen, wenn ich Angst bekomme«), nicht mit dem Lift, nicht über eine Brücke fahren (dann mußte er aus dem Auto aussteigen und zu Fuß dicht am Geländer hinübergehen); er bekam quälende Angst, wenn er allein im Zimmer war, die Decke könnte über ihm zusammenstürzen; zugleich hatte er die Angst, er könne auf Grund dieser von ihm selbst als unsinnig angesehenen Ängste verrückt werden. Diese Angst vor
dem Verrücktwerden war in den letzten Jahren seine schlimmste geworden (ein Bruder war in einer Anstalt wegen einer Geisteskrankheit und dort gestorben). In großen Zügen einige Hinweise auf seine Biographie, die seine Ängste verständlich machen können: Als einziger Sohn für längere Zeit - der Bruder war 8 Jahre jünger als er - wurde er von der Mutter sehr verwöhnt. Der Vater war ein korrekter, stark zwanghafter Beamter, der immer Arbeit vom Büro mit nach Hause nahm, so daß ihn die Familie außer bei den Mahlzeiten kaum zu Gesicht bekam. Die Mutter verwöhnte ihn hinter dem Rücken des Vaters, steckte ihm heimlich Geld zu, kaufte ihm viele Anzüge und schob sich immer als Puffer zwischen ihn und die Welt, bei Schulschwierigkeiten usf. Der Vater merkte von all dem nichts, war auch nicht weiter daran interessiert und froh, wenn man ihn mit Unangenehmem in Ruhe ließ. Als Kind war der Patient viel krank gewesen, und das gab der Mutter noch mehr Anlaß, ihn zu verwöhnen; an der Ehe mit dem viel älteren und sehr nüchternen Mann enttäuscht, wurde der Sohn ihr das Wichtigste, und sie suchte sich seine Liebe durch Verwöhnen zu erhalten. In der Nachpubertätszeit machte der Sohn mit einem Freund Schwarzhandelsgeschäfte, wobei er gut verdiente und ein großes Leben führte, mit vielen Mädchen. Nur die Mutter wußte von diesen Geschäften, die dem Vater bei seiner Einstellung und Position höchst verwerflich erschienen wären (der Vater war so korrekt, daß er, wenn er den Omnibusschaffner wegen Überfüllung nicht zum Billettlösen erreichen konnte, am nächsten Tag für sich zwei Fahrscheine löste). Der Sohn ging nun nicht mehr regelmäßig zur Schule, hatte aber deswegen und wegen seiner heimlichen und verbotenen Geschäfte, die jederzeit entdeckt werden konnten, zunehmend Ängste. Er führte ein Doppelleben - vor dem Vater war er der korrekte Sohn, hinter seinem Rücken eine Spielernatur, von der Mutter gedeckt. So reizvoll dieses Leben an sich war, bekam er doch immer häufiger Herzbeschwerden mit Schwindelgefühlen, die der somatisierte Ausdruck dafür waren, daß sein Leben weitgehend auf Schwindel aufgebaut war. Er hatte keinen wirklichen Halt, weder in sich selbst noch draußen. Sich mit dem Vater zu identifizieren war nicht nur wenig reizvoll, weil dessen Welt nur aus Pflichten bestand, sondern noch dadurch erschwert, daß die beiden zu wenig Kontakt miteinander hatten. Wenn er z. B. sonntags einmal zum Vater in dessen Arbeitszimmer kam - da sonst nicht betreten werden durfte - saßen sich Vater und Sohn in großem Abstand gegenüber, der Vater die Zeitung lesend, der Sohn eine Illustrierte; es wurde kaum ein Wort zwischen ihnen gewechselt - sie hatten sich nichts zu sagen, bzw. sie fanden aus beiderseitiger Verlegenheit keinen Weg zueinander. Er
fand den Vater und seine Lebensweise komisch; mit der Mutter lachte er hinter seinem Rücken über »den Alten«, wegen dessen Eigenbröteleien und Überkorrektheit. Die Mutter, die sehr jung den wesentlich älteren Mann geheiratet hatte, vor allem wegen seiner guten Position, war in der Ehe selbst Kind geblieben und in Opposition zu ihm. Über den Sohn genoß sie das »große Leben« mit, nach dem sie selbst sich sehnte, war daher gar nicht in der Lage, ihm einen Halt zu geben, gab ihm nur einen falschen Schutz bei Schwierigkeiten. So fand er nirgends eine echte Orientierung, hatte keinen festen Boden unter den Füßen, aber die dauernde Angst vor einer Katastrophe, davor, daß alles über ihm zusammenbrechen könnte (die Zimmerdecke einstürzen) und nichts ihn tragen würde (die Brükkenangst); die anderen Ängste bezogen sich auf Situationen, in denen er nicht »aussteigen« konnte, wenn er es wollte; der ganze »Schwindel«, auf dem sein Leben aufgebaut war, konnte ja plötzlich zutage kommen (die Herzbeschwerden mit Schwindelanfällen). Die Angst, verrückt zu werden, hing zum Teil mit dem Bruder zusammen, zum Teil war sie auch Ausdruck des dumpfen Bewußtseins, daß es so nicht lange weitergehen könne. Aber auch die »goldenen Käfig-Milieus« der sogenannten besseren Kreise begünstigten hysterische Entwicklungen. In ihnen ist der Schein betont; das gesellschaftliche Prestige ist wichtiger als die Kinder, die weitgehend irgendwelchem »Personal« überlassen werden, wobei ihnen gleichzeitig eingeschärft wird, »wer sie sind«, und welche Rolle die Eltern draußen in der Welt spielen. Sie werden von den Klassenkameraden beneidet, weil sie »alles zu haben« scheinen, und müssen so auch noch die Rolle glücklicher Kinder spielen - sonst wären sie ja undankbar; so überspielen sie schließlich ihr Elend in einer Arroganz, die niemand versteht, und finden sich womöglich tatsächlich beneidenswert. Sind die Eltern zu wenig wirkliche Vorbilder für das Kind, bleiben ihm nur zwei Möglichkeiten offen. Entweder, es identifiziert sich trotzdem mit ihnen und ihren Scheinwerten, oder es nimmt die Eltern nicht mehr ernst, fühlt sich dann aber völlig verlassen. Wird es erwachsen, verhält es sich so, wie ihm das Erwachsensein vorgelebt wurde, oder es bleibt in der Opposition stecken, will dann »nur nicht werden wie die Eltern«, was aber natürlich kein konstruktives Leitbild ist. Schwierig ist es für ein Kind auch, wenn bei seinen Eltern die Geschlechtsrollen vertauscht sind, wenn die Mutter »die Hosen anhat« und der Vater ein »Pantoffelheld« ist. Es sollen damit nicht von der Gesellschaft festgelegte Geschlechtsrollen gemeint sein,
wie sie also von der gerade geltenden Konvention gefordert werden, die hier vertauscht sind, sondern Zerrformen des Männlichen und Weiblichen. Der Pantoffelheld ist ja ein von der Frau entmachteter Mann, der Angst vor ihr hat; und die Frau, die sich »aufmannt«, hat ja eine Rivalitäts- oder Haßeinstellung zum Männlichen, und eine Verachtung gegenüber ihrem eigenen Geschlecht. Das Kind bekommt dann kein angemessenes Vorbild für seine Geschlechtsrolle, was zumindest seine Entwicklung in dieser Beziehung erschwert und später in seiner Einstellung zum anderen Geschlecht problematisch zu werden pflegt. Die geglückte Einstellung der Eltern zu ihrer Geschlechtlich keit ist einer der wichtigsten Faktoren für das Kind, damit es sich mit einer ihm reizvoll erscheinenden Gestalt des Väterlich-Männlichen bzw. Mütterlich-Weiblichen identifizieren kann. Die Gesellschaft sollte für Mann und Frau vielfältigere Möglichkeiten anbieten, ihre Geschlechtsrolle zu übernehmen, um der Vielfältigkeit des Mann- oder Frau-Seins gerechter zu werden. Einseitige Festlegung darauf, wie »der« Mann oder »die« Frau sein und sich verhalten müsse, um vom Kollektiv als solche angenommen zu werden, entspringt hierarchischen oder ideologischen Machtansprüchen, die wir heute abzulegen beginnen, zugunsten einer Emanzipation von solchen »Rollen«, die beide Geschlechter betrifft und sie aus solchen festlegenden Fesseln befreien will. Die Tatsache, daß Männliches und Weibliches in verschiedenen Kulturen sehr verschieden gelebt wird, sollte uns klar machen, daß jene Rollen zeitbedingt sind und nicht, wie wir meist meinen, biologische Gegebenheit sind. Jede Gesellschaft schafft sich die Rollen von Mann und Frau, die sie braucht, und sie beginnt bereits in der frühen Kinderaufzucht damit. Margaret Mead bringt in ihrem Buch »Mann und Weib« eindrucksvolle Beispiele dafür. Hysterische Entwicklungen begünstigend sind auch unglückliche Elternehen in diesem Alter des Kindes, vor allem für Einzelkinder, und wenn das Kind von einem Elternteil als Partnerersatz genommen wird. Damit wird es nicht nur altersmäßig überfordert, weil es in eine Rolle geschoben wird, für die es noch nicht reif ist, sondern es fällt auch zu früh aus der unbefangenen Kindheit heraus, wird in vieler Hinsicht frühreif, bevor es die Möglichkeit hatte, die altersgemäßen Entwicklungsschritte zu vollziehen. Der Sohn wird etwa zum Tröster oder Verbündeten der Mutter, die vom Vater enttäuscht ist; es werden ihm Dinge anvertraut, die noch nicht in sein Alter gehören und ihn nur belasten; er bezahlt die Rolle des Vertrauten der Mutter, die eine zu nahe, zu intime ist, auch damit, daß sie ihn in eine Gegnerschaft zum Vater bringt
und ihm oft die Beziehung zu diesem zerstört, weil er ihn nur durch die Augen der Mutter sieht. Die gesunde Möglichkeit, die Eltern als Paar zu lieben, beiden seine Zuneigung ohne Schuldgefühle zuwenden zu können, kann nicht erlebt werden. Altklugheit steht dann neben infantilen Zügen, und die reifende Auseinandersetzung mit dem Vater wird so gleichsam übersprungen, die für die spätere Bewährung in der Welt der Männer so wichtig ist. Mutatis mutandis gilt das gleiche für die Tochter; beiden wird die Möglichkeit genommen, sich eine gesunde Beziehung zum andersgeschlechtlichen Elternteil aufzubauen. Das hat zur weiteren Folge, daß die dem Kind aufgezwungene Rolle, die ja nicht seinem eigentlichen Wesen entspricht, sondern nur eine Funktion ist, in die es gedrängt wurde, ihm keine echte Sicherheit gibt. Meistens wird es dabei gleichzeitig in anderer Hinsicht weiter als Kind behandelt, und dieses Nebeneinander von Erwachsen-sein-Sollen und als Kind behandelt werden ist zutiefst verwirrend und vermittelt ihm überdies noch Minderwertigkeitsgefühle, wenn es die Erwartungen nicht erfüllen kann, weil es nicht erkennt, daß sie Überforderungen sind. Eltern, die unbefriedigt sind, weil sie im Leben nicht das erreicht haben, was ihnen vorschwebte, können hysterische Entwicklungen beim Kinde begünstigen, wenn sie es dazu benutzen, daß es nun das von ihnen nicht Erreichte erreichen soll. Sie können ihm dann nicht nur kein Vorbild sein und ihm die nötige Führung geben, sondern drängen es in eine Rolle, die oft seinen eigenen Neigungen überhaupt nicht entspricht. Auf dieser Basis entstehen oft hysterisch-depressive Mischstrukturen. Zu ähnlichen Folgen führt es, wenn das Kind in die Rolle gedrängt wird, »Väterchens oder Mütterchens Sonnenschein« zu sein. Solche Kinder müssen immer strahlen, heiter und guter Dinge sein und die Eltern erfreuen; sie werden zwar dafür geliebt und bewundert, müssen aber eine Fassade leben, durch die sie nur schwer und spät zur Identität mit sich selbst finden. Die Rolle kann ihnen so sehr zur zweiten Natur werden, daß sie völlig an sich selbst vorbeileben, und es pflegt zu schweren Depressionen oder Zusammenbrüchen zu führen, wenn die Rolle später nicht mehr trägt oder nicht mehr gebraucht wird. Schwierig sind auch die Milieus, die sich, aus welchen Gründen auch immer, vom allgemein üblichen zu weit absetzen, die etwa ein bestimmtes soziales Standesbewußtsein oder eine Minorität im Kollektiv vertreten. Das Kind lernt dann zu Hause Einstellungen und Verhaltensweisen, die zwar in der Familie gelten und hier sogar honoriert, aber draußen abgelehnt werden. Das Kind
kommt dann - meist im Schulalter einsetzend - in Krisen und erlebt Situationen, auf die es nicht oder falsch vorbereitet ist. Die Enttäuschung an der Welt, Gefühle der Unsicherheit und des Blamiertseins, und die bittere Erkenntnis, daß das daheim Gelernte draußen untauglich ist, fixieren das Kind nun regressiv wieder stärker an die Familie. Auf solcher Basis entstehen oft hysterischschizoide Mischstrukturen. Das zentrale Problem hysterischer Persönlichkeiten ist also, daß sie die Identität mit sich selbst nicht gefunden haben. Entweder finden sie aus der Identifikation mit den Vorbildern ihrer Kindheit nicht heraus, oder sie bleiben in der Rebellion gegen diese stekken, oder sie übernehmen sonstige ihnen aufgedrängte oder sich anbietende Rollen. Außer den angeführten hysteriebegünstigenden Milieus kann sich eine solche Persönlichkeitsstruktur auch in einer ausgesprochen zwanghaften Umwelt entwickeln, dann aber im Protest gegen starre, einzwängende, alle lebendigen Impulse beschneidende erzieherische Haltungen, die den gesunden Freiheitsdrang dieses Alters unterbinden. In der Opposition dagegen steigert man sich in extreme Verhaltensweisen und schüttet gleichsam das Kind mit dem Bade aus, indem man nun nicht nur die überwertigen Einschränkungen ablehnt, sondern in bewußter oder unbewußter Herausforderung in allem das Gegenteil davon lebt, was von einem erwartet wurde. Das kann manches »ungeratene« Kind in besonders strengem, prüdem oder autoritär-engem Milieu erklären. Das ist dann keine »echte« Hysterie mehr, sondern eine reaktive. Wir wollen noch kurz die historische Tatsache streifen, daß man früher die Hysterie ausschließlich den Frauen zuordnete, was ja schon in der Bezeichnung liegt, da das Wort Hysterie abgeleitet ist vom griechischen hystera = Gebärmutter. Das kann uns nachdenklich machen und vielleicht das Verständnis für die Bedingungen hysterischer Entwicklungen noch deutlicher werden lassen, wenn wir uns fragen, warum offenbar Frauen besonders häufig hysterisch erkrankten. Zugleich mag es uns zur Vorsicht mahnen, wissenschaftliche Meinungen ungeprüft zu übernehmen, aus einem falschen Respekt vor der Wissenschaft, die ja gerade, wenn sie etwas über den Menschen aussagt, oft unbewußt tendenziös wird - manchmal wohl auch bewußt. Das Leben der Frau in unserer westlichen Kultur war früher fast ausschließlich auf den Bereich der Ehefrau, Hausfrau und Mutter beschränkt. Ihr Lebenssinn und die Rolle, die die Gesellschaft von ihr erwartete, lag in der Familie (»und drinnen waltet die züchtige
Hausfrau...« heißt es in Schillers Glocke), im Gegensatz zum Manne, dem viel reichere Möglichkeiten für seine Selbstverwirklichung offenstanden. Dadurch bekam die Partnerbeziehung für die Frau einen anderen Stellenwert als für den Mann. Zugleich war die soziale Rolle des Mannes in vieler Hinsicht eine bevorzugte; das Männliche wurde allgemein höher bewertet, die Leistung der Frau minder eingeschätzt und bezahlt, die Frau juristisch und wirtschaftlich in Abhängigkeit gehalten. So überall benachteiligt, in ihren Entfaltungsmöglichkeiten auf Heim und Familie beschränkt, dazu gedrängt, mehr die Wunschbilder und Erwartungen der Männer und der Gesellschaft zu erfüllen, als ihr eigenes Wesen, kollektiven Vorurteilen unterlegen, die ihr lange Zeit sogar die Seele absprachen, und später keine eigene Sexualität zugestanden, war die Lage der Frau im Patriarchat keine beneidenswerte. Da wurde die Hysterie sozusagen die einzige Waffe der Frau, ihre Wünsche und Ansprüche gegen die übermächtige Männerwelt durchzusetzen, und sich zugleich an ihr zu rächen. Man möchte fast sagen: sie »erfand« die Hysterie als das Verhalten, gegen das »kein Kraut« gewachsen war, demgegenüber der Mann sich als hilflos empfand und resignierte. Hysterisches Verhalten ist so irrational, unlogisch, undurchschaubar und nicht zu fassen, daß der Mann mit seinen Mitteln der Ratio und Logik ihm gegenüber machtlos war: was war an den Reaktionen der Frauen Absicht, was Krankheit; was war Nicht-Wollen, was Nicht-Können; die dramatische Szenen, die körperlichen Symptome, die Verzweiflungsausbrüche bis zu Selbstmordandrohungen, legten dem Mann Rätsel über Rätsel vor, an denen er oft genug scheiterte, wollte er nicht die »Widerspenstige« mit der Peitsche Nietzsches »zähmen«, damit aber eine Partnerschaft endgültig zerstören. Die zur »ehelichen Pflicht« herabgewürdigte Sexualität der Frau war häufig die Ursache ihrer »Frigidität«, mit der man wiederum ihr den schwarzen Peter zuschob. Hinter dieser Hybris des Mannes, hinter seinem Machtund Besitzanspruch aber lag, vorsichtig gehütet und verborgen, seine tiefe Angst vor dem Weibe, vor der »anderen Seite« des Lebens, die um so gefährlicher und bedrohlicher erlebt wird, je einseitiger man das Männliche vertritt und überbewertet. Mit der Genialität des Unbewußten fand die Frau das Gegengewicht gegen die männliche »Überlegenheit« in der Hysterie, die zugleich Selbstverteidigung und Rache war. Es ist kein Zufall, daß im allmählich ausklingenden Patriarchat die sogenannte klassische Hysterie seltener geworden ist; eine als gleichwertig anerkannte und in ihren Entfaltungsmöglichkeiten nicht unterdrückte Frau braucht sie nicht mehr.
Was wir daraus über die Genese der Hysterie lernen können, ist: Unterdrückung, Abwertung, Unfreiheit, Zwänge und Uneinsichtigkeit des jeweiligen Partners, der Gesellschaft, lassen als Gegenreaktionen hysterische Verhaltensweisen entstehen, unabhängig vom Geschlecht. Auch die anderen als hysteriebegünstigend beschriebenen Milieus sind geschlechtsunabhängig. Wir haben in großen Zügen den genetischen Hintergrund hysterischer Persönlichkeitsentwicklungen aufgezeigt, auf dem es zu der für sie charakteristischen Angst vor dem Festgelegtwerden, vor der Endgültigkeit und Notwendigkeit kommt. Aus der Enttäuschung, mit ihren erlernten Verhaltensweisen nicht den erwarteten Erfolg zu haben - den sie, je öfter sie Niederlagen erlebt haben, umso schneller und früher erwarten - erleben sie zu wenig echte Befriedigungen ihres Könnens; das erhöht ihr Geltungsbedürfnis, das sie nun wieder mit ungenügenden Mitteln zu erreichen versuchen, was zum hysterischen Teufelskreis führt, der nur zu durchbrechen ist durch konsequent erworbenes Wissen und Können. Auch ihre große Verführbarkeit wird so besser verständlich: ihre allgemeine Unzufriedenheit mit sich und dem Leben macht sie reizhungrig; sie sind immer auf der Suche nach neuen Reizen, nach Veränderungen, von denen sie sich das Erhoffte versprechen; sie meinen immer, das zu Ändernde läge draußen, nicht in ihnen selbst - das zu erkennen ist der Ansatz zur Gesundung. Die Hilfe kann für sie nur darin liegen, nicht mehr vor der Realität auszuweichen, sondern ihre Spielregeln, Ordnungen und Gesetze in ihrer Folgerichtigkeit zu erkennen und anzunehmen, mit der Bereitschaft zur Selbsteinsicht und zum Nachreifen. Dazu gehört der Mut zur Echtheit und die Bereitschaft zu notwendigen Verzichten, die wir alle leisten müssen. Nur dann zeigt ihnen die Realität auch ihre positiven Seiten, und kann ihnen das Maß an Befriedigung und Erfüllung geben, das auch für sie möglich ist. Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß der Begriff der Hysterie so oft abwertend gebraucht wird; für den zwanghaften, depressiven oder schizoiden Menschen haben wir im allgemeinen mehr Verständnis, sind wir bereiter, ihnen als Leidenden zu sehen; bezeichnen wir dagegen jemanden als hysterisch, schwebt den meisten etwas vor, was ihn zur moralischen Überlegenheit zu berechtigen scheint. Das mag damit zusammenhängen, daß man die Vorstellung hat, der Hysteriker spiele nur krank, könne durchaus vernünftig usf. sein, »wenn er nur wolle«; vielleicht auch damit, daß wir hier alte Vorurteile übernommen und beibehalten haben. Vielleicht ist indessen aus den mitgeteilten Krankengeschichten deutlicher geworden, daß Hysterie eine Krankheit ist, mit einer aufzeig-
baren Entwicklungsgeschichte, und daß der hysterisch erkrankte Mensch ebenso ein Leidender ist, wie andere Kranke. Vielleicht wird unser Vorurteil auch dadurch bestärkt, daß es - von außen gesehen - oft vom Leben Begünstigte zu sein scheinen, die an Hysterie erkranken, denen wir daher sozusagen das Recht nicht zusprechen wollen, daß sie erkrankten; kennt man ihre Lebensgeschichte, wird man seine Meinung revidieren müssen; letztlich leiden wir alle an nicht genügend verarbeiteter Vergangenheit; bei wem sie so beschaffen war, daß er sein Leben dennoch fruchtbar gestalten konnte, weil er aus ihr mehr Hilfen als Schädigungen mitbekam, der sollte aus der Dankbarkeit dafür Verständnis und Toleranz gegenüber den weniger Glücklichen aufbringen.
Beispiele für hysterische Erlebnisweisen Kommen wir wieder zu einigen Beispielen. Eine vermögende Frau suchte mich wegen ihres 16jährigen Sohnes auf, weil sie Grund zu der Befürchtung haben zu müssen glaubte, daß er eine Neigung zur Homosexualität habe. In der Besprechung mit ihr war es ihr offensichtlich am wichtigsten, daß sie sich - im wörtlichen wie im übertragenen Sinne - ins beste Licht setzte: sie rückte sowohl den Stuhl so, daß ihr Gesicht am besten zur Geltung kam und eine etwas dicke Backe im Schatten lag (für die sie sich entschuldigte - es wäre ihr heute morgen ein Zahn gezogen worden), als sie sich auch als Mutter recht großzügig mit Selbstlob bedachte, dagegen ihren Ehemann erheblich kritisierte und abwertete. In der Besprechung mit dem Sohn kamen folgende Details heraus: Die Eltern lebten seit Jahren in einer sehr schwierigen Ehe, die sie aber nicht scheiden lassen wollten aus gesellschaftlichen Gründen. Die Mutter machte häufig große Reisen, auf die sie den Sohn immer mitnahm. Er wurde dann in die Rolle des kleinen Kavaliers geschoben; sie wohnten nur in den vornehmsten Hotels, und sie schlief auf diesen Reisen bis über seine Pubertät hinaus mit ihm im selben Zimmer. Sie war eine attraktive Frau und es machte ihr Spaß, auf den Sohn verführerisch zu wirken, ihm ihren Körper beim An- und Auskleiden so weit sehen zu lassen, daß sie seine verhaltene Neugier und Erregtheit spürte, zugleich seine Befangenheit, die sie »süß« fand. Sie ließ sich von ihm wie von einem Pagen verehren; wenn aber der Sohn, die ihm aufgedrängte Rolle übernehmend, »eigenmächtig« im Speisesaal des Hotels sich etwas bestellte, machte sie ihm vor dem Ober wieder zum kleinen Kind, dem das nicht zustand. Er hatte also nur die Funktion, die Mutter zu verehren und so etwas wie ihr Spielzeug zu sein.
Die Beziehung zum Vater hatte sie ihm weitgehend zerstört, indem sie ihn gegen diesen einnahm und eifersüchtig reagierte, wenn er sich dem Vater zuwendete. Der Vater seinerseits spürte die Entfremdung des Sohnes, sah aber keine rechte Möglichkeit, ihn für sich zu gewinnen, da die Mutter schon zeitlich im Vorteil war, weil er den Sohn viel seltener sah als sie, er auch eine Abneigung dagegen hatte, ihn auf gleiche Weise gegen die Mutter einzunehmen und ihr abzuwerben. Der Sohn seinerseits legte das als Gleichgültigkeit aus und sah darin fast etwas wie ein Schuldbekenntnis des Vaters - die Mutter hatte offenbar doch recht, wenn sie immer sagte, sie liebe ihn mehr als der Vater, der sich nicht viel aus ihm mache. So wurde er von ihr ganz für ihre Zwecke und als Racheobjekt gegen ihren Mann benutzt, ohne daß sie sich Gedanken darüber machte, was sie ihm damit antat. Sie rächte sich für die Enttäuschung an ihrer Ehe, für die sie dem Mann allein die Schuld gab, weil er ihr »zu wenig bot«. Das einzige Kind in einer sehr problematischen Ehe, ein sehr charmantes Mädchen, wurde von der Mutter für die Erfüllung ihres eigenen unbefriedigten Geltungsbedürfnisses mißbraucht. Mit vier Jahren mußte es bereits auf dem Laufsteg Kinderkleider vorführen. Die Mutter saß unterhalb des Laufsteges, und das Kind hatte große Angst, etwas falsch zu machen, sich ungraziös zu bewegen usf.; die, wie sie sagte, kalten und harten Augen der Mutter registrierten jeden »Fehler«. Ging alles gut, umarmte und küßte die Mutter es zärtlich vor dem Publikum und gab ein rührendes Bild ihrer Mutterliebe; hatte es einen Fehler gemacht, wurde es zu Hause heftig gescholten und weiter trainiert, mit Androhung, daß so etwas nicht noch einmal passieren dürfe. Das Kind bekam das Gefühl, daß die Liebe der Mutter nur zu erreichen war, wenn es sie nicht enttäuschte und gut funktionierte; zugleich erhielten so äußere Vorzüge einen Überwert, ja, sie schienen überhaupt der einzige wirkliche Wert zu sein. Die mit Neid gemischte Bewunderung anderer Kinder war ihm nur ein geringer Trost. Später wurde sie ein gesuchtes Mannequin mit viel Erfolgen, aber einer zunehmenden Angst vor dem Älterwerden, da ja ihre ganze Existenz und ihr Selbstwertgefühl auf ihren körperlichen Reizen beruhte, ihre Beziehungen zu Männern ebenfalls. Sie hatte dementsprechend viele »Affären«, die sie letztlich aber unbefriedigt ließen, sehnte sich unbestimmt nach der »großen Liebe«. Sie wollte nicht älter als 30 Jahre werden - danach schien ihr das Leben keinen Sinn mehr zu haben. Sie reagierte mit schweren Depressionen auf schon geringe Gewichtszunahmen, weiterhin von der Mutter scharf kontrolliert und unnachsichtlich beurteilt auf ihren Markt-
wert hin; die Mutter vermittelte ihr Beziehungen zu vermögenden Männern und erhoffte sich von einem reichen Schwiegersohn soviel Sicherheit, daß für ihr Alter gesorgt wäre. Ein fast geglückter Selbstmordversuch brachte sie schließlich in die Psychotherapie, und ließ das ganze Elend hinter der schönen Fassade erkennen, um die so viele sie beneidet hatten - ein in vieler Hinsicht typisches Schicksal in diesem und ähnlichen Berufen. Eine Frau mit stark hysterischen Zügen suchte ihren Mann völlig zu beherrschen. Schon in ihrer elterlichen Familie war der Vater mehr oder weniger als komische Figur angesehen gewesen, gut genug, für die Familie den Lebensstandard zu verdienen, aber sonst eine »quantite negligeable«. Sie sah ihren Mann ebenso, vorwiegend als Erwerbsquelle, darin von der Mutter unterstützt, bei der sie häufiger sich aufhielt, als in der eigenen Wohnung. Die Mutter wertete den Schwiegersohn häufig ab - sie meinte, ihre Tochter hätte »etwas Besseres« verdient; der Schwiegersohn war Lehrer und somit zwar »sicher« und pensionsberechtigt, große Reichtümer waren indessen von ihm nicht zu erwarten. Sie hetzte die Tochter auf, soviel wie möglich aus ihm herauszuholen, und sich das Leben bequem zu machen. So ging die Tochter ihren Neigungen und Vergnügen nach, vernachlässigte den Haushalt. Sie wollte keine Kinder, und lebte mit der Einstellung, ihr Mann müsse eigentlich froh sein, etwas so Charmantes und Begehrenswertes wie sie lieben zu dürfen. Der Mann, der erst seine Freude an ihrem kapriziösen Wesen gehabt hatte, hoffte, daß sich ihre schwierigen Seiten in der Ehe und durch eine Mutterschaft legen würden. Das geschah indessen nicht; auch wollte die Frau die enge Bindung an die Mutter nicht aufgeben - sie blieb mehr deren Tochter, als daß sie seine Frau wurde und zu ihm stand. So wurde die Entfremdung zwischen ihnen immer größer; als der Mann eine Beziehung zu einer anderen Frau anknüpfte, strich die Ehefrau mit einer großzügigen Geste die Vergangenheit und ihren Anteil an dem Geschehen aus und hielt sich nur an das aktuelle Faktum seiner Untreue, die ihn zum Schuldigen machte. Sie war nicht bereit, sich einmal mit sich selbst und ihrem Verhalten zu konfrontieren, worin eine Chance zur Einsicht und zu Gesprächen gelegen hätte, die sie einander vielleicht wieder näher gebracht hätten - das wäre zuviel verbindliche Realtität gewesen, hätte zuviele unangenehme Selbsteinsicht erfordert und zu anstrengende Konsequenzen gehabt. In diesem Falle war die Frau noch gar nicht von ihrer Familie, vor allem von der Mutter, abgelöst; sie war noch tief in der Identifikation mit ihr steckengeblieben, und hatte damit deren Maßstäbe
und Ansichten ungeprüft übernommen. Solche nicht vollzogenen Ablösungen von den frühen Bezugspersonen sind ein Charakteristikum für hysterische Persönlichkeiten. Dafür ein weiteres Beispiel mit etwas breiterer Schilderung des Milieuhintergrundes: Fräulein P. war die einzige Tochter in einer sehr schwierigen Ehe. Der Vater war ein großzügiger Politiker, erfolgreich, aber zu Hause tyrannisch, voller Willkür und Intoleranz, ein ausgesprochener Despot. Die Mutter, selbst aus einer Familie stammend, wo die Männer patriarchalische Vorrechte genossen, die Frauen an zweiter Stelle rangierten, war in der Ehe eine kleinbürgerliche Glucke geblieben, ängstlich und unselbständig, zugleich aber unbelehrbar zäh festhaltend an übernommenen Vorurteilen und Meinungen, wie sie in ihrer Familie vorgeherrscht hatten. Nie hatte sie sich die Mühe gemacht, sich über Menschen oder Lebensfragen ein eigenes Urteil zu bilden; sie vertrat das Übernommene umso starrer, je unsicherer sie in sich selbst war, und lebte so in einer »Man-Welt«, in der es keine Probleme gab, weil sie immer wußte, wie »man« sich zu verhalten hatte. Sie bewunderte den erfolgreichen und bekannten Mann restlos, überließ ihm alle Entscheidungen (»du verstehst das ja doch besser«; »ich bin ganz deiner Meinung« - als gute Ehefrau hatte »man« der Meinung seines Mannes zu sein), ordnete sich ihm völlig unter und kam so auch in der Ehe zu keiner Weiterentwicklung, woran dem Mann allerdings auch nicht viel lag. Er war zufrieden, in ihr ein so gefügiges, für ihn sorgendes und ihn bewunderndes Wesen zu haben, das ihn, wenn er von seinen häufigen Reisen heimkam, verwöhnte. Aber andererseits wurde sie ihm dadurch auch langweilig, weil sie so wenig anregend und eigenständig war. Da sie sich selbst nicht ernst nahm, nahm auch er sie nicht ernst, und hatte bald andere Frauenbeziehungen. Sie kam dahinter und er leugnete es auch gar nicht ab; sie wollte sich nicht scheiden lassen, weil sie das auf die eigenen Füße gestellt hätte; er wollte es aus Bequemlichkeit nicht, hatte er doch so seine Abenteuer und trotzdem ein Zuhause außerdem hatte eine Scheidung vielleicht seinem Ruf geschadet. Sie reagierte hilflos auf die Situation, machte ihm erst verzweifelte Szenen und Vorwürfe, die ihn aber nur langweilten und abstießen. So blieb alles wie es war, nur daß sie sich in ihrer Not mehr und mehr an die Tochter klammerte. Sie vertraute dem Kind schon früh ihren Kummer an, belastete es damit nicht nur altersunangemessen, sondern erreichte auch, daß es den Vater durch die Augen der Mutter als bösen Mann sah, zugleich als abschreckendes Beispiel dafür, wie »die Männer« waren. Die Tochter hielt sich mehr an die Mutter,
weil diese sie verwöhnte und viel mehr für sie da war, als der immer beschäftigte, viel auf Reisen abwesende und so ungeduldige und unberechenbare Vater. Der Vater seinerseits begann an ihr erst mehr Interesse zu bekommen, als sie in die Pubertät kam und ein recht anziehendes junges Mädchen wurde. Er flirtete mit ihr, zog sie deutlich der Mutter vor, machte anerkennende Bemerkungen über ihre Figur und tätschelte sie auf nicht mehr nur väterliche Weise. Es entwickelte sich zwischen beiden eine erotisch getönte Beziehung, durch die sie sich ihrer körperlichen Reize bewußt wurde. Zugleich kam sie in eine schwierige Gefühlssituation, indem sie durch das Verhalten des Vaters zur Rivalin der Mutter gemacht wurde, die sie doch wegen ihrer Verläßlichkeit und immer Verfügbarkeit so brauchte. So schmeichelte ihr einerseits die männlich-anerkennende Zuwendung des Vaters, die ihr ein ganz neues Selbstwertgefühl gab, andererseits empfand sie Schuldgefühle der Mutter gegenüber, weil diese bei Anwesenheit des Vaters gleichsam zur Haushälterin degradiert wurde, während die reizvollen Dinge - Ausgehen, Stadtbummel usf. - der Vater nur mit ihr unternahm, zugleich empfand sie indessen auch einen geheimen Triumph darüber, daß sie die Mutter so beim Vater ausgestochen hatte - sie hatte nur Angst, sich die Liebe der Mutter zu verscherzen, denn letztlich war, bei aller Enge und Kleinbürgerlichkeit, es doch immer die Mutter gewesen, zu der sie mit ihren Sorgen hatte kommen können und auf die sie zählen konnte, von der sie Gefühlswärme bekam. So wurde sie hin und her gerissen von sich widersprechenden Gefühlen: der Vater war für sie der Repräsentant der »großen Welt«, und erweckte durch seinen Lebensstil in ihr unbestimmte Erwartungen und vage Vorstellungen eines Lebens, von dem sie klar fühlte, daß die Mutter es nie würde erfüllen können - die Mutter war viel mehr auf Bescheidenheit und Verzichten eingestellt, und hatte eher Angst vor jener Welt, in der sie fürchtete, sich nicht behaupten zu können und die ihr ja, wie sie meinte, den Mann weggenommen hatte. Diese Problematik wurde verschärft, als die Eltern sich trennten, ohne sich zu scheiden; der Vater zog in eine größere Stadt, und sie blieb mit der Mutter im gewohnten Rahmen. So schien mit dem Weggang des Vaters die »große Welt« zunächst für sie unterzugehen. Sie hielt sich wieder enger an die Mutter, die ihrerseits nun in der Tochter den ihr verbleibenden Lebensinhalt sah. Durch Verwöhnung und durch Erwecken von Schuldgefühlen, wenn die Tochter ihr eigenes Leben führen wollte und die Mutter häufiger allein ließ, band sie die Tochter an sich, und wiederholte so ihre
Haltung, die sie dem Manne gegenüber schon eingenommen hatte. Vom Vater enttäuscht, holte nun die Tochter aus der dazu nur zu bereiten Mutter heraus, was herauszuholen war. In unbewußter Identifikation mit dem Vater, durch die sie seinen Verlust auszugleichen versuchte, tyrannisierte sie nun ihrerseits die Mutter, und behandelte sie, wie der Vater es getan hatte. So setzten beide Frauen die alte eheliche Situation fort, nur mit dem Rollentausch von Vater und Tochter; sie kritisierte die Mutter, wie es der Vater getan hatte, ließ sich von ihr verwöhnen und bedienen, und ließ ihre Unzufriedenheit und ihre Launen an ihr aus, die die Mutter aus Verlustangst ertrug. Die Tochter sah den Vater nur noch in großen Abständen, wenn er sie zu sich in die Großstadt einlud. Sie war inzwischen herangewachsen und noch anziehender geworden, und der Vater konnte voll väterlichen Stolzes mit einer jungen Dame ausgehen, nach der sich die Männer umsahen, und die er für kurze Zeit wie eine Freundin verwöhnte. Während er die Mutter knapp hielt, so daß Mutter und Tochter recht bescheiden leben mußten, entfaltete er in den Tagen des kurzen Zusammenseins mit der Tochter den ganzen Glanz seines Lebens. Er ging mit ihr in elegante Restaurants, kaufte ihr teure Kleider und Schmuck, nahm sie in die Oper mit usf. Aber ebenso plötzlich wie der Glanz aufgeleuchtet war, verblaßte er wieder für unbestimmte Zeit: die Tochter wurde zur Mutter zurückgeschickt, in deren kleinbürgerliche Welt, in welche die Kleider, der Schmuck und die erweckten Ansprüche in keiner Weise mehr hineinpaßten, hier nur ihre Unzufriedenheit steigerten. So lernte sie, Ansprüche zu haben, die sie sich nicht durch eigene Leistung erfüllen konnte, Ansprüche, die sie an das Leben stellte, als ob sie ihr zuständen » womit sie nicht einmal völlig im Unrecht war, denn der Lebensstil des Vaters hätte sie ihr ermöglichen können; hätte er sich mehr um sie gekümmert, wäre ihre Entwicklung wohl anders verlaufen. Die Mutter nahm ihr soviel wie möglich ab, um von der Tochter gebraucht zu werden; aus ihrer Angst, auch noch die Tochter zu verlieren und dann ganz allein zu sein, war sie gar nicht daran interessiert, daß diese etwas Vernünftiges lernte das hätte ja ihre Zweisamkeit bedroht. Die Meinung des Vaters dazu war: »Meine Tochter hat es nicht nötig, zu arbeiten« - eine bei Selfmademen nicht selten zu findende Einstellung ihren Kindern gegenüber; der Stolz über das, was sie erreicht haben aus eigener Kraft, der Stolz, daß sie »es sich leisten können«, daß ihre Töchter kein Geld zu verdienen brauchen, läßt sie die Folgen für diese vergessen. Sie selbst hatte keine ausgeprägten Neigungen zu irgendeinem Beruf, lebte unbewußt damit wohl auch eine Rache an den
Eltern, daß sie auf sie angewiesen blieb, die man etwa so hätte formulieren können: »Wenn ihr mir schon alles so schwer gemacht habt, daß ich nicht weiß, wo ich hingehöre, sollt ihr wenigstens weiter sorgen für mich« - was an die Redensart erinnert: »Es geschieht meinem Vater ganz recht, wenn ich mir die Hände erfriere, warum kauft er mir keine Handschuhe«, hinter deren makabrem Humor oft Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung stehen. So wuchs Fräulein P. heran; sie war charmant, anspruchsvoll, verstand es, sich zu kleiden und »Konversation zu machen«, hatte die vom Vater übernommenen großen Allüren - allerdings ohne dessen Tüchtigkeit und Können. Nicht gewohnt zu arbeiten, lebte sie wie ein Dornröschen, das auf den sie befreienden Prinzen wartet. Es tauchte aber keiner auf, weil sie zu solchen Kreisen keinen Zugang hatte, und andererseits schlichtere Männer ihr »zu wenig zu bieten hatten«. Hinter den nach außen gezeigten Haltungen von Stolz, Anspruch und Sicherheit, war sie ein kleines, unsicheres Mädchen geblieben, gehemmt und muttergebunden, das diese Unsicherheit vor sich selbst und der Welt verschleiern mußte durch arrogantes Auftreten. Sie gewöhnte sich einen ihr als vornehm dünkenden leicht näselnden Tonfall an, und machte auf den ersten Blick den Eindruck einer leicht gelangweilten jungen Dame der »besseren Kreise«, die sich in der Welt auskannte. Auf diesem skizzierten Hintergrund entwickelte Fräulein P. zunehmend Angstzustände. Sie konnte ohne die Mutter nichts mehr unternehmen, nicht einmal mehr allein ausgehen. Sie bekam eine Angstneurose mit lärmender Symptomatik, die sich auch in körperlichen Symptomen wie Herzjagen, Schwindelgefühlen und Schlafstörungen äußerte, deretwegen sie - mit der Mutter - von Arzt zu Arzt zog - die Rechnungen bekam der Vater, der sich aber bald weigerte zu zahlen. Ihre eigentliche Angst, die Angst vor der Realität, vor dem sich Bewähren, vor dem Etwas-Lernen und vor klaren Entscheidungen, wie sie ihr Leben gestalten wollte, sowie vor dem Aufgeben ihrer kindlich-unreifen Haltungen, wurde auf diese Ängste verschoben, die nun die Entschuldigung dafür abgeben sollten, daß sie all das eben nicht konnte - sie war ja krank. Die Angstneurose hatte folgende Funktionen: sie band die Mutter als Schutz und Puffer vor der Welt an sich; sie ersparte ihr die Enttäuschung, zu erkennen, daß sie zwar große Wünsche an das Leben hatte, die sie in Tagträumereien breit ausfantasierte, für deren Verwirklichung aber die Fähigkeiten in ihr nicht entwickelt worden waren; sie war eine Rache an den Eltern, und sie hatte nun eine »legitime« Entschuldigung dafür, sich allem Unliebsamen entziehen zu können.
Natürlich ist auch dieses Beispiel noch zu vereinfacht, gleichsam im Zeitraffer gezeichnet; aber bei allen möglichen Variationen eines hysteriebegünstigenden Milieus, läßt es doch viele dafür typische Züge erkennen, die noch einmal zusammengefaßt werden sollen: Eine schwierige elterliche Ehe, in die das Kind - noch dazu als Einzelkind - in altersunangemessener Weise einbezogen wird; der Mangel an echter Führung und geschlechtsspezifischen Vorbildern; ein Milieu voller Widersprüche, mit zu wenig gesunden Orientierungsmöglichkeiten in der Welt; zu lange Bindung an einen Elternteil; Ausfall an solidem Können und Wissen; Verführung und Erwecken von vagen Erwartungen für die Zukunft; aus alledem keine geglückte Identität mit sich selbst. Fräulein P. wußte nie recht, was denn die »Wirklichkeit« eigentlich sei: Die großzügige Welt des Vaters, oder die enge, aber doch gefühlswarme und verwöhnende Mutter. Wie sollte sie selbst sein? Sollte sie eine große Dame werden - aber wie wurde man das? Oder sollte sie wie die Mutter werden - aber wie reizlos und langweilig war das! Und was sollte sie tun, wenn die Mutter einmal starb? Das war gar nicht auszudenken und veranlaßte sie, bei allem Quälen und Ausnutzen der Mutter, doch immer wieder nett zu ihr zu sein, um sie sich möglichst lange zu erhalten. So kann man die Ausweglosigkeit der Beziehung beider Frauen verstehen - sie brauchten sich gegenseitig zu sehr, um sich loslassen zu können - das Erwachsenwerden einer von ihnen hätte ihre sie schützende Neurose zu zweien bedroht, hätte beide zu Reifungsschritten gedrängt, vor denen sie Angst hatten. Die Erkrankung der Tochter war ein Alarmsignal des noch gesunden Teils in ihr, daß es so auf lange Sicht nicht weitergehen könne. Ulrike war das dritte Kind ihrer Eltern nach zwei vorangegangenen Schwestern, Sie hätte deshalb ein Junge sein sollen. War sie nun schon kein Junge und insofern eine Enttäuschung, hielten die Eltern trotzdem an ihrem Wunsch fest, und erzogen sie wenigsten wie einen Jungen. Sie wurde Uli gerufen, bekam Jungenskleidung, kurzen Haarschnitt, und man versicherte sich und ihr immer wieder, daß sie wie ein Junge aussehe, was sie, da es mit deutlicher Anerkennung ausgesprochen wurde, auch gern hörte und was dazu führte, daß sie sich auch jungenhaft benahm und bewegte. Sie spielte nur mit Jungen und bemühte sich, es ihnen gleich zu tun, war stolz, wenn jemand ihr sagte, sie könne es mit jedem Jungen aufnehmen. In der Pubertät war sie unglücklich, als die sekundären weiblichen Geschlechtsmerkmale bei ihr auftraten; in den Tagen ihrer Periode
war sie erst recht aktiv, um nicht hinter den Jungens zurückzustehen. Da sie dennoch zu einem recht aparten, knabenhaften Mädchentypus heranwuchs, mit dessen spezifischem Charme, fand sie bald Anklang bei Männern; da sie bisher zum Männlichen nur kameradschaftlich gestanden hatte, ging sie naiv-selbstverständlich schon bald mit einem Mann auf eine Wochenendreise, war aber hilflos entsetzt und empört, als dieser etwas von ihr wollte, womit sie gar nicht gerechnet hatte, und entzog sich ihm mit heftiger Abwehr. Der Vater, der seine Töchter abgöttisch liebte und Großes mit ihnen vorhatte, war einer jener »Erfinder«, die immer auf ihre große Erfindung warten, die sie nie machen; mit ihm wartete die ganze Familie darauf, und bedauerte den armen Vater, der so begabt war und nur nicht entdeckt wurde von der Welt. Ulrike hatte in der Schule bei kleinen Aufführungen gewisse Erfolge gehabt und ein gewisses schauspielerisches Talent gezeigt; nun versuchte der Vater plötzlich, seinen unerfüllten Ehrgeiz über die Tochter auszuleben: Sie sollte Schauspielerin werden. Sie bekam Schauspielunterricht; zu ihrem Glück - oder Unglück - wurde ihr Typ für ein Stück gesucht, und sie bekam ihre erste größere Rolle, die sie mehr ihrem Typ, als ihrem Können verdankte. Danach bekam sie keine weitere Rolle; der Vater schrieb Unmengen von Briefen, mit Fotos der Tochter und übertriebener Beschreibung ihrer Talente, an Bühnen und Agenturen. Sie wurde hier und da zum Vorsprechen gebeten; an sich kein großes Talent, fühlte sie sich doppelt gehemmt durch die vorangegangenen väterlichen Anpreisungen und die dadurch geweckten Erwartungen - und versagte. Dann versuchte sie es inzwischen - ohne daß die Hoffnung auf die schauspielerische Laufbahn aufgegeben wurde-in anderen Stellungen, für die sie aber zu wenig Vorkenntnisse mitbrachte, und die sie daher enttäuschten, so daß entweder bald ihr gekündigt wurde, oder sie nach einer Probezeit aufgab. Mit 25 Jahren begab sie sich in eine psychotherapeutische Behandlung wegen Angstzuständen (Agoraphobie); sie konnte nicht mehr allein aus dem Haus gehen und war arbeitsunfähig; ihre ganze Desorientiertheit und Hilflosigkeit kam darin zum Ausdruck. Das Beispiel ist vor altem charakteristisch für die Erschwerung der Hinfindung zur weiblichen Rolle und für die Schwierigkeit, die es für ein Kind bedeutet, wenn es Wunschvorstellungen der Eltern erfüllen soll, ohne dafür die Fundierung mitzubringen.
Ergänzende Betrachtungen Hysterische Persönlichkeiten leben in einer Pseudorealität, die wir bei ihnen auf allen möglichen Gebieten aufzeigen konnten. Die Frage der Echtheit ist ihr zentrales Problem - es ist die innere Spiegelung ihres Ausweichens vor der Realität in »Rollen«. Die Religion wird ihnen leicht zu einem unverbindlichen Glauben aus Pragmatismus - man kann nie wissen, ob man die Kirche nicht doch einmal braucht; auch hier ist ihnen oft der Schein wichtiger als die Echtheit; es genügt, wenn man die Form erfüllt. Der Gedanke, daß man durch Reue und Beichte alle Schuld loswerden, und wieder in aller Unschuld wie neugeboren anfangen kann, sagt ihnen sehr zu. Sie halten gern an der Vorstellung eines persönlichen Gottes im Sinne eines guten Vaters fest, der natürlich sie besonders liebt und das schon irgendwann zeigen wird. So bleiben sie in vielem kindlich-unreif, naiv und wundergläubig, sind verführbar durch Heilsversprechungen, die helfen wollen ohne große eigene Anstrengung. Sie sind daher oft Anhänger entsprechender Sekten, die auch ihr Sensationsbedürfnis ansprechen. Als Patienten in der Psychotherapie möchten sie sich am liebsten hypnotisieren lassen, mit der Erwartung, ihre Schwierigkeiten im Handumdrehen loszuwerden ohne eigene Anstrengung. In der Ethik haben sie ähnliche naiv-unverbindliche Einstellungen. Die Möglichkeit, alles zu relativieren und den Sündenbock draußen, im anderen, nur nicht bei sich selbst, zu suchen, wird reichlich benutzt. Das erschwert ihnen die Selbsteinsicht und Selbstkritik, weshalb sie aus Krisen selten etwas lernen. Auch bei ihnen geht es letztlich um allgemein Menschliches, an dem wir in verschiedener Akzentuierung teilhaben, weil wir alle auch diese uns prägende Entwicklungsphase unserer Kindheit durchlaufen müssen, mit den zu ihr gehörenden Aufgaben und Ängsten. Wir kennen den gleichen Vorgang des Projizierens eigener Mängel und Schuldgefühle auf andere zur Entlastung auch in Kollektiven, wo er eine große und gefährliche Rolle spielt. Hier eignet sich für solche Projektionen der »Feind« besonders gut, und man bekommt den Eindruck als müßten Feinde erfunden werden zur Entlastung eigener Schuld. Ganze Völker, Glaubensgemeinschaften und Rassen pflegen aufeinander das zu projizieren, was sie bei sich selbst nicht wahrhaben wollen, und von gewissenlosen Machthabern kann diese Projektionsbereitschaft angeschürt und politisch oder ideologisch ausgenutzt werden. Solche unkontrollierten und aufgeheizten Projektionen sind als psychodynamischer Hintergrund am Zustandekommen von Kriegen, Rassenhaß und
Glaubenskämpfen entscheidend mitbeteiligt. Das sich Befreienwollen von belastender und schuldhafter Vergangenheit ist ein allgemein menschliches Bedürfnis. Im Gegensatz zum Depressiven, der sich für zu vieles schuldig hält, neigt der Hysteriker dazu, eigene Schuld zu vergessen oder abzuleugnen. Die Eigenart der deutschen Sprache, daß sie die Bezeichnung für »Vergehen« im zeitlichen wie im sittlichen Sinn durch dasselbe Wort ausdrückt, kann uns nachdenklich machen - vergehen unsere Vergehen mit der Zeit? Dem hysterischen Anteil in uns wäre das sehr recht. Als Eltern und Erzieher können Menschen mit hysterischen Persönlichkeitsanteilen begeistern und mitreißen; sie haben eine starke Suggestivkraft, können überzeugen, und dem Kind das Gefühl geben, daß das Leben schön und lebenswert ist. In der Gefühlszuwendung sind sie mehr spontan als gleichmäßig; die Kinder empfinden ihre Eltern als liebenswert und sind stolz auf sie, bewundern sie; das Elternhaus hat »Atmosphäre«, ist gastfreundlich, und sie werden von vielen um ihre Eltern beneidet - oft allerdings nur so lange, bis sie das Fassadenhafte erkannt haben. Bei überwiegend hysterischer Struktur der Eltern liegt die Schwierigkeit vor allem im Mangel an Konsequenz in der Erziehung; Verwöhnen und Versagen liegen bei ihnen schroff nebeneinander, so daß das Kind sich schwer orientieren kann, nie recht weiß, womit es zu rechnen hat, auch, weil das Verhalten der Erwachsenen zu stimmungsabhängig, weniger von objektiven Tatsachen bestimmt ist. So vermitteln sie oft ein seelisches »Aprilklima«, das verunsichernd oder chaotisierend auf das Kind wirkt. Häufig erwecken sie in ihm falsche Lebenserwartungen. Wenn sie das Kind enttäuscht haben, oder von ihm einen notwendigen Verzicht fordern müssen, machen sie ihm unbestimmte Versprechungen auf irgendeine ferne Zukunft - »wenn du erst einmal erwachsen bist« - und lenken es so davon ab, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und einen notwendigen Verzicht einzusehen; jeder Verzicht wird dann beim Kind mit der Erwartung einer demnächst fälligen Belohnung verbunden. Das erweckt in ihm jene gefährliche Erwartung einer Zukunft voller Wunder, die irgendwann geschehen werden, und so unterstützen sie seine illusionären Wunschvorstellungen, anstatt es an die Realität heranzuführen. Sie geben ihm so und auf andere Weise kein rechtes Handwerkszeug mit auf seinen Weg, zu wenig vernünftige und tragende Erfahrungen, was den Ansatz legt für spätere Enttäuschungen an sich selbst und am Leben. Einerseits binden sie das Kind zu intim an sich, andererseits stoßen sie es plötzlich wieder weg: wenn es für sie zum Anspruch, zur Last und Verantwortung wird, wenn es
Verständnis sucht für seine Probleme, fühlt es sich plötzlich alleingelassen, und muß erkennen, daß die Liebesbeteuerungen letztlich schöne Worte waren. Sie vertragen die Kritik des Kindes nicht, nehmen sie als persönliche Kränkung, und können schwer eigene Fehler zugeben - im Unterschied zum zwanghaften Menschen, nicht wie dieser aus Machtanspruch und Perfektionismus, sondern aus verletzter Eitelkeit und Eigenliebe. Werden sie vom Kind gestellt, zur Rechenschaft gezogen, gehen sie darauf gar nicht ein, sondern betonen nur, daß sie immer das Beste gewollt und soviel Opfer gebracht haben, so daß das Kind Schuldgefühle bekommt wegen seiner Undankbarkeit, anstatt daß es ernst genommen wird in seinen Schwierigkeiten. Gefährlich ist auch ihre Neigung, die Kinder zu Vorführkindern zu »erziehen«; sie sollen dann zum Ruhm der Eltern glänzen und dürfen nicht enttäuschen, da sie sonst deren Liebe verlieren. Überhaupt ist die Gefahr, das Kind in eine Rolle zu schieben, bei ihnen am größten. Teils weil sie das Kind mißbrauchen, um ihr eigenes Ansehen zu heben, teils weil es ihre eigenen nicht erfüllten Wünsche für sie erfüllen soll - ich erinnere an das Beispiel des Mannequins. In der Politik vertreten die hysterischen Persönlichkeiten gern die liberalen oder revolutionären Parteien, nicht zuletzt aus Sensationsbedürfnis, sowie aus einer unbestimmten Unzufriedenheit und ebenso unbestimmten Zukunftserwartungen. Sie sind aber Revolutionäre nicht mit der Härte und Konsequenz Schizoider: sie sind fortschrittsgläubig, oft in naiver Weise, indem sie an das Neue glauben, nur weil es neu und anders ist - hierin wieder deutlicher Gegenpol zum zwanghaften Menschen, der am Alten hing, weil es zumindest bekannt und erprobt ist. Ein Politiker von Format mit hysterischen Einschlägen ist, nach der Darstellung von Andre" Maurois, wohl Benjamin Disraeli gewesen. Auch als Politiker sind sie die mitreißenden, begeistern könnenden Redner, die nur gern zu viel versprechen. Oft sind sie Führernaturen, denen es mehr liegt, Dinge in Gang zu bringen, neue Wege aufzuzeigen, als die dann notwendige Kleinarbeit in der Durchführung ihrer Ideen zu leisten. Aber sie können auch die Verführer sein, die geschickt die geheimen Wünsche ihrer Wähler benutzen, um sich hochzuspielen, und die nach dem Grundsatz leben »après moi le déluge«, »nach mir die Sintflut«, die sich nicht mehr um das kümmern, was sie ausgelöst haben; manchmal sind sie die Vabanque-Spieler, die viel riskieren, und auch nach Niederlagen wie ein Stehaufmännchen immer wieder auf ihre Füße fallen. In der sozialen Gemeinschaft eignen sie sich für alle Berufe, die
einen persönlichkeitsgebundenen Einsatz erfordern, elastisches Reagieren auf den jeweiligen Augenblick, Wendigkeit, Kontaktfreudigkeit und Anpassungsfähigkeit, und die zugleich ihrem Geltungsbedürfnis, ihrem Wunsch persönlich zu wirken, entgegenkommen. So liegen ihnen alle Tätigkeiten, in denen sie repräsentieren können, in denen sie Würden und Ämter vertreten, die ihnen eine symbolhafte Bedeutung verleihen, da sie sich weitgehend mit dem Amt oder der Würde als Rolle identifizieren. Dabei ist ihnen Amt und Würde weniger Verpflichtung, wie dem zwanghaften Menschen, sondern die Möglichkeit, den Glanz ihrer Persönlichkeit zu erhöhen, weshalb ihnen Orden und Titel besonders reizvoll erscheinen. Alle Tätigkeiten, bei denen es auf Kontaktfähigkeit ankommt und die ihr Bedürfnis nach mitmenschlicher Bezogenheit, ihren Wunsch nach »Publikum« befriedigen, liegen ihnen. Sie sind der überredende Vertreter oder der überzeugende, suggestive Verkäufer, der dem Kunden einen Ladenhüter als besonders günstigen Kauf aufdrängt, oder einen anderen, der nur eine Krawatte kaufen wollte, ganz eingekleidet entlassen. Sie sind überall am Platz, wo es auf Charme, körperliche Vorzüge, auf Gewandtheit und spontane Zielstrebigkeit ankommt, auf Improvisation, auf Überraschungs- und Überrumpelungssiege. Alle Berufe ziehen sie an, die unbestimmte Hoffnungen auf ein Leben in der »großen Welt« versprechen oder damit in Berührung bringen; Fotomodelle, Mannequins, Geschäftsführer; das Schmuck- und Verschönerungsgewerbe, sowie das Hotelwesen liegen ihnen. Sie sind in ihren Leistungen mehr personen- als sachbezogen, so daß diese sehr abhängig sind von demjenigen, für den sie vollbracht werden. Bei entsprechender Begabung können sie ihre Anlagen und Eigenschaften, die starke Wunsch- und Einbildungskraft, die Ausdrucksfähigkeit und Darstellungsfreude, ins Künstlerische sublimieren, vor allem ins Schauspielerische und Tänzerische. Das Alter und der Tod sind die letzten nicht vermeidbaren Realitäten unseres Lebens, die sich auf die Dauer nicht wegleugnen lassen. Ungewohnt, Realitäten anzunehmen und Notwendigkeiten sich zu beugen, haben die hystersichen Persönlichkeiten die Neigung, auch vor diesen Realitäten solange wie möglich die Augen zu verschließen. Das Alter und den Tod gibt es natürlich, das läßt sich nicht leugnen, aber wohl mehr für die anderen, nicht für einen selbst. Sie versuchen daher, die Illusion ewiger Jugend möglichst lange aufrecht zu erhalten, die Vorstellung einer immer noch vor ihnen liegenden Zukunft voller Möglichkeiten. Sie sind besonders empfänglich für alle Methoden und Praktiken, die ein langes Jungbleiben versprechen, sowie für Lehren, die das Fortleben nach
dem Tode, möglichst als Weiterbestehen ihrer Person, ansprechen. Eine häufigere Folge des Ausklammems ihres eignen Todes ist, daß sie nicht rechtzeitig ihr Testament machen und ihre Angelegenheiten ordnen, so daß sie manchmal ein Chaos hinterlassen. Im Alter kommt es bei ihnen nicht selten, unter dem Druck der Todesnähe, zu plötzlichen, scheinbar radikalen Umorientierungen und Änderungen ihres Verhaltens, die an den Spruch »Junge Hure, alte Betschwester« erinnern, und bei genauerer Betrachtung opportunistisch wirken, so daß die Echtheit solcher Wandlung fraglich ist. Sie verstehen es vielleicht am schwersten, mit Würde zu altern, haben dafür die Fähigkeit, ihre Vergangenheit zu verklären und in Erinnerungen zu leben, die sie wunschgemäß abgewandelt haben, und in denen sie die Hauptrolle spielen. Manche vermögen es indessen auch, ihrem Sterben Glanz zu verleihen, und können den Abgang von der Bühne des Lebens zu einem beeindruckenden Schauspiel machen durch eine heroische Größe im Sterben. Die Kunst in allen ihren Formen ist die bevorzugte Domäne hysterischer Persönlichkeiten; was sie schaffen, trägt unverkennbar ihre persönliche Note; manchmal neigen sie zu einem gewissen Exhibitionismus; sie sind gute Brief Schreiber und auch Autobiographie und Selbstdarstellung liegen ihnen. Farbigkeit, Originalität, Lebendigkeit sind ihre Stärken. Das Formale ist ihnen oft nicht so wichtig. Sie neigen auch besonders zu Tagträumereien, die die Gefahr in sich tragen, daß die Phantasie nicht in gesunder Weise sich vorübend auf das Leben hin richtet, sondern sie von ihm abzieht in eine Traum- und Wunschwelt, die sie immer mehr von der Wirklichkeit entfernt - nur der Künstler vermag daraus etwas Schöpferisches zu gestalten. Die Träume hysterischer Persönlichkeiten - soweit sie die strukturspezifische Problematik spiegeln - zeigen häufig in naiver Form Wunscherfüllungen, haben etwas Illusionäres an sich, weil die Gesetze der Realität in ihnen aufgehoben sind, so daß es in ihnen oft wie im Märchen zugeht. Patentlösungen bestehender Probleme werden geträumt - in einer ausweglosen Situation etwa kann man plötzlich fliegen, oder man hat magische Fähigkeiten, oder irgendein deus ex machina taucht plötzlich auf und rettet die Situation. Die verdrängte Angst in der Tiefe drückt sich nicht selten im Traume so aus, daß man keinen festen Boden unter den Füßen hat, plötzlich vor einem Abgrund steht - Situationen also, die man mit dem Bild des Reiters über dem Bodensee charakterisieren könnte. Ihre Träume sind meist farbig, lebendig, voller Geschehen, und auch lange Träume werden oft gut erinnert. Charakteristisch ist
weiter nicht selten, daß die Lösung einer schwierigen Aufgabe, die Anstrengungen kosten würde, nicht vom Träumer selbst vollbracht wird, sondern andere Personen nehmen es ihm ab. Versuchen wir, eine ansteigende Linie hysterischer Persönlichkeitsstrukturen aufzuzeigen vom gesunden Menschen mit hysterischen Persönlichkeitsanteilen, bis zu leichteren und schweren Störungen in diesem Strukturkreis, sähe diese etwa so aus: lebendigimpulsive Menschen mit betonterem Geltungsdrang und Eigenliebe - narzißtisches Bedürfnis nach Bestätigtwerden und Mittelpunkt-sein-Wollen - überwertiger Geltungsdrang und Kontaktsucht-Vater-Töchter und Mutter-Söhne, die sich nicht vom Familienroman abgelöst haben - hysterische Unechtheit, Rollenspiel und Realitätsflucht bis zur Hochstapelei - ewige Backfische und Jünglinge - männer- oder frauenfeindliche Persönlichkeiten, die ihre Geschlechtsrolle nicht annehmen, nicht selten in die Homosexualität ausweichen - »kastrierende«, destruktive Frauen mit ausgesprochenem Männerhaß, und Don-Juan-Typen mit Rachehaltungen der Frau gegenüber - Phobien - schwer hysterische Krankheitsbilder mit seelischer und körperlicher Symptomatik, welch letztere sich auf kein Organsystem festlegen läßt, bei einer Bevorzugung der Extremitäten (Lähmungserscheinungen). Der gesunde Mensch mit hysterischen Strukturanteilen ist risikofreudig, unternehmenslustig, immer bereit, sich Neuem zuzuwenden; er ist elastisch, plastisch, lebendig, oft sprühend und mitreißend, lebhaft und spontan, gern improvisierend-ausprobierend. Er ist ein guter Gesellschafter und nie langweilig, bei ihm ist »immer etwas los«; er liebt alle Anfänge und ist voll optimistischer Erwartungsvorstellungen vom Leben. Jeder Anfang scheint ihm alle Chancen zu enthalten, ist erfüllt mit dem Zauber, der allem Anfang innewohnt, wie es das Motto zu diesem Kapitel ausdrückt. Er bringt alles in Bewegung, rüttelt an Traditionen und veralteten, erstarrten Dogmen und hat etwas bezwingend Suggestives, viel Charme, den er bewußt einzusetzen weiß. Er nimmt nichts zu ernst - außer vielleicht sich selbst - weil er um die Relativität der meisten Dinge im Leben weiß; er ist stärker im Impulse-Setzen und Etwas-in-Gang-Bringen als in der Ausdauer und geduldigen Durchführung von Geplantem. Aber gerade seine Ungeduld, seine Neugier und Unbeschwertheit von Vergangenheit, läßt ihn manche Chance sehen und ergreifen, die anders Geartete nicht sehen, oder die diesen ein Halt, eine Grenze bedeuten würde. So kann er eigenwillig und wagemutig das Leben wie ein buntes Abenteuer sehen, und der Sinn des Lebens liegt für ihn darin, es möglichst reich, intensiv und füllig zu leben.
Schlußbetrachtung »Wenn jeder altes von dem andern wüßte, Es würde jeder gern und leicht verzeihen, Es gäbe keinen Stolz mehr, keinen Hochmut«. (Hafis)
Hinter den vier Grundformen der Angst stehen allgemein-menschliche Probleme, mit denen wir alle uns auseinandersetzen müssen. Jedem von uns begegnet die Angst vor der Hingabe in einer ihrer verschiedenen Formen, die als Gemeinsames das Gefühl der Bedrohtheit unserer Existenz, unseres persönlichen Lebensraumes, oder der Integrität unserer Persönlichkeit haben. Denn jedes vertrauende sich Öffnen, jede Zuneigung und Liebe kann uns gefährden, weil wir dann ungeschützter und verwundbarer sind, etwas von uns selbst aufgeben müssen, uns einem anderen ein Stück ausliefern. Daher ist alle Angst vor der Hingabe verbunden mit der Angst vor einem möglichen Ich-Verlust. Jedem begegnet auch die Angst vor der Ich-Werdung, vor der Individuation, die in den verschiedenen Formen ihres Auftretens als Gemeinsames die Angst vor der Einsamkeit hat. Denn jede Individuation bedeutet ein sich Herausheben aus bergenden Gemeinsamkeiten. Je mehr wir wir selbst werden, um so einsamer werden wir, weil wir dann immer mehr die Isoliertheit des Individuums erfahren. Jedem begegnet auch die Angst vor der Vergänglichkeit auf seine Weise; unvermeidlich erleben wir immer wieder, daß etwas zu Ende geht, aufhört, plötzlich nicht mehr da ist. Je fester wir etwas halten, beibehalten wollen, um so mehr erliegen wir dieser Angst, deren verschiedene Formen als Gemeinsames die Angst vor der Wandlung erkennen lassen. Und jeder begegnet schließlich auch der Angst vor der Notwendigkeit, vor der Härte und Strenge des Endgültigen, bei deren verschiedenen Ausformungen das Gemeinsame die Angst vor dem unausweichlichen Festgelegtwerden ist. Je mehr wir eine unverbindliche Freiheit und Willkür anstreben, desto mehr müssen wir die Konsequenz und die Grenzen der Realität fürchten. Da sich die großen Ängste unseres Daseins, die so wichtig für unsere reifende Entwicklung sind, nicht umgehen lassen, bezahlen wir den Versuch, vor ihnen auszuweichen, mit vielen kleinen, banalen Ängsten. Diese neurotischen Ängste können sich praktisch auf alles werfen, und sie sind letztlich nur aufzulösen, wenn wir die dahinterliegende eigentliche Angst erkannt haben, und uns mit
dieser auseinandersetzen. In der Verschiebung, Verharmlosung und gleichsam karikierenden Verzerrung der Daseinsängste, erscheinen die neurotischen Ängste als unsinnig - sie quälen und belasten nur noch. Wir sollten sie indessen als Alarmzeichen verstehen, als Hinweis darauf, daß wir auf irgendeine Weise nicht »richtig liegen«, daß wir etwas vermeiden wollen, statt uns damit auseinanderzusetzen, etwas Wesentlicheres, das die verschobene Angst zudecken will. Die Begegnung mit den großen Ängsten ist ein Teilaspekt unseres reifenden Weiterschreitens; die Verschiebung auf jene stellvertretenden neurotischen Ängste hat nicht nur eine lähmende und hemmende Wirkung, sondern sie zieht uns auch von wesentlichen Aufgaben unseres Lebens ab, die zu unserem Menschsein gehören. So bekommt die Angst in ihren beschriebenen Grundformen eine wichtige Bedeutung: sie ist nicht mehr nur ein möglichst zu vermeidendes Übel, sondern, und das von ganz früh an, ein nicht wegzudenkender Faktor unserer Entwicklung. Wo wir eine der großen Ängste erleben, stehen wir immer in einer der großen Forderungen des Lebens; im Annehmen der Angst und im Versuch, sie zu überwinden, wächst uns ein neues Können zu - jede Angstbewältigung ist ein Sieg, der uns stärker macht; jedes Ausweichen vor ihr ist eine Niederlage, die uns schwächt. Wie aus den lebensgeschichtlichen Beispielen wohl zu ersehen war, hat unsere Angst eine Vorgeschichte, eine Entwicklungsgeschichte. Ausmaß, Intensität und Objekt unserer Ängste als Erwachsene, sind immer auch durch unsere Kindheitsängste vorgeformt und mitbestimmt. Der Mensch mit einer weitgehend geglückten Kindheit ist, wenn ihn nicht außergewöhnliche Schicksalsschläge treffen, im allgemeinen in der Lage, die Grundängste zu verarbeiten, soweit zumindest, daß er nicht an ihnen erkrankt, weil er ein stabiles Fundament seiner Persönlichkeit aufbauen konnte. Wer dagegen zu früh altersunangemessenen Ängsten und Schicksalsbelastungen ausgesetzt war und in seiner Umgebung keine Hilfe fand, erlebt Angst auch später als viel gefährdender und erdrückender, denn sie aktiviert bei ihm alte, unverarbeitete Ängste aus seiner Frühzeit. Diese aufzuarbeiten kann ihm die Psychotherapie in einer ihrer Formen helfen. Es kann ihm aber vielleicht schon eine Hilfe sein bei schwer erträglichen Ängsten, die, von der Wirklichkeit her gesehen, das Ausmaß der Angst nicht verständlich machen, sich klar zu machen, daß es sich dann mit Sicherheit um die Wiederbelebung von Kindheitsängsten handelt, denen er damals hilflos ausgeliefert war, gegen die er aber inzwischen Kräf-
te verfügbar hat, die ihm damals fehlten: Vertrauen, Hoffnung, Einsicht und Mut. Wenn Rilke einmal vom Menschen gesagt hat: »Mach, daß er seine Kindheit wieder weiß, das Unbewußte und das Wunderbare, und seiner ahnungsvollen Anfangsjahre unendlich dunkelreichen Sagenkreis« - so ist das gewiß ein tiefsinniges Wort. Aber leider trifft es für viele so nicht zu: ihre Anfangsjahre waren mehr dunkel als reich, mehr bedrückend als ahnungsvoll, mehr frustrierend als wunderbar. Aber auch für sie kann es eine Hilfe sein, in einem psychotherapeutischen Nachentwicklungsprozeß ihre Vergangenheit zu verarbeiten, und sich so weit wie möglich von deren Schädigungen zu befreien. Das Zusammentreffen unserer Anlage mit der Umwelt, in die wir hineingeboren werden - Umwelt im weitestmöglichen Sinne verstanden - macht das aus, was wir Schicksal nennen; dieses unser Schicksal wird in seinen Anfängen durch unsere Kindheit vorgeformt, beginnt mit ihr - es ist die »geprägte Form, die lebend sich entwickelt«. Aber gerade die Psychotherapie hat uns Möglichkeiten gegeben, manches von dem, was wir früher als Schicksal glaubten hinnehmen zu müssen, als Folgen früher Umweltschädigungen zu erkennen, die nachträglich wieder gutgemacht werden können. Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, daß bei diesen Frühprägungen die jeweilige Gesellschaft eine entscheidende Rolle spielt. Wenn sie hier vernachlässigt wurde, dann nicht, weil ihre Bedeutung unterschätzt wurde, sondern deshalb, weil in den frühen Kindheitsjahren die Eltern die Hauptbezugspersonen sind. Soziopsychologische Einwirkungen treffen das Kind zunächst nur mittelbar über seine Eltern, als deren Einstellung zur Gesellschaft, zur Autorität, zur Leistung, zur Religion und zur Sexualität usf. Deshalb ist in den aufgewiesenen Fehlhaltungen der Eltern dem Kind gegenüber immer auch ein Stück Gesellschaftskritik mitenthalten, soweit eben die Eltern als Mitglieder einer Gemeinschaft, einer Kultur, einer Gesellschaftsklasse oder einer herrschenden Ideologie, deren Forderungen dem Kind übermitteln. Auch die Gesellschaft, der Staat usf. müssen sich mit den vier Grundängsten auseinandersetzen, und ihre Antwort darauf fällt verschieden aus, je nach den herrschenden Ideologien. Mit den vier Grundformen der Angst, bzw. mit den vier Grundimpulsen oder Grundforderungen, ist etwas allgemein Gültiges und Grundsätzliches gemeint, das nicht weiter ableitbar zu unserer Existenz gehört. Das scheint auch daraus hervorzugehen, daß wir prinzipiell immer vier Möglichkeiten haben, auf eine Lebenssituation zu antworten; zu jeder mitmenschlichen Beziehung, zu jeder
Aufgabe oder Forderung können wir uns auf viererlei Weise einstellen: wir können uns erkennend von ihr distanzieren, oder uns mit ihr liebend identifizieren; wir können sie wie ein Gesetz auf uns nehmen, oder sie unseren Wünschen gemäß umzuwandeln versuchen. Jede wesentliche Aufgabe, jede Entscheidung, jede wesentliche menschliche Begegnung, jedes schicksalhafte Geschehen trägt potentiell alle vier Antwortmöglichkeiten in sich. Sie verfügbar zu haben und sie je nach den Gegebenheiten der Situation und unseren eigenen Anlagen anzuwenden, zumindest sie bei unseren Entscheidungen als verschiedene Möglichkeiten einzubeziehen, ist ein Zeichen von Lebendigkeit. Aber nicht nur das; oft fordert etwa eine menschliche Beziehung, daß wir praktisch gleichzeitig alle vier Impulse in lebendiger Durchdringung leben müssen. Denken wir etwa an die Erziehung: sie erfordert vom Erzieher sowohl die nötige schöpferische Distanz, die er braucht, um das Kind in seinem Eigensein zu erkennen und es ihm zuzugestehen; sie erfordert eine liebende Einstellung, um dem Kind Vertrauen zu ermöglichen und es einfühlend zu verstehen; sie erfordert gesunde Härte und Konsequenz, um es Ordnungen erleben zu lassen; und sie erfordert schließlich Zutrauen in die und Respekt vor der Eigengesetzlichkeit des Kindes, um es nicht nach eigenen Wünschen zu formen und damit zu überfremden. Solche »Vollständigkeit« ist aber dem einzelnen immer nur begrenzt möglich, da wir als Menschen unvollkommen und unvollständig sind. Es scheint mir aber wichtig zu sein, die uns individuell begrenzenden Einseitigkeiten unseres Wesens an der vorschwebenden Vorstellung einer solchen Ganzheit auszurichten. Jeder von uns hat auf Grund seiner ererbten körperlich-seelischen Konstitution, auf Grund seiner vorgefundenen Umwelt und ihrer Einflüsse, auf Grund seiner individuellen Erfahrungen und erworbenen Verhaltensweisen, auf Grund seiner Lebensgeschichte also, die seine Persönlichkeit und seinen Charakter formten, seine individuellen Möglichkeiten und Grenzen, seine Unvollständigkeiten und Einseitigkeiten. Der eine wird nun versuchen, seine Begrenztheit und Einseitigkeit zu bejahen und möglichst fruchtbar zu leben, weil er weiß, daß die »Ganzheit« nicht erreichbar ist. So kann er gleichsam zum Repräsentanten einer der vier Grundeinstellungen werden, zum Exponenten eines der vier Grundimpulse, den er in größtmöglicher Vollkommenheit lebt. Und ein anderer wird versuchen, sich der Ganzheit, der Vollständigkeit immer mehr zu nähern, weil er wsiß, daß »Vollkommenheit« nicht erreichbar ist, und daß die reichste Selbstverwirklichung nur aus dem eigenen Wesen heraus nicht möglich ist. Kann die Größe des einen im
bewußten Verzicht auf auch noch Mögliches, und im konsequenten Vervollkommnen seines Wesens in seinen Grenzen liegen, so die des anderen darin, möglichst viel von ihm zunächst Wesensfremdem und Fernliegendem in sich zu integrieren und sich damit immer erneut zu weiten. Vollkommenheit und Vollständigkeit die beiden menschlichen Idealziele, die beide nicht zu erreichen sind, denen wir uns in unseren Grenzen nur anzunähern vermögen. Auf die vier Grundstrebungen angewandt: immer können wir versuchen, uns selbst treu zu bleiben, unsere Individualität zu bewahren, Abhängigkeiten zu vermeiden und durch Erkenntnis die Welt zu verstehen und furchtlos unser Eigensein zu leben. Immer können wir versuchen, vom uns einengenden Ich freizukommen in mitmenschlicher Verbundenheit, in einfühlender Liebe und Selbstlosigkeit, in grenzüberschreitender, transzendierender Hingabe und Selbstaufgabe. Immer können wir versuchen, das, was uns als wahr, gut und schön erscheint, als etwas ewig Gültiges anzuerkennen, für dessen Dauer wir uns einsetzen gegen kurzfristig wechselnde Einflüsse, die es erschüttern und zerstören wollen, können die Gesetze und Ordnungen, die wir als notwendig erkannt haben, fest vertreten. Und immer können wir schließlich unsere Freiheit wollen, den immerwährenden Wandel des Lebens bejahen, im Gegensatz zur vorbeschriebenen »apollinischen« eine »dionysische« Haltung einnehmen, die das Leben in seiner ganzen Großartigkeit und Furchtbarkeit bejaht, und beide in der eigenen Seele wiederfindet. Und immer können wir - gleichsam schizoid - aus Angst vor dem Ich-Verlust den nahen mitmenschlichen Kontakt vermeiden; können wir - gleichsam depressiv - aus der Angst vor Trennung und Einsamkeit in Abhängigkeiten verbleiben; immer können wir - gleichsam zwanghaft - aus der Angst vor Wandel und Vergänglichkeit am Gewohnten festhalten, oder können wir schließlich gleichsam hysterisch - der Willkür verfallen, um die Angst vor der Notwendigkeit und Endgültigkeit zu vermeiden. Das führt dann jeweils zum Ausweichen vor einer oder mehreren der großen Forderungen, und im gleichen Maße wird unsere Menschlichkeit fragmentarischer. Es sei noch angedeutet, daß je zwei sich antinomisch ergänzende Persönlichkeitsstrukturen oft eine instinktive Anziehung aufeinander ausüben, eine Faszination - denn nichts pflegt uns stärker zu faszinieren, als wenn ein anderer überzeugend das darlebt, was wir selbst auch als Möglichkeit in uns ahnen, aber vielleicht unter-
drückt, oder nicht zu leben gelernt haben, bzw. nicht leben durften. Es scheint so zu sein, daß wir durch den jeweiligen Gegentyp zur »Ganzheit« kommen möchten, zu einer Vollständigkeit, die uns aus unserer individuellen Begrenztheit und Einseitigkeit befreien soll, was ja auch einen wesentlichen Teil der geschlechtlichen Faszination ausmacht. In diesem Sinne pflegen einerseits schizoide und depressive, andererseits zwanghafte und hysterische Persönlichkeiten sich anzuziehen. Ob darin unsere unbewußte Sehnsucht nach Er-gänzung zum Ausdruck kommt, der Wunsch, am Partner das zu finden, was uns selbst fehlt; ob wir darin die Möglichkeit ahnen, aus den Fesseln schicksalhafter Strukturfestgelegtheit erlöst zu werden? Jedenfalls kann in der antinomischen Anziehung der Gegentypen eine Chance für solche Ergänzung liegen. Aber nur, wenn wir bereit sind, das Anderssein des anderen anzunehmen, ihn ernst nehmen und verstehen wollen, können wir hoffen, dieses Andere auch in uns selbst zu entdecken und zu entwickeln. Freilich - in der Realität des Lebens sieht das meist anders aus: Da versucht jeder, den anderen in seine Bahn zu ziehen, will ihn sich selbst möglichst ähnlich machen, wodurch nicht nur die schöpferische Spannung verloren geht, sondern erbitterte Kämpfe zu entstehen pflegen. Oder man mißversteht das Anderssein des anderen hoffnungslos, weil man nicht bereit ist, hinzuzulernen, oder weil man dessen Verhalten nur mit den eigenen Maßstäben mißt, die für ihn nicht zutreffen. Wenn sich schizoide und depressive Partner instinktiv anziehen, hat das meist folgende Grundlage: Der Schizoide ahnt die Liebesbereitschaft und Liebesfähigkeit des Depressiven, seine Opferbereitschaft, sein einfühlendes Sich-Bemühen und sich selbst Zurückstellen; er ahnt hier, wenn überhaupt, die Chance der Erlösung aus seiner Isolierung, die Möglichkeit, am Partner etwas nachzuholen, was er nie erleben durfte: vertrauen und sich aufgehoben fühlen. Hier bestände die Faszination darin, daß der Schizoide im Depressiven Möglichkeiten spürt, die auch in seinem Wesen angelegt sind, aber nicht ausgesprochen wurden in seiner Entwicklung. Und andererseits fasziniert den Depressiven am Schizoiden, daß dieser etwas lebt, was er sich nicht zu leben gewagt hat, bzw. nicht leben durfte: unabhängiges Individuum zu sein, ohne Verlustangst und Schuldgefühle. Zugleich spürt er, daß hier jemand ist, der seine Liebesbereitschaft dringend braucht. Wie sehr das mißglücken kann, sahen wir an dem früher geschilderten Beispiel. Denn wenn der Schizoide den festhalten wollenden Sog des Depressiven spürt, konstelliert das seine zentrale
Angst vor der Abhängigkeit; und wenn der Depressive den Unabhängigkeitsdrang des Schizoiden spürt, konstelliert das seine zentrale Verlustangst. Dann spitzen beide gerade ihre Abwehrhaltungen zu in endlosem tragischen Mißverstehen. Den als zwanghaft beschriebenen Menschen fasziniert die farbige Buntheit, Lebendigkeit, die Risikofreudigkeit und Aufgeschlossenheit für alles Neue seines hysterischen Gegentypus, weil er selbst so überwertig am Gewohnten festhält, immer auf Sicherheit bedacht ist, und so sein Leben, wie er selbst spürt, unnötig einengt. Und entsprechend ist, wie wir schon andeuteten, der auf der hysterischen Linie liegende Mensch fasziniert von seinem Gegentyp, weil dieser die Stabilität, Solidität, die Konsequenz und Verläßlichkeit, dieses In-der-Ordnung-Leben hat, das ihm so fehlt. Aber wieder kann es zu tragischen Verstrickungen und zum Mißverstehen kommen, wenn jeder seine Art dem anderen gegenüber aus seiner spezifischen Angst zu behaupten versucht. Dann wird der zwanghafte Mensch durch immer mehr Gründlichkeit, Pedanterie und Nörgelei, durch rechthaberische Starrheit und Machtanspruch, durch seine Neigung zum Erzwingen wollen, den Partner nur mehr in seine Hysterie hineinsteigern, weil dieser den Eindruck bekommt, es würde ihm die Luft zum Atmen genommen. Die Korrektheit, Nüchternheit und Sachlichkeit des zwanghaften Partners, der hinter diesen Haltungen seine zentrale Angst vor der Wandlung versteckt, läßt den hysterischen Partner das Leben mit ihm als programmiert, festgelegt, ohne Glanz und Abwechslung erleben, ohne Improvisation und Auflockerung des Alltags durch kleine Lichter, die er ebenso braucht wie das Bestätigtwerden durch den Partner, das dieser ihm zu sparsam gibt, aus Angst, ihn zu verwöhnen. Der hysterische Partner wird dann aus seiner zentralen Angst vor zuviel Festgelegtwerden den Zwanghaften immer tiefer irritieren und beunruhigen, oder aber resignieren lassen vor seiner nun bewußt zur Abwehr eingesetzten, jener unfaßbaren Unlogik, Widersprüchlichkeit und Unverbindlichkeit, vor allem aber durch seine Ansprüche, die den zwanghaften Partner nun wieder zu immer strengeren Maßnahmen verleiten. Auch hier leben beide aneinander vorbei und verpassen die Chance, das Ergänzende zu integrieren. In beiden Fällen kann die Hilfe nur darin liegen, das Anliegen des jeweils anderen zu verstehen, ernst zu nehmen, und nicht aus Angst die eigene Struktur zu verhärten. Aber bei sehr extremer Ausbildung der Gegentypen ist das kaum zu schaffen, weil dann beide Partner ihre Angst durch das Anderssein des anderen gesteigert erleben, und sich dagegen abschirmen müssen; dann empfin-
den sie nicht mehr die Faszination durch den Gegentyp, sondern nur noch Beunruhigung und Befremdung. Unter diesen Aspekten kann das Wissen um die vier Grundeinstellungen und Grundängste auch für die Partnerbeziehungen hilfreich sein, wie auch für sonstige mitmenschliche Beziehungen. Bei der heute so häufig zu findenden Neigung, Partnerschaften aufzulösen, wenn erste Enttäuschungen aufkommen, nimmt man sich oft gerade die Chance, sich durch das Verstehen des anderen selbst ein Stück weiter zu entwickeln. Weil es sich bei den vier Formen des in-der-Welt-Seins um grundsätzlich zu unserem Wesen gehörende Möglichkeiten handelt, hat es sie immer gegeben und wird es sie immer geben. Verschiedene Zeiten, Kulturen, soziale Strukturen und kollektive Lebensbedingungen; zeitgebundene Ideologien und Wertsetzungen; ethische und religiöse, politische und wirtschaftliche Einstellungen, lassen jeweils die vier Grundängste verschieden akzentuiert erleben, die Strukturtypen verschieden bewerten. So können ganze Epochen unter der Dominanz eines der vier Strukturtypen stehen, so daß sich in ihnen der ihnen gemäße Einstellungstyp besser entwickeln kann, weil schon die Kinder auf ihn hin erzogen werden, der Gegentyp dagegen schlechter, weil er kollektiv abgelehnt oder abgewertet wird. So wird eine bäuerlich-seßhafte Kultur die bewahrenden Züge begünstigen, also die Ausrichtung auf Tradition, auf unverändert weitergegebene Erfahrungen, auf Sicherheit, Besitz und Dauer Züge also, wie wir sie beim Zwanghaften beschrieben hatten. Die Verstädterung und Industrialisierung, die wir heute erleben, die uns aus vielen natürlichen Bindungen herausgerissen hat, die für so viele unbeseelte Tätigkeiten fordert, und zu Vermassungsprozessen zu fuhren droht, hat, wie jede Entwurzelung, eine deutlich erkennbare Schizoidisierung mit sich gebracht, im dort beschriebenen Sinne wachsender Bindungslosigkeit, Vernachlässigung der Gemütsseite, unterstützt durch eine Technokratie, der alles machbar geworden ist. Um so wichtiger ist es für uns, einerseits den positiven Aspekt der Schizoidie zu betonen, nämlich das Streben nach der Individuation - nicht als isolierende Selbstverwirklichung und egozentrische Einmaligkeit, sondern als Aufgabe, die einem größeren, überindividuellen Ganzen zugute kommen sollte; andererseits, die antinomische Einstellung der Besinnung auf emotionale und humane Werte bewußter zu pflegen. Das offenbar zu Ende gehende Patriarchat mit seinen typischen Zügen von absoluter Macht und Autorität, seinem Festhalten an Traditionen und an von ihm errichteten Institutionen, war Aus-
druck der Vorherrschaft des Zwanghaften; aber nicht mehr auf organisch-lebendiger Basis, wie in den bäuerlichen Kulturen, sondern viel stärker auf Macht ausgerichtet, auf Unterdrückung und Ausnutzung der Abhängigen und Schwachen. Damit konstellierte es den Gegenpol umso schroffer, wie es im Extrem etwa in der Forderung nach antiautoritärer Erziehung, in der Sexwelle und in der Auflösung von Tabus, positiv im Suchen nach neuen Freiheiten zum Ausdruck kommt. Denn immer ist auch in einem Kollektiv die Neigung zur Er-gänzung vorhanden, zum Ausgleich von krankmachenden Einseitigkeiten, ein Selbstregulierungsprozeß, der allerdings meist erst spät bewußt wird, und dann in rhythmischen Abläufen zum Durchbruch des Unterdrückten führt, zu umso extremeren Durchbrüchen, je extrem-einseitiger die Einstellung vorher war. Es besteht zweifellos auch ein Zusammenhang zwischen den vier Formen des In-der-Welt-Seins und den Lebensaltern, also zwischen den Grundimpulsen und biologischen Abläufen. Nach den erwähnten frühkindlichen Entwicklungsphasen überwiegt üblicherweise in der Jugend das Zentrifugale, das optimistische Gefühl, daß wir selbst und die Welt voller Möglichkeiten sind, die Zukunft vor uns liegt und wir uns ins Leben entwerfen voll Hoffnung und Abenteuerfreude. In den sogenannten »besten Jahren« wächst die Neigung, sich einen stabilen Lebensrahmen zu schaffen und sich darin einzurichten; die zentripetalen Kräfte mit der Neigung zu bestimmten begrenzten Zielsetzungen überwiegen, wir bauen unseren Macht- und Besitzbereich aus. Es kommt zur Selbstverwirklichung in Beruf, Partnerschaft, Elternschaft. Nach der Lebensmitte erleben viele dann eine Wandlung; der Wunsch nach Verwirklichung von Wesensmöglichkeiten, die der Alltag mit seinen Pflichten und Forderungen nicht zuließ, wird stärker. In größerer Selbstvergessenheit möchten wir von unserer Ichhaftigkeit loskommen; Sinnfragen treten in neuer Form auf, metaphysisch-transzendente Bedürfnisse, und wir müssen schon das Loslassen allmählich lernen, die Vergänglichkeit auch für uns selbst annehmen. Und schließlich im Alter, im Bewußtsein des näherrückenden Todes, werden wir mit der Einsamkeit in neuer Form konfrontiert, und können vielleicht weise werden im Annehmen unserer letzten Einsamkeit; andererseits im uns Zugehörig-Fühlen zum »Menschlichen an sich«, im Bewußtsein, daß wir ein Teil eines großen Ganzen sind, in das wir wieder eingehen werden wie es unsere Sprache in dem Wort »all-ein« ausdrückt, das sowohl das isolierte Alleinsein bezeichnet, als auch das uns bergende Alleins-Sein. Natürlich sind diese Altersentsprechungen nur gewisse
Akzentuierungen, aber sie lassen vermuten, daß sich eine Lebensgesetzlichkeit in ihnen äußert. Und vielleicht reicht diese noch weiter. Etwa von der Lebensmitte an scheinen wir die Frühphasen unserer Entwicklung auf höherer Ebene rückläufig nochmals zu durchlaufen, wobei wir die entsprechenden Ängste aufs neue überwinden müssen: Es beginnt damit, daß wir realisieren, daß die vor uns liegende Zukunft begrenzt ist, daß wir nicht mehr die Fülle aller Möglichkeiten vor uns haben - so begegnen wir erneut der Angst vor der Endgültigkeit. Dann erkennen wir, daß auch das von uns Geschaffene, materielle Güter und geistiger Besitz, sich unter unseren Händen verändern, daß auch unsere Vitalität nachläßt, daß es keine Absolutheit und keine Dauer gibt - womit wir aufs neue die Angst vor der Vergänglichkeit erfahren. Dann erleben wir Trennungen; die Kinder verlassen uns und gründen eigene Familien; wir verlieren uns nahestehende Menschen durch den Tod, und wir beginnen zu verstehen, daß wir allmählich das Loslassen lernen müssen - wodurch sich die Angst vor der Einsamkeit auf neue Weise konstelliert. Und in der letzten Phase unseres Lebens wartet der Tod auf uns selbst, das Sterben, das wir mit niemandem teilen, in das wir niemanden mitnehmen können - und wir begegnen zum letzten Mal der Angst vor der Selbsthingabe, nun an den Tod. Der Kreis unseres Daseins schließt sich mit diesem letzten Schritt in das große Unbekannte, aus dem wir mit unserem ersten Schritt heraustraten. Freilich, manche Menschen, die jene Schritte nicht zu vollziehen wagten, wiederholen dann auf viel wörtlichere Weise die Rückläufigkeit: sie nehmen das Altern nicht an und wollen um jeden Preis jung bleiben; sie hängen um so mehr am Besitz, je mehr sie ihre Zeit und ihre Kräfte schwinden fühlen; sie werden im Alter wieder zu Kindern, haben nur noch Interesse an Essen und Trinken, an ihrer Verdauung, ihrer Gesundheit, und enden schließlich als hilflose Greise, die sich kaum noch vom hilflosen Kleinkind unterscheiden. Der Leser wird vielleicht enttäuscht sein, wenn er bei dem Versuch, sich selbst in einer der beschriebenen vier Persönlichkeitsstrukturen wiederzuerkennen, zu keiner eindeutigen Zuordnung gelangt, sondern wahrscheinlich von allen etwas in sich entdeckt, wie auch von jeder der Grundängste. Das scheint mir aber gerade für die Lebensnähe, Wirklichkeitsnähe der Grundängst und der Strukturtypen zu sprechen, daß sie sozusagen nicht »rein« vorkommen. Denn solche Eindeutigkeit entspräche viel mehr unserem rationalen Bedürfnis nach klaren Festlegungen und abgren-
zenden Systemen, als der Wirklichkeit des Lebens, der es immer Gewalt antut. Wenn es sich außerdem bei den Grundimpulsen und den dazugehörenden Ängsten um allgemeinmenschliche Gegebenheiten handelt, und wenn ihre Ausformung mit dem Durchlaufen frühkindlicher Entwicklungsphasen zusammenhängt, die wir alle durchmachen müssen, müssen wir sie auch alle als Möglichkeit und im Ansatz in uns kennen. Wir können danach sogar sagen, daß wir in gewissem Sinne um so lebendiger sind, je mehr wir in allen vier Bereichen zu Hause sind, bzw. wenn keiner der Grundimpulse in uns völlig ausfällt - das würde bedeuten, daß wir die Kindheitsphasen, in denen die Impulse und Ängste ihre Erstprägung erhalten, relativ gesund durchlaufen konnten. Einseitig überbetonte Persönlichkeitsstrukturen sind daher eher gefährdet, und führen uns die Bedeutung der frühen Kindheit für unsere gesunde Entwicklung besonders deutlich vor Augen. Das Schicksal, das die vier Grundimpulse in unserer Entwicklung erfahren, hängt von dem Zusammentreffen folgender Faktoren ab: wir bringen eine »erste Natur« mit, über die am ehesten die Astrologie über unser Horoskop etwas auszusagen weiß; dazu kommt unsere Erbanlage, die wir aber erst im Laufe unserer Entwicklung kennenlernen; und wir erwerben in der Begegnung und Auseinandersetzung mit unserer frühen und späteren Umwelt unsere »zweite Natur«, die durch die Umwelteinwirkungen immer schon gleichsam eine Trübung bzw. Überfremdung unserer ersten Natur ist. Ist diese Überfremdung eine zu große, besteht zwischen unserer primären Natur und Anlage und der uns anerzogenen und erworbenen zweiten Natur eine zu große Diskrepanz, werden wir krank. Die mitgeteilten Beispiele zeigten wohl sehr deutlich, in welchem Ausmaß unsere frühe und auch noch spätere Umwelt sich pathogenetisch auswirken kann. Vor allem unsere frühe familiäre Umwelt, die aber immer bereits auch die weitere soziokulturelle Umwelt insofern mit einbegreift, als unsere Eltern - bewußt oder unbewußt - die herrschenden kollektiven Maßstäbe, zustimmend oder ablehnend, in der Erziehung vertreten oder bekämpfen, wodurch das Kind über sie bereits kollektive Wertsetzungen übernimmt, oder ebenfalls ablehnt. Wenn wir von groben Vernachlässigungen oder Schädigungen der Kinder absehen, die ein Zeichen von Krankheit der Eltern sind, können wir sagen, daß nicht nur Eltern ihren Kindern, sondern daß auch Kinder ihren Eltern zum Schicksal werden. Die ungemeine Differenziertheit, der Reichtum an Anlagen, die so großen Unterschiede der individuellen Persönlichkeiten, zugleich die so lange frühkindliche Abhängigkeit und große Störbarkeit in
seiner Entwicklung, machen das Wesen Mensch gefährdeter als andere Lebewesen. Ob uns als Eltern ein Kind »liegt«, ob es für uns leicht liebzuhaben ist, ob unsere Liebesfähigkeit ihm mühelos zufließen kann, ob es uns in seinem Wesen entgegenkommt - noch ganz abgesehen von bestimmten Wünschen, wie wir möchten, daß es sein und sich entwickeln sollte; ob es andererseits für uns schwer einfühlbar und verstehbar ist in seiner Eigenart, ob es uns befremdet, und wir uns Mühe geben müssen, es so zu lieben, wie wir es vermögen und von uns erwarten; ob es uns Sorgen macht, die uns ihm gegenüber hilflos erleben lassen, ob es uns fühlen läßt, daß es uns als Eltern auch nicht so annehmen kann, wie es möchte und es brauchte - all das wird ihm und uns auch zum Schicksal und liegt jenseits aller Schuld. Was wir aber tun können, schwere Schädigungen des Kindes zu vermeiden, ist vor allem mehr Wissen zu erwerben über seine frühen Bedürfnisse und über unsere eigenen möglichen Fehlhaltungen in seiner Frühzeit; ist andererseits die Chance, solche Schädigungen früh zu erkennen und vielleicht zu korrigieren. Dafür stehen uns heute neben der »großen Psychotherapie« viele Möglichkeiten zur Verfügung: Spieltherapie, Erziehungsberatung, Familientherapie; Verhaltens- und Kommunikationstherapie; Eheberatung, Ehepaargruppentherapie, oder Einzeltherapie desjenigen Familienmitgliedes, das die anderen belastet, oder des dadurch gestörten Kindes. Wir haben bei den somalischen Erkrankungsmöglichkeiten schon lange die selbstverständliche Bereitschaft, obligatorisch prophylaktische Schuluntersuchungen vorzunehmen, bzw. ziehen wir im somatischen Krankheitsfall selbstverständlich den Arzt hinzu. Aber wir haben seltsamerweise noch keine entsprechenden prophylaktischen Maßnahmen für obligatorische Untersuchungen unserer Kinder bezüglich ihres seelischen Zustandes und der Konflikte der Eltern-Kind- und Lehrer-Schüler-Beziehung, obwohl wir heute wissen, daß viele somatischen Erkrankungen seelische Hintergründe, und daß frühe seelische Schädigungen so schwere Folgen haben. Hier sind wir noch Barbaren, wenn das Wort meinen soll, daß wir aus Unwissenheit, die wir doch bei einigem Bemühen beheben könnten, fortfahren, Schäden zu setzen aus der Trägheit des Herzens. Eltern, Erzieher und staatliche Institutionen sollten sich zusammentun und mehr auf die Prophylaxe neurotischer Entwicklungen achten - schon in ihrem eigensten Interesse. Und noch einmal zum Thema Angst: Wenn wir uns quälende Ängste auch als Hinweis verstehen, daß wir in irgendeiner Fehlhaltung befindlich sind, oder vor einer der großen Forderungen
des Lebens zurückscheuen, einen Entwicklungsschritt nicht wagen, kann uns das helfen, den Aufforderungscharakter der Angst zu erkennen, über unsere jeweilige Entwicklungsstufe hinauszuwachsen in eine neue Freiheit, zugleich in eine neue Ordnung und Verantwortung. Dann kann sie uns ihren positiven, schöpferischen Aspekt zeigen und zum Anstoß für eine Wandlung werden. Und vielleicht kann uns das eingangs verwendete Gleichnis dabei eine Hilfe sein, im Bewußtsein unserer Teilhabe an dynamischen Kräften, die bei aller Widersprüchlichkeit und Gegensätzlichkeit doch durch eine eherne Ordnung in lebendigem Gleichgewicht gehalten werden, das nie Stillstand oder statische Ruhe bedeutet, aber auch nie zum Chaos entartet. Jede Überbetonung, oder jeder Ausfall einer der kosmischen Bewegungsimpulse würde unser Sonnensystem gefährden, vielleicht zerstören - auf der menschlichen Ebene: jede Vereinseitigung, oder der Ausfall einer der Grundimpulse, gefährdet unsere innere Ordnung und kann uns krank machen. In der Teilhabe an diesen kosmischen Kräften, und andererseits in unserem Geprägt werden durch unsere mitmenschliche Umwelt, kommt der Doppelaspekt unseres Daseins zum Ausdruck: der Mensch mit seinem Anteil an den überzeitlichen, überpersönlichen Ordnungen und Gesetzen und am Gesamtmenschlichen sein überzeitlicher, ewiger Aspekt. Und der Mensch als historisches Wesen und einmaliges Individuum, mit der Auseinandersetzung zwischen seiner Anlage und der vorgefundenen Umwelt, in der er aufwachsen muß - sein zeitlicher Aspekt. Als zeitlich begrenztes Wesen haben wir unsere individuelle Biographie und unsere Eigenprägung erworben, mit ihren Einseitigkeiten und Beschränkungen; als Mensch überhaupt, als Teil »des Menschlichen«, haben wir eine Ahnung von Vollkommenheit und Vollständigkeit in uns, die uns über unsere Vergangenheit und die in ihr erworbenen Begrenzungen hinausheben kann, in der Besinnung auf das uns als Menschen Gemeinsame, das nicht an Zeit, Kultur und Rasse gebunden ist, sondern »das Menschliche an sich« meint. Wenn es jemanden gäbe, der sowohl die Angst vor der Hingabe in echtem Sinne verarbeitet hätte, und sich in liebendem Vertrauen dem Leben und den Mitmenschen öffnen könnte; der zugleich seine Individualität in freier, souveräner Weise zu leben wagte, ohne die Angst, aus schützenden Geborgenheiten zu fallen; der weiterhin die Angst vor der Vergänglichkeit angenommen hätte, und dennoch die Strecke seines Lebens fruchtbar und sinnvoll zu gestalten vermöchte; und der schließlich die Ordnungen und Gesetze unserer Welt und unseres Lebens auf sich nähme, im Be-
wußtsein ihrer Notwendigkeit und Unausweichlichkeit, ohne die Angst, durch sie in seiner Freiheit zu sehr beschnitten zu werden wenn es einen solchen Menschen gäbe, wir würden ihm zweifellos die höchste Reife und Menschlichkeit zuerkennen müssen. Aber wenn wir uns dem auch nur eingeschränkt nähern können, erscheint es doch als wesentlich, überhaupt das Bild einer vollen Menschlichkeit und Reife als Zielvorstellung zu haben; sie ist keine von Menschen erdachte Ideologie, sondern eine Entsprechung der großen Ordnungen des Weltsystems auf unserer menschlichen Ebene.
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