Procliana. Spätantikes Denken und seine Spuren - Werner Beierwaltes.pdf

August 13, 2017 | Author: cca223 | Category: Neoplatonism, Plato, Metaphysics, Western Philosophy, Truth
Share Embed Donate


Short Description

Download Procliana. Spätantikes Denken und seine Spuren - Werner Beierwaltes.pdf...

Description

Proclus, Expositio in Parmenidem Platonis, in der Übersetzung des Wilhelm von Mocrbckc, mit Marginalien des Nicohtus (,us/tnus, in: Codex ( Aisanus I lospitalis S. Nicolai, fol. iZ5' (in Parm. 1167,:.If ( lousin; -j ^ 7 , i1 Steel; Marg. SSS; SS^; SS7 Boimann |vgl. unten S. io.|s|). l’oto: 1 laus Neusius. St. Nikolaus I Inspital, Berukastel Kues.

W ERNER BEIERWALTES PROCLIANA

W E R N E R BE IE R W A LT ES

PROCLIANA S P Ä T A N T IK E S D E N K E N U N D S E IN E S P U R E N

V I T T O R I O KLOS I T R M A N N

I R A N K I U R T AM MA I N

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:lldnb.d-nb.de abrufbar.

© Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main · 2007 Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten. G e d r u c k t a u f a l t e r u n g s b e s t ä n d i g e m P a p ie r M I S O ,,/0h S a tz : p o s t s c r i p t u m , E m m e n d i n g c n / 1 Im t c r z a r t c n D ru ck : W ilhelm & A d a m , 1 Icu scn stam m P r in te d in C ¡ c r m a i i y ISBN

9 7 K - l - 4 f i S (>H H H

IN R E C O R D A T IO N E M EV A E C O N IU G IS D IL E C T I S S IM A E

IN H A L T

Unius desiderium et indeficiens d)6iι 7 & πάντων των εξω

άφεμένην [ψυχήν] δει έπιστραφήναι πρός τό εϊσω πάντη. 23 V 8,ιι,ΐ2. I 6,8,3 ff. 9 *7 ff· 24 V 8,11,11: δραμών δέ εις τό εϊσω εχει παν. 2 69 e 6 fl. Phaidros /.. B. 249 c 5 H. 250a-c 6. 251 af. Ch. Riedweg, MysterienterminoInpjc bei Platon, Philon und Klemens von Alexandrien, Berlin 1987. ' Phaidon 69 c 7. Phaidros 247 eil. Vp,l./. B. I 6,5,19(1. I 2,s,4fl. III 6,s, 1 ilf*(mit besonderem Bliik auf Platons Phaidon). V Ι.Ι0.Λ4 II. V 1,9.2 ff.

40

Das Eine als Norm des Lebens

und Bedrängnissen durch Angst und Furcht (φόβος) und Leid sollte der Mensch im Status des Gereinigt-Seins standhalten können39. Katharsis als entschlossene Umwendung in den „inneren Menschen“40, als begreifender Übergang aus dem Unklaren, Dunklen in die Klarheit und Lichtheit des Noetischen, als Entdecken des „beseelten Goldes“ (χρυσός έμψυχος) der inneren „Standbilder“ (αγάλματα), wenn sie durch Reflexivität und durch Realisierung der Tugenden41 von dem „Rost“ und dem „Erd­ haften“ befreit sind, die als etwas, was im „Fall“ der Seele ihr „hinzukam“ , deren ursprünglichen Glanz verdeckten42, - all dies ist als Befreiung, als „motion libératrice“ 43 in die wahre Freiheit eines seinen Grund denkend erfassenden und aus ihm lebenden Lebens zu verstehen. Dadurch also, daß die Seele sich den πάθη durch beständige Steigerung ihres ethischen Ver­ haltens zum Guten hin entzieht, sich von den unkontrollierten Begierden „isoliert“ (μονωθεισα), d. h. von ihnen sich frei macht44, erreicht sie einen neuen Stand durch „Erkenntnis des Besten“ und in ihr und durch sie ein „Bewußtsein“ oder die Erkenntnis „ihrer selbst“45, die zugleich intensivste Verwirklichung von Leben ist. Reinigung also ist zu begreifen als Aphairesis in einem die gesamte Tä­ tigkeit des Menschen umfassenden und bewegenden Sinne: Wegnehmen „alles Fremden“, dessen also, was seinem geläuterten Sein widerspricht und seine Selbstentfaltung auf das Eine/Gute hin stört, zugleich Hinkehr zum genuin Eigenen: το κεκάρθαι άφαίρεσις άλλοτρίου παντός46.

39 Vgl. I 2,5. - Gerade in seinem Traktat „Uber Glückseligkeit“ (I 4 [46]) insistiert Plo­ tin im Stile eines rigorosen Stoizimus derart auf der Unerschütterbarkeit der Seele, daß eine Sympatheia des Menschen mit dem Leid des Anderen kaum denkbar scheint (z. B. I 4,8,2ff; 13). Derart harte Züge eines auf sich selbst konzentrierten und damit sich von Anderen ab­ schottenden Ichs sind nicht eine notwendige Konsequenz seiner Theorie; sie werden durch philanthropische Momente seines von Grund auf protreptischen Denkens und durch offen­ sichtliche Charakterzüge seiner Person gemildert oder ausgeglichen. Vgl. Porphyrios, Vita Plotini 8,19. 9,5 ff; 18 ff. 12,3 fr. 13,8. - K. Alt, Das Mitleid der Götter und der Philosophen, in: Hyperboreus. Studia Classica 9, 2003, 213-233; Plotin: 228 f. 40 V 1,10,10: ό εϊσω άνθρωπος (vgl. Platon, Politeia 589 a 7 - b 1). 41 I 2,4,iff. Tugend als κάθαρσις: I 6,6,iff. 42 IV 7,10,27fr. 47 . 1 6,5,31fr. 43 So Jean Trouillard in seinem für diesen Problembereich maßgebenden Buch „La pu­ rification plotinienne“ , Paris 1955, noff. 44 I 2,5,7fr; 22. ï 6,5,50fr. III 6,5,1; 22. VI 8,15,13. IV 7,10,41; 44. 46 I 1,4,6.

Das Eine als Norm des Lebens

41

Dem Denken Plotins und dem des Neuplatonismus überhaupt wird oft und pauschal der Vorwurf gemacht, es verachte den Leib, sei grundsätzlich leibfeindlich. Gerne nimmt man für dieses abdrängende Verdikt u. a. die Aussage in Anspruch, die Porphyrios in seiner ,Vita Plotinic Plotin selbst zugeschrieben hat: „Plotin ... war von der Art, daß er sich schämte, in ei­ nem Leibe zu sein“ 47. Aus diesem Grunde habe er auch nichts über seine Herkunft, seine Eltern oder seine Heimat berichten wollen; zudem habe er es aus demselben Grunde nicht zugelassen, daß ein Maler oder Bildhauer ein Portrait von ihm mache und er so von sich ein Abbild eines Abbildes hinterlasse, „als ob dieses zu den sehenswerten Werken zu rechnen sei“ 48. Die Erörterung des Sinnes von Katharsis hat sicher deutlich gemacht, daß Plotin in seiner Forderung nach Unter- und Abscheidung oder Tren­ nung (χωριζειν, χωρισμός) vom Leibe keine grob „räumliche“ (ού τόπω)49 meinen kann, oder daß er in eine radikale Negation alles Materiellen und Körperhaften nicht auch den menschlichen Leib ohne Einschränkung ein­ schlösse. Intendiert ist in ,Abscheidung und Trennung vom Leibe‘ aller­ dings eine Veränderung des Bewußtseins von Grund auf, die die skizzierte Einstellung zum Leibe und seine im Blick auf das Lebens^zV/„realistische“ Einschätzung wesentlich mitprägt. Freilich ist von einem überzeugten Platoniker wie Plotin keine Apotheose des Leibes zu erwarten, es folgt für ihn von seinen philosophischen Voraussetzungen her aber auch nicht, daß er den Leib vernichtend-feindselig verachten müsse50. Bei aller Intensität der plotinischen Denkbewegung aus der Dimension des Vielheitlichen und Sinnlichen heraus in das Intelligible, „Einfache“ und Eine als ihrem Ziel, muß der Leib als Anfang eben dieser Bewegung angenommen werden: als Fundament und Organon der sinnlichen Wahrnehmung (αισθησις, φαντασία51), und damit als notwendige Voraussetzung für die Möglichkeit des Begreifens in der Seele, um ein begründetes Urteil über das sinnlich ( iegebene bilden zu können, die „dunklen“ , noch ungeklärten Denkakte 47 Porphyrius, Vita Plotini 1,1 f. ,H Ebd. 1,9. 4,) V 1,10 , 24 ff*. I 2,5,4fr. III 6,5,13fr; 6,71 Γ: das wahre Erwachen der Seele ist Auferstehung vom I .eib heraus, nicht mit ihm: ή ö' αληθινή έγρήγορσις αληθινή από σώματος, ού μετά οώματος, άνάστασις (gegen die christliche Überzeugung von der Auferstehung des Leibes |odcr mit ihm] gesagt?). Zu χώ ριζαν vgl. R. Arnou, Le desir (wie Anm. 6) 20 2f. 205. 214. >0 In einem produktiven Sinne ausgleichend /wischen diesen Extremen und aufschluß•i*u h für Plotins Einstellung im ganzen wirkt das Huch von Margaret R. Miles, Plotinus on Hody and Neauty, Oxford 1999. Vgl. hier/.u W. Hcierwahes, Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit 102!. 184fr.

42

Das Eine als Norm des Lebens

oder Gedanken (άμυδράς νοήσεις52) im Begriff zu klären. Die Fähigkeit des Leibes zur sinnlichen Wahrnehmung ist damit auch der ontologische Anfang für die Kontinuität aller Erkenntniskräfte. Nicht minder ist der Leib als die empirisch faßbare Erscheinungsbasis des intelligiblen Schönen der erste Ansatzpunkt für die Faszination des Eros durch die schöne sinn­ liche Erscheinung, um von ihr aus in die über-sinnlichen Konkretionen oder Ausformungen des Schönen „aufsteigend“ fortzuschreiten53. Diese Bewegung erfährt einen nachhaltigen Impuls aus der bereits beim Anblick des sinnenfälligen Schönen gemachten Erfahrung der Freude, des Erschrekkens, der Bezauberung, des Staunens und der Sehnsucht. Plotin hat nicht dafür plädiert, Suicid in jedem Falle als „vernünftige“ Möglichkeit einer Lösung aus den Irritationen und Bedrängnissen ins Auge zu fassen, die dem Menschen durch seinen Leib zukommen. Zwar eröffnete ein Leben ohne Leib der Seele die Chance, besser und intensiver das ihr Eigene zu wirken —sofern man die Unsterblichkeit der Seele voraussetzt; jedoch bereits die durch Tugend initiierte Bewußtseins- und Lebensver­ änderung in einem Leben im Leib eine Form der Trennung von ihm54. So kann die Entscheidung zum Suicid nur in einer für das Lebensziel extrem bedrohlichen Situation eine tolerable Option sein: wenn keinerlei Aus­ sicht auf Verwirklichung der ,eudaimonia‘ durch weitere ethische Selbst­ entfaltung mehr besteht, wenn die Verstrickung in den Leib den Weg zum „wahren Selbst“ abschneidet, wenn sie eine Identität mit ihm systematisch und daher ausweglos verhindert. Plotin findet für dieses Extrem die impli­ kationsreiche Analogie zum „Leierspieler“ : er sorgt für sein Instrument, so lange dieses ein Spiel auf ihm möglich sein läßt, sein Singen sollte mit sei­ nem Spiel auf seinem Instrument in Einklang stehen können - und „er hat oft auf ihm gespielt“ , denn es war ihm „nicht umsonst gegeben“ —, wenn sie aber ein gut gelingendes Spiel verweigert, legt er die Leier beiseite und läßt das Spiel auf ihr; er verfolgt dann eine andere Tätigkeit „ohne Leier“ , „er singt [weiter] ohne Instrument“ , αδων ανευ οργάνων55. Suicid ist aus 52 V I 7,7,29-31 - im Gegensatz zu den εναργείς αίσϋήσεις im Bereich noetischen Begreifens. 53 W. Beierwaltes, Ficinos Theorie des Schönen 21 ff. 54 I 7 [541,3,19-22. Dies ist sozusagen Plotins geschriebenes „letztes Wort“ in seinem lebensgeschichtlich letzten Traktat. I 4,16,23-29. Hierzu J. M. Dillon, Singing without an Instrument: Plotinus on Suicide (1994), in: Ders., Ihe (ireat Tradition, l'urther Studies in the Development ofPlatonism and I.arly ( !hi istianity, Variorum C'ollectcd Studies Scries, Ashgatc 1997, X III.

Das Eine als Norm des Lebens

43

dieser extremen Situation heraus gedacht eine legitime Befreiung in die intelligible Welt, in der für die Vollendung oder zeit-freie Vollendetheit der Lebensbewegung kein Widerpart - άντιτυπον 56 - denkbar ist. Eine jedem zu jeder Zeit zustehende Normallösung kann er freilich nicht sein. Von daher ist der Mensch ganz entschieden auf die Arbeit an ihm selbst zurück­ verwiesen: „sein Bild [in ihm] zu bauen“ - τεκταίνων τό σόν άγαλμα - 57, um trotz aller Störungen und Beschränkungen von außen, sie soweit als möglich überwindend, sich in sein „wahres Selbst“ zu transformieren und im Bewußt-Haben dessen zu leben.

Umformung in das wahre Selbst 3. Erhebung oder Umformung aller genuinen seelischen Kräfte in das wahre Selbst ist im Sinne Plotins die eigentliche Weise der Selbsterkennt­ nis: nicht die Tätigkeit des diskursiven, argumentativ schlußfolgernden, die sinnlichen Erfahrungen auf den Begriff bringenden Denkens der Seele, sondern die Entdeckung und reflexive Bewahrung ihres eigenen Grundes in und über ihr, des Geistes. Dies heißt: der in der Seele - dieser unbe­ wußt - wirkende Geist muß ihr in ihrem denkenden Selbstbezug bewußt werden als der intensivste Vollzug einer in ihren „Gegenständen“, in ihrem Sein, sich selbst denkenden Einheit. Dieses Gewahrwerden des Selbstbe­ zuges reinen Denkens, der in sich einigsten Form von Denken überhaupt, begrenzt sich nicht auf bloße, folgenlose „Information“ über ein derarti­ ges Phänomen; es führt vielmehr in eine Umformung seiner selbst in das „wahre Selbst“ : die menschliche Seele wird durch ihre eigene Tätigkeit der denkenden Selbstzuwendung dasjenige, was sie in ihrem Grunde immer schon is t- Geist (νοωθηναι). Dieses Geist-Werden ist zugleich eine Steige­ rung und Intensivierung der eigenen Momente von Einheit, der im Geist sich zeigenden Spuren des Einen selbst. Nur diese innere Erhebung in das zeit-freie Einungs- oder Identifikationsgeschehen des sich selbst denkenden ( ieistes ist als die eigentliche Weise der Selbsterkenntnis oder der Erkennt11 is des wahren Selbst des Menschen zu verstehen. Im Blick auf die Überzeugung Plotins, daß Theoria das durch die Tu­ gend geformte Handeln des Menschen begründe und leite, ist der innere v* V v

I 6 ,9,1

Bezug zu Platon, Pliaidms

ιγ ;

il

7.

44

Das Eine als Norm des Lebens

Selbstüberstieg des Denkens in den zeit-freien, absoluten Nus und in die darin sich vollziehende Selbsterkenntnis im eigentlichen Sinne ein maß­ gebender Impuls für ein bewußt auf das Eine oder Gute selbst gerichtetes Leben58. 4. Der übergreifende Denk- und Handlungshorizont dieser Lebensbewe­ gung nach innen und oben —über die unmittelbare zeithafte Existenz in ihr selbst hinaus —zeigt sich in der platonischen Anweisung, der Mensch müsse dem Gott ähnlich werden. Nicht in einem „Exkurs“ , wie manche meinen, sondern im philosophi­ schen Zentrum des wesentlich der Frage nach der Gewißheit und Sicher­ heit von Erkenntnis gewidmeten Dialogs ,Theaitetos£ hebt Platon em­ phatisch als philosophisches Lebensziel heraus (176 b): „Anähnlichung an Gott [oder „Gott Ähnlich-Werden“], so weit es [dem Menschen] möglich ist. Anähnlichung aber heißt: gerecht und fromm zu werden, verbunden mit Einsicht“ 59. Die Möglichkeit, diesem Imperativ zu folgen, gründet in der Strukturanalogie zwischen der im Kosmos wirksamen und in seinem Bewegt-Sein sich zeigenden Ordnung, die durch das Gute selbst und das durch den Demiurgen in der Weltseele gesetzte göttliche Maß bestimmt ist, und der Bewegung der menschlichen Seele in ihrer höchsten Form der Vernunft. Die Seele soll durch begreifende Einsicht in die kosmische Ordnung und in der Erfahrung ihrer eigenen Vernünftigkeit eben diese Analogie in sich selbst als einem Bild der Ideen und von deren Grund rea­ lisieren. Diese Einsicht ist eine unmittelbar praktische. „Unsterbliches und 58 Diesen Problemkreis habe ich ausführlich analysiert in meinem Buch zu Plotins Enneade V 3 - „Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit“ - und in „Das wahre Selbst“, besonders 84-122; 187-195. 59 Für Platon weiter: Politeia 500 c 9 f. 613 b 1. Phaidros 248 a 2. 253 a 4f. Timaios 90 a 6 f; c 1: φρονεΐν μέν ά Μ να τα και θεία . d 4^ έξομοιώσαι κατά τη ν άρχαίαν φύσιν. H. Merki, Όμοίωσις θεω. Von der platonischen Angleichung an Gott zur Gottähnlichkeit bei Gregor von Nyssa, Freiburg (Schw.) 1952. F. M. Schroeder, Form and Transformation. A Study in the Philosophy of Plotinus, Montreal/Kingston 1992, 92 fr. M. Hoffmann, Die Entstehung von Ordnung. Zur Bestimmung von Sein, Erkennen und Handeln in der spä­ teren Philosophie Platons, Stuttgart 1996, 303-306. - Die Stellen, an denen Platin Iheaitetos 176 b zitiert, vgl. Plotini Opera (ed. Henry Schwyzer) III 455; I 6,6,20 z. B. ohne den Zusatz „soweit es |dcm Menschen] möglich ist“ , II 9,9 >33 ^: Ψυχή θεοΰ * νωΟήναι Οέλουσα, ώσπερ παρθένος καλοΰ [καλή?] πατρός καλόν έρωτα. W. Beierw.iltcs, Denken des Kincn 323. 325. 330. 378. 'n II 9,17,47. gcrniiK Platons Politikos 273 d 6f: ...τ ό ν τής άνομοιότητος άπειρον οντα πόνπμ'. . .: τής άνομοιότητος τυχυς: Plotin I H,n,i6f. Vgl. Λιιμ. ('onf. VII 10,16: regio dissimtltludinis.

54

Das Eine als Norm des Lebens

pher97 gefaßt: Befreiung aus den für den Zauber der Sinnlichkeit stehen­ den Verwandlungs- und Verführungskünsten Kirkes98 und den Fesseln der Kalypso und damit Freiheit für die Rückkehr in den „mystischen Hafen“ (ορμος μυστικός99) des Ursprungs, des Letzten und Ersten zugleich. Aus der Überzeugung, daß das Böse nicht unter den Göttern wirksam sein könne, sondern „notwendig in der sterblichen Natur und an die­ sem Ort sich herumtreibe“ , müsse man, um sich von ihm zu befreien, „versuchen, von hier nach dorthin möglichst schnell zu fliehen“ 100; diese „Flucht“ sei eben „Anähnlichung an Gott“ in dem beschriebenen Sinne. Plotin, dem die Polis-Orientiertheit platonischen Denkens bewußt sein mußte, versteht den Sinn dieser Anweisung nicht als Imperativ zum Ver­ lassen der sozialen Umwelt oder der Welt überhaupt, sondern als Imperativ zur ethischen Transformation des Menschen und damit auch seiner Ein­ stellung zur Welt als ganzer. So erläutert er den genuin platonischen Sinn der Homoiosis so101: „Als Flucht bezeichnet er [Platon] nicht das Fortge­ hen von der Erde, sondern noch a u f Erden weilend gerecht und fromm zu sein, mit Einsicht verbunden; was er meint, ist also: man soll das Böse flie­ hen, das Böse besteht für ihn demnach in der Bosheit [als einer ethischen Fehlhaltung] und in Allem, was aus ihr folgt“ . Eine radikale Änderung der Einstellung des Bewußtseins gegenüber der Welt schließt also ein engagiertes Wirken in ihr nicht unbedingt aus; das Resultat der Kehre sollte ein Leben sein, das Verhältnisse der „Unähn­

97 I 6,8,18 ff. W. Beierwaltes, Denken des Einen 116. - Nach Augustinus (De civ. Dei IX 17, H-S ad locum) zitiert diese Plotin-Stelle, mit Christlichem verbunden, Pico della Mirandola, De ente et uno X (440 Garin): Fugiamus hinc ergo, idest a mundo quipositus est in maligno [1 Joh. 5,19], evolemus ad Patrem, ubi pax unifica, ubi lux verissima, ubi vo-

luptas optima. 98 Für Kirke anders: Proclus, in Crat. 22,11 ff. 99 in Parm. 1015,41.1025,32-37: μόνη δε ή κατά νοΰν ζωή τό άπλανές εχει, καί οΰτος ό μυστικός ορμος τής ψυχής, εις δν καί ή ποίησις άγει τον Όδυσσέα μετά την πολλήν πλάνην τής ζωής, καί ημείς, έάν άρα σώζεσθαι Οέλωμεν, μάλλον έαυτούς άνάξομεν. 1171,6. Theol. Plat. I 25; 111,6.25. IV 21; 64,24: ορμος πατρικός, in Tim. I 302,23-25: ούτος γάρ έστιν ό πατρικός ορμος, ή εΰρεσις του πατρός, ή πρός αυτόν άχραντος ενωσις. in Crat. 113,2. 100 Theait. 176 a 6 ff. Vgl. Anm. 59. 101 I 8,6,roff. Diese Flucht muß man nicht „mit den Füßen“ auskihren, für sie braucht man kein Fahrzeug zu Lande oder auf dem Meer, man muß vielmehr ein anderes Gesicht in sich erwecken: όψιν άλλην άνεγειραι (1 6,8,22(1) - Veränderung der „Sicht“ als Trans­ formation des Bewußtseins.

Das Eine als Norm des Lebens

55

lichkeit“ an „diesem Ort“ zumindest in jedem Einzelnen zugunsten einer wachsenden Ähnlichkeit mit dessen Herkunft verringern könnte. —Das Bild vom plotinischen σπουδαίος - dem besonnenen Weisen - als einem Sokrates und Platon strikt widersprechenden ¿/«politischen ist inzwischen v. a. durch Dominic J. O ’Meara mit bedenkenswerten Gründen modifiziert worden, ohne daß er durch den angemesseneren Blick auf ihn zu einem ,homo politicus£ mit Hoffnung auf den „Philosophen-König“ hätte avan­ cieren können102. Freilich kann weder der Bereich des Politischen noch die soziale Dimension als Feld der Praxis im Sinne Plotins der primäre oder auch nur ein herausgehobener Bezugspunkt genuin philosophischen In­ teresses sein. Dafür sitzt die Überzeugung vom entschieden höheren Wert der auf das Innere konzentrierten Theoria oder Betrachtung gegenüber der auf’s Äußere oder Äußerliche bezogenen Praxis (d. h. Handlung oder Tätigkeit für den Bereich der sinnenfälligen Welt) viel zu tief. „Auch die Menschen machen sich [wie die Natur] ans Handeln, als einen Schatten der Betrachtung und der Vernunft, wenn sie zum Betrachten zu wenig Kraft haben“ 103 - Handeln oder Tätig-Sein in umfassendem Sinne als Sur­

102 D. J. O ’Meara, Conceptions néoplatoniciennes du philosophe-roi, in: Images de Platon et Lectures de ses Œuvres, ed. A. Neschke-Hentschke, Louvain-Paris 1997, 35-50. Ders., Platonopolis. Platonic Political Philosophy in Late Antiquity, Oxford 2003. R. Har­ der, Zur Biographie Plotins, in: Kleine Schriften, München i960, 282-286. A. Smith, The significance of practical ethics for Plotinus, in: Traditions o f Platonism, Essays in Honour of John Dillon, ed. by J. J. Cleary, Ashgate 1999, 227-236; hier: 232 und 234. - Im Unterschied zu dieser Forschungstendenz sieht John Dillon zwar Plotins persönliches ethisches Verhalten als „admirable courtesy, considerateness, and public spiritedness“ , stellt aber Plotins „ethii al system“ als „uncompromisingly self-centered and otherwordly“ anhand von in diese Richtung einschlägigen Texten dar: „An ethic for the late antique sage“ , in: L. P. Gerson (ed.), The Cambridge Companion to Plotinus, Cambridge 1996, 315-335; hier 332 und 331. C'lemens Zintzen hat in aufschlußreicher Weise herausgestellt, wie Macrobius sich von der restriktiven Haltung Plotins gegenüber politischer Tugend und Tätigkeit, durch römische I Jberzeugungen und Interessen geleitet, (ohne Plotin zu schmähen) abwendet und in Aus­ einandersetzung mit der neuplatonischen Einschätzung des Politischen die These vertritt: ... et politicis \scil. virtutibus] efficiuntur beati (Com. in Somnium Scipionis I 8,12): „Römis«. lies und Neuplatonisches bei Macrobius (Bemerkungen zur πολιτική άρετή im Comm. in S o m n i u m Scipionis. I 8)“ , in: Palingenesia IV, Wiesbaden 1969, 357-376. In der Diskussion um einen „politischen“ Plot in bleibt zu bedenken, daß die in der κάΟαροις und όμοίωσις geforderte Wendung nach innen (z. B. in dem Tugendtraktat 1 2,6,25) über jede „politische lugend“ und deren konkret geschichtliche Umsetzung hinausgeht (I 2,7,21 ft). Zur Figur des ,Spudaios‘: Λ. Schnicwind, IT ’thicjue du Sage che/ Plotin, Paris 2003. HM III

56

Das Eine als Norm des Lebens

rogat einer Unfähigkeit des Menschen, den intendierten Gegenstand der Betrachtung mit dem Geist zu erfassen und sich bewußt zu halten —sie wollen ihn „mit den Augen sehen“ und haben so den Bereich des Intelligiblen, nur im Begriff Erschließbaren, aus Zwang mit der Sinnlichkeit vertauscht. Gegen eine systematische Verleumdung der Welt, wie sie die ihm be­ kannten Gnostiker betrieben, hat Plotin deren sinnvolle, durch Vernunft bestimmte und durch innere und erscheinende Schönheit geordnete Struk­ tur eindringlich verteidigt. Daraus wird der Grundgedanke Plotins plau­ sibel, daß sie als Bild, Spur und Ausfluß104 des Einen und des demiurgischen Geistes und damit als verweisender Ansatzpunkt für den Rückgang in ihren intelligiblen Grund, in dessen Gestaltgefüge, Relationalität und Schönheit, zu begreifen ist. Die Reflexion auf die Struktur der Welt wird zu einem Impuls für Eros, die Seele in ihrem inneren Aufstieg voranzubringen. Wenn wir im Gesamtkonzept der Homoiosis anfänglich auch die WeltSeele nachahmen sollen, dann auch deren bestimmende, formende Präsenz in der Welt105, die in Verachtung und Flucht gerade negiert würde. Dies heißt auch: aus der Bewußtseinsänderung heraus sollte der Mensch seinen Aufgaben im „Hiesigen“ nicht ausweichen, sondern sie „mit der höchst­ möglichen Freiheit des Geistes annehmen“ —so formuliert Jean Trouillard die plotinische Intention106. Die Wendung ins Innere - dies hat sich deutlich gezeigt - entspricht weder einer grundsätzlichen Gleichgültigkeit gegenüber der Welt oder gar Verachtung und Flucht vor ihr, weil in ihr das Böse sein verlockendes Un-Wesen triebe; noch entspringt sie einem egoistischen oder egomanen Sichabkapseln in ihr selbst und damit auch in jeder und für jede Art von Gemeinschaft, die sich in der Welt natürlicherweise bildet. Sie ist eher zu verstehen als eine „Abwehr gegen eine zur Selbstaufgabe führende Identifi­ kation mit der Welt, gegen ein Sichverfangen in deren Vielheitsstrukturen und damit gegen ein permanentes Weggeführt-Werden von dem eigentli­ chen Ziel dieser Bewegung, dem Einen selbst“ 107. Moderates Engagement in der Welt, begrenzte Zustimmung zur Welt kann auch im „Rückblick“ darauf nicht als absolut sinnlos getadelt werden, wenn das Erreichen des

104 VI 7,22,8: απορροή. ,()·* III 2,2,41 f. III 4,4,4ff. ,0ft I.a purification plotinienne (wie Anm. 6) 206. lo; S o habe ich di ese s V e r h a l te n in „ D e n k e n de s L i n e n “ 25 f o r m u l i e r t .

Das Eine als Norm des Lebens

57

Zieles in der Henosis als Resultat einer befreienden „Flucht“ , die dem Ex­ trem der Selbst-Einung und der Einung mit dem Einen gleichkommt, ge­ dacht und gefordert wird. „Flucht des Einsamen zum Einsamen“ - φυγή μόνου πρός μόνον108 - die „Flucht“ des einsam, weil Eins mit sich selbst Gewordenen, ist Ausdruck der totalen Aphairesis, der radikalen Gelas­ senheit, die um der Einung mit dem Einen selbst willen alles Nicht-Eine gelassen haben muß. Φυγή μόνου αιρός μόνον meint also das Ledig- oder Frei-Geworden-Sein fü r das Eine, welches selbst das in Wahrheit Freie109 ist. Maß-Nehmen am Maß des göttlichen Einen also, ihm gemäß zu den­ ken und zu leben, ist im einzigen Sinne des Wortes Leben in Freiheit.

Additamentum zu Theurgie Die folgenden Bemerkungen betreffen den in der Neuplatonismus-Forschung jüngst unternommenen Versuch, auch Plotin unter Theurgie und Magie zu rubrizieren. Was für Iamblich und Proklos klarerweise angenom- i men werden kann, hat für Plotin keine Evidenz, auch dann nicht, wenn man ihm eine Theurgie „von innen“ anmutet. Ich beziehe mich auf zwei Aufsätze von Zeke M azur über Unio Magica: Part I: On the Magical Origins o f Plotinus’ Mysticism, in: Dionysius 21, 2003, 23-52, und Unio Magica: Part II: Plotinus, Theurgy, and the Quest ion of Ritual, in: Dionysius 22, 2004, 29-56 (im Folgenden abgekürzt: I und II). Zeke Mazur vertritt darin gegen eine in der Plotin-Forschung vorherr­ schende Auffassung emphatisch die These, daß Plotins Mystik in Magie und Theurgie ihren Ursprung habe und daraus auch wesentlich ihren Sinn erhalte. Es bestünden - so Mazur - „strukturelle Ähnlichkeiten“ oder gar „structural unity“ zwischen Plotins Konzept der mystischen Einung mit dem Einen {Henosis) und der Praxis einer magischen oder/und theurgisehen „Verbindung“ mit der Gottheit (I 41. 44). Seinen „Mystizismus“ 108 VI 9,11,51. Zu Numenios Frg.2 (des Places [11 Leemans]): ... οΰτως δ εΐτιν α άπελΟόντα πόρρο) από των αισθητών όμιλήσαι τφ άγαΟω μόνω μόνον, siehe E. R. Dodds, Νιιinenius and Amtnonius, in: Sources de Plotin, Fondation Hardt, Entretiens V, Vandoeuvres( irneve i960, 16 iK. μόνος im Sinne von „frei-sein“ : III 1,10,11. - Proclus, in Tim. I 212,24: , Vvti μ ό ν ο ς τ ι ς τ φ t)r(j> μόν

I )ic p l a t o n i s c h e F o r m e l , aus a n d e r e m Z u s a m m e n h a n g

M a m m c n d , ist i m m e r h i n e r i n n e r n s w e r t : μ ό ν ο ς μόνη» | σ υ γ γ ί γ ν Γ σ ί ) α ι | : S y m p . 2 1 7 b 3 f. μ ό ν ο ν t o O t o < ϊ λ ΐ ) 0 ι ( ;s l. f.

yS

Das ,Systematische* in der Philosophie des Proklos

anfangenden „Großen Alkibiades“ schließt den Blick auf das „epoptische“ Ziel der Philosophie, die Einung mit dem Einen, bereits in sich38. Von dem jeweiligen spezifischen Schwerpunkt der Auslegung einmal abgesehen macht also die thematische Verwobenheit der Kommentare den System­ charakter des proklischen Denkens deutlich. Die verlorenen Kommentare und Kommentar-Teile könnten diesen Befund sicherlich noch befestigen und differenzieren. Die Universalität des philosophischen und theologischen Anspruchs zeigt sich - ich erinnere noch einmal das Angedeutete - nicht zuletzt in der intensiven Auseinandersetzung mit mathematischen, kosmologischen und speziell astronomischen Fragestellungen39, vor allem aber in dem entschiedenen Einbezug der allgemeinen religiösen Überlieferung. Diese, insbesondere in der Form der Chaldäischen Orakel und der Orphica, ist für Proklos, den „Hierophanten des gesamten Kosmos“ 40, in eminentem Maße philosophie-fähig, nicht minder die Dichtung Homers und Hesiods als der Zeugen einer philosophischen Mythologie und die eigene HymnenDichtung als Realisierung des „entheastischen“ Moments von Dichtung. Auch sie ist von den philosophisch-systematischen Grundgedanken her interpretierbar. 2. Die Frage nach einem proklischen „System“ lenkt den Blick insbeson­ dere auf den Zusammenhang des Gedachten in diesem Denken und auf dessen Begründung41. Grundlegend für den Zusammenhang des Ganzen der Wirklichkeit und des ihr entsprechenden Denkens ist das Eine selbst als universales, in den verschiedenen Bereichen je verschieden erscheinendes und wirksames Prinzip. Es muß als konstitutiver, bewahrender und rück­ führender Grund des vielheitlichen Seins (auch der Materie) und des Den­ kens zugleich begriffen werden —als Ausgangs- und Zielpunkt der durch es

38 in Ale. 245 ff. 39 Vgl. das „Schriftenverzeichnis“ des Proklos bei Beutler, Proklos (RE) Nr. 24; 25; 28; 29; 30 (Nikomachos) ; 31-35 (u.a. Ptolemaios). 40 Marinus, Vita Procli 19 (Procli Philosophi Platonici Opera inedita, ed. V. Cousin, Paris 1864, 36,5. Ed. Saffrey - Segonds - Luna, Paris 2001, 23,30). 41 Für das Folgende verweise ich auf meinen eigenen Versuch, das „System“ des Pro­ klos vor allem aus den drei Aspekten „Trias-Kreis-Dialektik“ heraus darzustellen, die die Gesamtintention dieser Philosophie deutlich machen können: Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik. Weiteres zu Proklos in: Identität und Differenz, 36ff. Denken des Einen, vor allem 155ff. 201-211. 226. 318. Oben S. I5> Anm. 12 und 13.

Das ,Systematische4in der Philosophie des Proklos

79

selbst ermöglichten Bewegung. Aufgrund seiner umfassenden Universali­ tät, seiner differenzierenden und einenden Wirkung ist das Eine auch die Maßgabe für eine durchgängige Verknüpfung der philosophischen Gegen­ stände und damit auch der Grund des Systems, das in Sätzen erscheint. — Insofern das Eine mit der αρχή άνυπόθετος der platonischen „Politeia“ gleichzusetzen ist42, Philosophie aber nichts anderes sein kann als die Be­ mühung, eben diesen Grund und Ursprung denkend einzuholen oder seine Un-Denkbarkeit einzusehen, ist sie selbst, sich auf eben dieses voraussetzungs-freie Prinzip gründend, eine in ihrem Wesen und ihrer Funktion voraussetzungs-freie Wissenschaft, die die Wirksamkeit oder Entfaltung des Einen Prinzips ins Mannigfaltige und des letzteren Rückkehr nach­ zuvollziehen hat. „Zusammenhang“ des Ganzen —der Objektbereich von Philosophie —ist so, logisch und ontologisch, als die aus dem Einen sich entfaltende Relationalität zu verstehen, die in je verschiedener Weise und Intensität das Viele in (sich voneinander unterscheidende) Einheiten zu­ sammenführt und diese zugleich zu einem Ganzen oder zu einem „Einen“ aus dem Vielen fügt. Die Relationalität ist inhaltlich als eine kausale be­ stimmt, so daß die Entfaltung aus dem Einen primär unter diesem Aspekt zu sehen ist. Durch das Verhältnis von Ursache zu Verursachtem entsteht Unterschied, Differenz, Distinktion, aber zugleich auch eine Rückbindung des Verursachten, welche die Differenz durch Ähnlichkeit und durch das „Band“ der Analogie in gewisser Weise zu einer Einheit aufhebt. Dieses bipolare Verhältnis ist bei Proklos in den subordinativ zueinander stehen­ den „Stufen“ des Seins insgesamt je verschieden ausgeprägt, beherrscht aber auch das Ganze, indem selbst die äußerste Entfaltung in den Anfang zurückgekehrt bleibt. Παν γάρ έξ ένός έστι και εμπαλιν εις εν43. Vom As­ pekt der Bewegung her gesehen vollzieht die kausale Relation je verschie­ dene Kreise und läßt auch das Ganze als einen - hegelisch gesagt - „Kreis von Kreisen“ erscheinen. Für den Systemcharakter konstitutiv ist die da­ mit angedeutete Grundgesetzlichkeit von Denken und Sein: „VerharrenHervorgang-Rückkehr“ , eine Bewegung, die sich auf jeder Stufe ereignet und ebensosehr das Ganze zusammenhält. Das in sich differenzierte Sein des Ganzen kann aufgrund der rückführenden Kausalität oder Analogie, durch die jede Dimension mit jeder vorangehenden und folgenden ver-

(

Λ1 in Ι λ κ Ί. 7 5 , y : μ ί α γ ά ρ ή «νυπόΟιτος (seil. ά ρ χ ή ) . Zur Identität des Hinen mit dem iuten und dem vorausset/.ungslosen Ursprung: in Krmp. i i H j , u f f . 2 9 2 , 5 ff. *' „ A l le s ist au s d e m K i n c n u n d g eh t w i e d e r ins K i n c " : in l i m . I ¿ 0 6 , ü f .

8o

Das ,Systematische4in der Philosophie des Proklos

mittelt ist, als ein System gedacht werden, in dem Identität in oder trotz der Differenz und Subordination vorherrscht und Relationalität als in sich dynamische durch die Grundgesetzlichkeit von „Verharren-HervorgangRückkehr“ bestimmt ist - das also, was ich ein „dynamisches Identitätssy­ stem“ genannt habe. So gedachte, in sich bewegte und in dieser Bewegung durchaus „ständige“ Identität kann schwerlich mit der zurecht verrufenen leeren, tautologischen, rein formalen, „leblosen“ und starren Identität gleichgesetzt werden. Proklos5 Intention, die von Plotin her über Porphyrios, Iamblich, Plutarch und Syrian überkommene Theorie des Seins und des Einen in sich zu differenzieren und auszufalten, führte ihn zu einer begrifflichen Inten­ sivierung des Zusammenhangs der Wirklichkeit im ganzen und damit zu einer Erweiterung und Verdichtung der einzelnen Dimensionen zueinan­ der. Deshalb ist für ihn das Konzept einer vielfältig wirksamen, aktiven Vermittlung zentral. In ihm versucht er, den Zusammenhang durch eine Verringerung der Differenz von Stufe zu Stufe einsichtig zu machen. Die Einführung von vermittelnden Wesenheiten, beginnend mit den Henaden als der vermittelnden Instanz zwischen der reinen Einheit und der VielEinheit, steht sozusagen im Dienst einer ,Kunst des kleinsten Übergangs4. Damit hängt auch zusammen, daß die Entfaltung aus dem Einen nicht nur „horizontal“ , sondern - im Sinne eines Retardierenden Moments4 auch „vertikal“ gedacht werden muß44, so daß die Erweiterung durch Ver­ dichtung kompensiert wird. Die emphatisch geübte ,Kunst des kleinsten Übergangs4entspricht der Absicht, das jeweils intensivere Eins-Sein in der Entfaltung ins Viele immer noch und „so lange wie möglich“ festzuhalten und dadurch die produktive und bewahrende Kraft des Einen eindringlich zu dokumentieren. Sie birgt allerdings auch die Gefahr einer Über-Subtilisierung und Über-Differenzierung in sich, die eine sachlich überzeugende Begründung für manche Dimensionen des Systems erheblich erschwert. Dynamische Identität vollzieht sich durch gegenseitiges Inne-Sein: daß z. B. das in der Ursache „verborgene“ (κρυφίως) Sein im Verursachten in einer durchaus als es selbst seienden „Existenz“ (ϋοταρξις) zur Erscheinung kommt und daß so von neuem eine aktive Möglichkeit auf weitere Ent­ faltung hin entsteht. Der Zusammenhalt dieser „ständigen“ und zugleich 44 Zum „principe sériel“ vgl. J. Trouillard, La monadologie de Proclus (wie Anm. 20) 311 f. A. Charles, Analogie et pensée sérielle chez Proclus, in: Revue Internationale de Phi­ losophie 2 1969, 69-XH (auch über die horizontale (¡liederung: K2 II).

Das ,Systematische4in der Philosophie des Proklos

81

sich fortsetzenden Bewegung ist charakterisierbar durch den proklischen Satz, der für das Ganze gilt: „Alles ist in Allem, in jedem aber auf je eigen­ tümliche Weise“ 45. Der Sinn dieses Satzes und die zuvor genannte Grundgesetzlichkeit rea­ lisieren sich ontologisch und gnoseologisch in dem Gedanken der Trias oder Dreiheit als einem durchgängigen Strukturprinzip: τό τριαδικόv άνωθεν πρόεισι μέχρι των έσχατων46. Das Triadische ist allerdings mehr als ein bloß formales Gliederungsschema; es macht vor allem47 das ge­ genseitige Inne-Sein alles Einzelnen, mit sich Identischen als eine in sich zurückkehrende Bewegung evident, die das in ihr durchgangene Differente auf je verschiedener Stufe in eine Einheit fügt. So dokumentiert Trias die vollständige Entfaltung des Einen über die Henaden und die zwei zusam­ men wirkenden Prinzipien „Grenze“ und „Grenzeloses“ in die Vielheit und stiftet zugleich als eine Gestalt der durchgängigen Kausalität den Zusam­ menhang des Ganzen. Das Eine selbst ist mit dem αύτόθεος - dem Gott-Selbst - identisch zu denken48. Daher kann das Ganze des entfalteten Seins zurecht als ein theozentrisches, als vom Göttlichen durchwirktes gedacht werden. Ein derart durch „pronoia“ —„Vorsehung“ —setzend, verbindend und bewah­ rend wirksames Prinzip ist auch die Voraussetzung für die typisch proklische „ Theologisierung“ der Wirklichkeit insgesamt. Jede Stufe des Seins innerhalb des Ganzen und jedes Element innerhalb einer Stufe ist nicht nur in einem allgemeinen Sinne ein Gott („erster“ und „zweiter“ Gott des Plotin) oder etwas Göttliches, weil das Ganze ohnehin die Entfaltung des im höchsten Sinne Göttlichen ist, sondern ein jeweils bestimmter, mit mythologischem Namen zu benennender Gott. Die Konzeption des Pro­ klos erfüllt so in einer für ihn rational nachweisbaren, den Systemort je­ weils bestimmenden Form den Satz des Thaies: θεών είναι πλήρη πάντα, nicht minder aber, da keine Stelle im All von den Göttern „unbewacht“ und das Göttliche Allem in gleicher Weise gegenwärtig ist, das von Plotin entwickelte Philosophem: das Eine sei Allem - in je verschiedener Weise 45 Elem. theol. 103; 92,13. in Tim. I 8,16 f. in Par,m. 929,6 f. Vgl. unten S. 109 ff zu Geist als Einheit im Unterschied. 46 in Parm. 1091,2^ In meinem Proklos-Buch 24-164 habe ich den systematischen As­ pekt von „Trias“ herausgearbeitet und ihn an einigen Paradigmen erprobt. 47 Über „Hebdomas“ als anderes Strukturprinzip zusammen mit „Trias“ vor allem im V. Buch der „ lheologia Platonis“ . 4H in Parm. 1096, 27 29; in l im. III 207,7!.

82

Das Systematische4in der Philosophie des Proklos

aber doch - gegenwärtig. Gerade durch die mythologische Identifikation der einzelnen Seinsbereiche wird die Mythologie in ihrer ursprünglichen Gestalt endgültig entmythologisiert, da sie sich dem philosophischen Be­ griff unterordnet; ihre ursprüngliche, Konkret-„Geschichtliches“ spiegelnde Aussage ist damit de facto zu einer Allegorie stilisiert oder auf eine für die Sache nicht unbedingt wesentliche Metapher reduziert49. Im Blick auf die Intention einer „theologischen“ Interpretation der Wirklichkeit insgesamt: einer in sich gegliederten, gemäß der Seinsintensi­ tät der einzelnen Dimensionen differenzierten Einheit, die sämtliche Mög­ lichkeiten des Göttlichen umfaßt und sie je verschieden zur Erscheinung bringt, kann gerade die proklische „ Theologia Platonis“ als die systematisie­ rende, d. h. systematisch ordnende und entfaltende „Summa“ des proklischen Denkens verstanden werden. Sie macht das Ganze in der Entfaltung ihrer Teile dergestalt durchsichtig, daß auch der letzte Punkt der Entfaltung auf ihren eigenen Anfang, das Eine selbst, zurückbezogen bleibt. 3. D ie logische und methodische Absicherung des Gedachten, die für ein System zu fordern ist, ist zumindest in wesentlichen Zügen für Proklos bereits in den Konstituentien des „Zusammenhangs“ (2.) geleistet. Eine Vergewisserung der Funktion der Dialektik könnte ein weiteres stabilisie­ rendes Moment hinzubringen50. Der System-Wille des Proklos im Blick 49 W. Beierwaltes, Denken des Einen 157 f. - Was in dieser „Entmythologisierung“ der Mythologie de facto geschieht, entspricht (wohl) nicht der Intention des Proklos: philoso­ phische Durchdringung des Mythos (und damit „Entmythologisierung“ der ursprünglichen Gestalt der Mythologie) ist - für ihn zumindest - keine Destruktion, sondern eher eine Erhebung des Mythos aus der Dimension der Phantasie in die dezidiert philosophische Re­ flexion, aus dem Bildhaften in den Begriff. Mythos wird als eine Form des Verdeckens und zugleich des Eröffnens von Wahrheit bewußt gemacht. Dieser Vorgang, der in eine „M y­ thologie der Vernunft“ mündet, scheint mir mutatis mutandis durchaus vergleichbar einer „Philosophie der Mythologie“ im Sinne Schellings, in der der Mythos und philosophische Gedanke durch den Begriff sich zu einer Gestalt des Denkens verbinden. Damit werden die Bedürfnisse der Einbildungskraft und der Phantasie in höherer Form erfüllt; Philosophie nimmt die Intention der Kunst in sich auf. - Übrigens hat Schelling selbst in seiner „Einlei­ tung in die Philosophie der Mythologie“ [Werke 1856, XI 33] bemerkt, daß die „historische“ und „naturwissenschaftliche“ Mythenerklärung der Epikuräer und Stoiker durch die Neuplatoniker abgelöst worden sei, „welche endlich eigentliche Metaphysik in der Mythologie sahen“ , allerdings nicht an einen natürlichen Ursprung der Mythologie dachten und somit wiederum nicht als wahre Erklärer des Mythos betrachtet werden könnten. 50 Vgl. hierzu meine Überlegungen zum Begriff'„Dialektik“ in: Proklos, 240-382. Für die Ausbildung des System-Gedankens durch Proklos ist der prägende Einfluß Syriens zu

Das ,Systematische4in der Philosophie des Proklos

83

auf logische und methodische Absicherung zeigt sich aber auch — für „Physik“ und „Metaphysik“ oder „Theologie“ - in der „Stoicheiosis physike“ und der „Stoicheiosis theologike“ . „Stoicheiosis“ meint nicht nur den handbuchartigen Charakter dieser Abhandlungen, sondern verweist primär auf ein bestimmtes logisches Verfahren: die Struktur der Entwick­ lung der einzelnen Propositiones („Sätze“) soll ein stringenter Beweis sein, so daß jeder Satz, der dem ersten überhaupt bewiesenen Satz folgt, als ein schon bewiesenes, begründetes und zugleich begründendes Element in den Folge-Sätzen fungieren kann. Trotz bestimmter Unterschiede zur Methode, die Euklids „Stoicheia“ prägt, besteht eine Verbindung der proklischen „Stoicheiosis“ zu ihr offenbar in dem Versuch, eine „un-hypothetische“ Wissenschaft zu entwickeln51. Ronald Hathaway52 —ich habe dies zuvor schon angedeutet - hat diesen Gedanken in einer Erörterung des eukli-

bedenken, der die „pythagoreische“ und damit die mathematische Komponente spätantiken Denkens ganz entschieden herausarbeitete und sie mit den metaphysischen und logischen Intentionen Platons und des Aristoteles eng zu verbinden wußte. Vgl. hierzu die für diesen Bereich programmatische Fribourger Antrittsvorlesung Dominic O ’Mearas „Le Problème de la Métaphysique dans l’Antiquité tardive“ , in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 33, 1986, 3-22. 51 in Eucl. 75, 9. 52 Ronald Hathaway hat im Zusammenhang von Überlegungen zum „euklidischen“ oder „nicht-euklidischen“ Charakter der „Elementatio theologica“ die Beweisstruktur dieses Werkes (allerdings nur) anhand der ersten Propositio untersucht und hat damit auch we­ sentlich zur Erhellung des proklischen „System“-Anspruchs beigetragen: The Anatomy o f a Neoplatonist Metaphysical Proof, in: The Structure o f Being. A Neoplatonic Approach, cd. R. Baine Harris, Albany 1982, 122-136; 169-174. Aufschlußreich für unseren Zusam­ menhang ist auch die Abhandlung von Leo Sweeney S. J. in demselben Sammelbande 140-155 (vgl. hierzu meine Rezension im Archiv für Geschichte der Philosophie 67, 1985, 185-211, bes. 189f), sowie J. M. P. Lowry, The Logical Principles o f Proclus X TO IX EIQ X IE W L O A O riK H as Systematic Ground o f the Cosmos, Amsterdam 1980, und G. Reale, Saggio introduttivo zu: Proclo, I Manuali. Traduzione, prefazioni, note e indici di Chiara laraggiana di Sarzana, Milano 1985, bes. S. LX III ff. - Für die Interpretation eines „ Systems“ auch und vielleicht gerade des proklischen, gilt die allgemeine Forderung, daß jede Ent­ wicklung oder Bestimmung mit der Frage nach ihrem inneren, sachlich begründungsfä­ lligen „Warum“ zu konfrontieren ist, um ebendiesen mit dem Systembegriff verbundenen Anspruch auf logisch-methodische Absicherung des Einzelnen und Ganzen nachzuprüfen. I )as Einzelne ist dabei jeweils in seiner Funktion für das Ganze zu sehen, als ein Element in der Legitimation der Konsistenz des Gedankens. Dadurch allein wird die „Notwendigkeit“ eines Ciedankens oder des Systems im Ganzen unterscheidbar von einer Pseudo-Notwendigkeit iles Eintcilcns und Gliedern*, die als reine Beliebigkeit oder Spielerei ohne Hoffnung .ml Einsicht ein System Denken a priori desavouieren müßte.

84

Das ,Systematische* in der Philosophie des Proklos

dischen und nicht-euklidischen Charakters der proklischen „Elementado theologica“ plausibel gemacht. Eine „un-hypothetische“ Wissenschaft wäre demnach ein System von Sätzen, von denen keiner unbewiesen wäre. Da­ mit aber ist für Proklos die höchstmögliche Absicherung des Einzelnen und Ganzen, des Systems von Gedanken erreicht. In ihr liegt auch der Wahr­ heitswert des Gedachten und seine mögliche Überzeugungskraft. Ein in sich begründet stehender und aus sich selbst heraus verstehbarer Gedanke oder Gedankenkomplex könnte am ehesten die Chance haben, sich gegen Unbewiesenes und Unbeweisbares durchzusetzen, sofern man sich dem, was sich selbst als begriffliches Denken versteht53, überhaupt öffnen und stellen möchte. —Mit dem Hinweis auf ein „euklidisches“ Moment im Systemdenken des Proklos möchte ich dieses freilich keineswegs darauf fixieren; das „Euklidische“ ist vielmehr mit dem in III 2 über den ontolo­ gisch gedachten „Zusammenhang“, die „Relationalität“ und „Vermittlung“ Gesagten, als Einheit zu fassen. Denn die zuletzt genannten Momente ga­ rantieren eher als das „Euklidische“ allein ein in sich lebendes und bewegtes Gedankengefüge. Geschichtlich gedacht und im Blick „nach außen“ erscheint es durch­ aus evident, daß das zumindest in seiner Intention logisch-methodisch abgesicherte System des Proklos —vor allem in der Form der „Theologi­ schen Elementar-Lehre“ und der die Einheit von Philosophie und Religion systematisch herstellenden „Theologia Platonis“ - gegen die Religiosität des Christentums stehen sollte, um dadurch die ursprüngliche —„griechi­ sche“ - Form von Wahrheit zu bewahren und zugleich fortzubestimmen. Systematische Reflexivität mag so auch als Selbstschutz spätantiken Den­ kens gegenüber einem fortschreitenden Dogmatisierungsprozeß des Chri­ stentums begriffen werden.

53 Proklos selbst fußt keineswegs nur auf dem „Begriff“, wie es die „Elementario theolo­ gica“ vor allem suggerieren könnte, sondern durchaus konsequenzenreich auf der religiösen Tradition, die für Proklos - besonders in der Gestalt der Chaldäischen Orakel - den Cha­ rakter einer „göttlichen Offenbarung“ annimmt. Vgl. hierzu neben H. Lewys klassischem Werk „Chaldaean Oracles and Theurgy“ 1956, 19782: H. D. Saffrey, Les Néoplatoniciens et les Oracles Chaldaiques, in: Revue des Études Augustiniennes 27, 1981, 209-225; wieder abgedruckt in: Ders., Recherches sur le Néoplatonisme après Plotin, Paris 1990, 63-79. Auch oben S. 57ft (Ihcurgie).

P R O K L O S ’ B E G R IF F D E S G U T E N A U S D E R P E R S P E K T I V E S E I N E R P L A T O N -D E U T U N G

Electio Unius non aufertur*

I Die Frage nach dem Guten, unmittelbar verbunden mit der Frage nach dem Einen als dem ersten Grund und Ursprung, führt sowohl Platon als auch die Neuplatoniker in das Zentrum ihres Denkens. Neuplatonisches Philosophieren erhält in diesen beiden Fragen, die Einen Gedanken ver­ wirklichen, seine bewegende Kraft aus dem platonischen Denken. Plotin hat in seiner Anknüpfung an Platon geradezu eine Legitimation seines eigenen Denkens gesehen, eine Garantie für dessen Wahrheit. Maß­ gebend ist für ihn nämlich nicht „Originalität“ der eigenen Philosophie, sondern die bewußte Übereinstimmung mit dem von Platon Gedachten. So hebt er in einem der wenigen Sätze, die seine eigenen - persönlichen — Überzeugungen und philosophischen Intentionen offen zeigen, mit Nach­ druck eben dieses Verhältnis heraus: die Lehren (λόγοι) - daß nämlich ,aus dem Guten der Geist und aus dem Geist die Seele hervorgeht4- „sind nicht neu, nicht jetzt erst, sondern schon längst, wenn auch nicht klar und aus­ drücklich gesagt, und unsere jetzigen Lehren stellen sich nur dar als Aus­ legung jener alten, und die Tatsache, daß diese Lehren alt sind, erhärten sie aus dem Zeugnis von Platons eigenen Schriften“ 1. Diese Äußerungen können für spätere Interpreten freilich nicht das Faktum verdecken, daß Platin bestimmte Implikationen in Platons Gedanken produktiv entfaltet

* Cusanus, Scrmo LV, 11. i *, 20; h XVII 271, im Zusammenhang einer Auslegung von I uk.is 10,42: Maria optirnam fuirtem clrgit... Unum rst necessarium (n. 7,34: Deus, ejui est ifnum „unum necessarium“. Vgl. hierzu unten S. 174). 1 IMotin Ι,ηη. V 1,8,9 14. Vgl. W. Heici waltcs, IMotins l-rbe, in: Museum llelveticum >|S. 1‘ jHX, 7s 97, bes. 76 Ho.

86

Proklos’ Begriff des Guten

und weiterdenkt und gerade in dem Gespräch mit der philosophischen Tradition zu sich selbst kommt. Dem Selbstverständnis Plotins als eines ,Interpreten der Philosophie Pla­ tons4—ohne subjektiv zur Schau getragenen Anspruch auf „Originalität“ , aber mit brennendem Interesse an der Wahrheit des Denkens —entspricht die Selbsteinschätzung des Proklos. In einer Sprache, die die Initiation in die Mysterien beschreibt, führt Proklos diejenige Philosophie, die „das Licht der Wahrheit zu entzünden“ (τό τής άληθείας φως άνάαττειν) ver­ mag, auf Platon zurück: „ganz besonders glaube ich, daß die Einweihung [Mystagogie] in das Göttliche, die rein ,auf heiligem Sitz4 gründet und die bei den Göttern immerwährend besteht, von dorther denjenigen, die sie in der Zeit zu genießen imstande sind, durch einen einzigen Mann er­ schienen ist, den ich nicht fehlgehe, als Führer und Priester [Hierophant] zu bezeichnen der wahren ,Weihen4, in die die Seelen ,eingeweiht werden4, die von den irdischen Orten getrennt sind, und der,reinen und unwandel­ baren Erscheinungen4, an denen diejenigen teilnehmen, die das glückliche und beseligende Leben wahrhaft erreichen“ . Proklos sieht sich selbst als Glied in der Kette der „.Exegeten der Platonischen Schau“ (τής Πλατωνι­ κής 8Jtοπτειας έξηγητάς), die er mit Plotin beginnen und sich fortsetzen läßt mit Amelios und Porphyrios, Iamblichos und Theodoros, und die er vor ihm mit besonderer Emphase in seinem Lehrer Syrian enden sieht, der ihn selbst zum „Mittänzer um die geheimnisvolle Wahrheit des Göttlichen gemacht hat“2. Platon-Nachfolge (διάδοχος) bedeutet also Annäherung an die Wahrheit des Denkens und Einsicht in sie. Plotin hat Grundgedanken Platons in seiner Philosophie nicht einfach wiederholt, sondern entfaltet sie - vor allem in seinen Reflexionen auf das Eine und Gute, auf den inneren Aufstieg zu diesem durch Eros, auf das Schöne und auf die rational formende Gegenwart von Ideen in der Struktur des Kosmos. Dabei hat er ausgesprochen oder unausgesprochen bestimmte Texte, Konzeptionen und Gedankenkonstellationen aus Platons Dialogen im Blick. Proklos erweitert die Basis von Plotins Platon-Nachfolge, indem er weithin zum engagierten Exegeten der platonischen Dialoge wird, vor allem als philologisch umsichtiger und zugleich philosophich sensibler und produktiver Kommentator etwa des ,Großen Alkibiades4, des ,Timaios\ des 2 Theol. Plat. I i; 5,16-6,7 (mit Bezug zu Platons Phaidros 254 b 7; 250 b 8 - c 3. - Iheol. Plat. 1 1; 6,i6ff. 7 ,7 {'(συγχορευτής). - 7,2 und 18: τής άληΟπ'ας φως. Vgl. auch 'Iheol. Plat. II 2; 8,22: über die ύψΐ’λόνους και ΓνΟΐ’ος Tofi 1 1 λ(ίτ(ΐ>νι>ς φιλοσοφία.

Proklos’ Begriff des Guten

87

,Parmenides‘, der ,Politeiac oder des ,Kratylos‘. Die Kommentierung von Platons Texten ist für ihn ein sachlich angemessenes Medium, die plato­ nischen Grundgedanken in ihrer differenzierten Ausformung darzustellen und sie zugleich als Impuls für deren Fortführung und Entfaltung der von ihm daraus gezogenen Konsequenzen aufzufassen: der Kommentator als Philosoph, der in das „Zentrum“ und in das „göttliche und hohe Ziel der Platonischen Theoria“ führt3. Platons genuine Philosophie entwickelt sich in dieser Tätigkeit unter komplex veränderten geschichtlichen Bedingun­ gen zu einer neuen Philosophie, die in ihren sachlichen Grundzügen und in ihrer begrifflichen Intention durchaus platonisch ist und bleibt, aber auf neue Interessen und neue Vorgaben der Welt-Orientierung zu antwor­ ten versucht. Modifiziert wird das Platonische in ihr durch eine intensive Verbindung mit Aristotelischem (worin Syrian ihm ein Vorbild ist), mit Stoischem äuch und vor allem mit den als autoritativ eingeschätzten „heili­ gen Büchern“ (ζάθεα βίβλα) der Chaldäischen Orakel4. Als «^platonisch, ohne den unmittelbaren Anhalt an die einläßliche und weitausgreifende Text-Exegese, profiliert sich diese Philosophie aber auch als programma­ tischer und systematischer Versuch einer Platon-Deutung in der zentrale Bereiche der Philosophie bedenkenden „Theologia Platonis“ und in der „Theologischen (oder/und Philosophischen) Grundlehre“ , der „Stoicheiosis theologike“ 5. Letztere ist in der Geschichte der Proklos-Rezeption vielfach zum Anlaß geworden, seine Philosophie als ,dürren Scholastizis­ mus' abzustempeln oder gar als ,Wissenschaft des Nichtwissenswerten4zu diffamieren und sie dadurch aus dem Gesichtskreis der Philosophen zu verdrängen. Einer derartigen Reduktion gegenüber ist bewußt zu machen, daß die „Theologische Grundlehre“ mit ihrer spezifischen Methodik des Beweisens einem vernunftgeleiteten Denken die Gewißheit vermitteln will, daß eine philosophische Lebensform sich von einem möglichst intensiven Umgang mit dem Einen und Guten und der durch es strukturierten Wirk­ lichkeit getrost leiten lassen kann. Wenn auch dieser logisch abgesicherte Umgang mit dem Einen Grund der Wirklichkeit nicht zu einem eindeutig formulierbaren Wissen eben dieses Grundes führt, so wie er in sich als absoluter „ist“ , und wenn die Methodik und Überzeugungskraft eines

I·..

' Iheol. Plat. I 1; 7 ,2 o f . 8,9: του Ιΐλάτωνος ιστία. '* Produs, Hymn. 4,5. Zu Proklos’ Verhältnis ^e^enüber den Chaldäischen Orakeln: des Places, Oraclcs ( Ihaldaiijues, Paris 1971, 4 1 II. η Zur „Systematik" des Proklos νμΙ, das vorige Kapitel.

88

Proklos’ Begriff des Guten

Zugangs zu ihm uns gegenwärtig eher fremd geworden ist, so ist doch das sich in dieser Philosophie artikulierende Bedürfnis zu achten, die rationale Vergewisserung des Grundes als des Ersten und Letzten der Wirklichkeit bis zur Selbst-Negation des Denkens voranzutreiben. Diese entspringt der Einsicht, daß die denkende Suche nach dem Einen Grund sich selbst an eine Grenze führt, die sie nur nicht-denkend zu überschreiten imstande ist —in einer radikalen Zusammenführung aller vielheitlichen Phänomene in die in sich differenzlose und daher relationslose, nicht-denkende Einheit des Grundes. Die Ekstasis aus Denken und Sprache als Konsequenz einer denkenden und in Sprache sich darstellenden Annäherung an den Einen Grund kann nicht als „irrational“ oder „anti-rational“ abqualifiziert wer­ den - so als ob dieser Akt des Überstiegs letztlich einem denk- und Logos-feindlichen Hang zum Immediatismus, zum grundsätzlich unauflösbar Unmittelbaren oder reflexionslos Unvermittelten entspräche. Er folgt viel­ mehr der Erfahrung, daß das Denken in sich selbst etwas entdeckt, das ihm zwar genuin zukommt, das es aber zugleich übersteigt oder zumindest auf ein es radikal Übersteigendes verweist, dessen Spur im Denken durch dieses selbst zu verfolgen eine Lebensnotwendigkeit für den Menschen ist. Während nun Plotin grundsätzlich und konsequent der Maxime folgt, daß „die Theoria [als Weise des begrifflichen Denkens] allein unbezauberbar“ sei6, und dadurch überzeugt sein konnte, daß ein durch den Begriff begründendes Denken gegen das Irrationale und auch gegen die Wirkung magischer Praktiken resistent mache, setzt Proklos (wie vor ihm bereits ex­ tensiv Iamblich) ganz entschieden auf Theurgie als eine Zugangsform zum Göttlichen oder zum göttlichen Absoluten. „Theurgie“ - ein Werk und ein Erwirken der Götter - ist zu verstehen als ein in sich gestuftes Konzept für rituelle Handlungen, von Gebeten und Hymnen begleitet, von materiel­ len „Symbolen“ ausgehend mit dem Ziel, eine Erscheinung oder Gegen­ wart des Göttlichen zu erwirken und eine Einung des Menschen mit ihm zu erreichen - nicht durch menschliche Leistung erzwungen, sondern als Werk oder Gabe der Götter erfahren7 und zugleich Medium der erstrebten 6 IV 4,44,1. Dazu: W. Beierwaltes, Das wahre Selbst 9 f und oben S. 50. 58. 7 §eot)QYLKf| evcoaic;: Iamblichus, De Mysteriis II 11; 97,i f (des Places). Einung durch Gebet: V 26; 238,4. Proclus, in Tim. I 211,24-28. - Für einen differenzierteren Begriff von „Theurgie“ vgl. aus der reichhaltigen und auch kontroversen Literatur]. Trouillard, LTJn et l’Äme selon Proclos, Paris 1972, 173 ff. A. Smith, Porphyry’s Place in the Neoplatonic Tradition, The Hague 1974. B. Nasemann, 'Ihcurgie und Philosophie in Jamblichs De My­ steriis, Stuttgart 1991. (i. Shaw, Iheurgy and the Soul: Ihe Neoplatonism ol Iamblichus,

Proklos’ Begriff des Guten

89

„Vergöttlichung“ (Oscook;) des Menschen. „Theurgie“ instrumentalisiert das Göttliche allerdings nicht für die Zwecke des Menschen; Theurgie ist für Proklos auch keine strikt ausschließende Alternative zur Reflexivität argumentierenden Denkens etwa in der Weise der „Stoicheiosis“ und der negativen Dialektik des Parmenides-Kommentars oder der „Theologia Platonis“; sie tritt aber als rituelle Handlung in Konkurrenz zum Logos des Denkens, grundsätzlich wird ihr sogar zugestanden, das Denken zu überflügeln8. Die aus dem Denken des Einen entspringende begriffs- und sprach-freie Ekstasis in der Einung mit dem Einen ist daher nicht mehr, wie bei Plotin, die einzige Möglichkeit der Selbstvollendung des Menschen. ,Parmenides4 steht nicht mehr gegen Theurgie, sondern führt im besten Falle zu ihr hin oder wird von ihr verdrängt9.

II Eine genauere Erörterung des proklischen Begriffs des Guten aus der Per­ spektive seiner Platon-Deutung hat vor allem auf Proklos’ zentralen Be­ zugspunkt in Platons Philosophie zu achten: auf die drei Gleichnisse des VI. und VII. Buches der ,Politeia: das Sonnen-, Linien- und HöhlenGleichnis10. Diese drei Gleichnisse der ,Politeiac sind nicht nur von hoher Bedeutung für diesen Dialog11, sondern ebensosehr wesentlich für Platons Pennsylvania 1995. Th. Stacker (vgl. Anm. 9). Vgl. auch oben S. 57fr das Additamentum zu „Theurgie“ . 8 Theol. Piat. I 25; 113,4-10. Hierzu: A .J. Festugiere, Contemplation philosophique et art theurgique chez Proclus (1968), jetzt in: Ders., Etudes de Philosophie Greque, Paris 1971, 585-596. - in Tim. III 300,16. in Remp. II 154,3. - Iamblichus, De Mysteriis, II 11; 96,13fr - dies ist auch als Kritik an dem plotinischen Konzept einer durch Reflexion vorbereiteten Einung mit dem Einen zu lesen. 9 Eine „Opposition“ ,Parmenides4 versus Theurgie bleibt m. E. allerdings auch dann bestehen, wenn man eine bestimmte Form von „Rationalität“ für die Theurgie annehmen will, die sich freilich von der genuin griechischen (etwa der aristotelischen) als auch von der neuzeitlichen wesentlich unterscheidet. Dies u. a. zu zeigen ist die Absicht des höchst aufschlußreichen Buches von Th. Stacker, Die Stellung der Theurgie in der Lehre Jamblichs, Frankfurt 1995. Eine „Rationalität von eigener Dignität“ in Iamblichs Wendung zur Theur­ gie zu entdecken stellt sicher eine sinnvolle Möglichkeit dar, Theurgie auch philosophisch verstellbar oder in Grenzen akzeptabel zu machen. 10 504 a 511c; 514 a 521 b; 5^9 d —541 b. 11 1 lierzu paradigmatisch: J. I lalfwassen, Der Aufstieg zum Einen. Untersuchungen zu Platon und Plotin, Stuttgart 1992, 226II'(Zweite*. um einen l orsc hungsbericht erweiterte

90

Proklos’ Begriff des Guten

Denken im ganzen. Sie thematisieren die Begründung einer in sich ge­ stuften Wirklichkeit durch Ideen und durch die Idee des Guten als deren Grund selbst. Zugleich reflektieren sie die Möglichkeit dialektischer Er­ kenntnis eben dieser Ideen und des Guten selbst in einem kontinuierlichen denkenden Aufstieg. Ihre unmittelbare Intention ist die erkenntnistheo­ retische und ethische Grundlegung einer durch die Idee der Gerechtigkeit geleiteten Polis. Dieser politische Kontext der Gleichnisse tritt allerdings in ihrer neuplatonischen Rezeption zurück. Dennoch sollte diese Tatsache nicht die noch herrschende Tendenz bestärken, neuplatonisches Denken als grundsätzlich apolitisch einzuschätzen. Proklos hat diese Texte der ,Politeia‘ nicht in der selben Weise kommen­ tiert, wie er dies mit Teilen anderer Dialoge getan hat, er hat sie aber in einer selektiven Interpretation des Gesamtwerks als drei unterschiedliche Wege zum Einen Zentrum platonischen Denkens verstanden: zum Guten und Einen, oder zum Guten als dem Einen. Eine moderne Auffassung die­ ser Texte verbindet sich mit ihm in der Überzeugung, daß die drei Gleich­ nisse perspektivisch das Selbe sehen lassen, daß sie sachlich und literarisch eine Einheit darstellen. - Ich kann nicht beanspruchen, in den folgenden Überlegungen der Differenziertheit der Frage nach dem Einen/Guten ge­ recht zu werden, wie sie Proklos in seinen Platon-Kommentaren und in seinen eher systematischen Werken immer wieder gestellt und mit großer Intensität entfaltet hat. Ich möchte vielmehr aus den vielfältigen Annähe­ rungen an Anfang, Mitte und Ende des Denkens einen Grundgedanken herausheben, den die drei Gleichnisse paradigmatisch erhellen: die reine, absolute Transzendenz des Guten und des mit ihm identischen Einen, so daß der Blick auf das Gute (,Politeia‘) zugleich das Eine und der Blick auf das Eine (,Parmenidesc) zugleich das Gute sieht. In der Bestimmung der beiden Prinzipien und ihrer Zusammengehörigkeit (oder Identität) halte ich mich vorwiegend an die „Dissertationes“ XI und XII des proklichen Politeia-Kommentars (I 269-287; 287-29612) und verweise gelegentlich auf analoge Reflexionen in anderen Texten des Proklos. Dabei wird deut-

Auflage, München-Leipzig 2006). H. Krämer, Die Idee des Guten. Sonnen- und Linien­ gleichnis, in: Platon. Politeia, hg. v. O. Höffe, Berlin 1997, 179-203. Th. A. Szlezak, Das Höhlengleichnis, ebd. 205-228. F. Ferrari, La causalitä del Bene nella Repubblica di Platone, in: Elenchos 22, 2001, 5-37. 12 Vgl. auch M. Abbate in: Proclo. Commento alla Repubblica di Platone, Milano 2004, *84ff und den „Saggio Introduttivo“ zu dieser seiner Übersetzung.

Proklos’ Begriff des Guten

91

lieh, wie Proklos Platons Grundlegung des Ideen-Kosmos im Guten und Einen selbst für seine neuplatonisch geprägte Sicht einer in sich - gemäß einer rigorosen Logik —gestuften Wirklichkeit bestimmend werden läßt.

III i. Seine Analyse der Bedeutung des Guten in den drei Gleichnissen be­ ginnt Proklos mit einer Abgrenzung: er unterscheidet drei Formen des Guten13. Die erste realisiert sich in uns (εν ήμιν) im Sinne eigener Tä­ tigkeit des Menschen als Lust und praktische Einsicht oder gar als reines Denken (νους) - etwas (partiell) Gutes, das erwerbbar und habbar oder teilhabbar ist14; dieses Gute in und für uns kann jedoch nicht als das FrageZiel im platonischen Kontext verstanden werden. - Die zweite Form des Guten kommt diesem Frage-Ziel schon näher: sie ist das Gute selbst als Idee (είδος, ιδέα oder ειδητική ουσία15), als das Sein des Guten oder das seiende Gute (ουσιώδες16), das qua αύτοαγαθόν mit dem Gerechten und dem Schönen an sich selbst gleichen ontologischen Ranges (σύστοιχον) ist, in seiner Wirkweise freilich als umfassender eingeschätzt werden muß, da keine Idee (kein eidetisches Sein) ohne das Gute sein und wirken kann. Diese zweite Form des Guten ist (auch) als das universal umfassende Sein der Idee ein seiendes Gutes und damit freilich ein immer noch durch Gren­ zen bestimmtes Etwas (τι ον, ουσιώδες άγαθόν17). - Die dritte Form des Guten, die eigentliche und im Grunde erste (πρώτιστον) Form des Guten, übersteigt - so Platon18 in der Auffassung des Proklos - das Gute als Idee, als Sein oder seiendes Gutes, damit auch den Bereich des jeweils „individu­ ell“ begrenzten Etwas-Seins (ου τί τών οντων19) in das „einfachhin“ Gute. Dieses reine, einfachhin, schlechterdings Gute ist absolut transzendent ge­ genüber allem Anderen, das aus ihm entspringt oder durch es gegründet ist, es ist all dies nicht, auch nicht als die implikative, als Selbstreflexivi1 * in Remp. I 269,i6ff. 270,9ff. 27i,22ff. 272,9fr. 273,i2ff. 14 κτητόν - έκτόν - μέΟεκτον: 271,24. 273,11; i4f. 15 269,22 ff. 270,7. 271,20. 272,2f. 16 271,25. 2X6,17. 17 270,29-271,25. 286,15; 17. 287,2, gegenüber dem „einfachhin oder schlechterdings ( iwten“ , άγαΐ)όν άπλώς, /,. B. 286,18. ,M der diese Unterscheidung nicht einführt. Λ7Ν.Η. λΗλ / s -

92

Proklos’ Begriff des Guten

tät bestehende Fülle des Seins oder der Ideen; es ist vielmehr im strikten Sinnt jenseits (έπέκεινα) alles dessen, was ist, gedacht, erkannt und gesagt werden kann20. Weil alles, was gedacht, erkannt, gesagt werden können soll, sein muß, ist das Absolute und Erste als reine Transzendenz oder als das Jenseits von Allem, das zu Allem Unterschiedene (ohne deswegen in sich und zu sich selbst unterschieden sein zu müssen), als das nicht - wie ein Seiendes —Teilhabbare, mit dem allgemeinsten, eben diese Transzen­ denz oder Jenseitigkeit anzeigenden Terminus „benennbar“ : ύχερούσιον, über-seiend21: es ist nicht nur über dem „beständigen“ , in sich ruhendbewegten Sein (ούσια) der Ideen, das immer in jeder Idee (jeweils) seiend oder ein Etwas-Seiendes (ον, ον τι) ist, sondern auch jenseits eines in sich dynamisch gedachten Seins (είναι22). Das Gute „ist“ —weil überstiend oder vor dem Sein, vor ihm „bestehend“23 - daher konsequent als der Ausschluß aller Formen von Sein und aller jener Aktivitäten zu denken, die sich auf Sein oder Seiendes beziehen und durch es bedingt sind. Prok­ los’ Deutung der drei Gleichnisse, naturgemäß vor allem des Sonnen- und Liniengleichnisses24, hat zum Ziel, diese absolute Transzendenz des Guten gegenüber allen Formen des Seins und Gut-Seins mit Emphase herauszu­ stellen. So wird der philosophische Höhepunkt der ,Politeia‘ zum klaren Ausweis des für Proklos herausragendsten Grundzuges des Ersten oder Absoluten, gleichbedeutend mit der philosophischen Intention der Er­ sten Hypothesis des Parmenides4zu sein25. Da die Resultate der Analyse dieser beiden platonischen Denkwege sich in diesem und auch in anderen wesentlichen Aspekten einander gleichkommen, ist es legitim, die Identi­ tät des Guten mit dem Einen anzunehmen. Damit wird dasjenige, was den beiden Begriffen jeweils spezifisch eigen ist, nicht einfach zum Verschwin­ den gebracht, sondern in einer Einheit der „Wesens“-Momente jeweils gedacht. Jede Benennung des Ersten —ob Eines oder Gutes —hat ihre je eigene Bedeutung: Verursachen oder Gründen des Seins im Ganzen, Be20 270,8. 271,19. 274,7 (πάντων έπέκεινα). 276,6. 277,10; iy, 24. 278,12. 279,6. 280,12. 282,2f. 284,9. 285,i2f; 26. 292,21. 295,4. 2.96,5. 21 271,23f; 25. 274,4. 276,19. 278,23; 25. 279,23; 27. 280,10f: τάγαϋόν έστιν υπέρ την των νοητών ουσίαν καί όντως ύπεροαχπον. Ζ. 25. 281,12. 284,10. 295,6. 22 278,15. 282,19-25. 292,20 f. 23 279,18 (προυπάρχειν). Thcol. Piat. II 10; 62,25. 7 2>2 (προυφέστηκε). 24 Zu deren Interpretation: W. Beierwaltes, Proklos 265ff. Hirt. 25 Zur Zusanimengeliörigkeit der beiden „Aspekte“ in den beiden Dialogen: Iheol. Piat. II 6; .μ κ ιΐί

Proklos’ Begriff des Guten

93

wahren der Eigentümlichkeit jedes Einzelnen, Rückbindung in den Anfang oder Ursprung. Beide Momente sind als eine ununterschiedene Einheit zu denken, ihre Differenzierung in Perspektiven der Einheit dient lediglich unserer Selbstvergewisserung. Wenn also vom Guten die Rede ist, dann spiegeln sich in ihm alle Aussagen über das Eine - und umgekehrt; dabei muß freilich bewußt bleiben, da&jede Rede über die beiden Momente des Ersten immer nur als vorläufig und dem An-Sich-„Sein“ des Ersten als nicht angemessen einzuschätzen ist. Proklos hat die Einheit oder Identität des Guten mit dem Einen selbst vielfach expressis verbis herausgehoben, so daß dieser Gedanke auch für den ,Politeia‘-Passus klarerweise anzuneh­ men ist: τάγαθόν τω ένι ταύτόν26. Von dieser Identität her gedacht sind auch alle Prädikate der Transzendenz des Einen in gleicher Weise für das Uber-Sein xdes Guten maßgebend. Als paradigmatisch hierfür nenne ich für diesen Zusammenhang die Termini des Uberstiegs des Einen, wie sie Proklos in seiner Engführung der Ersten Hypothesis verwendet27. Dem­ gemäß ist das Eine selbst - αύτοέν - als absolut Jenseitiges, als das Andere schlechthin, aus Allem „herausgenommen“ 28; es ist „gänzlich ... hinausge­ gangen“29, es „steht“ oder „ist“ oder „ist gegründet“ , „sitzt vor' allem An­ deren, es ist „übereinfacht“ [über jeder Form von Einfachheit]30, es ,ist‘ das Überragen selbst, der Überschwang31, es ist „abgetrennt“ oder ab-solut32, 26 Elem. theol. 13; 14,25. Dazu Dodds 199. Prov. 10,7 (19 Boese): τό εν άγαθόν, και τό άγαθόν εν. in Parm. V II 56,34-ff* Klibansky ebd. S. 92f. Proklos sagt für die Frage der Iden­ tität des Guten mit dem Einen explizit, was für Platon gemäß seiner ungeschriebenen Prin­ zipienlehre und für seine metaphysische Intention in ,Politeia und ,Parmenides‘ mit guten Gründen vermutet werden darf. Zu Platon: J. Halfwassen, Der Aufstieg zum Einen (wie Anm. 11) 261 ff. - Während Platon ausschließlich die Idee des Guten als αρχή άνυπόθετος bezeichnet, benennt Proklos damit sowohl das Gute als auch das Eine im selben Zusam­ menhang: 283,11; 284,15 f. - Zur neuplatonisch gedachten Identität: C. Steel, The One and the Good: Some reflections on a Neoplatonic Identification, in: The Neoplatonic Tradition: Jewish, Christian and Islamic Themes, ed. A. Vanderjagt, D. Pätzold, Köln 1991, 9—25. 27 Theol. Plat. II 12. Analoges in c. 9—11. 28 έξήρηται, έξηρημένον: Theol. Plat. II 12; 66,12. 67,13; 19. 68,26. 72,23. 73,19. 29 έκβέβηκε: 67,7. 68,27. 7.2»i 6. - έξήλλακταί: II io; 62,12. U) ύπερηπλωμένον: 67,16. αύτφ τω πάντων ύπερηπλώσθαι: 62,5. Η υπεροχή, ύπερέχειν: 67,11. 68,8. 70,26. η\,9. 7 2>27· άρρητος υπεροχή: 70,16. ένώ(τεως υπερβολή: γι,ιβ (vgl. Platon, Rcsp. 509 c 1 f δαιμόνια υπερβολή - auf das επέκεινα der Idee des Guten bezogen; die Anrufung des Apollon könnte an dieser Stelle das Eine als das Nicht-Viele suggerieren dies ist des öfteren vermutet worden. - αμήχανος Εξαλλαγή, „unermeßliche Entfernung“ , Abstand, Differenz: 7i.,iK.

w Μ'χωρκιμι'νον:

1Hf.

94

Proklos’ Begriff des Guten

„unvermischt“ mit Anderem33 und von daher gesehen auch „nicht teil­ habbar“ 34. Beide —das Gute und das Eine selbst - und damit auch deren Ein­ heit in ihrer reinen Transzendenz versteht Proklos als den „ Gott selbst“ (αύτόθεος35) oder als den Ersten Gott (πρώτος oder πρώτιστος θεός36). Damit bildet auch das vom Ersten - dem Einen/ Guten/Gott - ausgehende Sein oder die Wirklichkeit im Ganzen einen „theologisch“ begründeten Zusammenhang; das Eine/Gute ist θεός θεών, „Gott der Götter“ , nicht nur als der Höchste über ihnen zu denken - der „König“ oder das könig­ lich Herrschende (βασιλεϋον37) sondern auch als deren Sein-gebender und ihre innere Stufung bestimmender Grund. 2. Der Grundzug der Gutheit in ihrer unmittelbaren Einheit mit dem Einen läßt dies einsichtig werden: das Erste oder Absolute kann nicht eine in sich verschlossene Leere sein, aber auch nicht - von seiner in sich relations- und differenz-losen Einheit her gedacht - eine in sich unterschie­ dene reflexive Einheit von Ideen, die als Creative Gründe des Seins aus und 33 αμιγές: 68,24. 34 άμέθεκτον: 73,20. αληπτον - „nicht ergreifbar“ : 1 1 6 ; 41,14. άσχετον, άσΰντακτον: II 9 ; 59,8f. 35 in Tim. III 207,8: τό οΰν αύτοέν μόνως θεός και αύτόθεος. in Parm. 1096, 26-29: εί οΰν τό αυτό εν και πρώτον ταύτόν, τό δέ πρώτον θεός, δήλον οτι ταύτόν τό αύτοέν και θεός, και ου τις έκεινο θεός, άλλ’ αύτόθεος. Elem. theol. 113; 100,9fr. 1335118,9-11. W. Beierwaltes, Denken des Einen 201 f. 211. 275. 36 τό αρα άγαθόν έστιν ό πρώτος κατά Πλάτωνα θεός: Remp. I 287,16f. Theol. Plat. II 10; 63,20f. πρώτιστος: Theol. Plat. II 11; 65,19f. Zu einer analogen Position PlotinsYgl. meine Abhandlung „Plotins Theologik“, in: Das Denken in den Wirren unserer Zeit. Fest­ schrift zum 80. Geburtstag von Mihailo Djuric, hg. von D. N. Basta und C. D. Koprivica, Beograd 2005, 37-55. F. Romano, II Neoplatonismo, Roma 1998, 81 ff; 95 ff. - θεός θεών: Proclus, Theol. Plat. II 11565,11. Zur Herkunft der Formel θεός θεών άπάντων und ένας ένάδων: H. D. Saffrey, Notes complémentaires 9 und 10 ad locum, S. 123 f. Theol. Plat.V 16; 77,14. - Dazu: Psalm 50,1: θεός θεών κύριος έλάλησεν. Daß gegenüber der Überset­ zung des hebräischen Textes von Ps. 50,1 mit „Gott der Götter“ Skepsis besteht, tut hier nichts zur Sache (vgl. H.-J. Kraus, Psalmen, 1. Teilband, Neukirchen-Vluyn, 1972, 370. 375). Bedeutsam ist freilich, daß durch die Septuaginta θεός θεών und durch die Vulgata ,deus deorum‘ im spätantiken Kontext verbreitet worden ist. Vgl. auch Ps. 95,3: „Der Herr ist ein großer Gott, ein großer König über allen Göttern“ . Deuteronomium 10,17: „Gott über den Göttern, Herr über den Herren“. - Dion. Areop., De div. nom. XII; 224,4f. 37 βασιλεύον: Reminiszenz an den Zweiten (pseudo)platonischen Brief 312 e. in Remp. I 270,10. 271,4; 7. 287,iof: τό πάντων βασιλεύον. 292,18f. H. D. Saffrey, Introduction zum II. Band der Iheol. Plat. (1974) X X -U X .

Proklos’ Begriff des Guten

95

„außer“ ihr wirksam sind, sondern - paradox gesagt - die Fülle38 der InDifferenz, die unüberbietbare Vor-Habe39 dessen, was aus dieser „noch“ unentfalteten, vor-differenten Einheit als Differenz in sich und zu Ande­ rem, als Sein der voneinander abgegrenzten und doch zusammenwirken­ den Ideen sich entfaltet. Das Gute ist so gesehen —secundum Platonem — der „voraussetzungslose Ursprung“ (αρχή άνυπόΟετος40) von Allem, die „erstwirkende Ursache“41, die frei, ohne an sich haltende Mißgunst an ihrer Überfülle teilgibt42, die primär die Ideen oder das noetische Sein setzt und damit durch dessen letztlich von ihm her kommende ursächliche Kraft43 die Wirklichkeit im Ganzen gründet. Die Analogie der Sonne44 erschließt diese Sein-setzende und erhaltende und ebensosehr die eine Er­ kenntnis des Seins ermöglichende Tätigkeit, die lichtende Wirksamkeit des Ursprungs im Sein an sich und im Erkennen des Menschen; die Analogie der L in ie 45-steht für die innere Gliederung, Ordnung oder Stufung der Wirklichkeit, die Stand ist und Bewegung zugleich —eine Bewegung, die vom voraussetzungslosen Ersten Ursprung ausgeht und wieder in diesen als ihr Ziel zurückgeht. Die Identität des Guten mit dem Einen als unmittelbare Einheit des Ersten Ursprungs in sich rechtfertigt es, daß Proklos die verursachende 38 Theol. Plat. II 8; 50,7.57,3: υπερπλήρες, vgl. Plotin V 2,i,8f: το υπερπλήρες αυτοί) πεποιηκεν αλλο. 39 Vgl. W. Beierwaltes, Denken des Einen 48 f. Selbsterkenntnis 158 ff. Das wahre Selbst 94 ff. 108 f. 40 Plat. Resp. 510 b 7. 511 b 6. Proclus, in Remp. I 283,22. 292,5 f. 41 276,19 (πρωτουργόν). 42 Theol. Plat. I 29; 124,25. δόσις: in Remp. I 280,1. μετάδοσις άγαΟοϋ: Theol. Plat. I 22; 103,26. το πλήρες μεταδιδόναι: ebd. II 7; 5°>4 f* ένδιδόναι: II io; 62,4. 43 ούσιοποιόν: in Remp. I 279*1- ενοποιός: 28. 44 In den Dissertationes XI und XII besonders: 271,7fr. 274,4ff. 277,27 fr. 280,9 ff. Beierwaltes, Proklos 333 ff. - Im Kontext des Sonnengleichnisses sollte mitbedacht wer­ den, welche sachliche und persönliche Bedeutung Helios für Proklos in seinem religiösen Denken und Erfahren hat. Ein poetisches Zeugnis hierfür ist sein Hymnos auf diesen Gott (1 lymn. 1, S. 27f), in dem er ihn - von anderen Wesensmomenten abgesehen - im Blick auf seinen eigenen Ursprung (das Eine/Gute) als den, Vermittler zwischen Transzendenz und immanentem Wirken des Absoluten sieht. Vgl. H. D. Saffrey, La dévotion de Proclus au soleil, in: Ders., Le Néoplatonisme après Plotin, Paris 2000, 179-191. W. Fauth, HELIOS M IXÎISTOS. Zur synkretistischen Theologie der Spätantike, Leiden 1995,120ff. R.M . van den Berg, Proclus’ Hymns. Essays, Translations, Comtnentary, Leiden 2001, 145fF. 279,5 fr. 28 *,6 ff. 287,2*. 288,4fr. 289,6 fr. 291,1 V 292,21. W. Beierwaltes, Proklos ff.

96

Proklos’ Begriff des Guten

Kraft des Einen (z. B. im Kontext einer Reflexion auf die Erste Hypothesis des ,Parmenides‘) mit analogen Aussagen charakterisiert wie die des Gu­ ten, und daß er auch vom Einen her die Einheit von absoluter Transzen­ denz mit dessen universal verursachender Immanenz, welche das Abso­ lute selbst verwirklicht, nachhaltig begründet46. Das Eine ist gerade durch seine Transzendenz47 —also durch seinen „Überschwang an Einfachheit“ (άπλότητος υπερβολή48) - erwirkende und das je Differente erhaltende Ursache von Allem: γεννητικόν, γόνιμον, ύποστατικόν, σωστικόν, „zeu­ gend“ und „gründend“49 in einer Alles durchdringenden und formenden Dynamik und „bewahrend“ . Dem „voraussetzungslosen Ursprung“ entspricht die Bezeichnung des Ersten als einer für sich selbst ursachlosen, absoluten Ursache (άναιτίως αίτιον50), deren Seins-konstitutive Tätigkeit außer Frage steht. Aus sei­ ner Intention heraus, die absolut sie selbst bleibende Transzendenz des Ersten trotz seiner dem Anderen immanenten Wirksamkeit zu bewahren, benennt Proklos es zugleich als „wr-ursächlich (προαιτιος51). Obgleich es eine Fülle von positiven Aussagen über das Eine/Gute als Ursprung, Ursache, Quelle etc. ohne unmittelbare Epoche gibt, ist diese doch im­ mer mitzubedenken, um die Unangemessenheit jeder Benennung des Ab­ soluten bewußt zu halten52. Die menschliche Rede über das an sich in der kategorialen Sprache der Differenz Unsagbare53, weil Unerkennbare (άγνωστον54), ist von der Sache her notwendig ambivalent —einer,duplex 46 Über das dialektische Zusammenwirken von Transzendenz und Immanenz des Einen/ Guten vgl. meine Überlegungen etwa in: Identität und Differenz, Denken des Einen, Selbst­ erkenntnis und Erfahrung der Einheit, Platonismus im Christentum, jeweils im Index s.v. „Transzendenz und Immanenz“. 47 Theol. Plat. II io; 62,5: αύτφ γάρ τω πάντων ύπερηπλώσθαι [s. Anm. 30] πάντας [τάς υποστάσεις] ύφίστησι. II 7; 5°>7 “ ΙΙ: [αύτοαγαθόν καί ύπερπλήρες] τφ των πάντων έξηρήσθαι τά πάντα παράγον. 48 Theol. Plat. II 7; 49>Η· H Ι2ί 7 2^ ^ : ένώσεως υπερβολή (vgl. Anm. 31). 49 Theol. Plat. II 7; 49,27-50,11. II 6; 40,26. II 12; 72,18. 73,21. Elem. theol. 25; 28,29: πάντων ύποστατικόν. Zu σωστικόν unten Anm. 92. 50 Theol. Plat. II 9; 58,24. 51 Theol. Plat. II 9; 59,24. 52 Es grenzt an eine Selbstaufhebung dieser Philosophie, wenn sie diese Epoche so weit treibt, daß sie auch ihre Grundprinzipien qua Benennungen für unangemessen hält: Proclus, Theol. Plat. V 16; 55,8ff. in Parm. 1123,37f: δέον δέ ή ν... αύτό και υπέρ εν άποκαλειν ή έν ... in Parm. VII 60,17: ipsum... ultra nomen omne. Plotin V 4,1,8!. V 5,6,28 fl. 53 in ,4

in

Remp. Remp.

I 2 8 2 ,1 9 fr. I 2 8 2 ,2 5 ff.

Theol.

P la t. II 8,21 ff. 9 ; 57,25.

Proklos’ Begriff des Guten

97

theoria4folgend55, deren Sprache im Bewußtsein ihrer Defizienz so spricht, als ob sie den von ihr intendierten Gegenstand träfe. Dennoch wirkt das als unerkennbar und unsagbar Erfahrene als eine ständige Herausforderung an das Denken aufgrund einer im Bewußtsein des Menschen sich regenden „Sehnsucht“ 56 nach dem Einen Ursprung und Zentrum57 des Menschen. Die Vergewisserung des ,Einen in unsc als bewegender, bleibender Impuls zur Öffnung des Denkens auf das Eine selbst hin, der begreifende Begriff des Einen4 (conceptus unius) als die uns im Denken zugängliche Form des Einen selbst, gibt die Garantie dafür, daß die Sehnsucht keiner Selbsttäu­ schung entspringt, daß sie nicht ins Leere geht, sondern den Vorschein des Wahren und Eigentlichen bewußt macht58, daß sie sich der stärksten Wirklichkeit —quantum potest —nähert. Diese Annäherung vollzieht sich als Aufstieg —im Sinne des Linien­ gleichnisses als dialektischer Durchgang durch die vom Ersten her begrün­ deten Stufen der Wirklichkeit, die unterschiedliche, ineinander überge­ hende Zugangsweisen des sinnlichen Erfahrens, des Erkennens und Wis­ sens fordern59: έξ υποθέσεων [durch „Aufhebung“ der Grundlegungen] έπί την άνυπόθετον άρχήν, „zum nicht-grundgelegten Ursprung“60. Da­ bei eröffnet der Bereich des Intelligiblen, des eidetischen Seins61, mit be­ sonderer Intensität und Klarheit den Blick auf das Gute oder Eine als das μέγιστον, έσχατον oder τελευταιον μάθημα62, den bedeutendsten und letzten, die Theorie als ganze abschließenden und zugleich a priori begrün­ denden Gegenstand des Wissens, ohne daß die dialektische έπιστήμη ihn als solchen präzise und als ganzen erfassen könnte63. 55 Dies ist ein Terminus des Johannes Scottus Eriugena, der sachlich aber auch für die Art des neuplatonischen Philosophierens aufschlußreich ist. Vgl. dazu meine Bemerkungen in: Eriugena 66 f. 82ff. Bezug zur neuplatonischen Denkform: 108-112. Das wahre Selbst 114. I )ort auch meine Analyse des plotinischen oiov - „gleichsam“ - in VI 8: i26ff. 139 f. S(> in Parm. VII; 56,26-28. 58,12: unius desiderium et indeficiens ώδίς. 54,12. 24. 2i: amor unius inextinguibilis. **7 Iheol. Plat. II 7; 51,17. ' H Uber das ,Eine in uns‘: W. Beierwaltes, Proklos 367fr. v; in Kemp. I 283,26ff. 289,21 ff. f,w 283,8 ff. 292,2ff. M 294,12; 17. 295,11 f. 67 Plat. Resp. 505 a 1. Proclus, in Kemp. I 169,7; 10. 272,10. 280,15. 282,27f. In anderen Kontexten reflektiert Proklos auf den Weg zum Einen als ein sich stei­ gerndes Hewußt Werden der Möglic hkeiten des Erkennens. Darin zeigt sich der Zusam­ menhang eben dieser Möglichkeiten oder Kräfte, der die Einheit unterschiedlicher Phasen

98

Proklos’ Begriff des Guten

Weil das Eine/Gute nicht als solches im Wissen und affirmativen Spre­ chen begreifbar ist, kommt in der Vergewisserung seiner Wirklichkeit den Negationen und der Methode der radikalen Abstraktion eine herausgeho­ bene Bedeutung zu64: negative Dialektik oder dialektische άφαίρεσις (ne­ gierende Abstraktion) grenzt vom Guten und Einen alles aus, was es nicht ist, um so seine Andersheit und absolute Transzendenz gegenüber allem kategorial Faßbaren evident zu machen. Proklos schätzt das Negieren, wie es sich in der Ersten Hypothesis des ,Parmenides4vollzieht, im Blick auf ihr Ziel geradezu als einen Hymnus65 ein: Philosophieren als ein theologischer Hymnus von Negationen, bezogen auf das Eine als den Ersten Gott! Die negative Dialektik hebt sich am Ende ihres Weges durch Negation der Negation auf in eine überrationale, Begriff und Sprache übersteigende Erfahrung des Ursprungs. Nur so wird eine Einung mit dem Einen über­ haupt möglich. 3. Die Reflexion auf das Gute als den mit dem Einen identischen Grund­ zug des Ersten läßt schon von seinen „positiven“ Begriffsmomenten her auch affirmative Formen der Annäherung an es zu, die ebensosehr in den Weg zum Einen gehören. Der Gutheit des Absoluten nämlich verdankt der Versuch einer begrifflichen und über-begrifflichen Vergewisserung des Grundes (im Sein und Bewußtsein) neben dem Grund-Impuls des ,Einen eines Prozesses begründet und darstellt - von der sinnlichen Wahrnehmung und der aktiven Phantasie angefangen über das dianoetisch-diskursive Denken, die Analyse des Mathemati­ schen als Vorbereitung in die Einsicht ins Intelligible, das reine Denken der Ideen, bis zum Selbstüberstieg des Denkens in die überbegriffliche Einung mit dem Einen. Hierzu meine Überlegungen in „Denken des Einen“ 254-280. Die lebensformende Bedeutung dieser Re­ flexion wird an den dort interpretierten Stellen aus dem Alkibiades-Kommentar und dem Opusculum De providentia in besonderem Maße evident. 64 I 281,5fF. 285,5fF. 286,6ff. in Parm. VII 58,22ff. 64,i6ff. Theol. Plat. bes. II 10 und 12. W. Beierwaltes, Proklos 399 ff. 65 Theol. Plat. II 11; 65,6ff. III 23; 83,22ff. in Parm. 1191,34fr... ΰμνον διά των άποφάσεων τούτων ενα θεολογικόν άναπέμπων εις τό εν. W. Beierwaltes, Denken des Einen 20212. Dort auch die Interpretation des Hymnos ΤΩ πάντων έπέκεινα, S. 312ff. Ders., Pro­ klos 35369; 35579. R. M. van den Berg, Proclus’ Hymns (wie Anm. 44) 22ff. Im Philosophie­ ren als Hymnus auf das göttliche Eine und die Theogonie aller Götter (zweite Hypothesis des ,Parmenides4) trifft sich diese Form der Zuwendung zum Einen und seiner Entfaltung mit der Intention von Proklos’ poetischen Hymnen auf Gottheiten - als ein „Gottesdienst“. Vgl. hierzu M. Erler, Interpretieren als Gottesdienst: Proklos’ Hymnen vor dem Hinter­ grund seines Kratyloskommentars, in: G. Boss und Ci. Seel (1 lg.), Proclus ct son inllueiKc, Zürich 1987, 179—217.

Proklos’ Begriff des Guten

99

in uns‘ bestimmte Anhaltspunkte im Seins- und Denkbereich des Vielen, die sozusagen im „Vorhof“ des Guten liegen (έν προθύροις αυτοί}66), auf es (wie σύμβολα oder συνθήματα67) verweisen, auf den Ursprung der ins Erscheinen kommenden Seins- und Wirkweisen des Guten selbst sach­ lich erschließend zurückführen. Diese Erscheinungsformen des Guten „zeigen“6* es aus je eigentümlicher Perspektive. Im Blick auf diese oder in ihrem Nachvollzug folgt Proklos einigen Spuren im platonischen ,Philebos‘69, auf denen Platon das Gute zu „erjagen“ versucht: „Schönheit, Symmetrie und Wahrheit“ - κάλλει και συμμετρία και άληθεία. In ih­ nen als einer Einheit (oiov εν) verbirgt (καταπέφευγεν70) und zeigt sich zugleich die „Dynamis des Guten“ . Proklos hat über die Zusammenge­ hörigkeit dieser drei von ihm so genannten „Monaden“ eine eigene, uns verlorene Abhandlung geschrieben71. In der Spiegelung durch Damaskios

66 in Remp. I 295,12; 21, Es selbst im adyton. in Tim. II 267,19-21. Platonische Formu­ lierung; Phileb. 64 c i f (Haus!). 67 σύμβολον und σύνθημα haben insbesondere im Kontext der Theurgie die Bedeutung von sinnlichen Erscheinungsformen oder der Gegenwart des Göttlichen, die auf die unaus­ sprechliche, transzendente Macht der Götter verweisen - als sichtbare auf das Unsichtbare, als Form auf das Form-lose [Proclus, in Remp. II 242,24-26: συνθήματα γαρ τα έμφανή των αφανών έστιν δυνάμεων, των άμορφώτων τα έν μορφαΐς όρώμενα διασταταΐς. Iam­ blichus, De Mysteriis I 21; 65,8-11], Zeichen, Bilder, Symbole, die eine Verbindung des Menschen zu den Göttern herstellen, wenn er sie beachtet. - Zur Semantik von σύμβολον - είκών - σύνθημα siehe L. Cardullo, II Linguaggio del Simbolo in Proclo, Catania 1985. 68 τάγαθόν εκφαίνει: in Remp. I 295,25. Theol. Plat. III 18; 63,24fr: τό γαρ κάλ­ λος έποχεΐσθαι τοις εϊδεσι φιλεΐ και εστιν οιον είδος ειδών, του άγαΟοΰ το κρύφιον Γκφήναν και προλάμψαν το έραστόν αύτοΰ και τον κρυπτόμενον περί έκεϊνον πόθον ύλκύσαν εις τό έαυτοΰ φανόν - „Die Schönheit pflegt die Formen [Ideen] zu übergreifen und ist gleichsam die Form der Formen, die das Verborgene des Guten zeigt und das Lie­ benswürdige an ihm aufleuchten läßt und die verborgene Sehnsucht nach ihm in das Lichte IErscheinende, Vorscheinende] ihrer selbst zieht“. Vgl. die Note complémentaire Saffreys S. 135, zu p. 63, n. 6. - Der an sich unerkennbare und un-sagbare Gott zeigt sich, wird zu­ gänglich in den „Theophanien“ —so Eriugena in Übereinstimmung mit der ihm durch Dionysius vermittelten neuplatonischen Denkform (vgl. mein Eriugena-Buch I 0 2 f . 106 f. 120 H. 129 ff. 287 ff und „Nicolaus Cusanus und Johannes Scottus Eriugena. Eine Retracta­ tio“, in: Philotheos 6, 2006, 153-175). M 65 a iff. - Schon Alkinoos nimmt diese Stelle zum Ausgangspunkt einer prädikati­ ven Charakterisierung des Ersten göttlichen Prinzips: Didaskalikos X 164,34 (Whittaker). J. Dillon, Alcinous. Ihe Handhook of Platonism, Oxford 1993, 105. /0 64 e 5.

n Er verweist selbst darauf in I 2 9 5 , 2 4 ! (als μ ο ν ό β ι β λ ο ν bena nnt: Iheol. Plat. III 18; M . 17; vgl. Saflrey S. i26f /u S. 41 des lextes| und nennt die drei Begriffe hier mul Iheol.

ΙΟΟ

Proklos’ Begriff des Guten

könnte dies für Proklos bedeuten: Das mit dem Einen einige Gute „zeigt“ sich gleichsam in einer Selbstentfaltung seiner „Wesens“-Momente72 als Wahrheit, insofern es durch diese seine Erscheinungsform jedes Einzelne in seinem Sein gründet und das sein läßt, was es in seinem Wesen als es selbst ist73, mit keinem Anderen von ihm Verschiedenen oder gar mit seinem Gegensatz „vermischt“ . Wahrheit ist somit der Grund der Identität, der intelligiblen Beständigkeit und der Selbstübereinstimmung jedes Einzelnen. In der Funktion der Identität-begründenden Abgrenzung, Konturierung und Unterscheidung jedes Einzelnen vom Anderen ist Wahrheit —in der Folge Platons - „das [klärende, unterscheidende] Licht des Ursprungs“74. Eine der etymologisierenden Bestimmungen von α λ ή θ ε ια als θ ε ιο ν άλες 75 soll Wahrheit als Grund der gefügten, in sich einigen Einheit (σ υ ν η θ ρ ο ισ μ ένο ν ) oder Vollkommenheit des je Einzelnen deutlich machen, in der nichts für dessen Vollendung noch aussteht. Wenn „göttlich“ die höchste

Plat. aaO in dieser Reihenfolge: τη άληθεία, τη καλλονή, τη συμμετρία (295*2,2). Jedoch Theol. Plat. III 11; 43,5f: κάλλος - αλήθεια - συμμετρία. 43>20: σύμμετρον - άληθές - καλόν. ΐ3; 48>ΐ5: συμμετρία - αλήθεια - κάλλος. 22; 7 9 > 5κ ά λ λ ισ το ν - αλήθεια - σύμμετρον. - Diese wechselnde Abfolge (schon bei Platon eine bunte Variation: Phil. 64d9~eio. 65a 2. 65b 8. 66a 6 - b 6) könnte ein Indiz dafür sein, daß Proklos für die drei Momente keine strikte Stufung intendiert (vgl. dagegen Damaskios nach Syrian, § 244), wie es für eine Trias im strengen Sinne zu denken wäre. Dadurch bleibt freilich das Zusam­ menwirken der Drei unberührt. - Mit L. G. Westerink ist anzunehmen, daß Damaskios in dem ihm zuzuschreibenden Philebos-Kommentar die proklische Interpretation dieser Stelle in bestimmtem Maße widerspiegelt (vgl. Damascius. Lectures on the Philebus, ed. L. G. Westerink, Amsterdam 1959, §§ 233-249; S. 111-118). Auf eine kurze Erläuterung proklischer Gedankenelemente bei Damaskios will ich mich in diesem Zusammenhang beschränken. Sie stellt eine gewisse Ergänzung zu dem in Theol. Plat. I I I 11 zu κάλλος - άλήθεια - συμ­ μετρία Gesagten dar. - Zu der platonischen Intention in der genannten Philebos-Passage: W. Beierwaltes, Marsilio Ficinos Theorie des Schönen 16f. - Dieproklische Trias hat J. Combès genauer analysiert (Les trois Monades du Philèbe selon Proclus, in: PROCLUS. Lecteur et Interprète des Anciens, 177-190) und darin auch auf Plotins Gedanke verwiesen, der die Drei (αλήθεια - συμμετρία - κάλλος) als vermittelnde Momente für eine Annäherung an das „άδυτον“ - „das unzugängliche Allerheiligste“ - des Ursprungs begreift (V 9,2,23-27. VI 7,30,32-39). 72 Die Drei drücken den Einen Ursprung aus:... άποτυποϋνται την μίαν [αρχήν]: Dam. 238,6. Dieser ist nicht το συναίρεμα των τριών μονάδων - „die [vielheitliche] Zu­ sammenfügung der drei Monaden“ , sie sind vielmehr άπορρήτως - „unaussprechbar“ - auf in-differente Weise „in dem Ersten“: 239,1. 240,1. 73 236,1. 238,1. 241,1 f. 244,1 ff (mit Hinweis auf Syrian). 74 238,1 f. Plat. Resp. 508 d 5. 509 a 1. 75 Neutrum von άλής „zusammengedrängt": ¿{6,4 fr.

Proklos’ Begriff des Guten

IOI

Form des Seins eines jeden Seienden (μόνως καί όντως) meint, dann be­ deutet Wahrheit - άλήθεια als άλες θειον als „göttlich Gedrängtes“ : die Form höchster, intensivster Einheit, die jedes Seiende als es selbst be­ stimmt. „Wahrheit“ ist also ein Wesensmoment von Sein und Eins-Sein. Das Gute erscheint als Schönheit, insofern es durch Schönheit Grund der Formbestimmtheit alles Seienden, Form in der höchsten Vollendung - Form der Formen (είδος ειδών76) - ist und als Form zugleich das für jedes Seiende „Erstrebenswerte“ , Geliebte und An-sich-Ziehende ist77. — Das Gute erscheint als Symmetrie, oder als durch Maß bestimmte Verhält­ nismäßigkeit, insofern diese, als Bedingung des Schönen78, ein inneres Auseinanderdriften (διάστασις), sich-in-Differenz-Aufspalten, in jedem Seienden verhindert und so - positiv gewendet —eine relationale Einheit im Einzelnen begründet. Dadurch ist sie auch Ursache der Geordnetheit der von dem Ersten Ursprung (πάντων αρχή) ausgehenden Wirklichkeit als eines Ganzen. —Alle drei Manifestationen des Guten erwirken Formen der Einheit (Identität, Form, geordnete Relationalität) - verstehbar aus der Identität des Guten mit dem Einen selbst. Einer Spur im ,Philebos‘ folgt Proklos auch in seiner Erörterung von drei weiteren „Wesens“-Momenten des Guten79, Formen von dessen sich äußernder, sich zeigender Wirkung, die ich noch etwas genauer erörtern möchte. Die Wesenheit des Guten fächert sich auf in den Prädikaten: es sei das „Erstrebte“ (έφετόν), das „Genügende“ oder „Hinreichende“ (ίκανόν) und das „Vollkommene“ oder „Vollendete“ (τέλειον)80. Die von Platon ge-

76 235,4. 77 236,8. 237,2f: έραστόν και άνακλητικόν πρός έαυτό („Etymologie“ καλόν καλειν). 245,6f: άνέλκον πρός έαυτό διά του κάλλους. 78 236,12. 79 Phileb. 20 d ι- ιι. Hier geht es um die Frage, welche Begriffsstrukturen dem gesuch­ ten άγαϋόν zukommen müssen (von Platon in eine Frage nach einer „Kleinigkeit“ geklei­ det, eine Aussage, die ironisch auf die besondere Bedeutung der Frage gerade aufmerksam macht). Die Reihenfolge bei Platon: (das Gute muß sein) τέλεον - τελεώτατον und ίκανόν; jedes erkennende Wesen „jagt“ und „strebt“ (έφίεται) nach ihm, um es zu fassen (τλι Γν) und für sich zu besitzen (περί αύτό κτήσασθαι). 80

Ih e o l. P la t. I 22; 1 0 1 ,1 4 - 1 0 4 ,2 0 . Im K o n t e x t d e s I. B u c h e s d e r „ T h e o lo g i a P l a t o n is “

b e z ie h e n sic h d ie d re i B e d e u t u n g s m o m e n t e d e s G u t e n z w a r a u f d a s W e se n d e r G ö t t e r , sie s in d je d o c h a u c h m it g e r in g s t e n M o d if ik a t io n e n v o m C Ju te n a ls d e m E r s t e n G o t t o d e r d e m G o t t S e lb st zu d e n k e n . V g l. a u c h d e n I iin w e is S a ifr e y s S . G l , X X X V d e s I. B a n d e s d e r

lhcologie Platonii ienne".

102

Proklos’ Begriff des Guten

nannte Reihenfolge der drei Begriffsmomente verändert Proklos aus einem systematisierenden Interesse heraus: die Drei sollen bestimmt sein durch die von ihm für die Wirklichkeit im Ganzen und für jede Trias im besonde­ ren angenommene Grundgesetzlichkeit „Verharren —Hervorgang - Rück­ kehr“ (μονή - πρόοδος - έπιστροφή 81). a. Das Gute ist das in allen Akten des Menschen - den noetischen und ethischen - und in allen der Physis immanenten Bewegungen „Erstrebte“ (έφετόν). Die aristotelische universale Formel, das Gute sei dasjenige, „nach dem Alles strebt“82, wurde in der neuplatonischen Philosophie zu einem Grundsatz über das Erste und zugleich Letzte im Sinne des Ziels aller physischen Bewegung und intellektuellen Intentionalität. Von die­ sem Grundsatz geht auch Proklos aus in seiner Analyse der ίδιότης des έφετόν83 - der Eigentümlichkeit des Erstrebten. Das Gute richtet Alles - die Materie eingeschlossen - strukturierend auf sich hin, zieht es an sich, indem es in Allem anfänglich Sein-setzend und in ihm fortwirkend gegen­ wärtig ist (πανταχοΰ παρόν πασι84); es ist das „Zentrum alles Seienden“ (πάντων των οντων κέντρον85), welches das aus ihm Hervorgegangene auf sich hin und in sich selbst sammelt. Trotz seiner Transzendenz ist das (erstrebte) Gute als gründendes Prinzip in Allem gleicherweise formend gegenwärtig und bewegt Alles „um sich selbst“, auf sich hin86. Auch wenn das Gute als das von Allem Intendierte an sich selbst „unerkennbar“ oder „un(er)faßbar“ ist87 (oder gerade aufgrund einer derartigen Erfahrung im

81 Vgl. unten S. 105. 82 Eth. Nie. I i; 1094 a 3: τάγαθόν, οΰ πάντ’ έφίεται. Aristoteles deutet - zustimmend den Bezug dieser Formel zur Tradition an (καλώς άπεφήνατο, Z. 2f). Wahrscheinlich hat er Platon und Eudoxos im Blick (vgl. F. Dirlmeier, Aristoteles. Nikomachische Ethik, Darmstadt 19838, 266f). 83 Theol. Plat. I 22; 101,20-102,26. Die aristotelische Formel: 101,27. - Dionysios Areopagites, Proklos folgend, in De divinis nominibus IV 10; 155,8. 18; 162,7 (Suchla). 84 Theol. Plat. I 22; 102,8. 85 102,12 f. Theol. Plat. II 7; 51,16-19: τό δή των τελείων άπάντων τελικώτατον καί τό των έφετών δλων κέντρον πάντα μέν τά έφετά τέλη χορηγούν τοΐς δευτέροις, αυτό δέ άπερίγραφον τοΐς πασι προυπάρχον τό πρώτον έστιν άγαθόν. 86 Theol. Plat. I 22; 102,22-24: πάντων γάρ όμοΰ τών οντων έξηρημένον πασι πάρεστιν ομοίως καί κινεί πάντα περί έαυτό, πασιν άκατάληπτον ον. „Über alles Sei­ ende zugleich hinausgehoben ist es in gleicher Weise Allem gegenwärtig und bewegt es Alles um sich selbst, Allem unerfassbar“. 87 άγνωστον: io2,i6. ίίληπτον: X. 17. άκατάληπτον: X. 24.

Proklos’ Begriff des Guten

103

denkenden und affektiven Umgang mit ihm), ist doch in Allem ein „un­ aufhörliches Streben“ , eine „unauslöschliche, unendliche Sehnsucht“ und „Spannung“ (τάσις) auf es hin wirksam88: das „Seiende sehnt sich nach ihm“ (ποθεί), indem es über sich selbst hinaus verweist oder hinausgeht; es erleidet (metaphorisch gesprochen) Wehen (ωδίνει) um seinetwillen: ob­ gleich oder gerade weil das auf es hin sich konzentrierende und zu ihm hin sich bewegende Subjekt es als ein im Begriff nicht Einholbares und Aus­ sprechbares nicht „umfassen“ und „an seine Brust drücken“89 kann (wie es seiner Sehnsucht entspräche), bleibt sein Streben, seine Sehnsucht, „tanzt es“ - wie alles Seiende - „um es“ : περί αυτό πάντα χορεύει90 - Ausdruck des immerwährenden Bezugs auf sein gründendes und anziehendes Zen­ trum. Durch die von ihm selbst verursachte Bewegung und die Sehnsucht zu ihm hin „bewahrt“ oder „rettet“ das Gute das von ihm Ausgegangene (σφζει τα πάντα91). Auch dieser gehört zu den neuplatonischen GrundSätzen über das Gute und Eine: daß es das „Alles Bewahrende, Rettende“ sei - πάντων σωστικόν92 - , Pendant und Konsequenz zu seinem All-Ursache88 εφεσις άσβεστος, ακατάληκτος, απαυστος: 102,15; 19; 20. ,indeficiens ώδίς4: in Parm. VII 58,12. 89 περιπτύξασθαι καί έγκολπίσασθαι: 102,21 - diese Formulierung ist übrigens eines der zahlreichen Beispiele dafür, daß der Bezug des Menschen zum götdichen Guten oder Einen nicht umstandslos als „apersonal“ behauptet werden kann. 90 102,18. Zu dem Phänomen des Tanzes vgl. meinen „Proklos“ 212ff; 220. 91 102,25. 92 Aus der Identität von Gutem und Einem heraus gesagt: Elem. theol. 13; 14,26-31. Vgl. Dodds ad locum S. 200 (hier auch Hinweis auf die Definition des Guten in den pseudopla­ tonischen "Οροι 141 e 9). Theol. Plat. I 22; 101,5.102,25. Mal. 5,2: τό έκαστου άγαθόν τό έκαστου έστί σωστικόν {uniuscuiusque salvativum). Bonum enim quidem enim mensura et lumen ...et hoc quidem salvativum omnium: ebd. 13,13; 15. - Zur Wirkungsgeschichte die­ ser Konzeption vgl. Thomas von Aquin, von Dionysius (de div. nominibus VIII 9; 206,8f (Siichla]: τη σωστική των πάντων άγαθότητι \salvatoria omnium bonitate]) ausgehend: ipse Deus salvat omniaperpropriam bonitatem (In librum B. Dionysii De divinis nominibus expositio [Pera] c. VIII lectio V n. 792. Vgl. auch c. IV 1. XIX n. 531: Boni enim est bona producere et conservare). Berthold von Moosburg, Expos, s. Elementationem theologicam Procli (ed. M. R. Pagnoni-Sturlese et L. Sturlese), Hamburg 1983, zu prop. 13, 349. 384. -ISi. Krinnernswert ist Bertholds Zusammenfassung der Bestimmungen des mit dem Gu­ ten identischen Einen gemäß quaest. 1 und 3 in Proclus’ Dubitationes circa providentiam: unum est boni omnibus tributivum, omnium penetrativum, omnium essentiativum, omnium sHpergressivum, omnium comprehensivum, omnibus incomprehensivum, omnium productivum, omnium generativum, omnium salvativum, omnium tnspectivum, propriae naturae comervativum, omnium perfectivum, varietatis imuserptivum et omnium in se reductivum (prop. M. 149 w ).

104

Proklos’ Begriff des Guten

Sein, aufgrund dessen es Sein gründet, herstellt, in eine beständige Existenz bringt. Daß das Gute das „Bewahrende“ und „Rettende“ ist, bedeutet dies: es erhält die Seins- und Wesensstruktur jedes Einzelnen und damit auch des Ganzen; es garantiert die Beständigkeit von dessen Existenz, obgleich sie in Formen der Zeit sich vollzieht; es bewahrt die Einheit oder Identität jedes Seienden, seine innere Stimmigkeit und damit auch seine (individu­ elle) Eigentümlichkeit (ίδιότης); durch sie wiederum ist seine Unterschiedenheit von Anderem gegeben; es gründet und erhält die Sinnhaftigkeit, die Intelligibilität und Erkennbarkeit jedes Seienden, damit nicht minder die gegenseitige Zuordnung der unterschiedlichen Dimensionen des Wirk­ lichen, die innere, in sich gestufte Ordnung und Vernünftigkeit des Gan­ zen. Diesen Aspekt des Bewahrens drückt auch der Terminus συνεκτικόv oder συνέχειν93 und συνοχή (συνέχεια) aus: Das Gute bewahrt den Z u ­ sammenhang des Einzelnen zueinander und zu seinem Ursprung, es be­ wahrt die sinnvolle, in sich geordnete Kontinuität der Wirklichkeit. b. Genuin platonisch hat ίκανόν unter philosophischer Rücksicht primär die Bedeutung des „ Genügenden “ „Hinreichenden “ (für sich selbst und für Anderes, was in einem Bezug zu ihm steht)94. Zuvor habe ich angedeutet, daß Proklos die drei hier in Rede stehenden Begriffsmomente des Guten mit der Trias „Verharren-Hervorgang-Rück­ kehr“ in Beziehung setzt. Für das έφετόν heißt dies: Als Bezugspunkt des Strebens bleibt es bei all seiner anziehenden95 und damit das Andere außerhalb seiner selbst bewegenden Aktivität ganz es selbst96. —Ίκανόν, das „Hinreichende“ oder „Fähige“ hingegen als innere Bestimmung des Guten sieht Proklos primär als eine Kraft (δύναμις97) zur Entäußerung, die das Sein im ganzen - „bis zum Äußersten“ (έσχατα) hin aus seiner eigenen Fülle oder Überfülle (πλήρες, ύπερπλήρες98), aus „zeugendem Übersein oder Überfluß“ 99 heraus hervorgehen läßt*00. Die ίκανότης des 93 in Tim. I 364,10fr. in Remp. I 289,1fr. 94 Vgl. Phileb. 20 d 4: ίκανόν τάγαθόν. 6j a 7. 66 b 2: τέλεον καί ίκανόν. Phaed. 101 e 1: εως επί τι ίκανόν. 95 Theol. Plat. I 22; 102,7: άνέλκει πάντα καί ανασπώ πρός τούς θεούς. 96 ... την οίκείαν ενωσιν αμικτον φυλάττει πρός τα δεύτερα: 102,25 £ 103,15. 104,1. 97 102,27 f. 98 103,4· 103,1; 6; 16. Plotin V 2,1,8Γ (vgl. Anm. 38). 99 γόνιμος περιουσία: 103,12. 100 πρόασι (103,1; 15), πρόοδος (ί ο ) , προι-ρχόμι να (17), ι'κφαίνπν (5).

Proklos’ Begriff des Guten

105

Guten, sein sich selbst und dem Anderen für dessen Sein und So-Sein „Genug-Sein“, beschreibt Proklos überschwenglich als das Sein einer Tä­ tigkeit oder „unablässigen“ und „grenzelosen“ Kraft, die nicht „in sich stehen bleibt“ (μή ίσταμένην έφ’ έαυτής101), sondern an sich selbst ohne Einschränkung, d. h. ohne zurückhaltende und auswählende Mißgunst102 teilgibt und in diesem Akt Wirklichkeit außer ihm selbst gründet. Ίκανόν als Aussage auf das Gut-Sein der Götter und auf das absolute (im absolu­ ten Sinne göttliche, - αύτόθεος) Gute bezogen, kann gerade von der triadischen Einbindung nicht isoliert werden; es ist vielmehr mit den beiden anderen Bestimmungen zusammen als eine Einheit zu begreifen103. Für das in sich bleibende έφετόν und für das den creativen Hervorgang des Guten aus sich selbst verursachende ίκανόν heißt dies: als Momente des Einen Guten gedacht verliert das Zweite durch seine Seins-konstitutive Teilgabe an sich selbst nicht sich selbst, hebt sich im Hervorgang nicht in Anderes auf; es wird vielmehr durch das In-sich-Bleiben, das Fest-in-sichStehen des Ersten gehalten oder als unmittelbar zur Aktivität des Guten selbst gehörig bewahrt. Ihre eigene Zeugungskraft104, ihr γεννητικόν-Sein105, läßt die ίκανότη ς106 des Guten in allem von ihm Gegründeten: in den Dimensionen des Noetischen (νους - νοερά), des Seelischen und des Physischen, selbst wieder zeugend fortwirken durch - platonisch gesagt - den alles gegrün­ dete Sein immanent bewegenden „Eros der Zeugung“ 107. Dadurch ist der Wirkzusammenhang des Guten im Ganzen der Wirklichkeit realisiert.

101 103,6. Ein analoger, dichter Text zur zeugenden und gründenden Kraft des Guten: Iheol. Plat. II 7; 49,27-50,11. 102 άφθονος: 103,5. πασιν ένδιδωσιν άφθόνως: 14 [δόσεις: ι]. άφθονος μετάδοσις: 26. in Tim. I 362,9ff. - Platonischer Bezugspunkt: Phaedrus 247 a 7: φθόνος γάρ εξω θειου χοροΰ ϊσταται. Tim. 29 e if. Einige Hinweise bei B. Nasemann, Theurgie (wie Anm. 7), 236.

103 Vgl. 104,8ff (σύμμικτον); 13-20. 104 γόνιμος περιουσία, vgl. Anm. 99. 105 103,7. 106 Das Substantiv ist schon platonisch: vgl. Lysis 215 a 8. - Der Titel von Avicennas „Physik“ lautet: „Sutficientia“ ; vgl. Meister Eckhart, LW I S. 511,3. 168,11: in libro suo Phystcorum, quem Sufficientiam voatt. 107 A n s p ie lu n g a u f P lat. S y m p . 206 e 2 5 (v g l. S a ifr e y ) : τής γεννήσπυς και του τόκου ι'ν καλφ |^ρ(»)ς|.

io 6

Proklos’ Begriff des Guten

c. τέλειον - das „Vollkommene“, Vollendete und Vollendende, auf das Gute als Ziel jeglicher Bewegung hin Leitende —das dritte der das Gute bestimmenden Momente - hat einen wesentlichen Aspekt mit dem Ersten gemeinsam: Ziel und Ende von universaler Bewegung zu sein108. Es ist der Grund dafür, daß „Alles an Rückwendung“ in seine je eigenen Ursachen und in die Erste Ursache - die „erst-wirkende“ 109 - „teilhat“ 110. Das Mo­ ment des τέλειον kehrt (sozusagen) den Hervorgang des Seins durch die Selbstentfaltung des Ursprungs - der „ursprünglichsten Quelle“ 111 - um und bindet das jeweils Verursachte in seine Ursache und letztlich in die αίτια προαίτιος, die „vorursachliche“ , absolute Ursache, bewahrend und vollendend zurück. Anfang, „Ende“ und Ziel der Bewegung fallen in die­ sem Kreisgang zusammen. Also: „Das Vollendete [das Gute als Ziel und aktive Vollendung] bewegt das Ganze in die Ursachen zurück und führt es [in sie] im Kreise zusammen“ 112. Die drei Momente zeigen also in ihrer jeweiligen Wirkung - in dreifa­ cher Kausalität - wesentliche Bestimmungen des Einen Guten, sind dessen Formen der Selbstidentität und Selbstentäußerung. 4. Eine Wirkweise des Guten, die im Sonnengleichnis ihren platonischen Anhalt und Impuls hat, soll noch mitbedacht werden: τάγαθόν φωτίζει τά πάντα —„Das Gute erleuchtet Alles“ 113. Diese vom Licht des Guten selbst114 ausgehende Erleuchtung (ελλαμψις115) des Seienden und Denken­ den gründet zum einen das Sein insgesamt - bis hin zur Materie116 - als

108 Remp. 109 110

Vgl. über das absolute Gute, „um deswillen Alles ist“ , οΰ ενεκα πάντα έστίν: in I 286,24f. 287,7. πρωτουργός: in Remp. I 276,19 (= αίτιον υπερούσιον). Theol. Plat. I 22; 104,6.

111 άρχηγικωτάτη πηγή: 104,17. II 112 ιο 4 >3~ 5·

49,24: πηγή τής άγαθότητος.

113 Ich belasse es in diesem Zusammenhang bei einem kurzen Hinweis auf die struktu­ rierende Kraft des Lichtes. Zu Metaphysik und Metaphorik des Lichtes bei Proklos - auch zur Frage nach der Selbstdurchlichtung des Denkens - vgl. meine Ausführungen in meinem „Proklos“ , Index s.v. „Licht“ (S. 430), vor allem die Kapitel „Erleuchtung des Denkens durch das Licht des Ursprungs“ (287ff) und „Analogische Dialektik“ (329-338, bes. 333ff).

114 ... διά τό έκ τάγαθου φως: in Remp. I 294*9£ ~ ήμεΐζ δέ έπιζητοϋμεν τήν μίαν αρχήν του φωτός: in Parm. I044>i8f. Theol. Plat. II 4; 33,276 τω πρώτω καί τό φως ήνώσΟαι φήσομεν... [τό φως] αμέσως ένιδρΐκτϋαι τω άγαθφ. 115 Theol. Plat. II j\ 48,17· in Remp. I 279,26fr. 1,6 deren Unbcstimmt-Sein (αόριστον) es crleuchtct (φωτίζπ): in Parm. 1064,10-12.

Proklos’ Begriff des Guten

107

ein in sich lichtes, klares, einsichtiges, denk- und erkennbares, und erhält es als solches, da das Gute unaufhebbar Quelle dieses Lichtes bleibt; zum anderen verursacht das dem Guten entspringende Licht die Einsichtsfähig­ keit des Denkens, seine Durchlichtungskraft. In Analogie zur Sonne gibt das Gute als das „Lichteste oder Leuchtendste des Seins“ (φανότατον του οντος117) dem Seienden insgesamt einsehbare Konturen, grenzt gegenein­ ander differente Gestalten oder Seinsformen voneinander ab und verbindet dennoch durch eine Stufung des Lichtes (secundum modum recipientis) je­ des Einzelne zu einem in sich strukturierten Ganzen, zu einer Einheit in Differenz, die sich als sichtbarer Kosmos und —diesen begründend —als Dimension des Intelligiblen, der Ideen, realisiert. In derartig stufender und durch Bezug zum Einen/Guten ordnender Tätigkeit, in der intensiven Ent­ faltungskraft des Guten und des „voraussetzungslosen Ursprungs“ treffen sich „Sonne“ und „Linie“ . Reflexion auf die Licht-Struktur der Wirklichkeit ist für den Menschen eine Herausforderung dazu, seine Lebensform von der Einsicht in das Licht des Guten - in dessen Wirkweisen und Erscheinungsformen - bestimmen zu lassen. „Die Einsicht“ —so habe ich dies schon in meinem Proklos-Buch gesagt118 - „in dieses Licht vollzieht sich jedoch nicht als absolute Selbst­ tätigkeit des Denkens, sondern wird nur durch das Ineinander der eigenen Wirkkraft des Denkens, seiner Selbstdurchlichtung, und der erleuchtenden Helligkeit des Urlichtes selber erwirkt. Daher heißt es in Erinnerung an den siebenten platonischen Brief (341 c 5ff) im Parmenides-Kommentar: ,... aus großer Anstrengung um es [das Eine] selbst wird in uns ein gött­ liches Licht entzündet, durch das sich in einer für uns möglichen Weise das Vernehmen jenes [Einen] vollzieht, in dem wir gemäß dem Göttlich­ sten in uns an ihm teilhaben. Das Göttlichste in uns aber ist das Eine, das auch Sokrates die Erleuchtung der Seele selbst nannte [illustratio animae, ελλαμψις], wie er auch die Wahrheit selbst Licht nannte... Durch die Helligkeit dieses Lichtes (erkennen wir) die Ursache alles Seienden, durch das alles am Einen teilhat4119. Die Helligkeit der Seele ist das Eine in uns120,

117 Plat. Resp. 518 c 9. Proclus z. B. Theol. Plat. II 7; 48,9 fr. 1,8 S . 289. 119 in Parm. VII 48, 12-19. „Hinneigung“ (άνακλίνειν) des „Strahls der Seele“ , τής ψυχής αυγή (Resp. 540a7), vgl. Proclus in Kemp. I 280,27ίΓ. >n Parm. VII 58,19fr: ac-

clinanti sui i/tsius claritatcm ad illud. 110 in Parm. VII 58,20.

io 8

Proklos’ BegrifF des Guten

das wir bewußt auf das Eine selbst hinkehren sollen, damit das entsprun­ gene (entzündete) Licht mit dem ursprünglichen Licht, das Eine in uns mit dem Einen in sich eins zu werden vermöge“ . *** Die Bedeutung des proklischen Denkens für die geschichtliche Entwick­ lung des Begriffs des Guten zeigt sich v. a. in Folgendem: Proklos bewahrt und bestärkt die von Plotin gedachte Identität des Einen mit dem Guten und der höchsten Form des Göttlichen; er stellt mit Emphase den Gedan­ ken der absoluten Transzendenz des Guten heraus, verbindet diesen jedoch unmittelbar mit seiner creativen, Vielheit setzenden Entfaltung und da­ durch mit einem allem Sein und Denken immanenten produktiven und erhaltenden Wirken; weiterhin verfolgt er in einer Fortbestimmung plato­ nischer Konzepte eine innere Differenzierung von Wesensmomenten des absoluten und des „seienden“ Guten, so daß das Gute in jeder Form unter dem Aspekt seines Wirkens als Grund von Geordnetheit, Wahrheit und Schönheit zu denken ist und aufgrund seiner absolut vollendeten Fülle oder Vollkommenheit als das Ziel jeder Bewegung. Die Gutheit des Einen ist also die Garantie dafür, daß die Entfaltung des Einen in Vielheit und Differenz in einem Kreis zurückgebunden bleibt in den Ursprung.

G E IS T : E I N H E I T IM U N T E R S C H I E D

Fragstu was Gott mehr liebt /jhm würken oder ruhn? Ich sage daß der mensch / wie Gott / sol beides thun *

I Im Zusammenhang mit der Frage nach der antiphilosophischen ScheinExistenz des Sophisten, nach der Möglichkeit und Bedeutung eines wah­ ren oder falschen Urteils auf dem Grunde von Sein und Nicht-Sein hat Platon in seinem Dialog ,Sophistes4allgemeine Kategorien des Verstehens der Wirklichkeit insgesamt entwickelt. Er nennt diese: μέγιστα γένη, die umfassenden, wichtigsten Gattungen des Seins, des Denkens und der Sprache: ,Sein oder Seiend, Selbigkeit und Andersheit [Identität und Dif­ ferenz], Stand und Bewegung, δν-ταύτό-Μτερον-στάσις-κίνησις1. Sie werden auf ihre Bedeutung in ihnen selbst und auf ihren Unterschied hin befragt. Sie gelten in unterschiedlicher Weise für den Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren und des intelligibel Seienden, also des rein Denkbaren - der „Ideen“ . Sie bestimmen das Sein dieser Bereiche ebenso wie sie de­ ren denkende und sprachliche Erfassung ermöglichen und leiten. —Von Platons Intention der ersten Hypothesis seines ,Parmenides4 her gesehen ist es klar, daß er die μέγιστα γένη unter diejenigen Kategorien rechnet, von denen „das Eine“ befreit werden müßte, sofern es überhaupt in den Blick des Begreifens kommen sollte2. Beide Theoreme - Gemeinsamkeit (κοινωνία) und Differenz der umfas­ senden Gattungen sowie ihre Negation im Blick auf das Eine als das uni­ versale Prinzip (den universalen Grund) der Wirklichkeit - sind im neupla­ tonischen Denken insbesondere des Plotin und des Proklos in modifizierter *

A n g e l u s Sil es iu s , C h e r u b i n i s c h e r Wandersmann I 21 7 . 1 Sophistes 254 dH. W. lWierwaltes, Identität und Differenz 1 Parmenides mH l> 7 ( I. i w h 4 II. 141 e 7 II.

11ΙΓ.

lyff'.

no

Geist: Einheit im Unterschied

Form wirksam, für das je Eigene prägend geworden. Für Plotin bedeutet dies, daß er das Sein und das selbst-reflexive Denken des zeit-freien, ab­ soluten Nus durch das Zusammenwirken von Selbigkeit und Andersheit, Stand und Bewegung begreifbar macht. Diese in sich „(be)ständige“ Be­ wegung oder Bewegtheit des Geistes, die ineins dessen „Leben“ ist, zeigt diesen als „Einheit im Unterschied“3. —Trotz einer geradezu manischen, im Blick auf logische Symmetrie und Vollständigkeit vielleicht verstehba­ ren Differenzierungs- und Gliederungstendenz im Bereiche des Nus hat Proklos dennoch Ähnliches wie Plotin im Sinn, indem er für eben diesen Bereich Elemente einer Theorie der Gemeinsamkeit oder der Correlativität entwickelt; die Begründung für den negierenden Ausschluß aller Katego­ rien aus dem Einen selbst nutzt er für eine teils eingehende Beschreibung von Begriff und Funktion der Kategorien. Diese Kategorien-Analyse dient einerseits dem philosophischen Begreifen von Kosmos und Geist, der Klä­ rung des Unterschieds aller Aussagemöglichkeiten zu einem angemessenen „Begriff“ des Einen, andererseits will sie eine Grundlegung der theologi­ schen Struktur des Seienden nach dem Einen selbst leisten, also eine relativ strenge Gliederung der Götter, wie sie die „Theologia Platonis“ intendiert4. Dieses Gedankengefüge ist vornehmlich durch Dionysius Areopagita in der christlichen Theologie für die reflexive Erfassung der Trinität und der Gottesprädikate wirksam geworden - bis in die frühe Neuzeit hinein. Im Folgenden konzentriere ich mich auf Proklos’ Konzept der Gemein­ samkeit der Ideen (κοινωνία [II]), auf den hierzu kompatiblen Begriff des Geistes und auf die Konkretisierung dieser Theorie in den Kategorien oder Ideen „Stand“ und „Bewegung“ [III], weiterhin auf die Funktion dieser beiden als ,nomina divina‘ in Dionysius’ Entwicklung zentraler Gottesprä­ dikate aus dem proklischen Parmenides-Kommentar [IV].

3 W. Beierwaltes, Identität und Differenz 24ff und die dort genannte Literatur. St. Gersh, Κ ΙΝ Η Σ ΙΣ Α Κ ΙΝ Η Τ Ο Σ . A Study o f the Spiritual Motion in the Philosophy of Proclus, Leiden 1973, bes. u f f (,motion o f immobility4). 49fF. 53fF.

4 Vor allem in den Büchern III —VI (Proclus. 'Ihcologic Platonicienne, ed. H. I). Saftrey et L. G. Westerink, Paris 1978-1997. Siehe auch die italienische Übersetzung der „Iheologia“ von Michele Abbate: Prodo. Teologia Platonica, Milano 2005).

Geist: Einheit im Unterschied

III

II Von der ,parmenideisch‘- platonischen Überzeugung ausgehend, formu­ liert Proklos einen Grundsatz seiner κοινωνία-Theorie als Einheit Unter­ schiedener in der Weise einer Frage oder Aporie: wie können das Intelligible oder die Ideen „unvermischt geeint“ sein und wie können sie umge­ kehrt und zugleich „unzertrennt [oder untrennbar] unterschieden“ sein: ήνωται άσυγχύτως, διακέκριται άδιαιρέτως5. Wie ist es denkbar, daß zwei unterschiedliche oder gar gegensätzliche intelligible Gegenstände oder We­ senheiten, sofern sie miteinander Zusammenkommen, sich miteinander verbinden oder vereinen, in ihrer Eigentümlichkeit nicht aufgehoben, d. h. vernichtet werden, daß das Eine in dem Anderen nicht in einer konturlo­ sen „Vermischung“ endet? Wie können andererseits Unterschiedene nicht als sich voneinander abstoßend, unüberwindbar sich gegenseitig abgren­ zend, sondern trotz ihrer Unterschiedenheit oder Gegensätzlichkeit als voneinander „untrennbar“ gedacht werden? Daß gerade im Blick auf die Ideen und im besonderen auf die μέγιστα γένη eine Verbindung in sich vernünftiger und einsichtiger zu sein scheint, läßt sich erproben aus den extremen Alternativen. So macht die strikte Trennung der εϊδη, wenn man also Sein, Identität und Differenz, Stand und Bewegung in ihrer „unvermischten Reinheit“6 je nur in sich als sie selbst nimmt, eine Erkenntnis, die von sich her auf Verbindung und Unterschied angelegt ist, unmöglich: Alles bleibt nebeneinander und auseinander, Einzelnes kann gar nicht als solches wahrgenommen werden, noch nicht einmal als Einzelnes in sieh selbst verstanden werden, weil das Wahrgenommen- und Erkanntwerden seiner Eigentümlichkeit (ιδιότης) den unterscheidenden Bezug zu Ande-

5 in Parm. 749,38 f. Gedanke und Formulierung gehen auf Porphyrios zurück (άσύγχυτός ενωσις), der damit das Verhältnis von Seele und Körper zu verstehen versuchte. Vgl. hierzu H. Dörrie, Prophyrios‘ „Symmikta Zetemata“ , München 1959, 55ff. Zur Geschichte des Begriffes κοινωνία, von Proklos ausgehend, siehe meine Bemerkungen in: Proklos 32ff. 42 ff. - In der christlichen Theologie bestimmt die Formel άσύγχυτος ενωσις (und ihre Va­ rianten) die Einheit von göttlicher und menschlicher Natur in Christus, in der die ιδιότης beider Naturen bewahrt bleibt. Vgl. die Definition der Lehre von den zwei Naturen in Christus durch das Konzil von Chalkcdon 451, in: H. Denzinger und P. Hünermann, Enchiridion symbolorum, dcfinitionum et dcclarationum de rebus fidei et morum, Freiburg 1991'7, Nr. 302, S. i42f(dort der griechische Text). 6 ίίμικτος καΟαρότης των rifufiv: in Parm. 750,17. 7s7.11 Γ. 750,21: π λ ικ ρ ιν ις . 22: μονοπΜ ς.

Geist: Einheit im Unterschied

112

rem voraussetzte. Das andere Extrem, das eine bestimmte Form von AllEinheit favorisiert, führt auch zu keiner Erkenntnis, in der sich das Denken orientieren und selbst fortbestimmen könnte: „Alles ist Alles, Ähnlichkeit ist Unähnlichkeit, Stand ist Bewegung, jedes Einzelne ist nicht weniger als das Ganze“7. Oder: Es gibt gar keine fünf unterschiedene γένη του δντος, d. h. sie sind nicht als je sie selbst existent, sondern jedes ist zugleich das andere, womit ohnehin eine je eigene Existenz undenkbar würde. Dieser Satz setzt allerdings genau das voraus, was die All-Einheits-These negie­ ren will, die mit dem Begriff des je Einzelnen operiert: „Jedes Einzelne ist Alles; so daß, wenn Alles in Allem ist8, auch Alles Alles ist und Keines in Keinem ist; nur Eins ist, das Andere9 ist nur Benennung“ 10. Dieser Art von ,Nominalismus‘ widerspricht Proklos entschieden. Wenn die Benennun­ gen (also auch die hier in Rede stehenden μέγιστα γένη) „nur“ Produkte unseres Denkens wären (έπινοία μόνον n ) und wenn damit zugleich deren Entsprechung zur „Natur“ (φύσις) oder zum „Sein“ (ουσία) „der Dinge“ 12, also des durch sie Benannten, negiert würde, dann wären ειδη und γένη ständig von ihrer Auflösung bedroht: sobald sich das Denken, das sich in einer seinsunsabhängigen Sprache ausdrückte, entzöge13, ginge auch die Unterschiedenheit der ειδη dahin (οιχήσεται ή έτερότης των ειδών14), jede Form der διάκρισις würde mit-aufgehoben (συναιρείται). Allein eine in sich seiende Natur der Dinge garantieret deren Unterschiedenheit und macht diese auch denkbar und durch Dialektik begreifbar15. Dieser Akt gelingt freilich nur, wenn die Unterschiedenheit der Ideen, Begriffe, Kate­ gorien und Worte als eine zu den jeweils anderen bezügliche gedacht wird. Die für eine gelingende Erkenntnis praktikable Vermittlung zwischen ra­ dikaler Zertrennung und diffuser tautologischer Einheit der γένη besteht 7 in Parm. 750,1-4. Zur möglichen Identifizierung der Vertreter einer solchen Anschau­ ung vgl. J.M . Dillon, in: Proclus’ Commentary on Plato’s Parmenides, translated by G. R. Morrow and J. M . Dillon, Princeton 19 8 7 ,12125. 8 inkonsequent, weil „in“ bereits Differenz anzeigt. 9 alles Andere, d.h.: die Differenzierung. 10 in Parm. 753,5-8: καί έκαστον τα πάντα· ώστε εί πάντα έν πασιν, οΰτω καί πάντα έστί πάντα καί ούδέν έστιν έν ούδενί· εν γάρ εσται μόνον, τά δε άλλα ονόματα μόνον. 11 Ebd. 753^5ff·

12 753.15· 27· 13 aufgrund seines zeithaften Seins kann es gar nicht immer, ohne Unterbrechung wirksam sein. M in Parm. 753,17. 20. 23. ,5>Ι6). V 9*6,3: πάντα δέ όμοΰ καί ούδέν ήττον διακεκριμένα. 17 κοινωνία und κοινωνειν z. Β. in Parm. 754>28. 38· 755 >Ι9 · 18 in Parm. 754>6. ίο. 756,20. 23. 757>7·

19 Ebd. 754 ,6 20 75 4 >12· 21 754’2 f (aus dem Sinnlichen aufs Intelligible übertragbar). 32 (ex negatione). 11 756,13. 40. 757,1.

IS 754,26 f. 755.M. /4 l-bd.

ii4

Geist: Einheit im Unterschied

form des Geistes auch als „Liebe“, durch sie bewegt und geeint, verstanden werden könnte25. Das ineinander bewegte Sein des Denkens, oder die gegenseitige Teil­ habe und Teilgabe der εϊδη und γένη, wehrt das zuvor genannte eine Ex­ trem einer konfusen All-Einheit im Nus ab: Teilhabe steht gegen reine, das meint hier: leere, alle Differenz verschwinden lassende Identität, ebensosehr aber gegen ein Vorherrschen der Differenz, die jedes Eine vom Anderen radikal trennte26. Intendiert ist demnach in der Henosis-Koinonia-Theorie, daß im Nus eine Balance zwischen Einheit und Unterschied Bestand habe, also Einheit im Unterschied, Identität trotz Differenz und Differenz trotz Identität sich vollziehen könne. Einheit als beständiges, correlatives Geflecht von Ideen und Gattungen ist nur denkbar, wenn jedes Einzelne in der gegenseitigen Teilhabe und Durchdringung - auch wenn sie in den je Einzelnen „ganz durchs ganze geht“27 - seine Eigenheit oder Eigentümlichkeit (οίκειον, ίδιότης) bewahren kann (σφζειν, φυλάττει,ν28). Als es selbst - in sich Eines - seiend und bleibend hat also jedes einzelne Eidos und Genos, auch wenn es durch Negation vom jeweils Anderen un­ terschieden oder gar als Gegensatz zum Anderen zu denken ist, an Anderen teil, ist in Anderen, geht durch Anderes hindurch und kehrt wieder zu sich selbst einigend zurück. So hat - wie Proklos sagt - „Ähnlichkeit, sofern sie Ähnlichkeit ist, an der Unähnlichkeit teil“29. Dies heißt: Ähnlichkeit ist nur sie selbst, sofern ihr Bezug zu dem, mit dem sie vergleichbar ist, auch Unähnlichkeit in sich hat; Unähnlichkeit aber - nicht als totale Andersheit betrachtet - muß auch Ähnlichkeit zu ihrem Bezugspunkt in sich haben, damit der Unterschied, durch den sie ««ähnlich ist, überhaupt als solcher erkannt werden kann. Analoges gilt für Selbigkeit und Andersheit, Stand 25 755,1 ff: ή φιλία διά των νοητών και ό ερως έκεΐνος, ον ύμνεΐν είώθαμεν. 754>33 (ex negatione). 769» 8ff zitiert Proklos im selben sachlichen Zusammenhang ein Logion aus den Chaldaeischen Orakeln zur bindenden und vereinenden Kraft des Eros (Or. Chald. fr. 42, S. 7 7 f des Places). Zu „Geist ist Liebe: φιλία“ bei Plotin mit Bezug zu Empedokles vgl. mein Buch „Das wahre Selbst“ 51 ff. 26 διεσπάσϋαι άλλήλων: 754,35. 27 756,22f. 32. 28 755>9f* 756,26. 38 (μένουοα). 757,11 f. Elem. theol. 176; 154,9: χωρίς έκαστον. Die dem Nus immanente einigende Tätigkeit als άσύγχυτος φύσις: in Tim. I 431,6 f. - Plotin V 9,6,8f: ό νους έστιν όμοΰ πάντα καί αύ ούχ όμοΰ, οτι έκαστον όνναμις iöia. - Das eini­ gende Ineinander-Sein des Zu-Denkenden, in dem das je Eigene bewahrt bleibt, meint auch die proklische Formel: πάντα έν πασιν, οίκείως bt έν έκάστφ, Elem. theol. 103; 92,13. 29 756,12-18. 23 f.

Geist: Einheit im Unterschied

US

und Bewegung. So ist jedes Einzelne nur es selbst, insofern auch das ihr gegenüber Andere in ihm ist und wirkt. Das relational gedachte einzelne Eine ist nur durch das oder mit dem Anderen in ihm30. Es könnte, so denke ich, schon bisher deutlich geworden sein, daß correlative Einheit im Kontext der Henosis-Koinonia-Theorie kein abstrak­ tes, formal-logisches Konstrukt ist. Einleuchtender wird diese Behauptung vielleicht noch durch eine Explikation dessen, was ich über Geist und Denken bereits angedeutet habe. Der in der Henosis-Koinonia-Theorie intendierte Sachverhalt hat seinen ontologischen und noologischen „Ort“ im Nus, in der in sich differenziert gestuften Dimension des zeit-freien Geistes. Ich möchte also zeigen, welche Wesenszüge derjenigen Form von Geist zukommen (müssen), in dem ein derartiger Vollzug correlativer Ein­ heit möglich sein soll.

III i. Damit ist der Bereich thematisiert, der im System-Zusammenhang des Proklos den Henaden folgt: den ersten Konkretionen von Vielheit nach dem schlechthin vielheitslosen Einen selbst, den Formen des „kleinsten Übergangs“ vom absoluten Einen zum Vielen oder vielheitlich-Einen; weiterhin ist er nach der Ebene des Seins zu denken, das sich sozusagen in retardierenden Momenten über die Stufe des absoluten, unteilhabbaren Seins in das Sein der Teilhabe (der Teilhabbarkeit) entfaltet und somit den unmittelbaren Bezugspunkt des Nus zu seinem eigenen Grunde darstellt; dies also ist der „Ort“ , in dem die Tätigkeit des Denkens (νόησις) sich in ihrem Bezug auf ihren Gegenstand —das νοητόν oder Intelligible —mit den Ideen im νους als dem „subiectum“ oder dem Ermöglichungsgrund von Denken zu einer Einheit zusammenschließt. Diese Einheit des Gei­ stes ist teillos (άμερές, άμέριστον31); sie umfaßt zwar Einzelnes und eint es in sich32, aber nicht in der Weise, daß das Einzelne voneinander abtrennbar wäre und erst in der Addition ein Ganzes schüfe. Die Negation

i0 Vgl. hierzu die analoge und die Frage weiterführende Theorie der singularitas (Einzig­ keit, Einzigartigkeit, individuelle Einmaligkeit) des Nicolaus Cusanus, unten S. 181 ff. ■n Elem. theol. 171; 150,1 ff. 176; 154,5Γ. i8ff. in Farm. 754,11. 38. 756,21. 757,10. ’2 ήνωμένον πλήθος: Wem. thcol. 171; 150,13. 6. Nus als πλήθος ένκιίον: Theol. Plat. V 18; 65,3.

ii 6

Geist: Einheit im Unterschied

von Größe und Ausdehnung in ihm bestimmt den Nus folgerichtig als ewig (αιώνιος33), d. h. zeit-los ohne potentielles Vor und Nach, unbewegt im Sinne von unveränderlich, und doch durch Denken lebend. Dies gilt für ihn als Ganzes ohne Teile, für sein Sein, seine Mächtigkeit und seine wirkende Tätigkeit. Sein Denken ist daher auch nicht einem diskursiven Nacheinander unterworfen, das erst durch Teile hindurch als den „Etap­ pen“ des Denkens zur Einsicht eines Ganzen führte. Das zeitfreie Sein des Nus ist vielmehr „zugleich “ ganz34, ebenso ist das Denken ein zeitfrei si­ multaner Akt, der mit dem (oder seinem) Sein identisch ist35. Das Denken ist in jedem Sein eines Zu-Denkenden denkend wirksam, d. h.: ebendieses Sein aufschließend, erfassend, erkennend36, das Einzelne in ihm jeweils abgrenzend und in der Abgrenzung verbindend. Durch seine ihm imma­ nente, aber auch auf das ihm Vorgeordnete und ihm Nachgeordnete aus­ greifende37 Dynamis ist der denkende Geist „die Fülle der Ideen“ , πλήρω­ μα ειδών38 - dies nicht nur im Sinne einer zahlenmäßigen „Summe“ von Einzelnen, sondern als die durch Denken aktiv umfassende (περιεκτικός), ordnende und Anderes aus sich gründende Kraft: die Ideen sind die selbst denkenden (νοερά) Zielpunkte des sie als ganze „zugleich“ umfassenden Denkens, ebensosehr sich entfaltender Ausgangspunkt für Anderes. Der Nus bringt dieses Andere verursachend hervor allein durch sein Sein (τω είναι39); da dieses aber ein denkendes ist, ist der Satz für seine nach „außen“ gehende Creative Aktivität im selben Maße gültig: „Geist gründet das nach ihm Seiende durch Denken, sein Schaffen [vollzieht sich] im Denken, und das Denken im Schaffen“40. 33 Elem. theol. 169; 146,24. 30. 171; 150,5. in Tim. I 402,15 f. 34 Aus dieser Konzeption heraus ist sachlich und historisch des Boethius Definition der Ewigkeit zu verstehen: aeternitas igitur est interminabilis vitae tota simul et perfecta possessio (Consolatio philosophiae V 6,4). Zum plotinischen Hintergrund vgl. meine Hinweise in: Plotin. Über Ewigkeit und Zeit 198 fF. 35 Elem. theol. 169; 146,30 f. 170; 148,4: αμα πάντα νοεΐν. 36 Ebd. 170; 14 8 ,1.11. 23 f. 37 173; 150,22.152,5 f. 177; 156,2. 38 177; 156,1. in Parm. 763,19. 800,14. 39 Elem. theol. 172; 150,19. 173; 152,3. 178; 156,30. 40 174; 152,8 f: πας νους τω νοεΐν ύφίστησι τά μετ’ αυτόν, και ή ποίησις εν τφ νοεΐν,

και ή νόησις έν τω ποιεΐν. ιγί: τό δε είναι έν τω ποιεΐν.. .καί ή νόησις εν τω ποιεΐν. 178; 156,25. in Parm. 844^£ ώς νοεί, ποιεί, καί ώς ποιεί, νοεί. Zu Sein, Denken und denkendem Willen als demiurgischer Ursache des Kosmos vgl. meine Rezension von A. J. Festugiere, Proclus. Commentaire sur leTimöe, in: Gnomon 41, 1969, 132. - Durch die im Denken und rationalen Wollen setzende Tätigkeit des Demiurgen ist der Kosmos im (¡eist gegründet,

Geist: Einheit im Unterschied

117

Der allgemeine Verstehenshorizont dieser Tätigkeiten des Nus in ihm (auch die nach „außen“ gehende ist eine in ihm selbst) ist das aristotelische und plotinische Theorem der Selbstgegenwart des Nus durch Selbstbezug im Denken: ,yJeder Geist denkt sich selbst“ —itäq νους έαυτόν νοει41 der Erste nur sich selbst, die ihm folgenden sich selbst und zugleich das vor ih­ nen Seiende. Was der Nus in sich selbst als sich selbst denkt, ist sein Sein, das Sein der Ideen. Er denkt und weiß sich42 selbst als ein Denkbares, ZuDenkendes und zeitlos zugleich Gedachtes. Das gegenseitige Innesein von Geist und Idee - εστιν αρα και έν τω νω νοητόν και εν τω νοητω νους43 als die intensivste Form von Einheit im Unterschied vollzieht sich durch den Grundakt des Geistes: durch das Denken (νόησις) als eine dynamische Identität44. „Wenn der Geist sich selbst denkt und so Geist und Gedachtes das Selbe sind, ist auch das Denken mit dem Geist und dem Gedachten selbig“45. Diese Selbstidentität des Geistes mit seinem Grundakt und sei­ nem in sich differenzierten Gegenstand schließt das Bewußtsein eben dieses Aktes ein: der Nus „weiß, daß er denkt“ - οΐδεν οτι νοεί es ist also das selbe „Subjekt“ , welches sich selbst denkt und zugleich dieses Selbst-Den­ ken denkt - νοειν οτι νοει46. Proklos sagt dies offensichtlich ohne Phobie vor einer Erweiterung dieser doppelten Reflexion in einen zirkulären Re­ greß in infinitum47. Von den Tätigkeiten zweier νόες oder von einander „wurzelt“ in ihm und empfängt von ihm sein inneres „Licht“ : ...ο κόσμος ένστηρίζηται τω νω καί ό νους έλλάμπη τον κόσμον (in Tim. I 4°3>Ι7 0 · 41 167; ΐ44>22· Aktiver Rückbezug (επιστροφή) auf sich selbst durch und im Denken: Iheol. Plat. V 5; 21, 20-23: πας γάρ νους εις αύτόν έπέστραπται, πρός δε αυτόν έπιστρέφων, πρός έαυτόν ενεργεί, πρός έαυτόν δε ένεργών καί ού πρός τά έ'ξω, νοητόν ι'στιν αμα καί ν ο ε ρ ό ν η μέν νοει, νοερόν, η δε νοείται, καί νοητόν. W. Beierwaltes,

Proklos 118 ff. 42 Elem. theol. 167; 146,9 f. 168; 146,16. 43 167; 146,11 f, „es ist also im Geist das Gedachte und im Gedachten der [es denkende]

( ieist“. 44 Zu diesem Begriff: W. Beierwaltes, Plotin. Über Ewigkeit und Zeit 28. 35.158f. Pro­ klos 34 f. 91 f. 42: ° δημιουργικός νους θεός γ ο τ ι νοερός.

46 168; 146,16 f. 20-23. 47 Verschieden zu Plotin, vgl. J. 1 lallwassen, ( leist und SelbstbewuKtsein, Abhandlungen da ( ieistes und Sozialwisscnsc haitlii hen Klasse der Akademie* der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Jg. Nr. 10, Stuttgart nw.j, ss S7·

Geist: Einheit im Unterschied

ιι8

folgenden Momenten im Einen Nus ist im Blick auf die Verbundenheit von Denken und seinem Selbstbewußtsein hier nicht die Rede. Beides ist vielmehr Ein Akt. „Indem der Geist den denkenden [sich als Denkenden] sieht und den sehenden erkennt, weiß er [von sich], daß er Geist in Tätig­ keit ist; dies wissend, weiß er, daß er denkt, und nicht nur, was er denkt. Zugleich also weiß er beides: das Gedachte [Zu-Denkende] und daß er jenes denkt und daß er von sich als Denkendem gedacht wird“48. Die Propositio 176 der Elementatio theologica: „Alle denkenden Ideen sind sowohl ineinander als auch jede gemäß ihrer selbst“ kann die Überle­ gungen wieder zur Henosis-Koinonia-Theorie zurückführen. In dem teillos ganzen, materie-freien, ort- und zeitlosen Nus bleiben die Ideen „unvermischt einander gegenüber“, jede einzelne bewahrt in der Correlationalität ihre „Reinheit“ oder Eigentümlichkeit in sich, als sie selbst durchdringt jede die andere abstandslos; das gegenseitige aneinander Teilhaben ist zu­ gleich ein das je Eigentümliche „sonderndes“49; es kommt also nicht zu einer άδιάκριτος σύγχυσις50, einer „ununterschiedenen Zusammenschüt­ tung oder Vermischung“ , sondern es bleibt der Unterschied im Ineinan­ der. Aus dem und mit dem bleibenden Unterschied denkt das Denken die Einheit des Nus als seine eigene. Diese ist es, was mit der „Fülle“ oder dem Inbegriff der Ideen - πλήρωμα ειδών - gemeint ist. 2. Ineinander-Sein oder Ineinander-Wirken, welches den Unterschied der Wirkenden bewahrt, gilt auch für die Gattungen Selbigkeit und Andersheit, Stand und Bewegung. Sie sind als universale Grundzüge der Wirk­ lichkeit insgesamt zu verstehen, ihrer geistigen, seelischen und kosmischen Dimension51. Zugleich sind sie die Kategorien für deren denkendes, be­ greifendes und aussprechendes Erfassen. Dabei können die einen die an­ deren gegenseitig und im Wechsel übertreffen (κρατειν), ihr IneinanderWirken wird aber gerade durch den Wechsel der Gegensätze wieder in eine Einheit ausgeglichen. Gemäß meiner spezifischen Absicht möchte ich nun nicht die umfas­ sende Bedeutung aller γένη analysieren, sondern mich darauf beschrän-

48 Eiern. theol. 168; 146,19-23. 49 176; 154,11: ίδιάζουσα μεί>εξις. 50 176; 154,14. 51 z.B . in T im . II

ih

, 12.ff. 1*5,21 fi.

Geist: Einheit im Unterschied

119

ken, die Funktion von στάσις und κίνησις für den Geist als Einheit im Unterschied zu erläutern52. Dem Sein von Stasis (Stand, Ruhe) kommt in sich zu „das Beständige und Ewige und Eingestaltige“ zu sein, Begrenztsein durch sich selbst; aus seinem Wirken gegenüber Anderem geht hervor, „daß jedes Einzelne in seinen eigenen Grenzen beharrt“ und „daß es in den selben Maßen und Orten standhaft gegründet ist“ . Dem Selbst-Sein von Kinesis —Bewegung — kommt in sich ebenso „das Ewige“ und das „unbegrenzt Mächtige“ zu, in Bezug zu Anderem aber, daß es der Grund von dessen Bewegtheit ist, „Leben schaffend“, die „Ursache der Hervorgänge und vielfältiger Tätig­ keiten“ , so daß das gegründet-Seiende in sich selbst tätig sein kann, daß es lebt, sich verändert von seinen Möglichkeiten zu seiner vielfältigen Wirk­ lichkeit hin, und daß es von dieser seiner Ursache her vollendet wird (oder sich selbst Vollenden kann), daß es sein eigenes aktives Vermögen seiner eigenen Fähigkeiten durch sie erlangt und daß es weiter (in der Umkehr der ursächlichen Bewegung) dem ewig in sich Beständigen durch sie an­ geglichen wird53: Stand und Bewegung in sich und für Anderes und in diesem zeigen sich als untrennbar zusammen wirkende Kräfte, die wesent­ liche Elemente in der Struktur der Wirklichkeit begründen und bewah­ ren. Sie machen in ihrem gemeinsamen Wirken eine in sich dialektische Einheit aus. Sein und Wirken oder die Koinonia von Stand und Bewegung sind nicht als abstrakt in sich bestehend zu denken, sondern primär54 im Nus als ihrem y,O rt“ oder „Subjekt“ ; sie sind zusammen mit Selbigkeit und Andersheit die konstitutiven Momente des Nus als einer Einheit im Unter­ schied. Paradigma hierfür sei der göttlich-demiurgische Nus. Ihm, der „in reinen und materiefreien Gedanken besteht“55, kommen alle die Prädikate zu, die ich zuvor schon für den der Henosis-Koinonia-Theorie kompatib­ len Geist genannt habe: unwandelbar, unteilbar oder teillos, ohne innere Erstreckung ewig; gerade diese Bestimmung qualifiziert ihn als beständig, stehend in sich; allein durch dieses Sein gibt er sein eigenes Beständig-Sein "*l X u S e lb ig k e it u n d A n d e r s h e it : W . B e ie r w a lt e s , P r o k lo s 6 o f f . I d e n t i t ä t u n d D i f f e ­ ren z {6 ff.

vi in Parm. 1010,32fr. 1011,27fr: 'Έ σ τ ιν α ρ α ή μέναύτοκίνησις δραστήριου δυνάμεως χορηγός και ζονής και ένεργείας πολυειδοϋς· στάσις δε, έδραιότητος και μονίμου καπ/στασες και τής ι*ν τοίς οίκείοις ΰροις ίδρύσεως.

Μ Vgl. oben S. ns. ^

in P a r m . 7 7 1 , 2 4.

120

Geist: Einheit im Unterschied

analog an das von ihm Hervorgebrachte weiter. Weder sein Sein in sich, noch sein Wirken56 ist denkbar ohne Bewegung57. Diese zeitfreie, bestän­ dige Bewegung im Sein aber ist das Denken - eine νόησις σταθερά58, - so daß sein Schaffen durch (Beständig-)Sein zugleich ein Schaffen durch Den­ ken ist59. Dieses demiurgische Denken ist bestimmt als Denken seiner selbst (νοει έαυτόν60), welches zugleich die Ideen als Ursachen alles welt­ haft Seienden denkt, um die creativen Hervorgänge (πρόοδοι61) aus sich zu verwirklichen. So kann auch vom demiurgischen Nus der Satz gelten: νους καί εστηκε και κινείται πας62, „Geist steht und bewegt sich zugleich ganz, oder als Ganzer“ . Um das Ineinander-Sein und Miteinander-Wirken, die gegenseitige Teilhabe, außer bei Selbigkeit und Andersheit, auch bei Stand und Bewegung evident zu machen, muß Proklos den Text in Platons ,Sophistes‘, auf den er sich bezieht63, modifizieren. Gegen Platons Auffassung, daß für Stand und Bewegung keine „Mischung“ denkbar sei, setzt Proklos die Behauptung, daß die beiden Seinskategorien, trotz einer bestimmten Einschränkung64, „nicht vollständig ohne Gemeinschaft und «^vermischt“ miteinander seien; er fragt: „Wie können sie in Einem sei­ end und in gleichem Range [= in wechselseitigem Bezug] stehend, nicht auch Freund miteinander sein, aneinander teilhaben, wie sollte der Stand seine tätige Wirksamkeit und die Bewegung ihre bleibende [beharrende, beständige] Kraft nicht vom Stand her empfangen haben?“ 65 Weil Stand als Strukturmoment des Geistes qua Denken Leben hat, hat er auch Be­ wegung in sich66; er ist also in sich bewegter Stand, so wie Bewegung qua Denken eine in sich ständige, unveränderbare, auch im creativen Wirken sich nicht verbrauchende Bewegung ist67. —Als ob dieses „Zugeständnis“ einer Koinonia auch zwischen Stand und Bewegung im Blick auf den 56 772,12: δραστήριος δύναμις. 1011,27f. 57 772,5-7: εί καί ό δημιουργός δίδωσι κίνησιν τοις μετ’ αυτόν, εχει τη ν αιτίαν τής κινήσεως όμοΰ τή στάσει συνυφεστηκυΐαν. 58 T h e o l. P la t . V 17; 62 ,2 1 . 59 in P a r m . 771,24: αύτφ τω είναι δίδωσιν. 29f: ποίησις - νόησις. V g l. o b e n A n m . 40. 60 yyi, 27. 61 1010,35. 62 T h e o l. P la t. III 24; 85,24^ 63 255 a. in P a r m . 772,20. 774,12. 64 773, 29 fr.

65 773.9-14· 66 773,21 ff. 28f: άλλήλων καί ταυτα μετπλήφασιν. 774*2» 67 773>23ff. Vgl. auch in Tim. II 134, i*.

Theol. Plat. V 30; 112,4 ^·

Geist: Einheit im Unterschied

121

platonischen Text schon zu weit gegangen wäre, legt Proklos im Sinne einer Vermittlung der Standpunkte Nachdruck auf ,,έν έαυτοΐς“ 68 - in sich selbst - und nicht auf das von ihm selbst eingeführte ,,έν άλλήλοις“ - in einander - , und dies im Horizont der allgemeinsten, umfassendsten Differenz von Einheit und Vielheit. „In sich selbst“ , so sagt er, sei jedes einzelne νοητόν είδος unterschieden und zugleich vereint (διακεκριμένον άμα και συγκεκριμένον), weil es Eines und Vieles zugleich sei - und dies ist die Voraussetzung aller weiteren Formen von Koinonia, „so daß auch Stand Eines und Vieles ist und die Bewegung [Eine und Vieles ist], wie ich und Du69 und jedes einzelne sinnlich Wahrnehmbare, und [wie] das dort [im intelligiblen Bereich] Eine vervielfältigt und die Vielfalt geeint ist“70. Durch diese Überlegungen wird, so denke ich, das, was Proklos zur gegen­ seitigen Teilhabe von Stand und Bewegung gesagt hat71, nicht aufgehoben, sondern eher bestärkt, weil sie deren Bedingung - die Grund-Differenz von Einheit und Vielheit —betreffen. Das Ineinander-Sein und Miteinander-Wirken von Stand und Bewe­ gung ist für das Sein des zeit-freien, absoluten göttlichen Geistes sozusa­ gen dessen Lebensgrund. Der in ihm sich vollziehende Akt des Denkens ist nur möglich als ein tätiger Bezug (ένέργεια) zu seinen ihm immanen­ ten Gegenständen, den Ideen, und damit zu sich selbst als ganzem. Die­ ser intentionale Bezug des Denkens wird als ein dem Geist immanenter und creativ aus ihm hervorgehender „Prozess“ beschrieben, der nur den Schein von Zeit, von Vor und Nach, an sich trägt. In seiner Wirklichkeit ist er ohne innerlichen Abstand, unveränderlich er selbst. Er denkt Alles ihm Gegebene zeit-frei in Einem oder zugleich. Daher wird die Eigen­ tümlichkeit oder Identität jedes Einzelnen in ihm nicht aufgehoben, sie ist vielmehr als „immer“ Beständiges ein Ermöglichungsgrund von Denken. I )as Denken oder der Denkvollzug (νόησις) des Nus braucht für sein Sein Stand oder Beständigkeit des Zu-Denkenden und zugleich die Bewegung, die auf das in sich Beständige begreifend zugeht. Im begreifenden Erfas­ sen des Beständigen, mit sich Identischen, vollzieht sich die Einung des Unterschiedenen, realisiert sich seine Koinonia. Das als Idee Beständige erschließt sich selbst „erst“ in der Bewegung des Denkens; es wird also ιο: ύπέρΟεος θεότης. Zum Durchbruch aus Gott in die Gottheit bei Meister Eckhart vgl. Bernard McGinn, The Harvest o f Mysticism in Medieval Germany, New York 2005, 177 ff. 86 Vgl. Eriugena, Index s. v. status - motus. 87 trochus. Vgl. De possest, h XI 2 (Steiger), n. i8,4ff. 8. 12. 15f. n. 19,6. 12: Maximus ergo motus ... simul et minimus et nullus. Vgl. Platon, Politeia 4 36 d 4 ~ e6 (στρόβιλοι). - Zur Symbolik des Spiels bei Cusanus vgl. H. G. Senger, Ludus Sapientiae. Studien zum Werk und zur Wirkungsgeschichte des Nikolaus von Kues, Leiden 2002, bes. 92 ff. A. Eisen­ kopf, Thinking between quies and motus. (Neo-)platonic implications and their usage as cpistemological concepts in the Trialogus de possest, in: El problema del conocimiento en Nicolas de Cusa: gencalogia y proyeccion, edd. J. M. Machctta - C. D ’Amico, Buenos Aires 2,005, 141—155. - (iiordano Bruno, De la causa, pmicipio et uno III (ed. G. Aquilecchia, p. 112,13-15). vom primaprincipia gesagt: ? si fattamrnte mobilissimo e velacissima, che e anco

stabilissima et immabilissimu.

126

Geist: Einheit im Unterschied

gerade in seiner höchsten Bewegung zu stehen scheint. Er wankt, wenn die Höchstform von Bewegung in ihm nachläßt und dadurch Stand und Be­ wegung auseinanderfallen, Identität und Differenz in ihr aus dem Gleich­ gewicht geraten und so die Differenz gegenüber der Einheit dominiert. Auch e contrario ist dies ein Verweis auf die Einheit Gottes - den Ineinsfall der Gegensätze in ihm.

II

P R IM U M E S T D IV E S P E R SE D A S E R S T E IS T R E IC H D U R C H S IC H S E L B S T Meister Eckhart und der ,Liber de Causis4

I Geschichtliche Voraussetzungen des Verhältnisses „Die pseudo-aristotelische Schrift Uber das reine Gute, bekannt unter dem Namen Liber de causis“ x, von Meister Eckhart auch als Traktat vom „Licht der Lichter“ zitiert, gehört zu denjenigen Texten, die der mittelalterlichen Philosophie und Theologie —anfangs durch die Autorität des Aristoteles noch in besonderem Maße motiviert - neuplatonisches Denken in genu­ iner und veränderter Form vermittelt haben2. In ihm hat die Elementatio theologica des Proklos zum einen eine empfindliche Reduktion erfahren,

1 so der Titel der Ausgabe von Otto Bardenhewer, die (neben einer großen Einleitung) den arabischen Text mit einer deutschen Übersetzung, ferner den lateinischen Text samt einer Abhandlung zur Geschichte der lateinischen Übersetzung enthält (Freiburg 1882, Nachdruck Frankfurt, o. J.). Im Folgenden zitiere ich nach der kritischen Ausgabe: Liber de causis. Edition établi à l’aide de 90 manuscrits avec introduction et notes par Adriaan Pattin, Louvain 1966 (innerhalb der Tijdschrift voor Filosofie, 28). Zur Problematik des Liber de causis insgesamt vgl. H. D. Saffrey, Der gegenwärtige Stand der Forschung zum Liber de causis als einer Quelle der Metaphysik des Mittelalters, in: Platonismus in der Phi­ losophie des Mittelalters, hg. von W. Beierwal tes, Wege der Forschung, Bd. 197, Darmstadt 1969, 462-483; C. J. de Vogel, Some reflections on the Liber de causis, Vivarium IV, 1966, 67-82; R. C. Taylor, St. Thomas and the Liber de causis on the hylomorphic composition of separate substances, Mediaeval Studies 41, 1979, 506-513 ; Cristina d’Ancona Costa, Re­ cherches sur le Liber de Causis, Paris, 1995 ; A. Fidora, A. Niederberger, Von Bagdad nach Toledo. Das „Buch der Ursachen“ und seine Rezeption im Mittelalter. Lateinisch-deutscher Text, Kommentar und Wirkungsgeschichte des Liber de Causis. Mit einem Geleitwort von M. Lutz-Bachmann, Mainz 2001. 2 Bardenhewer, Die pseudo-aristotelische Schrift, I iff; 270 ff. H. D. Saffrey in seiner Ausgabe von Ihomas’ Kommentar zum Liber de causis: Sancti Ihomae de Aquino super I ibrum de causis expositio, I’ribourg/Louvain 1954, xvff. St. Ihomas Aquinas, Commentary on the Book of Causes. Translatée! and annotated by V. A. Cuagliardo, O. P., Ch. R. Hess, (). P., K. Taylor. Introduction by V. A. Cuagliardo, (). P., Washington 1996.

130

Meister Eckhart und der Liber de Causis

zum anderen aber ist sie durch die Einführung eines Schöpfungsbegriffes mit christlichem Denken kompatibler geworden, ohne daß der Begriff des verursachenden influxus verdrängt worden wäre. Neuplatonisch in ihm ist immerhin der das Ganze des Denkgefüges bestimmende Grundgedanke, daß das Sein jeder Ursache und jedes Verursachten im Sein und Wirken einer ersten Ursache gegründet sei, die durch ihre Gegenwart in Ursache und Verursachtem die Gesamtheit von Seiendem als ontologische Relation stiftet. Diese Relation vollzieht sich als creativer Hervorgang aus der alle anderen Ursachen bestimmenden ersten Ursache und als Rückkehr des Ge­ schaffenen in das Erste: „Hervorgang“ (neuplatonisch: πρόοδος) als grün­ dendes In-Sein der ersten Ursache in allen anderen Ursachen, „Rückkehr“ (neuplatonisch: έπιστροφή) als bewegtes Verbundensein des Verursachten mit seiner eigenen und damit mit der umfassenden ersten Ursache3. Der Weg vom griechischen Vorbild über eine resümierende und verän­ dernde Form ins Arabische und ins Lateinische des Gerhard von Cremona am Ende des 12. Jahrhunderts hat auf die Feinstruktur des Gedankens si­ cher nicht gerade klärend gewirkt. Dennoch hat Thomas von Aquin die Elementatio theologica des Proklos als neuplatonische Quelle und als Ge­ dankenfundament des Liber de causis erkannt und sie in seiner Auslegung umsichtig und für diese Denkform sensibel ausgewertet4. Eine lateinische Übersetzung der Elementatio theologica, die einen kritischen Vergleich er­ möglichte, wurde von Wilhelm von Moerbeke am 18. Mai 1268 in Viterbo abgeschlossen5. „Es war dies die erste von seinen Proclus-Übersetzungen,

3 W. Beierwaltes, Der Kommentar zum Liber de causis als neuplatonisches Element in der Philosophie des Thomas von Aquin, Philosophische Rundschau 11,19 6 4 ,19 2 -215 , hier: 193, 200 ff zu Saffreys Ausgabe. 4 Die unbesonnene Behauptung Bardenhewers, Die pseudo-aristotelische Schrift 257, daß „von irgendeiner entscheidenden Beeinflussung seines [Thomas’] Lehrbegriffes durch dieses Buch ,Liber de causis' auch nicht ,im entferntesten die Rede seinc könne“ , ist durch die neuere Forschung längst und gründlich widerlegt. Außer dem in Anm. 1 Genannten vgl. die Sammlung derjenigen Stellen aus dem Werk des Thomas von Aquin insgesamt, an denen der Liber de causis zitiert wird, die zugleich die Bedeutung des Liber de causis für zentrale Aspekte von Thomas’ Lehre evident machen: C. Vansteenkiste, II Liber de causis negli scritti di San Tommaso, Angelicum 35, 1958, 325-374.

5 H. Boese, Wilhelm von Moerbeke als Übersetzer der Stoicheosis theologike des Pro­ clus, Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, Jg. 1985, 5. Abhandlung, Heidelberg 1985, 11. Hierin dokumentiert Boese seinen langjähri­ gen, höchst kundigen Umgang mit der handschriftlichen Tradition der lüementatto theo­ logica, dem wir glücklicherweise nun auch einen kritischen Text verdanken: Proelus, l'lc-

Meister Eckhart und der Liber de Causis

131

aber zugleich diejenige, die den größten Erfolg hatte, weite Verbreitung fand und recht eigentlich den Ruf des Proclus bei den lateinisch sprechen­ den Gelehrten des 13. bis 15. Jahrhunderts begründete“ 6; und „der erste, der von der neuen Übersetzung ein Exemplar bekam, ist gewiß Thomas von Aquino gewesen“ 7. Im Prooemium seiner Expositio super librum de causis charakterisiert Thomas das Verhältnis des Liber zu seiner arabischen Vorlage und zur Elementatio theologica folgendermaßen: „Im Griechischen findet sich ein Buch des Platonikers Proklos, das 211 Propositionen umfaßt und den T ite l, Theologische Grundlehre' führt; im Arabischen aber findet sich das Buch, das bei den Lateinern ,De causis'heißt, von dem feststeht, daß es aus dem Arabischen übersetzt ist und im Griechischen gar nicht vorhanden ist: daher scheint es von einem arabischen Philosophen aus dem vorgenannten Buch des Proklos exzerpiert zu sein, zumal da alles, was in diesem Buch enthalten ist, viel reicher und ausführlicher in jenem [Pro­ klos] enthalten ist“ , (...) multoplenius et dijfusius continentur in illo8. In Thomas aus seiner späten Zeit (um 1272) stammenden Interpretation die­ ses Textes zeigen sich —analog zu seiner Dionysius- Rezeption9 - Grund­ gedanken, die sich als neuplatonische Leitlinien oder Implikationen in seinem eigenen Denken wiederfinden oder dieses in bestimmter Weise differenzieren und entfalten10. Der Liber de causis-Yjdmmzntax des Thomas ist ein bedeutendes Dokument dafür, daß in Thomas „Platonismus“ mit „Aristotelismus“ auf eine produktive Weise konkurrieren. Meister Eckhart hat sich mit dem Liber de causis bei weitem nicht so intensiv en détail auseinandergesetzt wie Thomas oder Albertus Magnus11,

mentatio theologica, translata a Guillelmo de Morbecca, hg. von H. Boese, Leuven 1987 (Ancient and Médiéval Philosophy, De Wulf-Mansion Centre, series 1, V). 6 Boese, Wilhelm von Moerbeke, 11. 7 Boese, ebd., 48. H Thomas von Aquino, Super Librum de causis expositio 3, 3-10 (SafFrey). 9 Vgl. F. O ’Rourke, Pseudo-Dionysius and the Metaphysics o f Aquinas, Leiden 1992, worin auch die neuplatonischen Implikationen in Thomas* Dionysius-Kommentar heraus­ gearbeitet werden. 10 Ich habe in der in Anm. 3 zitierten Abhandlung vier Gedankenkomplexe skizziert,

die als metaphysische Implikationen neuplatonischer Herkunft für das Denken des Thomas als konstitutiv gelten können: 1. Selbstreflexion des Denkens; 2. derTernar esse-vivere—intrUi^trc; j. das Problem der Ursächlichkeit; 4. Schöpfung und Teilhabe. 11 Alberti Magni De causis ct processu umversiiatis a prima causa, cd. W. Fauser, Mün­ ster 1991, t 19z; das zweite Buch (I )e terminatione causarum primariarum, p. 59 sqq) enthält eine Paraphrase einer Reihe von Säl/en aus dem t.iber dr musis.

132

Meister Eckhart und der Liber de Causis

dennoch ist für die Methode und die Sache seines Denkens aufschlußreich, daß er an zahlreichen Stellen seines Werkes zentrale Sätze aus dem Liber de causis in seine eigene Argumentation, eigens oder im Ensemble mit anderen Texten, aufnimmt und dadurch genuinen neuplatonischen Denk­ figuren in ihr einen systematischen Ort gibt. Daß Meister Eckhart vom Liber de causis eine unmittelbare Kenntnis hatte, ist anzunehmen12. Als sicher kann es auch gelten, daß er den Kom­ mentar des Thomas benutzt hat13. Aus dem Umgang mit diesem war ihm wohl auch bekannt geworden, daß der Liber de causis und Proklos von­ einander zu unterscheiden sind, daß sie aber in der Sache auch miteinan­ der übereinstimmen; er zeigt dies gelegentlich durch die Formulierung (...) de causis et Proclus an14. Ob Meister Eckhart allerdings die proklische Elementatio direkt aus einem Kölner oder dem Pariser Exemplar von Moerbekes Übersetzung kennen lernte, bedarf immer noch einer genaueren Klärung. Josef Koch hielt es für „zweifelhaft“ und bekräftigte dies noch 1948 in seiner „Akademischen Festrede zur Universitäts-Gründungsfeier“ in Köln über „Platonismus im Mittelalter“ mit der Behauptung: „Die Art 12 Meine Hinweise auf wörtliche und verdeckte Zitate aus dem Liber de causis bei Mei­ ster Eckhart, die ich im Folgenden geben werde, erstreben keine Vollständigkeit. Zur Orien­ tierung über Meister Eckhart im ganzen vgl. Kurt Ruh, Meister Eckhart. Theologe, Prediger, Mystiker, München 1985 Alois M. Haas, Sermo Mysticus, Freiburg (Schweiz) 1984, passim. B. M cGinn, The Mystical Thought o f Meister Eckhart, New York 2001. Die Texte Eckharts zitiere ich nach der - noch nicht vollendeten - kritischen Ausgabe: Die deutschen Werke, hg. im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft von Josef Quint, Stuttgart 1958 fr (DW). Die lateinischen Werke, hg. von Josef Koch u.a., Stuttgart 1936fr (LW). 1987 hat L. Sturlese die Prologi in opus tripartitum et Expositio Libri Genesis nach einer von ihm in der Bodleian Library Oxford entdeckten Handschrift publiziert, die die bisherigen Textzeugen in LW 1 an Authentizität übertrifft. In Sturleses Ausgabe ist der neue Text dem der Urfassung in der Amplonianischen Handschrift (E) und der sog. „CTRezension“ (Codex Cusanus 21 et Treverensis 72/1056) gegenübergestellt, so daß dessen Ab­ weichungen von der Edition in LW 1 leicht zu verifizieren sind. 13 In den deutschen Werken zitiert er den Liber de causis durch folgende Hinweise: „ein meister“ (Nü sprichet ein meister von der ersten sache ...): D W 1, 329,1 f. „ein heiden meister“ oder ein „heidenischer meister“ : D W 1, 56, 8 f; ebd., 346, 3 f. 14 D i e F o r m u lie r u n g , d ie im K o n t e x t d e s H in w e is e s a u f d ie e r ste propositio d e s Liber de causis s t e h t , s t a m m t a u s T h o m a s ’ I n t e r p r e t a t io n e b e n d ie s e r propositio: Primo (...) advenit et ultimo recediP. T h o m a s 8, 11; E c k h a r t , L W 2, 511, 8 f. Ä h n lic h L W 1, 173, 12 f; in L W 3, 81, i f ist d ie z it ie r t e S te lle m it d e m H in w e is v e r b u n d e n : ut aitpropositio prima De causis et eius commentator, m it d e m s ic h e r T h o m a s g e m e in t ist. „ Commentator“ ist z u u n te r s c h e id e n v o n d e m H in w e is in commento (z. B . I W 3, 28, 6 ) , d e r w o h l a u f d ie E r lä u t e r u n g d e r Ih e se im Liber de causis se lb s t h in d e u t e t.

Meister Eckhart und der Liber de Causis

133

und Weise, wie Eckhart Proklos zitiert, spricht mehr dafür, daß er dessen Schrift nur aus dem Kommentar des Thomas zum Buch von den Ursachen kennt“ 15. Ich neige zu einer positiven Antwort auf die gestellte Frage, weil es bei Eckhart mindestens zwei Zitate aus der Elementatio theologica gibt, die nicht bei Thomas von Aquin Vorkommen und aus dem Kommentar des Albertus Magnus ohnehin nicht gewonnen werden konnten16. Die Gedanken, zu deren Erläuterung, Klärung und autoritativer Stüt­ zung Meister Eckhart den Liber de causis heranzieht, sind für sein Denken durchaus leitend und bestimmend: sie betreffen seine Lehre von Gottes Sein und Einheit in sich, nicht minder dessen creatives Wirken nach au­ ßen, das Sein und Wirken des göttlichen Grundes und Ursprungs im Sein des Geschaffenen, weiterhin die Stufung der Wirklichkeit insgesamt in ihr selbst und die Struktur des Intellekts oder der Seele als einer sich selbst reflexiv erfassenden Bewegung ihres Seins. Am häufigsten zitiert Meister Eckhart diepropositio XX des Liber de causis: „Primum est divesper seipsum “ in der Form: >yPrimum est dives per se“17, weiterhin solche Sätze, die das Sein-konstituierende, in ihm anwesende und es erhaltende Wirken der ersten Ursache beschreiben, so vor allem die propositio IV: Prima rerum

15 Proclus et Liber de causis: L W 1,16 9 , 4 f; ex libro Procli et De causis: LW 3, 488, 2. 16 J. Koch, Meister Eckhart. Versuch eines Gesamtbildes, Kleine Schriften, Roma 1973, I, 212; ders., Platonismus im Mittelalter, Krefeld 1948, 29. Koch erläutert allerdings nicht die von ihm apostrophierte „Art und Weise“ , in der Eckhart Proklos zitiert, die nach seiner Mei­ nung ein Ausweis dafür sein soll, daß Eckhart den Text der Elementatio nicht direkt gekannt habe. - Ein Exemplar der Elementatio theologica war Eckhart in Paris oder in Köln durchaus e rreichbar gewesen. Die Anregung zu einer mehr oder weniger ausführlichen Lektüre dieser Texte mag von seiner Kenntnis des Thomas-Kommentars ausgegangen sein. - Die Propo­ sitionen, die Eckhart zitiert und die sich nicht bei Thomas finden, sind die erste und zwan­ zigste in der Expositio Libri Genesis 4 (LW 1,19 7 , 8 f), bzw. im Liber parabolarum Genesis >09 (LW 1, 684, 3-5). - Weder Albertus’ Erörterung von Sätzen aus dem Liber de causis noch seine Metaphysica können seine Quelle für Zitate aus der proklischen Elementatio theologica gewesen sein, da beide weder direkte noch indirekte Proklos-Zitate enthalten.

17 Der Liber de causis-Text bei Thomas lautet: Primum est dives propter seipsum et est dives magis (112). Außer im Kontext seines Kommentars zum Liber de causis erläutert oder zitiert Ihomas diesen Satz nicht, obgleich er das damit eng verbundene Philosophem „bofmm est diffiisivum sui“ nicht nur kennt, sondern zustimmend in seinen creatio-Begriff einhe/ieht, vgl. z. H.: In Librum Beati Dionysii De divinis nominibus Expositio 501 (ed. Pera): lionitas divina (...) se extetidil ditfiindendo per bonitatem, usque ad infimas substantias. Summa contra gcntilcs I dicitur botium esse diffiisivum sui esse, llaec autem diffusio deo iompetit. Der Text von propositio XX bei Albertus: Vrimum est dives per seipsum, aaC) (Anm.11),

Meister Eckhart und der Liber de Causis

134

creatarum est esse —„Das Erste des Geschaffenen ist das Sein“ . In Form und Intention gleichen die aus dem Liber de causis genommenen propositiones den Sätzen aus dem LiberXXIVPhilosophorumy die Meister Eckhart eben­ falls für Grundzüge seines Gottesbegriffs heranzieht18. In meinen Überlegungen konzentriere ich mich auf diejenigen Bereiche des Eckhartschen Denkens, auf die die beiden zitierten Sätze ein beson­ deres Licht werfen. Ich werde dabei jeweils die neuplatonische Problem­ lage kurz erörtern, um so deutlich zu machen, welche neuplatonischen Elemente - genuine und durch den Liber de causis veränderte - durch die Vermittlung eben dieses komplexen, aber dennoch autoritativen Textes im Denken Meister Eckharts prägend wirksam geworden sind. Was Eckhart aus dem Liber de causis zitiert, zitiert er mit Zustimmung. - Für den un­ mittelbar folgenden Zusammenhang sollte bewußt gehalten werden, daß Eckhart das als „primum“ oder „ causa prim a“ benannte erste Prinzip der Wirklichkeit insgesamt mit „Deus“ ineins setzt.

II Gott: das sich entäußernde Gute —die Antwort des Menschen Primum est divesper se; „Das Erste - Gott - ist reich durch sich selbst“; im Sinne des Folgenden kann die These auch in der Form verstanden werden, wie sie bei Thomas steht - „propter seipsum“ : „Das Erste ist reich aufgrund seiner selbst“ . Die Erläuterung dieses Satzes im Liber de causis sieht den Grund des Reich-Seins des Ersten in dessen Einheit; es ist nicht in sich selbst „zerstreut“ , es hat also keine Unterschiedenheit in und zu sich selbst, ist deshalb „reine“ Einheit oder Einfachheit (simplicitas). Diese Begrün­ dung des Reich-Seins vollzieht auch Meister Eckhart nach; sie führt uns später zu dem zweiten Aspekt dieser Frage. i. Das Moment des creativen Sich-Verströmens ist durch die Identifikation der Einheit oder Einfachheit mit der Gutheit (bonitas) angezeigt. Das durch sich selbst oder aufgrund seiner selbst „Reiche“ ist zugleich das „zuhöchst Reiche“ , das Reichste schlechthin (dives maius oder magis)y welches durch 18

Z u m L ib e r W IV Philosophorum, vgl. D ie deutsche Literatur des M ittelalters, Verfas­

serlexikon V, 7 6 7 - 7 7 0 . II libro dei ven toq u attro filosofi, a cura di Paolo L u cen tin i, M ilan o 1999 (m it au sfü h rlich er H inleitung).

Meister Eckhart und der Liber de Causis

135

keinerlei „Einfluß über oder auf es selbst“ (influxio super ipsam per aliquem modorum) begründet wird; als erste Ursache ist es vielmehr Grund in ihm selbst oder durch sich selbst; es bedarf deshalb keiner Grundlegung „von anders woher“ , oder: eine solche ist durch die absolute Selbstbestimmt­ heit des Ersten gar nicht denkbar, alles Andere jedoch, was ihm entspringt, „bedarf“ (indiget) als ein in seinem Eins-Sein „Zusammengefügtes“ eines Anderen, eines verursachenden und einigenden Grundes. - Ganz im Sinne des Liber de causis und seines genialen Interpreten Thomas versteht Meister Eckhart das Reich-Sein Gottes durch sich selbst als ein herausgehobenes, ihm einzig zukommendes Sein: als das Sein eines grund-losen, alles Sei­ ende grund-los {gratia) gründenden Grundes, der sich als solcher selbst in diesem seinem eigenen Sein genügt (sufficientia), zugleich im Blick auf das, was aus ihm oder „unter ihm“ (inferiora) ist, das Ganze der Wirklichkeit im vorhinein ist, oder alles Andere in der ihm eigentümlichen Existenz­ weise vor diesem als Ganzes hat (praehabere19), so daß er als die „Fülle“ oder „Überfülle“ (plenitudo, abundantia) des Seins selbst gedacht werden muß: „Fülle des Seins“ in dem doppelten Sinne eines genitivus subiectivus und genitivus obiectivus zugleich: alles Sein als Es selbst —das Erste und dadurch Reichste —in sich umfassend, indem es dieses vor aller creativen Entfaltung als subiectum und Grund seiner selbst ist, und zum anderen begründende Fülle des Seins, die an ihm selbst teilgibt, indem sie dieses allererst konstituiert, d. h. als Seiendes, Einzeln-Existierendes im Kontext eines Ganzen (universum) hervorbringt. Die „Fruchtbarkeit“ (fecunditas) des durch sich selbst Reichen „entfaltet sich“ aus sich selbst (diffunditur, diffusio); gemäß der Terminologie des Liber de causis und in der Auslegung des zitierten Satzes „fließt“ das Erste in das Andere aus oder in dieses hin­ ein, indem es dieses in seinem Sein begründet. „Ausfluß“ oder „Einfluß“ des Ersten meint Creative Teil-Gabe an seinen eigenen „Eigenschaften“, neben anderem an seiner Einheit und Ungeteiltheit; im Akt des creativen Aus- oder Einfließens bleibt es selbst „ungeteilt“ in ihm selbst und wirkt gerade dadurch in dem geschaffenen Sein von in sich „geteilter“, zusam­ mengesetzter Einheit als das sammelnde und einende Prinzip20. Im Kontext des „dives-Satzes“ aus dem Liber de causis verweist Meister Ixkhart auf eine Bestimmung des Reichen, wie sie Aristoteles in seiner Poli­ 19 In lo lian n em 531, IW 3, 462, 4 ff.

Jü Prologus generalis in op u s tripartitu m 10, l.W 1, 15s, tff. Prologus in opus p ro p o si­ tion um 21, l.W 1, 17K, to ll; S c n n o 29, 299, l.W 4, 266, 7 II.

13 6

Meister Eckhart und der Liber de Causis

tik gegeben hat: „Zum Wesen des Reichen gehört es, zu geben, nicht zu empfangen“ ; zugleich erinnert er an die Bestimmung des Guten oder Zuhöchst-Guten, wie sie Platon im Timaios voraussetzt: daß von ihm —dem Guten - Neid oder Mißgunst „weit entfernt“ sei - ein Gedanke, der in der neuplatonischen Tradition durchweg als Grundzug des Guten gedacht wurde:21 dieses gibt neidlos an ihm selbst teil, es verströmt sich (bonum est diffusivum sui), es gibt sich selbst spontan als Anderes und im Anderen. Mit diesem Konzept als einer ratio philosophorum22 ist für Eckhart ohne Bruch der für die Botschaft des Neuen Testamentes grundlegende Gedanke verbindbar: Gott gibt Alles Allen „im Überfluß“, als die Selbstgenügsam­ keit in sich gibt er sich selbst und wird so zu unserem eigenen Genügen: sufficientia nostra ex deo est (2 Cor. 3,5), id est per hoc et ex hoc quod sumus ex deo et cum deo25\ als das durch sich selbst Reiche, das nichts „empfängt“ , auf das nichts „einfließt“ , „gibt“ es Allem und damit jedem Einzelnen frei sich ganz und Alles, was ihm selbst als solchem gehört oder zukommt. Die­ ses Sich-selbst-im-Anderen-Geben meint zuerst, daß es als causa prima et universalis omnium das Sein im Sinne von Existent-Sein erwirkt24, d. h. es schafft (creat) das Sein im Ganzen und als Ganzes und in seiner jeweiligen Einzelnheit {hoc aut hoc). Es ist ganz aus ihm: als Existenz und als Wesen. In einem relativen Sinne vermögen einzelne aktive Seins-Gestalten (formae) oder Seins-Prinzipien ein hoc aut hoc hervorzubringen, jedoch nur im Bezug auf dessen jeweilige Form oder Einzelnheit, nicht aber im Be­ zug auf dessen Existenz als solche25. Wieder im Kontext des divesSatzes gesagt: prima enim causa necessario dat omnibus omnia; aut enim omnibus aut nulliy omnia vel nihil, secundum illud Rom. 4: „vocat ea quae non sunt,

21 Vgl. hierzu K. Kremer, Bonum est diffusivum sui. Ein Beitrag zum Verhältnis von Neuplatonismus und Christentum, in: Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Teil II: Principat. Band 36, 2, B erlin-N ew York 1987, 994-1032. Oben S. 9iff. 22 Uber den methodischen und sachlichen Leitgedanken, auch in der Auslegung der Bibel philosophisch verfahren zu wollen — naturali ratione clare exponuntur (LW 1, 165, 11 f) - vgl. K. Flasch, Die Intention Meister Eckharts, in: Sprache und Begriff, Festschrift für Bruno Liebrucks, hg. von H. Röttges, B. Scheer, J. Simon, Meisenheim 1974, 292-318. W. Beierwaltes, Platonismus im Christentum 105 ff. 23 Zuvor: Quia primum est dives per se, dat omnibus affluenter (Jac. 1,5): Sermo 27, 1, 270 f, LW 4, 247, iff; Sermones et Lectiones super Ecclesiastici 12, LW 2, 242, iff. 24 Prologus in opus propositionum 2 0 f, LW 1, 178, 3 ff; Sermo 54, 2, 533, LW 4, 149, 5 ff·

25 Prologus in opus propositionum, aaC) 178, 11 (f.

Meister Eckhart und der Liber de Causis

137

tamquam ea quae sunt26. Oder: „divesper se“, quia dat omnibusy dat omnia, dat omnibus omnia. „Dives per se“propter sufficientiam et abundantiam, „et est dives maius“ sive „magis“ propter copiam, superabundantiam et redundantiam sive ejfluxum27. - Am Ende einer eigenständigen Auslegung der Aussage: „In gleicher Weise sind Gott der Gottlose und seine Gottlosigkeit verhaßt“ aus dem 14. Kapitel des Liber Sapientiae, ausgehend von dem im Liber de causis sich zeigenden Grundgedanken, daß Gott als das „Erste“ im Seienden und die erste Ursache von Allem das reine Sein (esse purum) ist, und daß dieser Gott „sich selbst in Allem und Alles in sich selbst liebt“28, steht der das Wirklich-Sein des Geschaffenen verteidigende Satz Eckharts: „Wenn wir (dies) sagen“ , d. h. daß Gott in Allem einzig das Sein und sich selbst, der selbst das Sein ist, erkenne und liebe, „.zerstören wir nicht das Sein der Dinge, sondern (be)gründen es“ 29. Diesen Akt des freien Gebens oder Gründens von in sich als Einzelnes seiendem Sein durch die erste Ursache, die das „Reiche durch sich selbst“ ist, charakterisiert Eckhart mit eben diesem Satz und drei anderen propositiones aus dem Liber de causis —eine zentrale, auf Gott als den Ursprung verweisende Aussage des Römerbriefs umschließend - durch: „fest fügen“ , eine klare, in sich stehende Gestalt geben (figere), einen (bewahrenden) „Grund legen“ , eine Grundlage für jedes Einzeln-Seiende im Sein setzen (fundare), es als Seiendes im Sein, „beständig“ halten (stabilire50). SeinGeben, Einzelnes als in sich Seiendes in seinem Sein Gründen schließt also das Bewahren eben dieses Seins unmittelbar ein: indem Gott Alles „stärkt“ und ihm Bestand gibt. Er, der von „keinem als von sich selbst und durch sich selbst in sich selbst bestärkt und beständigt ist“31, wirkt selbst in al26 Super Ecclestiastici 12, LW 2, 242, 5-7: „Die erste Ursache gibt notwendigerweise Allen Alles; entweder AJlen oder Keinem, Alles oder Nichts, nach dem Wort des Briefes .111 die Römer (4,17): ,Er ruft das, was nicht ist [ins Dasein], wie das, was ist*“ (ut sint : ,als Seiende*). 17 Sermo 34, 3, 348, LW 4, 302, 13 ff: ,„[Das Erste] ist reich durch sich selbst', weil es Allen gibt, Alles gibt, Allen Alles gibt. ,Reich durch sich selbst4 wegen seines Sich-selbst( ieiuigens und seiner Überfülle, und es ist das Reichste [im Vergleich zu dem nichts Rei* heres sein kannj aufgrund seiner Fülle, seiner Überfülle und seines Überflusses oder SichVersirömens“ . ln Sap. 255, IW 2, 587, 3 ff; 588, 5. r> (...) hoc (...) dicendo non destruimus esse rerum, sed constituimus: ebd., LW 2, 260; V)i. 12 f. I.bd., 14 fly )2, 1 II.

138

Meister Eckhart und der Liber de Causis

lern Seienden, damit dieses sich als es selbst in seiner Eigentümlichkeit bewahren könne. Die propositiones, die im Kontext des dives-Satzes die­ sen Gedanken bestätigen sollen, beziehen sich exemplarisch auf die fixio et essentia, auf den „festen (Be-)Stand und das Sein“ der denkenden We­ senheit, weiterhin auf die Abhängigkeit aller „Kräfte“ (virtutes) von dem unbegrenzten (un-endlichen) Ersten, welches „Kraft“ oder Mächtigkeit schlechthin ist (virtus virtutum), und auf die ursächliche Herkunft des Seins jeglicher essentia vom ersten Sein, des Lebens vom ersten Leben, und des Wisssens oder der Fähigkeit und des Aktes des Denkens und Wissens vom ersten Denken her - auf eine in sich gestufte Wirklichkeit also von „Sein-Leben-Denken“ , deren Elemente sich voneinander unterscheiden und die zugleich im Unterschied aufeinander bezogen sind32. Dieses freie Geben des Seins als des Daseins, das Gründen und Gestal­ ten von Einzeln-Seienden und das Bewahren jeglicher existierenden Gestalt wird von Meister Eckhart in einer Konvergenz von Sätzen aus dem Liber de causisy die aus dem dives-Satz sich ableiten, mit der für den christlichen Gedanken charakteristischen Bestimmung dieses Gebens unmittelbar und intensiv verbunden: das Erste oder Gott, weil reich durch sich selbst, „gibt Allem Alles umsonst“, gratis dat omnibus omnia33. Daß Gott das Sein frei gibt, es als es selbst sein läßt, gründet und bewahrt —dies ist ein Akt seiner Gnade, ein Ausdruck also der freien und ungeschuldeten, aktiven Zuwen­ dung Gottes zum Geschaffenen, in dem er sich selbst erkennt und liebt, oder dieses liebt wie sich selbst34. Dadurch beständigt er das Geschaffene in sich selbst und bewegt es zugleich wieder zu sich selbst als dessen Ziel im Ursprung hin. 2. Das Reich-Sein des Ersten oder Gottes durch sich selbst und das SichVerströmen dieses seines Reichtums ist in seiner Einheit oder in seinem Eines-Sein begründet: deus eo dives profusivus est, quia unus35. Nach einer landläufigen Vorstellung könnte man erwarten, daß „Reichtum“ als Prä32 592, 3 fF. Zur bewahrenden Wirkung des Guten bei Proklos vgl. oben S. 103 f. 33 In Sap. 272, LW 2, 602, 7 f; 603, 3 ff. Sermo 34, 3, 348, LW 4, 302, 5 ff; 13 ff; DW 2, 297; auch J. Quints Anm. 1. - Im Kontext des christlichen Gedankens einer „frei schenken­ den Gnade“ sei immerhin an Plotin, Enneaden IV 8,6,23 erinnert, wo er von dem Einen Guten sagt: ev xdtQiTi öövtcx;. W. Beierwaltes, Das wahre Selbst 94 ff („Verursachung als ,Geben4“). 34 In Sap. 590, 11 ff. 35 Scrmo 29, 299, LW 4, 266, 7.

Meister Eckhart und der Liber de Causis

139

dikat des göttlichen Absoluten und Ersten gerade durch die Fülle des Vie­ len in ihm, durch das Aufgefächert- und Umfassend-Ganze und nicht durch das Prädikat „Einheit“ oder „Sein als Einheit“ beschrieben würde. Für ein durch neuplatonische Konzeptionen geleitetes Denken indes ist es nicht nur nicht befremdlich, sondern geradezu gefordert, die Fülle oder das Ganze des ersten und creativ begründenden Seins als eine „zunächst“ in sich selbst konzentrierte Einheit zu fassen36. Eine derartige Einheit des göttlichen Seins ist in ihr selbst zwar „differenziert“ , ohne jedoch eine tren­ nende Andersheit in sich selbst wirksam werden zu lassen; der Begriff des Einen als indivisum esse schließt schon von sich her eine das Sein selbst „teilende“ Andersheit aus. Das Eine ist selbst „Negation der Negation“ {negatio negationis, „versagen des versagennes“37): weil es Alles schon im Vorgriff auf die creativ gesetzte, reale Andersheit des Seienden ist, kann von ihm „nichts negiert werden“ 38; durch sein Sein und durch den die­ ses Sein vollziehenden Akt der Reflexion nämlich schließt es alles begren­ zende, einschränkende, teilende Andere aus ihm selbst aus {in deo enim non est aliud59), insofern negiert es als negatio negationis alles möglicherweise Nichtige oder Andere in ihm selbst und erweist sich in der Negation als reine Selbstaffirmation {puritas affirmationis40). Trotz oder gerade wegen des negierenden Ausschlusses aller möglichen und wirklichen Andersheit aus dem göttlichen Sein ist es in seinen ihm wesentlichen Momenten - den trinitarischen Personen und dem Sein des „Zu-Schaffenden“ in der Vor­ habe oder im Vorblick auf dessen reale Andersheit und Einzelnheit - in der intensivst denkbaren Weise in sich aufeinander bezogen. Dieser Bezug 36 Ebd., 2 66, 4-6. Über Eckharts Konzeption einer in sich differenzierten Einheit: Pla­ tonismus im Christentum 100 ff. - Für eine Typologie der griechisch-metaphysischen und christlich-theologischen EinheitsbegrifFe verweise ich auf mein Denken des Einen, ferner auf: Einheit und Identität als Weg des Denkens, in: L’ Uno e i Molti, a cura di V. Melchiorre, Milano 1990, 3-47 und Das wahre Selbst (über den Geist und das Eine). 37 Prologus in opus propositionum 6, L W 1,16 9 , 6 und die dort in Anm. 5 und 6 gege­ benen Hinweise. Zu den neuplatonischen Voraussetzungen dieser Konzeption vgl. Exkurs IV, „Negatio negationis“ , in: W. Beierwaltes, Proklos 395-398; ders., Identität und Diffe­ renz 100, 166, 264f. K. Hedwig, Negatio Negationis. Problemgeschichtliche Aspekte einer Denkstruktur, Archiv für Begriffsgeschichte 24, 1980, 7-33. 38 LW 1,16 9 , 7. 39 Sermo 29, 304, LW 4, 270, 7 f. Dies ist einer der Bezugspunkte für Cusanus’ Begriff des non aliud. 40 Lxpositio Libri Lxodi 16, LW 2., 21, 7. I lier/u auch W. Beierwaltes, Platonismus und Idealismus j8fl.

140

Meister Eckhart und der Liber de Causis

ist als eine reflexiva conversio in se ipsum et super se ipsum, als eine ihr ei­ genes Sein denkende Spiegelung und Selbstdurchdringung und —in einer absoluten Metapher gesagt —als eine Selbst-Durchlichtung (in lucem se toto se totum penetrans41). Diese in sich bewegte Beziehung oder Reflexivität —Ausdruck auch des intensivsten Lebens und des liebenden Zusammengehörens - ist die Weise der trinitarischen Selbstentfaltung, des sich selbst denkenden, sich selbst aussprechenden und sich selbst liebenden Seins des trinitarischen Gottes. Dieser innertrinitarische Selbstbezug in Denken, Sprechen und Lieben vollzieht sich als ein Kreis, in dem der An­ fang der Bewegung sich selbst auf sich selbst wieder zurückführt. Dieser Gedanke ist ausgedrückt in Eckharts Auffassung des Satzes aus Exodus 3, 14: „Ego sum qui sum \ „Ich bin der Ich bin“ , sofern er als eine Bewegung vom ersten „Ich bin“ in das zweite „Ich bin“ gedacht wird - durch die Vermittlung des die Relation zwischen den beiden anzeigenden „q u i“; in dieser Bewegung zeigt sich das „Ich bin“ im Vollzug des göttlichen Seins —in seinem Selbst-Bezug —als das Selbe: Die Bewegung, die vom ersten „Ich bin“ ausgeht, kehrt im zweiten „Ich bin“ in der Weise einer absoluten Selbstvermittlung (qui) in sich selbst zurück. Einheit in ihrer intensivsten Form der Selbstbezüglichkeit des Absoluten aber ist Identität mit sich selbst (identitas est unitas42). Diese Einheit als trinitarisch bewegte Selbstidentität ist der göttliche „Reichtum“ , den Gott durch sich selbst hat, weil und indem er ihn ist (divesper se). Die Erläuterung dieses Satzes43 - die ausführlichste im ge­ samten Eckhartschen Werk - bringt Eckhart mit seiner Interpretation der im Exodus gegebenen Selbstaussage Gottes zusammen: die „Selbstgenüg­ samkeit“ (sujflcientia) oder die Bestimmtheit einer jeden Wesenheit durch sich selbst kommt Gott im höchsten Sinne zu; die göttliche Wesenheit ist ihr eigenes Sein, ihre Washeit (quidditas) ist mit ihrer Existenz (Obheit, anitas) identisch und genügt so sich selbst, weil sie frei ist von den mögli­ chen Differenzen, die eine solche zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, von Sein und Wirken einschlössen. Die im „Ego sum qui sum “ gegebene Selbstaussage Gottes könnte somit als Ausdruck der Selbstgenügsamkeit des göttlichen Seins, als Aussage der Selbstidentität Gottes auf ein „Ich bin“

41 Ebd., 21, 9 ,12 - „in Licht hinein, sich selbst als Ganzes durch sich selbst ganz durch­ dringend“ . 42 Sermo 29, 303, LW 4, 269, 12h St. Grotz, Vom Umgang mir Tautologien, Hamburg 2000, 49 ff.

Meister Eckhart und der Liber de Causis

141

zurückgeführt werden: das Subjekt „sum“ im Satze „Ego sum qui sum“ bzdürfte als Aussage über Gott oder als dessen Selbstaussage keines zweiten sum als des Prädikats zu diesem Subjekt —„sum “ genügte sich selbst, weil es mit seinem eigenen Prädikat identisch ist, sofern man in dem einen „sum “ die trinitarische Kreisbewegung, den inneren Selbstbezug (mit-) denkt; die repetitio des Subjekts im Prädikat zeigt nur dessen in sich bewegte SelbstIdentifikation nach außen, d. h. in unserer Sprache an. „Ego sum qui sum “ ist dadurch ein Identitätssatz im reinen Sinne: das Subjekt ist das Prädi­ kat. Im Prädikat sum reflektiert sich das Subjekt sum in einem doppelten Sinne: es spiegelt sich in seiner eigenen Identität ohne reale Differenz, es denkt oder durchdringt sich als Subjekt reflexiv im Prädikat selbst und ist so ganz bei sich. Diese reflexive Selbstdurchdringung ist identisch mit der Selbst-Aussage eben dieses absoluten Subjektes. Der Iderititätssatz, reduziert auf das eine „Ich-bin“ , ist also Index der Einzigkeit, Einheit und zugleich des inneren sich selbst aufschließenden und gerade dadurch sich mit sich selbst wieder zusammenschließenden „Reichtumssufficientia schlechthin. - Meister Eckhart bestärkt in einem zweiten Gang diesen Gedanken aus dem dialektischen Verhältnis von Reichtum und Entbehrung (oder Armut) heraus. Dabei geht er von der Annahme aus, daß „Ego sum qui sum “ auch als Äquivalent zu dem Satz gedacht werden könne: Gott ist sein Sein selbst, dies aber impliziere, daß eine so gedachte Wesenheit sich selbst gar nicht „verlassen“ könne, also im Sinne seiner Selbstidentität sein eigenes Sein gar nicht nicht sein könne und insofern „notwendiges Sein “ (necesse esse) sein müsse (dies soll freilich nicht den Ausschluß von Freiheit bedeuten!). Der absoluten Selbstgenügsamkeit Gottes setzt er die „Bedürftigkeit“ des Geschaffenen entgegen: im Gegen­ satz zu allen Formen der Defizienz und Nicht-Identität und damit der Bedürftigkeit „außerhalb“ Gottes bedarfdieser als „das Sein selbst nichts, weil ihm nichts mangelt (...) Nichts zu entbehren [daß nichts mangelt] ist das Wesen höchster Vollkommenheit, ist vollstes und lauterstes [reinstes] Sein. Und wenn es volles Sein ist, dann ist es auch Leben und Weise-Sein |sapere, intelligerey Denken]. (...) Wie er selbst sich und Allem [der Grund] ist, so genügt er auch sich selbst und Allem, er ist selbst sein eigenes und Aller Genügen, 2 Cor. 3, 5: ,Unser Genügen ist aus G o tt'“44. 4 ' l.xpositio I.ibri Kxodi ¿0, I.W 1 , 2.6, ¿( 1. I’bd., ¿1, IW 2.7, Xfl: Deus (tutcm est ifnum suum esse... lf>sum autem esse nullo indiget. (juiit nullo eget ... ly/tr igitur nthtlo summuc perfectionis est, p/enissimum et fturis

142

Meister Eckhart und der Liber de Causis

„Reichtum“ , Gottes Reich-Sein durch sich selbst, ist also identisch mit seiner sich selbst entfaltenden und sich in sich haltenden trinitarischen Einheit; als solche, d. h. sich selbst als die Einheit des eigenen Seins und Denkens vollziehende Identität, ist er die sich selbst genügende Vorbedin­ gung seines eigenen Wirkens „nach außen“ - die Entfaltung des „inneren“ Reichtums als Grund für dessen Creative, frei sich gebende Entäußerung: hinc est quod emanatio personarum in divinis ratio est etpraevia creationis45. Damit ist der Satz bestätigt und begründet, von dem die Überlegung aus­ ging: deus eo dives profusivus esty quia unus46. 3. Durch die Auslegungen des Satzes primum est dives per se im Blick auf die absolute Selbstgenügsamkeit der ersten Ursache oder des Gottes, so­ wie auf die in sich bewegte Seins-Fülle als Voraussetzung und Begründung des Sich-selbst-Verströmens des mit der ersten Ursache identischen Guten schlechthin ist bei Meister Eckhart, analog zu Thomas, eine genuin neu­ platonische Denkfigur wirksam geworden47. Eindeutig ist dieser Gedanke bei Plotin grundgelegt und für die spätere Entwicklung des Neuplatonismus maßgebend geblieben: das Eine, mit dem Guten identisch, bedarf für sein eigenes Sein und Wirken keines An­ deren - dies aufgrund seiner Einheit im Sinne der Einfachheit, die durch jede Form von Vielheit und damit Differenz gestört, d. h. in ihrer Absolut­ heit negiert und aufgehoben würde. So benennt Plotin, im Kontext seiner Bestimmung des Einen als des Un-Endlichen aufgrund seiner „unumgreiflichen Fülle der Macht“ , dieses im Blick auf es selbst und auf das ihm ent­ springende Andere: als das „Hinreichendste von Allem und das Selbstge­ nügsamste und das Unbedürftigste“ , demgegenüber alles Andere, d. h. das nicht reine Eine oder Viele, eines Anderen als seines Grundes „bedürftig“ ist (evöeeq). Die Bestimmung des ersten gründenden Prinzips, des Einen selbst, kann deshalb heißen: „Ais Ursprung von Allem ist es all dessen un-

simum esse est. Et si plenum esse est, igitur et vivere est et sapere est... Sicut enim ipse sibi et omnibus est, sic et ipse sibi et omnibus sufficit, ipse sua et omnium sufficientia est. 2 Cor. 3: ,sufficientia nostra ex deo est‘. 45 Ebd., 16; 22, yf. 46 Sermo 29, 299, LW 4, 266, 7. 47 W as ich hier nur vergew issernd und erin n ern d skizzieren k an n, habe ich in anderen P ublik ation en des öfteren entw ickelt und au sfü h rlich belegt, au f die ich zu einschlägigen Fragestellungen zur weiteren In form ation verw eise.

Meister Eckhart und der Liber de Causis

143

bedürftig“48. Alles Andere jedoch, was als Entsprungenes des Ursprungs bedarf, strebt aufgrund dieser seiner ontologischen Verfaßtheit zum einen Ursprung hin. Für die Entfaltung des Einen qua Gründung des Vielen als des zum Einen hin Anderen und in sich vielfältig Differenten benutzt Plo­ tin, wie auch die späteren Neuplatoniker (den für das christliche Denken besonders maßgebenden Dionysius eingeschlossen), neben den Metaphern des Samens, des Zeugens, der Wurzel und des Lichtes vor allem die der Quelle49. Diese Metapher trifft den Sachverhalt genau, daß das Eine oder Gute als Ursprung sich selbst „verströmt“ , in diesem „Strömen“ bis in den äußersten Bereich der Wirklichkeit wirksam ist, und daß es selbst gerade als dieser ständig wirkende und erhaltende Ursprung in ihm selbst blei­ ben muß. Dieser Gedanke lebt aus dem anderen, ebenfalls metaphorisch auftretenden: das Eine als das Gute schlechthin bestimmt sich gerade da­ durch, daß es an seiner eigenen „Fülle“ ohne Mißgunst teilgibt50: ον γάρ τέλειον τω μηδέν ζητεΐν μηδέ έ'χειν μηδέ δείσθαι οιον ύπερερρύη καί

48 Plotin V I έφ’ έαυτού γάρ έστιν ούδενός αύτω συμβεβηκότος. Τω αύτάρκει δ’ αν τις καί τό εν αύτού ένθυμηϋείη. Δ ει μέν γάρ ίκανώτατον άπάντων και αύταρκέστατον, καί άνενδεέστατον είναι· παν δε πολύ καί μή εν ενδεές. 34 Ά ρ χ ή δε ούκ ενδεές των μετ’ αύτό' ή δ’ άπάντων άρχή άνενδεές άπάντων. V 4,1,12 ff: αύταρκέστατον τε τω άπλούν είναι και πρώτον άπάντων. V I 7 ,2 3 ,7 £ (· · ·) τΊΊν τού άγα0ού φύσιν αύταρκεστάτην τε είναι αύτη καί άνενδεα άλλου ότουούν παντός. 49 Vgl. hierzu W. Beierwaltes, Plotin, Über Ewigkeit und Zeit 13 f; in „Denken des Einen“ das Kapitel über die „Entfaltung der Einheit“ , 155ff. Weiterhin die in Anm. 21 ge­ nannte Abhandlung von K. Kremer über „bonum est diffusivum sui“. —Die Verwendung des Begriffes „Emanation“ für die hier zitierte Konzeption ist irreführend, da er seit dem 17. und 18. Jahrhundert zunehmend als Characteristicum eines „Pantheismus“ gesehen wird. Dem steht die Bedeutung von „emanatio“, „ influxus“ „influentia“ o. ä. im Mittelalter durchaus entgegen: Eine philosophisch scharf umgrenzte Bedeutung hat emanatio (zusammen mit jluere und influxus) mindestens schon in der Schöpfungslehre des Albertus Magnus bekom­ men, vom Liber de causis wesentlich mitbestimmt (prop. I 1; 17; 18 u. ö.), vgl. De causis et processu universitatis (wie Anm. 11) 43,1-3: fluxus est simpliciter emanatio formae a primo jonte, qui omnium formarum estfons et origo. L. c., caput 2 et 3: quid sit influere; de modo fluxus et influxus (S. 44—46). Thomas, Super Librum de causis expositio 5,14; 8, 28ff: unde et hie ponitur verbum influendi et Proclus [Elem. theol. 56] utitur verboproductionis [παράγειν] quae exprimit causalitatem causae ejflcientis. Ders., II Sent., dist. 1, qu. 1, art. 2: influentia causae; De substantiis separatis 9 (ed. R. M. Spiazzi, n. 98 ff) : influentia, influxus, emanatio. II Sent., dist. 8, qu. 1, art. 2 c.: emanatio creaturarum a Deo; Summa theol. I, qu. 45, art. 1 i erratio, quae est emanatio totius esse, est ex non ente quod est nihil. ™ W. Beierwaltes, Denken des Einen 411 f. I’roclus, Elem. theol. 122; 108, 10 ff; 15F; 19 11: über die αγαθού μΓτάάοοις des ( löttlklirii, die in seinem Sein begründet ist (αύτω

144

Meister Eckhart und der Liber de Causis

τό ύπερπληρες αύτοΰ πεατοίηκεν αλλο51. „Überfülle“ meint jedoch weder bei Plotin noch bei einem späteren Neuplatoniker, daß das erste Prinzip in sich selbst in der intensivsten Form von Relationalität Alles in sich denkend umfasse, was es creativ aus sich entläßt —dies entspricht eher einem dem trinitarischen Gedanken verpflichteten christlichen Denken, wie es sich exemplarisch bei Meister Eckhart gezeigt hat. „Überfülle“ kann für Plotin nur dies heißen: daß dasjenige, was aus dem Einen-Guten als Wirkliches und Mögliches entspringt, in ihm in einer nur dem Einen selbst entspre­ chenden, also „über-seienden“ Form gegenwärtig ist, frei von differenzie­ render Relationalität. Was die neuplatonische Entfaltung dieses Gedankens anlangt, so ist zwar seine Grundstruktur die selbe geblieben, der Begriff der „Selbstgenügsamkeit“ (αύτάρκεια) jedoch wurde vor allem von Proklos für die unterschiedlichen Bereiche der dem Einen entstammenden Wirklich­ keit —der Götter und der Welt —differenziert, so daß „selbstgenügsam“ oder das schlechthin „Selbstgenügsame“ nicht primär und ausschließlich dem ersten Prinzip Vorbehalten und dadurch in gewissem Sinne relativiert wurde. Diese Differenzierung und Relativierung des Begriffes „αΰταρκες“ und „αύταρκέστατον“ wurde weder vom Autor des Liber de causis in seine Auslegung des dives-Szties noch von den Kommentatoren des Liber de causis, die die proklische Elementatio theologica kannten, in ihre eigenen Überlegungen aufgenommen. Dennoch sei der proklische Gebrauch dieser Begriffe hier wenigstens angedeutet. Während Syrian, der Lehrer des Pro­ klos, das Erste oder Eine gerade aufgrund seiner Einfachheit und Einheit seines Wesens (άπλότης καί ένότης τής ύποστάσεως) als das „Selbstgenüg­ samste“ benannte und es mit dem autarken Guten selbst identifizierte52, ist Proklos offensichtlich - anders als Plotin53 und Syrian - zurückhaltend in der Vergabe des Prädikats „αΰταρκες“ oder „αύταρκέστατον“ für das Eine 51 Plotin V 2,1,7—91 „Da es vollkommen ist und als solches nichts sucht, nichts hat und nichts bedarf, ist es gleichsam übergeflossen und seine Überfülle hat Anderes geschaffen“ . 52 Syrian, In Metaphysica Commentaria 183, 10 ff (CAG V I 1, ed. Kroll). 53 Neben den in Anm. 48 genannten Texten gibt es allerdings auch bei Plotin eine An­ deutung dieser Entwicklung, wenn er in Enneade V 3,17,10 sagt: „Wenn dieses [das Eine selbst] jedem Einzelnen das Sein gibt und die Vielheit des Einzelnen selbst lediglich durch die Gegenwart des Einen sich selbst genug ist, so ist klar, daß jenes nur deshalb Sein und Selbstgenügsamkeit hervorzubringen vermag, weil es selber nicht ,Sein', sondern jenseits von Sein und jenseits von Selbstgenügsamkeit1 ist“ . Damit wird herausgehoben, daß das Gründende oder an ihm selbst Teilgebende sich in der Seinsweise oder in der Intensität dessen, was im Gegründeten oder Gegebenen mit ihm verbunden ist, ebensosehr von ihm

unterscheidet.

Meister Eckhart und der Liber de Causis

145

selbst. Zumindest legt dies zunächst einmal die Bestimmung des Begriffs αΰταρκες in der Elementatio theologica nahe54: „Was ist das Selbstgenüg­ same anderes als dasjenige, welches von ihm selbst her und in ihm selbst das Gute [erworben] hat [oder besitzt]? Dies aber meint, daß es voll ist (πλήρες) des Guten und an ihm teilhat, jedoch nicht das schlechthin Gute selbst ist. Jenes nämlich steht über der Teilhabe und dem Voll-Sein (...). Wenn sich also das Selbstgenügsame selbst mit dem Guten erfüllt hat, dann wäre dasjenige, von dem her es sich selbst erfüllt hat, höher als das Selbst­ genügsame und über der Selbstgenügsamkeit“ . Zwar setzt Proklos, wie Plotin, das schlechthin Gute mit dem „Unbedürftigen“ oder Nichts-Bedürfenden gleich. Der Gedanke des Sich-selbst-erfüllt-Habens, sich selbst und in sich selbst das Gute erworben zu haben und es so in Fülle zu be­ sitzen, müßte im Sinne des Proklos mit der Bestimmung des Guten (oder Einen) kollidieren, die extrem auf deren relations-lose Einfachheit achtet: Daß es nichts anderes als es selbst ist, daß also der Akt des Sich-selbst-mitGutheit-Erfüllens eine Hinzufügung und eine Verminderung des eigenen Wesens wäre55. Um also für das Gute oder Eine schlechthin noch nicht einmal einen Anschein von Vielheit in der Weise des Sprechens über es zu suggerieren, sollte der Begriff des Selbstgenügsamen für das erste Prinzip besser gemieden werden. Nicht irreführend hingegen und deshalb immer wieder in verschiedenen Aspekten sinnvoll angewandt, ist dieser Begriff im Sinne des Proklos gültig einmal für den Bereich der sich denkenden Ein­ heit, der intelligiblen Welt (κόσμος νοητός), oder - im Sinne der zweiten Hypothesis des platonischen Parmenides gesprochen - für die Dimension des seienden Einen, zum anderen für die Bestimmung des Göttlichen über­ haupt und seiner unterschiedlichen Individuierungen56. Diesem nämlich, jedem einzelnen der Götter, konzediert Proklos eine „Gutheit schlechthin“ und damit auch (im Widerspruch zu Propositio 10 der Elementatio theo­ logica?) eine Selbstgenügsamkeit, die ihr weder durch „Teilhabe“ , noch durch „Einstrahlung“ oder durch „Ähnlichkeit“ zukommt, sondern „durch das Sein selbst, das sie [selbst] ist“ . Die Götter sind also „durch sich selbst und von ihnen selbst her selbstgenügsam, sie haben sich selbst erfüllt [mit Gutheit], ja, sie sind als die Fülle des Guten insgesamt da“ : αύτοι δε οί Prop. 10; 10,31 ff. ” Ebd., 10, 9 ff'· ™ Ebd., 127; 112, 25 f: jtftv τό Ortov άπλοϋν πρίότως εστι και μάλιστα, και διά τοΰτο αύταρκί'στατον. j i 31: T t Y M Λπλονατατον καί ένιαίον και τό ί:ν τφ άγαΟφ ταύτόν προοτηο α μινο ν αύταρκϊ στα το ν τοιο^τον Μ τό Otiov πάν. 'Ilicol. Pl.ii. I 19; 90. 14Ι·

146

Meister Eckhart und der Liber de Causis

θεοί öl’ έαυτούς καί παρ’ έαυτών αύτάρκεις, έαυτούς πεπληρωκότες, μάλλον δε πληρώματα των δλων αγαθών υπάρχοντες57. In dieser Bestim­ mung der Götter als selbstgenügsamer Wesenheiten ist die frühgriechische Vorstellung im philosophischen Begriff eingelöst, daß es das Zeichen des Gottes ist, nichts zu bedürfen. Der Mensch kommt dem Göttlichen dann am nächsten, wenn er den Gott durch eine konsequente Einschränkung seiner eigenen Bedürfnisse nachahmt58. „Fülle der G utheif als Bestimmung des Göttlichen oder der einzelnen Götter kommt dem Prädikat dives per se für die erste göttliche Ursache sprachlich am nächsten; der Sache nach ist mit dieser Bestimmung der neu­ platonische Gedanke eng verbunden: daß das Erste als Eines und Gutes der in Allem zugleich gründend und erhaltend wirksame Ursprung von Allem ist, dessen „Überfülle“ (ύπερπλήρες) Anderes schafft und es zugleich auf sich zurückbezieht. Die spezifische Bezeichnung dieser „Fülle“ als Reichtum oder „Reichtum durch sich selbst“ entspricht dem christlichen Gedanken eines sich in Liebe verströmenden Gottes, „aus dem und durch den und zu dem hin Alles ist“ . Paulus nennt so - hymnisch - die Fülle des Segens, der vom Handeln Gottes für das Geschick Israels und der Heiden ausgeht: O altitudo divitiarum et sapientiae et scientiae deil (...) Ex ipso etper ipsum et in ipsum omnia59. 4. Die ontologische Verschiedenheit der Bereiche, der dialektische Bezug des selbstgenügsamen „Reich-Seins durch-sich-selbst“ zur Dimension des grundsätzlich „Bedürftigen“ hat für Meister Eckhart auch einen anthro­ pologischen Aspekt. Daß der Mensch das Ziel seines bewußten Lebens, die Einung mit Gott als den „Durchbruch“ in die Gottheit erreiche, dies hängt zunächst an der realistischen, nicht die Welt abwertenden Erkenntnis, daß das GeschaffenSeiende im Vergleich zur Fülle oder dem „Reichtum“ des „göttlichen Seins“ ein reines „Nichts “ ist. Mit ihm kann sich der Mensch um seines Zieles

1

57 Theol. Plat. 19; 91, 18-20. 58 Außer den von Dodds in seinem Kommentar zur propositio 9 und 10 (The Elements ofTheology 196 f) angegebenen Stellen, vgl. Euripides, Hercules Furens 1345 fr όεΐται γάρ ό θεός, εϊπερ εσ τ’ όρΟώς θεός, ούδενός. Xenophon, Memorabilia; I 6, 10: έγώ δε νομίζω τό μέν μηδενός δεΐσϋαι θειον είναι, τό δε ώς ελάχιστων έγγυτάτω τού θείου. Rom. 11, 33; 36. Heinrich Schlier, Der Römerbrief, Freiburg 1977, 344ff. - Zu Eros als dem Vermittler zwischen der Armut des Nicht-Wissens und dem Rcichtum des Wissens vgl. unten Anm. 66.

59

Meister Eckhart und der Liber de Causis

147

willen nicht innig verbinden, sich nicht mit ihm „erfüllen“ : Vorbedingung des Durchbruchs in die Gottheit durch die Gottesgeburt im Menschen ist deshalb die Befreiung des Bewußtseins vom Geschaffenen, vom Vielen, von dem durch Differenz Bestimmten, das Sich-Frei-Machen von den dieses Seiende charakterisierenden und das Denken bestimmenden modi der Zeit und der Zahl, das Ledig-Werden von „Bildern“ in einem Akt universaler „Entbildung“ —um durch die Gottheit „überbildet“ zu werden60; die dem derart Seienden gegenüber geläufigen (objektivierenden) Einstellungen: das Wollen, das Wissen und das Haben, muß der Mensch lassen zugunsten einer radikalen Abgeschiedenheit“ und freien, d.h. frei machenden „Ge­ lassenheit“; auch seiner selbst als des auf das Geschaffene bezogenen, ego­ istischen oder egoman in es verstrickten und von Gott „abständigen“ Ichs muß der Mensch ledig werden. Entbildung, Abgeschiedenheit und Gelas­ senheit charakterisieren den Stand und das Bewußtsein der Armut. Nur sie vermag das Reich-Sein Gottes selbst in sich aufzunehmen, kann sich selbst in es verwandeln lassen. „Und dû soit wizzen: laere sin aller crêatûre ist gotes vol sin, und vol sin aller crêatûre ist gotes laere sin“ 61. Das Suchen und Finden des „Reiches Gottes“ vollzieht sich im und aus dem Bereich des Bedürftigen und Kontingenten als Armuts-Bewegung: in einer universalen Ent-Bildung aller Dinge ledig zu werden, ist für die Seele mit der Bildung zum oder in den Reichtum Gottes hinein identisch. Die im Deutschen schon von der Sprache her mögliche Assoziation von „riche“ (= regnum dei) und „gotes richtuome“ oder Gott als „riche in im selber“ nutzt Eckhart in den Predigten „Quaerite ergoprimum regnum dei“, „Homo quidam erat dives“ oder „Scitote, quia prope est regnum dei“, um auch die Gleichheit in der Sache zu demonstrieren: „,gotes riche4 daz ist

60

Z u r B e g r ü n d u n g d ie s e s G e d a n k e n s b e i M e i s t e r E c k h a r t v g l . W . W a c k e r n a g e l ,

gine denundari.

Yma-

E t h iq u e d e l’ im a g e et m é ta p h y s iq u e d e l’ a b s tra c tio n ch e z M a îtr e E c k h a rt,

P a r is 1 9 9 1 .

61 Von abegescheidenheit: D W 5, 413, 3 f. Predigt 52 „Beatipauperesspiritu“, D W 2, 504, 4 ff; 8-505, 5: „ich bin, daz ich was und daz ich blîben sol nû und iemermê. Dâ enpfâhe ich einen îndruk, der mich bringen soi über alle engel. In disem indrucke enpfâhe ich sôgetâne rîcheit, daz mir niht genuoc enmac gesîn got nach allem dem, daz er ,got‘ ist, und nach al­ len sînen götlichen werken; wan ich enpfâhe in disem durchbrechen, daz ich und got einz sin. Dâ bin ich, daz ich was (...) .“ - Zu Verbindung und Differenz Meister Eckharts zu Martin Heidegger im Blick auf „Gelassenheit“ vgl. meine Überlegungen zu „Heideggers ( iela.ssenheit“ , in: Amiens Plato magis arnica veritas, Festschrift für Wolfgang Wieland zum G eb u rtstag , hg. v. R. I’ nskat, Berlin 199H, 1 \s.

148

Meister Eckhart und der Liber de Causis

got selbe mit allem sinem richtuome“ - oder: „hie ist got riche, und daz ist gotes riche“ 62. In diesen Reflexionen über die Einheit von „Reich Gottes“ und „Gottes Reichtum“ spielt der dives-Sati des Liber de causis eine bedeutsame Rolle - in dem Sermo 34, 3 z. B. als Einsatz- und End-Punkt des Gedankens, der ihn nicht nur zur autoritativen Stützung „heranzieht“ , sondern auch dessen (zuvor beschriebenen) Gehalt ganz im Sinne von De causis und der ihm kompatiblen Texte bewußt macht63. Dies zu „wissen“ , soll —davon sind wir ausgegangen - im Menschen die Einsicht zeitigen, daß er in der Bewegung auf dieses Ziel hin: reich zu werden durch den Reichtum von Gottes Reich, zuvor selbst arm werden muß, indem er die ihn in einem grundlosen Ich verfangenden „Eigenschaften“ oder die vielheitlichen, vom „unum necessarium“ wegführenden Modi und damit sich selbst als sein vermeintliches „Eigentum“ aufgibt, um in der Einung mit seinem Grund wahrhaft er selbst zu werden: „Du solt alzemal entzinken diner dinisheit und solt zer fliesen in sine sinesheit und sol din din und sin sin ein min werden als genzlich, das du mit ime verstandest ewiklich sin ungewordene istikeit und sin ungenanten nitheit“ . Durch den Vollzug dieser ArmutsBewegung - „es muos alles abe!“ - wird „Er“ und „Ich“ ein IST, in dem beide ein „Werk wirken“64. Dem Eckhartschen Impuls zur Ent-Bildung, der Bewegung der Armut in die Fülle des „Einig-Einen“ entspricht im neuplatonischen Denken die Forderung nach einer universalen „aphairesis“ alles Vielen und Anderen, 62 Die genannten Predigten: Sermo 34, 3, LW 4, 302, 3 ff; Predigt 80, D W 3, 378, 2 ff; Predigt 68, D W 3,140 , 2 ff. Die beiden Zitate: D W 3,143, 2; Predigt 38, D W 2, 232, 3. 63 Sermo 34, 3, LW 4, 302, 3 ff; Predigt 80, D W 3, 382, 8—383, 5 (eine Erläuterung des dives per se): „Also ist got riche in im selber und in allen dingen. Nü merket! Diu richeit gotes diu liget an vünf dingen. Daz erste: daz er diu erste sache [causaprima] ist, her umbe ist er üzgiezende sich in alliu dinc. - Daz ander: daz er einvaltic ist an sinem wesene, her umbe ist er diu innerkeit aller dinge. - Daz dritte: daz er ursprunclich ist, her umbe ist er gemeinende sich allen dingen. - Daz vierde: daz er unwandelhaftic ist, her umbe ist er daz behaldelicheste [„Beständigste“]. - Daz vünfte: daz er volkomen ist, her umbe ist er daz begerlicheste“ . - Vgl. auch Predigt 47, D W 2, 398, 6 ff. 64 P redigt 83 „Renovamini spiritu D W 3, 443, 5 - 7 ; 4 4 7 , 5 f; 448, 6. D ie rede der un derscheid unge, D W 5, 29 7, 6 ff; 30 0, i ff. W . B eierw altes, P lato n ism u s im C h risten tu m („U n d das E in m achet uns saelic“ ) 10 0 ff. - Z u m asketisch-m ystisch en A sp ek t der „A r m u t“ vgl. A . M . H aas, Serm o m ysticus 19 9 - 2 0 1; ders., M eister E ck h art als n orm ative G estalt geist­ lichen Lebens, E in siedeln 19 7 1, 91 ff; K . R u h , M eister Eckhart (wie A n m . 12) 1 5 7 f f Ü ber die franziskanische

speculatio pauperis in deserto und ihre n eu p latonischen Im p likatio n en ,

siehe W. B eierw altes, D en ken des Einen 421 fl’.

Meister Eckhart und der Liber de Causis

149

d. h. nach einer bewußten und intensiven „Wegnahme“ alles dem Einen selbst als dem Ziel des Menschen Fremden (αφελε πάντα65), —nach einer umfassenden Ent-Differenzierung und Ent-Zeitlichung des Denkens, um eine zumindest punktuelle, augenblickhafte Einung mit dem Einen selbst zu erreichen, die freilich das weitere Leben des Menschen im Sinne eben dieser Befreiung von der Differenz spürbar formen sollte66. Analog ist auch derjenige Bereich charakterisiert, in dem sich diese Abstraktionsbewegung ereignet: seine Pole sind, proklisch gesprochen, das göttlich Selbstgenüg­ samste, das es noch übergreifende Eine selbst und das in sich unterschied­ liche Bedürftig-Sein des dem Einen entsprungenen Vielen und Anderen67. Die das Denken und die Emotionen einigende Abstraktionsbewegung setzt sich zum Ziel, diese dialektische Spannung zwischen Fülle und relativer oder äußerster Bedürftigkeit zu erkennen und sie im Vollzug des eigenen Einheitspotentials denkend aufzuheben. Die Einung selbst markiert den Selbst-Uberstieg dieses Denkens in seinen eigenen Grund.

III „ Sein “ als Erst-Geschajfenes Denk- und Aussagbarkeit der causa prima i. Das erste Wirken der ersten Ursache in der Entfaltung eines ursächlich zusammenhängenden „Systems“ der Wirklichkeit trifft der vierte Satz des Liber de causis: „Das erste der geschaffenen Dinge [das Erste alles Geschaf­ 65 Plotin V 3,17,38. Vgl. zu Plotins „mystischem Imperativ“ meine „Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit“ 250 ff. 66 Zur Bedeutung von „aphairesis“ siehe W. Beierwaltes, Denken des Einen 129ff. Vgl. dort auch den Index unter „Abstraktion“ und oben S. 33 ff. 40. 61. - Für die neuplatonische Konzeption des Verhältnisses der Dimension des Entsprungenen - und daher „Bedürfti­ gen“ - zur „Selbstgenügsamkeit“ des Göttlichen oder des ersten Prinzips überhaupt ist von Platon mythologisch, metaphorisch, aber auch sachlich mit der Ideentheorie übereinstim­ mend, die Beziehung von Poros und Penia thematisiert worden: ihre Verbindung bringt ge­ nau jene Fähigkeit im Menschen hervor, die in einer denkenden Erfahrung des Bedürftigen dieses auf seinen erfüllenden, „reichen“ Grund hin überwindet. Platon, Symposium 202 dff: Eros als Sohn von „Reichtum“ und „Armut“ ist der bewegende Impuls des Philosophierens, der das Menschliche zum Göttlichen hin vermittelt (μεταξύ, όαίμων) und das Göttliche zu den Menschen „herüberbringt“ , der Hermcneut par excellence. 67 P roclus, Eiern, theol. 9; 10, 21: l;ür P lotin vgl. A n m . 48. Liber de causis XX; 164, 58: (...) omne compositum diminutum, indigens (...) alio; 165, 6 und es damit auch als trinitarische und auf­ grund seines Denkens der Ideen als schöpferische Einheit zu begreifen65. Cusanus führt die Dimension des proklischen absoluten Einen und des seienden, sich selbst denkenden Einen in Gottes trinitarische Einheit von in sich bewegtem Einen, von Sein und von sich selbst begreifendem Be­ griff (conceptus absolutus) in Eins zusammen. Die notwendige Bedingung für den daraus entspringenden philosophischen Begriff von Gott, der sich durchaus seiner im Denken selbst begründeten Begrenztheit und seiner sprachlichen Unangemessenheit im Sinne eines incomprehensibiliter com­ prehendere bewußt bleibt, ist die Begegnung mit einer paradigmatischen philosophischen Theorie des Einen. Das christlich Authentische an ihm wird in ihm selbst durch Reflexion nicht verdeckt, verdrängt oder verformt, sondern gewinnt geradezu an Überzeugungskraft für ein zum Religiösen oder Theologischen hin offenen Denken.

Konsequenzen aus der Theorie des Einen: individuelle Einzigkeit —singularitas Denk-Bilder fü r Gott 3. Ich richte meinen Blick noch einmal auf die venatio unitatis in „De venatione sapientiae“ . Zunächst möchte ich an eine für Cusanus’ Denken charakteristische Konzeption erinnern, die sich für ihn unmittelbar aus der Reflexion auf die Einheit ergibt: an die singularitas (a). Zum anderen will ich wenigstens andeutend der Frage nachgehen, in welchem Maße das bisher skizzierte cusanische Denken des Einen als conceptuelle Vorausset­ zung andere Gottes-Prädikate wesentlich bestimmt (b). Diese zeigen mit gewinnender Evidenz, wie sich gerade aus einer intensiven Reflexion v. a. auf neuplatonische Grundgedanken innovative Züge im christlichen Den­ ken des Cusanus zu entfalten vermögen. (a) „Im Felde der Einheit gibt es eine einzigartige Wiese, wo man eine höchst einzigartige Beute find et...: die Einzigartigkeit“ - singularitas,

M prine. iH, i. X. i8,2fl. 9,! ff (se intelligere). ;.i, 1 fi. 11: eins intelUgere est creare.

i 82

Cusanus: Innovation durch Einsicht aus der Überlieferung

ebenso verstehbar als Einzigkeit, Einmaligkeit oder Einzelnheit66; das da­ zugehörige singulare oder singulum meint das Einzigartige, Einmalige, Ein­ zelne. Es ist nicht zwingend plausibel, daß Cusanus zu Thematisierung und Explikation von singularitas primär durch sein Studium bestimmter As­ pekte von Alberts Kommentar zu Dionysius’ „De mystica theologia“ mo­ tiviert wurde, worauf Gerda von Bredow im Blick auf eine Marginalie des Cusanus mit Nachdruck hingewiesen hat - in ihr „haben wir eine sichere Basis für die Interpretation“67; die Heraushebung von singularitas läßt sich demgegenüber durchaus als eine Modifikation, Bedeutungserweiterung und Radikalisierung des aristotelischen καθ’ έκαστον - des Einzelnen, des Seienden als Eines qua Einzelnes - verstehen, ein Terminus, der sowohl in den lateinischen Aristoteles-Texten als auch in Moerbekes Proklos-Ubersetzungen mit ,singularisi wiedergegeben wurde68. Wenn Cusanus singula­ ritas als eine „höchst einzigartige Beute“ im Felde der Einheit bezeichnet, dann liegt es nahe, die besondere Emphase der singularitas als ein Resultat seiner Reflexionen zur Einheit einzuschätzen: Das Nicht-Anders-Sein oder das Es-selbst-Sein des oder jedes Einen ist als Einzelnes oder Einzigartiges zu begreifen. Die Einzigartigkeit jedes Eines-Seienden besteht gemäß der 66 Die Bedeutung von singularitas für Cusanus ist in der Forschung schon vielfach erör­ tert worden. Ich kann mich daher auf einige Bemerkungen zu ven. sap. X II 65-67 beschrän­ ken, die meine Einschätzung der Konsequenzen aus Cusanus’ produktiver Begegnung mit der proklischen Theorie des Einen im gegenwärtigen Zusammenhang verdeutlichen. - Aus der Literatur nenne ich nur G. v. Bredow, Der Gedanke der singularitas in der Altersphilo­ sophie des Nikolaus von Kues, in: Dies., Im Gespräch mit Nikolaus von Kues. Gesammelte Aufsätze 1948-1993, ed. H. Schnarr, Münster 1995, 31-39. Dies., Participatio Singularitatis. Einzigartigkeit als Grundmuster der Weltgestaltung, in: Archiv für Geschichte der Philoso­ phie 71,1989, 216-230 (auch in: Im Gespräch, 217-230) und Th. Leinkauf, Die Bestimmung des Einzelseienden durch die Begriffe Contractio, Singularitas und Aequalitas bei Nicolaus Cusanus, in: Archiv für Begriffsgeschichte 37, 1994, 180-211. 67 G .v. Bredow, Participatio Singularitatis (Anm. 66) 221 f. 226 - mit Bezug auf die im apparatus fontium von h X II zu n. 65,i7f zitierte Marginalie des Cusanus: ... quomodo in telligitur singularitas in deo. Bezugstext bei Albert (c.3 der Myst. Theol.): quomodo divina et bona natura singularis [ένική - τριαδική: 146,2 f (Heil - Ritter)] in der Übersetzung von Johannes Sarracenus. 68 Vgl. z.B. Phys. 189 a 6, Aristoteles Latinus VII 1.2, Physica, Translatio vetus, ed. F.

Bossier et J. Brams, Leiden 1990, 26,3: singulare. Met. 1018 b 33, Aristoteles Latinus XX 3.2, Recensio et Translatio Guillelmi de Moerbeca, ed. G. Vuillemin-Diem, Leiden 1995, liber quintus, 431 f: nam secundum rationem universalia priora, secundum autem sensum singula­ ria. Eth. Nie. 1143 b 4, Aristoteles Latinus XXVI 1-3, Translatio Rob. Grosseteste, cd. R. Λ. Gauthier, Leiden 1973, 489,18: ex singularibus enim universale. Analog auch Proclus, in Parm. (Moerbeke, cd. C. Steel) II 685, 722 u.ö. Opuscula (cd. Bocsc) *17.

Cusanus: Innovation durch Einsicht aus der Überlieferung

183

Bestimmung jedes Einen darin, daß es ungeteilt (indivisum, döiatgsTov69), als ein Selbst-Sein in sich selbst unvermehrbar oder nicht-vervielfachbar {implurificabile) und damit von jedem Anderen dieser Art verschieden oder getrennt ist. Selbst-Sein oder Eines-Sein als Einzigartigkeit begründet demnach gerade die Unterschiedenheit alles Einzelnen voneinander, frei­ lich nicht minder dessen Zusammenhang miteinander, da jedes Einzelne durch die Alles übergreifende singularitas in seinem eigenen Sein bestimmt ist. Singularitas ist als eine universale „Kategorie“ zu verstehen, die die Wirklichkeit als ganze in ihrem jeweiligen Einzeln-Sein bestimmt und (wie das Eine) als Nicht-Vervielfachbares70 und Individuelles bewahrt: Cuncta enim singula sunt, et quodlibet implurificabile71. „Jedes Einzelne freut sich über seine Einzigartigkeit“ 72 - über die Unveränderbarkeit seines Wesens also, seine Unverwechselbarkeit, seine Gleichheit mit sich selbst, durch die es nicht mehr und nicht weniger ist als es ist und sein kann, und damit über seine nicht reproduzierbare Einmaligkeit. Es gibt allerdings analog der Ausformungen der Einheit und des Seins in dem Gesamtbereich aller singula Stufen oder abnehmende und sich steigernde Intensitätsgrade von singularitas73: letztere ist als Prinzip oder Idee Ursache jeder Konkretion von Einzigartigkeit (omnium singularium singularitas74). Einzigartigkeit - wie Einheit und Einfachheit - im höchsten Sinne des Seins und Begrif­ fes (quo singularius esse nequit) aber ist Gott: singularissimus75, singularitas singularitatum ... singularis insingulariter, absoluta singularitas76. 69 Dies als Bestimmung des Einen: Aristoteles, Met. X 1052 a 32. 36.1052 b 16. Proclus, in Parm. V II, 424,21 f (Steel): Le unum autem indivisibile (abiaiQEXOv) est omnino et immultiplicabile (djt^rjOwTov). 479,80: unaqueque enim unitas indivisibile. 70 ven. sap. X X II 65,6. 18. 20. 22. Analog zum unum immultiplicabile, quia anteposse multiplicari: X XI 62,3. Compendium (h XI 3, ed. Decker - Bormann) 5; 13,3: cum nullum

singulare sit plurificabile aut multiplicabile. 71 ven. sap. X X II 65,5 f. 66,18: singularitas, quae omnia format et conservat. 66,15: manet semper singulare eodem modo. 72 65, 21. 73

6 5 , 8 ff.

74 65,9 f7 6 5 ,17 f. 76 apol. doct. ign., S. 9 ,2 4 -10 ,5 . Z u m avicennischen H in tergru n d vgl. den A p p arat ebd.

17

von. sap. X X I I 66, 1 - 4 . V g l. auch den T ext w eiterh in . - D ie Stelle aus T h om as,

Q u jc s t. disp. de veritate cj. j a. X c. s. f., a u f die (ie rd a v. B redow (P articip atio Sin gularitatis |A n m . 66 |, 219) hinw eist, ist d u rchau s ph ilo so ph isch er N atu r: nos autetn ponimus Deum e\se
View more...

Comments

Copyright ©2017 KUPDF Inc.
SUPPORT KUPDF