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Placebo-Effekt...
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Howard Brody Daralyn Brody
Der PlaceboEffekt Die Selbstheilungskräfte unseres Körpers
scanned by AnyBody corrected by Ute77 Gesund aus eigener Kraft Dieses Buch eröffnet ein radikal neues Verständnis für den machtvollen Einfluss des Geistes auf die Ge sundheit. Es nimmt uns mit auf eine Reise in das psychisch-biologische Wunderwerk unseres Körpers und stellt die grundsätzlichen Faktoren vor, die für den positiven Verlauf einer Selbstheilung verantwortlich sind. Darauf basierend präsentiert es wirksame Methoden, um selbst bewusst einen Placebo-Effekt herbeizuführen und aktiv auf die eigene Gesundheit einzuwirken. ISBN 3-423-24296-5 Originalausgabe: The Placebo Response Aus dem Englischen von Bettina Lemke Januar 2002 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG Umschlagkonzept: Balk & Brumshagen Umschlagfoto: © The Stock Market/Bill Miles
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Klappentext Obwohl seit Jahrhunderten bekannt und tagtäglich in Arztpraxen eingesetzt, galt der Placebo- Effekt bis vor kurzem als Mythos, ein geheimnisvolles Phänomen, das Generationen von Medizinern vor scheinbar unlösbare Rätsel stellte. Howard Brody, eine Autorität auf dem Gebiet der Geist-Körper-Medizin, hat den Placebo-Effekt in unzähligen empirischen Studien erforscht und festgestellt: Unser Körper ist in der Lage, eine erstaunliche Menge an Substanzen herzustellen, die gezielt auf die Heilung der jeweiligen Störung einzuwirken vermögen. Diese biochemische »innere Apotheke« wird durch drei Schlüssel aktiviert: Erwartung: Körperliche Veränderungen geschehen, wenn wir sie im Geist vorwegnehmen. Konditionierung: Erfahrungen aus der Vergangenheit schaffen ein Muster, das in die Gegenwart wirkt. Bedeutung: Die Art und Weise, wie wir Krankheiten interpretieren, beeinflusst ihren Verlauf. Packend und mit vielen Fallbeispielen schildert Brody die komplexen Vorgänge in Geist und Körper. Seine überraschende Botschaft: Anders als bisher angenommen muss der Körper nicht »überlistet« werden, um einen Placebo-Effekt herbeizuführen. Die leicht nachvollziehbaren Methoden, die er in diesem Buch entwickelt, erlauben einen bewussten Umgang mit den heilenden Kräften des Geistes.
Für Sheila und Mark und die vielen Patienten, die unsere Lehrer waren
Inhalt Einführung: Die heilende Kraft des Geistes................................................ 5 Was ist der Placebo-Effekt?......................................................................... 13 Der Placebo-Effekt im Wandel der Zeit .................................................... 30 Gibt es eine Placebo-Persönlichkeit? ......................................................... 51 Die innere Apotheke...................................................................................... 64 Der erste Schlüssel: Erwartung ................................................................... 80 Der zweite Schlüssel: Konditionierung...................................................... 98 Der dritte Schlüssel: Bedeutung................................................................115 Der Nocebo-Effekt ......................................................................................131 Der Placebo-Effekt und die Biochemie des Körpers .............................139 Placeboähnliche Faktoren...........................................................................169 Der Placebo-Effekt in der Schul- und Alternativmedizin .....................180 Die heilende Kraft des Wunsches und die Kunst der Vergebung .......192 Die heilende Kraft der eigenen Geschichte.............................................206 Die heilende Kraft der Beziehungen ........................................................224 Die heilende Kraft der Kontrolle ...............................................................238 Partnerschaft mit dem Arzt ........................................................................247 Nachwort: Das Geheimnis der Heilung ...................................................257 Dank...............................................................................................................270 Literaturhinweise.........................................................................................275
Einführung: Die heilende Kraft des Geistes Dieses Buch beginnt und endet mit einem Geheimnis - dem Geheimnis der Heilung. Lassen wir es deshalb auch mit einem kleinen Rätsel beginnen: Was haben die folgenden Fallbeispiele gemeinsam? • Albert sucht seinen Arzt wegen einer lästigen Erkältung auf. Da es sich um eine Virusinfektio n handelt, weiß sein Arzt, dass Antibiotika nicht helfen werden. Aber Albert, etwas hypochondrisch veranlagt, ist sich sicher, dass die Erkältung sich zu einer Lungenentzündung ausweiten wird, obwohl keine medizinischen Anzeichen dafür vorhanden sind, und er bittet dringend um Antibiotika. Angesichts der großen Sorgen, die Albert sich macht, trifft der Arzt eine Entscheidung und schreibt ihm ein Rezept für ein - wie er sagt - »wirksames Antibiotikum« aus. In Wirklichkeit ist das »Antibiotikum« eine einfache Zuckerpille und hundertprozentig medizinisch unwirksam. Sobald Albert mit der Einnahme des »Antibiotikums« beginnt, verschwindet seine Erkältung fast über Nacht. • Beatrice, die fest an die Wirkung von pflanzlichen Heilmitteln glaubt, kauft in einem Naturkostladen ein viel beworbenes neues, biologisches Nahrungsergänzungsmittel. Nachdem sie es einige Wochen genommen hat, hat sie das Gefühl, viel mehr Energie zu haben, obwohl es keinerlei anerkannten wissenschaftlichen Beweis dafür gibt, dass dieses Mittel eine physiologische Wirkung auf den Körper hat. • Charles bekommt Krebs und unterzieht sich der üblichen Operation und Chemotherapie. Da er fest an die heilenden Kräfte des Geistes glaubt, beginnt er darüber hinaus zu meditieren, positiv zu denken und alle n Menschen zu verzeihen, auf die er einen Groll hatte. Er hört zudem auf, sich selbst dafür -5-
verantwortlich zu machen, dass er die Krankheit bekommen hat. Es ist schlimm, doch nicht seine Schuld. Er fühlt sich nicht nur besser und hat mehr Freude am Leben, sondern ist auch noch Jahre später symptomfrei. • Danielle ist gerade die Gallenblase operativ entfernt worden. Ihr Zimmer im Krankenhaus ist hell und sonnig. Es hat einen wunderschönen Blick auf einen weiten, von Bäumen gesäumten Rasen, und die Krankenschwestern sind besonders freundlich und aufmerksam. Danielle ist nach nur zehn Tagen wieder auf den Beinen und fühlt sich großartig - obwohl die meisten Gallenblasenpatienten drei bis vier Wochen benötigen, um sich zu erholen. • Eugene, der unter einem leicht erhöhten Blutdruck leidet, nimmt freiwillig an einem achtwöchigen Experiment teil, bei dem ein neues Medikament gegen Hypertonie getestet wird, das möglicherweise weniger Nebenwirkungen hat als die bisher eingesetzten Mittel. Man informiert Eugene darüber, dass die Hälfte der Probanden das neue Medikament erhält, während der anderen Hälfte ein unwirksames Placebo verabreicht wird. Weder die Ärzte noch die Teilnehmer wissen, welches welches ist, doch da die Menschen, die getestet werden, lediglich eine leichte Hypertonie aufweisen, besteht nur ein sehr geringes medizinisches Risiko für die Placebogruppe, vor allem weil der Blutdruck wöchentlich kontrolliert wird. Als die Forscher am Ende der Studie das Ergebnis bekannt geben, erfährt Eugene, dass er in der Placebogruppe war. Bevor er das »Medikament« erhielt, hatte er einen Blutdruck von 150 zu 99. Zu seinem Erstaunen erfährt er, dass sein Blutdruck während der Studie, als er ein unwirksames Placebo einnahm, auf 132 zu 88 sank. Was haben Albert, Beatrice, Charles, Danielle und Eugene gemeinsam? Auf den ersten Blick würden Sie wahrscheinlich sagen: »Gar nichts.« Einige von ihnen erhielten verschiedene Medikamente von ihrem Arzt, andere unternahmen selbst etwas. Manche ließen sich von der Schulmedizin helfen, während -6-
andere auf alternative Lösungen zurückgriffen. Die einen dachten bewusst über ihren Zustand nach, die anderen wurden durch ihre Umgebung beeinflusst, sogar ohne sich dessen bewusst zu sein. Lautet die Antwort auf unser Rätsel daher also »gar nichts«? Ich meine nein. Ich behaupte, dass all diese Fälle sich auf dasselbe zurückführen lassen: die Zusammenarbeit von Geist und Körper zur Förderung der Heilung - den Placebo-Effekt. Es ist eine empirisch belegte Tatsache, dass der Zustand von kranken Mensche n sich auf zunächst scheinbar unerklärliche Weise enorm verbessert, wenn ganz bestimmte Voraussetzungen gegeben sind (später unter dem Begriff Bedeutungsmodell zusammengefasst). Bevor wir den Placebo-Effekt weiter erörtern, möchte ich einige Worte über mich selbst und den Hintergrund meines Interesses am Placebo-Effekt vorausschicken. Ich bin Arzt und Professor für Allgemeinmedizin und Philosophie an der Michigan State University, wo ich auch ein Zentrum für Ethik und Humanität in den Biowissenschaften leite. Parallel dazu betreue ich meine Patienten. Mit dem Placebo-Effekt habe ich mich neben der Beschäftigung mit verschiedenen anderen medizinischen Themen stets besonders intensiv befasst, ein Interesse, das ich bereits als angehender Arzt entwickelte. Es erschien mir von Beginn an wie ein Puzzlespiel, das mich intellektuell herausforderte. Viele Jahre las ich, so viel ich vermochte, über diesen faszinierenden Aspekt der Medizin und begann Theorien zu entwickeln, um alles, was ich darüber gelesen hatte, in einen Zusammenhang zu bringen. Parallel dazu verlief meine Ausbildung als Arzt. Zunächst zeigten mir meine Dozenten an der medizinischen Hochschule und während meiner Zeit als Assistenzarzt, wie man Patienten behandelt; nach und nach jedoch begann ich, von den Patienten selbst zu lernen. Anfangs sah ich nicht viele Bezüge zwischen meinen hochtrabenden Theorien und meiner täglichen praktischen -7-
Arbeit. Ich bemühte mich, den Menschen zuzuhören und sie mit Respekt zu behandeln, und ich war mir sicher, dass meine Beziehung zu den Patienten ein besonders wichtiger Teil meiner Arbeit war. Aber ich glaubte daran nur deshalb, weil es mir so beigebracht worden war, und nicht, weil ich mich mit dem Placebo-Effekt beschäftigte. Im Laufe der Jahre stellte ich fest, dass eine bestimmte Art und Weise, mit Patienten umzugehen, offenbar nicht nur eine größere Zufriedenheit bei ihnen bewirkte, sondern gleichzeitig auch eine stärkere Bemühung von ihrer Seite, wieder gesund zu werden. Ich war begeistert, als ich mit der Zeit herausfand, dass die Ansätze, die funktionierten, genau mit den Ansätzen übereinstimmten, die am besten zu meinen Theorien passten. Bei meinem Studium stieß ich immer wieder auf dieselben Themen, die bereits früher das Fundament meines theoretischen Gebäudes über den Placebo-Effekt gebildet hatten. Endlich erkannte ich, dass Theorie und Praxis tatsächlich übereinstimmten. Es stellte sich heraus, dass die Theorie, die den Placebo- Effekt am sinnvollsten erklärte, mich schließlich auch direkt zu den praktischen Ansätzen führte, die bei den Patienten offenbar eine erfolgreiche Behandlung garantierten. Gleichzeitig konnte ich meine eigenen Theorien inhaltlich ergänzen und weiterentwickeln. In diesem Buch fasse ich zusammen, was ich und viele andere Ärzte in ihrer täglichen Praxis wieder und wieder festgestellt haben, und stelle Ihnen Möglichkeiten vor, Ihr Wohlbefinden selbst zu verbessern und diesen Zustand aufrechtzuerhalten. Der Placebo-Effekt tritt auf, wenn wir bestimmte Botschaften oder Signale aus unserer Umgebung empfangen. Diese Botschaften haben zur Folge, dass sich die Bedeutung, die unser Gesundheitszustand oder unsere Krankheit für uns haben, verändert. Vielleicht war die Bedeutung, die wir früher mit unserer Krankheit verknüpften: »Das macht mir Angst, und ich weiß nicht, was die Ursache ist.« Die neue Bedeutung dagegen -8-
kann beinhalten: »Jetzt weiß ich, dass es mir wieder besser gehen wird.« Oder vielleicht enthielt die alte Bedeutung folgende Aussage: »Keinen interessiert es, was mit mir geschieht.« Jetzt verändert sich die Bedeutung möglicherweise, und Sie denken: »Die Menschen in meiner Umgebung scheinen sich wirklich Sorgen über meine Gesundheit zu machen.« Häufig sind diese Signale deshalb von besonderer Bedeutung für uns, weil sie mit wichtigen menschlichen Beziehungen verknüpft sind. Vielleicht kommt die Botschaft, dass es uns bald besser gehen wird, von einem Arzt oder einem alternativen Therapeuten, den wir seit vielen Jahren kennen und dem wir vertrauen. Oder wir schöpfen Hoffnung aus den Gespräche n einer Selbsthilfegruppe, deren Mitglieder unter ähnlichen Problemen leiden. Was macht der Körper mit diesen Botschaften? Ich denke, am besten lässt sich das, was die Wissenschaft uns über den Placebo-Effekt gelehrt hat, zusammenfassen, wenn wir uns eine innere Apotheke vorstellen, die wir alle besitzen. Unser Körper ist in der Lage, viele Substanzen herzustellen, die eine Vielzahl von Krankheiten heilen und uns generell gesünder und vitaler fühlen lassen können. Wenn der Körper diese Substanzen einfach vo n selbst absondert, kommt es zur so genannten »Spontanheilung«. Manchmal aber scheint unser Körper eher langsam zu reagieren. Eine Botschaft von außen kann in einem solchen Fall unsere innere Apotheke aktivieren. Der Placebo-Effekt ist somit als Reaktion unserer inneren Apotheke auf diese Botschaft mit einer neuen Bedeutung zu verstehen. Es ist wichtig herauszufinden, wie dieser Prozess genau abläuft und ob es Methoden gibt, mit denen wir diesen Prozess kontrollieren können. Die medizinische Wissenschaft hat zwar eine Menge darüber herausgefunden, wie der Placebo-Effekt funktioniert; aber es hat nie eine bahnbrechende Entdeckung gegeben, die mit der Wirkung von Insulin vergleichbar wäre -9-
oder mit der von Antibiotika. Stattdessen gab es viele kleine Anhaltspunkte. Dieses Buch stellt sich die Aufgabe, einen Anhaltspunkt nach dem anderen näher zu untersuchen und eine verständliche, wissenschaftlich gültige Betrachtung des Phänomens zu präsentieren, die von uns allen Gewinn bringend genutzt werden kann. Das Buch gliedert sich in zwei Teile: »Theorie« und »Praxis«. Der erste Teil stellt die wissenschaftlichen Fakten und Theorien dar, der zweite Teil zeigt, wie sich diese auf die praktischen Probleme anwenden lassen. Wir werden zunächst den Placebo-Effekt in all seinen Facetten betrachten und ihn genau definieren. Seine Geschichte und der Stand der modernen medizinischen Forschung werden ebenso dargestellt wie seine psychologischen Ursachen: Wir werden herausstellen, welche Menschen auf Placebos ansprechen und unter welchen Bedingungen das geschieht. Hilfreich ist dabei das bereits angesprochene Modell der inneren Apotheke, das wir ausführlich erläutern werden. Zudem werden wir drei grundlegende wissenschaftliche Theorien darüber, wie Placebos funktionieren, untersuche n: die Theorien der Erwartung, der Konditionierung und der Bedeutung. Die Kehrseite der Medaille, der Nocebo-Effekt, kann uns weitere wichtige Anhaltspunkte über den Placebo-Effekt liefern. Ein Kapitel über die chemischen Prozesse, die im Körper ablaufen, erklärt das Wirken der inneren Apotheke. Wir schließen den theoretischen Abschnitt ab, indem wir die Faktoren betrachten, die bei wissenschaftlichen Untersuchungen zu Verwirrungen führen können, da sie dem Placebo-Effekt ähneln. Den »praktischen Teil« beginnen wir mit einer Untersuchung des Placebo-Effekts in seiner Rolle als Schnittpunkt der Schulund der Alternativmedizin. Im Folgenden richten wir unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die praktischen Schritte, die man beim Genesungsprozess anwenden kann. Wir haben einige Checklisten zusammengestellt, damit Sie besser einschätzen -10-
können, welche Faktoren Sie wesentlich beeinflussen. Die heilenden Maßnahmen, die wir Ihnen vorstellen, sind: der Wille, gesund zu werden, die Bereitschaft zu vergeben, der bewusste Umgang mit der eigenen Lebens- und Krankheitsgeschichte, die Bedeutung von menschlichen Beziehungen und das Modell der Kontrolle. Wir zeigen zudem einige spezielle Übungen, um die Veränderungen zu erleichtern. Schließlich erläutern wir, wie das partnerschaftliche Zusammenarbeiten mit einem Arzt, dem Sie vertrauen, Ihre innere Apotheke stimulieren kann, und geben Tipps, wie Sie einen solchen Arzt am besten auswählen und am meisten von seiner Behandlung profitieren. In der abschließenden Betrachtung des Buches kehren wir zur Vorstellung des Placebo-Effekts als Geheimnis zurück. Denn es ist entscheidend, ein Gefühl der Ehrfurcht und des Staunens zu bewahren, wenn wir über diese komplizierte Verbindung zwischen Geist und Körper nachdenken. Sollten wir nämlich den Placebo-Effekt je als etwas erachten, das wir mit absoluter Vorhersagbarkeit willentlich beeinflussen können (ich nenne es die »Knopfdruck-Falle«), dann wird er paradoxerweise nicht mehr bei uns funktionieren. Wenn er bei uns funktioniert, dann liegt das teilweise daran, dass wir ihn nach wie vor als etwas Geheimnisvolles betrachten. Auch wenn wir den Placebo-Effekt nicht völlig kontrollieren oder eine Garantie für sein Funktionieren geben können, besteht die Möglichkeit, dass wir ihn nutzen können, um schneller gesund zu werden und zu bleiben. Ebendiese Erkenntnis würde ich Ihnen gerne vermitteln. Zusammen mit der Vorstellung der inneren Apotheke ist es die wichtigste neue Erkenntnis, die dieses Buch beinhaltet. Frühere Abhandlungen über den Placebo-Effekt stellten ihn als etwas dar, das mit Ihnen geschah, als etwas, über das Sie wenig oder gar keine Kontrolle hatten. Wenn wir das Puzzle der wissenschaftlichen Anhaltspunkte zusammenfügen, werden wir über eine Reihe von Mitteln verfügen, mit denen wir den Placebo-Effekt und die innere -11-
Apotheke nutzen können, um davon zu profitieren. Lassen Sie uns also mit unseren Untersuchungen über eines der größten - und faszinierendsten - Geheimnisse von Geist und Körper beginnen und sehen, welche medizinischen Rätsel wir dabei lösen können.
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Was ist der Placebo-Effekt? Einer der erfolgreichsten Ärzte, die ich kenne, hat mir versichert, dass er mehr Brotpillen, gefärbte Wassertropfen und Pulver aus Hickoryholzasche verwendet hat als alle anderen Arzneimittel zusammengeno mmen. Thomas Jefferson (1807) In der Regel entdeckt die Medizin ein Phänomen lange bevor sie es offiziell definiert, und so war es auch beim Placebo-Effekt. Das oben angeführte Zitat belegt beispielsweise, dass man bereits vor fast zweihundert Jahren um den großen Einfluss des Geistes auf Krankheiten und körperliche Heilungsprozesse wusste. Dieses Buch wird anhand von vielen erstaunlichen Beispielen die zentralen Aspekte darlegen, die das Phänomen dieser Geist-Körper-Heilung bestimmen: Aspekte wie Erwartung, Konditionierung und Bedeutung. Der Aspekt der Erwartung bezieht sich auf Veränderungen der körperlichen Gesundheit, die eintreten, weil wir fest damit rechnen, dass das geschehen wird. Die Konditionierung bezieht sich auf die Tatsache, dass bestimmte Erfahrungen aus der Vergangenheit, die sich mehrfach wiederholt haben, im Lauf der Zeit ein Muster für körperliche Veränderung geschaffen haben können, das sich in der Gegenwart fortsetzt. Die Bedeutung schließlich bezieht sich auf die Art und Weise, wie wir Ereignisse in unserem Leben interpretieren und zu deuten versuchen. Die folgenden Fallbeispiele veranschaulichen diese drei Aspekte des Placebo-Effekts auf eindrucksvolle Weise.
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Mr. Wright, Krebiozen und die Schlagzeilen Eine der erstaunlichsten Geschichten, die über den PlaceboEffekt erzählt werden, handelt von einem Fall, der Dr. Bruno Klopfer von einem Kollegen berichtet und 1957 von ihm veröffentlicht wurde. Da es sich um einen Einzelfall handelt, muss man ihn mit Vorsicht deuten; aber die Tatsachen sind so faszinierend, dass man sie kaum unberücksichtigt lassen kann. Klopfers Kollege war der behandelnde Arzt eines Patienten, der uns als »Mr. Wright« bekannt ist. Dieser litt unter Lymphknotenkrebs, und in seinem ganzen Körper hatten sich große Tumoren entwickelt, die seine Ärzte mühelos ertasten konnten. Zu dieser Zeit erforschte eine Gruppe von Ärzten gerade eine neue chemische Verbindung namens Krebiozen, die von den Medien als Wundermittel gegen Krebs angepriesen wurde, obwohl das medizinische Establishment nicht sehr überzeugt davon war. Wrights Krebserkrankung befand sich bereits in einem so fortgeschrittenen Stadium, dass die Ärzte anfangs überlegten, ob sie ihn von der Studie ausschließen sollten, aber schließlich gaben sie ihm das Mittel, da sie aus Mitgefühl eine Ausnahme machen wollten - nicht weil sie irgendeine Reaktion erwarteten. Was dann geschah, erschien tatsächlich wie ein Wunder. Mr. Wright nahm zu, sah besser aus, fühlte sich auch besser, und seine Tumoren schrumpften so stark, dass man sie kaum noch ertasten konnte. Wrights Zustand verbesserte sich fortwährend, bis die regionalen Zeitungen davon berichteten, dass Krebiozen kein so großer Fortschritt war, wie man anfangs angenommen hatte. Nachdem er die negativen Berichte gelesen hatte, verlor Mr. Wright den Mut. Er nahm sofort wieder ab, und seine Tumoren wuchsen wieder. Da die Ärzte davon ausgingen, dass in erster Linie die Kraft -14-
der Suggestion für Mr. Wrights Reaktion auf das Medikament verantwortlich war, entschlossen sie sich dazu, ihm zu sagen, dass die erste Lieferung Krebiozen, die das Krankenhaus erhalten hatte, tatsächlich nicht so wirksam gewesen sei. Das Labor, so versicherten sie ihm, habe das Problem jedoch inzwischen behoben, und die neue, stärkere Serie des Medikaments würde dem Krankenhaus bald zugeschickt werden. Sie fuhren fort, Mr. Wright Hoffnungen zu machen, und verkündeten schließlich, dass der große Tag gekommen sei - die neue Serie des Medikaments sei eingetroffen. Sie gaben Mr. Wright weiterhin Spritzen, so wie sie es zuvor getan hatten, doch sie verwendeten sterilisiertes Wasser. Obwohl er nur mit sterilisiertem Wasser behandelt wurde, verbesserte sich der Zustand von Mr. Wright wiederum auf die gleiche dramatische Weise wie bei der Verwendung von Krebiozen. Es ging ihm so lange besser, bis die Zeitungen die Bemühungen der Ärzte ein zweites Mal unterliefen, indem sie einhellig behaupteten, Berichten der American Medical Association zufolge sei Krebiozen gegen Krebs unwirksam. Mr. Wrights Hoffnungen schwanden wieder, seine Tumoren wurden sehr groß, und kurz darauf verstarb er. Die Geschichte von Mr. Wright zeigt, welchen wichtigen Einfluss die Erwartung darauf hat, ob der Placebo-Effekt greift oder nicht. Der nächste Fall veranschaulicht die Rolle der Konditionierung. Er zeigt, dass der Placebo-Effekt möglicherweise nicht nur davon abhängt, was wir uns von der Zukunft erwarten, sondern auch davon, was wir in der Vergangenheit erlebt haben.
Ruths Rosenparfum Robert Ader von der University of Rochester arbeitete mit Dr. Karen Olness aus Cleveland zusammen und unterstützte sie bei -15-
der Behandlung eines jungen Mädchens namens Ruth, das im Alter von elf Jahren schwer an Lupus erythematodes erkrankt war. Aufgrund dieser schwerwiegenden Autoimmunerkrankung hatte sie zwei Jahre später einen Nierenschaden, einen erhöhten Blutdruck und Blutungen. Ihre Ärzte entschieden, sie sofort mit dem starken Medikament Zyklophosphamid zu behandeln, um ihr überaktives Immunsystem auszuschalten. Ruths Mutter, eine Psychologin, wusste, dass Ader (über den Sie später noch mehr erfahren) Zyklophosphamid bei Ratten getestet hatte. In diesen Experimenten hatten die Ratten zusätzlich zum Zyklophosphamid eine harmlose Substanz erhalten. Als man sich später auf die Behandlung mit jener harmlosen Substanz beschränkte, reagierte ihr Körper dennoch so, als hätte er weitere Dosen Zyklophosphamid erhalten. Ruths Mutter fragte sich, ob sich eine ähnliche Methode finden ließe, um die Zyklophosphamid-Dosis, die ihre Tochter bekommen würde, zu reduzieren - und ihr eventuell auf diese Weise die negativen Nebenwirkungen dieses Medikaments zu ersparen. Die Ärzte waren bereit, es zu versuchen, und ergänzten die Zyklophosphamid- Behandlung schließlich mit zwei weiteren »harmlosen« Substanzen: Lebertran und einem stark duftenden Rosenparfum. Drei Monate lang wurde Ruth mit der vollen Dosis Zyklophosphamid behandelt; darüber hinaus bekam sie Lebertran und durfte bei den Behandlungen, die einmal pro Monat stattfanden, an dem Parfüm schnuppern. Bei den darauf folgenden Behandlungen erhielt sie weiterhin den Lebertran in Kombination mit dem Rosenduft, aber das Zyklophosphamid wurde ihr nur noch bei einer von drei Behandlungen verabreicht. Innerhalb eines Jahres wurde Ruths Dosis also auf die Hälfte reduziert. Trotzdem reagierte sie großartig auf das Medikament, und ihr Zustand verbesserte sich erheblich. Sowohl die Erwartung als auch die Konditionierung sind mit einem weiteren zentralen Aspekt des Placebo-Effekts verknüpft: -16-
der Bedeutung, die die Krankheit und der Heilungsprozess für den Betroffenen haben. Die folgende Geschichte zeigt, wie Patienten diese in Gesprächen mit dem Arzt häufig zum Ausdruck bringen.
Die Bedeutung des Zuhörens Mitte der achtziger Jahre führte eine Gruppe von Allgemeinärzten unter der Leitung vo n Dr. Martin Bass in Kanada eine faszinierende Studie mit einer großen Gruppe von Patienten durch, die ihren Arzt aufgrund einer ganzen Reihe von häufigen Symptomen aufsuchten. Die Forscher untersuchten vor allem eine Frage: Anhand welcher Faktoren lässt sich am besten vorhersagen, ob ein Patient von einer Besserung seines Befindens spricht, wenn man sich einen Monat später nach seiner Krankheit erkundigt? Den Ärzten war es etwas peinlich, als sie feststellten, dass ihre detaillierten Krankenakten eine Menge Fakten enthielten, anhand derer sich nicht vorhersagen ließ, ob der Zustand des Patienten sich verbessern würde. Die Genauigkeit bei der Erfassung der Krankengeschichte, die Gründlichkeit bei der physischen Untersuchung, ob der Arzt Laboruntersuchungen veranlasste oder den Patienten röntgen ließ und welche Medikamente er ihm verschrieb, all das hatte nichts mit dem Ergebnis einen Monat später zu tun. Es stellte sich sogar heraus, dass fast alles, was die Ärzte während ihres Studiums und in der Praxis gelernt hatten, für diese Patientengruppe unerheblich war. Bass und seine Kollegen machten stattdessen einen ganz anderen Faktor aus, anhand dessen sich am sichersten vorhersagen ließ, ob ein Patient nach einem Monat berichten würde, dass er sich besser fühle: Es hing davon ab, ob der Arzt nach Meinung des Patienten genau zugehört hatte, als dieser seinen Zustand beim ersten Besuch beschrieben hatte. -17-
Bass und seine Kollegen beobachteten zudem eine große Gruppe von Patienten, die ihren Arzt aufgrund immer wiederkehrender Kopfschmerzen aufsuchten. Nachdem sie die Gruppe ein Jahr lang begleitet hatten, stellten sie Folgendes fest: Eine Besserung der Kopfschmerzen fand am häufigsten bei Patienten statt, die schilderten, dass sie beim ersten Arztbesuch die Gelegenheit hatten, ihr Problem ausführlich zu besprechen, und die das Gefühl hatten, dass der Arzt verstand, was es für sie bedeutete, Kopfschmerzen zu haben. (Und falls Sie glauben sollten, dass das Ergebnis nur ein Zufall war, sollten Sie bedenken, dass Barbara Starfield von der Johns Hopkins University eine ähnliche Studie mit Krankenhauspatienten in Baltimore durchgeführt hat und zum gleichen Schluss gekommen ist.) Doch ich muss hinzufügend anmerken, dass sich dieser Faktor sowohl in positiver als auch in negativer Tendenz auswirken kann; die negative hat unter dem Begriff Nocebo-Effekt in die medizinische Terminologie Einzug gehalten.
Der Nocebo-Effekt: Die Kehrseite der Medaille Was geschieht, wenn ein kranker Mensch wie Mr. Wright der Behandlung eine negative Bedeutung beimisst, anstatt sie positiv zu bewerten? Diese negative Einstellung kann einen ebenso großen Einfluss haben wie eine positive. Wir werden den Nocebo-Effekt später genauer erläutern; lesen Sie vorerst ein weiteres Beispiel über die ungeheure Kraft der Negativität.
Die Frau, die wegen einer Abkürzung starb Eine der vielen Fallgeschichten, die die Theorie des NoceboEffekts zwingend erhärtet, wurde von dem anerkannten -18-
Kardiologen Dr. Bernard Lown aufgezeichnet. Bereits als junger Mediziner arbeitete Dr. Lown mit einem sehr namhaften Kardiologen und Oberarzt zusammen. Bei ihm war eine Frau mit einer Herzklappenerkrankung in Behandlung, die trikuspide Stenose genannt wird und nicht lebensbedrohlich war. Sie hatte zudem eine leichte Herzinsuffizienz, die erfolgreich mit Medikamenten kontrolliert wurde. Als der Vorfall sich ereignete, befand Mrs. S. sich im Krankenhaus, um einige Untersuchungen durchführen zu lassen, und ihr Zustand war wie üblich stabil. Eines Tages kam der Oberarzt in Begleitung eines ganzen Pulks von Assistenzärzten, Praktikanten und Medizinstudenten in ihr Zimmer. Wie es damals üblich war (und heute ist es in Krankenhäusern immer noch viel zu häufig der Fall), besprachen sie die Diagnose und Behandlung nur untereinander. Sie behandelten die Patientin, als wäre sie ein Objekt, wandten sich ihr nicht direkt zu und schlossen sie von ihrem Gespräch aus. Bevor der ganze Pulk kehrtmachte und das Zimmer verließ, fasste der Oberarzt zusammen: »Diese Frau hat TS.« TS war eine gängige Abkürzung unter Kardiologen für »trikuspide Stenose«. Kurz darauf kam Dr. Lown zurück, um nach Mrs. S. zu sehen, und war völlig überrascht, dass sie panische Angst hatte und sehr schnell atmete. Über ihren Lungenunterfeldern, die vor ein paar Stunden ganz frei gewesen waren, konnte man jetzt beim Atmen feuchte Rasselgeräusche hören, was darauf hindeutete, dass die Herzinsuffizienz sich verschlimmert hatte. Als Dr. Lown Mrs. S. fragte, was denn los sei, antwortete sie: »Der Oberarzt hat gesagt, dass ich mit Sicherheit sterben werde.« Lown konnte nicht glauben, was er da hörte, und erwiderte entschieden, dass der Oberarzt unmöglich so etwas gesagt haben konnte. »Ich habe es aber gehört«, sagte Mrs. S. bestimmt. »Er hat gesagt, dass ich TS habe. Ich weiß, dass das ›terminale (zum Tode führende) Situation heißt. Ihr Ärzte sagt uns doch die -19-
Wahrheit nie direkt. Ihr versucht immer, etwas zu verheimlichen, damit es nicht so ein schwerer Schlag für uns ist. Aber ich weiß, was er gemeint hat.« Obwohl Lown ihr versicherte, dass der Oberarzt mit »TS« »trikuspide Stenose« und nicht »terminale Situation« gemeint hatte, änderte das für Mrs. S. gar nichts. Leise wiederholte sie, dass sie ganz genau wusste, was los sei, und dass Dr. Lown nur versuchte, sie vor der schrecklichen Wahrheit zu bewahren. Ihr Zustand verschlechterte sich immer mehr, obwohl es keinerlei Anzeichen dafür gab, dass sich ihr Herzleiden signifikant verändert hatte. Sie verstarb noch am selben Tag. So stark kann die Wirkung einer negativen Bewertung sein. In diesem Buch will ich mich jedoch vorwiegend auf die positive Wirkung des Placebo-Effekts und auf die Beantwortung folgender Frage konzentrieren: Können Hoffnung, Glaube oder eine bestimmte Erwartung echte wirksame Faktoren für den Heilungsprozess sein? Wir wo llen nun genauer erkunden, worum es sich beim Placebo-Effekt handelt.
Placebo und Placebo-Effekt Der Placebo-Effekt scheint eine Reaktion des Körpers auf ein heilendes Signal von außen zu sein. Was könnte das sein? Denken Sie an die Funktionsweise von Symbolen. Das Symbol umfasst eine Reihe von Merkmalen, die sehr nützlich sind, um die besondere Art von Signal zu verstehen, von der wir hier sprechen. Dabei können diverse Dinge in der Umwelt als Symbole dienen: ein Wort, ein Bild oder eine Geste, um nur einige wenige zu nennen. • Damit etwas eine Symbolwirkung haben kann, muss die Person, die das Signal empfängt, in einer bestimmten Gemütsverfassung sein. Gleichzeitig muss ihr der Kontext des Symbols bekannt sein. Ein Wort ist kein Symbol, solange wir -20-
die Sprache nicht kennen. Auch eine Flagge ist an sich noch kein Symbol, sie wird erst dann dazu, wenn wir erkennen, dass sie zu einer Nation gehört, zu der wir eine emotionale oder loyale Beziehung haben; sonst ist sie nichts weiter als ein farbiges Stück Stoff. • In der Regel bezeichnen wir etwas als Symbol, wenn es für etwas steht, das viel bedeutungsvoller ist als der Gegenstand des Symbols selbst. Wenn jemand nicht wissen würde, dass eine Flagge das Symbol für eine Nation ist, würde er auch nie verstehen, warum das Hissen dieses farbigen Stoffstücks Massen von Soldaten aufs Schlachtfeld stürmen lässt, wo sie riskieren, getötet zu werden. (Das herkömmliche Placebo ist ebenfalls an sich »neutral«, aber trotzdem ist es in der Lage, sehr starke Reaktionen hervorzurufen. Dies wird verständlich, wenn wir das Placebo als ein Symbol betrachten.) • Ein Symbol kann uns auf bewusste oder unbewusste Weise beeinflussen. Stellen wir uns beispielsweise vor, jemand hört die Titelmelodie eines Horrorfilms, den er als kleines Kind gesehen hat. Es könnte gut sein, dass er anfängt zu schwitzen und dass sein Herz zu rasen beginnt - selbst wenn er sich nicht bewusst daran erinnert, den Film gesehen zu haben. • Obwohl Reaktionen auf Symbole unbewusst ablaufen können, gehen wir im Allgemeinen davon aus, dass nur ein komplexer Geist Symbole verstehen und vor allem erschaffen kann. Wir würden kaum erwarten, dass Symbole eine Wirkung auf Tiere mit gering ausgeprägten geistigen Fähigkeiten haben. • Symbole haben stets zwei Seiten - der Gegenstand oder die Handlung selbst und das, wofür er oder sie steht. Wir könnten einen Menschen, der geohrfeigt wurde, zum Beispiel fragen, warum er Schmerz empfindet, und würden möglicherweise zwei unterschiedliche Antworten erhalten. Die Ohrfeige selbst, losgelöst von jeglicher symbolischen Bedeutung, ist die körperliche Ursache eines lokal begrenzten Schmerzes. Gleichzeitig ist sie auch ein Symbol für Dominanz und -21-
Erniedrigung, also Ursache für Schmerz auf emotionaler Ebene. Oder denken wir an eine Ohrfeige zu Zeiten, als man sich noch duellierte! • Symbole können eine besonders starke Wirkung haben, wenn sie dazu dienen, uns an wichtige menschliche Beziehungen zu erinnern. Wenn Mütter ihren Kindern beispielsweise bestimmte Dinge zu essen geben, damit sie wieder gesund werden (das beste Beispiel ist natürlich die Hühnersuppe), oder wenn sie vorsichtig auf eine Verletzung pusten oder ein Pflaster draufkleben, legen sie den Grundstein für solche Symbolwirkungen. Das Pflaster kann für Kinder ein sehr starkes Symbol für Heilung werden - doch nur aufgrund der wichtigen Beziehung zu ihrer Mutter. In ähnlicher Weise sind die wirksamsten Placebo-Effekte auf die eine oder andere Weise häufig mit menschlichen Beziehungen verknüpft. Aus diesem Grund hat etwas allein eine symbolische Bedeutung für uns, wenn wir das Symbol dahingehend deuten, dass es etwas Größeres repräsentiert, etwas, das über seine rein physischen Merkmale hinausgeht, und uns deshalb veranlasst, anders zu denken und zu fühlen. Ich kann nun also meine Definition des Placebo-Effekts folgendermaßen erweitern: Als Placebo-Effekt bezeichnen wir eine Veränderung im Körper (beziehungsweise in der Einheit von Körper und Geist) aufgrund einer symbolischen Bedeutung, die man einem Ereignis oder einem Objekt in einem heilenden Kontext zuschreibt. Lassen Sie uns einige Merkmale dieser Definition erneut betrachten. • Beachten Sie, dass die Definition auf eine Veränderung hinweist. Wie wir gesehen haben, kann das positiv oder negativ sein; der Placebo-Effekt bzw. Nocebo-Effekt kann den Zustand eines Menschen ebenso verbessern wie verschlechtern. • Die Festlegung auf einen »heilenden Kontext« soll den -22-
Placebo-Effekt eingrenzen. Wir gehen davon aus, dass er aufgrund eines bestimmten körperlich-geistigen Prozesses auftritt. Doch selbstverständlich kann man nicht immer, wenn der Geist den Körper beeinflusst, von Placebo-Effekt sprechen. Wenn zum Beispiel die Angestellten eines Unternehmens an einem Motivationsseminar teilnehmen und infolgedessen härter arbeiten, so dass das Unternehmen viel Profit macht, ist das sicherlich kein Placebo- Effekt. • Der Placebo-Effekt ist nicht auf Symbole oder Signale beschränkt, die ansonsten keine Wirkung auf den Körper haben. Eine Tablette, eine Injektion oder ein chirurgischer Eingriff können beispielsweise durchaus eine direkte Wirkung auf den Körper haben, und zwar auf eine Weise, die durch gängige biomedizinische Theorien erklärt wird, und gleichzeitig eine symbolische Wirkung, die einen Placebo-Effekt aktiviert. • Physische und psychische Wirkungsweisen werden bei dieser Definition nicht als grundsätzlich unterschiedliche Kategorien betrachtet. Wenn beispielsweise eine Zuckerpille körperliche Veränderungen bewirkt, kann dies nur aufgrund einer symbolischen Wirkung geschehen, da sie ansons ten wirkungslos ist. Wenn wir jedoch Cimetidin (Tagamet) gegen ein Magengeschwür verwenden, kann es potenziell auf mindestens zwei unterschiedliche Arten wirken: Es kann die Absonderung von Magensäure reduzieren, indem es gewisse chemische Prozesse in bestimmten Magenzellen blockiert, und es kann einen Placebo-Effekt hervorrufen wie jede andere Tablette oder Kapsel. Ähnlich ist es, wenn wir uns einer Psychotherapie unterziehen und sich unsere Angstzustände und Depressionen verbessern. Es könnte daran liegen, dass die Psychotherapie eine direkte Wirkung auf spezifische psychologische Prozesse hat. Sie könnte jedoch auch als Placebo fungieren, zum Beispiel weil der Patient erwartet, dass sich sein Zustand durch die Psychotherapie verbessert, und weil er sie als wirksame Behandlung akzeptiert hat oder weil er das Gefühl -23-
hat, dass der Therapeut sich besonders um ihn kümmert und ihn unterstützt. Das Gleiche würde für jede alternative Heilmethode gelten. • Diese Definition schließt den häufig dokumentierten Prozess der Spontanheilung ebenso aus wie den »normalen« Gesundungsprozess. Wir gehen davon aus, dass Heilungsprozesse durchaus ohne jegliche symbolträchtige Ereignisse verlaufen können. Wenige Krankheiten sind tödlich, selbst wenn der Kranke nie zu einem Arzt ge ht - ja selbst wenn der Betroffene nicht einmal eine einzige Aspirintablette oder ein Kräuterarzneimittel nimmt.
Der Placebo-Effekt und seine Mythen Über die Definition des Placebo-Effekts gibt es eine sehr kontroverse Auseinandersetzung; einige Experten sind sogar der Ansicht, dass man ihn gar nicht auf eine logische, stimmige Weise definieren kann. Aus zwei Gründen möchte ich kurz auf einige Definitionsansätze eingehen, die mir als unzureichend erscheinen: Zum einen hilft es uns, den Placebo-Effekt besser zu verstehen, wenn wir die Mythen darüber bewusst ignorieren. Zum anderen werden Sie wahrscheinlich auf die folgenden Begriffe stoßen, wenn Sie sich weiter mit dem Thema beschäftigen. Daher lohnt es sich, über die Unzulänglichkeiten der Begriffe genauer informiert zu sein. Unwirksame Behandlung. Ein Placebo wird häufig als inaktive oder unwirksame medizinische Substanz oder Behandlung definiert. Wenn wir davon ausgehen, dass ein Placebo allein aus einer Zuckerpille oder einer Spritze mit sterilisiertem Wasser besteht, scheint diese Beschreibung zuzutreffen. Die Biochemie und die Pharmakologie lehren uns, dass diese Substanzen in geringen Mengen tatsächlich unwirksam sind, was ihre Fähigkeit angeht, den Körper auf -24-
einem direkten, rein chemischen Weg zu beeinflussen. Aber beachten Sie, wie irreführend das Wort »unwirksam« ist, selbst wenn wir uns auf Zuckerpillen und Wasserspritzen beschränken, einen sehr begrenzten Teilbereich all dessen, was uns interessiert. Erstens: Wenn Placebos wirklich unwirksam wären, wenn sie absolut keine Veränderungen im Körper von Kranken bewirken würden, hätte ich dieses Buch nicht geschrieben, und Sie würden es nicht lesen. Das Problem bei der Definition eines »Placebos« entsteht genau deshalb, weil das Placebo Veränderungen hervorruft, egal, wie rätselhaft sie erscheinen mögen. Zweitens: Wenn Placebos Veränderungen im Körper bewirken, ist es schwer vorstellbar, wie sie das schaffen sollten, ohne dass dabei irgendwelche chemischen Abläufe eine Rolle spielen. Schließlich ist alles andere, was im Körper geschieht einschließlich dem Denken und Fühlen -, mit messbaren physischen und chemischen Veränderungen verknüpft. Zu behaupten, dass Placebos die körperliche Gesundheit beeinflussen, ohne die chemischen Abläufe im Körper zu verändern, ist viel mysteriöser (und weniger wissenschaftlich), als davon auszugehen, dass Placebos auf chemischem Weg auf den Körper wirken. Unspezifische Reaktionen. Da der Begriff »unwirksam« irreführend ist, verwenden manche Wissenschaftler, die sich mit Placebos beschäftigen, den Begriff »unspezifische Wirkungen«. Für einige von ihnen ist der Begriff »unspezifische Reaktion« praktisch ein Synonym für »Placebo-Effekt«; andere betrachten den Placebo-Effekt nur als eine besondere Art der unspezifischen Reaktionen. Was ist eigentlich mit »unspezifischer Wirkung« gemeint? Beginnen wir mit der Betrachtung des Begriffs »spezifische Wirkung«. Eine spezifische Wirkung kann man definieren als eine Veränderung im Körper, die als direktes kausales Ergebnis -25-
einer medizinischen Maßnahme auftritt. Diese Wirkung kann darüber hinaus durch eine medizin- wissenschaftlich fundierte Theorie stimmig erklärt werden. Die Beseitigung einer bakteriellen Lungenentzündung als Resultat von AntibiotikaInjektionen; die Senkung des Blutzuckerspiegels eines Diabetikers bei Verabreichung von Insulin; das Schrumpfen eines Tumors nach Bestrahlungen - all das würde zu den »spezifischen Wirkungen« zählen. Umgekehrt kann man eine Wirkung »unspezifisch« nennen, weil die kausale Verbindung zwischen der medizinischen Maßnahme und der Wirkung unklar ist oder weil unsere bisher entwickelten Theorien nicht genau nachweisen können, warum diese Wirkung überhaupt eintritt. Den Begriff »unspezifisch« schätzt der wissenschaftsorientierte Geist, da er alles offen lässt: Man lehnt den Versuch, den Placebo-Effekt zu erklären, einfach ab, da man sich des eigenen Nichtwissens bewusst ist. Darüber hinaus empfinden manche allein schon den Begriff »Placebo« als verwirrend, weil ihm so viel mythischer Ballast anhaftet. Aus diesem Grund sollte der Begriff in der Definition vermieden werden. Aber der Begriff »unspezifisch« kennzeichnet das Phänomen des Placebo-Effekts nicht so gut, wie seine Befürworter glauben. Bevor man nicht den Placebo-Effekt und alle anderen unspezifischen Reaktionen genau unterscheiden kann, hat man nichts wirklich Bedeutsames gesagt. Ich habe sogar noch einen gewichtigeren Einwand gegen den Begriff »unspezifische Reaktion«. In der Hinsicht, in der die meisten von uns den Begriff verwenden würden, ist der PlaceboEffekt nämlich nicht unspezifisch. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, dass Ärzte zwei Gruppen von Patienten Zuckerpillen geben. Eine Gruppe leidet unter Schmerzen, die andere hat Asthma. Der ersten Gruppe wird gesagt, dass die Zuckerpillen ein Schmerzmittel sind; der zweiten sagt man, dass die Tabletten bronchienerweiternd wirken und die Atmung erleichtern. -26-
Aufgrund unserer Erfahrungen mit Placebo-Experimenten dieser Art können wir mit Gewissheit vorhersagen, dass mindestens einige Teilnehmer der ersten Patientengruppe berichten werden, dass sie weniger Schmerzen haben; und einige aus der zweiten Gruppe werden wahrscheinlich berichten, dass sie leichter atmen können und weniger keuchen. Wir würden nicht erwarten, dass einige Teilnehmer der zweiten Gruppe berichten, ihr Asthma sei genauso schlimm, aber sie hätten weniger Schmerzen; oder dass einige aus der ersten Gruppe sagen, dass sie freier atmen können, obwohl ihre Schmerzen nicht besser geworden sind. Wenn man von den vielen Ergebnissen der unzähligen Studien ausgeht, scheint der Placebo-Effekt durchaus sehr spezifisch zu sein. Deshalb erscheint uns seine Deutung als »unspezifische Reaktion« als ungenau und wenig aussagekräftig.
Was den Placebo vom Placebo-Effekt unterscheidet Sie werden bemerkt haben, dass wir bisher nur den PlaceboEffekt definiert, aber fast nichts über die Definition von Placebos gesagt haben. Ein Placebo ist im allgemeinen medizinischen Sprachgebrauch eine Tablette, die keine Substanz enthält, die die jeweilige Krankheit des Patienten aktiv bekämpft. In der Regel enthalten die heute verwendeten Placebotabletten 100 Milligramm Lactose oder Milchzucker, und die westliche Wissenschaft bestreitet, dass dies die inneren chemischen Prozesse des Körpers stark genug verändern könnte, um den Verlauf einer wie auch immer gearteten Krankheit zu beeinflussen. Die Definition, die ich weiter oben vorgeschlagen habe, als ich das Prinzip der symbolischen Bedeutung vorgestellt habe, erlaubt mir, den Placebo-Effekt so zu definieren, als sei er von einem Placebo unabhängig. Das wird sich als sehr wichtig -27-
herausstellen, wenn wir zur praktischen Anwendung kommen. Historisch gesehen entdeckte die Medizin die Wirkung von Symbolen auf die Gesundheit zum ersten Mal, als beobachtet wurde, dass sich der Zustand von Patienten durch die Einnahme von Brottabletten, Zuckerpillen oder unwirksamen Arzneimitteln verbesserte, obwohl diese lediglich eine symbolische Kraft haben konnten. Wichtig ist für uns heute: Praktisch jedes Mal, wenn ein Arzt einen kranken Menschen behandelt, oder jedes Mal, wenn sich ein Mensch bei einer Erkrankung selbst mit Substanzen oder anderen Anwendungen behandelt, empfängt der Betroffene Botschaften von außen, die einen Placebo-Effekt hervorrufen können, wenn sie für ihn die richtige symbolische Bedeutung haben. Von all den PlaceboEffekten, die gegenwärtig auftreten, beruht nur ein sehr kleiner Prozentsatz auf der Einnahme von Substanzen, die wir dezidiert als »Placebos« bezeichnen. Abschließend sollten wir den Begriff »Placebo« genau definieren, um eine Konfusion zwischen ihm und dem PlaceboEffekt, um den es in diesem Buch allein geht, zu vermeiden. In der medizinischen Forschung bezeichnet ein Placebo ein Hilfsmittel, das die Modalitäten oder den Prozess, die untersucht werden, nachahmen soll. Das Placebo besitzt keine erwiesenen heilenden Eigenschaften, so dass es zur Kontrolle in einer Doppelblindstudie eingesetzt werden kann (die eine Hälfte der Probanden erhält ein wirksames, die andere ein unwirksames Mittel; weder Ärzte noch Probanden sind darüber informiert, wer welches Mittel erhalten hat). Bei therapeutischen Heilverfahren steht das Placebo für eine Behandlungsweise, die nach Einschätzung der Ärzte den Gesundheitszustand des Patienten allein durch ihre symbolische Bedeutung beeinflussen kann. Wenn wir davon ausgehen, dass der Placebo- Effekt nicht vom Einsatz eines Placebos abhängt, haben wir die besten -28-
Voraussetzungen für eine aufrichtige Verständigung zwischen Arzt und Patient geschaffen. Wenn eine bestimmte Form der Kommunikation mit dem Patienten den Heilungsprozess fördert, dann gibt es überhaupt keinen Grund, warum der Arzt seinem Patienten das nicht gleich zu Beginn mitteilen sollte - und es gibt in der Tat keinen Grund, warum der Arzt dem Patienten einige dieser Kommunikationselemente nicht beibringen sollte. Dieses Verständnis führt direkt zu den zentralen Themen, die im Folgenden erörtert werden. Die Art und Weise, wie wir unsere Begriffe in diesem Kapitel definiert haben, hat zur Folge, dass wir uns nicht durch die irreführende Verwendung des Begriffs »Placebo« in der Vergangenheit einschränken lassen müssen. Ebendiese Vergangenheit wollen wir im nächsten Kapitel genauer in Augenschein nehmen.
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Der Placebo-Effekt im Wandel der Zeit Da fast alle Medikamente bis vor kurzem Placebos waren, kann man die Geschichte der medizinischen Behandlungen zum größten Teil als Geschichte des Placebo-Effekts charakterisieren. Arthur K. Shapiro (1968) Wie hielten es in früheren Jahrhunderten Ärzte und andere Experten mit dem Placebo-Effekt? Im Folgenden lesen Sie einen provokativen Bericht aus dem Jahr 1580.
Der magische Einlauf des reichen Kaufmanns Der große französische Essayist Michel de Montaigne schrieb vor vierhundert Jahren über die Kraft des Vorstellungsvermögens, die Körperfunktionen zu beeinflussen. In einem Essay erzählte er eine Geschichte, die ihm von einem Apotheker berichtet worden war. In Toulouse lebte einst ein reicher Kaufmann, der so große Probleme mit seinen Blasensteinen hatte, dass er zum Invaliden geworden war. Dieser Kaufmann glaubte fest an die Wirkung von Einläufen (oder Klistieren, wie man sie damals nannte), und im Laufe der Jahre überredete er seine Ärzte dazu, ihm eine große Anzahl der verschiedensten Einlaufe zu verschreiben - je nachdem, unter welchen Symptomen er jeweils litt. Als er einmal um ein bestimmtes Klistier bat, wandten der Apotheker und seine Assistenten die übliche Behandlungsmethode an: Sie drehten den Patienten im Bett in die richtige Position, maßen sorgfältig die Temperatur der Mixtur und führten den Klistierschlauch ins Rektum des -30-
Kaufmanns ein. Danach gingen der Apotheker und seine Assistenten wieder, doch am nächsten Morgen statteten sie dem Kaufmann einen Besuch ab, um sich nach der Wirkung der Anwendung vom Vortag zu erkundigen. Dieser berichtete aufgeregt, dass alles wie immer wunderbar gewirkt habe. Allerdings wusste der Kaufmann nicht, dass der Apotheker dieses Mal nur so getan hatte, als würde er dem Patienten die Lösung einflößen. Warum der Apotheker so handelte, weiß man nicht Montaignes Essay liefert keine Hinweise über sein Motiv. Ich nehme an, es handelte sich um einen privaten Streich, den der Apotheker einem anstrengenden Patienten spielte. Richten wir unsere Aufmerksamkeit nun auf zwei verschiedene Lehrmeinungen, die die Medizin jahrhundertelang dominiert haben.
Spontanheilung und Vorstellungskraft: Eine historische Debatte Der Placebo-Effekt war schon immer ein Bestandteil der Medizin und ihrer Heilkünste. Damit wir so viel wie möglich aus der Medizingeschichte lernen, wollen wir versuchen herauszufinden, ob Ärzte und Heilkundige in früheren Zeiten je Placebos oder den Placebo-Effekt genutzt haben; und wenn sie das taten, wie sie sich den Ablauf der Prozesse vorstellten. Jede Phase in der Medizingeschichte hatte ihre bevorzugten Behandlungsformen und Heilmittel. Häufig gab es, wenn überhaupt, nur wenige stichhaltige Beweise für deren Wirksamkeit. Nichtsdestotrotz hat die Medizin immer versucht, ihre Methoden auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen. Es wurden dementsprechend diverse Theorien darüber entwickelt, wie verschiedene Behandlungen auf den Körper wirkten, um die Krankheitssymptome zu beseitigen oder zu mildern und die -31-
Gesundheit wiederherzustellen. Heilmittel wie Krokodilmist mögen uns heute lächerlich erscheinen, aber für die Ärzte, die sie verwendeten, gab es logisch nachvollziehbare Gründe dafür, sie anzuwenden in der festen Überzeugung, dass sie wirkten. Und was taten Ärzte, wenn eine Behandlung den Gesundheitszustand des Patienten verbesserte, die Wirkung aber nicht durch die vorherrschende Theorie ihrer Zeit erklärt werden konnte? In der gesamten Medizingeschichte liefern die Ärzte stets zwei grundlegende Antworten, welche ich im ersten Kapitel schon angesprochen habe: die heilende Kraft der Hoffnung, des Glaubens und des Vorstellungsvermögens (was ich Placebo- Effekt nenne); und die dem Körper selbst innewohnende Heilkraft (Spontanheilung). Eine jener Autoritäten der Wissenschaft, die erstmals über die heilende Kraft des Vorstellungsvermögens schrieben, war nicht etwa ein Arzt, sondern der griechische Philosoph Platon, der glaubte, dass Worte heilende Kräfte haben können und dass die Wirkung des gesprochenen Wortes auf den Geist eines kranken Patienten zur Heilung führen könnte. Platon war sogar bereit, eine Lüge zu akzeptieren: wenn ein Arzt beispielsweise gegenüber seinem schwer kranken Patienten äußert, dass er sich wieder erholen werde oder dass die Krankheit nicht so schlimm sei, wie der Patient glaubt. Da er die Lüge im medizinischen Kontext legitimierte, nahm Platon den Ärzten ihre Scheu davor. Platon war sogar der Überzeugung, die medizinische Lüge könne eine entscheidende Rolle für die Heilung spielen. Und da - wie er ausführt - die Götter für die Unwahrheit keine Verwendung hätten und sie der Menschhe it lediglich als Medizin nützlich sei, sollte eine solche Medizin von niemand anderem als einem Arzt verwendet werden. Platons Ansichten bezüglich der heilenden Kraft von Worten kann man die Meinung einer berühmten griechischen Autorität auf dem Gebiet der Heilkunde gegenüberstellen: Hippokrates, dem »Vater der modernen Medizin« (obwohl seine Schriften -32-
wahrscheinlich nicht die Arbeit eines Mannes, sondern die einer ganzen Schule von Kollegen und Schülern waren). Hippokrates scheint die Vorstellung, dass die Gespräche des Arztes mit dem Patienten oder »Worte« an sich die Heilung fördern können, nicht zu akzeptieren. Vielmehr glaubt er, dass die strikte Befolgung der Therapiemaßnahmen der heilende Faktor ist. Der Arzt hat die Aufgabe, den Patienten davon zu überzeugen, dass dieser pflichtbewusst seine Medizin nehmen und jeden Rat befolgen soll, den der Arzt ihm gibt. Obwohl Platon und Hippokrates offensichtlich unterschiedlicher Meinung sind, scheint der Philosoph an anderer Stelle, in seinen Gesetzen, dennoch mit dem Arzt übereinzustimmen. Dort schreibt er nämlich, der Arzt verschreibe seinem Patienten nichts, ohne ihn vorher davon zu überzeugen. Mit Hilfe der Überredungskunst lindere er seine Schmerzen und leite ihn ständig an, so dass er nach und nach zur Gesundheit geführt werde. Ein weiterer großer griechischer Arzt namens Galen stellte schließlich eine Theorie auf, die die westliche Medizin in den nächsten 1800 Jahren dominieren sollte. Galens heilkundliche Theorie, die humorale Medizin, hat wesentliche Gemeinsamkeiten mit der traditionellen chinesischen sowie der hinduistischen ayurvedischen Medizin. Diese Lehren gehen alle davon aus, dass der Körper von Elementen bestimmt wird. Ihnen zufolge ist der Körper gesund, wenn die Elemente im Gleichgewicht sind und miteinander harmonieren; Krankheiten treten auf, wenn es zu einem Ungleichgewicht der Elemente kommt. Die Aufgabe der Medizin ist es also, das Gleichgewicht wiederherzustellen - entweder durch die Verminderung eines Elements, das im Übermaß vorhanden ist, oder durch die Stärkung eines anderen Elements, das zu schwach ist. Noch heute ist das Prinzip von Harmonie und Gleichgewicht der Schlüssel zu vielen alternativen medizinischen Systemen. Die humorale Medizin, wie sie von Galen gelehrt wurde, ging -33-
von vier Elementetypen beziehungsweise Körpersäften aus, die Humores genannt wurden - Blut, Schleim, schwarze Galle und gelbe Galle - und kam unserem heutigen Verständnis von Ganzheitlichkeit sehr nahe. Man nahm an, dass psychische Einflüsse in ähnlicher Weise positiv oder negativ auf das Gleichgewicht der Humores wirken konnten wie äußere Einflüsse. Die Begriffe »sanguinisch«, »melancholisch«, »cholerisch« und »phlegmatisch« beziehen wir heute eher auf Persönlichkeitstypen oder psychische Eigenschaften, aber ursprünglich beschrieben sie einen Überschuss eines der vier Humores. Der ganzheitliche Ansatz der humoralen Theorie förderte 1800 Jahre lang die Bereitschaft der Ärzte, den Gefühlen oder der Vorstellungskraft heilende oder krank machende Kräfte zuzuschreiben. Skeptischere Ärzte gestanden ein, dass der Geist zumindest teilweise für jedwede Heilung verantwortlich sein konnte. So schreibt Dr. Jerome Gaub 1763: Die Hoffnung lässt einen Geist durchhalten, der durch eine hartnäckige, ermüdende Krankheit geschwächt ist und Hilfe braucht. Eine Erregung der Körperorgane äußert sich manchmal in der Art und Weise, dass die Vitalfunktionen ihre Trägheit überwinden, das Zentralnervensystem wieder gestärkt wird, die Bewegungen der Humores sich beschleunigen und die Natur dann mit ihrer eigenen Kraft eine Krankheit attackiert und überwindet, gegen die eine ausgedehnte Behandlung vergeblich gekämpft hat. Andere bestanden darauf, dass die Vorstellungskraft allein für die Heilerfolge von Quacksalbern oder Scharlatanen (oder vo n denjenigen, mit denen sie nicht einer Meinung waren) verantwortlich war, während ihre eigenen Heilbehandlungen allein auf großen Fertigkeiten und Wissen basierten. In seinem -34-
Werk Anatomie der Melancholie von 1628 zitiert Robert Burton einige berühmte Autoritäten aus früheren Zeiten, die sich zu dem Thema geäußert hatten: Alle Welt weiß, dass solche Zauberkuren [die von Quacksalbern angewendet werden] im eigentlichen Sinne keine Heilkraft besitzen, aber die Einbildung und der starke Glaube allein erzwinge n nach Pomponatius einen Zustrom der Säfte, der Lebensgeister und des Blutes, der die Krankheitsursache in den befallenen Organen beseitigt... Nur die gute Meinung macht oder ruiniert den Arzt nach Cardano, und der behandelt am besten, so Hippokrates, dem die meisten vertrauen. Wann genau in der Medizingeschichte Ärzte zum ersten Mal Mittel einsetzten, von denen sie wussten, dass es Scheinmedikamente waren, ist nicht bekannt. Der Fall des magischen Einlaufs des reichen Kaufmanns von 1580 liefert den frühesten Hinweis auf eine bewusst vorgetäuschte Behandlung, den ich finden konnte. Doch wenden wir uns nun dem Ursprung und der Entwicklung von Placebos zu.
Placebos fallen in Ungnade Das Wort »Placebo« stammt aus dem Lateinischen und bedeutet: »Ich werde gefallen.« Im englischen Sprachgebrauch tauchte es zum ersten Mal im frühen Mittelalter auf, wo es sich auf Vespern, die für die Toten gesungen wurden, bezog. Zur Zeit des Dichters Chaucer im vierzehnten Jahrhundert hatte der Begriff »Placebo« bereits eine ne gative Konnotation, die ihm seitdem anhaftet. Damals bezog er sich auf einen Schmeichler oder Jasager, der immer das sagte, was man hören wollte, und nie, was er wirklich dachte. -35-
Jahrhunderte vergingen, bevor »Placebo« eine medizinische Bedeutung zugesprochen wurde. Erst 1785 tauchte der Begriff in einem wissenschaftlichen Lexikon auf, und aus dem Jahr 1811 lassen sich Belege dafür finden, dass man zu jener Zeit den Begriff mit einer Bedeutung verband, die zumindest entfernt dem heutigen Sinn des Wortes ent spricht. Obwohl sich Thomas Jefferson völlig darüber im Klaren war, dass der Arzt, mit dem er befreundet war, durch die Verwendung von »Brotpillen, gefärbten Wassertropfen und Pulver aus Hickoryholzasche« versuchte, den Geist und nicht den Körper seiner Patienten zu beeinflussen, wäre es ihm wahrscheinlich nicht im Traum eingefallen, diese Substanzen als »Placebo« zu bezeichnen. Zur Zeit der amerikanischen Revolution finden wir dann zum ersten Mal den Einsatz einer Kontrollgruppe in einem medizinischen Experiment. Die Erfindung einer »blinden« Kontrolle ist wahrscheinlich einem anderen amerikanischen Gründungsvater zuzuschreiben - Benjamin Franklin.
Benjamin Franklin und Herr Mesmer Eine der heißesten Moden in Paris im Jahre 1784 war der »animale Magnetismus« (beziehungsweise »Mesmerismus«), der von Franz Anton Mesmer entwickelt wurde. Heute kennen wir diesen Vorgang als »Hypnose«, aber Mesmer behauptete, die Kraft des Mesmerismus stamme von einem neu entdeckten natürlichen »Fluid« des Körpers. Seine spezielle Technik, Versuchspersonen in Trance zu versetzen und ihnen Suggestionen zu übermitteln, so Mesmer, beruhe auf seiner Fähigkeit, dieses Fluid in der Versuchsperson aus der Distanz zu beeinflussen. Als der König von Frankreich eine wissenschaftliche Kommission einsetzte, um die Stichhaltigkeit von Mesmers Theorie zu überprüfen, wurde auch Benjamin Franklin, der -36-
damals als amerikanischer Gesandter in Frankreich lebte, gebeten, Mitglied der Kommission zu werden. Die Kommission entschied zunächst über die folgende zentrale Frage: War der animale Magnetismus tatsächlich eine natürliche, physische Kraft, oder beruhten die Wirkungen lediglich auf der Fähigkeit des Mesmeristen, die Vorstellungskraft der Versuchsperson anzuregen? Franklin und die Kommission fanden das heraus, indem sie einfach die Bedingungen veränderten. Sie stellten fest, dass sie in jedem Fall die Wirkungen des animalen Magnetismus beseitigen konnten. Frauen, die mesmerisiert worden waren, konnten beispielsweise sehr genau beschreiben, wo sie in ihrem Körper das magnetische Fluid spürten, solange sie den Mesmeristen sehen konnten. Sobald ihnen die Augen verbunden worden waren, waren ihre Antworten jedoch völlig zufällig. In einer weiteren Reihe von Experimenten wurde den Frauen gesagt, der Mesmerist befinde sich hinter einem Vorhang im Nachbarzimmer, was richtig oder falsch sein konnte. Die Kommission stellte fest, dass die Fähigkeit der Versuchspersonen, sich mesmerisieren zu lassen, davon abhing, ob sie dachten, er sei da - und nicht davon, ob er tatsächlich anwesend war. Nach einigen dieser Versuchsreihen kamen Franklin und die anderen Kommissionsmitglieder zu dem Schluss, dass die Wirkungen des Mesmerismus tatsächlich auf die Vorstellungskraft der Versuchspersonen zurückzuführen waren und nicht auf irgendein Fluid.
Der Traktortest Ähnliche Experimente wurden 1799 in England durchgeführt, um offen zu legen, was klassische Ärzte als weitere Quacksalberei erachteten. Elisha Perkins, eine amerikanische -37-
Ärztin, hatte metallische »Traktoren« entwickelt, kleine Stäbchen, die einem Zirkel ähnelten und angeblich die elektrischen Felder des Körpers beeinflussten. Menschen mit gelähmten Gliedern und anderen schweren Erkrankungen berichteten, dass sie nach der Anwendung der Traktoren spektakuläre Heilerfolge erlebt hatten. Als die »Traktoren« auch in England eingeführt wurden, fertigten Dr. John Haygarth und seine Kollegen, die Franklins Methoden kannten, unechte hölzerne Traktoren an, die so eingefärbt waren, dass sie aussahen wie Metall. Als sie diese Attrappen einsetzten, gelang es ihnen, fünfzehn britische Patienten zu »heilen«. Der französische Arzt Armand Trousseau scheint der Erste gewesen zu sein, der in Studien das eingesetzt hat, was wir heute Placebo-Kontrolle nennen würden. Sein Ziel war, die homöopathische Medizin auf ihre Wirksamkeit zu testen (und diese zu widerlegen). Trousseau und seine Studenten erkannten, dass sie nur dann eindeutige Ergebnisse erhalten würden, wenn neben den Patienten, die das homöopathische Mittel einnahmen, eine weitere Patientengruppe eine Scheinpille erhielt, die vollkommen identisch aussah. Sie entschieden sich dafür, Brotpillen zu verwenden. Zu jener Zeit dachte niemand daran, den Teilnehmern des Experiments zu eröffnen, was geschah - so wie es heute für alle nach ethischen Grundsätzen durchgeführten Experimente vorgeschrieben ist. Trousseaus Gruppe, die von vornherein voreingenommen war, kam aufgrund dieses Experiments zu dem Ergebnis, dass die Homöopathie medizinisch wertlos war und der Gesundheitszustand der Patient en sich aufgrund des natürlichen Verlaufs ihrer Krankheiten verbesserte. Mit dem Jahr 1811 - gerade als das Wort »Placebo« in der Medizin gebräuchlich wurde - beginnt man auch, eine gewisse Skepsis hinsichtlich der Wirkung von Placebos zu hegen. Viele Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts nahmen an, dass eine -38-
Heilung, die nicht durch ein bestimmtes Mittel bewirkt wurde, durch die dem Körper innewohnenden Heilkräfte verursacht wurde - und nicht unbedingt durch die Vorstellungskraft. 1898 schrieb Dr. Eimer Lee: Der wichtigste Einfluss von Medikamenten auf die Heilung von körperlichen Krankheiten beruht auf der Tatsache, dass Medikamente Substanzen liefern, die den Geist beruhigen, während andere Faktoren dahingehend wirken, dass die Krankheit aus dem System beseitigt wird. Diese Wirkung wird dann häufig dem Medikament zugeschrieben.
Dr. Flints placeboisches Heilmittel Der amerikanische Arzt Austin Flint wollte beweisen, dass die meisten Mittel, die zu seiner Zeit gegen rheumatisches Fieber eingesetzt wurden, nutzlos waren und sich der Zustand der Patienten gleichermaßen verbesserte, wenn sie ganz in Ruhe gelassen wurden. Aber Flints Patienten im New Yorker Bellevue-Krankenhaus wollten nicht nur beobachtet werden; sie verlangten eine Behandlung. Flint tat ihnen den Gefallen und gab ihnen eine spezielle Medizin, die er das »placeboische Heilmittel« nannte - es handelte sich um die stark verdünnte Tinktur einer bitteren tropischen Baumrinde, die Quassie hieß und keinerlei Wirkung auf die Krankheit hatte. Er verwendete den Begriff »placeboisches Heilmittel« gegenüber den Patienten, da er davon ausging, dass die meisten noch nie etwas von Placebos gehört hatten. Und so war es auch. Die Patienten glaubten, »placeboisches Heilmittel« sei einfach der Name des neuen Medikaments. Wie erwartet stellte Flint fest, dass sich der Zustand der Patienten, denen man das »placeboische Mittel« verabreichte, ungefähr mit derselben Geschwindigkeit verbesserte wie der von -39-
Patienten, die mit den damals gängigen Mitteln gegen rheumatisches Fieber behandelt wurden. Für Flint war das Experiment damit beendet. Er hat nie die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass er den Geist oder die Vorstellung der Patienten beeinflusst und dadurch schnellere Heilerfolge erzielt haben könnte. Er verabreichte den Patienten die Quassietinktur und nahm schlichtweg an, dass er auf diese Weise den natürlichen Krankheitsverlauf beobachtete - der ebenso stattgefunden hätte, wenn er und das Bellevue-Krankenhaus nicht existiert hätten. Wenden wir uns nun der zweiten Theorie zu: der Fähigkeit des Geistes, Heilungen zu bewirken.
Die heilende Kraft der Vorstellung Zusammen mit dem Glauben an die dem Körper innewohnenden Heilkräfte hielt sich auch der Glaube an die Kraft des Vorstellungsvermögens. Als sich im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts die Beweise für dessen Stichhaltigkeit häuften, wurde es schwieriger zu behaupten, die Ergebnisse, die man nach der Verabreichung von Placebos beobachten konnte, seien lediglich auf die natürlichen Heilkräfte des Körpers zurückzufü hren. Als Dr. Horatio C. Wood 1891 den folgenden Fall schilderte, ging er davon aus, dass die Vorstellungskraft der Patientin für die Ergebnisse verantwortlich war: Vor einiger Zeit gab ich einer Patientin ein Rezept für Brotpillen. Gleichzeitig erklärte ich ihr sehr genau und mit großem Nachdruck, auf welche Weise diese einzunehmen seien. Nach einigen Monaten kam sie wieder zu mir und sagte: »Herr Doktor, warum haben Sie mir dieses Mittel nicht früher verschrieben? Es ist das Einzige, das bei mir wirkt. Ich habe mir das Mittel in der Apotheke für eine Reihe meiner Freunde geben -40-
lassen, und die Ergebnisse sind außergewöhnlich. « Die Ungewissheit darüber, wie der Erfolg der Placebos zu erklären war - aufgrund der natürlichen Heilkräfte des Körpers oder aufgr und der Vorstellungskraft - hinderte Ärzte nicht daran, Placebos ohne Zögern bewusst in der Praxis einzusetzen. Charles Rosenberg, ein bekannter Medizinhistoriker, schreibt: Kein Arzt des mittleren neunzehnten Jahrhunderts zweifelte an der Wirksamkeit von Placebos - genauso wenig wie er bezweifelte, dass die Wirksamkeit eines Medikaments von seiner eigenen Einstellung abhängen könnte. Ärzte im neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert scheinen tatsächlich bewusst eine große Menge von Placebos verschr ieben zu haben (auch wenn keine Statistiken dazu vorliegen). Richard Cabot, ein bekannter Arzt aus Harvard, schrieb 1903: Mir wurde beigebracht - und ich nehme an, dass dies bei allen Ärzten der Fall war-, Placebos, Brotpillen, subkutan verabreichtes Wasser und andere Mittel zu verwenden, die über den Geist des Patienten auf seine Symptome wirken. Wie häufig diese Methoden angewendet werden, variiert wahrscheinlich sehr von Arzt zu Arzt, aber ich bezweifle, dass es einen Arzt in diesem Raum gibt, der noch nie Placebos verabreicht hat oder sie nicht sogar ziemlich häufig verwendet. Und der Herausgeber des British Medical Journal, einer britischen medizinischen Fachzeitschrift, schrieb sogar noch im Jahre 1953: Bei einem Treffen der Abteilung für Allgemeinmedizin der -41-
Royal Society of Medicine in England, das vor kurzem stattfand, ergab die Diskussion, dass Allgemeinärzte den Patienten in zirka 40 Prozent der Fälle Placebos verschreiben. 1949 wurden in England 188 Millionen Rezepte ausgestellt. Wenn 40 Prozent davon Rezepte für Placebos gewesen wären (und man für die Berechnung je vier Unzen einer gängigen Placebomixtur veranschlagt), würden sich die jährlichen Kosten für die ausgegebenen Placebos auf 5 Millionen Pfund belaufen. Ob sie nun häufig verschrieben wurden bzw. werden oder nicht, Placebos waren immer schon Gegenstand einer heftigen Kontroverse, was ethische Grundsatzfragen anbetraf.
Der Placebo-Effekt und die medizinische Ethik Da viele Ärzte des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts ihre Medikamente selbst herstellten, konnten sie den Patienten eine Flasche mit Pillen geben (und diese mit ausgefallenen lateinischen Namensschildchen versehen), ohne dass jemand wusste, was darin enthalten war. Auf diese Weise war es leicht, Placebos zu verschreiben und die Patienten zu täuschen. Wie schon angemerkt, erlaubten die vorherrschenden ethischen Maßstäbe jener Zeit den Ärzten, ihre Patienten anzulügen, solange das Ziel darin bestand, sie zu heilen, und nicht darin, sich zu bereichern. Die Ärzte sahen sich zudem dazu veranlasst, Placebos zu verschreiben, da sie immer mehr zu der Erkenntnis kamen, dass nur wenige der verfügbaren Medikamente tatsächlich eine echte heilende Wirkung hatten. Aus diesem Grund verkündete Dr. John Snow, ein Pionier der wissenschaftlichen Forschung im Bereich der Anästhesie und Epidemiologie, 1855 voller Überzeugung, dass Placebos von der Bildfläche verschwinden würden, sobald die Medizin wissenschaftlicher und die Wirkung -42-
von Medikamenten vorhersagbarer werde: Einige Zweige der medizinischen Wissenschaft haben bereits bedeutende Fortschritte gemacht; Chirurgen sind sich beispielsweise über die richtige Behandlung von Knochenbrüchen und Auskugelungen einig. Wenn erst die Ursache und Behandlung aller Krankheiten in einem solchen Maße bekannt ist, wird es undenkbar sein, dass intelligente Menschen es sich gefallen lassen, mit Kügelchen aus Milchzucker behandelt zu werden, die medizinische Namen haben, aber sonst gar nichts. Mit dem Voranschreiten des zwanzigsten Jahrhunderts nahm die bewusste Verwendung von Placebos in der medizinischen Praxis ab, da Ärzte nun bedeutend zuversichtlicher waren, dass sie wirksame Medikamente für die gesundheitlichen Probleme ihrer Patienten verschreiben konnten. Darüber hinaus begannen die Patienten mehr Fragen zu stellen und mehr Informationen zu verlangen. Rechtsanwälte verklagten Ärzte, die es versäumt hatten, ihre Patienten über die Behandlung zu informieren und ihre Zustimmung einzuholen. Die ethischen Maßstäbe in der Medizin veränderten sich dramatisch, und es schien nicht mehr angemessen zu sein, die Patienten zu täuschen. Dr. Norman Shure hatte sehr gemischte Gefühle bezüglich operativer Placebo-Eingriffe (darüber werde ich später genauer berichten), als er 1965 Folgendes schrieb: Vor Jahren kannte ich einen Chirurg, der sich überhaupt nichts dabei dachte, wenn er bei Patienten mit emotionalen Problemen, die sich durch Bauchschmerzen äußerten, einen schrägen Schnitt im unteren rechten Bauchbereich machte und diesen dann wieder zunähte, ohne überhaupt in die Bauchhöhle eingedrungen zu sein. Seine Ergebnisse waren hervorragend, -43-
und wie man sich denken kann, war seine operative Mortalitätsund Morbiditätsrate außerordentlich niedrig. Sicherlich ist das nicht üblich, und ich bezweifle, dass irgend jemand sonst solche Verfahren angewendet hat. Aber ich bin mir sicher, dass Tausende von Appendektomien und Hysterektomien jedes Jahr als Placebos durchgeführt werden. Sogar heute stößt man gelegentlich noch auf den Einsatz von Placebos in amerikanischen Krankenhäusern. In vielen Fällen wird dieser mit dem Argument gerechtfertigt, dass Placebos bei der medizinischen Diagnose helfen würden. Viele Ärzte glauben immer noch (im Gegensatz zu den Beweisen, die wir später untersuchen werden), dass Placebos nur dann Schmerzen lindern können, wenn sich der Patient die Schmerzen »einbildet«. Wenn man annimmt, dass der Patient keine »richtige« körperliche Krankheit hat, er aber über starke Schmerzen klagt, darf demzufolge ein Placebo verabreicht werden. Eine positive Reaktion gilt in diesem Fall als Bestätigung für die Vermutung des Ärzteteams. Der wahre Grund für die Verwendung eines Placebos in solchen Fällen ist jedoch allzu häufig, dass die Mitglieder des Ärzteteams den Patienten schlichtweg nicht mögen. Diese Beweggründ e sind zwar sehr bedauerlich, aber sie kamen durch Umfragen bei Ärzten und Krankenschwestern eindeutig zutage.
Der Placebo-Effekt als Instrument der Forschung Wie sieht es aber mit dem Einsatz von Placebos in der Forschung aus? Während des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts wurden in Randgebieten der medizinischen Wissenschaft Blindkontrollen durchgeführt - in der Regel, wie wir gesehen haben, um ein Heilmittel in Misskredit zu bringen, das als besonders »eigenartig« galt. Niemand wäre damals auf die Idee gekommen, diese Versuche als Routine- oder -44-
Standardinstrument der Forschung für alle neuen Medikamente einzusetzen. Man ging immer noch davon aus, dass der einzig gültige Beweis für ein wirksames Medikament durch einen gut ausgebildeten Arzt geliefe rt werden konnte, der es einsetzte und sorgfältig darüber Buch führte, was mit dem behandelten Patienten geschah. Sogar als die Ärzte eingestanden, dass der Geist als eine starke Kraft bei Heilprozessen wirken kann, glaubten sie weiterhin, der sorgfältig wissenschaftlich arbeitende Arzt könne einfach wissen, ob die Ergebnisse eines neuen Medikaments auf das Mittel selbst oder auf die Vorstellungskraft des Patienten zurückzuführen sei. Ironischerweise waren die ersten Ärzte, die Blindkontrollen routinemäßig als Bestandteil ihrer Methode einsetzten, um die Wirksamkeit eines neuen Mittels zu beweisen, die häufig in Verruf gebrachten Homöopathen. Sie griffen bereits in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts auf Placebo-Kontrollen zurück, fast hundert Jahre bevor klassische Mediziner damit begannen, diese systematisch einzusetzen. Die entscheidende Wende in der Schulmedizin erfolgte in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Die doppelblindkontrollierten, randomisierten Versuche wurden zum Standard, wenn es um den Nachweis der Wirksamkeit eines Medikaments ging. Mathematische und statistische Genauigkeit waren jetzt gefordert, und man erkannte mehr und mehr, dass sowohl die natürlichen Heilkräfte des Körpers als auch die Wirkung der Vorstellungskraft auch den genauesten medizinischen Beobachter leicht austricksen konnten. Der Doppelblind-Test soll sicherstellen, dass subjektive Heilfaktoren das Ergebnis des Experiments nicht verfälschen. Wenn sich erweist, dass ein Mittel oder eine Behandlungsform bei einer bestimmten Krankheit wirkt, kann man also mit der größtmöglichen wissenschaftlichen Sicherheit davon ausgehen, dass es bei allen Patienten, die unter dieser Krankheit leiden, wirkt. -45-
Was versteht man unter einem doppelblindkontrollierten, randomisierten Versuch? Bei einem randomisierten Versuch werden die Patienten den zwei Kontrollgruppen zugeordnet, indem man eine Münze wirft oder ein ähnliches Verfahren anwendet, um sicherzustellen, dass die Patienten, die das Medikament erhalten, nicht kränker, älter oder anfälliger für andere Krankheiten sind oder sich in irgendeiner anderen Weise von den Teilnehmern der Kontrollgruppe unterscheiden. Der Versuch ist doppelblind, wenn weder die Patienten noch die Forscher wissen, welcher Patient welches Mittel bekommt. Die Hälfte der Patienten bekommt ein Scheinmedikament oder Placebo, und die andere Hälfte bekommt das Medikament, das geprüft werden soll. Bis zur Auflösung am Ende des Versuchs weiß keiner der Beteiligten, welches welches ist. Ted Kaptchuk, der diese Entwicklung genau untersucht hat, zeigt, dass der Sieg des randomisierten Doppelblindversuchs das Ergebnis einer Art Klassenkampf innerhalb der Medizin war. Anhand der bis dato gültigen Regeln konnte ein Dr. Unbekannt die Wirksamkeit eines neuen Medikaments ebenso gut beurteilen wie ein Dr. Wichtig von einer berühmten Universität; sie mussten das Medikament lediglich bei genügend Patienten ausprobieren und sorgfältig darüber Buch führen. Aufgrund der neuen Regeln waren jedoch nur speziell ausgebildete Ärzte, die sich mit statistischen Verfahren und den komplizierten Versuchsanordnungen auskannten, dafür qualifiziert, neue Mittel verlässlich zu testen. Aber Dr. Schmidt und Dr. Meier gaben ihre Privilegien nicht kampflos auf. Die Universitätsexperten benötigten stichhaltige Argumente, damit sie die Mehrzahl der Ärzte davon überzeugen konnten, nur das zu glauben, was sie durch die neuen klinischen Versuche bewiesen. Die Universitätsärzte hatten also eine besondere Motivation, den Placebo- Effekt aufzubauschen - zu behaupten, er sei so stark und trete so häufig auf, dass normale Ärzte ihrem klinischen Urteil ohne fremde Hilfe einfach nicht -46-
länger vertrauen konnten. Dr. Henry Beecher, ein experimenteller Anästhesist in Harvard, war einer der Hauptbefürworter des randomisierten Doppelblindversuchs und auch der wichtigste Verfechter des »mächtigen Placebos«. So lautete der Titel seines häufig zitierten Aufsatzes von 1955. Beecher war auch der Erste, der berichtete, dass im Durchschnitt ein Drittel der Mitglieder der Placebo-Gruppe eine positive Reaktion zeigt. Diesen Durchschnittswert werden wir später genauer erläutern.
Der Placebo-Effekt und der heutige Stand der Dinge Aufgrund dieser Umstände erwarben das Placebo und der Placebo-Effekt in der modernen Medizin einen eigenartigen Status. Ich denke, es war von vornherein klar, dass der PlaceboEffekt moderne Ärzte verwirren und ein ambivalentes Verhältnis ihm gegenüber bewirken würde. Einerseits war die humorale Medizin gänzlich überholt. In der mechanistischen Sichtweise der Medizin, die sie im Lauf der Zeit ersetzte, war möglicherweise weniger Raum für die Vorstellung, der Geist beeinflusse den Körper. Es scheint fast, als habe die Medizin des zwanzigsten Jahrhunderts all ihre großen wissenschaftlichen Fortschritte erzielt, indem sie den Geist völlig ignorierte. Andererseits hatten diese Fortschritte zu der Erkenntnis geführt, dass randomisierte Doppelblindversuche für sichere Erkenntnisse nötig waren; und diese Versuche wurden gerechtfertigt, indem man behauptete, der Geist sei beinahe allmächtig. Da ihnen mittlerweile so viele erwiesenermaßen effektiv wirksame Medikamente zur Verfügung standen, sahen Ärzte immer weniger Veranlassung, Placebos für die medizinische Behandlung zu verschreiben; Ärzte, die das taten, erachtete man als altmodisch und unwissend. Allerdings setzten die -47-
renommiertesten Forscher in den angesehensten medizinischen Universitäten immer noch regelmäßig Placebos zur Kontrolle bei wissenschaftlichen Experimenten ein. Wenn moderne Ärzte Probleme damit haben, »Placebo« und »Placebo-Effekt« zu definieren, und wenn sie dazu neigen, diese Begriffe in einem negativen Licht zu sehen, können wir ihnen kaum einen Vorwurf machen. Während des letzten halben Jahrhunderts und besonders in den letzten fünfundzwanzig Jahren hat die Medizin eine tief greifende Veränderung ihrer zentralen ethischen Normen erlebt. Sogar in früheren Jahrhunderten erhoben sich hin und wieder Stimmen gegen die regelmäßige Täuschung der Patienten seitens der Ärzte. Im späten achtzehnten Jahrhundert sprach sich der schottische Arzt Dr. John Gregory für die medizinische Ehrlichkeit aus, und Richard Cabot, der sich, wie wir gesehen haben, bereits 1903 mit der Wirkung von Placebos beschäftigt hatte, machte lediglich auf ihre Verwendung aufmerksam, um die »Unwahrheit in der Medizin« zu verurteilen. Aber Gregory und Cabot gehörten zur Minderheit. Die meisten Ärzte stimmten weiterhin Platons Ansicht zu, dass die moralische Regel gegen das Lügen nicht für Ärzte galt - als hinge das Überleben eines Menschen davon ab, ob der Arzt sich hoffnungsvoll oder pessimistisch über die mögliche Genesung des Patienten äußerte. Diese bequeme Gewohnheit hat sich in den USA innerhalb der letzten fünfundzwanzig Jahre dramatisch geändert. Der gegenwärtigen Sicht der medizinischen Ethik zufolge sollte die Beziehung zwischen Arzt und Patient nicht als eine Art ElternKind-Beziehung verstanden werden, sondern vielmehr als eine Beziehung zwischen Erwachsenen. Wenn man den Patienten etwas vormacht, gibt man ihnen keine Möglichkeit, sich an medizinischen Entscheidungen zu beteiligen, die sie selbst betreffen, wie zum Beispiel, ob sie sich operieren lassen wollen oder nicht. Den alten ethischen Normen zufolge sollten die -48-
Patienten ihren Ärzten einfach vertrauen und sich entsprechend der Empfehlung ihres Arztes operieren lassen oder nicht. Die neue Medizinethik besteht darauf, dass die endgültige Entscheidung, was mit dem eigenen Körper geschehen soll, letztlich dem jeweiligen Patienten obliegt, obwohl er den Arzt natürlich befragen und seinen Rat befolgen kann, wenn er es möchte. Um solche Entscheidungen treffen zu können oder zumindest an der Diskussion beteiligt zu sein, müssen die Menschen die Wahrheit über ihre Krankheit, mögliche Entwicklungen und das ganze Spektrum der medizinischen Möglichkeiten kennen. Das ist die Grundlage für die stärker werdende Bewegung, die sich für die Rechte von Patienten einsetzt. Die neue medizinische Ethik trägt ebenfalls zur negativen Einstellung vieler Ärzte gegenüber Placebos bei. Im vorangegangenen Kapitel haben wir jedoch gesehen, dass der »Placebo-Effekt« nicht mit täuschenden Praktiken verwechselt werden darf. Um einen positiven Placebo-Effekt beim Patienten hervorzurufen, muss man einfach etwas tun, was die symbolische Bedeutung, die der Patient mit der Krankheit oder der Behandlung verbindet, zum Besseren verändert. Man muss dafür nicht lügen. Nach dem Verständnis der heutigen Ärzte hat das »Placebo« immer noch etwas mit der Vergangenheit - Thomas Jeffersons Brotpillen und farbigen Wassertropfen - zu tun. Sogar Jefferson hatte ethische Probleme mit diesen Praktiken; in einem Brief bezeichnete er Placebos als »scheinheiligen Betrug«. Und wenn »Placebo« für das medizinische Establishment gleichbedeutend ist mit Lügen, so ist es nicht verwunderlich, wenn allein schon das Prinzip der Placebos sie befremdet. In diesem Buch möchte ich den Placebo-Effekt von seinem anhaltend negativen Image befreien. Dies wird uns dazu führen, zu erkunden, welche Persönlichkeitsmerkmale den PlaceboEffekt fördern, falls es solche gibt, und unsere »innere -49-
Apotheke« besser kennen zu lernen.
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Gibt es eine Placebo-Persönlichkeit? Für mich ist die Placeboreaktion das klassische Beispiel einer durch die Psyche ausgelösten Heilung; sie ist alles andere als ein Ärgernis, sondern potenziell der beste therapeutische Verbündete, den Ärzte bei ihren Bemühungen im Kampf gegen eine Krankheit finden können. Die Kunst der Medizin besteht aus meiner Sicht sowohl in der richtigen Wahl der Behandlungen als auch darin, diese Behandlungen den Patienten so zu präsentieren, dass ihre Wirksamkeit durch die Aktivierung der Placeboreaktion erhöht wird. Dr. Andrew Weil Bevor wir uns mit dem positiven Phänomen Placebo-Effekt beschäftigen, wollen wir sein negatives Image kurz aus einer anderen Perspektive betrachten: aus der der menschlichen Unzulänglichkeit. Der Placebo-Effekt, die Eitelkeit und andere menschliche Unzulänglichkeiten Zweifellos ist menschliches Denken und Handeln von Eigenschaften wie Neid, Angst, Eitelkeit und irrationalen Vorurteilen geprägt. Da Ärzte auch nur Menschen sind, gilt das sicherlich auch für sie. Betrachten wir einmal das folgende Beispiel.
Das Duell der Akupunkteure Ein amerikanischer Wissenschaftler, der an einer internationalen Konferenz über alternative Medizin teilnahm, beobachtete folgende Szene: Unter den zirka dreißig Teilnehmern im Konferenzsaal befanden sich zwei Koreaner, die bei ihrer -51-
Begegnung feststellten, dass sie beide Akupunkteure waren. Daraufhin unterhielten sie sich freundlich miteinander, bis die Konferenz bega nn. Alle Teilnehmer wurden gebeten, sich vorzustellen und zu erklären, welche Heilmethode sie anwendeten. Erst als beide Koreaner ihre Akupunkturmethoden erläutert hatten, stellten sie fest, dass sich diese etwas voneinander unterschieden. Sie wendeten geringfügig unterschiedliche Techniken beim Ansetzen der Nadel und der Stichtiefe an. Als sie das bemerkten, verflog ihre Freundlichkeit schlagartig. Beide Männer warfen sich gegenseitig vor, eine Heilmethode anzuwenden, die nichts als ein Placebo sei. Es ist nicht verwunderlich, dass beide behaupteten, ihre Technik sei die einzig wirksame, um körperliche Prozesse zu verändern. Diese Anekdote macht wiederum allzu deutlich, wie empfindlich die meisten von uns reagieren, wenn es um unsere Ansichten über Heilverfahren geht, und wie skeptisch wir gegenüber jeglicher Heilmethode sind, die der von uns favorisierten nicht entspricht. Für den amerikanischen Schulmediziner kann die Akupunktur einfach nicht wirksam sein, da die westliche Wissenschaft die Existenz von Meridianen (Energiebahnen), auf der die alte chinesische Akupunkturtechnik basiert, bestreitet. Für unsere beiden Koreaner führte schon eine etwas abweichende Form der Akupunktur, die der jeweils andere bevorzugte, zur Auseinandersetzung. Denjenigen, die Heilkräuter und natürliche Heilmittel empfehlen, gelten wiederum Medikamente, die von den Schulmedizinern verschrieben werden, als höchst kritikwürdig, da Substanzen, die nicht in der Natur vorkommen und in einem chemischen Labor hergestellt werden, ihrer Meinung nach schädlich sein müssen. Wenn wir uns weiterhin voller Misstrauen an unsere eigenen Vorstellungen und Theorien klammern, ist es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, in Bezug auf Heilbehandlungen und besonders bezüglich des -52-
Placebo-Effekts übereinzustimmen. Wie das vorherige Kapitel gezeigt hat, neigen Wissenschaftler dazu, Placebos als Lüge oder Quacksalberei zu betrachten. Werden sie in der medizinischen Forschung verwendet, sind sie für viele deshalb ein Ärgernis. Das reicht aus, um das Placebo bei Medizinern unbeliebt zu machen. Aber es sind nicht nur die Ärzte und Wissenschaftler, die ernsthafte Vorbehalte gegenüber dem Placebo hegen. Medizinische Laien in unserer Gesellschaft haben dieselben Probleme mit Prozessen, die sich lediglich auf den Geist auswirken. Wir haben zum Beispiel das Gefühl, eine psychische Krankheit sei irgendwie weniger real als eine körperliche Krankheit. Auch sind Psychiater keine »echten« Ärzte wie Chirurgen oder Gynäkologen. In der Regel sehen wir auf Menschen herab, deren Psyche »leicht beeinflussbar« ist, besonders auf solche, bei denen sich psychische Veränderungen auf den Körper auswirken. Wenn ein Placebo für uns nichts anderes ist als ein eingebildetes Heilmittel für eine Krankheit, die man sich ebenfalls einbildet, dann ist es kein Wunder, dass die koreanischen Akupunkteure sich des Begriffs Placebo bedienten, um sich zu beleidigen. Wir haben bereits genügend wissenschaftliche Anhaltspunkte dafür gefunden, dass der Placebo-Effekt viel mehr sein muss als nur ein »eingebildetes Heilmittel für eine Krankheit, die man sich einbildet«. Doch führt uns das zu einer weiteren wichtigen Frage: Welche Menschen erleben einen Placebo-Effekt? Und inwiefern unterscheiden sie sich von anderen Menschen - falls es überhaupt Unterschiede gibt? Gibt es Unterschiede hinsichtlich der Persönlichkeitsmerkmale oder anderer Faktoren?
Wer reagiert auf Placebos? In den fünfziger und sechziger Jahren ging man intensiv der Frage nach, wie man einen so genannten Placebo-Responder -53-
oder »Placebo-Persönlichkeitstyp« identifizieren könnte. Die Motivation für diese Untersuchungen war, wie wir heute wissen, höchst unwissenschaftlich, obwohl die Wissenschaftler beharrlich daran festhielten. Im Grunde ging es darum, dass die Durchführung der randomisierten Doppelblindstudien sehr arbeitsaufwendig war. Die Wissenschaftler, die sie - aufgrund der neuen Einschätzung, dass der Placebo-Effekt sehr wichtig war - durchführen mussten, ließen ihren Groll an den Teilnehmern aus, die auf die Placebos reagierten. Die Wissenschaftler argumentierten folgendermaßen: Wenn wir nur im Voraus wüssten, wer diese lästigen Placebo-Responder sind, könnten wir sie von der Studie ausschließen und auf diese Weise viel leichter nachweisen, ob ein Medikament wirkt oder nicht. Dann könnten wir mit weniger Teilnehmern schnellere und verlässlichere experimentelle Ergebnisse erzielen. Die Wissenschaftler begannen, konstante, messbare Persönlichkeitsvariablen zu überprüfen. Reagierten ältere Menschen eher auf Placebos als jüngere? Reagierten Frauen häufiger darauf als Männer? Wie sah es bei den weniger gebildeten Menschen im Gegensatz zu denjenigen, die einen Universitätsabschluss hatten, aus? Reagierten Probanden, die für eine Hypnose empfänglich waren, auch besser auf Placebos? Was war mit Menschen, die viel beziehungsweise wenig Vertrauen zu ihrem Arzt hatten? Zunächst schienen einige Studien Verbindungen zwischen dem Placebo-Effekt und einem oder mehreren der genannten Faktoren aufzuzeigen. Spätere Studien widerlegten diese jedoch wieder. Diejenigen, die sich heute mit der Literatur über den Placebo-Effekt befassen, stimmen fast völlig darin überein, dass es so etwas wie einen Placebo-Responder nicht gibt, sofern man darunter einen genau definierten, mehr oder weniger unveränderlichen Persönlichkeitstyp versteht. Einige Experten würden diese Schlussfolgerung verallgemeinern und behaupten, dass es keine -54-
Persönlichkeitsmerkmale gibt, anhand derer man den PlaceboEffekt verlässlich vorhersagen kann. Aber vielleicht gibt es eine Ausnahme.
Die Zustimmungstendenz Die klinischen Psychologen Seymour Fisher und Roger Greenberg vom Institut für Psychiatrie an der State University of New York stimmen größtenteils mit dieser Schlussfolgerung überein, legen jedoch schlüssig dar, dass es ein bestimmtes Persönlichkeitsmerkmal gibt, das mit Reaktionen auf Placebos in Verbindung gebracht wird. Die Studien, die das belegen, sind so verlässlich und so häufig mit demselben Ergebnis wiederholt worden, dass wir der Gültigkeit dieser These ziemlich sicher sein können. Die Wissenschaftler bezeichnen das Merkmal als Zustimmungstendenz. Menschen mit dieser Eigenschaft neigen dazu, offen, vertrauensvoll und ungezwungen zu sein. Man beschrieb diesen Persönlichkeitstyp ursprünglich als konformistisch und bestrebt zu tun, was andere von ihm erwarten. Weitere Studien zeigten aber, dass diese Darstellung zu negativ war. Individuen mit einer solchen Zustimmungstendenz scheinen einfach in ihrem ganzen Wesen auf andere Menschen ausgerichtet zu sein. Wenn sie sich beispielsweise in einer problematischen Situation befinden, versuchen sie eher, gemeinsam mit anderen Menschen eine Lösung zu finden statt sich zurückzuziehen und alles mit sich allein auszumachen. Psychologischen Studien zufolge treffen offensichtlich vor allem zwei Dinge auf Menschen mit einer hohen Zustimmungstendenz zu. Sie reagieren mit einer größeren Wahrscheinlichkeit positiv auf Placebos. Und sie reagieren auch mit einer größeren Wahrscheinlichkeit auf andere Medikamente. -55-
Fisher und Greenberg zufolge widerlegt diese Erkenntnis einmal mehr die angebliche Trennung zwischen Geist und Körper sowie zwischen dem Placebo-Effekt und »echten« Reaktionen auf Medikamente: Die Grenze zwischen einem »wirksamen« Medikament und einem Placebo ist nicht eindeutig. Den Placebo-Effekt als eine psychologische Wirkung und die Reaktion auf Medikamente als eine biologische "Wirkung weiterhin voneinander abzugrenzen ist problematisch, da die Zustimmungstendenz Voraussagen in beiden Bereichen ermöglicht. Der Zusammenhang zwischen dem Persönlichkeitsmerkmal, das Fisher und Greenberg Zustimmungstendenz nennen, und dem Placebo-Effekt ist wesentlich für einen weiteren bedeutenden Heilfaktor, auf den wir uns später ausführlich beziehen werden: menschliche Beziehungen. Wie bereits geschildert, neigen Persönlichkeiten, die eine Zustimmungstendenz aufweisen, dazu, Beziehungen auf positive Weise zu nutzen, wenn sie mit Problemen konfrontiert werden. Sie lassen sich sogar intensiver auf Beziehungen ein, wenn sie unter Stress stehen. Beziehungen werden auf diese Weise zu einem wirksamen Instrument zur Problembewältigung.
Jeder ist ein Placebo-Responder Wir müssen feststellen, dass der Placebo-Responder - abgesehen davon, dass er ebendiese Zustimmungstendenz aufweist - sich keinem bestimmten Persönlichkeitstyp zuordnen lässt. Dies ist sicherlich auch positiv zu bewerten. Ob wir auf ein Placebo reagieren oder nicht, scheint in erster Linie von der Situation und dem äußeren Rahmen und viel weniger von irgendwelchen unveränderlichen Persönlichkeitsmerkmalen abzuhängen. Demnach könnte jeder von uns unter den richtigen Bedingungen positiv oder auch negativ auf ein Placebo reagieren. Wir gehen -56-
in diesem Buch davon aus, dass so gut wie niemand grundsätzlich resistent gegen den Einfluss von Placebos ist. Die Suche nach dem Placebo-Responder erbrachte darüber hinaus ein zweites positives Ergebnis.
Der Placebo-Effekt und das Angstniveau In der Tat tauchte in reproduzierbaren Versuchen eine weitere Variable auf, die mit einem positiven Placebo- Effekt in Verbindung gebracht werden kann: das Angstniveau. Das heißt, je ängstlicher die Testperson ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer positiven Reaktion. Später werden wir sehen, dass die Stress-Entspannungs-Reaktion die PlaceboBotschaft möglicherweise auf chemischem Weg durch den Körper leitet. Wenn das Stressniveau zu Beginn des Experiments höher »geschaltet« ist, besteht eine größere Wahrscheinlichkeit, dass ein stressreduzierender Faktor eine messbare Veränderung im Gesundheitszustand der Testperson bewirkt. Das deutet stark darauf hin, dass die StressEntspannungs-Reaktion tatsächlich eine der chemischen Reaktionen ist, die beim Placebo-Effekt beteiligt sind. Das widerspricht nicht der Annahme, dass prinzipiell jeder unter den entsprechenden Bedingungen auf Placebos reagieren kann, da das Angstniveau von der jeweiligen Situation abhängt und nicht konstant bleibt.
Der Placebo-Effekt als Bedrohung Festzuhalten ist, dass die Suche nach dem Placebo-Responder -57-
unwissenschaftlich war, da die zu Grunde liegende Idee auf einem »unwissenschaftlichen« Irrtum beruhte. Man hatte angenommen, die experimentellen Ergebnisse würden verlässlicher werden, wenn Placebo-Responder aus der Gruppe der Testpersonen ausgeschlossen werden könnten. Fisher und Greenberg würden diese Annahme als mystische Suche nach einem »biologisch reinen« Medikament charakterisieren. Ich würde dem hinzufügen, dass die Suche nach einem Typus, der auf Placebos reagiert, ein wesentlicher Bestandteil des Stigmas ist, das dem Placebo anhaftet. Wenn man es für sich selbst als peinlich empfindet, auf Placebos zu reagieren, was sich logischerweise aus der Vorstellung ergibt, dass Placebos etwas Vorgetäuschtes sind und dass derjenige, der auf Placebos reagiert, ein besonders gutgläubiger Mensch sein muss, dann möchte man natürlich so viel Abstand wie möglich zwischen sich selbst und dem Placebo-Responder aufbauen. Ich schreibe dieses Buch in der Hoffnung, dass Sie nicht den gleichen Fehler begehen und den Placebo-Effekt als Täuschung betrachten. Denn dadurch würden Sie sich der Möglichkeit berauben, sich seiner zu Ihrem eigenen Nutzen zu bedienen. Ich hoffe, Sie entscheiden sich dafür zu glauben, dass wir alle das Potenzial haben, auf diesen äußerst starken, heilenden Einfluss zu reagieren - und dass dafür durchaus keine Täuschung nötig ist.
Wenn Ehrlichkeit entscheidend ist Als Wissenschaftler den Placebo-Effekt weiter erforschten, konnte sich auch der Mythos über den Placebo-Effekt als -58-
Vortäuschung falscher Tatsachen nicht mehr halten. Jahrhundertelang hatten die Ärzte angenommen, dass die Zuckerpillen nur wirkten, weil der Patient nicht wusste, worum es sich in Wirklichkeit handelte. Niemand hätte sich vorstellen können, dass es möglich ist, einem Patienten Zuckerpillen zu geben, ihm zu sagen: »Dies ist eine Dose mit Zuckerpillen«, und trotzdem eine Besserung seines Zustands zu erreichen.
Die Wahrheit sagen ist erlaubt Die beiden Psychiater Lee Park und Lino Covi wollten in den frühen sechziger Jahren herausfinden, wie sich Placebos auf den Zustand von Patienten auswirken, wenn man Probanden die Wahrheit sagt. Sie untersuchten Patienten, die in einer psychiatrischen Klinik ambulant behandelt wurden; alle litten unter einem Zustand, der damals in der Regel als »Neurose« bezeichnet wurde. Die Patienten wiesen eine ganze Reihe von körperlichen Symptomen auf, und man nahm an, dass diese aufgrund ihres Allgemeinzustands auftraten. Park und Covi verwendeten eine detaillierte Checkliste der Symptome, damit sie jedem Patienten einen numerischen Wert zuordnen und den Überblick über alle beobachteten Symptome behalten konnten. In der ersten Untersuchungsreihe erhielten die Patienten verschiedene Medikamente wie zum Beispiel leichte Beruhigungsmittel oder wurden psychotherapeutisch behandelt. Die Autoren nutzten die Zahlenwerte der Symptomcheckliste, um festzulegen, welche Behandlung oder Behandlungsreihe am besten bei der Reduzierung der Symptome wirkte. Wie erwartet, verbesserte sich der Zustand einer Reihe von Patienten merklich, als sie Placebos einnahmen. Bei diesen Studien wusste wie üblich keine der Versuchspersonen, ob sie ein Placebo oder das Medikament erhielt, das untersucht wurde. Dann führten Park und Covi einen Versuch mit einer Gruppe -59-
von fünfzehn neuen Patienten durch, bei dem weder »effektiv wirksame« Medikamente noch eine Psychotherapie eingesetzt wurden. Stattdessen gaben sie den Patienten eine Dose mit Pillen. Die Forscher sagten den Patienten offen: »Dies sind Zuckerpillen, die keine wirksame Substanz enthalten.« Sie fügten hinzu, dass sich der Zus tand vieler Patienten trotz dieser Tatsache verbessert hatte, nachdem sie eine Woche lang, dreimal täglich, eine dieser Pillen eingenommen hatten. Am Ende der Woche sollte eine Kontrollsitzung stattfinden. Als vierzehn von fünfzehn Versuchspersonen eine Woche später zur Kontrolle kamen, zeigten ihre Symptomchecklisten, dass sich bei dreizehn von diesen vierzehn die Symptome wesentlich verbessert hatten. Park und Covi taten daraufhin etwas, das bei Wissenschaftlern, die den Placebo-Effekt erforschen, leider sehr selten ist. Da sie sich nicht damit zufrieden geben wollten, lediglich Zahlen zu ermitteln und diese schriftlich festzuhalten, unterhielten sie sich mit den Versuchspersonen, um herauszufinden, was sich in ihren Köpfen abgespielt hatte. Durch diese Gespräche erfuhren die Wissenschaftler zunächst, dass nicht alle Probanden ihnen in Bezug darauf, was ihnen verschrieben worden war, geglaubt hatten. Die vierzehn Teilnehmer ließen sich in zirka drei gleich große Gruppen unterteilen. Die erste Gruppe glaubte den Wissenschaftlern und ging davon aus, Zuckerpillen einzunehmen. Die zweite Gruppe nahm an, dass man Psychiatern, die eine Studie durchführen, einfach nicht trauen konnte. Obwohl den Teilnehmern etwas anderes gesagt worden war, glaubten sie, dass es sic h bei den Pillen in Wirklichkeit um irgendein Beruhigungsmittel handelte - und dass sie vielleicht angelogen worden waren, damit die Studie genauere Ergebnisse lieferte oder weil das Risiko, von dem Medikament abhängig zu werden, auf diese Weise geringer war. Die dritte Gruppe war sich einfach unsicher, was sie bekommen hatte. -60-
Die Gruppen waren jeweils zu klein, um gültige statistische Vergleiche anzustellen, aber Park und Covi stellten fest, dass die beiden Gruppen, die zu wissen glaubten, was sie einnahmen entweder Zuckerpillen oder ein »richtiges« Medikament -, über eine tiefgreifendere Verbesserung ihres Zustands berichteten als die Gruppe, die sich nicht sicher war. Die Menschen, die davon überzeugt waren, dass sie »echte« Medikamente bekamen, berichteten zudem von Nebenwirkungen, die in der Woche aufgetreten waren. Von den Teilnehmern, die dachten, sie erhielten ein Placebo, berichtete dagegen niemand von irgendwelchen Nebenwirkungen. Park und Covi fragten dann die Teilnehmer der Gruppe, die an die Einnahme eines Placebos glaubte, wie sie sich erklärten, dass sich ihr Zustand verbessert hatte. Trotz der kleinen Gruppengröße geben uns ihre Antworten sehr wichtige Hinweise darauf, was Ärzte tun müssen, um bei ihren Patienten einen Placebo- Effekt auszulösen. Zirka die Hälfte der Probanden sagten, es gehe ihnen besser, weil sie das Placebo genommen hätten, während die andere Hälfte behauptete, ihr Zustand habe sich verbessert, weil sie ihre natürlichen Fähigkeiten, mit der Situation fertig zu werden, genutzt hätten. Eine Frau berichtete, dass sie sich jedes Mal, wenn sie ein Placebo einnahm, daran erinnerte, dass sie tatsächlich etwas tun konnte, um ihren eigenen Zustand zu verbessern. Andere Teilnehmer erklärten, sie hätten die Tatsache, dass sie kein »wirksames« Medikament erhalten hätten, positiv gewertet, da ihnen auf diese Weise die Nebenwirkungen und die Gefahr, abhängig zu werden, erspart geblieben wäre. Dagegen berichteten Teilnehmer der Gruppe, die an ein »echtes« Medikament geglaubt hatte, dass sie ge meint hätten, die Verbesserung ihrer Symptome tatsächlich beobachten zu können. Diese Besserung habe sie wiederum in der Annahme bestärkt, dass es sich bei den Pillen um ein authentisches Medikament gehandelt habe. -61-
Ein großes Problem bei dieser Studie - abgesehen von der geringen Teilnehmerzahl - sollte erwähnt werden. Park und Covi sagten ihren Patienten, dass sie nach der Placebo-Woche anders weiterbehandelt würden, sofern das nötig sei. Das könnte bedeuten, dass sie keine »Nichtblind-Placebo-Studie«, sondern eine Wartelisten-Studie durchführten. Es wurde mehrfach gezeigt, dass sich der Zustand von Patienten, die darauf warten, psychische Hilfe zu bekommen, schneller verbessert, als es bei einem natürlichen Verlauf normalerweise der Fall wäre. Zu wissen, dass man bald Hilfe bekommt, könnte ausreichen, um die Symptome verschiedener psychischer Krankheiten abzuschwächen. Es könnte sein, dass die Patienten von Park und Covi einfach ausharrten und auf die richtige Behandlung warteten. Es ist sogar möglich, dass sie - bewusst oder unbewusst glaubten, die Ärzte zufrieden stellen zu können, wenn sich ihr Zustand sofort verbesserte, und sie dadurch langfristig mit besseren Behandlungen rechnen konnten. Aber es ist interessant, dass keiner der Teilnehmer einen dieser Gründe für die Verbesserung ihres Zustands nannte, als Park und Covi sie befragten. Wir können ihre Einschätzung, dass die Einnahme von Placebos - unterstützt von einer positiven Bewertung ihrer eigenen Fähigkeiten - die Situation verändert habe, aus ebenso guten Gründen anzweifeln wie für glaubwürdig halten.
Gefühle und Wohlbefinden Dass so gut wie jeder von uns potenziell für Placebos -62-
empfänglich ist, ist ebenso eine gute Neuigkeit wie die Tatsache, dass die medizinische Wissenschaft im Bereich der GeistKörper-Heilung weiterhin Fortschritte macht. Sowohl in der Schulmedizin als auch in der alternativen Medizin werden die Menschen mit den Möglichkeiten des Zusammenspiels von Körper und Geist vertrauter. Wissenschaftler entdecken neue Verbindungen zwischen der Vorstellungskraft beziehungsweise Emotionen und menschlicher Gesundheit. Die Möglichkeit, dass eine Behandlung gerade deshalb gut und wirksam sein kann, weil sie vorwiegend über den Geist auf den Körper wirkt, können wir nun entspannter und mit größerer Neugier betrachten. Und das bereitet den Boden für eine positive Herangehensweise an das Phänomen des PlaceboEffekts. Wir halten uns dabei an die Definition aus dem ersten Kapitel, die auf dem symbolischen Bedeutungsgehalt gründet, und wollen uns jetzt mit der »inneren Apotheke« beschäftigen.
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Die innere Apotheke Der Körper ist Gottes Apotheke, worin alle Flüssigkeiten, Medikamente, Schmieröle, Opiate, Säuren und Antazide enthalten sind sowie jedes Mittel, das Gott in seiner Weisheit für das menschliche Glück und die Gesundheit als nötig erachtete. Andrew Taylor Still (1908) Als Einstieg ins Thema würde ich Ihnen gerne eine persönliche Anekdote erzählen, die unsere Ausführungen über die innere Apotheke sehr gut veranschaulicht. Sie handelt von me iner Frau Daralyn, die nicht nur eine begabte Koautorin, sondern auch eine vollendete internationale Volkstänzerin ist.
Daralyns Geschichte: Der Fersensporn Im Herbst 1989 bildete sich an der Außenseite von Daralyns linker Ferse eine Beule. Daralyn dachte, sie wäre entstanden, weil sie während eines Familienurlaubs in London in Schuhen herumgelaufen war, die an den Fersen sehr eng saßen. 1990 war die Beule so groß geworden, dass sie beim Tragen aller Schuhe, die sie besaß, Schmerzen hatte, besonders bei den festen Schuhen, die sie beim Tanzen trägt. Zum Glück hatte sie keine Schmerzen, wenn sie locker sitzende oder weichere Schuhe trug, doch das Tanzen war problematisch. Als unser Hausarzt Daralyns Ferse röntgte, stellte er eine knochige Geschwulst fest, die er als »Fersensporn« bezeichnete und die direkt unter der Haut aus dem Fersenknochen hervorragte. Der Orthopäde, an den Daralyn daraufhin überwiesen wurde, sagte ihr, es sei unwahrscheinlich, dass der -64-
Sporn sich zurückbildete, daher müsse er operativ entfernt werden. Er fügte hinzu, es sei nicht sicher, wie lange es dauern würde, bis der Fuß wieder völlig verheilt war. Möglicherweise müsse sie sechs Wochen lang einen Gips tragen. Da Daralyns Tanztruppe jeden Monat auftrat und sie das Gefühl hatte, dass die anderen sie brauchten, verschob sie die Operation trotz der Schmerzen immer wieder. Im Herbst 1990 begegnete Daralyn einer Geistheilerin namens Patricia und fragte sie, ob sie ihr bezüglich ihres Fersensporns helfen könne. Patricia wies Daralyn zunächst an, die Augen zu schließen. Dann führte sie sie in einen Entspannungszustand, bat um einen Dialog mit Daralyns Seele und schließlich um die Wiederherstellung des physisch perfekten Zustands durch die Erinnerung an den ursprünglichen Entwurf des Körpers - alles innerhalb von wenigen Minuten. Nach zwei Wochen stellte Daralyn immer noch keine Veränderung fest und bezweifelte, dass diese Form der Heilung bei ihr funktionierte. Trotzdem ging sie noch einmal zu Patricia, die die Behandlung wiederholte. Nach dem zweiten Besuch war Daralyn, die gerade keine Tanztermine hatte, mit anderen Dingen beschäftigt und vergaß die ganze Sache. Zirka einen Monat später hatten wir eine Freundin von Daralyn zu Besuch, die ebenfalls alternative Heilverfahren anwendet. Als sie ge gangen war, massierte ich Daralyns Füße, und wir setzten das Gespräch über das Thema der Heilung fort, das wir mit unserem Gast begonnen hatten. Plötzlich stieß Daralyn hervor: »Da wir gerade von Heilung sprechen, schau, die Beule ist verschwunden!« Ich untersuchte ihre Ferse - und konnte nicht leugnen, dass die Geschwulst, die über ein Jahr existiert hatte, offensichtlich während des vorhergehenden Monats langsam verschwunden war. Ein paar Jahre später erwähnte Daralyn gegenüber unserem Hausarzt, zu dem sie mit einem unserer Kinder gegangen war, dass der Fersensporn ohne Operation von selbst verschwunden -65-
war, dies aber offensichtlich durch eine Behandlung mit übersinnlichen Kräften bewirkt worden war. Er lächelte und sagte: »Nun, wenn es funktioniert hat, ist es doch gut.« Warum auch immer, Daralyns Fersensporn ist seit neun Jahren verschwunden und machte nie irgendwelche Anstalten wiederzukommen. Als Wissenschaftler muss ich mir die folgende Frage stellen: Wenn man davon ausgeht, dass der Fersensporn verschwand (was ich bestätigen muss), was bewirkte die Heilung? Wie könnte ich das als Wissenschaftler und Arzt erklären? Eine mögliche Erklärung wäre, dass Geistheilungen tatsächlich funktionieren. Die westliche medizinische Wissenschaft weiß zwar nicht wie, und ich kenne keinen wissenschaftlichen Beweis, der das belegt, aber als medizinischer Wissenschaftler muss ich für diese Möglichkeit offen bleiben. Es gibt einen Spruch unter Wissenschaftlern, der besagt: »Nur weil man nicht beweisen kann, dass etwas funktioniert, bedeutet das nicht, dass man beweisen kann, dass es nicht funktioniert.« Die Frage muss offen bleiben, zumindest bis weitere Untersuchungen stattgefunden haben. Eine weitere mögliche Erklärung ist, dass der Fersensporn von allein verschwunden ist. Es ist eine weit verbreitete falsche Vorstellung, dass Knochen tot und inaktiv sind. Wir denken das, weil es sich bei den Knochen, mit denen wir in Kontakt kommen (zum Beispiel bei einem Skelett, das im Biologieunterricht im Klassenzimmer hängt) zwangsläufig stets um »tote« Knochen handelt. Doch Knochen gehören zu den dynamischsten Geweben im Körper. Neue Knochenteile werden ständig produziert und alte Teile werden absorbiert. Ein Fersensporn oder eine ähnliche Knochenwucherung ist in der Regel eine Reaktio n des Knochens auf einen lokalen Druck. Wenn der Druck verschwindet, kann man damit rechnen, dass -66-
der Körper den nicht mehr benötigten Knochen nach einer Weile schließlich absorbiert. Wäre das in Daralyns Fall eine plausible Erklärung? Dagegen würde die Tatsache sprechen, dass zwei erfahrene Ärzte dachten, der Fersensporn sei schon zu lange da gewesen, um wieder von allein zu verschwinden. Und schließlich gibt es noch eine dritte Erklärung. Hatte Daralyns psychische Verfassung etwas mit der Heilung zu tun? Sie selbst meint, große Skepsis gegenüber der Geistheilung gehabt zu haben. Doch sie suchte die Ärztin ein zweites Mal auf - was sie beim Hausarzt oder beim Chirurgen nicht tat. Dies könnte bedeuten, dass aufgrund ihrer ursprünglichen Skepsis zwei Sitzunge n nötig waren, damit sich der »Glaube« daran verwurzeln konnte. Unterbewusst hegte sie vielleicht einen stärkeren »unterdrückten« Glauben oder Hoffnungen bezüglich der Behandlung, als sie selbst es sich eingestehen wollte. Könnten solche mentalen Kräfte einen Einfluss darauf gehabt haben, was in ihrem Körper geschah? Ich bin davon überzeugt.
Innere Heilung: Unser Geschenk an uns selbst Der menschliche Körper ist eine einzigartige, wunderbare Schöpfung. Eines seiner beeindruckendsten Merkmale ist seine Fähigkeit, gegen die meisten Krankheiten, unter denen er leidet, selbst die nötige Medizin herzustellen. Der Körper kann aufgrund von Keimen erkranken, doch er besitzt ein Immunsystem, das diese bekämpft und den Körper schließlich von ihnen befreit. Er kann durch bestimmte Chemikalien vergiftet werden, doch der Magen ist in der Lage, diese zu verweigern und zu verhindern, dass sie ins Verdauungssystem gelangen. Sogar ohne jegliche medizinische Betreuung sind viele Menschen die meiste Zeit über gesund und könne n ein ziemlich hohes Alter erlangen. -67-
Wenn der Körper krank ist oder unter Schmerzen leidet, werden automatisch einige seiner chemischen Substanzen in einer größeren Menge produziert, als es normalerweise der Fall ist. Sie haben die Kraft, die Krankheit oder das Unwohlsein häufig von allein zu beseitigen. All diese Faktoren zur Wiederherstellung der Gesundheit können als die innere Apotheke des Körpers betrachtet werden. Wenn ein Mensch krank ist und es ihm mit der Zeit besser geht, ist die innere Apotheke des Körpers aktiv geworden. Nehmen wir an, wir entdecken, dass diese innere Apotheke nicht nur auf eine uns innewohnende Wahrnehmung des körperlichen Zustands reagiert. Nehmen wir weiter an, dass Umwelteinflüsse die Art und Weise, wie die Apotheke arbeitet, beeinflussen können. Wir stellen fest, dass wir Dinge tun können, die unsere innere Apotheke aktivieren und sie veranlassen, schneller und effektiver auf verschiedene Krankheiten zu reagieren. Das bedeutet, wir können praktisch ein Rezept an unsere eigene innere Apotheke weiterleiten. Die innere Apotheke wird so zu einer Metapher, die uns hilft, den Placebo-Effekt besser zu verstehen. Sie wirft ein neues Licht auf die Debatte des neunzehnten Jahrhunderts, wie Placebos Heilungen bewirkten. Erinnern wir uns daran, dass die Ärzte sich nicht darüber einig waren, ob die Heilungen durch die Kraft des Vorstellungsvermögens bewirkt wurden, durch die natürlichen Heilkräfte des Körpers oder ob sie einfach dem natürlichen Krankheits- und Gesundungsverlauf entsprachen. Wir können festhalten, dass der Metapher der inneren Apotheke zufolge kaum ein Unterschied zwischen der Kraft der Vorstellung und den natürlichen Heilkräften des Körpers besteht. Wie ich später ausführlich darlegen werde, ist der Körper fest verdrahtet, um Bilder unserer Vorstellungskraft (und andere symbolische Signale) in natürliche Heilkräfte umzuwandeln. Ich habe den Begriff »fest verdrahtet« aus der Computersprache -68-
verwendet, da dieses Bild der Funktionsweise des Körpers in gewisser Weise entspricht. Man kann neue Software installieren, die den Computer anweist, eine bestimmte Funktion auszuführen. Wenn man später die gesamten Softwaredateien (bewusst oder aus Versehen) löscht, wäre der Computer nicht mehr in der Lage, die Funktion auszuführen. Ist die Funktion jedoch fest verdrahtet, ist sie dauerhaft installiert; man kann sie nicht löschen, solange der Computer intakt ist. Die innere Apotheke ist als eine der natürlichen Heilkräfte des Körpers fest verdrahtet. Wenn wir uns vorstellen, dass wir unseren Körper bei unserer Geburt bei einem Händler gekauft hätten, wäre die innere Apotheke kein zusätzliches Accessoire gewesen; sie hätte zur Standardausrüstung gehört. Aber selbst wenn sich der Placebo-Effekt und die Selbstheilung oder Spontanheilung ähneln, besteht doch ein gewisser Unterschied.
Der Placebo-Effekt und die Spontanheilung: Was sie verbindet und was sie unterscheidet Es ist möglich, dass beim Placebo-Effekt und bei Spontanheilungen die gleichen Körperprozesse ablaufen beziehungsweise die gleichen chemischen Verbindungen aktiv sind. Bei Spontanheilungen kümmert der Körper sich selbst ohne Hilfe von außen um seine Heilung. Beim Placebo-Effekt gehen wir davon aus, dass eine Botschaft aus der äußeren Umgebung eine Wirkung auf den Geist hat, der dann neue chemische Reaktionen auslöst oder zumindest bereits aktive Abläufe unterstützt und verstärkt. Interessanterweise wurde die Metapher der inneren Apotheke möglicherweise von einem Arzt entwickelt, der die Vorstellung, sich selbst mit chemischen Medikamenten behandeln zu lassen, strikt ablehnte. Wie Sie zu Anfang dieses Kapitels gelesen haben, beschrieb Dr. Andrew -69-
Taylor Still, der Begründer der Osteopathie, den Körper als »Gottes Apotheke«. Indem er Opiate in »Gottes Apotheke« zu erkennen meinte, bewie s er einen ziemlichen Weitblick: Nur ein halbes Jahrhundert später entdeckten Wissenschaftler die so genannten Endorphine, opiumähnliche chemische Verbindungen, die sich in der inneren Apotheke des Körpers bilden. Für die innere Apotheke des Körpers ist etwas sehr wesentlich: Es gibt keine Regel, die uns vorschreibt, dass wir uns zwischen inneren und äußeren Faktoren entscheiden müssen. Der Körper ist in der Lage, auf äußere Substanzen oder Prozesse zu reagieren, die die Heilung fördern können. Bei den meisten Krankheiten aber wird die schnellste und vollständigste Heilung auftreten, wenn wir die Wirkungen der äußeren Heilprozesse mit der Arbeit der inneren Apotheke des Körpers kombinieren. Es gibt einen beliebten Zeitungscartoon mit dem folgenden Text: »Wenn ich das echte Medikament nicht bekommen kann, dann will ich das allerbeste Placebo.« Die Ärzte, die uns vor eine solche Wahl stellen würden, wären nicht wirklich an unserer Heilung interessiert. Es gibt keinen Grund, warum wir nicht sowohl das echte Medikament als auch das allerbeste Placebo bekommen sollten. Und es gibt auch keinen Grund, warum ein echtes Medikament nicht selbst das allerbeste Placebo sein kann, wenn es die richtigen symbolischen Signale an unsere innere Apotheke sendet. Entwickeln wir das Bild noch etwas weiter und visualisieren wir die innere Apotheke des Körpers. Stellen Sie sich die Apotheke als Schnittstelle oder Treffpunkt vor, wo Ärzte und Anhänger aller möglichen Heilverfahren endlich zusammenkommen und sich wohl fühlen: praktische Ärzte, Osteopathen, Chiropraktiker, Aromatherapeuten, Akupunkteure, Geistheiler und alle anderen Arten von Heilern (und Menschen, die geheilt werden wollen). Wie wir gesehen haben, sind sie sich -70-
in vielen Punkten nicht einig, aber sie können alle darin übereinstimmen, dass jedes Heilverfahren in der Lage ist, symbolische Botschaften an die Patienten zu senden, um ihre innere Apotheke anzuregen. Jeder Arzt kann sich der Auffassung anschließen, dass die innere Apotheke eine großartige Verbündete bei seiner Bemühung um die Gesundung des Patienten ist. Manche Therapeuten würden sogar zugeben, dass ihre Behandlungen die innere Apotheke einer bestimmten Gruppe von Betroffenen eigentlich nur auf eine besonders effektive Weise aktivieren und stärken. Andere würden darauf bestehen, dass ihre Behandlungen völlig unabhängig von der Aktivität der inneren Apotheke wirken. Doch alle respektieren die innere Apotheke und sind sich einig, dass ihre eigene Arbeit ohne sie viel mühsamer und weniger erfolgreich wäre. Ein besonders hilfreicher Aspekt der inneren Apotheke ist, dass sie die Aufmerksamkeit vom Arzt und seinen Behandlungen weglenkt und sie auf den kranken Menschen richtet.
Der Patient als sein eigener Arzt Unsere Freunde Fisher und Greenberg, die die These mit der »Zustimmungstendenz« entwickelten, haben festgestellt, dass die Schulmedizin und in gewisser Weise jedes andere Heilverfahren dazu neigen, Heilungen dem Können und dem Einfluss des Arztes zuzuschreiben und jeden Beitrag des Patienten selbst zu ignorieren. Wenn man aber den PlaceboResponder als »passiv« stigmatisiert, so meinen sie, trifft man den Kern der Sache nicht: Die Tatsache, dass Individuen Hinweise und Ideen nutzen können, die innerhalb des Placebo-Kontextes angeboten werden, ist kein Zeichen von Passivität, sondern vielmehr die Fähigkeit, sich selbst mit Hilfe der Vorstellungskraft zu mobilisieren. Was als Passivität bezeichnet wird, ist wahrscheinlich in Wirklichkeit -71-
die Bereitschaft, für Kommunikation empfänglich zu sein. Seymour Fisher und Roger Greenberg Wenn wir die Metapher der inneren Apotheke verwenden, vergessen wir nicht so leicht den wichtigen Beitrag, den jeder von uns zu seinem eigenen Heilprozess beisteuert. Die innere Apotheke als Metapher des Placebo-Effekts führt zu einem viel ga nzheitlicheren und positiveren Bild der Rolle des Placebo- Effekts für die Heilung von Menschen. Im weiteren Verlauf des Buches werde ich Beweise vorlegen, die zeigen, dass dieses Bild ziemlich realistisch ist und was es für die verschiedenen Heilverfahren bedeutet. Es gibt zwei weitere medizinische Faktoren, die mit dem Placebo-Effekt in Verbindung stehen und über die wir Bescheid wissen sollten.
Der Placebo-Effekt und die Ungewissheit Ungewissheit ist ein Aspekt des Placebo-Effekts, der bei Wissenschaftlern zu Recht zu einer negativen Einstellung ihm gegenüber führen könnte, besonders bei denjenigen, die die zentrale Rolle der inneren Apotheke beim Heilungsprozess zu wenig schätzen oder gar ganz ignorieren. Schließlich mögen Wissenschaftler Geschehnisse, die nach einer bestimmten Gesetzmäßigkeit vorhergesagt werden können. Der PlaceboEffekt jedoch hat sich Gesetzmäßigkeiten schon immer entzogen. Was meine innere Apotheke aktiviert, hat vielleicht gar keine Wirkung auf Ihre; oder was meine Apotheke in einer bestimmten Situation aktiviert, versagt möglicherweise in einer anderen Situation; oder was meine einmal sehr stark aktiviert hat, kann ein anderes Mal nur eine ganz schwache Wirkung haben. -72-
Erinnern wir uns daran, dass frühen Untersuchungen über Placebos zufolge zirka ein Drittel der Teilnehmer positiv auf Placebos reagierten. Aber wie wir gesehen haben, lässt sich nicht anhand von Persönlichkeitsmerkmalen vorhersagen, um welche Versuchsteilnehmer es sich handeln wird. Wenn der Placebo-Effekt von der Reaktion auf die Situation und nicht von unveränderlichen Persönlichkeitsmerkmalen abhängt, dann hat bisher noch niemand einen Weg gefunden, um herauszufinden, warum es genau zu dieser Reaktion gekommen ist. Vorherzusagen, wer auf ein Placebo reagieren wird und wer nicht, bleibt eine ungewisse Sache. Und es ist sogar noch etwas komplizierter. Bisher wissen wir, dass der Durchschnittswert für einen Placebo-Effekt bei einem Drittel der Teilnehmer lag. Es scheint fast, als könnte man bereits vor einem Versuch vorhersagen: »Also gut, wir wissen nicht, welche Individuen genau reagieren werden, aber zumindest können wir ziemlich genau absehen, wie viele reagieren werden.« Es hat sich herausgestellt, dass dieses Gefühl der Sicherheit ebenfalls irreführend ist, wie die folgende Anekdote zeigt.
Wie ein Anthropologe das Rätsel des Citnetidins löste Anthropologen führen in der Regel keine placebokontrollierten Studien neuer Medikamente durch. Daniel Moerman von der University of Michigan in Dearborn interessierte sich um 1980 für das Zusammenwirken von Medikamenten und Kultur, und besonders dafür, wie die verschiedenen heilkräftigen Pflanzen wirkten, die von den nordamerikanischen Indianern verwendet wurden. Für seine Zwecke entwickelte der Anthropologe eine originelle und intelligente Idee. Die übliche randomisierte, placebokontrollierte Doppelblindstudie ist nur auf einen Zweck ausgerichtet: Sie soll zeigen, ob es Patienten aufgrund eines -73-
Versuchsmedikaments besser geht oder nicht. Was mit den Teilnehmern der Placebo-Gruppe geschieht und warum, ist nicht von Interesse. Es kommt nur auf den Unterschied zwischen der Placebo-Gruppe und der Medikamenten-Gruppe an - in der medizinischen Terminologie Arm genannt. Damit man den Placebo-Effekt in wissenschaftlicher Hinsicht versteht, muss man das gleiche Placebo jedoch unter unterschiedlichen Bedingungen verabreichen, um feststellen zu können, ob die Bedingungen die Wirkung des Placebos verändern. Das bedeutet, man benötigt eine Versuchsgruppe und eine Kontrollgruppe, die beide nur Placebos erhalten. Wie Moerman beobachtete, konnte man nie etwas Interessantes über die Wirkungsweise von Placebos herausfinden, solange man sich auf eine oder zwei Studien beschränkte, bei denen irgendein Medikament mit einem Placebo verglichen wurde. Weit aufschlussreicher wäre es, wenn man zehn, zwanzig oder sogar dreißig Studien durchführen würde, in denen jeweils ein effektiv wirksames Medikament mit einem Placebo verglichen würde. Und zu einem noch sichereren Ergebnis würde man kommen, wenn man etwas Quantifizierbares und Objektives messen könnte, so dass die Studien gut miteinander verglichen werden könnten. Wenn man dann die Placebo-Arme all dieser Studien prüfen würde, könnte man vielleicht Muster erkennen, die Anhaltspunkte für den Placebo-Effekt liefern. Also durchforstete Moerman alle medizinischen Zeitschriften, deren er habhaft werden konnte, und fand schließlich, wonach er suchte. Mitte der siebziger Jahre revolutionierte ein neues Medikament die Behandlung von Magengeschwüren. Es handelte sic h um Cimetidin (Tagamet). Die Ärzte hatten immer angenommen, dass Magengeschwüre etwas mit einem Säureüberschuss im Magen und im ersten Abschnitt des Dünndarms zu tun hatten, aber bisher konnten sie lediglich -74-
Antazida verschreiben, die die Säure neutralisierten. Cimetidin war das erste einer neuen Kategorie von Medikamenten, das in der Lage war zu verhindern, dass dieser Säureüberschuss überhaupt entstand. Eine große Begeisterung regte sich, und Wissenschaftler auf der ganzen Welt begannen, Cimetidin in kontrollierten Studien zu testen. Moerman prüfte 31 dieser Studien, die Cimetidin auf eine randomisierte, doppelblinde Weise mit Placebos verglichen. Praktisch alle verliefen nach demselben Prinzip: Die Ärzte sahen sich mit Hilfe einer Magenspiegelung das Magengeschwür an und stellten fest, wie groß es war. Nach einem Monat wurden alle Teilnehmer erneut untersucht, um festzustellen, ob das Magengeschwür kleiner geworden oder völlig ausgeheilt war. Moerman verglich alle 31 Studien miteinander und stellte fest, dass die Erfolgsquoten des Cimetidin-Arms bei allen Studien sehr nah beieinander lagen. Die Heilungsrate innerhalb eines Monats lag grob bei zirka 70 bis 75 Prozent. Die Wirkung des Medikaments innerhalb des Körpers schien kaum durch andere Umwelteinflüsse beeinträchtigt zu werden. Aber etwas war rätselhaft: Die Studien zeigten nicht einheitlich, dass Cimetidin besser wirkte als das Placebo. Die eine Hälfte der Studien belegte, dass Cimetidin besser abschnitt als das Placebo, die andere Hälfte dagegen nicht. Wie Moerman schließlich entdeckte, hatte die Lösung des Rätsels gar nichts mit dem Cimetidin zu tun - aber sehr viel mit dem Placebo. Der Placebo-Effekt bewirkte eine durchschnittliche Heilung eines Drittels der Magengeschwüre nach einem Monat. Dies entsprach fast haargenau der Reaktionsrate, die Henry Beecher in seiner Zusammenfassung der Schmerzstudien 1955 dargestellt hatte und die Wissenschaftler seitdem immer wieder dokumentierten. Moerman erkannte nun sehr deutlich, dass dieser »Durchschnittswert« eine enorme Variation verschleierte. Die -75-
Placebo-Arm-Heilungsrate in den 31 Studien schwankte erheblich. In einer Studie waren nur 10 Prozent der Magengeschwüre nach einmonatiger Einnahme eines Placebos kuriert; in einer anderen betrug die Placebo-Heilungsrate 90 Prozent; bei den restlichen Studien ergaben sich verschiedenste Werte dazwischen. Und hierin lag die Lösung des Rätsels: Die Studien zeigten keine statistische Differenz zwischen Cimetidin und dem Placebo, wenn der Placebo-Effekt einen hohen Wert erreichte; lag der Placebo-Effekt dagegen im unteren Bereich des Spektrums, ging Cimetidin problemlos als Gewinner hervor. Die Rate des Placebo- Effekts und nicht die Reaktionsrate auf das Cimetidin bestimmte die Gesamtergebnisse der Studie. Als Anthropologe interessierte sich Moerman dafür, ob kulturelle Unterschiede die Wahrscheinlichkeit verändern, dass ein bestimmtes Signal die innere Apotheke aktiviert. Also klassifizierte er die Studien nach den Ländern, in denen die Untersuchung durchgeführt worden war. Dieser Teil seiner Untersuchung lieferte zwar nur vorläufige Ergebnisse, aber Moerman konnte einige Tendenzen aufgrund nationaler Unterschiede beim Placebo-Effekt aufzeigen. Einige Studien mit der geringsten Placebo-Heilungsrate wurden zum Beispiel in Dänemark durchgeführt, während einige der höchsten PlaceboReaktionsraten in deutschen Studien auftraten. Alle Wissenschaftler, die diese Studien leiteten, interessierten sich für das Cimetidin und nicht für den Placebo-Effekt. Daher enthielten ihre Berichte keine Angaben über den emotionalen Kontext, in dem die Studien durchgeführt wurden, und sicherlich befragte niemand die Teilnehmer darüber, was ihnen während der Zeit der Studie durch den Kopf gegangen war. Wir können nur spekulieren, was die unterschiedlichen Ergebnisse dieser stark voneinander abweichenden Placebo-Effekte verursachte. An dieser Stelle möchte ich auf zwei Dinge aufmerksam machen. Wir haben gesehen, dass der natürliche -76-
Krankheitsverlauf eine der möglichen Erklärungen für die Heilung ist, die sonst vielleicht dem Placebo-Effekt zugeschrieben wird; Magengeschwüre heilen entweder, weil sie mit Cimetidin behandelt werden, oder aufgrund der natürlichen Genesungsprozesse des Körpers. Dies geschieht auch ohne »Signale« aus der äußeren Umgebung oder eine Veränderung unserer Emotionen beziehungsweise Erwartungen. Diese Erklärung erscheint sinnvoll, wenn wir nur den Gesamtdurchschnitt betrachten, denn es ist logisch, dass zirka ein Drittel der Magengeschwüre nach einem Monat von alleine verheilt sein können. Für sich genommen würde das den so genannten Placebo- Effekt ausschließen. Wenn wir die Schwankungen und nicht den Gesamtdurchschnitt betrachten, ist es viel schwerer, die Erklärung zu akzeptieren. Warum sollten in manchen Kliniken nur 10 Prozent der Magengeschwüre von alleine verheilen, wenn das in einer anderen Klinik in einem anderen Land bei 80 Prozent der Fall war? Zu behaupten, es gebe beim natürlichen Verlauf eines Magengeschwür-Leidens so große Abweichungen, würde fast bedeuten, dass man zugibt, nicht viel darüber zu wissen, wodurch ein Magengeschwür verursacht und wodurch es geheilt wird. Es ist jedenfalls nicht weniger heikel, die Variation durch den natürlichen Verlauf dieses Leidens zu erklären als durch einen Placebo-Effekt, besonders wenn man bedenkt, dass der Magensäuregehalt durch emotionale Faktoren verändert wird, was schon seit langem bekannt ist. Fassen wir zusammen: Häufig ignorieren skeptische Wissenschaftler und Ärzte die Bedeutung des Placebo-Effekts, da er so unvorhersehbar ist. Bei zirka einem Drittel der Patienten tritt bei wissenschaftlichen Studien ein Placebo-Effekt auf, aber wir können nicht sagen, bei wem das der Fall sein wird, und ein Individuum, das in einer Doppelblindstudie auf ein Placebo reagiert, zeigt in einer anderen Studie möglicherweise keine Reaktion. Wenn die Placebo-Reaktionsrate zwischen 10 und 90 -77-
Prozent liegt, können viele nur mit den Schultern zucken. Vielleicht stimmt das Ergebnis, aber welchen Wert hat es? Wie kann man es wissenschaftlich untersuchen? Man könnte es genauso gut bleiben lassen und sich mit den gültigen Gesetzen der Biochemie und Physiologie befassen. Dieses Argument misst allerdings mit zweierlei Maß, wenn man bedenkt, dass Cimetidin zirka 70 bis 75 Prozent der Magengeschwüre heilte. Und genau die gleichen Dinge, die wir über Placebos gesagt haben, könnte man auch über Cimetidin sagen - nur in etwas abgeschwächter Form. Wir haben in der Tat keine Ahnung, was bei den 25 bis 30 Prozent der Teilnehmer, die nicht auf das Medikament reagierten, anders war. Wir könnten behaupten, dass sie resistent gegen das Mittel waren oder es anders verstoffwechselten. Aber solange wir keinen eindeutigen biochemischen Beweis haben, der diese Hypothesen erklärt, können wir lediglich feststellen: »Ihr Zustand hat sich nicht gebessert, und wir wissen nicht, warum das so ist.« Einer aktuellen Theorie über Magengeschwüre zufolge, die nach Moermans Untersuchungen entstand, ließ sich bei den 25 bis 30 Prozent möglicherweise kein Heilerfolg feststellen, da der Magen von Helicobacter-Pylorii-Bakterien befallen war. Studien verschiedener Medikamentkombinationen zur Bekämpfung des Helicobacter Pylorii zeigen, dass die Medikamente die Bakterien bei zirka 90 bis 95 Prozent der Patienten beseitigen; und wir haben das gleiche Problem zu erklären, warum die Bakterien bei den anderen 5 bis 10 Prozent nicht verschwinden. Weiterhin haben viele Menschen die Bakterien in ihrem Magen, bekommen aber kein Magengeschwür. Da es kein Medikament gibt, das in 100 Prozent der Fälle wirkt beziehungsweise dessen Wirkung zu 100 Prozent vorhersehbar ist, sollten wir die Variabilität nicht anführen, um den Placebo-Effekt zu widerlegen. Und wir sollten auch nicht der Überzeugung anhängen, dass wir ihn und die Metapher der inneren Apotheke nicht besser verstehen können. -78-
Bisher haben wir den Placebo-Effekt vorgestellt und definiert, seine Geschichte betrachtet, uns gefragt, wer von uns am empfänglichsten dafür ist, und wir haben die Metapher der inneren Apotheke erläutert, um den Placebo-Effekt in einem angemessen positiven Licht zu sehen. In den folgenden Kapiteln werden wir uns der Frage widmen, wie der Placebo-Effekt eigentlich funktioniert, und die drei Schlüssel vorstellen, die ihn aktivieren.
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Der erste Schlüssel: Erwartung Als er bereits in einem fortgeschrittenen Alter war, berichtete Dr. Gregory von einem Fall, in dem ein Patient, der fünfundzwanzig Tropfen Laudanum in dem Glauben eingenommen hatte, es sei ein Abführmittel, die ganze Nacht keine Ruhe hatte, da er seinen Darm entleeren musste. [Laudanum enthält Opium, das dafür bekannt ist, starke Verstopfungen hervorzurufen.] The Lancet (1836) Wie wir im dritten Kapitel gesehen haben, dienen die meisten Persönlichkeitsmerkmale mit Ausnahme der Zustimmungstendenz und der Angstneigung nicht dazu, einen Placebo-Effekt vorherzusagen. Mediziner unserer Zeit haben trotzdem versucht, den Placebo-Effekt besser zu verstehen, indem sie fragten: »Wie können wir vorhersagen, wann Patienten oder Versuchsteilnehmer auf ein Placebo reagieren und welche Reaktion auftreten wird?« Dieses und das folgende Kapitel beschäftigen sich näher mit zwei beliebten Theorien, die wir Ihnen bereits kurz vorgestellt haben: die Theorie der Erwartung und der Konditionierung. Wir werden sehen, dass beide Theorien Hinweise dazu liefern, welche Behandlungsmethoden die Arbeit der inneren Apotheke unterstützen können. Wir werden zudem feststellen, dass sich mit Hilfe beider Theorien experimentelle Ergebnisse über den Placebo-Effekt vorhersagen lassen und dass sie sich auf bedeutende Weise überschneiden und ergänzen. Die Theorie der Erwartung stellt die folgende Frage: »Wie wirkt sich das, wovon ich glaube, dass es in der Zukunft passieren wird, auf meine innere Apotheke aus?« Die Theorie -80-
der Konditionierung fragt dagegen: »Wie wirkt sich das, was mir in der Vergangenheit widerfahren ist, auf meine innere Apotheke aus?« Sehen wir uns nun die Erwartungshaltung genauer an. Beginnen wir mit einem beeindruckenden Fallbeispiel.
Tom, der Placebo-Responder Dr. Stewart Wolf war Mitglied eines Forschungsteams in den späten vierziger Jahren, das vom Placebo-Effekt fasziniert war. Er wollte mehr darüber herausfinden, wie er funktionierte. Wolf untersuchte zu dieser Zeit, welche Wechselwirkungen zwischen den Magenfunktionen und den Symptomen bestanden, von denen ihm seine Probanden berichteten, wenn er ihnen verschiedene Medikamente verabreichte. Bei seiner Untersuchung führte er ein Röhrchen zur Druckmessung in den Magen der Teilnehmer ein, so dass er die Wellenbewegungen der Bauchmuskeln graphisch darstellen konnte. Wenn die Teilnehmer unter Übelkeit litten, konnte er deutlich ein unruhiges Wellenmuster beobachten; wenn die Übelkeit wieder verschwand, normalisierte sich das Muster wieder. Wolf hatte den Probanden zwei Medikamente verabreicht: Ipekakua nha, das einen Brechreiz erzeugt, und Atropin, das den Magen beruhigt und ein ruhiges Muskelmuster erzeugt. Nun wollte er sehen, was geschah, wenn er den Teilnehmern Zuckerpillen gab, ihnen aber sagte, es handele sich entweder um Ipekakuanha oder Atropin. Wie erwartet, litten viele Teilnehmer, die das ScheinIpekakuanha erhalten hatten, unter starker Übelkeit, und viele, die das so genannte Atropin bekommen hatten, berichteten, ihre Übelkeit sei viel schwächer geworden. Die Reaktionen gingen sogar über die Berichte der Probanden hinaus: Wolf beobachtete die Wellenmuster des Magens und stellte genau die gleichen Veränderungen wie bei den effektiv wirksamen Medikamenten -81-
fest. Einer der Versuchsteilnehmer, ein Mann namens Tom, schien besonders empfänglich für Placebos zu sein, daher entschied sich Wolf, den nächsten Schritt mit ihm durchzuführen. Anstatt ihm in der nächsten Versuchsrunde Placebos zu geben, verabreichte er Tom Atropin und Ipekakuanha - aber dieses Mal sagte er ihm, dass er ihm Ipekakuanha gab, als es sich in Wirklichkeit um Atropin handelte und umgekehrt. Tom verspürte eine starke Übelkeit, nachdem er das »Ipekakuanha« eingenommen hatte, das in Wirklichkeit Atropin war, und seine Magenkurven wiesen das Übelkeitsmuster auf. Als er »Atropin« erhielt, bei dem es sich tatsächlich um Ipekakuanha handelte, und man ihm sagte, es würde seinen Magen beruhigen, verspürte Tom kurz darauf eine Linderung der Übelkeit, und seine Magenkurven zeigten wieder das normale Muster. Das ist der Erwartungseffekt in aller Kürze. Nun werden wir ihn genauer untersuchen.
Die Theorie der Erwartung In gewisser Hinsicht klingt diese Theorie ziemlich einfach. Sie besagt Folgendes: Wenn man damit rechnet, dass es einem nach der Einnahme eines Medikaments besser geht, besteht eine gute Chance, dass das der Fall sein wird - selbst wenn die Besserung nicht durch die chemischen Bestandteile des Medikaments erklärt werden kann. Das deutet darauf hin, dass der psychische Zustand der Erwartungshaltung an sich einen Einfluss auf den Gesundheitszustand beziehungsweise auf körperliche Krankheiten haben kann. Die Erwartung eines Menschen kann unter vielen verschiedenen Umständen eine körperliche Wirkung haben, und das nicht nur, wenn der Mensch eine chemisch unwirksame Substanz erhält. Stewart Wolfs Untersuchungen hatten aus mehreren Gründen -82-
einen großen Einfluss auf die Placebo-Forschung. Er war einer der ersten Forscher, die zeigten, dass der Placebo-Effekt über die subjektive Wahrnehmung eines Menschen hinausgeht. So musste man sich beispielsweise bei früheren Untersuchungen über Schmerzen allein auf die Aussage der Versuchsteilnehmer verlassen. Da man Schmerzen nicht objektiv messen kann, können Wissenschaftler nur herausfinden, wie sehr die Teilnehmer leiden, indem sie sie befragen. Daher nahmen die meisten Ärzte an, Placebo-Effekte seien in körperlicher Hinsicht nicht »real«. Weil sie eine Zuckerpille einnahmen, glaubten die Probanden vielleicht nur, dass es ihnen besser ginge, aber die Zuckerpille konnte unmöglich eine echte Wirkung auf den Körper selbst haben. Wolf widerlegte diesen Mythos, der auf der alten Annahme der Trennung von Körper und Geist beruhte, indem er zeigte, dass Placebos eine ebenso große Wirkung auf objektiv messbare körperliche Prozesse hatten wie auf die Berichte der Probanden. Wolf ging sogar noch weiter, da er nachwies, wie stark der Placebo-Effekt ausgeprägt sein kann zumindest bei bestimmten Patienten wie zum Beispiel Tom. Der zweite medizinische Mythos, den er widerlegte, beruhte auf der folgenden Annahme: Selbst wenn ein Patient gelegentlich auf ein Placebo reagiert, kann die Wirkung nie so stark sein oder so lange anhalten wie bei einem »echten« Medikament. Toms Fall sollte diese Fehleinschätzung endgültig richtig stellen. Die folgende Anekdote veranschaulicht weitere Aspekte der Theorie der Erwartung und zeigt, warum sie von so vielen Forschern übernommen wurde.
Kann der Placebo-Effekt die chemische Wirkung eines Medikaments neutralisieren? 1970 führten Dr. Thomas Luparello und seine Kollegen von der psychiatrischen Abteilung des Downstate Medical Center in -83-
Brooklyn, New York, Wolfs Erkenntnisse noch einen Schritt weiter. Dr. Luparellos Team arbeitete mit zwanzig Patienten, die unter Asthma litten, und wendete bei ihnen zwei Medikamente an. Eines davon, Isoproterenol, wird häufig bei der Behandlung von Asthma eingesetzt, um die Bronchien zu erweitern, so dass die Luft freier dorthin strömen kann, wo die Atmung zuvor blockiert war. Das andere Medikament, Carbachol, verengt die Bronchien, hat also genau die entgegengesetzte Wirkung. Man müsste annehmen, dass das Asthma sich verschlimmert, wenn dieses Mittel inhaliert wird. Nachdem die Versuchsteilnehmer die Medikamente inhaliert hatten, maßen die Forscher den Luftstrom und das Lungenvolumen. Beide Mittel wurden unter zwei verschiedenen Bedingungen ausgegeben: Einmal sagte man den Probanden vorher, um welches Medikament es sich handelte; das andere Mal sagte man ihnen vorher, es handele sich um das jeweils andere Mittel. Beide Medikamente wirkten im Durchschnitt besser, wenn die Teilnehmer die Wirkung erwarteten. Wenn man ihnen sagte, dass sie Isoproterenol bekamen, und das auch tatsächlich der Fall war, strömte mehr Luft in die Lungen als in dem Versuch, in dem sie Isoproterenol erhielten, aber glaubten, es handele sich um Carbachol. Von besonderem Interesse ist hierbei, was geschah, als man den vier Teilnehmern, die Isoproterenol inhalierten, und den fünf, die mit Carbachol behandelt wurden, sagte, sie erhielten das jeweils andere Medikament. Bei den vier Teilnehme rn, die Isoproterenol einnahmen, aber dachten, es sei Carbachol, verringerte sich der Luftstrom in ihren Lungen - es trat also genau die Medikamentenwirkung ein, die sie erwarteten, die aber absolut untypisch ist für die Wirkung der chemischen Substanz, die sie inhalierten. Bei fünf der Teilnehmer, die Carbachol inhalierten, aber dachten, es sei Isoproterenol, verstärkte sich der Luftstrom - was wiederum zeigt, dass die Kraft der mentalen Erwartung die chemische Wirkung aufheben -84-
und sogar umkehren kann. Ein letztes Experiment dieser Art wurde von Dr. Yujiro Ikemi und Dr. Shunji Nakagawa in Japan durchgeführt. Der so genannte Lack- oder Wachsbaum in Japan ähnelt dem Giftefeu in den Vereinigten Staaten und ruft in der Regel starke allergische Hautreaktionen he rvor, wenn man seine Blätter berührt. Ikemi und Nakagawa wählten 57 Schüler eines Gymnasiums aus, verbanden ihnen die Augen und berührten jeweils einen Arm mit Blättern des Lackbaums und strichen mit Blättern von harmlosen Kastanienbäumen über den anderen Arm. Die Forscher erzählten aber allen Jungen, dass sie jeweils die anderen Blätter verwendeten. In mehr als der Hälfte der Fälle traten bei den Jungen sofort rote, juckende Ausschläge auf dem Arm auf, der mit den Kastanienblättern berührt worden war. Dort, wo sie in Kontakt mit den Lackbaumblättern gekommen waren, trat keine Reaktion auf. In vielen Fällen geschah das, obwohl die Jungen zuvor heftig auf die Lackbaumblätter reagiert hatten und daher sensibilisiert waren. In einigen Studien waren die Erwartungseffekte so stark, dass das gleiche Medikament völlig unterschiedlich wirkte, je nachdem, ob man den Teilnehmern gesagt hatte, worum es sich dabei handelte, oder nicht. Eine Studie, die die Wirkungen von Chloralhydrat (einem starken Schlafmittel) und Amphetamin (einem starken Aufputschmittel) miteinander verglich, zeigte, dass die beiden Medikamente wie erwartet wirkten, solange die Teilnehmer wussten, welches Mittel sie einnahmen. Wenn die Teilnehmer es nicht wussten, waren die Wirkungen der beiden Medikamente nicht voneinander zu unterscheiden.
Der Placebo-Effekt und Operationen Wie wir bereits festgestellt haben, machte die medizinische Wissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg sehr große -85-
Fortschritte und entwickelte scheinbar unzählige neue Heilmittel und Behandlungsmethoden für ernsthafte und tödlich verlaufende Erkrankungen. Immer wenn sie etwas über einen neuen medizinischen Durchbruch lasen, nahmen sowohl die Öffentlichkeit als auch die Mediziner selbst an, dies sei lediglich dem besseren wissenschaftlichen Verständnis über die Funktionen des Körpers und der Anwendung dieses neuen Wissens auf die Krankheiten zu verdanken. Niemand dachte daran, dass psychische Einflüsse oder Suggestionen möglicherweise eine Rolle bei den neuen medizinischen Errungenschaften spielen könnten, aber es sollte sich zeigen, dass das falsch war. Ein großer »Durchbruch« der Nachkriegszeit war die Operation einer Angina Pectoris, die aufgrund einer Koronarthrombose aufgetreten war. Dies fand lange vor der modernen Ära der Bypass-Operationen statt, da die meisten Operationen direkt am Herzen und an den Herzgefäßen in den vierziger und fünfziger Jahren technisch unmöglich waren. Die Chirurgen versuchten, andere Wege zu entwickeln, damit mehr Blut durch die Koronararterien floss und die starken, manchmal tödlichen Schmerzen im Brustbereich gelindert wurden, die aufgrund des Sauerstoffmangels im Herzmuskel auftraten. Die Chirurgen kamen auf die Idee, dass es möglicherweise zu dem reduzierten Blutfluss kam, da die Brustarterien, die keine lebenswichtige Funktion hatten, zu viel Blut von den Koronararterien wegleiteten. Wenn sie einen Eingriff im Brustbereich durchführten, um die Brustarterien abzubinden, konnten sie vielleicht erreichen, dass mehr Blut durch die Koronararterien floss und die Angina Pectoris dadurch abklang. Um die Idee zu testen, taten die Chirurgen das, was Chirurgen seit Jahrhunderten getan haben und was sie auch heute noch häufig tun: Sie probierten das neue Verfahren bei Patienten mit einer starken Angina Pectoris aus. Sie waren überzeugt davon, sicher wissen zu können, dass die Operation erfolgreich war, -86-
wenn der Zustand des Patienten sich verbesserte. Und es funktionierte wunderbar. Eine erhebliche Zahl von Patienten, bei denen eine Brustarterienligatur durchgeführt wurde, berichtete, dass die Angina nun viel schwächer war und sie viel weiter laufen, mehr Treppen steigen und insgesamt viel aktiver sein konnten, ohne wie vorher unter starken Brustschmerzen zu leiden. Diese Wirkung schien mindestens einige Monate anzuhalten. Zunächst dachte man also, dass dieser relativ kleine operative Eingriff sich zur Wunderbehandlung bei Angina Pectoris entwickeln würde. Dann begannen ein paar skeptische und mutige Chirurgen Bedenken hinsichtlich des Verfahrens zu äußern. Sie nutzten die lockeren ethischen Maßstäbe ihrer Zeit und sagten ihren Patienten nicht die Wahrheit bezüglich der Behandlung ihrer Erkrankungen. Bei einer Reihe von Patienten wurden Operationen auf die gleiche Weise durchgeführt, in der auch Brustarterienligaturen immer gemacht wurden, aber mit einem Unterschied: Man zog den Faden, der um die Brustarterie gelegt wurde, nicht an. Als die Patienten aus der Narkose erwachten, hatten sie Narben auf ihrer Brust und verspürten Schmerzen aufgrund des Schnitts, so dass sie dachten, sie wären auf die übliche Weise operiert worden. In Wirklichkeit floss jedoch genauso viel Blut durch ihre Brustarterie wie vorher. Aber diese Patienten der Placebo-Operations-Gruppe berichteten von fast identischen Wirkungen wie die anderen Patienten zuvor. Auch sie bestätigten eine Linderung der Schmerzen, ein größeres körperliches Durchhaltevermögen und eine anhaltende Verbesserung ihres Zustands. Und auch die Anzahl der Patienten, die von einer solchen positiven Veränderung ihres Wohlbefindens sprachen, stimmte mit jener der »echten« Operationsgruppe überein: nämlich zwei Drittel oder sogar mehr. Zumindest zeigten diese kontrollierten operativen Pionierversuche bei Angina Pectoris, dass die Ligatur der -87-
Brustarterien nicht deshalb funktionierte, weil sie den Blutfluss zu den Koronararterien umleitete. Die meisten Beobachter glaubten, dass es sich hierbei um einen reinen Placebo-Effekt handelte. Da die meisten Menschen eine Operation für eine viel wirksamere Behandlung halten, als einfach eine Pille zu schlucken, war der Placebo- Effekt, den man bei diesen Patienten beobachten konnte, viel stärker ausgeprägt als Reaktionen nach der Einnahme einer Placebo-Pille: Mehr Patienten reagierten darauf, die Angina Pectoris klang in weit höherem Maße ab, und die Wirkungen hielten ziemlich lange an. Offensichtlich reagierte die innere Apotheke um so besser, je stärker und fesselnder die Botschaft war, die ihr aus der Umwelt geschickt wurde. Durch Erfahrungen mit Behandlungen wie der Ligatur der Brustarterien erhielten Wissenschaftler einen guten Einblick in die Macht der Erwartung. Vor kurzem wählten der Psychologe Alan Roberts und seine Kollegen fünf Behandlungsmethoden aus, die auf diese Weise überprüft werden sollten. Ursprünglich war viel Wirbel um sie gemacht worden, und viele Erwartungen waren daran geknüpft, aber alle fünf wurden schließlich abgelehnt, da randomisierte Doppelblindstudien zeigten, dass sie nicht besser funktionierten als Placebos. Roberts Gruppe konzentrierte sich auf die frühen Studien, die für jede Behandlung durchgeführt worden waren - in der Regel ohne Kontrollgruppe. In diesen Studien, so schlussfolgerten sie, bestand eine maximale Erwartung seitens der Wissenschaftler und der Patienten, dass die neue Behandlung wirken würde. Roberts wertete alle frühen, positiven Studien über die fünf Behandlungsmethoden aus und stellte fest, dass die Resultate zu 40 Prozent als hervorragend, zu 30 Prozent als gut und zu 30 Prozent als schlecht eingestuft worden waren. Nicht weniger als 70 Prozent der Te ilnehmer stellten bei diesen frühen Versuchen entweder hervorragende oder gute Resultate aufgrund der Anwendung von Behandlungen fest, die heute generell für -88-
wirkungslos gehalten werden. Roberts kam zu dem Ergebnis, dass nur eine sehr starke therapeutische Kraft der Erwartung diese Zahlen erklären konnte. Aus der Geschichte über die Brustarterien-Operationen bei Angina Pectoris gewann man eine weitere Erkenntnis. Einem verbreiteten Mythos über den Placebo- Effekt zufolge ahmt er die Wirkung von »echten« Medikamenten oder Operationen zwar nach, aber die Besserung, die er bewirkt, ist nur von kurzer Dauer, während »echte« Wirkungen langfristig anhalten. Aber die positiven Wirkungen, von denen die ersten Probanden nach der simulierten Operation berichteten, hielten häufig Monate oder gar Jahre an. Darüber hinaus lernte man aus dem Brustarterien-Beispiel, wie wichtig es ist, dass das Placebo dem »echten« Medikament wirklich ähnelt. Seymour Fisher und Roger Greenberg betonen dies in ihrer Untersuchung von Studien über Medikamente gegen Depressionen. Die meisten Antidepressiva verursachen merkliche Nebenwirkungen (wie einen trockenen Mund) bei fast allen Patienten, die sie einnehmen. Die große Mehrheit der Studien, die Antidepressiva mit Placebos vergleichen, zeigen, dass das Antidepressivum besser wirkt. Aber es wurden nur wenige Studien durchgeführt, bei denen ein aktives Placebo verwendet wurde - das heißt eine Attrappe, die die Nebenwirkungen des Antidepressivums nachahmt, aber keine chemische Substanz zur Behandlung von Depressionen enthält. In Studien, bei denen die Nebenwirkungen gleich sind, so dass die Teilnehmer wirklich nicht wissen, mit welchem Mittel sie behandelt werden, ist es viel schwieriger, die Überlegenheit der Antidepressiva gegenüber Placebos nachzuweisen. Während die Brustarterien-Experimente zu einer Zeit durchgeführt worden waren, in denen man es mit den ethischen Standards zum Schutz von Patienten nicht so genau genommen hatte, gingen die meisten Ärzte in den neunziger Jahren davon aus, dass Versuche, die simulierte Operationen nutzten, der -89-
Vergangenheit angehörten. Schließlich würde doch in der heutigen Zeit, in der der informierte Patient jedem Eingriff zustimmen muss, keiner freiwillig an einer Studie teilnehmen, in der er möglicherweise nur zum Schein operiert wird. Oder etwa doch?
Operationen und die Erwartungshaltung Als Dr. J. Bruce Mosleys Team vom Veterans-AdministrationKrankenhaus an der Baylor University 1996 von seiner placebokontrollierten Studie eines gängigen operativen Eingriffs (einer Arthroskopie) bei degenerativer Arthritis des Knies berichtete, stieß diese auf großes Interesse. Drei Gruppen nahmen an diesem Experiment teil: eine Arthroskopie-Gruppe, bei der man den Knorpel prüfte und abschabte; eine Gruppe, bei der das Endoskop ins Kniegelenk eingeführt wurde und Wasserspülungen bei üblicher Operationsdauer vorgenommen wurden, ohne dass geschabt wurde; und eine Gruppe, die gar nicht operiert wurde, sondern lediglich einen Schnitt am Knie erhielt. Allen Teilnehmern sagte man vorher die volle Wahrheit bezüglich des Experimentablaufs und informierte sie, dass man noch nicht wüsste, welcher Gruppe sie zugeordnet würden. Dennoch stimmten alle dem Experiment freiwillig zu. Die Ergebnisse waren fast identisch mit denen der BrustarterienExperimente: Es ließen sich keine signifikanten Unterschiede bei den Resultaten der drei Gruppen feststellen. Die Ergebnisse der beiden Studien, die wir gerade geschildert haben - der offensichtliche Erfolg der simulierten Operationen bei der Behandlung von Angina Pectoris in den fünfziger Jahren sowie die Erfahrungen bei dem auf ethischen Grundsätzen beruhenden Scheinoperations-Experiment in den neunziger Jahren untermauern die Theorie der Erwartung erheblich. In der Zeit zwischen den fünfziger und den neunziger Jahren -90-
veränderte sich die Haltung der medizinischen Wissenschaft gegenüber früher abgelehnten Theorien merklich. Nachdem sie die Arbeiten von Wolf, Park, Covi und anderen gelesen hatten, erkannten die meisten Ärzte, dass der Placebo-Effekt tatsächlich viel mit der Heilungserwartung des Patienten zu tun hatte. Der Glaube, dass es einem besser gehen wird, scheint ein psychisches Signal zu sein, das die innere Apotheke aktivieren kann. Aber nur wenige Ärzte dachten daran, dass ihre eigenen Erwartungen eine ebenso starke Wirkung haben konnten, selbst wenn sie sie den Patienten nicht mitteilten.
Die Wirksamkeit von Medikamenten und die Erwartungen der Ärzte Mit dieser Thematik mussten sich Dr. E. H. Uhlenhuth und seine Kollegen vom Institut für Psyc hiatrie an der Johns Hopkins University befassen, als sie die Daten einer randomisierten Doppelblindstudie über zwei Tranquilizer im Vergleich mit einem Placebo auswerten wollten. Die Beruhigungsmittel sollten bei Patienten in psychiatrischen Kliniken eingesetzt werden, die unter Angstzuständen litten. Die beiden Tranquilizer gelten generell als wirksam bei Angstsymptomen, daher erwarteten die Forscher natürlich bessere Ergebnisse bei den TranquilizerGruppen als bei der Placebo-Gruppe. Als dies nicht aus ihren Daten hervorging, dachten sie, dass irgend etwas nicht stimmte. Nachdem sie sich genauer mit den Resultaten beschäftigt hatten, kam ihnen die Idee, die Daten danach zu analysieren, welcher von den beiden Psychiatern bei den Patienten gewesen war, als sie die Kapseln erhielten. Laut dem Protokoll der Studie sollten die Psychiater alle Patienten auf die gleiche Weise behandeln. Und sie behaupteten, sie hätten das auch getan. Aber als das Forschungsteam die Daten aufschlüsselte, stellte sich Folgendes heraus: Wenn man -91-
nur die Patienten berücksichtigte, die beim Psychiater A gewesen waren, ergab sich kein Unterschied zwischen den beiden Tranquilizern und dem Placebo. Wenn man nur die Patienten berücksichtigte, die beim Psychiater B gewesen waren, schnitt eines der Medikamente (und zwar Meprobamat) besser ab als das Placebo. Kombinierte man die Daten, war die Wirkung auf der B-Seite aufgrund der fehlenden Wirkung auf der A-Seite nicht mehr erkennbar, so dass sich insgesamt kein statistischer Unterschied zwischen den Medikamentengruppen und den Kontrollgruppen ergab. Dr. Uhlenhuth führte nun intensivere Gespräche mit Dr. A und Dr. B. Dr. A war ein jüngerer Arzt, der den Patienten gegenüber ziemlich unbeteiligt war und selbst bezweifelte, dass die Medikamente tatsächlich wirkten. Dr. B dagegen war älter und wirkte väterlich auf seine Patienten. Er meinte zwar, dass Meprobamat weit besser als ein Placebo wirkte, aber er war nicht so überzeugt von dem anderen »effektiv wirksamen« Medikament. Weder A noch B waren der Ansicht, dass sie ihre persönlichen Ansichten gegenüber den Patienten in irgendeiner Weise zum Ausdruck gebracht hätten. Das Experiment war so angelegt, dass das fast unmöglich schien. Wir können nur spekulieren, welche Signale A und B den inneren Apotheken ihrer Patienten vermittelt haben könnten. Was es auch war, die experimentellen Ergebnisse waren quasi identisch mit den nicht geäußerten Erwartungen der beiden Psychiater. Wie man den Untersuchungsergebnissen entnehmen kann, scheint es hinsichtlich der Macht des Geistes über die Materie einen roten Faden zu geben. Der Körper ist offenbar in der Lage, eine heilende Veränderung zu vollziehen, wenn erwartet wird, dass das geschehen wird. Im Fall des Uhlenhuth-Experiments ging die Erwartung eher vom Arzt als vom Patienten aus, aber es funktionierte trotzdem. Einer älteren Studie zufolge verbesserte sich der Zustand von Patienten mehr durch Placebos -92-
als durch die Verabreichung von Tranquilizern, wenn die Medikamente von Krankenschwestern ausgegeben wurden, die entschieden dagegen waren, den Patienten »Drogen« zu geben. Erkenntnisse darüber, welche Placebos am besten wirken und bei welchen Leiden oder Beschwerden eine Wirkung zu beobachten ist, liefern weitere Daten, die die Theorie der Erwartung zu untermauern scheinen. Viele Forscher haben festgestellt, dass Kapseln in der Regel besser wirken als Tabletten und dass Spritzen besser wirken als Medikamente, die oral eingenommen werden; darüber hinaus haben Spritzen, die pieksen, eine stärkere Wirkung als schmerzfreie Spritzen. Wir haben bereits gesehen, dass eine Operation ein besonders starker Placebo-Reiz sein kann. Placebos, die viermal am Tag eingenommen werden, scheinen besser zu wirken als Placebos, die zweimal am Tag eingenommen werden. Wenn Placebos (und in diesem Fall auch Medikamente) in Form von farbigen Kapseln oder Tabletten verabreicht werden, scheinen blaue, grüne und lilafarbene besonders gut als Beruhigungs- und Schlaftabletten zu funktionieren, während rote, gelbe und orangefarbene Kapseln und Tabletten am besten als Stimulanzien oder Stärkungsmittel wirken. All diese Wirkungen scheinen mit der natürlichen Erwartung der meisten Menschen übereinzustimmen. Ein Patient, der nicht dem Durchschnitt entsprach, war hundertprozentig davon überzeugt, dass seine zweifarbigen Kapseln nur dann wirkten, wenn er sie mit dem grünen Ende zuerst schluckte. Was er erwartete, geschah natürlich auch. Nun kommen wir zu einem weiteren zentralen Aspekt des Placebo-Effekts.
Von oben nach unten, von unten nach oben: Die Reaktionsmuster unseres Körpers Die Psychologen haben der Theorie der Erwartung ein noch -93-
solideres Fundament geschaffen, indem sie sie im Zusammenhang mit einer evolutionären Sichtweise menschlichen Verhaltens betrachteten. Demnach besteht die Reaktion des Körpers auf eine Nachricht aus der Außenwelt aus einer Kombination von zwei Faktoren: einer Verarbeitung der eingehenden Information »von unten nach oben«, bei der die höheren Gehirnzentren die neue Information genau analysieren, und einer Reaktion »von oben nach unten«, bei der das Gehirn schnell sein bestehendes Inventar von Verhaltensmustern nach etwas durchsucht, was zum Gesamtmuster der neuen Information passt. Die Verarbeitung von unten nach oben kann viel Zeit beanspruchen, daher ist der menschliche Körper dieser psychologischen Sichtweise zufolge hinsichtlich der Fähigkeit, auf einige Situationen spontan - von oben nach unten - zu reagieren, fest verdrahtet - nach dem Prinzip: »Erst handeln, dann hinterfragen.« Die Vonobennachunten-Reaktion wird sehr wahrscheinlich in Situationen ausgelöst, in denen die Einheit von Körper und Geist sich in akuter Gefahr wähnt und es zu riskant wäre, sich die Zeit für eine gründliche Analyse - von unten nach oben - zu nehmen. Im Folgenden finden Sie ein Beispiel dafür, wie die beiden Reaktionen ablaufen: Man sieht etwas bei seinen Füßen im Gras, was wie eine Schlange aussieht. Die VonobennachuntenReaktion beinhaltet in erster Linie die Information »Schlange!« und führt zu einem schnellen Sprung rückwärts sowie zu Stressreaktionen wie zum Beispiel einem schnelleren Herzschlag, erhöhtem Blutdruck und höherem Muskeltonus. Die Vonuntennachoben-Reaktion läuft folgendermaßen ab: »Das muss ich mir genauer ansehen. Es ist lang und dünn und braun, also könnte es eine Schlange sein. Aber es bewegt sich nicht, und es ist ziemlich gerade... Vielleicht ist es ein Stock. Ich werde mich vorsichtig hinunterbeugen und es berühren tatsächlich, es ist ein Stock.« Der evolutionsgeschichtliche Teil der Theorie besagt, dass der Mensch in seiner gesamten -94-
Entwicklungsgeschichte fast immer eine bessere Überlebenschance hatte, wenn die Vonobennachunten-Reaktion sich zuerst einschaltete. Und so sorgte die natürliche Selektion dafür, dass unser Geist eine Reihe solcher spontanen Reaktionsmuster entwickelte, die ihm stets zur Verfügung standen. Beim Placebo-Effekt könnte es sich der Theorie der Erwartung nach um eine solche Reaktion von oben nach unten handeln. Da Krankheiten eine Bedrohung für den Organismus darstellen, hat das Gehirn wahrscheinlich bestimmte Heilungsabläufe als Informationen gespeichert: Signale, die an die innere Apotheke geschickt werden können, um die Ausschüttung von heilenden Substanzen zu aktivieren. Empfängt der Betroffene dann eine Botschaft, die in ihrer äußeren Form etwas Bestimmtem ähnelt, von dem er eine heilende Wirkung erwartet, könnte das ausreichen, um einen der abrufbereiten spontanen Reaktionsabläufe zu aktivieren, der zur Freisetzung einer Substanz aus der inneren Apotheke und zur anschließenden Heilung führt. Dazu kann es sogar kommen, wenn eine sorgfältigere Analyse gezeigt hätte, dass die Botschaft eine Täuschung war - dass die Pille eine Zuckerpille war und keine chemisch wirksame Substanz. Dr. Herbert Benson, der Autor des bahnbrechenden Buches Gesund im Stress und ein Verfechter des Placebo-Effekts, behauptet sogar, dieses Reaktionsmuster von oben nach unten sei das Grundmodell für den Placebo-Effekt. Von dieser Schlussfolgerung ausgehend schlägt er vor, dass wir den Begriff »Placebo-Effekt« durch »erinnertes Wohlbefinden« ersetzen. Bensons Meinung zufolge hat diese Bezeichnung keine der negativen Konnotationen von Placebos und beschreibt besser, was das Gehirn eigentlich tut, wenn es eine Heilreaktion von oben nach unten aus dem Gedächtnis abruft. Andererseits berücksichtigt das Konzept einer inneren Apotheke meines Erachtens beide Denkweisen über den -95-
Placebo-Effekt und vermeidet gleichzeitig die negativen Konnotationen. Daher habe ich mich dazu entschieden, weiterhin den Begriff »Placebo- Effekt« zu verwenden. Bevor wir uns nun der Konditionierung zuwenden, möchte ich noch einen letzten Punkt bezüglich der Erwartung hervorheben.
Die Erwartungshaltung und andere Faktoren Mit Hilfe der Theorie der Erwartung schienen sich PlaceboReaktionen so sicher vorhersagen zu lassen, dass die Wissenschaftler einige andere wichtige Faktoren möglicherweise übersehen haben. Donald Price und Howard Fields, die sich auf Placebo Schmerzlinderungen konzentrierten, sind der Ansicht, dass der Wunsch ebenso wichtig sein kann wie die Erwartungshaltung. Häufig kommt es in einer Klinik mit »normalen« Patienten zu viel erstaunlicheren PlaceboSchmerzlinderungen als im Rahmen eines psychologischen Labors. Man könnte annehmen, dass Teilnehmer an einem Experiment wissen, dass die Schmerzen vorübergehen werden, während kranke Menschen möglicherweise viel motivierter sind, von den Schmerzen erlöst zu werden. Price und Fields untersuchten auch die wenigen Experimente, bei denen Wunsch und Erwartung getrennt voneinander betrachtet worden waren. Mindestens ein Experiment zeigte, dass der Wunsch eine ebenso große Rolle spielt wie die Erwartungshaltung. Abschließend möchte ich wiederholen, dass die Theorie der Erwartung uns einen sehr wertvollen, praktischen Umgang mit der inneren Apotheke vermittelt. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, wie wir mit den Erwartungen von Menschen arbeiten und sie verändern können. Sie sind alle potenziell wertvolle Instrumente für die Heilung. An diesem Punkt scheint es kaum noch Bedarf für weitere Theorien zu geben. Aber wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, lassen sich mit der -96-
Theorie der Konditionierung bestimmte Aspekte des PlaceboEffekts ebenfalls sehr gut erklären und vorhersagen.
Modell der Erwartungsreaktion Die linke Seite der Abbildung stellt die Reaktion von oben nach unten dar. Der Körper nimmt eine mögliche Bedrohung in der Umwelt wahr, und die Information wird schnell von unteren Abschnitten des Gehirns verarbeitet, indem Gehirnbahnen genutzt werden, die für automatische Reaktionen zuständig sind. Wenn der Umweltreiz eine echte Bedrohung darstellt, kann der Körper auf diese Weise spontan in einer Art und Weise reagieren, die sich in der Vergangenheit bewährt hat. Die rechte Seite der Abbildung zeigt eine Reaktion von unten nach oben. Der Körper nimmt ein neues Ereignis in der Umwelt wahr, verarbeitet die Information in den höheren Gehirnzentren und wählt aus seinem Verhaltensrepertoire bewusst eine Reaktion, die angemessen erscheint. Dieser Ablauf ermöglicht dem Körper, eine neuartige Reaktion auf eine neue Situation zu entwickeln, doch er beansprucht sehr viel mehr Zeit als die automatisierten Reaktionsabläufe von oben nach unten. In einer bedrohlichen Situation könnte dieses Reaktionsmuster unter Umständen ein Risiko darstellen.
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Der zweite Schlüssel: Konditionierung [Richard C.] Cabots Bemerkung, dass Babys nicht mit dem Wunsch auf die Welt kommen, gegen jedes Symptom ein Mittel einzunehmen, ist völlig falsch. Ein Baby braucht sehr viel orale Befriedigung für seine Symptome, und das ewige Baby in uns, das bei Krankheiten zum Vorschein kommt, braucht oft eine Befriedigung über den Mund. Diese Sehnsüchte muss man bei der wissenschaftlichen Betrachtung berücksichtigen, sonst wäre die wissenschaftliche Sichtweise unvollständig. Dr. M. B. Clyne(1953) Ein bedeutender wissenschaftlicher Forschungsansatz betrachtet den Placebo-Effekt im Zusammenhang mit der so genannten konditionierten Reaktion. Er ist insofern wichtig, als er uns zeigt, was die zeitliche Abfolge von bedeutenden Ereignissen im Leben eines Menschen mit dem Placebo-Effekt zu tun haben könnte.
Die Theorie der klassischen Konditionierung Sie erinnern sich sicher noch aus Ihrer Schulzeit an den Vater der psychologischen Theorie der Konditionierung: den russischen Wissenschaftler Iwan Pawlow (1849-1936). Pawlow beobachtete, dass es bei Hunden zu einer erhöhten Speichelproduktion kommt, wenn sie gefüttert werden. Er experimentierte mit einer Gruppe von Hunden, indem er jedes Mal, wenn er ihnen Futter gab, klingelte. Nach einer Weile stellte er fest, dass die Hunde vermehrt Speichel produzierten, wenn die Klingel einsetzte, selbst wenn kein Futter vorhanden war. -98-
Wir können dieses einfache Beispiel als Grundlage nutzen, um einige Schlüsselbegriffe der Konditionierung zu verstehen. Die Speichelproduktion war das, was man eine unkonditionierte Reaktion nennt: eine normale körperliche Reaktion auf einen bestimmten Reiz (Futter). Der Körper braucht keine Übung oder besondere Bedingungen, um eine unkonditionierte Reaktion zu zeigen. Im Gegensatz dazu war die Speichelproduktion der Hunde als Reaktion auf die Klingel eine konditionierte Reaktion: nicht natürlich und überhaupt nicht vorhersagbar. Damit dies geschah, mussten sich verschiedene Dinge bei den Hunden verändern. Vor allem musste eine Verknüpfung zwischen dem unkonditionierten Reiz (dem Futter) und dem konditionierten Reiz (der Klingel) hergestellt werden. Eine ein- oder zweimalige Verknüpfung reichte nicht aus; den Hunden musste das Futter Dutzende, vielleicht sogar Hunderte von Malen zusammen mit dem Klingelzeichen angeboten werden, bevor es zur Konditionierung kam. Ein solcher Ablauf, bei dem die beiden Reize im Geist des Versuchstiers verknüpft werden und schließlich zur Konditionierung führen, wird Verstärkungsplan genannt. Was geschieht nun, wenn die Wissenschaftler bei den Hunden weiterhin die Klingel einsetzen, ihnen aber nie gleichzeitig Futter geben? Zunächst kommt es bei den Hunden, gemäß ihrer Konditionierungserfahrung, zu einer verstärkten Speichelproduktion, aber nach einer Weile hört das auf, da die Hunde die Assoziationen zwischen dem Futter und der Klingel verlieren. Wissenschaftler bezeichnen diese Umkehr eines Verstärkungsplans als Löschung. Wenn wir nur solche Beispiele der klassischen Konditionierung untersuchen wie das von Pawlow und seinen Hunden, könnten wir annehmen, dass sie mit dem PlaceboEffekt sehr wenig zu tun hat - es sei denn, wir würden diesen auch bei Hunden oder Ratten feststellen. Wir haben bereits -99-
gesehen, dass die symbolische Bedeutung eines Ereignisses einen starken Einfluss darauf hat, ob ein Placebo-Effekt auftreten wird oder nicht, und dass die symbolische Bedeutung, egal worum es sich dabei handelt, offensichtlich bewusste Gehirnprozesse erfordert. Im Gegensatz dazu wissen wir nicht, welche Ereignisse zu einer klassischen Konditionierung führen; sie finden nach allgemeiner Einschätzung zum größten Teil auf der unbewussten Ebene statt. Wissenschaftler arbeiten heutzutage jedoch mit einem erheblich erweiterten Modell der Konditionierung, bei dem auch bewusste Prozesse als eine Art Konditionierung aufgefasst werden. Diese Auffassung gründet sich auf dem Konzept des Verstärkungs- und Löschungsplans.
Die moderne Theorie der Konditionierung Stellen Sie sich vor, Sie lernen für eine Abschlussprüfung und bemühen sich eine Woche lang, sich bestimmte Fakten einzuprägen, die wahrscheinlich in der Prüfung abgefragt werden. Nehmen wir an, zwei Monate später, lange nachdem der Kurs vorbei ist, fragt Sie jemand, ob Sie diese Fakten noch einmal darlegen können. Wahrscheinlich werden Sie sich nur ungenau daran erinnern können, obwohl Sie in der Prüfung glänzend abgeschnitten haben. Wenn wir hierauf die Theorie der Konditionierung anwenden, erkennen wir, dass das Lernen für die Prüfung eine Art Verstärkungsplan war, um den Stoff auswendig zu lernen. Als Sie mit dem Lernen aufhörten und sich anderen Dingen widmeten, durchliefen Sie eine Phase der Löschung. Die Theorie der Konditionierung würde also genau vorhersagen, was tatsächlich geschieht: zuerst Ihre Fähigkeit, die Prüfung zu bestehen; und dann das Vergessen des Stoffs danach. Aber in diesem Fall war der Verstand bewusst am Konditionierungsprozess beteiligt - kein Hund hätte die Prüfung -100-
absolvieren können, so viel ist sicher. Bereits in den fünfziger und sechziger Jahren entwickelten Wissenschaftler Theorien darüber, dass Placebo-Effekte auf Konditionierungen beruhen könnten, doch bis Anfang der achtziger Jahre gab es wenige Fakten, die diese Vorstellung untermauerten.
Dr. Aders Experimente Es waren vor allem die Studien von Dr. Robert Ader und seinen Kollegen von der University of Rochester in den achtziger Jahren, die das Interesse an der Konditionierung als mögliche Erklärung des Placebo-Effekts wieder aufkeimen ließen. Der erste Versuch wurde bei Ratten mit Zyklophosphamid durchgeführt, einem Medikament, das normalerweise bei Chemotherapien gegen Krebs eingesetzt wird. Es handelt sich um ein extrem starkes Mittel, das das Immunsystem für mehrere Tage ausschaltet. Was normalerweise von Nachteil ist, könnte beim Einsatz gegen menschliche Krankheiten wie rheumatischer Arthritis oder Lupus erythematodes von Vorteil sein, da das Immunsystem des Körpers bei diesen Erkrankungen außer Kontrolle gerät. Dr. Ader verabreichte den Ratten Zyklophosphamid und maß dann ihren Immunzellenwert. Wie er angenommen hatte, waren die Immunzellen fast bis auf Null zurückgegangen. Nun begann er, den Ratten Zyklophosphamid zusammen mit dem künstlichen Süßstoff Saccharin zu verabreichen. Dabei kombinierte er die Saccharin- und Zyklophosphamidgaben gemäß verschiedenen Zeitplänen. Er berücksichtigte außerdem, dass es keine Auswirkung auf das Immunsystem hatte, wenn die Ratten nur Saccharin erhielten. Dr. Ader prüfte daraufhin den Immunzellenwert der Ratten, wenn er nur Saccharin verabreichte. Aufgrund der Wirkung von Saccharin auf normale -101-
Laborratten müsste man eigentlich annehmen, dass keine Veränderung innerhalb des Immunsystems auftrat. Stattdessen wirkte das Saccharin jedoch ganz so wie die Pawlow'sche Klingel: Es war zu einem konditionierten Reiz geworden, da es im Versuch mit den Ratten in enger Verbindung mit dem unkonditionierten Reiz (Zyklophosphamid) stand. Die konditionierten Ratten, denen Saccharin gegeben wurde, wiesen dementsprechend eine verminderte Anzahl von Immunzellen auf. Der Wert ging zwar nicht gegen Null wie bei der Gabe von Zyklophosphamid, aber bei einigen Rattengruppen verringerte sich die Zahl erheblich. Dr. Ader stellte sogar etwas fest, was für die wissenschaftliche Theorie von noch größerer Bedeutung ist: Die Schwächung der Immunfunktion durch Saccharin war bei den verschiedenen Rattengruppen nicht gleich; sie unterschied sich je nach Verstärkungsplan. Generell ließ sich Folgendes feststellen: Je enger das Zyklophosphamid mit dem Saccharin verbunden war, desto stärker fiel der Immunzellenwert; war die Verbindung nicht so eng geknüpft, veränderte sich auch die Anzahl der Immunzellen nicht so erheblich. Grundsätzlich funktionierte das experimentelle System so, wie es funktionieren sollte, vorausgesetzt, die Theorie der Konditionierung war zuverlässig. Das ermutigte Dr. Ader, andere Experimente durchzuführen und zu untersuchen, wie die Verbindung zwischen einem effektiv wirksamen Medikament und einem Scheinmedikament im Laufe der Zeit verstärkt werden konnte und wie lange es dauerte, bis die Verbindung wieder gelöscht war, wenn man die beiden Elemente voneinander trennte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Ader ausschließlich mit Versuchstieren gearbeitet. In einem Fall konnte er seine Theorie auf den Menschen anwenden. Erinnern wir uns an den Fall von Ruth, dem Mädchen mit Lupus erythematodes, das so gut auf den Lebertran und das Rosenparfum reagierte. Hier schienen die -102-
gleichen Prinzipien, die im Labor bei den Ratten gegolten hatten, auf den Menschen übertragbar zu sein, wenn es sich auch um einen Einzelfall handelt. Dr. Karen Olness und Dr. Ader warnen davor, zu viel von Ruths Fall abzuleiten. Ohne einen Kontrollpatienten können wir nicht wissen, ob sie nicht einfach eine geringere Zyklophosphamiddosis benötigte als der Durchschnitt. Eine aktuellere Studie unterstützt die Theorie der Konditionierung in Bezug auf die menschliche Gesundheit jedoch ebenfalls.
Die Vanille-Behandlung Die venezolanische Ärztin Dr. Marianella Castes und ihre Kollegen führten während eines Zeitraums von fünfzehn Tagen einen Versuch mit zweiundvierzig Kindern durch, die unter Asthma litten. Die Konditionierungsgruppe erhielt täglich mit Hilfe eines Inhalators zwei Dosen eines typischen Asthmamittels sowie ein Vanillearoma, das als konditionierter Reiz hinzugefügt wurde. Einer anderen Gruppe von Kindern wurde das Vanillearoma und das Medikament getrennt voneinander zu verschiedenen Tageszeiten verabreicht, damit keine Konditionierung stattfand. Nach fünfzehn Tagen konnte man bei den Kindern der Konditionierungsgruppe eine Verbesserung der Lungenfunktion messen, wenn man ihnen das Vanillearoma ohne Medikament verabreichte. Im Durchschnitt verbesserte sich der Zustand bei dieser Gruppe zu einem Drittel so gut wie bei den Kindern, die das effektiv wirksame Medikament erhielten. Dr. Gastes Team machte während der Untersuchung eine sehr wichtige Beobachtung. Es gab Anzeichen dafür, dass nicht nur das Vanillearoma allein als konditionierter Reiz wirkte. Es sprach einiges dafür, dass sogar der Inhalator selbst von den Kindern mit der Wirkung des Medikaments verknüpft wurde. -103-
Das heißt, wenn die Kinder denselben Apparat benutzen würden, dieser aber mit Wasser statt mit dem Medikament gefüllt wäre, dann könnte das Wasserspray genügen, um die Lungenfunktion etwas zu verbessern. In diesem Fall wäre die Wirkung wieder zirka ein Drittel so gut wie die des »echten« Medikaments. Man kann sich leicht vorstellen, wie ein Mensch mit chronischem Asthma, der täglich seinen Inhalator benutzt, konditioniert wird. Diese Beobachtung zeigt, dass für eine Konditionierung kein Labor oder experimenteller Rahmen nötig ist.
Der Placebo-Effekt als Konditionierung Denken wir an ein häufiges Ereignis in der Kindheit: Das Kind verletzt sich am Finger, weint und verlangt sofort ein Pflaster. Was geschieht hier? Der Theorie der Konditionierung zufolge hat das Kind in der Vergangenheit öfter zwei miteinander verknüpfte Erfahrungen gemacht. Nehmen wir an, das Kind hatte sich geschnitten und blutete, die Mutter klebte ein Pflaster auf die Wunde, und die Verletzung tat nicht mehr weh. Der unkonditionierte Reiz, die Schmerzlinderung, entstand einfach als Ergebnis der natürlichen Heilprozesse des Körpers. Aber für das Kind war er fest mit dem konditionierten Reiz verknüpft: dem Pflaster. Das Kind ist nun darauf konditio niert, eine Schmerzlinderung zu erfahren, wenn ein Pflaster auf einen Körperteil geklebt wird, der schmerzt. Das könnte der erste Placebo-Effekt sein, den die meisten von uns als Kind erlebt haben! Die konditionierte Reaktion ist wahrscheinlich noch allgemeiner. Der Ablauf könnte beispielsweise folgendermaßen aussehen: 1. Wir empfinden Schmerz in einer bestimmten Körperregion. 2. Die Mutter ist liebevoll und besorgt. -104-
3. Die Schmerzen verschwinden. Das Kind - und später der erwachsene Mensch - ist stark darauf konditioniert worden, eine Schmerzlinderung oder Erleichterung auch bei anderen unangenehmen Symptomen zu erfahren, wenn jemand Fürsorge und Anteilnahme auf eine Weise zum Ausdruck bringt, die eine unbewusste Assoziation mit dem früheren Verhalten seine r Mutter hervorruft. Gehen wir noch einen Schritt weiter. Im Laufe vieler Jahre entwickelt sich eine weitere Assoziation im Geist des heranwachsenden Kindes. Wenn es unter ernsthafteren Krankheiten oder Verletzungen leidet, geben die Eltern und Ärzte ihm Medikamente. In den meisten Fällen verschwinden die Symptome schließlich. Manchmal geschieht dies aufgrund des Prinzips von Ursache und Wirkung: Das Medikament sorgt für eine Verbesserung des Zustands. Manchmal, wie im oben genannten Fall mit dem Pflaster, wirken dagegen lediglich die natürlichen Heilkräfte, und das Medikament ist eigentlich nur eine zusätzliche Dreingabe. Für die konditionierte Reaktion ist die Assoziation entscheidend, die den unkonditionierten Reiz (die Linderung von Schmerzen oder das Verschwinden bedrohlicher Symptome) mit dem konditionierten Reiz verknüpft (dem Medikament). Als Resultat hat der Mensch - der Theorie der Konditionierung zufolge - gute Chancen, dass sich sein Zustand verbessert, wenn er ein Medikament für eine bestimmte Krankheit erhält, selbst wenn es sich nur um eine Zuckerpille handelt. Nehmen wir nun an, dass ich zu einem bestimmten Zeitpunkt in meinem Leben eine ernsthafte Krankheit hatte, gegen die ich häufig schmerzhafte Spritzen bekam und von der ich mich schließlich erholte. Daraufhin glaubte ich, dass Spritzen eine stärkere Wirkung haben als Tabletten und dass Spritzen, die sehr schmerzhaft sind, besser wirken als relativ harmlose. Aufgrund dieser Art von Assoziationen ließen sich in einer Reihe von Versuchen die Intensität und Häufigkeit von Placebo-Effekten -105-
voraussagen. Daher haben clevere Ärzte und Krankenschwestern, die ein starkes Placebo verabreichen wollten, viele Jahre lang Spritzen mit sterilisiertem Wasser anstatt mit steriler Salzlösung verwendet, da einfaches Wasser stärker schmerzt, wenn es gespritzt wird. Die moderne Theorie der Konditionierung schenkt der Frage, ob frühere Erfahrungen auf einer bewussten oder unbewussten Ebene wahrgenommen werden, relativ wenig Beachtung. Es kommt lediglich darauf an, dass eine genügend starke Assoziation vorhanden ist und dass die Assoziation im Weiteren nicht durch irgendetwas gelöscht wurde. Wir assoziieren möglicherweise bewusst oder unbewusst aufgrund erlernter Erfahrung. Ein Beispiel dafür ist Albert, dessen Fall wir in der Einleitung ansprachen. Er bestand darauf, Antibiotika gegen eine einfache Erkältung zu nehmen. Nach deren Einnahme ging es ihm eindeutig besser, obwohl Erkältungen zu den Virusinfektionen zählen, gegen die Antibiotika nicht wirken. Es ist wahrscheinlich, dass Albert seinen Arzt genau zu dem Zeitpunkt überredete, als seine Erkältung ohnehin nicht mehr schlimmer werden konnte. Doch das ist gleichgültig; aufgrund der bestehenden Konditionierung (des Lerneffekts), die entstanden ist, werden Antibiotika auch in Zukunft wirksame Placebos für Albert darstellen. Dr. Robert Ader fasste seine Erkenntnisse über den PlaceboEffekt als konditionierte Reaktion 1997 zusammen und führte weitere Studien von anderen Forschern an, die seine Theorie zu bestätigen schienen: • Als Patienten, die unter Schmerzen litten, von einem Schmerzmittel auf ein Placebo umgestellt wurden, blieben sie noch lange, nachdem die »Nachwirkungsphase« des effektiv wirksamen Medikaments zu Ende gegangen war, schmerzfrei. • Einer Studie zufo lge wirken Aspirin und das entzündungshemmende Mittel Indomethacin besser als ein Placebo, wenn sie zuerst eingenommen werden; verabreicht man -106-
sie nach dem Placebo als zweites oder drittes Mittel, sind sie allerdings nicht wirksamer. Wenn man herausfinden will, wie ein Mensch auf ein Mittel reagieren wird, ist es daher wichtig zu wissen, welche »wirksamen« und »unwirksamen« Medikamente er bereits früher bekommen hat. • Eine weitere Studie bestätigt diesen Punkt: Das Placebo wirkte besser, wenn es im Anschluss an eine wirksame medikamentöse Therapie verabreicht wurde; effektiv wirksame Medikamente wirkten dagegen weniger gut, wenn sie einer unwirksamen Behandlung folgten. • Schizophrene Menschen, bei denen die Medikamente abgesetzt werden, haben schneller einen Rückfall als diejenigen, die statt ihrer üblichen Medikamente Placebos erhalten. Ähnlich war es bei Patienten, die unter Hypertonie litten und daher einen Betablocker bekamen. Sie hatten über einen längeren Zeitraum hinweg einen normalen Blutdruck, wenn ihnen statt des Betablockers ein Placebo verabreicht wurde, als wenn sie gar kein Mittel erhielten. Integrieren wir nun die Erwartungshaltung in unsere Gleichung.
Erwartung oder Konditionierung: Welche Theorie greift? Wir haben bereits gesehen, dass die Ergebnisse der PlaceboForschung mit der Theorie der Erwartung zu einem großen Teil übereinstimmen. Anhand der objektiv messbaren Daten lässt sich leider nicht feststellen, ob die Theorie der Konditionierung plausibler ist als die Theorie der Erwartung oder umgekehrt. In den meisten Fällen erzeugen die gleichen Faktoren, die die Konditionierung verstärken, auch eine bewusste Erwartung bei den Versuchsteilnehmern. Wir müssen davon ausgehen, dass die Ratten von Dr. Ader die Verringerung ihrer Immunzellen nic ht erwarteten, als ihnen nach dem Verstärkungsplan mit der -107-
kombinierten Saccharin- Zyklophosphamid-Gabe nur noch Saccharin verabreicht wurde. In dieser Hinsicht unterschieden sie sich von den menschlichen Teilnehmern bei PlaceboExperimenten. In den letzten Jahren haben einige Forscher versucht, Experimente zu entwickeln, die die Konditionierung und die Erwartungshaltung testen sollten, um einen eindeutigen Sieger ausmachen zu können. Um ideale Testbedingungen zu schaffen, mussten die Experimente in psychologischen Labors durchgeführt werden. Allerdings sollten wir hier sehr vorsichtig sein. Der größte Anteil der modernen Placebo-Forschung zeigt, dass die Situation beziehungsweise die Rahmenbedingungen den Placebo-Effekt viel stärker mitbestimmen als seit langem bestehende Persönlichkeitsmerkmale. Je wichtiger die Rahmenbedingungen sind, desto schwieriger ist es, eine experimentelle Situation in einem Labor zu schaffen, die annähernd dem entspricht, was »echten« Patienten widerfährt. Es ist üblich, Untersuchungen des Placebo-Effekts in einem psychologischen Labor durchzuführen, in dem auf künstliche Weise mittels Elektroschocks oder eines Tourniquets am Arm Schmerzen erzeugt werden. Die Versuchsteilnehmer wissen, dass sie sich in einer künstlichen Situation befinden, dass sie nicht krank sind und dass die Schmerzen vorbei sein werden, sobald das Experiment beendet ist. Wie gut lassen sich Ergebnisse eines solchen Experiments auf Patienten übertragen, die unter echten Krankheiten leiden und die nicht wissen, ob ihre Schmerzen oder andere Symptome in Zukunft erfolgreich behandelt werden können? Die psychologischen Gegebenheiten sind in beiden Situationen dermaßen unterschiedlich, dass wir möglicherweise nur wenige Anhaltspunkte dafür bekommen, wie die innere Apotheke unter anderen Rahmenbedingungen funktioniert. Aber solange wir uns dieser Tatsache bewusst sind, können wir potenziell von den Laborversuchen profitieren, da man sie -108-
so sorgfältig und exakt vorbereiten kann, wie es bei echten Krankheiten und Symptomen nie möglich wäre. Und einige dieser Laborversuche wurden auf so intelligente Weise durchgeführt, dass es sich lohnt, sie vorzustellen.
Schmerzen am Arm Eine von Dr. Nicholas Voudouris geleitete Gruppe im australischen Victoria führte mit Hilfe eines faszinierenden Experiments eine Reihe von Studien durch. Die Wissenschaftler sagten den Versuchsteilnehmern, dass sie die Eigenschaften einer neuen analgetischen Creme testen wollten. In Wirklichkeit handelte es sich in allen Fällen um ein Placebo. Die Forscher erzeugten einen Schmerz auf der Haut des Arms, indem sie elektrischen Strom zuführten (auf diese Weise konnten sie die Intensität des Schmerzreizes genau messen) und standardisierten die Stromschläge sehr sorgfältig, um ein subjektives Schmerzniveau genau reproduzieren zu können. Das Experiment war so angelegt, dass sich jeder Teilnehmer selbst kontrollierte; es war im wahrsten Sinne des Wortes eine beidseitige Studie. Den Teilnehmern wurde nur auf einen Arm Creme aufgetragen. Die Auflagen, durch die der elektrische Strom zugeführt wurde, brachte man an beiden Armen an. Die Teilnehmer sollten berichten, ob sich der Schmerz, den sie in einem Arm verspürten, von den Schmerzen im anderen Arm unterschied. Dr. Voudouris und sein Team wollten die Theorie der Erwartung und die Theorie der Konditionierung gegeneinander austesten. Daher mussten sie einige Probanden in eine »Erwartungssituation« und die anderen in eine »Konditionierungssituation« bringen. Das, was sie den Teilnehmern vor dem Experiment über die Creme erzählten, konnte als verbaler Erwartungsfaktor fungieren - daher gaben -109-
sie einigen Probanden ein Formular, in dem die Creme als starkes Analgetikum beschrieben wurde, das Schmerzen linderte, während die anderen ein Formular erhielten, das ihnen erklärte, sie seien in einer Kontrollgruppe und bekämen eine neutrale Creme, die keine Wirkung auf Schmerzen habe. Die Forscher überlegten zudem Folgendes: Wenn die Teilnehmer die Creme erhielten, würde die Konditionierungssituation von ihrer früheren Erfahrung einer Schmerzlinderung beeinflusst werden. Einigen Teilnehmern sagte man, dass sie in beiden Armen gleich starke Stromschläge bekamen, aber in Wirklichkeit führte man dem eingecremten Arm viel schwächere Stromschläge zu, so dass der Eindruck entstand, die Creme vermindere den Schmerz. Dann folgte eine Einheit, in der stärkere Stromschläge zugeführt wurden, um zu sehen, ob die Teilnehmer eine geringere oder die gleiche Schmerzempfindung im eingecremten Arm hatten, nachdem sie zuvor konditioniert worden waren. Am Ende arbeiteten die Wissenschaftler mit vier Gruppen: einer Erwartungsgruppe, einer Konditionierungsgruppe, einer Erwartungs- und Konditionierungsgruppe und einer Gruppe, in der keines von beidem gegeben war. Die Ergebnisse fielen stark zugunsten der Kond itionierung aus. Beide Konditionierungsgruppen hatten weniger Schmerzen im eingecremten Arm. Wenn man die Erwartung als zusätzliche Komponente hinzufügte, verminderte das die Schmerzen nicht mehr, als es die Konditionierung ohnehin schon tat. Und die Erwartung allein minderte die Schmerzen gar nicht. Dr. Voudouris und seine Gruppe erkannten die potenziellen Grenzen dieser Studie sehr deutlich. Sie stellten fest, dass man die Konditionierung nicht klar von der Erwartung unterscheiden konnte. Die Erfahrung der Konditionierungssituation veränderte auch die Erwartung der Teilnehmer. Es ist leicht nachvollziehbar, dass eine eigene Erfahrung stärker dazu beiträgt, eine bestimmte Erwartung zu erzeugen, als Worte auf einem Formular. Wenn man es ganz genau nimmt, zeigt die -110-
Voudouris-Studie daher weniger, dass die Konditionierung besser funktionierte als die Erwartung, sondern vielmehr, dass die tatsächliche Erfahrung einen stärkeren Placebo-Effekt hervorrief als geschriebene Worte. Guy Montgomery und Dr. Irving Kirsch von der University of Connecticut waren sich dieses Problems bewusst und wollten Dr. Voudouris' Experimente so genau wie möglich wiederholen, allerdings mit einer zusätzlichen Komponente: Sie wollten mit zwei Konditionierungsgruppen arbeiten. Bei beiden wurden schwächere Stromschläge zugeführt, nachdem die Creme aufgetragen worden war. Aber einer Gruppe sagte man nichts davon, während die andere Gruppe darüber informiert wurde, dass es geschehen würde. Die Überlegung der Forscher war die folgende: Wenn der Placebo-Effekt auf die gleiche Weise funktionierte wie bei Pawlows Hunden, die gelernt hatten, beim Ertönen der Glocke mehr Speichel zu produzieren, dann kam es nur darauf an, die Creme stets mit einer Verminderung der Schmerzen zu verbinden - was die Teilnehmer dachten, würde in dem Fall also keine Rolle spielen. Wenn es aber auf die Erwartungshaltung ankam, dann müsste die Tatsache, dass man die Teilnehmer über die Verringerung der Stromstärke informierte, eine völlig andere Erwartung erzeugen. Montgomery und Kirsch fügten zudem eine Löschungsgruppe hinzu. Sie führten dieser Gruppe stets die volle Stromstärke zu auch nach dem Auftragen der PlaceboCreme. Der Pawlow'schen Argumentation zufolge müsste es zur Löschung statt zur Verstärkung kommen, wenn der PlaceboReiz ständig in Verbindung mit einer nicht funktionierenden Schmerzlinderung auftritt, und der Placebo-Effekt müsste langsam verschwinden. Aber Montgomery und Kirsch erkannten, dass der Placebo-Effekt sich selbst verstärken müsste, wenn er so funktioniert, wie wir annehmen. Wenn man eine Placebopille einnimmt und sich danach besser fühlt, erwartet man auch in Zukunft, dass man sich besser fühlen wird, -111-
wenn man eine Placebopille nimmt. Wenn also ein positiver Placebo-Effekt auftritt und dazu führt, dass der Teilnehmer eine positive Reaktion erwartet, dann müsste der Placebo-Effekt sich der Pawlow'schen Löschung eigentlich entziehen. Da Montgomery und Kirsch die Erwartungshaltung mit der Konditionierung vergleichen wollten, fragten sie die Teilnehmer, welche Schmerzen sie mit und ohne die Placebocreme erwarteten. Die Ergebnisse dieser komplizierten Versuchsanordnungen unterstützten sehr deutlich das Erwartungsmodell. Wenn man den Teilnehmern sagte, dass man die Stromstärke reduzieren würde, führte das zu einem viel geringeren Placebo-Effekt, als wenn man es ihnen nicht sagte. Die Versuchsreihe zur Löschung führte sogar zu einer Verstärkung des Placebo-Effekts. Als Montgomery und Kirsch untersuchten, welche Erwartungen die Teilnehmer selbst geäußert hatten, stellten sie fest, dass sie fast genau mit den Placebo-Effekten übereinstimmten. Die Erwartung war also für alle beobachteten Reaktionen verantwortlich. Man kam zu folgender Schlussfolgerung: Wenn die Konditionierung überhaupt eine Rolle spielt, dann nur, indem sie die Erwartung erzeugt, dass man sich besser fühlen wird, nach der Einnahme eines Placebos.
Der Placebo-Effekt und der Zeitplan Ich glaube nicht, dass aufgrund irgendeiner Versuchsreihe schon das letzte Wort zur Erwartung und Konditionierung als Theorien für den Placebo-Effekt gesprochen ist. Die beste Sichtweise ist, dass wir von beiden etwas Wichtiges lernen können. Wir sollten uns an Fishers und Greenbergs Hinweis erinnern, dass der Placebo-Effekt in der Tat das komplexeste Verhaltensphänomen sein könnte, das je von Psychologen und Medizinern untersucht worden ist; daher sollte es uns nicht wundern, wenn manche -112-
Theorien sich im Nachhinein als unvollständig entpuppen. Bei der Konditionierung dürfen wir uns nicht nur damit beschäftigen, was wir dem Patienten heute verabreichen, sondern wir müssen auch seine Vergangenheit miteinbeziehen. Darüber hinaus müssen wir die Zeitpläne für die Behandlung im Labor oder in der Arztpraxis genau prüfen. Nach dem bisherigen Erkenntnisstand ist es ein sehr starker konditionierender Reiz, wenn man ein Medikament dreimal täglich oder drei Wochen lang verabreicht. Dagegen reicht die Gabe des gleichen Medikaments zweimal täglich oder zwei Wochen lang als Verstärkungsplan nicht aus, um eine Konditionierung zu erzielen. Bisher haben sich nur sehr wenige Studien über den PlaceboEffekt beziehungsweise über effektiv wirksame Medikamente genauer mit solchen Aspekten bezüglich des Zeitplans beschäftigt. Wenn medizinische Wissenschaftler überlegten, wie oft ein Medikament täglich genommen werden sollte, dachten sie vor allem an eines: Wenn man seine Medizin drei- oder viermal am Tag nehmen muss, neigt man dazu, sie zu vergessen oder ganz mit der Einnahme aufzuhören; wenn man sie jedoch nur ein- oder zweimal am Tag einzunehmen braucht, ist es wahrscheinlicher, dass man sich an die Vorgaben hält. Doch wie wäre es, wenn sich herausstellte, dass zwar die Bereitschaft, die Pillen zu schlucken, abnimmt, je öfter man ein Medikament einnehmen muss, der konditionierte Reiz sich aber verstärkt? Dann müssten wir die Vor- und Nachteile beider Faktoren individuell prüfen. Für manche Menschen könnte es besser sein, wenn sie täglich seltener etwas einnehmen müssten; bei anderen könnte der andere Ansatz besser funktionieren. In vielerlei Hinsicht muss es uns nicht kümmern, ob die Theorie der Erwartung oder die Theorie der Konditionierung zutrifft. Erinnern wir uns an das Modell der spontanen Reaktion und der langsamen Verarbeitung, das wir verwendet haben, um die Theorie der Erwartung zu erläutern. Wenn wir das Modell -113-
noch einmal genau betrachten, erkennen wir, dass man nur einige wenige Merkmale verändern muss, um es genauso gut für die Theorie der Konditionierung verwenden zu können. (Bei der Theorie der Erwartung interessiert uns lediglich, dass die spontanen Heilmuster im Gedächtnis gespeichert sind, während wir bei der Theorie der Konditionierung untersuchen, wie der Speicherungsprozess dieser Muster funktioniert.) Die beiden Theorien könnten den gleichen Prozess beschreiben, nur aus zwei unterschiedlichen Perspektiven. Obwohl uns sowohl die Theorie der Erwartung als auch die Theorie der Konditionierung wichtige Hinweise liefern, beschäftigen sie sich nicht mit einem weiteren zentralen Aspekt des Placebo-Effekts: der Vorstellung der symbolischen Bedeutung, die wir in unserer Definition im ersten Kapitel vorgestellt haben. Was bedeutet all das für den Menschen, der den Placebo-Effekt erfährt? Im nächsten Kapitel werde ich mich dieser Frage widmen und ein neues Modell vorschlagen, mit dessen Hilfe man den Placebo-Effekt und die innere Apotheke besser versteht.
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Der dritte Schlüssel: Bedeutung Es genügt nicht, wenn [der Arzt] die Krankengeschichte hinreichend aufnimmt oder eine angemessene körperliche Untersuchung durchführt. Wir müssen auch versuchen, die inneren Bedürfnisse und Sehnsüchte unserer Patienten zu verstehen, sonst ist jede gut gemeinte, großartig klingende Behandlungsmethode nach einer hochtrabenden Diagnose nur ein Placebo für die Befriedigung unserer eigenen Bedürfnisse. Dr. M. B. Clyne(1953) Die Theorie der Konditionierung erfordert nicht, dass ein Arzt irgendetwas über die Person, die an einem Experiment teilnimmt, weiß; man muss lediglich die verschiedenen Reize kennen, denen dieser Mensch in der Vergangenheit ausgesetzt war. Bei der Theorie der Erwartung muss man sich nur eines bestimmten Aspekts bewusst sein, der den Patienten betrifft: nämlich welche Erwartung er hinsichtlich dessen hat, was in der Zukunft geschehen wird. Keine der Theorien stellt die tiefer gehende Frage: Was bedeuten die Krankheit und ihre Behandlung für den Patienten? In diesem Kapitel werden wir sehen, warum das Thema der Bedeutung zentral für die Entschlüsselung des Geheimnisses der inneren Apotheke sein kann. Beginnen wir wiederum mit einer Anekdote.
Dr. Henry Beecher und die verwundeten Soldaten Wir haben bereits über Dr. Henry Beecher gesprochen, der 1955 den bahnbrechenden Artikel »Das mächtige Placebo« veröffentlicht hat. Möglicherweise war es der erste Artikel eines -115-
renommierten Wissenschaftlers, der Placebos als Forschungsgegenstand legitimierte. Was veranlasste Beecher, sich dafür zu interessieren, auf welche Weise Placebos Schmerzen lindern? Er erklärte, dass er aufgrund seiner Erlebnisse als Militärarzt im Zweiten Weltkrieg zum ersten Mal einen nachhaltigen Eindruck der potenziellen Macht des Geistes über den Körper erhalten hatte. Er beobachtete schwer verwundete Infanteristen, die von der Front in die Feldlazarette gebracht worden waren. Er fragte sich ausgehend von seinen Erfahrungen, die er zu Friedenszeiten gemacht hatte -, wie stark ein Zivilist unter einer ähnlich schweren Verletzung leiden würde, die er sich zum Beispiel durch einen Verkehrs- oder Arbeitsunfall zugezogen haben könnte. Es überraschte Dr. Beecher, dass die Soldaten häufig von viel weniger starken Schmerzen berichteten und sich seltener beklagten, als es Zivilisten getan hätten. Dr. Beecher erkannte, dass die Gewebsverletzungen des Soldaten und des Zivilisten zwar möglicherweise identisch waren, aber die Bedeutung der Schmerzen war in den beiden Situationen völlig verschieden. Für den Zivilisten waren die Schmerzen eine einzige Katastrophe; er war nicht in der Lage, seiner täglichen Arbeit nachzugehen, und musste sich wahrscheinlich einer größeren Operation unterziehen, auf die eine lange Genesungsphase folgen würde - in einigen Fällen gingen damit auch ein möglicher Verlust des Arbeitsplatzes und der finanzielle Ruin einher. Für die Soldaten waren die Schmerzen ein viel hoffnungsvolleres Ereignis. Es bedeutete in erster Linie, dass sie nicht getötet worden waren, und außerdem, dass sie zumindest für eine Weile der tödlichen Bedrohung an der Front entkommen waren. Dr. Beecher nahm an, dass diese unterschiedliche Bedeutung, die mit den Schmerzen verknüpft war, sich nicht nur darauf auswirkte, wie sehr sich seine Patienten beklagten, sondern auch darauf, wie stark die Schmerzen waren, die sie spürten. Er überlegte daraufhin, -116-
welche anderen psychischen Einflüsse, die die Bedeutung der Krankheitserfahrung für den Patienten veränderten, eine messbare Wirkung auf die Stärke der Schmerzen haben könnten.
Die symbolische Bedeutung und das Bedeutungsmodell Das »Körper-Geist-System« des Menschen könnte man als einen »ignoranten Apparat« bezeichnen. In jedem Moment laufen in unserem Körper Tausende von Prozessen ab. Und gleichzeitig geschehen unendlich viele Dinge in unserer Umgebung. Trotzdem ignorieren wir die meisten dieser Informationen und wählen sehr genau aus, welchen Dingen wir unsere Aufmerksamkeit schenken, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht. Dieses eingeschränkte Blickfeld ist letzten Endes ein Segen, Wir wären niemals in der Lage, die Masse der Informationen zu verstehen, die wir in jeder Sekunde automatisch verarbeiten, und würden wahrscheinlich den Verstand verlieren. Daher wählen wir sehr sorgfältig die Dinge aus, denen wir eine symbolische Bedeutung verleihen. Was veranlasst Menschen dazu, manchen Symbolen eine besondere Bedeutung zu verleihen und anderen nicht? Ein Modell ist für die Organisation der vielen verfügbaren Informationen besonders nützlich: das Bedeutungsmodell. Die Begegnung mit einem Arzt oder Therapeuten wird aller Wahrscheinlichkeit nach einen positiven Placebo-Effekt hervorrufen, wenn sie die Bedeutung, die die Krankheitserfahrung für das Individuum hat, positiv verändert. Die Bedeutung der Krankheitserfahrung verändert sich am wahrscheinlichsten dann positiv, wenn die folgenden drei Faktoren berücksichtigt werden: • Man hört dem Betroffenen zu. Er erhält eine verständliche und einleuchtende Erklärung für die Krankheit. -117-
• Der Betroffene nimmt wahr, dass der Arzt und andere Menschen in seinem Umfeld Anteilnahme und Sorge bekunden. • Der Betroffene hat ein gestärktes Gefühl, die Situation meistern und die Krankheit oder ihre Symptome besser kontrollieren zu können. Bevor wir genauer auf die drei Elemente des Bedeutungsmodells eingehen, sollten wir weitere Aspekte des Modells betrachten. Anfangs haben wir positive Ergebnisse betont, da uns die Heilung am meisten interessiert. Aber natürlich kann der Placebo-Effekt den Gesundheitszustand des Patienten auf jede nur erdenkliche Weise verändern, wie wir im Fall von Mrs. S. gesehen haben - die fälschlicherweise glaubte, ein Arzt habe verkündet, sie werde sterben, was dann auch geschah. Wenn ein Patient nach einem Be such bei einem Arzt oder Therapeuten verwirrter ist als zuvor und sich schlecht betreut und hilflos fühlt, dann müssen wir damit rechnen, dass es genauso gut zu einem Nocebo-Effekt kommen kann. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass eine unangenehme Begegnung mit einem Arzt die Gesundheit eines Menschen stark beeinflussen kann. Zudem besteht das Bedeutungsmodell zwar aus drei Elementen, doch sind diese oft eng miteinander verknüpft. Sehen wir uns eine mittlerweile klassische Studie aus den sechziger Jahren an, die Dr. Lawrence Egbert und seine Kollegen an der Harvard Medical School durchführten.
Der Placebo-Effekt ohne Placebo Dr. Egberts Team wählte siebenundneunzig Patienten aus, die aufgrund verschiedener Ursachen eine größere Operation im Bauchbereich vor sich hatten. Bei der Kontrollgruppe wurde eine Standardvisite vor der Operation durchgeführt, bei der ein Anästhesist ohne große Umschweife die Krankengeschichte -118-
aufnahm und den Patienten kurz untersuchte. Im Gegensatz dazu machten die Anästhesis ten bei der experimentellen Gruppe eine ausgedehnte Visite und erörterten ausführlich das Thema der postoperativen Schmerzen. Die Anästhesisten sandten folgende Botschaft an die experimentelle Gruppe: »Wie Sie bestimmt wissen, werden Sie nach der Operation Schmerzen haben. Ich möchte betonen, dass die Schmerzen normal und nach einer solchen Operation zu erwarten sind. Es gibt eine Reihe von Dingen, die Sie selbst tun können, um die Schmerzen zu vermindern, wie zum Beispiel, sich auf eine bestimmte Weise im Bett zu drehen oder sich die Seiten zu halten, wenn Sie husten. Ich werde Ihnen eine Liste mit diesen Maßnahmen geben. Außerdem haben die Ärzte sehr starke Schmerzmittel für Sie angeordnet. Zögern Sie nicht, darum zu bitten, wenn Sie sie brauchen. Die Krankenschwestern hier sind immer sehr bemüht und werden sehr schnell reagieren, wenn Sie ihnen sagen, dass Sie etwas gegen Ihre Schmerzen brauchen.« Die Ergebnisse des Experiments waren verblüffend. Egbert und seine Kollegen führten Buch über die Schmerzmittelmenge, die bei den beiden Gruppen verwendet wurde, und stellten fest, dass die Experimentiergruppe insgesamt nur halb so viel benötigte wie die Kontrollgruppe. Die Krankenschwestern wussten nicht, welche Patienten zu welcher Gruppe gehörten, daher konnten sie die Ausgabe der Medikamente nicht subjektiv beeinflussen. Darüber hinaus entließen die Chirurgen, die nicht einmal wussten, dass der Versuch durchgeführt wurde, die Patienten, die zur Experimentiergruppe gehörten, im Durchschnitt zwei Tage früher als die Kontrollpatienten. Da bei den Patienten sehr ähnliche Operationen durchgeführt und sie den Gruppen nach einem Zufallsprinzip zugeordnet worden waren, war es unwahrscheinlich, dass die Unterschiede deshalb zustande kamen, weil die Patienten unterschiedlich starke Schmerzen hatten. Egbert und sein Team behaupteten dagegen, -119-
dass sie einen »Placebo- Effekt ohne Placebo« hervorgerufen hatten. Die Studie ist ein Klassiker, da Egberts Gruppe zu den Ersten gehörte, die feststellten, dass der Placebo-Effekt im Prinzip nicht von der Verwendung von Scheinmedikamenten abhängt. Wenden wir nun das Bedeutungsmodell auf die Egbert-Studie an und überlegen, was passiert sein könnte. Wir müssen zugeben, dass der Effekt der Schmerzlinderung unabhängig vom Placebo-Effekt aufgetreten sein könnte. Das wäre ein »Krankenhaus- Effekt«: ein besseres gesundheitliches Ergebnis, das nicht aufgrund einer symbolischen Bedeutung erzielt wurde, sondern vielmehr, weil die Patienten genau beobachtet und von erfahrenen Ärzten behandelt wurden. Wenn die Patienten die Techniken zur Schmerzreduzierung anwendeten, die die Anästhesisten ihnen beschrieben hatten, hatten sie vielleicht aus rein körperlichen Gründen weniger Schmerzen und benötigten deshalb weniger Medikamente. Die Patienten erhielten einfach bessere Ratschläge und befolgten sie. Wenn wir annehmen, dass zumindest irgendeine PlaceboKomponente mit für die erstaunlich positiven Ergebnisse verantwortlich war, sehen wir, dass die Anästhesisten alle drei Elemente des Bedeutungsmodells kombinierten. Sie sprachen über die postoperativen Schmerzen, was Chirurgen in den sechziger Jahren häufig nicht taten. Es war üblich, die Schmerzen herunterzuspielen, indem man den Patienten mitteilte: »Es wird sich etwas wund anfühlen.« Nach der Visite des Anästhesisten konnte der Patient offen mit den Schmerzen umgehen und musste sich nicht mehr vor etwas Schlimmem fürchten, das noch nicht einmal benannt wurde (einleuchtende Erklärung). Durch ihren offensichtlichen Wunsch zu helfen und da sie mehr Zeit bei den Patienten verbrachten, drückten die Ärzte zudem ihr Mitgefühl aus (Sorge und Anteilnahme). Sie betonten, dass nicht nur sie selbst die Patienten betreuten, sondern dass man sich auch auf die -120-
Krankenschwestern verlassen konnte. Und schließlich vermittelten sie den Patienten das Gefühl, viel weniger hilflos zu sein und die Situation besser kontrollieren zu können, indem sie ihnen sagten, was sie für sich selbst tun konnten (Meistern der Situation und Kontrolle). Die Patienten wurden auch durch das Bewusstsein unterstützt, dass Hilfe zur Verfügung stand, wenn ihr eigenes Gefühl der Kontrolle nachließ. Wenn wir gefragt würden, auf welche Weise eine positive Bedeutung im Egbert-Experiment vermittelt wurde, müssten wir gestehen, dass wir es nicht wissen. Halfen die Erklärungen, weil es gute Erklärungen waren, weil der Patient sich besser betreut fühlte oder weil sie das Gefühl der eigenen Kontrolle beim Patienten stärkten? In gewisser Hinsicht war der Versuchsaufbau unvollständig, da er uns nicht erlaubt, diese Feinheiten klar voneinander zu trennen. Andererseits war es ein großartiges Experiment, da wir nun eine bewährte Anleitung haben, die Ärzte und Krankenschwestern nutzen können, um postoperative Schmerzen zu reduzieren. Bei einer echten medizinischen Behandlung gehen Erklärungen, Betreuung und Anteilnahme sowie das Gefühl des Patienten, die Situation meistern und kontrollieren zu können, Hand in Hand. Der Vorteil des Bedeutungsmodells besteht also darin, dass wir die drei Elemente miteinander verknüpfen können, um Behandlungen möglichst effektiv zu machen. Wir können sie aber auch getrennt voneinander betrachten, um in Zukunft bessere Experimente zu entwickeln.
Geschichten verleihen unserem Leben Sinn Es war nicht ganz ernst gemeint, als ich die Einheit von Körper und Geist als »ignoranten Apparat« bezeichnet habe. Wichtiger ist, dass sie ein »sinnstiftender Apparat« ist. Wie ich bereits gesagt habe, sind wir Menschen Tiere, die versuchen, aus -121-
unseren Erfahrungen Bedeutungen herauszufiltern und zu verstehen, was uns widerfährt. Wie wir uns fühlen, wie gut wir funktionieren und letztlich auch für wie erfolgreich wir unser Leben halten - ist mit der Bedeutung verknüpft, die wir unseren Erfahrungen und unserem Leben zuschreiben. Der renommierte Psychologe Jerome Bruner kam zu dem Schluss, dass wir unserem Leben in erster Linie durch das Erzählen von Geschichten einen Sinn verleihen. Geschichten haben einen Anfang und ein Ende; sie haben eine Struktur; es geschehen Dinge, die wiederum andere Dinge verursachen, und zwar auf eine Weise, die uns das Gefühl gibt, bestimmte Ereignisse vorhersehen und kontrollieren zu können. Da wir so daran gewöhnt sind, in Geschichten zu denken, vergessen wir leicht, dass es bei den unaufbereiteten Daten, die uns die Welt präsentiert, oft keinen klaren Anfang, kein Ende, keine Ursache oder Wirkung gibt. Das sind in der Regel Dinge, die wir in unserem Geist und unseren Geschichten entwickeln. Sie werden uns nicht von der Welt auf einem silbernen Tablett serviert. Wir setzen uns unser Bild von der Welt auf eine Weise zusammen, die den Dingen in unserem Leben eine Bedeutung verleiht. Die meisten Wissenschaftler gehen davon aus, dass unser Wissen über die Welt einzig und allein das Ergebnis wissenschaftlicher Experimente und Forschung ist - Geschichten haben demnach einen anekdotenhaften Charakter und können uns nie »echtes« Wissen vermitteln. Im Gegensatz dazu behauptet Bruner, dass Geschichten das grundlegendste, fundamentalste und universellste Mittel sind, das Menschen haben, um die Welt zu verstehen. Er ist zudem der Ansicht, die Wissenschaft sei selbst nichts anderes als eine einzigartige und disziplinierte Art, Geschichten zu erzählen. Vor kurzem begannen sich Forscher besonders für die Geschichten zu interessieren, die kranke Menschen über ihre Krankheiten und Heilungsprozesse erzählten. Die Ergebnisse -122-
dieses Forschungsansatzes sind vielversprechend, selbst wenn die Forschung hier noch in den Kinderschuhen steckt. Der Arzt Eric Cassell und der Soziologe Arthur Frank zeigen beispielsweise, dass wir in der Regel den Fehler machen, die Vorstellungen von Schmerz und Leiden nicht genau voneinander zu unterscheiden. Zwei Menschen können gleich starke Schmerzen haben, doch während der eine nur ein bisschen darunter leidet, leidet der andere möglicherweise ganz furchtbar. Der Unterschied besteht in der Geschichte, die jeder um den Schmerz herum aufbaut. Eine Geschichte des Leidens ist eine Geschichte der Sinnlosigkeit, der Isolation und Hoffnungslosigkeit. Selbst wenn der Patient medizinisch intensiv betreut wird, leidet er vielleicht weiterhin, solange sich die Geschichte nicht verändert. Findet der Patient einen Weg, eine andere Geschichte zu erzählen, kann sich sein Leiden erheblich verringern. Seine eigene Geschichte jemandem zu erzählen, der zuhört und einen versteht, kann ein zentraler Heilfaktor sein. Im ersten Kapitel wurde bereits ein anderer Gegenstand der medizinischen Forschung angesprochen, der etwas mit den Erklärungen zu tun haben könnte, die Patienten in Bezug auf ihre Krankheiten entwickeln oder von anderen hören. Mehrere unterschiedliche Studien haben Folgendes gezeigt: Ob sich der Zustand von Patienten nach einem Arztbesuch verbesserte, hing sehr davon ab, wie gut der Arzt den Patienten ihrer Meinung nach bei ihrem ersten Besuch zuhörte. Zwar fällt das Zuhören eher unter die Kategorie Betreuung und Anteilnahme, doch hat es auch einen wichtigen Einfluss auf die Erklärungen, die der Patient selbst für seine Krankheit findet. Wodurch wird eine Erklärung, die ein Arzt mir gibt, nun zu einer befriedigenden Erklärung? Folgendes scheint plausibel: Wenn er mir aufmerksam zuhört, werde ich viel sicherer sein, dass er mir meine Krankheit erklärt und mir nicht eine allgemein gültige Standarderklärung gibt. Wenn ich einen sympathischen -123-
und aufmerksamen Zuhörer habe, werde ich meine Geschichte außerdem ausführlicher erzählen. Durch das Erzählen erkläre ich mir selbst (wie auch dem Arzt) vielleicht besser, welches Problem ich habe. Die befriedigende Erklärung ist somit das Ergebnis einer gemeinsamen Bemühung des Arztes und des Patienten.
Fürsorge und Anteilnahme Fürsorge und Mitgefühl kann man einem Menschen auf unterschiedliche Weise entgegenbringen. Es kann von der jeweiligen Gruppe an Menschen in seiner direkten Umgebung ausgehen. (Es gibt viele emotional distanzierte Ärzte, die wahrscheinlich Placebo-Effekte dadurch erzielen, dass sie sehr warmherzige und fürsorgliche Krankenschwestern und ebensolches Empfangspersonal einstellen.) Dazu zählen natürlich auch die Familie und Freunde des Kranken. In einigen indianischen und afrikanischen Stammeskulturen bietet eine Heilzeremonie häufig dem ganzen Dorf die Gelegenheit, sich um den Kranken zu versammeln und spürbare Unterstützung und Anteilnahme zum Ausdruck zu bringen. Welche Beweise haben wir, um zu zeigen, dass Fürsorge und Anteilnahme eine heilende Wirkung haben können? Die Daten sind recht lückenhaft. Die vielleicht beeindruckendsten Studien beschäftigen sich mit der Rolle der so genannten »Doula« bei einer Geburt. Eine Doula ist eine Begleiterin ohne besondere Ausbildung, die die gebärende Frau während der Wehen und der Geburt betreut.
»Ich möchte nicht alleine sein« Die amerikanischen Kinderärzte Marshall Klaus und John -124-
Kennell interessierten sich für die Rolle der Doula, nachdem sie in einem großen Krankenhaus in Zentralamerika den Ablauf von Geburten beobachtet hatten. Sie stellten fest, dass den Frauen in der indianischen Kultur Gesellschaft geleistet wurde, wenn ihre Wehen einsetzten. Aber aus Gründen der Sterilität und Effizienz wurden im ne uen Krankenhaus die Frauen, bei denen die Wehen eingesetzt hatten, stattdessen in kleinen Zimmern untergebracht, wo sie alleine waren und die Krankenschwestern nur ab und zu nach ihnen sahen. Die Ärzte Klaus und Kennell sowie ihre Kollegen entschlossen sic h dazu, einige Frauen als Doulas auszubilden und der Hälfte der Patientinnen nach einem Zufallsprinzip zuzuteilen. Trotz der Tatsache, dass man den Doulas keine medizinischen oder pflegerischen Kenntnisse vermittelt hatte und sie die Frauen vor den Wehen noch nie gesehen hatten, wurden in der Studie deutliche Unterschiede zwischen den beiden Gruppen festgestellt. Die Doula-Patientinnen hatten kürzere und schwächere Wehen, und sowohl bei der Mutter als auch beim Kind traten nach der Geburt seltener Komplikationen auf. Das Kinderärzte-Team führte die Studie später in einem US-Krankenhaus durch, in dem die Frauen normalerweise während der Wehen alleine waren, und konnten auch dort ähnlich beeindruckende Ergebnisse feststellen, als sie begannen, mit Doulas zu arbeiten. Warum bewirkt eine Doula einen solch großen Unterschied? Die beste Antwort, die wir darauf geben können, lässt sich durch eine persönliche Anekdote vermitteln.
Der Überraschungsgast Einer mit uns befreundeten Kinderärztin, die wir hier Dr. Shaw nennen, wurde mitgeteilt, dass sie sich einer Operation unterziehen musste. Sie wurde in das Krankenhaus eingewiesen, -125-
in dem sie selbst vorwiegend arbeitete, und bekam dort ein Einzelzimmer. Als sie in der Nacht vor der Operation im Bett lag, merkte sie, dass sie schreckliche Angst hatte. Sie wusste, dass ihre Angst unbegründet war. Sie war selbst Ärztin und wusste genau über die Operation Bescheid. Es bestand kein ernsthaftes oder ungewöhnliches Risiko. Aber trotzdem hatte sie furchtbare Angst. Plötzlich klopfte es an der Tür, und eine Frau namens Dr. Sharma trat ein. Sie war aus Indien in die USA gekommen, um eine Ausbildung als Herzspezialistin für Kinder zu machen. Dr. Shaw war überrascht, als sie sah, dass Dr. Sharma einen Schlafsack und eine Decke dabei hatte. »Was machen Sie hier?«, fragte Dr. Shaw. Sie war so überrascht, dass sie jede Höflichkeit vergaß. »Ich werde heute Nacht in Ihrem Zimmer schlafen«, antwortete Dr. Sharma. »In Indien würden wir nie jemanden in der Nacht vor einer Operation alleine schlafen lassen. Keine Angst, ich werde Sie nicht stören und ganz leise sein; ich schlafe einfach hier in der Ecke.« »In diesem Moment«, berichtete Dr. Shaw später, »fühlte ich, wie eine völlig unerwartete und unglaublich kraftvolle Ruhe über mich kam. Ich hatte nicht einmal bemerkt, wie viel Spannung sich in meinem Körper aufgebaut hatte, bis ich plötzlich spürte, wie sie in einem einzigen Augenblick von mir abfiel einfach weil ein anderer Mensch bei mir war, der sich um mich kümmerte.«
Bewältigungsstrategien und das Gefühl der Kontrolle Gefühle der Kontrolle und der Sicherheit, in einer Situation Herr der Lage zu bleiben, können auf zweierlei Weise entstehen. Entweder der Patient hat das Gefühl, die Krankheit selbst -126-
kontrollieren zu können, oder er glaubt daran, dass andere starke Personen, denen er vertraut, das können, auch wenn er selbst nicht in der Lage dazu ist. Der zweite Mechanismus wirkte möglicherweise in einer Studie mit Herzinfarktpatienten in Israel. Die Patienten, deren Zustand sich schnell wieder verbesserte, waren in der Lage, die Kontrolle abzugeben und entweder ihren Ärzten oder ihrem Glauben zu vertrauen. Wir werden uns im Folgenden vorwiegend auf Beweise dafür konzentrieren, dass ein gestärktes Gefühl der persönlichen Kontrolle die Heilung vorantreiben kann.
Bewältigungsstrategien als heilende Kraft Die vielleicht wichtigsten Fakten über die heilende Kraft von Bewältigungsstrategien stammen aus einer Reihe von Studien, die von Dr. Sheldon Greenfield und Dr. Sherrie Kaplan und ihren Kollegen durchgeführt wurden. Sie begannen, Patienten mit Magen- und Darmproblemen zu beobachten, entdeckten später jedoch, dass ihre Erkenntnisse auch für Patienten mit anderen chronischen Erkrankungen Gültigkeit hatten. Greenfield und Kaplan teilten die ersten Teilnehmer nach einem Zufallsprinzip in zwei Gruppen ein. Die Patienten der »Bewältigungsgruppe« erhielten in einer Sitzung eine spezielle Anleitung, um bei ihren künftigen Klinikbesuchen einen aktiven Part zu spielen. Sie sollten lernen, mehr Fragen zu stellen, den Ärzten gegenüber entschlossener aufzutreten und Klarheit darüber zu erlangen, was sie wissen wollten. Das Forscherteam ging die Krankenakten zusammen mit den Patienten durch, um herauszufinden, worüber diese sprechen wollten. Wussten sie, zu welchem Zweck sie die Medikamente einnahmen, die ihnen verschrieben worden waren? Gab es irgendwelche Nebenwirkungen, die sie sich bisher nicht getraut -127-
hatten zu erwähnen? Wollten sie mehr Informationen über ihre Ernährung bekommen? Danach wurden konkrete Übungen mit den Patienten gemacht, damit sie lernten, beim nächsten Arztbesuch selbstbewusster aufzutreten. Die Kontrollgruppe hatte ebenfalls eine Sitzung mit dem Forscherteam, die ebenso lange dauerte. Aber hier war nicht die Bewältigung beziehungsweise der Umgang mit der Situation das Thema. Diesen Patienten vermittelte man stattdessen fachliche Informationen über ihre Krankheiten. Man ging weder die Krankenakten mit ihnen durch noch wurden praktische Übungen gemacht. Die Forscher hatten bereits zuvor Klinikbesuche aller Patienten auf Video aufgenommen; nun filmten sie den folgenden Klinikbesuch. Die Videobänder zeigten, dass die Patienten in der Bewältigungsgruppe tatsächlich große Fortschritte gemacht hatten. Im Vergleich zu ihren früheren Besuchen und auch im Vergleich zur Kontrollgruppe stellten sie nun mehr Fragen und nahmen das Gespräch verstärkt selbst in die Hand. Die Veränderung bei den Patienten der Bewältigungsgruppe beschränkte sich aber nicht nur auf die Klinikbesuche. Im folgenden Monat berichteten sie, dass sie auch viel weniger Beschwerden mit ihrem Darm hatten. Ihre Symptome waren zwar nicht verschwunden, beeinträchtigten sie aber im Alltag weitaus weniger. Die Kontrollgruppe dagegen erfuhr mehr über ihre Krankheit und wusste im Vergleich zu den anderen deutlich besser darüber Bescheid. Aber im folgenden Monat wirkte sich das in keinster Weise positiv auf ihre Gesundheit oder ihren Lebensalltag aus. Greenfield und Kaplan fragten sich, worauf sich der Unterschied zurückführen lassen könnte. War es möglich, dass eine größere Zufriedenheit und nicht das Gefühl, die Situation meistern zu können, den heilenden Einfluss ausgeübt hatte? Doch wie sich herausstellte, äußerten sich beide Gruppen ähnlich zufrieden über die Klinikbesuche und die Sitzunge n. Der -128-
einzige Unterschied bestand darin, dass die Bewältigungsgruppe, nachdem sie erlebt hatte, wie es war, eine größere Kontrolle zu haben, in Zukunft Klinikbesuche bevorzugte, bei denen sie den Ablauf aktiv beeinflussen konnte. Sie weigerte sich, in die passive Rolle zurückzufallen. Die Zufriedenheitsskala der Ärzte allerdings war bei den beiden Gruppen nicht gleich. Einige Ärzte waren deutlich unzufriedener mit den selbstbewussteren Patienten, die wahrscheinlich mehr Zeit und Energie von ihnen forderten. Greenfield, Kaplan und ihre Kollegen untersuchten als Nächstes Bluthochdruck-Patienten und Diabetiker. Wie ihre Untersuchungen zeigten, kam es zu besseren gesundheitlichen Ergebnissen, wenn man die Patienten dazu anleitete, ihre medizinische Betreuung me hr zu kontrollieren. Patienten, die so handelten, ließen sich seltener krankschreiben, waren in ihren täglichen Aktivitäten weniger durch ihre Krankheit eingeschränkt und berichteten, dass sie sich insgesamt gesünder fühlten. Auch die Messungen ihrer Körperfunktionen wie dem Blutdruck bei den Hypertonikern und dem Blutzuckerspiegel bei den Diabetikern ergab bessere Ergebnisse bei der Gruppe, die an dem Programm zur Ausübung einer größeren Kontrolle teilnahm.
Auf welche Weise heilt die Bedeutung? Wenn die Bedeutung der Krankheitserfahrung positiver wird, weil der Patient sich in einer heilenden Umgebung befindet, tritt ein Placebo-Effekt mit einer größeren Wahrscheinlichkeit auf. Wir haben auch gesehen, dass die positivere Bedeutung sich aus einem oder einer Kombination der folgenden drei Faktoren ergeben könnte: einer verständlichen Erklärung; Fürsorge und Anteilnahme; oder dem bewussten Einsatz von Bewältigungsstrategien und dem Gefühl, die Situation -129-
kontrollieren zu können. Im Weiteren werden wir die biochemischen Prozesse untersuchen, die das Rätsel lösen könnten, wie eine veränderte Bedeutung die innere Apotheke anregt. Doch zunächst sollten wir das Gegenstück zum PlaceboEffekt genauer in Augenschein nehmen: den Nocebo-Effekt.
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Der Nocebo-Effekt Eine Patientin informierte mich darüber, dass Opium bei ihr eine große Unruhe, heftige Kopfschmerzen und Erbrechen verursachte, egal in welcher Form es verabreicht wurde. Da ich es in ihrem Fall unbedingt einsetzen musste, verschrieb ich es ihr unter dem gängigen medizinischen Namen, Tinktur Opii. Am nächsten Tag stellte ich fest, dass ihre Beschreibung der Nebenwirkungen korrekt gewesen war, da sie eine sehr unruhige Nacht mit starken Kopfschmerzen und Erbrechen hinter sich hatte. Von ihrem Mann erfuhr ich, dass sie stets alle Rezepte der verschiedenen Ärzte, die sie zuvor behandelt hatten, gelesen und darüber gesprochen hatte. Nach ein paar Tagen verwendete ich das gleiche Mittel mit einem neuen Namen (Tinktur Thebacia). Unter diesem neuen Namen verabreichte ich der Patientin das Opium eine Zeit lang, ohne dass es die geringste ungewöhnliche Reaktion hervorrief oder Anzeichen von Kopfschmerzen oder Erbrechen. Im Gegenteil: Die Patientin konnte gut schlafen und ihr gesundheitlicher Zustand verbesserte sich. Sie lobte dieses Mittel zudem in höchstem Maße... Dr. John C. Gunn ( 1851) Mittlerweile kennen Sie den Begriff Nocebo-Effekt bereits (übersetzt aus dem Lateinischen: »ich werde schaden«). Der Nocebo-Effekt bezeichnet einen Zustand, in dem eine negative Erwartung mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Verschlechterung des Gesundheitszustands zur Folge hat. Wie Dr. Gunn vor vielen Jahren erkannte, genügte allein die Erwartung seiner Patientin, dass ein Mittel mit dem Namen »Tinktur Opii« Übelkeit bei ihr verursachen würde. Die Reaktion hatte nichts mit der eigentlichen chemischen -131-
Zusammensetzung der Substanz zu tun, da das gleiche Mittel keine Nebenwirkungen hervorrief, wenn es mit einem anderen Namensschildchen versehen war. Was genau ist nun der Nocebo-Effekt?
Pattys Befürchtung An einem kalten Wintermorgen erwachte Patty, eine 37jährige Mutter von drei Kindern, mit einer Scheidenblutung. Das war ungewöhnlich, denn ihre Monatsblutung hatte bereits vor zehn Tagen geendet, und sie trat immer sehr regelmäßig auf. Zwei Tage später rief Patty ihre Gynäkologin, Dr. Paluzzi, an, da die Blutung sogar noch stärker geworden war. Patty hatte eine sehr gute Beziehung zu der warmherzigen, intelligenten und freundlichen Ärztin, allerdings war es schwer, sie zu erreichen. Da die Praxis sehr groß war, konnte sie nicht immer persönlich mit Patty sprechen. Sheila Garrison, eine der Arzthelferinnen, nahm alle Anrufe entgegen und hatte damit eine gewisse Machtposition inne, die sie scheinbar genoss. Sheila begann, Patty auf nüchterne Art eine Reihe von Fragen zu stellen: Ist Ihnen schwindlig, haben Sie Atemprobleme, ist Ihnen übel, haben Sie Schweißausbrüche oder frieren Sie? Sheilas gleichgültige Art beunruhigte Patty. Nach fünf Minuten fragte sie die Arzthelferin, ob sie ihr bezüglich ihres Problems etwas Genaueres sagen könne. Sheila antwortete: »Hm, es könnte sich um etwas Belangloses wie einen unregelmäßigen Zyklus oder um etwas so Ernstes wie Krebs handeln.« Krebst Patty rang nach Luft. Als sie Anfang 20 gewesen war und gerade ihr Studium abgeschlossen hatte, war sie wegen einer Endometriose operiert worden. Die Operation war erfolgreich verlaufen, aber man hatte ihr gesagt, dass sie ein erhöhtes Risiko hatte, unfruchtbar zu werden oder an Krebs zu -132-
erkranken, und dass das Risiko sich mit zunehmendem Alter vergrößerte. Patty fühlte sich schwach und hilflos und legte den Telefonhörer auf. Negative Gedanken kreisten in ihrem Kopf. Wahrscheinlich ist es gar nichts, nur ein unregelmäßiger Zyklus. Aber was ist, wenn es doch etwas Schlimmes ist? Mein Gott, was mache ich, wenn es Krebs ist? Wie werden Paul und die Kinder darauf reagieren? Wie soll ich damit fertig werden? Je mehr sie über das Gespräch mit Sheila nachdachte, umso mehr Sorgen machte sie sich. Nach zwei Stunden hatte Dr. Paluzzi sie immer noch nicht zurückgerufen, daher entschloss sich Patty, ihren Internisten, Dr. Graubert, anzurufen, der Elemente der ganzheitlichen Medizin bei seiner Arbeit mit einbezog. Zum Glück ging Dr. Graubert gleich selbst ans Telefon, und Patty fühlte sic h sofort etwas besser. Er stellte ihr gezielte Fragen und hörte ihr geduldig zu, als sie antwortete. »Hmmm... in Ihrem Alter sind Sie bestimmt noch nicht in den Wechseljahren«, sagte er nachdenklich. »Aber Sie glauben ja nicht, wie leicht sich verschiedene Dinge auf Ihren Körper auswirken können, zum Beispiel traumatische Erlebnisse, eine belastende Arbeit oder Stress. Standen Sie in letzter Zeit unter Druck?« Patty erklärte Dr. Graubert, dass sie völlig erschöpft war, weil sie drei Kinder großziehen musste, ständig Berge von Wäsche zu bewältigen hatte, Essen kochen und zahlreiche Besorgungen machen musste und nie Zeit für sich selbst hatte. Und so gerne ihr Mann sie auch unterstützt hätte, er wusste offensichtlich nicht, wie er ihr helfen konnte. »Es klingt ganz danach, dass Sie etwas ausspannen müssen«, sagte Dr. Graubert. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch wenn die Symptome sich in den nächsten Tagen verschlimmern, sollten Sie unbedingt zu Dr. Paluzzi gehen. Aber tun Sie mir zunächst einen Gefallen. Nehmen Sie sich heute etwas Zeit für sich. Gehen Sie in den Bergen spazieren. Schalten Sie mal etwas -133-
ab. Und wenn diese Sache vorbei ist, möchte ich, dass Sie sich einen Termin bei mir geben lassen, damit wir uns etwas ausführlicher unterhalten können, o.k.?« »In Ordnung. Vielen herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben, Dr. Graubert.« Patty legte den Hörer auf und seufzte tief. Dieses Gespräch war genau das, was sie gebraucht hatte. Die beruhigende Stimme eines Menschen, dem sie vertraute und der ihr sagte, dass alles in Ordnung war. Patty machte an diesem Tag einen langen Spaziergang, und als sie am nächsten Morgen aufwachte, hatte die Blutung aufgehört. War das bloß ein Zufall? Sie wusste, dass verschiedene Faktoren zu dieser Verbesserung geführt haben konnten, aber sie wollte glauben, dass es daran lag, dass sie einen Arzt angerufen hatte, der Anteilnahme gezeigt und ihr zugehört hatte.
Medizinische Verhexung An nur einem Tag machte Patty zwei völlig verschiedene Erfahrungen. Das zweite Gespräch mit Dr. Graubert war ein gutes Beispiel für ein funktionierendes Bedeutungsmodell, bei dem Patty schließlich das Gefühl hatte, dass sie ihr stressiges Leben besser in den Griff bekommen konnte. Nach unserem Modell könnte diese Veränderung die innere Apotheke dazu veranlasst haben, die Blutung zu stoppen. Aber was wäre passiert, wenn Patty Dr. Graubert an diesem Tag nicht erreicht hätte? Wahrscheinlich wäre sie ein Opfer dessen geworden, was Dr. Andrew Weil als »medizinische Verhexung« bezeichnet ha t. Dr. Weil vergleicht diese fast immer ungewollt pessimistischen medizinischen Aussagen mit echten Verhexungen in primitiven Kulturen, bei denen eine Person tatsächlich erkranken und sterben kann, weil sie glaubt, dass ein mächtiger Zauberer sie -134-
mit einem Fluch belegt hat.
Der Nocebo-Effekt und seine Verbindung zum PlaceboEffekt Dr. Robert Hahn, der den Nocebo-Effekt intensiv untersucht hat, weist darauf hin, dass es wichtig ist, zwischen einem echten Nocebo-Effekt und den Nebenwirkungen eines Placebos zu unterscheiden. Betrachten wir einmal folgendes Beispiel: Nehmen wir an, Adrienne war eine der Teilnehmerinnen in Dr. Luparellos Asthma- Experiment, über das wir zuvor berichtet haben. Sie erhielt ein Medikament, das Asthmatikern das Atmen erleichtert, aber man sagte ihr, die Atmung würde sich verschlechtern. Infolgedessen begann sie zu keuchen und zu husten. Bernice dagegen wurde in einem anderen Experiment, bei dem ein neues Antibiotikum gegen Blasenentzündungen getestet wurde, ohne ihr Wissen der Placebo-Gruppe zugeordnet. Bernice nahm das Placebo ein, und die Symptome der Blasenentzündung verschwanden, aber gleichzeitig wurde ihr übel. Sie nahm an, dass das neue Medikament die Übelkeit verursachte - schließlich war das eine häufige Nebenwirkung von Medikamenten. Dr. Hahns Definition zufolge trat bei Adrienne ein echter Nocebo-Effekt auf. Sie erwartete, dass ihr Zustand sich verschlechtern würde, und genau das geschah. Bernice erwartete dagegen, dass ihr Zustand sich verbessern würde, und konnte insgesamt auch eine Verbesserung feststellen, aber sie litt gleichzeitig unter Nebenwirkungen. Nach Dr. Hahn kann man nur in Adriennes Fall von einem Nocebo-Effekt sprechen, da es sich hier um das genaue Gegenteil eines positiven PlaceboEffekts handelt. Betrachten wir nun noch einige weitere Beispiele, bei denen der Nocebo-Effekt eine Rolle spielt. -135-
Der Nocebo-Effekt und das Phänomen der medizinischen Massenhysterie Dr. Hahn berichtet, dass es immer wieder zu einer Art Massenhysterie in Fabriken, Büros und Schulen kommt. Lassen Sie uns einen Fall entwickeln, der klar veranschaulicht, was die meisten dieser Ereignisse gemeinsam haben: Einige Angestellte eines Büros oder einer Fabrik nehmen einen unangenehmen Geruch wahr. Das Gerücht breitet sich aus, dass aus Versehen toxische Dämpfe freigesetzt worden sind. Ein oder zwei Arbeiter werden ohnmächtig oder klagen über starke Kopfschmerzen und Übelkeit. Bald leiden auch andere Mitarbeiter unter Kopfschmerzen und Übelkeit, und einige werden bewusstlos. Es könnte sein, dass an diesem Tag 30 oder 40 Arbeiter von einem Notarzt behandelt werden müssen, weil sie alle unter den gleichen Symptomen leiden. Als man der Ursache des Geruchs später genauer auf den Grund geht, stellt sich heraus, dass es sich um etwas völlig Harmloses handelt. (Hahn berichtet von einer gut dokumentierten Massenhysterie, bei der mehr als 900 Menschen betroffen waren.) Wenn die Untersuchung der Vorfälle abgeschlossen ist, stellt sich meistens heraus, dass die ersten Mitarbeiter, bei denen die Symptome auftraten, unter gesundheitlichen Problemen leiden, die wahrscheinlich für die Beschwerden verantwortlich waren, und dass das Ganze kaum etwas mit den »Dämpfen« zu tun hatte. Die anderen Mitarbeiter, die beobachteten, dass ihre Kollegen krank wurden, und gleichzeitig den eigenartigen Geruch wahrnahmen, sind Teil einer »Kettenreaktion negativer Erwartungen«. Wenn bei immer mehr Menschen Symptome auftreten, verstärkt sich natürlich auch die Überzeugung, dass irgend etwas Schlimmes im Gange ist, was wiederum zur Folge -136-
hat, dass wahrscheinlich bei weiteren Mitarbeitern Beschwerden auftreten werden. Lassen Sie uns nun darüber nachdenken, wie man den Nocebo-Effekt bewerten sollte.
Verdient der Nocebo-Effekt einen eigenen Namen? Wenn unser Bedeutungsmodell richtig ist, dann müssen wir davon ausgehen, dass mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein Placebo-Effekt auftritt, wenn ein Patient so behandelt wird wie Patty von Dr. Graubert. Wenn ein Arzt oder eine Krankenschwester einem Patienten nicht gut zuhört, ihm seinen Zustand nicht ausreichend erklärt, ihm nicht das Gefühl vermittelt, dass er gut betreut wird und dass er die Situation kontrolliert, dann müssen wir davon ausgehen, dass ein NoceboEffekt auftreten kann. Das bedeutet in unserem komplexen und häufig allzu unpersönlichen Gesundheitssystem, dass NoceboEffekte ziemlich oft auftreten müssen. Müssen wir »Nocebos« überhaupt als ein eigenes Phänomen betrachten? Die Antwort hängt von der zukünftigen Forschung ab, die möglicherweise die körperlichen Mechanismen aufzeigen wird, welche den Nocebo-Effekt hervorrufen. Dr. Hahn führt den Nocebo-Effekt auf den gleichen Mechanismus zurück, auf den auch der Placebo-Effekt meistens zurückgeführt wird: die Erwartungen der betreffenden Person. Im nächsten Kapitel werden wir die verschiedenen chemischen Bahnen untersuchen, durch die der Placebo-Effekt möglicherweise hervorgerufen wird. Falls künftige Untersuchungen zeigen sollten, dass die chemischen Bahnen, die für den Nocebo-Effekt verantwortlich sind, sich grundsätzlich von denen unterscheiden, die positive Placebo-Effekte bewirken, dann wäre es völlig gerechtfertigt, zwei verschiedene Begriffe für die beiden unterschiedlichen Reaktionen zu verwenden. Ich vermute jedoch, dass zum größten Teil dieselben Bahnen -137-
beteiligt sind, da, wie wir im Folgenden sehen werden, jede Bahn in der Lage ist, entweder sehr viel oder zu wenig von den Heilsubstanzen zu produzieren, für die sie verantwortlich ist. Ich würde wetten, dass in Pattys Fall die gleiche chemische Bahn die Stressbahn nämlich - an ihren Reaktionen auf beide Telefonate beteiligt war: Die Aktivität verstärkte sich, nachdem sie mit Sheila Garrison gesprochen hatte, und nahm nach dem Gespräch mit Dr. Graubert wieder ab. Wenn das zutrifft, würde ich dafür plädieren, bei einem einzigen Begriff zu bleiben, dem Placebo-Effekt. So wie wir den Placebo-Effekt definiert haben, bezeichnet er das, was geschieht, wenn eine Veränderung im Körper infolge einer veränderten symbolischen Bedeutung auftritt. Diese Definition lässt sowohl eine positive als auch eine negative Veränderung zu. In den folgenden Kapiteln ist es kaum notwendig, auf das Prinzip von Nocebos zurückzukommen, vor allem weil wir uns später darauf konzentrieren werden, was Sie selbst tun können, um Ihre eigene Heilung zu fördern. Daher interessieren uns die positiven Veränderungen mehr als die negativen. Der NoceboEffekt ist allerdings trotzdem sehr wichtig, da er weitere wissenschaftliche Beweise dafür liefert, dass die Erwartung körperlicher Veränderungen diese auch tatsächlich hervorrufen kann.
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Der Placebo-Effekt und die Biochemie des Körpers Niemand hat bisher ein Experiment entwickelt, um zu zeigen, welche Wirkung es auf Ratten hat, mein Leben zu leben. Ashleigh Brilliant Wir haben gesehen, dass der Placebo-Effekt durch uns ere Erwartungen sowie durch unsere bisherigen Erfahrungen hervorgerufen werden kann. Wir haben zudem beobachtet, dass diese Erwartungen und Erinnerungen unseren Geist durch die Bedeutung beeinflussen, die wir der Krankheitserfahrung beimessen. In erster Linie verleihen wir Krankheiten eine Bedeutung, indem wir uns selbst und anderen Geschichten darüber erzählen. Nun müssen wir das wissenschaftliche Bild des Placebo-Effekts vervollständigen, indem wir seine geistigen und körperlichen Abläufe betrachten. Wir haben bereits kurz über die Vorstellung gesprochen, dass es biochemische »Bahnen« im Körper gibt. Dieser wissenschaftliche Begriff wird häufig verwendet, um eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu beschreiben, die im Körper ablaufen. Wir werden uns hier auf solche Bahnen konzentrieren, die mit einer Bedeutungsveränderung der Krankheitserfahrung beginnen und mit einer Veränderung des Befindens oder der Körperfunktionen enden. Die biochemischen Substanzen, die aufgrund der Aktivierung dieser Bahnen produziert werden, sind die wissenschaftliche Entsprechung dessen, was wir als »innere Apotheke« bezeichnet haben. Wenn es eine einzelne Bahn geben sollte, die für den PlaceboEffekt verantwortlich ist, muss die Wissenschaft sie erst noch entdecken. Was wir über die verschiedenen Varianten des -139-
Effekts wissen, lässt die Vorstellung am plausibelsten erscheinen, dass der Placebo-Effekt aufgrund unterschiedlicher Bahnen eintreten kann. Es scheint so, als lagerten unsere inneren Apotheken eine ganze Reihe von verschiedenen biochemischen Substanzen in ihren Regalen. In diesem Kapitel werden wir uns mit drei bekannten Geist-Körper-Bahnen beschäftigen und ihre einzigartigen Merkmale herausarbeiten. Ebendiese Merkmale werden uns zu einer wissenschaftlichen Erklärung führen, wie der Placebo-Effekt die innere Apotheke aktivieren könnte. Beginnen wir unsere Darstellung der biochemischen Bahnen, indem wir die Theorien des klassischen Reduktionismus mit denen der modernen Neurowissenschaften vergleichen.
Das Bewusstsein und chemische Gehirnprozesse Der Reduktionismus geht davon aus, dass wir kein Objekt wirklich begreifen können, ohne das messbare Verhalten der kleineren Elemente zu verstehen, aus denen es sich zusammensetzt - idealerweise der Moleküle und Atome. Obwohl der reduktionistische Ansatz schon lange in verschiedenen Bereichen der Wissenschaft und Medizin gerne angewendet wird, hat sich die Psychiatrie in der letzten Zeit zu einem der fruchtbarsten Gebiete dieses Ansatzes entwickelt. Unter der Rubrik »biologische Psychiatrie« beschäftigen sich viele Forscher nicht mehr mit dem Bewusstsein und seinen Strukturen, sondern konzentrieren sich stattdessen auf die chemischen Substanzen im Gehirn. Die Zeit scheint wirklich reif für die biologische Psychiatrie zu sein: Viele Jahre lang hatten psychoanalytisch arbeitende Psychiater, die Gesprächstherapien bei Menschen mit ernsthaften psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, Depressionen und manisch-depressiven Zuständen anwendeten, nur geringen Erfolg. In den fünfziger Jahren wurden neue -140-
Medikamente entwickelt, mit denen diese psychischen Erkrankungen behandelt werden konnten, und ihre Wirkung war im Vergleich zu den früheren Gesprächstherapien deutlich besser und zufriedenstellender. Daher kann man es den Psychiatern vielleicht nachsehen, wenn sie zu folgendem Schluss kamen: »Wir sollten vergessen, was der Patient denkt und was seine früheren Erlebnisse für ihn bedeuten; wir sollten einfach herausfinden, bei welchen Molekülen und in welchem Gehirnabschnitt Störungen auftreten, und nach einem Weg suchen, das zu beheben.« Aufgrund der Beliebtheit der biologischen Psychiatrie und der Tatsache, dass einige Erfolgsgeschichten (zum Beispiel die des Medikaments Fluctin, das bei Depressionen angewendet wird) durch die Medien verbreitet und begeistert aufgenommen wurden, ist es besonders wichtig zu betonen, dass die besten Erkenntnisse der modernen Neurowissenschaften in eine andere Richtung gehen. Einige Kritiker der biologisch-psychiatrischen Behandlung weisen darüber hinaus darauf hin, dass viele moderne psychiatrische Medikamente sich in der Wirksamkeit nicht von Placebos unterscheiden, wenn man sie gründlich untersucht. Diese andere Richtung der modernen Neurowissenschaften interessiert sich zwar ebenfalls für so genannte Gehirnscans, eine präzise anatomische Ortung von Gehirnprozessen, sowie für molekulare Reaktionen gleichzeitig jedoch werden durchaus auch Aspekte wie das Bewusstsein und die Bedeutung von Geschehnissen für den Patienten miteinbezogen. Für den Reduktionisten ist der Pla cebo-Effekt immer schon ein Geheimnis gewesen und wird es auch bleiben. Milchzucker (Lactose), der in Form einer Pille eingenommen wird, hat unseres Wissens keine messbare biochemische Wirkung auf das Gehirn oder den restlichen Körper. Warum sollte er also Schmerzen lindern? Andererseits wäre es den modernen Neurowissenschaften zufolge ziemlich überraschend, wenn der -141-
Placebo-Effekt nicht auftreten würde. Die folgenden vier Schritte beschreiben seinen Ablauf im Körper, der durch eine veränderte Denkweise des Patienten ausgelöst wird: • Wenn der Patient anders denkt, müssen sich auch die chemischen Prozesse im Gehirn verändern, da das Bewusstsein und die chemischen Gehirnprozesse miteinander verknüpft sind. • Wenn die chemischen Prozesse des Gehirns sich verändern, könnten sich auch andere biochemische Bahnen verändern, die das Gehirn mit dem restlichen Körper verbinden. • Wenn sich diese Gehirn-Körper-Bahnen verändern, dann könnten sich auch Körpergewebe verändern, die von diesen Bahnen beeinflusst werden. • Wenn sich Körpergewebe aufgrund dieser biochemischen Einflüsse verändern, dann könnte es zur Heilung kommen. Die folgende Frage bleibt trotzdem bestehen: Können wir irgendwelche biochemischen Bahnen identifizieren? Wie ich oben erwähnt habe, scheint es drei vielversprechende Bahnen zu geben. Ich sage, es »scheint so zu sein«, da es bisher nur wenige Beweise dafür gibt, dass die Bahnen sich verändern, wenn die Patienten Placebos einnehmen oder der Placebo-Effekt auf eine andere Weise ausgelöst wird. Leider haben die meisten Forscher, deren Arbeiten in diesem Buch vorgestellt werden, diese biochemischen Bahnen nicht untersucht. Daher haben wir so gut wie keine Daten, die die Bedeutung oder den symbolischen Gehalt direkt mit biochemischen Prozessen in Verbindung bringen. Stattdessen gibt es Anzeichen dafür, dass diese drei biochemischen Pfade leicht durch andere psychische Prozesse beeinflusst werden.
Die Endorphinbahnen Wenn man eine Liste jener Medikamente, die häufig von Ärzten -142-
um 1800 verwendet wurden, mit einer Liste der Medikamente, die heute verabreicht werden, vergleicht, wird nur eine Handvoll davon zugleich in beiden Verzeichnissen auftauchen - dazu gehören die Opiate zur Schmerzlinderung. Trotz jahrzehntelanger Forschung hat die Medizin noch kein Mittel gefunden, das bei starken Schmerzen besser wirkt als Morphium und andere eng verwandte Opiumderivate. Seit kurzem verstehen die Wissenschaftler besser, welche Wirkung Mittel wie die Opiumderivate auf die Körperzellen haben. Die äußere Oberfläche oder der Mantel der Zelle, die Zellmembran, hat eine sehr komplexe chemische Struktur, die spezielle Bereiche enthält, welche »Rezeptoren« genannt werden. Die Struktur der Moleküle, aus denen der Rezeptorenbereich besteht, passt zu den Strukturen anderer Moleküle, die in der Zellumgebung auftauchen könnten. Manchmal ist es hilfreich, wenn man sich die Rezeptoren als eine Art »Parkplatz« für Moleküle auf der Zelloberfläche vorstellt, wobei jeder Rezeptor nur einem ganz bestimmten »Molekülauto« erlaubt, dort zu parken. Wenn ein Molekül in die Umgebung des »richtigen« Rezeptors gelangt, verbinden sie sich wie zwei passende Puzzleteile. Nur bestimmte Zellarten haben Rezeptoren für bestimmte Moleküle. Das erklärt, warum eine chemische Substanz - ein Medikament, ein Hormon oder ein anderer körpereigener chemischer Botenstoff - eine starke Wirkung auf bestimmte Zellen haben kann, während andere Zellenarten überhaupt nicht davon beeinflusst werden. Die Bindung des äußeren Moleküls an den Rezeptor hat die Produktion neuer Substanzen durch die zelleigene chemische Fabrik zur Folge, die wiederum die Zellfunktionen verändern. Das Molekül, das an der Zelle andockt, kann also das Verhalten der Zelle verändern, ohne in sie einzudringen. In der Regel lässt der Zellrezeptor das äußere Molekül nach einer gewissen Zeit wieder los, so dass es davontreiben kann. Durch diese -143-
Abkoppelung wird die innere chemische Fabrik wieder stillgelegt, und die Zelle arbeitet in derselben Weise weiter wie vor der Verknüpfung mit dem Botenmolekül. Die Rezeptoren auf den Membranen verschiedener Zellen erlauben dem Körper, all seine Gewebe- und Organfunktionen zu steuern. Der Körper hat eine breite Palette von Botenmolekülen, die unterwegs sind, um die Prozesse in den verschiedenen Zellen in Gang zu bringen oder abzuschalten. Und durch die genau aufeinander abgestimmten Rezeptoren und Moleküle ist sichergestellt, dass die Nachricht nur von den richtigen Zellen empfangen wird. Wir wissen mittlerweile, dass viele Medikamente, die von Ärzten verschrieben werden, deshalb wirken, weil sie sich an Zellmembran-Rezeptoren binden können. Häufig geschieht dies, wenn das Molekül des Medikaments in seiner Form den natürlichen Botenmolekülen des Körpers ähnelt, die für diese Zellen bestimmt sind. Auf diese Weise kann es sich an die Zellmembran heften. Wie wir sehen werden, ist das bei Medikamenten wie Morphium der Fall. Zunächst fanden Wissenschaftler heraus, dass menschliche Gehirnzellen über Rezeptoren verfügen, die dafür vorgesehen zu sein scheinen, auf Morphiummoleküle und andere opiumähnliche Verbindungen zu reagieren. Diese Rezeptoren halfen zu erklären, warum Opiate so gut bei der Kontrolle von Schmerzen funktionieren. Im Folgenden gelang es der Forschung herauszufinden, warum diese Rezeptoren im Körper vorhanden sind : Der Körper erzeugt seine eigenen Botenmoleküle, die dem Morphium in ihrer chemischen Struktur sehr ähnlich sind und sich an die gleichen Zellrezeptoren binden. Diese »körpereigenen Morphiumsubstanzen« wurden Endorphine genannt. Spätere Studien ergaben, dass es eine Verbindung zwischen den Endorphinen im Gehirngewebe und der Schmerzlinderung gibt. Zusätzliche Endorphine können sogar Euphorie erzeugen, -144-
ein Hochgefühl, ähnlich wie bei der Verwendung von süchtig machenden Drogen. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass Läufer und Gewichtheber ein Endorphin-High erleben, was erklären könnte, warum das Laufen oder andere Formen körperlichen Trainings zu einer Sucht werden können. Forscher waren darüber hinaus in der Lage, bestimmte Gehirnbereiche zu identifizieren, in denen Endorphine produziert werden. Die Bereiche der periaquäduktalen grauen Substanz und der rostroventralen Medulla sind hierbei besonders wichtig. Eine elektrische Stimulation der periaquäduktalen grauen Substanz einer Ratte hatte zur Folge, dass die Zellen dort mehr Endorphin absonderten. Die Forscher konnten daraufhin eine größere Operation am Bauch der Ratte durchführen, bei der diese völlig wach war und keinerlei Anzeichen von Schmerzen zeigte. Bei der Erforschung von Endorphinen im menschlichen Körper ergab sich allerdings ein praktisches Problem, das die medizinischen Wissenschaftler die »Blut-Gehirn-Barriere« nannten. Die meisten Organe unseres Körpers stehen in einer engen Verbindung mit der Blutbahn. So kann man beispielsweise erkenne n, dass ein Patient einen Herzinfarkt hatte, wenn man ihm Blut abnimmt und die Blutprobe analysiert. Bei einer Schädigung des Herzmuskels werden bestimmte chemische Substanzen freigesetzt, die direkt in die Blutbahn gelangen, durch den gesamten Blutkreisla uf fließen und problemlos in jeder Blutprobe ermittelt werden können. Das Gehirn ist - wahrscheinlich aus berechtigten Sicherheitsgründen geschützter, so dass Moleküle, die sich im Gehirn befinden, viel schwerer in die Blutversorgung des Körpers gelangen. Noch komplizierter ist es für chemische Substanzen, von der Blutbahn ins Gehirngewebe zu kommen und es zu beeinflussen. Da Endorphine ihre Funktion vor allem im Gehirngewebe ausüben, ist es schwierig, den Endorphingehalt in Blutproben zu messen, um verlässliche Schätzungen darüber zu erhalten, wieviel Endorphin ausgeschüttet wird. Bei Experimenten an Ratten kann -145-
man den Endorphingehalt ermitteln, indem man eine Gehirngewebeprobe entnimmt. Das lässt sich auf den Menschen natürlich nicht übertragen, daher mussten viele Studien über Endorphine mit indirekten Messungen arbeiten. Dies geschah erstmals in einer Studie, die von Dr. Jon Levine, Dr. Newton Gordon und Dr. Howard Fields von der University of California vor etwa zwanzig Jahren durchgeführt wurde. Sie verwendeten dazu das Medikament Naloxon, ein Gegenmittel für Morphium, das seine Wirkungen blockiert. Da es dem Morphium-Puzzlestück ähnlich genug ist, kann Naloxon sich sehr fest an die Morphium- Zellrezeptoren binden; aber es unterscheidet sich doch so sehr vom Morphium, dass es keine Veränderung der inneren chemischen Zellfunktionen bewirkt. Das Naloxonmolekül veranlasst die Zelle nicht dazu, Substanzen zur Schmerzlinderung zu produzieren; aber da es den Morphiumparkplatz besetzt, hindert Naloxon das Morphium daran, seine Arbeit zu tun. Das ist sehr nützlich, wenn die Gefahr besteht, dass ein Patient an einer Überdosis Morphium stirbt. Eine Naloxonspritze lindert die Symptome einer Überdosis innerhalb von Minuten. In einer Reihe von Experimenten hatte sich Naloxon früher zudem als starker Blocker der Endorphinwirkungen erwiesen, daher beschloss Levines Team, selbst einen Test durchzuführen. Die Wissenschaftler stellten eine Patientengruppe zusammen, die Schmerzen aufgrund der Entfernung eines Weisheitszahns hatten, und gaben ihnen Placebospritzen. Einige Teilnehmer erhielten eine Naloxonspritze, die anderen nicht. Levine und seine Kollegen stellten fest, dass eine Reihe der Teilnehmer wie erwartet von einer Linderung der Schmerzen berichtete, nachdem sie die Placebospritze bekommen hatten; die Probanden, die die Naloxonspritze erhalten hatten, berichteten dagegen, dass ihre Schmerzen eher wieder zugenommen hätten. Aufgrund dieser Daten schien es so, als würden mögliche positive Effekte des Placebos durch das Naloxon wieder -146-
aufgehoben. Nach Meinung von Levine, Gordon und Fields war dieses Indiz ein Beweis dafür, dass die PlaceboSchmerzlinderung durch die Ausschüttung von Endorphinen im Gehirn verursacht worden sein musste. Es wurde ein großer Wirbel um Levines Bericht gemacht, aber dieser war nur zum Teil gerechtfertigt. Die Ergebnisse zeigten erstmals eine Verbindung zwischen der Verwendung eines Placebos und einer biochemischen Bahn innerhalb des Körpers auf, welche zumindest theoretisch erklären konnte, wie ein Placebo seine Wirkung erzielte. Aber die Bedeutung von Levines Ergebnissen wurde überbewertet. Viele Berichte erklärten: »Wir verstehen endlich, wie Placebos funktionieren.« Wir haben jedoch gesehen, dass Placebos sehr viel mehr bewirken können als nur Schmerzen zu lindern. Sie können den Blutdruck senken, den Blutzuckerspiegel bei Diabetes reduzieren und vielleicht sogar manchmal maligne Tumoren schrumpfen lassen, um nur einige Beispiele zu nennen. Da es heute keinen Grund dafür gibt zu glauben, dass Endorphine bei all diesen Prozessen beteiligt sind, kann die Verbindung von Endorphinen und Placebos bei der Schmerzlinderung kaum eine Erklärung für alle Placebo- Effekte sein. Es gibt noch eine weitere Einschränkung bei der Studie, die von vielen medizinischen Kommentatoren nicht beachtet wurde. Zu wissen, dass Endorphine an der Placebo-Schmerzlinderung beteiligt sind, erklärt noch nicht, warum einige Patienten, die Placebos erhielten, offensichtlich Endorphine ausschütteten, andere dagegen nicht. Um diesen Unterschied zu verstehen, müssen wir die Bedeutung kennen, die jeder Einzelne mit der Schmerzerfahrung und der Einnahme des Placebos verbindet. Wenn wir den Endorphingehalt der einzelnen Testpersonen messen könnten und diese Daten mit den Daten über die Bedeutung, die sie der Erfahrung beimessen, verknüpfen würden, dann hätten wir tatsächlich eine sehr fundierte Erklärung dafür, wie Placebos funktionieren, zumindest in -147-
Bezug auf die Schmerzlinderung. Solange wir aber nur die Endorphine betrachten, nicht aber die Bedeutung oder den symbolischen Gehalt, kennen wir nur die eine Hälfte der Geschichte - eine interessante und spannende Hälfte vielleicht, aber trotzdem nur die Hälfte. Spätere Untersuchungen von Levines Team und anderen ergaben, dass das Ganze sogar noch komplizierter war. Zum einen konnten weitere Studien kein völlig einheitliches Muster der Schmerzzunahme beziehungsweise der Schmerzlinderung aufzeigen, wenn wie in dem beschriebenen Experiment Naloxon nach einem Placebo verabreicht wurde. Und zum anderen deuteten zusätzliche Untersuchungen darauf hin, dass das Naloxon selbst eine weit kompliziertere Substanz war, als man ursprünglich angenommen hatte. Es konnte die Schmerzen verschlimmern, ohne die Funktion der Endorphine zu beeinflussen. Diese Beobachtung ließ Zweifel an der Annahme aufkommen, dass wir aus der Reaktion auf Naloxon schließen können, wie Endorphine funktionieren. Neue Erkenntnisse über die verschiedenen Endorphinbahnen oder -systeme lieferten schließlich wichtige Anhaltspunkte. Wissenschaftler glauben mittlerweile, dass es mindestens fünf verschiedene Endorphinarten und drei verschiedene Endorphinrezeptoren gibt. Einige der Endorphinrezeptoren scheinen sich im Gehirn zu befinden. Ihr Vorhandensein erklärt, warum und auf welche Weise Schmerzen gelindert werden, wenn man Medikamente verwendet, die vom Gehirn aufgenommen werden. Andere Rezeptoren finden sich dagegen offensichtlich in Teilen des Rückenmarks, und ihre Entdeckung liefert Hinweise darüber, wie Rückenmarksund Epiduralanästhesien funktionieren könnten. Je genauer man das Endorphinsystem untersucht, umso mehr erkennt man, wie extrem kompliziert es ist. Einfach zu behaupten, Placebos linderten Schmerzen, indem sie die Endorphinbahnen aktivieren, ist als wissenschaftliche Erklärung -148-
unzureichend. Vielleicht erfahren wir irgendwann, dass bestimmte Endorphinmoleküle, die sich an bestimmte Rezeptoren anlagern, an einigen Placebo-Effekten beteiligt sind, während bei anderen Placebo-Effekten andere Endorphinmoleküle beteiligt sind, die an anderen Stellen wirksam werden.
Zu den Gehirnzellen, die Endorphine ausschütten, gehören diejenigen in der periaquäduktalen grauen Substanz und der rostroventralen Medulla in der Nähe des Raphe-Kerns. Die periaquäduktale graue Substanz liegt in einem Gehirnbereich, der verknüpft ist mit anderen Gehirnzentren, die für die Emotionen und Gedanken verantwortlich sind. Einige Nervenzellen bilden eine direkte Brücke zwischen der periaquäduktalen grauen Substanz und dem Raphe-Kern. Die Zellen beginnen beim Raphe-Kern, laufen am Rückenmark entlang und stellen eine Verbindung zu einem bestimmten Teil des Rückenmarks her, der ebenfalls in der Lage ist, Endorphine auszuschütten. Die Nervenbahnen werden durch die Endorphinausschüttung aktiviert; -149-
dadurch werden eingehende Schmerzsignale, die sich dem Rückenmark nähern (das die Schmerzbotschaften normalerweise vom restlichen Körper zum Gehirn weiterleitet) reduziert oder blockiert.
Erinnern wir uns an das Experiment mit den beiden Armen und der Creme, das von Dr. Nicholas Voudouris entwickelt und später von Guy Montgomery und Dr. Irving Kirsch weitergeführt wurde. Wie Montgomery und Kirsch schlussfolgerten, deutet alles, was wir über Endorphine wissen, darauf hin, dass sie zu den Phänomenen zählen, die im ganzen Körper wirken, nicht lokal. Wenn Placebos also die Ausschüttung von Endorphinen auslösen, müsste das eine ebenso große Wirkung auf den rechten Arm wie auf den linken Arm beziehungsweise auch auf jeden anderen Teil des Körpers haben. Die beiden Wissenschaftler kamen zu dem Ergebnis, dass Placebos in ihrem Experiment die Schmerzen reduziert hatten, dies aber nicht durch die Ausschüttung von Endorphinen getan haben konnten. Was auch immer mit ihren Teilnehmern geschehen war, begrenzte sich mehr oder weniger auf den Bereich, in dem die Placebocreme aufgetragen worden war. Es gibt noch eine weitere Möglichkeit: Während einige der Endorphinrezeptoren des Körpers sich im Gehirn befinden, sind andere im Rückenmark angesiedelt. Wenn wir eine Schmerzlinderung im linken Arm erwarten, nicht aber im rechten, wird möglicherweise die linke Seite des Rückenmarks zur Ausschüttung von Endorphinen angeregt, die rechte Seite dagegen nicht. Das unterstützt die These, dass es sich beim Endorphinsystem um eine so genannte »absteigende Nervenbahn« handelt. Das bedeutet, das Endorphinsystem beginnt im Gehirn, läuft dann durch das Rückenmark abwärts und schließlich durch die peripheren Nerven, um sich auf einen bestimmten Punkt an der Oberfläche des Körpers auszuwirken. Wie Tierexperimente gezeigt haben, können die Gehirnendorphine Schmerzen möglicherweise nicht lindern, -150-
wenn man einige der Nervenbahnen im Rückenmark durchtrennt. Ein Teil der schmerzlindernden Endorphinwirkung ist wahrscheinlich im Gehirn angesiedelt und wirkt sich auf den ganzen Körper aus, während ein anderer Teil der Endorphinbahnen allein lokal wirkt. Die beste Antwort, die wir heute auf die Placebo-EndorphinFrage geben können, ist die folgende: Es ist wahrscheinlich, dass zumindest ein Teil der Placebo-Schmerzlinderung und vielleicht auch die Wirkungen, die Placebos auf Angst und Atemnot haben, deshalb auftreten, weil Placebos die Ausschüttung von Endorphinen stimulieren. Aber welche Endorphinbahn genau daran beteiligt ist und an welchem Ort im Gehirn oder Nervensystem das geschieht, bleibt ein Geheimnis. Betrachten wir nun einen zweiten Faktor, der eine enorme Wirkung darauf hat, wie wir uns körperlich und emotional fühlen.
Die Stress-Entspannungs-Reaktion In der medizinischen Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts ist die Stressbahn das älteste Beispiel für die Verbindung von biochemischen Prozessen und dem menschlichen Geist. Allerdings gibt es, wenn überhaupt, nur wenige Studien, die sie direkt mit dem Placebo-Effekt in Verbindung bringen. Keine Untersuchung von biochemischen Bahnen als Vermittler zwischen Geist und Körper kann die Stressbahn unbeachtet lassen, da es sich über viele Jahrzehnte gezeigt hat, dass die biochemische Stressbahn äußerst sensibel auf psychische Veränderungen reagiert, und da die biochemische Stressbahn an vielen Krankheitsprozessen beteiligt ist. Dazu zählen: • Bluthochdruck • Arterienverhärtung -151-
• Herzinfarkte • Osteoporose • Gedächtnisverlust • Beschleunigte Alterung • Magengeschwüre • Fibromyalgie (eine chronische Schmerzerkrankung) • Chronisches Erschöpfungssyndrom • Ekzeme • Infektionsanfälligkeit Sollte es in der Zukunft jemals ein Placebo-Effekt-Institut geben, das gründliche Untersuchungen zu allen Facetten des Phänomens durchführt, müsste es auch die Stressbahn erforschen, da sie wahrscheinlich eine entscheidende Rolle in Bezug auf die innere Apotheke spielt. Offensichtlich wird die Stressbahn durch den Stress, den der Patient erlebt, aktiviert oder deaktiviert. Wir sollten uns auf eine grundlegende Definition von Stress einigen, da wir ihn heute differenzierter betrachten als die Pioniere unter den Stressforschern. Stress kann durch ganz unterschiedliche Dinge entstehen, zum Beispiel durch die Art und Weise, wie unser Chef mit uns umspringt, oder durch Auseinandersetzungen mit Teenagern über die Frage, wie lange diese abends ausgehen dürfen. Die genannten Beispiele beziehen sich jedoch nicht auf die körperlichen Reaktionen; es sind allein Signale aus der Umwelt, die eine Stressreaktion in unserem Körper hervorrufen können. Biologen bezeichnen diese äußeren Signale als Stressoren. Den Begriff »Stress« verwenden sie nur, um die Veränderungen im Körper zu beschreiben, die durch Stressoren ausgelöst werden. Sehen wir uns die Stressbahn einmal genauer an.
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Gehirnbereiche wie Amygdala und Hippocampus reagieren sehr sensibel auf emotionale Veränderungen. Sie sind zudem mit den Denkzentren des Gehirns in der Hirnrinde (Kortex) verbunden
Die Stress-Entspannungs-Bahn Wenn die Hirnrinde (Kortex) Umweltstressoren wahrnimmt, sendet sie Nervenimpulse an den Hypothalamus. Aus dem Hypothalamus gehen zwei Bahnen hervor: In der einen wird ein Corticotropinfreisetzendes Hormon (CFH) ausgeschüttet, das die Hirnanhangdrüse (Hypophyse) anregt, mehr von dem -153-
adrenocorticotropen Hormon (ACTH) zu produzieren. Das ACTH wirkt wiederum auf den äußeren Bereich der Nebennierendrüsen, die Nebennierenrinde, um mehr von dem Hormon Kortisol zu produzieren. Die zweite Bahn, die aus dem Hypothalamus hervorgeht, sendet über das sympathische System Nervenimpulse zum inneren Bereich der Nebennierendrüsen, dem Nebennierenmark, wo die Katecholamine produziert werden. Zu einer Stressreaktion kommt es, wenn Kortisol und Katecholamine zunehmen; verringern sich diese Substanzen, tritt dagegen eine Entspannungsreaktion auf. den. Was wir über Ereignisse denken - einschließlich der Bedeutung, die wir Ereignissen zuschreiben, und der Geschichten, die wir darüber erzählen -, wird die Reaktion dieser Gefühlszentren beeinflussen. • Diese Gehirnbereiche sind eng mit einem Bereich an der Gehirnbasis verbunden, der Hypothalamus genannt wird. Der Hypothalamus ist eine sehr wichtige Schnittstelle, da er außerhalb der Blut-Gehirn-Barriere liegt, die wir oben angesprochen haben. Das bedeutet, dass andere chemische Substanzen im Blutkreislauf ihn beeinflussen können. Dazu zählen auch diejenigen, die aus der Umwelt in den Körper gelangen. Daher reagiert der Hypothalamus extrem sensibel auf unseren psychischen Zustand und auf äußere Faktoren. • Wenn er durch Stressoren stimuliert wird, wird der Hypothalamus in unterschiedlicher Weise aktiv. Eine seiner Aktivitäten besteht darin, mehr von dem so genannten Corticotropinfreisetzenden Hormon (CFH) zu produzieren. • Das CFH bewegt sich dann zum nahe gelegenen vorderen Teil der Hirnanhangdrüse (Hypophyse), die sich genau unterhalb des Hypothalamus an der Gehirnbasis befindet. • Wenn sie durch das CFH aktiviert wird, produziert die Hypophyse ein weiteres Hormon, das adrenocorticotrope Hormon oder ACTH. -154-
• Das ACTH hat einen weiten Weg vor sich, da es über den Blutkreislauf von der Hypophyse zu den Nebennierendrüsen gelangen muss, die auf den Nieren sitzen. • Der äußere Bereich der Nebennierendrüsen (Nebennierenrinde genannt) produziert dann das Steroid Kortisol. • Kortisol ist eines der bedeutendsten Hormone des Körpers, da es mehrere wichtige Wirkungen auf viele verschiedene Zellen hat. So erhöht es zum Beispiel den Blutzuckerspiegel, hemmt die Salz- und Flüssigkeitsabsonderung des Körpers und reduziert seine Entzündungs- und Immunreaktionen. Viele Körperbahnen ve rzweigen sich wiederum in weitere Bahnen; bei der Stressbahn ist das der Fall. • Wenn der Hypothalamus Stress wahrnimmt, produziert er mehr CFH und sendet stärkere Signale an die Nervenbahnen des sympathischen Systems. Dieses System ist ein Teil des autono men Nervensystems des Körpers, da es mit Dingen wie dem Herzschlag und der Atmung zu tun hat, die automatisch ablaufen. Die Bedeutungsveränderung eines Ereignisses, die in höheren Gehirnbereichen bewusst wahrgenommen werden könnte, kann sich auf diese Weise in unbewusste körperliche Reaktionen verwandeln. • Die Nervenbahnen des sympathischen Systems enden in einem anderen Teil der Nebennierendrüsen, dem inneren Bereich des Nebennierenmarks. Dort veranlassen sie die Drüsen dazu, mehr Katecholamine zu produzieren. Die bekanntesten sind Epinephrin und Adrenalin. • Katecholamine haben eine unglaublich starke Wirkung auf das Herz und die Blutgefäße. Sie verursachen eine gesteigerte Herzfrequenz, einen erhöhten Blutdruck sowie einen höheren Grundumsatz im ganzen Körper. • Das sympathische Nervensystem beeinflusst auch unsere Muskeln. In der Regel erhöht es den Muskeltonus. Kurzfristig -155-
gesehen kann uns das auf die Notfall- Reaktion vorbereiten. Wenn der Zustand jedoch länger anhält, kann er Schmerzen im unteren Rückenbereich oder Spannungskopfschmerzen auslösen. Vor einigen Jahrzehnten entdeckte man, dass die Stressbahn bei Menschen und Tieren die Notfall- Reaktion hervorruft: Ein hoher Epinephrinspiegel verursacht einen schnelleren Herzschlag, einen höheren Blutdruck, eine schnellere Atmung und eine gesteigerte Schweißproduktion; und ein höherer Kortisolspiegel macht zur Energiesteigerung mehr Zucker im Blut verfügbar. Im Wesentlichen bewirkt die Stressreaktion das, was nötig ist, um ein Tier oder einen Menschen für die Flucht oder einen Kampf vorzubereiten, wenn sie in Gefahr sind. Die entgegengesetzte Reaktion, die Dr. Herbert Benson als »Entspannungsreaktion« bezeichnet, tritt auf, wenn der Epinephrinspiegel und andere Katecholamine unter das normale Niveau absinken. Wir wissen, dass die Symptome, die mit Angst- oder Panikattacken verbunden sind, genau denen entsprechen, die mit einem hohen Katecholaminspiegel verknüpft sind. Wir wissen zudem, dass manche Menschen, die ständig Angst haben, dazu neigen, die meiste Zeit auch einen hohen Katecholaminspiegel zu haben. Ihr Körper schüttet eine Katecholamindosis aus, die bei einem weniger angespannten Menschen mit einem starken Erregungszustand verknüpft wäre - doch bei krankhaft ängstlichen Menschen scheint der Körper zu glauben, dass dies sein Normalzustand ist, der ständig aufrechterhalten werden muss. Und wir wissen auch, dass Menschen mit solchen chronisch erhöhten Katecholaminspiegeln anfälliger für bestimmte Erkrankungen sind, vor allem für Herzerkrankungen, Bluthochdruck und Magengeschwüre. In seinem Buch Gesund im Stress (Die Entspannungsreaktion) hat Dr. Benson gezeigt, dass man diesen Erkrankungen mit einer Reihe von einfachen Übungen vorbeugen kann. Sie können den Katecholaminspiegel erheblich senken. Benson legt dar, dass -156-
zahlreiche gängige Praktiken in vielen Kulturen, wie zum Beispiel religiöse Rituale, Formen solcher Entspannungsübungen sind. Die menschliche Kultur hat über Jahrtausende dafür gesorgt, uns vor den Gefahren übermäßiger Belastung durch Stress zu bewahren. Dr. Dean Ornish hat ebenfalls gezeigt, wie man Herzinfarkten bei Menschen, die ernsthafte Probleme mit der Herzkranzarterie haben, vorbeugen kann - und sogar, wie man Verschlüsse von Koronararterien wieder lösen kann -, und zwar ohne Verwendung vo n Medikamenten. Das Ornish-Programm enthält eine Reihe von Elementen, die vorwiegend auf die Blutfette wirken; dazu gehören eine fettreduzierte Diät und einfache Körperübungen. Auch Yoga, Meditation und eine soziale Unterstützung sind Teil des Programms. Sein Programm dient insgesamt der Fett- und Stressreduktion. Als Ornish seine Arbeit begann, ergab es sich mehr aus Gründen der Effektivität, dass er mit Gruppen von Patienten statt mit Einzelnen arbeitete. Später jedoch stellte er fest, dass gerade die Gruppenaktivitäten selbst ein ungemein wichtiges Element für den Erfolg des Programms waren. Wir haben bereits über die Bedeutung von sozialer Unterstützung für die Aktivierung der inneren Apotheke gesprochen. Dr. Ornish und andere Wissenschaftler und Ärzte bestätigen dieses Prinzip, indem sie zeigen, welch große Wirkung eine soziale Unterstützung beziehungsweise eine gesellschaftliche Isolation auf Herzerkrankungen hat. Das Risiko, an einer Herzerkrankung zu sterben, ist bei gesellschaftlich isolierten Menschen zwei- bis viermal so hoch wie bei Menschen, die ein hohes Maß an sozialer Unterstützung bekommen. Lassen Sie uns nun diesen Forschungsbereich zusammenfassen. Haben wir einige Anhaltspunkte dafür, wie wir die geheimnisvolle Verbindung zwischen der Stressbahn und dem Placebo-Effekt erklären können? -157-
Aufgrund des Beispiels der gesellschaftlichen Isolation könnten wir schlussfolgern, dass das Element der Fürsorge und Anteilnahme des Bedeutungsmodells besonders eng mit dieser biochemischen Bahn verknüpft ist. Wenn wir uns an das Beispiel der Doulas bei den gebärenden Frauen und an den Fall von Dr. Shaw und ihrer indischen Freundin erinnern, können wir uns vorstellen, wie sehr der Stresspegel bei den Frauen zugenommen haben könnte, als sie alleine waren, und dass der Beistand einer beruhigenden Betreuerin den Stress erheblich gelindert haben könnte. Untersuchungen haben gezeigt, dass hohe Katecholaminspiegel den Geburtsvorgang verlangsamen und die Blutmenge, die zum Baby geleitet wird, vermindern können, so dass Komplikationen wahrscheinlicher werden. Darüber hinaus könnten wir bei der Beobachtung des Placebo-Effekts bei Krankheiten, die mit der Stressreaktion in Zusammenhang stehen, vor allem die Kortisol- und Katecholaminspiegel messen, um festzustellen, ob der PlaceboEffekt sie automatisch reduziert. Da so viele verschiedene Krankheiten mit der Stressreaktion verknüpft sind, könnte der Nachweis einer Verbindung zwischen der Stressbahn und dem Placebo-Effekt helfen zu erklären, warum der Placebo-Effekt bei so vielen Krankheiten und Beschwerden wirkt. Und schließlich könnten wir den Zusammenhang zwischen der Bedeutung, die Menschen einer Krankheit oder einem Symptom zuschreiben, der ausgeschütteten Kortisol- oder Katecholaminmenge und den daraus folgenden körperlichen Veränderungen genauer untersuchen. Eine Reihe von älteren Studien deutet darauf hin, dass die besten Placebo-Responder Menschen sind, die ein bisschen Angst haben, wenn sie das erste Mal zum Arzt kommen. Menschen dagegen, die sehr große oder gar keine Angst haben, reagieren weniger gut. Das entspricht unserer Erwartung, wenn man davon ausgeht, dass ein zentraler Aspekt des Placebo-158-
Effekts die Senkung des Kortisol- und Katecholaminspiegels ist. Wenn diese von Anfang an sehr niedrig wären, könnte man keinen Placebo-Effekt feststellen. Wenn sie andererseits extrem hoch wären, würde die durch den Placebo-Effekt verursachte Absenkung möglicherweise nicht ausreichen, um andere Symptome zu reduzieren. Psychoneuroimmunologische Bahnen Dieser Forschungsbereich ist relativ neu und hat große Begeisterung bei allen ausgelöst, die sich für die Verbindung von Körper und Geist in der Medizin interessieren. Meines Erachtens hat er zweifelsfrei bewiesen, dass psychische und emotionale Veränderungen das Immunsystem beeinflussen können. Man konnte bisher leider noch nicht endgültig nachweisen, dass diese Veränderungen eine wichtige Rolle bei der Verursachung von Krankheiten spielen und vorbeugend eingesetzt werden können. Es ist gut möglich, aber die Untersuchungen dazu sind noch nicht abgeschlossen. Der Begriff Psychoneuroimmunologie tauchte zum ersten Mal 1981 als Titel eines Buches auf und wurde von Robert Ader geprägt, dessen Arbeit über die Konditionierung wir bereits im Kapitel über die Erwartung vorgestellt haben. Der Begriff weist auf ein größeres Verständnis der Beziehungen zwischen dem Immunsystem und anderen Körperfunktionen hin. Bis zu dem Zeitpunkt hatten Wissenschaftler das Immunsystem als unabhängig von den meisten Bereichen des restlichen Körpers betrachtet. Sie nahmen an, dass es nur aus einem einzigen Grund existierte: um fremde Substanzen, die in den Körper gelangen und Krankheiten verursachen können, zu erkennen und zu bekämpfen. Wenn das Immunsystem richtig funktioniert, wird es der früheren Theorie zufo lge durch das Auftauchen eines -159-
Fremdkörpers wie beispielsweise eines Virus aktiviert. Wenn es nicht richtig funktioniert und möglicherweise gesundes körpereigenes Gewebe angreift - wie zum Beispiel bei Autoimmunerkrankungen wie der rheumatischen Arthritis -, dann wird diese Reaktion wahrscheinlich zunächst durch eine Überreaktion auf ein Virus oder andere körperfremde Eindringlinge ausgelöst; vielleicht ist der Angriff auf eigenes Körpergewebe auch rein zufällig und unkontrollierbar. Eines schien jedoch sicher: Die Regelsysteme, die andere Bereiche des Körpers kontrollieren, wie beispielsweise das Bewusstsein, haben keine Macht über das Immunsystem. Die Psychoneuroimmunologie hat uns gezeigt, dass die Autonomie des Immunsystems ein Mythos ist. Wie sich herausgestellt hat, sind verschiedene Gewebe, in denen Immunzellen und andere Substanzen hergestellt werden, üppig mit Nervenendungen ausgestattet. Immunzellen sind mit Rezeptoren für Moleküle übersät, die durch Veränderungen im Nervensystem freigesetzt werden. Die Anzahl einiger dieser Neuropeptid-Moleküle, für die es spezielle Rezeptoren beziehungsweise »Parkplätze« auf der Oberfläche der Immunzellen gibt, steigt oder sinkt bei Veränderungen des emotionalen Zustands. Der Austausch von Informationen zwischen Nerven- und Immunsystem läuft in beiden Richtungen ab. Veränderungen der Nervenreize wirken sich auf die Art und Menge der Immunzellen und anderer Substanzen aus, die vom Körper produziert werden. Wenn wiederum das Immunsystem aktiviert wird, reagiert das Nervensystem ebenfalls mit Veränderungen. Das folgende Experiment veranschaulicht, wie ein Teil der Arbeit in der Psychoneuroimmunologie durchgeführt wird.
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Psychoneuroimmunologische Bahnen Schematische Darstellung der Kommunikationsverbindungen zwischen dem Immunsystem und anderen Körper Systemen Die Immunzellen dienen als Wahrnehmungsorgan. Sie schicken Nachrichten über den Zustand des Körpers und die Umgebung zurück ans Gehirn. Das Gehirn, das teilweise die anderen Bahnen nutzt, die bereits in diesem Kapitel vorgestellt wurden, beeinflusst seinerseits die Produktion und Funktion der Immunzellen. (In Anlehnung an Abbildung 1.2 aus Alan Watkins' Beitrag »Mind-Body Pathways« in Mind-Body Medicine: A Clinician's Guide to Psyckoneuroimmunology. Hrsg. von Alan Watkins. New York, Churchill Livingston 1997)
Der so genannte »Newcastle-Virus« ruft normalerweise keine offensichtlichen Krankheitssymptome bei Ratten hervor. Tiere, die sich mit dem Virus infiziert haben, verhalten sich sogar so, als sei nichts geschehe n. Einige Forscher unternahmen den -161-
Versuch, den Ratten Virendosen zu verabreichen und einige Stunden später den Spiegel stressbedingter Hormone in verschiedenen Bereichen des Nervensystems der Tiere zu messen. Ihre Reaktion war ähnlich wie die von Ratten, die einer Umgebung mit zahlreichen Stressreizen ausgesetzt worden waren - die beispielsweise Elektroschocks an den Füßen erhielten. Selbst wenn der Newcastle-Virus infektiös war, so die Forscher, schienen diese hormonalen Veränderungen viele Stunden, bevor Symptome der Krankheit sich hätten entwickeln können, aufzutreten. Die ursprüngliche Aktivierung des Immunsystems als Reaktion auf die Virusinvasion - die, so nahmen die Forscher an, in einer Freisetzung der chemischen Immunsubstanz Interleukin-1 bestand - schickte eine Botschaft an das Nervensystem des Tieres, dass etwas geschah, was potenziell mit sehr großem Stress verbunden sein konnte. Die übrigen Systeme des Tieres wurden in eine erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Der Hypothalamus scheint besonders sensibel auf eingehende Signale des Immunsystems zu reagieren. Einige Wissenschaftler nehmen an, dass der Körper über eine ideale Stressreaktion verfügt, die das Immunsystem jeweils in einem optimalen Zustand hält. Wenn der Hypothalamus und die Hypophyse zu geringe Mengen einiger ihrer Produkte produzieren, ist der Körper möglicherweise anfälliger für Autoimmunerkrankungen. Wenn diese Produkte andererseits ständig in zu großen Mengen produziert werden, könnte der Betroffene gegebenenfalls anfälliger für Suc hterkrankungen, Panikattacken und Erkrankungen wie zum Beispiel Krebs sein. Einige Forscher weisen zudem darauf hin, dass die ideale Hypothalamus-Hypophysen-Funktion bei jedem Einzelnen genetisch festgelegt sein könnte. Das erklärt vielleicht, warum Gefühlszustände, Lebensstil und vererbte Neigungen offenbar einen Einfluss auf die individuelle Anfälligkeit für bestimmte -162-
Krankheiten haben. Die Psychoneuroimmunologie scheint auch zu erklären, warum Menschen, die mit Stress verbundene Lebensveränderungen erlebt haben, wie zum Beispiel den Tod eines geliebten Menschen, starke Depressionen oder eine Scheidung, offenbar anfälliger für Krankheiten sind. Für die Psychoneuroimmunologie sind alle drei Placebo-Bahnen, die wir in diesem Kapitel besprochen haben, von größter Wichtigkeit. Denn die Endorphinausschüttung sowie die Kortisol- und Katecholaminspiegel sind gleichfalls eine natürliche Reaktion des Körpers auf Ereignisse, die mit Stress verbunden sind. Die drei Substanzen sind Teil des psychoneuroimmunologischen Feedback-Systems und können die Immunfunktion verändern, die ihrerseits diese Substanzen beeinflussen kann. Möglicherweise haben wir eine fundierte Theorie für einen Aspekt des Placebo-Geheimnisses gefunden: Die drei Bahnen, die wir hier vorgestellt haben, sind aufgrund ihrer Verknüpfung in Wirklichkeit eine einzige große Bahn. Nun, da wir einige spannende Anhaltspunkte entdeckt haben, müssen wir uns gleichzeitig etwas bremsen. Trotz aller Fortschritte hat die Psychoneuroimmunologie nicht die großartigen Erkenntnisse geliefert, die sie anfangs versprochen hat. Wie schon weiter oben angesprochen, ist es ziemlich leicht, Unterschiede in der Immunfunktion zu messen, die mit verschiedenen Veränderungen im Nervensystem, im Gefühlsleben oder im Verhalten eines Menschen zusammenhängen. Aber diese Veränderungen im Immunsystem mit der eigentlichen Ursache oder mit der Gesundung zu verbinden ist viel schwieriger. Selbst wenn man einen Behandlungsansatz entwickelt hat, der kranken Menschen tatsächlich hilft, ist es äußerst kompliziert zu beweisen, dass die Behandlung aufgrund der Aktivierung von psychoneuroimmunologischen Bahnen funktioniert. Das folgende Beispiel illustriert, wie komplex das Thema ist. Dr. -163-
Fawzy und seinen Kollegen an der University of California in Los Angeles gelang es, ein hilfreiches psychologisches Instrument zu entwickeln, um Patienten zu helfen, die kurz zuvor wegen eines malignen Melanoms operiert worden waren. Sie stellten fest, dass ihr sechswöchiges Betreuungsprogramm, in dem die Patienten unter anderem an unterstützenden Gruppensitzungen teilnahmen, ihnen half, besser mit den Nachwirkungen der Operation und der Krebsbehandlung fertig zu werden. Und nicht nur das: Die Patienten, die an den Gruppensitzungen teilnahmen, überlebten im Durchschnitt länger als die Teilnehmer der Kontrollgruppe, die nicht daran teilnahmen. Diese Ergebnisse lassen möglicherweise darauf schließen, dass sich aufgrund des gestärkten Immunsystems eine Verbindung zwischen der psychologischen Unterstützung durch die Gruppe und der verbesserten Lebenserwartung herstellen lässt. Dr. Fawzy und seine Kollegen stießen in der Tat auf einen interessanten Aspekt, als sie die Funktionen des Immunsystems am Ende des sechswöchigen Programms und dann noch einmal nach sechs Monaten untersuchten. Nach sechs Wochen entdeckten sie einige isolierte Veränderungen. Nach sechs Monaten dagegen stellten sie viel beeindruckendere Immunveränderungen fest. Unter anderem war es zu einem Anstieg der natürlichen Killerzellen gekommen, die der Ausbreitung des Krebses entgegenwirken und in dieser Funktion als besonders wichtig gelten. Die Wissenschaftler folgerten, dass das Sechs-Wochen-Programm in der Tat eine langfristige Wirkung hatte. Es bestand allerdings das Problem, dass man keine direkte Verbindung zwischen den Immunveränderungen und dem Krebswachstum herstellen konnte. So trat der Krebs bei den Teilnehmern, die nach sechs Monaten eine größere Anzahl von Killerzellen aufwiesen, zwar seltener auf, aber überraschenderweise stand dies statistisch nicht in einem -164-
Zusammenhang mit einer längeren Lebensdauer. Dr. Fawzy erklärte daher sehr vorsichtig, dass er eine hilfreiche Form der Gruppenunterstützung entwickelt habe, die zu langfristigen Veränderungen führe, dass es ihm aber nicht gelungen sei, anhand des Immunsystems eine Verbindung zwischen diesen Veränderungen und spezifischen Krankheitsentwicklungen herzustellen. So bleibt also ein weiterer Aspekt des Placebo-Phänomens ungeklärt, zumindest im Moment. Vielleicht liefert ja ein künftiges Experiment den Be weis für die Verbindungen, die Fawzys Team nicht nachweisen konnte. Doch wir müssen uns in diesem Buch nicht zu sehr den Kopf darüber zerbrechen, was auf diesem Gebiet bisher bewiesen wurde und was noch aussteht. Schließlich sammeln wir lediglich potenzielle Zusammenhänge, die Placebo-Effekte erklären könnten. Die Tatsache, dass das Immunsystem sich aufgrund dessen verändert, was wir über Ereignisse in unserer Umwelt denken und empfinden, liefert uns einen Hinweis auf eine Möglichkeit, wie der Placebo-Effekt funktionieren könnte. Anstatt zu denken, das Immunsystem sei vom Geist getrennt, müssen wir uns zumindest daran erinnern, dass es speziell darauf ausgerichtet zu sein scheint, den Geist und das Nervensystem zu beeinflussen und von ihnen beeinflusst zu werden.
Die technischen Möglichkeiten der Zukunft Die modernen Neurowissenschaften haben uns zwei sehr wichtige Dinge gezeigt. Erstens: Wenn unser Geist sich in irgendeiner Weise verändert, verändern sich dementsprechend auch die chemischen Prozesse in unserem Gehirn. Veränderungen der chemischen Gehirnprozesse führen wiederum zu Veränderungen der Funktionen anderer -165-
körperlicher Prozesse. Zweitens: Wie wir gesehen haben, werden unsere Sinnesorgane ständig mit Signalen aus der Umwelt bombardiert - mit sich verändernden Bildern, Geräuschen und Gerüchen. Zu einem gesunden Leben gehören eine Reihe von natürlichen »Filtern«, die es dem Menschen ermöglichen, die meisten Signale zu ignorieren und sich auf die wenigen zu konzentrieren, auf die es wirklich ankommt. Das menschliche Gehirn ist speziell darauf ausgerichtet, sich bei der Auswahl von Signalen auf sinnhafte Bedeutungen und Beziehungen zu konzentrieren. Das heißt, bestimmte Signale haben in der Wahrnehmung durch die Sinnesorgane Priorität. Der menschliche Körper scheint wichtige Signale aus der Umwelt aufnehmen und so umsetzen zu können, dass sich körperliche Prozesse verändern und zur Heilung führen. Die Erforschung des Placebo-Effekts sollte zwar in vielen Bereichen unter Anwendung vieler verschiedener Methoden weitergeführt werden, doch möglicherweise werden die nächsten bedeutenden Fortschritte vor allem durch die Anwendung bildgebender Verfahren im Gehirnbereich erzielt. Die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) und spezielle Varianten der Kernspinresona nz-Tomographie (MRT) ermöglichen den medizinischen Wissenschaftlern, ins menschliche Gehirn »hineinzusehen«. Mit Hilfe dieser Technik können die Wissenschaftler erkennen, welche Gehirnzentren in einem bestimmten Moment die größte chemische Aktivität aufweisen. Daraus lässt sich ermitteln, welche Gehirnzellen damit beschäftigt sind, elektrische Signale auszusenden. Da sich der Betroffene vor, während und nach dem Scannen im Wachzustand befindet, kann er beschreiben, welche Gedanken und Eindrücke ihn jeweils beschäftigt haben. Auf diese Weise lassen sich die Anatomie des Gehirns und chemische Prozesse mit Gedanken und Gefühlen in Beziehung setzen sowie mit allen möglichen Signalen, die der Person während des Scans -166-
geschickt wurden. Hier stellt sich die Frage, wie wir diese Scans in Zukunft nutzen können. Wir haben bereits die zwei zentralen existierenden Gehirnbahnen angesprochen: die Gehirnbahn für die Reaktion von unten nach oben, die Informationen aus der Umgebung weiterleitet ( »Die Krankenschwester hat mir gerade eine Spritze gegeben.«), und die Gehirnbahn der Reaktion von oben nach unten, die gespeicherte Informationen vergangener Erfahrungen bereithält (»Wenn ich eine Spritze bekomme, fühle ich mich in der Regel danach besser.«). Wenn man Scans durchführen würde, gleich nachdem Patienten ein Medikament eingenommen oder ein anderes heilendes Signal aus der Umwelt erhalten haben, müssten wir vielleicht nicht mehr über die Art und den Ort dieser Bahnen spekulieren; wir wären möglicherweise in der Lage, genau zu erkennen, welche Gehirnbahnen aktiviert werden. Und wenn bei fünf von zehn Teilnehmern ein Placebo-Effekt aufgetreten ist, könnten wir untersuchen, ob ihre Scans sich in reproduzierbarer Weise von den Scans derjenigen unterscheiden, bei denen kein PlaceboEffekt festgestellt werden konnte. Diese Scans würden noch andere wertvolle Hinweise liefern. Man weiß, dass Zellen in verschiedenen Gehirnbereichen dazu neigen, unterschiedliche chemische Substanzen auszuschütten. Wenn ein bestimmter Gehirnbereich auf dem Scan hervorsticht, könnte dies darauf hinweisen, dass ein Neuropeptid oder eine andere Substanz, die dort produziert wird, in diesem Moment ausgeschüttet wird. Das liefert Erkenntnisse darüber, welche chemischen Prozesse für den Placebo-Effekt verantwortlich sind, der möglicherweise später wirksam wird. Wir haben beispielsweise festgestellt, dass die periaquäduktale graue Substanz einer der Bereiche ist, der besonders an der Endorphinausschüttung beteiligt ist. Wenn ein Scan eine besonders hohe chemische Aktivität in diesem Bereich zeigt, könnte dies ein Indiz dafür sein, dass später auftretende körperliche Veränderungen auf Endorphine zurückzuführen -167-
sind. Und schließlich könnten solche Experimente die Verbindungen zwischen chemischen Gehirnprozessen und den Geschichten, die jemand über sich selbst und die Ereignisse in seinem Leben erzählt, herausfinden. Wir könnten endlich sämtliche Zusammenhänge zwischen der Bedeutung, die eine Krankheit für einen Menschen hat, der sich daraus ergebenden Gehirnaktivität, der Freisetzung von chemischen Substanzen und dem Verlauf des Heilungsprozesses aufspüren.
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Placeboähnliche Faktoren Wenn man mit drei Gruppen arbeitet, einer Gruppe, die gar nicht behandelt wird, einer zweiten, die Placebos erhält, und einer dritten, die das zu testende Medikament bekommt, stellt man häufig fest, dass es der Gruppe, die Placebos erhält, viel besser geht und die Heilungsrate um einiges höher ist als bei der Gruppe ohne Behandlung. Und es kann sogar passieren, dass die Heilungsrate bei den Teilnehmern der Placebogruppe ebenso hoch ist wie bei der Gruppe, die das Medikament erhält. Manchmal ist sie sogar höher. Dr. Eugene F. DuBois (1946) Wir kommen nun von der Theorie immer mehr zur Praxis, und ich möchte noch einmal auf ein Problem zurückkommen, das bereits angesprochen wurde. Der Placebo-Effekt ist natürlich nicht der einzige Grund, warum es zu Heilprozessen in unserem Körper kommt. Deshalb könnten wir in manchen Fällen irrtümlicherweise glauben, der Placebo-Effekt sei am Werk, obwohl in Wirklichkeit andere Heilfaktoren aktiv sind. Wenn wir den Placebo-Effekt mit diesen Faktoren verwechseln, woher können wir wissen, ob die Ratschläge für den Umgang mit unserer inneren Apotheke richtig sind? Es ist für uns von großem Interesse, alle weiteren Heilfaktoren ebenfalls genau zu kennen. Beginnen wir mit einem interessanten Beispiel.
Der Hawthorne-Effekt Der Arbeitspsychologe Elton Mayo führte 1927 zusammen mit seinen Kollegen in einem Fertigungsbetrieb der Western Electric Company im amerikanischen Bundesstaat Illinois ein -169-
umfassendes Experiment im Bereich Arbeitsorganisation durch. Die Forscher wollten herausfinden, welche Veränderungen am Arbeitsplatz die größten Veränderungen in Bezug auf die Produktivität bewirkten. Systematisch veränderten sie das Gehalt, die Arbeitszeiten und -pausen, die Arbeitsorganisation und die Kontrolle der weiblichen Angestellten. Obwohl sie die Ergebnisse sorgfältig festhielten, waren ihre Daten verwirrend und sogar widersprüchlich. Daraufhin analysierten Mayo und sein Team die Daten erneut und gelangten zu einer neuen Erkenntnis. Offensichtlich wirkte sich keine der Veränderungen dauerhaft auf das Verhalten der Angestellten aus. Sie steigerten zwar ihre Produktivität, fühlten sich insgesamt zufriedener und kamen mit der Arbeit besser zurecht, doch der letzten Analyse zufolge beruhten die Verbesserungen ausschließlich auf der Tatsache, dass das Forschungsteam sie genau beobachtete und Notizen über ihre Tätigkeit machte. Aufgrund der zusätzlichen Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde, hatten die Angestellten ein Gefühl größerer Wichtigkeit, weshalb sich ihre Arbeitsleistung verbesserte. Da das Experiment in den so genannten Hawthorne-Werken durchgeführt wurde, bezeichnet man die positive Wirkung, die allein aufgrund experimenteller Beobachtung entsteht, als »Hawthorne-Effekt«. Es gibt einen weiteren Grund, die verschiedenen Faktoren, die dem Placebo-Effekt ähnlich sind, näher in Augenschein zu nehmen. Wenn wir uns mit diesen Faktoren beschäftigen, sind wir zudem in der Lage, uns konstruktiv mit der Kritik auseinander zu setzen, die besagt, der Placebo-Effekt sei nichts weiter als ein Mythos.
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Der Placebo-Mythos Die meisten Wissenschaftler, die den Placebo-Effekt in den letzten fünfzig Jahren untersucht und darüber geschrieben haben, sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es dieses Phänomen tatsächlich gibt - selbst wenn sie sich bezüglich der genauen Auswirkungen und der Wirkungsweise nicht ganz einig sind. Eine kleine Anzahl von Kritikern ist jedoch der Meinung, dass die Mehrheit sich täuscht. Es ist verlockend, diese Meinung einer kleinen Minderheit zu ignorieren, aber wenn unser Ansatz wissenschaftlich sein soll, können wir diese Kritik nicht einfach beiseite schieben. Es ist ein zentrales Anliegen dieses Buches, alle wissenschaftlichen Beweise hinsichtlich des PlaceboEffekts und der inneren Apotheke zu berücksichtigen - sowohl die positiven als auch die negativen. Dr. Gunver Kienle und Dr. Helmut Kiene, Leiter eines Forschungsinstituts in Freiburg, haben vor kurzem eine kritische Analyse des Placebo-Effekts veröffentlicht. Man sollte sich aus zwei Gründen damit beschäftigen: Sie liefert eine ungewöhnlich vollständige Liste der Faktoren, die dem Placebo-Effekt ähneln, und ist meines Wissens der umfassendste und detaillierteste Versuch, die Theorie des Placebo-Effekts zu widerlegen. Man kann nicht behaupten, dass sie ein vorschnelles Urteil gefällt haben, da sie 167 Quellen benennen und angeben, bei ihrer Suche nach unwiderlegbaren Beweisen für den Placebo-Effekt mehr als eintausend wissenschaftliche Studien sorgfältig ausgewertet zu haben. Sie unterzogen unter anderem auch die Arbeit von Dr. Henry Beecher, der 1955 mit seinem Aufsatz »Das mächtige Placebo« eine generelle Akzeptanz des Placebo-Effekts bewirkte, einer kritischen Analyse und fanden hier viele Gründe für ihre Skepsis. Nach ihrer Einschätzung war Beecher sehr enthusiastisch, doch nicht sehr präzise. Er machte viele Fehler -171-
bei der Bewertung von fünfzehn Studien. Ihm zufolge lieferte jede einzelne Beweise für einen starken Placebo-Effekt. Kienle und Kiene zeigen jedoch, dass Beecher offensichtlich zehn der fünfzehn Studien falsch zitiert und eine Reihe von placeboähnlichen Faktoren mit einem richtigen Placebo-Effekt verwechselt hat. Kienle und Kiene folgern daher, dass wir keinerlei Beweise für die Existenz eines Placebo-Effekts hätten, wenn wir nur Beechers Aufsatz und die fünfzehn Studien, auf die er sich bezieht, berücksichtigen würden. Die Fehler, die Beecher machte, traten in den vierziger und fünfziger Jahren hä ufig auf, da die modernen Forschungsmethoden noch in den Kinderschuhen steckten. Die Freiburger Ärzte fragten sich nun: Sind Placebo-Studien in den letzten Jahrzehnten verlässlicher geworden? Und sie beantworten diese Frage deutlich mit »Nein«. Sehen wir uns nun die verschiedenen Irrtümer an, die Kienle und Kiene zufolge in aktuelleren Abhandlungen enthalten sind. Alle verwechseln placeboähnliche Faktoren mit dem echten Placebo-Effekt.
Der natürliche Krankheitsverlauf und die Spontanheilung In unserem historischen Überblick zu Beginn haben wir gesehen, dass die Menschen schon im neunzehnten Jahrhundert erkannt hatten, dass sich der Gesundheitszustand nach der Einnahme einer Zucker- oder Brotpille einfach aufgrund des normalen Krankheitsverlaufs verbessern konnte, und nicht etwa weil der Geist oder die Vorstellungskraft dabei eine Rolle spielten. Immer wenn man eine moderne randomisierte Doppelblindstudie als Datenquelle für den Placebo-Effekt heranzieht, läuft man Gefahr, denselben Fehler zu machen, da diese Versuchsart nicht darauf ausgerichtet ist, zwischen einem Placebo-Effekt und dem natürlichen Krankheitsverlauf zu -172-
differenzieren. Eine solche Versuchsanordnung kann lediglich die Wirkung der chemischen Eigenschaften des getesteten Medikaments prüfen und belegen. Zwischen Placebo-Effekt und dem natürlichen Krankheitsverlauf wird dabei nicht differenziert. Kienle und Kiene zählen den natürlichen Krankheitsverlauf aus diesem Grund zu den placeboähnlichen Faktoren und zitieren die Studie über eine gewöhnliche Erkältung, die Beecher 1955 analysiert hatte. Die Studie zeigt, dass es dreißig Prozent der Patienten, die Placebos einnahmen, nach sechs Tagen besser ging. Kienle und Kiene sind zu Recht der Meinung, dass es sich wahrscheinlich um die Spontanheilungsrate bei der Krankheit handelte. Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten, dass sich bei einer Erkältung mehr als dreißig Prozent der Teilnehmer nach sechs Tagen besser fühlen müssten. Daher ist bei dieser Studie möglicherweise ein Nocebo-Effekt aufgetreten. Nehmen wir an, wir wollten ein ideales medizinisches Experiment entwickeln, um sicher zwischen dem natürlichen Krankheitsverlauf und dem Placebo-Effekt differenzieren zu können. Wie müsste der Versuch aussehen? Wir brauchten offensichtlich mehr als zwei Gruppen; ein Medikament-Arm und ein Placebo-Arm würden nicht ausreichen. Einige Experimente wurden mit drei Gruppen durchgeführt: einer Medikament-Gruppe, einer Placebo-Gruppe und einer Gruppe, die nicht behandelt wurde. Wenn man die Placebo-Gruppe mit der nicht behandelten Gruppe verglich, konnte man feststellen, ob es aufgrund des Placebo-Effekts oder aufgrund des natürlichen Krankheitsverlaufs zu einer Heilung gekommen war. Einige Experten sind sogar der Meinung, dass man eine vierte Gruppe haben sollte, die das Medikament erhält, ohne es zu wissen - vielleicht indem man es in ihre morgendliche Tasse Kaffee hineinschmuggelt. Natürlich ist ein solches Experiment unter ethischen Gesichtspunkten äußerst problematisch, auch -173-
wenn man sehr relevante wissenschaftliche Ergebnisse erhalten könnte. Die Durchführung von Experimenten mit mehr als zwei Gruppen ist viel komplizierter und schwieriger als der übliche zweiarmige randomisierte kontrollierte Versuch. Darüber hinaus liefern sie nur wenige beziehungsweise keine zusätzlichen Informationen über das Medikament. Sie können uns lediglich Erkenntnisse über den natürlichen Krankheitsverlauf und den Placebo-Effekt vermitteln. Aber die meisten Studien werden durchgeführt, da man an der Wirksamkeit eines Medikaments interessiert ist. Es ist unwahrscheinlich, dass Pharmafirmen zusätzliche Zeit und Mittel investieren würden, um drei- oder vierarmige Experimente durchzuführen.
Symptomatische Veränderungen Bei uns allen treten gelegentlich leichte Symptome auf - ein Anflug von Übelkeit oder ein vorübergehender Muskelschmerz beispielsweise -, die wir meistens einfach ignorieren. Wenn diese Symptome bei einem Experiment zufällig auftreten und man aufgefordert wird, alle Nebenwirkungen eines Medikaments genau zu notieren, dann wird man diese rein zufälligen Symptome auf das Medikament zurückführen - selbst wenn es sich um ein Placebo handelt. Kienle und Kiene glauben, dass die meisten Berichte über Nebenwirkungen von Placebos aufgrund dieser Tatsache entstehen.
Rückkehr zum Mittelwert Wenn man Messungen vornimmt, bei denen es in der Regel innerhalb eines bestimmten Rahmens zu Variationen kommt wie beispielsweise bei Blutdruck- oder Pulsmessungen -, -174-
bewegen sich Probanden, deren Wert im Moment im oberen oder unteren Bereich liegt, in der Regel nach einer Weile wieder auf den durchschnittlichen »normalen« Wert zu. Ähnlich verhält es sich bei Versuchsteilnehmern, deren Wert im Normbereich liegt. Hier können nach einer Weile Variationen nach oben oder unten auftreten. Wenn man die Teilnehmer mit Durchschnittswerten nicht beachtet und sich stattdessen auf Probanden mit hohen oder niedrigen Werten konzentriert, wird man fälschlicherweise annehmen, dass es im zeitlichen Abschnitt von der ersten bis zur letzten Messung zu einer »Normalisierung« gekommen ist. Nehmen wir folgendes Beispiel: Man wählt 100 Personen aus, die im Moment einen Blutdruck von 150 zu 95 haben. Das ist ein Wert, der im oberen Bereich liegt. Wenn man den Blutdruck eine Stunde später misst, stellt man wahrscheinlich fest, dass er bei den meisten Teilnehmern gefallen ist. Würde man aber mit Teilnehmern beginnen, die einen Wert von 120 zu 80 haben, läge der Wert bei einer gewissen Teilnehmerzahl nach einer Stunde bei 150 zu 95. Nehmen wir weiter an, man würde allen Teilnehmern der »Bluthochdruckgruppe« eine Zuckerpille geben. Nach einer Stunde wäre der Blutdruck bei vielen auf 120 zu 80 gesunken. Würde man dann nicht annehmen, dass ein Placebo-Effekt aufgetreten ist? In Wirklichkeit beobachtet man aber nichts anderes als eine zufällige Variation aufgrund der natürlichen Entwicklung des menschlichen Blutdrucks.
Hawthorne- und Klinik-Effekte Wie wir gesehen haben, beschreibt der Hawthorne-Effekt die Neigung von Menschen, ihr Verhalten und ihre Leistungen einfach desha lb zu verbessern, weil man sie beobachtet und die Beobachtungen notiert. Ähnlich verhält es sich in der -175-
medizinischen Forschung beim so genannten Klinik-Effekt, bei dem Teilnehmer an medizinischen Experimenten nicht nur das aktiv wirksame Medikament oder ein Placebo erhalten. Ihnen wird darüber hinaus eine Menge Aufmerksamkeit zuteil, da sie daraufhin untersucht werden, ob sie alle Kriterien für die Teilnahme an dem Experiment erfüllen, und da ihre Körperfunktionen regelmäßig gemessen werden. Sie besuchen die Klinik häufiger als die meisten anderen Menschen. Sie werden möglicherweise auch gründlicher untersucht, und vielleicht führt man mehr Laboruntersuchungen bei ihnen durch. Kleinere Probleme werden wahrscheinlich schneller erkannt und effektiver behandelt; und die Tatsache, dass die Teilnehmer so oft in die Klinik kommen müssen, kann für sie ein starker Anreiz sein, besser auf ihre Gesundheit zu achten. Die intensive Betreuung in der Klinik könnte eine gesundheitliche Verbesserung bei Patienten bewirken, die Placebos nehmen, und daher fälschlicherweise als Placebo-Effekt gedeutet werden.
Versuchsteilnehmer, die alles richtig machen wollen Es ist normal, dass Patienten ihren Arzt zufrieden stellen wollen, und genauso verhält es sich auch mit Teilnehmern an einer Studie. Aufgrund dieser Tatsache neigt der Patient beziehungsweise der Teilnehmer dazu, der Autoritätsperson das zu berichten, was sie seiner Meinung nach hören will. Wenn eine Studie darauf angelegt ist, Schmerzen zu messen, ist die mündliche Auskunft des Teilnehmers womöglich die einzige mögliche Erhebungsmethode. Es ist wahrscheinlich, dass jemand, der es dem Forscher recht machen will, berichtet, dass seine Schmerzen sich verringert haben, selbst wenn dem eigentlich nicht so ist. Aufgrund der Auskunft des Teilnehmers ist die Situation kaum von dem tatsächlichen Auftreten eines Placebo-Effekts zu unterscheiden. -176-
»Wirksame« Placebos Kienle und Kiene nehmen an, dass die so genannte PlaceboGruppe zumindest in einigen Studien mit dem Placebo ein aktiv wirksames Medikament erhielt und Verbesserungen des Gesundheitszustands daher auf das Mittel zurückzuführen waren und nicht auf eine symbolische Bedeutung oder die Erwartungshaltung der Teilnehmer. Es erscheint vielleicht absurd, Wissenschaftlern einen solchen Fehler vorzuwerfen, denn wie dumm muss man sein, damit so etwas passieren kann? Aber in manchen Situationen ist es tatsächlich sehr schwer, ein Placebo ohne irgendeine Wirkung zu verabreichen. Stellen wir uns ein Doppelblindexperiment für eine Salbe gegen eine Hauterkrankung vor. Die Placebo-Salbe enthält vielleicht keine bestimmte wirksame chemische Substanz. Aber sie sieht aus wie eine Salbe und fühlt sich auch so an, so dass der Patient getäuscht wird. Es ist anzunehmen, dass sie wohltuende Eigenschaften hat, die sich auf die Haut auswirken. Könnte sich der Zustand der Haut dann nicht auch aufgrund dieser wohltuenden Wirkung verbessern? Dies sind mehr oder weniger die zentralen Faktoren, die Kienle und Kiene in ihrer Abhandlung genannt haben. Man muss sich als Wissenschaftler darüber im Klaren sein, dass jeder dieser Faktoren zu großer Verwirrung führen kann.
Wie überzeugend sind die Argumente gegen den Placebo Effekt? Das Ziel von Dr. Kienle und Dr. Kiene war, uns davon zu überzeugen, dass alle Berichte über den Placebo-Effekt aufgrund der placeboähnlichen Faktoren zustande kamen - und dass es keinen echten wissenschaftlichen Beweis für die -177-
Existenz des Placebo-Effekts gibt. Die beiden Wissenschaftler gestehen ein, dass es gegenteilige Beweise gibt. Studien wie die von Dr. Luparello (wir erinnern uns an die Asthmatiker aus dem Kapitel über die Erwartung) überzeugten Kienle und Kiene, dass ein Placebo-Effekt bei Asthma auftreten kann. Sie schränken dieses Zugeständnis allerdings sofort ein, indem sie betonen, dass Asthma eine Krankheit ist, die mit keiner anderen vergleichbar ist. Ihrer Meinung nach kann sich der Zustand von Asthmatikern aufgrund von Suggestion auf eine Weise verschlechtern, wie es nur bei dieser Krankheit der Fall ist; es sollte uns nicht wundern, dass sich der Zustand aufgrund von Suggestion auch verbessern kann. Aber, so meinen die beiden Wissenschaftler, wir sollten aufgrund dieses Einzelfalls nicht generalisieren und annehmen, der Placebo-Effekt existiere auch bei allen anderen Erkrankungen. Nun, wie plausibel ist es, dass es nur eine einzige Krankheit geben soll, bei der der Geist in der Lage ist, Körperfunktionen mit Hilfe des Placebo-Effekts zu verändern? Ich meine, nur sehr wenig. In einigen Abschnitten ihres Artikels werten Kienle und Kiene die wissenschaftlichen Daten sorgfältig aus; an anderen Stellen übernehmen sie einfach geeignete Definitionen für ihre Argumentation. Sie lehnen es strikt ab, etwas als Placebo-Effekt zu bezeichnen, wenn kein Placebo - das heißt eine Scheinbehandlung - eingesetzt worden ist. Fast jede körperliche Veränderung, die ich auf das Bedeutungsmodell oder die innere Apotheke zurückführe, würden die beiden Wissenschaftler als psychosomatischen Effekt bezeichnen - der, so geben sie zu, extrem wirksam sein kann. In keinster Weise wollen sie die Kraft des Geistes, den Körper zu beeinflussen, anzweifeln oder schmälern. Und so könnten sie den meisten Dingen, die ich hier dargelegt habe, zustimmen und trotzdem behaupten, dass es keinen echten Placebo-Effekt gibt. -178-
Es ist so gut wie unmöglich, bei einem Definitionsstreit wie diesem zu einer Lösung zu kommen. Doch ist es miteinander vereinbar, die Kraft körperlich- geistiger Heilungen anzuerkennen und die Beweise für den Placebo-Effekt zu bestreiten? Warum sollte der Geist in allen Situationen einen großen Einfluss auf den Körper ausüben - nur dann nicht, wenn ein Scheinmedikament oder eine Scheinbehandlung angewendet wird? Für mich sind andere körperlich-geistige Reaktionen stichhaltige indirekte Beweise für die Kraft des Placebo-Effekts und umgekehrt. Im Folgenden werde ich Ihnen verschiedene Praktiken und Maßnahmen vorstellen, die sich erfahrungsgemäß erfolgreich auf Heilprozesse auswirken. Alles, was Sie hier erfahren, basiert auf fundierten Beweisen, wie sie in den vorherigen Kapiteln bereits vorgestellt worden sind. Wir haben die Schul- und die Alternativmedizin bisher als zwei verschiedene Arten von Heilverfahren betrachtet. Im nächsten Kapitel werden wir den Placebo- Effekt und die innere Apotheke als Schnittstelle zwischen den beiden Heilansätzen untersuchen.
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Der Placebo-Effekt in der Schul- und Alternativmedizin Das Kernproblem der Schulmedizin besteht nicht darin, wie sie am besten mit dem Interesse der Patienten an alternativen Verfahren umgeht; ihre Aufgabe ist vielmehr - wie T. S. Eliot einmal gesagt hat -, von alternativen Verfahren zu lernen, um das Wissen, das wir durch die Information verloren haben, zurückzugewinnen. Dr. Frank Davidoff (1998) Der Placebo-Effekt und die innere Apotheke stellen eine Schnittstelle beziehungsweise einen Treffpunkt der Schulmedizin und der Alternativmedizin dar. Diese Entwicklung ist viel versprechend, da die Schulmedizin alternative Verfahren heute mehr respektiert und stärker an ihnen interessiert ist als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt, seit Benjamin Franklin das Blindexperiment anwendete, um den Mesmerismus zu entlarven. Wenn man die beiden medizinischen Ansätze vergleicht, muss man sich darüber im Klaren sein, dass beide eine extrem breite Palette von Verfahren umfassen. Ein Extremfall der Schulmedizin könnte ein Chirurg sein, für den ein idealer Patient unter Vollnarkose steht, da er dann keine lästigen Fragen stellen kann. Auf der anderen Seite gibt es Schulmediziner, für die die Verbindung von Körper und Geist eine wichtige Rolle spielt und die ihre Patienten bewusst bei allen Maßnahmen miteinbeziehen. Ähnlich verhält es sich mit der Alternativmedizin. Manche Therapeuten verfolgen einen tatsächlich ganzheitlichen Ansatz und verwenden viel Zeit darauf, eine Beziehung zu ihren Patienten aufzubauen. Andere -180-
dagegen drücken einem vielleicht nur eine Dose mit Kräutertabletten in die Hand und sagen: »Nehmen Sie die.«
Die Alternativmedizin aus der Sicht der Schulmedizin Warum sieht die Schulmedizin die Alternativmedizin mittlerweile in einem positiveren Licht? Zum einen liegt es am Einfluss der Gesellschaft. Wenn diese insgesamt fasziniert von alternativen Verfahren ist, können sich auch Ärzte früher oder später diesem Einfluss kaum entziehen. Es ist nichts Ungewöhnliches mehr, wenn ein Schulmediziner zusätzlich ein oder zwei alternative Heilverfahren erlernt hat und sie bei der Behandlung bestimmter Patienten miteinbezieht. Die allgemeine Tendenz, die Rechte der Patienten stärker zu achten, wirkte sich ebenfalls auf die Le gitimierung alternativer Verfahren aus. Wenn der Patient sich von einem alternativen Therapeuten behandeln lassen will, hat der schulmedizinisch ausgebildete Arzt zwei Möglichkeiten: Er kann diese Tatsache ignorieren oder er kann offen mit dem Patienten darüber reden, sich über das alternative Verfahren informieren und überlegen, wie die schulmedizinische und die alternative Behandlung am besten zusammenwirken könnten. Wenn der Arzt sich für die zweite Möglichkeit entscheidet, wird er nach einer Weile viel besser über die Alternativmedizin Bescheid wissen. Sobald es zu diesem Austausch kommt, ist es viel schwieriger, ein generelles Misstrauen gegenüber alternativen Verfahren aufrechtzuerhalten - vor allem, wenn der Arzt miterlebt, dass alternative Behandlungen erfolgreich sind. Und schließlich waren Schulmediziner schon immer stolz auf ihre wissenschaftlichen Erfolge, auf ihre Neugier, ihre Fähigkeiten und ihre Forschung. Es musste ihnen früher oder später einleuchten, dass es unwissenschaftlich war, die Alternativmedizin zu ignorieren und es abzulehnen, ihre -181-
Methoden und Ergebnisse wenigstens zu prüfen. Dr. Andrew Weil, der schon immer ein renommierter Anwalt für alternative Heilverfahren war, geht davon aus, dass es in Zukunft vermehrt zu einer »integrativen Medizin« kommen wird bei der Ärzte der Schul- und Alternativmedizin sich mit wechselseitigem Respekt untereinander austauschen und voneinander lernen. Auf diese Weise, so glaubt Weil, werden wir schließlich herausfinden, was bei bestimmten Leiden und bestimmten Patienten hilft und was nicht. Und so wird auch sichergestellt sein, dass keinem Patienten ein wirksames Mittel vorenthalten bleibt, nur weil er zufällig zu einem Arzt gegangen ist, der eine bestimmte medizinische Lehre vertritt. Wie wirkt sich die neue Offenheit nun auf den Ruf und die Wirksamkeit des Placebo-Effekts und der inneren Apotheke aus?
Wo sich Schul- und Alternativmedizin begegnen Da sich die Schulmedizin und die Alternativmedizin mittlerweile gegenseitig befruchten, kann der Placebo-Effekt endlich einen angemessenen Platz an der Schnittstelle zwischen beiden einnehmen. Beide Heilansätze haben eine symbolische Wirkung und beeinflussen daher die Bedeutung, die der Patient dem Kranksein und dem Gesundsein beimisst. Wir haben gesehen, dass eine veränderte Bedeutung die innere Apotheke des Körpers aktivieren und eine schnellere Heilung herbeiführen kann. Wenn Mediziner und Therapeuten beider medizinischer Lehren diese symbolische Dimension akzeptieren, werden sie sie für die Heilung nutzen können. Wir wollen nun ein Placebo-Effekt-Inventar der beiden medizinischen Ansätze erstellen. Ein Gemeinplatz bezüglich des Unterschieds zwischen der konventionellen und der alternativen Medizin ist hierfür eine geeignete Ausgangsbasis: Viele -182-
alternative Heilverfahren verlassen sich stärker auf den PlaceboEffekt, um Ergebnisse zu erzielen, als die meisten Verfahren der Schulmedizin. Im ersten Moment mag dies so klingen, als würde ich die Alternativmedizin ablehnen. Doch man sollte nicht den Fehler machen, sich von der alten negativen Konnotation des PlaceboEffekts beeinflussen zu lassen, und ihn stattdessen lieber als positives Instrument für die Heilung anerkennen. Doch bleibt ein wichtiger Punkt zu betonen: Die Schulmedizin hat in den letzten Jahren stärker als die Alternativmedizin versucht, Behandlungen aus der Praxis zu verbannen, die zum großen Teil mit der Wirkung des Placebo-Effekts Ergebnisse erzielen. Sie tendierte dazu, die Ergebnisse der randomisierten Doppelblindstudien als absolute Wahrheit zu betrachten. Wenn eine solche Studie also ergeben hat, dass ein Medikament nicht besser wirkt als Placebos, galt es als Misserfolg. Auf diese Weise hat die Schulmedizin zentrale heilkundliche Bereiche der Alternativmedizin überlassen. Einige Krankheiten können erfahrungsgemäß nicht durch konventionelle Verfahren geheilt werden, und die Art, wie die Schulmedizin versucht, mit diesen Erkrankungen fertig zu werden, lässt bezüglich der Lebensqualität von Individuen häufig zu wünschen übrig. Die Patienten wenden sich aufgrund chronischer Schmerzen oder Arthritis oft an die Alternativmedizin, weil die Schulmedizin offenbar nicht viel für sie tun kann. Die Alternativmedizin war entweder nicht besonders daran interessiert, Doppelblindstudien durchzuführen, oder sie hatte nicht genügend finanzielle oder andere Mittel, um das zu tun obwohl sich das mittlerweile ändert. Behandlungen, die sich stark auf einen Placebo-Effekt verlassen, wurden in der Alternativmedizin daher nicht ignoriert. Wenn man Berichte von Patienten hört, deren Arztbesuche eher Frust ausgelöst haben, die sich aber emotional unterstützt und besser verstanden fühlen, wenn sie sich an alternative -183-
Therapeuten wenden, muss man sich Folgendes fragen: Sind alternative Verfahren zusätzlich zu den anderen positiven Wirkungen, die sie möglicherweise haben, ein ungewöhnlich wirksames Mittel, um bei solchen Patienten einen PlaceboEffekt hervorzurufen - einen Placebo-Effekt, der nicht durch die üblichen Placebo-Reize, wie sie die Schulmedizin einsetzt, aktiviert wird? Bei einigen Patienten entwickelt sich die innere Apotheke vielleicht nie vollständig, wenn sie nur von klassischen Ärzten behandelt werden. Sobald sie dann die Botschaften von alternativen Therapeuten empfangen, werden ihre inneren Apotheken plötzlich aktiviert. Das Bedeutungsmodell bietet uns einen äußerst nützlichen Ansatz, um verstehen zu können, welche Merkmale der Alternativmedizin sie zu einem ungewöhnlich starken Auslöser für die innere Apotheke machen.
Die Alternativmedizin, das Bedeutungsmodell und die innere Apotheke Dem Bedeutungsmodell zufolge tritt ein positiver PlaceboEffekt am wahrscheinlichsten auf, wenn der Patient seine Geschichte einem interessierten Zuhörer erzählt, eine zufriedenstellende Erklärung dafür erhält, was geschieht und was man tun kann, wenn er sich betreut fühlt, Anteilnahme durch den Betreuer erfährt und wenn er schließlich das Gefühl hat, die Krankheit oder die Symptome besser kontrollieren zu können. Aufgrund ihrer Methoden eignet sich die Alternativmedizin sehr gut, um diese Bedürfnisse zu erfüllen. Sie ist in dem Bereich sogar so erfolgreich, dass einige Schulmediziner meinen, man könne viel von den Kollegen aus der Alternativmedizin lernen. Die erste Voraussetzung, um gesund zu werden, ist eine -184-
einleuchtende Erklärung. Wie wir gesehen haben, brauchen Menschen je nach Wesen und Persönlichkeit unterschiedliche Erklärungen. Wer eher wissenschaftlich orientiert ist, bevorzugt die Schulmedizin. Für diese Menschen sind sämtliche alternative Verfahren häufig nichts als Humbug. Anderen dagegen leuchten alternative Lehren ein. Sie haben das Gefühl, dass die Schulmedizin sie mit vielen Fachausdrücken bombardiert, der Arzt dadurch eine Machtposition einnimmt und der Patient daran gehindert wird, selbst die Kontrolle zu übernehmen. Zumindest auf einige Menschen wirken die Erklärungen der Alternativmedizin plausibler, und alternative Verfahren werden deshalb vorgezogen. Diejenigen, die anfangs einen konventionellen Ansatz vorziehen, bei denen es aber zu keiner Verbesserung kommt, suchen nach einer Weile nach einer anderen Erklärung, einfach weil sie neue Hoffnungen daran knüpfen. Betrachten wir nun einen weiteren Aspekt unseres Bedeutungsmodells, dem in der Alternativmedizin ein großer Stellenwert eingeräumt wird: den Aspekt der Fürsorge und Betreuung. Berührungen zählen zu den elementarsten und einfachsten Ausdrucksformen der Fürsorge und Betreuung; aufgrund von Berührungen fühlten wir uns als Babys betreut und umsorgt. Die Schulmedizin neigt dazu, Berührungen nur sehr begrenzt einzusetzen, und wenn es zu Berührungen kommt, sind sie häufig schmerzhaft. Bestimmte alternative Verfahren wie zum Beispiel die Chiropraktik oder therapeutische Massagen nutzen Berührungen dagegen als zentrales Element. Bei diesen Behandlungsformen kann die Botschaft der Fürsorge sehr viel stärker vermittelt werden. Alternative Therapeuten nehmen sich möglicherweise mehr Zeit für ihre Patienten. Eine homöopathische Behandlung basiert beispielsweise auf einer sehr detaillierten Krankengeschichte des Patienten. Es ist gut möglich, dass ein einzelnes Symptom -185-
eine halbe Stunde lang besprochen wird. Nach dem Besuch beim Homöopathen denkt der Patient sehr wahrscheinlich: »Kein anderer Arzt hat je so viel Zeit darauf verwendet, über meine Kopfschmerzen zu sprechen (oder über mein Asthma oder meine Rückenschmerzen oder meine Allergie). Ich muss diesem Homöopathen wirklich wichtig sein; und die Behandlung hat er bestimmt speziell für mich zusammengestellt.« In einer solchen gesundungsfördernden Umgebung kann die innere Apotheke kaum umhin, den Heilungsprozess zu unterstützen. Kommen wir nun zum Aspekt der Kontrolle beim Bedeutungsmodell. Es gibt ein breites Spektrum alternativer Behandlungen. Die Patienten können während der Behandlung eine ebenso passive Rolle einnehmen wie bei konventionellen Verfahren - zum Beispiel bei der Akupunktur oder Akupressur. Aber andere alternative Verfahren, zum Beispiel solche, bei denen die Ernährung und andere Veränderungen der Lebensweise sowie Meditationen oder Visualisierungsübungen eine große Rolle spielen, bieten dem Patienten viele Möglichkeiten, selbst aktiv zu werden und die Situation zu kontrollieren. Für viele Patienten ist die Alternativmedizin aufgrund dieser Tatsache besonders attraktiv. Selbst wenn man eine Behandlung »erhält«, kann das Gefühl der Kontrolle stärker sein als bei der Schulmedizin.
»Natürliche« Therapien Dr. Ted Kaptchuk und David Eisenberg von der Harvard Medical School haben festgestellt, dass viele Menschen alternative Behandlungsmethoden vorziehen, da sie sie für natürlicher halten als konventionelle Verfahren. Allerdings ist es ziemlich schwierig zu definieren, was mit »natürlich« eigentlich -186-
gemeint ist. Ein Aspekt ist, dass die Behandlung uns angenehm und bekannt vorkommt. Die Wirkung der Behandlung auf den Körper soll den Prozessen, die im Körper ablaufen, wenn er auf sich allein gestellt ist, möglichst ähnlich sein. Eine natürliche Behandlung ist »sanft«, während eine andere Behandlungsform eher »aggressiv« anmutet. Das scheint die folgende These zu untermauern: Je natürlicher eine Behandlung uns erscheint, umso eher haben wir das Gefühl, die Situation zu kontrollieren; je weniger natürlich eine Behandlung uns erscheint, desto eher meinen wir, die Kontrolle über uns und unseren Körper abgegeben zu haben. Für den Skeptiker oder jemanden, der die Alternativmedizin kritisch betrachtet, ist diese Art zu denken völlig unlogisch. Die Kritiker alternativer Heilmethoden weisen darauf hin, dass Gifte wie Schierling oder Arsen Substanzen sind, die in der Natur vorkommen, und dass die chemische Struktur von künstlichen Vitaminen mit der von natürlichen Vitaminen identisch ist. Diese Leute lassen allerdings die symbolische Ebene, die für den Patienten am wichtigsten ist, völlig außer Acht. Auf der symbolischen Ebene gib t es eine logische Verbindung zwischen der Vorstellung, dass etwas natürlich ist, und dem Gefühl, die Situation kontrollieren zu können. Auf der symbolischen Ebene können alternative Heilverfahren auf indirekte Weise ein generelles Gefühl der Kontrolle erzeugen. Auf der praktischen Ebene wiederum führen solche Therapien möglicherweise tatsächlich zu einer größeren Kontrolle, da sie häufig Veränderungen der Lebensweise mit sich bringen oder andere Maßnahmen beinhalten, die der Patient selbst durchführen kann. Stellen wir uns einmal eine Krebspatientin vor, die operiert und dann einer Chemotherapie unterzogen wurde. Nun nimmt sie pflanzliche Heilmittel sowie Nahrungsergänzungsmittel ein, um wieder zu Kräften zu kommen und den Krebs daran zu hindern, zurückzukommen. Sie nimmt verschiedene Pillen und Kapseln zu bestimmten Tageszeiten und hat ihre Ernährung -187-
umgestellt. Diese Patientin hat grundsätzlich die Kontrolle über den weiteren Verlauf ihrer Behandlung übernommen. Vielleicht hat sie nicht einmal einen alternativen Therapeuten zu Rate gezogen, sondern dieses Pflanzen- und Ernährungsprogramm in einem Buch oder im Internet entdeckt. In dieser Beziehung kann man selbstständig viel für seinen Körper tun. Der alternative Ansatz vermittelt der Patientin das Gefühl, die Situation wieder unter Kontrolle zu haben. In diesem Fall verringert sich die Bedrohung durch den Krebs tatsächlich, da man ihm mit relativ einfachen, natürlichen Mitteln begegnen kann. Wenn der einzige Weg, um den Krebs zu bekämpfen, so aussieht, dass der Körper aufgeschnitten und das Blut mit giftigen chemischen Substanzen bombardiert wird, dann wird der Krebs zu etwas Bedrohlichem, das außerhalb der Kontrolle des Patienten liegt - und von ihm verlangt, die Kontrolle über seinen Körper an äußere Kräfte abzugeben. Wenn man davon ausgeht, dass man den Krebs durch natürliche Mittel fern halten kann, reduziert man die Bedrohung durch die Krankheit erheblich, und man hat sofort das Gefühl, sein Schicksal besser kontrollieren zu können. Der Krebs hat nun eine ganz andere Bedeutung als vorher. Und dies erhöht wiederum die Chance, dass jegliche krebsbekämpfenden Substanzen, die in der inneren Apotheke zu finden sind, aktiviert werden.
Alternative Verfahren sinnvoll nutzen Amerikanische Studien haben gezeigt, dass Patienten sich für alternative Verfahren entscheiden, da sie besser zu ihrer Lebenseinstellung und ihrer Gesundheitsphilosophie passen. Unzufriedenheit mit der Schulmedizin und der Wunsch, die Kontrolle zu behalten, standen nicht in einem engen Zusammenhang mit der Anwendung alternativer Verfahren. Die -188-
meisten Menschen nutzten die Alternativmedizin als Ergänzung zur Schulmedizin, weniger als Ersatz. Aus diesen Erkenntnissen können wir Folgendes ableiten: Zum einen neigen Menschen dazu, genau die Verfahren anzuwenden, die bei ihnen zu funktionieren scheinen. Wenn die Schulmedizin ihre Probleme lösen kann, lassen sie sich entsprechend behandeln. Die meisten Probleme, bei denen die Menschen alternative Verfahren anwenden, sind genau diejenigen, bei denen konventionelle Verfahren am wenigsten erfolgreich sind. Die Nutzung alternativer Heilverfahren scheint in den meisten Fällen also weise und plausibel zu sein. Die Studien belegen zum anderen, dass die schlimmsten Befürchtungen vieler Schulmediziner unbegründet sind. Sie haben Bedenken, dass Patienten mit Erkrankungen, die problemlos mit konventionellen Verfahren behandelt werden könnten, eine Diagnose lange Zeit hinauszögern, da sie alternative Behandlungsmethoden anwenden, so dass es zu spät für eine schulmedizinische Therapie sein könnte, wenn sie schließlich einen Arzt aufsuchen. Es ist nur logisch und wohl überlegt, wenn Menschen sich für ein Heilverfahren entscheiden, das ihren Werten und ihrer Einstellung entspricht. Das Motto »Jedem das Seine« beschreibt vielleicht am besten, was unsere innere Apotheke am stärksten aktiviert.
»Lehre den Menschen fischen« Ich habe die Schulmedizin so überspitzt dargestellt, um zu erklären, warum die Alternativmedizin ein besonders wirkungsvolles Mittel ist, um die inne re Apotheke zu aktivieren. In diesem Zusammenhang habe ich darauf hingewiesen, dass die Schulmedizin den randomisierten Doppelblindversuch auf ein Podest stellt und erklärt, es sei der einzige Weg, etwas über -189-
Krankheiten und ihre Behandlung zu erfahren. Ich muss nun hinzufügen, dass die Mängel, die die Allgemeinheit und alternative Therapeuten der Schulmedizin vorwerfen, auch immer häufiger von Ärzten aus den eigenen Reihen erkannt werden. Viele Dinge, die die innere Apotheke stimulieren, werden bereits an einigen medizinischen Universitäten gelehrt. So soll der moderne Arzt seinen Patienten auf verständnisvolle und mitfühlende Weise helfen. Die folgenden Aspekte erhalten immer mehr Bedeutung bei der Ausbildung der Ärzte von morgen: Sie sollten mehr Zeit damit verbringen, mit ihren Patienten zu sprechen, darauf achten, eine positive Beziehung zum Patienten aufzubauen, Berührungen als Teil des normalen Arztbesuchs gezielt einsetzen sowie auf psychische, physische und spirituelle Bedürfnisse eingehen. All diese Fragen werden zunehmend bei der Ausbildung der Ärzte von morgen berücksichtigt. Ich will hier auf keinen Fall versuchen, Ihnen weiszumachen, dass nur alternative Therapeuten über diese heilenden Eigenschaften verfügen. Wenn die vorausschauenden Ausbilder der künftigen Ärzte Recht haben, werden die Aspekte der Alternativmedizin, die wir in diesem Kapitel behandelt haben, ein Modell für jede medizinische Praxis sein. Bei diesem Modell ist der PlaceboEffekt sanft in die tägliche Betreuung der Patienten integriert. Auf diese Weise gibt man ihnen einen großen Teil der eigenen Kontrolle zurück. Ein Arzt oder Therapeut jeder medizinischen Richtung kann jedem Patienten dann mit der Frage begegnen: »Was kann ich tun, um Ihre innere Apotheke dabei zu unterstützen, etwas zum Heilungsprozess beizutragen?« Es ist ein edles Ziel, dabei zu helfen, den inneren Heilungsprozess eines Patienten zu aktivieren. Aber wir sollten uns an den folgenden alten Spruch erinnern: »Gib einem Menschen einen Fisch, und er wird einen Tag lang satt; lehre ihn fischen, und er wird sein Leben lang satt.« Wenn wir in den -190-
letzten zehn Kapiteln überhaupt etwas gelernt haben, dann Folgendes: Es gibt viele Wege, einen Placebo-Effekt hervorzurufen, und in vielen Fällen sind keine besonderen Fähigkeit en oder Kenntnisse erforderlich. Wenn unsere Mutter es konnte, indem sie Pflaster auf unsere Beulen und Kratzer klebte oder eine Hühnerbrühe kochte, warum sollten wir dann nicht in ihre Fußstapfen treten können? Wir sind nun an einem Punkt angekommen, um das, was wir über den Placebo-Effekt gelernt haben, praktisch nutzen und unsere innere Apotheke aktivieren zu können. Wir beginnen im nächsten Kapitel mit einigen Faktoren, die den Prozess der Selbstheilung sowohl unterstützen als auch behindern können, und wir werden untersuchen, wie man diese fördern oder überwinden kann.
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Die heilende Kraft des Wunsches und die Kunst der Vergebung Und in dem Maße, in dem ich Verständnis für meine eigene Unwissenheit, meine dunklen Seiten und meine inneren Dämonen habe, kann ich erst beginnen, das gleiche Verständnis und die gleiche Liebe für andere Menschen zu entwickeln, wenn sie mir ihre dunklen Seiten offenbaren. Wenn ich dazu in der Lage bin, hilft es, uns beide zu befreien. Dr. Dean Ornish »Man muss den Wunsch haben, dass es einem besser geht.« Dieser Rat scheint im ersten Moment so selbstverständlich zu sein, dass er einem fast beleidigend vorkommen könnte. Wünscht sich nicht jeder, der krank ist, dass er wieder gesund wird? Würde nicht jeder die Gesundheit dem Kranksein vorziehen? Es zeigt sich, dass das nicht unbedingt der Fall ist. Und außerdem: Wie kann ein sehnlicher Wunsch die Heilung beeinflussen?
Erwartung und Wunsch Viele Studien haben sich mit der Erwartungshaltung beschäftigt, aber nur wenige haben den Wunsch nach Besserung untersucht. Vielleicht gingen die Forscher einfach davon aus, dass jeder, der unter Schmerzen leidet, sich nach Besserung sehnt. Die wenigen Studien, die durchgeführt wurden, bestätigen, dass die Reaktion auf ein Placebo je nach der Stärke des Wunsches variiert. Zudem zeigen sie, dass man den Placebo-Effekt besser vorhersagen kann, wenn man die Erwartungshaltung und die Stärke des Wunsches »mathematisch« kombiniert, als wenn man -192-
beide Aspekte jeweils für sich untersucht. Der folgende Fall zeigt auf beeindruckende Weise, wie der fehlende Wunsch nach Besserung sowohl die innere als auch jegliche »äußere« Apotheke hemmen kann.
Rodneys Widerstand Die folgende Geschichte wurde auf einer Konferenz über den Placebo-Effekt von Dr. Godehard Oepen, einem Psychiater an einem Krankenhaus in Bedford in Massachusetts, erzählt. Er behandelte einen schizophrenen Patienten, den wir hier »Rodney« nennen wollen. Rodney war zirka fünfundzwanzig Jahre alt und war aufgrund seiner starken und gewalttätigen psychotischen Symptome auf Anordnung des Gerichts eingewiesen worden. Als Dr. Oepen versuchte, mit Rodney zu reden, lehnte dieser es zornig ab, mit dem Psychiater zu kommunizieren. Rodney wurde Haloperidol verschrieben, ein Medikament, das bei psychotischen Erregungszuständen eingesetzt wird und das die Symptome des Patienten kontrollieren oder ihn zumindest benommen machen soll. Überraschenderweise schien das Medikament fast keine Wirkung zu haben, obwohl die Schwestern bestätigten, dass er alle verordneten Spritzen erhielt. Dr. Oepen ging jeden Tag zu Rodney und versuchte ihm geduldig zu erklären, warum die Behandlung ihm helfen konnte. Er wollte zumindest herausfinden, warum der Patient jede Hilfe ablehnte. Jeden Tag beschimpfte Rodney ihn und weigerte sich, mit ihm zu reden. Das ging fünf oder sechs Wochen lang so. Das Medikament brachte nach wie vor keine Besserung, obwohl die Dosis mehrfach erhöht wurde. Dann geschahen zwei überraschende Dinge. Rodney begann mit Dr. Oepen zu reden. Er sagte: »Wissen Sie, Herr Doktor, Sie sind jeden Tag zu mir gekommen und waren immer höflich. Sie -193-
sind nie wütend geworden, obwohl ich Sie so schrecklich behandelt habe. Deshalb habe ich mir gedacht - warum sollte ich es nicht auf einen Versuch ankommen lassen und Ihre Behandlung akzeptieren? Ich werde einfach Tabletten nehmen Sie müssen mir keine Spritzen mehr geben.« Die zweite Überraschung war, dass Rodney nun durch das Haloperidol extrem sediert wurde. Über Nacht war er plötzlich nicht mehr feindselig und angriffslustig, sondern befand sich fast in einem komatösen Zustand. Zu diesem Zeitpunkt erhielt er eine sehr hohe Dosis, die drastisch reduziert werden musste. Bei Rodney trat überdies das parkinsonähnliche Zittern der Hände auf, eine häufige Nebenwirkung starker Tranquilizer wie Haloperidol, die vor allem eintreten, wenn hohe Dosen über einen längeren Zeitraum verabreicht werden. Diese Symptome waren in den vorhergehenden fünf bis sechs Wochen jedoch nicht aufgetreten. »Wissen Sie, ich habe mich die ganze Zeit gegen das Medikament gewehrt«, erzählte Rodney Dr. Oepen später. »Ich habe Sie und das System und überhaupt alles richtig gehasst. Ich spürte, wie das Medikament zu wirken begann, und kämpfte dagegen an, aber es war schwer. Als ich dann damit einverstanden war, die Tabletten zu nehmen, habe ich zugelassen, dass sie ihre Wirkung entfalten, und mich gefügt.« Ab diesem Moment verbesserte sich Rodneys Zustand erheblich: Innerhalb einer Woche ging es ihm bereits sehr viel besser, obwohl es bei den meisten Patienten, die das Medikament bekommen, in der Regel länger dauert. Rodneys Fall ist ungewöhnlich, aber aufschlussreich. Zum Glück wehren sich nur wenige Patienten so extrem gegen den Wunsch, dass es ihnen besser geht. Da Rodneys Beschreibung seines inneren Zustands so stark mit den äußeren Anzeichen übereinstimmt, die Dr. Oepen beobachtete, kann dieses Fallbeispiel uns einen Hinweis darauf geben, wie die innere Apotheke funktioniert. Sechs Wochen lang war es fast so, als -194-
würde Rodney in seiner inneren Apotheke ein Gegenmittel zu Haloperidol bestellen. Sobald er das Rezept nicht mehr bei seiner inneren Apotheke einreichte, konnte das Medikament, das er einnahm, seine Wirkung entfalten. Aufgrund von Rodneys Geschichte müssen wir damit rechnen, dass ein nicht so stark ausgeprägter Wunsch nach Besserung unsere innere Apotheke hemmen kann, anstatt den Heilungsprozess zu fördern. Um für eine optimal funktionierende innere Apotheke zu sorgen, muss man den starken Wunsch haben, dass sich der eigene gesundheitliche Zustand möglichst verbessert. Allerdings muss man sich davor hüten zu denken, die Verbindung von Geist und Körper könne man wie ein Rezept nutzen, das stets hundertprozentig positive Ergebnisse liefert.
Die Beurteilungsfalle Es gibt einen Denkansatz, den ich die »Beurteilungsfalle« nenne. Er verstärkt das Leiden, das durch Krankheiten wie Krebs verursacht wird, erheblich. Es handelt sich um die Annahme, dass Patienten, deren Zustand sich verschlechtert oder die schließlich sterben, versagt und die Verschlimmerung selbst verursacht haben, da sie offensichtlich nicht wollten, dass es ihnen besser ging. Ich muss diese Haltung mit der gleichen Entschiedenheit zurückweisen, mit der ich die Gültigkeit der Körper-Geist-Medizin vertrete. Ich spreche hier nicht über Menschen, die aufgrund ihres ungesunden Lebensstils kränker werden, da sie beispielsweise rauchen, sondern über Fälle, in denen der »fehlende Wunsch nach Besserung« die einzige Erklärung zu sein scheint, warum eine Behandlung bei einem Patienten nicht wirkt. In diesem Buc h geht es nicht um die Interpretation der Vergangenheit, sondern um die positive Gestaltung der Zukunft. -195-
Man hat ein gesundheitliches Problem und möchte die Chance vergrößern, den eigenen Zustand zu verbessern beziehungsweise die Krankheit länger kontrollieren zu können. Wie gut es bei Ihnen funktionieren wird, kann ich nicht vorhersagen. Jemanden im Nachhinein zu verurteilen und die Schuld an etwas zu geben, ist aus zwei Gründen entschieden abzulehnen: Erstens dient es nicht selten Zwecken der Therapeuten selbst. Wenn beispielsweise Heilverfahren angewendet werden, die den Geist miteinbeziehen, jedoch keine Wirkung zeigen, wird häufig der Patient selbst angegriffen, anstatt zuzugeben, dass die Behandlung vielleicht einfach nicht perfekt ist. Dies geschieht, damit man selbst besser dasteht und sich überlegen fühlt - oder im schlimmsten Fall, um mehr Geld zu verdienen. Der zweite Grund, warum ich den »Beurteilungs- und Schuldzuweisungsansatz« ablehne, ist, dass die Reaktionen des Körpers auf die meisten Krankheiten wie Krebs komplex sind. Der Krebs besteht vielleicht aus einer langsam wachsenden und nicht aggressiven Zellart, es kann sich aber auch um eine extrem bösartige Zellform handeln. Die Krebszellen reagieren möglicherweise sehr empfindlich auf Bestrahlungen oder eine Chemotherapie, sie können aber auch resistent dagegen sein. Die Abwehrkräfte können optimal funktionieren oder auch durch andere Krankheiten, unter denen der Betroffene leidet, geschwächt sein. Von all diesen Faktoren sowie von den Heilkräften des Körpers und des Geistes hängt es ab, wie der Kampf gegen die Krankheit ausgeht. Zu behaupten, entscheidend sei nur, wie stark der Wunsch nach Besserung ist, würde die Sache zu sehr vereinfachen. Viele der oben genannten Faktoren liegen außerhalb unserer Kontrolle. Daher ist es sinnvoll, wenn wir uns vor allem auf die Aspekte der Krankheit konzentrieren, die wir kontrollieren können. Wenn wir nach vorne statt zurück blicken, können wir unseren Wunsch stärken, uns von der Krankheit zu erholen, aber -196-
wir sollten das auf bescheidene und mitfühlende Weise tun. Wenn jemand ohnehin schon sehr geplagt ist, weil sein Krebs sich immer weiter ausbreitet oder ihn erneut befallen hat oder weil er unter einer anderen ernsten Krankheit leidet, sollten wir ihn nicht noch unglücklicher machen, indem wir behaupten, er habe die Erkrankung selbst verursacht - vor allem wenn diese Behauptung jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrt. Wenden wir uns nun wieder unserer Ausgangsfrage zu: Hat nicht jeder automatisch den Wunsch nach Besserung - und können wir nicht davon ausgehen, dass dieser Wunsch gar nicht mehr stärker werden kann?
Wenn der Wunsch nach Besserung fehlt Es ist unser Ziel, Menschen zur Selbsthilfe anzuleiten; deshalb sollten wir uns zunächst einmal selbst kritisch betrachten. Wenn wir das tun, stellen wir vielleicht fest, dass unser Wunsch nach Besserung auch von anderen psychologischen Bedürfnissen beeinflusst wird, die unter Umständen einen optimalen PlaceboEffekt verhindern können. Dieses Wissen könnte uns in die Lage versetzen, eine bessere Verbindung zu unserer inneren Apotheke aufzubauen. Für Menschen, die seit längerem mit einer chronischen Erkrankung leben, ist es normal, einige Bereiche ihres Lebens nach der Krankheit auszurichten. Das kann ein völlig sinnvoller Anpassungsprozess sein - zum Beispiel, wenn ein Diabetiker sich an die erforderliche Diät gewöhnt und regelmäßig körperlich trainiert, um überflüssige Pfunde abzunehmen. Wenn wir unser Leben auf diese Weise organisieren, definieren wir uns in bestimmter Hinsicht über die Krankheit. Sie wird Teil unserer Identität. Und schließlich macht es uns vielleicht zu viel Angst, diesen Teil von uns aufzugeben. Caroline Myss beschreibt in ihrem Buch Mut zur Heilung, -197-
wie es dazu kommt: Ich glaube, dass viele vor dem Gesundwerden fast genauso viel Angst haben wie vor einer Krankheit... Eine Krankheit kann beispielsweise ein wirksamer Weg sein, um Aufmerksamkeit zu erhalten, die einem sonst nicht zuteil wird - als eine Form von Macht kann sie fast als reizvoll erscheinen. Ferner kann eine Krankheit Ihnen die Botschaft vermitteln, dass Sie Ihr Leben wirklich gründlich ändern müssen. Weil Veränderungen zu den erschreckendsten Aspekten des Lebens zählen, können Sie eine Veränderung vielleicht mehr fürchten als eine Krankheit und darum immer wieder aufschieben. Myss zufolge finden Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl durch den Ausbruch einer Krankheit eine plausible Erklärung für Schuldgefühle sowie für Scham oder das Gefühl, versagt zu haben - schließlich kann man von einem Kranken nicht erwarten, dass er in der Welt gut funktioniert. Myss erinnert uns daran, dass solche rationalisierten Gefühle über die Selbstgeißelung aufgrund von echten Misserfolgen weit hinausgehen können; sie können unsere tiefsten Empfindungen bezüglich der Beziehungen mit anderen Menschen beeinflussen. Für einige seelisch verletzte Menschen bedeutet das Gesundwerden und das Erlangen von Unabhängigkeit Isolation und Verletzlichkeit. Für viele ist die Furcht vor dem heroischen Zustand der Unabhängigkeit - und letztlich vor dem Alleinsein die Ursache für die Weigerung des Körpers, wieder gesund zu werden.
Ein Wunschinventar Mithilfe einiger Fragen kann man wertvolle Hinweise über die Botschaft erhalten, die man tatsächlich an seine innere Apotheke schickt. Denken Sie daran, sehr selbstkritisch zu sein: • Wurde Ihnen, als Sie aufwuchsen, auf die eine oder andere -198-
Weise vermittelt, dass Sie nichts Besonderes sind? Gleich ob Sie deshalb den versteckten Wunsch entwickelt haben, krank zu bleiben, oder nicht - es könnte Ihnen viel besser gehen, und Sie würden möglicherweise viel besser mit Ihrem Leben zurechtkommen, wenn Sie sich wegen dieses Problems beraten lassen würden. • Stellen Sie sich die folgende Frage: »Wie würde mein Leben aussehen, wenn dieses gesundheitliche Problem (meine Migräne, meine Rückenschmerzen oder was auch immer) plötzlich völlig verschwinden würde?« Die »richtige« Antwort auf diese Frage, die uns anerzogen wurde, lautet: »Oh, welch eine Freude wäre das. Mein ganzes Leben wäre dann einfach großartig.« Diese oder eine ähnliche Antwort kommt uns üblicherweise in den Sinn. Wenn wir aber ganz genau auf unsere innere Stimme achten, bemerken wir vielleicht einen winzigen Moment, in dem wir zögern, bevor die »richtige« Antwort herausschießt. In diesem Moment sind wir uns vielleicht vage eines Zweifels oder bestimmter Ängste bewusst. Dieses Zögern könnte der beste Hinweis dafür sein, dass unser Wunsch, gesund zu werden, nicht ganz eindeutig ist, sondern sich mit dem Wunsch vermischt, an unserer Krankheit festzuhalten. Wenn wir uns auf dieses Gefühl konzentrieren, könnten wir möglicherweise selbst unsere innersten Bedürfnisse erkennen oder, falls nötig, mit der Hilfe eines Therapeuten. • Wenn wir auf die allgemeine »Waswärewenn-Frage«, die wir uns gerade gestellt haben, keine Antwort erhalten, müssen wir vielleicht gezieltere Fragen stellen: a) »Spielt meine Krankheit bei dem, was ich tue und wie ich etwas tue, eine Rolle?« b) »Spielt meine Krankheit in den Beziehungen, die ich zu meiner Familie und Freunden habe, eine Rolle?« Denken Sie gut über Ihre Antworten nach und stellen Sie sich -199-
dann erneut die große »Waswärewennesvorbeiwäre-Frage«. Wenn Sie ganz ehrlich sind, würde ein Teil der Antwort vielleicht lauten: »Dann müsste ich endlich das Projekt beenden, das ich schon seit Jahren vor mir herschiebe.« Oder: »Dann würde meine Familie mich ignorieren, und ich würde mich einsam fühlen.« Solche Antworten weisen Sie auf Ihre wahren Beweggründe hin. Mit Hilfe dieses Inventars können Sie vielleicht einige Ursachen für widersprüchliche Wünsche in Bezug auf Gesundheit und Krankheit erkennen. Danach sollten Sie überlegen, ob es sich um einen ganz normalen Konflikt handelt. Es ist wohl eine allgemein menschliche Eigenschaft, kein eindeutiges Gefühl bei diesen Dingen zu haben. Vielleicht ist Ihre Ambivalenz aber so stark, dass es ratsam wäre, sich von einem Fachmann beraten zu lassen. Ein Arzt oder Therapeut, der Ihnen aufmerksam zuhört, ist sehr gut für ein erstes Gespräch geeignet. Wenn sich bei diesem Gespräch herausstellt, dass die ambivalenten Wünsche den Heilprozess tatsächlich behindern, kann Ihr Gesprächspartner Ihnen möglicherweise einen geeigneten Psychologen oder jemand anderen nennen, der Sie beraten kann. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es äußerst schwierig ist, Probleme dieser Art ganz alleine zu lösen. Sie können sicher sein, dass der Heilungsprozess durch die Beratung gefördert wird. Allein die Tatsache, dass Sie optimistisch gestimmt sind und erwarten, dass sich die Beratung positiv auf Ihre Gesundheit auswirken wird, verbessert die Chancen, dass die Beratung erfolgreich ist. Wenden wir uns nun einem weiteren Aspekt zu, der einen großen Einfluss auf die Gesundheit haben kann: der Vergebung.
Vergebung und die innere Apotheke Vergebung scheint zunächst vielleicht nicht viel mit dem -200-
Wunsch nach Besserung zu tun zu haben, aber wir haben gerade gesehen, wie der verborgene Wunsch, krank zu bleiben, der inneren Apotheke genau die falschen Signale übermitteln kann. Auch wenn das Gefühl der Vergebung fehlt, können falsche Botschaften weitergeleitet werden.
Die Weigerung zu vergeben Die meisten Menschen tragen Tag für Tag eine Menge Groll oder sogar ein Gefühl des Hasses gegenüber Menschen mit sich herum, von denen sie sich in der Vergangenheit schlecht behandelt fühlten. Wenn uns jemand danach fragt, haben wir immer sehr gute Gründe dafür, so zu empfinden. Wir können nachweisen, dass wir keine Schuld hatten und dass es allein der Fehler des anderen war. In der Regel reagieren wir folgendermaßen: »Man kann doch nicht erwarten, dass ich jemandem verzeihe, der so etwas getan hat.« Bei den meisten von uns spielt dieser Groll nur eine ziemlich kleine Rolle im Leben, und der Zorn vereinnahmt uns nicht. Ich überlasse es spirituellen Lehrern, uns zu sage n, wie wichtig es ist zu vergeben. Da ich mich mit Gesundheitsfragen befasse, interessiere ich mich dafür, wie großer Zorn die Gesundheit verschlechtern beziehungsweise die Genesung von einer Krankheit ernsthaft beeinträchtigen kann. Ich glaube, in diesen Fällen argumentieren wir aus der falschen Perspektive. Wir sprechen über Vergebung - oder vielmehr darüber, dass wir nicht bereit sind zu verzeihen -, als ob es nur an dem anderen Menschen liegen würde. Wir denken, wenn wir ihm vergeben, dann bestreiten wir, dass sein Verhalten tatsächlich so schlimm und böswillig war. Wir bestehen häufig darauf, dass es Konsequenzen haben sollte, wenn jemand etwas Falsches tut, und daher glauben wir, der andere käme einfach so davon, wenn wir ihm verzeihen - was das ganze System -201-
moralischer Regeln in Frage stellen würde. Bei dieser Gleichung vergessen wir allerdings, dass es beim Verzeihen nicht in erster Linie um den anderen Menschen geht, sondern um uns. In Bezug auf die Gesundheit stellt sich die Frage, ob wir uns bewusst sind, welche Last wir aufgrund des angestauten und sorgfältig gehegten Zorns und Ärgers täglich mit uns herumschleppen. Wenn unsere innere Apotheke die Heilung unterstützen soll, muss sie sich der chemischen Bahnen bedienen, die die Heilung im Körper bewirken. Wie wir gesehen haben, ist einer dieser Wege die Stress-Entspannungs-Bahn. Wir sollten dafür sorgen, dass die heilenden chemischen Substanzen der inneren Apotheke freie Bahn haben. Wir wollen nicht, dass der Weg durch zusätzliche Stresshormone blockiert wird, die den Blutdruck steigen lassen und unser Immunsystem schwächen. Wie sollte die innere Apotheke in solch einer Situation dann noch ihre Aufgabe erfüllen? Jedes Selbstheilungsprogramm sollte ein »Vergebungsinventar« enthalten, das auf der folgenden Frage basiert: Gibt es in meinem Leben einen Menschen, dem ich noch nicht verziehen habe, so dass ich, ohne mir darüber bewusst zu sein, eine Menge Zorn mit mir herumtrage, der mich daran hindert, so gesund zu sein, wie ich es sein könnte?
Lernen, sich selbst zu verzeihen Wenn wir prüfen, ob negative Gefühle unsere Heilung verhindern, müssen wir darauf achten, dass wir auch uns selbst verzeihen, da es eine sehr natürliche menschliche Reaktion ist, sich selbst die Schuld daran zu geben, dass man krank geworden ist. Wie ich bereits erklärt habe, ist das Gefühl der Kontrolle ein wesentlicher Faktor für ein gesundes Leben. Eine der Methoden, -202-
um eine langsam arbeitende innere Apotheke in Schwung zu bringen, besteht darin, das Gefühl, dass man sein Leben trotz der Krankheit im Griff hat, zurückzugewinnen. Paradoxerweise kann sich dieses Gefühl der Kontrolle auch einstellen, wenn man meint, man sei selbst für seinen Zustand verantwortlich und es sei nicht nur Schicksal oder Zufall gewesen, dass man krank geworden ist. Kurzfristig gesehen kann die Annahme »Ich habe mich selbst krank gemacht« der erste Schritt in Richtung Gesundheit sein, da man auf diese Weise wieder ein Gefühl der Kontrolle über sein Leben erhält. Aber wenn man sich monate- oder sogar jahrelang über sich selbst ärgert, weil das eigene Leben wegen der Krankheit völlig durcheinander geraten ist, könnte man ebenso wütend auf sich selbst werden wie auf irgendeinen anderen Menschen, der einen möglicherweise verletzt hat. In diesem Fall kann der angestaute (und in der Regel unbewusste) Zorn die innere Apotheke stark an der Heilung hindern. Anfangs bietet einem dieser Zorn möglicherweise eine kleine Unterstützung, weil man ein Gefühl der Kontrolle hat, aber langfristig gesehen überwiegen die negativen Auswirkungen von Zorn diesen positiven Effekt bei weitem. Unter diesen Umständen ist es eine ebenso wichtige Aufgabe, sich selbst zu verzeihen, dass man krank geworden ist, wie zu lernen, jemand anderem zu vergeben. Nehmen wir an, ein Mann namens Chuck muss Tabletten gegen seinen Diabetes nehmen. Er weiß, dass Rauchen gerade bei Diabetes extrem schädlich ist, und es wurde ihm immer wieder gesagt, dass er etwas für seine Fitness tun müsse. Nehmen wir nun weiter an, dass Chuck ständig vergisst, seine Tabletten zu nehmen, sich noch nicht einmal darum bemüht, mit dem Rauchen aufzuhören, und den ganzen Tag auf der Couch sitzt. Es ist gut möglich, dass nach ein paar Jahren erhebliche Schäden wie zum Beispiel ein Nierenleiden aufgrund des unbehandelten Diabetes auftreten. Stellen wir uns Chucks Elend -203-
in seiner gegenwärtigen Situation einmal vor. Er hat Schuldgefühle aufgrund seines bisherigen Verhaltens und macht sich deswegen Vorwürfe. Es ist eine normale Reaktion, wenn Chuck sich Vorwürfe macht und sich schuldig fü hlt, weil er bestimmte Dinge zu tun versäumt hat. Wenn ich Ihnen rate, sich nicht selbst zu verurteilen und sich keine Vorwürfe zu machen, bedeutet das nicht, dass ich ein völlig unverantwortliches Verhalten propagiere. Doch kehren wir das Beispiel einmal um: Chuck, der unter starken körperlichen Schäden leidet, hat eine Lehre daraus gezogen. Was soll man ihm jetzt raten? Soll er weiterhin zurückblicken und sich ständig Vorwürfe machen? Soll er wütend darüber sein, wie dumm er sich verhalten hat? Oder soll er nach vorne blicken und überlegen, was er jetzt tun kann, damit seine Gesundheit besser wird und das den Rest seines Lebens auch bleibt? Mir wäre es lieber, wenn Chuck nach vorne sieht. Schließlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass er große Fortschritte bezüglich seiner Gesundheit macht, solange er wütend auf sich ist und das Gefühl hat, ein Versager zu sein. Selbst bei einem extremen Fall wie Chuck kann es eine wesentliche Heilkomponente sein, sich selbst zu verzeihen. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass es häufig schwer ist, sich selbst oder anderen wahrhaftig zu vergeben. Manchmal ist es daher ratsam, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Wer hat die Kontrolle über unser Leben? Wir haben gesehen, auf welche Weise ambivalente Gefühle bezüglich einer gesundheitlichen Verbesserung sowie die Weigerung zu vergeben das optimale Funktionieren der inneren Apotheke verhindern können. Was haben diese beiden Faktoren unserem Modell zufolge mit dem Bedeutungsgehalt zu tun? Wenn wir uns von den ambivalenten Gefühlen befreien, die uns -204-
bei unserem Wunsch nach Gesundheit im Weg stehen, verändern wir deutlich die Bedeutung, die eine Behandlung unserer Krankheit für uns hat. Die Behandlung stellte anfangs eine Bedrohung für uns dar, da sie uns der Aufmerksamkeit hätte berauben können, nach der wir uns sehnten, oder weil wir uns dann ernsthaft hätten bemühen müssen, Dinge in unserem Leben zu verändern, was wir bisher vermieden haben. Nun hat die Behandlung eine ausschließlich positive Bedeutung für uns, da wir wirklich wollen, dass es uns besser geht. Vergebung hat weniger mit der Bedeutung einer bestimmten Krankheit oder Behandlung zu tun, sondern vielmehr damit, welche Bedeutung unser Leben für uns hat. Vergebung hat etwas damit zu tun, was für ein Mensch wir sein möchten. Von der Vergebung hängt es auch ab, wer unser Leben kontrolliert: Paradoxerweise geben wir umso mehr Kontrolle über unser Leben und die Bedeutung, die es für uns hat, ab, je mehr wir uns weigern, anderen zu verzeihen. Nun wollen wir uns ansehen, wie man Geschichten nutzen kann, um die Arbeit der inneren Apotheke zu unterstützen.
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Die heilende Kraft der eigenen Geschichte »Ich möchte, dass ihr euch an diese eine Sache erinnert«, sagte Badger. »Die Geschichten, die Menschen erzählen, passen in gewisser Weise auf sie auf. Wenn euch Geschichten einfallen, solltet ihr sie pflegen. Und ihr solltet lernen, sie weiterzugeben, wenn sie gebraucht werden. Manchmal benötigt ein Mensch eine Geschichte dringender als Nahrung, um am Leben zu bleiben.« Barry Lopez (1993) Der nächste Schritt, den Placebo-Effekt und die innere Apotheke für die eigene Gesundheit zu nutzen, besteht darin, sich stets darüber bewusst zu sein, dass diese Prozesse stark von der Bedeutung abhängen, die man der Krankheit und der Behandlung beimisst. Mittlerweile wissen Sie, dass eine positive Bedeutung sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt: einer einleuchtenden Erklärung, Fürsorge und Anteilnahme von anderen Menschen sowie dem Gefühl, die Krankheit und ihre Symptome besser kontrollieren und meistern zu können. Ich habe außerdem beschrieben, dass das Erzählen von Geschichten eine der grundlegendsten Methoden von Menschen ist, verwirrenden und bedrohlichen Ereignissen eine Bedeutung zu verleihen.
Die Arbeit mit Geschichten Tims Hautausschlag und sein Chef Der Allgemeinarzt Dr. Bill Hankins erzählte gerne die folgende Geschichte: Sie handelt von einem vierunddreißigjährigen -206-
Patienten namens »Tim«, der Dr. Hankins ein paar Monate lang mehrfach aufsuchte, da er einen lästigen Hautausschlag hatte. Die Behandlung des Ausschlags war frustrierend, da Hankins keine bestimmte Krankheit diagnostizieren konnte und die üblichen Mittel gegen Hauterkrankungen, die er dem Patienten verschrieb, den ständigen Juckreiz nicht lindern konnten. Beim dritten oder vierten Termin entschloss sich Dr. Hankins zu einer neuen Strategie. Er glaubte an die Verbindung von Körper und Geist und bat Tim daher zu beschreiben, was in den letzten Monaten in seinem Leben passiert war. Tim erzählte zunächst ein wenig von seiner Familie und seinem Zuhause, doch als er begann, über seine Arbeit zu sprechen, war es offensichtlich, dass er und sein Chef einen ernsthaften Konflikt hatten, der sich ungefähr zu der Zeit verschärft hatte, als der Hautausschlag das erste Mal aufgetreten war. Als er hörte, wie Tim über das unerträgliche Verhalten und die Unfähigkeit seines Chefs wetterte, hatte Dr. Hankins eine Eingebung: Als Tim das nächste Mal eine Pause machte, um tief Luft zu holen, sagte er: »Es klingt so, als ob es Ihnen wirklich unter die Haut geht.« »Wenn Tim eine Figur aus einem Comic gewesen wäre«, so erzählt Dr. Hankins, »hätte man eine kleine Glühbirne über seinem Kopf leuchten sehen, als er diesen Zusammenhang begriff. Er bestätigte sofort, dass der zeitliche Zusammenhang die Symptome perfekt erklären konnte. Der Ausschlag verschwand kurz darauf und plagte ihn nie wieder.« Diese Geschichte ist ein gutes Beispiel für die Arbeit mit Geschichten. Als Tim die Arztpraxis an diesem Tag verließ, hatte er eine ganz andere, neue Geschichte über seinen Ausschlag im Kopf. Sie verlieh seinen Symptomen eine andere Bedeutung, und allein diese neue Bedeutung führte zu einer fast magischen Heilung. Allerdings ist Tims Fall nicht das beste Beispiel für die positive Kraft von Geschichten. Denn Tim erkannte zwar sofort ihre Relevanz, war aber an der -207-
Ausarbeitung fast nicht beteiligt. Im Gegensatz dazu macht die Arbeit mit Geschichten, die wir hier erläutern wollen, Sie zum Autor beziehungsweise zur Autorin Ihrer eigenen Lebensgeschichte einschließlich Ihrer Gesundheit und Ihrer Krankheiten. So sollte es auch sein, denn wer wäre geeigneter, Ihre Biographie zu verfassen, als Sie selbst? Hin und wieder habe ich selbst versucht, vorgefertigte Geschichten an Patienten weiterzugeben, und ich muss zugeben, dass ich nur sehr selten so erfolgreich war wie Bill Hankins. Nach meiner Erfahrung haben Geschichten die größte heilende Wirkung, wenn der Patient unmittelbar als Autor oder Koautor beteiligt ist. Um erfolgreich mit Geschichten zu arbeiten - ob alleine oder unter Anleitung -, müssen drei Komponenten des Bedeutungsmodells mit einfließen. Dafür sind drei Schritte erforderlich: 1. Erzählen Sie sich die ganze Geschichte Ihrer Krankheit, und ordnen Sie dieser Geschichte einen Platz in Ihrer Lebensgeschichte zu. 2. Überlegen Sie, wer Ihrer Geschichte zuhören wird. 3. Denken Sie darüber nach, auf welche Weise Sie die Geschichte verändern können, damit sie einen besseren Schluss bekommt. Sehen wir uns die einzelnen Punkte nun der Reihe nach an. Wir beginnen mit dem Entwurf der Geschichte.
Eine Geschichte entwickeln Erzählen Sie sich die ganze Geschichte Ihrer Krankheit, und ordnen Sie dieser Geschichte einen Platz in Ihrer Lebensgeschichte zu. Der erste Schritt, um mit einer Krankheit besser fertig zu -208-
werden, besteht darin, die bestmögliche Erklärung dafür zu finden. Dafür müssen Sie die Geschichte der Krankheit erzählen: auf welche Weise sie sich erstmals in Ihrem Leben geäußert hat; was sie zu verursachen schien; ob sie anderen Dingen ähnelt, die Sie in der Vergangenheit bereits erlebt haben; und welche Veränderungen Sie durchgemacht haben, seitdem Sie mit der Krankheit leben müssen. Lesen Sie dazu die folgende beeindruckende Geschichte: Was bedeutet es, sich die Hüfte zu brechen? Dr. Jeffrey Borkan und seine Kollegen von der University of Massachusetts wollten herausfinden, was ältere Menschen dachten, die sich die Hüfte gebrochen hatten. Sie befragten zu diesem Zweck Patienten, die sich nach der Operation in einem Rehabilitationszentrum befanden. Bo rkan und seine Kollegen beobachteten den Genesungsprozess nach der Operation sechs Monate lang. Bei der Studie wurden sehr detaillierte, persönliche Interviews geführt. Alle Patienten wurden gebeten zu erzählen, wie es zum Hüftbruch gekommen und was danach geschehen war. Die Interviews hatten das Ziel, zum Kern der folgenden Frage zu kommen: »Was bedeutet das Ganze für Sie?« Als die Forscher alle Geschichten auswerteten, stellten sie fest, dass sie sich in zwei Kategorien einteilen ließen. Die Erzählungen der einen Gruppe der Patienten waren recht einfache Tatsachenberichte, die im Grunde Folgendes besagten: »Ich war gesund, und mein Leben ging seinen normalen Gang, aber dann hatte ich einen Unfall und brach mir dabei die Hüfte.« Die Erzählungen der anderen Gruppe waren komplizierter und fatalistischer: »Zuerst wurde ich krank, und als meine Gesundheit sich verschlechterte, kamen andere Probleme hinzu, und dann kam eins zum anderen, bis ich schließlich so krank war, dass ich nicht mehr gehen konnte, ohne dass mir dabei -209-
schummrig wurde oder ich mich ganz schwach fühlte, daher fiel ich schließlich hin und brach mir die Hüfte.« Zu Anfang der Untersuchung schien es keine offensichtlichen medizinischen Unterschiede zwischen den beiden Patientengruppen zu geben. Aber am Ende stellten Dr. Borkan und seine Kollegen begeistert fest, dass die Hüfte bei der ersten Gruppe, der »Ichwargesundundhatteeinen-Unfall- Gruppe«, nach der Operation jeweils erheblich schneller verheilte als bei der anderen Gruppe. Es müssten natürlich weitere Untersuchungen durchgeführt werden, um herauszufinden, ob es eine Wirkung auf die Heilprozesse der negativ eingestellten Patienten hätte, wenn man mit ihnen daran arbeiten würde, ihre Geschichten zu verändern. Es ist in jedem Fall wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass es kein einfaches Rezept dafür gibt, wie man die Geschichte seiner Krankheit erzählen sollte, denn wenn sie eine heilende Wirkung haben soll, muss es wirklich die eigene Geschichte sein.
Woher weiß ich, welche Geschichte für mich richtig ist? Nur weil es eigentlich Ihre Aufgabe ist, Ihre eigene Geschichte zu erzählen, hält das andere Menschen noch längst nicht davon ab, Ihnen mit den besten Absichten ihre Version Ihrer Krankheitsgeschichte zu erzählen und darauf zu bestehen, dass es die richtige ist. Ihr Arzt wird Ihnen natürlich seine medizinische Geschichte erzählen: von der Diagnose über die angeordnete Behandlung bis zur bestmöglichen Zukunftsprognose bezüglich der Krankheit. Schließlich erzählt Ihre Nachbarin oder Ihre Cousine Ihnen, dass der Arzt keine Ahnung hat und dass Ihre Symptome genauso sind wie die ihrer Freundin, die Probleme mit den Gallensteinen hat, weshalb Sie -210-
natürlich das gleiche Problem haben und operiert werden müssen. Wenn Sie mit anderen Menschen reden, die das gleiche Problem haben wie Sie - vor allem, wenn sie eine spezielle Organisation für Patienten gegründet haben, die unter dieser Krankheit leiden -, erzählen sie Ihnen vielleicht, wie sie damit fertig geworden sind und wie sich der ideale Patient in der Organisation ihrer Meinung nach verhält. Sie haben die Freiheit, alle diese Informationen für Ihre Geschichte zu nutzen, aber Sie sind nicht dazu verpflichtet. Die Geschichte muss das wiedergeben, was Ihrer Meinung nach geschehen ist und was für Sie am plausibelsten ist. Es könnte sein, dass Sie Wochen, Monate oder sogar Jahre benötigen, um alle Faktoren miteinzubeziehen. So schwierig es bereits sein mag, die Geschichte Ihrer Krankheit zu entwickeln, die Arbeit ist noch nicht vorbei. Wenn es wirklich die Geschichte Ihrer Krankheit ist, dann ist es ein Kapitel oder eine Reihe von Kapiteln in der gesamten Geschichte Ihres Lebens. Wir wissen nicht, was die Krankheit für Sie bedeutet, bis wir sie korrekt im Kontext Ihrer Biographie platziert sehen. Manche Berichte über Krankheiten sind vorübergehende Unterbrechungen Ihrer Lebensgeschichte. Wenn Sie genesen, kehren Sie zu Ihrem gewohnten Leben zurück. Andere Geschichten - vor allem solche über schwerwiegende Krankheiten wie Diabetes oder über starke Behinderungen aufgrund eines Schlaganfalls - verändern den gesamten Verlauf und die Richtung Ihrer Autobiographie: Sie werden ein anderer Mensch, der ein anderes Leben führt. In diesem Fall ist es von entscheidender Bedeutung, die Geschichte in die Autobiographie einzubetten, um genau zu erkennen, welche Bedeutung die Krankheit für Sie hat. Arthur Frank, ein Soziologe, der Krebs hatte und einen Herzinfarkt überlebte, als er noch nicht einmal vierzig Jahre alt war, hat viel Zeit damit verbracht, komplexe Krankheitsgeschichten von Menschen zu untersuchen, deren -211-
Leben sich durch die Krankheiten vollkommen veränderten. Er wusste, dass man keine strengen Kategorien aufstellen darf und die Besonderheit jeder Geschichte betrachten und ihre eigene Struktur erkennen muss. Unter Berücksichtigung dieser Faktoren konnte Frank dennoch drei grundlegende Arten von Geschichten ausmachen, die häufig über schwere chronische Krankheiten erzählt werden.
Chaos, Wiederherstellung und die Geschichte der Suche Die Chaosgeschichte ist eine seltsame Mischung. Man erzählt sie, wenn man sich von einer Krankheit überwältigt fühlt und nicht die richtigen Worte findet, um seine Angst auszudrücken. Anderen fällt es schwer, dieser Erzählung zuzuhören, und häufig suchen sie eher das Weite, da eine solche Geschichte ihnen Angst macht. Diese Phase des Geschichtenerzählens ist zum Glück in der Regel nur vorübergehend. Die Wiederherstellungsgeschichte ist die Art von Geschichte, die Ärzte gerne erzählen und die die meisten von uns, zumindest in der frühe n Phase einer lebensbedrohlichen Krankheit, am liebsten hören: Nach der richtigen Behandlung wird alles wieder in Ordnung sein, und die Krankheit ist dann nichts weiter als eine unangenehme Erinnerung. Ärzte erzählen gerne eine Version der Wiederherstellungsgeschichte, in der sie selbst die Helden sind: Der Patient lässt die medizinische Standardtherapie über sich ergehen, die Therapie wirkt, und alle sind glücklich und zufrieden. Dank der modernen Medizin kann man mit chronischen Krankheiten leben, selbst wenn sie unheilbar sind. Vor hundert Jahren starben viele Menschen an Infektionen, die man heute verhindern oder bekämpfen kann. Wenn jemand unter einer Koronarerkrankung litt, an Krebs oder Diabetes erkrankt war, erlag er der Krankheit häufig bereits in einer frühen Phase. -212-
Heute kann man diese Krankheiten immer noch nicht heilen, aber es ist mittlerweile möglich, das Leben bis zu einem sehr späten Stadium der Krankheit zu verlängern. Allerdings ist unser Leben nicht so wie vor der Krankheit. Wir müssen bestimmte Dinge tun (zum Beispiel täglich Insulin spritzen), und es gibt anderes, was uns nicht mehr möglich ist (beispielsweise Treppensteigen, ohne dabei Atemnot zu bekommen). Das erinnert uns jeden Tag daran, dass wir mit einer Krankheit leben. Es bedeutet auch, dass etwas anderes als eine Wiederherstellungsgeschichte unserem Leben letztlich Sinn verleiht. Geschichten der Suche sind Arthur Franks letzte und interessanteste Erzählkategorie. Die Geschichte der Suche ähnelt den langen Märchen, die uns vorgelesen wurden, als wir noch Kinder waren. Darin zieht der Held aus, um eine Aufgabe zu erfüllen, wie zum Beispiel einen Drachen zu erlegen oder eine Jungfrau in Gefahr zu retten. Manchmal gelingt es ihm, diese Aufgabe zu erfüllen, manchmal auch nicht. Unterwegs muss er jedenfalls eine Reihe von Abenteuern bestehen. Diese Abenteuer lenken den Helden manchmal für eine Weile von seiner Aufgabe ab und bereiten ihn gleichzeitig besser auf ihre Bewältigung vor: Menschen, die ihm helfen können, freunden sich mit ihm an, verleihen ihm verschiedene magische Kräfte und geben ihm andere Dinge mit auf den Weg, die er braucht, wenn er dem Drachen begegnet. Die Abenteuer können eine wesentliche Voraussetzung für die Erfüllung der Aufgabe sein, da der Held unter Beweis stellt, dass er für die letzte Herausforderung bereit ist, wenn er vorher die leichteren bewältigt. Trotzdem ist die Hauptbotschaft der Geschichte der Suche, dass der Held sich am Ende verändert hat. Er ist nicht mehr der dreiste, unreife Jüngling, der er am Anfang war; er ist durch seine Erfahrungen stärker und reifer geworden. Wenn er seine Aufgabe schließlich erfüllt, ist das auf seine neuen Fähigkeiten -213-
und die Weisheit zurückzuführen, die er erlangt hat. Wenn er sie nicht erfüllt, liegt es daran, dass er die Aufgabe aus einer neuen Perspektive betrachtet und feststellt, dass sein jugendlicher Ehrgeiz nur eine verrückte Spinnerei war. Er erkennt, dass etwas ganz anderes, als er zu Beginn der Suche geglaubt hat, wahre Erfüllung in seinem Leben bringen wird. Das Konzept der Geschichte der Suche mag für manchen zu romantisch klingen. Aber wenn man Arthur Franks Interpretation akzeptiert, erkennt man, dass sie eine große Bedeutung für die Linderung des Leidens hat. Franks Version lautet sinngemäß: »Mein Leben ist eine Reise. Ich bin aus einem bestimmten Grund unterwegs zu einem bestimmten Ort. Es gibt Dinge, die ich tun und erreichen möchte. Unterwegs habe ich diese chronische Krankheit bekommen. Sie hat mein Tempo verlangsamt und mich von meinem Ziel abgebracht, und nun ist es an der Zeit, wieder weiterzugehen. Meine Aufgabe besteht im Moment darin, einen Weg zu finden, diese Krankheit ins richtige Licht zu rücken. Ich habe diese Krankheit zwar, und sie ist ein Teil meines Lebens, aber mein Leben besteht nicht nur daraus, und ich sollte mich nicht auf Dauer von meiner Suche abhalten lassen.« Für jemanden, der sich vielleicht nie mehr ganz von seiner chronischen Krankheit erholen wird, ist eine Geschichte der Suche häufig die sinnvollste und befriedigendste Geschichte, die es zu erzählen gibt. Frank zufolge leiden viele Menschen mit chronischen Erkrankungen sehr, da sie versuchen, an Wiederherstellungsgeschichten festzuhalten, die offensichtlich nicht funktionieren, und weil sie noch nicht herausgefunden haben, wie sie eine Geschichte der Suche erzählen sollen. Dr. Frank stellt seine Kategorien vor, ohne festzulegen, welche Erzählweise für einen bestimmten kranken Menschen geeignet ist. So können in verschiedenen Phasen verschiedene Geschichten funktionieren. Ein Mensch, der an Krebs erkrankt und von der Diagnose überwältigt ist, erzählt möglicherweise -214-
zuerst eine Chaosgeschichte; wenn die Behandlung beginnt, erzählt er vielleicht eine Wiederherstellungsgeschichte. Wenn er herausfindet, dass der Krebs sich trotz der Behand lung ausbreitet, erzählt er wieder eine Chaosgeschichte. Wenn er sich schließlich mit der Tatsache abfindet, dass er früher oder später an seiner Krankheit sterben wird, erzählt er eine Geschichte der Suche. Sie beinhaltet, dass er bis dahin ein so ausgefülltes und sinnerfülltes Leben wie möglich führen will und sich durch medizinische und komplementäre Verfahren unterstützen lassen wird, die ihm helfen, jeden Tag so gut wie möglich zu bewältigen. Für diesen Menschen war die Wiederherstellungsgeschichte im Nachhinein »falsch«; aber auch die Geschichte der Suche wäre verfrüht gewesen, als es noch eine begründete Hoffnung gab, dass die Behandlung wirken würde.
Geschichten erzählen und zuhören Überlegen Sie, wer Ihrer Geschichte zuhören wird. Arthur Frank führt das Leiden von unheilbar Kranken nur teilweise auf die Schwierigkeit zurück, eine Geschichte der Suche oder eine andere Geschichte zu erzählen, die eine große Bedeutung für ihn hat. Eine weitere Ursache für das Leiden ist die Isolation, die Kranke erleben, wenn andere zu viel Angst davor haben, ihnen zuzuhören. Unsere Analyse des PlaceboEffekts zeigt, dass es Menschen viel besser geht, wenn andere sich um sie kümmern und sich um sie sorgen. Zum Teil entsteht dieses Gefühl, wenn sie wissen, dass andere ihnen zuhören und dass ihre Geschichte der Krankheit auf diese Weise bestätigt wird. Es ist ein sehr elementares Bedürfnis, eine Erklärung für die Erkrankung zu finden. Wenn man keinen Zuhörer für seine Geschichte hat, führt das zu einem tiefen Gefühl der Einsamkeit und der Verzweiflung. Es scheint fast, als wäre man von der -215-
menschlichen Gesellschaft ausgeschlossen. Ich kann gar nicht genug betonen, wie wichtig die Bestätigung für den Patienten ist. Jeder Arzt hat wahrscheinlich schon einmal einen ähnlichen Fall wie den folgenden erlebt: Ein Patient leidet unter ungewöhnlichen Symptomen. Vielleicht sind sie so eigenartig, dass sie psychosomatisch zu sein scheinen. Nach vielen Monaten oder sogar Jahren, in denen zahllose Tests und Untersuchungen durchgeführt worden sind, diagnostizieren die Ärzte schließlich eine unbekannte Krebsform. Eigentlich würde man annehmen, dass der Patient angesichts dieser »schlechten Nachricht« völlig verzweifelt sein müsste. Aber er fühlt sich seltsamerweise erleichtert und ist innerlich ganz ruhig. Er erklärt: »Sehen Sie, ich habe Ihnen die ganze Zeit gesagt, dass irgendetwas nicht stimmt, und nun haben wir den Beweis, dass ich Recht hatte.« Die große Erlösung durch die Bestätigung dessen, was er die ganze Zeit durchmachen musste, überwiegt den negativen Effekt der schrecklichen Diagnose. Arthur Frank zufolge erfüllt es eine wichtige gesellschaftliche Funktion, wenn der Kranke seine Geschichte erzählt und andere ihm zuhören, denn am Ende werden alle dadurch geheilt. Der Kranke wird geheilt, weil er in seinem Menschsein bestätigt wird. Wir anderen werden eines Tages durch die Geschichten geheilt - selbst wenn uns das noch nicht bewusst ist -, weil wir auch einmal krank sein werden und dann die Bestätigung brauchen, dass andere Menschen eine solche Krankheit bewältigt und überlebt haben. Aber wie kann man erreichen, dass andere einem zuhören? Schließlich haben manche kranke Menschen keine Freunde und leben weit von ihren Familien entfernt. Außerdem macht das Verhalten vieler Kranker es denen, die sie lieben, schwer, ihren Geschichten zuzuhören. Wenn man krank ist, lebt man oft in seiner eigenen kleinen Welt, ist sehr mit sich selbst beschäftigt und meint, dass sich alles um die eigenen Symptome und Beschwerden dreht. Die Geschichte der Krankheit auf eine -216-
Weise zu erzählen, die dieser innerhalb der eigenen Autobiographie einen Platz zuordnet, ist etwas ganz anderes, als ständig nur über seine Bauchschmerzen, seine Verstopfung oder seinen Juckreiz zu klagen. Wenn man krank ist, sollte man sich fragen, ob man sich wie jemand verhält, dessen Geschichte andere interessiert und die sie gerne hören wollen. Mitch Alboms Buch Dienstags bei Morrie ist trotz des deprimierenden Themas ein Bestseller geworden. Ein ehemaliger Student, der Journalist geworden ist, fährt einmal wöchentlich zu seinem alten Professor, der an myatrophischer Lateralsklerose leidet, um ihm zuzuhören, wenn er darüber spricht, was es bedeutet zu sterben. Ich hoffe, einer der Gründe für die Beliebtheit des Buches ist das Modell, das der Professor anbietet. Er zeigt, wie man die wahre Geschichte seiner Krankheit erzählt und jeder Versuchung widersteht, unangenehme Dinge zu beschönigen. Und er vermittelt, wie die Geschichte und ihr Erzähler interessant und wertvoll werden.
Bemühung um Ehrlichkeit Wir können alle überlegen, wie wir interessante Geschichten entwickeln und unseren Zuhörern das Gefühl vermitteln können, dass wir sie sehr schätzen, weil sie uns zuhören. Der Unterschied zwischen einer Geschichte, bei der es sich lohnt zuzuhören, und selbstmitleidigem Klagen besteht vorwiegend in der Bemühung um Ehrlichkeit. Jemand, der sich nur beklagt, versucht die anderen zu manipulieren. Er will, dass er ihnen leid tut und dass sie sich um ihn kümmern, aber er möchte es nicht zugeben. Er versucht auch nicht herauszufinden, warum er das Bedürfnis hat, bemitleidet zu werden. Im Gegensatz dazu ist jemand wie Morrie wirklich offen und versucht, die Krankheit im Kontext seines ganzen Lebens zu betrachten und seinen tiefen Respekt für den Zuhörer zum Ausdruck zu bringen, indem -217-
er ehrlich und ausführlich erzählt. Der Zuhörer wird sich bestimmt geschätzt fühlen und gerne wiederkommen. Was macht man aber, wenn man sich nach Kräften bemüht, aber trotzdem ganz alleine ist und niemanden hat, der einem zuhört? Man kann sich bewusst auf die Suche nach Menschen machen, die ebenfalls jemanden brauchen, der ihnen zuhört. Man weiß ja aus eigener Erfahrung, wie schlecht es einem geht, wenn man krank ist und niemand da ist, dem man seine Geschichte erzählen kann. Gerade als selbst Erkrankter kann man gut dafür sorgen, anderen das Leiden zu erleichtern. Anderen etwas Gutes zu tun - auch wenn einem selbst niemand zuhört hat in jedem Fall den positiven (und heilenden) Effekt, dass man wieder Kontakte zu Menschen aufbaut. Wenn man sich aufrafft und Menschen sucht, denen man helfen kann, bezweifle ich sehr, dass man selbst lange ohne Zuhörer bleibt.
Die eigene Geschichte umschreiben Denken Sie darüber nach, auf welche Weise Sie Ihre Geschichte verändern können, damit sie einen besseren Schluss bekommt. Unser Leben ist selbst wie eine Geschichte, die sich entwickelt. Ein Teil der Geschichte wird von Kräften geschrieben, die außerhalb unserer Kontrolle liegen. Wir haben uns unsere Eltern und den Ort, an dem wir aufgewachsen sind, nicht ausgesucht. Doch wir haben einen gewissen Einfluss darauf, wie sich die Geschichte weiterentwickelt. Das trifft besonders auf die Einstellung zu, die wir in Bezug auf bestimmte Ereignisse haben, sowie auf die Bedeutung, die wir diesen Ereignissen beimessen. Wie kann man seine eigene Geschichte umschreiben, so dass sie einen positiveren Schluss bekommt?
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Geschichten mit Happy End Wenn man krank ist und Bücher oder Berichte über andere kranke Menschen und die Geschichten, die sie über ihre Krankheiten erzählen, liest, lernt man mit Sicherheit etwas daraus. Allerdings wird man keine vorgefertigten Erklärungen erhalten, die sich einfach auf die eigene Krankheit übertragen lassen, so dass man sofort glücklicher wird und seine innere Apotheke aktivieren kann. Manche Menschen lassen zu, dass der Rest der Welt ihnen erklärt, was ihr Leben für eine Bedeutung hat. Die meisten von uns sind allerdings bereit, den Sinn ihres Lebens selbst zu entdecken, auch wenn der Rest der Welt versucht, ihnen eine sehr schöne Geschichte aufzutischen. Wenn man also wegen seiner Krankheit im Hinblick auf die Zukunft verzweifelt ist, wird man nicht optimistischer, nur weil man eine Reihe aufbauender Geschichten liest, und es wird auch nicht auf einmal zu einer Verstärkung des Placebo-Effekts kommen, der die Symptome lindert. Wenn man wirklich nach einem Sinn im Leben sucht und offen für die Vorstellung ist, dass sich der eigene Zustand verbessern könnte, wenn man daran arbeitet und zulässt, dass es geschieht, dann könnten die anderen Geschichten etwas in einem auslösen. Vielleicht beflügeln sie die Vorstellung zu einer Reihe von positiven Möglichkeiten. Anstatt der Geschichte ein bestimmtes Ende zu verpassen - wahrscheinlich ein sehr entmutigendes -, könnte man sich fragen, ob man mehr in sich hineinhorchen sollte, um Kräfte und Reserven zu entdecken, die einen ganz anderen Schluss der Geschichte herbeiführen könnten. Im Folgenden werde ich einige Beispiele von Menschen vorstellen, die mit dem Tod konfrontiert wurden. Ich denke, es ist von größter Wichtigkeit - und auch äußerst gesund -, nicht -219-
nur die optimistischen Erzählungen zu betrachten, sondern auch diese Art von Geschichten.
Den Tod akzeptieren und Heilung finden Wie ich bereits erklärt habe, bedeutet die Arbeit mit Geschichten, dass man seiner Erzählung über die Krankheit oder über das gesundheitliche Problem einen Platz innerhalb des größeren Kontexts seiner Lebensgeschichte zuweist, und zwar so, dass sowohl die Krankheits- als auch die Lebensgeschichte einen Sinn erhalten. Eine Autobiographie ist letztlich die Erzählung eines ganzen Lebens, und wir müssen uns darüber bewusst sein, dass unsere Lebensgeschichte nicht vollständig ist, bis unser Ende gekommen ist. Wenn wir einen Menschen betrachten, der sich dem Tod gegenüber sieht, können wir wertvolle Dinge lernen, um eine sinnvolle und heilsame Geschichte zu entwickeln. Es gibt einen eigenartigen Zusammenhang zwischen Tod und Gesundheit: In dem Moment, in dem wir die Tatsache, dass wir eines Tages sterben werden, am besten annehmen können, befreien wir unsere innere Apotheke, so dass sie optimal funktionieren kann. Im letzten Kapitel werde ich genauer auf diesen Punkt eingehen. Im Moment wollen wir uns lediglich damit befassen, wie es sich auf die Stressbahn auswirkt, wenn wir den Tod akzeptieren. In unserer modernen Kultur ist die Ansicht weit verbreitet, das Schlimmste, was uns passieren könne, sei der Tod. Diese anhaltende Angst vor dem Tod belastet uns. Wenn wir den Stress reduzieren, indem wir den Tod als einen natürlichen Bestandteil eines sinnerfüllten und zufriedenstellenden Lebens akzeptieren, befreien wir die biochemischen Bahnen von möglichen Blockaden, so dass die innere Apotheke ungehindert arbeiten kann. -220-
Ich hätte in diesem Kapitel den Aspekt des Todes und des Sterbens außer Acht lassen und Ihnen nur Geschichten mit Happy End erzählen können. Aber wenn ich mich auf oberflächliche »aufbauende« Geschichten beschränken würde, würde ich Ihr Heilungspotenzial schwächen. Betrachten wir folgendes Beispiel: Ange nommen, ich würde langsam an einem Krebs in fortgeschrittenem Stadium sterben. Vielleicht sterbe ich meiner Leidensgeschichte zufolge allein und mit großen Schmerzen, und mein Tod dominiert meine Gedanken so stark, dass tägliche Aktivitäten sich kaum noch zu lohnen scheinen. Stattdessen könnte ich mir überlegen, was ich in den Tagen, die mir noch bleiben, gerne noch tun möchte. Ich könnte eine Liste all der unerledigten Dinge zusammenstellen. Einige davon - wie zum Beispiel der Plan, mit dem Rollerbladen anzufangen - kann ich sofort streichen. Andere Dinge, wie mich mit Menschen zu versöhnen, die ich gekränkt habe, oder meine Lebenserinnerungen für meine Kinder und Enkel auf Kassetten aufzunehmen, sind erreichbare Ziele. Sobald ich daran denke, was ich in der mir verbleibenden Zeit noch erledigen will, bekommen die Tage einen neuen Sinn. Ein Gefühl der Hoffnung stellt sich ein. Es wird noch zusätzlich gestärkt, wenn ich mehr über die Möglichkeiten der Schmerztherapie erfahre und weiß, dass ich bei meinem Lebensende keine schlimmen Schmerzen befürchten muss. Diese Hoffnung ist keine Hoffnung auf eine Wunderheilung oder ein langes Überleben; es ist eine ziemlich realistische Hoffnung, dass ich bestimmte konkrete Dinge tun und meinen letzten Tagen einen zusätzlichen Sinn verleihen kann. Es ist die Hoffnung, dass ich kurz vor meinem Tod stolz darauf zurückblicken kann, wie ich die Zeit in den letzten Wochen oder Monaten verbracht habe. Menschen, die in Hospizen arbeiten und regelmäßig mit Menschen zu tun haben, die sich in dieser Situation befinden, stellen Folgendes fest: Patienten mit einer solchen Einstellung -221-
und einer positiven, wenn auch vorsichtigen Hoffnung sterben oft »gut«. Offenbar sind sie sehr zufrieden mit ihren letzten Tagen, gehen besser mit ihren Schmerzen und anderen unangenehmen Symptomen um als andere Patienten und scheinen von anderen sehr viel Liebe und mitfühlende Unterstützung zu bekommen. Obwohl es schwierig ist, diese Dinge vorherzusehen oder zu quantifizieren, scheinen einige dieser Menschen länger zu leben, als man erwartet hatte. Vielleicht haben die Tatsache, dass ihr Leben einen größeren Sinn bekommen hat, und der positivere Schluss, den sie für ihre eigene Geschichte schreiben, eine Wirkung auf ihre innere Apotheke.
Geschichten als Heilmittel Geschichten werden in Familien beim Abendessen oder zu anderen Gelegenheiten erzählt. Seit dem Beginn der Menschheit ist das so gewesen. Geschichten als Heilmittel einzusetzen ist allerdings eine ziemlich neue Idee. Eines Tages werden Menschen mit chronischen oder unheilbaren Krankheiten an Seminaren teilnehmen können, in denen sie unter professioneller Anleitung lernen, die richtige Geschichte zu erzählen. Sehr gute Selbsthilfegruppen, beispielsweise von Krebspatienten, scheinen so zu funktionieren, auch wenn niemand den Prozess als »Arbeit mit Geschichten« bezeichnen würde. Möglicherweise finden Sie professionelle Hilfe, wenn Sie daran arbeiten wollen, den Sinn Ihres Lebens herauszufinden; vielleicht müssen Sie sich aber auch auf sich selbst und Ihre Familie und Freunde verlassen, um dieses Ziel zu erreichen. Einen Sinn im Leben zu sehen ist ein elementares menschliches Bedürfnis, und die Arbeit mit Geschichten (wie sporadisch und einfach sie auch sein mag) ist das wichtigste Mittel, das wir haben, um sinnvolle persönliche Erklärungen zu -222-
finden. Selbst wenn man noch vierzig oder fünfzig Jahre zu leben hat, wird man glücklicher - und wahrscheinlich gesünder sein, wenn man einen Teil seiner Energie darauf verwendet, eine sinnvolle Erklärung dafür zu finden, was mit einem geschieht. Viele Menschen würden heute »besser sterben«, wenn sie die Basis für ihre Geschichte viel früher in ihrem Leben entwickelt hätten. Menschliche Beziehungen oder im schlechteren Fall soziale Isolation bestimmen zu einem großen Teil, wie man auf Krankheiten reagiert und ob die innere Apotheke einem zu Hilfe kommt. Das nächste Kapitel befasst sich genauer mit der Bedeutung von menschlichen Beziehungen.
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Die heilende Kraft der Beziehungen Wenn wir krank sind, neigen wir dazu, uns abzuschotten und anderen nichts davon zu erzählen. Aber ich glaube nicht, dass wir uns in eine Höhle verkriechen und alleine gesund werden können. Die Heilung ist eine wundersame gemeinschaftliche Erfahrung. Ich glaube, sie ist ebenso ansteckend wie eine Infektion. Marc Ian Barasch Bei Patienten, die einen Herzinfarkt erlitten haben, werden zwei verschiedene Medikamente eingesetzt, um Blutgerinnsel aufzulösen. Eines davon ist teurer und wurde in den letzten Jahren gegenüber dem billigeren bevorzugt. Als Ärzte gefragt wurden, warum sie lieber das teure Medikament verwenden, erklärten viele von ihnen, dass es etwas besser wirkt. Aber um wie viel besser ist die Wirkung tatsächlich? Eine umfassende wissenschaftliche Studie, die häufig zitiert wird, um das teure Medikament zu rechtfertigen, zeigt, dass das Risiko zu sterben bei dem billigeren Medikament 7 Prozent und beim teuren 6 Prozent beträgt. In der modernen medizinischen Praxis ist es nicht unüblich, ein bestimmtes Medikament einem anderen aufgrund von Statistiken vorzuziehen, die sich um ein paar Prozent voneinander unterscheiden. Wie sieht das Prozentverhältnis nun bei der Bedeutung der sozialen Kontakte für Krankheit und Gesundheit aus? Diesbezüglich wurde eine Reihe von grundlegenden Untersuchungen durchgeführt, um zu messen, wie hoch das Risiko ist, dass man erkrankt oder stirbt, wenn man sozial isoliert ist. Es hat sich herausgestellt, dass es nicht nur um ein -224-
paar Prozentpunkte geht. Die Studien zeigen, dass das Risiko zu sterben oder ernsthaft zu erkranken bei sozialer Isolation doppelt oder dreifach so hoch ist, besonders bei älteren Menschen. Das sind zwei- bis dreihundert Prozent. Ist es nicht erstaunlich, dass die Medizin diesen Risikofaktor so wenig berücksichtigt? Eigentlich ist es gar nicht so erstaunlich; es ist lediglich ein weiterer Beweis dafür, dass sich die Medizin mit großer Entschlossenheit auf den Körper konzentriert und den Geist ignoriert.
Andere Menschen als Heilfaktoren Ich kann gar nicht deutlich genug darauf hinweisen, welche Bedeutung es für den Verlauf einer Krankheit hat, wenn man soziale Kontakte aufrechterhält, und es ist an der Zeit, die folgende wichtige Frage zu stellen: Wird sich das Risiko, dass Sie sterben werden oder dass sich Ihr Zustand verschlechtert, vermindern - und wird Ihre innere Apotheke auf Touren kommen -, wenn Sie mehr soziale Kontakte aufbauen? Die wenigen Studien, die diesbezüglich durchgeführt wurden, sind recht vielversprechend. Und die gute Nachricht für Tierliebhaber ist, dass das gesundheitliche Risiko sozialer Isolation reduziert werden kann, wenn man sich um ein Haustier kümmert. Wir haben bereits über einen der wichtigsten Schritte gesprochen, um die Krankheitserfahrung sinnvoll zu erklären: Sie sollten jemanden suchen, der Ihrer Geschichte zuhört. Es ist logisch, dass es umso leichter sein wird, einen Zuhörer zu finden, je mehr soziale Kontakte Sie haben. Für Ihre Gesundheit könnte es daher wichtig sein zu vermeiden, dass Sie in eine soziale Isolation geraten. Soziale Kontakte helfen dabei, Ihrem Leben wieder einen Sinn zu verleihen, und sie können der Gesundheit auch auf andere Weise förderlich sein. Genau -225-
werden wir das allerdings erst wissen, wenn wir viel mehr Forschung betreiben und untersuchen, welche biochemischen Bahnen durch soziale Kontakte aktiviert werden. Ich möchte damit nicht sagen, dass Sie nur deshalb Kontakt zu anderen Menschen suchen sollten, um gesund zu bleiben. Ich bin sicher, dass es viele andere Vorteile gibt, die nichts mit der Gesundheit zu tun haben. Menschen sind von Natur aus soziale Wesen, die sich besonders wohl fühlen, wenn sie sich an einem sicheren Ort befinden und zu einer vertrauten sozialen Gruppe gehören - vor allem in der heutigen Welt, in der es immer schwerer wird, dieses Gefühl der Zugehörigkeit zu bewahren. Viele andere Bereiche in unserem Leben erfordern in jeder Minute unsere Aufmerksamkeit. Freunde und Menschen, die wir lieben, ziehen fort. Manchen Menschen fällt es leichter als anderen, soziale Kontakte vorrangig zu behandeln. Wenn Sie die gesundheitsfördernde Wirkung sozialer Kontakte stärken wollen, sollten Sie stets Folgendes beachten noch bevor Sie krank werden -, damit Ihre innere Apotheke weiterhin gut funktioniert: • Viele Menschen sind der Meinung, dass soziale Kontakte spontan entstehen sollten und künstlich oder unecht sind, wenn man sich darum bemühen muss. Doch das leuchtet genauso wenig ein, wie zu sagen, dass körperliches Training spontan sein sollte - dass die Übungen gar schlecht für einen sind, wenn man für sein Training erst seinen Zeitplan umstellen muss. Ich garantiere Ihnen, dass es Planung und Arbeit erfordert, wenn man sich auf Beziehungen konzentrieren will. Ungeachtet dessen würde es den meisten Menschen gut tun, intensiver über menschliche Kontakte nachzudenken und zu überlegen, welche Beziehungen sie gepflegt und welche sie vernachlässigt haben. Wenn man feststellt, dass man einige Beziehungen, die einem eigentlich wichtig sind, stark vernachlässigt hat - was häufig vorkommt -, wird man die Zeit finden, sich ihnen zu widmen. -226-
• Wie wir bereits besprochen haben, teilen kranke Menschen, die Geschichten über ihren Umgang mit der Krankheit erzählen, anderen etwas Wertvolles mit und bereichern dadurch deren Leben. Aber zunächst neigen wir dazu zu vermuten, dass Kranke gesunde Menschen emotional auslaugen. Seien wir doch einmal ehrlich: Wie viele Menschen, die vor der Wahl stehen, entweder zu einer Party zu gehen oder einen Freund im Krankenhaus zu besuchen, würden sich für den Krankenhausbesuch entscheiden? Die Reaktion ist meist unüberlegt. Schließlich könnte der Besuch des kranken Freundes die emotionalen Batterien möglicherweise viel stärker aufladen als jede Party diese Erfahrung machte jedenfalls Mitch Albom bei seinen Besuchen bei Morrie. • Echte soziale Kontakte beruhen auf Gegenseitigkeit. Wenn man für den anderen da ist, wenn er einen wirklich braucht, wird auch er für einen selbst da sein. Manche Menschen, die sich einsam und isoliert fühlen, wenn sie sehr krank sind, waren zu beschäftigt, um vor ihrer Erkrankung für andere Menschen da zu sein. Wenn Sie sich einsam fühlen und wieder Kontakte zu anderen Menschen aufbauen wollen, sollten Sie Situationen suchen, in denen andere Sie brauchen. Fast immer, wenn man sich dazu entschließt, anderen etwas zu geben, indem man sie betreut und sich in anderer Weise um sie kümmert, entdeckt man auf einmal, dass man sogar mehr zurückbekommt, als man selbst gegeben hat. Ärzte und Krankenschwestern geben es vielleicht nicht zu, aber dies könnte der Grund sein, warum sie ihren Beruf gewählt haben und warum sie ihn Jahr für Jahr weiter ausüben. Aber niemand muss eine Ausbildung haben, um helfen zu können. Menschen, die jahrelang versucht haben, anderen zu helfen, sind nur sehr selten plötzlich allein, wenn sie selbst krank sind und Hilfe brauchen. • Manche Menschen leiden schrecklich, wenn sie eine ernste oder unheilbare Krankheit haben, da sie keinen Kontakt mehr zu -227-
Verwandten und Freunden haben, zu denen sie einmal eine enge Beziehung hatten. Natürlich geschieht es nicht selten, dass kranke Menschen vo n ihrer Familie und Freunden gemieden werden, obwohl sie nichts falsch gemacht haben. Manchmal liegt das an einem langjährigen Zwist oder einer Entfremdung, bei denen niemand den ersten Schritt gemacht hat, um den Bruch zu kitten. Häufig haben kranke Menschen auch die folgende Einstellung: »Ich bin derjenige, der stirbt. Wenn dem anderen etwas an mir liegt, muss er sich bei mir entschuldigen. Andernfalls kann er mir gestohlen bleiben.« Diese Fälle erinnern uns daran, dass soziale Isolation auch mit mangelnder Bereitschaft zur Vergebung zu tun haben kann.
Soziale Isolation und Depressionen Wenn jemand nicht in der Lage ist, soziale Kontakte aufzubauen, kann das daran liegen, dass er seit Jahren unter Depressionen leidet. Depressionen und soziale Isolation hängen aus mehreren Gründen miteinander zusammen. Depressive Menschen haben keine Energie, um soziale Kontakte aufrechtzuerhalten. Da es zudem für andere ebenfalls deprimierend sein kann, mit depressiven Menschen zusammen zu sein, werden diese häufig gemieden.
Depressionen sind kein persönliches Versagen Ein weit verbreiteter Mythos über Depressionen ist, dass sie aufgrund mangelnder Willenskraft auftreten und dass sich der Zustand des depressiven Menschen von selbst verbessern würde, wenn er sich nur ein bisschen mehr bemühen würde, bessere Laune zu haben und die Depressionen einfach loszulassen. Das Leiden vieler Menschen mit Depressionen verstärkt sich aufgrund dieses Mythos. Wenn sie sich von Fachleuten helfen -228-
lassen - was wichtig ist -, wird dies häufig für persönliches Versagen gehalten. Nach meiner Einschätzung jedoch entstehen Depressionen aufgrund eines chemischen Ungleichgewichts im Gehirn. Ein Gehirn »ohne« Depression funktioniert folgendermaßen: Eine Gehirnzelle kommuniziert mit Hilfe von Molekülen, den so genannten Neurotransmittern, mit ihren Nachbarzellen. Sie transportieren die Botschaften über die Zellzwischenräume. Damit das Gehirn richtig funktionieren kann, muss eine bestimmte Menge an Neurotransmittern in den Zellzwischenräumen vorhanden sein. Die Anzahl dieser Moleküle hängt wiederum von zwei Prozessen ab, die in den Gehirnzellen ablaufen. Die Neurotransmitter-Moleküle werden produziert und im Weiteren von den Zellen wieder resorbiert. Ein gutes Gleichgewicht zwischen Produktion und Resorption sorgt für die richtige Menge von Neurotransmittern in den Zellzwischenräumen. Bei einer Depression dagegen werden die Moleküle zwar weiterhin produziert, aber aus irgendeinem rätselhaften Grund ist die Resorption viel zu hoch. Es ist so, als würde ein großer Staubsauger all die Neurotransmitter aus den Zellzwischenräumen heraussaugen. Wenn nun eine Zelle mit ihrer Nachbarzelle kommunizieren will, ist niemand mehr da, um die Botschaft zu überbringen. Daher fühlt sich ein depressiver Mensch nicht nur niedergeschlagen, er hat auch zu wenig Energie, um Gedanken in die Tat umzusetzen. Wenn ein Mensch mit schweren Depressionen spricht oder sich bewegt, ist es, als würde man einen Videofilm in Zeitlupe sehen. Ich hoffe, diese Erläuterung macht deutlich, dass ein Mensch mit Depressionen nicht an der sozialen Isolation schuld ist, in der er sich vielleicht befindet. Einem depressiven Menschen die Liste mit Ratschlägen zu geben, die wir weiter oben angeführt haben, würde ihm nicht helfen, da er auf eine Weise mit der sozialen Isolation umgehen muss, bei der seine Krankheit voll -229-
und ganz berücksichtigt wird. Die Schulmedizin beruft sich nur auf die NeurotransmitterTheorie, um darauf hinzuweisen, dass Depressionen ausschließlich medikamentös behandelt werden sollten, da die Krankheit aufgrund eines chemischen Ungleichgewichts entsteht. Als Allgemeinarzt bin ich selbst davon überzeugt, dass Antidepressiva tatsächlich helfen, in manchen Fällen wirken sie sogar ausgezeichnet. Wir haben bereits gesehen, dass es auch eine gegenteilige Meinung gibt. Demnach sind Antidepressiva nichts anderes als Placebos, beziehungsweise ein großer Teil der Verbesserung, die sie bewirken, ist auf einen Placebo-Effekt zurückzuführen. Ich bin nicht gegen den Einsatz von Antidepressiva, sondern gegen die Vorstellung, dass einzig und allein diese Medikamente bei der Bekämpfung von Depressionen helfen können. Ich bin der festen Überzeugung, dass eine psychologische Betreuung, vorzugsweise in Kombination mit Medikamenten, bei leichten bis mittelschweren Depressionen außerordentlich hilfreich sein kann. Eine Veränderung der Lebensweise unter Einbeziehung körperlichen Trainings kann ebenfalls sehr gute Wirkungen erzielen. Aber Sie selbst spielen auch eine wesentliche Rolle für die Verbesserung Ihres Zustands.
Es kommt auf Sie an! Ich möchte Folgendes wiederholen: Meine Botschaft an depressive Menschen lautet, dass sie zwar nicht verantwortlich für ihre Depression sind (oder für die Einsamkeit, die damit verbunden ist), aber dass sie durchaus eine positive Rolle bei ihrer Bekämpfung spielen können. Die innere Apotheke ist potenziell eine mächtige Verbündete - vor allem, wenn man starke Depressionen hat und auch Hilfe in Form von Medikamenten in Anspruch nimmt. Ich würde zudem -230-
empfehlen, so früh wie möglich mit einem Arzt oder einem qualifizierten Therapeuten zu sprechen, da ein Merkmal dieser Krankheit ist, dass depressive Menschen nicht merken, wie ernst ihr Zustand bereits ist. Der entscheidende Aspekt im Umgang mit Depressionen ist allerdings die Bedeutung kleiner Schritte und nicht der Versuch, das ganze Problem auf einmal zu bekämpfen. Schon Menschen, die nicht unter Depressionen leiden, kann ein einfacher Schritt Probleme bereiten, wie beispielsweise einen Cousin anzurufen, mit dem man seit Jahren wieder Kontakt aufnehmen wollte. Von einem depressiven Menschen mit einer verringerten Neurotransmitterzahl zu verlangen, dieses Telefonat zu führen, kann für ihn gleichbedeutend damit sein, die UN-Generalversammlung zur Krisensitzung einzuberufen. Wenn ein depressiver Mensch einen sehr kleinen Schritt macht, um sich gesellschaftlich etwas mehr einzulassen - selbst wenn er nur eine halbe Stunde aus dem Haus geht, um etwas einzukaufen -, muss man das als wichtigen aktiven Schritt zur Förderung seiner Gesundheit betrachten. Man sollte sich dessen bewusst sein, dass jeder kleine Schritt zum nächsten führt.
Unterstützung durch Organisationen und Gruppen Es gibt sehr viele Gruppen und Organisationen, über die man wertvolle soziale Kontakte aufbauen kann. Für jemanden, der aufgrund seiner Krankheit in eine soziale Isolation geraten ist, kann es eine außerordentlich positive Erfahrung sein, einer Gruppe beizutreten. Die Vorstellung, dass es einem selbst gut tut sich abzulenken, so dass die Gedanken nicht ständig um die eigenen Probleme kreisen, klingt vielleicht banal und altmodisch, aber es ist viel Wahres daran. Für manche Menschen, die seit Jahren mit einer schweren chronischen Krankheit zu kämpfen haben, kann es ein Schritt auf dem Weg -231-
zur Heilung sein, wenn sie daran erinnert werden, dass es außer ihrer Krankheit noch eine ganze Reihe anderer Dinge gibt. Lesen Sie dazu die folgende Geschichte:
Oma Quentin und ihre Asthmakranken Das Pflegeheim lag in einem Stadtteil, in dem vorwiegend Weiße wohnten, und die Heimbewohner sowie das Personal waren ebenfalls zum größten Teil Weiße. Als vier großwüchsige farbige Teenager eines Nachmittags in die Eingangshalle marschierten, schossen einigen Angestellten gleich stereotype Bilder durch den Kopf und sie wichen furchterfüllt zurück. Die vier jungen Männer waren sehr kurz angebunden und verlangten, »Oma Quentin« zu sehen. Langsam begriffen die Angestellten, dass sie damit Mrs. Quentin in Zimmer 17B meinten, und gingen etwas beklommen zu ihr, um den Besuch anzukündigen. Zu ihrem großen Erstaunen trat ein breites Lächeln in Mrs. Quentins Gesicht. Als die fünf sich begegneten, war es wie bei einer Familienzusammenkunft. Wie sich herausstellte, wollten die jungen Männer einfach jene Frau kennen lernen, die sie täglich anrief und ihnen half, mit ihrem Asthma fertig zu werden. »Im letzten Jahr war keiner von uns wegen einem Asthmaanfall im Krankenhaus«, erzählte einer der Jungen einer Krankenschwester später. »Und insgesamt musste nur zweimal jemand zur Lungenfunktionsuntersuchung. Bevor wir Oma Quentin hatten, musste sich jeder von uns einmal pro Monat untersuchen lassen.« Die Mitarbeiter des Pflegeheims wussten, dass Mrs. Quentin im letzten Jahr viel mehr telefoniert hatte als früher; aber nur wenige von ihnen wussten, dass sie ehrenamtlich für eine Seniorengruppe arbeitete, die Kindern und Jugendlichen mit Asthma half. Mrs. Quentin rief ihre Schützlinge morgens vor der -232-
Schule an, kontrollierte, ob sie ihr Peak-Flow-Messgerät benutzt hatten, das frühe Anzeichen von Atemproblemen rechtzeitig erkannte, und erkundigte sich danach, wie es ihnen insgesamt ging. Die Leiter des Programms berichteten, dass sich die Zeit, die die Kinder und Jugendlichen im Krankenhaus verbrachten, um 80 Prozent reduziert hatte und nur noch halb so viele Lungenfunktionstests durchgeführt werden mussten. Welche Wirkung hatte das Programm nun auf die ehrenamtlichen Mitarbeiter, die ihr Zuhause zum größten Teil nicht verlassen konnten oder in Pflegeheimen lebten? Eine Studie zeigt, dass es zu einer deutlichen Abnahme depressiver Symptome kam. Die Teilnehmer sahen darüber hinaus einen viel größeren Sinn in ihrem Leben und fühlten sich insgesamt erheblich besser. Mrs. Quentin berichtete Folgendes über ihre Erfahrungen mit dem Programm: »Früher wachte ich jeden Morgen auf und fragte mich, ob nun der Tag gekommen war, an dem ich sterben würde. Jetzt wache ich jeden Morgen auf und frage mich, wie es meinen Jugendlichen geht.« Als Fazit kann man festhalten, dass die Gruppenunterstützung funktioniert. Doch um sie für sich wirklich fruchtbar zu gestalten, sollte man sich darüber bewusst sein, dass sie eine gewisse Anpassung erfordert. Wenn Sie einer Gruppe beitreten, müssen Sie sich ihr anpassen. Jede Gruppe besteht aus einem bestimmten Grund. Sie müssen diesen Grund akzeptieren und für sich selbst annehmen. Wenn es sich um einen Töpferkurs handelt, gibt es die Gruppe, weil die Teilnehmer lernen wollen zu töpfern. Wenn es eine Bibelgruppe ist, dann geht es darum, die Bibel zu lesen und darüber zu reden. So sehr Sie sich vielleicht auch wünschen, eine Gruppe zu finden, in der Sie über Ihre Krankheit sprechen können und in der man Ihnen zuhört und Sympathie und Mitgefühl entgegenbringt, so ist dies doch nicht der Grund, warum diese Gruppe besteht. Mit der Zeit werden die anderen Mitglieder Ihnen wahrscheinlich zuhören, Sie emotional unterstützen und Ihnen ein Gefühl der -233-
Zugehörigkeit vermitteln - aber sie werden das nur tun, wenn sie spüren, dass Sie wirklich zu ihnen gehören. Wenn Sie die Gruppe nur zu Ihrem persönlichen Zweck benutzen wollen, werden die anderen Mitglieder - die sonst vielleicht gerne mit Ihnen zusammen wären -Sie meiden.
Selbsthilfegruppen Selbsthilfe- und andere Therapiegruppen können für Sie und Ihre innere Apotheke von besonderem Nutzen sein. Lesen Sie dazu die folgende Fallstudie. Gruppentherapie bei Brustkrebs In den späten siebziger Jahren entwickelten Dr. David Spiegel und sein Team von der Stanford University ein spezielles Gruppenprogramm für Frauen mit Brustkrebs, bei denen sich bereits Metastasen in anderen Bereichen des Körpers gebildet hatten. Sie untersuchten darüber hinaus einen Kontrollarm, der nicht an dem Gruppenprogramm teilnahm. Die Gruppe traf sich ein Jahr lang wöchentlich und zeichnete sich durch folgende Merkmale aus: • Die Gruppe wurde von einem Psychologen und einer Therapeutin geleitet, die selbst Brustkrebs hatte. • Die Teilnehmerinnen wurden aufgefordert, darüber zu sprechen, wie sie mit der Krankheit umgehen sollten. • Man brachte den Frauen eine Selbsthypnosetechnik bei, damit sie besser mit Schmerzen umgehen konnten. • Die Frauen wurden dazu ermutigt, ihre Gefühle über den Krebs zum Ausdruck zu bringen und zu erzählen, wie er ihr Leben beeinflusste. • Die Mitglieder knüpften enge Beziehungen untereinander, um gegen die soziale Isolation anzukämpfen. -234-
• Die Mitglieder arbeiteten zusammen und unterstützten sich gegenseitig dabei, selbstbewusster gegenüber ihren Ärzten aufzutreten. • Ein Diskussionspunkt bestand darin, eine sinnvolle Erklärung aus der Brustkrebstragödie zu beziehen. • Die Gruppenleiter forderten die Frauen dazu auf, sich selbst mit dem Verlust eines geliebten Menschen zu konfrontieren und den Trauerprozess bewusst zu durchleben, anstatt Tod und Verlust zu verdrängen. Eine Gruppensitzung fand zu Hause bei einer Teilnehmerin statt, die im Sterben lag. Dr. Spiegel und seine Kollegen waren nicht erbaut über die Behauptung anderer, dass diese Art von psychosozialer Intervention tatsächlich lebensverlängernd wirken könnte. Auch den Teilnehmerinnen gegenüber äußerten sie diese Erwartung nicht. Als das Gruppenprogramm endete, behielten die Forscher die Patientinnen über einen Zeitraum von zehn Jahren weiterhin im Auge. Sie hofften, zeigen zu können, dass ihr Programm die Lebensqualität der Frauen stark verbesserte, sich aber nicht auf deren Lebensdauer auswirkte. Die Daten der zehnjährigen Studie überraschten Dr. Spiegel und seine Kollegen sehr. In einem Punkt hatten sie Recht: Im Gegensatz zur Kontrollgruppe berichteten die Gruppenteilnehmerinnen von einer verbesserten Lebensqualität. Aber darüber hinaus lebten sie im Durchschnitt fünfzehn bis achtzehn Monate länger als die Frauen der Kontrollgruppe, je nachdem, ab welchem Zeitpunkt man die Überlebensdauer maß. Nach zehn Jahren waren drei Frauen noch am Leben. Von den Frauen der Kontrollgruppe lebte dagegen keine mehr. Wenn wir die angesprochenen Themen in Dr. Spiegels Gruppensitzungen prüfen, finden wir vieles, worüber wir in vorherigen Kapiteln gesprochen haben: Es ging unter anderem um eine bessere Kontrolle der Situation, um das Gefühl, dass sich jemand um einen kümmert, sowie um die Suche nach einer -235-
positiven Bedeutung der Krankheit. Ein Schlüsselelement des Bedeutungsmodells ist das Gefühl, von einer Gruppe von Menschen umgeben zu sein, die sich um einen kümmert und sorgt. Wenn man unter einer chronischen Krankheit leidet und einer Gruppe beitritt, die Menschen mit der gleichen Krankheit unterstützt, scheint dies die innere Apotheke offensichtlich zu aktivieren. Ein zusätzlicher Vorteil einer solchen Gruppe besteht darin, dass Sie durch das Erzählen Ihrer Geschichte die Möglichkeit haben festzulegen, wie Sie mit Ihrer Krankheit umgehen wollen. Es ist Ihre Aufgabe, eine Geschichte mit dem bestmöglichen Schluss zu entwickeln. Die Geschichte sollte eine sinnvolle Erklärung für die Krankheit innerhalb Ihres Lebenskontextes liefern. Darüber hinaus sollte sie zeigen, wie Sie Ihr Leben weiterleben können und wie Sie trotz der Umwege oder Störungen, die durch die Krankheit verursacht werden, jene Ziele verfolgen können, die Ihnen am wichtigsten sind. Eine Gruppe, in der man unterstützt wird, ist der ideale Ort für Menschen, die eine Geschichte entwickeln und eine Erklärung für ihre chronische Erkrankung finden wollen und die auf der Suche nach einem Weg sind, um damit zurechtzukommen. All diese Vorteile entstehen durch den Beistand von anderen Menschen. Gruppen, die Kranke unterstützen, bieten häufig noch weitere Vorteile. Wenn der Leiter wie bei der Gruppe von Dr. Spiegel ein erfahrener Psychotherapeut ist, können die Teilnehmer sehr nützliche heilende Entspannungs- und Selbsthypnosetechniken erlernen, die den Placebo-Effekt fördern und die innere Apotheke in Gang setzen können. Diese Gruppen sind häufig sehr gute Informationsquellen, da Leiter und Teilnehmer aktuelle Informationen über die Krankheit austauschen können, die sie im Internet gefunden oder aus anderen Quellen bezogen haben. Und bei Suchterkrankungen sind Gruppen möglicherweise das wichtigste Element der Behandlung. -236-
In diesem und dem vorigen Kapitel haben wir zwei Möglichkeiten betrachtet, wie man die Bedeutung der Krankheitserfahrung verändern kann: die Arbeit mit Geschichten und den Aufbau sozialer Kontakte. Ein weiterer besonders wichtiger hilfreicher Faktor zur Aktivierung der inneren Apotheke ist die Vorstellung, die Kontrolle zu übernehmen und die Situation zu meistern, womit wir uns im nächsten Kapitel befassen werden.
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Die heilende Kraft der Kontrolle Es wäre befriedigender für mich, und es würde mir das Gefühl vermitteln, dass meine Krankheit wirklich mir gehört, wenn mein Urologe sagen würde: »Wissen Sie, Sie haben Ihre Prostata ganz schön beansprucht. Sie sieht aus wie ein ausgenudelter Baseball.« Niemand wünscht sich eine anonyme Krankheit. Ich würde viel lieber denken, dass ich selbst etwas dafür kann, als dass sie eine reine Laune der Natur ist. Anatole Broyard Sie kennen bestimmt den Spruch: »Gib mir den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, die Geduld, Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.« Obwohl es uns vielleicht fast schon zu vertraut ist, enthält dieses Sprichwort eine der wichtigsten Lehren zur Gesundung überhaupt. Kehren wir es zum besseren Verständnis nun einmal in sein Gegenteil um. Es gibt zwei Dinge, die der Gesundheit mit großer Sicherheit zusetzen: wenn man täglich nicht das tut, was man könnte, um gesünder zu werden, und wenn man sich zu sehr über Dinge den Kopf zerbricht, auf die man keinen Einfluss hat. Es ist erstaunlich, wie viel kostbare Energie wir mit beidem verschwenden. Wenn Sie sich selbst eine Heilungsgeschichte erzählen und feststellen, dass sie ein glückliches und plausibles Ende haben könnte, was müssen Sie dann täglich tun, um die Geschichte zu leben? Und was bedeutet es, die eigene Gesundheit in die Hand zu nehmen?
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Gesundheitsmanagement Der Placebo-Effekt ist ein Bestandteil des Wohlbefindens und der Heilung. Ihre Gesundheit - samt ihrer Geschichte - umfasst jedoch viele zusätzliche Elemente. Dazu gehören an erster Stelle die Ernährung, ausreichende Bewegung sowie Medikamente oder pflanzliche Heilmittel. Der Placebo-Effekt ist eine Ergänzung dazu. Nehmen wir an, Sie überarbeiten die Geschichte Ihres Kampfes gegen eine chronische Krankheit (sagen wir Diabetes), nachdem Sie ihr einen besseren Schluss verliehen haben. Sie bestimmen, dass ein wichtiges Element der neuen Erzählung darin besteht, mehr auf Ihre körperliche Fitness zu achten. Sie überlegen also, wie Sie das Fitnessprogramm in Ihren Terminplan einbauen können, wählen eine Trainingsform aus, die Ihnen wirklich gefällt, und suchen dann ein Fitnessstudio oder ein Sportzentrum, das gut erreichbar ist. Dann setzen Sie Ihren Plan in die Tat um. Wenn Sie auf diese Weise vorgehen, wird sich Ihre Gesundheit und die Kontrolle des Diabetes schon allein aufgrund des neuen Fitnessprogramms deutlich verbessern. Hinzu kommt jedoch der positive psychologische Effekt, da Sie einen Teil Ihres Lebens erfolgreich selbst in die Hand nehmen und daher ein stärkeres Gefühl der Kontrolle erhalten. Dieser psychologische Effekt kann, wie wir bereits gesehen haben, ein »Rezept« an die innere Apotheke weiterleiten und den Körper zusätzlich dabei unterstützen, gegen den Diabetes anzukämpfen. Die gesamte Heilkraft, die durch das Fitnessprogramm freigesetzt wird, setzt sich zum einen aus der gesundheitsfördernden Wirkung des Trainings selbst und zum anderen aus der positiven psychologischen Wirkung, dem Placebo-Effekt, zusammen.
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Schenken Sie sich selbst Anerkennung Sie sollten jedoch nicht nur auf diese Art und Weise handeln, sondern sollten sich der Tatsache, dass Sie es tun, auch bewusst sein. Denken Sie an das Diabetesbeispiel, das wir gerade erwähnt haben. Dabei ging es um drei verschiedene Ebenen der Kontrolle: • die Diabetesgeschichte neu zu erzählen, damit sie einen positiveren Schluss erhält; • ein regelmäßiges Fitnessprogramm zu planen; • das Fitnessprogramm tatsächlich täglich durchzuführen. Wahrscheinlich fällt es Ihnen wie den meisten Menschen schwer, alte Gewohnheiten zu verändern. Vielleicht würden Sie mühelos die ersten beiden Ebenen bewältigen, aber bei der dritten sehr zu kämpfen haben. Was sagt man sich in solch einer Situation? Viele Menschen würden meinen: »Ich bin ein Versager. Ich müsste aufgrund meines Diabetes etwas für meine Fitness tun, aber offensichtlich schaffe ich es einfach nicht.« Die bessere Antwort würde folgendermaßen lauten: »Ich habe die ersten beiden Aufgaben geschafft und nun muss ich mich einfach noch etwas mehr bemühen, damit ich auch die dritte meistere.« Da wir über den menschlichen Geist und die Bedeutung von Krankheiten sprechen, ist es weiser, sich daran zu erinnern, dass die Einstellung bezüglich dessen, was man tut, genauso wichtig ist, wie das, was man tut. Sie sollten daher alles, was Sie selbst in die Hand nehmen, voll anerkennen und anfangen, sich selbst als Menschen zu betrachten, der die Dinge im Griff hat, statt als jemanden, dem ungesunde Dinge einfach widerfahren. Diese Einstellung wird Ihnen dabei helfen, Ihre innere Apotheke in Schwung zu bringen, und sie wird Ihnen Impulse für Ihre Motivatio n und Willenskraft liefern, um all die Dinge anzugehen, die noch erledigt werden müssen. -240-
Was ist, wenn es Ihnen besonders schwer fällt, Verantwortung zu übernehmen? Um diese Hürde zu überwinden, können Sie einen wirksamen psychologischen Trick anwenden.
Wer kontrolliert Ihr Leben - die Krankheit oder Sie? Der Trick funktioniert folgendermaßen: Fragen Sie sich: »In welchem Maße kontrolliert meine Krankheit mein Leben, und in welchem Maße kontrolliere ich mein Leben?« Ordnen Sie beiden Fragen dann eine Prozentzahl zu, und achten Sie darauf, wie es Ihnen mit Ihren Antworten geht. Nehmen wir an, Sie sind Diabetiker und sagen: »Ich glaube, mein Diabetes kontrolliert 15 Prozent meines Lebens, und ich kontrolliere die restlichen 85 Prozent.« Das könnte ein akzeptabler Prozentsatz sein, da Krankheiten wie Diabetes einen gewissen Einfluss auf Ihr Leben und Ihre Lebensführung haben. Man kann sie nicht einfach ignorieren. Wenn Sie dem Diabetes eine gewisse Kontrolle über Ihr Leben einräumen, macht Sie das sogar gesünder, da Sie sich auf diese Weise um die Krankheit und um sich selbst kümmern. Vielleicht denken Sie aber auch: »Ich habe das Gefühl, dass der Diabetes 70 Prozent meines Lebens bestimmt und ich nur 30 Prozent selbst kontrolliere.« Das hört sich nach einem viel größeren Ungleichgewicht an. Sie würden sich bestimmt viel besser und gesünder fühlen, wenn der Kontrollprozentsatz sich erhöht. Die Frage lautet nun: »Wenn ich an die kleinen Erfolgsmomente denke, in denen ich mein Leben losgelöst von der Krankheit unter Kontrolle hatte, welche Dinge haben da zu verschiedenen Zeiten am besten für mich funktioniert?« Wenn man intensiv über diese Frage nachdenkt, fallen einem fast immer eine Reihe von praktischen, realistischen Schritten ein. Vielleicht hat ein Diabetiker beispielsweise ein Gefühl der Kontrolle, wenn er einen Salat zu Mittag isst, der ihm sehr gut -241-
schmeckt. Zufällig ist das Mittagessen gesund für ihn, aber wenn er den Salat isst, sagt er sich, dass er ihn isst, weil er gut schmeckt, und nicht, weil sein Diabetes ihn dazu »zwingt«. Die nächste Frage, die Sie sich stellen sollten, lautet: »Nachdem ich jetzt weiß, auf welche Weise ich mein Leben manchmal besser kontrollieren kann, möchte ich jeden Tag mehr von diesen Dingen tun. Wie schaffe ich das?« Bei der Antwort erstellen Sie einen Plan, um den Kontrollprozentsatz zu erhöhen. Bei unserem Beispiel würde der Diabetiker vielleicht eine Liste mit Nahrungsmitteln erstellen, die er sehr gerne isst und die außerdem für Diabetiker geeignet sind. Dann nimmt er sich vor, mehr Nahrungsmittel von dieser »Positiv-Liste« zu essen. Sobald Sie Ihre Liste erstellt haben, sollten Sie einmal pro Woche überlegen, was sich die letzten sieben Tage alles ereignet hat, und dann das neue Prozentverhältnis aufschreiben. Jeden Monat oder alle zwei Monate sehen Sie sich die Prozentzahlen der letzten Wochen an und beobachten, welche Fortschritte Sie machen. Nehmen wir an, das erste Prozentverhältnis, das Sie aufgeschrieben haben, betrug 70:30 für den Diabetes. Nachdem Sie einen Monat lang daran gearbeitet haben, das Verhältnis zu verändern, beträgt es nun 60:40 - ein großer Schritt in die richtige Richtung. Stellen Sie sich nun die folgende Frage: »Was hat im letzten Monat am besten funktioniert?« Sie können jetzt Ihren Plan zur Erlangung einer größeren Kontrolle verfeinern, indem Sie noch mehr darauf achten, was funktioniert, und dadurch die Chance vergrößern, dass Ihr Kontrollprozentsatz im nächsten Monat noch höher ist. Wenn Sie den Kontrollprozentsatz aufschreiben, bringt Sie das zum Kern der Frage, ob Sie das Gefühl haben, Ihre Gesundheit zu kontrollieren. Aber noch wichtiger ist, dass Ihr Wunsch nach mehr Kontrolle mit praktischen Schritten verknüpft wird: -242-
Während Sie nach und nach mehr Kontrolle über Ihr Leben gewinnen, entsteht bei Ihnen das Gefühl, die Dinge im Griff zu haben, noch bevor Sie die praktischen Dinge im täglichen Leben vollends umgesetzt haben. Es ist fast so, als würde sich der Placebo-Effekt einstellen, noch bevor man die Tablette geschluckt hat. Aber Sie haben trotzdem die Gelegenheit, sie zu schlucken und danach in den Genuss all ihrer Vorteile zu kommen.
»Garantierter Erfolg« durch kleine Schritte Rätsel: Wie isst man einen Elefanten? Antwort: Einen Bissen nach dem anderen. Ich glaube, der hauptsächliche Grund, warum viele Menschen sich nicht genug um ihre Gesundheit kümmern, ist der, dass sie sich in einer Zwickmühle befinden. Sie haben das Gefühl, nur zwei Wahlmöglichkeiten zu haben: den ganzen Elefanten auf einmal hinunterzuschlucken, indem sie versuchen, das ga nze Problem sofort komplett in Angriff zu nehmen, oder nichts zu tun und darauf zu warten, dass die Krankheit oder die Angst davor sie kontrolliert. Da es unmöglich ist, den Elefanten auf einmal hinunterzuschlucken, besteht die einzige Alternative darin, für immer und ewig ein Opfer zu sein. Lassen Sie uns noch einmal einen Trick von erfahrenen Psychologen anwenden, der uns helfen kann, tief verwurzelte Denk- und Verhaltensmuster zu verändern und einen Schritt nach dem anderen zu tun. Der erste Schritt, einen Teilbereich einer Krankheit oder der Gesundheit in den Griff zu bekommen, besteht häufig darin, ihn in kleinere Segmente zu unterteilen, so dass man mit einem leicht zu bewältigenden Teil des Problems beginnen kann. Das Ziel dieses Prozesses ist ein »ga rantierter Erfolg«. Wenn Sie anfangen, die Kontrolle zu übernehmen, ist Ihr -243-
erster Gedanke vielleicht, dass Sie Vollgas geben und versuchen müssen, diesen riesigen Elefanten hinunterzuschlucken, da Sie sonst nichts erreichen und Ihre Gesundheit sich verschlechtern wird. Ein solches Denken kann dazu führen, dass Sie sich vor dieser großen Anforderung fürchten und am Ende gar nichts unternehmen. Möglicherweise versuchen sie ja aber auch wirklich, eine große Veränderung herbeizuführen, wie zum Beispiel mit dem Rauchen aufzuhören, keinen Kaffee mehr zu trinken, abzunehmen und weniger Alkohol zu trinken - alles auf einmal. In der Regel jedoch misslingt ein solcher Versuch. Und das hat wiederum zur Folge, dass Sie angesichts Ihres »Scheiterns« so demoralisiert sind, dass Sie keinen weiteren Versuch unternehmen. Aber so muss es nicht laufen. Der ideale Plan sieht anders aus: Sie wählen zu Beginn einen kleinen einfachen Schritt aus, den man fast garantiert erfolgreich bewältigen kann. Die nächsten Schritte sollten jeweils nur ein bisschen komplexer oder schwieriger sein. Sollte ein späterer Schritt misslingen, muss man die Aufgabe lediglich etwas vereinfachen. Das Ziel bei diesem Prozess besteht darin, so früh wie möglich Erfolgserlebnisse verbuchen zu können. Dadurch verändert sich die eigene Einstellung. Man merkt, dass man erfolgreich mit seinen gesundheitlichen Problemen umgehen kann, was wiederum die innere Apotheke stimuliert und die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass man bei späteren Schritten ebenfalls Erfolg haben wird, selbst wenn sie zunehmend schwieriger werden. Diese Ausführungen über kleine Schritte anstelle von großen mögen etwas abstrakt erscheinen. Im Folgenden finden Sie deshalb einige Beispiele, wie man einen »garantierten Erfolg« erzielt. Einige davon haben wir bereits erwähnt, aber es lohnt sich, sie zu wiederholen: • Die Anonymen Alkoholiker sind mittlerweile sehr bekannt für ihr Zwölf-Schritte-Programm. -244-
• Wenn Sie mit einem Fitnessprogramm beginnen, sollten Sie sich zunächst überlegen, zu welcher Zeit Sie ungestört sind; machen Sie dann Ihre Übungen, selbst wenn es nur ganz wenige sind. Wenn Sie Situps machen möchten, Ihr Körper aber bereits nach fünf Übungen schmerzt, sollten Sie nur drei oder vier machen. Sobald Sie jeden Tag drei oder vier auf einmal schaffen, steigern Sie Ihr Programm pro Tag oder pro Woche um jeweils einen Situp zusätzlich. • Stellen Sie Ihre Ernährung um: Werfen Sie aber nicht gleich all Ihre Essgewohnheiten über Bord. Nehmen Sie sich vor, bei einer Mahlzeit etwas zu verändern oder ein Nahrungsmittel zu variieren. Sie könnten zum Beispiel ab sofort ein fettarmes Salatdressing verwenden. Verändern Sie nichts anderes, bis Sie sich gut an das neue Dressing gewöhnt haben. Denken Sie daran, mit den Dingen anzufangen, die Ihnen am leichtesten fallen, und erst wenn Sie damit erfolgreich waren, schwierigere Dinge zu verändern. • »Eins nach dem anderen« ist ein guter Leitspruch, den Sie befolgen sollten, wenn Sie sich durch die Veränderungen überfordert fühlen. Denken Sie nicht zu viel daran, was in Zukunft noch auf Sie zukommen mag, sondern konzentrieren Sie sich darauf, was Sie heute erreichen wollen. • Wenn Sie einmal an einer Aufgabe scheitern - und das werden Sie, weil Sie auch nur ein Mensch sind -, sollten Sie der Versuchung widerstehe n, ein allgemeines Urteil über sich zu fällen, bei dem Sie sich Vorwürfe machen und sich schuldig fühlen (»Oh je, ich hab's vermasselt!«). Sagen Sie sich zunächst, dass es niemandem, der sich daran macht, etwas Schwieriges und Wichtiges zu tun, erspart ble ibt, unterwegs hin und wieder zu stolpern. Erinnern Sie sich daran, dass ein so genanntes »Scheitern« in Wirklichkeit gar kein Scheitern ist, sondern eine Gelegenheit, etwas zu lernen: Sie wissen bereits besser als zuvor, was funktioniert und was nicht. Wie können Sie dieses neue Wissen nutzen, um in der Zukunft größeren oder -245-
anhaltenderen Erfolg zu haben? Wenn Sie beispielsweise während der letzten Wochen nicht geraucht haben und sich dann eine Zigarette anzünden, während Sie mit Freunden in einer Bar sind, merken Sie, dass diese Bar (oder vielleicht diese Freunde) Ihren Bemühungen um eine gute Gesundheit in die Quere kommen können. In den letzten Kapiteln haben wir darüber gesprochen, wie man seine innere Apotheke aktiviert, indem man der Bedeutung der Krankheit und dem Umgang damit mehr Aufmerksamkeit schenkt. Wir haben festgestellt, dass es besser ist, sich hin und wieder an Fachleute zu wenden. Gibt es einen besonderen Weg, die Ärzte oder Therapeuten auszuwählen, die am wahrscheinlichsten in einer guten Partnerschaft mit Ihnen und Ihrer inneren Apotheke zusammenarbeiten? Mit dieser Frage werden wir uns im nächsten Kapitel beschäftigen.
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Partnerschaft mit dem Arzt Eine ungeheure Selbstzufriedenheit strahlt erheiternd, beruhigend von [dem Arzt Ralph Bloomfield Bennington] aus. Krankheit oder Angst werden durch seine sympathische Persönlichkeit geheilt, weil sie mit ihr unverträglich sind. Sogar gebrochene Beine sollen beim Klange seiner Stimme wieder ganz geworden sein: er ist der geborene Arzt... George Bernard Shaw (1911) In den letzten Kapiteln haben wir erörtert, wie man alleine das meiste aus seiner inneren Apotheke herausholen kann. Nun werden wir darüber sprechen, wie man sie ankurbeln kann, wenn man mit einem Therapeuten zusammenarbeitet - egal, ob es sich dabei um einen Schul- oder Alternativmediziner handelt.
Den richtigen Therapeuten auswählen Bereits vor fast neunzig Jahren schien der Dramatiker George Bernard Shaw sich darüber bewusst zu sein, dass manche Ärzte es besser beherrschten, die innere Apotheke in Gang zu setzen, als andere. In seinem Drama Der Arzt am Scheideweg erschuf Shaw die Figur Sir Ralph Bloomfield Bennington, dessen heilende Fähigkeiten im Eingangszitat dieses Kapitels angepriesen werden. Shaw bezeichnete Bennington als den »geborenen Arzt«, aber nach meiner Erfahrung muss man kein geborener Arzt sein, um ein, wie ich es nenne, »heilkräftiger Mensch« zu werden. Die notwendigen Fähigkeiten können angehenden Ärzten an der Universität und in Arztpraxen durchaus vermittelt werden. Hat die heutige medizinische Wissenschaft einen stichhaltigen -247-
Beweis dafür erbracht, dass die Persönlichkeit des Arztes und die Beziehung zwischen ihm und seinem Patienten einen entscheidenden Einfluss auf die Heilung ausüben? Lesen Sie im Folgenden die aufschlussreiche und häufig zitierte Studie, die von dem britischen Arzt Dr. K. B. Thomas durchgeführt wurde.
Die Kraft des positiven Gesprächs Dr. Thomas hatte wie alle Allgemeinärzte viele Patienten, die über verschiedene Symptome klagten, bei denen man aber keine klare medizinische Diagnose stellen konnte. Und ohne Diagnose hatte man keinen überzeugenden Grund, sie medizinisch zu behandeln. Dr. Thomas entschloss sich zu prüfen, wie verschiedene Verhaltensweisen sich auf ihre Gesundheit auswirkten: Was wü rde geschehen, wenn man auf positive Weise mit ihnen sprach und ihnen in jedem Fall ein Medikament verabreichte? Dr. Thomas wählte zweihundert solcher Patienten aus und teilte sie nach dem Zufallsprinzip in vier Gruppen von je fünfzig Personen ein. Die Hälfte der Patienten erhielt die folgende positive Botschaft: »Ich weiß genau, was Ihnen fehlt, und ich bin sicher, dass Sie sich in ein paar Tagen wie neugeboren fühlen.« Die Hälfte erhielt eine negative Botschaft: »Ich weiß wirklich nicht, was mit Ihnen los ist.« Jeweils die Hälfte der Patienten beider Gruppen erhielt ein Rezept für eine Pille: Der positiven Gruppe wurde gesagt, dass die Pille ihnen mit Sicherheit helfen würde; der negativen Gruppe teilte man mit, dass der Arzt sich wirklich nicht sicher sei, ob die Pille helfen würde. Die andere Hälfte der beiden Gruppen erhielt kein Rezept. Diesen Teilnehmern der positiven Gruppe sagte man, dass sie kein Medikament brauchte, da die Krankheit in ein paar Tagen von selbst heilen würde; der negativen Gruppe wurde gesagt, dass man kein Medikament verschreiben konnte, da der -248-
Arzt keine Diagnose stellen konnte. Es gab also vier Gruppen mit je fünfzig Patienten: Positiv- Rezept; Positivkein- Rezept; Negativ- Rezept; Negativkein-Rezept. Die zwei Rezeptgruppen erhielten ein Placebo in Form einer sehr niedrigen Dosis Vitamin Bl. Bevor sie die Praxis verließen, füllten die Patienten einen Fragebogen aus, in dem sie angeben konnten, wie zufrieden sie mit dem Besuch beim Arzt waren. Zwei Wochen später erhielten sie per Post eine Karte, mit der sie befragt wurden, ob es ihnen besser ging und - falls das der Fall war wie lange es gedauert hatte, bis sich ihr Zustand verbessert hatte. Bei der Auswertung der Daten stellte Dr. Thomas fest, dass die Einnahme des Placebos allein keinen Unterschied bezüglich des Zustands der Patienten bewirkt hatte. Überraschenderweise wurde aus unserer Sicht in dieser Studie kein Placebo-Effekt im engeren Sinne beobachtet. Aber ein großer Unterschied ergab sich aufgrund der positiven beziehungsweise negativen Beratung der Patienten. 64 Prozent der Teilnehmer der Positivgruppen berichteten, dass sich ihr Zustand verbessert hatte. Bei den Negativgruppen war es dagegen nur bei 39 Prozent der Fall. Die Positivgruppen zeigten sich überdies zufriedener mit dem Arztbesuch. Es wäre ein Geschenk des Himmels, wenn alle Ärzte in der Lage wären, die innere Apotheke in dieser Form zu aktivieren, aber das ist nun einmal nicht der Fall. Wie wir wissen, reagiert die innere Apotheke positiv auf heilende Reize oder Botschaften, und die Gabe der Ärzte, solche Botschaften auszusenden, ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Zudem sind Menschen Individuen; ein Arzt, dem es gelingt, eine Botschaft auf wirksame Weise einer bestimmten Person zu vermitteln, ist vielleicht bei einem anderen Patienten weniger erfolgreich. Denken wir an ein einfaches Beispiel. Nehmen wir einmal an, die achtundsechzigjährige Tante Agathe ist etwas altmodisch und fühlt sich am besten betreut, wenn der Arzt ihr ganz präzise vorschreibt, was sie zu tun hat: Sie glaubt an die »Anweisungen -249-
des Arztes« und erwartet, dass man ihr sagt, was sie tun soll. Stellen wir uns nun zwei Ärzte vor. Einer ist ein etwas altmodischer, sehr freundlicher, aber eher autoritärer Typ, der andere hat seine Ausbildung vor noch nicht allzu langer Zeit abgeschlossen. Er hat daher gelernt, welche Rechte die Patienten haben und dass es notwendig ist, Dinge genau zu erklären, Fragen zu beantworten sowie sich bei den Patienten selbst zu erkundigen, welche Behandlung sie gerne hätten. Obwohl beide Ärzte möglicherweise die gleichen praktischen und theoretischen Fähigkeiten haben, hat der erste Arzt wahrscheinlich mehr Erfolg bei der Aktivierung der inneren Apotheke von Tante Agathe. Bei ihrer vierzigjährigen Tochter könnte es dagegen ge nau andersherum sein. Dieses Beispiel zeigt, dass Sie möglicherweise viel Zeit und Energie darauf verwenden müssen, um einen geeigneten Arzt für sich zu finden. Auch wenn Sie sich von Freunden und Nachbarn beraten lassen, hilft Ihnen das nicht unbedingt weiter, es sei denn, Sie sind überzeugt davon, dass für diese die gleichen Kriterien erfüllt sein müssen, auf die auch Sie Wert legen. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Wahl des richtigen Arztes vom Zufall abhängt. Das Bedeutungsmodell liefert uns eine ganze Reihe von Kriterien, die ein Arzt erfüllen sollte. Ich bin sicher, dass Sie eine vernünftige und fundierte Entscheidung treffen, wenn Sie die folgenden Fragen im Hinterkopf behalten: • Nimmt der Arzt oder Therapeut sich die Zeit, Dinge genau zu erklären? • Erklärt er Dinge so, dass sie für Sie verständlich sind? • Signalisiert er Ihnen, dass Fragen willkommen sind? • Ist er an Ihnen als Person interessiert? • Hilft er Ihnen dabei, mehr Kontrolle zu übernehmen? -250-
• Vermittelt er Ihnen das Gefühl, ein gle ichwertiger Partner bei der Kontrolle Ihrer Gesundheit sowie von Krankheiten zu sein? Denken Sie über diese Fragen nach, die ich mit Bedacht ausgewählt habe. Sie werden sicher Ihre eigenen Prioritäten haben. Vielleicht ist eine bestimmte Frage besonders wichtig für Sie, während andere für Sie keine große Rolle spielen. Wenn Sie all die Fragen berücksichtigen, die Ihnen wichtig sind, sind Sie nun gerüstet, um die Ärzte auszuwählen, die für Sie in Frage kommen. Nehmen wir an, Sie haben einen Arzt gefunden, der Ihnen geeignet erscheint. Wie können Sie sich am besten auf die Begegnung vorbereiten?
Vorbereitung des Arztbesuches Wie wir mehrfach erwähnt haben, ist ein Schlüsselelement des Bedeutungsmodells die Kontrolle beziehungsweise das Gefühl, die Situation im Griff zu haben. Manche Menschen meinen, dass sie jede Kontrolle abgeben, sobald sie einen Arzt aufsuchen. Ich halte dieses Entweder-Oder für äußerst kontraproduktiv. Es sollte möglich sein, dass man sich bei seinen Problemen helfen lässt und dennoch das Gefühl der Kontrolle bewahrt, gerade weil man die Initiative ergriffen und Hilfe in Anspruch genommen hat. Wenn Sie beim Arztbesuch auf Ihre Liste mit Fragen zurückgreifen, verringern Sie das Risiko, sich der Kontrolle berauben zu lassen, erheblich. Mit der folgenden Liste an Fragen können Sie sich optimal auf Ihren nächsten Termin vorbereiten: • Welche Dinge, die seit meinem letzten Termin geschehen sind, muss ich dem Arzt erzählen? • Auf welche Fragen über meine Gesundheit oder meine Behandlung möchte ich eine Antwort bekommen? -251-
• Welches Ergebnis erhoffe ich mir von dem Arztbesuch? Wie kann ich sicherstellen, dass das erwartete Ergebnis auch wirklich erzielt wird? • Was muss bei diesem Besuch geschehen, damit ich eine gute und dauerhafte Beziehung zu dem Arzt knüpfen kann? Diese Liste ist nicht auf einen Machtkampf mit dem Arzt angelegt, und es geht auch nicht darum, dass Sie die Beziehung kontrollieren. Wenn der Arzt Ihr Anliegen auf diese Weise interpretiert, müssen Sie sich vielleicht jemand anderen suc hen. Das Ziel ist, sich die Kontrolle zu teilen, anstatt die Kontrolle komplett zu übernehmen. Vielleicht ist es am besten, wenn Sie Ihre Fragen bei der Vorbereitung des Arztbesuchs aufschreiben und die Liste mitnehmen. Mit Ärzten, die sich ärgern, wenn ihre Patienten solche Listen mitbringen, oder diese gar gleich als Neurotiker oder Hypochonder abstempeln, wollen Sie wahrscheinlich nicht zusammenarbeiten. Sobald Sie in der Praxis sind, müssen Sie darauf achten, dass zumindest ein Teil Ihrer Fragen beantwortet wird. Denken Sie daran, dass Sie die Fragen stellen müssen. Sie sollten sich sofort einschalten, wenn Sie etwas nicht verstehen oder mit etwas nicht übereinstimmen. Setzen Sie sich gegen Selbstgefälligkeit und Einschüchterungsversuche zur Wehr, wenn die Begegnung sich auf eine Weise entwickelt, die Ihnen nicht gefällt. Möglicherweise ist nicht genug Zeit, sich mit allen Fragen auf Ihrer Liste zu befassen. Vereinbaren Sie in diesem Fall einen Folgetermin, bei dem die restlichen Dinge geklärt werden können. Arbeiten Sie entschlossen mit dem Arzt zusammen, und achten Sie darauf, dass bei künftigen Terminen genug Zeit für alle weiteren Fragen zur Verfügung steht. Auf diese Weise werden Sie die besten gesundheitlichen Ergebnisse erzielen. -252-
Nach dem Termin wird der Arzt sich einige Notizen für die Krankenakte machen, solange er sich noch gut an alles erinnert. Sie sollten das Gleiche tun. Schreiben Sie alle Ideen, die Sie für den nächsten Termin haben, auf, solange Sie sich genau an den letzten erinnern. Was ha t am besten funktioniert, was nicht so gut? Was können Sie tun, damit diese Dinge beim nächsten Mal besser laufen? Zur optimalen Vorbereitung des Arztbesuchs sollten Sie ihn vorher proben.
Der Sinn der Vorbereitung Die Vorbereitung auf den Arztbesuch kann aus zwei Gründen wichtig sein. Zum einen stärkt sie das heilsame Gefühl, dass Sie die Situation kontrollieren. Zum anderen ist es eine Gelegenheit für Sie, an Ihrer Krankheitsgeschichte zu arbeiten. Wenn Sie Ihre Geschichte vor dem nächsten Termin einüben, kann das für Sie Vorteile haben, die über eine einfache Vorbereitung weit hinausgehen. Hin und wieder kommen Patienten in meine Praxis, die gleich zu Beginn verkünden, dass sie bereits geheilt sind und meine Hilfe nicht mehr benötigen. Während der Vorbereitung hat der Patient seine Geschichte über die Krankheit zum ersten Mal analysiert. Dabei gelangte er zu eigenen Erkenntnissen über die Ursache und die Heilungsmöglichkeiten seines Zustands. Natürlich kann man nicht erwarten, dass alle Symptome verschwinden, nur weil man den Termin beim Arzt vorbereitet, aber es schadet nicht, dem Placebo-Effekt und der inneren Apotheke Starthilfe zu geben.
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Die Partnerschaft zwischen Arzt und Patient In aktuellen medizinischen Zeitschriften findet man immer wieder Artikel, die sich mit einer »nachhaltigen Partnerschaft« von Arzt und Patient und anderen Modellen beschäftigen, bei denen der Patient an Entscheidungen beteiligt ist. Wie kann eine solche Partnerschaft aussehen? Dr. Nancy Leopold und ihre Kollegen von der ›Agency for Health Care Policy and Research‹, einer Organisation in den USA, die sich unter anderem mit gesundheitspolitischen Fragen beschäftigt, haben den Begriff nachhaltige Partnerschaft anhand der folgenden Merkmale definiert. Viele davon werden Sie aufgrund unserer bisherigen Erörterungen wiedererkennen: • Der Arzt interessiert sich für den ganzen Menschen, und es ist ihm ein Anliegen, einen Zusammenhang zwischen den gesundheitlichen Problemen und dem Leben des Patienten herzustellen. • Der Arzt kennt den Patienten schon seit längerem. Ihm ist nicht nur die Krankengeschichte bekannt, sondern er weiß auch über die familiäre und berufliche Situation sowie über die grundlegenden Werte und Vorlieben des Patienten Bescheid. • Der Arzt bringt gegenüber dem Patienten stets Anteilnahme, Sensibilität und Mitgefühl zum Ausdruck. • Der Patient hält den Arzt für glaubwürdig und verlässlich und hat daher großes Vertrauen, dass er in seinem Interesse handelt. • Der Arzt passt die medizinischen Ziele und Maßnahmen den individuellen Bedürfnissen des Patienten an, je nachdem, welche Ziele und Werte er hat und in welcher sozialen und kulturellen Lebenssituation er sich befindet. • Der Patient wird aufgefordert, sich an gesundheitlichen Entscheidungen zu beteiligen, und grundlegende medizinische -254-
Entscheidungen werden vom Arzt und seinem Patienten gemeinsam getroffen. Leopold und ihre Kollegen haben diese Liste zusammengestellt, da wissenschaftliche Studien belegen, dass sich die Gesundheit von Patienten, die solche Beziehungen zu ihren Ärzten pflegen, nachweislich verbessert. Als wir über die moderne Gehirnforschung sprachen, haben wir festgestellt, dass wichtige menschliche Beziehungen in den heutigen Theorien über die Funktion und die chemischen Prozesse des Gehirns eine Rolle spielen. Wie ich bereits gesagt habe, ist das menschliche Gehirn ein großartiger ignoranter Apparat. Es »markiert« eine Botschaft, der wir unsere Aufmerksamkeit widmen sollen, beispielsweise, indem es diese mit einer wichtigen menschlichen Beziehung verknüpft. Je stärker unsere Beziehung zu einem Arzt mit der Zeit wird, desto mehr kann er uns unterstützen und desto wahrscheinlicher ist es, dass er Rezepte an unsere innere Apotheke weiterleiten kann. Da sie die Zustimmungstendenz als einziges Persönlichkeitsmerkmal identifiziert haben, mit dem sich ein positiver Placebo-Responder bestimmen lässt, stellen Seymour Fisher und Roger Greenberg indirekt die nachhaltige Partnerschaft als bestes Mittel heraus, um die innere Apotheke zu aktivieren. Sie zitieren unter anderem eine Studie über depressive Patienten. Einige von ihnen erhielten ein Antidepressivum, andere ein Placebo. Alle arbeiteten darüber hinaus mit einem Therapeuten zusammen. Von jeweils einer Therapiesitzung wurden Videoaufzeichnungen gemacht. Beobachter hatten die Aufgabe, sich die Videobänder anzusehen und zu bewerten, wie gut das therapeutische Bündnis zwischen dem Therapeuten und dem Klienten war. Anhand der Qualität dieser Beziehung konnte man hervorragend die Verbesserung des Zustands des Patienten vorhersagen. Das galt sowohl für die Patienten, die das Placebo bekamen, als auch für die, die das -255-
wirksame Medikament erhielten. Aufgrund dieser Ergebnisse folgerten Fisher und Greenberg, dass bei Patienten mit einer hohen Zustimmungstendenz nicht etwa Nachgiebigkeit oder Beeindruckbarkeit eine Rolle spielten, sondern die Bereitschaft, gute soziale Kontakte aufzubauen und andere Menschen bei der Lösung von Problemen mit einzubeziehen. Ein Patient mit einer hohen Zustimmungstendenz hätte dementsprechend kaum kein Problem damit, eine nachhaltige Partnerschaft zu einem Arzt aufzubauen. Ärzte und Therapeuten sollten versuchen, das Modell der nachhaltigen Partnerschaft engagiert zu praktizieren. Da es auf Gegenseitigkeit beruht, bedeutet es natürlich auch, dass Sie selbst einen Teil der Verantwortung übernehmen. Eine gewisse Kontrolle innerhalb der Arzt-Patienten-Beziehung zu übernehmen ist ein Teil der Aufgabe, Ihre Gesundheit so weit wie möglich selbst in die Hand zu nehmen.
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Nachwort: Das Geheimnis der Heilung Ein kurzer Rückblick Lassen Sie uns das Wichtigste, was wir über den Placebo-Effekt erfahren haben, noch einmal zusammenfassen: • Im letzten halben Jahrhundert hat die medizinische Wissenschaft fundierte Erkenntnisse über den Placebo-Effekt gewonnen. Es handelt sich dabei um eine starke und durchdringende Heilkraft, die nicht auf den Einsatz von Zuckerpillen oder auf eine Täuschung der Patienten begrenzt ist. • Es ist hilfreich, den Placebo-Effekt in der Vorstellung mit dem Bild einer inneren Apotheke zu verbinden. Bestimmte Heilbotschaften können diese samt ihrer vielfältigen chemischen Prozesse offensichtlich in Gang setzen und ihre Aktivität fördern. • Die Botschaften, die die innere Apotheke am stärksten aktivieren, verändern die Bedeutung, die eine Krankheit für uns hat. Zu einer positiven Bedeutungsveränderung kommt es, wenn wir das Gefühl haben, dass die Krankheit uns auf verständliche Weise erklärt wurde, wenn wir von Menschen umgeben sind, die sich um uns sorgen, und wenn wir das, was uns beunruhigt, kontrollieren und meistern können. • Menschen verleihen bestimmten Ereignissen eine Bedeutung, indem sie Geschichten darüber erzählen. Wenn wir eine Geschichte mit einem besseren Schluss erzählen, können wir die Bedeutung der Krankheit verändern und somit die innere Apotheke anregen. • Die Wissenschaft entdeckt immer mehr chemische Bahnen im Körper, mit deren Hilfe die innere Apotheke möglicherweise funktioniert. Die zukünftige Forschung könnte durch -257-
bildgebende Verfahren im Gehirnbereich weitere Erkenntnisse über die bedeutungserzeugenden Gehirnzentren gewinnen und zeigen, wie sie mit den Endorphinbahnen, der StressEntspannungs-Bahn und psychoneuroimmunologischen Bahnen verknüpft sind. • Der Placebo-Effekt und die innere Apotheke sind weder auf die Schul- noch auf die Alternativmedizin begrenzt. Man kann in jedem Fall von der inneren Apotheke profitieren, gleich welches der vielen Verfahren man anwendet. • Wenn Sie das Prinzip der inneren Apotheke einmal verstanden haben und die Methoden kennen, mit denen Sie Gesundheits- und Krankheitsereignissen eine Bedeutung verleihen können, sind Sie in der Lage, dieses Wissen zu nutzen, um Ihre Gesundheit zu fördern. Sie können das gemeinsam mit einem Arzt oder alleine tun.
Unser rätselhafter Körper und unser rätselhafter Geist Diese Reise in die medizinische Wissenschaft hat mit einem Geheimnis begonnen: dem Geheimnis der Zuckerpille. Die medizinische Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts dachte, sie hätte den Geist erfolgreich aus dem Heilungsprozess verbannt und wäre bald in der Lage, alle Krankheiten zu heilen, wenn sie den Körper nur immer weiter in seine kleinsten Bestandteile zerlegte. Aufgrund dieser Strategie konnten die Wissenschaftler jedoch eine grundlegende Tatsache nicht erklären: nämlich dass es Menschen besser ging - und zwar sowohl in Bezug darauf, wie sie sich fühlten, sowie darauf, wie ihr Körper funktionierte -, nachdem sie Pillen eingenommen hatten, die unmöglich eine direkte chemische oder physiologische Wirkung auf ihren Zustand haben konnten. Als die moderne medizinische Wissenschaft versuchte, dieses Rätsel zu erklären, blieb ihr nichts anderes übrig, als den menschlichen -258-
Geist bei der Gleichung von Medizin und Heilung auf irgendeine Weise wieder miteinzubeziehen. Die modernen Neurowissenschaften vertreten beharrlich die Ansicht, dass es von vornherein so hätte sein müssen. Ihnen zufolge versteht man den menschlichen Körper völlig falsch, wenn man meint, man könne den Geist bei der Erklärung der menschlichen Gesundheit ausschließen. Das Bedürfnis, dieses Geheimnis zu erklären, führte unweigerlich zu neuen Geheimnissen. Das größte Rätsel des Placebo-Effekts ist seine Unvorhersehbarkeit. Wir haben gesehen, dass durchschnittlich ein Drittel der getesteten Menschen auf einen Placebo-Reiz reagiert. Allerdings verschleiert dieser Durchschnittswert Variationen. Unter bestimmten Umständen tritt fast kein Placebo-Effekt auf; in anderen Situationen dagegen kann die Placebo-Rate auf 70 bis 80 Prozent steigen. Versuche, den Persönlichkeitstyp eines Placebo-Responders zu identifizieren und mit einer gewissen Sicherheit genau vorherzusagen, wer auf Placebos reagiert und unter welchen Umständen das geschieht, schlugen fehl. Die einzige Ausnahme bildete der Aspekt der Zustimmungstendenz. Anhand dieser Eigenschaft kann man möglicherweise unter anderem vorhersagen, wer am besten stabile Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen kann. Diese mangelnde Vorhersehbarkeit wirkt vielleicht entmutigend auf diejenigen, die den Placebo-Effekt verstärkt als Heilinstrument einsetzen möchten. Denn wer möchte sich schon gerne auf etwas verlassen, das im Durchschnitt nur in einem Drittel aller Fälle funktioniert? Dies ist allerdings nur dann ein »schlechtes Ergebnis«, wenn man eine andere Tatsache ignoriert: nämlich dass die Wirkung bei keiner medizinischen Behandlung hundertprozentig verlässlich oder vorhersehbar ist. Antibiotika gegen Lungenentzündung, Chemotherapie bei Krebs, ein chirurgischer Eingriff bei einem Arterienverschluss alle haben eine statistische Versagerquote, so dass die Ärzte -259-
nicht in der Lage sind, im Voraus zu sagen, bei wem die jeweilige Behandlung erfolgreich und bei wem sie unwirksam sein wird. Der einzige Unterschied zwischen dem Placebo-Effekt und anderen Behandlungsformen ist die Erfolgsquote, daher können wir uns dazu entschließen, ihn unter folgenden Bedingungen als Heilinstrument einzusetzen: • Wenn wir es ehrlich tun. • Wenn das Risiko, uns selbst oder jemand anderem zu schaden, extrem niedrig ist. • Wenn die Nutzung des Placebo-Effekts nicht ausschließt, dass andere Behandlungsformen angewendet werden. • Wenn die Nutzung des Placebo-Effekts nur sehr geringe zusätzliche Kosten erzeugt (oder wenn sie die Kosten für die Betreuung des Patienten sogar reduziert). All diese Bedingungen sind in der Regel erfüllt, wenn wir den Placebo-Effekt in Übereinstimmung mit dem Bedeutungsmodell nutzen. Es macht keinen Sinn, darüber zu streiten, ob man versuchen sollte, das Heilungspotenzial dieses Effekts zu nutzen. Wir wären dumm, wenn wir es nicht täten - vor allem dann, wenn der Placebo-Effekt ignoriert wird und das Potenzial hat, sich in einen Nocebo-Effekt zu verwandeln, der den Zustand des Patienten verschlechtert.
Rätsel und Geheimnisse Wir mögen Geheimnisse nicht besonders und bevorzugen Rätsel. Bei einem Rätsel kennen wir die Antwort zwar auch nicht, aber es ist zumindest möglich, eine Antwort zu finden, und wir können eine Strategie entwickeln, mit der wir höchstwahrscheinlich früher oder später auf die Antwort kommen. -260-
Die Medizin hat in unserem Jahrhundert große Fortschritte gemacht, indem sie Krankheiten als Rätsel betrachtet hat. Zugegeben, mit dem Ansatz zur Entschlüsselung von Rätseln kann man innerhalb eines bestimmten Rahmens sehr viel erreichen. Meines Erachtens ist dieser Ansatz wichtig, um zu erforschen, welche Gehirnbereiche daran beteiligt sind, Ereignissen eine Bedeutung zu verleihen, und wie diese Gehirnbereiche mit verschiedenen biochemischen Bahnen verknüpft sind. Weitere Untersuchungen über die Geschichten, die wir über unsere Krankheiten erzählen und darüber, wie die Veränderung des Schlusses einer Geschichte unseren Gesundheitszustand verändern kann, werden ebenfalls wichtige Erkenntnisse liefern. Es sind Rätsel. Sie sind lösbar. Ein echtes Geheimnis kann dagegen nicht »gelöst« werden. Am Ende muss man es schließlich akzeptieren und lernen, damit zu leben. Falls das seltsam klingt - oder gar unwissenschaftlich und antiintellektuell -, dann deshalb, weil unsere moderne Kultur mittlerweile so fest an den Mythos des Fortschritts glaubt, dass wir die alte Vorstellung von Geheimnissen völlig außer Acht lassen. Schließlich macht man nur Fortschritte, wenn man versucht, Dinge zu ändern und Rätsel zu lösen, anstatt zu akzeptieren, was ist. Eine klassische Darstellung der Bedeutung von Geheimnissen ist die biblische Geschichte von Hiob. Sie ist in einem heilenden wie auch in einem religiösen Sinne bedeutsam, da Hiobs Prüfung durch Gott nicht nur den Verlust seiner Kinder und seines ganzen Besitzes zur Folge hatte, sondern auch den Verlust seiner Gesundheit. Hiobs Freunde und später auch Hiob selbst versuchen im Verlauf der Geschichte, das, was geschehen ist, als Rätsel zu verstehen. Die Freunde sind der Meinung, dass Gott nie Unschuldige straft. Daher muss Hiob wohl etwas getan haben, das ihn erzürnt hat, möglicherweise ohne sich dessen bewusst zu sein. Wenn sie das Vergehen erkennen könnten, würden sie verstehen, warum Hiob bestraft wird. -261-
Hiob weiß, dass diese Argumentation keinen Sinn ergibt. Aber als er direkt zu Gott spricht, sucht er immer noch nach einer Lösung zu einem Rätsel, da er davon ausgeht, dass er ein Recht darauf hat. Gott rügt Hiob in seiner Antwort - doch nicht weil er gesündigt hat. Interpretationen der Geschichte von Hiob zufolge rügt Gott Hiob, weil er als Mensch kein Recht darauf hat, eine Antwort auf dieses Rätsel zu fordern, denn Gott ist ein Mysterium. Es ist ein Widerspruch, Gott anzubeten und gleichzeitig eine Antwort von ihm zu fordern, als sei er ein Rätsel, das eine Lösung hat. Wenn man Gott wahrhaftig verehrt, muss man ihn grundsätzlich als Mysterium akzeptieren. Auch was Menschen widerfährt, kann mysteriös sein, und das Geheimnis besteht nicht selten darin, dass unschuldigen Menschen furchtbare Dinge geschehen. Aussagen wie »Ich werde dich verehren, Gott, aber nur, wenn du versprichst, dass mir nichts Böses geschieht, solange ich Gutes tue« oder »Ich werde dich verehren, Gott, aber nur, wenn du mir garantierst, mir alles vollständig zu erklären, wenn irgendetwas Böses in der Welt scheinbar als Ergebnis deines Willens geschieht« drücken in Wirklichkeit eine Weigerung aus, ihn zu verehren. Am Ende der Geschichte ist Hiob tatsächlich geheilt, aber nur, weil er das Mysterium akzeptiert und nicht mehr versucht, Rätsel zu lösen. In diesem Buch wurden verschiedene Schlüssel zur Aktivierung der Selbstheilung vorgestellt. Der positive Umgang mit dem Geheimnis, mit dem nicht Lösbaren, muss als weiterer Schlüssel hinzugefügt werden. So kann es äußerst heilsam sein, eine neue Bedeutung zu entwickeln und die Kontrolle über die Situation zurückzuerlangen, aber manchmal kann es auch angebracht sein, das Geheimnis zu akzeptieren.
Die Knopfdruck-Falle Nicht nur die Schulmedizin versucht, Geheimnisse zu ignorieren -262-
und sich lieber an Rätsel zu halten. Ich konnte diese Tendenz ebenfalls in vie len Büchern über alternative Medizin und Körper-Geist-Heilungen erkennen. Häufig manifestiert sich hier eine Einstellung, wonach Heilungen wie »auf Knopfdruck« produziert werden sollen. Man hält sich an ein Patentrezept, muss nur auf einen bestimmten Knopf drücken. Das ist angeblich so sicher wie die Bedienung eines Kaugummiautomaten. Bleibt die Heilung aus, liegt es an einem selber. Dann hat man sich offensichtlich nicht genau an das Rezept gehalten. Ich möchte an dieser Stelle sichergehen, dass Sie nicht in diese psychologische Falle tappen. Ein Teil des unglücklichen Stigmas, das dem Wort »Placebo« anhaftet, entstand, weil es mit einer Lüge begann. Jahrhundertelang verabreichten Ärzte ihren Patienten Scheinmedikamente und ließen sie in dem Glauben, dass sie eine völlig andere Substanz erhielten - denken wir nur an den vorgetäuschten Einlauf, den Montaigne im Jahr 1580 beschrieb, oder an die Brotpillen, von denen Thomas Jefferson 1807 berichtete. Ich habe in diesem Buch versucht, den PlaceboEffekt zu rehabilitieren, indem ich ihn mit der Wahrheit und mit Aufrichtigkeit anstatt mit Lügen verknüpft habe. Wenn Sie versuchen, die Bedeutung, die eine Krankheit für Sie hat, zu verändern oder eine bessere Geschichte erzählen, wissen Sie genau, was Sie tun. Die innere Apotheke ist schließlich in der Lage, auf aufrichtige Botschaften in derselben Weise zu reagieren wie auf Lügen. Folgendes ist mir wichtig: Kein Rat in diesem Buch sollte als Rezept oder Garantie für eine erfolgreiche Heilung verstanden werden. Der Placebo-Effekt stellt uns vor eine Reihe von Rätseln, die man durch weitere Untersuchungen lösen wird. Aber zumindest zum Teil wird er immer ein Geheimnis bleiben. Er büßt an Heilwirkung ein, wenn wir das nicht verstehen und akzeptieren. Die Beschäftigung mit dem Geheimnis, das die Heilung -263-
umgibt, führt uns zu einem zentralen Widerspruch: Je sehnlicher Sie sich Heilung wünschen und sie fordern, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass Sie geheilt werden. Mit der Heilung verhält es sich in dieser Hinsicht ähnlich wie mit der Liebe. Wenn man sich verzweifelt nach einem Menschen sehnt, den man lieben kann, und bei jeder Begegnung die Suche nach dem Lebenspartner seiner Träume im Kopf hat, wird man mit ziemlicher Sicherheit jeden abschrecken, der möglicherweise in Frage gekommen wäre, und jede Liebesbeziehung schon im Keim ersticken. Menschen, die sich ineinander verlieben, befinden sich in der Regel nicht auf verzweifelter Partnersuche. Sie sind zuversichtlich, dass sie auch gut alleine weiterleben können, falls das Schicksal das für sie vorgesehen haben sollte. Genau diese Zuversicht wirkt auf geeignete Partner anziehend. Aber es gibt Zeiten, in denen die eigene Zuversicht nachlässt. Was dann?
Die Zweifel durch Hoffnung überwinden Caroline Myss hat einmal Folgendes geschrieben: »Unser Leben setzt sich aus einer Reihe von Geheimnissen zusammen, die wir zwar ergründen sollen, die aber zugleich ungelöst bleiben sollen.« Das trifft besonders auf die Heilung, den PlaceboEffekt, die Verbindung von Körper und Geist sowie unsere eigene Sterblichkeit zu. Was sollen wir tun, wenn uns ein Medikament gegen eine Krankheit verschrieben wurde? Die Theorie der Erwartung besagt, je mehr wir erwarten und an die Wirkung des Mittels glauben, desto größer ist die Chance, dass die innere Apotheke auf unserer Seite ist. Wir versuchen, positiv zu denken, aber dann kommen uns Zweifel. Es gibt zwei Möglichkeiten, mit Zweifel umzugehen. Auf den ersten Blick scheinen sie vielleicht identisch zu sein, aber meines Erachtens sind sie grundverschieden. Die erste -264-
Möglichkeit ist zu denken: »Verflixt noch mal, ich muss diese Zweifel loswerden! Die Behandlung wird nie funktionieren, wenn ich es nicht schaffe, dass mein Geist positiv und harmonisch mit meinem Körper zusammenarbeitet. Ich muss diese Gedanken verbannen, sonst wird die innere Apotheke nie in Gang kommen.« Wenn man die Hoffnung und die Erwartung auf diese Weise betrachtet, geht man wieder in die KnopfdruckFalle, die entmutigend wirkt, anstatt den Heilungsprozess zu fördern. Die zweite Reaktion auf die Zweifel ist, sie als etwas Selbstverständliches zu betrachten. Sie sagen sich: »Schließlich habe ich keine Ahnung, ob diese Behandlung am Ende funktioniert. Aber die Chancen, dass sie günstig wirkt, erhöhen sich, wenn ich voller Hoffnung bin. Ich will also versuchen, wieder Hoffnung zu schöpfen. Ich werde vermeiden, mir Vorwürfe zu machen, mich für mein Verhalten zu bestrafen oder mich zu irgendetwas zu zwingen. Schließlich geht es nicht nur darum, wieder gesund zu werden. Es geht darum herauszufinden, was für ein Mensch ich sein will und welche Art von Geschichte ich über mein Leben erzählen will. Und ich muss mich entscheiden, ob ich ein hoffnungsvoller oder ein zweifelnder Mensch sein will, wenn es ernst wird.« Diese zweite Art zu denken hat eine heilsamere Wirkung, da man das Geheimnis akzeptiert, den nächsten Schritt in Angriff nimmt und aktiv wird. Man handelt mit größerer Zuversicht und Hoffnung, gerade weil man das Geheimnis der Heilung akzeptiert und nicht versucht, es zu leugnen. Lesen Sie im Folgenden das Fallbeispiel von Felix.
Felix Felix ist ein fünfzigjähriger Arzt und Dozent, mit dem ich befreundet bin. Vor drei Jahren wurde bei ihm -265-
Speiseröhrenkrebs diagnostiziert. Bei Menschen in seinem Alter ist das eine sehr ungewöhnliche und unerwartete Diagnose. Er musste sich einer Operation unterziehen, um einen Speiseröhrenverschluss zu vermeiden, und man machte ihm nicht viel Hoffnung, dass er langfristig wieder genesen würde. Mein Freund war verheiratet und hatte kleine Kinder, was die Prognose noch tragischer machte. Er reagierte folgendermaßen auf den Krebs: Er betrachtete ihn als Alarmsignal, das ihn zwang, sich mit seiner Sterblichkeit zu konfrontieren, über die er bisher nie richtig nachgedacht hatte. Nun tat er das oft und fand sich schließlich damit ab, seine Familie zurücklassen und sein Leben verlieren zu müssen. Besonders wichtig war es ihm, jeden Tag voll auszuschöpfen, da er wusste, dass jeder sein letzter sein konnte. Schließlich stellte er fest, dass er sich früher viel Freude und Spaß im Leben versagt hatte, da er immer zu beschäftigt gewesen war, um ganz in der Gegenwart zu leben. Nachdem er den bevorstehenden Tod akzeptiert hatte, bemühte Felix sich, so gesund wie möglich zu leben. Er veränderte seine Ernährung und sein Fitnessprogramm grundlegend. Seine Entscheidungen waren für ihn stimmig, da er nicht sterben wollte und bereit war, viel Energie zu investieren, um länger zu leben. Er akzeptierte es, bald sterben zu müssen. Aber er weigerte sich, seine kostbare Energie für Angst aufzuwenden. Seither sind zwei Dinge geschehen. Zum einen inspiriert Felix all seine Freunde, da er den Krebs als ein »Geschenk« sieht, das ihm ermöglichte, zum ersten Mal richtig zu leben. Und zum anderen lebt er bereits zwei Jahre länger, als die optimistischste Prognose vorhergesagt hatte. Felix ist für mich ein wunderbares Beispiel dafür, wie es zur Heilung kommen kann, wenn man das Geheimnis der Heilung akzeptiert. Allein seine Präsenz scheint unglaublich heilsam auf andere zu wirken, da er sich über seine Freundschaften und die einfachen Dinge des Lebens freut. Wenn er mit seiner Frau die -266-
Straße entlangspaziert, um einen Cappuccino trinken zu gehen, ist es für ihn so wie für ein Kind, das zum ersten Mal das Disneyland besucht. Irgendwie gelingt es ihm, dieses Gefühl der Freude auf alle Menschen zu übertragen, denen er begegnet und mit denen er spricht. Er strahlt so viel Frieden und Heilung auf die Menschen in seiner Umgebung aus, dass ich mir immer vorstelle, wie seine innere Apotheke auf vollen Touren arbeitet. Felix ist für mich die Personifizierung von Herbert Bensons Entspannungsreaktion. Wenn ich behaupte, dass das Geheimnis des Placebo-Effekts grundsätzlich widersprüchlich ist, möchte ich damit Folgendes ausdrücken: Felix hat so viele Gründe weiterzuleben, dass man es gut verstehen könnte, wenn er verzweifeln und eine erfolgreiche Therapie seiner Krankheit fordern würde. Er könnte die besten Krankenhäuser und die besten Zentren für alternative Therapien abklappern und überall versuchen, die Garantie zu bekommen, dass er seinen Krebs bezwingen kann. Aber das hat er nicht getan. Die Heilung ist bei ihm scheinbar in dem Maße vorangeschritten, in dem er sich mit dem Tod konfrontiert und abgefunden hat. Viele verzweifelte Patienten verwenden so viel Energie darauf, die Vorstellung vom eigenen Tod auf Distanz zu halten, dass ihnen nur wenig Energie für die Heilung bleibt. Felix hat seine Ängste völlig losgelassen, so dass er all seine Energie auf seine Heilung richten konnte - und auf seine Frau und seine Kinder, die ihn lieben und zweifellos ebenfalls zu seiner Gesundheit beigetragen haben. Felix hat sich meines Erachtens in dem Maße selbst geheilt, in dem er die Heilung als Geheimnis akzeptiert hat.
Eine abschließende Bemerkung Wenn wir über den grundsätzlichen Widerspruch des Geheimnisses, das dem Placebo-Effekt zugrunde liegt, -267-
nachdenken, stoßen wir immer wieder auf die Bedeutung des Lebenssinns. Um unsere Gesundheit zu verbessern und zu stabilisieren, müssen wir uns fragen, was für ein Mensch wir sein möchten beziehungsweise welche Bedeutung unser Leben für uns haben soll. Wenn wir gesund sind, sollten wir uns überlegen, wie wir das auch weiterhin bleiben können, und gleichzeitig alle Aktivitäten pflegen, die unserem Leben einen Sinn verleihen. Wir sollten auf keinen Fall die Gesundheit zu unserem einzigen Ziel erheben. Wenn wir dagegen an einer Krankheit leiden, so können wir uns aufgefordert fühlen, über uns selbst hinauszuwachsen und herauszufinden, wie es wäre, ein sinnvolles Leben mit der Krankheit zu leben - gerade wenn es keine realistische Perspektive gibt, dass sie völlig ausheilt. G.G. Jung soll einmal gesagt haben, dass das Bewusstsein vom Sinn im Leben vieles erträglich mache, vielleicht sogar alles. Und um mit den Worten Vaclav Havels zu sprechen: Hoffnung ist eben nicht Optimismus. Es ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat - ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht... Und diese Hoffnung vor allen Dingen ist es auch, die uns die Kraft gibt zu leben und es immer immer aufs neue zu versuchen... Beim Schreiben dieses Buches habe ich versucht, sowohl realistisch als auch optimistisch zu sein. Meiner Erfahrung als Allgemeinarzt und Dozent zufolge können der Arzt und der Patient in einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit wirklich etwas bewirken. Für mich ist der Optimismus realistisch. Die Heilmethoden, die hier vorgestellt wurden, haben nicht immer so dramatische Erfolge wie beispielsweise die Wunderheilungen von Lourdes. Nein, die Gelähmten können ihre Krücken nicht einfach wegwerfen und ohne fremde Hilfe laufen. Aber die Prozesse wirken auf einer Ebene, auf der jede -268-
gute Medizin in der Regel funktioniert: Menschen leiden weniger unter den Symptomen ihrer Krankheit und stellen fest, dass ihr Leben trotzdem einen Sinn hat. Wenn all dies geschieht, weiß ich, dass die Heilung gegenwärtig ist. Warum und wie es dazu kommt, bleibt vielleicht ein Geheimnis. Dass es dazu kommt, ist so sicher, wie nur irgendetwas in der medizinischen Praxis sein kann.
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Dank Ich möchte den vielen Menschen danken, die eine wichtige Rolle für dieses Buch gespielt haben, allen voran meiner Frau Daralyn, die das Buch mitverfasst hat. Daralyn wirkte direkt und indirekt auf das Buch ein. Sie hat sich intensiv mit einer Re ihe von alternativen Heilverfahren beschäftigt, und während des Schreibprozesses übernahm sie zwei besondere Aufgaben. Zum einen sorgte sie für eine ausgewogene Darstellung der Alternativ- und der Schulmedizin. Zum anderen brachte sie das Material in eine Form, die für Laien verständlich ist. Aber Daralyns Einfluss auf das Buch beinhaltet auch ihren Einfluss auf meinen beruflichen Weg und meine Denkweise, der in den achtundzwanzig Jahren, die wir miteinander verheiratet sind, beträchtlich war. Daralyn ist stolz darauf, ein Mensch zu sein, bei dem die rechte Gehirnhälfte dominiert (manchmal erkennt sie dabei ihre ausgezeichnete linke Gehirnhälfte zu wenig an). Sie hat sich dem Studium der folkloristischen Tänze des Nahen Ostens und zentralasiatischer Kulturen verschrieben. In diesen Kulturen ist der Tanz traditionell mit Heilung und Schamanismus verknüpft. Das hat Daralyns Interesse an der Verbindung von Körper und Geist zusätzlich gefördert. Als Tänzerin neigt Daralyn dazu, eher intuitiv als logisch oder argumentativ vorzugehen. Wenn ich fragen würde: »Verstehen wir wirklich, wie das funktioniert?«, würde Daralyn vielleicht dagegenhalten: »Wenn es funktioniert, ist es dann wichtig?« Wenn ich etwas seitenlang erklären wollte, sagte Daralyn des Öfteren: »Lass uns zum Punkt kommen - auf welche Weise nutzt es einem?« Unsere Beziehung ist für mich eine hervorragende Lebenslehre über Geduld und Bescheidenheit zwei Eigenschaften, die dazu beitragen, den Arzt zu einem besseren Partner des Patienten zu machen. Dieses Buch ist durch -270-
die einander ergänzenden Sichtweisen von Daralyn und mir wertvoller und tiefgründiger geworden. Ein großer Teil dieses Buches entstand aufgrund der Tatsache, dass ich ein Allgemeinarzt bin, daher schulde ich jenen Menschen großen Dank, die mir mein medizinisches Wissen während meines Studiums vermittelt haben, meinen Dozenten am College of Human Medicine, an der Michigan State University und am Medical Center der University of Virginia in Charlottesville. Ich habe Bedenken, meine geschätzten Lehrer namentlich zu nennen, da ich niemanden kränken möchte, der möglicherweise versehentlich vergessen wurde. Allerdings muss ich Dr. B. Lewis Barnett, jr., den langjährigen Leiter der Abteilung für Allgemeinmedizin des Virginia Medical Centers, namentlich erwähnen. Für viele verkörpert er die Ideale der Allgemeinmedizin. Es ist gut möglich, dass der Zusammenhang zwischen dem Erzählen von Geschichten und Heilungsprozessen mir zum ersten Mal bei ihm zu Hause klar wurde, als ich mit ihm vor dem Kamin saß und den Geschichten aus seiner zwanzigjährigen Praxis in einer kleinen Stadt in South Carolina lauschte. Ich bin natürlich auch meinen Philosophielehrern von der Michigan State University dankbar, an der ich meinen Doktortitel erwarb und mich zum ersten Mal wissenschaftlich mit dem Placebo-Effekt beschäftigte, sowie meinen Kollegen der Abteilung für Allgemeinmedizin an dieser Universität, die mich im Laufe der Jahre nicht nur sehr viel gelehrt haben, sondern auch die Bürde auf sich nehmen, meine Patienten zu betreuen, wenn ich verreist oder aus anderen Gründen verhindert bin. Zwei dieser Kollegen, Dr. William C. Wadland und Janis Rygwelski, lasen einen frühen Entwurf dieses Buchs und prüften die Richtigkeit vieler schul- und alternativmedizinischer Aspekte. Für jeden Fehler, der stehen geblieben ist, bin ich ganz alleine verantwortlich. -271-
Im Laufe der Jahre habe ich von der Lektüre vieler Bücher und Artikel profitiert, die von Experten über den Placebo-Effekt geschrieben wurden. Zu denen, die mir durch persönliche Gespräche weitergeholfen haben, gehören David Sobel, Dan Moerman, Irving Kirsch, Robert Ader, Arthur Kleinmann, Robert Hahn, Ted Kaptchuk, Arthur Frank und David Hufford. Da Dr. Howard M. Spiro und ich gegenteiliger Meinung sind, was die Ethik bezüglich der Verabreichung von Placebos betrifft, wurden wir bei verschiedenen Anlässen eingeladen, um darüber zu debattieren. Ich war bei diesen Begegnungen stets beeindruckt von Dr. Spiros tiefer menschlicher Achtung und seinem Mitgefühl gegenüber seinen Patienten sowie von seiner Scharfsinnigkeit. Vor einigen Jahren hatte ich das Privileg, an einem Projekt der Michigan State University teilnehmen zu können, bei dem das so genannte Center for Meaning and Health eingerichtet wurde. Das Zentrum bestand offiziell leider nur zwei Jahre. Wäre es weitergeführt worden, hätten wir möglicherweise einige der fehlenden »Anhaltspunkte« über den Placebo-Effekt erhalten, auf die ich mich des Öfteren bezogen habe - und die ich mit einigen meiner Kollegen nach wie vor erforschen möchte. Viele Ideen, die in dieses Buch eingeflossen sind, habe ich aus Gesprächen mit Menschen bezogen, die an diesem Projekt teilgenommen haben, zum Beispiel Dr. Robert Smith, Larry VanEgeren, Cindy Morgan, Loudell Snow, Gwen Wyatt und Nancy Ainsworth-Vaughn. Das Zentrum und ein Teil der Arbeit der Michigan State University, die damit in Verbindung stand, wurde großzügig vom Fetzer Institute in Kalamazoo finanziert. Ich möchte mich bei dieser Gelegenheit für die freundliche Unterstützung bedanken. Sie hat bei der Entwicklung einiger Ideen geholfen, die in diesem Buch vorgestellt werden. Vor kurzem habe ich sehr von zwei Konferenzen profitiert, an denen ich teilgenommen habe - eine fand an der Harvard -272-
University statt und behandelte interdisziplinäre Ansätze in Bezug auf den Placebo-Effekt, die andere wurde vom Office of Alternative Medicine des National Institute of Health (NIH) gesponsert und hatte die Rolle des Placebo-Effekts bei wissenschaftlichen Studien über die Alternativmedizin zum Thema. Ich möchte mich bei Anne Harrington, Steven Hyman, Stephen Kosslyn, Dan Moerman und Wayne Jonas dafür bedanken, dass sie mich zu diesen Konferenzen eingeladen haben, sowie bei den Teilnehmern, von denen ich sehr viel gelernt und deren Arbeiten ich zitiert habe. Als es an der Zeit war, dieses Buch schließlich zu schreiben, half mir Dr. Pamela Peeke, eine frühere Kommilitonin, die jetzt für das NIH arbeitet, die Literaturagentur Gail Ross ausfindig zu machen. Gail Ross und ihr Partner Howard Yoon haben viel Zeit und Mühe darauf verwendet, einen Autor, der sich bisher nur über Universitätsverlage und Fachzeitschriften an ein akademisches Publikum gewendet hatte, in einen Autor zu verwandeln, der auch bei einem allgemeinen Lesepublikum Anklang findet. Dank ihrer Bemühungen kam ich daraufhin in Kontakt mit Diane Reverand, Matthew Guma und den übrigen Mitarbeitern von Cliff Street Books beim Verlag HarperCollins, die alle hart gearbeitet haben, um sicherzustellen, dass diese Verwandlung vollständig abgeschlossen war und das Buch sein Potenzial ausschöpfte. Abgesehen von den Mitarbeitern bei HarperCollins hatte ich auch das Glück, mit den beiden hervorragenden Lektoren Neill Bogan und Carolyn Fireside zusammenzuarbeiten. Beide erfassten schnell und kompetent die Grundideen des Buchs und teilten mir offen ihre persönliche Meinung über Gesundheit und Krankheit mit, so dass manches klarer herausgearbeitet werden konnte. Carolyn wurde erst spät in den Prozess miteinbezogen und erledigte die letzte Durchsicht des Manuskripts unter einem enormen Termindruck auf brillante Weise. Abschließend möchte ich die Widmung dieses Buches -273-
wiederholen und den vielen Patienten danken, von denen ich im Laufe der Jahre so viel gelernt habe. Ich bin davon überzeugt, dass Patienten unglaublich nachsichtig sind, solange sie spüren, dass man sich ernsthaft bemüht. Das hat mich ermutigt, weiterzumachen und nach etwas zu suchen, das funktioniert. Ein weiser Arzt vergangener Tage soll einmal Folgendes gesagt haben: »Hör auf den Patienten; er versucht, dir die Diagnose zu verraten.« Dem würde ich hinzufügen: »Und wahrscheinlich auch die Behandlung.«
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Literaturhinweise Deutschsprachige Literatur Barasch, Marc L: Ich suchte meine Seele und wurde gesund. Heilung als Reise nach innen. München: Droemer Knaur 1998. Die Leidens- und Genesungsgeschichte eines an Krebs Erkrankten, dessen sieben Jahre währende Suche nach Heilung zu einer Suche nach sich selbst wurde. Benson, Herbert: Gesund im Streß. Berlin: Ullstein 1978. Das ehemals bahnbrechende Buch zum Placebo-Effekt: Die beiden zentralen Reaktionsmuster unseres Körpers auf Reize von außen werden ausführlich beschrieben. -: Heilung durch Glauben. Die Beweise. Selbstheilung in der neuen Medizin. München: Heyne 1999. Auf der Grundlage von Fallbeispielen, medizinischen Studien und Ergebnissen der neueren Hirnforschung belegt der Autor die Heilkraft des Placebo-Effekts und zeigt die große Bedeutung des Glaubens für Heilungsprozesse auf. Frank, Jerome D.: Die Heiler. Wirkungsweisen psychotherapeutischer Beeinflussung. Vom Schamanismus bis zu den modernen Therapien. Stuttgart: Klett-Cotta 1997. Ein Versuch, die allen Formen psychotherapeutischer Einflussnahme gemeinsamen Elemente zu beschreiben, insofern von einem jeweils zugrunde liegenden Impetus des »Heilens durch Überzeugung« ausgegangen wird. Gauler, Thomas C. u. Thomas R. Weihrauch: Placebo. Ein wirksames und ungefährliches Medikament? München: Urban & Fischer 1997. -275-
Die Autoren analysieren anhand von wissenschaftlichen Fallstudien die krankheitsspezifische Wirksamkeit vo n PlaceboPräparaten, ihre Nebenwirkungen sowie die Mechanismen der körpereigenen Heilungskräfte. Hoffman, Kay: Die mentale Hausapotheke. Gesundheit beginnt im Kopf. München: Hugendubel 2000. Die Autorin begreift Gesundheit und Krankheit als sich ständig verändernde Prozesse, die ihren Ursprung im Geist des Menschen haben. In Form eines mentalen Trainingsprogramms bietet sie verschiedene Übungen, Anregungen und Metaphern an, die den Kontakt zum Unterbewussten fördern und die Selbstheilungskräfte aktivieren sollen. Kienle, Gunver Sophia: Der sogenannte Placeboeffekt. Illusion, Pakten, Realität. Stuttgart: Schattauer 1995. Kienle setzt sich kritisch mit der bisherigen Forschung zum Phänomen auseinander und untersucht, welche Faktoren dazu beitragen können, einen Placebo-Effekt vorzutäuschen. Myss, Caroline: Mut zur Heilung. Wie Sie Ihre Energien nutzen, um gesund zu werden. München: Droemer Knaur 2000. Mit der von Myss hier gelehrten Energiemedizin - einer Symbiose aus östlicher und westlicher Heiltradition - soll die Gesundung von Körper und Geist in gleichem Maße erreicht werden, wobei die Autorin davon überzeugt ist, dass dem Geist und der Energie höhere Priorität beigemessen werden müssen als der Materie und dem Körper. Siegel, Bernie S.: Mit der Seele heilen. Gesundheit durch inneren Dialog. Berlin: Ullstein 2000. Der Autor geht von einer starken gegenseitigen Beinflussung von Körper und Geist aus und versucht anhand von Fallbeispielen aus seiner Praxis als Kinderarzt aufzuzeigen, wie die Seele Kranker wie auch Gesunder dem Körper -276-
Lebensbotschaften zum Wohlbefinden übermitteln kann. Weil, Andrew: Spontanheilung. Die Heilung kommt von innen. München: Orbis 1995. Der Autor beschreibt die Wirkungsweisen des Selbstheilungssystems des menschlichen Körpers sowie Möglichkeiten und Mittel der Einflussnahme auf dasselbe. Mit zahlreichen Fallbeispielen.
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Englischsprachige Literatur Howard Brody bezieht sich bei seinen Ausführungen auf eine Reihe englischsprachiger wissenschaftlicher Publikationen, die sämtlich nicht in deutscher Übersetzung verfügbar sind. Für den interessierten Leser sind im Folgenden die wichtigsten zusammengestellt. Craen, Ton de: Placebos and Placebo Effects in Clinical Trials. Department of Clinical Epidemiology and Biostatistics. Universität Amsterdam 1998. Diese Dissertation beschäftigt sich mit dem Thema PlaceboEffekt auf der Grundlage der Auswertung verschiedener klinischer Studien; einzelne Kapitel erschienen als Aufsätze in wichtigen wissenschaftlichen Zeitschriften. Fish, Jefferson M.: Placebo Therapy. San Francisco: JosseyBass 1973. Der Autor formuliert einen erweiterten Begriff des PlaceboEffekts, indem er fast sämtliche Arten heilender zwischenmenschlicher Interaktion einbezieht, und betont die vielfältigen Heilungsmöglichkeiten einer den Glauben und das Vertrauen des Patienten stärkenden Psychotherapie. From Placebo to Panacea: Putting Psychiatric Drugs to the Test. Hg. von Seymour Fisher u. Roger P. Greenberg. New York: Wiley 1997. In dieser kontroversen Publikation vertreten die Autoren die Ansicht, die meisten der in moderner Psychotherapie verwendeten Medikamente zeigten bei sorgfältiger Untersuchung keine bessere Heilwirkung als Placebos. Jospe, Michael: The Placebo-Effect in Healing. Lexington, MA: Lexington Books /D.C. Heath 1978. -278-
Diese Arbeit untersucht den Placebo-Effekt vor allem aus der Perspektive der Psychologie und gibt einen fundierten Überblick über das zum Zeitpunkt des Erscheinens über die Thematik im Allgemeinen Bekannte. Non-Specific Aspects of Treatment. Hg. von Michael Sheperd u. Norman Sartorius. Lewiston, NY: Hans Huber Publishers 1989. Ein von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlichter Band, der Essays aus den Bereichen Wissenschaftsphilosophie, experimentelle Psychologie, klinische Pharmakologie, Psychotherapie und klinische Psychiatrie zum Thema Placebo-Effekt versammelt. Placebo: Theory, Research, and Mechanisms. Hg. von Leonard White u. a. New York: Guilford Press 1985. In einem breiten interdisziplinären Ansatz kommen Ärzte, Philosophen, Psychologen, Anthropologen, Pharmakologen und andere zum Thema Placebo zu Wort, im letzten Kapitel versucht der Herausgeber eine Gesamtschau. Shapiro, Arthur K. u. Elaine Shapiro: The Powerful Placebo: From Ancient Priest to Modern Physician. Baltimore: John Hopkins University Press 1997. Eine Zusammenfassung des Lebenswerks Arthur K. Shapiros, eines Psychiaters, dessen Untersuchungen zum Phänomen Placebo zu den wichtigsten und fruchtbarsten der Forschung gehören. Spiro, Howard M.: Doctors, Patients and Placebos. New Haven: Yale University Press 1986. Der Autor konzentriert sich auf den klinischen Bereich und vertritt die Ansicht, die Wirkungsmöglichkeiten des PlaceboEffekts beschränkten sich auf die subjektive Gefühlswelt des Patienten, organische Funktionen würden vo n ihm nicht direkt beeinflusst. The Placebo-Effect: An Interdisciplinary Exploration. Hg. von Anne Harrington. Cambridge, MA: Harvard University -279-
Press 1997. Der Tagungsband einer 1994 an der Harvard University abgehaltenen Konferenz, dessen Beiträge von Vertretern unterschiedlichster wissenschaftlicher Disziplinen stammen. Wichtige Aufsätze in wissenschaftlichen Zeitschriften, auf die Howard Brody verschiedentlich Bezug nimmt: Beecher, Henry K.: »The Powerful Placebo«. In: Journal of the American Medical Association 159 (1955). S. 1602-1606. Benson, Herbert u. Mark D. Epstein: »The Placebo Effect: A Neglected Asset in the Care of Patients«. In: Journal of the American Medical Association 232 (1975). S. 1225-1227. Berg, Alfred O.: »Placebos: A Brief Review fo r Family Physicians«. In: Journal of Family Practice 5 (1977). S. 97-100. Bourne, Henry R.: »The Placebo - A Poorly Understood and Neglected Therapeutic Agent«. In: Rational Drug Therapy 5 (1971). S. 1-6. »Rational Use of Placebo«. In: Clinical Pharmacology: Basic Principles in Therapeutics. Hg. von Kenneth L. Melmon u. Howard F. Morrelli. New York: Macmillan 1978. Chaput de Saintonge, D. Mark u. Andrew Herxheimer: »Harnessing Placebo Effects in Health Care«. In: The Lancet 344 (1994). S. 995-998. Johnson, Alan A.: »Surgery as a Placebo«. In: The Lancet 344 (1994). S. 1140-1142. Kaptchuk, Ted J.: »Intentional Ignorance: A History of Blind Assessment and Placebo Controls in Medicine«. In: Bulletin of the History of Medicine 72 (1998). S. 398-433. »Powerful Placebo: The Dark Side of the Randomized Controlled Trial«. In: The Lancet 351 (1998). S. 1722-1725. Klejnen, Jos u. a.: »Placebo Effect in Double-Blind Clinical Trials: A Review of Interactions with Medications«. In: The Lancet 344 (1994). S. 1347-1349. -280-
Laporte, Joan-Ramon: »Placebo Effects in Psychiatry«. In: The Lancet 344 (1994). S. 1206-1209. Min Sen Oh, Vernon: »Magic or Medicine? Clinical Pharmacological Basis of Placebo Medication«. In: Annals of the Academy of Medicine (Singapur) 20 (1991). S. 31-37. Rosenberg, Charles E.: »The Therapeutic Revolution: Medicine, Meaning, and Social Change in Nineteenth Century America«. In: The Therapeutic Revolution. Hg. von Morris J. Vogel und Charles E. Rosenberg. S. 19. Shapiro, Arthur K.: »The Placebo Response«. In: Modern Perspectives in World Psychiatry. Hg. von J. G. Howells. Edinburgh: Oliver and Boyd 1968. S. 596-619. Shapiro, Arthur K. u. Louis A. Morris: »The Placebo Effect in Medical and Psychological Therapies«. In: Handbook of Psychotherapy and Behavior Change: An Empirical Analysis. Hg. von S. L. Garfield u. A. E. Bergin. New York: Wiley 1978. S. 369-419. Thomas, K. B.: »The Placebo in General Practice«. In: The Lancet 344 (1994). S. 1066f. Turner, Judith A. u. a.: »The Importance of Placebo Effects in Pain Treatment and Research«. In: Journal of the American Medical Association 271 (1994). S. 1609-1614. Wolf, Stewart: »The Pharmacology of Placebos«. In: Pharmacological Review 2 (1959). S. 689-704.
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