Petter Hegre - Yoga Pur
January 21, 2017 | Author: bengkiatkhoo | Category: N/A
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Petter Hegre / Inge Schöps
Yoga Pur
Über dieses Buch
Auf den ersten Blick ist YOGA PUR ein Bildband. Eine Sammlung hoch¬wertiger puristischer Yoga-Kunst mit korrekt ausgeführten YogaHaltungen von atemberaubender Schönheit und Klarheit. Lässt man sich jedoch auf die Erläuterungen und die einzelnen Kapitel ein, so entdeckt man Schritt für Schritt die tiefere Bedeutung der abgebildeten Stellungen, die Rele¬vanz der Übungen für das alltägliche Leben und deren Verwurzelung mitten im Zentrum der yogischen Philosophie. Inspiration pur! Auf den zweiten Blick erstrahlen die Bilder in neuem Sinnzusammenhang, ja neuer Anmut und ästhetischem Genuss. In YOGA PUR führt die anerkannte Yoga-Lehrerin Inge Schöps durch die Welt des Yoga. Sie schärft unseren Blick auf das Wesentliche und schält nach und nach die Themen heraus, die uns am allermeisten bewegen: Gelassenheit, Dankbarkeit oder Liebe. Das Fundament für ihre Erläuterungen bildet Der Achtgliedrige Pfad von Patanjali, dem Verfasser der maßgeblichen YogaSutren. Zusammen mit hochwertigen anspruchsvollen Fotografien entstand so ein Premium-Band des puren Yoga, der sowohl die Symbolik als auch die Ästhetik der yogischen Tradition darstellt. Eine Bereicherung unserer modernen Denkweise auf der Suche nach Balance von außen und innen.
Inhaltsübersicht VORWORT 1. Frei sein 2. Ruhig und gelassen sein 3. Die stabile Mitte spüren 4. Sinnlich und sinnvoll leben 5. Lieben und mitfühlen 6. Wahrhaftig und authentisch sein 7. Genügsam und anspruchslos sein 8. Balance und Harmonie finden 9. Loslassen und akzeptieren können 10. Sich reinigen und verzeihen 11. Zufrieden und dankbar sein 12. Leidenschaftlich und diszipliniert sein 13. Mutig sein und beobachten 14. Voller Vertrauen sein und fließen lassen 15. Achtsam sein und üben 16. Atmen und die Sinne zurückziehen 17. Konzentrieren und meditieren Nachwort Literatur Dank und Widmung Fotoregister nach Themen
VORWORT
Für YOGA PUR hätten gut und gerne die Göttinnen Lakshmi und Parvati Pate stehen können, repräsentieren sie doch im hinduistischen Götterhimmel Liebe, Fülle, Reichtum und Schönheit. Die äußere Schönheit des Models in diesem Buch ist offensichtlich. Aber machen wir uns jemals bewusst, dass wir alle einen wunderschönen Körper haben?
Die Handgeste Anjali Mudra beinhaltet eine der Kernaussagen von Yoga: »Namaste. Das Licht in mir verbeugt sich vor dem Licht in dir, wissend, wir sind eins.«
»Willkommen in deinem wunderschönen Körper!« Mit diesem oder einem
ähnlichen Satz fangen viele Yoga-Lehrer eine Yoga-Stunde an, um genau dieses Bewusstsein zu schaffen. Wenn wir diesen Satz das erste Mal hören, fühlen wir uns wahrscheinlich im besten Fall nicht persönlich angesprochen oder im schlimmsten Fall verhöhnt. Denn leider wird uns meist nicht beigebracht, uns selbst so wohlwollend zu betrachten, sondern wir sind uns gegenüber eher kritisch eingestellt. Dabei ist es eigentlich ganz einfach! Wie Thukydides so schön sagte: »Schönheit liegt im Auge des Betrachters!« Wenn wir anfangen, uns selbst liebevoll zu betrachten, entdecken wir unsere ganz eigene persönliche Schönheit, unser Zuhause, unsren wertvollen Tempel. Die körperlichen Praktiken des Yoga zu üben, macht uns unwiderstehlich schön und hält unseren Tempel gut gepflegt, gesund, kraftvoll und geschmeidig zugleich. Auch wenn wir vielleicht nie die absolute Perfektion in den einzelnen Körperhaltungen, den Asanas, erreichen. Aber das ist vollkommen gleichgültig, denn auf die körperliche Praxis kommt es im Yoga zwar auch, aber bei weitem nicht nur an. Denn Yoga ist weit mehr als Akrobatik und »Cirque du Soleil«! Mit Yoga lernen wir, neben der äußeren auch unsere innere Schönheit zu entdecken, die ganze Fülle und den Reichtum, die in unserem Inneren verborgen liegen. Aber was macht diese innere Schönheit überhaupt aus? Und was bedeutet es, aus dem Vollen zu schöpfen und unser Potenzial voll zu entfalten? Ist es nicht das, was wir uns alle wünschen: uns eins zu fühlen, mit uns selbst und mit allem um uns herum. Uns frei zu fühlen, ruhig und gelassen zu sein, ganz unsere stabile Mitte spürend und das Leben sinnlich und sinnvoll lebend. Genau diese innere Haltung, dieses Lebensgefühl können wir mit Yoga kultivieren – auf und jenseits der Matte. Die Praktiken des Yoga sind hervorragend dazu geeignet, sich und die Welt in Gänze zu erforschen und überall dort Licht hinzubringen, wo die Sonne sonst nicht scheint.
Schön ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet. Je mehr jemand die Welt liebt, desto schöner wird er sie finden.
CHRISTIAN MORGENSTERN
Yoga ist ein Weg nach innen, ein Weg in die Freiheit von äußeren Umständen! Wir befreien uns nach und nach von Ideen, Vorstellungen, Konzepten, wie die Dinge sein sollten, befreien uns von unseren Limitierungen, die verhindern, dass wir unser Leben genau so gestalten, wie wir es wollen und können. Die Yoga-Philosophie bietet eine Art Hilfsprogramm, das die Quintessenz aller heute praktizierten Yoga-Stile ist und sozusagen den puren Yoga darstellt – nämlich den Achtgliedrigen Pfad (Ashtanga Marga) von Patanjali, dem Verfasser des maßgeblichen Leitfadens der Yogis, den Yoga-Sutras. Dieses Yoga-Programm umfasst neben der rein körperlichen Praxis auch mentale bzw. meditative Übungen und das Einhalten eines ethischen Verhaltenskodex, den »Dos« und den »Don’ts« eines Yogi. All diese Praktiken zielen darauf ab, die Qualitäten zu kultivieren und zu stärken, die uns die äußere und innere Schönheit des Lebens im Allgemeinen und in uns selbst im Besonderen entdecken lässt. YOGA PUR stellt die Grundzüge der philosophischen Konzepte des Yoga und den Achtgliedrigen Pfad mit inspirierenden Texten und Zitaten vor. Und was könnte besser passen als die ästhetischen und puristischen Yoga-Fotos von Petter Hegre, um die Yoga-Philosophie von Freiheit und Schönheit zu präsentieren und optisch zu untermalen! Wir lassen uns von den Fotos erzählen, was sie über Yoga jenseits der rein körperlichen Aspekte aussagen. Ansonsten lassen wir die Bilder für sich selbst sprechen, denn YOGA PUR lebt von der Ästhetik und Schönheit der Fotos. Viel Spaß auf Ihrer Reise in die Freiheit wünscht Ihnen Inge Schöps
Die aufrechte weite Grätsche im Sitzen (Upavhishta Konasana) ist ein Beispiel der vielen Körperhaltungen (Asanas), die hervorragend dazu geeignet sind, um sich und die Welt in Gänze zu erforschen.
1. Frei sein
Der Königsweg Frei sein
So widrig und kompliziert die Umstände für eine Lotospflanze auch sein mögen, so schön erblüht sie dennoch in all ihrer Pracht (gebundener Lotossitz in Rückansicht, Baddha Padmasana).
Die Konzentration auf das Äußere lässt uns unsere Lebenssituationen meist als sehr kompliziert erscheinen. Wir fühlen uns den Turbulenzen des Lebens ausgesetzt, abhängig von äußeren Umständen, von Alter, Job, Kontakten, Wohlstand, Wetter, um nur einige zu nennen. Wir sind so eng mit ihnen verwoben, dass wir nicht das Gefühl haben, frei über unsere Geschicke und über unser Befinden entscheiden zu können. Wir meinen, wir wären an unsere Erfahrungen, Glaubenssätze und Muster gebunden, und fühlen uns oft eingeschränkt von Beurteilungen und Zwängen, von Erwartungen, Ängsten, Meinungen, Ideen und Vorstellungen, wie die
Dinge und wir selbst zu sein hätten. Wie schön wäre es doch, diese Fesseln zu sprengen und die hemmenden Tendenzen in uns zu transformieren. Allerdings entpuppt sich unser Geist als ausgewachsener Störenfried auf dem Weg zur Transformation, die uns Seelenfreiheit verspricht. Die Gedanken und Gefühle, die äußere Umstände in uns auslösen, reißen uns immer wieder aus dem Zustand der Freiheit heraus, der im yogischen Sinne unser natürlicher Zustand ist. Wer kennt das nicht: Wir sitzen eigentlich im Paradies und regen uns doch darüber auf, dass es regnet, dass wir Falten bekommen, dass der Partner nicht das tut oder sagt, was wir gerade so dringend bräuchten. Oder es gibt schwerwiegendere Umstände wie Krankheit oder Verluste, die uns gänzlich aus der Bahn werfen und uns die Sicht auf das Licht versperren.
Der gebundene Lotossitz (Baddha Padmasana) in der Vorder- und Rückansicht veranschaulicht die Zusammengehörigkeit des universellen und individuellen Bewusstseins, den zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Das Bild der Lotosblume ist in diesem Zusammenhang sehr anschaulich und strotzt nur so vor Symbolik. Ihre Fähigkeit, sich unter widrigen Umständen und tief im Schlamm steckend gen Licht auszurichten und in aller Schönheit aufzublühen, lässt den Lotos auch für die Yogis zum Sinnbild von Erleuchtung und der damit verbundenen Freiheit werden.
Ideen verwandeln die Menschen nicht. Es ist die Freiheit von Ideen, die Transformation bewirkt. KRISHNAMURTI
Zudem ist der Lotos Symbol für den ewigen Zyklus des Lebens von Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt (Samsara), ein Zyklus ohne Anfang und Ende, was in der Asana Gebundener Lotos (Baddha Padmasana) veranschaulicht wird. Die Hände greifen die Füße, so dass ein ununterbrochener Kreislauf in der Asana entsteht. In diesem Kreislauf des Lebens sieht der Yogi das ewige Spiel zweier unzertrennlicher Weisen des Seins: der des universellen Bewusstseins, Purusha, und der des begrenzten Bewusstseins und der äußeren Welt, Prakriti. Purusha ist die beständige, zeitlose, immer existierende und unwandelbare Instanz in uns, der Raum der Freiheit, unsere Essenz, unsere wahre Natur, die auch im Zyklus des Lebens immer bestehen bleibt – auch dann noch, nachdem wir das irdische Dasein in unserer jetzigen Form hinter uns gelassen haben. Welch ein Trost! Prakriti wiederum ist das Geformte, das sich in jedem Moment verändert und irgendwann im Zyklus des Lebens vergeht. Es ist das, was wir um uns herum sehen und wahrnehmen, bis hin zu unserem eigenen Körper, unseren Gedanken, unseren Emotionen. Aus der Sicht des Yogis ist all das nur eine
vorübergehende Erscheinung. Vor diesem Hintergrund ist die meist ausschließliche Identifikation mit dem Äußeren absurd, denn die einzelnen Erscheinungen von Pakriti sind vergänglich. Die Praktiken des Yoga leiten uns an, uns immer wieder mit Purusha, unserem tiefsten Selbst zu verbinden, diesem inneren unwandelbaren Bewusstseinsraum, der von allem Äußeren unberührt bleibt: von unserem sich wandelnden Körper, unserem herumirrenden Geist und unseren wankelmütigen Gefühlen. Gleichwohl sind wir in diesem Bewusstsein mit allem um uns herum verbunden und frei von jeglichen Begrenzungen. Als eine der ältesten Lehren und Methoden, die sich mit der Gesamtheit des Menschen – Körper, Geist und Seele – beschäftigt, führt uns Yoga mit seinen unterschiedlichen Praktiken auf einen spannenden Weg nach innen und erforscht dabei vor allem die Struktur des Körpers und die Funktionsweise des Geistes. Über die Jahrtausende haben Yogis wirkungsvolle Übungen entwickelt, die die Störungen des Geistes vermindern oder beheben. Die Praktiken sind vielfältig und halten für jeden Typ Mensch einen adäquaten Zugang bereit. In der Bhagavad Gita, einem der Grundlagentexte des Yoga, finden sich drei Wege, die alle anderen Übungswege bis heute nachhaltig beeinflussen: Der eher intellektuell Interessierte findet im Yoga der Weisheit (Jnana-Yoga) beim Studium der zentralen spirituellen Texte sein Zuhause. Der Emotionale lässt sich wahrscheinlich eher durch den Yoga der Hingabe (Bhakti-Yoga) mit Praktiken wie zum Beispiel dem Chanten inspirieren. Für Tatkräftige ist der Yoga des bewussten Handelns (Karma-Yoga) vermutlich der richtige Ansatz, der besagt, alle Früchte des Handelns loszulassen und einer höheren Macht zu übergeben. Später ist der Weg des Körpers (Hatha-Yoga) entstanden, unter dem sich alle körperorientierten Praktiken subsumieren lassen, mit denen die meisten anfangen, wenn sie mit Yoga in Berührung kommen.
Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns. RUMI
Und für alle, die gerne vielseitig üben: Der Königsweg des Yoga (Raja-Yoga) folgt dem Achtgliedrigen Pfad Patanjalis und umfasst eine Kombination aus ethischem Verhalten und Übungen für Körper, Atem und Geist, die meditative Praxis mit einschließen. Welchen Yoga-Weg wir auch immer einschlagen – das Ziel ist immer das gleiche. Wir schälen uns nach und nach aus unseren Schutzschichten und nähern uns Schritt für Schritt dem Samadhi, dem Zustand reinster Offenheit und Bewusstheit. Patanjali nennt die nicht mehr vergehende Verwirklichung dann Kaivalya, die vollkommene Befreiung. Und genau die wollen wir – nicht mehr, aber auch nicht weniger!
Haben wir erst einmal entdeckt, dass wir eine innere Instanz in uns tragen, die unberührt bleibt von den Turbulenzen des Lebens, fühlen wir uns so frei und leicht, dass wir mühelos abheben können – vielleicht auch irgendwann in die Waage (Tolasana).
2. Ruhig und gelassen sein
Der Königsweg Ruhig und gelassen sein
Der Pflug (Halasana) ist eine hervorragende Asana, die den Rückzug in uns selbst begünstigt, um unserem Geist einen Moment beim Denken zuzuhören.
Wie oft haben wir uns nicht schon vorgenommen, ruhiger und gelassener zu sein! Warum aber gelingt es uns meist nicht, in unserem Inneren diese Haltung von Freiheit und yogischem Gleichmut (Upeksha) zu bewahren? Es ist unser Geist, der uns nicht zur Ruhe kommen lässt! Um seine Funktionsweise zu verstehen, bietet es sich an, ihn einmal beim Denken zu beobachten. Der Pflug (Halasana) ist zum Beispiel eine hervorragend dafür geeignete Asana, den eigenen inneren Stimmen zu lauschen – diesen mehr oder weniger neurotischen Gedanken, die unaufhörlich auf unseren hilflosen Geist einhämmern – und sie einfach immer genauer zu beobachten. »Hal« bedeutet Gift. Den Pflug zu üben, vertreibt die »Gedankengifte« aus der Kehle und sorgt für eine bessere Kommunikation – demnach auch für eine bessere interne eigene. Denn die ist in der Tat meistens verbesserungswürdig. Unser Geist verhält sich nämlich nach Patanjali wie ein Affe, der von Gedankenast zu Gedankenast springt. Unser »Monkey Mind« ist wild und ungestüm und
versetzt uns immer wieder in Aufruhr. Je mehr wir unseren »Monkey Mind« füttern, desto mehr ist er in Bewegung. Ein Gedanke löst ein Gefühl aus, das löst wieder den nächsten Gedanken aus usw. Dabei lässt sich unser Geist von erlernten Gedankenmustern, Glaubenssätzen und Konditionierungen (Samskaras) leiten, die die immer wieder gleichen Gedanken- und Gefühlsschleifen wie ferngesteuert produzieren. Wer von uns kennt das nicht! Nach Patanjali sind es dabei fünf maßgebliche »Störenfriede« (Kleshas), die unseren Geist und damit unsere Wahrnehmung der Dinge immer wieder nachhaltig beeinflussen: das Nicht-Wissen (Avidya), Ego (Asmita), Anhaftung (Raga), Ablehnung (Dvesha) und Angst (Abhinivesha). Das Nicht-Wissen oder falsches Wissen ist sozusagen die Mutter aller Störenfriede, lässt es unsere Wahrnehmung doch niemals objektiv sein, auch wenn wir das meinen. Sie bleibt immer subjektiv und von unserem Leben geprägt: von Erfahrungen, Wünschen und Träumen, von Vorstellungen und Erwartungshaltungen – den eigenen und denen anderer. Diese grundlegende Täuschung ist nach Patanjali die Grundlage für die anderen Störenfriede. Das Ego (Asmita) – sei es zu stark oder zu schwach ausgebildet – lässt uns alles aus unserem eigenen Selbstbild heraus betrachten, also automatisch immer verzerrt. Die Anhaftung (Raga), das »Mag-ich-will-ich« vernebelt uns den klaren Blick auf die Dinge, wenn wir ausschließlich unsere Bedürfnisse befriedigen möchten und unseren Vorlieben nachgehen wollen, ob angemessen und sinnvoll oder nicht. Übertriebene Ablehnung (Dvesha), das »Auf-gar-keinen-Fall-(wieder-)haben-Wollen«, unabhängig davon, ob wir schlechte Erfahrungen gemacht oder einfach nur Vorurteile haben, beschränkt uns in unserer objektiven Beurteilung. Zu guter Letzt macht uns die Angst (Abhinivesha) immer wieder zu schaffen. Natürlich gibt es sinnvolle Angst, die uns davon abhält, zu große oder gar lebensbedrohliche Risiken einzugehen, und einen guten Schutz für uns bildet. Darüber hinaus gibt es aber auch die Angst, die uns hemmt und limitiert, die uns davon abhält, etwas auszuprobieren, was wir gerne möchten, nur weil ja etwas schiefgehen könnte. Die Angst, die uns mit Sorgen quält, dass wir etwas verlieren könnten, etwas eintrifft oder nicht eintrifft, was jenseits unserer Kontrolle ist. Letztendlich steckt die Angst vor dem Tod dahinter, herrscht doch vollkommene Ungewissheit, ob und wie es nach dem Tod weitergeht. Darüber gibt es zwar keine verlässlichen Zeugnisse, aber die Yoga-Philosophie
sagt, dass unsere pure Essenz jenseits von Körper, Geist und Emotionen unsterblich ist. Was soll uns also schon passieren!
Manchmal sind es nur kleine Details und eine immer feiner werdende Beobachtungs gabe, die unsere innere Haltung verändern, so wie hier die ausgestreckten Hände im Pflug (Halasana).
Lass ihn im natürlichen Frieden ruhen, deinen erschöpften Geist, auf den Karma und neurotische Gedanken unaufhörlich einhämmern. DEEPAK CHOPRA
Stellen wir uns einfach einmal vor, wie es wäre, wenn wir uns von allen physischen, mentalen und emotionalen Schichten unseres Daseins frei machen könnten: von all den Interventionen unseres Geistes, all dem Bedenken, aller Kritik, allen Zweifeln, all dem »Wenn und Aber«. Wie es wäre, wenn wir frei
wären von Meinungen anderer oder der eigenen, frei von Gewohnheiten, von Verhaltensmustern. Frei von all den Erinnerungen an unsere guten und schlechten Erfahrungen aus diesem und – wer weiß – vielleicht auch aus anderen Leben. Wenn wir frei wären vom Ego, frei von Erwartungen, Wünschen, Bedürfnissen, frei von Abneigungen, frei von Ängsten. Was wäre das für eine immense innere Ruhe und Gelassenheit!
In der Knie-Ohr-Haltung (Karnapidasana) können wir die Außenwelt abschotten, unsere inneren Störenfriede distanziert und ohne Reaktion bei der Arbeit beobachten, und dabei ganz gelassen in uns ruhen.
Und diese ist durch das Üben der Yoga-Praktiken erreichbar. Wir lernen, unserem »Monkey Mind« immer weniger Futter zu geben. Je weniger wir auf die eigenen, oft quälenden Gedanken reagieren, desto größer ist die Chance, dass wir zur Ruhe kommen. Aus dieser Ruhe heraus können wir unsere Brille ablegen, durch die wir die Welt betrachten und die unsere Wahrnehmung subjektiv eintrübt, um die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Mit einem klaren und ungetrübten Geist, ohne die Gedankenketten, die losrasen, wenn sie
einmal durch einen Impuls in Gang gesetzt sind. Wir können diese Qualität des Gleichmuts entwickeln, im Inneren immer gleich ruhig und gelassen zu sein, egal, was im Außen passiert. Natürlich ist es nicht möglich, alle äußeren Umstände zu beeinflussen. Aber wir können innehalten und unsere automatischen Reiz-Reaktions-Schemata anhalten und durchbrechen, um dann bewusst zu entscheiden und ruhig und gelassen zu reagieren. »Yoga ist jener innere Zustand, wenn die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe kommen.« (YOGA-SUTRAS 1.2). Vielleicht nicht immer, aber immer öfter!
3. Die stabile Mitte spüren
Der Königsweg Die stabile Mitte spüren
Im Krieger II (Virabhadrasana II) lässt sich auf physischer und mentaler Ebene unmittelbar daran arbeiten, sich fokussiert auszurichten, Ausdauer und Durchhaltevermögen zu üben, um eine stabile Mitte zu entwickeln.
Jederzeit bewusst entscheiden? In Anbetracht der schier unzähligen und unübersichtlichen Fülle von Entscheidungen – wie soll das gehen? Selbst die alltäglichen Entscheidungen können unser Leben nachhaltig beeinflussen: was wir anziehen, welchen Weg wir zur Arbeit gehen, ob wir diesen oder den nächsten Zug nehmen. Jede Entscheidung für ein Entweder oder ein Oder bedeutet auch implizit immer, dass wir nie erfahren werden, wie es gewesen wäre, wenn wir uns doch anders entschieden hätten. Dieses Dilemma kann schon bei kleinen Entscheidungen schwierig genug sein, bei den großen Lebensentscheidungen erscheint es oft unlösbar. Studium oder Lehre? Dieser Partner oder ein anderer? Kinder oder nicht? In welcher Stadt leben? Oder auf dem Land? Dieser Job oder ein anderer? Sicherheit in der Festanstellung oder Freiheit in der Selbständigkeit? Wir erstellen lange Pro- und-Kontra-Listen oder versuchen die gutgemeinten Ratschläge anderer unter einen Hut zu
bringen – die sich nur dummerweise oft widersprechen –, um am Ende keinen Deut schlauer zu sein. Was hilft? Zu wissen, wo die berühmt-berüchtigte eigene Mitte liegt und was sie stabilisiert!
In dem Moment, in dem man sich wirklich verpflichtet, bewegt sich auch die Vorsehung. Alle möglichen Formen der Unterstützung eilen uns plötzlich zu Hilfe. WILLIAM HUTCHINSON MURRAY
In dieser dem Weisen Vasishtha gewidmeten Asana (Vasisthasana) ist eine stabile Mitte zwingend erforderlich, um nicht durch zuhängen. Genau wie im echten Leben, wenn Widerstände es schwieriger machen, der eigenen Aufgabe weiterhin fokussiert nachzugehen.
Das alles umfassende Weltgesetz Dharma (Stütze, Gesetz, Pflicht) ist in der Yoga-Philosophie der Schlüssel zur stabilen Mitte, bedeutet es doch nichts
anderes, als entsprechend der eigenen Natur zu leben und seine Berufung zu finden. Leichter gesagt, als getan. So tut sich zum Beispiel Arjuna (Kriegsherr in der Bhagavad Gita) schwer, angesichts einer unmittelbar bevorstehenden Schlacht gegen seine Verwandten den Befehl zur Attacke zu geben. Er fühlt sich unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Kämpft er nicht, gehen seine Untertanen, sein Reich und er selbst unter. Kämpft er, muss er das Schwert gegen seine nächsten Verwandten und Freunde richten und kommt vielleicht selbst um. Was für ein furchtbares Dilemma. In seiner Verzweiflung kommt ihm Krishna zu Hilfe, einer der Avatare des Gottes Vishnu, der ihm erläutert, dass jeder Mensch eine Bestimmung in seinem Leben zu erfüllen hat. Jedes Wesen hat seiner Natur entsprechende Rechte, Pflichten, Eigenarten, Grenzen und Fähigkeiten. Arjunas Aufgabe bestehe darin, herauszufinden, was in diesem seinem Leben getan werden müsse, um der eigenen Natur gerecht zu werden. Seine Natur sei die eines Kriegers, und demzufolge sei es nun einmal Arjunas Pflicht zu kämpfen. Arjuna hat verständlicherweise Mühe, seinen Dharma zu akzeptieren, so dass Krishna im weiteren Verlauf des Zwiegesprächs auf die einzelnen Säulen des Dharmas eingeht, um es seinem Schüler leichter zu machen. Er fordert Arjuna auf, seinen Dharma, nachdem er ihn erkannt und akzeptiert hat, mit all seinen Kräften und Fähigkeiten ohne Wenn und Aber zu erfüllen. Dabei komme es jedoch nicht auf das Resultat, sondern ausschließlich auf sein Handeln an, er müsse also lernen, die Früchte seines Handelns loszulassen. Die einzige Motivation, die zähle, sei die Erfüllung des Dharmas, nicht Geld, Ruhm, Ehre oder Macht. Hilfreich sei dabei, ganz im Vertrauen in ihn, Krishna, zu handeln, in das Göttliche, und sich selbst nicht so wichtig zu nehmen. Wohl gesprochen! So einfach ist das also. Berufung finden, unser Denken, unsere Entscheidungen und unser Handeln fokussiert darauf ausrichten, das Resultat loslassen und darauf vertrauen, dass das alles irgendwie Sinn ergibt – und schon haben wir unsere stabile Mitte. Jeder, der dieses süße Gefühl »Das ist es! Das ist das, was ich tun möchte! Deshalb bin ich hier!« schon einmal selbst gekostet hat, ist im Vorteil, denn er weiß, dass es dann keinen Zweifel und kein Hadern mit dem vermeintlichen Schicksal mehr gibt. Viele von uns haben aber vielleicht bislang nur davon gelesen oder gehört. Die großen Dichter, die Entdecker, Maler, Erfinder, ja die, die konnten einfach nicht anders, als ihren inneren Stimmen und ausgeprägten Talenten zu folgen. Aber ich?
Bei jenen, die keine Entschlossenheit haben, sind die Lebensentscheidungen vielverzweigt und endlos. Die Weisen vereinheitlichen ihr Bewusstsein. KRISHNA ZU ARJUNA IN DER BHAGAVAD GITA
Dabei kann das jeder! Jeder von uns hat eine innere Stimme, die genau weiß, was wir tun wollen, was uns von innen heraus stabil macht und ungeahnte Kräfte entwickeln lässt. Wir haben nur oft aus den unterschiedlichsten Gründen verlernt, auf diese innere Stimme zu hören. Die Stimme der eigenen Vernunft tönt vielleicht lauter, oder die der Eltern, des Partners, der Freunde. Oder die Stimme, die uns nicht zutraut, unseren Dharma gegen Widerstände zu leben. Yoga bietet einen unerschöpflichen Fundus an Praktiken, diese innere Stimme zu hören, sie ernst zu nehmen und zu stärken. Auf der Matte können wir in der Asana-Praxis zum Beispiel im Krieger II (Virabhadrasana II) physisch und mental unsere Mitte stabilisieren und Ausdauer und Durchhaltevermögen üben. Dabei spielen wir mit unserer Vorstellungskraft: Der hintere Arm repräsentiert die hilfreichen Erfahrungen, die wir aus der Vergangenheit mitnehmen, der Blick geht unerschrocken über den vorderen Arm in die unbekannte Zukunft. Der Torso, der Rumpf jedoch bleibt mittig, stabil und präsent in der Gegenwart und fokussiert sich auf das Wesentliche, um die Aufgabe, die ansteht, zu erfüllen. Ganz so wie unser Freund Arjuna.
Und eines Tages sagt die Stimme deines Herzens klar und deutlich »jetzt«, und nichts und niemand kann dich aufhalten. JOCHEN MARISS
4. Sinnlich und sinnvoll leben
Der Königsweg Sinnlich und sinnvoll leben
Der Pfau im Lotos (Mayurasana Padmasana) veranschaulicht, wie wir uns mit voller Kraft voraus ins Leben stürzen und unseren Dharma leben können, ohne – karmisch betrachtet – auf die Nase zu fallen.
Ein sinnvolles Leben zu führen und es mit allen Sinnen zu genießen – wer will das nicht! Aber bedeutet dies, wir könnten das, was wir für richtig halten, ohne Rücksicht auf Verluste und auf andere mit dem Kopf durch die Wand durchsetzen, weil es ja schließlich unser Dharma ist? Dürfen wir nach Herzenslust egoistisch und nur auf unseren eigenen Vorteil bedacht handeln? Wir ahnen die Antwort: Das kann es wohl nicht sein. Zu viele Dharmas von zu vielen Lebewesen kämen sich in die Quere. Nur, wie können wir einerseits sinnvoll unser Leben führen, andererseits aber nicht auf Kosten anderer? Wie können wir Egoismus, Selbstgefälligkeit, Ehrgeiz, Unzufriedenheit und Kälte in uns selbst begegnen, um nur ein paar Hindernisse auf dem Weg zu nennen. Und wie sollen wir mit dem ganzen Ärger, dem Grauen, der Unsicherheit um uns herum umgehen? Es wäre sicher vermessen zu sagen, wir könnten die Welt retten oder andere Menschen zu besseren Menschen machen, aber wir
können ganz sicher sofort bei uns selbst beginnen. Wir können uns von unserem eigenen Leid befreien – denn damit fängt alles an. Nach Buddha fragt sich ein weiser Mensch: »Was habe ich bisher getan, um mich von meinem Leiden zu befreien?« Davon ausgehend, dass alles, was uns im Leben begegnet, letztendlich Resultat unseres eigenen Handelns ist. Auf dieser Grundannahme basiert auch die Yoga-Philosophie. Jedes Wesen ist das Ergebnis des im jetzigen oder in vorangegangenen Leben angesammelten Karmas – frei nach dem Motto: »What goes around, comes around – wie du in den Wald hineinrufst, so schallt es heraus.« So kann jeder seine Aufgabe, seinen Dharma, im Rahmen seiner Möglichkeiten und seines bislang angesammelten Karmas erfüllen und dabei ab jetzt möglichst wenig schlechtes Karma aufbauen. Simpel ausgedrückt: Je weniger schlechtes Karma in einem Leben angesammelt wird, desto besser lebt es sich im nächsten. Das Ziel ist es, das Selbst (Atman) mit dem Göttlichen (Brahman) zu vereinen und so eines schönen Tages aus dem ewigen Zyklus von Geburt, Leben, Tod und Wiedergeburt (Samsara) aussteigen zu können. Patanjali empfiehlt den Achtgliedrigen Pfad (Ashtanga Marga), um den Königsweg (Raja-Yoga) zu bestreiten und unseren Dharma zu leben, dabei aber so wenig wie möglich schlechtes Karma anzusammeln. Wenn wir geduldig und stetig der Praxis des Raja-Yoga nachgehen, können wir die Ursachen für unser Leid erkennen. Zur Erinnerung: Die Hauptstörenfriede in unserem Geist sind Nicht-Wissen, Ego, Anhaftung, Ablehnung und Angst. Wir verstehen im Zusammenhang mit den Konzepten Dharma und Karma sofort, warum es sinnvoll ist, den Einfluss dieser Störfaktoren auf unser Leben zu vermindern oder gar zu vermeiden, denn sie erzeugen nichts als Leid für uns und andere und verhindern unsere innere Freiheit. Der Achtgliedrige Pfad ist eine Sammlung konkreter, praktischer und sehr lebensnaher Übungen. Die ersten beiden Glieder – Yama und Niyama – sind eine Art ethischer Verhal tenskodex. Die anderen Glieder beinhalten eher praktische Körper-, Atem- und Meditationsübungen, so dass Yoga auf allen Ebenen wirken kann – physisch, mental und emotional. Auf einen Blick:
1.
Yama – der Umgang mit der Umwelt: Gewaltlosigkeit (Ahimsa), Wahrhaftigkeit (Satya), Nicht-Stehlen (Asteya), Maßhalten (Brahmacharya) und Nicht-Horten (Aparigraha)
2.
Niyama – der Umgang mit sich selbst: Reinheit (Shaucha), Zufriedenheit (Santosha), Selbstdisziplin (Tapas), Selbstreflexion (Svadhyaya) und Vertrauen in eine höhere Kraft (Ishvara Pranidhana)
3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
Asana – der Umgang mit dem Körper Pranayama – der Umgang mit dem Atem Pratyahara – der Umgang mit den Sinnen bis 8. Samyama – der Umgang mit dem Geist Dharana – Konzentration Dhyana – Versenkung/Meditation Samadhi – Erleuchtung/ Glückseligkeit
Zunehmende innere Freiheit kann nach Patanjali nur dann erreicht werden, wenn es uns gelingt, durch einen bewussten Umgang mit den Störfaktoren des Geistes deren Einfluss auf die eigene Wahrnehmung und das Handeln zu mildern. Ashtanga Marga wird zwar Achtgliedriger Pfad genannt, muss aber nicht einen Schritt nach dem anderen absolviert oder gar gemeistert werden. Je nach Persönlichkeitstyp finden wir unseren eigenen Zugang zum Yoga. Die meisten Menschen nähern sich über die Asana-Praxis, manche über die Meditation bzw. die Atemübungen oder andere über die Philosophie. Der ethische Verhaltenskodex von Yama und Niyama entwickelt sich häufig erst nach und nach. Meist spüren wir zunächst nur, dass Yoga irgendwie wirkt – nicht nur auf körperlicher, sondern auch auf mentaler und emotionaler Ebene, ob wir das wollen oder nicht. Dann fangen wir vielleicht an, uns für die Hintergründe von Yoga jenseits der rein physischen Praxis zu interessieren, und lesen uns in die Geschichte und Philosophie ein. So oder so bleibt das Ziel des Raja-Yoga, alle Glieder möglichst zeitgleich und gleichwertig zu berücksichtigen.
Das Zur-Ruhe-Kommen der seelisch-geistigen Vorgänge erlangt man durch Übung und Loslösung. YOGA-SUTRAS 1.12
Um unsere kreativen Störenfriede im Geist (Kleshas) und cleveren Gedankenund Verhaltensmuster (Samskaras) zu bezwingen, bedarf es unserer ganzen Aufmerksamkeit. Wir tappen immer wieder gern – durchaus auch sehenden Auges und wider besseren Wissens – in die eigenen gleichen Fallen. Wir erhalten einen Impuls, und schon geht unser Reiz-Reaktions-System auf Autopilot. Diese Schemata umzuprogrammieren ist nicht einfach. Aber steter Tropfen und viel Humor höhlen auch den hartnäckigsten Samskara. Wir bewegen uns mit der Praxis in einem ständigen Prozess auf das Freisein zu und werfen immer wieder einen kurzen Blick auf das Paradies, das in uns und jenseits von allem liegt. Um dann wieder vom normalen Leben, unseren Befindlichkeiten und Begehrlichkeiten eingeholt zu werden. Nächster Versuch. Denn im täglichen Leben ist es eine besondere Herausforderung, den Yoga-Weg einzuhalten. Jeder Tag konfrontiert uns bei vielerlei Gelegenheiten mit der Frage, ob und inwieweit sich die Yamas und Niyamas einhalten lassen. Unser innerer Schweinehund will uns immer wieder gern von der Asana- und Meditationspraxis abhalten. Nachsicht und Rücksicht uns selbst gegenüber und eine große Portion Humor lassen uns die eigenen Fortschritte, aber auch Rückschläge beobachten und diesen Weg als fortwährenden Prozess betrachten.
Dein Geist ist kein Käfig, er ist ein Garten. Und der muss gehegt und gepflegt werden. LIBBA BRAY
Auch wenn es uns vielleicht nie ganz gelingen wird, uns ganz von unseren Kleshas und Samskaras zu befreien, erkennen wir doch mit kontinuierlicher Praxis und mit einem offenen Geist und Herzen zunehmend die eigenen
Muster und Blockaden und lernen, mit ihnen immer bewusster umzugehen. Wir werden so mit der Zeit nicht nur unwiderstehlich schön innen und außen, sondern auch immer freier. Denn dieser jahrtausendealte Pfad führt automatisch zu einem größeren persönlichen Wohlbefinden – unabhängig davon, an welchem Punkt unserer Entwicklung wir anfangen. Eventuell brauchen wir vielleicht etwas länger, um das Glück und die Freiheit in uns selbst zu finden, aber so oder so finden wir größere Harmonie mit uns und unserer Umwelt. Was immer wir in den Zyklus des Lebens hineingeben, kommt auf irgendeine Art und Weise zu uns zurück. Ergo: Je mehr Schönes wir ausstrahlen, desto mehr Schönes kommt auch zu uns zurück. Je freier wir sind, desto größere innere Gelassenheit verspüren wir und desto leichter lässt es sich mit den Unwägbarkeiten des Lebens umgehen. Und wie wir Bhavana, das Hervorbringen und Kultivieren unserer inneren Freiheit und Schönheit bewerkstelligen können, schauen wir uns in den nächsten Kapiteln näher an.
Raja-Yoga, der Königsweg, wie der Achtgliedrige Pfad von Patanjali auch genannt wird, ist ein lohnenswerter Weg, um sich reich zu fühlen, aus dem Vollen zu schöpfen und sein ganzes Potenzial in aller Pracht zu entfalten, ganz wie hier im Pfau (Mayursasana).
5. Lieben und mitfühlen
Der Umgang mit der Umwelt Lieben und mitfühlen
Meist fällt es uns nicht besonders leicht, unser Herz für die Liebe und das Mitgefühl zu öffnen – mit Rückbeugen wie dieser Kamel-Variante (Ustrasana) können wir uns darin üben.
Ohne Liebe ist alles nichts – so der Grundsatz in quasi allen Philosophien und Religionen. Aber können wir uns überhaupt vorstellen, wie es wäre, wenn wir uns einfach alle bedingungslos liebten und uns mit Mitgefühl betrachteten? Wenn wir unsere Herzen für alles und jeden um uns herum öffneten – komme, was da wolle? Konflikte, hitzige Diskussionen, Ärger, Wut, Gewalt, Leid – all dies gehörte der Vergangenheit an. Allein die Vorstellung zaubert uns ein Lächeln auf die Lippen, wehmütig einerseits, was für ein schöner Gedanke, spöttisch andererseits, erscheint er uns doch ein wenig naiv. Sogleich
schürzen wir die Lippen und denken: Alle lieben? Bedingungslos? Unmöglich! Sofort übernehmen unsere Kleshas, besonders Ego und Angst, die Regie und reden auf uns ein: Nicht jeder verdient unsere Liebe oder unser Mitgefühl. Wir müssen uns doch schützen vor den Angriffen anderer, müssen gewappnet sein, sonst könnte am Ende noch jemand unsere Liebe und unser Mitgefühl ausnutzen und uns das Herz aus dem Leib reißen. Nein, das wollen wir nicht. Oder vielleicht doch?
Mögen alle Wesen glücklich und frei sein. INDISCHER SEGENSSPRUCH
Diesen Segensspruch auf Sanskrit gibt es noch in anderen Fassungen, so auch: »Mögen alle Wesen Glück und Harmonie erfahren.« Oder bei mehr Interpretationsspielraum mit dem Zusatz: »Mögen alle meine Gedanken, Worte und Taten dazu beitragen.« Genau dies trifft den Kern der ethischen Maxime Gewaltlosigkeit (Ahimsa) – 1. Yama. Die Idee von Ahimsa geht weit über die rein körperliche Gewaltlosigkeit hinaus. Ahimsa fängt bei unserer inneren Kommunikation, also unseren Gedanken an, die sich in der äußeren Kommunikation auf mehr oder minder direkte Art in unseren Worten und Taten spiegelt. Das Zusammenspiel von negativen Gedanken, Worten und Taten zu erkennen und so weit wie möglich aus dem eigenen Leben zu verbannen, ist das Ziel von Ahimsa.
Manchmal bedarf es einer Extraanstrengung, sein Herz auf physischer, mentaler und emotionaler Ebene zu öffnen, wie hier in der Brücke, Setu Bandhasana, auch noch das Bein zu heben.
Es geht darum, so wenig Leid wie möglich auszulösen. Ob wir dabei so weit gehen wollen wie die weisen Sadhus, die mit einem Zweig über den Weg wedeln, bevor sie weitergehen, damit die Ameisen und kleinsten Tierchen eine Chance haben zu flüchten, sei jedem selbst überlassen. Das ist eine zwar sehr allumfassende, aber auch aufwendige Form der Wertschätzung allem
Lebendigen gegenüber, die vielleicht nicht in unser normales Leben passt. Dennoch können wir bewusste Entscheidungen treffen und die Grenzen für uns persönlich ausloten. Es gibt immer wieder jemanden, der »perfekter« Ahimsa betreibt als andere, aber Perfektion ist nicht das Ziel. Entscheidend ist, einen bewussten und rücksichtsvollen Umgang mit der Umwelt, mit anderen Lebewesen und nicht zuletzt mit sich selbst zu stärken. Und dies vermag jeder im Rahmen seiner Möglichkeiten, die individuell sehr unterschiedlich ausfallen können. Dharma Mittra, ein weltbekannter Yoga-Lehrer, der selbst keiner Fliege etwas zuleide tun könnte und vegan lebt, empfiehlt schelmisch: »Wenn du es nicht aushältst und doch eine Mücke tötest, dann sag wenigstens: Tut mir leid für deine Seele.« Denn was sollte uns davon abhalten, allem Lebendigen gegenüber ein tiefgreifendes Mitgefühl zu entwickeln? Deshalb gilt es, in jeder Situation abzuwägen, welche Verhaltensweise den geringsten Schaden anrichtet! Ahimsa ist also nicht einfach nur der Verzicht auf Gewalt, sondern schließt eine Grundhaltung der Rücksichtnahme und Überlegtheit gegenüber der äußeren Umwelt mit ein. Bei jeder Entscheidung für oder gegen etwas berücksichtigen wir die äußeren Umstände und wägen die Fürs und Widers gegeneinander ab. Das gibt uns eine gewisse Flexibilität und einen Handlungsspielraum – natürlich immer mit der Maßgabe, dass wir aufmerksam, rücksichtsvoll und zugewandt agieren. Diese Zugewandtheit erstreckt sich aber eben nicht nur auf die anderen, sondern auch auf uns selbst. Beides in Einklang zu bringen ist die große Kunst. Prinzipienreiterei wird in mancher Yoga-Literatur interessanterweise als Mangel an Rücksichtnahme ausgelegt, da bei Prinzipienentscheidungen die jeweiligen Umstände vollkommen unberücksichtigt bleiben.
Welche der beiden Varianten der Kamel-Position (Ushtrasana) die »richtige« ist, lässt sich ebenso wenig bestimmen, wie Gewaltlosigkeit (Ahimsa) »richtig« praktiziert wird. Viel wichtiger ist, stetig zu üben und sein Herz für die Liebe zu öffnen. Alles Weitere entwickelt sich.
Ahimsa erlaubt uns ein Spektrum an Betrachtungsweisen, die es uns leichter machen, einen Weg zu unserem Seelenfrieden zu finden. Denn Zwiespälte begegnen uns im Alltag im Zusammenspiel mit anderen Lebewesen und im Umgang mit den Ressourcen dieser Erde reichlich. Die Auseinandersetzung mit Ahimsa kann aber tatsächlich zu einer praktischen Entscheidungshilfe im Umgang mit den tausend Fragen und Herausforderungen werden, die das tägliche Leben mit sich bringt. Die
Kernfragen sind wohl immer die gleichen: Begegne ich Menschen, Tieren und der Umwelt zugewandt und rücksichtsvoll? Stelle ich meine Bedürfnisse über die anderer bzw. sind meine Bedürfnisse überhaupt gerechtfertigt und wichtig für mich? Agiere ich reflektiert und mit Bedacht und handle ich verantwortungsbewusst? Finde ich das richtige Maß, um einerseits meine Bedürfnisse zu befriedigen und andererseits anderen Lebewesen und der Umwelt so wenig wie möglich Schaden zuzufügen? Durch das stetige Praktizieren von Ahimsa entwickelt sich geradezu automatisch eine innere Haltung von tief empfundener Liebe und Mitgefühl allen Lebewesen gegenüber. Und die liebe Seele hat zunehmend ihre Ruh’.
Wie schön das klingt – Liebe und Mitgefühl für jedes Lebewesen, frei von jedem Egoismus. Aber gibt es diese Art von Liebe überhaupt?
Ich mag, wer ich bin, und ich mag, was ich tue. YOGI SRI TAPASVI BABA AUF DIE FRAGE NACH DER URSACHE SEINES GLÜCKS
Aus unserer Lebenserfahrung kennen wir verschiedene Arten von Liebe. Zum Beispiel die einengende, egoistische und selbstbezogene Liebe, die nur auf den eigenen Vorteil bedacht ist und sich kein bisschen um das Wohl des anderen schert. Diese eher scheinbare Liebe erleben wir häufiger, als uns lieb ist, und es fällt uns schwer, sie überhaupt zu erkennen und uns in der Folge davon zu lösen. Paradoxerweise tun wir uns selbst Gewalt an, wenn wir uns einer solchen Pseudoliebe aussetzen oder gar selbst auf diese Art und Weise meinen zu lieben. Wir begeben uns dabei in eine gänzlich gegensätzliche Haltung zur Liebe. Eine recht weitverbreitete Liebe unter Menschen jedweder Couleur basiert auf dem Prinzip von »Wie du mir, so ich dir«, das im Idealfall aus einem ausgewogenen Verhältnis von positivem Geben und Nehmen besteht. Diese Form der Liebe birgt aber natürlich auch ein gewisses Gewaltpotenzial – sei es auch »nur« emotional, wenn sie sich in Negativhandlungen à la Rosenkrieg wandelt. Die reine Liebe ist die bedingungslose Liebe, die ohne Wenn und Aber, ohne Erwartungen und Bedingungen besteht. Im normalen Leben finden wir diese Liebe häufig nur in Eltern-Kind-Beziehungen. Wie schade! Denn nach dieser reinen Liebe sehnt sich eigentlich jeder, und sie ist auch das Ziel des YogaPraktizierenden. Zu ihr gehört wesentlich das Mitgefühl mit anderen Wesen – nicht zu verwechseln mit Mitleid. Wir können den Schmerz des anderen nachfühlen, weil wir selbst wissen, wie Schmerz sich anfühlt. Dabei brauchen wir aber nicht den Schmerz des anderen selbst zu erleiden, um ihm unser Mitgefühl zu schenken. Und wie immer fängt der Yogi bei sich selbst an, um Liebe und Mitgefühl zu kultivieren.
Sein Herz weit zu öffnen, sich selbst in Gänze mit allen Licht- und allen Schattenseiten zu akzeptieren und zu lieben, sich verletzlich und angreifbar zu machen und trotzdem stark und stabil zu bleiben, lässt sich ausgezeichnet im umgedrehten Brett (Purvottanasana) üben.
Ahimsa ist die Grundlage für die reine Liebe und das Mitgefühl, nicht nur anderen gegenüber, sondern zunächst einmal sich selbst gegenüber. Wir haben allerdings meist weder gelernt, Liebe für uns selbst zu empfinden noch unsere vermeintlichen Fehler und Mängel zu akzeptieren. Unsere eigenen inneren Stimmen sind die schlimmsten Scharfrichter und unsere größten Kritiker. Wie gehen wir mit uns selbst um? Wie läuft unsere innere Kommunikation ab? Unterstützen wir uns in liebevoller Betrachtung, oder boykottieren wir uns in einer gewaltsamen Auseinandersetzung selbst? Akzeptieren wir unsere eigenen Grenzen, und respektieren wir unsere Einschränkungen?
Um diese Variante der Taube (Kapotasana) zu üben, bedarf es nicht nur einer körperlichen Disposition für solch tiefe Rückbeugen und unzählige Stunden Asana-Praxis, sondern auch einer ganzen Menge Mut, sein Herz für die reine und bedingungslose Liebe zu öffnen und sich verletzbar zu machen.
Liebe und Mitgefühl beginnt immer in uns selbst. Wie sollen wir andere lieben, wenn wir uns nicht selbst lieben, wenn wir uns nicht selbst achten und wertschätzen? Woher soll das Gefühl der bedingungslosen Liebe denn kommen, wenn wir es nicht in uns selbst kultivieren? Wir können nur das weitergeben, was wir in unserem Inneren tragen. Wenn wir uns selbst annehmen und auch unsere Schattenseiten akzeptieren und lieben lernen, kultivieren wir den fruchtbaren Boden für bedingungslose Liebe in unserem Inneren. Und dies können wir immer und immer wieder üben. Nach und nach befreien wir uns von allem, was uns nicht guttut, aus reiner, purer Selbstliebe. Auch in der Asana-Praxis auf der Matte begegnen wir uns selbst mit einer inneren Haltung von Ahimsa, während wir gleichzeitig zum Beispiel durch Rückbeugen die Öffnung unserer Herzen begünstigen oder über die Liebe meditieren. Langsam, aber sicher können wir immer tiefere Liebe und
Mitgefühl empfinden, für uns selbst und für andere. Irgendwann begreifen wir, dass ohne Liebe wirklich alles nichts ist, und wir quellen über vor Liebe. Es fühlt sich federleicht an, diese bedingungslose Liebe weiterzugeben. Ein echtes Wow-Gefühl!
Geliebt zu werden, macht uns stark. Jemanden zu lieben, macht uns mutig. LAOTSE
6. Wahrhaftig und authentisch sein
Der Umgang mit der Umwelt Wahrhaftig und authentisch sein
In dieser Fisch-Variante im Lotos (Matsyasana in Padmasana) lässt sich üben, auch in turbulenten, komplexen und komplizierten Zeiten im Leben sich in seinem Element zu fühlen und authentisch und wahrhaftig zu bleiben.
Wie leicht geht es uns doch über die Lippen, etwas als die Wahrheit zu bezeichnen. Wir schwören, die Wahrheit zu sagen, oder bezichtigen andere, die Dinge ganz falsch zu sehen. Wie oft sagen wir, dass »objektiv betrachtet« die Dinge doch so oder so seien. Wie kann es dann nur sein, dass wir auf so unterschiedliche Wahrnehmungen der Wahrheit treffen, auf so unterschiedliche Schilderungen zu ein und demselben Umstand. Auch im Yoga gibt es zahlreiche verschiedene Ansätze: Fragen wir zehn Yoga-Lehrer, was denn der wahre Yoga für sie sei, bekommen wir zehn verschiedene Antworten. In der Politik, in der Kultur und am Küchentisch gibt es permanent Diskussionen und ein Ringen um die Wahrheit. Selbst die Geschichte liefert uns keine Eindeutigkeit, streiten sich doch Historiker um Hergang, Bedeutung und Interpretation des Geschehenen. Wie gehen wir selbst mit dem Thema Wahrheit in unserem alltäglichen Leben um? Aufrichtigkeit und Authentizität
sind gern benutzte Worte, aber wie schaffen wir es, diese mit Leben zu füllen? Seit jeher ist es das Bestreben aller menschlichen Philosophien, die »ultimative Wahrheit« zu finden. Die zweite ethische Maxime fordert uns zu Wahrhaftigkeit (Satya) – 1. Yama, auf und hilft uns, authentisch, wahrhaftig und uns selbst treu zu bleiben. Dabei ist Satya vielschichtig und geht über die reine Wahrhaftigkeit hinaus. Wir finden hier das Konzept von Purusha und Prakriti aus dem 1. Kapitel »Frei sein« wieder. Mit dieser »kosmischen Wahrheit« beseitigen wir die Illusion (Maya), dass wir nur aus Haut und Knochen, Gedanken und Emotionen bestehen (Prakriti), und erkennen, dass wir ein immerwährendes Selbst in uns tragen (Purusha), von dem aus wir dieses »seltsame Schauspiel Leben« tatsächlich objektiv beobachten können. Von dieser Warte können wir den Schleier der in Prakriti getrübten Wahrnehmung lupfen, den unsere Störenfriede im Geist uns für die »Wahrheit« verkaufen wollen. Wir erkennen, dass es, abgesehen vom wahren Selbst, nie eine objektive Wahrheit geben kann, denn es spielen immer die Lebensläufe, die Erfahrungen, die Ängste, die Wünsche, die Erwartungen aller Protagonisten im Schauspiel des Lebens eine Rolle. Wie viele einfache Missverständnisse bis hin zu folgenschweren Konflikten sind schon entstanden, weil wir meinten, die Wahrheit zu wissen. Wir können nur unsere eigene Wahrheit kennen, was wir als wahr empfinden und was unserer inneren Wahrhaftigkeit und Authentizität entspricht. Sonst nichts. Und die muss nicht deckungsgleich sein mit der der anderen Protagonisten auf der Bühne des Lebens. Dieser eigenen inneren Authentizität versuchen wir in der äußeren Kommunikation zu entsprechen. Insofern beinhaltet Satya natürlich auch den Aspekt der Ehrlichkeit, also der Aufforderung, nicht auch noch wissentlich die Unwahrheit zu sagen. Ist ja eh schon kompliziert genug.
Jede Asana birgt Qualitäten auf allen Ebenen in sich. In dieser Fisch-Variante (Matsyasana, auch Uttana Padasana) lässt sich zum Beispiel üben, sich, komme was da wolle, der eigenen Authentizität entgegenzustrecken, auch wenn es nicht immer die leichteste aller Varianten ist.
Glaube denen, die die Wahrheit suchen, und zweifle an denen, die sie gefunden haben. ANDRÉ GIDE
Mit dem gewonnenen Verständnis von Satya können wir uns den impliziten Themen von Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Authentizität und Ehrlichkeit nähern. So wie sich die Umstände und das Schauspiel unseres Lebens verändern, können wir immer wieder Satya praktizieren und neu beurteilen, wie wir in der jeweils gegebenen Situation unsere Wahrheit leben wollen und authentisch bleiben können – egal, was uns andere als »wahr« weismachen wollen. Aus dieser inneren Wahrhaftigkeit entwickeln wir authentisches Verhalten, geben
also nichts vor, was nicht für uns wahr ist – auch nicht aus falscher Rücksichtnahme. Aus dieser Authentizität heraus fangen wir an, mit Sorgfalt und um Ehrlichkeit bemüht zu kommunizieren. Das setzt ebenso eine Ehrlichkeit uns selbst gegenüber voraus, auch wenn unsere Schattenseiten dabei zutage treten. In der inneren Kommunikation und in der äußeren Kommunikation spielt natürlich auch Ahimsa eine Rolle, so dass wir bedenken sollten, welche Konsequenzen unsere Ehrlichkeit hat. Es geht nicht immer unbedingt darum, jedem die »Wahrheit« ins Gesicht zu sagen, sondern auch abzuwägen, ob dies unbedingt erforderlich und förderlich für alle Beteiligten und die Situation ist. Sensibilität und Timing sind hier essenziell, um Konflikte nicht zu schüren, sondern zu deeskalieren oder vielleicht sogar zu verhindern. All dies natürlich, ohne sich zu verbiegen, sondern sich selbst treu bleibend. Es hilft dabei, sich eine Gemeinschaft zu suchen, die auf der Suche nach der »Wahrheit« ist, zum Beispiel im Yoga. Was zunächst wie die Quadratur des Kreises klingt, wird mit zunehmendem Bewusstsein und weiterer Übung immer einfacher. Versprochen! Ganz ehrlich!
Ganz entspannt lässt es sich in dieser Fisch-Variation (Matsyasana) leicht die eigene Wahrhaftigkeit und Authentizität wahrnehmen, ohne sich zu verbiegen.
Sei du selbst. Alle anderen Möglichkeiten sind schon vergeben. OSCAR WILDE
7. Genügsam und anspruchslos sein
Der Umgang mit der Umwelt Genügsam und anspruchslos sein
Die komplexe aufrechte Königstaube (Eka Pada Rajakapotasana) hat alles, was sie braucht. Gut in dieser Asana ausgerichtet, lässt sich die Erhabenheit des eigenen Reichtums in allen Facetten erleben und genießen.
Ein neues Kleid, ein neues Auto, ein neues Haus muss sein. Oder mehr Anerkennung, Wertschätzung, Status. Immer höher, weiter, schneller und mehr von allem, als wir haben – das scheint oft die Haupttriebfeder unseres Daseins zu sein. In Anbetracht der vielen Verführungen, die uns permanent suggerieren, was wir alles brauchen, ist es aber auch nicht einfach, sich zu begnügen. Egal, wie viel wir haben, wir wollen immer noch mehr. Auch wenn wir uns subjektiv als eher bescheiden betrachten, sind wir doch vor Begehrlichkeiten nicht gefeit. Die Kleshas Ego und Haben-Wollen lassen grüßen. Insbesondere im direkten Vergleich mit Freunden, Nachbarn, Kollegen oder uns völlig unbekannten Menschen meinen wir oft, schlecht abzuschneiden oder weniger begünstigt vom Schicksal zu sein. Ganz so, als hätten wir Anspruch auf ein besseres Leben, das voller Reichtum ist. Dabei haben die meisten von uns mehr als genug, wissen dies aber nicht zu schätzen,
sondern versuchen sich zu bereichern. Was tun?
Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug. EPIKUR
Die Maxime Nicht-Stehlen (Asteya) – 1. Yama, hilft uns dabei, eine innere Haltung von Anspruchslosigkeit und Genügsamkeit zu entwickeln. Im klassischen Sinne wird Asteya damit assoziiert, nichts zu nehmen, was einem nicht gehört. Aber warum stehlen wir überhaupt? Die Motivation für das Stehlen entsteht in der Regel aus einem Gefühl des Mangels, selbst nicht genug zu haben oder zu sein. Erschienen uns unsere Umstände als reich und wohlhabend genug, gäbe es keinen Diebstahl, keine Korruption, keine Bestechung mehr auf dieser Welt. Empfänden wir unsere Ideen als brillant genug, müssten wir uns nicht mit fremden Federn schmücken und andere Ideen als die unseren ausgeben. Aus dem Gefühl des Mangels heraus entstehen Begehrlichkeiten und Begierden, die dazu verleiten können, sich einfach vom Eigentum anderer zu bedienen. Die Palette des Diebstahls ist dabei breit – von Offenkundigem wie einem bewaffneten Raubüberfall bis hin zu Subtilerem, wie Souvenirs aus dem Lieblingshotel oder Lieblingsrestaurant mitgehen zu lassen. Mitunter fehlt es auch einfach an Wertschätzung des fremden Eigentums. Oft genug vergreifen wir uns am geistigen Eigentum anderer wie an urheberrechtlich geschützter Musik oder Texten und haben noch nicht einmal ein besonderes Unrechtsbewusstsein dabei. Jemandem Zeit oder Vertrauen zu stehlen, ist ebenso ein Bruch mit Asteya, auch wenn in der Regel keine monetären Werte dahinterstehen. Der Yogi übt sich darin, das Eigentum des anderen immer zu respektieren. Die Yoga-Philosophie geht aber noch weiter und besagt, andere nicht durch die Zurschaustellung des eigenen Reichtums – sei er nun materieller oder intellektueller Natur – in Versuchung zu führen, sich daran zu bereichern. Dieses Konzept ist nur vor dem Hintergrund zu verstehen, dass man im Yoga davon ausgeht, dass der innere Reichtum dem äußeren bei weitem überlegen ist. Nicht nur das: Der äußere Reichtum ist vollkommen belanglos, wenn im Inneren gähnende Leere
herrscht.
Siehst du ein, dass du genug hast, dann bist du wahrhaft reich. LAOTSE
Wenn wir erst einmal feststellen, dass wir alles längst in uns haben, was wir brauchen, müssen wir uns nicht mehr an Besitz, Status oder Ideen anderer bereichern. Genauso wie wir unser eigenes Eigentum wertschätzen, achten wir auch das Eigentum anderer. Was können uns schon materielle oder intellektuelle Errungenschaften bedeuten, wenn wir sie nicht aus eigenen Mitteln erzeugt haben. Vielmehr löst diese Bereicherung auf Kosten anderer eine Belastung in uns aus: im schlimmsten Fall erwischt zu werden, oder zumindest die Angst davor. Im besten Fall »nur« ein schlechtes Gewissen in dem Gefühl, dass wir andere bestohlen haben. Der yogische Ansatz ist, den eigenen inneren Reichtum zu erkennen und zu kultivieren. Je mehr wir uns von dem Anspruch lösen, etwas zu brauchen oder gar verdient zu haben, desto reicher werden wir automatisch beschenkt. Dieser Schlüssel zur inneren Haltung von Genügsamkeit und Anspruchslosigkeit hält jeder Probe stand. Wer kennt nicht die Gelegenheiten, in denen sich unsere Wünsche, Erwartungen und Ansprüche nicht erfüllt haben, weil wir zu sehr darauf gepocht haben. Umgekehrt werden wir plötzlich vom Universum oder wem oder was auch immer beschenkt, nachdem wir jede Anspruchshaltung losgelassen haben. Hier schließt sich auch wieder der karmische Kreis: Was wir in den Zyklus des Lebens hineingeben, kommt zu uns zurück. Es gilt also die etwas unmathematische Formel: Genügsamkeit + Anspruchslosigkeit = innerer Reichtum.
Wenn man im Nicht-Stehlen fest gegründet ist, kommen einem alle Schätze von selbst zu. YOGA-SUTRAS 2.37
8. Balance und Harmonie finden
Der Umgang mit der Umwelt Balance und Harmonie finden
Eine ausgewogene Balance und das richtige Maß zu finden, auch wenn uns dies manchmal als zu großer Kontrast erscheint, lässt sich in dieser Standbalance, der Hand-Fuß-Haltung, prächtig üben (Hasta Padangusthasana).
Wenn das Wörtchen »wenn« nicht wäre! Wie oft haben wir uns nicht schon gesagt: »Wenn, ja wenn …, dann mache ich weniger …« Oder: »Wenn, ja wenn …, dann mache ich mehr …« Die Realität sieht meistens anders aus. Bei allem, was wir tun oder nicht tun, haben wir oft ein Zuviel oder ein Zuwenig davon. Wir arbeiten zu viel, entspannen zu wenig, sind zu träge oder zu aktiv; geben zu viel oder zu wenig, nehmen zu viel oder zu wenig; treiben mal wie Profis Sport oder werden zu »Couch Potatoes«; schlafen wie ein Murmeltier
oder gar nicht, essen mal zu üppig, mal zu karg; sind im Zwischenmenschlichen zu hart oder zu weich. Wir sind alles Mögliche, aber meist weit davon entfernt, harmonisch mit uns selbst und mit allem um uns herum zu sein. Wieso nur fällt es uns so schwer, das richtige Maß und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen all diesen Gegensätzlichkeiten zu finden? Wie können wir Versuchungen widerstehen, die auf den ersten Blick so reizvoll erscheinen, uns im Nachgang aber doch belasten? Wie finden wir eine sinnvolle Balance zwischen Askese und Sinnenrausch? Denn ausgewogen und ausgeglichen zu sein, wäre zum einen gesund und zum anderen unserer äußeren und inneren Schönheit so zuträglich. Die Maxime Maßhalten (Brahmacharya) – 1. Yama, bietet uns einen praktischen Lösungsansatz. Grundsätzlich geht die Yoga-Philosophie davon aus, dass alles Gegensätzliche zwei Seiten der gleichen Medaille sind, die es auszugleichen gilt. Es entsteht bei Bramacharya manchmal der Eindruck, es ginge um Askese und Unterdrückung von Sinnlichem und Sinnlichkeit, aber das steht nirgendwo geschrieben. Ganz im Gegenteil: In der Bhagavad Gita heißt es, dass unser Körper ein Tempel ist, den es rein zu halten, zu achten und wertzuschätzen gilt. Dazu gehört sicher auch, mit allen Sinnen zu genießen. Die Frage ist nur, in welchem Maß. Brahmacharya bedeutet Maßhalten in allen Lebensbereichen. Hier begegnet uns vor allem der Klesha Rajas, das Haben-Wollen. Alles Übermaß und alle Abhängigkeiten führen nach Patanjali dazu, dass wir aus dem Zustand der Balance gerissen und unser Denken und Handeln davon bestimmt werden, wie wir unsere Begierden erfüllen. Genau dies gilt es, durch Brahmacharya abzumildern. Es geht bei dieser Verhaltensmaxime also nicht um vollständige Abstinenz, sondern darum, sich seinen Leidenschaften nicht auszuliefern und von ihnen unabhängig zu werden. Brahmacharya bezieht sich ursprünglich auf sexuelle Enthaltsamkeit, was aber im modernen, vom Tantra beeinflussten Yoga keine Rolle mehr spielt. Für viele Yogis gehören Sexualität, Erotik, Sinnlichkeit und Zärtlichkeit einfach zu einem erfüllten Leben dazu und werden als sehr bereichernd empfunden. Dennoch bietet dieser Ansatz, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, viel Hilfestellung im täglichen Leben. Die Ausrichtung auf das Wesentliche – was auch immer das gerade individuell bedeutet – lässt uns unsere Sinne so kontrollieren, dass wir in der Lage sind, verantwortungsvoll und bewusst zu handeln, und nicht durch Begierde, Verlangen oder gar Sucht gesteuert zu
werden.
Wie ästhetisch und harmonisch es doch aussieht, wenn eine ausgewogene Balance erreicht wird, wie hier im Krieger III (Virabhadrasana III).
Yoga ist die Verschmelzung von Gegensätzlichkeiten. MARK WHITWELL
Das Konzept und die Qualitäten der Gunas, jener Kräfte, aus denen in der Yoga-Philosophie das äußerlich Wahrnehmbare (Prakriti) besteht, hilft uns sehr, im täglichen Leben bei allem, was wir tun, uns im Maßhalten zu üben. In der Welt herrscht immer eine Mischung aus Sattva, Rajas und Tamas. Sattva wird mit Attributen wie klar, hell, heiter, inspiriert, friedvoll, zufrieden, leicht, rein und ausgeglichen beschrieben. Mit der positiven Rajas-Seite werden
Adjektive wie aktiv, bewegt, zielstrebig, kreativ, schaffend und – im besten Sinne – leidenschaftlich verbunden, mit der Kehrseite der Rajas-Medaille unbeständig, ruhelos, überaktiv, zerstreut, aufgeregt und impulsiv. Tamas bedeutet im positiven Sinne: fest, bewegungslos, solide, stabil, standhaft und ausdauernd. Im negativen Sinne: behäbig, müde, depressiv, hoffnungslos, dunkel, traurig, schwerfällig und träge. Schauen wir uns unsere unterschiedlichen Körper- und Geisteszustände einmal etwas näher an, finden wir genau diese Qualitäten wieder – mal ist die eine, mal die andere vorherrschend. Das Bestreben des Yogis ist, sich vor allem in Sattva einzufinden. Und dafür haben wir eine Reihe von Werkzeugen im YogaBaukasten: Sind wir zum Beispiel träge und müde (Tamas), hilft uns die physische Bewegung der Asana-Praxis, um wieder aktiver zu werden. Sind wir eher rastlos und unruhig, nähern wir uns durch Meditation oder Entspannung Sattva. Tamas wird durch Rajas überwunden, Rajas durch Sattva. Diese Prinzipien ziehen sich durch alle Handlungen – Arbeit, Sport, Entspannung, Schlaf, Ernährung etc. –, aber auch durch alle Gedanken und Gefühle wie ein roter Faden. Wir versuchen dabei, so sattvisch wie möglich zu sein. Wir schauen dem Wirken der Gunas zu, beobachten dabei aufmerksam und achtsam unsere Bedürfnisse und steuern unser Verhalten entsprechend. So halten wir unseren Energiehaushalt immer gut in Schuss!
Die Kunst des Maßhaltens: Die Balance zwischen den unterschiedlichen Kräften (Gunas) zu finden und dabei spielerisch durch das Leben zu tanzen, ist wunderbar symbolisiert im Tänzer (Nataranjasana).
Mit Yoga lässt sich das Chaos widerstreitender Gedanken besänftigen. B.K.S. IYENGAR
9. Loslassen und akzeptieren können
Der Umgang mit der Umwelt Loslassen und akzeptieren können
In einer Vorbeuge lässt es sich normaler- weise gut loslassen, aber in dieser Variante der weiten stehenden Grätsche mit der komplexen Handgeste (Prasarita Padottanasana mit Anjali Mudra) wird deutlich, wie sehr wir doch an den Dingen festhalten, auch wenn wir eigentlich loslassen wollen.
Wir alle kennen das: Im Verlauf des Lebens sammeln sich Unmengen von Dingen an – Dinge, die wir uns irgendwann einmal selbst gekauft haben, weil wir sie unbedingt besitzen wollten. Wir behalten sie, unabhängig davon, ob sie uns noch gefallen oder nicht. Schließlich haben wir ja einmal viel Energie, Geld oder Zeit dafür aufgewendet. Wir behalten Dinge, die wir geschenkt bekommen haben, ob sie uns jemals gefallen haben oder nicht. Schließlich wollte ein lieber Mensch uns ja mal damit eine Freude machen. Oder wir häufen Sachen an, um negative Gefühle zu kompensieren. Wie oft tun wir uns »etwas Gutes«, wenn wir traurig oder einsam sind oder sonst einen Schmerz oder Mangel erleben. Irgendwann jedoch dreht sich das Blatt, und diese schiere Masse wird zu Ballast. Sie limitiert uns in unserer äußeren Bewegungsfreiheit, da wir uns um all diese Dinge kümmern müssen. Und sie limitiert uns in unserer inneren Freiheit, weil wir an diesen Dingen festhalten
und Angst haben, sie zu verlieren. So oder so katapultieren wir uns ins Leid anstatt ins Glück, was doch die eigentliche Absicht war. Und das, obwohl wir am Ende eh nichts mitnehmen können. Wozu also das Ganze?
Wenn du etwas loslässt, bist du etwas glücklicher. Wenn du viel loslässt, bist du viel glücklicher. Wenn du alles loslässt, bist du frei. AJAHN CHAH
In dieser Variante der weiten, stehenden Grätsche (Prasarita Padottanasana) können wir uns in unserem Bemühen, etwas loszulassen, genauer beobachten.
Beim Thema »Loslassen« passt die Maxime Nicht-Horten (Aparigraha) – 1. Yama, hervorragend als Hilfestellung. Das Konzept von Aparigraha ist dem von Asteya (Nicht-Stehlen) ähnlich, das aber eher auf eine innere Haltung von
Anspruchslosigkeit und Genügsamkeit abzielt. Es geht bei Aparigraha natürlich auch um die Reflexion auf das, was wir tatsächlich brauchen oder bewusst möchten (Kleidung, Wohnung, Auto etc.), und die mit unserem Konsumverhalten verbundenen Konsequenzen. Aber das Praktizieren von Aparigraha geht weiter und konzentriert sich stärker auf die innere Haltung des Nicht-Festhaltens oder – yogisch ausgedrückt – des Nicht-Anhaftens. Wir beobachten, inwieweit wir unsere eigene Wertigkeit und unsere eigene Wertschätzung über äußere Besitztümer und Statussymbole definieren. Wir nehmen wahr, wie wir uns mit ihnen identifizieren und auf diese Weise versuchen, unser Selbstwertgefühl zu steigern – ganz so, als wären wir nur das wert, was wir besitzen. Dabei drängt sich die Frage auf, was von uns übrig bliebe, wenn wir aus welchen Gründen auch immer unsere äußeren Besitztümer verlören. Wären wir dann weniger oder gar nichts mehr wert? Würden wir nicht nur Bequemlichkeit und Annehmlichkeiten, sondern auch Anerkennung, Status, gar Familie und Freunde verlieren? Diese Angst vor Verlust bewirkt das Anhaften, was uns in die Abhängigkeit anstatt in die gewünschte Freiheit bringt. Dagegen ist nach der Yoga-Philosophie nur ein Kraut gewachsen: den eigenen inneren Wert erkennen, der unabhängig ist von äußeren und vergänglichen Besitztümern. Je mehr wir unseren eigenen inneren Wert schätzen, desto mehr befreien wir uns vom Anhaften und desto mehr können wir loslassen. Spinnen wir den Faden noch weiter, lernen wir mit Aparigraha, nicht mehr an Geschehenem festzuhalten, keine Erinnerungen zu horten und nicht mehr in dem, was war, gefangen zu bleiben. Selbst wenn wir in Erinnerungen schwelgen, leiden wir, weil wir an diesen Zeiten anhaften. Schlimmer noch, wenn wir an negativen Erfahrungen anhaften, leiden wir, obwohl sie längst vorbei sind. So oder so können wir mit dem Praktizieren von Aparigraha immer mehr von Geschehenem loslassen und akzeptieren, was war.
Wenn wir uns in dieser Variante der Vorbeuge in der weiten stehenden Grätsche (Prasarita Padottanasana) entspannen, akzeptieren und loslassen, fließt alles Schwere und Belastende aus unserem Geist heraus.
Praktisch bedeutet Aparigraha zunächst einmal das Ausmisten, und zwar in allen Bereichen unseres Lebens. Was brauchen wir wirklich, um glücklich zu sein? Nur darum geht es! Was können wir von all dem, was wir besitzen, wirklich (noch) genießen? Was haben oder behalten wir nur, weil wir meinen, damit zu wertvolleren Menschen zu werden? Mit wem und was wollen wir unsere Zeit verbringen? Wozu sollten Dinge gut sein, die uns nicht (mehr) gefallen, die uns Zeit, Geld oder Energie rauben oder uns sonst wie belasten. Aparigraha besagt im Übrigen nicht, alles sofort loszuwerden, sondern fordert uns zu einem bewussten Überdenken unserer Anhaftungen und Bindungen auf, die wir im Verlauf des Lebens aufgebaut haben, ohne sie jemals wieder zu hinterfragen. Zudem hat das Loslassen von Dingen auch den angenehmen Nebeneffekt, dass sie anderen – möglicherweise Bedürftigeren – zugutekommen, seien es materielle Güter, die wir an Organisationen spenden
können, seien es unsere Zeit und Energie, die wir sinnvoller einsetzen wollen. Wer noch einen Schritt weiter gehen möchte, mistet auch noch seine Erinnerungskiste aus. Wir können das bewusste Loslassen von Geschehenem üben: von unerfüllten Erwartungen, Hoffnungen und Wünschen, von negativen Gefühlen, die aus der Vergangenheit rühren und uns ausschließlich belasten und limitieren. Wenn wir uns des vergänglichen Charakters von Besitz und Geschehenem bewusst sind, wirklich akzeptieren, was war und was wir einmal wollten, jetzt aber nicht mehr brauchen, und all das loslassen, gehen wir in die Leichtigkeit und Freiheit. Alles Unnötige, Belastende und Schwere fließt von uns ab. Was für eine Erleichterung!
Der Mensch leidet, weil er Dinge zu besitzen und zu behalten begehrt, die ihrer Natur nach vergänglich sind. BUDDHA
10. Sich reinigen und verzeihen
Der Umgang mit sich selbst Sich reinigen und verzeihen
Es bedarf manchmal einiger Bemühungen, genau nachzuschauen, was wir alles so unter den Teppich gekehrt haben. Mit ein bisschen Übung fällt es leichter, ähnlich wie die stehende Vorbeuge im gebundenen halben Lotos (Ardha Baddha Padmottanasana).
Über unsere Sauberkeit machen wir uns meistens recht wenige Gedanken. Schließlich duschen wir regelmäßig, halten unsere Kleidung sauber, lassen unsere Wohnung putzen oder putzen selbst, lassen unser Auto waschen, trennen den Müll, kaufen bio ein. Das muss doch reichen, denken wir. Wenn wir aber anfangen, uns die verschiedenen Ebenen von Sauberkeit und Hygiene anzuschauen, stellen wir fest, wie vielschichtig dieses Thema ist. Wir sind den
ganzen Tag Schmutz in den unterschiedlichsten Formen ausgesetzt – mal bewusster, mal unbewusster. Wir achten vielleicht doch nicht immer so genau darauf, was wir essen, woraus unsere Kleidung besteht, welche Verschmutzungen wir auslösen. Wie rein können wir überhaupt sein? Und weiter gedacht: Welche Gedanken und Gefühle produzieren wir, die wir nicht guten Gewissens als rein oder heilsam bezeichnen können? Welche Verschmutzungen und Verkrustungen gibt es in unseren Herzen? Wie oft kehren wir im sprichwörtlichen Sinne etwas unter den Teppich, weil wir uns nicht damit befassen wollen? Für all diese Verunreinigungen bietet Yoga Mittel zur Verbesserung der inneren Hygiene. Unter der ethischen Maxime Reinheit (Shaucha) – 2. Niyama, versteht die Yoga-Philosophie nicht nur die normale tägliche Hygiene und die Reinhaltung wie etwa der Kleidung oder der Wohnung auf äußerlicher Ebene, sondern die Reinhaltung des gesamten Körpers, des Geistes und des Herzens. Im Verlauf der Jahrhunderte hat sich ein ganzer Katalog an möglichen Yoga-Praktiken entwickelt, wobei sich insbesondere die Hatha Yoga Pradipika (neben der Bhagavad Gita und den Yoga-Sutras von Patanjali der dritte maßgebliche yogische Grundlagentext) mit der Reinigung des Körpers befasst. Zum einen empfiehlt sie eine regelmäßige Asana-Praxis, wie sie heute auch vielfach geübt und geschätzt wird. Es wird auch eine bewusste, gesunde Ernährung erwähnt, die frisch, leicht und nahrhaft sein soll und in angemessener Menge zur geeigneten Zeit und in gelassener Gemütsfassung eingenommen werden soll. Allein das lohnt es, sich zu Herzen zu nehmen! Darüber hinaus wird noch eine Reihe von Reinigungsritualen (Shat Karma Kriya) genannt, die sich allerdings nur bedingt zur selbständigen Nachahmung eignen, umfassen sie doch Techniken, bei denen man zum Beispiel einen dickeren Faden durch die Nase zieht und durch den Mund wieder rauskommen lässt, um sich die Nasenhöhle ordentlich zu reinigen. Wessen Neugierde geweckt ist, der möge sich den Shat Karma Kriyas nur unter Anleitung eines erfahrenen Lehrers nähern, der sich wirklich gut damit auskennt. Verschiedene Atemübungen (Pranayama) wie zum Beispiel das »Schädelleuchten« (Kapalabhati) erfüllen einen ähnlichen Zweck. Es gibt also viele Möglichkeiten, unseren Körper zu reinigen. Aber damit nicht genug – Shaucha betrifft auch die Reinigung unseres Geistes.
An Ärger festzuhalten ist, als hieltest du ein glühendes Stück Kohle fest mit der Absicht, es nach jemandem zu werfen – derjenige, der sich dabei verbrennt, bist du selbst. BUDDHA
Die yogischen Reinigungsrituale (Shat Karma Kriya) eignen sich ebenso wenig zur selbständigen Nachahmung wie diese komplexe Asana, die dem Weisen Marichi gewidmet wurde (Marichyasana C).
Auf geistiger Ebene bedeutet Shaucha, die Gedanken rein zu halten und sich von Rücksichtnahme leiten zu lassen. Wir finden hier die Idee von Ahimsa wieder (Gewaltlosigkeit), die besagt: »Mögen alle Lebewesen glücklich und frei sein. Mögen alle unsere Gedanken, Worte und Taten dazu beitragen.« Diese Reinheit unserer Gedanken können wir nur erreichen, wenn wir das Wirken unserer Kleshas, der Störfaktoren im Geist, vermindern. Wenn wir davon
ausgehen, dass unser Wissen das »wahre« Wissen ist, können unsere Gedanken nicht glasklar und rein sein, weil sie der Trübung unserer subjektiven Wahrnehmung unterliegen. Sind wir von unserem Ego, unseren Anhaftungen oder unseren Ablehnungen gesteuert, sind unsere Gedanken nicht so rein, dass wir bis auf ihren Grund sehen könnten. Wenn auch noch die Angst ins Spiel kommt, wühlen wir so viel Staub auf, dass klares Sehen gar nicht mehr möglich ist. Die yogische Idee ist, die Wirkung der Kleshas so weit wie möglich zu reduzieren, so dass wir auch im Geist so rein und unbelastet wie möglich sind. Aber damit immer noch nicht genug – Shaucha betrifft auch die Reinigung unseres Herzens. Shaucha bietet uns die beste Voraussetzung, um uns Belastungen im wahrsten Sinne des Wortes von der Seele zu waschen. Die Reinigung des Herzens spielt vor allem in Beziehungen zu anderen Menschen eine große Rolle. Ob wir jemandem etwas nicht verzeihen wollen oder nicht in der Lage sind, um Verzeihung zu bitten, hat beides eine Verschmutzung unseres eigenen Herzens zur Folge. Meistens fällt es uns unglaublich schwer, jemandem zu verzeihen oder um Verzeihung zu bitten. Dabei lohnt es sich immer, so komplex die Situation auch manchmal sein und so schwer es uns auch fallen mag. Verzeihen entsteht auch nicht aus dem inneren Gefühl, wie großmütig man doch sei, und ist schon gar nicht an Bedingungen geknüpft. Beides wäre wahrlich kein echtes Verzeihen, sondern eine rein egogesteuerte Handlung. Jemandem zu vergeben, geht viel tiefer und berührt in erster Linie uns selbst. Wir reinigen und befreien uns von dem eigenen Schmerz, der durch das, was wir verzeihen, ausgelöst wurde. Die Kunst dabei ist, nicht nur zu verzeihen, sondern auch zu vergessen, um das Geschehene aus dem Kopf und aus dem Herzen zu bekommen und ihm die Macht zu nehmen. Ebenso verhält es sich, wenn wir um Verzeihung bitten. Mit dem kleinen Wörtchen »sorry«, befreien wir uns von der Belastung in unserem Herzen – welch ein Segen!
Die Gedanken rein zu halten, klingt erst einmal genauso leicht, wie der Stock (Dandasana) aussieht. Beides hat es aber in sich! Wie immer ist aller Anfang schwer, aber in beidem kommen wir mit Übung Schrittchen für Schrittchen weiter.
Verzeihen ist eine Eigenschaft des Starken. MAHATMA GANDHI
Auch wenn die Umstände manchmal sehr komplex sind, wie hier im sitzenden gebundenen halben Lotossitz (Ardha Baddha Padma Paschimottanasana), lohnt es sich rückblickend immer, jemandem zu verzeihen oder um Verzeihung zu bitten.
Verzeihen oder um Verzeihung bitten ist wie eine tiefe Verbeugung aus Liebe, Respekt und Wertschätzung vor uns selbst und dem anderen – wie die stehende Vorbeuge im gebundenen halben Lotos (Ardha Baddha Padmottanasana).
11. Zufrieden und dankbar sein
Der Umgang mit sich selbst Zufrieden und dankbar sein
Vielleicht können wir auch mal zufrieden sein, wenn wir nicht bis zum Ende gehen, und dankbar, dass wir überhaupt so weit gekommen sind, den gestützten Schulterstand (Salamba Sarvangasana) vorzubereiten.
Wie schön wäre es doch, einfach sagen zu können: Ich bin zufrieden, mit dem, was ich bin, wie ich aussehe und was ich habe. Aber irgendwie gelingt uns das meistens nicht. Oder wenn, dann nur für kurze Momente, bevor sich wieder neue Begehrlichkeiten in uns regen. Wir treffen unsere Freundin und wollen auch dieses tolle Outfit. Oder schauen auf die Matte neben uns und würden auch gern so perfekt in die Asana gehen wie unser Nachbar-Yogi. Wir schauen über den Zaun und wollen auch das harmonische Familienleben der netten Leute von nebenan. Wir bestaunen den Erfolg des Kollegen und fühlen uns
klein und nichtig im Vergleich. Wir betrachten uns im Spiegel und sähen gerne anders aus, wären gern dicker oder dünner, größer oder kleiner, blond oder dunkel, auch wenn unsere genetische Disposition das einfach nicht zulässt. Unsere Denkmuster flüstern uns ein, dass die Zufriedenheit immer nur einen kleinen Schritt entfernt ist. Wenn wir dieses oder jenes hätten, so oder so wären, dieses oder jenes passierte, dann, ja dann wären wir zufrieden. Aber wäre das wirklich so? Der Vergleich mit anderen und das Streben nach dem, was uns vermeintlich fehlt, erzeugt nichts anderes als ein Gefühl des Mangels, ein Gefühl, nicht zu genügen oder nicht genug zu haben. Wir sind meistens eher auf das fokussiert, was wir nicht haben, als auf das, was wir haben. Unsere ganze Wirtschaft und natürlich auch die Werbung basieren genau auf diesem Prinzip der Unzufriedenheit. Wir können diesen Impulsen von außen folgen und unseren Denkmustern, den mittlerweile bestens bekannten Kleshas Rajas und Dvesha (Haben-Wollen, Nicht-haben-Wollen bzw. Anders-haben-Wollen) die Herrschaft im Hause überlassen. Aber schon leiden wir wieder, anstatt frei zu sein. Wir leiden, wenn uns etwas nicht gelingt, was einem anderen gelingt. Wir leiden, wenn jemand mehr von irgendetwas hat als wir – vorausgesetzt, wir wollen das auch. Wir leiden, wenn es in unserem Sommerurlaub regnet, weil wir das so nicht erwartet haben und schon gar nicht so wollten. Und so leiden wir in unserer Unzufriedenheit vor uns hin. Dabei können wir bewusst entscheiden, ob wir aus dem Leid (Dukkha) heraustreten wollen. Wünsche werden immer wieder neue Wünsche hervorbringen. Wenn wir erkennen, dass es eine trügerische Illusion ist, unsere innere Zufriedenheit von der Erfüllung unserer Wünsche und unseren Erwartungen abhängig zu machen, sind wir einen großen Schritt auf unsere Befreiung (Mukta) zugegangen. Wenn wir entdecken, dass die Erfüllung unserer Begehrlichkeiten ein Fass ohne Boden ist und wir auf diesem Wege niemals wirkliche innere Zufriedenheit erlangen können, kommen wir dem, was der Yogi als den natürlichen Zustand bezeichnet, immer näher: zufrieden, also im inneren Frieden sein, mit dem, was ist. Aber wie können wir diesen Schritt aus dem Gefühl des Mangels in die innere Zufriedenheit gehen?
Wie oft leiden wir, weil wir uns mit anderen vergleichen. Zum Beispiel wenn wir denken, dass wir uns auch unbedingt in diesen gestützten Schulterstand im Lotos (Salamba Sarvangasana Padmasana) verbiegen können müssten.
Das Leiden ist so lange nötig, bis du erkennst, dass es unnötig ist.
ECKHART TOLLE
Der Achtgliedrige Pfad lässt uns auch hier nicht im Stich, sondern bietet uns mit der ethischen Verhaltensmaxime Zufriedenheit (Santosha) – 2. Niyama, Hilfestellung, um den Schritt aus dem Leid in den inneren Frieden zu gehen.
Vergiss nicht – man braucht nur wenig, um ein glückliches Leben zu führen. MARC AUREL
Santosha ist ein naher Verwandter von Asteya (Nicht-Stehlen) und Aparigraha (Nicht-Horten). Während Asteya die innere Haltung von Genügsamkeit und Anspruchslosigkeit kultiviert und Aparigraha dazu auffordert, nicht anzuhaften, sondern loszulassen, bringt Santosha den Aspekt der Akzeptanz und Unabhängigkeit mit ins Spiel. Kultivieren wir Santosha, schaffen wir es zunehmend, mit den Umständen, wie sie gerade sind, mit dem, was wir haben und wie wir sind, zufrieden zu sein – sei es auf materieller, körperlicher oder intellektueller Ebene. Santosha bedeutet allerdings nicht, dass wir uns mit einer unbefriedigenden Situation abfinden oder dass wir uns nicht mehr weiterentwickeln und nichts mehr lernen sollten. Vielmehr versuchen wir, uns im Rahmen unserer Möglichkeiten zu entfalten, akzeptieren dabei aber auch die Grenzen unseres Einflusses und unserer Gestaltungsmöglichkeiten. Diesen Ansatz hat der Theologe Reinhold Niebuhr aufgegriffen: »Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.«
In dieser Variante des Schulterstands mit Grätsche (Salamba Sarvangasana) versuchen wir spielerisch und mit einer inneren Haltung der Zufriedenheit, die Dinge zu ändern, die wir mit einem kleinen Schritt ändern können, akzeptieren dabei aber gelassen, was wir nicht ändern können.
Wir bleiben also in Bewegung und versuchen durchaus aktiv auf unsere Umstände einzuwirken, machen unsere innere Zufriedenheit aber nicht von äußeren Umständen abhängig.
Aufgrund der inneren Ruhe erlangt man unübertreffliche Freude. YOGA-SUTRAS 2.42
Dankbarkeit ist für viele der Schlüssel und auch der kürzeste Weg zu Zufriedenheit und innerem Frieden. Es wird immer jemanden geben, der vermeintlich schöner, reicher, schlauer, vom Schicksal begünstigter oder biegsamer ist als man selbst. Und? Genauso gut wird es immer jemanden geben, der vermeintlich hässlicher, ärmer, dümmer, vom Schicksal weniger begünstigt oder steifer ist als man selbst. Und? Es ist, wie es ist! Warum also nicht gleich unseren Fokus auf das ausrichten, was wir haben, und dafür dankbar sein. »Count your blessings« – wie es so schön im Englischen heißt. Wir können es zu einem kleinen Ritual machen, unsere Segnungen aufzuzählen und immer wieder zu rezitieren, um uns bewusst zu machen, was es alles an Schönem, Gutem und Positivem in unserem Leben gibt und gab. Auch und gerade in schwierigen Zeiten lernen wir durch ein solches Ritual, den Blick auf das Gefühl der Fülle zu richten, auch wenn das Schicksal uns vielleicht gerade eine schwere Situation serviert. Wir können sogar noch weiter gehen und auch für schwere Zeiten dankbar sein, und zwar aus dem Verständnis heraus, alles so anzunehmen, wie es ist. Dann gibt es keinen inneren Zwiespalt mehr, kein Hadern mit dem Schicksal und keine Kausalität zwischen äußeren Umständen und innerer Zufriedenheit. Je mehr wir uns in Dankbarkeit üben, desto mehr sehen wir, wie viele Gründe wir haben, dankbar zu sein. Wir erkennen, was alles schon da ist, und werden mit mehr Zufriedenheit und innerem Frieden belohnt. Was für ein Geschenk!
Unabhängig davon, ob das Leben gerade perfekt im Lot oder aus dem Lot geraten ist – wie hier in diesen beiden Varianten des gestützten Schulterstands (Salamba Sarvangasana) –, meistens haben wir weit aus mehr Grund zur Zufriedenheit, als wir denken, und wir können immer einen Anlass finden, dankbar zu sein.
Nicht die Glücklichen sind dankbar. Es sind die Dankbaren, die glücklich sind. FRANCIS BACON
12. Leidenschaftlich und diszipliniert sein
Der Umgang mit sich selbst Leidenschaftlich und diszipliniert sein
Diese Variante des Vollen Rads (Urdhva Dhanurasana) versorgt uns mit einem Energieschub, um die nicht immer ganz leichte Aufgabe zu meistern, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen.
Die Sehnsucht nach einem erfüllten, glücklichen und freien Leben mag groß sein, aber der Weg dahin ist manchmal ganz schön beschwerlich. Wir brauchen eine große Portion Entschlusskraft, ausreichend Feuer, Kraft, Energie und eine für uns schlüssige Motivation, um unseren Dharma, unsere Bestimmung in diesem Leben zu erfüllen. Unsere Kleshas und Samskaras begegnen uns immer wieder, und wenn wir nicht genau achtgeben, schlagen sie zu. Sie lassen uns müde, schwach und träge auf der Couch sitzen. Oder sie lassen uns verbissen, stur und starrsinnig ein Ziel verfolgen, so dass wir selbstgerecht, überheblich oder dogmatisch werden beziehungsweise sonstige destruktive Tendenzen entwickeln. Wir respektieren dann nicht mehr die eigenen Grenzen oder die anderer, und unsere Ängste vor Neuem oder Ungewissem schüren zudem Zweifel, die uns zwischen Optionen hin und her pendeln lassen – was uns Kräfte raubt und Energie verschwendet. Eine klare Ausrichtung auf unseren Dharma hilft! Aber wie wir alle wissen, genügen gute Vorsätze allein
nicht, um ein Ziel zu erreichen. Wir brauchen also eine Kraft, die uns immer wieder mit frischer Energie versorgt und uns auf unserem Weg im positiven Sinne antreibt. Vielleicht stellt sich mittlerweile die Frage, wie wir denn unseren Dharma erfüllen sollen, wenn wir uns stetig in Zufriedenheit (Santosha), Genügsamkeit, Anspruchslosigkeit (Asteya), Nicht-Anhaften und Loslassen (Aparigraha) üben? Wohnt den Yamas und Niyamas nicht eine gewisse Antriebslosigkeit inne? Wir erinnern uns: Die Yamas und die Niyamas bieten uns eine Hilfe, unseren Dharma zu erfüllen, aber dabei auf dem Weg so wenig wie möglich Schaden für andere und auch für uns selbst anzurichten. Auf diese Weise sammeln wir so wenig wie möglich negatives Karma an und fühlen uns jederzeit innerlich frei, ruhig und gelassen – komme im Außen, was da wolle. Wenn wir also die Yamas und Niyamas praktizieren, widersprechen wir nicht unserem Dharma, sondern unterstützen ihn. Unser Ziel bleibt es, die Bestimmung unseres Daseins mit all den damit verbundenen Vorhaben zu realisieren und dabei alle uns zur Verfügung stehenden Potenziale zu aktivieren. Aber wie?
Ist das Licht des Yoga einmal angezündet, verlischt es nie mehr. Je intensiver wir üben, desto heller wird die Flamme leuchten. B.K.S. IYENGAR
Diese Variante des Vollen Rads (Urdhva Dhanurasana) erfordert, dass wir unser inneres Feuer ordentlich anzünden, um die Disziplin aufzubringen, immer und immer wieder zu üben – ganz wie im echten Leben, wenn wir etwas erreichen möchten.
Die Maxime Selbstdisziplin (Tapas) – 2. Niyama, kommt da gerade recht. Die yogische Disziplin – nicht zu verwechseln mit der oft zitierten preußischen – entsteht aus einem »brennenden Verlangen« (tapas: Hitze), einem inneren Bedürfnis heraus und nicht aus Gehorsamkeit einer Obrigkeit gegenüber. Umgekehrt ausgedrückt: Es ist eine innere Leidenschaft, die sich in Disziplin verwandelt. Sie liefert uns den Treibstoff für unseren Weg, mag er auch noch so beschwerlich sein. Dieses innere lodernde Feuer liefert uns immer wieder frische Energie, die uns Fähigkeiten wie Entscheidungsfreude, Ausdauer und Durchhaltevermögen ermöglicht. Außerdem hilft es uns, zielorientiert und fokussiert zu sein, so dass wir unsere Vorhaben nicht leichtfertig aufgeben oder uns von ihnen ablenken lassen. Wir nutzen die Kraft und Hitze des inneren Feuers, spüren hinderliche Verhaltensund Gedankenmuster in uns auf und transformieren sie in förderliche
Verhaltensweisen. Daraus entsteht Selbstdisziplin ohne Selbstkasteiung!
Um im Vollen Rad (Urdhva Dhanurasana) auch noch ein Bein zu heben, reicht die körperliche Disposition allein nicht aus. Wir müssen dafür brennen, es wirklich zu wollen, und brauchen unsere ganze Disziplin, Willensstärke und Kraft dafür.
Je mehr Disziplin wir aus unserer Leidenschaft entwickeln können, desto mehr übernehmen wir Verantwortung für das eigene Leben und Handeln. Wir haben den Mut, die Konsequenzen aus unserem Handeln zu tragen, und brennen für das, was wir tun wollen. Talent mag uns ein Stück des Weges erleichtern, aber vor allem ist die Bildung einer gerichteten Willensstärke und Kraft (Sankalpa Shakti) förderlich. Wir tun das, was wir tun wollen, mit Engagement, Hingabe und Begeisterung, mit Üben und Wiederholen, ohne Murren und Klagen. Wir erwerben, ohne Mühe und Schweiß zu fürchten, die Kompetenzen, die notwendig sind, um das Feld unseres Lebens mit Geduld und Durchhaltevermögen bestmöglich zu bestellen. Wir gehen bewusst und achtsam an die Herausforderungen heran, und – wer weiß – vielleicht entwickelt sich ja Unglaubliches, Unvorstellbares daraus, etwas, das wir uns in
den kühnsten Träumen nicht ausgemalt haben, auf und jenseits der Matte. Mit Tapas konzentrieren wir uns immer wieder auf das, was uns im Leben wichtig ist. Dabei achten und wertschätzen wir den Punkt, an dem wir sind, spielen mit unseren Grenzen, loten sie aus und erweitern sie langsam, ohne sie jemals zu überschreiten. Wir überwinden zwar unseren inneren Schweinehund, aber ohne uns zu kasteien. So wird aus Leidenschaft nicht etwas, das Leiden schafft, sondern etwas, das Transformation und Kreation ermöglicht!
Die Vernünftigen halten bloß durch, die Leidenschaftlichen leben. NICOLAS CHAMFORT
13. Mutig sein und beobachten
Der Umgang mit sich selbst Mutig sein und beobachten
Wenn wir den Kopfstand (Salamba Shirshasana) üben, brauchen wir neben der physischen Kraft all unseren Mut und viel Stille, um genau zu beobachten, ob wir tatsächlich schon so weit sind, ganz hoch zu kommen.
Jetzt haben wir schon so viel über unsere Störenfriede im Geist gelernt, und wir bemühen uns redlich, sie zu überwinden – und doch schlägt unser trickreicher Geist, unser »Monkey Mind«, immer wieder Kapriolen. Er lässt uns immer wieder die gleichen Fehler machen, in den gleichen Denk- und Verhaltensstrukturen verharren, er stellt uns viele Fallen und führt uns immer wieder auf Irrwege. Warum nur? Der Geist hat einfach eine ganze Menge zu tun! Er greift auf den Fundus der Vergangenheit zurück, projiziert in die Zukunft und muss auch noch alle Impulse aus der Gegenwart verarbeiten. Es
ist nun einmal seine Aufgabe, unaufhörlich zu denken und zu interpretieren, schließlich muss er ständig eine Entscheidung treffen, was wichtig ist und was als Nächstes zu tun ist. Dennoch können wir die Fähigkeit entwickeln, uns nicht von dem ständigen Hin und Her unseres Geistes beeindrucken zu lassen. Wie? Indem wir Mut beweisen, in die Stille gehen und einmal ganz genau hinschauen, wie unser Geist funktioniert.
Man braucht zwei Jahre, um sprechen zu lernen, und fünfzig, um schweigen zu lernen. ERNEST HEMINGWAY
Stellen wir uns einmal vor, wir sitzen auf einer Tribüne und betrachten das Schauspiel unseres Lebens, sei es ein Drama, eine Komödie, ein Liebesspiel oder ein Thriller. Wir sind emotional unbeteiligt und können uns daher entspannt zurücklehnen, sehen aber das Schauspiel im Gesamten und vollkommen klar. Das ist die Idee, die hinter der Maxime Selbststudium oder Selbstreflexion (Svadhyaya) – 2. Niyama, steht. Wir kultivieren die Fähigkeit, uns selbst in unseren Denk- und Verhaltensmustern zu beobachten, sozusagen unseren Kleshas bei ihrem Wirken zuzuschauen, sie zu analysieren und zu reflektieren. Mit ein wenig Übung erkennen wir, welchen Reiz-ReaktionsSchemata wir folgen und worin die Ursachen dafür liegen. Das ist leider nicht immer besonders angenehm, sehen wir doch neben den vielen positiven Aspekten unseres Lebensschauspiels auch die negativen. Wir blicken dabei tief in den Schlund unserer eigenen Abgründe! Nicht immer gefällt uns das, was wir sehen. Dennoch lohnt es sich, sowohl bei den Sonnen- als auch bei den Schattenseiten in uns genau hinzuschauen, denn nur dadurch haben wir die Chance auf Veränderung. Allerdings geht unser Geist lieber den bequemen und erprobten Weg, auch wenn er nicht immer der beste für uns ist. Bereits angelegte Reiz-Reaktions-Schemata lassen sich wie eine Synapsen-Autobahn schnell befahren. Wir können aus dem Stand von null auf hundert beschleunigen und wundern uns, wie wir schon wieder dort landen konnten,
wo wir eigentlich gar nicht mehr hinwollten. Neue Denk- und Verhaltensmuster anzulegen, ist ungleich beschwerlicher. Es ist leider so: Wir wiederholen eine Lektion, bis wir sie gelernt haben. Genau dieses Lernen kann dem Schauspiel unseres Lebens eine neue Wendung geben. Zu dem Selbststudium, durch das wir uns in allen Facetten erforschen, kommt uns das Studieren der spirituellen Schriften zu Hilfe. Das direkte Lernen von alten und neuen Meistern und Lehrern gehört auch zum ursprünglichen Sinn von Svadhyaya.
Für die einen ist der Kopfstand (Salamba Shirshasana) ein Horror, die anderen lieben es, ihn zu üben. So oder so versuchen wir, emotional unbeteiligt zu bleiben, atmen ruhig und gelassen und beobachten einfach, was passiert.
Mehr ist nicht zu tun, außer zu beobachten. ECKHART TOLLE
Es ist aber auch eine Krux: Selbst wenn wir wollten, könnten wir unseren Geist nicht vollständig ausschalten. Möglicherweise werden wir auch nie ganz unsere Kleshas überwinden. Es ist gar nicht so einfach, Selbsterkenntnis, innere Freiheit und eine stabile Mitte zu erlangen. Wir brauchen viel Mut und Energie, um uns durch das Unbekannte und Unbewusste unseres Gedankendschungels zu arbeiten, Muster zu durchbrechen und einen neuen Pfad zu gehen. Das Tröstliche dabei ist, dass selbst der kleinste Trampelpfad, den wir neu in unserem Geist anlegen, irgendwann zu einem leichter begehbaren Weg wird, je öfter wir ihn beschreiten. Je öfter wir uns trauen, uns selbst zu beobachten, desto klarer können wir unsere Stärken und Schwächen erkennen. Wir schauen dem Zusammenspiel unserer Antreiber und Hemmer zu, aus denen unsere Gewohnheiten und Muster entstehen. Ziemlich wahrscheinlich stellen wir dabei erstaunt fest, wie gern wir uns doch selbst ausbremsen und boykottieren. Wir grüßen unser Ego wie einen alten Bekannten, der uns kleiner oder größer macht, als wir sind. Wir identifizieren, wovon wir mehr haben wollen, weil es uns gefällt, und wovon weniger, weil es uns nicht gefällt. Gleichzeitig erkennen wir, was davon förderlich und dienlich für uns ist und was nicht.
Sind wir erst einmal im Kopfstand (Salamba Shirshasana), halten wir den Fokus auf die Atmung und beobachten genau, wie sich die Asana anfühlt. Sei es auch nur, um den Unterschied zwischen Ein- (rechts) und Ausatmung (links) immer feinfühliger wahrzunehmen.
Wir sehen unsere Ängste klar vor uns stehen, ohne uns von ihnen einschüchtern zu lassen. Genährt und unterstützt durch die anderen Glieder
des Raja-Yoga, die eine Wechselwirkung untereinander haben und sich gegenseitig bedingen, können wir uns aus der Distanz vielleicht sogar über das Schauspiel amüsieren, das unser Geist gerade aufführt, und mit ein bisschen Übung fangen wir an, das Drehbuch umzuschreiben.
Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut. PERIKLES
Statt uns von unseren eigenen Begehrlichkeiten, Ängsten und Zweifeln in unseren Möglichkeiten auszubremsen, lernen wir zunehmend, unser ganzes kreatives Potenzial zu entfalten. In kleinen Schritten probieren wir etwas Neues aus, halten inne, beobachten, nehmen wahr, wie sich das anfühlt, reflektieren, wie wir damit umgehen möchten, und gehen achtsam einen Schritt weiter. Langsam, aber sicher erweitern wir den Horizont unserer Möglichkeiten. Wir lassen uns nicht mehr von unseren Kleshas von neuen Wegen oder einem Perspektivenwechsel abhalten. Ganz im Gegenteil: Wir stellen fest, dass Anhaftungen, Ablehnungen und viele Ängste und Zweifel nicht übermächtig, sondern überwindbar sind. Wir werden Schritt für Schritt mutiger, fordern uns, ohne uns dabei zu überfordern. Gleichwohl sind wir wie ein Autor, der das Schauspiel seines Lebens gewissenhaft und achtsam umschreibt und neue Denk- und Verhaltensspielräume zulässt, die der Regisseur dann immer wieder einüben lässt. Dabei sind wir Zuschauer, Autor, Regisseur und Schauspieler zugleich! Wir integrieren das, was wir bei unseren Selbstbeobachtungen gesehen haben, mit dem, was wir von den Schriften und unseren Lehrern gelernt haben. Und schon kommt ein neues, deutlich entspannteres, freieres und glücklicheres Schauspiel des Lebens dabei heraus!
14. Voller Vertrauen sein und fließen lassen
Der Umgang mit sich selbst Voller Vertrauen sein und fließen lassen
Diese komplexe Variante des Kopfstands im angewinkelten Lotos (Salamba Shirshasana in Padmasana) erinnert an die Turbulenzen des echten Lebens. Ob sie uns jemals gelingt, können wir – ähnlich wie viele andere Dinge – nur bedingt beeinflussen.
Yoga bietet uns viele Werkzeuge und Hilfestellungen an, um unser Leben freier, glücklicher und gelassener zu gestalten. Wir können alles Mögliche tun, was in unserer eigenen Macht steht, um den Garten unseres Lebens zu hegen und zu pflegen und unserem Dharma zu entsprechen. Wir können beeinflussen, dass die Motivation unseres Handelns nicht durch Selbstsucht angetrieben wird. Wir können Dinge kultivieren, die so wenig wie möglich negatives Karma produzieren. Wir können sorgsam die Pflanzen auswählen, die wir in unseren Garten pflanzen wollen, und dafür sorgen, dass sie gesund und
stark sind. Und doch gibt es Dinge, Geschehnisse und Umstände, die zumindest teilweise außerhalb unserer eigenen Macht stehen. Es gibt Zeiten des Abschieds und der Trennung von uns Liebem, Phasen des Stresses und der Überforderung. Es sind die unvermeidbaren Katastrophen, die über uns hereinbrechen und Teil einer unendlichen Handlungskette sind, die wir nur bedingt beeinflussen können. Wie oft zwingt uns das Leben mit seinen Turbulenzen dazu, uns neu zu orientieren. Das kann irritierend und auch sehr leidvoll sein. Wie können wir nur lernen, auf den Wellen des Lebens zu surfen, anstatt uns ihnen entgegenzustemmen? Das Vertrauen in eine höhere Kraft (Ishvara Pranidhana) – 2. Niyama, hilft uns, auf den Wellen des Lebens zu surfen und dabei nicht unterzugehen. Letztendlich bleibt uns auch gar nichts anderes übrig, als die eigenen Grenzen zu erkennen und zu akzeptieren, dass vieles nicht im Einflussbereich unserer Macht liegt. Ob diese Akzeptanz eine Art des Urvertrauens in das Leben als solches ist oder in die Gesetze der Natur oder ob es ein Grundvertrauen in die Quelle allen Seins oder die Hingabe an eine Gottheit bedeutet, muss jeder für sich selbst entscheiden. So oder so beinhaltet Ishvara Pranidhana, dass wir uns an etwas hingeben, das größer ist als wir selbst. Wir kultivieren mit Ishvara Pranidhana das Vertrauen, dass alles irgendwie einen Sinn ergibt, auch wenn er sich uns nicht sofort erschließt, dass alles gutgehen wird, auch wenn die Dinge mal kopfstehen und die Situation vertrackt ist. Wir sind einfach voller Vertrauen, auch wenn wir manchmal nicht wissen, wie es auf unserem Weg weitergehen soll, und wir uns vom Leben gebeutelt oder verloren in der Welt fühlen. Ishvara Pranidhana hilft uns in Zeiten des Leids, wenn wir von Zweifel, Unsicherheit und Traurigkeit geplagt sind. Diese Art der Hingabe lässt uns wieder Zuversicht schöpfen, dass sich unser Weg genau so zeigt, wie er sein soll – welche turbulenten Wellen das Leben auch immer schlägt.
Auf den Wellen des Lebens surfen zu lernen, erscheint auf den ersten Blick ähnlich unmöglich wie diese Variante des Kopfstands im Lotos (Salamba Shirshasana in Padmasana). Aber es geht! Vielleicht nicht der Kopfstand, aber das Surfen.
Für manche lässt sich dieses Aufgehen in etwas Größerem am leichtesten in der Natur erspüren, weil diese definitiv größer ist als wir selbst. Angesichts
von Naturphänomenen fühlen wir uns oft ergriffen und verbunden mit der Lebendigkeit des Seins, das uns in unserem Inneren in einem Bereich berührt, wo unser Denken nicht hinkommt. Andere finden ihr Ishvara Pranidhana in Religionen unterschiedlichster Couleur und benennen die Urkraft des Universums, um sie zugänglicher zu machen. In der yogischen Philosophie geht man letztlich über die persönlichen Formen der Gottheit hinaus und sieht den Ursprung in einem alles umfassenden und durchdringenden Sein (Brahman). Dieses Absolute spiegelt sich individuell in jedem von uns und manifestiert sich als Seele oder Selbst (Atman). Das Leben ist nun mal leider kein langer ruhiger Fluss, sondern dümpelt mal vor sich hin, mal reißt es uns in seinen Stromschnellen davon. Wir können nur eins tun: unser Leben bestmöglich für uns gestalten, alles geben, nichts zurückhalten, das für uns Richtige und Notwendige tun. Wir sollten nichts aufheben für später – weil dieses »Später« vielleicht ganz anders aussieht, als wir uns das jetzt vorstellen – und alles andere fließen lassen. Es ist in gewisser Weise komisch, dass wir an so vielem festhalten möchten, wenn wir doch gleichzeitig wissen, dass Veränderung das einzige Beständige in unserem Leben ist. So bleibt uns nur die eine Möglichkeit: Uns der höheren Macht des Lebens hinzugeben und den Wandel und die Veränderung mit offenen Armen und offenem Herzen zu empfangen. Auch wenn wir lieber hätten, dass die Dinge so blieben, wie sie sind, und wir nur ungern zu neuen Ufern aufbrechen – zumindest oft nicht freiwillig. Wie alles andere auch, können wir auch unser Urvertrauen und unsere Hingabe an eine höhere Macht kultivieren und üben, etwa durch: Meditation in Bewegung und in Stille, Gebete und Rituale, das Chanten von Mantras oder andere Rezitationen. All dies fördert unsere Fähigkeit, uns hinzugeben und die Kontrolle aufzugeben – auf dass wir mehr und mehr voller Vertrauen sind und im Strom des Lebens mitfließen können.
Du kannst die Wellen nicht aufhalten. Aber du kannst lernen, auf ihnen zu surfen. SWAMI SATCHIDANANDA
15. Achtsam sein und üben
der Umgang mit dem Körper Achtsam sein und üben
In der stehenden Vorbeuge (Uttanasana) könnten wir eigentlich wunderbar im Hier und Jetzt bleiben und uns ganz an diesem Moment erfreuen. Stattdessen wandert unser Geist meistens in die Vergangenheit oder in die Zukunft.
Warum nur fällt es uns so schwer, im oft zitierten Hier und Jetzt zu bleiben? Unser Geist lädt uns permanent ein, mit ihm auf Reisen zu gehen, entweder in die Vergangenheit oder in die Zukunft. Dabei nimmt er unsere ganze Gefühlswelt gleich mit. Oft reicht ein winziger Impuls im Jetzt aus, der an vergangene – seien es gute oder schlechte – Zeiten erinnert und dazu führt,
dass wir uns auf mentale Wanderschaft begeben. Unruhe entsteht ebenfalls, wenn Sorgen oder Hoffnungen für die Zukunft überhandnehmen. So oder so können wir den jetzigen Moment nicht mehr vollumfänglich mit all seinen Facetten empfinden. Wenn der Geist in der Vergangenheit weilt, gewesener Freude nachtrauert oder einen Schmerz immer und immer wieder empfindet, obwohl die Situation längst vorbei ist, so sind wir nicht achtsam in dem gegenwärtigen kostbaren Moment, der mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun hat. Schweifen wir in die Zukunft ab, ob voller Sorge oder voller Hoffnung, so sind wir uns des Moments nicht bewusst, denn der hat mit der Zukunft noch nichts zu tun. Das ist wirklich tragisch, weil der jetzige Moment doch der einzige ist, den wir mit Sicherheit erleben können. Wie können wir also lernen, im Moment zu bleiben? Natürlich hilft uns das Bewusstmachen unserer Denk- und Verhaltensmuster und das intellektuelle und emotionale Praktizieren der Yamas und Niyamas. Diese ethischen Maximen sind alles wunderbare Qualitäten, die wir aber mal mehr, mal weniger wahrnehmen und mal mehr, mal weniger intensiv leben können. Wir nehmen uns tausend Mal vor, liebevoll, authentisch, genügsam, maßvoll, loslassend, ehrlich, zufrieden, diszipliniert, mutig und voller Vertrauen zu sein, aber ständig kommt uns das Leben dazwischen. Da hilft nur eins: üben, üben, üben – jenseits, aber auch auf der Matte!
Jeder kann üben, ein junger Mensch kann üben, ein alter Mensch kann üben, ein sehr alter Mensch kann üben, ein Mensch, der krank ist, kann üben, ein Mensch, der keine Kraft hat, kann üben … außer faule Menschen, faule Menschen können nicht üben. SHARATH RANGASWAMY
Auf der Matte wie zum Beispiel im Herabschauenden Hund (Adho Mukha Svanasana) begegnen wir unserem Ego, unseren Vorlieben und Ängsten (Kleshas) und verhalten uns genauso wie im echten Leben.
Erst durch das Einbinden unseres Körpers mit dem Üben der Haltungen – 3. Asana, durchdringen wir all unsere Schichten unseres Seins und fluten unser System mit Achtsamkeit. Auf der Matte begegnen wir uns selbst und sind genauso wie im echten Leben. Unsere alltäglichen Muster (Samskaras) werden uns eins zu eins widergespiegelt. Das fängt schon damit an, dass wir in der Regel die Ausrichtung in den Asanas für richtig halten, die wir gelernt haben, obwohl dies nur eine von vielen Möglichkeiten ist. Ein Fall von falschem Wissen (Avidya). Wir begegnen unserem Ego (Asmita), unserem zu geringen oder zu hohen Ehrgeiz, verfallen in einen Perfektionsanspruch oder in Trägheit oder Frustration, wenn wir uns mit dem Nachbar-Yogi vergleichen. Manche Asanas mögen wir besonders gern und möchten sie ständig üben (Raga), meist weil unser Körper sie leicht ausüben kann. Manche Asanas können wir nicht ausstehen (Dvesha), in der Regel, weil wir sie nicht so »gut« können. Dabei
wären es genau die, die wir am meisten bräuchten. Schließlich lernen wir unsere Angst (Abhinivesha) ganz physisch näher kennen, gibt es doch bestimmte Asanas, die nicht nur eine gewisse körperliche Disposition und Übung, sondern auch Mut und Freude am Ausprobieren brauchen. Wir erfahren unsere Kleshas also ganz unmittelbar am eigenen Leib.
Wir nehmen die Erfahrungen einer regelmäßigen körperlichen Praxis (Asana) wie zum Beispiel des Sonnengrußes (Surya Namaskar) von der Matte mit ins echte Leben. Der Heraufschauende Hund (Urdhva Mukha Svanasana) ist Teil des Sonnengrußes.
Das Schöne an der Asana-Praxis ist, dass wir nicht nur unseren Kleshas unmittelbar begegnen, sondern ebenso unmittelbar die Praxis unserer Yamas und Niyamas am eigenen Leib kultivieren und vertiefen können. Die AsanaPraxis erfordert jeden Moment Achtsamkeit von uns, so dass wir mehr und mehr in der Gegenwart ankommen. Wir lernen, liebevoll mit uns selbst umzugehen und uns auf der Matte keine Gewalt anzutun, sei es durch Erzwingen einer Asana, die wir noch nicht können, oder durch innere Selbstbeschimpfung, dass wir sie nicht können. Wir bleiben zunehmend in der
eigenen Praxis, also uns selbst treu, unabhängig davon, was der Nachbar-Yogi kann. Überhöhte Ansprüche an uns selbst lassen immer mehr nach, so dass wir ein immer ausgeglicheneres Maß zwischen Anstrengung und Entspannung finden. Es wird immer Bereiche in unserem Körper geben, die trotz allen Übens partout nicht beweglich werden wollen. Diese Erfahrung hilft uns, das Gegebene zu akzeptieren und das Streben loszulassen. Wir reinigen automatisch unseren Körper und stellen fest, dass das auch mit unseren Gedanken funktioniert. Zufriedenheit mit und Dankbarkeit für unseren Körper stellen sich unmittelbar ein, erkennen wir doch, dass er zumindest in diesem Leben ein schönes Zuhause ist. Wir entwickeln eine regelmäßige, möglichst tägliche Asana-Praxis, sei sie auch noch so kurz, weil es uns ein inneres Bedürfnis ist, das sich in Disziplin verwandelt. Auch wenn Selbstreflexion manchmal anstrengend ist und wir auch gar nicht immer so genau in unsere eigenen Abgründe blicken wollen, haben wir auf der Matte permanent Gelegenheit dazu. Schließlich fällt es uns recht leicht, die eigenen Grenzen zu erkennen, wenn unser Körper etwas noch nicht oder nicht mehr kann. Diese überaus sinnlichen Erfahrungen mit unserem eigenen Körper und das Üben der Yamas und Niyamas nehmen wir von der Matte mit ins echte Leben und schaffen so eine befruchtende Wechselwirkung.
Es ist ganz erstaunlich, wie viele unterschiedliche Körperhaltungen (Asanas) im Verlauf der Jahrhunderte von erfahrenen Yogis entwickelt wurden – angeblich über tausend –, wie zum Beispiel der Herabschauende Hund (Adho Mukha Svanasana).
Auch wenn das Üben der Körperhaltungen, der Asanas, nur ein relativ kleiner Teil der yogischen Praxis ist, steigen doch die meisten von uns an dieser Stelle in den Achtgliedrigen Pfad ein. In der Hatha Yoga Pradipika wird zum ersten Mal auf die konkrete Ausübung einer Reihe von Asanas hingewiesen. Im Verlauf der Jahrhunderte haben die unterschiedlichsten Yogis angeblich mehr als Tausende von Asanas entwickelt oder variiert. Bis heute experimentieren erfahrene Yogis mit immer neuen Körperhaltungen, auch wenn letztendlich nur ein Bruchteil davon regelmäßig geübt wird. In den Yoga-Sutras selbst wird jedoch nur das Sitzen (Asana: sitzen, verweilen) erwähnt, also das Meditieren. Die Yogis machten allerdings die Erfahrung, dass es für den Körper eher beschwerlich sein kann, unvorbereitet länger im Lotos auf dem Boden zu sitzen. Außerdem ist der Geist in den meisten Fällen noch viel zu rege und beschäftigt, was die tiefe Versenkung in der Meditation erschwert. Durch eine Asana-Praxis wird nicht nur unser Körper geschmeidiger, sondern auch unser herumschwirrender Geist wird in die Achtsamkeit und in den gegenwärtigen Moment geholt und schon einmal etwas ruhiger und besänftigt. Die beiden in den Yoga-Sutras geforderten Qualitäten lassen sich dennoch auf alle später entwickelten Asanas übertragen. In der Asana soll sich ein Gefühl der Stabilität und der Leichtigkeit zugleich einfinden. Der Körper ist einerseits fest, stabil und geerdet in der Asana ausgerichtet, andererseits ohne große Anstrengung. Außerdem sollte aber eine energetische Leichtigkeit vorherrschen und die Asana gefühlt »ewig« und mit Ruhe im Geist gehalten werden können. Jeder, der das schon einmal versucht hat, weiß, wie schwer das ist. Stabilität würde doch reichen, denken wir. Der Aspekt der Leichtigkeit fordert uns jedoch auf, achtsam zu bleiben, unsere Grenzen zu respektieren und in unserer Anstrengung nicht über sie hinauszugehen. So lernen wir auf körperlicher Ebene, die Asanas zunächst kurz, dann mit zunehmender Praxis auch länger zu halten. Unsere Achtsamkeit für jede noch so kleinste Regung in uns wird durch unseren eigenen Atem gestützt. Solange wir in einer Asana ruhig und
gleichmäßig atmen können, ist alles im grünen Bereich.
Es gibt nur eine Zeit, in der es wesentlich ist, aufzuwachen. Diese Zeit ist jetzt. BUDDHA
In der Bergposition mit erhobenen Armen (Urdhva Tadasana) können wir bestens lernen, fest und erhaben wie ein Berg zu stehen und dennoch offen zu sein für das, was das Leben für uns bereithält.
Die tägliche Asana-Praxis kann unendlich variiert werden wie zum Beispiel mit dem Einbeinigen Herabschauenden Hund (Eka Pada Adho Mukha Svanasana). Oder es können immer wieder ie gleichen Abfolgen geübt werden. Hauptsache, wir gehen auf die Matte.
Eine ausgeglichene Asana-Praxis schenkt uns nicht nur auf körperlicher, sondern auch auf mentaler und emotionaler Ebene Ausdauer, Kraft und Flexibilität. Sie macht uns außen wie innen unwiderstehlich schön. Und das können wir gut gebrauchen! Denn das Leben ist nicht immer so schön, wie wir es uns ausmalen. Es ist aber auch nicht immer so schlimm, wie wir in unseren dunkelsten Momenten befürchten. Das Leben ist, wie es ist. Jeder Moment immer wieder neu. Unberechenbar. Unvorhersehbar. Natürlich gibt es Sinn, in gewissem Maße zu planen, um einen Korridor zu haben, in dem wir uns bewegen. Natürlich haben wir Wünsche und Hoffnungen. Und selbstverständlich fängt uns unsere Vergangenheit immer wieder ein. Das ist auch vollkommen in Ordnung, solange wir uns nicht von unseren Gedanken und Emotionen aus dem Empfinden in der Gegenwart forttragen lassen. Dieses bewusste Empfinden hilft uns, den Moment so zu akzeptieren, wie er nun einmal gerade ist. Um alle Facetten des Moments vollumfänglich zu erleben, brauchen wir Präsenz und Achtsamkeit, auch für Details, für die vielen Kleinigkeiten, die in einem Moment zusammenfließen. Im bewussten Sein spüren wir uns auf allen Ebenen. Wir spüren den ganzen Körper und halten unsere Gedanken und Gefühle gebündelt in der Verbindung mit dem Körper. In dieser Verbundenheit empfangen wir das Geschenk der Gegenwart mit offenen Armen. Je öfter wir Asana praktizieren, umso mehr werden uns der unübertreffliche Reichtum und die Fülle des Moments bewusst. Und so üben wir einfach immer weiter, sei es auch nur mit einer kurzen und simplen Praxis.
Die Sitzhaltung soll fest und angenehm sein. YOGA-SUTRAS 2.46
16. Atmen und die Sinne zurückziehen
der Umgang mit dem Atem und den Sinnen Atmen und die Sinne zurückziehen
Es gibt eine klare Verbindung zwischen unserem Gemütszustand und der Atmung. Deshalb atmen wir im Yoga bewusst – zum Beispiel kombiniert mit Bewegung wie im Fersensitz (Vadrasana), wenn wir mit der Einatmung die Arme heben.
Wir atmen – und? Ist doch selbstverständlich. Das passiert doch automatisch, denken wir. Obwohl der Atem die absolut notwendige Grundlage für unsere hiesige Existenz ist, machen wir uns über ihn wenig Gedanken und gehen sehr nachlässig mit ihm um. Meistens atmen wir unbewusst und flach. Dabei müsste uns doch das Zusammenspiel zwischen unserer Atmung und unserem geistigen
und körperlichen Zustand klar sein, benutzen wir doch in unserer alltäglichen Sprache häufig Redewendungen wie: »Erst mal tief Luft holen«, »da bleibt mir glatt die Luft weg«, »vor Schreck blieb mir der Atem stehen«, »da stockte mir der Atem« etc. Wir müssen »zu Atem kommen« oder sind »atemlos«. Unser Atem spiegelt uns unmittelbar unseren Geisteszustand wider, da sich jeder Gedanke und jedes Gefühl in der Atmung äußern. Sind wir entspannt, atmen wir frei, tief und ruhig. Sind wir jedoch – aus welchen Gründen auch immer – innerlich in Aufruhr, wird unsere Atmung flach, hektisch und unregelmäßig. Es gibt also eine klare Verbindung zwischen Körper und Geist über unser zentrales Nervensystem und über automatische biochemische Reaktionen. Wie können wir uns diese Verbindung zunutze machen? Der Trick ist, bewusst zu atmen!
[Durch Pranayama] wird der Schleier, der die innere Erleuchtung bedeckt, entfernt. YOGA-SUTRAS 2.52
Bei dem Versuch, uns das Zusammenspiel von Körper und Geist zunutze zu machen, unterstützen uns das achtsame Atmen – 4. Pranayama und das Zurückziehen der Sinne – 5. Pratyahara. Mit den Atemübungen lenken wir bewusst die Lebensenergie (Prana) in unserem Körper und üben uns darin, den Atem zu regulieren und auszudehnen. So stellen wir eine Wechselwirkung zwischen Körper und Geist her. Unser Geist empfängt die Signale des Körpers. Und siehe da: Wenn wir ruhig atmen, entspannen sich der Körper und auch der Geist. Die Idee hinter Pranayama ist, den Körper mit möglichst viel Lebensenergie anzureichern. Um diese Energie bestmöglich zu nutzen, lösen wir mit unter schiedlichen, unserem jeweiligen Geisteszustand angepassten Atemübungen unsere inneren Blockaden. So kann im yogischen Sinne die Energie freier fließen. Wir kennen es alle aus eigener Erfahrung: Sind wir entspannt, fühlt sich der Fluss unserer Lebensenergie anders an, als wenn wir gestresst sind. Prana zirkuliert nach dem yogischen Verständnis in den Nadis, den Energiekanälen im Körper. Mit der Asana- und der Pranayama-Praxis reinigen wir diese Kanäle immer wieder, damit unser Prana ungehindert bis in
jede kleinste Zelle fließen kann.
Atemübungen begünstigen das Zurückziehen der Sinne, auch ohne Bewegung wie im Lotossitz (Padmasana).
Mit dem Zurückziehen unserer Sinne (Pratyahara) gehen wir noch einen Schritt weiter, um unseren Geist zu klären. Angeblich verarbeitet unser Gehirn über die Sinne bis zu drei Millionen äußere Impulse pro Sekunde! Ob diese
Zahl so stimmt, sei dahingestellt. Auf jeden Fall reagieren wir permanent innerlich auf die äußeren Impulse, die unsere Sinne wahrnehmen – auf das, was wir sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken. Unser armer Geist läuft ständig auf Hochtouren! Einerseits ist es unabdingbar, über die Sinne den Kontakt zur Außenwelt zu halten. Wenn jemand »Feuer« ruft, ist es besser, darauf zu reagieren. Andererseits werden wir oft von Reizen überflutet, die unseren Geist davon ablenken, uns auf unsere Aufgabe im jeweiligen Moment zu konzentrieren. Mit Pratyahara lernen wir, dass unser Geist die äußeren Reize zwar noch wahrnimmt, aber nicht mehr den Impuls hat, auf sie zu reagieren. Zumindest immer weniger!
Der Atem ist die Brücke zwischen Leben und Bewusstsein, und er vereinigt Körper und Gedanken. THICH NHAT HANH
Der Atem wird oft als Brücke zwischen Körper und Geist bezeichnet. Manche Atemübungen lassen sich deshalb hervorragend in die Asana-Praxis integrieren, so dass unser zerstreuter Geist sich schon einmal sammeln kann und wir uns einer Meditation in Bewegung nähern. Ob wir während der AsanaPraxis oder still sitzend eigenständige Pranayamas üben – so oder so bleiben wir durch die bewusste Veränderung unserer Atemmuster aufmerksam, bewusst und fokussiert im Hier und Jetzt. Durch die Konzentration auf den Atem ziehen wir automatisch mehr und mehr unsere Sinne zurück (Pratyahara), so dass wir uns immer tiefer in uns versenken. Unsere Gedanken können nicht mehr so leicht spazieren gehen – und wenn, dann bringen wir unser Gewahrsein umstandslos zu unserer Atmung zurück. So wie jede Asana unterschiedliche Effekte hat, gibt es auch bei den Atemübungen unterschiedliche Wirkungen. Zunächst ist die Atembeobachtung eine Vorstufe, um unseren eigenen geistigen Zustand zu verstehen, eine passende Atemübung zu wählen und ihre Wirkung wahrnehmen zu können. Es gibt beruhigende, aktivierende und ausgleichende Pranayamas; für jeden
Geisteszustand ist also etwas im Werkzeugkasten dabei. Pranayama und Pratyahara dienen als gute Vorbereitung für die Meditation, sie sind wie ein Tor zur inneren Ruhe und Stille, zu wirklichem Frieden. Es lohnt sich also, diese wirkungsvollen Instrumente jeden Tag zu nutzen, wachsam zu atmen und die Sinne zurückzuziehen. Erfreulicherweise können wir beides jederzeit und überall üben.
Bei jedem Atemzug stehen wir vor der Wahl, das Leben zu umarmen oder auf das Glück zu warten. ANDREAS TENZER
17. Konzentrieren und meditieren
der Umgang mit dem Geist Konzentrieren und meditieren
Ob wir gerade eine Karotte schälen, putzen, im Gespräch sind oder uns auf der Matte in den Lotossitz (Padmasana) begeben – Meditation ist jederzeit und überall möglich. Egal, ob wir gerade etwas gerne tun oder nicht.
Das rege Treiben unseres Geistes mit all seinen Quälgeistern (Kleshas) und unsere unzähligen Denk- und Verhaltensmuster (Samskaras) sind nicht per se gut oder böse, klug oder dumm, hinderlich oder förderlich. Sie haben nur dummerweise die Angewohnheit, uns aus der Konzentration, der Achtsamkeit und der Verbindung mit dem jetzigen Moment zu reißen. Insofern machen sie damit ein bewusstes Handeln im Einklang mit all unseren eigenen Ebenen – Körper, Geist und Herz – und der vielschichtigen Welt um uns herum schwer.
Das kontinuierliche Üben der ersten fünf Glieder des Achtgliedrigen Pfads bringt uns in die Verbindung mit den verschiedenen Instanzen in unserem Inneren: Körperempfinden, Instinkte, Intuition und Intelligenz. So schaffen wir die beste Voraussetzung für die Königsdisziplin, die Meditation. In der Meditation sind wir frei! Wozu sollte sonst die ganze Praxis gut sein, wenn wir doch nicht unseren Frieden finden mit dem, was gerade ist. Ein meditativer Zustand ist jederzeit möglich, egal, was wir gerade tun. Aber auch das will mal wieder geübt werden!
Wenn ich gehe, dann gehe ich, wenn ich sitze, dann sitze ich, wenn ich esse, dann esse ich. ZEN -SPRUCH Meditation ist seit zig Jahrtausenden eine wirksame Methode, mit der wir in unser Innerstes blicken. Die letzten drei Glieder des Raja-Yoga werden unter dem Begriff Samyama subsumiert und befassen sich ausschließlich mit dem Geist, um zum Kern unseres Seins vorzudringen. Ein angenehmer Nebeneffekt ist, den Geist zu besänftigen und zu mehr innerer Ruhe und Gelassenheit zu finden. Meditation geht aber weit darüber hinaus: Sie verschafft uns Zugang zu den tiefsten Tiefen unseres Seins und erlaubt uns weitreichende Erkenntnisse. Wir legen unsere angesammelten Schutzschichten wie Kleidung ab und durchdringen unsere Kleshas und Samskaras, befreien uns also von unseren Denkmustern und Emotionen. Wir nehmen unsere innere Stimme wahr und treten in innere Räume ein, von deren Existenz wir vorher keine Ahnung hatten. Durchdringen immer mehr das Grobstoffliche hin zum Feinstofflichen. Die meditative Kontemplation ist kein intellektuelles Verstehen oder Wollen, sondern Versenkung in sich selbst. Und dabei gibt es verschiedene Stadien:
Es kann, aber muss nicht immer der Lotossitz (Padmasana) sein, um zu meditieren. Ein schlichter Stuhl, auf dem wir auf – recht sitzen, ist ganz genauso gut.
Wir richten unsere Konzentration – 6. Dharana, auf einen Meditationsgegenstand aus, sei es auf das, was wir gerade tun, auf unseren Atem, auf einen Begriff, auf ein Mantra – was immer uns gerade beliebt. Wir versuchen, dabei zu verweilen, so schwer dies auch manchmal fällt. Gelingt es uns, durchdringen und verstehen wir unser Objekt der Meditation mehr und
mehr. In der Versenkung – 7. Dhyana, entsteht eine Art Verbindung mit dem Gegenstand unserer Betrachtung. Wir können die Dinge so sehen, wie sie sind, ganz so, als könnten wir durch kristallklares Wasser auf den Meeresgrund schauen. Keine Wellenschläge unseres Geistes oder unserer Emotionen trüben uns mehr die Sicht. Und schließlich die Erleuchtung – 8. Samadhi, die totale Verschmelzung und Verbindung nicht nur mit uns selbst, sondern mit allem um uns herum. Freiheit pur! Wenn diese Freiheit auch für jeden Einzelnen von uns anders aussehen mag – die Yoga-Philosophie ist sich sicher: Wir sind alle erleuchtete Wesen! Wir vergessen es nur immer wieder, wenn wir nicht in der Verbindung sind. Also nichts wie ab in die Meditation! Meditation können wir wie alles andere auch üben. Im Grunde ist es ganz einfach: Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf einen Meditationsgegenstand aus (Saguna). Oder wir lassen einfach nur kommen, was kommen will, wählen also keinen konkreten Gegenstand (Niguna). Wir können im Sitzen, Gehen, Stehen oder Liegen meditieren, auf und jenseits der Matte. Und was stellen wir fest? Unser Geist schweift immer wieder ab. Und dann holen wir ihn zurück … und wieder zurück. Wir lassen unsere Gedanken und Gefühle kommen und gehen … kommen und gehen. Nach einer Weile erkennen wir, dass wir immer wieder das Gleiche denken, wenn wir unseren Gedanken Beachtung schenken. Wir alle kennen dieses Phänomen als Gedankenrad oder Gedankenkreisen. Ignorieren wir die Gedanken, verflüchtigen sie sich langsam, aber sicher. Und so entsteht Raum für Neues, und wir können andere Zimmer in unserem Zuhause und in der Welt betreten. Der Schlüssel dafür ist, alles zu akzeptieren, was wir sehen, ohne mit Gedanken oder Gefühlen darauf zu reagieren. Wir lassen alle Konzepte los, halten an nichts fest, auch nicht daran, uns möglichst schnell in Meditation zu versenken. Wir lassen jedes Wollen, jede Absicht und jede Kontrolle los und beobachten einfach nur, was passiert, ohne zu reagieren. Das fällt nicht immer leicht, da wir normalerweise die Tendenz haben, alles immer sofort zu beurteilen und zu kategorisieren. In der Meditation begeben wir uns an den Ort jenseits von Richtig oder Falsch und kommen so zu wahrer Erkenntnis. Loslassen, beobachten, nicht bewerten – immer wieder. Und wenn alles gutläuft, erhaschen wir einen Blick auf das
Paradies in uns und verweilen in Samadhi, dem höchsten Zustand. Jeder von uns hat dieses Gefühl der Verschmelzung und absoluten Glückseligkeit sicherlich schon einmal unbeabsichtigt und spontan erlebt und weiß, wie süß es schmeckt. Dank der Yoga-Praktiken können wir immer öfter und länger in diesem Zustand von Sein-Bewusstsein-Glückseligkeit (Sat-Chit-Ananda) verweilen. Jederzeit! Überall!
Mit Absicht oder Willen passiert gar nichts in der Meditation – da hilft auch der Lotossitz (Padmasana) nicht. Sie geschieht, wenn wir die Kontrolle komplett loslassen. Wie von selbst erleben wir dann Momente reinen Glücks.
Der Yogi, der im Zustand des Yoga (Samadhi) weilt, unterscheidet nicht kalt noch warm, nicht den Schmerz oder das Vergnügen, nicht Ehrungen und Demütigungen. Jemand, der in diesem Zustand verweilt, ist mit Sicherheit befreit. HATHA YOGA PRADIPIKA IV , 111/112
Nachwort EveryBody is perfect Jeder Körper ist vollkommen und schön. Oder anders gesagt: Wer will schon beurteilen, was perfekt ist und was nicht. Die Yoga-Praxis hält wirklich für jeden etwas bereit. Alle Praktiken sind von ihrer Natur aus für jeden anders. Was dem einen schwerfällt, mag dem anderen leichtfallen. Jeder von uns hat bestimmte Stärken und Schwächen, Vorlieben oder Abneigungen. Egal, was wir mit auf den Weg bekommen haben – wir lassen uns nicht entmutigen, sondern wir versuchen, jeden Tag immer wieder neu und frisch auf die Matte zu gehen, um uns immer wieder neu zu begegnen. Wir lassen uns nicht von einer augenscheinlichen Komplexität und dem Schwierigkeitsgrad einer Praxis abschrecken. Jeder hat irgendwann einmal angefangen. Wir üben einfach kontinuierlich weiter und geben unser Bestes – jeder da, wo er gerade ist. Dabei entdecken wir mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit, dass unser Körper, unsere Gedanken und unsere Gefühle nur das Wetter sind, der unendliche Himmel aber unser innerer Frieden, unser inneres Glück und unsere Gleichmütigkeit ist – unabhängig davon, ob gerade die Sonne scheint oder nicht. Und so entdecken wir nicht nur unsere innere Schönheit, sondern auch die Schönheit, den Reichtum und die Fülle des Lebens – und genießen jeden Tag mehr. Ende nicht in Sicht!
Du bist der Himmel, alles andere ist das Wetter. PEMA CHÖDRÖN
Literatur Browner, Elena & Jago, Erica: Die Kunst der Aufmerksamkeit, Bielefeld 2013 Cope, Stephen: Das große Werk deines Lebens. Die Weisheit der Bhagavad Gita neu entdecken, Freiburg 2012 Hawley, Jack: Bhagavadgita, München 2002 Huth, Dörthe: Lass los und werde glücklich, München 2013 Iyengar, B.K.S.: Der Urquell des Yoga – Die Yoga-Sutras des Patanjali, München 2010 Karven, Ursula & Skuban, Ralph: Loslassen, München 2013 Kobs, Alexander: Die zehn Lebensempfehlungen des Yoga. Bewusst leben mit den Yamas und Niyamas, Oberstdorf 2012 Patanjali: Die Wurzeln des Yoga. Die klassischen Lehrsprüche des Patanjali [die Yoga-Sutras], München 2010 Schöps, Inge: Yoga – Das große Praxisbuch für Einsteiger & Fortgeschrittene, Bath 2009 Skuban, Ralph: Die Psychologie des Yoga, München 2014 Trökes, Anna: Die kleine Yoga Philosophie, München 2013 Yogi Hari: Hatha Yoga Pradipika – Ursprung und Quelle des Hatha Yoga, Petersberg 2007
Dank und Widmung Zunächst danke ich all meinen unterschiedlichen Lehrern, von denen ich unendlich viel über das Leben im Allgemeinen und Yoga im Besonderen gelernt habe, insbesondere: Beata von breathebaby, Amy, Judith, Nicole und Frank von Lord Vishnus Couch, Bryan Kest, Dharma Mittra, Mark Whitwell und Depak, Rachel und Gemma von Sampoorna Yoga. Und last, but by no means least Keshava, meinem Philosophie- und Meditationslehrer. Ich danke dem Verlag sehr herzlich, dass YOGA PUR bei O.W. Barth publiziert wird. Und ich danke natürlich allen Kollegen, vor allem aus der Herstellung, Grafik, Presse, Marketing, Vertrieb und Foreign Rights, dass sie sich in ihrem Bereich so sehr für YOGA PUR engagieren. Andreas Klaus danke ich sehr für die überaus kompetente, sichere und einfühlsame Redaktion meines Textes. Aber vor allem danke ich meiner wunderbaren Lektorin Silvia Vrablecova, die sich unermüdlich mit Kompetenz und Kreativität, mit scharfem Verstand und genialem Humor für YOGA PUR eingesetzt hat. Danke für diese tolle Zusammenarbeit – es war mir ein Fest!
FÜR FRANK
Serve, Love, Give, Purify, Meditate, Realize. SWAMI SHIVANANDA
Fotoregister nach Themen Vorwort
Der Lotossitz mit Handgeste
Die aufrechte weite Grätsche im Sitzen (Seitenansicht)
Die aufrechte weite Grätsche im Sitzen (Rückansicht)
1. Frei sein
Der gebundene Lotossitz (Rückansicht)
Der gebundene Lotossitz (Vorderansicht)
Die Waage
2. Ruhig und gelassen sein
Der Pflug (verschränkte Hände)
Der Pflug (ausgestreckte Hände)
Die Knie-Ohr-Haltung
3. Die stabile Mitte spüren
Der Krieger II
Die seitliche Planke
4. Sinnlich und sinnvoll leben
Der Pfau im Lotos
Der Pfau (ausgestreckte Beine)
5. Lieben und mitfühlen
Das Kamel (Variante 1)
Die Brücke
Das Kamel (Variante 2)
Das umgedrehte Brett
Die Taube (Variante)
6. Wahrhaftig und authentisch sein
Der Fisch im Lotos
Der Fisch (Variante)
Der Fisch
7. Genügsam und anspruchslos sein
Die aufrechte Königstaube
8. Balance und Harmonie finden
Die Standbalance (Hand–Fuß–Haltung)
Der Krieger III
Der Tänzer
9. Loslassen und akzeptieren können
Die Grätsche (Vorbeuge mit Handgeste)
Die Grätsche (Variante 1)
Die Grätsche (Variante 2)
10. Sich reinigen und verzeihen
Die stehende Vorbeuge im gebundenen halben Lotos (Seitenansicht)
Der gebundene Twist mit angewinkeltem Bein
Der gebundene halbe Lotossitz
Die Stockhaltung (ausgestreckte Hände)
Die stehende Vorbeuge im gebundenen halben Lotos
11. Zufrieden und dankbar sein
Der Schulterstand (Vorbereitung)
Der Schulterstand mit Grätsche
Der gestützte Schulterstand im Lotos
Der gestützte Schulterstand (Variante 1)
Der gestützte Schulterstand (Variante 2)
12. Leidenschaftlich und diszipliniert sein
Das Volle Rad (Variante 1)
Das Volle Rad (Variante 2)
Das Volle Rad mit erhobenem Bein (Variante 3)
13. Mutig sein und beobachten
Der Kopfstand mit Grätsche (Variante 1)
Der Kopfstand mit Grätsche (Variante 2)
Der Kopfstand (ausatmend)
Der Kopfstand (einatmend)
14. Voller Vertrauen sein und fließen lassen
Der Kopfstand im angewinkelten Lotos
Der Kopfstand im Lotos
15. Achtsam sein und üben
Die stehende Vorbeuge
Der Herabschauende Hund
Der Heraufschauende Hund
Der Herabschauende Hund (Variante)
Der Berg mit erhobenen Armen
Der Einbeinige Herabschauende Hund
16. Atmen und die Sinne zurückziehen
Der Fersensitz
Der Lotossitz mit erhobenen Armen
17. Konzentrieren und meditieren
Der Lotossitz (Variante mit offenen Augen)
Der Lotossitz mit Handgeste (Rückansicht)
Der Lotossitz (Variante mit geschlossenen Augen)
Über Petter Hegre / Inge Schöps Petter Hegre, Jg. 1969, ist ein Fotograf und Regisseur aus Norwegen. Er hat am Brooks Institute of Photography in Santa Barbara/USA studiert. Berühmt geworden ist Hegre durch gewagte, technisch anspruchsvolle, puristische Aktfotografien, die auf Einfachheit und Klarheit abzielen. Zusammen mit seiner Frau, dem Model Luba Shumeyko, gibt er das Magazin New Nude heraus. Für YOGA PUR stand Luba, die auch als Yoga-Lehrerin arbeitet, Modell. Inge Schöps ist zertifizierte Yoga-Lehrerin, Mental Coach und Bestsellerautorin aus Köln. Sie gründete die Yoga-Community Yoga-On und bietet heute Yoga in Verbindung mit Coachings, Workshops und Retreats an. Ihr Yoga: Das große Praxisbuch für Einsteiger und Fortgeschrittene wurde in mehrere Sprachen übersetzt. www.yoga-on.com
Impressum eBook-Ausgabe 2015 Knaur eBook © 2015 O. W. Barth Verlag Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden. Konzeption und Text: Inge Schöps Fotografie: Petter Hegre Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München Coverabbildung: Petter Hegre ISBN 978-3-426-43448-2
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