Omar, der Schuhputzer - H.a.W.Treffz - Kinderbuch DDR 1963
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Inhalt: Leben des 9jährigen Omars in Algerien, politisch: dieser wird letztendlich „Soldat“ als algerischer Freiheitskä...
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Band 33
(Inhalt: Leben des 9jährigen Omars in Algerien, politisch: dieser wird letztendlich „Soldat“ als algerischer Freiheitskämpfer gegen die herrschenden „Rumis“)
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Ganz oben in der Stadt gibt es keine richtigen Häuser, da stehen nur kleine Hütten. Die Leute haben sie aus alten Brettern und Blechstücken zusammengebaut und einfach ein großes Loch frei gelassen, das ihnen als Tür dient. Fenster haben die Hütten natürlich nicht, denn Glas ist teuer. Und über dem aus dicken Steinen selbstgebauten Herd läßt ein Loch im Dache den Rauch hinaus. Nachts blinken die Sternen durch das Loch, und wenn es in der kalten Jahreszeit viel regnet, wird es mit einem Brett zugedeckt. Und der Rauch? Der zieht dann einfach zur Tür hinaus.
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Die Hütten sind oben am Rande von Bab Ali zusammengedrängt. Bab Ali liegt hinter dem arabischen Viertel der Stadt Mascara in Algerien, einem Land in Afrika. Aus den Hütten sehen die Leute hinab über die Stadt mit ihren weißen Türmen, mit den Villen der Reichen und den großen Geschäftshäusern. Sie sehen über den prächtigen Park mit den Palmen und Feigen hinweg, weit in das Land hinein, in die fruchtbare Ebene. Wo die endlosen Felder der Farmen und die Weinberge aufhören, sehen sie blau die Berge des Atlas aufsteigen. Kahl und nackt sind diese Berge, und doch versuchen die armen Bauern, hier wenigstens ein bißchen Getreide zu ernten, weil ihnen die Fremden all das fruchtbare Land in der Ebene genommen haben. In einer der Hütten von Bab Ali wohnt Omar mit seiner Mutter und mit der klei-
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nen Fatme, die gerade erst laufen gelernt hatte. Omar und Fatme hatten keinen Vater mehr. Die fremden Soldaten waren eines Tages gekommen, hatten ihn mitgenommen und erschossen. Das war vor einem Jahr. Omar war jetzt neun Jahre alt. Er war schon so groß, daß er den Eseln, die das Getreide der Bauern auf den Markt trugen, über den Rücken sehen konnte. Sein schwarzer Wuschelkopf mit den dunklen staunenden Augen mußte sich fortwährend drehn und wenden, um alles zu erspähen. Er mußte hinwegsehen über die Eselchen oder eine Gartenmauer oder über die Mülltonnen vor den Häusern der Fremden – Omar wollte immer schon größer sein und die ganze Welt sehen. Mutter mußte seit Vaters Tod schwer arbeiten, denn wovon hätte die Familie
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sonst leben sollen? Wenn sie morgens ganz früh aus der Hütte ging, um zu putzen und die schweren Pakete zu den Käufern zu tragen, spielte Omar mit Fatme vor der Hütte. Fatme spielte gern draußen in der Sonne, weil es hier warm war. Ihn ihrem kurzem zerrissenen Hemdchen, das früher schon Omar getragen hatte, fror sie in der Hütte. Draußen mußte sie nicht die Arme fest um den Laib drücken, um sich zu erwärmen. Und Omar traf dort seine Spielgefährten, Vater Mohammeds Söhne. Die Kinder hatten sich eine großartige Sache ausgedacht. Sie spielten Rumi. So heißen die Fremden in den weißen Häusern in der anderen Hälfte der Stadt. Was alles gibt es wohl zu sehen in den Häusern mit den großen Glasfenstern, mit den Laternen und den Springbrunnen im Garten? Omar
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weiß das nicht, weil er ja niemals so ein Haus betreten hat. Aber er kennt die Rumis, wenn sie ausgehen. Da tragen sie Anzüge aus feinem Stoff und fahren in blitzenden Autos. Sie haben immer Zigaretten im Mund, setzen sich in den Cafés unter die Palmen und geben dort viel Geld aus für Wein und Bier und Leckereien. Hungrig sieht Omar vor den Cafés zu den Tischen hinüber. Er wird aber meist fortgejagt, weil die Rumis keine Algerierkinder in ihrer Nähe dulden. Dann muß er schnell laufen, aber er hat doch so viel gesehen, daß er nachdenklich wird. Die Rumikinder spielen auch in den Straßen vor ihren schönen Häusern. Sie vergnügen sich mit Rollern und kleinen Autos, und die Mädchen fahren ihre Puppen in den Wagen spazieren, die von Metallglänzen. Solche schöne Wagen
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haben die Mütter in Algerien nicht einmal für ihre kleinen Kinder. Omar und seine Freunde aber bauen sich aus Obstkisten Autos und rutschen damit im Sand vor den Hütten den Hang hinunter. Das ist für sie fast ebenso schön wie die Autofahrerei der Rumijungen in der Stadt. Und Fatme trägt ihre kleine Puppe in den Schatten der Kaktushecke. Die Puppe hat kein richtiges Gesicht. Sie besteht aus einem Stück Holz, das Mutter in einen bunten Lappen gewickelt hat. Aber Fatme ist ihre Puppe genauso lieb wie den Rumimädchen ihre goldhaarigen Puppenkinder. An diesem Morgen wurde nun alles ganz anders. Mutter kam schon nach kurzer Zeit vom dicken Kaufmann Ali zurück und weinte. Sie bückte sich, um in die Hütte zu gehen, nahm den weißen Umhang ab, der sie
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auf der Straße ganz verhüllte, und strich die vielen kurzen Zöpfchen zurück, die grellrot von ihrem Kopf abstanden. Dann rief sie Omar und setzte sich in eine dunkle Ecke der Hütte. Omar fragte: „Warum weinst du denn?“ Mutter wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. „Heute haben wir nichts zu essen“, klagte sie. „Ali wurde verhaftet. Ich habe keine Arbeit mehr. Du mußt in die Markthalle gehen und Gemüse suchen. In den Abfalltonnen findest du vielleicht etwas. Ich kann nicht hingehen, mich ertappen sie gleich.“ Omar fand den Auftrag großartig. Er ging viel lieber in die riesige Halle mit den bunten Fruchtständen, als draußen auf Fatme achtzugeben. Aber Vater Mohammeds Jungen müßten mitgehen, überlegte er. Allein wagte er sich nicht in die Markthalle.
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Er lief draußen an den Hang und rief: „Achmed, Mohammed, Mustafa, kommt mit, wir gehen zur Markthalle!“ Die drei Brüder kamen und wollten wissen, was da zu tun sei. Omar sagte wichtig: „Ich muß Essen holen. Mutter hat Hunger.“ „Nehmt Basttaschen mit!“ befahl Achmed sofort. „Wir laufen hinter der Stadtmauer hinunter. Los!“ Sie holten große geflochtene Basttaschen aus den Hütten, stülpten sie sich über den Kopf und rannten den sandigen Hang vor den Hütten hinab bis an die alte Stadtmauer. Hinter der Mauer hörte das Viertel mit den Hütten auf, da standen überall richtige Häuser. Sie gehörten den Rumis. Omar und seine Freunde mußten jetzt aufpassen, weil die Rumijungen mit Steinen warfen, wenn sie hier entlanggingen. Die
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Rumis wollten keine algerischen Kinder sehen. Sie schrien immer gleich laut: „Weg hier! Lauft, ihr Diebe!“ Omar und die Mohammedjungen spähten erst in die breite Straße, ob keine Rumijungen da wären. Dann rannten sie mit klatschenden Fußsohlen über das heiße Pflaster zwischen den hellen Häuser hin bis fast an die Markthalle. „Seid vorsichtig!“ sagte Achmed. Er befahl, was die andere tun sollten, denn er war schon zwölf Jahre alt. „Seid vorsichtig!“ wiederholte er. „Wir gehen in die Hallen und tun so, als müßten wir einkaufen. Dann kann Omar zu den Abfalltonnen schleichen. Wir warten hier, bis er zurückkommt, und dann geht der nächste. Los, geh du zuerst, Omar!“ Omar nahm die Tasche vom Kopf und ging schnell durch die weit offene Tür in die Halle.
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Die Menschen drängten sich vor den Obst- und Gemüseständen. Niemand sah auf Omar. Er schlenderte zwischen den Ständen entlang, hinter denen die großen Tonnen standen. Die Händler warfen alles Gemüse, das sie nicht mehr verkaufen konnten, in diese Tonnen. Aber man zwischen dem Faulen immer noch etwas, was Mutter zur Not kochen konnte. Das wußte Omar, weil die größeren Jungen früher schon manchmal Abfallgemüse geholt hatten. Jetzt stand Omar inter einer Tonne. Sie war so hoch, daß er gerade über den Rand fassen, aber nicht hineingucken konnte. Er legte die Tasche zuwischen die Füße und ergriff mit beiden Händen ein großes Büschel Blätter, riß es aus der Tonne und steckte es hastig in die Tasche. Was er da herausgeholt hatte, konnte er so schnell nicht feststellen. Er packte seine
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Tasche und kam mit Herzklopfen hinter der Tonne vor, am Stand vorbei. Auf einmal faßte ihm eine starke Hand an die Schulter. „He, du! Komm mal mit“, sagte ein großer Mann. „Kannst mal was für mich tragen!“ Der Mann zog Omar einfach vor den Stand, nahm ein paar Pakete vom Tisch und legte sie Omar in die Arme. Die Tasche ließ Omar vor Schreck fallen. „Dummer Bengel, pack die Sachen doch in die Tasche, da paßt ja noch viel hinein“, schimpfte der Mann. „Und mach schnell, ich habe es eilig!“ Omar legte einige Pakete auf das Grünzeug in der Tasche, die übrigen mußte er in der freien rechten Hand halten. Dann ging er neben dem Mann dem Ausgang zu. An der Tür standen die Jungen und guckten ängstlich auf den fremden, weil sie
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dachten, er habe Omar an den Tonnen erwischt. Aber der große Mann ging geradewegs zu seinem Auto an der anderen Straßenseite. „Leg die Pakte in den Wagen, laß deine Tasche hier stehen!“ befahl er Omar. „Wir haben noch mehr zu holen.“ Und so mußte Omar noch dreimal in die Markthalle gehen und dem Rumi die schweren Pakete tragen. Als er alles im Auto verstaut hatte, sagte der Mann: „Hier hast du Geld, kauf dir was Süßes.“ Er gab Omar einen Geldschein. Schnell ließ der Junge den Schein in der weiten Hose verschwinden, nahm seine Tasche und lief zum Halleneingang zurück. Sollte er sich wirklich was Süßes kaufen? Omar überlegte, wieviel Geld er jetzt wohl habe. Er kannte den Schein nicht, soviel Geld hatte er noch nie gehabt. Er
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sagte darum nichts zu den Jungen und kaufte auch nichts. Achmed fragte: „Hast du was gefunden?“ Omar hielt die Tasche offen hin und zeigte das Grünzeug. Achmed wies mit dem Daumen über die Schulter. „Bleibe hinter der Halle, wir gehen jetzt hinein.“ Omar sah noch, wie Achmed zwischen den Ständen der Obsthändler verschwand. Er steckte die Hand in die Hosentasche und hielt den Geldschein fest. Es dauerte ziemlich lange, bis Achmed zurückkam und stolz seine volle Tasche vorwies. „Mustafa ist jetzt drin“, sagte er. Die beiden Jungs blieben still nebeneinander stehen. Sie beobachten die Autos der Rumis. Ab und zu kam eine Frau oder ein Mann mit vollen Netzen und Taschen. Sie verstauten ihre Einkäufe im Auto und
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gingen in die Markthalle zurück. Was sie alles einkauften? Ein dicker Mann brachte drei schwere Pakte zu einem Auto. Er warf sie schnaufend in den Gepäckraum. Dann holte er große, staubige Lappen hervor, hielt sie vorsichtig mit den Fingerspitzen, um sich nicht schmutzig zu machen, und sah sich suchend um. Als er Omar und Achmed stehen sah, rief er: „He, ihr zwei Bengels! Kommt mal her!“ Omar tat, als habe er nichts gehört. Aber Achmed stellte seine Tasche ab und lief hinüber. Der Mann sagte laut: „Nehmt mal die Lappen und putzt den Staub vom Auto! Aber blank muß er es werden, nicht verschmiert! Ich bezahle sonst nichts.“ Omar hörte das, ließ seine Tasche stehen und ergriff einen Lappen. Flink rieb er den Staub von den Autotüren.
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Mustafa kam nach ein paar Augenblicken. Er machte ein verdutztes Gesicht, als er Achmed und Omar arbeiten sah. Etwas später erschien auch der junge Mohammed. Seine Basttasche war voll bis obenhin. Er rief zu Omar hinüber: „Was macht ihr den da?“ „Das siehst du doch!“ rief Achmed zurück. Die beiden Jungen putzten weiter und freuten sich, weil das Auto nun glänzte. Der dicke Mann stand im Schatten vor einer Kneipe. Er hielt ein Glas in der Hand und trank ab und zu einen Schluck. Nur manchmal blickte er zu den Jungen hinüber. Schließlich steckte er sich eine Zigarette an und kam zum Auto. „Du, Junge, putz mir mal die Schuhe!“ befahl er Omar. Omar sah auf den Lappen, dann auf die staubigen Schuhe des Rumi, Er bückte sich und wischte schnell über den Schuh,
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den der Rumi auf das Trittbrett des Autos gestellt hatte. Der Schuh war wieder sauber. Der Rumi stellte schweigend den anderen Schuh auf das Trittbrett und ließ Omar putzen. „Man müßte Creme haben“, meinte Achmed. „Halt den Mund!“ schimpfte der Mann. „Das geht auch so! Kostet weniger. Und nun macht Schluß, es genügt!“ Er faßte in die Rocktasche. Einige Münzen warf er Achmed hin. Omar erhielt eine Zwanzigermünze. Die Jungen liefen fröhlich zu ihren Taschen zurück, und Achmed sagte: „Ich gehe zum Kaufmann und hole mir was Süßes. Wer kommt mit?“ Mustafa und Mohammed hatten nichts verdient, da konnten sie auch nichts kaufen. Omar aber wollte ganz schnell nach Hause, damit Mutter Essen kochen konnte.
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Da ging Achmed allein. Mustafa und er junge Mohammed liefen mit Omar an der Stadtmauer entlang zurück zu den Hütten. „Wieviel Geld hat die der Rumi gegeben?“ fragte Mohammed. Omar zeigte das dicke Zwanzigerstück, den Schein ließ er in der Tasche. „Zwanzig Francs, das ist aber nicht viel“, sagte Mohammed. Omars Mutter freute sich, als die Jungen das Gemüse und Obst auf den Fußboden schütteten. Sie machte sich sofort daran, die verfaulten Blätter auszusuchen und den Rest in den Topf zu tun. „Geh zum Brunnen, Omar, hol mir Wasser!“ sagte sie. Man mußte das Wasser aus dem Straßenbrunnen holen, an der Ecke der letzten Häuser des Stadtviertels, wo die Leute wohnten, die Geld verdient. Omar nahm den Eimer und ging.
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Mohammed sagte zu Omars Mutter: „Achmed hat auch eine Tasche voll. Und er hat Geld, davon kauft er jetzt Süßigkeiten. Omar hat auch Geld.“ „Woher habt ihr das Geld?“ fragte Omars Mutter. Da erzählten die Jungen, wie Omar und Achmed gearbeitet hatten. Achmed war inzwischen auf dem Wege zum Kaufmann. Er zählte sein Geld, es waren fast hundert Francs. Achmed kannte die Münzen gut und konnte die Zahlen lesen, obwohl er nicht in die Schule ging. Wer von den Kindern aus den Hütten ging überhaupt in eine Schule? Kein einziges, sie hatte kein Geld dafür. „Was hast du da?“ fragte plötzlich ein Mann neben Achmed. Es war ein Polizist des Viertels. „Wo hast du denn das gestohlen?“ Er hielt Achmed am Genick fest und nahm ihm das Geld weg. „Komm mal mit!“ sagte er. „Da stimmt doch was nicht.
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Vorwärts!“ Als Achmed die Basttasche aufnahm, sah der Polizist hinein. „Wo hast du das Gemüse gestohlen?“ fragte er böse. Achmed weinte nun. „Ich habe es nicht gestohlen“, entgegnete er. „Ich habe es aus den Tonnen in der Halle geholt, für Omars Mutter.“ Der Polizist ließ ihn nicht los. „Und woher hast du das Geld?“ fragte er. „Hast du das auch aus den Tonne geholt? Überhaupt: Wer hat dir erlaubt, an die Tonnen zu gehen? Weißt du nicht, daß die Leute krank werden, wenn sie das faule Grünzeug essen?“ Achmed sagte heulend: „Wenn Omas Mutter aber nichts anderes hat?“ „Was soll das heißen? Willst du behaupten, bei uns hätten die Leute nichts zu essen und müßten sich faules Zeug aus den Mülltonnen holen?“
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„Wenn Omars Mutter aber nichts anderes hat?“ heulte Achmed noch einmal. Da schlug ihn der Polizist und schrie ihn an. Aber plötzlich ließ er ihn laufen. „Laß dich nicht noch einmal erwischen, du Bengel, du!“ drohte er. Achmed lief, so schnell er konnte. Erst in sicherer Entfernung blieb er stehen und rief: „Du hast noch mein Geld! Gib mir mein Geld wieder, ich habe es mir verdient!“ Der Polizist lachte ihn aus, drehte sich um und ging davon. So kam Achmed zur Hütte von Omars Mutter zurück und hatte nichts, weder Geld noch Süßigkeiten. Als er den Freunden von seinem Unglück berichtet hatte, gingen die Jungen zu Vater Mohammed, der gerade aus der Stadt kam. Sie erzählten ihm die ganzen Geschichte und baten, Vater Mohammed
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solle doch zur Polizei gehen und das Geld zurückverlangen. Aber der Vater sah Achmed nur bedauernd an. „Das hat kein Zweck. Der Polizist würde behaupten, es sei alles Lüge. Das Geld ist weg. Wir bekommen bei der Polizei niemals Recht.“ Das sahen die Jungen ein, aber Achmed ärgerte sich noch lange. Inzwischen hatte Omars Mutter das Gemüse gekocht und rief nun ihre Kinder zum Essen. Als Omar am Kessel hockte und mit dem Holzlöffel Kohlblätter aus der heißen Brühe fischte, sah ihn die Mutter traurig an. Omar konnte den Blick nicht ertragen. Um der Mutter eine Freude zu machen, zog er hastig den Geldschein und die Münzen aus der Tasche und hielt sie ihr in der geballten Faust entgegen. „Hier, das habe ich heute verdient! Nimm es!“
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Mutter nahm das Geld. Sie zählte es schnell. „Woher hast du das Geld?“ fragte sie. Omar berichtete. „Wenn ich nun jeden Tag zur Halle gehe, kann ich dann nicht so viel Geld verdienen, daß wir richtig es können?“ fragte er. Mutter überlegte eine Weile. „Wenn du Schuhe putzen willst, mußt du einen Kasten haben und Bürsten und Creme“, sagte sie. „Wir wollen die Sachen kaufen. Einen Kasten kann dir vielleicht Vater Mohammed machen.“ Omar war begeistert, denn er wußte noch nicht, wie mühselig es war, den ganzen Tag fremden, unfreundlichen Leuten den Staub von den Schuhen zu wischen. Er lief gleich nach dem Essen hinaus und fragte Vater Mohammed, ob er ihm den Schuhputzkasten bauen wolle. Der Mann wiegte bedenklich seinen grau-
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haarigen Kopf, aber er versprach schließlich, den Kasten für den nächsten Tag zu machen. Später kam Achmed zu Omar und sagte: „Wenn du Schuhe in der Stadt putzen willst, mußt du erst mit den größeren Jungen reden, die ihre festen Plätze haben. Wollen wir zusammen hingehen und sie fragen?“ Omar war einverstanden. Achmed wußte ja viel Bescheid, es war gut, wenn er mit den Jungen in der Stadt verhandelte. Sie machten sich sogleich auf den Weg. Bald erreichten sie den Platz mitten in der Stadt, an dem viele Cafés sich aneinanderreihen und Tische und Stühle unter schattigen Palmen und Pfefferbäumen zum Verweilen einladen. Da sitzen die reichen Farmer und die RumiKaufleute morgens und nachmittags beim
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Wein und reden über das viele Geld, das sie hier im Lande leicht verdienen. Während sie bequem dasitzen, gehen die Jungen mit ihren Kästen zwischen den Tischen umher und fragen, ob Schuhe zu putzen sind. Da die Herren an den Tischen meist staubige Schuhe haben, gibt es fast immer etwas zu tun. Die Schuhputzerjungen auf dem Platz paßten genau auf, wer sich in ihrem Revier um Arbeit bemühte. Sie wußten, daß etwa zehn Jungen hier ausreichend Geld verdienen konnten, mehr aber nicht. Ihr Anführer war der starke Ali mit den krausen Haaren. Achmed fand ihn gleich. „Hör mal, Ali“ sagte Achmed, „du kennst doch Omar. Er will hier auch Schuhe putzen. Hast du etwas dagegen? Du weißt, daß er keinen Vater mehr hat. Er muß Geld verdienen.“ „Geht das mich was an?“ fragte Ali. „Soll
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er woanders putzen, wir verdienen hier selber nicht genug.“ Achmed wußte genau, daß es zwecklos war, weiter zu bitten. Er nahm Omar an der Hand und ging mit ihm zum Platz am Kriegerdenkmal. Dieser Platz lag unten in der Stadt, und viele Caféhaustische versprachen Arbeit für einen Schuhputzerjungen. Hier gab es keine festen Schuhputzer. Die beiden Jungen setzten sich unter eine Palme und beobachteten den Verkehr vor den Cafés. „Allerlei Leute“, stellte Achmed fest, „viele Soldaten. Die müssen besonders saubere Schuhe haben. Wollen wir es hier versuchen?“ „Willst du auch Schuhe putzen?“ fragte Omar erstaunt. „Ich fange morgen an. Ich muß Geld verdienen“, erwiderte Achmed. Nach einer Weile gingen sie wieder zu
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den Hütten hinauf. Es war spät geworden. Fatme schlief schon, als Omar eintrat. Mutter sagte: „Hast du Hunger, Omar? Ich habe ein Brot gekauft, du darfst ein Stück essen.“ Omar freute sich, als er das weiße Stück Brot in der Hand hielt. Er aß Weißbrot so gerne! Und das gab es nur selten. Nachdem er gegessen hatte, legte er sich auf seine Decke in der Ecke hinter der Tür, wickelte sich ein und schlief bis zum Morgen. Er wurde wach, als Vater Mohammed in die Hütte trat. Mutter war gerade am Brunnen, um Wasser zu holen. „Hier hast du deinen Kasten!“ sagte Mohammed. „Ich habe für Achmed auch einen gemacht. Nun seht zu, daß ihr Geld verdient!“ Er stellte den Kasten hin und ging weg, ehe Omar sich bedanken konnte.
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Der Kasten war aus schönen Brettern gezimmert. Die beiden Bürsten, die Mutter besorgt hatte, paßten genau in die eine Hälfte. In der anderen konnte Omar braune und schwarze Creme und Lappen zum Polieren unterbringen. Da kam Mutter vom Brunnen. Omar trank schnell von dem kühlen Wasser und lief erfrischt auf die Gasse. Achmed wartete schon. Mit den Kästen unter dem Arm gingen die beiden Jungen sogleich zum Platz am Kriegerdenkmal. Ein Wirt zog gerade die Läden hoch. Als er Omar und Achmed mit den Putzkästen kommen sah, rief er: „Heda, Kleiner! Putz mir die Schuhe!“ Omar lief eilig hinüber. So schnell hatte er keine Arbeit erwartet. Der Wirt setzte sich bequem auf einen Stuhl, und Omar wischte und rieb und bürstete, bis die braunen Schuhe glänzten.
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Als die Sonne schon heiß brannte, kamen die ersten Gäste in das Café. Sofort klopften Achmed und Omar mit den Bürsten an den Kästen, zweimal kurz und zweimal lang. „Schuhputzen! Schuhputzen! riefen sie dazu. Sie erhielten auch Arbeit. Aber da sie zu zweit waren, wenig genug. Es kamen nicht so viel Menschen, um zwei Jungen ausreichend verdienen zu lassen. Doch gegen Abend gab es eine Überraschung. Der Wirt rief Achmed zu sich. Omar folgte ihm, weil er neugierig war. „Du bist doch viel zu groß, um Schuhe zu putzen“, sagte der Wirt zu Achmed. „Willst du nicht bei mir arbeiten? Ich brauche gerade einen Jungen zum Geschirrspülen. Du kannst morgen anfangen. Heute habe ich noch was anderes für dich. Du kannst die vielen Flaschen auf dem Hof in die Karre
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laden und fortschaffen. Gib den Kasten deinem Freund, los, mach schnell! Bei mir wird nicht gefaulenzt!“ Achmed eilte auf den Hof, und Omar blieb allein vor dem Café. Aber an diesem Abend ließ sich niemand mehr die Schuhe putzen. Eine Weile wartete Omar noch auf Achmed, dann ging er nach Hause und brachte Mutter das Geld. Omar besaß eine einzige Hose. Sie war alt und mit Flicken besetzt. Omar trug sie alle Tage und dazu ein Hemd, das nur einen Ärmel hatte. Eine schöne Wollmütze war sein bestes Kleidungsstück. Im Sommer brauchte Omar nichts anderes. Aber wenn die kalte Jahreszeit anbrach, fror er sehr. Er hätte dann gerne eine Djellabah gehabt, einen wollenen Mantel mit Kapuze und kurzen Ärmeln. Wie sollte er vor dem Café sitzen
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und Schuhe putzen, wenn die Hände vor Kälte steif wurden? Omar arbeitete nun bald ein halbes Jahr und hatte der Mutter regelmäßig das verdiente Geld gebracht. Natürlich war das nicht so viel, daß sie sich immer satt essen konnten, aber wenigstens für eine Mahlzeit am Tage hatte es ausgereicht. Doch fehlte es in der Hütte noch an vielem. Der kleinen Fatme wickelte die Mutter nur ein Stück buntes Tuch um. Wenn es warm war, lief Omars Schwester nackt, an kalten Tagen mußten sie in der Hütte am Feuer bleiben. Wie alle Kinder in den Hütten, wollte sie aber immer hinauslaufen, weil ihr in dem beißenden Rauch die Augen brannten. Omar wußte, daß sie schnell warme Kleider brauchte. Mutter besaß ein Kleid, das ihr Vater einmal zu einem großen Fest gekauft hatte. Es war ein sehr schönes, hellblaues Kleid
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gewesen, ganz aus Seide. Jetzt aber war es verblichen und fadenscheinig. Wenn Mutter auf die Straße ging, hängte sie sich den Haik über, einen weißen Umhang, der Kopf und Gesicht ganz verhüllt und so getragen wird, daß man nur mit einem Auge aus dem Stoff herausgucken kann. So sah man nicht Mutters verschlissenes Kleid unter dem Haik. Mutter sagte niemals, es sei ihr zu kalt, auch dann nicht, wenn sie dann und wann bei eisigem Wind zur Arbeit ging und nur ein Paar gelbe Lederpantoffeln auf die nackten Füße ziehen konnte. Omar sorgte sich um all das. Er dachte an Achmed, der sich von seinem Lohn eine Djellabah gekauft hatte. Am nächsten Tag fragte er Achmed: „Was hat eine Djellabah gekostet?“ Achmed nannte eine Summe. Omar rechnete und fand, daß er mindestens ein halbes Jahr Schuhe
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putzen müsse, ohne Mutter Geld zu geben, wenn er sich einen solchen Mantel kaufen wollte. Es regnete den ganzen Tag. Da kamen keine Gäste, und niemand ließ sich die Schuhe putzen, weil sie ja doch gleich wieder schmutzig würden. Omar hockte unter dem vorspringenden Dach des Cafés und sann. Er müßte etwas anderes tun, um mehr Geld zu verdienen. Aber was? In den Cafés beschäftigte man nur größere Jungen, die an den Spültisch reichten und beim Geschirrspülen nicht auf den Zehenspitzen stehen mußten wie Omar. Und an der Markthalle zogen die Einkaufenden auch starke Jungen vor, die viel tragen konnten. Omar sah keinen Ausweg. Doch heute hatte er Glück. Der Lehrer der Rumischule ging täglich am Café vorüber. Er kam auch jetzt unter
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einem mächtigen Regenschirm daher. Als er Omar untätig sitzen sah, rief er ihm zu: „Was faulenzt du? Hast du nichts zu tun? Komm mal mit!“ Omar lief durch den Regen dem Lehrer nach. Er folgte dem Mann bis zur Schule. „Komm herein“, sagte der Lehrer, klappte den Schirm zu und stellte ihn hinter die Tür. „Die Jungen werfen hier viel Papier und Obstreste weg. Du kannst mal aufräumen. Hol dir einen Sack und einen Besen, im Keller findest du beides. Beeil dich, ich habe noch anderes für dich!“ Omar lief eilfertig und war im Nu dabei, das Papier und die Abfälle aufzufegen. Neugierig sah er sich dabei in der Schule um. Alle Räume in dieser Rumischule waren hell und weit. Die vielen Jungen und Mädchen kamen nach jeder Stunde lärmend aus ihren schönen Klassenzimmern. Weil es draußen regnete, spielten
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sie in den Gängen. Sie waren wirklich sehr unordentlich. Omar mußte die Gänge neu kehren und dann den Steinfußboden aufwaschen. Die Rumikinder achteten nicht auf ihn. Als der Unterricht zu Ende war, liefen sie schreiend aus dem Hause. Omars Arbeit aber war noch lange nicht zu Ende. Er mußte alle Klassenzimmer säubern. Die Rumikinder können jetzt spielen, dachte er und war ein bißchen traurig. Wie gern wäre auch er wieder einmal im Sand den Hang vor den Hütten hinabgerutscht. Jetzt spielten dort andere Kinder Autofahren. Als endlich alles sauber war, kam der Lehrer. „Unser Hauswart ist davongelaufen, wahrscheinlich in die Berge“, erklärte er. „Morgen kannst du noch einmal kommen. Dann werden wir vielleicht wieder eine Frau gefunden haben für diese Arbeit. Hier ist dein Lohn“. Er zählte
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Omar das Geld in die Hand, und Omar trug es stolz nach Hause, denn es war mehr als sonst. Am nächsten Tag erschien Omar schon früh in der Schule und begann seine Arbeit. Als er während der Pause in einer Ecke saß, weil er ja nicht putzen konnte, solange die Kinder herumtobten, trat der Lehrer auf ihn zu. „Wo wohnst du?“ fragte er. Omar antwortete, er wohne bei seiner Mutter in den Hütten oben. Der Lehrer fragte, ob die Mutter arbeite, und als Omar verneinte, sagte er: „Dann lauf hin und hole sie, vielleicht kann sie hier reinemachen!“ So schnell war Omar noch nie gelaufen, und bald kam er mit der Mutter zurück. Sie sprach mit dem Lehrer und nahm die Arbeit an. Als sie nach dem Lohn fragte, trat ein Mann auf den Lehrer zu und begrüßte ihn knapp. Der Mann war sehr
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groß und dick. Er hatte ein rotes Gesicht, wie es manche Rumis haben, wenn sie zuviel trinken. Er beachtete die Mutter und Omar gar nicht. Omar stand abseits, aber er hörte, daß der Rumi mit dem Lehrer über seinen Sohn sprach. Der Rumi war barsch und unfreundlich, der Lehrer höflich und respektvoll. Omar horchte auf jedes Wort. Plötzlich schrie ihn der Rumi an: „Mach, daß du weiterkommst!“ und wandte sich dem Lehrer wieder zu. „Was tut der Bengel überhaupt in der Schule? Ich dulde solche Dreckskerle nicht hier, wo meine Kinder lernen sollen. Verstanden? Werfen Sie das Gesindel hinaus!“ Der Lehrer winkte Omar zu und sagte: „Also geh!“ Mutter kam ängstlich mit bis vor die Tür. „Omar, das war der reiche Direktor, dem die Weinfarmen hinter unseren Hütten gehören. Dem muß der Lehrer gehorchen,
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sonst verliert er seine Stellung“, sagte sie begütigend. „Geh nach Hause.“ Omar ging. Aber seine Gedanken waren noch in der Schule: Es müßte schön sein, in der Schule lesen und schreiben zu lernen wie die Rumikinder. Dann könnte man Bücher lesen und spannende Geschichten. Was könnte man nicht alles! Der junge Mohammed und Mustafa schreckten Omar aus seinen Träumen. Sie hörten sich an, was er ihnen von der Schule und vom Bücherlesen erzählte und lachten. „Das ist doch nichts für uns“, sagten sie. Aber als Omar von dem dicken Direktor berichtete, packte Mohammed ihm am Arm und blieb stehen. „Ich habe eine Idee! Hört mal zu“, sagte er. „Der Mann hat doch die Farm hinter der Stadtmauer mit dem großen Hühnerstall. Da weiß ich was Feines. Heute abend gehen wir hin und lassen die Hühner heraus!
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Die laufen zwischen die Weinstöcke und picken alle Trauben weg. Dann kann der dicke Mann sich schwarz ärgern. Warum schimpft er auch auf uns?“ Omar und Mustafa waren begeistert. „Also heute abend!“ verabredeten sie. „Wir treffen uns an der Farmmauer. Jeder kommt allein, damit uns niemand entdeckt.“ Zu Hause spielte Omar eine Weile mit der kleinen Fatme und schnitzte ihr aus einem Ast einen neue Puppe. Als die Mutter kam, ging er fort, um ein Chamäleon in den Bäumen zu suchen. Chamäleons, das sind sonderbare Tiere. Sie sehen aus wie Drachen mit ihrem riesigen Maul und dem stacheligen Kamm über dem Rücken. Aber sie sind so klein, daß sie auf einer Handfläche sitzen können. Aus ihrem Riesenmaul schleudern sie plötzlich eine ganz lange Zunge.
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Klatsch! macht das, und schon klebt eine Fliege daran. Die Fliege flog nur so vorbei, aber das Chamäleon kann mit seinen vorstehenden, sehr beweglichen Augen außerordentlich gut beobachten, und nur selten entgeht ihm eine Beute. Besonders eigenartig ist das Chamäleon, weil es seine Farbewechseln kann. Sitzt es auf einem grünem Blatt, färbt es sich grün, auf einem braunen Stein wird es braun und auf einem grauen Ast grau. Daher ist es schwer zu entdecken, und man muß aufpassen, wenn man es finden will. Mit seinen Beinchen hält es sich an den Zweigen fest und versteckt sich. Aber es ist so langsam, daß es nicht fortlaufen kann, wenn man es entdeckt hat. Dann läßt es sich mitnehmen, bleibt im Hause und fängt Fliegen überall da, wo man es gerade hinsetzt. Für die Rumijungen waren Chamäleons sehr begehrte Tiere,
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aber da die meisten Jungen ängstlich waren und mit ihren schönen Kleidern nicht auf Bäumen kletterten, kauften sie die merkwürdigen Echsen gerne den algerischen Kindern ab. Omar stand unter dem Pfefferbaum nahe bei Vater Mohammeds Hütte. Unentwegt sah er auf die dunklen Zweige, an denen die kleinen roten Pfefferbüschel leise im Winde hin und her schwankten. „Nun, Omar, suchst du ein Chamäleon?“ fragte Vater Mohammed plötzlich neben ihm. „Willst du nicht lieber schlafen gehen? Du fängst doch schon sehr früh mit der Arbeit an!“ „Heute abend wird es spät“, sagte Omar, „wir gehen nachher noch zusammen fort, Mohammed, Mustafa und ich.“ „Wohin geht ihr denn?“ fragte Vater Mohammed. „Auf die Farm, wir wollen dem Dicken
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einen Streich spielen“, sagte Omar harmlos, weil er glaubte, Vater Mohammed würde lachen, wenn er ihren Plan erführe. Aber Vater Mohammed lachte gar nicht. Er rief seine beiden Söhne und sagte: „Das ist nicht richtig, Kinder, das dürft ihr nicht tun! Wenn der dicke Direktor schon gegen uns ist, obwohl wir ihm nichts taten, so müßt ihr ihm nicht schließlich noch einen Grund geben, auf uns mit Recht böse zu sein. Also laßt das, bleibt zu Hause! Fangt lieber mit Omar Chamäleons, die könnt ihr morgen an die Schulkinder verkaufen. Dann habt ihr etwas kluges getan.“ Mustafa erzählte nun erst die Geschichte, die Omar in der Schule passiert war. Vater Mohammed sagte: „Ihr wißt ja, daß die reichen Rumis uns hassen, seit sie kamen und uns unser Land wegnahmen. Wir müssen uns wehren und unser Land
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wiederhaben. Aber das ist Sache der Männer und Frauen, Kinder dürfen nicht auf eigene Faust Krieg führen. Macht keine Dummheiten! Der dicke Direktor würde sich nur an uns Erwachsenen rächen.“ Da ließen die Jungen ihren Plan fallen, obwohl sie allzugern gesehen hätten, wie die Hühner in die Weinberge hinausgeschwärmt wären. An diesem Abend fingen sie nun statt dessen sechs Chamäleons. Omar ging am nächsten Morgen zur Schule und brachte die Tiere dem Lehrer. Der bot sie den Schülern an und gab Omar nachher den Erlös dafür. Als Omar so überraschend das Geld in der Hand hielt, lief er in die Ladenstraße und suchte zwischen den getragenen Kleidern bei Onkel Jussef herum. Die meisten der Kleider waren noch gut erhalten. Darum kauften hier
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alle Leute aus den Hütten, wenn sie einmal Geld hatten. Omar fand für sich eine graubraungestreifte Djellabah. Sie kostete nur die Hälfte des Geldes, das er bekommen hatte. Da suchte er noch ein Kleidchen für Fatme. Und als er eins erstanden hatte, blieb immer noch etwas Geld übrig. Zuerst dachte Omar an Süßigkeiten, aber stand ihm die Mutter vor Augen, die in den zugigen Gängen der Schule fror. Sie klagte zwar nicht, aber Omar hatte gesehen, wie sie sich vor Kälte schüttelte. Er bat Onkel Jussef: „Ich möchte für Mutter eine Weste kaufen. Hast du etwas?“ Jussef saß hinter den Bergen alter Kleider und rauchte eine Zigarette. In dem dichten Bart sah man nicht, wie Jussef sie zwischen den Lippen hielt. Er blies dicke Rauchwolken vor sich hin und sagte zu Omar: „Zeig mir mal da Geld!“
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Omar hielt es auf der flachen Hand vor ihn hin. „Du hast schon viel eingekauft“, meinte der alte Jussef. „Ich will dir darum eine Weste so billig überlassen, daß ich nichts daran verdiene.“ Er zog aus einem Ballen eine ärmellose bunte Weste heraus. Sie war einst mit goldenen Schnüren bestickt, von denen man noch einige sah. Omar nahm sie freudig, gab Onkel Jussef das letzte Geld und ging stolz nach Hause. Er zog Fatme sogleich das Kleidchen an, versteckte die Weste unter den Decken, warf sich den Mantel über und machte sich auf den Weg zum Platz vor dem Café. Die kleine Fatme weinte, als sie wieder allein bleiben mußte. Aber Omar konnte darum nicht zu Hause bleiben. Unterwegs freute er sich, es jetzt so warm zu haben. Der Mantel würde auch den Regen abhalten.
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Achmed stand vor der Tür, als Omar ankam, und wusch ein Faß aus. „Willst du mir helfen, Omar?“ fragte er. „Ich habe noch drei Fässer zu waschen, aber ich habe keine Zeit mehr.“ Omar ging mit ihm auf den Hof. Er zog den Mantel aus, nahm die Bürste und fing an, ein Faß zu schrubben, das er auf die Seite gekippt hatte, um richtig hineinlangen zu können. Achmed war schon verschwunden. Nach einiger Zeit kam der wirt. Er fragte erstaunt: „Nanu, was ist das denn für eine Hilfe? Wer hat dich geholt?“ Omar antwortete, Achmed habe ihn gebeten zu helfen. Der Wirt lachte und ging ins Haus zurück. Als Omar aber das Faß sauber gewaschen hatte und wieder aufrichtete, sah er durch das Fenster und rief: „Omar, komm mal in die Küche!“ In der Küche stand die Wirtin und bot
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Omar einen Teller mit einem mächtigen Stück Fleisch und dazu Brot und Butter an. „Iß, Junge!“ sagte sie, „setz dich an den Tisch!“ Omar langte hungrig zu und ließ es sich gut schmecken. So viel Fleisch hatte er im Leben noch nicht zu einer Mahlzeit gegessen. Als er satt war, kam die Wirtin. „Du kannst mir alle Schuhe putzen!“ sagte sie. „Stell dich draußen vor die Tür, aber mach mir die Treppenstufen nicht schmutzig!“ Omar trug alle Schuhe vor die Tür. Er putzte, bis ein Paar nach dem anderen glänzte. Inzwischen gingen viele Gäste an ihm vorbei in das Café. Sie lärmten und sprachen durcheinander. Es war irgend etwas wichtiges passiert. Omar verstand zunächst kein Wort. Auf einmal aber hörte er, wie ein Rumi-Offizier sagte: „Wir werden das ganze
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Viertel umstellen! Wir werden sie ausräuchern, wenn sie den Kerl nicht ausliefern! Wir sollten jeden Mann und jede Frau kontrollieren, dann kann er nicht entkommen.“ Omar spitzte die Ohren. Was sollte da geschehen? Er hörte, wie ein anderer Mann sagte: „Wissen Sie denn, ob der Mann hier im Araberviertel steckt?“ „Sicher! Er heißt Mohammed ben Nader, er soll oben in den Hütten hausen. Wir wissen, daß er der Anführer der Rebellen ist. Wir werden ihn finden!“ sagte der Offizier. Als Omar den Namen hörte, wußte er, daß man von Vater Mohammed sprach. Ihm begannen die Hände zu zittern, er hatte plötzlich Angst um Vater Mohammed. Wo nur Achmed blieb? Omar konnte nicht auf ihn warten. Schnell putzte er die restlichen Schuhe, trug sie in den Hausflur
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und stellte sie in Reih und Glied neben der Küchentür auf. Dann lief er aus dem Haus, nahm seinen Kasten und rannte zu den Hütten hinauf. Er traf Mustafa hinter der Stadtmauer. „Ist dein Vater zu Hause?“ fragte er. Mustafa wußte es nicht. Omar lief weiter. Als er an den Hütten ankam, begegnete ihm der junge Mohammed. „Wo ist dein Vater?“ fragte Omar. „Zu Hause“, sagte der Junge. Und Omar lief eilig zur Hütte Mohammeds. Vater Mohammed saß auf dem Boden und bastelte an einer kleinen Kiste. „Vater Mohammed, ich hörte eben, daß die Soldaten das ganze Viertel absperren wollen. Sie suchen Mohammed ben Nader. Hier wohnt doch niemand sonst, der so heißt wie du?“ fragte Omar keuchend vom schnellen Lauf. Mohammed sprang auf. „Wer sagte das?“
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Omar berichtete genau, was er gehört hatte. Vater Mohammed drückte ihm die Hand und zog ihn an seine Brust. „Schweig über alles, was du gehört hast“, sagte er. „Ich danke dir, Junge Du wirst später erfahren, welchen Dienst du uns geleistet hast. Sag Achmed, Mohammed und Mustafa Bescheid und bitte deine Mutter, sie soll nach den Jungen sehen. Ich muß weg!“ Ohne eine Antwort anzuwarten, verließ er die Hütte und lief an der Farm vorbei über die Felder. Omar sah bald nichts mehr von ihm. Nun lief er sofort zur Stadt zurück, in die Schule. Er suchte die Mutter und fand sie im Keller. „Mutter, komm nach Hause. Vater Mohammed mußte weg. Er sagte, du sollst dich um seine Jungen kümmern.“ Omar erzählte der Mutter alles genau. Sie gingen zusammen zum Hüttenviertel hinauf. Als sie am Rande des Viertels
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ankamen, sahen sie viele Soldaten der Rumis. Sie trugen Gewehre, sperrten alle Straße ab und hielten die Leute fest. Da kehrten Mutter und Omar gleich wieder um und gingen zur Schule zurück. Mutter sorgte sich um Fatme. Omar ließ sie nicht gern allein, aber er meinte, es sei besser, wieder in das Café zu gehen. Man könnte da vielleicht noch etwas hören. Als er im Café ankam, fragte die Wirtin: „Wo warst du so lange? Du hast ja noch nicht mal das Geld für deine Arbeit bekommen.“ Sie gab ihm die Münzen und wartete auf eine Antwort. Omar durfte ihr die Wahrheit nicht sagen, daher sagte er: „Ich bin nur schnell zur Mutter in die Schule gelaufen.“ Doch die Wirtin wollte mehr wissen: „Wohnst du nicht oben in den Hütten? Kennst du einen Mohammed ben Nader?“ „Bei uns wohnt kein solcher Mann“, sagte
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Omar, „er wohnte einmal dort, aber er ist weg.“ „Na, Junge, wenn das nur stimmt“, meinte die Wirtin mißtrauisch. Sie rief Achmed. Als er nicht kam, schickte sie Omar, ihn zu holen. Omar fand ihn und erzählte ganz schnell, was mit Vater Mohammed geschehen war. Achmed war sehr bestürzt, aber er faßte sich schnell und nahm die Aufträge der Wirtin entgegen. Er verschwieg, daß Mohammed ben Nader sein Vater war. Draußen am Schanktisch stand immer noch der Offizier, trank und redete. „Man sollte die ganze Bande ausrotten und die Hütten anzünden!“ schrie er. „Was soll werden, wenn sie erst offenen Krieg anfangen? Überlegen Sie doch: Millionen Algerier gegen uns … Wir müssen brutal sein, sonst verlieren wir das Land …“ Und so lamentierte er immer weiter.
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Achmed flüsterte Omar zu: „Ich habe keine Ruhe mehr. Ich muß schnell nach Hause. Wenn sie erfahren, daß wir Kinder Mohammeds noch hier sind, holen sie uns alle weg.“ Die beiden Jungen gingen zu den Hütten zurück. Die Soldaten ließen sie passieren. Zu Hause bot sich ihnen ein schreckliches Bild. Alle Töpfe und Decken und Kleider waren auf die Straße geworfen, und die Soldaten suchten immer noch weiter. Auch in Mutters Hütte waren Soldaten. Die kleine Fatme saß schluchzend im Staub. Omar nahm sie in den Arm und tröstete sie. Achmed fand seine Brüder schließlich hinter den Pfefferbäumen verängstigt auf der Erde sitzen und dem wüsten Treiben der Soldaten zusehen. Sie weinten. Achmed sagte: „Komm, Omar, wir nehmen alle mit, auch Fatme. Wir gehen zur Schule zu deiner Mutter.“
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Sie holten die Jungen und die kleine Fatme und gingen zaghaft zwischen den Soldaten hindurch. Doch die kümmerten sich nicht um die Kinder. Als sie aber durch die Straßensperre gegangen waren, hörten sie Schreie. Erschrocken wandten sie sich um. Über den Hütten sahen sie plötzlich Rauch aufsteigen. Hier und da schlugen aus den niedrigen Dächern helle Flammen. Eine alte Frau schrie: „Es brennt, sie stecken unsere Hütten an!“ Die Kinder bekamen entsetzte Augen und liefen wie gehetzt den berg hinab bis zur Schule. Als sie alle miteinander im Schulkeller bei der Mutter waren, erzählten sie von dem brand, saßen ängstlich herum und wußten nicht, was sie tun sollten. Die Mutter drückte Fatme immer wieder an sich. Omar hielt das Sitzen nicht aus. Er ging wieder auf die Straße und lief zum Café.
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Dort hörte er nun, daß die Soldaten das ganze Viertel angezündet und alle Männer und Frauen mitgenommen hatten. Als er mit dieser bösen Nachricht zur Schule zurücklief, begegnete ihm unterwegs der alte Onkel Jussef, bei dem er neulich eingekauft hatte. Jussef hielt ihn fest und sagte: „Nimm dieses Geld hier. Gib es deiner Mutter. Sie soll sofort ins Nachbardorf Tizi gehen. Da findet sie meinen Bruder Nader. Dem soll sie da Geld geben. Aber sie soll sofort aufbrechen und euch alle mitnehmen!“ Omar nahm hastig das Päckchen Geld, lief zur Mutter und berichtete genau. Die Mutter klagte nur: „Welches Unglück, welches Unglück!“ Sie ließ das Geld in ihrem Kleid verschwinden, nahm die Kinder bei der Hand und flüsterte: „Schnell, schnell, wir müssen noch sehr weit gehen!“ So wanderten sie aus dem Tor der unteren
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Stadtmauer durch die Weinfelder, immer weiter die Straße entlang dem Dorf Tizi entgegen. Sie mußten fast zwei Stunden gehen. Fatme war müde, Mutter trug sie auf dem Rücken. In Tizi fanden sie Nader. Er nahm das Geld und führte Mutter mit den Kindern in einen weiten Hof hinter seinem Hause. Dort öffnete er eine Tür und sagte: „Richtet euch hier ein, so gut es geht.“ Abends, als es dunkel geworden war, wollten Omar und Achmed in das Dorf gehen. Da kam Vater Mohammed. Er trug einen dicken Turban und hatte was weiße Tuch an beiden Seiten bis in das Gesicht gezogen. Er sagte zu Omars Mutter: „Du mußt vorläufig hierbleiben. Unser Viertel haben die Fremden ganz abgebrannt. Jetzt ist Krieg. Aber wir werden für dich und sie Kinder sorgen.“ Er sprach noch lange mit der Mutter.
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Später rief er Omar zu sich. „Paß auf, Junge! Du gehst in die Stadt zurück! Du wirst weiter Schuhe putzen, da unten am Café. Aber mach die Ihren auf und hör zu, wenn die Rumis miteinander reden! Achmed kommt mit. Er arbeitet auch weiter. Wenn ihr erfahrt, was die Soldaten in die Stadt gegen uns planen, kommt ihr sofort hierher und meldet es dem alten Nader! Verstanden? Also lauft los!“ Vater Mohammed hatte so dringend gesprochen, daß Omar, ohne sich zu verabschieden, sogleich aufgeregt loslief. Achmed holte ihn nach einer Weile ein. Sie kamen spät in der Nacht in der Stadt an und legten sich unter den alten Kanonen am Kriegerdenkmal zum Schlafen nieder. Die kleine Stadt in Algerien wird morgens sehr früh wach. Die Sonne brennt schon,
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wenn sie eben erst hinter den Bergen emporgekommen ist. „Iah“ schreien zuerst die vielen hundert kleinen Esel in allen Stadtvierteln. Sie wecken die Menschen. Und dann ruft von den Türmen der Muezzin, der Gebetsrufer, das Morgengebet. Da müssen alle Männer vor ihr Haus gehen, und sich niedersetzen und laut mitbeten. Und nun gibt es niemanden mehr, der schlafen könnte, höchstens die reichen Gutsbesitzer, die nicht draußen auf ihren Farmen wohnen, sondern in eleganten Villen in der Stadt. Sie haben keine Sorgen, denn das viele Geld aus der Arbeit der algerischen Landarbeiter kommt ihnen ganz von selbst ins Haus. Die Menschen in der kleinen Stadt sind es gewöhnt, morgens ihren Kaffee in einer der zahllosen kleinen Bars zu trinken. Da müssen denn mache Algerierjungen hinter dem Schanktisch stehen und die
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Tassen und Gläser spülen. Andere wieder müssen bereit sein und Schuhe putzen. Zu ihnen gehört Omar, zu den ersteren Achmed. Als heute der Gebetsrufer mit hoher Stimme vom Turm rief, waren Omar und Achmed schon auf, denn unter der uralten Kanone am Denkmal ließ es sich nicht sehr gut schlafen. Es war zu kalt und zu feucht. Außerdem waren die Jungen noch aufgeregt wegen der Ereignisse von gestern. Was war inzwischen in der Stadt geschehen? Wo mochten all die anderen Leute aus den Hütten jetzt sein? Und ob die fremden Soldaten alles verbrannt hatten, was bei den Hütten liegenblieb? Achmed und Omar liefen zum Platze vor ihrem Café. Die Läden waren noch nicht hochgezogen. Aber es stellten sich schon die ersten Gäste ein. Sie setzten sich geduldig auf die Gartenstühle und
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warteten. Als sie Achmed kommen sahen, riefen sie: „He du, Achmed! Mach die Läden auf! Weck den Wirt, koch uns Kaffee!“ Von Omar verlangten sie nichts. Die algerischen Männer lassen sich ihre Schuhe nicht putzen. Viele tragen nur Lederpantoffeln, aber die meisten gehen barfuß, weil sie nicht soviel Geld verdienen, um sich Schuhe kaufen zu können. Omar wartete auf die Rumis, die Kaffee trinken und Zeitung lesen wollten. Die Zeitungsjungen kamen schreiend gelaufen, das war das Zeichen, daß auch bald die Rumi-Männer kommen würden. Omars Putzkasten stand schon auf den Treppenstufen vor dem Café, die Bürsten lagen bereit. Einer der algerischen Männer tippte dem Jungen mit dem Finger auf die Schulter und sagte: „Komm mal mit, Omar! Ich muß dir etwas sagen.“
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Omar folgte erstaunt dem Mann. Er kannte ihn flüchtig, wußte auch, daß er Bachir hieß. Hinter dem Brunnen blieb Bachir stehen. „Sag Achmed, er soll sich seinen Lohn geben lassen und von hier fortgehen. Die Fremden wissen, daß er Mohammeds Sohn ist. Es kann sein, daß die Polizei ihn holt. Er soll sofort nach Tizi laufen, zu Vater Mohammed. Und er soll ausrichten, wir anderen käme heute nacht. Es geht los. Jetzt sind wir Soldaten!“ Bachir verschwand hinter der Mauer der Moschee. Omar blieb eine Weile stehen und dachte über die Worte nach, die er eben gehört hatte. Dann lief er zu seinem Kasten zurück, weil er sah, daß schon Rumis gekommen waren. Er mußte auch sofort Schuhe putzen. Aber er war nicht recht bei der Sache. Er wußte, es gab Wichtigeres zu tun.
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Als er den ersten Rumi bedient hatte, stahl er sich auf den Hof. „Achmed! Achmed!“ rief er leise. Achmed hörte ihn und kam aus der Küche heraus. „Was ist los?“ Omar erzählte hastig, was Bachir ihm aufgetragen hatte. „Was soll ich denn dem Wirt sagen, wenn ich plötzlich weggehen will?“ fragte Achmed. „Sag doch einfach, deine Mutter sei krank geworden“, meinte Omar. Aber das war schlecht, weil Achmed keine Mutter mehr hatte. Und das wußte der Wirt. Sie überlegten noch, was man sagen könne, als der selbst auf den Hof kam. „Nun, ihr zwei Freunde, was drückt euch denn?“ fragte der Mann freundlich. Er ging in den blauen Tuchsandalen der armen Leute und trug wie immer seine
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alte Hose und ein blütenweißes Sporthemd. Wenn er auch Wirt war, gehörte er nicht zu den Reichen, weil er für sein Geschäft hohe Miete bezahlen mußte. „Ich muß heute weggehen, ich möchte meinen Lohn haben“, sagte Achmed einfach. Der Wirt legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich wollt dich auch gerade wegschicken, Junge. Es ist nicht gut, wenn du hierbleibst.“ Er zog seine alte, schwarze Geldtasche hervor und gab Achmed den Lohn und noch etwas darüber. „Lauf gleich hier hinten hinaus“, sagte er. „Ein Polizist ist im Café. Er hat nach die gefragt.“ Der Wirt gab Achmed einen leichten Schubs und ging in das Haus zurück. Achmed steckte das Geld in die Tasche seiner Pluderhose, drückte Omar die Hand und lief aus dem Hofe hinaus. Er verschwand so schnell, daß Omar nicht
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einmal mehr Grüße für die Mutter bestellen konnte. Vor dem Café rief ein Mann nach dem Schuhputzer. Omar beeilte sich und nahm die Bürste von seinem Kasten. Der Mann schrie ihn an: „Kannst du nicht hiersein, wenn ich dich brauche?“ Omar schwieg, putzte schnell die Schuhe und sah nur ab und zu verstohlen zu dem Mann empor. Er erkannte den dicken Farmer und Direktor. Zuerst dachte er: Dem werde ich einen Fleck in das Hosenbein machen, damit er sich ärgert! Aber dann fiel ihm Vater Mohammed ein, der gesagt hatte, gegen diese Leute zu kämpfen wäre Sache der Großen. Da sah er nicht mehr auf, sondern putzte, bis die Schuhe glänzten. Schweigend hielt er die Hand hin, um seinen Lohn zu empfangen. Der reiche Direktor warf ein kleines Geld
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stück achtlos auf die Straße und ging ins Café. Omars Augen wurden dunkel vor Zorn. Er holte das Geldstück, das er verdient hatte, aber er dachte: Wir sollen für euch arbeiten, und ihr gebt uns nicht einmal Lohn, ihr werft ihn hin. Doch wir lassen uns das nicht mehr lange gefallen. Da stand Bachir plötzlich neben ihm. „Ist Achmed weg?“ fragte er. Omar nickte nur. „Und wo wohnst du?“ fragte der Mann teilnehmend. Omar wußte es nicht, er hatte noch nicht daran gedacht. Bachir sagte. „Ich warte hier auf dich, mittags, wenn wenig Menschen kommen, kannst du mit mir gehen.“ Später sah Omar, daß Bachir vor einer Tasse Kaffee an einem der kleinen Gartentische saß und sich mit den Rumis
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unterhielt. Die Männer lachten viel und redeten über Dinge, die Omar nicht verstand. Mittags, als die Hitze so schrecklich auf den Platz knallte, daß man nicht glauben konnte, dies sei die kalte Jahreszeit, kamen keine Gäste ins Café. Omar packte daher sein Schuhputzzeug ein und fragte Bachir, der immer noch an dem Tischchen saß: „Willst du jetzt gehen?“ Bachir legte ein Geldstück neben die leere Tasse, stand auf und ging mit Omar fort. Unterwegs schwiegen sie. Ihr Weg führte hinunter zur Stadtmauer bis an das Stadttor der Straße nach Tiarat. Außen an die Mauer lehnte sich ein kleines Häuschen. Vor ihm zog Bachir einen mächtigen Schlüssel aus der Tasche, drehte ihn in dem quietschen Schloß und öffnete die altmodische Haustür. Sie traten ein. Innen gab es nur zwei Räume, aber Bachir
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hatte sie hübsch eingerichtet. Dicke Lederkissen lagen auf den Teppichen. Ein kleiner, achteckiger Tisch stand dazwischen. Auch an de Wand hingen bunte Teppiche und darauf alte Araberflinten und krumme Säbel. Sie setzten sich auf die Kissen, Bachir zog seinen dicken Mantel aus und warf ihn auf ein Polster. Er zündete sich eine Zigarette an, strich mit seinen schmalen Fingern durch den krausen Bart und lehnte sich an die Wand zurück. „Du kannst hier bei mir wohnen, Omar. Du weißt, daß ich ein Lehrer bin, ein Ulema. Aber ich darf ja euch Kindern keinen Unterricht in unserer Sprache geben Ihr dürft höchstens zu den Rumis in die Schule gehen, wenn eure Eltern dafür bezahlen können. Kann deine Mutter die Schule bezahlen? Nein, du mußt sogar selbst verdienen, wenn du nicht hungern willst. Das soll anders
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werden. Aber, wie gesagt, du sollst jetzt bei mir wohnen. Du kannst auch mit mir essen, wenn ich ab und zu hier bin. Ich gebe dir einen Schlüssel für das Haus.“ Omar wußte nicht, warum der Ulema so gut zu ihm war. Er schwieg und sah Bachir fragend an. Nach einer Weile fuhr der Lehrer fort: „Du hast Achmed nach Tizi geschickt. Ich selbst gehe oft dorthin. In den nächsten Tagen werden wir zusammen zu deiner Mutter und zu Vater Mohammed gehen. Ob du dann hierher zurückkehren kannst, weiß ich noch nicht. Es gibt in der Zukunft wichtigere Dinge zu tun, als Schuhe zu putzen.“ Mehr erfuhr Omar von Bachir nicht. Er schlief in dieser Nacht zum ersten Mal in seinem Leben auf Kissen, mit dicken Wolldecken zugedeckt. Am anderen Morgen aß er mit Bachir reichlich und ging zum
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ersten Mal in seinem Leben satt in die Stadt und an seine Arbeit. Am Abend aber war Bachir fort, Omar blieb allein. Drei Tage lang schlief er abends müde auf den Kissen ein, erwachte früh am Morgen und ging zur Arbeit. Am vierten Tage kam er morgens nur bis zum Stadttor. Dort standen die fremden Soldaten. Sie hatten quer über die Straße eine Drahtsperre gelegt, hielten alle Menschen an und durchsuchten ihre Kleider. Sie verlangten Papiere zu sehen und nahmen viele Männer mit zu den Lastautos, die seitwärts bereitstanden. Omar lief gleich wieder den Weg zurück und weiter bis zum Tor am Park. Aber auch da standen Soldaten, genauso wie am Tiaret-Tor. Nahe beim Tor saß eine Frau unter einer hohen Aloe. Sie rief Omar leise an. Omar blieb stehen und fragte: „Was willst du, Frau?“
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Die Frau hatte das Gesicht hinter dem Umhang verborgen. Omar sah nur ihren dunkle Hände, und er hörte sie mit ihrer warmen Stimme sagen: „Geh ruhig in die Stadt, Junge. Die Soldaten tun dir nichts. Aber ich kann nicht hinein. Lauf zu meinem Sohn, dem schwarzen Ali im Café am großen Platz. Du kennst ihn doch? Sag ihm, er soll sofort aus der Stadt kommen. Ich warte hier auf ihn. Mach schnell, Junge!“ Omar blickte zu den Soldaten hinüber. Sollte er es wagen? Er ging zögernd bis an die Straßensperre. Einer der Soldaten kam mit einem Gewehr in der Hand auf ihn zu. „Wohin willst du?“ „Zur Arbeit ins Café!“ antwortete Omar scheinbar gleichgültig. „Mach deinen Mantel auf!“ Omar hob seine Djellabah vorne empor. „Ich habe nichts“, sagte er.
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Der Soldat klopfte mit der freien Hand an Omars Hosentaschen. Als er nichts fand, sagte er: „Lauf!“ und ließ Omar vorbei. Der Weg zwischen den Soldaten hindurch schien kein Ende zu nehmen. Aber in der Stadt vergaß Omar die Angst und eilte zum Café am großen Platz. Der schwarze Ali wusch gerade die Fensterscheiben. Er stand auf einem Schemel, weil er sonst noch zu klein war, um hinaufzureichen. Omar sprach ihn an: „Ali, deine Mutter wartet am Parktor, draußen unter der Aloe. Du sollst sofort zu ihr kommen. Mach schnell!“ Ali stieg vom Schemel, sah Omar prüfend an und legte das Fensterleder in den Eimer. „Gehst du mit? Nur ein Stück“, bat er. „Ich habe ein Paket zu tragen.“ Omar nickte. Ali verschwand im Hause und tauchte mit einem großen Paket
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wieder auf. Er konnte den schweren Packen kaum allein schleppen Omar half ihm. Sie trugen das Paket quer durch die Stadt. Hinter dem Park kamen sie an die Stadtmauer. Hier war es einsam, und Ali sagte: „Wir werfen das Paket hinüber. Dann kann ich durch das Tor gehen.“ Sie kletterten an den brüchigen Steinen hoch, zogen das Paket nach und legten es oben auf die Mauer. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. In der Ferne erkannten sie die Soldaten am Tor. Ali beugte sich weit über die Mauer und ließ das Paket hinunterfallen. Dann rannte er an der inneren Mauer entlang bis zum Tor und ging unbehelligt durch die sperre. Omar gelangte mit großer Verspätung zum Café. Nachmittags sagte der Wirt: „Omar, geh nach Hause. Alle Algerier müssen heute in ihren Häusern sein. Die Soldaten durch-
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suchen alles. Wer nicht zu Hause ist, wird bestraft. Ich kann dich nicht hierbehalten. Lauf nach Hause, Junge!“ Omar erschrak furchtbar. Was sollte er in Bachirs Haus, wenn die Soldaten kamen und Bachir selbst nicht da war? Er hatte Angst, aber ging doch zum Haus an der Stadtmauer. Als er den großen Schlüssel in das Schloß stecken wollte, öffnete sich die Tür. Bachir zog Omar schnell in das Zimmer mit den dicken Kissen. „Du hast gut gearbeitet“, lobte er. „Jetzt müssen wir gleich fort, nach Tizi. Wir kommen nicht wieder zurück.“ Omar fragte überrascht: „Was habe ich denn Gutes getan, und warum müssen wir jetzt gehen?“ Der Lehrer holte von nebenan eine Messingkanne und goß zwei Schalen voll Kaffee. „Trink etwas, iß auch von dem Obst. Ich will dir sagen, was du getan
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hast.“ Er setzte sich auf ein Kissen, schob Omar eine Schüssel mit Feigen hin und begann zu erzählen. „Ich habe in der Druckerei in der Stadt Plakate drucken lassen und sie dem schwarzen Ali anvertraut. Ali sollte sie im Café aufbewahren, bis er Nachricht bekäme, daß er aus der Stadt gehen solle. Seine Mutter brachte diese Nachricht, aber sie konnte nicht in die Stadt hinein, weil die Soldaten aufpaßten. Da hast du den Weg übernommen. So erfuhr Ali, daß er das Paket mit den Plakaten aus der Stadt schaffen sollte. Es war gefährlich, denn die Soldaten wußten schon, daß es Plakate in der Stadt gab. Sie suchten danach und paßten höllisch auf. Aber ihr habt sie überlistet. Jetzt tragen wir beide das Paket nach Tizi.“ „Was sind denn das für Plakate?“ fragte Omar.
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„Auf dem Plakat steht, daß wir wieder frei sein wollen, daß die Rumis uns unser Land wiedergeben sollen, und daß wir es uns durch Krieg selbst wiederholen werden, wenn sie es nicht friedlich hergeben. Es steht darauf, daß unsere Kinder ebenso in eine Schule gehen sollen wie die Rumikinder. Und es steht darauf, daß unsere Kinder nicht für wenige Francs arbeiten sollen, sondern spielen und lernen wie andere Kinder auch. Und unsere Mütter sollen nicht mehr Abfälle aus den Mülltonnen der Rumis für die hungrigen Kinder kochen. Und unsere Väter sollen arbeiten können und Geld verdien – wie andere Väter in der Welt. Das alles verlangen wir von den Rumis. Sie aber stellen Soldaten an allen Straße und nehmen unsere Männer mit und werfen sie in die Gefängnisse. Aber nun komm, wir haben einen weiten Weg!“
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Bachir stand auf und öffnete die Haustür. Er spähte zuerst vorsichtig umher, trat dann hinaus und zog Omar mit sich. Sie wanderten weit hinunter in die Ebene, aber sie gingen nicht auf der Straße, sondern zwischen den Feldern der Rumifarmen entlang. So konnte sie niemand beobachten; denn an den Feldrainen wuchsen hohe Büsche stachligen Gestrüpps, und die kilometerlangen Reihen der Orangebäume säumten die Felder wie Hecken. Zwischen den niedrigen Orangen ragten die Olivenbäume höher hinauf in den tiefblauen Himmel. Endlos weit zogen sich die Baumreihen, viele Stunden weit, bis sie sich am fernen Horizont wie dünne grüne Strich im gelben Land verloren. Dahinten schloß die Kette der blauen Berge des Atlas das Land ab: Omar und Bachir wußten, daß dort die Hammada beginnt, die große
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Steinwüste, und dann Es-ssah-ra, die rote Sandwüste. Wo sich die Wege nach Tizi und in die Stadt kreuzen, trafen sie die Mutter des schwarzen Ali. Sie saß unter einem Olivenbaum. Neben ihr lag unter einem Büschel Gras das schwere Paket. Bachir nahm es auf die Schulter. Sie gingen zu dritt gleich wieder in die Felder zurück. Weit draußen zwischen den Weitstöcken blieben sie sitzen und warteten, bis es dunkel war. Dann gingen sie nach Tizi hinein. Bei dem alten Nader trafen sie Vater Mohammed und Omars Mutter, Fatme, Achmed und alle anderen Jungen. Bachir grüßte: „Frieden sei mit euch! Ich habe die Plakate, wir werden sie noch heute nacht verteilen und an alle Häuser kleben.“ Später erhielt jeder Junge einen Packen Plakate, einen Leimtopf und eine Pinsel.
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Mitten in der Nacht gingen sie hinaus und klebten die Plakate an die Mauern und Wände. Als sie nach stunden zurückkamen, stand ein Auto vor der Tür von Naders Wohnung. Vater Mohammed und die Mutter saßen darin. Bachir sagte leise zu den Jungen: „Mach schnell und steigt ein! Jetzt müssen wir weg von hier! Wenn es hell wird und die Rumis die Plakate sehen, werden sie uns suchen. Wir fahren in die Berge.“ Omar und die anderen Jungen kletterten schnell ins Auto. Und los ging es, hinaus in die Dunkelheit. Sie fuhren zwischen den hohen Felswänden der kahlen Berge dahin, verließen bald die Straße und hielten beim ersten Morgenstrahl unter dichten Bäumen vor einer Hütte. Bachir stieg als erster aus, Vater Mohammed folgte ihm.
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Aus der Hütte traten ein paar Männer mit Gewehren. Aber das waren keine Rumisoldaten, sondern Algerier. Einer von ihnen kam auf Bachir zu und umarmte ihn. „Frieden sei mit dir und den Deinen! Tretet in unser Haus ein und seid nun hier zu Hause.“ Er ging ihnen voran. Dia anderen Soldaten blieben draußen stehen. In dem dämmerigen Hause sagte der Mann: „Setzt euch, es wird Kaffee gebracht. Die Kinder und die Mutter bleiben hier. Wir anderen gehen weiter in die Berge. Können die großen Junge uns helfen?“ Er fragte Bachir. Bachir zog Omar und Achmed an sich. „Achmed ist groß genug, aber Omar ist klug genug. Beide werden uns helfen.“ Der Mann mit dem Gewehr ließ sich von Omars Taten berichten. Dann nahm er den Jungen in den Arm: „Du wirst ein
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tüchtiger Soldat werden. Wir brauchen einen Mann, der geheime Nachrichten von einem Ort zum anderen trägt. Du bist dieser Mann.“ So gingen Bachir, Vater Mohammed und der Soldat mit Achmed und Omar in die Berge hinauf, in denen sich viele, viele Freiheitssoldaten versteckt hatten ,die auf den Befehl warteten, den Kampf gegen die fremden Rumis zu beginnen. Omar war von jetzt ab nicht mehr Schuhputzer, er war ein Soldat für die Freiheit seiner Mutter und aller algerischen Jungen. Und er war stolz darauf, von dem großen Soldaten ein Mann genannt worden zu sein. Er wird so lange Soldat bleiben, bis alle Algerier frei sind und kein fremder Rumi mehr in seinem Land zu befehlen hat.
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