Nicos und der Mondfisch - C.u T.Nicolau - Kinderbuch DDR 1972.pdf
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Band 85 Nicos und der Mondfisch Carola und Thomas Nicolaou 2. Auflage 1972 (6. Auflage 1980 - Rückseite mit Text) Für Leser von 7 Jahren an Illustrationen von Brigitte N. Kröning © Der Kinderbuchverlag Berlin
Inhalt: unpolitisches Märchen: der Junge Nicos rettet einem Fisch das Leben und dieser nimmt ihn dafür auf eine Reise in die Tiefsee mit
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Das Mittelmeer hat in mühseliger Arbeit dem Festland viele große und kleine Inseln abgeknabbert. Fliegt man mit dem Flugzeug darüber hinweg, sehen sie aus wie eine Flotte von Borkenschiffchen, die von den Kindern im Wasser vergessen wurden. Auf Lotos, einer der schönsten von ihnen, liegt das Fischerdorf Kastania. Seine Häuser sind weißgetüncht, und alle haben ein Gärtchen, in dem Sonnenrosen, Zitronenund Apfelsinenbäume im Frühling in schönster Blüte stehen. Auf der einen Seite schützt ein Olivenhain das Dorf gegen den scharfen Wind, doch von der anderen, wo der winzige Hafen liegt, kann er ungehindert die schmalen Gassen heraufpfeifen. Ist es der Nordwind Worias, so schließen die Frauen rasch die Fenster und flüstern: Es wird Sturm geben! Hier hatte auch der Junge Nicos sein Zuhause. Vor acht Jahren war er auf die Welt
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gekommen. Am äußersten Rand des Dorfes, dort, wo das Land zum Bach hin abfällt, bewohnte er mit seinen Eltern ein ebenerdiges Haus. Sein Vater war Fischer. Wie die meisten Männer von Kastania ging er jeden Morgen vor Sonnenaufgang zum Hafen, machte das Boot „Toula“ startklar und segelte hinaus aufs Meer. Und wie alle anderen hoffte auch er, nach der schweren Arbeit mit reichem Fang zurückzukehren. War das Wetter einmal besonders günstig, durfte Nicos den Vater begleiten. Er half das Boot waschen, die Netze aufrollen und den Fisch aus dem Wasser ziehen. Fest und sicher stand der Junge mit gespreizten Beinen an Deck, ganz wie ein Erwachsener, und wenn die Fischer auf den anderen Booten frohen Mutes waren, riefen sie ihm zu: „Hehe, Seemann, guten Fang!“ Dann tippte Nicos mit drei Fingern der Rechten gegen den Schirm seiner Mütze und lachte. 7
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Doch so waren die Tage nicht immer. Meistens mußte der Junge an Land bleiben. Dann lief er den Strand entlang, sah dem Vater nach, bis sein Boot am Horizont verschwand. Und niemals kam ihm der Gedanke, zu schreien oder zu weinen, wie es einige seiner Freunde taten, wenn sie nicht mitgenommen wurden. Wozu auch? Im feuchten Sand warteten tausend Abenteuer auf ihn. Lauschte Nicos tief in sich hinein, konnte er vernehmen, wie sie ihn mit leiser Stimme lockten. Das Leben war dann wie ein Märchen, rätselhaft und wunderbar. Das tieftönige Rauschen des Wassers, die Stille nach dem Sturm, die kreischenden Möwen, die knapp über seinem Kopf dahinflitzten, die untergehende Sonne, dieses brennende Rad, das übers Meer rollte, das alles hörte und sah er voller Verwunderung, als wäre es das erste Mal. Die Abende nach der Rückkehr der Fischer
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hatten ihren besonderen Zauber; oft saß der Vater auf der Brunnenmauer, rauchte stumm seine Pfeife und blickte in die Ferne, als sähe er dort das Land seiner Sehnsucht. Manchmal schlich Nicos auf Zehenspitzen heran, setzte sich neben ihn, der Vater legte den Arm auf die Schultern des Jungen, und dann blickten sie gemeinsam aufs Meer. Worte waren nicht nötig. Die Wasser rannten gegen das Festland an, zogen sich erschlafft zurück, um von neuem Kraft zu sammeln und den Sprung zu wagen. Oder die See schlief. Das war, wenn kein Lüftchen die silbernen Blätter der Ölbäume bewegte. Dann sahen die Boote im Hafen wie eine Herde träger Esel aus, die man umsonst angepflockt hatte. Sie liefen nicht Gefahr, davongetrieben zu werden. In der Küche brutzelte über dem Feuer der frisch gefangene Fisch, und Nicos konnte kaum den Augenblick erwarten, da das
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Essen dampfend auf dem Tisch stand. Er würde die Zitronenscheiben zwischen Daumen und Zeigefinger zerquetschen und den Saft auf das weiße Fleisch träufeln. Bedächtig wie ein Erwachsener zerkaute der Junge den Fisch. So hatte es ihm der alte Gogos beigebracht, und der mußte es wissen, hatte er doch in seinem Leben nichts anderes gegessen. Überall entdeckte Nicos Wunder und Rätsel, und nicht selten rollte er aus reiner Neugier einen Stein beiseite, um zu sehen, was darunter war. Er bückte sich, hob den Regenwurm behutsam auf, verbarg ihn in der hohlen Hand, lief zum Strand und ließ, ihn ins Wasserfallen. Können Regenwürmer schwimmen? Können Fische sprechen, Sterne verlöschen und neue Inseln emportauchen? Wo ist der Anfang und wo das Ende der Welt? Solche Fragen beschäftigten Nicos. Oft ging er zu
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seinem Lieblingsplatz unter den zwei Zypressen nahe am Felsen Capa und gab sich seinen Träumen hin. An jenem Tag aber quälte ihn eine innere Unruhe. Er wartete auf die Rückkehr des Vaters. Am vergangenen Morgen war er ausgefahren, doch abends kam er nicht wie gewöhnlich zurück. Fünf weitere Boote waren überfällig. Was war geschehen? Die Angst schlich sich wie eine giftige Schlange in die kleinen Fischerstuben. Niemand vermochte in dieser Nacht ein Auge zu schließen. Auf dem Hügel über dem Hafen wurde ein großes Feuer angezündet, damit die Fischer in der Finsternis heimfinden konnten. Die Kinder schleppten Holz herbei und fütterten die Flammen. Gegen Mitternacht kam Wind auf, und es begann zu regnen. Der Regen fiel schräg vom Himmel, trommelte mit spitzen Pfoten auf die
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Steine, riß den Sand auf und verzischte im Feuer. Auf Nicos’ Wimpern glitzerten die Wassertröpfchen wie Glassplitter. Er blickte in die Flammen und nahm viele tanzende, hüpfende, sich neckende Tierchen wahr. Plötzlich zog eine tiefe Ruhe in sein Herz. Der Vater weiß schon, was er tut, sagte sich Nicos. Vielleicht ist ihm der größte Fisch des Meeres ins Netz gegangen und zieht das Boot hinter sich her. Ein Brocken wird das sein! In seinem Bauch finden hundert Menschen bequem Platz. Aber der Vater würde den Fisch ermüden, überlisten und an Land bringen. Nicos sah bereits das ganze Dorf zum Hafen laufen und den riesigen Fisch bergen helfen. Oh, gibt das ein Freudenfest! Nicos’ Herz hüpfte in der Brust wie ein übermütiger Frosch. Die Mutter ahnte nichts von den Vorstellungen des Jungen. Sie saß zusammenge-
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kauert am Feuer und stocherte mit einem Ast in der Glut. Leicht wie eine Feder sah sie aus, und Nicos wunderte sich, daß der steife Wind dieser Nacht sie nicht weggeweht hatte. Behutsam legte der Junge seine kleine Hand auf ihre spitze Schulter. Die Mutter ergriff sie und flüsterte: „Mein Guter ...“ Da erstarrten alle in ihrer Bewegung. Die Worte verstummten, sie lauschten. Doch nichts war zu hören. Nur der Himmel wurde mit gewaltigen Strahlenfingern abgetastet. Die Scheinwerfer standen auf der benachbarten Insel, diesem kahlen, unbewohnten, den sieben Winden immerfort ausgesetzten Felsen. Was sie sahen, versetzte selbst die alten, erfahrenen Fischer in Erstaunen. Das gelbe Licht rotierte, suchte den Himmel ab, kam tiefer, strich über das Wasser und blieb an der Küste haften. Hier kroch es schwerfällig wie eine klebrige Masse vorwärts,
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über Sand und Steine, über das spärliche Gras, über ... Was war denn das? „Sieht aus wie eine Mauer, und da – Wachtürme“, sagte der alte Gogos. „Was für eine Mauer und warum die Wachtürme?“ fragte Nicos, doch Gogos war weitergegangen. „Hinter den Mauern werden gute Menschen festgehalten“, antwortete die Mutter. „Menschen wie unser Vater?“ „Ja ...“ Der Morgen kam still und rosig, als wäre nichts gewesen. Hinter der Landzunge tauchte strahlend die Sonne auf und warf über Land und Wasser ihren purpurnen Mantel. Die Erwachsenen erhoben sich und gingen nachdenklich ins Dorf. Die kleinen Hauswirtschaften warteten, die Tiere mußten gefüttert und getränkt werden. Das Feuer war längst erloschen. Nicos
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schlenderte den Strand entlang. Ab und an blieb er stehen, bohrte die nackten Zehen in den Sand und schleuderte ihn ins Meer. Er war enttäuscht, denn er hatte sich die nächtliche Rückkehr der Fischer so schön mit viel Geschrei und dem Schwenken brennender Holzscheite vorgestellt. Nun würden sie zurückkommen wie immer, im Licht des Tages. Wozu das große Feuer in der Nacht? Die Wellen hatten im Sand Löcher ausgehöhlt. Zurückgeblieben waren kleine, runde Pfützen. Ermüdet vom wilden Toben in der Nacht waren die Wogen schlafen gegangen. Man hatte sich im Meer spiegeln können, und keine Bewegung würde das Bild zerreißen. Nicos zog mit dem Fuß von Wasserloch zu Wasserloch Kanälchen und vereinigte sie zu Rinnsalen, die ins Meer zurückflossen. Der Sturm hatte Muscheln und Seesterne an Land gespült. Nicos hob sie auf und steckte
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sie auf- dem nassen Sand zu Mustern. Seiner Phantasie entsprangen ungewöhnliche Formen: Blumen mit eckigen Blüten, lange, vielstöckige Häuser und runde Schiffe. Er dachte sich eine Stadt aus und zeichnete sie in den Sand. Da gab es Straßen und Brücken, Häfen und Eisenbahnen. Vieles davon hatte der Junge noch nie in Wirklichkeit gesehen, sondern kannte es nur vom Hörensagen. Doch am meisten beschäftigte ihn das Meer. In seinen Tiefen versteckt es die wunderbarsten Schätze, dachte er. Nur finden müßte man sie. Es war ihm klar, daß sein Vater, der nur die Netze ins Wasser warf, solche Schätze nicht heben könnte. Die sind viel tiefer, vielleicht so tief, wie der Himmel hoch ist. Nicos würde Taucher werden, mit Spezialanzug und Atemgerät, würde oft den Meeresgrund absuchen und bestimmt Glück haben.
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Plötzlich wurde er in seinen Überlegungen gestört. Er blickte auf und lauschte. Wieder war das leise Klatschen und ganz nah. Nicos bemerkte, wie in einer Pfütze das Wasser hochspritzte. Für Bruchteile von Sekunden blitzte etwas silbern im Licht. Ein Fisch! Nicos lief hin und kauerte sich nieder. Nie zuvor hatte er einen so zarten Fisch gesehen. Die Flossen zierten glutrote Streifen, und die Schuppen hatten einen goldenen Rand. Behutsam tauchte der Junge die Hand ins Wasser und fing ihn. „Fürchte dich nicht“, sagte er. „Ich tu dir nichts.“ Und siehe da, der Fisch drehte die Augen, sah Nicos an, als hätte er ihn verstanden. „Ich nehme dich mit nach Hause und setze dich in ein großes Glas. Ich werde Wasserflöhe genug holen, damit du ein schönes Leben hast. Du wirst schon sehen, es gefällt
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dir bestimmt. Später laß ich dich wieder frei.“ Doch Nicos wollte nicht so schnell nach Hause. Er entließ das Fischlein in eine Pfütze. Der Fisch schwamm flink, die Pfütze war aber zu klein, und er stieß bei jeder Bewegung an. Der Junge erkannte die Gefahr, die dem Tier drohte. Mit jeder Minute wurde es weniger Wasser. Die Sonne trocknete fleißig, nicht mehr lange, und Nicos’ kleiner Freund würde im Trockenen liegen. Kann aber ein Fisch ohne Wasser leben? Was tun? Nicos wollte noch ein bißchen mit ihm spielen. Vielleicht finde ich irgendwo eine leere Konservenbüchse, dachte der Junge, dann kann ich Wasser genug herantragen. Was man gerade braucht, ist leider selten zur Stelle. So kam Nicos auf den Gedanken, mit einem Stock und den Händen ein tiefes Loch in den Sand zu graben. Be-
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stimmt würde es sich mit Wasser füllen. So geschah es auch. Der Fisch entdeckte sofort die Veränderung, er konnte sich frei bewegen. Nicos war froh über seine gute Tat. Er wollte noch eine Mauer bauen, damit der Wind von der Seeseite den Fisch nicht, erreichte. Er lief am Strand umher, sammelte Steine und schleppte sie herbei. Gerade als Nicos ein weißes Steinchen mit einem Loch, einen Hühnergott, gefunden hatte, geschah etwas Wunderbares: Vom Wasserloch, in dem er seinen Fisch wußte, kam ein Lichtstrahl, und alles wurde heller, Nicos’ nackte Füße, der Hühnergott, der Himmel, der Sand. Eine breite Straße aus Licht kam auf den Jungen zu. Nicos war regungslos stehengeblieben und lauschte. Er empfand keine Angst, nur Staunen und Freude erfüllte sein Herz. Das Licht umspülte ihn wie leise Musik. Als er näher trat, hörte der Junge die
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Stimme seines Freundes: „Mein schönstes Licht strahle ich für dich aus, Nicos. Weil du so gut zu mir warst und mich freilassen willst, möchte ich dir auch eine Freude bereiten. Ich werde dir etwas zeigen, was noch nie ein Mensch sah. Steig auf meinen Rücken!“ Plötzlich war er nicht mehr das zerbrechliche Fischlein, er wuchs, und sein Rücken wurde breit und mächtig. Es hätten sich bequem fünf Nicos darauf setzen können. Nur daß der Fischrücken glitschig war und der Junge sich schwer halten konnte. Aber da hatte er einen klugen Gedanken. Er schnallte den Hosengürtel ab und legte ihn dem Fisch um den Hals. Nun konnte er sich gut festhalten. „Es geht los“, rief der Fisch. „Hoppla, los geht’s“, schrie Nicos fröhlich, denn die Sache machte ihm Spaß. Wer will nicht gern entdecken, was noch nie eines anderen Augen gesehen haben? Sobald sie untergetaucht waren, nahm 24
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Nicos eine tiefe Stille gefangen. Ausgelöscht war das Gekreisch der Möwen, das Brausen der Brandung und das Pfeifen des Windes. Die Welt war in einen tiefen Brunnen gefallen. Grünlichblaues Licht sickerte durch das Wasser. Alles war in Bewegung. Die zarten Äste der Meerespflanzen wiegten sich im Rhythmus einer unhörbaren Melodie. Den gleichen Tanz vollführte über seinem Kopf eine Qualle. Sie hatte die Form einer sanft geschwungenen Glocke. In ihrem Inneren leuchteten die Eingeweide wie glühende Fädchen. Die Pflanzen glichen. Spitzen oder schwerelosen Tüllblüten. Und erstaunt stellte der Junge fest, daß es auch im Meer Felsen und Schluchten, Ebenen und Gebirge gibt. Sie sind von Wasserpflanzen überwuchert, und überall klebt, kriecht oder schwimmt seltsames Getier. Nicos war begeistert von dieser märchenhaften Landschaft. Langsam ging die Reise
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weiter. Was gab es da nicht alles zu sehen! Die Korallen hatten prächtige Farben. Sie glänzten wie roter Lack, andere Pflanzen waren blau wie das Meer an schönen Tagen, gelb wie die Frühlingsblüten der Sumpfiris, grün wie das Gras nach dem Regen, rosa wie Mandelblüten. Manche hatten die Gestalt von zusammengerollten Igeln, andere ragten als ein Bündel zerlöcherter Stäbe aus dem Boden, oder sie muteten wie versteinerte Blütenzweige an. Und nicht selten lagen auf ihnen feuerrote Seesterne und kleine weiße Muscheln. Dazwischen zogen die Fischschwärme ihre Bahn. Die Großen jagten die Kleinen, die Starken fraßen die Schwachen auf. Knapp vor der Nase des Jungen schwammen zwei violette Fische mit breiten orangenfarbigen Streifen quer über den Leib. Sie wurden von, einem Schwarm leuchtend roter Fischlein begleitet. Die fächerartigen Schwanzflossen
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zierte eine Kante schwarzer Kreise. Auf einem flachen Steinbrocken hatte ein Krebs seinen weichen Hinterleib in ein leeres Schneckengehäuse geschoben. Darauf hatte sich eine Seeanemone niedergelassen. Ihr Stamm war weiß und rot geringelt, und die Fangarme leuchteten grün. Lebewesen sah Nicos, die hatten nicht vier Beine, einen Schwanz, Flossen oder gar Flügel. Sie glichen nicht einmal den Fischen, die der Vater heimbrachte. Regungslos lagen sie da, und nur wenn man sie berührte, zuckten diese seltsamen Tierchen zusammen. Manche ähnelten feuerroten Blüten, andere waren unförmig und von schwer zu bestimmender Farbe, als wären sie vor hunderttausend Jahren von anderen Planeten gefallen und im Meer versunken. Sie trugen klingende Namen: Seefeder, Meduse, Polyp, Teufelsstern. Der Fisch, der seinen Kopf ein wenig zu
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Nicos gewandt hatte, bemerkte zwar das Staunen auf dem Gesicht seines Freundes, sagte aber noch nichts. Langsam stiegen sie tiefer. Das grünlichblaue Licht wurde allmählich dunkler. Hier schien die Natur stillzustehen, die Pflanzen duckten sich am Boden, niedergepreßt vom ungeheuren Druck. Alles hatte seine Farbe verloren, wirkte dumpf und matt. Die Kälte nahm zu, und Nicos fühlte, wie die Furcht in sein Herz schlich. Wohin ritt er? War der Fisch wirklich sein Freund, oder war es der Drache aus dem Märchen, der sich verstellt hatte, um ihn zu entführen? Plötzlich packte Nicos Sehnsucht nach seinem Dorf, nach dem winzigen Hafen, nach den braunen Augen der Mutter, nach den anderen Kindern. Er wollte seine Welt nicht verlieren und war bereit, um sein Leben zu kämpfen. Mit beiden Händen packte er den Gürtel und rüttelte kräftig. Dem Fisch blieb der Atem weg.
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„Was hast du? Ich ersticke ja“, röchelte er. „Wohin bringst du mich?“ „Ich habe versprochen, dir eine neue Welt zu zeigen. Wir können nicht weiter hinab, obwohl das Meer so tief ist, wie der größte Berg auf Erden hoch. Dort unten können wir nicht leben. Es ist stockdunkel und so kalt, daß man erstarrt. Der hohe Druck würde uns töten, uns zerquetschen. Die Augen würden uns aus den Höhlen fallen.“ Der Fisch schwieg einen Augenblick. Da glitt Nicos von seinem Rücken und setzte sich auf einen Stein. Er blickte sich um und erkannte etwas weiter weg die blassen Umrisse eines Felsens. Steil fielen seine Wände hinab. Bodenlose Leere gähnte Nicos an, und ein eisiger Hauch berührte sein Gesicht. „Aus diesen Tiefen tauchte eines Tages ein Ungeheuer auf. Wie ein schwarzer Berg rollte es über den Meeresboden und zer-
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drückte unter seiner Last alles Lebende. Mit seinen unzähligen Armen schlug es um sich. Das Wasser schäumte, die Felsen schwankten. Die Tiere flohen, soweit sie vor Schreck nicht tot umgefallen waren. Selbst die Pflanzen zogen ihre Wurzeln aus dem Boden und nahmen Reißaus. ,Der Krake’, flüsterte man, es ist der Riesenkrake!’“ Nicos’ Freund schwieg. Alles ringsum schien seinen Worten gelauscht zu haben. Der Riesenkrake? Ob das der gleiche Krake war, von dem die Fischer erzählten? Wenn er in Wut geriet, peitschte er das Wasser und brachte die Boote zum Kentern. Viele kluge, starke und tapfere Menschen hatten den Kampf mit ihm aufgenommen, und die meisten waren dabei umgekommen. Der Riesenkrake ist unbesiegbar, behaupteten einige Fischer. Der Fisch fuhr fort: „Er zischte und brüllte
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markerschütternd, packte gewaltige Steinbrocken und warf sie nach uns. ‚Ich bin der Beherrscher des Meeres, ich, ich!’ schrie er. ,Wer sich meinem Willen nicht fügt, den zermalme ich. Ich fresse euch, wenn ich Hunger habe, und ihr habt zu tanzen und zu lachen und zu schuften, wenn es mich gelüstet! Ab heute gilt das Gesetz meines Willens!’ Mit todbringender Gewalt hatte er die Macht an sich gerissen und alle Meeresbewohner in Angst und Schrecken versetzt. Aus der Tiefe hatte er sich seine Diener und Spitzel mitgebracht. Nirgends gab es sicheren Unterschlupf, nirgends ein Versteck. Sie sahen und hörten alles. Selbst in der Dunkelheit fühlten sich die Meeresbewohner nicht mehr sicher, denn gerade da zog der Krake mit geschärftem Blick auf Raub aus. Hundertzwölf Haifische wurden seine Leibwächter, vierzig Stechrochen hatte er zur besonderen Verwendung stets an
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seiner Seite. Zweihundert Blauwale mußten auf ihrem gewaltigen Rücken die Leckerbissen tragen, die für das Ungeheuer aus fernen Meeren herbeigeholt wurden. Ein Heer anderer Meerestiere hatte geringere Dienste für den Herrscher zu verrichten. Die Grausamkeit und der Schrecken hatten so im Meere Einzug gehalten. Keiner wagte, frei zu spielen, zu jagen, zu schwimmen. Die Nähe des Kraken lähmte die Tiere. Dieses Leben konnte keiner mehr ertragen. Doch wie sollte sich etwas ändern, wenn niemand das Übel an der Wurzel packt? Eines Morgens zog der weise Delphin durch das Wasser, schlug mit seinem Stock auf die Steine und verkündete den Willen des Herrschers: Am nächsten Tag hatten sich alle am Fuße des unterseeischen Berges Troodos einzufinden, denn der Herrscher wollte eine Rede halten. ,Guter, weiser Gluck-Blub, sag doch, was 35
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steht uns bevor?’ So fragten die Fische voller Bangen. Der alte Delphin setzte sich auf den Panzer einer Riesenschildkröte, ließ den Kopf hängen und seufzte tief. ,Schwere Zeiten sind über uns gekommen’, sagte er. ,Der Stein soll nicht mehr von oben nach unten fallen, sondern umgekehrt...’ Alle Fische hörten ihn, denn Gluck-Blub besaß die Zauberstimme, und das Wasser trug sie in die entlegensten Winkel. Und obwohl die Tiere nicht sofort hinter den Sinn seiner Worte kamen, fühlten sie doch, daß der weise Delphin selbst unglücklich war und zu ihnen hielt. Am nächsten Tag fand sich alles, was laufen, schwimmen oder kriechen konnte, am Fuße des Troodosgebirges ein. Eine tödliche Stille machte sich breit, denn niemand wagte auch nur zu flüstern. Die Tiere mußten lange warten. Als der Krake dann endlich aus seiner Höhle kroch, erschraken sie
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noch mehr, denn er war häßlich wie Dreck und finster wie tausend Moränen. ‚Auf die Erde, ihr Würmer!’ befahlen die Haie. Der Krake begann seine Rede: ‚Ich, der Herr und Gebieter, habe nur euer Wohl im Sinn.’ Doch es klang hart und drohend, was er sagte, und alle hörten eher auf den Klang seiner Stimme als auf die heuchlerischen Worte. ,Mein Ruhm wird auf euch abfärben. Ich habe beschlossen, einen Palast zu bauen, ein Schloß, wie es keines in einem anderen Ozean gibt. Es soll so viele Räume haben, daß ich täglich einen neuen beziehen kann. Einen Monat Zeit geb ich euch. Dann will ich einziehen. Die Haie und die Rochen beaufsichtigen die Bauarbeiten.’ Und die Bestie begann, um ihre Macht zu zeigen, mit vielen Armen das Wasser zu peitschen. Sie tobte. Das Meer schäumte, das Gestein rollte von den Abhängen, und
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der aufgewühlte Sand und Schlamm trübte das Wasser. Ich bin der Herrscher, ich, ich ...’, schrie der Krake. Schließlich zog er sich in seine Höhle zurück. Die Haie und die Rochen hatten den Platz umstellt und funkelten böse. Mit drohender Stimme riefen sie nach GluckBlub. Der weise Delphin kam zögernd hinter einem Felsen hervor. In den Flossen hielt er eine Steinplatte und einen Griffel. Was die Haie und die Rochen befahlen, hatte Gluck-Blub zu notieren. Den Platz für den Palast hatte der Krake selbst ausgesucht. Der Dachfirst sollte höher sein als der Troodos, der mächtigste aller unterseeischen Berge. Hart und spitz würde eine Spitze knapp unter der Wasseroberfläche auf die Schiffe lauern und ihnen tödliche Wunden zufügen. Sie sollten in die Tiefe sinken und ihre Schätze dem Kraken überlassen.
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Die Fische waren verzweifelt. Keiner sah einen Ausweg. Wie sollten sie in vier Wochen ein solches Prachtschloß bauen? Da vernahmen sie Gluck-Blubs Wunderstimme. ,Das Schloß, das wir bauen, wird eines Tages das Grab unseres Peinigers. Hört in Zukunft auf mich, und alles wird sich zum Guten wenden ...’ Die Meeresbewohner jubelten vor Freude. Nur die Haie und die Rochen waren ganz verdattert, denn sie begriffen diesen plötzlichen Stimmungswandel nicht. Sie waren dem weisen Delphin nicht gutgesinnt, und er konnte seine Wunderstimme so einstellen, daß sie nicht die schmutzigen Ohren der Spitzel und Grobiane erreichte. Aber selbst die klitzekleinsten Lebewesen im Ozean hatten die Worte Gluck-Blubs verstanden und freuten sich, daß sie nun jemanden hatten, der ihnen in der Not beistand und sie führte.
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Die Arbeit begann. Das Fundament sollte auf einer Sandebene ausgehoben werden. Der Platz war von hohen, steilen Felsen umgeben. Eine schmale Spalte, die zwischen ihnen klaffte, war der einzige Zugang. Durch diese Spalte walzte ein Heer von Krabben und Hummern heran. Kaum hatten sie sich über den Bauplatz verteilt, gruben und schaufelten sie, als sollte das Schloß schon am nächsten Morgen stehen. Die Wasserspinnen hatten aus Schlingpflanzen große Matten gewebt, darauf schaufelten die Krebse den Sand. Die Seepferdchen spannten sich davor und schleppten die Matten fort. Es dauerte nicht lange, und die Grube für das Fundament war ausgehoben. In aller Frühe kamen die Wale. Sie schafften auf ihren mächtigen Rücken riesige Steinblöcke heran. Mit wuchtigen Schwanzschlägen rammten sie die Brocken in den Boden. Das Meer erdröhnte.
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Die Außenmauern bauten wir aus weißem Marmor“, fuhr Nicos’ Freund fort. „Für das Dach sägten die Sägefische Korallen zu passenden Stücken. Daraus wurde ein Dach gefügt, und es hatte den Anschein, als trüge es sich selbst. Bald stand das Schloß, und wir begannen mit der Innenausstattung. Der Fußboden des großen Empfangssaales wurde mit goldenen Dukaten ausgelegt. Ein Heringsschwarm hatte sie aus den Bäuchen von Schiffswracks zusammengetragen. An die Wände hatten die Tintenfische die schönsten Bilder gemalt. Und mitten in diesem Saal lag ein herrlicher Kristall, der zu funkeln und zu klingen begann, sobald ein Lichtstrahl ihn traf. Dieser Kristall war die gemeinste Falle, die sich jemals ein Lebewesen ausgedacht hat. Denn sobald sich das Portal zum Saal öffnete, begann er sich zu drehen, und seine zarte Musik erfüllte
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den Raum. Geblendet von diesem Zauber, strömten die Fische scharenweise hinein. Hinter ihrem Rücken aber schloß sich die Tür, und es wurde finster. Ein Entrinnen war nicht möglich. Sie fielen dem Kraken zum, Opfer.“ Der gute Fisch schwieg. „Das muß eine schreckliche Zeit gewesen sein. Hielt man dich auch gefangen?“ fragte Nicos. „Ich werde dir alles erzählen, doch zuerst sollst du das Schloß sehen, Steig auf.“ Sie schwammen durch einen dichten Pflanzenwald. Eine Schar gelber Fischlein begleitete sie, doch Nicos brauchte bloß die Hand auszustrecken, und sie stoben auseinander wie Funken eines Feuers, in das der Wind hineinfährt. Schon von weitem blendete den Jungen glitzernde Helligkeit. Er hatte den Eindruck, unter dem Dach des Palastes sammle sich
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das ferne Sonnenlicht. Auf dem Dach standen wie die Zacken einer Krone viele Türmchen, und an den Rinnen hingen funkelnde Steine, durchsichtig wie Glastropfen. Auf dem Platz vor dem Schloß lagen gesunkene Schiffe. Zum Teil ragten die Wracks noch aus dem Boden, andere waren halb verdeckt vom Sand oder überwuchert von Pflanzen. Der Fisch begann wieder zu sprechen. „Hier siehst du die Verheerung“, sagte er. „Der Krake hatte auf dem höchsten Punkt des Schlosses eine scharfe Spitze aus Granit anbringen lassen. Den ahnungslosen Schiffen wurde der Kiel aufgerissen, und sie sanken in die Tiefe.“ Das Portal zum Hauptsaal stand offen. „Hab keine Angst, der Krake ist tot“, sagte der Fisch. „Wir können beruhigt in den Palast schwimmen.“ Nicos glitt vom Rücken seines Freundes, um alles besser betrachten zu können. Er
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erblickte den Zauberkristall, fand aber nichts Besonderes an ihm. Selbst die Melodie erschien Ihm wie eintöniges Gebimmel. Der Kristall hatte die Form eines großen Hühnergottes, ähnlich dem, den er am Strand von Kastania gefunden hatte. Die Bilder an den Wänden gefielen ihm schon besser. Sie glichen Baumschatten oder erinnerten an schwarze Wolken vor dem Regen. Der Fisch führte Nicos durch viele Räume. Was für eine Pracht der häßliche Krake angehäuft hatte! In einem Musiksaal spielte auf einer riesigen Orgelkoralle ein Schellfisch. Als er Nicos und seinen Begleiter erblickte, erhob er sich von dem moosbezogenen Schemel und schwamm ihnen entgegen. „Schöner Mondfisch, ich danke dir für die Ehre, die du mir erweist.“ „Spie! uns bitte das Lied der, Krebse, vor“, bat der Mondfisch.
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Der Schellfisch verbeugte sich freundlich und nahm wieder vor der Orgel Platz. Er griff mächtig mit den Flossen in die Tasten und sang dazu: Tief im Wasser, tief im See, tief im Ozean, viele hundert Meter tief, nah am Haienriff, liegt ein totes Schiff. Und aus seinem Bauche holen tausend Krebse mit den scharfen Zangen lange Eisenstangen. „He, was wollt ihr mit dem Zeug?“ fragen die Korallen. „Einen Kahn uns bauen, einen Eisenkahn.“ „Und was dann?“ „Und dann sehen, was er kann! Kann er schwimmen oder nicht,
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sinkt er in die Tiefe, oder hebt er sachte sich über schroffe Riffe ...“ „Kann man bauen einen Kahn nur aus Eisenstangen?“ „Oh, man kann, oh, man kann, mit den scharfen Zangen ...“ Und so baun die Krebse, viele hundert Meter tief, nah am Hafenriff einen Eisenkahn. Mit den scharfen Zangen und aus lauter Stangen ... „Bravo, ein schönes, ein wunderschönes Lied l Und wie gut du singen kannst, Schellfisch“, lobte Nicos’ Freund. Tatsächlich, der Schellfisch war nicht nur ein Sänger, er hatte sogar eine Stimme! „Erweist mir die Ehre und hört euch noch das Lied von den Molchen an“, bat der Meister. Doch Nicos bedankte sich und erklärte,
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sie hätten es eilig. Er wolle schließlich noch das ganze Meer sehen. Da lachte der alte Schellfisch. „Das ganze Meer, mein Sohn? Weißt du, wie groß das ganze Meer ist? Nicht kleiner als eure Erde. In meiner Jugend bin ich einmal aufgetaucht und habe sie mir angesehen. Damals sagte ich auch, die ganze Erde wollte ich kennenlernen. Das hörte der Tausendfüßler und lachte. Soso, die ganze Erde, höhnte er. Die habe nicht einmal ich mit meinen tausend Füßen durchwandert. Was willst du schon mit deinen paar Flossen ausrichten?“ In der großen Bibliothek, in der einst der weise GluckBlub gearbeitet hatte, saßen jetzt zwei Tintenfische als Schreiber. Links neben der Bibliothek lag das Schlafgemach des Kraken. Das Bett stand mitten im Raum. Es war ein riesiger Schwamm, auf dem alle Freunde von Nicos bequem Platz gehabt hätten: der lahme Costas, Piff, der Sohn des
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Kapitäns Arnaoussis, Stavros, der Enkel des Küsters, Maro, das Mädchen mit den Kieselsteinaugen, und all die anderen. Nicos konnte sich nicht zurückhalten, nahm Anlauf und sprang hinein. Im Nu war er im weichen Schwamm versunken. „Oh, ist das ein Bett!“ Nicos stöhnte und machte es sich bequem. Über dem Bett spannte sich ein Baldachin aus der Haut der Meeresschlange. Links und rechts standen Schleierschwänze, die dem Kraken einst frisches Wasser zufächeln mußten. Sie hatten sich so sehr an diese Tätigkeit gewöhnt, daß sie nicht einmal jetzt, da der Krake nicht mehr da war, davon ablassen konnten. „Genug getobt, wir wollen weiter“, rief der Mondfisch. Aber der dicke Schwamm gab nicht nach, und Nicos konnte sich nicht aufrichten. So schwamm sein Freund heran, reichte ihm lachend die Flosse und zog ihn hervor.
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In allen Räumen, die sie noch durchquerten, herrschte die gleiche Verschwendung. Doch alles wurde übertroffen von der Pracht des Thronsaales. Die Wände bestanden aus verschiedenfarbigen, funkelnden Edelsteinen, den Fußboden bedeckten Rechtecke aus Gold. Das einzige Möbelstück des Raumes war der gewaltige Thronsessel aus Meerschaum. Er war über und über mit schwarzen Perlen bedeckt, die wertvollsten, die es gibt. Über dem Thron schwebte ein duftiger Baldachin aus schillernden Libellenflügeln. Im Saal waren viele goldene Käfige aufgehängt. Solche Käfige hatte Nicos bereits in den anderen Räumen bewundert. „Was sind das für Käfige?“ fragte er den Mondfisch. „Ich will dir jetzt das Ende dieser Geschichte erzählen“, antwortete der Fisch. „Du siehst das helle Licht, das von mir ausgeht. Man
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nennt mich Mondfisch, weil meine Gefährten und ich eine ganz besondere Eigenschaft haben. Bei Vollmond tauchen wir auf, saugen uns an der Meeresoberfläche mit Mondlicht voll und können es hier in der Tiefe ausstrahlen. Jedesmal, wenn am Himmel der Vollmond steht, stecken wir unsere Mäuler aus dem Wasser und trinken das weiße Licht. Wir trinken und trinken, bis unsere Körper durchsichtig werden und wir zu leuchten beginnen. Wir verschenken das Licht, und wer es sieht, dem bringt es Freude und Glück. Der häßliche Krake fühlte sich in seinem finsteren Schloß nicht sicher. All diese herrlichen Gegenstände, die du um dich siehst, zeigen erst ihre volle Pracht, wenn Licht darauf fällt. So ließ der Krake uns fangen und in diese Käfige sperren.“ „Als Laternen?“ fragte Nicos entsetzt. Der Mondfisch nickte. „Ich selbst wurde in
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dem Käfig dort links vom Thron gefangengehalten. Die Zeit verging. Der Krake herrschte mit Grausamkeit und Schrecken über die Bewohner des Meeres. Zwar war Gluck-Blub in die Bibliothek eingeschlossen, doch keine dicken Mauern und Schlösser konnten seine Zauberstimme hindern, nach außen zu dringen. Der weise Delphin hatte einen Plan. Er wußte, daß wir, die Mondfische, eingesperrt waren, und darauf stützte er sich. Denn bald müßte der Augenblick kommen, da sich unsere Lichtquellen erschöpfen würden. Unsere Leuchtkraft nahm tatsächlich von Tag zu Tag ab, bald gab es nur noch einen blassen Schimmer in den Sälen des Palastes. Der Krake, der unser Geheimnis nicht kannte, tobte und drohte, uns umzubringen, wenn wir nicht sofort wieder leuchten würden. Alles Drohen half nichts, eines Tages versank der Palast im Dunkel. Von seinem
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Reichtum und seiner Pracht war nichts mehr zu sehen. Gluck-Blub hatte inzwischen allen Freunden seinen Plan mitgeteilt. Sie warteten auf das Signal. Vielen dauerte es schon zu lange, und sie knurrten. Doch bei solchen Dingen muß man Geduld haben, sagte der weise Delphin. Eines Tages – im Schloß war es stockfinster, und der Krake schlief – hielt er den Augenblick für gekommen. Er schickte den kleinen Pilotfisch als Boten aus. ,Es ist soweit, der Krake schläft. Wir müssen zusammenhalten, einig sind wir stark, jetzt oder nie!’ So schrie der kleine Pilotfisch. Und zugleich hörten alle die Wunderstimme des Delphins: Morgen werden wir frei sein!’ Die Meeresbewohner nahmen ihren ganzen Mut zusammen und strömten zum Schloß. Es war ein gewaltiger Zug. Gluck-Blub gab von der Bibliothek aus die letzten Anwei-
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sungen. Dann stürmten wir los. Den Stechrochen spritzten die Tintenfische ihre Flüssigkeit in die Augen und machten sie blind. Die Krebse packten die Stacheln und brachen sie ab. Gegen die Haie gingen die Wale mit gewaltigen Schwanzschlägen vor und trieben sie in die Flucht. Der Weg zum Schlafgemach des Kraken war nun frei. Fest und tief schlief das Ungeheuer auf seinem weichen Bett. Plötzlich packten ihn die Kräftigsten an den Fangarmen, und die Sägefische sägten sie ab. Rasch warfen die Makrelen ein Netz über ihn und schnürten es zu. Als der Krake erwachte, war er gefangen. Der schwere unförmige Klumpen wurde aus dem Schloß geschleift, auf dem großen Platz Gericht gehalten. ,Was wollen wir mit ihm anfangen?’ fragte der weise Gluck-Blub. ,Töten!’ schrien die meisten. Einige fanden,
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für das große Unrecht, das er ihnen angetan hatte, wäre ein schneller Tod eine zu leichte Strafe. Sie schlugen vor, ein großes Gefängnis zu bauen und ihn dort bei Wasserflöhen einzusperren. ,Hört mich an’, bat der weise Delphin. ,Was sollen wir unsere Kräfte für Gefängnisse vergeuden, außerdem würde uns die Nähe dieses Ungeheuers die Laune verderben. Ich finde, wir schicken ihn dahin, woher er gekommen ist. Jetzt, da er keine Arme hat, ist der Krake ungefährlich, wir werfen ihn in die Tiefe ...’ So verfuhren sie auch.“ „Wo ist der weise Delphin? Ich hätte ihn gern kennengelernt“, sagte Nicos. „Ach, das ist wohl das Traurigste an dieser Geschichte.“ Dem Mondfisch kullerten die Tränen aus den Augen. „Er, der sich am meisten für unsere Freiheit eingesetzt hat, konnte den Sieg über den Kraken nicht mit-
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erleben. Wir haben alle Meere nach GluckBlub abgesucht, doch er blieb verschwunden. Vielleicht hat ihn der Krake mit in die Tiefe gerissen.“ In diesem Augenblick setzte ein gewaltiges Tosen ein, das Wasser trübte sich, und die Meeresbewohner schwammen verwirrt durcheinander. Erschütterte ein unterirdischer Vulkan den Meeresgrund? Nicos schwang sich auf den Rücken seines Freundes, und sie schwammen aus dem Palast. Gelähmt und zu Tode erschrocken starrten die Fische in eine Richtung. „Der Lärm kommt aus der Schlucht“, sagte der Mondfisch. „Der Krake, der Krake lebt…“ Eine schreckliche Panik brach aus. Die Fische stoben auseinander. „Halt, halt, wohin?“ schrie Nicos. Er hatte sich auf dem Rücken des Mondfisches aufgerichtet.“ Dem Bösen wachsen Arme nach,
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läßt man es am Leben! Das habe ich von meinem Vater gelernt. Ihr habt den Kraken in den Abgrund gestürzt, aber am Leben gelassen. Schleppt Steine herbei, laßt uns das Böse endgültig begraben.“ Die Fische hatten Nicos verstanden. Nun waren sie sicher, daß der Krake endgültig sterben würde. Sie fühlten sich stark, schleppten fünf Tage und Nächte lang Steine herbei und warfen sie hinab. Nicos hatte sich an den scharfen Kanten die Hände wund gerissen und blutete stark. Er befürchtete, jeden Moment vor Müdigkeit in eine tiefe Ohnmacht zu fallen. Doch er biß die Zähne zusammen und arbeitete weiter. Erst als ein Berg mit einer überall sichtbaren Spitze entstanden war, hörten sie auf, Steine zu schleppen. Die Meeresbewohner versammelten sich um Nicos und den Mondfisch. „Wer ist der kluge Fisch, der uns den guten Rat gab?“ wollten sie wissen.
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„Das ist kein Fisch, das ist ein Mensch“, erläuterte der Mondfisch. „Er hat mir zweimal das Leben gerettet, einmal auf der Erde und jetzt hier unten auf dem Meeresgrund.“ „Er soll bei uns bleiben, im Palast soll er wohnen“, schlug der alte Schellfisch vor. Doch der Mondfisch widersprach. „Nicos muß wieder zur Erde zurück. So, wie wir nicht im Trocknen leben können, vermag er es nicht lange im Wasser auszuhalten. Aber er bleibt für immer unser Freund, und brauchen wir einmal seinen Rat, dann wissen wir, wo wir ihn finden: auf der Insel Lotos, im Dorf Kastania.“ So besiegten die Meerestiere mit Nicos’ Hilfe endgültig den Kraken, dieses Ungeheuer, das so grausam und gewalttätig war. Er mußte sterben, weil alle zusammenstanden. Der gute, weise Gluck-Blub, der sein Leben hatte hingeben müssen, der Schellfisch, die Krebse, die Wale, die
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Seepferdchen, das Pilotfischlein, die Sägefische, die Heringe, die Mondfische, Nicos... Nicos wurde eine große Ehre zuteil. Da hatte nämlich ein samtschwarzer, gelbgesprenkelter, schwerer Fisch den Vorschlag gemacht, ihn unter Ehrengeleit zur Meeresoberfläche zu bringen. Und so geschah es. Das Wasser brodelte von den vielen Flossenschlägen. Der Mondfisch war sehr stolz. auf den Freund und gab sein schönstes Licht von sich. Oben angekommen, prustete sich Nicos das Wasser aus dem Gesicht und atmete richtig durch. Es war Morgen, die Sonne ging gerade auf. In der Ferne tauchten sechs Fischerboote auf. Der Mann, der dort im ersten aufrecht, mit freiem Oberkörper an Deck stand, war sein Vater. Nicos wunderte sich, daß sie gemeinsam zurückkehrten, war doch jedes Boot einzeln ausgelaufen. Dem Jungen erschien der Vater wie 65
der Held aus der Sage, der nach dem Kampf gegen den bösen Drachen als Sieger heimkehrte. „Hoahooo ...“, rief der Junge. „Hoaheee ...“, kam es zurück. „Los, bring mich hin, guter Mondfisch.“ Nach ein paar Minuten schwamm Nicos neben den Booten. Die Fischer warfen ihm Leinen zu oder hielten Bootshaken hin. „Ein toller Bursche, der Petros, so weit rauszuschwimmen ...“ „Mich hat mein Freund, der Mondfisch, auf seinem Rücken getragen“, erwiderte Nicos. Doch die Männer schlugen sich auf die Schenkel und lachten und sagten, sie wären nun doch schon aus dem Märchenalter heraus. Lassen wir sie bei ihrem Glauben. Die Boote kamen rasch der Insel Lotos näher, der Wind war günstig und die Laune gut. Manchmal, wenn das Meer stürmisch ist
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und die Wogen haushoch das Land anrennen, denken die Leute, der Krake wäre am Leben und schlage um sich und peitsche das Wasser, um freizukommen. Doch das ist Unsinn. Das sind die Winde Worias und Notias, die weitgereisten Taifune, die Windhosen und der Sturm, die ihren Schabernack treiben, und sonst nichts. Das wissen wir.
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