Mus (a) Lachenmann, Helmut - Musik Als Existentielle Erfahrung

September 7, 2018 | Author: Andre Ribeiro | Category: Aesthetics, Classical Music, Philosophical Science, Science, Entertainment (General)
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Sheet music - Helmut Lachenmann...

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Helmut Lachenmann Musik als existentielle Erfahrung Schriften 1966-1995 herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Josef Häusler

Breitkopf & Härtel Insel Verlag

Der Abdruck folgender Texte Helmut Lachenmanns erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Verlage und Personen Atlantis-Musikbuch-Verlag, Zürich-Mainz: Gesc hich te und Gegenwart in der Musik von heute / Text - Musik - Gesang ( © 1975) Edition Gravis, Bad Schwalbach: Werkstatt-Gespräch (© 1971 by Musikverlage Hans Gerig, Köln, © 1990 assigned to Edition Gravis) Prof. Dr. Werner Krützfeld, Hamburg: Zur Analyse Neuer Musik (© 1973) Der Abdruck der Notenbeispiele erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Verlage Ars Viva Verlag, Mainz: Luigi Nono, II canto sospeso / Diario polacco '58 / Ha venido - Canciones para Silvia / La terra e la compagna / La Victoire de Guernica Atlantis-Musikbuch-Verlag, Zürich-Mainz: J. S. Bach, Messe h-moll; Giovanni Gabrieli, O magnum mysterium; Gesualdo, II sol, qual or piü splende; W. A. Mozart, Requiem Edition Gravis, Bad Schwalbach: Hans Ulrich Lehmann, sich fragend nach frühester Erinnerung (© 1985) Henle-Verlag, München: Claude Debussy, Feux d'artifice Edition Modern, München-Karlsruhe: Helmut Lachenmann, Interieur I Moeck-Verlag, Celle: Krzysztof Penderecki, Anaklasis G. Ricordi & C. s. p. a., Milano: Luigi Nono, Per Bastiana - Tai-Yang Chenj Schott Musik International, Mainz: György Ligeti, Lontano Universal Edition Wien-London: Alban Berg, Wozzeck; György Ligeti, Apparitions (© 1964) / Atmospheres (© 1963); Karlheinz Stockhausen, Gruppen (© 1 963) ; Anton von Webern, Bagatel le op. 9/6 / Orchesterstück op. 10/4 (© 19 23/ 51) BV 247 ISBN 3-7651-0247-4 (Breitkopf & Härtel) ISBN 3-458-16768-4 (Insel) © 1996 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden Alle Rechte vorbehalten Gestaltung des Schutzumschlags: Hermann Michels Foto des Schutzumschlags: Charlotte Oswald Satz: Lihs, Satz und Repro, Ludwigsburg Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Printed in Germany

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INHALTSVERZEICHNIS IX

LUIGI NONO: FÜR HELMUT VORWORT DES HERAUSGEBERS I. THEORETISCH-PRAKTISCHE

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GRUNDLAGEN

Klangtypen der Neuen Musik Zur Analyse Neuer Musik Bedingungen des Materials Vier Grundbestimmungen des Musikhörens Affekt und Aspekt Über das Komponieren Zum Problem des Strukturalismus

1 21 35 54 63 73 83

II. MUSIK UND GESELLSCHAFT Zum Verhältnis Kompositionstechnik -(-ändernden) Gesellschaftlicher Standort Zur Frage einer gesellschaftskritischen Funktion der Musik Die gefährdete Kommunikation Zum Problem des musikalisch Schönen heute Musik als Abbild vom Menschen Hören ist wehrlos - ohne Hören Von verlorener Unschuld

93 98 99 104 111 116 136

III. IN EIGENER SACHE Werkstatt-Gespräch Selbstportrait 1975 (Einführung zu „Schwankungen am Rand") Struktur und Musikantik (zu „Salut für Caudwell") Vom Greifen und Begreifen (zu „Ein Kinderspiel") Accanto Siciliano - Abbildungen und Kommentarfragmente (zu „Tanzsuite mit Deutschlandlied") Nicht mit Beethoven und nicht vor Späth (zu „Staub" für Orchester, Gespräch mit Hans Brender) Fragen - Antworten (Gespräch mit Heinz-Klaus Metzger) Paradiese auf Zeit (Gespräch mit Peter Szendy) Musik als existentielle Erfahrung (Gespräch mit Ulrich Mosch) Über mein Zweites Streichquartett

145 153 155 162 168 178 186 191 205 213 227

IV. ÜBER KOMPO NIST EN Luigi Nono oder Rückblick auf die serielle Musik Hat das Werk Anton Weberns 1970 eine aktuelle Bedeutung? Über Luigi Nono

247 258 259

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Über Schönberg Mahler - eine Herausforderung. Antworten auf fünf Fragen Nono, Webern, Mozart, Boulez Text zur Sendereihe „Komponisten machen Progr amm" Zum Tod von Fritz Bücht ger Zu Hans Zenders 50. Geburtstag Über Nicolaus A. Huber Laud atio für Hans Ulrich Lehma nn

261 263

Nachruf auf Luigi Nono Von Nono berühr t John Cage Heinz Hollige r

293 295 306 307

270 279 280 284 287

V. IN NONOS NAMEN Gesc hichte und Gege nwar t in der Musik von heute (Vortrag Nono s, Darms tadt 1959) Text - Musik - Gesang (Vortrag Nono s, Darms tadt 1960)

311 317

VI. POLEMIK In Sachen Eisler (Brief an „Kunst und Gesellsc haft")

329

Offener Brief an Hans Werner Henze Nachzutra gende Gedanken

331 334

VII. MISCELLANEA Kunst, Freiheit und die Würde des Orchestermusikers Über Tradition Geda nken zur Musik des Vbrbarock Komponieren im Schatten von Darmstadt Idee musicale Herausforderung an das Hören (Gespräch mit Reinhold Urmetzer) Vier Fragen zur Neuen Musik Aufgaben des Fachs Musiktheorie in der Schulmusik-Ausbildung

337 339 341 342 351 352 357 359

VIII. WERKKOMMENTARE Fünf Variationen über ein Them a von Franz Schube rt Souvenir. Kommentar I Souvenir. Kommentar II Echo Andante Wiegenmusik Scenario Trio fluido. Kommentar I Trio fluido. Kommentar II Interieur I Consolation I Consolation II VI

367 368 369 370 371 372 373 374 375 ,

376 377

temA Notturno Air Pression Dal niente Guero. Kommentar I Guero. Kommentar II

378 379 380 381 382 383 384

Kontrakadenz Gran Torso Klangschatten - mein Saitenspiel Fassade Accanto Salut für Caudwell Les Consolations < Tanzsuite mit Deutschland lied Ein Kinderspiel Harmonica Mouvement (- vor der Erstarrung) Ausklang

385 386 387 388 389 390 391 392 393 394 395 396

Staub Allegro Sostenuto Zweites Streichquartett Tableau „.. . Zwei Gefühle .. ." Drei Werke und ein Rückblick (Streichtrio - Pression - Allegro Sostenuto)

397 398 399 400 401 402

IX. ANHANG Musik im Klassenkampf. Zur Kampfmusik Hanns Eislers (zum Brief an „Kunst und Gesellschaft") Tagebuchnotiz und Tonband-Protokoll

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(zur -Auseinander setzung mit Hans Werner Henze) Kunst Politik - Kommerz (Bericht Lothar Mattners über die Bonner Fachkonferenz vom 29. 9. 1986)

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X. FUSSNOTEN

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XI. BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE

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XII. WERKVERZEICHNI S

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XIII. DISKOGRAPHIE

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XIV. REGISTER



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ANSTELLE EINER WIDMUNG

IX

X

XI

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LUIGI NONO: FÜR HELMUT „In der Philosophie fühlt man sich gezwungen, einen Begriff in einer bestimmten Weise zu betrachten. Was ich tue, ist, andere Betrachtungsweisen zu setzen oder sogar zu erfinden. Ich lege Möglichkeiten nahe, an die ihr nie gedacht hattet. Ihr meintet, es gebe nur eine oder höch stens zwei Möglichkeiten. Doch ich brachte euch auf andere Möglichkeiten ... damit habe ich euch von eurem Geisteskrampf befreit..." (persönliche Mitteilung Wittgensteins an seinen englischen Biographen, vergleiche Aldo Giorgio Gargani, Wittgenstein tra Austria e Inghilterra, Turin 1979, S. 15)* DOCH wie viele weiterhin „herrschende oder angeblich herrschende" Geisteskrämpfe drohen, unterschiedliche und andere mögliche Neuerungen - es gibt so viele heutzutage in den ver schiedenen Bereichen der Kultur - zu banalisieren zu verkennen zu behindern zu verdammen; Geisteskrämpfe, die sich widersetzen: den Bedürfnissen, der Dringlichkeit, Gedanken Kenntnisse Analysen Gefühle Lebensgemeinschaften zu erweitern, zu beleben, statt abzutöten: das Leben in seiner problematischen Vielschichtigkeit die Kultur in ihrer problematischen Vielfältigkeit! EINSCHLIESSLICH MUSIK, UND WIE!!! Helmut Lachenmann beispielhaftes Beispiel ist anders ist verschieden schafft Neues und natürlich sind unreife und mißtrauische, ihrer Geisteskrämpfe wegen LEERE ARTUSI unfähig, dies zu hören, dies zu lesen auch wegen der Selbstgefälligkeit ihrer „Repertorien von scheinhaften und ornamentalen Bil dern über die tatsächlichen Aufbaumechanismen unseres WISSENS und über die SOZIALEN und INTELLEKTUELLEN Kräfte, die den Boden der eigenen Kodifizierung noch nicht ge funden haben" (aus // sapere senza fondamenti von Aldo Giorgio Gargani, Turin 1975)

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JE MEHR STREN GE beim Denken beim Suchen beim Versuchen in Verbindung mit schöpferischem erneuerndem Glück JE MEHR AUSHEBELUNG der Regeln des inzwischen abgedroschenen Spiels JE MEHR ABENTEUERLICHE

WAGHALSIGE ROUTEN auf offener See, zwischen phantastischen Abgründen und Sternenräumen die es zu ent-decken und aufzu-decken gilt

JE MEHR WACHSTUM dem Denken in und mit der Sprache (Karl Kraus) zuteil wird JE MEHR AB KEHR von der lästigen akademischen Angeberei mit dem repetiti ven Handwerk eines „Könnens" nach Stundenplan, das eigentlich vom täglichen Markt standardisiert ist JE MEHR HINGABE STATT DESSEN an die Dringlichkeit eines „Müssens" auch in der „schöpferischen Muße", für Erleuchtungen, für Experimente, die an sich schon faszinierend sind, und für das Erdenken „ANDERER MÖGLICHKEITEN" JE MEHR INTELLIGENZ, die offenste Giordano Bruno und die unendliche Vielheit der Welten DAS INNERSTE, das am meisten Hölderlin-Natur ist DIE INTUITION, die erstaunlichste DER BAUCH, instinktiv und am unerwartetsten ALL DAS AUCH UND GERADE BEIM HÖREN der Stimmen, der vielen, die in uns leben (Tradition - Kulturen - Erinnerungen) die mit uns leben in der leider frenetischen Problematik der politisch-sozialen Aktualität (einer Problematik, die immer noch und immerfort ANDERE GEDANKEN ANDERE GEFÜHLE ANDERE KENNTNISSE UND ROUTEN UND KÄMPFE UND ANALYSEN voraussetzt und anzeigt, KONFRONTATIONEN ALLESAMT VOLL DER ERNEUERUNG entgegen jeder Art von nachgemachtem, eingeeb netem, vorprogrammiertem, bis zur totalen Aphasie erstickendem MODELL, und darüber hinaus)

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DANN SIND MÖGLICH desto mehr verschiedene und andere Möglichkeiten zu erfassen eben im bisher Unmöglichen desto mehr verschiedene und andere Hörbarkeiten wahrzunehmen eben im bisher Unhörbaren desto mehr verschiedene und andere Lichter zu lesen eben im bisher Unsichtbaren im bisher Unsagbaren DIES IST MÖGLICH WENN AUCH VIELLEICHT DOCH SICHER IST: diese schwache messianische Kraft ist uns gegeben, sie liegt in uns vergeuden wir sie nicht, lehrt uns Walter Benjamin Helmut LÄUFT STOLPERT FLIEGT NOCH GESPANNTER VOLLER DRANG NACH DEM UNBEKANNTEN er bemerkt fortwährend Verschiedenes Anderes er hört fortwährend Verschiedenes Ander es er schreibt fortwährend Verschiedenes Anderes bei seinem authentischen Vagabundieren als authentisch moderner Musiker-Mensch, einer der GANZ WENIGEN, die ich kenne, und nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland. und die verschiedenen „ARTUSI" von heute sind nicht einmal entfernte Enkelchen des ANTIMONTEVERDI-Artusi, so gestaltlos und angepaßt ist ihr Gesicht Luigi Nono VENEZIA 9-11-83

(Erstveröffentlichung in italienischer Sprache: Schweizerische Musikzeitung, NovemberDezember 1983 - für diesen Band übersetzt von Barbara Maurer und Josef Häusler)

* Nono hält den Abschnitt für ein Zitat aus „Über Gewißheit" von Wittgenstein - siehe das Fak simile, S. IX -, weil er die Anmerkungen 8 und 9 von Garganis Text verwechselt hat. (Anmer kung der Übersetzerin)

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VORWORT „Bilde, Künstler, rede nicht!" Goethes lakonische Aufforderung, auch heute bisweilen noch ins Treffen geführt, mochte ihre Berechtigung haben zu einer Zeit, da über den ästhetischen Kanon so gut wie ungetrübte Einmütigkeit herrschte, da künstlerisches Bilden sich an festen Bezugs punkten, an unverrückbar scheinenden Normen, an allgemein verbindlichen und allgemein ver bindenden Vorstellungen des Guten, Wahren, Schönen orientierte und hierin seine Veranke rungen fand. Nicht, daß es unmöglich gewesen wäre, wider den Stachel zu locken. Aber Er weiterung, Grenzgang, Ausbruch waren doch stets bezogen auf ein regulierendes Zentrum, und künstlerischer Wagnisgrad entschied sich an Spannungsdichte und Entfernungsmaß in bezug auf diese Basis, diesen Leuchtturm, der immer sozusagen in Sicht- und Rufweite verblieb. Un ter Voraussetzungen solcher Art mag das Bilden in der Tat des Redens entraten: Wo die Koor dinaten sicher sind und das Weltbild geschlossen, wo der Künstler sich aufgehoben weiß zwar nicht unbedingt in der ungetrübten Zustimmung der Zeitgenossen, so doch im Gefüge einer all verbindenden Weltsicht und Geistesschau, bedarf es des Rechtfertigens, der Verteidigung, der Erklärung, Eigen-Deutung und Positionsbestimmung nicht, es sei denn auf dem eher margina len Feld der Konkurrenz- und Richtungskämpfe. Hier mag es denn wohl auch um Prinzipielles gehen, kaum indessen um Grundfragen, die an Existentielles rühren, an das Wesen, die Funk tion, die Notwendigkeit von Kunst ganz allgemein. Von Goethes Sicherheit sind wir weit entfernt. Wir sehen uns, mit Schönberg zu sprechen, auf eine härtere Straße verwiesen, die Verbindlichkeiten von ehedem sind in den Turbulenzen weit- und geistesgeschichtlicher Stürme und Revolutionen dahingesunken, die Selbstgenüg samkeit des Künstlers erweist sich als überlebter Traum. Kunst ist nicht länger mehr eine fest gesetzte Größe, holder Überbau, emotionales Ornament, Schmuck des Daseins und der Seele, Gegenstand der Erbauung. Sie ist nach wie vor: Medium und Resultat von Reflexion, Emana tion des Geistes, Forderung und Appell an ihr Gegenüber. Doch im gleichen Maß, in dem sie einstmals fraglos behaupteter Kodices sich entschlug, ist ihr Weg zu diesem Gegenüber länger und dorniger geworden, insbesondere die Musik vermag davon ihr leidvoll Lied zu singen. Doch um von jetzt an bei der Musik zu bleiben: Nicht allein die Renitenz des Publikums ist zu beklagen, das schon den Vätern der Moderne den Rücken kehrt, zumal dort, wo sie nicht auf neoklassizistischen oder neobarocken Pfaden wandeln - von zwölftönigen, bruitistischen Bah nen oder den seriellen Abenteuern Jüngerer ganz zu schweigen; Musik im Sinn einer sorgsam erdachten, verantwortungsvoll erwogenen Äußerung des Geistes gerät zunehmend unter den Druck einer industriell fabrizierten, mit verbrauchtesten Klischees operierenden, zum alsbaldi gen Verbrauch bestimmten, unverhüllt populistischen Flut tönenden Schwalls, unter den Druck dessen, was Claude Debussy „das häßliche kleine Geräusch" genannt hat, ohne zu ahnen, daß es einmal zu einem großen würde. Dies fordert den Komponisten auf eine neue Weise heraus, aber dies nicht allein. Weiteres und Älteres kommt hinzu. Die mannigfachen Entgrenzungsprozesse, die im Lauf von nun bald einem Jahrhundert in musicis eingetreten sind, verlangten und verlangen vom Kompo nisten auch verbale Deklaration: Verteidigung der eigenen Intentionen und Positionen ge genüber dem Vorwurf von Willkür und Scharlatanerie; Behauptung und Sicherung persön licher Funde; Erklärung und Begründung von Verfahrensweisen; theoretische Reflexion; Klarlegung von künstlerischen Forderungen allgemeiner Art. Unter diesem Aspekt ist es in zwischen geradezu zum Kriterium eines seiner selbst bewußten, verantwortungsvollen Künstlertums geworden, daß es sich nicht auf die Einschichtigkeit von Notenpapier und Atelier be-

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schränkt, sondern mit Entschiedenheit auch das Wort ergreift: „Bilde, Künstler, aber rede auch!" Der Komponist Helmut Lachenmann hat sich in diesem Sinn oftmals zu Wort gemeldet. Hel mut Lachenmann, der führende Kopf unter den Komponisten seiner Generation, ein Musiker, dessen Schaffen längst bei der Fachkritik auf hohen Respekt, auf Anerkennung und Zustim mung zählen kann, ohne daß dieser ideellen Wertschätzung eine adäquate Präsenz in der Rea lität des normalen Konzertlebens zur Seite stünde. Dies hat nicht nur mit der unter Melomanen weitverbreiteten Zögerlichkeit gegenüber Zeitgenössischem generell zu tun, Diese sondernSprache in hohem Maß auch mit der Eigenart von Lachenmanns Sprache und Handschrift. stellt hohe Forderungen an Intelligenz und wache Offenheit des Hörers; die Handschrift mit ihren Ausgespartheiten, klanglichen Grenzgängen und oftmals unvertrauten, neuartigen Spielanwei sungen bildet einen nicht geringen Appell an die Lernbereitschaft der Ausführenden, dem sich Dirigenten und Klangkörper nicht selten entgegenstemmen, wenn es nicht - wie mehrfach geschehen - zur offenen Auf- und Ablehnung kommt. „Schönheit als Verweigerung von Gewohnheit" - selten genug werden die Chancen zu geistiger Erneuerung, zu mentaler Reini gung, die in dieser Devise Lachenmanns beschlossen liegen, erkannt und genutzt. Ihm, Lachenmann, ist es darum zu tun, unreflektiert weitergetragene Besetztheiten in Material und Hörbereich auszuschalten und dadurch auch im Gegenüber die Sensibilität für einen erneuer ten Umgang mit dem Phänomen Musik, dem Medium Klang zu schaffen. Der Stachel des Wi derstands, der solchem ist, daß soll erlebbar werden seinerseits im Hö rer die Kräfte geistigerVorgehen Aktivität eingeschliffen mobilisieren, auf er sich nicht im und Warmbad gefällig-ge fühligen Wohlklangs einlulle, sondern Musik im und als Wachzustand erlebe, als Aufforderung zum Tätigsein, und dies durchaus auch im politischen und gesellschaftlichen Sinn. Aus solcher Anstrengung gewinnt Lachenmanns Musik, die häufig und durchaus absichtsvoll wie ein Ne gativbild des Gewohnten anmuten mag, ihre Kraft zur Neukonstitution von Sprachbausteinen und Sprachzusammenhängen, gewinnt sie ihre Physiognomie eines zwischen Ersticken und Ausbruch, Abstraktion und Gegenständlichkeit facettenreich ausgespannten Klangbilds. Quasi präludierend sind in dem vorhergehenden Abschnitt schon einige der Leitgedanken angeklungen, welche die schriftlichen Zeugnisse und Äußerungen Helmut Lachenmanns durchziehe n. Dieser Band faß t - von zwei älteren Ausnahmen abgesehen - die Essays, Studien, Exposes, Analysen, Polemiken und Werkkommentare zusammen, die seit 1966 entstanden

Klangtypen Neuen Musik, sind, jenem instruktiven Aufsatz denbeiden Lachenmann selbst seit als sein musikliterarisches Opus über Eins betrachtet. Die der Ausnahmen sind jene Vor träge Luigi Nonos, die 1959 und 1960 in Darmstadt für beträchtliches Rumoren sorgten, und die Helmut Lachenmann nach den Intentionen seines Lehrers im einzelnen formuliert hat. Die Einordnung der diversen Beiträge in acht Gruppen oder Kapitel geschah nach Maßgabe eines jeweils vorherrschenden Gesichtspunkts, darf aber höchstens im Fall der achten Gruppe, der Werkkommentare, als systematisierende Rubrizierung verstanden werden, denn nur selten bewegen sich Helmut Lachenmanns Gedankenbahnen in starrer Fixiertheit auf das Eine und Einzige, wiewohl er nie sein Thema aus dem Auge verliert. Doch betreibt er auf dem Gang sei ner Erörterungen so etwas wie „thematische Arbeit": Er betrachtet seinen Gegenstand unter mehreren Aspekten, nimmt ihn zum Anlaß von Ausblicken, Rundblicken, Rückblicken, An lagerungen, behandelt das Besondere stets unterm Aspekt des Allgemeinen. Immer geht die Argumentation aus der der eigenen, als Grundgesetz wirkenden Man sollte dies nicht als Sicherheit primitive Egozentrik sehen, vielmehr handelt es sich Position dabei umhervor. die fest gefügte Gewißheit einer Welt- und Geistesschau, die sich eingebunden weiß in die großen Tra-

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ditionen abendländischen Denkens, in die Überlieferung eines Hoch-Begriffs von Kunst, wie er mit den Namen Bach, Beethoven, Schönberg zu umreißen wäre, und es handelt sich auch um das unverrückbare Bewußtsein der moralischen Verpflichtung, die aus solcher Einbindung not wendigerweise erwächst. Deshalb haben viele der Äußerungen Helmut Lachenmanns etwas vom Appell an sich: vom Appell dessen, der das eigentliche Ethos von Kunst durch Bequem lichkeit, mangelnde Reflexion, oberflächliche Libertinage, Vermarktung und Vermassung ge fährdet, bisweilen gar verraten sieht. Von hierher erklärt sich die kritische Grundhaltung im Denken Lachenmanns gegenüber manchen Erscheinungen der Gegenwartsmusik nicht nur im U-Bereich, erklärt sich der nicht selten offen zutage tretende polemische Impetus, der selbst vor international angesehenen, weltweit respektierten Persönlichkeiten der heutigen Musik nicht Halt macht und der durchaus nicht nur die Visitenkarte eines zornigen jungen Mannes gewesen ist, wie die Stuttgarter Auseinanderse tzung mit Hans Werner Henze von 1982 beweist. Aus der verfassungsstiftenden Funktion aber einer von früh an als unausweichlich und tragfähig erkannten Überzeugung wächst eine Konstante der allgemein gehaltenen, nicht auf ein bestimmtes Werk zentrierten Texte Lachenmanns: der Bezug aufs Eigene, aber auch die Um kehrung davon: der Blick aufs Allgemeine vom Ausgangspunkt des Eigenen her. Bisweilen ereignet sich eine derartige Überkreuzung der Perspektiven auch dort, wo es von vornherein ums Besondere geht. Ich meine damit speziell zwei Beiträge, die Lachenmanns ver ehrtem Lehrer Luigi Nono gelten: die Studie Luigi Nono oder Rückblick auf die serielle Musik von 1969 und den anläßlich des 50. Geburtstags von Nono entstandenen Essay Über Luigi Nono (1973/74). Am Ende des ersten entwirft Lachenmann in gedrängter Form eine Skizze davon, wie und auf welche Weise künftige Musik über Nono hinausgehen könnte und sollte, wobei er zweifellos die Vision seiner persönlichen Wege und Vorstellungen im Blick hat; im zweiten gerät ihm der Schlußsatz zu einer Apologie des Widmungsträgers, die aber gleichzei tig - bewußt-unbewußt? - die Grundlinien des eigenen Schaffens und Verhaltens brennpunkt artig zusammenfaßt: Es gelte, heißt es da, von Nono zu lernen, „daß es keinen glaubwürdigen Weg für die Musik ohne eine aufgeklärte Kompositionstechnik, daß es zugleich aber auch kein aufgeklärtes Komponieren geben kann ohne die Verankerung in einer verantwortungsvollen Gesinnung, die übers bloße Musikmachen hinausreicht, und daß es nicht geht ohne den Willen und die Bereitschaft, für solche Gesinnung mit seiner ganzen Existenz einzustehen". Man darf dies ungescheut eine ethische Grundsatzerklärung nennen. Der Möglichkeiten, Vergleichbarem zu begegnen, sind in diesem Sammelband viele. Ich wähle als Beispiel eine Passage aus dem Aufsatz Zum Problem des musikalisch Schönen heute von 1976: „Sich aus drücken, heißt...: vorweggegebenen Vermittlungskategorien als Objektivation geltender Nor men den Widerstand entgegensetzen, den die in ihnen verkörperten Widersprüche und Unfrei heiten herausfordern. Es ist dies der Widerstand, welcher den Menschen an seine Fähigkeit und Verantwortung erinnert, sich selbst zu bestimmen und seiner Unfreiheit bewußt zu werden. Sich ausdrücken, heißt deshalb: gesellschaftliche Widersprüche als durchschaubare bewußt machen, heißt: sich des menschlichen Anspruchs auf Freiheit, heißt: sich des,humanen Poten tials' entsinnen. Ein Schönheitsanspruch, welcher diese Konsequenzen vermeidet, bedeutet Flucht, Resignation, Selbstbetrug". Die Konstante einer ethisch-moralisch-künstlerischen Grundüberzeugung als Tiefenschicht hat nun fast zwangsläufig zur Folge, daß sie sich als nahezu allgegenwärtige s Movens b ehauptet, und das will im Blick auf Helmut Lachenmanns Schriften besagen, daß sie sich immer wieder durchsetzt, daß einmal Formuliertes und als gültig Erkanntes des öfteren wörtlich oder sinn gemäß wiederkehrt. Mit anderen Worten: Die Gesamtheit dieser Äußerungen ist grundiert,

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durchzogen von einem System gleichsam gerüsthafter ideeller Leit-Themen, welche als ge schlossene Gedankengänge, im Wortlaut oder variiert, nicht selten abschnittsweise in unter schiedlichen Zusammen hängen auftreten. Damit wird di eses musik-literarische Oeuvre - und als solches darf man es getrost bezeichnen - zu einem in sich verwobenen, durch vielfache Bezüge verklammerten Organismus. Ableger und Komprimat des ideellen Leit-Themas ist das begriffliche Leit-Motiv, eine schlagwortartige Formulierung wie beispielsweise die des „ästhetischen Apparats", die zu La chenmanns festem Sprachvorrat zählt. Was darunter zu verstehen ist? Ich zitiere wiederum aus Zum Problem des musikalisch Schönen heute: „Gemeint ist damit mittelbar: das Gesamt der geltenden musikalischen Wahrnehmungskategorien in ihrer besonderen, historisch und gesell schaftlich bedingten Ausformung und Reichweite...; gemeint sind damit unmittelbar die tatsächlich verfügbaren Objektivationen dieser ästhetischen Kategorien im Alltag der bürger lichen Kultur, gemeint als deren Requisiten im weitesten Sinne etwa das gesamte vorhandene und denkbare, überlieferte und neu entwickelte Instrumentarium in Theorie und Praxis..., dar über hinaus alle im Zusammenhang mit unserem Musikbewußtsein und unserer Musikpflege entwickelten und genutzten technischen Mittel, Geräte, Begriffsapparate, Arbeitstechniken, aber auch die in unserer Gesellschaft zuständigen Institutionen und Märkte". Es ließe sich hier noch mehreres aufzählen, etwa die Verwendung des Wortes Tonalität als Sammelbegriff für (vor allem falsch verstandene) Überlieferung, oder das in nachbarlichem Zusammenhang damit gebrauchte Wort „Querfeldein-Kontakte", das Normen der zeitgenössi schen Musik meint, „welche die Begriffe ,Kunst' und ,Schönheit' nicht zu trennen vermögen von der Vermittlung und Bestätigung einer in der Gesellschaft geborgenen Ästhetik", oder die Wendungen „Dialektik von Verweigerung und Angebot", „Struktur als Polyphonie von An ordnungen" und „Musik als Trümmerfeld und Kraftfeld in einem", die zu gleichen Teilen Grundsätzliches wie Eigenes umreißen. Vom begrifflichen Leitmotiv ist der Weg nicht weit zum sprachbildlichen. Hier wäre als Bei spiel der „Komponist als Schwanz" zu nennen, „der mit dem Hund wedelt", oder Musik als „der Walkman, mit dem man hört und sich zugleich die Ohren zuhält". Es ist solchen Formu lierungen ein Salzkorn von Humor zu eigen, aber auch plastische Anschaulichkeit. Diese Sprach-Plastizität, die erst allmählich aus eher abstrakt-hermetischer Ausdrucksweise hervor wuchs, hat sich mit den Jahren zunehmend verstärkt, wie denn überhaupt seit etwa einem De zennium in Wortwahl und Wortgebrauch Lachenmanns eine Änderung festzustellen ist: Die schon immer auf Präzision bedachte Ausdrucksweise hat zu einer gesteigerten Differenzierung und Mannigfaltigkeit gefunden, dringt in Tiefendimensionen der Wortbedeutung und der WortUmfelder ein, die ihr so vordem nicht zugänglich waren. Man mag das an Fragen - Antworten, dem umfangreichen Interview mit Heinz-Klaus Metzger studieren, vor allem aber an dem großen Nachruf Von Nono berührt, der für mich die hellsichtigste und tiefstschürfende NonoWürdigung bedeutet, die bislang - zumindest in deutscher Sprache - veröffentlicht worden ist. Einfühlung, Einsicht und Artikulationsfähigkeit verschmelzen hier zu einem Amalgam von außerordentlichem sprachlichen und reflektiven Rang. Indessen bestehen bei Helmut Lachenmann nicht nur die gleichsam „innerstrukturellen" Zu sammenhänge, die ich soeben skizzierte, sondern auch übergreifende, sozusagen „großfor male". Fünf Untersuchungen, in ungleichen Zeitabständen über den Raum von vierundzwan zig Jahren verteilt, bilden innerhalb seines musikliterarischen Oeuvres so etwas wie Pfeiler oder Merksäulen, die mir das Bild einer Arkadenreihe von unterschiedlicher Weite der Bögen suggerieren. Den Ausgangspunkt bildet die schon erwähnte Studie Klangtypen der Neuen Mu-

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sik von 1966 mit ihrer umfassenden und anschaulichen Systematisierung, aus der namentlich der Begriff des „Strukturklangs" für nachfolgende Erörterungen Lachenmanns grundlegend ge worden ist. Zwölf Jahre danach greift er in dem Referat Bedingungen des Materials seine frühe ren Erkenntnisse erneut und vertieft auf, jetzt allerdings als bedeutsamen Teilaspekt einer Un tersuchung, welche bei vier materialen Grundbestimmungen ansetzt: dem „tonalen", dem „sinnlichen", dem „strukturellen" und dem „existentiellen" Aspekt. In den Mittelpunkt rückt dabei die Definition des Strukturbegriffs, die hier als Beispiel für Lachenmanns durchdacht komprimierte Ausdrucksweise jener Jahre im Ausschnitt angeführt sei: „Dem Strukturbegriff liegt die schematische Vorstellung eines charakteristischen Gefüges, einer Art Polyphonie von Anordnungen, eine Zuordnung von wie auch immer zu charakterisierenden ,Familien' zu grunde, deren einzelne Familien-Glieder bei verschiedengradiger Individualität im Hinblick auf den ihnen übergeordneten Charakter als dessen Komponenten oder Varianten zusammen wirken". Im Kontext dieser Untersuchung treten dann Zusatzbegriffe ins Spiel, denen man acht Jahre später, im vierten „Pfeiler" erneut begegnen wird: „Orgelwerk", „Manual", „Arpeggio". Doch dazwischen steht zunächst der dritte „Pfeiler", 1979 mit nur einem Jahr Abstand zum zweiten errichtet; er gilt Vier Grundbestimmungen des Musikhörens, welche übrigens analog zu denen des Materials gesehen sind, mit der Maßgabe freilich, daß an die Stelle des Wortes „sinn lich" die „Körperlichkeit" tritt und „existentiell" durch „Aura" ersetzt wird, welch letzterer Be griff allerdings auch schon in den Bedingungen des Materials eine beträchtliche Rolle spielt. Übereinstimmend mit dem veränderten Ansatzpunkt verschiebt sich nun auch die sprachliche Tonlage: Sie rückt gegenüber Früherem weniger den unmittelbar gesellschaftlichen, als viel mehr den allgemein humanitären Aspekt ins Licht. Der vierte „Pfeiler" Über das Komponieren (1986) trägt die Definitionen, Begriffe, Erkenntnisse der drei vorangegangenen Untersuchun gen weiter, spannt sie aber in bedeutsamer Weise über die mehr realen Bezirke des musikali schen Phänomens hinaus und hinüber in die geistbestimmten Höhenluft-Regionen des eigent lichen Schöpfertums. Es tut sich dabei in Ausdrucksweise und Sprachvorrat ein Zuwachs an Erfahrung kund insofern, als die jeweilige Formulierung von bereicherter Sicht der mensch lich-künstlerischen Zusammenhänge kündet und ästhetisch-psychologische Perspektiven um reißt, die beim jüngeren Lachenmann noch außerhalb des Gesichtskreises lagen, oder von de nen er damals zumindest so nicht gesprochen hätte: „Musik als sprachlose Botschaft von ganz weit her - nämlich aus unserem Innern: Erst so öffnet sich ihr Begriff aus all den kategorischen Verengungen, womit unsere Ängstlichkeit ihn domestizieren will, statt durch Brechung solcher Kategorien ihn zu öffnen, gar bis zu seiner Aufhebung... Sprache in der Musik ist Körperspra che des Geistes im kompositorischen Handeln". Im fünften „Pfeiler" schließlich - Lachenmann hat ihn 1990 unter dem Titel Zum Problem des Strukturalismus gesetzt - bündeln sich die Energien: Der Aufsatz bildet mit seinem Postulat eines „dialektischen Strukturalismus" die Summe und Bilanz der gesamten „Pentalogie", und er mündet, wie es bei Lachenmann oft ge schieht, in die Bestimmung der eigenen, gleichzeitig als Forderung gesehenen Position: „Die Frage nach der Rolle des Komponisten heute: Das kann nur die Frage sein nach seiner Verant wortung. Diese sehe ich in der Bewahrung des emphatischen Kunstbegriffs vor seiner Ver harmlosung und Kommerzialisierung". Für den Leser mag es einen Reiz von besonderer Art bilden, sich mit dieser Fünferfolge in chronologischem Zusammenhang auseinanderzusetzen: Er wird so auf höchst instruktive Weise das System der gegenseitigen Verspannungen und Ver klammerungen studieren können, das die „Pfeiler" miteinander verbindet, und es wird ihm überdies möglich sein, die Reifestadien des Lachenmannschen Denkens unmittelbar nachzuvollziehen.

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Im Ganzen erweist sich dieses Denken eingespannt in ein fixiertes Netz von Koordinaten, als deren carda nisch e Punkte drei Begriffe fungieren: „Tonalität", der „ästhetische App arat" und das Verhalten der Gesellschaft. Alle drei stehen in gegenseitig er Wechselwirkun g, alle drei auch sind so weit gefaßt, daß sie sämtliche von außen kommenden Modifikationen mühelos aufzusaugen vermögen und mithin jede mögliche Änderung des Denkmusters von vornherein durch ihre Ela stizität abfedern. In die Gefäße von „Tonalität" und „ästhetische m Apparat", wie Lachen mann sie begreift, läßt sich jeder gegenwärtige wie zukünftige Inhalt eingießen, und was das Verhalten der Gesellschaft betrifft, so ist jegliche Öffnung oder Erweiterung - wie vorsichtig oder impulsiv auch immer sieHaustieren gesch ehe -zu mühelos als listige Vereinnahmung oder als Vermehrung an exotischen definieren. Die grundsätzlich polemische Komponente des desBestands Denk ansatzes indessen zieht Überspitzungen und Verzeichnungen fast zwangsläufig nach sich. Der gleichen im einzelnen dingfest zu machen, mag dem Leser überlassen bleiben, auf ein spezielles Faktum einzugehen, kann ich mir dennoch nicht versagen. Es betrifft - siehe Luigi Nono oder Rückblick auf die serielle Musik - d i e prekäre Beziehung zwischen dem öffentl ichen Musikleben der Bundesrepublik Deutschland und Nono von den frühen sechziger bis weit in die siebziger Jahre. Sicherlich hat Lachenmann mit den Augen Nonos die Gegebenheiten so gesehen, wie er sie darstellt. Beide indessen ließen außer acht, daß es sich um ein reziprokes Verhalten handelte: Mag es aus politischen Gründen Vorbehalte und Abstinenzen gegenüber Nono gegeben haben, so hat andererseits er selbst sich aus freien Stücken mit Freunden überworfen, die hingereckten Hände Gutwilliger ausgeschlagen, wovon Helmut Lachenmann in seinem Aufsatz nicht spricht. Doch Überzeichnungen hin, Schrägperspektiven her: Die Ausschließlichkeit, die Eigengerichtetheit des Denkansatzes, die unaufhörliche Auseinandersetzung mit einem oder mehreren Ne gativmustern sind für Helmut Lachenmann sozusagen das Kräftereservoir, aus dem sich sein schöpferischer Antrieb speist. Der oben skizzierten „Pentalogie" ordnet sich mit vergleichbarem Gewicht eine wiederum fünfgliedrige Reihe von Aufsätzen zu: Die gefährdete Kommunikation (1973), Zum Problem des musikalisch Schönen heute (1976), Affekt und Aspekt (1982), Musik als Abbild vom Men schen (1984), Hören ist wehrlos - ohne Hören (1985). Allein die Aufzählung der Überschrif ten deutet schon an, daß hier nicht so sehr die „Innenseite" der Musik, ihre Bestandsaufnahme und Theorie zur Rede stehen, sondern vielmehr ihr Verhältnis zur Außenwelt und das Verhält nis der Außenwelt zu ihr: ihre Funktion und deren Widerspiegelung in den gegenseitigen Beziehungskräften von Kunst und Gesellschaft. Es ist dies ein Gedankenkreis, der Helmut Lachenmann in außerordentlichem Maß am geförderte Herzen liegt. Die möglicherweise Nono über nommene, jedenfalls durch ihn Stärkstens Überzeugung von einervon geistformenden, mithin gesellschaftlich verpflichteten und verpflichtenden Funktion der Musik einerseits, der davon untrennbare Hinweis andererseits auf die restaurativen Tendenzen und die UmarmungsStrategien der spätbürgerlichen Gesellschaft, auf das Beharrungsvermögen dessen, was Lachenmann in dem schon erwähnten weiten Sinn „Tonalität" und „ästhetischen Apparat" nennt - sie sind für ihn die eigentlichen Triebkräfte einer für den Komponisten wie den Essayisten gleichermaßen gültigen Ästhetik des Widerstands, bilden eine Art „ceterum censeo", das auszusprechen er in kaum einem seiner größeren Aufsätze unterläßt. Gewiß, die Dynamik des Tonfalls wandelt sich mit dem Fortgang der Zeit: An die Stelle der „schweren Eisenhämmer", um mit Francois Villon zu reden, tritt seit den späten siebziger, den frühen acht ziger Jahren ein leiserer Tonfall überlegener Ironie. An der grundsätzlichen Haltung ändert sich dadurch nichts. Wie sollte es auch? Radikale Umstür ze des allenthalben regierenden Kulturbe wußtseins, welche die umfassende Breite seiner Definitionen ernsthaft anzutasten vermöchten, XXII

stehen nicht zu erwarten, infolgedessen ebensowenig eine Preisgabe des Stachels, der Lachen manns Denken in Tönen und Worten spornt. Seine Reflexion indessen gelangt in jener zweiten Fünfergruppe zu Formulierungen von besonderer Eindringlichkeit. Ein Beispiel aus Affekt und Aspekt: „Das Ich, in Erkenntnis seiner Gebrochenheit, Sprachlosigkeit, in der Auseinanderset zung mit seinen bürgerlichen Bindungen und seiner Unfähigkeit, diese abzuschütteln - das Ich, tastend nach seinem Es, nach seinem ,Uber -Ich ', nach seiner Struktur in der Hof fnung auf je  nes Rettende, von dem Hölderlin sagt, daß es dort wachse, wo Gefahr sei - das Ich, sich mit teilend nicht affektiv durch die emotional sprechende Gebärde, sondern durchs suchende Han deln, über den Aspekt, der sich niederschlägt im umformenden Umgang mit dem ästhetischen Apparat und dem darin vermittelten Materialbegriff: Komponisten meiner Generation haben ihre Situation so verstanden und als Herausforderung akzeptiert". Wiederum ist hier von der eigenen Position die Rede, die auch an anderem Ort aufs deut lichste zur Sprache kommt, bisweilen mit einem Unterton der Selbstverteidigung: „Kommuni kation verweigern und zugleich erzwingen: Nur der äußersten Intensität kann dies gelingen. Umgekehrt ist gerade solche Intensität möglich einzig in der Auseinandersetzung mit den gel tenden Ausdruckskategorien, von denen das Klangmaterial - und zwar jedes - schon im vor aus besetzt ist. Musik erfinden heißt deshalb: negativ handeln, Gewohntes durchschauen und aussperren, vorweg Impliziertes aufdecken durch Unterdrücken und so vorweg Unterdrücktes freilegen. Nichts ist konstruktiver als solche De struktion. Von dem Geda nken der verweigerten Kommunikation war mein eigenes Musikschaffen nicht eigentlich ausgegangen; es hat mich vielmehr darauf hin und, auf die Dauer vielleicht: dort hindurch geführt". Das Zitat stammt aus dem Vortrag Die gefährdete Kommunikation und bezeichnet nicht nur Selbstdefrnition, sondern wird mit seinem letzten Satz - bezogen auf Lachenmanns spätere Entwicklung - zur Vor ausprojektion auf Künftiges. Selbstdefinition bedeutet auch Abgrenzung. Helmut Lachenmann hat des öfteren daraufhin gewiesen, daß und weshalb er in mancherlei vielgerühmten Erscheinungen der wenig zurück liegenden Altersgruppe die Züge von Regression erkennt, daß ihm in der Avantgarde der fünf ziger Jahre die Gleichgültigkeit gegenüber dem eigentlich ästhetischen Problem - Ausnahme Nono - ein Dorn im Auge ist (von Pierre Boulez' Harvard-Vorträgen Über die Notwendigkeit einer ästhetischen Erfahrung spricht er nicht). Er nimmt auch die jüngere Generation in den Blick, nicht ohne Skepsis und bissige Ironie zunächst, man kann's in Zum Problem des musi kalisch Schönen heute nachlesen. Doch dabei bleibt es nicht. Sechs Jahre später - in Affekt und Aspekt - gibt er ein von Verständnis, ja Sympathie diktiertes Charakterbild: „(Diese Genera tion) weigert sich, auf die eigene Bedingtheit zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange, und sie wagt es, in dieser, trotz dieser und gerade wegen dieser Bedingtheit und Entfremdung nun gerade erst recht ICH zu sagen und durchzustoßen zum direkten, unmittelbar an den Mit menschen gerichteten Affekt, im Glauben an eine durch alle Masken hindurch letztlich doch sich erhaltende Kommunikationsfähigkeit des wie auch immer verstörten Individuums". Ich möchte glauben, daß die mittlerweile in Lachenmanns Leben getretene Freundschaft zu Wolf gang Rihm wesentlich mitbeteiligt ist an solchem Wandel der portraitierenden Strichführung, welche indessen keineswegs verhindert, daß Helmut Lachenmann an späterer Stelle des glei chen Essays eine polemische Attacke gegen zwei markante Popularitäts-Protagonisten dieser Altersgruppe reitet... Auch innerhalb der zweiten „Pentalogie" kommt es zu gegenseitigen Überkreuzungen, Sprach- und Gedankenk lammern. Sie decken sich dem Leser mühelos auf , vergleicht er die mit vielen bemerkenswerten Einsichten ausgestattete Erörterung Musik als Abbild vom Menschen

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mit Zum Problem des musikalisch Schönen heute und Affekt und Aspekt. Was dagegen Hören ist wehrlos - ohne Hören angeht, so gibt dieses Referat die Gelegenheit, den Analytiker La chenmann kennenzulernen, nicht nur im überaus erhellenden Blick auf eigene Arbeiten, son dern auch auf Werke der näheren oder ferneren Tradition. Seine Durchleuchtungen des ersten Satzes aus Beethovens Harfenquartett und des vierten der Orchesterstücke op. 10 von Anton Webern suchen ihresgleichen. Übrigens ist dieser Essay seinerseits das Schlußglied einer Quasi-Trias von Texten, die mit dem Stuttgarter Vortrag Zum Verhältnis Kompositionstechnik - Gesellschaftlicher Standort von 1971 beginnt - dort findet sich das Wort „Hören ist

Vier Grundbestimmungen wehrloshat, - ohne Denken" -, und als steht: „Mittelsatz" hörens an deren Anfang dasdie Wort „Hörendie ist wehrlos - auch ohne Fühlen".des Musik Von den mancherlei Bezugnahmen auf eigene Arbeiten, die in dieser Fünfergruppe gesche hen, ergibt sich praktisch nahtlos der Übergang zu einem Kapitel, das ganz im Zeichen des Ei genen steht. Es handelt sich hier um Beiträge im Grenzbereich zwischen Autobiographie, Grundsatzerklärung, Werkkommentar und Eigenanalyse, wobei die Gewichte zwischen diesen Komponenten sich je nach Gegenstand und Anlaß auf unterschiedliche Weise verteilen und verlagern. Dem Blick aufs Eigene antwortet der Blick auf andere: mehrfach Luigi Nono selbstver ständlich, Webern, Schönberg, Mahler sodann, aber auch auf unmittelbare Altersgenossen, denen Helmut Lachenmann in kollegialer Freundschaft und Sympathie verbunden ist: Hans Zender, Nicolaus A. Huber, der hierzulande unter Wert gehandelte Schweizer Hans Ulrich Lehmann. Die in diesem Kapitel dominierende Gestalt Luigi Nonos legt es nahe, in der folgenden Sparte an jene beiden vielberufenen Darmstädter Vorträge zu erinnern, die Nono zwar in eigenem Namen gehalten hat, deren detaillierte verbale Ausformung indessen durch Helmut Lachenmann geschah. Wer seines Weges sicher und seiner Position gewiß ist, muß die Auseinandersetzung zwar nicht unbedingt suchen, hat aber auch keinen Anlaß, sie zu scheuen. Man wird in diesem Band an unterschiedlichen Orten und in mancherlei Zusammenhängen den Beweis dafür finden. In einigen Fällen indessen hat Helmut Lachenmann Anlaß gesehen, ausschließlich polemisch zu reagieren. Er hat es mit Entschiedenheit getan, geschliffen, zugespitzt, scharf: in einer Vertei digung Hanns Eislers gegen realsozialistische Verfälschungen, in der berühmt gewordenen Auseinandersetzung mit Hans Werner Henze. In den „Miscellanea" finden zumeist sich Äußerungen aus verschiedenartiger Veranlassung zusam mengetragen, kürzere Beiträge und von geringerem Gewicht, doch darum nicht ohne Bedeutung, da es sich in manchen Fällen um vorausgreifende Exposes für Referate und Dis kussionsbeiträge handelt, deren Endformulierung dann in freier Rede geschah. Doch ist dieses Kapitel auch der Ort einer umfangreichen Studie zum Generalthema der Darmstädter Ferien kurse, denen Helmut Lachenmann in psychischer Anteilnahme und physischer Teilnahme seit 1957 verbunden ist. Der Aufsatz verklammert sich auf doppelte Weise mit den beiden oben behandelten Fünfergruppen, denn zum einen enthält er ein ausführliches variiertes Zitat aus Affekt und Aspekt, zum anderen bietet er die erste Definition jenes „dialektischen Strukturalis mus", der als Thema für sich genommen den fünften „Pfeiler" der mit den Klangtypen von 1966 ansetzenden „Pentalogie" bildet. Ein Beitrag dieses Kapitels nimmt im Rahmen des Ganzen eine Sonderstellung ein: die Expertise Aufgaben des Fachs Musiktheorie in der Schul

musikausbildung. Seinem Wesen istsich dieses Schriftstückdas eher ein „Papier" als ein „Text". Dennoch haben Herausgeber und nach Verlag entschlossen, Gutachten in dieses Buch mit

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aufzunehmen, weil die gründlichst durchdachte, detaillierte Stellungnahme interessante Auf schlüsse über Lachenmanns allgemeine Sicht auf das Phänomen Musik gibt und weil sich an dieser Studie zeigt, in welch universalistischer Breite er das Fach Musiktheorie sieht, auch und gerade dort, wo dessen Lernziele nicht primär auf die Heranbildung künftiger Komponisten und Wissenschaftler, sondern auf die Anwendung im mehr laienhaften Bereich des Schulun terrichts gerichtet sind, wo es darum gehen muß, die Keime für ein aufgeschlossenes Musik verständnis kommender Hörerschichten zu legen. So wird selbst ein Verwaltungspapier zum Zeugnis jenes verpflic htenden Ethos, das die Geisteshaltung Helmut La chenmanns in ihrer To talität bestimmt. Anders als bei dieser Expertise ist den Schriften Helmut Lachenmanns vielfach eine gewisse „Plurifunktionalität" eigen. Oft wurden sie zunächst als Vorträge für den Rundfunk, für Lehr veranstaltungen oder öffentliche Anlässe konzipiert und später an unterschiedlichen Orten im Druck herausgegeben. Bisweilen verlief der Vorgang umgekehrt, nicht selten auch erschien ein und derselbe Beitrag - mitunter bei gleichzeitiger Änderung des Titels - in mehreren Organen (ich rede jetzt nicht von Teilabdrucken in Programmheften und Ähnlichem). Kaum je einmal ging es dabei ohne Änderungen ab: Helmut Lachenmann hat die Neigung, seine Texte immer wieder neu zu schleifen und zu polieren, ihnen die für den jeweiligen Augenblick oder Anlaß ihm zweckdienlichst erscheinende Sprachform zu geben. Wenn man will, kann man darin eine Entsprechung zu der generellen Lust des Komponisten an der Variation erblicken, und das fast prinzipiell angewandte Verfahren des „Umgießens" läßt sich leicht an den mannigfachen Quer verbindungen zwischen verschiedenen Texten studieren, von denen oben bereits die Rede war. Zumeist sind diese Unterschiede geringfügig bis minimal, treffen nie den Kern, wohl aber die Wortwahl, deren Glück bei der Neudurchsicht auf die Probe gestellt wird: verbale Instru mentationsretuschen, um aus der Praxis des Komponisten zu reden. Auf diese philologischen Varietäten konnte die vorliegende Ausgabe nur wenig Rücksicht nehmen: Es wurden dieser Edition die Druckfassungen zugrunde gelegt, wo solche nicht vorhanden waren, dienten Lachenmanns maschinenschriftliche Vorlagen letzter Hand aus seinem persönlichen Archiv als Grundlage. Nicht fehlen dürfen in einem Sammelband solcher Art die Werkkommentare, die Helmut Lachenmann zu Aufführungen eigener Kompositionen geschrieben hat - hier ist die Grenze zu einigen Arbeiten des Kapitels „In eigener Sache" fließend. Werkregister, Diskographie und bibliographische Hinweise sind eine Selbstverständlichkeit. Zur Bettlektüre eignen sich Helmut Lachenmanns Schriften nicht. Sie verlangen einen denk bereiten Leser, der aufgeschlossen ist für weitreichende Perspektiven und tiefgreifende Zu sammenhänge, reflexionswillig und ausgestattet mit musikalischen Kenntnissen, die über den Elementarbereich hinausgehen, möglichst auch einige Erfahrung und Vertrautheit mit den Ge gebenheiten der Musik unseres Jahrhunderts einschließen. Für jeden indessen, dem daran ge legen ist, als professioneller Musiker oder „nur" als vorgebildeter, doch interessierter Laie ein genaues und vollständiges Bild des Komponisten Helmut Lachenmann zu gewinnen, ist die Kenntnis dieser Texte unerläßlich. Sie geben Aufschluß über die eigentlichen spirituellen Triebkräfte des kompositorischen Oeuvres, ergänzen, stützen, runden es vom Ideellen und Spe kulativen her ab. Gleichzeitig gehen sie darüber hinaus. Denn sie sind von einer Art, die in an dere Bereiche hinüberwirkende Strahlkraft besitzt. Wer die Schriften gelesen hat, wird nicht nur den Autor besser kennen, er wird hinfort auch manche Erscheinung aus Gegenwart und Ver gangenheit unter verändertem Blickwinkel sehen: modifiziert, geschärft, bereichert. Letzten Endes gilt bei Helmut Lachenmann fürs Schreiben wie fürs Komponieren das gleiche pro-

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grammatische Postulat, das er mehrfach ausgesprochen hat und das ich hier ganz leicht paraphrasiere: „Beides hat Sinn doch nur, wenn es über die eigene Struktur hinausweist auf Struk turen, das heißt: auf Wirklichkeiten und Möglichkeiten um uns und in uns selbst". Den Inhalt des Bandes hat Helmut Lachenmann selbst mitbestimmt, er ist fast eine „Ge samtausgabe" geworden. Ausgeschlossen blieben allerdings einige Vorträge, die Lachenmann noch vor dem erwähnten Opus Eins an unterschiedlichen Orten gehalten hat, ausgeschlossen blieben ein paar Texte aus späterer Zeit, an deren (Wieder-)Veröffentlichung ihm nicht (mehr) gelegen ist. Helmut Lachenmann hat auch darüber hinaus am Zustandekommen des Buches im Wortsinn tätigen Anteil genommen: durch Öffnung seiner Archive, durch stetige Gesprächsbe reitschaft in Einzelfragen des Wortlauts, durch kleinere Umarbeitungen und Ergänzungen, die der neue Publikationsrahmen nahelegte, durch Neuschrift und Neu-Zeichnung von Notenbei spielen und graphischen Darstellungen. Der Hauptperson des Buches gilt somit des Herausge bers erster Dank. Nicht geringer ist der an die Leitung des Hauses Breitkopf & Härtel, deren Anteilnahme die Verwirklichung des Projekts überhaupt erst ermöglichte. Fachkundige, un ablässig hilfsbereite Beraterin und Betreuerin auf den ersten Wegstrecken war Frau Dr. Lotte Thaler, Dr. Frank Reinisch hat dem Buch mit Enthusiasmus und Intensität über die Klippen der typographischen Präsentation hinweggeholfen; an sie und an ihn gehe der dritte, den anderen beiden ebenbürtige, Dank. Baden- Baden, im Juli 1995

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Josef Häusler

I. THEORETISCH-PRAKTISCHE GRUNDLAGEN Klangtypen der Neuen Musik Die Emanzipation des akustisch vorgestellten Klangs aus seiner vergleichsweise unter geordneten Funktion in der alten Musik gehört zu den Errungenschaften der musikalischen Entwicklung in unserem Jahrhundert. Anstelle der alten, tonal bezogenen, konsonanten und dissonanten Klang-Auffassung ist heute die unmittelbar empirisch-akustische Klang-Erfah rung zwar nicht in den Mittelpunkt, aber doch an den Schlüsselpunkt des musikalischen Erleb nisses gerückt. Diese Befreiung des akustischen Aspekts hat inzwischen - bei Hörern wie bei Kompo nisten - zu einer Menge von Mißverständnissen geführt, wohlwollender und übelwollender Art, so beispielsweise zu einem zweifellos emotional begründeten Klangfarben-Fetischismus, dessen verkappte Impressionismen im Grunde nichts mehr mit dem ursprünglichen innovati ven Ansatz der Avantgarde zu tun haben. Hier soll nun versucht werden, die scheinbar unendliche Fülle empirischer Klangerfahrung auf wenige Klang-Typen zurückzuführen und so eine grundsätzliche Übersicht zu schaffen. Zweck solcher Kategorisierung kann nicht sein, etwa eine endgültige Terminologie einer von neuem allgemeinverbindlichen musikalischen Syntax zu schaffen. Solche Allgemeinverbind lichkeit gibt es seit der Verabschiedung der Tonalität nicht mehr. Der folgende Versuch macht lediglich von der Abstrahierbarkeit gewisser charakteristischer Klangmodelle Gebrauch und möchte dem kompositionstheoretisch Interessierten Handhabungen anbieten für seine Versu che, zur Faktur neuer Werke sich einen möglichst angemessenen Zugang zu verschaffen. Zur Definition eines akustisch vorgestellten Klangs sind gewiß Tonhöhe, Klangfarbe, Laut stärke und Dauer unentbehrlich, darunter besonders die Klangfarbe als Summe und Resultat verschieden hoher und verschieden lauter natürlicher oder künstlicher Teiltöne. Genau so wich tig aber wie diese vier Bestimmungen ist die Unterscheidung zwischen Klang als Zustand ei nerseits und Klang als Prozeß andererseits, anders gesagt: Klang als beliebig lange, in ihrer Dauer von außen her zu begrenzende Gleichzeitigkeit, und Klang als zeitlich aus sich selbst heraus begrenzter charakteristischer Verlauf. Betrachten wir eine Reihe verschiedener Klänge:

Helmut Lachenmann, Trioßuido, Takt 186 1

Helmut Lachenmann, Interieur I, Blatt 17 unten

Helmut Lachenmann, Trio fluido, Takt 183 So verschieden die Eigenschaften dieser Einzelklänge, ihre Komplexität, ihre Originalität sein mögen - es handelt sich hier um die Wiederholung eines einzigen Klangtyps, der sich dadurch kennzeichnet, daß er sich, auf natürliche oder künstliche Weise, in einem Zuge auf- und/oder abbaut und in solchem Prozeß seine Charakteristik entwickelt. Dieser einfachste - keineswegs primitivste - Typ sei „Kadenzklang" genannt, weil er analog der tonalen Kadenz ein charakte ristisches Gefälle hat. Man kann ihn übrigens ebensogut „Klang-Kadenz" nennen. Eine schematische Darstellung dieses Typs müßte sich auf dessen dynamischen Verlauf be ziehen und so aussehen:

Provisorisch, wie die ganze hier gewählte Terminologie, sei ein dem Kadenzklang untergeord neter Typ „Impulsklang" genannt. Dessen Einschwingvorgang ist auf einen charakteristischen Impuls zusammengezogen. Sein Ausschwingvorgang besteht aus dem natürlichen Nachhall: 3

Schematische Darstellung Hier schließlich zwei Beispiele für einen „Ausschwingklang", der aus einem typisch angeleg ten Abbau-Prozeß besteht. Der schon mit seinem Beginn zum alsbaldigen Absterben verurteilte Klang durchkämpft gleichsam noch eine gewisse charakteristische Agonie. Im Verklingen ver wandelt er sich noch, schafft sogar Crescendo-Wirkung durch nachträglich erst durchdringende Teile des Klangspektrums: 5

Jürg Wyttenbach, Klavierkonzert, Schluß der Münchener Fassung 6

Schematische Darstellung 7

Halten wir fest, daß es sich beim Kadenzklang grundsätzlich um einen Prozeß handelt, daß also die Zeit, welche erforderlich ist, um die Eigenschaft eines solchen Klangs zu übermitteln - nennen wir sie „Eigenzeit" - identisch ist mit der Zeit, die dieser Klang überhaupt dauern kann. Vollkommen anders verhält es sich mit unserem nächsten Klangtyp. War die einfachste Form eines Klang-Prozesses der Kadenzklang, so mag die einfachste Form eines Klang-Zustandes im Hinblick auf sein mehr oder weniger stationäres Spektrum „Farbklang" oder eben „Klang farbe" genannt werden. Man hat immer wieder Verwirrung gestiftet durch die Verwechslung von „Klang-Komposi tion" und „Klangfarben-Komposition". Das zweite Wort ist länger, der Vorgang selbst aber be deutend schlichter. Die stationäre Klangfarbe hat eine verschwindend geringe Eigenzeit: Das Ohr registriert augenblicklich das konstante vertikale Resultat gleichzeitiger Töne oder Teil töne. Mit solcher Eigenzeit hat die endgültige Dauer solcher Klangfarben, im Gegensatz zum Kadenzklangtyp, überhaupt nichts zu tun, der Farbklang kann beliebig lang oder kurz sein. Er muß von außen her in seiner vorgesehenen Dauer jeweils zugeschnitten werden. Das Ohr ist in formiert und saturiert, oft längst, bevor der betreffende Farbklang endet. Eine schematische Darstellung des Farbklangs könnte demnach nicht anders als so aus sehen:

mit einem nach Gutdünken zu wählenden und in die rechteckig umschlossene Fläche einzutra genden Farbmuster oder einer charakteristischen, regelmäßigen Schraffierung. Dabei könnte die Senkrechte, welche optisch die Bandbreite bestimmt, sich ebenso auf die Intensität wie auf die Klangbreite beziehen. In den folgenden Beispielen aber, die sich mit der inneren Artikula tion solcher Klang-Zustände beschäftigen, ist deren Intensität mehr oder weniger konstant vor ausgesetzt, der waagerecht dargestellten Dauer sei also im folgenden das Tonhöhen-Kontinuum senkrecht zugeordnet.

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Trotz der in diesem Darstellungsrahmen erforderlichen radikalen Vergröberung bei der graphi schen Darstellung der Musikbei spiele konnte hier das Partiturbild so gut wie unverändert über nommen werden. Hierher gehört auch das bekannte Beispiel von Ligeti - ein zunächst stationärer Farbklang, der durch einen weit gespannten Entwicklungsprozeß innerlich moduliert wird: Von den Atmospheres läßt sich sagen, es handle sich um einen - gewiß im weiteren Verlauf nach und nach transformierten, zunächst aber in seinen äußeren Konturen lediglich verschobenen - ein zigen Klang:

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In dem Maß, wie sich die Eigenschaften einer Klangfarbe nicht nur aus einem starren Spektrum gleichzeitig gehaltener Töne ergeben, sondern auch aus kleinen, mehr oder weniger perio disch wiederholten Bewegungen - im einfachsten Fall aus Trillern oder Tremoli - vergrößert sich all mählich jen e zur Identifikati on erforderliche Eigenzeit des Farbklangs, ohne allerding s deshalb vom Ohr anders denn als simultanes Farbresultat wahrgenommen zu werden:

Solche inneren Bewegungen lassen sich nun ausweiten, bis die Eigenzeit der Klangfarbe als innere periodisch wiederholte Veränderung deutlich spürbar wird. Damit hat sich der Typ ge wandelt: Aus dem gehaltenen Farbklang wird der „Fluktuationsklang", in dessen Innerem sich ein, wenn auch nur kurzer, Prozeß mehr oder weniger periodisch wiederholt. Die Wir kung bleibt dabei nach wie vor diejenige eines Zustandes; seine charakteristische Eigenzeit kommt zwar zur Geltung, hat aber mit der effektiven Dauer des Klanges selbst nichts mehr zu tun. Solche Fälle finden sich, oft schon bewußt als solche konzipiert, in der traditionellen Musik: 2

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Eine schematische Darstellung des Fluktuationsklangs könnte jegliche Art von regelmäßigem Muster für die jeweilige periodisch wiederkehrende Gestalt enthalten:

Wir kennen Fluktuationsklänge mit innerer Fluktuation, deren äußere Kontur unbewegt bleibt, wobei die Bewegung sich im Innern abspielt: 11

György Ligeti, Atmospheres, Partitur Seite 21, Ausschnitt

und wir kennen Klänge mit äußerer Fluktuation: Hier ist die gesamte Kontur des Klangge schehens in - ihrerseits periodisch kreisende - Bewegung geraten; sie läßt sich so nicht mehr simultan, sondern nur noch durchs hörende Abtasten der Gesamtbewegung sukzessiv erfahren.

Beispiel 23

Schematische Darstellung

Weitere Beispiele:

Beispiel 24

Beispiel 25

Frederic Chopin, Etüde op. 25 Nr. 11, Takte 9/10 13

Der Faktor „Zeit" hat innerhalb der Klänge mit äußerer Fluktuation schon wesentlich an Be deutung gewonnen. Ein Schnitt würde bei ihnen weder die gesamte Kontur, geschweige ihre aus den Bewegungen resultierenden Farb-Eigenschaften sichtbar machen. Diese beanspruchen unbedingt eine gewisse charakteristische Dauer, um vom Hörer in einem sukzessiven AbtastProzeß erfahren zu werden. Ist dies einmal geschehen, verflüchtigt sich das aktive Interesse an solchen, wenn nicht permanent wiederholten, so doch klar vorhersehbaren inneren Artikulatio nen, und man verhält sich dem Innenleben des Fluktuationsklanges gegenüber ebenso infor miert, saturiert und passiv wie gegenüber dem schlicht gehaltenen Farbklang. Wesentlich für den Fluktuationsklang ist der Umstand, daß, punktuell gesehen, in jedem Moment immer etwas anderes zu hören ist, indessen nie etwas Neues oder gar Unerwartetes. Anders in unserem nächsten Typ, dem sogenannten „Texturklang". Hierzu das folgende Beispiel, wie in den Beispielen 22 und 26 als Partiturausschnitt (siehe gegenüberliegende Seite). Wir haben hier einen Ausschnitt eines nach Kanon-Prinzipien gebauten Netzes aus 48 Stimmen; in jeder Stimme dieselbe Folge der Tonhöhe, aber verschiedene Zuordnung von Dauern. Die Eigenzeit hat sich in diesem Klangtyp auf unbestimmte Weise breitgemacht. Charakte ristisch für den Texturklang ist, daß er sich in seinen akustischen Einzel-Eigenschaften - im oben zitierten Fall etwa in harmonischer Hinsicht - dauernd ändern kann, ohne sich wie der Fluktuationsklang zu wiederholen. So könnte man die Eigenzeit dieses Typs für unendlich an sehen, wenn nicht schließlich doch irgendwann die Aufmerksamkeit auf das permanent neue Detail wieder umschlagen würde in ein statisches Erlebnis statistischer Gesamteigenschaften. 14

Schematische Darstellung So ereilt auch diesen dasselbe seine Vorläufer, denindividuell Farbklangverschie und den Fluktuationsklang: ErKlangtyp wird - nach einer Schicksal gewissen, wie unbestimmbaren, weil denen, Eigenzeit nicht mehr als Prozeß, sondern als beliebig verlängerbarer Zustand erlebt. Als einen solchen Texturklang - man könnte genau so gut sagen: eine „Klang-Textur" - betrachte ich zum Beispiel den Teil „Fin Il/Invitation au Jeu, Voix" aus Mauricio Kagels Sonant (1960/...) für Gitarre, Harfe, Kontrabaß und Fellinstrumente. Auszug aus der Spielanweisung: „Die Geschwindigkeit, mit der der Spieler den vorgeschriebenen Text lesen (kleine Buchsta ben) und vorlesen (große Buchstaben) wird, bestimmt die Dauer der musikalischen Ereignisse und die manuellen Aktionen dieses Abschnitts. Jeder Spieler muß in seiner Muttersprache vor lesen ..." Es ist klar, daß dieser Klangtyp, wie auch der noch zu beschreibende letzte, nur unzulänglich durch eine schematische Darstellung ausgedrückt werden kann, denn sein Typisches liegt ja eben in der von Fall zu Fall verschiedenen Anordnung beziehungsweise „Unordnung" der vor handenen Elemente. Eine schematische Darstellung des Texturklangs muß sich damit begnü gen, die Unvorhersehbarkeit und zugleich die strukturelle Irrelevanz des Details gegenüber den statistischen Gesamteigenschaften sichtbar zu machen. 15

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Betont sei noch einmal die Tatsache, daß die Gesamt-Eigenschaft einer Textur nirgends mehr notwendig identisch ist mit den momentan darin zu hörenden Detail-Eigenschaften, allerdings in dem besonderen Sinn, daß der Komplexitätsgrad des resultierenden Gesamtcharakters, als oft eher statistisch zu bewertendes Resultat von Häufungen, meist geringer ist als derjenige der im Textur-Inneren eher beiläufig sich zusammenschließenden Gestalten - so wie eben die Masse meist primitiver ist als ihre einzelnen Komponenten. Farbklang - Fluktuationsklang - Texturklang bilden gegenüber unserem ersten Typ, dem Kadenzklang, zusammen eine Familie. Sie verkörpern statische oder statistische Klangerfah rungen, deren Eigenzeit unabhängig ist von der Zeit, die sie tatsächlich dauern. In dem Maß, wie sie sich vom primitiven Simultanerlebnis des starren Farbklangs bis zum überraschungs reichen inneren Prozeß des Texturklangs auseinander entwickeln, hat sich „Zeit" darin von in nen her mehr und mehr Platz geschaffen. So nähern sie sich allmählich einem Klangerfah rungsbereich, dessen inneres Zeitgefüge so reich wird, daß es nicht nur klangliche, sondern nun auch formale Bedeutung gewinnt. Dieser Erfahrungsbereich ist erreicht in unserem letzten Klangtyp, dem „Strukturklang". Klanglicher und formaler Aspekt gehen bei ihm ineinander auf. Äußerlich bildet er die Fort setzung des Texturklangs. Dessen Bestimmung erschöpfte sich darin, bei noch so hochdiffe renzierten Detailqualitäten zuletzt doch nur einen Pauschal-Eindruck zu vermitteln. Auch im Strukturklang erfah ren wir eine Menge unterschiedlicher Details, Einzelkläng e, die keineswegs identisch sind mit dem Gesamtcharakter des Klangs, vielmehr im Hinblick auf ihn zusammen wirken. Dieser Gesamtcharakter seinerseits ist aber nun nicht wieder eine primitivere Pau schalqualität, sondern etwas virtuell Neues, durch dessen Originalität jene Details erst als des sen Funktionen sich rechtfertigen. Das bedeutet: Der Strukturklang - und was ist er anderes als eine Klang-Struktur! - hat eine Eigenzeit, die mit seiner effektiven Dauer identisch ist. Man kann ihn nicht beliebig fortsetzen wie eine Klangfarbe oder eine Textur. So präzis seine Eigen schaft sich mitteilt, sie läßt sich nicht erfahren als beschaulicher Zustand, sondern einzig als 17

Prozeß, und zwar - das unterscheidet den Strukturklang vom Kadenzklang - in einem mehrschichtigen und mehrdeutigen Abtast-Prozeß. Wir möchten aus der besonderen Qualität des Strukturklangs nicht ein bequemes Mysterium machen, das sich rationaler Untersuchung entzieht und uns so diese erspart. Solche Überlegen heit verdankt sich vielmehr gerade dem Umstand, daß in solcher Klang-Struktur nicht bloß die Eigenschaften der Detail-Klänge zu ihrer angestammten Wirkung kommen, sondern daß diese Details Funktionen einer Ordnung und Glieder präziser An-Ordnungen sind und als solche ei nen unmittelbar wirksamen Reichtum und abgestuften hungen untereinander entfalten und sichvon aus Verwandtschaftssolchem Zusammenhang ganz neu Kontrastbezie verstehen und mitteilen. Aus dem bewußt gelenkten Zusammenwirken solcher Klangbeziehungen ergibt sich jener einmalige und unverwechselbare Gesamtcharakter eines Strukturklangs. Für die Erfah rung dieses Gesamtcharakters ist also seine innere Gestaltung von Anfang bis Ende wesentlich: Von Anfang bis Ende dauert die Eigenzeit dieses Klangtyps, der so über jede simultane Klang vorstellung hinaus der formalen Projektion in einen abzutastenden Zeit-Raum bedarf. Der nachstehende, gewiß unzureichende Versuch, den Strukturklang in einer Version sche matisch darzustellen, bedient sich dreier Elemente, jedes in anderer Häufigkeit: dreimal Keil, viermal Strich, fünfmal Kreis (oder Punkt). Ebenso wie die Strichlängen, die Größengrade der Kreise und der Keile hätten auch die Richtung, die Dicke, eventuell die innere Punktierungs weise der Striche, die Farben und die Farbdichte der Punkte, die Winkelöffnung beziehungs weise Winkelrichtung der Keile usw. usw. abgewandelt werden können. Es ergibt sich ein vom Detail verschiedenes und zugleich abhängiges Gesamtbild, das nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ mehr ist als die Summe seiner Komponenten. „Struktur" läßt sich so definieren als Polyphonie von Anordnungen.

Der Stockhausensche Begriff des „Zeitgeräusches", wie er vor zehn Jahren formuliert worden war, scheint mir mit dem hier beschriebenen Klangtyp weitgehend übereinzustimmen. Ein Vorgang wie der Anfang der Gruppen, beispielsweise vom zweiten bis sechsten Takt, vermit telt nicht einfach vorzeitig eine statistische Gruppeneigenschaft, die zur Kenntnis genommen werden könnte, bevor der ganze Verlauf sich vollzogen hat; im Gegenteil: Jedes der mannigfa chen Details bildet eine unverzichtbare Ergänzung zur Übermittlung eines klingenden struktu 3

rellen Charakters, der zu seiner Mitteilung eben dieses Prozesses bedarf (Beispiel 29). Näheres über die Faktur solcher Strukturen in den Gruppen ist Stockhausens Artikel „... wie die Zeit vergeht" aus dem dritten Heft von „die Reihe" zu entnehmen. 18

Karlheinz Stockhausen, Gruppen für drei Orchester, Partitur Seite 2

Im gleichen Sinn mag die gesamte Structure Ia für zwei Klaviere von Pierre Boulez ver standen (und gehört) werden: als seriell gesteuerte Projektion eines Strukturklangs, dessen Klang-Idee eine bloß simultane Klangvorstellung weit übersteigt, und dessen Projektion in die Zeit, das heißt: dessen „Form" auf das im einzelnen dabei resultierende Detail zurückwirkt und so aus den altbekannten Klavierton-Impulsen gleichsam rückwirkend expressive Novitäten macht. (Dieses Beispiel kann hier nicht wiedergegeben werden. Es sei auf die Partitur und auf die Analyse Ligetis im vierten Heft von „die Reihe" verwiesen.) Ebenso mögen die in anderen Aufsätzen von mir beschriebenen beziehungsweise im Ansatz analysierten Werke beziehungsweise Werkausschnitte als Belege für diesen Klangtyp, der zu gleich auch formale Bestimmungen enthält, herangezogen werden - siehe die Beispiele aus Beethovens Streichquartett op. 74, Weberns Op. 10, Air, Fassade und Tanzsuite mit Deutsch landlied in „Hören ist wehrlos - ohne Hören" und in den Texten zu Accanto und zum Siciliano. Letztlich ist der Strukturklang der einzige Klangtyp, in welchem sich wahrhaft neue Klang vorstellungen verwirklichen lassen; bei ihm verschmelzen Klang- und Formvorstellung in ei nes. Form wird so erfahren als ein einziger überdimensionaler Klang, dessen Zusammenset zung wir beim Hören von Teilklang zu Teilklang abtasten, um uns auf diese Weise Rechen schaft zu geben von einer unsere bloß simultane Erfahrung übersteigenden Klangvorstellung. Und so ist der Gedanke vielleicht verwegen, aber keineswegs abwegig, sondern absolut zwingend, daß es sich bei jedem geschlossen konzipierten Werk - gleichgültig, ob seine Ab messungen die einer mehrstündigen Wagner-Oper, vielleicht gar des ganzen Rings, oder die ei nes siebentaktigen Webern-Satzes sind - um diesen Typ handelt. Durch das überlegene Niveau des Strukturklangs sind die übrigen Klangtypen nicht dis qualifiziert: Gerade jene erwähnten Teilkomponenten eines Strukturklangs werden immer aus untergeordneten Klangtypen bestehen. Diese können, wie manche Beispiele schon zeigten, miteinander moduliert werden: Eine Textur kann aus Impulsen oder aus vollständigen Ka denzklängen bestehen, ein Fluktuationsklang kann einen kadenzierenden Verlauf bekommen und so weiter. Wie schon zu Anfang angedeutet: Die hier benutzten Termini sind Provisorien, und die ganze Darstellung ist spekulativ angelegt. Sie läuft darauf hinaus, daß der Begriff und die Vorstellung von „Klang" nicht mehr unbedingt ein Homogenes im akustischen Sinne meint, sondern daß jetzt, wo Musik selbst sich als etwas Empirisches versteht, „Klang'' mindestens so gut durch die Homogenität eines sukzessiv wirkenden Ordnungsprinzips erfahren werden kann. Diese funktionelle Vorstellung von Klang hat ihr tonales Pendant in der Kadenz der alten Musik; sie ist das Resultat aus heterogenen akustischen Details, die nicht gleichzeitig, sondern nachein ander und in Beziehung zueinander geschehen. Damit ist die Grenze zwischen Klangvorstel lung und Formvorstellung fließend geworden. Das eine kann umschlagen in das andere - das eine kann das andere sein. Kadenzklang - Farbklang - Fluktuationsklang - Texturklang - Strukturklang. Oder: Klang kadenz - Klangfarbe - Klangfluktuation - Klangtextur - Klangstruktur: Begriffs-Provisorien, die dazu dienen sollten, das weite Terrain des verfügbaren Klangmaterials zu sondieren in der Hoffnung, über theoretische Überlegungen hinaus unsere empirischen Klangmöglichkeiten für die Realisierung neuer aktueller Klangvorstellungen nutzbar zu machen, und dies eben auf einem Niveau, wo es keinen Dualismus mehr gibt von „Klang" und „Form". 1966/93

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Zur Analyse Neuer Musik Im folgenden Vortrag kam der Verfasser nicht ohne einige - auf Tonband vorgeführte repräsentative Zitate aus dem Schaffen der damaligen Avantgarde aus, deren „regressive" Ele mente es offenzulegen galt. Dies war ein heikles Unterfangen, welches kaum mit dem Ver ständnis der betroffenen Komponisten rechnen konnte - möglicherweise zu Recht, denn leicht hätten die zitierten Werke so zu bloßen Einzelopfern und der billigen Häme von Zeitgenossen ausgeliefert werden können, mit denen sich der Autor nun schon gar nicht verbrüdern wollte. Die so zitierten Musikbeispiele wurden deshalb während des Vortrags mit Ausnahme der er sten beiden nicht näher bezeichnet, zumal sie stellvertretend für viele andere standen. Inzwi schen, nach fast einem Vierteljahrhundert, dürfte diese Art von Diskretion überflüssig gewor den sein. Die Nennung der damals verschwiegenen Werktitel und ihrer Autoren wird deren Ansehen heute kaum gefährd en können. Auch diese Werke haben teil an der Musikgeschichte. _ Von meiner Glossierung unberührt und ungerührt hat jedes von ihnen seinen längeren oder kürzeren Weg gemacht. An sie geknüpfte polemische Reizworte wie „regressiv" oder „dilet tantisch" mußten sich in der Zwischenzeit mehrfach neu befragen und definieren lassen. Der Autor, der sich selbst von der hier abgehandelten Gefährdung niemals ausgenommen hat, steht inzwischen in einem noch genauer differenzierten und differenzierenden Verhältnis zu den Komponisten nicht zuletzt der hier ursprünglich anonym vorgeführten und nunmehr enttarnten Werkbeispiele. x

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Die Zeiten sind vorbei, in denen die sogenannte Avantgarde um einen Platz im Kulturbetrieb kämpfen mußte: Gerade als Ungewohntes, Unberechenbares, möglicherweise Schockierendes ist Neue Musik als in diesem Sinne Gewohntes, Berechenbares und möglicherweise Aufre gendes salonfähig geworden für eine Gesellschaft, deren Unbehagen am eigenen Anachronis mus sie dazu treibt, neue und andere Formen des Behagens sich zu verschaffen. „Aufgeschlos senheit" ist eine besondere Tugend geworden in einer Gesellschaft, der die eigene Gleichgül tigkeit langweilig geworden ist. „Kühnheit" oder eben „Avantgardismus" ist wesentliches Postulat für den Komponisten heute, der die Wahl hat, als Gestriger ignoriert oder als ästheti scher Revoluzzer vielleicht belacht, eventuell aber auch im Zuge jener „Aufgeschlossenheit" behördlich gefördert zu werden. Im Zeichen solchen Trends wird Avantgarde eifrig eingebürgert, denn Regierung, Stadtvä ter, Verleger, Musikveranstalter, Plattenproduzenten, die Lehrmittelindustrie - sie alle verspre chen sich, jeder auf seine Weise, auf lange Sicht ihren Profit dabei, und nicht zuletzt die Mu sikpädagogen wittern Morgenluft; sie hoffen - und bestimmt zu Recht - einem lange Zeit in musealer Denkmalspflege und schal gewordener Volksverbundenheit von gestern dahinsie chenden Musikunterricht anhand aufregenderer Materie auf die Sprünge zu helfen. Meine Darstellung mag ungerecht sein. Sie würdigt vielleicht zu wenig den positiven Teil je ner Aufgeschlossenheit: die Bereitschaft vieler Einzelner, zu lernen, umzudenken, sich und ihr ästhetisches Weltbild durch bislang verpaßte Erfahrungen beeinflussen und verändern zu las sen. Sie verschweigt danklos die Vorteile der heute gebotenen größeren Informationsmöglich keiten aufgrund der gesteigerten Aktivität von Funk und Industrie, und sie steht möglicher weise einem Komponisten nicht zu, der doch als aktiver Nutznießer Grund hätte, dankbar und still zu sein. Wäre aber Lernbereitschaft die treibende Kraft dieser avantgardophilen Entwicklung, so müßte gefragt werden, was denn vor fünfzehn Jahren diese daran gehindert habe, ähnlich um21

fassende Informationen über das aktuelle Schaffen zu erzwingen. Tatsache ist, daß bis vor zehn Jahren im musikerzieherischen Establishment die Namen Schönberg und Webern eine äußerst periphere Rolle spielten, von den Namen derer ganz zu schweigen, die nach dem Zweiten Weltkrieg solches Vermächtnis aufgegriffen haben. Einrichtungen wie die Darm städter Ferienkurse wurden in jener Zeit für uns damalige Studenten zu einer Zuflucht umsomehr, als die dort entwickelten Theoreme und ästhetischen Modelle in Musikhochschulen ausgesperrt blieben. Heutewelche wird kaum ein unter Musikpublizist den Mut haben, öffentlich zu untersuchen, denn endlich Verlage welchen gesellschaftlichen Bedingungen sich bequemtwann haben, in die Betreuung welcher jungen Komponisten mehr zu investieren als jenes Minimum, das zur Wahrung des einschlägigen Rufs notwendig schien. Gleichviel: Mögen die Bedürfnisse, Interessen, Umstände, welche der Avantgarde inzwi schen zu einem gewissen Ansehen verholfen haben, komplexer sein, als meine Darstellung es würdigt und berücksichtigt: Die unmittelbaren Kontakte jedenfalls der überwiegenden Mehr zahl der Hörer zur Neuen Musik, insofern sich diese Kontakt e dem Vorhandensei n neuer Werke in Konzertsaal, Rundfunkprogrammen und Schulunterricht verdanken, sind - und so möchte ich sie nennen -: Querfeldein-Kontakte. Sie stützen sich, bewußt und unbewußt, auf die ästhe tischen Normen der Tonalität, deren Überwindung Avantgarde einst sich vorgenommen hatte; auf Normen mithin, welche die Begriffe „Kunst" und „Schönheit" nicht zu trennen vermögen von der der Vermittlung und Bestätigung einer der Gesellschaft geborgenen Ästhetik, einer Ästhetik Geborgenheit, hinter welcher die in Utopie und der Schein einer ideologischen, reli giösen, politischen Geborgenheit steht, ein Geborgenheitswahn, welcher den Einzelnen zu ei nem irrational geblendeten, zur Selbstverantwortung und Selbstbestimmung letztlich unfähi gen Untertan der Interessen derer macht, welche es in der Hand haben, die existentielle Gebor genheit des Einzelnen eben solange zu garantieren, wie ihre eigene Geborgenheit durch die geistige Unselbständigkeit der Massen abgesichert ist, beziehungsweise solange, wie es ihnen paßt. Tatsache bleibt also auch, daß der Komponist bei aller Genugtuun g über die Vorteile, die sich ihm bieten, ohne Rücksicht auf die Stichhaltigkeit dessen, was er anzubieten hat, sich abhäpgig weiß von der Ignoranz, die jenen Querfeldein-Kontakten zugrunde liegt. Dabei wäre eigentlich nichts weiter gegen solche Querfeldein-Kontakte zu sagen: Mißver ständnisse, positiv oder negativ, standen schon von jeher am Beginn des Wegs, den ein Werk oder ein Komponist angetreten hat. Aber das Musikschaffen, so wie es sich heute repräsentiert, hat sich in den letzten zehn Jah ren auf jene Querfeldein-Kontakte zu-, und das heißt: zurückentwickelt, und die relative Popu larität avantgardistischer Bestrebungen heute ist nicht zuletzt dem Entgegenkommen durch die führenden Komponisten selbst zuzuschreiben. Das Musikdenken, so wie es sich über Schön berg, Berg und Webern zur seriellen Musik hinentwickelt hatte, ist heute in einer Regression begriffen, und das Fatale dabei ist, daß sich diese Regression als besonders typischer Schritt nach vorne verstanden wissen will und mit dialektischer Akrobatik sich anschickt, die alten tonalen Tabus und zugleich die inzwischen salonfähig gewordene revolutionäre Attitüde im künf tigen Musikkonsum nebeneinander unversehrt unterzubringen. Unter solchen Voraussetzungen wird die gegenwärtig so oft bemühte politische Ambition von Musik endgültig zu einer frommen Lüge, desavouiert durch die Unfähigkeit, die Bequem lichkeit ästhetischer Gewohnheiten, um wieviel weniger diejenige politischer Vorstellungen zu gefährden. 22

Solange nicht jene Querfeldein-Kontakte und die ihnen zugrunde liegenden ästhetischen Normen konsequent durchkreuzt werden, ist es unserer aufgeschlossenen Gesellschaft voll kommen egal, ob die verschiedenfarbigen Cluster und antithetischen Provokationen für oder gegen sie komponiert sind: Hauptsache, sie hat ihren Spaß und ihre Selbstsicherheit. Und sie hat gelernt, gerade aus der eigenen Verunsicherung als beliebtem Spiel mit dem Feuer ihre Selbstzufriedenheit abzuleiten. Als Musiker stehen wir vor der Alternative, solcher fatalen Entwicklung passiv zuzusehen, von ihr gegebenenfalls zu profitieren, oder uns als Denkende und Verantwortliche gegen sie zu wenden, zu versuchen, aus der gesellschaftlichen Umklammerung auszubrechen, indem wir, wenn schon nicht für gültige Alternativen, so doch für klare Einsicht in das Problem sorgen. Entgegen der vorherrschenden Meinung geht es in der Kunst nicht um die mehr oder weni ger eigenwillige Handhabung von Regeln, von denen es in der Einzahl heißt: „Ihr stellt sie selbst und folgt ihr dann", sondern es geht um den Widerstand, den das schöpferische Denken den Normen vorweg gegebener Ordnungskategorien leistet, einen Widerstand, der sich als ra tional durchdrungene, aus sich heraus fortentwickelte und damit ihren bestehenden gesell schaftlichen Rahmen negierende Ordnung niederschlägt. Analyse darf s ich also nicht damit begnügen, aus mehr oder weniger repräsentativen Werken unserer Zeit Ordnungsprinzipien, Arbeitsformeln, kombinatorische Techniken abzuleiten. Sie erscheint sonst verdächtig, gerade im Lehrbetrieb, verdächtig von ihrer offensichtlichen Moti vation her, verbindliche Modelle zu bekommen, verdächtig als Ausdruck des alten bürgerlichen Verlangens, sich mit dem Kunstwerk identifizieren zu können, statt sich von ihm verändern zu lassen, verdächtig als Medium falscher bildungsbeflissener Aufgeschlossenheit und intellektu ellen Behagens, als Medium des Bedürfnisses nach der Geborgenheit, widerstandslos im Ein klang mit den eigenen Denkgewohnheiten bestimmbarer und mitvollziehbarer Ordnung um der Ordnung willen. Aufgabe von Analyse müßte es meines Erachtens sein, nicht bloß Ordnungen zu finden und zu bestimmen, sondern deren Kategorien kritisch zu untersuchen, das heißt: das Niveau des Materials, seiner Reflektiertheit und den Widerstand zu erkennen, der sich darin ge gen die Normen wendet, von denen er ausgeht. Solcher Widerstand nämlich bestimmt, heute wie früher, den Rang jeglicher künstlerischer Individuation. Daß es aber zugleich dieser Widerstand ist, der ein Werk, indem er es zum Kunstwerk macht, in jene fetischisierte Aura rückt, von wo die Gesellschaft, wenn auch mit regelmäßiger Ver spätung, ihre ästhetischen Normen ableitet und erneuert, jen e Normen also, denen es in Zukunft erneut Widerstand entgegenzusetzen gilt, solche fatale Dialektik scheint mir im musikalischen Material selbst angelegt zu sein, so, wie es sich unter den gesellschaftlichen Bedingungen im Einzugsgebiet der Tonalität entwickelt hatte. In der ton alen Kadenz selbst, als Bewegung zwischen Konson anz und darauf bezogen er Dis sonanz war die Negation einer harmonischen Mitte aus deren eigenen Gesetzen hervorgegan gen und zugleich als bestimmte Negation wieder aufgehoben, der ganze Vorgang aber zur Norm harmonischer Fortschreitung erhoben. Negation der Norm, nämlich des Konsonanten, wird ihrerseits zur Norm. Dissonanz bedeutet Abweichung von der Konsonanz und zugleich deren Bestätigung als darauf bezogene Spannung. So könnte man die Entwicklung der Musik beobachten allein an der Entwicklung der Disso nanzbehandlung von Palestrina bis zu Schönberg. Innerhalb der tonalen Musikpraxis hat sich nun im Lauf dieser Entwicklung ein umfassender Apparat entwickelt, ein System aus tonal ver ankerten Gesetzmäßigkeiten, Kadenzerweiterungen, Dissonanzbestimmungen, homophonen und polyphonen Satztechniken aller Art, melodischen, thematischen und rhythmischen Sche23

mata und daran orientierten Varianten, bis hin zu den bekannten traditionellen Instrumentalund Instrumentationstechniken, und aus all diesem resultierenden expressiven Formeln - eine Apparatur, zu deren Mechanik es gehört, ihre eigene Negation zu betreiben und zugleich wie der aufzuheben, indem sie diese Negation als ästhetische Spannung ihren tonalen Normen gut schreibt. Was wir Kunst nennen, hat sich anhand dieser Dialektik entwickelt, als rationale Durchdringung und Überwindung des Genormten: als Produkt von Denken. Der Unterschied des künstlerischen Ranges von Bach gegenüber seinen Zeitgenossen liegt doch offensichtlich genau in dem, was diese als zu kompliziert ihm angekreidet haben: in der Konsequenz, mit welcher Bach die ihm verfügbaren musikalischen und satztechnischen Mittel nicht einfach benutzte sondern durchdachte, erweiterte und so außerhalb der gesellschaftlichen Erwartungen und Verbrauchsnormen rückte. Kunst als Produkt und Dokument von Denken, und zwar kompromißlosem, normenspren gendem Denken: das Menuett aus der Jupitersymphonie als Negation des Menuetts anhand konsequenter Verarbeitung und rationaler Durchdringung von dessen satztechnischen Bedin gungen weit über den gegebenen höfischen Rahmen hinaus. Bach, Haydn, Mozart, Beethoven: Komponieren hieß schon für sie: mit der Klarheit und Selbständigkeit des denkenden Willens etablierte Formen und Normen sprengen und aus der Geborgenheit gesellschaftlich veranker ter Kommunikationsgewohnheiten sich heraus in die Ungeborgenheit der eigenen Verantwor tung gegenüber dem musikalischen Material wagen. Technisch gesehen geschah solche Sprengung von Formen durch radikale konstruktive Ver knüpfung, Abwandlung, Erweiterung, rational gesteuerte Bewußtmachung all der Eigenschaf ten, die dem Bewußtsein zuvor unbekannt beziehungsweise gleichgültig waren. Was so entstand, überdauerte seine revolutionäre Geburt und erweiterte dank seiner inneren Konsequenz doch irgendwann den Begriff des „Schönen". Auf die Dauer allerdings vermochte es den Gesellschafts-Anspruch auf jene Geborgenheit nicht zu gefährden, einen Anspruch, ohne welchen der Begriff Kunst undenkbar und in der Gesellschaft unerlaubt schien. Schönberg aber, indem er das Prinzip der Durchführung, welches im Sonatensatz der Wie ner Klassik die Reflexion des Materials auf einen bestimmten Formteil als retardierendes Mo ment vor der Reprise lokalisierte, indem er - Schönberg - dieses Durchführungsprinzip in Fortsetzung der Beethoven-Brahms-Tradition auf die gesamte Form und alle ihre satztechni schen Elemente anwandte, hat er so die Tonalität selbst über die gesellschaftlich tolerierte ästhetische und ideologische Grenze hinaus weitergedacht und verändert und so, wohl als erster überhaupt, den bislang vertuschten Konflikt zwischen zwei einander entgegengesetzten Vorstellungen von Kunst in ein Stadium gedrängt, wo dieser Konflikt irreparabel offen zutage trat. Damit scheint ein Höhepunkt einer seltsamen Tradition erreicht: Was bei Bach „kompli ziert", bei Mozart „zu schwer", „gewaltig viel Noten" hieß und diesen Autoren keinen Dank einbrachte, was bei Beethoven „unverständlich" war und als „eigenwillig" gehorsam zurecht verehrt wurde, wovor man sich in der Romantik als der Krankhaftigkeit des Genies zu schüt zen wußte, ohne sich freilich die damit verbundenen ästhetischen Sensationen entgehen zu las sen, was bei Mahler als „zerrissen", „trivial", „zwiespältig" noch als gute Absicht nachsichtig toleriert wurde, schlug bei Schönberg als „kulturbedrohend" schließlich um in einen Skandal um jene zwei Kunst-Anschauungen: Hier Kunst als Medium eines - wenn auch noch so sehr dialektisch strapazierbaren - Schönheits- und Ordnungsbegriffs für eine Gesellschaft, welche in der Kunst immer wieder die Ver söhnung mit sich selbst feiern möchte, dort Kunst als Produkt der Reflexion ihrer ästhetischen 24

Mittel und Erfahrungskategorien und so unvermeidlicher Ausbruch aus ihren gesellschaftlich gültigen Normen. Was bei Schönberg, und zwar schon beim tonalen Schönberg der Kammersymphonie, als kulturgefährdender Skandal wirkte, was bei Webern als Musik des „Verstummens" mit Grab reden bedacht und bei den Seriellen schließlich „totale Auflösung" der Musik genannt wurde, war nichts anderes als die ästhetische Auswirkung desselben Freiheits-Prinzips, das in der Kunst von jeher am Werk war und in der Musik spätestens seit Schönberg sich seines unver söhnlichen Widerspruchs gegenüber jener Kunstauffassung bewußt ist, welche anhand einer vorweg gegebenen ästhetischen Syntax das Zustandekommen von Kommunikation garantiert wissen und der Gesellschaft den Glauben an sich selbst erhalten möchte, nicht zuletzt im Hin blick darauf, daß vom Wohlwollen dieser Gesellschaft das reale Dasein von Kunst als Repräsentativum abhängt. Gewiß haben sich zu allen Zeiten Komponisten mit den gesellschaftlichen Erwartungen ar rangiert, indem sie etablierte Verständigungskategorien nicht reflektiert, geschweige denn ver ändert, sondern bloß benutzt haben. Sie haben die Aufgaben erfüllt, die ihre Zeit von ihnen er wartete, und sie haben sich damit eben jenen Normen gefügt, ohne deren Überwindung der Be griff des Kunstwerks, wie wir ihn inzwischen ernstzunehmen gelernt haben, letztlich nicht denkbar ist. Heute indessen stehen wir noch unter dem Eindruck einer Tendenz, welche das mit Schön berg begonnene und durch Webern in eindeutiger Richtung fortgesetzte Prinzip der totalen Durchführung auf alle Eigenschaften des klingenden Materials überhaupt anzuwenden ver suchte und damit hoffte, die Tonalität endgültig liquidieren zu können: die serielle Musik, samt ihrer aleatorischen Variante. Der seriellen Musik war es aufgegeben, den Begriff der akustischen Struktur freizulegen aus seiner Untergeordnetheit unter die expressiv vorbelastete Spekulation innerhalb der tonalen Kategorien. Der Begriff der Struktur, in welcher der ein zelne Klangmoment, von jeglicher gesellschaftlich etablierten Vorwegbestimmung befreit, auf seine unmittelbaren akustischen Eigenschaften zurückgeführt, in vielfache Beziehung zu seiner Umgebung treten sollte, wobei die charakteristische Vielfalt beziehungsweise Ökono mie solcher Beziehungen und deren Vieldeutigkeit an die Stelle des „Ausdrucks" zu treten hätte - dieser Strukturbegriff, als Anspruch, war die Leistung jener Komponisten der fünfzi ger Jahre. Sie verbanden damit die Hoffnung, das ästhetische Denken aus jener Sackgasse der permanent neu strapazierten Tonalität geführt zu haben, in welcher es keine Ausdrucksnuance mehr gab, die sich nicht als mehr oder weniger radikale Variante von tonalen Ausdruckskli schees eben diesen Klischees verpflichtet wußte. In der Orientierung an diesem Anspruch liegt die revolutionäre Bedeutung der seriellen Musik, und der Grad von Konsequenz, mit welchem sich die Werke Stockhausens, Nonos, Boulez' ihm unterordneten und auf jegliche direkte Spekulation mit dem vordergründig Faszinierenden verzichteten, macht ihren Rang aus. Aber gemessen an ihrem revolutionären Anspruch ist die serielle Musik gescheitert. Ge scheitert nicht dadurch, daß sie unfähig war zu kommunikativem Kontakt, sondern unfähig zur Verhinderung von kommunikativem Kontakt - zur Verhinderung jener vorzeitigen Kontakte nämlich, die ich zu Beginn dieser Ausführungen Querfeldein-Kontakte genannt habe. beziehen sich solche Querfeldein-Kontakte? alle jenegewordene Requisitentonale und expressi venWorauf Elemente der tonalen Musikpraxis, an die sich dasAuf heimatlos Denken heute klammert, nachdem ihm seine Heimat, die kadenzorientierte Harmonik, entzogen wor den ist. 25

Die Vermeidung von tonalen Wirkungen war eine wohlbegründete Regel in der dodekaphonischen Musik. Die serielle Musik, die diese Regel übernahm, mußte die Erfahrung machen, daß die Benutzung der temperierten Skala selbst schon tonale Wirkung bedeutet, daß die Ver wendung von reinen Tönen, die Benutzung der traditionellen instrumentalen Spielkategorien, daß ein Crescendo, ein Sforzato, eine lineare Formentwicklung, ein Tremolo, ein Becken schlag, eine Ostinato-Figur, eine Pause usw. -: daß dies alles von tonalem Denken verwaltete expressive Klischees sind, Elemente, die in der tonalen Praxis ihre vom harmonisch-themati schen Geschehen herdiese bestimmte Funktionsich hatten, daß unsere Gesellschaft sie in diesem Sinne erlebt, solange Eigenschaften nichtund als Objekte rational operierender Verände rung bewußt machen und in neuen Zusammenhang integriert werden im Sinne, fast möchte man sagen: der Schönbergschen Durchführungstechnik. In diesem Sinne hat denn auch die serielle Musik an die Kompositionstechnik Weberns an geknüpft und versucht, durch radikale Ausdehnung des Reihenprinzips jene bei Webern in den einzelnen Ton zurückgeschrumpfte Expressivität vollends zu sprengen, um endlich, wie sie hoffte, reines Material zu haben. Zwei Beispiele möchte ich hier anführen, um jenen Anspruch zu verdeutlichen beziehungs weise ins Gedächtnis zurückzurufen. Im siebten Stück des Canto sospeso von Nono wird am Anfang eine Sequenz aus Einzeltö nen und später eine Polyphonie aus drei Sequenzen so in den Klangraum projiziert, daß sich mit jedem Einsatz alle Eigenschaften ändern. Jeder der sogenannten Parameter Tonhöhe, Ton dauer, Farbe und Lautstärke wird innerhalb der jeweils verfügbaren Skala unabhängig von den anderen differenziert. Aus der ursprünglich linearen Tonreihe wird ein akustischer Raum, tonales Hören als lineares Hören wird abgelöst durch ein punktuell zerspaltenes strukturelles Hören, das sich sozusagen nach allen Richtungen bereithalten muß. Jeder Moment verändert die Erfahrung des Ganzen und ergänzt sie, ohne selbst jedoch in linear-kausalem Zusammen hang mit seiner Umgebung zu stehen. 1. Bandbeispiel (Luigi Nono, // canto sospeso, 7. Teil, Anfang), Diagramm

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Der Versuch, mit Gewalt das Geschehen melodisch zurechtzuhören, wird dadurch verwirrt, daß sich mit jedem Ton eine andere Linearität anbietet: Gemeinsame Lautstärken mögen eine Ver bindung untereinander schaffen, dem aber widerspräche die Möglichkeit einer Verbindung un ter benachbarten Tonhöhen oder eine weitere unter verwandten Klangfarben oder verwandten Dauern usw. Wiederholung des 1. Bandbeispiels Traditionelles Hören, das dennoch auf seinen tonalen Hörkategorien bestehen wollte, würde sich querfeldein mit dem Kolorit des Punktuellen und vielleicht mit dem emotional nutzbaren Nervenkitzel bei der Erfahrung von konsequenter Negation des Gewohnten begnügen. Im übri gen wird es sich an den ihm bekannten Elementen, wie den temperierten Intervallen, deren Vor handensein Tonalität reminisziert, an den einzelnen bekannten Instrumentalfarben, die als Re ste - quasi melodische Trümmer - eine gewisse Materialfaszination in bezug auf sich selbst be kommen, und nicht zuletzt an einer der tonalen Tradition verpflichteten Klangkultur überhaupt orientieren. Es wird so im Einzelton trotz allem Kummer über die „Zusammenhangslosigkeit" ein gewisses Espressivo von Ton zu Ton wiederholt und bestätigt finden. Hier wird es Anker werfen und sich diese Musik als eine exotische Art von Expressivität gefallen lassen, oder aber es wird nun, seiner Sache wieder sicher, erst recht nach dem „Zusammenhang" fragen. Mit Recht übrigens, denn diese aus dem Tonalen herübergerettete Expressivität ist die unvermeid lich wunde Stelle des Stücks. Hier ist - wie Nono selbst sagen würde - „Schmutz hineinge kommen". Nichts gegen die Schönheit und durchsichtige Zartheit dieser Musik, aber es ist Schönheit im tonal-expressiven Sinne, zwiespältig dadurch, daß die serielle Faktur sich gegen solche Expressivität sperrt, ja sie eigentlich zu überwinden trachtete. Was resultiert, ist eine Schönheit der Frustration, eine mit sich selbst zerfallene und darin aber eben doch wieder glaubwürdige Schönheit, ähnlich, wenn auch anders, nachzuweisen in der Musik Schönbergs. In solcher tonal gehemmten Ästhetik des Strukturellen, in der Überdetermination des Mate rials und der in der Folge immer größer werdenden Belastung des Aufführungsapparates, wie er aus der tonalen Spielpraxis erborgt werden mußte, zeichnet sich schon die Sackgasse des se riellen Komponierens ab, die Sackgasse, aus der heraus in die Restauration zu flüchten den heute führenden Epigonen vorbehalten blieb. Fest steht, und gerade jenes Moment der Frustration bestätigt es, daß diese Musik mit kei nem solcher Querfeldein-Kontakte spekulativ operiert. Traditionelles Hören hat diese Musik wider deren Willen eingeholt. So scheitert sie, aber in diesem Scheitern macht sie die Bedeu tung und die gesellschaftliche Tragweite jenes Problems einer befreiten Ästhetik bewußt. Im nächsten Beispiel ist das Prinzip der Umformung und Integration des Materials in neue Zusammenhänge weitergedacht. Wo sich im vsrcen Beispiel der Einzelton an der Grenze zwi schen struktureller Komponente und tonalorientiertem Espressivo jenen Querfeldein-Mißverständnissen aussetzte, ist hier an seine Stelle ein von Fall zu Fall immer wieder anders seriell artikuliertes Strukturgebilde getreten, seinerseits zugleich serielle Komponente einer Groß struktur: das „Zeitgeräusch", im Gegensatz zum bloßen Einzelton erlebbar und bestimmbar nur aus dem vielfachen charakteristischen Zusammenwirken der in seinem Innern angeordneten Kl angkomponenten. 2. Bandbeispiel (Karlheinz Stockhausen: Gruppen für drei Orchester, Partitur Ziffer 23-28), Diagramm auf Seite 28

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Karlheinz Stockhausen, Gruppen für drei Orchester, Ziffer 23-28, Diagramm

Mein Diagramm kann über die Vielschichtigkeit im Innern der einzelnen Strukturfelder keine weitere Auskunft geben als die ihrer Gesamtdauer, ihres Klangraumes und vielleicht der in strumentalen Farb-Palette, aus deren vielfach abgewandelter Handhabung sich jene Strukturei genschaften ergeben. Einzig jenes in der Mitte dieses Ausschnitts liegende Feld aus mit quasi künstlichem Nachhall verlängerten und sich am Ende zur Höhe hin verdichtenden Sforzati ist - gerade wegen der relativen Einfachheit dieses eindeutig gerichteten Vorgangs des Crescendo und Accelerando - ausführlicher wiedergegeben. Gerade hier aber wird tonales Hören wegen der linearen Eindimensionalität solcher Ent wicklung wieder Fuß fassen. Es wird so im einzelnen Sforzato-Stoß ein, wenn auch verirrtes, Klischee wiedererkennen, ein Klischee, das Stockhausen stehen läßt, um es in das übrige viel deutigere Strukturgefüge zu integrieren. Integration aber scheitert an dem spontanen Kontakt, der, als tonale Hörgewohnheit, dieses Crescendo-Feld aus dem Übrigen expressiv heraushebt. Im übrigen aber ist die Charakteristik des Ganzen, konsequenter als im vsrcen Beispiel, nir gends einfach identisch mit den Eigenschaften des einzelnen Moments. Dieser ist, selbst in je nem Crescendo-Feld, durchweg strukturell verspannt und lenkt so das Hören von sich weg auf die Struktur selbst. Wiederholung des 2. Bandbeispiels Was sich hier sonst noch an tonalen Erfahrungskategorien orientiert - Instrumentation, die am traditionellen Gestus orientierte Spielpraxis, darüber hinaus die Erfahrung der seriellen Konse quenz als antitonales Kolorit -, ist indifferent, soweit sich ihm tonal bedingte dekorative Reize verdanken, es ist willenlos in solcher Hinsicht und längst übertrumpft worden von Werken, de nen es bequemerweise ganz bewußt um die koloristische Faszination selbst ging. Dieses Bei spiel - wenn auch nicht die Gruppen als Ganzes - mag notdürftig das Niveau des seriellen Den kens auf seinem Höhepunkt illustrieren. Spätestens um die sechziger Jahre begann die Neue Musik sich auf ihre bislang mehr oder weniger unbewußt oder gleichgültig verursachte Faszination als Kolorit und auf die expressive Nutzungsmöglichkeit jener tonalen Querfeldein-Wirkungen zu besinnen. Werke wie Anaklasis von Penderecki, Atmospheres von Ligeti und Kagels Sur Scene gaben, jedes auf seine Weise, das Signal zu einer Verharmlosung des avantgardistischen Anspruchs, und damit zu einer Ver brüderung mit jenen Publikumserwartungen, die mitsamt ihrer bürgerlichen Ideologie zu über winden Avantgarde sich einstmals vorgenommen hatte. Dazu ein Beispiel: 3. Bandbeispiel (György Ligeti: Requiem, Kyrie) Eine Analyse dieses Abschnitts würde sich auf die verschiedenen Grade sukzessiver Verdich tung des Klanggewebes, auf die gelegentliche Abspaltung von Teilen beziehen, sie würde die kompositionstechnischen Bedingungen beschreiben, unter denen dieses Stück sich allmählich im Tonraum ausbreitet, wobei auf dem Höhepunkt der Steigerung Instrumentales und Vokales auseinandertreten. Analyse dürfte aber hier nicht stehen bleiben, sondern müßte nun erst einsetzen. Sie müßte nach dem Grund des hier inszenierten Crescendos forschen, sie hätte nach der strukturellen Funktion der melismatischen Chor Stimmenbehandlung, der akzentuierten Blech-Tenutoklänge zu fragen, und sie hätte alle diese Eigenschaften, die den Charakter dieses Stücks maßgeblich bestimmen, zu entlarven als bewußt um ihrer geläufigen Wirkung willen geborgte Klischees der bürgerlichen tonalen Musikerfahrung, zuletzt legitim vertreten etwa durch Berlioz, Verdi und Bruckner, Klischees, deren Eigenschaften hier völlig unversehrt als verdinglichte Emotio29

nalismen benutzt wurden, um als bewährte Mittel den Verlauf des Ganzen expressiv-demago gisch einzufärben. Solche Klischees also, die im tonalen Spannungsfeld eine Funktion hatten, sind offenbar zu transportablen Ausdrucksträgern geworden, die sich ad libitum verwenden lassen. Die speku lative Demagogie solcher tausendfach erprobten Crescendo-Entwicklung, die fromme Inbrunst der sich in die Höhe windenden Chormassen, die genüßlich pedalisierenden, im dramatisch ge eigneten Moment apokalyptisch dreinfahrenden Blechbläser sind Requisiten einer Ästhetik, deren bewußte Restauration allenfalls im opportunistischen Sinne reflektiert genannt werden kann. Denn nicht nur unbewußt oder bloß verschämt sind hier die Hörkategorien einer ver nutzten Ästhetik in ein modernistisches Gewand geschlüpft, sondern bewußt hat sich hier das Musikdenken mit verstaubten Querfeldein-Erwartungen identifiziert und sieht in dieser be wußten Regression seine Verdienste als Befreiung der Musik aus der Sackgasse des seriellen Denkens. So hat hier querfeldein-tonales Hören leichtes Spiel. Diese Musik ist eine typische Vertrete rin der Regression des Musikdenkens heute. Der Einwand, gerade die klischeehafte Haltung gebe - als historisch überwundene - dadurch den Blick erst frei auf das musikalisch autonome strukturelle Gewebe, wird von der ostinaten Stereotypie dieser Pseudo-Struktur selbst widerlegt, er ist außerdem unwahrhaftig, weil diese Musik, als geistliches Werk, sich in einen Gesellschaftsrahmen begibt, wo die tonale Ästhetik samt ihrem ideologischen Hintergrund keineswegs überwunden, sondern vehement in Kraft ist; unwahrhaftig zudem, weil es autonome Strukturen ohne Rücksicht auf ihren Zusammenhang nie gegeben hat. Der Begriff der autonomen Klangfarbenkomposition bedeutet letztlich Querfeldein-Demagogie. Akustische Faszination um ihrer selbst willen ist nichts anderes als verdinglichte Ex pressivität, einst legitime Leistung des Impressionismus und diesem verpflichtet als einer auf geklärten Enklave der Romantik, heute aber in diesem Sinne geborgte Emotion auf der einen, dekorative Tapete auf der anderen Seite. Musik, die damit spekuliert, sieht sich verwiesen auf den stereotypen Umgang mit dem Tenuto-Klang, den es durch Ostinato-Figuren aufzufächern und zu dekorieren gilt. Aber wie das Ostinato selbst ist der Tenuto-Klang von Haus aus ein auf die tonale Kadenz bezogenes Ausdrucksmittel. Nicht erst seit Beethovens Neunter Symphonie bedeutet er - als stationäres, den linearen Kadenzverlauf blockierendes Element - expressive Span nung. Zusammen mit sei nem Gegenstück, dem Sforzato-Stoß, der seinerseits als abgewürgter Gestus einen tonal-gestischen Extremfall darstellt, ist die Tenuto- und Ostinato-Technik einer Tradition verpflichtet, die in die Mannheimer Schule zurückreicht. In diesem Sinn sind die folgenden Beispiele vollständig den Formen des symphonischen Musizierens verpflichtet. Musik, deren musikantischer Gestus, aus der klaren Disziplin tonaler Gesetzmäßigkeit entlassen, nichts als losgelassene musikantische Vitalistik bedeutet, Strawinskys Sacre und Hindemiths Konzert op. 38 ineinander zerschnitzelt, nachdem sie sich den avantgardistischen Helm samt virtuosem Federbusch aufgesetzt hat, egal, ob er auch richtig sitzt, Hauptsache: er putzt. 4. Bandbeispiel (Günther Becker:

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Stabil - Instabil für großes Orchester, Anfang)

Ich überspringe und bringe den Schluß, denn natürlich muß dieser Ausflug ins aufregende Reich der bunten Cluster mit einer bewährt-eindrucksvollen Crescendo-Tapete aus vielen Ostinati gefeiert werden. 30

5. Bandbeispiel (siehe Beispiel 4, Schluß) Tonales Hören, mit akustischen Mitteln in eine seinen klanglichen Gewohnheiten fremde Umgebung versetzt, bedeutet im Zusammenhang mit dem einzelnen klanglichen Fremdkörper - wo dieser sich nicht in neue Ordnungen integrieren ließ -f: emotional gespanntes Hören. In diesem Sinn wirkte in der alten Musik die Hinzuziehung des Geräuschs als expressiver Aus bruch aus dem temperierten Tonbereich, und die spieltechnische Verfremdung als Ausbruch aus klassischen Spielpraxis. Beides diente sound jener Spannung,Spieltechniken welche die tonale Dissonanz nichtder allein bewerkstelligen konnte. Geräusche verfremdete übernahmen so die extremsten Teile jener Aufgaben, die sonst in den Rahmen der Harmonik fielen. So hatte in der Romantik, vor allem in der Oper und der Symphonischen Dichtung, das Geräusch beziehungsweise die spieltechnische Verfremdung (zum Beispiel tremolo, am Steg, col legno battuto usw. ) eine von der tonalen Mitte her extreme Funktion im dr amatischen, lyri schen und exotischen Sinne. Auf solche Faszination des ex pressiven Extremfalles bezieht sich ein wesentlicher Typ eines bürgerlichen Querfeldein-Kontakts in der Neuen Musik, also eine Faszination, die das tonale Hören in den neuen Werken frei Haus geliefert bekommt, ohne sich vorher mühevoll und um ständlich einem motivierenden musikalischen Zusammenhang aussetzen zu müssen, in dem solcher Extremfall sich zu rechtfertigen hätte. Für den Querfeldein-Hörer scheint die Tatsache von sich Musik, sich Faszination fern ihrer tonalen HeimatAn abspielt, dramatisch fürergreifende sich selbst.Schicksal Neue Musik hat auf die solche eingerichtet: der Weise, wie das des Kleinbürgers, fe rn der Gartenlaube, im exotischen Exil dieser Gegenwart leben zu müss en, dra matisch und demagogisch ausgekostet wird, zeigt sich die wahre tonale Heimatverbundenheit dieser Musik. Hiroshima, Auschwitz und die Schlechtigkeit der unchristlichen Welt sind be liebte Anlässe. 6. Bandbei spiel (Krzysztof Penderecki: Fluorescences, 1. Abschnitt) Was an diesem Werk anfangs rein materialtechnisch fesseln mag, ist die Verschiedengradigkeit der inneren Perforation der Klangfelder. Sie motiviert bis zu einem gewissen Grade die ostinaten Blechbläser-Repetitionen, sie vermag auch die Wirkung des hohen Streicherclusters zu individuieren als einen Sonderfall solcher Perforation. Aber solche Abwand lung bezieht sich auf einen einzigen Aspekt, den der Klangfarbe, die dadurch noch mehr fetischisiert wird. Alles übrige an diesem Stück, die schon bis zum Überdruß bekannte Orgel punkt-Technik der liegenden Klänge, das Ostinato mit seiner musikantisch-vitalistischen Geschäftigkeit, die obligatorische Steigerung, die keine Funktion hat als leere Demagogie dies alles erweist sich als geborgte Klischees, heimatvertriebene Reste philharmonischen Denkens. Analyse mag die verschiedenen Schichtungen im Tonraum, die Überlappungen, die Dichten und dynamischen Kurven verzeichnen. Sie mag die verschiedenen Grade innerer Fluktuation und deren Anordnung registrieren. Sie wird damit doch nichts weiter definieren als die Dra maturgie, anhand welcher die Faszination ungewohnten akustischen Materials expressiv be nutzt, aber ka um komponiert, das heißt verarbeit et wurde. Analyse hätte die Funktion der Säge, der Sirene zu untersuchen ebenso wie diejenige des Ostinato und des Glissando, und sie hätte sich damit abzufinden, daß diese Effekte von Werk zu Werk verschiebbare Spielmarken und ge nau so querfeldein gemeint sind, wie sie gehört werden: als bloße Stimulantien für eine ratlos in ihren eigenen Trümmern herumstochernde bürgerliche Ästhetik. 31

Einen weiteren, für die musikalische Regression der letzten zehn Jahre typischen Querfeldein-Kontakt gilt es zu erwähnen, dem die Pseudo-Avantgardisten, jeder auf anderem Niveau, entgegengekommen sind: den Humor. Das instrumentale Theater, so, wie es sich inzwischen entwickelt hat, kommt nicht ohne ihn aus. Der Humor wirkt in der Spannung des Vertrauten zu seiner - möglicherweise unfreiwilli gen - Verfremdung. Verfremdung aber, die es um dieser Spannung willen bei sich bewenden läßt, die also nicht bereit ist, ihre besonderen Eigenschaften in einen neuen Kontext zu stellen, der rechtfertigt einer macht, neuen musikalischen aufsaugt, Verfremdung also, der die nichtsieErnst, sondernund nurin Spaß bedeutet nicht Logik Sprengung, sondern Verfestigung Normen, die sie verfremden möchte. Karikatur wirkt nur, insofern das, was sie karikieren möchte, normal ist. Humor meint es gar nicht so, und Mozarts Dorfmusikantensextett hat wohl kaum an der tonalen Ordnung gerüttelt. Jede Art ernsthafter satztechnischer und ästhetischer Eskalation heute ist aber in diesem Sinne durch Mißverständnisse gefährdet, die das Ernstgemeinte humoristisch, das heißt: letzt lich unverbindlich nehmen. Als Komponist mit dem Humor spekulieren, heißt jene Mißver ständnisse und die ihnen zugrundeliegenden Tabus rechtfertigen. 7. Bandbeispiel (György Ligeti: Nouvelles Aventures, Ausschnitt) Es wäre falsch, dieser Musik billige humoristische Spekulation vorzuwerfen. Sie bedient sich offensichtlich strukturellen Elemente, wie des sie Materials, in der seriellen entwickelt worden sind. Sie folgt der zudem einer immanenten Logik das soTechnik nicht einfach benutzt, son dern in bezug auf seine Eigenschaften durchdacht erscheint. Wie die vsrcen Beispiele operiert sie mit Klangfeldern, deren verschiedene Artikulationen aber aufeinander bezogen sind: Ton bewegungen, Tonrepetitionen, vielfach abgewandelter vokaler und instrumentaler Tonfall scheinen reflektiert nicht nur als akustische Erscheinungen, sondern auch als Resultat von Ak tionen und sie auslösenden Affekten. Aber innerhalb der Klangfelder selbst ist strukturelles Denken reduziert auf die ad-hoc-Verfremdung von rhythmischen und gestischen Klischees, ostinaten Repetitionstypen, wie gehabt in den vsrcen Beispielen, mit dem Unterschied, daß diese Klischees als verfremdete sich gewissermaßen gleich wieder entschuldigen, Kritik an der eigenen Manieriertheit üben, beziehungsweise an der Gesellschaft, die mit derlei rechnet. Sol che Kritik aber lebt von ihren Angriffszielen, sie hat sich, letztlich um des guten gesellschaft lichen Einvernehmens willen, humoristisch mit ihnen arrangiert. Einzig der Humor mag denn auch die stereotypen Klischees als Nachäffung ihrer selbst in ein diskussionswürdiges Licht rücken. Als verfremdete Aktion gibt er sich querfeldein zu er kennen. Solcher Humor ist reaktionär. Von Formen der Regression scheint mir dies eine intellektuell recht verführerische zu sein, weil der strukturelle Anspruch nicht einfach an den humoristischen Querfeldein-Effekt verra ten, sondern als satztechnische Tugend beibehalten wird, wenn auch in degenerierter, eben hu moristisch spekulativer Form. Damit berühren wir schon jenen letzten regressiven Typus, welcher - ausgehend von der ver trauten tonalen Dissonanzspannung - diese radikal über alle avantgardoiden modernistisch ex pressiven Zwischenstationen hinaus erweitert und in verbale Kritik an der Gesellschaft und ihren eingespielten Kommunikationsmechanismen übergeht. Wie immer aber solche Kritik operiert, ob als Zitat, Karikatur, Kommentar oder gezielter Schock: Mit ihr - will sie un mißverständlich wirken - funktioniert gerade der Mechanismus, den sie außer Kraft zu setzen hätte, und den sie in Wahrheit gehorsam benutzt. 32

8. Bandbeispiel (Wolfgang Hamm: Flugblätter für drei Stimmen, Posaune, elektrische Orgel, Schlagzeug und Tonband, Ausschnitt) 5

Das alte beliebte Gesellschaftsspiel „Epatez le bourgeois" wird hier einfach um eine Variante bereichert, in welcher die Querfeldein-Aggressivität einer Pseudo-Avantgarde sich überschlägt und in außermusikalischen Disziplinen, angesiedelt zwischen Kabarett und moralischer Beleh rung, landet. Dieses Beispiel mag stehen für all die vielen Versuche, welche die Hantierung mit außermu sikalischen Disziplinen als verzweifeltes Non-plus-ultra einer bürgerlichen Vorstellung von Progressivität an die Stelle musikalischen Denkens stellen möchten. Musik als verbale Agita tion, Musik als optische Erfahrung, Musik zum Lesen, Musik als organisierter Lunapark: Solche Form des musikalischen und künstlerischen Selbstmords bewirkt weniger als nichts, sie stabilisiert und vereint die bürgerlichen Vorstellungen von Kunst als Medium erbaulicher Unterhaltung und von Avantgarde als behördlich anerkanntem Bürgerschreck. Es ist wohl selbstverständlich, daß alle angeführten Beispiele samt ihren Kommentaren nur oberflächlich illustrieren können, worum es geht: um die Bildung einer permanent kritischen Erwartung in bezug auf Neue Musik, einer Erwartung reflexiv angespannten und aufgeklärten Kunstverständnisses, welches sich nicht ins Bockshorn jagen läßt durch eine Pseudo-Avantgarde, die der Tradition von Schönberg bis zur seriellen Schule, von deren Leistungen sie schmarotzt, in den Rücken fällt dadurch, daß sie die alte tonale Dissonanzerfahrung bloß expressiv erweitert, sich an der Exotik atonalen modernistischen Kolorits delektiert und aus solcher Perspektive mit jenen musikantischen und expressiven Klischees demagogisch speku liert, welche als tonale Errungenschaften einer überholten und unwahren Ideologie verhaftet sind, einer Ideologie, deren Neubelebung Flucht bedeutet aus der Verantwortung heute. Als Niederschlag gesellschaftlichen Bewußtseins sollte Musikdenken sich selbst reflektie ren. Im kompositorischen Detail und seiner Beziehung zum Werk verrät sich der ideologische Standort einer Musik. Diesen, und nicht allein das Werk, gilt es zu analysieren. Eine Technik der kritischen Analyse muß entwickelt werden. Ihr wiederum müßte eine umfassende Defini tion dessen zugrunde liegen, was Tonalität als traditionelle ästhetische Mitte für unsere Gesell schaft bedeutet. Eine Alternative zur gegenwärtigen Regression, die ohne die Ignoranz des Publikums kaum denkbar wäre, müßte sich zurückbesinnen auf die Einstellung der seriellen Musik, ohne aller dings deren Techniken zu kopieren. Als unbeholfene Auseinandersetzung mit einem verplan ten und darüber hinaus kommerziell vergifteten tonalen Material ist die serielle Musik ge scheitert als ästhetisch, aber auch aufführungspraktisch zwiespältiges Produkt strengsten Wil lens, aber sie hat jenes Problem grell beleuchtet, auf das wir - Komponisten und Hörer endlich zurückkommen sollten, ohne uns von einer bloß am Dekorativen interessierten Mehr heit irritieren zu lassen: das Problem nämlich, wie das musikalische Material von etablierten Erfahrungsnormen befreit und so zum Medium der Auseinandersetzung des Bewußtseins mit seinen eigenen Denkkategorien werden könne. Auseinandersetzung des Bewußtseins mit seinen eigenen Denkkategorien, das bedeutet auf jeden Fall deren Erweiterung, und so deren Veränderung, und so deren Negation als gesell schaftlich verankerte Normen. Nicht allein jene Normen gilt es aber zu reflektieren, sondern genauso den Widerstand, den das Denken diesen Normen entgegensetzen möchte. Denn Wi derstand um seiner revolutionären Attitüde willen, als avantgardistische Allüre, ist heute selbst schon zur Norm des avantgardistischen Establishments geworden. Als bloßer Schock gehört er

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zum guten Ton. Er garantiert für einen Querfeldein-Kontakt, dessen Emotionalismen fast schon zu einem Marktwert der Avantgarde geworden sind. Er bestätigt seinerseits die Erfahrungsnor men, mit deren Hilfe sich das alte unverbesserliche bürgerliche Kunstdenken im Kolorit der Neuen Musik wieder häuslich eingerichtet hat in der Hoffnung, der heruntergekommenen Avantgarde unserer Tage bald ebenso zujubeln zu können wie ihren alten Götzen von gestern. Komponieren sollte sich solchen Umarmungen mit derselben Konsequenz widersetzen, wie es zu einem bestimmten Zeitpunkt dem Sog der Tonalität sich zu widersetzen für notwendig er kannt hatte. MusikDarüber als Niederschlag kritischen wird undAuseinandersetzung soll ihrerseits kritisches Den ken provozieren. hinaus wird und sollDenkens sie die kritische des Den kens mit sich selbst provozieren. Dies und nicht mehr ist ihr politischer Beitrag, den sie zu lei sten imstande ist. Das Musikpublikum, soeben unter fragwürdigen Umständen für eine sogenannte Avantgarde gewonnen, wird keinerlei Verständnis für solche Provokation des Kri tischen haben. Kunst als Reflexion und Überwindung des Verfestigten wird wie eh und je auf die Gleichgültigkeit, Ignoranz und Feindschaft ihrer Umgebung stoßen. Im Zuge der korrumpierten Avantgarde unserer Tage, die ihren Namen wie einen alten ver rosteten Kriegsorden aus dem Siebziger-Krieg vor sich herträgt, hat sich der Teufelskreis der integrierten Musikrevolution wieder geschlossen. Die Frage, wann solche Fatalität zum Bewußtsein ihrer selbst kommt, ist die Frage, wann die Gesellschaft zum Bewußtsein ihrer eigenen verlogenen ästhetischen Bequemlichkeits- und Geborgenheitsideologie kommt. Kom ponisten können nichts machen als durch kompromißloses Denken und Handeln Situationen provozieren, wo sich die Geister scheiden. Kunst ist letztlich nichts weiter als ein Verständi gungs-Signal zwischen denen, die einen Ausweg suchen. Die Musikerzieher aber könnten in diesem Sinne aufklärend wirken. Die Musikerziehung, so oder so genötigt, einen Sprung aus alten überholten und verfahrenen Standpunkten zu machen, sollte, so meine ich, diesen Sprung gleich um die Spanne erweitern, die sie nicht zu Handlan gern der avantgardophilen Reaktion macht, sondern zu kritisch Denkenden, welche es in ihrem Bereich unternehmen, aus jenem Teufelskreis einer immer wieder von neuem domestizierten Kunst wenn schon nicht auszubrechen, so doch ihn wenigstens immer wieder zu bezeichnen. Der Konzertsaal, oder was immer ihn in Zukunft ersetzen wird, nicht mehr als Ort der gesell schaftlichen Beweihräucherung oder Ausräucherung, sondern als Ort der Diskussion, der auf geklärten Auseinandersetzung der Gesellschaft mit sich selbst und ihren Tabus, ist gewiß eine Utopie, aber immerhin ein Leitbild für den Musikerzieher, der sich nicht damit begnügen darf, Hören zu lehren, denn: Hören ist wehrlos - ohne Denken. 1971/93

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Bedingungen des Materials Stichworte zur Praxis der Theoriebildung Die Forderung an Komponisten, theoretisch zu denken und zu arbeiten, wird unsinnigerweise immer wieder verdächtigt, als ginge es dabei um Ersatzhandlungen für ungenügend Inspirierte. Theoretisch denken, Theorien ableiten und reflektieren heißt kompositorische Erfahrungen, ei gene und fremde, vernünftig ordnen und, in Auseinandersetzung mit geltenden Wahrneh mungsmechanismen, spekulativ dorthin weiter treiben, wo das kompositorische Temperament ausschlägt, weil es sic h nun seiner Individualität in größerem Zusa mmenhan g bewußt wird. Die Angst des Komponisten um seine Schöpferkraft angesichts theoretischer Bemühung ist verrä terisch. Wo die Entfernung des berühmten Bretts vorm Kopf einer Kastration subjektiv gleich kommt, ist nicht viel verloren. Wo das Denken das Empfinden lähmt, ist beides unterent wickelt. Aber theoretisieren heißt nicht philosophieren, und eine Einführung in eine Praxis der Theoriebildung muß zuallererst die Bedingungen des Materials zum Gegenstand haben. Vier grundlegende Bestimmungen gehören zusammen: 1. der „tonale" Aspekt des Materials 2. der „sinnliche" Aspekt 3. der „strukturelle" Aspekt 6

4. der „existentielle" Aspekt Zu 1.: Jedes musikalische Mittel hat seinen bewußten oder unbewußten Stellenwert im tonalen Zusammenhang. Das tonale Einzugsgebiet als zwar überlebte, dennoch aber überlebende ästhe tische Instanz habe ich schon an anderen Stellen („Klangtypen der Neuen Musik", „Für wen komponieren Sie?", „Zur Analyse Neuer Musik", „Zum Verhältnis Kompositionstechnik - ge sellschaftlicher Standort", „Die gefährdete Kommunikation") beschrieben und interpretiert. Als wichtigste Bestimmungen seien hier erwähnt: a) der an die zentralen tonalen Kategorien gebundene, historisch vermittelte, ideologisch vielfach verwaltete emphatische Gestus, b) der dem Tonalen innewohnende dialektische Mechanismus von Spannung und Entspan nung, mit Hilfe dessen solcher emphatischen Haltung auch die entlegenste Erfahrung als Dis sonanz einverleibt werden kann. In diesem Sinn hat sich das tonale Denken in jeglicher Form von Atonalität erhalten. 7

Zu 2.: Insofern sich Musik als Verbindung von einfachen oder zusammengesetzten Schaller eignissen beschreiben läßt, lassen sich diese nach einer Typologie bestimmen und ordnen, die ich unter dem Titel „Klangtypen der Neuen Musik" seit 1966 an verschiedenen Stellen veröf fentlicht habe. Die dabei verwendeten Etikettierungen lauten: I. Kadenzklang beziehungsweise Klangkadenz (Klangereignis, dessen natürliche oder künst liche Charakterist ik sich in einer eindeutig gerichteten einfache n En ergie- bez iehungsweis e In tensitätskurve mitteilt - zum Beispiel ein Tamtamschlag -, so daß die zur Identifikation not wendige „Eigenzeit" von der Klangdauer nicht zu trennen ist). II. Klangfarbe beziehungsweise Farbklang (ausgehaltener Klang - zum Beispiel ein Orgel akkord -, dessen Klangcharakter nichts mit der Klangdauer zu tun hat, weil er nur mit mikro zeitlichen Bestimmungen - Frequenzen, Intervallen, Obertönen - erfaßt werden kann). III. Fluktuationsklang beziehungsweise Klangfluktuation (dessen Eigenschaften, ähnlich wie beim vorhergehenden Klangtyp, unabhängig von seiner separat zu bestimmenden Dauer 35

erfahren werden, sich aber als Produkt charakteristisch oszillierender innerer Bewegungen - etwa eines Ostinato-Rhythmus oder einer Ostinato-Arpeggio-Bewegung - darstellen. Als Beispiel sei auf das charakteristisch fluktuierende Klangfeld einer Chopin-Etüde oder vieler Bach-Präludien hingewiesen). IV. Texturklang beziehungsweise Klangtextur (dessen Eigenschaften sich aus der Summe und Verbindung ungerichteter, ständig sich erneuernder und unvorhersehbarer Teileigenschaf ten ergeben, wobei die Unvorhersehbarkeit sich irgendwann, und zwar auch wieder unabhän gig von der Dauer, zu einem statistisch beschreibbaren typischen Gesamteindruck einebnet so etwa beim Lauschen auf Laute der Natur an einer bestimmten Stelle der Landschaft oder auf den charakteristischen Arbeitslärm in einer Fabrik usw. -, wobei die „Eigenzeit", in jedem Fall unabhängig von der Gesamtdauer, individuell verschieden ausfällt, je nachdem, wann ein Hörer seine Schlüsse aufs Ganze gezogen hat). V. Strukturklang beziehungsweise Klangstruktur (dessen Eigenschaft beziehungsweise Cha rakter sich nicht nur aus der Summe und Verbindung, sondern auch aus der charakteristischen Zuordnung und vielfachen Beziehung von - im Gegensatz zum Texturklang - präzis angeord neten Teilelementen ergeben, so daß die „Eigenzeit", die aus solcher Ordnung hervorgeht, in tegraler Teil einer Klangerfahrung ist, die sich - und das unterscheidet den Strukturklang vom Kadenzklang - in einem mehrschichtigen Abtastprozeß mitteilt. Klang und Form sind demnach im Strukturklang - als Klangstruktur - vermittelt: Das eine bestimmt sich durchs andere. Die

Structure Ia von Boulez ebenso wie die Incontri von Nono oder die Kontra-Punkte von Stock hausen sind Form und Klang zugleich, wie überhaupt die ersten seriellen Komponisten diesen Strukturbegriff erstmals quasi um seiner selbst willen realisiert haben. Von der sinnlichen Er fahrung her betrachtet ist so jedes Werk ein charakteristischer „Klang", Beethovens Pastorale ebenso wie Bachs Matthäuspassion oder Bergs Wozzeck*). Zu 3.: Dem Strukturbegriff liegt die schematische Vorstellung eines charakteristischen Gefüges, einer Art Polyphonie von Anordnungen, einer Zuordnung von wie auch immer zu charak terisierenden „Familien" zugrunde, deren einzelne Familien-Glieder bei verschiedengradiger Individualität im Hinblick auf den ihnen übergeordneten Charakter als dessen Komponenten oder Varianten zusammenwirken. Äußerlich wird sein Gerüst demnach von den folgenden Be stimmungen erfaßt: a) Familien und ihre Einsatzabstände voneinander, b) Anzahl Anzahl der jeweils der Familienglieder und deren Einsatzabstände. Offen ist dabei, inwiefern und wodurch diese Bestimmungen bewußt gesteuert werden. Sie mögen starr fixiert, seriell permutiert, aleatorisch, spontan oder „stochastisch" gelenkt, an kau sale Mechanismen gebunden, gerichtet oder ungerichtet sein. Oft sind sie verspannt in ein ei gens für ein Werk entworfenes statisches oder dynamisches, starres oder flexibles „Zeitnetz", welches die Funktion des tonalen Metrums ähnlich übernommen hat, wie zum Beispiel die la tenten Tonhöhen-Netze in Weberns Symphonie op. 21 oder in Boulez' Structures und auch in seinem Tombeau an die Stelle der tonalen Harmonik getreten sind: Sie sind Produkt jener ent scheidenden Vorformungsphase des Komponierens, die dem in tonalen Kategorien eingebette ten Komponisten früherer Epochen, zumindest subjektiv, erspart geblieben war. (Umsomehr verrät sich in ihrer Handhabung die expressiv bewältigte oder unbewältigte Krise des Kompo nierens heute.) Insofern im Strukturbegriff Klang und Form, durch einander bestimmt, ineinander aufgehen, das Werk bilden, bietet sich noch ein Vergleich an: eben der des „Werks", wie ihn die Orgel36

bauer gebrauchen. Bildlich gesprochen heißt Komponieren dann nicht nur: auf einem persön lich geprägten Instrumentarium spielen, sondern daraus ein einmaliges, unverwechselbares In strument, ein „Werk" bilden, dessen Traktur durch die spezifische Anordnung und Gestaltung nicht nur der „Manuale" (der „Familien"), sondern auch der „Tasten" (der „Familienglieder") so eindeutig präzisiert ist, daß der Vorgang, in dem sich das „Werk" offenbart, als eine Art Ab tastprozeß im Grunde mit einem Arpeggio, wenn auch in vielfach gefächerter Variante, ver gleichbar ist. „Instrument", „Werk" und „Spiel" fallen dann in eins zusammen. Die abgebildeten Arbeitsskizzen aus dem Darmstädter Kompositionsstudio 1978 versuchen, verschiedene Werke als jeweils charakteristische Ausformungen jenes hier beschriebenen Strukturmodells auszuweisen. Die Gegenüberstellung von Partiturbild und Strukturschema des Anfangs meiner Consolation I mag den prinzipiell unvermeidlichen Vereinfachungsprozeß bei solchen Darstellungen aufdecken. (Abb. 1 und 2, S. 38/39 und 40) Die Stockhausenschen Kommentare zu seinen Gruppen („... wie die Zeit vergeht") be schreiben, strukt urell gesehen, immer nur ein „Manua l" seines „Werks", nämlich die innere und äußere Anordnung der Formantspektren als Varianten dessen, was Stockhausen im gleichen Essay „Zeitgeräusch" nannte. Alle diese Spektren entsprechen als seine Variant en ziemlich ste reotyp immer demsel ben Modell, sie bilden, auch als zeitweise überlagerte, eine Sequenz, quasi einen Cantus firmus. Zum Verständnis der Gruppen, also des „Werks", müssen zwei weitere „Manuale" in Betracht gezogen werden: die immer wieder interpolierten Felder mit charakte ristischen klanglichen beziehungsweise instrumentalen Verdichtungen (Streicher-, Pizzicato-, Blech„fugato"-, Schlagzeug- usw. Felder), die dem Stück ein wesentlich formbildendes, zum Teil symphonisch-dramatisches (tonales ...) Gefälle geben, und zum anderen jene quasi interpunktierende Schicht aus Markierungs-Signalen („Zeitmarken" nannte es Stockhausen 1962 in Darmstadt), welche das dahinterliegende Gerüst immer wieder durchscheinen lassen und, reminiszierend und vorwegnehmend, reflektieren: Dazu gehören der Anfangsakkord, die kaden zierenden Schlußschläge, die Trompetenstöße mit den Clusternachhallen, in denen sich die er sten sechs Formantspektren wiederholen, die Verklammerung durch die zwölf Intervall-Signale der kleinen Klarinette usw. (Abb. 3, S. 41) Das letzte Stück aus Pli sehn pli von Boulez, Tombeau, ließe sich in diesem Sinn als „sechsmanualiges Werk" beschreiben, wobei, im Gegensatz zu den übrigen hier erwähnten Beispie len, diese sechs Manuale starren, aber immer wieder anders genutzten instrumentalen Forma tionen entsprechen: Klavier - kleine Perkussion mit Zupfinstrumenten - Blech - Holz - große Perkussion mit Glocken und Pauken - Streicher. Die strukturelle Darstellung von Weberns Bagatelle op. 9, Nr. 6 macht die Wandlung des Webernschen Materialdenkens deutlich: Der äußerst einfachen Disposition innerhalb der unter einander aufgezeigten Komponenten (Familien 2 bis 6) mit eindeutigen spieltechnischen Cha rakteristiken (am Steg, Triller, Pizzicato nachschlagend, Oktav usw.) steht ein komplexeres, aber nichtsdestotrotz in seinen Varianten sinnvoll aufgefächertes Geschehen unter melodischen Aspekten in der obersten Reihe gegenüber als klar strukturell reflektierter Abkömmling tonaler Satzpraxis. (Abb. 4, S. 42/43) In dem abgebildeten Ausschnitt aus Air schließlich herrscht ein permanentes Auf- und Ab treten von verschieden projizierten Familien, alle einges pannt in ein vorweg organisiertes Zeit 9

netz. Beziehungen unter den Familien orientieren Charakteristik mechani schenDie Klangerzeugung. Das Stück ist ein Beispiel der sich von an mirder anderweitig schonderbeschriebe nen „Musique concrete instrumentale". (Abb. 5, S. 44/45) 10

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Abbildung 1

Helmut Lachenmann, Consolation I für Stimmen und Schlagzeug, Partiturseiten 1 und 2 38

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Abbildung 2

Karlheinz Stockhausen, Gruppen für drei Orchester, Takte 1-77, Strukturschema

Abbildung 4

Anton Webern, Bagatelle op. 9 Nr. 6 für Streichquartett 42

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Zu 4.: Der Strukturbegriff, wie er hier schematisch beschrieben ist, setzt scheinbar eine von al len übrigen Bestimmungen und Einflüssen unserer Wirklichkeit abgeschirmte kommunikative Beziehung zwischen „reiner" (klingender) Materie und „reinem" (rezipierend em) Geist voraus. Diese Illusion mancher Seriellen hat sich zerschlagen. Geist und Materie, Bewußtsein und Aus drucksmittel sind durch allgemeine und individuelle Vorwegbestimmungen mannigfach ge prägt (die Tonalität ist nur eine von ihnen). Jedes Mittel bringt gewissermaßen seine Aura mit. Schon der erste Griff zu welchem Klang auch immer bedeutet eine Verunreinigung jenes so

Gruppen oder „rein" vorgestellten Was hatzudie in Stockhausens Zyklus noch mit ihrerStrukturideals. ländlichen Funktion tun,Kuhglocke und was hat sie neben der Salonpflanze Ce-im lesta zu suchen? Der „reine" Strukturbegriff vermag allenfalls die Mittel ihrer ursprünglichen Bestimmungen und Bedeutungen zu entfremden, sie zu „reinigen", indem er solche Bestim mungen a) negiert, b) bewußt oder beiläufig ignoriert mit Hilfe entsprechend rücksichtsloser Strukturgesetze. Beides aber führt zum ästhetischen Konflikt, und mit der „reinen Kommuni kation" ist es nun erst recht aus. Insofern er aber solche Vorwegbestimmungen berücksichtigt, als expressive Komponenten wie auch immer einbezieht, sie bewußt macht, sie dialektisch beleuchtet, gar von solcher Aus einandersetzung den schöpferischen Impuls bezieht, gibt der Strukturbegriff seine Geschlos senheit und seine prinzipielle Komplexität auf; seine Komponenten verformen und vereinfa chen sich in dem Grade, wie sich in ihnen vorgegebene existentielle Erfahrungs- und Empfin dungs-Strukturen breit machen. längst nicht einziges Beispiel aus der Tradition ist der(Handgreiflichstes, „triviale" Mahler.)aber Technisch läßt sich solcherepräsentatives bewußte Re duktion des Strukturbegriffs immer wieder anders beschreiben, so als dessen partielle oder gar vollständige Einebnung etwa auf nur eine einzige Familie, aber auch etwa als Ostinato-Handhabung der sonst vielfach variierten Bestimmungen, als Überdehnung und dadurch quasi mi kroskopische Öffnung von „naturgegebenen" Binnenstrukturen (etwa in Werken Ligetis), als Einengung beziehungsweise Anpassung an die Tonalität (ob nun naturgegeben oder nicht), als Reduktion des Kompositionsvorgangs auf charakteristische, aber allem aufgeschlossene Rah menbestimmungen, als mechanistisch inszenierte strukturelle Hypertrophie, als vergröberte Handhabung der Rahmenbestimmungen im Zusammenhang mit Zitat- oder Col lage-Tec hniken usw., usw. bis hin zur - quasi programmatisch - „verweigerten Struktur". Mir scheint, daß an der besonderen Art der Reduktion des Strukturbegriffs zugunsten der Einbeziehung der Aura sich die entscheidende Präzisierung des individuellen kompositorischen Denkens ablesen läßt, weil durch diese Prozedur die gesellschaftliche Wirklichkeit und die existentielle Erfahrung des Einzelnen nicht mehr als bloß abzuschirmende, zu verweigernde, sondern als wie auch immer widergespiegelte und als wesentliche Komponenten musikalischer Mitteilung individuiert er scheinen. Unangetastet bleibt dabei die Forderung, daß Aura und existentieller Wirklichkeits anteil der Mittel (wohlgemerkt der Mittel, nicht des Werkes selbst: über letzteres hat Walter Benjamin das Nötige gesagt) dennoch in den - und sei es auch in einen dialektisch strapazier ten - Strukturbegriff integriert sind und von ihm her sich neu bestimmen. Die Individuation der Mittel im Werk bedeutet notwendig die Verfremdung (nicht unbedingt die Entfremdung) ihrer Aura. Komponieren bedeutet dann über bloßes Strukturengebastei hinaus einiges mehr, näm lich die Auseinandersetzung mit wie auch immer bereits gegebenen Strukturen; es bedeutet: Strukturen - welche auch immer - ermöglichen, freilegen, bewußt machen, in Beziehung zueinander setzen, in Erinnerung bringen, suggerieren, halluzinatorisch auslösen usw. 46

Vier Beispiele „reduzierter" Strukturen: Im Schlußteil meiner Fassade und in Nicolaus A. Hubers Gespenstern lassen sich die Familien noch kennzeichnen. Der rhythmisch äußerst einfache, quasi marschmäßig gehandhabte, über die Manuale hinweg„fegende" Bewe gungstyp, der die Komponenten bei relativ geringer Abwandlung ihrer Tutti-Massierung im mer wieder anders durcheinanderbringt, hat fast musikantisch-tonalen Charakter, der auf diese Weise eine quasi betäubende, in bezug auf das strukturelle Hören halluzinatorische Funktion bekommt. (Abb. 6, S. 48/49) Die untereinander angeordneten Familien in Hubers Stück sind zyklisch miteinander ver wandt, ihre Verwandtschaft umgreift abstrakt Punktuelles ebenso wie naturalistisch und ge sellschaftlich-historisch Vorgegebenes. Die Dialektik von extremer Rohheit (zum Beispiel Sä gemaschine oder Blechmusik-Zitate) und feinster Sensibilität (zum Beispiel die Ausformung des Glissando-Nachhalls zum Anfangsschlag oder die punktuellen Strukturen im Mittelstück) ist wesentlicher, die Kommunikation modifizierender Bestandteil des Ausdrucks in diesem Stück. (Abb. 7, S. 50) Allbekannt György Ligetis Lontano, in welchem das Strukturgefüge zum Kanon, das heißt zur zeitlich verschobenen melodischen Linie eingeebnet ist. Wir haben es im Grunde mit einer einfach gegliederten Sequenz zu tun, deren Vereinfachung übers Strukturelle hinaus Hörper spektiven freigibt und aufeinander bezieht, die kaum anders als mit Hilfe der Aura benannt wer den können, wie sie in den hier benutzten Mitteln auf eine charakteristische Weise bewahrt ge blieben ist. (Abb. 8, S. 51) In meinen Klangschatten sind der verbleibende, quasi lineare eindimensionale Rest einer nackten Sequenz von erstickten Bartök-Pizzicati bei immer wieder anders vorgeschriebenen Saiten und ständig sich wandelnder Massierung beziehungsweise innerer Abmischung und dar über hinaus die auch in der Folge konsequent auskomponierte Praxis des „verhinderten" Sai tenklangs einer selbständi g expressiven Welt von charakteristisch ausgelösten Imp onderabilien ausgesetzt, mit welchen sich die verdinglichte philharmonische Praxis, die Struktur des Musi kers ebenso wie die seines Instruments, solcher Knebelung zur Wehr setzt und den expressiven Charakter des Stücks - zwischen Polemik und Logik - wesentlich prägt. (Abb. 9, S. 52/53) Daß dem Strukturbegriff - gerade auch als „reduziertem" - in diesem Text eine derart zen trale Bedeutung zukommt, mag als Folge einer persönlich gefärbten Perspektive erscheinen, die natürlich der Versuchung nicht ganz entgeht, von der bloßen Untersuchung der Vorausset zungen einer Theoriebildung zu dieser selbst überzugehen. Kein Zweifel, daß zu den hier ge nannten Grundbedingungen andere hinzukommen, daß die Akzente verschoben und die Wech selbeziehungen anders beschrieben werden können. Die Gewißheit, daß unser Musikdenken zwischen solchen Bestimmungen nicht mehr blind hin- und hertorkelt oder sich gar hilflos ir gendwo anklammert, wäre schon ein kaum zu erhoffender Fortschritt. Musik hat Sinn doch nur, wenn sie über ihre eigene Struktur hinausweist auf Strukturen - das heißt: auf Wirklichkeiten und Möglichkeiten - um uns und in uns selbst. 1978 11

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Abbildung 6

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Nicolaus A. Huber, Gespenster für Orchester, Formschema

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Vier Grundbestimmungen des Musikhörens Vor neun Jahren schloß ich in Stuttgart ein Referat mit dem Satz: Hören ist wehrlos ohne Den ken. Das klang markig, war aber im Grunde hilflos, und der Satz fiel vermutlich seiner eige nen Wahrheit zum Opfer: Hören wehrlos - wogegen? Und was heißt „Denken"? Wendet sich Musik ans Hirn oder ans Herz? Die letzte Frage ist verräterisch: Wo das Denken dem Fühlen im Wege steht, ist beides un 12

terentwickelt. Hören ist wehrlos auch ohne Fühlen. Indes gibt es nicht nur gedankenloses Fühlen und fühlloses Denken: Schlimmer noch und weit verbreitet ist das gedankenlose Den ken und das fühllose Fühlen. Musik setzt Denken und Fühlen in Bewegung, beide kreisen aber um nichts anderes als um unsere tiefsten Sehnsüchte und Bedürfnisse - nach Glück, nach Er kenntnis, nach erfülltem Dasein. Die Unterhaltungsindustrie lebt vom Betrug an unseren Sehnsüchten, der so auch ein Betrug an unseren Gefühlen und Gedanken ist. Der philharmoni sche Kulturbetrieb nimmt, unter Mißbrauch unserer Tradition, daran fatalen Anteil. Die Neue Musik, von ihrer spätestens bei Schönberg bewußt gemachten geschichtlichen Ver pflichtung her unvermeidlich Fremdkörper im Kulturbetrieb, hat unter ihrer Entfremdung wohl mehr gelitten als das von ihr eben durch Abwendung gesuchte Publikum. Solche Abwendung als eine von entleerten Formeln und Formen, war seit Schönberg die einzig glaubwürdige Art von Zuwendung im Namen jener eben erwähnten Sehnsüchte des Menschen. Der denkende Hörer hat dies verstanden. Musik spielt sich ab im Spannungsfeld von Innerlichkeit und gesellschaftlicher Öffentlich keit. Es sind zwei ungleich starke Instanzen, und mit tausend Mitteln durchdringt, beherrscht und manipuliert die Öffentlichkeit unsere Innerlichkeit, macht jenen kommerziellen Betrug an unseren Sehnsüchten zu unserem Selbstbetrug, und wir fühlen und denken, was wir fühlen und denken sollen. Unser Hören ist wehrlos, solange wir nicht die Kräfte spüren und nutzen, die umgekehrt aus unserer Innerlichkeit in die Öffentlichkeit dringen, diese durchdringen und in ihre Maschinerie eingreifen. Diese Kräfte als Potential in der Kunst und in uns bewußt zu machen, das ist die Aufgabe jenes Denkens, womit sich das gegängelte Hören zur Wehr setzt. Durch eine etablierte Welt öffentlich verwalteter Innerlichkeit und öffentlich tabuisierter Schönheit muß die Kunst im Auftrag des nicht verwaltbaren Ichs und im Namen einer von tie ferer Realität geprägten Innerlichkeit hindurch. Anders gesagt: Innerlichkeit, die sich musika lisch mitteilt, muß sich anhand der öffentlich bereit gehaltenen Mittel mit dieser Öffentlichkeit auseinandersetzen auf die Gefahr hin von Konflikten, und zwar dort, wo die Gesellschaft Har monie und den üblichen Kleister erwartet. Wenn ich im folgenden vier Grundbestimmungen unseres Hörens bewußt machen möchte, so bedeutet dies zugleich eine Untersuchung der musikalischen Mittel unter vier elementaren Aspekten, und dieser notwendig intellektuelle Appell an unsere reale Erfahrung soll jenem ge forderten Denken einige mögliche Richtungen weisen, kann ihm aber so wenig wie dem Fühlen die eigene schöpferische Anstrengung ersparen. Erwähnt seien zunächst zwei Binsenweisheiten. 1. Komponieren heißt nicht „zusammensetzen", sondern heißt „in Zusammenhang bringen", heißt: die musikalischen zu Trägern solchen zubestimmen. stiftenden Zusammenhangs heranziehen, ausformen, zuordnen undMittel auf diese Weise expressiv Es gibt keinen musikalischen Ausdruck, außer den durch Zusammenhang. 54

2. Das musikalische Material ist nicht einfach gefügiger Werkstoff, der nur darauf wartet, vom Komponisten in welchem Zusammenhang auch immer zu expressivem Leben erweckt zu werden, sondern es steht bereits in Zusammenhängen und ist expressiv geprägt, bevor sich der Komponist ihm überhaupt nur nähert. Diese vorweg herrschenden Bedingungen des Materials entstammen derselben Wirklichkeit, welche uns selbst, Komponisten und Hörer, unser Dasein und unser Bewußtsein geprägt hat. Wenn Komponieren über das tautologische Benutzen bereits vorhandener Expressivität, das heißt: über das bequeme Abrufen solcher vorweg gegebenen Zusammenhänge im Material - und im Hörer - hinausgehen und als schöpferischer Akt des Bewußtseins an jenes humane Potential erinnern („gemahnen") soll, welches dem Menschen seine Würde als zur Erkenntnis fähigem und aus Erkenntnis heraus handlungsfähigem Wesen gibt, kurz: wenn es künstlerische Bedeutung haben soll, dann heißt Komponieren nicht nur nicht „zusammensetzen", sondern schon eher „auseinandernehmen", auf jeden Fall aber „sich auseinandersetzen" mit jenen Zusammenhängen und Bedingungen des Materials (und des Hörens) - heißt: aus den erkann ten Gesetzmäßigkeiten, in denen das Material gebunden ist, mit den Mitteln individueller Ver nunft und Imagination neue Gesetzmäßigkeiten und Gestaltungsprinzipien ableiten, so das Material neu durchdringen, erweitern, erforschen, beleuchten und jene vorweg gegebenen Zusammenhänge im doppelten Sinne „aufheben". Wie immer dieser Vorgang gesteuert sein mag, rational oder intuitiv: Er allein löst das ein, was Schönberg unübertroffen formulierte: Höchstes Ziel des Künstlers: sich ausdrücken. Von jenen vier Grundbestimmungen ist die nächstliegende die tonale. Als Basis unserer Mu siktradition und ästhetischen Konvention dominiert sie im Alltag unseres Musiklebens. Tona lität: Damit ist der gesamte Komplex unserer Erfahrungen mit dem überlieferten ästhetischen Apparat, mit seinen Kategorien von Harmonik, Melodik und metrisch gebundener Rhythmik, der Kadenz in ihren weitesten Ausformungen samt den daran gebundenen Satztechniken und Formprinzipien, aber auch die damit verbundene Instrumental-, Notations- und Musizierpraxis gemeint, und nicht nur das Material ist tonal vorgeformt, sondern in gleichem Maß unser eige nes Bewußtsein und Hörverhalten. Den geistesgeschichtlichen Implikationen dieser abendländischen Errungenschaft „Tona lität": einer gewissermaßen von Vernunft durchsetzten und selbst als zersetzter doch noch in takten Magie der harmonischen Schwingung kann ich hier nicht gerecht werden. Nur zwei Be stimmungen des Tonalen seien hervorgehoben: Zum einen: Das Erlebnis des Tonalen, wie abgenutzt es auch sein mag, ist als Erlebnis der Identifikation mit sich und der Gesellschaft eine emphatische Erfahrung, und dies gibt ihm eine wahrhaft unheimliche Lebens- und Überlebenskraft. Zum anderen: Tonalität bedeutet nicht ungebrochenes Verharren im magischen Zustand sol cher Identifikatio n, sondern bedeutet: sich selbst im Verlassen dieses Zustandes i mmer noch auf ihn beziehen und die so geschaffene Spannung expressiv, das heißt ästhetisch erfahren. Tona lität ist so bestimmt von einer - wie sich inzwischen gezeigt hat - unendlich strapazierbaren Dialektik von Konsonanz und Dissonanz, welche es ermöglicht und erzwingt, jegliche Musik erfahrung, und sei sie noch so fremdartig, dem tonalen Prinzip zuzuordnen als Dissonanz erfahrung, deren Spannungsreiz in dem Maß noch zunimmt, wie sie sich von der tonalen Mitte weg in welche Peripherien auch immer entfernt. Anders gesagt: Es gibt nichts, was mit den Kategorien der Tonalität nicht erfaßbar und entsprechend nutzbar wäre. In diesem Sinn mag das folgende Musikbeispiel unter tonalem Aspekt bewußt erlebt werden: nämlich als sechsstimmige Akkordsequenz, deren oberste Töne melodisch-diatonisches Hören 55

ermöglichen, und die im übrigen einen trotz dissonanter Schärfungen (durch unaufgelöste Vor halte) harmonisch tonalen Verlauf vermittelt. Abbildung 1

Karlheinz Stockhausen, Gruppen für drei Orchester, Ziffer 119-120 Die Intervallstruktur erlaubt auf Ziffer 119 den Schluß auf einen H-Dur-Sextakkord mit deut lich zugeordneten chromatischen Schärfungen: dem c als unaufgelöstem Vorhalt zum h und den Tönen f und g als unaufgelösten Vorhalten um das eingestrichene fis. Zwar sind bei soviel dissonierenden Zusätzen auch andere tonale Teilwirkungen enthalten, so etwa die des übermäßigen Dreiklangs oder eines dissonant getrübten c-moll-Sextakkords; dennoch: Auf die Gefahr hin, Hindemithscher Anwandlungen geziehen zu werden, meine ich, daß die H-Dur-Wirkung dominiert, selbst als verformte. Sie wird noch verstärkt beziehungs weise bestätigt durch den folgenden Akkord, dessen mögliche Dominantfunktion mit disso nanten Nebennoten dem Ohr durchaus geläufig ist: quasi als verkürzter Dominantseptnonenakkord mit Sextvorhalt und „Blue-Note". Die Dominante löst sich wieder nach H-Dur auf, wenngleich dem Skeptiker konzediert sei, daß im dritten Akkord die dann als Nebennoten oder als Vorhal te zu interpretierenden Töne, c und f unt en, g oben, durch ihre Außenlage einer sorg losen H-Dur-Interpretation sich schon etwas versperren, und wenn ich im letzten Akkord einen h-moll-Sextakkord mit einem darüberliegenden Dominantseptnonenvorhalt erkenne, dann werde ich selbstverständlich stillhalten, wenn man diese Interpretation als eine dem Werk un angemessene Spekulation ablehnt, werde aber hinzufügen, daß solche Spekulation zum tonal geprägten Hörverhalten, wie es unsere Gegenwart kennzeichnet, gehört - und daß die bekannte Ratlosigkeit von Otto Normalverbraucher bei Neuer Musik mit daher rührt, daß dessen tonal geprägte Hörweise, wenn auch unbewußt, permanent solche tonal orientierten absurden Schlüsse zieht, deren Sinnlosigkeit ihn das Ganze als zusammenhangslos erscheinen lassen. Der tonale Aspekt dieser Stelle ist gewiß ein atonaler Aspekt, und das ist kein Paradoxon, sondern besagt, daß tonale Elemente darin als verformte, dissonant verzerrte wirksam sind. Wie auch immer man sich von der Tonalität entfernen möchte, man wird stets von ihr wie der eingeholt werden. Das Problem heißt aber auch nicht: Wie entrinne ich dem tonalen Sog und auch nicht: Mit welchen Tricks passe ich mich ihm wieder an: Vielmehr gilt es, diese to nalen Bestimmungen des Materials im Zusammenhang mit dem stets sich verändernden Ganzen neu zu begreifen. Zu dieser Veränderung des Ganzen gehört die Freilegung jenes anderen Material- und Hör aspekts, der sich auf die unmittelbare Körperlichkeit des Klingenden bezieht, also bei den akustisch erfahrbaren Eigenschaften ansetzt. Dieser Aspekt erschloß sich im Zuge der fort56

schreitenden Zersetzung der tonalen Kategorien spätestens durch Webern und danach durch die Seriellen, deren Materialkontrolle sich aus der überlieferten Variations- und Durchführungs technik abgeleitet hatte und sich schließlich radikal auf alle steuerbaren Eigenschaften des Materials bezog: die sogenannten Parameter. Nicht daß diese zuvor unkontrolliert geblieben wären, aber als Transportmittel tonal orien tierter Erfahrung (als „Gefäße" des Tonalen) spielten sie eine eher zugeordnete oder oft unter geordnete, ersetzbare Rolle im Musikbegriff, siehe etwa die von der tonalen Komposition trennbare Disziplin der Instrumentation. Erster Ansatz zur Erschließung dieses Materialaspekts war das Parameter-Denken der seri ellen Komponisten. Im Zusammenhang von Untersuchungen über die Klang-Form-Beziehung habe ich in den sechziger Jahren eine Typologie aufgestellt, die diesem Aspekt genauer ge recht wird, weil sie den Klang als Produkt nicht nur seiner mikrozeitlichen (also inneren Schwingungsverhältnisse), sondern auch seiner makrozeitlichen (also äußeren rhythmischen) Organisation, das heißt zugleich als Zustand und als Prozeß begreift und den Klangbegriff, ver standen als mittels Schalldruck artikulierte Zeit, in direkte Beziehung setzt zum Formbegriff, der nicht anders zu definieren wäre. So wäre der sogenannte Kadenzklang - etwa ein Impuls mit natürlichem oder künstlichem, also auskomponiertem Nachhall, zum Beispiel ein Tamtamschlag oder ein Klavierakzent, der sich in einem Diminuendo-Blechbläserklang fortsetzt - zugleich eine Klang-Kadenz, nämlich ein aus der Form erfahrbares Intensitäts- beziehungsweise Energiegefälle, so wäre ein sogenannter Farbklang - etwa ein gehaltener Orgelakkord oder ein gehaltener Bläserklang - zugleich eine Klang-Farbe, nämlich eine charakteristische Erfahrung von stati scher Zeit, deren Dauer noch zu bestimmen wäre, so wäre ein Fluktuationsklang - etwa eine permanent wiederholte Arpeggio-Figur in im pressionistischer ebenso wie in barocker Musik, und sei es nur ein Triller - zugleich formal be schreibbar als Klang-Fluktuation, nämlich eine aus periodischen Bewegungen gebildete stati sche Zeiterfahrung von noch zu bestimmender Dauer, so wäre ein Texturklang - etwa der Verkehrslärm an einer bestimmten Stelle in einer Stadt zugleich formal beschreibbar als Klang-Textur, nämlich als eine aus einer Vielfalt von hetero genen Einzelereignissen gebildete statische Zeiterfahrung, die einen statistischen Gesamtein druck vermittelt, quasi ein charakteristisches Chaos, und so wäre schließlich - aber hier kehre ich den Satz um - eine Klang-Struktur, also eine Form, erfahrbar zugleich als ein typischer Strukturklang, das heißt: nicht als charakteristisches Chaos, sondern im Gegenteil als charakteristische Ordnung, gebildet aus heterogenen Klang komponenten, die ein durchdachtes, vielschichtiges Beziehungsfeld ergeben und zusammen wirken nicht bloß als statistischer Eindruck, sondern als durchformter Ausdruck, der zeitlos präsent ist. Beispiel: eine Webern-Bagatelle, eine Bach-Fuge, und welches in sich stimmige Werk auch immer. Nicht eingehen kann ich hier auf die mannigfachen Formen des Zusammen- und Ineinanderwirkens dieser fünf Klangtypen. Angedeutet werden soll aber wenigstens die Vermitteltheit von dem, was man so gern als Natur und als Geist dualistisch aueinanderhält. Während man beim Kadenzklang noch von einem natürlichen Gefälle reden könnte, wobei der auslösende Energiestoß als mehr oder weniger zufälliger mechanischer Reflex nichts wei ter über seine Herkunft aussagt, ist schon beim Färb- und Fluktuationsklang die Frage berech tigt, welche Art von „Natur" dahinterstecken möge: Die Natur, selbst die menschliche, liefert solche akustischen Gebilde nicht ohne weiteres von selbst. Zur periodisch aufrechterhaltenen 13

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Wiederholung eines Schwingungsverlaufs muß schon eine höher organisierte Form von Ener gie herangezogen werden: nämlich der Wille zur Disziplinierung im gesungenen oder geblase nen Ton oder in einer rhythmischen Tanz- oder Bewegungsformel. Texturen werden schon eher von der Natur freiwillig geliefert. Die dahinter wirkenden Energien, egal wie hoch organisiert, wirken aber als Bestandteile eines gleichsam blind waltenden Prinzips, welches nichts davon weiß, was es bewirkt: Die Autos fahren ja nicht deshalb in der Stadt, um eine Klangtextur zu erzeugen - und nur so gelingt ihnen dies. Jene Art von Energie schließlich, die im Strukturklang die verschiedenen Komponenten in einen klingenden Ordnungszusammenhang bringt, weist zurück auf einen sinnvoll wirkenden Willen, das heißt: Sie ist geprägt vom Geist. Eine Struktur hörend aufnehmen, ihre Details im Licht des gesamten Gebildes neu intensiviert erleben, bedeutet sinnliche Veranschaulichung und schöpferische Mobilisierung von Geist als letztem Komplexitätsgrad von Natur. Und wenn ich als Refrain zu dieser zweiten Grundbestimmung des Materials und des Hörens zusammenfassend sage, es gibt kein Material, welches sich nicht als rein körperliche Erschei nung, das heißt als mehr oder weniger komplexe Organisationsform von Mikro- und Makrozeit beschreiben ließe, so schließt jenes „mehr oder weniger komplex" die ganze Breite ein vom einfachen (oder nachkonstruierten) Naturlaut bis zum dialektisch vermittelten Klang-, Form-, will sagen: Struktur-Erlebnis als Verkörperung jenes hochgezüchteten Naturprodukts, welches wir menschlichen Geist nennen. Die schematische Zeichnung mag veranschaulichen, wie es sich bei der zitierten Stelle um eine Art Kadenzklang handelt, der sich durch Repetition seines umgekehrten Intensitätsgefäl les zur Fluktuation verformt hat. Zur körperlichen Erfahrung gehört auch der den Beginn cha rakterisierende Impuls aus Klavier, kleiner Trommel und Bläserakzent, aber auch die metalli sche Schärfe der Instrumentalfarben zusammen mit jener quasi metallisch verschärften Inter vallstruktur, von der zuvor die Rede war - das heißt: Auch in dieser Kategorie spielt die Tonalität, nicht als historische Gewohnheit, sondern als „reines" Organisationssystem von Schwingungsverhältnissen, fürs Ohr nochmals eine Rolle (Abb. 2, S. 59). Bei dem Versuch, Kategorien der autonomen Sinneserfahrung zu ordnen und in ihren Kom plexitätsgraden abzustufen, sind wir in jenem letzten Typ, dem Strukturklang oder der Klang struktur, auf jene dritte Grundbestimmung des Materials gestoßen, von der hier die Rede sein soll: den Strukturbegriff, dessen Definition sich nicht erschöpft als sinnvolle Ordnung bloß akustisch beschreibbarer Elemente - wie es den Anschein haben könnte, solange Struktur nur als letzte Variante von sinnlich-körperlich erlebtem Klang in Erscheinung treten würde. Technisch läßt sich dazu innerhalb gewisser Grenzen wieder an dem Stockhausenschen Musikbeispiel einiges andeuten. So etwa die besondere Logik der Proportionen bei der speziellen rhythmischen Artikulation der Fluktuationen; die darin wirkenden Gesetzmäßigkeiten sind weithin noch seriellem Den ken verpflichtet: etwa die Anordnu ng der Sforzato-Abstände 5 - 4 - 2 - 3 - 1 , oder die gradweise abnehmenden Dauerndifferenzen der vier Akkorde 15-5 = 10, 10-4 = 6, 6-3 = 3; all dies verweist den Hörer unweigerlich auf den hinter solcher Inszenierung wirkenden zeit-strukturierenden Willen. Im übrigen verweilt Stockhausen relativ kurz bei dieser Klang- und Schallprozeßgestaltung, denn die Stelle hat ihren Platz in einem größeren Kontext, dessen vom Gesamtwerk her wirkende Gesetzmäßigkeiten wenig hilfreich wären, wollte ich sie beschrei ben. Es läßt sich immerhin zeigen, daß es sich um eine Art Umschlagplatz handelt zwischen davorliegender polyphoner punktueller, quasi fugato sich verdichtender Struktur aus StaccatoFiguren der Blechbläser plus Pianoforte, immer öfter durchschnitten von gehaltenen Tönen, 58

und einer ähnlich figurativen Struktur aus Klaviertönen, Akkorden und Clustern, welche die vsrce Bewegung und Dynamik übernimmt und ritardando beziehungsweise diminuendo in einen Abschnitt für Schlaginstrumente zurück- und hinüberführt. Schon dieser engere Zusammenhang ist ein beschreibbares Element, welches die unmittelbare körperliche, perzeptionistische Wirkung relativiert und individuiert und an den darin wirkenden Strukturwillen erinnert, dem der Hörer mehr zutraut und zumutet, als es die bloß unmittelbar-sinnliche Faszi nation oder der isolierte vitale Gestus vermöchten.

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Es handelt sich also bei dem so illustrierten Strukturgedanken um eine weitere elementare Bestimmung des Materials und des Hörens. Material nämlich erfahren als Struktur, das heißt: als Produkt eines bewußt organisierenden Eingriffs in vorweg gegebene Ordnungen. Dieser Strukturbegriff vertritt so neben Geschichte, Konvention und Natur die eigentlich geistige und poetische Instanz und lenkt das Bewußtsein auf jenen Willensakt, der sinnvoll in die Materie eingreift und darin Ordnungen errichtet in dem Maß, wie er vorweg darin herrschende Ord nungen aufhebt und Vorweggegebenes, Vorwegwirkendes, Gewohntes (etwa, aber nicht nur: die Tonalität) in Frage stellt, neu beleuchtet, neu würdigt, ergänzt, tiefer erschließt - verwandelt. Dem Strukturbegriff liegen demnach nicht nur Kategorien der Ordnung zugrunde, sondern auch die Erfahrung der Negation. Und es gibt - dies wieder mein Refrain - kein Material, und sei es noch so einfach und homogen in sich, in welchem Struktur uns nicht in ihrer Dialektik von Verweigerung und Angebot begegnet, das heißt, in welchem Heterogenes, also auf ver schiedene Weise Entstandenes, verschiedenen Zusammenhängen Entstammendes und Zu gehöriges nicht neu zusammenwirkt, dabei seine angestammten Bindungen aufgibt und diese allenfalls als aufgegebene mit sich herumträgt: [Der Tisch, als Struktur erfahren, ist ein zerstörter Baum, ein aufgegebenes Stück Natur und ein erweitertes Stück Menschenwelt.' Der Eingriff in vorweg gegebene Strukturen und Zusammenhänge - egal, was er be wußt verformt - erstreckt sich natürlich nicht nur auf musikalische Ordnungen (etwa die to nale), sondern er verformt - egal, ob bewußt oder nicht - auch alle Wirkungen und Assozia tionen, die sich von außen, das heißt: durch die außermusikalische Wirklichkeit, an die benutzten Mittel knüpfen. Denn nicht zuletzt ist jedes Material geprägt durch seine Rolle beziehungsweise Rollen im Dasein des Menschen überhaupt; von dort her ist es assoziativ besetzt und von dort bestimmt sich seine Aura, das heißt die charakteristische Art von deren Vertrautheit. Und damit sind wir bei der letzten Grundbestimmung des Materials und des Hörens. Am hier herangezogenen Stockhausen-Beispiel läßt sich die darin beschworene Aura viel leicht am schnellsten bewußt machen, indem man sich diese Stelle elektronisch vorstellt: Die Stelle wäre ihrer ursprünglichen Aura zwar nicht völlig beraubt, solange dabei die tonalen Klänge und ihre Gestik erhalten blieben, aber der Reiz wäre abgeschwächt, denn für den Hö rer gäbe es weniger Vertrautes in seiner Umwandlung zu erleben, so etwa den selbst als dis sonanten noch vertrauten Trompetenklang, dessen choralartig gehaltener Charakter etwa an tiphonisch gesetzte Gabrieli-Canzonen, natürlich als tonal verfremdete, ebenso beschwört, wie andererseits durch die Kombination mit der kleinen Trommel Formationen von Militär musik in Erinnerung gebracht werden. Klar ist auch, daß aus dieser assoziativen Perspektive wiederum das Klavier, als noch vertrautes, beliebtes bürgerliches Möbelstück, zum Fremd körper wird. Und in diesen Zusammenhang gehört auch, daß unter dem Eindruck der punk tuellen Behandlung, der von einem Metrum unabhängigen, rücksichtslos seriellen Zeitord nung, und nicht zuletzt der technischen Raffinesse, mit der hier eine Schallwanderung im Raum inszeniert ist: daß überhaupt bei solch technizistischer Behandlung der Mittel es nicht nur Ignoranz ist, was manchen Hörer hier tatsächlich etwas von „elektronischer Musik" mur meln läßt. Aura als kompositorisch beschworene wirkt infolge eben des strukturierenden Eingriffs im mer zugleich als verfremdete, manchmal auch als entfremdete. Und gerade diese Verfremdung, die doch Voraussetzung fürEntfremdung den schöpferischen Umgang Mittelnfür ist,den wirdKonflikt dort, wozwi sie unreflektiert nur noch als empfunden wird,mitzurden Ursache schen Neuer Musik und Publikum. 60

Die seriellen Komponisten haben, indem sich ihre strukturalistischen Konzepte über die Aura der benutzten Mittel rücksichtslos hinwegsetzten, dadurch gerade dort, wo sie auf neue Ordnungen zielten, in Wahrheit oft ein expressives Chaos und in vielen Werken einen re gelrechten Trümmerhaufen geschaffen. Was hat die Kuhglocke, mit deren Hilfe noch Mahler Höhenluft fernab vom Weltengetümmel beschwor: Was hat dieses Gerät aus dem ländlichen Alltag in Stockhausens Gruppen zwischen dem Salonspielzeug Celesta und dem ehrwürdigen, so kriegerischen wie frommen Instrument des Jüngsten Tages, der Posaune, zu suchen? Die Antwort klingt absurd: Die drei bilden zusammen Formantspektren, das heißt: Alle bewegen sich kontrapunktisch zueinander in gegeneinander abgestuften, aber ähnlich figurativ-verspannten Figuren. Nichts gegen die darin wirkende klangstrukturelle Idee, aber welch eine bru tale Vergewaltigung dessen, was uns die Kuhglocke so idyllisch vertraut gemacht hatte. Dabei ist dieses Opfer von Aura gewiß gerechtfertigt, denn gerade die Gruppen bedeuten als künstle rische Aussage eine eigene neue Erfahrung, und der so entfremdete Kuhglockenklang steht mit ein für eine neue Aura: diejenige nämlich des Stockhausenschen Orchesterklangs. Dennoch: Wer die rücksichtslose Aggressivität dieser Musik für den Bürger einfach leugnen, oder schlimmer noch: sie bloß mystifizieren wollte, statt sie auf die realen Ursachen: den negativen Umgang mit dem bisher Vertrauten zurückzuführen, der stellte sich dumm gegenüber jener letzten Grundbestimmung des Materials: der Aura als Trägerin von vertrauten Erfahrungen aus der existentiellen Wirklichkeit: des Alltags, der verschiedenen Gesellschaftsschichten, der religiösen Sphäre, der Kultur(en), der Technik, der Geschichte, der Landschaften, Klassen, vielleicht auch des Unterbewußtseins aus archaischen Schichten unserer Psyche, der Traum welt usw. Der Aspekt der Aura scheint mir die entscheidende Ergänzung und das wichtigste Korrektiv zum Autonomie-Anspruch des Strukturdenkens zu sein. An der Art, wie die komponierte Struktur mit der Aura der Mittel umgeht, auf sie eingeht, sie nicht bloß negiert, sondern ihre Expressivität einbezieht, gar von der Auseinandersetzung mit ihr den schöpferischen Impuls bezieht - anders gesagt: An der Art, wie der Strukturbegriff dem Aspekt der Aura seinen Autonomie-Anspruch, seine hermetische Geschlossenheit und seine prinzipielle Komplexität opfert oder anpaßt und dementsprechend seine Regeln verein facht (siehe das Stockhausen-Beispiel), gibt sich die individuelle Ausprägung eines komposi torischen Willens zu erkennen. Tonalität - Körperlichkeit - Struktur - Aura: Es gibt keine Musik, die im Zusammenwirken dieser vier Aspekte nicht von jedem Hörer unmittelbar und intuitiv verstanden würde. Nichts gibt es, was noch zu entschlüsseln wäre. Und dennoch: Die Auseinandersetzung mit den Be dingungen des Materials kann aus sich heraus niemals zu eindeutigen Interpretationen, ge schweige denn zu eindeutigen ästhetischen oder kompositionstechnischen Schlußfolgerungen und Doktrinen führen. Denn jeder im Material wirkende Zusammenhang ist vieldeutig, steht selbst wiederum in Zusammenhängen, ist ein Konglomerat aus Zusammenhängen, bewußten, unbewußten, bedachten, unbedachten, rationalen, irrationalen - und der Komponist hat nicht weniger Schwierigkeiten, seine Musik zu verstehen, als jeder andere. Damit ist, so scheint es, dem Komponisten, der auf die hier vorgetragenen Reflexionen sich eingelassen hatte, ebenso wie dem denkenden Hörer, alles wieder aus den Händen geglitten. Was immer der Komponist anfaßt und kontrolliert, es ist niemals das Ganze, ist immer nur ein Zipfel eines letztlich nicht greifbaren Ganzen. Wer weiß: Vielleicht kontrolliert das Ganze ihn, und der Komponist ist der Schwanz, der mit dem Hund wedelt. Das bedeutet keine Resignation, sondern bestätigt vielmehr die Richtigkeit solcher Refle xion, denn sie schlägt dem Komponisten wie dem Hörer jedes Rezept aus der Hand. Übrig 61

bleibt ihm ein durch eine Hölle von Verunsicherungen hindurch sich findender Ausdruckswille, ein weit offenes geschärftes Denken und Fühlen im Umgang mit den Mitteln und ein in solcher Auseinandersetzung hellwacher Instinkt: Reflexe des Schwanzes in der Hoffnung, daß der Hund mit ihm wedelt. Oder feierlicher mit den Worten Mahlers ausgedrückt: Ich komponiere nicht, ich werde komponiert. (Für den Hörer: Ich verstehe nicht - ich werde verstanden.) Meine letzte Bemerkung gilt nochmals dem Strukturbegriff, dessen Modell - Polyphonie von Anordnungen - sich einst als Schlüssel zur Überwindung der alten tonalen Vorherrschaft mitsamt gebundenen Tabus ergeben und bewährt hatte. Das strukturelle Denken ist in letzterden Zeitdaran immer wieder verhimmelt und öfters noch verteufelt worden. Und es ist keine Frage, daß jenes Modell weithin zum akademistischen Bastelrezept verkommen ist. Der Struk turbegriff bedarf immer wieder der kritischen Befragung. Ich selbst glaube nicht, daß es ohne strukturelles Denken geht. Solches Denken aber und die strukturellen Techniken müssen sich immer von neuem in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, das heißt: mit den übrigen realen Bestimmungen des Materials aufs Spiel setzen lassen, müssen sich verlieren, wiederfin den und neu definieren. Musik hat Sinn doch nur, insofern sie über die eigene Struktur hinaus weist auf Strukturen, Zusammenhänge, das heißt: auf Wirklichkeiten und Möglichkeiten um uns und in uns selbst. Hören ist wehrlos ohne Denken. Denken aber - sagt Ernst Bloch - heißt Überschreiten. 1979

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Affekt und Aspekt Der Rang des Komponierens bestimmt sich durch die Klarheit und Konsequenz, mit welcher das musikalische Material in einen neuen spezifischen Wirkungszusammenhang gebracht und so expressiv neu geprägt wird. Neu - denn hier beginnen schon Mißverständnisse und Miß deutungen - nicht im Sinn der Erschließung weißer Flecken auf der Landkarte der Möglich keiten, sondern neu im Sinn der Authentizität des Geistes, der - geprägt von innerer und äuße rer Wirklichkeit - auf diese Wirklichkeit schöpferisch antwortet. Komponieren ist also keine Einbahnstraße individuellen Ausdrucksbedürfnisses, sondern bedeutet immer auch Reagieren auf die Bedingungen und Gegebenheiten der Ausdrucks- und Gestaltungsmittel als den Requisiten des in unserer Gesellschaft eingerichteten und wirkenden ästhetischen Apparats. In ihm, mit seinen typischen Hierarchien, verkörpert sich der herr schende musikalische Materialbegriff: jene gesellschaftlich sanktionierte Musik-Erfahrung, in deren Praxis und Pflege das bürgerliche Bewußtsein sich zu spiegeln und zu bestätigen ge wohnt ist. Und nur dort, wo der musikalische Materialb egriff in dieser Verwaltetheit erkannt, in Bewe gung gebracht und wenn schon nicht verändert, so doch als zu verändernder bewußt gemacht wird - anders gesagt:Wo das Hören auf sich selbst aufmerksam wird -, nur dort wird das Hören und damit der Hörer selbst bewegt. Diese Ausgangs-Bedingung des Komponierens: die notwendige Auseinandersetzung des subjektiven Ausdruckswillens nicht nur mit den Möglichkeiten und den Widerständen des Materials, sondern mit der expressiven Vorherrschaft eines etablierten Materialbegriffs selbst, habe ich schon öfters beschrieben.Ich habe auch versucht zu zeigen, wie Komponieren einen Kraft-Akt darstellt, weil die Auseinandersetzung mit jenem Materialbegriff unweigerlich zur Auseinandersetzung mit sich selbst wird, wobei die Erkenntnis der eigenen Bedingtheit zur Verunsicherung des Ausdruckswillens führen kann. Aber erst die Mobilisierung der Krä fte in uns, die über solche Lähmung hinweghelf en, sie ist es eigentlich, welche sich als entscheidender Gehalt, als wahrer Ausdruck des Werks, als seine Stringenz mitteilt und welche in der Kunst den Glauben aufrecht erhält an die Fähigkeit und Bestimmung des Menschen, zu erkennen und aus Erkenntnis heraus zu handeln. Dabei geht es 14

nichtgewissermaßen darum, erkanntewegzuätzen, und durchschaute bestimmungen desnoch Materials, etwasondern die tonalen, nun wie esVorweg manche Seriellen sich zutrauten, darum, sie mit dem eigenen Willen zu durchdringen und so einem neu individualisierten Material-Zu sammenhang einzuverleiben. Die Forderung an den Komponisten, sich mit jenen Vorwegbestimmungen im Material aus einanderzusetzen, ist nicht ein einseitiger Appell an den Intellekt. Dessen Arbeit ist gewiß un verzichtbar - sich selbst überlassen, wird er zur deprimierenden Lauftrommel des Hamsters im Käfig: Ursachen, verbal oft schwer genug faßbar, haben ihrerseits wieder Ursachen. Der Intel lekt ist nicht mehr und nicht weniger als ein vernünftig-oder unvernünftig gehandhabtes In strument des gesamten Sensoriums, womit der Mensch auf seine Wirklichkeit reagiert. Ein Intellektualismus, der seine Grenze nicht spürt, ist naiv. Allerdings: um seine Grenzen zu spüren, muß er entfaltet werden. Und so bleibe ich bei meinem bösen Satz, den ich immer wieder vorgehalt bekomme: dem Satz vom Künstler,sei. der einist Widerspruch in sich die Verkör perungenvon gesellschaftlicher Lügenaiven und Dummheit Naiv der Künstler, der und un ter seiner gesellschaftlichen Bedingtheit nicht leidet, der taub ist gegenüber den bürgerlichen Widersprüchen und blind gegenüber ihrer Verdrängung im öffentlichen Alltag, naiv ist der 63

Künstler, der gleichgültig bleibt gegenüber der Eigengesetzlichkeit, Vorwegbestimmtheit, Ver waltetheit jenes von der Gesellschaft in Beschlag gehaltenen ästhetischen Apparats. Dennoch bleibt die Frage, ob sich künstlerische Phantasie und Ausdruckswille denn not wendig in einen Gegensatz zu jenen Vorwegbestimmungen begeben müßten. Spätestens an die sem Punkt scheiden sich die Geister, seit sich viele Komponisten wieder offen zu den unmit telbar verfügbaren expressiven Möglichkeiten eines überlieferten Vokabulars bekennen, wel ches von der Avantgarde in den letzten Jahrzehnten scheinbar nur noch verfremdet, gar entfremdet gehandhabt, sozusagen strapaziert worden war. Dieses Referat soll dazu anregen,negativ ein Gespräch in Gang zu bringen, welches die Positionen in ihrer wahren und ihrer scheinbaren Gegensätzlichkeit besser beleuchten hilft als einseitige Statements: ein Gespräch über die doppelte Erfahrung von Musik als Vermittlung von Affekt und von Aspekt. Die bürgerliche Musikpflege begreift Musik als Ausdruckskunst, Medium der Widerspiege lung und Vermittlung von Empfindungen. Ausgelöst, auf den Weg gebracht werden diese im Rahmen einer funktionierenden Musik-Sprache durch jene Prozesse und Gebärden, die darauf abzielen oder geeignet sind, Affekte zu vermitteln, altvaterisch gesagt: unser Gemüt in Bewe gung zu setzen. Mein Dilettantismus ist mir schmerzlich bewußt: Von der barocken Affektenlehre verstehe ich zu wenig, und ich führe sie nur an als historisches Beispiel der Kodifizierung von Affekten in einer verbindlichen Lehre und so verfestigten Kompositionspraxis. Ein derart akademischer Umgang mit dem Affekt, wie er sich im Zeitalter der Aufklärung herausgebildet hat, mußte für spätere Generationen seine unmittelbare Wirkungskraft aufgeben: Er erwies sich als Aspekt, als eine bestimmte Art, den musikalischen Materialbegriff festzulegen. Der Aspekt konkretisiert sich so durch bestimmte Gesetzmäßigkeiten und Hierarchien im Material, er teilt sich mit als Stil, als Komponente der geistigen Haltung einer Epoche. Der Gleichklang der Begriffe Aspekt und Affekt allein könnte mich gewiß nicht schon ver anlassen, mich über den orthodoxen Gebrauch des Begriffes „Affekt" durch die Musikwissen schaftler hinwegzusetzen. Diese würden mir wohl eher den Begriff „Ausdruck" genehmigen. Mit „Ausdruck" aber meine ich wiederum das, wovon Schönberg spricht, wenn er als höchstes Ziel für den Künstler nennt: sich ausdrücken. Und diese Schönbergsche Forderung ist mit der Affekterfahrung wohl kaum abgedeckt. Ich halte mich beim Gebrauch des Wortes „Affekt" an seine Bedeutung im Alltag, wo es die unmittelbare Beeinflussung des Gemütszustandes be zeichnet. (Dabei ist gewiß jeder Sinnesreiz auch ein „Gemütsreiz", wenn auch oft nur unterhalb der emotionalen Schwelle registriert, und ebenso jeder Gemütsreiz ein Sinnesreiz.) Der Begriff „Aspekt" dagegen meint zum einen ein Passives, nämlich die natürlichen, histo rischen und gesellschaftlichen Bedingungen und vorweggegebenen Eigenheiten einer MusikSprache, durchaus bis zu einem gewissen Grad rational beschreibbar, erklärbar, nicht aber im mer kontrollierbar, oft unbewußt, oft tabu. Ich erinnere an viele im Grunde höchst komplexe tonale Vorausbestimmungen etwa der Musik Bachs bis hin zu stilistischen Selbstverständlich keiten wie etwa der Generalbaß-Praxis - aber neben solchen eher kollektiven Bestimmungen auch an unbewußte individuelle Vorlieben, beliebte Wendungen, Eigenheiten, welche auf ver schiedenen Ebenen den stilistischen Charme einer Epoche, aber auch die individuelle Hand schrift des Komponisten ausmachen. Doch zählen hierzu auch schon aktive Komponenten des Aspekts, nämlich das stilistische Selbstverständnis, worin die bewußte technische Abgrenzung und eigenwillige Handhabung des Handwerks enthalten ist: bildlich gesprochen nicht bloß unbewußt erworbene Handschrift, sondern auch bewußt gewählte Kleidung, gepflegte Ge-

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wohnheiten und vertretene Lebensmoral - so in der Bachschen Musik eine über die bloße all gemeine kontrapunktische Gelehrsamkeit weit hinausgehende satztechnische und harmonische Radikalität, nicht bloßim Sinne von abenteuerlicher Vielfalt und Kühnheit der Konsonanz-und Dissonanz-Varianten, sondern dies und viel mehr als Niederschlag einer den Zeitgeschmack weit hinter sich lassenden immanent orientierten Logik und Konsequenz. Und wenn Beethoven vom „Meer" des Reichtums an Harmonien, andere vom Wunder der Polyphonie, wenn Debussy von der Kunst der Arabeske, andere von der Tiefe des Ausdrucks und alle von der Uni versalität dieser Sprache sprechen, so reagieren sie, jeweils verbal verschieden, auf den aktiven Aspekt der Bachschen Musik. Im einzelnen Werk schließlich spitzt sich die Aspekt-Erfahrung jeweils auf andere Weise zu anhand der zugrundeliegenden Werk-Idee. Der Aspekt einer Musik gibt sich so auf verschie denen Ebenen zu erkennen durch die besondere Art deskompositorischen Willens,mit den Ge gebenheiten des Materials umzugehen, darin einzugreifen, oder auch sich davon tragen zu las sen. Er beantwortet die Frage: Wie stellt sich dem Subjekt die Welt dar? - aber auch die Frage: Wie reagiert das Subjekt? Und aus der exemplarischen Erfahrung dieser doppelten Fragestel lung im Werk ergibt sich dessen künstlerische Aktualität. Dem intellektuell registrierenden Hörer teilt sich der Aspekt mit als mittelbares Erlebnis, als Produkt von Rückschlüssen aufgrund von Klang-und Ordnungserfahrungen,also auf dem Um weg über Sinnesreize bis hin zu Affekt-Erlebnissen. Dem intuitiv wahrnehmenden Hörer teilt er sich unmittelbar mit über den Ausdruck, als Haltung, und diese wiederum gibt den einzel nen im Werk erfahrbaren Momenten und Ereignissen, Sinnesreizen, Affekten ihre expressive Bedeutung. Und sobedanken wir uns oft irrtümlich beim einzelnenAffekterlebnis für eine Wir kung, die in Wahrheit dem Aspekt eines Werkes zuzuschreiben ist. In unseren Konzertführern begegnen wir oft solchem Quidproquo. So zum Beispiel, wenn die vier Anfangsnoten von BeethovensFünfter Symphonie abgebildet und dazu Empfindungen des Tragischen, Heroischen, Schicksalhaften verbal beschworen werden: Voraus-Reportage von bürgerlich gestanztenAffekten, die dem bereits eingeweihten Hörer allenfalls helfe n könn ten, das Gehörte ins Gedächtnis zu rufen und diesen Begriffen anzupassen, kaum aber dem Nicht-Eingeweihten, sich vorzubereiten, und die - so oder so - über den wahren Sachverhalt hinwegtäuscht, dem sich das Werk-Erlebnis verdankt. Indes: Die Entwicklung der bürgerlichen Musik bestand nicht zuletzt in der zunehmenden Perfektion der Realistik des Affekts und der verfeinerten Psychologisierung seines Effekts: als fortschreitende Subjektivierung des Ausdrucks ein typischer Fortschritt im bürgerlichen Sinn. Für den affektbereiten Hörer schluchzt die Musik Rachmaninowsallemal unwiderstehlicherals diejenige Mozarts, wo die Formelhaftigkeit von Kadenzfloskeln immer wieder ernüchternd in den Tränenstrom eingreift. Es ist klar, daß meine Trennung von Aspekt und Affekt zwei Fäden auseinanderhält, die letztlich ineinander verschlungen einen Strang bilden. Die Arten der gegenseitigen Durchdrin gung sind auf verschiedenen Ebenen verschieden. Und nicht erst an Adornos Mahler-Lektio nen und seinem Strawinsky-Debakel läßt sich aufzeigen, wie das eine mit dem anderen zu tun hat: wie Musik zuweilen den affekt-orientierten Hörer ratlosläßt, um ihn so einen Aspekt umso reiner, lebendiger, ja schließlich doch wieder affektiv erleben zu lassen. So gibt es schon bei Beethoven gelegentlich abgestandene Affekte und - um gleich zu Grenzfällen solcher Dialektik zu kommen - bei Mahler sogar abgestandene Aspekte, vernutzte Liedertafel-Wendungen oder gelehrt sich maskierende Allerwelts-Kontrapunktpartien, abgeru fene Idyllen, die als entleertes geistesgeschichtliches Kulturgut zu Komponenten eines überge65

ordneten, etwa kulturpessimistischen Aspekts werden, welcher seinerseits die dabei herange holten Banalitäten mit neuer Emotionalität tränkt - man denke zum Beispiel an einen Manie rismus wie den Doppelschlag und dessen ungeheure Ausdruckskraft im letzten Satz von Mah lers Neunter Symphonie.

Es ist auch bekannt, daß uns in der Musik Vorgänge zu ergreifen vermögen, die überhaupt nicht darauf abzielten, so wie im Alltag hier eine sachliche und dort eine mitleidheischende Geste eines Verkrüppelten gleichermaßen erschüttern können, weil nicht der jeweilige Inhalt, sondern in beiden Fällen die unbeholfene Form das Wesentliche übereinen dessen Leiden aussagt. Das Zitat des Bach-Chorals in Alban Bergs Violinkonzert zielt auf Affekt durch die Beschwörung eines Aspekts, der sich etikettieren ließe als „trostverheißende Glaubens gewißheit", verkörpert durch ein beliebtes Medium spätbürgerlichen Trostbedürfnisses, wobei der Bach-Choral selbst von seiner Rolle als philharmonisches Seelenpflaster wenig Wissen in sich trägt. Indes, seine im Bergschen Konzert über die bloß affektiv spekulierende Evokation hinausgehende kompositorische Integration im Zusammenwirken mit den anderen Affekt- und Aspekt-Trägern: den Tonalitätsbrocken, den Walzergebärden, der Kärntner Volks weise, bis hin zu den vom Orchester imitierten leeren Violinsaiten - all das gibt dem gesamten Material die ses Werkes einschließlich des Bach-Chorals seine den unmittelbaren Affekt weit überhöhende Expressivität, als Ausdruck eines typisch Bergschen Aspekts: dem des bewußt zerbröckelnden, im letzten Blick auf seine bürgerlichen Preziosen sich zersetzenden Subjekts. Ein Trost, der seine mit Trostlosigkeit einbekennt, indemzukleistert. er sie schließlich in den Schlußtakten von unten bis oben dem B-Dur-Quintsextakkord Man vergleiche damit den Mißbrauch eines Bach-Chorals in Pendereckis Oper Paradise lost: wenig srcinelle Beute eines Barbaren, der - um mich selbst zu zitieren - in der Tradition nicht wurzelt sondern darin wurstelt, wobei sich schlimme Aspekte einer verkaufsorientierten Dramaturgie und militanten Naivität zu erkennen geben. Gewiß, das Bachzitat verfehlt seine Wirkung nicht - und wird doch zugleich zum Ärgernis. Entscheidend ist die Erkenntnis, daß der komponierte Affekt ein ungebrochenes Subjekt setzt beziehungsweise voraussetzt. Und doch hat spätestens in der Musik Mahlers das Subjekt von seiner Ungebrochenheit Abschied genommen. War die Geschichte des affekt-orientierten Komponierens bis ins 19. Jahrhundert hinein die Geschichte des sich emanzipierenden subjek tiven Individuums, so hat sie sich in der Folge verwandelt in die Geschichte des sich in seiner Unfreiheit erkennenden Subjekts. Das expressiv handelnde Ich stößt auf seine Vergesellschaftetheit, das Subjekt entdeckt sich als Objekt, als Gegebenheit, als Struktur, um mit Wozzeck zu sprechen: als „Abgrund", in dem ganz andere Mächte wirken als die, woran der bürgerliche Idealismus glauben machen wollte. Die unterschiedliche Bereitschaft und Fähigkeit des Künstlers, mit der Gebrochenheit der ei genen Subjektivität fertig zu werden, sie zu erkennen oder sie zu verdrängen, schlug sich not wendigerweise nieder im Umgang mit dem eingebürgerten Materialbegriff und jenem so stolz gehegten ästhetischen Apparat, dessen Intaktheit als ästhetisches Kommunikationsmittel den Glauben an die Intaktheit des Subjekts verkörpert hatte und an den sich nun die Gesellschaft erst recht klammert: Sie erweist sich in der Folge nämlich geprägt nicht nur von der Angst vor dem eigenen Abgrund, sondern zugleich geprägt von mannigfachen Strategien zur Verdrän gung solcher Erkenntnis. Folgerichtig ergab sich in der Kunst die Trennung von Ernst und Unterhaltung in radikalerer Weise als zuvor. Als Vermittlerin ungebrochener Affekte gewährleistet Unterhaltungsmusik prinzipiell die Illusion des ungebrochenen Subjekts. Und in dem Maße wie der Bürger sich an 66

diese Illusion klammert,klammert er sich in der Musik anden Affekt. Der Affekt in der Musik sagt stets: Alle Menschen werden Brüder, wo der Flügel nicht nur der Freude,sondern auch der Trauer, der Wehmut, der Angst, des Hasses, des Triumphs, des Fanatismus oder der Behag lichkeit, kurz wo die kollektive Emotion, wo aber auch Heino und Anneliese Rothenberger weilen. Wo aber das Ich mit seiner Gebrochenheit nicht verdrängend, sondern erkennend, wachsam registrierend umgeht, drückt es sich nicht mehr eindeutig affektiv als Sprechendes, sondern aspektiv als Handelndes aus: Es geht daran, sich selbst als Struktur zu erfahren und erfahrbar zu machen. In solcher Bereitschaft des Erkennensbewahrt es sich zugleich einStück Hoffnung in die eigene humane Substanz. Spätestens in der Musik Schönbergs, Produkt eines in diesem Sinne Strukturen neu setzen den und damit die gegebene tonale Struktur zersetzenden Musikdenkens, hat sich die Katego rie des Affekts folgerichtig hinübergesteigert in die eigene Brechung, Verzerrung, Trivialisierung, Mumifizierung und sich schließlich verwandelt in die Sprachlosigkeit der nackten Struk tur, Ausdruck der Agonie eines in radikaler Identitätskrise gebeutelten bürgerlichen Subjekts, Strafkolonie, der zerstochen von den Na vergleichbar dem gefolterten Gefangenen aus Kafkas deln jener Foltermaschine im letzten Schmerzenswahnsinn versucht, deren Eingravierung in seinem Körper zu lesen, so den Schmerz gleichsam zu entziffern. Unter Berufung auf die Musik Anton Weberns, bei dem das selbstquälerische Leiden des Ichs in ein neues Anschauen seiner Strukturhaftigkeit sich verwandelt hat, haben Komponisten nach 1945 sehr bewußt nicht wieder beim Sprach-Charakte r, sondern beim Struktur-Charakter von Musik angesetzt, wobei sie dem überlieferten musikalischen Material Hierarchien zumu teten und zutrauten, die den alten Materialbegriff radikal in Frage stellten und den unmittelba ren Affekt rücksichtslos ausklammerten. Die serielle Musik gründete sich so eindeutig und einseitig auf die unmittelbare Erfahrung ihres Aspekts als einer auf die Strukturhaftigkeit des Klingenden bezogenen Haltung. Sie hoffte, so den bürgerlichen Sprachverlust zu verwinden und zu überwinden. In solcher Verselbständigung des Struktur-Aspekts schlugen sich Hoffnungen nieder eines neuen ästhetischen, aber auch gesellschaftlichen Selbstverständnisses. In den großen Werken der seriellen Phase wurde diese Hoffnung unmittelbar expressiv. Als musikalisch vermittelte konkrete Utopie von einer neuen Wachheit des Menschen wirkte sie als Aspekt erregender, beunruhigender, begeisternder als es der Affekt vermochte, und ich selbst war gewiß nicht der einzige, der in den fünfziger Jahren Werke wieNonos Incontri, Stockhausens Kontra-Punkte oder die Structures von Boulez mit höchster Betroffenheit nicht bloß hörte, sondern sie gewis sermaßen existentiell an sich erfuhr. Diese Erlebnisse haben mich geprägt. Das Publikum damals verstand diese Musik als Schock sehr genau und wehrte sich in dem Maß, wie es darin jenes Affekt-Erlebnis vermißte, von welchem seine bürgerliche Selbstsi cherheit zehrte. Sowenig wie die Tonalität selbst ließ sich übrigens die Kategorie des Affekts aus dem musi kalischen Material definitiv „heraus-serialisieren". Zumindest als surreales Moment regene rierte er sich in den sechziger Jahren (bei Luigi Nono hatte er sich, als punktueller Rest umso feindlicher wirkend, noch in seinen abstraktesten Konstruktionen erhalten). Dennoch: Wo er nicht bewußt regressive Abfälschung bedeutete wie etwa bei Penderecki und anderen Trauer-Cluster-Komponisten, blieb der Affekt bloßes Element eines auf den Aspekt gerichteten Kompositionsdenkens.Seine erneute Evokation, in Werk en Ligetis, Kagels, bedeutete zugleich seine Verfremdung und unterstrich durchsolche Exotik des Vertrauten eher 67

noch die Sprachlosigkeit des Individuums, welches über seine Gebrochenheit hinaus zugleich auch seine bürgerliche Gebundenheit erkannt hatte und darauf reagierte. Das Ich, in Erkenntnis seiner Gebrochenheit, Sprachlosigkeit, in der Auseinandersetzung mit seinen bürgerlichen Bindungen und seiner Unfähigkeit, diese abzuschütteln - das Ich, tastend nach seinem Es, nach seinem Über-Ich, nach seiner Struktur in der Hoffnung auf jenes Ret tende, von dem Hölderlin sagt, daß es dort wachse, wo Gefahr sei - das Ich, sich mitteilend nicht affektiv durch die emotional sprechende Gebärde, sondern durchs suchende Handeln, über dervermittelten sich niederschlägt im umformenden Umgang mit Generation dem ästhetischen Ap parat den und Aspekt, dem darin Materialbegriff: Komponisten meiner haben ihre Situation so verstanden und als Herausforderung akzeptiert. Komponieren als Widerstand gegen den herrschenden Materialbegriff bedeutet: diesen Ma terialbegriff neu beleuchten, durchleuchten, in ihm Unterdrücktes entdecken, freilegen. Hören bedeutet: sich verändern, sich selbst in seiner Veränderbarkeit neu entdecken. Im verändernden Umgang mit dem Material drückt der Komponist sich aus und entdeckt er sich selbst als Teil einer vielschichtigeren als bloß der unmittelbaren bürgerlichen Wirklichkeit, und setzt er so den Verdrängungsstrategien einer bürgerlichen Vogel-Strauß-Haltung einen Widerstand und zu gleich ein Angebot entgegen, an dem die Gesellschaft ihrer inne wird und sich entscheiden muß. Was indessen meine Generation schöpferisch reizte, empfinden Komponisten neuerdings erneut als unwürdige Lähmung inund Unterdrückung Ausdrucksbedürfnisses. jün gere Generation, aufgewachsen einer Gesellschaft,ihres welcher die Verdrängung desEine eigenen Widerspruchs zur Natur geworden ist und in welcher sich das punktuelle Glücksmoment emotionaler Übertragung auf vielen Medien-Ebenen tagtäglich billig reproduziert, erfährt jene Ästhetik des Widerstands als bloße Frustration. Mehr als an der Gebrochenheit des Ichs leidet sie an der Lähmung durch solche Erkenntnis. Unter dem Druck ihres Überdrusses bricht sie den Bann. Sie weigert sich, auf die eigene Bedingtheit zu starren wie das Kanin chen auf die Schlange, und sie wagt es, in dieser, trotz dieser und gerade wegen dieser Be dingtheit und Entfremdung nun gerade erst recht ICH zu sagen und durchzustoßen zum di rekten, unmittelbar an den Mitmenschen gerichteten Affekt, im Glauben an eine durch alle Masken hindurch letztlich doch sich erhaltende Kommunikationsfähigkeit des wie auch im mer verstörten Individuums. Sojedenfalls meine ich den Geist zu verstehen, der jene zum Rückgriff auf den bürgerlichen Affekt entschlossenen Komponisten leitet. Und so respektiere und akzeptiere ich sie, und so stehen sie mir näher als manche Struktur-Manieristen, die unter Mißbrauch einer zur Ideologie verklärten Sprachlosigkeit, sozusagen mit Entfremdung kokettierend, als Außenseiter vom Dienst einer Art negativem Kunstgewerbe frönen. Der direkte Rückgriff auf den Affekt als be freiendem Ausbruch aus empfundenen Zwängen ist so geprägt von der Kraft eines auf die Wirklichkeit reagierenden Aspekts. An ihrem Selbstverständnis als Aspekt also hat sich eine neue Affekt-Kunst zu bewähren. Das Kriterium ihrer Stringenz läßt sich begrifflich schwer fassen. Es ist der Moment, um nochmals an Wozzeck zu erinnern, wo dem von der eigenen Struktur schon fast doktorhaft fas zinierten Subjekt „die Natur kommt" und es sich dazu bekennt. Aber mein Satz vom naiven Künstler gilt erst recht auch hier. Jener Ausbruch des geknebel ten Subjekts in eine neue affektive Unmittelbarkeit enthielt als Rebellion gegen empfundene Zwänge ein großes Moment von Wahrheit, wird aber unwahr und degeneriert zum Selbstbetrug dort, wo der Komponist wieder fett und behaglich, vielleicht strukturell leicht vernarbt, dafür 68

umso wehleidiger, sich in der alten Rumpelkammer der verfügbaren Affekte wieder häuslich einrichtet. Die Versuchung scheint groß, und viele sind ihr bereits erlegen. Und der Eindruck läßt sich nicht von der Hand weisen, daß - nach soviel beklagter Stagnation zuvor - jener neue über quellende Reichtum an affektgewaltiger Musik sich der Fruchtbarkeit einer Fäulnis verdankt, bei der sich die Maden im Speck des tonalen Kadavers tummeln. Wer glaubt, expressive Spon taneität und der unschuldige Griff ins altbewährte Affekten-Reservoir machejenen Kampf des gespaltenen Subjekts mit sich selbst überflüssig, erspare ihm die Auseinandersetzung mit dem Materialbegriff, der hat sich künstlerisch selbst entmündigt. Er darf gerne einer Gesellschaft auf dem Schoß sitzen, die jeden ermuntert, der ihr bei ihrem Verdrängungsspiel sekundiert, zu sagen hat er ihr nichts. Von solcher Gesinnung gilt es sich allerdings scharf abzugrenzen. Sie verrät sich spätestens durch das Niveau ihrer Polemik gegen die alte Avantgarde, eine Polemik, die darin besteht, daß der Blick verstellt wird durch Pappkameraden, auf die dann eingedroschen wird zur Genugtu ung des Herrn Peter Jona Korn. Und diesen Exkurs kann ich nicht ausklammern, denn was mich so stutzig macht, ist, daß es neben den obligaten professionellen Klima-Vergiftern doch auch respektable Komponisten gibt, die - offenbar zur eigenen Rechtfertigu ng - glauben, an solchem Prügelfest mehr oder we niger verschämt sich beteiligen zu sollen. Da ist zum Beispiel schon jenes internationale Schimpfwort „Darmstadt" (gemeint sind die Internationalen Ferienkurse), womit der moralisch entrüstete Blick auf eine von dorther emp fundene stilistische Bevormundung gerichtet werden soll, Bevormundung durch Komponisten, die - mit mehr oder weniger großen Profilierungskünsten - über ihre Theorie und Praxis zu be richten dorthin eingeladen waren. Bevormundet fühlten sich die, die einerseits unfähig waren, solchen Erfahrungen sich zu stellen, und andererseits auc h nicht bereit zuzugeben, wie tief sie durch solche Erfahrungen ver unsichert wurden. Das serielle Denken als zwanghaf te Fesselung der Phantasie oder gar als ihre bequeme Entlastung konnte nur vondenen verdächtigt werden, diesich um den Aspektsolchen Denkens drückten, nämlich um die erkannte Notwendigkeit, von Werk zu Werk den Material begriff neu zu fassen, eben anhand konkretzu steuernder, neu zuformulierender und nicht bloß zu benutzender Kategorien, die übrigens schon früh über die guten alten Grund-Parameter hin ausgingen: Mit Tondauer und Lautstärke usw. beschäftigten sich schon bald nur noch die Re dakteure von Schulbuch-Verlagen. Geschmäht werden konnte das serielle Denken nur von denen, die es vorzogen, die inDarm stadt analysierten Beispiele verdinglicht, von dem ihnen zugrundeliegenden Aspekt losgelöst, als bloße Rechenspiele zu mißdeuten: sie dem eigenen geistigen Fassungsniveau anzupassen, den durch die eigene Gehirnmasse durchfiltrierten unsinnigen Rest kühn als unsinnig zu be zeichnen und Darmstadt für solchen Schwachsinn verantwortlich zu machen. Genug: Wir wissen wohl, wieviel wir alle, ausnahmslos, jener Institution, bei all ihren Kri sen und Niveau-Schwankungen, an prägenden Erfahrungen, aus der Nähe oder aus der Ferne, verdanken. Damit ist auch schon einiges gesagt über das beliebte Phantombild des typischen DarmstadtKomponisten, der - sich emotionaler Mitteilung verschließend - mit hochmütigem Blick in eine von ihm gepachtete Zukunft von der Gegenwart garnicht verstanden werden wolle: Hyper-Romantiker, Fortschritts-Prophet und grämlicher Intellektueller zugleich und so das musi kalische Material mit abstrakten Algebra-Formeln züchtigend. Genau dies übrigens hat man 15

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Varianti und desDiario Polacco, Luigi Nono, nachgesagt. vor 25 Jahren dem Komponisten der Und Wolf gang Rihms Äußerungen aus dem Jahr 1980 über Ordnungen, die auf ihre sinnliche Wahrnehmbarkeit verzichten, wären damals von Nonos Gegnern bedenkenlos übernommen worden: „Diese Ordnung bleibt unverständlich und bekommt zur Plage ihrer Zwanghaftigkeit auch noch den Hohn der Fadheit". Rihm, mit dem mich ganz bestimmt die uneingeschränkte Liebe zum Schaffen Nonos und gerade auch zu diesen Werken verbindet, weiß sehr wohl, daß nicht nur der Hohn der Fadheit, sondern ebenso die Fadheit solchen Hohns durch die Genera tionen hindurch sich immer wieder haben korrigieren lassen müssen. Langeweile ist unver zeihlich, gewiß - aber wem??? Im übrigen sind ästhetische Programme, deren Perspektive in die Zukunft sich richtet, legi tim, und es wird sie immer wieder geben, und zwar gerade dort, wo Musik sich als etwas Ver bindlicheres versteht denn - um Manfred Trojahnzu zitieren - als „Spielplatz für privatistische Tonsatzerfindungen", ein Spielplatz, der mir immer noch sympathischer ist als einer für privatistische Tonsatz-Ausbeutungen. Kann es aber ein anmaßenderes und zugleich ignoranteres Programm geben als die Propagierung einer „menschlichen Kunst" (im Gegensatz zur bis lang unmenschlichen...) und als die Verkündigung, endlich „wieder für das Publikum" zu kom ponieren? Für wen waren denn Nonos Canto sospeso, La terra e la compagna, Stockhausens 16

Gruppen und die Kontakte, Boulez' Marteau, Berios Epifanie und CagesKlavierkonzert kom

poniert??

Der Vorwurf einer hermetisch verschlossenenMusik bloß für Insider wiederholt nur eine e b liebte Ausrede der Öffentlichkeit, die vor Werken wie den genannten in Deckung gegangen ist, weil sie sich von dem darin erfahrenen Aspekt mehr getroffen als von den Affekten sämtlicher Neosymphoniker auch nur unterhalten wußte. Um nochmals Trojahn zu zitieren: Nicht die „Musik entzog sich der emotional geprägten Aufnahme durch ein breiteres Publikum", sondern das breitere Publikum entzog sich, emotio nal getroffen und verunsichert,solcher Musik. Und die Frage,wer denn da nun wirklich im „El fenbeinturm" sitze, das schmale oder das breite Publikum, wird zur Frage über die Relevanz von Mehrheitsentscheidungen in Sachen Musik. Diese würden allerdings von Udo Jürgens gewonnen werden. Und damit sind wir bei der schwachsinnigen Behauptung von der unzulässigen Unterschei dung von ernster und Unterhaltungsmusik:Kunst eo ipso sei immer auch unterhaltend und gute Unterhaltung immer auch Kunst. Darf man fragen, gut unterhaltend wen? Das Publikum im Ohnsorg-Theater oder Herrn Joachim Kaiser? Ach so: die Beatles! Allen Respekt vor denen, aber was machen wir mit dem Zeitgenossen, wenn der den Millowitsch noch besser findet und sich beim Don Giovanni langweilt?? Welche Heuchelei. Die Spaltung zwischen E- und U-Musik ist eine verräterische, aber folgerichtige Spaltung zwischen einer Musik, in welcher das Subjekt sich ausdrückt, das heißt: sich einschließlich sei ner Widersprüche und seiner Utopien erfahrbar macht, und einer Musik, die sehr bewußt der Nachfrage nach Glücks-Versprechen dient, und diewider besseres Wissen ein intaktes Ich setzt, einfach, um freundlich Du sagen zu können, ein Maskenspiel, in verschiedenem Maße ehrlich, und das gelegentliche Abreißen der Maske in manchen Beispielen etwa der Rock-Musik ändert so wenig an ihrer Funktion wie der gelegentliche verzweifelte Griff zur Versöhnungsmaske in ernster Musik. Das Wort von der Unterschiedslosigkeit von E- und U-Musik gehört zur Strate gie der Blödmacherei. Nicht fehlen darf natürlich auch das polemische Spiel mit dem Begriff „Verweigerung", wel ches mich selbst zum asketischen, schmollenden Prediger mit moralisch erhobenem Zeigefin17

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ger in der Wüste erstickter Kratzgeräusche stempeln möchte, ein Pappkamerad, so recht zum Draufhauen sich anbietend, weil man geflissentlich als Abkehr vom Publikum mißdeutet, was ich immer nur als kompositionstechnisches Verfahren beschrieben hatte: das Wegräumen des offen Daliegenden, um dahinter Verborgenes freizulegen, reiner erlebbar zu machen. Meine Hilfsdefinition von Schönheit als „Verweigerung von Gewohnheit": Im Zerrspiegel der Blödmacherei wurde daraus „Verweigerung von Genuß". Gewohnheit und Genuß ineins gesetzt: Hier hat sich der Spießer entlarvt. 19

Wo Torheit in Niedertracht umschlägt, sind des Komponisten Tilo Medek gleichmäßig aufs Bundesgebiet verteilte Bemühungen angesiedelt, das Schaffen Arnold Schönbergs herabzuset zen. Dessen Applaus-Verbot im Rahmen der Gesellschaft für musikalische Privat-Aufführungen vor über sechzig Jahren in Wien wirkt nach Medeks Meinung als Unterdrückung des Pu blikums noch heute nach. Solches wiederholt verkündet und weiterhin zu erwarten im Rahmen von Veranstaltungen durch öffentliche Einrichtungen - etwa dem Hamburger Neuen Werk -, deren Existenz nicht zuletzt dem Geist der Schönbergschen Forderung nach dem Daseinsrecht des Unbequemen angesichts der Herrschaft des Bequemen sich verdankt. Medeks Glossierung der „Krankhaftigkeit", „Verklemmtheit" von Schönbergs Musik, sinni ger Beitrag im „Jahr des Behinderten", möchte natürlich deren heutige Nachfahren treffen und zielt auf die Ächtung des Ungesunden durch das gesunde Volksempfinden ab. Angesichts sol cher unverklemmter Selbstentblößung kerngesunder Krüppelhaftigkeit ziehe ich es allerdings vor, den Unterschied zwischen Ernst und Unterhaltung zu vergessen; ich halte mich lieber an Medeks geistvolle Gegenüberstellung von „Magermilch", natürlich sprich Schönberg, und „Vollmilch", sprich Tilo Medek, und resümiere resignierend: Quark. Hanns Eisler hätte so gern ein Buch über die „Dummheit in der Musik" geschrieben. Ich halte ein anderes Buch noch für wichtiger: „Vom Sich-Dummstellen in der Musik". Es war verständlich, daß mit Schein-Argumenten wie „Publikumsfeindlichkeit", „kranker" oder „hochmütiger Intellektualismus" usw. sich der Provinzfeuilletonismus, weniger aber, daß auch Komponisten, selbst doch durchaus nicht gefeit gegen Mißdeutungen, sich solcher Papp kameraden arglos polemisch bedienten und sich so der eigentlichen Fragestellung entzogen. Diese lautet: Wie läßt sich Sprachlosigkeit überwinden, eine Sprachlosigkeit, die im Zug der gesellschaftlichen Entfremdung und infolge des bürgerlichen Illusionsbedürfnisses durch eine falsche Sprachfertigkeit des ästhetischen Apparats noch verhärtet und verkompliziert er scheint?

Ich selbst weiß keine andere Antwort, als die, diese Fragestellung im Komponieren bewußt zu machen. Sie scheint mir der Grund-Aspekt des Komponierens heute zu sein. Im Lichte die ses Aspekts gilt es - wie auch immer -, nicht zu verkündigen, sondern zu handeln. Als Sprache, als affektive Gebärde weiß Musik sich hilflos. In einer Zeit kommerziell for cierter Überkommunikation als Kehrseite gesellschaftlicher Entfremdung teilt sich das Subjekt einzig mit über den Aspekt, auf welchen sein Handeln verweist, es teilt sich mit in seinem Um gang mit jenem ästhetischen Apparat und seiner falsch sprachfertigen Sprachlosigkeit, es teilt sich mit als Prozeß im Licht von Ideen, die aus solcher Fragestellung sich ableiten. Allein der Aspekt verleiht solchem Handeln Ausdruck, wenn man so will: seine Beredtheit; von ihm bezieht der einzelne, affektive oder sprachlose Moment seine expressive Kraft. Hören ist ein Abtast-Vorgang, der bei den äußeren Dimensionen von musikalischer Struktur niemals haltmacht. Das Affekt-Erlebnis stellt sich ein spätestens durch die Hintertür; auf dem Weg über den Gedanken kommt es gewissermaßen aus uns selbst. Und denken heißt nicht, intellektuell operieren, sondern: im umfassendsten Sinn „wahr-nehmen". 71

Die Diskussion unter Musikern, aber auch das Lernen und Lehren von Musik sollten die Aspekt-Erfahrung in ihrer Beziehung und Abgrenzung zur Affekt-Erfahrung konsequenter als bisher zu ihrem Gegenstand machen. Analyse, die ihre Beobachtungen nicht zu dem Punkt vorantreibt, wo sich der Aspekt einer Musik, ihre Haltung, ihr expressives Selbstverständnis abzeichnen, und sei es auf die Gefahr, daß sie als rationale Prozedur in ihrer begrifflichen Unzulänglichkeit versackt und das Objekt gewissermaßen nach größtmöglicher Annäherung eben nur noch mit dem Blick erfassen kann - Analyse, die solches Ziel aus dem Auge verliert, bedeutet bloße Ersatzbef riedigunghat. des Intellekts, der ein Werk nicht verstanden,dafür aber eine serielle Ordnung nachgewiesen Musik ist nicht die Wirklichkeit. Im Gesamt unseres Daseins ist sie eher ein Objekt der Zuflucht, für die Erkenntnis-Suchenden allerdings in anderem Sinne als für die VerdrängungSuchenden. Komponieren ist, so oder so, ganz gewiß eine Form der Flucht, aber einer Flucht in die Höhle des Löwen. Sage mir, wohin du fliehst, und ich sage dir, was dich verfolgt. Zeige mir, in welchen Sand du deinen Kopf steckst, und ich sage dir, wie real die Bedrohung ist, die dich treibt. Nichts also gegen den musikalischen Affekt - denn wichtig ist letztlich nicht, ob der Kopf im Sand, sondern daß der Sand nicht im Kopf steckt. Die Bestimmung des Menschen ist nicht, den Kopf in den Sand zu stecken, sondern wahrzunehmen, zu erkennen, zu reagieren, sich so mitzuteilen. Anders alsmehr eine zu vorgrüßen mir geborene Komponisten-Generation, die sich bei ästhetischen Diffe renzen nicht pflegt, was meinen Respekt gelegentlich beeinträchtigt, glaube ich an die Ergiebigkeitdes Dialogs mit dem Andersdenkenden, sofern dieser nur ein Denkender ist. Zum Erkenntnistrieb des Menschen gehört auch seine Bereitschaft, den anderen zu verstehen, nicht ihn zu zensieren, sondern sich mit ihm auseinanderzusetzen, und dies heißt: sich mit ihm zusammenzusetzen (wie ich es mit Wolfgang Rihm im Juli tun werde), heißt: sich vom ande ren abgrenzen, aber ohne seine Hand loszulassen. Dialog über Wege in einer gemeinsam durchlebten Situation und im Hinblick auf ein gemeinsam benennbares Ziel: Musik als Nachricht vom Menschen für Menschen - nichts wäre ermutigender als die Solidarität derer, die an solcher Aufgabe, das heißt: an sich selbst arbeiten. 1982 20

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Über das Komponieren An Wolfgang Rihm - in Freundschaft und in Gedanken an Unbenannt I, dessen Klopfzeichen ich aufgefangen habe. 21

Die folgenden Überlegungen erheben weder Anspruch auf Vollständigkeit der mit dem Kom ponieren zusammenhängenden Aspekte, noch auf alleinseligmachende Gültigkeit der hier zu sammengetragenen Postulate. Es ist der weder erste noch letzte zum lehrreichen Scheitern be stimmte Versuch, das in eine objektivierende Sprache zu fassen, was Komponisten nicht anders als subjektiv an sich erleben, worin sich ihre Identität bestimmt, und was infolgedessen sie notwendigerweise voneinander abkapselt und sie doch zugleich auch verbinden könnte. In Abwandlung eines zentralen Gedankens von Georg Lukäcs aus dessen Ästhetik, nämlich von Kunst als Nachricht vom „ganzen Menschen" über die aufs „homogene Medium" verengte Wahrnehmung durch den „Menschen ganz", handelt dieser Text nicht vom „ganzen Kompo nieren" sondern vom „Komponieren ganz". Er möchte die Radikalität bewußt machen, mit der diese scheinbar nutzlose Tätigkeit zwischen unerbetenem Predigertum und unbeachtetem Bastlertum die Existenz eines Komponisten in Anspruch nimmt: ihn herausfordert als Den kenden, als Fühlenden, als in beiderlei Hinsicht „Unfreien", „Verwalteten", der sich in seiner Bedingtheit erkennt und zugleich seine Fähigkeit mobilisiert, mit solcher Erkenntnis umzu gehen, auf sie schöpferisch zu reagieren, und der sein Tun dadurch legitimiert, daß er solche Erkenntnis und Erfahrung ästhetisch vermittelt als Herausforderung an den Hörer. Anlaß zu diesen Überlegungen war die immer wieder an mich gerichtete Anregung, meine Gedanken beziehungsweise Erfahrungen über das Unterrichten von Komposition zusammen zutragen. Solchen Anregungen bin ich bis heute erfolgreich ausgewichen und werde ich weiter ausweichen, denn meine einzige zuverlässige Erfahrung hierzu ist die, daß solche einmal for mulierten Erfahrungen in sich zusammenfallen wie ein Kartenhaus, sobald ein frischer Luftzug daherkommt, und gerade auf diesen kommt es doch an. Immerhin ist an mich selbst die Frage zurückgeblieben, was denn die Bestimmungen des Komponierens überhaupt seien, also was über die unmittelbaren Prozeduren des Komponierens - so, wie sie sich in Strukturanalysen weithin nachstellen oder wenigstens spekulativ erahnen lassen - hinaus den inneren Vorgang kennzeichne, auf den solche Prozeduren ihrerseits zurück zuführen wären. Diese inneren Vorgänge also versuche ich auf provisorische Formeln zu brin gen, und dies möglichst auf einer Ebene, wo auch andere Komponisten ihre Arbeitsphilosophie präzisieren können, ohne schon wieder vom Sog fremder, unangemessener Kategorien ver schluckt zu werden. Ohne die Vermutung, daß es so etwas wie eine gemeinsame kreative Er lebnisbasis, wie breit auch immer, geben könnte, macht mir das ganze Darmstädter „Babylon" keinen Spaß. Ich glaube also, daß ein gewisses Maß an Bewußtheit über solche kreativen Grundmecha nismen uns Komponisten helfen könnte, in der Auseinandersetzung mit anderen uns selbst zu läutern und sicherer auf dem eigenen Weg weiter zu gehen. Komponisten sollen über sich re den. Aber sie sagen mehr über sich aus, indem sie die Verbindung zu den anderen herstellen und über diese Erfahrung reden. Ich muß im folgenden in dem Maß, wie ich versuche, verdinglichenden Mißverständnissen bei der Beschreibung solcher kreativer Mechanismen zu entgehen, auf Veranschaulichungen weithin verzichten und immer wieder zu Metaphern greifen, um den gemeinten Sachverhalten möglichst nahe zu kommen, ohne einem anderen den eigenen Weg zu ihnen abzunehmen. 73

Drei Grundbeobachtungen möchte ich ansprechen. Die erste lautet: Komponieren heißt: über die Mittel nachdenken.

Es ist dies eine aufs Praktische zugeschnittene Variante eines Satzes wie: Komponieren heißt: über das Komponieren, oder gar über Musik nachdenken - Sätze, die gewiß stimmen, aber mit denen wir nicht weiterkommen. Mittel - gemeint ist damit das musikalische Material zunächst im engeren Sinn: jener Vorrat von Möglichkeiten, den der Komponist verwiesen ist, also jenesKlangquellen: weithin vergesellschaftete Instrumentarium vonaufKlängen, Klangordnungen, Zeitordnungen, Instrumente also im engeren und im weiteren Sinn, ihre Spielpraxis, Notationspraxis, Aufführungspraxis, bis hinein oder hinaus in die Institutionen und Vermittlungsrituale - dieses ganze Musikmobi liar, wie es der Komponist nicht nur um sich herum, sondern ebenso in sich selbst vorfindet, kurz: jenes polypenhaft alles umschlingende und in alles sich hineinschlingende Monstrum, das ich anderswo den „ästhetischen Apparat" genannt habe. Immer wieder stelle ich mir vor, die ganze bürgerliche Welt sei ein Dorf, und die Musik sei eine Orgel auf dem Dorfplatz, an die sich immer wieder mal ein anderer Dorforganist setzt, heute Pierre Boulez, morgen Wolfgang Rihm, übermorgen Brian Ferneyhough, dann György Ligeti usw., wobei die Dorfbewohner die Organisten bestaunen, zugleich sich aber vergewissern, daß oder ob ihre Orgel auch funk tioniert. 22

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Nachdenken über die Mittel: dasstudieren, heißt, die Zusammenhänge, in denen vorn herein stehen, erkennen, spüren, bewußtmachen, ihnen wie diese auch Mittel immervon Rechnung tragen, auf sie reagieren, intellektuell, intuitiv, spontan oder streng kalkulierend. Solches Nach denken geschieht nicht nur beim unmittelbaren Komponieren, sondern permanent und auf tau senderlei Weise: durch Analyse, durch Experimente, durch Training des Ohrs, durch Bildung im weitesten Sinn, durch wachsames Leben - ganz gewiß also durch Komponieren. Und so wendet sich diese erste Beobachtung nicht einfach an den Intellekt, sondern ebenso an die In tuition, und an unsere Sensibilität weit über rationale Registrierfähigkeit hinaus. Vielleicht wirkt die Verwendung der Begriffe „Nachdenken" und „Mittel" als schnöde, intellektualisierende, gar moralisierende Verengung, und statt „Komponieren heißt, über die Mit tel nachdenken", ließe sich auch sagen: Komponist sein, heißt über Klang und Zeit, über den Klang in der Zeit und über die Zeit imKlang nicht bloß nachdenken, sondern ständig lebendige Erfahrungen sammeln und imunbeschwerter, Schaffen weitervermitteln. Dies ist gewiß diesodahinterstehende Utopie; so klingt es schöner, freier, verheißungsvoller. Aber ignoriert es jene gesellschaftlichen Verfestigungen, die in unserem gewohnheitssüchtigen, abenteuerfeindlichen Kulturleben einer solchen Utopie entgegenwirken als nicht zu umgehende Hindernisse. An sol chem Widerstand haben sich die Hoffnungen der Seriellen nach dem Zweiten Weltkrieg, die darauf gerichtet waren,das Musikdenken von Grund auf zu erneuern,aufgerieben, sind sie, wie man so schön feierlich sagt, „gescheitert", „heroisch" zwar, und die Werke der Komponisten zwischen 1946 und 1963 - ich nehme das Jahr von Stockhausens neugefaßte nPunkten und sei ner Momente - sind als Fata Morgana, als konkrete, oft schockhafte Erfahrungen beziehungs weise Verheißungen eines ästhetischen Durchbruchs zu neuen Dimensionen mir wertvoller als vieles, was an ästhetischen Innovationen in der einmal geschlagenen Bresche sich später breit machte, weil inzwischen die sogenannte Avantgarde als exotisches Haustier in den sonst be haglich eingerichteten der jenem Wohlstandsgesellschaft sich ganz reizvoll einzufügen schien. Aber gerade derHaushalt Respekt vor „heroischen Scheitern" und die Liebe zu Werken wie StockhausensKontra-Punkten, Boulez' Structures, Cages Klavierkonzert, für mich aber 74

vor allem zum Schaffen Nonos, sollten uns dazu bringen, aus diesen Erfahrungen des unmit telbaren Scheiterns neue Konsequenzen zu ziehen. 1978 bin ich bei den Darmstädter Ferienkursen auf solche Zusammenhänge eingegangen, in denen die Mittelstehen und denen vorab das Nachdenken gelten müßte. Darunter stand in der Reihenfolge an erster Stelle der Begriff der Tonalität, der letztlich für all das steht, was den vor hin erwähnten ästhetischen Apparat ausmacht, wie wir ihn vorfinden, und der bestimmt ist durch unsere musikalische Tradition und unseren Umgang mit ihr - ein Umgang, der sich aus zeichnet nicht bloß durch liebevolle Pflege, sondern auch durch Tabuisierung, durch verräte risch angstvolle Anklammerung, durch Verdrängung des darin Ungewohnten, Unbequemen und durch schlaue Ausbeutung. Dank seiner inneren dialektischen Dynamik verdankt sich dem tonalen Denken heute jener fatale Umarmungsmechanismus, der über das bloß Dissonante hinaus auch die entlegensten Er scheinungen des Klingenden: Außermusikalisches, Exotisches, sogar ganze in sich stimmige geschlossene Musikkulturen anderer Landschaften als tonale Abweichung, das heißt: als dis sonanten Spannungsreiz dem eigenen konsonant-dissonanten Funktionssystem gutschreibt und so eben auch den vermeintlichen Ausbruch und Neuansatz der Seriellen als episodischen Schock verehrungsvoll ins Leere laufen ließ beziehungsweise integrierte. Der Sprung über die Mauer „Tonalität" gelang nicht, die Mauer sprang mit, und die Darmstädter Ferienkurse sind für die Öffentlichkeit nichts weiter als die dissonant geschärfte Dominante vor der Tonika bei den Salzburger Festspielen ... Erst an zweiter Stelle habe ich damals in Darmstadt jenen anderen grundsätzlichen Zusam menhang behandelt, der mir doch derjenige scheint, um dessentwillen der Komponist ver suchen muß, den ersten Zusammenhang zu erkennen und zu überwinden, nämlich jene unmit telbar wahrnehmungsbezogenen physiologischen Bedingungen und akustischen Wahrneh mungsgesetze, den freizulegenden Bereich also, wo das Bewußtsein den Klang und die Zeit und die darauf bezogenen Klang- und Zeitstrukturen, und an ihnen sich selbst wahrnimmt; wo bei die Auseinandersetzung mit den tonalen Hörgewohnheiten und deren Bedingungen niemals vergessen ist, sondern - als wie auch immer und auf charakteristische Weise zu leistende, wenn auch vielleicht nur provisorisch wirksame - stets eine wichtige Rolle spielt. Klang aber als bewußt freigelegte physiologische Erfahrung ist eine Strukturerfahrung, egal in wie engen oder weiten Dimensio nen. Und die dialektische Erweiteru ng einer solchen Struk turerfahrung läßt das ursprünglich rein körperlich bestimmte Klang-Erlebnis quasi stufenlos zum komplexer zusammengesetzten Strukturgebilde als Form-Erlebnis eskalieren. Aber davon spreche ich in meiner zweiten Beobachtung über das Komponieren, und ich erwähne diesen Aspekt hier nur, um einmal die unheimlich weit ausgreifende Dynamik der wie auch immer freigelegten „bloß" auditiv bestimmten Wahrnehmung anzudeuten. Das Wahrgenommene aber, als Klang oder als Form, als konkretes Schallereignis oder als abstrakte Konstellationserfahrung in der Zeit wird nochmals modifiziert, relativiert, intensi viert, aktualisiert durch einen weiteren Zusammenhang, einen Materialaspekt, den ich seiner zeit in Darmstadt „Aura" nannte, und der beim physiolog ischen Wahrnehmungs Vorgang immer wieder freiwillig und unfreiwillig Reize durch Assoziation, durch Erinnerung, durch Anklänge an Bekanntes und so außermusikalische Bedeutungszusammenhänge ins Spiel bringt, die un sere ganze Existenz, sozusagen den „ganzen Menschen" betreffen. Die Herdenglocken in Mah lers Sechster Symphonie,vielstrapaziertes Beispiel, sind eben nicht bloß eine akustisch funk tionierende Strukturkomponente. Vielmehr beschwören sie eine dem Großstädter entrückte und deshalb für ihn verklärte Landschaft, näher dem Himmel, in reinerer Luft, und der metaphysi24

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sehe Aspekt präzisiert sich noch durch die Zuordnung zu Choral und feierlichen Signalen. Und so verdankt sich der Ausdruck weithin außermusikalischen Konnotationen, wobei übrigens die Tonalität selbst schon eine Art außermusikalischer Erfahrung wird und sich bruchlos mit den übrigen Naturlauten verbindet. Soweit klar und schon tausendmal kommentiert, und selbst der Landwirt aus der Gegend von Innsbruck, der die Glocke vom Hals seiner Leitkuh abgemacht hat und den Innsbrucker Philharmonikern zur Verfügung stellt, könnte dies mitvollziehen und als typische kulturelle Marotte der Gebildeten aus der Großstadt bestaunen - aber was hat die Almglocke, dieses idyllische rustikale Gerät, neben einemGuiro thailändischen einer afrika nischen Schlitztrommel und neben einem mexikanischen in WerkenGong, wie Stockhausens Gruppen oder seinemZyklus zu suchen? Stockhausen wird sagen: Sie bilden Formanten in Zeitspektren. Wehe, wenn der Bauer das erfährt! Soviel zur Aura, und es wäre allenfalls hinzuzufügen, daß im Hinblick auf diesen Aspekt Komponieren nichts anderes heißen kann, als das Vertraute, wie auch immer, verfremden. Über die Mittel nachdenken heißt aber nicht nur, wie eben beschrieben, solche Mittel in den Zusammenhängen erkennen, in denen sie vorab gebunde n sind, sondern heißt auch: andere Zu sammenhänge erproben, in die sie unter welchen Aspekten auch immer gerückt werden könn ten, heißt: die Mittel neu beleuchten. Meine erste Beobachtung sagt so auch, daß wir letztlich über keinerlei Mittel vorab verfügen, etwa im Sinne eines abgeklärten „Metiers", und sie sagt, daß es im Hinblick auf musikalische Mittel nichts gibt, was es nicht gibt, daß es also niemals darum gehen Materialien kategorischals auszugrenzen, weder absolut historisch be frachtete, wiekann, auch irgendwelche immer tabuisierte, noch anderweitig nicht salonfähige, abge stempelte - aber auch nicht unbefrachtete, zumal deren Unbefrachtetheit sich oft als charakte ristische, penetrante Form von Befrachtetheit herausstellen wird, wie etwa die Erfahrung im Bereich der elektronischen Musik oft gezeigt hat. Hier wäre auch über die leidige Frage der instrumentaltechnischen Verfremdung zu reden, die immer wieder ganz überflüssigerweise tabuisiert, dämonisiert, glorifiziert wird, weil man die Zusammenhänge außer Betracht läßt, in denen sie jeweils vorkommt. Ich übergehe das und sage: Jedes kompositorisch genutzte Objekt, jeder Klang, jedes Geräusch, jede Klangbewe gung oder Klangverbindung oder Klangverwandlung - Stockhausen würde sagen: jedes Ereig nis - ist mitsamt seiner Komplexität ein Punkt gleichzeitig auf unendlich vielen Geraden, die durch diesen Punkt entweder schon laufen, oder noch gezogen werden könnten. Komponieren heißt: von welchem Punkt immer die Geradenhat, erkennen, auf er liegt,hiervon von denen seine Vorab-Be deutung und auch Wahrnehmungsqualität und heißt: in denen Abweichung an er dere Geraden durch diesen Punkt ziehen und so neue Punkte entdecken, dem ersten zuordnen und durch solche Zuordnungalte wie neue Punkte im so neu geschaffenen Zusammenhang am bivalent, polyvalent präzisieren und expressiv beleuchten. Dem gilt es denn auch in der Werk analyse nachzugehen. Es ist klar, daß solche analytischen und spekulativen Tätigkeiten das Denken eines Komponisten unaufhörlich in Bewegung halten und seinen Alltag schlechthin bestimmen. Indessen ging es mir darum, gerade auch das unmittelbare Komponieren selbst, also die aufs Werk direkt gerichtete Arbeit als ein solches ästhetisch sich vermittelndes Nachdenken über die Mittel, als künstlerische Auseinandersetzung mit der Umgebung, bewußt zu machen: Nachdenken als konkrete Arbeit, als bewußtseinsschärfendes Spiel. Allein über solches ins Werk gesetztes Nachdenken kann jene Brechung der Mittel aus ihren erkannten Zusammen hängen gelingen und damit jene expressive Neubestimmung, die als Resultat solcher Bre chung das Moment von Durchbruch als ein Moment von Freiheit - oder wenigstens von Er76

innerung an solche menschliche Bestimmung zur Freiheit -, als Forderung an den Geist ent hält. Meine erste Beobachtung, so einleuchtend sie im Hinblick auf den experimentierenden oder wie auch immer meditierenden Komponisten sein mag, ist also doch noch zur Metapher ge worden, wenn sie den komponierenden Komponisten, den mit Bleistift, Papier und hoffentlich auch Radiergummi dasitzenden Musiker meint. Was dieser denn nun tatsächlich tut, dem gilt meine zweite Beobachtung, aber auch diese halte ich im Schutz einerMetapher, um sie vor verdinglichenden Interpretationen so weit wie möglich abzuschirmen, und ich sage: Komponieren heißt: ein Instrument bauen.

Diese zweite Grundbeobachtung läßt sich vermutlich stufenlos ausder ersten Beobachtung ab leiten, wenn man an jene vorhin angedeutete Erfahrung denkt von Klang als Resultatseiner wie auch immer angeordneten zeitlichen Komponenten, also von Klang als Strukturerfahrung. Vor circa zwanzig Jahren habeich in diesem Zusammenhang eine Art Typologie der Klänge aufgestellt, ausgehend einerseitsvom einfach klingenden Impuls, der als Zeitverlauf einen ge richteten Diminuendo-Prozeß für unser Hören darstellt. Ich nannte ihn Kadenzklang und zu gleich, im Hinblick auf seinen Verlauf: Klangkadenz. Der andere Ausgangspunkt war der sta tisch gehaltene Ton oder Klang, der, als Verlauf betrachtet, ein Ostinato von Impulsen bezie hungsweise Schwingungen im mikrozeitlichen Bereich darstellt. Ihn nannte ich Klangfarbe, beziehungsweise eben Farbklang. Durch vergrößernde Projektion jenes mikrozeitlichen Osti natos, also durch Weiterführung zu komplexeren Formen eines makrozeitlichen Ostinatos,etwa über Vibrato, Triller, Tremolo, wiederholte Figuren aller Art, habe ich damals Begriffe wie Fluktuationsklang beziehungsweise Klangfluktuation und, noch weiter verwandelt - in ei ner Art Ostinato nicht der permanenten Wiederholung,sondern der permanenten Veränderung oder gar Überraschung - Begriffe wie Klangtextur beziehungsweise Texturklang herangezo gen, ineinander übergeführt, wobei ich den letzteren Typ auch als charakteristisches „Chaos" definierte und Beispiele aus Natur und Alltag heranzog (etwa der charakteristische „Klang" ei ner Bahnhofsschalterhalle im Gegensatz zu dem auf einem einsamen Berggipfel usw.). Jedes mal gab sich Klang also nicht nur als charakteristischer, regelmäßiger oder unregelmäßiger Verlauf, sondern ebenso gaben sich charakteristische Verläufe, auch solche von größerer zeit licher Ausdehnung, als einheitliche geschlossene Klangerfahrung zu erkennen. Dort schließlich, wo ein solchescharakteristisches Chaossich wieder zur ausgezirkelten cha rakteristischen Ordnung kristallisiert, mit einem bestimmten, in der Zeit organisierten Ver laufsritual sozusagen, spreche ich von Klangstruktur und erfahre den ganzen Verlauf zugleich als einfachen Strukturklang. Damit ist endgültig aus der ursprünglichen Klangvorstellung eine Formvorstellung geworden, aber auch umgekehrt: Form als Idee einer charakteristischen Pro jektion der Mittel in die Zeit bewährt sich, bleibt im Gedächtnis zurück als Klang-Erlebnis. Klangstruktur ist Strukturklang: ein Superklang, den wir nicht vertikal als flüchtigen punk tuellen Reiz wie eine Farbe,aber auch nicht als bloß eindimensionalgerichtetes Gefälle wie ei nen Tamtamschlag wahrnehmen und wiedererkennen können, sondern den wir erstim allmäh lichen, zeitlich gesteuerten Abtasten seiner in die Zeit projizierten Komponenten, also gleich sam horizontal erschließen. Und über diese Hilfsvorstellung des Abtastens komme ich eben zu jener anderen des sogenannten „Instruments", dessen Beschaffenheit, dessen Klangwelt, des sen Möglichkeiten und Funktionsweisen ich im Erfinden und Erschaffen zugleich erkunde wobei also das Abtastritual selbst aus der Struktur des „Instruments" kommen muß. Um die charakteristischen Qualitäten eines Klaviers im Abtasten zu erkennen, muß ich schon pianisti25

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sehe Erfahrung haben, muß wissen, was ein Klavier ist, und durch welche Formeln, über wel che „Checkliste", es seine Qualitäten überhaupt erschließt. Wenn es sich aber um ein so eigen artiges und unbekanntes Instrument wie ein kompositorisches Werk, sprich: um einen „Struk turklang" handelt, dann muß das Instrument sich selbst und aus eigener Kraft vorspielen wie eine Spieluhr. Form-Vorstellung als in die Horizontale, das heißt in die Zeitebene projizierter immanenter Strukturzusammenhang fällt in eins zusammen mit einer entsprechend komplexen Klangvor stellung,nennen. beide gehen zusammen auf in dem, was wir einerseits „Werk" und andererseits „Aus druck" Und so ist es ein feiner und garnichfso kleiner Unterschied zwischen der Musik, die „etwas ausdrückt", die also von einer vorweg intakten Sprache ausgeht,und dem Werk, welches „Aus druck" ist, also gleichsam stumm zu uns spricht wie die Falten eines vom Leben gezeichneten Gesichts. Ich glaube nur an die letztere Form von Ausdruck, und die Beobachtung „Kompo nieren heißt: ein Instrument bauen" meint also auch, Komponieren heißt nicht: etwas sagen, sondern: etwas machen, vielleicht auch: etwas erleben, wobei das Werk, welches so entsteht, als Klangstruktur beziehungsweise Strukturklang gewordener Ausdruck, Unmißverständliche res aussagt über die Situation, in der es entsteht, in welcher der Komponist agiert und auf wel che Weise er reagiert.Komponieren ist beredtes Handeln, gewiß, aber derKomponist hat nichts zu sagen. Der Sprachcharakter von Musik ist seit der Brechung der Tonalität endgültig entleert, und gerade in einer Zeit der inflationären Sprachfertigkeit, der billig abrufbaren Expressivität, empfinden wir umso stärker die Bedeutung von Sprachlosigkeit in bezug auf das, was unsere Zeit uns an inneren Visionen und Empfindungen zumutet und abfordert. Musik als sprachlose Botschaftvon ganz weit her -nämlich aus unserem Innern:Erst so öffnet sich ihr Begriff aus all den kategorischen Verengungen, womit unsere Ängstlichkeit ihn dome stizieren will, statt durch Brechung solcher Kategorien ihn zu öffnen, gar bis zu seiner Aufhe bung. Keiner hat diese Erfahrung mit solch existentieller Wucht vermittelt wie Luigi Nono. Sprache in der Musik ist Körpersprache des Geistes im kompositorischen Handeln. Die Vorstellung vom Klang als indie Zeit projizierter, durch die Wahrnehmung sukzessiv ab zutastender Struktur erlaubt Hilfsvorstellungen, die immer wieder andere Aspekte sichtbar ma chen; so etwa die von Klang und Form als charakteristisch möbliertem Raum: logischer- und interessanterweise als finsterem Raum, der uns die Sensibilität von Blinden und deren intuitive Gedächtnis- und Rückschlußfähigkeit über die besondere Hierarchie der ertasteten Reize in be zug auf die Gesamtstruktur dieses Raumes abverlangt: Hören als auf sich selbst bezogene Ge dächtnisarbeit der Wahrnehmung in Zusammenarbeit mit all dem, was wir vorher wußten und fühlten, also mit dem, was in uns an Welt- und Ich-Erfahrung berührt und herausgefordert wird. Eine andere ergänzende Hilfsvorstellung wäre diejenige des „Arpeggio": ein Werk als cha rakteristisches, in die Zeit projiziertes, nach verschiedenen Richtungen gerichtetes Abtast objekt, in der „offenen" Form variabel wie die Abtastmöglichkeiten auf einer Harfe, die so oder so immer zugleich als Harfe und nach dem klingt, der darauf spielt - in der „geschlossenen", im Ablauf festgelegten Form ehervielleicht vergleichbar einerSpieluhr, deren Zungen der Her steller im Hinblick auf das zu schaffende Spielwerk geschmiedet, abgestimmt und auf der Walze, dem geschlossenen Zeitablauf also, angeordnet hat. Insofern es aber beim Bauen eines solchen Instruments um das Erschließen von verschiede nen, einander zugeordneten Ebenen geht, also um eine Art Polyphonie von charakteristischen Anordnungen, halte ich mich doch letztlich an die Idee einer imaginären „Orgel", bestehend aus mehreren Manualen, kürzeren, längeren, auffälligeren, statischen, beweglichen, mehr und 78

mehr hervortretenden usw., hervorgegangen aus der Beschäftigung mit jener imaginären Dorforgel, von der ich schon sprach, die es also ständig umzubauen, neuzubauen gilt, auch auf die Gefahr hin, die bequemeren Dorfbewohner vor den Kopf zu stoßen. Insofern die Vorstellung von Manualen die Vorstellung einer wie auch immer beschaffenen Skala enthält, egal von welchen elementaren oder künstlich zubereiteten Eigenschaften, „Para metern", spukt hier sicher noch serielles Gedankengut herum. Aber der Gedanke des Seriellen als eines spekulativen Verfahrens, um durch bewußt abgestufte Abwandlung der Ausgangs mittel diese aus ihrem gewohnten, verdinglichten Kontext zu lösen und darüber hinaus so das Unvermittelte zu vermitteln, ist mir aus der seriellen Lehre ein kostbarer Gedanke geblieben, und nicht nur mir. Vielleicht ist er über seinen mechanisch-akademisc hen Mißbrauch hinausein Kerngedanke des musikalischen Strukturalismus, der durch Brechung des Gewohnten in der Lage ist, unsere bloß zuhörenden Ohren zum Andershören und darüber hinaus zum Neu-Fühlen zu bringen. Voraussetzung aber ist dabei, daß die erste Beobachtung - „Komponieren heißt: über die Mittel nachdenken" - nicht vergessen wird; anders gesagt: daß jene expressiven Vor ausbestimmungen („Zusammenhänge"), die ein Klangmaterial in sich trägt, nicht blind über rollt, ignoriert, vergewaltigt werden. Wo solche Reflexion nicht geschieht, da sitzen Almglocken und Thaigong als seriell abge stufte hohe und tiefe Metallgemische aus Ton und Geräusch sinnlos, kommunikationslos ne beneinander wie im Flughafenwartesaal, wo alle gleich sind mit Ausnahme der Sitzplatznum mer auf der Bordkarte, anders gesagt: Dort ist das „Instrument" nicht ein Spielwerk, sondern ein Reißwolf, der ein Gestrüpp von Trümmern aus sich entläßt, deren wie auch immer kom plexe Struktur die - nicht zu bestreitende - Expressivität eines in seinen Details ersetzbaren Schutthaufens annimmt, und deren Partikel letztlich alle gleich tot oder falsch lebendig klingen in dem Maß, wie die ursprünglichen Bedeutungen, „Zusammenhänge", denen die einzelnen Trümmer entstammen, aus ihnen herausserialisiert worden sind. Komponieren heißt: in der reflektierenden Auseinandersetzung mit den Mitteln und von ih nen ausgehend „ein Instrument bauen". Ich liebe diese Hilfsvorstellung in allen ihren Varian ten, ich halte sie für nützlich und anregend im kleinen wie im großenBlick auf Musik, auch auf Werke der Tradition, und ich habe nie aufgehört, unter solchem Aspekt auch Musik meiner Zeitgenossen, aber auch historische Musik zu untersuchen. Und ich könnte mir vorstellen, daß es der Kommunikation unter den Komponisten - etwa bei den Darmstädter Ferienkursen - hilf reiche Impulse vermitteln würde,wenn auch Werke des Anderen, undvor allem Werke der Tra dition, dort zum Gegenstand von - wie auch immer subjektiv angelegter - Analyse und des öf fentlichen Gesprächs gemacht würden, statt bloß und stereotyp die mehr oder weniger aktuel len Produkte des eigenen Schaffens. Vielleicht hätte meine zweite Beobachtung einleuchtender gelautet: „Komponieren heißt: ein Instrument bauen und darauf spielen". Indessen geht es ja gerade um eine so intensive Durch dringung von Zeitartikulation und Klangartikulation, daß eben nicht bloß der Klang-, sondern ebenso der Bewegungszusammenhang eine Funktion dieses imaginären „Instruments" ist. Die Entstehungsweise eines solchen „Instruments" ist stets mehr oder weniger ein Aben teuer mit unbekanntem Ausgang. Ein Staccato-Klavierklang, dem nach einem knappen oder größer bemessenen zeitlichen Abstand ein fortissimo geschlagener, gestoppter Beckenschlag folgt: Vielleicht zunächst noch rein spielerischen Spaß„Instruments" daran, eine solche Konstellation als eine „Taste" habe eines ich imaginären, unerschlossenen anzusehen und von dieser ersten „Taste" ausgehend auf die Beschaffenheit des Gesamtinstruments zu schließen, es zu erschließen, und im Hinblick darauf jene Anfangskonstellation nach allen Regeln und 79

gegen alle Regeln der Kunst abzuwandeln und diese Anfangsgestalt nach allen Richtungen in ihre eigenen Gegensätze hinein weiterzutreiben und so mit Unerwartetem zu vermitteln. Spaß habe ich daran, weil es als von mir gesetzte Konstellation mein Instrument ist, auf dem und mit dem ich spiele und es dabei erst entdecke, weil es so eine besondere Art von Unberührt heit hat und mit jedem weiteren Umgang auch bewahrt, da es sich immer wieder durch mei nen Zugriff verändert; eine Unberührtheit, die nicht einfach der Originalität der Ausgangs konstellation zuzuschreiben ist, denn so besonders srcinell ist diese sicher nicht, sondern der Frische und Abenteuerlichkeit Beziehung zu dieser Konstellation, jener jenes Unruheima in dieser Beziehung, die sich erst meiner im Zuge des weiteren Erschließens als Ahnung ginären Instruments präzisiert, von dem jene Anfangskonstellation nur eine einzelne Taste war. Und ich erwähne hier nur kurz im Vorgriff auf meine dritte Beobachtung, daß aus die sem Spaß Ernst wird in dem Maß, wie aus der damit verbundenen Reflexion des Vertrauten die Unruhe vor dem allmählich sich präzisierenden und entstehenden Unbekannten heraus wächst, von dem wir Komponisten als allererste schockiert werden, weil es als Bruchstück, als Nachricht von uns selbst und an uns selbst unsere eigene Erfahrung von Ich und Umwelt verändert. Durch die erste, ganz spielerisch gewählte Konstellation, für die ich - wiederum ganz sub jektiv und spielerisch - ein Beispiel nannte, habe ich mich bereits auf Gesetze eingelassen, die sich aus der unmittelbaren Beschaffenheit des Materials, aus jenen darin erspürten, gewußten oder spekulativ beleuchteten Zusammenhängen im Sinn meiner ersten Beobach tung ergeben, aber eben auch aus ihrem von mir nach und nach erschlossenen und beschlos senen Verhältnis zu jenem imaginären Instrument, von dem die erste Gestalt nur ein Partikel war: Meteor eines noch nicht bekannten Planeten. Dieses imaginäre Instrument erschließen heißt also: in gewisser Weise blind, im Finstern darauf spielen, andere Tasten finden, erfinden, also andere Verwirklichungen des zwischen ihm und mir wirkenden unbekannten Gesetzes entdecken und im Ertasten jenes imaginäre Instrument überhaupt erst zum Funktio nieren bringen. Um nochmals auf mein Klangspiel zurückzukommen: Nur in dem Maß, wie jenes visionäre oder erträumte oder erahnte imaginäre Instrument funktioniert, gelingt die strukturelle und expressive Präzisierung jener anfangs gesetzten Klavier- und Beckenkon stellation. Wer weiß, ob sie nicht im weiteren Verlauf des Suchens angereichert und durch an dere hinzugesellte, intensivere Materialien völlig in den Schatten gestellt wird, als Folge und Resultat jenes Abtastprozesses, zu dem jene Anfangskonstellation aus Klavier- und Becken schlag samt ihrer jungfräulichen Faszination für den Komponisten nichts als den Zugang bedeutet hat. Bei solchem Arbeiten treffen wir übrigens nicht nur auf andere, neue Gestalten als Folge des Anfangsgedankens, sondern überraschenderweise manchmal auch auf alte Bekannte, die im neuen Zusammenhang sich in neuem Licht zeigen, und wir kommen zu Gestalten, die wir viel leicht freiwillig niemals akzeptiert, sondern spontan wohl eher gemieden hätten. So manche Komponisten sind, finster entschlossen, in Neuland vorzustoßen, unverhofft auf die gute alte Tonalität geprallt, haben ihr so neue Aspekte abgewonnen, und mancher ist beim gleichen Un terfangen auf den guten alten Cluster gestoßen, in neuer, gereinigter Luft erneut und auf neue Weise bedeutsam und als scheinbar abgenutzter vielleicht wichtiger - denn gerade am schein bar Abgenutzten könnte sich der neue Funktionszusammenhang, die „Luft von anderem Pla neten" bewähren, in die es versetzt worden ist. So oder so: Der Komponist bei seinen Explorationen, bei seiner Abenteuerreise, erfährt sich als Kolumbus und zugleich als Don Quichotte: Er landet auf einem ungeahnten Kontinent 80

und/oder schlicht und heftig auf edm eigenen, vertrauten Erdboden,um nicht zu sagen auf dem Hosenboden; in beiden Fällen jedenfalls dort, wo er es nicht erwartet hatte, und gerade so und nur so erfährt er sich selbst neu, verändert er sich, kommt er zu sich. Meine dritte Beobachtung heißt deshalb: Komponieren heißt: nicht sich gehen, sondern sich kommen lassen.

Und diese Beobachtung ist natürlich eng an die beiden vorhergehenden gebunden.Diese ersten beiden bedeuteten beredtes Handeln, aber als bewußt und sichmanchmal verzweifelt kontrollie rendes Handeln können sie für manchen - trotz und wegen seiner Einsichtin die Notwendigkeit solcher inneren Disziplinierung - zugleich auch Lähmung bedeuten . Komponieren kann heißen: nicht mehr weiter wissen, nicht vor und nicht zurück können, Angst haben. Und so kommt dann plötzlich alles auf die verborgenen K räfte in uns an, die zur Überwindung solcher Lähmung tzt je erst mobilisiert werden, vielleicht jetzt erst mobilisiert werden können: An ihnen entdeckt der Komponist sich selbst, und erst sie legitimieren sein Tun und prägen die Ausstrahlung solcher der eigenen Angst abgerungenen Musik. Diesmag eine Frage des persönlichenSchicksals und Na turells, vielleicht auch der kompositionspraktischen Erfahrung sein. Ich mißtraue dem Komponisten, der genau weiß, was er will, denn er will meist das, was er weiß: also zu wenig. Komponieren im Sinn meiner dritten Beobachtung heißt: heraus kriegen, was überhaupt hinter dem ersten Willensimpuls - Strawinsky würde sagen: hinter dem ersten Appetit - üf r ungeheure Landschaften von Möglichkeiten sichauftun, von denen der erste inspirative Funke nur ein Abglanz, eben ein Funke war. Komponieren muß heißen: sein unmit telbares, notwendigerweise begrenztes Wollen überlisten, die ersten Visionen über sich selbst hinaustreiben, der eigenen Phantasie über ihre Grenzen hinweghelfen. Und so steht hinter dem ganzen rational beschriebenen Spekulieren mit Reflexion der Mit tel und Konstruktion des Instruments, so wie es in den beiden ersten Beobachtungen offen sichtlich als intellektuelle Anstrengung zu dominieren schien, das Gegenteil von intellektuel ler Vergewaltigung der intuitiven Kräfte, nämlich die Gewißheit, daß wir erst über solche Ar beit wie Wünschelrutengänger an jene Zonen in uns herankommen, wo unsere wahren Ausdrucksmöglichkeiten sind, Kräfte in uns, die es ans Licht zu bringen gilt, weil sie für das einstehen, was wir vielleicht Glück, Freiheit, menschliches Zusammengehörigkeitsgefühl nen nen mögen, und was doch am wirksamsten unbenannt bleibt. Komponieren als nicht sich gehen, sondern sich kommen lassen, heißt: sich verändern, Kri sen riskieren. Aber nicht nur Komponisten werden mir bestätigen, daß bei jeglicher Arbeit, die den Namen verdient, weil sie nicht nur den „ganzen Menschen", sondern auch den „Menschen ganz" fordert, wir am Ende oder auch mittendrin oder beständig jene eigene Veränderung an uns wie einen elektrischen Schlag wahrnehmen, als Glücksgefühl, wobei wir uns im Einklang mit unserer humanen Bestimmung wissen. Meine dritte Beobachtung, „Komponie ren heißt: nicht sich gehen, sondern sich komme n las sen", ist so auch nicht einfach eine selbstverständliche Konsequenz der vsrcen beiden Beobachtungen, sondern sie ist auch ihr Korrektiv. Komponieren im Sinn dieser dritten Beobachtung heißt: in die selbst gestifteten Ordnungen und Mechanismen intuitiv eingreifen, wissend, daß solche bewußt gesetzten Gesetze Hilfskonstruktionen sind, Vehikel, mit denen wir unseren Visionen näher kommen, Treibsätze, die wir irgendwann abstoßen müssen; dann nämlich, wenn wir die Schwerkraft der bewußten und unbewußten gesellschaftlichen Verkrustungen und Verwaltetheiten des Materials überwunden fühlen und in der Luft jenes „an deren Planeten" das Wirken von anderen, uns selbst zuvor verborgenen Gesetzen spüren. 81

Meine drei Beobachtungen zum Komponieren bilden ihrerseits vielleicht drei Tasten oder Manuale eines imaginären Instruments, desjenigen unseres kreativen Willens. In ihm wären Reflexion, strukturelle Innovation und expressive Intuition einander so zugeordnet, daß dem Komponisten, wie nachher dem Hörer, Unerwartetes und doch vielleicht schon ewig Gewuß tes geschenkt wird dadurch, daß ihm von Anfang an nichts geschenkt wird. Komponieren - nicht sich gehen, sondern sich kommen lassen: Ich habe auch keine Scheu vor dem erotischen Aspekt dieser Formulierung. Denn die Begegnung zwischen kreativem Willen klingender Materie, ist sie als eine Begegnung,gegenseitigem wie kompliziert auch immer, und mit dem, was man liebt: was geprägt vonanderes Faszination, Leidenschaft, Durch dringen, Glück, Verzweiflung und, mit all dem verbunden, von existentieller Neuerfahrung des eigenen Selbst. Über all dem aber steht die Vision von Freiheit. Mein Traum als Komponist ist der Traum der „freien Setzung", der Traum von der „glücklichen Hand", der Traum vom ungebrochenen Komponieren. Ich möchte „singen,wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet" (Uhland), indes wohnen wir auf Zweigen eines kaputten Waldes. So rechne ich es vielen, meist jüngeren Komponisten als Verdienst an, daß sie durch ihr Ver trauen in die eigene kreative Spontaneität an diesen Traum erinnern, ihn wahrhaben, ihn her beizwingen möchten. Und ich empfinde zugleich mit Bangigkeit die Unbefangenheit, oft auch kokette Blindheit gegenüber den Mechanismen, die in uns und um uns diesen Traum abfäl schen. leide unter dem Selbstbetrug solchereinUnbefangenheit, weil er in einer Gesellschaft, die nurIch noch durch Selbstbetrug funktioniert, falsches, gefährlich irreführendes Echo fin det, und weil er außerdem genau das verhindert, worin die potentielle Sprengkraft von Kunst liegt: das Aufbrechen der herrschenden Gewohnheit, den ästhetischen Widerstand gegen jene Lähmungen des menschlichen Bewußtseins, die uns nur noch Freiheitsvorstellungen erlauben in der Form des Sichgehenlassens. Meine dritte Beobachtung grenzt sichalso mehrfach ab: von einem ungebrochenen, schlecht reflektierten Spontaneismus und Subjektivismus,der letztlich sich verrät als Verwechslung mit einem konventionell expressionistischen Manierismus, der sich zu Unrecht auf die Tradition und auf einen unzulässig verkürzten Freiheitsbegriff beruft, indem er „sich gehen läßt"; sie grenzt sich ebenso abvon einem blind positivistischenStrukturalismus, der nicht weniger ag fr würdig konstruktivistische Verfahren mystifiziert, die sich blind und taub gegenüber den ge sellschaft lich vermittelten Vorgaben und Bedingtheiten Materials Sie verkörpert bei allem Mißtrauen gegen falsche Freiheitsutopien und des zugleich beistellen. aller Abenteuerbereitschaft der kreativen Verfahren den Glauben an die Fähigkeit des menschlichen Geistes, durch alle Lähmung und durch alle erkannte und wie auch immer vergeblich bekämpfte Sprachlosigkeit hindurch sich auszudrücken und über die subjektiv isolierte strukturelle Ausgangsmotivation hinaus, auf dem Weg über die befreite, sich selbst neu wahrnehmende Wahrnehmung so etwas wie eine Verbindung unter Menschen herzustellen, eine Verbindung, welche die Widersprüche nicht verdrängt, sondern mit ihnen umgeht und darüber hinaus inunerschlossene Landschaften der Wahrnehmung eindringt, und sounerschlossene Strukturen, dasheißt: Möglichkeiten in uns bewußt macht. Im Hinblick auf solche Hoffnung und unbenannte Zonen in uns wandle ich jenes vielleicht schon zu oft bemühte Wort von Wittgenstein ab, indem ich sage: Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man arbeiten.

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1986

Zum Problem des Strukturalismus Dieser Beitrag versteht sich als eine Art Plädoyer für einen kompositorischen Denkansatz, der sich provisorisch etikettieren ließe als der eines „dialektischen Strukturalismus". Eine solche Haltung grenzt sich doppelt ab: zum einen gegenüber Tendenzen, die heute, im postmodernen beziehungsweise neoromantischen Gewand nicht nur die Tradition, sondern auch die Erfahrungen jener sogenannten „Avantgarde" ausschlachten, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter Berufung auf Schönberg und Webern einen Neuanfang versuchte; gegenüber Tendenzen also, in denen das ästhetische Vermächtnis des Ausgebeuteten zugleich verraten und diskreditiert wird als Unterwerfung des Musikdenkens unters ausdruckfeindliche, menschenfeindliche, musikfeindliche, bloß zerebrale Kalkül, und die - nach dem Motto: Zurück zur Musik! - vorgeben, sich „endlich wieder" dem Menschen zuzuwenden und sei nen Gefühlen und Hoffnungen dadurch Ausdruck zu geben, daß sie sich aus den Regalen des beliebten Supermarkts „Tradition" bedienen und auf jenen Affektenvorrat zurückgreifen, der in einer traditions-fixierten Gesellschaft funktioniert und im kommerziellen Musikbetrieb längst massenhaft ausgeschlachtet worden ist. Gleichzeitig grenzt sich mein Terminus auch von jenen Strukturmanierismen ab, die - in epigonaler Anlehnung an die seriellen Verfahren jener Pioniere einer erhofften Stunde Null nach 1945 - auch heute noch von der Fiktion eines geschichtlich und gesellschaftlich unberührten beziehungsweise unbelasteten Materialden kens und einem entsprechend voraussetzungslosen Erfahrungsraum des Hörens meinen aus gehen zu können und mit ungebrochenem technologischen Optimismus ein Komponieren im regelorientierten Spiel der rein akustisch bestimmten Parameter anzusiedeln und so Komple xität im keimfreien Raum zu stiften hoffen, wo es niemanden stört und wo sich ein „interes seloses", technologisch beeindruckbares Hören gleichsam botanisierend delektiert; so Situationen kultivierend, die den bürgerlichen Zeitgenossen von jeher zu faszinieren pflegen, ohne ihn dabei ernstlich zu beunruhigen. Beide kompositionstechnisch einander scheinbar entgegengesetzten heute wirkenden Tendenzen scheinen mir zwei Seiten ein und derselben Sache zu repräsentieren. Beide gehen sie, bewußt und oft auch unbewußt, immer wieder Allianzen miteinander ein. Beide arrangieren sich immer wieder vorschnell mit der Gesell schaft, beide sind korrumpierbar, wo diese sich vorschnell mit ihnen arrangiert. Beide ver körpern, bei aller Geschäftigkeit, mit der sie unseren Kulturbetrieb in Anspruch nehmen und sich ihrerseits von diesem in Anspruch nehmen lassen, dieselbe Stagnation, in der sich die Neue Musik befindet, und mit der sich jeder einzelne von uns in seinem Inneren und in seiner äußeren Umgebung auseinanderzusetzen hat, wenn er der Lähmung durch sie entge hen will. Unbestritten ist wohl, daß in den frühen fünfziger Jahren, in der Zeit des Wiederaufbaus in Europa nach dem Zusammenbruch, es der strukturalistische Ansatz war, welcher dem Kompo nieren neue Wege wies und neue Perspektiven eröffnete. Erst mit Hilfe dieses Ansatzes schüttelte Musik ab, was sich an schal und unglaubwürdig ge wordener, anachronistischer, dissonant im Trüben fischender rhetorischer Emphase des tonalen Idioms zwischen den Hörer und die klingende Materie geschoben hatte. Musik gab ihren Sprach-Charakter auf und erkannte sich als sprachlose - und so nicht minder beredte, auf unbequeme von Weise doch wieder - Struktur, wobei sie, auf einer inzwischen unsindirekt erkannten Fiktion der ausdrucksgeladene Tabula rasa aufbauend, den gängigen Musikbegriff radikal aussperrte, musikalisches Material neu durchdachte und, ausgehend von den physikali schen Grundbestimmungen von Klang und Zeit und darauf basierenden Regeln und Beziehun83

gen, den musikalischen Materialbegriff neu formulierte und ihn als immer wieder neu zu for mulierenden bewußt machte. Die Arbeitsverfahren, die dabei entwickelt wurden, waren weithin serielle Verfahren; sie be zogen sich auf die meßbaren Eigenschaften des auf seine akustische Evidenz zurückgeführten (und so zugleich von allen daran haftenden bürgerlichen Intentionen und Konnotationen - scheinbar - befreiten) klingenden Moments. Parameterbestimmung und serielle Abstufung von Ausgangsskalen als Basis für ein Regelsystem beziehungsweise für ein Abtastprinzip innerhalb desmitwirkenden Klang-Zeit-Kontinuums gehörten zur Werkplanung im Grunde jedes an dieser Entwicklung Komponisten. Musik aus dieser geschichtlichen Phase zielte also nicht bloß statt auf Ausdruck auf die Bewußtmachung ihrer Struktur, sondern - radikaler: Sie machte den eigenen, neu gesetzten Ma terialbegriff zum Gegenstand der Werk-Erfindung. Musik dachte auf neue Weise über das ei gene Phänomen nach. In gewissem Sinn war jedes damals in diesem Zusammenhang entstehende Werk sein eige ner syntaktischer Entwurf. Musik wurde so als Produkt kompositionspraktischen Nachdenkens über Musik in einer ganz bestimmten historischen Situation letztlich doch wieder - wenn auch auf unbequeme Weise - expressiv und in einem neuen, ungewohnten Sinne suggestiv für ein Bewußtsein, welches sich in eine radikale Auseinandersetzung geraten sah mit dem, was Musik ihm bisher bedeutet hatte und zukünftig bedeuten könnte. Erwartungen, die über sich sinnlich-botanische damals an diesen strukturalistischen knüpften, auf reichten vonDie magischen Utopien Entdeckerfreuden Ansatz bis zur Hoffnung eine neue verbindliche Musiksprache und eine entsprechend fortgeschrittene Rezeptionskultur für eine nach allen Katastrophen zur radikalen Selbsterneuerung scheinbar bereite Gesellschaft. Ermutigt, gestützt, flankiert wurden diese Erwartungen und konkret beeinflußt wurden die kompositionstechnischen Verfahren durch das Beispiel der neu entdeckten, weil bislang unter drückten Werke der Wiener Schule, durch die aktuellen technologischen Entwicklungen auf allen Gebieten des Lebens, durch die Begegnung des europäischen Denkens mit anderen Kul turen und durch den geistigen Stoffwechsel mit allen übrigen, gleichfalls im Aufbruch befind lichen Natur- und Geisteswissenschaften. Indes, die Gesellschaft hat das neue Spiel nicht mitgespielt. Das Bewußtsein im sich rege nerierenden Nachkriegseuropa hat auf allen Gebieten wieder zu seinen alten bürgerlichen Wert vorstellungen und Tabus zurückgefunden und klammert sich inzwischen - sehr wohl die realen Bedrohungen unserer Zeit, Zivilisation spürend - nun erst recht, und nicht zuletzt im ästheti schen Erfahrungsbereich, an diese an. Es verschafft sich so jene Illusion von Geborgenheit des Vogels Strauß, der den Kopf angesichts der wohl empfundenen Gefahr in den Sand steckt. Die Werke der Avantgarde und das darin sich artikulierende Kunstdenken stellten so für die Öf fentlichkeit weithin weniger eine Erfahrung der Befreiung als eine Beunruhigung dar: Beunru higung zum einen als Erfahrung des radikalen Bruchs mit der von ihr in Beschlag genomme nen Tradition - ein Bruch, der in Wahrheit ein Bruch mit ihrem bürgerlichen Mißbrauch war, aber als bloß zerstörende Negation empfunden wurde -, Beunruhigung aber auch als Erfahrung des Aufbruchs ins Ungewohnte, das heißt in die Ungeborgenheit, ins bedrohlich empfundene Fremde, in Wahrheit jedoch in Zonen des eigenen, unbekannten Ichs. Die Entwicklung der Musik spätestens seit den sechziger Jahren, also spätestens mit dem Eintreten der „Zweiten Generation", repräsentiert durch Namen wie Ligeti,Penderecki, polni sche Schule, Kagel, Schnebel, aber auch Berio, ist die Geschichte der schlechten, am Ende ver paßten Auseinandersetzung mit einer Verdrängungs- und zugleich einer Umarmungsstrategie 84

der Gesellschaft gegenüber dem zugleich Stringenten und Unbequemen; es ist die Geschichte einer zunächst unbewußten, heimlichen, aber mehr und mehr sich offen zu erkennen gebenden Regression. Dabei enthielt diese, als Befreiungsversuch aus seriellen Akademismen und scho lastischen Verfestigungen des seriellen Metiers,durchaus auch fortschrittliche,neue Perspekti ven eröffnende Momente. Die Öffnung und der Bruch mit dem ursprünglich so eng gefaßten Parameter-Denken führte jedoch zur Einbeziehung nicht nur von neuen Erfahrungskategorien, sondern zugleich zur wie auch immer motivierten Rückbesinnung auf vorserielle, bereits ex pressiv bewährte und so vergesellschaftete Topoi, Gesten, tonale Relikte und Requisiten im weitesten Sinn - gewiß unter neuen Aspekten, und dennoch so, daß dieses scheinbar neu be leuchtete Material in Wahrheit über seine nostalgische Evokation mehr und mehr zur Wieder herstellung jenes alten ästhetischen Kodex beitrug, den einst Adorno schon bei Alban Bergs Violinkonzert beckmesserisch als „neudeutsches Relikt" beanstandet hat te. Die Musik der sechziger Jahre kokettierte immer wieder auf andere Weise mit ihrer ursprünglich unfreiwilligen Rolle als bürgerlichesSchreckgespenst. Siewurde ihrer bewußt als surrealistisches Monstrum. Als solches wurde sie weithin im fortschrittsbeflissenen bürger lichen Kulturbetrieb toleriert und subventioniert: Musik als fremdartig und zugleich „disso nant" erfahrenes beziehungsweise hingenommenes Schock-Erlebnis, masochistisch genossene Faszination für ein nichtsdestotrotz philharmonisch intaktes Kunstbewußtsein. Spätestens im Lauf der letzten fünfzehn Jahre ist die heimliche Regression ineine offene um geschlagen, die sich wieder zum alten Affektenrepertoire beziehungsweise zu jener Art von Wohlklang bekannte, die im Arrangement des tonal-konsonant-Gewohnten bestand, und des sen neoarchaische Zurichtung sich als wahre menschenfreundliche beziehungsweise men schenwürdige Alternative zur „hochmütigen" Avantgarde von gestern der Öffentlichkeit au genzwinkernd anbietet und anbiedert. Ich selbst habe keine Berührungsängste welcher Art auch immer gegenüber solchen Ten denzen. Ich glaube, sie verstanden zu haben, und ich erkenne an, daß eine es Dialektik von Fort schritt und Regression gibt, die stärker sein kann als alle progressionistischen Pioniergelüste. In meinem Aufsatz von 1982 mit dem Titel „Affekt und Aspekt" habe ich mich mit solchen Tendenzen auseinandergesetzt. Demgegenüber insistiert - nicht zuletzt ermutigt und motiviert durch die technologische Ent wicklung der letzten Jahrzehnte - eine Art fortschrittsgläubige Nibelungentreue auf einem seriellen Strukturdogmatismus, der die alte parameterorientierte Rigorosität und syntaktisch blind durchorganisierende Konsequenz regelbezogenen Denkens als einzige wahrhaft zukunftsweisende Tugend des Komponierens nach wie vor beziehungsweise erneut pflegt und offensichtlich darauf wartet beziehungsweise damit rechnet, daß der selbsterrichtete Elfen beinturm dank seiner technizistischen Faszination doch noch einmal zum künstlerischen Aus flugsziel für die Gesellschaft werde. Diese Haltung verdient Respekt, zumal sie sich gegenüber den eben angesprochenen Ten denzen dadurch auszeichnet, daß sie dem im bürgerlich-romantischen Sinne sprachfertigen Subjekt erst einmal den von ihm so selbstverständlich angemaßten Zutritt versperrt bezie hungsweise verwehrt, um bei der Generierung und Regulierung von Strukturen unbekannten, von der unmittelbaren Subjektivität und ihren Intentionen losgelösten Gesetzmäßigkeiten zur Wirkung zu verhelfen. Indes genügt mir solches Denken schon deshalb nicht, weil in einer Zeit, wo die Technik selbst dabei ist, sich auf tausenderlei Weise regressiven Illusionen dienstbar zu machen, jenes in bürgerlich-romantischem Sinne sprachfertige Subjekt, statt sich expressions- und emoti85

onstreibend ans Rednerpult zu stellen, sich dafür eben nun an eine verborgenere Kommando stelle, gewissermaßen an jenes Schaltpult sich setzen und einweisen läßt, von wo aus es die Spielregeln für welche Klangmuster,Klanggestalten auch immer bestimmen und manipulieren kann und im Steuern des Geschehens doch wieder seinen alten Geist durchsetzt, einen Geist, für den eine solche Art Strukturalismus erneut eine interessante, phantastische, surrealistische, exotische, gelegentlich auch eine angenehm dekorative Rolle spielt. So gedeiht in den Kurio sitätenkabinetten einer reaktionär gesinnten Kulturgesellschaft, die ein hochdifferenziertes Integrations-, das heißt Abwehr-, das heißt Verdrängungssystem gegenüber allen Verunsic herun gen - auch und gerade in der Kunst - entwickelt hat und dieses virtuos zu handhaben versteht, ein unschuldiger und mit sich selbst offenbar glücklicher Neo-Strukturalismus, der, gleichgül tig gegenüber den Fallen, welche die Bequemlichkeit ihm stellt, auf fatale Weise sich letztlich genauso intakt versteht wie diese sich belügende Gesellschaft selbst. Tatsächlich scheint mir der Radikalismus, mit welchem diese Art Strukturalismus komposi torische Entscheidungen der Autorität von vorab gegebenen Regeln und Projektionsmechanis men im Hinblick auf einen entleertenund widerstandslosen Komplexitätsb egriff unterwirft und die musikalischen Mittel als quantitativ bestimmende und abrufbare entsprechend zurichtet, eine relativ bequeme Art von Fortschritts- und Strukturdenken zu sein. Dessen Glauben an die prinzipielle Formalisierbarkeit des schöpferischen Prozesses ist naiv, er gründet in seinen be sten Formen auf der Fetischisierung des Evidenten beziehungsweise Meß- und Quantifizier baren, stellt sich indifferent gegenüber all jenen von jeher in der Musik wirksamen Faktoren des musikalischen Geschehens, die sich aus anderen als den mikro- und makrozeitlich be stimmten Strukturen herleiten. Hier werden die seriellen Verfahren beziehungsweise jenes erste Tabula-rasa-Denken der frühen Avantgarde in einer Weise verdinglicht und mißverstanden, mit der kaum einer der er sten seriellen Protagonistenetwas im Sinn gehabt haben dürfte. Und bei allem Respekt vor den mannigfachen Verfeinerungsformen und gewiß oft hochinteressanten Blüten, die in solchen Treibhäusern gezüchtet werden: Ich sehe darin letztlich dieselbe Stagnation, die ich zuvor an ganz anderen Symptomen diagnostiziert habe. Mir scheint, daß diese Art des Strukturmanierismus auf jene Aspekte verzichtet und sie ver raten hat, welche den „klassischen Strukturalismus" ebenso wie seine Vorformen in der Wiener Schule so brisant gemacht hatten, und die heute in einer veränderten geschichtlichen Situation in wie auch immer gewandelter Form zur Stringenz des Komponierens gehören: das Moment der „bestimmten Negation", das Moment des Aufbruchs, des radikalen syntaktischen Entwurfs als Produkt, Niederschlag der Reflexion dessen, was Musik in einer - in unserer - bestimmten historischen gesellschaftlichen Situation überhaupt noch sein kann. (Ganz zu schweigen davon, daß seine scheinbar expressiv entleerten, „befreiten" Produkte mühelos mit welchen bürgerlichen Ausdrucksklischees auch immer sich nachträglich besetzen lassen und immer wieder in diese Falle sinnentstellender Allianzen mit dem bürgerlichen Ku riositäten- und Affektenkult beziehungsweise -bedarf geraten. Und ich staune manchmal, wie viele, scheinbar rein strukturalistisch konzipierte Werke einem Rezeptionskodex, der dem spätromantischen Geniekult entstammt, sich fast ebenso unbefangen unterstellen, wie es die neosymphonischen Bestrebungen schon längst tun, mag noch so viel Verachtung die beiden Denkweisen trennen.) zeigt dieoder Untersuchung der klassischen dieTatsächlich des Canto sospeso derIncontri von von Werken Luigi Nono, derStructuresseriellen oder desStilperiode, Marteau vonetwa Boulez, derGruppen oder derKontra-Punkte von Stockhausen, daß die Stringenz dieser Mu86

sik sich nicht einfach der tugendhaften Konsequenz verdankt, mit der die selbstgewählten Re geln durchgehalten werden und funktionieren, sondern mindestens so sehr der Weisheit, mit der die Musik selbst mit Hilfe solcher Regelsysteme - und im dialektischen Umgang damit - auf die gesellschaftlich vorgegebenen Strukturen und bereits geltenden kommunikativen Spiel regeln des jeweils von ihnen in Gang gesetzten bürgerlichen ästhetischen Apparats reagiert, ihnen nicht bloß deklamatorisch, sondern konkret Widerstand leistet, das heißt: ihr geläufiges Funktionieren außer Kraft setzt, sie zuweilen gar zertrümmert. In diesem ihrem Widerstand ge gen das Eingeschliffene lag die bis heute ungebrochene Kraft jenes historischen ästhetischen Ausbruchs und Aufbruchs und die Schönheit dieser Werke zu einer Zeit, als der von der Tradi tion verwaltete Begriff „Schönheit" den meisten dieser jungen Komponisten suspekt zu sein schien. Nicht zuletzt im Blick auf diese Erfahrung definierte ich vor mehr als fünfzehn Jahren „Schönheit" als „Verweigerung von Gewohnheit".Für mich selbst hatte ich in den frühen sechziger Jahren eine Art Klangtypologie verfaßt, welche, ausgehend von der wie auch immer fiktiven, rein physikalisch bestimmten akustisch-punktuellen Wahrnehmung, im Strukturklang, umkehrbar als Klangstruktur, kulminierte: Struktur als dialektisches Wahrnehmungsobjekt, insofern darin die musikalische Bedeutung und klingende Erlebnisqualität des einzelnen Klangs beziehungsweise seiner Partikel sich nicht bloß aus sich selbst, das heißt aus den eige nen unmittelbar physikalischen Eigenschaften bestimmten, sondern aus deren Beziehungen zu 26

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ihrer näheren und ferneren Umgebung, aus seinen Verwandtschaften, seinen verschiedenen Rollen in einem wie auch immer geschaffenen, vom Komponisten gestifteten und verantwor teten Kontext beziehungsweise einer Hierarchie, sodaß im Strukturklang der alte Dualismus von Klang und Form aufgehoben war dadurch, daß Klangvorstellung sich letztlich aus der ab zutastenden Formvorstellung und umgekehrt Formidee sich aus der Klangidee zwingend erga ben. „Struktur" definiert als „Polyphonie von Anordnungen": Das schloß die seriellen Verfah ren, ihre Abstufungs- und Projektionstechniken von Parameterwerten ein, ging dabei aus von der inneren Dialektik von Klang und Form, und wurde so weithin den Werken der Avantgarde gerecht, insofern diese sich, wie oben gesagt, als „syntaktische" Entwürfe verstanden, was ja immer Entwicklung, Stipulation von Ordnungen und Anordnungen, sowie deren abgestufte Projektion in der Zeit, und dabei zugleich Entwicklung, Erweiterung von spezifischen Klang kategorien bedeutete. (Übrigens ließ sich dieses mein Strukturmodell interessanterweise auch auf jedes klassische Werk erfolgreich anwenden, das ich im Zusammenhang damit, und zwar mit höchst aufregen den Ergebnissen, untersucht habe. Siehe dazu etwa meinen Text über Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Hörens aus dem Jahr 1985.) Später erst ging ich bewußt über diesesrein immanente Strukturdenken auch inmeinen kom positionstheoretischen Überlegungen hinaus, indem ich versuchte, um die „reine" Werkstruk tur herum und über sie hinaus jene anderen Aspekte zu erfassen und zu gruppieren, von denen nach unserer Erfahrung jedes einzelne klingende Ereignis beziehungsweise kompositorische Mittel bereits im voraus geprägt ist, bevor der Komponist sich ihm auch nur nähert. Vier Aspekte scheinen sich zu ergeben, die in jedem klingenden Objekt von Anfang an ex pressiv mitwirken, und die der Komponist zwar ignorieren kann, vielleicht sogar gelegentlich ignorieren muß, die aber in Folge ihrer a-priori-Präsenz und automatisch wirkenden Intensität seine Musik manchmal auch gegen seine eigene Absicht mitprägen, die seine Absichten oft durchkreuzen (was seinem Komponieren zuweilen auch zum Vortei l gereichen kann), so daß er sich ihnen gegenüber entscheiden muß, wieweit und in welchem Maß er deren Eigenschaften 28

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mit ins kompositorische Denken beziehungsweise in die definitive Physiognomie seiner Werke einbeziehen will, kann, muß. Die vier Aspekte sind: a) Tonalität, hier über deren innere Bestimmungen hinaus zugleich Synonym für Tradition und den sie verkörpernden ästhetischen Apparat, b) akustisch-physikalische Erfahrung, also jener Bereich, von dem im Blick auf die Klang typologie zuvor die Rede war, weil sich dort die immanenten kompositorischen Spekulationen des strukturalistischen Komponierens abspielen, c) Struktur, nicht nur als Ordnungs- beziehungsweise Organisations-, sondern zugleich als Desorganisations-Erfahrung: ambivalentes Produkt gleichermaßen von Aufbau wie von Zer störung, Konstruktion wie Dekonstruktion (das Holzmöbel als kaputter Baum...), und schließ lich d) Aura, als Reich der Assoziationen, der Erinnerungen, der archetypischen, magischen Vorausbestimmungen. Wo Aura und Tradition - beide Begriffe überschneiden sich natürlich die Erlebnis-Eigenschaften des Klingenden mitbestimmen, wird das vom Komponisten zu Organisierende nicht mehr einfach meß- und regulierbar, es wird sperrig und komplex in nicht mehr absehbarem Maß. So war in meinem kompositorischen Denken der längst fällige Schritt, den ich insgeheim allerdings schon früher vollzogen hatte - was sich an meinem zunehmend fahrlässigen, gar renitenten Umgang mit algorithmisch bestimmten Vorgaben bemerkbar machte -: d ie erweiterte Reflexion dessen, was in jener Strukturidee einer „Polyphonie von An ordnungen" „Anordnung" hieß. Ich nannte diese Anordnungen von Anfang an „Familien", denn während das klassische serielle Strukturmodell von eindeutig meßbaren akustischen Ei genschaften und deren quantifizierten Abstufungen ausging, den Skalen nämlich, was denn auch klare Dispositionsprogramme und - sehr wichtig später für die Computermusik - klar for malisierte Arbeitsprozesse beim Komponieren voraussetzte, zeigte sich mir immer wieder, sowohl in Analysen fremder Werke als auch beim eigenen Entwerfen von Strukturprinzipien, daß die meßbaren Parameter beziehungsweise die darauf bezogenen, quantitativ orientierten Abstufungen allenfalls die primitivsten Varianten dessen darstellten, was sich hier, unter Mit wirkung von übergreifenden Strukturen, an musikalischen Sinn-Einheiten, an Erlebnisquali täten und damit verbundenen Klangkonstellationen anbot. Der Begriff Familie - selbst ein bürgerlicher Begriff - dagegen erlaubte tatsächlich die Ver sammlung von scheinbar nicht zu vereinenden Klangmomenten und Objekten unter einem Dach zu einer musikalischen Sinn-Einheit, das heißt zu einer sich so erst definierenden Erfah rungskategorie; er erlaubt die Projektion des Inkommensurablen auf eine gemeinsame Zeit ebene. Denn: Woran lassen sich in einer Familie Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Hausangestellte, Hund und Katze schon gemeinsam messen außer an der Tatsache, daß sie unter einem Dach miteinander wohnen und eine mehr oder weniger integrierte Hierarchie zusammen bilden? Wenig gibt es, was sich qualifiziert aneinanderreihen ließe, dafür aber umso Wichtigeres, was sich zwischen ihnen abspielt: das gemeinsame Schicksal, das sich indirekt auswirkt in völlig verschiedenen, kaum miteinander vergleichbaren Einzelschicksalen der einzelnen FamilienAngehörigen. In der Musik kann es vorkommen, daß eine solche Hierarchie, als Sinn-Einheit von Anfang an gesetzt, eventuell so mit anderen Sinn-Einheiten konfrontiert, aber auch strapaziert, gar bis zur Auflösung zersetzt wird - man denke an die sogenannte Liquidation eines Themas in den Sonatendurchführungen der klassischen Musik.

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Es kann aber auch sein, daß der Komponist aus Gründen, die er selber nicht kennt, schein bar unvereinbare Dinge deshalb verbindet, weil er eine ganz bestimmte Sinn-Einheit ahnt, sucht und diese erst im Lauf des Arbeitens und im Gehorsam gegenüber seinen intuitiv wir kenden Reflexen entdeckt. Die Verbindung zwischen zwei unvermittelten Klangobjekten kann jedenfalls nicht nur in der mikro-makrozeitlich vermeßbaren Ebene der Erfahrung liegen. Die akustische Gerade ist in der Musik nicht immer die kürzeste Verbindung zwischen zwei klingenden Objekten; der ge meinsame Nenner, die „Brücke", liegt immer wieder auf anderen Ebenen, oft wird sie nie er kannt, oft bleibt sie unaussprechlich, wird aber umso deutlicher gespürt (siehe die Bemerkun gen Schönbergs in seiner Harmonielehre über eine Klangverbindung in den Klarinettenstücken seines Schülers Alban Berg). Der französische Philosoph Michel Foucault weist in der Einleitung seines Buches Die Ord nung der Dinge auf eine Erzählung von Jorge Luis Borges hin, worin dies er fabulierend eine „ge wisse chinesische Enzyklopädie" erwähnt, nach der sich „die Tiere wie folgt gruppieren: a) die Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte Tiere, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz fein en Pinsel aus Kam elhaar gezeichn et sind, 1) und so wei  ter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen." Wenig sagt diese abstruse Skala, die keine ist, über die Hierarchie der Tierarten aus, aber viel über den imaginären Denk-Kosmos, aus welchem eine solche Klassifikation stammen könnte. Als Komponist sehe ich mich vergleichbaren Situationen ständig ausgesetzt, die mich dazu herausfordern, das Inkommensurable als Einheit zu sehen aus Gründen, die in der besonderen Struktur meines Suchens, das heißt in meiner eigenen Struktur liegen. Die Form unseres Su chens ist ein Teil von uns selbst, sie läßt sich nicht ohne weiteres von außen reglementieren (warum soll ich nach Regeln suchen, wenn ich ihre Resultate schon gefunden habe?). Die Form meines Suchens ist Ausdruck meines Selbst. Fest steht jedenfalls, daß, was immer wir an Klangmitteln benutzen und setzen, wir darin zu gleich, bewußt und unbewußt, die Strukturen mitsetzen, denen dieser Klang beziehungsweise diese Mittel entstammen. Fest steht, daß ein zu schaffender Strukturzusammenhang musika lisch-innovativ wirksam wird nur in dem Maß, wie jene bereits beschworenen Strukturen ge brochen, gelegentlich auch zerbrochen werden. Strukturen schaffen heißt so oder so: andere, zuvor gegebene Strukturen brechen. Dies mag beiläufig, zufällig, wie auch immer, geschehen. Ohne dieses Moment des Ausbruchs, der bestimmten Negation, bleibt ein Strukturalismus als Mittel des „Aufbruchs" ein exotischer Selbstbetrug: Es muß ans Eingemachte gehen in der Kunst. Das kann bedeuten, daß Musik ihre strukturelle Präzisierung ableitet aus der bewußt-unbe wußten Auseinandersetzung mit den Strukturen, die sie mitsetzt, beschwört, zugleich bricht, an denen sie sich reibt, die der Komponist sogar auch dadurch evoziert, daß er sie verschweigt, um an ihnen welchen Exorzismus auch immer zu vollziehen: Genau das aber ist gemeint mit „dia lektischem Strukturalismus". Gemeint ist also ein Denken, welches nicht bloß auf die Schaffung, Stipulierung bezie hungsweise Bewußtmachung von musikalischen Strukturen gerichtet sein kann, sondern in welchem solche Strukturen sich ergeben, präzisieren und sich bewußtmachen als Resultat der direkten und indirekten Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen und im Material wirken den Strukturen aus allen, und gerade auch aus außermusikalischen, Erlebnis- und Existenzbe reichen beziehungsweise Wirklichkeiten. Musikalische Strukturen beziehen ihre Kraft einzig

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und allein aus dem bewußten und unbewußten Widerstand, aus ihrer Reibung mit den bereits herrschenden Daseins- und Bewußtseinsstrukturen. Ein Komplexitätsbegriff, der diesen Aspekt ignoriert, ist sinnlos. Herrschende Strukturen als vorweg im Material wirkende brechen, das bedeutet: die kon kreten Klangelemente dieser Strukturen aus ihrem bereits herrschenden, scheinbar selbstver ständlich funktionierenden Zusammenhang herauslösen, -brechen, -reißen und sie dabei zu gleich anderen, neu geschaffenen, vom Komponisten zu etablierenden Kategorien zuordnen. Dies wiederum heißt: im neuen Zusammenhang das Vertraute neu erfahren, heißt: auf diese Weise Wahrnehmung mobilisieren, sie neu in Gang setzen und für sich selbst erfahrbar machen. So steht im Zentrum jenes Brechungs-Vorgangs als ihr unmittelbares Produkt die befreite Wahrnehmung. Befreite Wahrnehmung bezieht sich nicht nur auf die bewußtgemachte Evidenz des akustischen Moments - das allerdings auch -, Wahrnehmung, künstlerisch in Anspruch ge nommen, will vielmehr ihrerseits dialektisch operieren: Die Qualität beziehungsweise die er lebbare Bedeutung des Klingenden ändert sich und präzisiert sich erneut im neugeschaffenen strukturellen Beziehungsfeld. Eine freie, voraussetzungslose Wahrnehmung indes gibt esnicht. Aber im Übergang vom ge wohnten Hören zur strukturell neubestimmten Wahrnehmung blitzt jenes im Grunde unfaßbare Moment einer „befreiten" Wahrnehmung auf, welches uns zugleich an unsere unbewußt uns von außen bestimmende Unfreiheit erinnert und uns so an unsere Bestimmung zur Überwin dung der Unfreiheit, das heißt an unsere Geistfähigkeit gemahnt. Befreite Wahrnehmung, dialektische Beleuchtung der Mittel durchihre Brechung und struk turelle Neubestimmung des Klingenden bilden einen Regelkreis. Wo immer innerhalb dieses Kreises das Komponieren ansetzt, immer muß es das Ganze bedenken. Der C-Dur-Dreiklang in Alban BergsWozzeck, in der ersten Szene des zweiten Akts („D a ist wieder Geld, Marie"), ist im Bergschen Kontext ein atonales Gebilde und trägt zugleich seine tonale Herkunft als heruntergekommene, so gebrochene, letztlich verweigerte in sich. Wir hören nicht nur, was dieser Klang jetzt ist, das heißt seine musikalische Intervallqualität im ge gebenen Rahmen, sondern auch, was er war und nun nicht mehr ist. Im Hinblick auf seine ver lorene, aber sehr wohl erinnerte, hier gebrochene tonale Eigenschaft aber ist er nicht mehr bloß mechanisch ins atonale Geschehen integrierbar. Die Röhrenglocken in Luigi NonosCanti di vita e d'amore bilden eine Form von dem, was wir sehr unordentlich „Cluster" nennen, und sie offenbaren als quasi kaputte, klirrende Metallstangen, noch einmal Feierlichkeit beschwörende und sich zugleich verfremdende Requisi ten eines aufgekündigten Zeremoniells. Wo sie einst magisch zu wirken hatten, lassen sie sich jetzt als Strukturpartikel einer Geräuschlandschaft aus Becken, Tamtams und zwölftönigen In tervallaggregaten im Orchester neu erfahren ; sie wirken so in einer Gesamtstruktur mit, die jen e soeben, als Verdinglichte, zerbrochene Emphase unter veränderten strukturellen beziehungs weise ästhetischen Bedingungen absolut neu vermittelt. Wo Kunst sich nicht auf solche Weise mit dem Inkommensurablen einläßt, wo sie sich um das Spiel mit dem Nichtquantifizierbaren drückt, ist sie tot. Wo sie allerdings dieses Spiel ris kiert, lassen sich die kompositorischen Verfahren nicht mehr programmieren, gar formalisieren, sowenig wie sich die in solcher Situation kompositionstechnisch zu steuernden Eigen schaften quantifizieren: sozusagen mit der Hand am Regler abstufen lassen. Und nur als dialektisch Struktur kannund Musik wieder zu und jenerMediendschungel Provokation des Geistes werden, ohne den zu sie erfahrende im allgemeinen KulturZivilisationsunserer Zeit versickert. 90

Das Moment der Brechung des Vertrauten durch Bewußtmachung, Beleuchtung seiner Struktur schafft, für sich gesehen, eine Situation nicht nur von Verunsicherung, sondern von be wußt ins Werk gesetzter „Nichtmusik": Dies ist zugleich ein fürs Hören existentieller Moment, und erst im Sicheinlassen auf jene Erfahrung „Nichtmusik" wird das Hören zum Wahrnehmen, erst hier „horcht man auf. Erst hier hört man anders, erst hier wird man an die Veränderbarkeit des Hörens beziehungsweise des ästhetischen Verhaltens, an die eigene Struktur also, an die ei gene strukturelle Veränderbarkeit, aber auch an jene humane Invariante erinnert, von wo aus al lein all dies denkbar ist: die Kraft dessen, was man Geist nennt. Sofern dabei ästhetische und gesellschaftliche Tabus berührt, strapaziert, gebrochen werden, wird das Musikerlebnis zum Konflikterlebnis, an dem sich die Geister scheiden und finden. In einer Zeit, in der Kultur zur Droge, zum Sedativum, zum Medium der Realitätsverdrängung statt ihrer Erhellung geworden ist, kann es ohne solche - wohlgemerkt sich ergebenden, niemals ad hoc zu inszenierenden Konfliktsituationen in einer verantwortlichen Kunst nicht mehr gehen. Die Gesellschaft, in der wir leben, ist geprägt nicht bloß von den Bedrohungen, denen sie sich ausgesetzt weiß, geprägt vielmehr von ihren Verdrängungen solcher Bedrohungen, geprägt im ästhetischen Bereich aber von billig verfügbarer Magie und der per Knopfdruck abrufbaren Emphase, von wohlig erlebter Exotik und ängstlich beschworener Illusion von Geborgenheit in einer Welt, die alles Irritierende vorsorglich zur „Dissonanz" eingemeindet und so schlecht be wältigt, gar erneut genießt als pikant zubereitete Spannung für ein konsonant orientiertes, das heißt sich an die bürgerlichen Wertvorstellungen anklammerndes Erleben. Aus dieser falsch intakten Welt muß Kunst ausbrechen, wie sie es schon immer getan hat, und dazu ist eine Sen sibilität erforderlich, die über expressiv-spekulierende ebenso wie über strukturalistische - wie symbolträchtig und komplex-anspruchsvoll auch immer - Spiele weit hinausgehen muß. Die Frage nach der Rolle des Komponisten heute: Das kann nur die Frage sein nach seiner Verantwortung. Diese sehe ich in der Bewahrung des emphatischen Kunstbegriffs vor seiner Verharmlosung und Kommerzialisierung, Bewahrung in und vor einer Gesellschaft, die in ih rer Majorität den aus einer mißverstandenen und mißbrauchten Tradition abgeleiteten und so verdinglichten emphatischen Moment, sprich „Kunstgenuß", als schnelle Magie per Knopf druck verfügbar gemacht und so in den Dienst der Verdrängung, der Illusion von Geborgenheit genommen hat, einer Gesellschaft, die geprägt ist von billiger Sprachfertigkeit, womit sie ihre tatsächliche Sprachlosigkeit zu übertünchen gelernt hat. Hören - in einer Zeit des täglichen Überangebots von Musik zugleich überfordert und un terfordert, und so verwaltet, muß sich befreien durch Eindringen in die Struktur des zu Hören den als bewußt ins Werk gesetzte, freigelegte, provozierte Wahrnehmung. Dies scheint mir die wahre Tradition unserer abendländischen Kunst. Der Begriff der Wahrnehmung ist abenteuerlicher, existentieller als der des Hörens: Er setzt alle Vorwegbestimmungen, alle Sicherheiten aufs Spiel, er impliziert höchste intellektuelle wie intuitive Sensibilität und daran gebundene Aktivität des Geistes, für den nichts selbstverständ lich ist, und der anhand des so per Wahrnehmung abgetasteten Objekts nicht nur dessen Struk tur und seine konstituierenden Mittel und Gesetze und den darin wirkenden Geist erfährt, son dern zugleich seine eigene Struktur daran reibt und wahrnimmt und sich so deutlicher seiner bewußt wird. Situationen der neu individuierten, veränderten und so befreiten Wahrnehmung schaffen, kann weder heißen, auf die alten Hörkategorien vertrauen, mit ihnen spekulieren, noch in irgendwelche exterritorialen Hörwelten, Materialwelten abdriften, kann nicht heißen: sich im unberührten Land der unbekannten Klänge ansiedeln, sondern muß heißen: jedesmal erneut

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Robinson Crusoe auf der eigenen kulturell verwüsteten Insel spielen, sich auf das elementare Abenteuer des sich in seiner alten Gebundenheit gerade zwischen den eigenen Trümmern er kennenden bürgerlichen Ichs einlassen. Indem Wahrnehmung dabei sich selbst wahrnimmt und über das so Erkannte und Bewußt gemachte hinaus die eigene Kraft des Eindringens in die Wirklichkeit und zugleich in die eigene Struktur spürt, und so an ihre Fähigkeit erinnert wird, Unfreiheit durch Erkennen zu überwinden und insoweit Freiheit zu praktizieren, wird Selbst-Erfahrung - provoziert durchs kreative Medium, durch kreativen Bruch und Ausbruch - zur Geist-Erfahrung, das heißt zur Kunst-Erfahrung undden umgekehrt. Die dabei aufs Spiel gesetzte „Emphase" kehrt, nicht nur gereinigt, sondern neu geladen, „gerettet", zurück. Musik hat „Sinn doch nur, insofern ihre Strukturen über sich hinausweisen auf Strukturen, das heißt: auf Wirklichkeiten und Möglichkeiten um uns und in uns selbst". 29

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II. MUSIK UND GESELLSCHAFT Zum Verhältnis Kompositionstechnik - Gesellschaftlicher Standort

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Der Versuch, über den Anspruch von Musik als Möglichkeit der Einwirkung aufs Bewußtsein der Zeitgenossen zu reden, setzt sich unter dem Eindruck dessen, was die tatsächlichen Ein wirkungen von ad hoc gezielter politischer Agitation welcher Spielart auch immer an Verwir rung mehr als an Aufklärung auszurichten imstande zu sein scheinen, dem Vorwurf der Lächer lichkeit, des Selbstbetrugs, der ästhetisch verbrämten Hilflosigkeit aus. Die Erwartungen des Komponisten von den Auswirkungen seiner Kunst scheinen Erwartungen gleichsam homöo pathischer Art in einer medizinischen Situation, die von der sich gegenseitig überreizenden Wirkung brutal dosierter und kalkulierter Serumspritzen auf einen doch recht dumpf dahindämmernden Organismus gekennzeichnet ist. Und doch: Musik - sollte sie zur Emanzipation des Bewußtseins direkt oder indirekt beitragen wollen - fällt diesem ihrem eigenen Anspruch in den Rücken, wenn sie im Namen der Kunst sich an solcher spekulativen Jagd auf die gerade opportunen Emotionen beteiligen wollte. In solchem Sinn spekulativ eingesetzte ästhetische Mittel woll en und erreichen allen falls die Unterdrückung kritischen Denkens ; sie desavouieren, wenn sie Freiheit und Vernunft beschwören, ihr eigenes Engagement. Musik ist und war in die sem Sinn nie eine Sprache, die gar aufklärerisch wirken könnte, sie war allenfalls in zweiter Li nie ein Manipulationsmittel. Zu allem aber läßt sich der menschliche Geist manipulieren, nicht jedoch zum Bewußtsein seiner eigenen Verantwortung, nicht zur Vernunft und nicht zu eman zipiertem kritischen Verhalten. So bleibt uns fürs erste nichts als das Zitat Hanns Eislers, der so gern ein Buch geschrieben hätte über die „Dummheit in der Musik", und der einen Satz Hölderlins umwandelte: „Nichts Mächtiges ist unser Singen. Zum Leben aber gehört, was wir wollen." Musik also hätte die Pflicht, diesen ihren Beitrag zum Leben zu leisten, sie kann allenfalls und sie muß versuchen, durch die ihr als ästhetischem Medium von der Gesellschaft zugewie sene Hintertür in die Reflexionen des Hörers Erfahrungen hineinzuschmuggeln, welche in der Lage sind, jene innerste Irrationalität, deren Niederschlag auch die ästhetischen Erwartungen sind und von wo aus der Einzelne letztlich doch noch unbewußt denkt, fühlt und handelt, zu in fizieren und auf diese Weise zu verunsichern. Die Frage, inwiefern ein Komponist durch sein Schaffen affirmativ oder kritisch oder gar verändernd auf das Bewußtsein seiner Zei tgenossen wirken kann, ist demnach nicht eine Frage nach den Parolen oder nach der Sorte von Affekten und Provokationen, die er durch seine Er zeugnisse mit mehr oder weniger taktischem oder demagogischem Geschick lanciert; sie ist vielmehr eine Frage seiner Kompositionstechnik, das heißt seiner Mittel und der Art des Um gangs mit di esen Mitteln. Die Benutzung eines symphonischen Klangapparats ist noch kein In diz für affirmatives Denken. Die totale Verfremdung oder gar bewußte Verballhornung eben dieses Apparats ist ebensowenig ein Indiz für kritisches Denken, geschweige denn für kriti sches Wirken, vielleicht sogar eher für das Gegenteil: Es gehört zu den Manövern des bürger lichen Selbsterhaltungstriebs, mit der Gefährdung seiner Tabus zu spielen, um den daraus ge wonnenen Reiz gerade diesen Tabus gutzuschreiben und sich so seines intakten Bewußtseins zu vergewissern. Solcher - möglicherweise unbewußten - Taktik des bürgerlichen Kultur betriebs ist es auch zu verdanken, daß wir heute so etwas wie eine „etablierte Avantgarde" haben, so, wie sich vornehme Leute ein exotisches und gar gefährliches Haustier leisten. Eine 31

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Avantgarde, der sich inzwischen Schallplatten-, Lehrmittel- und andere einschlägige Indu strien angenommen haben. Denn gerade als Ungewohntes, Unberechenbares, möglicherweise Schockierendes ist NeueMusik als in diesem Sinne Gewohntes,Berechenbares und hoffentlich Aufregendes salonfähig geworden für eine Gesellschaft, deren Unbehagen am eigenen Ana chronismus sie dazu treibt, neue und andere Formen des Behagens sich zu verschaffen. Aufge schlossenheit isteine besondere Tugend geworden in einer Gesellschaft, der die eigene Gleich gültigkeit langweilig geworden ist. Anzeichen sprechen dafür, daß gelten, die Begegnung mit den derer,desdiegesell heute alsWenige führende Komponisten Neuer Musik Wesentliches zurÄsthetiken Veränderung schaftlichen Bewußtseins beigetragen hätte. Was erreicht wurde, ist lediglich eine gewisse Konsumbereitschaft und eine Neugier gegenüber Neuer Musik. Es wäre übertrieben, dies schon geistigen Fortschritt zu nennen. Tatsächlich stützen sich die Kontakte des bürgerlich erzogenen Hörers zur Neuen Musik nach wie vor auf die alten ästhetischen Normen, wie sie sich im Einzugsgebiet der Tonalität niedergeschlagen haben; auf Normen mithin, deren Überwindung Avantgarde einst sich vor genommen hatte; auf Normen, welche die Begriffe „Kunst" und „Schönheit" nicht zu tren nen vermögen von der Vermittlung und Bestätigung einer in der Gesellschaft geborgenen Ästhetik: einer Ästhetik der Geborgenheit, hinter welcher die Utopie und der Schein einer ideologischen, religiösen, gar politischen Geborgenheit steht. Ein Geborgenheitswahn, wel cher den Einzelnen zu einem irrational geblendeten, zur Selbstverantwortung und Selbst bestimmung letztlich unfähigen Untertan der Interessen derer macht, welche es in der Hand haben, die existentielle Geborgenheit des Einzelnen eben so lange zu garantieren, wie ihre eigene Geborgenheit durch die Unselbständigkeit der Massen abgesichert ist, das heißt: so lange, wie es ihnen paßt. Die Kontakte, wie sie sich etwa seit 1960 zwischen bürgerlichem Konzertpublikum und Neuer Musik angebahnt haben,sind Querfeldein-Kontakte. Sie beziehen sich auf alle jene Re quisiten und expressiven Reste ausder tonalen Hörpraxis, andie sich das heimatlos gewordene tonale Denken heute klammert. Die Vermeidung von tonalen Wirkungen war eine wohlbegründete Regel in der Zwölfton musik. Die serielle Musik der fünfziger Jahre, die diese Regel konsequent übernahm un d zu totalisieren versuchte, mußte die Erfahrung machen, daß die von ihr entwickelten kompositions technischen Mittel nicht genügten, daß nämlich die Benutzung der temperierten Skala selbst schon tonale Wirkung bedeutet, daß die Benutzung der traditionellen instrumentalen Spiel kategorien, daß ein Crescendo, ein Sforzato, eine lineare Entwicklung, ein Tremolo, ein Beckenschlag, eine Generalpause usw., daß dies alles von tonalem Denken verwaltete Klischees sind, Elemente, die in der tonalen Praxis ihre vom harmonisch-thematischen Geschehen her bestimmte Funktion hatten.Die seriellen Komponisten machten die Erfahrung, daß unsere Gesellschaft gerade auf solche unfreiwi llig tonalen Reliktereagierte und das übrige bestenfalls ablehnte, sonst aber ignorierte beziehungsweise als exotisches Kolorit, quasi als brutal erweiterte tonale Dissonanz domestizierte, jedenfalls so lange, als solche Reste nicht ihrerseits von einer rational auf sie bezogenen Kompositionstechnik erfaßt, integriert und so ihrer Querfeldein-Wirkung beraubt wurden. Spätestens um die sechziger Jahreaber begannen Komponisten aus solcherNot eine fragwür dige Tugend zu machen, indem sie direkt mit jener bislang mehr oder weniger unbewußt oder gleichgültig verursachten bürgerlichen Faszination des modernistischen Kolorits und mit der ex pressiven Nutzungsmöglichkeit jener Querfeldein-Kontakte spekulierten. We rke wie etwaAna94

klasis von Penderecki,Atmospheres von Ligeti und KagelsSur Scene gaben, jedes auf seine Weise, das Signal zueiner Verharmlosung des ursprünglichen Avantg arde-Anspruchs, indemsie alte tonale Erfahrungskategorien, wie etwa Klangfarben-Komposition im impressionistischen Sinn, musikantische Ostinato-Vitalistik, bürgerliche Operndramatik der gehaltenen TenutoKlangkulisse restaurierten, zugleich mit dem Phänomen derVerfremdung als bewußt antitheti schem Reiz, so auch etwamit dem Humor, ungebrochen operierten und sich damit auf das Niveau jener Publikumserwartungen einstellten, die mitsamt ihrer Ideologie zu überwinden Avantgarde sich einstmals vorgenommen hatte. Die relative Popularität der heutigen Avantgarde ist, so scheint mir, einem kompositionstechnischen Rückfall zu verdanken.Das Musikdenken, dassich einst von Schönberg bis zur seriellen Musik durch allegesellschaftlichen Risiken hindurch wei terentwickelt hat, ist heute in einer Regression begriffen, und das Fataledabei ist, daß sich diese Regression als besonders epochaler Schritt nach vorne verstanden wissen will und mit dialek tischer Akrobatik sich anschickt, die alten tonalen Tabus und zugleich die inzwischen salon fähig gewordene revolutionäre Attitüde in künftigem Musikkonsum unversehrt nebeneinander unterzubringen. Unter solchen Voraussetzungen wird die gegenwärtig öfters bemühte politische Ambition der Musik endgültig zu einer frommen Lüge, desavouiert durch die Unfähigkeit, die Bequem lichkeit ästhetischer, geschweige denn politischer Vorstellungen zu gefährden. Solange nicht jene Querfeldein-Beziehungen und die ihnen zugrunde liegenden ästhetischen Normen konsequent durchkreuzt werden, ist es unserer aufgeschlosssenen Gesellschaft voll kommen egal, ob die verschiedenfarbigen Clusters und kalkulierten Schocks für oder gegen sie komponiert sind. Sie hat gelernt, gerade in der ad hoc inszenierten Verunsicherung als belieb tem Spiel mit dem Feuer ihre Selbstsicherheit zu bestätigen. Nach wie vor also bleibt der Begriff Kunst verwaltet als Medium eines - wenn auch dialek tisch strapazierfähigen - Schönheits- und Ordnungsbegriffs für eine Gesellschaft, welchein der Kunst immer wieder die Versöhnung mit sich selbst feiern möchte: Kunst als Medium irratio naler Geborgenheit. Eine Alternative müßte zurückgreifen auf jene andere Vorstellung von Kunst, wie ihn die eigentlich schöpferischen Kräfte überliefert haben: Kunst nämlich als Resultat von radikaler Reflexion ihrer ästhetischen Mittel und Erfahrungskategorien und so durch die Bewegung der Ratio ausgelöster unvermeidlicher Ausbruch aus den gesellschaftlichen Normen: Kunst als Produkt und Zeugnis von Denken; Kunst als Medium der Ungeborgenheit. Dies, und nicht ihr kommerzialisiertes, bürgerlich trivialisiertes Zerrbild ist, wie mir scheint,das Verpflichtende an den Erscheinungen Bachs, Mozarts, Beethovens, Schönbergs. Arnold Schönberg hatte das Durchführungsprinzip, wie es sich aus dem innerdialektischen Mechanismus der Tonalität historisch entwickelt hatte, in Fortsetzung der Beethoven-BrahmsTradition auf die gesamte Form und alleverfügbaren satztechnischen Elemente angewandt und dabei die Tonalität selbst über den gesellschaftlich tolerierten ästhetischen und ideologischen Rahmen hinaus weitergedacht und sie zerbrochen. Er hat so, wohl als erster, den bislang eher noch vertuschbaren Konflikt zwischen jenen zwei einander widersprechenden Kunstauffas sungen in ein Stadium gedrängt, in dem dieser Konflikt als gesellschaftlicher irreparabel offen zutage trat. Die serielle Musik hat die Moral des Schönbergschen Denkens und die Verpflich tung kompositionstechnisch konsequenten Beharren undbei übernommen. Es zum gehört zur Ignoranz des Musikdenkens unserer Tage,verstanden daß es jenen Schönberg aktuell gemachten Konflikt wieder zu vertuschen trachtet, nicht zuletzt dadurch, daß es Schönberg - bei dem das Problem krasser sichtbar ist als bei Webern oder gar bei Berg -, daß es Schön95

berg zum im Grunde langweiligen Klassiker zurechtverehrt und die serielle Musik als rührende Verirrun g und als gescheitert übergeht. Daß dieses Scheitern mehr musikalischen und geistigen Ertrag gebracht hat als alles, was in den letzten zehn Jahren im Windschatten dieses seriellen Durchbruchs an noch so Spektakulärem sich in Konzertsälen, feierlichen Domen und moder nistisch dekorierten Environments ereignet hat, müßte klargestellt werden durch eine Analyse, die sich nicht damit begnügt, kompositionstechnische Methoden und Systeme zu definieren, deren Aufgabe es vielmehr wäre, die Kategorien solcher Systeme kritisch zu untersuchen, und die nach dem Widerstand fragen müßte, der sich gegen die Normen wendet, von denen der Komponist in einer bestimmten historischen Situation ausgeht. Solcher Widerstand und seine Effektivität nämlich bestimmen - heute wie früher - den historischen Rang jeglicher künstle rischen Individuation. Eine Technik der kritischen Analyse müßte entwickelt werden. Denn im kompositorischen Detail und seiner Beziehung zum Ganzen verrät sich die ideologische Haltung einer Musik. Möglicherweise müßte einer solchen Analyse eine umfassende Definition dessen zugrunde lie gen, was Tonalität als überlieferte und überlebende ästhetische Mitte für unsere Gesellschaft bedeutet. Es ist hier nicht meine Pflicht, über den Hinweis auf die korrumpierte Musiksituation heute hinaus Alternativen zu entwickeln; genausowenig, wie ich meine Polemik hier durch eine ent sprechende Analyse absichern kann. Ich habe das bereits anderswo getan. 32

den Komponisten ist das die,heißt ob ervon die ihrem Mittel,etablierten, mit denen und er im wieDie im Grundfrage Materiellen für umgeht, bloß benutzen, dasMethodischen heißt bür gerlichen Faszinationswert expressiv, provokativ oder wie auch immer profitieren will, oder ob er die Kraft, die Selbstverleugnung und die Zivilcourage aufbringt, alles, auch das Irrationale, rational zu durchdringen, das bedeutet: in seiner kommunikativen Bewährtheit zu gefährden und sein Werk als Produkt kritischen Denkens zu präsentieren: als zugleich kritische und schöpferische Auseinandersetzung des Bewußtseins mit seinen eigenen Denkkategorien. Auseinandersetzung des Bewußtseins mit seinen eigenen Denkkategorien, das bedeutet de ren Erweiterung, deren Veränderung und deren Negation als gesellschaftlich verankerte Nor men. Nicht allein jene Normen aber gilt es zu reflektieren, sondern genauso den Widerstand, den das individuelle Denken diesen Normen entgegensetzen möchte. Denn Widerstand allein um seiner revolutionären Attitüde willen, als avantgardistische Allüre, ist heute selbst schon zur Norm avantgardophilen Establishments Als bloßer Schock gehört er nach gerade zumdesguten Ton. Er garantiert seinerseitsgeworden. für einen Querfeldein-Kontakt, dessen Emo tionalismen fast schon zu einem Marktwert der Avantgarde geworden sind. Er aktualisiert so erst recht die Erfahrungsnormen, mit deren Hilfe das alte bürgerliche Kunstdenken im Kolorit der Neuen Musik sich häuslich eingerichtet hat in der Hoffnung, der Avantgarde unserer Tage ebenso huldigen zu können wie ihren alten Fetischen von gestern. Musik sollte sich solchen Umarmungen mit derselben Konsequenz widersetzen, wie sie zu einer Zeit dem Sog der Tonalität sich zu widersetzen für notwendig befunden hatte. Musik als Niederschlag kritischen Denkens wird und soll ihrerseits die kritische Auseinandersetzung mit sich selbst provozieren. Dies ist der einzige gesellschaftspolitische Beitrag, den sie zu leisten imstande ist. Das Musikpublikum, soeben unter fragwürdigen Umständen für eine sogenannte Avantgarde gewonnen, wird kaum Verständnis für solche Provokation des Kritischen haben. Kunst Reflexion und Überwindung des und gesellschaftlich Verfestigten, Tabuierten, wird wie eh und als je auf die Gleichgültigkeit, Ignoranz Feindschaft ihrer Umgebung stoßen. Kompo nisten können nichts anderes machen, als durch kompromißloses Denken und Handeln Situa-

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tionen provozieren, an denen sich die Geister scheiden. Kunst wird so zum Verständigungs signal unter denen, die einen Ausweg suchen. Der Konzertsaal, oder was immer in Zukunft ihn ersetzen wird, nicht länger als Ort der gesellschaftlichen Beweihräucherung oder Ausräucherung, sondern als Ort der aufgeklärten Auseinandersetzung der Gesellschaft mit ihrem eigenen Denken, ist gewiß eine Utopie, aber immerhin ein Leitbild für diejenigen, die erkannt haben, daß Hören wehrlos ist - ohne Denken. 1971/72

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Zur Frage einer gesellschaftskritischen (-ändernden) Funktion der Musik Musik, so aggressiv (egal, was man darunter versteht) sie sich auch geben mag, spielt sich in einem ungefährlichen Raum ab, der gerade von denen gehegt und beschützt wird, denen eine kritische Funktion der Musik zu gelten hätte. Musik komponieren, um „die Gesellschaft zu ändern": Das ist ehjie Heuchelei, oder - sympathischer - eine Donquichotterie. In dem Maß, wie sie sich an dem Ziel orientiert, den Hörern - gar den Massen - etwas zu verkünden oder sie politisch zu aktivieren, wirkt Musik reaktionär. Sie kann verbale Aufrufe zu gesellschaftsverändernden Maßnahmen (oder zu deren Gegenteil) nur pauschal in demagogischem Sinn unterstützen, indem sie anhand expressiver Klischees der kleinbürgerlichen Ästhetik solche Aufrufe irrational verklärt, fetischisiert und sie dem Kult des Bestehenden einverleibt. Jegliche demagogischen, emotionalisierenden, manipulativen Möglichkeiten der Musik sind gebunden an ein längst von der Reaktion in Beschlag genommenes expressives Material. Sie wirken, wenn Ernst mit ihnen gemacht wird, plump faschistoid (und wenn Spaß mit ihnen gemacht wird, wirken sie überhaupt nicht, also ähnlich). Linke Etikettierung ändert daran nichts, sondern verrät bloß die Möglichkeit und Gefahr faschistoider Aushöhlung der linken Ziele im augenblicklichen Stadium des Klassenkampfes durch demagogisierende Fach-Idioten des Marxismus-Leninismus. Musik kann allenfalls versuchen, über die verfestigten Kategorien kleinbürgerlicher Ästhetik, in deren Normen sie ihre Wurzeln geschlagen hat, hinaus aus zubrechen in eine Ästhetik der emanzipierten Reflexion. Dem hätte die Suche der Verantwor tungsvollen unter den Komponisten nach klarem, unverschlüsseltem Material zu dienen. Von revolutionärem Geist und Willen kann Musik glaubwürdig zeugen, indem sie ihren bislang geläufigen Kommunikationsbereich nicht bloß erweitert, humoristisch umstülpt oder in irgendeiner bekannten oder unbekannten Richtung verfremdet, sondern indem sie anhand konkreter Alternativen Kommunikation selbst aufs Spiel setzt und Reflexion und kritisches Verhalten nicht bequem vorexerziert, sondern mit aller Konsequenz herausfordert. Solche Haltung, zum Prinzip erhoben, bedeutet permanente Negation und ernsthafte Störung des ästhetisch Verfestigten, permanente Umwertung des Bekannten und Einbeziehung des Unbekannten, und zwar künstlerisch, als transzendentale Erfahrung vermittelt. Von der künst lerischen Glaubwürdigkeit solcher Kommunikation als Negation ihrer eigenen Normen zugun sten der Freiheit des Ungenormten (sozusagen der Freiheit des „Unterdrückten") wird es ab hängen, ob sich der Hörer davon treffen und über den ästhetischen Erfahrungsbereich hinaus in seinem existentiellen Bewußtsein so provozieren und infizieren läßt, daß ihm die Erfahrung solcher Freiheit (durchs Anti-System) als wesentliche Notwendigkeit und Voraussetzung humanen Daseins überhaupt bewußt wird; einer Freiheit, deren Unterdrückung, wie sie gegen wärtig allenthalben organisiert ist, es zu bekämpfen gilt. Den Rest aber - Nachdenken des Einzelnen, was denn „sein" solle, was geschehen müsse und was er selbst dazu zu lernen und zu leisten habe -: bitte ohne Musik.

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Die gefährdete Kommunikation Gedanken und Praktiken eines Komponisten

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Das Bedürfnis des Komponisten, verstanden zu werden, ist nicht geringer als das des Hörers, zu verstehen. Die Beziehung zwischen beiden aber ist gestört, genauer: Sie ist entstellt durch Mißverständnisse, durch Kontakte der Ratlosigkeit, welche sich an Zufälligem, Äußerlichem, dekorativ Oberflächlichem orientieren. Daß sie zur Norm geworden sind, daß sie es der soge nannten musikalischen Avantgarde ermöglichen, unter dem Aspekt des exotisch-dekorativen, experimentell-abenteuerlichen, antibürgerlich-provokativen Reizes in unserem Kulturleben eine gewisse Rolle zu spielen, rechtfertigt die Mißverständnisse nicht und macht sie als ver tuschte erst gefährlich. Das Problem der Kommunikation heute betrifft nicht so sehr die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, ein Werk in seiner besonderen Struktur und Thematik zu verstehen, sondern es betrifft die Spielregeln, nach denen künstlerische Mitteilung sich vollzieht. Unser Musikleben ist eingerichtet von einer Gesellschaft, deren Erwartungen von eingespielten Kommunika tionsformen und -normen geprägt sind, von einer Gesellschaft, die von der Kunst erwartet,daß sie ihre Sprache spricht. Wo diese Erwartungen erfüllt sind, dort fühlt die Gesellschaft sich in ihrem Element, dort nimmt sie, ästhetisch bestätigt und so geborgen, sich der Musik und ihrer immanenten Qualitäten und Ambitionen an. Wenn zur Beschreibung dieser Sprache, die unsere Gesellschaft versteht, noch heute der Begriff der Tonalität herangezogen werden muß, so bedeutet dies nicht, daß Musik, welche anderen Regeln gehorcht als den tonalen, deswegen von der Gesellschaft nicht toleriert würde. Es bedeutet aber, daß auch sie erfahren und interpretiert wird aus der Perspektive einer prästabilisierten Ordnung, wie sie durch die Tonalität verkörpert ist für ein Gesell schaftsbewußtsein, das seinen ästhetischen Sittenkodex zwar erweitert, aber nie verändert hat, das von sicherer Warteaus den Dingen ihren Spannungswert und ästhetischen Reiz zuerkennt und sie so seinen Erwartungen gefügig macht. Die Selbsttäuschung liegt nun gerade in der Einbildung, Kunst verstehen, gar künstlerische Botschaften empfangen zu können mit Hilfe von und ohne Schaden für solche vorweg ein gerichtete und gültige Sprache. In Wirklichkeit ist Kunst so nichts als ein Vorwand für die Gesellschaft, sich anhand der funktionierenden Sprache ihres intakten Selbstverständnisses zu vergewissern. Jedes reflektierte Kunsterlebnis muß solche Selbstsicherheit gefährden. Auch in der traditionellen Musik blitzt der Funke, der dem Kunstwerk seinen Glanz gibt, dort erst auf, wo das Funktionieren der Tonalität als Sprache nicht mehr selbstverständlich bleibt, sondern als Resultat autonomen Umgangs mit dem Material neu bewußt wird.Was immer die Analyse am Kunstwerk ehrfurchtsvoll entdeckt und beschreibt: Originalität, Stringenz der Form, die Klarheit der Faktur, erweist sich stets als Teilaspekt einer schöpferischen Freiheit, die zu ermessen und zu definieren unmöglich ist, ohne daß die Regeln hinterfragt würden, denen das Werk scheinbar blind unterworfen ist. In diesem Sinn hat jedes Kunstwerk, das den Namen verdient, die Normen, von denen es aus geht, virtuell außer Kraft gesetzt, selbst dann, wenn und gerade insofern es diese Normen neu bestätigt. Dieser Erkenntnis aber ist das öffentliche Denken stets ausgewichen. Statt aus der Erfahrung künstlerisch vermittelter Freiheit Konsequenzen für die eigene Einstellung zum Etablierten abzuleiten, pflegt es hier abzubrechen und zu flüchten in blinde Verehrung oder in blinde Verfolgung; Verehrung oder Verfolgung dessen, woran es selbst nicht heranreicht, weil 99

Hochschute der Künste Berlin

es dort, wo die Gemütlichkeit aufhört, garnicht heranreichen möchte. Beides, Verehrung und Verfolgu ng, sind Symptome jenes notorischen Mißver ständnisses, das so alt ist w ie die Freiheit von Kunst selbst. Es ist der Selbstschutz einer Bequemlichkeit, die ahnt, daß auch im Ästheti schen die Erfahrung von Freiheit keine bloße Genußerfahrung bleibt. Wenn es tatsächlich möglich wäre, Kunst zu schaffen, höchste Intensität der menschlichen Vorstellungs- und Willenskraft mit höchster Klarheit und Konsequenz des Denkens zu ver binden und dabei mit dem gesellschaftlich anerkannten ästhetischen Kodex auszukommen, dann würde dies bedeuten, daß sich die eigenen Ideale mit denen der Gesellschaft reibungslos in Einklang bringen ließen. Aber diese Gesellschaft ist, ob sie es will oder ni cht, unmündig und inhuman. Man braucht ihr humane Ansätze und Orientierungen nicht abzusprechen, aber zur Humanität fähig würde sie nur in dem Maß, wie sie ihre gegenwärtige Unfähigkeit eingestehen könnte, Humanität human zu praktizieren. In diesem Sinn mündig und wach geworden und ihres unver meidlichen Scheiterns stets eingedenk, brauchte sie sich nicht taub zu stellen, wo sie in der Kunst, dem Medium ihres Selbstverständnisses, nicht bestätigt, sondern verunsichert wird, ^hr müßten aus dem eigenen Bewußtsein, von der ersten Erziehung an, die Kräfte zuwachsen, die es ihr ermöglichen, den Konflikt mit sich selbst auszutragen und auszuhalten, jedenfalls nicht an ihm zu zerbrechen, sondern den Bruch mit sich selbst als überlebter Schutz zone des Ungeistes immer wieder zu vollziehen, im ästhetischen Bereich ebenso wie in dem des existentiellen Alltags. Das Kunsterlebnis als Erfahrung und Erprobung der eigenen Kraft, nicht einfach ins Schauerlich-Unbekannte, sondern aus dem Schein der Geborgenheitund in zu die Wahrheit der Ungeborgenheit vorzustoßen, den Reichtum an Erfahrungsmöglichkeiten gleich die Widersprüchlichkeit der Werte zu begreifen, das wäre Lernprozeß und Kunstgenuß in einem. Für den Komponisten, der sich an diesem Leitbild orienti ert, liegt die Chance, verstanden zu werden, darin, daß er sioh den kommunikativen Spielregeln und expressiven Erwartungen der Gesellschaft unmittelbar widersetzt. Indem er ihr konsequent den Weg verstellt, den sie sich nach ihren Vorstellungen zum Werk bahnen möchte, wendet sich seine Musik, die in dem so erzwungenen Freiraum entsteht, der Gesellschaft auf unmißverständliche Weise zu. Der Komponist hat dabei natürlich einen Kampf auszufechten, möglicherweise nach außen, auf jeden Fall aber nach innen. Er steht ja nicht am anderen Ufer, er ist selb st Produkt und Glied dieser Gesellschaft. Er muß, so wie an sich selbst, an Kräfte und Tendenzen in dieser Gesell schaft glauben, die er ihmunwillkürlich beim Schwimmen gegenwird, den Strom mußseine die Richtung, von der abgetrieben immer entgegenkommen. wieder korrigieren.ErFür Umwelt ein Don Quichotte, der gegen Windmühlenflügel anreitet, ist er für sich selbst ein Münchhausen, der sich am eigenen Schopf aus dem Graben ziehen muß. Und er wird mit seinem Schaffen, den Produkten solcher Anstrengung, im besten Fall von dieser Gesellschaft und ihrer heimtückischen Toleranz irgendwann eingeholt und, wie alle Kunst, verwertet werden. Seit Mozart, Schubert und Mahler weiß man auch in der Musik das Fleisch des in Todesangst gehetzten Tieres als Leckerbissen zu schätzen. Kommunikation verweigern und zugleich erzwingen: Nur der äußersten ästhetischen Intensität kann dies gelingen. Umgekehrt ist gerade solche Intensität möglich einzig in der Auseinandersetzung mit den geltenden Ausdruckskategorien, von denen das Klangmaterial - und zwar jedes - schon im voraus besetzt ist. Musik erfinden heißt deshalb: negativ han deln, Gewohntes durchschauen und aussperren, Impliziertes aufdecken durch Unter drücken und so vorweg Unterdrücktes freilegen. vorweg Nichts ist konstruktiver als solche Destruk tion.

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Von dem Gedanken der verweigerten Kommunikation war mein eigenes Musikschaffen nicht eigentlich ausgegangen; es hat mich vielmehr darauf hin, und auf die Dauer vielleicht: dort hindurch geführt. Im Januar 1967, als ich Consolation I schrieb, war das Kriterium der ästhetischen Intensität ein Maßstab, dessen Bedingungen ich anders sah als heute. Was ich da mals machen wollte, um mißverständlichen Stil-Elementen zu entgehen, war eine Musik, die sich den Begriff von Struktur als streng geordnetem Beziehungsfeld zu eigen machte, so wie Luigi Nono ihn in seiner seriellen Schaffensperiode praktiziert hatte. An die Stelle des starr punktuellen Klangs bei Nono aber sollten bei meiner Musik Klangtypen verschiedener Art tre ten: Ein- und Ausschwingungsprozesse, Impulse, statische Farben, Fluktuationen, Texturen, Strukturen. In seinen Komponenten setzte dieser Strukturbegriff demnach eine rein empirisch definierte, gegenüber tonaler Erwartung verselbständigte Klangerfahrung voraus. Die galt es freizulegen. Der „Struktur-Klang", von dem ich damals in theoretischem Zusammenhang sprach, war eine Begriffskonstruktion, um der Verdinglichung des isolierten Klangeffekts ent gegenzuwirken durch dessen Integration in ein rational geordnetes Gefüge; ein Begriff, der um kehrbar war und als „Klang-Struktur" seinen abstrakt formalen Aspekt herauskehrte wie zuvor als „Struktur-Klang" seinen konkret empirischen. Unter diesem Gesichtspunkt habe ich in Consolation I einen Text vertont, dabei d ie Phone me aus ihrem sprachlichen Zusammenhang herausgelöst, so ihren akustischen Aspekt freigelegt und diesen zusammen mit den instrumentalen Aktionen des Schlagzeugs in einen neuen Zu sammenhang integriert. Vom Sprachlichen bleibt so noch ein quasi perkussiver, affektgela dener Gestus, der auf die Expressivität des Schlagzeugklangs überfärbt. Text wird zum akusti schen Material im gleichen Maße wie das gesamte akustische Material, einschließlich des Schlagzeugs, sprachliche Intensität annimmt. Der Text, der in Consolation l so komponiert wurde, ist dem Drama Masse Mensch von Ernst Toller entnommen. Er lautet: Gestern standst Du An der Mauer. Jetzt stehst Du Wieder an der Mauer Das bist Du Der heute An der Mauer steht. Mensch, das bist Du Erkenn Dich doch Das bist Du.

Consolation I war in gewisser Hinsicht der Schlußpunkt einer Entwicklung. Es war mir klar, daß sich im bloßen Ambivalenzdenken von Strukturklang und Klangstruktur ein privater Aka demismus anbahnte und daß eine Arbeitstechn ik, die den empirisch freigelegte n Klang b loß auf strukturell-serielle Weise individuieren konnte, notwendig auf der Stelle treten mußte. In Consolation Iwar es mir um die Freilegung des Empirisch-Akustischen gegangen und zu gleich um dessen expressive Neubestimmung im Strukturzusammenhang, ebenso übrigens in Consolation II. In den darauf folgenden Arbeiten, in temA, Air, Pression und in Kontrakadenz hingegen, werden die freigelegten akustischen Vorgänge auf die konkrete Energie hin befragt, von der sie hervorgerufen wurden. (Die übliche Aufführungspraxis bemüht sich bekanntlich, um der Schönheit willen die Aufmerksamkeit von der Anstrengung, die der Klangerzeugung

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Consolation I letztlich doch wieder zugrunde liegt, abzulenken.) Waren die Spannungen in emotional-expressiver Art, so sind es inAir realistisch-materielle Spannungsverhältnisse, die es bewußt und verfügbar zu machen galt. In einer Zeit, die sich darin gefällt, den künstlerischen Werkbegriff auf der einen Seite zu kommerzialisieren und ihn auf der anderen Seite möglichst spektakulär zu zertrümmern, be kennt sich der TitelAir zum traditionellen Werkbegriff, der allerdings neu durchdacht und er füllt werden muß. Der TitelAir, zu deutsch: Luft, steht zugleich stellvertretend für die Erfah rung des konkreten Materialsüberhaupt: durchpeitschte oder sonstwie gewaltsam zum Schwi n gen gebrachte Luft, geriebenes Fell, zerbrochenes Holz, geschlagenes Metall, gequetschte Saiten - aber durchaus auch Gewohntes: vibrierende Saiten, schwingende Luftsäulen in den Blasinstrumenten -, also die üblichen Formen der Klangerzeugung in einer Reihe mit ihren Verfremdungen: An der Dialektik des Gewohnten als Fremdgewordenem durch neuen Zusam menhang orientiert sich jeder einzelne Moment in diesem Stück. Zusammen mit temA und Pression für Cello solo bedeutetAir in meinem Schaffen den be wußten Einbruch in gesellschaftlich-ästhetische Selbstverständlichkeiten: den Versuch und das Angebot von Schönheit nicht allein durch Verweigerung des Gewohnten, sondern durch Ent larvung der Bedingungen von geltender Schönheit: als Unterdrückung von zugrundeliegenden physikalischen Voraussetzungen und physischen Energien, Unterdrückung der zugrunde liegenden Anstrengung; wenn man so will: der dahinter verborgenen Arbeit. Die Freilegung von Klang als Resultat seiner mechanischen Hervorbringung und der dabei wirkenden physischen und physikalischen Energien war nicht kompositorisches Ziel um seiner selbst willen, sondern sollte beweisen, daß musikalischer Fortschritt und ästhetische Intensität gerade in jener verdrängten Schicht dicht unterhalb der Oberfläche des öffentlich Geltenden und Geduldeten liegen. Diesen Beweis meine ich erbracht zu haben. Ungelöst allerdings blieb das Problem des strukturellen Zusammenhangs, der die Erfahrung des Freigelegten, zuvor Unterdrückten, die er erst ermöglichte, zugleich wieder beeinträchtigt dadurch, daß er in seiner Eindeutigkeit nachdrücklich auf sich selbst und seine Charakteristik hinweist. In einer Diskussion hat vor einiger Zeit Heinz Holliger auf den Widerspruch hingewiesen zwischen sinnfälligem Zusammenhang inKontrakadenz und dessen Funktion, Dinge aus ihrem verfestigten Zusammenhang zu reißen. Indes scheint der Zusammenhang, der das Material in dem Maße befreit als er es neu bindet, wichtigster Teil des Werkbegriffs zu sein. So wenig wie das „Kunstwerk" gilt es, den „Zusammenhang" zu liquidieren. Das befreite Material ist nicht einfach Idee als vielmehr Stoff kompositorischen Handelns. So läßt sich das Mißverständnis von Zusammenhang als formal-expressivem Diktat offenbar nicht anders vermeiden als da durch, daß man diesen Zusammenhang vereinfacht, gleichsam unterbelastet. Form wird zur durchsichtigen Fassade, indem man die auf den Zusammenhang bezogenen kompositorischen Maßnahmen so lapidar gestaltet, daß dieser, in seiner negativen, abschir menden und freilegenden Funktion wohl noch in Kraft, auf ein dahinterliegendes, über ihn selbst hinausgehendes Angebot von Beziehungsmöglichkeiten des zugleich individuierten und entlasteten Materials hinweist. Form als Ausschnitt eines Systems von virtuellen Zusammen hängen, Form als Torso a priori, Komponieren nicht nur als Freilegen des Unterdrückten, sondern ebenso Spürbarmachen des Ungenutzten. Im Gegensatz zum strukturell verzweigten Gran Torso, Geschehen früherer Werke beruhen deshalb meine jüngsten Kompositionen Klangschatten und Fassade auf einem unmittelbar faßlichen, eindeutigen Gestus. In Klangschatten ist der Gestus reduziert auf das Phänomen der abgewandelten Repetition. Solche Eindimensionalität bewirkt den Fassadencharakter und lenkt mit ihrer Verweigerung 102

des strukturell Durchwirkten das Bewußtsein auf die Struktur des Hörens selber, das - ge wohnt, wenn schon nicht bestätigt, so doch beschäftigt zu werden - auf charakteristische Weise mit sich allein gelassen wird; allein, aber nicht in träumerischem Dunkel, sondern in der einfa chen Gegenwart von bewußt gemachtem Klang und offengehaltener Zeit. Das Sichbewußt werden einer Disziplin wird selbst zur Disziplin. Musik hören heißt gewiß auch genießen - aber ohne sich zu vergessen. Kommunikation verweigern um der gefährdeten Kommunikation willen: Das scheint mir heute noch die Chance für den Komponisten zusein bei dem Versuch, in der Kunst eine Schön heit zu destillieren, die das Leiden dieser Gesellschaft an sich selbst nicht ignoriert und weder beweint noch belacht, sondern zum Wissen wendet, und die es nicht beläßt bei dem Ausruf: „Was sind das für Zeiten sondern die in Umkehrung der bekannten Worte Brechts damit rechnet, daß ein Schweigen über Bäume zum Gespräch über soviel Unrecht werde. 1973

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Zum Problem des musikalisch Schönen heute

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Pierre Boulez am Ende eines Aufsatzes aus dem Jahr 1948: „... auch hier habe ich einen Horror davor, das in Worten abzuhandeln, was man so hübsch das ästhetische Problem nennt. Außer dem will ich diesen Artikel nicht noch mehr in die Länge ziehen, ich wende mich lieber wieder meinem Notenpapier zu." Das Zitat ist ein früher Beleg für eine allgemein unter den jungen Komponisten der fünfziger Jahre anzutreffende Allergie gegenüber ästhetischen Fragestellun gen. In allen repräsentativen Äußerungen der damaligen Avantgarde, ihren Schriften und Dis kussionen blieb die Frage nach den Kriterien des Schönen bewußt ausgeklammert, auf die Seite geschoben, verdrängt. Es gab dafür triftige Gründe: Man wußte sich „an der Grenze des Fruchtlandes"; anknüpfend an die Webernsche Reihentechnik sah man sich vor einer Welt neu zu erschließender Klangund Zeiterfahrungen. Im Mittelpunkt des Musikdenkens stand die Organisation der Klangma terie. Kaum etwas konnte dieser Aufbruchsstimmung mehr im Wege stehen als die Frage nach dem Schönen. Sie war suspekt, denn sie rief alle jene Wertvorstellungen und Ideale wieder auf den Plan, an deren Trümmerhaufen die Welt damals stand. Der Positivismus jener Stunde Null, in der man tatsächlich glaubte, Tabula rasa machen und - nochmals? - von neutralen Klang werten ausgehen zu können, war sich seiner heimlichen Dialektik in bezug auf jene bewußt vertagten ästhetischen Fragestellungen bewußt (in den Texten von Boulez klingt das an). Geschichtlich rechtfertigt er sich als gleichsam wortlose Abrechnung mit einem fragwürdig gewordenen Schönheitsbegriff als einem gesellschaftlichen Repräsentanten gescheiterter Wertvorstellungen. Der Widerstand, dem sich die Avantgarde damals ausgesetzt sah, und der sich allenthalben nicht zuletzt im Namen eines scheinbar verratenen Schönheitsanspruchs formierte, war ein zu komplexes Amalgam von meist konservativen Ideologien, als daß sich die Komponisten, ih rerseits völlig von ihren Entdeckungen und Problemen besessen, seiner hätten differenzierend annehmen wollen. Andere, denen diese Aufgabe hätte zufallen müssen, waren noch damit beschäftigt, die Musik der Wiener Schule ästhetisch aufzuarbeiten. Diese infolge der Nazizeit verschleppte Aufarbeitung war dringend notwendig, zumal sie den entscheidenden Ansatz zur Klärung des ästhetischen Aspekts welcher künftigen Kunst auch immer gab: nämlich die Differenzierung zwischen dem legitimen und tief im Menschen verwurzelten Anspruch auf Kunst als Erfahrung von Schönheit und dessen falscher Einlösung und Entfremdung im bür gerlich verdinglichten, gleichwohl gesellschaftlich bewährten Kunst-„Genuß" in einer Gesell schaft der verdrängten Widersprüche. Indes, so klarsichtig man bei der Bestimmung des verratenen und als solcher n eu zu bewah renden Schönheitsbegriffs im Zusammenhang mit den Werken der Wiener Schule war - natür lich denk e ich an Ador no und seine Schüler so zöger nd ging man an die konkr ete Befragung dessen, was sich im Rahmen der neuen Entwicklung ereignete. Wo es dennoch geschah, schös sen die Kurzschlüsse kreuz und quer, häuften sich Mißverständnisse und Fehlurteile. Adornos Aufsatz vom „Altern der Neuen Musik" erweist sich heute als wahr und prophetisch, obwohl er denen, die er damals in erster Linie treffen mußte, offenkundig Unrecht tat. Den Schönheitsbegriff jedoch, als suspekt gewordener nicht weiter von der Avantgarde re flektiert, sondern kurzweg ausgeklammert - die Gesellschaft erhielt ihn am Leben. Oder erhielt er seinerseits die Gesellschaft am Leben? Er wirkte weiter, nicht nur als allgemeines Kriterium der Identifikation, sondern eben auch in seiner nach wie vor gesellschaftlich akzeptierten Form verdinglichter Hörkategorien, welche solche Identifikation bequem zu gewährleisten verspra104

chen, indem sie sich in Abschirmung vor den lähmenden Einflüssen einer nicht mehr zu be wältigenden Wirklichkeit auf eine scheinbar intakte Syntax bezogen: auf die Tonalität und ihre expressiven Mittel. Demgegenüber blieb die Avantgarde blind. Darin lag ihr historisches Versagen gegenüber Gesellschaft und Wirklichkeit. Die Erschließung neuer Klangdimensionen - „Parameter", so hieß das Zauberwort - mit der impliziten Negation des verdinglichten Schönen als des Bequemen und Gewohnten ursprünglich der ästhetischen Fragestellung durchaus gewachsen, etablierte sich im weiteren Verlauf der Entwicklung zum selbstgefälligen Manierismus eines blind technizistisch und empiristisch orientierten Materialdenkens. Reichtum und Faszination des Materials als Objektivation klanglicher Erfindungskraft im unbeschwerten Bereich der wohlgenährten bürgerlichen Phantasie gewährleisteten für Eingeweihte und für aufgeschlos sene Zaungäste einen kommunikativen Kontakt, dem es an nichts zu fehlen schien. Dabei konnte man der alten Versuchung nicht widerstehen: Als theoretisch vernachlässigte und unbewältigte, gesellschaftlich aber nach wie vor intakte und wirksame Instanz entfaltete die Erwartung des Schönen im Sinne altgedienter tonaler Gewohnheiten einschließlich ihrer exotischen Reizkomponenten auf jenes einst so streng ausgerichtete Avantgarde-Musikdenken einen Einfluß, der eher mit Amüsement und Sympathie als mit Wachsamkeit oder gar Miß trauen registriert wurde. Die Werke Ligetis, Pendereckis, auch Kagels bisweilen, wurden verstanden und begrüßt als Ausdruck einer neuerworbenen Freiheit des Avantgarde-Denkens gegenüber sich selbst. Die neue Toleranz gegenüber den einst streng ausgesperrten tonalen Hörkategorien schien ein nütz liches Korrektiv einer offenkundig frustrierten und seriellen Utopien mehr und mehr entsagen den Komponierpraxis. Zugleich glorifizierte sich diese Toleranz als Produkt „avantgardisti scher" Kühnheit bei der Erschließung immer neuer Parameter - sozusagen immer tiefer ins Erdinnere bis zum Kanaldeckel auf der anderen Seite -, und in ständig fortschreitender Er schließung immer neuer Welten drang man schließlich „vor" bis in die Erschließung, sprich ästhetische Ausbeutung, der eigenen ursprünglich gemiedenen Kulturszene. Auf die heimliche Regression der sechziger Jahre folgte die offene Regression der siebziger Jahre. Jene Freiheit zum Tonalen verriet sich schlichtweg als undichte Stelle, und das tonale Korrektiv entpuppte sich als Korrumptiv. Die Reise ins Reich der unerhörten Wahrnehmungen ist, wenn nicht zu Ende, so doch am Ende. Die führenden Komponisten von einst, ausgenommen Luigi Nono, haben sich an der Wirklichkeitsferne ihres eigenen materialfixierten Denkens erschöpft. Sie stehen als versteinerte Denkmäler ihrer einstigen Verdienste dekorativ in der Kulturszene herum. Die Schlaumeier der heimlichen und der offenen Regression haben die Fahne der Avantgarde übernommen und tragen sie kühn im Kreise. Sie feiern das Comeback des bürger lichen Schönheitsbegriffs in einer Form, die sich in nichts von jenem einst schon überfälligen reaktionären Zerrbild unterscheidet, wie es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs - wenn nicht schon davor - zum Brechmittel für jeden geworden war, dem es mit Kunst - und auch mit Schönheit - übers oberflächliche gesellschaftliche Maskenspiel hinaus ernst war. So sieht sich heute die Avantgarde von eben jenem bürgerlich domestizierten Schönheitsbegriff zur Strecke gebracht, den sie hochmütig ignorieren zu können glaubte, weil sie „sich lieber ihrem Noten papier zuwandte", statt diesem Schönheitsbegriff bewußt einen an der Wirklichkeit geläuterten Schönheitsanspruch entgegenzusetzen und in Berufung auf ihn theoretisch und praktisch die notwendige Abgrenzung und Differenzierung vorzunehmen. An Mahnern hatte es nicht gefehlt. Aber sie hatten es schwer, damals wie jetzt. Sie wur den und werden gegen ihren Willen in Beschlag genommen von denen, die sowieso von eh 105

und je im Namen der Kunst gegen die Avantgarde gewettert hatten. Manchen trieb so die not wendige doppelte Abgrenzung in die Abkehr von dieser Gesellschaft überhaupt: Linke womöglich - pfui. Wenn ich selbst in jüngster Zeit im Zusammenhang mit offenkundig bewußt entstellten Wiedergaben meiner geäußerten Gedanken über die Probleme von Kom munikation heute mich von einem deutschen Tonsetzer meiner eigenen Generation öffent lich als „Linksradikaler" eingestuft wiederfinde, dann verstehe ich angesichts solcher Dumm heit, wie sie auf diese Weise nicht nur beim betreffenden Autor, sondern auch bei jener Mehr 35

heit in unserer kommt, anVorträgen deren Emotionen wird,hätte daß keiner damals Gesellschaft - etwa Nonozum in Ausdruck seinen Darmstädter - diese appelliert Entwicklung stoppen können. Der Ruf nach Schönheit heute, sei es im Zuge der pluralistischen Einbeziehung aller nur ir gendwie greifbaren Hedonismen, oder im Aufbegehren eines reaktionären Katzenjammers auf grund falscher Versprechungen und Hoffnungen, oder im Namen egal welcher Akademismen: Er verdient mehr denn je unser Mißtrauen. Er verrät sich an seinem Geschrei nach „Natur", nach Tonalität, nach dem Positiven, dem „Konstruktiven", nach „endlich wieder Verständlich keit", er verrät sich an seinen treuherzigen Bruckner-, Mahler- und Ravel-Zitaten. Es wird höchste Zeit, daß der Schönheitsbegriff den Spekulationen korrupter Geister ent zogen und dafür in eine umfassende Theorie des ästhetischen Denkens und des Komponierens so einbezogen wird, daß er sich nicht mehr für die billigen Prätentionen der Avantgarde-Hedonisten, dernicht Klangfarbenköche, der Meditations-Exoten, der gewerblichen und schon gar der Popularitätspropheten, der Natur- und Tonalitätsapostel, aberNostalgiker auch nicht der Akademisten und Traditionsfetischisten eignet. Er muß vielmehr zum reflektierten Anspruch und zum stets an der Wirklichkeit von neuem geläuterten Leitbild der Komponiste n werden, die - in diesem Sinne streng der Tradition verpflichtet - den Auftrag der Kunst weder in der Flucht vor noch im Kokettieren mit den Widersprüchen sehen, welche doch das Bewußtsein unserer Gesellschaft prägen, sondern in der Auseinandersetzung mit ihnen und in ihrer dialektischen Bewältigung. Der Schönheitsbegriff muß in seiner Beziehung zur Wirklichkeit so gründlich reflektiert werden, daß über die bloße Erbauung und über die bloße Einsicht in seine Strapazierfähigkeit hinaus prinzipielle Postulate sich aus ihm herleiten, Postulate, die das kompositorische Gewis sen jedes - auch angehenden - Komponisten von Anfang an, schon im Hinblick auf sein Stu dium, prägen müssen. Eine Kompositionslehre, welche dieseverkennt Frage zugunsten der unmittel baren Probleme des Metiers zurückstellen zu können glaubt, die Prioritäten, versteht nichts vom Metier. Schönheit, oder - um den Stier bei den Hörnern zu packen -: Kunstgenuß, verstanden als Erfahrung der Identifikation aufgrund von und im Hinblick auf Wertvorstellungen, die unser Bewußtsein und unsere Erwartungen von uns selbst bestimmen, bleibt eine willkürliche und zufällige, private Instanz, solange wir nicht in solchen Wertvorstellungen das ganze „humane Potential" angesprochen und ausgeschöpft wissen, wie die Gattung Mensch im Laufe ihrer Entwicklung es sich selbst zugesprochen hat. Noch leben wir in bezug auf die Wirklichkeit inder Hoffnung, daß der Mensch fähig sei, das Richtige zu tun, was allerdings voraussetzt, daß er fähig und willens sei, sich und seine Wirk lichkeit zu erkennen. Noch also glauben wir an ein „humanes Potential". Schönheit nennen wir die Sinneserfahrung, welche diesen Glauben zur Gewißheit macht. Die Einigkeit und die ge meinsame Vergewisserung der Hoffnung auf jenes „humane Potential" im Kommunikations prozeß, sie lösen jenes Glücksgefühl aus, welches wir Schönheit nennen. 106

Was die Kunst betrifft: Sie vermittelt solche Hoffnung nicht in einer metaphysisch orientier ten, irrationalen, sondern äußerst diesseitsbezogenen Erfahrung vom Menschen, dem es ge lingt, sich auszudrücken, wie Schönberg es in unheimlicher Prägnanz als das Höchstebezeich net hat, was der Künstler von sich verlangen müsse. Sich ausdrücken, das heißt: in Beziehung treten zu seiner Umgebung, heißt: als der, der man ist und der man sein möchte,sich den gesellschaftlichen Fragestellungenund vorhandenen Ver ständigungskategorien aussetzen und sich dabei mit den darin enthaltenen gesellschaftlichen Wertvorstellungen auseinandersetzen. Sich ausdrücken heißt auch: in der Auseinandersetzung mit ihren Vermittlungskategorien diese Wirklichkeit abbilden und bewußt machen und darüber hinaus sich selbst als ihr Teil und Produkt bewußt werden und erkennen. Sich ausdrücken heißt schließlich: vorweg gegebenen Vermittlungskategorien als Objektivation geltender Normen den Widerstand entgegensetzen, den die in ihnen verkörperten Wi dersprüche und Unfreiheiten herausfordern. Es ist dies der Widerstand, welcher den Menschen an seine Fähigkeit und Verantwortung erinnert, sich selbst zu bestimmen und seiner Unfreiheit bewußt zu werden. Sich ausdrücken heißt deshalb: gesellschaftliche Widersprüche als durch schaubare bewußt machen, heißt: sich des menschlichen Anspruchs auf Freiheit, heißt: sich des „humanen Potentials" entsinnen. Ein Schönheitsanspruch, welcher diese Konsequenzen mei det, bedeutet Flucht, Resignation, Selbstbetrug. In der Praxis sieht sich der Komponist, dem es darum geht, sich auszudrücken, auf den Umgang mit dem verwiesen, was ich hier den „ästhetischen Apparat" nennen möchte. Gemeint ist damit mittelbar: das Gesamt der geltenden musikalischen Wahrnehmungs kategorien in ihrer besonderen, historisch und gesellschaftlich bedingten Ausformung und Reichweite, so wie sie sich in einer bestimmten Situation theoretisch beziehungsweise empi risch darstellen, in unserem Fall sozusagen die „Tonalität 1976" mit allem, was sie ein schließt, von ihren traditionalistischen bis zu ihren exotischen, antithetischen, pluralistischen Elementen. Gemeint sind damit unmittelbar die tatsächlich verfügbaren Objektivationen dieser ästheti schen Kategorien im Alltagder bürgerlichen Kultur, gemeint alsderen Requisiten im weitesten Sinn etwa das gesamte vorhandene und denkbare, überlieferte und neu entwickelte Instrumen tarium in Theorie und Praxis, die Musikinstrumente mit ihrer typischen Bauart und der daran gebundenen Aufführungspraxis einschließlich der gebräuchlichen Notation, darüber hinaus alle im Zusammenhang mit unserem Musikbewußtsein und unserer Musikpflege entwickelten und genutzten technischen Mittel, Geräte, Begriffsapparate, Arbeitstechniken, aber auch die in unserer Gesellschaft zuständigen Institutionen und Märkte - wenn man so will: von der Aus lage einer Musikalienhandlung bis zur Ehrenkarte der Putzfrau eines Stadtrates beim Gastkon zert der Fischerchöre, von der Hohner-Mundharmonika bis zum beamteten Rundfunksinfo nieorchester mit seinen vielen in Quinten gleich gestimmten Geigen und seiner einzigen Baß klarinette: Alle diese Elemente mit ihrer besonderen Hierarchie und Zuordnung, sie bilden den „ästhetischen Apparat". Dieser ästhetische Apparat verkörpert die keineswegs zufällig in dieser besonderen Form herrschenden ästhetischen Bedürfnisse und Normen, er ist das Abbild der besonderen Art von Nachfrage nach Musik; insofern spiegelt sich in ihm das gesellschaftliche Bewußtsein mit sei 36

nen Wertvorstellungen und Tabusdes - und mit seinen Der ästhetische Apparat verkörpert beides: das Bedürfnis Menschen nachWidersprüchen. Schönheit und zugleich seine Flucht vor der Wirklichkeit; er verkörpert die Sehnsucht des Menschen nach Freiheit und zugleich seine Angst vor ihr. 107

Im Zusammenhang mit der technischen Entwicklung (nicht nur mit ihr), vielleicht auch mit außereuropäischen oder gar mit Avantgarde-Einflüssen, ist der ästhetische Apparat strapazier fähig geworden scheinbar bis ins Unendliche, ohne dabei seine Werthierarchien preisgegeben zu haben. Er bietet so beides an: Flucht zurück in die Schein-Geborgenheit des Vergangenen und Flucht nach vorne ins wie auch immer geartete avantgardistische Abenteuer. Ein Komponist, dem es ernstlich darum geht, „sich auszudrücken", wird von diesem ästhe tischen Apparat zugleich fasziniert und mit Mißtrauen erfüllt. Keinesfalls wird er diesen Ap parat einfach benutzen, geht es sich ihm mit darum, technisch und geistig ihn einzusetzen und im vielmehr selben Moment ihmihn auseinanderzusetzen. Ob zu er beherrschen, es will oder nicht, ob er es weiß oder nicht: In der Auseinandersetzung mit den Spielregeln dieses ästheti schen Apparats wird der Komponist in den Konflikt hineingerissen, von dem das Bewußtsein unserer Gesellschaft geprägt ist bis hinein in die Masken, die sie sich in der Verzweiflung auf setzt. Dieser Konflikt: die Angst vor der Freiheit und gleichzeitig die Sehnsucht nach ihr, ist zu gleich sein eigener, und es gibt für keinen Komponisten einen Umweg um die Entscheidung, ob er sich diesem Konflikt zu stellen und ihn auszutragen bereit ist, oder ob er in Berufung auf sein „naives Künstlertum" davor die Augen schließt, etwa indem er geltende Gesetze dieses ästhetischen Apparats zu „N atur-Gesetzen " verharmlost, um seine blinde Anpassung an sie und die unbefangene Benutzung dieses Apparats vor seinem Gewissen zu rechtfertigen. Dies ist eben die Frage nach der Bereitschaft des Menschen, sich zu erkennen - die Frage nach dem „humanen Potential". Der Komponist muß wissen: Welches Material er auch immer anfaßt, welche Mittel auch im mer er heranzieht, seien sie noch so entlegen oder naheliegend: Es steht alles immer und von vornherein in unmittelbarer Beziehung zum ästhetischen Apparat und unter seiner Herrschaft. Spätestens das Schicksal des seriellen Musikdenkens sollte dies gezeigt haben. Diese Beziehung gilt es zu erkennen, und von ihrer Bestimmung muß der kompositorische Denkprozeß ausgehen. Einzig in der Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Apparat und mit den Kategorien, die ihn bestimmen, vollzieht s ich Selbsterkenntnis und musikalischer Aus druck, und nur so läßt sich die Erfahrung von Freiheit künstlerisch vermitteln als bewußtge wordene Wirklichkeit mit ihren prägenden Widersprüchen. Die Erfahrung des Schönen hängt unlösbar mit dieser Bewußtmachung zusammen, denn bewußt machen heißt überwindbar ma chen. Dies ist keine private Konfliktästhetik. Vielmehr sehe ich in der Bestimmung des Schönen, wie sie hier vorgenommen wird, den einzigen realistischen und rationalen Zugang zur Bestim mung des Schönen gerade auch in der traditionellen Kunst. Es wäre dies der Moment für Un tersuchungen der Charakteristika in der Musik Bachs, Mozarts, Beethovens, Schuberts, um nachzuweisen, daß deren Individuation, die Intensität und der Wahrheitsgehalt ihres musikali schen Ausdrucks niemals zu trennen war von solcher Auseinandersetzung mit dem herrschen den und dennoch von ihnen beherrschten ästhetischen Apparat, wie er jeweils einen geschicht lichen und gesellschaftlichen Moment verkörperte. Von der für die Zeitgenossen nachgerade beleidigenden harmonischen Konsequenz der Bachschen Choralsätze über den doppelbödigen Umgang Mozarts mit den ursprünglich so gefälligen Elementen des empfindsamen Stils, über den entfesselten Formbegriff Beethovens als offengelegte thematische Arbeit bis in die Idiome der Schubertschen, Schumannschen, Wagnerschen, Mahlerschen Kompositionstechniken: Die Elemente der kompositorischen Individuation lassen sich unmittelbar in der komponierten Struktur und dort nicht anders denn als Verweigerung des Gewohnten, als latentes oder offenes 108

Skandalon, als expressive Neubestimmung der aus der Verdinglichung aufgeschreckten Mittel nachweisen. Die Skala reicht von der potentiellen (durch überlegenes Abbilden) bis zur realen Negation vorgegebener Normen, dabei immer rationalen Denk- und Strukturgesetzen ver pflichtet, die der Hörer, um des geliebten irrationalen Genusses willen entweder verdrängt oder als bloße Esoterik zurechtmystifiziert. Die Scheu vor der Einsicht, daß Kunst expressiver und struktureller Niederschlag einer realistischen diesseitigen Vernunft sein könnte, ist bezeichnend für die falsche Kunstbeflissenheit einer um ihr Überleben bangenden Gesellschaft, denn nichts stellt das Selbstbewußtsein einer Gesellschaft so unbarmherzig in Frage, nichts ist so revolu tionär wie der Appell an die realistische Vernunft. Es mag sein, daß nur selten die kompositorische Praxis in sichtbarem Zusammenhang mit dem eigenen gesellschaftlichen Bewußtsein gestanden hat, vielleicht stand sie dazu sogar im Widerspruch. Aufschlußreicher scheinen mir Untersuchungen darüber zu sein, mit welchen Mitteln die Gesells chaft sich jeweils jenem kritischen Moment im Kunstwerk v erweigerte; die Formen reichen von der verständnislosen Zurecht-Verehrung bis zur Isolation und existentiel len Zerstörung. Für die Beziehung von Komponist und Gesellschaft im Lauf der Geschichte gilt jedenfalls das Marxsche Zitat, welches Georg Lukäcs über seine große Ästhetik gesetzt hat: „Sie wissen es nicht, aber sie tun es". So gilt es, die Postulate des Schönen heute unter den Aspekt einer Verantwortung zu stellen, die in aller Konsequenz darauf insistiert, zu wissen, was sie tut. Dies ist die wesentliche und neue Komponente eines Schönheitsbegriffs für uns heute, daß nämlich Kunst ihre Funktion der Verweigerung des Gewohnten und des Verdinglichten und ihre Funktion der Bewußtmachung des bürgerlichen Widerspruchs nicht länger blind erfüllt, sondern dies als ihre Aufgabe erkennt und um der Wahrheit willen und im Hinblick auf das humane Potential dieses Widerstands diese Aufgabe auf sich nimmt. Der „naive Künstler" heute ist ein Widerspruch in sich, er ist die Verkörperung gesell schaftlicher Lüge und Dummheit. Das wendet sich natürlich nicht gegen den schöpferischen Instinkt, im Gegenteil: Nur die Zusammenfassung aller rationalen und intuitiven Kräfte ergibt jenen schöpferischen Widerstand einer dialektisch operierenden Phantasie, welcher dem Sog der Anpassung, dem wir ständig ausgesetzt sind, standhält. Jedenfalls muß der Wille zum Schaffen seine Kräfte aus tieferen und zugleich wirklichkeitsbezogeneren Schichten mobili sieren als aus jenem „schöpferischen Appetit", von dem Strawinsky in seiner Musikalischen Poetik spricht. An die Stelle der bloß immanent orientierten ästhetischen Konsequenz muß die geschicht liche und gesellschaftliche Stringenz des Handelns treten; sie bestimmt sich aus der Klärung der objektiven Beziehung des eigenen Ausdruckswillens zum ästhetischen Apparat. Diese Klärung muß am Beginn jeglichen Komponierens stehen. Eine umfassende Beschreibung der Wechselwirkung von immanenten Gesetzen des ästheti schen Mediums und objektiver Wirklichkeit (der „Mensch ganz" im homogenen Medium ästhetischer Disziplinen gegenüber dem „ganzen Menschen" im vielseitig gefächerten existen tiellen Alltag) habe ich bisher nirgendwo anders als in der Ästhetik von Georg Lukäcs gefun den. Ich habe den Eindruck, bis heute hat man sich allenthalben auch bei den Künstlern der „Linken" um diese Lektüre gedrückt. Für den Komponisten heute geht es in erster Linie um die bewußte Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Apparat, um das Studium seiner Geschichte, seiner Gegenwart, seiner Ver ankerung in der Umwelt, seiner Beziehung zu Alltag und Wissenschaft, zum Selbstverständnis von Individuum und Gesellschaft, zu deren Hoffnungen und zu deren Widersprüchen, so wie

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sie sich in allen Epochen in verschiedenen kompositionstechnischen und stilistischen Ausprä gungen niedergeschlagen haben. Darüber hinaus aber geht es um das Studium der dialektischen Beziehung von ästhetischem Apparat und Kunstwerk. An diesem Studium erst schärft sich das individuelle Metier des Kom ponisten. Von hier aus wird die permanente Wachsamkeit gegenüber fremden und eigenen kompositorischen Mitteln ebenso zur Selbstverständlichkeit wie die Bereitschaft des Kompo nisten, seine eigenen Unternehmungen von Anfang an theoretisch zu befragen; unter dem Druck nicht mehrSinn verdrängten Wirklichkeitserfahrung theoretisch ständig an sich zu arbeiteneiner und in diesem sensibel zu werden im Hinblick auf einen glaubwürdigen Kunstund Schönheitsanspruch, immer im Kampf um die Freilegung jenes „humanen Potentials", welches tagtäglich von neuem in uns und durch uns verschüttet wird. Das Streben nach einem eben auch theoretischen Selbstverständnis im Licht einer übergrei fenden Verantwortung wird sich bei jedem Komponisten immer wieder anders und gewiß weit hin nur empirisch den Weg bahnen können. Es geht nicht ohne das Experiment. Rezepte je denfalls gibt es nicht, wie das serielle Prinzip eines wurde. Schönheit: Das ist Ruhekissen oder Nadelkissen jener Gattung Mensch, welche niemals da von hat ablassen können, im Namen der Liebe zu hassen, im Namen der Wahrheit zu lügen, im Namen des Dienens zu verdienen, im Namen der Fürsorge auszubeuten, im Namen des Lebens zu töten, im Namen der Rettung zu verderben, im Namen der Freiheit zu unterdrücken und im Namen der Verantwortung sich dumm zu stellen. Der Weg zum „Glücks"-Erlebnis des Schö nen führt durch das - wie auch immer verdrängte oder akzeptierte - „Angst"-Erlebnis des Schönen, nämli ch durch die Frage an den Menschen, ob und wieweit er ber eit ist, Aug in Auge mit seinem Widerspruch zu leben und im Bewußtsein dieses Widerspruchs wachsam zu blei ben gegenüber dem, was er ausrichtet und anrichtet. Diese Ausführungen mögen verstanden werden in einer zweifachen Zielsetzung: zum einen als Appell an jeden Verantwortlichen, sich der Kategorie des Schönen in dem Maße anzuneh men, wie diese Kategorie Gefahr läuft, von der Übermacht jener Aasgeier in Beschlag und für sich in Anspruch genommen zu werden, welche - gar unter höhnischer Verspottung der ge scheiterten Avantgarde - erneut die Kunst zu einem gesellschaftlichen Genußmittel auf kultu reller Ebene erniedrigen wollen und dabei wieder mit den Requisiten eines verdinglichten, sei ner ursprünglichen Wahrheit entfremdeten Schönheitsbegriffs operieren; zum anderen als Ver such, die ersten Aspekte zusammenzutragen, welche geeignet erscheinen, unter Vermeidung eines neuen Akademismus und in Absage an alle Willkür solche Postulate des Schöpferischen bewußt zu machen, welche dem Kunstwerk heute, auch und gerade gegenüber der alten bür gerlichen Fragestellung nach dem Schönen, Daseinsrecht und Aktualität gewährleisten.

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Musik als Abbild vom Menschen Über die Chancen der Schönheit im heutigen Komponieren Komponisten sind weder Philosophen noch Prediger. Es gehört nicht zu ihrem unmittelbaren Tätigkeitsbereich, Welt- und Menschenbild, das sie - in Übereinstimmung oder in Konflikt mit ihrer Umgebung - in sich tragen, in Begriffe zu fassen oder gar zu verkünden. Der Komponist hat es mit klingender Materie zu tun: Diese nimmt er in den Griff, formt er um, ordnet er, mit dieser bildet er Zusammenhänge, schafft er Beziehungsfelder, stiftet er eigene Hierarchien, er findet er Formen, artikuliert er Zeit. Indes, um mit Marx zu reden: „Sie wissen es nicht, aber sie tun es". Und sie tun es umso un mißverständlicher, als sie es nicht wissen. Und in dieser Hinsicht gilt für jeden Komponisten, was Mahler im Glück des sich selbst genügenden Schaffensprozesses schrieb: „Ich komponiere nicht, ich werde komponiert". Schließlich bleibt das vom Komponisten Geschaffene nicht bloß unverbindliches akusti sches Beobachtungsobjekt. Vielmehr rührt es uns an, ruft Erinnerungen und darüber hinaus Empfindungen in uns ab, greift in unsere Empfindungsgewohnheiten ein und löst über die Abwandlung des Gewohnten gar neue, ungewohnte, manchmal ungeahnte, vielleicht auch unbequeme Empfindungen uns aus. Der Komponist hat mit all dem inverzichtet. dem MaßSeine etwasFas zu tun, als er beim Arbeiten aufinjegliche Spekulation mit solchen Wirkungen zination ist die des Materials, seiner Beherrschbarkeit, seiner Gestaltbarkeit, seiner Umformbarkeit durch die Entdeckung, Verdeutlichung, Entwicklung von Beziehungen, durch Integra tion der Klangelemente in immer wieder andere Kontexte. Klänge und Klangbewegung - als Produkte disziplinierter Natur, etwa als regelmäßiger Schwingungsvorgang des gesungenen, das heißt: vom menschlichen Körper als beherrschtem Instrument hervorgebrachten Tones, so hatten sie einst magische Kraft, waren Medium der Ver senkung des Ichs in der Verbindung mit den so beschworenen Göttern. Als Produkten reflek tierter Disziplin hingegen, als Objekten des spekulativen Spiels der Vernunft, des Bewußtseins, gibt sich in ihnen nun der menschliche Wille, die menschliche Phantasie, Gestaltungskraft, eben der Mensch als Mittelpunkt des Vorgangs zu erkennen. Dieser zielt, nun unter Mitwirkung des Schwingungen Gedankens unddes des Klingenden Bewußtseins,miterneut jene magische Vereinigung der äußeren den auf inne ren unserer Empfindungen. Aber durch jenen Eingriff der Vernunft und des kreativ spekulierenden Willens hat dieser Vorgang seine Unschuld und seine Unmittelbarkeit ver loren: Er gelingt nur noch als dialektischer: Die Dissonanz, welche die Konsonanz erst ins Licht rückt - die Bewegung, von wo aus der Zustand der Ruhe erst neu gewonnen und so erkannt wird. Und so wird aus der bewußtlosen Geborgenheit magischer Vereinigung, in der das Ich sich aufgibt, jene abendländische Erfahrung „Kunst", in der sich das Ich als Individuum, als eigenwilliger Geist zu erkennen gibt, indem es sich in die Ungeborgenheit der Reflexion vorwagt, von dort seine Sehnsucht nach Geborgenheit immer wieder neu beleuchtend. Dies ist die Situation der abendländischen Musik. Als Gegenstand von vernunftdurchsetzter und so durch menschliche Individuation zersetzter Magie unterscheidet sie sich bekanntlich als ästhetische Erfahrung von Grund auf von der Musik anderer Kulturen, wo sie - durchweg kul tisch gebunden - ihre magische Rolle beibehalten hat, so daß dort kaum von Stil oder stilisti scher Entwicklung die Rede sein kann, während in Europa Musik seit der Gregorianik sich

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stilistisch rapid veränderte, ebenso wie sich im Zug der geistesgeschichtlichen Entwicklung das Welt- und Menschenbild ständig wandelte. Bis heute hat die Kunst, als vom Bewußtsein irritierter Nachfahre kultischer Praktiken, je nen alten Traum der magischen kollektiven Vereinigung nicht vergessen. Als vom Bewußtsein mit den Mitteln der individuellen Phantasie rekonstruierbares hat solches Ziel allerdings seinen kultischen Bezug aufgegeben, und für eine Zivilisation, die im Hinblick auf ihre Selbst- und Welterfahrung die Arbeitsteilung Religion, Philosophie, Wissenschaft und Kunst vorgenom men hat, heißt dieses Ziel und für über unsere Schönheit. Musik widerspiegelt denjetzt Menschen dieGesellschaft: Empfindungen, die sie hervorruft. Bilder vom Menschen lassen sich in Musik kaum anders aufspüren als über die besondere Form, in wel cher Musik sich jenes Schönheitsbegriffes annimmt. Schönheit aber, oder - um den Stier bei den Hörnern zu packen - Kunstgenuß, verstanden als Erfahrung der Identifikation des Geistes mit dem Erlebten aufgrund von Wertvorstellungen, die unsere Sehnsüchte und unser ideales Menschenbild bestimmen, ein solcher Schönheitsbegriff bleibt ein willkürlich auswechsel barer, bloß poetisch-idyllischer Begriff, gastronomischen Genüssen vergleichbar, solange wir in jenen Wertvorstellungen nicht das ganze humane Potential angesprochen und gefordert wis sen, welches dem Menschen seine Würde verbürgen sollte. Noch versuchen wir die Hoffnung zu pflegen, daß die Gattung Mensch fähig sei, das Rich tige zu tun, was voraussetzt, daß sie fähig sei, ihre Struktur und die der Wirklichkeit zu erken nen. Noch wir als an ein Potential. Schönheit durch nennensolchen wir jenes welches in glauben der Kunst, einerhumanes Botschaft vom Menschen, wieGlücksgefühl, auch immer vermittelten Glauben ausgelöst wird. Dabei überträgt sich solcher Glaube, auch in seinen illusionslosesten Varianten - siehe etwa die Kunst Becketts -, nicht in einer irrationalen, philosophischen oder intellektuell verschlüsselten Botschaft, sondern in der über die Sinnes wahrnehmung vermittelten Erfahrung vom Menschen, dem es gelingt, sich auszudrücken so wie es einst Arnold Schönberg in unheimlicher Prägnanz als höchstes Ziel des Künstlers bezeichnet hat, wohl wissend, daß der Künstler nicht etwas zu sagen, sondern zu schaffen habe. Sich ausdrücken: das heißt, durch den schöpferischen Akt in Beziehung treten zur Umwelt mit ihren Normen und Fragestellungen - heißt: in der Auseinandersetzung mit den bereits etablierten Wertvorstellungen der Gesellschaft diese von ihr geprägte Wirklichkeit abbilden, ihre Struktur bewußt machen, aber damit auch sich selbst als Teil und Produkt von ihr zu erkennen geben; sich ausdrücken heißt aber darüber hinaus unvermeidlicherweise auch: diesen vorweg geltenden Normen und daran gebundenen ästhetischen Gewohnheiten und Tabus den Widerstand entgegensetzen, den die darin enthaltenen Widersprüche, Gedankenlosigkeiten, Bequemlichkeiten, Unfreiheiten herausfordern. Es ist dies der Widerstand, welcher den Men schen an seine Fähigkeit und Bestimmung gemahnt, sich mitsamt seinen Widersprüchen zu er kennen und sich seines humanen Potentials zu entsinnen. In seiner unmittelbaren Praxis sieht sich der Komponist verwiesen auf den Umgang mit dem, was ich anderswo einmal den „ästhetischen Apparat" genannt habe. Gemeint sind damit nicht nur das konkrete Instrumentarium unseres Musiklebens, die vorhandenen und überlieferten kompositionstechnischen und aufführungspraktischen Mittel, Geräte, Requisiten, Tonsysteme, Apparate und Begriffsapparate samt allen öffentlichen wie privaten Einrichtungen unserer mu 37

sikalischen Kultur, sondern all dem entspricht ja auch eine nicht minder reiche und komplexe kollektive Vorprägung und ein ästhetischer Kodex in uns. Dieser ästhetische Apparat verkör pert so unsere vorherrschenden ästhetischen Bedürfnisse und Normen, es herrscht eine fatale

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Wechselbeziehung zwischen ihm und ihnen: Er ist nicht weniger Folge als Ursache der in der Gesellschaft dominierenden Nachfrage nach Musik. Geprägt von der Illusion einer intakten tonalen Sprache, unter Berufung auf unsere musika lische Tradition, die - einst Zeugnis und Vermächtnis des fortschreitenden Geistes - heute be wahrt und als konservierte zugleich verraten wird, repräsentiert der ästhetische Apparat beides: das Bedürfnis der Gesellschaft nach Schönheit und zugleich nach Abschirmung von der Wirk lichkeit, die Sehnsucht nach der Freiheit des Geistes und zugleich die Angst vor den damit ver bundenen Unbequemlichkeiten. Kunst, einst Medium der Erhellung, wird im Zeitalter der Angst des Menschen vor seinem eigenen Fortschritt zum Medium der Verdrängung. An die Stelle des Aufbruchs zu neuer Erkenntnis und zu neuen Aufgaben des Geistes ist die Flucht in die Idylle getreten. Der ästhetische Apparat steht dafür ein. Musikkultur ist der Walkman, wo mit man hört und sich zugleich die Ohren zuhält. Der Komponist kommt nicht um die Auseinandersetzung mit diesem vorgefundenen ästhe tischen Apparat herum. Dessen offenkundige Widersprüche: Beschwörung unserer bürgerli chen Ideale und zugleich Verrat an ihnen durch deren bequeme Verdinglichung, sind seine, des Komponisten eigene Widersprüche. Er steht ja nicht außerhalb der Gesellschaft, sondern ist ein Teil von ihr. Egal, zu welchen Mitteln oder Prozeduren er greift, seien sie noch so entlegen oder naheliegend: Es ist alles a priori verwaltet durch jenen ästhetischen Apparat. Außerhalb von ihm ist kein Komponieren möglich. Als Medium einer geschichtslos Vergangenheit und Zukunft ausbeutenden tonalen Dialek tik, welche die eigene Verunsicherung als dissonanten, das heißt konsonanzbezogenen Zwi schenfall schlau längst entschärft und in sich aufgenommen hat, ist jener ästhetische Apparat und das von ihm beherrschte Denken und Fühlen bis ins Unendliche strapazierfähig geworden: Das Ungewohnte wird zum exotischen Hausgespenst domestiziert, und kein Ausbruch in irgendwelche Klangwelten ist denkbar, der nicht von solchem Sog eingeholt würde. Die Menschheit hat den eigenen Untergang längst als Gruselschocker in Gedanken poetisiert, ästhetisiert, konsumiert. Technik dient mehr und mehr ihrer eigenen Verharmlosung, Idyllisierung, und jener ästhetische Apparat ist im Grunde nur ein Teil eines gigantischen Ver drängungsmechanismus, den der Mensch in dem Maß perfektioniert, als er seine eigene Aus sichtslosigkeit dumpf erkennt. Aus dem eingangs so unverbindlich beschriebenen schöpferischen Spiel des Komponisten mit den Mitteln wird also plötzlich Ernst, weil diese Mittel schon vorweg auf fatale Weise von der Öffentlichkeit in Beschlag genommen sind. Komponieren, sich ausdrücken, Schönheit muß sich nun darin bewähren, ob beziehungsweise wieweit es gelingt, jene im Rahmen des ästheti schen Apparats derart verfestigten Hörmechanismen zu durchbrechen. Wo dies nicht versucht, nicht wenigstens durch charakteristisches Scheitern angedeutet und bewußt gemacht wird, dort verkommt das Bild des Menschen zum hilflosen, nutzlosen Abziehbild einer Gesellschaft, die sich im Grund selbst aufgegeben hat. Einzig und allein in der Auseinandersetzung, und das bedeutet: im bewußt verändernden Umgang mit den Mitteln des ästhetischen Apparats und im bewußten Konflikt mit den von ihm diktierten Gesetzen kann sich der Prozeß künstlerischer Mitteilung und Selbsterkenntnis vollziehen. Die Erfahrung von Kunst und nicht zuletzt von Schönheit hängt so unvermeidlich mit der Verweigerung von blinden ästhetischen Gewohn heiten zusammen, einer Verweigerung aber, die sich legitimiert als Angebot, nämlich als Angebot einer veränderten, wenn man so will: befreiten Wahrnehmung. Dies ist keine ad-hoc-Definition einer privaten, polemisch auftrumpfenden Konfliktästhetik. Das Bild des Menschen auch in der Musik der alten Meister läßt sich nicht anders erfahren als

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durch deren bewußt Bahnen brechende Auseinandersetzung mit dem jeweils herrschenden ästhetischen Apparat samt den darin verfestigten Tabus, durch Aufdeckung, Aufbrechung, Weiterführung seiner Strukturen. Der Komponist, der so sich auszudrücken versucht, gerät - heute wie früher - unvermeidlich über die Auseinandersetzung mit jenem ästhetischen Apparat in den Konflikt mit der Gesellschaft selbst, die - ihrer Entfremdetheit heimlich durch aus bewußt - aus nacktem Selbsterhaltungstrieb sich an ihr gewohntes ästhetisches Weltbild verzweifelt anklammert. Sie schlägt um sich, wo ihr jemand zumutet, den Kopf aus dem Sand zu ziehen; sie ihr Vertrauten jemand zutraut, gewohnte Bahnen zu verlassen, zunehmen, zu schlägt hören, um stattsich, bloßwo dem verständnisinnig zuzuhören. Und sie wahr weiß, warum sie sich so wehrt. Schönheit, das ist die Erfahrung der Selbstbetäubung oder des Erwachens. Schönheit, das ist Ruhekissen oder Nadelkissen jener Gattung Mensch, welche niemals davon hat ablassen kön nen, im Namen der Liebe zu hassen, im Namen der Wahrheit zu lügen, im Namen des Dienens zu verdienen, im Namen der Fürsorge auszubeuten, im Namen des Lebens zu töten, im Namen der Rettung zu verderben, im Namen der Freiheit zu unterdrücken und im Namen der Verant wortung sich dumm zu stellen. Der Weg zum Glückserlebnis des Schönen führt durch das - wie auch immer verdrängte oder akzeptierte - Angsterlebnis des Schönen, nämlich durch die Frage an den Menschen, ob und wieweit er bereit und fähig ist, Aug in Auge mit seinem Widerspruch zu leben und im Bewußtsein dieses Widerspruchs wachsam zu bleiben gegenüber dem, was er ausrichtet und anrichtet. Vor hundertfünfzig Jahren ließ Geor g Büc hner seinen Woyzeck sagen: „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht". Kunst, nicht anders als der Mensch selbst, muß sich entscheiden, ob sie den Blick in den Abgrund wagen, aushalten und ihr Selbst verständnis durch solche Erfahrung prägen lassen will, oder ob sie solche Erfahrung ver drängen, leugnen, sich den Schutzmanövern der Gesellschaft anpassen will. Die Bereitschaft, sich und sein Denken verunsichern zu lassen, gehört nicht weniger zu unseren humanen Bestimmungen als diejenige, sich am ungebrochenen Schönen zu erfreuen. Beides gehört zusammen. Nach wie vor lieben und suchen wir die Schönheit, jeder auf seine Weise. Aber gerade in un serer Liebe zum Ungebrochenen verrät sich eine verzweifelte Sehnsucht nach einer intakten Welt angesichts einer äußerlich und innerlich tief gestörten Welt. Der Komponist heute kann dieser Sehnsucht nicht gerecht werden, indem er sie durch irgendeine schillernde ästhetische Fata Morgana beschwichtigt, sondern nur indem er sich jener Frage stellt, deren Unlösbarkeit uns alle zu lähmen droht: Wie läßt sich Sprachlosigkeit überwinden, eine Sprachlosigkeit, die kompliziert wird durch jene falsche Sprachfertigkeit des ästhetischen Apparats, wie sie uns im Wust der losgelassenen Medien und der kulturellen Betriebsamkeit vorgegaukelt wird. Ich selbst weiß keine andere Antwort als die, im Werk diese Fragestellung spürbar zu ma chen. Das bedeutet aber, daß sich der Komponist mit seiner so mobilisierten Sensibilität und Wachsamkeit gerade jenen Sprachmitteln zuwendet, deren falsche Sprachfertigkeit als Maske objektiver Sprachlosigkeit er durchschaut hat. Nur dort, wo diese Mittel in ihrer Verfestigtheit und Verwaltetheit erkannt, wo ihre Struktur aufgebrochen, als durchschaubare wahrgenommen und bewußt gemacht wird, nur dort, wo eingegriffen wird in unsere gewohnte Wahrnehmungs praxis, nur dort wird das Hören als Wahrnehmungsvorgang auf sich selbst, auf seine Veränder barkeit aufmerksam gemacht, nur dort wird das Hören und damit der Hörer selbst bewegt. Komponieren in solcher Situation der erkannten und reflektierten Unfreiheit des Menschen wird so nachgerade zum Kraftakt, weil die Auseinandersetzung des Komponisten mit jenem 114

ästhetischen Apparat unweigerlich zur Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Vorprägung, sprich Unfreiheit, wird, wobei die Erkenntnis der eigenen Bedingtheit zur völli gen Verunsicherung des Ausdrucks- und Schaffenswillens führen kann. Und erst die Mobili sierung jener Kräfte, die über solche Lähmung hinweghelfen, ist es, welche dem Komponieren seine eigentliche Kraft und Legitimation verleiht und welche im Kunsterlebnis den Glauben aufrecht erhält an die Fähigkeit und Bestimmung des Menschen, zu erkennen und aus Er kenntnis heraus zu handeln. Das Ich, in Erkenntnis seiner Gebrochenheit, Sprachlosigkeit, in der Auseinandersetzung mit seinen gesellschaftlich tabuisierten Bindungen und seiner Unfähigkeit, diese abzuschütteln das Ich, tastend nach seinem Es, nach seinem Über-Ich, nach seiner Struktur, in der Hoffnung auf jenes Rettende, von dem Hölderlin sagt, daß es dort wachse, wo Gefahr sei - das Ich, sich mitteilend nicht durch eine wie auch immer bereits ästhetisch verwaltete Sprache, sondern durchs reflektierte Handeln, durchs strukturelle Aufbrechen des Vertrauten, durch die Sensibi lisierung der Wahrnehmung für ihre eigenen Kräfte und durch die Erinnerung des Denkens und Fühlens an die eigene Veränderbarkeit durch alle Bedingtheiten hindurch - dies wäre das Bild vom Menschen, wie tief auch immer im Sand verschüttet, das mir Hoffnung gibt. In solchem kreativ veränderndem Umgang mit dem Gewohnten drückt der Komponist sich aus und entdeckt er sich selbst neu als Teil einer vielschichtigeren als bloß der unmittelbaren bürgerlichen Wirklichkeit. Ja, vielleicht findet er über solch erkämpfter, gesteigerter, sensibili sierter Wahrnehmung des Objekts zur Wahrnehmung seiner selbst und durch die eigene Ver störtheit hindurch zu jener am abendländischen Horizont längst verschwundenen magischen Vereinigung mit seinem Gott zurück, von der zu Beginn die Rede war. Musik - so oder so Abbild des Menschen samt seiner erkannten oder verdrängten Entfrem dung - Musik ist nicht die Wirklichkeit. Im Gesamt unseres Daseins bleibt sie als kulturelle Er fahrung eher ein Medium der Zuflucht, in anderem Sinn allerdings für den Erkenntnis- als für den Verdrängungsuchenden. Hören, nicht anders als das Komponieren selbst eine Form menschlichen Suchens, ist, so oder so, ganz gewiß eine Art Flucht: als Flucht ins Innere des eigenen beschädigten Ichs aber eine Flucht direkt in die Höhle des Löwen. Und dort ist wohl der einzige Ausweg. In Ernst Tollers Drama Masse Mensch stehen diese Zeilen, die ich 1967 in meiner Kompo sition Consolation I verwendet habe: Gestern standst Du An der Mauer. Jetzt stehst Du Wieder an der Mauer Das bist Du Der heute An der Mauer steht. Mensch, das bist Du Erkenn Dich doch Das bist Du.

1984

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Hören ist wehrlos - ohne Hören Über Möglichkeiten und Schwierigkeiten Für Clytus Gottwald

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Über Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Hörens reden, hieße eigentlich über die inneren und Voraussetzungen Hörens: die Bedingungen Seindieses und Bewußt sein äußeren philosophieren. Ich fühledesmich demhieße nichtüber gewachsen. Aber ichvon habe Thema gewählt, um einmal als Komponist auf jene vielbeschworene Kluft zu reagieren, die sich auf getan zu haben scheint zwischen den Hörgewohnheiten, wie sie im öffentlichen Musikleben einer musikliebenden Gesellschaft dominieren, und den Wegen, wie sie von Komponisten in diesem Jahrhundert seit Schönberg und unter Berufung auf Schönberg eingeschlagen wurden. Es ist die Kluft zwischen dem Musikliebhaber, welcher Musik liebt und pflegt wegen ihrer in den Werken der Tradition bewährten expressiven Sprachgewalt, wegen ihrer im Tonalen wurzelnden Erfahrungen von Schönheit, in denen das Subjekt sich emphatisch erhöht wider spiegelt, und dem Komponisten, welcher der Tradition dadurch gehorcht, daß er sie fortsetzt, statt solche Erfahrungen zu konservieren; und der den a-priori-Kunstgenuß als Dienstleistung am Bürger vernachlässigt, weil es für ihn - und auch hier als aus der Tradition übernommene Verpflichtung nicht zu darum gehenetwas kann,hörbar, etwas erfahrbar, zu „sagen"etwas (wasbewußt eine intakte Sprache voraus setzt), sondern -etwas machen, zu machen, Hörerfah rung zu erweitern statt Hörerwartung zu befriedigen, also das zu tun, was dem menschlichen Geist aufgegeben ist, seit er von sich weiß: nämlich weiterzugehen, ins Unbekannte vorzudrin gen und so sich selbst zu erfahren. Die Kluft war vorprogrammiert, seit Musik im alten Europa ihre magische Funktion, wie sie sich in anderen Kulturen erhalten hat, durchbrochen und sich selbst zum Gegenstand der Auf merksamkeit, des Erforschens, des Fortentwickeins und so zugleich zum Spiegel der sich fort entwickelnden menschlichen Wahrnehmungs- und Empfindungsmöglichkeiten gemacht hat. Daß Musik, die einst da war, um die den Menschen umgebenden Mächte zu beschwören, sich im Zuge der geistesgeschichtlichen Entwicklung im christlichen Abendland auf den Weg machte, ihre Mittel veränderte und entfaltete und als Medium des sich entdeckenden Subjekts fähig wurde, „Ich" zu sagen; daß Musik auf solchem Weg nicht halt machte, sondern darüber hinaus in unbekannte Zonen des Ichs, in sein Es vordrang, war unvermeidlich, und klar ist, daß dieser Weg permanente Störung des jeweils herrschenden und immer wieder vergeblich zementierten Welt- und Menschenbilds bedeutete. Verständlich ist auch, daß Komponieren auf diesem Weg spätestens in unserem Jahrhundert in Konflikt geraten mußte mit einer Gesell schaft, die zwar den Satz von der unantastbaren Würde des Menschen ins Grundgesetz auf genommen hat, aber damit von Fall zu Fall schon wieder Schindluder zu treiben bereit und gezwungen ist, weil sie für jenen anderen Satz, den des Georg Büchner: „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht", nur Strafgesetzbuch, Moral, Medizin und die Unterhaltungsmedien zuständig weiß. Solange wir aber hinter der Büchnerschen Erkenntnis lediglich auszumerzende Krankheiten und Entstellungen eines letztlich intakten Menschenbildes sehen, treibt uns der pure Selbsterhaltungstrieb solcher Bequemlichkeit dazu, uns solcher Verunsicherungen zu erwehren. Es gehört zu den Kennzeichen menschlichen Verhaltens, daß wir im Namen der Werte, die wir zu bewahren hoffen, die wir gepachtet zu haben glauben, diese Werte immer wieder ver116

raten. Und über alle mehr oder weniger erkannten Bedrohungen hinaus ist es dieser Wider spruch des unantastbar würdigen Menschen, den es für diesen zu verdrängen gilt. Musik, als in takte Sprache Nachricht vom intakten Menschen, wird so in Beschlag genommen als gute Stube eines im Grunde total verunsicherten Zeitgeistes, als schöner Teppich, unter den sich alle jene Übel, Widersprüche, Oberflächlichkeiten, Ängste kehren lassen, die, von uns selbst pro duziert, nun uns selbst unmittelbarer als je zuvor bedrohen. Und so klammert sich die Gesellschaft an einen Musikbegriff, den sie von einer weithin idyllisch mißbrauchten Tradition abgeleitet und zementiert hat. Glaubwürdig, wahr ist diese Situation der Angst und der Verdrängung und der verzweifelten Sprachfertigkeit angesichts der sehr wohl dahinter empfundenen Sprachlosigkeit in bezug auf jene Bedrohungen und Ängste, die rational wohl nicht mehr zu bewältigen sind. Man würde übrigens dieser Verdrängungsstrategie nicht gerecht, wenn man sie nur als hartnäckige Wah rung des schönen Scheins brandmarken wollte. In Wirklichkeit haben wir alle gelernt, Verunsicherung dadurch zu verdrängen, daß wir da mit spielen. Wir verdrängen die Angst, indem wir uns selbst welche einjagen, und jenes in der Presse abgebildete Gerippe eines sterbenden Kindes aus der Dritten Welt wird, ehe wir es mer ken, zum Erbauungsobjekt, und schlechtes Gewissen und Mitleid werden als kollektiv ge pflegte bürgerliche Tugenden zum Ersatz ihrer selbst. Und so hat wohl auch das Gespenst „Neue Musik" wieder sein Plätzchen gefunden im Kul turleben: als ästhetische Verunsicherung vom Dienst, als beliebte Fahrt auf der Geisterbahn: der Komponist als bestaunter, bemitleideter Prediger in der Wüste trostloser Mißklänge, gelegent liches Ausflugsziel für Frustrationsbedürftige und zugleich Alibi der toleranten Intoleranz. Musik, alte und neue, so eingemeindet, ist sich selbst im Weg. Musik ist der Walkman, mit dem man hört und sich zugleich die Ohren zuhält. Daß man Musik hassen kann aus Liebe zur Musik, ist solcher Verstrickung zuzuschreiben. Beim Nachdenken über diesen Vortrag habe ich festgestellt, daß ich offenbar im Sieben-Jah restakt zu den Problemen des Hörens Stellung nehme. Vor vierzehn Jahren, 1971, beim Stutt garter Theoriekongreß, zur Zeit der Studentenunruhen, hieß meine These: „Hören ist wehrlos ohne Denken". 1978, sieben Jahre später, knüpfte ich daran an und ergänzte: „Hören ist wehr los auch ohne Fühlen" und versuchte, durch die Beschreibung der Bedingungen des Hörens Denken und Fühlen al s einander bedingend zu präzisieren. Heute, nach weiteren sieben Jahren, ist mein Vertrauen in die Sprache angeschlagen - auch sie ist sich oft selbst im Weg -, und so sage ich jetzt nur noch: „Hören ist wehrlos - ohne Hören". Der unmittelbare Gegenstand von Musik ist nicht Welt und schlechter Weltlauf, den es zu be weinen, zu belachen, und auf den es wie auch immer rhetorisch oder affektiv zu reagieren gilt: Der Gegenstand von Musik ist das Hören, die sich selbst wahrnehmende Wahrnehmung. Und einzig, weil solche Sensibilisierung nicht gel ingen kann ohne die kompositionstech nische Aus einandersetzung mit jener Verwaltetheit des musikalischen Materials, bildet Musik, als Produ kt einer solc hen Auseinandersetzung, die Wirklichkeit, auf die sie reagiert, genauer ab, als es jed e rhetorische Anstrengung zuwege brächte. Denn solche Form des wahrnehmenden Hörens bietet sich nicht unbefangen an, sie muß erst freigelegt werden. Freilegen aber heißt, Dazwischenliegendes wegräumen, jene in der Gesellschaft vorgegebenen dominierenden Hörgewohnheiten, Hörkategorien außer Kraft set zen, aussperren. Hören ist schließlich etwas anderes als verständnisinniges Zuhören, es meint: anders hören, in sich neue Antennen, neue Sensorien, neue Sensibilitäten entdecken, heißt also auch, seine eigene Veränderbarkeit entdecken und sie der so erst bewußtgemachten Un117

freiheit als Widerstand entgegensetzen; Hören heißt: sich selbst neu entdecken, heißt: sich verändern. Bei solcher Überwindung der Unfreiheit des öffentlich vorgeprägten Hörens geht es also nicht um den Ausflu g (oder die Ausflucht ) in „n eue", „unbe kannte " Klänge im Sinn von neuen akustischen Welten, sondern um die Entdeckung neuer Sensorien, neuer Sensibilität, und um neue, veränderte Wahrnehmung. Diese wird keine Berührungsangst haben vor unbekannten Hörerfahrungen, aber sie bewährt sich nicht zuletzt darin, daß sie das Vertraute noch einmal als etwas Neues, als plötzlich wieder unbekannte klingende Welt entdeckt. In einer Situation, wo sich jeder von uns instinktiv an jene gesicherten Gewohnheiten klam mert, die für uns Geborgenheit, Heimat bedeuten, mag solcher Durchbruch zu verändertem, veränderndem Hören durchaus auch schmerzhaft empfunden werden. Das Gesicht eines nahestehenden Menschen, scheinbar vertraut: Vielleicht bedarf es einer Verletzung, oder einer menschlichen Entfremdung, die uns veranlassen könnte, dieses Gesicht einmal wirklich zu sehen, nicht bloß anzusehen, die konkrete Struktur der Physiognomie, die Landschaft dieses Gesichts mit ihren Verwerfungen und typischen Ausformungen wahrzuneh men, darin dann wieder zu lesen und in solchem Prozeß die eigene Beziehung zu diesem Ge sicht, zu diesem Menschen zu erneuern. Wo die Wahrnehmung so in die Struktur des Vertrauten eindringt, wird das Vertraute nochmals fremd. Indem der Wahrnehmende seine Beziehung zum bislang Vertrauten radikal erneuert, ändert sich selbst, wahr, nimmt wird er seine Vorgeprägtheit und seine Fähigkeit, er kennen und zu er durchbrechen er sich selbst nochmals fremd, wird erdiese sich zu selbst nochmals zum Abenteuer, voll neuer Möglichkeiten und Überraschungen. Hören heißt dann aber auch: in der so in sich entdeckten Kreativität neue Hoffnung schöp fen. Schließlich wurde jener schwindelerregende Abgrund nicht bloß von Georg Büchner angstvoll, sondern auch von einem anderen Dichter: Paul Gerhardt, in seinem bekannten Wei h nachtslied hoffnungsvoll beschworen, und beide Visionen gehören zusammen. In der Praxis bedeutet solches Hören Konzentration des Geistes, also Arbeit. Arbeit aber als Erfahrung des Eindringens in die Wirklichkeit, als fortschreitende Selbsterfahrung, ist eine Glückserfahrung. Der Schlüsselbegriff solchen Hörens heißt „Struktur". Als strukturelle Erfahrung aber orientiert sich Hören nicht allein positivistisch an der Be 39

schaffenheit des klingenden Objekts, sondern sich an derund Zuordnung Objekts in seiner Umgebung. Die Wahrnehmung des präzisiert Klingenden verengt erweitertdieses sich zugleich durch die Beziehungen, die sich zwischen ihm und seiner näheren und ferneren Umgebung in Zeit und Raum entfalten, anders gesagt: Hören nimmt - bewußt und unbewußt - anhand des Klingenden zugleich Zusammenhänge wahr: die Zusammenhänge, denen sie entstammen und jene , in denen sie jetzt stehen und von denen jeder klingende Moment neu beleuchtet wird. Wenn wir im ersten Satz von Beethovens Harfenquartett den Anfang des Allegro-Teils nach der langsa men Einleitun g hören (Abb . 1), so erkenne n wir darin eine vertraute Art der Eröff nung aus der Wiener Klassik: durch Doppelgriff akzentuierter Anfangsakkord, aufsteigende gebrochene Dreiklangsfigur von Tonika zu Dominante, repetierende Begleitakkorde (Aus schnitt A). In der Folge aber erweist sich dieser Anfangsakkord für den, der sich von den geläu figen Ritualen der Sonatenform nicht einlullen läßt, als erstes Glied einer Kette aus gleichfalls per Doppelgriff akzentuierten Durakkorden in aufwärts gerichteter Reihenfolge. Der obligate Halbschluß vor dem zweiten Thema wird einen Ganzton höher, als F-Dur-Akkord markiert (Ausschnitt B). Und die Durchführung beginnt mit einem G-Dur-Akkord (Ausschnitt C). Der 118

Abbildung 1

Ludwig van Beethoven, Harfenquartett

Halbschluß vor der Wiederkehr des zweiten Themas in der Reprise ist logischerweise B-Dur (Ausschnitt D). Die Coda aber beginnt mit eine m akzentuierten Akkord unter dem Melodieton c (Ausschnitt E), wobei die Abweichung vom bisherigen Dur-Charakter zum verminderten Septakkord samt seinen chromatischen Versetzungen mich überhaupt nicht irremacht, was die Zusammengehörigkeit betrifft, vielmehr ein Beispiel dafür ist, wie das so in Zusammenhang gesetzte Material transzendiert, bevor es mit dem höchsten Akkord auf der Tonika, also wieder einem Durdreiklang, die Kette schließt (Ausschnitt F). Den Varianten jener Akkord-Repetition begegnen wir gleichfalls als einer Projektion weit übers ganze Stück: so unmittelbar nach der Formulierung des Kopfthemas (Ausschnitt G), und zwar in Achteln, zusammen mit einer sequenzweise gehäuften Verkürzung der Drei klangsfigur (Ausschnitt H). Im Lauf der Exposition begegnen wir noch anderen Varianten (Ausschnitte I, K), in Takt 70 als einer motivisch verhärteten Kombination aus Terz- und Repetitionsfigur (Ausschnitt L), am Ende der Exposition aber als Repetition in verschiedenen Ver größerungen: Halben und sogar Ganzen (Ausschnitt M). In der Durchführung begegnen wir diesem Repetitionstypus gar in Sechzehnteln (Aus schnitt N). Eine weitere Verdichtung scheint in solchem Stilzusammenhang nicht möglich. Statt dessen wird nun Sechzeh ntelbewegung immer enger gequantelt: in Halben durch die Ak zente, in Vierteln durch die Tonhöhenwechsel (Ausschnitt O). Diese Quantelung wird dann noch weiter getrieben, indem die Tonhöhe nun in jedem in Sechzehntel aufgelösten Achtel wechselt (Ausschnitt P). Und schließlich sogar, indem mit jedem Sechzehntel die Tonhöhe wechselt, und zwar, wie schon bei den früheren Quantelungen als Hin- und Herbewegung zwi schen Tönen im Sekundabstand. So entsteht in diesem Stadium ein quasi in Sechzehnteln flim merndes statisches Gebilde (Ausschnitt Q). Auch hier scheint ein Verdichtungsprozeß abge schlossen zu sein. Aber es ist nun klar, daß in dem anschließenden starren, oder besser: er starrten Terz-Doppelgriff jen es Flimme rn sich zum „Tenu to" verdichtet: Es ist in diesem Terzklang aufgehoben (Ausschnitt R). Es flimmert jetzt im Mikrozeitlichen weiter, und zwar für die Wahrnehmung ausdrücklich vermittelt: ein weiteres Beispiel, wie ein in die Gesamtform hineinprojizierter Typus, derjenige der Repetition, transzendiert. Beide Klänge: jener verminderte Akkord und jener Terzklang, sind absolut keine neuen Klänge; aber der Aspekt, den sie in diesem Stück jeweils repräsentie ren, verleiht ihnen nicht nur eine einmalige Bedeutung, sondern sie werden unter solch beson derem Aspekt zu absolut neuen Wahrnehmungsobjekten, sie werden, so alt sie sind, doch neu gehört. Die verschiedenen Varianten jener Dreiklangsbrechung (Takt 25, Ausschnitt S) wirken in der Exposition (Ausschnitte T, U, V) und in der Durchführung (Ausschnitt W) eher im Verborge nen. Aber unter jene r im Imaginären weiterflimmernden Terz, die ihrerseits das erste Glie d ei nes riesenhaft vergrößerten Dreiklangs darstellt (Ausschnitt X), versammeln sich nun jene Arpeggio-Varianten (Ausschnitt Y), die dem Harfenquartett seinen Titel gaben, in immer weiter verkleinerten Zeiteinheiten: Viertel, Vierteltriolen, Achtel, Achteltriolen, wobei jener mehr oder weniger unfreiwillige Wechsel der Spielweise vom Pizzicato ins Arco staccato die ArcoSpielart geradezu als klangliche Verfremdung der ungewöhnlicheren Spielart, also sozusagen als „sc hlechtes", „verhinde rtes" Pizzicato wirken läßt und so auf sei ne Weise d en Klang als kör perlich zu erfahrenden ins Licht rückt. In der Coda aber, ausgelöst mit jenem ins Verminderte verformten Doppelgriffakzent, von dem ich eben sprach, wird jene gebrochene Dreiklangsfigur vollends in eine Sechzehntelgestal t verwandelt (Ausschnitt Z), aus der sich ihre Arpeggio-Form dann vollends auseinanderfaltet 120

und schließlich verwandelt: in Figurenwerk, welches - durchaus sonst vertraut - hier als Re sultat einer solchen Transformation eine völlig neue Wahrnehmungsweise anbietet. Ich habe hier nur drei Elemente, die sich als formbildend in diesem Stück herausschälen, grob in ihrer Projektion verfolgt, aber es läßt sich auch so schon deutlich machen, wie schein bare bloße Manieren, jedenfalls vertraute Wendungen, als Aggregatzustände übergeordneter Klangkategorien nicht nur neue Bedeutung bekommen, sondern neue Formen ihrer Wahrneh mung ermöglichen, vorausgesetzt, daß wir in der Lage sind zu hören, statt bloß zuzuhören. Die Werke unserer Tradition halten in solcher Hinsicht noch unglaubliche Geheimnisse für unsere Wahrnehmung bereit. Jedes der drei hier beschriebenen Elemente hatte seine eigene Anordnung und Projektion seiner Varianten in der Gesamtform. Zugleich wirken alle drei immer wieder auf andere Weise zusammen. Und so halte ich die Formel fest: Struktur ist Gefüge von Anordnungen, wobei jede dieser Anordnungen die zeitliche Projektion eines Klangaspekts, anders gesagt: die Streuung von charakteristischen, zum Teil weit voneinander verschiedenen Varianten eines klingenden Charakters darstellt. Im zweiten Beispiel, Anton Weberns viertem Stück aus den Fünf Orchesterstücken op. 10, haben wir es scheinbar nur noch mit Trümmern aus dem alten traditionellen Sprachzu sammenhang zu tun (Abb. 2, S. 122). Das Trümmerfeld aber erweist sich als hochdifferenziertes Kraftfeld: Der sechstönigen Mandolinenfigur des Anfangs (a) entsprechen am ande ren Ende eine fünftönige, rhythmisch bereits aufgeweichte, im Metrum nicht mehr klar ver ankerte Geigenmelodie (b), dazwischen eine viertönige Trompetenfigur (c) und eine zweitönige Posaunenwendung (d). Der noch ausstehende Extremfall einer Melodie-Wendung aus einem einzigen Ton steht in der Bratsche am Anfang. Die expressive Artikulation (cresc./dim.) weist klar auf diese Zusammengehörigkeit hin (e). Dieser einzelne Bratschenton bildet aber zugleich den Extremfall Null unter dem Aspekt der rhythmischen Innengliede rung. Belebtere Varianten in dieser Hinsicht sind die beiden Klarinetten-Einsätze: der gehal tene, aber in einen Triller aufgelöste Ton (f), und zuvor der synkopische, regelmäßig belebte, sechsmal angeblasene Ton (g), und schließlich (nach einer gestrichenen, zwei geblasenen Varianten in solcher Skala des rhythmisierten Tenuto) eine Kombination aus zwei ver schiedenen Regelmäßigkeiten des siebenmal angezupften Mandolinentons: Achtel und Achteltriolen am Vermittlung Ende des Stücks Ohne die durch(h). diese schon etwas unregelmäßiger rhythmisierte Mandolinen figur würde es schon nicht mehr so leichtfallen, auch die übrigen, noch gröber rhythmisierten Tonrepetitionen von kleiner Trommel, Harfe und Celesta als Glieder der selben Familie zu be trachten. Und es empfiehlt sich, von dieser Mandolinenfigur ausgehend die weiteren Unregel mäßigkeiten wieder rückwärts abzustufen: Dann bietet die Harfe mit ihren fünf Tönen in lau ter verschiedenen Abständen den größten Unregelmäßigkeitsgrad (i), danach käme die kleine Trommel mit drei unregelmäßigen Schlägen (k), und nun ließe sich nicht nur die Celesta mit ihren zwei Sekundklängen problemlos einreihen (1), sondern sogar noch die Harfe mit ihrem einzigen, einfach gezupften Dreiklang am anderen Ende dieser Skala (m); sie steht am Anfang ihrem Antipoden, dem gehaltenen Bratschenton, noch völlig unvermittelt gegenüber. Gerade diese letzten Tongruppen aber machen noch auf andere Weise deutlich, wie hier uns bekannte durch ihren spezifischen Kontext sich fürnicht die Wahrnehmung neu bestimmen. Denn der Klänge scheinbare Fremdkörper kleine Trommel (k) ist nur als rhythmische Figur ver mittelt eingebettet, sondern an ihn als Extremfall von Geräusch in diesem Stück knüpfen mit jener nicht geschlagenen, aber angeschlagenen kleinen Sekund der Celesta-Einsatz (1) und

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Abbildung 2

Anton Webern, Orchesterstück op. 10 Nr. 4

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daran wieder die hart und obertonarm, nämlich flageolett gezupften Impulse auf der Harfe (i) und schließlich die normal gespielte klangvoll gezupfte Mandoline an (h). In solcher gegenseitigen Vermitteltheit auf engstem Raum wirkt nun ein Instrumentalklang als Verfremdung des anderen: Auf die Anfangsmelodie aus harten Impulsen antworten der im mer noch relativ gewaltsam hervorgepreßte Trompetenton und am Ende die weich hervorge brachte Geigenmelodie. Die Posaune ist eine verfremdete Trompete, die Harfe ist eine ins quasi Gläserne transformierte Mandoline usw. Alles ist so vertraut und zugleich neu, dank solcher überlagerter Projektionen, also dank der Form. Dabei ist das Ganze nichts als eine Serenade im Mondschein des Flageolett-Klangs, mit herübergewehten Tönen von dort, wo die schönen Trompeten blasen und die todkündende Po saune antwortet, bis die Militärtrommel zum Zapfenstreich ruft, die Idylle aufstört und sich der Liebhaber, die Mandoline unterm Arm weiterzirpend, davon macht, während die Angebetete ihm mit einer Geigenfigur nachwinkt. Als Hörer haben wir keine Zeit, uns diesem Idyll hinzugeben - wie dies etwa bei Mahler möglich wäre, von dem das Vokabular meiner Interpretation herrühren mag. Dies hier ist Mah ler aus der Vogelperspektive, radikal auf knappste Signale reduziert, verabreicht wie ein un aufgeblasener Luftballon zum Aufblasen daheim, und so ist die Musik Weberns vermutlich als innere Erfahrung so weit dimensioniert wie die symphonische Welt Gustav Mahlers, nämlich unendlich. Aber entscheidend ist nicht die intellektuelle Rekonstruktion der Idylle, sondern schon eher ihre gleichzeitige Verweigerung als behaglicher Genuß, wichtig auf jeden Fall solche Konzen tration zur strukturellen Situation. In ihr ist beides: Wehmut, Absage und Kraft zu neuem Aus druck, den uns Webern denn auch nicht schuldig geblieben ist. Weberns Stück ist, wie jedes in sich schlüssige Werk, nicht nur eine einzige geschlossene Klangstruktur (eine Bezeichnung, die den Geist eher zum intellektuellen Protokollieren des Wahrgenommenen anstiften dürfte), sondern genauso zutreffend und mir genauso lieb wäre es, eine solche Gesamterfahrung als e i n e n Strukturklang zu bezeichnen: Wir ahnen dabei die klanglich-expressive Einheit, und bei solcher Gesamterfahrung mag die Intuition dominierend beteiligt sein. Und so wenig wie in solchem Erleben das Erlebnis der Form vom Erlebnis des übergeord neten Klangcharakters („Sound" würden die Popmusiker sagen), anders gesagt: So wenig sich Konstruktion und Ausdruck voneinander trennen lassen, so wenig läßt sich beim Hören Intel lekt und Intuition trennen: Das eine beflügelt das andere. Jener Terminus Strukturklang, den ich - in Umstellung des Wortes Klangstruktur - hier ein geführt habe, geht von einer Klangvorstellung aus, die - eben als mehrdimensionales Gefüge von Anordnungen - sich nicht als platter akustischer Reiz schnell mitteilt, sondern sich viel mehr erst allmählich erschließt in einem vielschichtigen, vieldeutigen Abtastprozeß an der vorüberziehenden Konstruktion mit ihren charakteristisch aufeinander bezogenen Klangkom ponenten. Die mir hilfreichste Bezeichnung für solche Form von Strukturerlebnis ist die des Arpeggios: So wie der Harfenist einen „Klang" auf seinem Instrument arpeggierend, also im Nacheinan der der einzelnen Töne, und dabei zugleich sich selbst vorstellt, oder gar über alle Saiten von oben bis untenentspräche) gleitet (wasund technisch eher Glissando heißen vorstellt, müßte, aber ebenteilt einem leiterarpeggio so seindann Instrument, seinen Klang ebenso sichTonein musikalisches Werk als Klangstruktur und zugleich als Strukturklang mit durch eine Art Riesenarpeggio auf jenem imaginären, vom Komponisten eigens gebauten Klang-Form-Instru-

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ment. Jede einzelne Saite auf dieser imaginären Harfe wäre vom Komponisten nicht bloß ei gens ausg esucht, sondern als mehr oder weniger komplexes Gebilde aus den vorhandenen Mit teln neu hergestellt. Aber auch die Anordnung der Saiten wäre wesentlicher Teil dieser Kon struktion. Vielleicht bestehen manche solcher imaginärer Saiten ihrerseits aus kleinen Binnen instrumenten, quasi aus Saitenbündeln. Durch charakteristische Arten der Verwandtschaft zwischen bestimmten näher oder weiter auseinanderliegenden Saiten ergäben sich innerhalb des Arpeggios die verschiedensten Arten von Brückenschlägen. In solchem Abtastv organg tei lt sich nicht nur die Struktur des Instruments, sondern indirekt auch die des Instrumentenbauers und Instrumentalisten mit: diejenige des Komponisten selbst. Und so halte ich jene Modell Vorstellungfest: von Struktur als Polyphonie von Anordnungen, die es durch die Wahrnehmung abzutasten, und die es in einem solchen Abtastprozeß zugleich als Ausdruck und als strukturelle/klangliche Idee zu erfahren gilt. Struktur als Polyphonie von Anordnungen: Jeder solchen Anordnung liegt eine wie auch im mer abgetastete Skala von klingenden Ereignissen zugrunde; Ereignissen, die bei aller Ver schiedenheit dennoch alle zusammen einem Charakter, einer sie verbindenden Klangidee ver pflichtet sind. Eine solche Idee gibt sich demnach nicht ohne weiteres schon im einzelnen Er eignis zu erkennen, so wenig wie ein Einzelner genügt, um die Familie vorzustellen, der er angehört. (Kann sein, daß er in diesem Moment überhaupt nicht seine Familie vertritt, sondern vielleicht seine Nation, seine Rasse, seinen Verein. Erst im allmählichen Zusammenschluß prä zisiert und ergänzt sich seine besondere Rolle und Bedeutung.) Ein anderes hilfreiches Bild, nach „Harfe" und „Familie", wäre dasjenige einer imaginären Orgel, weil dort nämlich jene polyphon sich überlagernden Familien als getrennte Manuale mit jeweils ganz typischen Skalen vorstellbar wären. Ein solches Ineinanderwirken von Manualen läßt sich an einem Ausschnitt aus meinem Schlagzeugkonzert Air aufzeigen. Der Gesamtaspekt, die Idee, die im ganzen Werk wirkt und alle „Manuale" einander zuordnet, ist im Titel angedeutet: Air ist eine gesungene Weise, eine Liedform, Air ist ein populäres Stück von Bach, Air heißt aber auch Luft, bezeichnet also das, was beim Blasen verbraucht und gespeichert und dennoch zugleich in traditioneller Musik vor dem Hörer um des schönen Tones willen versteckt wird. In Air wird das übliche Verhältnis von Aktion und Klangresultat umgekehrt und zugleich erweitert: Zwar dient die Aktion einer sehr präzis bezeichneten Klangvorstellung, verschwindet aber nicht dahinter; vielmehr macht nun das Klangresultat durch seine besondere Art von Körperlichkeit auf die zugrundeliegende Ak tion aufmerksam, zugleich macht sie die mechanischen und energetischen Bedingungen be wußt, unter denen das Klangresultat zustande kam: Der Geigenton gibt nicht Auskunft über seine konsonante oder dissonante Bedeutung, sondern er zeigt an, was da geschieht; zeigt, wie unter ganz bestimmten Druckverhältnissen das Bogenhaar über eine Saite von bestimmter Ma terialbeschaffenheit, und zwar auf einer ganz bestimmten Höhe zwischen Steg und Griffbrett, auf eine ganz bestimmte Weise sich bewegt, nämlich „streicht". Solches Hören ist natürlich dem prosaischen Alltag entlehnt, wo wir Dinge abklopfen, um am resultierenden Klang ihre Materialbeschaffenheit zu prüfen (also nicht, um den Klang zu genießen), und wo uns das leise Knirschen beim Zertreten einer Schnecke mehr erschreckt als ein aufheulender Düsenmotor. In Anlehnun g an die Technik der „Musique concrete", die solche Alltagsgeräusche auf Band speichert und in musikalischen Collagen verwendet, und im Hinblick darauf, daß bei mir sol che Vorgänge sich dagegen in den realen instrumentalen Aktionen abspielen, habe ich solche Musik „Musique concrete instrumentale" genannt. Natürlich kommen hierbei ungewohnte, oft 124

radikal abgewandelte Instrumentaltechniken ins Spiel. Die normale Spielweise ist als ein Spe zialfall auch mit von der Partie, aber in völlig verändertem Zusammenhang gegenüber dem, dem sie entstammt. Der reine Ton als tonaler Heimatvertriebener hat in solch neuem Zusam menhang dem reinen Geräusch an ästhetischer Würde nichts mehr voraus. Air, 1969, also zur Zeit der Studentenunruhen entstanden, als ein Beispiel ästhetischer Ver weigerung und Protestes gegen eingeschliffene Orchesterkulinarik von den einen begrüßt, von den anderen heftig angegriffen, im Grunde aber von beiden Seiten einseitig mißdeutet, war für mich in erster Linie ein aufregendes Abenteuer des Hörens mit noch kaum erschlossenen Klangbeziehungen, aufregend umsomehr, als dieses Abenteuer sich eben nicht im exotischen Abseits elektronischer Klänge abspielte, sondern im vertrauten symphonischen Apparat, sozu sagen in der Höhle des Löwen. Mein Diagramm (Abb. 3, S. 126) besteht aus drei Zeilen, über denen eine Art rhythmischer Leiste, ein „Zeitnetz", die rhythmische Gesamtartikulation andeutet, die aus den darunter angegebenen Überlagerungen resultiert, also sozusagen den Rhythmus des „Arpeggios" über die gesamte komplizierte „Harfe" hinweg. In der ersten Zeile überlagern sich die Manuale (oder Familien) 1 bis 4b: nämlich eine Sequenz aus unterschied lichen Wischbewegungen über Fellinstrumente, eine Sequenz aus komplexeren Rhythmen von Gertenschlägen durch die Luft, endend mit einem großen Ritardando bis ins Unhörbare, eine dritte kurze Sequenz, nämlich eine rhythmische Struktur aus geblasenen (!) Gueros, und schließlich von der Mitte dieses Teils bis zu seinem Ende hin eine Sequenz aus mehr oder weniger tonlos geblasenen Kombinationen auf Flöten und Blechblasinstrumenten. Die im folgenden Abschnitt sich überlagernden Familien 5 bis 9 verbindet zum Teil ein ge waltsamer Gestus: so in der fünften Familie jene Anordnung von zerknackten Gerten (eben je nen zuvor durch die Luft gepeitschten), so eine weitere Gruppe von kleinen Rhythmen aus mehr oder weniger stark besetzten Streichergruppen mit ihren Preßaktionen des Bogens auf den Saiten, so eine Sequenz von knackenden Waldteufel-Einsätzen (Waldteufel, das sind kleine Fellinstrumente, in deren Fellmitte eine Saite geknüpft ist, die zu einem Griff führt, den sie um wickelt, so daß Reibebewegungen am Griff sich auf das Fell übertragen und dort verstärkt wer den). Alle diese sogenannten gewaltsamen Aktionen sind auch zugleich erstickte Aktionen: Wo die Saite gepreßt wird, gibts nach dem ersten Ruck kein Vor und kein Zurück mehr. Die darauf folgende Stille ist die des Innehaltens. Der einzige in dieser Hinsicht bewußt abweichende, quasi atmende Einsatz ist derjenige der auf den Resonanzkasten geklopften, nachhallenden Harfe (9). Kontrapunktiert werden diese gewaltsamen Vorgänge durch gewaltlose Reminiszenzen, in denen sich zum Beispiel der tonlose Fellwisch-Gestus fortsetzt (8), oder durch zarte Tupfer der springenden Bogenstange auf den Saiten der Streicher (6). Die folgende Fermate, als Sammelpunkt von so viel erstickter Stille, ist natürlich voller Musik, voll negativem Nachhall. Als eine Art Stille der „schwarzen Löcher" ist dies eine andere Art Stille als die des unhörbaren Weiterschwingens am Ende des ersten Abschnitts. Die folgenden sich überlagernden Gruppierungen sind rnühsamer zu beschreiben. Auf die Spannung der gewaltsam erstickten Stille reagiert die mechanisch müheloseste und span nungsärmste Form von Crescendo-Einblendung, nämlich durch elektronische Orgel und elek trische Gitarre, wo also die Watt-Leistung dem Menschen die physische Anstrengung abnimmt. Die Einsätzen siebte Gruppe, Waldteufel-Sequenz, setzt sichSaiten-Akzente, über jene Fermate hinweg mit in drei weite ren in derdieGruppe 10 fort: Die gepreßten kombiniert ausgehal tenen, quasi perforierten Tenuto-Aktionen des gepreßten Bogens, greifen so den Tenuto-Klang der über die Saitenumwicklung geriebenen elektrischen Gitarre auf. 125

Die Gruppe 11 bildet eine Sequenz von sich häufenden geblasenen Tonstößen, beginnend mit dem hohen f im Horn und sich fortsetzend in anderen Staccato-Bläsereinsätzen, deren ge rade bei Blechbläsern natürlich gepreßter Ansatz nicht mehr und nicht weniger fremd wirkt als die benachbarten gepreßten Streichergeräusche. Innerhalb der Gruppe 12 schließlich begegnen sich verschiedene natürliche und unnatürliche Pizzicati wie die hinterm Steg von Violinen, auf der Harfe, auf der Gitarre, mit erstickten Saiten, mit offenen Saiten, an den Klaviersaiten, gar an der Saite jener vorhin beschriebenen Waldteufel, schließlich am Instrument des Solisten, der Ektara, auf welchem dieser seine Solokadenz beginnt. Weitere Gruppen, etwa jene Verbindungen (13) von Guero, erstickt arpeggierter Gitarre und Ratsche als besonders grobe Perforationen, dann die mit abgeteiltem Bogenhaar die erste Saite reibenden Celli (15) und schließlich den Kontrast in Form einer letzten Reminiszenz der ge strichenen Felle, der tonlosen Flatterzungen (Hörner, Trompeten und Posaunen) (16) erwähne ich hier nur, ohne ihre ergänzende Rolle im Klang- und Formbild weiter kommentieren zu kön nen. Das ganze so hier Beschriebene ist eine Form und zugleich ein Klang, eine Struktur und zugleich wiederum ein Partikel im Gesamtklang, in der Gesamtform. Erwähnt sei noch, daß dem eine quasi einstimmige Folge von Schlägen vorausgeht: Schläge gegen resonierende und weniger resonierende Materialien, Schläge, in denen das jeweils abge klopfte Material im Verhältnis zu seiner Umgebung seine eigene spezifische Beschaffenheit akustisch zum Bewußtsein bringt, und die schließlich in jene anfangs beschriebenen Gerten schläge durch die Luft, als einem auf seine eigene Weise resonierenden Material, münden. Eine andere Art von Hörerfahrung steht im folgenden Beispiel (Abb. 4, S. 128) mit einem vergleichbaren Material wie in Air im Mittelpunkt, nämlich in Fassade, einem Orchesterwerk aus dem Jahr 1973, welches ich einen heimlichen Marsch nenne, weil jenes Zeitnetz, das alle Teilstrukturen überspannt, jetzt selbst einen marschähnlichen, metrisch vereinfachten Rhyth mus darstellt, der allerdings im Lauf der Form zum Teil radikal gedehnt, zum Teil radikal zu sammengedrückt wird. In dieses Zeitnetz werden nun Klangfelder hineingehängt. Da diese Klangfelder auch wieder Komponenten von sich überlagernden Anordnungen sind, geht die marschmäßige Wirkung zugunsten der sich mitteilenden polyphonen Klangbeziehungen teil weise wieder verloren. Als heimlicher Puls aber wirkt der Marschrhythmus weiter. Je breiter der übergeordnete Rhythmus gedehnt, also je weiter die Maschen des Zeitnetzes werden, desto intensiver dringt das Ohr in die mehr oder weniger groben Binnenstrukturen ein, nimmt darin Prozesse wahr, die als natürliche Rauhigkeit von Klangflächen nicht eigentlich komponiert, sondern nur wahrnehmbar gemacht sind. Der Extremfall ist dabei die Fermate zu Beginn der Abbildung 4: Ein erst 140, dann 90 Sekunden lang dauerndes Bandrauschen, dessen Zerklüf tetheit jetzt plötzlich Teil der hier durch andere Strukturen sensibilisierten Wahrnehmung ist, wobei von der zweiten Spur, auf der eine Art Familienidylle aufgenommen war, Kinderlachen, Geschrei usw. herüberdringt. Diesem steht als anderes Extrem die radikale Verdichtung des übergeordneten Rhythmus, sozusagen in zackigen Sechzehnteln, gegenüber. Die verschiedenen Gruppen, Familien, Manuale, zwischen denen die Sechzehntelbewegung springt, bleiben in diesem Schlußteil immer klar definiert: Es sind lauter sogenannte Tutti-Va rianten: alle Piccoli, alle Klaviere, alle hohen Instrumente, alle Xylophone, alle Zuspielbänder (also zwei) usw., kurz: alle zusammenfaßbaren Elemente in bezug auf eine Eigenschaft, was bedeuten kann: alle elektrischen - nämlich nur die einedaß vorhandene. Die Sechzehntelschläge folgenOrgeln dabei so dicht aufeinander, kein Eindringen in den ein zelnen kurzen Klang möglich ist: Das Ohr kann diese so schnell aufeinanderfolgenden Schläge kaum oder gar nicht auseinanderhalten und wird erst in den Pausen, die zwischen den Gruppen 127

Abbildung 4

liegen, versuchen, sich von dem Geschehen ein differenzierteres Bild zu machen. Das Ohr wird durch Tempo, Masse, Lautstärke quasi geblendet. In beiden Extremfällen, demjenigen der Fer mate, also des viel zu langen Zeitwertes, und demjenigen der allzu dichten Folge von quasi sich überschlagenden Ereignissen, wird ein Strukturerlebnis eher halluzinatorisch als real vermit telt. Die beiden letzten Beispiele entstammen meiner Tanzsuite mit Deutschlandlied. Das Zeit netz, von dem ich im vsrcen Beispiel als übergeordnetem Rhythmus (Struktur-Arpeggio) sprach, wird hier reguliert von rhythmischen Gebilden, die wir als Skelette wohlvertrauter hei matlicher Erfahrung wiedererkennen können: Im ersten Fall, der „Einleitung" (Abb. 5, S. 130), ist es abgeleitet aus dem Gestus des Deutschlandliedes selbst. Dieses wird ausgeführt in zeitlich weitgespreizter Projektion auf der Tastatur eines imaginären Saiteninstruments, bei welchem Pizzicato-Einsätze strikt gekoppelt sind entweder mit scharfen Preßaktionen oder mit Pizzicato-Doppelgriffen hinterm Steg (Reihe 2 und 3). Der feste Ton bildet hier eher eine Art Kolorierung jener verfremdeten „kon kreten" Klänge beziehungsweise Geräusche. Während so die erste Zeile auf diesem imaginären Instrument buchstabiert wird, wird sie nicht nur zweimal transponiert, so als ob das Instrument während des Spielens umgestimmt würde - wobei übrigens auch auf die Oktavlagen kein Verlaß ist -, sondern jenes „Instrument" selbst wird demontiert: Der zuvor dominierende Geräuschanteil, der die Melodie trübte, reduziert sich zu einem bloßen Klopfgeräusch auf dem Griffbrett; so, daß die Melodie erkennbar wird, es sei denn, daß durch die Überlagerung der ersten Zeile mit ihrer Wiederholung die Wahrnehmung ins Punktuell-Strukturelle so sehr abgelenkt würde, daß sie auf das Zitat nicht achtet. Die überlagernde zweite Zeile erscheint noch weiter gespreizt auf einer zweiten imaginären Tastatur von Pizzicato-Vierklängen (Reihe 1), deren Stufenskala aus nach unten sich erwei ternden Intervallabständen besteht, so daß der ursprüngliche Tonhöhenverlauf des Liedes ent sprechend umgeformt, quasi verbeult wird. Die Wiederholungszeile überdauert also die erste. Aber auch dieses zweite imaginäre Instrument zerfällt, und der Schluß der ersten Liedhälfte, auf der Dominante, mündet in eine tonlose Streichbewegung ad infinitum, tritt ostinato auf der Stelle, bis das Ganze wieder ins Zittern gerät und fast explosionsartig den zweiten Teil („von der Maas bis an die Memel") als vertrauten Rhythmus aus Fußball-Schlachtfeldern ausspuckt (Abb. 6, S. 131), um von dort an in den Walzer hineinzuleiten. Die Frage, ob jeder hier auch das Deutschlandlied wiedererkennen kann, ist mir, der ich wie gesagt nicht etwas sagen, sondern etwas machen will, weniger wichtig als die Tatsache, daß hier eine Struktur ihr Zeit- und Klangnetz von dem tief in uns verwurzelten Lied borgt und steu ern läßt, eine Struktur, die nicht weniger Logik in sich birgt als jedes serielle Prinzip. Das Re sultat ist so komplex wie jede andere reine Struktur: eine Landschaft der Impulse, in die man sich beim Hören verlieren kann, und in der man doch spürt, wie man vom Formgesetz weiter getragen wird: Dieses Formgesetz, mit allen Brüchen und Brechungen, ist dasjenige des Deutschlandlieds, und so gibt es - wie unbewußt auch immer - in uns eine Wiederbegegnung. Im letzten Beispiel schließlich, dem Siciliano (Abb. 7, S. 132/33), ist das Zeitnetz erneut von Vertrautem bestimmt, nämlich vom Siciliano-Rhythmus mit mannigfaltigen Varianten. Die notdürftige Bezeichnung des Materials nach der Art seiner Hervorbringung (notdürftig, denn unter die Bezeichnung „geschlagen" oder nachher extrem unterschiedliche Aktionen) - solche Kenntlichmachung reicht„gepreßt" nicht aus,fallen um die hier zugrundeliegenden Erfah rungskategorien zu beschreiben; denn mindestens so wichtig ist deren vertikale Kombination untereinander und vor allem die Art des Zusammenschlusses zu mehr oder weniger plastischen 129

Helmut Lachenmann,

Tanzsuite mit Deutschlandlied, Vorspann, Takte 017-025

Helmut Lachenmann,

Siciliano aus Tanzsuite mit Deutschlandlied, Diagramm

rhythmischen Gestalten: So geht zum Beispiel quer durch all die verschiedenen Hervorbringungsweisen eine Projektion (eine „Familie") aus streng geschlossenen Rhythmen, etwa der punktierte Siciliano-Rhythmus, auf einem einzelnen Becken geschabt, so in den Takten 73,76, 81, 92, woanders als Pizzicato-Gruppe oder als Figur aus erstickten Schlägen (Takt 70), schließlich aber im zweiten Teil des Siciliano arco gespielt als Teil des Bach-Zitats aus der Hir tenmusik des Weihnachtsoratoriums (Takt 104ff.), bis hin zum Solo des erstickten Klaviers, welches im vierten Teil dominiert (Takt 118ff.). Neben solchen „geschlossenen" Rhythmen haben wir es zum einen mit weniger geschlosse nen zu tun: Rhythmen, deren einzelne Impulse auf verschiedene, sich hoquetusartig ablösende Instrumente verteilt sind; dem stehen zum anderen aber gleichmäßig („periodisch") pulsierende Figuren und schließlich in sich unbewegte Tenuto-Aktionen, quasi kleine Orgelpunkte, ge genüber. Im zweiten Stadium, ab Takt 101, kristallisiert sich das Ganze zum gestischen Schatten der bekannten schon erwähnten Hirtenmusik: Um mit Wilhelm Busch zu sprechen (was auch schon für das Deutschlandlied-Zitat in der Einleitung galt): „Hier kann man sie noch erblicken, fein geschrotet und in Stücken, doch sogleich verzehret sie Meister Müllers Federvieh." Im dritten Abschnitt, Takt 110, hat sich das Material auf den Saitenklang verengt, wobei das Ausklammern von geblasenen und geschlagenen Spielweisen den inneren Reichtum etwa in nerhalb der Pizzicato-Landschaft (erstickt, flageolett, glissando, als Doppelgriff hinter dem Steg, als Harfenklang usw.) wirksam Nurauszwei sindTönen geblieben: die scharrende Marimba und die erst erstickte kleinemacht. Sekund den Fremdkörper beiden höchsten des Kla viers. Diese klein e Sekund wird im vierten Abschnitt (Takt 118) zum Zentrum, auf welches sich die Musik reduziert, gelegentlich durch Einwürfe der Solisten und der geriebenen Marimba kontrapunktiert. Mit dieser totalen Verengung auf den hohen Klavierklang öffnet sich erneut eine hochdifferenzierte Wahrnehmungsweit durch verschiedene Akzentuierung immer dessel ben Klangs und durch seine gleichzeitige Erstickung und Pedalisierung mit abgestuften Hall nuancen, die man nicht einfach „komponieren" kann, sondern deren Erfahrung man erst durch Aussperren, Wegdämpfen des Darüberliegenden freilegen muß. Und so bieten diese aufeinanderfolgenden Abschnitte des Siciliano eine zunehmende Veren gung des Materials und zugleich eine zunehmende Erweiterung der Differenzierungs-Erfahrung. Wer in der Vielfalt einer Landschaft den Blick auf einen einzelnen Baum richtet, wird darin weitere unendliche Landschaft undihm wenn er seinen neue BlickHorizonte erneut verengt auf dieeine Betrachtung eines einzigen Blattes,erblicken, so werden nocheinmal - des Sehens und des Denkens - aufgehen, und ein Blickwinkel wird den anderen in neuem geheim nisvollen Licht erscheinen lassen. Im Folgenden (nicht mehr hier abgebildet) findet die Heiserkeit zur Heiterkeit zurück, die Musik wagt ein Tänzchen, aber ihr Vehikel: der Siciliano-Rhythmus, zerfällt und bröckelt hin über zum 4/4-Takt des folgenden Capriccios, worin sich als einem weiteren vor lauter Buntheit schon wieder grauen Stadium jene Projektion fortsetzt, die bestimmt ist von der Dialektik von Hörerweiterung durch Materialverengung. Möglichkeiten und Schwierigkeiten des Hörens - ich habe mich nicht ans Thema gehalten, aber dieses Thema wird sich auch nicht an mich halten. Es wird sich uns mit jedem neuen Werk und auch mit jedem traditionellen Werk neu stellen, und es wird uns in jeder neuen Musikbe gegnung neu herausfordern. Jenes Paradox: der Sprung ins Freie durch Eindringen in die Höhle des Löwen, des eigenen vergesellschafteten, unfreien Ichs, mag mein Privatproblem sein: An ihm aber, so meine ich, 134

läßt sich exemplarisch jene Zusammengehörigkeit von Schwierigkeiten und Möglichkeiten des Hörens bewußt machen, die eben auch Schwierigkeiten und Möglichkeiten des Denkens, des Fuhlens, des Erkennens, des Kommunizierens in allen Bereichen sind. Ein Schlüssel zum Eindringen ins zugleich Bekannte und erneut Unbekannte scheint mir eben jener Struktur-Gedanke zu sein, wie ich ihn schematisch und - vielleicht einseitig illu strierend - angedeutet habe: Musik als Gefüge von Anordnungen, Arpeggio auf jenem ima ginären Instrument, in dem Klang und Form ineinander aufgehen, einander neu bestimmen, Landschaft, die es durch Wahrnehmung abzutasten gilt, und in der wir zugleich jene vorweg in uns herrschenden Ordnungen als aufgehobene, als durchbrochene, als überwindbare erkennen, vielleicht aus solcher neu gewonnenen Freiheit uns mit ihnen versöhnen, ohne uns ihnen erneut zu unterwerfen. Der einzelne, durch solch strukturelle Brechung für die Wahrnehmung freigelegte klingende Moment ist geheimnisvoll genug. Er ist selbst eine Struktur, und er erweist sich seinerseits als zusammengesetzt aus Strukturen, er ist Produkt von dahinter wirkenden Strukturen, die ihn ausgelöst haben, und als Komponente einer Werkstruktur bleibt er ambivalent als verwandel tes Objekt, als Nachricht von jenen Strukturen, denen er einst entstammte: alles Wirklichkei ten, auf deren Präsenz wir beim Hören bewußt oder unbewußt mit unseren Empfindungen rea gieren. Ich meine, es gibt in diesem Sinne keine Musik, die nicht sofort „verstanden" wird. Meine Definition von Schönheit als „Verweigerung von Gewohnheit" mag gewiß umso pro vozierender wirken, als sie eben den Schönheitsgedanken nicht moralisch, calvinistisch, masochistisch abschafft, sondern ihn im Gegenteil mit all seinen Tugenden von Reinheit, Klarheit, Intensität, Reichtum, Menschlichkeit in Anspruch nimmt, aber eben dort in Anspruch nimmt, wo so mancher selbsternannte Hüter abendländischer Kultur meint sich alterieren zu müssen, einfach, weil ihm das Ganze hier zu lästig ist. Und so geht es eben nicht um das Hören einer Musik, die den traurigen Weltlauf durch Kratzgeräusche beklagt, aber auch nicht um eine Musik, die vor dieser Welt in irgendeine Klangexotik sich flüchtet, sondern um Musik, bei welcher unsere Wahrnehmung sensibel und aufmerksam wird im Grunde auf sich selbst, auf die eigene Strukturhaftigkeit, und die darüber hinaus versucht, den wahrnehmenden Geist sensibel zu machen für jene Strukturen der Wirk lichkeit, auf die ein solches Komponieren reagiert: Musik also, die sich auf das Abenteuer ein läßt, den Begriff Schönheit unter veränderten, sprachlosen Bedingungen nochmals zu fassen in der berühmten Hoffnung, daß, was von Herzen kommt, trotz aller Sprachlosigkeit auch wieder zu Herzen gehe.

1985

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Von verlorener Unschuld „Suche immer weiter aber niemals suche schlau!" (Luigi Nono 1960 in einem Brief an den Verfasser) Daß Komponisten es hinweg fertig bringen, sich anübers einenKomponieren Tisch zu setzen, um - ist über unvermeidliche ästhetische Barrieren - miteinander zu reden, - zumindest für westdeutsche Komponisten - alles andere als eine Selbstverständlichkeit, obgleich uns wohl nie jemand daran gehindert oder sich wie auch immer maßregelnd eingemischt hätte. Ausnahmen bestätigen die Regel: etwa der Versuch eines „Nach-Donaueschingen" durch Christof Bitte r und Josef Häusler und einige andere, im allgemeinen durch Nichtkomponisten mehr oder weniger sanft erzwungene/erschmeichelte Begegnungsgelegenheiten. Selbst in Darmstadt, wo sich noch Stockhausen, Nono und Pousseur in den fünfziger Jahren einträchtig auf einer Wiese beieinandersitzend fotografieren ließen, blieb es in der Folge bei flüchtigen, oft durch Profilierungsprobleme verkürzten Wortwechseln coram publico mit daraus resultieren den unerledigten Animositäten für die Folgezeit, bei bloß angedeutetem Meinungsaustausch also, der in Form von literarisch verformten Polemiken für die Öffentlichkeit weniger lehrreich (was ja auch hätte sein können) als im fragwürdigen Sinn unterhaltend war. Über die Gründe und Hintergründe solcher Gesprächsenthaltsamkeit, die gewiß auch etwas mit Angst, Identitätsproblemen und der zunftüblichen Egozentrik zu tun haben dürfte, ließe sich eine eigene Gesprächsrunde eröffnen, zumal die jetzige Begegnung hier in Berlin die Ver mutung nicht widerlegt, daß solche Kommunikation unter Komponisten letztlich doch unmög lich ist. Was uns hier zusammengeführt hat, war letztlich höhere Gewalt, oder besser: höhere Gewaltlosigkeit. Und man kann nicht jedesm al ein bankrottes System verabschieden, um in der damit verbundenen Euphorie zur gegenseitigen Zuwendung und Selbstbesinnung bereit und so gesprächig zu werden. (Aber damit tue ich vielleicht all den privaten, nicht in die Öffentlich keit dringenden Einzelinitiativen zum Gedankenaustausch Unrecht, die es im Umkreis jedes einzelnen von uns eben doch auch gibt.) In der Erwartung dennoch, daß sich solche Begegnungen wiederholen und fortsetzen, be nutze ich diese Gelegenheit, um, auf meine Weise, ein paar empfundene Sachverhalte anzu sprechen und in eine wann und wie auch immer mögliche Diskussion zu werfen, die das Kom ponieren, sein Selbstverständnis heute, betreffen. Ich fasse diese empfundenen Sachverhalte in vier provisorische Thesen von verschiedenem Gewicht und verschiedenem Maß von Eigen ständigkeit, und egal, welche Art von Hierarchie oder kausaler Zuordnung unter ihnen besteht: Für mich gehören sie zusammen. Die erste These - die zentrale - vereinfacht bewußt einen komplizierten Sachverhalt und lautet: Musik und Musikdenken haben spätestens in diesem zu Ende gehenden Jahrhundert unwiederbringlich ihre Unschuld verloren. Die zweite These verkompliziert bewußt einen ver mutlich sehr einfachen Sachverhalt: Hören, in diesem Sinne aus alter Unbefangenheit aufge schreckt, muß heißen: sich Systemen aussetzen. Die dritte gehört unmittelbar dazu und lautet: Komponieren heißt, im Entwerfen von Systemen vorgegebene Systeme durchbrechen. (Der Begriff System ist möglicherweise demjenigen suspekt, der darunter nichts anderes als in sich geschlossene Hierarchien zu verstehen gewohnt ist. Statt System hätte ich möglicherweise auch schlichter Zusammenhänge oder Ordnungen sagen können. Zumindest der Begriff Ordnung 40

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jedoch erfaßt für Komponisten wohl nur den materiellen Kern, das heißt nur einen Teil dessen, was sich an Konnotationen, Implikationen, Unter-, Neben- und Überordnungen, vielleicht auch an charakteristischen Unordnungen über das hinaus ergibt, was der Komponist unmittelbar beim Arbeiten unter seinen Händen hatte. Aber nie kontrolliert der Komponist das Ganze, eher kontrolliert das Ganze ihn und wird dabei allenfalls von ihm überlistet. Und ein vom Kompo nisten wie auch immer stipuliertes musikalisches System bewährt sich doch wohl dadurch, daß es dem Komponisten selbst über den Kopf wächst.) Schließlich die letzte These: Den einmal in diesem Sinn sensibilisierten, komponierenden Komponisten geht dies alles nichts an. Am Ende „gehorchen wir unseren Dämonen", wie Luigi Nono gesagt hätte. Musik hat ihre Unschuld verloren. Diese Formulierung mag leichtfertig erscheinen, zumal sie scheinbar unser traditionelles Erbe abschätzig bewertet. Gemeint ist mit „Unschuld" der im Lauf der Geschichte gewachsene Glaube an die a-prioriSprachfähigkeit der musikalischen Mittel für das erlebende Bewußtsein. Was uns im Kultur leben ebenso wie im Alltag musikalisch umgibt, ja die Institution Musik selbst, lebt mit all ihren Erscheinungen, Einrichtungen und - davon genährt wie gleichermaßen diese nährend die Liebe der Menschen zur Musik in unserer Zivilisation, ihr Bedürfnis danach, all das lebt, selbst im Hinblick auf das Gegenwartsschaffen, von solchem Glauben an die wie auch immer verstandene Sprachfähigkeit von Musik, beziehungsweise an die Sprachfähigkeit dessen, was ich gelegentlich den in unserer Gesellschaft eingerichteten und wirkenden „ästhetischen Appa rat" genannt habe. Dessen Requisiten sind von vornherein, durch Tradition und herrschende Praxis, geprägt von Emphase, auch im experimentellsten kompositorischen Abenteuer, wenn auch dort vielleicht unfreiwillig, sind bezogen auf eine ideale Grund-Harmonie im weitesten und doch kollektiv geläufigen Sinn: einer tonal-konsonanten Grundgestimmtheit des gesamten musikliefernden Instrumentariums als seiner idealen Grundbestimmung, zu der gerade wir zeit genössischen Komponisten uns scheinbar so griesgrämig verhalten, um uns neuerdings von noch viel zeitgenössischeren, die ihre Chance wittern, beschämen zu lassen dadurch, daß diese all jene von ihnen selbst halluzinierten schönheitsverweigernden Berührungs- und Regres sionsverbote flott übertreten, und so sich und uns, den zuvor verunsicherten Hörern, nicht nur den „verbotenen Genuß", sondern dazu noch die befreiende Genugtuung verschaffen. Beides sei ihnen gegönnt, und ich wende mich nicht unbedingt an sie, die auf ihre Weise schlau meierisch längst Aufgeklärten, sondern an uns alle, insofern wir bereit sind, uns verunsichern zu lassen. Ohne solche Bereitschaft sind Gespräche sinnlos. Gemeint ist mit dem Begriff Unschuld ein durch die abendländische Musikgeschichte hin durch zu beobachtendes gewachsenes Grundvertrauen, welches im Selbstverständnis des Me diums Musik als menschlicher Äußerung, Botschaft selbst liegt. Gewiß, der Begriff Unschuld paßt auf den Musikbegriff der vergangenen Jahrhu nderte so wenig (oder so gut) wie auf die sich wandelnden Weltbilder in der europäischen Geistesgeschichte überhaupt. Zumindest in der Neuzeit war dieses Grundvertrauen in die Sprachfähigkeit begründet in einem subjektiven Konsens des Künstlers mit den sich präzisierenden aufkommenden bürgerlichen Idealen einer ihrerseits sich von überlebten Herrschaftssystemen bewußt und unbewußt emanzipierenden Gesellschaft. Auch politische Erneuerungsbewegungen gingen von solchem idealistischen Konsens aus (und sind vielleicht deshalb selbst im Gelingen zugleich schon gescheitert); und gerade die Entdeckung von Sprach- und individueller Ausdrucksfähigkeit in der Kunst als em phatisch erhöhtes, kollektiv funktionierendes Erlebnis des Erhabenen wie auch immer, war zu einem gewissen Zeitpunkt ein fortschrittliches Element für ein immer stärker zu seiner indivi-

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duellen Identität erwachendes Bürgertum: Antwort auf eine herrschende Kunstideologie, die wohl eher magisch-irrationale Ursprünge und entsprechende Staats-, autoritäts- und gemeinschaftserhaltende Funktionen für den herrschenden Apparat hatte. Kunst im abendländisch christlichen Kulturraum veränderte beziehungsweise verselbständigte sich als Medium der zu nehmenden rationalen Beherrschung von Magie, das heißt: ihrer vernünftigen Brechung: jener Magie, die in anderen, ungebrochen statisch in sich verharrenden, in der Folge mehr und mehr zurückgedrängten, sterbenden oder bereits gestorbenen Kulturen alles das als Kultgegenstände geprägt hat, was wir dort etwas unvorsichtig „Kunst" nennen, als ob es die gleiche Funktion hätte wie Malerei, Dichtung oder Musik in der europäischen Kultur. In der abendländischen Kunst dominiert die Beherrschung - keinesfalls die Abschaffung oder Unterdrückung - des Magischen durch den in zunehmender Selbstreflexion sich wan delnden Geist beziehungsweise durch den spekulativ eingreifenden schöpferischen Willen; Beherrschung im Sinn von rational reagierender, technisch sich vervollkommnender, schöpfe risch orientierter Ingriffnahme, Brechung des Magischen zur überhöhten Selbsterfahrung des Geistes. So wurde Musik für das sich entdeckende Individuum in immer weiter verfeinerter Weise sprachfähig bis hin zur Gestaltung und Überhöhung des Ichs im gestalteten mensch lichen Affekt. Die großen Meister fanden sich dabei niemals mit dem bereits Erschlossenen ab, sondern gingen stets sowohl technisch wie expressiv an die äußersten Grenzen, diese so stän dig verändernd, erweiternd. In der Tonalität als dem überlieferten, den Klangvorrat disziplinierenden System der letzten Jahrhunderte, einem System, das uns heute nicht nur im kulturellen, sondern auch im außer kulturellen prosaischen Alltag umgibt, um nicht zu sagen umnebelt, waren Magie - in die doch letztlich alles kollektive Erleben wieder zurückfällt - und Vernunft derart in immer wieder an derer Weise aufeinander bezogen, wirkten beide so ineinander, daß jede ästhetische Grenz überschreitung, jede gesellschaftliche Tabu-Verletzung durch den radikal, das heißt autonom handelnden Künstler früher oder später als Bewährungsprobe der gerade als Strapazierter funk tionierenden tonalen Syntax zugleich eben dieser Syntax gutgeschrieben werden konnte als da bei dialektisch sich subtil perfektionierendem System. In jenen historischen Werken, ohne wel che Tradition uns kaum viel mehr als eine unschuldige Idylle bedeuten würde, hat Musik so zusagen „in aller Unschuld" die eigene Unschuld verloren, das heißt: Sie hat die e igene Sprache aus ihren gesellschaftlich verankerten Grenzen herausgetrieben, so den Musikbegriff neu defi niert. (War Beethovens Musik noch Musik? Waren seine Sonaten noch Sonaten?) Auch haben jene Komponisten, denen sich Tradition für uns als lebendiges Beispiel verdankt, als Kinder ih rer Zeit ihr Außenseitertum und/oder ihre gesellschaftliche Entfremdung, gar ihre gelegentli che soziale Ausgrenzung, weithin mit Verständnislosigkeit empfunden und erlitten. Ihre sub versive Rolle in Sachen Kunst - als Erneuerer, Veränderer des Musikbegriffs selbst - haben sie eher unbewußt gespielt, zumal diese Rolle nicht im bewußt aufmüpfigen Affront gegen die Er wartungen der Gesellschaft bestand, sondern in der gänzlich unspektakulären Aushöhlung der jeweils tabuierten Materialhierarchien, mittels deren eigener, eben kreativ und im glücklichsten Sinne radikal angewandter Gesetze: Man denke an die Schönbergische Atonalität als zu Ende gedachtem tonalen Durchführungsprinzip im harmonischen ebenso wie im motivtechnischen Bereich. Noch Schönbergs Glaube an sich als Prophet, als der er sich dann doch in ganz ande rem Sinn erwies, als er selbst es dachte, beruhte auf dem Glauben an die Sprachfähigkeit der Mittel, die er im Namen eines heroisch zugespitzten autonomen Schaffens- und Künstlerethos quasi arglos aufsprengte, um sie dann so als Ruinen stehen zu lassen. Selbst Schönberg - bei allem innovatorischen Sendungsbewußtsein - verschloß sich noch der Erkenntnis, von der ich

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hier rede; der Erkenntni s nämlich, daß jene a-priori-Emphase, welche die traditionell vorgege benen Hörkategorien durchwirkt, gleichgültig, ob diese tonal oder atonal, konsonant oder dis sonant, vertraut oder verfremdet gehandhabt werden: daß solche a-priori-Emphase heute, am Ende dieses Jahrhunderts, wo Sprachfähigkeit insgesamt zur Sprachfertigkeit verkam, entwer tet ist. Entwertet vor allem durch ihre allgegenwärtige Verfügbarkeit und ihren kunstfeindlichen - sei es politischen, kommerziellen, dekorativen oder demagogischen, daseinspolsternden Gebrauch, entwertet und unglaubwürdig geworden in einer zwar durchaus aufgeklärten, aber zugleich von ihrem erkannten Widerspruch sich wohlweislich abschirmenden, davonlaufen den, sich ablenkenden Zivilisation, für welche Musik als kulturelle Dienstleistung in erster Linie nicht der Bewußtmachung, Erhellung, das heißt der Bewältigung von erkannten Wider sprüchen dient, sondern deren Verdrängung, ihrer schlechten Dämonisierung, Poetisierung, ihrer verharmlosenden Idyllisierung, und wo Emphase als kunstvoll nachgestellte, organisierte Magie per Knopfdruck in allen Lebenslagen zu haben ist. Eine Zivilisation in einer Verfassung, die es nicht moralisch zu verurteilen gilt - naiver könnte sich fromme Unschuld nicht zu erkennen geben -, die es aber sine ira et studio zu diagnostizieren, und die es möglicherweise sogar zu respektieren gilt im Hinblick auf den natürlichen Selbsterhaltungstrieb eines Bewußt seins in einer Situation nicht nur unbewältigter, sondern vielleicht nicht mehr rational bewäl tigbarer Probleme . Ein e Zivilisation, so überfordert, gibt in der Kunst den Geist au f, fällt zurück in billig abrufbare Magie, egal welcher Schamanen, und bedient sich der Kunst so in einer Weise, die mit dem in ihr enthaltenen Anspruch und Angebot als Herausforderung an den Geist nicht mehr viel zu tun hat. Dies mag eine Vergröberung dessen sein, was als subtile Vermischung von geistigem Genuß und Bequemlichkeit viel komplexere Formen des Verrats am Geist in sich schließt, als es hier dargestellt werden kann. Fest steht, daß wir alle, nach soviel Odysseen und Katastrophen der menschlichen Vernunft, dieser überdrüssig geworden, mehr oder weniger eingestandener maßen uns nach der Geborgenheit uns entlastender magischer Zustände zurück- oder vor wärtssehnen und uns im Hinblick darauf mit tonalen und atonalen, gar „avancierten" Preziosen abspeisen lassen. Komponieren, verwiesen auf den Umgang mit nicht mehr einfach sprachfähigem, sondern zur Sprachfertigkeit heruntergekommenem Material, ist sprachlos geworden. Wo es dieses spürt, hat es seine Unschuld verloren. Es ist, so denke ich, an der Zeit, daß Komponieren seine Sprachlosigkeit erkennt, sie annimmt und mit ihr umzugehen lernt. Zwei Fallen stehen bereit, in die es bei der Auseinandersetzung laufen kann: Zum einen die Versuchung, solche Erfahrung erneut zu idyllisieren, mit ihr surrealistisch, ironisch, expressionistisch, weinerlich zu kokettieren, das heißt: solche Situation, in welch sublimierter Form auch immer, zu beweinen oder zu belachen, quasi affektiven Nutzen daraus zu ziehen und letztlich doch wieder sprachfertig damit umzugehen zur Ergötzung des Gemüts ei ner Gesellschaft, welche sich die eigene Kaputtheit nochals Gruselfahrt zu verkaufen imstande ist und aus Angst vor der Angst sich gar zu gern selbst welche einjagt. Eine „Musica negativa" - und ich selbst hatte mich mit solcher Etikettierung meiner Musik herumzuschl agen - scheint mir erneut eine naiv-unschuldige Form von Trostlosigkeit in Gestalt von durchaus sprachferti ger zu bieten der mit ihr scheinbar Relikt". vermittelten Erkenntnis im Weg zu stehen als - umIdylle mit Adorno zu und sprechen - „neudeutsches Zum anderen aber könnte solche Erkenntnis von Sprachlosigkeit den Komponisten dazu ver leiten, sich damit in der Weise abzufinden, daß er sich hinter einem solipsistischen Autonomie139

Anspruch verschanzt, der ihm das gute Gewissen beim strukturalistischen Botanisieren ver schafft, sei es im regelorientierten Parameterspiel oder im regellosen Improvisationsparadies; und daß er, blind und indifferent nach außen, der kommunikativen Krise ausweicht, sie igno riert, vergißt und vergessen machen will, arglos Nischen nutzend und so immer noch bezie hungsweise schon wieder die exotische Rolle eines resignierenden und kindisch in der Ecke sit zenden, in fatalistischer Hilflosigkeit mit sich selbst spielenden Dorftrottels übernehmend schaudernd bestauntes oder auch belachtes Objekt öffentlichen Gaudiums, solange noch Geld für(Eine Kuriositäten da ist. dritte Falle übrigens wäre der berühmte Vogel aus dem Wilhelm-Busch-Gedicht, der vor dem Gefressenwerden noch einmal anhebt zu jubilieren „wie zuvor": Er hat sein Schicksal selbst besiegelt. Und wer weiß: wenn ihm dabei was Neues eingefallen wäre, ob's die Katze nicht doch verunsichert hätte ...) Verlorene Unschuld im Musikdenken meint also nicht bloß die Erkenntnis von Sprachfer tigkeit als Sprachlosigkeit, sondern nicht weniger die Illusionslosigkeit bei der Reaktion auf solche Erkenntnis. Diese Erkenntnis äußert sich im entsprechend sensibilisierten, hellhörigen Umgang mit den Mitteln, und was bei aller Verwirrung dann fast schon wieder beruhigt: Hier bei gibt es kein Rezept, keine stilistischen Forderungen, keine Verbots- und Gebotstafeln, keine Schule: Hier muß der einmal wachgewordene Komponist seine ganze kreative Unvorhersehbarkeit einbringen. In den strukturalistisch-seriellen NeuansätzenErkenntnis nach 1950umgesetzt war solche durchin die geschicht lichen Ereignisse nachgerade sich aufzwingende worden ein elemen tares Tasten nach immer wieder anderen, klingende Materie immer wieder neu ordnenden, Musik immer wieder neu definierenden, buchstabierenden, syntaktischen Entwürfen. Und wir verdanken diesen Ansätzen entscheidende Impulse und Innovationen des Komponierens, des Musikdenkens und des Hörens; entscheidend nicht, weil diese Neuansätze die Sprachlosigkeit der überlieferten Mittel definitiv überwunden hätten, sondern weil sie - wie bewußt oder un bewußt, wie aufgeklärt oder unschuldig auch immer - auf diese Sprachlosigkeit radikal und in soweit erhellend reagiert und durch die Suche nach neuen kompositorischen Klangsystemen die Veränderbarkeit des Musikbegriffs selbst kategorisch bewußt gemacht, exemplifiziert ha ben. Serielle Musik wurde und blieb Ärgernis für manche bis heute: scheinbar Produkt der Ver dauungsbeschwer den von Komponisten, die leichtsinnigerweise vom Baum der Erkenntn is ge gessen haben, während die anderen - bei aller Naivität vielleicht aufgeklärter und umso schlauer sich dumm stellend - sich des sauren Apfels enthielten und, finster zur Unschuld ent schlossen, das Paradies zum Kurpark machten. Da aber der Baum der Erkenntnis nun einmal ins Paradies gepflanzt war, war der Sündenfall vorprogrammiert, und es wäre einfach unkünst lerisch, ihn sich entgehen zu lassen. Und so kam es tatsächlich darauf an, in aller Unschuld in den inkriminierten sauren Apfel zu beißen (sauer macht lustig ...). Und dennoch: In ihrer Hoffnung, nicht nur den Musikbegriff neu zu fassen, sondern erneut ein verbindliches System zu schaffen und, ausgehend von der Evidenz des akustisch bestimm ten Moments und der in Mikro- und Makrodimensionen vermeßbaren Zeit, eine neue Rezep tionskultur in der (nach dem Zusammenbruch scheinbar zur radikalen Selbsterneuerung berei ten) Gesellschaft zu etablieren und durchzusetzen, sind die Seriellen gescheitert. Es war aus heutiger Sicht weiß Gott ein naives, eben recht unschuldiges Unterfangen. Allerdings: frucht bar gescheitert, und jeder Komponist heute, gleich wo er steht, zehrt auf andere Weise von den dabei erschlossenen praktischen und theoretischen Möglichkeiten, ästhetischen Erfahrungen und Entdeckungen. 140

Musik kommt seither nicht mehr um die ständige Reflexion ihres eigenen Mediums, das heißt ihres Materialbegriffs, herum. Dies scheint mir die „unendliche Aufgabe" des Kompo nierens heute zu sein. Der Komponist, der sich dieser Einsicht als Herausforderung an seine Legitimation stellt, in einer Gesellschaft, die ihn gelegentlich subventioniert, aber offenbar wenig nach ihm fragt: Er hat nichts zu sagen, er hat zu suchen. Nach wie vor - das scheint sein Handicap zu sein und ist doch zugleich seine Chance - ist er bei solcher Suche nach neuen Formen von musikalischer Mitteilung verwiesen auf jenen in so heimtückisch-fataler Weise unschuldig-sprachfertigen ästhetischen Apparat, auf die überlieferten Mittel, welche die Gesellschaft bereithält und in denen sich uns die traditionelle Erfahrung „Musik" verkörpert. Chance, sage ich, denn Illusionslosigkeit ist nicht Hoffnungslosigkeit, und schließlich steckt gerade in jenen sprachfertigen Requisiten, wenn auch durch ihre Verdinglichung entwertet und entleert , immer noch die Erinnerung an den Anspruch von Musik als Medium der „Vereinigung des Menschen mit seinem Nächsten und mit dem höchsten Wesen", wie es Strawinsky einst in seiner Musikalischen Poetik formuliert hatte, und dem gilt es durch alle erkannte Entfremdung hindurch nachzuspüren. Es kann nicht darum gehen, jenes nach wie vor in unserer Gesellschaft dominierende und im musikalischen Material immer noch sedimentierte unschuldige Grundvertrauen in die Sprach fähigkeit der Musik, das heißt in die Kommunikationsfähigkeit unter den Menschen, bloß zu denunzieren. Vielmehr gilt es, der darin sich manifestierenden Sehnsucht des Menschen nach einer Geborgenheit unter seinesgleichen gerecht zu werden dadurch, daß die verdinglichten Formen schlechter Einlösung solcher Sehnsucht aufgebrochen, zerbrochen oder wie auch im mer überwunden werden im Blick auf neue Mitteilungsformen. Ein solcher Umgang mit den Mitteln, gleichgültig, wie subjektiv er angelegt und motiviert sein mag, bewährt sich nur als dialektischer. Der Komponist, der sich der Auseinandersetzung mit der sprachfertigen Sprachlosigkeit stellt, drückt in den dabei von ihm geschaffenen, gefun denen, freigelegten Strukturen sich und die ihn bestimmende Wirklichkeit aus, auf die sein Handeln reagiert. Aus dieser Auseinandersetzung heraus, wie bewußt oder unbewußt auch im mer geführt, werden sich seine musikalischen Visionen und kompositorischen Ideen präzisie ren. Von dort her erhalten sie - über bloß spielerisch unverbindliche, experimentelle Exkursio nen der bürgerlich geborgenen Phantasie hinaus - ihre Kraft und gesellschaftliche Aktualität. Wege gibt es so viele, wie es kreative Geister gibt. Ich selbst, insofern ich versuche, mir Rechenschaft zu geben über das, was ich als Kompo nist tue und was beim Erleben der Musik anderer mich berührt, kann mir keinen Weg vorstel len, der an der strukturellen Durchdringung und an der Brechung des vorgefundenen Vertrau ten durch seine Umformung - nämlich durch seine Einbeziehung in spezifische, Wahrnehmung neu ermöglichende Kategoriensysteme - vorbei führt. Ein Spiel allerdings, welches sich und seine Regeln präzisiert und aktualisiert aus der Reflexion dessen, was mir, in welchen Mitteln auch immer, als vorgegebene Struktur, als „Aura", entgegentritt. Ich habe darüber andernorts und bei günstigerer Gelegenheit schon genug gesprochen und belasse es dabei, mißtraue ich doch bei kompositionstechnischen Glaubensbekenntnissen - den eigenen und denen anderer immer auch der damit unvermeidlich in Aktion tretenden Sprachfertigkeit als eben jener tatsächlichen Sprachlosigkeit, die immer zugleich versteckt, wovon sie sprechen möchte. Was der Komponist zu schaffen hat: Was er, so oder so, als kreativ mit den Mitteln Umge hender stiftet, sind spezifische Materialzusammenhänge, neue Kategoriensysteme für das Hören, stringent und den Geist bewegend in dem Maß , wie die alten sprachfertigen Kategorien 41

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außer Kraft gesetzt, überwunden werden und die neuen form- und klangbildenden Kräfte dem alten, vorgegebenen System widerstehen, sich ihm wirksam widersetzen, es unterlaufen und dabei neue Dimensionen aufzeigen. Was der Komponist zu ermöglichen hat, sind neue Formen des Hörens: Situationen befreiter Wahrnehmung durch die Neubeleuchtung und Umformung des Vertrauten. Der Begriff der Wahrnehmung ist relativ spät ins Blickfeld musikalischer Spekulation gera ten. Schon nimmt er gelegentlich auch wieder suspekte Züge an, zumal dort, wo sich die kom positorische Impotenz nachgerade in einen Terror unschuldig inszenierter, sich selbst be weihräuchernder Wahrnehmungsandachten flüchtet. Eine freie, voraussetzungslose Wahrneh mung gibt es sowieso nicht. AllenfahYim Übergang vom gewohnten Hören zum strukturell neu bestimmten Beobachten blitzt jenes im Grunde unfaßbare Moment einer befreiten Wahrneh mung auf, welches uns beiläufig an unsere Unfreiheit erinnert und uns zugleich so an unsere Bestimmung zu deren Überwindung, das heißt: an unsere Geistfähigkeit gemahnt. Suche nach befreiter Wahrnehmung, strukturelle Brechung der Mittel und dialektische Neu bestimmung des Klingenden bilden einen Regelkreis. Wo immer innerhalb dieses Kreises das Komponieren ansetzt: Immer muß es das Ganze bedenken, eingedenk dessen, daß der Kompo nist Fäden in der Hand hat und zugleich an ihnen hängt. Der Begriff der Wahrnehmung ist aben teuerlicher, existentiell umfassender als der des Hörens: Er setzt alle syntaktischen Vorwegbe stimmungen, alle Sicherheiten des Hörens aufs Spiel, er impliziert höchste intellektuelle wie intuitive Sensibilität und daran gebundene Aktivität des Geistes, für den nichts mehr selbstver ständlich ist. Sofern dabei ästhetische Tabus berührt, zerbrochen werden, wird das Musik erlebnis unvermeidlich zum Konflikterlebnis, an dem sich die Geister scheiden - und finden. Komponieren, so verstanden, kann weder heißen, sich naiv vertrauensvoll der bereits in der Gesellschaft expressiv funktionierenden Mittel zu bedienen, noch ins Land der unbekannten Klänge auszuweichen, sondern muß heißen: Situationen der veränderten, „befreiten" Wahr nehmung suchen und im Hinblick darauf immer wieder auf der kommunikativ verwüsteten In sel unserer sprachfertig-sprachlosen Zivilisation Robinson Crusoe spielen und sich so zugleich auf das existentielle Abenteuer des in seinen eigenen Trümmern sich erkennenden bürgerlichen Ichs einlassen. Auf solcher Praxis beruht die recht eigentlich subversive Tradition unserer abendländischen Kunst. Die dabei aufs Spiel gesetzte Emphase kehrt - nicht nur gerettet, sondern gereinigt, zugleich neu geladen - zurück; nicht mehr sprechend, aber „beredt": Musik, erfahren als „Körperspra che des Geistes", erkannte Sprachlosigkeit so überwindend und wendend. Ohne visionäre Kraft, die sich eben nicht bloß auf die Formulierung eines Werks, sondern darin auf den Ent wurf eines widerstandsfähigen und widerstandsbereiten Kategoriensystems richtet und sich so in spezifischen, dem gebrochenen sprachfertig-sprachlosen Material abgewonnenen Bezie hungssystemen und Hierarchien niederschlägt: Ohne solchen kreativen Willen und Gestal tungstrieb wird ein Komponist den erkannten Widersprüchen beim Umgang mit dermaßen vorab geprägten Mitteln erliegen und von ihnen gelähmt. (Einschub: Komponieren als charakteristisches Rasseln mit seinen jeweiligen charakteristi schen Ketten: Besser zu verstehen gilt es den in der einstigen DDR, selbst bei den am weite sten vordringenden Komponisten, dominierenden symphonischen Ton, seine Ambivalenz: glaubwürdig und problematisch zugleich als Relikt eines gewaltsamer als bei uns kultivierten, kollektiv zu feiernden idealen Menschenbilds und zugleich als bewußt fassadenhaft gehand habtes Medium der Brechung eben dieser Fiktion; vielleicht nach dem Vorbild der seltsamen

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symphonischen potemkinschen Dörfer eines Schostakowitsch, jenes nach innen gestülpten heimlichen Avantgardisten, dessen Kassiber es wohl noch zu erschließen gilt; während im westlichen Europa weithin modernistische und postmodernistische Spielereien einer kokett ausgekosteten und ausgelebten „freien" Individualität kindlich miteinander wetteifern, so das jeweils Angenehme mit dem Nutzlosen arglos verbindend.) Kompositorische Visionen aber, die sich, hier wie dort, aus dem Widerstand gegen jene durch erkannte Widersprüche drohende Lähmung entwickeln, sind von anderer Kraft als sol che, welche die unbedarfte Klangphantasie in aller Unschuld und im falsc h gewordenen Grund vertrauen in die ungebrochene Verfügbarkeit der Mittel zutage fördert. Im Blick auf solche Visionen gibt es keine Tabus, keine Berührungsverbote, wenngleich - wie die Erfahrung gelehrt hat - doch immer wieder charakteristische Berührungsverzichte. Die Frage nach dem Fortschritt, oftmals verkürzt auf die Frage nach dem sogenannten fort schrittlichen Materialstand, relativiert sich; sie muß sich selber kritisch befragen lassen nach ihrem Hintergrund, der auch wieder ein fatal unschuldiger im Sinn eines eindimensional fort schreiten den Geschichtsverständnisses sein kann. Die Dialektik von Regression und Fortschritt zu untersuchen, könnte ein weiterer interessanter Anlaß zu künftigen Komponistenbegegnun gen werden. Schließlich ist jeder Schritt ein Fortschritt in dem Maß, wie er uns hellhörig statt hörig, zu Horchende n statt zu Gehorchenden, und wie er un s zu Wahrnehmenden uns erer selbst im Hinblick auf unsere Unfreiheit und zugleich unsere Bestimmung zur Freiheit macht und uns so motiviert zum Widerstand gegen erkannte Zwänge. Und fürwahr: Dieser Widerstand ist et was anderes als jener gegen das von irgendwelchen Zombies erlassene Tonalitäts- oder Schön heitsverbot: Popanz, vor welchem postmodern gestylte Schlaumeier sich selbst zu heroischen Widerstandskämpfern in eigener Sache zu stilisieren versuchen. Visionsfähiger Widerstand gegen die Herrschaft einer unschuldigen und dabei sehr wohl ge witzten Sprachfertigkeit bezieht letztlich seine Kraft, seine Glaubwürdigkeit, Aktualität, seine „Stringenz" aus dem Glauben an die Geistfähigkeit der Musik: Wer komponiert, ist in diesem Sinne gläubig. Ich habe, bei der ersten These verharrend, die anderen Thesen längst berührt. Das Hören, so herausgefordert, konfrontiert mit ständig neuen Entwürfen und Kategorie systemen, wird zum stets neuen Abenteuer. Hören heißt dann nicht weiterhin „letztlich sich rei bungslos verständigen" - just um jene Reibung geht es schließlich -, sondern heißt: sich wel chen Systemen auch immer aussetzen, sich von ihnen berühren, durchdringen, verändern und an seine Veränderbarkeit erinnern lassen, gar in solchen Begegnungen sich auf Konflikte ein lassen. Ich bin sicher, daß ein solches Hören nicht gelehrt, indoktriniert oder der Gesellschaft andressiert werden kann oder muß, daß aber über ein solches Hören als radikale Herausforde rung immer wieder a ufklärend gesprochen werden kann, und daß es als Erneuerungs chance des Geistes bewußt gemacht werden sollte; stellt es doch keine geringere oder übermenschlichere Anforderung an den menschlichen Geist, als jede Begegnung - ob mit einem anderen Men schen oder einer anderen Kultur - sie herausfordert, egal, ob es sich um eine Reise auf einen anderen Kontinent oder den ersten Besuch beim Nachbarn handelt. Schließlich, wie gesagt: Den so sensibilisierten komponierenden Komponisten geht dies alles nichts an. Wie das? War der ganze Diskurs überflüssig? Ich sprach zuvor schon von der Unvorhersehbarkeit, die der Komponist einbringen müsse. Tatsächlich vereinigen sich in der Person des kreativ besessenen komponierenden Mitbürgers die beiden archetypischen Gestal ten des Dr. Jekyll und des Mr. Hyde. Hyde löst auf seine Weise ein, was Dr. Jekyll träumt oder doziert. Was der Komponist sagt, präzisiert sich durch sein Handeln. Dieses ist, bei allem 42

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rationalen Anteil, doch triebhaft, und ohne einen Schuß krimineller Energie bleibt er, a priori verunsichert, auf der Strecke. So hat er vermutlich erneut zu einer Unschuld im übergeordne ten Sinn zu finden. Gestern Arnold Schönberg, heute John Cage und Luigi Nono: Sie geben uns Beispiele als auf neue Weise unschuldig, will sagen: erneut triebhaft handelnde Geister, be troffen und unverführbar durch die falsche Unschuld vordergründig intakter Verhältnisse, aus ihnen dank neuer Visionen sich abstoßend und kreativ sich darüber hinwegsetzend, Welten, Perspektiven aufzeigend, wo andere sich mit der Herstellung von „guten Stücken" begnügen (müssen). Sind wir im Kreis gelaufen? Löst sich das ganze Gedankenspiel in einem Geniekult auf? Wohl nicht, denn es besteht ein qualitativer Unterschied zwischen einem Kreis und einer Spi rale. Kreis: Vor anderthalb Jahren, zu einer Zeit, als in der DDR noch keinerlei Bewegung im po litischen System auszumachen war, gleichwohl die Großmächte ihr Säbelrasseln eingestellt hatten, meinte ein nicht unprominenter deutscher Komponist, von einer dankbaren Öffentlich keit applaudiert: In einer offenkundig entkrampfteren Welt stünde es der Musik doch wohl an, ihrerseits mit freundlicheren Tönen zu antworten ... Indirektes Zitat Ende, und es hätte damals - was vielleicht für manchen nahe lag - nur noch des protestierenden Hinweises auf all die an deren Damoklesschwerter bedurft, die nach wie vor über der Menschheit schweben - und schon war man aufs unschuldige Spiel von „freundlicher" Musik (gefühlvolle Kantilene?) und „unfreundlicher" Musik (Kratzen auf Saiten hinterm Steg?) hereingefallen. Spirale: Vor wenigen Monaten, als sich die Dinge in der DDR zur bangen Freude von uns al len wendeten, sagte eben dort eine Frau, nicht unprominent wegen des persönlichen Mutes, mit dem sie an die Spitze derer sich stellte, ohne deren Risikobereitschaft diese Entwicklung kaum denkbar gewesen wäre: „Wir sind schon wieder in der Opposition." Beide Äußerungen rea gierten, zu verschiedenen Zeitpunkten, auf Phasen derselben Veränderung in unserer politi schen Wirklichkeit. Sie unterscheiden sich voneinander wie Kreis und Spirale, will sagen: wie Stagnation und ständig beharrendes Erneuerungsvermögen (sprich: ständig sich erneuerndes Beharrungsvermögen auf seinen Visionen) um jene Abweichung, auf die es ankommt, im All tag - wie in der Kunst. 1990

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III. IN EIGENER SACHE Werkstatt-Gespräch Herr Lachenmann, Ihre Musik ist von derjenigen Ihres Lehrers Johann Nepomuk David* stili 1,

stisch Können so verschieden, man nicht mehr von einem Generationsunterschied sprechen kann. Sie von daß den Erfahrungen Ihrernur Stuttgarter Studienzeit bei Ihrer gegenwärtigen kompositorischen Arbeit noch Gebrauch machen, oder empfinden Sie den dreijährigen Besuch der Musikhochschule als unnötige Zeitverschwendung ? Ich möchte diese Frage gleichzeitig allgemeiner stellen: Hat der traditionelle Lehrplan einer Musikhochschule heute noch seine Berechtigung, oder sollte man alle Musikhochschulen „ in die Luft sprengen " ? In die Luft sprengen - nein, wozu? Schon eher: durchlüften. Aber ich halte nichts von solch kühnen Redensarten, gleich, ob es sich um Opernhäuser oder Musikhochschulen handelt; so etwas tut man oder läßt man, aber man sagt nicht, daß man es tun sollte. Erfahrungsgemäß applaudieren dann immer die falschen Leute. Eine Strukturänderung der Musikhochschulen und eine Neuorientierung der Lehrpläne ist un erläßlich. Letztlich aber hängt es von einem selbst ab, was man aus seinem Studium macht. Ich bereue die Arbeit mit tradit ionellen Mitteln bei meinem Le hrer David überhau pt nicht, denn ich hielt es immer für notwendig, daß Musiker, beson ders Komponisten, ga nz gleich, welche Art von Musik sie machen werden, frühere Stile kennen und wenigstens im Ansatz beherrschen. Jeder Komponist ist, bewußt und unbewußt, in ganz bestimmten ästhetischen und kompositions technischen Bedingungen befangen, so wie sie sich geographisch und historisch für ihn ergeben haben. Es ist wichtig für ihn zu studieren, wie andere Komponisten ihrerseits sich in und zu ihrer entsprechenden Situation verhalten haben, wie sie in ihren Werken einen musikalischen Stil vorgefunden oder geschaffen, reflektiert, erweitert, verändert, wie sie sich darin emanzipiert und verwirklicht haben; er muß ihre Art, Freiheit zu praktizieren und deren Niveau kennen und beurteile n lernen, um daraus Maßs täbe und Verantwortung bei sich selbst abzuleiten. Darüber hinaus aber scheint mir die Tonalität das wenn auch überholte, so doch keineswegs überwundene perfekte Modell einer verbindlichen musikalischen Syntax zu sein, deren histo risch vermittelte Maßstäbe und zugleich deren anachronistische Penetranz wir heute nicht ignorieren können. Der Bruch mit der Tonalität, sei es in den Werken der Wiener atonalen Schule, in den Wer ken der seriellen Epoche oder in jüngster Zeit, hat die tonalen Erfahrungskategorien und das daran gebundene ästhetische Bewußtsein als potentiellen Schlupfwinkel bürgerlichen Denkens nie wirklich außer Kraft setzen können. Die Suche der Komponisten nach neuen Erfahrungen, nach neuen Modellen des musikalischen Materials war immer wieder auf andere Weise gehandicapt du rch den unvermeidlichen Konflikt mit den tonalen Hörgewoh nheiten; sie wurde künst lerisch bedeutsam nur in dem Maß, wie sie diesen Konflikt nicht beiseite schob, sondern ihn bewußt machte und sich in ihm bewährte. Musik ist wider Willen, wenn auch in weitem Sinn, „dissonant" geblieben, das heißt: bezogen, sei es auch durch Negation, auf jene ästhetischen Kriterien, die von der Erfahrung mit der Tonalität genormt sind. Um die Tonalität überwinden, um sich ihrem Sog entziehen und ihre Dialektik bewußt durchkreuzen zu können - anders ist die Regression des musikalischen Denkens, in der wir ohnehin begriffen sind, nicht zu brem sen -, muß man die Tonalität mit all ihren Implikationen kennen.

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Als ich 1957 - spät genug - zum erstenm al nach Darm stad t kam , war ich vor allem fasziniert von der Konsequenz, mit welcher dort im engeren Kreis musikalisches Denken revolutioniert und neue adäquate Kompositionstechniken erarbeitet und diskutiert wurden, nicht nur ohne Rücksicht auf die Konflikte, die sich notwendig beim Publikum ergaben, sondern mit dem festen Willen, diese Konflikte auszutragen, ohne von der Provokation bürgerlicher Tabus durch irgendwelche Tricks abzulenken. Uber die Unbeholfenheit der seriellen Methoden heute die Nase zu rümpfen, ist dumm und billig. haben sich einen viele zeitgenössische auf zum dem Umweg das moderni stischeInzwischen Kolorit querfeldein oberflächlichen Werke Kontakt Publikumüber geschaffen; einen Kontakt, gegen den nichts zu sagen "Wäre, wenn die darin wirkenden Expressionismen und Exo tismen den ursprünglichen Ansprüchen jenes erneuerten Musikdenkens nicht ständig in den Rücken fielen, von dessen klangtechnischen Entdeckungen dieser Kontakt letztlich profitiert. Bei solcher Art Arrangement zwischen Neuer Musik und bürgerlichem Publikum spielt die Tonalität eine korrumpierende Rolle: Scheinbar selbst zu einem exotischen Element zwischen Modernis men aller Art geworden, bildet sie nach wie vor, und jetzt erst recht, die latente ästhe tische Mitte, von wo aus sich alles, gleichsam als sich ins Unendliche zu erweiternde tonale Dissonanz, in seinem kommunikativen Spannungswert bestimmt. Expressiver Cluster, Zitate, Parodien, Verfremdungen oder andere antithetische Vermittlungen mehr oder weniger geläufi ger Klischees, bis hin zur verbalen Gesellschaftskritik, kurz: jegliche Art des bewußt aggressi ven kompositorischen Verhaltens - was ist es schon viel anderes als ein boshaft unaufgelöst ge lassener Dominantseptakkord mit ein paar Vorhalten? Aus dieser P erspektive jedenfalls ist der bürgerliche Kulturbetrieb gern bereit, auch die letz ten Brüskierungen und Antikunstveranstaltungen liebevoll zu verdauen; die Haßliebe, die sich in ihnen verrät, ja das bloße Engagement, das immer noch mit dem künstlerischen Medium rechnet, entschärft alles - sie schmeichelt in jedem Fall der kleinbürgerlichen Koketterie. Aus dieser fatalen Umarmung sich zu lösen - und ich nehme mein eigenes Schaffen von sol cher Gefährdung nicht aus -, das scheint mir das wesentliche Problem des Komponierens heute zu sein. Eine Voraussetzung ist ganz gewiß das Studium der Entwicklung des musikalischen Materials bis heute: die verschiedenen Formen, in denen es sich entfaltete, gelegentlich sta gnierte, sich zurückbildete, sich zugleich doch weiter entfaltete, immer als Resultat individuel len kompositorischen Zwangs, immer als Ausdruck reflektierten ästhetischen Bewußtseins. Das läßt sich, und damit komme ich auf Ihre Frage zurück, untersuchen, analysieren, ler nen aber und lehren.

Es mag hier nicht der Ort sein, darüber zu diskutieren, ob die Musik, die kein Publikum findet, eine ästhetische Bedeutung hat. Ich möchte Sie aberfragen, ob sich Ihre kompositorischen Ar beiten an ein Publikum richten und in welchem Sinne sie es tun. Auf keinen Fall möchte ich für irgendeine gerade bestehende Gesellschaftsordnung oder gar für irgendeine Gesellschaftsschicht das erwünschte Dekor, die tönend bewegte Tapete liefern. Zu gleich sehe und erwarte ich, daß meine Musik gerade als Resultat material-immanenter Aus einandersetzung - hierbei allerdings gibt es keinerlei Hinüberschielen zum Publikum - einen ganz charakteristischen, rationalen und emotionalen, oft auch je nach Temperament offen oder latent polemischen Kontakt zu welchem Publikum auch immer schafft, einen Kontakt, der sich durchweg aufs Ästhetische bezieht und gerade dadurch eine Menge darüber hinausreichender gesellschaftlicher, menschlicher, privater und öffentlicher Tabus beiläufig bloßlegt, bewußt macht und einen Lernprozeß in bezug auf die Tabus auslöst - einen Lernprozeß, auf den es

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letztlich ankommt und von dem auch ich selbst mitbetroffen bin. Indem ich jede Arbeit als Ver such individueller Emanzipation auffasse, bewahre ich meiner Musik vielleicht mehr Glaub würdigkeit als diejenigen, welche es sich doch immer wieder nicht verkneifen können, die künstlerische Missionarsrolle zu übernehmen und damit wieder jene militante Form von Ge borgenheit zu vermitteln, die alle Kunst auf recht gefährliche Weise ungefährlich und - pardon - apolitisch macht. Daß ich die große Masse, auch der bürgerlichen Schicht, nicht erreiche, weiß ich. Möglich auch, daß meine Musik unbewußt gewisse intellektuelle Einsichten voraussetzt. Das wäre wie der ein Problem des gege nwärtigen, überzüchteten und dialektischen Verhaltens zu jen er allge meinverbindlichen Kommunikationsebene, die ich vorhin mit dem Begriff Tonalität angespro chen habe. Aber meine Musik versteht sich im Gegensatz zur tonalen nicht als Sprache oder Botschaft aufgrund einer vorausgesetzten Syntax, sondern als realistischer Prozeß, der sich akustisch auswirkt und so mitteilt und dessen Stimmigkeit sich auf jed em Niveau bewähr en müßte - wie es in der populären klassischen Musik ja auch der Fall war. Die Verständlichkeit, oder mit Webern zu sprechen: die Faßlichkeit solcher Musik steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Abhängigkeit von tonalen Hörkategorien, zugleich aber offenbar auch in direktem Verhältnis zu ihrer - jedes „Verständnis" möglicherweise wieder trübenden - Schockwirkung: Je weniger tonale Reste, umso faßlicher, aber zugleich umso provozierender - also „unfaßlicher" für den, der's nicht wahrhaben will.

Sie haben zwei Jahre bei Luigi Nono in Venedig studiert. Nono stellt heute seine Musik ganz in den Dienst des politischen Engagements. Doch sein Weg ist ein ganz anderer als Ihrer... Nono ist wohl der einzige Komponist seiner Generation, der die Frage nach der politischen Re levanz künstlerischen Handelns von Anfang an gestellt und mit der Frage nach neuen ästheti schen Voraussetzungen, nach neuem Material und neuen Methoden verknüpft hat, ohne sich auf irgendeinen salonfähigen Kompromiß einzulassen und ohne von irgendeinem jener Pseudo-Avantgardismen irritiert zu werden, welche in den sechziger Jahren unter dem Deck mantel des Fortschritts die allgemeine Regression und Trivialisierung der Mittel in die Wege geleitet hatten. Die jahrelange Isolierung und Verpönung Nonos bei uns ist eine Blamage für das deutsche Musikleben. Daß mir die direkte Verquickung von sozialistischer Propaganda mit musikalischen Formen problematisch erscheint, weil das eine dem anderen den Stachel nimmt, ändert nichts daran, daß Nono für mich der aktuellste Komponist geblieben ist, von dem ich nie aufgehört habe zu lernen.

Welche Gründe waren für Sie bei Ihrer Lehrerwahl ausschlaggebend? Ich sprach schon davon, daß ich die Zeit, in der ich bei David studiert habe, nicht missen möchte. Ich habe David sehr verehrt und tue das jetzt noch. Es lag gewiß nicht an ihm, daß meine Begeisterung für neue Kompositionspraktiken, so wie ich sie in Darmstadt kennenge lernt habe, mich in einen gewissen Konflikt mit meiner bisherigen Studier-Umgebung brachte. Es wurde mir aber klar, daß zwischen der Arbeit unter der Anleitung eines um vierzig Jahre älteren Lehrers und vor all em zwischen dem Studium, wie es von einer Musikhoc hschule 1958 geboten werden konnte, und dem Komponieren in eigener Verantwortung ein großes Niemandsland voller Hindernisse kompositionstechnischer, psychologischer, vielleicht auch moralischer Art lag, das noch zu durchqueren war, wobei mich die bisherigen Arbeitsbedin gungen nur irritieren und lähmen würden. Damals ergab sich die Freundschaft mit Nono in

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Darmstadt, und es war selbstverständlich, daß ich ihn bat, bei ihm weiterarbeiten zu dürfen. Ich war in der folgenden Zeit sein einziger Schüler, wir kamen zwanglos zusammen, manchmal Tag für Tag, manchmal wochenlang überhaupt nicht, je nachdem, wie die Arbeit das mit sich brachte. Ich analysierte alte und neue Musik, entwarf serielle und frei improvisierte Studien, machte kompositorische Übungen mit verschiedenen Mitteln. Nach und nach stellte ich mir die Aufgaben selbst. Natürlich war mein Denken bald ganz im Sinne Nonos orientiert. Sicher habe ich damals manche Überzeugung einfach übernommen, die womöglich in mir selbst garnicht angelegt war. Ich finde das überhaupt tragisch; irgendwann stößt Dankbarkeit, man alles künstlich Erworbene wieder ab, zurück bleiben nicht tausend wertvolle Erfahrungen, Kritik, Bewunderung und die Verpflichtung, seinen eigenen Weg genauso konsequent zu gehen.

Haben Sie während Ihrer Lehrjahre bei Nono schon richtige „ Werke " komponiert, oder haben Sie in diesen zwei Jahren nur Studien gemacht? Ich habe während dieser Zeit zwei Stücke komponiert. Das erste, Souvenir, ist für eine utopi sche Besetzung geschrieben. Es wurde nie gespielt. Vorbild oder unbewußtes Modell dieses Stücks waren wohl die Varianti von Nono mit ihrer - gewiß problematischen - Spekulation auf synthetische Klangnuancierung mit instrumentalen Mitteln. In diesem seriellen Stück habe ich sogar das damalige „Wahrzeichen" der Musik Nonos, jene Zickzack-Allintervallreihe, über nommen. Ich war mir meiner kompositorischen Selbständigkeit so sicher, daß ich es auf eine 44

solche oberflächlicher bewußt lassen war Giriankommen per orchestra, natürlichArt naiv gedacht. AuchStil-Verwandtschaft das zweite Werk, Due habewollte. ich nieDas gehört.

Komponieren Sie auch heute noch mit seriellen Mitteln? Bei bestimmten Arbeitsgängen bediene ich mich manchmal serieller Methoden und verschaffe mir so eine Menge unvorhergesehener Daten und vorher unberücksichtigter Möglichkeiten für die Aufbereitung des Klangmaterials. Aber viele der Eigenschaften, auf die es mir in meiner Musik ankommt und deren Prägnanz mit der Kompositionsmethode eng zusammenhängt, las sen sich schon von Natur aus nicht seriell manipulieren, sie würden einfach verlorengehen. Immerhin: Oft bestimme ich mit seriellen Methoden eine Art Zeit-Gerüst, ein Gefüge aus Schichten, abstrakten Anordnungen, welche die unterschiedlichsten Beziehungsmöglichkeiten untereinander anbieten. Was ich damit anfangen, welchen Gebrauch ich davon machen werde, weiß ungenauen ich dabei noch nicht. Auf irgendeine Weise werde ich meine ersten, noch ganz Vorstellungen über ein Stück daran ausprobieren und diemöglicherweise Resultate und mich selbst dabei beobachten. Serielle Mittel als Inventionshilfe - warum nicht? Ich verhalte mich zu einem solchen seriellen Plan wie ein Bildhauer zu einem zufällig gefundenen unbehauenen Stein, mit dem Unterschied, daß ich nicht nur Teile davon „wegschlagen", sondern ihn nach Wunsch deformieren und interpretieren kann, wobei ich zur endgültigen Form selbst erst noch finden muß. Ob ich solch ein Gerüst schließlich wieder ganz abstoße, ob Reste davon in der Komposition einen Platz finden, oder ob es tatsächlich die Struktur des Ganzen reguliert: In jedem Fall hat die Auseinandersetzung damit meiner Phantasie über ihre eigenen Grenzen hinweggeholfen und mir klar gemacht, was ich eigentlich will. In Interieur, in Trio fluido, in Consolation I und II und in Notturno bin ich so vorgegangen.

Ihre ersten Vorstellungen von einem Stück sind also mehr formaler als klanglicher Art? Ich mag Klang- und Formvorstellung nicht voneinander trennen. Sie bedingen einander, das eine erscheint im Licht des anderen. Komponieren heißt ja nicht, neue Klänge oder neue

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Formen erfinden, sondern neue Funktionszusammenhänge, neue Arten der Dialektik zwischen beidem stiften. Selbstverständlich äußert sich das dann beim Arbeiten in der Auseinanderset zung mit Klangproblemen und Klangmöglichkeiten einerseits und formalen Entwürfen ande rerseits. Aber: Von dem einen sprechen heißt dabei ans andere denken. Dazu kommt noch, daß die erste Vorstellung doch im allgemeinen eher eine Art mehr oder weniger unmotivierter Er innerung ist als schon ein schöpferischer Akt. Der beginnt bestenfalls zusammen mit den ersten kompositionstechnischen Konflikten, die sich ergeben. Und was sich dann in der Phantasie, im Intellekt, in der Psyche eines Komponisten abspielt, das ist viel zu komplex, zu chaotisch, zu unberechenbar, zu überraschend für ihn selbst, als daß man noch von einer klaren Vorstellung reden könnte, die es zu realisieren gelte. Wenn die kompositorische Reflexion in Gang gekom men ist, wenn sie auf vollen Touren läuft, schlägt die allseitige Wachheit um in einen schlaf wandlerischen Zustand, in dem man bei aller Anstrengung und Kontrolle - freilich nicht ohne diese - das eigentlich Wichtige und in Hinsicht darauf Richtige in Wirklichkeit unbewußt tut. Was hinterher als klar formulierte Musik sich präsentiert, ist zumeist eine vorher unvorherge sehene, unerwartete Art der Erfüllung dessen, was man sich vorgenommen hatte; es ist der zu vor unbekannte Ausgang eines Abenteuers, auf das sich der Komponist eingelassen hat mit dem Ziel, nicht so sehr seine Umgebung als eher sich selbst zu erneuern, zu verändern, zu be reichern. Musik als Lernprozeß im weitesten Sinn: So interessiert sie mich auch bei anderen. Für mich - sicher nicht nur für mich - ist Komponieren ein Prozeß des Abgetriebenwerdens von ursprünglichen Plänen und Vorstellungen durch Kräfte, die nachher den eigentlichen Sinn eines Werkes ausmachen. Eine Zeitlang habe ich mich mit Aleatorik befaßt, Aleatorik nicht im Sinn von Improvisa tion, sondern von vielfacher Vertauschbarkeit innerhalb fester Anordnungen. Das waren Parti turen, bei welchen die Musiker die zusätzliche Mühe hatten, aus verschiedenen Re servoirs von Möglichkeiten zu wählen und anhand der sich ergebenden Konsequenzen ihre Stimmen und damit die Aufführungspartitur selbst zu arrangieren. Die Absicht dabei war, die Spieler an jenem „Abenteuer" teilhaben zu lassen und so dessen Ausgang in deren Tätigkeit hinein zu verlagern, obwohl mit der Materialbestimmung und den darauf bezogenen Spielregeln die Würfel in bezug auf den Charakter des Stücks schon gefallen waren. Auch spielte dabei die Erwartung eine Rolle, daß ein typischer musikalischer Charakter - genau wie derjenige eines Menschen - unter verschiedenen zufälligen Voraussetzungen sich immer wieder anders und doch jedesmal als derselbe mitteilt. In den Werken dieser Zeit - das waren die Fünf Strophen, Angelion und Introversion I und II - gab es also doch so etwas wie getrennte Klang- und Form vorstellung, aber nur, um der erwarteten Vielfalt von Beziehungsmöglichkeiten zwischen bei dem nicht vorzugreifen. Heute bin ich von aleatorischen Praktiken - zumindest solcher Art - abgekommen; in mei nen letzten Stücken haben sich immer eindeutige präzise Lösungen herauskristallisiert. Im übrigen gilt hier dasselbe, was ich über die seriellen Techniken sagte: Das meiste von den Eigenschaften und Mitteln, von denen ich heute ausgehe, würde mit diesen aleatorischen Tech niken so außer Kontrolle geraten, daß seine Funktion verlorenginge.

Sie bezeichneten einmal Ihre jetzigen Kompositionen als eine Art „instrumentaler Musique concrete", als klangliches Resultat mechanischer Prozesse. Wie ist das zu verstehen? Ich kann das nur provisorisch andeuten. Meine letzten Werke gehen von einem Moment des Klanglich en aus, das schon immer Tei l des Musik-Er lebnisses war, aber höchstens in extremen naturalistischen Fällen, und sonst nur untergeordnete Beachtung fand, obwohl die Wirkung von

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Musik wesentlich damit zusammenhängt: nämlich vom Klang als charakteristischem Resultat und Signal seiner mechanischen Entstehung und der dabei mehr oder weniger ökonomisch auf gewendeten Energie. Während beim „Musizieren" im allgemeinen eine möglichst diskrete An strengung unternommen wird, damit ein Ton in der gewünschten Weise erklinge - wobei sein musikalischer Sinn möglicherweise erst noch im Konflikt mit dem schon erwähnten stilisti schen Stör- und Korruptionsfaktor „Tonalität" sich zu bewähren hat, was ihn wider Willen „kompliziert" und mißverständlich macht -, möchte ich versuchen, den kausalen Zusammen hang umzuke hren: den Ton klingen zu lassen, um die ihm zugrunde liegende Anstrengung (des Spielers wie des Instruments) insveranlassen, Bewußtseinwas zu rücken, des Rückschlusses von der Wirkung auf die Ursache zu übrigensalso bei eine jedemArtAlltagsgeräusch selbst verständlich und - was mich be sonders reizt - nicht davon abhängig ist, ob einer „musikalisch" oder „gebildet" ist. Insofern also eine „Musique concrete", mit dem fundamentalen Unter schied, daß diese die Alltagsgeräusche dem Musikhören einverleiben will, während ich wel chen Klang auch immer zunächst als direkten oder indirekten Niederschlag von mechanischen Handlungen und Vorgängen profanieren, entmusikalisieren und von dort her zu einem neuen Verständnis ansetzen will. Klang als akustisches Protokoll eines ganz bestimmten Energieauf wandes unter ganz bestimmten Bedingungen, dieser Aspekt spielte schon immer, nicht zuletzt auch im Rahmen der klassischen Instrumentation, zumindest eine unbewußte Rolle. Wenn Richard Strauss in seiner Bearbeitung der Berliozschen Instrumentationslehre das hohe Pizzicato-G in Berlioz' Ouvertüre zu König Lear mit einer geplatzten Ader im Kopf des halbver rückten vergleicht und wennHerkunft andererseits Paganinis Flageolett-Töne die Zeitgenossen in dem Königs Maß faszinierten, als ihre der uneingeweihten Phantasie gewisse Rätsel auf gab - wie überhaupt bei jeglicher Art von Virtuosität -, so spielt hier immer ein realistischer Aspekt mit, der trotz seiner üblich en Beziehung zur musikalischen tonalen Sprache, auch ohne Rücksicht auf diese, und ohne sie erst recht, seine Wirksamkeit behält. Eine Musik allerdings, die aus solcher Perspektive den Klang versteht und mit ihm operiert, erfordert eine konsequent darauf ausgerichtete Kompositionstechnik; sie schafft sich notwendig auch ihre eigenen klin genden Formen. Aber über beides läßt sich hier kaum sprechen, denn noch ist zu wenig ent wickelt. Auch die bisher bekannt geworden en Werke des instrumentalen Theaters haben diesen Aspekt zugunsten von anderen, zumeist antithetisch aufs Alte fixierten Aspekten vernachläs sigt und eher verschüttet. Zerplatzte Papiertüten, zerspringende Flaschen, ersticktes Singen: Solange solche Vorgänge sich als extreme Fälle oder als szenische Komposition einerseits, als mehr oder weniger emotional Elemente eines allgemein klangfarblichen andererseits verstehen, bleibeneingesetzte sie exponiert als bloße Avantgardismen, sie genügen Kontextes so jeden falls dem von mir angedeuteten Anspruch nicht. Es geht ja weder um Klangfarben noch um Ak tionen, sondern um die akustisch vermittelte Beziehung zwischen beidem. Das muß ad hoc komponiert, in ein darauf bezogenes System integriert und so prinzipiell freigelegt werden. Natürlich spielt bei der Realisation solcher Musik die verfremdete Instrumentalbehandlung eine wesentlich e Rolle; denn die übliche Instrumentalpraxis sucht in jede m Fall den opti malen, reinen Klang, und zwar auf dem Weg des geringsten Widerstands; und um die Differenzierung dieses Widerstands und um den Klang als Ausdruck dieses Widerstands geht es ja gerade. Hier läßt sich ganz konkret mit S pannungen musikalisch operieren, die unmißverständlich Ausku nft über sich selbst geben und allenfalls belastet sind von dem Vorurteil, daß dies keine Musik mehr sei, ein Vorurteil, welches vielleicht für die Verständnisbereitschaft, in diesem Fall aber nicht für das Verständnis selbst ein Hindernis darstellt, gleichgültig, ob sich der Kontakt als Provo kation tonal genormter oder als Anregung emanzipierter ästhetischer Erwartung äußert. Das

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Material selbst jedenfalls ist dem Erleben zumindest so unmittelbar zugänglich wie die tonalen Funktionen es waren. Dieser Aspekt ist revolutionär insofern, als er gewaltlos profaniert, wo von „Kunst" positiv oder negativ die Rede ist, und als er die künstlerischen Kriterien den gesellschaftlichen Normen entzieht, statt diese bloß zu attackieren: ein Aspekt, so direkt und einfach, daß er schon wieder „unanständig" wird; er wird, von welchem Hörer auch immer, „verstanden" werden und zugleich möglicherweise dessen Protest hervorrufen. Dies ist sein Risiko. Die Aufführungen - fast hätte ich gesagt: die Aufregungen - von temA und von Air haben das schon angedeutet. Dabei betrachte ich diese Werke als ein erstes Tasten in der von mir beschriebenen Richtung, als Versuche mit den nächstliegenden Mitteln. Ich verspreche mir aber viel von diesem Weg, gleichgültig, wer die nächsten Schritte macht.

Ihre Werke bedürfen gewiß verständnisvoller Interpreten. Wie aber verhalten sich Orchester musiker bei den Aktionen, die Sie ihnen vorschreiben? Mit Orchestermusikern gibt es manchmal Schwierigkeiten. Das kann sich natürlich lähmend und entstellend auf die Musik auswirken. Die erwähnte Provokation fängt ja in diesem Fall bei dem Musiker selbst an. Nicht daß er technisch überfordert wäre: Im Gegensatz zu vielen neuen Partituren hat er in meinen Stücken eindeutige, rhythmisch bequeme und griff- oder ansatz technisch jederzeit realisierbare, aber eben weithin ungewohnte Aufgaben, bei denen es meist nicht auf ein vorgeschriebenes sondern auf dieVerfremdete Intensität derInstrumental-Aktion Aktion als solcher ankommt, vongenau der das Klangresultat Resultat, dann „berichten" wird. aber scheint eine übergroße psychologische Belastung für den Orchestermusiker zu bedeuten, zumal dann, wenn solche Verfremdung nicht als effektvolle Ausnahme, sondern als ernsthaft gemeinte Mitwirkung erscheint und sich so dem oberflächlichen, schockbereiten Konsensus des Publikums entzieht. So fühlen manche Musiker sich durch ihre Aufgaben lächerlich gemacht und bloßgestellt - Mißverständnisse, die sich nicht mit einem Satz, sondern allenfalls durch die klingende Musik - und das ist eben der Teufelskreis - beheben lassen. Natürlich ist der einzige Weg eines vorläufigen Arrangements mit den Musikern der Humor: Humor indem man's trotzdem macht. Wenn der eine Probe lang vorhält, ohne die Disziplin zu unter graben, wenn das Stück einmal „da" war, dann ist das Schlimmste überstanden, dann ist der Überblick über den Sinn des einzelnen Tuns gegeben, dann gibt es vielleicht sogar Verständnis und überzeugte Einsatzbereitschaft mittelten Lernprozeß - immer wiederbei voneinzelnen. neuem da.Das Risiko ist aber - wie bei jedem unver

Wie notieren Sie Ihre Musik? Ich halte mich, wo es nur irgend geht, an die traditionelle Notation. Für neue Spielweisen be nutze oder erfinde ich ad hoc zusätzliche Zeichen, wenn diese durch ein Stück hindurch ver bindlich bleiben können und oft genug vorkommen, damit es sich lohnt, sie sich einzuprägen. Darüber hinaus bediene ich mich von Fall zu Fall der verbalen Beschreibung von Aktionen. In den letzten Stücken, in Guero für Klavier und Pression für Cello, habe ich mich graphischer Darstellung bedient: Die Vertikale entspricht hier nicht mehr ohne weiteres dem Bereich zwi schen hoch und tief, sondern je nachdem immer wieder einer anderen Instrumenten-Oberfläche, sodaß nicht mehr das Resultat, sondern die Stelle am Instrument, wo der Spieler zu berühren, zu streichen, zu schlagen oder sonst etwas zu tun hat, angegeben ist.

Glauben Sie mit Ihren letzten Kompositionen einen Weg auf lange Sicht eingeschlagen zu ha ben, oder halten Sie es für denkbar, daß sie einen Übergang zu neuen Zielen darstellen?

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Das weiß ich nicht. Vielleicht stimmt beides. Was ich will, mein „Ziel", ist immer dasselbe: eine Musik, die mitzuvollziehen nicht eine Frage privilegierter intellektueller Vorbildung ist, sondern einzig eine Frage kompositionstech nischer Klarheit und Konsequenz; eine Musik zugleich als Ausdruck und ästhetisches Objekt einer Neugier, die bereit ist, alles zu reflektieren, aber auch in der Lage, jeden progressiven Schein zu entlarven. Kunst als vorweggenommene Freiheit in einer Zeit der Unfreiheit. Als Musiker, auf welchem Weg auch immer, auf dieses Ziel hinzuarbeiten und alle daraus entste henden inneren und äußeren Konflikte auszutragen, heißt an der Emanzipation des Geistes und an der Veränderung des gesellschaftlichen Denkens mitwirken. Mehr kann Musik nicht leisten.

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Selbstportrait 1975 Woher -Wo - Wohin Geboren 1935 in Stuttgart. Pfarrhaus, viele Geschwister, viele Anregungen, viel Musik. Krieg. Nachkriegszeit. Klavierstunden, Knabenchor, Komponieren. Gymnasium, Bücher, Partituren. Abitur und Beginn des Musikstudiums in Stuttgart: Theorie und Kontrapunkt bei Johann 43

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Nepomuk David, Klavier bei Jürgen Uhde. Erste variationen über einen Schubert-Ländler, Rondo für zweiöffentlich Klaviere.gespielte Stücke: Klavier 1957 zum erstenmal bei den Darmstädter Ferienkursen: Scherchen, Stockhausen, Pousseur, Maderna, Nono, Adorno. Ab Herbst 1958 Studium in Venedig bei Nono: Analysen alter und neuer Musik, serielle und freie Entwürfe, Kompositionen: Souvenir für 41 Instrumente, Due Giri für Orchester, Tripelsextett. Mitwirkung an den Darmstädter Auseinandersetzungen von 1959 und 1960 („Üb erset zer" zweier Vortragstexte von Nono). 1960 Rück kehr aus Venedig, Wohnort München. Unter stützung durch Künstler der älter en Generatio n: Herbert Post, Günter Bialas, Fritz Büchtger. Arbeiten auf der Suche nach dem eigenen Standort, Vorträge, Auftreten als Pianist, kompo sitorische Experimente mit offenen Formen, Introversionen. 1962 Uraufführung der Fünf Stro phen auf der Biennale Venedig und von Echo Andante für Klavier in Darmstadt. 46

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1963 und 1964 Kölner Kurse für Neue Musik: pragmatische Handhabung des Klanglichen in Stockhausens Plus-Minus; Studium von Fragen der Aufführungspraxis bei Caskel, Rzewski, Kontarsky. 1965 Arbeit im IPEM-Studio Gent, elektronische Komposition Scenario. Ab 1966 Lehrer für Tonsatz an der Musikhochschule Stuttgart. Streichtrio (für die Societä Cameristica Italiana), Trio fluido, Interieur I für Schlagzeug 1967. Aufsatz Klangtypen der Neuen Musik: abstrakter Strukturalismus der fünfziger und empiri sches Klangdenken der sechziger Jahre integriert in der wechselseitigen Umdeutung von „Klangstruktur" und „Strukturklang". Erstes Chorstück für Clytus Gottwalds Schola Cantorum Stuttgart: Consolation I (nach einem Text von Ernst Toller aus „Masse Mensch"), 1968 Consolation II („Wessobrunner Gebet"). Consolation III und IV sind in Arbeit. Seit 1970 Lehrtätigkeit an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Praktische und theoretische Erfahrungen und Konzepte finden um diese Zeit zusammen: die Verfestigung 48

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des Musikdenkens im tonal bestimmten Medium; die Bedeutung dieser Verfestigung als ästhetischer Niederschlag von ideologischer Gebundenheit an überlebte, jedoch überlebende Normen; die Regression des Avantgarde-Betriebs im Sog des bürgerlichen Musikdenkens, das selbst in der vorläufigen Negation des Tonalen sich dessen kommunikativ bewährte Reize zunutze macht; die Fragwürdigkeit des politischen Anspruchs von Musik, solange sich diese um das Problem herumdrückt, ästhetische Vorprogrammierungen unserer Gesellschaft zu durchbrechen, ohne sie durch die Hintertür wieder zu bestätigen; die Suche nach dem Aus weg über ein dem Alltagsdenken entlehntes realistisches Klangverständnis unter Vermeidung des „exotischen" Effekts: Klang als Nachricht seiner Entstehungsbedingungen; die Einbezie hung und strukturelle Abwandlung dieser Erfahrung als unvermeidliche, notorische Tabuver letzung und gesellschaftliche Provokation. Die Bezeichnung „instrumentale Musique con crete" mag irreführend gewählt worden sein, die Werke selbst wurden verstanden; an temA,

Air, Pression und Kontrakadenz schieden sich die Geister. (Der Senator bei der Verleihung des Bach-Preises in Hamburg, als ich ihm für die Aufnahme im Gästehaus des Senats dankte: „Wenn ich Ihre Musik gekannt hätte, hätte ich Ihnen einen Zeltplatz vor der Stadt angebo ten.") Jüngere Werke wie Gran Torso für Streichquartett, Klangschatten - mein Saitenspiel 153

und Fassade für Orchester sind dem oberflächlichen Hörer eher ein Kahlschlag als eine natürliche neue Landschaft. Seit temA und Air geht es in meiner Musik um streng auskonstruierte Verweigerung, Aussper rung dessen, worin sich mir Hör-Er wartung en als gesellschaftlich vorgeformt darstellen. Dies be deutet nicht bloße Antithese, denn so eindeutig sind die Dinge nicht. Vielmehr ergeben sich dia lektische Arbeits- und Erfindungsprozesse im Zusammenhang mit den verschiedenen Eigen schaften von klingendem Material, das bekanntlich nirgends frei, sondern überall schon expressiv geladen und belastet ist. (Der Begriff „Tonalität" ist in diesem Zusammenhang nichts als charakteristisches Kürzel solche Normen, die - sind.) wenn auch ständig darauf bezogendiemit ein dem Wort „Tonalität" längstfürnicht mehr erschöpft Das ästhetische Angebot, Intensitä t, wen n man so will: die Schön heit von Musik ist für mich untrenn bar an das Niveau der Anstrengung gebunden, mit welcher sich der Komponist derartigen Vorwegbestimmungen im Material widersetzt: In solcher Auseinandersetzung, als Auseinandersetzung mit der darin ge bundenen gesellschaftlichen Wirklichkeit, bildet er diese ab und drückt er sich aus. Mag schon sein, daß er dabei gelegentlich von der Wirklichkeitsferne des eigenen Vokabulars gelähmt wird bis zur Parano ia angesichts der aktuellen Vorgänge, auf die unmitt elbar einzuwirken ihm als Mu siker verwehrt ist. Dies ist das Problem seiner politischen Wachheit und deren Rückwirkungen auf seine Ziele als Komponist. Glaubwürdig ist er mir nur in der konsequenten Auseinanderset zung mit den ästhetischen Kategorien der von ihm erschlossenen kompositorischen Mittel. Ich hasse - nicht nur in der Kunst - den Messias und den Hanswurst. Der eine ist mir Zerr bild des anderen. Dafür liebe ich den Don Quichotte, und ich glaube an das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen.

Zu SCHWANKUNGEN AM RAND Vier Trompeten, vier Posaunen, vier Donnerbleche, zwei Flügel, zwei elektrische Gitarren und 34 hohe Streicher (Violinen und Bratschen) sind am Saalrand um das Publikum placiert. Die realen und räumlichen Klangwirkungen können durch Mikrophone über Verstärker und Laut sprecher verändert und verlagert werden. Im Stück entfalten sich verschiedene Gegensätze, die teils schon im Ausgangsmaterial angelegt sind, teils sich aus dem Verlauf ergeben. Zu den ersteren gehören die „schwankende" Bedeutung des Klangs als konkretes Produkt seiner mecha nischen Entstehung einerseits und als wohlbekanntes Signal, als Teil eines geläufigen spiel technischen Repertoires andererseits, aber auch die Bedingungen des realen Raums: Sie wer den durch die elektrische Verstärkung überwunden und blockiert, geraten gewissermaßen „ins Schwanken". Zu den letzteren gehört die schwankende Funktion des Rhythmischen, hier als starres Zeitgerüst, dort als unberechenbares, nur mittelbar gesteuertes Produkt der Unscharfen und des charakteristischen Innenlebens von instrumentalen Vorgängen. Direkt greifbar wird dieses Prinzip der „ Schwank ung" zum einen am konkreten, nur relativ steuerbaren Mat erial der Donnerbleche, zum anderen am Medium von Steuerung selbst: an der blinden Apparatur der elektrischen Verstärk ung. Das Stück ist ein Versuch, das Hören zwischen verschiedenen möglichen Kategorien in der Schwebe zu halten, quasi pendeln zu lassen, und zwar auf dem Weg über präzise, ad hoc for mulierte Strukturen. Daß diese daraufhin angelegt sind, sich aufzuheben, von sich wegzuwei sen auf die Landschaft der Unscharfen und der ausgelösten Zwischenweite, wie sie sich auf der „Rückseite" des geschaffenen Musters ergeben: Dies wird spätestens überall dort deutlich, wo die Struktur in Fermaten, versteinerten Ostinato-Wendungen oder im „Laissez-vibrer" von ge knautschtem Packpapier erstarrt. 154

Struktur und Musikantik „ Weil eure Freiheit nur in einem Teil der Gesellschaft wurzelt, ist sie unvollständig. Alles Be wußtsein wird von der Gesellschaft mitgeprägt. Aber weil ihr davon nicht wißt, bildet ihr euch ein, ihr wäret frei. Diese von euch so stolz zur Schau getragene Illusion ist das Kennzeichen eu rer Sklaverei. Ihr hofft, das Denken vom Leben abzusondern und damit einen Teil der mensch lichen Freiheit zu bewahren. Freiheit ist jedoch keine Substanz zum Aufbewahren, sondern eine im aktiven Kampf mit den konkreten Problemen des Lebens geschaffene Kraft. Es gibt keine neutrale Kunstwelt. Ihr müßt wählen zwischen Kunst, die sich ihrer nicht bewußt und unfrei und unwahr ist, und Kunst, die ihre Bedingungen kennt und ausdrückt. Wir werden nicht aufhören, den bürgerlichen Inhalt eurer Kunst zu kritisieren. Wir stellen die ein fache Forderung an euch, das Leben mit der Kunst und die Kunst mit dem Leben in Einklang zu bringen. Wir verlangen, daß ihr wirklich in der neuen Welt lebt und eure Seele nicht in der Vergangenheit zurücklaßt. Ihr seid noch gespalten, solange ihr es nicht lassen könnt, abge nutzte Kategorien der bürgerlichen Kunst mechanisch durcheinander zu mischen, oder Kate gorien anderer, proletarischer Bereiche mechanisch zu übernehmen. Ihr müßt den schwierigen schöpferischen Weg gehen, die Gesetze und die Technik der Kunst neu gestalten, so daß sie die entstehende Welt ausdrückt und ein Teil ihrer Verwirklichung ist. Dann werden wir sagen ..." Hier bricht das Zitat ab, das ich dem Buch „Bürgerliche Illusion und Wirklichkeit" des englischen (marxistischen) Schriftstellers Christopher Caudwell entnommen und in mein Gi tarrenstück eingearbeitet habe. Es lag mir nichts daran, die Caudwellschen Heilsversprechun gen mit aufzunehmen, vielmehr wollte ich jenen Worten ein Denkmal setzen, die - am Ende einer aufrüttelnden Schrift - das aussprechen, worum es mir selbst von jeher beim Komponie ren gegangen ist. Caudwells Forderung nach einer Kunst, die ihre Bedingungen kennt und ausdrückt, ist zugleich eine Absage an einen verhängnisvollen und undurchdachten Freiheitsbegriff, in des sen Namen das bürgerliche Individuum sich das Recht beziehungsweise die „Freiheit" nimmt, unter dem Druck der von ihm selbst heraufbeschworenen Bedrohungen und Entfremdungen den Kopf in den Sand zu stecken oder in private Idyllen zu flüchten, statt sich der Wirklichkeit, der äußeren wie der inneren, zu stellen und sich mit ihren Widersprüchen auseinanderzusetzen. 51

Dabei bedeutet Caudwells Aufruf eine Absage auch an jene, welche einen derart politisier ten Kunst- und Freiheitsbegriff erneut verkommen lassen, indem sie ihn in das Prokrustesbett von ideologischen Doktrinen zwängen, die sich inzwischen weithin als neue Formen von Un terdrückung entlarvt haben. 1977, als ich an dem Gitarrenstück arbeitete, waren es gerade vierzig Jahre, seit Caudwell im spanischen Bürgerkrieg als Dreißigjähriger im Kampf gegen die Faschisten starb. So gedachte ich seiner auf meine Weise, bemächtigte mich jenes Textes, inszenierte in der Mitte des Werks eine Reihe von Salut-„Schüssen", ließ am Ende der Form so etwas wie spanisches Kolorit durchscheinen und gab dem Werk seinen Namen. Die Forderung des Marxisten Caudwell an die Kunst steht übrigens keineswegs im Wider spruch zur bürgerlichen Tradition. Vielmehr bewahrt sie deren wahres Vermächtnis: Spätestens seit Schönberg kehren sich in der musikalischen Kunst Bestimmungen hervor, die früher eher verborgen gewirkt haben und die im öffentlichen Kulturbetrieb nach wie vor geflissentlich ignoriert werden, nämlich die Dialektik von Kunstgenuß und ästhetischem Konflikt : Schönheit erfahren als Uberwindung der Gewohnheit durch Umformung der von Geschichte und Gesell schaft vorgeprägten Mittel bedeutet expressive Neubestimmung der Mittel mit Hilfe von Tech155

niken, welche - aus den überlieferten Gesetzmäßigkeiten dieser Mittel selbst abgeleitet und weiterentwickelt - so die daran gebundenen ästhetischen Normen sprengen. Solches Zusammenwirken von Angebot und Verweigerung war von jeher wesentliches Merkmal des Kunstwerks. In jedem klassischen Beispiel ließe sich dieses Moment des Wider stands im jeweiligen Kontext aufzeigen. Kunst solchermaßen verstanden nicht nur als Aktivie rung unserer Vorstellungskraft, sondern darüber hinaus als Eingriff in unsere Vorstellungswelt und darüber hinaus in unser existentielles Selbstverständnis und unser Weltbild, verdeutlicht die Wechselwirkung und den Zusammenhang zwischen individueller Empfindungswelt und gesellschaftlich vorgegebenen Wertmaßstäben und erinnertund denÖffentlichkeit Menschen ansich seine Möglich keit und Bestimmung, im Spannungsfeld von Innerlichkeit zu erkennen, sich auszudrücken - und verantwortlich zu leben und zu handeln. Die Praxis des Komponisten, sein künstlerisches Handeln indessen muß dort ansetzen, wo ihm Innerlichkeit und Öffentlichkeit in ihrer ästhetischen Vermittlung als Objekte unmittelbar begegnen: nämlich bei der musikalischen Sprache beziehungsweise bei den musikalischen Mit teln selbst. Es ist eine Binsenweisheit, daß diese Mittel nicht einfach gefügiger Werkstoff für die kom positorische Phantasie, sondern daß sie von vornherein expressiv geladen sind. Als bewährte Ausdrucksmittel einer ästhetisch kommunizierbaren Innerlichkeit sind sie gewissermaßen öf fentliches Eigentum. Was die Sache dabei auf lähmende Weise verwickelt macht, ist, daß ihre gesellschaftliche Vorwegbestimmtheit keineswegs eindeutig ist. Gewiß sind diese Mittel expressiv geprägt durch jene halb magisch-irrationale, halb kommerziell-dekorative Rolle einer zwar überlebten, aber dennoch überlebenden tonalen Geborgenheitsästhetik, die mit Schönberg längst entlarvt und aufgekündigt worden war. Wir sehen aber auch, daß eine von der eigenen Wirklichkeit erschreckte, schon fast gelähmte Zivilisation sich nun bald ein Jahrhundert lang krampfhaft an jene Geborgenheitsästhetik klam mert und offenbar fähig ist, jede Störung ihres ästhetischen Weltbildes als dissonante, exotisch faszinierende Variante des Gewohnten kurzerhand in die kulturelle Schmuck- und Schock sammlung aufzunehmen, beziehungsweise dort hinein zu verdrängen und sich so um die in sol cher Störung angebotene Auseinandersetzung mit der eigenen Entfremdetheit und Angst her umzudrücken. Die Praxis des Komponisten kann sich nicht blind verhalten gegenüber solcher hartnäckigen Anklammerung des bürgerlichen Bewußtseins, weil die Attribute dieser Geborgenheitsästhe tik, etwa die Kategorien der Tonalität, damit zugleich zu Signalen von Angst und Ratlosigkeit geworden sind. Damit aber ist das musikalische Material in den Strudel eines Karussells der Umdeutbarkeit geraten, die sich jeder Kalkulation zu entziehen scheint: Die Attribute des bewährten Kunstge nusses werden zu Mitteln des Schocks - Schock und Konflikterfahrung aber werden von vorn herein entschärft und domestiziert als Varianten des ungebrochenen Kunstgenusses. Der ein zelne Klang, ob konsonant, dissonant, atonal oder verfremdet, wird keineswegs eindeutig neu bestimmt durch den vom Komponisten geschaffenen Zusammenhang, denn dieser Zusammen hang selbst ist vieldeutig und steht in größeren Zusammenhängen und ist ein Konglomerat aus Zusammenhängen: bewußten, unbewußten, bedachten, unbedachten, rationalen, irrationalen. Damit ist, so scheint es, dem Komponisten, der - in der Auseinandersetzung mit den Mitteln auf solche theoretische Reflexion sich eingelassen hatte, wieder alles unter den Händen zer ronnen. Was immer sein Wille kontrolliert, es ist immer nur ein Teilstück eines unbekannten 156

Ganzen und - wer weiß: Vielleicht kontrolliert das Ganze ihn. (Der Komponist ist der Schwanz, der mit dem Hund wedelt.) Diese Erkenntnis bedeutet keine Resignation, sondern beweist erst recht die Notwendigkeit solchen theoretischen Denkens, denn sie macht den Komponisten hell wach und schlägt ihm zugleich jedes Rezept aus der Hand. Übrig bleibt ihm ein durch eine Hölle von Verunsicherungen hindurch zu rettender Ausdruckswille, ein geschärftes Denken und Fühlen im Umgang mit den Mitteln und ein in solcher Auseinandersetzung sensibel ge wordener Instinkt: Reflexe des Schwanzes, in der Hoffnung, daß der Hund mit ihm wedelt. Oder feierlicher, mit den Worten Mahlers: „Ich komponiere nicht, ich werde komponiert." Im folgenden einige Andeutungen zu meiner Komposition Salut für Caudwell. Über die Gitarre, ihre Klangwelt als einem eigenartigen Element in unserem Kulturmobiliar brauche ich nicht ausführlich zu philosophieren. Es ist klar, daß ich ein solches Instrument mit einer so aus geprägten und eigenwilligen Aura nicht einfach benutzen und mich seiner Musizierpraxis unterwerfen konnte. Weder konnte es darum gehen, mich dieser Aura schlau zu bedienen, noch darum, mich ihrer verzweifelt zu erwehren, sondern darum, die typische Klangwelt mit meinen Möglichkeiten zu durchdringen, aber auch mich selbst davon durchdringen zu lassen. In die sem Sinn bin ich von charakteristischen Spielformen dieses Instruments ausgegangen, habe sie einerseits lapidar reduziert, andererseits umgeformt und neu entwickelt, oft über die Grenzen der üblichen Praxis hinaus. Die ganze virtuose Griffkunst wurde dabei umgangen, eine andere dafür entwickelt. Im Grunde gibt es nur den Barre-Griff: die quer über die Bünde gelegte Hand oder den Gleitstahl, sodaß im Harmonischen die Intervallverhältnisse der leeren Saiten domi nieren. Die so zunächst erstarrte Harmonik allerdings wird weit differenziert durch Mischun gen, Verwischungen, Verzerrungen, Ausdämpfungen usw. Vom Gestischen her betrachtet scheint mein Stück wieder an einer metrisch orientierten, fast tänzerischen Musizierpraxis anzuknüpfen, einer Praxis, die in den meisten Werken der soge nannten Avantgarde weithin vermieden worden war zugunsten eines streng strukturellen Um gangs mit den Mitteln. Der klassisch-serielle Strukturbegriff, wie er an die Tradition Weberns angeknüpft hatte, ist an sich einer rhythmisch-musikantischen Erfahrung im Wege, weil er von der eher räumlich vorgestellten Zuordnung der Elemente in der Zeit bestimmt ist, in der alles ständig in Beziehung zu allem und so gleichsam punktuell eingeebnet ist. Dieser Strukturbegriff, aus der polyphonen Technik der traditionellen Musik selbst abgelei tet, bedeutet den entscheidenden Ausbruch der Musik aus dem tonalen Gefängnis und war der entscheidende Ansatz, der die tonalen Vorwegbelastungen des traditionellen Materials abfan gen und - wenn auch nur vorläufig - aufheben konnte. Auch in Salut gibt es Abschnitte, die jen em Strukturdenken näher stehen: am extremsten und von jener eher tänzerisch-musikantischen Grundhaltung am weitesten entfernt (wenngleich ihr zugeordnet) wohl im vorletzten Werkabschnitt, wo Sequenzen aus punktuellen Schallsignalen polyphon überlagert sind, von denen jede einen charakteristischen Schallerzeugungs-Vorgang darstellt: Wischen, Zupfen, Tupfen, Prallen, Klopfen, Scharren - diese Vokabeln beschreiben Erzeugungsvorgänge und zugleich die akustischen Resultate (siehe Beispiel 1, S. 159). In meinen früheren Stücken hätte eine solche Bauart eher den Normalfall bedeutet. Hier, in Salut, ist sie ein Sonderfall, eine Situation der strukturalistischen Verengung kurz vor Schluß, bevor sich nämlich eines der hier zusammenwirkenden Partikel, das rechteckige Scharren, zu einem r

fingierten Tango-Rhythmus von eher folkloristischem Zuschnitt öffnet. An die Stelle der strukturellen Vielschichtigkeit aus punktuell em, quasi abge tötetem K langmat erial , tritt dann j ni t Hilfe der Einschichtigkeit eine andere Vielschichtigkeit, die der Bedeutung und Assozia tionskraft der musikantisch freigegebenen Klänge und Bewegungen. 157

Um die Dialektik von Strukturalität und Musikantik zu verdeutlichen, stelle ich dem eben ge zeigten Abschnitt einen anderen, diametral entgegengesetzten, früheren Abschnitt gegenüber, den nämlich, in welchem die Musiker den Caudwellschen Text sprechen. Dieser Text erzwingt natürlich zunächst ein absolut einschichtiges Hören und degradiert alles andere zur Begleitung, mag es auch noch so komplex gesetzt sein. In einer Art Flucht nach vorne habe ich hier auf jede strukturelle Komplexität verzichtet und es bei einem äußerst geraden Rhythmus belassen, der fast dem nackten Metrum entspricht. Dabei bildete sich eine einfach gerasterte Zeitebene, in welcher der Text fast von selbst seine phonetische Struktur bewußt macht und in den resultie renden musikalischen Charakter einbezieht. Die Ostinatoform des gleichmäßigen Bewegungsgestus macht es hier erst möglich, das Innenleben von Klang beziehungsweise von Sprache als wesentliche Komponente des Ausdrucks wahrzunehmen (siehe Beispiel 2, S. 160). Das Prinzip solcher Struktur-Halluzinationen ist natürlich nicht neu, es wird in der Minimal- und Konzept kunst vielfach variiert. Es dient dort allerdings einer eher magisch gerichteten Erfahrung, hat meditative Funktion. Hier in meinem Stück bildet es eine Station, die angesteuert und wieder verlassen wird, einen strukturellen Aggregatzustand, der sich ergibt und wieder wandelt. Denn nicht magisch-faszinierte Willenlosigkeit, sondern im Gegenteil der Wille, der das Material bestimmt und weiter treibt, kennzeichnet den Ausdruck und regelt die Form meiner Musik. Dabei gibt es unter meinen jüngeren Werken kaum eines, in welchem die Form nicht auf den Punkt zutreibt, wo die Musik als in sich selbst kreisender Ostinato auf der Stelle tritt und es keine Notwendigkeit mehr zu geben scheint, „weiter" zu gehen. In Salut ist eine solche Stelle dort wo hat: die Musik einzelnen gerissenen Akzenten, die weitfürauseinanderliegen, sich quasierreicht, festgekeilt Es sindinjene anfangs erwähnten „Salutschüsse" Caudwell (siehe Bei spiel 3, S. 161). Dieser Moment bildet so gegenüber der „reinen" Struktur des ersten Beispiels und dem Gegensatz, den die Textstelle verkörpert, einen dritten Grenzfall, in welchem Musikantik und Strukturalität, beide in radikaler Verformung, dennoch präsent und aufeinan der bezogen sind. Es war keine Willkür, daß ich mich hier auf die Andeutung jener Dialektik von Struktur und Musikantik in Salut beschränkt habe. Denn jener Strukturbegriff, der sich einst notwendiger weise als Schlüssel zur Überwindung der alten Tonalität mitsamt den daran gebundenen Tabus angeboten und bewährt hatte, bedarf inzwischen selbst der dialektischen Befragung, wenn er nicht zum falschen akademistischen Bastelrezept verkommen will. Das strukturelle Denken ist des öfteren verhimmelt und verteufelt worden. Ich selbst glaube nicht, daß es ohne strukturel les Denken mit geht. Denken verlieren, aber muß wiederfinden sich immer wieder von neuem inMusik der Auseinan dersetzung derSolches realen Umwelt und neu definieren. hat Sinn doch nur, wenn sie über die eigene Struktur hinausweist auf Strukturen, das heißt: auf Wirk lichkeiten und Möglichkeiten um uns und in uns selbst.

1979

158

Beispiel 1

Helmut Lachenmann, Salut für Candwell, Takte 443-455

Beispiel 2

Helmut Lachenmann, Salut für Caudwell, Takte 121-134

Helmut Lachenmann, Salut für Caudwell, Takte 306-325

Vom Greifen und Begreifen - Versuch für Kinder Arnold Schönberg erzählte einmal, daß man ihn bei seiner Musterung gefragt habe, ob er denn jener Komponist Arnold Schönberg sei, worauf er geantwortet habe: „Einer hat es sein müssen, keiner hat es sein wollen, so habe ich mich dazu hergegeben." Diese Anekdote verrät mehr als bloß heroische Koketterie. Sie sagt vielmehr etwas aus über jene Erkenntnis, die spätestens in diesem Jahrhundert bestimmend für viele Komponisten bis heute geworden ist: daß Kunst über die magische Beschwörung von Lebensfreude und übers ästhetisch Erbauliche hinaus Ausdruck des Menschen, Ausdruck seiner Sehnsüchte und Hoff nungen, aber auch seiner Widersprüche ist - anders gesagt: daß Kunst das Moment des „bitter Notwendigen" enthält, daß sie unbequem sein muß. Wir leben offenkundig in einer Gesell schaft der Sprachlosigkeit, die übertüncht ist durch eine falsche Sprach-Fertigkeit, wie sie uns vorgegaukelt wird durch den Wust der Medien einschließlich einer falsch traditionsbeflissenen Kulturpflege, welche in der Tradition weniger wurzelt als eher darin wurstelt, und welche wi der besseres Wissen für den behaglichen Kunstgenießer ein Menschenbild pflegt und bestätigt, welches durch die Wirklichkeit längst widerlegt worden ist. Vor hundertfünfzig Jahren ließ Georg Büchner seinen Woyzeck sagen: „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht". Kunst heute muß sich entscheiden, ob sie den Blick in solchen Abgrund vermitteln, aushalten, lehren und ihr Selbstverständnis durch solche Erfahrung prägen lassen will, oder ob sie durch Mißbrauch und unter Berufung auf eine zurechtinterpretierte Tradition das Wissen um den Abgrund verdrängen und sich die Werke der Tradition als warme Bettdecke über den Kopf ziehen will. Kultur, einst Medium der Erhellung, ist Medium der Verdrängung geworden. Kunst, welche aus diesem Sog ausbrechen will, muß in den Konflikt mit der Gesellschaft geraten, ob sie will oder nicht. Ist es also ein Wunder, daß Komponisten, die solcher Erkenntnis sich verpflichtet fühlen, in Verlegenheit geraten, wenn sie gefragt werden, was ihre Musik Kindern geben könne, beziehungsweise, wenn sie gebeten werden, für Kinder zu schreiben? Steht jenes Kriterium des notwendig Unbequemen, unvermeidlich Konflikt-Trächtigen nicht in diametralem Gegensatz zu dem, was einem Kind Freude an der Musik wecken kann? Kind sein, man erlaube mir solches Dilettieren, heißt doch: lustvoll erleben und über solches Erleben die Welt, die Natur, die Technik, die Kunst und in allem sich selbst entdecken, so sich entwickeln und seine Kräfte immer weiter entfalten. Wobei es natürlich kein Geheimnis ist, daß wohl keinem Kind die Erfahrung des Menschen als „Abgrund" erspart bleibt, ja daß Kinder wohl an mehr Abgründe geraten, als ihren Erziehern bekannt und erwünscht ist. Nun erschöpft sich aber gerade kindliches Entdecken nicht bloß im Befriedigen der Neu gier nach Sinnesreizen, sondern zielt auch auf deren gesteigerte Wahrnehmung und deren Verständnis als Produkte von Ursachen, von darin wirkenden Zusammenhängen und Regeln. So gehört zu solchem Entdecken gewiß auch das Sich-Anpassen und Sich-Disziplinieren in der un mittelbaren Umwelt. Solches Sich-Anpassen kann durchaus dem Respekt und der Neugier ge genüber der Umwelt entspringen, kann einen Teil des Entdeckens und Sich-Erweiterns bedeuten und wurde doch immer wieder von scheinbar besonders fortschrittlichen Erziehern unsinniger weise als Unterdrückung einer utopischen, ungebändigten Kinderphantasie angeprangert. Zur Einführung oder Einübung in unsere bürgerliche Ästhetik, etwa im Instrumentalunter richt oder im allgemeinen Musikunterricht, gehört aber nicht nur die Vermittlung der Kenntnis, sondern auch das Verständnis der Spielregeln. Ein Unterricht gerade dort, wo er von traditio neller Literatur geprägt ist, der sich nicht beschreibend und klärend mit der Struktur der Musik, 162

ihren Regeln, Bauprinzipien und mit dem Zusammenhang von Struktur und expressiver Wir kung der Musik befaßt, ein solcher Unterricht bedeutet für die geistige Entwicklung des Ler nenden nicht viel mehr als Tennisunterricht, Fahrschule oder Schreibmaschinenkurs. Nichts also gegen den am traditionellen Erbe orientierten Musikunterricht. Die damit verbun dene Disziplinierung und Anpassung wird verhängnisvoll erst dort, wo sie nicht Mittel zur gei stigen Entfaltung, sondern letztes Ziel bedeutet, wo es also um Verfestigung und Tabuisierung geht stattund umgelähmt. Verstehen und durchdringendes Entdecken. Erst dort wirdstoßen, die eigene Phantasie brochen Entdecken heißt aber nicht nur, auf Unbekanntes sondern auch: ge be reits Vertrautes in verändertem Licht, gar vielleicht als Fremdgewordenes neu erfahren. Entdecken also heißt in jedem Fall Lernen und sich unter der Einwirkung von neuen Erfah rungen verändern. Entdecken heißt aber darüber hinausgehend: sich selbst als Veränderbarer, Erweiterbarer und zugleich als immer derselbe erfahren, nämlich im weitesten Sinn als zum Erkennen fähiger und aus Erkenntnis heraus handlungsfähiger Geist, der sich verantwortlich weiß für diese von ihm zu prägende Wirklichkeit, und zwar gerade dort, wo der Ungeist eines bequemen und eher gastronomisch motivierten Kulturbetriebs sich damit begnügt, unter Be schwörung der alten Meister von einer lästigen Wirklichkeit abzulenken. Und so steht auch in der Kunst am Ende jeglichen lernenden Entdeckens jene alles beherr schende Regel: daß es der erkennende und auf seine Wirklichkeit schöpferisch reagierende menschliche Geist ist, der im Zusammenwirken von Phantasie und Vernunft und in der leben digen Auseinandersetzung mit den Mitteln und dem überlieferten Material die Regeln stiftet, aber auch zugleich die alten Regeln durchbricht, verändert, erweitert, überwindet, sie aufhebt im doppelten Sinn des Wortes, und der, indem er so das Überlieferte in ein neues Licht rückt, sich zu erkennen gibt. Wir trauen offenbar also den Kindern, als den Entdeckenden und Lernenden schlechthin, und zwar durchaus als lustvolle Erfahrung der eigenen Möglichkeiten, tatsächlich das zu, was wir Erwachsenen, wo es uns selbst zugemutet wird, als unbequem verdrängen und dem wir uns in der Kunst so gern bequem verschließen: nämlich die Erfahrung der Horizont-Erweiterung und der eigenen Veränderbarkeit. Solche Erfahrung, vollends in der Kunst, ist unbequem für uns Erwachsene, weil sie uns an die eigene Verfestigtheit und zugleich an die eigene Verantwortung erinnert, solche Verfestigtheit zu überwinden, den Kopf aus dem Sand zu ziehen und den Blick auf den Spiegel unserer Wirklichkeit auszuhalten, einer Wirklichkeit, die - vom Menschen ver ursacht - nun diesem selbst offenbar zur Bedrohung geworden scheint, einer Wirklichkeit, vor der wir uns in der Kunst immer wieder in die Utopie eines scheinbar intakten Welt- und Men schenbildes flüchten und uns verzweifelt daran klammern. In der Musik, die, wenn sie die Bezeichnung Kunst verdient, auf ihre Weise an solche Kräfte und Möglichkeiten des Menschen über dessen ästhetische Erfahrung gemahnt, bedeutet dies wahrnehmungstechnisch etwas sehr Einfaches und zugleich doch Schwieriges: nämlich den scheinbaren Umweg des Erlebnisses zum Gemüt über das Denken und übers Bedenken. Noch pragmatischer eingeengt: den scheinbaren Umweg zur-ästhetischen Empfindung über die Bewußtmachung der im Werk wirkenden Strukturen, das heißt: der im Werk wirkenden imma nenten und übergreifenden Zusammenhänge; das Erlebnis von musikalischem Ausdruck also nicht bloß als irrational empfundenem Gemüts-Reiz unseres Sensoriums, sondern Ausdruck als Resultat einerseits von neu zugrunde gelegten Regeln, andererseits aber auch als Resultat der Überwindung von bereits vorgegebenen Spielregeln. Meine Stücke Ein Kinderspiel wollen in diesem Sinn leicht zu greifende und zu begreifende Modelle sein.

163

Ich habe Hören immer wieder gern bezeichnet als Abtastvorgang, welcher Rückschlüsse auf die im Werk wirkenden Bauprinzipien und darüber hinaus auf die zugrunde liegende expres sive und ästhetische Haltung ermöglicht, wobei sich der Kreis dadurch schließt, daß die so registrierte oder wie auch immer empfundene Haltung wiederum auf den einzelnen ertasteten Hör-Moment zurückwirkt und ihm so erst die expressive Intensität verleiht. Jener Gedanke des Abtastens von Bauprinzipien wurde in diesen Stücken einmal ganz wört lich genommen: Im ersten Stück zum Beispiel wird jene im „Möbelstück" Pianoforte vorgegebene Anord nung der achtundachtzig Klaviertasten von oben nach unten durchgetastet, wobei eine andere vorgegebene Struktur, nämlich der Rhythmus des Kinderliedes „Hänschen klein" zum Regula tiv wird. Zwei vorweg gegebene Strukturen wirken also aufeinander ein. Dazu kommt noch eine Skala von im Klavier verfügbaren Nachhall-Varianten, welche auf eigene Weise gliedernd und färbend auf das sich ergebende chromatische Muster einwirkt. Kurze, quasi übermütige Vorschlagsnoten bilden ihrerseits eine eigene Überlagerung als Ganzton-Skala. Schließlich markieren zwei Dreiklänge, ein Sextakkord in Dur und ein Quartsextakkord in Moll, neben chromati schem Muster und ganztönig er Skala eine weitere Schicht. Damit sind neben HalbtonGanzton-Fortschreitung kleine Terz und Quart in zwei vertikalen Umkehrungsformen vertre ten. Das ausgesparte Intervall der großen Terz wird zum Begleit-Intervall der chromatischen Abwärtsbewegung von der Mitte an. Die sieben Nachhall-Va rianten spie len auch in den folgenden Stücken eine Rolle. Es sind dies: a) offenes Pedal, bei extrem hohen, an sich schon ungedämpften Tönen des Klaviers b) stummer tiefer Cluster als partielles, quasi Flageolett-Pedal, ebenfalls bei hohen Tönen c) Festhalten der (zuvor angeschlagenen) Tasten quasi als Flageolett-Pedal über den folgenden angeschlagenen Tönen d) Liegenlassen der eben angeschlagenen Tasten, ohne Pedal e) secco, ohne Pedal, also die übliche natürliche Sofort-Dämpfung bei Staccato-Anschlägen (dies wäre unter den Nachhall-Varianten das Extrem im Minimum) f) der stumm gehaltene tief e Cluster als reales Flageolett-Pedal unter angeschlagenen Tönen, welche so als Obertöne nachhallen g) das voll niedergetretene Pedal (dies wäre das Extrem im Maximum der Nachhall-Skala) Mit dem Durchtasten aller achtundachtzig Klaviertöne wird klar, daß die Bauprinzipien dieses Stückes nicht einfach auf den geläufigen melodischen oderrhythmischen oder harmonischen Ka tegorien beruhen. Diese sind hier bloß insoweit benutzt beziehungsweise als banale Patterns ab gerufen, als an ihnen sich andere, sonst eher peripher verstandene Eigenschaften musikalisch ins Spiel bringen lassen: der immer wieder anders manipulierte reale Klavierklang beziehungsweise sein Nachhall und die Mehrschichtigkeit von Intervall- und Zeit-Anordnungen. Im dritten Stück gibt es - gegenüber der chromatischen beziehungsweise Ganzton-Skala im ersten und einer im Fünf-Finger-Bereich bleibenden f-Moll/Dur-Skala im zweiten Stück - zwei gegeneinander geführte Skalen: in der rechten Hand eine Art phrygischer Melodie, welche den weißen Tastenbereich zwischen h' und dem großen E abwärts ausschreitet, wobei das Nach hall-Prinzip der festgehaltenen Töne (Nachhall-Variante c) die einzelnen Melodiezeilen zum vertikalen Klang addiert. Dagegen in der linken Hand eine am Anfang und am Ende aufwärts gerichtete pentatonische Skala, in der Mitte in Zweiklängen durchgehend abwärts gerichtet; diese Schwarze-Tasten-Skala profitiert als sforzato und kurz angeschlagene vom Flageo lett-Pedal des stummm gehaltenen tiefen- Clusters (Nachhall-Variante f), der nur -zur Entlastung von tieferen Nachhallen losgelassen wird. Diese pentatonische Abwärts-Skala verhält sich 164

prinzipiell kurz-auftaktig zur Weiße-Tasten-Melodie der rechten Hand, sie reißt aber durch den 3/16-Takt kurz vor Ende die Betonung unversehens an sich. Im fünften Stück tritt eine weitere Nachhall-Variante auf: Klang nicht als Resultat einer TonAddition, sondern einer Ton-Subtraktion durch immer wieder andere Ausfilterung eines ste reotyp regelmäßig angeschlagenen Zehnton-Clusters. Im zweiten Teil, der nach einem Über gang alles in doppelt so langen Werten wiederholt, werden die Ausfilterungen nicht am ange schlagenen Klang selbst, sondern an seinen vorgenommen, indem diese stumm nachgegriffen werden: bekannte, darunter Dur- Teiltönen und Mollklänge, die im Filterlicht neu wahrge nommen werden. Im siebten Stück schließlich geht es um ein weiteres Nachhall-Phänomen des quasi pedalisierten Klavier-Gehäuses, welches erst dadurch freigelegt und erfahrbar wird, daß das Ton material auf das höchste kleine Sekundintervall auf dem Instrument beschränkt und auf diesem fast entmaterialisierten Klang ein Gigue-ähnlicher Rhythmus in Rondoform ausgeführt und abgewandelt wird. Spätestens über dieses Stück ließe sich sagen, was Ravel über seinen Bolero äußerte: „Leider enthält er keine Musik". Genau um dieses Moment aber, um Musik-Erfahrung außerhalb des eingeschliffenen Musikbegriffs, geht es in allen sieben Stücken. Jedes von ihnen will durch eine klar einsichtige und entsprechend „griffige" Struktur über den bloßen Wahrnehmungsvorgang hinaus jenen Anspruch des bewußtgemachten Hörens durch Neubeleuchtung von vorgegebenen vertrauten Strukturen begreifbar machen: Kindertümelnde Banalitäten einer weithin von Erwachsenen verwalteten Erfahrungswelt der Kinder werden abgerufen und in charakteristischer Weise gebrochen oder gar zerbrochen, um die Wahrnehmung für dahinter Verborgenes zu sensibilisieren. Was es durch solches „Greifen" zu begreifen gilt: die Notwendigkeit des neu ordnenden Eingreifens ins Vertraute, um dessen Tabuisierung und dessen falsche Geborgenheit zu überwinden, sie wäre eine Herausforderung nicht sowohl für Kinder als mindestens ebenso für Erwachsene. Und so steht als Motto über diesem Zyklus jener Satz, den Theodor W. Adorno über sein Singspiel Der Schatz des India ner-Joe an seinen Freund Walter Benjamin schrieb: „Eher Demonstration am Kindermodell als Beschwörung von Kindheit". Übrigens bildet nicht nur jedes der sieben Stücke so eine besondere Art von Struktur bezie hungsweise faßlicher Anordnung seiner Elemente, sondern die sieben Stücke zusammen er gänzen einander zu einer Gesamtkonstellation, in welcher jene sieben verschiedenen AbtastProzesse ihrerseits nach einer durchdachten Ordnung abgetastet werden (siehe Abb. S. 166/67). Diese Ausführungen sollten gewiß nicht einseitig an einen empfindungsfeindlichen Intellek tualismus appellieren, der einem Kind vollends unangemessen wäre, es sei denn auf dem durch aus legitimen Weg über die technische Neugier, aber auch nicht an eine den schlechten Weltlauf beklagende Frustrationsbereitschaft, wie man sie Neuer Musik gern und manchmal auch zu Recht unterstellt, sondern dies sollte eher ein Appell sein an jene fundamentale, allen Lebensal tern wohl anstehende Neugier auf die Möglichkeiten und die Erfahrung der eigenen Veränderungs- und Entdeckungsfähigkeit gerade im Umgang mit Musik. Denkbar wäre zumindest, daß von Kindern, die sich als entwicklungsfähig verstehen und akzeptieren, doch noch lustvoll erlebt werden kann, was wir Erwachsenen als bitter oder unbequem und störend empfinden: das Erleb nis des Ausbruchs aus der Gewohnheit. So daß Erwachsene sich an solchem Beispiel als das er kennen, was sie doch wohl in Wahrheit sind: schwer erziehbare Kinder. Und derselbe Arnold Schönberg, der es sich und uns so schwer macht, hat eines seiner kompromißlosesten Werke, nämlich sein halbstündiges Bläserquintett op. 26 einem Kind, dem Bubi Arnold, gewidmet. 1982 165

Helmut Lachenmann, Ein Kinderspiel, Schema der übergeordneten Struktur 166

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Accanto Arnold Schönberg erzählt einmal, daß man ihn bei einer Musterung fürs Militär gefragt habe, ob er denn jener Komponist Arnold Schönberg sei, worauf er geantwortet habe: „Einer hat es sein müssen, keiner hat es sein wollen, so habe ich mich dazu hergegeben." Diese Anekdote verrät mehr als bloße heroische Koketterie. Sie sagt etwas aus über jene Erkenntnis, die späte stens in diesem Jahrhundert für viele Komponisten bestimmend geworden ist: daß Kunst übers Ästhetisch-Erbauliche hinaus Ausdruck des Menschen, Ausdruck seiner geistigen Situation, das heißt: Ausdruck seiner Sehnsüchte und Hoffnungen, aber auch seiner Widersprüche und Ängste ist; anders gesagt: daß Kunst das Moment des bitter Notwendigen enthält, daß sie letzt lich unbequem sein muß, unbequem für eine Gesellschaft, die durch ihre einseitige Art von Kunstverständnis wider besseres Wissen ein erhabenes Menschenbild pflegt, das durch die Wirklichkeit längst widerlegt worden ist. Vor hundertfünfzig Jahren ließ Georg Büchner seinen Woyzeck sagen: „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht." Kunst, als Botschaft von Menschen für Menschen, muß sich entscheiden, ob sie den Blick in den Abgrund aushalten und ihr Selbst verständnis durch solche Erfahrung prägen lassen, oder ob sie solche Erfahrungen verdrängen und sich den Erwartungen einer Gesellschaft fügen will, die die Werke der Tradition sich als warme Bettdecke über den Kopf zieht und das Verständnis dieser Tradition so verrät. Kunst, Medium der Erhellung, wird weithin als Medium der Verdrängung mißbraucht. Kunst heute, die aus dieser Rolle ausbricht, muß in den Konflikt mit den geltenden Gewohnheiten der Gesellschaft geraten, ob sie will oder nicht. Die Aufführung eines der kostbarsten Werke der Tradition, des Mozartschen Klarinetten konzerts, in einem Programm zusammen mit einem Werk wie Accanto, das nicht nur unsere Hörgewohnheiten herausfordert, sondern ihnen ein scheinbar diametral entgegengesetztes Ausdrucksideal gegenüberstellt, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Sie setzt eine Bereitschaft des Hörers voraus, sich in seinem ästhetischen Selbstverständnis nicht nur bestätigen, sondern auch fundamental verunsichern zu lassen. Eine solche Bereitschaft gehört nicht weniger zu unserer humanen Bestimmung als diejenige, sich am makellos Schönen zu erfreuen. Vielleicht verrät sich gerade in unserer Liebe zum Abgeklärt-Schönen, etwa zum Werk Mozarts, etwas, was mit der subjektiven Haltung dieser Musik gar nichts zu tun hat: näm lich die eigene verzweifelte Sehnsucht nach einer intakten Welt angesichts einer äußerlich und innerlich tief gestörten Wirklichkeit. Der Komponist heute kann dieser Sehnsucht nicht anders gerecht werden, als daß er sich mit jenem doppelten Problem auseinandersetzt, von dem unsere Gesellschaft gelähmt scheint: dem Problem der Sprachlosigkeit in bezug auf unsere realen Ängste und Bedrohungen und dem der falschen Sprachfertigkeit, wie sie uns im Wust der Medien und der kulturellen Betriebsamkeit vorgegaukelt wird. Insofern wir an dieser doppelten Lähmung leiden, begegnen uns Werke der Tradition, die wir doch lieben, die uns geprägt haben und die für uns Verpflichtung bedeuten, oft auf fatale Weise als feindliche fremde Wesen dort, wo sie in Anspruch genommen werden als Requisiten jenes falsch sprachfertigen Kulturbetriebs, der dazu dient, den Menschen von seinen Widersprüchen, von seinen Ängsten abzulenken, abzulenken von jenem eigenen Abgrund, den er doch fühlt. Und so werden jene Werke, ursprünglich historische Beispiele des geistigen Erwachens des Menschen, heute weithin zu Mitteln des Einschläferns. Komponieren, um jener Sehnsucht nach einer intakten Sprache gerecht zu werden, um die Sprachlosigkeit zu überwinden, muß diese bewußt machen, das heißt, muß sich jener falschen 168

Sprachfertigkeit unmittelbar widersetzen. Und so bedeutet für mich Komponieren, den Mitteln der vertrauten Musiksprache nicht ausweichen, sondern damit sprachlos umgehen, diese Mit tel aus ihrem gewohnten Sprachzusammenhang lösen und durch erneutes Einanderzuordnen ihrer Elemente Verbindungen, Zusammenhänge stiften, von denen diese Elemente neu beleuchtet und expressiv geprägt werden. Das bedeutet zerstörerisch empfundenen Umgang mit den vertrauten Sprachmitteln und ver steht sich erscheint selbst doch zugleich gestalteter Umgang. Musik so als beides:alsalsschöpferisch Trümmerfeld und als neues Kraftfeld. Der „Zuhörer", bei Mozart eine vertraute Musiksprache in Verständnis und Einverständnis mitvollziehend, wird dort, wo die vertraute Sprache sich so zersetzt hat, „Hörer": körperlich akustisch Wahrnehmender, der ohne vorgegebene Orientierung Zeit- und Klangraum abtastet oder vielleicht sollte man sagen: Er selbst wird auf eine ihm ungewohnte Weise von der Musik abgetastet. Hören heißt so, sich selbst als Veränderter, aber auch als Veränderbarer neu erfah ren. Hören heißt im Gegensatz zum mitvollziehenden Zuhören: sich radikal umorientieren, sich neu zurechtfinden müssen, heißt, im Ertasten ungewohnter Strukturen verborgene Räume in sich erschließen. Und in dieser Erfahrung der eigenen Veränderbarkeit, im Erproben der eigenen Kraft, sich im Ungewohnten zu finden und zurechtzufinden, setzt sich etwas anderes durch als bloß mora lischer oder moralisierender Überdruß an auf jenerdiefalschen Sprachfertigkeit jenem platten Kulturpessimismus, nämlich die Hoffnung eigene Fähigkeit, neuen oder Herausforderungen des Denkens und Fühlens gerecht zu werden. Ich hätte diesen Zusammenhang, sprachlose Struktur als Resultat der Zersetzung des alten gewohnten Sprachzusammenhangs in der Musik, nicht so umständlich beschrieben, wenn nicht eben diese Ambivalenz in meiner Komposition Accanto eine wichtige, quasi thematische Rolle spielen würde. In Accanto erinnert sich die sprachlose Struktur der Musik bewußt ihrer Herkunft als Resul tat aus zertrümmerter, zersetzter tonaler Sprache. Und diese Erinnerung, die sich zunächst da durch mitteilt, daß gelegentlich gröbere Trümmer der alten Sprache zwischen die sonst eher punktuell zersetzten Elemente geraten - allgemeine Sprachfloskeln also -, nimmt im Lauf des Stücks mehr und mehr Bezug auf ein bestimmtes Werk, eben das Mozartsche Klarinettenkon

zert, als Paradigma für jene historische Kunst, die jeder von uns so liebt, und die uns zugleich so fremd wird in ihrer unfreiwilligen Funktion als bequeme Zuflucht für den Menschen, der in der Kunst vor sich selbst, seiner eigenen realen Verunsicherung, davonlaufen möchte. Hier nun sieben Beispiele aus meinem Stück, in dem die Musik als bereits zersetzte Sprache immer wieder solche vertrauten Sprachfloskeln hereinläßt, um schließlich deren geheime Beziehung zum Mozarts chen Werk offenzulegen (vergleiche Beispiel e 2 und 3, S. 171/72). In beiden Fällen übrigens kann man erleben, wie der Klang nicht nur aus seinen alten sprach fertigen Kategorien - Melodie, Harmonie usw. - herausgebrochen ist, sondern auch aus seinem gewohnten instrumentalen Kodex. Klang nämlich wird hier nicht mehr erfahren als selbstver ständliches Resultat des üblichen Instrumentalspiels, sondern als Resultat eines spezifischen Umgangs mit diesem Instrument, der die konkrete Körperlichkeit, die Härte, die Weichheit, die energetischen Bedingungen beim Hervorbringen des Klangs oder Geräuschs bewußt macht und in geordneten, musikalisch erlebbaren Zusammenhang bringt, so daß der gewohnte „schöne" Klang hier keine Selbstverständlichkeit, sondern im Gegenteil ein Sonderfall wird. Indem also die konkrete Klangerzeugung am Instrument bewußt abgewandelt und so ins Bewußtsein gerückt wird, erleben wir im Stück permanent Deformationen des gewohnten Klangs, die sich 169

Beispiel 1

Accanto, Anfang, Takte 01-09 und 1 (Particell) 170

Beispiel 2

Skalenbewegung des Solisten: Accanto, Takte 60-63

171

Der Gestus des gebrochenen Dreiklangs:

Accanto, Takte 36-39

Accanto, Takte 80-83

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aber nicht als groteske Ausnahmen verstehen und wohl gerade deshalb, weil sie sich als form bildende Elemente wie selbstverständlich ins Spiel bringen, auf manche Hörer umso schockie render wirken mögen. Dies bedeutet natürlich große, ungewöhnliche Anforderungen an jeden einzelnen Orchestermusiker, technischer wie auch psychologischer Art - vom Solisten ganz zu schweigen. Denn der Musiker soll nun Präzision und Klangsinn und musikalischen Gestal tungswillen beweisen in einer ungewohnten und deshalb oft fast feindlich wirkenden Klangund Ausdruckswelt. Ein drittes Beispiel fü r einen jene r Sprachreste, die hier als Trümmer wieder erken nbar sind, gibt zugleich einen Rahmen fü r einen Formab schnit t ab (vergleiche Beispi el 4, S. 173). Das pulsierende Metrum, Grundlage für jede gewohnte tonale Zeitbestimmung, wird zum Gitter einer Klang-Artikulation nach innen, und nach außen zugleich quasi zerhackte Zeit. Das folgende Beispiel zeigt den Moment, wo durch eine Art Tenuto-Zeitfenster die Musik Mozarts ins Werk hereinklingt. Das Tonband, das während des ganzen Stücks quasi heimlich mitlief, wird hier sekundenlang aufgeblendet. Die Musik gibt hier ihr Trauma zu erkennen (ver gleiche Beispiel 5, S. 174). Dabei hat in Form von rhythmisch zerhackten Einblendungen die Musik Mozarts schon früher immer wieder, quasi inkognito, am Strukturgeschehen teilgenommen. Hier allerdings wird dieses sogenannte „Instrument" so unverstellt und deutlich eingesetzt, daß der „Klang", der anderes ist aufmerksam als eben die musikalische Sprache Mozart s, auf sichwo selbst als eigene sik, nichts als eigene Welt macht. Es ist der befremdende Moment, meine Musik Mu mit Beispiel 6

Accanto, Takte 206-208 175

dem konfrontiert wird, was sie zugleich liebt und meidet, meidet, weil sie es liebt und seinen ideologischen, kommerziellen Mißbrauch haßt. Und natürlich ist jener Geist der gesellschaftli chen Harmonie, wie wir ihn in Mozarts Werken zu erleben suchen, nirgends so weit weg, so ra dikal in Frage gestellt wie hier, wo diese Musik tatsächlich erklingt. Man könnte die Form von Accanto als zweiteilig ansehen: den Teil vor jenem Zitat und den nach dem Zitat. Davor hat die Musik eher spielerisch unversehens zu solchen vertrauten, aber eher anonymen Sprachbrocken gefunden, danach ist sie sozusagen wach geworden, und es kommt immer wieder durch instrumentale Einwürfe zu weiteren Mozartschen Zitaten, auf ähnliche spiel 6, S.Weise 175). schon verformt, wie wenn etwa ein Stummer zu sprechen versucht (siehe Bei Am letzten Beispiel aus dem Schlußteil zeigt sich, wie die musikalischen Gestalten allmäh lich wieder in anonymere Zitatgestalten zurückgleiten. Aus einer schaukelartigen Begleitfigur, ähnlich der Begleitung zu Beginn des langsamen Satzes des Mozartkonzer ts, wird eine Art t on loses Atmen. Spätestens hier hat die Musik zu jenem sprachlosen Abtastcharakter zurückge funden, der ihrem eigenen Selbstverständnis von sprachlosem Ausdruck entspricht, einem Selbstverständnis, aus dem sie sich sozusagen hat hochschrecken lassen durch die Erinnerung an das, was sie verloren weiß und doch auf ihre Weise immer suchen wird: einen Schönheits begriff, in dem unsere Widersprüche, unsere Angst erkannt und bewältigt sind, weil der Aus druck den Blick auf die reale Entfremdung nicht meidet, sondern wachsam aushält und sich durch solche Widerspiegelung der allgemeinen Lähmung und Sprachlosigkeit widersetzt. Wo die sprachfertigen Masken fallen, entlarvt sich die Entfremdung. Aber Erkennen hilft bewältigen. Und in diesem Sinn habe ich selbst dieses Werk, sowie meine anderen Werke, nie anders verstanden denn als Ausdruck von Hoffnung. 1982

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Siciliano - Abbildungen und Kommentarfragmente (Für Hans Zender, dem dieTanzsuite mit Deutschlandliedgewidmet ist) Wie bemerkt: Jede Schranke, wenn sie als solche gefühlt wird, ist bereits Uberschritten. Doch ebenso: Keine Schranke wird tätig überschritten, ohne daß gemeintes Ziel in echten Bildern und Begriffen vorherzieht und in dergestalt bedeutende Verhältnisse versetzt.

Ernst Bloch,Das Prinzip Hoffnung

Als beliebte Ausflugsziele und repräsentative Zufluchten einer Gesellschaft, die - bei aller Überlebensangst - hartnäckig vor der Auseinandersetzung mit dem eigenen Widerspruch davonläuft, vermögen dieselben vertrauten ästhetischen Erfahrungen, „Kunstwerke", die uns höchste geistige Freiheit und wahre Heimat verkörpern,zugleich fremd, feindlich und beklem mend auf uns zu wirken. Komponieren, das, so beklommen, seinerseits das Weite sucht, ver fängt sich dabei dennoch immer wieder im Netz bereits vergesellschafteter ästhetischer Kate gorien. Meine Tanzsuite mit Deutschlandlied setzt an Maschen dieses Netzesselbst an: Am Anfang steht nicht die Illusionfrei verfügbaren und gestaltbaren Klang-und Zeitraums, sondern stehen vorgegebene Zeitraster, vertraute,„öffentliche", rhythmische und gestischeMuster. Deren Set zung und Zersetzung: Fluchtversuch in die „Höhle des Löwen", will sagen: ins eigene uner kannte, sich im Wahrnehmen wahrnehmende Ich über die strukturelle Sensibilisierung. „Siciliano" eröffnet, nach einer insgesamt einleitenden ersten, die zweite Abteilung und bil det eine Art Exposition der zugrundeliegenden materialtechnischen Idee. Verlauf und Struktur sind auf den beigegebenen Abbildungen ausschnittsweise exzerpiert und recht und schlecht veranschaulicht. Hirten Eine spielerisch permutierte Kette von Siciliano-Rhythmen (nicht nur die Bachsche sinfonie stand Pate) verhalf zu einem vorläufigen pulsierenden Zeitraster (in den Abbildungen oben eingetragen).Bevor er zerfällt - denn das ist seine Bestimmung -, bildet er den Grund von vier Stadien: 1. als Gerüst für eine vielfach verspannte Polyphonie von Figuren, deren Klangpartikel sich im Hinblick auf die eigene, energetisch bestimmte Körperlichkeit zuspitzen, aber sich auch in Vorbereitung des Bach-Zitats charakteristisch zusammenschließen (Takte 70-100), 2. als Gerüst eines Ausschnitts der Bachsche n Hirtensinfonie aus dem Weihnachtsoratorium, beziehungsweise hier seiner klanglich verfremdeten Projektion (Takte 101-109), 3. (nach einer Vorwegnahme des „Nachspiels", Takte 110-117) eingeebnet zum gestischklanglich entleerten Morserhythmus ä la Sicilienne auf einem einzigen Klavier-Sekundklang, der als zugleich erstickter und verhallter auf die klangliche Komplexität des vsrcen mit halluzinativem Reichtum antwortet (Takte 118a—118s), 4. schließlich in quasi ostinater Stereotypie verharrend: als musikantisches Gerüst für ein Tänzchen des Soloquartetts und so im Zerbröckeln sich verwandelnd in den Vierer-Raster des anschließenden „Capriccio" (welches seinerseits später zur „Valse lente" übergeht, indem es dieser jeden dritten seiner Taktpfeiler als neue, unendlich träge Schlageinheit weitervererbt („Nachspiel" Takte 119-132)). „Energetisch bestimmte Körperlichkeit" - zweifach vorgeordnet: 1. im Hinblick auf die mechanische Hervorbringung (geblasen, gestrichen, geschlagen, gestoßen, gezupft, gezischt, gewischt, gepreßt) und ihre technischen Bedingungen (Art des 178

Instruments und Ort, wo es traktiert wird, sowie spieltechnische Modifikationen: „normal" gegriffen, gedämpft, erstickt, „pedalisiert", forte, piano usw.; weithin Instrumentalverfremdun gen als Resultat einer von anderen Instrumenten übertragenen Spielweise); 2. im Hinblick auf akustisch beziehbare Wirkungen (tonhöhen- beziehungsweise intervall bestimmt, geräuschhaft, erstickt, tonlos, knatternd, hallend usw.). Solche Vorordnungen gelten für das ganze Werk, und nicht nur für dieses. Die für den „Siciliano" strukturbildenden Abstufungen auf sindAbb. in den durch kleine Symbole gekennzeichnet (siehe die Zeichenerklärung 1, S.Abbildungen 181). Seine besondere Klanglich keit bestimmt sich einerseits aus der Vermittlung, das heißt vielfachen Abwandlung und Gegenüberstellung von zunehmend konzentrierten Spielformen („Zuspitzungen") mit hetero gen zusammengesetzten vertikalen Kopplungen („Mixturen"), andererseits durch die Idee der „horizontalen Mixtur", nämlich des klanglich homogen oder heterogen zusammengesetzten Rhythmus. Der Siciliano-Gestus als rhythm isch verspanntes „Arpeggio" wirkt soauf die eigene Klanglichkeit ein. „Polyphonie von Figuren" - kategorisch wären die folgenden Ebenen - zunächst - auseinan derzuhalten: 1. Siciliano-Rhythmen: Ihre eindeutigsten Formen erscheinen in der Abbildung rechteckig eingerahmt, andere blieben indessen ungekennzeichnet, sind aber leicht zu erkennen. 2. Bewegungen in starrem Viertel-, Achtel-, Sechzehntel-usw. Abstand: Sie sind in der Ab bildung kenntlich gemacht durch ein R im Kreis. 3. Breiter gehaltene Flächen, quasi kontrapunktierende „Orgelpunk te" im weitesten Sinn,in nerlich bewegt oder starr: Sie sind gekennzeichnet durch „ten:". 4. Appoggiaturen wie Triller, Praller, Vor- und Nachschläge, sozusagen Pseudo-Verzierun gen unterschiedlichster Art. Auf deren ausdrückliche Kennzeichnung in der Abbildung wurde verzichtet. Keine Frage übrigens, daß die Abwandelbarkeit auf allen vier Ebenen ambivalente bezie hungsweise polyvalente Deutungen bei einzelnen Gestalten zuläßt - der Siciliano-Rhythmus als Ostinatofigur erfahrbar zugleich als „R" und als „ten:" usw. -, auf die hier im einzelnen nicht eingegangen werden soll. Vorund allem den ersten drei Kategorien wurde noch letztere unterschieden zwischen „geschlosse nen" auf in mehrere Instrumente „verteilten" Figuren, nochmals unterteilt in „homo gene", nämlich aus derselben Spielweise bestehenden, und „heterogenen" Figuren, in denen sich verschiedene und verschieden zusammengesetzte energetischeKlangformen im Nachein ander ergänzen: eben jene schon erwähnten „horizontalen Mixturen" bilden. (Die Bestimmung der Tonhöhen bedürfte einer besonderen Abhandlung,sie wird hier unter schlagen. Einzeltöne sind prinzipiell behandelt als Komponenten von „synthetischen" Mixtu ren, nämlich symmetrisch oder kontinuierlich wachsenden beziehungsweise schrumpfenden oder nach anderen Regeln konstruierten, aber auch „naturwüchsig" angetroffenen Intervallan ordnungen. Zu letzteren gehört zum Beispiel die Versammlung des charakteristischen Reper toires von nachhallfähigen Flageolett-Pizzicati des Solo-Quartetts zu Beginn des „Siciliano". Solcher hier nicht näher beschriebene Umgang erlaubt am ehesten die Integrationner je „natür lichen" und Geräuschspektren, deren innere Tonhöhenund Intervallstruktur als Resul tat etwaKlangvon spieltechnischer Verzerrung sich einer Tonhöhen-Vorordnung (im tonalen oder se riellen Sinn) entziehen - man denke etwa an die unvorhersehbaren Tonhöhen gestrichener Becken.)

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Die Entwicklung der „perforierten " Klangebene (im unteren Teil der Abbildungen) ist viel leicht am einfachsten abzulesen. Die Klangverwandtschaft gepreßter Saiten mit dem („gepreß ten") Trompetenklang, gestopften Hörnern oder auch dem knarrenden tiefsten KontrafagottTon stellt dabei noch Beziehungen her zu den tonhöhenbestimmten geblasenen, aber auch etwa zu den mit Reibestock auf Xylorimba hervorgepreßten Klängen, die zusammen mit geschla genen, gezupften und getupften Klängen in die mittleren Fünfliniensysteme eingezeichnet sind. (In der Partitur ist die „gepreßte" Spielweise noch vielfach differenziert: vor und hinterm Steg, auf I., II., III., IV. Saite, bei erstickter oder offener Saite, bei festem Griff; ähnliche Ab wandlungen auch bei den gepreßt geriebenen Becken.) Tonlose Gestalten sind im oberen Teil der Abbildung, direkt unterhalb der „rhythmischen Leiste" eingezeichnet. Als energetischer Kontrast zur „perforierten Klangebene" (mit der sie latente Beziehungen hat, die erst später, in der „Polka", zum Tragen kommen) hat die tonlose Ebene eher das „Tenuto" gepachtet und führt so ein lebhaftes Schattendasein. Dabei erweist sich die Etikettierung „tonlos" als voreilig: Nicht nur wirken tonloses Tremolo der Streicher, Legno-, Pauken- und Trommel-Wische mit tonlosem Zischen von Blechbläsern zusammen, sondern übers „ff possibile" von Flöten-Luftstößen und über halbe, schließlich gar feste Griffe der Streicher sowie übers Scharren von Xylorimba-Platten bis ins offene Crescendo des Pau kenwirbels am Ende des II. Stadiums setzen sich „normale" Spielweisen gerade in dieser Ebene als verfremdete „heisere Tonlosigkeit" im real klingenden Bereich durch. Der ganze „Siciliano" lebt von solcher Klang-Dialektik.

Zum Verlauf Die sieben Abschnitte a) bis g) des I. Stadiums sind verschiedene Phasen einer Entwicklung, ausgehend von einer Art Exposition der gesetzten Klang- und Bewegungs-Kategorien bis zu ihren Zuspitzungen vom Abschnitt e) an. Alle beschriebenen Gestalt- und Klangtypen sind im ersten Abschnitt exemplarisch kombiniert, im zweiten exemplarisch voneinander getrennt. Der in Kästchen gesetzte Siciliano-Rhythmus hat über alle Klangebenen hinweg quasi motivische Funktion. Die übrigen „verteilten", „regelmäßigen" beziehungsweise „Tenuto"-Gestalten las sen sich daneben unterscheiden. Abschnitt b) führt „Hall" und, damit verbunden, Crescendi ein. Auch sie bilden Sequenzen quer durch die hier so ordentlich aufgeteilte Klanglandschaft. Jene „Zuspitzungen" in e): Fell- und Legno-Wische, fff-Bläsereinsatz als Mixtur über dem geschlossenen Rhythmus auf gepreßten Klaviersaiten, Legno-battuto-Skalen und (schon nicht mehr ganz) „tonlose" Rhythmen-Kombinationen, ebenso in f): Crescendo- und HallklangKombinationen und die schon erwähnten gepreßten Becken-Tenuti: Sie erschöpfen das Mate rial. Es bricht aus in Woodblock-, Pauken-, Tomtom- und Kesselschläge, quasi Super-Pizzicati; sie relativieren den Klangzusammenhang neu. Im (nun nicht mehr tonlosen) Tremolo bereitet sich der Orgelpunkt des Bachzitats vor, die perforierte Klangebene verschwindet hinter der ton losen, geblasenen: Die Hirtenmusik wird so zum Schattenriß entfremdet. Vom pastoralen Espressivo zeugen noch die tonlosen Crescendi. Die tiefen Bläser- und Kontrabaßfiguren sind natürlich verzerrte Tonlosigkeit ebenso wie die Flötenpfiffe und die in extremer Lage „singen den" Geigen. Mit der Fortführung des Zitats im streng phrasierten Beckenrhythmus und dessen Beant wortung auf gepreßten Violinsaiten (Takt 106) findet die Heiserkeit zur Heiterkeit zurück. Auch der Tremolo-Orgelpunkt, aus sich auftürmenden großen Septimen paraphrasiert, hatte sich als Nachhall des Klavier-Rahmenschlags bis zum Paukenwirbel erhitzt: Zurück bleibt von ihm noch der tremologescharrte Xylorimbaklang im schwächlichen „ff possibile". Im Über180

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gang zum III. Stadium nimmt die Musik hier Abschied von der strukturellen Zerklüftung und wagt auf größerer Fläche zu atmen. Zugleich aber verschwindet im III. Stadium (der Übergang ist hier nicht abgebildet) die ganze bisher errichtete Klangwelt hinter dem erstickten und pedalisierten höchsten Kleine-Sekund-Klang des Klaviers. Dieser, lediglich durch Lautstärke schwankungen, Akzente und Pedal-Phrasierung modifiziert, wird zum Echo der voraufgegan genen Vielfalt, Ohr und Konzentration innnerlich weiterbeschäftigend. Einwürfe des SoloQuartetts fungieren hier als „Verzierungen", ebenso die eingeschobenen Reibklänge auf der Xylorimba in völlig querstehendem Eigentempo: „Schlaf, Kindlein, schlaf (auch ein Deutsch landlied), siehe Abbildung 2, S. 184. Das Schlaflied bildet auch die Klammer zum Schlußteil. Im klanglich entleerten Morse rhythmus war der strukturelle Ansatz verschwunden, das Zeitband lief seither „leer" weiter, die Leere wurde zum erfüllten Zustand: aus der so gereinigten Situation als Nachspiel den (hier weggelassenen) Übergang zum III. Stadium wieder aufgreifend, so selbst nun ein IV. Stadium bildend, dabei schon ins „Capriccio" hinüber zerbröckelnd, fängt die Musik an zu „musizie ren", wobei sie sich jenen „horizontalen Mixturen" hingibt, die zuvor als Klanggewitter zwi schen den mehr und mehr zugespitzten Extremen unauffällig geblieben waren. Ihre spieltech nische Buntheit, eingegrenzt durch den Streichquartett-Rahmen, schafft eine nicht weniger leere und statische Klangsituation als das morsende Klavier zuvor. Meine Musik „wiegt sich" hier einigezuTakte lang in der Illusion, das „Weite" - einen charakteristisch gereinigten gefunden haben: vielleicht das subjektive Glücksmoment des kleinen Mädchens aus Raum Andersens Märchen, an jener kalten Mauer Wärme spürend, bevor das Streichholz wieder ausgeht. 1983

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Nicht mit Beethoven und nicht vor Späth Zur Feier des 40jährigen Bestehens seines Sinfonieorchesters hatte der Baden-Badener Süd westfunk im vsrcen Jahr dem Stuttgarter Komponisten Helmut Lachenmann, der zur musika lischen Avantgarde gehört, ein Orchesterwerk in Auftrag gegeben, das in einem Festkonzert am 11. Juli als „Prolog " zu Beethovens Neunter uraufgeführt werden sollte. Das hochangesehene Orchester hat sich neben der Pflege traditioneller Musik besonders um die Realisierung neuer und neuester Musik einen Namen gemacht. Mit dem Konzept, ein modernes Auftragswerk zugleich dem sich berühmten Werk der Klassik aufzuführen, sollte daszuEnsemble daherdazu die kam Ge legenheit mit haben, zu seinem Jubiläum in eigener Sache sinnvoll ehren. Doch es nicht. Lachenmanns Arbeit wurde unter Inkaufnahme des Vertragsbruchs und des offenen Affronts des Komponisten vom Intendanten Willibald Hilf kurzfristig aus dem Programm ge nommen. Hans Brender sprach mit dem Komponisten über den Vorgang. Über das Zustandekommen der Entscheidung des Intendanten ist nichts Genaues bekannt. Zu hören ist, daß Widerstand im Orchester eine Rolle gespielt habe. Es hat immer Wirbel um Neue Musik gegeben - in Hamburg mußte 1968 die Uraufführung von Menses Floß der Medusa abge brochen werden. Heute riskiert man, in Baden-Baden, nicht einmal den Skandal, Auseinander setzung wird nicht zugemutet: Ein von einer öffentlich-rechtlichen Anstalt bestelltes Werk wird schlicht durch einen Verwaltungsakt zu Fall gebracht. Ich halte den Vorgang für alarmierend. Die Sache hat mehrere Aspekte. Es wurde, von Orchestermitgliedern ausgehend, mit Unter stützung durch Intendant und Hörfunkdirektor Druck ausgeübt auf die Musikabteilung und den Chefdirigenten, die mir den Auftrag erteilt hatten. Diese Leute haben in einer bestimmten Si tuation geglaubt, nachgeben zu müssen. Ich möchte das hier nicht verurt eilen. Sowohl Michael Gielen, der gerade die Leitung des Orchesters übernommen hat, als auch der Musikabtei lungsleiter der Rundfunkanstalt, Dr. Bitter, standen in einer ganz schwierigen Situation; und ich glaube, das haben sich diejenigen, die das Projekt zu Fall bringen wollten, zunutze gemacht. Schließlich hätten die betreffenden Orchestermusiker ihre Ablehnung schon Monate früher, nämlich sobald sie von dem Auftrag an mich wußten, zum Ausdruck bringen können. Sie haben aber gewußt: Unmittelbar vor Beginn einer fünfjährigen Zusammenarbeit mit Gielen würde eine nachhaltige Belastung des Arbeitsklimas für Gielen äußerst unerwünscht und seinen 53

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Plänen schädlich sein. Bei Bitter stelle ich mir das ähnlich vor. Namhafte Komponisten wie Pierre Boulez, Peter Eötvös, * Harald Genzmer, Mauricio Kagel, György Ligeti, Luigi Nono, Wolf gang Rihm, hang Yun, auch der Kritiker H. H. Stuckenschmidt, haben öffentlich protestiert. 5

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Am liebsten hätte ich selbst unterschrieben, denn es geht nicht um den armen Lachenma nn, der sich an den Rockzipfel der Kollegen hängt, sondern darum, daß offenbar in unserer Gesell schaft eine Angst besteht, sich für weniger bequeme, aber - wie ich finde - wichtige Dinge ein zusetzen. Wer das trotzdem tut, muß offenbar befürchten, sich unbeliebt zu machen, sei es als Intendant nicht wiedergewählt zu werden, sei es als Orchester, irgendwann mal unterm roten Bleistiftstrich zu landen.

Sie haben Verständnis für den Vorgang. Wie aber bewerten Sie ihn? Ich halte das für bedrohlich, aber ich begrüße es, daß diese Verhältnisse durch das Vorgefallene wieder mal sichtbar geworden sind. Denn eine solche Einstellung zu dem, was da - sagen wir 186

einmal verallgemeinernd - in der Kunst heute passiert, zeigt sich ja nicht zum erstenmal; aber das vollzieht sich meist in einer viel weniger greifbaren Weise. Ein allgemeinerer Aspekt ist die Spannung zwischen Komponist und Orchestermusiker. Der Komponist Neuer Musik, der Dinge verlangt, die etwa über Aufgaben bei Richard Strauss und sagen wir mal leichtsinniger weise bei Bartok und Strawinsky hinausgehen, so ein Komponist gerät unfreiwillig, wie es scheint, in eine Rolle als der „natürliche Feind" des Orchestermusikers, wobei ich auch hier nicht verallgemeinere. Das kommt von einzelnen Leuten, die dann oft auch das Wort führen. Die schaffen manchmal ein Klima, in dem man eigentlich als Komponist Neuer Musik kaum atmen kann. Mir geht es ja noch relativ gut, ich habe nic ht nur Pech, sondern au ch großes Glück mit Orchestern gehabt, und ich kann jetzt öffentlich meine Wunden balsamieren lassen. Aber es gibt andere Komponisten, die haben ein Spießrutenlaufen durchzumachen, wann immer sie von bestimmten Orchestern aufgeführt werden. Ich darf wirklich diese nicht alle über einen Kamm scheren, und bei vielen Orchestermusikern erlebe ich immer wieder phantastische Dinge von Kooperation. Aber viele Musiker sagten schon zu mir: Verlangen Sie um Gottes wil len nicht, daß wir uns jetzt für Sie hier exponieren, denn wir müssen ja mit unseren Kollegen auskommen, wenn Sie längst wieder weg sind. Und dann gibt's auch diese von bestimmten - wie ich finde: verantwortungslosen - Publizi sten lancierten Sachen: Orchestermusiker, wenn sie Neue Musik spielen müssen, werden see lisch dann belastet zu Hause Weib und Kind, und allwerden dieser viele Quatsch, weil belastet sie von dieserkrank. MusikSie so schlagen sehr seelisch werden. In Wirklichkeit Musiker von ihrer eigenen Unreife, von ihrem Mangel an Lernbereitschaft bei ungewohnten Aufgaben, die sie dazu führt, sich gegen Neue Musik obstruktiv zu stellen, wo eben oft Ungewohntes vor kommt. So wird die Arbeitsatmosphäre für alle immer wieder belastet. Dann hängt das Gelin gen oft von einem autoritären oder diplomatischen Dirigenten ab. Oder man braucht als Komponist unheimlich Glück: Ich habe neulich eine wunderbare, effektive Zusammenarbeit mit dem Kölner WDR-Orchester erlebt, das einen ganzen Abend meine Musik gespielt hat. Auch da gab's natürlich Widerspruch. Ich finde, Widerspruch ist legitim: Von diesen Musikern hat jeder seine eigene Wertvorstellung und Kunstvorstellung. Man kann nicht immer alles lieben, was man spielen soll.

Widerspruch ist sicher legitim. Widerspruch erscheint ja auch in der Musik selbst. Aber Wi derspruch ist das eine - Absetzen das andere. Darin sehe ich das Gefährliche. Auch hier müssen wir differenzieren. Die haben ja im SWF-Orchester nicht gesagt: Wir mögen die Musik von Lachenmann nicht spielen. Interessant finde ich, daß sie die Partitur überhaupt nicht kannten und sich auch garnicht darum kümmerten. Sie haben keine Note von der Partitur gesehen. Aber sie sagten: Wir spielen das lieber, wenn die Festgäste weg sind. Am liebsten in Donaueschingen.

Also abseits der Öffentlichkeit. Ja, in Donaueschingen, wo eh diese avantgardeverrückten Idioten beieinander hocken, da spie len sie es schon. Sie pochen also einerseits auf ihre langjährigen Verdienste und Erfahrungen in Donaueschingen um die Neue Musik, aber, wie man jetzt sieht, wenn sie sie in einem bürger lich-repräsentativen Rahmen wie beim eigenen Geburtstag spielen sollen, dann zucken sie zurück und sagen, den Festgästen und den Regierungsabgeordneten sei es nicht zumutbar, wenn sie das spielen. Sie haben vermutlich gar nichts gegen mich. Aber: Mit Beethoven zusammen, das ist ja nicht salonfähig!

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Es kommt noch etwas hinzu, was sich doch direkt auf meine Arbeit bezieht: Immer wieder höre ich: Nach Lachenmann kann man keine klassische Musik mehr spielen. Der verlangt ja Sachen von den Streichern oder Bläsern, nach denen sie dann hinterher ihren schönen Ton nicht mehr wiederfinden. Ich bin also schon auf eine gewisse Weise abgestempelt. Unvoreingenom mene Musiker, auch Solisten, die ganz anders bei meiner Musik strapaziert werden, tippen mit dem Zeigefinger an die Stirn, wenn sie derlei Schauermärchen hören.

Sehen Sie im Baden-Badener Coup das Symptom eines Trends? Verstärkt sich das, oder halten Sie das für normal? Ich habe den Eindruck, es haben sich viele Komponisten damit abgefunden und machen Kom promisse. Trend? - Ich kann es nicht so richtig beurteilen, ich werde nicht so viel gespielt. Ich bin aber der Meinung: Man müßte den Orchestermusikern viel mehr Gelegenheit geben, mit Komponisten über solche Probleme zu reden, nachzudenken. Das ist auch eine Forderung an die Komponisten. Nicht jeder Komponist ist in der Lage, rational, vielleicht auch ein bissei distanziert zu seinen eigenen Utopien, diese Probleme mit Orchestermusikern zu bereden. Es dürfen auf beiden Seiten keine Wehleidigkeiten entstehen. Und es gibt ja auch tatsächlich in nerhalb der sogenannten Avantgarde Komponisten, von denen sich die Orchestermusiker zu Recht nicht professionell gefordert fühlen. Das müßte man differenzieren lernen. Ich sehe die ganze Misere letztlich vor allem in einer in dieser Hinsicht völlig unzureichenden Ausbildung. Wir versuchen jetzt an der Stuttgarter Hochschule zu erreichen, daß kein Orchestermusiker, der bei uns studiert, das Studium absol vieren kann, ohne wenigstens ein Seminar mitgemacht zu haben, in dem er ganz praktisch lernt, was es alles gibt, über Richard Strauss' Orchesterstudien hinaus - an neuer Literatur, für Solo instrumente, im kammermusikalischen Bereich, fürs Orchester, an Spielweisen, die nicht ver traut sind, und die man mangels Erfahrung oft bloß als schmutziges Spiel ansieht. Man müßte das, was es an neuen spieltechnischen Entwicklungen gibt, als genauso professionelles Musi zieren lehren beziehungsweise ausführen lernen wie klassische Musik. Wer kümmert sich denn in den Orchestern um die musikalischen Konzeptionen, die hinter den Kompositionen stehen? Deshalb sehen viele Leute auch gar nicht ein, warum sie plötzlich mit der Bogenstange die Saiten hinterm Steg antupfen sollen, sie finden das nur Unfug. Und natürlich neue Notation! All diese Dinge müssen im Studium vermittelt werden. Sie sollten ir gendwann meiner Meinung nach auch beim Probespiel berücksichtigt werden. Dort wird so was überhaupt nicht verlangt. Und deshalb sitzen Musiker, die vielleicht alle miteinander phan tastisch Dvorak oder sonst was spielen können, bei einem neuen Stück unglücklich da. Der eine stellt sich, wenn es um eine ungewohnte Spielweise geht, an wie der erste Mensch, der andere macht es vielleicht sehr gut, da es aber die meisten ungenau machen, lohnt sich's gar nicht, weil als Ganzes doch nur etwas Undifferenziertes und eben Unprofessionelles herauskommt. Und da entsteht dann eine allgemeine Allergie der Orchestermusiker gegen diese Art von Spielen und gegen die Komponisten und gegen die Dirigenten, die ihnen das zumuten, und gegen die Programmleiter, die das überhaupt aufs Programm setzen. Und so setzt sich das in einem Knäuel von Widerwillen fort, und das möglicherweise in einem Institut wie dem Südwestfunk, der doch eine Tradition besitzt durch so viele uraufgeführte Werke, die dann ihre Wege durch die anderen Konzertsäle gemacht haben. Viele Musiker haben nach meinem Eindruck die Chance nicht begriffen, die sie in so einem Orchester mit einem solchen Aufgabenbereich ei gentlich geboten kriegen. Ich sehe wirklich die Schuld bei den Lehrern an den Hochschulen, die sich um diese Sachen zum größeren Teil überhaupt nicht kümmern. In den Prüfungen ist 188

das sowieso umgehbar. Man kann Musik des 20. Jahrhunderts auch spielen, indem man eine Hindemith-Sonate spielt, die aber überhaupt nicht charakteristisch ist für neue Gestaltungsauf gaben, die inzwischen zum heutigen musikalischen Erfahrungsbestand gehören.

Wie sehen Sie das mit Blick auf das Publikum? Man lehnt eine Kunst ab, die in sich wider sprüchlich ist, also Widersprüche wiedergibt, weil man sich davor fürchtet, der Öffentlichkeit eine realistische Haltung zuzumuten. Ich meine, es muß auch gegenüber dem Publikum viel Arbeit geleistet werden. Ich komme gerade aus Berlin, da wurde in einem Konzert Bachs Musikalisches Opfer und mein Mouvement gespielt. Das war für mich toll, und ich glaube auch für das Publikum interessant. Es war eine Art Gesprächskonzert, wo ich Gelegenheit hatte, am Anfang ein wenig nicht nur über mein Stück zu sagen, sondern auch etwas über Bach. Es ist garnicht schlecht, wenn man einmal sieht, daß eine Beziehung möglich ist, die sowohl die Musik Bachs in ein anderes Licht rückt, als auch das bisher völlig Unverbaute dem Hörer in gewisser Weise zugänglich macht. Wir haben vorher einige Ausschnitte aus dem Stück angespielt, um „die Antenne zu stellen", und das wurde ein erfolgreicher Abend. Meistens ist es aber eine Ghettosi tuation: Man spielt nur Neue Musik, dann komme n eh nur die Leute, die von vornherein mit gerunzelter Stirn und hochgezogenen Augenbrauen das Ganze als intellektuelle Anstrengung entweder gutheißen finde, oder langweilig finden, aber an meinen, da manche mitma chen zu müssen, während ich es viel wichtiger daß man die Tradition, die sich Leute verzweifelt klammern und die sie als Alibi gegen die Neue Musik auszuspielen ver suchen, mal wirklich mit der Neuen Musik in Verbindung bringt. Donaueschingen ist natürlich da, um Neue Musik zu machen . Aber selbst dort fänd e ich, daß ein Bezug auf historische Musik viel zum besseren Verständnis der neuen, aber auch im Grund der alten beitrüge. In Verbindung mit der Neunten Symphonie war für mich der Auftrag des Südwestfunks eine echte Herausforderung, ein Abenteuer. Nicht das erste - ich erinnere an mein Klarinettenkon zert Accanto, welches sich mit Mozarts Klarinettenkonzert auseinandersetzt, wobei dieses auf Tonband „heimlich" während meines Stücks mitläuft, und, genauso wie ein Musikinstrument, in genau bestimmten Rhythmen hereingespielt wird. Accanto wurde schon mehrmals zusam men mit Mozarts Werk im selben Konzert aufgeführt und dabei auch kommentiert. Entweder ich oder der Dirigent oder der Solist erklärt dazu etwas. Da genügen ein paar Sätze, man kann ja nicht umfassend eine Analyse oder das ästhetische „Weltbild" vortragen. Man muß den Hörern eine gewisse Intelligenz zutrauen, so ein kleines Gedankensegment innerlich zu einem Kreis zu ergänzen. Und man kann ein Stück auch zweimal spielen. Das hat nichts mit Schul meistere! zu tun, das schafft eine viel lebendigere, genauere Beziehung. Dann kann jeder im mer noch sagen: Dieses Stück lehne ich ab, oder diese Art von Denken lehne ich ab, oder das ist eine mir sehr vertraute Art der Dinge, aber das Stück selbst ist schlecht gemacht. Ich bin der Meinung, daß auch Orchestermusiker einbezogen werden sollen in solch einen Dialog. Die sollten nicht nur dasitzen als Galeerensklaven. Man muß sich dann manchmal auch Feindseligkeiten anhören mit unheimlich dummen Witzen. Aber darüber darf man sich nicht ärgern. Schauen Sie, so ein Orchester musiker, das ist ein Profi, das ist ein Künstler, der hat seine Individualität, und der sitzt vielleicht am dritten Cellopult mit einem zusammen und muß sich jetzt irgendwie unterordnen oder einordnen und das in einer Sache, die ihm in seinem Weltbild vielleicht total widerspricht. Mit dem müßte man in Kontakt kommen. Statt dessen zieht leider jeder die Fühler ein, verbarrikadiert sich, schießt durch die Schießscharten, geht zum Neue-Mu sik-feindlichen Intendanten statt zum Komponisten. 189

Ich denke, man soll Orchestermusikern, die sich so verhalten, nichts schenken. Die Art, wie sich die Drahtzieher im SWF-Orchester verhalten haben, finde ich nicht in Ordnung, gelinde gesagt. Aber die Hintergründe dessen, was da passiert ist, sind komplizierter. Sie fragten vor hin, wie eine solche Entscheidung gegen mein Stück zustandekommt. Ich bin am meisten de primiert über eine öffentliche Meinung, die es hinkriegt, daß Intendant und Orchester sich die Schere im Kopf zulegen. Im Grunde haben doch alle Angst vor dem „gesunden Volksempfin den". Einige identifizieren sich tatsächlich damit und andere haben einfach nur Angst und sa gen: Mensch, wenn wir vor dem Späth so etwas spielen, dann sind wir im Eimer.

Ich habe Bedenken, das „ Volksempfinden " zu verabsolutieren, hier als einen srcinären Wider stand eines breiten Publikums gegen Neues (das es ja noch nicht einmal kennt). Der Hinweis auf den offiziellen Zuhörer Späth weist auf bestimmte Kreise hin - und auf die Medien, also auf be stimmte Teile der Öffentlichkeit, die Signale geben, was zu akzeptieren ist, was nicht. Und eine Neue Musik, die sichfalschem Optimismus widersetzt, widerspricht der „Modernität" der Stutt garter Linie - davon gingen die Baden-Badener Programmverantwortlichen offenbar aus. Es ist die Situat ion nach der berühmten „geistig-moralischen" We nd e. Ich denke nicht, daß es früher viel besser war, aber heute ist es jedenfalls eher schick, sich als Künstler „volkstümlich" zu verhalten. Es hat mit der politischen Luft in diesem unserem Lande zu tun. Übrigens bin ich Angriffe gegen mein Werk gewohnt. Henze, den ich als Komponist re spektiere, den ich aber einmal wegen seines mir zu bequemen Verhältnisses zur Tradition kri 59

tisiert habe, hat mich vor vier Jahren in seinem Buch „Die englische Katze" als Vertreter einer „Musica negativa" apostrophiert unter der Seitenüberschrift „Eine Attacke von links". Ein Lin ker benutzte den Begriff „links", um mich für den bundesdeutschen Leser ordentlich suspekt zu machen als Destruktiven, der die bürgerlichen Werte zerstören will und mit der eigenen Trostlosigkeit hausieren geht. Ich stoße mit meiner Arbeit immer wieder auf solche Etikettie rung, zum Zwecke der billigen Diffamierung.

Würden Sie sagen, das Ergebnis der Verhältnisse, von denen wir sprachen, sei eine antiaufklä rerische Stimmung? Ja, natürlich, und eine apolitische. Apolitisch in dem Sinn: Die Künstler haben die Pflicht, im Alltag politisch vielleicht rührend engagierte Deppen zu sein und sich, wenn sie provoziert werden, wehleidig in den Schmollwinkel zu verkriechen. Gewiß: Komponisten müssen mit den Institutionen zusammenarbeiten, andernfalls können sie ihre Musik möglicherweise garnicht zum Klingen bringen. Das schlägt sich gelegentlich nieder in einer gewissen Konfliktscheu ge genüber den Institutionen. Umso größer mein Respekt vor den Komponisten beziehungsweise Musikern, die Sie vorhin erwähnt haben und die über alle menschlichen und künstlerischen Di stanzen, Sympathien und Antipathien hinweg gemeinsam Alarm geschlagen haben. Das scheint mir ein Novum zu sein.

1986 Nachtrag des Herausgebers: Der vom Südwestfunk erteilte Auftrag wurde in der Folge vom Saarländischen Rundfunk übernommen. Es entbehrt nicht der Pikanterie, daß die Urauf führung von Staub - dem hier zur Rede stehenden Werk Lachenmanns - dann am 19. Dezem ber 1987 in Saarbrücken in einem Festkonzert zum fünfzigjährigen Bestehen des dortigen Ra dio-Sinfonieorchesters stattfand - als „Prolog" zur Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven.

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Fragen - Antworten Gespräch mit Heinz-Klaus Metzger

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Ich möchte mit der Materialfrage beginnen, und zwar unter einem ganz bestimmten - bei Rainer Riehn und mir im Moment sogar l ebensgeschichtlich bedingten - Aspekt: Wir haben uns in den letzten Monaten mit Cage befaßt, der das Material von den Intentionen zu befreien 61

versucht, so daß uns jetzt dieser Pendelschlag ins entgegengesetzte Extrem sehr willkommen ist, nämlich die Besetzung des Materials mit Intentionen. Dafür scheint mir Ihr Werk exempla risch zu sein. Es gibt in der „Philosophie der Neuen Musik" Adornos eine ausführliche Fuß note über dieses Problem, die den Vorzug hat, völlig getrennt zu sein von der Theorie der objektiven historischen Bewegung des Materials. Im Zentrum dieser Fußnote steht ein bemer kenswertes Nietzsche-Zitat. Ich lese das Ganze einfach einmal vor: „Nietzsche hat die Beset zung des musikalischen Materials mit Intentionen ebensowohl wie den potentiellen Wider spruch von Intention und Material früh erkannt: ,Die Musik ist nicht an und für sich so bedeu tungsvoll für unser Inneres, so tief erregend, dass sie als unmittelbare Sprache des Gefühls gelten dürfte; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie hat so viel Symbolik in die rhyth mische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt wähnen, sie spräche direct zum Inneren und käme aus dem Inneren. Die dramatische Musik ist erst möglich, wenn sich die Tonkunst ein ungeheueres Berei ch symbolischer Mittel erobert hat, durch Lied, Oper und hundertfältige Versuche der Tonmalerei. Die ,absolute Musik' ist entweder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo das Erklingen in Zeitmass und verschiedene r Stärke überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum Verständnis redende Symbolik der Formen, nachdem in langer Entwicklung beide Künste verbunden waren und endlich die musicalische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist. Menschen, welche in der Ent wicklung der Musik zurückgeblieben sind, können das selbe Tonstück rein formalistisch emp finden, wo die Fortgeschrittenen Alles symbolisch verstehen. An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom .Willen', vom ,Dinge an sich'; das könnte der Intellect erst in einem Zeitalter wähnen, welches den ganzen Umfang des inneren Lebens für die musi calische Symbolik erobert hatte. Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang er inhat, die welche Verhältnisse Linien Massen bei der Architektur ebenfalls hineingelegt: wie Bedeutsamkeit gelegt aber von an sich denund mechanischen Gesetzen ganz fremd ist."' Soweit das Nietzsche-Zitat, der Aphorismus 215 aus dem ersten Band von „Menschliches, All zumenschliches". Und Adorno fährt dann fort, indem er Nietzsche kommentiert: „Dabei bleibt die Trennung von Ton und ,Hineingelegtem' mechanisch gedacht. Das von Nietzsche postu lierte ,an sich' ist fiktiv: Alle neuere Musik k onstituiert sich als Bedeutung sträger, hat ihr Sein bloß am Mehr-als-nur-Ton-Sein und läßt darum nicht in Wahn und Wirklichkeit sich zerlegen. Es ist denn auch Nietzsches Begriff des musikalischen Fortschritts als anwachsender Psycho logisierung zu geradlinig konzipiert. Weil das Material selber schon Geist ist, bewegt sich die Dialektik der Musik zwischen dem objektiven und subjektiven Pol, und keineswegs kommt diesem, abstrakt, der höhere Rang zu. Die Psychologisierung der Musik, auf Kosten der Logik ihres Gefüges, hat sich als brüchig erwiesen und ist veraltet. " Ich glaube, es lohnt sich, dar über wieder nachzude nken angesichts des fortgeschrittensten Standes dieses Materials. Wie würden Sie das Verhältnis von Material und Intention, also das, was bei Nietzsche „das Hineingelegte" ist, heute bestimmen?

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Solche Besetztheit des Materials muß vom Komponisten gebrochen werden. Und solche Bre chung gelingt vermutlich umso glaubwürdiger, vielleicht auch radikaler, als sie absichtslos, vielleicht eher beiläufig oder, wie im Fall Schönberg, sogar gegen die eigene Absicht vorge nommen wird. Aber ich glaube auch, daß im Verlauf eines Brechungsprozesses, in dem der Geist ins Material eindringt und eingreift, die eben noch herausgezwungene Expressivität sich in neuem Licht, verwandelt oft bis ins Gegenteil, erneut ans aufgerissene Material heften wird. Die Blech- und Paukensignale in Nonos Canti di vita e d'amore bis hin zu den Glocken im letzten Teil bewahren noch die Erinnerung an vertraute Fanfaren-, Appell- und bis hart an kle rikale Riten streifende Feiertagsklänge beziehungsweise an deren Rolle als Topoi in symphonischer Musik. Aber es ist ein radikal davon abgewandter Geist, der nun in solchen Mitteln re giert: Als Cluster gebündelt werden die Glocken ganz von selbst zu dem, was sie doch sind: Metallröhren, klirrende Industrieprodukte, als solche sind sie Partikel von rhythmisch organi sierten Strukturen und treten so gleichermaßen in Verbindung mit anderen Geräuschen wie mit den Singstimmen. Als vereinzelt geschlagene sind sie vielleicht auch so etwas wie Riesen stimmgabeln für die Sänger. Es ist umständlich und auch nicht ungefährlich, den neuen Funk tionsraum zu benennen, in dem die alten Suggestionen aufgehoben, zerstört, bewahrt, durch schaut und die so gebrochenen Mittel mit Expressivität nicht beladen, sondern geladen werden. Ich bin jedoc h mißtrauisch gegenüber direkten kompositorischen Spekulatio nen mit solcher expressiven Umfunktionierung. Derlei erkenne ich erst im Abstand. Solche Spekulationen beim Komponieren anstellen, hieße die Spitze eines darunter nicht vorhandenen Eisbergs aufs Wasser setzen wollen. Das gelingt - zum Glück - nicht. Die Brechung geht nicht mit der ana lytischen Brechstange. Ich weiß, daß die Struktur, die ich als Komponist stifte, in sich Elemente von so vielen Erfahrungsstrukturen, kollektiv und individuell wirkenden, enthält, die ich nie mals unter Kontrolle haben kann, nicht bei mir und nicht bei anderen, und die doch den Hörer immer wieder in unvorhersehbare Zonen seiner Erinnerung locken, bevor ihn die Klarheit des komponierten Zusammenhangs wieder „zur Ordnung ruft". In diesem Orientierungsprozeß ist jeder Hörer letztlich mit sich und seiner Innenwelt allein. Und da ich es für unwürdig halte, im Hinblick auf eine bewahrte und schnell gemeinschaftsbildende Expressivität mich vors Har monium der unterstellbaren kollektiven Empfindungen zu setzen und auf dieser Klaviatur mit vorgefertigten Registern und Spielmechanismen zu spielen, gebe ich lieber den intentionalen Aspekt des Materials sozusagen vertrauensvoll aus der Hand; ich werde ihn so oder so erst ein mal unterlaufen. „Der der in Schwanz, der mit dem Hund wedelt." Was expressiv zusammenwirkt, ist soKomponist vielfältig inistden uns wirkenden geschichtlichen, gesellschaftlichen, archaisch verwurzelten, aber auch in zufälligen und individuell angeeigneten Erfahrungen sedimentiert, daß wir davon kaum einen Bruchteil gedanklich, geschweige denn sprachlich fas sen können. Und niemals läßt sich das Ganze benennen, das da berührt und bewegt wird. Dennoch: Die Frage „Wie hängt die komponierte Struktur mit all jenen darin mitwirkenden vorgegebenen Strukturen zusammen, inwieweit muß da eine Reibung stattfinden?" - diese Frage, unerschöpflich und schwindelerregend - manchmal auch Schwindel erregend -, sie stellt sich immer wieder, und in ihrem Licht muß, wie instinktiv auch immer, das Komponie ren seine Wege finden. Ich habe das eben wieder in Darmstadt gespürt, dem Ort der doch so verdienstvollen und traditionsreichen Ferienkurse, wo mannigfach Spekulationen über Materialordnungen und aktuelle kompositorische Verfahren zusammengetragen werden. Dort müßte statt selbstgefälli gem Vordenken mehr Nachdenken stattfinden über das, was diese Theorien anrichten, wo sie schon nichts ausrichten. Wo die Bedeutung eines radikalen Materialstrukturalismus als er192

kannte nicht den Fragestellungen aus der Sicht des gesellschaftlichen Ganzen ausgesetzt und, wer weiß, vielleicht sogar am Ende wieder geopfert wird - Cage hat das getan -, dort werden Orte der Begegnung wie Darmstadt zur Spielwiese für reine Toren. Das reicht von MöchtegernStrukturalisten bis hin zu schlau heroisch sich bescheidenden Anti-Strukturalisten: Sie wissen nicht, daß sie nichts tun. In diesem Sinne gilt: Willst Du jung bleiben, mußt Du erwachsen wer den. Und auf der anderen Seite glaube ich, heute mehr noch als früher, daß die Frage nach solch übergreifendem Zusammenhang, von wo aus sich die expressive Bestimmung von Musik prä zisiert, nicht nur erkannt, sondern dann auch wieder vergessen werden muß. Der so sensibili sierte Komponist wird beim Komponieren nicht an die Expressivität, sondern die Expressivität wird an ihn denken und so mehr von ihm expressiv ins Spiel bringen, als er von sich weiß. Der Versuch, sich um anderes als um die Deutlichkeit des zu schaffenden Zusammenhangs zu küm mern, zerstört das Beisichsein des Arbeitens und verschüttet erst recht, was sich an Expressi vität hätte erneut destillieren können. In der strukturell orientierten Arbeit des zuvor sensibili sierten Komponisten regelt sich die Expressivität von selbst, oft mit einer Kraft, an die noch so aufgeklärte Strategien nicht herankommen. Deren lächerlichste scheint mir diejenige der vor gefaßten Negation zu sein: Sie tritt auf den Wurm, aber der krümmt sich jetzt erst recht, und sie rutscht meist auf ihm aus, wird verschleimt wie dieser. Mich interessiert beim Komponieren nicht einfach der zerstörten, sondern das jetzt erstalsmögliche gelegten und das zu Trümmerfeld schaffenden Klangbeziehungen. Struktur nicht Brech-, Kraftfeld sondern der als frei Bre chungsmittel zielt dorthin, und alle expressive Glaubwürdigkeit kommt von dort. Ohne Eisberg keine Spitze und nicht umgekehrt, und entscheidend ist nicht die Spitze, sondern daß wir auf laufen. Der Strukturbegriff funktioniert expressiv reinigend nur in dem Maß, wie er in sich, sozusagen in seiner materialbezogenen Wahrnehmungsdialektik, funktioniert. Gerade als ex pressiv gebrochener, entleerter, befreiter ist der Ton im geistvoll geschaffenen Zusammenhang eben doch wieder mehr, als seine bekannten Parameter über ihn aussagen. Er ist einmaliges unersetzliches Partikel in einem jetzt erst möglichen exklusiven Kategoriensystem für die Wahrnehmung. Komponist ebenso wie Hörer haben, von einer der ältesten triebhaften Emp findungen des Menschen geleit et, näml ich von der Neugier, gar keine Zeit f ür die Kontr olle von Bedeutungen. Sie sind absorbiert von der Beobachtung dessen, was sich da ereignet, und der Erfahrung, wie das Wahrgenommene seine Vertrautheit abstreift und sich verwandelt. An den vorhin erwähnten Glocken im Schlußteil von Nonos Canti di vita e d'amore berührt mich weder die empfundene Feiertagsidylle noch die sich über den Bruch ergebende Metall waren-Aura allein, sondern das Moment der Umdeutung und die kreative Kraft, die in solchem Vorgang wirkt, als einem Vorgang in der Musik und in mir selbst. Kein Zweifel, daß diese r Vor gang auch in bezug auf das ins Material „Hineingelegte" zumindest ein Sich-Erinnern enthält, aber erst der strukturstiftende Eingriff hat das Wahrnehmungserlebnis in seiner ganzen Kom plexität ausgelöst. Das meine ich, wenn ich sage, der Komponist denkt nicht an die Expressi vität, sondern die Expressivität denkt an den Komponisten, er wird oft von ihr geradezu über rumpelt, siehe der „händeringende Mahler" nach der Generalprobe zur Uraufführung seiner Sechsten Symphonie. Abseits solcher Komplexität der Wechselwirkung zwischen Wissen und Vergessen allerdings mündet das gedankenlose strukturalistische Denken in Manierismen, ornamentale, surrealistische, „interessante" Konfigurationen, die sich allzu leicht wieder im Sinn der alten Affektenküche besetzen und so korrumpieren lassen. Ich bewege mich, wie Sie sehen, beim Nachdenken über dieses Verhältnis von Material und Intention ständig im Kreis. Das bringt das von Ihnen angesprochene wechselseitige Bedin193

gungsverhältnis notwendigerweise mit sich. Bloß soll mich niemand fragen, wie dieser Mechanismus der Brechung und Bewußtmachung tatsächlich funktioniert, und wodurch letzt lich dieser Vorgang des Brechens durch strukturelle Umdeutung nicht bloß einen Widerstand darstellt, sondern darüber hinaus expressiv beseelt wird. Ich glaube jedenfalls an diesen Mechanismus, und je älter ich werde, desto mehr flüchte ich vor dem grauenhaften gesell schaftlichen Zwang, die Dinge immer erklären zu müssen, in eine Art Ethos der Arbeit. Lassen Sie es mich nach alldem nochmals anders sagen: Es ist ja eine Binsenweisheit, daß es kein intaktes, jungfräuliches" Material gibt, alles ist schon berührt. Aber auf dem Weg über diese Erkenntnis und über die strukturelle Brechung des alten Zusammenhangs mittels eines neu zu entdeckenden muß sich das Paradoxe ereignen, daß solcher Zustand von Jungfräulich keit erneut hergestellt wird, daß am Ende im neuen Zusammenhang etwas Unberührtes, etwas Intaktes im doppelten Sinn herauskommt, funktionierend im neuen Kontext, und unter diesem Aspekt zugleich unberührt, geheimnisvoll wegen seiner neuen Transparenz. Das ist auch der Grund, weshalb ich immer weniger Lust habe, zu „exterritorialen" Klang mitteln zu greifen: sozusagen dorthin „auszuweichen" (sofern ich diese nicht inzwischen in wie auch immer standardisierter Form ins mir geläufige Instrumentalrepertoire schon eingegliedert habe). Da es nicht um neue Klänge, sondern um ein neues Hören geht, muß sich dieses auch am „schönen Ton" einer Cello-Saite bewähren. Ihm möchte ich seine Unberührtheit als Ele ment in einer - und sei es auch nur für einen Moment - verwandelten Materiallandschaft zurückgeb en, und indem ich mich so anspruchsvoll bescheide, behalte ich als Komponist leich ter den Mut und den Überblick über das unmittelbar Verantwortbare, wohl wissend und hof fend, daß über solchem Manöver doch wieder die ganze Last der Materialfrage Erschütterung stiftend hereinbricht. Der Rest - soweit es den Komponisten betrifft - ist, wie gesagt, Arbeit: Arbeit als existentielles Abenteuer beim Suchen: Angst, Glück, Hoffnung, Entdeckerfreude, Überdruß, Neugier, Müdigkeit, Überraschung. Aber auch Augenbinden und Scheuklappen gehören zur Ausrüstung, denn - wie Mahler sagte -: Wer zurückblickt, ist schon verloren.

Gibt es im Ernst eine musikalische Semantik, kann Musik einen Inhalt haben? Und sind Versu che, eine musikalische Zeichenlehre, also eine explizite Semiotik, zu entwickeln, sinnvoll? Was meinen Sie mit musikalischer Semantik? Daß Musik etwas zu sagen hätte?

Ja, daß sie einen Inhalt habe. Bei vielen Kompositionen spürt man ja durchaus ein inhaltliches Moment und hat infolgedessen den höchst präzisen Eindruck, daß das, was man hört, eigent lich nicht die Musik ist, sondern die Musik bedeutet, falls es nicht sogar etwas anderes als Mu sik bedeutet; also ein signifikantes Moment, das, um Nietzsches Wort wieder aufzugreifen, der Musik an sich ganz fremd ist, nämlich den Verhältnissen von Frequenzen, Lautstärken und Dau ern, die an sich ja nichts bedeuten. Wie kommt dieses Moment von Bedeutung hinein, das ich, um seiner Konkretion nicht vorzugreifen, so allgemein und vag wie möglich mit dem vorläufi gen Terminus Semantik bezeichnet habe, und wie lassen sich allfällige Inhalte von Musik be stimmen? Da fängt es an, schwierig zu werden. Man nimmt zwar wahr: Da wird etwas durch die Komposition gesagt. Wird man dann aber gefragt: „Ja, was wird denn da gesagt?", so kommt man freilich in die größte Verlegenheit. Genau wie Sie eben gesagt haben: Etwas wird durch die Komposition gesagt - aber nichts durch den Kom ponisten. ist e insprechen, Medi um.und Er der löstKomponist Bo tschaftenhat o ftnichts eher aus, indemaber er sich vom Hörer abwendet. DasDieser Werk wird zu sagen, etwas zu machen. 194

Eine bis heute über c-moll signalisierte beziehungsweise expressiv beschworene tragische Weltschau, die als Eintrübung des Dur-Erlebnisses im allgemeinen und des festlich-sieghaften C-Dur im besonderen, aber auch als Variante modaler Tonarten auf verwickelte geschichtliche, gesellschaftliche Vorgaben zurückweist, zu denen die politischen Maßregelungen der Gesell schaft mitsamt ihrer musikalischen Praxis in der europäischen Antike wie im Mittelalter, aber auch die Wandlungen der philosophischen Selbstbestimmung gehören, ohne welche die Rameausche Kodifizierung des Dur-Moll-Systems mit ihren harmonischen „Funktionen" ebenso wenig zu denken wäre wie die Praxis der Affektenlehre im 18. Jahrhundert - und hier breche ich die dilettantische Exkursion ab und verzichte weise auf den restlichen Teil der Reise -, solche c-moll-Erfahrung wird in Beethovens Coriolan-Ouvertüre,in seinen Klavier sonaten, etwa der Pathetique, der Opus 111, auf eine immer wieder andere Weise neu präzisiert, die sich kaum anders als über Struktur-analytische Termini verbalisieren läßt, die den Gesamt zusammenhang innerhalb des Werks beschreiben. Gewiß sind auch expressions-analytische Spekulationen im Groben erlaubt, wenn sie sich als solche in ihrer Begrenztheit erkennen. Die besondere Wirkung der Mondscheinsonateschreibe ich zum Beispiel dem sich gegenseitig ver fremdenden und so umformenden Zusammentreffen von Trauermarschmelodik - man verglei che den ersten Satz von Opus 27 mit dem zweiten Satz aus Opus 26\ - und der zugleich mit wirkenden Kavatinen- oder Serenadenbegleitung zu, sowie der Verlagerung ins eher unge wohnte cis-moll, das Topoi wederinfüreinen den irrealen Marsch-,Bereich noch für denOder, Serenadencharakter sein kann und beide rückt. um ein anderesrepräsentativ Beispiel zu nehmen: Was in der Jupiter-Symphonie, freilich nicht nur dort, als durchgehende Triolenschleifer auf die Unisonoschläge des Anfangs wie imitierte Trommelwirbel den „majestäti schen" Charakter mitprägt, wird zu Beginn des Trauermarschs aus Beethovens Eroica in den Bässen jämmerlich verformt, verschmiert, verkürzt, verlängert, gar umgedreht und abwärts ge wendet, kurz: Es wird permutiert, der Schnörkel wird uns von allen Seiten unter die Nase ge halten. Wir spüren genau, wie hier ein vorgegebenes Potential der Feierlichkeit zerstört wird, weil der Komponist damit selbstvergessen arbeitet, und wie sich Feierlichkeit im so gereinig ten Raum erneut sammelt, sich in Größe des Ausdrucks verwandelt. Musik als Körpersprache des souveränen Geistes im Umgang mit dem ständig falsch werdenden, schlecht oxydierenden vorgefundenen Affekten-Vokabular, dieses so auf innovatorische und beredte Weise reinigend: Braucht oder darf überhaupt mit „anderen Worten" gesagt werden, was da gesagt wurde? Daß eine Pygmäe allerdings c-moll hört und von der sich darin spiegelnden Tragik etwas spürt, das kann ich mir nicht vorstellen ... Also bedarf es der spezifischen und sogar ortsgebundenen historischen Erfahrung.

Es bedarf vor allem der dialektischen Hörpraxis. Beim Hören spüren wir, was der klingende Moment nicht ist, was er nicht mehr, noch nicht, immer noch, plötzlich doch wieder ist, wir spüren im resignierenden Tonfall die kreative Kraft und im „Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit" den verzweifelten Kampf des Geistes mit der Materie. Unser ganzes Wissen und die Weisheit unserer Intuition wird aufgerufen, und in dem Maß, wie unsere Wahrnehmung die Musik abtastet, werden wir selbst von ihr abgetastet, berührt, erkannt. Vor der Radikalität die ses Erkenntnisvorgangs schützen wir uns, indem wir ihn in die Nähe sprachlicher Kommuni kation rücken, fragen, was denn da „gesagt" wird, sodaß wir ganz überflüssigerweise in Verbalisierungsschwierigkeiten geraten. Für mich läuft es immer wieder auf das bewußte und un bewußte Erlebnis der Brechung des Vertrauten hinaus, das vielleicht erst in diesem Jahrhundert unwiderruflich zu sich selbst gekommen ist, wo sich unsere affektive Beziehung zur Kunst von 195

Werken hat aufreißen lassen und neu bestimmen lassen, die wir nicht anders „genießen" kön nen als dadurch, daß wir endlich einmal achtgeben darauf, was denn da in der Musik ganz real passiert: Jetzt muß sich die „Liebe zur Musik" bewähren! Das Quartenthema in Schönbergs Kammersymphonie ebenso wie seine Fortsetzung in der triolischen Cello-Figur klingen wie ge ohrfeigte Themen aus dem Finale von Beethovens Fünfter. Hier tobt sich ein falscher, bloß nachgestellter symphonischer Jubel mit allen obligaten Zutaten und Nuancen des symphoni schen Genres wegen Mangels an Geld und Kundschaft im Kammermusiksaal rührend aus. So gesehen, wirkt alles kaputt, aber es ist alles neu, weil innerlich anders gepolt, gehärtet von einer entdeckerischen Aufbruchsstimmung durch einen Komponisten, dessen strukturelle Aben teuerlust sich hier in Wahrheit austobt und dessen Werk lebt, weil es über seine eigene Leiche gingWas passiert also mit uns, den Hörern? Nichts passiert, wenn wir nichts damit machen, nicht mit weit offenen Ohren und allen Antennen wahrnehmen, mitarbeiten und so in den satz- und motiv- und klangtechnischen Reichtum dieses zugleich geschaffenen und gewordenen Orga nismus eindringen, so wie dieser dann in uns eindringt. Dieser Vorgang ist lustvolle Arbeit und Befreiung zu neuem Hören, und so wirkt er ergreifend. Der Komponist hat nicht mehr und nicht weniger zu tun, als den Wahrnehmungszugang zu solchem Reichtum immer wieder anders, auf seine Weise, zu ermöglichen. Das Material, im Hinblick auf solche Abenteuer aufgebrochen, lädt sich selbst voll mit ungeahnter Weisheit. Es „sagt" jetzt mehr aus über uns, die wir es zu beherrschen hofften, als wir selbst von uns wissen. Wenn ich nicht an diesen Vorgang glauben würde, würde ich nicht komponieren ...

... weshalb ja auch der einzige Komponist, der das alles radikal abschaffen will, auf daß die Töne „sie selber" seien, dazu besonderer Veranstaltunge n bedarf, die vor allem darauf hin auslaufen, Zusammenhänge zwischen den Elementen des M aterials auszuschalte n, um die In tentionen hinauszukriegen. Wenn nämlich Cage nicht diese Zufallsoperationen ins Werk setzte, dann hätte er ein irgendwie bereits mit Int entionen besetztes Materi al, bevor er etwas hinein legt. Aber jede interessante intentioneil gearbeitete Komposition zeichnet sich ja dadurch aus, daß nicht einfach jene Intentionen, die dem Material geschi chtlich bereits anhaften, nochmals lautwerden, sondern daß Intentionen hineinkommen, die es vorher noch nicht gegeben hat. Da findet also eine Umfunktionierung statt, über deren Technik ich gern mehr wüßte. Sie sind wahrscheinlich der Komponist, der am meisten über diesen Sachverhalt nachgedach t hat, bei dem also dieser Vorgang relativ am bewußtesten ist. Der sich jedenfalls immer wieder auf da s eben beschriebene Abenteuer mit unbekanntem Aus gang einläßt. Cage, im Gegensatz zu mir, weiß doch genau, was er tut: Er erzwingt das „Trüm merfeld", macht es zum - wenn auch oft verachteten - Paradies für Gläubige und Ungläubige, die Einen haben ihren Spaß dabei, die Anderen spüren den Ernst. Auch ich zehre auf meine Weise von dem Cageschen Glück, aber meine kreative Neugier möchte dort nicht landen, son dern starten. Mir geht's um die Erfahrung von Klangtransformation jenseits der Brechung. Ich greife unvermeidlicherweise zu besetztem Material, weiß um seine Besetztheit, empfinde die „Belastung" als negativen Reichtum, verstärke manchmal sogar diesen vertrauten Aspekt, siehe Tanzsuite mit Deutschlandlied, Accanto, Kinderspiel, Mouvement. Ich versuche auf jeden Fall, durch welche Manöver auch immer, die Wahrnehmung auf die Anatomie des klingenden Geschehens zu lenken. Dabei ziele mit ganz pragmatischen oft spielerisch aufin einzelne Wahrnehmungsaspekte. Ichich benehme mich wie Loriot Verfahren in der bekannten Szene, welcher der Gast ein einzelnes schiefhängendes Bild vorsichtig gerade rückt, wonach in einer 62

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Kettenreaktion schließlich das ganze Mobiliar zusammenstürzt. Damit unterlaufe ich die alte Musizier-Emphase und breche die vorweg ans Material gebundene, kollektiv strahlende, falsche Magie. Der kompositionstechnische Vorgang, dem sich solche vorläufige und beiläu fige Negation verdankt, könnte fast in Kategorien des klassischen thematischen Durch führungsprinzips beschrieben werden, so wie ich umgekehrt Beethovens Harfenquartett im er sten Satz oder das vierte Stück aus Weberns Opus 10 als eindeutige Brechungs- und Transfor mationsvorgänge analytisch beleuchtet habe. In Gran Torso zum Beispiel war es die „spielerische" Hinwendung - nicht zum ersten oder gar einzigen Mal - zu Prozessen der Klanghervorbringung, diesmal an einer Gattung, die im Gegensatz zu früher entstandener, flexibler handhabbarer Orchestermusik wie Air und Kon trakadenz, von einem strikt zusammengesetzten Instrumentalapparat ausgeht, der vermutlich auch viel empfindlicher tabuisiert ist als jene. Durch diesen Ansatz geriet ich an ganz pro saische experimentelle Aufgaben: Wie bestimmen sich unter solchem Aspekt die Klang-, Bewegungs-, die Aktionskategorien, welche Art von Logik bestimmt das Zueinander, wieweit gefährdet polyphones Ordnungsdenken die haptische Präsenz des momentan hervorgerufenen Klangs, wo schneidet sich die alte Musizierpraxis mit dem neu zu etablierenden Aktionsreper toire, was geschieht mit der vielleicht lästigen Quintenstimmung der Instrumente, jetzt, wo sie zu „Geräten" werden sollen, was ist unterm geänderten Blickwinkel ein Tremolo, was ein Auf strich oder Abstrich? Alles Fragen, die sich von selbst aus der Wandlung des Materialbegriffs ergeben. Der veränderte Umgang mit den Mitteln und die Neudefinition des Materialbegriffs ist bei einer Analyse relativ schnell ergründet und beschrieben. Aber die klingenden Vorgänge, die so freigesetzt werden, bieten sich so an als Formanten von dialektischen Klangprozessen und Situationen, die erst jetzt strukturierbar geworden sind. Der veränderte Blick will beschäf tigt werden, denn sonst verschleiert er sich wieder vor der „negativen Idylle". In Gran Torso zeigt der Bogenstrich nicht mehr in erster Linie ein intervallisch bezogenes Klangereignis an, sondern das Moment der Friktion bei der Erzeugung von Klang. Wo diese ins Zentrum der Auf merksamkeit rückt, kann und sollte sie auch woanders als an gewohnter Stelle am Instrument stattfinden. Was da erklingt, könnte als bewußtgemachter Bogendruck sich woanders völlig veränderten Druckverhältnissen aussetzen. Dann allerdings kommen Klangresultate ins Spiel von ganz anderer physikalischer Komplexität oder Banalität, deren übrige Komponenten ihrerseits als komponierbare sich anbieten. So ergibt sich ein Verknüpfungszusammenhang, der das Banale komplex und das Komplexe banal macht. Und auf die kompositionstechnischen Vorgänge lassen sich mühelos die Kategorien klassischer Motivtechnik übertragen: Analogie, Kontrast, Erweiterung, Verkürzung, Transposition, Modulation, Transformation nach allen Richtungen in einem Bereich, der nicht a priori emphatisch erhöht, sondern einfach für die Beobachtung freigelegt erscheint. 63

Dabei sind die Möglichkeiten dialektischer Neubestimmung innerhalb des instrumentalen Rahmens schon anspruchsvoll genug. Pizzicato und Col legno battuto, unter bestimmten Be dingungen Varianten desselben Impulsprinzips, zum Beispiel bei nachhallenden Flageoletts in beiden Spielweisen eng verwandt gemacht und so wieder beziehungsvoll trennbar, der schöne volle Ton als Dissonanz im akustisch radikal ausgetrockneten Umkreis perforierter BogenPreß-Aktionen. Original und abgeleitete Modelle, „Verfremdungen", tauschen ihre Rollen, spielen das Fragespiel nach Ei und Henne. Ich gerate so schon im Vorfeld des Komponierens in einen oft für mich selbst unabsehbaren Denkzusammenhang von mehr oder weniger kom plexen Kategorien. Diese mitsamt ihrer Fragilität bilden mein kompositorisches Instrumenta rium. Dem entsprach wohl in den fünfziger Jahren das Parameterdenken, das allerdings

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zunächst von quantitativen Abstufungen ausging und sozusagen mit vorweg installierten Reg lern spielte. Meine für mich geschaffenen Abstufungsskalen bestehen eher aus qualitativen Sprüngen, machen das Pizzicato zum Arco und das Pianissimo zum Fortissimo, und die Reg ler und ihre Funktionsweise bestimme ich selbst. Die Vergleichbarkeit zwischen Geschwistern darf sich auch nicht auf Alter, Körpergröße und Haarfarbe beschränken. Wo aber drei oder vier grundversch iedene Ereignisse „in eine Reih e" gebracht werden, tastet der wahrnehmende Geist nach dem übergeordneten Aspekt, der sie zusammen begreift, und erlebt auf diesem Umweg erneuerte musikalische Wirkung des einzelnen Moments. Das knirschende Bogengeräusch und das einem Dach der Vernunft, die dasallerdings verbindet: Dem verräterisch gilt die Erfin dungFlageolettglissando im kleinen. Das sounter entfremdete philharmonische Material reagiert auf meine Manöver. Es schreit vielleicht gerade dann auf, wenn alles sich „logisch" fügt. Es gibt also einen Widerstand zwischen dem, was ich strukturiere, und der Struktur, die ich dabei zerbreche. Der wird expressiv auf eine Weise, die ich nicht zu unterdrücken oder zu forcieren habe. Ich habe ja wohl auch keine andere Wahl, als in größtmöglicher Reinheit im Innern des zu setzenden Gefüges die eingeschlagenen Wege zu Ende zu gehen. Und ich lasse mich dabei stimulieren von der Erfahrung des unbekannt gewordenen Bekannten. Aber es geht mir natürlich wie anderen Komponisten auch: Erst im größeren Abstand er kenne ich, welche Kräfte letztlich die Physiognomie des Werks bestimmt haben. Keine Frage, daß bei aller empfundenen Rationalität doch wieder magische Prozesse mitwirken.

Der außerordentliche emotionale lmpakt, der in Gran vonZone, dem wo ausgeht, was ich Torso negativen Höhepunkt des ganzen Quartetts nenne, also von jener der Formund den Be wegungsprozeß des Werks sich - tangential - dem Stillstand und dem Schweigen annähert, wo eigentlich nichts mehr geschieht, jedenfalls fast nichts ... ... eigentlich ist es sogar Leere, was da „geschieht" ...

... und infolgedessen auch kein Material mehr wahrnehmbar, sondern alles weg, versunken ist: Das bildet den Höhepunkt des Werks. Klar, kann man sagen.

Komponiert ist dies als totale Antiklimax, als die bestimmte Negation eines Höhepunkts, und dann kommt alles wieder, es fängt wieder an, sich zu rühren, es kommt wieder Bewegung ins Phänomen hinein, man fängt wieder an, etwas zu hören, die ganze Musik entsteht neu, auf ersteht gewissermaßen aus einem Zustandfast wie Tod, oder jedenfalls Koma. Das ist von einer emotionalen Gewalt, die nicht ihresgleichen hat, die durch keinen massiven Höhepunkt in irgendeiner komponierten Form je erreicht worden ist und wohl auch nicht erreicht werden kann. Andererseits fürchte ich, daß ein solcher negativer Höhepunkt, wie er hier exemplarisch gelungen ist, auch nicht ohne weiteres wiederholbar wäre. Das noch ein zweites Mal zu machen, ein drittes Mal und ein viertes Mal, das dürfte schwerlich gehen. Vielleicht reden Sie jetzt fast schon wie Goethe zu Beethoven: sozusagen mit dem Schnupftuch in der Hand, was diesen offenbar verdroß. Ich finde, man muß, was Sie beschrieben haben, durch vieles ergänzen; denn im Grunde haben Sie bloß beschrieben, was vielleicht im Hören passiert. Aber dazu kommt doch mindestens die Erfahrung, daß während langer Zeit noch per manent etwas geschieht, obwohl nichts gehört wird.

Stellen Sie doch den ganzen Sachverhalt einmal dar.

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In Gran Torso gibt es das große Ritardando, wo eine Tremolo-Bewegung in Etappen - über das mechanische Sägen, das nervöse Hin- und Herfahren, das weit gedehnte Quasi-Aus- und -Ein atmen - gespreizt und so zelebriert wird bis zum Stillstand. Als Resultat einer quasi „vernünf tigen" Abstufung, sozusagen als „Augmentation" rational integriert, bewirkt dieser Vorgang mitsamt seinen qualitativen Sprüngen am Ende als „Ostinato rubato" einen magischen Zustand, der zugleich zur Versenkung und zum hellwachen Beobachten einlädt, und der als magischer dennoch zugleich völlig offen ist zur nackten Realität der Zeit, in der er zufällig gerade statt findet, dementsprechend ist er verwundbar. Aber ein solcher Zustand der Schutzlosigkeit scheint mir auch einen Teil der expressiven Kraft des leichtsinnigerweise „vernünftig", das heißt radikal Gearbeiteten auszumachen. Hier in der Bratschenstelle von Gran Torso wird er von der „kaum noch atmenden" Stille magisch bewacht. Noch nie wurde diese Stelle gestört, das wäre einem Selbstmord des Hörens gleichgekommen. Mir liegt an dieser Stelle vor allem an der Deutlichkeit der Abstufung von „Stille" und „Leere". Der Stillstand ist kein „morendo", sondern bedeutet einen weiteren qualitativen Sprung. Er ist mehr als die gefärbte Stille zuvor: Er ist Leere. Hier sind wir endlich im Zentrum einer unberührten Wüste. Die emotionale Wirkung - das wissen wir beide -, die habe ich nicht inszeniert, sondern die ist „gelungen" bei der Absicht, ganz mechanisch, quasi wie mit einem Regler in der Hand, die Musik „auf Null zu bringen", als isolierte Idee gewiß nicht srcinell, aber hierRückseite praktiziertsolcher gleichsam im heiteren Spiel:sieEsauf ist die eineUmgebung. glückliche Musik. nach außen, auf der Radikalität, reagiert Heiter, Und wie sie sich ver steht, macht sie Ernst. Aber wenn schon nicht die Musik - das Stück geht weiter, endlich Nicht Musik geworden. Fast möchte ich denken, bis dahin war die Komposition nur ein einziger Exorzismus, um endlich befreite Musik schreiben zu können, und jetzt erst konnte ich - sub jektiv gesehen - machen, „was ich wollte". Und im so freigemachten Raum empfinde ich die ersten Col-legno-battuto-Tupfer als Tropfen auf den kalten Stein, als empfindliche „Knalle" nicht weniger als die Bartök-Pizzicati am Schluß des Werks, mit denen sie dadurch eng ver wandt gemacht worden sind. Solche Situation verdankt sich weniger einem „konsequenten" - denn ich mag dieses Wort nicht -, als einem glücklichen, sich nicht behindern lassenden Weiterarbeiten. Eine andere Befreiung erreiche ich mit dem Schluß des Werks, nachdem der eben erwähnte senkrecht fallende, tupfende, danach springende, später allmählich waagerecht schleifende, so ins Streichen, geratene, festgefressen schließlich inhat, scharfen viereckig bewegte, festgequetschte BogenPressen sich endgültig nicht Rhythmen mehr vor und nicht mehr zurück kann: nicht Leere, aber Starre, und erst dort, wo die Musik sich aufhebt, tut sich wieder ein Freiraum von Nicht-Musik auf, der mir als Komponist ein Gefühl von so nie ge kannter F reiheit gibt. Die Bartök-Pizzicati , weit auseinanderliegend am Ende von Gran Torso, nannte ich Knall-Kantilene. Ich hatte „meinen Knall" und war glücklich, und ich hätte ewig mit ihnen weiter improvisieren können. Das habe ich dann in den Klangschatten mit 48 Streichern und drei Klavieren auch gemacht. Natürlich war doch auch so etwas wie Spaß an der ästhetischen Provokation dabei. Aber zehn Jahre vor mir hatte Michael von Biel sein Zweites Streichquartett geschrieben, und ich hatte dieser Tat vom Aspekt der gewaltsamen Brechung des Streichquartett-Tabus nichts weiter hinzuzufügen, als dem eine auf sich selbst bezogene logische Funktion zu geben. Wo Michael von Biel den Zaun eingerissen hatte, ging es darum, sich auf der ganzen Breite der so erweiterten Fläche ernsthaft anzusiedeln. Im Fall des Gran Torso-Ritardando ging es ganz bestimmt um die Vermittlung zwischen Beobachten und Zeigenwollen. Wobei ich weiß, daß Zeigenwollen nicht nur gefährlich zur

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Didaktik neigt, sondern auch eine terroristische Form von Pseudo-Ritual verursachen kann. Ich wollte aber nichts zu tun haben mit den kompositorischen Konzeptionen, bei denen das Zeigen zum weihevollen Pontifikalamt wird und es im Grunde egal ist, was man zeigt - das ist es bei mir vielleicht auch -, oder in welchem Zusammenhang und warum man es zeigt - das ist bei mir wichtig -, sondern wo alles auf den Terror der Weihe ankommt. Meine Praxis bleibt die des rational spielerischen Ent-Deckens.

Der Gestus des Zeigens kommt ohnedies in der Kammermusik nicht voll zum Zug, kann jeden falls nicht wirklich demonstrativ werden. Ich möchte hier wieder auf Adorno zurückgreifen, und zwar auf seine soziologische Deutung der Kammermusik, also auf seine These, deren We sen liege nicht in der Größe der Besetzung, sondern vielmehr darin, daß solche Musik infolge ihrer spezifischen Konzeption primär den Spielern und nicht den Hörern zugedacht ist, die al lerdings zuhören dürfen. Das macht das Wesen authentischer Kammermusik aus, zu welcher Gran Torso sicherlich gehört. Das aber führt dazu, daß alles, was in einer Symphonie, dieser von der Soziologie der Gat tung her viel öffentlicheren, an ein großes Publikum gewandten Form, geradezu plakativ affichiert werden könnte, so demonstrativ in der Kammermusik nie werden kann. In ihr wirkt der Gestus des Zeigens, wenn er überhaupt zum Tragen kommt, denn auch eher so, als würden die Musiker einander etwas zeigen, also nicht dem Publikum. Ein Quartett sitzt ja auch schon so da: Die vier Musiker sitzen einander zugewandt statt frontal zum Auditorium, und es ist ein ganz wenn so etwas einmal wie imdieStreichquartett von Kageleinander oder demabge von Gielengroßes - für Ereignis, einen Moment verändert wird, -sodaß Spieler des Quartetts wandt spielen. Es gehört eben schon zum Wesen der Gattung, daß sie einander zugewandt sind und nach innen spielen, nicht nach außen. Die Konzerthausarchitekten haben allerdings heute oft keinen Sinn mehr für den Sozialcha rakter der musikalischen Gattungen. Diese sinnlosen Bauten, die man inzwischen für philhar monische Orchester gemacht hat, wo hinter dem Orchester nochmals Publikum sitzt wie in der Berliner Philharmonie, sind Vernichtungen der symphonischen Form: Das symphonische Au ditorium muß vom Orchester gerade frontal angeredet werden. Für Kammermusik hingegen könnte es sehr wohl sinnvoll sein, das Auditorium um die Spieler herumzusetzen. Bei häusli cher Kammermusik ist das häufig so der Fall gewesen - die Kammermusik stammt ja aus den Häusern -, und da gab es musikalisch kein Vorn und Hinten und sollte dies auch sozial nicht gegeben haben. Die Sozialidee von Kammermusik ist, wenn schon keine Massengesellschaft, so doch wenigstens ein Freundeskreis Freier und Gleicher. Inzwischen hat sich trotzdem die Praxis doch so verändert, daß sich Spieler ebenso wie Kom ponisten und Hörer der möglichen Funktion von Quartettmusik nach außen, also in Richtung Publikum, sehr wohl bewußt sind. Und das gilt ganz bestimmt für die Quartette von Kagel und Gielen. Aber es stimmt schon bei Gran Torso, daß die Spieler eigentlich am meisten davon haben müßten, einfach durch ihre Nähe zum Klanggeschehen. Aber wir anderen, wir bekom men als Hörer auch eine ganze Menge und von manchem sogar mehr mit, und manches eben durch bloßes Ahnen. Ahnen kann auch eine schöne Art von Teilnehmen sein. Auf der anderen Seite: Auch in meiner Orchestermusik komme ich immer wieder zur Situation des Zeigens, und ich weiß sehr wohl, wie schnell man da in die Falle des hohlen Rituals hineintappt. Wehe, wenn das nicht wieder aufgebrochen wird. Es gibt in meinen Stücken oft Situationen, wo alles stehen bleibt: in Fassade das zwei Mi Salut für Caudnuten lange leere Bandrauschen mit darunter verschütteten Kinderstimmen, in 53

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well die „Schüsse" in der Mitte des Stücks, anderswo sind Stellen mit vergleichbarer Funktion auskomponiert, zum Beispiel in der Tanzsuite mit Deutschlandlied in der Einleitung, im „Siciliano" und vor der „Gigue", aber auch noch in Ausklang in der ersten Solokadenz und der Fer mate auf b; in Mouvement ist es die „O du lieber Augustin"-Partie, die Klangschatten stellen von Anfang bis Ende einen solchen Zustand von statischer Nicht-Musik dar, ebenso Guero, und was in den sieben Stücken meines Kinderspiels abläuft, sind „nichts weiter" als mechanisch ab getastete ZuständeGestus. eines ähnlich verstandenen wie Innehaltens auf einem mehr oderdoch weniger chen stereotypen Situations-Fermaten diese entsprechen vielleicht dem,einfa was Minimalisten und postserielle Schlaumeier als schnell verfügbaren Rausch unmittelbar zu inszenieren pflegen. Dort als das Moment der vom Alltag abgehobenen Übereinstimmung mit sich und der schwingenden Umgebung: Schon mit dem Einsetzen ist man mitten drin. Ich selbst werde dabei als Hörer bockig, ich mache nicht mit. Als Komponist aber treibe ich mein Mate rial dorthin und wieder hinaus, denn derlei statische Erfahrung ist bei mir eingebunden in einen durch Vernunft und Intuition und Neugier widerstandsfähig gemachten, gleichsam nüchternen Prozeß der wachsamen Beobachtung. Ich kann magische Rituale nicht ad hoc inszenieren, sie müssen sich mir im Lauf der Arbeit vernünftig anbieten. Vermutlich würden solche Regie-Ein fälle bei mir insgesamt eine Art expressionsbezogener Strategie ins Werk hineinbringen, die ge nau das wieder zusammenk leistern würde, was auseinanderbrechen sollte. Andere können das, und manche durchaus glaubwürdig, und meine scherzhafte Gegenüberstellung von „nüchterner Heiligkeit" bei Nicolaus A. Huber und „heiliger Nüchternheit" bei mir drückt zugleich eine Sympathie aus zu einer Musik, zu deren Anderssein ich mich stark hingezogen fühle und die ich glaube, auf eine für mich selbst fruchtbare Weise verstanden zu haben. 11

Irgendwo in Adornos „ Minima Moralia " steht die Definition: „ Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein." Was ist der Sinn von Kunst heute? Der ist vielleicht der, den Menschen an sich zu erinnern, an Kräfte in ihm, die ungenutzt sind, während er verschlissen wird. Natürlich könnte ich wieder einmal mehr sagen, er bestehe darin zu provozieren: provozieren im kreativen Sinn, nämlich Kräfte zu wecken und einen geistigen Widerstand dort zu mobilisieren, wo wir im Genuß kultureller Dienstleistungen unsere wahren und falschen Sehnsüchte provisorisch befriedigen, das heißt betrügen. Nicht auf der Spiel wiese, wo das Absurdeste erlaubt und gefällig und ungefährlich ist, und nicht im Laboratorium mit seinem Science-fiction-Bonus, sondern mitten im traditionalistisch fixierten kulturellen Gesellschaftsspiel, also nicht in den Abstellräumen der Zivilisation und nicht im Zoo, sondern - man beachte die Metaphernmischung -: im Konzertsaal, wo es ans Eingemachte geht, in der zur Rumpelkammer verstopften guten Stube, dort, wo der Geist sich blind feiert, dort Aufga ben an seine Wahrnehmungsfähigkeit stellen, Aufgaben, die befreiend wirken in dem Maß, wie sie beunruhigend wirken und umgekehrt. Allerdings: Eine solche weltverbesserische Antwort gebe ich vielleicht als leidenschaftlicher und naiver Musikliebhaber und unbelehrbarer Mora list, und ich beziehe mich dabei auf Erlebnisse als passiver Musiker, das heißt als aktiver Hörer. Als Komponist sollte ich so nicht reden, sondern dürfte höchstens sagen, der Sinn der Kunst sei für mich eine abenteuerliche Form der Triebbefriedigung mit der Erwartung, mich so zu verwirklichen und im Suchen besser zu erkennen. Verkündigungs-, Lehr- und Erziehungs ansprüche an die Kunst machen mich allergisch, und es bleibt bei dem, was ich im Donau eschinger Programmheft zur Uraufführung meiner Schwankungen am Rand 1975 schrieb: „Ich hasse den Messias und liebe den Don Quichotte", mit dem Zusatz: „... und ich glaube an das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzchen." 201

Wie ist es mit dem Kriterium der Geschichte, das ja doch darüber entscheidet, was noch geht, was nicht mehr geht - und vielleicht: was erst jetzt geht. Ich würde einmal zugespitzt die These aufstellen, jedes bedeutende Kunstwerk zeichne sich unter anderem dadurch aus, daß es zum historisch frühestmöglichen Zeitpunkt entstand, daß es also zuvor gar nicht möglich gewesen wäre. Das würde ich bestätigen, wobei ich allerdings glaube, daß das eher ein passives Kriterium ist. Ich habe unter dem Einfluß vieler Eindrücke und Lektüren, einschließlich derjenigen Ihrer Auf sätze, und ganz intensiv in der Zeit, als ich bei Nono studierte, der damals noch viel mehr als heute auf rationale Selbsterfahrung abgehoben hat, so etwas wie einen geschichtlich gültigen Materialstand zu erkennen und begrifflich zu fassen versucht, Stichwort: Tonalität als überlebte und zugleich überlebende in einer Situation der verdrängten Entfremdung, Integration des Fort schritts in die Regression, ich erinnere an meine Texte aus den frühen sechziger Jahren ein schließlich meiner Ghostwritertätigkeit für die Darmstadt-Vorträge Nonos 1959 und 1960, die sich diesen Fragen stellten. Und ich glaube nicht, daß ich als einer gelte, der sich um die Reflexion dieses Aspekts gedrückt hat. Aber mir scheint, die tatsächlichen historischen Auf brüche in der Kunst, die Dammbrüche und Revolutionen, die kommen zunächst aus inneren Notwendigkeiten, deren Verknüpfung mit dem Gebot der geschichtlichen Stunde man nicht zu leugnen braucht, die man aber in diesem Stadium nicht durchschaut. Ich bin ein Musiker und weiß nichts von mir als Prophet, ich versuche, stets hellwach zu bleiben, aber das Moment des Arbeitens ist zu sehrauch auf zu sichzerbrechlich, selbst bezogen, auchesin sich gewisser Weise geschichtlichen zu triebhaft durchsetzt, und zugleich doch als daß um seinen Auftrag kümmern könnte. Ich glaube, der Künstler tut gut daran, seinen diesbezüglichen obligaten Größenwahn vorsorglich zu ignorieren. Schönbergs Fehlleistung mit der „Vorherrschaft der deutschen Musik für die nächsten hundert Jahre" sollte uns warnen. Natürlich hat er seine ge schichtliche Rolle gespürt und erkannt, daß er's hat sein müssen, weil kein anderer sich herge geben hat. Aber wie irreführend klingt, was er da gesagt hat. Auf eine gewisse Weise hat das ja auch Stockhausen praktiziert, wenn er bei der Ankündi gung und Beschreibung seiner neuen Werke sagte: „Jetzt stehen wir hier, und jetzt gehen wir diesen Schritt weiter."

Ja, die Formel habe ich noch im Ohr: „Bisher war das so und so so ..."

von jetzt ab ist es so und

Das schien mir ein bißchen Etikettenschwindel, halb schon auch richtig, ganz bestimmt das Komponieren der anderen stimulierend, aber zugleich in so vieler Hinsicht falsch. Man geht doch nicht in der Geschichte einen Schritt weiter, sondern man geht seinen eigenen Weg zu Ende. Natürlich wirken wir in der Geschichte und die Geschichte wirkt in uns, aber die kon kreten Spekulationen, die wir anstellen, bilden nicht mehr als eine Erfindungshilfe. Wo ein Werk das geschichtliche Wissen um die Musik verändert, da wirken andere Impulse. Es gilt ge wiß immer wieder, die Situation, in der wir handeln, zu bestimmen und auf sie zu reagieren, aber es gibt so etwas wie eine Dialektik von Fortschritt und Regression. Der „Fortschritt", der von einem wie auch immer definierten Standort aus geradeaus weitergeht: Möglicherweise ist er einfach deshalb keiner, weil er alles, was von hinten an ihm zerrt, abwürgt und auf verhäng nisvolle Weise ignoriert. Dann bleibt unversehens soviel ästhetisch, aber auch kompositions technisch Unerledigtes, was sich sträubt, was die Stringenz des fortschrittlich Geschaffenen sabotiert und den vermeintlichen Fortschritt an der mehr oder weniger langen Leine hält, und 202

worauf man dann verräterischerweise doch wieder zurückkommen muß, wobei dann die falschen Freunde den moralischen Zeigefinger heben, mit dem sie eben noch andächtig in der Nase gebohrt haben.

Es gibt ein Werk aus dem Jahr 1907, auf das ich besonderen Wert lege: Schönbergs Zweites Streichquartett, dessen viersätzige Form identisch mit dem kompositionsgeschichtlichen Pro zeß ist, der von der voll entfalteten Tonalitat zur Atonalität geführt hat. Es ist sehr schön, ja ein zigartig, wie Inhalt und Form da koinzidieren. Es hat mich immer gewundert, wie es nach die sem Werk offenbar vielen - wenn nicht allen - Komponisten und sogar Schönberg selber wie der möglich gewesen ist, Werke, deren Abfassung einen ebenso langen oder einen noch längeren Zeitraum in Anspruch nahm, in einer Musiksprache durchzuhalten, obwohl doch während des Kompositionsprozesses selbst geschichtliche Zeit verging. Dieses Aufrechterhal ten einer stabilisierten Musiksprache über einen Zeitraum von Monaten oder sogar Jahren er weckt dann den paradoxen, auf eine Fiktion zurückgehenden Eindruck, Anfang und Ende eines solchen Werks samt allem, was dazwischen liegt, repräsentiere denselben geschichtlichen Au genblick. Was selbst bei geschlossen wirkenden Werken objektiv nicht immer zutrifft. Stilistisches Vor dringen läuft nicht linear in eine durch die Vergangenheit vorgezeichnete Richtung. Und je nachdem, in welcherdes Phase man sich die Brüche langen Zeiträumen Arbeitens ambefindet, selben lassen Stück sich ergeben. Mein vermitteln, Notturno die habesich ichüber 1966 angefangen, dann die Arbeit unterbrochen, und als ich zwei Jahre später weiterkomponierte, war ich außerstande, mit intervallisch konstruierten Klangfeldern zu arbeiten wie vordem - es ging einfach.nicht, und ich arbeitete in völlig anderen kompositionstechnischen Kategorien weiter. Dann ergab sich das Problem, wie das Ganze zu einer Geschlossenheit kommt. Ich habe versucht, das mit einer Kadenz zu überbrücken und habe diese nachträglich in den vorderen Teil eingefügt. Und schließlich wurde während der Reinschrift, wo ich nochmals jede Note so zusagen durch meine Hand gehen ließ, vieles aus dem Anfang im neuen Licht umgedeutet und modifiziert. Ein solcher Integrationsvorgang, der findet in engen ebenso wie in weiten Ent stehungszeiträumen statt, bei Werken, wo wir dies nicht ahnen. Vielleicht genügt es oft, unter einer Schicht zu kratzen, um solche inneren Verwandlungen in der Haltung der Werke auf zudecken. Verwandlungsprozesse im eigenen stilistischen Denken können ja auch wirkliche Schübe aufweisen. Offenbar war das der Fall in dem Zeitraum, in dem Schönbergs Zweites Streich quartett entstand. Aber es gibt auch Schübe in einer Zeit, in der man nicht komponiert, wobei die darauf entstehenden Werke eher Produkte eines Sichzurechtfindens oder auch eines Sichrückversicherns sein können. Es scheint mir fraglich, wie eindeutig sich so etwas in der Partitur dokumentieren läßt. Interessant ist auch der Fall Wozzeck. Berg fing an mit der zweiten Szene des zweiten Akts, der Tripelfuge. Das ist noch eine relativ spröde Polyphonie, und wenn Berg so weitergearbei tet hätte, wäre das Werk viel undankbarer in seiner Aufführbarkeit geworden. Aber es ergaben sich zweifellos ständige Korrektive aus der Praxis, erkannte Notwendigkeiten der satztechnisch lapidaren Straffung, permanentes inneres Abklären während einer Entstehungszeit von sechs Jahren, vielleicht auch das plötzliche Aufgeben von Berührungsängsten gegenüber Dingen, die er sich zuvor noch verboten oder verbeten hatte. Da solche Veränderungen immer mitwirken, muß man ständig versuchen, seinen ursprünglichen Ansatz neu zu verstehen, im Vertrauen dar auf, daß wenn er richtig war, er auch im neuen Licht stimmt. Daß der Komponist überwundene

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Zustände, die er in seinem Werk vorfindet, erneut lädt mit dem neu erworbenen Erkenntnis stand: Das gehört im Grunde zum Metier. Um noch einmal zurückzukommen: Es fiele mir heute sehr schwer, einen Materialstand zu beschreiben, den es festzuhalten, wie auch immer zu verteidigen, oder von dem aus es zu starten gilt. Nochmals Gran Torso: Ich weiß nicht, ob dieses Stück hinter mir oder vor mir oder wo es liegt. Manchmal sehne ich mich zurück nach einer Zeit, in der ich viel müheloser zu der Gewißheit kam, mir da ein exklusives, außerphilharmonisches Instrument geschaffen zu haben, auf dem ich in aller Ungebundenheit spielen konnte. Kein anderer verfügte sozusagen darüber außer mir. Alles was ich machte, war als Nachricht von diesem Instrument im Grunde unan greifbar, alles war gut. Einen solchen Zustand zu erreichen im Rahmen des unverfremdeten Materials, ist viel schwieriger, aber auch anspruchsvoller. Hier finden ständig unerwartete Berührungen mit dem alten Vokabular statt, ich spiele zu einem gewissen Grad auf fremden Instrumentarien und muß weniger heroische als subtile Anstrengungen unternehmen, um aus der vernutzten Praxis eine neue authentische zu machen. Hier liegt für mich eine neue Art intensiver innerer Provokation, die mich in den Schlaf verfolgt. Es sollte eben nicht um das Vor preschen in eine neue interessante Strukturwelt gehen, sondern die sollte aufregend sein da durch, daß sie uns aufregt und von uns ein anderes Verhalten verlangt. Die Aufregung sollte in der Selbsterfahrung stattfinden. Und wenn ich die Musiker im Kulturbetrieb ansehe, dann denke ich: Muß ich diese Musiker wirklich jedesmal in die „Wüste" schicken, damit meine Musik herauskommt? Bestimmt muß ich sie in eine Wüste schicken, aber in eine andere, nicht in jene, die von den Epigonen inzwi schen touristisch erschlossen ist. Für mich muß es jetzt deshalb andere Räume geben, vielleicht direkt neben uns, mitten im musikbeflissenen Kultur-Alltag. Nehmen wir eine Klangerfahrung wie das Unisono: Was ist das eigentlich? Als Verdichtung der emphatischen Kraft des Tons ist es eine wahrhaft auf regende Erfahrung in vielen Werken Schuberts, Bruckners, Mahlers. Das hat etwas mit Tonalität, aber auch mit physiologischen Vorgängen zu tun. Wenn ich einen solchen Moment isoliere und umforme: durch Subtraktion, durch Verformung des Prim-Intervalls, durch Bewußtmachung oder Brechung seines Spektrums, ihn nach allen Seiten öffne, seine Komponen ten aufdecke, dann kümmere ich mich nicht darum, wo ich just in diesem Moment geschicht lich stehe. Ich kann nicht dauernd mit der Gretchenfrage unterm Arm herumlaufen. Ich bin weiter auf der Suche. Was den geschichtlichen Stand und seine Dynamik angeht, so ist es vielleicht Außergeschichtliches, auf welches der Geist blickt, wenn er wohin auch immer vordringt. Jedenfalls glaube ich auch hier, daß nicht ich die Fäden in der Hand habe, sondern sie mich.

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Paradiese auf Zeit Gespräch mit Peter Szendy

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Sie haben von 1955 bis 1958 bei Johann Nepomuk David in Stuttgart studiert, dann bei Luigi Nono und Karlheinz Stockhausen. Was ist Ihnen von diesen verschiedenen Lehrzeiten im Gedächtnis geblieben ? 43

Bei Johann Nepomuk David habe ich traditionellen Kontrapunkt nach Palestrina und Josquin Desprez studiert, was ganz allgemein meinen Sinn für die Beziehung zwischen rationalen und expressiven Energien in der abendländischen Musik geschärft hat. Außerdem habe ich Musik des 16., 17. und 18. Jahrhunderts analysiert. Aber gleichzeitig hat David mir den Zugang zur Musik der Zweiten Wiener Schule geöffnet. Ich habe nicht nur mittelalterliche Musik kopiert und exzerpiert - Dufay, Ockeghem, Obrecht -, sondern auch Partituren von Schönberg, Berg und Webern. Und bis heute habe ich die Gewohnheit beibehalten, Partituren anderer Kompo nisten nicht nur zu analysieren, sondern auch von Hand abzuschreiben. Als Komponist hat mich David weniger interessiert. Er erschien mir als Vertreter eines weit hin polyphon orientierten musikalischen Weltbilds, er glaubte an die „Tugend" des historischen Kontrapunkts. Immerhin hat er 1957, als ich in Darmstadt Bekanntschaft mit Nono, Stockhau sen und Maderna gemacht hatte - die Musik von Boulez kannte ich durch Donaueschingen schon ein wenig -, vollkommen verstanden und akzeptiert, daß mir die Begegnung mit der se riellen Musik eine entscheidende Perspektive eröffnete. Ich habe bei David - einer typisch österreichischen Erscheinung mit katholisch geprägtem Hintergrund - eine vergleichbare Bin dung an seine Tradition gefunden wie bei Luigi Nono. Zugleich gab es einen großen Unter schied, denn Nono stand durch seinen Marxismus und durch seine vom aktiven Widerstand gegen den Faschismus geprägte Persönlichkeit ganz woanders, abgesehen davon, daß er einer anderen Generation angehörte. Zwei Jahre lang - von 1958 bis 1960 - habe ich mit Nono zusammen gearbeit et, habe mit ihm unter einem Dach gelebt und so an seinem kompositorischen Alltag aus relativ kurzer Entfer nung teilgenommen. Auch bei ihm habe ich die Werke der alten Meister studiert: Madrigale von Monteverdi und Gesualdo, den Actus tragicus von Bach, die Eroica, gleichzeitig aber auch

Technique de mon langage musical von Diese sur Mallarme die Messiaen, die Improvisations von Boulez, die Kontra-Punkte von Stockhausen. Analysen wurden unter immer wieder an deren Aspekten vorgenommen: dem des Tonmaterials, der zeitlichen Ordnung, der Form, des Wort-Ton-Verhältnisses ... 1963 und 1964 habe ich an Kölner Kursen von Karlheinz Stockhausen teilgenommen und dabei eine fragmentarische Version von Plus-Minus ausgearbeitet. Das war in gewisser Weise die längst fällige empirische Ergänzung zu meinen Studien bei Nono: die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Problemen der Realisierungspraxis, und zwar im direkten Kontakt mit Musikern wie Aloys Kontarsky, Frederick Rzewski, Christoph Caskel; die Konfron tation mit Fragen der Notation, der Raumdisposition und der instrumentalen Spieltechniken, aber auch die Begegnung mit beziehungsweise die Herausforderung durch andere ästhetische und theoretische Positionen: die von Stockhausen natürlich, aber auch von Dieter Schnebel, 50

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Henri Monte Pousseur Young.

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und - aus der amerikanischen Szene - von John Cage, Earle Brown,

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1965 schließlich habe ich drei Monate lang im elektronischen Studio IPEM in Gent gearbei tet, dank der freundschaftlichen Unterstützung von belgischen Musikern: Andre Laporte, Lucien Goethals, Herman Sabbe. Und dort bin ich auch Karel Goeyvaerts begegnet. Studium der Tradition, Durchleuchtung des Materialbegriffs anhand von Analysen, theore tische Spekulation, ästhetische und philosophische Reflexion in Venedig; praktisches Experi mentieren und empirisches Überprüfen in Köln und in Gent: Ich glaube, daß die zeitlich derart getrennte Konzentration auf so unterschiedliche Erfahrungskomplexe, die letztlich zusammen 68

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gehören, meinedamit Identität als Komponist Grund auf geformt hat; einesondern Ausgangshaltung, die sich niemals begnügt, gegebene von Möglichkeiten zu gebrauchen, die stets ver sucht, musikalische Situationen zu schaffen, deren Aspekte das Klingende über seine akusti sche Evidenz hinaus zu einem Objekt dialektischer Wahrnehmung umwandeln: zu einem Gegenstand von Perzeption und Reflexion in einem. Nono hat das Komponieren immer als einen Akt begriffen, der sich an der Verantwortung des Künstlers gegenüber der Geschichte und der gesellschaftlichen Situation zu orientieren habe. Technisch gesehen bedeutete dies - zumindest damals - die bewußte Kontrolle der Kon notationen, mit denen das musikalische Material unweigerlich besetzt ist - besetzt durch seine Rolle in der Gesellschaft, durch Tradition und Konvention -, und auf die der Komponist bei seinen Entscheidungen so oder so reagiert. Und dies führte zu einem grundlegenden Mißtrauen gegenüber dem technologischen Optimismus anderer Komponisten, bewirkte zudem eine All ergie gegenüber der figurativen Geste als dekorativem und virtuosem Ornament, über das er mir einmal unter Anspielung auf die Musik am Hof Ludwigs XIV. schrieb: „Musik als Unter haltung für Prinz-Aristokraten-Snob , die manchmal Musik im Schloß haben, statt zu jagen .. ." In der musikalischen Entwicklung von Stockhausen und Boulez witterte Nono die Restaura tion „bürgerlicher" Faszinationsmittel, von denen er gehofft hatte, sie seien nach all den Kata strophen dieses Jahrhunderts durch ein geläutertes Bewußtsein in einer erneuerten Kultur ein für allemal überwunden. Nono bewunderte die Gruppen von Stockhausen, aber gleichzeitig sah er in ihnen einen Rückfall in einen figurativen Stil; er hatte Achtung für das Schaffen von Boulez, aber gleich zeitig lehnte er dessen Ornamentik ab, er verstand den magischen Aspekt darin - vermutlich fälschlicherweise - als bloßen Exotismus. Und er haßte alle jene „anarchistischen" Tendenzen unterm schützenden Dach einer kapitalistischen, pseudo-toleranten Wohlstandsgesellschaft, die ihnen erlaubte, sich avantgardistischen Vergnügungen auf einer seriellen, aleatorischen, strukturalistischen, surrealistischen, expressionistischen Spielwiese hinzugeben, letztlich harmlos und ohne Gefahr für ein träges Gesellschaftsbewußtsein, das sich, wenn schon nicht amüsiert, so doch eher gestört als wirklich getroffen fühlte. Nono war Kommunist, Marxist, Sozialist im utopischen, vielleicht auch im religiösen Sinn. Er hat diese Überzeugung trotz aller zutage getretenen Irrtümer und Widersprüche zeitlebens aufrecht erhalten. Im Appell an ein erneuertes Bewußtsein hat er in seiner Musik die alten ex pressiven Topoi bewahrt und zugleich deren emphatische Sprachkraft gereinigt. Das Pathos etwa: Bei Beethoven echtermaßen noch revolutionär, hat es nach seiner „Einbürgerung" bei Nono zu diesem Bedeutungsinhalt wieder zurückgefunden dadurch, daß er dessen philharmo nische Kruste, das heißt: die regressiven Zusammenhänge bei seinem Gebrauch in der sym phonischen Musik aufbrach. Heinz-Klaus Metzger hat das Regressionsverbot als die Basis für die ästhetische Moral bezeichnet, welche die Position Nonos in den Jahren zwischen 1950 und 1960 bestimmte und so auch mich beeinflußte. Zahlreiche technisch durchaus innovativ wirkende Komponisten 60

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sind nichtsdestotrotz wieder in den Sog der alten bürgerlichen ästhetischen Kategorien geraten. In seiner Analyse der Structure la von Boulez vergleicht Ligeti den Komponisten mit einem Hund, der sich selbst an der Leine führt, und zwei Zeilen später spricht er von der „Katzenwelt" des Marteau sans maitre. Beide Vergleiche waren in den Augen Nonos entlarvend. In ihnen verriet sich ihm eine Salon-Ästhetik - wahrscheinlich eher charakteristisch für Ligeti als für Boulez -, die dem Komponisten des Carito sospeso unerträglich sein mußte. Aber zugleich sa hen viele gerade in ihm selbst einen expressionistischen Neo-Webernianer, der sich - anstatt weiter zu gehen - hinter einem starren und sterilen Punktualismus verschanzt habe, immer noch feierliche Chöre, Fanfaren und Glocken rhetorisch bemühend - und dies im Zeitalter von Cage, der Aleatorik und all jener Tendenzen, die bis hin zur Werkidee alle überlieferten Kunst-Werte in Frage zu stellen schienen, zugunsten all jener Formen von Spontaneität, von Freiheiten, die für Nono doch nichts anderes waren als Käfige, hinter deren Gittern man sich frei zu bewegen vermeinte. Was mich betrifft, so habe ich Nono immer als einen radikalen Strukturalisten angesehen, der gerade durch seine Rigorosität die Glaubwürdigkeit einer emphatischen Diktion bewahrte, er neuerte, rettete. Heinz-Klaus Metzger hatte damals Stellung gegen Nono bezogen und stellte der „Verant wortung", die für Nono so wichtig war, die „Frivolität" als wahrhaft subversive Kategorie ge genüber. Statt der „Revolution" „Frivolution"! rasselt derInzwischen Bourgeois haben mit seinen Ketten. Aber die Diskussion ist bis aufdieden heutigen TagSo noch offen. sich die Po sitionen modifiziert, man hat gelernt, genauer zu hören und ist gleichzeitig für anderes taub ge worden. Die Goldsucher von einst sind mittlerweile Juweliere geworden. Einzig Nono und Cage scheinen mir noch Hoffnungsträger zu sein - bisweilen in die gefährliche Rolle von Gurus geratend für solche, die gerne Idolen nachlaufen. Einzig sie scheinen mir Horizonte und Ab gründe aufzuzeigen, die es noch zu erforschen gilt. Und in ihnen bewahrt sich jene schöpferi sche Unruhe, welche die einzige uns erlaubte Ruhe ist: Sichere Unsicherheit anstelle unsiche rer Sicherheit. Ein eigenartiges Erlebnis mit Nono hat mich besonders berührt. 1959, in seiner Darmstä dter Polemik gegen einen regressiven Anarchismus, hatte er die musikalische Collage als Kolonia lismus verdammt und die in solchem Zusammenhang verwendeten Klangmaterialien mit jenen fremdländischen Steinen in den Wänden von San Marco die man dort alserTrophäen von Raubzügen in anderen Kulturen eingemauert findet.verglichen, 1987 indessen schickte mir eine Anzahl von Fotos, die er just von diesen Wänden gemacht hatte, mit einem begeisterten Kommentar. Er schien seine Polemik von ehedem vollständig vergessen zu haben. Nono bedeutete für mich das Beispiel eines radikalen Suchers - aber mein Weg war ein an derer. Ich habe ihm genau zugehört und zugeschaut, und ich habe mich über seine Surditäten und Absurditäten hinweggesetzt: seine von mir manchmal als ärgerlich empfundenen dogma tischen Unempfindlichkeiten: Ich war schließlich kein Marxist, sondern eher religiös einge stellt - dabei voll von Zweifeln an allem.

Würden Sie sagen, daß das serielle Denken in Ihrer Schreibweise eine Spur hinterlassen hat? Wahrscheinlich haben alle meine Entscheidungen in bezug auf den musikalischen Text mit seriellem Denken zu tun. Dem seriellen Denken als Mittel der Ausstufung und der Entsubjektivierung, als Mittel zur Schaffung neuer Materialzusammenhänge, als Mittel zur Befreiung der von Konventionen belasteten musikalischen Elemente, als technisches Mittel, um neue Wahrnehmungskategorien zu aktivieren - Kategorien, die es immer noch und immer wieder 207

beim Komponieren selbst von neuem zu erfinden gilt. Wenn es wahr ist, daß die Schaffung ei ner charakteristisch wirksamen Struktur zugleich die Brechung von vorweg existierenden, so zusagen im Wege stehenden Strukturen bedeutet, dann kann man bei dieser Prozedur auf seri elle Methoden nicht verzichten. Ich habe übrigens auch mehrere klassische Werke mit Hilfe se rieller Methoden analysiert und bin dabei auf Klangkategorien gestoßen, die unter den alten tonalen Kategorien mehr oder weniger verborgen liegen, aber in Wirklichkeit die Physiogno mie, die Form und die Expressivität des Werkes bestimmen. Jede Musik realisiert ihre Indivi dualität durchspeziell einen spezifischen Kontext, der durch Kategorienzubestimmt wird, einer die jedem zelnen Werk zu eigen sind und dessen Klangelemente Bestandteilen ganz ein und gar einmaligen Rangordnung werden, in der die Tonalität nur relative Bedeutung hat. Der orthodoxe Serialismus ging aus von relativ „handlichen" Parametern: den Dauern, den Tonhöhen, den Lautstärken und - etwas sperriger - der Klangfarbe: Parametern, die so aber ste ril bleiben mußten. Für mich bedeutete Komponieren von jeher: Eigenschaften ins Werk set zen, „mobilisieren", die es nicht nur zu nuancieren, sondern zu transformieren gilt. Jede Skala muß sich durch einen klanglichen Aspekt bestimmen, den sie verwandelt, und der über die bloß quantitative Abstufung, die wie ein Regler nur an einer Zahlenreihe entlangführen würde, hin ausweist und zu völlig unerwarteten, ja oft entgegengesetzten Eigenschaften - und nicht nur solchen klanglicher Art - führt. Anstelle von Parametern spreche ich deshalb lieber von Kate gorien oder Aspekten. Denn es geht beim Komponieren nicht darum, neue Klänge oder eine neue Disposition von Klängen zu entdecken, sondern einem neuen Aspekt des Klangs Raum zu schaffen, und zwar als Element einer neuen syntaktischen Vision. Mit anderen Worten: Ich be trachte jedes Klangelement als einen Punkt in einer Unendlichkeit von Linien, die in eine Un endlichkeit von Richtungen weisen. Komponieren heißt dann: seine besonderen Linien suchen, finden und zeigen, indem man diesen Punkt als Abstufungsgrad auf einer Skala sich transfor mierender Eigenschaften behandelt, welche so dessen akustische Evidenz neu bestimmt. Manchmal spreche ich von einer neuen Jungfräulichkeit des Klangs: Der Klang, dem wir in der musikalischen Praxis, aber auch im Alltag begegnen, ist immer schon berührt und belastet durch mannigfache Konventionen und letztlich abgegriffen und unrein. Die Aufgabe des Kom ponisten läuft stets darauf hinaus, einen Kontext zu schaffen, der ihn reinigt und ihm unter ei nem neuen Blickwinkel seine Unberührtheit zurückgibt. Und das bedeutet weniger: zu „ma chen", als vielmehr: zu vermeiden, Naheliegendes auszusperren, sozusagen schöpferischen Widerstand zu leisten. Wo Musik dem ausweicht, wird sie früher oder später eingeholt von der Banalität der Idylle, exotischer , expressionistischer oder welcher Art auch immer.

Hat der Gedanke der offenen Form Sie jemals interessiert? Meine ersten En semblestücke, die öffen tlich gespielt worden sind - Fünf Strophen 1962 auf der Biennale Venedig, Introversion 11964 in Darmstadt und Introversion II 1965 in München - wa ren vorläufig festgelegte Versionen von Partituren, die als mobile Reservoirs von Möglichkei ten notiert waren. Die Spieler konnten daraus auswählen und ihre Aktionen bestimmen auf grund von Regeln, die einen klar umrissenen Kontext garantierten, ihn aber immer wieder auf andere Weise präsentierten. Für mich war das eine wichtige schöpferische Übung, ein Experiment, um meine Phantasie zu bezwingen, ihr auf die Sprünge zu helfen, sie zu „überholen", ja sogar zu überlisten. Ich habe davon zumindest eine gewisse Technik der seriellen und aleatorischen Vororganisation bei behalten, die mir Netze für eine mehr oder weniger komplexe Gliederung der Zeit an die Hand gibt, eine strukturelle Landkarte von Dispositionen, häufig noch ohne jede konkrete Klangvor 208

Stellung. Ich verfüge so über ein Netz von abstrakten Möglichkeiten, das sich meiner sponta

nen Kreativität entgegenstellt, sie gleichzeitig aber auch anstachelt und mich dazu zwingt, ihre zuvor unbewußten Grenzen zu überschreiten. Andererseits gibt es in fast allen meinen Stücken Situationen, die nicht mehr von mir selbst strukturiert sind, sondern deren Struktur, so wie sie sich ergibt, in einem bestimmten Moment aus der Intensität der Situation heraus entsteht und nun einen Teil der Komposition bildet. Das sind meist Haltepunkte, Fermaten oder mehr oder weniger komplexe Ostinati: Sie lenken die Aufmerksamkeit auf verborgene oder vernachlässigte Einzelheiten, die normalerweise als bloße Randerscheinungen an der Peripherie des musikalischen Prozesses blieben und von der Wahrnehmung übergangen würden. Wenn jedoch solche Situationen in meinen Werken eintreten, dann als Resultate einer be wußten Hör-Sensibilisierung, wobei sie entgegen ihres statischen Anscheins eine komplexe Wahrnehmungs-Aktivität auslösen. Möglicherweise beziehen sich solche Momente insgeheim auf die Erfahrung Cage, aber anders als bei ihm sind sie in meiner Musik vorläufige Paradiese, „Paradiese auf Zeit", zu denen ich finde, und die ich wieder verlasse.

Heinz-Klaus Metzger bezeichnet eine derartige Situation in Gran Torso als „negativen Höhe punkt" des ganzen Quartetts: dort, wo die Aktivität in einer Tonrepetition am Rande des Schweigens zu erstarren scheint. Nun habe ich aber im Gegenteil den Eindruck, daß Sie selbst 11

darüber in sehr positiven Begriffen reden. Metzger hat in gewisser Weise schon recht: Das Negativ - die de-strukturierte, musiklose Situation - beschwört das Nichts, die Leere, die Stille, wo es keine Sprache mehr gibt. Aber diese Situation ist alles andere als belastend, sie ist schön. Wenn hier etwas zerschlagen oder zerstört wird, dann im Hinblick darauf, daß wir besser wahrnehmen können, was es in sich birgt, und um dieses freizusetzen. Das Trümmerfeld wird zum Kraftfeld. Ich sage gern - ein bißchen provozierend -, meine Musik sei heiter. Ich hasse die ästhetischen Philosophen, denen zufolge Musik gegen den schlechten Weltlauf mit Kratzgeräuschen hinter dem Steg protestie ren müsse. Wahrscheinli ch besteht eine dialektische Beziehung zwischen der bei meiner Musik empfundenen Aggressiv ität und dem, was ich „Heiterkeit" nen ne. Entscheidend ist, daß in mei ner Musik jedes Ereignis, wenngleich in einen neuen strukturellen Kontext eingeschmolzen, sich zugleich an den alten Kontext zu erinnern aus dem valenz, die mich manchmal selbst irritiert, aberscheint, ich brauche das. es stammt. Das ist eine Ambi

Wie konzipieren Sie das Ende eines Werkes - jenen Augenblick, da man es als Ganzes wahr nimmt? Dieser synoptische Augenblick, in dem man die Welt eines Stückes in ihrer Gesamtheit überblickt, findet weit vor dem Ende statt. Er vollzieht sich an dem Punkt, an dem das Werk sich der Situation bewußt wird, die es geschaffen hat. Und nach dieser Bewußtwerdung ist das Werk sich in gewisser Weise dieses neuen Bewußtseins bewußt; unabhängig davon findet das Ende irgendwo seinen Ort. Im übrigen beginnen viele meiner Stücke nicht mit dem ersten Takt, sondern schon vorher. In Partituren wie Accanto und Tanzsuite mit Deutschlandlied zum Beispiel gibt es jeweils einen sogenannten „Vorspann" mit den Takten Ol - OX, der ganz am Schluß der Arbeit komponiert wurde. Sobald ich einen Anfang formuliert habe, ist mir der Gedanke oft unerträglich, daß dies nun festgelegt sei. Es ist, als ob ich mich entschieden hätte, ein Haus an dem und dem Punkt und an keinem anderen zu bauen, im Wissen, daß ich niemals mehr irgendwo anders leben

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werde: Derlei beklemmt mich. Ich habe es gern zu wissen, daß dies nicht unbedingt mein „erstes Wort" sein muß. Es kommt auch vor, daß ich im Verlauf des Komponierens große Flächen frei lasse und mir die Möglichkeit vorbehalte, sie auszufüllen, oder auch nicht. In dieser Beziehung war Notturno für Violoncello und Orchester ein Sonderfall. Ich habe dieses Werk 1966 begonnen, die Komposition aber unterbrochen. Ich komponierte erst einmal temA und Pression, und danach kam ich auf Notturno zurück; inzwischen hatte sich in und mit mir vieles verändert. Ich erkannte mich in dem, was ich hier ursprünglich hatte ins Werk setzen wollen, nicht mehr wieder, und so habe ich das Stückletzten in ein neues Idiom integriert. Dasnicht war ein seltsames Umdeutungsspiel, abenteuerlich bis zum Moment. Aber derlei ist im mer möglich.

Ihr Werkregister verzeichnet als in Vorbereitung eine Oper: Das Mädchen mit den Schwefel hölzern. Darüber möchte ich nicht allzuviel sagen. Ich kann keine Oper „comme il faut" schreiben. Die ses Projekt bedeutet ein weiteres Abenteuer mit unbekanntem Ausgang. Die Geschichte von dem kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern selbst steckt voller „Botschaften", klaren und verhüllten: Gesellschaftskritik, existentielle Einsamkeit, „regressiver" Protest - das „Kapital" des kleinen Mädchens, die Schwefelhölzchen, die es anzündet, um sich zu wärmen, um Vor stellungen von Glück heraufzurufen - wobei es erfriert. In meiner Kindheit habe ich Gudrun Ensslin gekannt, die ebenso wie ich aus einer Pastoren-Familie kam, voller Ideale, protestan tisch im radikalen Sinn; sie schloß sich der Roten Armee Fraktion an, und zu Beginn ihrer zwei felhaften Karriere in der politischen Protestbewegung steckte sie ein großes Warenhaus in Brand ; 1977 kam sie um, durch S elbstmord oder Mord , auf jed en Fall als Opfer einer gleich gültigen, sich blind und taub stellenden Gesellschaft. Messages, Hommages: Als Komponist zählt für mich nur die Erzählung und ihre Struktur. Von dorther muß alles kommen.

Besteht eine Verbindung zwischen diesem Opernplan und Ihrer Komposition „... Zwei Ge fühle . .."für Sprecher und Ensemble? Ursprünglich sollte „... Zwei Gefühle ..." ein Teil der Oper werden. Der Text stammt von Leonardo da Vinci und sollte ein mediterranes Element in die skandinavisch-sentimentale Welt der Andersen-Erzählung einbringen. Dieser Text spricht von den Schwefelfeuern der Vulkane - was die And ersen-Schwefelhölzer in eine neue Dimension bringt, er vergleicht die Bewegung der Naturkräfte, die Gewalt des Windes und des Meeres mit der Unruhe des menschlichen Suchens und zeigt schließlich den Menschen im Gefühl seiner Unwissenheit, allein vor jener dunklen Höhle, allein mit seiner Furcht vor der darin herrschenden Finsternis und zugleich mit seinem Verlangen, „mit eigenen Augen zu sehen, was darin an Wunderbarem sein möchte".

Wie würden Sie Ihre Haltung im Vergleich zur Haltung der sogenannten „spektralen Musik" umreißen? Wenn man sich auf Ihren Grundgedanken des Musikwerks als eines „Klangs" bezieht, wenn man diese Formulierung hört, ohne genauer aufzupassen, ohne ihren spezi fischen Kontext zu beachten, könnte man an eine gewisse Übereinstimmung glauben. Ich kenne davon wahrscheinlich zu wenig. Ich bedaure, daß die Wer ke von Grise y, Dufourt, Murail, Levinas in Deutschland so selten gespiel t werden. Ich bewundere an ihnen den sinn lichen und geistvollen Reiz, so wie ich auch den Reiz fremder Kulturen, denen ich selbst nicht angehöre, bewundere. Die Musik von Gerard Grisey kenne ich ein bißchen besser und schätze sie sehr wegen der Kraft ihrer schöpferischen Intelligenz. Aber ich glaube, daß keiner dieser 72

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Komponisten eine Einordnung seines Schaffens bloß unter dem Schlagwort „spektrale Musik" akzeptieren würde. „Spektrale Musik" als ästhetisches oder stilistisches Programm: Das scheint mir eingeengt . Der Gedanke einer Art „Hyperkons onanz" mit ihren Formanten, aus de nen sich Form und Klangmaterial herleiten, ist mir sympathisch und steht mir nahe. Ich ziehe es jedoch vor, völlig unterschiedliche Objekte sozusagen induktionsweise unter ein und dem selben Dach eines kompositorischen Zusammenhangs zu versammeln: Dabei nehmen diese Objekte die Rolle von Formanten an, die - aufgrund der strukturellen Strategie - der Idee einer solchen globalen „Konsonanz", die daraus resultiert und deren Komponenten sie sind, einen neuen Sinn geben. Wo sich aber eine solche Hyperkonsonanz bloß auf Frequenz- und Inter vallsysteme stützt, die aus den „klassischen" Formanten hervorgegangen sind, wo sie sich so gleichzeitig an die Erfahrungen des Impressionismus und des Serialismus erinnert, dort scheint mir die Idee einer spektralen Musik sich in eine Art magischer Sicherheit zu flüchten, analog zu der der Tonalität. Und so habe ich den Eindruck, daß sie voller wunderbarer und inter essanter, aber auch regressiver Elemente steckt: Es ist die Idee eines Zaubergartens, in dem man lustwandelt und sich selbst dabei abhanden kommt. Ich bin fasziniert, aber mich selbst sehe ich auf einem anderen Weg. Was uns allenfalls verbindet, ist das Mißverständnis, dem wir gemeinsam ausgesetzt sind: Das, was Marcel Duchamp in der Malerei „Netzhaut-Kunst" ge nannt hätte.

Sie haben einige Ihrer Werke als „Musique concrete instrumentale" bezeichnet. Was verstehen Sie darunter? Der Terminus bezieht sich auf den der „Musique concrete" von Pierre Schaeffer. Statt aber mechanische Aktionen des Alltags als musikalische Elemente instrumental zu verwenden, geht es mir darum, den Instrumentalklang als Nachricht seiner Hervorbringung zu begreifen; also eher umgekehrt - Instrumentalklänge als mechanische Prozesse zu durchleuchten. Dieser energetische Aspekt ist keineswegs neu, aber in der klassischen Musik hatte er eine mehr oder weniger artikulative Funktion. Immerhin können wir die Harfe bei Mahler als ver formte Pauke, die Blechbläser bei Bruckner als imaginäre übermenschliche Lunge hören, und es war Richard Strauss, der das hohe Pizzicato-G der Geigen in der König-Lear-Ouvertüre von Berlioz mit einer im Kopf des Königs geplatzten Ader verglich. In der seriellen Musik spielte 76

dieser Aspekt eineabstufen. zweitrangige Rolle, er ließ sich schließlich auf keine Weisedieüber eine Quan tifizierung seriell In der elektronischen Musik, in der alles über Membran des Lautsprechers geht, war er sowieso verloren. Seit temA und Notturno und bis hin zu Accanto stand er im Mittelpunkt meiner musikalischen Vorstellungen, und von dort ausgehend haben sich die Hierarchien und die Polyvalenzen der Klangelemente meiner Werke herauskristalli siert. Der Klang wurde nicht mehr unterm Blickwinkel von Intervall, Harmonik, Rhythmus, Farbe usw. abgewandelt, sondern als Resultat der Anwendung einer mechanischen Kraft unter physikalische n Bedingungen, die im Lauf der Komposition bestimmt und abgewan delt werden: Ein Geigenton, beobachtet und reguliert als Ergebnis einer charakteristischen Reibung zwi schen zwei charakteristischen Objekten und begriffen als Sonderfall unter anderen ReibungsVarianten, das heißt Aktionen, die bis dahin nichts mit der philharmonischen Spielpraxis zu tun hatten, gliedert sich auf diese Weise ein in ein charakteristisches Kontinuum aus integrierten Geräuschen beziehungsweise mehr oder weniger verformten und umgeformten Klängen. Meine Werke, die diesen Aspekt zeigen, haben verkable Skandale hervorgerufen, sogar innerhalb der sogenannten Avantgarde-Szene selbst. So geschehen 1969 in Darmstadt mit Air, 1971 in München mit Kontrakadenz, fast überall dort, wo temA und Pression gespielt wurden,

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1978 in Warschau mit Klangschatten und 1980 in Donaueschingen mit der Tanzsuite mit Deutschlandlied. Diese in aller Unschuld provozierten Eklats haben mir den Nimbus eines „Johannes des Täufers" in der Wüste bösartiger Geräusche eingetragen, eines für den Musik freund berühmt-berüchtigten Schreckgespenstes aus dem avantgardistischen Kuriositäten kabinett. Man hat auch versucht, in dieser Musik die Verweigerung von „Schönheit" als moralisch-po lemische Geste zu erklären - vergessen wir nicht, daß Pression, temA und Air in der Zeit der Studentenunruhen geschriebenichwurden. Schließlich bin nach strukturalistischen und in surrealistischen Exkursionen einer der ersten gewesen, dieallanden jenes Ideal der Schönheit der Kunst erinnerten und die Forderung aufstellten, daß die Idee von Schönheit, um lebendig zu bleiben, sich immer wieder neu bestimmen müsse. So allerdings mußte jede Innovation als Störung der allgemeinen Bequemlichkeit zu einer solchen unfreiwilligen Polemik führen. Die Idee einer „Musique concrete instrumentale" bedeutete für die Entwicklung meiner Ar beit einen entscheidenden Schub. Sie hat mir dazu verholfen, mich aus den Eierschalen zu be freien. Im Grun de habe ich diese Idee bis heute nie preisgegeben. Aber in meinen Kompositio nen seit Harmonica habe ich sie modifiziert, sublimiert, auch relativiert, ich habe sie eingepaßt in andere Hierarchien des Klangmaterials. In gewissem Sinn bin ich - wie ein Vogel, der sein von anderen Vögeln benutztes Nest aufgibt - jenen Deformationen des instrumentalen Spiels lange Zeit aus dem Weg gegangen. In der Landschaft, die ich mir erschlossen hatte, ergingen sich in der Folge die Touristen. Das hat mich dazu gebracht, in jüngeren Werken gewisser maßen in die alte Heimat der unverfremdeten Praxis zurückzukehren und dort neu zu ent decken, was ich bereits zu kennen geglaubt hatte. Aber gerade auch dieser Schritt schaffte Ver wirrung. Manchmal lese ich Analysen wie die von Mouvement (— vor der Erstarrung) - 1984 entstanden -, worin sich der Autor über die Tatsache streng organisierter Tonhöhen verwundert, die ihm im Widerspruch zur Idee einer „Musique concrete instrumentale" zu stehen scheint. Man sieht, die Schublade paßt nicht mehr so richtig. Das sind halt die kleinen unvermeidlichen Unfälle, wenn man vergißt, daß die Kreativität - obwohl sie nichts vergißt - keinen Stillstand kennt. 1993

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Musik als existentielle Erfahrung Gespräch mit Ulrich Mosch

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Vorbemerkung: Das Gespräch fand am Nachmittag des 5. Juni 1993 im Anschluß an ein Symposion zu Ehren Erhard Karkoschkas statt, das von der Staatlichen Hochschule für Musik in Stuttgart zum Thema „Analyse Neuer Musik. Struktur und Wahrnehmung in der Musik der fünfziger Jahre" am 4. und 5. Juni veranstaltet worden war. In dem Gespräch wird gele gentlich auf die Diskussionen im Symposion Bezug genommen. 130

In Diskussionsbeiträgen hast Du heute Vormittag gefordert, daß jedes Stück das Hören erneu ern solle. Beispiele waren die frühseriellen Stücke, die dies ganz exemplarisch leisteten. Heute hört man jedoch auch vielfach gegenteilige Ansichten: daß eigentlich nichts Neues mehr mög lich sei; es sei schon alles gesagt, und man könne nur in endlosen Wiederholungen und Varia tionen das reproduzieren, was die Geschichte bereits in großer Fülle bereitgestellt hat. Ich bin mit dieser Position nicht einverstanden und möchte an der Kategorie des „Neuen "festhalten. Was bedeutet für Dich diese Kategorie heute? Ich finde, es ist auch noch nicht klar, was das „Neue" damals bedeutet hat. Die Versuche heute, die Werke von damals zu verstehen, den Zugang dazu zu erleichtern dadurch, daß man jetzt irgendetwas von den seriellen Ordnungen bewußt macht, zeigen mir, daß das alte Hören sich zwar öffnet und sich für anderes interessiert als zuvor, aber das heißt noch nicht erneuertes Hören. Die Bereitschaft, hinter der expressiven Erfahrung nicht nur Strukturierungskünste wahrzunehmen, sondern schlechthin auf neue syntaktische Ansätze zu reagieren - gut, das ist schon auch eine gewisse Art von Erneuerung, weil sich damit bestimmte Tabus erledigen, die das alte Hören gefesselt hielten. Aber das Wichtigste scheint mir der übergreifende Begriff des Kontinuums zu sein. Auf dessen Bewußtmachung kommt es an. Das alte, kollektiv mehr oder weniger eindeutig funktionierende Kontinuum unter dem Dach der im Tonalen entwickelten Praxis hat sich selbst zersetzt. An seine Stelle tritt nun aber nicht wieder einfach ein neues Kon tinuum. Serielle Techniken sind kein Ersatz für die tonalen Disziplinen, und das Beobachten welcher Parameter auch immer garantiert noch keine Erneuerung der musikalischen Wahrneh mung. Wer damit spekuliert, treibt vergilbte Innovationsgymnastik. Bei Luigi Nono forderte das neue Hören einen „erneuerten", nicht bloß einen „aufgeschlos senen" Menschen. So gab es bei ihm eine utopisch gerichtete Expressivität, die auch keine Angst davor hatte, wieder „feierlich", „innig" und „pathetisch" zu werden, denn die ganze musikalische Sprachwelt war von neuem erhaben als entgrenzte. Komponieren und Hören als erneuerte wußten sich jetzt permanent auf der Suche. Daß in jedem Werk eine neue Syntax erscheint, rein als Phänomen - die „Phänomenalität des Syntaktischen" -, das ist neu im Ver gleich zu einer Musik, die - bei aller technischen Erneuerung - dennoch innerhalb einer über lieferten Syntax weithin immer wieder auf vertraute, wenn auch gewiß oft bizarre Ausdrucks formen gebracht werden konnte. Wie sagte Ligeti über die Musik von Boulez: „Die Katzenwelt des Marteau" und schon fühlt man sich wieder zu Hause ! Aber erst wenn einmal der Bo den weggenommen ist, lassen sich immer wieder neue, vielleicht provisorische Räume imaginieren, in denen so etwas wie musikalischer Sinn gestiftet wird. Ich sage also nicht: Die Seri ellen haben eine neue Wahrnehmungsweise ermöglicht, sondern: In jedem wahrhaft neuen Werk zwingt mich der immer wieder andere Materialbegriff zu fragen beziehungsweise zu

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spüren, mit welchen Antennen ich wahrnehmen kann beziehungsweise welche Antennen mir im Weg sind, welche Antennen ich jetzt erst an mir bemerke und bei welchen ich erkenne, wie sie mein Hören bislang bestimmt und eingegrenzt haben. Und dann natürlich die Erfahrung der eigenen Kreativität: Ich merke plötzlich, daß ich auf der Ebene von unmittelbar perzeptionistischen Momenten, von nachher mit Hilfe der „Parameter" beschreibbaren Eigenschaften, plötz lich innerlich mitschwingen kann, daß da in unvertrauten Räumen jetzt etwas passiert, was Lo gik oder Sinn und dadurch expressive Kraft enthält. So gesehen könnte man sagen: Alles muß jedesmal neu gepolt werden. Das ist natürlich auch wieder gefährlich, denn wir hätten dann un ter Umständen als konstantes Moment den syntaktischen Laborversuch - akademisch und zu gleich orientierungslos. Es gab aber einmal jene Zeit, eben die serielle, in der die Parameter nicht irgend etwas, sondern sich selber gezeigt haben. Deshalb hießen die Stücke damals Grup pen oder Zeitmaße. Das Parameterdenken hat sich selbst thematisiert, ebenso wie der danach notwendig gewordene Rückgriff sich seinerseits thematisiert hat, nämlich der Versuch, unter diesen neuen Aspekten noch einmal die konventionellen Formen des Hörens zu prüfen. Da hat etwa Berio seine Sinfonia, Cage sein Klavierkonzert, Ligeti sein Cellokonzert geschrieben, Werke, in welchen bestimmte konventionelle Topoi unseres eben doch nicht so leicht umpro grammierbaren bürgerlichen Kunstdenkens neu gepolt sind. Möglicherweise war es nur ein Selbstbetrug, und der Rückgriff geriet zum Rückfall ...

Eben hast Du bereits angedeutet, daß man bei einer permanenten Erneuerung, wenn jedes Werk eine eigene Syntax formuliert, letztlich bei einer Vereinzelung endet. Wenn Du sagst, in den sechziger Jahren habe es mit der Sinfonia von Berio bestimmte Rückgriffe gegeben oder ein Appellieren an in den Erfahrungshorizonten der Hörer vorhandene Topoi, die aus einer bürgerlichen Erfahrungswelt stammen, schließt das ein, daß immer das Zusammenspiel beider Seiten nötig ist, um Sinn zu konstituieren. Also, dieses ganze „Erneuern" oder „neu sein" hängt völlig in der Luft, ist überhaupt nicht neu, wenn es sich gebärdet nach der Devise: „wieder mal was Neues" - so verstanden ist es von vornherein ein alter Hut. Das Erschließen von weißen Flecken auf der Landkarte, ob es die der Klänge ist oder die der Ordnungsprinzipien oder wovon auch immer, muß sich noch einmal messen lassen - jetzt werde ich im Sprachlichen unsicher -: an Visionen, an Sehnsüchten des Menschen in einer ganz bestimmten Situation, und das ist vielleicht beschreibbar unter dem geschichtlichen Aspekt, beschreibbar aber auch unter anderen, zeitlosen Aspekten. Vielleicht gibt es so etwas wie „musikalische Archetypen". Die Bezeichnung ist möglicherweise proble matisch, ich kenne C. G. Jung nicht genug. Mir scheint, es gibt kollektive Grunderfahrungen, die über fast alle kulturellen, historischen und geographischen Verhältnisse hinweg gültig sind. Jeder Mensch hat eine Mutter, jeder Mensch ist mit den Naturelementen konfrontiert. Und es gibt Archetypen der bürgerlichen Gesellschaft. In der Musik kann ich mir etwas Vergleichba res vorstellen. Nehmen wir den Ton. Heute, im technischen Zeitalter, ist er natürlich schneller und in vielfältigeren Varianten abrufbar und deshalb noch einmal etwas anderes als in früheren Zeiten; aber zunächst vermittelt er die alte magische Erfahrung einer periodischen Schwin gung, das heißt einer kollektiv erfahrbaren Kraft. Und wenn ich heute beim Komponieren noch einmal frage: Was ist eigentlich für mich ein Ton?, dann ist diese Frage uralt und ganz neu. In solchem Zusammenhang, meine ich, wird dann die Suche nach immer wieder anderen Kontinua aktuellen nicht richtungslos, denn zeitlosen diese orientieren sich dort, wo sie uns Sehnsüchten. wirklich berühren, unse ren und zugleich Erfahrungen, Bedürfnissen, Über anunseren seelischen Haushalt, auch unseren kollektiven seelischen Haushalt, kann man vermutlich sehr

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wenig Genaues sagen, aber die Intuition reagiert präzise in diesen Dingen. Ich folge beim Kom ponieren nicht bloß privaten Freiheiten, sondern ich habe auch das Gefühl, etwas stellvertre tend zu machen, und zwar in bezug auf kollektive Erfahrungen, auf Erregungen und in Kom munikation mit der Natur. Das sind Dinge, zu denen die Musik letztlich hinführt, aber wenn man davon spricht, kann man es immer nur verdinglicht und ausschnittsweise beschreiben. So oder so, man wird immer wieder dahin zurückfinden. Meine Webern-Analyse von Op. 10 Nr. 4 spricht - „vermessen" im doppelten Sinn - in Begriffen, die auch eine Postkarten-Idylle sein könnten. Aber zugleich sind diese Begriffe - Gewalt, Tod und Liebe - musikalisch klar kodifi zierte Realitäten, die uns umgeben und bestimmen.

Eben war von weißen Flecken die Rede, aber auch davon, daß Erfahrung ihren geschicht lichen Ort hat: Man ist eben heute Komponist und heute Hörer. Die Metapher der weißen Flecken suggeriert jedoch, daß man sie irgendwann einmal ausgefüllt hat, daß alles entdeckt ist. Wenn ich diese beiden Aussagen in Beziehung setze, heißt es eher, daß die weißen Flecken sich ständig ändern, daß sie mit den geschichtlichen Erfahrungen eine andere Bedeutung bekommen, und daß es heute eben nicht die selben weißen Flecken sind wie in den fünfziger Jahren. Das ist richtig. Aber es gab wirklich eine Zeit, in der man klanglich Neues „entdeckt" hat. Was dahinter stand, war keineswegs selbstverständlich: nämlich das Bedürfnis, in der Musik eine

befreite Wahrnehmungskunst zu entwickeln. Eine solche Wahrnehmungskunst hat etwas mit Selbsterfahrung zu tun. Konkret verwirklicht hat sie sich zunächst dort, wo man ungewohnte und unbekannte Klänge hereingelassen hat in einen Bereich, der als tonaler tabuisiert war. Sowie man aber solche Klang-Entdeckungen einmal benannt und integriert hatte, war das Ende ihrer Faszinationskraft abzusehen. Der Aspekt jedoch, unter dem sie einbezogen wurden, den galt es zu bewahren und stets neu zu fassen, und dann war plötzlich alles wieder von neuem un bekannt. Die wirklich mich erregende Musik zeigt kategorisch, daß es immer wieder phanta stische „weiße Landschaften" geben kann. Entscheidend ist die Stringenz, vielleicht auch die Abenteuerlichkeit des Aspekts. Das ist der Unterschied für mich zwischen Nono und Boulez. Bei Nono gibt es, vielleicht auf eine manchmal problematische, technisch angreifbare Weise etwas, wo dann auch der Kunstwerkbegriff als Bezeichnung eines abgeklärten Objekts proble matisch wird, weil vielleicht manches auch „anders" sein könnte. Die Formulierung der Struk turen ist in seinen letzten Werken vielleicht nicht abgeschlossen, kann es nicht sein, weil sich eine Landschaft geöffnet hat, deren Begehungsmodus man noch nicht kennt und für die noch keiner das Vehikel hat, um ungeschoren hinein- und wieder herauszukommen. Aber eben das nenne ich Erneuerung. Erneuerung bei Nono, das heißt: Wahrnehmbarkeit des Pathos oder das Pathos von Wahrnehmung, die Begriffe kommen plötzlich aufeinander zu, sie reinigen und sie veredeln, noch feierlicher gesagt: Sie vertiefen einander. Das ist existentiell erfahrene Kunst. Zugleich zeigt es nicht nur eine „weiße", das heißt „unberührte" Landschaft, sondern erinnert daran, daß es unendlich viele andere noch zu erschließen gibt. Und diese Erfahrung löst ein unerhört starkes Gefühl von kreativer Freiheit aus: Beim Hören eines Stückes wie No hay caminos. Hay que caminar ... packt mich die Lust, etwas Neues zu machen, und zwar ganz bestimmt etwas ganz anderes als das Gehörte - ich spüre die Möglichkeit, meinen Horizont zu überschreiten. Wogegen ich zwar mit der größten Bewunderung und Ergriffenheit Boulez'

Repons oder auch Rituel erfahre, aber ich stehe davor so wie ein Besucher in Bayreuth, der sich sagt: Das ist ein Tempel, und ich bin einer der Gläubigen, aber dort sind die Priester. Der Blick auf das Tabernakel ist da, aber den Blick ins eigene Zentrum gibt es garnicht mehr, weil da

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vome alles so perfekt und abgeschlossen ist. Boulez - das ist die Perfektion einer Entdeckung, der wunderbar geschliffene Diamant, wo doch noch so viel geheimnisvolles Rohes herum liegt.

Eben war im Zusammenhang mit Nono und den weißen Flecken die Rede davon, daß jede Er fahrung in einem geschichtlichen Prozeß ihren Ort hat. Nun tauchen aber in der Diskussion um die sogenannte Postmoderne immer wieder Metaphern wie „Stillstand", „Kristallisation" und ähnliches auf. Ich mag jedoch - und Du bist da, denke ich, nicht anderer Meinung - nicht daran glauben, daß der geschichtliche Prozeß ein Ende gefunden hat. Im Gegenteil: Ein geschichtli cher Prozeß vollzieht sich nach wie vor, nur sieht er anders aus, als wir uns das früher vorge stellt haben. Also bestimmte Erfahrungen des Neuen, vor allem so, wie sie verdinglicht beobachtet und beschrieben worden sind, haben sich wieder relativiert, werden weniger wichtig. Wer deshalb anfängt, über das Ende zu philosophieren, zeigt nur, daß er selbst tot ist, und daß er alles von einem zementierten Standpunkt aus beobachtet. Er sieht in allem vermutlich nur irgendwelche Kinderkrankheiten und glaubt, sein eigener erstarrter Zustand sei der, zu dem alles wieder zurückfinden muß. Daß er selbst in der Zwischenzeit dahinfault, ist wieder eine andere Sache. Gewiß: Bestimmte Denk- und Schaffensprozesse erledigen sich, gerinnen zur Manier, so wie auch bestimmte Formen des Sprechens über Musik. Alle unsere begrifflichen Annäherungs versuche, die ja hilfreiche, aber sekundäre Anstrengungen sind, die Sache zu erfassen, müssen sich wandeln. Aber - man geniert sich schon, den Gemeinplatz auszusprechen - kreative Lust, zumal sie eine Sache des Selbsterhaltungstriebes ist, wird es immer geben, und die ist immer wieder neu, so wie jeder Mensch und jede Situation immer wieder neu ist. Mag sein, daß sich im Leben mal zwei Physiognomien wiederholen, aber das eine Gesicht „weiß" viel mehr als das andere und es „weiß" anderes. Der Begriff des Neuen in einem fortschrittsgläubigen, objekthaften Sinn bedeutet überhaupt nichts, aber er bedeutet alles im Sinn von Leben und Entdecken. Dann bekommt er Aspekte, die unerschöpflich sind.

Die Verwandlung unserer Welt heute durch Medien, durch mediale Vermittlung, durch die Fülle von Bildern und Klängen, die auf uns einstürmt, durch die Lärmüberflutung, mit der wir kon frontiert sind - das sind Phänomene, die es früher entweder gar nicht oder zumindest nicht in diesem Ausmaß gab. Als Künstler - als Nicht-Künstler stelle ich mir es jedenfalls so vor reagiert man doch auf diese Phänomene. Es handelt sich um eine umfassende Veränderung un serer Umwelt, die unsere Wahrnehmung abstumpft, auf andere Weise auch wieder sensibili siert. Aus dieser Perspektive ist schon allein die Vorstellung eines Stehenbleibens Unsinn; denn sie schlösse umgekehrt ein, daß auch keine neuen Techniken und Maschinen mehr entwickelt würden. Was uns in den letzten Jahren alles beschert worden ist an technischen Neuerungen, an Mitteln des schnellen Austauschs hat das, wovon Andre Malraux nach dem Zweiten Welt krieg noch träumen mochte, ein Stück weit Realität werden lassen mit damals noch kaum absehbaren Folgen: ein „ imaginäres Museum ", in dem das Disparateste gleichzeitig verfüg bar ist. Es gibt natürlich auch die Gegentendenzen der Inselbildungen oder des Rückzugs ins Lokale. Zur technologischen Entwicklung gehört gewiß die der Medien, und das bedeutet schnellere Verfügbarkeit über auch kulturelle Objekte. DieZerfallsformen verschiedenenvon Kulturen sindIhnen einander und uns nähergerückt, aber die verschiedenen Kulturen. begegnen wir jetzt zum Teil unmittelbar. Was vielleicht noch vor einigen Jahrzehnten - auch heute noch 216

eine Art Ausflucht in die exotische Idylle hätte bedeuten können, zum Beispiel die Begegnung mit außereuropäischen Religionen, ist heute notwendig und realistisch. Im Moment beschäftige ich mich mit Texten von zen-buddhistischen Mönchen und Philosophen, die sich - offensicht lich unter dem Eindruck ihrer Berührung mit der europäischen Philosophie - vorgenommen haben zu schreiben, das heißt über ihre Erfahrungen, über ihre Weisheit diskursiv zu kommu nizieren. Was sie da versuchen, geht im Grunde überhaupt nicht, und sie wissen das, aber es „führt weiter". Ein Begriff zum Beispiel wie der der Selbstlosigkeit - der für unsereinen viel leicht seine Patina hat, weil er sich in der christlichen Kultur in eine karitative Ecke hat locken lassen - ist zugleich ein zen-buddhistischer Begriff: Selbstlosigkeit aber im Sinn von Entsubjektivierung; dann führt er uns in eine Gegend, wo das serielle Denken angesiedelt ist als Hintergrund für einen technischen Vorgang, mit dem sich das kreative Subjekt hierzulande ein mal, vielleicht auch nur versuchsweise, selbst außer Kraft setzen wollte, um andere, unbe kannte Energien in den musikalischen Mitteln zu aktivieren, und um diese dann wahrnehmend, auch kontemplativ, reflektierend, entdeckend, erkennend zu erfahren. Heute kann es sein, daß wir stagnieren, weil wir nicht wissen, wie wir die aktuellen Vorgänge um uns einschätzen und wie wir auf sie reagieren sollen. Aber auch bei solcher Art von Stagnation bin ich sicher: Schon als Herausforderung ist sie notwendig, damit wir nicht immer in die gleiche Richtung gehen, sondern woanders hingetrieben werden, von wo wir „auf-brechen" können. Stagnation emp finde ich in der Tat heute.

Du hast davon gesprochen, daß das serielle Denken weiterlebe in einer transformierten Form, daß es zum Handwerkszeug in einer wie auch immer veränderten Form geworden ist. Natür lich stellt sich gleich die Frage: War das die letzte epochale Wendung, die Mittel dieser Art her vorgebracht hat, oder gibt es Vergleichbares noch später? Das Wort seriell ist ein Wort für etwas, das sich zu allen Zeiten beim Schaffen von musikali schen Zusammenhängen eingestellt hat. Als die Vorordnungen auf eine gewisse Weise kodifi ziert und sanktioniert beziehungsweise in der Gesellschaft verankert waren, ist man mit diesem Aspekt unbefangener umgegangen, man mußte ihn nicht mehr zeigen: Ich muß nicht erst eine Tonleiter vorführen, um eine Melodie spielen zu können. Wo tonale Musik erklingt, ruft sie sofort die dahinter stehenden Vorordnungen beziehungsweise Vorprägungen in uns ab, und dann kann man eigentlich „zuhören", man braucht nicht mehr zu „hören". Die Sprachsituation ist schon angerührt (schrecklich doppelsinniges Wort), und man kann von bestimmten Über einkünften ausgehen und von dort aus auch überraschen und weitergehen. Insofern die Musik autonom strukturelle Tugenden entwickelt hat, läßt sich unheimlich viel, alles das, worin sich ein solches Kontinuum näher bestimmt und innerhalb des überlieferten Sprachrahmens zu etwas Besonderem kristallisiert, analytisch erfassen als charakteristischer Vorrat von Qualitä ten, die jetzt dieses Stück und kein anderes bestimmen. Das hat nicht immer etwas mit dem the matischen Denken zu tun. Die verschiedenen Abstufungen des „thematischen Materials" rei chen bis in naturhafte Elementarteile. Ich versuche das immer wieder nachzuweisen. Das läßt sich „analysieren". Gewiß, damit ist nur ein Teil des Werkes erfaßt, aber sein kreativer Kern wird damit eingekreist. „Verschiedene Abstufungen - unter dem Zusammenhalt eines gleich sam magnetisch wirkenden, exklusiven Materialkontinuums, dessen Dimensionen weit über das Steuer- und Kontrollierbare hinausgehen": Das wäre die praktische Umschreibung des Seriellen als zeitloses Phänomen. Das Serielle beträfe dann eine Form der Vorordnung, oft in Auseinandersetzung mit schon vorher existierenden, vergesellschafteten Ordnungen, von denen das Komponieren sich dadurch löst, daß es seine eigene Ordnung stiftet über bestimmte 217

Topoi, Kategorien, die vielleicht im Stück nicht „thematisch" sind, aber ihm dennoch sein Gepräge geben. Diese Vorordnung ist dem Komponisten vielleicht gar nicht als „Ordnung" bewußt, serielle Aufbereitungen sind Annäherungsmanöver an etwas Unbekanntes, kreative Treibsätze, nicht mehr und nicht weniger. Entscheidend ist die darin wirkende musikalische Vision, und die bezieht sich, wie auch immer, auf ein Material, das allmählich abgetastet, gezeigt und transfor'.' miert wird, und das s ich dem Komponist en selbst im Grunde erst beim Komponieren offe nbart. Ich finde, es ist völlig in Ordnung, daß der Komponist sich hinterher fragt: Was habe ich da eigentlich angerichtet? Welche Art von Skala ist mir da in die Hände gefallen? Wie ich mit Weberns Op. 10 Nr. 4 oder Beethovens Harfenquartett analytisch verfahren bin, und wie ich es auch an anderen Beispielen mir zutraue, ist völlig legitim - ich sage: Das ist es eigentlich geworden. Und das sind unbewußt geschaffene Ordnungen, die stärker und spannender sind als jene eher schematisierenden Datenkomplexe, mit deren Hilfe der Komponist sich ein kohärenz orientiertes Sicherheitsgefühl verschafft. Sie können als abzutastende Anordnungen, immer unter charakteristischem Aspekt, irgendwann gefunden, analysiert, exzerpiert und so bewußt gemacht werden. Diese Erfahrung kam im Zug der musikalischen Entwicklung irgendwann zu sich selbst: spätestens in der sich zunehmend radikalisierenden Atonalität, wo überhaupt keine vorweg gegebenen Vorordnungen mehr akzeptiert wurden, und wo man die alten Ordnungen bewußt wegzuätzen versuchte. Da wurde das Komponieren zugleich zum Aussperren von alten Ordnungen. Der Bezugspunkt blieb also heimlich beziehungsweise unbewußt erhalten. Für das serielle Denken der fünfziger Jahre hieß Erneuerung nicht, andere Klänge finden, sondern andere, neu polende Zusammenhänge finden. Ein solcher Zusammenhang bedeutet natürlich erneut eine Hierarchie, und eine Hierarchie hat mehrdimensionale Abstufungen. Und sie berührt Systeme, die sich überkreuzen. Jedes klingende Ereignis ist ein Punkt auf unendlich vielen bekannten und unbekannten Geraden, aber natürlich nicht nur auf Geraden, ist auch ein Punkt auf unendlich vielen Kreisen, Hyperbeln usw. Um diese als neuen Aspekt überhaupt wirksam zu machen, muß ich sie in irgendeiner Form zeigen. Um eine Gerade zu zeigen, muß ich noch andere Punkte darauf berühren, und da komme ich auf das Moment der seriellen Abstufung: Der Ton c kann ein Moment einer Melodie sein. Er kann ein Moment einer atona len Konstellation sein. Er kann ein akustisches Ereignis neben Nicht-Tönen sein. Er kann in einem Zitat eingepackt sein und dort noch eine außerakustische Aussagekraft haben. Und er kann auch durch reinen Zufall dastehen. Er kann so unglaublich vieles verkörpern. Selbst als Wiederholung wäre er neu. Und die ganze daran gebundene Form von Selbstverständnis des Komponierens oder des Hörens bestimmt sich in ihm neu. Der Begriff des Kontinuums ist mir dabei der wichtigste. Wieweit läßt er sich, etwa von einer Tonhöhenreihe oder von einer wie auch immer aussehenden Material-Hierarchie ausgehend, weiterspannen bis in solche Berei che, wo man sich eben noch nicht auskennt, wo aber dennoch das Entscheidende passiert?

Ich habe ein wenig Schwierigkeiten mit dem Begriff Kontinuum, weil das, wovon hier die Rede ist, diskret unterteilt ist, eben in Stufen oder in irgendwelche Abschnitte oder ähnliches. Konti nuum im ursprünglichen Sinn ist aber das Lückenlose, Ungeteilte. Ist es die Vorstellung, daß man dieses Ungeteilte, das Kontinuierliche eben heute ganz verschieden unterteilen kann, je nachdem, wie man an die Dinge herangeht: Ist das gemeint mit den Geraden, die sich ver schieden schneiden? Es ist die Idee des Abtastens eines ungeteilten Phänomens. Wenn ich etwas abtaste, sage ich ja nicht: Ich spüre hier etwas, und ich spüre dort etwas, folglich ist hier etwas und dort etwas an218

deres. Ich sage mir auf Verdacht: Eine bestimmte Ganzheit erfahre ich jetzt. Es gibt Gründe, weiter zu tasten und sein Sensorium abtasten zu lassen. Das hängt von der Brisanz des erlebten Moments ab. Diese Art von Begegnen ereignet sich am zu erschließenden Kontinuum. Natür lich kann man den Begriff auch verdinglicht benutzen. Dann gehe ich im Kompositionstechni schen aus von einer klingenden Einheit, quasi einem Motiv, und durch dessen Abwandlung er fahre ich unterschiedliche Zustände und schließe dann auf ein Kontinuum, in welchem das al les zusammengehört. Manche solcher Kontinua - die geistvollen sind solche, die sich im Werk verwandeln - haben wir in den Werken Ligetis, der jedoch kaum darüber hinausgegangen ist. In diesem Transformationserlebnis wird die Wahrnehmung noch einmal akademisch reflektiert. Das setzt auch den simplen Sachverhalt voraus, daß es eine Art von Ostinato gibt, ein Behar ren im weitesten Sinn, welches die Kohärenz gewährleistet. Und in dieser Beziehung gibt es natürlich viel komplexere Möglichkeiten. Aber spätestens seit der Erfahrung Cage ist es mit dieser Art von Kontinuum nicht mehr geheuer. Wenn ich nicht weiß, daß ein Stück ein zufalls orientiertes Stück ist, wenn ich zum Beispiel nicht weiß, daß die 4 '33 " Nicht-Musik sind, und wenn ich dasitze und nur wahrnehme, was „daneben" passiert, dann bin ich selbst das Konti nuum. Und wenn der Komponist völlig unzusammenhängend Objekte nebeneinander setzt, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, dann ist das einzige, was sie verbindet, daß sie auf Befehl eines einzigen Willens nacheinander vorkommen. Das ist dann keine zufällige Setzung, aber das Kontinuum, welches damit abgetastet wird, läßt sich weder durch ein akustisches noch durch ein abstraktes Prinzip erfassen. Wichtig ist, daß das durchscheinende Kontinuum nicht ein gebasteltes ist, sondern daß es so etwas wie eine Betroffenheit repräsentiert und in diesem Sinn imaginiert, halluziniert, „geschaut" werden kann, und daß es existentielle Erfahrungen sind, die sich dann über meinen kreativen Willen vermitteln.

Ich möchte noch einmal auf einen anderen Punkt zurückkommen. Du hattest von Stagnation gesprochen. Und ich hatte die Frage gestellt nach der historischen Wirkung des seriellen Denkens, außerdem danach, ob es die letzte große Errungenschaft, Veränderung war, die bis heute das Komponieren, in welch vermittelter Weise auch immer, prägt. Ist Stagnation auch in dem Sinn zu denken, daß die Kraft, solche Befreiung oder auch Freisetzung von Phänomenen zu leisten, heute nicht mehr spürbar ist? Auch ich sehe im Moment solche befreienden Ansätze nicht. Ich sehe überhaupt keine Ansätze, die weiter gegangen sind als das, was wir gemacht haben. Und „wir" heißt nicht die Generation von Stockhausen oder Nono. Aus deren Durchbrüchen hat meine Generation großen Nutzen gezogen. Ansätze bei den Jungen, die entscheidend darüber hinausgehen, scheinen mir ver steckt in einem undurchdringlichen Gestrüpp von unsicherem Epigonismus. Es gibt gewiß im mer wieder gewaltsame Profilierungsversuche, aber ohne jenen existentiellen Anspruch von Größe, oder sollte ich sagen: Tiefe oder Geist - und ich weiß nicht, was passieren müßte, damit ich bei den Jungen noch einmal etwas wie Innovation spürte. Die haben es auf neue Weise schwer. Ich sehe aber auch bei mir selbst, daß ich mich jm Moment irgendwie im Kreis drehe. Ich könnte Allegro Sostenuto streckenweise fast als Rückfall in musikantisches Verhalten bezeichnen. Daneben steht das Zweite Streichquartett „Reigen seliger Geister", das solche Schlacken schon wieder weggeworfen hat und auf einem gereinigten wahrnehmungstechni schen Spiel insistiert. DannTexten wird des das Leonardo Expressiveda plötzlich wieder semantisch in „... Zwei Gefühle ..." nach Vinci. Immerhin versuche ichgeladen technisch, wenn schon nicht weiterzug ehen - dieses Weitergehen ist sowieso ein Problem so doch wenigstens jedesmal frisch zu reagieren. 219

Ziemlich zu Anfang des „ Finale solenne " im Allegro Sostenuto gibt es eine Stelle, wo deutlich vernehmbar ein verminderter Dominantnonenakkord auftaucht, der in eine langsame Folge von Ereignissen unterschiedlicher Dichte vom Cluster großen Umfangs bis zum Dreiklang eingebettet ist. In direktem zeitlichen Zusammenhang, zu einer Zeit, als das Allegro Sostenuto gerade entstanden war, hast Du im Gespräch mit Heinz-Klaus Metzger*® geäußert, daß Du wie der vermehrt mit Ordinario-Klängen arbeitetest, nachdem zuvor mehr die Klangwelt außer halb des Herkömmlichen im Zentrum des Interesses gestanden hatte. Wenn ich einen solchen mit einer Aura belasteten Akkord höre, sticht er unweigerlich ins Ohr, aber ich merke natürlich auch, daß dieser Akkord funktional keine Konsequenzen hat in einem Sinn, wie man ihn gewohnt ist zu hören. Es gibt keine Auflösung, sondern er erscheint hier eingewoben in eine Folge von Dichten. Es gibt in diesem Stück viele solcher Gebilde. Es gibt diesen A-Dur-Dominantseptakkord mit harmoniefremden Tönen darin, die eben heimliche spektrale Teile des Grundtons sind und die dadurch, daß sie weggenommen werden, eine Art Subtraktionscrescendo des Grundtons be wirken. Es gibt in diesem Stück ein gewaltsames Durchbrechen von Regressionsverboten, angstvolle Rückgriffe. Es gibt Visionen, die zwingen zur Flucht in Bereiche, die man tabuisiert hat. Und wer keine Angst zu überwinden hat, ist dumm oder ein Heiliger oder beides, jeden falls uninteressant.

Das ist, als ob man im finsteren Wald laut redete, um sich die Angst zu vertreiben. Ja sogar ins Gebüsch rennt, also sich ruhig einmal aufspießen läßt, um die Erfahrung hinter sich gebracht zu haben. Solange man nicht weiß, worin die Gefahr besteht, deren Bedrohung man doch spürt, ist es am besten, man bringt das schnell hinter sich und schaut, was dann passiert. Die Berührungsangst beim Komponieren wird überwunden, wenn ein kreativer Wille, das heißt eine Vision, stark genug ist. Oder noch einmal anders: Die Bewältigung solcher Angst erzeugt die eigentlich entscheidenden Visionen. Ich habe immer das Gefühl des Vordringens, aber zum Vordringen gehört, daß ich Unfreiheiten erkenne und bewältige. Es gibt eine ganz subjektive Form des Vordringens. Und es kann sein, daß ich bei den entscheidenden Innovationen mich nicht als „Pionier" empfinde, der jetzt etwas für andere erschließt, sondern als einer, der sich einfach selbst hilft. Nun sind das ja zweiinsEbenen. Einmal hast das Allegro beschrieben als einen (partiellen) Rückfall Musikantische. Die Du Bewältigung der Sostenuto Berührungsängste ist eines, aber die Erscheinung oder das, was daraus wird, das Werk, hat in dem Moment, wo es abgeschlos sen ist, eine Eigenständigkeit, Lebensfähigkeit gewonnen. Ja, dann darf es mit der privaten Problematik nichts mehr zu tun haben.

Und gerade bei diesem Stück ist im Vergleich zu dem fast gleichzeitig entstandenen Zweiten Streichquartett, das klanglich davon sehr verschieden ist, ein Aspekt erschlossen, der Uber lange Jahre in Deiner Musik kaum formuliert war. Vorher tabuisierte Klänge werden ein bezogen, aber sie erscheinen in Zusammenhänge gesetzt, in denen sie eine andere Bedeutung erlangen. Es ist nicht leicht, über diesen Aspekt etwas zu sagen. Das Spiel mit Intervallen kann bestimmten Konventionen und Erinnerungen nicht einfach blind gegenüberstehen. Man kann sie aussperren. Was dann übrig bleibt, ist in der Mehrzahl der Fälle die Erinnerung an irgend220

einen atonal-webernianischen Raum. Oder man kann versuchen, durch welche Tricks auch im mer, sie in Schach zu halten. Man kann eine permanente Flucht antreten und sich im Kreis ja gen lassen. Wenn man aber so denkt, ist man umstellt von lauter Dingen, denen man eigentlich entfliehen müßte, um ins Freie zu finden, und jede mühsam gewonnene Freiheit entpuppt sich als neues Gefängnis. Oder man packt den Stier bei den Hörnern, indem man dem zu Überwin denden andere Funktionen zu-erkennt. Wer meine früheren Stücke anschaut, findet darin übri gens bereits jenes ganze konsonante Material vor, allerdings unter anderem Aspekt. Es wird schon so sein, daß Vordringen und Zurückgreifen zwei Seiten derselben Sache sind. Vorwärtsgehen kann jedenfalls nicht heißen, permanent hinter sich Brücken abbrechen, vor al lem dort nicht, wo tatsächlich innere Verbindungen lebendig sind. Fäden abschneiden heißt ei gentlich, den Halt verlieren. An Fäden ziehen, bis es nicht mehr geht, kann entweder heißen, daß die Fäden reißen, oder sie werden schlaff, oder man wird zurückgezogen. Es gibt Formen von Regression, die ebensowenig vorherzusehen wie zu vermeiden sind, wie ein Naturereignis. Und ob man ihn anerkennt oder nicht: Es gibt einen ganz persönlichen, existentiellen Bereich des Komponierens. Ich kann nicht meine Verantwortung auf ein paar schneidige Begriffe bringen und dann von dort aus operieren. Das ist Selbstbetrug. Dann kommen die persönlichen Atavismen wieder durch die Hintertür herein und richten unglaubliches Unheil an. Ich erkenne meine auf charakteristische Weise bewältigte und nicht bewältigte Vergangenheit, reagiere auf sie als Teil meiner jetzigen Existenz, die nach wie vor eine suchende ist. Und dann kann es auch ein vielleicht verräterisches Moment von Lust sein, noch einmal die und die Elemente, gerade als bewältigte, zurückzuholen. Dabei ist ganz klar: Das Allegro Sostenuto, 1987 entstanden, hätte keinesfalls zu einem früheren Zeitpunkt geschrieben werden können. Ich hätte es nicht zur Zeit der Wiegenmusik komponieren können. Es repräsentiert einen völlig anderen Horizont, der auch jenen radikalen Materialaspekt einschließt, den ich im Zusammenhang mit Air und Kontrakadenz hilfsweise als „Musique concrete instrumentale" bezeichnet habe. Thomas Kabisch hat zu Recht Robert Piencikowskis Aufsatz über mein Mouvement gerühmt. Aber dieser scharfsinnige Text ist zugleich richtig und falsch, denn sein analytischer Ansatz ist unvollständig. Piencikowski fragt: Wie kommt einer, der mit dem Begriff „Musique concrete instrumentale" operiert, dazu, wieder Intervalle zu ordnen? Das ist doch ein Wider spruch. Aber Mouvement ist nicht 1968 geschrieben wie temA oder Air oder 1970 wie Kontra kadenz, wo dieser Begriff thematisiert wurde, sondern Mouvement ist in einer Phase entstan den, in der zu den Objekten, deren Anatomie ich anschaue, auch die Zitate gehören. Ob das nun der „Liebe Augustin" ist oder die Marseillaise, ob es rhythmische Pattems sind oder die Be wegungsgeste als solche, ob es also das Musikantische als Triebhaftes oder als künstlich Me chanistisches ist: In all diesen Formen wird indirekt Musik als Bewegung zitiert, und die wird als Quasi-Glissando über die Tasten eines von wem auch immer zufällig gestimmten Klaviers auf nackte Skalen gestellt. Mit der Zeit mußte sich auch die Idee einer „Musique concrete in strumentale" zersetzen. Es geht nicht bloß um den Reiz körperlicher Klänge, sondern es geht um die Phänomenalität konkreter Objekte. Und dann ist der Widerspruch eigentlich sehr rasch aufgelöst. Dann kann sich Analyse unter neuem Blickwinkel zugleich mit seriellen Mechanis men und der Rolle der Klänge, zum Beispiel dieses dämlichen Klingelspiels, befassen. Das ist eine andere Art von Zusammenhang, bei dem auch das Verfremdete völlig andere Abstrahlungen für das Bewußtsein, nicht nur für das Ohr, hat. Er erprobt sich, präzisiert sich, schärft sich in irgendeiner Form auch daran, daß er zugleich die Erinnerung an die alten abgelegten Aspekte enthält.

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Darf ich noch einmal beim Zitieren einhaken. Du hast es in Beziehung gesetzt zu einer bestimmten geschichtlichen Situation, eben nicht zur Situation von 1968, sondern zu jener fast zwanzig Jahre später. Wenn man die kompositorische Entwicklung anschaut, vor allem die der jüngeren Generation: Dort spielt der Rückgriff in den unterschiedlichsten Formen vielfach eine große Rolle. Mir scheint, in den letzten beiden Jahrzehnten kam der in der frühen und einseiti gen Rezeption der Kategorie des musikalischen Materials weithin übersehene Sachverhalt zum Tragen, daß Material als geschichtliches nicht nur Materialvorräte, sondern auch Formen des Verfügens über und des Umgangs mit diesen Vorräten, das heißt bestimmte Satztypen, formale Kategorien usw. einbegreift - und dies kam durchaus mit einem produktiven Impetus zum Tragen. Mit dem, was Du übers Zitieren gesagt hast, ist hier ein Zusammenhang zu sehen. Zitieren aber nicht einfach in dem Sinn, daß man Versatzstücke aneinanderbastelt, sondern zitieren, um aus der Spannung zwischen Zitiertem und dem Zusammenhang, in den es gesetzt ist, neue Qualitäten zu gewinnen. Wir erkennen heute, daß bestimmte musiksprachliche Elemente, die wir - vielleicht bequem und vorschnell - „bürgerlich" genannt haben, deren bürgerlichen Aspekt es allerdings zu über winden gilt, immer auch ganz Substanzielles, zeitlos Magisches mitenthalten. Kinder, die sich nicht mit dem Bade ausschütten ließen. Das Zitieren verstand sich natürlich als ein distanzier tes Umgehen mit Schlacken einer scheinbar überwundenen, doch ungebrochenen MusizierPraxis, die als konservierte sich unschuldiger gibt, als sie ursprünglich war. Wir haben jetzt einen riesigen Vorrat verniedlichter, mißbrauchter, das eigene Vermächtnis sabotierender Tradition um uns und in uns. (Im Gedanken daran glaube ich, daß Adorno doch ein naiver Romantiker war: Eine „Musique informelle" oder eine „Musique pure" - das ist ein schwär merischer Blick auf das Glück des „Dort-wo-du-nicht-bist". Da nähert sich Adornos Philoso phie, so präzise sie sonst ist, kindlichen Spekulationen wie dem Glasperlenspiel an.)

Gerade dies meinte ich: In den fünfziger Jahren ist der Werkstoffaspekt sehr stark in den Vor dergrund getreten. Aber später, als das ausgeschöpft war, kamen plötzlich verborgene Dinge wieder zum Vorschein. Ich denke, das ist vor allem das „Material" in uns. Wir sind geprägt durch unsere Erinnerungen und durch unsere Sehnsüchte. Das ist ein aktiv strahlender Vorrat, auch wenn er dort scheinbar noch so vernachlässigt herumliegt. Weitergehen muß heißen, dieses Material zerbrechen, und das heißt aber, dieses Material anrühren. Ich kann ja auch nicht die Schwerkraft überwinden, ohne sie zu studieren und ohne ihr gerecht zu we rden. Die Frage des Materialstands enthält eine unendliche Dialektik, die sich in einer bestimmten kompositorischen Situation immer wieder neu präzisiert. Dabei riskiert man natürlich Mißverständnisse oder gerät in Situationen des Selbstbetrugs. Vor allem: Man starrt auf das, was man zu überwinden hofft. Man meint sich so bereits darüber erhoben zu haben. Weil man aber spürt, wie man immer noch daran hängt, ver sucht man „beherzt" den Trick: Man „greift zurück". Aber greift man wirklich zurück? Wird man nicht selbst „zurückgegriffen"? Und in welchem Geist? Hier wird das Ganze moralisch, und ich komme wieder auf Nono zurück, der einfach sagt: Du selbst mußt erneuert sein. Diese Rechtfertigungsmanöver sind alle Unsinn: Als Erneuerter - das klingt jetzt halt nach Sekte, aber es meint: als einer, der sich auf die ältesten, elementaren Fragen von Klang und Zeit zurückverwiesen sieht - wirst Du alles so oder so neu sehen und neu damit umgehen. Dann er ledigt dieglaubst. Frage, ob Du etwas zitierst, oder ob Du etwas zerbrichst, oder ob Du noch oder wiedersich daran 222

Das heißt aber, daß die Last des Komponierens dem Subjekt, dem Einzelnen aufgebürdet ist. Vielleicht ist es eine Illusion zu glauben, daß es früher institutionell oder innerhalb von Kon ventionen bestimmte Verankerungen gab, die manches leichter machten und dem Subjekt diese Bürde ein Stück weit abnahmen, aber - diese Formulierung läuft darauf hinaus, daß das Sub jekt eben nur allein in der Lage ist, in einer bestimmten Situation, von der es geprägt ist, etwas zu schaffen. Und dann stellt sich gleich eine weitere Frage, nämlich inwieweit Situationen überhaupt vergleichbar sind. Natürlich ist jeder Mensch verschieden, hat einen verschiedenen Erfahrungshorizont, und trotzdem gibt es auf einer bestimmten Ebene so etwas wie die Erfah rung der heutigen Zeit, eine kollektive Erfahrung. Bei Nono, um es noch einmal aus seiner Perspektive zu präzisieren, hatte der erneuerte Mensch, an den seine Musik appellierte, ein radikal erweitertes Sensorium und ein bewußtes Verhältnis zu seiner Geschichte. Das bedeutete eine Abgrenzung gegenüber allen möglichen gedankenlosen Konventionen, und es hat jene „bürgerlichen Elemente" gereinigt und be wahrt. Und von dort aus schien für ihn das Komponieren eine Art messianisches Bedürfnis, nicht Lust, nicht Last. Er wehrte sich ja nicht mehr gegen irgend etwas in sich. Das grenzt ihn völlig von mir ab, denn für mich war es immer schon beides: Lust und Last. Ich kompo niere, bei allem Entdecker-Glück, immer auf eine gewisse Weise auch gegen mich selbst, ge gen eigene Vorprägungen, gegen eigene Trägheiten. Das gab es bei ihm nicht. Verbieten hieß nicht: würdest eigentlich gern, Du darfst sondern: Maß, Es verbietet selbst, Du es geht garnicht mehr.ganz Dabei waraber allerdings auchnicht, ein gewisses glaube sich ich, von von Selbstbetrug im Spiel; seine vielfachen „Krisen" hingen damit zusammen. Geblieben ist, technisch gesehen, ein konsequenter Strukturalismus, verknüpft mit einer Herausforderung an die Wahrnehmung, die geladen ist mit Wachsamkeit gegenüber allem, was passiert, und mit der Weisheit, nämlich Rückschlußfähigkeit, eines eben nicht bloß Wahrnehmenden, sondern Leidenden und Suchenden. Aber die Frage bleibt: Wie kann man dingfest machen, was sich hier erneuert?

Dabei spielen Traditionen des Redens über Musik eine nicht zu unterschätzende Rolle. Etwas zur Sprache bringen bedeutet nicht einfach, es in eine andere Form gießen, sondern zugleich den Sachverhalten in gewissem Sinn zur Realität verhelfen. Wenn man über Musik spricht, wenn man über ästhetische Gegenstände versucht sich zu verständigen, besteht eine grundle gende Schwierigkeit darin, daß uns die Sprache, die wir benutzen, da wir nicht permanent Neo logismen hervorbringen können, auch einen Weg vorschreibt, auf dem wir uns bewegen. Und wir spüren andauernd diese Spannung der Inadäquatheit zwischen der Sprache und den Ge genständen uns gegenüber. Und in einer solchen Situation komme ich in Gottes Namen nicht darum herum, die Dinge ne gativ zu beschreiben. Wie selten aber passiert es, daß, wenn man etwas negativ beschreibt, der andere versucht zu spüren, worauf so der Blick gelenkt werden soll.

Eine zusätzliche Schwierigkeit rührt aus dem Fehlen einer ästhetischen Theorie her, die einen Begriffsapparat bereitstellte und uns gestattete, uns darauf zu beziehen. Adorno hat als letzter den Versuch unternommen, eine solche Theorie zu formulieren. Der Mangel eines Bezugsrah mens für das Gespräch ist auf den Ferienkursen in Darmstadt besonders deutlich zu spüren: An die Stelle solcher Theorie sind lauter kleine ... ... Schrebergärten ...

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... Weltanschauungsidyllen getreten. Jeder konstruiert seine Geschichte und Vorgeschichte sehr eloquent, aber zugleich droht die Möglichkeit zur Verständigung zwischen den einzelnen Positionen zu verschwinden. Wir sind an einem Punkt angelangt, wo in fast babylonischer Sprachverwirrung geredet wird. Irgendwann werden wir schließlich stumm sein vor den Ge genständen, oder wir reden darüber und sagen nichts über sie. Das wäre die letzte Konsequenz. Ich habe versucht, mit diesem Problem zurechtzukommen in verschiedenen Texten. Ich be nutzte den Begriff der „Sprachfertigkeit als Ausdruck von Sprachlosigkeit". Man kann ja in sei ner Sprachlosigkeit reden wie ein Buch. Es kann sein, daß jemand eifrig auf mich einredet, und ich höre allem zu, und ich sage nicht: Der redet nur leeres Gewäsch, sondern: Was muß dieser Mensch leiden, wie er permanent gegen die Wand seiner Sprachlosigkeit rennt. Und dieses Lei den ist viel wichtiger, und das drückt er aus, und irgendwann verstehen wir uns ganz genau. Es gibt eine Sprachlosigkeit, die ihre gestauten kommunikativen Energien erkennt und nutzt. Das läuft vermutlich hinaus auf das Zerbrechen der sprachfertigen Objekte. Aber das klingt wieder so negativ und ist es eben nicht, sondern damit verbinden sich dann wieder unglaubliche Ent deckerfreuden. Solange der menschliche Geist kreativ reagiert, ist das doch Glück, Hoffnung. Ein anderer Begriff, den ich einmal benutzt habe, der auch diese Sprachlosigkeit andeutet, war „Körpersprache des Geistes". Wenn ich zwei Töne nebeneinandersetze und selber nicht weiß, was das bedeutet, das heißt, etwas scheinbar Sinnloses mache aus Sehnsucht nach Sinn, dann ist auch das eine Nachricht und geheimnisvoll für mich selbst: Ich tue etwas, ich bewege mich, ich komponiere oder ich werde komponiert. Natürlich läßt sich selbst Sprachlosigkeit wie derum idyllisieren, was ja auch einer der Tricks ist, womit man schnell sprachfertig wird. Strawinsky sagt am Schluß seiner Poetique musicale: „Kunst ist die Verbindung mit dem Nächsten und mit dem Höchsten." Dieses „mit dem Nächsten" gesteht einfach einmal ein, was selbst, wenn es nicht da ist, als Vermißtes spürbar wird: daß wir nämlich alle eins sind. Erfahrungen kollektiver Wirkung sind magische Erfahrungen. Als gleichschaltende bedeuten sie zu einem gewissen Grad Unterdrückung. Ihre Brechung in der Kunst müßte so etwas wie einen kollek tiv vermittelten Befreiungsschub im einzelnen Individuum bewirken. „Mit dem Höch sten" - das ist Gott, Geist, egal mit welchem Name n wir es verhülle n. Eine Situation, die eine solche Verbindung über die Wahrnehmung ermöglicht, Verbindung zum Nächsten und zum Höchsten - wenn das Komponieren sich von dieser Vorstellung leiten läßt, dann reagiert unser kreativer Apparat, Intellekt, Instinkt, Wissen, Können, unsere Neugier, ob man will oder nicht, im Suchen zugleich auf alle die Erfahrungen, Kräfte, Sehnsüchte, die sich im Lauf der Ge schichte in den verschiedenen Formen des Materials sedimentiert haben. Dann gibt es keine Regeln, keine Rezepte, keine Verbote, keine Verzichte, keine Zwänge.

Wenn ich mir die Bemühungen der letzten zwanzig Jahre anschaue, sich mit dem Phänomen Neue Musik auseinanderzusetzen, beschleicht mich oft das Gefühl, daß wir im Bereich des Re dens über Neue Musik in einer Sackgasse stecken oder zumindest auf einem Niveau stagnieren, von dem es schwer ist weiterzukommen. Ich weiß nicht, wie weit es für andere gilt, aber für mich war ein solches Reden niemals eine das Schaffen mehr oder weniger flankierende Geistesgymnastik. In einem meiner ersten Texte, den „Klangtypen der Neuen Musik", bedeutete dieses Bezeichnen und dieses Überlegen der verschiedenen Qualitäten undHandwerks. wie ein Komponist Gebrauch machen kann, für mich einfach einen Schub meines Es half mir,davon bestimmte Arbeitsprozesse zu beschleu nigen, bei denen ich zuvor eher ziellos herumgefischt hatte. Auch meine Entwürfe mit der 224

„Musique concrete instrumentale": Diesen Aspekt zu präzisieren bedeutete für mich einfach eine Inventionshilfe, eine Möglichkeit, mich im avantgardistischen Strukturendschungel deut licher zu artikulieren; dasselbe gilt auch für meine Definitionen in den „Bedingungen des Materials". Ich weiß nicht, ob das immer so sein muß: Für mich liefen alle sprachlichen An strengungen letztlich auf rein handwerkliche Auseinandersetzungen hinaus. Die Öffentlichkeit, die Gesellschaft reagiert aber viel, viel träger, und jedesmal machen die in Umlauf gesetzten Begriffe eine Odyssee der Mißverständnisse und Mißdeutungen durch. Ob das nun dieser scheinbar unscharfe Begriff von „Struktur" ist, ob es die ganzen wahrnehmungsbezogenen Be griffe, die „Parameter", sind, ob es der Begriff von Zeit ist, oder bei mir solche Begriffe wie „Musique concrete instrumentale" oder „Verweigerung" oder was auch immer: Ich habe mich damit abgefunden, daß sie durchweg alle erst einmal in oberflächlicher und irreführender Weise aufgegriffen werden. Andere Begriffe, die vielleicht weniger spezialistisch klingen, sondern die man praktischer auffaßt, wie der Begriff der „Wahrnehmung" (der natürlich auch sein „Geschmäckle" kriegt, je nachdem, wie leichtfertig man damit umgeht) oder Wörter wie „Stille" oder „Chaos" - es könnte sein, wenn solche Begriffe einmal besser hinterfragt würden, daß man nicht immer wieder versuchte, mit ihrer Hilfe das Gehörte ins Vertraute einzugemein den, sondern daß man Musik begriffe als eine besondere Form von unberechenbarem Natur ereignis, wovon oder von wem auch immer ausgelöst; Naturereignis, an dem wir beteiligt sind und dem wir zugleich zusehen, sodaß wir vertraute Begriffe erneuern anhand dessen, was wir selbst neu an uns erfahren. Aber manche Leute erleben ja nur bei der Richard Strauss ein Naturereignis.

Alpensymphonie von

Was Du mit Naturereignis bezeichnest, scheint mir dem ähnlich zu sein, was Du vorhin mit anderen Kategorien beschrieben hast, als Du über Archetypen gesprochen hast, also etwa Erfahrung von Kälte, Wärme und Stille oder Überwältigung durch Lärm. Stille ist nach einer sehr, sehr lauten Passage etwas ganz anderes als zwischen zwei ganz leisen Ereignissen. Die Stille wird beredt durch das, was um sie herum geschieht. Und solche Beredtheit erwächst aus Erfahrungen, die man aus dem Alltagsleben ständig einbringt in die Kunstwahrnehmung. Wenn ich das Wort Naturereignis gebrauche, so will ich eigentlich nur das Wort Ereignis vor standardisierten Assoziationen bewahren. Es meint etwas, worauf ich als Hörer zunächst ein mal überhaupt nicht eingestellt bin, etwas, dem ich mich gewissermaßen schutzlos aussetze. Es kann natürlich auch ein Ereignis sein, wenn ich ins Kino gehe und schon weiß, was passiert; selbst dann gibt es da immer noch kleine Überraschungen. Aber ein Kinobesuch, bei dem ein Brand ausbricht, wird schon eher zu einem Ereignis, das den Namen verdient.

Das ist eine Unmittelbarkeit der Erfahrung, die heute endgültig verloren zu gehen droht, unter anderem auch durch einen reflexiven Zug unseres Tuns: daß wir, wenn etwas getan wird, es bereits mit den Augen der Zukunft betrachten, so als ob es bereits vergangen wäre, daß wir alles schon geschichtlich denken. Unmittelbarkeit der Erfahrung hieße dies wegräumen. Innovationen, die diesen Namen verdienten, mindestens in diesem Jahrhundert, waren alles Innovationen, bei denen es in irgendeiner Form wirklich „ans Eingemachte" ging. Sie waren in gewisser Weise - und das klingt wieder negativ - bedrohlich, weil sie den sich in seinen Idyllen verbarrikadierenden Hörer einem offenbarvon als Schönberg, Kunst domestizierten Raum Kammersymphonie herausgetrieben haben, undaus selbst die bestimmten, die scheinbar nur eine höchst geistvolle Fleißarbeit des thematischen Denkens und Konzentrierens innerhalb eines konventionellen Werktyps war, wurde durch die Form, wie sich darin plötzlich ein struk-

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turell vergewaltigender Wille breitgemacht hat, eine bedrohliche Erfahrung für die Karl Kraussche „Menschheit". Da wurde der menschliche, spekulativ kalkulierende kreative Geist selbst, als einer, der aus den Geborgenheitszonen ausbricht, zum Naturereignis. Gerade ein scheinbar so akademisch vorgehender Geist wie Schönberg - der etwa bei der Veröffentlichung seiner Chor-Satiren noch meinte, im Anhang seine traditionellen kontrapunktischen Künste vorzei gen zu müssen - stößt zu diesem existentiellen Moment vor, wo vielleicht ein anderer durch seine „Spontaneität" alles wieder verharmlost. Auch das serielle Denken war auf diese Weise ein Schnitt, und auseines Musik, die eigentlich eher Auch zum Mitvollziehen war,war wurde Musik zumtotaler Beobachten aufgrund gewaltsamen Zugriffs. die serielle Musik ein Natur ereignis, bevor sie diese akademische" Patina bekam. Musik als trotz ihrer Versprachlichung zurückgewonnenes Naturereignis: Wo immer das glückt, wird sie zur existentiellen Erfahrung. Die Brechung des Magischen als Störung einer kollektiven Sicherheit oder Scheinsicherheit ist immer noch selbst ein kollektiv wirkender Vorgang. Wo dieser als Kunst erfahren wird, hat er sich oft selbst schon wieder magisch geladen. Die Symphonien Beethovens - denk' an den An fang der Ersten oder an den der Neunten - bedeuten solche Brechungen von vergesellschafte ten Klangzeremonien, und genau deshalb haben sie heute eine „unwiderstehliche" Aura. Der sezierende Blick bekommt Beschwörungscharakter. Es ist ein Spiel, das davon lebt, daß wir nach wie vor magische Bedürfnisse und Erfahrungen in unserem Leben haben. Wenn die nicht wären, hätten wir keine Musik. Die Musik hat an diesen magischen Bedürfnissen, die zum Teil Schutzbedürfnisse und oft religiös besetzt sind, anzusetzen; dort hat sie auf den erkennenden und kreativ reagierenden Geist Einfluß, weil sie ihn aus der magischen Lähmung befreit. Und im Hinblick auf dieses Ziel sind „alle Griffe erlaubt". Das ist jenseits aller stilistischen Krite rien, obwohl die sich natürlich dann herausbilden und man meistens über diesen Aspekt redet. Das andere ist weniger faßbar, und alles, was ich hier ein wenig umständlich mit „magischem" oder „archaischem" Wissen und „Geborgenheit" und diesem „brechenden" Reagieren bezeich net habe: Vielleicht will das Reden über Musik dem ausweichen. Das gelingt mehr oder weni ger. Bei den großen Werken gelingt es nicht. Gewiß, man versucht sich zu sperren. Man muß sich selbst ja ändern. Du kannst nicht nur höflich zuhören, sondern mußt dich innerlich öffnen bei No hay caminos. Hay que caminar ... oder Guai ai gelidi mostri. Du mußt bei dir Verstehensqualitäten entdecken und entfalten, mit denen du hinterher weiterlebst. Es reißt dich auf, und für den Rest deiner Tage bist du verändert. Das sind alles Dinge, die nicht sprachlich oder analytisch zu fassen sind, wenn man sie nur objekthaft beschreibt. Was mich im Moment in teressieren würde, gerade weil mir dazu die sprachlichen Mittel fehlen, wären auch weniger die Fragen des Stilistischen, sondern solche des Zusammenhangs von Entscheidungen und echter Erneuerung. Da reden wir eben journalistisch. Ich sage oft: „Es muß ans Eingemachte gehen" oder „Du darfst nicht gleichgültig bleiben". Ja, wieso bleibst du nicht gleichgültig? Was wirkt der Gleichgültigkeit überhaupt noch entgegen? Was geht in den Hörern tatsächlich vor? Die sa gen vielleicht: „Das ist keine Musik" und rennen raus und schlagen die Saaltüren zu. Ist eine solche zugeschlagene Saaltür aber nicht selbst schon wieder höchster Ausdruck?

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Über mein Zweites Streichquartett („Reigen seliger Geister") Über ein Werk sprechen, heißt für mich, den in ihm ausgeprägten Materialbegriff beschreiben und in den Zusammenhängen beleuchten, in denen er steht und sich abgrenzt. Der transzen dentale Aspekt des Werks, das heißt seine ästhetische und poetische Stringenz, ist dabei nicht vergessen: Ihre Bedeutung schwingt in all diesen Beobachtungen mit. Bei aller Einseitigkeit, Unvollständigkeit - Unvollkommenheit sowieso -: dem anders sich nähern, hieße sich verbal verirren. Neunzehn Jahre vor dem Reigen war mein erstes Streichquartett Gran Torso entstanden. Meine damals entwickelte Konzeption einer „Musique concrete instrumentale", deren Katego rien sich nicht mehr in erster Linie durch die geläufigen Parameter bestimmten, sondern durch den - immer wieder anders ausgerichteten - körperlich-energetischen Aspekt bei der Klang beziehungsweise Geräusch-Hervorbringung, war in Gran Torso zum erstenmal mit einem so traditionell besetzten, in seiner Vertrautheit weithin tabuisierten Klangapparat wie dem des Streichquartetts konfrontiert worden. In den früher geschriebenen Orchesterkompositionen Air und Kontrakadenz war durch die Hintertür über erweitertes Schlagzeug und zusätzliche AdhocInstrumente der instrumentale Ausgangsrahmen schon vorab im Sinne solcher Klangrealistik verfremdet worden: Durch die Luft gepeitschte Gerten, knackend zerbrechende Äste, rasselnd elektrische Klingeln in Air - eingeblendete Radiosendungen, in widerhallenden Zinkwannen schwappendes Wasser, zischend geriebenes Styropor in Kontrakadenz vereinfachten letztlich die erforderliche Auseinandersetzung des Hörens mit sich selbst; sie nahmen ihr zwar nicht die Spitze, erleichterten aber den Zugang, halfen „die Antenne stellen" und machten manches plau sibler. In Gran Torso gab es solche „Hintertüren" nicht. Die vorgegebene Spielpraxis selbst mußte erweitert, gar verfremdet werden. Die an das gewählte Instrumentarium gebundenen Hör- und Musiziergewohnheiten setzten meinen poetischen beziehungsweise klangsyntaktischen Aus gangsvorstellungen einen - „ihren" - Widerstand entgegen. Dieser wurde indes fruchtbar, und an ihm schärften, präzisierten und erweiterten sich meine Visionen ebenso wie meine kompo sitionstechnischen Mittel. Ton und Geräusch waren keine Gegensätze, sondern gingen als Va rianten übergeordneter Klangkategorien immer wieder auf andere Weise auseinander hervor. (So etwa das tonlose Streichgeräusch als sinnfälliges Transformationsprodukt einer ins Zeitlu penartige verformten Tremolo-Bogenbewegung, die sich über die Saiten weg bis auf den Steg verlagert; oder das „Legno battuto" auf erstickten Saiten: hier als ppp-Artikulationsmittel von Stille, dort als Impuls-Variante neben Pizzicato und anderen kurz gespielten Einsätzen, als Pro dukt senkrechten Bogenschlags gegen die Saite vermittelbar mit anderen, springenden, gewor fenen, wischenden, streichenden Formen von Bogenführung, definierbar als charakteristisches Geräusch, zugleich aber auch als präsise Tonhöhe in entsprechend anders beleuchtetem Kon text.) Und wie in der zuvor geschriebenen Cellostudie Pression thematisierte der polyvalent ins Werk gesetzte energetische Aspekt letztlich sich selbst. An seiner „Durchführung" entzündete sich alles. Als ich 1988/89 den Reigen konzipierte, war mir klar, daß jener Innovationsschub, den Gran

Torso, zumindest fürmit mich selbst, bedeutetwürde hatte,messen einen Maßstab setzte, Weder an demdurfte sich ich die beim neue Auseinandersetzung dieser Besetzung lassen müssen. Komponieren mich einfach der früher schon entwickelten Mittel bedienen, noch konnte ich das einmal gewonnene Terrain aufgeben. Es ging darum, von dort aus weiter zu gehen, und dies be-

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deutete: „tiefer" zu gehen und - mit wie auch immer in der Zwischenzeit verändertem Blick in der bereits erschlossenen Landschaft noch genauer hinzusehen. (Dazu gehörte - nicht nur im Reigen - auch die Rückbesinnung auf früher Ausgesperrtes, die „Versöhnung" mit zeitweilig Obsoletem: mit melodischen, rhythmischen, auch harmonisch bestimmten, gar konsonanten Elementen - wobei Versöhnung keinesfalls Rückzug in den vorkritischen Zustand heißen konnte, sondern Integration im Vorwärtsblick auf einen so oder so konsequent fortzusetzenden Weg bedeuten mußte.)

Gran Torso erschlossene Klanglandschaft sich im Reigen weiter Tatsächlich hat diewieimnach geöffnet, nach innen außen. Klangtechnisch ist das Werk, als pöco a poco sich ergänzendes und zugleich transformie rendes Kategorienfeld, zunächst bestimmt vom Gestus des „Flautato"-Spiels, dessen akusti sche Komponenten ausgeleuchtet werden, während sich der abgesteckte Klangraum allmählich in eine diametral entgegengesetzte Landschaft von unterschiedlichst strukturierten PizzicatoFeldern verwandelt. (Die Bezeichnung „flautato" entlehne ich Luigi Nonos Varianti, wenn gleich Bedeutung und praktische Ausführung in seinem und meinem Fall sich letztlich doch nicht hundertprozentig decken.) Die „Flautato"-Spielweise selbst, in ihrer vollständigen Grundform, ist hier nicht nur gekennzeichnet durch den relativ zügigen, zugleich drucklos „hauchigen" Bogenstrich auf per „Dämpfgriff' locker berührter Saite: Hinzu kommt die gleichzeitige Verlagerung des durchge zogenen Bogens Steg (Bogen am Frosch) und zwischen Griff-Finger an der Spitze). Beim Cello ist eszwischen logischerweise umgekehrt: Bewegung Steg(Bogen mit Bogenspitze und Tasto beziehungsweise Griff-Finger mit Bogen am Frosch. (Der Flageolettklang selbst muß bei dieser Spielweise vermieden werden. Er repräsentiert einen anderen Teil der Kategorien-Hier archie.) Als glanzlose Verschattung von Tönen in anderen Werken eher von peripherer Bedeutung, löst die „Flautato"-Spielweise hier das ein, was ich in meiner ersten Werkeinführung meinte mit „Luft aus den Tönen gegriffen". Sie ist zunächst klanglicher Mittelpunkt, dabei Umschlag platz und Drehscheibe für einen charakteristischen Reichtum von Geräusch- und Klangvarian ten. Sie vermittelt zwischen völliger Tonlosigkeit hier und satter Ces-Dur-Konsonanz dort. Durch die Bogenverlagerung vom Steg zum Griff-Finger (aber auch durch das gelegentlich mit der Griff-Hand auszuführende „Sphärische Glissando", wo dieses in extremer Höhe am 14 3

Steg - „im Schnee" sagen die Musiker - ansetzt oder landet) öffnet sich das Rauschen stufen los zum tonhöhen-orientierten Bereich. Die Bogenverlagerung selbst, als Teil des Flautato-Spiels, bewirkt infolge des sich veren genden beziehungsweise erweiternden Abstands zwischen Steg und Strichstelle auf der Saite ein Helligkeits-Glissando des Rausch-Anteils. Es geht einher mit einem Crescendo der durch schimmernden gegriffenen Tonhöhe bei Verlagerung zur Saitenmitte. An den Saitenenden überwiegt statt dessen das Rauschen. Bei vollständiger Verlagerung des Bogens auf den Steg verschwindet die gegriffene Tonhöhe gänzlich im Streichgeräusch.

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Beispiel 1

Das tonlose Streichgeräusch - quasi „Randerscheinung" solchen Flautato-Spiels - bildet, für sich allein genommen, zusammen mit analogen Spielweisen auf Schnecke, Wirbel, Zarge, Saitenhalter, oder auch in extrem hoher, quasi „arktischer" Lage, und - am Ende des Stücks - auf dem Holzdämp fer beiläufig ein eigenes charakteristisches Repertoire von abrufbaren „Rauschvarianten". Das vorübergehende „Ertrinken" des Tones im tonlosen Streichgeräusch auf dem Steg er laubt die „versteckte" Abwandlung des Griffes so, daß bei Rückkehr des Bogens in den Sai tenbereich der Flautato-Klang mit anderer Tonhöhe aus dem Steggeräusch wieder auftaucht, in dem er zuvor untergegangen war. Solches Verschwinden und Verändert-Zurückkommen wird im Reigen verdeutlicht durch Spielfiguren, etwas waghalsig etikettierbar als „Triller-Varianten". Beispiel 2

Takte 26-28 Diese werden dabei in unterschiedlichster Verformung „exerziert" und „exorziert": so dem Stück gewissermaßen von Anfang an Ihre opulenteste Variante stellt sichFeld dar aus als ordinario gestrichene Tutti-Textur ausausgetrieben. schnellen Figuren, die zu einem polytonalen (echten und imitierten) Obertonglissando-Figuren und von dort wieder heraus ins Tonlose führen (siehe Partitur, Takte 85-112). 229

Beispiel 3

Partitur Seite 18 (Die Partitur ist transponierend geschrieben:

Super-Instrument Jene eben beschriebene Tutti-Textur wird, durch synchrone Dynamik und gemeinsame Bogen verlagerung auf den Steg und von ihm zurück auf die Saiten, auf dieselbe Weise zum Ver schwinden im Tonlosen und Wieder-Auftauchen gebracht wie die einfachen Flautato-Klänge zuvor: Was sich beim einzelnen Instrumentalklang zuträgt, wird auf den ganzen Instrumental apparat übertragen (Beispiel 3, S. 230). Immer wieder und homophon immer mehr bekommen wir es im Klang-Gerät Verlauf des Gesamtprozesses so mit ei nem einzigen, quasi traktierten, 16-saitigen zu tun. Dessen weitere Erscheinungsformen: - der Unisono-Klang und das Unisono-Rauschen, das heißt die synchrone Klang- bezie hungsweise Geräusch-Vervielfachung beziehungsweise -Verstärkung (was bei sukzessivem „Ausschalten" der Einzelinstrumente den verbleibenden Klang beziehungsweise das Geräusch als Resultat von Subtraktions-Prozessen in ein besonderes Licht rückt und umwertet)

- die arbeitsteilige „Paraphrasierung" von „einfachen" Spielweisen: zum Beispiel eine Art „komponiertes" Flautato durch Synchronisation von schlackenlosen, gar per Unisono zum Leuchten gebrachten Flageolett-Tönen in der einen Streichquartetthälfte mit dem absolut ton losen, seinerseits per Verdoppelung noch weiter intensivierten Streichgeräusch bei den übrigen Spielern.

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Und als eine besondere Variante solcher Flautato-Klang-Schattierungen die Parallelführung von im Klangraum weit auseinanderliegenden Tönen.

Nicht die Ableitung einesund solchen imaginären ausjener den Erweite Kompo nentenzuletzt „einfacher" Klangformen Spielweisen verhalf„Super-Instruments" dem Komponieren zu rung und dialektischen Neubestimmung des zunächst scheinbar bloß physikalisch orientierten Klangzusammenhangs, zu der eine davon losgelöst spekulierende, wie auch immer geistvolle, abstrakte oder konkrete Form-Idee für sich allein nicht imstande wäre, und ohne welche die Orientierung am konkreten Klang zum botanisierenden Vorzeigespiel verkommen würde. Zu den Funktionen des „Super-Instruments" gehört die hoquetische Bildung von Sequenzen aus kollektiv zusammenwirkenden Einzeleinsätzen mehrerer oder aller Instrumente. In ihnen setzt sich - quasi entpersonalisiert - jener quasi-motivische Gestus fort, der mit den „TrillerVarianten" des Anfangs angedeutet - und abgeschafft - worden war. Die Idee der „Super-Sequenz" ist wesentliches Vehikel bei dem für dieses Werk charakteri stischen Transformationsprozeß. Sie wirkt als Brücke zwischen jenen Flautato-Strukturen des Anfangs und den alles„Super-Instruments" andere verdrängenden Pizzicato-Feldern desgerecht Endes.mit Ausderder Sicht des sie hervorbringenden würde man ihr genauso Vorstellung eines mehr oder weniger großräumigen „Arpeggio", bei welchem sich sukzessive Einsätze aus homogenen Klangquellen zu einem Gesamtfeld zusammenschließen, das sich - bei großen und unregelmäßigen Einsatzabständen zwischen seinen Komponenten und in der Regel ohne „Pe dal" - als virtuelle Klangeinheit auf dem „inneren Bildschirm", das heißt im Gedächtnis des Wahrnehmenden ergibt (siehe hierzu die Beispiele 7, 8, 10, 14). Zu reden wäre noch über den „Dämpfgriff": Er hindert prinzipiell alle Saiten durch lockeres Auflegen der linken Hand am realen Schwingen und intensiviert so die Wahrnehmung der „Ne bengeräusche". Seine Aufhebung andererseits legt die leeren Saiten frei. Wo dieser Dämpfgriff so eingesetzt wird, daß er durch unerwartetes Blockieren dem ungebremst-eruptiven Aufstrichgestus sozusagen plötzlich „den Mund zuhält", ergibt sich eine ,japsende" Klangwir kung; ihre „implosiv" ansteigende und steil abgeschnittene dynamische Kurve entspricht um gekehrt derjenigen eines „explosiv" ablaufenden Impulses. Sie erweist sich so gewissermaßen als „gewendetes Pizzicato". 232

(Als ich 1958 im Hause meines Lehre rs Luigi Nono dessen Tonbänder fü r mich überspielte, fiel mir auch eine Aufnahme mit dem Originalton Arnold Schönbergs in die Hände. In der An nahme, dies sei ein Doppelspurband, kopierte ich Hin- und Rückseite. Die dabei von mir ah nungslos und voller Ehrfurcht belauschte, rückwärts klingende Stimme des auf der Vorderseite heiser/heiter Geschichten erzählenden Schönberg klang in einer mir „fremden Sprache", dabei voll „fanatischer Erregung" dank jenes Abreiß-Effekts, der sich dem Rückwärtsverlauf der srcinalen Plosivlaute verdankte ...) Der diskrete „Schlüsselmoment", wo beide einander entgegengesetzten Spielformen sich begegnen, befindet sich in den Takten 183/184. Hier allerdings wird der crescendierende Auf strich schon nicht mehr erstickt: Er hat sich zum „lasciar vibrare" befreit und bildet so, zu sammen mit dem Pizzicato-Klang der leeren Saite, ein gemeinsam ausklingendes Sekund-Intervall. Dies wäre sozusagen die musikalische Mitte, der „magnetische Nordpol" bei der Verlage rung von der Flautato- auf die antipodisch abgelegene Pizzicato-Seite dieses Klang-Globus.

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Die eigentliche „formale Mitte" - der „geographische" Pol - dagegen befindet sich dort, wo im Zuge der vorher beschriebenen Sequenz-Projektionen die weit auseinanderstehenden Einzel töne eines G-Dur-Sextakkords im weit gedehnten „Arpeggio" zelebriert und durch solch ex treme räumliche und zeitliche Weite zugleich ent-tonalisiert werden: „Sequenz", „Arpeggio" und energetisch artikulierte Struktur in einem.

Die sich zugleich poco a poco öffnende Pizzicato-Landschaft besteht aus einem breiten Spek trum von Varianten. (Vorboten durchsetzten schon vom ersten Takt an das Geschehen in Form einer das Flautato-Spiel ständig kontra- beziehungsweise interpunktierenden Ebene von einfa chen Impulsen wie Legno-battuto-Tupfern, extrem kurzen Strichen, mit dem Bogen geschla genen beziehungsweise kurz gepreßten Einsätzen, zum Teil auch in eckiger, oft punktierter Rhythmisierung kristallisiert. Durch Saltando-Häufungen und die damit verwandten kurzen Tremolo-Andeutungen vermittelten diese sich zugleich wieder dem gestrichenen FlautatoGestus und der an ihm sich orientierenden Hierarchie. Dennoch deuten sie schon den Gestus des später überhandnehmenden Pizzicato-Spiels an.) Die Pizzicato-Varianten selbst: Ihre Vielfalt und die Formen ihres Zusammenwirkens lassen sich kaum zureichend veranschaulichen, wenn nicht durch die Partitur selbst. Als ungedämpft ausklingende Oktav- und Duodezim-Flageoletts (Beispiel IIa) knüpfen sie eng an gleicher maßen nachhallende Flageolett-Aufstriche an. Als Randformen wirken legno-battuto- (IIb) und gepreßte Akzente (11c) mit. Doppelklänge bilden sich durch Koppelung von Saiten dies seits und jenseits des Stegs (11 d), ebenso auf I. und IV. Saite gleichzeitig im Doppeloktav-Ab stand (1 le), gar durch ppp-Aufsetzen der Bogenschraube auf offene Saiten - so daß beide Sai tenabschnitte gleichermaßen angeregt werden (1 lf) - oder schlicht als erstickt gegriffene kleine Sekundklänge (11g). Arco-Aktionen wirken hier immer mehr als Fremdkörper oder dienen al lenfalls zur künstlichen Verlängerung von Nachhall-Wirkungen.

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Ab Takt 280 werden die Bogen weggelegt. Das Streichquartett ist zu einer imaginären „Gitarre" mit verschiedenen Saiten-Ebenen geworden: Salut für Caudwell läßt grüßen. Mit Piektrum gerissene Mehrklänge bilden hoquetisch einen übergeordneten Gestus. Acht Griff weisen werden dabei rhythmisch ineinander verzahnt und geben der sich überordnenden „Super-Sequenz" strukturelles Relief:

(Die gestrichelten Einklammerungen der Violinschlüssel beziehen sich auf die „wilde Skordatur". Diese läßt - bei präziser Notation der Griffe - keine präzise Bestimmung der resultieren den Tonhöhen zu.) 236

Spätestens mit dem Auftreten des offenen Vier-Saiten-Klangs, und vollends bei dessen Verdoppelung bis Vervierfachung, kommt es zu „Subtraktionsklängen", die aus den - bis zu sechsstimmigen - Tongemischen durch partielles Wegdämpfen von Saiten übrig bleiben, quasi herausgefiltert werden. Beispiel 13 o « o

o

Am Ende entläßt der durch die „wilde Skordatur" inzwischen verformte Tutti-Saitenklang bevor seine breit rhythmisierte Wiederholung sich bis zur Unkenntlichkeit festfrißt - aus sich einen weiträumigen sechzehntönigen „Gesang" dadurch, daß nach jedem Anriß eine andere Saite ungedämpft weiterklingt: letzte Erscheinungsform jener „meta-melodischen" Kategorie, von der als „hoquetisch gebildeter Sequenz" in diesem Werk die Rede war (Beispiel 14).

Das ramponierte Zeitnetz „Struktur: Polyphonie von Anordnungen": Meine alte Definition - jederzeit griffbereit seit meiner in den sechziger Jahren aufgestellten Klangtypologie, bei welcher Klang und Form, sinnliche und geistige Erfahrung in jenem Doppelbegriff von Klangstruktur/Strukturklang ein ander begegnen und ineinander aufgehen - ließe sich bei einer genaueren Analyse auf den Anfang des Reigens mühelos anwenden: Anordnungen von Flautato-Strichbewegungen, Im puls-Familien, bewegten (saltando/tremolo) Gesten usw. überlagern einander und wirken zu sammen. Dabei fügen sie sich den zeitartikulierenden Daten eines zuvor für das ganze Werk ge nerierten Netzes: eines quasi unterirdisch mitlaufenden, die Abmessungen des Ganzen vorab regulierenden, extrem aperiodischen Pulses, der in der Partitur als „rhythmische Leiste" ober halb des eigentlichen Instrumentalparts abgebildet ist. (Die dort notierten Tonhöhen, die, wie leicht herauszufinden, zwölftönigen Permutationen sich verdanken, halten lediglich für even tuelle Nachprüfungen das Generierungsprinzip fest. Musikalisch spielen sie keine Rolle.) Die ins „Netz" gesetzten Klangereignisse aber werden im weiteren Verlauf „sperrig". Ihre rhythmische Binnenstruktur zerreißt seine Maschen quasi von innen. Und vollends dort, wo jene „hoquetischen Sequenzen" sich bilden, sich gar zu plastischen Rhythmen kristallisieren, ist das Netz fast ganz funktionslos geworden, es markiert nur noch einen allgemeinen Zeitrah 14 4

men. Deshalb ab Takt auf seine Abbildung dersich oberen verzichtet. Stattwird dessen steht 280 nun in dortderdiePartitur rhythmische Summe dessen,inwas aus Notenzeile dem kom plementären Zusammenwirken der Spielgesten ergibt. Sie kristallisieren sich vorübergehend zum „Quasi Walzer" (Beispiel 15, S. 240/41). Dessen rhythmische Gesten, weit gedehnt, 237

bilden im „Epilog" schließlich das latente Zeitgerippe für den Schluß des Werkes: Der „Binnen-Rhythmus" ist so selbst zum Strukturnetz geworden: „Regression" als Schuß, der nach vorne losgeht... Gerade solche Vereinfachung des Strukturgefüges gibt sich zu erkennen als (Zwischen-) Produkt einer nach wie vor räumlichen Zeitvorstellung, in der die Ereignisse zwar sukzessiv auftauchen und als homogen beschaffene sich melodisch/rhythmisch zusammenschließen, aber letztlich nicht ein Nacheinander, sondern ein sich ergänzendes Zueinander bilden: ein in verschiedenem Maße verzweigtes „Arpeggio" eines imaginären Gesamt-Klangs/GesamtRaums/Gesamt-Feldes. (In Werken wie Ein Kinderspiel und Tanzsuite mit Deutschlandlied, dort vor allem im „Siciliano", gibt es Verwandte dieses in seiner Komplexität „reduzierten" Strukturtyps, der durch solche Reduktion Raum geschaffen hat für die Aura der Klänge - so komplexer^ Komplexitäten, zum Beispiel Zitathaftes, ins Spiel bringend.)

Harmonik/Scordatura - und ein Blick auf den Epilog Harmonik „herrscht" prinzipiell dort, wo die Töne die Musik machen. Überall dort indes, wo Tonhöhen zu Eigenschafts-Partikeln im Zusammenhang mit anderen Klangkategorien gewor den sind, muß sie in Abhängigkeit von diesen definiert werden. Als „streng" intervallisch kon trollierte kann Harmonik auch stören, das heißt erneuerte Wahrnehmung sabotieren (.. .Was ist stärker: C-Dur oder Pizzicato?...). Die Tonordnungen im Reigen, zu Beginn einerseits bestimmt vom Total der zwölf Tonstu fen, andererseits von konstanten und/oder kontinuierlich sich erweiternden oder verengenden Intervallfeldern (Beispiele 16a - S. 242 - und 16b), Beispiel 16b

werden mehr und mehr durchsetzt mit Klängen im Sinne von „künstlichem Naturlaut", will sagen vom Eigenklang der „Geräte": Dazu gehört der Klang der leeren Saiten samt den darauf basierenden harmonischen Spektren, der Klang der Saiten hinter dem Steg, aber auch alle Klänge und Geräusche, deren Tonhöhen sich infolge einer besonderen ausgeprägten Hervorbringungstechnik „ergeben", und die als solche mit anderen „Naturklängen": dem tonlosen 239

Beispiel 15

Partitur Seiten 52 und 53

Beispiel 16a

Streichgeräusch, dem komplexen Klanggebilde einer hinter oder vor dem Steg scharf gepreß ten Saite, dem erstickten Saitenknall, dem per Dämpfgriff destillierten Legno-battuto-Aufschlaggeräusch, in Beziehung gebracht werden können. Der Nachhall eines von der jeweiligen Saitenstimmung abhängigen Pizzicato-Oktavflageoletts gehört also ebenso dazu wie das tonlose Rauschen beim Streichen auf der Schnecke. Die in solchem Zusammenhang oft eher beiläufig beschworene Harmonik, ihre „Tonalität", ist die ihrer kunstlos „naturwüchsigen", durch äußere mechanische/physikalische Bedingungen der Reigens ist deren Instrumenten-Struktur vorgegebenen klangkörperlichen Präsenz. Im Fall des „Natur" vorab manipuliert, quasi „präpariert" durch die von Anfa ng an gegebene Skordatur be ziehungsweise deren Abwandlungen. Aus ihnen bestimmt sich der Eigenklang des sechzehnsaitigen „Super-Instruments".

Dessen chromat ische Anlage erlaubt zeitweise ein Quid-pro-Quo-Spiel zwischen „künstlicher" und „natürlicher" Harmonik. Die meisten „Sequenzen", gerade in der Mitte des Reigens, geben sich als kunstvoll organisierte und tragen doch in Wirklichkeit lediglich unter einem bestimm ten klangtechnischen Aspekt ihr dazu bereitstehendes Tonhöhen-Repertoire zusammen.

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Im bereits erwähnten großen Flageolett-Glissando-Überlagerungsfeld (Takte 96-110) müssen dann dort, wo die leeren Saiten nicht alle chromatischen Stufen enthalten, nun eben „künst liche" Naturflageoletts aushelfen - quasi „von Hand" gespielte Glissando-Attrappen über fik tiven leeren Saiten; Figuren, die sich ihrerseits aber keineswegs nur imitierend fügen, sondern die „ausscheren" und eigene, von der zu imitierenden „Natur" abweichende Intervallkonstella tionen mit ins Spiel bringen. Ab Takt 117 wird der Grundklang erneut „manipuliert": Vorübergehend wird eine „künstli che Skordatur" eingerichtet: Die Spieler halten Vierklanggriffe die sichSie - ähnlich leeren Saiten selbst - chromatisch komplementär zueinander fest, verhalten. bilden wie so die ein künstliches Manual für die zu übergeordneten Gesten („Super-Sequenzen"...) verbundenen Flautato-Aktionen.

Ab Takt 296 rennt die Musik, die angerissenen Klänge immer wieder anders filternd, gegen die Wand jener Skordatur. Aber selbst Faustschläge gegen die Tasten eines wohltemperierten Klaviers erzeugen be kanntlich nichts weiter als diatonische oder pentatonische Cluster. Und man mag noch so rabiat in eine Mundharmonika hineinfauchen: Es kommt nichts anderes heraus als der darin bereits vorprogrammierte C-Dur-Dreiklang. An diesem Punkt erneuert sich im Reigen noch einmal der verfestigte Tonhöhen-Rah men durch die mitten im Spielverlauf vorgenommene wilde Skordatur. Jeder Spieler hat dabei eine andere freigehaltene Zeit, um die Saiten seines Instruments „wild", das heißt um ein unbestimmtes Intervall noch weiter herunterzustimmen, wobei für jede Saite ein anderes Inter vall gewählt werden soll, damit ab hier möglichst keine Quintverhältnisse mehr zugrunde liegen. Auf solcher nicht weiter kontrollierbaren Klaviatur von sechzehn „hoffnungslos verstimm ten" Saiten spielt sich - arco con sordino „verklärt" - dann auch der „Epilog" ab. Von all den Reminiszenzen, die er unter derart verwandelten Bedingungen zelebriert (wobei die ritardierende Tremolo-Bewegung einen Gruß in Richtung Gran Torso sendet), erfährt jene Evokation 244

Beispiel 20

des ursprünglich hauchartig auszuführenden „Flautato" die auffälligste Verwandlung: Indem die zu Beginn beschriebene obligate Bogenverlagerung zwischen Steg und Griffbrett nunmehr mit gepreßtem Bogen ausgeführt wird, tritt jene früher allenfalls diskret durchschimmernde HelligkeitsVerwandlung des Rauschanteils hier als zart ratterndes Tonhöhenglissando ans Licht der direkten Wahrnehmung: abwärts- oder aufwärtsgerichtet, je nachdem ob der Dämpfgriff den tieferen und daher übertönenden Saitenbereich dabei erstickt oder nicht (Beispiel 20, S. 245). Der Takt 374, wird bestehend aus solchen sich abwechselnd beiden Violinen, ad libitum, theoretisch ad infinitum, überlappenden wiederholt. Es Abwärtsglissandi ist der Punkt, der der in fast allen meinen Kompositionen irgendwann, manchmal mehrmals, erreicht wird: wo die Mu sik - als „klingende Fermate" - innehält und im Ostinato einer Bewegung sich verliert bezie hungsweise findet, bevor sie „weitergeht". Es ist der Moment des durchatmenden Umsichblickens bei einer Bergbesteigung: ohne solche vorausgegangene Anstrengung in seiner Inten sität nicht erklärbar. Die dynamische Zeit des „Begehens" ist eine andere als die statische, zeitlose, der begangenen Landschaft selbst. Beide Zeiten durchdringen sich: Musik auf der Suche nach Nicht-Musik. Also nicht Magie, die das Hören zu beherrschen sucht, aber offener Raum, der es „gefangen nimmt", um ihm zu zeigen, wohin es sich befreit hat - befreien könnte. 1994/95

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IV. ÜBER KOMPONISTEN Luigi Nono oder Rückblick auf die serielle Musik Jeder Künstler wird sich in einem bestimmten Stadium seiner Entwicklung entscheiden müssen, wie er sich zu der Gesellschaft, als deren Requisit er fungiert, zu verhalten hat. Für einen Komponisten ist eine solche Entscheidung kompliziert insofern, als er zur Realisierung und Verbreitung seiner Werke im allgemeinen auf die Zusammenarbeit mit Institutionen dieser Gesellschaft angewiesen ist. Dennoch: Die Entscheidung ist unumgänglich auch für ihn; dem auszuweichen wäre gleichbedeutend mit gedankenloser Zustimmung. Von den Komponisten der Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg die entscheidenden musikalischen Entwicklungen einleitete, haben die meisten lange geglaubt, sich um diese Ent scheidung drücken zu können. Man ging davon aus, daß sich das Musikdenken in Überein stimmung mit der gesellschaftlichen Entwicklung revolutionieren und eine neue ästhetische Wahrnehmungsweise sich etablieren ließe. Zwar war in den Werken, die um 1950 entstanden, etwa in Stockhausens Spiel für Orchester, in der Polyphonie X von Boulez oder in Nonos Composizione N. 1 per orchestra deutlich etwas zu spüren von einem Geist, der über ästhetische Tabus hinweg an einen gesellschaftlichen Nerv rührte: Diese Werke entweihten den Konzertsaal auf rücksichtslose Weise. Das Ausfallen des gewohnten, unmittelbar gebrauchsfertigen Kontakts zum Publikum enthielt ein aggressives Moment, das über den ästhetischen Schock hinaus jegliche gemeinnützige Vorstellung von akklamabler Ordnung ins Wanken brachte, einfach dadurch, daß in diesen Werken nicht mehr vorher geläufige Ordnungen zelebriert, sondern Material-Organisationen kommuniziert wur den, auf die der Hörer nicht eingestellt war. Aber diese Zeit - die Zeit, in der man in einem Atem von Nono, Stockhausen und Boulez glaubte sprechen zu können als einer gemeinsamen Front gegenüber einem Banausentum, an dem die Erfahrungen der ersten Jahrhunderthälfte spurlos vorübergegangen waren - diese Zeit stellt sich uns heute dar als eine Phase, welche völlig verschiedene und entgegengesetzte Men talitäten und Ideologien gebündelt hatte, um so jene ästhetischen Tabus leichter zu durchbre chen, die infolge der Stagnation während zweier Weltkriege sich verfestigt, statt - wie üblich mit dem Abtreten einer Generation verflüchtigt hatten. In dieser r evolutionären Phase der Neuen Musik konnte keine ganze Arbeit geleistet werden; entscheidende Tabus nämlich und Quellen zukünftiger Mißverständnisse, wie zum Beispiel die bürgerliche Vorstellung einer konsumablen Kunst, somit das im alten Geist konsumierende Publikum selbst, blieben trotz aller Erregung unerschüttert. Die meisten Komponisten machten von dem Angebot der Gesellschaft, als avantgardistische Tausendsassas dem Bürger Revolu tion vorspielen zu dürfen, ihm damit einen Kitzel für seine Ignoranz zu verschaffen, bald Gebrauch. Diese Art Arrangement schien dem einzelnen Komponisten eine Weiterarbeit zu ermöglichen, im Einklang mit einer Öffentlichkeit, die nun ein gewisses dekorativ orientiertes Interesse für ihn aufbrachte. Keine Frage, daß sich so die musikalische Entwicklung in einer Weise fortsetzen ließ, der wir neue Möglichkeiten und Erfahrungen verdanken. Keine Frage aber auch, daß solches Arrangement ein korruptives Moment enthielt, welches auf die Dauer Rückschläge zeitigen mußte. Denn nun fiel die Führungsrolle natürlich an die jenigen Komponisten, deren Musik - ob gewollt oder ungewollt - den spätromantischen bür-

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gerlichen Neigungen und Mißverständnissen am ehesten entsprach. Der Kult um einen Kom ponisten wie Penderecki oder um einen Kompositionsstil wie denjenigen Ligetis sind Anzei chen einer Regression des musikalischen Denkens. Daran scheint auch die Leistung Kagels nichts ändern zu können, denn auch seine Art antithetischen Komponierens hat unsere Gesell schaft geschluckt. Kunst solcher Art ist zur Ausflucht für die anachronistischen bürgerlichen Gelüste unserer Gesellschaft geworden. Komponieren ist in eine fast ausweglose Problematik geraten. Für diese Gesellschaft oder gegen sie komponieren ist fürganz dieseempfindlich dasselbe und birgtwill, die Gefahr, gerade umar dann, wenn man diese Gesellschaft treffen sich vonwomöglich ihr heimtückisch men zu lassen. So lautet das Grundproblem des Komponierens heute: Wie befreie ich die kom positionstechnischen Mittel von ihren in der Gesellschaft etablierten Fehlinterpretationen so, daß ich in die Lage komme, mich als schöpferischer Künstler zu dieser Gesellschaft frei und kritisch zu verhalten? Vorausgehen muß dem aber die Einsicht der politischen Relevanz jeglicher künstlerischer Aktivität und Mitteilung. Vor dieser Einsicht haben sich, wie gesagt, fast alle gedrückt. Wich tigste Ausnahme: Luigi Nono. Zu einer Zeit, als noch keiner daran dachte, mit roten Fähnchen sein Dirigentenpult zu schmücken, „Freibriefe für die Jugend" zu veröffentlichen oder Opernhäuser in die Luft zu sprengen, verstand sich Nono schon als politisch engagierter und wirkender Musiker, dessen 77

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Kunst Appell seinDenken, wollte, vor Aufruf zu gegenüber neuem Denken und zur und permanenten Empfindlichkeit gegenüber altem allem den offenen latenten Denkformen des Faschismus und seiner Wurzeln, die er auch und besonders gefährlich in Vergeßlichkeit und Bequemlichkeit sah - einer vergeßlichen Bequemlichkeit, die es nicht zuletzt im ästhetischen Bereich nachzuweisen und aufzurütteln gilt. Das Moment des pathetischen Appells läßt sich bei Nono von seinen frühesten Werken an nachweisen. Ihm verdankt sich der Kontakt seiner Musik zum Publikum der fünfziger Jahre (Beispiel 1). Spätestens aber zu Beginn der sechziger Jahre bekam Nono von der westdeutschen Öf fentlichkeit - nicht nur von ihr - zu spüren, daß sie genug von der Linkskoketterie hatte und sich nicht in ihrem restaurativen Weg irritieren lassen wollte von einem, dem es über einen Allerweltshumanismus hinaus Ernst mit dem Sozialismus war. Man begann Nono den zu kehren.gestimmten Ursprünglich hatte man ihn gerade in Deutschland bei denweil zustän digenRücken avantgardistisch Funktionärskreisen gefördert, wohl auch deshalb, die Verbindung eines unangreifbaren ethischen Humanitätsanspruchs mit einer kompositions technisch radikalen Sprache bei ihm ein pikanter gesellschaftlicher Leckerbissen zu werden versprach. Aber Nono entzog sich allen Umarmungen, als er sah, wie feindlich und gleichgültig man seinen eigentlichen Idealen gegenüber verharrte. Seine Texte wurden direkter, seine Musik wurde plakathafter, er selbst wurde menschlich härter, sein Verhalten in allen Bereichen, auch gegenüber der jungen Generation, immer provozierender. Es schien manchmal, als laufe er Amok gegen alles, was sich an Freundschaften und Verbindungen zu ihm gebildet hatte. Aber er zog und er ertrug alle Konsequenzen seiner politischen Haltung, wobei das Unrecht, welches gerade die Öffentlichkeit bei uns ihm antat, indem sie ihn weithin zu ignorieren sich anschickte und glaubte, ihn -abtun können als einen politische und Ideen vomRessentiments künstlerischengegen Weg Abgekommenen wobeizudieses Unrecht seinedurch Enttäuschung seine über den Westdeutschen rechtfertigt. 248

Luigi Nono, La victoire de Guernica, Takte 84-89

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Fest steht, daß Nono durch alle die Masken, welche unserem System nach und nach abge rissen worden sind, schon von Anfang an hindurchgesehen hat. Fest steht zudem, daß gerade ein in seinem Sinn operierendes musikalisches Bewußtsein in der Lage wäre, hinter die avant gardistische Maske unseres modernistischen Musikbetriebs zu leuchten. Fest steht schließlich, daß wesentliche musikalische und expressive Substanz, die man heute aus gängigeren und leichter konsumierbaren Werken herauszufinden sich voll Ehrfurcht an schickt, der authentischen Leistung Nonos zu verdanken ist. Kompositionstechnik Nonos ging von Anfang an vonsondern der historischen Notwendigkeit aus,Die sich nicht nur von jeglicher thematischen Verarbeitung, vom thematischen Den ken überhaupt und vom tonalen Denken, das sich nicht davon trennen läßt, endgültig zu lösen. Der durch das grundsätzlich punktuelle Verhalten der Musik isoliert erfahrbare, in der Zusam mensetzung seiner Eigenschaften unwiederholbare einzelne Ton sollte so in eine vielfache Be ziehung zu seiner Umgebung treten, daß sich der Ausdruck vom momentanen Gestus weg auf die Konstellation des Ganzen verlagern sollte. Nicht, daß der Einzelton dabei zum bloßen Stel lenwert degradiert würde, aber statt, wie in der alten Musik üblich, zur Bestimmung eines Ganzen beizutragen, sollte er nur vom Ganzen her bestimmt und sinnvoll wirksam werden (Beispiel 2). Die erwähnte t ypische Nonosch e „Pat hetik" rührt daher, daß mit der punktuellen Isolation des seriell verfügbaren Tons jenes aus der tonalen Praxis stammende Moment des Gestischen nicht ganz sondern lediglichinreduziert wordenWeise ist. Der einzelnegeworden. Ton, scheinbar integriert in einzerbrochen, serielles Gefüge, ist zugleich eigentümlicher expressiv Klangfarbe und Lautstärke, die an geläufige instrumentale und vokale Mittel gebunden bleiben, erhalten dabei durchweg Erfahrungskategorien alter, tonaler Machart lebendig und wirksam. Die sinnvolle In tegration solcher nicht weiter auflösbarer Reste in neue Konzeptionen ist ein Problem, dem auch heute noch die Komponisten hilflos gegenüberstehen. Die seit 1955 etwa versuchten Auswege, zum Beispiel die Gruppenkomposition, die Zusammenfassung und Entlastung der einzelnen Tonhöhen durch Rückkehr, wenn nicht zur Gestik, so eben zu ihrer absurderen Form: zur Gesti kulation, die dann logisch zur Improvisation und zur mit den verschiedensten Pseudo-Ideologien salonfähig gemachten Aleatorik führte - Entwicklunge n, die ganze Schwärme von Epigonen ver schiedenen Niveaus hervorriefen -, oder jener andere Ausweg einer neodadaistischen, kulturkri tisch sich gebärdenden Rückbesinnung auf absurde Klischees der musealen Musikkultur, alle diese Auswege, diestilistische meistens Rückwege waren oder bedeuteten, lehnte Nono ab. Er versuchte, das Problem ohne Konzessionen auszutragen. In seinen Werken von Varianti (1957) bis Diario polacco '58 (1959) hat Nono verschiedene Arbeitsweisen angewandt, um jenen letzten Rest durch neue Methoden der Artikulation zu überwinden. Dies geschah mit Hilfe innerlich reichdifferenzierter Massierung von Tonhöhen, durch Aufspaltung in verschiedene Klangfarben, schließlich durch Vertikalisierung der Reihe zu chromatisch gefüllten Klanggebilden (Beispiel 3, S. 252). In den meisten seiner Werke seit Incontri hatte sich Nono immer derselben Reihe bedient, in welcher alle Intervalle der Größe nach in Zickzackrichtung aufeinanderfolgen. Solches Beibehalten ergab sich aus der Notwen digkeit, statt ein zuvor lebloses Klangmaterial charakteristisch zu machen, nun im Gegenteil ein Material durch eine gewisse Gleichschaltung abzutöten, weil dessen Neigung, vorzeitig in tervallische oder gar thematische Charaktere zu bilden, übergroß war. Bei diesem seriell mani pulierten Abtötungsprozeß ließThematik Nono aber wieder von nicht zerbrochener, sondern bloß reduzierter harmonischer stehen, wiejenen dies Rest bei einer permanenten Chromatik un vermeidlich ist. 250

Beispiel 2

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Was hat es auf sich mit jenen erwähnten tonalen Resten? Man wirft Nono immer wieder vor, er sei stehen geblieben. Man verkenn t dabei, was Stehenbleiben be deutet in einem Stadi um, wo alle anderen Komponisten zurückgegangen und auf Wege geringeren Widerstands ausgewi chen sind. Der kompositorische Konflikt der Musik Nonos, der dem enttäuschten Bourgeois und dem enttäuschten Gesinnungsgenossen von früher gleichermaßen Vorwände zur Polemik liefert, ist der zentrale Konflikt dieser musikalischen Epoche: Wie befreie ich mich endgültig von der of fenkundig überlebten Tonalität, ihren Denkmodellen und Mitteilungsformen - anders ausge drückt: Wie gelange ich zu einer Musik außerhalb jener Erfahrungsgesetze des tonalen Be wußtseins und dessen ästhetischen Klischees? Eine analytische Untersuchung an anderem Ort hätte nachzuweisen, daß die Neue Musik, so wie sie sich entwickelt hat, hilflos fixiert bleibt an eine mit dem Begriff „Tonalität" um schreibbare Mitte, ja daß radikalster Avantgardismus, auch dort, wo er die bizarrsten Formen 252

annimmt, auf der Stelle tritt in einem Spiel mit dieser Mitte, eine wenn auch noch so raffiniert inszenierte Bewußtseinsanspannung, deren kommunikativer Wert sich immer aus dieser Mitte bestimmt. Die Reihentechnik war ein Versuch, die Tonalität systematisch zu überwinden. Der Versuch, dem wir - was leicht vergessen wird - entscheidende Erfahrungen verdanken: Er mißlang. Diese Erkenntnis wirkte lähmend auf die einen, siehe Boulez, anderen schien sie Signal zu sein zu einem unsystematischen Fischen im Trüben anhand privater Euphorien. In jedem Fall scheint mir die Zeit, in der die Avantgarde sich ihrer seriellen Uniform wieder entledigen mußte, wenn sie nicht in Don-Quichotterien verfallen wollte, den tiefsten Aufschluß über die kompositorische Grundhaltung des einzelnen zu geben. Nonos Weg seit Diario polacco '58 war gekennzeichnet von der Auseinandersetzung mit den Problemen neuer Materialordnungen, nachdem sich seine Sprache in einer totalen Chromatik festgefahren hatte. In seinen Chorwerken Sara dolce tacere und Canciones para Silvia operiert er mit Formen diatonischer Modi und versucht eine Art Aufwertung der Intervalle, die bei ihm bis dahin als Additionsposten chromatischer Summen fungiert hatten (Beispiel 4).

Das ausgesprochen intervallbewußte Komponieren in den Silvia-Gesängen steht in krassem Gegensatz auch zu jenen Auswegen aus der seriellen Sackgasse, bei welchen Intervalle und Tonhöhen überhaupt ignoriert und nur noch Nebenresultate von Geräusch- beziehungsweise aleatorisch Aktionsfeldern wurden.Nono strukturelle Intervalltechniken auf andere Auch in wirksamen seinen weiteren Werken wendet Systeme an, so in seinem elektronischen Stück Omaggio a Emilio Vedova, in Sul ponte di Hiroshima bis zu Per Bastiana - Tai-Yang Cheng für Tonband und Orchester, in dem eine viel253

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Luigi Nono, Per Bastiana - Tai-Yang Cheng, Partitur Seite 9

fältige Scordatura auf den ganzen Streicherapparat angewandt und zudem eine, wenn auch eng begrenzte, zufällige Variabilität des Zusammenklangs ermöglicht wird (Beispiel 5, S. 254). Typisch für Nonos Arbeitstechnik überhaupt ist sein Bedürfnis skalenartiger Vorordnung innerhalb homogener Ausgangsmaterialien. Man denke an sein Ballett Der rote Mantel oder an die Besetzung von Cori di Didone mit ihren 32 Solostimmen, 8 Becken und 4 Tamtams. Dieses Bedürfnis nach innerer Abstufbarkeit homogener Klanggattungen hat ihn wohl auch von der Kammermusik", das heißt von der kleinen „bunten" Besetzung, immer wieder abgehalten. Was Nono seit Diario polacco '58 anhand verschiedener Ausgangsmaterialien bis heute weiterentwickelt - immer im Hinblick auf den Zwang, tonalen Kraftfeldern zu entrinnen -, das sind die Vbrformtechniken. Auch die serielle Technik war für ihn nicht mehr und nicht weni ger als eine Vbrformtechnik. Der kompositorische Akt selbst hätte sich bei ihm ebenfalls erneuern müssen, wenn er von der Problematik jeweils ausgegangen wäre, die jedem Material von selbst anhaftet. Aber Nono denkt anders. Die Eigenschaften des einmal vorgeformten Materials werden bei ihm im folgenden als immer auf die gleiche Weise verfügbare Stellen werte behandelt. Man mag bei Nono unterscheiden zwischen einem aktiven und einem passi ven Klangsinn. Der aktive, schöpferische Klangsinn ist bei ihm immer aufs Ganze gerichtet geblieben, im Detail wirkt sein passiver, modifizierender Klangsinn, gleichsam automatisch bestimmt von einem Ausdruckswillen, der - als fertiges Resultat historischer, gesellschaft licher und ästhetischer Reflexion - nicht mehr bereit ist, sich selbst zu reflektieren. Komposi tion als auf sich selbst bezogener offener Reflexionsprozeß ist undenkbar bei Nono. Der heute allenthalben mit jedem Material von neuem problematische Begriff der Kompositionstechnik bleibt bei ihm reduziert auf seine typische abstrakt operierende Satztechnik. Das scheint mir wieder ein „tonales" Relikt zu sein. Im Moment des Erklingens legitimiert sich alles immer wieder aus denselben Funktionen der Exklamation, der Deklamation, der engagierten Akkla mation. Nonos von vornherein expressiv gerichteter Wille übt eine rücksichtslose Herrschaft über jedes Material aus, die diesem Material keine Möglichkeit mehr läßt, sich außerhalb die ses Willens in eigener Sache zu kristallisieren oder gar auf diesen Willen zurückzuwirken. In seinen neueren Werken bedient sich Nono öfters eines Materials, das sich dem Schein nach leichter in Einklang bringen läßt mit jenem expressiven Willen: des realistischen Zitats. Schon in Intolleranza zitiert Nono nicht nur eigene Musik, nämlich den Canto sospeso und die

Incontri; es gibt zudem eine Szene mit elektronischen Klängen, in schließlich welcher Geräusche kapitalistisch verwalteten Alltags, Büromaschinen, autoritäre Phrasen, Flugzeugdes motoren und eine Bombenexplosion zitiert und teilweise verarbeitet werden. In La fabbrica illuminata hört man Fabrikgeräusche, in Afloresta die nordvietnamesischen Luftalarmglocken und Schüsse, in Per Bastiana - Tai-Yang Cheng zitiert Nono ein chinesisches Arbeiterlied. Dabei erhalten auch jene Floskeln und Gesten Einlaß in Nonos Sprache, die seine satztech nische Praxis außerhalb des Zitats nie dulden würde. Die Verwendung realistischer Zitate ist nicht etwas absolut Neues bei Nono. In ihnen wird le diglich präzisiert und aktualisiert, was die lapid are .Instru menta lbehan dlung der frühen Orchesterwerke assoziativ vermittelte. Man denke nur etwa an die aggressiven FortissimoSchlagsätze mi t ihren unverkennbaren Assoziationen von der Umwelt des Arbeiters einerseits, von Gewalt und Unterdrückung andererseits, oder an das Beckenrauschen in Cori di Didone, wenn dort das Meer besungen wird, oder auch an den mütterlichen Klang der sieben Sopran stimmen in den Canciones para Silvia. So abstrakt Nono s Satztechni k ist, heute wie früher, so un verkennbar ist der realistische Einschlag seines musikalischen Ausdrucks. (Werke wie die Varianti sind nur scheinbar Ausnahmen. In solchen Werken schlägt sich Nonos visionärer Ausdruck 255

nieder von einer Realität, die nicht ist, sondern sein soll. Das Engagement der Musik Nonos ist nicht nur auf eine fragwürdige Gegenwart bezogen, sondern ebenso auf eine ideale Zukunft. Appell, Protest, Vision: Diese Begriffe kennzeichnen die engagierte Ausdruckswelt Nonos.) Scheinbar unfähig zur Dialektik, ist Nonos Musik, wie er selbst, in Wirklichkeit anti-dialek tisch. Das ist seine Reaktion auf das Gebaren einer Gesellschaft, welcher dialektisches Denken zum Mittel des Ausweichens geworden ist. Diese Haltung ist es auch, die es ihm unmöglich macht, in kompositionstechnischer Hinsicht pluralistisch zu denken. Im satztechnischen Detail verrät sich für ihnweiß. der ideologische Standort des Komponisten und der Gesellschaft, der dieser sich verpflichtet Bei Nono wird deutlich, daß Satztechnik heute sich nicht nur mit dem Sog der Tonalität nach wie vor auseinanderzusetzen hat, sondern daß diese Auseinandersetzung über das Ästhetische hinaus von gesellschaftspolitischer Bedeutung ist. Provozierender als die von ihm selbst an seine Musik gehefteten Schlagworte ist demnach seine ästhetische Aktualität. Nonos Musik ist eben nicht einfach irgendeine Akklamation, sie ist nicht ideologisch nach jedweder Richtung verwendbar, sie ist nicht nur Ausrufungszeichen hinter vertauschbaren Bekenntnissen, sie ist selbst Bekenntnis und politisch im gleichen Maß wie ästhetisch konsequent. Einer ernsthaften Kritik an Nono kann es meines Erachtens nur darum gehen, Nonos Musik vor dessen eigenen Ambitionen in Schutz zu nehmen, in denen künstlerische und politische Probleme immer wieder Gefahr laufen, sich gegenseitig zu ver harmlosen. Die bloße Vertonung von direkte Schlagworten und Beeinflussung ideologischen und Programmen kann des nie gesellschaftsverändernd wirken; der Weg zur Aufrüttelung Menschen - und das ist die Chance der Kunst heute - geht über dessen ästhetische Tabus. Denn dort schlägt sich - wohl unbewußt, dafür aber unbestechlich - das allgemeine Ideal nieder, wel ches ihm letztlich die Legitimation für sein gesellschaftliches Verhalten gibt. Die Vorstellung von Kunst und Schönheit als Mittel transzendentalen Lustgewinns ist nicht ein zufälliges Dekor menschlicher Existenz, sondern sie ist der irrationale Maßstab für alle, auch rationalen, Hand lungen des Einzelnen, bei denen es diesem, so fragwürdig sie sein mögen, letztlich doch ehr lich um das vermeintlich „Gute, Wahre und Schöne" geht. Um sich diesen irrationalen Maßstab bestätigen zu lassen, genießt man die Kunst. Indem man Kunst genießt, genießt man sich selbst. Wenn Kunst eine gesellschaftliche Berechtigung und Funktion heute hat, dann die, neue ästhe tische Realitäten zu kommunizieren und zu reflektieren, und so dem Einzelnen den alten Bo den wegzureißen, ihn zu zwingen, jene Verantwortung, die er bisher solchen irrationalen In stanzen zugeschoben hatte, auf sich selbst zu nehmen. Bei allen kritischen Ansätzen gegenüber der Musik Nonos stehen wir doch immer wieder vor dem Eingeständnis, daß er aus einem integren Glauben an ein Ideal lebt und handelt. Seine Musik ist der reine Ausdruck einer Gesinnung, in deren Licht die schillernde Vielseitigkeit sei ner Zeitgenossen nichts weiter ist als ein amüsantes, zu nichts verpflichtendes Herumwühlen in den Trümmern dialektisch strapazierbarer Klang- und Kommunikationsformeln, außerstande, geltende Kategorien außer Kraft zu setzen. Die Einseitigkeit von Nonos satztechnischer Praxis hängt mit der Gebundenheit seiner Expressivität an jene erwähnten tonalen Reste zusammen. Hier über ihn hinauszugehen, eine von Grund auf restlos neue „Tonalität" - und damit meine ich, um jedes Mißverständnis auszuschließen, ein analog der alten Tonalität konkret wirksames Spannungssystem - zu entdecken, das scheint mir heute notwendig. Es geht darum, weiter zu gehen als Nono. Bis heute hat ihm noch keiner direkten Widerpart geleistet. Solange die Gewohnheit herrscht, sich achselzuckend von ihm abzuwenden, weil er 256

nicht ins avantgardistische Puzzlespiel unseres Musiklebens hineinpaßt, solange man ignoriert, daß die jetzige, von so vielen ästhetischen Tabus schon befreite Situation sich zu einem ent scheidenden Teil ihm verdankt, wird unser Musikdenken unter dem Niveau des von ihm gestellten Anspruchs bleiben. Man hat im Zusammenhang mit Nonos Sprache von „Petrifizierung" gesprochen; man sollte dann aber nicht das stagnierende Im-Kreise-Schwimmen jener tonangebenden Zeitgenossen stillschweigend übergehen, die nichts zu petrifizieren haben. Die Haltung derer, die glauben, ihn als einen in der Sackgasse Steckengebliebenen abtun zu können, ist nicht weniger ignorant als die falsche Toleranz jener rhetorischen Frage des Komponisten Henze: „Wo ist vorne?" Denn genau diese Frage ist es, die es im Ernst zu beantworten gilt. Und nicht dort ist vorne, wo mit alten Tabus halsbrecherische Spiele getrieben werden, sondern dort, wo Tabus unwider ruflich zerbrechen. 1969

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Hat das Werk Anton Webems 1970 eine aktuelle Bedeutung? Die Musik Anton Webems ist für mich einerseits „klassische Musik", so wie diejenige von Mozart oder Brahms. Ich meine damit: Sie hat jene Aktualität, welche die traditionelle Kunst für einen Künstler eben haben kann: als historisches Beispiel einer in sich stimmenden und schöpferisch ergiebigen Dialektik von Freiheit und Disziplin im musikalischen Material, oder kürzer: als Beispiel von Schönheit. Ich liebe Weberns Musik, vor allem seine instrumentalen Werke, dies mag sich auf meine Musik in irgendeiner Weise auswirken - stilistisch oder garund kompositionstechnisch bindeteigene mich das nicht. Ich sehe aber noch eine andere Aktualität. Mit Webern war das traditionelle Musikdenken (klassische Formen, tonale Satztechniken, thematische Arbeit) noch einmal zusammengefaßt, quasi gebündelt, und so Ansatz zu neuem Musikdenken geworden. In seinen Werken (etwa den Cellostücken, den Geigenstücken, den Bagatellen für Streichquartett oder in der Symphonie) sind Möglichkeiten einer unmittelbaren Klang-Erfahrung freigelegt, „faßlich" gemacht, die nicht, wie üblich, an die Klangmittel von außen herangetragen sind, sondern schon immer Teile dieses Materials waren: Man denke an die Phänomene Klangfarbe, Stille, an das Zeit-Erlebnis bei seinen Werken. Diese Möglichkeit der Entdeckung unbekannter beziehungsweise unbenutzter Erfahrungs kategorien hängt mit der Konsequenz der Webernschen Kompositionstechnik zusammen. Solche Art der vermittelten Materialbeobachtung scheint mir aber revolutionär; sie prallt immer noch auf die Tabus eines Publikums, für welches es keine andere Musik geben darf als jene, in welcher den Klängen die gewohnten emotionalistischen und vitalistischen AusdrucksKlischees aufgezwungen sind, damit es (das Publikum) darin sein idealisiertes oder wenigstens dämonisiertes Spiegelbild wiederfindet. (Es spielt eine sekundäre Rolle, ob sich Webern dieser revolutionären Rolle bewußt war. Möglicherweise fühlte er sich als bürgerlicher Ausdrucksmusiker im Sinn der Tristan-Nach folge. Als solcher aber scheint er mir blaß und verblaßt, im Schatten Schönbergs und Bergs zu stehen.) Die Generation der fünfziger Jahre hat jenen neuartigen Ansatz Weberns aufgegriffen und versucht, auf diesem Weg weiter zu gehen.'Sie ist gescheitert, nicht so sehr an ihrem Dogma tismus, als an der Tendenz, ihre Sprache einer rückständigen Gesellschaft wieder anzupassen. Heute zieht man zwar immer noch modernistischen Nutzen aus dem Durchbruch Weberns und jenem Durchbruch der Seriellen, die sich auf Webern beriefen; dies aber im Zusammen hang mit einer Entwicklung, die in vieler Hinsicht hinter Webern zurückgefallen ist. Wir leben in einer Zeit der Restauration alter, wenn auch modernistisch verkappter Denk weisen aus der Zeit der Symphonik, jener Mittel also, welche seinerzeit von Berg ein letztes Mal ausgekostet, von Schönberg ad absurdum geführt, von Webern aber endgültig erledigt wor den waren. Dieser Regression müßte meines Erachtens ein neues Webernverständnis entgegenwirken, eine Interpretation, welche die Akzente neu setzt. Ich selbst studiere und analysiere Weberns Partituren immer wieder als Belege dessen, was mich heute beim Komponieren beschäftigt: als Beispiel der Möglichkeit, ästhetische und damit auf die Dauer gesellschaftliche Tabus außer Kraft zu setzen, nicht durch aggressive Allüren, sondern durch kompositionstechnisch konse quentes Verhalten gegenüber einem der Tradition entnommenen, aktualisierten, klar durch dachten Material. 1970 258

Über Luigi Nono Die Entwicklung der Neuen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg bis heute hat einen eigen artigen Gang genommen. Die ersten seriellen Werke, so unbeholfen sie aus heutiger Sicht kon zipiert erscheinen, hatten dennoch alarmierende Wirkung. Sie lösten eine nachgerade existen tielle Unruhe im kulturellen Selbstgefühl des Publikums der fünfziger Jahre aus; eine Unruhe, die vielleicht weniger von den Werken selbst als vielmehr von den in ihnen waltenden Ten denzen ausging: Tendenzen, die mit den überlieferten ästhetischen Gewohnheiten konsequent brachen und in denen sich die Komponisten nicht bloß nach einem neuen ästhetischen Welt bild, sondern zugleich nach den Bedingungen einer neuen befreiten Gesellschaft vortasteten. Das war die Zeit, in der man in einem Atemzug von Boulez, Nono und Stockhausen spre chen konnte als einer gemeinsamen Front gegenüber einem hartnäckigen Banausentum, an welchem die Erfahrungen dieses Jahrhunderts offenbar spurlos vorübergegangen waren. In dem Maß allerdings, wie die Komponisten der Avantgarde daran gingen, das erschlossene Klangmaterial weiter zu entdecken und die Kompositionstechniken zu verfeinern, paßte sich ihre Musik unmerklich der Gesellschaft und jener Mentalität wieder an, die sie einst zu verän dern beabsichtigt hatte. Die Kriterien musikalischen Fortschritts blieben an immanente Eigen schaften des Materials gebunden, ihre gesellschaftliche Relevanz blieb unbeachtet: Der Begriff der „Avantgarde" sah seine heroische in sich selbst. aber war tolerier der ur sprüngliche revolutionäre Anspruch aufRechtfertigung eine neue Freiheit in den von Damit gesellschaftlich ter Narren-Freiheit abgefälscht. Die Entwicklung der Musik hat so eine Unzahl kompositions theoretischer Problemstellungen hervorgebracht: Aleatorik, offene Form, den gefährdeten Werkbegriff, Einbeziehung des Interpreten, Verhältnis von Mikro- und Makrostruktur usw., Probleme, die sich alle von selbst erledigten, ohne daß das Publikum weiter davon betroffen worden wäre. Hatte sich an die revolutionären fünfziger Jahre die Regression der sechziger Jahre angeschlossen, so ist die Neue Musik zusammen mit ihren Protagonisten nunmehr zwangsläufig in einem Stadium der Stagnation festgefahren. Revolution - Restauration - Stagnation. Luigi Nono steht außerhalb dieser Entwicklung. Im Zug jener fatalen Fortschrittlichkeit, die sich inzwischen als ihr Gegenteil entpuppt hatte, war die Musik Nonos aus dem Blickfeld des Interesses gedrängt worden. Man warf ihm lange Zeit vor, er sei stehen geblieben, und übersah, was Stehenbleiben bedeutete in einem Stadium, wo alle anderen Komponisten zurückgegangen und auf Wege geringeren öffentlichen Widerstands ausgewichen waren. Heute steht fest, daß Nono durch alle die Masken, welche unser Gesell schaftssystem und die Avantgarde nach und nach haben fallen lassen müssen, schon von Anfang an klar hindurchgesehen hat. Fest steht ebenso, daß entscheidende Idiome der Neuen Musik, wie sie in der Folge zu handlichen Klischees für populäre Epigonen wurden, sich Luigi Nono verdanken. Heute, wo wir in den gegenwärtigen Produkten der gängigen Avantgarde uns gleichsam den schlaffen Resten eines geplatzten oder zumindest geschrumpften Ballons ge genübersehen, trifft uns die Musik Nonos auf zweifache Weise: Auf der einen Seite hat sie schon ein lapidar klassisches Format, auf der anderen steht sie, wohl als einzige, nach wie vor ein für jene typische Erfahrung von Unruhe, die heute so wenig wie in den fünfziger Jahren den Hörer gleichgültig läßt. Dabei ist Nono keineswegs stehen geblieben, sondern hat seine Technik nach allen Richtungen entwickelt und verändert. Aber seine Entwicklung war orien tiert nicht an theoretisch isolierten Scheinproblemen, sondern am Kriterium der direkten Inten sität und der unmißverständlichen Klarheit seines Engagements. Nonos Musik war zu keinem Zeitpunkt Experiment, sondern wußte sich immer als Bekenntnis zum Sozialismus als einer

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idealen Daseinsform. Sie war so Ausdruck einer Gesinnung, in deren Licht das schillernde mu sikalische Angebot seiner Zeitgenossen nichts weiter scheint als ein amüsantes, zu nichts ver pflichtendes Spiel mit den gerade herumliegenden Trümmern entleerter Klang- und Kommu nikationsformeln, außerstande, herrschendes Denken zu verändern. Die Expressivität der Musik Nonos hat ihre festen Kategorien. Man könnte sie umschreiben mit den Begriffen Appell, Protest, Vision. Das sind rhetorische Kategorien, die im Zeitalter der Technik einen relativ ehrwürdigen Begriff von Musik als emphatischer Sprache voraussetzen. Dies rhetorische und pathetische Moment bei Nono enthält in sich einen persönlichen Glauben an eine humane Praxis von Kommunikation. Das mag Nonoschon den Vorwurf des Utopi sten und Idealisten eintragen. Hier gilt es auch, über Nono hinaus und weiter zu gehen. Trotz dem und gerade als idealistisches Bekenntnis hat Nonos Musik an Brisanz des musikalischen Ausdrucks bis heute alles andere hinter sich gelassen. Solange man solchem Idealismus und der von ihm getriebenen Intensität kein anderes Äquivalent entgegenzuhalten vermag als Gleich gültigkeit oder opportunistisch-demagogische Spekulation, wird Musik - ob als Sprache oder als Materialpr ozeß verstanden - unter dem Nivea u des von Nono gestellten Anspruchs bleiben. Die junge Generation, will sie aus der gegenwärtigen Stagnation herausfinden, wird kaum um eine neue Auseinandersetzung mit dem Phänomen Nono herum kommen. Was er sie le hren kann, ist: daß es keinen glaubwürdigen Weg für die Musik ohne eine aufgeklärte Kompositi onstechnik, daß es zugleich aber kein aufgeklärtes Komponieren geben kann ohne die Veran kerung Gesinnung, die übers bloße hinausreicht, und daßineseiner nichtverantwortungsvollen geht ohne den Willen und die Bereitschaft, für Musikmachen solche Gesinnung mit seiner ganzen Existenz einzustehen. 1973

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Über Schönberg Respekt vor seiner Musik hat sich Schönberg für uns heute vor allem durch seine frühen Aus brüche aus dem Tonalen, von der Kammersymphonie op. 9 bis zur Erwartung und zum Pierrot lunaire gesichert: durch die Werke also, welche ursprünglich neben Wut und Aufregung vor allem eine besondere Art Angst hervorgerufen haben, Angst vor einer Rücksichtslosigkeit, die vor keiner Tabu-Verletzung zurückzuschrecken schien. Gegenüber dem Zwölfton-Schaffen hingegen weiß sich solch emotionales Verhalten fehl am Platz. An seine Stelle ist heute eine besondere Art Verlegenheit getreten, Produkt jenes typischen Mißverständnisses, welches in der Kunst keine unaufgelösten Widersprüche duldet, sie notfalls ignorieren möchte, und sich an das klammert, was als mit sich selbst Identisches zur Identifikation einlädt, und sei es als Neo- oder Anti-Kunst. Die Musik Strawinskys entsprach in ihrer Oberfläche solchen Erwartungen, auf andere Weise auch diejenige Hindemiths und Bartöks, selbst das Schaffen Bergs und Weberns fand in diesem Sinn vorläufige Wege der Vermittlung, von den akustischen Dekors einer etablierten Avantgarde ganz zu schweigen. Die Zwölftonmusik Schönbergs klingt wie Erbrochenes für diejenigen, welche Stimmigkeit des Materials in ein neues Musikdenken hinüberretten wollen. Sie vollzieht mit gebrochenem Rückgrat altgediente philharmonische Rituale und provoziert so im Hörer ästhetische Schi zophrenie. Traditionelle Formen, tonal orientierte Gestik, musikantische Emphase, durch Zwölfton-Regeln verspannt und entkräftet: „Hier kann man sie noch erblicken, feingeschrotet und in Stücken". Gerade als so verkrüppelte und entstellte lädt diese Musik immer noch zur Verbrüderung ein. Solche Provokation, das Ernsteste und Zynischste seit der Achten Mahlers, ist nicht erträglich. Die Gesellschaft, außerstande, dieser trostlosen Musik und ihrem Wahr heitsanspruch standzuhalten, hat schon ihre Techniken, sich ihr zu entziehen: Wahrheit lang weilt, damit sie nicht beunruhigt. Kunst für unsere Gesellschaft ist Medium von Identifikation. Widersprüche sollen nicht begriffen, sondern rezensiert werden. Man hat im ästhetischen Bereich das Umdenken lange genug praktiziert und zieht nun das alte beliebte Spiel der Selbstbestätigung durch Kunst an neuem Material auf. Musik möchte ihre ursprünglichen bürgerlich-idealistischen Positionen vergessen. In Schönbergs Musik aber bleibt Forderung Schönheit,des Größe und Wahrheit gerade gescheiterte peinlich frat zenhaftdiebestehen. Dasnach Ausweichen Musikdenkens heute vor als solchen Kriterien, die Flucht der Gesellschaft vor dieser Fratze, in welcher sie sich wiedererkennt, ist dabei, sich zu rächen. Der ästhetische Genuß, in einer pluralistischen Gesellschaft von seinen historischen Auflagen scheinbar entlastet und aus sich selbst heraus neu bestimmt, profitiert zunächst noch von dem Moment des Antithetischen, dann aber löst er sich, nutzlos, überflüssig, in nichts auf. Geist, als virtuose Anlage des menschlichen Bewußtseins, muß sich, um nicht geistlos zu werden, eben doch in die Gefahr gesellschaftlicher Verbindlichkeiten begeben. Die Stagnation des Kompo nierens heute ist die Folge einer geistigen Atropie durch bequemes Verharren in ästhetizistischen Scheinproblemen und durch Ausweichen in vordergründige Scheinkonflikte. Für ein Gesellschaftsbewußtsein, welches so mit dem alten Kunstbegriff jongliert, um zu vertuschen, daß er ihm im Grunde überflüssig geworden ist, ist Schönberg tot. Tote aber leben länger. Das Angebot der Musik Schönbergs, ihre aktuelle Neubestimmung des Schönheitsbegriffs, liegt genau dort, wo die Kunst nochmals ihren bürgerlichen Wahr heitsanspruch beim Wort nimmt. Von der Faszination des erkalteten und erkaltenden tonalen Materials bleibt dabei nichts übrig als zum Selbstzweck geronnene satztechnische Anstren261

gung. Phantasie, Vitalität, Expressivität, Mut zum Schockierenden: Schönberg hat das einst mehr bewiesen als alle anderen. Sie waren ihm nie Tugenden um ihrer selbst willen. So hat er sie nun rücksichtslos temperiert und entschärft. Neuen Kategorien des Materials hat er zugleich den Zutritt verstellt. Die Klangfarbenmelodie blieb ein futuristisches Gedanken spiel, nichts weiter. Jene verabsolutierte satztechnische Anstrengung aber bedeutet mehr, als zum Manierismus erstarrte zwölftönige Frustration. Sie weiß um ihren Widerspruch und fordert eine charakter liche Anstrengung des Hörens: nicht masochistische Toleranz oder gescheites Stirnrunzeln, sondern das reflektierte Ausharren im Widerspruch. Denn gerade auf diesen ausgehaltenen Widerspruch gründet sich, sozusagen als dessen Kehrseite, ein Erlebnis totaler Durchsichtigkeit des klingenden Stoffs, wie es nirgends als nur im Zwölftonwerk Schönbergs möglich ist. Strukturelle Transparenz war ein altes unerreichba res, weil widersprüchliches, Ziel der Komponisten. In der Polyphonie Bachs noch am ehesten erfahrbar, war sie auch dort gefährdet durch die vertikale Integration in die Formeln der Generalbaß-Harmonik, die für öffentliche Ordnung und harmonische Stimmigkeit sorgte. Sol che tonale Ordnung kündigt Schönberg, ohne ihre Elemente zu verleugnen, mit jedem einzel nen Ton von neuem auf. Das expressive Resultat ist Trostlosigkeit, das strukturelle Resultat ist verdächtig klare Durchhörbarkeit eines sonst in harmonisch gewärmter Schummrigkeit vertrauten Satzgefüges: ein Material, wohlbekannt und fremd zugleich: der Leichnam der Trösterin Musica als Aufforderung, erwachsen zu werden, los zu kommen von Trost. Trostlose Musik als Absage an Wehleidigkeit. Musik als Abbild dessen was ist, durch Scheitern an dem, was sein soll: Das ist der dialektische Realismus, in welchem Schönberg sie uns vorstellt. Mehr als dem Hörer kann Schönberg auch dem Komponisten von heute nicht bedeuten. Was soll man noch von ihm lernen? Was er an Material und Methode erschlossen hat, hat er zugleich wieder verschlossen; es bleibt stilistisch und expressiv an sein Idiom gebunden. Die Komplexität seiner Kompositi onstechnik ist in ihrer Manieriertheit zugleich ihre Armut. Daran sich anlehnen, wie er selbst es an Brahms, Mozart, Bach und Beethoven tat, könnte nur sinnentleerte Verdinglichung be deuten. Der Welt im Ästhetischen, zu deren Erschließung er moralische Kräfte allenthalben bei Schülern und Zeitgenossen mobilisiert hat, gehört seine Musik nicht an. So hat er für Kompo nisten augenscheinlich die Aktualität und Patina eines Klassikers. Von Klassikern zu lernen, ist ohnehin Kunst für sich. Leichter ist es, sie Bei als Tote zurechtallerdings zu verehren, alsauch in sich vollen dete undeine für uns ungenügende Erscheinungen. Schönberg bleibt dann noch ein Widerhaken, der uns wurmt: Ein Kriterium des Scheiterns, um das wir ihn bemitleiden, oder ihn beneiden. 1974

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Mahler - eine Herausforderung Antworten auf fünf Fragen

Die weltumspannende Mahler-Rezeption der letzten Jahre läßt an die (wenn auch nur biogra phisch übermittelte) Prophetie Mahlers erinnern: „Meine Zeit wird kommen". Lassen sich Gründe für diese plötzliche kollektive Empfänglichkeit gegenüber der Musik Mahlers nennen ? Mahlers Zeit ist gekommen: als Ware, als neuer Kulturfetisch, als Vaterfigur vom Dienst, mit den dazugehörigen publizistischen Ehren. Übrigens nichts gegen solche Begeisterung, wenn sie der Gesellschaft das Phänomen so umfassend zugänglich macht wie in diesem Fall. Sie be deutet auch als Mode einen Fortschritt. Aber ich bezweifle, ob diese Situation Mahlers pro phetischem Wort, wenn es optimistisch gemeint war, gerecht wird. Erst wäre zu untersuchen, wieviel das neuerliche Einverständnis mit Mahlers Musik - gerade jetzt - über ihr Verständnis aussagt, und wieweit unsere Rezeption von Musik und unser Denken überhaupt dadurch be einflußt worden ist; zu untersuchen wäre, wieweit sich Mahler gegen die einst ihm feindlich ge sinnten Erwartungen des bürgerlichen Hörens durchgesetzt beziehungsweise wieweit sich die ses in bewährt tödlic her Umarmung der Mahlerschen Klangwelt bemächtigt, sie integriert hat. Wer Mahler schon früher entdeckt und geliebt hat, dem wird trotz aller Genugtuung beklom men zumute beim Anblick der Wogen, auf welchen das Schaffen Mahlers heute getragen wird: „Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück ..."? Irgendwann, wenn nicht schon jetzt, wird es unumgänglich sein, Mahler gegen seine Lieb haber zu verteidigen. Dabei wäre es lächerlich und unrealistisch, die Vermarktung Mahlers zu bejammern. Sie ist die unvermeidliche und selbstverständliche Kehrseite dessen, was wir hier „Rezeption" nennen und besagt, für sich genommen, nichts. Tatsache aber scheint mir, daß das alte Mißverständnis der Gesellschaft von Kunst als Medium emotionaler Geborgenheit hier sich auf verdächtige Weise mit einem bislang gemiedenen, weil widerborstigen Phänomen arrangiert hat. So wäre auch zu untersuchen, wieso Mahler nach dem Krieg bei uns so lange sich jener gesellschaftlichen Umarmung hat entziehen können - im Gegensatz zu Amerika und England, wo er seinen Platz neben Sibelius längst innehatte -, und welche Prozesse den Um schwung herbeiführten. Zu untersuchen wäre schließlich innerhalb AvantgardeTendenzen zu Mahlerinimihm Zuge einer Pseudo-Fortschrittlichkeit, diediezurWendung Bemäntelung ihrerderregressiven einen vermeintlichen Bürgen sah, nachdem Schönberg ihr zum schlechten Gewissen geworden war. Natürlich bin ich außerstande, diesen Fragen und Aspekten hier nachzugehen. Interessant ist mir, wie die Mahler-Verehrung immer wieder ein ausgesprochen und hemmungslos ein gestande n Genießerisches mit einem scheinbar ungeheuer „Verantwortli chen" verbindet, wobei das eine jeweils zur Würze des anderen wird. Man gefällt sich in Mahler und man bemitleidet sich in ihm. Man spricht von seinen Symphonien im Tonfall des aufgeklärten Feinschmeckers (ich erinnere mich, 1963 in Darmstadt, an den Vergleich Ligetis von Stellen bei Mahler mit jener leicht verdorbenen Sahne, die gerade deshalb unglaublich köstlich schmecke); zugleich aber bedeutet das Mahler-Erlebnis die beliebte Fahrt auf der Geisterbahn bürgerlicher Seelenzustände: So wird es zum doppelten Abenteuer des Klangs und der darin gespiegelten Empfindun gen: Verzweiflung und Trost, Überdruß und Weltentrückung, Katastrophe und abgeklärte Resi gnation. Die Selbsterkenntnis des Individuums als gefährde tes wird im überhöhenden Medium des Tonalen emphatisch fehlgeleitet und zur selbstgefälligen Heroisierung zurechtgestutzt. 263

Die Ware, um die es hier geht, heißt Intensität. Die innere Auseinandersetzung, um deren Niederschlag es sich dabei handelt, findet - bei aller zugestandenen Aktualität - wie in einem Film, fern vom Publikum, auf der Leinwand statt. Das Moment des „Verantwortlichen", „Auf geklärten" wird zu einer besonderen Form des Genusses. Solche Mahler-Gastronomie scheint mir nichts anderes als Verlegenheit und Unfähigkeit, der Mahlerschen Wahrheit ins Auge zu schauen. Dies eben wäre nachzuweisen an der Rolle des Kulturkonsums heute, und nicht zuletzt in der Untersuchung des Zeitpunktes, an dem sich dieser Konsum auf Mahler besann, das heißt, an dem sich die Gesellschaft immun wußte gegen den Stachel in dieser Musik und der Stich zum Reiz werden konnte. „Seit Mozart, Schubert und Mahler weiß man auch in der Musik das Fleisch des in Todes angst gehetzten Tieres als besonderen Leckerbissen zu schätzen", schrieb ich 1973; offenbar muß es aber immer noch eine Weile lagern. Solcher Genuß Mahlerscher Musik ist umgeleitete Angst, Unbehagen an sich selbst und schlechtes Gewissen vor der Verantwo rtung des überführten falsch en Bewußtseins. Dies ist die Art der Gesellschaft, sich ihrer Herausforderungen zu erwehren, und ich würde mich nicht wundern, wenn sich Mahler für den von apokalyptischen Bedrohungen geschreckten Klein bürger des auslaufenden zwanzig sten Jahrhunder ts, der nicht mehr aus seiner Haut heraus kann, als das entpuppen würde, was einst Richard Wagner für den Führer des Tausendjährigen Rei ches vor seinem Zusammenbruch war: der heroische Sand - oder im Falle Mahlers: die tröst lich verdorbene Sahne, in die hinein es den Kopf zu stecken gilt. So sehe ich in der augen blicklichen Mahler-Rezeption wohl einen Schritt im Erkenntnisprozeß der Gesellschaft, aber zugleich eine Abwehrmaßnahme gegen dessen implizite Konsequenzen, eine Flucht ins ästhe tische Paradigma, wo dieses Abklärung und Erlösung in einer anderen Welt zu versprechen scheint. 81

Die Mahler-Rezeption hat insbesondere in den deutschsprachigen Ländern spezifische Impulse durch die Exegese Theodor W. Adornos erfahren. Besonders das Moment der ästhetischen Negation steht immer wieder im Blickfeld seiner Werkanalysen. Sehen Sie in diesem Ansatz einen entscheidenden Impetus, der möglicherweise auch auf die Rezeption der Neuen Musik weiterwirken könnte? Gerade an der Haltung zur Neuen Musik läßt sich die Probe aufs Exempel machen, was die Glaubwürdigkeit der gegenwärtigen Mahler-Nachfolge angeht. Ästhetische Negation: Die vorhandene oder fehlende Einsicht in ihre Bedeutung charakterisiert in der Tat das Verhältnis unseres Publikums zur Neuen Musik ; und nicht jene primitiven Positivismen, wie sie heute von schnellwendigen Schulmeistern in die Musikerziehung eingeschleust worden sind unter offe ner oder heimlicher Berufung auf ein paar publikumswirksamere und scheinbar griffigere Werke der frühen sechziger Jahre: Zugang zur Neuen Musik anhand von Parametermessungen, fein säuberlich abgesteckten Tonhöhen- und Zeiträumen, lustig gerasterten Klangfeldern und Geräuschvergleichen, die in der Ästhetisierung von Alltagskategorien ein neues Klangparadies eröffnen sollen. (Die eigentliche histor ische Funktion jener Kategorien in den fünfziger Jahren - die Totalisierung des Reihendenkens in der Abwehr gegen tonale Rückschläge - wird unter schlagen: als Mittel ästhetischer Negation paßt sie nicht ins Konzept.) Dies ist der bequemste Zugang zur Neuen Musik, der seinen verspätet erwachten Helden viele geistige Anstrengungen erspart, indem er querfeldein dort zum fröhlichen Improvisieren und friedlichen Vermessen einlädt, wo eine in gesellschaftlichen Konflikten und inneren Widersprüchen gebeutelte Kunst jeweils gerade ihr Notlager aufgeschlagen hat; ein Zugang, der sich folgerichtig auch an den 264

Werken der Seriellen, der Schönbergschen Dodekaphonie und an all dem vorbeidrückt, was den eigentlichen kommunikativen Konflikt in der Neuen Musik, in der Wiener Schule, im Cageschen Ansatz, auch in der Musik Mahlers, ja in der Geschichte der musikalischen Kunst überhaupt ausmacht. Solchem Schwachsinn, dem unsere Schuljugend heute schon weithin aus geliefert ist, wenn sie nicht auf der anderen Seite Mahler allenfalls als ehrwürdigen Rhapsoden vorgeführt kriegen will, kann tatsächlich nur das Insistieren auf dem Prinzip der ästhetischen Negation entgegenwirken, so wie es sich bei Mahler fortwährend neu legitimiert: Kunst als Ne gation der geltenden Normen, als Verweigerung von bruchloser Kommunikation, Verweige rung, die zugleich verschüttete Kategorien freilegt als neue ästhetisch-expressive und gesell schaftlich verbindliche Erfahrung. Beide Aspekte, die Verweigerung und das durch deren Konsequenz erzwungene ästhetische Angebot, gehören streng zusammen, das eine gibt dem anderen die gesellschaftliche Wahrheit und die humane Glaubwürdigkeit. Denn auch ästhetische Negation, wie immer verwirklicht, ist vor Verdinglichung nicht geschützt. Sie hat schon des öfteren sich von einem modernistischen Ornamentaldenken einholen lassen müssen. Wir können uns kompositionstechnisch heute nicht einfach an der Praxis Mahlers orientieren. Das Weltbild, gegenüber welchem das bürger liche Denken um sein Überleben kämpft, hat sich in allen Dimensionen verändert, und die musikalischen Erscheinungen haben darin heute fundamental andere Verbindlichkeit für den Hörer als zur Zeit Mahlers. Ästhetische Negation heute, ohne die automatische Hinwendung zu einem neuen Materialbegriff, klammert sich hilflos und sinnlos zugleich an dem fest, was sie zu überwinden vorgibt. Frommer Selbstbetrug in diesem Sinn hat gerade in den so oft gefeier ten sechziger Jahren die Entwicklung der Neuen Musik weniger beflügelt als weithin korrum piert. „Es gehört zu den Manövern des bürgerlichen Selbsterhaltungstriebs, mit der Gefährdung seiner Tabus zu spielen, um den daraus gewonnenen Reiz gerade wieder diesen Tabus gutzu schreiben und sich so seines intakten Bewußtseins zu vergewissern. Solcher - möglicherweise unbewußten - Taktik des bürgerlichen Kulturbetriebs ist es auch zu verdanken, daß wir heute so etwas wie eine .etablierte Avantgarde' haben." 82

Diese meine Sätze treffen, so wie auf die Situation der Neuen Musik, auch auf die Rezeption des etablierten Mahler zu. Kunst, als Widerstand gegen blind herrschende Normen begriffen, muß eben, um glaubwürdig zu sein, ihre eigenen Normen des Widerstands immer wieder über prüfen. Auch dialektische Verfahrensweisen, wie gerade die der ästhetischen Negation bei Mahler und bei allen, die vor ihm und nach ihm kamen, müssen ihrerseits dialektisch gesehen und gehandhabt werden: Nie dürfen wir die jeweilige Situation, Adorno würde sagen: die Totalität, aus dem Auge lassen.

Adorno schrieb in seiner Mahler-Biographie: „Mahlers Symphonik plädiert gegen den Welt lauf. Sie ahmt ihn nach, um ihn zu verklagen: Die Augenblicke, da sie ihn durchbricht, sind zu gleich die des Einspruchs. Nirgends verkleistert sie den Bruch von Subjekt und Objekt; lieber zerbricht sie selber, denn daß sie Versöhnung als gelungen vortäuschte. " Ist jenes Moment des „Scheiterns" ein im Hinblick auf die aktuelle ästhetische Situation möglicherweise paradigmatischer Vorgang? Ich glaube nicht an eine paradigmatische Funktion von Kunst. Die gesellschaftliche Situation als Zwischenprodukt eines Weltlaufs, gegen den Mahlers Musik Aus - vergeblich Einspruch erhebt, ist heute wie damals von restaurativen Kräften beherrscht. Mahlers -Musik geht indes deutlich hervor, in wessen Namen er Einspruch erhebt: im Namen eben jener bürger lichen Ideale, deren ästhetische Verdinglichung er abbildet und entlarvt, um die Wahrheit die-

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ser Werte als von der Gesellschaft verratene transparent zu machen. So bleibt der Widerspruch, den Mahlers Musik abbildet, in seiner Musik selbst h aften, und es gehört zu seinem Denken (als zu einem ins zwanzigste Jahrhundert hineinreichenden Denken des an seinen Idealen gehin derten neunzehnten Jahrhunderts), daß es den Bruch zwischen Subjekt und Objekt permanent offenkundig macht, gerade indem es ihn verkleistern möchte, verkleistern mit metaphysisch orientierten Empfindungen wie Glaube, Trost, Wehmut des Abschieds, pantheistischen Idyllen, emphatisch verklärter Resignation und jener Ironie, die von all dem zehrt. Mahlers unerhörte Tat, sein erfüllte „Mysterium", warVerkleisterung die künstlerisch und in jedem von noch subjektivem schlechte Glauben dort,vermittelte wo dem Nihilisten RichardTon Strauss die ele ganteste „Verklärung" glückte, der tröstlose, schlechte Trost, zu dessen Entlarvung die von Adorno gemeinten Momente des Einspruchs nur einen Teil des Schlüssels liefern konnten, des Schlüssels nur zu den Aspekten nämlich, die Mahler selbst bewußt waren und die lange nicht das Spektrum dessen ausmachten, was uns der Widerspruch in seiner Musik heute bedeutet. Verkleisterung und falsche Versöhnung dennoch also, trotz Adornos gegenteiliger Feststel lung, die mir vorkommt wie ein „qui excuse, accuse". Eine Verkleisterung aber, der die Angst und der Überdruß und die Einsicht in die eigene Unwahrheit und die verzweifelte Sehnsucht nach der Wahrheit aus allen Ritzen schaut. Darin liegt für mich die Wahrheit der Musik Mah lers und die seines Scheiterns. Ich sehe in Mahler nicht einen prophetischen Vermittler revolu tionärer Einsichten. Er hat schließlich mit aller Inbrunst „geglaubt", und die Bedeutung und Wucht seines Scheiterns mißt sich gerade an der Kraft und Unbeirrbarkeit seines Glaubens. Daß seine Kunst seinen Glauben ad absurdum geführt hatte, war eine Konsequenz seines „Ich komponiere nicht, ich werde komponiert!", aber gerade dort, im „quia absurdum", hat sich der Glaube im Diesseits bekanntlich zu bewähren. Mahler also nicht prophetischer Vermittler - hier gilt es scharf zu unterscheiden -, sondern seine Musik aktueller Spiegel solchen des Scheiterns überführten Glaubens, und als solcher prophetischer und hellsichtiger als das Subjekt, das in ihr handelt. Es ist an uns, was wir aus der Erfahrung des Scheiterns für Schlüsse und Konsequenzen zu ziehen bereit sind. Ich habe wenig Vertrauen in unsere Gegenwart. Sie ist dabei, als letzte respektable bürgerliche Tugend auch noch die rationale Einsicht in die eigene Hinfälligkeit irrational zu verkleistern und zu verraten, indem sie ihr Scheitern glorifiziert und sich an der eigenen Gebrechlichkeit ergötzt. Sie wird sich ihren eigenen Untergang noch als Heldentod vorweg vom Meistbietenden honorieren las sen. Übrigens wäre in diesem Zusammenhang zu fragen: Wo haben wir eigentlich Schubert gelassen? Meinen wir, irgend etwas an ihm wiedergutgemacht zu haben dadurch, daß wir ihn zum unsterblichen Genie ernannt und als solches in die Kloaken der gehobenen Unterhal tungsindustrie entlassen haben? Gewiß liefert er nicht die opulente Kulisse für das Ende einer Gesellschaft, an der er vielleicht realistischer und prophetischer gelitten hat als selbst Mahler. So schön wie Mahler scheitert er nicht. Aber sehen wir nicht den Verrat an ihm und damit wohl jetzt schon den neuerlichen Verrat an Mahler? Mußte uns Mahler mit Holzhammer und Rute dialektisches Hören beibringen, damit wir ihn zum Grökaz küren und unsere Musentempel wieder etwas zum Räuchern haben? Dabei halte ich das Moment des Scheiterns - und zwar genau so, wie wir es bei Mahler erfahren können - für das wichtigste und produktivste Element einer aktuellen Kunst. Um der Sache die fatale Aura des Heroischen zu nehmen, müßten wir eher von einer Art des charakte ristischen Mißlingens reden, wenn nicht damit neue Mißverständnisse aufkämen: ein Mißlin gen, welches unvermeidlich ist, wo das bürgerliche Denken mit seinen eigenen Mitteln den Weg aus seinem Käfig sucht. Das nämlich ist unsere aktuelle ästhetische Situation. Und ent-

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scheidend ist der Lernprozeß bei diesem Mißlingen: die ständige Rückkopplung mit der Kom munikationspraxis und das konsequente Beharren. Dieser Lernprozeß, als übergreifende ge sellschaftliche Disziplin verstanden, wäre vorderhand schon der gesuchte Ausweg selber. An der Auseinandersetzung mit der Tonalität, als sinnfälligem Medium gesellschaftlicher Erstar rung, habe ich öfter gezeigt, wie solches Scheitern unvermeidlich und zugleich fruchtbar wer den kann, und wie sich in solchen Auseinandersetzungen, wo sie konsequent geführt werden, die Abwehrstoffe so bilden, daß sich das Problem im Prozeß seiner Bewußtmachung löst. Aber die Tonalität ist ein immanentes Teilstück einer allgemeinen Vorformung, welche alle Schich ten unseres gesellschaftlichen Bewußtseins betrifft. Nicht zuletzt an ihrer Haltung zur Kunst geben sich mir jene politischen Programme zu erkennen, die von der Änderung der Gesell schaft reden, und die unfähig sind, ihre eigenen inneren Bindungen an diese zu durchschauen. Kunst auf dem Weg zu einem Selbstverständnis, wie es der alte Lukäcs in seiner Ästhetik for dert, eine Gesellschaft aber als gelehrige und konsequente Schülerin ihres eigenen Scheiterns und nicht bloß ihr selbstgefällig-kokettes Publikum - sie allein wäre Weg und Ausweg.

Der „ Ton" der Mahlerschen Musik betritt nicht zuletzt dadurch Neuland, daß er Fremdkom poniertes, Vorhandenes amalgamiert. Der maliziöse Kritikervorwurfeines „gigantischen sym phonischen Potpourris", trifft er in Wahrheit vielleicht doch den Nerv der Konzeption? Daß Mahlersche Musik als eine Revue von übernommenen Wirkungen und Arrangements erlebt werden kann - wobei allerdings unverdauliche Brocken immer wieder den Spaß beein trächtigen -, ist nicht zu bestreiten. Entdeckungen solcher Anklänge an den „Ton" anderer Musik tragen indes die Gefahr in sich, zum Selbstzweck zu werden. Es wäre ein Verdienst und längst fällig, solche Aspekte dadurch überschaubar und einer vernünftigen Interpretation zugänglich zu machen, daß man in einer - entsprechend dimensionierten - Tabelle soviel wie möglich von jenen konkreten Beziehungen zur gesamten betroffenen musikalischen Tradition und Umgebung zusammenstellt. Dabei ergäbe sich, im Gegensatz zu Strawinsky, nicht ein historisch-stilistisches Kompendium, sondern ein aufschlußreicher Ausschnitt quer durch die Musik aller Gesellschaftsschichten jener Zeit einschließlich der darin gepflegten Traditionen; ein Ausschnitt, der eine in sich geschlossene „Welthaftigkeit" (Lukäcs) darstellt: umfassende Widerspiegelung jener Empfindungswelt, wie sie sich im ausgehenden neunzehnten Jahrhun dert als Zuflucht unbewältigtenRevolutionen Wirklichkeitdieses sedimentiert hatte. (Unbewältigt nichtund nur Resignation im Hinblickvor auf einer die gescheiterten Jahrhunderts, sondern auch auf den industriellen Fortschritt, der dem überlieferten Idealismus auf allen Ebenen den realen Boden entzog: In dieser Vermittlung ist Mahlers Musik heute noch politisch.) Daß der Vorwurf des Potpourris fehlgeht, brauche ich nicht zu beweisen. Vielleicht aber ist er doch zumindest charakteristisch. Denn abgesehen von den offenkundigen Schwierigkeiten des Publikums, die Mahlersche Dialektik von Identifikation und Negation im Trivialen und sti listisch Nachgestellten mitzuvollziehen, verrät er die Unsicherheit gegenüber dem, was in Mahlers Musik den „Zusammenhang" ausmacht. Die Vielfalt der indirekten Zitate, zu denen eben nicht bloß thematische, sondern auch verarbeitende, satztechnische, seltener instrumenta tionstechnische Wendungen gehören, schafft neue Voraussetzungen für das, was man bis dahin in der symphonischen Musik unter Zusammenhang zu verstehen pflegte. Dieser kann sich nicht mehr auf die hergebrachten Formen thematischer Arbeit: harmonisch-melodisch-rhythmische Variation, motivische Erweiterungs-, Verkürzungs- und klassische Liquidationsprozesse stüt zen - wenngleich, was nicht übersehen sei, gerade diese durchführenden Disziplinen bei Mah267

ler quasi beiläufig bis zur letztmöglichen Konsequenz vom plastisch-thematischen Ganzen bis zur Auflösung in rein strukturelle Konstellationen getrieben worden sind (wodurch sie der Gefahr entgehen, in der Reihe der vorgeformten Klischees dem Formwillen sich defensiv zu entziehen ). Ab er gerade dort, wo sich bei Mahler indirekte Zitate aneinanderzureihen scheinen, ich denke zum Beispiel an seine Scherzi und Nachtmusiken, handelt es sich eher um einen er weiterten Begriff der „Durchführung", nicht als Verarbeitung einer thematischen Gestalt, wohl aber als eine Haltung, eine im Ausdruck vermittelte Anschauung, die sich ihrer bewußt wird, indem sie sich immer wieder anders und in immer wieder anderem, scheinbar bekannten, Material spiegelt: eine hoch entwickelte und komplexe Variante dessen, was die Seriellen in ih rer „heroischen" Periode meinten und was Stockhausen seinerzeit so formulierte: „Immer Neues im gleichen Licht" statt „immer dasselbe in ständig neuem Licht". Bei Mahler also bei des und darüber hinaus in vielen Kombinationen: nicht nur Struktur als Resultat von themati scher Auflösung, sondern auch Thematisches, Fertiges, scheinbar Vorgefertigtes in Wirklich keit als Produkt der Kristallisation von frei umhergeschobenen strukturellen Elementen und versprengten Motivres ten. So kehrt sich be i Mahler der klassische Prozeß thematischer Ar beit, wie wir ihn in den Durchführungsteilen bei Beethoven, Brahms und noch im Tristan kennen, nicht nur um, sondern wendet sich von jedem möglichen Stadium aus nach allen Seiten. Mag sein, daß solche Vielfalt von stilistisch zum Teil anrüchigen Kristallisationen manch einem zum Potpourri verdinglichter bürgerlicher Empfindungen werden kann: Auch dieser Begriff ließe sich in die Vieldeutigkeit der Mahlerschen Spiegelungen und in seine „Allianz mit dem Trivia len" (Adorno) integrieren. Entscheidend ist, sich von diesem Spiegel die Augen öffnen zu lassen und um die gesell schaftlichen und ästhetischen Realitäten zu wissen, deren Widerspiegelung die „zerrissene" und zugleich neu erzwungene Form bei Mahler bis in den letzten Pralltriller hinein verpflich tet ist. Als Vorwurf träfe das Wort vom Potpourri Mahler deshalb weniger hart als Richard Strauss, wo es entlarvend wirken könnte. Aufschlußreich auf andere Weise wäre es auch im Zusam menhang mit der Musik Strawinskys, wo historische Sprachmittel, als quasi versteinerte, of fenbar weniger anzüglich wirken als diejenigen bei Mahler, wo sie als nochmals und deutlich letztmals durchglühte erscheinen.

Gibt es Ansatzpunkte, wo sich Ihre eigenen kompositionsästhetischen und kompositionstechni schen Entwicklungen mit Mahlerschen Verfahrensweisen berühren ? Der „Naturlaut" in der Musik Mahlers scheint mir ein Phänomen, dem ich in anderem Zusam menhang und ander er Umgebung nachgegangen bin, denn was ich im Zusammenhang mit Wer ken wie Air, Pression und Kontrakadenz mit der Bezeichnung „instrumentale musique con crete" meinte, scheint mir - nicht so sehr dem konkreten Sachverhalt, als vielmehr der Funk tion nach - ein deutliches Gegenüber zum Mahlerschen „Naturlaut" zu sein. Die Emanzipation des Klangs auf dem Weg über die Seriellen oder die Cage-Schule war durchweg das Resultat von relativ abstrakt konstruktiven beziehungsweise de-konstruktiven Organisationsprinzipien: hier die total angewandte Reihe, dort der total regierende Zufall. Sozusagen an „entsprechen der" Stelle des Schaffensprozesses ergab sich bei Mahler, nämlich in seiner Erfindung, ein bewußt Kunstloses um der Kunst willen. Einem verwandten Zwang zum „kunstlosen" Zugriff, nämlich bei der strukturellen Formung des von mir in Bewegung gesetzten Materials, sah ich mich ausgesetzt, aus diametral entgegengesetzten Gründen: bei Mahler der - möglichst reali stisch eingesetzte - Naturlaut: der Vogelruf, die Glocken, die Signale, die Lieder, die Dur-Moll-

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Empfindsamkeit, die Marschfiguren: eine Welt des Vertrauten, im homogenen Medium seiner symphonischen Sprache überhöht. In meiner Musik die Zurücknahme des emphatischen Gestus, seine Eingliederung als mechanischer Prozeß, die Bewußtmachung der energetischen Bedingungen und die Freilegung des darin gebundenen Ausdrucks: das Holzstückchen, das beim Schlag des großen Hammers wegsplittert, die Saite, die beim „zufahrenden" Auftakt in der dritten Streicherreihe reißt, das unfreiwillige Vibrato des Tubaspielers, dem am Ende der Sechsten vor Anstrengung die Lippen flattern: Sie interessieren und erschüttern mich, und zwar gerade in Beziehung zu dem Prozeß, dem sie entstammen. Sie sind die Kehrseite eines gesell schaftlich getragenen Musters: Sie bewußtmachen bedeutet Unterdrücktes freilegen, ein Prozeß, der lächerlich und kindisch bliebe, so wie die Mahlersche Emphase als gebrochene lächerlich und kindisch bliebe, wenn er nicht wie diese im Widerspruch zum kommunikativen Selbstverständnis der Gesellschaft deren Tabus anrührte. In beiden Fällen eine ästhetische Gratwanderung, und sie scheint mir die einzige, wohl ganz persönlich empfundene, Verwandt schaft mit Mahlers kompositorischer Praxis zu sein. Im übrigen war von all dem schon die Rede, was Mahler als Verpflichtung für uns bedeuten müßte. Berührungspunkte im Sinn der Fragestellung halte ich für undenkbar. Bei Mahler sind Material und subjektiver Ausdruck ge rade durch den Bruch, den er in beidem vollzieht, absolut eins. So tief wir uns in dieser Musik wiedererkennen mögen: Die Geschlossenheit des ästhetischen Phänomens sträubt sich gegen jeden Ausbeutungsversuch. Struktur- und instrumentationstechnische Analysen erbringen einen unerschöpflichen Reichtum von Beobachtungen, sie alle sind aber unlösbar an das Mahlersche Idiom gebunden. Wenn es einen Komponisten gab, der daran anknüpfen konnte, so war dies nicht Berg, trotz der Orchesterstücke op. 6, sondern - Webern. Als Komponist mache ich also sozusagen einen weiten Bogen um Mahler, und genau dies ist meine Fixierung an ihn: Er läßt mir keine Ruhe ... 1975

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Nono, Webern, Mozart, Boulez Text zur Sendereihe „Komponisten machen Programm"

„Hören ist wehrlos ohne Denken." Der Satz, vor Jahren niedergeschrieben, ist mir bei der Vorbereitung dieser Sendung wieder eingefallen. Hören wehrlos ohne Denken? Wehrlos wogegen, und was heißt Denken - wendet sich Musik ans Gehirn oder ans Herz? So gerät man ins tödliche Kauderwelsch kunstphilosophischer Gemeinplätze. Wo das Den ken das Fühlen behindert, ist in Wahrheit beides unterentwickelt. Hören ist wehrlos auch ohne Fühlen. Und es gibt nicht nur gedankenloses Fühlen, nicht nur fühlloses Denken: Es gibt, die Spitzfindigkeit sei gestattet, auch gedankenloses Denken und es gibt fühlloses Fühlen. Musik setzt Fühlen und Denken in Bewegung. Beide kreisen aber um nichts anderes als um unsere tiefsten Sehnsüchte, nach Glück, nach Erkenntnis, nach erfülltem Dasein. Unsere Unterhal tungsindustrie lebt vom billigen Betrug an unseren Gefühlen, der auch ein Betrug an unserem Denken ist. Der Kulturbetrieb hat daran seinen Anteil. Der Rundfunk hat das gedankenlose Hören gefördert. Gegen die berühmte Berieselung wäre indes nichts einzuwenden, wo sie zum konzentrierten Erlebnis würde. Wer beim Hören einer Symphonie den Einsatz des zweiten Themas in Gedanken abhakt, ist kein besserer Hörer, als wer von solcher Numerierung nie etwas gehört hat. Der Betrug, die Gefahr fangen dort an, wo die Musik die Rolle einer Zimmerheizung zugewiesen bekommt, die ihre Aufgabe dann am besten erfüllt, wenn sie für gleichmäßiges, temperiertes Wohlbefinden sorgt, ohne weiter aufzufallen. Dies ist der Zustand fühllosen Fühlens. Der Rundfunk hat aber auch eine Möglichkeit konzentriertesten Hörens geschaffen, wie sie der Konzertsaal, wo Äußerliches die Aufmerksamkeit zusätzlich beschäftigt, kaum bieten kann, auch nicht bieten muß, denn Musik war zu keiner Zeit bloß Hörobjekt, sondern immer auch gesellschaftliches Ereignis. Und eben dies ist das Spannungsfeld, in welchem sich das Musikerlebnis und die Musik selbst abspielen: das Spannungsfeld zwischen Innerlichkeit und Öffentlichkeit. Es sind zwei ungleiche Instanzen, und mit tausend Mitteln durchdringt, beherrscht und manipuliert die Öffentlichkeit unsere Innerlichkeit, macht den Betrug an unserem Fühlen und Denken zu unserem Selbstbetrug: Wir fühlen und denken, was wir fühlen und denken sollen. Unser Hören ist wehrlos, solange wir nicht die Kräfte spüren und nutzen, die umgekehrt aus unserer Innerlichkeit in die Öffentlichkeit dringen, diese durchdringen, in ihre Maschinerie eingreifen. Diese Kräfte in der Kunst und in uns bewußt zu machen: Das ist die Aufgabe jenes Denkens, womit sich das gegängelte Hören zur Wehr setzt. Die musikalischen Mittel, Klänge, Rhythmen, Harmonien, das musikalische Instrumenta rium im weitesten Sinn: Sie sind Requisiten der Öffentlichkeit, gehören zum Mobiliar des Kulturbetriebs, egal ob es sich um Singstimmen, Schlagzeugklänge, Streichquartett oder den symphonischen Orchesterapparat handelt. Alles nimmt seinen typischen zentralen oder peri pheren Platz im öffentlichen philharmonischen Weltbild ein als Sprachmittel einer standardi sierten und ästhetisch kodifizierten Innerlichkeit - so wie sie momentan meistbietend auf der Kulturbörse gehandelt wird. Fluktuationen der Mode zwischen barocken Trompetenkonzerten und spätromantischen Seelenmassagen kennzeichnen nur die Elastizit ät dieses Weltbi ldes, wel ches so erst recht vorm jähen Einstürzen geschützt ist.

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Durch diese etablierte Welt öffentlich verwalteter Innerlichkeit, öffentlich anerkannter Schönheit, muß Kunst im Auftrag des nicht verwaltbaren Ichs, im Namen einer von tieferer Realität geprägten Innerlichkeit hindurch. Innerlichkeit, die sich musikalisch ausdrückt, muß sich anhand der öffentlich bereits verwalteten musikalischen Mittel mit dieser Öffentlichkeit auseinandersetzen, auf die Gefahr von Konflikten dort, wo die Gesellschaft Harmonie erwar tet. Hören heißt dann: sich dieser Auseinandersetzung im Werk bewußt werden, heißt die Bedingungen, aus denen sich diese Auseinandersetzung ergibt, reflektieren. Hören darf sich niemals mit der Wirkung der Musik, positiv oder negativ, abfinden, sondern muß nach den Zusammenhängen fragen, muß versuchen, die wirkenden Kräfte der Öffentlichkeit und der Innerlichkeit in ihrer besonderen Spannung zueinander zu erkennen. Ein Kunstgenuß, der die sen Prozeß umgeht, ist Verrat an der Kunst. Im Namen eines blinden Kunstgenusses hat die Gesellschaft sich fast an all denen schuldig gemacht, denen sie später Denkmäler setzte, und auf die sie sich heute beruft, wenn es wieder darum geht, sich gegen Verunsicherung dumm zu stellen. Den Wortführern dieser Gesellschaft als den wahren geistigen „Umweltverschmutzern" zum Trotz gilt, daß Schönheit, wenn sie übers behagliche Sichvergewissern dessen, was einem wohlbekannt und lieb geworden ist, hinaus etwas mit Intensität im Auftrag einer befreiten Innerlichkeit zu tun hat, nichts anderes bedeuten kann als Verweigerung des Gewohnten um des individuellen Angebots willen. Luigi Nonos Komposition für 24 Chorstimmen, 2 Soli und Instrumente mit dem Titel La terra e la compagna, 1957 entstand en, ist ein Beispiel jen er strukturell-ser iellen Musik, die als scheinbar trostlose Algebra immer wieder zur öffentlichen Zielscheibe der Verachtung und Mißdeutung geworden ist. „Strukturell" bedeutet hier, daß auch jene Eigenschaften der klin genden Materie bewußt kontrolliert und nach rationalen Baugesetzen geordnet sind, die in der konventionellen Musikvorstellung aus der Selbstverständlichkeit des Musizierens sich erga ben. Klangfarbe, Lautstärke und Agogik der melodisch-rhythmischen Gestalten waren eher Artikulationsmittel und keineswegs primäre Eigenschaften der kompositorischen Substanz. Die Ordnungsprinzipien der seriellen Musik erfaßten aber auch und gerade diese Komponen ten der klingenden Materie und veränderten so von Grund auf den Materialbegriff der Musik. Als punktuell traten für nunsiedieaufgestellt real klingenden Eigenschaften aufgrund zusammen, diegesteuerte der Komponist hatte, bildeten „Strukturen", das der heißtRegeln Kon stellationen von einander zeitlich und räumlich ferner oder näher stehenden akustisch bestimmten Klangerscheinungen. Strukturelle Musik hören, bedeutet also nicht mehr, melodi sche und rhythmische Gestalten mitvollziehen, sondern die klingende Gegenwart dieser Kon stellationen mit den Hörnerven quasi abtasten und so die äußeren und inneren, die formalen und expressiven Zusammenhänge er-schließen. Bei Nono teilt sich das resultierende Klanggefüge über alle Punktualität hinweg als lebendig atmendes, hoch expressives Gebilde mit. Radikaler als seine Zeitgenossen hatte Nono in seinen seriellen Werken jeglichen linearen, ans Tonale gemahnenden Gestus ausgesperrt und - im übertragenen Sinn - an die Stelle des vorgeprägten „Worts" den reinen „Laut" gesetzt. Aber gerade durch diese radikal punktuelle Handhabung hat Nono im verbliebenen Einzelton, als einer Art lapidarer Nachricht von in sich disziplinierter schwingender Materie, eine eigenartig naturhafte und zugleich menschliche Feierlichkeit frei gelegt - ein Pathos, welches nichts mit jener bürgerlichen Pafhetik gemein hat, die wir oft eher peinlich empfinden, weil die expressiven Wendungen, in denen sie sich mitteilt, zu Klischees geworden sind. 271

Das Nonosche Pathos steht dagegen in direktem Zusammenhang mit seiner radikalen Aus sperrung solch konventioneller Gestik. Musikantische Spontaneität gibt es in seiner Musik nicht. Desto elementarer teilt sich in seiner Musik eine archaische Aura der klingenden Ele mente mit: die im gesungenen Ton erhobene menschliche Stimme, die Magie des auf mensch lichen Befehl schwingenden Metalls als emphatischer Ausdruck eines diesseitsbezogenen Ide alismus, einer quasi pantheistischen Komponente im eigenwillig humanistischen Denken des italienischen Kommunisten Nono.

e laErde, compagna In La terra sind besingt zwei Texte ineinanderkomponiert: Der eineEin Artdrit Lie besgedicht an die der andere die Geliebte, vergleicht diese miteine derist Erde. ter Text handelt vom vergossenen Blut der Partisanen im Kampf um die geliebte Erde. Der Dichter ist Cesare Pavese. Der erste Teil des achtminütigen Werks ist eine großzügig schwin gende Struktur aus Singstimmen, schattiert durch den Klangkontrast von acht Becken und vier Tamtams: Gegensatz und Verbindung von Geliebter und Erde. Beide Klangebenen werden im zweiten Teil vermittelt durch das Zusammenwirken von Solostimme, Glocken und Vibraphon. Hinzutretende Bläser haben ebenso vokalen wie die Stimmen instrumentalen Anteil. Die vokalen Einsätze werden schließlich überspült und aufgeschluckt von Strukturen aus Beckenund Tamtamklängen, die bis zum Schluß dominieren. Kurz vor Schluß brechen zum einzigen Mal in kompakterem Satz die Bläser daraus hervor, deutlich zugleich als Fanfare und ins Instrumentale verwandelte, quasi erzgewordene Menschenstimmen. Hören Sie La terra e la compagna für Sopran- und Tenor-Solo, Chor und Instrumente von Luigi Nono. Daß die strukturelle Komponierweise Nonos auf Anton Webern zurückgeht, ist bekannt. Mag die Behauptung vom pantheistischen Einschlag in der Musik Nonos etwas verwegen klingen: Sie leuchtet auf jeden Fall ein bei Webern, der sich von Goethes Farbenlehre inspirieren ließ, und dessen Satztechnik von minuziös ausgezirkelten Symmetrien und bis in die letzte Nuance von strengsten Ordnungsbeziehungen geprägt ist. Satztechnische Strenge sind wir gewohnt zu respektieren als maßvolles Beherrschen des Ausdrucks, als Korrektiv eines offenbar suspekten hemmungslosen Subjektivismus. Wir ver raten in solcher Vorsicht allerdings auch den gespaltenen Bürger, der seinen tiefinnersten Re gungen und Reflexen selbst nicht mehr traut, sie kaum mehr für salonfähig hält und ihnen ästhetischen Reiz erst dann zuspricht, wenn das richtige akademische Maß darin waltet. Die satztechnische Strenge der Musik Weberns dient nicht dem Maß, sondern eher der Maßlosig keit eines Ausdrucks, der keine Worte mehr findet. Für mich ist Webern der wahre Erbe Gustav Mahlers. Aus den weitgespannten symphonischen Entwicklungen der Mahlerschen Seelen gemälde destilliert Webern naturhafte Gesetzmäßigkeiten und formuliert sie auf knappstem Raum, als reine Struktur. Das bei Mahler sich aufbäumende und resignierende Ich tastet bei Webern zurück nach seinem Es. Diesem „anderen Planeten", dessen Luft Schönberg spürte, hat Webern sich konsequent und nüchtern genähert. So blickt seine Musik gewissermaßen aus der Vogelperspektive auf die alte Landschaft der tonalen Musiksprache. Deren Extreme rücken vor allem in seinen frühen Instrumentalwerken zusammen wie auf einer Erdkarte. So verstehe ich Adornos Wort vom Webernschen Pianissimo als dem aus der Ferne herüberwehenden Fortissimo Mahlers. Und in diesem Sinn empfinde ich die Webernschen Sechs Bagatellen für Streich

quartett als sechs Riesenwerke von jeweils wenigen Sekunden Dauer. In der ersten Bagatelle ist der Beginn von einer Anordnung bestimmt, welche die neue Spannweite des Webernschen Materialbegriffs zu vermitteln scheint: von den ersten drei punk272

tuell in sich ruhenden Einzeltönen, über drei lineare Ansätze von zunehmend melodischer Spannung, vorbei an einer verloren dastehenden Ostinato-Drehfigur, die nichts mehr zu begleiten hat, bis hin zum vollständigen Satzgebilde eines wenn auch im Ritardando schon wieder zerdehnten Walzertaktes mit Auftakt und typischer Vorhaltswendung über dem nach schlagenden Begleitakkord aus Sext-Doppelgriffen: Ruine und zugleich Kondensat eines in strukturellem Licht noch einmal angeleuchteten traditionellen Musikbegriffs. Die Struktur greift gleichsam blind darüber hinweg, hat im nächsten Takt alle vsrcen Andeutungen schein bar weit hinter sich gelassen und vergessen. Der kompositorische Zugriff orientiert sich nicht an der Expressivität der Gestalten, sondern bemächtigt sich ihrer Partikel, streift das Bekannte so beiläufig wie das Unbekannte. Die Vorhaltswendung der Walzerfigur kehrt am Schluß punk tuell zerbrochen in zwei isolierten Einzeltönen rückläufig wieder, die Doppelgriffe seines Begleitakkords haben die Drehwendung der Ostinato-Figur als melodischen Antrieb aufge nommen. In allem wirkt das große Sekund-Intervall als verbindendes Ferment. Bewußt mitvollziehen läßt sich solche Dichte kaum. Unsere Wahrnehmungsapparatur ist an ders programmiert. Unser Bewußtsein registriert nicht, aber es reagiert. Es erfährt die ihm ver trauten Wendungen jetzt als deformierte in einer überexpressiven Zusammenhangslosigkeit, die auf jenen inneren Zusammenhang, nämlich auf die Natur des zu sich selbst gekommenen klingenden Materials, hinweist. Und die zusammenhangslosen Empfindungen bilden jetzt ihrerseits einen realen Zusammenhang, nämlich den ihrer Zugehörigkeit zu jenem unterbe wußten Reservoir von Reflexen und Wahrnehmungsreizen, die unser Bewußtsein und Verhal ten bestimmen. Keine abstrakte Musik also, sondern Ausdruck, der den Rahmen weit über schreitet in Zonen, über die das vergesellschaftete Ich keine Kontrolle und vor deren Unbere chenbarkeit es eher Angst hat. Darin liegt die gesellschaftliche Spannung der Schönheit dieser Musik. Wurde bei Nono Struktur zum neuen Ausdruck, so verwandelt sich bei Webern der alte Aus druck in Struktur. Hören bewegt sich zwischen Reflex und Reflexion. Hören heißt bei Webern, die Realität jenes Es spüren, die hinterm bürgerlichen Ich verborgen ist, heißt, so sich des Zusammenhangs bewußt werden, in welchem Musik als Gegenstand sinnlicher Wahrnehmung und zugleich Konfiguration deformierter und zerbrochener gesellschaftlicher Formeln mit dem Ich und seiner Innerlichkeit steht. Wer das in Weberns Musik enthaltene Angebot wahrnehmen will, muß sein Hörverhalten selbst reflektieren. Unter den Schlag-auf-Schlag-Bedingungen unserer Gesellschaft bedeutet die Knappheit einer Webern-Aufführung: eine Möglichkeit erfahren und zugleich verpassen. Weberns Musik braucht Zeit und Stille. Das Ohr muß sich an die besonderen Dimensionen des von ihr erfüllten Raums erst gewöhnen. Weniger, um dieses Problem zu lösen, als um es zu verdeutlichen, lassen wir jeder der sechs Bagatellen etwa zwan zig Sekunden Stille folgen beziehungsweise vorausgehen. Die Strukturen der Bagatellen im einzelnen zu beschreiben, widerstrebt mir, denn die Faß lichkeit dieser Musik kulminiert nicht im Aha-Erlebnis, sondern im inneren Angerührt- und heimlichen Aufgerütteltwerden durch jene unterbewußt registrierte Innergesetzlichkeit. Und wenn auch jeder der sechs Sätze sich in einem anderen Charakter kristallklar ausprägt, so las sen sich diese dennoch nicht benennen. Denn was sie von fern mit uns bekannten Charakteren verbindet, etwa der Scherzo- oder Allegro-Charakter und die paarige Handhabung der Ele mente derder zweiten, die serenadenartigen in der vierten, der Adagiocharakter fünf ten oder menuettartige Ansatz in der Attitüden sechsten Bagatelle: All dies etikettiert nur dieder zufällig noch erkennbaren Reste einer hier aufgelösten und unter struktureller Perspektive verfremde ten tonalen Sprachlandschaft.

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Hören Sie also die Sechs Bagatellen für Streichquartett op. 9 von Anton Webern. Es ist klar, daß unsere Sprache mit den darin dominierenden Denkschemata sich dem Ausdruck dessen versperrt, was die Intensität der Musik Weberns ausmacht. Nur in paradoxen Wendun gen läßt sich von solcher Schönheit mit den Ausdrucksmitteln einer Gesellschaft sprechen, die den Begriff des Schönen als ästhetisches Beruhigungsmittel in Beschlag genommen hat, um sich vor der Erkenntnis ihrer Widersprüche, ihrer Unfreiheit, ihrer Angst zu drücken. Schön heit als Verweigerung von Gewohnheit: Ist das nicht vielleicht doch nur eine Gedankenkon struktion zur gewaltsamen Rechtfertigung dessen, was heutzutage dem breiten Publikum den Spaß an Neuer Musik verdirbt? Spätestens vor der Musik Mozarts muß diese Formel versagen, könnte man denken. Was ist denn Mozartsche Schönheit anderes als virtuose und schlacken lose Reinheit in der Handhabung bereits geläufiger musikalischer Mittel? Soll uns auch an den Klassikern der Spaß verdorben werden? Und in der Tat, um die Schönheit der Musik Mozarts anzusprechen, ohne in die falsche Um armung jener Mozart-Liebhaber zu geraten, die sich seine Musik auf der Zunge zergehen las sen, müßte man an das irritierende Moment im Mozartschen Umgang mit den Mitteln erinnern, müßte man versuchen, die Doppelbödigkeit dieser Schönheit bewußt zu machen. Doppelbö digkeit der Musik Mozarts: Damit ist die innere Distanz des Künstlers Mozart zu jenen feierli chen und galanten Formeln und Floskeln angesprochen, die seinem eigenen Musikbegriff zu grunde lagen. Die Musik der Wiener Klassik schien tatsächlich - um mit Thomas Mann zu re den - Kunst auf Du und Du wenn schon nicht mit der Menschheit, so doch mit jener aristokratischen Gesellschaftsschicht des achtzehnten Jahrhunderts mit seinen zwischen Abso lutismus und Aufklärung angesiedelten Hierarchien und Wertvorstellungen. Musik war glanz volles Repräsentations- und Unterhaltungsmittel, erhaben, vernünftig und unterhaltsam zu gleich. Polyphone und harmonische Spitzfindigkeiten der tonalen Sprache, wie ihnen noch Bach nachgespürt hatte, waren im Rahmen ihrer eindeutigen gesellschaftlichen Rolle abge schüttelt worden. In diesem Sinn waren die musikalischen Mittel a priori lebendig erfüllt, und noch heute spie gelt sich auch in Werken vergessener Komponisten derselbe historische Zeitgeist wider. In ihren sprachlichen Mitteln und einzelnen Wendungen drückt auch die Mozartsche Musik sol che gesellschaftliche Geborgenheit aus, als subjektiver Ausdruck aber hat sie nicht mehr daran teil. Es übersteigt die Möglichkeiten dieser Sendung aufzuzeigen, wie Mozarts Sprache, mitten in der gefälligen Dreiklangswendung, mitten in der scheinbar wohlbekannten kadenzierenden Schlußfloskel durch - dem jeweiligen motivischen Zusammenhang abgewonnene - Nuancen, durch eine möglicherweise minimal modifizierte Mittelstimme, durch einen unglaublichen Reichtum an satztechnischer Kunst, das heißt durch strukturelle Durchformung, das Hören weit über das gewohnte Maß hinaus aktiviert und das gesellschaftliche Verhalten irritiert, indem sie die Aufmerksamkeit von der fälligen und gefälligen Floskel weg auf deren künstlerisch reflek tierte Faktur und so auf die Musik als geistige Disziplin in eigener Sache hinzwingt. Indem er solchermaßen ungebetene Wahrnehmungskräfte ans Licht zog und die Sensibilität für die der Musik immanenten Kräfte und die darin strukturell belebte Logik weckte, fiel Mozart der öf fentlichen Rolle dieser Musik in den Rücken. Das, wenn man so will, war die Mozartsche Ver weigerung der Gewohnheit. Über die Dienstleistung im Rahmen der gesellschaftlichen Kon ventionen hinaus erzwang Mozart die Beschäftigung mit der Musik selbst, als Beschäftigung mit dem Geist.

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Erst in der Musik Beethovens sagt der subjektive Mensch „Ich". Bei Mozart aber sagt es zum erstenmal der Künstler, und er durchdringt damit die Maskenspiele der Gesellschaft. Künstle risch handeln, „Ich" sagen, heißt nicht mehr bloß die öffentlichen Erwartungen geschickt erfüllen, die vorhandenen Mittel in bewährter und erfolgversprechender Weise benutzen, son dern sich mit seinem Geist in die gegebenen Gesetzmäßigkeiten einschalten, die innere Logik der vorgegebenen Wendungen mit dem eigenen Gedanken durchdringen. Indem dies geschieht, gelten plötzlich neue Normen auch da, wo sich an der Vertrautheit der Sprache nichts geändert zu haben scheint. Nicht mehr die vertrauten Formeln bestimmen den Glanz, sondern die satz technische Struktur, das also, was mit ihnen geschieht: Form im weitesten Sinn wird zum strah lenden Inhalt. Damit stehen Form und Formeln nicht mehr im Dienst der in ihnen sich spiegelnden Gesell schaft, sondern im Dienst des künstlerischen Willens, der nicht davor zurückschreckt, über die geläufige Erfahrung hinaus in Dimensionen struktureller Komplexität und expressiver Inten sität vorzustoßen, mit denen die öffentliche Erwartung nichts anzufangen wußte: „Erhaben, aber kein Bissen für die Gaumen der Wiener", sagte der Kaiser über den Don Giovanni. Fast mehr noch als seine Symphonien scheint mir die Serenade KV 361 in B-Dur mit dem Titel „Gran Partita" ein fast unheimliches, gar monströses Beispiel zu sein für jene Spannung zwischen gesellschaftlichem Zeremoniell, von welchem Gattung, Formen und Mittel sich her leiten, und dem künstlerischen Angebot, welches Mozart daran knüpft. Nicht daß Mozart den gesellig unbeschwerten Serenadencharakter einem rein symphonischen Ansatz einfach geop fert hätte. Sondern gerade aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem am spielerischen Zere moniell orientierten Serenadenton und dem Reichtum von kontrapunktischen Satzkünsten bis zu Kadenzerweiterungen und Klangfeldern von Schubertschem Kolorit bestimmt sich eine Intensität, die dann umso stärker auch die scheinbar oberflächlichen Manieren erfüllt, jeden Triller und Doppelschlag, jede fröhlich lärmende Halbschlußkadenz neu gewichtet und ver zaubert. Daß Mozart auch dort, wo er dichteste Motivkunst entfaltet, dennoch den angeschla genen leichten Gestus beibehält, gehört zu jener Doppelbödigkeit, von der die Rede war. Aus dem unverbindlichen Spiel wird bei ihm Ernst, aber er tarnt diesen Ernst erneut mit eben jenen Formen des von ihm durchschauten Spiels. Die „Gran Partita" ist ein Werk von dreiviertel Stunden Dauer. Sie hat sieben Sätze. Auf eine Einleitung folgt sich der typische Aufmarsch in Sonatensatzform. zweite ist ein Menuett mit zwei unter scharf kontrastierenden Trio-Teilen. Der Der dritte Satz,Satz Adagio, heimliches Hauptstück des Ganzen, eine Art Terzett mit synkopisch figurierter Continuo-Begleitung, ist für mich ein satz- und klangtechnisches Wunderwerk; es bricht aus dem gesellschaftlichen Spiel aus. Das folgende Menuett, ländlicher im Ton als das aristokratischere erste, hat auch wie der zwei Trios, die einander im Charakter schroff entgegenstehen. Der nächste Satz ist die Ro manze, Höhepunkt des galanten Rituals mit einem grotesk leidenschaftlichen Mittelteil. Es folgt ein Variationensatz: als Gegenstück zum Adagio entfaltet sich nochmals ein virtuoser Reichtum von satz- und motivtechnischer Kunst. Den Abmarsch bildet ein Rondo im allaturca-Stil. Feierlichkeit, Innigkeit, Leidenschaft, Übermut: Alles ist gesellschaftliches Spiel und künst lerischer Ernst zugleich. Die wahre Charakterisierung dieser Sätze ist so vergeblich, wie sie es

Bagatellen bei derkonventionellen kompositorischen Kunstvon Mozarts gelt den sichWebernschen eine geistige Klarheit, die gewesen den alten war. GlanzInder Formeln, denenspie sie ausging, in den Schatten stellte, in dem diese Formeln im Lauf der Geschichte schließlich auch verschwanden. Solche Erfahrung geistiger Klarheit ist höchster ästhetischer Genuß, aber

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darüber hinaus schärft sie den Blick für die Abgründe, von deren Gefahren die Konventionen ablenken sollten. Die Frage an uns ist, ob wir uns solcher Dialektik Mozartscher Schönheit stel len, oder ob auch wir es vorziehen auszuweichen, wie wir es seinen eigenen Zeitgenossen ankreiden. Die „Gran Partita" ist besetzt mit zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Bassetfhörnern, zwei Fagotten, vier Hörnern und einem Kontrabaß. Der Tuttiklang hat die seltsame brüchige Fülle einer großen Jahrmarksorgel. Der Klang- und Nuancenreichtum bei der Auffächerung in im mer wieder andere Gruppierungen ist nirgends wieder auch nur annähernd erreicht worden. Das Werk steht im Grunde jenseits aller Vergleichbarkeiten. Hören Sie die Serenade Nr. 10 B-Dur KV 361 , „Gran Partita", von Wolfgang Amadeus Mozart. Mozart und Webern sind in gewissem Sinn Antipoden am Anfang und am Ende jener bür gerlichen Kunst, in welcher das Ich im Mittelpunkt stand. Wo Mozart allgemeine, öffentliche Formen und Formeln über ihre Unverbindlichkeit hinaus neu gewichtete und ihnen den alten Boden entzog, war es Webern aufgegeben, die inzwischen expressiv geladenen Formeln und Reste der verbürgerlichten tonalen Musiksprache strukturell aufzubrechen, den in seinem bürgerlichen Pathos absurd gewordenen Ernst ins freie Spiel der klingenden Elemente zu verwandeln. Eine andere Art antipodischer Verwandtschaft sehe ich zwischen Luigi Nono, dessen La

terra e la compagna den Anfang in diesemWerkzyklus Programm gemacht und Mallarme Pierre Boulez, mit des sen Tombeau aus seinem 1962 beendeten über den hat, Dichter mit dem Ge samttitel PH selon pli diese Sendung schließen soll. Die streng punktuelle Reduktion der Mittel bei Nono hatte in seiner Musik jede Art vertrau ter, gar musikantisch-figurativer Gestik unmöglich gemacht. So entstanden jene für Nono typi schen dynamisch und agogisch atmenden Gefüge aus - für sich allein genommen - starren Ein zeltönen. Die Musik von Boulez erscheint mir im direkten Gegensatz dazu als statisch-starres Gefüge aus - für sich allein genommen - höchst lebendigen, fast sprechenden Einzelfiguren. Nicht weniger strukturalistisch geprägt als Nono, steht Boulez in einer anderen Tradition, näm lich derjenigen von Claude Debussy (jenem Komponisten, der an Bach, wie er sagte, den Reichtum der „Arabeske" bewunderte) und von Olivier Messiaen, jenem mystischen Struktu rali sten, dessen Musik, geprägt - in salopper Verkürzung - vom Ornament, vom Ornat und von der Ornithologie, in allen diesen drei Sphären Magisches unmittelbar in Ästhetisches und Ästhetisches gleicherweise in Magisches umsetzt. Nonos Musik hat zu dieser Tradition keine Beziehung; eher an den Madrigalen der italieni schen Renaissance orientiert, drückt seine Musik seine im Glauben an ein ideales Diesseits gerichteten Empfindungen der Liebe, des Kampfes, der Hoffnung unmittelbar rhetorisch aus. Boulez seinerseits kann mit solcher Ausdrucksästhetik nichts anfangen. Seine Musik versteht sich als bewußt bewußtloses Produkt einer im abstrakt definierten Material sich disziplinieren den und in phantastischer Logik spekulierenden Ratio: Struktur um der Struktur willen - das ist für ihn absolutes Reinheitsgebot. Für Nono wäre dies ein gefährlich überflüssiges, vor der Wirklichkeit fliehendes, bürgerliches Gedankenspiel. Für Boulez ist es tiefgreifendes Ritual des Geistes im Hinblick auf die in uns präsenten geheimen Strukturen unseres Bewußtseins, wie sie in den magischen Ornamenten aller Kulturen beschworen werden. TombeauMusikstücks, für Orchestersondern - am Ende mitdem Singstimme ist Orgelbauer ein Werk nicht nur im„Werk", Sinn eines gestalteten auch in Sinn, wie -der von einem das heißt von einem Instrument mit einer charakteristischen Disposition seiner Register und 276

Manuale spricht. Um im Bild zu bleiben: Man könnte von sechs Manualen dieses „Werkes" sprechen, etikettierbar mit den Bezeichnungen: Klavier - Zupf- und helle Schlaginstrumente Blechbläser - Holzbläser - dunkle Schlaginstrumente - Streicher. In dieser Reihenfolge treten die sechs Manuale nacheinander ein, jedes hat seine eigene komplexe Tastatur, das heißt: sein klangfarbliches, aber auch figuratives Repertoire. Alle sechs Manuale wirken immer wieder auf andere Weise ineinander und verdichten sich - man könnte von der Gesamtform als von ei nem dahinwuchernden Crescendo mit vielen inneren Schwankungen sprechen; aber mehr als eine allzu summarisch interpretierte Formhülse ist damit nicht benannt. Im Gestrüpp der Be wegungen findet sich der unvorbereitete Hörer subjektiv noch am ehesten zurecht, wenn er sich an die Statik des Harmonischen hält. Denn tatsächlich tasten die Bewegungen in vielfachen Ab wandlungen immer ein und dasselbe Tonhöhengerüst ab, wobei sich dessen innerer Aufbau un merklich umwandelt. Diese relative Starrheit des zugrundeliegenden Tonhöhengerüstes gibt dem ganzen Werk einen statisch bewegungslosen, auf eigene Weise monumentalen Charakter. Am Schluß entwirren sich die sechs sogenannten Manuale: Das „Werk" gibt den Blick auf seine Disposition nochmals frei, ein siebtes Manual tritt hinzu: die vom Horn kontrapunktierte Sing stimme. Was dieser architektonischen Vegetation die unmittelbare Brisanz gibt, ist der Konflikt, der Widerspruch, der sich auftut zwischen der abstrakten und phantastischen Ordnung und dem öffentlichen Klangapparat, der diese Ordnung vermitteln soll. Indem sie in die Klangwelt der uns vertrauten orchestralen und tonalen Mittel versetzt wird, die ja alle bereits ihren Platz im geltenden ästhetischen Weltbild haben, erzeugt solche abstrakte Ordnung als reine Struktur-Idee ein rücksichtsloses, gleichwohl charakteristisches Chaos. Die einzelne Trompetenfigur, ein Geigentremolo, ein Klarinettentriller: Auf Befehl eines unbekannten Automatismus erklingen sie, ohne zu wissen, wozu. Darüber hinaus werden sie zum ab surden Ornament. Tombeau ist ein surrealer Friedhof oder - wenn man so will - ein kunst voll angelegtes Massengrab von entleerten Klängen und Figuren. Die im konventionellen Musikleben an diese gebundene Aura ist durch die strukturelle Verformung abgetötet; als Ornament, eben nicht im dekorativen sondern im magisch-kultischen Sinn, sind sie von fremdartigem Leben erfüllt. Sie sind beides: Trümmer unserer konventionellen Ästhetik und geheimnisvoll lebendige Figuren, abstrakte Objekte eines ins Unbekannte hinein spekulie renden Geistes. Die Dialektik von Ordnung und Chaos erregt mich stets von neuem bei diesem Werk. Chaos als Form einer unbekannten Ordnung, Ordnung aber als Chaos im Hinblick auf die von ihr ver gewaltigten Details - so wird beides bewußt: im Chaos die Hoffnung und in der Ordnung die Gefahr, und erinnert an die Gegenwart verborgener Kräfte, die wir bei allem Fortschritt der Technik und des Wissens eben nicht in der Hand haben. An diese Wirklichkeit rührt - ähnlich Webern - auch die Musik von Boulez, und ich spüre darin nicht weniger Aktualität als in den Nonoschen Appellen zur Gestaltung der Welt. Adorno hat über seine Analyse der Bergschen Orchesterstücke op. 6 die Worte des aus sei nem Unbewußten heraus verstörten Wozzeck gesetzt: „Manchmal hat man so'nen Charakter, so'ne Struktur", und ich glaube, die Liebe des irrationalen Rationalisten Boulez zum lyrisch wuchernden Pathos der Musik Alban Bergs zu verstehen. Ornament als rätselhafte Nachricht, Struktur als Seismogramm der Reflexe des operierenden Geistes: Darin liegt die exotische und unserer Innerlichkeit zugleich doch vertraute Schönheit, und leichtsinnigerweise füge ich hinzu: der leidenschaftliche Ausdruck dieser Musik, die spüren läßt, wie auf unheimliche Weise das Lebendige tot und das Tote lebendig ist. 277

Ob wir bereit sind, dies zu spüren? Ich sehe keinen anderen Sinn der Musik als den, übers klingende Erlebnis, über die eigene Struktur hinauszuweisen auf Strukturen, das heißt auf Wirklichkeiten, und das heißt: auf Möglichkeiten um uns und in uns selbst. Hören ist wehrlos ohne Denken - Denken aber, sagt Ernst Bloch, heißt Überschreiten. Hören Sie zum Schluß aus dem Werkzyklus Pli selon pli von Pierre Boulez den Schlußteil Tom beau. 1979

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Zum Tod von Fritz Büchtger

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i960, nach meinem Studium bei Nono in Venedig, kam ich nach München, abgeschnitten vom deutschen Musikleben, mich verloren und recht einsam fühlend, mit musikalischen Vorstellun gen, die abstrakt und unerprobt waren. Das Problem des Zugangs zur Öffentlichkeit war ver kompliziert durch das Problem des Zugangs zu mir selbst. Fritz Büchtger war es, der mir in seinem Studio für Neue Musik eine einzigartige Zuflucht bot. Dürftig vielleicht im Vergleich mit den großen Konzertreihen, war es doch mehr als ein Unterschlupf beim Ausbruchsversuch aus dem Ghetto, und wenn ich die Einsamkeit der jün g sten Komponisten sehe oder spüre, die heute nicht viel anders als ich damals unter dem Druck der Gesell Schaftserwartungen außen und der Krisen im eigenen Innern sich zurechtzufinden haben, dann kann ich ermessen, was dieser Unterschlupf mir - wie vorher und nachher vielen anderen jungen Komponisten - bedeutet hat. Der Rahmen des Büchtgerschen Studios war bescheiden, abhängig vom guten Willen aller Beteiligten. Aber gerade die Zerbrechlichkeit dieses Ambiente mobilisierte einen Anspruch, bei dem künstlerisches Wollen keinen Grund mehr hatte, nach Äußerlichem, Erfolgversprechendem zu schielen, sondern der ganz natürlich geprägt war von der Verpflichtung zum technischen Ausreifen, zum verantwortungsvollen Experiment, zur expressiven Ehrlichkeit. Es war ein Rahmen anspruchsvoller Geborgenheit für die jungen Komponisten, die auf der Suche nach sich selbst alle heimatliche Geborgenheit aufgegeben hatten. Für eine Atmosphäre der anspruchsvollsten Toleranz und künstlerischen Spannung, zugleich übrigens auch der abenteuergewohnten Gelassenheit, die bei den damit verbundenen organisatorischen Gratwanderungen unerläßlich ist, war Fritz Büchtger der Garant. Bewundernswert, wie er zwischen all diesen Belastungen auch noch der intensive und ernste Zuhörer sein konnte, der auch dort verstand und respektierte, wo der Generationen unterschied an neuralgischen Stellen berührt wurde. Laut war es nie um Büchtger. Seine eigenen Kompositionen, sehr bewußt auf ziemlich starre Mittel beschränkt, sind mir fremd geblieben. Aber vieles, was in der von ihm geschaffenen und beseelten Umgebung keimte, ist unüberhörbarer Teil der neuen Musikerfahrung geworden. Ohne ihn - und ohne Günter Bialas - wären die Jungen der sechziger und frühen siebziger Jahre in München den Druckmitteln, Lähm ungen und Versuchung en militanter Ignoranz, Into leranz und Gleichgültigkeit ausgeliefert gewesen. Es gibt Dinge, die uns prägen, ohne daß sie spektakulär zum Bewußtsein gebracht werden können. Erst Verlust und Tod machen dann nachdrücklicher auf sie aufmerksam. Heute weiß ich, daß ich dem Wirken Fritz Büchtgers Hilfestellungen verdanke, die mir geholfen haben, zu mir selbst zu finden. Ich habe ihm zu danken und habe es ihm nicht genug gesagt, als er noch lebte. 1979 46

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Zu Hans Zenders 50. Geburtstag

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„Koinzidenz!" ruft Leopold Bloom in Hans Zenders Oper Stephen Climax, und Hans Zender liebt diesen Ausruf und zitiert ihn gern halb im Ernst, halb im Scherz, wo Zufälle zusammen treffen, um das Richtige zu bewirken - eben weil es keine Zufälle gibt. „Zufall!" sagt Karl Valentin, denn just in dem Moment, wo er in der Kaufingerstraße in München nicht an einen Radfahrer denkt, kommt auch keiner dahergefahren. „Koinzidenz" in höherem (oder tieferem) Sinn (oder Unsinn) hätte dieses Geburtstags konzert gekennzeichnet mit einem - so wußte ich es noch heute Vormittag - abwesenden Jubilar, der sich gegenwärtig wärmt im Land des Don Quichotte: nicht 37 Jahre wie Simeon in der Wüste auf der Säule stehend (immerhin 50 Jahre in der Zelle seines Ichs eingesperrt), aber doch so um die 37 Tage in Spanien sich erholend von jenem Kulturbordell, in dessen abgelegeneren Nischen einer wir hier zusammengekommen sind, weil wir mit Hans Zender zusammen und mit derselben Haßliebe wie er gegenüber diesem Betrieb an die Wahrheit der darin vermittelten Empfindungen und Erfahrungen, und weil wir an deren letzt endliche Nichtprostituierbarkeit glauben und uns deshalb in solche Nischen verschlagen lassen. Koinzidenz so oder so, denn - so mein veraltetes Redekonzept: „Solche Abwesenheit des Geburtstagskinds gemahnt uns beiläufig an sein und unser gespaltenes Verhältnis zu dieser unserer Kulturpflege. Wäre Hans Zender im Lande, säße er gewiß, wohl oder übel, jetzt in die sem Saal und würde sich dabei fragen: Was soll ich bloß hier?" ... Nun sitzt er aber tatsächlich da - oder sein Doppelgänger oder ein ihm zum Verwechseln ähnlicher Zwillingsbruder -, und aus der Selbstverständlichkeit eines mit ihm gemeinsam be gangenen Geburtstagskonzerts wird durch solche doppelte Negation eine Karl-Valentinsche Koinzidenz. Niederträchtig schlägt er mir so alle weiteren anknüpfbaren Spekulationen aus der Hand. Aber - um aus seinem wunderbaren Text über seinen Stephen Climax zu zitieren: „Etwas in mir lachte über alle Erklärungsversuche." Dieses Etwas in ihm ist es, das ich liebe und heute feiern will. Und dazu brauchen wir ihn eigentlich gar nicht, ja fast wäre er mir jetzt im Weg - wenn ich mich nicht über alle Beklommenheit durch seine Gegenwart hinweg zugleich an den nach sichtigen Freund halten dürfte, der Sinn hat nicht nur für die Würde des Objekts, sondern auch für die Tücke des Augenblicks. Wir anderen wissen, was wir hier sollen, denn wir benutzen diese Gelegenheit, um uns zu einem Musiker zu bekennen, dessen reinigende und den Geist mobilisierende Präsenz uns geholfen hat und weiter helfen wird, freier zu atmen in diesem von mir so unhöflich und undankbar, eben in Anlehnung an Zenders Opernszenario apostrophierten Kultur-Etablissement, darin als Musiker trotz allem weiter zu arbeiten und uns durch sein Beispiel an die Bestimmung der Kunst zu erinnern, nicht einzuschläfern, sondern wach zu machen. Zu Gratulationsritualen gehört leichtsinnigerweise oft schon am 50. Geburtstag die Unsitte, dem Jubilar würde- und ehrfurchtsvoll ein bereits historisch gesichertes Lebenswerk und zugleich ungebrochene Jugendlichkeit zu attestieren. Aber hier geht es mir wie Zender: Irgend etwas in mir lacht darüber. Das Selbstverständnis des Künstlers verdankt sich nicht seiner geschichtlichen Einordnung von außen, denn das gerade in Arbeit genommene Werk überragt mit seiner Beunruhigung alles andere, und nur im Hinblick darauf bleibt realistisch und glaub würdig, was wir übereinander reden. 84

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Und zu jenen beliebten biologischen Wunderkuren an 50. Geburtstagen: Ein Musiker von der Lebendigkeit, Kraft, zugleich Zerbrechlichkeit und schöpferischen Unruhe Zenders ist sowieso immer alles gleichzeitig: Kind, Jüngling, reifer Mann und Greis. „Kind", weil er alles, Natur, Kunst, bereits Geschaffenes und Gedachtes, das Vertraute und das Fremde, sich selbst und den anderen jedesmal neu entdeckt mit jenem elementaren Stau nen, ohne welches keine Erneuerung des Erlebens weitervermittelt werden kann. Ein Staunen vor der Magie des Klingenden in der heimischen wie auch etwa in der fernöstlichen Musik, aus deren Berührung und Verständnis der Komponist Zender glaubwürdiger als viele andere eu ropäische Zeitgenossen kreative Anregungen geschöpft hat; Staunen vor dem einzelnen Klang als Spektrum, dessen innere Struktur Zender immer wieder zum Entwerfen analoger stimmiger Tonordnungen inspiriert hat, aber auch Staunen immer wieder vor der eigenen Tradition, als ob diese nicht schon hundertfach durch seine Hände als Dirigent gegangen wäre. Noch vor etwa zehn Wochen saßen wir zusammen in meinem Auto auf dem Wanderparkplatz der schwäbi schen Burg Teck und hörten vom Autoradio andächtig Mozarts Gran Partita für Bläser, stau nend über uns selbst, wie Eingriffe in unser Hören mit diesen Klängen noch möglich sind. Zugleich aber ist dieser zum kindlichen Staunen Fähige im idealtypischen Sinn ein ewiger Jüngling, der ohne schlau kalkulierende Rücksicht auf alle bequem-skeptischen, zum schaden frohen Grinsen jederzeit bereiten, ängstlich auf das eigene Verkalken bedachten Kreaturen der Kulturbürokratie sich für die Musik und die Kulturpolitik einsetzt und kämpft, an die er glaubt, und der durch die Waghalsigkeit des Begeisterten diesem kulturellen Apparat Ereignisse ab trotzt, welche die Musik-Landschaft nicht bloß bereichern sondern verändern, und sei es auch nur als Beispiele von möglichem künstlerischem Mut in einer experimentierfeindlichen, sich im Schutz des Bewährt-Gewohnten mehr und mehr verbarrikadierenden Gesellschaft. Zenders Programmkonzeption seiner Konzerte in Hamburg, darunter sei n konsequenter Ein satz für Luigi Nono, womit er Michael Gielen zur Seite sprang, gehört für mich ebenso dazu wie seine weitgetriebene Aufbauarbeit mit dem Saarbrückener Rundfunkorchester in den sieb ziger Jahren, an die sich nicht nur Komponisten, sondern auch Instrumentalisten und Musik liebende erinnern als an eine legendäre Zeit voller Hoffnungen. Daß mit solchem Sturmlaufen gegen die Trägheiten auch das Auflaufen und das Scheitern verbunden sein muß, wird den Jüngling im Busen Zenders zwar immer wieder unterbrochen, kann ihn aber letztlich nicht gebrochen haben. Er kann nicht anders, denn „manchmal hat man so'nen Charakter, so'ne Struktur". Der reife, der „erwachsene" Künstler aber, als den ich ihn von jeher kannte, hat bei aller Fähigkeit des Staunens und des Stürmens nie die Widersprüchlichkeit seines Wirkens als Teil des von ihm selbst in Frage gestellten Kulturbetriebs ignoriert. Er hat, als „Strukturalist", als der er sich immer verstanden hat, die Kehrseiten aller Medaillen stets durchschaut. Er hat aber diese eigene Sensibilisierung und damit auch Gefährdung seines Wirkungsdrangs niemals selbstgefällig poetisiert wie so viele selbstkritisch angeschlagenen Zeitgenossen, die sich an der eigenen erkannten Gebrochenheit schon wieder verlustieren, indem sie so etwas zum Klagen, gar zum „Verstummen" haben, oder zum hysterisch aufschreienden Protestieren, oder zum Männlich-mühsam-Verbergen. Und hier lobpreise ich nochmals jenes in Zender lachende Et was, von dem schon vorher die Rede war: die Zendersche Unsentimentalität. Sie ist ein ganz eigenes hochkarätiges Spezifikum, in seiner Einmaligkeit nur erkennbar im Kontext der moti vierten Getriebenheit seiner Gesamterscheinung, und dabei denke ich ebenso an den Dirigen ten der Beethovenschen, der Schumannschen Musik (seine Wagneraufführungen habe ich lei der nie erlebt), denke an sein Engagement für seine Zeitgenossen, sein bekenntnishaftes Ein53

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treten für die Werke von Bernd Alois Zimmermann, denke an seine philosophischen, literari schen, bildnerischen Interessen und Betroffenheiten, und denke an den Komponisten des Streichquartetts Hölderlin lesen oder des Stephen Climax: Diese seine hochsensibel reagie rende Unsentimentalität hat keine Angst vor dem Affekt, vor der rührenden, pathetischen, hei teren oder auch der sentimentalen Geste. Aber als Unsentimentalität bedeutet und bewirkt sie zugleich stets strukturelle Transparenz: Sie lenkt die Wahrnehmung aufs „Ganze" (so zitiert Zender Carl Friedrich von Weizsäcker) und zugleich auf die Anatomie dessen, was uns affektiv berührt, und sie setzt sich so in manchmal herbe Distanz zu jener Art von rasch an der Oberfläche zelebrierbarer Expressivität, für die sich der Konzertbesucher meist abonniert glaubt. Es hilft diesem nichts: Er muß jene Mühe auf sich nehmen, von der Mauricio Kagel bei der Einweihung der Kölner Philharmonie sprach: Er muß hören, wenn er fühlen will. Und in der Spannung solcher hochexpressiven Unsentimentalität hebt sich manches im sehr wohl von ihm erkannten und durchlittenen bürgerlich-philharmonischen Widerspruch auf: Denn vermarktbar ist Zender so nicht, und so mancher Kulturgewaltige zuckt respektvoll die Achseln: Zender ist halt ein dirigierender Komponist. Jawohl, und ohne Achselzucken: Das ist er, wie weiland Gustav Mahler, und als solcher uns kostbar und unersetzlich und fast eine Art Lichtgestalt in den Gedanken seiner komponierenden Freunde und Zeitgenossen, für deren Werke er sich mehr, vielleicht sogar noch kompetenter einsetzt als für seine eigenen, und zugleich mit der Intensität, als wären es seine eigenen. 85

Zender istder aber auch, seit ich ihn kenne, alter, philosophischer, weiser Häuptling, und der Soldaten, Komponist kompositionstechnisch wohlein komplexesten Oper nach Zimmermanns nämlich des Stephen Climax mit ihren Zeitsprüngen vor und zurück wird mir das Paradox erlauben, daß er in vorzeitiger Altersweisheit in der Lage ist, nicht nur auf seine vergangenen, sondern auch auf seine zukünftigen Werke und Aufgaben jetzt schon zurückzublicken mit jener philosophischen Erkenntnis, die Peter Weiss in seinem „Marat" den Marquis de Sade sagen läßt: „Alles, was wir tun, ist nur ein Abglanz von dem, was wir tun wollen." Das Kind, der Jüngling, der Mann und der jetzt schon uralte weise Hans Zender: Als Künst ler ist er zugleich Träumer, Suchender, Kämpfender (nach innen und nach außen) und - Beten der: und alle diese Formen der Selbsterfahrung von jeder falschen Pose oder Poesie gereinigt und aus einengender Verdinglichung befreit durch die Zendersche hochgespannte Unsenti mentalität: So erscheint er mir, wenn nicht leibhaftig, so in Gedanken; mit Kraft und Mensch 87

lichkeit geladen, als anspruchsvoller Freund, der uns an die eigenen höchsten Ansprüche uns selbst gegenüber erinnert. Und so erscheint er in seiner Musik: den Cantos, dem Lo-Shu-Zyklus, in seinem verrückten Dialog mit Haydn, Werken, gekennzeichnet von sperriger, nie bei sich verweilender Sinnlich keit und von immer zugleich intellektuell und magisch motivierter Abenteuerlust, der Lust, ins Bekannte und ins Unbekannte vorzustoßen, die Pluralität der Erscheinungen zusammenzufas sen, das Ferne mit dem Nahen zu vermitteln, dabei sich ständig Verunsicherungen aussetzend, immer wieder woanders landend oder strandend, immer bereit, von Intention und Intensität des anderen sich anrühren und beunruhigen zu lassen, in die Struktur anderer Welten einzudringen wie in einen Klang, und in die Struktur eines Klangs wie in eine geschlossene Welt - diese Abenteuer, deren aufregendstes, eindrucksvollstes und persönlichstes hier in Frankfurt in der Oper den Rang und die Schlagkraft der Zenderschen Musiksprache über die Insiderkreise hinaus, oder besser: über sie hinweg, unterstrichen hat, werden weitergehen dem unsentimental Suchenden, Träumenden, Betenden weitere Kämpfe, innerlicheund undwerden äußerliche, eintragen mit Siegen und Niederlagen.

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In einer Zeit, in der die Kultur offensichtlich mehr und mehr dazu degradiert wird, der Ge sellschaft Kunst in gefälliger Form als warme Bettdecke über den Kopf und die Ohren zu zie hen, um sie so bei Laune zu halten, ist die Art, wie man in Hamburg jüngst Zender hat ziehen und die an ihn geknüpften Hoffnungen hat platzen lassen, symptomatisch. Als Alarmzeichen ist es nicht das erste und nicht das letzte. Wir sollten den Gesamtzusammenhang erkennen, in dem solches in allen Parteilandschaften möglich und hinnehmbar scheint. Dies war nicht ein fach eine persönliche Niederlage, sondern ein Rückschlag für den innovativen Auftrag der Kunst überhaupt. In diesem innovativen Aspekt von Kunst steckt, ob man will oder nicht, po litische Sprengkraft, lästig für die, die wenn schon nicht die Vergiftung von Erde, Wasser und Luft, so doch die Vernebelung des Geistes billigend in Kauf nehmen bei ihrem Geschäft... Zweifellos erkennt sich Hans Zender in dem wieder, was D. E. Sattler in seinem Essay über „Hölderlin oder die Revolution der Gesinnungen und der Vörstellungsarten" schrieb; vor vier zehn Tagen hat Zender mir diesen Essay zugeschickt, wo am Schluß des ersten Teils zu lesen ist: „Denen, die sich zum Auszug entschließen, ist die wirkliche Welt, noch vor ihrer tatsäch lichen Verwüstung, zu Wüste geworden, weil sie die verwüstenden Tendenzen in den herr schenden Maximen wahrnehmen. Dir Aufbruch ist keine Ausflucht. Indem sie in den Verhält nissen bleiben, zerbrechen sie die intellektuellen Konstruktionen, die jenen noch mitten im Untergang den Anschein von Dauer geben. Sie kommen der Welt nicht abhanden, sondern be ginnen in ihr als Weltliche den Streit mit dem Ungeist, der seiner Nichtigkeit wegen auf nichts als auf ihre Vernichtung sinnt." Streit mit dem Ungeist. Nicht die Waffen, aber den Rückhalt dabei findet der Kämpfer Zen der beim Träumer, beim Sucher, beim Beter - anders gesagt: in seiner Kunst selbst. Ich glaube, wir können unsere Bewunderung und Dankbarkeit für ihn nicht besser in Wirklichkeit um setzen als dadurch, daß wir uns mit ihm verbunden und seinem Beispiel verpflichtet wissen, also unsererseits träumen, suchen, beten, kämpfen und uns so als seine Mitstreiter zu erkennen geben. 1986 88

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Über Nicolaus A. Huber" Als nach dem Zweiten Weltkrieg, in den frühen fünfziger Jahren, die damals jungen Kompo nisten sich mit dem Musikbegriff nicht in der Form abfinden wollten, wie sie ihn geerbt hatten: als zugleich ehrwürdiges und fragwürdiges Erbe einer Intaktheit vorspiegelnden emphatischen Sprache, zu einer Zeit also, da nichts mehr intakt war und eine ratlose Gesellschaft sich ganz besonders in der Musik schlechtsitzende historische Masken vors ideologisch verwirrte, ver formte oder immer noch formierte Gesicht hielt und die Beziehung zur historischen Situation allenfalls schlampig dissonant reflektierte: In dieser Phase ging es denjenigen Komponisten, die einen Neuanfang versuchten, vor allem darum, die klingenden Elemente in einen logisch durchgängig funktionierenden Zusammenhang zu bringen, der nicht über expressive, sondern über akustische Eigenschaften kontrolliert und gesteuert würde. Dieser strukturalistische Ansatz mit seinem technizistischen Rigorismus, aber auch mit sei ner impliziten Absage an ein überlebtes und - wie sich zeigen sollte - hartnäckig überlebendes Musikdenken und -hören war schon radikal-expressives Programm im alten Sinn, nolens bei den einen, volens bei den anderen. Darüber hinaus aber öffnete er durch solche Entmachtung des expressiv spekulierenden Ichs den Sinn für und die Neugier auf und den Zugang zu bisher ungenutzten kreativen Instanzen. So oder so stellte er das wahrnehmende Denken und die den kende Wahrnehmung vor ungewohnte Aufgaben und Möglichkeiten: nämlich in der Musik neuartige Strukturen und in solchen Strukturen Aspekte des Menschen neu zu entdecken. Wo die serielle Musik, denn um diese handelte es sich zunächst, sich nicht in diesem Sinn verstand, und wo sie bei denkfaulen Epigonen als bloße sadistisch-rigorose Satz- oder Organi sationspraxis so etwas wie „Serielle Schul e" machte, da bewirkten die neuen Ordnungen nichts als den Eindruck von trostloser Unordnung, und da waren ihr die alten Satzkünste schon des halb überlegen, weil sie solchen seriellen Gebilden aus der Retorte den bewährten Glanz ihres vertrauten traditionellen Instrumentariums voraus hatten. Gerade solch altvertrauter instru mentaler Glanz wurde im Auftrag einer seriellen Buchhaltung allzuoft ersatzlos aus der Klang materie hinauspermutiert. Die zweite Generation, diejenige, der Nicolaus A. Huber und ich angehören, hatte es leich ter und schwerer. Leichter, weil die Dinge zu Beginn der sechziger Jahre schon in voller Be wegung und von Institutionen gefördert schienen, schwerer, weil diese zweite Generation, ebenso wie die vsrce in traditionalistischem Denken aufgewachsen, den Neuansatz der Älte ren aufzuarbeiten hatte und dennoch den Sprung ins Unb ekannte, in eine neue Praxis, nochmals und auf eigene, erneut glaubwürdige Weise wagen mußte. In jene r Zeit wohnte ich in München. Nach einem zweijährigen Studienaufenthalt bei Luigi Nono fühlte ich mich immer noch und jetzt erst recht auf der Suche, lernte damals Nicolaus A. Huber kennen, war in meiner eigenen unentschiedenen Situation neidisch auf ihn, weil er in der Kompositionsklasse von Günter Bialas studierte und ich sehr wohl begriff, wie fruchtbar in diesem Ambiente ein lebendiger Sinn für Tradition und die Offenheit zu neuen Abenteuern des Komponierens zusammenwirk ten: Kein Komponist aus dieser Schule hat sich den am Glanz des Altvertrauten orientierten Klangsinn durch serielle Manieren austreiben lassen. Bei Huber aber war es schon damals nach meinem Eindruck etwas Besonderes, weil in seinen Arbeiten sich die Leuchtkraft der überlie ferten Mittel über die Neuorientierung seines Musikdenkens hinaus nicht nur erhielt, sondern weil diese - als vererbt erkannte - Leuchtkraft selbst nochmals angeleuchtet wurde und, quasi 46

prismatisch gebrochen, zu einem neuen Reichtum von klingenden Lichtwirkungen führte. Unter diesem Aspekt ist Huber einen völlig eigenen, srcinellen Weg gegangen. Seine Musik

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durchleuchtet und ent-deckt (das heißt: deckt auf): zum einen die klingenden Ereignisse bis hin ein in ihre letzten darin schwingenden Partikel, macht auf das innere Spektrum aufmerksam, indem sie Teile davon ausfiltert und andere so freilegt. Dies beruht auf einer Kunst der hoch sensibel abstufenden Klangumformung, einer Klangtechnik, die notwendigerweise auch eine Zeittechnik sein muß. Zum anderen aber wird am Klang nicht bloß bewußt gemacht, was in ihm physikalisch schwingt, sondern auch das, was dabei in uns selbst mitschwingt - und gerade das gehört zur erwähnten „Leuchtkraft" -: mitschwingt an Bedeutung, Erinnerung, an Archai schem, Traumatischem, an Wirklichkeiten und gesellschaftlichen Verhältnissen, die das Klin gende in und für uns verkörpert. Kompositionstechnisch ist dies eine Sache der durchdachten, nicht bloß durchgehörten Setzung und fast rituellen Inszenierung des musikalischen Gesche hens. Und so gibt es in Hubers Musik eine reich verzweigte Welt von Erfahrungsobjekten, vom „toten" Sinuston über vertraute und fremde Klänge bis zum ausdrucksgesättigten historischen Musikzitat, wobei in gewisser Weise alle diese Vorgänge Zitatcharakter annehmen, weil sie, jeder auf seine Weise, ganze Welten, Sphären, Kulturen, Wirklichkeiten bewußt machen, die in uns sind, unsere Existenz betreffen und nun gleichzeitig Objekte für eine sensibilisierte akusti sche Wahr nehmung darstellen, eine Wahrnehmung also, die übers Zuhören hinaus einen Beobachtungs- und darüberhinausgehend wiederum einen Bewußtmachungsvorgang darstellt. So kommt mir Huber vor zugleich wie ein Träumer und ein Mechaniker, oder anders gesagt: zugleich wie ein Magier und wie ein Chirurg, der die Klänge als Signale zelebriert und als Objekte seziert. Und aus Zuhörern werden zugleich Ergriffene und scharfe Beobachter. Das Zusammenwirken von beidem macht sein Idiom aus. Im Sinn jenes nicht aufgegebenen, aber aufgehobenen „Glanzes" der Musik, aus der er kommt, hat er de facto den bürgerlichen und vom Bürgertum dennoch verratenen Autonomieanspruch der Musik als reiner Wahrnehmun gs kunst nie aufgegeben. Er hat vielmehr solche Autonomie erst dadurch bewahrt und bewirkt, daß er die realen Wirklichkeitsbezüge, die im Klang mitschwingen, weder ignoriert noch idyllisch ausbeutet, sondern sie setzt und in ritueller Klangaktion aufbricht. Um es vom Schwaben zum Bayern zu sagen: weniger heilige Nüchternheit, als eher nüchterne Heiligkeit. Die Traummechanik aus dem Jahr 1967 ist eines jener frühen Werke, in welchem dieser Dop pelaspekt wohl deshalb so frisch wirkt, weil Huber darin diese Möglichkeit eines zugleich „fas zinierenden" und „beschäftigenden" Klangzusammenhangs erst entdeckt zu haben scheint, im Material und bei des sich im selbst. In Mitschwingenden, seiner weiteren kompositorischen hat Huber Traummechanik Zusammenhänge Klang denen er in der Entwicklung wohljene eher schlafwandlerisch nachgespürt hat, bewußt studiert und ihre Vermittlung immer wieder anders praktiziert. Hören ist für ihn stets im gleichen Maß Erleben und Lernen. Daß die Erfahrung von Entdeckungsmöglichkeiten der latenten Magie den Blick früher oder später auf solche Beziehung in anderen Kulturen lenken würde, um im so erweiterten Blickfeld die eigene Kultur und ihre ästhetischen Muster neu zu sehen und zu bedenken, hat sich unter anderen Werken auch in Darabukka niedergeschlagen. Huber versetzt dar in unser ehrwürdiges, wohl auch zugleich rationalstes und irrationalstes Musikinstrument und Kulturmöbel „Pianoforte" in die Situation dessen, was es heimlich schon immer ist: eines kultischen Instruments. Die Kreuzung eines in einem außereuropäischen Lebenszusammenhang beheimateten Anima tionsvorgangs mit einer europäisch geprägten Musiziersituation macht uns auch hier wieder zu Beobachtern dessen, was im Klingenden und zugleich von dem, was in uns dabei geschieht. Dabei werden hier weniger Klänge umgeformt als rhythmische Formeln exponiert und umge wandelt, zugleich zitiert und zerlegt; ihre einzelnen Schlagpartikel werden verschiedenen Ten denzen zugeordnet, und anstatt der unmittelbaren passiven Magie des Repetitiven bricht sich 285

das Erleben an der aktiven Faszination der Verwandlungen. Wer sich mitvollziehend auf die auf diesem - nunmehr zugleich bekannten und exotischen - Instrument geschlagenen Rhythmen einläßt, wird so selbst im Hören mitverformt, aber auch diese Erfahrung wird nochmals irritiert, nämlich dort, wo das offene Zitat von wohlvertrauten Marschrhythmen aus unserer eigenen Unkultur gestreift wird. Ich nehme an und spüre aus seinen Werkeinführungen, daß Huber jenes Moment des bewußten Ler nens, welches mich als Tei l eines neu magisch verstandenen Erlebens immer wie der fasziniert und provoziert, und in dem er manches von dem einzulösen scheint, was Hanns Eisler wohl eher meinte als machte, - daß er dies viel gezielter im politisch indoktrinierenden Sinn versteht oder zeitenweise verstanden hat, als ich es hier interpretiere. Aber hier halte ich die Ohren steif. Für mich gibt es im bürgerlichen Kunstobjekt „Musik" nicht mehr und nicht weniger zu lernen als die Erfahrung, daß der Mensch in der Lage und insofern auch aufgerufen ist, auf seine Situation und was diese bedingt, wahrnehmend zu reagieren. Darüber hinaus erwarte ich von der Kunst keine Leitbilder und keine Leitgedanken. Vielleicht hat sich der kri tisch komponierende Magier und Chirurg Nicolaus A. Huber gelegentlich solchen Mißver ständnissen ausgesetzt, oder ist ihnen manchmal erlegen. Er wäre dabei in bester historischer Gesellschaft. Für mich ist entscheidend, wie seine Musik im radikalen Sinn hellhörig macht und damit uns unmißverständlich auffordert, hellhörig zu bleiben. 1987

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Laudatio für Hans Ulrich Lehmann

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„Wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen" - oder eine Laudatio halten. Aber kann man denn über die künstlerische Bedeutung eines Zeitgenossen, an den man glaubt, reden, ohne sich vor der Zukunft so oder so zu blamieren, die sich als lebendige doch darin erst be währt, daß sie ihre Leitbilder nachher doch wieder auf ihre eigene, ganz andere Weise neu für sich entdeckt? Und - noch absurder: Kann man überhaupt über einen Freund mit feiernden Worten reden, selbst und gerade, wenn menschliche und künstlerische Verbundenheit ineinan der aufgehen, so wie ich es mit Hans Ulrich Lehmann empfinde? Indessen: Worüber sonst könnte ich reden bei diesem Anlaß, wenn nicht über meine eigenen Erfahrungen und meine Beziehung zum Künstler und zum Menschen Lehmann? Schwierig ist es allemal, wenn nicht gar unmöglich, denn bisher zwischen uns Unausge sprochenes wird auf unbefriedigende Weise ans Licht gezerrt - die durch inflationäre Abnut zung verursachte Sprachlosigkeit unserer Sprache ist dazu gerade noch gut genug, und sei es auch nur für eine Laudatio anläßlich der Ankunft in einem so unreifen Lebensalter wie dem am 50. Geburtstag erreichten, an dem alles mögliche „geleistet" sein mag und die wahren Ziele zugleich ferner gerückt scheinen denn je zuvor. Das Gesellschaftsspiel der Ehrung in der Öffentlichkeit hat also seinen Sinn nur als in seiner Hilflosigkeit durchschautes. Ein Hans Ulrich Lehmann ist zu stolz, das heißt zu bescheiden, um Festrituale mit ihren wie selbstverständlich unterstellten Eitelkeiten ernster zu nehmen, als sie es verdienen, und er ist vermutlich zu beschäftigt, um über deren Problematik lange zu philo sophieren. Und so läßt er sich geduldig feiern und lobpreisen. Schließlich kennt er sich selbst am besten, seine Kräfte und seine Schwächen, seine offenen und seine verschlossenen Seiten, ist sowieso nie zufrieden und - wer weiß - vielleicht gelegentlich zerfallen mit sich selbst und doch (und auch das weiß er) fest gegründet in sich, und er wird sich seine Widersprüche nicht nehmen und sich in seiner inneren Ruhe und Unruhe nicht stören lassen. Und indem er mich den Lobgesang absolvieren läßt, holt er sich einen nicht weniger widersprüchlichen Leidens genossen, von dem er weiß, daß er solchen Feiern ähnlich höflich und skeptisch gegenübersteht wie er selbst. Was Lehmann für diese Stadt, für dieses Land und für seine Kultur und für diejenigen bedeutet, die ihm dieses Fest ausrichten, das mag in Form vonseiner Fakten von Anderen beschreib bar sein. Die Ausstrahlung aber, aus der alles kommt, das in näheren und weiteren Um gebung als kostbar, aber vielleicht auch als unbequem Empfundene (was weiß ich schon davon, außer daß ein Prophet in seinem Land nichts gilt und weniger gefördert als viel lieber befördert und im besten Fall von sich selbst wegverehrt wird) -, jene Substanz also, an der auch ich als Fernerstehender teilhabe, von der heute die Rede und über die zugleich zu schweigen sein sollte: Die ist für mich an seiner Erscheinung als Komponist unmißverständlicher herauszu lesen als aus allen Verdiensten in Funktionen, zu denen er sich hergegeben hat - hergegeben übrigens ohne Wenn und Aber als einer, der bereit ist (nach den Worten Mahlers), eher das „Theater" (diesmal im übertragenen Sinn ...) zu pflegen und sich zu ruinieren als umgekehrt. Vielleicht heißt die Brücke vom äußeren Ritual zu jenem Wesentlichen und unsere Verbun denheit Bestimmenden: „Empfindung" als zentrale Kategorie des Musik-Erlebens, und die Pfeiler dieser Brücke hüben und drüben heißen Empfindsamkeit und Empfindlichkeit. Aber ge rade die Empfindlichkeit wehrt sich wohl schon jetzt gegen Psychologisierungen, und ich ziehe eine andere Beobachtung - etwas weiter weg von seiner unmittelbaren Person - heran, blicke nicht auf ihn, sondern auf seine Musik und sage, die Brücke zum tatsächlich zu Feiernden und

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zugleich zu Verhüllenden heißt „Struktur" des Klingenden, und die Pfeiler heißen Wahrung der Form äußerlich und Wahrnehmung von Formen innerlich. Struktur des Klingenden: Der in der Musik unserer Zeit ins Bewußtsein gerückte Struktur begriff schien nach dem Zweiten Weltkrieg ein Schlüssel geworden zu sein zu befreiten, aus Konventionen entkrusteten Gestaltungs- und Hörprinzipien. Er bedeutete vor dreißig Jahren, als Lehmann noch studierte: rigoroses Organisieren der musikalischen Mittel und weithin rational gesteuerte Gliederung von Klangraum und Zeitraum. Dem wurde ein eher sprachana log verstandener und praktizierter konventioneller Musikbegriff geopfert, an den sich gleich wohl bis heute ein verunsichertes Publikum klammert, fest entschlossen, sich seine gewohnten philharmonischen Hörrituale nicht zersetzen zu lassen. Jenes strukturelle Denken aber gab die alte Geborgenheit preis, die längst sich als Scheingeborgenheit verraten hatte. Es wandte sich an ein anderes Hören, ein Hören, das Musik nicht als vertraute „Sprache", sondern als eine Klangerfahrung versteht, die dem Komponisten manchmal nicht weniger fremd war als dem Hörer. (Die Entstehungsgeschichte der Boulezschen Structures ist ein Zeugnis dieses Umdenkens.) Das „andere Hören" konnte sich also nicht auf dem zwar komplizierten, aber unter bür gerlichen Bedingungen einwandfrei funktionierenden Niveau einer intakten „Sprache" wie vordem zurechtfinden; es rekurrierte aufs zunächst orientierungslose Registrieren, aufs Abta sten unbekannter Klangräume - eben auf offene, nicht abgesicherte Wahrnehmungsprozesse. Diese waren (und sind) zugleich einfach und kompliziert. Einfach, weil sie als akustisch gere gelte Ereignisse von jedem mit Ohren begabten Vernunftwesen scheinbar voraussetzungslos aufgenommen werden können, kompliziert aber, weil solche Voraussetzungslosigkeit eine Fiktion ist, welche nicht einfach sich im Abschütteln der bislang gepflegten Gewohnheiten ver wirklichte, sondern allenfalls korrigiert werden kann durch deren Überwindung, besser: durch deren Aufhebung. Aufheben im Hegeischen Sinn heißt aber: als Erkanntes bewahren. Und im veränderten Bewahren jener Wahrnehmungskunst, so daß sie übers sprachanaloge Mitvollzie hen hinaus als Abtastvorgang, als abenteuerliche Entdeckungsreise in die Struktur neuer wie traditioneller Musik möglich wurde und auch aus dem populärsten historischen musikalischen Kunstwerk immer von neuem ein unbekanntes Objekt macht, vollzog sich jener Bruch mit den Erwartungen einer Gesellschaft, die ja gar nicht hören, sondern auf erprobt-bewährte Weise sich selbst genießen wollte. Heute, im Jahr 1987, scheint dieser strukturelle Ansatz die philharmonischen Hörgewohn heiten im geringsten ernstlich gefährdet zu haben. Im Gegenteil,korrumpieren er hat sich seinerseits von dernicht Übermacht regressiver Gelüste und Bedürfnisse erbärmlich lassen, er hat sich als surrealistische Idylle ein Plätzchen zum Überleben in der alten dahinmodernden Kultur zuteilen lassen, verkommt so weithin als dekorativer Manierismus, als negative Idylle, als kulturelles Schreckgespenst vom Dienst. Wenige Komponisten unserer Generation gibt es, die jene Chance des „anderen Hörens", nämlich der radikalen Neusensibilisierung der Wahrnehmung als sprachloses Abtasten des klingenden Objekts, seiner akustischen Anato mie, eben seiner Struktur, nicht nur begriffen, sondern auch konsequent ergriffen haben, und zwar nicht bloß als vorläufiges esoterisches Überwintern im Elfenbeinturm eines fetischisierten Materialbegriffs, welcher den Hörer weniger zu faszinieren als einzuschüchtern vermag, bis eben irgendwann wieder doch eine dem Publikum „angewöhnte" intakte Illusion einer funktionierenden Musiksprache die verlorenen beziehungsweise museumsreif geworde nen philharmonischen ersetztin habe: Wein sozusagen in nur neuen Rücksicht darauf, daß Rituale alter Wein solch Alter modernen Abfüllungen alsSchläuchen, gepanschterohne zur Verfügung steht. 288

Wenige gibt es, die verstanden haben, daß die Sensibilität gegenüber der Evidenz des Klin genden als einem Erlebnis, welches sich der gesellschaftlichen Verwaltetheit entzieht und so an unsere Unfreiheit und Bestimmung zur Freiheit zugleich erinnert, daß solche Sensibilität nicht bloß Mittel, sondern tief in uns eingreifender Zweck von Kunst sein muß in einer Gesellschaft, deren Gefährdung nicht einfach in ihrer selbstverschuldeten Bedrohtheit besteht, sondern in ih rer Unsensibilität: in ihrer Verdrängung solcher Bedrohtheit zugunsten einer Zuflucht zu der nicht weiter befragten Illusion eines intakten, verharmlosenden Menschen- und Gesellschafts bildes, so wie es nicht zuletzt im Konzertsaal gepflegt wird. Wenige in diesem Sinn sensible und zugleich präzis reagierende Komponisten gibt es - und lange Zeit kannte ich nur einen: Luigi Nono -, und insofern sie ihre Erkenntnis konsequent um setzen und auf den schnellen Querfeldeinweg zum Hörer vermittels erfolgversprechender Ef fekte und Affekte verzichten, und wenn sie nicht gerade das zweifelhafte Glück haben, positiv mißverstanden zu werden, bezahlen sie solche Konsequenz mit Einsamkeit. Einsamkeit mitten unter all den Menschen, von denen sie gleichwohl vermutlich respektiert, gar geliebt und den noch abgeschoben werden, und falls Sie's nicht schon längst gemerkt haben sollten, die Rede war schon die ganze Zeit von Hans Ulrich Lehmann. Musik, welche dem falschen intakten Sprachwahn die unmittelbare Wahrnehmung mit ihrer ungesättigten Beziehungsvielfalt entgegensetzt, ist utopisch. Wer neben der Reinheit des Tons nicht nur auch an die Reinheit des präzis eingesetzten Geräuschs, sondern auch an die musika lische Funktionskraft des „Unreinen", Unpolierten glaubt, wer in eine Flöte blasen läßt, um die Luftschwankungen mit ihren teils berechenbaren, teils unberechenbaren Geräuschnuancen zum Gegenstand bewußter Wahrnehmung zu machen und um von dorther Beziehungen zu anderen Wahrnehmbarkeiten und so ungewohnten Zusammenhang zu stiften, und wer so an die Sensibilität des wahrnehmenden Geistes appelliert und zugleich der philharmonischen Verein nahmung durch die herrschende Trägheit der Gewohnheit sich widersetzt, ist ein Utopist. Aber solche Utopie ist die einzige realistische Antwort auf die Realität des Illusionskultes eines in dieser Hinsicht mit Illusionen sehr realistisch handelnden selbstbetrügerischen Kulturbetriebs. Die Beschwörung solcher Utopie als Antwort einer Geisteshaltung, die gewiß unter der Abgestumpftheit unseres Kulturlebens leidet, aber ohne Selbstmitleid auf ihrer eigenen Vision beharrt, sie nicht unter dem Druck der feindseligen Bequemlichkeit preisgibt, sondern die ihren Diamanten schleift, so wie es Strawinsky über Webern gesagt hat - solche Beschwörung von Utopie bedeutet zugleich realistisches Angebot des befreiten, beziehungsweise befreienden, beziehungsweise an die ständig neu zu gewinnende Freiheit erinnernden Hörens. Ein solches Angebot, ohne hereingeschmuggelte querfeldeinkontaktschaffende, kommunikationserschleichende, falsch idyllisierende Rhetorik (die ja alles wieder verwässern würde): Das ist für mich die Musik Hans Ulrich Lehmanns. Herkommend aus einem wohl eher wenn nicht ornamental, so doch figurativ geprägten Strukturdenken, mit expressionistischen Hinter- oder Vordertüren, wie es das Boulezsche Bei spiel vermutlich bewirkte, hat sich Lehmann stilistisch, nicht bloß verselbständ igt, sondern nachgerade abgekapselt und ein unverwechselbares Idiom entwickelt, in dem der bewußte oder unbewußte Einfluß von Boulez aufgehoben, ja als scholastischer Alptraum völlig abgestoßen erscheint, und welches zugleich fast beiläufig in einzelnen Aspekten eine Haltung vorweg nimmt, zu der Luigi Nono in einer völlig anderen, nicht vergleichbaren Entwicklung seiner Mittel in den letzten Jahren erst hingefunden hat: großzügig in die Zeit ausgelegte Klangfelder, als Landschaft für Erkundungsgänge des Hörens, in denen - quasi hinter Lyrismen versteckt das Abenteuer des Entdeckens selbst so etwas wie ein expressives Programm geworden ist. Als 289

Praxis der permanent möglichen Brechung des instrumentalen oder vokalen Klangs, die nie zur selbstvergessenen Idylle, aber auch nie zum surrealen Gag verkommt, ist die Musik Lehmanns auf sanfte Weise rabiat und expressiv. Rabiat nicht nur in ihrer unerbittlichen Maßgerechtigkeit in allen Dimensionen, die dem Hörer nichts schenkt, seine Konzentration fordert und ihn im Weigerungsfalle achtlos fallen läßt (- wie oft meinen Hörer, sie würden beim Hören abschal ten und merken nicht, daß es die Musik war, die ihrerseits sie abgeschaltet hat!), expressiv aber, weil diese Musik die altvertrauten und zugleich aufgegebenen Kategorien nicht vergessen hat, sondern ihnen in jedem Stück auf andere Weise nachzutrauern scheint. Der lineare Verlauf als heimliche übergeordnete Supermelodie und als insgesamt schlüssiger Gestus hat für mich bei ihm immer den Charakter einer einzigen, wenn nicht sprechenden, so doch stumm beredten Be wegung, die ich nur unter Vorbehalt lyrisch nenne, weil das zur geschmäcklerischen Apostro phierung dessen führt, was nicht affektiv, sondern wachsam und aktiv gehört und verfolgt sein will.

Dem dient die typisch Lehmannsche, zugleich großzügige und sparsame Notation, ein für mich einmaliger Fall von unprätentiöser, pragmatischer und zugleich in ihrer Offenheit die Kostbar keit der Klangsituation bewußtmachender Fixierung der Aktionen, eine dialektisch funktionie rende Sparsamkeit bei der Definition der Rahmenbedingungen des Klingenden, um dieses sich umso verschwenderischer klingend entfalten, durchhören und in Beziehungen setzen zu lassen, dabei Graphisches ebenso wie sprachlich Umschreibendes sinnvoll vereinend, geheimnisvolle Offenheit von Zeichen, wo anderswo struktureller Manierismus im überflüssigen Zeichenge strüpp nur allzuoft als offenes Geheimnis von Leerlauf sich entlarvt. Es gibt, nicht bloß bei Mozart und bei Webern, sondern auch bei Beethoven eine Magie der äußerlichen Klarheit bis an den Rand der Kahlheit, welche nichts ist als der Freiraum, in welchem das Unbekannte ohne Zwielicht angeleuchtet und so erst in seiner Tiefe erkennbar, bewußt gemacht wird. Diese Magie des Einfachen - aber wir wissen, der Begriff der Einfachheit mit dem albernen Zusatz „neu" ist bereits von den Schnellen-Slogan-Brütern in idiotischen Beschlag genommen worden -, diese Magie, die paradoxerweise ein Produkt der Vernunft ist und mit ihr eine Koalition eingegangen ist, wirkt im Werk Lehmanns und macht 290

seine Sprache, so sehr sie sich im Trubel der derniers cris zu verbergen scheint, letztlich universal. Solche Universalität allerdings ist nicht jene vordergründig weltläufige des „ganzen Men schen", denn Lehmanns Musik ist nicht vielseitig in dem Sinn, daß sie im Lauf der Zeit all den ehrwürdig en Werk- und Besetzungsgattungen zwischen Oper, Sym phonie, Streichquartett usw. ihren Anstandsbesuch abstattet, um das entsprechende Trauma im Seelenleben des Komponi sten abzuhaken, auch nicht vielseitig derart, daß der Hörer sich in allen seinen Seelenhaltungen darin wiedererkennt - vor allem die extrovertierten und die maßlosen dramatischen Varianten, die auch menschlicher Ton sind, die fehlen ganz, ihnen scheint diese Musik zu mißtrauen. Aber schließlich ist die Seelenhaltung von Musik niemals expressives Ziel, sondern eine Vorausset zung, die dem genauen auditiven „Schauen" dient, also dem rein musikalischen Aspekt, hinter dem jeglicher Affekt so oder so weit zurückbleibt. (Welche Musik ist reicher, diejenige Rachmaninows oder diejenige Haydns?) Es gibt indes ein Moment in Lehmanns Schaffen, das begrenzend zu wirken scheint und das doch produktiv und nicht zu trennen ist vom Idiom seiner Musik, und hier wage ich mich doch für einen Moment auf die Brücke zwischen Empfindsamkeit und Empfindlichkeit: Denn ich meine ein Moment des Expressiv-Vorsichtigen: das Moment des Scheuen als Voraussetzung für jenes auditive Schauen, also nicht einfach als Berührungsangst vorm nicht Beherrschbaren, aber als eine Art prophylaktischer technischer Hygiene, die ich selbst voll Respekt spüre und aus einer gewissen, schwer zügelbaren eigenen, vielleicht barbarischen, Abenteuerlust als Komponist nicht nachvollziehe. Universalität der Lehmannschen Musik also nicht als diejenige des in allen seinen Höhen und Tiefen sich ausdrückenden „ganzen Menschen", sondern als Produkt einer Klangmagie, die sich im Sinn des Lukäcs'schen Wortspiels, von dem der Begriff des „ganzen Menschen" entlehnt ist, stattdessen an den „Menschen ganz" wendet. Zum „ganzen Menschen" gehört schließlich auch seine historische, gesellschaftliche, land schaftliche Begrenztheit, und die Universalität Bachs etwa ist nicht die seiner professionellen Vielseitigkeit, sondern die seiner strukturellen Radikalität. Erst als „Mensch ganz" in der Tota lität der Wahrnehmung, die nicht nur „ganz Ohr", sondern über diesen seitlichen Eingang zum Menschen „ganz Geist", wachsamer Geist ist, überwinden wir unsere Schranken und treten mit uns und dem Mitmenschen mit uns- Lauschenden undmit Betroffenen in Verbindung und selbst so zugleich - um Strawinskyalszudem bemühen „in Verbindung dem höchsten Wesen". Weil, wenn schon nicht Lehmann selbst, so doch seine Musik, die in ihm, dem Vielbeschäftig ten, vermutlich ihr Eigenleben führt, von dieser Universalität bei aller Begrenzheit der ge wählten Ausdrucksmittel, die so selten bis zum Orchesterapparat vordringen, sehr wohl weiß, ist diese Musik so sicher und zugleich locker in ihrem Gestus und als im Wittgensteinschen Sinn „schweigender" Ausdruck vom „ganzen Menschen" für den wahrnehmenden „Menschen ganz" so festgegründet in sich. Lehmanns Werke wirken auf mich gleichzeitig intensiv und undramatisch. Sie sind poetisch, um nicht ausdruckslos zu sein in einer Kultur, die den Begriff des „Ausdruckslosen" schon wie der dämonisiert, das heißt domestiziert hat. Aber hinter solcher Poesie verbirgt sich und er schließt sich jene zweite Poesie, in der Strukturhaftigkeit der behutsam beschworenen klin genden Materie, deren bewußte Wahrnehmung zum Ausbruch aus dem Käfig des vergesell schafteten Hörens wird. Nichts Destruktives haftet an diesem Prozeß, und indem Lehmanns Musik dabei die „Form wahrt", sprengt sie so erst recht die klingenden Formen, läßt gar - selbst oft ganz passiv - die Formen sich selbst sprengen.

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Nicht nur als Freund, sondern als komponierender Utopist gleich ihm, wünsche ich uns allen ein tieferes Eindringen dieser Musik ins allgemeine ästhetische Bewußtsein, und dies schon deshalb ganz eigennützig, weil ich selbst im Grunde auf den in solchem Sinn sensibilisierten und wachsam auf die Zwischentöne achtenden Hörer angewiesen bin. Er selbst tut in Ver bindung mit seiner Musik wenig oder nichts dazu, so wie es eben seiner bescheiden-eitlen menschlichen Hygiene entspricht, die mir bei ihm manchmal wie ein schon fast manieriert ge pflegtes Laster vorkommt, und die sicher auch manchem hier schon zu schaffen gemacht hat, zumal sie einen heimlich in der Sache kämpferischen Aspekt hat. Leute von der Lehmannschen vielschichtigen Liebenswürdigkeit gehen - ob sie wollen oder nicht - wie ein offenes Rasier messer durch die Welt, und die Liebenswürdigkeit besteht dann eben darin, daß er einem den Rücken beziehungsweise die stumpfe Seite zukehrt. Nicht als Utopist, sondern als Realist und im Blick auf diese Wirklichkeit aber bin ich glück lich, daß es in einer kulturell so verunsicherten, beziehungsweise falsch versicherten Gesell schaft eine solche in sich ruhende und zugleich gärende Erscheinung gibt. Seine Zeit wird kom men, und für die, die ihn kennen und sich mit ihm und seiner Musik auseinandersetzen, ist sie schon da. Und ich nehme diese Möglichkeit heute wahr, einem großen Musiker und kostbaren Menschen zu danken, der durch seine komplizierte Präsenz, durch sein Wirken und Schaffen ein Beispiel gibt von Treue zu den höchsten Ansprüchen an sich selbst, von der Treue zur Utopie mitten in einer utopiefeindlichen, dafür umso mehr illusionssüchtigen Realität, und der dabei die Form so wahrt, daß sich die formt und über die Strukturen des Klingenden hinaus in die Strukturen in Wahrnehmung uns und um unsneu eindringt. Seine Werke sind für mich Bruchstücke eines noch längst nicht erschlossenen geheimnisvollen und nur ihm zugänglichen Steinbruchs, und so viel sie auch von dessen Geheimnissen ahnen lassen, so überraschend und interessant wird doch jeder neue herübergebrachte Stein sein. Ich wünsche ihm und uns, daß er die Zeit und Kraft findet, diesen seinen Steinbruch ausgiebig zu begehen. Vom Gebäude, das er so errichtet, werden einmal andere zu reden haben. 1987

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Nachruf auf Luigi Nono Der Gedanke an den Tod von Luigi Nono ist durchsetzt von Beklommenheit über unsere Unfähigkeit, diesen Verlust zu begreifen, seine Tragweite zu überblicken, geschweige denn auszusprechen. Wir, die wir ihn kannten und liebten, trauern unruhig um ihn und wissen uns gefragt, wie wir selbst uns künftig den Blick bewahren sollen für jene „geheimere Welt", um derentwillen er gelebt und in seiner Musik das Leben beschworen hat. Der Gedanke an sein Wesen, sein Wirken und seine Visionen läßt uns spüren, als wie arm selig der Reichtum einer zeitgenössischen Musik mit ihrer ganzen bunten Vielfalt sich erweist, wo sie nicht von jener Unbedingtheit des Suchens und der ständigen Erneuerungsbereitschaft getrieben ist, so wie es der Fall war bei ihm, der in jedem Werk alles riskierte, alle früher er worbenen Sicherheiten aufs Spiel setzte. Am 29. Januar 1924 in Venedig geboren, schon in jungen Jahren politisch orientiert am an tifaschistischen Kampf der Resistenza während des Zweiten Weltkriegs, später aktives Mit glied der Kommunistischen Partei Italiens, als Musiker - außer durch die kulturellen Traditio nen seiner Vaterstadt - geprägt durch Lehrer und Freunde wie Gian Francesco Malipiero, Bruno Maderna, Hermann Scherchen, in seinem frühen Schaffen anknüpfend an die Webernsche Reihentechnik, zugleich stets am Vorbild Arnold Schönberg orientiert, so die Aufbruchs phase der Neuen Musik in den fünfziger Jahren entscheidend mitgestaltend, hat Luigi Nono in der Folge eine n künstlerischen Weg zurückgelegt, d er letztlich weiter rei chte und riskanter war als der seiner Zeitgenossen: Die neu entwickelten Techniken zögernder variierend, allergisch gegen regressive Tricks, hat er sich bald von den ihm suspekten Entwicklungen einer bürger lich-verspielt en Avantgarde, die schon wieder ihre Fühler nach den alten Klischees ausstr eckte, losgesagt, dabei auch Diffamierungs- und Ausgrenzungsversuche in Kauf nehmen müssen. Ursprünglich ausgehend vom Gestus einer zugleich expressiv und konstruktivistisch beherrschten Sprache als auskomponiertem, vielfach abgewandeltem Appell an die Verant wortung des Menschen für eine zu gestaltende bessere Welt, so in seinen Werken aktuelle und historische Varianten dieser Thematik aufgreifend - Spanischer Bürgerkrieg, Naziterror, Befreiungskämpfe der Dritten Welt, Rassendiskriminierung, Studentenunruhen -, ist Nonos Musik schließlich vorgedrungen in eine radikal-elementare Neubestimmung des Klingenden durch die bewußt stipulierte Sensibilisierung und Erschütterung des auf sich selbst zurück geworfenen reinen Wahrnehmungsvorgangs. Seine späteren Werke beschwören, bewußter als seine früheren und dennoch zugleich deren Botschaften präzisierend, jene Innerlichkeit, von wo aus die unser Dasein prägenden Wirklichkeiten, die inneren und die äußeren, sich letztlich bestimmen. Hölderlin, Nietzsche, aber auch die großen Religionsphilosophen prägten - im Grunde von jeher, aber seit den späten siebziger Jahren noch entschiedener - sein Denken. Seine Musik hat, gleichzeitig von außen wie von innen bewegt, die expressive Erfahrung von Reinheit, Kraft, Größe, Tiefe, Klarheit - alles Begriffe der großen traditionellen Musik - nicht nur bewahrt, sondern neu mit erregender Stringenz geladen: Begriffe, die - obsolet im weite ren Einzugsgebiet der sogenannten Avantgarde - woanders nur noch vernutztes Pathos, allge meine Emphase, anachronistische Idylle zu repräsentieren schienen. Dabei verdankt sich sol che Intensität weniger der expressiven Gebärde als vielmehr der in jedem Moment wirkenden Strukturhaftigkeit des von ihm ins Licht gerückten autonom gestalteten Klang- und Zeitraums, in dem sich der scheinbar vertraute Gestus stets brach und verwandelte. Nonos Werke, seine Vokalkompositionen, darunter // canto sospeso, seine elektronischen Arbeiten, erwähnt seien La fabbrica illuminata und Contrappunto dialettico alla mente; seine 293

rein instrumentalen Stücke, von den Variazioni canoniche, den Incontri, Varianti, dem Diario polacco '58 bis zum Streichquartett Fragmente - Stille. An Diotima und dem jüngst in Donaueschingen erstaufgeführten Orchesterwerk No hay caminos. Hay que caminar... Andrej Tarkovskij, vor dem alle Diskussion verstummte; seine Bühnenwerke, vom Mantello rosso nach Lorca über die skandalumwitterte Intolleranza bis zu AI gran sole carico d'amore, schließlich seine Musiken mit Live-Elektronik, worunter Das atmende Klarsein, Guai ai gelidi mostri und die Zusammenfassung alles dessen im Prometeo, diesem wahnwitzigen Sprung in eine erfüllte Leere: Sie alle sind, zwar bei musikalischen Kategorien ansetzend, dennoch nicht einfach bloß „Musik": Als sprachlos-beredte Botschaften der menschlichen Unruhe schlecht hin sprengen sie diesen längst domestizierten Dienstleistungsbegriff. Alle übrigen stilistischen Manöver einer stagnierenden Kultur weit unter sich lassend, markieren sie möglicherweise die Chancen eines Neu-Anfangs, als Beispiele und Visionen dessen, was Kunst künftig bedeuten könnte. Luigi Nono: der Freund, dessen Zuwendung all das in uns geadelt hat, was uns selbst als Wertvorstellungen leitete und mit ihm verband; der überragende Komponist, Schöpfer einer Welt, die uns Lichtblicke vermittelt hat; der Mensch, der in jedem Moment seines Lebens die Suche nach Erkenntnis schlechthin mit allen daran gebundenen Krisen, Glücks-, Verzweiflungs- und Verirrungsmomenten verkörperte: Wir nehmen von ihm Abschied und halten ihn fest. 90

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Von Nono berührt Für Carla Henius

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„ . . . ,Die griechische Tragödie ehrte menschliche Freiheit dadurch, daß sie ihren Helden gegen die Übermacht des Schicksals kämpfen ließ'. Die .Schranken der Kunst' verlangen die Niederlage des Menschen in diesem Kampf, selbst dort, wo der Irrtum oder die Schuld, die eine derartige Niederlage herbeiführen, im strengen Sinne .schicksalhaft' sind (.auch für das durchs Schicksal begangene Verbrechen'). F a t u m in der griechischen Tragödie ist eine .unsichtbare Macht, die keine Naturmacht mehr erreicht und über die selbst die unsterblichen Götter nichts vermögen'. Doch an der Niederlage des Menschen kristallisiert sich seine Freiheit heraus, der klare Zwang zum Handeln, zum polemischen Handeln, der die Substanz des Ichs ausmacht." (George Steiner, Die Antigonen) 92

Es gibt auf dem Gebiet der menschlichen Leistungen faszinierende Erscheinungen, Höhe punkte, die unsere Bewunderung hervorrufen, Staunen nicht bloß über die so erfahrene Souveränität eines Genies im Umgang mit der Materie, sondern - anhand einer solchen Erfah rung - Staunen über solches Vermögen des menschlichen Geistes schlechthin als über ein Potential, für welches wir uns im Staunen zugleich mitverantwortlich wissen, sodaß Faszina tion und moralische Wirkung zusammenfließen. Es gibt aber darüber hinaus - seltener - Erscheinungen, die solche Formen des Staunens mit einschließen und zugleich doch weit unter sich lassen, und wo der Begriff der Faszination, der letztlich eben auch Beschaulichkeit aus sicherer Entfernung impliziert, nicht zureicht; wo er versagt, weil es Erscheinungen sind, die uns existentiell beunruhigen, ja die sich anschicken, sozusagen „drohen", uns nicht bloß zu berühren, sondern uns zu verändern; zu verändern da durch, daß wir bei ihnen durch eine unerhörte Herausforderung unseres Erlebnisvermögens uns in Zonen der Selbsterfahrung versetzt wissen, wo das Ich, jenseits von zivilisatorisch genorm ten Kategorien, schutzlos, ungeborgen, sich selbst neu wahrnimmt und zugleich sich aufgefor dert weiß, in solcher Schutzlosigkei t auszuhalten: wachgeworde n gegenüber Dimensionen un serer Existenz, von denen unser Unterbewußtsein sehr wohl eine Ahnung hat, aber vor deren beunruhigender Realität der Mensch sich in einer wohltemperierten Kultur abschirmt, und sei es durch verdinglichende Beschwörung von pseudomagischen Surrogaten solcher Erfahrung; wachgeworden und - das unterscheidet das so schockierte vom zuvor beschriebenen artifiziellen Staunen - in Zonen versetzt, in denen jener kreative Geist, dessen Wirken den Zugang dort hin geöffnet hat, sich ebenso schutzlos und ungeborgen weiß wie wir selbst. Als ich im Jahr 1958 zu Luigi Nono nach Venedig kam, war ich ein im eben beschriebenen Sinn von seiner Musik Betroffener und von seiner Persönlichkeit Berührter. Ich ging zu Nono, weil ich in seiner Nähe eine Freiheit von anderer, neuer Qualität spürte: überlegen jener gewiß verlockenden, weithin eher konstruktivistisch motivierten Aufbruchsstimmung, in der das damalige junge Komponieren die überlieferten akademischen Erstarrungen abzuschütteln ver suchte; überlegen, weil erfüllte, quasi idealistisch geladene Freiheit gegenüber einem eher plu ralistisch offengehaltenen im wesüichen Nachkriegseuropa. der obligaten Rebellion der Jungen gegenFreiheitsbegriff die Lähmung durch die alten erstarrten Vorbilder In witterte ich eine a-priori-Vergeblichkeit. Auflehnung, notwendig fixiert, hypnotisiert durch die herrschenden Verhältnisse, gegen die sie sich naiv, quasi frontal, zur Wehr setzt, greift nach Leitbildern, die 295

schlecht durchschaut, sozusagen schlecht gelüftet sind - Fata Morgana der Befreiung von nur halb erkannten Zwängen. Leben und Arbeiten in der Nähe von Nono, so spürte ich, bedeutete me hr als den Sprung über den Zaun auf neue Spielwiesen. Es bedeutete Selbstbefragung und Neuorientierung in reinerer Luft. Im Dialog mit Nono seinen Weg suchen, das hieß in vielfachem Sinn: ausgesetzt sein ausgesetzt in einen ungewohnten, schwindelerregenden Freiraum, von wo aus alles, was als Kodex traditioneller Tugenden noch anknüpfbaren Anspruch und so auch künftig relative Geborgenheit des Komponierens und ästhetischen Denk ens hätte bedeuten können, weit hinte n am Horizont verschwand; ausgesetzt zudem der riesigen Leere und zugleich beklemmend emp fundenen Enge der Ratlosigkeit eines scheinbar entwurzelten, in Wahrheit auf seine tieferen Wurzeln verwiesenen Ichs; ausgesetzt zugleich all den Fragen nach der Möglichkeit und der Verantwortung des Komponierens in einer Zivilisation, vor deren lähmenden Widersprüchen den Kopf arglos in den Sand einer fragwürdigen Oase, genannt Neue Musik, zu stecken schlicht das Risiko eigener Entmündigung in Kauf nimmt; ausgesetzt aber auch und täglich konfrontiert mit der Klarheit eines entschlossen seinen Visionen folgenden und für sie lebenden Geistes, wie Nono ihn verkörperte. Studium bei Nono, das mußte heißen: im Blick auf neu entdeckte Wirklichkeiten ein für allemal und zeitlebens sich ständiger innerer Verunsicherung ausgesetzt wissen, so wie er es selbst bis zum letzten Augenblick war, und es schloß die Bereitschaft ein, sich nach seinem Vor bild zeitlebens Konflikten und Krisen, äußeren und inneren, auszusetzen. 1958 - das war die Zeit nach den Incontri und dem Carito sospeso - die Lorca-Vertonungen lagen schon weiter zurück -, es war die Zeit der Varianti, von La terra e la compagna, der Cori di Didone; Diario polacco '58 sollte entstehen, später, nach einer Denkpause, die a-cappellaVokalwerke Sara dolce tacere und Canciones para Silvia. Am Ende meiner venezianischen Lehrzeit standen die Vorbereitungen zu Nonos ersteT Oper Intolleranza. Es wa r aber auch die Zeit, in der sich Nono in der Avantgarde-Szene mehr und mehr abseits gestellt und ausgegrenzt wußte und seinerseits sich immer schärfer abgrenzte. Nono hatte sich kompositionstechnisch - wie es 1960, nach meiner Rückkehr in die Bundesrepublik, ein west deutscher Komponist mir gegenüber ausdrückte - „festgefressen". „Festgefressen" - das hieß aber: auf der Erneuerung der musikalischen Mittel insistierend mit einer Konsequenz und Hellsicht, welche alle Wege als Rück- und Fluchtwege erkannte und versperrte, die unbefangen in harmlose Strukturparadiese zu führen versprachen, der Rückseite blind organisatorischer, serieller oder aleatorischer Verfahren, und sichwo, dieauf alte, scheinbar überwundene Rekreation des bürgerlich verfestigten Gemüts im Mantel der Sciencefiction-Idylle oder pseudoanarchistisch maskierter, verspielter Botanisierungskünste, und so als augenzwinkernde Regression sich einzuschleichen begann. „Festgefressen" - dieser Vor wurf verkannte und unterschätzte die Radikalität eines eigenwilligen innovatorischen Denkens, welches nach wie vor dort Ernst machte, wo andere aus der Begrenztheit und Orientierungs losigkeit ihres Freiheitsbegrif fs heraus schon wieder sich anschickten, im konventionellen Sinn Spaß, Theater, Rückzieher, Geschäfte oder - noch schlimmer - Schule zu machen. Das ideo logische Bekenntnis des Kommunisten Nono spielte bei dieser wechselseitigen Ent fremdung eine geringere Rolle; es galt weithin damals noch als durchaus tolerables Kavaliers delikt bei einem - wie es sich gehört - „naiven Künstler", welch er so in Konzertsaal und Bühne ansprechende Idyllen aus der zuromantisch-folkloristisch desnoch antifaschistischen Widerstands beschwören versprach. knisternden Erst in demBilderbuch-Sphäre Maß, wie Nono den fruchtbaren Schoß, aus dem das kroch, hartnäckig in der kapitalistischen Nachkriegsgesell296

schaft, nicht zuletzt in dominierenden politischen Tendenzen der Bundesrepublik, ausfindig machte, wurde sein Wirken auch hierin als lästig empfunden. Das entscheidende Ärgernis aber war seine Weigerung, sein ästhetisches Bekenntnis vom politischen zu trennen. Kompositionstechnisch bedeutete dies den radikalen Bruch mit dem to nalen, sprich „bürgerlichen" Modell. Nonos kompositorisches Denken zu jener Zeit ließ prin zipiell keinerlei figurative, im Grunde auch keine melodische Wendung zu. An die Stelle des linearen Gestus trat die abstrakte Konstellation aus akustisch definierten Klängen. Musik als punktuell in sich verspannter Zeitraum: In diesem musikalischen Denkmodell waren sich Nono, Boulez, Stockhausen, Pousseur in den frühen fünfziger Jahren noch begegnet. Aber dieser Extremfall des seriellen Denkens, von wo aus die anderen Komponisten wieder zu figu rativen Gestalten zurückfanden - Meisterwerke wie Stockhausens Kontra-Punkte oder Boulez' Marteau sans maitre verdanken sich solcher Öffnung der punktuellen Kompositionsverfahren - und so gewisse rmaßen zu surrealistisc h-pittor esken Landschaften vordrangen, für die im Fall des Marteau György Ligeti in verräterischem Enthusiasmus den Begriff der „Katzenwelt" prägte, - dieser Extremfall bildete für Nono eine strikt zu behauptende Basis, eine Art kom positionstechnischer Stützpunkt zur Sicherung des neu erschlossenen Geländes. Er war Aus gangspunkt zur Differenzierung und Erweiterung eines sich von den überkommenen tonalen Relikten befreienden Hörens. Bei solcher radikal neu kodifizierten Morphologie stand im Zen 64

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trum der Erfahrung eine neuefaltArt Melos als überwölbendem Resultat einer sich ständig verlagernd en Beziehungsviel ausvon Klangpunkten im abgesteckten Raum: Harfenklang, Streicherpizzicato, Marimbaschlag, Vibraphon, Celesta usw., im siebten Stück des Canto sospeso auf punktuelles Zusammenwirken reduziert, wirken so zusammen als Partikel eines charakte ristischen, quasi punktuell entschlackten Klang- und zugleich Ausdrucksfeldes. Oft hat Nono dessen Formanten homogen vorgeordnet, zum Beispiel als imaginäres Instrumentarium aus acht Becken und vier Tamtams, aus sieben Sopranen usw. Die musikalische Gestalt verstand sich so als Gefüge aus stationär bestimmten Einzelklängen noch zu einer Zeit, als andere längst zu virtuos schillernden Texturen übergegangen waren. Der Canto sospeso ist ein bedeutendes Beispiel aus dieser Phase. Allenfalls in ihren expressiv zugespitzten Momenten finden dort die punktuellen Elemente, im vokalen Fall die Silben, zum melodischen, quasi künstlich spre chenden Gestu s zusammen: so beim Ru f des todbereiten Mädchens Ljubka - „Addio Ma mma " - im bereits genannten sieb ten Stück. Gerade in einem Werk wie dem Canto sospeso deutete sich jene Abweichung an, dank welcher heute Welt en zwischen Komponisten wie Stock hausen und Nono liegen. Zugleich aber - und dies wäre sozusagen das „komplementäre" Ärgernis in der Musik Nonos für seine Umgebung - hat dieser als einziger in jedem Augenblick am über lieferten „großen" expressiven Ton, am pathetischen, lyrischen, dramatischen, affektgeladenen Gestus, wie er seit Monteverdi, Beethoven und Schönberg überliefert ist, angeknüpft und fest gehalten. Dies machte seine musikalische Erscheinung im seriellen Lager natürlich noch widersprüchlicher und erlaubt zu einem gewissen Grad den Vergleich mit jenem älteren Rezeptionsproblem der expressiv-emphatisch sich gebenden und zugleich zwölftönig verzerr ten Musik Schönbergs. Dabei ist es - so wie bei Schönberg - eben auch bei Nono gerade diese, in seinen seriell an gelegten Werken modellhaft sich darstellende, „strukturalistische" Handhabung des aus 94

drucksgeladenen Tones, die dessen emphatische Verdichtung bewirkt - allzu vertraut und zu gleich provozierend für den „Avantgardefreund", der sich dann doch lieber in den Dschungel des Exotischen locken lassen und eher dort als mitten in der eigenen liebgewordenen Affek tenlandschaft sich neu zurechtfinden möchte. Und es ist eben die daran erfahrbare strukturali-

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stische Brechung, welche in einer Zeit des billig verfügbaren falschen Pathos und des Über drusses - an ihm wie an anderen leeren Emotionalismen - das Pathos der Musik Nonos mit ge heimnisvoller Kraft: mit „Stringenz" auflud, einer Kraft, die bis heute keine Gleichgültigkeit beim Hörer zuläßt. Strukturalistische Reinigung einer lapidaren, quasi archaisch erneuerten Expressivität, um diese so aus ihrer konventionellen Verdinglichung herauszubrechen: Hier hatte sich Nono „festgefressen" - besser: Im Blick auf solche Reinheit hatte sich der Nono der späten fünfziger Jahre in einer rauhen, unwirtlichen und zugleich erhabenen Felsenlandschaft der nackten Zei chen festgekrallt, aus der die anderen in wohnlichere Gegenden, vorwärts, rückwärts, seitwärts herausstrebten. Nono ist damals nicht weiter, aber er ist tiefer gegangen. Und während andere Komponisten jener Aufbruchszeit glaubten, sich doch irgendwann dort, wo sie gerade gelandet oder gestran det waren, für den Rest ihres Schaffens seßhaft machen zu können, hat der am Material orien tierte Strukturalist Nono immer wieder den expressiv gerichteten Visionär Nono zum Weiter vordringen getrieben. Dies ist ein zentraler Aspekt in der Musik Nonos. Seine Strukturierungs und Differenzierungsverfahren bestimmten sich letztlich durch ihre Funktion, die Musik in den Raum hineinzutreiben, wo der im konventionellen Ausdruck erstarrte expressive Archetyp - benennbar, weil domestiziert, als edle Belcanto-Figur, als Fanfare, als Gestus der Gewalt, des Protests, des Appells, des Aufschreis, aber auch der Innigkeit oder der Trauer - durch die rational oder intuitiv kontrollierte Organisation seiner Strukturpartikel radikal erneuert, gerei nigt, gewissermaßen zum Urgestein einer menschlich-übermenschlichen Ausdruckslandschaft zurückve rwandelt und so befreit wird: nicht bloß „faszinierend" im Sinn paläontologischer Ku riositäten fürs Seelenmuseum, wie bei vielen schlau archaisch-exotisch sich gerierenden Zeit genossen, sondern erregend als Begegnung unserer Wahrnehmung mit Räumen und Kräften, die, jenseits von zivilisatorischen Konventionen und Regeln, unser Dasein bestimmen: Begeg nung, bewußt gemacht über die Brechung der geschichtlich vererbten Signale ihrer Be schwörung. Um mich hier nicht dem Verdacht bloßer enthusiastischer Mystifikation auszuset zen: Jenes inzwischen bürgerlich verwaltete Affektenvokabular, Signale der Hoffnung, der Be drohung, des Protests, der menschlichen Empfindungen gegenüber Natur, Gesellschaft, Dasein, Tod - Empfindungen, die anderswo im Hinblick auf ihre allzu schnelle Verfügbarkeit im Feinsinn eines schlecht poetisierenden Kulturalltags als verdinglichte Standards entweder verachtet und zugunsten strukturorientierter Intentionen ignoriert, oder aber von einem clever eklektizistischen Denken im neosymphonischen Gewand mehr oder weniger bloß abgerufen und benutzt wurden, sie werden bei Nono erneut mit archaischer, quasi „übermenschlicher" Kraft geladen und neu wirksam dadurch, daß sie durch ihre Setzung und zugleich strukturalistisch kontrollierte Zer-Setzung nun ihre eigene, hochdifferenzierte Anatomie mit ins Spiel bringen. (Hier hätten Analysen anzusetzen. Am Beispiel der Canti di vita e d'amore habe ich es an anderer Stelle schon andeutungsweise vorgeführt: Glocken, magische Mittel des Rufes zur kollektiven Besinnung auf eine andere - bessere ... - Welt und so unzählige Male in sympho nischer Musik nach Ma hler benutzt und vernutzt, erscheinen darin nach einer Konstell ation aus vielfach gefilterten und innerlich artikulierten Tonaggregaten aus Bläsern und Streichern, die den ersten Teil bilden, und nach einem allein durch eine Sopranstimme überbrückenden zwei 95

ten Teil, zu Beginn des dritten Te ils als geschlage Cluster, gebündelt, beziehungswe arpeggiando gegeneinander versetzt. Durch solchenerabgestufte Zuordnung, und zugleichisealsquasi Varianten der früheren Klangblöcke, werden sie ihren ursprünglichen Konnotationen entfrem-

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det, und sie zeigen sich als das, was sie eben auch sind: als Metallstangen, Surrogate echter Glocken nebenbei, Industrieprodukte. Im Zusammenwirken mit anderen Metallschlaginstru menten, den Becken und den Tamtams, aber auch den gleichfalls rhythmisch analog abgestuf ten Einsätzen auf Fellinstrumenten und geräuschhaft gehandhabten Streichern verwandeln sie sich gewissermaßen in symbolisch beschworenes Urelement, Erz, bloßes Metall, Materie schlechthin, und sind, zusammen mit all den anderen Klangquellen, Partikeln von intervallisch und rhythmisch kontrollierten Zeit-Artikulationen, magische Rufe und zugleich Angebot an die strukturelle Beobachtung. Es gibt kein Wort für diesen unerhörten Ausblick auf einen virtuel len Reichtum an Ausdruck und Gestalt in einem.) Strukturelle Wahrnehmung und die Bewußtmachung des akustisch bestimmten Moments, seiner inneren Differenziertheit und zugleich seiner Neubestimmung durch den Zusammen hang, in dem er steht: All dies, so oft bloß zu labortechnischer Information oder zum orna mentalen Schnörkel heruntergekommen, tritt bei Nono in überhöhende Spannungsbeziehung zur naturhaften Kraft der Klänge als magischen Zeichen. Nonos Musik, als Niederschlag nicht von technologisch-„botanisch" forschendem Kalkül, sondern solches Forschen als Produkt von existentiell berührter, expressiv getriebener Unruhe, führt zu einer von kreativer Vernunft und Intuition gewissermaßen beherrschten Magie der gereinigten Emphase. Der beim Suchen in die Tiefe vordringende, „festgefressene" Nono stand so nicht nur im Konflikt mit einem Kultur betrieb, der sich wenigstens noch durch solche Musik schockieren ließ, sondern auch im Kon flikt mit jener Avantgarde selbst, insofern diese sich über einen Fortschrittsbegriff im technizistischen Sinn international verständigt zu haben schien. Der Gleichgültigkeit einer offenbar in den eigenen Widerspruch verliebten, damit kokettie renden, in Nonos Augen pseudoanarchistisch und pseudosubversiv auftrumpfenden, vor dem mißverstandenen Beispiel John Cages nachgerade kindisch gewordenen und so durchaus zeit weise subventionablen, weil unterhaltenden, „Darmstadt-Avantgarde", deren schlauere Prota gonisten sich in Szene zu setzen wußten als letztlich den Weltlauf nicht weiter gefährdende Hofnarren des von ihnen vorsorglich ironisierten Systems: Schlaumeier, agierend auf dem Ver suchsgelände eines ihnen gelassen zugewiesenen, surrealistisch verspielten Walt-Disney-Landes in einer an der langen Leine gehaltenen Kultur: Eben jener so ihm begegnenden Gleich gültigkeit setzte Nono zusammen mit seiner ästhetisch insistierenden Musik sein sozialistisches Bekenntnis entgegen. Es ist schwer, vielleicht unmöglich, der politisch-ideologischen Stand ortbestimmung des Resistenza-Mitglieds und Kommunisten Nono und ihrer Dynamik im Lauf der Jahre, seit der Zeit der Lorca-Vertonungen bis zum Moskau anklagenden Diario polacco II des Jahres 82, gerecht zu werden. So wenig wie in einer Gesellschaft der macht- und profit orientierten Heuchelei und zynischen Trägheit gegenüber den Bedrohungen und sozialen Katastrophen auf dieser Erde ein schnelles Urteil über den idealistisch-utopischen Aspekt welcher Heilslehre auch immer, sie heiße Kommunismus oder Christentum, gefällt werden kann, so wenig läßt sich über Nonos politischen Standort anders als respektvoll befinden - am wenigsten durch die, die, in der Sicherheit der atlantisch gebündelten Industrieländer geborgen, selbst noch im Anblick weltweiten Elends und Unrechts, womit solche Geborgenheit bezahlt wird, sich alle Optionen offen zu halten pflegen. Der Antikommunismus und die ideologische Selbstgerechtigkeit, denen der Protest gegen die, auch von Nono erkannte, Bevormundung durch die stalinistischen Regimes Vorschub geleistet hatte, waren selbst ein zu undurchsichtig durchsichtiges Gemisch von echter Empörung und Abgrenzung gegen erfahrene Menschen verachtung unter sozialistischem Vorzeichen einerseits und schlau berechnendem zynischen Kalkül von Machtinteressen von auf ihre Weise nicht minder fragwürdigen und menschenver299

achtenden Systemen im westlichen Lager andererseits, welches seine toleranzerleichternde Prosperität, mit allen mehr oder weniger verantwortungsvoll darin genutzten Freiräumen, bis her stets durch militante Verdrängungsmechanismen und -manöver zu gewährleisten wußte, durch gedankenlose Ausbeutung von Ressourcen in der Dritten Welt , durch Zerstörung des Pla neten und durch Duldung von Terror, wo immer dies der eigenen Stabilität nützlich erschien. Aus der Sicht der Nüchternen und Aufgeklärten war Nonos politisches Bekennertum naiv, auch auf verdächtige Weise geborgen in einem international kommunizierenden Wir, ver körpert durch Parteifreunde und, gleich ihm künstlerisch wie politisch aktive, Gesinnungs genossen in der ganzen Welt. Zugleich aber wurzelte es in der Geschichte der revolutionären Bewegungen, die er studiert hatte und der er sich verpflichtet wußte. Nonos politischer Wir kungswille - parallel oder quer zur Doktrin seiner Partei - war unverzichtbarer Teil seiner „prometheischen" Besessenheit, der Menschheit „das Feuer zu bringen", unter Gefahr der eigenen Bestrafung durch jene Mächte, „über welche selbst die unsterblichen Götter nichts vermögen" und gegenüber welchen die Dialektik des „Frevelnden" und „Scheiternden" am Ende doch Recht behalten wird. Luigi Nono hat sich immer wieder mit der Unruhe auf diesem Erdball solidarisiert, hat sie zu seiner eigenen gemacht. Aus dieser Unruhe hat sich sein Künstlertum ebenso wie seine Menschlichkeit beständig erneuert. Erneuerung in einer starren und von Erstarrungen starrenden Welt der „gelidi mostri", der gefrorenen Ungeheuer, Erneuerung als unverzichtbarer Teil der eigenen Beständigkeit: Das bedeutet Wandlungen, die schmerzhaft sind und mit vulkanischen Umschichtungen einhergehen. Von solcher Spannung im eigenen Innern her bestimmte sich auch der durch ihn so oft rück sichtslos herbeigeführte Konflikt mit dem in seinen Augen bequem oder unentschlossen ver harrenden, gar sich einpassenden Mitmenschen, und dies umso heftiger, als er selbst zugleich wie kaum ein anderer bereit und begierig danach war, hemmungslos Vertrauen in den seeli schen Einklang mit dem anderen zu setzen. Das Konfliktpotential entzündete sich immer wieder an der Frage nach unserer unreflektierten Bequemlichkeit, an der Erinnerung an das gerade im bürgerlichen Alltag immer wieder Ver drängte, und im Namen jener Unruhe und in heftiger Abneigung gegen falsche Ruhe, bei sich oder bei anderen, schien es zuzeiten nachgerade eine Obsession Nonos, den anderen, wie auch immer, dort zu provozieren, wo er bei ihm unbefragte Selbstsicherheiten zu wittern meinte. Mir selbst, der ich als Studierender zu ihm kam, schienen solche Affronts eher Teil der von mir bei ihm gesuchten Dienstleistung des Lehrers am Schüler zu sein. So kam es, daß in unse rem Verhältnis der obligate Konflikt gewissermaßen sich in aller Ruhe anbahnte und in für sich harmlosen Schüben, quasi im Einklang mit meiner eigenen Abnabelung als Komponist sich auflud, bis er 1971 tatsächlich zutage trat. Die Frage, welche - vor genau zwanzig Jahren - die Kluft zwischen ihm, dem immer verzweifelter apodiktisch Indoktrinierenden und mir, dem immer verzweifelter skeptisch Suchenden aufriß, lautete: Was geschieht mit all den inneren Kräften, Energien und Sehnsüchten, welche sich der doktrinären Vereinnahmung durch ein wie auch immer begründetes, verkündetes, zu rechtfertigendes Menschenbild entgegenstellen; Kräfte, welche sich quasi aufbäumen, so, wie ich es an mir und so vielen anderen beobachtete? Gerade in Zeiten der eigenen Anfechtung konnte Nono solches Fragen weder bei sich noch bei anderen zulassen; er sah schon in ihm den Straftatbestand von Flucht vor der historischen Not wendigkeit gegeben. Zwölf Jahre Schweigen zwischen Nono und mir haben indes einen inneren Dialog bewirkt, der uns einander vermutlich näher brachte, als es irgendwelche fortgesetzten Spiele animoser Reibung bei ständiger Begegnung vermocht hätten: so daß wir, als wir uns 1983 wiedertrafen 300

und wiederfanden, keinerlei Aufarbeitungs- oder Aufräumungsprobleme zu bewältigen hatten, vielmehr uns beide neu verstanden als Komponisten mit zugleich gewandelten und sich treu gebliebenen, in gewisser Weise gar einander ergänzenden, vielleicht sogar bestätigenden Visionen. Als einer, der sich in allen Phasen die unveränderte Verehrung des zu Nono Auf blickenden und von ihm Lernenden bewahrt hatte, stand ich in der Folgezeit gewissermaßen unter Naturschutz trotz all der Konflikte, die sich nach wie vor mit seiner Umgebung ergaben. Meine Beziehung zu ihm, die sich gegenüber dem sonst sehr schnell und enthusiastisch sich Befreundenden zurückhaltend und eher abwartend angebahnt, sich allmählich vertieft und sich so aus einer künstlerischen Anhängerschaft über eine kritisch sich präzisierende Gesinnungs gemeinschaft zur Freundschaft behutsam vorgetastet hatte, sah sich insgesamt befestigt durch die verschiedenen Formen der Berührung im Lauf der Jahre: Die Diskussionen während meines Studiums, das Sich-gegenseitig-Beobachten beim Umgang mit dem, was man den „kompositorischen Alltag" nennen könnte, das Füreinander-Eintreten in der Öffentlichkeit, gewiß auch die immer genauere gegenseitige Abgrenzung und schließlich die glückliche Bewältigung jeglicher Entfremdung, die - wie gegenüber vielen ihm Nahestehenden, die sich das Sich-selbst-den-Kopf-Zerbrechen von ihm nicht abnehmen lassen wollten und so zeitweise Gemeinsamkeit aufkündigten - auch mit mir eintreten mußte, wenn ich mich vom Tempera ment seines Auf-die-Welt-Reagierens nicht bloß enthusiastisch mitreißen und im eigenen Suchen lähmen lassen wollte. Um Nono treu zu bleiben, mußte so mancher ihm untreu werden - so wie er selbst in seiner Untreue sich und uns gegenüber letztlich sich und uns treu blieb. Gleichviel: Wem Nono als Freund sich zuwandte, der sah - durch alle Irritationen hindurch - sein eigenes Leben durch die Berührung mit dem seinen nicht nur bereichert, sondern zu gleich neu geladen mit gesteigerten Ansprüchen an sich selbst und zugleich intensiviert durch den Blick Nonos und seinen Enthusiasmus für das Beste in uns als darin erkanntem kostbaren Teil seines eigenen idealen Wesens. Im übrigen mag über die Komplexität und Widersprüchlichkeit des Menschen Luigi Nono, seine Verletzlichkeit und Verletzendheit, seine Warmherzigkeit und seine Grausamkeit, seine tiefgründige Übermütigkeit und seine Depressivität, seine rückhaltlose Zuwendung zu und seine oft eiskalte Abwendung von seiner Umgebung, seine Entzündbarkeit im Positiven wie im Negativen derjenige weiterreden, der glaubt, menschlicher Komplexität schlechthin - und dies mit sprachlichen Mitteln - gewachsen zu sein. Seinen Feinden lieferte Nono Angriffspunkte genug. Kaum einer irrte so schutzlos mit seinem Widerspruch herum. Aber in all seinen Reak tionen, wie überraschend oder gar irritierend auch immer, ließen sich die Reibungen eines Wil lens an dieser Welt erkennen, eines Willens, der ständig getrieben war von einer Unermüdlich keit des Suchens nach Räumen, in denen ein wachgewordenes - und das bedeutet ein in dieser Gesellschaft beengtes - Bewußtsein freier atmen kann. In meinen Augen und Ohren hatte der „Strukturalist" Nono den ideologisch insistierenden „Verkünder" Nono von Anfang an übertroffen, widerlegt, präzisiert und zugleich expressiv ge reinigt. Nono war letztlich eben kein Verkünder - er war eher ein Künder und ein Seher. (Er konnte deshalb auch kaum mit Sprache diskursiv umgehen. Dabei waren seine sprach lichen Äußerungen: Gedankenbrocken - fragmentiert bis hin zu völlig zusammenhanglosen Begriffskonstellationen - anschaulicher, treffender, gewiß oft auch verräterischer als alle ratio nalen Einlassungen anderer, wo diese sich in bezug auf die Kunst letztlich vergeblich mit der Tücke des argumentierenden Wortes herumschlugen: In seinen - oft unbekümmerten - Sprach aphorismen war Nono präziser, als er es wohl selbst wußte.)

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Die Frage aber nach der Herkunft und nach dem Wirken jener nicht regulierbaren, ideologi scher Bestimmung sich entziehenden Kräfte im menschlichen Innern, ihrer Rebellion gegen jedwede, wie noch so verantwortungsvoll motivierte, Maßregelung durch welche Autorität auch immer: Diese Frage war längst in seinen Werken berührt und nicht erst in seinem Streich quartett Fragmente - Stille. An Diotima als entscheidende und zentrale Frage der Kunst an den Menschen erkannt und thematisiert worden. Kompositionstechnisch ging die zunehmende Bewußtmachung dieser Fragestellung bei Nono einher mit der wachsenden Tendenz, Strukturen nicht mehr zu fixie ren und auszuzirkeln, sie quasi zu diktieren, sondern durch Schaffung von elementaren, strukturöffnenden Voraus setzungen - Stille ist nur eine von ihnen -, oft über ungeheure, quasi ins Archaische zurück drängende Vereinfachungen, den Blick auf die Anatomie und zugleich auf die Strukturhaftigkeit des Klingenden schlechthin zu lenken, wohl wissend, daß es nicht einfach um die Suche nach neuen Klängen, sondern um die Veränderung des Hörens geht. Nicht mehr ging es darum, Strukturen zu „machen", sondern Strukturen freizusetzen, Wahr nehmung von Strukturhaftigkeit möglich zu machen, dem Klingenden seine Unberührtheit als nicht Konstruiertes, sondern als Entstandenes zu lassen, sich von seiner Unberührtheit b erühren zu lassen und sie dabei dennoch, auf welchen Umwegen auch immer, mit dem eigenen Willen zu durchdringen: Es ging darum, den Ort aufzuspüren, wo menschlicher oder, im Nietzsche schen Sinn: übermenschlicher Ausdruck und Naturgewalt ein und dasselbe sind. Komponieren hieß mehr und mehr für Nono: Räume schaffen, im radikalen Umgang mit den Mitteln solche Räume für die Wahrnehmung quasi erzwingen, den Ton und die Konstellation des Klingenden als potentiellen Raum öffnen, Struktur als Raum aus Räumen bewußt machen, ein Kontinuum ermöglichen vom mikrointervallischen über den realen Raum des gerichteten Schalls bis hinein in die inneren Erlebnisräume der im Wahrnehmen sich selbst wahrnehmen den Psyche. Auf einem gemeinsamen Spaziergang vor wenigen Jahren blieb Nono vor einem Stein, der auf dem Weg lag, stehen und sagte: „Schau diesen Stein ganz genau an, und nachher wirst Du alles verstehen". Das war die Zeit, in welcher er in Venedig die Arkaden vor der Basilika von San Marco von allen Seiten photographierte, weil ihn die überraschenden Konstellationen der einst aus allen Teilen der Alten Welt hier zusammengetragenen Steine begeisterten. Fünfund zwanzig Jahr e zuvor, in seiner Darmstadt-Polem ik gegen planlos sich aus fremden Kultur en be dienenden Cage-Epigonen, hatten ihm just eben jene Steine von San Marco als Beispiel ganz anderer Art gedient: nämlich als Zeugen eines repressiven, sich mit Trophäen aus beraubten Ländern schmückenden Imperialismus. Wandlung? Sicher, zum Glück. Aber nicht Kehrt wende, sondern Erweiterung des Denkens und Neubesinnung mit der Bereitschaft, das bereits Gedachte ständig neu aufs Spiel zu setzen. Die Suche nach einer neuen Chemie der Kommunikation für ein nicht nur expressiv berühr tes, sondern seinerseits berührendes, das heißt sich selbst wahrnehmendes Hören - der Begriff der „Wahrnehmung" ist nicht zufällig erst vor wenigen Jahren im Musikdenken heimisch geworden - findet sich in bedeutenden Ansätzen schon in älteren, scheinbar eher „rhetorisch" gerichteten Werken Nonos. Schon die frühen instrumentalen und vokalen Massierungen, auch der vorseriellen Stücke, bedeuteten nicht einfach Potenzierung der Schallkraft, sondern eher und im Gegenteil Brechung dieses so gesetzten Potentials von rhetorischer Gewalt durch eine zum Teil utopisch angelegte Differenzierung im Innern. Das eigenartigste Beispiel hierfür sind die Varianti, aber auch schon Werke wie // canto sospeso, lncontri, La terra e la compagna, Cori di Didone, selbst die Oper Intolleranza mit den stets anders verteilten Fellschlägen im

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ersten instrumentalen Teil, ganz besonders aber die Canti di vita e d'amore und selbst „gewalttätige" Stücke wie etwa Per Bastiana - Tai-Yang Cheng oder Como una ola difuerza y luz enthalten Herausforderungen nicht so sehr an ein durch expressive Sprachgewalt aufzurüt telndes, als eher an ein zu sensibilisierendes Hören, welches durch alles Pathos und durch alle Lyrik hindurch neu gefordert wird. Und es ist nicht einfach der komponierte Notentext des Diotima-Quartetts, welcher die Nachricht dieser Musik vermittelt: Es ist die Wahrnehmung sei ner Spiegelung in unserem Innern über jenen Raum der Stille, aber auch der Erinnerung, der Reflexion, der Selbsterfahrung, den er durch immer wieder anders, quasi kunstlos, übereinandergetürmte Fermaten öffnet. Die Nonoschen Fermaten, seine vielfachen Pianopianissimi, seine überdimensionierten Dauern, die nackten Intervalle, die Schwebungen im Mikrobereich, seine Unisoni, seine Non-Vibrati, seine radikalen spieltechnischen Reduktionen und Verfeine rungen, die vom Musiker ein neues und oft ungewohntes Ethos der Selbstverleugnung und Selbstfindung zugleich verlangen, ihre Bewußtmachung mit elektronischen Mitteln und die rücksichtslose Einfachheit ihrer Nutzung: kühne Kunstlosigkeit ihrer Handhabung: All das zielt auf jene Zusammenziehung und zugleich Erweiterung der Wahrnehmung, in der sich - um es nicht zum erstenmal mit Georg Lukäcs zu sagen - der „ganze Mensch" zum „Menschen ganz" zusammenzieht und so zugleich erweitert. Dabei sind gerade die letzten großen Werke Nonos trotz ihres statischen Charakters niemals verwechselbar mit, geschweige denn mißbrauchbar als jene idyllischen „Wahrnehmungsandachten", in welchen kreatives Unver mögen sich anderswo zum Erba uungsmedium für kulturverdrossene Meditationsmoralisten zurechtzustilisieren weiß. Die Stille, in die uns die Musik des späten Nono führt, ist ein Fortissimo der erregten Wahrnehmung: nicht eine, wo das menschliche Suchen weise zur Ruhe kommt, sondern wo es sich auflädt mit Kraft und jener Unruhe, die uns erneut sensibel und un duldsam gegenüber den Widersprüchen dieser Wirklichkeit macht. Es ist eine Stille, die - um mein altgedientes Wortspiel zu bemühen - nicht süchtig und nicht hörig, sondern die sehnsüch tig und hellhörig macht; hellhörig übers Hörbare hinaus, hellhörig gegenüber unserer eigenen humanen Bestimmung und sehnsüchtig nach jener Klarheit, im Blick auf welche jene Men schen ihr Opfer begriffen haben, denen Nono im Canto sospeso ein Denkmal gesetzt hat. Damit einhergehend aber stellt sich ein Topos ein, der die Wandlung in Nonos Kunst mit bezeichnet und zugleich ihre Kontinuität neu definiert: das Moment des Irrens; des Irrens im doppelten Suchens, Gehens, wo keine Wege, und garnicht, wo WegweiserSinn: sind; des des ziellosen Irrens aber auch imdesSinn des a-priori-Verfehlens, weilschon das Ziel die Vor stellungskraft übersteigt. Einzig in der Kraft des Suchenden zum Weiter-Irren macht sich Realität und latente Gegenwart des Ziels, als in uns selbst Verborgenes, bemerkbar: Das „errare humanuni" erfährt sich so in neuen Dimensionen - Schönbergs „höchstes Ziel des Künstlers: sich ausdrücken" als identisch mit dem höchsten Ziel des Menschen schlechthin: sich erken nen. Und dies schließt zwangsläufig die Notwendigkeit und die Unvermeidbarkeit von Krisen ein. Krise, nicht als einmaliges Moment der gewaltsamen Verunsicherung, des Schocks mit anschließender Erleuchtung, sondern als ständige potentielle Präsenz. Nono, der sie früher als bürgerliche Anwandlung des Selbstmitleids ignorieren zu können glaubte, hat sich in seinen letzten Jahren der Krise - als Erfahrung am Rand des psychischen Abgrunds und so mit dem Tod verschwistert - ausgeliefert bis hin zur Selbstzerstörung. Angst, Depression, Infragestel lungen des eigenen Tuns und Seins aus nicht steuerbaren inneren Gründen und Abgründen her aus: Alles, was einmal bei Nono endgültig gebannt zu sein schien, hat er als uralte treue Be gleiter und Wegweiser des Suchenden wieder an sich heran- und bei sich eingelassen. Von hier

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aus hat er auch wieder versucht, andere neu zu verstehen und neu zu akzeptieren. Und genau dies ist es, was in der Begegnung mit der Erscheinung Luigi Nono festzuhalten ist: jene Kraft nämlich zu r ständigen Ver unsicherung, die („sic her oder unsicher - aber s i e h e r", wie Nono an seinen Freund und Mitarbeiter Andre Richard einmal schrieb) über alle per Scheuklappen erwerbbare falsche Sicherheit befreiend hinausführt in die Begegnung des Menschen mit der eigenen inneren Kraterlandschaft, dorthin, wo die Vergesellschaftefheit des Ichs nicht mehr hinreicht, und wo Krise und Größe sich wechselseitig bestimmen und der Kunst als Botschaft von beidem zugleich Licht und Tiefe, Klarheit und Geheimnis vermitteln. Wo Nonos Musik so sich zur Wahrnehmungsarbeit, zur Wahrnehmungs-Aktion: zur „tragedia dell' ascolto" zusammenzieht und erweitert, nimmt sie Züge an von dem, was man „Nicht Musik" nennen müßte (oder sollte man in Anlehnung an Nietzsche hier von „Übermusik" reden?). Nonos „Nicht-Musik" überwindet den auch in der Neuen Musik schon wieder - wenn auch anders - domestizierten Musikbegriff, nicht indem er ihn kategorisch neu definiert, sondern in dem er ihn gewaltlos-gewaltsam öffnet, quasi aufreißt. Seine letzten Werke, mehr oder weni ger in unvollendetem oder vollendetem Rohzustand hinterlassen, zum Teil quasi probeweise ans Licht gestellt in Zusammenarbeit mit ihm nahestehenden Musikern, die er an seinem Su chen teilhaben ließ (und auf die ich neidisch bin): Diese letzten Werke sind ungestalte Meteore von jenen anderen Planeten des menschlich-übermenschlichen Kosmos, nach denen er zeitle bens Ausschau hielt, ahnungsvoll zu entschlüsselnde, sperrige Nachricht aus dem „Norden der Zukunft" (Paul Celan). Zumindest für den späten Nono konnte es kein wie auch immer zu definierendes kunstferti ges Metier mehr geben. Was hier zählte, war der unmittelbare, ungeschützte kreative Zugriff. „Glücken" - das heißt: „greifen", und das heißt: „ergreifen" - kann ein solcher Zugriff nur dort, wo jenseits aller artifiziellen Weisheit der schöpferische Wille nicht kalkuliert, sondern aus existentiell getriebener Neugier heraus triebhaft-intuitiv handelt, dort, wo er seine Kraft aus der Erfahrung der Gefahr, nämlich der gewaltsam zu durchbrechenden Unsicherheit gegenüber dem unbekannten und doch geahnten Ziel bezieht: Unsicherheit und Verunsicherung, die sich subjektiv als Bedrohung von innen und objektiv zugleich als kreative Kraft darstellt. „Bin wieder in crisi" ließ mich Nono wissen, ich weiß nicht, wie oft. Er hatte kein schützen des Metier. Er war kein „Meister", wenn der Begriff der Meisterschaft die abgeklärte Ver 96

fügung über die aus Mittel und Wirkungen des eigenenbehäbige kreativenJuweliere Vorgehens meint. waren, die Wo ringsum abenteuerlichen Goldsuchern geworden ihre Funde gewinnbringend anzulegen wußten, blieb Nono rastlos und selbstverzehrend dem entscheidenden Geheimnis einer wachgewordenen Kunst auf der Spur. Und gerade deshalb läßt sich in seiner Musik eine Reinheit der Faktur erfahren, die sich eben nicht bestimmt aus einem vorgeschalteten Können heraus, dafür aber aus einem umso stärkeren Nicht-andersKönnen unter dem Druck von Visionen, die weit übers ästhetisch Bestimmbare hinausgingen - Visionen eines Menschen- und Wirklichkeitsbildes, welches den Raum der bloßen Utopie durchstoßen hat und vorgedrungen ist zu jenen Wirklichkeiten, die wir utopisch nur deshalb nennen, weil wir ihre reale Präsenz in jedem Moment unseres zivilisatorischen Alltags verdrängen. Im Lauf seines Lebens hat sich Nono mehr und mehr mit Mythologie, Religionsphilosophie, mit Nietzsche und Heidegger, Martin Buber und Franz Rosenzweig, mit der Kunst der ver folgten spanischen Juden im Mittelalter und mit all den Dokumenten der Vergangenheit und der Gegenwart beschäftigt, welche die Leidensgeschichte des im Menschen und durch den Men-

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sehen verschütteten Menschen beschreiben. Am Ende bestimmte sich eher von hier aus sein „Metier" (die Berliner Studenten konnten's nicht begreifen). Und während man anderswo Techniken entwickelte und Verfahren verfeinerte, die dazu dien ten, dem bürgerlich geprägten Geist wie auch immer „neue" Einsichten zu vermitteln, quasi Sanierungsversuche an seinem Rezeptionsvermögen vorzunehmen, ging Nonos Musik unver mittelt von einem bereits erneuerten Rezeptionsvermögen aus. Und während der Metier-Begriff weithin eher ein Tricksystem meint, welches den „alten" Menschen zu einer wie auch immer faszinierenden Sightseeing-Tour, im besten Fall mit Ausblick auf andere Horizonte, einlädt, um ihn am Ende aber doch wieder bei sich zuhaus e, in alt vertrauter Umgebung abzusetzen, teilt sich die „Kunstlosigkeit" des späten Nono mit als die Direktheit gleichsam eines außerzivilisatori schen Wesens, welches aus exterritorialer Perspektive gleichgültig und auf unheimliche Weise machtvoll und rücksichtslos mit dem Kodex und den Maßstäben kompositorischer Technologie umgeht: Mittel zum unwiderruflichen Aufbruch, Reisevehikel ohne Rückfahrkarte. So schließt jenes Nicht-anders-Können, als Getriebenheit von einem unwiderstehlichen in neren Auftrag, bei aller subjektiven Verunsicherung letztlich die absolute Souveränität des künstlerischen Handelns ein: Meisterschaft in höherem Sinn. (Die Dialektik von kunstloser Kunst als Niederschlag letzter Radikalität rückt die Erschei nung Nonos und diejenige von John Cage - dem Nono sich nach jahrzehntelanger Entfremdung mehr und mehr verbunden fühlte - scheinbar näher aneinander. Vermutlich nur scheinbar, denn wo Cage, von Anfang an spielerisch produzierend, „professionell", quasi mit dem Unbe stimmten auf Du und Du umzugehen wußte, blieb das Nonosche Staunen vor dem Reichtum der Innenwelt der Klänge stets voll expressiver Befangenheit, geladen mit der Gespanntheit des in die eigene Fremde Ausgesetzten. Nonos Werke bedeuten mir mehr, weil er im Gegensatz zu Cage - und das unterscheidet den „Suchenden" vom „Erlösten" - zu keinem Zeitpunkt die Ge schichtlichkeit des Materials vergessen, sondern just in solch radikalem Vorgehen bewahrt hat.) Luigi Nono hinterläßt uns so auch kein kunstvoll gelungenes Gebäude auf solidem Funda ment. Seine Musik führt uns in Erdbebengebiete der menschlichen Erfahrung, wo keine Ge bäude sich halten können, weil deren Fundamente sich dort ständig verschieben und erschüt tert werden, sodaß allenfalls ungeheure Ruinen von den Kräften Nachricht zu geben vermögen, die bei allen Unternehmungen und Konstruktionen des menschlichen Geistes auf dieser Erde so oder so das letzte Wort behalten werden. „No hay caminos, hay que caminar ..." - „es gibt keine Wege, es gibt nur das Gehen": Am 8. Mai 1990 ist Luigi Nono gegangen. Sein Weg in den Tod war nicht seine erste Grenzüber schreitung, und er hat mit dieser Erfahrung als letzter Bestimmung alles Irdischen gelebt, seit er sich vom Sterben anderer, die für ein besseres Leben auf andere Weise gekämpft haben, hat erschüttern lassen. Todesbereitschaft war für ihn die letzte Anspannung seiner Lebens- und Schaffensbereitschaft. Aus beidem, der Lebens- und der Todesbereitschaft, aus der Sehnsucht nach Grenzüberschreitung schlechthin, zog seine Musik, wie alle große Kunst, ihre entschei dende Kraft. Meine Trauer um Luigi Nono habe ich nie ganz trennen können von einem Gefühl des bewußter gewordenen Glücks und der Dankbarkeit dafür, daß es ihn überhaupt, und daß es ihn in unserer Nähe gegeben hat. Und bei aller Alleingelassenheit, die ich mit so vielen teile, die ihn geliebtfür haben, fühle ich im Gedanken an ihn Kraft einen in einzigartigen Triumph derWegKunstund undAus der Hoffnung das Fortbestehen ihrer unruhigen einer Zeit scheinbarer weglosigkeit. 1991 305

John Cage Dankbarkeit gegenüber einem großen provozierenden Geist und beispielgebenden Praktiker radikaler Befreitheit, kreative Ehrfurcht weckend, weil dieser - John Cage - selbst voll kreati ver Ehrfurcht war gegenüber Kreatur und Kreativität: Darüber reden müßte heißen: reden über die Vielfalt der Formen, in denen er uns („uns" darf man bei ihm sagen) so wunderbar gestört und so lehrreich verstört hat. Seinnach Erscheinen in Europa hat seinerzeit ausgelöst, und aucherkannte in mir. Auf der erst naiven Suche „Ordnungen" empfand ich sein Turbulenzen Wirken als Bedrohung es spät als entscheidende Bewegung. Gehaßt habe ich die auftrumpfende Selbstsicherheit seiner Jünger hierzulande. Mir schien, daß die Ratten beim Verlassen des sinkenden Schiffs ihn zu ihrem Fänger mißbrauchten, als er just von jenem Eisberg zu uns herüberlachte, auf den die gute alte Fregatte „Kunst" inzwischen aufgelaufen war. Aber ich lernte auch zu lernen, und aus der Irritation wurde schöpferische Unruhe und Ruhe, und auf deren Rückseite sedimentiert sich bis heute persönliche Dankbarkeit. Sein Tod braucht keinen Verlust, sein Verlust darf nicht den Tod bedeuten. Er taugt nicht als Ikone - gar neben Luigi Nono oder Giacinto Scelsi - im Konferenzzimmer des „Hotels Ab grund" (Georg Lukäcs über die Philosophen der Frankfurter Schule) - schon deshalb nicht, 97

weils für derlei zu spät ist. Wer Cage liebt, der möge sich vor sein Klavier - oder sonst wohin - setzen und vier Minu ten und dreiunddreißig Sekunden - oder wie lang auch immer - schweigen - oder sonst was tun (zum Beispiel arbeiten). 1992

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Heinz Holliger Das kompositorische Schaffen Heinz Holligers ist mir innerlich nahe, und zugleich liegt es mir um Lichtjahre fern - wobei gerade die letztere Beziehung mir viel bedeutet, denn das Licht durch die Jahre ist angekommen und beleuchtet auch jene erste Empfindung von innerer Ver wandtschaft neu.

Air undausPneuma; Gran Torso beziehungsweise und Holligers Streichquartett - um nur zu zwei Werk-Nachbar schaften den späten sechziger frühen siebziger Jahren nennen, in denen diese Beziehung deutlich wird - bedeuteten jeweils einen Ausbruch und Aufbruch nicht nur aus den eigenen bislang vorgegebenen kompositionspraktischen Begrenzungen bei mir wie bei ihm: Sie gehörten auch zu jenen Signalen nach außen, mit denen eine nachrückende Genera tion ihre Verantwortungsbereitschaft für den innovativen Auftrag von Musik zu erkennen gab, nachdem die ältere Generation (Boulez, Nono, Stockhausen) einen Boden bereitet hatte, auf dem bequem sich anzusiedeln tödliche Stagnation bedeutet hätte. Was Holliger und mich ver band, war dabei zunächst wohl einfach unsere Lust an der besonderen Art von Sprengung be ziehungsweise Erweiterung der überlieferten Klang- beziehungsweise Instrumentenbehand lung. Nicht, daß diese bis dahin völlig versteinert geblieben wäre: Cage, Kagel, Schnebel, Ligeti hatten genug Beispiele für die Überschreitung der herrschenden Spielpraxis gegeben. Was Holligers Ansatz ähnlich wie den meinigen davon unterschied, war das Festhalten am traditionellen Werkbegriff bei radikaler syntaktischer Aufbereitung einer bislang exterritorial begriffenen Klang- und Geräuschwelt, ein Komponieren fast im Sinne von „thematischer Arbeit", aber unter neuen Voraussetzungen, wobei die Bedingungen des Klingenden immer wieder auf andere Weise „thematisches Material" bedeuteten. Ausgeklammert wurde so die surrealistische/dadaistische Variante, weil diese schon wieder domestizierende Folgen für jeg liche Art von klanglichen Ausbrüchen hatte. Das Insistieren auf einem energetisch gepolten und unter diesem Aspekt erneut i n sich folgericht igen „lo gischen" Materia lzusammenhang und die Unterordnung des Intervallischen als Sonderfall in solchem Zusammenhang machte die dabei freigelegte Klang- und Geräuschwelt in gewisser Hinsicht „gefährlicher", weil in die Mitte rückte, was anderswo als schockierender Grenzfall noch hingehen mochte und dort zwar gelegentlich erschreckte, aber nicht beunruhigte. (Natürlich waren es die „Seriellen", die zu solcher Konsequenz, wenn auch weniger im Zusammenhang mit Klang- als mit Zeit-Artikula tion, die Vorbilder geliefert hatten.) Ich selbst, aus der Schule Nonos kommend, auf der Suche nach einem „offenen" und dennoch dem Tonalen ebenbürtigen Materialbegriff und dabei vom Beispiel Schönbergs mit all seinen monumentale n Widersprüchen fasziniert, empfand jeglic he bloß anarchoide Grenzüberschreitung als harmlos, zumal die Grenzen längst zerflossen waren. Musik, gerade als vom Material her neu gedachte, hatte sich dem traditionellen Anspruch von Form und Ausdruck zu stellen. Es galt nicht, in irgendwelche Labors oder exotische Spiel wiesen auszuweichen, sondern sich in den philharmonisch vorgeprägten Raum, gewisser maßen in die Höhle des Löwen zu begeben, und dort galt es, nicht Spaß, sondern Ernst zu machen. Es galt auch nicht, den Spielern das Instrument aus der Hand, sondern ihnen die daran haftende Routine einer standardisierten und tabuisierten Spielpraxis aus dem Kopf zu schlagen, um so - zusammen mit dem Unbekannten - auch das Bekannte neu zu entdecken. Pneuma, Atembogen (Holliger), Air, temA, Pression (Lachenmann), Atem (Kagel), Souffle (Luc Ferrari), Atemzüge (Schnebel), Res/As/Ex/Inspirer (Globokar): Manchmal waren es schon die Werkt itel aus jener Zeit, welche den physikalisch-physiologischen, energetischen, kreatürlichen, naturalistischen, in gewisser Hinsicht existentiellen Aspekt andeuteten, von wo aus sich

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- zumindest in meinem und nach meinem Eindruck auch in Holligers Fall - die kompositori sche Syntax selbst neu orientierte. Auch andere Komponisten unserer Generation - ich denke an Hans Ulrich Lehmann und Jürg Wyttenbach, in Westdeutschland an Nicolaus A. Huber wirkten, jeder auf seine besondere Weise, an diesem Paradigmenwechsel mit. Mein eigener Weg bei solcher Neu-Orientierung - und durch sie hindurch - war gleichzeitig leicht und schwer: leicht, weil mein Komponieren, in bewußter Loslösung von der Praxis meines Lehrers Nono, ins Leere geraten, sozusagen ohne festen Wohnsitz war, so daß ich bei meinem Sprung ins nichts zu verlieren hatte; schwer, weilsomir meiner Visionen die Unvertraute praktischen und empirischen Erfahrungen fehlten, daßbei ich aller michKlarheit oft wie ein Analphabet in der eigenen Sprachwelt fühlte. Holligers Weg hingegen, als dieser sich mit dem meinigen kreuzte, war - so scheint es mir - zugleich schwer und leicht: schwer, weil - wie es seine frühen Werke zeigen - Holliger bereits zuvor über ein, wenn schon nicht abgeklärtes, so doch sicher funktionierendes Metier verfügte, dessen manieristische Bindungen es zweifel los erst zu zerreißen galt; leicht, weil er, der souveräne und universale Virtuose, täglich nahe an der zu überschreitenden „Schall-Grenze" gelebt hatte und mit den logistischen Problemen bei der Erkundung des physikalischen Klangaspekts weithin schon vertraut sein mußte. Ganz klar: Holliger war „geschickter" als andere (leicht hat er es sich indes nie gemacht). Allein schon der Überdruß am bereits überlegen Beherrschten mag ihn in klangtechnisches Neuland gelockt haben, und dementsprechend wetterleuchtet es auch schon in seinen älteren Partituren. Sein eigentlicher Durchbruch, ich es, Spätestens in diesemkompositionstechnischer Werk wurde deutlich, daß auch für so ihnempfand Klang nicht bloßwar mehrPneuma. oder weniger lebendig artikulierte Struktur-Komponente war, sondern selbst eine strukturhaltige, komplexe und vielfach geladene Situation verkörperte: Produkt und Nachricht nicht einfach von „Instrumenten", sondern von daran umgesetzten Energien, von Handlungen mit und an „Geräte n" mitsamt ihren übergr eifenden beziehungsweise außermusikalis chen Konnotation en; also nicht mehr Klang um der Struktur willen, sondern - bei stets luzider Konstruktion - Struk tur um des Klanges, besser: um des Klangereignisses willen. Das Hören von Musik setzt so zwangsweise weiter unten an: Es wird zum kunstvoll provozierten Beobachten dessen, was da geschieht. Es wird in aller Ernsthaftigkeit dorthin verwiesen, wo bisher seine Irritationsgrenze zu sein schien: an den „Eklat" - und zwar an jenen, der deshalb einer ist, weil er keiner ist, das heißt, weil er sich keineswegs als Skandalon, sondern als Ausgangspunkt einer veränderten Wahrnehmung waren, wie schon gesagt, Holligerschen Radiogeräte, flötenkopfstückebegreift. und dasDabei ganze „Lungen-Arsenal" in diePneuma ebensowenig „neu" Blockwie die Gerten und trockenen Äste in meinem Air; neu war der - verwegen ausgedrückt - „metaphil harmo nisch e" Kontext, der solche vermeintlichen Extra vaganzen selbst-verständ lich, das heißt vernünftig machte. Der wesentliche Unterschied zwischen seinem und meinem Ansatz war mir allerdings schon damals deutlich: Wo in Air die Musikinstrumente, in suspekter Nachbarschaft mit Geräten, selbst zu solchen wurden und das instrumentale Spiel auf die profane Ebene des „Hantierens" geriet, veredelten sich bei Holliger die Geräte ihrerseits zu Musikinstrumenten, und das prosaische Hantieren wurde letztlich doch wieder musizierendes Spiel. Dem scheinen die vielleicht oft großzügigen, viel freier notierten Aktionsgesten bei ihm und die oft völlig starre Rhythmik bei mir auf den ersten Blick zu widersprechen. Aber solcher Verschiedenheit und solcher Dialektik des „Hantierens" und „Musizierens" wäre an anderem Ort weiter nach zusinnen. Der Reichtum von klanglichen Entdeckungen und Neuerungen in einer formal aus gezirkelten und in ihrer expressiven Intensität absolut dichten Musik nimmt seit jener Zeit des Aufbruchs, in der wir uns einander näherten, bei Holliger kein Ende. Es war und ist bei allem

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Können stets auch ein Weiter-Suchen und ein stets transzendent motiviertes Brechen der her beigerufenen Mittel. „... um Lichtjahre fern": Immer wieder hat Holliger die Sprachlosigkeit des an der Gesell schaft zerbrechenden Individuums thematisiert - seit Goethes Werther und Büchners Woyzeck ein Thema der wachgerüttelten bürgerlichen Kunst. Hölderlin, Robert Schumann, Robert Walser, die Figuren Becketts, um die markantesten zu nennen, verkörpern in Holligers Schaf fen diese Erfahrung. Aber auch in seinem rein instrumentalen Schaffen, eben zum Beispiel in seinem Streichquartett, schlägt diese sich nieder, umgesetzt in Prozesse des Verlöschens, Ver stummens, sich Zersetzens. Damit aber knüpft Holliger gerade an jene ästhetische Praxis an, aus der die vorausgehende Generation der „Seriellen" versucht hat herauszufinden. Denn Mu sik, die sich im Schatten (oder im Licht) solcher erkannten Sprachlosigkeit ansiedelt - nicht nur die Werke von Stockhausen und Boulez aus den fünfziger und frühen sechziger Jahren, sondern nicht zuletzt und ganz besonders der fälschlich zum „Ausdrucks"-Musiker gestempelte Luigi Nono der Varianti, aber auch des Canto sospeso stehen dafür ein -, eine solche Musik „trauert" nicht mehr; sie ist mit der Erkenntnis des Sprachverlustes zugleich unfähig, wohl aber auch nicht mehr motiviert, poetisierend mit dieser Situation im Werk umzugehen. Wo indes die krea tive Kraft Holligers sich dieser Thematik annimmt, fängt selbst diese Art von düsterer Bot schaft an, expressiv zu glitzern. Holliger kann seine Musik bis ins Extrem nicht nur erglühen, sondern auch erkalten lassen - und die universale Spannweite seiner Ausdrucksmittel in Wer ken wie etwa seinem Scardanelli-Zyklus kennt keine Grenzen -: Die in jedem Moment darin wirkende poetische Intensität macht sie zugleich zum - gewiß radikal entfalteten - Erben jenes Alban Bergsch en „ausdruc kslos", mit d em dieser immerhin das Fenster zu einer erneut von ex pressiver Energie geradezu berstenden Wahrnehmungsweit der „Linienkreise, Figuren - wer das lesen könnte!" geöffnet hatte: eine Sprachwelt, die bei ihm eine andere Art von Gläu bigkeit voraussetzt, als jene bei mir vielleicht dann schon eher auf Webern sich berufende: an der man „mit den Händen herumtappen muß" , und in der musikalische Sprachhülsen, „hei ter" entleert, dorthin blicken, wo Musik „Nicht-Musik" und so, durch die Beschwörung von Leere, am Ende doch (auch) wieder Musik wird. 14 5

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Denn, mit der Erfahrung von gestörter Kommunikation ebenso und unaufhörlich konfron tiert, von solchem inneren Widerspruch des Komponierens ständig irritiert und im Kampf ge gen Lähmung durch diesen, in meinem eigenen Schaffen immer wieder erstarrte auf Welten von die Formeln und Fassaden ausweichend, diese setzend und zersetzend, in derinHoffnung da hinter aufscheinende Erfahrungsräume, wo die Klänge und Gestalten von all dem wissen und es zugleich hinter sich gelassen haben; wo Trostlosigkeit sich aufgerafft und die „alte" Trauer abgeschüttelt hat, um sich für eine „andere" (... „befreite" ...?) Wahrnehmung zu öffnen: So ganz anders, geradezu diametral entgegengesetzt gepolt, schaue ich dem Holligerschen Aus drucksreichtum zu, fasziniert, bewegt, manchmal geblendet, neidisch nicht, aber voller Neid; immer wieder staunend - und sprachlos. 1994

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V. IN NONOS NAMEN Geschichte und Gegenwart in der Musik von heute Es herrscht heute - auf dem Gebiet des Schöpferischen wie auf dem des Kritisch-Analytischen - vielfach die Tendenz, ein künstlerisch-kulturelles Phänomen nicht in seinen geschichtlichen Zusammenhang einzufügen, also es nicht betrachten zu wollen in Beziehung zu seinen Ursprüngen und zu den Elementen, aus denen es sich gebildet hat, nicht in Beziehung zu seiner Zugehörigkeit und Wirksamkeit im aktuellen Dasein, nicht in Beziehung zu seinen ihm inne wohnenden Möglichkeiten, in die Zukunft zu strahlen, sondern es betrachten zu wollen aus schließlich um seiner selbst willen, in sich selbst, und nur in Beziehung zu jenem bestimmten Moment, in welchem es sich manifestiert. Man lehnt nicht nur jede Einordnung in die Geschichte, sondern man lehnt unmittelbar die Geschichte selbst ab, mitsamt ihrem evolutiven und konstruktiven Prozeß. moi, Antonin Artaud, je suis mon fils, mon pere, ma mere, et moi; niveleur du periple imbecile oü s'enferre l'engendrement, le periple papa-maman et l'enfant Das ist das Manifest derer, die sich einbilden, auf diese Weise ex abrupto eine neue Ära eröff nen zu können, in der alles programmatisch „neu" sein muß, und die sich so eine ziemlich bil lige Möglichkeit verschaffen wollen, sich selbst als Anfang und Ende, als Evangelium zu set zen. Das ist das Programm, und es erinnert uns an die anarchische Gebärde eines Bombenwurfs als einzige und letzte Möglichkeit, um die Fiktion einer tabula rasa zu schaffen, als verzwei felte Reaktion in einer Situation, die sie historisch und innerlich immer noch nicht bewältigt ha ben. Ein Programm ohne jeden konstruktiven Schwung, wie er dem Revolutionär eigen ist, der, im klaren Bewußtsein um die Situation, den Zusammenbruch schon bestehender Strukturen herbeiführt, um neuen, sich entwickelnden Strukturen Platz zu schaffen. Man lehnt nicht nur die Geschichte und ihre formenden Kräfte ab, sondern man geht sogar so weit, darin die Fesseln für eine sogenannte „spontane Freiheit" des menschlichen Schaffens zu sehen. Für diese Grundkonzeptionen finden sich heute zwei theoretische Formulierungen, die in ihrem Aufbau verschieden, aber in ihren Konsequenzen gleich sind: Sie stammen von zwei Männern der amerikanischen Kultur, Joseph Schillinger (eigentlich russischer Herkunft) und John Cage, und üben direkt und indirekt in den letzten Jahren einen Einfluß aus, der auf immer mehr verwirrende Weise eine besondere musikalische Situation in Europa bestimmt. Am Anfang des ersten Kapitels „Art and Nature" in The Mathematical Basis ofthe Arts von Joseph Schillinger wird eine seltsame Theorie über Freiheit und Unfreiheit des Schaffenden 98

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aufgestellt: „Wenn Kunst Auswählenkönnen, Geschicklichkeit und Gestaltung beinhaltet, so müssen ihr beweisbare Prinzipien zugrunde liegen. Sind einmal solche Prinzipien entdeckt und for muliert, so können Kunstwerke durch wissenschaftliche Synthese hervorgebracht werden. Es

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besteht ein allgemeines Mißverständnis über die Freiheit des Künstlers, sich selbst auszu drücken. Kein Künstler ist wirklich frei. Er ist bei seiner Arbeitsweise den Einflüssen seiner unmittelbaren Umgebung unterworfen und auf die ihm zur Verfügung stehenden stofflichen Mittel beschränkt. Wäre ein Künstler wahrhaft frei, so würde er seine eigene persönliche Sprache sprechen. In Wirklichkeit spricht er nur die Sprache seiner unmittelbaren geographi schen und geschichtlichen Umgebung. Es gibt keinen Künstler, von dem man wüßte, daß er, in Paris geboren, sich selbst spontan in der Sprache Chinas des vierten Jahrhunderts n.Chr. ausdrücken könnte, noch gibt es irgendeinen Komponisten, der, in Wien geboren und erzogen, die angeborene Meisterschaft des javanischen Gamelan besäße. Der Schlüssel zur wahren Freiheit und Emanzipation von örtlicher Abhängigkeit ist die wissenschaftliche Methode." Schillinger stellt also die Bindung des Menschen an seinen geschichtlichen und geographi schen Ort fest, aber er verurteilt diesen Zusammenhang als Hindernis für die spontane Aus drucksweise. Wenn seine Behauptung „kein Künstler ist wirklich frei" stimmen würde, hätte es im Verlauf der Geschichte nie Kunst gegeben: Denn Kunst und Freiheit sind Synonyme jedes mal dann, wenn der Mensch sein Bewußtsein, seine bestimmte Entscheidung in einem bestimmten Moment des konstruktiven, historischen Prozesses ausdrückt, und jedesmal, wenn er bewußt und entschlossen in den Befreiungsprozeß eingreift, der sich in der Geschichte voll zieht. Schillingers Forderung nach wissenschaftlicher Synthese als einziger Möglichkeit, Kunstwerke „frei" zu schaffen, läßt uns an Serienproduktion denken, worin ein Grundprinzip zur Geltung kommt, das gleichfalls wissenschaftlich ist, aber in dem die für ein Werk charak teristischen Grundeigenschaften vollständig ausgemerzt sind: nämlich seine lebendige Kraft als unverwechselbarer und unersetzbarer Beitrag der Zeit, in der es entsteht, als Zeugnis seiner Zeit. Das Bestreben, in einem wissenschaftlichen Prinzip oder einer mathematischen Beziehung eine abstrakte Zuflucht zu suchen, ohne sich um das Wann, das Warum und die Art ihrer Funk tionen zu kümmern, entzieht jeglichem Phänomen von allgemeiner Gültigkeit die Existenz basis, indem es seine historische Individuation als typisches Dokument seiner Epoche abschafft. Und das alles, wohlverstanden, um nicht in die Mittelalterlichkeit dogmatischer Prinzipienfestungen zurückzufallen. Aber nie ist es die Befolgung eines schematischen Prinzips, sei es wissenschaftlicher oder mathematischer Art, die einem Kunstwerk Leben verleiht, sondern immer nur die Synthese - als dialektisches Resultat - zwischen einem Prinzip und seiner Verwirklichung in der Geschichte, das heißt: seiner Individuation in einem ganz bestimmten Moment, und nicht früher und nicht später. John Cage, der andere der beiden, bedient sich einer simplen Methode, um seine von vorn herein atemporale Konzeption zu dokumentieren (und dies, ohne scheinbar seine Indifferenz gegenüber dem augenblicklichen geschichtlichen Moment preisgeben zu müssen); er operiert mit Geschichte und flach ausmündenden Anekdoten, die sich meist auf die Zeit des chinesi schen Imperium Coelestum beziehen. Diese Anekdoten lassen sich wunderbar verwenden, solange man verschweigt, daß die Zeit, deren treues Dokument sie sind, auf den Befehl der herrschenden Dynastien die Abschaffung des historischen Entwicklungsbegriffs ins politische und religiöse Programm aufgenommen hatte, um so zu verhindern , daß die Zeit dem Machtgefühl der Gött er jener Zeit entgegenwirke. Aber das Imperium Coelestum ist tot, und seine geistige Struktur ist tot, und der geschicht liche Prozeß hat alle diesbezüglichen programmatischen Dokumente Lügen gestraft und als 312

vergebliche Anmaßung der Verabsolutierung des eigenen Ichs entlarvt. Und so hat der Aus spruch von Daisetz Teitaro Suzuki: „Er lebte im 9. oder 10. Jahrhundert. Oder im 11. Jahr hundert oder im 12. oder 13. Jahrhundert oder im 14.", den uns Cage in seinem Aufsatz in dem neuen Heft der „Darmstädter Beiträge" mitteilt, dem heutigen notwendigen geschichtlichen Denken überhaupt nichts zu sagen. Das Ideal eines statischen Begriffs von der Zeit fand sich ähnlich in der Konzeption des Sacrum Imperium Romanum: dem Ideal eines Reiches, das als Abbild des Reiches Gottes auf Erden in unveränderlicher hierarchischer Ordnung auf das Kom men des Jüngsten Tages wartet. Aber die Kirche, da sie dieses weltliche Machtideal mit einer aktiven Mission verbinden mußte, hat dieses Ideal nie verwirklichen können: Erscheinungen wie die Gründung des Jesui tenordens im 16. Jahrhundert, oder die Arbeiterpriester in Frankreich heute sind Konsequen zen, zu denen der unbestechliche und notwendig sich vollziehende Fortgang der Entwicklung sie gezwungen hatte. In selbstgefälliger, naiver Ahnungslosigkeit ist man nun dabei, das zusammengebrochene europäische Denken von seinem Katzenjammer zu erlösen, indem man ihm die resignierte Apathie des „Es ist ja alles egal" in der gefälligen Form des „ICH bin der Raum, ICH bin die Zeit" als moralische Auffrischung vorsetzt und ihm damit erspart, sich seiner geschichtlichen Verantwortung und seiner Zeit stellen zu müssen - einer Verantwortung, die in dem Maß, wie sie heute auf uns tatsächlich lastet, zu groß und lästig geworden ist. Das ist die Kapitulation vor der Zeit, die resignierte Flucht aus der Verantwortung, und nur verständlich als die Flucht derer, deren mehr oder weniger versteckte Ambitionen auf Ver absolutierung des eigenen Ichs kurzatmig geworden sind durch die verschiedenen Niederlagen, welche die Geschichte ihnen bereitet hat - die Flucht derer, die, nun im Innern ganz klein und arm geworden, nach außen hin umso erlöster tun mit der Verabsolutierung des jetzigen Augenblicks, der, wie sie hoffen, dem absolut gesetzten Ich nicht gefährlich werden kann, und mit Hilfe dessen sie glauben, der Blamage vor der Zeit entgehen zu können. Es ist die Sehn sucht nach einem Zustand naiver und unverlierbarer Unschuld derer, die sich schuldig fühlen, aber um die bewußte Erkenntnis ihrer selbst sich drücken möchten und sich von solchen Not wendigkeiten nur zu gern freikaufen, auch um den Preis eigener Geistesvitalität - wobei sie offenbar nicht viel zu verlieren haben. Es gehört zuviel Mut, zuviel Kraft dazu, die Zeit zu erkennen und sich in ihr zu entscheiden, und es ist viel einfacher, den Kopf in den Sand zu stecken, und siehe da: „Wir sind frei, denn wir sind ohne Willen; wir sind frei, denn wir sind tot; frei wie der Stein, frei wie der Patient eines Irrenhauses, der versichert: Ich bin ein Kaninchen - er hat ganz recht, denn er ist ja ein Kaninchen -, frei wie ein Sklave seiner Triebe, wenn er sich kastriert hat; nein, im Ernst: Wir sind frei, denn das erlösende Brett, das wir vor dem Kopf haben, haben wir uns selbst auf genagelt." Das ist die Visitenkarte dieser Mentalität, und diese Visitenkarte ist in der Tat neu, aber die Mentalität ist sehr alt - alt im historischen und medizinischen Sinn. Wir stehen hier vor einem ganz reaktionären und toten Ausläufer der gescheiterten Ver-Ichlichung der letzten Jahrhun derte, der sich spätestens in dem Moment als solcher entlarvt, in dem wir den geschwächten europäischen Geist ihm entgegentaumeln sehen, um sich rasch entschlossen durch ihn „erlö sen" zu lassen. Die Stillegung jeglicher geistigen Aktivität führt in der Kunst einerseits zu individueller Pas sivität, andererseits zu einer Aktivität des Materials, mit deren müßiger Beobachtung sich künf tig das musikalische Erlebnis begnügen soll. 100

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Auch hier, und gerade hier, zeigt sich das ganze Manko an geistigem Können, in jener Men talität, die nicht den Weg herausfindet aus dem deprimierenden Dualismus von Geist und Ma terie: Hier der Geist, dem gegenüber der Materie nur die sklavische Pflicht auferlegt ist, ihn ge treulich widerzuspiegeln, ohne Rücksicht darauf, ob und wiefern sie sich dazu eignet - dort die Materie, der man aus sich selbst heraus Aussagemöglichkeiten zumutet und deren autonomen Manifestationen gegenüber der passive Geist anbetend stehenbleibt. Von diesen zwei gleicher maßen armseligen Möglichkeiten wählt man natürlich die zweite, nachdem der Geist seine schöpferische Unfähigkeit erwiesen hat. Aber es handelt sich gar nicht um diese zwei Möglichkeiten, denn es gibt nur eine Möglich keit: nämlich das bewußte, verantwortungsvolle Erkennen der Materie durch den Geist und die in gegenseitiger Durchdringung erlangte Erkenntnis des Geistes durch die Materie. Von dieser einzigen Möglichkeit, dieser Notwendigkeit, hat John Cage offenbar keine Ah nung, und auf seine höchst geistreiche Frage: „Sind Töne Töne, oder sind sie Webern?" läßt sich sofort ebenso geistreich zurückfragen: „Sind Menschen Menschen, oder sind sie Köpfe, Füße, Hände, Mägen; Gliedmaßen sind doch keine Menschen, nicht?" Ohne jene wechselsei tige Durchdringung von Geist und Materie - die sich nicht vollziehen kann ohne eine klare Grundkonzeption des Geistes von sich selbst - bleibt jede Aussage des Materials im Dekorati ven, im pittoresken Zierat stecken und erfüllt als solche den devoten Zweck der mutwilligen Unterhaltung für das königlich sich amüsierende oder ihm mit tierischem Ernst lauschende Ich. Man aus allem ein machen, und es gibtSinns das ganz einfache Mittel, einer Kultur Kultur ohne Ele mentekann zu entnehmen undDekor sie, ihres ursprünglichen beraubt, in einer anderen jede Beziehung zu exponieren. Dieses Prinzip der Collage ist ganz alt: Bei einem Bauwerk wie dem Münster von Aachen, das um 800 n. Chr. entstanden ist als Imitation der zweihundert Jahre früher erbauten Kathe drale San Vitale in Ravenna, handelt es sich um die Transportation einer Kultur, eine Trans portation, die als geistesgeschichtliches Dokument überhaupt keine Bedeutung hat, es sei denn, insofern sie Zeugnis ablegt von einem damals geltenden Dominationsprinzip eines Herrschers, dessen ideologische Bestrebungen, einer fremden Kultur die eigene aufzuzwingen, solche Maßnahmen empfehlenswert machten. Collage war auch die Vorliebe der Venezianer in ihrer Blütezeit bei der Ausgestaltung ihrer Stadt, die Siegestrophäen, die sie in anderen Kulturen erobert hatten, mitzuverwenden; nur hat solche Collage den moralischen Vorzug, sich nie als solche verleugnen Stein in San Marco, der offensichtlich ausaus einer ande ren Kultur stammt, zu hatwollen: hier dieEin unmißverständliche Funktion, Zeuge zu sein derganz geschicht lichen Epoche, die dieses Bauwerk erstellen ließ und für welche die Eroberung fremder Kultu ren charakteristisch war. Die Collage-Methode entstammt kolonialistischem Denken, und es ist kein funktioneller Unterschied zwischen einer hohlen indischen Beschwörtrommel, die in einem modernen europäischen Haushalt als Mülleimer dient und den Orientalismen, deren sich eine abendländische Kultur bedient, um ihr ästhetizistisches Materialgebastel attraktiver zu machen. Anstelle eines wirklich fruchtbaren Studiums der geistigen Substanz fremder Kulturen, wie es bestimmt gutzuheißen und notwendig ist, greift man in brutaler Unbekümmertheit nach ihren Erzeugnissen, um von der Faszination, die von der Fremdheit ihres Phänomens ausgeht, zu profitieren, und dies nicht nur für die Produkte einer Kunstgattung, sondern auch für die Weise, wie man sein Vorgehen mit philosophischen Wendungen glaubt fundieren zu können. Diese Fundierungen aber, wie sie sich hier in Darmstadt präsentiert haben, bekommen ihre eigentliche attraktive Würze erst durch das Vokabular, das sich der Adjektive „frei" und „spon-

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tan" bedient. Der technische Begriff aber, der dieses Vokabular zu rechtfertigen scheint, ist der uralte Begriff der Improvisation. Die Improvisation in der alten chinesischen Musik basierte auf geschriebenen Vorlagen, in denen ein Parameter - die Tonhöhe - fixiert war, während die anderen Parameter zur Improvisation freigegeben waren. Die Ausführung solcher Improvisa tionen war immer ganz bestimmten Kasten vorbehalten, innerhalb derer diese Vorlagen von Generation zu Generation weitergereicht wurden. Nie darf dabei vergessen werden, daß solche Improvisation kultische Handlung war, also immer sich bezog auf ein höheres Wesen, auf ei nen Gott. In der Commedia dell'arte begegnen wir einer in technischen Prinzipien verwandten Art der Improvisation: Die Handlung der Theaterstücke ließ sich auf einige wenige Aktionsvorlagen zurückführen. Diese Vorlagen, die meist um die Grundprobleme menschlicher Beziehungen kreisten, bestimmten den Raum, innerhalb dessen der Schauspieler frei Rede und Handlung im provisieren konnte. Man hat sich dieser gebotenen Freiheit nicht auf die Dauer zu bedienen ge wußt, sondern man hat unter dem Eindruck einiger hervorragender Schauspieler, die es ver standen hatten, in allen freigegebenen Bereichen ihrer Darstellungskunst zu exzellieren, sich in der Folge darauf beschränkt, diese nachzuahmen, um von der Qualität einiger glanzvoller Lei stungen zu profitieren - das heißt: Die ganze Angelegenheit verlief sich in einem rein virtuosistischen Aspekt. Und heute? Der jungen Musik stehen heute zwei Virtuosen von einer Vollkommenheit allerersten Ran ges zur Verfügung, wie wir sie nicht so bald wieder besitzen werden: der Flötist Severino Gazzelloni und der Pianist David Tudor. Die Ausführung der schlechtesten Musik durch diese beiden Spieler wird immer noch eine klangliche Faszination ausüben, die allein dem hohen spieltechnischen Niveau der Wiedergabe zu danken ist. Und nun schießen natürlich Partituren für Flöte und solche für Klavier wie Pilze aus dem Boden, Stücke, in denen die Komponisten sich nichts anderes einfallen ließen als mehr oder weniger spitzfindige Notationsmethoden, um den Virtuosen Gazzelloni und den Virtuosen Tudor zu Improvisationen zu animieren, von deren klangtechnischer Qualität ihr eigenes Prestige zu profitieren hofft. Solche Unterfangen - es sind natürlich meist ganz ahnungslose Anfänger, die auf diese Weise hoffen, möglichst rasch in die Branche einzusteigen -, solche Unterfangen sind nicht nur ein schamloser Mißbrauch, sondern sie kennzeichnen die verlorene Situation jener, die Komposition mit Spekulation verwechselt haben. Die jungen Anfänger aber sollen wissen, daß wir nicht alle Idioten sind und eine instrumen tale Glanzleistung wohl unterscheiden können von der kompositorischen Armut, die sie ver decken soll. Im übrigen geschieht Improvisation auch heute im Geist der kultischen Improvisation des Orients. Diente sie dort der Beschwörung eines Gottes, so ist der Gott, der heute beschworen werden soll, das eigene Ich. Das Ich ist der zu beschwörende Gott, und diese Absicht findet ihre programmatische Verklärung, indem man sich in ganz verworrener Weise zum Mystizismus des Meisters Eckhart zurückbemüht. Improvisation als Befreiung und Garant der Freiheit des Ichs! Und natürlich: Ordnung als die Fesselung des Ichs, als seine Zwangsjacke. Diese Alternative, wie sie hier in Darmstadt von einigen zu stellen versucht wird, ist nicht nur ein verwirrendes Jonglieren mit Begriffen, sondern stellt auch eine handfeste Erpressung dar. Das Bemühen, ein durchorganisiertes musikalisches Gefüge in Assoziation mit bestehenden oder vergangenen politischen totalitären Systemen zu bringen, ist ein in seiner ganzen Gehäs10 2

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sigkeit doch mitleiderregender Versuch der Knebelung des Geistes, der unter Fre iheit etwas an deres versteht als die Aufgabe des eigenen Willens. Die rhetorische Einbeziehung der Begriffe Freiheit und Unfreiheit direkt in einen künstle risch-produktiven Prozeß ist nichts als ein weiteres und sehr billiges propagandistisches Mittel, um die Leute ins Bockshorn zu jagen. Und so wird ein Haß gesät gegen die Ordnung - ein Haß, der nur sich verstehen läßt aus dem Haß derer, die den Begriff der Ordnung nicht trennen können von dem der militärischen und politischen Unterdrückung und damit erneut zugeben, daß sie nicht in der Lage sind, sich von der Vergangenheit innerlich zu lösen. Sie verstehen unter „Freiheit" die Unterdrückung des Geistes durch den eigenen Instinkt. Ihre Freiheit ist der geistige Selbstmord. Aber in der Tat hat auch die mittelalterliche Inquisi tion geglaubt, den Menschen, wenn er in die Fesseln des Teufels geraten war, befreien zu kön nen, indem sie ihn verbrannt hat. Von dem Begriff schöpferischer Freiheit als der im geistigen Bewußtsein erlangten Kraft, in seiner Zeit und für seine Zeit die notwendigen Entscheidungen zu wissen und treffen zu kön nen, haben sie keine Ahnung. Über ihr Allerweltsheilmittel, den Zufall, ließe sich unter Komponisten jederzeit reden, so lange man bereit wäre, den Zufall zu verstehen und hervorzurufen als ein Mittel, um seinen em pirischen Horizont zu erweitern, als Weg zu erweiterter Kenntnis. Den Zufall und seine akustischen Produkte als Erkenntnis an die Stelle der eigenen Ent scheidung zu setzen, kann nur die Methode derer sein, die Angst haben vor einer eigenen Ent scheidung, derer, die Angst vor der Freiheit des Geistes haben. Die Geschich te braucht das Urteil über diese Bestrebungen nicht mehr zu fällen, denn sie ha ben ihr Urteil schon selbst gefällt. Sie halten sich für frei, aber sie sind tot. Kunst aber lebt wei ter und wird ihre Aufgabe in der Geschichte weiter erfüllen. Und es gibt noch viel wunderbare Arbeit zu tun. Und immer wird die Musik als geschichtliche Gegenwart das Zeugnis des Menschen blei ben, der sich bewußt dem historischen Prozeß stellt, und der in jedem Moment dieses Prozes ses in voller Klarheit seiner Intuition und logischen Erkenntnis entscheidet und handelt, um der Forderung des Menschen nach neuen Grundstrukturen neue Möglichkeiten zu erschließen. Vortrag Luigi Nonos vom 1. September 1959 in Darmstadt; Formulierung: Helmut Lachen mann.

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Text - Musik - Gesang Unser Bewußtsein um die Beziehung von Sprache und Musik kommt von einer Tradition her, in welcher der Komponist das Wort gleichsam als Transportmittel eines semantischen Gehalts behandelte, wobei die Beziehung der phonetischen Struktur eines Wortes oder Satzes zu dem semantischen Kern, wenn überhaupt, so nur in dem Grad erkannt oder berücksichtigt wurde, als sie zusammen mit den gebräuchlichen kompositorischen Elementen wirksam werden konnte. Heute ist der Weg frei, um die Beziehung zwischen phonetischem Material und semantischem Gehalt in der Komposition nutzbar zu machen. Hören Sie dazu jetzt La terra e la compagna. Tonbeispiel: La terra e la compagna Am Anfang von La terra e la compagna wurden zwei Texte simultan komponiert. Aus der so geschaffenen Doppelbeziehung der semantischen Gehalte ergibt sich die Einheit des Aus drucks und seine Form. Auf diese Weise wurde eine unmittelbare Wechselwirkung zwischen dem Textsinn und der musikalischen Gestaltung geschaffen. Der eine der beiden Texte („Terra rossa, terra nera"), der von Sopran-, Alt- und Baßstimme gesungen wird, kreist um die Bezie hung Frau und Natur. Im Mittelpunkt des anderen („Tu sei come una terra"), von Tenorstim men gesungenen Textes steht die Frau als geliebtes Wesen. Die Gleichzeitigkeit beider Texte schafft eine Beziehung zwischen der Natur und der Geliebten im Sinne einer Vertauschung. Ihr entspricht die Gleichzeitigkeit und Verschmelzung zweier Kompositionsprinzipien, die sich durch die mehr klangliche Projektion des ersten Textes bei gleichzeitiger linearer Projektion des zweiten sowie durch verschiedene Struktur der Dauernwerte und der Dynamik so vonein ander abheben. Die Kombination der beiden Texte kreuzt auf diese Weise ihre semantischen Gehalte. Diese bekommen dadurch eine gleichzeitig sich ergänzende Funktion. Ihre so ge schaffene Beziehung nach zwei Seiten bestimmt die Einheit des resultierenden Textgebildes. Die Beispiele der schematischen Darstellung zeigen, wie durch beide Texte schräg ein Weg, ein vereinender Sinn läuft, ohne auf die Linearität der ursprünglichen Formulierang begrenzt zu sein, wie es im Zeitalter der Polyp honie und Kontrap unktik nicht anders denkbar war (Abb . 1). So wie die kontrapunktischen und melodischen Elemente in einer Musik keine Funktion mehr haben, in welcher die einfache Linearität der wurde, Ereignisse durch von Beziehungen nach allen Richtungen abgelöst so hat sicheine auchneue für Vielschichtigkeit die Sprache nun eine Welt neuer Kombinationsmöglichkeiten ihrer semantischen und phonetischen Ele mente in der Komposition erschlossen. Dieser Reichtum einer mehrdimensionalen phonetischen wie auch deklamatorischen Rhetorik eines Ausdrucks, wie er sich uns heute anbietet, hat sich im Verlauf der musikgeschichtlichen Entwicklung mehrere Male angekündigt, natürlich immer innerhalb der technischen Begrenztheit der jeweiligen Epoche. Als früheste nennenswerte Vorläufer, wenn auch primitiver Art, sind die Motetten des 13. Jahrhunderts zu nennen, in denen mehrere völlig unabhängige Texte, oft in verschiedenen Sprachen, gleichzeitig kompo niert wurden. Die Überlagerung verschiedener Sinngehalte schuf gleichsam eine Konfusion der Semantik. Die Gleichzeitigkeit mußte die Destraktionsfolgen ihrer Beziehungslosigkeiten in Kauf nehmen. Ein Text hob die Verständlichkeit des anderen auf. Mit der Entwicklung polyphonen Stimmbehandlung der notwendig damit verbun denen Komplexität der der Textüberlagerungen ergaben sich und wirksamere Möglichkeiten, über lineare Deklamation hinaus Beziehungen zwischen den Worten beziehungsweise Silben herzustellen. In dem Maß, in dem sich die Komplexität des Ganzen hinsichtlich der Anzahl 317

selbständiger Stimmführungen, hinsichtlich ihrer rhythmischen Plastizität und hinsichtlich ihrer zeitweiligen Zusammenfassung zu homophonen Deklamationen abstufen ließ, wurde die Beziehungsmöglichkeit zwischen den gesungenen phonetischen Textelementen reicher. Es läßt sich nicht nachweisen, daß von diesen neu sich bildenden phonetischen Beziehungen sofort bewußt kompositorischer Gebrauch gemacht wurde. Klar ist aber, daß die Abstufungen zwi schen einer durch die polyphone Struktur geschaffenen phonetischen Konfusion und einer durch gemeinsame rhythmische Stimmführung ganz deutlichen Textdeklamation funktionell von dem jeweiligen Grad der polyphonen Komplexität abhing, und sicher ist, daß die Wirk samkeit ihrer extremen Grade dem kompositorischen Bewußtsein jener Zeit nicht entgangen und auch nicht gleichgültig war. Dazu werden wir später ein Beispiel von Gesualdo da Venosa näher betrachten. 318

Die Klarheit, mit welcher in der polyphonen Chormusik Bachs die Stimmen einander auch in der rhythmischen Deklamation des Textes zugeordnet sind, schafft nicht zu überhörende verbindliche Konstellationen der sich überlagernden Wortsilben, auch und gerade, wenn da durch keine neuen phonetischen Gebilde entstehen, sondern lediglich die ursprünglichen Worte durch verschiedene Stimmen hindurch sich wieder bilden. Die beiden ersten Notenbeispiele zeigen komplementäre Überlagerungen der beiden Silbenpaare ele- und -ison in verschiedenen Dichtegraden (Abb. 2 und 3).

Die Mehrdimensionalität der Textdeklamation hat die Verständlichkeit des Textes, der ja beim Hörer schon als bekannt vorausgesetzt war, nicht nur nicht aufgegeben, sondern diese Ver ständlichkeit auf logische Weise in der Komposition neu geschaffen und aktuell gemacht. Die vielschichtige Form der Deklamation und ihre gleichzeitige Klarheit ist dabei unlöslich mit der Vielschichtigkeit und Klarheit des polyphonen Gewebes und seines harmonischen Duk tus verbunden. Das dritte der hier angeführten Beispiele zeigt die kadenzierende Wirkung einer gemeinsamen Textdeklamation und ihre Beziehung zu der harmonischen Kadenz (Abb. 4). Nur die Deklamation der Baßstimme geht mit der harmonischen Kadenz zusammen. Die übrigen Stimmen haben die Kadenz deklamatorisch vorweggenommen. Durch die Silben319

beziehungsweise Vokalüberlagerung auf dem harmonischen Kadenzschluß wird diesem sein kadenzierendes Gewicht in dem Maß genommen, als es dem Weiterfluß des Ganzen entspricht. Das Phänomen der verschiedenartig möglichen Textüberlagerungen wirkt sich hier formal ganz konkret aus. Die Unvollkommenheit des Kadenzschlusses steht in unmittelbarer Beziehung zu der phonetisch wirksamen Silbenmischung auf dem auf der Tonika stehenden Vorhaltsakkord. Die Projektion der phonetischen Elemente bekom mt unmittelbar formale Funktion. Ein weiteres Beispiel, ebenfalls aus der h-moll-Messe von Bach, zeigt noch einmal dasselbe komplementäre Beziehungsprinzip. Die im Kanon nacheinander einsetzenden Stimmen finden die von ihnen gesungenen Anfangssilben jeweils durch die vorangegangene Stimme ergänzt (Abb. 5) .

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In Mozarts Requiem wird das dem Hörer schon von Anfang an bekannte Thema „Requiem aeternam" bei seinem späteren Wiederauftauchen von einem neuen Kontrasubjekt begleitet, auf welches die Worte gesungen werden: „Dona, dona eis", die dann ihrerseits wieder in den Akkusativ münden: „Dona eis requiem aeternam" (Abb. 6).

Die resultierende Silbenmischung ist bei aller semantischen Bezogenheit des phonetischen Materials nicht wirksam; das hängt mit der mechanischen Gleichschaltung der Textkombina tion mit der Kombination von Thema und Kontrasubjekt zusammen. Ähnlich finden sich die Worte „Kyrie eleison" und „Christe eleison" kombiniert, aber hier wird umgekehrt bei einem Minimum an phonetischer Verwirrung dem theologischen Sinn gemäß eine semantische Spal tung des Textes herbeigeführt. Die Textvermischung bei Mozart hat einen doppelten Aspekt: Sie zeigt einerseits eine gewisse Verwandtschaft mit der Textüberlagerung in den erwähnten altfranzösischen Motetten, sie bahnt andererseitsaufeinander eine neue Möglichkeit an, auf einer se mantischen Grundlage des und Ausdrucks verschiedene bezogene Texte gleichsam musikalisch durchzuführen. Wir haben gestern gesehen, wie dieses Durchführungsprinzip sich bei Beethoven dann vollends entfaltet hat. Der Grund übrigens, weshalb in diesem Zusam321

menhang keine Opern näher untersucht wurden, liegt darin, daß das Phänomen gleichzeitig ge sungener Texte im Theater in seiner Beziehung zu den bühnendramatischen Ereignissen be trachtet werden muß, und daß hier ganz andere Gesichtspunkte mitwirken. Im dritten Stück aus meinem Canto sospeso findet sich ein Beispiel, wie aus der Addition dreier verschiedener Texte ein neuer Text gebildet wurde. Im Gegensatz aber zu dem anfangs gezeigten Beispiel aus La terra e la compagna wurde hier nicht ein neuer Text gebildet im Sinn einer Symbiose verschiedener semantischer Gehalte, sondern die Zusammenschichtung der drei Texte, in welchen eng verwandte Situationen, nämlich die Zeit vor der Hinrichtung, von den Betroffenen selbst mitgeteilt werden, ergab einen neuen Text, worin das Gemeinsame der drei Situationen in potenzierter Intensität wiedergegeben wurde (Abb. 7).

Die Intensivierung eines semantischen Textgehaltes,wie sie hier durch Summierung verschie dener verwandter Texte geschaffen worden ist, wurde auf radikal entgegengesetzte Weise, näm lich durch die Aufspaltung eines einzigen Wortes in mannigfach neue Silbenkonstellationen, erreicht in einem Werk, das vor etwa 350 Jahren entstanden ist. Am Ende der Motette O magnum mysterium von Giovanni Gabrieli bilden sich aus dem Wort „Alleluja" durch die poly phonen Überlagerungen der acht Stimmen zahlreiche neue Silbenzusammensetzungen, die im exklamatorisehen Sinn den Alleluja-Jubel nach allen Richtungen verstärken und in der phone tischen Konfusion innerhalb der Vokale und der konsonantischen Möglichkeiten, welche das Wort Alleluja anbietet, den semantischen Gehalt des ursprünglichen Wortes in gesteigerter In tensität sinnfällig machen (Abb. 8). Und mit dieser Gegenüberstellung stellt sich uns das andere Problem, nämlich das der di rekten Einbeziehung des phonetischen Materials in die musikalische Komposition selber. Die mannigfachen Wortüberlagerungen und Silbenkombinationen in dem erwähnten „Alleluja"Beispiel schufen gleichsam ein phonetisches Bild, in welchem die zugrundeliegende Wortse mantik über den Reichtum der phonetischen Materialkonstellationen mit einer musikalischen Semantik aufs engste verschmolzen wurde. Das phonetische Material war so an der musikali schen Komposition im Dienst seiner Semantik aktiv mitbeteiligt. Man wird vielleicht die Frage stellen, ob überhaupt irgendeine verbindliche Beziehung zwischen der phonetischen Gestalt eines Wortes und seiner semantischen Bedeutung bestehe. In seiner Abhandlung Sprache als

Information vertritt Carl Friedrich von Weizsäcker noch die Ansicht, „daß das Wort nicht ein fach das Bedeutete ist, sondern daß es ganz losgelöst von seiner Bedeutung selbst einen Leib, eine Klanggestalt hat, daß es noch etwas anderes ist, als was es bedeutet". Aber auch die wis86

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Abbildung 8

Giovanni Gabrieli, O magnum mysterium, Ausschnitt senschaftliche Forschung hat sich nicht mit der Annahme eines reinen Dualismus von Bedeutung und Klanggestalt eines Wortes begnügt, und in dem Werk Phänomenologie der Wahrnehmung von Merleau-Ponty wurde der Beweis erbracht, daß keine Qualität oder Gestalt existieren kann, ohne gleichzeitig zu bedeuten. Die Unlösbarkeit des phonetischen Materials von der Bedeutung des Wortes und vom Aus druck ist für mich eine Realität, welche die bewußte kompositorische Einbeziehung der Vokale und Konsonanten in den Schaffensprozeß bestimmt. Dadurch ist eine nahtlose Einheit zwi schen der Abstraktion der Wortsemantik und der Sinnfälligkeit der musikalischen Gestalt geschaffen. Im zweiten Teil von La terra e la compagna, wo der Pavese-Text dem Partisanen kampf gewidmet ist, wurden den gesungenen Silben die Vokale entnommen und als reines Lautmaterial neu in Beziehung zu den ursprünglichen Silben gesetzt. Die eine Stimme nimmt 10 4

der anderen den Vokal ihrer zu singenden Silben vorweg oder läßt ihn nachträglich weiterklin gen (Abb. 9). Semantisches wird so kompositorisch mit seinem phonetischen Material in eine neue musi kalische Ausdrucksbeziehung gebracht. Demgegenüber stellt die Vokal- und Konsonantenbe323

handlung in Cori di Didone einen weiteren Schritt dar. Hier wurde der Text und sein Ausdruck aus dem Klangmaterial seiner Konsonanten und Vokale neu gestaltet und im erschöpfenden Sinn einer musikalischen Durchdringung seiner semantischen und phonetischen Ganzheit komponiert. Wir werden dieses Werk am Schluß hören. Vorher aber soll uns die entsprechende Analyse eines Abschnitts aus dem zwanzigsten Madrigal des vierten Buches von Gesualdo zeigen, wie die Komponisten, bewußt oder unbe wußt, einen ganz klaren Gebrauch von den phonetischen Mitteln machten, wobei zunächst natürlich die Wirksamkeit der Vokale überwiegt (Abb. 10). In den ersten acht Takten dieses Madrigals werden die Worte „II sol, qual or piü splende" in verbindlich charakteristischen rhythmisch-motivischen Zellen exponiert. Durch zahlreiche kontrapunktisch sich überlagernde Wiederholungen wird auf engstem Raum ein unglaublicher Reichtum an Konstellationen vor dem Hörer ausgebreitet, unter welchen die phonetischen Konstellationen der Vokalschichtungen ganz entscheidende musikalische Bedeutung und Wir kung haben. Diese phonetischen Konstellationen sind unmittelbar auf den musikalischen Aus druck als dem Resultat einer vollkommenen gegenseitigen Durchdringung aller beteiligten gei stigen und materiellen Instanzen bezogen. Unmittelbar bezogen, das heißt: expressiv wirksam nicht erst durch die Verständlichkeit der Wörter: Vielmehr wird der - selbstverständlich nicht

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einfach ausgemerzte - Fall von klarer Verstehbarkeit als ein extrem eindeutiger von geringem Komplexitätsgrad anderen, vielschichtigeren Vokalkonstellationen von höherem Komple xitätsgrad zugeordnet. Die klare Exposition der rhythmisch-motivischen Elemente zum Text garantiert, daß es hier in der Tat Abstufungen zwischen mehreren Verständlichkeitsgraden gibt, ohne daß dabei die selbständige Wirksamkeit der phonetischen Elemente in der Komposition beeinträchtigt wird. Bewußt oder unbewußt wurde hier gleichsam ein Kontinuum zwischen einfachem phonetischen Laut und der semantischen Wirkung eines verstandenen Wortes oder Satzes geschaffen. Wir wollen das an Abbildung 10 genau verfolgen: Drei rhythmisch-motivische Zellen gliedern den Text in seine vokale Anordnung auf: Die erste Zelle besteht rhythmisch aus zwei Viertelnoten und aus einer Viertelnote und einer Halben (II sol); die zweite besteht aus drei Achtelwerten (qual or piü); die dritte besteht aus zwei Halben (splende). Diese Zellen sind in ihrer Charakteristik so deutlich voneinander abgehoben, daß ihre Überlagerung die phonetische Wirksamkeit der einzelnen Worte und Silben nicht beeinträchtigt, sondern vielmehr die Mög lichkeit gibt, musikalisch wirksame Beziehungen zwischen den Vokalen zu schaffen. Unter den drei Zellen hat die zweite Zelle die lebhafteste Gestalt. Abgesehen von der rein phonetischen Plastizität der Vokalfolge „qual or piü" bewahrt die natürliche Vorherrschaft der kürzesten Zeit werte den Text auch bei Überlagerung mit den anderen beiden Zellen davor, unter einen gewissen Verständlichkeitsgrad abzusinken. Erst die kanonisch überlagernde Konfrontation dieser Zelle mit sich selbst (Takte 7 und 8) schafft mit der stark erhöhten Vielfalt der phoneti schen Beziehung eine weitere Abschwächung der ursprünglichen deklamatorischen Plastizität der Silbenfolgen und damit ihrer Verständlichkeit. Das Moment der semantischen Verstehbar keit ist in umgekehrtem Verhältnis zu der Vielfalt der phonetischen Beziehungen wirksam. Von den anderen beiden Zellen ist die Charakteristik der Silbenfolge von „II sol" und deren rhythmische Abgehobenheit im Verhältnis stark genug, um die Zelle zusammen mit den ande ren oder mit sich selbst phonetische Konstellationen bilden zu lassen, ohne dabei die musika lische Wirksamkeit ihrer Deklamatorik ganz verloren geben zu müssen. So schafft die Über lagerung dieser Zelle mit sich selbst am Anfang des Madrigals sofort eine mehrdimensionale, rein phonetische Silbenbeziehung, ohne indes die semantische Wirkung zu zerstören. Die dritte Zelle (splende) hat von der deklamatorisch-musikalischen Artikulation her gesehen das schwächste Profil, dafür stellt das Wort „splende" in der doppelten Ausbreitung des Vokals e ein intensives phonetisches Ereignis dar, indem es in den zahlreichen Wechseln der Vokalkonstellationen das beständigste Element bildet. Der semantische Kern dieser Zelle, der als die augenblickliche Satzaussage des Textes die anderen eigentlich an Gewicht übertrifft, ist über ein sehr begrenztes Maß direkter Wortverständlichkeit in die Erlebbarkeit einer musi kalischen Semantik übergegangen und in der phonetischen Bezogenheit seiner Klanggestalt auch bei völliger Unverständlichkeit der Silben musikalisch unüberhörbar geworden. Das Moment des „splendere", des Strahlens, wird in der vokalen Statistik der phonetischen Gestalt musikalisch verwirklicht. Es ist interessant zu sehen, wie die unmittelbare Textverständlichkeit umso kleiner wurde, je mehr der semantische Gehalt an Gewicht zunahm. Bei einfacher Überlagerung aller drei Zel len haben die Silben „qual or piü" die größte Chance, unmittelbar verstanden zu werden; ihr se mantischer Wert ist jedoch minimal. Die Silben „II sol", durch dazwischenfallende störende Achtelwerte in der unmittelbaren Verständlichkeit schon ziemlich beeinträchtigt, haben erst eigentlich einen semantischen Wert. Der stärkste semantische Gehalt liegt jedoch in dem Prä dikat „splende"; er ist aber fast ganz aus der Unmittelbarkeit des verstandenen Wortes in die

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begriffslose Unmittelbarkeit der gehörten Musik kompositorisch entrückt worden. Im sechsten Takt wird bei einem extrem schwachen Grad Null der polyphonen Überlagerung die einfachste Form der phonetischen Beziehung geschaffen in der Gestalt einer gemeinsamen homophonen Deklamation der Silben „II sol" und der damit verbundenen größten rhetorischen Eindring lichkeit des semantischen Gehalts. Dem steht kaum zwei Takte später ein Maximum an poly phoner und vokaler Vielschichtigkeit der Beziehungen gegenüber. Die phonetische Konfusion ermöglicht keinen Zugang zur Semantik der Textpartikel. Umso eindrucksvoller aber wirkt hier die allmähliche Einmündung aller sich überlagernden Stimmen in die phonetische Eindring lichkeit der gehaltenen Silben „splende". Der semantische Begriff des Strahlens bekommt so musikalisch durchdringende Wirksamkeit im kontrapunktischen Gefüge. Die Komposition des musikalischen Ausdrucks als eines vieldimensionalen Gefüges von Text- und Laufkonstellationen erforderte hier die mehrfache Wiederholung des Textes. In die sem Zusammenhang stellt sich ein anderes Problem: Was geschieht, wenn der Text durchläuft und ohne Wiederholung benützt wird? Die scharfen, musikalisch wirksamen Beziehungsfelder anhand eines vorliegenden Textes und dessen klanggestaltlicher Beschaffenheit verurteilten die einmal komponierte und unwiederholbare Textsilbe endgültig zur Unverständlichkeit ihres se mantischen Gehalts. Hat die phonetische Gestalt eines Textes außerhalb der Funktion, dessen Semantik erfaßbar zu machen, überhaupt noch einen Sinn? Wieso soll bei der musikalischen Gestaltung das phonetische Material eines ganz bestimmten, semantisch bezogenen Textes ver wendet werden, wenn mit der Auflösung der Klanggestalt dessen semantische Wirkung zerstört wird? Warum die phonetischen Elemente nicht gleich vollends aus dem Alphabet ableiten? Um diesem Fragenkomplex, wie er sich im besonderen Hinblick auf meine Situation gebil det hat, begegnen zu können, muß ich zunächst einige Mißverständnisse aufklären, die durch die Veröffentlichung oberflächlicher Analysen meines zweiten Stücks aus dem Canto sospeso entstanden sind. Der Text dieses a-cappella-Chores wurde durchgehend komponiert. Die letzte Einheit, in welche er aufgespaltet wurde, ist das Wort, nicht die Silbe. Durch die sukzessive Verteilung der Worte in verschiedene Stimmlagen ist die Einheit der linearen Deklamation gleichsam im Sinn eines Chorals gewahrt, gleichzeitig aber auch aufgelockert, um neue Bezie hungsmöglichkeiten zwischen den Eigenschaften der gesungenen Klanggestalt der Worte zu schaffen, sodaß durch die komponierte musikalische Gestalt ein Wort gemäß seinem semanti schen Gehalt in seiner Beziehung zu semantischen Gehalten des ganzen Textes, das heißt zum musikalischen Ausdruck des Ganzen, abgestuft werden konnte. Aus diesem Verschmelzungs prinzip von musikalischem und semantischem Gehalt des gesungenen Wortes ist die weitere Aufspaltung in Silben zu verstehen, wie sie sich im letzten Stück von // canto sospeso verfolgen läßt, sowie die weitere Zerlegung des Wortes in die Vokale und Konsonanten seiner Klanggestalten in meinen späteren Arbeiten. Und aus diesem Grund erweist sich eine rein phonetische Analyse der Vokalstruktur des zweiten Stücks aus dem Canto sospeso, wie sie Stockhausen versucht hat, hier, wo es um die Gestaltung eines menschlich bezogenen Ausdrucks geht, als ganz sinnloses Unterfangen, so angebracht solche Analyse auch dort sein mag, wo die Musik sich in bloßen Materialkonstellationen um des Materials willen erschöpft. So kam es, daß durch die einseitig subjektiv beobachtende Materialanalyse meines Chors, wie sie Stockhausen in seinem Aufsatz „Sprache und Musik" niedergelegt hat, sich dieser in Fragen verstrickte, die Aufschluß geben über die willkürliche Weise, mit welcher sich in seiner Vorstellung materialistische Abgestorbenheit kompositorischer Produkte auf die zu fällige psychologische Verfassung ihres Produzenten bezieht. Ich zitiere aus Stockhausens Aufsatz:

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„In manchen Stücken des Canto komponie rt Nono den Text aber so, als gälte es, dessen Sinn wieder zurückz uziehen aus der Öffent lichkeit, in die er nicht gehört. ( ...) Er läßt di e Texte nicht vortragen, sondern birgt sie in einer so rücksichtslos strengen und dichten musikalischen Form, daß man beim Anhören nahezu nichts mehr versteht. Wozu dann überhaupt Text, und gerade diesen? Ma n kann es sich so e rklären: Besonders bei der Vertonung derj enigen Briefst ellen, bei denen man sich am meisten darüber schämt, daß sie geschrieben werden mußten, nimmt der Musiker nur noch als Komponist Stellung zu sich selbst, der doch vorher die Texte ausgewählt hatte: Er interpretiert nicht, er kommentiert nicht, er reduziert vielmehr die Sprache auf ihre Laute und macht mit diesen Musik. La utpermutationen a, ä, e, i, o, u; serielle Struktur. Hätte er dann von vornherein Laute und nich t derart sinngeladene Texte wählen sollen? (.. .) Denken wir an die ganze Komposition: Einige Teil e (II, VI, IX) gehen bis zur Auflö sung des Sprachsinnes; andere Teile (V, VII) zitieren, ja verdeutlichen den Text (...). Also kann man an dem soeben erwähnten Gedanken festhalten, daß der Komponist ganz bewußt bestimmten Textstellen die Bedeutung,ausgetrieben' hat." Dieser Darstellung Stockhausens möchte ich hiermit meinen Standpunkt gegenüberstellen: Die Botschaft jener Briefe der zum Tod verurteilten Menschen ist in mein Herz eingemeißelt wie in die Herzen aller derjenigen, die diese Briefe verstehen als Zeugnisse von Liebe, bewuß ter Entscheidung und Verantwortung gegenüber dem Leben und als Vorbild einer Opferbereit schaft und des Widerstands gegen den Nazismus, dieses Monstrum des Irrationalismus, wel ches die Zerstörung der Vernunft versuchte. Hat man aus der Notwendigkeit der Passion Chri sti nichts anderes gelernt, als sich zu schämen? Und soll diese jüngste Passion von Millionen, die nicht Gott, sondern Menschen waren, uns nichts anderes lehren, als uns zu schämen? Sind sie dafür gestorben? Ich möchte nicht darüber urteilen, wer sich da nun wirklich schämen sollte. Das Vermächtnis dieser Briefe wurde zum Ausdruck meiner Komposition. Und aus diesem Verhältnis zwischen dem Wort als phonetisch-semantischer Ganzheit und der Musik als dem komponierten Ausdruck des Wortes sind alle meine späteren Chorkompositionen zu verstehen. Und es ist völliger Unsinn, aus de r analytischen Behandlung der Klanggestalt des Textes zu fol  gern, damit sei diesem der semantische Gehalt ausgetrieben. Die Frage, warum ich zu einer Komposition gerade diesen Text und keinen anderen genommen habe, ist nicht intelligenter als die Frage, wieso man, um das Wort „dumm" auszusprechen, ausgerechnet die Buchstaben d-um-m benützt. Das Prinzip der Textzerlegung, wie es sich in Cori di Didone bis zur Aufteilung in einzelne Konsonan ten und Vokale entwickelt hat, hat dem Text seine Bedeutung nicht ausgetrieben, son dern hat den Text als phonetisch-semantisches Gebilde zum musikalischen Ausdruck gemacht. Die Komposition mit den phonetischen Elementen eines Textes dient heute wie früher der Transposition von dessen semantischer Bedeutung in die musikalische Sprache des Komponi sten. Sie hören jetzt die Cori di Didone. Vortrag Luigi Nonos vom 8. Juli 1960 in Darmstadt; Formulierung: Helmut Lachenmann. Es handelt sich um den zweiten Teil eines Doppelvortrags, den Nono am 7. und 8. Juli 1960 bei den Darmstädter Ferienkursen gehalten hat. Der erste Teil wurde nicht von Lachenmann for muliert; wer sich für dessen Inhalt interessiert, sei auf das Buch Luigi Nono. Texte, Studien zu seiner Musik, herausgegeben von Jürg Stenzl, Zürich und Freiburg/Breisgau 1975, verwiesen.

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VI. POLEMIK In Sachen Eisler Brief an „Kunst und Gesellschaft"

Die Behauptung im Heft 20/21 (Zur Kampfmusik Hanns Eislers, Seite 61 ff), ich hätte mit den aus meinem Text zitierten Sätzen Hanns Eisler gemeint, ist völlig absurd und beiläufig ein schwachsinniger Versuch, mich in die obligate Schußlinie zu rücken. Man mag die angeführ ten Zitate aus meinem Text nachlesen und selbst sehen, wie sie durch die Interpretation ver fälscht worden sind. Meine „Alternative": „Permanente Negation und ernsthafte Störung des ästhetisch Ver festigten, permanente Umwertung des Bekannten und" (allerdings auch) „Einbeziehung des Unbekannten" - das sind Kriterien, denen Eislers Musik ebensogut standhält wie diejenige Schönbergs, nicht aber die Musik und die Musikerwartung derer, die sich das Vermächtnis Eis lers, seine Musiksprache und seine Theorien in den siebziger Jahren als Brett vor den Kopf genagelt haben und ihn zum Alibi machen wollen für ihre eigene Unfähigkeit, weiterzudenken und weiterzugehen. Das emotionalisierende Moment bei Eisler ist keineswegs demagogisch-manipulativ, son dern kritisch-durchsichtig. Bei ihm wird, wie er selbst sagt: „nicht geschummelt", wohl aber bei seinen Epigonen, den Politfolkloristen im Zeitalter und in der Umgebung der pluralistisch orientierten Massenmedien, wo der Laie ganz anders in seinen Ansprüchen programmiert ist als zur Zeit Eislers. Nicht die Verwendung von tonalem Material ist reaktionär - wir alle ver wenden freiwillig und unfreiwillig tonales Material -, sondern die ungebrochene Verwendung expressiver Klischees. Nicht, was „dem musikalischen Laien geläufig ist", ist reaktionär, son dern wie damit umgegangen wird: die bloße Wiederholung der für den Kleinbürger bewährten Inhalte. Eisler trifft das nicht. Was der musikalische Laie heute - der, wie gesagt, ein anderer ist als der Laie der zwanziger und dreißiger Jahre - mit seiner Musik anfängt, inwieweit er von ihr „gepackt" oder „mitgerissen" wird, das wäre noch zu untersuchen. Eisler jedenfalls war kein Dilettant und kein Epigone, weder im Denken noch im Handeln. Das unterscheidet ihn von denen, die ich treffen wollte mit meinen Sätzen. Die Autoren des Eisler-Heftes erwägen, den Eislerschen Liedern neue, aktuelle Texte zu un terlegen. Aber indem man den Eislerschen Produkten irgendwo neue Flicken aufsetzt, reißt man nur auseinander, was im Zusammenhang noch stimmte. So allerdings wird Eislers Musik zum alten Kittel. Was Eisler damals musikalisch geleistet hat: Vielleicht könnte Luigi Nonos Musik das für uns bedeuten. Ein Heft über Nono - eher als über Eisler - wäre längst fällig. Die Frage des aktualisierten Materials, ob tonal oder sonst was, die Frage eines wahrhaft „packenden" Kon takts zum musikalischen - und unmusikalischen - Laien: Nonos Musik und nicht mehr dieje nige Eislers liefert und korrigiert permanent den entscheidenden Ansatz für eine Antwort auf diese Fragen für uns heute. Damit wird nicht der eine gegen den anderen ausgespielt, sondern eine Kontinuität angesprochen, die heute wie damals auch vom Laien prinzipiell dialektisches Hören verlangt und ihm dies zutraut. Von den Autoren des Eisler-Heftes sollte man mindestens sauberes Denken und Interpretie ren erwarten können. Nicht viel besser als mit meinem Text gehen sie in ihren Analysen mit der 329

Musik Eislers um. Woher nehmen sie die Maßstäbe für ihre blumigen Adjektive? Ist der west deutsche Reklamestil das, was sie dem Laien für angemessen erachten, wenn er auf Eisler ge trimmt werden soll? Wollen sie Eisler zum verhinderten Hauskomponisten der Münchner Lach- und Schießgesellschaft machen? Ihre Praxis hat sich von den Bedingungen, unter denen es heute zu handeln und zu wirken gilt, isoliert. Ich kann deshalb die gewaltsame Konfronta tion meiner Äußerungen mit der Musik Eislers nur als Verdrängungsakt derer verstehen, die sich durch meine Worte in ihrer Ratlosigkeit und Naivität durchschaut fühlen. Ob viele Komponisten der Avantgarde ebenso denken wie ich, und ob meine Sätze geeignet waren, sie zu beruhigen, bezweifle ich. Was aber die Reaktion weiß Gott beruhigt, das ist der bornierte Dilettantismus und die Primitivität, mit welcher die Linke sich selbst immer wieder lähmt und unglaubwürdig macht, statt über den eigenen dogmatischen Horizont hinaus die kri tischen Kräfte im Lande zusammenzuhalten. 18. 12. 1973 Ein Auszug aus dem Artikel, der die Veranlassung zu diesem Schreiben gab, findet sich im An hang Seite 405 f .

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Offener Brief an Hans Werner Henze Sehr geehrter Hans Werner Henze, ich finde mich in Ihrem Buch: „Die englische Katze. Ein Arbeitstagebuch 1978-1982" etikettiert als „Vertreter der ,musica negativa'" - ein Terminus, den Sie sogleich per Fußnote in suspektes Licht zu rücken wissen - und sehe mich nicht zuletzt wegen meiner „Ungezogen

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heit" bei einem kontroversen Wortwechsel in einer öffentlichen Diskussion dem Unwillen des Lesers überantwortet, ohne mich an Ort und Stelle schützen zu können. Jener Wortwechsel vom vergangenen Herbst in Stuttgart ist rekonstruierbar, der Süddeutsche Rundfunk hat ihn aufgezeichnet: Meine Ungezogenheit bestand nachweislich in nichts ande rem, als daß ich höchst behutsam und respektvoll die Frage aufwarf, wie denn Musik - in diesem Fall die Ihrige -, insofern sie sich der traditionellen Mittel bloß bedient (statt sie weiterzuentwickeln), solchen ungebrochenen Umgang mit bereits Geschaffenem rechtfertigen, beziehungsweise die aus der Tradition geborgten („abgerufenen") Ausdrucksinhalte heute noch einmal glaubwürdig machen könne. Es hieße Ihre Intelligenz beleidigen, wollte man annehmen, Sie hätten diese meine Einlas sung tatsächlich als persönlichen Angriff empfunden. Das von mir angesprochene Problem geht schließlich uns Komponisten alle an. Es brauchte uns nicht zu spalten, sondern könnte uns verbinden. Ihre Reaktion, damals wie jetzt wieder, scheint deshalb eher diejenige eines aus frommem Selbstbetrug Aufgeschreckten zu sein, der, um seine liebgewordene Maske zu retten, vorsorglich ins Gesicht des anderen schlägt. Was Ihren Versuch angeht, zusammen mit meiner Person auch meine ästhetische Gesinnung herabzuwürdigen, so könnte man es fast bei der Feststellung bewenden lassen, Sie hätten sich halt in der Schublade vergriffen - wenn es sich bei solch ungeniertem Schubladen-Denken nicht zugleich um einen bemerkenswert selbstverräterischen Vorgang Freudschen Zuschnitts handelte (war die Anrüchigkeit des Unbequemen, unterstellt von welcher Biedermanns-Zunft auch immer, nicht von jeher in Wahrheit jeweils deren unbewußt erkannte eigene?): Ich kenne jedenfalls kein Musikwerk, von einer „Richtung" ganz zu schweigen, wo so wie in diesem Ihrem polemischen Ausfall „das Negative unserer Zeit (das ist das korrupte Musikleben im Kapitalismus mit allen Begleiterscheinungen, darunter auch der des pluralistischen Vorhan denseins" - ich füge hinzu: auch derjenigen der Diffamierung - „Andersdenkender und ande res Machender) sich wie in einem Spiegelbild niederschlägt, wo das Häßliche sich selbst kunst voll darstellt". Welch abstoßende Interpretation! - und wahrhaftig, in solcher „ars negativa" müßte diese Ihre eigene tendenziöse Darstellung als charakteristisches Beispiel und Kunstwerk der Verleumdung ganz oben rangieren. Tatsächlich wird „Zertrümmerung des Materials" nicht dort geübt und gefeiert, wo, wie zum Beispiel auch in meiner Musik, die überlieferten musika lischen Mittel reflektiert, sondern dort, wo sie, wie bei Ihnen, bedenkenlos ausgeschlachtet werden, und es ist noch lange nicht gesagt, daß einer in der Tradition wurzelt, bloß weil er darin wurstelt. Schließlich Ihr unglücklicher Versuch, Adorno beziehungsweise seine Schule (zu der ich nicht gehöre, von der ich aber lerne) zu karikieren, um eine „Richtung" zu treffen, „wo, nach Auschwitz, nichts mehr artikuliert oder dargestellt werden kann, weil alles so verschlissen & beschissen ist, alles schon gesagt, kaputt, kaputt!...": Es scheint, daß Sie, Herr Henze, selbst zu den „Autoren" gehören, die „sich darauf beschränken wollen und müssen, diese ihre tristen und ärgerlichen Verhältnisse" - in Ihrem Fall eine schon peinliche intellektuelle Verwahrlosung 331

„zu perpetuieren und zu ritualisieren". Mir bleibt eigentlich nur, mich Ihrem philosophischen Kopfschütteln über die hierzulande beliebte Verwechslung von „Wahrheit und Grobheit" anzuschließen. Im Hinblick auf diesen Ihren Umgang mit „Andersdenkenden und anderes Machenden" er weisen sich die folgenden Passagen aus einem Vortrag, den ich im April des vergangenen Jah res gehalten hatte, geradezu als prophetisch: „Was meine Generation schöpferisch reizte" - nämlich die kritische Auseinandersetzung mit 106

dem traditionellen - „empfinden Komponisten neuerdings als unwür dige Lähmung und Materialbegriff Unterdrückung ihres Ausdrucksbedürfnisses. Eine jüngereerneut Generation" - in der Sie, Herr Henze, sich bestätigt glauben - „erfährt jene Ästhetik des Widerstands als bloße Frustration. Mehr als an der Gebrochenheit des Ichs leidet sie an der Lähmung durch solche Er kenntnis. Sie weigert sich, auf die eigene Unfreiheit zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange, und sie wagt es, in dieser, trotz dieser und wegen dieser Unfreiheit und Entfremdung nun gerade erst recht ,Ich' zu sagen und durchzustoßen zum direkten, unmittelbar an den Mit menschen gerichteten Affekt, im Glauben an eine durch alle Masken hindurch sich letztlich doch erhaltende Kommunikationsfähigkeit des Ichs. Sojedenfalls meine ich den Geist zu ver stehen, der jene zum Rückgriff auf den bürgerlichen Affekt entschlossenen Komponisten lei tet. Und so respektiere und akzeptiere ich sie, und so stehen sie mir näher als manche StrukturManieristen, die unter Mißbrauch einer zur Ideologie verklärten Sprachlosigkeit, sozusagen mit Entfremdung kokettierend, als Außenseiter vom Dienst einer Art negativem Kunstgewerbe frö nen. (...) Jener Ausbruch des geknebelten Subjekts in eine neue affektive Unmittelbarkeit wird aber unwahr und degeneriert zum Selbstbetrug dort, wo der Komponist, fett und behaglich, vielleicht strukturell leicht vernarbt, dafür umso wehleidiger, sich in der alten Rumpelkammer der verfügbaren Affekte wieder häuslich einrichtet. Die Versuchung ist groß, und der Eindruck läßt sich nicht von der Hand weisen, daß, nach soviel beklagter Stagnation zuvor, jener neue überquellende Reichtum an affektgewaltiger Musik sich der Fruchtbarkeit einer Fäulnis ver dankt, bei der sich die Maden im Speck des tonalen Kadavers tummeln. Wer glaubt, expressive Spontaneität und der unschuldige Griff ins altbewährte Affekten-Reservoir mache jenen Kampf des gespaltenen Subjekts mit sich selbst überflüssig und erspare ihm die Auseinander setzung mit dem traditionellen Materialbegriff, der hat sich künstlerisch selbst entmündigt. Er darf gern einer Gesellschaft auf dem Schoß sitzen, die jeden ermuntert, der ihr bei ihrem Ver drängungsspiel sekundiert. Zu sagen hat er ihr nichts. Solche Gesinnung verrät sich spätestens durch das Niveau ihrer Polemik gegen die alte Avantgarde, einer Polemik, die darin besteht, daß der Blick verstellt wird durch Pappkameraden, auf die dann eingedroschen wird zur Genugtuung des Herrn Peter Jona Korn. Und was mich so stutzig macht, ist, daß es neben den obligaten publizistischen Klima-Vergiftern doch auch respektable Komponisten gibt, die - offenbar zur eigenen Rechtfertigung - glauben, an solchem Prügelfest sich mehr oder weni ger verschämt beteiligen zu sollen. Da ist zum Beispiel das beliebte Phantombild des typischen Darmstadt-Komponisten, der - sich emotionaler Mitteilung verschließend -, mit hochmütigem Blick in eine von ihm gepachtete Zukunft, von der Gegenwart garnicht verstanden werden wolle: Hyperromantiker, Fortschritts-Apostel und grämlicher Intellektueller zugleich und so das musikalische Material mit Algebra-Formeln züchtigend. Genau dies hat man übrigens vor fünfundzwanzig Jahren dem Komponisten der Varianti und des Diario polacco, Luigi Nono, nachgesagt. Und Wolf gang Rihms Äußerung aus dem Jahr 1980 über Ordnungen, die auf ihre sinnliche Wahrnehmbarkeit verzichten, wären seinerzeit von Nonos Gegnern bedenkenlos übernommen worden: ,Diese Ordnung bleibt unverständlich und bekommt zur Plage ihrer 15

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Zwanghaftigkeit auch noch den Hohn der Fadheit.' Rihm, mit dem mich die uneingeschränkte Liebe zum Schaffen Nonos verbindet, weiß sehr wohl, daß nicht nur der ,Hohn der Fadheit', sondern nicht weniger die Fadheit solchen Hohns durch Generationen hindurch sich immer wieder haben korrigieren lassen müssen: Langeweile ist unverzeihlich, gewiß - aber wem??? (...) Kann es ein anmaßenderes und zugleich ignoranteres Programm geben als die Propagie rung einer ,menschlichen Kunst' (im Gegensatz zur bislang unmenschlichen...) und als die Forderung, .endlich wieder für das Publikum' zu komponieren? Für wen waren denn Nonos Canto sospeso, La terra e la compagna, Stockhausens Gruppen und die Kontakte, Boulez' Marteau sans maitre, Berios Epifanie und Cages Klavierkonzert komponiert? Der Vorwurf einer hermetisch verschlossenen Musik bloß für Insider wiederholt nur die beliebte Ausrede einer Öffentlichkeit, die vor Werken wie den genannten in Deckung gegangen ist, weil sie sich von dem darin erfahrenen Aspekt mehr getroffen als von den Affekten sämtlicher Neosymphoniker auch nur unterhalten wußte. Nicht fehlen darf natürlich auch das polemische Spiel mit dem Begriff Verweigerung', welches mich selbst zum asketischen, schmollenden Prediger mit moralisch erhobenem Zeigefinger in der Wüste erstickter Kratzgeräusche stempeln möchte: ein Pappkamerad, so recht zum Draufhauen sich anbietend, weil man geflissentlich als ,Abkehr vom Publikum' mißdeutet, was ich immer nur als kompositionstechnisches Verfahren beschrieben hatte: das Wegräumen des offen Daliegenden, um dahinter Verborgenes freizule gen, reiner erlebbar zu machen. Meine Hilfsdefinition von Schönheit als ,Verweigerung von Gewohnheit': Im Zerrspiegel der Blödmacherei wurde daraus .Verweigerung von Genuß'. Gewohnheit und Genuß in eins gesetzt: Hier hat sich der Spießer entlarvt. Verständlich, daß sich das Provinzfeuilleton, weniger, daß sich Komponisten solcher Pappkameraden arglos polemisch bedienten und sich so der eigentlichen Fragestellung entzogen. Diese lautet nach wie vor: Wie läßt sich Sprachlosigkeit überwinden, eine Sprachlosigkeit, die verhärtet und ver kompliziert erscheint durch die falsche Sprachfertigkeit des herrschenden ästhetischen Appa rats? Ich selbst weiß keine andere Antwort als die, diese Fragestellung im Komponieren bewußt zu machen. Sie scheint mir der Grundaspekt des Komponierens heute zu sein." Sie, Herr Henze, haben solche Probleme offensichtlich nicht. Ihnen genügt, wie Sie in jener makabren Diskussion postulierten, „beim Komponieren so richtig happy" zu sein. (Das deut sche Wort „glücklich" war Ihnen, mit Recht, wohl nicht läppisch genug.) Begreiflich, daß meine Frage Ihnen unheimlich war: Sich mit ihr auseinanderzusetzen, erforderte Selbst-Befra gung statt Selbst-Darstellung. Vermutlich käme Ihr Terminkalender durcheinander. „Zertrümmerung des Materials" hin, „Ungezogenheit" her - Pappkameraden („nicht ganz neue"), dummschlau in die öffentliche Landschaft plaziert, freigegeben zum Draufhauen: Ich respektiere die Angst vor innerer Verunsicherung, die aus Ihrem Manöver spricht, aber ich erkenne darin ein typisches reaktionäres Verhaltensmuster, und ich bedaure die Phantasielosigkeit, mit der Sie Ihre Unsicherheit zu kaschieren suchen, statt sich zu ihr zu bekennen oder gar sie schöpferisch zu bewältigen. Dies nämlich könnte Ihnen noch Glaubwürdigkeit verschaffen, dem Künstler wie dem Menschen, denn „wichtig ist nicht, ob der Kopf im Sand, sondern ob der Sand im Kopf steckt. (...) Hanns Eisler hätte so gern ein Buch über ,die Dummheit in der Musik' geschrieben. Ich hielte ein anderes für dringender: über das Sichdummstellen in der Musik." (Ebenda) Ich wünsche Ihnen: Glück.

Helmut Lachenmann Leonberg, 11. Juni 1983

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Nachzutragende Gedanken Die zeitgenössische Musik wurde in dieser Konferenz behandelt wie ein fahrzeugähnliches Objekt am Straßenrand, welches offensichtlich nicht von selbst vorwärtskommt. Um dem abzuhelfen, wurde diskutiert, wie man das offenbar fahruntüchtige Objekt schiebt, oder wie man etwas Zugkräftiges davorspannt, um es weiterzuziehen. Einige kümmerten sich auch um den „Anlasser", da man mit dessen Hilfe ein bißchen vorwärtskommt, wenn auch unter rascher Abnutzung der ich Batterie-Energien. Gerührt war über die an der Diskussion beteiligten „Rennfahrer" aus der U-Musik, die mit ihrem Fahrzeug keine Probleme haben und sehr kollegial sich um das widerspenstige Fahr zeug „Neue Musik" Gedanken machten (welches sie doch wohl am liebsten auf dem Schrott haufen sähen). Man hofft also, das Ding irgendwie mit gemeinsamen Kräften mitzuschleppen in der Erwar tung, daß auch mal eine abschüssige Strecke kommt, wo es dann von selbst weiterrollt (aller dings irgendwann wieder genauso schwerfällig daliegt wie jetzt). Nur wenige haben sich Gedanken gemacht darüber, was das überhaupt für ein Fortbewe gungsmittel ist, wie sein Motor, wenn es überhaupt einen hat, anspringt. Denn um dies zu klären, müßte man erkennen, was dieses Fahrzeug überhaupt nützt, und man müßte sich im Hinblick darauf um die besondere Konstruktion dieses Apparates kümmern. Manesmüß doch erst malist, herauskriegen, welcher Art von Objekt Wenn einteSegelflugzeug kann man es zwar gewiß ewigFortbewegung auf der Straßedieses schieben oder dient: zie hen, aber es nützt überhaupt nichts, es dabei zu belassen und sich über den offenbar schlechten Motor zu wunder n, denn ein Segelflugzeug braucht kein Benzin und hat gar keinen Motor , son dern es braucht frischen Wind. Und es ist auch nicht dazu da, geschweige dafür gebaut, auf den vorhandenen Straßen zu fahren wie andere Fahrzeuge. Dafür ist es eher in der Lage, unwegsa mes Gelände zu erschließen, neuen Wege-Möglichkeiten nachzuspüren. Meine Versuche, in der Konferenz Überlegungen in Gang zu bringen über die besondere Beschaffenheit des Beitrags der Neuen Musik im Kulturleben, wurden leider schnell weg gewischt als offenkundig überflüssiger und aussichtsloser Versuch, „Musik zu definieren". So fühlte ich mich ziemlich verloren als bloßer Hansguckindieluft neben so vielen „Realisten", denen es um die „harte Wirklichkeit" der bereitzustellenden finanziellen und organisatorischen Mittel ging. Im Nachhinein behaupte ich, daß ich das eigentliche Problem doch nicht weniger realistisch erkenne als die „aufgeschlossenen" Herren Macher, die letztlich kaum mehr als Flickarbeit am untauglichen und am ungeliebten und vielleicht auch unbekannten Objekt anbieten können. Und ich behaupte, daß die meisten der „Realisten", insofern sie meinen, sich herumdrücken zu können um die klare Definit ion und Legitimation des Gedan kens, um dessen Förderung es geht, die Neue Musik in ihrer vielfältigen Substanz oft weder kennen noch näher sich damit beschäftigen möchten. Ich habe bei der Konferenz die Begriffe Bruch und Aufbruch benutzt, um diese von mir als Voraussetzung geforderte Definition des Phänomens nicht einfach vorwegzunehmen, aber wenigstens grob zu exemplifizieren: Bruch als Erfahrung der Entfremdung zwischen Auto nomie-Anspruch des Werks und den verdinglichten Harmonie- und „Kunstgenuß"-Erwartungen in unserer Gesellschaft, Aufbruch als Erfahrung von Innovation des Hörens, wodurch Musik, statt als selbstverständliche „intakte" Sprache zu funktionieren, ihr Idiom mit jedem Werk von neuem konstituiert, dabei die herrschenden Konventionen in Frage stellt, durch334

bricht, als verfestigte überwindet und sich als Material- und Ordnungszusammenhang neu definiert. Musik, wie Kunst überhaupt, denk t - über jed e unmittelbare kulturelle Dienstleistung hin aus - in jedem Werk fundamental über sich selbst neu nach. Diese Erfahrung kann man an historischer Musik weithin verdrängen und unterschlagen, weil man an deren Klangerscheinung schon gewohnt ist, und weil sie so zum unreflektierten, unangefochtenen Kulturmobiliar gehört. Aber in Neuer Musik kann man solcher Verunsiche rung nicht ohne weiteres ausweichen - und dies führt zum Dauerkonflikt mit der allgemein dominierenden Bequemlichkeit und ist letztlich der Grund für solche Entfremdung und, schlimmer noch: für Interesselosigkeit, und ist doch zugleich das entscheidende Gütezeichen von Musik in einer Gesellschaft, die sich gedankenlos an ihre Gewohnheiten anklammert und sich die - falsch verstandene - Tradition als warme Bettdecke über den Kopf zieht, und die in einem ganz bestimmten gegebenen kulturellen Klima unfähig ist zu erkennen, daß die Leben digkeit von Kunst in nichts anderem beruht als in ihrer Möglichkeit der Provokation. Provokation, das heißt: Ausbruch aus eingeschliffenem Hörverhalten und zugleich Angebot an die Wahrnehmung: Angebot, anders zu hören, im Hören übers Hören nachzudenken, sich immer von neuem dem Ungewohnten zu öffnen, sich ihm auszusetzen und sich damit ausein anderzusetzen. Damit ist Kunst „definiert", wohl aber wird so an einen wesentlichen Aspekt Kunst erinnert, mitkeineswegs dessen allgemeiner Verdrängung die Schwierigkeiten Neuer Musik in von der Öffentlichkeit direkt zusammenhängen. Die allgemeine Interesselosigkeit, Kern des Problems „Neue Musik", ist zu einem großen Teil nichts als mangelnde Aufklärung in diesem Sinn. Der Hunger, gerade auch der Jugend, nach einer Kunst, in der sie ihre Situation, wie auch immer vermittelt, wiedererkennt, ist da. Der Mißbrauch dieser Aufnahmebereitschaft durch kommerziell orientierte Interessen ist heute größer und gefährlicher als irgendwann früher. Neue Musik, Kunst allgemein, kann durch ihr bloßes Irgendwo-Vorhandensein dem kaum entgegenwirken. Mein Vorschlag ist der, daß man in absehbarer Zeit eine Konferenz einberuft - mit ähnlichem Teilnehmerkreis wie am 29. 9. 1986 in Bonn -, die sich mit nichts anderem als den tatsächli chen Möglichkeiten einer wirksamen, aufklärenden und motivierenden Öffentlichkeitsarbeit befaßt. Vielleicht sollten hierzu auch andere Sparten, Pädagogen, nicht zuletzt auch Vertreter aller Parteien hinzugezogen werden. Denn erst, wenn eine solche Öffentlichkeitsarbeit durchdacht und - vielleicht sogar konkret institutionalisiert - auf den Weg gebracht worden ist, kann die Hilfe der „Macher" mehr sein als mitleidiges, auch meist vergebliches Anschiebe-, Abschlepp- oder Batterie-entladendes Anlasser-Manöver eines „Fahrzeugs", dessen Bestimmung sein muß: nicht auf den aus gebauten Straßen zu fahren, sondern permanent neue Wege des Hörens und Denkens und Erlebens zu erschließen. 1986 Ein Berich t über die Fachkonferenz vom 29 .9 .1 98 6 in Bonn find et sich im Anhang Seite 411 f.

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VII. MISCELLANEA Kunst, Freiheit und die Würde des Orchestermusikers An Vinko Globokar

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Das Orchester ... - ? : Das Orchester, ein unerschöpf liches Potential von Klang- und Strukturverwirk lichung im Zusammenwirken von fünfzig, achtzig, hundert Individualitäten:

- ? : Das Orcheste r, ein abgenu tztes Gerät, Möbelstück in der guten Stube einer abge stumpften Gesellschaft, nach starrem Sche ma zusammengesetzt aus akademisch abge richteten Angestellten; diese

- jede von ihnen Träger eines selbständigen Reaktions- und Steuerungssystems

- geistig vorgeformt und eingeengt durch die standardisierte Dienstleistungsrolle, die ihnen von einem oberflächlichen Kultur konsumdenken zugeteilt ist

-jede ein Kompendium instrumentaler Erfahrung und spieltechnischen Trainings

- im Stress eines stur organisiert en Proben alltags allergisch gegen zusätzlich zugemu tete Lernprozesse und spieltechnische Her ausforderungen, die über das einmal erwor bene Repertoire hinausführen

-jede zugleich ein Mensch, fähig zur geisti gen Mitarbeit, zum Verstehen, zur Mitver antwortung, zur eigenen Initiative

- verunsichert in permanenter Sorge, ihre Identität und künstlerische Würde preis zugeben in einem System, welches sie zu stummen Völlzugsbeamten von künstleri schen Entscheidungen anderer stempelt

-jede ein Künstler, entschlossen, sich in der Vermittlung von Kunst zu verwirklichen, sich darin zu disziplinieren und zu verausgaben...

- unter solchen Voraussetzungen mißtrau isch bis zur Aggressivität jeder neuen auf führungspraktischen Zumutung gegenüber und kaum imstande, über die in der Tradi tion verankerten Darbietungsformen von Kunst hinaus sich für Möglichkeiten neuer, das heißt ungewohnter musikalischer Mittei lung zu engagieren ...

Begriffe wie Kunst, Freiheit, Würde sind von einer Gesellschaft in Beschlag genommen, deren letztes Kriterium nicht die Wahrheit und nicht die Humanität, sondern die eigene emphatische Selbstbespiegelung ist. Insofern Kunst, Freiheit und Würde über die geltenden Tabus hinaus etwas mit menschlicher Erkenntnis zu tun haben, stehen sie sich selbst im Weg: Im Namen der 337

Kunst, der Freiheit und der Würde lehnt sich der Orchestermusiker auf gegen Aufgaben, die ihm vom Komponisten im Zusammenhang mit dessen Bemühung um Kunst, Freiheit, Würde zugedacht werden. Dies führt zu jener seitlichen Rebellion, womit sich die Unzufriedenen im Land gegenseitig lähmen - zur Genugtuung derer, denen am Fortbestand der allseitigen Unsicherheit, Unmündigkeit nur gelegen sein kann. Die Sehnsucht des ausübenden Musikers ist: sich mit dem Werk oder wenigstens mit dessen ästhetischen Voraussetzungen verwandt zu wissen, sich damit identifizieren zu können. Aber ein verlogener und verbogener Kulturbetrieb mit seinen falschen magischen Fetischen hat diese Sehnsucht manipuliert, sterilisiert. Eine andere verschüttete Sehnsucht gilt es wachzurufen: die Sehnsucht nach einer öffentlich wirkenden Vernunft, welche die Götzen entlarvt, die dem Blick über den eigenen Horizont hin aus die Angst und dem Umgang mit dem Ungewohnten den Verdacht des Würdelosen nimmt: Identifikation nicht vorab mit dem „modernen Kunstwerk", sondern mit der Aufgabe, der Kunst eine neue (nämlich die alte) Funktion zu geben: Widerspiegelung des suchenden Men schen, der entschlossen ist, das Gewohnte zu begreifen, das blind Herrschende zu überwinden und ins Unbekannte vorzustoßen. Solche Sehnsucht kennt keine Aufgabe, sei sie noch so mechanisch oder noch so extrem, die den ausübenden Musiker entwürdigen könnte. Daß der Musiker, der im Namen von Freiheit, Kunst und Würde seine öffentlich verordnete Rolle als philharmonischer Gralshüter durchbricht, dadurch am prinzipiellen Widerstand teil nimmt, den Kunst heute der Bequemlichkeit unserer kulturbeflissenen Gesellschaft entgegen zusetzen hätte, das gibt seinem Wirken die Würde und den Sinn, der ihn aus der Verbitterung des Übergangenen, Vergewaltigten und menschlich Überforderten herausreißen müßte. Das gibt ihm darüber hinaus eine beispielgebende Funktion, wirksamer oft als die realisierten Werke selbst, deren Bedeutung in diesem Sinn es ja so erst zu durchschauen gilt. Konsequenz solchen Selbstverständnisses ist der Anspruch des Orchestermusikers, vom Komponisten ohne Umschweife zu erfahren, wie und warum dieser ein Werk, und warum er es so und mit diesen spieltechnischen Auflagen komponiert habe. Solcher Dialog muß zu den Aufführungen eines Werks genauso unverzichtbar gehören wie die ausreichende Anzahl Proben und das genaue Studium der Stimmen. Ohne diesen Dialog unter dem Vorzeichen eines neuen, vernünftigen Kunstverständnisses wird es bei der „seitlichen Rebellion" und inneren Resignation bleiben. 1974/94

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Über Tradition 1. Der Traditionsbegriff setzt ein Mindestmaß an Kontinuitätsbewußtsein in einer intakten Gesellschaft voraus. 2. Die Krisen im Zusammenhang mit der Entwicklung der industriellen Massengesellschaft in diesem Jahrhundert haben diese Kontinuität zerstört. 3. Das bürgerliche Denken ist den neu erschlossenen Aufgabenstellungen dieser Wirklich keit nicht gewachsen. Es schützt sich durch ein breit entwickeltes System von Verdrängungs mechanismen, welche die Isolation, Entfremdung, Angst und Sprachlosigkeit des Individuums überspielen sollen. 4. Unser Kulturbetrieb ist ein wesentlicher Teil dieses Verdrängungssystems. In diesem Sinn hat er die Tradition in Beschlag genommen: Die Illusion einer in Wirklichkeit längst verlore nen gemeinsamen Verständigungsbasis bewahrt er durch die Konservierung und Fetischisierung historischer ästhetischer Kategorien und daran gebundener Wertvorstellungen; in der Musik durchs Beharren auf den Kategorien einer dialektisch gleichsam ins Unendliche strapa zierten Tonalität, wie sie um die Jahrhundertwende einer Wirklichkeit entsprach, in welcher Fortschrittsglaube und Ahnungen der Bedrohung ein noch intaktes Gesellschaftsbewußtsein weniger verunsicherten als eher reizvoll beflügelten. 5. Im Rahmen aus der -Perspektive eines solchermaßen diese Gegenwart herüberbis geretteten tonalen und Pluralismus der sich dank jener der Tonalitätininnewohnenden Dialektik ins Unendliche strapazieren läßt - lassen sich der alten wie der Neuen Musik ideologisch ungefährliche Rollen als gleichermaßen exotische wie idyllische Zufluchtsmöglichkeiten zuweisen. 6. Tradition, so von jenen Verdrängungsbedürfnissen einer anachronistisch verharrenden (kulturellen) Öffentlichkeit in Beschlag genommen, hat damit ihren lebendigen Sinn verloren. Sie ist ein Tummelplatz geworden, vergleichbar einem umgestürzten Baum, dessen Stamm, Äste, Wurzeln, Früchte der Ausblutung freigegeben herumliegen. (In der Tradition wurzeln, heißt kaum viel mehr als in der Tradition wursteln.) 7. Als Synonym für tabuisierte Konvention bildet Tradition heute einen verräterischen Teil unserer Wirklichkeit. Sie ist zu einem unsichtbaren Gefängnis geworden. 8. In ihren Werken verkörpert diese Tradition aber zugleich jene historischen Beispiele und künstlerischen Erfahrungen, auf die sich Ausbruchsversuche aus diesem Gefängnis berufen könnten, wenn sie überhaupt einer Rechtfertigung bedürften. Der obligate Widerstand des Schöpferischen gegen die Vorwegbestimmung der verfügbaren Mittel, das damit verbundene unvermeidliche Ärgernis oder gar der Schock einer am verwal teten Objekt praktizierten Freiheit als unerbetene Erinnerung und Mahnung an zu praktizie rende Freiheit lassen sich als das eigentliche Movens der Kunst durch die Geschichte bis heute nachweisen. Diese latente Tradition gilt es offenzulegen und in ihrem Widerspruch zur landläufigen Traditionspflege bewußt zu machen. 9. Ohne auf dieses Spannungsverhältnis zwischen latenter Tradition und öffentlicher Tra dition in bezug auf die alte Musik einzugehen, läßt sich über das Verhältnis Neue Musik und

Tradition nichts sagen. Werk-Analyse, die heute mehr und mehr zu Ehren und schon wieder in Verdacht kommt, hat gerade in der Musikerziehung ihren Sinn und ihre Berechtigung nur unter diesem Aspekt. Unter diesem Aspekt allerdings sehe ich in der Werk-Analyse die einzige Möglichkeit, in unserer Gesellschaft eine vernünftige Beziehung zur musikalischen 339

Tradition und zur Gegenwart zugleich herzustellen und die Erfahrung von Kunst zu legiti mieren. 10. Sich der latenten Tradition verbunden zu wissen, bedeutet für einen Komponisten beides: Widerstand gegen Tradition, sofern deren Kategorien als herrsche nde Konventionen jenen bür gerlichen Verdrängungsmechanismen unterworfen sind; aber auch Insistieren auf Erfahrungen der Tradition dort, wo eine als oberflächliche Bilderstürmerei domestizierte Avantgarde - als Gruselgespenst vom Dienst - sich mit den überlieferten Fetischen zugleich der darin verkör perten Kriterien jener latenten Tradition zu entledigen hofft. 11. Mein Verhältnis und Verhalten zur Tradition ist damit weithin gekennzeichnet. Die obligate Auseinandersetzung meiner Musik mit dem, was ich anderswo als „ästhetischen Apparat" gekennzeichnet habe - sie läuft weitgehend auf den negativen Umgang mit tradi tionellen Kategorien hinaus -, ist die Auseinanderse tzung mit unserer gesellschaftl ichen Wirk  lichkeit, mit ihrem ästhetischen Sensorium als der ästhetischen Kehrseite. (Für mich als Musi ker ist sie Vorderseite.) 12. Diese Auseinandersetzung vollzieht sich nicht frontal, sie wirkt empfindlicher: als beiläufiges Resultat (Provokation) bei der individuell motivierten Erschließung musikalischer Zusammenhänge (expressiver Möglichkeiten) und Einbeziehung neuer Erfahrungskategorien. 13. Unter diesen Kategorien nenne ich den Struktur-Begriff und die empirische KlangErfahrung, wie sie eine latente Tradition über Schönberg, Webern und die Seriellen vermittelt 108

hatte. waren sie in habe den sechziger Jahren zumprovisorisch dekorativen und Spielzeug 14. Allerdings Eine andere Kategorie ich vor zehn Jahren längst verkommen. nicht erschöp fend als „Musique concrete instrumentale" etikettiert. Von ihr spreche ich jetzt nur, weil sie mir ein Pendant zur ausgesperrten Tonalität zu sein scheint: Wo die ersehnte erforderliche gemeinsam e Verständigungsbasi s auf Kosten des Wirklichkeitsbezugs rückwärts im historisch bewährten Tonalen sich bewahren möchte, ergab sich für mich eine solche Verständigungsbasis auf Kosten des Einverständnisses und der Gemütlichkeit quasi seitwärts in außerästhetischen Kategorien, nämlich denen des Alltags. 15. Insofern die Erfahrung des Alltags durch die darin wirkenden Medien ihrerseits ästhe tisch durchsetzt ist, stoße ich dort erneut mit der Tradition zusammen und erfahre sie, diesmal ihrer alten Würde doppelt entfremdet, als das Objekt einer sinnlos in Anspruch genommenen Dienstleistung für Lieschen Müller beim Geschirrspülen. 10 9

16. Meine Einbeziehung des Mozartschen Klarinettenkonzertes in Accanto bedeutete in diesem Sinn nicht sowohl Auseinandersetzung mit der Tradition, gar mit Mozart, als vielmehr mit unserer Gesellschaft, deren kulturelles Kennzeichen es ist, daß sie ihren Alltag mit Kunst beschmutzt. 17. „Zerstörerischer Umgang mit dem, was man liebt, um sich dessen wahres Vermächtnis zu bewahren im Hinblick auf einen Schönheitsbegriff, den ich versuchen muß, in Sicherheit zu bringen." (Aus meiner Werk-Einführung zu Accanto.) 1978

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Gedanken zur Musik des Vorbarock „Heimat" und „Exotik" in der Wirkung der Musik des Vorbarock: Beides bewährt sich als Zuflucht für den Zivilisationsgeschädigten Musikfreund und wird so in neuem Sinn Teil unse rer Zivilisation. Nichts indes gegen eine Mode, wenn sie, wie diese, früher Vernachlässigtes ans Licht bringt. Bedeutend und ergreifend für mich ist an dieser Musik der - immer wieder anders doku mentierte - Übergang von einer magischen zu einer eher vernunftdurchdrungenen Erfahrung der musikalischen Mittel. Nirgendwo wie in dem Abenteuer der sich entfaltenden Mehrstim migkeit, von ihren ersten Ansätzen und primitivsten Eingriffen in ein seinerseits hoch ent wickeltes lineares einstimmiges Musikdenken bis zu ihren kunstvollsten polyphonen Ausfor mungen, wird die Dialektik von Vernunft und Magie so deutlich. (Später kehrt sich die Situa tion um: Intuition, subjektiver Ausdruckswille, die Magie des emphatisch überhöhten Subjekts durchdringen und zersetzen ein spätestens seit Bach vernünftig geordnetes, tonal genormtes, ästhetisch eher domestiziertes Material.) Musica humana, Instrumentalis, von der mundana einmal zu schweigen: Klingende Natur, im Zusammenhang mit den christlichen Dogmen des Heiligen Römischen Reiches samt ihrer heidnischen Kehrseite magisch besetzt, wird in ihren Gesetzen und Beziehungen technisch und ästhetisch erschlossen von einem Geist, der dabei ist, sich selbst, seine Möglichkeiten, seine Bedürfnisse, seine Bestimmung zu erforschen und zu entdecken. Dieser Vorgang als klingend überlieferter berührt mich unmittelbar. Ich erlebe Musik dieser Jahrhunderte nicht als Kunst genuß. Es ist eher ein gewisser existentieller Schock dabei. Als durch die in mir lebendigere jüngere Tradition davon Fernstehendem beschäftigen mich beim Hören jene von mir eher geahnten als benennbaren Unordnungen, aus denen sich jene ersten Ordnungen herauskristal lisiert haben. Ich bin auch außerstande, Materialien vorbarocker Musik in meine eigene Arbeit einzubeziehen, darin irgendwie aufzubereiten. Diese Art, sein ästhetisches Heim mit Trophäen aus geographisch oder in diesem Fall „nur" historisch fernliegenden Kulturen zu schmücken, weckt mein Mißtrauen gegenüber einem bloß liebhaberischen Umgang mit dem, was uns ernst hafter zu berühren und betroffen zu machen hätte. Denn an die Stelle jener nach und nach in den Griff genommenen Natur sind inzwischen irrational nicht weniger verwaltete Kräfte getreten, verkörpert in den ästhetischen Mitteln und daran gebundenen Wertvorstellungen, die unser bürgerliches Dasein durchsetzen, und denen gegenüber verantwortliche Vernunft erneut ein verwandtes Abenteuer mit ähnlich ketzerischen Risiken zu bestehen hat. Was nämlich die Manipulations- und Unterdrückungsfähigkeit dieser Gesellschaft, was den magischen Zwang zur Gedankenlosigkeit durch den Kulturbetrieb, was in diesem Sinn den irrationalen Mißbrauch jener aus dem Geist erstandenen Natur betrifft, die wir „Kunst" nennen, so befin den wir uns im finstersten Mittelalter. 1979

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Komponieren im Schatten von Darmstadt Ob wir's wahrhaben wollen oder nicht: Wir alle sind geprägt - wie auch immer - durch die Erfahrung „Darmsta dt" und durch die Diskussion über das, was damals geschah. (Die Rede is t natürlich von den fünfziger Jahren.) Wir alle sind - mehr oder weniger bewußt - vatermordende Darmstadt- Kinder. Darmstadt der fünfziger Jahre: Das hieß Ausbruch und Aufbruch, hieß Absage an den über lieferten tonalen, Implikationen, philharmonischso orientierten Materialbegriff mit all satztechnischen und ästhetischen wie er bis dahin (und bis heute) im seinen bürgerlichen Musikle ben gepflegt und strapaziert worden war - Absage zugunsten von Konzeptionen, die in jedem Werk das zugrundeliegende Kategoriensystem neu bestimmten und dabei von der unmittel baren Wahrnehmung und von den Steuerungsmöglichkeiten ihrer akustischen Komponenten ausgingen. Ein Schlüsselbegriff hieß „Parameter", und seine Vermittlung gründete sich auf seriell abstufende Verfahrensweisen. Das serielle Verfahren hatte einen zwanghaften Aspekt, insofern es Entscheidungen an sich riß und automatisierte, an denen nach traditionellem Selbstver ständnis die unmittelbar reagierende, expressiv nuancierende Phantasie des Komponisten dominierend mitwirkt; es hatte einen befreienden Aspekt dort, wo die Phantasie sich als unfreie, gesellschaftlich verwaltete erkannte und sich als solche dem strukturalistischen Abenteuer hinderlich wußte. Jahren: Zugrunde lag diesen Konzeptionen zur Zeit des Wieder Darmstadt in den fünfziger aufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg die Hoffnung, tabula rasa mit der Vergangenheit machen zu können; Mißtrauen gegenüber der a-priori-Emphase, wie sie den vorgefundenen bürger lichen Musikbegriff bestimmte. Zudem technizistische Faszination und technologischer Optimism us, vielleicht auch eine Art Robinson-Crusoe-Hal tung, Pioniergeis t auf unbekanntem Terrain, und hinter all dem die - gewaltsam verspätete - Entdeckung des Schaffens von Anton Webern. Darmstadt in den fünfziger Jahren: Das bedeutete Negation der vertrauten Hörpraxis zu gunsten gesellschaftsutopischer Erwartungen, Entwurf einer Musik, welche ihre eigene Struktur abtastete und so die eigene Syntax zelebrierte: bedeutete so Unterordnung des expressiven Affekts unter den Aspekt der strukturellen Idee. Die kommunikative Funktion des klingenden Moments bestimmte sich ständig neu aus dem speziellen Materialzusammenhang, und zwar nicht nur positiv, sondern auch negativ, weil durch rigorose Ordnungsverfahren die gewohnten expressiven Wirkungen a priori liquidiert: sozusagen erstmal wegserialisiert wurden. Das Darmstadt der fünf ziger Jahre brachte eine neue kompo sitions-technische Terminologie, die Erweiterung, Komplizierung, Verfremdung der instrumentalen Praxis, aber auch Zuwen dung zu flexibleren Apparaten, die den bürgerlichen Musiker überflüssig zu machen schienen, Apparaten, deren Unbelastetheit reinere Strukturen versprach, schlackenlose Musik mit rad ikal neuen inneren Ordnungen. Kurz: Darmstadt bedeutete so den gemeinsamen Aufbruch junger Komponisten verschiede ner Länder, einen Aufbruch - wie sich allerdings zeigen sollte - letztlich mit unterschiedlichen Zielen. Zentraler, beispielgebender, präzisierender und zugleich dynamisch weitertreibender Motor bei der Erschließung neuer Wege waren Karlheinz Stockhausen und die „Kölner Schule " (Her bert Eimert, Gottfried Michael Koenig, Karel Goeyvaerts ). 110

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Als ich 1957 zum erstenmal nach Darmstadt kam, habe ich mich indes an Luigi Nono gehalten, weil dort, wo nach meinem Eindruck die anderen Komponisten noch ziemlich beziehungslos, quasi mit dem Rücken zur Tradition standen, Nono für seinen Weg die - von ihm neu gesehene - Tradition bewußt in Anspruch nahm. Zu dieser „klassischen" Phase Darmstadts gehört als dialektische Ergänzung des seriellen Organisationsdenkens auch die Erfahrung mit John Cage (der nach einem kurzen Besuch 1954 in Donaueschingen 1958 erstmals nach Darmstadt kam), das heißt: die Erfahrung der „Des organisation" des Materials, der Emanzipation seiner akustischen Wahrnehmung durch aleatorische Prozeduren. Daß als „bestimmte Negation" die seriellen und die aleatorischen Techniken auf dasselbe hinausliefen, war eine Erfahrung, die zugleich radikalisierend wirkte (etwa in Richtung „offene Form", „work in progress"), zugleich aber entkrampfend im Hinblick auf sich abzeichnende Tabus und Berührungsängste, und die das strukturalistische Denken nicht nur vorwärts ins Unbekannte blicken ließ, sondern auch rückwärts gewendet das bereits Bekannte neu bewußt und neu wahrnehmbar machte. Die sechziger Jahre brachten das erste Schisma: Boulez, Stockhausen, Nono gingen in ent gegengesetzte Richtungen weiter. Die Musik der in Darmstadt nachdrängenden Komponisten Ligeti, Kagel, Schnebel - paradoxerweise auch Penderecki - bedeutete Innovation des Musik denkens im Sinn einer dialektischen Erweiterung und zugleich aufgeklärten antischolastischen Korrektu r einer nachgerade manieristischen Radikalisierung, gar Total isierung des Parameter denkens; aber auch Liberalisierung der serielle n Tugenden und zugleich mehr oder weniger un bewußtes Spiel mit all den unfreiwillig expressionistischen, surrealistischen, exotischen, hu moristischen oder schockhaften Aspekten, die sich in einer verunsicherten bürgerlichen Gesellschaft von außen an die „Darmstädter Musik" hefteten. Schon die Faszination der Cageschen „Radikalität", die ja objektiv keine war, mobilisierte immer wieder auch regressive Reflexe. Repräsentati ve Werke jene r Zeit: Ligetis Atmospheres und Aventures, Kagels Sonant und Sur Scene, Schnebels Glossolalie und Reactions empfand ich deshalb trotz großer Bewunderung zugleich als Produkte einer mit sich selbst kokettierenden und spielenden Scheinradikalität, bewußten Bürgerschreck oder Bürgerzauber, im Grunde rekurrierend auf jene Ästhetik der be

NeuenDissonanz Musik gegenüber reits von Adorno„Neudeutschen in seiner Philosophie Bergs Violinkonzert kritisch apostrophierten Schule": der nämlich (sprich: Geräusch, Unklang, Ver fremdung, Karikatur, zerbrochene Emphase) als Metapher des (positiv besetzten, weil erkann ten) Unheils; Konsonanz (sprich: intakte Musik, tonaler Gestus) als Metapher des (fragwürdig gewordenen) Heils, zugleich der surrealistische Humor als schnelles Faszinosum, und das Ver räterische war, daß manche glaubten, nicht nur Schnebel und Kagel, oder Kagel und Ligeti, sondern auch Ligeti und Penderecki in einem Atemzug nennen zu können, (wobei sich dann fatalerweise der Kreis schließen würde mit der Koppelung von Penderecki und - Schnebel!), Komponisten, welche die unfreiwillige Rolle der Avantgarde in einer restaurativen Gesell schaft erkannt und - wie subtil und kritisch auch immer - expressiv zu nutzen gewußt hatten. Luigi Nono schien mir durch seine von Anfang an emphatisch-traditionalistische Haltung der einzige zu sein, der nicht in diese bürgerliche Falle gelaufen war. Ich selbst kam 1960 aus meiner Studienzeit in Venedig zurück, „finster entschlossen", ein puristisch verstandenes strukturelles Erbe einer nonfigurativen Materialstrenge nach dem Vorbild meines Lehrers Non o zu bewahren und weiterzuent wickel n. 1959 hatte ich den Darm  städter Redetext Nonos formuliert, in dem dieser sich polemisch mit einem ungeschicht11 2

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liehen, quietistischen, bequem die Frage der Verantwortung ausklammernden Freiheitsbegriff der europäischen Cage-Epigonen und ihren verräterisch regressiven Ästhetiken auseinander setzt. Spätere eigene Texte aus dem Jahr 1961 hatten die bezeichnenden Titel „Der Material begriff in der Neuen Musik", „Revolution und Restauration in der Neuen Musik", „Organisa tion, Zufall, Improvisation und Freiheit in der Neuen Musik", „Kommunikation, Spekulation und Korruption in der Neuen Musik". Schließlich, nachdem ich mich so abreagiert hatte, ent warf ich 1966 eine Art Klangtypologie, in welcher Klang und Form ineinander dialektisch aufgehen, und bezog mich dabei auf Darmstädter Strukturmodelle. Das war auch die Zeit, in der ich mich an Gottfried Michael Koenig wandte, dessen elektronische Komposition Essay ich damals antiquarisch (!) erstand, welche mir ein plastisches Beispiel eines integrierten KlangForm-Denkens zu sein schien, mitten unter soviel dramaturgisch-philharmonisch unentschlos sener und verschmitzter Musik von cleveren Cluster-Arrangeuren. 11 3

Heute sehe ich jene von mir damals so streng kritisierten und als restaurativ empfundenen Tendenzen, welche die Avantgarde zum etablierten Hausgespenst eines gemütlichen BürgerHaushalts abzufälschen schienen, weniger moralisch-kritisierend als realistisch-differenzierend. Der pure strukturalistische Materialbegriff der fünfziger Jahre wäre in totaler Sterilität er starrt, wenn die Komponisten auf ihm auch dann noch insistiert hätten, als sie erkannten, daß gerade der pure Punktualismus durchaus als pittoreskes Dekor für akustisch berieselte Emp fangsräume bei Daimler-Benz oder Philips nutzbar gemacht und so dem übrigen bürgerlichen Kulturgerümpel zugesellt werden konnte. Die Öffentlichkeit hat sich bis heute durch all diese Neuansätze nicht verunsichern lassen. Ihre Abwehrstrategie war und ist die der - tödlichen Umarmung: Darmstadt wurde bis heute toleriert als das behördlich subventionierte Irrenhaus der Musik-Kultur. Aber darauf galt es zu reagieren. 1969 wurde in Darmstadt Stockhausens Aus den sieben Tagen auf Schallplatte genommen. Aus dem Komponisten als „Stipulator" war - vorübergehend und in konsequenter Mobilisie rung von Kreativität des Menschen - ein „Regler", vielleicht gar ein „Manipulator" geworden. Ich selbst hatte im gleichen Jahr in Darmstadt mit Air - Musik für Schlagzeugsolo und Orche ster ein Werk vorgestellt, für das ich in Anspruch nahm, ohne Konzessionen jene serialistische Bewegungslosigkeit dadurch durchbrochen zu haben, daß darin die Energien, die dem Instru mentalklang als Nachricht seiner mechanischen Erzeugung zugrundeliegen, bewußt in die Komposition einbezogen wurden und entscheidend an Klang- und Formstruktur der Musik mit wirkten. Dies war meine eigene Form des Ausbruchs aus einem schlecht abstrakten und mehr und mehr steril empfundenen Strukturalismus, wobei solche Art des Klang-Realismus nicht nur zu quasi „körperlich" erlebbaren Strukturen führte, sondern zugleich bereits vorhandene Struk turen bis hin zu solchen des Alltags und der zivilisatorischen Umwelt (Strukturgebilde, von denen das immer noch philharmonisch geprägte Ohr in Werken von Boulez oder Stockhausen nichts wissen wollte oder sollte) freilegte, für die ästhetische Wahrnehmung bewußt machte und solche Erfahrung durch ihre streng strukturalistische Kontrolle dennoch jeglichem „neu deutschen", das heißt bürgerlichen Faszinationsdenken entzog. Der Titel Air indes, der - gewiß viele Deutungen zulassend - an einen vertrauten traditio nellen Formtyp anknüpfte, sollte meine Musik zugleich abgrenzen von jenem mit Aufgeklärt heit und Scheinradikalität auftrumpfenden „Epatez-le-bourgeois" in meiner näheren und fer neren Umgebung, welches den musikalischen Werkbegriff in manieriert-bilderstürmcrischer Weise in Frage stellte, um mit solchen und irreführenden Manövern und ungenügend reflektierten modernistischen akademischen Gestus den des ungebrochenen tatsächlich Kompo nierten zu verschleiern. Solche Scharlatanerie ging in ihren dilettantischsten Formen eine pein344

liehe Allianz ein mit den kulturkritischen Forderungen der damals bei uns protestierenden Studenten, die im Kampf gegen die sehr wohl empfundene ideologische Restauration, gegen den US-Imperialismus, gegen den Krieg in Vietnam und die Ausbeutung der Dritten Welt unter anderem auch nach einer politisch engagierten Musik verlangten, wobei sie Hanns Eisler und Maos Rede an die Bevölkerung in Yenan ins Feld führten, aber vergaßen, Lukäcs zu studieren und die Musik Luigi Nonos in die Diskussion einzubeziehen. Ich identifizierte mich damals mit dem studentischen Protestsich undselbst litt zugleich unter lähmte. den inquisitorischen Selbstzerfleischungen, mit denen dieser Protest immer wieder Ich war damals wie heute der Auf fassung, daß Kunst zur Bewußtseinsbildung nicht anders beitragen kann, als indem sie als Kunst sich auf die bürgerliche (sprich: revolutionäre) Tradition beruft und mit ästhetischen Kategorien immanente Innovation betreibt in Auseinandersetzung mit der gegebenen histori schen, gesellschaftlichen Situation, so wie diese sich in der herrschenden kulturellen Praxis nie derschlägt. Gerade dort, wo es um nicht mehr und nicht weniger als um die Mobilisierung von struktureller Wahrnehmung geht, gerät die so konzipierte Musik in automatischen Konflikt mit den geltenden Tabus und philharmonischen Spielregeln einer Gesellschaft, die sich ihr gelieb tes Kulturspielzeug nicht nehmen lassen will, in welchem sie wie in einem (falschen) Spiegel sich selbst emphatisch verklärt wiederzuerkennen gewohnt ist, wobei sie so die Tradition mißbraucht; einer Gesellschaft, die in Verunsicherung geschult, durch Verrücktheiten sich durchaus auch mal schockieren läßt, die aber nervös wird dort, wo sie merkt, daß mit dem Ungewohnten nicht Spaß oder Schock, sondern Ernst gemacht und zugleich die Tradition selbst in Anspruch genommen wird. Es mag als provisorischer Schematismus gerechtfertigt sein, daß ich die Zeit in Dekaden zusammenfasse und die sechziger Jahre die Zeit der innovativen beziehungsweise aufgeklärten Restauration und die siebziger Jahre die Zeit der Stagnation nenne. Charakteristisch für solche Stagnation scheinen mir die vielfach ausgeprägten Varianten von Happenings, Performances, Improvisationen, Environments zu sein, zusammengeschusterte und prätentiös aufgeplusterte Mini-Gesamtkunstwerke, aber auch jene in dieser Zeit nach symphonischem Glanz schielen den Struktur-Akademismen nach dem Muster der „polnischen Schule". Typisch war dafür Darmstadt 1972, wo ich als Koordinator mitwirkte. Die Kluft zwischen den bekannten Pro pheten und der Gemeinde (aus Möchtegern-Propheten) war schlimm. Die großen Meister (Stockhausen, Ligeti, Kagel, Xenakis - die wunderbare Ausnahme war Christian Wolff ) führten ihre abgeklärten Doktrinen, nüchterner: Sie führten ihre Werke vor, ohne untereinander oder mit den Teilnehmern ernsthaft zu kommunizieren. Diese führten im Komponisten-Studio im 30-Minuten-Takt - einer grauenhaften Verfügung, von mir selbst erlassen in der Hilflosig keit gegenüber soviel profilierungssüchtigem Andrang - ihre ästhetischen Konzepte (oder was sie dafür hielten) vor, Konzepte, die zwischen Meditationszeremonien, Live-Elektronik-Spielen, Folklore-Musik, „Studie mit d-moll" und Schnebel nachäffenden Konzepten von imaginä rer Musik herumschlingerten, nach meinem Eindruck durchweg hilflose Karikaturen von be reits bekannten Ansätzen. Im gleichen Jahr aber kam endlich wieder John Cage, allerdings nach Bremen, auch Nam June Paik" und zum erstenmal Steve Reich. So ergab sich im Ganzen einerseits ein Bild eines etwas nostalgisch geprägten Anarchismus, und andererseits wurden die uns durch Stock hausen und Cage nicht erst seit der Weltausstellung in Osaka 1970 vermittelten großen Zeit dimensionen heiter usurpiert, in Beschlag genommen von der Minimal-Music. Die europäische Avantgarde war durch die eigene Stagnation anfällig für alles, was, wie auch immer, in der Gesellschaft kommunikativ „funktionierte". Und der von ästhetischen Exerzitien 11 4

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durchgeschüttelte und ermüdete Geist - halb zog man ihn, halb sank er hin - konnte sich end lich im stundenlangen Ostinato zuverlässiger Klangpolster einige Stunden mit gutem Gewis sen ausruhen. So wurde die Zeit der „Stagnation" zur Zeit der Suche nach und Wiederentdeckung der ver lorenen Magie. Und daraus wurde schließlich die Suche beziehungsweise Wiederentdeckung der verlorenen Geborgenheit, der „heroische Durchbruch" zur offenen Regression, zu einem Musikdenken, das sich wieder hemmungslos, und mit Hemmungslosigkeit sich exhibierend, den altvertrauten, mannhaft-entbehrten, schlecht verdrängten philharmonisch-symphonischen Gelüsten hingab. Es blieb den Protagonisten solcher ästhetischen Wende bei aller Verbreitung dennoch ein ungutes Gefühl. Mir scheint - und Erfahrungen aus der Zusammenarbeit mit Wolf gang Rihm (in Darmstadt 1982), dem am bewußtesten solche Ungebrochenheit reflektieren den Komponisten dieser Generation erhärten den Eindruck -, daß die jungen Komponisten dieser Phase ihrer neosymphonischen und neoexpressionistischen Tendenzen - die sie ja nicht auf die Dauer als „Ausbruch" aus dem unterstellten Darmstadt-Trauma glorifizieren konnten nie so recht froh wurden. Es war ihnen doch peinlich, von alten Reaktionären an die Brust gedrückt zu werden, und der Mangel, den sie spürten und an dem sie litten, war der Mangel an „Luft von anderem Planeten", wie selbst der noch „romantisch" denkend gebliebene Schön berg, und gerade er, sie beschworen hatte. 56

Als Teil jener Tendenzen auf der Suche nach der verlorenen Magie beziehungsweise der zugleichsich als das, kritische Reaktion den regressiven Mißbrauch solcher -verlorenen legitimen Heimat - Sucheund präzisierte was man hier auf politische, dort kritische und woanders alternative Musik nannte. Ich nenne für das erste Erhard Großkopf und Cornelius Cardew," beide von strukturalistischem Denken herkommend und hinüberwechselnd, für das zweite den mir am nächsten stehenden Nicolaus A. Huber," für den die Verbindung von „magischer" und „kritischer" Erfahrung von jeher Selbstverständlichkeit war, aber auch Mathias Spahlinger," und für das dritte Walter Zimmermann, dessen Musik ich in den siebziger Jahren kennen lernte und dessen programmatische Topoi „Nische" und „lokale Musik" ein an jener wieder zuentdeckenden Magie orientiertes Gegenmodell zur bequem ins symphonische Vokabular regredierenden Affekt-Musik zu bieten versprach, indem sie jene verlorene Geborgenheit in der Exotik des „Heimat"-Geprägten aufdeckt, und der dabei, wie mir scheint, in seinem komposi tionstechnischen Ansatz lange Zeit jene seriell-organisierende Praxis bewahrt (vielleicht auch inzwischen wieder gesprengt) hat, für die letztlich immer noch der Begriff „Darmstadt" steht. 11 7

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(Unvermeidlich war auch, daß bei soviel genießerischem, entdeckerischem, auch ausbeute rischem Umgang mit der Tradition - denn nachem man soviele „Exotica" ausgeschlachtet hatte, mußte auch jenes Exotikum „Tradition" mal drankommen - nun eine kritisch sensibili sierte Gegenseite von ästhetischen Moralisten sich bildete, die diesem falschen Kult des hedo nistisch zu erlebenden Vertrauten einen nicht weniger falschen Kult des masochistisch zu ge nießenden „Häßlichen" entgegenstellte. Das Schlüsselwort, von Herbert Marcuse zuerst ausgesprochen und leichtsinnigerweise von mir aufgenommen, hieß „Verweigerung". Meine eigene Karriere als unfreiwilliger Guru der Verweigerer und Protagonist einer „Musik am Rande des Verstummens" war nicht mehr aufzuhalten.) Zur Präzisierung der eigenen Position und deutlicheren Beleuchtung der zum Teil künstlich von außen verschärften Spannung zu jenen Komponisten, bei denen sich das Rad zurückzu 12 1

drehen schien, füge „Af ich hier einenAspe Ausschnitt einemhabe. TextEr ein, den damals ich als und Vortrags-Manu skript mit dem Titel fekt und kt" 1982aus verfaßt sollte soll auch jetzt zur Klärung der Fronten dienen. 346

Das Ich, in Erkenntnis seiner Gebrochenheit, Sprachlosigkeit, in der Auseinandersetzung mit seinen alten Bindungen und mit seiner Unfähigkeit, diese abzuschütteln - das Ich, tastend nach seinem Es, nach seinem „Über-Ich", nach seiner Struktur in der Hoffnung auf jenes Rettende, von dem Hölderlin sagt, daß es dort wachse, wo Gefahr sei - das Ich, sich mitteilend nicht af fektiv durch die emotional sprechende Gebärde, sondern durchs suchende Handeln, über den Aspekt, der sich niederschlägt im umformenden Umgang mit dem herrschenden ästhetischen Apparat und dem darin vermittelten Materialbegriff: Komponisten meiner Generation haben ihre Situation so verstanden und als Herausforderung akzeptiert. Komponieren als Widerstand gegen den herrschenden Materialbegriff bedeutet: diesen Materialbegriff neu beleuchten, durchleuchten, in ihm Unterdrücktes freilegen, bewußt machen. Hören bedeutet: sich verän dern, sich selbst in seiner Veränderbarkeit neu entdecken. Im verändernden Umgang mit dem Material drückt der Komponist sich aus und entdeckt er sich selbst als Teil einer vielschichti geren als bloß der unmittelbaren bürgerlichen Wirklichkeit. Was indessen meine Generation schöpferisch reizte, empfinden Komponisten neuerdings vielfach erneut als unwürdige Lähmung und Unterdrückung ihres affektiven Ausdrucksbe dürfnisses. Eine jüngere Generation, aufgewachsen in einer Gesellschaft, welcher die Verdrän gung des eigenen Widerspruchs zur Natur geworden ist, erfährt jene Ästhetik des Widerstands als bloße Frustration. Mehr als an der Gebrochenheit des Ichs leidet sie an der Lähmung durch eine solche Erkenntnis. Und so sträubt sie sich dagegen, auf die eigene Bedingtheit zu starren wie das Kaninchen auf die Schlange, und sie wagt es, in dieser, trotz dieser und gerade wegen dieser Situation der Entfremdung nun erst recht ICH zu sagen, affektiv sich mitzuteilen im Glauben an eine durch alle Masken hindurch letztlich doch sich erhaltende Kommunikations fähigkeit des wie auch immer verstörten Individuums. So jedenfalls meine ich den Geist zu verstehen, der jene zum Rückgriff auf den Affekt ent schlossenen Komponisten leitet. Und so respektiere und akzeptiere ich sie, und so stehen sie mir näher als manche Struktur-Manieristen, die, mit Entfremdung kokettierend, als Außensei ter vom Dienst einer Art negativem Kunstgewerbe frönen. Der Rückgriff auf den Affekt als Ausbruch aus empfundenen Zwängen ist so geprägt von der Kraft eines auf die Wirklichkeit reagierenden Aspekts. An ihrem Selbstverständnis als Aspekt also hätte sich eine neue Affekt-Kunst zu bewähren. Das Kriterium ihrer Stringenz läßt sich be grifflich schwer fassen. ist der Moment,faszinierten um an Wozzeck erinnern, dem von nen Struktur schon fast Es wieder doktorhaft Subjektzu„die Natur wo kommt" undder es eige sich .dazu bekennt. Jener Ausbruch des gelähmten Subjekts in eine neue affektive Unmittelbarkeit enthielt als Rebellion gegen empfundene Zwänge ein großes Moment von Wahrheit, wird aber unwahr und degeneriert zum Selbstbetrug dort, wo der Komponist wieder fett und behaglich, strukturell zwar leicht vernarbt, dafür umso wehleidiger, sich in der alten Rumpelkammer der verfügba ren Affekte von neuem häuslich einrichtet. Die Versuchung scheint groß, und viele sind ihr bereits erlegen. Und der Eindruck läßt sich nicht von der Hand weisen, daß nach soviel beklagter Stagnation jener neue überquellende Reichtum an affektgewaltiger Musik sich der Fruchtbarkeit einer Fäulnis verdankt, bei der sich die Maden im Speck des tonalen Kadavers tummeln. Wer glaubt, expressive Spontaneität und der unschuldige Griff ins altbewährte Affekten-Reservoir mache die Auseinandersetzung mit dem Materialbegriff überflüssig, der hat sich selbst entmündigt. Gesinnung verrät sich spätestens durch das Niveau ihrer Polemik gegen die alte Avantgarde, einer Polemik, die darin besteht, den Blick abzulenken auf Pappkameraden und dann auf diese 347

einzudreschen zur Genugtuung des Herrn Peter Jona Korn , dessen Wort von der „musikali schen Umweltverschmutzung" sich bekanntlich keineswegs gegen Disco Verblödung oder verhunzte Klassik, sondern gegen die musikalische Avantgarde wendet. Da ist zum Beispiel auch jenes schon internationale Schimpfwort „Darmstadt", womit der entrüstete Blick auf eine von dorther empfundene stilistische Bevormundung gerichtet werden soll. Bevormundet fühlten sich diejenigen, die unfähig waren, Erfahrungen, etwa der Seriellen, aufzunehmen und zu verarbeiten. Gerade das serielle Denken konnte als zwanghaft e Fesselung der Phantasie oder gar als ihre bequ eme Entlastung doch nur von denen geschmäh t werden, die sich um den Aspekt solchen Denkens drückten, nämlich um die erkannte Notwendigkeit, von Werk zu Werk den Materialbegriff neu zu fassen, und zwar durch Kategorien, die schon früh über die guten alte n Grundparame ter hinausgingen: Mit „Tondauer" und „Lautstärke" beschäf tigten sich schon bald nur noch die Herausgeber von Schulmusikbüchern. Hierher gehört natürlich auch das beliebte Phantombild des typischen „Darmstadt-Kompo nisten", der - sich emotionaler Mitteilung verschließend - mit hochmütigem Blick in eine von ihm gepachtete Zukunft, von der Gegenwart gar nicht verstanden werden wolle: Hyperromantiker, Fortschritts-Apostel und grämlicher Intellektueller zugleich, und so das musikalische Material mit abstrakte n Algebra- Formeln züchtigend. Genau dies übrigens hat man vor 25 Jah ren dem Komponisten der Varianti und des Diario polacco N. 1, Luigi Nono, nachgesagt. Verräterisch erscheint mir auch die in diesem Zu sammenhan g immer wieder publikumswirk same Verkündig ung einer „menschlich en" Kunst - im Gegensatz zur bislang unm ens chli che n.. . - und die Forderung, „endlich wieder für das Publikum" zu komponieren. Für wen waren denn Nonos Carito sospeso und La terra e la compagna, Stockhausens Gruppen und Kontakte, Boulez' Marteau sans maitre, Berios Epifanie und Cages Klavierkonzert komponiert? Der Vorwurf einer hermetisch verschlossenen Kunst bloß für Insider wiederholt nur eine beliebte Ausrede der Öffentlichkeit, die vor Werken wie den eben genannten in Deckung gegangen ist, weil sie sich von dem darin erfahrenen Aspekt mehr getroffen als von den Affekten sämtlicher Neosymphoniker auch nur unterhalten wußte. Nicht fehlen darf natürlich auch das polemische Spiel mit dem Begriff „Verweigerung", wel ches mich selbst zum asketischen, schmollenden Prediger mit moralisch erhobenem Zeigefin ger in der Wüste erstickter Kratzgeräusche stempeln möchte, ein Pappkamerad, so recht zum Draufhauen sich anbietend, weil man geflissentlich als Abkehr vom Publikum mißdeutet, was ich immer nur als kompositionstechnisches Verfahren beschrieben hatte, nämlich das Weg räumen des offen Daliegenden, um dahinter Verborgenes freizulegen, reiner erlebbar zu machen. Meine Hilfsdefinition von Schönheit als „Verweigerung von Gewohnheit": Im Zerr spiegel der Blödmacherei wurde daraus „Verweigerung von Genuß". Gewohnheit und Genuß in eins gesetzt: Hier hat sich der Spießer entlarvt. Hanns Eisler hätte so gern ein Buch über die „Dummheit in der Musik" geschrieben. Wich tiger noch erschiene mir ein anderes: „Über das Sich-Dummstellen in der Musik". Es war verständlich, daß mit Schein-Argumenten wie „Publikumsfeindlichkeit", „kranker" oder „hochmütiger Intellektualismus" usw. sich das Provinzfeuilleton, weniger aber, daß auch Komponisten, selbst doch nicht gefeit gegen Mißdeutungen, sich solcher Pappkameraden arg los polemisch bedienten und sich so der eigentlichen Fragestellung entzogen. Diese lautet: Wie läßt sic h Sprachlosigkeit überwinden, eine Sprachlosigkeit, die im Zug der gesellschaftlichen Entfremdung und des wachsenden bürgerlichen Illusionsbedürfnisses noch verhärtet und verkompliziert erscheint durch die Sprachfertigkeit des herrschenden ästheti schen Apparats? 15

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Ich selbst weiß keine andere Antwort als die, diese Fragestellung im Komponieren bewußt zu machen. Sie scheint mir der Grund-Aspekt des Komponierens heute zu sein. Im Licht die ses Aspektes gilt es - wie auch immer -, nicht rhetorisch zu verkündigen, sondern schöpferisch denkend zu handeln. Hier endet das Zitat aus „Affekt und Aspekt". Im Jahr 1980 wurden in Donaueschingen Walter Zimmermanns Ländler-Topographien und meine Tanzsuite mit Deutschlandlied uraufgeführt, und mir scheint bemerkenswert, wie damals zwei völlig verschieden arbeitende Komponisten, jeder auf seine Weise, bei der „Suche nach der verlorenen Geborgenheit" mit verschiedenen Zielse tzungen in verschiedene „Ni schen" dessel ben landschaftlich gebundenen kollektiven Empfindens einzudringen versuchten. Was ich indes bei Zimmermann, aber auch bei Komponisten wie Nicolaus A. Huber, Rolf Riehm, Mathias Spahlinger als Eindringen beziehungsweise als Vordringen empfinde, erlebe ich an anderen in zwischen als dumpfe Orgie von gedankenloser Regression, die sich vermutlich demnächst selbst ad absurdum führt. Das Reizwort heißt wieder mal „Tonalität", aber hier kann kaum mehr die Rede sein von der „Suche nach der verlorenen Magie", sondern allenfalls von der hemmungslo sen Ausbeutung billig abrufbarer Klischees. Eine Welle des faulen Eklektizismus, sei er osteu ropäischer oder amerikanischer Prägung, schwappt um die Ohren des fassungslos staunenden, in seiner vorgefaßten „Aufgeschlossenheit" düpierten Bundesbürgers (Alfred Schnittke: „Man muß in die Gefahr gehen, eklektisch zu werden"), und selbst unsere Neusymphoniker ziehen die Köpfe ein, denn immerhin hatten sie ihre Musik doch stets als dialektische Antwort auf die er kannten Widersprüche der „Darmstadf'-Tendenzen verstanden. Ihr und unser bester Verbünde ter gegen solche Korrumpierung des Hörens, die unter dem Schlagwort „Einschaltquote" offen bar die öffentlichen Medien zu erfassen droht, kann nur die musikalische Tradition selbst sein, denn deren Stringenz erweist sich solchen allzu ungetrübten Genüssen immer noch überlegen und rückt die Ansprüche an die aktuelle Kunst in die wahren Dimensionen. Was nach dem - für mich unvermeidlichen - Zurückschwappen dieser tonalen Welle bleiben wird, denke ich, ist ein so noch mehr bewußt gewordener Hunger nach struktureller Wahrneh mung. Und so könnte es ein, daß Darmstadt dabei ist, sich im Verlauf fast eines halben Jahr hunderts einmal um sich selbst zu drehen. Meine Erwartung ist, daß dies die Bewegung einer Spirale sei. Dabei setze ich auf einen „dialektischen Strukturalismus", das heißt ein Struktur denken, welches - wie auch immer - reagiert auf die gegebenen Bedingungen der Mittel, ein Strukturdenken, dem es also weder um neue Effekte, noch um die alten Affekte, sondern um die permanente Innovation des musikalischen Materialbegriffs selbst und so um ein ständig neues, verändertes Hören geht. Vielleicht ist dies eine etwas intellektueller, gar akademischer begriffene Variante dessen, was in anderen Ländern als „open structure" bezeichnet wird, und was die Faszination der Musik von Morton Feldman für viele Musiker in Europa ausmacht. Längst schon steht das neueste Schaffen von Luigi Nono als auf sich selbst, das heißt auf die menschliche Struktur bezogene Wahrnehmungskunst für solche Erwartung ein. In diesem Sinn auch könnten Komponisten heute aus den Irrwegen des alten Darmstadt ler nen. Ich meine, sie sollten sich so oder so offensiv der Tradition bemächtigen und sich viel ent schiedener auf sie, die so oft gegen sie ausgespielt wird, berufen. Stockhausen, Schnebel haben hier schon Beispiele gegeben, auch wäre zu erinnern an Nonos Vortrag „Text - Musik Gesang" von 1960, und was in den „Musik-Konzepten" der Herausgeber Heinz-Klaus Metz ger und Rainer Riehn geschieht, wo eben nicht bloß Xenakis, Ligeti, Evangelisti, sondern eben auch Bach, Josquin, Bellini und Schumann „entdeckt" werden, sollte selbstverständliche Sache und bestimmend für die Haltung aller werden, die über Neue Musik reden. 122

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Jener - bewußt oder unbewußt zu praktizierende - „dialektische Strukturalismus" grenzt sich natürlich ab von jener Fiktion eines seriell beliebig manipulierbaren .jungfräulichen" Tonmaterials (an welches die „alten Darmstädte r" tatsächlich eine Zeitlang glaubten), als ob es irgendein Klangmaterial gäbe, das seine Geschichtlichkeit vergessen könnte - wo also die Komponisten sich blind und taub stellen gegenüber den Kontexten (sprich: gegenüber den bereits vorhandenen und wirksamen Strukturen), denen die Mittel entstammen; so daß dann zumeist am Ende dem tauben Resultat ein expressiv abgeschmeckter oder auch bloß virtuosistischer „Ketch up" übergegossen wird, damit sich das Ganze dem faszination sbedürft igen Zeit  genossen anbieten läßt. „Dialektischer Strukturalismus " grenzt sich nicht weni ger ab von jener Cleverness , die zuerst de n Ke tchup anrichtet, um diesen dann - mit w elch bürokratischen Maß nahmen auch immer - schamhaft zu „strukturieren". „Dialektischer Strukturalismus" heißt: Situationen konstruieren, organisieren, auch improvisieren, im weitesten Sinne stipulieren, um vorhandene, scheinbar intakte Strukturen zu brechen beziehungsweise aufzubrechen, um am mehr oder weniger bekannten, vertrauten oder gar magisch besetzten Objekt das Unbekannte, vielleicht das Unterdrückte, zu zeigen oder spürbar zu machen. Unter diesem Aspekt kritisiere und/oder liebe ich, hasse ich, studiere ich die Musik meiner Zeitgenossen und berufe ich mich auf die Tradition der historischen Musik ebenso wie auf den Geist des „klassischen" Darmstadt. Das Darmstadt der fünfziger Jahre mitsamt seinen teils unvermeidlichen positivistischen, teils scholastischen Ansätzen war ein historisch notwendiger, unvermeidlicher Treibsatz einer Rakete, von der sich hochtragen zu lassen vielleicht beengend, aber auch befreiend war, wovon es aber vernünftigerweise galt, sich abzulösen in dem Moment, wo die Schwerkraft der gesell schaftlich bedingten ästhetischen Trägheiten überwunden wa r beziehungsweise zu sein schien. Im Blick auf heute und auf die Zukunft kann es nur hilfreich sein, sich an „Darmstadt" kritisch und liebevoll zu erinnern. 1987

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Idee musicale Die Vermittlung einer „musikalischen Idee" durch den Komponisten setzt ein autonomes krea tives Subjekt voraus. Dessen Souveränität bezweifle ich, und so unterscheide ich musikalische Idee und kompositorische Idee. Seine musikalische Idee muß das Werk selbst suchen, finden, definieren, und nur diese ver dient es, so genannt zu werden. Sie wächst über das vom Komponisten Gesteuerte weit hinaus. Sie außerhalb des Werks benennen, hieße ihre Greifbarkeit durch verbale Oxydationen ver fälschen. Voraussetzung für das Kunstwerk ist, daß die Musik selbst denkt. Der Komponist ist Medium in diesem Prozeß. Er wirft den Stein ins Wasser (oder er springt ins Wasser ...) und schaut zu, wie das Wasser sich bewegt. Der Komponist hat Ideen. Sie bezeichnen den Schaffensprozeß: die Mittel, die Verfahren jene Eingriffe in die klingende Materie, wodurch der Raum geschaffen wird, in dem das Werk als Verkörperung der „musikalischen Idee" sich selbst entfaltet. Kompositorische Ideen ergeben sich aus akustischen Vorstellungen, aber auch aus dem Trieb, Gesetzmäßigkeiten zur Formulierung eines Klang-Zeit-Kontinuums zu stiften, Hierar chien zu verantworten, Magie zu organisieren. Dahinter steht die erkannte Notwendigkeit, den Musikbegriff, Idee von Musik kategorisch zu bestimmen. Also doch die „musikalische Idee"?selbst, Gewiß: als Fata neu morgana, bezeichnender Schatten ihrer selbst. Mit dem Blick auf sie konstrui ert der K omponist seine Vehikel und macht er sich auf den Weg, nicht wissend, wohin der Weg ihn zieht. Die von ihm ins Werk gesetzte Definition des Musikbegriffs, in der sich seine Erfahrung von Wirklichkeit, Geschichte, Gesellschaft und Ich niederschlägt, und auf die er mit seiner Kreati vität antwortet, gibt sich zu erkennen durch die Interaktion von kompositorischen Ent scheidungen und der Eigendynamik des hervorgerufenen Geschehens. (Ihr galt mein in Paris gehaltenes Referat „Über das Komponieren".) Erst in dieser Auseinandersetzung erkennt der Komponist, sensibel und erschütterbar, die durch seine Manöver auf charakteristische Weise beschworene (und ebenso verfehlte) Idee von Musik. Wie auch immer er mit seinen Visionen praktisch umgeht: Er komponiert nicht - um mit Mahler zu sprechen -: Er wird kom poniert.

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Herausforderung an das Hören Gespräch mit Reinhold Urmetzer

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Man wirft Ihrer Musik gelegentlich vor, sie arbeite mit psychologischen Tricks und provoziere um der Provokation willen. Ein Komponist, der bei seiner Arbeit mit psychologischen Tricks kalkuliert, wird Schiffbruch erleiden. Er wird demist anspruchsvollen ein müdes Lächeln abgewinnen: „Man fühlt die Absicht, und man verstimmt", umHörer es mitnur Goethe zu sagen. Wo es Musik tatsächlich fer tigbrachte, jemanden in Schrecken zü versetzen, war der Komponist oft selbst der am meisten Erschrockene, denken Sie an Schönberg. Derlei ist oft weniger eine Frage der ungewohnten Klänge als eine des unbegriffenen Zusammenhangs. Es gibt, nicht nur in der Musik von John Cage, Werke, wo musikalische Ereignisse völlig unvermittelt nebeneinanderstehen. Wenn dort ein Hörer versucht, so etwas wie einen Faden zu entdecken, den es gar nicht gibt, dann kann es sein, daß Ratlosigkeit in Erschrecken umschlägt. Das würde nicht unbedingt gegen diesen Hörer sprechen, eher im Gegenteil für die Intensität seiner inneren Beteiligung. Und die Frage ist eher die, wie er mit solchem Erschrecken umgeht. Ich bin der Meinung, daß unter gewissen Umständen der Schock sich gar nicht vermeiden läßt in einer Zivilisation, deren kulturelle Tradition so geprägt ist, daß wir von vornherein schon mit konventionell standardisierten musiksprachlichen und ästhetisch und affektiv orientierten Erwartungen auch an unbekannte Musik herangehen. In einem so vorausgeprägten Umfeld wird jeglicher ungewohnte Umgang mit unseren traditionellen Instrumenten, jedes Kratz- und Zischgeräusch, als im weitesten Sinn Dissonantes, Anstößiges, gar Anti-Musikalisches emp funden werden. Wir erleben von der scheinbaren Mitte des „schönen Tones" her. Und was ein „schöner Ton" ist, darüber scheint eine nicht weiter reflektierte Einmütigkeit zu herrschen. Bei der Neunten von Beethoven fällt solche Tugend zwar weniger auf als bei der ToseWi-Serenade, wird aber auch nicht ausdrücklich vermißt. Schlimm aber, wenn in einem neuen Werk uns Klangverformungen begegnen, die schon aus sich heraus provozierend wirken. Das kann natür lich auch im japanischen Nö-Theater mal passieren, nur: Der Kontext ist dort offenkundig ein fremdartiger und insoweit ein faszinierender. Wo immer aber ich nicht bloß „touristisch", son dern als existentiell Betroffener - und nur dort verdient Kunst ihren Namen - mit einer ande ren Kultur, das heißt: einem zugleich unvertrauten, aber in sich schlüssig scheinenden Kontext konfrontiert werde, stellt sich innere Unruhe, Beunruhigung ein. Ich muß nämlich die Gebor genheit meines eigenen Wertefelds verlassen, mit dem Risiko, innerlich nicht ungeschoren davonzukommen. Man kann den Schock allerdings auch künstlich hochstilisieren. Manchmal und in gewissen Kreisen ist der Schock zugleich schick - eine äußerst fragwürdige Form der ästhetischen Flucht nach vorn. A priori beweist der ästhetische Schock noch gar nichts, weder im positiven noch im nega tiven Sinn. Er sagt wenig aus über das Werk, schon eher etwas über den Hörer, und er müßte so oder so hinterfragt werden. Ich habe niemals derlei im Sinn beim Komponieren - und um so heftiger hat meine Musik ihn zuweilen bewirkt.

Manche Ihrer Musikstücke verursachen gelegentlich doch tatsächlich Schmerzen? Bei wem? Und warum? Ich kann das nicht nachvollziehen. Gewiß, selbst der Begriff des Schö nen schließt den Begriff des Schmerzhaften nicht a priori aus. So wie die schärfste Dissonanz, 352

etwa in der Elektro von Strauss (und nicht nur bei Klytemnästras Kopfschmerzen), zum konsonanten Wohlkla ng (spätestens, wenn die Dame massakriert worden ist) in einem be stimmten notwendigen Spannungsverhältnis steht und aus dieser Spannung heraus - mit Genuß, wohl gemerkt - schmerzhaft erlebt wurde. Aber auch in Alban Bergs Wozzeck, den wir heute doch als ein vollkommenes, in sich schlüssiges Werk zu erleben gelernt haben, mag es sein, daß man darin die expressiven und/oder auch akustischen Zuspitzungen zugleich schön und schmerzhaft erfährt.

Gibt es schöne oder gute Musik für Sie? Natürlich.

Was ist das eine, was das andere? Den Begriff „gute Musik" müßte man noch weiter präzisieren, denn so erinnert er an den Warenaspekt: gut gemacht, sauber hergestellt, wirksam, richtig funktionierend oder wie auch immer. Gute Musik - andere interessiert mich sowieso nicht - zwingt mich, nicht im unter drückenden Sinn, und besser wäre vielleicht zu sagen: bezwingt mich; läßt mir keinen anderen Weg der Begegnung als den, neu und intensiv aufzumerken, mich im Hören schärfer zu konzentrieren (und glücklichere Entspannung als ästhetische Konzentration gibt es nicht) und mich in gewisser Weise so auch selbst zu verändern und neu zu erfahren. Musik also, die mich aufmerksam macht und die ich wieder hören „muß". Der Begriff „gut" mag sich später relati vieren, etwa bei der Frage nach der Authentizität. Individualität und Originalität erschließen sich nicht immer sofort. Und oft ist das zweite Hören die wahre Begegnung.

Was ist schöne Musik für Sie? Ich weigere mich, den Begriff „Schönheit" zu definieren. Man darf ihn nicht verdinglichen. Schönheit in der Kunst hat gewiß etwas mit Magie zu tun. Durch kreative Vernunft beherrschte Magie: Das ist Kunst. In den meisten anderen - historisch oder geographisch von uns entfern ten - Kulturen begegnen wir der Magie als ungebrochen wirkender Macht. Als Musiker, der in abendländisch geprägter Kultur aufgewachsen ist, erfahre ich das Moment von Schönheit niemals als pure Magie. Gewiß gehört zum Erlebnis des Schönen, daß man sich nicht nur im

demgemeinsam Einklang demDieses Werk,Gefühl, sondern den Menschen, prätentiöser: Menschen, verbundenmit weiß. daßauch manmit gemeinsam etwas erfährt, und seimit es den bewußt gemachten Verlust solcher Schönheitserfahrung als ihren Abglanz oder Schatten, gehört im Grunde dazu. Magie selbst meint unter Umständen Repressives, den Menschen Beherrschendes, blind und taub Machendes. Der magische Aspekt von Kunst dient heute wie früher immer wieder der Entmündigung mit dem Ziel, daß wir plötzlich Dinge hinnehmen, weil sie mit ästhetischen Mitteln magisch verklärt worden sind. Stalingrad wurde für die Volks genossen mit Beethoven, der Zusammenbruch der Naziherrschaft wurde mit Wagner „abge segnet". Aber Musik, in diesem Sinn magisch verstanden und mißbraucht, barg zugleich doch auch die Erinnerung an den menschlichen Geist, der mit dem magisch besetzten Instrumentarium und zwar immer wieder anders - kreativ und autonom umgeht und sich so mit seiner Zeit und mit sich selbst in ihr auseinande rsetzt. Beid e Aspekte gehören zusammen . Ein Bach-Ch oral hat gemacht ist, für mich etwas Magisches. Gleichzeitig weiß ich jedoch und spüre ich, daß er Produkt eines menschlichen Schaffensprozesses, Resultat „tiefen Nachsinnens", wie Philipp Emanuel über seinen Vater berichtet hat. In dieser Ambivalenz unterscheidet sich der euro353

päische Kunstbegriff fundamental vom Begriff Kunst im Zusammenhang mit anderen, außer europäischen Kulturen, wo das Moment des technischen Zugriffs und der Innovation eher beiläufige Bedeutung besitzt innerhalb oft jahrhundertealter Spielregeln magischer Rituale. Kreative Vernunft und Innovation haben teil am europäischen traditionellen Kunstbegriff, zu dessen Charakter es gehört, daß seine Erscheinungen sich ständig wandeln.

Übermittelt Ihre Musik diese Nachricht? Manche Kritiker sehen in ihr eher eine einseitige Su che nach dem Neuen. Meine Studenten bitte ich immer wieder, beim Reden über „Neue Musik" den Begriff „neu" einfach wegzulassen. Es wird gegenwärtig eine Menge neuer Musik komponiert, die letztlich in alten Hörkategorien eingesperrt bleibt und sozusagen - wie „zeitgenössisch" auch immer stets nur auf der alten Orgel, dem alten Instrumentarium, herumspielt. „Neu" müßte heißen: eine Musik, die über die bereits vorgegebenen Hörkategorien hinaus geht und einen neuen Musikbegriff, besser: den Musikbegriff immer wieder neu zugrunde legt, egal ob mit Geräuschen oder mit Tönen oder mit beidem. Das kann dann auch wieder ein Rückbezug auf historische Kategorien unter neuem Blickwinkel, in irgendeiner gebrochenen Form, sein. Komponieren muß so oder so heißen: etwas entdecken.

Einen neuen Erdteil wie Kolumbus? Neue Erdteile sind schon immer da gewesen. Doch nicht im Zuhören. Wenn Sie Geräusche an der Grenze zur Stille als Musiker produzieren und anbieten, dann war dies noch nicht vorher da. Doch. Die Klänge, die ich entdecke, waren schon immer da. Sie waren vorher nur nicht bewußt.

Sie stehen in einem neuen Kontext. Sie werden durch den Kontext erst ins Bewußtsein gerückt. Der Begriff „neu" bedeutet nur, daß der Klang in der bisherigen Praxis nicht vorhanden war. Ich habe ihn irgendwo gesucht und gefunden, vielleicht aus Spaß sogar; aber ich mache jetzt Ernst damit. Er vermittelt so nicht mehr den ersten surrealistischen - also eher harmlosen - Effekt, denn er ist dann logisch eingebettet im geschaffenen Zusammenhang, durch den er neu präzisiert wird, so wie er selbst diesen mitbestimmt. Ich bringe akustische Erfahrungen in einen Kontext, an dessen Grenzen so extreme Situa tionen wie absolut Tonloses oder radikal Geräuschhaftes stehen. Und es gibt schöne, gar reine Geräusche neben schmutzigen, so wie es reine und unreine Töne gibt. Meine Musik setzt sich mit diesen Erfahrungen immer wieder auf andere Weise auseinander. Allerdings läßt sich so et was nicht konfliktlos vermitteln in einer pluralistisch aufgespaltenen Gesellschaft. Wenn ich an den Taxifahrer, die Bäckersfrau, den Portier oder den Lehrer meiner Kinder denke, so reprä sentiert jeder unterhalb der mehr oder weniger geglückten kulturellen Gleichschaltung eine Welt der eigenen Wertvorstellungen. Mit ihnen wird sich in irgendeiner Form reiben, was ich mache.

Warum? Es ist dies eine lebendige Möglichkeit für das Hören, sich der eigenen Geprägtheit und der eigenen Wertvorstellungen bewußt zu werden, und dieses Moment der Bewußtmachung ist beileibe nicht bloß ein störendes, sondern ein belebendes Moment. 354

Ist es ein sinnliches oder ein rationales Moment, eines für den Körper oder für den Kopf? Es ist zunächst einmal ein sinnliches Moment: Es läuft über die Wahrnehmung. Das Moment der Irritation meiner Wahrnehmungsgewohnheiten halte ich für äußerst kostbar. Andere finden es vermutlich eher lästig. Dabei begegnet es mir ständig im Alltag: Ich treffe, wenn ich nur aus dem Haus gehe, auf andere Mentalitäten und andere Kulturen. Ich sollte in der Lage sein, mich mit deren Eigenarten auseinanderzusetzen, das Fremdartige als mein eigenes Problem und nicht den als das des Anderen begreifen,zuund wo ich mich abgestoßen fühle, selbst und nicht Anderen nach denzuUrsachen fragen. Jeder Mensch, nicht nur ausmich einem anderen Land oder aus einer anderen Kulturlandschaft, ist für den anderen so eine Herausforderung. Die Reibung mag sprachlich, ästhetisch, geschmacklich, politisch, ideologisch, religiös bestimmt sein. Sie bedeutet die Aufforderung, im weitesten Sinn hellhörig zu werden, sensibel nicht nur gegenüber dem, was gerade auf uns zukommt, sondern auch gegenüber dem, was in uns selbst vorgeprägt ist. Solcher Sensibilisierung wird die Kunst über die sinnliche Wahrnehmung gerecht. Für mein Komponieren ist es wichtig, daß die unmittelbare sinnliche Erfahrung bewußt frei gelegt wird. Deshalb mußte ich immer wieder von den vorgegebenen tonalen Bezügen abzu lenken versuchen, sie aussperren oder still legen, damit sie das Hören nicht wieder auf die alten Geleise ziehen. Nur in diesem Zusammenhang hat der Terminus „Verweigerung" eine Bedeu tung in meiner Musik. Vertrautes mußte ich verbergen, damit Unvertrautes dahinter wahr nehmbar wurde. Es ging mir von jeher weniger um neue Klänge als um ein verändertes Hören. Dieses müßte sich darin bewähren, daß es über die Einbeziehung des Fremdartigen hinaus gerade den vertrauten Ton im Licht eines neu durchdachten Schönheitsbegriffs neu erlebt. Musik machen heißt immer auch über Musik nachdenken. Nachdenken nicht nur, indem wir uns rational und diskursiv damit beschäftigen, publizistisch oder pädagogisch, sondern indem es in uns „arbeitet", so daß unser schöpferisches Handeln von innen heraus darauf bewußtma chend reagiert. Nachdenken also nicht bloß mit Begriffen, sondern mit dem ganzen physischen und psychischen Sensorium. Unser Hören ist weithin vorgeprägt. Oft gehen wir in Konzerte - ich übertreibe jetzt vielleicht ein bißchen - und hören nicht. Wir vollziehen nur mit, wofür wir schon längst bereit sind; wir rufen die Liturgie eines selbstverständlichen Rituals ab. Überraschungen haben in solchem Ritual keinen Platz. In traditioneller Musik gehört schon außergewöhnliche interpretatorische Grenzüberschreitung dazu, um uns zum Neu-Aufmerken gegenüber dem Wohl vertrauten zu bringen. A priori ist das Hören keine selbstverständliche Kunst. Es muß gelernt und geübt werden. Komponieren heute, angesichts dieser Situation, muß so oder so an die Grenze gehen. Zugleich erfahre ich aber immer wieder, daß die Menschen hören wollen. In einer Zeit, wo die Musik per Knopfdruck verfügbar und das Hören und der „Zugang" so leicht gemacht wor den sind, ist aber Hören schwerer denn je, denn die Hindernisse liegen jetzt in uns selbst. „Sich ein wenig Wagner anhören": Einen solchen Satz konnte man vor hundert Jahren überhaupt nicht aussprechen. Heute können wir seine Musik an- und abdrehen wie eine Dusche. Vor diesem zivilisatorischen Hintergrund muß das Komponieren neu über sich und seine Möglichkeiten nachdenken. Und gerade um mich dem Hörer eindeutig zuzuwenden, wende ich mich von seinen Gewohnheiten ab, und die Gründe für meine permanente Suche nach neuen Zusammenhängen liegen nicht allein in der spielerischen Entdeckerfreude - obwohl ohne sie lebendiges Komponieren undenkbar ist. 355

Bedeutet dies nicht immer auch, eine Grenze als Begrenztheit zu erkennen, zu empfinden, auf jeden Fall eine Grenzsituation, ein Abenteuer? Und ist das neue oder auch „wache" Hören nicht vielleicht eine Überforderung? Es ist eine Herausforderung. Ich möchte - ehrgeizig genug - tatsächlich ein neues Hören, wobei ich auf den Begriff „neu" auch verzichten könnte. Ich möchte das „wachgewordene" Hören. Wo das gelingt, ist plötzlich alles, gerade auch das Vertraute, neu und neu erfahrbar. Mich interessiert Kunst, auch die vergangener Epochen, in erster Linie als solche Heraus forderung. Beethovens Eroica ist eben nicht nur ein Edelstein in unserer Preziosensammlung, sondern auch eine unglaubliche und immer wieder neu zu entdeckende Landschaft voller Über raschungen, die - ohne daß der Komponist dies bewußt hätte ansteuern können - ein Licht auf das wirft, was mich in meiner jetzigen Situation bewegt.

Warum kann ich mich nicht in einem veralteten, abgestumpften oder sogar verkitschten Kon text wohlfühlen? Sie können sich jederzeit wohlfühlen, wo immer Sie wollen. Niemandem ist verwehrt, Bachs Brandenburgische Konzerte zu hören, um sich „wohl" dabei zu fühlen. Und niemand ist gezwungen, Musik „strukturell" zu hören, oder wie auch immer der geistigen Leistung, die ein Werk verkörpert, intellektuell gerecht zu werden. Bachs Musik war gewiß eben doch auch geeignet zur „Recreation des Gemüths" - anspruchsvolle Unterhaltung für die Aristokratie. Über Mozarts Figaro sagte der Kaiser: „Erhabene Musik, jedoch nichts für den Gaumen der Wiener". Es gab zu allen Zeiten auch den Gaumen und ein „gastronomisches" Verhältnis der Menschen zur Musik. Aber die Kunst selbst hat ih re Aufgabe als dekorative, repräsentative, „magische" Dienstlei stung ständig überschritten dadurch, daß die Künstler in kreativer Be-Geisterung sich selbst einbrachten, Kunst zum Gegenstand humaner Selbstverwirklichung und Suche nach Erkennt nis machten: Kunst als Angebot für eine sich selbst verborgene Nachfrage. 1991

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Vier Fragen zur Neuen Musik Wo steht, was will und was vermag Neue Musik heute? „Neue Musik": im Alltagsjargon sinnlose summarische Etikettierung des ganzen musikali schen Reichtums, der außerhalb eines bequem für die gute Stube des bürgerlichen Erbauungs haushalts zugerichteten, Tradition zementierenden und so mißbrauchenden Musikbegriffs sich abspielt. Gemeint ist die Musik, die den abendländischen Begriff von Kunst als reflektierter, vom Geist beherrschter Magie einlöst, indem sie den Blick auf die eigene Struktur und auf die Strukturhaftigkeit des Klingenden schlechthin zum Erlebnis der Selbsterfahrung für die Wahr nehmung macht und so immer wieder auf andere Weise ausbricht aus der falschen Geborgen heit, welche jener scheinbar reibungslos funktionierende und so verwaltete - gar unterrichtbare - Musikbegriff mitsamt seinen tabuisierten Kategorien verkörpert. Musik, die in einer Gesellschaft der verdrängten Widersprüche spätestens seit Schönberg den Konsens mit dem „zahlenden Publikum" (Richard Strauss) nicht mehr garantiert, weil sie die sem die Begegnung mit dem Unbekannten, lästiger noch: mit dem Ungewohnten, zumutet be ziehungsweise zutraut. Neue Musik als Reich der Entdeckungen für eine strukturell sensibilisierte Wahrnehmung: Das sind die Madrigale Monteverdis und Gesualdos, das ist Bachs Wohltemperiertes Klavier, das ist Mozarts Jupitersymphonie, Beethovens Pastorale, Schuberts Winterreise, Wagners Tri stan, Debussys Pelleas, Schönbergs Pierrot lunaire, Weberns Kantate Das Augenlicht, Messiaens Quatuorpour lafin du temps, Nonos Canto sospeso, Stockhausens Gruppen, Cages Win ter Music, Ligetis Apparitions, Xenakis' Metastaseis und Feldmans King ofDenmark: Medien der sich selbst erfahrenden Wahrnehmung, ständige und erfrischende Herausforderungen, die nichts mit den versteinerten Kulturritualen zu tun haben, vor denen mancher Jugendliche zu Recht zurückzuckt. Neue Musik, weil lebendige Musik, und Musik für Lebendige: Mehr Standorfbestimmung scheint mir unmöglich, und mehr Rechtfertigung braucht's nicht. (Stock hausens Antwort in Berlin auf die Frage eines bereits ergrauten Cellisten, wieso man ihm zumute, etwas zu spielen, was die Bezeichnung Musik doch nicht verdiene: „Damit Sie jung bleiben ...".)

Jugendliche auf,Musikerfahrung, umgeben von die einerirgendwo potentiellzwischen ungeheuer vielfältigen, oft nur sehr wachsen einseitigen Rock und Pop, tatsächlich Jazz und Klassik, alter und neuer, naher und ferner, kulturell mehr und kulturell weniger vertrauter Musik entsteht. Wie wichtig ist da die Begegnung mit Neuer Musik im schulischen Bildungs gang? Die Begegnung im Musikunterricht mit den Tendenzen der Musik unserer Zeit sollte im Grunde eine Selbstverständlichkeit sein, setzt aber eine entsprechende Erfülltheit von der Sache bei den Lehrern voraus. Sofern dies nicht gewährleistet ist, empfiehlt es sich eher, sich um eine dialektische Schulung des menschlichen Sensoriums ganz allgemein zu kümmern: Wahrnehmung durch Sinne und Denken zu üben, dabei auch die oft empfundene Bedrohung durch das Fremde, ebenso wie die zugleich sich bietende Chance der eigenen Bewußtseinser weiterung durch das Sich-Aussetzen und An-sich-Herankommenlassen gegenüber dem Frem den schlechthin - fremden Kulturen, fremden Rassen, fremden Lebensgewohnheiten, fremden Tabus - bewußt zu machen. Aus dieser Perspektive wird nämlich auch das „ästhetische Ärger nis" zum Politikum . 357

„ Warum ist Schönbergs Musik (= Neue Musik?) so schwer verständlich?" fragte Alban Berg und zeigte anhand von Analysen zu Schönbergs (also zeitgenössischer „neuer") Musik, daß dies gar nicht so sein müsse, wenn man sich nur intellektuell - hörend und erkennend - auf sie einlasse. Welche Möglichkeiten sehen Sie als Komponist, den Lehrenden und Lernenden auf ihrem Vermittlungs- beziehungsweise Verstehensweg Neuer Musik entgegenzukommen? Für den Komponisten gibt's keine Möglichkeit, entgegenzukommen. Er ist dem Hörer oft auch näher, als diesem lieb ist. Sein Angebot sollte sein: die Begegnung wie auch immer; Bereit schaft, auch öffentlich nachzudenken über das, was er tut und fühlt. Sein künstlerischer Beitrag kann nur sein: kompromißlose sprachliche Eindeutigkeit. Analyse oder intellektuelle Erörte rung nützen nicht immer und nicht jedem, und sie ersetzen auch nicht den Sprung ins Unge sicherte. y Gefährlich scheint mir „pädago gische Musi k", gar im Sinn des „Abho lens ", die auf Anbie derung hinausläuft (was ja auch sofort durchschaut wird). Wenn modellhafte Werke, die zur Vermittlung dienen sollen, überhaupt denkbar sind, dann nur in lapidar zugespitzter Formulie rung. Nichts ist so klar und zugleich so geheimnisvoll wie die Symphonie op. 21 von Anton We bern oder die Kontra-Punkte von Stockhausen. Ich selbst habe mit meinem (vermeintlichen) „Anti"-Cellostück Pression genauer Zuhörende und Mitdenkend-Wahrnehmende gewonnen (und falsche Freunde abgeschüttelt).

Was raten Sie Lehrern und Lehrerinnen, die sich scheuen, Neue Musik im Unterricht zu „behandeln", weil sie wissen (vermuten, glauben), daß ihre Schüler und Schülerinnen sie ablehnen? Man kann Neue Musik nicht behandeln wie im Geographieunterricht die Fidschi-Inseln, auf denen der Lehrer nie war. Der Lehrer muß ein Fidschi-Insulaner sein, und als solcher wird er sich zu erkennen geben müssen, und wo er sich dann mit Feindseligkeit oder Gleichgültigkeit konfrontiert sieht, wird er aus seiner Geprägtheit als Begeisterter und Berührter heraus handeln und glaubwürdig wirken, und das heißt unter Menschen guten Willens: respektiert werden. Wenn er die intellektuelle Kraft dazu aufbringt - was zu seiner Profession gehören müßte -, wird er die Impotenz und Unfreiheit und die dahinterstehende, allenthalben zynisch ausgebeu tete Sehnsucht nach Glück und Geborgenheit, die in solcher Abwendung steckt und die eigent liche Herausforderung für ihn darstellt, benennen und im Dialog thematisieren können. Scheu vor diesem Konflikt müßte nur haben, wer selbst mangelhaft informiert und für solche Aus einandersetzung ungenügend motiviert ist. Rezepte gibt es nicht: „S trategien" müssen sich aus der Situation ergeben: Herausforderung an die kommunikative Kreativität des Lehrers. Die Ausdruckskraft von Nonos // canto sospeso, die erregende Lebendigkeit der Stockhausenschen Gruppen, die Transzendenz der Hörsituation bei einer Aufführung von Cages Atlas Ecliptica) Iis: Das kann man nicht lehren, es muß sich vermitteln. Man kann nur versuchen - auf welchem Weg auch immer -, Situationen zu schaffen, die dem Menschen seine verborgenen (und seine verbogenen) Antennen und so sein eigenes kreatives Potential bewußt machen. 1992

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Aufgaben des Fachs Musiktheorie in der Schulmusik-Ausbildung A) Allgemeines 1. Das Fach Musiktheorie soll den Studierenden befähigen, sich mit den Gegenständen der gegenwärtigen Musikerfahrung kompetent auseinanderzusetzen, das heißt: sie ihrer Struktur nach zu beschreiben und in den Zusammenhängen zu interpretieren, in denen sie stehen. Erst von da aus ergibt sich die vielbeschworene Fähigkeit der kritischen Auseinandersetzung mit Musik beziehungsweise ein fundiertes Verhältnis, eventuell eine fundierte Motivation zum Phänomen Kunst als Erfahrung schöpferischer Freiheit und geistiger Stringenz, immer wieder anders vermittelt anhand von Werken der Tradition und der Gegenwart. Erst von da aus ergibt sich zugleich die Möglichkeit einer objektiven, den Gegensatz versach lichenden Abgrenzu ng von Kunst gegenüber d en pseudokünstlerischen (dekorativen, angepaß ten, modernistischen, kommerziell gesteuerten usw.) Musikangeboten in unserer pluralisti schen, keineswegs von sich aus kunst-bewegten Gesellschaft, und die Möglichkeit angemesse ner Auseinandersetzung mit all den Musikerscheinungen, denen man unter künstlerischen Gesichtspunkten der Sache nach nicht gerecht wird. Erst von da aus ergibt sich die Möglichkeit, über die erkannten immanenten Sachverhalte und Zusammenhänge hinaus auch deren übergreifende Aspekte in Betracht zu ziehen und diesen gerecht zu werden. Und da es einzig und allein übergreifende Lernziele sind, welche einen Musikunterricht heute noch rechtfertigen können, muß sich das Fach Musiktheorie (in Abkehr von dem Unfug mit dem „Nebenfa ch") als das Fundament beziehungsweise die Mitte des Schulmusikstudiums b e greifen. Alle anderen Ausbildungszweige sind diesem Fachbereich a) flankierend, begleitend, ergänzend (Musizierfächer) b) davon ausgehend, darauf aufbauend, in ihren Inhalten davon abhängig (didaktische Fächer) zugeordnet. 2. Das Fach Musiktheorie ist weder ein Fach des kreativen Operierens (des Komponierens), noch ein Fach des Musizierens (des Improvisierens), sondern ein Fach des Analysierens, Beschreibens, Untersuchens und des immanent orientierten Reflektierens. Die Rolle und der Raum für die satzpraktischen („Tonsatz") beziehungsweise die spielprakti schen (Generalbaßspiel, Improvisation) Disziplinen ist relativiert und begründet durch deren nützliche und wichtige - Funktionen als propädeutische, pragma tisch einzusetzende und zu do sierende, elementare Gesetzmäßigkeiten verdeutlichende Hilfs-Übungen. 3. Insofern sich Musik in Werken objektiviert hat, steht im Mittelpunkt des Fachs Musiktheo rie die Werk-Analyse und - anhand - dasverschiedenen Studium des historisch, musikalischen Materials (ein schließlich des Materialbegriffs selbst)dieser in seinen stilistisch, individu ell, gesellschaftlich, möglicherweise auch geographisch, national, ethnologisch usw. bedingten Ausformungen, und nicht zuletzt das Studium der - jeweils mit dem Material zusammenhän359

genden - Satz- beziehungsweise Kompositionstechniken, vom einzelnen musikalischen oder kompositorischen Gedanken bis zur ausgearbeiteten Partitur. Dies schließt also die Analyse von Instrumentation und aufführungspr aktische Untersuchungen (Notation zum Beispiel) ausdrücklich ein. Auf die Realität unseres musikalischen Erfahrungsbereiches bezogen, bedeutet dies a) Studium der Tonalität in ihren verschiedenen historischen Erscheinungsformen und Hand habungen bis in unsere Gegenwart (insofern diese Erscheinungsformen und Handhabungen aktuell, von Bedeutung oder lehrreich sind) anhand von jeweils repräsentativen Musik beispielen. Dies betrifft also vor allem vorfunktionale und funktionale Musik mit ihren jeweiligen Über gangs-, Auflösungs-, Wiederauflebens-, Verfestigungs- usw. Tendenzen. Vernünftige Begriffs-Instrumentarien, unter Berücksichtigung der Stufen- und Funktionsbe griffe, müssen herangezogen und zugleich ihrerseits kritisch erprobt werden. b) Studium der Neuen Musik, genauer: all der (oder möglichst vieler) Materialordnungen, die bis heute im Zug der Überwindung, Abwendung von, Negation der historisch überlieferten Tonalität, oder auch einfach unberührt von dieser, sich ergeben haben (insofern diese Material ordnungen für unsere heutige Erfahrung von Musik von Bedeutung sind); dies anhand von ty pischen Beispielen der Neuen Musik einschließlich des Impressionismus. Es wird sich hierbei untersuchen lassen, welche Rollen bislang außermusikalische Kategorien, etwa solche der akustischen oder statistischen Wahrnehmung („Parameter"), Kategorien des Alltags, der Technik usw. im Einklang oder im Widerspruch mit dem jeweils betrachteten Ma terial beziehungsweise dem davon bestimmten Werk spielen. Auf der anderen Seite wird sich ergeben, ob und wieweit über alle zugrunde gelegten neuen Tendenzen hinweg sich die alten tonalen Erfahrungskategorien im atonalen beziehungsweise außertonalen Musikdenken und -schaffen erhalten, durchgesetzt, verfestigt, dialektisch erneu ert beziehungsweise sich eventuell tatsächlich verflüchtigt und erledigt haben. In diesem Sinn ist nicht nur die tonale „Befragung" des außertonalen, sondern umgekehrt auch die - gleich wie geartete - experimentelle Durchleuchtung scheinbar selbstverständlich tona len Materials beziehungsweise tonaler Musik durchaus legitimer Teil des Fachs Musiktheorie. Die Behandlung von Musiktheorien beziehung sweise das Theor etisieren in Musik gehört an sich in ein Musikwissenschafts-Studium. In dem hier anstehenden Zusammenhang bleibt es relativiert: Es bietet sich an und schränkt sich zugleich ein (etwa innerhalb von Veranstalt ungen über Musikgeschichte) unter dem Gesichtspunkt seiner Bedeutung und Hilfestellungen für das Verstehen und Analysieren der uns gegenwärtig berührenden musikalischen Erscheinungen. 4. Rolle der Tradition, der zeitgenössischen beziehungsweise Avantgarde-Musik, Popularmusik, Jazz, Pop, Folklore, Musik fremder Kulturen a) Tradition Ein deutliches Gewicht im Fach Musiktheorie liegt auf der analytischen Erschließung der tra ditionellen Kunstmusik. Dies allerdings in dem Maß, wie die traditionelle Kunst nach wie vor 360

ein wesentlicher Teil unserer gegenwärtigen Musik-Erfahrung und eine Grundbedingung für das ästhetische Verhalten und Selbstverständnis unserer Gesellschaft ist. Dabei gilt es aber dieses ästhetische Selbstverständnis, so wie es sich in einer - mehr oder minder reflektierten - Traditionspflege und Traditionsgebundenheit und damit in einer nach wie vor funktionierenden tonalen Syntax niedergeschlagen hat, nicht einfach hin zunehmen als naturgesetzliche oder sonst unabänderliche Vorwegbestimmung des Hörens (um soder mehr aber beziehungsweise als gesellschaftliche daherzuveränderbare wobei der Anteil „Natur" ihrerund Gesetze bestimmen Vörwegbestimmung, und abzugrenzen wäre). Gerade das Studium der traditionellen Musik, wenn es die jeweiligen historischen Bedingun gen des musikalischen Materialbegriffs mit einbezieht, wird ergeben, daß solches ästhetisches Selbstverständnis als historisch und gesellschaftlich bedingtes in der Kunst permanent verun sichert, in Frage gestellt, überwunden, gelegentlich auch überfordert (gleichwohl abgebildet!) - in jedem Fall aber als Überwindbares und zu Überwindendes bewußt gemacht und dement sprechend verändert, erweitert, entwickelt wurde. b) Neue Musik Die periphere Rolle der Neuen Musik in der Öffentlichkeit wird nicht verkannt. Aber aus der oben beschriebenen Erfahrung rechtfertigt und ergibt sich als unverzichtbar das Studium all der Tendenzen, die, wenn auch mehr oder weniger am Rande des großen Kulturbetriebs, jenem hi storisch überlieferten Anspruch der permanenten Erneuerung beziehungsweise Neubestim mung des musikalischen Materials und damit des Musikdenkens und des ästhetischen Selbst verständnisses gerecht zu werden trachten. Fetisch „Kunst" und Buschgespenst „Neue Musik": Sowohl im fetischisierenden Umgang mit der historischen Kunstmusik wie in der Verdrängung beziehungsweise modischen und modernistischen akklamierenden Mißdeutung des zeitgenös sischen Schaffens zeigt sich die Verdinglichung und Verzerrung des humanen Auftrags von Kunst als Medium nicht bloß von illusionärer Kommunikation, sondern zugleich von dialekti scher Überwindung bereits verfestigter und entleerter Formen von Kommunikation, und damit als Medium der Erhellung des (gesellschaftlichen) Bewußtseins und zugleich als Medium schöpferischer Freiheit. (Schönberg: „Das höchste Ziel des Künstlers: sich ausdrücken".) In beiden Fällen - sowohl in der Beschäftigung mit der Tradition wie mit der Neuen Musik in nerhalb des Fachs Musiktheorie - gilt es ein in der Öffentlichkeit zwar zugängliches und den noch unbekanntes Potential kritisch zu erschließen und ein verschüttetes, von der Gesellschaft verdrängtes Angebot beziehungsweise einen verschütteten und verdrängten Anspruch für das Bewußtsein und das Erleben freizulegen. Dies ist ein unmittelbarer Auftrag an den Musiklehrer in unseren Schulen. c) Popularmusik, Jazz, Pop, Folklore, Musik fremder Kulturen: Zum Einzugsgebiet der analytisch zu erschließenden Materie gehört unbedingt auch die Unterhaltungs-, Jazz-, Pop-Musik; auch die Folklore und Musik fremder Kulturen (letztere wenigstens in dem Maß, wie ihre Elemente die bei uns vorhandenen Strömungen beeinflußt haben). Auch und gerade insofern sich, wie etwa im Bereich der U- und Popmusik, aber auch im Jazz, charakteristische Beobachtungen der indirekten Anlehnung (tonale Kadenzharmonik, Wen dungen aus der Musik der bürgerlichen Romantik, modale Wendungen, exotische Klangmittel 361

usw.), oder auch der direkten Anlehnung (beziehungsweise offenen Ausbeutung) - „Play Bach", „Song of Joy" usw. usw. - historischer Stilmittel beziehungsweise authentischer Musik der Tradition oder anderer Kulturen machen lassen, liegen solche Untersuchungen durchaus im Rahmen dessen, was das Fach Musiktheorie zum Gegenstand hat. Denn anders ist eine vernünftige Abgrenzung von Kunst gegenüber Musik mit anderen Funktionen (und anderen Interessen) nicht möglich. Andererseits lassen sich die authentischen Elemente beispielsweise der Popmusik nicht erfas sen oder benennen ohne die „Entlarvung" all der darin anzutreffenden Stilmittel aus anderen Bereichen: des Jazz, der Folklore, der Tradition, der Avantgarde, der indischen Musik usw., ohne welche der eigentliche „Sound" nicht beschreibbar wäre. Keineswegs sei vergessen, daß alle Untersuchungsergebnisse und in der Analyse gewonnenen Sachverhalte unter übergreifenden Gesichtspunkten (soziologischer, ideologischer, kommer zieller usw. Stellenwert) weiter erschlossen und bearbeitet werden können und müssen, bevor sie in den Musikunterricht eingebracht werden (ganz abgesehen von daran zu knüpfenden didaktischen, methodischen, unterrichtspsychologischen beziehungsweise altersspezifischen Überlegungen). Hier müssen die Arbeit der Musikpädagogik und die des Fachs Musiktheorie ineinandergrei fen, sich Inhalte und Aufgabenstellungen weiterreichen. Entscheidend ist in jedem Fall die Einsicht, daß alle an Musik geknüpften pädagogischen und didaktischen Überlegungen, sofern sie sich um die Erschließung der immanenten Sachverhalte herumdrücken und diese auszuklammern oder bei deren Erforschung bequemere Querfeldein wege einzuschlagen versuchen (siehe den Unfug mit der „auditiven Wahrnehmungstheorie"), daß solche Umgehung einer theoretisch fundierten Sachanalyse unvermeidlich auf die Ver mittlung von Halbwahrheiten, das heißt Unwahrheiten, hinausläuft. Wobei solche Halbwahrheiten möglicherweise bequemer und anschaulicher, weil vordergrün diger, belegt werden können. Wodurch möglicherweise auch typische Konfliktsituationen in den Schulklassen, etwa bei völ lig auf Pop eingestellten Jugendlichen, vorderhand umgangen werden können. Wobei aber jeglicher Anspruch des Musikunterrichts auf Erziehung zur „Mündigkeit", zum kri tischen Verhalten, zur Emanzipation gegenüber gesellschaftlichen Zwängen usw. rettungslos verloren geht, weil ein solcherart verkürzter, weil fachlich ungenügend fundierter Unterricht nichts anderes bedeutet und bewirkt als billige Anpassung und Manipulation im Sinn der herr schenden Geschmackszwänge. Weder Theorielehrer noch Musikpädagogen können in gegenseitiger Meidung und Verachtung ihr eigenes Süppchen kochen, wenn sie ihrem Lehrauftrag gegenüber dem angehenden Musik lehrer gerecht werden wollen.

B) Provisorischer Entwurf eines Studiengangs für das Fach Musiktheorie I) Voraussetzungen: Elementare Kenntnisse des musikalischen Materials (Dur- und Molltonarten, Intervalle, Drei klänge mit Umkehrungen, einfachste Kadenzmodelle, Metrum, Takt, Rhythmus usw.) 362

Musikalisches Gehör und Gedächtnis Wenigstens Anfängerpraxis auf einem Tasteninstrument Wo diese Voraussetzungen nicht in einer Aufnahmeprüfung nachgewiesen werden, beispiels weise an den Pädagogischen Hochschulen, muß in Harmoni elehre, Tonsatz, Gehörbildung und im Kadenzspiel (als Teil des Tasteninstrumentalunterrichts) entsprechend weiter unten ange setzt werden.

II) Grundstudium (1.-4. Semester) Es enthält folgende Teilgebiete des Fachs Musiktheorie: 1. Harmonielehre: Studium der funktionalen, aber auch der vorfunktionalen Harmonik, Erarbeitung und Anwen dung der einschlägigen Begriffsapparate, jeweils anhand dafür geeigneter Musikbeispiele ver schiedener Stilrichtungen (einschließlich Jazz/Pop). Dazu als begleitende Übungen: a) Kadenz spiel: charakteristische Kadenzverläufe einschließlich solcher des Jazz und der Pop musik; angewandtes Kadenzspiel: Generalbaß, improvisierte Liedbegleitung, Modulationsmo delle, Partiturspiel. b) Satzpraktische Übungen: angewandte Kadenzen im schriftlichen Satz unter Berücksichti gung elementarer Regeln der Stimmfüh rung, der harmonischen Fortschreitung, der Dissonanz behandlung. Elementare kontrapunktische Übungen. c) Gehörbildung 2. Elementare Formenlehre: Wichtigste Formschemata aller traditionellen Stilepochen (einfache und zusammengesetzte Liedformen, Sonatenform, kontrapunktische Formen usw.) anhand typischer Beispiele. 3. Instrumentenkunde: Gestalt, Spieltechnik, Klangeigenschaften, Tonumfang, Notation, charakteristische Funktionen in typischen Musikbeispielen, Herkunft von Musikinstrumenten aller Gattungen einschließlich elektrischer und elektronischer Instrumente und Geräte. 4. Musikgeschichte: Neben der Erschließung von Literatur im Instrumental-, Gesangs- und Dirigierunterricht gehört zum gesamten Studium eine zyklisch durchgehende Vorlesung zur Musikgeschichte, welche es ermöglicht, die im Rahmen der Musiktheorie rein pragmatisch herangezogenen Musikbeispiele in den historischen Zusammenhang einzuordnen. Dazu gehört aber auch als besonderer, extra zu organisierender Aufgabenbereich: 5. Einführung in die wichtigsten Erscheinungen der Musik im 20. Jahrhundert: Impressionismus - Freie beziehungsweise neoklassizistische Tonalität - Freie Atonalität Zwölftonmusik - Serielle Musik der fünfziger Jahre - Cage- Schul e - „Pos tseri elle" Strö mungen - Aleatorische Musik - Elektronis che Musik - Musique concrete - Jüngste Strömungen 363

Außerdem, soweit nicht schon unter 1., 2. oder 4. erfaßt: Jazz, Free Jazz, Beat, Pop - Kommerzielle Unterhaltungs- und Tanzmusik - Folklore Musik fremder Kulturen „Einführung" bedeutet hier: Vorführen von jeweils repräsentativen Beispielen, Beschreiben der typischen Merkmale (Eigensc haften und Besonderheiten des Klangmaterials, eventuell Bedeu tung der zugrundeliegenden besonderen theoretischen, gesellschaftlichen, auch aufführungs praktischen Bedingungen - einschließlich charakteristischer Notationsformen). Eine Zwischenprüfung könnte bestehen a) aus einer vorgeführten Anwendung des bis dahin vermittelten analytischen Begriffsinstru mentariums auf ein Musikbeispiel, wobei der Studierende wählen kann zwischen verschiede nen geeigneten Beispielen von Bach bis Pop: Entscheidend ist die Ergiebigkeit des Beispiels für die Darstellung von harmonischen Zusammenhängen. b) aus einer vorgeführten Anwendung der bis dahin vermittelten spielpraktischen und satzprak tischen Erfahrungen, eventuell das eine oder das andere im direkten Zusammenhang mit a). Der spielpraktische Teil hätte zum Oberbegriff das Partiturspiel, worunter auch eine General baßaufgabe fallen könnte. Eine mögliche Alternative wäre die improvisierte Liedbegleitung. Der satzpraktische Teil (Klausur) bestünde zu diesem Zeitpunkt im Aussetzen von melodischen oder Cantus-firmus-Vorlagen (vierstimmiger Cantionalsatz, Klavierlied, eventuell Bicinium, nach Wahl). Eine Gehörprüfung könnte als Test abgelegt werden oder entfallen.

III) Hauptstudium (5. - 8. Semester beziehungsweise 5. - 6. Semester in Pädagogischen Hoch schulen) Das Hauptstudium des Fachs Musiktheorie besteht aus den folgenden Teilgebieten: 1. a) Methodik der Werk-Analyse: (bezogen auf tonale Beispiele einschließlich kommerzieller Musik, Jazz und Pop) Untersuchung und Darstellung von kompositionstechnischen Mitteln und Methoden bezie hungsweise von charakteristischen Elementen in 364

harmonischer thematischer motivtechnischer formaler satztechnischer instrumentationstechnischer stilistischer Hinsicht. (Hier ansetzend könnten und müßten sich weitergreifende Untersuchungen - Fragen der Funk tion, des gesellschaftlichen Stellenwertes, ästhetische Fragen, Fragen der didaktischen Aufbe reitung usw. - im Bereich der Musikpädagogik anschließen.) 1. b) Methodik der Analyse Neuer Musik: Untersuchung und Darstellung von kompositiontechnischen Mitteln und Methoden, Beschrei bung der struktur- und formbildenden Elemente (zeitliche/klangliche Organisationsprinzipien). Stilistische Zuordnung innerhalb der gegenwärtigen Strömungen, vergleichende Unter suchung, eventuell unter Heranziehung tonaler Hörkategorien, Untersuchung der komposi tionstheoretischen Hintergründe. Untersuchung der aufführungspraktischen Besonderheiten einschließlich der Notation. 2. Tonsatz: Je nach Wahl schriftliche Übungen: Arbeiten nach stilistischen Vorbildern Kompositorische Entwürfe nach verschiedenen Materialkonzeptionen Instrumentationsstudien, Arrangements, Bearbeitungen usw. 3. Klavierpraxis: Partiturspiel, außerdem nach Wahl: Ad-hoc-Improvi sationen: Generalbaß, Liedbegleitung, Jazzimprovisation. 4. Musikgeschichte und Stilkunde

Schwerpunkte Schwerpunkte können gewählt werden, welche indes möglichst von allen vier Teilgebieten aus erfaßbar sein sollten. Es können und notfalls müssen für einzelne Teilgebiete verschiedene Schwerpunkte gewählt werden. Die durch die Wahl eines Schwerpunkts ausgeklammerten Studieninhalte müssen Gegenstand des Studiums insofern bleiben, als sie mit dem gewählten Schwerpunkt in Zusammenhang ste hen. (Beispielsweise bedeutet Schwerpunkt „Pop" die Fähigkeit, in der Popmusik die stilisti schen Anleihen zu erkennen und zu benennen: Folklore, exotische Musik, Jazz, modale Mittel, Barock, Klassik, Romantik, Avantgarde usw.) Zur Gehörbildung Ihrem ursprünglichen Inhalt nach gehört Gehörbildung nicht mehr ins Hauptstudium. Sie bezieht sich auf Sachverhalte und Fähigkeiten, deren Beherrschung in den meisten anderen 365

Disziplinen permanent zum Tragen kommen und nachgewiesen werden: so in Chor- und Orchesterleitung, in Gesang (Vom-Blatt-Singen), in didaktischen Übungen, im Ensemblespiel. Darüber hinausgehende mögliche Aufgaben einer Gehörbildung (Erkennen von Stilen, Instrumenten, Instrumentationen, typischen Klangmaterialien der Neuen Musik usw.) werden in den Teilgebieten der Musiktheorie und in Musikgeschichte automatisch übernommen. Eine Gehörprüfung als selbständiger, mit eigener Note versehener Prüfungsteil erscheint überflüs sig. Siehe aber dazu weiter unten unter „Prüfung".

Schlußprüfung a) Klausur: Analyse eines Werks beziehungsweise Werkausschnitts einschließlich einer Bearbeitungsauf gabe (beispielsweise Klavierauszug, Particell, oder Instrumentation, Generalbaß-Ausarbeitung usw.). Mehrere Beispiele müssen zur Wahl stehen. b) mündlich: Vorberei tete Analyse (Schwerp unkt) einschließlich einer Darstellungsaufgabe am Klavier (Ge neralbaß, Partiturspiel, improvisierte Liedbegleitung nach Wahl). Fragen zu satztechnischen Problemen anhand der (vorher eingereichten oder) vorgelegten schriftlichen Ausarbeitungen („Tonsatz"). Pseudokomponieren im Käfig unter Prüfungs druck in irgendeinem gegebenen Stil muß(Das wegfallen.) Ergänzende Fragen zur Stilkunde. Eine Gehörprüfung kann entfallen, indes sollte das Gehör bei jeder Teilbeurteilung mitberück sichtigt werden. In diesem Sinn könnte innerhalb der mündlichen Prüfung etwa eine Hörauf gabe gestellt werden (Frage nach Stil, Instrumenten, Instrumentation usw.).

Für die Pädagogischen Hochschulen beschränkt sich das Hauptstudium auf zwei Semester, darin könnte Tonsatz entfallen. Die Möglichkeiten der stofflichen Vertiefung sind erheblich eingeschränkt. Prinzipiell kann aber die entworfene Konzeption gewahrt und dasselbe Lernziel wie für Studenten von Musikhochschulen im Auge behalten werden. 1976

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VIII. WERKKOMMENTARE Fünf Variationen über ein Thema von Franz Schubert für Klavier (1956) Obwohl die Variationen vorwiegend von rationalen Kompositionsmitteln in Anlehnung an Rei hentechniken und späten Strawinsky sind, immer ist in ihnen spielerische musikantischeSchönbergs Element und derdes tänzerische Charakter,geprägt wenn auch wiederdasanders gebro chen, erhalten geblieben. 1985

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Souvenir. Musik für 41 Instrumente (1959) I Die Durchführung eines Prinzips von vielfach sich überlagernden Klängen, die in sich auf ver schiedene Weise differenziert wurden (verschiedene Vibrationsgeschwindigkeiten, Verände rung in Dynamik und Farbe, Bewegung und Verteilung im Raum), schafft eine Emotion des Ausdrucks, die auf das Prinzip selbst zurückwirkt und es schließlich verändert, so daß viele Überlagerungen endlich in einen Klang (Partitur S.27ff.) zusammenschießen, der als ganzer gleichsam dasteht,verändert wobei alle sichzerbröckelt innerhalb bis dieses Klangs voll ziehen. Zugleich sichmusikalischen dieser Klang Bewegungen allmählich und zu einzelnen, in sich nicht weiter differenzierten Tönen (Partitur S.33ff.), die sich dafür zu verschiedenen Gruppen verbinden. Diese wiederum kristallisieren sich zu Klängen. Der Kreis scheint geschlossen (Partitur S.47), das Prinzip differenzierter Klangüberlagerungen wieder herge stellt; es wird erneut durchgeführt, dabei aber diesmal so radikalisiert, daß es sich auflöst in eine Bewegung von vielen Einsätzen und sich in deren Statik verliert. 1962

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Souvenir. Musik für 41 Instrumente (1959) II Souvenir ist in Venedig während meiner Lehrzeit bei Luigi Nono entstanden. Der Titel signali siert den Abschied von dieser Phase meiner kompositorischen Entwicklung. Im Umgang mit den Tönen und Dauern lehnt sich das Stück an damalige punktuelle Praktiken meines Lehrers an. Die völlig anders gerichtete Zielsetzung und entsprechend abweichende Faktur ist dennoch deutlich. Anstelle der expressiv sprechenden Strukturgebilde Nonos ergibt sich in meinem Stück ein einziger großzügig angelegter, quasi vegetativer Prozeß, ein Gestaltkomplex, dessen Konturen durch permanente Verschiebung im Klangraum und gleichzeitig durch verschieden dicht organisierten Abtausch der Einzeltöne zwischen den Instrumenten beziehungsweise Instrumentalfarben ab- und umgewandelt werden. Was also an Gestalten und expressiven Momenten entsteht, ist und versteht sich als indirektes Produkt permanenter Übergänge. Das Material beobachtet seine eigene Kristallisation zur Sprache. Das Klangbild ist geprägt von einer Streicherbesetzung ohne Violinen, wobei die extremsten Färbungen, Flageoletts und Pizzicati durch Klarinetten beziehungsweise Xylorimba und Kla vier aufgegriffen und verselbständigt werden. 1979

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Echo Andante für Klavier (1961/62) Echo Andante, nach meiner Rückkehr vom Studienaufenthalt bei Luigi Nono in Venedig kom poniert, von mir selbst 1962 in Darmstadt uraufgeführt, bedeutet - trotz anderer früherer Arbeiten, die ich nicht verleugnen mag (etwa die Schubert-Variationen) - zusammen mit Souvenir und Fünf Strophen wohl mein „Opus 1", mit einer ähnlichen zugleich abschließend rückblickenden und aufbrechend vorwärtsblickenden Rolle, die etwa Bergs Klaviersonate oder Weberns deren Schaffen Ich warPassacaglia geprägt undinfasziniert von der spielte. Reinheit und Konsequenz des damaligen nonfigurativen Vokalsatzes meines Lehrers Nöno, bei welchem die Töne als gehaltene während ihrer Dauer in fließende Intervallbeziehungen zueinander treten, wobei diese über flexible Dynamik und Klang- beziehungsweise Vokalfarben noch weiter innerlich artikuliert und hierarchisch abgestuft werden. Mein Vorhaben, von solcher Praxis bei der Entwicklung eines Klaviersatzes auszugehen (Nono hat damals wohlweislich nichts für Klavier, überhaupt kaum etwas für Soloinstrumente geschrieben), war bewußt ein Versuch am widerspenstigen Objekt, wo doch der Klavierklang permanent unter den Händen zerrinnt. Den ständig fliehenden Ton als Komponente von sich auf-, ab- und umbauenden Intervall strukturen „rechtzeitig" zu nutzen und gerade dadurch den stereotypen Diminuendo-Charakter zugleich bewußt zu machen und wenn schon nicht zu überwinden, so doch immer wieder zu überlisten unter Einbeziehung von Pedal- und Flageolett-Techniken (mittels stumm gedrückter Tasten), aber auch durch Einbeziehung von „tonalen" Konsonanzen als hörbar gemachten Obertonspektren, führte zu Ergebnissen, in denen der Ausgangswiderspruch sich selbst thema tisierte und die Form des Stückes regelte. Andererseits führte solche Auseinandersetzung mit dem Vorbild Nono zugleich von dessen Idiom weg zu einem Klangdenken, in dem Struktur nicht Mittel zu expressiven Zwecken, son dern Expressivität als vorweg Gegebenes, den Mitteln bereits Anhaftendes, zum Ausgangs punkt für strukturelle Abenteuer wurde. 1962

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Wiegenmusik für Klavier (1963) Wiegenmusik (nicht „Wiegenlied") ist bestimmt von einem Gefüge vielfach verzweigter, oft weit gedehnter, oft eng zusammengedrängter Arpeggio-Figuren. Es nähert sich nach anfängli chen Verdichtungen mehr und mehr einem Zustand der völligen Ruhe an: „Kind im Ein schlummern", quasi als Psychogramm abgewandelt. 1964

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Scenario für Tonband (1965) Scenario ist meine erste und bisher einzige Arbeit mit elektronischen Mitteln. Sie ist entstan den und hat ihre formale Anlage entwickelt aus einem Spiel zwischen „Text" und „Textur": „Text", das heißt eine streng konzipierte Zeitstruktur mit relativ eng bemessenen und exakt kontrollierten Klangbeziehungen wird durchsetzt mit „Texturen", das heißt mit relativ weit räumigen Feldern, die durch die Unkontrollierbarkeit ihrer theoretisch ins Unendliche fortsetz baren inneren Klangveränderungen charakterisiert sind. Indem solche Texturen zu Komponenten jenes Textes werden, wird dessen Prägnanz zerstört, seine Dimensionen werden gewaltsam gebläht; der Text verliert sich an die ihm einverleibten Texturen und wird überwuchert. Er fungiert schließlich nur noch als formales Regulativ. Aus der permanenten Konfrontation ergeben sich Wechselwirkungen, die den pauschal her vorgerufenen Einzelheiten im Innern der Texturen plötzlich die strukturelle Relevanz eines neuen „Textes" geben. 1967

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Trio fluido für Klarinette, Viola und Schlagzeug (1966) I Das Stück stellt für mich einen von verschiedenen Versuchen dar, aus einem streng punktuel len Musikdenken herauszufinden, mit dem ich mich seit meinem Studium bei Luigi Nono iden tifiziert hatte und dem ich auf meine eigene Weise treu zu bleiben entschlossen war, besonders in jener Zeit, als sich die sogenannte Avantgarde mehr und mehr auf surrealistische Kompro misse mit der bürgerlichen Bequemlichkeit einzulassen schien. Die Besetzung - Klarinette, Bratsche und Schlagzeug (Marimbaphon mit Almglocken, Becken, Pauke und Bongos) - gewährleistete eine homogene Ausgangsbasis der instrumen talen Mittel, von wo aus einerseits eine Art Klang-Gestik - das heißt enger oder weiter ver zweigte Tonfigurationen - sich entwickeln ließ, während andererseits die Klangdifferenzierung nach innen weiter getrieben werden konnte bis hinein in die bewußtgemachte Anatomie des entstehenden (geblasenen, geschlagenen, geriebenen, gestrichenen, gezupften, getupften usw.) Tones. Zwischen diesen beiden Gegensätzen - Verflüssigung des punktuell Gedachten hier und seiner Versteinerung beziehungsweise inneren Aufbrechung, Öffnung dort - bewegt sich diese Musik: Gegensätze, die ich in späteren Werken bis in radikale Extreme weitergetrieben habe, während hier das Ganze noch einem eher abstrakt-spielerischen Gesamtcharakter verpflichtet bleibt. 1989

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Trio fluido für Klarinette, Viola und Schlagzeug (1966) II Trio fluido, noch vor dem Schlagzeugsolostück Interieur I, meinem „Opus 1", entstanden, gehört einer Schaffensphase an, die noch streng strukturalistisch geprägt war, in der also aus schließlich am akustischen Material orientierte Beziehungen und Entwicklungen komposito risch gesteuert wurden. Was immer in diesem Stück an Spielerischem einerseits, an Verfrem dung und Klangzersetzung andererseits zu finden ist, „ergab" sich aus der Anwendung von sol chen immanent orientier ten Gesetzmäßigkeiten, war also nirgends Gegenstand von expressiver Spekulation. Formal hat man es mit einer vielfach gebrochenen, aber insgesamt zugleich steigenden und fallenden Kurve zu tun: Auf dem Hintergrund scheinbar lose aufgereihter Abschnitte kehren sich mehr und mehr extreme Materialeigenschaften hervor, schließen sich zusammen, bewir ken insgesamt eine Zuspitzung, die umschlägt in den Kontrast eines statischen, durch innere Fluktuationen belebten Feldes. Dieses zerfasert sich seinerseits bis zum Schluß, wobei hinter den Tonfiguren die Geräuschkomponenten, hinter diesen die Erfahrung von der körperlichen Beschaffenheit des klingenden Stoffes und dahinter die auf solche Weise entleerte Zeit freige legt, bewußtgemacht und in den musikalischen Zusammenhang eingegliedert wird. „Strukturelles Musizieren": Das ist eine paradoxe Vorstellung. In Trio fluido entdeckt und nutzt die Musik selbst diesen Widerspruch. Mit der zunehmenden Auflösung (und zugleich der instrumentaltechnischen Ausuferung im Schlagzeug) sich jene andereWerken, Materialwahr nehmung und daran gebundene Expressivität heraus, schälen die in meinen späteren zuerst in temA, Air und Klangschatten Ausgangshaltung bedeuteten, um die Reflexion der Bedingungen des Hörens und Musizierens ins Hören selbst mit einzubeziehen. 1993

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Interieur I für einen Schlagzeugsolisten (1965/66) Die terrassenartige Aufstellung der Instrumente - Vibraphon, Pauke, zwei Tomtoms, zwei Bongos, je vier Tamtams, Hihats und Crotales - in Hufeisenform um den Spieler verschafft nicht nur diesem, sondern zuvor auch dem Komponisten einen charakteristischen Spiel-Raum, der sich auf vielfache Weise ausleuchten läßt. Die Form ergibt sich dabei als mehrschichtiger Abtastprozeß von überlagerten An-Ordnungen und daraus resultierenden Beziehungen. Klang und Gestus werden dadurch auf doppelte Weise charakteristisch als abstrakt gliedernde Kom ponente von strukturellen Gebilden einerseits und als deren Resultat und expressives Produkt andererseits. 1967

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Consolation I für 12 Stimmen und 4 Schlagzeuger (1967) Gestern standst Du An der Mauer. Jetzt stehst Du Wieder an der Mauer. Das bist Du Der heute An der Mauer steht. Mensch, das bist Du Erkenn Dich doch Das bist Du. 1967 und 1968 komponierte ich Consolation I nach einem Text aus „Masse Mensch" von Ernst Toller und Consolation II nach dem „Wessobrunner Gebet". Beide Texte, als Formen von „Trö stung" angesichts von Ratlosigkeit und Daseinsangst aufgefaßt, sind auf entgegengesetzte Weise kontemplativ: „Das bist Du, der heute an der Mauer steht, erkenn Dich doch" - „Als nir gends nichts war an Enden und Wenden, da war der eine allmächtige Gott". Mir scheint heute, daß die totale Trostlosigkeit beider Text e mich damals auf den Titel „Cons olation" gebracht h at. Meine damaligen Vorstellungen, diese Reihe zu erweitern, haben sich gewandelt. „De-Consolation", wenn es so etwas gäbe, wäre der geheime Grundgedanke. 1968

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Consolation II für 16 Stimmen (1968) Consolation II für 16 Stimmen stellt einen Teil beziehungsweise eine Schicht eines ursprüng lich vierteilig geplanten Zyklus für Chor und Schlagzeug dar. Jeder der darin vereinigten Texte repräsentiert unter anderem Blickwinkel eine Erkenntnis, die über die eigenen existentiellen Grenzen hinweghelfen möchte. Der hier zugrunde liegende Text - eine neuhochdeutsche Fas sung des „Wessobrunner Gebets" - lautet: Mir gestand der Sterblichen Staunen als Höchstes Daß Erde nicht war noch oben Himmel Noch Baum, noch irgend ein Berg nicht war Noch die Sonne, nicht Licht war Noch der Mond nicht leuchtete noch das gewaltige Meer Da noch nirgends nichts war an Enden und Wenden Da war der eine allmächtige Gott. In Consolation II ist der Text nicht mehr verstehbar. Solche „Unverständlichkeit" scheint mir legitim und dort kaum vermeidlich, wo Musik und musikalische Form ihre alten sprach-analogen Gesetzmäßigkeiten mit anderen vertauscht haben, mit Gesetzmäßigkeiten nämlich, welche sich gegen die oberflächliche Koppelung mit einem semantisch orientierten und grammatika lisch gerichteten Sprachverlauf sperren. Einen Text übers Vertonen hinaus „komponieren" das muß heißen: in die durch ihn gesetzte Ordnung eingreifen und auf sie reagieren. Dabei geht Consolation II - wie früher auch Consolation I - von einer Textbehandlung aus, in welcher dank der charakteristischen Ökonomie des phonetischen Materials auch trotz völliger Isolie rung, Verfremdung und Umstellung der Textpartikel die semantische Bedeutung doch noch quasi „von fern" signalisiert bleibt. Indem die phonetischen Elemente innerhalb der damit ge bildeten Strukturen nicht bloß Mittel, sondern selbst Objekt des musikalischen Ausdrucks wer den, stellen sich Text und Werk selbst als ein Teil jener Materie dar, von deren Zeitlichkeit hier die Rede ist. Ein geistliches Werk? Vielleicht, aber nicht von Schuld und Erlösung ist die Rede, sondern von jener Erfahrung, die jeglichem Denken zugrunde liegt: der Sterblichen Staunen. 1969

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temA für Flöte, Stimme und Violoncello (1968) temA dürfte - trotz Ligetis Aventures - eine der ersten Kompositionen sein, in denen das Atmen als akustisch vermittelter energetischer Vorgang thematisiert wurde (Holliger, Globokar, Kagel, Schnebel, Stockhausen schon in den Hymnen, widmeten sich unabhängig voneinander und jeweils unter anderer Perspektive demselben Phänomen). temA markiert außerdem für mich den ersten Schritt jener „Musiqueinconcrete instrumentale", in welcher die mechanischen Bedingungen bei hin der zu Klangerzeugung die Komposition mit einbezogen sind und welche später - in Kontrakadenz, Air, Pression usw. - noch konsequenter mein Schaffen prägen sollte. Naturalistische Grenzsituationen wurden in temA, anders als in meinen früheren Werken, bewußt akzeptiert, aber zugleich in einen streng musikalisch konstruierten Zusammenhang in tegriert, der so auch den traditionellen Spielaktionen neue Bedeutung geben sollte. Die TabuVerletzung, wie sie in den frühen siebziger Jahren, nicht nur bei diesem Stück, empfunden wurde, hatte weniger ihre Ursache im Phänomen der Klangverformung (Schnarchen, gepreßte Saiten, tonloses Blasen usw.), denn solche „Verfremdung" wurde als humoristisches, dadaisti sches oder expressionistisches Element durchaus toleriert. Der Schock hatte seine Ursache viel mehr in der satztechnischen Logik, welche die bloß surrealistische Wirkung relativierte und nicht Spaß, sondern Ernst machte. 1983

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Notturno für kleines Orchester mit Violoncello solo (1966/68) Notturno wurde 1966 begonnen und nach mehreren Unterbrechungen Ende 1968 beendet. Im Gegensatz zur traditionellen Praxis wird hier das Orchester vom Solo „begleitet", aller dings nicht im untergeordneten, sondern ganz souveränen Sinn: Der Solist bereitet vor, gleicht aus, modifiziert und rückt das Ganze immer wieder in eine andere Perspektive und wirkt so als eine Art Schlüsselfigur. Man könnte seinen Part als eine dem Orchester simultan zugeordnete Kadenz betrachten. Das Stück bildet in meinem Schaffen einen Sonderfall, weil sich in ihm - das hängt mit der Arbeitsunterbrechung zusammen - zwei verschiedene Ästhetiken treffen: eine ältere, welche den Klang als Resultat und Ausdruck abstrakter Ordnungsvorstellungen versteht, und eine jün gere, in welcher jede Ordnung möglichst konkreter und unmittelbarer Klangrealistik dienen soll. Zwischen beiden zu vermitteln, ist eine weitere Aufgabe des Soloparts. 1970

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Air. Musik für großes Orchester mit Schlagzeug-Solo (1968/69) Ebenso wie im zuvor entstandenen Notturno galt es auch hier, dem Anachronismus eines „Kon zerts" für Solo und Orchester neue Funktionen abzugewinnen; Funktionen, welche sich über das Klangliche hinaus - oder gar am Klanglichen vorbei - auf die Realistik der instrumentalen Aktionen beziehen . Erfahrungsgemäß ermöglicht - und unter gewissen Bedingungen veranlaßt - jeder Klang anhand seiner besonderen Eigenschaften beim Hörer ganz prosaische Rück schlüsse auf die konkrete Situation und den mechanischen Prozeß, der ihn hervorgebracht hat. Ein hoher Horn-Ton beispielsweise mag im tonalen Zusammenhang als konsonanter oder dis sonanter Beitrag, in einem außertonalen Bereich möglicherweise als „emanzipierte Klang farbe" erfahren werden; eine weitere,' im alltäglichen Leben selbstverständliche Möglichkeit aber wäre die, ihn zur Kenntnis zu nehmen und sich bewußt zu machen als direktes Resultat einer charakteristischen physischen Anstrengung unter bestimmten Bedingungen. Diesen prosaischen Aspekt des Gehörten nicht zu verdecken oder zu verwischen, seine im Hinblick auf irgendwelche ästhetischen Utopien übliche Verdrängung aus dem Kommunikationsprozeß möglichst zu verhindern, bildete einen die Kompositionstechnik bestimmenden Impuls bei der Arbeit an diesem Stück. Instrumentale Verfremdung, beliebter Stein des Anstoßes beim Publikum und auch bei man chen Spielern; der erstickte Schlag, die gepreßte Saite, der tonlose Luftstoß: Sie bedeuten in solchem Zusammenhang nicht surrealistischen Gag oder aggressive Provokation, sondern logische Integration des gesamten verfügbaren Klang- und Geräuschrepertoires übers bislang Salonfähige hinaus, und sie dienen einem Schönheitsbegriff, der das Tabu der Gewohnheit durchbricht und sich orientiert an der Reinheit und strukturellen Klarheit der klingenden Situation als energetisch bestimmtem Feld. Das Solo-Schlagzeug als sinnfälligstes - auch augenfälligstes - Medium solcher Klang realistik, der es darum geht, gerade die äußere mechanische Kausalität, die einem Klang zugrunde liegt, in die Erfahrung und Reflexion einzubeziehen, spielt in dieser Musik nicht einfach die Haupt-, sondern vielmehr die Schlüsselrolle. 1969

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Pression für einen Cellisten (1969/70) Das Stück ist entstanden im Zusammenhang mit Vorstellungen von einer „instrumentalen Musique concrete". Gemeint ist damit eine Musik, in welcher die Schallereignisse so gewählt und organisiert sind, daß man die Art ihrer Entstehung mindestens so wichtig nimmt wie die resultierenden akustischen Eigenschaften selbst. Diese Eigenschaften wie Klangfarbe, Lautstärke usw. klin gen also nicht um ihrer selbst willen, sondern sie beschreiben beziehungsweise signalisieren die konkrete Situation: Man hört ihnen an, unter welchen Bedingungen, mit welchen Materia lien, mit welchen Energien und gegen welche Widerstände eine Klang- oder Geräusch-Aktion ausgeführt wird. Dieser Aspekt wirkt allerdings nicht von selbst. Er muß durch eine Kompositionstechnik erst einmal freigelegt und unterstützt werden, die den üblichen, hier aber störenden Hör-Gewohnheiten stillschweigend, aber konsequent den Weg verstellt. In diesem ganz friedlichen Unter fangen liegt möglicherweise das öffentliche Ärgernis ... Natürlich spielt hierbei auch die Klang-Verfremdung eine wichtige Rolle. Sie hat so weder expressive noch absolut akustische Bedeutung. Sie ergibt sich keineswegs als Extremfall, son dern ganz logisch und ohne äußerliche Spekulation aus der Notwendigkeit, die erwähnten ener getischen Bedingungen, unter denen Schall erzeugt wird, abzuwandeln, sie in ihren verschie denen Abstufungen aufeinander zu beziehen, das heißt: zu komponieren. In diesem Sinn ist Pression ein Modell. Abgewandelt und komponiert werden hier Druck verhältnisse bei Klang-Aktionen am Cello. Der reine, „schöne volle" Celloton ist darin also nur ein Sonderfall unter verschiedenen Möglichkeiten des Bogendrucks, der Bogenhaltung, der Bogenführung an einer bestimmten Strichstelle, bei besonderer Präparierung dieser Stelle durch die linke Hand des Spielers usw., wobei alle diese Gegebenheiten, die hier zusammen wirken, einzeln für sich abgewandelt werden können. Im Fall des schönen, professionellen Cellotons ist - wie bei allen für unsere Gesellschaft „schönen" Klängen - das Verhältnis von Aktion und Resultat besonders ausgewogen, was Anstrengung und Widerstand betrifft. Woan ders, etwa bei äußerstem Druck der gleitenden Fingerkuppe über die aufgelegte Bogenstange, ist das Verhältnis viel komplizierter: Ein kaum zu hörendes Klangresultat kündet gleichsam von einem Kraftaufwand. Das maximalen mag ein bloßes Spiel sein: Es ist auf jed en Fall ein Angebot an den Hörer, zu hören: anders zu hören und seine Hörgewohnheiten und die dahinter verborgenen ästhetischen Tabus anhand einer charakteristischen Provokation bewußt zu machen und zu überprüfen. Es ist außerdem ein Versuch über die Verständlichkeit, und dies anhand einfacher konkreter Span nungsprozesse, die es nicht zu entschlüsseln, sondern zunächst ganz realistisch zu erfahren gilt. Hören heißt hier auf keinen Fall wieder: zustimmend mitvollziehen, sondern heißt: Rück schlüsse ziehen, umschalten - denken. 1972 Nachbemerkung des Herausgebers: Zu Pression existiert eine beträchtliche Anzahl von Ein führungstexten Helmut Lachenmanns, die untereinander mehr oder weniger geringfügige Abweichungen aufweisen. Ich habe darauf verzichtet, die Varianten im einzelnen hier aufzu schlüsseln. Bei der oben präsentierten Version handelt es sich um den ausführlichsten dieser Kommentare.

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Dal niente für einen Solo-Klarinettisten (1970) Wie meine anderen Kompositionen aus dieser Zeit ist auch Dal niente kompositionstechnisch der Idee einer „Musique concrete instrumentale" verpflichtet, in welcher alles Klingende zu einem gewissen Grad von sich weg auf die Voraussetzungen seiner Hervorbringung hinweist und diese als „körperliche" Erfahrung mit in das Struktur- und Ausdruckserlebnis einbezieht. Aus dem Instrument wird ein Gerät: ein charakteristisch manipulierter Filter für den charakte ristisch gesteuerten getrennte Abwandlung vonspürbar. Griffen,Artifizielle Ansatz, Artikulation Luft-Drucks bleibt Atem. so als Die polyphone Mehrschichtigkeit Zeitstrukturdesund elementare Wahrnehmung der klingenden Vorgänge (sozusagen eher ihre Beobachtung als das expressiv mit ihnen spekulierende Zuhören) bedingen so einander und verlagern den aus dem Einzelgestus herausgetriebenen Ausdruck in die emphatisch konzentrierte Erfahrung seiner Anatomie. 1980

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Guero. Studie für Klavier (1970) I Guero ist eine Studie, angeregt von Alfons Kontarsky, als dieser ei ne Sammlung kurzer Kla vierstücke herausgab, denen charakteristische neue Spieltechniken zugrundeliegen sollten. Die jenem lateinamerikanischen Instrument abgeschaute Spielweise, das Gleiten über eine geriffelte harte Oberfläche, ist indes „charakteristisch" allenfalls im prinzipiellen Sinn, nämlich als Beispiel eines verfremdeten Umgangs mit einem kulturellen Requisit wie dem Konzertflü gel, dessen eingebürgerte Bedeutung hier höchstens als umgangene wirksam wird. Der unmit telbar wahrzunehmende klanglich-formale Zusammenhang bezieht sich in diesem Stück auf die sich anbietenden verschiedenen „Guero"-Klaviaturen (Tastenflächen, Wirbel, Saiten) jenes Möbelstücks und auf die daran geknüpften Bewegungsformen als Varianten eines quasi per forierten Glissandos. In seiner einfachen Koppelung von Verweigerung und Angebot bedeutet Guero eine manu elle und zugleich psychologische Studie für den Pianisten, der, von seinem pianistischen Repertoire im Stich gelassen, dennoch als Musiker ausharren und sich finden muß; - eine Studie auch für den Hörer. 1977 12 7

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Guero. Studie für Klavier (1970) II Guero, Studie über einen Verfremdungsgebrauch: Das Klavier als sechsmanualige Variante (Tastenflächen, Wirbel, Saiten) jenes lateinamerikanischen Instruments (eigentlich „Guiro") verweigert sich und bietet sich neu an. Eine Spielstudie auch für den Pianisten, der von seinem erworbenen pianistischen Können getrennt wird und dabei nun erst recht als Musiker sich finden muß; in der strikten Beschwörung des „Un-Klangs" nicht zuletzt auch eine Studie für den Hörer selbst.

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1987

Kontrakadenz. Musik für Orchester (1970/71) Kontrakadenz - „Gefälle" akustischer Situationen, Entwurf eines musikalischen Verständi gungsmodells anhand von Erfahrungen, die ich in unmittelbar zuvor entstandenen Werken, vor allem in Air und Pression, gemacht habe: Was klingt, klingt nicht um seiner Klanglichkeit und deren struktureller Verwendung willen, sondern signalisiert den konkreten Umsatz der Ener gien bei den Aktionen der Musiker und macht die mechanischen Bedingungen und Wider stände spürbar, hörbar, ahnbar, mit denen diese Aktionen verbunden sind. Form und Detail ergaben sich aus der Anstrengung, diesen Aspekt realistisch freizulegen und in den dialekti schen Zusammenhang zu stellen, den die Verwendung eines symphonischen Apparats erzwingt. Der Titel mag das Stück beizeiten davor bewahren, als antitonaler Extremfall aufgefaßt zu werden, statt, wie es gemeint ist, als Beispiel einer immanenten Logik, von der auszugehen und mit der umzugehen Sache bewußten Bewußtseins ist. 1971

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Gran Torso. Musik für Streichquartett (1971/72) Gran Torso, 1971/72 komponiert und 1978 revidiert, gehört mit Air, Kontrakadenz, Pression und Klangschatten zu einer Werkreihe, deren Materialbegriff sich von der Konvention zu lösen versucht, indem er statt vom Klang von den mechanischen und energetischen Bedingungen bei der Klang-Erzeugung ausgeht und von dort strukturelle und formale Hierarchien ableitet. Klar ist, daß ein solcher Ausbruchsversuch nicht einfach „gelingt": Der Apparat, die vorgegebenen Mittel, der Klangkörper selbst als vonEisbergs Konventionen sträuben sich (die verfrem deten Spieltechniken markieren nurVerkörperung die Spitze eines von tiefgehenden Widersprüchen, wo der bürgerliche Künstler sich am eigenen Schopf aus dem Graben ziehen möchte). Hinter solcher Auseinandersetzung aber und darin zugleich steht ein Anspruch ästhetischer Prägnanz, ein Angebot, wenn man so will, von Schönheit, die sich nicht abfindet. „Torso" heißt das Stück deshalb, weil all die strukturellen Bereiche, die berührt werden, deutlich die Möglichkeit in sich tragen, selbständig in sich weiter fortentwickelt zu werden. Auf diese Möglichkeit, die jeg lichen realistischen Rahmen einer Aufführung im Konzert sprengen würde (wo es doch seine Wirkung tun soll), wird gleichsam „widerstrebend" verzichtet: deshalb „Gran Torso". 1978

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Klangschatten - mein Saitenspiel (1972) Zusammen mit Gran Torso und kleineren Kammermusiken gehört Klangschatten - mein Saitenspiel für 48 Streicher und drei Konzertflügel zu einer Reihe von Werken, deren Klang vorstellungen sich orientieren an der Dialektik von „Verweigerung" und „Angebot": Indem die gewohnte Klangpraxis ausgesperrt wird, wird bisher Unterdrücktes offengelegt. Die Klang landschaft zeigt quasi die Rückseite der gesellschaftsüblichen philharmonischen Muster; die Saiten, statt zu klingen, werden auf charakteristische Weise am Klingen gehindert. Natürlich konnte es nicht darum gehen, mit den so freigelegten Klangresten strukturell zu verfahren, als ob nichts geschehen wäre. Denn die beschworene Aura soll wohl gebrochen, nicht aber ver gessen oder ignoriert werden. Deshalb wurde der musikalische Text so lapidar formuliert, daß er - eine Art durchsichtiger Fassade - das Hören zwingt, hinter die Klänge zu lauschen, jene Aura als erstickte zu ahnen, aber auch den Vorgang jener Verweigerung zu begreifen; nämlich als Angebot expressiver Intensität, welche die bürgerliche Sehnsucht nach Schönheit reflektiert und diese erfüllen, das heißt: überwinden möchte. 1972

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Fassade für großes Orchester (1973) Es mag irreführend wirken und dennoch: Fassade ist ein heimlicher Marsch. Aus dieser Vorstellung haben sich die Gesten dieses Stücks ergeben, und in diesem Sinn liegt ihm ein rhythmisches Gerüst zugrunde, dessen einzelne Glieder mit Klangfeldern von unterschiedli cher innerer Artikulation bestückt sind. Der deutlich metrisch orientierte „marschmäßige" Duktus bricht allerdings immer wieder zusammen, denn jene Klangfelder, welche sich zur „Marschmelodie" zu fügen hätten, wuchern aus und kehren ihr strukturelles Innenleben hervor; sie setzen so dem dynamischen Rahmengestus ihre eigene innere Statik entgegen, sie blockie ren und deformieren ihn. Formal gesehen entspräche ihre Rolle derjenigen des „Trios", expressiv aber durchsetzen sie den ganzen Verlauf. Der äußere Gestus von Geradlinigkeit, einheitlichem rhythmisch „zusammengeschweißtem Willen", die Fassade von kollektivem Kraftbewußtsein und auf der durchscheinenden Rück seite strukturelle Komplexität, expressive Zerbrechlichkeit - im hier erzwungenen Zusammen hang Ausdruck gleicherweise von Gewalt, Schwäche, Angst: Solche Thematik ist nicht neu, und die Gedankenbrücke über Alban Bergs Marsch aus Opus 6 zu Mahlers Sechster Sympho nie scheint naheliegend. Wo aber Mahlers „Held" sich im Kampf mit den feindlichen Mächten aufbäumt, auftrumpft und gefällt wird, vermittelt das bürgerliche Subjekt bei Berg seine eigene Zersetzung, in Fassade existiert es allenfalls als Zerbrochenes, zum Triumph ebenso unfähig wie zur Klage. Da es sich selbst als Fiktion in einer sich wandelnden gesellschaftlichen Kon stellation und darüber hinaus - mit Wozzeck zu sprechen - als „Abgrund" erfahren hat, läßt es den Strukturgesetzen der entleerten Mittel freien Lauf und hofft so die Struktur jenes Abgrunds zu ertasten. Keine Affekt-Musik also, vielmehr teilt sich Ausdruck mit als „Aspekt", als kompositorische Haltung, als sprachloses Handeln in einer auf fatale Weise vorschnell sprachfertigen Situation gedankenloser Affekt-Behaglichkeit, wie sie in unserer Kulturlandschaft zum guten Ton gehört. Eine Musik als Trümmerfeld und Kraftfeld in einem: Ihr Vorbild heißt natürlich Schön berg. In diesem Sinn gehört Fassade zu meinen Versuchen, musikalischen Ausdruck nicht ein fach aus dem überlieferten Affekten-Repertoire abzurufen, aber auch nicht bequem oder geschickt seitab der vorhandenen musiksprachlichen Mittel anzusiedeln, sondern ihn in der Auseinandersetzung mit diesen Mitteln selbst zu entwickeln. 1973

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Accanto. Musik für einen Soloklarinettisten mit Orchester (1975/76) Gleichzeitig mit dem Stück läuft „insgeheim" ein Band mit dem Mozartschen Klarinettenkon zert ab, es wird von Fall zu Fall in bestimmten Rhythmen eingeblendet. Dabei ist klar, daß gerade dort, wo sie im Zusammenhang ihres eigenen strukturellen Ablaufs diese andere Klang welt „anzapft", meine Musik sich erst recht von jener vertrauten Sprache entfernt. Indessen ist dies lediglich eine Spielart unter anderen. Die Dialektik von Schönheit als verweigerter Gewohnheit ist in meiner Musik nicht neu. Neu ist der konkrete, quasi paradigmatische Bezug auf ein einzelnes Werk beziehungsweise auf eine bestimmte Gattung. Zerstörerischer Umgang mit dem, was man liebt, um sich dessen Wahrheit zu bewahren: Gerecht wird man diesem paradoxen Vorgang nur, wenn man die gesellschaftliche Situation mitbedenkt, deren Tabus sich auf immer kompliziertere Weise verfestigt haben, wobei man sich auf dieselben historischen Kunstwerke beruft wie unsereiner. Das Mozartsche Klarinettenkonzert ist mir Inbegriff von Schönheit, Humanität, Reinheit, aber auch - und zugleich - Beispiel eines zum Fetisch gewor denen Mittels zur Flucht vor sich selbst; eine „Kunst", scheinbar „mit der Menschheit auf Du und Du", in Wirklichkeit zur Ware geworden für eine Gesellschaft mit der Kunst auf Oh und Ah. Mit allen darauf orientierten kompositionstechnischen Reflexionen und Material-Ablei tungen wurde es so zum verborgenen Bezugspunkt, um den meine Musik den paranoischen Bogen der Verehrung und der angstvollen Liebe macht. Mein Stück ist accanto: daneben. 1976

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Salut für Caudwell. Musik für zwei Gitarristen (1977) Die typische Aura, wie sie an die Gitarre als Volks- und Kunstinstrument gebunden ist, schließt Primitives ebenso ein wie höchst Sensibles, Intimes und Kollektives, enthält auch Momente, die historisch, geographisch und soziologisch genau beschreibbar sind. Für einen Komponisten geht es nun nicht darum, sich dieses vorweg schon gegebenen Ausdruckspotentials schlau zu bedienen oder gar sich seiner verzweifelt zu erwehren, sondern die vorhin genannten Elemente als Teile der gewählten musikalischen Mittel zu durchdringen und sich gleichzeitig von ihnen durchdringen zu lassen. In diesem Sinn bin ich von charakteristischen Spielformen der Gitarre ausgegangen, habe sie in ihren grifftechnischen Details vereinfacht, zugleich aber auch umgeformt und neu entwickelt - oft über die Grenzen hinaus, die eine an jener Aura orientierte Praxis bisher gezogen hatte. Beim Komponieren, oder genauer: beim Entwerfen und Präzisieren der Klang- und Bewe gungszusammenhänge, hatte ich stets das Gefühl, daß diese Musik irgend etwas „begleite", wenn nicht einen Text, so doch einzelne Wörter oder Gedanken; Dinge jedenfalls, die es zu bedenken gelte, die sich aber nicht aussprechen lassen, weil wir in einer weithin sprachlosen Gesellschaft leben, die durch Raubbau der Medien und durch rücksichtslose Manipulation der Emotionen ihr differenziertestes Verständigungsmittel untauglich gemacht hat. Angedeutet wird dies durch die Einbeziehung gesprochener Worte in Anlehnung an einen Text aus dem Christopher Buch „Illusion und Wirklichkeit" des englischen marxistischen Dichters undin Schriftstellers Caudwell, der vor genau vier Jahrzehnten als Dreißigjähriger Spanien gefallen ist auf der Seite derer, die das Franco-Regime aufzuhalten versuchten. Caudwells Forderung im ästhetischen Bereich galt einer Kunst, die ihre Bedingungen kennt und ausdrückt im Namen einer Freiheit, welche den Menschen ermutigt, statt den Kopf in den Sand zu stecken oder in private Idyllen zu flüchten, sich mit der Wirklichkeit und ihren viel schichtigen Widersprüchen realistisch auseinanderzusetzen. Caudwells Denken - von seinen eigenen politischen Gesinnungsgenossen bis heute geflissentlich übergangen - bedeutet auch eine Absage an jene, welche einen derart politisierten Kunst- und Freiheitsbegriff erneut ver kommen lassen, indem sie ihn in das Prokrustesbett von ideologischen Doktrinen zwängen, die sich inzwischen weithin als Vorwand für neue Formen von Unterdrückung entlarvt haben. Ihm und allen Außenseitern, die, weil sie die Gedankenlosigkeit stören, schnell in einen Topf mit 51

Zerstörern geworfen werden, ist das Stück gewidmet.

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Les Consolations (1967/78) 1967 und 1968 komponierte ich Consolation I nach einem Text aus „Masse Mensch" von Ernst Toller und Consolation II nach dem „Wessobrunner Gebet". Beide Texte, als Formen von „Tröstung" angesichts von Ratlosigkeit und Daseinsangst aufgefaßt, sind auf entgegen gesetzte Weise kontemplativ: „... das bist Du, der heute an der Mauer steht, erkenn Dich doch" - „... als nirgends nichts war an Enden und Wenden, da war der eine allmächtige Gott". Mir scheint heute, daß - via Franz Liszt - die unverhüllte Trostlosigkeit beider Texte mich damals auf den Titel gebracht hat. „De-Consolation", wenn es das gibt, ist der Grundgedanke. Die Geschichte vom „Mädchen mit den Schwefelhölzern" (Textgrundlage für das Prälu dium, Interludium und Postludium), welches, von der Gesellschaft ignoriert, die ihm zum Ver kauf belassenen Hölzchen selber entzündet und vor dem Erfrieren so wenigstens die Großmut ter zu schauen bekommt und sich von ihr „empor"-tragen läßt, ist nun zum Rahmen des Ganzen geworden: eine Erzählung vom Handeln, ohne aufgeblasene Einsicht in die - wie auch immer doktrinär verkürzte - „geschichtliche Notwendigkeit", sondern gemäß innerer Notwendigkeit unter dem Druck der Wirklichkeit von Gesellschaft und Natur. Die sprachliche Verständlichkeit der beiden früheren Texte war auf typische exklamatorische Gesten oder charakteristische phonetische Chiffren reduziert, also mehr oder weniger aufgege ben worden. Emphatische Wortgestaltung a priori und sprachkonforme lineare Verläufe wider sprachen meinen Vorstellungen von Struktur und Material. Die Verständlichkeit der AndersenErzählung mußte nicht nur bewahrt, sondern im Zusammenhang mit den vorhandenen kompo sitorischen Mitteln neu gewonnen und plausibel gemacht werden. Obwohl sich meine Sicht des musikalischen Materials gewandelt und von dessen akustischen Beziehungsmöglichkeiten weg sich mehr und mehr dessen gesellschaftlich bedingten expressiven Widersprüchen zugewandt hat, ist der strukturelle Ansatz im Sinn der „alten" seriell-atonalen Utopien in meiner Musik maßgebend geblieben. So ergibt sich im Moment des Erzählerischen genau so ein Widerspruch wie zuvor in der zur expressiven Struktur gewandelten Unverständlichkeit der beiden älteren Stücke. Aus der Auseinandersetzung mit der Unmöglichkeit und Notwendigkeit musikalisch struktureller und sprachlicher Mitteilung im selben Zusammenhang haben sich die Arbeitspro zesse bei dieser Komposition ergeben. Entstanden ist so etwas wie eine Symphonische Dichtung in fünfArt Teilen (Präludium - Con solation I - Interludium - Consolation II - Postludium): eine andere von „Heldenleben" mit „schlechter" Apotheose. 1978

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Tanzsuite mit Deutschlandlied. Musik für Orchester mit Streichquartett (1979/80) Mehr als meine früheren Werke ist dieses durchsetzt von metrisch gebundenen Rhythmen und musikantischen Charakteren, die sich ständig Umkristallisieren und auf vertraute Situationen hin- oder davon wegtreiben. Vertrautes: Das sind tänzerische Gestalten und Musizierformeln, aber auch Lieder und in zwei Fällen Bruchstücke Bachscher Musik - spielerisch zusammengetragene Erinnerungen an Eindrücke, in welchen sich mir - bewußt und unbewußt - jene kollektive Geborgenheit ver körpert, in deren Schutz bürgerliches Denken und Empfinden, magisch behütet, heranwachsen und auseinander hervorgehen. (Daß solche Geb orgenheit vom kindlichen bis ins Erwachsenen- Stadium hinein ihre Fetisch e hat, ist bekannt: Heimat, religiöse Bindung, Feiertage, Tradition, Sehnsucht nach der Kindheit - mag auch die Oberflächlichkeit wenig von der Tiefe ahnen, die sich darunter auftut. Keine Frage auch, daß wir von solcher Geborgenheit selbst dann noch geprägt sind, wenn die Wider sprüche und die Entfremdung des Daseins uns zwingen, aus ihrem Schutz herauszutreten, uns mit der Wirklichkeit erkennend und handelnd auseinanderzusetzen und uns dabei der Herr schaft solcher inneren Bindungen dort zu widersetzen, wo deren ursprüngliche Wahrheit zur verhängnisvollen Unwahrheit bequemer Illusion, hartnäckig und angstvoll beschworener Idylle und reaktionärer Borniertheit geworden ist.) Meine Musik speist sich aus Gestalten, in denen solche Erinnerungen verkapselt sind. Dabei geht sie mit ihnen nicht viel anders um als wie in anderen Stücken mit den Elementen des tra ditionellen musikalischen Materialbegriffs, den sie schon von jeher als gesellschaftliches Pro dukt und Vorwegbestimmung des musikalischen Ausdrucks kompositorisch reflektiert, das heißt in strukturell erweiterten Zusammenhang gerückt und von dort expressiv neu bestimmt hat. Ein solcher Umgang zielt auf die Bewältigung von Unfreiheit: Greifen als Teil des Begreifens, also nicht philosophische Reflexion, sondern eher künstlerisch zupackender Reflex durch Eingriff in die körperliche Unmittelbarkeit solcher vorgeprägten Elemente . Dies e durchdringen und infizieren das Strukturgeschehen, bewirken dabei eine Musikantik, auf welche kein Verlaß ist; die Musik springt auf Rhythmen auf wie auf fahrende Vehikel, läßt sich von ihnen tragen, bis diese sich verformen oder zerfallen. So entsteht ein Gefälle rhythmisch geprägter Situatio nen: Folge und Ineinander von Tänzen und Strukturen. Die Rolle des Solo-Streichquartetts ist vielfältig, obligat und konzertant, führend und begleitend in sich wandelndem Sinn. Als kammermusikalischer Apparat in einer Orchester landschaft angesiedelt, zwingt es dem Orchester immer wieder die eigenen Klangdimensionen auf, muß sich dabei gelegentlich überspielen lassen, nistet sich in die Löcher von Tuttifeldern ein, wirkt als Laus im Pelz, zwingt hinein- und herauszuhören. Die Tanzsuite mit Deutschlandlied gliedert sich folgendermaßen: I. Abteilung 1. Einleitung - 2. Walzer - 3. Marsch - 4. Überleitung II. Abteilung 5. Siciliano - 6. Capriccio - 7. Valse lente III. Abteilung 8. Überleitung - 9. Gigue - 10. Tarantelle - 1 1 . Überleitung IV. Ab teilun g 12. Aria I - 13. Polka - 14. Aria II V. Abteil unggehen 15.ineinander Einlei tungüber. - 16. Galop p - 17. Coda (Aria III) Alle 17 Teile 1980 392

Ein Kinderspiel. Sieben kleine Stücke für Klavier (1980) Obwohl für meinen Sohn David geschrieben und - in Teilen - von meiner damals sieben jährigen Tochter Akiko zum ersten Mal öffentlich gespielt, ist Kinderspiel keine pädagogische Musik und nicht unbedingt für Kinder. Kindheit und daran gebundene musikalische Erfahrun gen sind tiefer Bestandteil der inneren Welt jedes Erwachsenen. Im übrigen sind diese Stücke entstanden aus den Erfahrungen, die ich in meinen letzten größeren Werken (Tanzsuite mit Deutschlandlied und Salut für Caudwell) entwickelt hatte: nämlich Erfahrungen strukturellen Denkens, projiziert auf bereits vertraute, in der Gesellschaft vorhandene Formeln und Muster wie etwa Kinderlieder, Tanzformen und einfachste grifftechnische Modelle. Wichtig erschien mir also, die in meinen Stücken angebotene Veränderung des Hörens und des ästhetischen Ver haltens hier nicht in einen Bereich des Abstrakten zu verdrängen, sondern mit der „Provoka tion" dort zu beginnen, wo der Hörer (wie auch der Komponist) sich zuhause fühlt, wo er sich geborgen weiß. Was herauskommt, ist leicht zu spielen, leicht zu verstehen: ein Kinderspiel, aber ästhetisch ohne Kompromisse - „... wobei es eben mehr um die Demonstration am Kin dermodell als um die Beschwörung von Kindheit geht ..." (Theodor W. Adorno an Walter Benjamin über sein Singspiel Der Schatz des Indianer-Joe). 1982

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Harmonica. Musik für Orchester mit Solo-Tuba (1981/83) Der Titel bezieht sich auf mixturartige Vorformungen des Tonmaterials, parallel geführte oder sich skalenweise verengende beziehungsweise erweiternde Klanggebilde, aber auch auf eine Vielzahl bekannter „volkstümlicher" Muster und rhythmischer Gestalten, „Arpeggio"-Figuren im weitesten Sinn, deren äußerliche, gelegentlich stereotype Einfachheit und ästhetische Bana lität es durch vielfache, oft zur Unkenntlichkeit verzerrende Projektion strukturell aufzubre chen und zu beleuchten galt. Komponieren als strukturelle Spekulation, welche sich indes nicht in einem durch imma nente Regeln abgeschirmten „exotischen" Bereich ansiedelt, sondern bewußt beim Alltag unserer ästhetischen Empfindungen und deren musiksprachlicher Formeln ansetzt und sie zu brechen und neu zu durchdringen sucht: Dies war wohl die fixe Idee meiner Kompositionen seit Accanto. In ihr verbindet sich Arbeitsweise und expressives Ziel. Im zweiten der vier Werk abschnitte kehrt sich das Verfahren um: Die Anordnung von fünf frei entworfenen Struktur modellen wird dort reguliert durch den Verlauf eines Kinderlieds, als ob dieses auf fünf Tasten einer vorprogrammierten Musikbox gespielt, „abgetastet" würde, wobei jede Taste einen der fünf Gestaltkomplexe in einem jeweils typischen Registerbereich abruft und jede Tonwieder holung im zugrundeliegenden Kinderlied eine Wandlung des ihm zugeteilten Modells ver ursacht. Die Tuba wirkte beim Komponieren als eine Art Bezugs-Gerät, an dessen klangtechnischen Gegebenheiten sich Klang- und Spieltypen des Orchesters orientierten und fortentwickelten. Erst im letzten Arbeitsgang wurde dem so erarbeiteten Orchestersatz die eigentliche Solo stimme selbst hinzugefügt. Ihre Rolle bewegt sich so zwischen solistischen und in vielfachem und eigenwilligem Sinn begleitenden Aufgaben. 1983

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Mouvement (- vor der Erstarrung) für Ensemble (1982/84) Eine Musik aus toten Bewegungen, quasi letzten Zuckungen, deren Pseudo-Aktivität: Trüm mer aus entleerten - punktierten, triolischen, motorischen - Rhythmen selbst schon jene innere Erstarrung anzeigt, die der äußeren vorangeht. (Die Phantasie, die vor empfundener Bedrohung alle expressiven Utopien aufgibt und wie ein Käfer, auf dem Rücken zappelnd, erworbene Mechanismen im Leerlauf weiter betätigt, deren Anatomie und zugleich deren Vergeblichkeit erkennend und in solchem Erkennen Neuanfänge suchend.) Die inszenierten Stadien des Werks, von der „Arco-Maschine" über „flatternde Orgel punkte", „Zitterfelder" und „gestoppte Rasereien" bis zum geklopften „Lieben Augustin" und anderen daraus sich verselbständigenden Situations-Varianten: Sie orientieren sich durchweg an den daran gebundenen äußeren mechanischen Vorgängen und machen die leere Stofflichkeit der beschworenen Mittel (auch der abstrakten, zum Beispiel intervallischen) bewußt als Kon trapunkt zu deren gewohnter, inhaltslos gewordener Expressivität. Leben enthält diese Musik als Vorgang der Setzung und der Zersetzung. Solche Zersetzung wird nicht als Naturereignis prozeßhaft inszeniert oder gar zelebriert, sondern durch struktu relle Brechung der Klangmittel vielfach angedeutet (zum Beispiel durch „melodische" Abwandlung des Klirrfaktors bei geschlagenen Figuren, durch Steuerung der Dämpftechniken usw.). Dabei konnte es trotz der Verlockung, mitten im Bereich vertrauter Sprachmittel durch deren Verfremdung und Austrocknung wieder mit „unberührten" Klängen zu komponieren, nicht bei solcher Flucht in die Exotik des Verfremdeten bleiben: Erst am erneut einbezogenen unverfremdeten Klang muß sich erweisen, daß es nicht um bloße Brechung des Klingenden außerhalb, sondern um Aufbrechen und Aufbruch der Wahrnehmungspraxis in uns selbst geht. 1984

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Ausklang. Musik für Klavier mit Orchester (1984/85) Der Wunschtraum, die Schwerkraft zu überwinden, zu überlisten, oder wenigstens Situationen solch überwundener Schwerkraft zu simulieren, hat vielleicht ein Pendant in den vielfältigen Versuchen, die per Impuls in Schwingung versetzte Materie, zum Beispiel den Klavierklang, am Verklingen zu hindern. Die Geschichte des Klaviersatzes, und nicht erst seit der Romantik, ist weithin die Geschichte solcher Techniken. Wo aber die Spekulation mit solcher Illusion mit sich selbst spielt, geht es über die Nutzung von Pedal- und Flageolett-Techniken des modernen Flügels hinaus. Wenn diese auch weithin meine Komposition mitgeprägt haben, so scheint mir wichtiger, wie der Umgang mit den Mitteln überhaupt sich dabei modifiziert. Grifftechnisch abgeleitete pianistische Spielmodelle, organisiert als mechanistisch funktionierende Speiche rungsobjekte, halb bewußtlose Einschwingprozesse, erstmal „bloß um die Saiten anzuregen", deren Ausklingen es dann zuvorzukommen gilt durch verschieden massive Eingriffe, mehr oder weniger rhythmisierte Abbau- und Umbau-Prozesse, Filterung, unvermittelte Integration in ganz andere Wahrnehmungskategorien usw.: Solche Modelle, hereingeschmuggelt zunächst, entfalten ihre eigene Dynamik. Bei dem sich so präzisierenden kompositorischen Instrumenta rium spielt aber auch die Transferierbarkeit des pianistischen Ausgangstyps (Anschlagsimpuls beziehungsweise -figur, Klanggestalt, Klangveränderung - aber auch seine Umkehr- und viel fache Strapazierbarkeit) auf das Orchester, auf einzel ne charakteristische Orchestergruppen, im Sinn eines Superklaviers, bei welchem das Solo-Instrument zum partikular beteiligten Gerät wird, eine wesentliche Rolle. An den Markierungspunkten in dieser Materiallandschaft stehen rohe Grundformen wie der unverformte Hall, der Secco-Klang, aber auch komplexere wie der „falsche Nachhall", die „gefilterte Kantilene", schließlich auch Martellato-Felder, die ihr eige nes Echo verdecken oder auch davon verschluckt werden. Zugleich wirkt darin harmonisch Vertrautes: oberton-orientierte einfache oder zusammengesetzte Mixturbildungen, der Uni sono-Klang (die orchestral übertragenen Saitenchöre des Klaviers), aber zum Beispiel auch der „Zweiklang", das tonal ungesättigte bloße Intervall: alles koordiniert im Hinblick auf im Großen wie im Kleinen zu steuernde Verflüchtigungsprozesse, und so expressiv entleert und neu geladen. Die Musik durchläuft so einen Parcours von Situationen, die - fortsetzend, kontrastierend oder qualitativ umschlagend - auseinander hervorgehen, wobei die Musik den Ausgangs gedanken zu verraten scheint, weil sich die Bewegungen mehr und mehr verselbständigen, bis diese, als perforiertes Riesencantabile sich erkennend, wieder in ihn einmünden und sich ihm unterwerfen. 1986

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Staub. Für Orchester (1985/87) Staub: Zerfallsprodukt von Geschaffenem, kosmische Materie, als Ablagerung Nachricht von Zeit. Meine Suche nach einer - musikalisch erfahrbaren - „Nicht-Musik" in einer Situation der schnell verfügbaren Selbstverständlichkeit „Musik" treibt mich weniger vorwärts ins Unbe kannte als eher im Kreis, läßt die Erfindung, statt abzuheben in die „Luft von anderem Plane ten", eher stolpern über die uns umgebenden expressiven Formeln. Bei ihnen setzt sie an oder landet sie, transformiert so Gestaltbrocken (Beethovens Neunte als ehrfürchtig begangener Steinbruch) zu mehr oder weniger unkenntlichen Bestandteilen eines sich dehnenden und zu sammenziehenden Wahrnehmungsfeldes: Tonlos behauchte („staubige") Largo-Kantilenen, Pulsation, kahle Intervallstellungen werden als Entleertes zelebriert und so neu transparent für ein Hören, welches seine philharmonische Bindung überwunden, aber nicht vergessen hat. 1987

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Allegro Sostenuto. Musik für Klarinette/Baßklarinette, Violoncello und Klavier (1987/88) Ähnlich wie im zuvor entstandenen Ausklang für Klavier mit Orchester bestimmt sich auch hier das musikalische Material aus der Vermittlung zwischen der Erfahrung von „Resonanz" (Tenuto-Varianten zwischen Secco-Klang und natürlichem oder künstlichem Laisser-vibrer) einerseits und von „Bewegung" andererseits. Beide Aspekte des Klingenden begegnen sich in der Vorstellung von Struktur als einem vielfach ambivalenten „Arpeggio", das heißt als suk zessiv erfahrenem Aufbau-, Abbau-, Umbau-Prozeß, der sich ebenso auf engstem Zeitraum, als figurativer Gestus, wie als Projektion-über größere Flächen hinweg mitteilt. Form und Ausdruck ergeben sich im Zusammenwirken von sechs sukzessiv angeordneten Zonen: 1) einer breiten Eröffnungssequenz, die den Klangraum weiträumig nach unten durchmißt, Legato-Kantilene aus einfachen - natürlichen und künstlichen, direkten und indirekten, quasi „falschen" - Hallverlängerungen beziehungsweise Resonanzfeldern, deren letztes bis zum Stillstand auskadenziert („Stillstand": typischer Begriff, in dem sich Resonanz und Bewegung in ihren Extremen berühren), 2) einem vielfach untergliederten Spiel der abgestuften Austrocknungen zwischen Secchissimo und totaler Pedalisierung, 3) dem eigentlichen Allegro-Teil, in welchem Hall als Bewegung in dichter Geschwindig keit - beziehungsweise umgekehrt - geronnen erscheint, 4) unterbrochen und umgelenkt durch eine Art „entleerte Hymne", Rezitativ aus Rufen in verschieden resonierende, darunter auch „schall-tote" Räume, 5) zur Bewegung zurückfindend, dabei eskalierend und so sich festfressend in Grenzberei chen des gewaltsam perforierten Instrumentalklangs, 6) gleichsam ausfedernd durch eine Schlußkadenz aus Mixturen, in deren Innenleben Hall und Bewegung erneut ineinander aufgehen. 1989

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Zweites Streichquartett („Reigen seliger Geister") (1989) „Reigen seliger Geister" - Wahrnehmungsspiel: Töne „aus der Luft gegriffen" - „Luft" aus den Tönen gegriffen. Nach dem Abenteuer in meinem ersten Streichquartett Gran Torso mit exter ritorialen Spielformen am Instrument - heute längst von anderen touristisch erschlossen - hier der Rückgriff auf Intervallkonstellationen („Text") als „Fassade", als „Vorwand" („pretexte"), um bei deren Realisation die natürlichen akustischen Ränder des hervorgebrachten Tones, sei ner timbrischen Artikulation, seiner Dämpfung, beim Verklingen, beim Stoppen der schwin genden Saiten (zum Beispiel auch die Veränderung des Geräuschanteils beim Wandern des Bogens zwischen Ponticello und Tasto) durch die „tote" Tonstruktur hindurch zum lebendig ge machten Gegenstand der Erfahrung zu machen. So wurden spieltechnisch bestimmte Aktionsfelder inszeniert, verwandelt, verlagert, verlas sen, verbunden. Das Pianissimo als Raum für ein vielfaches Fortissimo possibile der unter drückten Zwischenwerte: Figuren, die mit verlagertem Bogenstrich im tonlosen Rauschen ver schwinden oder auftauchen, das Pizzicato-Gemisch, das trotz seines flüchtigen Verklingens dennoch vorzeitig teilweise gedämpft, „ausgefiltert" wird. Wenn man so will: ein Plädoyer der Phantasie für des Kaisers neue Kleider. 1989

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Tableau. Stück für Orchester (1988/89) Fünf breite Sequenzen aus chorisch gesetzten Ein- und Zweiklang-Signalen - die einfachste aus einem einzigen gehaltenen Ton bestehend - stecken einen Raum ab, in dem sich klang technische Archetypen, zwischen innerlich bewegter Mixtur und rhythmisiertem Geräusch, begegnen: weniger Zeremonie aus der Retorte, als „Stellprobe" von magischen Requisiten, wobei Ordnung als kalte Anordnung noch alles offen läßt, den Blick hinter die Kulisse, sprich: in Körperlichkeitder derabgerufenen Klangobjekte selbst, freigibt, beobachtendes Hören meint, wo diedie Sprachfertigkeit Ausdruckselemente ihre Sprachlosigkeit erkennt:und erster Schritt, immer wieder von neuem, bei der Suche nach Formen illusionsloser Kommunikation. 1992

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„. .. Zwei Gefühle

Mus ik mit Leona rdo (1991/92)

Das Werk ist 1991/92 entstanden. Ein großer Teil davon wurde im leerstehenden Haus Luigi Nonos auf Sardinien geschrieben. Keine Frage, daß die Erinnerung an ihn meine Vorstellungen damals mitbestimmt hat. Meine Arbeit an diesem Stück ging von der Erfahrung aus, daß gerade das „strukturell" gerichtete Hören, das heißt das beobachtende Wahrnehmen des unmittelbar Klingenden und der darin wirkenden Zusammenhänge, verbunden ist mit inneren Bildern und Empfindungen, die von jenem Beobachtungsprozeß keineswegs ablenken, sondern untrennbar mit ihm ver bunden bleiben und ihm sogar eine besondere charakteristische Intensität verleihen. Es ist die eigenartige Situation, wo beim Dechiffrieren einer uns betreffenden Nachricht die unmittelbare Wahrnehmungsarbeit: das - möglicherweise mühsame - Erkennen und Zusam mentragen der Zeichen einerseits und die Kraft der sich abzeichnenden Botschaft andererseits tatsächlich eng zusammengehören, gar einander bedingen und einen geschlossenen Erlebnis komplex bilden. Die beiden Sprecher des Leonardo-Textes in „... Zwei Gefühle ..." sind quasi sich ergän zende Bewußtseins-Hälften eines imaginären Wanderers und still staunenden Lesers. Sie selbst fungieren gleichsam bewußtlos wie die ineinander arbeitenden Hände eines am Sehen Gehin derten, der jenen wie und eine recht kostbare ertastet, indem er deren Sprachpartikel zeln ergreift und Text schlecht vor Inschrift seinem Gedächtnis zusammenfügt: konzentriert ein und nüchtern, „versunken", aber zugleich „betroffen" im doppelten Sinn des Wortes, denn was sich semantisch erschließt, beschwört eben jene Situation des unruhigen Suchens „im Gefühl der Unwissenheit", in welcher der blind Tastende sich wiedererkennt. Was klingt, versteht sich als beides: vielfach aus dem Phonetischen abgeleitetes und trans formiertes Material und zugleich Trümmer des überlieferten Vorrats affektiver Gesten, neu gepolt als klingender Zusammenhang aus innerlich verschieden artikulierten akustischen Feldern, quasi unterschiedlich erhitzten beziehungsweise erkalteten Vulkanen. Mediterrane Klanglandschaft in unwirtlicher Höhe; eine „Pastorale", geschrieben im Gedanken an das, was mich mit dem Komponisten des Hay que caminar verbunden hat. 1994

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Drei Werke und ein Rückblick Streichtrio 1965 - Pression für einen Cellisten 1969 - Allegro Sostenuto für Klarinette, Cello und Klavier 1987: Jedes dieser Werke repräsentiert eine andere Phase in meinem Schaffen. In jedem von ihnen stellt sich auf veränderte Weise das dar, was als „musikalischen Material begriff' stets von neuem zu definieren ich mir vorgenommen hatte. Komponieren hieß für mich von jeher, den seit Schönberg wenn nicht ins Schleudern, so doch unaufhaltsame Bewegung geratenen musikalischer in jedem Werk, wenn innicht neu, so doch immer wieder vonBegriff neuem von bestimmen - hieß:Sprache Schranken der eigenen Vorgeprägtheit erkennen, überwinden' und so zu neuen Freiräumen des Erfindens aufbrechen. Und dies auch auf die Gefahr hin, daß solche Anstrengung am Ende doch weithin nur auf ein Anrennen gegen j ene starre und zugleich seltsam nachgiebige, auf gespenstische Weise „schal l schluckende" Wand hinausläuft, welche das gesellschaftliche Bedürfnis nach kollektiver Geborgenheit im Magisch-Gewohnten gegenüber allen Innovationsversuchen um sich errich tet hat. So teilt sich fast in jedem meiner Werke eine andere Hierarchie der Mittel und ein anderes kompositionstechnisches Instrumentarium mit. Mein Streichtrio war entstanden an Ende einer Phase, an deren Beginn - nach der Rückkehr von meinem Studienaufenthalt in Venedig bei Luigi Nono - noch die radikal-punktuelle Prägung durch die Praxis und Ästhetik der Seriellen gestanden Aus solcher technisch-stilistischen zu lösen, die als Sub stanz des hatte. dahinterstehenden Konzepts aufzugeben,Abhängigkeit nämlich die sich Reflexion derohne Mittel dem eigentlichen Gegenstand des Komponierens, hieß mit dem selbst auferlegten „Regressionsver bot" dialektisch umgehen: Es entstand ein „a-punktuelles" Werk, dessen vorsichtig, noch ein mal quasi mit Herzklopfen entwickeltes figuratives Spiel - undenkbar bei meinem Lehrer, weil bei ihm konsequent „überwunden" und weit hinter sich gelassen - sich selber auslöschen sollte. Was ich zuvor nicht gelernt, sondern eher meiden gelernt hatte, wurde hier zugleich beschwo ren und gebannt. Spätestens bei der Komposition dieses Werkes wurde mir bewußt, daß musi kalischer Ausdruck seine Kraft einzig als Ergebnis von Grenzüberschreitung, von Umformung des Materials im Stück selbst bezieht. Im Streichtrio fand dies immerhin auf rudimentäre Weise statt: Das vielfach zu charakteristisch „erregten" Bewegungsfeldern sich zusammenziehende Geschehen zersetzt sich insgesamt; die klingenden Momente verstehen sich mehr und mehr als Ränder im Zerbröckeln sich öffnenden, quasiseine „kahlen" Zeiträumen. (Aus deren unberühr ter Leerevon heraus hat mein späteres Komponieren Visionen entwickelt.) Zwischen dem Streichtrio und dem Cello-Solo-Stück Pression liegen nur fünf Jahre. Den noch war der ästhetische Schub, der die beiden Kompositionen voneinander trennt, kaum ge ringer als alle folgenden Veränderungen zusammen bis hin zum Allegro Sostenuto. Pression setzt bei Aspekten des Klingens an, die sich bislang allenfalls in Grenzsituationen des Musikmachens bemerkbar gemacht hatten, obwohl sie heimlich jedes Musikerlebnis mit bestimme n: nämlich am energetischen Moment der instrume ntalen Aktion. Klang wird ge zeigt als Nachricht seiner Hervorbringung und der dabei mitwirkenden mechanisch-physikalischen Bedingungen. Das brutal herausgepreßte Geräusch, der zarte Tupfer mit der Bogenstange bei erstickter oder offener Saite, die Wischbewegung mit dem Daumen entlang dem Bogenhaar bei auf dem Steg aufgesetztem Bogen: Sie wirken logisch zusammen innerhalb eines eigenwilli gen Material-Begriffs, der sich nicht mehr über einen diskursiv operierenden musikalischen „Text", sondern - quasi kunstlos - als pragmatisch inszeniertes „künstliches Naturereignis" vermittelt. Der einfache Ton als reine Schwingung wird dabei erfahren als eine von verschie402

denen Aktionsvarianten; Sonderfall insoweit, als er beiläufig die Erinnerung an den ausge sperrten alten Materialbegriff wachruft. Pression bildete so etwas wie ein griffiges Modell, auf dessen Haltung sich alle meine wei teren Arbeiten zurückführen ließen. Dennoch konnte es nicht darum gehen, sich hier stilistisch zu verbarrikadieren. Eine unruhig gebliebene Neugier (und spätestens die Beobachtung, wie die in meiner Musik entwickelte Klangpraxis von anderen eher nachgeäfft als intelligent fort entwickelt wurde: schlecht expressionistische Ausbeutung des einst von mir eher heiter Er schlossenen) trieb mich sozusagen wieder heraus aus dem eigenen Bau: Flucht zurück - mit dem Blick nach vorn. Mein Komponieren seit Pression - Werke wie temA (1968), Air (1968/69), Kontrakadenz (1970/71), Gran Torso (1971/72), Klangschatten (1972), Fassade (1973), Schwankungen am Rand (1974/75) und Accanto (1975/76) lagen auf der abenteuer lichen Strecke, und fast jedes hat seine eigene Skandalgeschichte, führte mich - über den zugleich ehrfürchtig setzenden und strukturalistisch zersetzenden Umgang mit dem magisch versteinerten Vorrat des philharmonisch Überlieferten - durch Radikalismen, durch zerstöre risch empfundene Störungen des Gewohnten, allzu Liebgewordenen hindurch zu Werken wie Tanzsuite mit Deutschlandlied (1979/80), Harmonica (1981/83), Mouvement (- vor der Er starrung) (1982/84), Ausklang (1984/85): Werke, deren Titel schon den Besuch des verlorenen Sohnes in der alten Heimat verraten; Besuch allerdings, der weniger mit Heimkehr zu tun hat als mit Konfrontation: Begegnung mit atavistisch erfahrenen, fremd gewordenen eigenen und kollektiven Sehnsüchten. Dort anzusetzen und in der Auseinandersetzung mit dem Vertrauten zu befreiten Räumen charakteristisch präzisierter Wahrnehmung erneut durchzustoßen, scheint mir - mitsamt solch utopischer Zielsetzung, sprich Vergeblichkeit - erregender, ergreifender als alle stilistisch „reinen" Struktur- und Klangvisionen; Visionen, die notwendig ihrer Manieris men nicht gewahr werden, und die leicht zu exotischen Idyllen oxydieren und sich so ins alte ästhetische Weltbild wieder widerspruchslos einfügen. Allegro Sostenuto ist in diesem Sinne aus dem Geist des transformierenden Spiels mit dem überlieferten spieltechnischen Repertoire entstanden. Der alte tonal-atonal-intervallische Vorrat ist zu einem vielfach sich umformenden Mixtur-Apparat geworden. Bewegung ist zugleich virtuos erfahrener Klang und gespannter, Zeit artikulierender Abtastvorgang. Rückgriff und Aufbruch also auch hier, wie im Streichtrio, und vielleicht hat sich mein Schaffen im Lauf von dreißig Jahren im Kreis bewegt. Ein Kreis indes, der sich nicht geschlossen, sondern - nach allem - weit geöffnet hat. 1992

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IX. ANHANG Musik im Klassenkampf Zur Kampfmusik Hanns Eislers Über das Problem der „politischen" Musik zerbrachen sich in den letzten Jahren viele Musiker, Musikwissenschaftler und Musikinteressierte die Köpfe auf Tagungen, in Podiumsdiskussio nen und Konzerten. Sogar die Zeitschrift für Neue Musik „Melos" des Schott-Verlags stellte sich die Frage, ob der Musik eine gesellschaftspolitische Funktion zukomme. Eine Antwort, die viele Apologeten der musikalischen Avantgarde wieder beruhigte, gab der Komponist Helmut Lachenmann. Er schrieb: „Musik komponieren, um ,die Gesellschaft zu ändern': Das ist eine Heuchelei, oder - sym pathischer - eine Donquichotterie. In dem Maß, wie sie sich an dem Ziel orientiert, den Hörern - gar den Massen - etwas zu verkünden oder sie politisch zu aktivieren, wirkt Musik reak tionär." Der Grund: 131

„Sie kann zu gesellschaftsverändernden Maßnahmen (oderexpressiver zu deren Gegenteil) nur verbale pauschalAufrufe im demagogischen Sinn unterstützen, indem sie an Hand Klischees der kleinbürgerlichen Ästhetik solche Aufrufe irrational verklärt, fetischisiert und sie dem Kult des Bestehenden einverleibt." (Ebenda) Wen der Komponist Lachenmann damit meint, ist unausgesprochen klar: Hanns Eisler. Die „demagogischen, emotionalisierenden, manipulativen Möglichkeiten" seiner Musik „sind gebunden an ein längst von der Reaktion in Beschlag genommenes expressives Material" (ebenda). Eislers Kampflieder und Chöre, seine Songs und Balladen werden (wie gesagt unausgesprochen, ohne Eislers Namen zu nennen) als reaktionär denunziert, weil sie zum Bei spiel tonales Material verwenden, das auch musikalischen Laien geläufig ist. Lachenmanns Alternative: „... permanente Negation und ernsthafte Störung des ästhetisch Verfestigten, permanente Umwertung des Bekannten und Einbeziehung des Unbekannten, und zwar künstlerisch, als transzendentale Erfahrung vermittelt." (Ebenda) Wieder einmal soll die „Revolution" nur im musikalischen Material ausgetragen werden; was schon immer Charakteristikum der bürgerlichen Avantgarde war, soll weiter perpetuiert werden: die Durchbrechung ästhetischer Tabus. Daß die Kompositionen, die dieser Haltung entspringen, unter Ausschluß des Proletariats vor einem Spezialistenpublikum stattfinden, stört diese von „revolutionärem Geist und Willen" beseelten Komponisten keineswegs. Vor diesem Publikum sind sie auch jederzeit in der Lage, „Kommunikation selbst aufs Spiel (zu) setzen ... Reflexion und kritisches Verhalten nicht vor(zu)exerzieren, sondern mit aller Konsequenz her auszufordern" (ebenda). „Revolutionäre" Komponisten dieser Art - auch der italienische Komponist Luigi Nono wird in ähnlicher Weise Eisler gegenüber ausgespielt - gelten des halb als vorbildlich, weil der „ästhetische Rang" ihrer Stücke Vorrang hat vor dem Postulat, für 13 2

breite Massen verständlich zu sein. Was diese Leute an Eisler so stutzig macht, ist die Tatsache, daß er den Fußstapfen seines bedeutenden Lehrers Arnold Schönberg nicht gefolgt ist wie die beiden anderen, die Schönberg zu seinen begabtesten Schülern rechnete: Alban Berg und Anton Webern, sondern den Weg zur revolutionären Arbeiterbewegung gegangen ist. 405

Eislers Leben und Werk kann belegen, daß eine revolutionäre Musik nur dann entstehen kann, wenn sie aus den revolutionären Kämpfen der Volksmassen hervorgeht, und das bedeu tet: wenn der Komponist an diesen Kämpfen aktiv teilnimmt. Insofern ist Eislers politische wie musikalische Entwicklung in den zwanziger Jahren von exemplarischer Bedeutung. Der Herausgeber hat sich darauf beschränkt, aus diesem Aufsatz lediglich die Einleitung zu zi tieren, die unmittelbar auf Helmut Lachenmann Bezug nimmt.

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Tagebuchnotiz und Tonband-Protokoll „Mittwoch, 13. Okt. abends (1982) (...) Abends ein Zwischenfall beim Podiumsgespräch in der Hochschule, bei dem Clytus Gottwald moderierte: Lachenmann, Komponist, Vertreter der ,musica negativa', griff mich vom Saal aus an (ich kannte ihn gar nicht, er hatte nie versucht, sich vorzustellen), war ziemlich pampig und feindselig, wie ich fand. (Es ging ihm darum, etwas festzustellen, näm lich daß ich, wie jeder weiß, insbesondere der unter den Lesern dieses Buches, der es bis hier her noch nicht beiseite gelegt hat, aus der Tradition zitiere, da ich, wie er sich ausdrückte, Gestalten aus der Klassik .abrufe' und damit den wirklichen & echten Vertretern der modernen Musik, zu denen Lachenmann zweifellos sich zu rechnen scheint, ein ethisches & ästhetisches Greuel bin.) Er nahm die Klavierstücke aus Pollicino und den Margaretenwalzer (die vorher recht kompetent von dem jungen Hamary gespielt worden waren), in denen es ja von Patterns der klassischen und romantischen Klaviermusik nur so wimmelt, zum Gegenstand seiner Anklage. Am Ende eines anstrengenden Tages, wo ich von morgens bis abends mit fremden Menschen zu tun gehabt hatte und vor 80 Mann Orchester mich Stunden lang habe bewähren müssen und ums Überleben ringen, wie an allen vorherigen Tagen schon, war mir Lachen manns Auftritt (ich möchte eigentlich gar nicht erwähnen, daß er mir unkollegial und inkorrekt inszeniert vorkam) nicht gerade willkommen, denn nun mußte ich heute abend noch einmal vor einem brechend mit Unbekannten gefüllten Saal bestehen. Es gelang auch nicht immer, ich konnte meinen Zorn über den Ungezogenen nicht immer verbergen. Schlechte Manieren gehören zu den unerfreulichsten, bedauerlichsten Phänomenen in der Welt der Künste, und es ist schade, daß es so viele Leute gibt, die sich einbilden, daß sie angebracht sind und zum guten Ton gehören, wenn man irgendwas, z. B. sich und seine Theorien, durchsetzen will. Der Zweck heiligt die Mittel, scheint es, und im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist. In keinem Land der Welt ist der Aberglaube so verbreitet wie bei uns, daß Wahrheit und Grobheit ein und die gleiche Sache seien." Soweit Hans Werner Henze. Der Vorfall nahm laut Tonband-Protokoll von Hans-Peter Jahn den im folgenden dokumentierten Verlauf. Lachenmann sprach zunächst über Musik von Schönberg und Webern, was wegen ungünstiger Mikrophonaufstellung unverständlich blieb. Er fuhr dann fort: „... und zwar, wenn ich heute darüber nachdenke, war das das, daß diese Musik - ich kann es nur atmosphärisch beschreiben - ... sie dachte über sich selbst nach und verursachte mich, beim Hören über mein Hören nachzudenken. Und dieses Nachdenken über sein Hören bedeu tet im Grunde über sich nachdenken, also über seine ganze Situation, und es wird für mich fast so eine Art künstlerischer Maßstab. Und ich glaube im Nachhinein, im Rückblick auf alte Musik, daß auch die Musik Beethovens dies auch heute noch leistet, auch heute noch leisten könnte, wenn wir nicht so völlig überfüttert wären ... und ich habe jetzt - das muß ich einfach jetzt ganz frei so sagen, ich habe da bei Ihrer Musik einerseits eine Faszination, bin angezogen, dann wieder befremdet, weil ich den Eindruck habe, daß Sie in Ihrem Werk eine Utopie schaf fen, daß Sie in einer intakten Sprache einfach setzen, als ob diese Art von lyrischer Haltung von vornherein unsere Sprache wäre, mit der wir unsere Empfindungen mitzuteilen hätten. Also, 38

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vermisse,nicht was ich sozusagen - ich sage das selbst noch einmal ganzundschulmeisterlich - Erlebens ist ein dieses Erlebnis, daß diese Musik über sich nachdenkt diesen Bruch des fach fröhlich oder unbefangen naiv mitteilt, sondern gleich wissend, daß die Kategorien, in denen man sich mitteilt, eigentlich nicht mehr ganz taugen, daß sie schon durch diese 407

unglaubliche Medienlandschaft und durch diesen kulturellen Brei, in dem wir fast ersticken, nicht mehr ganz glaubwürdig geworden sind. Und wenn dann so etwas kommt - um einmal konkret zu werden - , so eine Idylle der Gitarre (Lachenmann bezieht sich hier auf die Gitarre in Henzes Kammermusik 1958, die zuvor von einem Ensemble gespielt worden war), dann habe ich sofort ein Mißtrauen. Ich sage, um das einmal wieder ungeschützt und respektlos zu sagen, der Komponist nutzt die Idylle aus, die dieses Instrument mitbringt, aber er ändert sie nicht, er ändert nicht, er bringt sich im Grunde garnicht mehr genug ein. Diese Idylle der Gitarre oder das Bel canto, die trägt sich im Grunde schon fast von selbst, das heißt, die Situation ist fü r mich eben eine utopische, eigentlich: So schön ist es doch eigentlich nicht, oder um es noch einmal zuletzt zu präzisieren: Ihre Klavierstücke, da war doch eigentlich unheimlich viel Tristan oder Nachtristan in der ganzen Harmonik. Natürlich frage ich mich, in welcher Welt leben Sie eigentlich im Blick auf Kinder, oder in welcher Welt stellen Sie sich diese Kinderidylle vor? Sie haben uns eben nur eigentlich Anekdotisches oder Programmatisches gesagt (Henze sprach zuvor von der Entstehungsgeschichte und der Absicht dieser Klavierstücke), aber diese Art des Hörens ist im Grunde die, die über das bloße Anekdotische uns wirklich angeht. Glauben Sie nicht, daß das eine Art Utopie ist? Glauben Sie nicht, daß das eine Art Utopie ist, die Sie in Ihrer Musik einfach setzen, ohne zu fragen, wie das nun glaubwürdig gemacht wird?" Henze gibt darauf folgende Antwort: „Ja, Herr Lachenmann, schwer zu beantworten. Aber ich kann Ihnen nur sagen, daß es über haupt nicht leicht ist, ich weiß nicht, ob Sie es jemals versucht haben, ein Happy-Musikstück zu schreiben? Ich meine, die Künstler, das wissen wir ja von Adorno auch bereits in seinen Büchern und ist geläufig besonders eben solchen Komponisten wie Sie sind - wahrscheinlich ganz besonders von einem solchen Denker ausgesprochen -: Auch ich habe mich damit aus einandergesetzt. Ich glaube aber folgendes: Ein Künstler, ob jung oder alternd, ganz egal an welcher Stelle seiner Entwicklung, hat nicht nur das Recht, sondern auch das Privileg, Glück lichsein, utopische Verhältnisse von Zeit zu Zeit - wenigstens sollte ihm das gelingen, sollte er das Glück haben - ein bißchen Happiness in die Seele und in den Kopf und dann auf das Notenpapier zu kriegen; er darf das. Er
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