MEDITATION - 12 BRIEFE ÜBER SELBSTERZIEHUNG - F. RITTELMEYER
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Werk aus 1929 - mit Lesezeichen-Navigation - Wenn man in der Lage ist, die etwas schwülstige Sprache und den Steiner kop...
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Friedrich Rittelmeyer MEDITATION Zwölf Briefe über Selbsterziehung 1929
Zum Wiedererscheinen des Buches nach der Zeit des Krieges und des Verbotes (1948) Zwanzig Jahre nachdem diese „Briefe über Selbsterziehung“ in Vervielfältigungsform zum ersten Male erschienen, zehn Jahre nach dem Tode des Verfassers, sieben Jahre nach der gewalttätigen Unterdrückung und Vernichtung des Buches, tritt dieses intimste Lebensvermächtnis Dr. Friedrich Rittelmeyers erneut seinen Weg in die Welt an. Das reiche literarische Werk, das Friedrich Rittelmeyer uns hinterlassen hat, spannt überall den weiten Bogen eines entscheidenden Schrittes in der christlichen Geschichte. Über den reißend angeschwollenen Strom des Zeitenschicksals ist eine Brücke gebaut worden, die in ein neues christliches Zeitalter hineinführt. Zwischen dem „Jesus“-Büchlein (1912) und dem „Christus“-Buch (1936) liegt der Durchbruch des theologischen Erkennens, das in den Bann der bloß-irdisch-menschlichen Ebene geraten war, zu einer neuen Geist- und Christus-Erkenntnis. Zwischen den zusammen mit D. Christian Geyer herausgegebenen Predigtbüchern („Gott und die Seele“ 1906, „Leben aus Gott“ 191o) und dem reichen seelsorgerlichen Schrifttum der letzten Jahre liegt der Schritt vom Pfarrer und berühmten Kanzelredner der evangelischen Kirche zu dem Priestertum, das in der Christengemeinschaft den für unsere Zeit neu aus dem Geiste begründeten Sakramentalismus verwaltet. Zahlreiche Bücher, darunter diejenigen autobiographischen Inhaltes („Meine Lebensbegegnung mit Rudolf Steiner“ und „Aus meinem Leben“) lenken den Blick auf die Persönlichkeit, der Friedrich Rittelmeyer die größte Geisthilfe verdankte für die Durchbrüche seines Lebens sowie auch für seinen Anteil an der zur Wirklichkeit gewordenen „Neuen Reformation“: Rudolf Steiner.
Das Einzigartige, Besondere des Buches „Meditation“ liegt darin, daß es in das Geheimnis des Impulses hineinblicken läßt, den Friedrich Rittelmeyer wie von Ewigkeiten her in der eigenen Seele mitbrachte und der ihm von innen her die Kraft gab, die Schicksalsmöglichkeiten zu verwirklichen, die ihm durch den Ruf des Zeitalters und die Hilfe Rudolf Steiners von außen her entgegenkamen. Der innerlichste Antrieb zur meditativen Vertiefung der eigenen Seele war von Anfang an die tragende Kraft in seinem Leben und Streben. Was von der Würzburger Vikarszeit an seinen Predigten das Aurisch-Umhüllende, Heilende, Emportragende gab, war, daß sie aus dem Brunnen der Meditation heraufgeholt waren. Was seiner seelsorgerlichen Wirksamkeit schon früh die überpersönliche Väterlichkeit und Gütekraft verlieh, war, daß er durch das meditative Arbeiten an sich selbst sein Persönliches für ein Höheres durchlässig gemacht hatte. Was ihn im letzten Grunde zu Rudolf Steiner führte, war dies: der Meditierende erkannte und erfuhr, daß ihm hier für die intimste innere Arbeit in Klarheit und Meisterschaft der Weg gewiesen werden konnte. Demgegenüber trat die inhaltliche Verkündigung des Geistesforschers jahrelang für ihn in den Hintergrund, hat er sich doch gerade in jenen ersten Jahren, statt die Vortragsreihen mitanzuhören, in denen Rudolf Steiner unermüdlich die neue Christuserkenntnis herausarbeitete, auf die seltenen Gelegenheiten beschränkt, ihn in Gesprächen um Rat für das meditative Leben zu bitten. Um recht zu erkennen, auf welche geistige Zukunftsströmung Friedrich Rittelmeyer durch das tief in ihm verwurzelte meditative Streben und schließlich durch das reif-zusammenfassende Buch „Meditation“ hinzielte, muß man in ältere Epochen der christlichen Entwicklung zurückgehen. Die Geschichte der Mönchsorden enthält wesentliche Stadien der christlichmeditativen Strömung. Vor der Entstehung der Gotik und der bürgerlichen Städtekultur, als in Mitteleuropa noch alle Klöster und Gotteshäuser, in dem mysterienhaft-wuchtigen romanischen Stil erbaut, inmitten der dämmerdunklen großen Wälder lagen, pflegte der einheitlich christliche Grundorden nach der von Benediktus eingesetzten Mönchsregel sein meditatives Andachtsleben. Darin faßte sich noch einmal die Substanz der überpersönlichen urchristlichen Frömmigkeit zusammen. Dann, als die großen Wälder fielen und den helleren Feld- und Wiesenflächen um die neuentstehenden Städte herum Platz machten, flammte wie ein Gewitter das Erwachen des individuellen Lebens durch die Welt. Die Gotik entstand. In Bernhard von Clairvaux trat eine neue Art von Ordensgründern auf den Plan. Benediktus war als persönlicher Mensch noch ganz zurückgetreten: durch ihn wirkte eine große objektive Strömung von Weisheit und Güte. Bernhard ist der prophetisch-mächtige Erstling der persönlichen Frömmigkeit. Die Reform-Orden der Cluniazenser und Cisterzienser machen den Weg frei für die bald hervortretende in sich stark differenzierte Vielheit der Mönchsorden, unter denen Dominikaner und Franziskaner im Vordergrund stehen.
In der Zeit der Gotik mußte die Strömung des meditativen Lebens ein völlig neues Gepräge annehmen. Meditation wird zu einem Mittel der persönlichen Verinnerlichung und Ich-Findung. Insofern hat, was nach Bernhard von Clairvaux in den Mönchsorden lebendig ist, vielfach einen vorreformatorischen Charakter; es bereitet die neue Zeit vor. Als schließlich die Reformation Martin Luthers für den vorwärtsstürmenden Teil der Christenheit dem Mönchs- und Klosterleben ein Ende machte, löste sich die meditative Strömung, die bis dahin immer noch eine imposante Geschlossenheit bewahrt hatte, in die Vereinzelung des persönlichen und oftmals allzu-persönlichen Gebetslebens auf. Die Ordensgründung des Ignatius von Loyola, die durch ihr Exerzitienwesen ein überpersönliches meditatives Geistelement wiederherzustellen unternahm, war ausgesprochen gegenreformatorisch eingestellt. Sie lief Sturm gegen das individuelle Prinzip überhaupt, was nicht ohne Verneinung der persönlichen Freiheit auf religiösem Felde möglich war. Es ist wohl nicht ohne Bedeutung, daß Friedrich Rittelmeyer sich von Jugend auf unter allen Epochen der christlichen Geschichte besonders von der Zeit der Hohenstaufen angesprochen gefühlt hat. Innerlich knüpfte er an die meditative Strömung an, so wie sie zur Zeit der beginnenden Gotik, des Cluniazenserund des Cisterzienser-Ordens an dem großen Ich-Erwachen, an der Geburt der persönlich-christlichen Frömmigkeit, Anteil gewonnen hatte. Als ob damals, in den Jahrhunderten vor der Reformation, ein Strom versickert und unterirdisch weitergeflossen wäre, um in der Gegenwart wieder an die Oberfläche zu dringen und sich ein neues, unserer Zeit angemessenes Strombett zu suchen. Hier berühren wir etwas von der innersten Lebensmission, um deren Verwirklichung Friedrich Rittelmeyer rang. Auferstehender Mönchsernst von der reifen Höhe des Mittelalters lebt darin. An zwei Stellen konnte Dr. Rittelmeyer auf das wirksamste mit einem Kreise von Schicksalsgefährten an einer neuen Geist-Kultur bauen. Indem er in die Reihen der Schüler Rudolf Steiners trat, wurde er zu einem der gewichtigsten Vorkämpfer der Anthroposophie als einer umfassenden Weltanschauungs- und Erkenntnis-Erneuerungsbewegung. Indem er sich mit dem größtenteils aus viel jüngeren Menschen bestehenden Kreise derer zusammentat, die in dem priesterlichen Wirken der Christengemeinschaft um die neue Ära der christlichen Kirche über Katholizismus und Protestantismus hinaus ringen, trat er an die Spitze einer kultustragenden religiösen Erneuerungsbewegung. Den allerpersönlichsten Lebensimpuls, den er als führender Träger der meditativen Strömung in sich trug, hätte er nur dann voll auswirken können, wenn es heute möglich und sinnvoll wäre, einen religiösen Orden zu begründen. Mit diesem besonderen Impuls stand er sozusagen auf der Mitte zwischen den Aufgaben, die er auf der einen Seite als Anthroposoph, auf der anderen Seite als der Erste der neuen Priesterschaft zu erfüllen hatte.* * Wie Dr. Rittelmeyer selbst darauf bedacht war, diesem Meditationsbuch eine ganz freie eigene Aufgabe zuzuweisen, zeigen am besten die Stellen, an denen er den Lebensbereich desselben einerseits gegen den des in der Christengemeinschaft gepflegten Kultus und Gebetes, andererseits gegen den der esoterischen Schulung im Sinne des Buches „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ von Dr. Rudolf Steiner in deutlicher Unterscheidung abgrenzt.
Vielleicht wird es einmal ganz besonders zu seiner historischen Bedeutsamkeit gerechnet werden, daß sich in ihm die Meditationsströmung, wie sie dereinst bis zur Gotik hin durch die Mönchsorden geflossen ist, frei in das moderne Leben ausgegossen hat. Das ist die stille, aber ganz gewiß nicht unwichtige Aufgabe des Buches, das hiermit neu vor die Welt hintritt: es ist die Ordensregel eines nicht an organisatorische Formen gebundenen freien Kreises von Menschen, die einen johanneischen Weg zur persönlichen meditativen Verinnerlichung suchen. Lic. Emil Bock
VORWORT Die Menschheit wird heute überflutet von allen möglichen Ratschlägen zur Meditation. Darin drückt sich die elementare Empfindung aus, daß die Innenkraft des Menschen gestärkt werden muß, wenn er nicht der Außenwelt erliegen soll. Aber was da geboten wird, ist entweder äußerlich lebenspraktisch, ohne wirkliche Fühlung mit den Tiefen der Welt, oder es stammt wohl aus einer Geistigkeit, aber aus einer Geistigkeit, die den starken Willen zur Erde nicht in sich trägt. Was aus dem Westen kommt, besonders aus dem amerikanischen Westen, ist meist von der ersteren Art. Aber auch Coué gehört dazu. Was aus dem Osten kommt, besonders aus dem indischen Osten, zeigt die andere Art. Aber auch die Athosschwärmerei liegt in dieser Richtung. In der Mitte bietet sich vom Süden her eine Menschheitserziehung an, die wohl Geistwissen und Lebenspraxis verbindet, aber die Entwicklung der Neuzeit zu Erkenntnis und Freiheit nicht mitgemacht hat und den Menschen mit Vergangenheitskräften durchdringt: die Exerzitien der katholischen Kirche. Wie sehr sie heute begehrt werden, sei es in der jesuitischen Art oder in anderer ähnlicher Gestalt, darin offenbart sich wieder das Bedürfnis der heutigen Menschen. Was in diesem Buch versucht wird, ist von dem allen unterschieden. Es strebt in einer zeitgemäßen Art nach dem Christusgeist, der den „Himmel“ in sich hat, aber die Erde sucht. So will es die Gefahren aus Westen und Osten vermeiden, aber auch die Gefahr der Vergangenheit. Aus dem Johannesevangelium ist alles entnommen. Dadurch scheint es zunächst vielen fern, die noch nicht wissen, was sie im Johannesevangelium haben. Aber das ließ sich nicht vermeiden, wenn beste Hilfe geboten werden sollte. Und überall ist Rücksicht genommen auf die Menschen, die aus dem Heidentum der Gegenwart an diese Welt herankommen. Denn volle Wahrhaftigkeit und Freiheit sind die ersten Bedingungen, unter denen allein eine gegenwartsgemäße Geisteserziehung sich vollziehen darf. So hat es Rudolf Steiner gehalten, dem der Verfasser auf diesem Gebiet das Beste verdankt, der die größte Erfahrung in der Geistesentwicklung hatte, dem alles daran gelegen war, daß die europäische Mitte ihre Aufgabe zur rechten Zeit erkennt und erfüllt. Die nachfolgenden Betrachtungen sind zunächst als Briefe erschienen für Menschen, die solche Hilfe sich wünschten. Diese Briefgestalt wurde auch in der Buchausgabe nicht getilgt, weil in ihr der Charakter eines persönlichen Rates am besten zum Ausdruck kommt. Manchen Rat, den einer von Anfang an brauchte, findet er vielleicht erst in späteren Briefen. Die Inhaltsangabe kann ihm da Führer sein. – Die neue Auflage ist überarbeitet, doch wenig verändert.
Inhalt 1 Beweggrund zur Ausgabe der Briefe – Gefahr der Gegenwart und Zukunftsperspektive – Einzige Hilfe: stille Stunden der inneren Erkraftung – Grundbedingungen – Rudolf Steiner und die verschiedenen Arten der von ihm gegebenen Meditationen – Meditation und Kultus – Beispiel einer Meditation – Innerer Gang des Meditierens 2 Kloster und Tempel im Innern – Meditation und Selbstsuggestion – Körperhaltung – Übung zur Erlangung von Geistesruhe – Einschlafen und Sternenhimmel – Ähnliche Übungen – Ruhe im Alltagsbetrieb – Religiöser Friede – Morgen und Abend – Innere Kommunion – Organismus von Übungen 3 Meditation und Gebet – Gebetserhörung – Meditierenlernen – Grundmeditation für Tag und Nacht – Das Ich – Bedeutung religiöser Bildwerke – Physische und geistige Speise – Kultisches Essen – Christliche Weltanschauung – Das Licht in der Geschichte der Menschheit – Äußere und innere Taten des Lichts 4 Häusliche Schwierigkeit der Meditation – Wirkung der Meditation auf das „Unbewußte“ – „Fürbitte“ – Einfluß auf das Schicksal anderer – Veredlung des Verkehrs – Ichlosigkeit und Selbstlosigkeit – Innere Führung – Das „höhere Ich“ – Welterkenntnis durch das Ich 5 Heiligung des Erkenntnisstrebens – Weihe der Zeit wie des Raums – Arbeit an der Zukunft, Vergangenheit, Gegenwart – Meditation und Lebenspraxis – Übertreibung des Meditierens – Tagesrückblick – Christliches Lebensgefühl – Ich-Krankheiten und ihre Heilung 6 Luther über die Meditation – Erziehung des Gefühlslebens – Läuterungsbedürftigkeit der christlichen Liebe – Die fünf Sinne – Das Ich als Gralsschale – Christlicher Friede – Christliche Heiligkeit – Schmerz und Weisheit – Der wahre Mensch – Grundhaltung zur Welt unter uns, um uns, über uns
7 Der Atem in der Meditation – Vegetarisches Leben – Das Sexuelle – Das Kreuz Christi als Meditationsinhalt – Der Zusammenhang mit dem Weltgeheimnis und mit dem Alltag – Höllenfahrt in Vergangenheit und Gegenwart – Die Finsternismächte – Liebe und Friede im kosmischen Sinn 8 Wirkung der Meditation auf den Körper – Konzentrationsübung – Die Erde als Grab – Das Erlebnis der Leibfreiheit – Das Bild des Auferstandenen in der Apokalypse – Heiligkeit im kosmischen Sinn – Himmelfahrt – innere Taufe 9 Willenserziehung – Gegenwirkung aus der Gegenwart – Hauptgedanken für Willensübungen – Manichäer und Magie – Grundeinstellung des Willens zur Welt – Bedingungen für das Wirken – Heilkräfte – Krankheit – Erhabenheit des Willens – Physische Grundlage der Willenskräfte 10 Willenserkrankungen – Askese – Exerzitien – Sport – Willenserstarkung von innen – Allerlei Arten des Willens – Das Böse – Seine Weltbedeutung und Überwindung – Der Blick für die Not – Die innere Kraft der Hilfe – Soziales Christentum 11 Mystik und Meditation – Das Meditieren im Neuen Testament – Das Reich der Schwäche – Furcht aller Art – Hilfe dagegen – Weltendunkel und Geistesblindheit – Auftun des Auges – Der Kampf des Lichtes gegen die Finsternis 12 Krönung der Willensübungen: Leben gegen Tod – Grab und Stein – Totenauferweckungen – Innere Vorbedingungen dazu – Auferweckung im Alltag – Verhältnis zu den Verstorbenen – Spiritistische Sitzungen – Zusammenfassende Ratschläge zur Willenserziehung – Charakter des Meditierens am Morgen, Mittag, Abend – Verteilung der Übungen auf die Jahreszeiten – Das Menschenbild
1. Brief Beweggrund zur Ausgabe der Briefe – Gefahr der Gegenwart und Zukunftsperspektive – Einzige Hilfe: stille Stunden der inneren Erkraftung – Grundbedingungen – Rudolf Steiner und die verschiedenen Arten der von ihm gegebenen Meditationen – Meditation und Kultus – Beispiel einer Meditation – Innerer Gang des Meditierens
Der erste dieser Briefe will zunächst klarlegen, was in der Absicht des Verfassers liegt. Das Motiv zur Ausgabe dieser Briefe ist die Überzeugung, daß die Menschheit in der Gegenwart in allergrößter Gefahr steht. Wir meinen nicht einen Giftgaskrieg, auch nicht eine allgemeine wirtschaftliche Katastrophe. Das alles mag drohen. Aber das Gegenwartsleben selbst hat solche Formen angenommen, daß die Menschheit auf dem Wege ist, den Menschen selbst zu verlieren. Wie wir heute Tag für Tag durch unseren Beruf in Anspruch genommen werden, besonders in den technischen Berufen, aber keineswegs bloß in ihnen, das ist das Zerstörende. Es droht, den Menschen in uns auszulöschen, das echte Menschentum unmöglich zu machen, die wahre Zukunft der Menschheit zu vernichten, ja das menschliche Leben selbst zu ertöten. Wenige Menschen sehen mit klaren Augen, wie sie eigentlich leben. Sie leben nicht, sie werden gelebt, durch den ganzen Tag hindurchgelebt von irgendwelcher unbekannten Macht, die über ihnen die Peitsche schwingt. Frühmorgens zu irgendeiner Stunde ruft der unerbittliche Wecker der Pflicht. Und dann jagt eine Pflicht die andere, und alle miteinander jagen den Menschen. Was ist das für eine Gewalt, die über uns Herr geworden ist? In jenen Jahren, als mein Leben selbst diesem modernen Leben am ähnlichsten war, hatte ich als protestantischer Vikar in Würzburg, neben den andern Pflichten der Predigt und Gemeindetätigkeit, sieben Jahre lang wöchentlich 22 Unterrichtsstunden zu geben. Es waren Religionsstunden, und ich war aus freiem Willen mit Begeisterung Diener der Religion geworden. Aber wie da Tag um Tag morgens die vier Religionsstunden herankamen und gehalten werden mußten, das war, um einem Menschen jede Freude auch an einem idealen Beruf auszurotten. Wollte man hier als Mensch immer mit der Seele dabei sein, so wurde man krank. Damals schwebte ein Bild über mir, das für viele Menschen der Gegenwart gelten mag. Ich sah, wie ich alle Tage einen Eisenpanzer anziehen und in ihm einhergehen mußte. Er trug mich auch bis zu einem gewissen Grad und schützte mich, aber er erdrückte den verborgenen, werdenden Menschen, der nach Leben rief. Wenn man heute oft ausspricht, daß der Mensch in Gefahr ist, Maschine zu werden, so nimmt man diese Gefahr noch lange nicht ernst genug. Die Maschine frißt sich von außen in uns hinein, zehrt uns auf und setzt sich an unsere Stelle. Dies gilt nicht nur für viele Alltagsberufe, sondern auch für höhere und höchste. Es gibt zum Beispiel ganz feine menschliche Präzisionsmaschinen. Man nennt sie Gelehrte.
Die Stunde, wo die Arbeit wirklich Freude und Leben ist – so hat einmal einer von ihnen bekannt –, sind auch bei ihnen selten. Forscherarbeit, wenn sie nach den strengsten Methoden getan wird, kann den Charakter des Mechanischen und Mechanisierenden annehmen und läßt dann dem freien Geistesspiel nur wenig Raum. Wie geht es erst den andern! Man kann das Maschinenhafte bei vielen Menschen, die im Arbeitsleben stehen, schon deutlich auf den Gesichtern sehen. Es sind geprägte, geformte Gesichter, in denen das Geistige wie in Schienen läuft. Nach dem leuchtend Lebendigen, nach dem unergründlich Menschlichen, nach dem sprießend Schöpferischen sucht man vergeblich. Die Tragik des Menschen im Maschinenzeitalter steht auf diesen Zügen wie mit sprechenden Buchstaben geschrieben. Redet man solchen Menschen zu, sie möchten sich doch auf jeden Fall irgendein persönliches Interessengebiet außerhalb ihres Berufes erhalten, so bekommt man die Antwort, wie sie mir einmal ein hochbegabter Ingenieur gegeben hat: Ja sehen Sie, das habe ich manchmal versucht; aber wenn ich dann abends nach Tisch ein Buch lese, dann fällt mir plötzlich ein, daß ich die neuesten technischen Zeitschriften noch nicht durchgesehen habe und daß meine Konkurrenten einen Vorsprung vor mir gewinnen, wenn ich nicht al1e meine Zeit und Kraft auf meinen Beruf verwende, – und dann lege ich das Buch wieder hin. So entstehen die Menschen, die in ihren freien Stunden überhaupt nichts Rechtes mehr mit sich anzufangen wissen. Außer dem Schlaf und der ganz blöden Ruhe ist nur die Sensation noch eine Erholung. Man sucht nach der Aufregung im Sport oder Sportbericht, man überläßt sich dem wechselnden Nervenkitzel des Kino, des Radio, der Revue, man liest Detektivgeschichten, man verfällt dem Spiel. Oft kann man von diesen Menschen den Eindruck haben, daß sie eigentlich Leichen sind, die nur durch künstliche Mittel noch einen Schein des Lebens erhalten. Das Wort der Menschenweihehandlung vom „ersterbenden Erdendasein“ ist zu dem überlebendigen Treiben der Gegenwart der grausame Wahrheitshintergrund. Hin und wieder macht man die Erfahrung, wie das unterdrückte Seelenleben an irgendeiner Stelle gewaltsam auspufft, als schaffe es sich selbst ein Ventil. Dann ergehen sich solche Menschen plötzlich in schwüler Mystik oder in kindischer Sentimentalität. Sie suchen spiritistische Sitzungen auf und genießen den Schauer. Sie flüchten sich in die Düsternis und Unergründlichkeit einer katholischen Kirche und überlassen sich dort ihrer Rührung. Sie lesen alberne Dichtungen und lernen sie auswendig. Sie schwelgen gefühlsmäßig Natur, ohne doch wirklich etwas von der Natur zu haben. Dies alles mag übertrieben erscheinen. Und es ist auch übertrieben, wenn man die volle Breite des Lebens ansieht. Aber es ist nicht übertrieben, mit keinem Wort übertrieben, wenn man die innere Tendenz dieses Lebens ins Auge faßt. Wofür hat man, wenn man dreißig Jahre lang mit allen möglichen Menschenschicksalen intim zu tun hatte, seine Erlebnisse, wenn man sie nicht zum Nutzen anderer Menschen ausspricht?
So sei es geradeheraus ausgesprochen: oft kann man hinter alle dem die Geisteskrankheit deutlich heraufkommen sehen. Nicht nur den Seelentod, wie ihn Nietzsche in seinem Zarathustra am „letzten Menschen“ schildert, sondern die dämonische Verrücktheit. Von dem allen soll hier nur andeutungsweise gesprochen werden. Mag jeder sehen, welche Illustrationen ihm das Leben dazu bringt. Aber nur wenn wir für die Gefahren des Gegenwartslebens – auch bei uns selbst – klare Augen haben, wird das Bemühen, stille Stunden der inneren Erkraftung in dies Leben hineinzubauen, nicht bloß ein egoistisches Streben sein oder eine persönliche Liebhaberei, sondern eine Tat der Verantwortung für das Leben, eine Hilfe für das bedrohte Menschentum, ein Erlöserwerk an uns selbst und an der Menschheit. Man möchte sich für den Inhalt dieser Briefe Leser wünschen, die von der Empfindung durchdrungen sind: der Mensch ist verloren, wenn es nicht gelingt, ihm von innen her neue Stärke zuzuführen, damit er der äußeren Gewalt nicht erliegt. Viele Menschen fühlen heute, daß eine neue Geistigkeit kommen muß, wenn der Mensch aus der Gegenwart heraus die Welt verstehen und zu den Rätseln des Daseins vordringen soll. Man sucht diese neue Geistigkeit auch bald hier, bald da, nur selten dort, wo sie wirklich zu finden ist. Aber auch eine neue Innenerziehung ist notwendig, wenn die Menschheit gerettet und einer starken Zukunft entgegengeführt werden soll. In früheren Jahrhunderten hatten die Menschen in der religiösen Weltanschauung, in dem regelmäßigen Kultus, in den alten Geistigkeiten, die noch in den Berufen walteten, in der Geschütztheit des Familienlebens vieles, was sie hielt und trug. Dies alles ist heute im Zerbröckeln und Zusammenbrechen. Damals war auch der Mechanismus des Berufs noch nicht so tyrannisch und tötend, außer in der untersten Arbeiterschicht, die dumpf dahinvegetierte. Nur wenn heute die Menschen ihre Selbsterziehung und Selbsterkraftung während ihres ganzen Lebens energisch und bewußt in die Hand nehmen, werden sie der drohenden Weltgefahr gewachsen sein. Was hier zur Hilfe geboten wird, das wird aus dem Zentral-Religiösen dargereicht. Hier ist eben die stärkste Quelle aller Kraft. Aber niemand lasse sich fernhalten, dem die Wahrheiten, von denen aus hier geredet und geholfen wird, für den Augenblick noch nicht innerlich zugänglich sind und darum auch noch nicht unmittelbar anwendbar. Er möge sich zu eigen machen, was ihm gemäß ist. Alles, was dem Inhalt nach hier vorgeschlagen wird, mag man nur als Beispiel betrachten. Und man mag sich den Inhalt, der dem eigenen Geist entspricht, aus Goethe suchen oder wo man will. Alles, was der Form nach hier vorgetragen wird, kann dennoch dienlich sein. Zwei Bedingungen – das sei zu Anfang für immer ausgesprochen – wollen jedenfalls erfüllt sein, wenn diese Ratschläge wirklich zum Segen werden sollen: Wahrhaftigkeit und Freiheit. Nur was man vor seiner eigenen Wahrhaftigkeit verantworten kann, soll man auf sich wirken lassen. Das schließt nicht aus, daß man probeweise und unter allem Vorbehalt einem Gedanken oder einer Wahrheit innerlich nähertritt. Aber das Bewußtsein, daß hier ein Versuch gemacht wird, darf uns dann nicht verlassen.
Alles, was wir auf dem Wege der Suggestion, auch der Selbstsuggestion, in uns einlassen, würde verheerend wirken. Es ist im Grund Diebstahl, auf den die Strafe folgt. Das andere Erfordernis aber ist, daß man in voller Freiheit das Dargebotene persönlich sich erarbeitet. Gewiß handelt es sich um Ratschläge, die aus der Erfahrung stammen. Aber die Erfahrungen anderer können uns die eigene Erfahrung wohl erleichtern, aber nicht ersetzen. Wer uns vorangegangen ist, kann uns erzählen, daß in dieser Richtung ein Weg geht und wohin er führt. Aber das entbindet uns nicht von der Pflicht, selbst auf den Weg zu achten und ihn unter Umständen für uns zu ändern. Je freier geübt wird, was hier empfohlen werden soll, umso mehr wird es zum Gewinn sein. Selbst dort, wo man es dem vollen Wortlaut nach zu befolgen vermag, sollte die Empfindung der reinsten Freiheit in jedem Augenblick in uns erhalten bleiben. Das Beste auf dem Gebiet, das hier betreten werden soll, verdanke ich meinem Lehrer Rudolf Steiner. Aber es ist doch nicht so, daß ich erst durch Rudolf Steiner den Wert der inneren Arbeit an sich selbst, die Bedeutung auch der Meditation erfahren hätte. Wie ich zuerst zur Meditation kam, sei hier eingehender erzählt, weil daran wohl manches zu lernen ist. Als Gymnasiast und Student hatte ich oft in der Nacht Anfälle von unbändigem Herzklopfen. Ich wußte nicht aus und ein. Obwohl mir klar war, daß nichts Lebensgefährliches vorliegt, war ich doch in einem solchen Zustand der Lebensangst, als ob ich vergehen müßte. Einen Arzt fragte ich nicht, sondern suchte selbst nach einem Mittel, mit diesen Zuständen fertig zu werden. Da half mir der Entschluß, in solchen Stunden irgendeinen harmlos fröhlichen Lebenstag an mir vorüberziehen zu lassen. Nur wenn es konsequent und ohne Abschweifung gelang, immer mit dem Blick auf die frohe Grundstimmung des Tages, hatte es vollen Erfolg. „Jetzt stehst du auf, jetzt gehst du an den Waschtisch, jetzt nimmst du den Schwamm in die Hand ... Jetzt gehst du ins andere Zimmer, jetzt nimmst du den Stuhl aus der Ecke und stellst ihn an den Tisch, jetzt setzt du dich darauf“ usw. usw. Nach einer guten halben Stunde war die Herrschaft über den Körper wiedergewonnen, und ich konnte einschlafen. Ähnlich habe ich mir später in Seelenzuständen geholfen, die man als Schwermutsanfälle bezeichnen könnte. Ganz konsequent wurde ein Erlebnis in allen Einzelheiten durchgedacht oder nacherlebt, bis man fühlte, daß der Boden im Gemütsleben nicht mehr schwankend war, sondern wieder trug. Diese Beispiele mögen zeigen, wie man selbst in Fällen, für die mancher Arzt nur ein Beruhigungsmittel oder einen Erholungsurlaub zur Hand hätte, sich aus dem Willen heraus durch rein geistige Möglichkeiten helfen kann. In wie vielen Krankheiten vermag man die Heilung herbeizuführen, wenn man es versteht, einen ruhigen, gleichmäßig heiteren Gemütszustand in sich hervorzurufen. Das Beispiel möge zugleich zeigen, daß es nicht immer ein weltentiefer Spruch zu sein braucht, den sich die Seele zum Inhalt macht. Dazu ist der Mensch in manchen Lagen gar nicht imstande. Eine harmlos anregende, vielleicht sogar recht gleichgültige Bilderfolge hilft hier oft viel besser. Man tastet sich von Bild zu Bild, wie wenn man sich Griff um Griff an einem Geländer vorwärts bewegt. Man achtet auf jeden Schritt, wie wenn man auf einem schmalen Weg geht und keine Zeit hat, um sich zu schauen.
Gelingt es nicht und ertappt man sich darüber, daß man in Gedanken abgeschweift ist, so ruft man sich, sowie man es bemerkt, auf den Weg zurück, ohne aufregende Ärgerlichkeit über sich selbst und die eigene Schwäche. Allmählich lernt man es. Durch Rudolf Steiner habe ich später erfahren, welchen Wert es hat, wenn der Mensch dahin kommt, sich selbst von außen zu sehen, wenn er täglich wenigstens einige Augenblicke darauf verwendet, sein Leben am vergangenen Tage von außen und oben zu betrachten, wie er sich dadurch auf den Lebensrückblick nach dem Tode vorbereitet. Nach Rudolf Steiners Angabe geschieht dies am besten so, daß der Mensch versucht, seinen Tagesablauf ganz oder teilweise rückwärts zu gehen, nicht weil man ein Geistesakrobat werden möchte, wie übelwollende Kritiker sagen, sondern weil man dadurch viel mehr in den inneren Gang seines Lebens hineinblickt, wie man auch nach dem Tode sein Leben nach rückwärts überschaut und prüfend noch einmal durchwandert. Damals wußte ich von dem allen noch nichts. Ich empfand nur das Lebenswohltätige und Geisterziehende einer solchen Betrachtungsart. Man lernt, seinen Geist in die Gewalt zu bekommen und fühlt sich wohl in der inneren Zucht, die man sich selbst angedeihen läßt. Als junger Theologe kam ich dann auf den Wert der religiösen Meditation, auf die Lebensbedeutung stiller Stunden. Was ich da erlebte und dann auch vielen Menschen immer wieder riet, davon steht einiges in der Predigt „Vom Alleinsein“ in dem Buch „Gott und die Seele“, das im Jahre 1906 erschien, lange vor meiner ersten Berührung mit Rudolf Steiner. Dennoch kam durch ihn in dies ganze Gebiet erst hellere Klarheit und zielbewußte Folgerichtigkeit. Die einfache Wahrhaftigkeit und Dankbarkeit fordern es, dies auszusprechen. Und in der Rückerinnerung ist es mir merkwürdig, wie Rudolf Steiner, ohne daß ich das geringste davon erzählt hätte, weder ihm noch anderen, von denen er es hätte hören können, gleich im ersten Gespräch von der Meditation zu sprechen begann und mir Ratschläge gab. Damit keine Mißverständnisse oder Unklarheiten entstehen, muß indessen deutlich unterschieden werden zwischen dem, was Rudolf Steiner auf diesem Gebiet tun und raten konnte, und dem, was hier möglich ist. Es sind ja so viele verkehrte Vorstellungen über Rudolf Steiner und seine Übungen verbreitet, daß ein Wort darüber vielen willkommen sein wird. So viel ich beobachten konnte, gab er in etwa siebenfacher Art Meditationen: 1. Er empfahl Menschen, die zu ihm kamen, irgendeinen Spruch oder eine Spruchfolge zu meditieren, die der Bibel entnommen war. So hat er viele auf den Anfang des Johannesevangeliums hingewiesen. In Vorträgen, die er schon bald nach Beginn seiner Wirksamkeit hielt, sprach er aus: wenn jemand die ersten fünf Verse des Johannesevangeliums regelmäßig täglich morgens nur etwa fünf Minuten lang ernsthaft in der Seele da sein läßt, so wird sich im Lauf einiger Jahre sein ganzes Seelenleben verwandeln. Soweit meine Kenntnis reicht, waren es Menschen, die noch religiöse Möglichkeiten in sich hatten, denen diese und ähnliche Meditationen gegeben wurden. Besonders auch Russen wies Rudolf Steiner in diese Richtung.
Die ersten mächtigen Sätze des Johannesevangeliums können vor allem dazu dienen, dem Menschen eine gewisse Größe des Lebens, eine überpersönliche Weltentiefe, einen weiten Lebensatem, einen einheitlichen großen Lebensstil zu geben. Dies ist in der verwirrenden Fülle der Einzelheiten des Lebens eine hohe Wohltat. 2. Rudolf Steiner gab allgemeine Meditationen, wie sie etwa in seinen Wahrspruchworten veröffentlicht sind oder wie sie in seinen Mysteriendramen sich finden. Sie wenden sich mehr an Menschen, die aus dem Gegenwartsleben kommen, setzen nicht wie die Meditationen aus dem Johannesevangelium eine innere Beziehung zur Bibel voraus, führen aber immer in zentrale Tiefen. Bei allen von ihm gegebenen Sprüchen legte Rudolf Steiner großes Gewicht auf Laut und Rhythmus, auf Gedankenfolge und Wortfolge und betonte, daß nichts in der Gestaltung solcher Sprüche bedeutungslos sei. Viele dieser Sprüche, die mehr den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft gegeben wurden, setzen schon die Bekanntschaft mit den Wahrheiten der Geisteswissenschaft voraus. Andere Sprüche beziehen sich auf einzelne Lebensumstände und Verhältnisse, wie auf die Beziehung zu den Verstorbenen, zu den Kindern, zu den Kranken, zu den draußen Kämpfenden, zur Mahlzeit usf. Andere Meditationssprüche wurden besonderen Ständen gegeben. 3. Rudolf Steiner gab in großer Anzahl einzelnen Menschen Meditationen, die eigens für diese Menschen verfaßt worden waren. Diese Sprüche werden allermeist vermutlich niemals bekannt werden. Denn die Empfangenden bewahren sie als ein ihnen persönlich vermeintes und anvertrautes Lebensgut. Wenn man in die Welt dieser Ratschläge gelegentlich einen Einblick erhält, so ist man erstaunt über die große Fülle und Mannigfaltigkeit, über die individuelle Genauigkeit und liebende Fürsorge, die hier den Menschen zuteil wurde. 4. Handelte es sich bisher immer noch um Wesensbildung, so gab Rudolf Steiner auch Anweisungen, wie der Mensch im Sinn der Menschheitszukunft an seinem eigenen Geistwerden arbeiten kann. Solche Ratschläge finden sich öffentlich in dem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ und in der „Geheimwissenschaft im Umriß“. Zu ihnen gehören die sogenannten Vorübungen für Gedankenkontrolle, Gefühlszucht, Willensbildung usf. (Geheimwissenschaft 1925). Zu ihnen auch die Rosenkreuz-Meditation in der „Geheimwissenschaft“. 5. Im letzten Jahre seiner Wirksamkeit war Rudolf Steiner an der „Freien Hochschule für Geisteswissenschaft“ zu Dornach in besonderer Weise tätig für einen schon bewährten Kreis von Anthroposophen. Das Ziel dieser Wirksamkeit war, die Geburt des Geistesmenschen im Sinn des michaelischen Zeitalters zu fördern.
6. Wenn Rudolf Steiner einzelne Menschen auf Grund ihrer Begabung und ihres Schicksals für geeignet hielt, näher an die Offenbarungen der Geisteswelt herangeführt zu werden, so gab er ihnen Geistesübungen, die miteinander ein genaues System bildeten, das diesem einzelnen Menschen angepaßt war. Wenn hier überhaupt davon gesprochen wird, so geschieht es nur, um gegenüber allen Verdrehungen und Verleumdungen ein Doppeltes festzustellen. Diese Übungen enthalten keine anderen Geheimnisse, als sie von Rudolf Steiner in seinen Vorträgen und Schriften öffentlich vertreten worden sind. Sie schonen aufs strengste die innere Freiheit des Menschen und wollten nach Rudolf Steiners ausdrücklichem Willen immer ganz frei angeeignet und persönlich verarbeitet werden. 7. Zur unmittelbaren Entwicklung der in dem Buch „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ geschilderten höheren Erkenntnisorgane hat Rudolf Steiner nur ganz selten und nur unter strengen moralischen Voraussetzungen einigen wenigen Menschen Ratschläge gegeben. Auch von diesen Ratschlägen gilt das im vorigen Absatz Gesagte im vollen Umfang. Diese Menschen sind zwar nicht entfernt so weit gekommen, daß sie Rudolf Steiner in allem seinem Forschen nachprüfen könnten. Sie haben wohl ohne Ausnahme erlebt, daß der Weg länger und strenger ist, als sie selbst zu Beginn gedacht hatten. Aber unter ihnen und neben ihnen gibt es doch nicht wenige Anthroposophen, die auf den verschiedensten Gebieten Anfänge von Erfahrungen gemacht haben und mit Recht sagen können: die Welt, von der Rudolf Steiner erzählt, gibt es; wir wissen aus eigenen Eindrücken, in wie hohem Grad sich als Wahrheit erweist, was er gesagt hat; ein Beweis, daß hier von Suggestion und Autosuggestion keine Rede sein kann, ist gerade dies, daß wir sehr vieles trotz aller Mühe nicht erreicht haben, und daß das, was wir erreichten, immer anders war, als wir vorher erwarteten, – und daß es trotzdem Rudolf Steiners Mitteilungen bestätigte. Von den angeführten sieben Möglichkeiten der Meditation kann hier nur die erste in Betracht kommen. Wer für die übrigen Interesse hat, muß sich an die Anthroposophische Gesellschaft wenden oder an führende Anthroposophen. Übungen wie unter 3, 6, 7 genannt, können gewissenhafterweise nur gegeben werden, wenn die ganze Wesensart eines Menschen mit wirklichem Seherblick überschaut wird. Und nach Rudolf Steiners Tod lebt meines Wissens niemand, der dazu die Möglichkeit hat, auch selbstverständlich der Verfasser dieser Briefe nicht. Doch darf gesagt werden, daß die biblischen Meditationen, von denen hier gesprochen werden soll, den Menschen nicht nur moralisch erziehen, sondern ihn auf dem Weg zu aller Geisteszukunft viel weiter bringen können, als man vorher zu ahnen vermag. Auch wer nicht mit Seherblick auf die Menschen und auf sich selbst schaut, wird bald die Sicherheit gewinnen, daß er auf einem richtigen Geisteswege geht, wenn er den Winken dieser höchsten Menschheitsurkunde folgt.
Die Bibel ist der Menschheit von den göttlich führenden Mächten nicht zum flüchtigen Lesen gegeben, sondern zum innersten Verarbeiten. Sie enthält tatsächlich die Wege zu allen höchsten Höhen des Menschentums. Sie kann und sollte von der Menschheit in viel gründlicherer und zugleich freierer Weise zum Eigenleben gemacht werden, als in der Vergangenheit je geschehen ist. Dies wird hier versucht, indem für die Gestaltung der Meditation im Einzelnen die Anregungen und Erfahrungen Verwendung finden, die durch die Anthroposophie gewonnen sind. – Haben wir so unsre Arbeit unterschieden von der anthroposophischen Wirksamkeit Rudolf Steiners, so müssen wir sie auch noch in die rechte Beziehung setzen zur Tätigkeit der Christengemeinschaft. Das große Unternehmen der Christengemeinschaft eint die Menschen durch den gemeinsam gefeierten Kultus. Jeder ist ein vollberechtigtes Glied, der sich den christlichen Kultus irgendwie als Hilfe zum Leben dienen läßt. Sein inneres Leben mag er ganz anders gestalten, als es hier geschildert wird. In der Auswirkung der Menschenweihehandlung, im persönlichen Gebet, besonders im Vaterunser kann er alles finden, dessen er bedarf. Ist ja doch jeder selbst in der Art, wie er sich den Kultus beim Mitfeiern innerlich zu eigen macht, völlig in die eigene Freiheit gestellt. Was hier getan wird, geschieht also nicht offiziell von der Christengemeinschaft aus. Eben darum ist es auch möglich, daß an diesen Besprechungen Menschen Anteil nehmen, die mit dem Kultus Schwierigkeiten haben oder aus anderen Gründen der Christengemeinschaft organisatorisch nicht näher getreten sind. Für jeden, der sich für die innere Pflege seines Lebens eine Hilfe wünscht und der anhören will, was ihm in der Welt des Christentums dafür dargereicht wird, sind diese Briefe geschrieben. Es dient aber der Erkenntnis und dem Verständnis, wenn hier auf die inneren Zusammenhänge zwischen Meditation und Kultus hingewiesen wird. Man kann geradezu sagen: der Meditationsvorgang verläuft dann richtig, wenn der innere Weg dem Gang der Menschenweihehandlung ähnlich ist. Die Menschenweihehandlung kann neben allem anderen, was sie auch ist, angesehen werden als eine große gemeinsame Meditation, die nicht der bloß persönliche Mensch, sondern der Erdenmensch, nicht der isolierte Einzelmensch, sondern der Menschheitsmensch, nicht der subjektiv-egoistische Mensch, sondern der Christusmensch vollzieht. Umgekehrt kann die rechte Meditation verstanden werden als eine Weihehandlung, die nicht in der Außenwelt, sondern in der Innenwelt, nicht in der Gemeinschaft, sondern in der Einsamkeit, nicht im Priesterwort, sondern im Eigengedanken vollzogen wird. Jeder muß selbst entscheiden, was ihn am meisten fördert oder auch, wie ihm vielleicht das eine zum andern und das andere zum einen hilft. Sicher ist, daß der Blick auf die Menschenweihehandlung, auch auf ihre Einzelheiten, aber mehr noch auf ihren inneren Gang und ihre innere Haltung, hilfreichen Aufschluß gibt über eine rechte Gestaltung der Meditation. Der erste Versuch, eine Meditation zu empfehlen, oder sagen wir: der inneren Arbeit unserer stillen Stunden einen wirksamen Inhalt zu zeigen, sei hier im Anschluß an die vier Glieder der Menschenweihehandlung unternommen.
Wir wählen das Wort aus den Johannesbriefen, in dem sich das johanneische Christentum zusammenfassen läßt: Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Wir richten unser Augenmerk zunächst auf den ersten Satz: Gott ist die Liebe. Wem dies Wort noch nicht das volle Gewicht einer Wahrheit hat, der mag sich einen anderen ähnlichen Gedanken wählen, etwa den Satz: Die Liebe ist der Sinn der Erdenwelt, oder noch zurückhaltender: Reine Liebe ist ein Lebensziel des Menschen. Andererseits kann der, dem die Wahrheiten des Christentums die letzte Wirklichkeit aussprechen, sich das Wort noch dadurch verstärken, daß er es sich von Christus selbst gesprochen denkt: Ich bin die Liebe. Ist dieser Satz auch nicht im Wortlaut von Christus gesprochen worden, so ist er doch der Lebensinhalt, der aus ihm spricht. Unsre Absicht ist, daß ein solcher Geistesinhalt so stark wie irgend möglich eine Zeitlang in uns da sein möge. Da müssen wir zunächst lernen, über das bloße Herumdenken an einem solchen Wort hinauszukommen. Gerade der Gegenwartsmensch hat es damit allermeist recht schwer. Er fängt an zu reflektieren, wenn er meditieren soll. Vor lauter Gedanken kommt er nicht zum Geist. Oder wenn es ihm gelingt, die irrlichterierenden Gedanken abzustellen, so sinkt er in die Welt der bloßen Gefühle, schwelgt darin und nennt es Mystik. Beide Abirrungen müssen überwunden werden. Man kann es, wenn man eine gewisse innere Aktivität, über den bloßen Gedanken hinaus, entfaltet. Nur bei solcher inneren Aktivität wird es auch möglich werden, ein solches Wort eine Viertelstunde lang zu erleben, ohne daß man in ein totes Anstarren oder in ein dumpfes Hinbrüten hineingerät. Solange man nicht längere Zeit betrachtend auf einem Geistesinhalt verweilen kann, mag man ihn sich durch verschiedene Gedankenreihen immer neu beleben – wenn man nur den Hauptgedanken niemals aus der Blickrichtung verliert. Später kann man dann den Hauptgedanken oder Hauptinhalt dadurch festhalten, daß man sich einfach bemüht, ihn immer stärker werden zu lassen. Mancher wird vielleicht gut tun, um das Wort Liebe in der rechten Weise in sich zu beleben, zunächst in seiner Erinnerung zu suchen, wo ihm Liebe in reinster und höchster Art begegnet ist. Er blicke auf ein solches Erlebnis, indem er ganz auf das Wesen der Liebe, den Geist der Liebe schaut, der sich ihm offenbarte. Man braucht dann nicht immer die Empfindung, die dadurch in uns erweckt worden ist, bewußt festzuhalten. Aber man kann sich das Wort Liebe immer wieder von daher beleben, indem man für einen Augenblick zurückdenkt: so1ches Wesen, nur viel reiner, geistiger, vollkommener – ist Gott, ist Christus. Um genügend innerlich aktiv zu werden und doch nicht in bloße Gedanken sich zu verirren, mag man sich etwa vorste1len und nachzuempfinden suchen, wie dies Wort in der Seele des Jüngers Johannes als große Offenbarung aufleuchtet, wie es ihm belebt wird durch die Erinnerung an das, was er an Christus erlebt hat, wie es von ihm empfunden wird im Gegensatz zu der ganzen antiken Welt, die ihn umgibt. Solche Bemühungen werden dem Menschen sehr lieb werden.
Sie werden ihn über den Egoismus des üblichen Christentums hinausheben. Man erlebt die mächtige Gottesoffenbarung mit, so gut man kann, die damals in der Seele eines Menschen aufging. Natürlich, wenn wir uns dann plötzlich darüber ertappen, wie wir über das üppige Leben der römischen Kaiserzeit allerlei einzelne Leseerinnerungen in unserer Seele auf- und abfluten ließen, dann sind wir abgeirrt. Es gilt, immer auf das Zentrale zu schauen und eben dieses auf alle Weise zu beleben. Eine weitere, sehr wirkungsvolle Art, das Wort in uns stark werden zu lassen, kann auch die sein, daß wir uns vorstellen, dies Wort werde zu uns gesprochen aus allen Weiten der Welt, aus allen Tiefen des Himmels. In höheren und immer höheren Engelchören erklingt es. Es ist wie die verborgene Weltmusik, die, trotz aller Übel und Nöte, aus den göttlichen Reichen herniederklingt. Wir lauschen dieser Musik, bis sie unsere eigene Seele geworden ist. Wieder eine andere Art, sich dies Wort zu eigen zu machen, könnte darin bestehen, daß man sich das Ende der Erdenentwicklung vorstellt. Da ist eine Fülle von Menschen, denen dies Geheimnis aufgegangen ist, in denen dies Wort lebt als ihre eigene Seele. In ihnen schaut die erlöste Menschheit zum göttlichen Weltenvater auf und bringt ihm ihr Christusbekenntnis dar. Viel größere und bessere Menschen als wir sind da, aber auch wir sind unter ihnen. Wie im Spiegel dieser Menschenseelen schaut sich die Gottheit selber in Freude an. Menschen, die an der Tatsache einer weltentragenden göttlichen Liebe zweifeln, könnten dennoch ein solches Ende, ohne Sentimentalität, als Menschheitsziel in sich beleben. Man kann eine dieser drei Arten, das Wort groß und stark werden zu lassen, für sich wählen, wie sie jedem gerade liegt, oder man kann auch alle drei Arten nacheinander durch die Seele ziehen lassen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, und bei jedem Bild so lang verweilen, wie es zunächst ohne viel Abschweifen möglich ist. Alles bisher Gesagte entspricht dem ersten Geschehen in der Menschenweihehandlung: der Evangelienverkündigung. Die Hilfen, die wir vorschlagen und die ja auch auf andere Weise gewonnen werden können, sollen dazu dienen, uns vor dem Dumpf-Gefühlsmäßigen zu bewahren und uns zu einem geistigen Fühlen hinzuleiten. Die große Wahrheit im Hintergrund der Welt, die göttliche Liebe, soll möglichst zu einer Klarheit und Kraft gebracht werden, die ihrem Rang im Reich der Wahrheit gemäß ist. Man könnte nun auch an diesem Punkt stehenbleiben und sich nur um dies Erste bemühen. Dann würde alles andere unbewußt doch schon mitgeschehen. Soll aber die Meditation noch lebenswirksamer werden, so kann nun das Folgende vor sich gehen. Man behält nicht etwa irgendwelche Einzelheiten der Bilder in der Seele, sondern nur den einen großen Haupteindruck, den man so stark und so lang wie möglich in der Seele festzuhalten sucht. Aber man richtet sein Bemühen nun mehr nach innen, auf sich selbst. Auch hier werden wieder Bildvorstellungen helfen, um die innere Aktivität wach und lebendig zu erhalten.
Denn ohne innere Aktivität geht es nicht. Man stellt sich also dies Johanneswort vor wie ein lichtes Altarfeuer, das im Innern unserer Seele brennt. Unser ganzes Wesen kommt wie von allen Seiten herbei und opfert sich diesem göttlichen Feuer. Wir geben nacheinander unser Denken, unser Fühlen, unser Wollen diesem Feuer hin. Wir versuchen, so völlig in diesem göttlichen Feuer aufzugehen, als ob wir selbst nicht mehr da wären, und der ganze Raum, in dem wir gelebt haben, wäre von diesem göttlichen Feuer erfüllt. Dann wieder versuchen wir, mit unserem bewußten, reinen Ich in diesem göttlichen Feuer aufzuleben. Wir mühen uns darum, daß unser Ich nur noch in diesem Feuer glüht und leuchtet. So geben wir unser Ich an das Christusfeuer hin, versuchen zuzuhören, wie Christus selbst in uns spricht: Ich bin die Liebe, und versuchen ein neues Ich aus ihm zu gewinnen. Wir mühen uns, das ganze bisherige Leben hinter uns zu lassen, die Stimme des Christus in einer überirdisch göttlichen Welt zu hören, etwa wie er aus dem reinsten Liebesgeist heraus spricht: Niemand nimmt mir mein Leben; ich gebe es; diesen Auftrag habe ich von meinem Vater, daß ich mein Leben gebe für meine Brüder – und versuchen dann in diesem Geist ins Leben zurückzukehren. Wir versuchen dies Christus-erleuchtete Ich so stark werden zu lassen, daß es in drei Kreisen zunächst uns selbst, unser Wesen und Leben ganz durchglüht, dann den ganzen Menschenumkreis, in dem wir leben, und schließlich so weit wie möglich das ganze Weltall. Alle diese Bemühungen sind nicht etwa Versuche zur »Selbsterlösung“, wie immer wieder unverständigerweise behauptet wird, sondern nur Bemühungen, sich das anzueignen, was für uns da ist. Mit dem Ernst es sich anzueignen, wie er der Würde und Größe des Offenbarungsgeschenks entspricht. Richtiger: es sind nicht einmal Versuche, es sich anzueignen, sondern Versuche, dafür da zu sein und sich ihm wieder zu schenken. Der Mensch wird schon sehen, daß er eines nicht kann: sich opfern. Er wird immer besser begreifen, warum ein rechter Gottesdienst das Opfer als besonderes Geschehen in sich enthält, wie überhaupt der Mensch zum Opfern-können erst erzogen werden muß. Bis in alle Einzelheiten kann sich der Mensch hier auch für die Meditation Erleichterung und Kraft, Rat und Hilfe holen aus dem, was im zweiten Geschehen der Menschenweihehandlung, in der Opferung, geschieht. Er wird auch immer besser verstehen, wie Rudolf Steiner sagen kann, daß der göttlichen Welt gegenüber der Mensch, wenn er zu wirklichen Offenbarungen kommen will, Kräfte der inneren Hingebung entwickeln lernen muß, die er im gewöhnlichen Leben nicht annähernd nötig hat. Man mag die Hinweise, die hier gegeben werden, verwenden, wie man will: immer ist das Ziel dies, daß unser Ich von dem Geistesfeuer erfüllt wird, das nicht ein leidenschaftliches Flackern, sondern ein reinstes, wärmstes Wesenslicht ist, das aus den Urtiefen der Welt in uns aufstrahlt und aufglüht. Gelingt es, dies immer stärker zu tun, so wird der Mensch allerlei Entdeckungen machen. Er wird zum erstenmal wirklich entdecken, wie er eigentlich sein könnte und sollte – und wie er nicht ist.
Er wird erleben, wie weit er mit seinem ganzen Wesen von dem göttlichen Wesen entfernt ist. Er wird jetzt den Abstand zwischen Gott und dem Menschen deutlicher sehen und immer lebendiger fühlen. Dann weiß er, nicht aus der Geschichte und nicht aus irgendeiner Dogmatik, sondern aus immer stärkerer eigener Erfahrung, was Sündenfall ist. Er erlebt, wie nicht nur sein Geist noch gar nicht dauernd in dem Wort leben kann, sondern wie auch sein Leib und Leben sich wehrt gegen das bleibende Einwohnen einer solchen Wahrheit. Recht empfindlich bis in alle Glieder seines Leibes hinein kann der Mensch fühlen, daß er verdorben ist. Und doch hätte der Mensch ja dies Erlebnis gar nicht und könnte es nicht ertragen, wenn er nicht eine Macht in sich fühlte, die eben ganz anderer Art ist und die ihn verwandeln will und verwandeln kann. Aus einem solchen Wahrheitswort strömt die Kraft, die göttliche Schöpfermacht in uns ein, die aus uns einen anderen Menschen macht. Unerhört langsam geht es, daß nicht nur das Bewußtsein, sondern das Wesen wirklich anders wird. Man hat den Eindruck, als ob man nicht mit einem Meißel, sondern mit Wasser an einem Stein arbeitet. Aber der Mensch schaue nicht auf das, was er ist, sondern auf das, was er werden soll, dann spürt er Wandlung. Allmählich kommen auch Momente, wo er mit einem solchen Offenbarungswort wirklich eins wird. Für einen heiligen Augenblick wird das göttliche Wort selbst sein Leben. Er empfängt die Kommunion und kehrt durch sie wie durch eine Wunderspeisung gestärkt ins irdische Dasein zurück. Wir haben dann im Innern Wandlung und Kommunion erlebt, wie sie sich für die feiernde Gemeinde am A1tar vollziehen. Wenn wir nun noch das johanneische Wort, wie es uns überliefert ist, auf seinen eigenen inneren Gang hin ansehen, so können wir sagen: In dem Satz: „Gott ist die Liebe“ stehen wir mehr im ersten Geschehen der Menschenweihehandlung und der Meditation. Je mehr wir den Ton verlegen auf die zweite Hälfte des Satzes: „Gott ist die Liebe“, umso mehr werden wir in das zweite Geschehen hineingezogen: in die Opferung. Mit dem Satz: „Und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott“ können wir uns im dritten Geschehen fühlen, in der Wandlung. „Und Gott in ihm“, das ist die Kommunion. Kein äußerer Gedanke des Apostels hat daran gedacht. Aber solche Bibelworte sind oft nach einem inneren Gesetz aufgebaut, wie es eben auch dem rechten Kultus zugrunde liegt, und wie es in der Meditation als sachlich notwendig, richtig und wohltätig immer wieder erlebt wird. Mit dieser Meditation, oder sagen wir wieder: mit diesem Geistesinhalt stiller Stunden, der recht wohl auch als Gebet in der Seele da sein kann, haben wir den Grund gelegt zu einem ganzen Organismus innerer Übungen, durch die wir das johanneische Christentum in uns lebendig werden lassen.
Der Verfasser hat nur noch das Bedürfnis auszusprechen, daß diese Briefe dem Leser unfehlbar langatmig erscheinen müssen, wenn er nicht von Anfang an in innerer Aktivität an dem Anteil nimmt, was hier erstrebt wird. Man lasse sich durch Schwierigkeiten und Mißerfolge auf gar keine Weise abhalten oder irremachen. Nichts belohnt sich so unweigerlich wie alles, was in rechter Weise für das innere Leben geschieht. Ein Kreis von Menschen könnte sich bilden, die ernsthaft religiös an sich arbeiten, die einen Kern der Erneuerung bilden und die den großen Menschheitsgefahren der Gegenwart vom Allerinnersten her entgegenarbeiten. –
2. Brief Kloster und Tempel im Innern – Meditation und Selbstsuggestion – Körperhaltung – Übung zur Erlangung von Geistesruhe – Einschlafen und Sternenhimmel – Ähnliche Übungen – Ruhe im Alltagsbetrieb – Religiöser Friede – Morgen und Abend – Innere Kommunion – Organismus von Übungen
Als Franziskus Abschied nahm von dem Berg Alverno, auf dem er die Wundenmale empfangen hatte, sandte er einen letzten Blick zu der heiligen Höhe. Er kniete nieder und sprach: „Gott behüte dich, du Berg Gottes, heiliger Berg; mons coagulatus, mons pinguis, mons in quo bene placitum est Deo habitare; lebe wohl, Berg Alvernus, Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist segne dich; Frieden mit dir, denn nimmer sehen wir uns wieder.“ Wer die Seele solcher Worte spürt, der kann fühlen, was die stille Stätte des Gebets in der Seele des Franziskus bedeutete – und was dem Gegenwartsmenschen fehlt. Wo hat der Gegenwartsmensch seinen Berg der Anbetung? Ein Natureindruck auf einsamer Bergeshöhe im Sonnenaufgang ist die letzte, ersterbend flüsternde Erinnerung an das, was vergangene Menschen in ihrer Höhenwelt erfuhren. Was aus solchen Worten des Franziskus klingt, müssen wir wiedergewinnen, wenn nicht Allerbestes aus der Menschheit entschwinden soll. Solovieff redet einmal von dem „inneren Athos“, den jeder Mensch haben müsse. Der Geist Rußlands blickt in ihm zurück auf den geweihten Berg in Griechenland, von dem so viel Segen über Rußland geströmt ist. Aber Solovieff weiß auch, daß die Vergangenheit nicht wiederkehrt. Der Mensch der Gegenwart muß sein Kloster in sich selber gründen. Dies gilt in einem sehr viel umfassenderen Sinn, als man ahnt. Die Klostersehnsucht vieler Menschen kommt aus tiefen Gründen. Würden wir aber in den katholischen Klöstern Zuflucht suchen, so würden wir eine andere Welt finden, als wir erwartet, eine Welt, in der wir nicht mehr heimisch werden können. Auch in den besten Fällen würden wir uns eingestehen, daß unsere Sehnsucht etwas anderes gewollt hat, als wir hier finden. In der protestantischen Kirche aber ist der Aufruf zur Gründung von evangelischen Klöstern – außer in der halbkatholischen anglikanischen Welt – mehr als einmal ungehört verhallt. Er war im Grund ein Mißverständnis. Der Ruf nach dem Kloster ist aus innerer Not geboren. Aber er meint etwas anderes, als was die Menschen selbst denken. Er ruft im Grund nach dem, was hier versucht wird. Was hier geschieht, ist eine Ordensstiftung. Nur hat jeder sein Kloster in sich selber zu bauen: aus der Freiheit in der Einsamkeit. Die Menschen, die zu solchem Orden gehören, mögen wohl auch einmal zusammenkommen oder miteinander sich besprechen. Aber das Wichtigste geschieht im Alleinsein. Alle Klöster der Vergangenheit sind Weissagungen auf das, was in der Seele zu geschehen hat.
Aber gehen wir vom katholischen Bild zurück zum biblischen Bild. Christus im Johannesevangelium, als ihn das samaritische Weib hinweist auf den Berg Garizim und sein Heiligtum, spricht die Zukunft tragenden Worte: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten!“ „Gott will haben, die ihn also anbeten.“ Der Berg, von dem Christus hier spricht, ist im Innern und wird von ihm „der Geist“ genannt. Der Tempel, von dem er redet, ist unsichtbar, steht nicht an einem Erdenort und wird von ihm „die Wahrheit“ genannt. Der Berg des Geistes, auf dem der Tempel der Wahrheit steht, wird von uns gesucht. Ihn wollen wir als „inneren Athos“ in uns aufbauen, als „heiligen Berg Alverno“. Und wenn wir zu den Menschen gehen und an unser Tagewerk, dann wollen wir „vom Berg herabkommen“. Die Jünger Christi, als einmal Christus vom Berge kam, umglänzt von der Herrlichkeit, in der er dort gewohnt, baten ihn: „Herr, lehre uns beten“ – so beten, wie du beten kannst! Wenn wir in den Menschen die Sehnsucht erwecken können nach dem Tempelberg, von dem wir unsere Kraft holen, dann werden wir die Heiler unserer Zeit. Rudolf Steiner hat einmal gesagt, wenn es noch einige Jahrzehnte so weitergehe mit dem gehetzten äußeren Leben der Menschen, dann würden die Kinder schon zitternd geboren. Solche Worte können uns den Ernst der Mission, die wir haben an unserer Zeit und an uns selber, eindringlichst in die Seele prägen. Die „Wahrheit“, von der Christus redet, ist ein großes Reich, das wir erst zu entdecken haben. Man kann es nur finden, wenn man die Eigenschaft hat, die ihm entspricht, das ist die „Wahrhaftigkeit“. Suggeriert man sich einen Gedanken, zu dem man innerlich kein Recht hat, so nimmt man ein Element der Zerstörung in seine Seele auf. Darum ist so irreführend, wenn Coue den Menschen zu der Meditation raten kann. „Es geht mir von Tag zu Tag in jeder Hinsicht besser und besser.“ Gewiß kann man mit solcher Meditation etwas erreichen. Wie man auch dadurch vielfach Heilung bewirkt, daß man eine Krankheit einfach ignoriert, oder daß man in Kreisen der Scientisten die Krankheit in der Menschheit überhaupt nicht als vorhanden behandelt. Dennoch ist hier schon der Ansatz falsch und gefährlich. Und der nicht vollwahre Anschluß an die Wirklichkeit muß irgendwie und irgendwo zu Rückschlägen führen. Es wäre schon besser zu meditieren: Ich wünsche, daß es mir besser geht. Oder: Ich will, daß die Krankheit überwunden wird. Dann wäre nur zu fragen, ob eine solche Einstellung auf das körperliche Befinden und die körperliche Gesundheit nicht doch tiefere Zusammenhänge der Wirklichkeit übersieht und Geister des Egoismus und des Materialismus in das innere Leben hereinbittet, die zwar gegen das Augenblicksübel helfen, aber schlimmen Lohn fordern. Wir haben das Recht, uns jeder Krankheit zu erwehren. Aber eine wahre Einsicht weiß auch, daß jede Krankheit ihren Segen ins Haus bringen will, seelisch und, wie die anthroposophische Wissenschaft eingehend zeigt, auch körperlich. Ohne daß ihr zugleich ihr Segen abgerungen wird, sollte keine Krankheit von uns gelassen werden. Man könnte geradezu auf sie das alte Wort anwenden: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
Was hier erstrebt wird, trägt auch die körperliche Gesundheit in sich. Aber sie wird vom Gesundwerden der Seele aus über den Körper verbreitet. Dieses Gefühl des Gesundwerdens sollte sich nach jeder richtigen Meditation einstellen. „Durch dein Wort wird meine Seele gesund“, sagt die Menschenweihehandlung. Von mir müßte ich bekennen, daß ich gar nicht richtig gewußt habe, was Gesundheit heißt, bis ich es durch die Meditation erfahren habe. Ein Urgefühl von Gesundheit durchdringt Seele und Leib. Mancher mag meinen, er kenne dies Gefühl von einem tüchtigen Gebirgsmarsch oder einer kräftigen Sportübung her. Das hier geschilderte Lebensgefühl ist ähnlich, nur viel geistiger. Und auf diesem Wege fühlt man sich sicher und kommt auf die Dauer weiter, als wenn man sich eine Einzelkrankheit absuggeriert. Von solchen falschen Ratschlägen her haben viele Menschen die Meinung, jede Meditation sei Selbstsuggestion. Sie ist es nicht mehr und nicht weniger, als wenn ein Mensch sich vornimmt, seinen Zorn zu beherrschen oder einen Schmerz zu ertragen oder gegen einen andern Menschen anständig zu sein. Mit dem Vorwurf der Autosuggestion kann man den Menschen jede Willensanstrengung verdächtig machen. Ja man könnte jeden Einfluß eines Lehrers und Erziehers auf die Kinder verbieten, weil das Suggestion sei. In Wirklichkeit kommt es darauf an, ob das, was man in seiner Seele zur Herrschaft bringen will, eine Wahrheit ist oder auch ein Ideal, das man eingesehen hat und sich zum dauernden Eigentum machen darf. Zum Wesen der Suggestion und Autosuggestion gehört gerade das Unwahre, das man sich und andern einreden will, oder doch mindestens das Unrechtmäßige im Blick auf die Freiheit des andern. Durch solche Verwirrung der Begriffe bringt man es dahin, daß die Menschen sich nicht getrauen, ihren Willen gegen ihr Wesen anzuwenden, in dem geschichtlichen Augenblick, wo alles darauf ankommt, daß sie eben dies lernen, um Menschen zu bleiben und Menschen erst zu werden. Von den Seelenanstrengungen, die hier empfohlen werden, kann nur immer wieder gesagt werden, daß sie allein im Land der Wahrheit und der Freiheit vollbracht werden sollen. Dort aber kann der stärkste Wille keinen Schaden bringen und wird nur ein wohltätiger Helfer sein. Damit man an Übungen, die jeder mitzumachen vermag, der von außen herankommt, zuerst einmal den Wert der inneren Beschäftigung mit sich selbst erfahren kann, sei hier noch von einer solchen Anfangsübung ausführlich gesprochen. Aber vorher ist es gut, auf eine Frage Antwort zu geben, die von Anfängern oft gestellt wird: welche körperliche Haltung wohl für die Meditation die beste ist. Gewiß ist die körperliche Haltung nicht bedeutungslos. Und vom Körper her, darüber werden wir später noch genauer sprechen, kommen schon Schwierigkeiten. Der östliche Mensch brachte seinen Körper dadurch zur Ruhe, daß er die Beine übereinanderschlug und sich drauf setzte. Aber abgesehen davon, daß uns diese Lage körperlich ungewohnt und schwer möglich wäre, scheidet sie auch den Menschen ab von gewissen feinen Strömungen, die von der Erde in den Leib eingehen.
Durch solche Körperhaltung unterstützt der östliche Mensch das Hinwegstreben von der Erde, das ja auch der Inhalt seiner Meditation ist und der Geist seiner Weltanschauung. Gerade das Gegenteil ungefähr sehen wir vor uns, wenn der abendländische Mensch Jahrhunderte hindurch auf den Knien gebetet hat. In dieser Körperstellung ist der Mensch äußerlich der Erde näher, aber er nimmt auch die Erdeinflüsse, natürlich ganz zart und unbewußt, mit größerer Stärke in sich auf. Umso mehr geschieht dies, als wir wohl empfinden können, wie die Füße viel mehr eigene Geistigkeit haben als die Knie. Wir fühlen sie ja auch viel lebendiger. Darum verbinden wir uns noch unmittelbarer mit dem, was aus der Erde aufströmt, wenn wir knien. Auch durch das kniende Beten wurde die Erdenmission des Abendlandes vorbereitet und gefördert. Und welches ist nun unsere Haltung? Für uns ist es nicht das Richtige, uns von irgendwelcher undurchschauten Naturgeistigkeit unterstützen zu lassen, sondern die höhere Welt zu suchen aus dem klaren Bewußtsein und aus dem freien Willen heraus. Darum gibt es für uns körperlich nur eine Regel: das natürliche körperliche Dasein soll uns möglichst wenig stören. Die Lage, in der sich unser Geist möglichst ungehindert fühlt, ist für uns die beste. Man kann das nur persönlich ausprobieren. Der eine braucht größere Bequemlichkeit – die den andern zum Einschlafen brächte. Dem andern ist größere Straffheit gut, durch die der erstere gerade abgelenkt würde. Man kann als Regel nur sagen: so viel Bequemlichkeit als ohne Faulheit möglich ist. – Die Meditation, von der wir nun sprechen wollen, dient dem Erreichen der Geistesruhe. Sie ist so beschaffen, daß sie dem Gegenwartsmenschen in seinem gehetzten Leben besonders wohl tut, und daß sie zugleich zeigt, wie man von ganz Einfachem aufsteigend zum Höchsten emporsteigen kann. Wir wenden uns einfach dem Wort „Ruhe“ zu. In einer Zeit, wo das stille Einsiedlerleben ohnedies üblich ist, würden wir nicht gut tun, es zu wählen. Aber im Zeitalter der ewigen Eile kann es Ungezählten eine seltene Wohltat für Leib und Seele werden, in diesem Wort Ruhe erst einmal heimisch zu werden. Wieder muß uns der Schatz von Erinnerungen zu Hilfe kommen, den wir in unserem Gedächtnis mit uns tragen. Wo in meinem vergangenen Leben habe ich am stärksten erlebt, was Ruhe ist? Ein stiller Abend im Wald fällt uns ein. Wir saßen auf einer Bank am See. Mit friedlichem Plaudern spielten die Wasser zu unseren Füßen. Kaum merkbar sich wiegend rauschten die Bäume im Abendwind. Dämmerung breitete sich wie ein hüllendes Gewand über das Land. Wir hatten an diesem Tag ein vollgerütteltes Maß von Arbeit getan. Nun war Feierabend. – Je lebendiger und konkreter das Bild ist, umso besser. Haben wir das Bild zu starkem Leben gebracht, dann tilgen wir das Bild und behalten nur die Empfindung zurück: die Empfindung einer großen, wohltuenden, alles erfüllenden Ruhe.
Was dem einen Menschen der Abend im Wald ist, das wird dem andern Menschen der Eindruck der hohen Berge im ewigen Schnee sein, wie er sie auf einer Wanderung ganz plötzlich in der Ferne vor sich sah: eine unergründliche Mahnung aus einer höheren Welt. Und wieder einem andern wird es der nächtliche Sternenhimmel sein, vielleicht wie er ihn beim Heraustreten aus einer erregten Versammlung oder aus einer lebhaften Gesellschaft besonders eindrucksvoll erlebte. Mancher mag auch an dem Abendlied Goethes „Über allen Gipfeln ist Ruh“ ein ähnliches Erlebnis gehabt haben oder an den Nachtliedern von Mörike, Hebbel, Novalis. Immer gilt es, alles einzelne der Erinnerung nur als Hilfe dienen zu lassen, um zum Gefühl der großen Ruhe zu kommen. So mächtig wie nur möglich sollte diese Ruhe empfunden werden. Man mag sich in solchen Fällen sagen: Du empfindest nun diese Ruhe so stark, es gibt aber gewiß Menschen, die sie noch zehnmal stärker empfinden als du. Nicht nur gilt es, in dieser Meditation, die etwa fünf bis fünfzehn Minuten dauern mag, immerfort möglichst bewußt diese Ruhe festzuhalten, gleichsam immerfort innerlich zu ihr Ja zu sagen, sondern es gilt auch, sie womöglich immer stärker werden zu lassen. Und den ganzen Körper mit ihr auszufüllen, gleichsam den Körper mit ihr auszugießen. Man kann auch, um innerlich aktiv zu bleiben, seine einzelnen Glieder nacheinander zur Ruhe bringen. Man wird dann erst merken, wieviel Krampf in den Gliedern ist, in den Händen, in den Füßen, im Gehirn, in den Halsmuskeln, die den Kopf tragen. Man schaut dann der Ruhe zu wie einem Trank, der durch alle Reiche des Leibes rinnt. Gewiß wird mancher sagen: Dabei schlafe ich ein. Und ist es so schlimm, wenn man ein Schlafmittel hat? Mancher, der schwer zum Schlaf kommt, mag sich diese Meditation dazu dienen lassen. Er entspannt sich in ihr. Er geht wie ein Wächter in seinem Körperhaus umher und sieht, was nicht schlafen will, und bringt es zur Ruhe. Namentlich dort, wo der Kopf mit dem übrigen Leib zusammenhängt, wird er gut tun, nach dem Rechten zu sehen, damit der Kopf ganz gelöst wird. Man läßt „die Ruhe“ in sich wirklich „ruhen“. Wenn der Mensch ernstlich will, wird er auch in scheinbar verzweifelten Fällen durch diese Übung zum Einschlafen kommen. Er wird nur oft bemerken, daß er eigentlich gar nicht will, daß er mit seinen aufgeregten Gedanken und Gefühlen ein wenig liebäugelt und sie um keinen Preis hergeben mag gegen eine solche Ruhe. Könnte er aber auch mit dieser Hilfe nicht zum Schlaf kommen, so würde ihm doch die Ruhe, die ihn erfüllt, wenn er wirklich nichts Einzelnes denkt, sondern in der Ruhe ruht, fast so wohltätig sein können wie ein wirklicher Schlaf. Sucht man in der Nacht die Schlafesruhe, so würde ich allerdings raten, sich womöglich in folgendes Bild einzuleben:
„Hier ruhe ich auf meinem Lager; um mich her sind die Wände des Hauses; draußen aber ziehen die Sterne; über mir sind Sterne, um mich her sind Sterne, unter mir sind auch Sterne; durch die Erde hindurch würde ich sie erblicken, wenn ich die Augen dazu hätte; die Wände des Hauses und das ganze Haus um mich her vergehen; selbst die Erde vergeht; was aber in den Sternen lebt, das bleibt; dem gebe ich mich hin; ich verteile mich gleichsam ganz auf die Sterne, bis nichts mehr in der Mitte ist und alles draußen bei den Sternen; mit ihnen ziehe ich nun ihre Bahn, langsam, ruhevoll, feierlich, ewig ...“ Wer die anthroposophische Geisteswissenschaft kennt, wird wissen, daß wir auf diese Weise mit unsrem bewußten Willen dem entgegenkommen, was der Schlaf ohnedies von uns will. Eine unaussprechlich wunderbare Wohltat kann ein solches Ruhen sein, und wir möchten beinahe nicht mehr schlafen, wenn wir es kennen. Gelingt es uns aber dann noch, von der Bildvorstellung zur Klangvorstellung zu kommen und aus dem ganzen Sternenhimmel den Lobgesang zu hören: „Geoffenbart sei Gott in den Höhen und Friede auf Erden den Menschen, die eines guten Willens sind“, und gelingt es uns dann weiter, auch aus der Klangvorstellung nur noch die Lebensgrundstimmung zurückzubehalten, den feiernden Friedensgeist, der lobpreisend zum Weltenvater gewendet ist, die freudevolle Himmelsruhe, die ruhevolle Himmelsfreude gleichsam wie einen Geschmack auf der Zunge und in unserm ganzen Wesen zu haben, dann sind wir wirklich bei den Engeln und können unsern Schlaf in einer Weise vergeistigen und verklären, von der wir vorher keine ferne Ahnung gehabt haben. Doch es handelt sich ja durchaus nicht nur um Schlafenkönnen, sondern gerade um Aufwachen. Und wie man sich Augen denken kann, die am Tag den Sternenhimmel sehen, der ja immer um uns ist, so kann es jedenfalls einen Geist geben, der so kraftvoll in Seelenruhe untertaucht, daß der Sternenhimmel auch am Tage über ihm stehen bleibt in seinem tiefsten Lebensgefühl. Der Sternengeist, wie wir ihn nennen können, begleitet ihn auf seinen Lebenswegen. Hier sei noch eine Bildvorstellung für das Einschlafen erwähnt, die mir einmal Rudolf Steiner angab, als ich ihn für einen andern Menschen um eine Hilfe zum Einschlafen bat. Man stellt sich vor, man sitze neben einem Abgrund bei einem Rosenstrauch, pflücke eine Rose um die andere ab und werfe sie mit einer müden Bewegung in den Abgrund. – Wenn jemand den Einwand macht, er würde dabei schwindelig werden, so kann man das Bild auch so gestalten, daß man sich selbst als Adler vorstellt, der mit großen Flügelschlägen einem dunklen Felsental zustrebt. Die Flügelschläge mögen sich dann mit den Atemzügen verbinden. Wie man sich Ruhe eingeben kann als eine Arznei, so kann man sich selbstverständlich auch alle möglichen anderen Geistesinhalte eingeben. Eine besonders heilsame Übung ist: Reinheit. Man kann sie ähnlich aufbauen und ausgestalten, wie wir es am Beispiel der Ruhe dargetan haben. Da mag uns die Versenkung in den unschuldsvollen Lebensstrom der Pflanzen helfen oder die Versenkung in die kristallreine Herrlichkeit einer Schneelandschaft oder das Bild der Madonna Sixtina oder wieder der Sternenhimmel.
Dies kann dieselbe Wirkung und noch bessere Wirkung tun als der Brauch der mittelalterlichen Mönche, sich zur inneren Kühlung in den Schnee zu werfen oder in Eiswasser zu stürzen. Ebenso kann der Mensch lernen, Willenskraft, Wahrhaftigkeit, Güte gleichsam einzuatmen. Er wird erfahren, daß ihm eine großartige Geistesapotheke zur Verfügung steht, die er nur noch nicht zu verwalten weiß. Wenn wir zu der Ruhe-Übung zurückkehren, so kann sie dem Menschen allmählich vorkommen wie ein Sanatorium, das er sich selbst gebaut hat. Er bedarf nicht weiter und kostspieliger Reisen ins Gebirge, wenn er sich erholen will. Er kehrt in seine Ruhe ein. Im Anfang habe ich mir manchmal vorgestellt, ich wohne in dieser Ruhe, wie etwa ein Taucher unter einer großen Glasglocke im Meer weilt. Draußen wallt das Meer, die Fische ziehen vorüber, die Raubtiere des Meeres greifen an, er aber ist wohlgeborgen in seinem durchsichtigen Haus, aus dem er hinausschaut auf das, was um ihn ist. So mag man in seinem Ruhehaus einen Geistesblick tun auf den Lärm und die Hast da draußen. Man wird so das Ruhegefühl durch den Gegensatz verstärken können. Viele werden erst allmählich auf solchen Wegen lernen, was eigentlich Ruhe ist. Sie haben sie bis dahin nur in der Form des unbewußten Schlafes gekannt. Die leibhaftige Ruhe kehrt in uns ein, ruht selbst in uns, wach und lebendig, speist uns, heilt uns, vergöttlicht uns. Als ich das zuerst erlebte, bekam ich das Empfinden, daß ich nun endlich eine Möglichkeit sehe, an den „Nerven“ zu arbeiten. Wie man eine Last heben kann, wenn man unter sie hinunterzugreifen vermag, so hat man nun ein Reich gefunden, das unterhalb der Nerven liegt, und man braucht nur an das Wort Ruhe zu denken, dann ist man auch schon in seinem Ruhehaus. Mitten im ärgsten Straßengewühl, mitten in der aufgeregtesten Versammlung: wenn wir nur daran denken, steigt Ruhe auf wie ein Tempel und nimmt uns in ihren Frieden hinein. Indem wir dies hier aussprechen, arbeiten wir am Geistesleben der Menschheit wie ein Nervenarzt. Keine Pillen werden den Menschen so helfen wie solche Ruheübungen. Würde die Menschheit ernst nehmen, was hier geschrieben ist, so wäre die Gefahr der Neurasthenie in der Menschheit und schlimmerer Geisteserkrankungen, die aus der zerstörenden Hast aufsteigen, in einigen Jahrzehnten überwunden. Wir haben in dieser Betrachtung bisher so geredet, daß auch der religiös fernste Mensch mit uns gehen kann. Zum Schluß aber sei aus der Welt, von der die Religion redet, noch ein Letztes hinzugefügt. Wer in seinem Innern die Gründe dazu findet, der verwandle diese Ruhe in ein ganz großes Vertrauen. Er schaue zu dem Geist auf, der hinter und über allen Sternenwelten waltet, und lasse den Frieden, der ihm aus den Weiten zuströmt, in einem großen, tiefen, vollkommenen Herzensvertrauen zurückfluten. Er wird merken, wie sich dabei unendlich vieles innerlich entspannt, von dem er gar nicht wußte, daß es als Verkrampfung in ihm lebt. Er wird viel verborgene Angst und Furcht „abreagieren“, ohne daß er sie sich erst nach psychoanalytischer Methode voll zum Bewußtsein zu bringen braucht. Nur muß es ein lebendiges Vertrauen sein, das nicht in einer fatalistischen Gelassenheit sich niederschlägt.
Denn der Gegenwartsmensch braucht die Kraft aktiver Weltüberwindung. Zur Gelassenheit haben es viele Menschen der Vergangenheit gebracht. Was von den stoischen Römern erzählt wird und noch mehr von den buddhistischen Mönchen, vor allem von Buddha selbst, erweckt Ehrfurcht vor dieser Höhe selbsterzogenen Menschentums. Aber der christliche Friede ist es noch nicht. Darum ist es gut, auch hier auf Christus zu schauen. Ist er nicht „das Wort“, das Weltenwort? Was aus allen Tiefen des Sternenhimmels zu uns sprach: tönt das nicht auch aus ihm? Ist nicht der Lobgesang der Engel in der heiligen Nacht im Grund sein eigenes erklingendes Wesen? Im Abschiedsgespräch hat Christus zu seinen Jüngern gesagt: „Solches habe ich zu euch geredet, daß ihr in mir Frieden habt; in der Welt habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden!“ Genauer übersetzt lautet der zweite Satz: „in der Welt habt ihr Bedrängnis; aber habt Mut! Ich bin der Sieger über die Welt!“ Dazu das andere Wort: „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch; nicht gebe ich euch, wie die Welt gibt.“ Dieses letztere Christuswort findet sich in der Menschenweihehandlung wie schon in der alten Messe. Es ist dort frei aus seinem innersten Geist wiedergeboren in den Worten: „Friedvoll stehe ich zur Welt; dieser Friede mit der Welt kann auch bei euch sein, weil ich ihn euch gebe!“ Und nach der Auferstehung grüßt Christus seine Jünger bedeutungsvoll mit dem Gruß: „Der Friede sei mit euch!“ Man mag dies Wort sich gesprochen denken einst in der Vergangenheit der Christusgeschichte. Man kann es aber auch gesprochen denken aus der Gegenwart heraus, wie es jeden Abend im Sternenhimmel als die Offenbarung des höchsten göttlichen Geistes nach unsern Seelen fragt. Erleben wir es aus der Weltall-Größe heraus, dann ist nicht Gefahr, daß wir nur im persönlichen Frieden leben, wie es so leicht bei der Religion der Sündenvergebung geschieht, und auch nicht, daß wir im passiven Frieden bleiben, wie es so leicht bei der Religion des Gottvertrauens geschieht. Sondern der eherne Gang der großen Weltenuhr da draußen teilt sich unsrem innersten Lebensgefühl mit. Und dazu ist sie da. Wir stehen dann friedvoll zur Welt, aber wir einen uns auch ihrem Werden, das durch Christus geschehen kann. „Mein Friede“, sagt Christus mit Betonung im Johannesevangelium. Das heißt: der Friede, der ich bin. Wir nehmen daraus die Vollmacht, ihn sprechen zu hören auch zu uns: Ich bin der Friede! Der Friede, der ich bin, sei mit dir! Kann man die Ruhe-Meditation so erleben, daß man die Stimme des Christus selbst vernimmt aus allen Weiten, Höhen und Tiefen, dann hat man sie zu der Größe und Gotteskraft emporgeführt, die für Menschen erreichbar ist. – Die Leser werden nun die Frage auf dem Herzen haben: Ja, welche Meditation sollen wir denn nun eigentlich machen, die im ersten Brief vorgeschlagene von der Liebe oder die hier vorgeschlagene vom Frieden? Solche Fragen werden in vielen noch viel stärker werden, wenn wir in den folgenden Betrachtungen eine ganze Reihe anderer Meditationen besprechen werden, aus denen immer klarer, wie wir hoffen, hervorgehen wird, was Meditieren ist und sein will. Es steht ja so, daß man in solcher brieflicher Beratung nicht jedem einzelnen die gerade für ihn geeignete Meditation nennen kann.
So kann hier nur ein Organismus von inneren Übungen entwickelt werden, in denen das Ganze des Johannesevangeliums leben wird. Daraus mag sich dann jeder wählen, was für ihn das Rechte ist. Aber er kann auch das Ganze wählen und könnte dann für sein ganzes Leben zu tun haben, um es sich innerlich zu eigen zu machen. Er ist auf einem guten Weg. Denn der Geist des Johannesevangeliums, das der kommenden Zeit so nahe steht, lebt mit seiner Fülle in diesem Organismus. Aber wir sollten dabei nur immer wieder auf das Zentralwort schauen, in dem alles sich zusammenschließt: Ich bin die Liebe. Dieses Wort entfalten wir, indem wir zunächst in den sieben „Ich-bin“–Worten uns dies „Ich“ zum Erlebnis werden lassen. Dann in den sieben sogenannten Leidensstufen „die Liebe“ in ihrer göttlichen Offenbarung betrachten. Und schließlich in den sieben „Zeichen“ des Johannesevangeliums das „bin“ in seinem wirklichen Erdenleben anschauen und in uns aufnehmen. Die Worte „Ich bin der Friede“, die wir heute betrachteten, sind aber wie ein Hintergrund dazu. Ich könnte mir denken, daß ein Leser findet, er brauche zunächst mehr den Frieden im Sinn des Johannesevangeliums. Dann möge er aber so meditieren, daß er den Frieden ausklingen läßt in die Liebe, damit es kein selbstsüchtiger und passiver Friede werden kann, sondern der Friede, der „sich eint mit dem Werden der Welt“. Ein anderer möchte gern bei dem Wort Liebe bleiben. Dann möge er vorher den Frieden anklingen lassen, damit die Liebe die Größe, Reinheit, Ruhe des Welthintergrundes gewinnt, aus dem sie bei Christus kam, und nicht ins ungesund Drängende oder ins menschlich Kleine sich verirrt. Denn das „Werden der Welt durch Christus“, von dem die Menschenweihehandlung spricht, kommt gerade aus einem „Friedvoll-stehen“ zur Welt. Man könnte sich aber auch das Folgende denken. Der Mensch nimmt das Wort vom Frieden abends auf und das Wort von der Liebe morgens. Er kann das Wort Liebe mit der Sonne und mit dem neuen Tag über sich aufgehen lassen – wie er das Wort Frieden aus dem Sternen-Himmel und der bergenden Nacht erklingen hört. Es kommt ein großer Rhythmus in unser Leben, der wie der Rhythmus ist von Tag und Nacht, ja, der den eigentlichen Geist dieses TagNacht-Rhythmus in sich trägt. Es ist wie ein tägliches höheres Atemholen. Ein Einatmen, wenn wir das Wort Frieden meditieren, und ein Ausatmen, wenn wir das Wort Liebe meditieren. Es ist wie ein Aus- und Eingehen im „Vater“, das dem verborgenen Lebensrhythmus des Christus selbst entspricht, wie er uns in seinem Tages- und Nachtleben in den Evangelien geschildert ist. Ja, es lebt dieser Rhythmus tief im Hintergrund der Christusverkündigung selbst, wie sie das Johannesevangelium übermittelt. „Ich komme vom Vater“ durchklingt den ersten Teil. „Ich gehe zum Vater“ durchklingt den zweiten Teil. Das erste ist ein Wort der Liebe; das zweite ein Wort des Friedens. So lernen wir in diesen beiden Meditationen Christus in unser Leben aufzunehmen, wie ihn uns sein nächster Jünger und Vertrauter geschildert hat.
Ja, die anthroposophische Geisteswissenschaft erzählt uns, daß das große göttliche Leben selbst seine schwindelnd erhabenen Rhythmen in sich trägt, indem immer auf einen Weltentag von Millionen Jahren wieder ein Weltenfeierabend und eine Weltennacht kommt, wo die Welt in den Vatergott eingeht und in ihm ruht – um dann aus ihm neu und größer hervorzugehen. Mit den Worten Liebe und Friede kommen wir an diesen Rhythmus im Leben des Vatergottes so nah wie menschlich nur möglich heran. Und noch ein Geheimnis sei nicht verschwiegen, wenn es auch die meisten Leser zunächst nur wie eine Erzählung anhören können. Taucht unser Wesen in den Frieden ein, in die Harmonie mit den tiefsten Kräften des Weltalls, dann erbaut sich uns aus dem Weltall heraus zart und innerlich ein andrer Leib. Strömt durch unser Wesen die Liebe, der göttliche Geist des Weltalls, so wird unser Blut von innen her neu. Man kann also in dieser Doppelübung eine höchste Kommunion erleben und aus Christus, auf den wir immer blicken mögen, so gut wir ihn eben verstehen, seinen Leib und sein Blut empfangen. Es ist das Höchste, wozu wir in der Meditation aufsteigen können: daß wir einfach in Christus hineinschauen und hineingehen, in ihm sein und leben lernen. Daß dies in Fülle und Lebendigkeit dem Menschen möglich werde, dazu wollen diese Betrachtungen führen. Wie umhüllt von Christus kann der Mensch sich fühlen und in ihm wie in einer höheren Luft atmen, wie in einem höheren Licht erwachen, wie in einem höheren Leibe auferstehen. –
3. Brief Meditation und Gebet – Gebetserhörung – Meditierenlernen – Grundmeditation für Tag und Nacht – Das Ich – Bedeutung religiöser Bildwerke – Physische und geistige Speise – Kultisches Essen – Christliche Weltanschauung – Das Licht in der Geschichte der Menschheit – Äußere und innere Taten des Lichts
Viele Menschen wünschen sich eine Antwort auf die Frage: Wie verhält sich nun eigentlich die Meditation zum Gebet? Es ist sogar vor nicht langer Zeit eine Schrift erschienen, von dem Marburger Theologen Friedrich Heiler, worin uns die Wahl gestellt wird, ob wir die Meditation wollen oder das Gebet. Im ersteren Falle würden wir in den Buddhismus zurücksinken. Nur das Gebet sei wahrhaft christlich. – Auf diese Weise würde man die größten Christen des Mittelalters aus dem Christentum hinausweisen. Denn sie haben Tod und Auferstehung Christi wirklich meditiert – in einem ganz ähnlichen Sinn, wie es hier empfohlen wird. Und ihre wunderbare religiöse Kraft verdanken sie zum großen Teil gerade der Macht ihrer Meditation. Natürlich ist es nicht unsere Meinung, daß irgendjemand, der morgens und abends sein Gebet zu sprechen gewohnt ist, nun auf einmal das Gebet lassen und an seine Stelle die Meditation setzen soll. Aber wenn man eine Umfrage darüber halten könnte, so würde man erfahren, daß es erschütternd viele Menschen gibt, die überhaupt nicht mehr beten. Sie gehen durchs Leben, haben nur hin und wieder einmal ganz zufällige, kindliche und meist abergläubische Gedanken an die höhere Welt und merken gar nicht einmal, was ihnen fehlt. In religiösen Kreisen täuscht man sich allermeist über die furchtbare Verwahrlosung und Verwilderung, die im inneren Leben der Menschen eingerissen ist. Eine Meditationsanleitung wie diese hier muß auch ein Gespräch enthalten mit denen, die vom Gebet alles erwarten. Aber nicht ermutigend ist heute selbst der Blick auf die Menschen, die noch beten. Man kann ja niemals völlig hineinsehen. Und gelegentliche Eindrücke sagen, daß doch noch mehr da ist, als es im Allgemeinen den Anschein hat. Aber wie viele Menschen, die beten, tun es noch aus wirklichem inneren Bedürfnis und gar nicht aus Gewohnheit und gar nicht aus abergläubischer Angst? Wie viele Menschen beten aus Freude, ohne daß sich irgendeine Furcht einmischt – für den Fall, daß sie es unterließen? Die weitaus meisten müßten sich eigentlich eingestehen, daß sie mit dem Gebet nichts Rechtes anzufangen wissen. Es ist matt und wirkungslos bei ihnen. Mit gutem Willen setzen sie es noch fort, aber sie fragen sich manchmal, ob es unter diesen Umständen noch einen Sinn hat zu beten, und ob es nicht besser ist, sie lassen es ganz. Die Berührung mit der göttlichen Welt, die sie spüren, ist schwach. Und manchmal kommen sie sich geradezu unwahrhaftig vor. Ein Universitätsprofessor der Theologie, noch dazu der strengsten orthodoxen Richtung, hat mir einmal beinah unter Tränen gesagt, sein Wunsch sei immer, so beten zu können, wie seine Mutter gebetet habe; aber er ließ keinen Zweifel darüber, daß er sich diesem Ziel ganz fern fühle.
Und wo die Menschen noch gemeinsam beten, wie etwa beim Tischgebet oder in der Kirche, da gehört nicht viel Feingefühl dazu, um zu merken, wie vieles mechanisch geschieht, während die Gedanken ganz wo anders sind. Könnte man das Gebet der Menschen unsrer Zeit untersuchen, so würde man sehen, in welch rapidem Niedergang das Beten ist. Noch ganz abgesehen von allem Egoismus und allem Aberglauben, der sich ins Gebet der Menschen einschleicht: die Seelenkraft, aus der allein der Mensch beten kann, ist in einem erschreckend geringen Maß noch da. Wenn uns von Christus erzählt wird: Er erhob seine Augen zum Himmel, er blickte auf zu seinem Vater – so muß es gewesen sein, wie wenn sich der reine Spiegel seiner Seele zu einem Sternenhimmel kehrt, der sich dann klar und friedensstark in ihm spiegelte. Die Evangelien lassen uns diesen Eindruck lebendig gewinnen, zum Beispiel beim Hohepriesterlichen Gebet. Wenn wir unsere Seele nach oben kehren, so ist sie wie ein dumpf und blind gewordener Spiegel, in dem sich vielleicht noch ein matter Glanz zeigt, aber kein Sternenhimmel. Vor dreißig Jahren haben wir als junge Theologen Versuche gemacht, festzustellen, was eigentlich in den Seelen der Menschen vorgeht, wenn das Wort „Gott“ ausgesprochen wird. Das Ergebnis war alarmierend genug. Nur eine ganz allgemeine Richtung nach oben konnte festgestellt werden, ein dunkles Sehnen und Ahnen. In der heutigen Theologie, die nur noch vom geheimnisvoll fernen Gott zu reden weiß, kommt diese Tatsache zum Vorschein. In dieser Not der Gegenwart, der Not einer Zeit, die nach außen und unten zu schauen gelernt hat und darüber das Schauen nach oben und innen verlernte, kann nun gerade die Meditation in vielfacher Hinsicht Hilfe bringen. Zunächst werden wir durch die Meditation lernen, Geistiges überhaupt wieder vor uns hinzustellen. Nur langsam werden wir es lernen. Aber auf eine ganz wahrhaftige Weise. Daß etwas Geistiges da ist in unserer Seele, und daß wir zu ihm hinschauen, das üben wir ja in jeder Meditation. Dies wird selbstverständlich auch dem Gebet zugute kommen. Ja ist es denn eine so schlechte Form des Gebetes, wenn wir einmal gar nichts andres tun als Göttliches zu betrachten? Statt zu bitten, womit wir in der Regel rasch bei der Hand sind, lernen wir schweigen und schauen. Da sind wir schon auf dem Weg zur Anbetung, die unser Geschlecht verlernt hat. Mir scheint immer, als ob die drei ersten Bitten des Vaterunsers uns eigentlich auf einen solchen Weg führen möchten, daß wir zunächst einmal versuchen sollten, das wirklich anzuschauen und aufzunehmen, wovon hier die Rede ist: göttlicher Name, göttliches Reich, göttlicher Wille. Man hat das Gebet im Konfirmandenunterricht und in der Predigt gern das Gespräch der Seele mit Gott genannt. Aber was wir bei keinem hochgestellten Menschen uns erlauben würden, das tun wir hier: daß wir gar nicht warten, bis wir angeredet werden, daß wir nur rasch unsere eigenen Wünsche und Bitten vorbringen, daß wir ausführlich allein reden und, wenn wir ausgeredet haben, schleunigst davongehen, ohne erst lang zu fragen, ob nun der andre auch etwas zu sagen hat. Viele Gebete würden sich sofort erledigen, wenn wir „Gott“ nur ein einziges Mal wirklich ansehen wollten.
Die Meditation führt zu einer viel reineren Art des Gebets, als sie allermeist üblich ist. Sie läßt Gott zu Wort kommen. Sie lehrt hören. So führt sie auch zu „Gebetserhörungen“, die ganz anderer Art sind als die prompte Erfüllung unsrer Wünsche. Sie erzieht uns dazu, das göttliche Wesen zu spüren und daraus den göttlichen Willen für unser Leben wirklich zu empfangen. Das ist eine würdigere Art, mit Gott umzugehen, als wenn wir meinen, er müsse uns immer gleich nach unserem Willen zu Diensten sein. Und auch eine viel wirksamere Art. Natürlich gibt es unmittelbare Hilfe auf unsre Bitten hin in aller Not. Und wer recht zu bitten versteht, der wird manchmal geradezu erschrecken, wie nah die Hilfe war, und wie er umlagert ist von den himmlischen Dienern Christi in jedem Augenblick, wo er sie zu rufen versteht. Aber weit wichtiger, als daß uns selbst einmal geholfen wird, ist doch das andre, daß wir in den göttlichen Willen hineinwachsen. Und dazu dient uns die Meditation. Ihre letzte und größte Hilfe aber ist, daß sie uns selbst innerlich ganz in Bitten verwandelt. Das ist nicht zu viel gesagt. Je mehr wir meditieren lernen, umso mehr nimmt unsre Seele eine bittende und wartende Haltung an. Höchstes Meditieren ist höchstes Bitten. Anders kann man auf einer gewissen hohen Stufe überhaupt nicht meditieren. Wir lernen immer mehr, uns aufzutun. Wir lernen mit einer Sehnsucht, die wir vorher gar nicht kannten und die selbst ein Gebet ist, nach der göttlichen Welt hinzuschauen, wir lernen uns selbst innerlich in ein Gebet zu verwandeln, nicht um die Erfüllung irgendwelcher Einzelwünsche zu erreichen, sondern um selbst Gefäß für göttliche „Erfüllung“ zu werden. Uns scheint, als ob Christus dies von seinen Jüngern gewünscht hat. Wenn wir die Abschiedsreden lesen, so fällt es uns immer wieder auf, wie stark und nachdrücklich er vom Bitten in seinem Namen redet. Das Bild der Jünger, wie er sie gedacht hat, zeigt uns Menschen, die nach außen hin viel stärkere Taten tun sollten, „größere Werke“ als er selbst in die Welt stellen, in einem mächtigen Vollbringen göttlicher Taten ihr Leben führen; aber nach innen hin stehen sie viel gewaltiger in einem unausgesetzten Bitten. Ihr ganzes inneres Leben will ein fortwährendes Fragen nach oben, Bitten nach oben, Nehmen von oben sein. Man hat den Eindruck, daß Christus sich diese innere Kraft des Empfangens von oben in einer Größe vorgestellt hat, die wir kaum schon ahnen. Krafttaten-tun nach außen, Geist-empfangen von innen: das sind die wahren Jünger. In der Menschenweihehandlung wird das Wort „Bitten in meinem Namen“, das in den Abschiedsreden so oft und so entscheidend vorkommt und das im allgemeinen so wenig und so äußerlich geübt wird, mit dem Ausdruck übersetzt: „Christus lebe in unsrem Beten.“ Die Meditation, wie wir sie hier schildern, führt dazu, daß zunächst einmal wirklich Christus da sein kann. Dann aber, daß Christus in uns wirklich zu leben beginnt. Und wenn er in uns zu leben anfängt, dann kann es nicht anders sein, als daß er auch in uns zu beten beginnt. Denn dies ist eben sein wahres Leben nach innen. Und dann verstehen wir neu und klar und lebendig, was es heißt: in Christi Namen beten. Es ist das höchste Glück der Menschen, von diesem Beten Christi in uns etwas zu erfahren, ein göttliches Glück. Auf ihrem Wege führt uns die Menschenweihehandlung auf diese Höhe, wenn sie uns anleitet, nach der Wandlung das Vaterunser zu beten.
Ganz von selbst legt es sich uns da nahe, Christus in uns beten zu lassen. Mit den Worten, die er einst selbst gesprochen und die er seinen Jüngern auf ihre Bitte um ein Gebet gegeben hat, beginnt er sein innerstes Leben in uns und zieht so in uns ein. – Doch wir müssen zunächst auch denen eine Antwort geben, die mit der Klage kommen, sie hätten viele Versuche zu meditieren gemacht, aber einen Fortschritt hätten sie nicht gemerkt. In ihrer Ungeduld erwarten die Menschen immer viel raschere Fortschritte, als möglich ist. Wir können auf die Berge nicht fliegen, wir können nur langsam Schritt für Schritt gehen. Mir selbst ist es gelegentlich so gegangen, daß ich von einem ganzen Jahr angestrengter Meditation kaum einen Fortschritt gespürt habe. Wenn ich dann zu Rudolf Steiner kam, so begann er gerade von Fortschritten zu sprechen. Und wenn ich dann meiner andern Meinung Ausdruck gab, dann hieß es: Sie haben große Fortschritte gemacht, aber sie sind Ihnen noch nicht zum Bewußtsein gekommen. So habe ich mich gewöhnt, ohne immer Fortschritte zu messen, an die Pflanze zu denken, und habe auch andre, die mit sich unzufrieden waren, immer an die Pflanze erinnert. Man kann im Blumentopf nicht immer nachgraben, ob das Samenkorn auch gewachsen ist. Das wäre die sicherste Art, die Pflanze zu töten. Man muß für Licht und Luft und Wasser sorgen und dann warten können. Selbst wenn eine Pflanze im Blumentopf schon sichtbar ist, sieht es oft wieder längere Zeit so aus, als ob sie gar nicht vorwärts kommt. Auch beim heranwachsenden Kind sieht man oft lange Zeit hindurch nichts davon, daß es wächst, obwohl es täglich kräftig gefüttert wird. Dann kommen plötzlich einmal vier Wochen, wo es in die Höhe schießt. Genauso ist es im inneren Leben. Dieselbe vertrauensvolle Gesinnung, die wir der Pflanze und dem heranwachsenden Kind entgegenbringen, müssen wir auch für unser inneres Leben haben, wenn es gedeihen soll. Sind wir unzufrieden, so müssen wir Luft und Licht und Wasser prüfen, aber nicht den wachsenden Keim. Der wächst ganz sicher von selbst, wenn er die rechte Nahrung hat. Das Erste und Einzige, was sich oft für lange Zeit einstellt, ist das Gefühl, daß man auf einem guten Weg ist. Aber manchmal stellt sich nicht einmal das ein. Vielleicht aber stellt sich doch schon ein gewisses Hungergefühl ein, wenn wir unsre innere Arbeit an uns einmal versäumen. Es ist etwas Merkwürdiges um diesen seelischen Hunger. Allmählich findet er sich, wenn wir regelmäßig unser inneres Leben pflegen, gerade um die Stunde ein, wo wir uns gewöhnt haben, zu meditieren. Er erinnert uns wie ein Wecker an unsre Pflicht. Menschen, die viel reisen müssen und dadurch aus der Regelmäßigkeit des Lebens immer wieder herausgeworfen werden, leiden sehr unter dieser Rhythmuslosigkeit. Das Gefühl ist, als ob man völlig durcheinander gebracht werde. Da können wir schon etwas davon spüren, was die anthroposophische Geisteswissenschaft den „Ätherleib“ oder „Lebensleib“ nennt. Dieser niederste Teil unsres Seelenwesens lebt stark in der Zeit und im Rhythmus. Darum ist der Rhythmus in der Meditation wie im Kultus so wohltätig. Neben der Wohltätigkeit bedeutet aber solcher Rhythmus im Leben auch eine Kraftverstärkung, deren Bedeutung man erst nach und nach kennen lernt.
Mit dem wiederkehrenden Zeitenstrom bringt uns das Leben immer zurück, was wir das vorige Mal innerlich erarbeitet haben, und wir können gleichsam dort anfangen, wo wir aufgehört haben. Jede richtige Meditation, jede stark gefeierte Menschenweihehandlung, jedes kräftig gebetete Vaterunser bringt seinen Segen immer dann, wenn wir uns das nächste Mal eben dorthin wenden. Es sieht dann aus, als ob das Haus in der Zwischenzeit von Heinzelmännchen ein Stück weitergebaut worden wäre. – Noch übler dran als die Menschen, die nicht fühlen, daß sie vorwärtskommen, sind die Menschen, die überhaupt das Meditieren nicht „fertig zu bringen“ behaupten. Man hört oft traurige Klagen, daß man durch Jahre vergeblich zu meditieren versucht habe. Für viele Menschen mag der Kultus ein Weg sein, auf dem sie auch zum Meditieren kommen können. Durch seine Bilder und Worte, an die man sich immer wieder, auch in der Alltagsarbeit, erinnern kann, wird der Kultus in vielen Menschen die Stimmung der andächtigen, liebenden Versenkung erst erwecken und erziehen. Gewiß ist es nicht so, daß der Kultus eben da ist für solche Menschen, die nicht oder noch nicht meditieren können. Jedes herabsetzende Wort gegenüber dem Kultus wird von dem, der weiß, was Kultus eigentlich ist, als ein Verbrechen gegenüber einer feierlichen göttlichen Wirklichkeit empfunden. Im christlichen Kultus ist Christus da und handelt an den Menschen. Alles selbstgefällige Dreinreden schweigt gegenüber dem Erhabenen, was da geschieht. Aber das ist das Charakteristische und gerade das echt Christliche am Kultus, daß er auch zu den Menschen sich herabneigt, die zu eigner meditativer Aktivität noch nicht imstande sind. Ihnen hilft er, wie er andern auf andre Weise hilft. Jeder sehe, was ihn am meisten vorwärts bringt: das ist für ihn das Beste. Und dann kann es gar keinen Streit geben. Aber dies kann man doch auch sagen: schon der ehrliche Versuch zu meditieren, unermüdlich wiederholt, bringt den Menschen vorwärts, selbst wenn er sich seine Ohnmacht und Unfähigkeit immer wieder eingestehen muß. Ich will mich nicht scheuen zu erzählen, daß ich Übungen kenne, die ich seit über einem Jahrzehnt tausendmal versucht, aber niemals fertig gebracht habe. Gerade dies ruhige, konsequente Sich–dran–Abmühen, auch wenn es immer wieder mißlingt, kann einen hohen geistigen und moralischen Wert haben. In vielen Fällen aber steht es so, daß man nur für das, was wirklich geschieht, noch keine Aufmerksamkeit hat. Zum Beispiel klagen viele Menschen darüber, daß sie es zu keinem lebendigen Gefühl der Ruhe bringen können. In Wirklichkeit bemerken sie nur jetzt zum erstenmal, wie dünn und schwach überhaupt ihre Gefühle sind. Im Leben bisher, wo ein Gefühl das andre jagt und wo die Gefühle sich immer an der Außenwelt spiegelten und dadurch größer erschienen, kam ihnen dies nur nicht zum Bewußtsein. So ist es auch, wenn ein Mensch klagt, daß er einen geistigen Inhalt nicht festhalten könne. Es ist ein Fortschritt, wenn er erst einmal bemerkt, wie irrlichtelierend und kümmerlich flackernd die Gedanken bisher in ihm gelebt haben. Michael Bauer, dem ich viele sehr fördernde Anregungen für das Meditieren verdanke, erzählte mir einmal von einem Bekannten, der ihm gesagt habe:
Sowie ich mich niedersetze um zu meditieren, ist es, wie wenn man an einen Bienenkorb stößt und die Bienen schwirren auf; so flattern meine Gedanken empor. Der Bienenstock war immer da und die Bienen auch, aber nicht der Mensch, der es gesehen hat; der erwachte erst in der Meditation. – Wollen wir aber im inhaltlichen Aufbau unsrer Meditationen weitergehen, so wäre es gut, wenn wir im Hintergrund festhalten die beiden großen Grundmeditationen für Tag und Nacht: Ich bin die Liebe! und: Ich bin der Friede! Wem Christus noch keine lebendige Wirklichkeit ist, der mag an „Gott“ denken oder an das Mensch–Ideal. Von diesen Grundmeditationen aus gehen wir nun daran, uns in dem „Ich“ heimischer zu machen. Von großer Bedeutung wäre es, wenn wir dies Ich, das da spricht, bald unmittelbar spüren könnten. Das wäre ein allergrößter Lebensgewinn. Man mag sich darauf vorbereiten, indem man andere Iche zu spüren sucht. Zum Beispiel liest man ein paar Seiten in Goethe, legt das Buch zur Seite und fragt sich: Was für eine Art Mensch, was für ein Ich hat sich mir da offenbart? Man wird in ein helles Wesen schauen, weltoffen, geistleicht und geistfrei. Immer wieder kann man sich an einem solchen Ich speisen und nähren, ohne daß man an irgendwelche einzelne Erkenntnisse und Gefühle dabei denkt. Zum Unterschied mag man dann eine Seite Nietzsche lesen und diesem Geist oder besser diesem Ich ins Auge schauen. Man blickt in ein geistig selten vornehmes und fein entwickeltes, freiheitstrotziges Ich. Ähnliche Versuche werden von den Menschen heute noch selten unternommen. Aber sie erschließen erst die Lebenstiefen der menschlichen Geistesgeschichte. Ein unerhörtes Erlebnis kann es dann sein, nach solchen Vorbereitungen auf das Ich zu schauen, das im Johannesevangelium redet. Seine Reinheit ist wie lauterstes Licht. Es ist von einer sicheren Kraft, die doch gar nichts von Gewaltsamkeit an sich hat, von einer wahrhaft strahlenden Freiheit, in der es keine Willkür gibt, von einem strömenden Schenken, das ohne alle Schwäche ist. Wem der Sinn dafür erwacht ist, der weiß sich nichts Höheres, als einfach in dies Ich hineinzuschauen und darin ein „Sonnenbad“ zu nehmen. Mehr noch: eine Läuterungstaufe, ein immerwährendes Abendmahl. Dabei kann man sich immer noch im Historischen halten. Man lernt den Evangelisten Johannes so gut verstehen, der auch immer in dies Licht hineinschauen will und für sich selbst das Wort Ich gar nicht mehr gebrauchen mag – er nennt sich ja nur den „Jünger, den der Herr lieb hatte“ – nachdem er dies Wort „Ich“ im Mund Christi gehört hat. – Aber was erfährt man von diesem zentralen Wunder in den üblichen Auslegungen des Johannesevangeliums? Sicherlich ist es den meisten Menschen nicht so ohne weiteres möglich, das Licht dieses Ich zu schauen. Dann möge ihnen diese Schilderung Lust machen, sich in ein Ich–bin–Wort nach dem andern zu vertiefen und auf das Innerste zu blicken, das wir eben zunächst wahrnehmen können: das Wesen Christi.
Das erste Wort ist: Ich bin das Brot des Lebens! - (Joh. 6, 35; 48) Bei diesem Wort können wir gleich erfahren, welche Bedeutung die großen religiösen Bildwerke der Vergangenheit für unsere innere Erziehung haben können. Wir denken an Lionardos Abendmahl. Es ist nicht nur ein schöner künstlerischer Einfall, sondern eine wirkliche Offenbarung, wie sich auf dem Gemälde Christus in seiner schenkend geöffneten linken Hand in das Brot auf dem Tisch hinein fortsetzt. Nimmt man dies in sich auf, so wird in Seelentiefen, die wir selbst gar nicht ergründen können, eine Wesensart in uns erbildet, die der Christusart ähnlich ist. Christus wirkt durch das Bild sakramental auf uns. Er läßt seine Kräfte auf uns übergehen und spendet uns eine Kommunion. Von da aus fragt man sich, ob nicht auch die Widersachermächte sich solcher ins Unbewußte und Undurchschaute wirkenden Mittel oft bedienen, um die Menschen, ohne daß sie es merken, zu verderben. Im Kampf gegen Christus sehen wir auf Lionardos Bild den Judas, der die der Christushand entgegengesetzte Hand nicht öffnet, sondern krampfhaft schließt und nicht das Brot, sondern den Stein, das starre Metall, in der Hand hält. Das sind die äußeren Hände des Judas und des Christus. Aber auch die inneren Hände reden miteinander und kämpfen miteinander auf verschiedene Weise. Zwei Geistesarten sprechen auf uns ein und rufen uns zur Wahl und zur Entscheidung. Stein und Brot – bedeutsam klingt dieser Gegensatz immer wieder im Hintergrund des Evangeliums auf. Als der Versucher zu Christus gesagt hatte: „Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot werden“ – da antwortete ihm Christus: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht.“ Wir werden es selbst erfahren, daß bestandenen Versuchungen immer göttliche Gnadenerweisungen entsprechen. Weil Christus dies Wort in der Versuchung gesprochen und darnach gelebt hat, darum kann er hernach auf dem Berg der Speisung die Menschen nähren von etwas Höherem als Brot. Er selbst ist „das Wort, das durch den Mund Gottes geht“ – von dem die Menschen leben können. „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ – das klingt großartig vom Himmel zurück, als Christus durch die Reihen geht und die Menschen speist aus seinem göttlichen Leben. Damit sind wir der Bedeutung nahe, die für die Meditation die Evangelienbilder selbst haben. Wir müssen nur, gerade bei den Bildern des Johannesevangeliums, hindurchschauen durch das äußere Geschehen in die Weltgeschichte selbst. Die Menschheit ist es, die auf dem Berg dort gelagert ist. Christus geht lebensmächtig durch die Reihen. Seine Jünger haben nur Bedeutung als die darreichenden Helfer. Von ihm geht die Kraft aus, die die Menschen speist. Die große Stimmung der Danksagung breitet sich über das Bild und durchdringt alles wunderbar. Können wir, über alle einzelnen Worte und Taten hinweg, die in den Evangelien berichtet werden, ihn selbst so aufnehmen, können wir sein Wort so erleben, daß wir mit der Menschenweihehandlung sprechen:
„Durch dein Wort wird meine Seele gesund!“, können wir aus eigenem Erlebnis einstimmen in das Petrusbekenntnis, mit dem das Speisungskapitel bedeutungsvoll schließt: „Herr, wohin sollen wir gehen, du hast Worte des ewigen Lebens!“ – dann sind wir auf dem Wege, daß sich das Wort vom Brot des Lebens erfüllt. Auf diese Weise werden wir dahin kommen, in Christus einfach hineingehen und ihn essen zu können. Denn zum Essen ist er da. Das sagt uns schon dies erste Ich-bin-Wort. Es führt uns in ein wesenhafteres Christentum hinein, als es gewöhnlich zu finden ist. Wenn wir unsere Erfahrung dadurch verstärken, daß wir im Leben darauf achten, wie uns das Leben großer und guter Menschen speisen und nähren kann, wie es ein Innerstes in uns gibt, das nur von solcher Speise lebt, so wird uns die Lebensbedeutung Christi immer gewaltiger werden. Er ist wirklich die Speise. Ein Allerinnerstes in uns lebt nur von ihm. Es bleibt immer hungrig, wenn es nicht von ihm gespeist wird. Nun gehen uns viele Worte der Evangelien auf von denen, die hungern. Ja man kann den Eindruck empfangen, daß das in uns, was von Christus lebt, immer wichtiger werden wird, und das, was „vom Brot allein“ lebt, immer unwesentlicher. Die Menschen, die gefastet haben, um sich Christus besser hingeben zu können, ahnten dies Geheimnis. Und man erzählt ja auch von Heiligen, die nur noch von der Hostie lebten. Sie sind eine Weissagung. Auch das Altarsakrament zeigt sich uns von einer neuen Seite. Es bereitet uns vor für eine neue Art Speisung. Im Paradies stand ein Baum, von dem es hieß: Welches Tages ihr davon esset, werdet ihr des Todes sterben. Jetzt steht ein Baum auf der Erde, von dem es gilt: Welches Tages ihr davon esset, werdet ihr erfahren, was Leben heißt. Und das ganze sechste Kapitel des Johannesevangeliums, in dem das Wort vom Brot des Lebens steht, ist ja erfüllt von solchen Klängen bis hin zur Auferstehungsmusik: „Ich will ihn auferwecken am jüngsten Tage!“ Gerade dies Auferstehungserlebnis am Brot des Lebens möchte man den Menschen wünschen. Wenn wir einmal in Christus hineingehen und ihn im höheren Sinn essen können, dann werden wir erst in Wahrheit erfahren, was Speise ist und Nahrung, was Leben ist und Auferstehung. Christus ist das Brot. Fangen wir so an, das innere Essen kennen zu lernen, dann werden wir aber auch bald bemerken, wie uns nun das äußere Essen etwas anderes zu werden beginnt! Der körperliche Vorgang wird durchscheinend für ein Geschehen, das immer geistiger wird. Wir erleben es immer sakramentaler, daß in der Speise etwas ist, was sich uns schenkt, sich uns hingibt, sich für uns opfert. Wir hören immer deutlicher ein Ich heraus aus dem Brot, das auf dem Tisch liegt. Wir sehen immer ehrfurchtsvoller den gleichen Vorgang in der täglichen Nahrung – und in dem Ereignis, als Christus sich am Kreuz hinopferte für uns. Es ist dasselbe Ich, das spricht, hier und dort: „Ich bin das Brot.“ Das ist noch viel mehr, als was uns Luther gesagt hat über das „liebe tägliche Brot“. Luther spricht warmherzig aus dem Gemüt heraus. Hier aber schauen wir hinein in eine erhabene Offenbarungswelt des Geistes.
Derselbe Gott, der Christus zur Hingabe am Kreuz geführt hat, spricht zu uns aus jedem Stück Brot, das sein göttliches Opfer auf unserem Tisch vollzieht. Das Tischgebet gewinnt einen anderen Sinn. Wir verstehen, daß Essen für Menschen vergangener Zeiten etwas Kultisches war. Und wir werden bald erfahren, daß unser Essen aus einer schrecklichen Barbarei erlöst wird, in die es versunken ist, wenn auch nur ein Hauch dieser Gesinnung sich ihm beimischt. Ja wir werden sogar beobachten, daß uns nun auch das Essen ganz anders nährt als vorher, wenn wir so „mit Danksagung empfangen und genießen“. Aber vom Brot geht nun ein Prozeß aus, der auch die übrige Welt ergreift. Vom „Genuß“ der Speise auf dem Tisch aus wird uns das Wort „genießen“ etwas anderes. Wir fangen an, uns an einer göttlichen Tafel zu fühlen. Wir fangen an, ins Paradies zurückzukehren: Ihr sollt essen von allen Bäumen im Garten! Die Blumen werden uns nicht nur Freude, sondern wirklich Speise, und ebenso die Sterne. Lebensbrot ist in dem Sonnenstrahl, der zu uns kommt, und ebenso in der Majestät der Berge. Es sei dies alles hier nur angedeutet. Bloß auf eine Einzelheit sei besonders hingewiesen. Der Versucher verlangte einst von Christus, daß er Steine zu Brot mache. Wenn wir dahin kommen, daß wir die felsgewaltigen Gebirge geistig erleben und wie Brot essen können, dann hat Christus dies Wunder in uns doch getan. Er hat Steine in Brot verwandelt – während umgekehrt seine Anhänger oft das Entgegengesetzte vollbrachten und das Brot des Lebens in Steine verwandelten. Die Menschen reden heute viel von „Weltanschauung“. Sie wissen aber nicht, daß man sich eine wahre Weltanschauung nicht einfach er-lesen kann, auch nicht bloß er-denken, sondern daß man sie er-arbeiten muß mit dem ganzen Menschen. Das wird in der Zukunft immer offenbarer werden. Die Menschen starren kindlich in die Welt hinein. Aber sie wissen nicht, daß es eine innere Erziehung auch des ganz gewöhnlichen Blickes gibt, und daß dann die Welt sich ganz anders „anschaut“. Andererseits wird dies Arbeiten an der eigenen Geistigkeit auch an die Stelle dessen treten, was früher gläubiges Hinnehmen der Dogmen war. Aktiver wird sowohl die Weltanschauung wie der Glaube sein. Man wird nicht das Christentum als einen systematischen Organismus von Gedanken einfach übernehmen können, sondern man wird es sich ganz persönlich in innerer Arbeit Schritt für Schritt erarbeiten müssen als eine neue Welt, als eine ganz neue Geistigkeit im heiligen Geist, der durch Christus zu uns kommt. Das christliche „Weltbild“ ist das große Abendmahl. In allen Dingen um uns her hören wir immer lebendiger das göttliche Wort. Und dies göttliche Wort gibt sich uns zu erkennen als dasselbe Wort, das in Christus Fleisch geworden. Dies Wort redet nicht nur zu uns, sondern speist uns. Überall hören wir tief drinnen dieselbe Stimme: Ich bin das Brot des Lebens. Wir sind am „Tisch des Herrn“. Christus und Judas sind einander gegenüber. Dies alles kann gar nicht errungen werden ohne unsere eigene Arbeit. Christus sagt im 27, Vers dieses 6. Kapitels des Johannesevangeliums: „Wirket Speise, nicht die vergänglich ist, sondern die da bleibet ins ewige Leben, welche euch des Menschen Sohn geben wird.“ Was soll es bedeuten, daß wir die Speise erst selbst „wirken“ sollen, die uns nähren will?
Es gilt durch diese Meditation allmählich dahin zu kommen, daß wir in Christus eindringen bis dahin, wo er nur noch Brot ist, und daß wir in das Brot eindringen bis dahin, wo es nur noch Christus ist. Dann wird diese Meditation erst ihre volle Bedeutung entfalten, sowohl für unsre Weltanschauung wie für unser Alltagsleben. Es ist aber nötig, sich die Aufgabe, die uns gestellt ist, möglichst über das Eng-Persönliche zu erheben und sie im großen Weltzusammenhang zu sehen. Im Westen hat sich die Menschheit mehr und mehr auf das „Brot“ eingestellt. Man „verdient sich sein tägliches Brot“. Man „kämpft um das tägliche Brot“. Aber es ist nicht „das Brot des Lebens“. Ja auch äußerlich fängt das Brot an, seinen Nährwert zu verlieren, durch die künstlichen Düngemittel, die es vermehren wollen. Es wird tot. Im Osten hat sich die Menschheit umgekehrt auf ein Leben eingestellt, das über der Erde ist, das den Zusammenhang mit dem täglichen Brot und seinen Aufgaben verliert, ein Leben, das man vielfach auch durch Fasten zu erreichen suchte – während über die Erde, die man nicht ernst genug genommen hat, die Hungersnöte hereinbrachen, wie wir es so oft von Indien und China lesen. Christus führt uns zu einem Leben, das Brot ist, und zu einem Brot, das Leben ist. Er ruft uns zum „königlichen Mahl“. Wir werden immer lebendiger verstehen, daß der richtige christusgemäße Gottesdienst nicht dort ist, wo man das Wort Christi anhört, wie es im protestantischen Predigtgottesdienst geschieht, sondern dort ist der christusgemäße Gottesdienst, wo Christus das Mahl ist – unmittelbarer noch, als es je im Wort geschehen kann. Weil Christus das Brot ist, darum wird er durch ein Mah1 ver-kündigt. Auch die Menschenweihehandlung will nicht nur gehört und nicht nur gefeiert, sondern will in allen ihren Einzelheiten wie eine Speise der Seele empfangen sein. Will man die Meditation vom Brot des Lebens an ein Bild anschließen, so mag man sich den Christus auf Lionardos Abendmahlsbild vorstellen, wie er sich ins Brot hinein fortsetzt und verwandelt und wie das Brot andrerseits in ihn hinein zurückführt. Dies Bild mag man sich dann durch die andern hier ausgesprochenen Gedanken immer wieder bereichern und beleben. – Haben wir in dem Wort: „Ich bin das Brot des Lebens“ nach unten geschaut, so schauen wir nach oben in dem zweiten Ich-bin-Wort: „Ich bin das Licht der Welt“ (Joh. 8, 12). Und dieses Wort will unsre gewohnte Welt „wandeln“. Eben dies geistige Arbeiten an der We1t ist nötig, wenn der Mensch neu werden soll. Gerade das Christuswort vom Licht kann uns zu einem wahren Tempel werden, in dem wir mit großer Freude verweilen. Um wieder aus dem allzupersönlichen Christentum herauszukommen in ein weltgroßes Christentum, können wir uns im Geist aller derer erinnern, die je in den Tempeln des Lichts angebetet haben. In schweigend versunkenen Jahrtausenden haben unsere Menschenbrüder ihre Seelen betend zum Licht emporgesandt. Wir denken an die alten heiligen Rischis, wie sie durch lange Zeiten ihre Schüler beten lehrten:
„Das liebeweckende Licht des großen Sonnenwesens, des belebenden, wollen wir aufnehmen in uns, daß es unserem Geist helfe vorwärts!“ Wir denken an den königlichen Zarathustra, wie er seinen Persern die Ehrfurcht brachte vor der geistherrschenden Majestät der goldenen Sonne. Wir hören die feierlichen Sonnengesänge schallen aus den Tempeln der Ägypter in Theben, in Memphis, in Heliopolis. Wir mögen aber auch späterer Zeiten gedenken. Wie im Mittelalter Franziskus dahinging unter der leuchtenden Sonne Italiens: „Preis sei dir, o Herr, mit allen deinen Geschöpfen, vor allem unsrer edlen Schwester, der Sonne; sie schafft den Tag, und du leuchtest uns in ihr. Schön ist sie und strahlend in großem Glanze, ein Sinnbild von dir, o Allerhöchster!“ Wie im nebeligen Holland der lichthungrige Rembrandt seine Kunst auffaßte als ein Spüren nach den Wundern des Lichts, als einen Priesterdienst am Licht. Wie auf der Höhe der deutschen Geschichte Goethe andachtsvoll hinschaute in die „Taten und Leiden des Lichtes“, wie er in den Farben die Offenbarungen der Elohim erkannte, wie er in seinem letzten Bekenntnis die Sonne zusammen mit Christus als die mächtigste göttliche Offenbarung verehrte, „die uns Erdenmenschen zu schauen vergönnt ist“. Dies alles mögen wir in uns da sein lassen. Dann mögen wir an das erste göttliche Wort der Bibel denken: „Es werde Licht!“ Und an das letzte Wort von der neuen kommenden Welt: „Sie bedürfen nicht einer Leuchte oder des Lichtes der Sonne; denn Gott der Herr wird sie erleuchten!“ (Offenbarung Joh. 22, 5.) Zwischen diese beiden Worte stellen wir das Christuswort hinein: „Ich bin das Licht der Welt!“ Ein neues: Es werde Licht! Aber nun ganz von innen her – um einmal auch alles Äußere zu durchhellen. Es werden heute viele Meditationen gegeben und vollzogen, die sich dem Licht zuwenden. Im tiefsten Sinn gesund und erlösend wirksam ist, sich im Wesen des Christus wieder bis dorthin durchzufinden, wo er nur noch Licht ist, und im Licht bis dorthin einzudringen, wo es Christus ist. Dies ist der Hauptgedanke, um den sich alles einzelne herumrankt. Will man ihn durch ein Bild beleben, so bieten sich die Rembrandtschen Bilder dar, wo vor allem in der Darstellung der Emmauserscheinung sich in den verschiedenen Schilderungen Rembrandts Christus immer mehr in Licht verwandelt. Bereichern können wir dies Bild am besten, wenn wir von den sieben Großtaten uns führen lassen, die nach dem Johannesevangelium Christus auf der Erde vollbrachte. Sie sind wie ein höheres Lichtwirken. Da stellen wir zunächst das äußere Licht im Geist vor uns hin als ein Meer von flutendem Leben und tauchen in das Licht ein wie in eine Quelle des Heils. Wir spüren, wie unser ganzes Wesen Gesundsein atmet im Licht. Wir fühlen, wie Heilkräfte ausströmen aus dem Licht. So aber suchen wir dann auch Christus zu erleben.
Nicht nur an seine Worte denken wir, sondern daß von diesen Worten Heilmacht ausgeht, wie damals, als die Frau durch die Berührung seines Gewandes gesund wurde, oder damals, als der Sohn des Königischen in der Ferne genas (Joh. 4, 51). – Dann suchen wir zu erleben, wie das Licht unserer Seele noch Innerlicheres zu geben hat, wie sie rein sein müßte, um im Licht zu leben, wie Reinheit flutet aus den Welten des Lichts. In unerhörter Fülle lebt diese Läuterungskraft des Lichts in Christus. „Ihr seid rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe“, sagt Christus zu seinen Jüngern. Das ist die Sündenheilung im Licht Christi (Joh. 5, 14). – Dann versuchen wir auf die göttlichen Harmonien des Lichtes zu lauschen, auf die tiefe Beruhigung und Befriedung, die uns einfügt in das göttliche Walten. Und wir schauen von da aus nach Christus hin, wie er spricht: Friede sei mit euch. Die Pforten des Paradieses öffnen sich in seinen Worten, und Himmelsharmonie breitet sich um uns. So mag es den Jüngern zu Mut gewesen sein, als er ihnen begegnete auf dem Wasser: „Ich bin‘s, fürchtet euch nicht!“ (Joh. 6, 20) – Dann versuchen wir ganz Licht zu werden mit diesem Licht. Wie wir im Sonnenlicht, wenn wir uns ihm vermählen, durch und durch hell zu werden scheinen, als ob wir mit den Sonnenstrahlen denken sollten, so versuchen wir von Christus her mit göttlichem Licht uns bis in alle Winkel zu erfüllen. Wir versuchen mit dem Licht „Christus“ unser eigenes Wesen zu bescheinen, dann die Umwelt, in der wir leben, dann die große Welt. Wir sind ein Licht mit ihm. Wir versuchen in diesem Licht zu erkennen – wenn es auch bei Ahnungen bleibt. Christus macht die Blinden sehend (Joh. 9, 39). – Aber auch eine feine Speise geht aus von dem Sonnenlicht. Es ist, als ob ein Darbender in uns auf diese Lichtspeise gewartet hätte, als ob er sich satt essen wolle an den Tafeln des Lichts. So ist das Licht in Christus für das innerste Lichtwesen in uns „das Brot, das vom Himmel kommt und gibt der Welt das Leben“ (Johannes 6, 33). – Wiederum: eine gewaltige Weltverwandlungsmacht lebt im Licht. Wie wenn mit dem Licht die ganze Weltschöpfung in uns eingehen wolle. Wie wenn wir gar nicht mitkommen könnten, wenn wir uns dieser Gewalt des Lichtes überlassen. So ist auch Christi Wesen. Jedes Wort von ihm schmilzt uns um. In jedem Wort von ihm ist „Vollmacht“ wie im Welten-Urbeginn. In jedem Wort von ihm schlummert der neue Mensch, zu dem wir erwachen sollen nach Gottes Bild. So „offenbart“ Christus „seine Herrlichkeit“ wie auf der Hochzeit zu Kana (Joh. 2, 11). – Nun sind wir beim Letzten und Größten angelangt. Im Licht ist Ostern. Ein Morgenjauchzen aller Geister. Ein „Tag des Herrn“, der auch in uns anbrechen will. Und im Christuswort braust auch Auferstehung. Immer steht er vor uns und wälzt uns den Stein von des Grabes Tür: „Lazarus, komm heraus!“ (Joh. 11, 43). Der strahlende Tag ist gekommen. Er heißt Christus! – Dies alles sind Andeutungen. Sie führen uns auf einem sicheren Weg in die Welt des Licht-Ich, wo das alltägliche Sonnenlicht und die höchste göttliche Offenbarung in Christus eins sind. Dies ist der Tat-Gottesdienst im Sonnentempel.
Wieder können wir unseren Blick nach Osten und nach Westen wenden. Im Westen haben sich die Menschen das Ich erobert. Aber es ist kein Licht in diesem Ich. Im Osten haben die Menschen das Licht verehrt. Aber sie haben das Ich im Licht nicht gefunden. Wir aber gehen einer neuen Welt entgegen, wo wir mit Christus „leuchten als dasselbige Licht“. „Dann werden die Gerechten leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich!“ Wie Christus von sich sagt: „Ich bin das Licht der Welt!“ – so wollte er von seinen Jüngern: „Ihr seid das Licht der Welt!“ –
4. Brief Häusliche Schwierigkeit der Meditation – Wirkung der Meditation auf das „Unbewußte“ – „Fürbitte“ – Einfluß auf das Schicksal anderer – Veredlung des Verkehrs – Ichlosigkeit und Selbstlosigkeit – Innere Führung – Das „höhere Ich“ – Welterkenntnis durch das Ich
Ein junges Mädchen schilderte mir einmal, wie schwer es für sie zu Hause sei, zu irgendeiner stillen Beschäftigung mit sich selbst zu kommen, wäre es auch nur für zehn Minuten. Wenn sie sich einmal zurückziehe, gleich klopfe es an der Tür: „Was machst du denn da drinnen? Hast du denn nichts zu tun?“ – Das Wort Christi zu erfüllen: „Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu“ – wird den „Christen“ von ihren „Mitchristen“ heute nicht erlaubt. Den meisten Menschen würde ein Beten untertags, abgesehen vom Tischgebet, als Absonderlichkeit, vermutlich sogar als eine Müßiggängerei erscheinen. Viele Menschen, die meditieren wollen, namentlich Frauen und heranwachsende Menschen, wissen gar nicht, wie sie sich die Möglichkeit zum Alleinsein in ihrem Haus überhaupt verschaffen sollen. Wir leben in Bezug auf das innere Leben noch im Zustand einer ahnungslosen Barbarei. Das Grundrecht eines Menschen, einmal für sich allein sein zu dürfen – gerade damit er hernach den anderen Menschen umso mehr sein kann, ist weit davon entfernt, als Selbstverständlichkeit anerkannt zu werden. Hier hilft nichts anderes als ein zäher Kampf, der in aller Freundschaft und Unnachgiebigkeit gekämpft werden muß, auch gegen Schikane und Spott. Man wird ja die günstigste Zeit und Gelegenheit wählen und die edle Angelegenheit des eigenen Innern der Aufmerksamkeit und dem Anstoß der andern möglichst entziehen. Aber man wird sich auch darüber klar sein, daß meist das böse Gewissen des andern der eigentliche Gegner ist. Der andere fühlt, – daß man recht hat und daß er auch sollte. Erkennt man dies, so wird man um so ruhiger seinen Weg gehen. Frauen haben mir manchmal gesagt, daß für sie am ersten die Möglichkeit gegeben ist zu einer freien Viertelstunde, wenn der Mann morgens ins Geschäft gegangen ist und die Kinder in die Schule. Dann werden sie sich aber hüten müssen, daß nicht die Haushaltssorgen einbrechen in ihren Geistestempel. Andere finden die Möglichkeit am ersten des Abends. Dann besteht wieder die Gefahr, daß die Müdigkeit uns übermannt oder gar der Schlaf. Vielen habe ich mit dem Rat helfen können, sie möchten wenigstens nicht gleich abends nach Tisch ihre Meditation beginnen, wo ihnen vom Verdauungssystem her die Schwierigkeiten kommen, und erst einmal fünf bis zehn Minuten mit geschlossenen Augen, aber ganz wach, ausruhen, vielleicht sogar mit gestreckten Gliedern, damit Kraft zu innerer Tätigkeit da ist. Für viele ist es am leichtesten, gleich morgens nach dem Erwachen in die Meditation überzugehen, während sie noch liegen und vielleicht noch nicht einmal die Augen öffnen. Man muß sich solches Morgen-Meditieren oft erst mit einiger Mühe erringen. Aber es ist sehr gut und wirksam, so aus dem Schlaf in seinen Geistestempel einzutreten und dort zu weilen, ehe man den Tag beginnt.
Doch die persönlichen und häuslichen Verhältnisse sind so verschieden, daß es schwer möglich ist, allgemeine Ratschläge zu geben. Nur dies möchte man jedem Menschen, dem an einer Pflege seines inneren Lebens liegt, mit allem Nachdruck sagen: Erobere dir die stille Viertelstunde unter allen Umständen, womöglich am Morgen und am Abend, und wenn es geht – wir werden später noch darauf zu sprechen kommen, warum es wichtig ist – auch in der Mittagszeit. Unser höherer Mensch steht auf dem Spiel. Was wir unsern Angehörigen und unserer Arbeit an Zeit entziehen, kommt reichlich wieder herein durch die Qualität unseres Daseins. Auch daß wir unsere Ausruhezeit um diese Viertelstunde verkürzen, braucht uns keine Sorge zu sein. Ebenso notwendig wie das tägliche Essen, ja noch notwendiger sind diese Freizeiten, und wie das Essen sollten sie eine Selbstverständlichkeit des Lebens werden. Wir werden bald die Erfahrung machen, daß die eigentlichen Gegner unserer Meditation nicht in unseren Hausgenossen zu suchen sind und auch nicht in den äußeren Umständen, so schwierig es uns die häuslichen Verhältnisse manchmal machen mögen, sondern in uns selbst. Gewiß, die Hausfrau kann die unruhige Geschäftigkeit, die sie an alles mögliche erinnert, was gerade jetzt zu geschehen hätte, kaum niederhalten, und der Mann des sorgenvollen Berufs auch nicht –, obwohl ihnen der Verstand sagen könnte, daß alles ganz gut eine Viertelstunde warten kann. Aber wenn wir uns dann abends sagen müssen: Wir sind heute wieder nicht zur Meditation gekommen, und wenn wir schon bereit sind, uns freizusprechen: es ging diesmal wirklich nicht, durchaus nicht – dann werden wir bei strengerem Nachdenken in den meisten Fällen doch entdecken: Wir selbst haben im Grund nicht gewollt! Wir selbst haben immer etwas anderes vorgeschoben, was angeblich ein absolutes Hindernis und in Wirklichkeit nur ein selbstgemachter Vorwand war! Dann kommen wir erst darauf, welche raffinierte Geschicklichkeit wir darin besitzen, uns um unsere höchsten Pflichten immer wieder herumzuschleichen, wie widerwillig der Mensch ist – gegen den eigenen Willen, sobald sich in diesem Willen etwas von göttlichem Willen regt. Er möchte sich nicht anstrengen, sondern alles aus „Gnade“ haben. Und dann sieht man erst, wie viele Einwände gegen die „Selbsterlösung“ durch Meditation, die angeblich aus einem tiefen „Glauben an die göttliche Gnade“ kommen, doch gar nichts anderes sind als die Unlust des Menschen, der Gnade, die sich ihm anbietet, auch nur einen Schritt entgegen zu gehen, und für das Geschenk, das sich ihm geben will, auch nur die Hand zu öffnen. Denn alles, was wir hier beschreiben, ist nichts andres als das Auftun der Hand, die das göttliche Geschenk, das ihr geboten wird, auch wirklich ergreift. Hinter dem frömmsten Augenaufschlag kann übler Wille wohnen, der den lebendigen Gott nicht in sich hereinlassen will. Haben wir den Willenstrieb in uns, der uns um die Meditation bringen will wie um jede ernstliche innere Willensanstrengung, erst einmal entdeckt und fangen wir an, ihm gründlich auf die Finger zu schauen und ihm nichts nachzusehen, dann haben wir einen bedeutsamen Schritt im inneren Leben getan. Wirklich: der Gegner der Meditation ist in uns und im Grund niemals außer uns.
Das werden wir besonders auch bemerken, wenn wir etwa darangehen, in den Stunden, in denen wir sonst unsere Gedanken und Gefühle einfach flattern ließen, mehr auf uns zu achten und unsern Seeleninhalt zu prüfen und zu läutern. Wir hätten ja nicht den Mut, hier in diesen Briefen so viel Stoff für die innere Arbeit an uns selbst vorzubringen, wenn wir nicht dächten, daß manches vielleicht nur hin und wieder in den regelmäßigen stillen Viertelstunden des Morgens und Abends, dagegen öfter einmal in den freien Minuten des Tags durch die Seele zieht. Die Frau, wenn sie in ihrer häuslichen Tätigkeit lebt, hat besonders viel Möglichkeit, dies und jenes „in ihrem Herzen zu bewegen“. Und das eigentliche Wesen bildet sich dabei. Der Mann hat solche Möglichkeiten auch da und dort einmal, wenn seine Arbeit mehr mechanisch ist, oder wenn er zur Berufsstätte geht oder von ihr heimkehrt, oder wenn er einmal eine Pause hat oder einen langweiligen Gang zu tun hat. Es ist von großer Wichtigkeit, daß wir die Zeiten allmählich in die Hand bekommen, wo wir sonst uns gehen ließen und träumen. Aber wir werden sehen – besonders beim Einschlafen läßt es sich beobachten – mit welcher eigentümlichen Lust da die Gedanken ihre eigenen Wege gehen wollen und sich gegen jede Bevormundung wehren. Schauen wir dann auf das zurück, was uns vielleicht eine Viertelstunde lang beschäftigt hat, so war es wirklich gar nicht wert, daß wir ihm Gastfreundschaft in der Seele gewährt haben. Aber mit einer Hartnäckigkeit, als ob es ums Leben ginge, will unsere Seele ihren eigenen Gelüsten nachgehen, seien es kleine Freuden und Liebhabereien, an denen wir uns laben, oder seien es allerlei Ärgernisse und Empfindlichkeiten, an denen wir offenbar ebensosehr uns laben, denn wir können ja nicht von ihnen loskommen. Es geht auch wirklich ums Sterben, nämlich ums Sterben des alten Menschen in uns. Je mehr es uns gelingt, unser unbewußtes und unwillkürliches Leben zu veredeln, zu durchgeistigen, zu durchchristen, umso höher werden wir dann mit unserem bewußten und freien Leben aufragen. Das Allerbeste im rechten Augenblick wird emporsteigen aus einer Seele, bei der auch im freiesten Spiel der Gedanken und Gefühle der Inhalt ein großer und guter ist, der uns nährt und bildet. Die Ich-bin-Worte helfen uns zu einer neuen Weltanschauung, an der wir nicht nur im einsamen Denken, sondern im täglichen Leben zu arbeiten haben. In dem Wort „Ich bin das Brot des Lebens“ blicken wir nach unten. In ihm entdecken wir das Gebende, Opfernde in der Welt, die unter uns ist. So blicken wir hinein in das Ich-Antlitz des Vaters, der durch Christus spricht. Das Brot ist der Bote und Sprecher dieses Reiches. Aber sein Wort gilt für alles, was unter uns ist, auch für den Stein und das Tier. In dem Wort „Ich bin das Licht der Welt“ blicken wir nach oben. Das Licht ist der Vertreter der höheren Reiche. Wie die Welt unter uns ernährend ist, so ist die Welt über uns erleuchtend. Künder ist das Licht für alles, was unserem Geiste geschieht, wenn wir den höheren Welten nahen. Geisteslicht erfüllt uns von oben. Und durch das Licht blickt uns wieder das Ich-Antlitz des Vaters an, der in Christus redet. –
Das dritte Ich-bin-Wort: „Ich bin die Tür“ (Joh. 10, 7) lenkt unsern Blick nach außen, auf die Menschen um uns her. Und das vierte Ich-bin-Wort: „Ich bin der gute Hirte“ – wird uns dann nach innen lenken, auf die innere Führung. Zum Christentum gehört als etwas Selbstverständliches, daß man für andere betet. Christus hat für die Seinen gebetet und uns besonders im Hohepriesterlichen Gebet (Joh. 17) in die Art seines Betens für seine Jünger tiefer hineinschauen lassen. Man kann davon gar nicht genug lernen, wie völlig unverblendet und zugleich wie innerlich anteilnehmend er seine Jünger vor den Vater hinstellt. Immer dankbarer wird man, daß es dieses Gebet gibt, dessen Segen die Menschen noch nicht entfernt erkannt haben. Auch der Apostel Paulus hat für seine Gemeinden gebetet. Was er in seinen Briefen sagt und wie er es sagt, wäre nicht möglich, wenn nicht die Seele seines Apostelwirkens ein solches unermüdlich starkes Beten für seine Gemeinden gewesen wäre. Der Verkehr der Menschen untereinander würde von einem ganz anderen Hauch durchweht sein, vom Hauch einer viel höheren Welt, wenn wir verstünden, in der rechten Weise unsre Lebensgenossen in das göttliche Licht hineinzunehmen. Wir würden erst einmal selbst alle kurzsichtige Selbstsucht, die wir ihnen gegenüber haben, in diesem göttlichen Licht verlieren. Und dies könnte die erste Wirkung eines solchen neuen Betens werden. Zu solchem neuen Beten kann uns dies dritte Ich-bin-Wort „Die Türe“ führen. In ihm würde sich von selbst die Frage lösen, die man so oft hört, wenn die Menschen von der „Fürbitte“ reden: Hilft sie denn auch? Weiß Gott nicht selbst besser, was für den anderen gut ist? Sollte er auf meine ärmlichen Bitten hin irgend etwas tun, was er sonst nicht getan hätte, irgend etwas unterlassen, was er sonst getan hätte? Wir möchten diesen Fragen eine starke Gegentatsache gegenüberstellen. Man hat im Leben manchmal den Eindruck: Wenn für diesen Menschen richtig und ernstlich gebetet worden wäre, so wäre es mit ihm nicht dahin gekommen, wohin es gekommen ist. Man hat den Eindruck, daß Engel herabschauen und fragen: Sind jetzt Menschen da, die für ihn beten? – dann können wir Engel manches tun, was sonst nicht möglich ist. Gebete steigen als geistige Mächte zur göttlichen Welt auf. Sie verändern die ganze innere Umwelt. Sie schaffen neue geistige Möglichkeiten für die göttlichen Führermächte. Ganz abgesehen davon, daß sie wirken auf den, für den gebetet wird, besonders, wenn er es weiß, aber selbst dann, wenn er es nicht weiß, indem sie die ganze Geistesatmosphäre um ihn her mit guten Gedanken und Anregungen füllen, die ihn inspirieren können, auch wenn er es nur für „Einfälle“ hält. Manche Menschen haben, besonders im Krankheits- und Sterbefall, sehr deutlich gefühlt, daß für sie gebetet wurde. Aber ganz abgesehen von dem allen sind solche Gebete in der höheren Welt, um ein Bild zu gebrauchen, wie neue, lebensvolle Fäden, die in das Gewebe des Schicksals von den Engeln mit hineingewoben werden können und auf die sie oft warten. Der Mensch wird so ein Mitschaffender am Schicksal seiner Nebenmenschen. Gewiß: in bescheidenen Grenzen. Aber man kann ihm ja vorläufig auch nicht mehr anvertrauen.
Doch selbst abgesehen davon, daß durch Gebete von unten die Geisteswelt um Kräfte und Möglichkeiten bereichert wird, können wir uns den Verkehr des Menschen mit der göttlichen Welt gar nicht frei und lebendig genug vorstellen. Der Mensch wird gehört in der höheren Welt. Er wird geachtet und ernst genommen. Oft kann man ihm gewiß sein Gebet nicht erfüllen, weil man ihm selbst dadurch Schaden zufügen würde und weil man in der höheren Welt im Licht einer Weisheit lebt, in die der Mensch selbst nicht hineinschaut. Wir brauchen aber nur die Abschiedsreden Christi zu lesen und die immer wiederkehrenden Aufforderungen zum Gebet „in seinem Namen“, die dort ausgesprochen werden, so weiß man: Christus will mit dem Menschen verkehren „wie ein Mann spricht mit seinem Freunde“, um das wundervolle Wort vom Gespräch Jahvehs mit Moses anzuführen. Er erwartet, daß der Mensch weiß, mit wem er spricht. Aber er ist auch bereit, auf den Menschen, der mit ihm verbunden ist, einzugehen und sein Schicksal mit ihm zu teilen. Jeder, der von dem Gebet, wie es Christus gemeint hat, eine erste Ahnung hat, der weiß, daß die himmlischen Helfer Christi, wenn sie gerufen werden, so rasch da sind und so nah, daß man beinahe erschrickt, so daß man sich heilig hütet, sie zu leichthin herbeizurufen. Man weiß, daß man von ihnen umgeben ist wie einer heiligen Heerschar und daß von ihnen alles geschieht, nur überhaupt geschehen kann. Was dies Wort von der Türe bedeuten kann, das habe ich vor Jahrzehnten erfahren, als ich das Wort noch wenig beachtet hatte. Ich suchte damals als Religionslehrer nach irgendeiner Gedankenhilfe, die mich in die rechte Stimmung versetzt, wenn ich in die Schule gehe. Da kam ich auf die Christusworte im Hohepriesterlichen Gebet: „Dein sind sie, und du hast sie mir gegeben, und ich habe ihnen deinen Namen offenbart.“ Ich stellte mir vor, dies Wort sei die wahre Türe, durch die allein ich zu meinen Kindern gehen darf. Die äußere Türe dachte ich mir ganz weg. Durch dies Wort hindurch: Dein sind sie und du hast sie mir gegeben, und ich soll ihnen deinen Namen offenbaren! wie durch eine unsichtbare geistige Türe hindurch sollte der Weg zu den Kindern gehen. So hat mir dies Wort außerordentliche Dienste getan, und es hätte mir noch viel größere getan, wenn ich den Mut und die Kraft gehabt hätte, es noch viel ernster zu nehmen. Man kann ja ein solches Wort auch als die Türe betrachten, durch die hindurch man zu Kranken geht oder zu Gefangenen oder zu Armen. Dann würden wir ganz anders an die Erfüllung solcher Christuswarte herankommen wie dies: „Ich bin krank gewesen und ihr habt mich nicht besucht.“ Wie unsichtbare Lichtwolken würden solche Worte über unsern Besuchen leben. Hier in diesen Betrachtungen wollen wir uns nicht nur in verschiedene Christusworte einleben, sondern auch in verschiedene Arten, sie uns anzueignen. Sicherlich gilt dies Wort von der Tür zunächst für solche, die die andern Menschen führen sollen, und hat viele Seiten, die wir hier zurücktreten lassen können. Aber man handelt im Sinn Christi und alles höheren Lebens, wenn man wirklich Christus als die Tür aufrichtet, durch die hindurch man immer in Gedanken zu dem andern Menschen geht.
Das ist, wie wenn man eine Sphäre der reinsten Selbstlosigkeit zwischen sich und den andern legt und sich nur erlaubt durch diese Sphäre hindurch zu ihm zu gehen, mit ihm zu sprechen, ja an ihn nur überhaupt zu denken. Wirklich, wir sollten uns mehr und mehr gewöhnen, gar nicht so äußerlich von den andern Menschen zu denken, sondern nur durch diese reine Sphäre hindurch. Bald wird uns dann ein tiefes Verständnis aufgehen für das Christuswort, das Christus gerade auch an derselben Stelle spricht: Alle, die nicht durch diese Türe gehen, sind Diebe und Räuber. Immer mehr werden wir uns ganz wirklich wie Einbrecher vorkommen, wenn wir mit selbstsüchtigen Wünschen und Interessen an den andern denken. Der Verkehr der Menschen untereinander ist heute noch recht primitiv und seelenkümmerlich. Einige Höflichkeitssitten helfen darüber nicht hinweg. Wir können durch nichts mehr an der Veredlung des menschlichen Verkehrs arbeiten, als wenn wir dies Wort „Ich bin die Tür“ ernst nehmen. Es wird freilich noch nicht viel bedeuten, wenn wir an dies Wort gelegentlich denken, wenn wir zu einem Menschen gehen. Seinen unerschöpflichen Segen fängt dies Wort erst an uns zu geben, wenn wir regelrecht in stillen Stunden unsre Mitmenschen, auch die uns allernächsten, mit Hilfe dieses Wortes meditieren. Wir stellen sie vor uns hin im Geist und erlauben unserer Seele nicht, durch eine andere Türe zu ihnen zu gehen als durch Christus. Wir ahnen dann nicht nur Höhen des Verkehrs, von denen wir bis dahin nichts gewußt haben, sondern wir fangen überhaupt erst an, unsere Mitmenschen, unsere „Nächsten“ zu sehen. Wir greifen nicht mit unsern Egoismen in sie hinein, sondern lassen sie leben, wie sie sind, zunächst in uns. Eine Freude an ihnen regt sich – so wie sie sind im Positiven ihres Wesens, trotz ihrer Fehler. Wir werden dankbar, daß sie da sind. Und diese Dankbarkeit dafür, daß der andere da ist, das ist die Atmosphäre, in der der andere am besten gedeihen kann, sich am wohlsten fühlt und am besten vorwärts kommt. Tief fühlen wir das beste Wesen des andern, den Gottgedanken, der über ihm schwebt, die „Herrlichkeit“, die er „in Gott“ hat, und können uns mit seinem wahren Ich verbünden. Der Verkehr mit den Menschen bekommt einen tiefen Glanz, von dem wir vorher nichts gewußt haben. Es ist bekannt, daß im Trau-Ritual der Christengemeinschaft vom „Tor der Lebensgemeinsamkeit“ gesprochen wird und daß in der kultischen Handlung der Trauung die Ringe den Weg vom einen zum andern über das Christusbild gehen. Ein hohes Ideal der Ehe steht damit vor uns: daß die Vermählten durch Christus als durch die Tür zueinander gehen, womöglich mit jedem Gedanken und jedem Gefühl. Dies will auch in stillen Stunden innerlich gepflegt sein. Dadurch wird dies „Dein sind sie“ immer lebendiger. Aber man wird die Erfahrung machen, daß man das Bild von der Sphäre der reinen Selbstlosigkeit noch ergänzen muß. Selbst-los ist etwas anderes als Ichlos. Selbstlos kann gerade nur der sein, der ein Ich hat. Ja, je stärker unser Ich ist, umso stärker wird das Ich des andern in ihm erklingen, vorausgesetzt, daß unser Ich selbst-los ist.
Je mehr unser Ich rein ist, umso mehr wird das andere Ich mit ihm zusammenklingen, mit ihm zusammen so erklingen, daß wir in einem höheren gemeinsamen Ich mit ihm erklingen. Es gibt viele geheimnisvolle Vorgänge im Verkehr der Menschen: dies ist einer der wunderbarsten. Über jeder solchen Stunde, da wir mit einem andern Menschen in der Sphäre der Selbstlosigkeit Ich und Ich zusammenklingen, ertönt das Wort: Alle eins in mir! Hier stehen den Menschen die größten und schönsten Erlebnisse bevor. Ein wirkliches Zusammenklingen in Christus, demgegenüber die schönsten musikalischen Akkorde und Harmonien einer niederen Sphäre angehören. Das „Ich bin“ ist die Türe. Nur muß das Ich in uns erklingen, ähnlich wie es in Christus erklungen ist. Wir machen also folgenden Meditationsvorschlag. Zwischen uns und dem andern schaffen wir eine Sphäre, in der wir die Selbstlosigkeit wie ein reinstes Licht aufstrahlen lassen. Dies Licht lassen wir zum „Ich bin“ des Christus werden. Durch diese Türe gehen wir zu den Menschen, die wir lieb haben – und auch zu denen, die wir nicht lieb haben. Wir betrachten sie so, wie sie uns erscheinen, wenn wir durch diese Türe gehen. Was dadurch in uns vor sich geht, das wird uns auch zu einer neuen Fürbitte hinleiten. Wir werden erfahren, wie manche Menschen sich uns jetzt „aufschließen“, wie aber auch manche Menschen sich uns „zuschließen“, weil wir in falscher, neugierig voreiliger Weise über sie denken. Wir werden ganz andere Beurteilungs-“Gesichtspunkte“ gewinnen, werden gar nicht so wie früher von sympathisch und unsympathisch, von fremd und feind reden, sondern die Iche sehen in ihrer Unergründlichkeit und Zusammengehörigkeit: wir werden anfangen, Worte zu verstehen wie das von Meister Eckehart: Solang du dir selbst mehr gönnst als jenem Fremden, den du nie gesehen, so lang hast du nie einen Augenblick in Gottes Grund hineingelugt! Oder das Christuswort: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! – wofür man auch sagen könnte: Liebe deinen Nächsten als dich selbst! Wir werden ein ähnliches Erlebnis bei jedem Menschen haben, wie es Alkibiades an Sokrates hatte: Ein unscheinbares Gehäuse, aber im Innern wohnt ein Gott. Wir werden erfahren, daß uns „der Türhüter auftut“, der uns sonst nicht aufgetan hätte. Wir werden dem Menschheitsziel des Johannesevangeliums näherkommen: Ich in ihnen und sie in mir und alle eins in mir. Allmählich wird es uns heilig lieb werden, durch diese Türe zu den Menschen zu gehen, und wir werden möglichst mit keinem Gedanken mehr zu den Menschen gehen wollen außer durch diese Türe. Wollten wir auch hier wieder, um die weltgeschichtliche Größe dieser Offenbarung einzuatmen, nach Osten und Westen blicken, so würden wir sehen, daß man im Osten die Tür zum andern gehabt hat. Tat twam asi: „Das bist du!“ Aber bezeichnenderweise fehlt hier das Ich. „Das bin ich!“ sprach Christus, als er zu uns sagte: Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan. Darum kommt es im Osten wohl zu einem Zusammengehörigkeitsgefühl, aber zu einem solchen, das die Seelen dort sucht, wo sie im Ursprung in der Gottheit unbewußt noch eins sind. Ganz anders ist die Gemeinschaft, auf die das Johannesevangelium hindeutet, wenn in der Zukunft die Menschen sich vereinigen. Das sind nicht die Seelen mehr, sondern die Iche.
Und es ist nicht Einheit, sondern Einigkeit, wie sie nur durch Christus erreicht werden kann. – Im Westen aber ist es ganz anders. Wie die Menschen nach dem Westen hin möglichst getrennt voneinander in ihren Häusern wohnen, so stehen sie auch im Leben als Einzelne nebeneinander. Und wenn man auch für Demokratie begeistert ist, so ist es nicht etwa wirkliche Gemeinschaft, sondern etwa die Herrschaft der Mehrheit der Einzelnen. Das Ich hat immer noch die Tendenz, sich allein geltend zu machen, und gibt nur zu, daß es, um zur Alleinherrschaft zu gelangen, erst die andern von seiner Ansicht überzeugen muß. Eine Tür zum andern gibt es im Grund nicht. Sie ist verschlossen und wird nur auf Glockenzeichen hin zu besonderen Zwecken aufgemacht. So sehen wir, was wir für die ganze Menschheit zu erobern haben, wenn Christus nach dem Osten hin spricht: Die Türe ist mein Ich. Und nach dem Westen hin: Mein Ich ist die Türe. – Nun erst, nachdem wir nach unten, nach oben, nach außen geschaut, werden wir dahin gelenkt, auch nach innen zu schauen. Ich bin der gute Hirte (Joh. 10, 12). Gerade dies Wort bietet dem Gegenwartsmenschen besondere Schwierigkeiten. Zunächst liegt ihm der Geschmack davon auf der Zunge, wie er dies Wort hat gefühlsmäßig zerpredigen hören. „Weil ich Jesu Schäflein bin.“ Dann ist ihm auch der Hirtenberuf fern gerückt. Und das Lamm ist ihm empfindungsgemäß mehr ein Bild des hilflosen Unverstands und einer Geduld, die sich alles gefallen läßt, als das Bild der Reinheit und des Gehorsams. Es ist nicht leicht, über solche Empfindungen ganz hinwegzukommen und sich hineinzufühlen in die Empfindung, die durch Jahrtausende der Hirte gegenüber seiner Herde und die Tiere gegenüber dem Hirten hatten. Die Schafe fühlen den Hirten wie ein höheres Wesen. Und der Hirte setzt sich für seine Schafe ein bis zur Hingabe des Lebens. Gerade dies letztere hebt ja Christus ins Licht. Sein letztes Wesen spricht sich in Klarheit aus, wenn der nächste Satz nach dem Wort: Ich bin der gute Hirte, nicht von irgendwelchem Führen und Folgen spricht, sondern darauf hindeutet: Der gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe. Ein Menschheitsberuf, der durch ungemessene Zeiträume in der Menschheit die größte Bedeutung gehabt hat und der gegenüber dem Kriegerberuf die Welt des Friedens und des Wohlseins verkörpert hat, wird hier in eine höhere Sphäre aufgenommen und dort für immer aufgehoben. Mag man es nun versuchen, den Spuren des Geschehnisses folgend, zu den Erlebniswelten aufzusteigen, in denen das Geheimnis der inneren Führung sich kundgibt. Das erste Erlebnis ist angedeutet in den Worten: „Meine Schafe hören meine Stimme.“ „Ich kenne die Meinen und bin bekannt den Meinen.“ Auch in den andern neutestamentlichen Schriften findet sich dies Erlebnis eines tiefen „Erkennens“. „Dann werde ich erkennen, gleichwie ich erkannt bin.“ Plato sagt, daß alles wahre Erkennen auf einem Wiedererkennen dessen beruht, was die Seele schon vor ihrer Geburt in einer höheren Welt erlebt hat. Die Art des Erkennens, von der hier die Rede ist, liegt noch um eine Stufe höher. Jene einzigartige Liebe, die sich in uns zu Christus regt, wenn wir ihn überhaupt einmal sehen, wie er ist, rührt daher, daß uns aufgeht:
Da ist unser wahres Wesen, wie es sein soll! Da ist unser göttliches Ich! Dies Erlebnis hat der Mensch in jedem Augenblick an Christus, sobald er ihn sieht, wie er wirklich ist. Aber es ist gut, es sich zum Bewußtsein zu bringen. Und dem dient diese Meditation. So mag sie beginnen damit, daß wir im Christuslicht uns selbst zu ahnen suchen, wie wir eigentlich gedacht sind. Ein „Erkennen“, wie es kein tieferes gibt, kann dann über unsere Seele gehen. Jetzt blitzt der göttliche Gedanke unsres Wesens auf. Jetzt erstrahlt unser wahres Ich. Wie wenn auf einen Diamanten, der unter anderem Gestein und Erde dunkel dalag, das Licht der Sonne fällt: so begrüßen sich Christus und unser wahres Ich. Sie leuchten wie Diamant und Sonne als ein Licht miteinander. In diesem Bild mögen wir die Wahrheit zu meditieren suchen: „Ich kenne die Meinen und bin bekannt den Meinen.“ Das Erlebnis kann sich zu dem Eindruck steigern: Niemand kennt mich bei Namen als Christus; ich war verborgen, auch mir selbst, bis er mich beim Namen gerufen hat; aber nun kenne ich mich oder ahne mich doch und weiß, daß ich gekannt bin. Wenn ich an Christus denke, dann denke ich zugleich an mein bestes Wesen; und wenn ich an mein wahres Ich denke, dann leuchtet zugleich Christus in mir auf, in dem es geborgen ist. „Demselbigen tut der Türhüter auf“ – es gibt wirklich einen Türhüter in uns, der nur dem Christus auftut. Wir bleiben „verschlossen“, bis er da ist. In jedem Augenblick, wo wir wirklich das für uns Rechte tun, geschieht es aus einem solchen tiefen „Erkennen“ heraus. Erfährt man dies, dann stellt sich ein unbeschreibliches Gefühl der Geborgenheit ein. Man fühlt, daß man vorher in der Fremde war, daß der Hirte, um im Gleichnis des Lukasevangeliums zu reden, das verlorene Schäflein gefunden hat und trägt. Man wußte nicht, wie sehr man früher in der Irre war und wie geborgen man sich mitten in der Welt fühlen kann. „Sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie mir aus der Hand reißen.“ Aber nur dann wird es so, wenn man auf die Stimme des Führers horcht. Andernfalls stellt sich sofort wieder das Gefühl eines völligen Verlorenseins ein. Man wußte ja gar nicht, wie sehr man in diesem Gefühl des Verlorenseins immer lebte. Das nächste nach der Geborgenheit ist die Empfindung der sicheren Führung. Ganz von innen her kommt diese Führung. Wir haben keine Führung von außen her in Zeichen und Winken zu erwarten, oder, wo sie da zu sein scheint, müssen wir sie aufs allergenaueste prüfen. Der Führer wohnt im Innern. Aber es fehlt uns auch keinen Augenblick an sicherer Weisung, wenn wir nur erst einmal aus dem Stimmengewirr im Innern die Stimme des Führers herauszuhören vermögen. Ganz anders werden die Menschen in Zukunft lernen, auf diese Stimme des Führers in ihrer Seele zu hören. Christus hat uns gesagt, daß er in uns wohnen will. Dann möchte man immer nur in der Führung dieses Führers gehen. Doch es ist schwer, dahin zu kommen. Ein immer wacheres, reineres Horchen nach innen würde uns aber bald auf überraschend sichere Lebenswege bringen. Das letzte ist das Gefühl des größten Reich-seins. In segnende Welten treten wir ein. Eine sichere Entwicklung beginnt. „Ich gebe ihnen das ewige Leben.“ Man weiß: da blüht die wahre Weide der Seele. Und alle Gärten höherer Welten tun sich auf.
Haben wir in der vorigen Meditation das Ich-bin Christi v o r uns gehört, so daß es die Tür wurde, durch die wir hindurchgehen, so mögen wir es jetzt wie hinter uns und über uns hören. Gerade, wenn wir in irgendeiner wichtigen Einzelfrage uns an ihn wenden, kann es uns manchmal sein – wenn wir nur Geduld haben, dieses Ich-bin stark genug werden zu lassen – als ob wir aus diesem Ich-bin heraus die Stimme hören, die uns führt, indem sie uns immer bei unserem wahren Wesen ruft, das sie liebend schont und pflegt. Meist liegt es nur an unserem Mut, daß wir die Stimme nicht hören. Wir haben Angst, daß sie uns sagen könnte, was wir doch nicht tun wollen. Diese Angst verdeckt uns die Christusstimme in uns. In den Welten des Ostens hat man den „Meister“ gesucht. Aber er war außer dem Menschen. In den westlichen Welten hat man wohl in sich die Führung gehabt. Aber es war kein höheres Ich da, kein göttlicher Meister, der führte. Wieder haben wir in der Christusverkündigung des Johannesevangeliums die Verbindung der auseinanderfallenden Welten und ihre Überhöhung durch das Ich-Geschenk des Christus. Aber es gilt bei dieser Meditation im Bewußtsein zu halten, daß Christus gerade hier, wo er von der Führung spricht, seinen Rang als Führer nur seiner Hingebungskraft verdanken will, daß er auf der einen Seite hindeutet zum Vater: Ich und der Vater sind eins, und auf der anderen Seite gerade jetzt von den Menschen sagt: „Ihr seid Götter“ (Job. 10, 34). Wir können hier nicht über die vielen Einzelheiten eines solchen Kapitels reden. Aber den Stimmungshintergrund, aus dem das Christuswort gesprochen ist, müssen wir kennen und in uns beleben können. – Das Allerwichtigste ist indessen dies, daß uns allmählich immer deutlicher wird, wie sich nun dadurch unsere ganze Welt wandelt. Wohin wir schauen, strahlt uns das göttliche Ich entgegen. Wenn wir nach unten schauen – das Brot ist der Stellvertreter dieser Reiche – so schaut uns ein Ich an, das sein Leben an uns hingibt. Wenn wir nach oben schauen – das Licht ist der Prophet dieser Welten – dann schaut uns wieder ein Ich an, das uns an seinem Leben teilnehmen läßt. Wenn wir nach außen schauen, so entdecken wir in den Mitmenschen den göttlichen Strahl, das verdunkelte „Ich im Vater“. Und wenn wir nach innen schauen, so steht groß hinter uns selbst wieder das göttliche Ich da. Überall steigen Welten des Lichts empor. Aber das Wort Licht ist viel zu dünn und leblos. Aus dem Licht blickt uns überall ein Ich an, wie aus dem deutschen Wort Licht ein Ich herausblickt. Wenn es nicht bei ersten Ahnungen bleiben soll, dann müssen wir uns diese Welten unter uns, über uns, außer uns, in uns erst erobern. Aber dann erhebt sich hinter der alten Welt eine neue Welt, geistgroß und voll schenkender Güte. Wohin wir schauen, blicken wir in das Antlitz eines Vaters, dessen Ich-Stimme Christus ist. Wir ahnen die ferne Größe des johanneischen Zentralwortes: Ich im Vater. –
5. Brief Heiligung des Erkenntnisstrebens – Weihe der Zeit wie des Raums – Arbeit an der Zukunft, Vergangenheit, Gegenwart – Meditation und Lebenspraxis – Übertreibung des Meditierens – Tagesrückblick – Christliches Lebensgefühl – Ich-Krankheiten und ihre Heilung
Es muß ein wunderbares Sich-selbst-Erkennen gewesen sein, als Christus über die Erde ging. Er sah zum Licht empor und fand im innersten Wesen des Lichtes sich selbst wieder. Ich bin das Licht der Welt! Er sah zur Erde hinab, hob das Brot auf und sagte wieder: Das bin ich! Nie ist Größeres in einem Menschengeist vor sich gegangen als dies Erkennen. Was er nun als sein eigenes Innerstes empfand, das hat Christus ausgesprochen in dem Gleichnis vom guten Hirten. Dort redet er, ohne das Wort Liebe zu nennen, von der Hingebung bis in den Tod. Dem entspricht dann das Wort von der Tür zum andern Menschen, die nur in der selbstlosen Liebe gefunden werden kann. Christus hat nach seinem eignen Wort nicht „aus sich selbst“ geredet, sondern verkündet, „was ihm der Vater gegeben hat“. So hat er den Menschen den „Namen Gottes“ offenbart. Im Alten Testament ist der größte Augenblick, der uns geschildert wird, wie in der Einsamkeit der Wüste Jahveh dem Moses begegnet und auf seine Frage nach seinem Namen antwortet: „Ich bin der Ichbin! Das ist mein Name! Dabei wird man mein gedenken für und für!“ Dieses Ich-bin wird von Christus aufgenommen und mit seinem ganzen reichen Inhalt erfüllt. Der Name Gottes wird „offenbar“. Alles, was wir bisher besprochen haben, ist im Grund nichts anderes als ein einzigartiges Darleben der ersten Bitte des Vaterunsers: „Geheiligt werde dein Name!“ Christus liest den göttlichen Namen „Ich bin“ in Licht und Brot und heiligt ihn so, daß er ihn ganz zum Inhalt seines eigenen Wesens werden läßt. So oft auch das Vaterunser gebetet worden ist, so wenig lebendig und konkret ist den Menschen gerade diese erste Bitte gewesen. Über ganz allgemeine Empfindungen von Heiligkeit und Ehrfurcht kommen sie kaum je hinaus. Hier ist der Weg gezeigt, wie das Leben eine Erfüllung dieser Bitte werden könnte, wie wir überall, oben und unten, außen und innen den Namen Gottes lesen und seine Heiligung vollbringen könnten. Damit aber erhebt sich der Mensch zugleich in das letzte und höchste Erkennen, das möglich ist. Alle Erkenntnis ist zuletzt Gotteserkenntnis. Gotteserkenntnis aber ist – im Sinn des Johannesevangeliums – das wahre „Leben“. „Das ist das wahrhaftige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen.“ So ist also alles menschliche Erkennen umso tiefer und wahrer, je mehr es dem Sichselbst-Erkennen ähnlich wird, das wir oben von Christus beschrieben haben.
In unserer Zeit, wo das Leben sich stark und selbstverleugnend zum Erkennen hingewandt hat, hilft man den Menschen nicht erlösend, wenn man sie vom Erkennen hinwegruft zu dem, was man – mit hohen Worten und unklaren Gedanken – „Glauben“ nennt, sondern nur, wenn man das Erkennen selbst durchführt bis zu seiner johanneischen Höhe, die heute noch die höchste Höhe ist, eine ferne Höhe, die über all unsrem heutigen Erkennen liegt. Denn auch alles physikalische und chemische Erkennen, alles biologische und mathematisch-astronomische Erkennen führt nur zu einer um so reicheren und tieferen Offenbarung des „Ich bin“, das hinter allen Erscheinungen lebt. Es ist also die Heiligung des Denklebens, des Erkenntnisstrebens unsrer Zeit, der wir mit diesen Ich-bin-Übungen uns entgegenentwickeln – in voller Harmonie mit dem Evangelium. Wir haben bisher hineingeschaut in einen neuen Raum mit seinen vier Richtungen. Die letzten drei Ich-bin-Worte helfen uns nun in ähnlicher Weise, uns eine neue Zeit aufzubauen.* In der Gegenwart haben die Menschen wohl ein starkes Gefühl für die Kostbarkeit der Zeit, für ihren „Geldwert“. Aber wenig Gefühl für die Heiligkeit der Zeit. Sie wissen zum Beispiel nicht, was es heißt: Sitzen am heiligen Strom der Zeit und in ihm baden, wie die Inder im Ganges baden. Im alten Persien war es, wo die Menschen zuerst zu Raum und Zeit klar erwachten. Während die Inder an der Unendlichkeit der Zeit und des Raumes sich erbauten und erschreckten, finden wir bei Zarathustra erhabene Worte über den Gott, der in Raum und Zeit sich konkret offenbart. Dies können wir in neuer Weise wiedergewinnen. „Webend in Raumesweiten und in Zeitenfernen“ sagt die Menschenweihehandlung. Das Erste kann sein, daß wir uns eine neue Zukunft schenken lassen. „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ (Joh. 11, 25). In dies Wort können wir ein für allemal alle unsre Zukunft eintauchen, sie gleichsam in ihm taufen. Wertvolle Zukunft ist überall dort, wo das Ich des Christus aufersteht und ein neues Leben führt. Alles, was wir um uns sehen, ist ein Grab, aus dem Christus auferstehen will. Die Menschen von heute haben keine wirkliche Zukunft. Wenn sie an die Zukunft der Erde denken, so stellen sie sich eine „unendliche Entwicklung“ vor, der aber dadurch doch ein Ende gesteckt ist, daß der „Wärmetod“ unaufhaltsam naht. * Gelegentlich höre ich, es seien doch nicht sieben, sondern acht Ich-bin-Worte. Man nimmt dann das Wort hinzu (Joh. 18, 37): „Du sagst es, ich bin ein König“. Aber dies Wort, oder vielmehr diese Antwort gehört doch, wie leicht gesehen werden kann, zu einer andern Art von Bekenntnissen, und würde mit der Antwort (Joh. 4, 26) „Ich bin der Messias“ und der Antwort (Lukas 22, 70) „Ich bin Gottes Sohn“ zusammen eine Gruppe von Bekenntnissen bilden.
Und von sich selber glauben die Menschen, daß es wohl mit dem Tod zu Ende sein dürfte, und daß es allein tapfer, aufrichtig und bescheiden sei, kein weiteres Leben zu begehren. Sollte es aber dennoch weitergehen, so hoffen sie immer noch im guten Durchschnitt des großen Haufens zu sein, wenn sie sich hier auf der Erde einigermaßen anständig benommen haben.
Nachdem der alte Osterglaube zusammengebrochen ist, werden die Menschen zu einem neuen Osterglauben nicht mehr kommen, wenn nicht mit Hilfe dieses Wortes: „Ich bin die Auferstehung und das Leben!“ – Zu allerlei spiritistischen Mutmaßungen kommen sie – vielleicht. Aber ein Jenseitsglaube, der Bestand hat und im vollen Sinn lebensfruchtbar ist, muß heute von innen her aufgebaut werden: aus dem Ich im Menschen, das durch Christus seine Auferweckung von den Toten erfährt. Es ist von größter Wichtigkeit, daß wir gerade hier in der rechten Art an uns arbeiten. Bei allen Ich-bin-Worten mögen wir uns vorstellen, daß wir eingehüllt sind von dem größeren Ich des Christus. Wie eine lichte Hülle ist sein Ich um uns, erfüllt von Reinheit und Güte. Und unsre Meditation besteht darin, daß wir dies Ich immerfort bejahen. Ja sagen zu Christus: das heißt im biblischen Sinn „glauben“. Und unsre Meditation ist ein tätiges Vollbringen dieses „Glaubens“. Wir brauchen gar nichts Einzelnes über Christus zu denken. Das können wir auch tun, wenn wir dadurch nicht aus dem Zentralen herauskommen. Aber wir können auch ein fortwährendes tätiges Ja in unserer Seele vollziehen zu diesem Ich des Christus – so wie wir es eben zunächst finden. Vielleicht vermögen wir zunächst nur an den „geschichtlichen Jesus“ zu denken oder an ein allgemeines Göttliches. Dann bleiben wir so lang darin, bis uns mehr aufgeht. Aber es ist erfahrungsgemäß gar nicht gut, bloß ja zu sagen zu diesem höheren Ich. Das wird leicht starr und ermüdend. Sondern man kann sich bemühen, immer stärker ja zu sagen, immer lebendiger und ausschließlicher mit dem vollen Menschen dies Ich zu empfinden und sich davon durchdringen zu lassen. Man wird allmählich lernen, daß es Grade des Durchdrungenwerdens gibt, von denen man vorher nicht von fern eine Ahnung gehabt hat. So wach, so sicher, so dauernd, so geistig, so lebendig kann dieses Dasein eines höheren Ich in der Seele sein, als ob wirklich ein Gott seinen Tempel erfüllt. Die Kraft der Meditation oder, wie wir auch sagen können, die Kraft der Andacht wächst ins Unerhörte, wenn sie geübt wird. Schon diese Tatsache allein läßt die Reden derer in einem merkwürdigen Licht erscheinen, die uns sagen, auf religiösem Gebiet dürfe man aus lauter Ehrfurcht vor Gott nicht „üben“. Das ist mindestens unerfahren geredet. In solcher Rede liegt aber ein unbewußtes Verbrechen an der Menschheit. Wenn wir uns kraftvoll mühen, brauchen wir keine Sorge darum zu haben, daß es uns zunächst gar nicht zu gelingen scheint, die Meditationsstimmung auch im Alltag festzuhalten. Rudolf Steiner, der auf diesem Gebiet Erfahrenste, hat sogar den Rat gegeben, die Stimmung der Meditation nicht im Alltagsleben festhalten zu wollen. Das bezieht sich allerdings vor allem auf die Übungen des geisteswissenschaftlichen Erkenntnisweges. Der klare, nüchterne Blick für die Alltagsdinge darf auf keinen Fall verlorengehen, wenn der Mensch sich „höherentwickeln“ will. Er würde sonst ein ungeschickter Träumer werden. Auch für die religiösen Übungen, die wir hier empfehlen, wäre es ein Irrweg, sich einzubilden, daß man die Hochstimmung der Meditationsviertelstunde den ganzen Tag hindurch festhalten kann, sich unglücklich zu fühlen, wenn das nicht gelingt, und sich nur wieder nach den stillen Viertelstunden zu sehnen.
Vielmehr heißt es, stark zu meditieren, so stark, wie es nur möglich ist, dann aber, nachdem man alles noch einmal zusammengefaßt und überblickt und den Ertrag der Meditation heimgebracht hat, sie fallen zu lassen und herzhaft an den Alltag sich hinzugeben – mit dem Ich, das jetzt in uns lebt. Man gibt dann die Meditation in den Tod – aber erlebt auch ihre Auferstehung. Das ist nicht so gemeint, als ob man sich nicht oft im Lauf des Tages an das erinnern könnte, was als das Höchste in uns lebendig war. Im Gegenteil. Man könnte sich vornehmen, wenigstens bei jedem Stundenschlag bewußt das Höhere wieder zu beleben, das in der Meditation da war. Aber man kann das schwer durchführen. Richtiger ist, womöglich vor jeder neuen Arbeit, die wir beginnen, zurückzugehen in den Tempel und von dort wieder auszugehen. Aber selbst dies läßt sich kaum immer vollbringen. Wir sind innerlich noch nicht so erstarkt und erzogen, daß wir schon vermöchten – was für Menschen späterer Zeiten eine Selbstverständlichkeit sein wird. Unser inneres Leben ist schwach gegenüber dem äußeren Leben, das uns immerfort bedrängt. Erst ganz allmählich werden wir lernen, bewußt aus dem höheren Ich heraus zu leben, das in der Meditation sich bildet. Nicht einmal dies darf uns verdrießlich machen, wenn wir in der Meditation selbst gestört werden, vielleicht gerade im besten Augenblick. Es ist eine Probe für unsere innere Erziehung, ob es uns jederzeit möglich ist, aus der höchsten Meditation gelassen und friedlich herauszugehen, wenn irgendein Ruf aus der Außenwelt an uns ergeht. Gelingt uns dies nicht, dann ist irgend etwas in unserem Meditieren nicht in Ordnung. Bald entwickelt sich in uns selbst das Gefühl, daß wir das Beste, was uns geworden ist oder werden wollte, wieder verderben, wenn wir in diesem Augenblick nicht ruhig und freudig bleiben. Selbst wenn wir gerade vor dem Tor zu einem höheren Erlebnis standen, sollte die Geistesruhe, die im Meditieren gewonnen wird und die aus der Meditation in den Tag mitgebracht werden soll, uns wichtiger und stärker sein als irgendeine Einzelheit, die wir zu erobern im Begriff waren. Gelingt uns dies, dann werden unsere Mitmenschen nur Gutes durch unser Meditieren erfahren. Hier wäre nun auch auf die Frage zu antworten: Kann man zuviel meditieren? Gewiß kann man das. Wenn man so viel Zeit auf das Meditieren verwendet, daß man seine Lebenspflichten darüber versäumt, wenn man in solcher Art meditiert, daß man dadurch dem Leben entfremdet wird oder daß man dabei ins „Dösen“ kommt, in das dumpfe, dämmernde Träumen, dann ist das Meditieren kein Gewinn mehr, sondern kann nachteilig werden für uns und für andere. Keinem kann es erspart werden, hier selbst auf sich acht zu haben. Man kann nur sagen: Prüfe, ob du lebenstüchtiger wirst; prüfe, ob der Geist klarer und stärker wird; das Leben selbst wird dir genau sagen, ob du auf dem rechten Weg bist. Man kann im körperlichen Leben keinem Menschen sagen, wieviel er essen soll und darf, sondern man kann ihm nur raten, das Feingefühl für seinen Leib so zu entwickeln, daß dieser selbst es ihm sagt, und er wird es ihm genau sagen. Nicht anders ist es im Seelenleben.
Nach dieser Einschränkung fahren wir fort, weiter vom Meditieren zu erzählen. Und wir sind der Meinung, solange Tausende von Menschen noch so viel Zeit haben, um Kreuzworträtsel zu lösen – vielmehr: sie zu „meditieren“, so lange werden Hunderte da sein, die ein Ich-bin-Wort meditieren. Und solange Hunderttausende hören wollen, was es täglich in der Welt Neues gibt, so lange werden Tausende da sein, die hören wollen, wie sie selbst neu werden können. Bei der Meditation des Auferstehungswortes sind wir wieder in der glücklichen Lage, daß uns das Evangelium selbst eine ganz exakte Meditation darbietet in der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus. Wir selber sind es, die im Grab der Erde ruhen. Man kann geradezu sein Knochensystem als das Gewölbe empfinden, in das man eingesargt ist. Wir sind der Mensch, der krank ist – aber auch der, den „der Herr lieb hat“. Auch Martha und Maria sind in unserer eigenen Seele. Zweifel und Trauer: wirklich, gerade aus diesen beiden Seelenkräften sind alle Erdenphilosophien angesichts des Todes entstanden: der Skeptizismus und der Pessimismus. Selbst die mehr konventionelle Klage, die sich in die traurige Lage schickt, ohne sie recht zu empfinden, ist in den wehklagenden Juden da. – Man mag das Christuswort „Ich bin die Auferstehung“ am Morgen beim Erwachen empfinden. Und es können Menschen kommen, die es sich zum Lebensgesetz werden lassen, morgens so zu erwachen unter dem Wort des Christus, wie Lazarus erwacht ist im Grab in Bethanien. Christus geht an uns vorüber, ruft uns und erweckt uns. Wird dies erlebt, so ist eine unbeschreibliche Heiligung des Erwachens die Folge. Das Wort, das ja zunächst zu Martha gesprochen wurde: Ich bin die Auferstehung und das Leben! baute sich doch schon wie eine neue Welt um Lazarus, als er noch im Grabe lag – ehe der erlösende Ruf erklang. So kann uns das Ich des Christus in der Meditation umhüllen, ehe das aufweckende Wort selbst gesprochen wird. Wir erleben dann in aller Wirklichkeit, wie aus diesem Ich Auferstehung und Leben hervorquillt. Darauf, daß wir spüren, wie aus diesem Ich eine neue Welt geboren wird, die anders ist als die Todeswelt, in der wir sonst leben, völlig anders, darauf kommt es entscheidend an. Viel lichter, lebendiger, geistiger, Ich-durchstrahlter ist diese Welt. Es ist nicht eine Anmaßung, sondern die wirkliche Aneignung dieses Christuswortes, dieser Christustat, wenn wir so das Lazarusereignis selbst zu erfahren suchen, in der anfängerhaften Art, in der es zunächst möglich ist. In Wahrheit spricht ja Christus nicht nur am Grab des Lazarus: Ich bin die Auferstehung und das Leben, sondern er spricht immer so, es spricht aus ihm immer so, wenn wir ihn lebendig um uns haben. Er ist es, nicht nur ein Wort von ihm!
Spüren wir dies, dann wissen wir auch, wo unsere Zukunft ist. Er ist die Zukunft der Menschheit und die Zukunft der Welt. Nun erkennen wir erst deutlich, daß die Menschen ganz falsch an die Zukunft denken. Sie hoffen auf die Zukunft oder sie fürchten sich vor der Zukunft. Wir sollen die Zukunft schaffen! Bei allem Denken an die Zukunft kann die Lazarusgeschichte uns helfen! Überall sehen wir das Grab und die Krankheit, die zum Tode führt: in der Völkerwelt ebenso wie in der physischen Welt, im Schicksal des Einzelmenschen ebenso wie in den Zeitanschauungen. Überall steht vor dem Grab: Christus. Und wir brauchen nur in sein Ich hineinzuhören, hineinzufühlen, dann kommt aus ihm die neue Welt hervor. Diese Welt kommt nicht von selbst, sie kommt aus dem „Ich bin“ des Christus. Dieses „Ich bin“ will aber in unserem „Ich bin“, durch unser „Ich bin“ einbrechen und kann nur durch unser Ich einbrechen in die alte Welt. So wird unser Verhalten zur Zukunft anders: durchaus aktiv und heroisch. Wir sehen jetzt, wie wir daran arbeiten müssen, daß wir erst den richtigen Blick für die Zukunft gewinnen, in allen Einzelheiten und im großen Ganzen. Von selbst kommt es nicht. So stark sind auch unsere stärksten inneren Eindrücke nicht, daß sie alles von selbst machen. Unseren Willen müssen wir in Tätigkeit bringen. Wir können uns ja dessen entschlagen. Aber dann bleiben wir unweigerlich in den Anfängen stehen. So sagte mir einmal eine Frau: Wenn das Christentum Liebe zu meinen Feinden von mir verlangt, dann höre ich eben an dieser Stelle mit meinem Christentum auf. Aber man gewinnt doch ein immer feineres Gefühl dafür, daß man als „Christ“ niemals und nirgends an die Zukunft denken darf „wie die Heiden“, daß in unserem B1ick das Christentum drin sein muß, wenn wir die Welt anschauen. Nicht so, daß wir mit Bibelsprüchen um uns werfen, auch nicht bloß so, daß wir „die Zukunft Gott befehlen“: dies ist Mohammedanismus, aber noch nicht Christentum. Sondern so, daß der Christuswille in uns da ist, der am Grabe des Lazarus da war. Und die Erde selbst ist überall das Grab. Es ist ein Gefühl von hoher Feierlichkeit, wenn in uns wieder ein Stück Welt erlöst wird, indem in das Dunkel unserer Zukunft das Christuslicht einstrahlt. Unmittelbar empfindet man, wie die „Durchchristung“ fortschreitet. Man achte nur immer darauf, wie aus dem Ich des Christus, aus seinem innersten Lebenszentrum, eine mächtige neue Welt aufquillt – es gibt keinen besseren Ausdruck dafür – und man wird konkret erfahren, was das „Neue Jerusalem“ ist und wie das „Neue Jerusalem“ wird. Gleichwie im Atom das ganze Sonnensystem ist, so ist in uns, in unserem neu werdenden Ich das „Neue Jerusalem“ da. Ein doppeltes Christentum ist dann nicht mehr möglich: nicht möglich ein Christentum, das auf Weltkatastrophen hofft, während in der Innerlichkeit, im Ich die große Katastrophe, die große Umwälzung vor sich geht, und nicht möglich auch ein Christentum, das nur auf ein Jenseits wartet, während dieses Jenseits mitten im Diesseits anbricht.
Ebenso ist uns aber auch, wenn wir wieder nach Osten und Westen schauen, nicht möglich eine Weltanschauung, die den Menschen aus der Todeswelt herauslösen will im Osten, während Christus die Auferstehung im Ich ist, und ebenso nicht möglich eine Weltanschauung, die im Wärmetod das Leben enden läßt wie im Westen, während Christus das Leben aus dem Ich ist. Wir werden manchmal, wenn wir unsere Meditation vollziehen, das Empfinden haben, als ob in uns lauter Auferstehungsfreude ist. Alles ist erfüllt von Auferstehungsmusik, wie wenn in uns selbst die Engel jubilieren über dem offenen Grab. Dann geht uns erst eine Ahnung auf, was wirklich Ostern ist, und wie wenig die Menschheit noch zur Wirklichkeit hat werden lassen das Auferstehungschristentum, von dem das Johannesevangelium redet. – Wenn wir nun zum nächsten Christuswort übergehen: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14, 6), so stehen wir wieder einem der gewaltigsten Christusworte gegenüber, das allein schon zum Meditationsstoff für ein ganzes Leben ausreichen könnte. Der Zusammenhang, in dem dies Wort gesprochen wurde, ist besonders bedeutsam. Thomas sagt zu Christus: Wir wissen nicht, wo du hingehst, wie sollen wir den Weg wissen? Nun ist es merkwürdig, wie dieser Thomas, von dem die spätere Legende erzählt, daß er der Apostel Indiens geworden sei, in seiner ganzen Wesensart dem Indertum verwandt ist. Er fühlt stark das Todesverhängnis (Joh. 11, 16). Er ist der melancholische Grübler und Zweifler, der sich das Schauen ersehnt (Joh. 20, 25). Und hier an unserer Stelle fragt er nach dem „Weg“ – wie die Inder durch die Jahrtausende nach dem „Pfad“ gefragt hatten, wie Sundar Singh und Gandhi in der Gegenwart noch, jeder in seiner Art, nach dem Weg fragten. Das Wort, das Christus auf diese Frage hin zu Thomas spricht, enthält die bedeutsamen Hinweise auf die „Mission“ in Indien, die freilich bis heute noch nicht verstanden sind. Buddha zeigte einen Pfad. Aber das Wort „Wir wissen nicht, wo du hingehst“, gilt auch in Bezug auf ihn. Wenn er gefragt wurde, was das Nirwana sei, so schwieg er. „Darüber hat der Erhabene nichts geoffenbart“ sagen die indischen Texte. Die Inder waren das Volk, das noch nicht hinein wollte in die irdische Welt, in die Sinnenwelt. Das hat vor allem Rudolf Steiner immer wieder dargetan. Der Inder erschrickt vor der äußeren Wirklichkeit. Selbst in dem Meditationswort a-u-m kommt das zum Ausdruck. In dem Laut a öffnet sich der Blick für die Wirklichkeit. In dem u erschrickt man davor. Und in dem m geht man in die Meditation, in das innere Summen und Sinnen ein. Im Grund suchte der Inder den Weg zurück ins Paradies. Er suchte zu erkennen, was allen Dingen zugrunde liegt, was vor ihnen ist. Und er suchte sich mit diesem All-Einen Wesen, das vor der Vielheit der Erscheinungen da ist, zu verbinden. So suchte er auf seine Weise den Baum der Erkenntnis und den Baum des Lebens.
Und nun sagt Christus, wenn wir seine Worte so ausführen, wie sie zu solchen Menschen gesprochen werden könnten: Ihr sucht den Weg zurück ins Paradies? Ihr sucht den Baum der Erkenntnis? Den Baum des Lebens? Zurück könnt ihr nicht mehr. Aber das Paradies hat sich aufgemacht und sucht seine verlorenen Kinder auf der Erde auf. Ich bin der Weg! In meinem Ich werdet ihr das Paradies wieder finden! Ich bin die Wahrheit! In meinem Ich werdet ihr die Früchte vom Baume der Erkenntnis gewinnen! Ich bin das Leben! In meinem Ich werdet ihr auch die Früchte vom Baum des Lebens haben! Beide Bäume sind nun nicht mehr getrennt, sondern geeint in meinem Ich! Wenn wir das Wort von dieser weltgeschichtlichen Seite her betrachten, so können wir aus ihm leicht entnehmen, was d i e Vergangenheit heiligt auch für uns, unsre eigene sowohl wie die Vergangenheit der Menschheit. Wir meinen unter Vergangenheit hier nicht, was vergeht, sondern was steht. „Ewig still steht die Vergangenheit.“ Wir meinen das, was der göttliche Hintergrund, Daseinsgrund unseres Wesens und Lebens ist. Können wir zu solcher Betrachtungsart aufsteigen, dann ist die Vergangenheit erlöst vom „Vergehen“, unter dem die Menschen immer so bitter gelitten haben. Wenn wir mit solchem Blick auf unsere Vergangenheit zurückschauen, so erkennen wir deutlich, wie sie sich in zwei Teile auseinanderlegt. Der eine Teil fällt dem Vergehen anheim und ist mit keinem Mittel zurückzuholen. Das ist der Teil, der uns immer das „Weh der Vergänglichkeit“ bereitet. Aber aus dem Erlebnisgeschiebe heben sich heraus die Wahrheiten, die wir gewonnen, die Lebenseroberungen, die wir gemacht haben. Das ist der ewige Teil unserer Vergangenheit. Ihn gilt es aus dem Bergwerk der „Vergangenheit“ ans Tageslicht zu fördern und fruchtbar zu machen. Christus kann uns dazu helfen. Er gibt uns den rechten Blick dafür. Er ist „der Weg“ – zum Vater. Denn in den Wahrheiten, die wir erkannt, in den Lebenseroberungen, die wir gemacht, schaut uns der göttliche Vater an. So kann dies Christuswort ein Wort für den Abend sein, wie das Wort von der Auferstehung ein Wort für den Morgen ist. Es ist ein ergiebigster „Tagesrückblick“, den wir unter der Führung dieses Wortes vollziehen können. Natürlich hat das Wort noch manchen anderen Sinn und läßt noch manche andere Auslegung zu. Aber was wir dringend brauchen, ist eine innere Arbeit an unserer Vergangenheit, womöglich täglich. Sie liegt da wie ein großer Schutthaufen, aus dem wir die Goldkörner zu bergen haben. Haben wir Christus in uns, haben wir den Willen zu dem größeren Ich, das im Frieden wohnt und in der Liebe wirkt, dann beginnt unsere Vergangenheit sich in Gold zu verwandeln. Wir schauen das Walten des Vaters und fangen wieder an, ins Paradies zurückzufinden, wo wir „mit Gott“ wandeln. Wir schlagen also vor, daß wir, von dem höheren Ich des Christus geführt, abends durch unseren vergangenen Tag zurückwandern und die Wahrheiten suchen, die sich uns am vergangenen Tag offenbart haben, den Lebensgewinn heimbringen, der sich uns am vergangenen Tag geschenkt hat. „Und der Herr ging im Garten, da der Tag kühl geworden war“ (1. Mos. 3, 8).
Unter dem Bild, daß wir mit Christus im Paradies wandeln und vom Baum der Erkenntnis und des Lebens essen, können wir diese Meditation vollziehen. Dieser Hinweis ist ausreichend, um die Meditation dann ganz persönlich auszugestalten. Wir werden sehen, wie unglaublich leben-erhöhend ein solcher Abendgang mit Christus ist durch den vergangenen Tag – selbst wenn wir gar nichts Einzelnes lernen und gar nichts Neues erfahren. Immer neue Ahnungen gehen uns auf, was der Mensch alles aus seinem Leben herausholen könnte und sollte, und wie der Rückblick nach dem Tod sein wird. Gerade al1es Schwere und Dunkle unseres Lebens läßt sein geheimes Gold erschimmern, wenn es in das lichte Reich von „Wahrheit“ und „Leben“ hineingehoben wird. Ein großer Schritt vorwärts wäre es, wenn wir auf diese Weise auch lernten, im Garten der geschichtlichen Vergangenheit der Menschheit zu wandeln – „Ich bin der Weg“ – und dort die göttlichen Wahrheiten zu sehen – „Ich bin die Wahrheit“ – und das göttliche Leben zu finden – „Ich bin das Leben“. Dies wird das letzte Geschichtsbuch der Menschheit sein, daß der Menschheit offenbar wird, wie ihre Geschichte ein Weg zu Christus – und darum in höherem Sinn auch ein Weg mit Christus gewesen ist, indem Er sich ihr als die Wahrheit offenbaren und als das Leben schenken wollte. Die Evangelien und alles, was Christus darin als Wahrheit und Leben offenbart, sind wie eine Leuchte für diesen Gang durch die Menschheitsgeschichte. Die Erde ist die Stätte – so sagt man in der anthroposophischen Geisteswissenschaft – wo sich das Ich entwickelt zur Freiheit, um sich in der Liebe zu vollenden. „Ich bin der Weg“ – sagt Christus über diese „Entwicklung“. „Und die Wahrheit“: daraus erwächst die „Freiheit“. „Und das Leben“: darin liegt die „Liebe“. Wiederum ist nun ein doppeltes Christentum nicht mehr möglich. Nicht möglich ein Christentum, das nur auf die persönliche Vergangenheit blickt als auf das, was vergeben werden muß – während Wahrheit und Leben daraus gewonnen werden will. Und nicht möglich ein Christentum, das nur auf die Vergangenheit der „Heilsgeschichte“ in Palästina schaut – während Christus der Weg ist, der jetzt gegangen werden soll zu Wahrheit und Leben. Ebenso ist überwunden eine Anschauung, wie sie im Osten herrschte, wo man in der Welt zu ausschließlich das „Vergehen“ sah und nicht das Werden und Bleiben, und eine Anschauung, zu der der Westen neigt, wo man die „Vergangenheit“ erforscht und verehrt, als ob sie selbst das bleibend Wertvolle für die Menschheit wäre und nicht ein Weg zu Wahrheit und Leben. – Nun fehlt uns noch die Gegenwart. Man sagt ja unter den Menschen manchmal: Heilig ist die Gegenwart. Man sagt es in allen möglichen Tonarten. Aber ein gangbarer Weg zu inneren Heiligung der Gegenwart wird selten gezeigt. Wir können in diesem Sinn nichts Lebensfruchtbareres finden als das letzte Ich-bin-Wort des Johannesevangeliums: Ich bin der wahrhaftige Weinstock und mein Vater ist der Weingärtner und ihr seid die Reben (Joh. 15, 1 u. 5).
Dies Wort setzt einen völlig anderen Blick für die Welt voraus, als wir ihn sonst haben. Die Menschheitsgeschichte verläuft nicht so, daß von Anfang bis zu Ende eine fortschreitende Entwicklung geht. Das ist der heidnische Grundirrtum unserer Zeit in ihrem Weltbewußtsein. Sondern die Erde ist das vorbereitete Ackerfeld gewesen. „Mein Vater ist der Erdbearbeiter“ heißt es ja im griechischen Text dieses großartigsten Gleichnisses der Weltgeschichte. Eines Tages aber fiel in dies bearbeitete Ackerfeld von oben ein Lichtkeim hinein. Und seitdem ist die Erde dazu da, diesem Lichtkeim zur Entfaltung zu helfen. Und wenn er entfaltet ist, dann kann die alte schwarze Erde abfallen. Ihr Daseinszweck ist erfüllt. – In dieser Imagination sehen wir die Weltgeschichte in Wahrheit. Christus ist der Lichtkeim, der zum Lebensbaum werden will auf dem Erdenacker. So verstehen wir das Wort: Ohne mich könnt ihr nichts tun (Joh. 15, 5). Wir gewinnen einen Sinn dafür, daß alles, was wir außer Christus und ohne ihn tun, im tiefsten Grund „nichts“ ist: für die wahre Menschheitsentwicklung nicht in Betracht kommt. Wir gewinnen einen Sinn dafür, daß nur dort die rechten Früchte für die Menschheitsentwicklung sind, wo sein Lebensblut strömt: „Darin wird mein Vater geehrt, daß ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger“ (Joh. 15, 8). Wir gewinnen einen Sinn dafür, daß jede Rebe gereinigt werden muß, wenn sie mehr Frucht bringen soll – der Sinn unsrer Schmerzen geht uns auf – und daß alle Reben, die nicht Frucht bringen, irgendwie einmal aus der wahren Entwicklung der Welt ausgeschieden werden müssen (Joh. 15, 2). Wir gewinnen ebenso einen Sinn dafür, daß der eigentliche Lebensstrom in der Rebe, der Christuslebensstrom, die Freude ist (Joh. 15, 11). In dieser Freude ist die Kraft, um die rechten Früchte hervorzubringen. Nietzsche hat recht, daß die Menschen sich zu wenig gefreut haben – wenn man das Zarathustra-Wort aus diesem Zusammenhang heraus versteht. Es ist Wahrheit: aus den Tiefen der Christusverbundenheit strömt erst die wahre Kraft und Freude in jeden Augenblick der Gegenwart. Und andererseits: wo diese Freude und Kraft ist, da können die wertvollen Früchte gar nicht ausbleiben. Die Rebe braucht nichts zu tun als durchlässig zu sein für den Saft des Weinstocks. Dieser Saft wird durch die Sonne des Lebens von selbst zur Frucht gereift. Eine Rebe ist das Unscheinbarste, was es gibt. Aber sie ist zugleich eine köstliche Werkstätte, in der sich der Saft des Weinstocks in Frucht verwandelt. Die Frucht kann viel mehr und besser sein als die Rebe, wenn diese Frucht ganz vom Weinstock selbst geschaffen ist. Auf den Weinstock kommt es an und auf die Frucht. Man lebe sich einmal in dies christliche Lebensgefühl ernsthaft ein. Dann wird man erst sehen, wie gesund es ist und wie erfrischend und wie lebenfördernd. Was aus dem Weinstock als Frucht hervorgegangen ist, das werden einmal die eigentlichen Früchte der Erdentwicklung sein.
Wenn sich der Mensch im Laufe seines Tages öfters an sein Rebendasein erinnert; wenn er seine Einzelarbeit in diesem Weltzusammenhang sieht – der Lichtkeim in der Erde, der zum Lebensbaum werden soll – wenn er seine Arbeit in diesen großen Weltzusammenhang hineinordnet; wenn er, wo er auch ist, aus solcher Lebensverbundenheit heraus seine Werke zu tun sucht und seine Früchte bringt; wenn er an Christus in diesem Sinn lebendig denkt, wenn er da ist für den Lebenssaft, der durch Christus in ihn einströmt; wenn er das „Ich bin“ des Christus wirklich als neuen Lebenssaft durch sich fließen läßt – dann wird er in jedem Augenblick richtig leben können, und seine Gegenwart wird heilig werden. Immer mehr wird er erfahren: das Ich des Christus ist ein allerfeinster und allerbester Lebenssaft: der Lebenssaft einer neuen Welt. So wird der Mensch auch einen anderen Blick bekommen für die We1tgegenwart um ihn her. Er wird nicht glauben, daß nur dort die Früchte des Christus sind, wo sein Name genannt wird – sondern dort, wo sein Lebenssaft strömt. Und er wird für diesen Lebenssaft die rechte Empfindung bekommen. Dann wird er vieles anerkennen können, wovon die Menschen nicht wissen, daß es mit Christus in Zusammenhang steht. Aber er wird andererseits immer erschütternder spüren, wo Früchte wachsen, die rettungslos dem Verderben verfallen sind. Wir stellen uns vor, daß ein Mensch nicht nur manchmal solche Gedanken hat, sondern daß er diese Meditation, wenigstens hin und wieder, ausgesprochen vollzieht: am neuen Weinstock, den der Erdarbeiter pflanzen wollte, fühlt er sich als unscheinbare Rebe, trinkt vom Weinstock und denkt an die Früchte, für die er nach diesem Gleichnis eigentlich da ist. Ein falsches Christentum verurteilt die Gegenwart und lebt entweder in der Vergangenheit oder in der Zukunft. Von beidem sind wir frei. Ebenso von der östlichen Lebensart, der die Gegenwart nichts ist, und von der westlichen Lebensart, der sie al1es ist. – Die Zukunft: ein Auferstehen aus dem Grab! Die Vergangenheit: ein Wandeln im Paradiesesgarten! Die Gegenwart: ein Trinken vom Gewächs des Weinstocks! – Unter solchen Bildern heiligen wir die Zeit, wie wir uns vorher den Raum geheiligt haben. Der dunkelströmende Fluß der Zeit wird zu einem heiligen Strom, wenn wir diese Lichter über ihm scheinen lassen. Wir können geistig vollziehen, was der Inder in äußerer kultischer Handlung vollzog: daß er sich im heiligen Fluß Ganges badete und dadurch reinigte. Wir werden die Erfahrung machen, daß wir so die Zeit erlösen. – Aber man wird gut tun, nicht nur die einzelnen Ich-bin-Meditationen je nach Bedürfnis und Charakter zu vollziehen, sondern sich dazwischen einmal einen Tag zu wählen, etwa eine Sonntagsmorgenfrühe, wo man durch sie a11e hindurchgeht. Gerade wenn man die einzelnen Meditationen vorher für sich vollbracht hat, braucht man dann nicht so lange beim Einzelnen zu verweilen. Da wird man entdecken, welche völlig neue Welt um uns herum entsteht. Wir werden erkennen, daß wir jetzt auf dem Wege sind zu einer „christlichen Welt-Anschauung“, in einem viel höheren Sinn als man das Wort früher verstanden hat.
Wir werden erleben, daß wir überall auf der Spur höchster Erkenntnisse sind, auf dem Pfad zu einer Entwicklung des Erkenntnislebens im Sinn des Johannesevangeliums: „Das ist das wahrhaftige Leben, daß sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen“, zu einer Heiligung des Geisteswesens im Sinne der ersten Bitte des Vaterunsers: „Geheiligt werde dein Name!“ Wir werden diese Vaterunserbitte anders in uns tragen, durchleuchtet mit dem Inhalt der gesamten Christusverkündigung: „Ich habe ihnen deinen Namen geoffenbart!“ Und wir werden zugleich erfahren, daß wir nun selbst unser eigentliches Ich erst erhalten. Gerade wenn wir durch die Ich-Offenbarung Christi hindurchgehen, sehen wir erst im vollen Sinn, was ein hei1iges Ich ist. Die Gegenwart krankt an lauter Ich-Krankheiten. Wir können nicht zurück hinter die Zeit vor dem selbständiger werdenden Ich und können auch nicht über die Ich-Sucht unseres Geschlechts nur schelten. Wir können nur vorwärts zum wahren Ich. Der Gegenwartsmenschheit muß gebracht werden, „was heilet das Ich in den Seelengründen“, wie es im Ostergebet der Menschenweihehandlung heißt. Jedes Ich-bin-Wort enthält ein Heilkraut für irgendeine Ich-Krankheit, das Wort: „Ich bin das Brot“ die Hilfe gegen die Ich-Selbstliebe, „das Licht“ die Hilfe gegen die Ich-Furcht, „der gute Hirte“ die Hilfe gegen die Ich-Schwäche, „die Türe“ die Hilfe gegen die Ich-Verkrampfung, „die Auferstehung“ die Heilung der Ich-Erstarrung, „Weg, Wahrheit und Leben“ die Heilung der IchVerarmung, „der Weinstock“ die Heilung der selbstsüchtig eigenwilligen IchVerhärtung. Aber über alle diese einzelnen Krankheiten des Ich hinaus, über die allein ein ganzes Buch zu schreiben wäre: wenn wir positiv in diesen sieben Worten leben, dann gewinnen wir unser höheres Ich. Es ist ganz ein Teil von Christus – und doch ganz wir selbst: wie wir eigentlich sein sollten. Das eben ist das Wunder. Man kann, wenn man in der Sonntagsmorgenfrühe durch die sieben Ich-binWorte hindurchgeht, sich auch mit vollem Recht vorstellen, man empfängt alle sieben Sakramente im Geist. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ – das ist eine Taufe. „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“ – das ist die Konfirmation. „Ich bin der gute Hirte“ – das ist die Beichte. „Ich bin die Türe“ – das ist eine Trauung. „Ich bin das Brot“ – das ist das Abendmahl. „Ich bin das Licht der Welt“ – das ist die Priesterweihe. „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ – das ist die Sterbensweihe. Wenn wir daran denken, daß das erste Ichbin-Wort vom Brot redet und das letzte vom Wein, so ahnen wir, wie in diesen Ich-bin-Worten eine Kommunion da ist, ein Weiheweg und Weihegottesdienst, der erst gefunden werden will, und von dem nur einiges wenige gesagt werden konnte. „Ich im Vater und der Vater in mir“ – das ist die Zentralverkündigung des Johannesevangeliums. Sie setzt sich in uns hinein fort, wenn Christus im Hohepriesterlichen Gebet sagt: „Ich in ihnen!“ (Joh. 17, 21-26) – „Ich im Vater“ – das wird durch die vier ersten Ich-bin-Worte in uns erzogen, wo wir leben lernen im Ich des Vaters wie in einem neuen Raum. „Der Vater in mir, im Ich“ – das wird durch die drei letzten Ich-bin-Worte in uns erbildet, wenn wir mit diesem neuen Ich eintreten in die neue Zeit.
Man taucht ein in den verborgenen Welthintergrund – „Niemand hat Gott je gesehen, der eingeborene Sohn, der im Herzen des Weltenvaters wohnt, der hat es uns verkündigt“ (Joh. 1, 18) – wenn man auf allen Seiten, in allen vier Geistesrichtungen dem Ich-Antlitz des „Vaters“ begegnet, der überall „die Liebe“ ist. Und man wird „eins mit dem Werden der Welt“, wie es in der Menschenweihehandlung heißt, wenn man die drei letzten Ich-bin-Worte zur Wirklichkeit werden läßt, und empfängt so das, was in Wahrheit „der Friede“ heißen darf. So verbinden sich die sieben Worte mit unserer Grundmeditation von Friede und Liebe. Als wir oben von den Indern redeten, da sahen wir, daß ihre ganze Einstellung zur Welt sich auch in ihrem Meditations-Wort a–u–m zum Ausdruck bringt. Eine völlig verschiedene Einstellung zur Welt liegt in dem hebräischen Wort ani, das im Hebräischen das Wort für „ich“ ist. Auch hier ist die Wirklichkeit erfühlt: a. Aber dann tritt ihr das n entgegen, in dem auch eine Negation dieser zunächst gegebenen Wirklichkeit da ist. Aber die entgegengesetzte Negation wie bei den Indern. Kein Rückzug, sondern ein Durchbruch. Im i, dem Lichtlaut der Ich-Innerlichkeit, erscheint die neue Wirklichkeit. Der Hebräer sagt gleichsam zu der Wirklichkeit, die ihn umgibt – und das war sein Unterschied zu den „Heiden“ um ihn her –: Du bist nicht das, was ich suche! Von dir muß ich mich abstoßen! Dich muß ich negieren! Im Ich kommt eine neue Wirklichkeit von innen her. Das Hebräertum hatte ja das Ich in der Menschheit vor allem mit heranzubilden. – Noch mühevoller, dunkler und trotziger arbeitet sich das Ich durch in dem anderen Wort für „ich“ im Hebräischen: anoki. Wieder eine ganz andere Welt aber leuchtet auf in dem deutschen Wort: Ich. Hier ist das i erreicht. Der i-Laut beginnt das Wort. Aber dies i wendet sich zurück zur Welt und schenkt sich ihr. In dem ch verbreitet es sich opfernd über die Welt. So könnten wir in dem deutschen Wort Ich durch seine beiden Laute auch unsere Grundmeditation ausgedrückt finden und dies Wort in seinem Wortklang lebendig mit unserer Grundmeditation verbinden. Im i ist die Reinheit des göttlichen Friedens da. In dem ch der Hingebungswille der göttlichen Liebe. Es wäre ein günstiges Zeichen für die Wirksamkeit unserer Meditationen, wenn wir das Wort Ich dann bis in die Alltäglichkeit des Lebens hinein mit anderen Empfindungen aussprechen lernten. Der Evangelist Johannes wollte ja das Wort Ich für sich selbst nicht gebrauchen, nachdem er es im Munde Christi gehört hatte. Er nannte sich nur in Umschreibung „den Jünger, den der Herr lieb hatte“. Wir leben in der Zeit der Ich-Sucht. Diese Zeit sollen wir erlösen – zunächst in uns selbst. Das geschieht, wenn wir das Wort Ich neu aussprechen, in unsrem Lebensgefühl und vor allem in unsrem Wesen. So oft wir Ich sagen oder ein Ich sind, kann Christus darin leben mit Frieden und Liebe. –
6. Brief Luther über die Meditation – Erziehung des Gefühlslebens – Läuterungsbedürftigkeit der christlichen Liebe – Die fünf Sinne – Das Ich als Gralsschale – Christlicher Friede – Christliche Heiligkeit – Schmerz und Weisheit – Der wahre Mensch – Grundhaltung zur Welt unter uns, um uns, über uns
„Am Abend mußt du auf jeden Fall eine Stelle aus der Heiligen Schrift im Gedächtnis mit dir zu Bette nehmen, womit du, wiederkäuend wie ein reines Tier, sanft einschlafen magst; es soll aber nicht viel sein, eher ganz weniges, aber gut durchdacht und verstanden: und wenn du am Morgen aufstehst, sollst du es wie die Hinterlassenschaft des Gestern vorfinden.“ Wie viele Leser werden erkennen, daß wir hier ein Wort von Luther über die Meditation vor uns haben? Er schreibt es an die Pfarrer in seiner „ratio vivendi sacerdotum“ (wie Priester leben sollen). In diesem Wort, wie so oft bei Luther, begegnen sich zwei Zeiten. Von seiner katholischen Vergangenheit her hatte er noch einen Zusammenhang mit der Meditation, die in den Klöstern mit größtem Ernst gepflogen worden war. Aber aus dem Wort schaut doch auch ein bürgerlich-behagliches Christentum heraus, wie es hernach die Gefahr des Protestantismus geworden ist. Von der heroischen Anstrengung, die jede echte Meditation auszeichnet, ist nicht sehr viel zu spüren. Luther kannte diese heroische Anstrengung auch gut, besonders im Gebet. Aber eben: wie anderes sich hineindrängt, will beachtet sein. Und doch ist das Bild vom Wiederkäuen bemerkenswert, so niedrig die Sphäre ist, der es entnommen wurde. In der Meditation durchdringt sich tatsächlich ein Wort oder ein Bild mit der Substanz unseres eigenen Menschenwesens – und durchdringt uns mit der Substanz seines Wesens. Je stärker wir meditieren können, um so mehr tritt das zweite hervor. Ein geistiger Aufnahmeprozeß findet statt. Es ist derselbe Vorgang wie in dem Bild Luthers, nur auf einer höheren Stufe. Darum kann manchem ein solches Bild geradezu die rechte Art zu meditieren erschließen. Und mit dem Zusatz „gut durchdacht und verstanden“ ist ja auch ein Anschluß an die echte Meditation da. Hier sei auf die Frage eingegangen, die ein junger meditationskräftiger Leser dieser Briefe stellt, ob nicht das Meditieren unmittelbar aus dem Schlaf heraus gefährlich sei, weil der Mensch in der horizontalen Lage ein ganz anderer ist als in der vertikalen Lage. Mehr Stoffwechselmensch, könne er in dieser Lage wohl leicht zu geistigen Erlebnissen kommen, aber sie steigen dann traumhaft aus seinem niederen Lebenssystem auf. Die Gefahr ist gewiß da, und es ist gut, darauf aufmerksam zu sein. Im alten Indien hätte man dies noch deutlicher gefühlt. Aber der Ertrag der europäischen Entwicklung ist gerade der, daß der Mensch in hohem Grade unabhängig werden kann vom Äußeren, auch von der körperlichen Lage. Die Frage ist die, ob man es vermag, in liegender Stellung stark und geistig zu meditieren. Und es ist eine Erfahrungstatsache, daß es möglich ist. In den allermeisten Fällen nicht ohne Übung und Anstrengung.
Man wird selbst bemerken, daß es eine Hilfe ist, wenn man wenigstens den Kopf höher legt, ohne aus der geistigen Stimmung der Nacht sich herauszulösen: Insbesondere soweit man die tieferen Erlebnisse der Nacht hereinbringen will in sein Bewußtsein, wird man gut tun, die Körperstellung der Nachtruhe nicht allzusehr zu verändern. Jeder mag selbst erproben, was ihm möglich ist. Richtig ist jedenfalls, daß die Meditation nicht in einem Bewußtsein unterhalb des Tagesbewußtseins, sondern in einem stärkeren, wacheren, lichteren Bewußtsein als dem Alltagsbewußtsein vollzogen werden muß und in ein solches Bewußtsein hineinführen will. Bis zu welchem Grad das menschliche Bewußtsein licht und geistig zu werden vermag, davon ahnt man ja am Anfang gar nichts. Dies gilt nun vor allem für die Meditationen, denen wir jetzt entgegengehen. Waren die sieben Ich-bin-Worte vor allem eine Heiligung des Denkens, so wenden wir uns nun in besonderer Art der Heiligung des Fühlens zu. Was geschieht heute, um das menschliche Gefühl zu veredeln? Unbewußt vollzieht sich vieles durch die Kunst. Und es wäre sicher möglich, aus den großen Kunstwerken ein ähnliches System der Selbsterziehung aufzubauen, wie wir es vom Johannesevangelium her tun. Wer die Madonna Sixtina von Raffael – wenn irgend möglich mit ihren Farben – täglich fünf Minuten auf sich wirken ließe, der würde sich in drei Jahren völlig verwandeln. Die einzig schöne GottMenschlichkeit dieses Bildes – man kann es nicht anders nennen – würde sich ihm wesenhaft eingießen. Haben Bilder schon eine stärkste Wirkung auf das Gefühlsleben, so sind doch eben die stärksten und wirksamsten Bilder: die Geschehnisse, die uns die Evangelien darbieten in den Christusereignissen, wenn wir sie selbst in uns aufbauen. Kein Meister der Welt hat sie würdig gemalt. Das werden wir am Schluß unserer Betrachtungen klar erkannt haben. Aber vielleicht ist es gut, daß wir uns diese Bilder innerlich selbst erbilden müssen. Sie werden dadurch freier, beweglicher, persönlicher und noch geheimnisreicher, als wenn ein Meister uns erst durch seine Seele hindurchführte. Durch nichts kann unser Gefühlsleben mehr gereinigt, gewandelt und vergöttlicht werden, als wenn wir den altbewährten Weg gehen durch die sieben Stationen der Christusvollendung. Aber wir gehen diesen Weg doch ganz anders als die mittelalterlichen Mönche. In den Klöstern hat man, ehe man sich in das Christusleiden und Auferstehen versenkte, zuerst durch zwölf Wochen die zwölf vorangehenden Kapitel des Johannesevangeliums auf sich wirken lassen. In ihnen waren die ersten fünf Ich-bin-Worte mitenthalten. Aber es ist doch etwas anderes, wenn man sich zuerst das Ich eigens erobert hat, wie wir es zu tun versuchten. Man bleibt dann vor dem nur Gefühlsmäßigen behütet und kommt viel mehr ins Geistige. Das christliche Gefühl wurde im Mittelalter, gerade weil das freie Denken noch abgeblendet war, zu einer Höhe entwickelt, die bewundernswert groß und rein war. Das war geradezu die Aufgabe dieser Geschichtszeit. Wenn wir dies nicht verlieren, sondern neu gewinnen wollen, so darf es doch heute nur vom wachen, bewußten, starken Ich aus geschehen, wie es durch die Neuzeit möglich geworden ist. Damit erhält das Gefühlsleben einen anderen Charakter, eine größere Geistigkeit und Weltumspannung.
Betrachten wir unser Gefühlsleben, so wird uns bald klar, wie sehr es der Säuberung und Selbsterziehung bedarf. Aus dem Fühlen entsteht ja dann das Wollen oft wie von selbst. So sehr das Gefühlsleben als unser eigenster Besitz ganz in uns eingeschlossen scheint, so sehr ist es doch der Mutterboden, aus dem unser äußeres Leben hervorwächst. Eine Seele, die voll hoher Empfindungen ist – wenn diese Empfindungen gesund und stark sind – braucht sich nicht erst Mühe zu geben, ein hohes Leben zu führen. Nun könnte man sein inneres Leben in der Weise erziehen, daß man ein Gefühl nach dem anderen vornimmt und gewissermaßen okuliert. Aber viel fördernder und sicherer ist es, mächtige neue Gefühle in die Seele hineinzuleiten und von ihnen alles, was außerdem da ist, entweder wegspülen oder durchspülen zu lassen. Auch wem Christus noch nicht das ist, was er uns ist, wird der Christusleidensgeschichte die Verehrung entgegenbringen, die ihm das Mitgehen in irgendeiner Form möglich macht. Das neue Gefühl, das durch das Christentum in die Welt gekommen ist, heißt: Liebe. Man lese nur Schriften aus der vorchristlichen Zeit und achte darauf, wie die Sonne der Liebe einfach noch nicht aufgegangen ist. Auch im Buddhismus, in der gütigen Milde gegen alle Wesen, ist erst die Morgenröte da. Aber die Liebe ist in die Seelen der Menschen in der Weise eingegangen, daß sie sich vermischt hat mit allem, was schon vorher da war. So wurde sie selbst getrübt, bis sie kaum mehr kenntlich war. Das gilt für sehr vieles, was sich „christliche Liebe“ nennt. Man hat heute oft genug den Eindruck: nicht die christliche Liebe hat die Herzen verwandelt, sondern die Herzen haben die christliche Liebe verwandelt. Oft ist sie ein falscher Bekehrungseifer, der vor der Freiheit des anderen gar keine Achtung hat und also sein wahres Ich gar nicht sieht und erreicht, oft auch eine gefühlvolle Sentimentalität, die das Wort Liebe den Menschen nur verleidet. Manchmal ist sie eine neue Geschäftigkeit, in der der Mensch im Grund nur sich selbst entflieht, manchmal auch eine üble Neugier, die sich in alles mischt. Nicht selten ist sie ein knechtisches SichVerlieren, das man dann „selbstlose Hingabe“ nennt, nicht selten auch eine andre Form des Sich-Durchsetzens, wenn man unter dem Namen der Christlichkeit alle Menschen so haben will, wie man selber ist. Traurig ist es zu beobachten, wie sich in der Maske der christlichen Liebe der häßlichste Egoismus breitmacht, der gar nicht daran denkt, in die anderen sich wirklich hineinzuversetzen, geschweige denn in sie hineinzusterben. Nichts bedarf heute mehr einer Reinigung als die christliche Liebe selbst. Der hohe, reine Geist der Liebe Christi ist noch von den wenigstens gesehen und gespürt. Und doch hat Christus gerade in bezug auf die Liebe die umsichtigste und deutlichste Erziehung walten lassen, als ob er alle die Gefahren, von denen wir reden, vorausgesehen hätte. Wir brauchen nur daran zu denken, wie selten er das Wort Liebe überhaupt in den Mund nimmt, und in welchem Zusammenhang er es dann gebraucht. Wie er etwa sofort das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter erzählt, als von der Liebe die Rede ist, das Gleichnis, in dem ein ganzer Katechismus der Liebe enthalten ist, doch nicht in Lehrform, sondern in Bildform, in Tatform.
Oder wie er selbst am Ende seines Lebens, ehe er von der Liebe spricht, als von dem einen neuen Gebot für seine Jünger eine Tatunterweisung vor seine Jünger hinstellt in der Fußwaschung. Dies alles kann uns dazu helfen, der ersten Station des Christusweges in der rechten Ehrfurcht zu nahen. Wir wollen auch hier wieder, wie wir es schon bisher getan, die Meditation nicht zu sehr ins einzelne ausbauen, sondern nur Winke geben. So ist es dem Einzelnen dann frei überlassen, wie er sich die Meditation einrichtet. Er wird seine eigenen Erfahrungen machen und seinen persönlichen Weg finden. Würde man die Vorschläge, wie manche wünschen, genau ins einzelne ausführen, so würde der Leser schwer von ihnen loskommen, eine gewisse Erstarrung der Bilder erleben und nicht so leicht sein ganz Eigenes finden, das sich dann viel lebendiger weiter entwickeln kann. Die Mühe, das Letzte selbst zu tun, kann dem Leser nicht erspart werden. Aber der Rat darf gegeben werden, daß man die Geschichte von der Fußwaschung (Joh. 13, 1-35) zuerst in allen Einzelheiten lebendig vor sich hinstellt und in sich aufnimmt. Dazu ist sie uns gegeben. Mit allen Einzelheiten hat sie sich auch dem Erzähler in die Seele geprägt: Jesus stand auf, legte sein Oberkleid ab, nahm einen Schurz und umgürtete sich. So war der Meister wie ein Sklave gekleidet. Alle diese Einzelheiten sind dem Evangelisten im Laufe der Jahre immer mehr bedeutungsvoll und durchsichtig geworden. Aber die Einzelheiten sollen doch nur hinlenken zu der großen Hauptsache, dem wundervollen Geist des Dienens, der sich da in Christus offenbart. Ist man zum lebendigen Erfühlen dieses Geistes durchgedrungen, so mag man sich vorstellen, man atme diesen Geist ein, wie man etwa die Luft trinkt, indem man sie tief einatmet. Mit dem sogenannten „mittleren Menschen“, dem Menschen, der vor allem im „rhythmischen System“ der Lunge und des Herzens lebt, hängt das Fühlen nach der geisteswissenschaftlichen Forschung aufs engste zusammen. Ja man kann gerade mit diesen Gefühlsmeditationen wirklich durch alle fünf Sinne gehen, indem man alle diese Sinne auf eine höhere Stufe erhebt. In den jesuitischen Übungen, den Exercitia spiritualia des Ignatius von Loyola, wird die Hölle nacheinander in allen Sinnen erlebt, indem man zunächst die Qualen der Verdammten imaginativ sieht, dann ihr Schreien hört, den Qualm riecht usw. Hier aber, in einer solchen Meditation wie der Fußwaschung, kann man wirklich den Himme1 wie mit höheren Sinnen wahrnehmen. Und man braucht nicht zu denken, daß man erst durch die Hölle gesondert gegangen sein muß, wenn man für den Himmel voll empfänglich werden soll, sondern man empfindet mit dem Himmel zugleich die Hölle, soweit man sie in sich trägt, vom Himmel aus: das vom Bösen durchwühlte Wesen, das eben nicht Himmel ist.
Hat man also das Bild der Fußwaschung zunächst für das geistige Auge sich deutlich vorgestellt, so mag man das Wesen Christi mit dem geistigen Ohr wie einen Wunderton aufzunehmen suchen, dann den Duft des Opfers einatmen, dann – wie in dem biblischen Wort: Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist – den Lebensgeschmack einer solchen Tat wie auf seiner Zunge erleben und schließlich die Tat ganz konkret geistig betasten und mit seinem Lebens-Wärme-Gefühl in sie eingehen. Dies alles will geübt sein. Dann aber gibt es dem Menschen lebendig den Eindruck einer höheren Welt, in der sich auch seine Sinne verwandeln. Wir erwähnen dies hier für alle Bildmeditationen und wenden uns nun wieder dem Bild zu, vor dem wir jetzt stehen. Wie als Unterschrift zur Fußwaschung steht das Wort in der Bibel: Die Fürsten der Welt üben Gewalt ... aber des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele. Nur daß man an die Stelle von „Menschensohn“ im Matthäusevangelium im Sinne des Johannesevangeliums das Wort „Ich“ stellen möchte: Ich bin gekommen, nicht daß ich mir dienen lasse, sondern daß ich diene. In einem solchen Wort stellt sich Christus dem Cäsar gegenüber, der im gleichen Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte hervortrat, die Welt zu beherrschen. Bedenken wir diese Gleichzeitigkeit, so geht uns auf, daß das Ich, wie es sich in der Welt entwickeln soll, zwei Wege vor sich sieht: entweder den Weg durch den Kampf zur Macht oder den Weg durch die Freiheit zur Liebe. Christus und Cäsar stehen sich in der Welt gegenüber bis ans Ende der Tage und kämpfen um das Ich des Menschen. Auch um uns geht dieser weltgeschichtliche Kampf. Das eben angeführte Christuswort enthält eine letzte Weltentscheidung, eine Absage an den Cäsar, die nicht klarer sein könnte. In diesem Entscheidungsgegensatz haben wir in großartigster Weise dasselbe, was man – vielleicht aus den Mysterien heraus – als den Gegensatz zwischen der himmlischen und der irdischen Liebe vor die Menschen hinstellte. Und eindrucksvoller sieht man den Kampf nirgends als in der Geschichte Roms selbst. Christus hat den Cäsar in Rom vom Thron gestoßen. Aber der Cäsar hat Christus trotzdem in Rom immer wieder überfallen und verdrängt. Das Papsttum ist ein Kampf zwischen Cäsar und Christus. Bis in alle Winkel hinein will der Cäsar auch bei uns verfolgt werden: als Haustyrann und Untergebenenschreck, als Streber und Rächer. Nach ihrer Thronbesteigung erlassen Fürsten ein Manifest an ihre Völker. Auch auf die Thronbesteigung Christi erfolgt eine königliche Botschaft an alle, die zu ihm gehören wollen. „Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet, gleichwie ich euch geliebt habe. Daran wird jedermann erkennen, ob ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt.“ Stellt man sich innerlich lebendig vor diese Entscheidung, dann hat man auch dasselbe, was die Jesuiten in ihrer Gegenüberstellung vom König Luzifer in Babylon und König Christus in Jerusalem als Willensentscheidung erleben. Im Zusammenhang unsres Evangeliums ist es innerlicher und inhaltsvoller.
Wir wollen hier keine Bibelauslegung geben, sondern nur den Stimmungshintergrund für die Fußwaschungsmeditation schaffen. Man sollte das Königliche dieser Liebe recht stark empfinden. Erst dann verliert die Liebe das Kleine, Kleinliche und Knechtische, das sie noch im Christentum hat. Es ist Christus selbst daran gelegen gewesen, daß dies Königliche voll empfunden wird. „Ihr nennt mich den Meister und den Herrn. Und recht redet ihr, denn ich bin es ja. Wenn nun ich eure Füße gewaschen habe, der Herr und der Meister, so seid auch ihr schuldig, einander die Füße zu waschen.“ Nur wer dies Königliche, Göttliche der Liebe selbst empfindet, wird ganz frei werden von jedem geheimen Wunsch nach Anerkennung und Dankbarkeit. Er weiß, daß solche Liebe die einzig mögliche göttliche Haltung gegenüber allen Wesen ist. Denn der höchste Gott hat nichts über sich, sondern alles unter sich. Sein Leben kann nur darin bestehen, daß er sich zu denen wendet, die unter ihm da sind. Man hat noch nichts von wirklichem göttlichem Leben in sich, wenn man nicht spürt, wie auch in uns Gott die aufsucht, die der Hilfe bedürftig sind. Erst im Königtum der Liebe erleben wir, daß Gott wirklich in uns ist. Könnte nun hierdurch in dem Menschen, wie er einmal ist, ein neuer Hochmut sich bilden, der nur um so scheußlicher wäre, so tilgt Christus diesen Hochmut, indem er mit dieser königlichen Liebe auf die niederste Tat zugeht, ja indem er diese niederste Tat zuerst tut, ehe er überhaupt redet. Er sagt auch zunächst nicht: Ihr sollt einander lieben, sondern: Ihr sollt einander die Füße waschen. Wie um für immer gegen allen Hochmut zu schützen, stellt er sein Beispiel über den Jüngern auf: „Daß ihr tut, wie ich euch getan habe.“ In allen diesen Zügen erspürt man den wahren Geist Christi. „Wie ich euch getan habe“ – das Wort klingt so bedeutungsvoll: kann man vielleicht die ganze Tat Christi an der Menschheit unter dem Bild der Fußwaschung begreifen? Man kann es am besten, wenn man einige geisteswissenschaftliche Erkenntnisse zu Hilfe nimmt. Der Mensch ist durch den Sündenfall herabgesunken auf die Erde, nachdem er früher zwar viel unentwickelter, aber viel geistiger gelebt hatte. Die Erde, auf der er jetzt wandelt, ist die Stätte der Sünde. Von unten her, von der Erde her, die sein Lebensbereich geworden ist, beschmutzt sich der Mensch als Geisteswesen immer wieder – wenn auch das Böse nicht an ihn heran kann, ohne daß es in ihm selber da ist. Dazu kommt, daß in den Füßen wie in den Händen das Willenswesen des Menschen vor allem sich ausdrückt. Wenn der Mensch zornig wird, so ballt er die Faust und stampft mit dem Fuß. Im Gang kommt die Willensart eines Menschen stärker zum Vorschein, als man beachtet. Es gibt zum Beispiel den kurzen gebietenden Schritt und das weiche nachlässige Schlürfen. Nicht umsonst redet man von einem „unreinen Wandel“. Christus aber kam auf die Erde, um dem Menschen ganz von unten auf zu helfen. Er heiligt den Boden neu, auf dem der Mensch geht. Er heiligt auch die Füße neu, mit denen der Mensch geht. Folge mir nach! Ich bin der Weg!
Wie zum Zeichen dessen, daß hier tiefe Geheimnisse sind, werden in der Fußwaschungsgeschichte zwei ganz verschiedene Arten von Füßen einander gegenübergestellt. „Der mein Brot isset, tritt mich mit Füßen.“ Man braucht dies Wort nicht nur in dem nächstliegenden Wortsinn der hebräischen Urstelle zu verstehen: Der bei mir zu Gast ist, erhebt seine Ferse wider mich. Es ist auch ein Bild – für den Cäsar. Er sitzt an der göttlichen Tafel als Gast wie alle andern, aber in seiner Selbstüberhebung stößt er sich gleichsam ab von dem Boden, auf dem er lebt, und beleidigt so den Geist der Erde. Von hier aus verstehen wir die merkwürdige Tatsache, die Rudolf Steiner in seinen Vorträgen zum Johannesevangelium erwähnt, daß die mittelalterlichen Mystiker, wenn sie sich in die Fußwaschung hineinlebten, wirklich zu fühlen glaubten, wie Wasser ihre Füße umspült. Der moderne Psychologe wird hier rasch mit dem Wort Suggestion bei der Hand sein. Sie mag auch da und dort gewirkt haben. In Wirklichkeit liegt oft ein anderer Vorgang zugrunde, der überaus heilig ist. Wenn der Mensch sich ganz mit Christus verbindet, verliert er dies egoistische Sich-Abstoßen von dem Mutterboden, auf dem er steht. Er taucht ein, gerade auch mit den Füßen, in eine waltende Geistigkeit. Denn nur für eine ganz äußerliche Betrachtung sind die Füße so ungeistig und bloßkörperlich, wie man sie heute ansieht. In ihnen ist der Mensch mit starken Erdenkräften verbunden, die er auch besonders in ihnen fühlen kann. Seit Christus da ist im Erdenwesen, können diese Erdenkräfte ganz durchchristet sein, ganz vom Christusgeist durchwaltet. Das Bild dafür ist gegeben in der Christusvision der Offenbarung Johannis. Christus selbst erscheint da mit Füßen, die wie feuerflüssiges Erz sind: stärkste Erdenkraft, vom Feuer der Liebe durchglüht. Den Anfang davon erlebten jene Mystiker. Auch heutige Menschen können ihn erleben. Man hat dann das Erlebnis der Reinigung „von Grund auf“. Mancher wird solche Ausführungen zunächst nur anhören können. Er mag wohl an ihnen ahnen, daß solche biblische Bilder bis ins einzelne nichts Zufälliges enthalten. Gibt man sich ihnen hin, so hat man nicht nur religiösmoralische Erlebnisse im Herzen, sondern geht einer ganz neuen We1t entgegen. Zunächst aber kann jeder aus unsrer Geschichte die Stimme Christi selbst heraushören: Lieben heißt die Füße waschen, den Menschen in seinen Erdengegebenheiten nehmen, ihm durch die Tat von unten auf helfen! Es ist noch kindlich, das Vorbild Christi äußerlich nachzuahmen, wie der ehemalige bayerische König am Gründonnerstag einige alte Männer im Schloß versammelte und ihnen Wasser auf die Füße goß – die vorher gründlich gesäubert waren. Besser war es schon, wenn im Mittelalter einige Gemeinschaften die Fußwaschung als Sakrament wirklich vollzogen. Am besten ist, wenn wir in Augenblicken, wo sich uns Gelegenheit zur Liebe bietet, das Bild vor unserer Seele auftauchen lassen: Fußwaschung – das ist die große Tat Christi selbst! Das ist sein göttliches Vorbild. Wir werden dann auf ganz andere Gedanken kommen, als wenn wir die Liebe als beglückendes Gefühl im Herzen spüren wollen.
Von unten auf, vom Boden auf den Menschen durch die dienende Tat heiligen: das ist christliche Liebe. Viele Mönchsorden der Vergangenheit hatten Demutsübungen. Aber das wunderbare Wort Demut ist heute voller Flecken. Als königlichen Diene-Mut müssen wir es wiedergewinnen. Lebt dieser Wille in uns, dann mögen wir ihn immer wieder vor dem Bild Christi, vor dem Vorbild der Fußwaschung stärken und neu beleben. Man möge dann, nachdem man durch die Einzelheiten in die rechte innere Verfassung gebracht ist, ganz auf die Hauptsache schauen: Christus, wie er in diesem göttlichen Willen zum Dienen den Menschen die Füße wäscht. Den Menschen. Diesen Willen, diese Gesinnung trinken wir in uns hinein, bis wir von ihr erfüllt sind, – womöglich so stark, daß wir meinen, nun könne in alle Ewigkeit nichts anderes mehr in uns leben. Bei dieser Übung und bei den folgenden Übungen dieser zweiten Gruppe können wir unser Ich, wie wir es durch die erste Gruppe der Übungen gewonnen haben, zum Schluß geradezu als Gralsschale fühlen, die sich von oben mit dem edelsten Inhalt, mit dem Lebensblut Christi selbst füllen läßt. Nicht daß wir äußerlich in Gralsvereine eintreten und mit Gralsgedanken spielen, sondern daß wir innerlich das Gralserlebnis gewinnen, darauf kommt es an. Das Ich kann sich wie eine umgekehrte Schale nach oben abschließen und nach unten andere überdachen: dann wird es ein Cäsar. Ob ein großer oder ein kleiner, das hängt von der Begabung ab. Das Ich kann sich auch nach oben öffnen und sich nach unten verschenken: dann wird es ein Christusjünger. Johannes der Täufer stand an der Pforte zum Neuen: das Ich fühlte sich leer und einsam und rief nach seinem Lebensinhalt. Da kam Christus und sprach: „Ich bin“. Und nun nehmen wir ja den Wesensgehalt dieses Ich-bin in uns auf. Das ist das Gralserlebnis. Man sieht wohl deutlich, daß es sich hier nicht um „mystische“ Gefühle handelt, was man so heute unter Mystik versteht, sondern um eine Grunderziehung des Menschen – wie die Menschheit ihrer heute bedarf. – Das erste, was wir zu besprechen hatten, ist die göttliche Grundgesinnung selbst, die Christus auf die Erde führte. Denn allein mit Christus lohnt es sich auf der Erde zu leben. Mit Christus kehren wir täglich freiwillig auf die Erde zurück, so wenig sie uns oft gefällt. In der Tat Christi spiegelt sich uns der höchste Wille des Weltenvaters selbst wider, der allem Erdengeschehen zugrunde liegt. Es lag in einer göttlichen Notwendigkeit, daß der Weltenvater einmal eine Welt werden ließ, in der er sein göttlichstes Wollen und Können, das liebreiche Helfen von der tiefsten Tiefe her, so zum Ausdruck bringen konnte wie auf der Erde. Wer aber auf der Erde leben will, der muß das Schicksal der Erde auf sich nehmen. Damit kommen wir zur zweiten Stufe der inneren Christusvereinigung. Das erste, worauf sich der Blick lenkte, war der Mensch. Und die Grundgesinnung gegen den Menschen wurde zuerst erweckt. Denn um des Menschen willen ist die Erde da. Aber das zweite ist nun der Blick auf die Welt, die den Menschen umgibt. Wir treten ein in die Erdengeschichte. Das Wort, das uns in diese Welt hineingeleiten soll, ist das Wort Friede. Wie die Liebe zu den Menschen führte und führt, so umhüllt uns in der Welt der Friede.
Aber der christliche Friede ist ebenso entstellt, wie die christliche Liebe, und bedarf ebenso der Reinigung. Die Art, wie im heutigen Christentum die Worte Liebe und Friede leben, konnte Menschen wie Nietzsche zurückstoßen. Was dagegen wirklich Friede ist im Sinn Christi, können wir am besten lernen am Bild der Geiße1ung. Nicht ein mittelalterlicher Klosterfriede, der sich von der Welt zurückzieht, sondern gerade ein Mittendrinstehen in der ärgsten Welt. Nicht ein protestantischer Seelenfriede, der nur in der eigenen Sündenvergebung lebt, sondern ein Aufnehmen des Weltschicksals in der Kraft von oben. Über das Christentum noch hinausgesehen in die Menschheitsgeschichte: auch die heldenhafte Unempfindlichkeit der Stoiker und die starkgeistige Wunschlosigkeit der Buddhisten bleibt zurück vor dem Bild des heroischen Christentums, wie es in der Geißelung lebt. Wir verstehen dabei wieder die Geißelung als ein zusammenfassendes Bild dessen, was immer und überall an Christus geschah. Erschütternd ist es, sich Christus wirklich am Marterpfahl vorzustellen, den heilig Göttlichen, gegen den von rohen Fäusten die zerfleischenden Schläge geführt werden. Mancher wird zweifeln, ob seine „Nerven“ einer ernsthaften Meditation dieses Bildes gewachsen sind. Und doch treten wir erst ein in das wirkliche Schicksal des Göttlichen in der Welt, wenn dies Bild in uns lebendig wird. Anders geht es dem Göttlichen niemals. Wer dies nicht will, der vertritt kleine Lebensfreuden, aber nicht das Göttliche in der Welt. Umgekehrt bewährt sich das wahrhaft Göttliche in der Welt gerade darin, daß es den Menschen stark macht und mutig, dies Schicksal mit ihm zu teilen. Es ist gut, dies Bild Christi immer wieder klar vor sich hinzustellen. Denn wie Goethe gesagt hat, gegen die vielen Lebensverzichte, die von uns gefordert werden, helfe man sich am besten, indem man „ein für allemal im ganzen resigniert“ – so wird man nach einer solchen Christusmeditation fühlen, wie man nun gerade viel stärker und mutiger ins Leben zurückkehrt. Man weiß, was einem bevorsteht, man hat sich wieder entschlossen und gefestigt, man ist dann überrascht, daß uns doch auch so viel Gutes in der Welt widerfährt. Eine neue Bedeutung der „Erlösung durch Christus“ geht uns auf. Heute denkt man, wenn man überhaupt bei diesem Worte etwas denkt, an die einmalige Tat des Todes Christi auf Golgatha. Aber auch von den einzelnen Geschehnissen im Christusleben gehen fortwährend Erlösungen aus. Wer die Meditation der Christusgeißelung wirklich vollzieht, der wird „erlöst“ von aller Wehleidigkeit, von aller Lebensillusion, von allen falschen Hoffnungen und Wünschen. Man merkt jetzt erst, wie man dies alles unbewußt in sich getragen hat. Man steht völlig anders im Leben, jetzt erst so, daß man das Leben als Helfer des Göttlichen in der Welt ertragen und meistern kann. Christus hat unsere Leiden auf sich genommen: diese alte Anschauung gewinnt einen neuen Sinn. Wirklich geht von dem Bild Christi eine Kraft aus, wodurch die Leiden, die uns bevorstehen, als Leiden weggenommen – und seine Freuden uns dafür gegeben werden. Ein solches konkretes Erlebnis der „Erlösung“ durch Christus, wie wir es hier an einem einzigen Punkt zeigen, ist wichtiger und führt weiter, als wenn man die altkirchliche Lehre im Kopf trägt und an sie „glaubt“, was man heute so „glauben“ nennt, in dem matten Sinn, der mit dem biblischen Sinn von „glauben“ nicht mehr viel zu tun hat.
Man sollte nun aber von der Geißelung aus das ganze Leben Christi betrachten. Wer nach einer Meditation der Geißelung die Abschiedsreden des Johannesevangeliums liest, der wird entdecken, wie jedes Wort, das die jünger zwischen die Offenbarungen Christi hineinwerfen, wie ein Peitschenschlag ist. Nicht nur ein Nadelstich, sondern ein wirklicher Geißelhieb. Man lese dann zurück im Johannesevangelium, wie „die Juden“ – es ist nicht an die Rassejuden dabei zu denken – jedes Wort und jede Tat Christi aufnehmen, dann geht uns auf, daß das Leben Christi ein Aufgerichtetsein an einem Marterpfahl war, und alles, fast alles, was von den Menschen kam, war Geißelung. Man merkt dies nur deshalb nicht, weil Christus, zum Beispiel in den Abschiedsreden, mit solcher Größe alles trägt, weil er alles immer wieder in Gutes umschafft. So mag man nach dem Lesen der Abschiedsreden (Joh. 13-16), wenn man besonders die „innere Haltung“ Christi gegenüber den Einwürfen der Jünger beachtet hat, dem Bild der Geißelung diese innere Haltung Christi, diese unantastbare Größe der Heiligkeit lebendig einfügen. Erst von da aus wird uns allmählich aufgehen, daß es ein „Gewürdigtwerden der Leiden Christi“ gibt. Denn es gibt nichts Förderlicheres und Erlösenderes für die Menschheit, als daß man in üble Gegenschläge der Menschen diese hoheitsvolle Haltung Christi hineinträgt: diese Reinheit der Gottzugehörigkeit. Die alten Mystiker redeten von „Gottgelassenheit“. Aber wenn die Gottgelassenheit im Kloster bleibt und dort am „göttlichen Leben“ sich erquickt, so ist sie nicht auf der Christushöhe. Sie muß stehen in der fürchterlichsten Feindschaft der Welt, muß sein ein aktives „Sich-Einen mit dem Werden der Welt, das geschehen kann durch Christus“, muß sein ein freies Übernehmen des Schicksals des Göttlichen in der Menschheitsgeschichte. Man muß fühlen, daß diese Gelassenheit, dieser Friede gerade die letzte Eigenschaft der starken und feurigen Menschen ist. Wie man entdeckt hat, daß die Griechen die Sophrosyne, die Besonnenheit, deshalb priesen, weil sie ihnen gerade schwer fiel, so ist der christliche Friede dann groß, wenn er ein Sieg des starken Willens ist über sich selbst. Alles, was die Menschen von Christus übernommen haben, haben sie zunächst verdorben. So gab es ein sentimentales Mitleid mit Christus, aber eitel selbstsüchtig und selbst im besten Fall noch ohne die letzte Größe. Es gab auch ein sklavisches Sich-alles-Gefallenlassen im Namen Christi, und vieles Ähnliche. Von dem allen könnte uns die Meditation der Geißelung befreien, wenn wir sie nicht nur in der Empfindung vollziehen, sondern im wach wählenden Ich. Wir machen den alten Mönchen nicht ihre Stachelhemden und Selbstgeißelungen nach. Aber wir schauen Christus am Weltenbaum, freiwillig gebunden, von den Menschen zerschlagen, aller Marter keinen äußeren Widerstand, nur seine göttliche Größe entgegenstellend. Dann denken wir uns in seine Lage, nehmen sein Schicksal mit freiem Willen auf uns und geloben uns, in diesem Geist allem standzuhalten, was kommen mag.
In den erwähnten Vorträgen über das Johannesevangelium schildert Rudolf Steiner, wie im Zusammenhang mit der hingebenden Betrachtung der Geißelung Christi bei den mittelalterlichen Mystikern wirklich das Gefühl des Geschlagenwerdens eintrat. Ähnliches haben wir auch in der Gegenwart erzählen hören, mehr in der Form von Träumen, die sich nach der Betrachtung der Geißelung einstellen. Hier tritt wieder ein Vorgang ein, der keineswegs Suggestion zu sein braucht. Wenn der Mensch sich mit Christus erfüllt, wenn er sich erhebt über das engpersönliche Leben und sich in Liebe der Welt erschließt, dann durchbricht tatsächlich sein feinerer unsichtbarer Mensch die Hülle, in der er bisher gelebt hat. Das, was man den ätherischen Menschen genannt hat – noch nicht der eigentliche Geistesmensch, aber doch schon das zarte Organ des Geistesmenschen, beginnt an einem größeren Leben Anteil zu nehmen. Das erste, was dem Menschen dann begegnet, das ist, daß er die Gegenwirkungen spürt, die von allen Seiten kommen, die Gegenmächte, die das Göttliche nicht dulden wollen. Dies ist um so empfindlicher, da der Mensch gerade jetzt in dem Gefühl lebt, daß er doch nur Gutes bringen will, und in der unbewußten Voraussetzung, daß die anderen Menschen selbstverständlich auch anerkennen müßten, was ihm selbst groß und göttlich ist. Darum hatten Menschen, die von einer großen Überzeugung durchdrungen ihren Mitmenschen helfen wollten, zunächst mit einer starken Empfindlichkeit zu kämpfen, wenn die Menschheit so ganz anders antwortete, als sie zu erwarten sich berechtigt glaubten. Das Erlebnis, das wir als „Nadelstiche“ kennen, wird zum Welterlebnis. Diese Empfindungen können sich einstellen, nicht nur wenn der Mensch bewußte Erlebnisse von Feindschaft hat, sondern auch wenn er sich einfach als Christusjünger in der Welt fühlt. Sie können dann mehr unbewußt sein – oder auch hochbewußt. Sie leben in einer höheren Geistigkeit, die vom Alltagsbewußtsein wohl unterschieden werden kann. So ist mit dem freien und liebenden Drinstehen in der Welt eine Geißelung notwendig verbunden. Sie ist gerade das Wahrzeichen, daß der Mensch über sich hinauswächst in ein größeres Leben. Darum erscheint Christus auch in der Apokalypse mit dem wallenden Mantel, der durch den goldenen Gürtel zusammengehalten ist. Dies Bild offenbart sich als das Gegenbild zur Geißelung. Nur wer die eben geschilderte Empfindlichkeit kennt, die sich so wehrlos fühlt in der Welt, kann dadurch, daß er sein Schicksal, seinen Willen, sein Ich verbindet mit dem Christus, der am Weltenbaum für seinen göttlichen Dienst geschlagen wird, Sicherheit, Kraft und Ruhe finden gegenüber Erlebnissen, die ihm doch in, irgendeiner Gestalt einmal bevorstehen. Für das Wichtige halten wir, daß wir den „Frieden“ Christi lernen von d e m Christus, den wir am Marterpfahl stehen sehen. Man könnte diesen Frieden am Schluß der Meditation, indem man das Bild innerlich fallen läßt, wieder trinken wie einen alleredelsten Lebenssaft aus einer höheren Welt. So sind wir gesichert vor einem luziferisch-egoistischen Frieden.
So können wir „Frieden“ im echten Sinn zum voraus finden sowohl gegenüber den persönlichen Schicksalen, wie auch gegenüber dem Schicksal, das wir auf uns nehmen, wenn wir das Göttliche in der Welt vertreten wollen, sowohl gegenüber kleinen Erlebnissen des Alltags, wie gegenüber einer letzten Zerschlagung unseres äußeren Daseins. – In diesen Betrachtungen versuchen wir eine Reinigung der christlichen Eigenschaften, besser der christlichen Grundgesinnungen von Christus selbst aus. Wir haben gesehen, daß die christliche Liebe etwas anderes ist, als was die Menschen gewöhnlich darunter verstehen, und ebenso der christliche Friede. Nun wenden wir uns zur christlichen Hei1igkeit. Im Mittelalter erlebten die Menschen, wie Rudolf Steiner schildert, die Dornenkrönung in der Art, daß in ihnen der Wille entstand: Ich will aufrecht stehen gegen allen Hohn und Spott der Welt! Ich will eintreten für das Heilige, das mir anvertraut ist! Auch wenn ich ganz allein bleibe, will ich unerschüttert für mein Heiligstes einstehen! – Die wahre christliche Heiligkeit ist etwas Individuelleres und Aktiveres, als den Katholiken scheint, wenn sie an „Sündlosigkeit“ denken, und etwas Tieferes und Innerlicheres, als die Protestanten meinen, wenn sie von „Pflichterfüllung“ reden. Jeder Mensch hat sein eigenes höheres Ich, das auf die Erde erst herabgeholt werden soll. In diesem höheren Ich schlummern göttliche Offenbarungen, die dies Ich schon in sich trägt, und über ihm schweben göttliche Offenbarungen, die es noch empfangen kann. Mit jedem menschlichen Ich tritt ein besonderer göttlicher Gedanke in die Welt, ein besonderer göttlicher Auftrag, ein besonderes göttliches Geschenk. Dies ist nun die wahre Heiligkeit im Sinne Christi: dem höheren Ich die Treue halten, das höhere Ich in die Erdentwicklung hineinopfern. Nicht sich irgendeine Sendung einbilden, sondern den Auftrag finden, der uns in unserem Ich als göttlicher Gedanke gegeben. Nicht sich den Menschen aufdrängen, sondern sich an die Menschheit schenken. Es ist klar, daß es sich hier weder um die Erfüllung von Geboten handelt, noch bloß um die Vermeidung von Sünden. Innerlicher und persönlicher, aber auch heroischer und aggressiver ist diese neue Heiligkeit. Es ist die Heiligkeit, die wir an Christus sehen. Nicht mit Worten hat er davon geredet, aber mit Taten sie getan. Für ihn gab es nur ein einziges Gebot: „Des Menschen Sohn muß.“ Nichts von sich selber tun, sondern den Auftrag erfüllen, den ihm „der Vater gegeben“. Hier stoßen wir in die Tiefen, wo Heiligkeit und Weisheit ein und dasselbe sind. Denn nicht äußeres Wissen, aber göttliche Weisheit ist in unserem höheren Ich. Der Gottesgedanke, der wir sein sollen: das ist, recht verstanden, unsere letzte Weisheit. Die Lebenstat, in die sich dieser Gottesgedanke verwandeln will: das ist unsere wahre Heiligkeit. Damit uns bei diesem Gottgesandtsein wieder aller Hochmut vergeht, schauen wir auf Christus, wie er dort steht in der Dornenkrone. Unser Blick sieht nicht nur die greuliche Mißhandlung, sondern liest das erhabene Gotteswort, das da zu uns gesprochen wird.
„Dornen und Disteln wird er dir tragen“ – der Erdenacker, hieß es einst im Erden-Weissagungswort der Anfangsgeschichte. Die Dornen sind das Sinnbild der Erde mit ihrem Leid und Kampf. Aber aus dem brennenden Dornbusch, aus diesem Erdenfeld voll Kampf und Leid, offenbarte sich dann Jahveh dem Menschen. Und in der Dornenkrönung nimmt Christus die Dornen von der Erde und windet sie zu einer neuen Königskrone. Die Erdenweisheit wird aus dem Erdenleid geboren. Erkennen heißt erleiden. Diese Krone ist das Bild des menschlichen Königtums. In alten Zeiten sah man um das Haupt der weisen Menschen den Himmelsglanz, der in seinen Strahlen zu den Sternen ging. Daraus ist die Königskrone in Urzeiten entstanden. Diese Krone hat der Mensch verloren. Die neue Krone muß er sich selbst winden aus den Erdendornen. Erdenschmerz soll Weisheit werden. Jeder einzelne Schmerz hat seine Erlösung erst gefunden, wenn er ganz zur Weisheit geworden ist. Ich will aufrecht stehen in der Welt für das, was mir als Heiliges gegeben ist! Ich will nichts anderes als Dornen dafür erwarten, aber aus den Dornen will ich eine Krone machen! Ich will alles Erdenleid verwandeln in menschlichgöttliche Weisheit! Nicht den Heiligenschein wählt unsere neue Heiligkeit, sondern die Dornenkrone. Wir prägen das Bild des Christus, wie er dort steht, unserer Seele ein, so daß unser Ich ihm ähnlich wird. So verbindet sich höchste Treue gegen Gott mit größter Klarheit über die Erde. Man wird die Dornenkronenmeditation in der Gegenwart als besonders wohltuend empfinden, weil unsere Zeit in besonderer Weise in die Erde hineingegangen ist und in ihr das Wissen sucht. In der Dornenkrone ist die Menschenweisheit von der Erde. Wir pflegen nicht eine Lebensauffassung, die in der Erde nur Leiden sieht und sich nach dem Himmel sehnt, sondern ein Lebensverhalten, das die Leiden der Erde in eine Krone verwandelt. Auch pflegen wir nicht eine Weltanschauung, die nur Weisheit vom Himmel haben will und die Erde verachtet, sondern einen Weltwillen, der die göttliche Weisheit im Leiden der Erde sucht und sammelt. Ein solches Christentum steht richtig zwischen Ost und West, zwischen dem Osten, der Weisheit sucht, indem er die Dornen der Erde mied, und dem Westen, der die Dornen der Erde erlebt, ohne ihnen die Weisheit abzugewinnen. Man kann auch hier dahin kommen, diese Weisheit geradezu mit dem Ich zu trinken wie einen Gralstrank. Aber man tut gut, das Bild des dornengekrönten Christus dabei in der Seele nie zu verlieren. In den Vorträgen Rudolf Steiners wird davon erzählt, daß die Menschen der mittelalterlichen Zeit, wenn sie die Dornenkrönung erlebten, wirklich stechende Schmerzen am Kopf empfanden. Das hängt damit zusammen, daß der Mensch die Offenbarungen des Sternenkreises in alten Zeiten wie in einem Reifen um sein Haupt herum vor sich sah. Die Mitra redet noch davon. Denn das Wort „Mithras“ der persischen Religion, von dem die „Mitra“ kommt, bedeutet „Bund“ und wird heute auch von den Gelehrten auf das Zodiakallicht, Tierkreislicht, gedeutet.
Wenn nun der Mensch die Schmerzen um sein Haupt empfindet, ganz besonders auch in der Stirnmitte, aber nicht in ihr allein, auch am Hinterkopf, als ob ein Reif springen wolle, dann kann es das Zeichen sein, daß er wieder am Durchbrechen ist zur göttlichen Weisheit. Darum erscheint Christus in der Apokalypse nicht mehr mit der Dornenkrone, sondern mit dem Sonnenleuchten um sein Haupt. Wie sich in den Füßen das Willenswesen des Menschen einen kann mit den Waltekräften der Erde, wie sich im „mittleren Menschen“ sein Gefühlsleben vereint mit dem Lebensinhalt, der in unserem Sonnensystem da ist, so vermählt sich sein Geist im Haupt mit der Weisheit, die in den Reichen des Fixsternhimmels ihre geistige Heimat hat. „Siehe der Mensch!“ sagt Pilatus, als er Christus in der Dornenkrone herausführt vor das Volk. Es vergeht uns wahrhaftig der Zweifel, ob wir wirklich dies Wort bedeutsam finden können, wenn wir erfahren, daß in den persischen Mysterien die „Einweihung“ in der Weise vor sich ging, daß der Mensch eine Geißelung durchmachen mußte, dann einen Königsmantel mit dem Zepter erhielt, aber mit einer dornigen Akanthuskrone. Es ist dasselbe Wort Akanthus wie in der biblischen Erzählung. Der Dornenkranz trug einen Stachel in der Stirnmitte, um darauf hinzuweisen, daß die Schmerzensweisheit im Erden-Ich erobert werden muß, das hier wohnt. Voran mögen diesen Einweihungshandlungen, wie überall in den Mysterien, Übungen gegangen sein in der Selbstverleugnung, wie wir sie in der Fußwaschung sehen. Es besteht sogar ein direkter Zusammenhang zwischen jenen Mysterien und der Szene in Jerusalem. Denn in den römischen Heeren war ja der Mithrasdienst die beliebte Religion. Als die Soldaten hörten, daß Christus ein König sei ohne Land, mischte sich aus Mysterienerinnerungen und höhnischen Witzen diese Szene. Der Dornenkranz spricht zu deutlich. Allerdings war das persische Sakäenfest damals schon stark auf dem Weg, zum scherzhaften römischen Saturnalienfest zu entarten. Auch das Wort des Pilatus: Siehe, der Mensch! kann ein Mysterienwort gewesen sein, das bei solcher Gelegenheit, wenn die Einweihung zu Ende gekommen war, wirklich gesprochen worden ist. Das kann Pilatus gewußt und die Worte in zynischem Sinn gebraucht haben. Ist dies der Fall, dann würde sich das Pilatuswort noch besser erklären. Es war nicht Mitleid, sondern bedeutete eine versteckte Verhöhnung der Juden. Besser erklären würde sich auch die gerade in diesem Augenblick losbrechende Wut der Juden, die nach dem Johannesevangelium jetzt zum erstenmal den Ruf erheben: Ans Kreuz mit ihm! Denn sie ahnten oder wußten etwas von dem Mysterienhintergrund, ohne den in der damaligen Zeit fast nichts zu denken war, und lehnten das alles hier natürlich völlig ab. Zu verstehen sind nun auch auf neue und tiefe Art die geschilderten mystischen Erlebnisse, die noch in den mittelalterlichen Klöstern, aus heiligen Lebensgesetzen heraus, an den einzelnen Ereignissen der Leidensgeschichte gemacht wurden.
Wir hätten also folgenden Entwicklungsgang vor uns. In den alten Mysterien, die uns im persischen Sakäenfest noch in Resten erhalten sind (vgl. z. B. Wundts Völkerpsychologie, II. Teil, 3. Band, S. 707ff.), führte man den Menschen aus uralter Weisheit und innerem Wissen um die Gesetze des Weltalls zur Einweihung, aber ohne Christus. Doch stieß man ahnend zum wahren Menschentum vor. Im Mittelalter erlebte man Christus in tiefem Mitfühlen, aber ohne Kenntnis der Weltallgeheimnisse. Doch stieß man erfahrend zu diesen Geheimnissen durch. Hier in unseren Übungen vereinigt sich beides. Werden die Übungen nicht nur gefühlsmäßig im Mitempfinden mit Christus vollbracht, sondern im Blick auf ihre Weltbedeutung, dann können sie heute auf höherer Lebensstufe auferstehen. Es ist wieder Rudolf Steiner gewesen, der auf den Zusammenhang der ersten Leidensereignisse mit dem Einweihungsgang der persischen Mysterien klar hingewiesen hat. Auf Grund seiner Mitteilungen wird hier weiter gedacht. Im einzelnen mag manches der Bestätigung, der Ergänzung, vielleicht auch der Richtigstellung bedürfen. Tatsache ist, daß wir in den drei geschilderten Bildern die Entwicklung zum höheren Menschentum vor uns sehen. Man kann geradezu sagen, im Blick auf das, was wir betrachtet haben: die eigentlichen Eigenschaften des Menschen waren vor Christus noch gar nicht da. Oder nur, wie in den Mysterien, im Vorbild. Dreifach ist die Welt, in der der Mensch steht. Er lebt unter seinen Mitmenschen: für diese Welt schenkt ihm Christus die Liebe. Er lebt mit seinem Schicksal: für diese Welt schenkt ihm Christus den Frieden. Er lebt vor Gott: für diese Welt schenkt ihm Christus die Heiligkeit. „Siehe, der Mensch!“ – – Es ist nun gar nicht verwunderlich, wenn sich in manchem Leser die Empfindung regt, daß er vor lauter Meditation gar nicht mehr weiß, was er meditieren soll. Er bedenke, daß wir hier Hilfe bieten wollen für ein ganzes Leben. Wenn ein Leser zunächst bei den Ich-Übungen bleibt und alles Weitere zunächst nur liest wie eine Hilfe zum Verständnis der Bibel, so ist es gut. Selbst in diesem Fall werden ihm die weiteren Ausführungen von Wert sein können, gerade auch für die früher besprochenen Ich-Meditationen. Er wird die Richtung sehen, in der es weitergeht, und manche Einzelheit für die Grundmeditationen wichtig finden, zum Beispiel eben jetzt die nähere Schilderung der Liebe und des Friedens. Am Schluß werden wir Vorschläge bringen, wie nun der ganze Organismus der einundzwanzig Übungen am besten ins Gesamtleben eingeführt werden kann. Zunächst möchten wir raten, auf jeden Fall die beiden Grundmeditationen über Liebe und Frieden einzuhalten, von hier aus sich weiter in die IchMeditationen hineinzutasten und die hier beginnenden Gefühlserziehungsübungen einstweilen hin und wieder gründlich zu lesen. So zu lesen, daß man nicht nur in einem Zug alles durchliest, wie man eine Zeitung liest, sondern so, daß man bei den Bildern verweilt und sie wirken läßt. Man wird auf diese Weise auch zu einer besseren Art, die Bibel zu lesen, kommen können.
Ob man nun aber bloß meditierend hin und wieder liest oder ob man imstande ist, ohne die früheren Meditationen zu vernachlässigen, in das Meditieren auch dieser Bilder stärker einzudringen: immer wäre zu raten, daß man nicht bloß das Ernste, sondern das Voll-Menschliche dieser Bilder lebendig empfindet. Es ist der wahre Mensch, in den wir hineinwachsen, wenn wir „Christus nachfolgen“. Dieser Mensch muß bereit sein, Leiden auf sich zu nehmen. Sonst kann er auf der Erde nicht zum Menschen werden. Aber die Leiden sind nicht das Wesentliche. Tief mögen wir in uns aufnehmen, welch herrlicher Göttergedanke der Mensch ist, der die königliche Liebe in sich trägt zu allem, was unter ihm ist, und den himmlischen Frieden gegenüber allem, was um ihn ist, und die göttliche Heiligkeit vor allem, was über ihm ist. Diese drei Eigenschaften sollten so geläutert werden, wie es von dem Christusbild her geschehen kann. Durch die Liebe entschließt sich der Mensch zur Erde. Im Frieden wandelt er auf der Erde. Mit der Weisheit, die aus Heiligkeit geboren ist, kehrt er von der Erde zum Himmel zurück. Siehe, der Mensch! –
7. Brief Der Atem in der Meditation – Vegetarisches Leben – Das Sexuelle – Das Kreuz Christi als Meditationsinhalt – Der Zusammenhang mit dem Weltgeheimnis und mit dem Alltag – Höllenfahrt in Vergangenheit und Gegenwart – Die Finsternismächte – Liebe und Friede im kosmischen Sinn
Als Pilatus die Worte gesprochen hatte: Siehe, der Mensch! antworteten die Hohepriester und ihre Diener mit dem Ruf: Kreuzige ihn! Eine solche Szene ist, ganz abgesehen von ihrem menschlich ergreifenden Charakter, voll von Weltgeschichte. Es gab damals zwei Wege der Einweihung, den nördlichen und den südlichen. Beim nördlichen Einweihungsweg wurde der Mensch – entsprechend den Volksreligionen, zu denen diese Esoterik gehörte – mehr nach außen gelenkt und erlebte den Sinn der Welt. Beim südlichen Einweihungsweg wurde er in die Tiefe des eigenen Innern geführt und brach gleichsam nach innen durch zum Wesen der Welt. Vom nördlichen Einweihungsweg haben wir jetzt einen Eindruck bekommen durch das, was uns von Persien erzählt wurde. Dem Saturnalienkönig des römischen Volksfestes, das mit dem persischen Sakäenfest in Zusammenhang steht, wurden noch in späterer Zeit zwei Minister beigegeben. Zu dem, was schon über die Akanthuskrone erzählt wurde, kommen noch solche scheinbar ganz zufällige Äußerlichkeiten, wie daß Christus zusammen mit zwei Schächern gekreuzigt wurde. Der südliche Einweihungsweg kam vor allem in Ägypten zur klassischen Vollendung und führte den Menschen durch den Tod zu einer Auferstehung. Sogar ans Kreuz wurden die Einzuweihenden damals oft für drei Tage gebunden. – Wir gründen uns bei diesen Darstellungen auf die Ergebnisse der Geistesforschung Rudolf Steiners, die uns sehr wahrscheinlich erscheinen. Anderen muß es überlassen bleiben, die geschichtlichen Zeugnisse daraufhin zu prüfen – soweit solche da sind. Ist dies so, dann antwortet – natürlich ganz unbewußt oder nur wenig bewußt – in dieser Szene vor dem Gerichtshaus des Pilatus aus der Seele der Juden heraus: der Süden dem Norden. Man könnte sagen, die Menschheit spricht unbewußt mit sich selbst: Er hat nun den Einweihungsweg des Nordens sinnbildlich vollendet, er muß auch den anderen Weg zur Vollendung gehen. Denn die Einweihungsriten waren ja nicht willkürliche Gebräuche, sondern entsprachen tiefen Weltgesetzen. Endete der Weg des Nordens mit dem Wort des Pilatus: Siehe, der Mensch! so müßte der Weg des Südens eigentlich enden mit dem Wort: Siehe, der Gott! Denn wer durch den Tod zur Auferstehung geht, der tritt über das Menschentun hinaus in die Schar der Übermenschen ein oder der Götter, wie man in alter Zeit sagte. So wurde der Eingeweihte in Ägypten einfach als Osiris angeredet. Nach dem Tod Christi hören wir zuerst aus dem Mund des Hauptmanns der Kohorte, die ihn kreuzigte, das Bekenntnis: Dieser Mensch war in Wirklichkeit Gottes Sohn (Mark. 15, 39). Und nach der Auferstehung bekennt Thomas: Mein Herr und mein Gott! (Joh. 20, 28).
Es ist heute notwendig, daß wir das Kreuz Christi auf neue Weise uns erobern. Unsere Betrachtung will dazu helfen. Aber ehe wir uns dem ernstesten Bild der Weltgeschichte: „Christus am Kreuz“ innerlich nähern, sei vorher auf einige praktische Fragen geantwortet, die sich im Meditieren ergeben. Immer wieder hört man die Klage, daß Menschen sich, wenn sie stärker ins Meditieren kommen, durch ihren eigenen A t e m gestört fühlen. Dies rührt nicht selten davon her, daß das Atmen des Menschen eben anders wird, wenn man sich der geistigen Betrachtung intensiv hingibt. Der Atem wird tiefer, langsamer, gesünder, reiner. Dazu braucht der Mensch nichts zu tun: es kommt von selbst. Man erlebt dann unmittelbar, wie die „Sündenkrankheit“ bis ins Körperliche hinein gewirkt hat, und wie durch sie auch unser Atem flacher, toter geworden ist. Menschen, die in hohem Grad der Andacht hingegeben sind, haben einen längeren Atem als andere. Das kann man zum Beispiel auch an den Rhythmen der Brucknerschen Musik deutlich spüren. Und die Unfähigkeit, die sich oft selbst bei großen Dirigenten herausstellt, wenn sie Bruckner dirigieren sollen, kann zusammenhängen mit ihrer Unfähigkeit zu dem langen Atem der Andacht, der in Bruckners Werken lebt. Es ist für den heutigen Menschen nicht das Richtige, durch Atemübungen den Aufstieg zu geistigerem Leben zu beginnen. In sehr einleuchtenden Ausführungen hat Rudolf Steiner dargetan, daß der Inder als „Mensch des rhythmischen Systems“ in besonderer Weise fähig war, im Atem das Göttliche zu erleben, daß aber der Gegenwartseuropäer als „Nerven-Sinnes-Mensch“ einen anderen Weg zu gehen hat. Der Abendländer wird den Inder auf seinem indischen Weg niemals erreichen. Wohl kann gesagt werden, daß bei den höheren okkulten Übungen eine gewisse bewußte und beherrschte Atemführung eine starke Hilfe ist. Auch ist der Atem an sich voller Geheimnisse. Denn er ist viel geistlebendiger, als wir Zeitgenossen des Materialismus wissen. Hier für unseren Zweck genügt es, wenn wir folgende Tatsachen kennen. Das Meditieren kann auch als ein bewußtes, freies Träumen geübt werden. Wach und stark, durch den Willen des Menschen gelenkt und vom Bewußtsein des Menschen erleuchtet, vollzieht sich, was im Traume geschieht: daß wir das Körperliche verlassen und im Geist allein leben. Da kann aber der Mensch leicht ins wirkliche Träumen kommen und sich selbst verlieren. Der Atem nun – man kann hier nur in Bildern reden – vermag ihm zum Stab zu werden, an dem er Schritt für Schritt vorwärts geht. Mit jedem Atemzug facht dann der Mensch sein Vollbewußtsein neu an. Um ja nicht aus dem freien bewußten Meditieren ins dumpfe Träumen zu kommen, kann er es sogar so halten, daß er bei jedem Ausatmen das Bild, das er betrachten will, neu lebendig vor sich hinstellt, und daß er bei jedem Einatmen das Bild gleichsam mit hereinzieht in sich und so stark auf sein Wesen wirken läßt, wie wenn er es sich einprägen, wie wenn es ihn prägen wollte. So kommt der Mensch zu einem Rhythmus des inneren Erlebens, der ihn im Wach-Bleiben unterstützt. Dies mag jeder versuchen, den sein Atem stört. Nach und nach wird er dieser Hilfe nicht mehr bedürfen. Er wird sich um seinen Atem gar nicht mehr zu kümmern brauchen. Er wird ihn auch nicht mehr verlieren, wie es im Anfang öfter geschieht.
Nach der Meditation aber wird er bemerken, daß er wohltuend geatmet hat. Dann wird ihm auf eine gesunde gegenwartsgemäße Art aufgehen, warum die Menschen vergangener Zeiten im Atmen das Göttliche erlebten. Die Juden wieder in ganz anderer Art als die Inder. Auch der Heilige Geist im Neuen Testament wird mit dem Hauch, mit dem Atem in nahe Verbindung gebracht: pneuma. Christus blies seine Jünger an, wie einst Jahveh den Adam angeblasen hatte, und sprach: Nehmet hin den Heiligen Geist! – Doch die Verfolgung aller dieser Wahrheiten würde uns hier zu weit abführen von unserem unmittelbaren Ziel. Man kann wirklich dahin kommen, daß man im Heiligen Geist atmet, daß man den Eindruck hat, als sei jeder Atemzug schwer von Heiligem Geist. Dies kann man auch, ohne AtemGewaltanstrengungen, als Meditation für sich vollziehen. Den Anfang von solchem heiligen Atmen erlebt jeder in der Meditation. – Andere Menschen behaupten, daß sich bei recht starkem Meditieren Schwierigkeiten einstellen in bezug auf das Verdauungssystem. In allen ähnlichen Fällen gilt es, Ruhe zu haben und – wenn man das hohe Wort gebrauchen darf – Weisheit. Kleine Störungen schaden nichts und regulieren sich von selbst. Sollte man meinen, daß man größere Schwierigkeiten hat, so läßt man eben zunächst in der Stärke des Meditierens etwas nach – bis es besser wird. Aber von manchen Menschen weiß ich, obwohl sie so stark meditieren, wie es der Körper nur überhaupt aushält, daß sie noch keinen Schaden davon gehabt haben. Als einmal im Anfang des starken Meditierens bei mir der Eindruck entstand, daß der sogenannte untere Mensch nicht recht mit wollte und Kältegefühle in der Magengegend auftraten, da sagte Rudolf Steiner in aller Seelenruhe: Dann lenken Sie eben Wärme nach dem Magen. Das habe ich getan, und alles ging vorüber. Eine Geisteshaltung, die Ruhe, Klugheit und Mut vereinigt, ist für das Meditieren das Richtige. In unserem Organismus sind durch das vieltausendjährige Sündenwesen Unordnungen hervorgebracht worden, die durch starke Meditationen allmählich wieder ins Rechte gebracht werden. Davon werden die meisten Menschen kaum etwas bemerken. Wer aber Unregelmäßigkeiten wahrzunehmen glaubt, der frage sich, ob sie nicht eben in diesem Sinn eine heilsame Nach-wirkung bemerken lassen. Vielleicht fühlt man sich hernach um so frischer, obwoh1 die Meditation dem Körper wehgetan hat. Mancher wird erfahren, daß er weniger zu essen braucht, wenn er stark meditiert. Wie in bezug auf das Essen vieles anders wird, darüber haben wir ja schon beim Ich-bin-Wort vom Brot gesprochen. Aber nun fragen die Menschen, ob nicht der Vegetarismus die Kraft der Meditation erhöht. Man kann dazu nur sagen, daß es besser umgekehrt geht: durch richtige Meditation wird der Mensch allmählich mehr Vegetarier. Mancher wird es nie oder nie ganz und kann es nicht werden, weil sein vererbter Leib es ihm nicht erlaubt. Er würde Ohnmachten erleben, wenn er es erzwingen wollte. Denn die Kraft, die sein Organismus anwenden müßte, um aus der Pflanzennahrung dasselbe herauszuholen wie aus der Fleischnahrung, kann er nach seinen persönlichen Gegebenheiten nicht aufbringen. Auch hier gilt es, ruhigen, klugen Mut zu haben.
Unser Organismus, wenn wir durch die Meditation ein größeres Feingefühl für ihn erhalten, sagt uns genau, was zu tun ist. Lehnt er selbst die Fleischnahrung ab, dann erst ist die Stunde gekommen, wo wir in voller Sicherheit zum Vegetarismus übergehen dürfen und können. Dann wird auch kein heimliches Verlangen und Bedürfen mehr sich einstellen. Dann brauchen wir uns nicht um medizinische Theorien zu kümmern, daß „der“ Mensch von heute ohne Fleischnahrung auf die Dauer nicht leben könne. Hier, wie beim Atmen, muß der Mensch der Gegenwart aus dem Geist heraus das rechte körperliche Verhalten finden, während der Mensch vergangener Jahrtausende mehr durch das rechte körperliche Verhalten sich dem Geist näherte. Es gibt Menschen, die wollen sich in den Himmel hinein essen, soll Rudolf Steiner im Blick auf manche Gegenwartsbewegungen gesagt haben. Aber es ist wertvoll, wenn wir wenigstens die erste Erfahrung davon erreichen, daß die Meditation selbst den Menschen nähren kann. Wie der Mensch im Atem dem Heiligen Geist nahekommen kann, so in der Speise dem göttlichen Sohn. Das Abendmahl ist nicht von ungefähr der Hauptgottesdienst Christi. Auf einem dritten Gebiet, das wir hier nur andeutend berühren können, nähert sich der Mensch dann dem Vater. Nicht ohne tiefen Sinn ist das Bild für den höchsten Gott: „Vater“ aus dem menschlichen Lebensprozeß genommen. In bezug auf das sexuelle Leben läßt sich in unserem Zusammenhang nur sagen, daß man es wieder möglichst vom Geist her erziehen sollte. Unsere Meditationsbetrachtungen würden einen wichtigen Dienst versäumen, wenn sie nicht den jungen Menschen sagten, daß durch geistesstarke, seelenmächtige Meditationen am ersten Hilfe kommen kann in ein Gebiet, das beim Gegenwartsmenschen am allerärgsten darniederliegt. Rechte Meditation bringt hier nacheinander Ordnung, Reinigung, Beruhigung, Vergeistigung. Sie führt den Menschen, wenn auch in längeren Zeiten, auf den Weg zum Geist-Werden. Wo Versuchungen sind, ist ruhige Ablenkung zum Geist hin besser und sicherer als Gewaltsamkeit. Unser Weg ist nicht ein gewalttätiges Asketentum. Damit ist nicht gemeint, daß alle die oft empfohlenen Hilfen, wie reizlose Nahrung, körperliche Anstrengung, mäßiger Schlaf, nun verschmäht werden sollten. Ganz und gar nicht. Wir denken an andere Dinge. Der Gatte braucht nicht abweisend zu sein gegen seinen Gatten, wie man es oft bei Frauen findet, die sich in selbstischer Weise „höherentwickeln“ wollen und ihren Gatten dadurch in Erbitterung gegen den Geist oder auf andere Wege stoßen. Ohne daß dergleichen Verirrungen vorkommen, kann sich die menschlich-irdische Liebesfähigkeit allmählich erhöhen zur Teilnahme am göttlichen Schöpferwillen selbst. Dieser Schöpferwille, ist ja ein göttlicher Hingebungswille. Je natürlicher sich alles aus dem Geist selbst ergibt, und je weniger Härten gegen uns selbst und gegen andere nötig sind, um so besser ist es. Nur das unmittelbare Ringen um den reinen göttlichen Geist kann gar nicht streng und ernst genug sein. – –
Nun aber zum Inhalt unsrer Meditationen zurück. – Christus am Kreuz – das ist das stärkste Meditationsbild, das es auf der Erde gibt. Wenn wir es heute neu erleben wollen, so ist es gut, zunächst in die Geschichte des Christentums zu blicken. Nach zwei Seiten war die Abirrung da. Und sie wird wohl immer irgendwie wiederkehren. Die eine Abirrung bestand darin, daß man sich mehr persönlich und gefühlsmäßig in die Leiden Christi hineindachte. Die andere Abirrung bestand darin, daß man wohl auf das objektive Geschehen schaute, aber es nur in die Vergangenheit verlegte. Der erste Fehler ist in der mittelalterlichen Mystik auf seinen Höhepunkt gekommen. Der zweite Fehler lebt in der protestantischen Religiosität. Im ersteren Fall haben wir, um in der Sprache der Geisteswissenschaft zu reden, eine Abweichung nach der luziferischen Seite vor uns, nach der Seite der Selbstsucht. Im zweiten Fall eine Abweichung nach der ahrimanischen Seite, nach der Seite der Verfinsterung. Man sollte sich die geschichtliche Kreuzigung Christi wenigstens einma1 mit allen ihren fürchterlichen Einzelheiten vorstellen, schon um die Wahrheit zu wissen, wie sie gewesen ist. Das Niederwerfen auf den Boden, das Ausrecken und Annageln der Hände und Füße, das schmerzhafte Aufrichten des Kreuzes, das Hängen an den Wunden und an den Entzündungen, die dauernde Verrenkung des Leibes, das Ausgesetztsein dem Sonnenbrand und den Insekten, der quälende Durst, die körperliche Angstbeklemmung infolge der martervollen Stellung und der dadurch gestörten, stockenden Blutzirkulation: man hat den Eindruck, daß sich die Christen die entsetzliche Wirkung kaum je zum Bewußtsein brachten und daß fast ohne Ausnahme ihre Kreuzesbilder mit den schön geschnitzten Holzbalken und ihre Kreuzeslieder mit den gefühlvollen Seelenergüssen angesichts der Wirklichkeit – nun jedenfalls nicht die erschütterte Ehrfurcht sind, die wir dem Ereignis schuldig sind. Wer das Kreuz in seiner geschichtlichen Wirklichkeit auf sich wirken läßt, dem ist es, als könne er in Zukunft nie mehr so leben wie bisher, als habe sich ein absolut entscheidendes Ereignis an ihm vollzogen, als sei er wie herausgestemmt aus dem alten Leben. Ein Lebensgefühl bemächtigt sich seiner, das sich so aussprechen läßt: Auf der Erde, wo es Christus so erging, kann ich niemals mehr naive Freude suchen! Zu der Menschheit, die Christus in ihrer Mitte dieses Schicksal bereitete, kann ich nur noch ein Verhältnis haben: auf seiner Seite ihr gegenüber! In der Welt, in der solche Widergöttlichkeit mög1ich ist, kann ich nur wirken mit al1er Kraft für eine neue Welt! Dieses Lebensgefühl – wenn wir einmal den Kreuzestod Christi mit wahrhaftigem Sinn betrachtet haben – belebt sich dann jedesmal wieder, so oft wir ans Kreuz denken. Der Gottessohn, von den Menschen fürchterlich zu Tode gequält: von dem Tage an, wo wir dies gesehen, wird die Welt anders!
Mancher könnte meinen, daß in diesem Erlebnis nun alles enthalten ist und daß nichts weiter nötig sei, als daß man es stark zur Auswirkung kommen lasse. Das wäre aber dann ein Erlebnis, das im Seelischen bleibt und das keine volle geistige Aneignung und Durchdringung dessen ist, was damals geschah. Darum würde es auch mehr an die Empfindung einer unverdorbenen Seele sich wenden, die schon dem Christentum nahe ist, würde zum geistigen Weltverständnis nicht viel beitragen – und darum doch schließlich nicht stark genug sein gegenüber den Mächten der Gegenwart! Das Bild Christi am Kreuz darf heute nicht nur ein Seeleneindruck sein, wenn auch ein noch so tiefer, sondern muß ein allumfassendes Welterlebnis werden, eine letzte Weltdurchleuchtung. Auch Goethes ästhetische Abneigung gegen das Kruzifix wird erst dadurch wirklich widerlegt. Da ist es wichtig, darauf hinzuweisen, daß das Kreuz nicht nur ein zufälliges Marterinstrument war, sondern in der Mysterienanschauung ein Bild des materiellen Daseins überhaupt. Wir erkennen dies, wenn wir uns der bekannten Stelle in Platons Timaios erinnern, wo diese Mysterienanschauung noch hereinscheint. Da wird von der Weltseele geredet, die auf den Weltenleib gespannt ist in Kreuzesform. Als es vor unserer ganzen gegenwärtigen Erd-Entwicklung nur eine Geisteswelt gab, da war es anders, da konnte das Göttliche überall unmittelbar da sein –, wie heute noch im Geiste. Als aber die Welt ausgebreitet wurde in die vier Raumrichtungen, da bedeutete dies zugleich einen Entschluß für das Göttliche, sich ausbreiten zu lassen über die Weite der sinnlichen Welt. Wir reden hier sinngemäß von vier Raumesrichtungen, das heißt von einer zweidimensionalen Welt, und lassen die dritte Dimension, die Richtung nach oben, noch außer Betracht, weil ja die Materie für sich die Neigung hat, aus der Richtung nach oben immer herauszufallen, wenn sie nur kann, und sich auf der Fläche auszubreiten. Dies alles klingt kalt und abstrakt, wenn wir in unserer Denksprache davon reden. Aber es kann ein lebendigstes Weltempfinden werden. Man fühlt dann wirklich die materielle Welt in der Form des Kreuzes, an dem Gott ausgespannt ist. In alten Zeiten hat man solche Wahrheiten im Bild mit großer Empfindungsstärke erlebt. So wird ja auch in den Veden geschildert, wie man im Welteninnern, wenn man dorthin gelangt, das Bild eines Menschen findet, der ans Kreuz geheftet ist, zur einen Seite die Sonne, zur andern den Mond. Wil1 Gott den Menschen, wie er auf der Erde werden kann, so muß er den Entschluß fassen, sich ans Kreuz schlagen zu lassen. Der heute üblichen christlichen Betrachtung haftet zu viel „zufälliges Geschichtsereignis“ an, wie Lessing gesagt hat und wie indische Kritiker heute noch sagen. Der Weltenvater hat irgendwann einmal den Entschluß gefaßt – so etwa stellt man es ja dar –, die Welt zu erlösen und seinen Sohn in den Tod zu geben. Daraus kann die Menschheit seine große Liebe erkennen. Wenn man die Kirchengeschichte beachtet, so wird man immer wieder Menschen finden, die an solcher Tat des Weltenvaters, wie sie ihnen geschildert wurde, mit ihrer Empfindung Anstoß genommen haben.
Ihnen kann endgültig nur geholfen werden, wenn sie sehen, wie Christus offenbar gemacht hat, was die tiefste Weltentatsache selbst ist. Der Vater lebt am Kreuz in dieser unserer Erdenwelt. Er hat den unausdenkbaren Entschluß gefaßt, sein Leben auszubreiten über ein zerstückeltes Dasein. Auf dieser Opfertatsache beruht all unser Leben. Christus aber hat das Kreuz aufgerichtet auf der Erde als die göttliche Offenbarung für alle Menschen. Er hat es wirklich auf gerichtet. Er hat ihm die Richtung auf die Höhe gegeben. Bei Plato erscheint das Weltkreuz liegend. In Christus steht es. Darin ist bildhaft ausgesprochen, daß das materielle Dasein nun wieder seinen Weg nach oben findet. Das Weltenkreuz steht seit Christus aufgerichtet auf der Erde! Von da aus sehen wir nun auf den Menschen. Er ist in Kreuzesgestalt gebaut. Natürlich ist diese Körperform äußerlich geschichtlich entstanden, weil der Mensch mit den Händen in die Weite zu wirken begann und darum nur mit den Füßen auf der Erde stehen konnte. Das Formgesetz der Materie ist in ihm da, aber schon nach oben gerichtet. So betrachten wir mit besonderer Andacht die aufrechte Körperhaltung des Menschen. In ihr kündigt sich im voraus an wie in einer Weissagung, daß der Mensch dazu bestimmt ist, das irdisch-sinnliche Dasein wieder in den Geist zu erheben. Die Aufrichtekraft, die den Menschen von der Waagrechten in die Senkrechte gebracht hat, ist dieselbe göttliche Macht, die in der Fülle der Zeit das Kreuz aufgerichtet hat, um wieder nach oben zu führen. Auch hier gilt es, von dem blassen Gedanken zu einer blutvollen Lebensempfindung vorzudringen. Vollbringen wir die Grundmeditation: Ich bin die Liebe! aus Christus heraus mit aller Kraft, die uns nur möglich ist, und schauen wir dann zurück auf unseren Leib, ganz besonders auf unser Knochensystem, so können wir allmählich einen recht konkreten Eindruck davon gewinnen, wie auch in uns Christus ans Kreuz geheftet ist. Das deutsche Wort „Kreuz“ für unsere Rückenknochengestalt gewinnt einen neuen Sinn. Es ist wirklich ein Lebensgefühl, das der tiefsten Wahrheit entspricht: in uns ist Christus gekreuzigt. Das höhere Ich, in dem Christus lebt, trägt in uns das Kreuz, so lange wir auf der Erde leben. Gewiß hat jeder von uns „sein Kreuz zu tragen“ auch in dem Sinn, daß er schwere Schicksale durchzumachen hat. Aber das ist noch nicht das Kreuz Christi. Wiederum hat jeder „sein Kreuz auf sich zu nehmen“, wenn er Christus folgen will, in dem Sinn, daß er durch sein Eintreten für Christus, für sein Christus-Gewissen und sein Christus-Ich, sich Leiden heraufbeschwört, die ihm hätten erspart bleiben können. Dies ist schon näher dem Kreuz Christi. Aber „mit Christus gekreuzigt“ im vollen Sinn sind wir erst dann, wenn Christus so stark in uns lebt, daß jeder Morgen, wo wir in unseren Leib und in unser Erdenleben zurückkehren, einen neuen Entschluß bedeutet, „unser Kreuz auf uns zu nehmen“, uns mit Christus ans Kreuz schlagen zu lassen. In diesem Hauptentschluß ist dann alles einzelne, was uns das Schicksal bringen mag, mit beschlossen. Er ist allumfassend. Unser persönliches Schicksal wird Nebensache.
Man glaubt nicht, bis zu welcher Lebendigkeit das Gefühl, mit Christus gekreuzigt zu sein, den Menschen erfüllen kann. Man wird bis ins einzelne erleben, daß jede Hingabe an Gedanken und Empfindungen, die in der Richtung des nur-sinnlichen Daseins gehen, den Menschen stärker mit seinem Kreuzesdasein verbindet, ihn stärker leben läßt in seiner Kreuzesgestalt, ja Christus in ihm wieder mehr ans Kreuz schlägt. Man wird aber auch erleben, wie jede stärkere Verbindung mit Christus den Menschen freier macht gegenüber seinem Leibesdasein, das im Kreuz sich ausdrückt. Dann ist Christus in ihm weniger ans Kreuz gefesselt, sondern trägt frei das Kreuz. In solchen Erlebnissen wächst man eigentlich erst recht mit Christus zusammen und trägt ihm nach sein Kreuz. „Wer mir folgen will, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich täglich und folge mir nach!“ Ja, das Kreuz wird uns dann ein lebendiges Zeichen für a11e Alltagserlebnisse. In früheren Zeiten haben die Menschen ein Kreuz geschlagen über das, was sie Christus weihen wollten. Das hat seinen tiefen Sinn und will aus dem Kindlichen ins Geistige erhoben werden. Wir sprachen einmal davon, wie jede rechte Berufsübung, jedes wahre Gespräch, jedes ernsthafte Beten ein Hindurchgehen ist durch Tod zur Auferstehung („Die Christengemeinschaft“, Märzheft 1927). Man kann aber auch erleben, wie das Hineinsterben in eine Berufshandlung ein wirkliches Sich-Ausbreiten über sie, ein Sich-an-sie-heften-Lassen ist, in ihrer ganzen Breite und Länge, also ein wirkliches Gekreuzigtwerden. Eine Berufshandlung wird um so besser, je mehr wir das Kreuz Christi gleichsam über sie ausbreiten und uns daran hingeben. Der Entschluß, uns ans Kreuz schlagen zu lassen, will immerfort gefaßt sein, im Kleinen und im Großen. So erst trägt das Leben wirklich ein Christusgepräge. Wir vermögen dies alles nur recht anfängerhaft. Aber wir erfahren auch: eine höhere Welt hat mit uns Geduld und hilft uns vorwärts. Es gilt immer wieder ja zu sagen zu dem Königszeichen Christi auf der Erde, dem Kreuz. Dieser Wille, sich auszubreiten und sich anheften zu lassen, ist immer wieder zu erneuern. Das ist Liebe. Der Weltenvater selbst ist das Kreuz. So sieht man ihn auch manchmal auf alten Kruzifixen hinter Christus. Vom höchsten Willen des Weltenvaters kann seine Tat hineinreichen bis in unser alltägliches Leben. Je mehr wir so leben, um so mehr verstehen wir das Christentum. Alles Vorangehende ist Vorbereitung. Man darf sagen, daß in solchen Gedanken ein größeres Christentum sich ankündigt. In doppelter Richtung wird das Christentum größer. Das Kreuz Christi wird in seiner letzten Tiefe gesehen und wird wiederum bis in die einzelne Handlung hinein fortgeführt. Im Keim liegt darin sowohl eine neue „Dogmatik“ wie eine neue „Ethik“. Hat Buddha in seinen Jüngern das „Haften“ am Irdischen überwinden wollen, so folgt nun in Christus das freie Sich-selbst-Heften ans Weltenkreuz.
Diese Gedanken bitten wir nicht nur einmal durchzulesen, sondern langsam in sich lebendig werden zu lassen. Soll man sie unausgesprochen lassen, weil sie heute vielen noch fern sind? Allertiefste Weisheit spricht aus dem Kreuz. Darum gerade ist es auch allerstärkste Kraft im Alltag. Es ist eine Wundertat, die uns das Kreuz geschenkt hat. Christus hat das alte Gotteszeichen der Materie zum Bild der Liebe gemacht. Immer und überall ist es unsere Aufgabe, das Kreuz aufzurichten, daß es nach oben weist, das Irdisch-Sinnliche in die Höhenrichtung zu bringen zum Himmlischen. Das Kreuz hat magische Kraft, wie man in alten Zeiten dunkel gefühlt hat. In ihm lebt der Welterlösungswille. „In diesem Zeichen wirst du siegen!“ Auch seinen eigenen Leib wird der Mensch ganz anders handhaben lernen, wenn er ihn als Kreuz trägt. Er mag sich dann als Kreuzfahrer fühlen, dem das Kreuz auf den Rücken gezeichnet ist. Was die mittelalterlichen Kreuzfahrer als Bild darstellten, war ein dunkles Empfinden vom christlichen Menschen überhaupt. So mögen wir die Kreuzesmeditation in folgender Weise vollbringen. Wir stellen uns Christus vor am Kreuz, in aller geschichtlichen Wirklichkeit – soweit wir sie ertragen. Wir lassen dann dies Bild sich geistig vergrößern, bis es uns zum Bild des letzten Weltgeheimnisses wird, bis wir erkennen, daß es die Offenbarung des Weltenvaters selbst ist, auf dem unser ganzes Dasein ruht. Wir lassen dann dies Bild sich uns einprägen, bis wir es selbst sind. Wir sagen Ja zu dem Schicksal, daß wir mit Christus gekreuzigt sind. Wir machen es zu unserem eigenen Willen, zu unserer eigenen Tat. Wir erfühlen, daß dies der Geist der Christusliebe ist, die wir nun in alles hineinzutragen haben. Hätten wir nur die eine Richtung, die Richtung in die Weite, so würden wir uns an die Welt verlieren, wie es so oft der Westen tut. Hätten wir nur die andere Richtung, die Richtung in die Höhe, so würden wir die Welt selbst verlieren, wie es der Osten getan hat. Gerade in den beiden Kreuzesrichtungen bekennen wir uns zum Ich in der Liebe, das sich ebenso hingibt wie aufrichtet, ebenso aufrichtet wie hingibt. Mit aller Kraft gilt es, das Ich in dieser Doppelrichtung zu strecken und mit Liebe gleichsam auszufüllen. Diese beiden Richtungen leben ja auch in dem Wort, in das Christus das Gesetz und die Propheten zusammenfaßt: Du sollst lieben Gott deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst! Als ein strahlendes Weltenkreuz, das von einem sicheren Mittelpunkt in zwei Richtungen strebt, erlebt sich das Ich. Darein hat sich jetzt die Materie verwandelt. Solche Meditationen können auch viele Menschen vollbringen, denen nicht alle vorgetragenen Weltgedanken gewisse Wahrheiten sind. Wenn wir dann am Schluß einer solchen Meditation uns auch äußerlich bekreuzigen, so werden wir sehen, daß diese Handlung uns lebendig hineinstellen kann in die volle Gemeinschaft mit Christus. – Noch wesentlich verstärkt wird die Kreuzesmeditation, wenn wir uns entschließen, ihr hinzuzufügen die Meditation, die in mittelalterlichen Zeiten unter dem Namen „Mystischer Tod“ und „Höllenfahrt“ bekannt war. Hierüber sagt Rudolf Steiner in seinem Vortragszyklus über das Johannesevangelium:
„Durch die Gefühle, die man den Schüler auf dieser Stufe erleben läßt, erlebt er etwas, was sich ihm so darstellt, als ob sich in einem Augenblick vor alles physisch Sichtbare ein schwarzer Vorhang stellt und als ob alles verschwindet. Dieser Moment ist noch durch etwas anderes wichtig, was man erlebt haben muß, wenn man wirklich zur christlichen Einweihung im wahren Sinn des Wortes dringen will. Man erlebt dann, daß man untertauchen will in die Urgründe des Bösen, des Schmerzes, Kummers und Leides. Und alles, was an Bösem auf dem Grund der Menschenseele lebt, kann man auskosten, wenn man hinuntersteigt in die Hölle. Das ist das ,Niedersteigen in die Hölle‘. Hat man das erlebt, dann ist es, wie wenn der schwarze Vorhang zerreißt – und man sieht hinein in die geistige Welt.“ Hier ist historisch das mittelalterliche Erlebnis geschildert. Nur wenige werden es in dieser Form heute noch haben können. Es ist aber auch gar nicht unsere Aufgabe und auch nicht die Absicht Rudolf Steiners, die Menschen in diese Erlebnisse, so wie sie einst da sein konnten, hineinzuführen. Was damals auf einem Gefühlsweg erreicht worden ist, müssen wir aus dem Bewußtsein heraus wiedererobern. Aber eine „Höllenfahrt“ gehört zum höheren Erleben der Seele, zur höheren Erziehung des menschlichen Ich für alle Zeiten. Solche Höllenfahrten finden wir schon in den vorchristlichen Mysterien. In den Erzählungen von Herakles oder von Odysseus, die ja innere Erlebnisse der Einweihung in volkstümlicher Form darstellen, finden wir einen „Gang in die Unterwelt“. Besonders lehrreich ist es aber, die Verwandlung dieses uralten Menschheitserlebnisses in der neuen Zeit zu verfolgen. Wenn Luther singt: „Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt‘ uns gar verschlingen“, so schimmert eine Art Höllenfahrt durch, jetzt mehr als irdisches BewußtseinsErlebnis. Ähnlich ist, was Carlyle von sich erzählt unter dem Namen des Professors Teufelsdröckh: „Wovor fürchtest du dich eigentlich? Warum willst du ewig klagen und winseln und zitternd und furchtsam wie ein Feigling umherschleichen? Verächtlicher Zweifüßler! Was ist die Totalsumme des Schlimmsten, das dir bevorsteht? Tod? Wohlan, Tod, und sage auch die Qualen Tophets und alles dessen, was der Mensch oder der Teufel wider dich tun will oder tun kann? Hast du kein Herz? Kannst du nicht alles, was es auch sei, erdulden und als ein Kind der Freiheit, obschon ausgestoßen, Tophet selbst unter deine Füße treten, während es dich verzehrt? So laß es denn kommen! Ich will ihm begegnen und ihm Trotz bieten! Und während ich dies dachte, rauschte es wie ein feuriger Strom über meine ganze Seele, und ich schüttelte die niedrige Furcht auf immer ab. Ich war stark in einer ungeahnten Stärke; ein Geist, fast ein Gott. Von dieser Zeit an war die Natur meines Elends eine andere: nicht mehr Furcht war es oder winselnder Schmerz, sondern Entrüstung und grimmiger, feuersprühender Trotz. So hatte die Donnerstimme des ewigen Nein gebieterisch alle Winkel meines Seins, meiner Person durchtönt, und nun stand mein ganzes Ich in angeborener gottgeschaffener Majestät auf und erhob mit Nachdruck seinen Protest.
Denn mit Recht kann vom psychologischen Gesichtspunkt aus eine solche Entrüstung und solcher Trotz ein Protest – der wichtigste Akt im Leben – genannt werden. Das ewige Nein hatte gesagt: ,Siehe, du bist vaterlos, ausgestoßen, und das Weltall ist mein (des Teufels)‘, worauf mein ganzes Ich antwortete: ,Ich bin nicht dein, sondern frei und hasse dich auf ewig!‘ Von dieser Stunde an bin ich geneigt, meine geistige Wiedergeburt oder Baphometische Feuertaufe zu datieren; vielleicht begann ich unmittelbar darauf ein Mann zu werden.“ Solche Schilderungen sind Beweise dafür, wie gewisse Grunderlebnisse der Seele in innerer Notwendigkeit wiederkehren – und wie sie sich verwandeln. Viele ähnliche Beispiele können gefunden werden. Aber ist denn die „Höllenfahrt Christi“ nicht eine legendäre Vorstellung, die nichts mit den Evangelien zu tun hat? – Wir brauchen mit solchen Vorstellungen hier den Kampf nicht aufzunehmen und halten ihnen nur das Wort Christi selbst entgegen: „Ich werde nicht mehr viel mit euch reden; denn es kommt der Fürst dieser Welt und hat nichts an mir“ (Joh. 14, 30). Aus solchen Hintergründen heraus hat Christus am Kreuz gebetet: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun! Solche Grundstimmung ist ausreichend, um unsere Meditationen zu begründen. Es ist ja von allergrößter Wichtigkeit, daß wir der Tatsache ins Auge sehen, wie hinter dem Bösen in der Welt gewaltige Geistesmächte da sind, die gegen das Christusziel der Erde den Kampf aufgenommen haben. Gerade in unserer Zeit ist es oft, als sollten wir mit Gewalt auf diese Tatsache gestoßen werden. So erlebte auch Paulus, daß wir „nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen haben, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen“ (Eph. 6, 12). Eine solche Anschauung – macht mild gegen die Menschen. Wir verstehen, daß sie Organe sind im Dienst von Gewalten, die sie selber nicht durchschauen. Wir lernen sie scheiden von dem, was in ihnen wirkt. Wir bekommen jetzt erst den rechten Erlösungswillen, den Wunsch zu „retten“, von dem in der Bibel so viel die Rede ist. Und wie uns diese Betrachtung erst die rechte Helfergesinnung gibt gegenüber den Menschen, so stellt sie uns auch erst in den Ernst der Weltsituation voll hinein. Es kämpfen wirklich, wie es auf den Bildern von der katalaunischen Schlacht nach alten Visionen dargestellt ist, über uns Geisterheere um die Erde. Manche „Teufeleien“, die sich begeben, werden wir nicht verstehen, wenn wir nicht wissen, daß hier mehr als menschliche Intelligenz und mehr als menschlicher Wille durch die Menschen hindurch wirksam sind. Den Sieg zu erringen, könnte unsere Kraft nie ausreichen. Aber wenn auch der Sieg, wie man innerlich wohl fühlen kann, von Christus errungen ist, so tobt jetzt erst recht in aller Kraft der Kampf. „Das Feld will er behalten.“ Mit Christus gegen die Hölle kämpfen, das erst heißt: wach im Weltkampf stehen. Dann muß man aber die Hölle sehen. Die Erde ist eben der Schauplatz eines furchtbaren Kampfes zwischen Licht und Finsternis.
Eine Hilfe kann hier auch Dürers Bild bedeuten: „Der christliche Ritter“, der zwischen Tod und Teufel hindurchreitet. Eine bessere Hilfe Rudolf Steiners Christusstatue, wo unter der gütevoll erhobenen linken Hand des Christus sich Luzifer, die Selbstsuchtsmacht, in die Tiefe stürzt, wo unter der geistesmächtig sich erhebenden rechten Hand Ahriman, die Erdensinnlichkeitsmacht, in den Abgrund versinkt. – Faust sah Mephistopheles und suchte, ihn sich dienstbar zu machen. Was uns not tut, das ist Größeres: Wir erlösen die böse Macht selbst, wenn wir im Weltendienst gegen sie unüberwindlich sind. Wollen wir dazu eine innere Übung uns suchen, so kann sie sich an das Kreuz auf Golgatha anschließen. Die Sonne verliert ihren Schein. Es wird Nacht. Nichts als Nacht umgibt das Kreuz. Und diese Nacht ist nicht nur eine äußere Nacht. Übermächtige Gewalten umdrohen das Kreuz. Aber das Kreuz steht still und licht und stark. Als mächtiges Gotteszeichen ragt es in der Finsternis. Der Kreuzesstamm weist gerade in die Höhe. Unerschütterlich verkündigt sich in ihm die Kraft, die aller Macht des Niederziehens zur Erde entgegenstellt die Kraft des Aufwärts. Wer diese Richtung stark in der Welt innehält, der überwindet Ahriman. Der andere Kreuzesbalken weist hinaus in die Weite. Furchtlos reckt er sich in das Dunkel. In ihm verkündigt sich die Kraft, die aller Macht des Hinwegstrebens von der Erde entgegenstellt die Kraft des Segnens. Wer diese Richtung in sich trägt, der überwindet Luzifer. Wir sehen Christus leuchten am Kreuz. Er ist das neue Sonnenlicht, das alle Finsternis bezwingt. Kann unser Geist die Finsternis um uns her nicht durchdringen – unser Ich in Christus ist stärker als sie. Wir geloben uns: Komme, was kommen mag, mögen unermeßliche Scharen von Widersachermächten wider mich sein und mich vernichten wollen: ich vereine mein Ich dem Christus, der am Kreuz strahlt. In ihm bin ich Sieger! Unangreifbarer Gottesfriede erfüllt die Seele gegenüber allem, was ringsum droht. Auf höherer, überpersönlicher „kosmischer“ Stufe gewinnen wir so noch einmal, was wir in der Geißelungsmeditation errungen haben: Frieden. So haben wir in der Kreuzesmeditation auf höherer, überpersönlich-kosmischer Stufe noch einmal gewonnen, was uns die Meditation der Fußwaschung gab. Die „Liebe“ wird nun weltengroß – und der „Friede“ weltentief. Höhere Größe ist nicht möglich. Hinter diesem Erlebnis folgt die Auferstehung. Sie bringt auf höherer, überpersönlich-kosmischer Stufe dasselbe wie die Meditation der Dornenkrönung: die weltüberlegene Heiligkeit. Wenn wir den Entschluß der Liebe verbinden mit der Kreuzesmeditation und der Siegeskraft des Friedens mit der Höllenfahrtsmeditation, wenn wir das Kreuz sehen wie ein Himmelszeichen, das Gott selbst hineinstellt in das Erdendunkel, wenn wir in diesem Sinn unsere Aufgabe auf der Erde neu und frei ergreifen, so können wir diese Doppelmeditation noch krönen durch die Worte der Menschenweihehandlung, daß der Leib am Kreuz das neue Bekenntnis tragen und im Blute vom Kreuze der neue Glaube fließen wird.
Unser Bekenntnis zu Christus ist die Kraft, die unser Leben aufwärts richtet. Unser Glaube an Christus weist uns wieder in die Welt hinein. Ebenso über die Welt hinausgehoben wie an die Welt hingegeben ist der Christusjünger. Das Kreuz ist das Christuszeichen, wie das Rad das Buddhazeichen ist. Das Rad bedeutet die Lehre von der Selbsterlösung des Menschen. Das Kreuz spricht von der Selbsthingabe zur Erlösung der Welt. Schließlich wird diese unsere Meditation übergehen in eine Kommunion. Das kann bei jeder Meditation geschehen. Hier aber in besonderer Kraft. Der Leib, in dem Christus lebte, war schon für sich allein die Aufrichtung der Erde zum Himmel. In ihm wohnten und wirkten alle die Kräfte, die das sinnliche Dasein aufwärts lenken. Wenn wir uns der Aufrichtekraft Christi vereinen, so treten auch in unseren Leib die Mächte ein, die ihn zur Ähnlichkeit mit Christus führen. Wir empfangen aus den Christuskräften einen neuen Leib, der selbst in umfassendem Sinn „das neue Bekenntnis“ ist und der Sieg über Ahriman. Und wenn wir in diesem neuen Leib das Strömen der Liebe spüren, der Hingebungsmacht, die sich ergießen will ins Weite, dann werden wir auch ein Blut mit Christus. Und dies ist im letzten göttlichen Sinn „der neue Glaube“ und der Sieg über Luzifer. Man kann sich wahrhaftig empfinden als ein Kreuz leuchtend in der Finsternis, und alle Gotteskräfte sind versammelt in uns. Nur wenn Christus in uns ist, kann das in Wahrheit geschehen. Er hält uns, so wie er auf alten Bildern und Kruzifixen selbst am Kreuze gehalten wird vom Vater. Eine ungeheure Kraft geht aus von solcher Meditation. Nicht darum handelt es sich zuletzt, daß wir „an das Kreuz glauben“, sondern daß wir das Kreuz werden. Im irdischen Dasein kann unser Leben keinen anderen Charakter tragen. Wir stellen uns mit starkem Bewußtsein als Kreuz in die Welt, an dem Christus leuchtet und siegt. Wer mit Christus am Kreuz war – mag es auch ohne das klare Bewußtsein geschehen, das wir durch unsre Meditation zu wecken suchen –, der kann hoffen, mit ihm aufzuerstehen. Folge mir nach! sprach Christus, und er meinte damit nicht nur das „arme Leben“, und nicht zuerst das „Ausgehen in alle Welt“, sondern gerade das Kreuz. Hinter dem Kreuz, nur hinter ihm, wartet die Auferstehung. In Dichterworten können wir, was wir besprochen haben, ausklingen lassen und alle Gedanken mit starken Gefühlen durchdringen. Christian Morgenstern sagt: Ich habe den MENSCHEN gesehn in seiner tiefsten Gestalt, ich kenne die Welt bis auf den Grundgehalt. Ich weiß, daß Liebe, Liebe ihr tiefster Sinn, und daß ich da, um immer mehr zu lieben, bin. Ich breite die Arme aus, wie ER getan, ich möchte die ganze Welt, wie ER, umfahn. –
8. Brief Wirkung der Meditation auf den Körper – Konzentrationsübung – Die Erde als Grab – Das Erlebnis der Leibfreiheit – Das Bild des Auferstandenen in der Apokalypse – Heiligkeit im kosmischen Sinn – Himmelfahrt – innere Taufe
Der heute fast vergessene Philosoph Claß hat uns als Studenten eine einfache Anleitung zur Betrachtung von Kunstwerken gegeben. Man solle jedes Kunstwerk zuerst eine Zeitlang als Ganzes auf sich wirken lassen, dann in allen Einzelheiten betrachten, und schließlich noch einmal als Ganzes in sich aufnehmen, nun erfüllt von all den Eindrücken, die man gehabt hat. Dieser Rat würde auch nicht ungeeignet sein für die Meditation. Man zieht sich ja bei der Meditation zurück in irgendein Wort oder irgendein Bild. So stark wie nur möglich läßt man es da sein und wirken. Man kann geradezu, indem man die Augen schließt, den Raum, in dem man lebt, ganz ausfüllen mit dem Meditationsinhalt, so daß nichts anderes mehr da ist. Dann merkt man erst, wie die Meditation hineinwirkt bis in die feinen Untergründe der Leibesbildung, wie sie unseren verborgenen Kräfteleib nach sich bildet. Jede Meditation formt eigentlich in uns einen anderen Kräfteleib. Wie Rudolf Steiner davon sprechen konnte, daß jede Medizin den Menschen gleichsam ausgießt, daß man zum Beispiel, wenn der Mensch regelmäßig Quecksilber einnimmt, einen feinen Quecksilbermenschen in ihm geistig wahrnehmen kann, der stärker und stärker wird, so ist es auch bei der geistigen Medizin: der Meditation. Und auch hier verstärkt sich die Wirkung mit jeder vollzogenen Meditation, und mehrere Meditationen können in einer sehr günstigen Weise sich ergänzen. Wird die Meditation stark vollbracht, so kann es bis zu kräftigen körperlichen Schmerzen kommen, weil das Neue, das in uns werden will, gleichsam anstößt an das Alte. Aber diese Schmerzen sind nicht wie andere Schmerzen. Sie sind mehr Heilungsschmerzen als Krankheitsschmerzen und hinterlassen, wenn sie aufhören – das hat man ja immer in der Hand – ein Gesundungsgefühl. Man braucht jedoch auf die Schmerzen gar nicht zu achten, sondern nur auf das Bild, das Wort, den Geist. Ist das erste Stadium der Betrachtung bis zu der Kraft gebracht, die man eben zunächst aufbringen kann, so mag man dann die Einzelheiten des Bildes oder des Wortes auf sich wirken lassen. Man fühlt sich in einem solchen Wort drinnen wie in einem Tempel, den man in allen Einzelheiten anschaut, indem man dabei den Tempel niemals verläßt. So könnte man bei der Kreuzesmeditation zuerst die eine Richtung betrachten und dann die andere, zuerst das Kreuz selbst und dann Christus am Kreuz. Immer ist das Bemühen darauf gerichtet, alles so lang und so stark wie nur möglich zur Wirkung kommen zu lassen. Man könnte dies Hindurchgehen durch die Einzelheiten auch mehrmals hintereinander wiederholen, wenn man noch nicht vermag, bei einem Eindruck nach Belieben lang zu verweilen. Dann wird man im dritten Stadium der Betrachtung die Gesamtmeditation stärker, reicher, klarer in der Seele lebend haben.
Alle solche Ratschläge sind nicht Bedingungen. Es sind nur Erfahrungsmitteilungen zur Hilfe oder Anregung. Gut ist es jedenfalls, sich am Ende des Meditierens immer den Ertrag der Meditation klar zum Bewußtsein zu bringen und sie voll in sich nachklingen zu lassen. Nun gibt es viele Menschen, denen es im Anfang durchaus nicht gelingt, in einem Wort oder Bild gleichsam zu stehen und zu leben. Für sie ist es besonders gut, wenn sie die einfachste Konzentrationsübung immer wieder machen in der Form, wie sie Rudolf Steiner gegeben hat. Man wählt irgendeinen geringfügigen Gegenstand, einen Bleistift, eine Stecknadel, einen Ring. Und nun bildet man sich etwa 5 - 10 Minuten lang nur Gedanken, die sich auf diesen Gegenstand beziehen. Man kann nacheinander denken an die Form des Bleistiftes, an die Farbe, an die Herstellung, an die Verwendung. Immer bringt man den Gedanken, so schlicht er ist, zur möglichsten Klarheit und Kraft, hält ihn in vollem Bewußtsein einen Augenblick fest und geht dann frei zum nächsten Gedanken über. Es kommt gar nicht darauf an, daß es wichtige Gedanken sind. Im Gegenteil; je geringer der Gegenstand, je alltäglicher die Gedanken, um so mehr muß der Mensch aus seinem eigenen Willen in Freiheit die Kraft aufbringen, sie zu bilden und festzuhalten. Und das ist besser für die Geisteserziehung, als wenn der Mensch durch das Interesse, das ihm der Gegenstand einflößt, von selbst weitergetrieben wird. „Dieser Bleistift ist 12 cm lang – 3/4 cm breit – 3/4 cm tief – er hat achteckige Form – er könnte auch rund sein – dann sähe er so aus – er besteht aus zwei aufeinandergeleimten Stücken – in der Mitte ist Graphit – er ist braun – er könnte auch blau sein – er ist hergestellt ...“ Man kann dieselben Gedanken mehrmals hintereinander und auch in umgekehrter Reihenfolge durchgehen. Ein außerordentlich wohltätiges Gefühl breitet sich über das ganze Gehirn aus, wenn man eine so einfache Übung kraftvoll vollbringt. Man fühlt sich, als ob man jetzt erst anfange, Herr zu werden im eigenen Haus. Das Königliche des freien Denkens kommt zum Erlebnis. Man fängt an, sich viel mehr kontrollieren zu können, viel mehr auch bei anderen Geistestätigkeiten zu bemerken, wo man geistig sich verliert, viel gesunder sich zu fühlen gegenüber dem Leben. Ich habe Menschen gekannt, die nach einer solchen Übung in der Nacht den Traum hatten, als ob sie prachtvoll reiten können. Und in der Tat deutet ja das Träumen von Pferden nicht selten auf Erlebnisse im Gebiet des Denkens hin, so zum Beispiel, wenn wir von jagenden Rossen träumen, weil unsere Nerven erregt sind. Wie eine einfache Fingerübung dem Künstler die Möglichkeit gibt, ganz anders das Instrument zu beherrschen, auf dem er hernach eine Sonate spielt, so ist es mit einer solchen kurzen Geistesübung. Mir selbst, obwohl ich schon vorher mit Recht glauben konnte, konzentriert arbeiten zu können, hat diese einfache Übung dazu gedient, die Vorbereitungszeit für einen Vortrag auf die Hälfte verkürzen zu können, nicht nur weil man heller und wacher wird, sondern vor allem, weil man viel deutlicher die Augenblicke bemerkt, wo man nicht ganz bei der Sache ist.
Das Kind, wenn es sich aufrichtet, lernt zuerst frei gehen und dann erst frei stehen. So ist es auch organisch richtig, daß man erst lernt, in Gedanken zu gehen, ehe man in Gedanken stehen kann. Und bis zu den höchsten Denkern hinauf kann diese einfache Konzentrationsübung von großem Lebenswert sein. Mancher Universitätsprofessor, der lächelnd auf eine solche Bleistiftübung herabsieht als auf eine Kinderei, würde schon nach vier Wochen zu lächeln aufhören und merken, daß ihm diese fünf Minuten, die er täglich darauf verwendet, sehr viel Arbeit und Zeit ersparen. Für alle Art Tätigkeit ist diese Übung förderlich, und für die Nerven ist sie urgesund. In dieser Bemühung, die wir hier nur als Vorübung für unsere Meditationen erwähnen, liegt schon an und für sich eine außerordentliche Aufrichtekraft. Wir erwähnen sie nicht zufällig jetzt, wo wir von der Auferstehung Christi reden wollen. Man kann von der Auferstehung Christi das Höchste zu sagen wissen und kann doch auch den Zusammenhang zwischen der Auferstehung und einer solchen einfachen Übung, die aus dem freien Ich im Geist vollzogen wird, klar erkennen. Gerade daß man beides zusammen sieht, ist ein Zeichen, daß man ganz natürlich im Leben steht. Heute gibt es freilich unter denen, die sich für das Leben der Menschheit verantwortlich fühlen und auf weite Kreise im Sinn der inneren Erziehung wirken wollen, nicht wenige, die von einer solchen Pflege des inneren Lebens, wie sie hier empfohlen wird, direkt abraten. Die Einwendungen, die da erhoben werden, sind so charakteristisch und häufig, daß wir auf sie eingehen wollen. Man meint zum Beispiel, stille Stunden solle man sich nicht neben seiner Arbeit verschaffen, sondern aufmerken, wo i n der Arbeit selbst Augenblicke der Selbstbesinnung kommen. Und man solle dann nicht irgendwelche Worte aus irgendeinem Buch nehmen, sondern die Gedanken, die einem die Arbeit selbst bringt, beachten. Das alles kann gewiß auch Segen bringen, und ein Denker und Schriftsteller mag damit genug haben. Aber ein Arbeiter oder eine Hausfrau würde damit nicht auskommen. In seiner Konsequenz würde dieser Rat dahin führen, daß man auch auf jedes regelmäßige Gebet am Morgen verzichtet und wartet, ob einem am Tag irgendwann einmal der Impuls dazu kommt. So ähnlich hat ja auch Johannes Müller gelegentlich gesagt, daß das Gebet nur dann echt sei, wenn es die natürliche Antwort sei auf eine göttliche Offenbarung, die uns zuteil wird. Die Konsequenz würde weiter dazu führen, daß man keine besonderen Orte für Gottesdienste mehr hätte und keine besonderen Zeiten, da man ja an jedem Ort und zu jeder Zeit Gottesdienst halten kann, und alles „ganz natürlich“ aus dem Leben hervorwachsen soll. Im Grund zeigt sich hier dieselbe Überschätzung des äußeren Lebens gegenüber dem inneren Leben und dieselbe Überschätzung der von außen kommenden Anregungen gegenüber dem von innen her wirkenden Willen, die wir gerade als eine Gefahr unserer Zeit, ja als die Gefahr ansehen und die wir eben durch unsere Meditationsbetrachtungen bekämpfen wollen, weil daran die Menschheit zugrunde gehen müßte.
Wollen wir nur die Gedanken gelten lassen, die uns in der Arbeit, im Leben von selbst kommen, so werden diese Gedanken bei den meisten Menschen sehr dürftig sein. Es wäre doch ein ungeheurer Verlust und eine seltsame Torheit, wenn wir verzichten wollten auf all das, was sich die Menschheit im Lauf ihrer großen Geistesgeschichte erworben hat. Die Errungenschaften der großen menschlichen Geschichte können wir aber auch durch unseren freien Willen in den Mittelpunkt unseres Geistes stellen und sie gründlicher in uns aufnehmen, als es bei flüchtigem Lesen oder Hören oder Drandenken möglich ist. Recht einseitig wäre es, wenn wir uns vom Leben nur von außen führen lassen wollten und nicht darauf achten, was uns von innen führen kann. Zu den inneren Möglichkeiten gehört aber eben auch, daß wir Geistesgesetze zu erkennen vermögen, in die wir uns hineinstellen können, wie zum Beispiel das Gesetz der Morgenstunde, des Rhythmus, der Wiederholung, daß wir die Kraft besonderer Weihestunden erfahren können, daß wir einen Willen haben, durch den wir in der Lage sind, uns der höheren Welt frei von uns aus zuzuwenden. Auch das Gebet, selbst wenn es zunächst Antwort auf eine Offenbarung war, kann doch dann als freie Tat ohne Anlaß von außen aus dem Innern aufsteigen. Gewiß kann dies alles unnatürlich, gemacht, gewaltsam geschehen. Und aus der Tatsache dieser Gefahren gewinnen solche Mahnungen immer eine gewisse Kraft, sich in den Seelen der Menschen festzusetzen. Im Grunde liegt doch eine mangelnde Erfahrung vor von den verborgenen geistigen Gesetzen und ein mangelndes Bewußtsein von der Notwendigkeit, heute viel mehr von innen heraus zu arbeiten als früher und vor allem den Willen in den Geistesdienst zu stellen. So kämpft der extreme Individualismus, wie ihn die protestantische Religiosität gezüchtet hat, und die Passivität des religiösen Lebens, wie sie aus der Vergangenheit überkommen ist, und der Materialismus, der nicht stark genug dem äußeren Leben das innere entgegenstellt, gegen den Fortschritt. Der Fortschritt aber besteht in der Erkenntnis, daß das geistige Leben seine eigenen Gesetze und Möglichkeiten hat, auf die man nicht von selber im Alltagsberuf stößt, daß nur eine ganz starke Pflege der Innerlichkeit uns vor dem Zugrundegehen rettet, daß in der Gegenwart vor allem der freie Wille geweckt und zum Organ des Göttlichen gemacht werden muß. Je höher der Mensch steigt, um so mehr tritt an die Stelle der äußeren Führung durch das Leben die innere Führung durch das höhere Ich, das aus dem Geist seine Ziele und Gesetze nimmt. Das gilt vor allem für die Auferstehung, die heute auch in einem neuen Sinn zu eigen gemacht werden will. Früher brachte man den Menschen einfach die Botschaft von der Auferstehung Christi. Das wirkte unmittelbar auf ihr Gefühls- und Willensleben. Nun ist einerseits die Sicherheit der biblischen Verkündigung erschüttert. Die Menschen bringen dem biblischen Bericht und der historischen Gewißheit ihre Zweifel entgegen. Andererseits ist der Zusammenhang zwischen Vorstellung, Gefühl und Wille im Menschen nicht mehr so lebendig und unmittelbar. Viel mehr Hemmungen sind zu überwinden. Bewußter und willentlicher müssen wir gerade in bezug auf das Höchste an uns arbeiten als die Menschen vergangener Zeiten.
Wer die Auferstehung lebendig in sich aufnehmen will, der möge davon ausgehen, die Erde als ein großes Grab zu empfinden. Das ist sie. Schon der Boden, auf dem wir gehen, ist ein Friedhof. Überall unter uns sind die Leichen verstorbener Lebewesen. Von verwesendem Pflanzenleben ist der Erdboden durchzogen. Selbst der Sand ist zerriebenes und zerbröckeltes Felsgestein. Und wenn es so sein sollte, wie die anthroposophische Geisteswissenschaft aussagt, daß die Sternenwelten, die wir schauen, nur von uns physisch geschaut werden, weil wir physische Menschen sind, daß sie aber in Wahrheit viel geistiger sind und nicht aus materiellem, vergänglichen Stoff bestehen, dann könnte man geradezu sagen: im Weltall ist die Erde selbst, als Erde, das große Grab. Was auf der Erde lebt, muß sterben. Man wird die rechte Empfindung von der Erde haben, wenn man sich dies zum vollen Bewußtsein bringt. Alles einzelne, was wir sehen, trägt das Zeichen des Todes an sich. Es ist oft erschütternd, wenn man Bekannte nach Jahren wieder sieht und dann mit Deutlichkeit wahrnimmt, wie der Tod seinen Stempel in dies Antlitz gedrückt hat. Der Tod ist überall wahrzunehmen, und nur unsere Augen sind noch wenig offen. Man kann es zu einer inneren Übung machen, sich die Menschen vorzustellen, die man jetzt in ihrer Lebensblüte sieht, und sich zu sagen: in hundert Jahren wird von dir, so wie ich dich vor mir sehe, gar nichts mehr übrig sein als ein paar Knochen in einem Sarg. In Nürnberg soll einmal ein predigender Mönch, Johannes a Capistrano, auf der Kanzel gesagt haben: Wollt ihr wissen, wie ihr in hundert Jahren ausseht? Und als alle Blicke sich fragend zur Kanzel emporrichteten, da holte er unter dem Predigtpult einen Totenschädel hervor, hielt ihn in die Höhe und sagte: So! Von allen Predigten aller Prediger, die in der Nürnberger Heilig-Geist-Kirche durch die Jahrhunderte gepredigt hatten, war tatsächlich, als ich dort Pfarrer war, nur diese eine Erinnerung übriggeblieben. Nichts Außerordentliches, Asketisches vollbringen wir, sondern wir sehen die Wahrheit, wie sie ist, wenn wir den Blick für den Tod, der auf der Erde Herrscher ist, in uns viel stärker beleben, als es unserer äußerlichen und im Grund furchtsamen Zeit naheliegt. Alles stirbt um uns her, die Menschen, die Bäume, die Berge, die Kulturen, der Planet selbst. Buddha ist nur konsequenter gewesen als die Menschen der heutigen Zeit, wenn er diese Wahrheit allezeit vor Augen haben wollte. Für immer könnte Buddha der Menschheit helfen, das große Grab zu sehen – in dem die Auferstehung erfolgen soll! Wenn Christus nicht wäre, dann hätte Buddha die letzte Wahrheit. Haben wir diesen Blick in aller Klarheit uns errungen: die Erde ist das große Grab – dann gilt es auf Christus zu blicken. Es ist möglich, einfach den Auferstandenen zu schauen. Dann sieht man in eine lichte Welt, die ganz anderer Art ist als die Vergänglichkeitswelt, die wir sonst um uns haben. Jede Berührung mit dieser Welt bringt Auferweckung und todtriumphierendes Leben. Ein Zweifel ist gar nicht möglich, wenn Christus wirklich da ist. Er ist die Auferstehung und das Leben.
So lang uns dieser Blick noch nicht gegeben ist, gilt es, auf das Leben zu achten, das wir in Christus spüren, auf das Leben, das durch ihn in uns geweckt wird. Wir dürfen uns nichts vortäuschen, sondern nur betrachten und warten, bis wir, um die Worte des Apostels Paulus zu gebrauchen, „erkennen ihn und die Kraft seiner Auferstehung“. Wie er so ganz anders ist als die Welt der Vergänglichkeit um uns her, wie in ihm das Ewige, das Überzeitliche sich offenbart: das gilt es wahrhaft zu empfinden. Es ist nur eine Sache der Kraft unseres Geistes, daß wir den Sieg über den Tod schauen, der in ihm da ist. Ich wollte, man könnte irgendein Auferstehungsbild nennen, in dem der Auferstandene überzeugend zur Offenbarung kommt. Ich weiß keines. Auch Grünewald nicht. So mögen wir die Ich-bin-Worte durch unsere Seele ziehen lassen und vor allem die lichte Kraft dieses Ich so lebendig empfinden, daß wir in ihm über den Tod hinauskommen. Die Auferstehung Christi will heute im eigenen Wesen erfahren sein, wenn wir die Auferstehung in der Vergangenheit sollen glauben können, erfahren nicht nur als Seelenfreude, sondern als Weltentat. Wer noch nicht Christus spürt, der schaue auf sein eigenes höheres Ich, soweit er es fühlt oder auf „das Gute“. Einen Anfang von Auferstehung erlebt selbst der, dem zunächst nichts weiter sicher ist als der Wunsch: dem Guten will ich dienen, auch wenn ich selbst zugrunde gehe! Haben wir an die große Welt gedacht, so denken wir dann auch an uns. Unser Leib ist ein Grab. Wir werden ihn als eine Hülle, die wertlos geworden ist, einmal abwerfen. Dann geben wir nicht den Geist auf, sondern den Leib. Viele Menschen haben gefühlt, daß man diese Wahrheit sich nicht immer verdecken sollte, indem man fröhlich in seinem Leib darauf loslebt, daß man sie deutlich ins Bewußtsein heben sollte, daß man ohne dies Bewußtsein gar nicht im wahrhaften Sinn Mensch werden und als Mensch leben kann. So haben sie, wie manche mittelalterlichen Mönche, in ihrem Sarg geschlafen, um sich täglich an den Tod zu erinnern. Oder sie haben sich, wie der Protestant August Hermann Francke, jeden Abend beim Einschlafen vorgestellt, daß dieser Tag ihr letzter gewesen sein könnte, und jeden Morgen beim Erwachen, daß sie nun aus Gnade noch einen einzigen Tag zum Leben geschenkt erhalten haben, um ihn zu verbringen zur göttlichen Ehre. August Hermann Francke hat bekannt, daß er dieser Gewohnheit eigentlich sein Leben verdankte. Das war auch eine Meditation, die also ihre Kraft erwiesen hat. Wir können an unserem eigenen Leib die Spuren des Verfalls wahrnehmen. Vielleicht wissen wir schon die Stelle, wo der Tod sich eingenistet hat und von wo aus er uns eines Tages überfallen und vernichten kann. Das alles wollen wir in größter Ruhe betrachten. So ruhig betrachten wie Schleiermacher am Ende seiner „Monologen“ das keimende weiße Haar auf seinem Haupt anspricht, oder wie Fichte in der „Bestimmung des Gelehrten“ von der Vernichtung des letzten Sonnenstäubchens seines Körpers redet.
Dies sind nicht pessimistische Reflexionen oder sentimentale Selbstgefälligkeiten oder asketische Seelenquälereien, sondern natürliche Vorbereitungen dafür, die Auferstehung mächtig zu erleben. Man kann sich vor dem Einschlafen oder auch nach dem Erwachen die Frage zur Seelenübung werden lassen: Was bleibt eigentlich von dir übrig, wenn du gar keinen Leib mehr hast? Da muß dann allerdings der Leib ganz ruhen, so daß er nicht mehr in die Empfindung tritt. Da muß auch die Außenwelt völlig schweigen, so daß sie nicht störend in unser Bewußtsein eingreift. Da müssen alle Gedanken und Gefühle zurückbleiben, die aus dem leiblichen Leben in unseren Geist hereinschwingen. Mancher wird es schwer haben, dann überhaupt noch etwas zu erfassen und festzuhalten. Er mag sich daraus eine Vorstellung bilden, daß es gar nicht so leicht ist, nach dem Tode in einer Geisteswelt zu erwachen, und daß dann Schwierigkeiten zu überwinden sind, je materieller der Mensch gelebt hat, um so mehr – wenn auch nach dem Abfallen des Leibes die Hilfen bereit sind. Vermag ein Mensch, der sich zu erfassen sucht, abgesehen von seinem Leibe, zunächst gar nichts oder nur etwas ganz Dünnes und Zerflatterndes festzuhalten – dann möge er an Christus denken. Er wird dann besonders stark erfahren können, wie er sich von innen füllt mit Reichtum strahlenden Lebens, wie dies Leben vor allem auch den Charakter hat, geistig fest, dauernd, haltend zu sein. So wird der Mensch ganz nah persönlich etwas erleben von einer Auferweckung durch Christus. Es ist gewaltig und endgültig überzeugend, aus der eigenen Erfahrung zu wissen, wie Christus hineinbläst in die Totengebeine, wie durch ihn dem Menschen ein neues Leben verliehen wird. Nun wird der Mensch erkennen: Das ist die wahre Heiligkeit auch im Alltagsleben, daß ich mich in allem bekenne zu dem Christus, der ein höheres Leben in mir entfacht! Was ich in der Dornenkrönung erlebt habe und auf einer mehr menschlichen Stufe, das erlebe ich hier in übermenschlicher Weltengröße. Im Johannesevangelium wird oft vom „Wort“ Christi gesagt, daß es den Menschen auferweckt, ihm dauerndes Leben verleiht (z.B. im 6. Kapitel). Dies erleben wir jetzt so, als ob Christus selbst das von Gott ausgesprochene Schöpferwort sei, durch das wir noch einmal aus dem Tod heraus geschaffen werden. Ja, so kann man es erleben, als ob wir selbst ganz tot wären, und aus tiefen unsichtbaren Weltengründen, in denen der göttliche Vater wohnt, wird das Lebenswort Christi gesprochen, und wir erwachen in ihm zum Leben, zum neuen Leben, zum wahren Leben. Alle Weisheit und Heiligkeit, die uns fortan im Leben leiten will, nehmen wir aus diesem lebendigen Christus. In der Menschenweihehandlung wird gesagt, daß man sich zu dem bekennt, was durch Christus geoffenbart ist, und daß er des Menschen Widersachers Macht von uns nimmt! – Ist für uns das Lebenswort Christi noch nicht stark genug, um solche Auferstehung – die doch nur ein matter Vorglanz der wirklichen Auferstehung ist – in uns zu bewirken, so kann uns größte Hilfe sein: zwar schwerlich irgendein heute schon vorhandenes Malerbild, aber das lebendige Bild, das vom Auferstandenen gegeben wird in der Bibel.
In dreifacher Art erscheint im Neuen Testament der auferstandene Christus. Zunächst in der Weise, wie er sich den Jüngern offenbart zwischen Ostern und Himmelfahrt. Hier ist vor allem das Johannesevangelium von Bedeutung. Am ausführlichsten und eindrucksvollsten erzählt es vom Auferstandenen. Niemand sollte die Oster- und Pfingstzeit im Jahr vorübergehen lassen, ohne diese Erzählungen auf sich wirken zu lassen. Ein Duft und ein Glanz ist über sie gebreitet, wie elysischer Frühling. Diesen Auferstehungsgeist der Erzählung zu atmen, das erweckt den Menschen selbst schon zu einem neuen Leben. Eine zweite Art der Auferstehungserlebnisse ist geschildert in dem Damaskusereignis, wo Paulus dem Auferstandenen gegenübertritt. Wir haben früher einmal („Die Christengemeinschaft“, 2. Jahrg., S. 73) den organischen Zusammenhang dieser Erscheinung mit dem Erlebnis bei der Jordantaufe und mit der Offenbarung an Stephanus dargetan. Das alles kann uns helfen, wenn wir zu einem Eindruck vom Auferstandenen kommen wollen. Dazu sind ja diese Erzählungen da. Hier für unsere Meditation möchten wir aber vor allem hinweisen auf die letzte und größte Offenbarung des auferstandenen Christus in der JohannesApokalypse (Off. Joh. 1). Wie nirgends sonst, können wir in diesem Bild den Auferstandenen wirklich kennenlernen, uns in ihn einleben und so selbst auferstehen. Dies Bild ist die mächtigste Auferstehungsmeditation. Zug um Zug können wir diesen Christus vor uns erstehen lassen, auch wenn uns das Bild zunächst fremd ist, weil wir solche Bilder zu äußerlich, zu materialistisch betrachten, zu wenig die Geistessprache lesen und innerlich beleben können, die da gesprochen wird. Man muß solche Bilder lockerer und lebendiger lassen, als wir heute Bilder aufzunehmen gewohnt sind: dann lebt man sich immer stärker in sie ein. Das Haupt leuchtend in reinem Licht, wie selbst aus reinstem Licht geschaffen: Weisheit und Heiligkeit in einem! Aus ihm strahlen die Augen hervor „wie die Sonne leuchtet in ihrer Geistgewalt“. So ist das Haupt von außen umgeben von göttlichem Westenlicht und zugleich – in den Augen – von innen erfüllt von göttlichem Wesenslicht: Ein Äußeres und ein Inneres begegnen sich. Der weite Mantel mit dem goldenen Gürtel ist dasselbe, was wir in diesen Betrachtungen als den göttlichen Frieden erkannt haben, das Gehaltensein von überirdischer Weltenharmonie. Daß dieser Friede kein zurückgezogenes Ruhen ist, sondern stärkste Weltenkraft, das erkennen wir aus der Stimme, die aus dieser Brust hervorkommt, die da ist wie das Rauschen großer Wasser, die wirkt wie ein zweischneidiges Schwert des Gerichts. Wieder sehen wir mehr von außen her diesen Frieden in dem Goldenen-Gürtel-Gewand und mehr von innen heraus nach der Welt zu wirkend in dem mächtigen Weltenwort.
Und die Liebe, von der wir zuerst sprachen, ist uns im Bild gezeigt in den Füßen, die aus Erdenkraft, aus Erz gebildet sind, aber vom Himmelsfeuer durchglüht, und in den Händen, in denen die Sternenkräfte leben. Wieder ist eine mehr persönliche Seite der Liebe abgebildet in den Füßen, und die weltzugewandte in den Händen. Johannes der Seher erzählt von sich, als er diesen Christus erblickt habe, sei er wie tot zur Erde gefallen. Wir erscheinen immer als Tote neben ihm. Wir empfinden das große Grab, die Erdenwelt, und das kleine Grab, unseren Erdenleib. Das höchste Vorchristliche, Buddha, haben wir im vollen Sinn mit drinnen in einer solchen Betrachtung. So schauen wir auf Christus und empfangen aus ihm das wahre Menschentum. Ja, wir können den ganzen Aufbau unserer Lebensübungen, soweit sie sich auf die Gesinnung beziehen, nun zusammengefaßt in diesem Christus schauen. Was durch die Fußwaschung bewirkt wurde, das sehen wir hier in den durchglühten Erdenfüßen: Erdenkraft mit Liebesgeist vereint. Was uns die Geißelung brachte, das kehrt in Vollendung wieder in dem wallenden Mantel mit dem goldenen Gürtel. Was die Dornenkrönung in uns erweckte: das Eintreten für das Heilige in uns, Erdenleben zu Himmelsweisheit erhoben, das strahlt aus den Augen: in dem Herrlichsten, was die Erde hervorbringen konnte, im Menschenauge, leuchtet die Sonnenkraft selbst. Und nun folgen auch die drei höheren Übungen. Wozu uns das Kreuz führte: das Einswerden mit der Weltenliebe, das wohnt als schaffende Kraft in den durchbohrten Händen, die die Sterne halten. Das Weltgericht, in das uns die Höllenfahrt führte, lebt machtvoll in der göttlichen Stimme. Und die Auferstehung selbst, das Erwachen zu einem neuen Dasein, umwebt das Haupt als himmlische Lichtfülle. Wir mögen an diese Einzelheiten denken oder das Ganze vor uns haben: dies ist der Auferstandene, wie er seinem Lieblingsjünger erschien! So will er die Menschen emporziehen. Vor ihm wird alles Gebet zur Anbetung. Wo ist heute eine reine Anbetung Christi zu finden? Sie wäre das edelste Gebet. Durch Christus hindurch beten wir den Weltenvater an „im Namen Christi“. Was könnte aus der Menschheit werden, wenn das Bild des Auferstandenen nicht im Grab der Bibel bliebe, sondern in den Seelen selbst auferstünde. Welche unerhörte Entwicklung würde die Menschen von innen her führen! Mit tiefster Andacht würde der Mensch, wie er ist, hinblicken zu dem Menschen, wie er werden soll. Er leuchtet aus Christus als der „göttliche Sohn“. Wer dies Bild der Offenbarung noch nicht in Wahrhaftigkeit auf einen in der Gegenwart lebendigen Christus beziehen kann, der denke sich zunächst alles als sein eigenes höheres Ich oder als das Menschenideal. Eines Tages wird ihm klar werden, daß er da nicht nur ein selbstgemachtes Gedankenbild vor sich hat. – Mit dem allen sind wir nun auch schon mitten in der Himmelfahrt. Man empfindet allerdings den ganzen Widerspruch zu unserer Zeit, wenn man dies Wort nur ausspricht. Menschen, die unter Maschinen leben, sollen sich in die Himmelfahrt Christi versenken? Aber auch von ganz anderer Seite kommt ein Bedenken. Wir lesen in den erwähnten Vorträgen Rudolf Steiners über das Johannesevangelium:
„Das siebente Gefühl kann man mit Worten nicht schildern; nur der könnte es schildern, der imstande wäre zu denken ohne das Instrument des physischen Gehirns – und für das gibt es keine Sprache, weil unsere Sprache nur Bezeichnungen hat für den physischen Plan. Daher kann nur hingewiesen werden auf diese Stufe. Sie übersteigt alles, wovon sich der Mensch sonst eine Vorstellung macht. Man nennt sie die ,Himmelfahrt‘ oder ,die völlige Aufnahme in die geistige Welt‘.“ Angesichts solcher Worte wollen wir uns im Bewußtsein halten, daß es Erlebnisse gibt, die hoch über allem liegen, was wir persönlich erreichen können. Es ist gut, dies bei unsrer letzten Meditation recht klar in der Seele zu tragen. Und dennoch dürfen wir an dem Höchsten nicht vorübergehen. Nicht nur, weil zu der Höllenfahrt, von der wir sprachen, eine Himmelfahrt allein den Ausgleich bringen kann, wenn wir alles im rechten Gleichgewicht haben wollen – so wie dem Kreuzestod die Auferstehung entspricht –, sondern weil gerade der Gegenwartsmensch aufs allerstärkste seine Zugehörigkeit zur göttlichen Welt wieder empfinden sollte, wenn er dem starken äußeren Leben die gewaltigste Gegenmacht entgegensetzen will. Wir werden auch hier am sichersten gehen und vor allen Gefahren geschützt sein können, wenn wir den Weisungen der Bibel folgend einen inneren Weg zurückzulegen nicht verschmähen. Unmittelbar vor seiner Himmelfahrt hat Christus die Taufe eingesetzt. „Machet zu Jüngern alle Völker, indem ihr sie taufet in den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes!“ Auch die Taufe kann in den verschiedensten Höhen erlebt werden. Wenn man versucht, von dem Christusbild aus, wie wir es bisher geschildert haben, persönlich aufzusteigen dahin, wo man sein ganzes Denken, sein ganzes Haupteswesen eintaucht in den heiligen Geist, wo man sein ganzes Fühlen, seinen ganzen „mittleren Menschen“, der in Herz und Lunge und Blut lebt, eintaucht in den göttlichen Sohn, wo man seinen ganzen Willen, der in unserem Tun und Wandeln lebt, eintaucht in den göttlichen Vater, dann steigt man auf in die Region, wo der Mensch selbst ein Abbild der göttlichen Dreifaltigkeit ist, dann klingt im Menschen wundervoll der dreiheilige göttliche Name, der über allen Himmeln ist, dann wird der Mensch ein Leben mit der Urgöttlichkeit, die alle Welten lenkt und über alle Mächte des Bösen erhaben ist, dann ist der Mensch in seiner höchsten himmlischen Heimat. Wie ein Sieger, lichtgekrönt, kehrt er zurück in seine Erdenaufgabe. Alle Himmel sind in ihm versammelt. Und immer heiligere Himmel wollen sich ahnend auftun. Wie verklärt in die Himmel kann sich der Mensch vorkommen. Aber nicht untergehen soll er in Bewußtlosigkeit, wie es die Gefahr der Mystiker war, sondern in seinem wach gewordenen Ich wollen die Himmel selbst erwachen. Die höchste Vollendung des Menschen ist es – die wir in einer sakramentalen Handlung über dem Kind aufbauen, wenn wir es taufen. Nichts soll da sein in meinem Denken, als was heiliger Geist ist! Nichts soll leben in meinem Fühlen, als was göttlicher Sohn ist! Nichts soll wirken in meinem Wollen, als was väterlicher Weltenwille über allem Dasein ist! Wie eine Versiegelung mit dem göttlichen Siegel kann man diese Meditation erleben.
Eine solche Meditation wird uns heiligen, wie nichts anderes uns heiligen kann. Im Himmel gewesen zu sein: das gibt ein völlig anderes Lebensgefühl gegenüber der Erde. In göttlichem Adel kehren wir zurück. Aber möglich ist das nur, wenn wir das Kreuz und die Hölle nicht gescheut haben. Haben wir das göttliche Siegel empfangen, so lernen wir das Wort Mensch anders aussprechen. Wir ahnen, daß der Mensch selbst einzutreten berufen ist in die Reihe der Himmlischen, und welches sein Wesen unter ihnen sein wird in Licht, Leben, Liebe. Denn diese drei Worte des Johannesevangeliums sprechen dasselbe aus. „Steht nicht geschrieben: Ihr seid Götter!?“ (Joh. 10, 34). Siehe, der Mensch! Siehe, der Gott! Doch darf die Himmelfahrt, wenn wir den Geist Christi nicht verleugnen, uns niemals dazu verführen, im Himmel bleiben zu wollen, und wenn wir ihn noch so sehr als „die Seligkeit“ empfinden. Der Wille Christi führt gerade vom Himmel auf die Erde! Nur dann sind wir mit Christus verbunden, wenn dieser selbe Wille sich auch in uns regt. So ist es ja bei der Taufe Christi selbst gewesen. Sie kann als eine wirkliche Himmelfahrt betrachtet werden. Der Zusammenhang zwischen Himmelfahrt und Taufe, wie wir ihn oben schilderten, wird uns an ihr vollends klar. So kann uns auch die Betrachtung der Taufe Christi helfen, die Himmelfahrtsmeditation in einem Bild von der Erde her zu stützen. „Es taten sich die Himmel auf.“ Dies Erlebnis Jesu bei der Jordantaufe ist, wie Rudolf Steiner sagt, das stärkste Erlebnis gewesen, das jemals ein Mensch auf der Erde hatte. In der lichten Taube, die sich auf sein Haupt senkte, offenbarte sich der heilige Geist. In der Stimme, die erklang: Du bist mein geliebter Sohn, auf dem meine Offenbarung liebend ruht – wurde der göttliche Sohn offenbar. In dem Auftun der Himmel über ihm und um ihn her nahte sich der Weltenvater. Was wir hier vor uns schauen, war ein Hindurchgehen durch drei Reiche; durch das Reich der Imagination: im Bild, der Inspiration: im Klang, der Intuition: im Lebensempfang. An diesem Ereignis der Christustaufe kann unsere Himmelfahrt gleichsam im Erdenreich verankert und festgehalten bleiben. Wir wollen uns auch erinnern, wie Christus nach der Taufe ins Alltagsleben zurückkehrte und nach der Versuchung in der Wüste – die schwersten Versuchungen stellen sich gerade nach den höchsten Erlebnissen ein – die schlichte Tätigkeit des Lehrens begann, wobei hinfort immer das Himmelreich im Hintergrund durchschimmerte. „Das Himmelreich ist da!“ lautet fortan seine Verkündigung. Wenn auch durch unser Erdentun ein Himmelreich hindurchschimmert, in dem wir gewesen sind, dann erhält es seinen wahren Glanz und seine wirkliche Größe. – Auferstehung und Himmelfahrt ergänzen sich wie Einatmen und Ausatmen. Die Auferstehung ist ein „zum Himmel hin“. Die Himmelfahrt wird ein „vom Himmel her“. Beides gehört zusammen als eine allerhöchste Kommunion. Die Auferstehung ist ein letztes Empfangen von Christi Leib. Die Himmelfahrt erfüllt uns im tiefsten Sinn mit Christi Blut. Das Abendmahl ist Vorbereitung auf diese Erlebnisse. –
Schauen wir zurück auf den ganzen Gang unserer Gefühlsläuterung, so sind wir zweimal hindurchgegangen durch das Reich der Liebe, des Friedens, der Heiligkeit. Wie in einer Spiralbewegung verlief unser Weg aufwärts, in dem die zweite Spirale über der ersten lag. In der Liebe das Verhältnis zu den Mitmenschen, im Frieden das Verhältnis zur irdischen Umwelt, in der Heiligkeit das Verhältnis zur göttlichen Welt: in diese Dreiheit sind wir als Menschen eingefügt. Unser Erdendasein ist so gestaltet, daß es nichts gibt, was wir nicht mit diesen drei menschlich–göttlichen Grundeigenschaften zu ergreifen hätten. In der Himmelfahrt schließt sich dann alles zusammen. So ist dieser Weg zugleich Erfüllung der zweiten Bitte des Vaterunsers: „Dein Reich komme zu uns!“ Man denkt bei dieser Bitte in der Regel nur an das Reich, das einmal von oben her kommen soll. Von dieser unzureichenden Einstellung werden wir durch unseren inneren Gang gründlich befreit. Wir gehen den Weg der Evangelien selbst zum göttlichen Reich: durch den Tod zur Auferstehung! Das ist der Weg, den Christus uns vorangegangen ist in „das Reich“. Durch kein äußeres Tor kann man in dies Reich eingehen, auch nicht durch den äußeren Tod allein. Es ist nicht ein geographisches Reich, sondern ein göttliches Geistesreich. Da gelten strenge Bedingungen. „Ihr wißt, wo ich hingehe. Und den Weg wisset ihr auch“ (Joh. 14, 4). Als Christus zum letztenmal seinen Jüngern erschien vor seiner Himmelfahrt, da richtete er an Petrus dreimal die Frage: Hast du Liebe zu mir? Man kann es erfahren, wenn man diese Geschichte meditiert, wie sich die Frage mit jedem folgenden Mal tiefer in die Seele einbohrt, wie sie, wenn sie lebendig aufgenommen wird, die ganze Seele umschmilzt in einem heiligen Feuer. Ein einzigartiges Mittel zur Selbstverwandlung hat Christus da dem irdisch gerichteten Petrus gegeben. Wir können unsere Himmelfahrtsmeditation und die ganze Reihe der Gefühlsmeditationen abschließen, indem wir Christus so lebendig wie nur irgend möglich vor uns stehend erleben mit dieser Frage. Alles, was wir in der AuferstehungsMeditation erlebten, ist nun in diesem Christus. Und alles, was wir in der Himmelfahrts-Tauf-Meditation gewonnen, ist nun in uns. Es ist keine Anmaßung, sondern eine vollmenschliche Aneignung der Evangeliengeschichte, wenn wir, wie in diesem Christus drinnen, der uns leuchtend umschließt als eine uns überragende und einhüllende Gestalt, die Frage vernehmen: Hast du Liebe zu mir? Das ist die Frage, die immer und überall aus seinem Wesen erklingt, wenn wir auf ihn horchen. Im Feuer dieser Frage, die etwas himmlisch Brennendes hat, werden wir am gründlichsten umgeschaffen. Mit dem höchsten Himmel im Herzen kehren wir dann zur Erde zurück: „Vater, ich will, daß die Liebe, mit der du mich liebst, sei in ihnen, und ich in ihnen!“ (Joh. 17, 26) –
9. Brief Willenserziehung – Gegenwirkung aus der Gegenwart – Hauptgedanken für Willensübungen – Manichäer und Magie – Grundeinstellung des Willens zur Welt – Bedingungen für das Wirken – Heilkräfte – Krankheit – Erhabenheit des Willens – Physische Grundlage der Willenskräfte
In den folgenden Betrachtungen wenden wir uns nun der Erziehung des Willens zu. Dies hat für unsere Zeit seine besondere Bedeutung. Im Willen wirkt sich das Ich aus. Ein starker Wille ist ein mächtiger Schutz gegen das drängende Leben von außen, gegen die Nervenschwäche im Innern. Je mehr uns das Leben von außen bedroht, um so kraftvoller müssen wir lernen, von innen her zu wirken. Das ist die Hilfe. Nun hat sich aber vieles verschworen, um dem Menschen seinen Willen, der sich gerade in unserer Zeit entwickeln soll, gleichsam wegzuschnappen. Auf der einen Seite wird der Wille des Menschen in den großen Geschäftsbetrieben methodisch mechanisiert. Abgesehen von einigen wenigen, die an der Spitze stehen, haben die Menschen nur einen kleinen Spielraum für ihr eigenes Wollen. Andererseits wird der Wille vielfach systematisch suggeriert. Der Einzelne verzichtet auf Einsicht und Willen, weil er nicht hoffen kann, allein noch etwas zu erreichen, und beschränkt sich auf die Wahl zwischen den verschiedenen Gruppen. In diesen beiden Gruppen sehen wir wieder Ahrimanisches und Luziferisches verheerend in der Menschheit wirken. Andererseits ist eine Zeit, wo der Wille menschlich-übermenschlich in mächtigen Zusammenballungen da ist, auch besonders geeignet, den Willen im Einzelnen großzuziehen. Er braucht nur den ernsthaften Entschluß zu fassen, den Kampf mit der Ungeistigkeit seiner Zeit aufzunehmen. Gerade in bezug auf den Willen ist es wichtig, genau zu sehen, inwiefern überhaupt Wille erzogen werden kann. In der Opferung der Menschenweihehandlung wird gesagt, daß der gute Wille entspringt aus einem Fühlen, das sich mit Christus eint. Es stimmt mit allen Forschungen moderner Psychologie überein: nur auf dem Umweg über das Gefühl kann der Wille gerufen werden. Man kann nicht einfach Willen aus dem Menschen herauspumpen. Aber man kann, um im Bild zu bleiben: regnen lassen, bis das Erdreich von Quellen überfließt. So haben große Agitatoren nur auf das Gefühl gewirkt und unter Umständen gerade dort innegehalten und gebremst, wo das Gefühl in den Willen übergehen will – damit der Wille um so elementarer aus dem Menschen selbst hervorbreche. Ein Beispiel ist die berühmte Rede des Antonius in Shakespeares Cäsar. Es ist zu erwarten, daß durch unsere Gefühlserziehung auch der Wille des Menschen mit gebildet wird, nicht nur ein reiner Wille, sondern auch ein starker Wille. Aber es läßt sich doch noch vieles Besondere auf diesem Gebiet sagen. Um es vorweg zu nehmen: der Wille wird erzogen an großen Zielen, an großen Vorbildern, an großen Widerständen.
Rudolf Steiner hat oft von den Manichäern gesprochen. Er schildert sie als Menschen, die den wahren Sinn des Christentums in einem großartigen Kampf des Lichtes gegen die Finsternis erblicken. Sie nahmen voraus, was erst eine spätere Zeit zur vollen Entwicklung bringen wird. Bis in die Kräfte einer heiligen Magie hinein fühlten sie sich als die Helfer Christi gegen die Macht des Widergöttlichen. Geradwegs auf das Böse gingen sie los, um ihm das Gute abzuringen, um das Böse selbst in Gutes umzuwandeln. Diese göttliche Alchimie war ihr Christentum. Wer sich diesen Impulsen aufschließt, der sieht ein Christentum am Horizont der Zukunft aufsteigen, dem gegenüber unser heutiges Christentum klein und eng erscheint. Nicht Erlösung vom Bösen, sondern Erlösung des Bösen. Nicht Umwandlung des Menschen vom Bösen zum Guten, sondern Umwandlung des Bösen selbst in Gutes. In unserer Zeit muß mit einem solchen Christentum der Anfang gemacht werden. Das offenbaren uns, wenn wir es sonst nicht sehen, deutlich die okkulten Nebenerscheinungen der Zeit. Gibt es doch in Amerika „metaphysische Hochschulen“, wo indische Yogis die alten orientalischen Weisheiten der Willensschulung übertragen auf die Ausbildung des Menschen zu geschäftlicher Tüchtigkeit. Wie der Materialismus des Westens erst ganz gefährlich wird, wenn er aufgenommen wird von den Kräften des Ostens, die zu völlig anderem berufen sind, so wird der Spiritualismus des Ostens erst recht gefährlich, wenn er aufgenommen wird von den Lebenstendenzen des Westens, die der Erdenpraxis zugewandt sind. Vor dieser geschichtlichen Situation stehen wir heute in der europäischen Mitte. Demgegenüber haben wir eine neue Erdengesinnung auszubilden, die den Westen aus dem Staub hebt. Und wir haben ein neues Geistwissen zu gewinnen, das den Osten überragt. Da, kann nicht gezweifelt werden, daß auch eine höhere Willenserziehung zu unseren Aufgaben gehört. Das alles ist ganz im Sinn des Christentums, das nun kommen will. Dies Christentum endet nicht mit dem Himmel, sondern geht mit dem Himmel auf die Erde zurück. Es wirkt auf der Erde, aber mit den Himmelskräften. Dies ist die größte grundsätzliche Änderung, die sich heute am Christentum vollzieht. Viele Bewegungen, die heute vergeblich darnach suchen, werden auf diesem Wege erst ihre innerste religiöse Begründung und Kraft finden, –wie zum Beispiel der Sozialismus. Das große Vorbild für dies Christentum ist Christus selbst. Und wir gewinnen die Willenserziehung, deren wir bedürfen, wenn wir auf die sieben Großtaten schauen, in denen das Johannesevangelium sein Werk unter der Menschheit beschreibt. So treten wir in der sichersten Führung ein in eine heilige Magie, der die Zukunft des Christentums gehört. Auf mancherlei Weise äußert sich eine solche christliche Magie heute schon, zum Beispiel als „Gesundbeten“, als „Heilen“, als „Gedankenwirken“. Wir haben uns mit allen diesen Erscheinungen auseinanderzusetzen, in denen meist Verzerrungen vor uns stehen, und haben den Versuch zu machen, dem allen das Richtige gegenüberzustellen.
Am Schluß der Erzählung von der Hochzeit zu Kana findet sich das Wort: „Dies ist das erste Zeichen, das Jesus tat, und offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn“ (Joh. 2). Heute hat es keinen Sinn, an dies „Wunder“ nur zu „glauben“ im Sinn einer äußeren Bibelgläubigkeit. Wie das Ereignis sich vollzogen haben kann, wie es einem heutigen Menschen auch in seiner historischen Wirklichkeit verständlich gemacht zu werden vermag, darüber hat Rudolf Steiner das Wichtigste in seinen Vorträgen über das Johannesevangelium gesagt. Und hier ist die Geschichte offenbarend durchsichtig für den Sinn des ganzen Erdenwirkens Christi. Man glaube doch nicht, daß in religiösen Urkunden solche Worte nur historisch gesagt sind: „Dies ist das erste Zeichen, das Jesu tat, und offenbarte seine Herrlichkeit.“ Sicher geht man am wenigsten fehl, wenn man solche Andeutungen als Winke versteht zu verborgenen Wahrheitstiefen. Was war der Sinn des Erdenwirkens Christi? Er brachte den Himmel auf die Erde. Man könnte auch sagen: Er machte den Himmel zur Erde. In vergangenen Zeiten hat man den Menschen vom Himmel erzählt. Man hat ihnen den Himmel nach dem Tod verheißen. Und im üblichen Christentum ist diese alte Art heute noch beinahe allherrschend. Auch politische Parteien versprachen den Menschen den Himmel, nur war es ein materialistischer Himmel auf der Erde. Christus ging einen anderen Weg. Er machte den Himmel zu einem E r d e n m e n s c h e n, zu einem Erdenleben, zu einem Erdenwirken. In diesen drei Worten haben wir auch die Gliederung unserer Meditationsbetrachtungen; die Ich-bin-Worte, die Leidensstufen, die Heiltaten. Dies konnte in einem Bild gar nicht knapper und sprechender gesagt werden als durch die Erzählung: Er hat Wasser in Wein verwandelt. Wenn der Mensch der alten Zeit vom Wasser redete, so dachte er nicht nur an Baden und Segelbootfahren. Er empfand das Wasser religiös. Die Reinigungskraft des Wassers war ihm verehrungswürdig göttlich. Noch in der Taufe lebt die Erinnerung an das Eingetauchtwerden des Menschen in ein reinigendes Offenbarungselement. Alle Reinigungsvorschriften und Waschungsgebote der alten Zeiten hängen mit dieser Grundempfindung zusammen. Der Mensch hatte eine höhere Welt über sich, die ihn durch das Wasser, das sie von den Himmeln herabschickte, immer wieder in ihre Reinigungskräfte aufnahm. Statt des Badens dachte der alte Mensch an die religiöse Reinigung, statt des Bootfahrens an das Überfahren über den Strom nach dem Tode oder in der Einweihung. Das letztere, die Überfahrt, war die Esoterik der alten Religionen, das erstere, die Reinigung, ihre Exoterik. So lebte die alte Religiosität mit dem Wasser. Und wenn wir darauf achten, welche kümmerlichen Reste, aber immerhin Reste dieser Empfindungen in den Menschen heute lebendig sind, wenn sie sich am Wasser freuen in Baden und Seefahren, dann können wir den Unterschied der Zeiten mit Augen schauen. Nun blickt man auf die sechs steinernen Wasserkrüge, die „allda stehen nach der Weise der jüdischen Reinigung“. Da steht die ganze alte Zeit. Da steht das alte Religionswesen der Menschen.
Aber auch den Wein hat der Mensch vergangener Zeiten religiös erlebt. Unzählige Kulte sind nur so zu verstehen. Die Dionysosverehrung fühlte im Wein den Gott. Es war ein Gott, der den Menschen erdenstark und erdenfroh machte, der ihn wohl abschied von den feinen Empfindungen für die geistige Welt, die noch aus alten Zeiten in ihm lebten, der ihn aber seine Persönlichkeit froh empfinden ließ. Als der Mensch Erdenbürger werden sollte, trank er Wein. Im Traubensaft ist das Wasser vom Himmel aufgenommen in die Erdenkraft der Rebe und wird als Erdenwesen wirksam. Kann man sich ein schöneres Bild denken für das, was Christus wollte und war? In ihm ist die Offenbarung von oben geboren als Erdensein, Erdenleben, Erdenwirken. Nicht ohne Sinn hat Christus auch für seinen Erdengottesdienst, das Abendmahl, den Wein eingesetzt. Er selbst war der Wein. Alle frühere Religion war Wasser. So mögen wir die Menschheit selbst sehen in dem Bild, das uns dort erzählt wird. Sie ist an einer Tafel versammelt. Aber sie hat Mangel. Christus ist gekommen und verwandelt das Wasser in Wein. Wie kann dies für uns eine Willenserziehung werden? Das ist gerade die entscheidende Willens-Einigung mit Christus, daß wir uns entschließen, den Himmel, soweit er uns innerlich zugänglich ist, in Erde zu verwandeln, ihn auszuleben als Erdenmensch in einem Erdenleben und Erdenwirken. Der Protestantismus hat auf die „guten Werke“ weniger geachtet und gemeint, es werde alles von selbst, wenn er vom Glauben redet. Aber dies eben ist „Glaube“ im vollen Sinn der Bibel, sich mit Christus in gemeinsamem Wollen zu verbinden. „Und seine Jünger glaubten an ihn.“ Nicht daß wir einzelne Gebote erfüllen, sondern daß wir im Grundwillen mit ihm eins werden, darin liegt das Ausschlaggebende. Dieser Grundwille ist offenbarend ausgesprochen in der ersten Großtat. „Ändert euren Sinn, die Reiche der Himmel sind da!“ lautete die Verkündigung Christi. Die Grundänderung des Sinnes besteht eben darin, daß man vom Himmel her will und nicht mehr von der Erde aus, daß man den Himmel wohl will, aber nicht für sich zur Seligkeit, sondern für die Erde zur Wandlung. Es ist ein Grundfehler, auch der wohlgesinnten Menschen, daß sie sich gar nicht für verpflichtet halten, ihren „Himmel“ allen Menschen zu bringen. Sie halten ihn verborgen. Oder sie offenbaren ihn auserwählten Freunden in seltenen Stunden. Dann sind sie noch nicht Christen in dem Sinn, daß ihr Wille dem Christuswillen ähnlich ist. Der Christuswille besteht gerade darin, daß man alles, was man nur irgend in höherer Welt erlebt hat oder aus ihr herabbringen kann, den anderen Menschen schenkt. Man kann sich fühlen wie ein Dieb, wenn man „für sich behält“, „für einen Raub hält“ (Phil. 2), was „gegeben wird“. In diesem Punkt bedarf die Grundstimmung der Menschen einer großen Wandlung, wenn sie christushaft werden will. Und unsere Meditation will dazu helfen.
Nur zwei Grenzen gibt es. Ein großes Verhängnis wäre es, wenn wir immer gleich ausschwätzen wollten, was uns geschenkt worden ist. Wir müssen es erst in uns verwandeln und auf uns selbst wirken lassen. Gerade damit wir es hernach schenken können. Nichts von Selbstgefälligkeit darf sich beim Schenken einmischen, nur reiner Gebewille. Es ist etwas Abscheuliches, auf einem göttlichen Geschenk an die Menschheit das Abzeichen der Eitelkeit des Vermittlers zu entdecken. Das ist wie ein weißes Gewand, auf dem die Flecken unreiner Hände sind. So lang es für uns selbst besser ist, müssen wir schweigen. Auch Christus hat zu den Geheilten manchmal gesagt: Gehe hin und sage es niemand! Das tat er nicht bloß, um sich selbst vor Nachstellungen zu sichern. Zu andern Geheilten aber sagte er: Gehe hin und verkündige es jedermann! Wenn man versteht, warum Christus zu den einen das erste Wort sagt und zu den andern das zweite, dann versteht man ein wichtiges Wirkungsgeheimnis. Niemandem es sagen, so lang man selbst noch mit dem Aneignen unmittelbar zu tun hat, und jedermann es sagen, wenn man es aufgenommen hat. Was vom Himmel ist, muß auf der Erde gewachsen zu den Menschen kommen wie der Wein. Wir können dies alles nur andeuten und müssen es dem Leser überlassen, das Leben im einzelnen darnach durchzudenken und zu gestalten. Es ist aber wieder nicht so gemeint, als ob man zu jedermann von seinen innerlichsten Geheimnissen in Worten sprechen müßte. Damit wäre den Menschen meist gar nicht geholfen und uns nur geschadet. Vieles Göttliche ist durchaus nicht dazu da, gesagt zu werden, sondern: gestrahlt zu werden. Es will aufgenommen sein in unser Wesen, um von da aus den Menschen als Kraft, als Sein, als stille Sprache zugeleitet zu werden. Auch für den Menschen selbst ist es ein Glück, daß er auf diese besondere Art von göttlichen Dingen reden darf. Er hat die Empfindung, daß er auf solche Weise würdiger, wahrer, vollmenschlicher von der göttlichen Welt redet. Wer von Christus selbst einen Lebenseindruck empfangen hat, der wird oft die Empfindung haben: Reden darf ich davon eigentlich nur, wenn ich den Menschen vorher durch mein Leben das Gefühl gegeben habe, daß sie es für wahr halten können, wenn ich es sage. Das Sprechen darüber darf nur sein wie ein schon offenbares Geheimnis. In all dem liegen Lebensmöglichkeiten und Lebensschönheiten, von denen die Menschen wenig wissen. Man lasse nur manchmal eine Meditation ausklingen in den Gedanken: Wie wäre es, wie müßte ich sein, wenn das, was ich jetzt in mir getragen habe, durch mein ganzes Sein strahlte, von den Menschen unmittelbar aus meinem Sein gelesen werden könnte? Dann wird uns die Welt, von der hier die Rede ist, aufgehen. Es kann dahin kommen und ist oft geschehen, daß einem Menschen am Wesen eines andern elementar klar wird: Was in ihm lebt und aus ihm scheint: das ist Christus! Dies wird die Art sein, wie in der Zukunft vielen Menschen Christus offenbar wird. „Du sagst es: Ich bin‘s“ – im andern spricht die Stimme zuerst. Das alles heißt: Wasser in Wein verwandeln. Die göttliche Offenbarung, die wir empfangen haben, erst umsetzen in Erdenwesen und Erdenleben und sie so verwandelt wieder aus uns hervorgehen lassen.
Die zweite Grenze, die es gibt und die streng eingehalten werden muß, ist die Verpflichtung, auf das Bedürfnis und die Empfänglichkeit der Menschen zu achten, zu denen wir reden. Dies Gesetz gilt, je höher der Mensch hinauf kommt, um so strenger. Man mordet etwas an seinem eigenen höheren Menschen, wenn man nicht darnach handelt. Denn dieser höhere Mensch lebt in einer geheimen Verbundenheit mit den andern Menschen. Nie darf etwas Göttliches gesagt werden so, daß wir uns selbst dabei wichtig fühlen oder irgendeinen nicht völlig reinlichen Nebenzweck damit verfolgen. Nur dann und so, daß der andere dadurch Segen empfängt. Die Sprache wird erst etwas göttlich Schönes und Großes, wenn man dies Gebot ganz begriffen hat. Kein Mensch ist zum Verkünder zu brauchen, der die Kraft nicht hat zu schweigen, bis er reden darf. Mancher würde von der höheren Welt viel mehr empfangen, wenn man in ihr nicht wüßte: er kann es nicht für sich behalten. „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“, sagt Christus auf der Hochzeit zu Kana. Dadurch soll nicht ausgeschlossen sein, daß oft einem Menschen gesagt werden darf, was er zur Stunde noch nicht verstehen kann, wogegen er sich zunächst auflehnen wird. Aber solche Fälle heben das Grundgesetz nicht auf, sondern machen nur seine Erfüllung schwerer. Wir mußten von solchen Gesetzen hier einiges andeuten. Nur in ihnen ist eine wirkliche Vereinigung mit dem Grundwillen Christi möglich. Und je mehr wir die wahren Lebensgesetze einhalten, um so mehr machen wir auch die Meditation wirksam und werden dies bei jeder folgenden Meditation merken. Wir selber sollen Wein werden. Wir empfangen den göttlichen Segen wie der Weinstock den Regen. Wir lassen ihn reifen unter der göttlichen Sonne, bis nichts übrig ist als gute Früchte. Diese Früchte aber schenken wir den Menschen. Nicht den Regen, der uns befeuchtet. Nicht die Sonne, die uns brennt und ihre Arbeit an uns tut. Nicht die Erdentiefe, in der wir wurzeln. Nicht die Früchte, die noch sauer sind. Alle diese Fehler werden gemacht. Wir halten uns im Sinn, daß Christus seine Jünger mit Reben verglichen hat, nicht mit Blumen, nicht mit Edelsteinen, sondern mit dem Unscheinbarsten, mit Reben. Er selbst ist der Weinstock und wir nur Reben, die zwischen Saft und Frucht zu vermitteln haben. Also nicht einmal die Früchte, die wir selbst bringen, sollen wir schenken, sondern die Früchte, die Christus in uns bringt. Um nun unser Meditationsbild noch eingehender zu betrachten: Da sind die Menschen. Die Menschheit an der Weltentafel versammelt. Sie haben Mangel. Ohne Christus müssen sie darben. Es gibt alle Arten des Darbens. Aber Christus ist da, um den Menschen den wahren Wein zu geben. Er bringt den Himmel und schenkt ihn den Menschen als Erdenkraft und Erdenfreude. Früher suchten die Menschen im Göttlichen die Reinigung, nun teilt das Göttliche sein eignes Leben mit durch Christus. Nicht Offenbarung nur, sondern Nahrung. Dies soll auch unser Wille sein, mit Christus aus der göttlichen Welt herabzubringen, was möglich ist, in Menschenwesen und Menschenleben. Wir wollen in der Welt wirken, wie die Rebe, die goldene Früchte den Menschen darbietet. Wir wollen uns selbst den Menschen als göttlichen Wein schenken. – Es ist ein ganz anderes Lebensgefühl, das den Menschen durchströmt, wenn er seinen Lebenssinn so empfinden kann.
Bei dieser Willensmeditation und allen folgenden überlassen wir es dem Leser noch mehr als bei den früheren Meditationen, sich das Meditationsbild im einzelnen selbst auszugestalten und seine Willensentschlüsse selbst zu formulieren. Der Wille ist das Individuellste und muß ganz frei sein. Wir geben mehr Lebensblicke und Stimmungshintergründe. Gut ist es aber, die Meditationsbilder der Willensübungen immer in dreifacher Richtung auf sich wirken zu lassen: großes Ziel, großes Vorbild, großer Widerstand. Nur eine andere Form derselben Meditation ist, was in der Menschenweihehandlung geschieht. Bei den Worten, in denen sich das Wollen nach oben wendet, gießt der Priester den Wein in den Kelch. Bei den folgenden Worten, die davon sprechen, woher der Wille entspringt, gießt er das Wasser zum Wein. Es ist Christus, der aus der Höhe kommt, wie er sich vereinigt mit dem Wollen, das auf der Erde gewachsen ist. Jede rechte Meditation ist auch eine Mischung von Wasser und Wein, anders gesehen: eine Verwandlung von Wasser in Wein. In dem ersten Zeichen, das Christus tat, „und offenbarte seine Herrlichkeit“ – haben wir die erste Heranbildung unseres Willens aus einem kleinen Eigenwillen zum großen Weltenwillen. Zwischen Osten und Westen stehen wir wieder in der Mitte. Der Osten hat wohl göttlichen Willen, aber keinen Willen zur Weltwandlung. Der Westen hat Weltwandlungswillen, aber keinen göttlichen Willen. Schon über diesem ersten Zeichen steht das Gebet aller Gebete: Dein Wille geschehe wie in den Himmeln also auch auf Erden! Wir beten diese Bitte nicht mehr bloß passiv und nicht mehr bloß persönlich. Wir nehmen in ihr den Grundwillen Christi in uns auf. Wir fangen an, „Himmels“wille zu werden. – Das „andere Zeichen“, das Jesu tat, war die Heilung des Sohnes des Königischen (Joh. 4, 46–54). Und hier sehen wir Christus nun in einer besonderen Tätigkeit, die eine große Bedeutung in seinem Leben hatte: im Heilen der Krankheit. Rudolf Steiner hat gesagt, daß gerade in den mitteleuropäischen Ländern, aber auch im Osten und Westen eine neue Heilertätigkeit aus höheren Kräften in den kommenden Jahrhunderten bevorstehe. Vorerst aber ist im Christentum der materialistischintellektualistischen Zeiten diese Seite des Christuswillens in den Hintergrund getreten, bis auf einige Ausnahmen, wie etwa den älteren Blumhardt. Wenn auf diesem Gebiet etwas geschehen soll, so gilt es, besonders vorsichtig vorzugehen, da kaum auf einem anderen Gebiet solche Gefahr besteht, daß sich Egoismus und Materialismus eindrängen, als auf dem Heilgebiet: der Materialismus, dem der Körper zu wichtig ist, und der Egoismus, dem das Eigenwohl zu sehr am Herzen liegt. Das zeigt sich deutlich an vielen Erscheinungen der Gegenwart, wo ein Heilwille da ist, aber nicht in vollchristlicher Art. Gegen diese beiden Gefahren hilft uns die Meditation, die sich an das zweite Christuszeichen anschließt. Wir beginnen damit, die Erzählung wieder durchsichtig zu sehen, so daß wir in ihr ein Weltereignis erkennen. Der Königische ist vermutlich ein sogenannter Heide gewesen oder ein Halbheide. Jedenfalls dient er als Soldat in der außerjüdischen Welt. Dort ist die innere Not zu jener Zeit am größten gewesen.
Die Menschheit lag wirklich im Sterben. Bis ins Äußere hinein gilt dies. Aus der Vorgeschichte der Christuswirksamkeit hat Rudolf Steiner eine Szene erzählt, wie der jugendliche Jesus auf seinen Wanderungen als Zimmermann über die Grenze Palästinas hinaus an eine alte Tempelstätte kommt. Der Opferdienst war verfallen. Die Menschen waren von schrecklichen Krankheiten gepeinigt. Sie bitten Jesus, da sie zu seinem Wesen großes Zutrauen gewinnen, daß er ihnen hilft. Er aber sieht, als er helfen will, im Geiste vor sich, wie hier wohl einstmals große Offenbarungen gewesen sind, wie aber alles von Dämonen beherrscht ist. Der Eindruck ist so erschütternd, daß Jesus ohnmächtig niedersinkt. Solche Erlebnisse, erzählte Rudolf Steiner, haben die Offenbarung in Christus vorbereitet. Auch die Heiland-Wirksamkeit. In dem Königischen und seinem Sohn sieht man in zwei Generationen die Entwicklung der Menschheit selbst vor sich. Der Vater dient einem König. So huldigte die Menschheit einer alten Weisheit, die ihr von oben geschenkt war und die auch von Priesterkönigen verwaltet wurde. Der Sohn ist krank zum Tode. In dem Vater kommt im Bild das alte Heidentum zu Christus und bittet ihn um Hilfe. Christus lehnt die Hilfe zunächst ab oder wartet doch mit ihr, bis er wirklich Glauben sieht. Von innen her müssen die Bedingungen zu der neuen Hilfe da sein. Dann aber spricht er das Wort: „Dein Sohn lebt.“ Es ist eine Stunde nach Mittag. Die Stunde der Menschheitsmitte ist eben überschritten. Solche Gedanken würde man gründlich mißverstehen, wenn man in ihnen ausgeklügelte oder spielerisch erbauliche Allegorien sähe. Alles im Leben Christi ist schwer von weltgeschichtlicher Bedeutung. Aus allem schaut uns Menschheitsschicksal an. Und wären wir selbst erfüllt von göttlichem Leben, so würden auch in unseren Lebensereignissen die Hintergründe des Weltenseins überall zum Vorschein kommen, so würde auch unser Leben und Handeln überall zum Bildgeschehen werden. Alles Vergängliche würde – in einem höheren Sinn, als es Goethe gemeint hat – zum Gleichnis werden. Es ist verkehrt, wenn wir, weil Heilen zum Wirken Christi gehörte, gleich auf irgendeine Krankheit losgehen und sie im Namen Christi zu heilen suchen wollten. Wichtig ist, daß wir die Welt der Krankheit erst einmal mit richtigen Augen sehen. Die ganze Fülle der Krankheiten und die ganze Fürchterlichkeit der Krankheiten. Man muß „die Augen aufheben“ und die entsetzliche Last des Krankseins, die quälend auf der Menschheit liegt, in sein Bewußtsein aufnehmen. Die meisten Menschen bemerken die Krankheit ernstlich nur, wenn sie selber darunter leiden, oder wenn einer ihrer nächsten Angehörigen davon betroffen wird. Das ist fern vom wahren Weltenwillen. Als Christus auf die Erde kam, da fand er die Menschheit zerstört durch tausendfaches Leiden und stellte seinen Willen in vielen Taten mit aller Kraft dagegen.
Das erste, was sich in uns gegen das Krankheitselend erheben sollte, ist der Wille: Dies alles soll nicht sein in der Menschheit! Dies alles gehört nicht zum Menschen, sondern zum Feind des Menschen! Dies alles hat nichts zu tun mit Christus, sondern will von Christus überwunden werden! In Christus ist die Kraft, die alles gesund machen will und kann, „was krank sich erweiset im Erdensein“! Um nichts anderes handelt es sich zunächst, als daß wir dieses Menschheitsschicksal deutlich sehen, nicht bloß auf das Einzelne und Eigene achten, sondern auf das Ganze. Und daß sich unser Wille mit dem Willen, der in Christus da ist, gegen diese ganze Welt der Krankheit verbindet, daß der echte Christuswille gegen die Krankheit in uns aufwacht. Wir treten auf die Seite Christi dieser Welt gegenüber. Wir spüren das Christusheil, aus dem die Heilung kommen kann für alles Kranke der Welt. Wir schauen in dem Sohn, der krank darniederliegt und zu sterben in Gefahr ist, das Bild des Menschen, schauen in dem Vater, der zu Christus kommt, das Bild der Sehnsucht und schauen in Christus, der das helfende Wort spricht, das Bild der Heilung. Einfacher und mächtiger könnte das Bild nicht sein. Je stärker der Christuswille gegen die Krankheit da ist, um so besser ist es für die Menschheit, auch wenn wir noch nicht die kleinste Krankheit heilen können. Am Schluß der Menschenweihehandlung hören wir dreimal das Wort „Arznei“. Von „krank“ und „gesund“ wird gerade in den Gebeten dieses vierten Geschehens der Menschenweihehandlung, in der Kommunion, immer wieder gesprochen. Das bedeutet: je näher Christus unserem Leib kommt, um so mehr wird er einfach als das Heil empfunden, als mächtig heilendes Heil. Man kann den Christuswillen auch in der Meditation als Heil in sich wirklich strömen lassen und aus ihm heraus mit Christus fühlen, wie ihn des Volkes jammert, wie ihm „die Augen übergehen“, wie sich die Helferkraft in ihm aufmacht. Mit Christus der Welt gegenüber, endgültig und in allem, darauf kommt es vor allem an, wenn wir zur Weihe des Willens kommen wollen. Unmittelbar Heiler zu sein aus den wirklichen Christuskräften heraus, das ist heute nur in Ausnahmefällen möglich. Dazu gehört nicht nur eine besondere Begabung und Schicksalsführung, sondern auch ein besonderer Auftrag. Und die Möglichkeiten, sich zu täuschen und an der nötigen Gewissenhaftigkeit und Bescheidenheit es mangeln zu lassen, sind sehr groß. Für jeden einzelnen Fall müßte ein besonderer Auftrag da sein. Die Berufsmäßigkeit ist eine ebenso große Gefahr wie das Bekanntwerden unter den Menschen. Und die echt christliche Einsicht in den göttlichen Willen über dem Menschen und über der Menschheit müßte eine solche Heilertätigkeit immer überleuchten und müßte immer klarer werden. Anders würde schwerer Schaden entstehen. Jede Krankheit hat eine besondere Aufgabe im Leben des Menschen, der von ihr getroffen ist. Letztes Verantwortungsgefühl dürfte eigentlich nur dort heilen, wo man imstande ist, dem Menschen auf andere Weise das zu verschaffen, was er durch die Krankheit gewinnen soll.
Wenn man zum Beispiel einem Menschen, der zu Ausschweifungen geneigt ist, seine Nervenempfindlichkeit wegheilen wollte, so würde man ihm unter Umständen gerade das rauben, wodurch er von seinem Charakterfehler geheilt werden kann. Das ist ein Fall für viele. Natürlich kann der praktische Arzt von heute nicht das ganze Schicksalsnetz und Charaktergefüge eines Menschen überblicken. Und auch für die geistigen Heiler kommender Zeiten wird nicht immer eine volle Überschau die einzige Bedingung sein, unter der sie ihre heilenden Kräfte wirken lassen dürfen. Aber die Gewissenhaftigkeit, die auf diesem Gebiet die Herrschaft haben müßte, müßte strenger sein als das allermeiste, was sich heute Gewissen nennt. Nicht irgendwelcher persönliche Wunsch darf hereinspielen, auch nicht irgendwelche persönliche Befürchtung, nur reines Hinhorchen auf den göttlichen Willen und strenge Entschlossenheit, nur nach dem bestimmt gefühlten göttlichen Auftrag zu handeln. Wenn wir nicht mehr Heiler haben, so wird es auch daher rühren, daß die Menschheit noch nicht genug erzogen ist. Etwas Wundervolles ist das reine Überströmen von Christusheilkräften. Wir müssen solche Gedanken zu denken wagen, wenn wir die Verheißungen Christi selbst ernst nehmen und den verkehrten Zeiterscheinungen begegnen wollen. Gerade im Gefolge des Materialismus und in seiner Auswirkung werden neue Krankheiten auftreten, gegen die stärkere Heilkräfte aus dem Innern heraus nötig sein werden. Aber nur wenn die inneren Einstellungen, von denen wir auf diesem Gebiet besonders ausführlich sprechen mußten, die richtigen sind, wird Segen werden. Ehe man selbst heilen will, sollte man erst recht gründlich sich selber heilen lassen. Wir haben schon manchen Fall erlebt, wo wirkliche Heilkräfte aus der Menschenweihehandlung empfangen worden sind. Das wird sich in der Zukunft noch wesentlich steigern, je stärker die Priester die Menschenweihehandlung vollbringen und je stärker die Gemeindeglieder sie aufnehmen können. Doch auch in der einsamsten Meditation kann Christus in seiner unerhörten Heilkraft wirksam werden. Zunächst erfährt man sie vielleicht so, daß man die Stellen im eigenen Körper fühlt, wo man nicht völlig gesund ist. Dann weiter so, daß man spürt, wie Heilkraft da ist, aber doch nicht aufkommen kann gegen die Kraft der Krankheit. Dann vielleicht so, daß man merkt, wie der Gesundheitsbezirk des eignen Wesens sich vergrößert, sich reinigt, sich stärkt. Und schließlich so, daß wenigstens gewisse Krankheitserscheinungen gleichsam abfallen. Doch selbst dies, daß man sich selber von bestimmten Krankheitserscheinungen heilen will und heilen läßt, würden wir nicht als erstes raten, sondern dies, daß man Christus als das Heil in Geist und Körper da sein läßt. Nicht im Körper allein, und wieder nicht in Körper und Geist, sondern in Geist und Körper. Daß man spürt, wie krank die Behausung ist, in die er eintritt, aber wie durch sein Wort die Seele gesund wird.
Selbst in der gewöhnlichen Medizin und Seelsorge rät man den Menschen oft, daß sie aus dem Lebensbezirk heraus leben sollen, der in ihnen gesund ist, und daß sie dieses Gesundheitsgebiet in sich größer und größer werden lassen möchten. An solche Erfahrungen können wir denken, wenn wir das Heil in uns wie ein Gesundheitsreich fühlen, das sich immer weiter ausdehnen will und in dem wir wohnen können mit unseren Lebensempfindungen. Fühlt man dies so mächtig, daß man meint, Ströme lebendigen Wassers gehen von uns aus, daß man sich empfindet, als ob selbst die Kleider noch Heilung ausströmen müßten, dann ist man auf dem Wege – wo man nun zu warten hat, ob man auch andern körperlich helfen darf. In der urchristlichen Kirche hat man durch Handauflegen geheilt. Und in der Tat wird man merken, wie sich die Heilkraft gerade in den Händen sammelt und von ihnen ausströmen will. Die sogenannte „Christliche Wissenschaft“ will die Krankheit dadurch überwinden, daß man sie einfach leugnet, ja daß man Materie überhaupt in Abrede stellt. Das ist eine Verzerrung der Wahrheit, wenn auch mancher Heilerfolg dadurch erzielt wird. Das Richtige ist, wenn man der Krankheit immer gegenübertritt, bis in das letzte Gefühl hinein, als dem, was nicht sein soll, als dem, was nur vorübergehenden Erziehungswert hat, als dem, wogegen Christus sein Wesen eingesetzt hat. Heilte in der urchristlichen Zeit Christus noch in seinen Dienern unmittelbar durch Handauflegung, so wurde in späteren Zeiten wenigstens noch die Hostie als Arznei verwendet. Und der Verfall des Christentums zeigt sich auch darin, daß man heute im Gegenteil sich durch das Abendmahl anzustecken fürchtet und mit Einzelkelch und Reinigungstüchern gegen die Krankheitskeime angeht. Das allererste, was wir heute zu lernen haben, ist dies, daß wir in jedes Krankenzimmer mit der richtigen Gesinnung eintreten, daß wir in keiner Weise die Krankheit fürchten, aber auch in keiner Weise die Krankheit bejahen, daß wir einen Umkreis von Heil um uns tragen und aus diesem Umkreis Kraft und Gesundheit schon unbewußt um uns verbreiten, weil wir dem „Heiland“ zugehören. In jeder einzelnen Krankheit sollten wir mit durchblickenden Augen immer die ganze Welt der Krankheit sehen und bekämpfen, gegen die der göttliche Wille sich siegend wendet. So stehen wir wieder mitten zwischen Osten und Westen, zwischen dem Osten, der die Krankheit mit fatalistischen Augen ansieht und ihr allzu willig das Feld überläßt, und dem Westen, der sie zu wichtig nimmt, in Ansteckungsangst lebt, in materialistischer Äußerlichkeit und Ausschließlichkeit gegen die Bazillen kämpft und vor lauter Hygiene schließlich krank wird. In der Nähe von Menschen, die eine christuserfüllte Atmosphäre von Gesundheit um sich verbreiten, wenn sie im Zimmer sind, wird man überhaupt erst erleben, was Gesundheit ist, in einem stärkeren und geistigeren Sinn als die Menschen heute Gesundheit überhaupt kennen. Wir kommen nicht wieder zu einem sieghaften Christentum, wenn nicht auch diese Wirkung da ist. Wie Sonnenlicht heilt, so wird einmal das Christuslicht heilen.
Haben wir also in unserer Meditation das Bild der Heilung durch Christus als ein weltumspannendes Ereignis vor uns stehen, den Vater als die alte Menschheit, den Sohn als die junge Menschheit, die Krankheit als Menschheitstatsache, Christus als den großen Helfer, so gilt es, nachdem alles zu größter Lebendigkeit gebracht ist, mit seinem Willen zu Christus hinüberzugehen und aus seiner Seele heraus mitzuerleben, wie der Wille hervorbricht: Dein Sohn lebt! So werden wir ein Wille mit Christus gegen die Mächte der Zerstörung und haben nicht nur Leben in Christus, sondern schaffen mit Christus Leben. Von großer Wichtigkeit wird es dabei sein, wenn wir die wunderbare Heiligkeit des Willens immer wieder für sich empfinden. Es ist so charakteristisch für die Menschen unsrer Zeit, daß sie streiten über die Freiheit des Willens, scharfsinnig und eindringend, theoretisierend und psychologisierend. Aber viel wertvoller ist es, die königliche Kraft des Willens in ihrer Herrlichkeit lebendiger zu fühlen. Man kann den Weltenschöpfer gar nicht genug bewundern – möchte man allzu menschlich sagen – daß er den Mut gehabt hat, dem Menschen einen Willen zu–schenken, der wollen kann – auch gegen Gott selbst. Es ist die göttlichste Gabe, die dem Menschen werden konnte. Damit vor allem hat er uns zu Königen gemacht und uns von seiner eigenen Göttlichkeit gegeben. Noch durfte dem Menschen nicht allzuviel an Willenskraft anvertraut werden, wenn nicht größeres Unheil entstehen sollte. Aber der Anlage nach enthält der menschliche Wille die allergrößte Zukunft. Und im Verbundensein mit Christus darf er sich entfalten, so gewiß die Gottheit ihre Gaben nicht zum Brachliegen gegeben hat, sondern zum Aufblühen. Die dankbare Freude über die hoheitsvolle Gabe, die dem Menschen geschenkt ist, und über das Vertrauen, das ihm entgegengebracht ist, ist der rechte Stimmungshintergrund für Willensübungen. Der Wille, der uns gegeben ist, ist wie ein Ruf zu einem göttlichen Amt im Weltall. „Heilig ist der Wille“ – das bewegen wir in uns und werden darüber stark und froh. „Weißer Wille“ möchte man sagen – wie man nicht ohne Grund von „weißer Magie“ spricht. Es ist ein allmähliches Aufwogen ungeheurer göttlicher Kraft im Menschen. – Noch sei für alle Willensübungen ein doppelter Hinweis hinzugefügt. Das Johannisgebet der Menschenweihehandlung spricht von Johannes, wie er den Vatergeist im Umkreis seines Leibes demutvoll trägt. Solche Worte sind bis ins einzelne nicht Phrasen, sondern echteste Wirklichkeit. Im Umkreis unseres Leibes finden wir den uns tragenden Weltenwillen. Aus diesem Umkreis können wir ihn hereinholen, meditativ hereinatmen. Das entspricht der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis, daß der Wille in freierer, lockererer Weise mit dem Menschen verbunden ist als das Denken und selbst das Fühlen. Wie an den Grenzen unseres geist-leiblichen Daseins umhüllt uns Wille, der zum Bewußtsein gebracht und zur reinen Größe entwickelt werden kann.
Und wie im Umkreis des Leibes, so ist es auch gut, den Willen besonders zu fühlen in Händen und Füßen. Nicht nur den Willen im allgemeinen, sondern den besonderen Willen, von dem wir hier reden. Als etwas Urgesundes werden wir diesen Willen erfahren, aber auch als etwas Urstarkes. In den Füßen mehr als Kraft des Stehens und Gehens, auch im geistigen Sinn. In den Händen mehr als Kraft des Schaffens und Segnens, wiederum auch im geistigen Sinn. Wir werden das Willenswesen des Menschen als reichgegliedert erleben und auch „links“ und „rechts“ in den Händen und in den Füßen verschieden empfinden. Mit dem allen tut sich uns immer voller die Ahnung des kommenden Christentums auf. mit Christus zu wirken als ein einheitlicher Wille gegen alle Mächte der Weltzerstörung! –
10. Brief Willenserkrankungen – Askese – Exerzitien – Sport – Willenserstarkung von innen – Allerlei Arten des Willens – Das Böse – Seine Weltbedeutung und Überwindung – Der Blick für die Not – Die innere Kraft der Hilfe – Soziales Christentum
Die Willenserziehung liegt in der Menschheit noch am allermeisten darnieder. Dilettantisch ist die Geisteserziehung. Chaotisch ist die Gefühlserziehung. Ganz primitiv ist die Willenserziehung. Das zeigt jedes Buch, in dem man darüber etwas zu finden hofft. Und doch weisen die zunehmenden Fälle von Willenserkrankungen: Willensschwäche, Entschlußlosigkeit, unbeständiges Schwanken – darauf hin, daß hier etwas geschehen muß. Ganz ablehnen müssen wir nun hier alle Methoden, die zu äußerlich dem Übel zu Leibe gehen. Man kann durch Askese, durch Atemübungen, auch durch Einnehmen bestimmter Mittel auf den Willen wirken. Das kann eine Unterstützung der organischen Grundlage unsres Willenslebens sein. Aber es entspricht dem Geist unsrer Zeit, daß der Wille aus dem geistigen Zentrum des Menschenwesens, aus dem Ich heraus gebildet wird. Nur so ist er völlig gesund und dauernd stark. Dazu dient es sicherlich, wenn man sich aus der Freiheit heraus gewisse Genüsse versagt. Man wird wohl bemerken, wie dies den Willen in sich dichtet und festigt. Aber es muß ein freier Verzicht sein, der etwas Königliches an sich hat, der in jedem Augenblick könnte, aber aus der Natur des Geistes nicht will. Gewaltsamkeiten und von außen hereingetragene Lebensvorschriften bewirken leicht Stauungen, die nicht ganz gesund sind und mit Rückschlägen drohen. Das war in früheren Zeiten anders, wo das menschliche Ich noch wenig entwickelt war. Heute fördert in sicherer Weise nur der Verzicht, den das Ich in jedem Augenblick aus der freien Einsicht heraus wieder vollzieht. Solcher Verzicht hat für das Willensleben etwas ungemein Erfrischendes. Ablehnen müssen wir auch die Willenserziehung, die in den jesuitischen Exerzitien und verwandten Übungen vor uns steht. Dabei wird nicht in Abrede gestellt, daß sie den Willen in hohem Grad schulen und stärken. Sie brechen den Eigenwillen. Aber sie brechen auch den eignen Willen. Aus der Zeit, in der sie entstanden sind, und aus dem Zweck, dem sie dienen sollten, ist dies verständlich. Aber es fehlt ihnen die Achtung vor dem werdenden Ich und seinen individuellen Möglichkeiten und Aufgaben. Es fehlt ihnen die Schonung für die im Menschen heranreifende Freiheit. Es fehlt ihnen der Blick für das Königliche eines Willens, der aus einem Ich heraus wirkt. So entwickeln sie die Willenskraft wohl formal in hohem Grad, aber um den Preis, daß dann kein freies Ich da ist, das diesen Willen handhaben kann. Sie stecken den Menschen in eine Uniform. Er kann in dieser Uniform sein Selbstgefühl stark erleben und mehr zu sein glauben, auch mehr sein, als er sonst ist. Aber nichts führt mehr am wahren Menschheitsziel vorbei als eine Geistesuniform. Wenigstens in unserer Zeit.
In den jesuitischen Exerzitien wirken okkulte Menschheitserfahrungen mit tausendjähriger Kraft noch einmal, aber sie wirken auf eine Zeit, die anderes bedarf. Sie erhalten das Mittelalter unter uns, auch dort, wo sie durch ihren Pakt mit Modernismen auf viele Menschen bezaubernd wirken. Neben vielem andern, was über sie zu sagen wäre – zum Beispiel, daß sie Jesus den Erdenkönig verkündigen, statt Christus als Herrn des höheren Ich, daß sie dem Menschen ein ganzes Dogmensystem der Vergangenheit überstülpen, daß sie viel Egoismus und Materialismus pflanzen –, ist diese Ablähmung des freien Ich, aus dem allein der Wille hervorbrechen darf, für uns das Entscheidende. Wenn wir heute den Menschen neue Übungen des Willens nahelegen, so muß auf den Individualwert jedes einzelnen Ichs in viel höherem Grade Rücksicht genommen werden. Sonst entsteht eine Willensmasse, die von irgendeiner Macht geleitet werden kann, aber nicht die Fülle der Gottheit, die sich in freien Ichpersönlichkeiten offenbart. Was es auf diesem Wege an Gefahren gibt, muß überwunden werden. Die dritte Methode, über die wir hier nicht ausführlich sprechen, ist der Sport. Man müßte ja zwischen Sport und Sport viel größere Unterschiede machen, als der Laie denkt, der alle Sportarten in den „olympischen“ Wettkämpfen der Gegenwart vertreten sieht. Und kein Vorurteilsloser kann in Abrede stellen, daß es Sportübungen gibt, die der Selbstzucht und dem Selbstgefühl eine wohltätige Erziehung geben, die aus dem Willen Kraft, Raschheit, Beweglichkeit, Ausdauer herausholen. Daß dies alles über ein gewisses beschränktes Maß von körperlicher Ertüchtigung und allgemeiner Seelenerziehung nicht hinausführt, könnte deutlich ersehen werden aus der Art, wie die Sportgrößen hernach meist in den Alltagsberufen verschwinden, ohne dort irgend etwas von Bedeutung zu leisten. Zugleich ist man heute geneigt, die ungünstigen Nebenwirkungen des Sportbetriebs zu unterschätzen, Ehrgeiz, Sensationslust, Rekordhast, Veräußerlichung, Ungeistigkeit. Das Beste, was der Sport, wie er heute geübt wird, für die Seele leistet, ist die allgemeine Menschheitserziehung zur Anständigkeit gegen den Gegner, zur Selbstbeherrschung in der Anwendung von anerkannten Regeln, zur Achtung vor dem andern im Lebenskampf. Es wäre nötig, daß gegenüber dem Sportbetrieb, wie er aus dem Westen herüberkommt, in Mitteleuropa nicht wieder einfach beschämende Nachahmung sich zeigt, sondern ein Durchdenken der Probleme und ein Einordnen dieses Gebiets an seine richtige Stelle in der Menschheitsentwicklung. Dann würde man in einer andern Atmosphäre darüber reden können, wie das Erreichen körperlicher Ziele dem menschlichen Willen Sicherheit gibt, weil er das Errungene mit Augen sieht, wie die leibliche Erstraffung und Erstarkung dem Willensleben andere Grundlagen unterbaut.
Was wir hier erstreben, ist eine Willenserziehung, die von innen geschieht. Rudolf Steiner hat als einfache Übung folgendes empfohlen: man nimmt sich für den nächsten Tag etwas ganz Bestimmtes vor, das nicht durch den Tageslauf nahegelegt wird, sondern ganz aus dem freien Willen gewollt wird, zum Beispiel: ich werde morgen abend um sieben Uhr ein Buch von meinem bücherbesäten Schreibtisch nehmen und an seinen Platz im Büchergestell stellen. Auch etwas scheinbar Törichtes kann es sein, wie zum Beispiel: ich werde abends um sieben Uhr meinen Arm zum Fenster hinausstrecken. Solches Sinnlose kann den Vorteil haben, daß eben gar kein Druck von außen, auch nicht durch die Vernunft, auf die Handlung ausgeübt wird, sondern daß sie ganz aus dem freien Willen hervorgeht. Man wird bemerken, wie durch solche schlichten Übungen, wenn man es dahin bringt, daß sie uns aus dem Unbewußten heraus zur rechten Stunde einfallen, die freie Königskraft des Willens zum Erlebnis wird. Und alle Ahnungen ferner Menschheitszukunft können ein solches kleines Erlebnis umspielen. An andrer Stelle hat Rudolf Steiner geraten, daß man die üble Gewohnheit, weggelegte Dinge nicht wiederzufinden, nicht etwa dadurch bekämpfen möge, daß man sie regelmäßig an denselben Ort legt, sondern gerade umgekehrt dadurch, daß man sie immer mit Bewußtsein an verschiedene Orte legt und sich zu merken sucht, wo es ist. Es ist kein Zweifel, daß in einer Psychiatrie der Zukunft solche einfachen Mittel eine viel weiterreichende Heilwirkung zeigen werden, als man ihnen heute zutraut. Hier erstreben wir noch anderes. Und gut ist es, wenn wir erst einmal die verschiedenen Arten von Willen vor unsre Seele stellen. Es gibt einen starken Willen, der sich mit Kraft gegen Widerstände durchzudrücken vermag, aber leicht erlahmt, und es gibt einen langen Willen – der Ausdruck stammt von Nietzsche – der über lange Zeiten hinweg sein Ziel verfolgt und an widrigen Umständen wächst. Es gibt einen beweglichen Willen, der sich elastisch auf verschiedene Lagen einstellt, und es gibt einen starren Willen, der keine Fähigkeit hat, sich in seinen Mitteln zu wandeln. Es gibt einen bewußten Willen, der im hellen Licht der Erkenntnis lebt, und es gibt einen unbewußten Willen, von dem wir selber gar nichts wissen, obwohl er unsre Handlungen beherrscht. Es gibt einen Gewohnheitswillen, der aus angelernten oder angeerbten Seelenkomplexen heraus wirkt, und es gibt einen Oppositionswillen, der immer anders will, als es üblich ist. Es gibt einen Gemeinschaftswillen, der in dem Einzelnen mit großer Kraft da ist, wenn er ihn von andern geteilt weiß, und es gibt einen Extrawillen, der die Freude an sich selbst verliert, wenn ein anderer ja dazu sagt. Es gibt einen geraden Willen, der auf den nächsten Wegen sein Ziel erstrebt, und es gibt einen krummen Willen, der auf Umwegen seine Absicht zu erreichen sucht. Es gibt einen Außenweltwillen, der gar nicht daran denkt, daß es innerlich etwas zu erringen gibt, und es gibt einen Innenweltwillen, der nach außen am liebsten möglichst alles beim alten läßt, damit er innere Ziele erstreben kann. So ließe sich vieles sagen.
Die Augen müssen uns erst einmal aufgehen, was es auf diesem Gebiet alles gibt. Dann können wir uns selbst besser durchschauen. Die Gefahr des Willens ist, daß er ungeistig wird, daß er in seiner eignen Kraft weiterwirkt, auch wenn die Ansichten, aus denen er geboren ist, sich ändern müßten. Ungeistig ist der Wille auch immer, wenn er nicht von einer tiefen Einsicht getragen ist. Ungeistig sind besonders die beiden Abirrungen, in denen wir den Willen am meisten finden: daß er materialistisch ist oder daß er egoistisch ist oder beides. Im ersten Fall gibt er dem Irdischen eine zu große Bedeutung im Weltall, im zweiten Fall dem Einzel-Ich. Es ist wieder die ahrimanische und die luziferische Verirrung, wie wir sie überall vorgefunden haben. Das Ideal ist ein starker und langer Wille, der dem Menschen frei in jedem Augenblick zur Verfügung steht und der, in jeder Lage beweglich, für höchste Zwecke dauernd eingesetzt bleibt. Ihn gewinnen wir, wenn wir die übermenschlichen Widersachermächte bewußt ins Auge fassen, wenn wir die Christusziele ihnen gegenüber in unseren Willen aufnehmen, wenn wir auf das Christusvorbild schauen. So erfüllen wir in größtem Stil das Weltgesetz, daß der Wille wächst an großen Zielen, an großen Vorbildern, an großen Widerständen. Die stärkste Widersachermacht heißt unter den Menschen „das Böse“. Man sieht aber die „Sünde“ heute im Christentum fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Vergebung. So wahr alles sein mag, was man darüber sagt, so gibt es doch eine andre Anschauung vom Bösen, in der sich erst die letzten Tiefen – und Höhen des Christentums offenbaren. Da erkennt man das Böse als die Macht, die dazu da ist, damit das Gute werde. Wo es Böses nicht gibt, da gibt es im strengen Sinn auch kein Gutes. Das Böse muß zu seiner ganzen Größe und Furchtbarkeit erwachsen, damit sich daran das Gute zur vollen Kraft und Größe erhebe. Gelingt es nun, dem Bösen die Macht des Guten innerlich überlegen gegenüberzustellen, dann ist es möglich, das Böse zu wandeln. Und dann wird die Kraft des Widerstrebens umgeschaffen zu um so größerer Kraft des göttlichen Guten. Wer das Böse in seiner Widergöttlichkeit erkannt hat – der hat Gott am tiefsten erkannt. Wer das Böse in seiner Gottferne erfühlt hat – der weiß am besten, was Liebe ist. Wer das Böse in Auflehnungstrotz heftig gewollt hat – in dem können sich unerhörte Kräfte entbinden zum Gutestun. So will das Böse im stärksten Sinn entwickelnd wirken auf Geist, Gefühl, Wille des Menschen. Der Apostel Paulus ist mehrfach auf den Spuren solcher Gedanken gewesen. Er hat manche Fragen, die daraus sich ergeben, abgewiesen mit den Worten: „Sollten wir also tun, wie wir gelästert werden, und wie etliche sprechen, daß wir sagen: Lasset uns Übles tun, auf daß Gutes daraus komme? Welcher Verdammnis ist ganz recht!“ (Römer 3, 8). Seine letzte Entscheidung ist: „Laß dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem!“ (Römer 12, 21). Auf solche Gedanken konnte Paulus nur kommen durch das, was er an Christus sah: die Überlegenheit des Guten über das Böse, die immer mächtigere Offenbarung des Guten am Bösen, die Überwindung des Bösen durch das Gute – zum Beispiel in der Judasseele und in der Paulusseele selber.
Die Manichäer sind es gewesen, die – im Zusammenhang mit allem, was im Persertum als Kampf des Lichtes gegen die Finsternis vorgebildet war – das Böse in dieser großartigen Anschauung ins Auge faßten und damit eine ferne Menschheitszukunft vorbereiteten, wo solches Christentum sich einmal herausringen wird. Nach Rudolf Steiner wird dies geschehen auf der Grundlage, die vor allem das russische Volkswesen solchem Christentum darbietet. Aber heute schon ist es an der Zeit, daß Menschen da sind, die die Welt des Bösen in solcher Geistesgröße ins Auge fassen und sie nicht nur anschauen als das, was nicht sein soll, nicht nur als das, was vergeben werden muß, sondern als eine Welt, in der eine unabsehbare Fülle von tiefer Gotteserkenntnis, mächtiger Gottesliebe, heroischem Gottesdienst gleichsam vergraben ist. Dazu gehört ein unerschrockener Blick, der dem Bösen in seiner letzten Furchtbarkeit ins Auge schaut, eine starke Zuversicht, die in der Überlegenheit des Guten gegenüber dem Bösen sich sicher gründet, ein heldenhafter Entschluß, der nicht nur, wie vergangene Zeiten, nach einer „Theodizee“, nach einer „Rechtfertigung Gottes“ fragt angesichts der Bosheiten der Welt, sondern der die „Rechtfertigung Gottes“ selbst in die Hand nimmt und vollbringt durch seine eignen Taten: indem er dem Bösen das Gute abringt. Solche Menschen, wenn sie in Reiche des Bösen hineingestellt sind, fühlen sich gerade am rechten Ort. Sie wissen, daß gerade dort starke Kämpfer des Guten nötig sind. Sie sehnen sich nicht nach einer Welt äußeren Friedens und stillen „Glücks“, solang die Menschheit so aussieht wie jetzt. Sie gestalten ihr eigenes Wirken, auch wenn nicht viel Erfolg zu merken ist, als Mitarbeiter an der göttlichen Überwindung des Bösen. Die grundlegende Erkenntnis Rudolf Steiners, deren wir schon öfter gedachten, ist hier im einzelnen aufhellend hilfreich: daß die Widersachermacht der Weltentwicklung in zwei Abirrungen da ist, einerseits in der Macht, die den Menschen im Egoismus einsperrt und ihn, auch in den Formen höherer Geistigkeit, nach dem persönlichen Wohlsein streben läßt, andrerseits in der Macht, die den Menschen hinlenkt auf das Irdische und ihn im Erdensein mit seiner Schwere und Verfinsterung gefangen hält. Es sind die beiden Mächte, die im Neuen Testament noch deutlich unterschieden sind als der Versucher (diabolos) und als der Fürst dieser Welt (satanas). Je klarer der Mensch diese beiden Grundmächte vor sich sieht und sie hindurch erkennt durch äußere Verkleidungen und vielgestaltige Vermummungen, um so mehr fühlt er sich im Weltendienst als Kämpfer der Gottheit. Solches Wissen hat nichts zu tun mit spukhaftem Teufelsaberglauben: es ist ein Aufwachen gegenüber den Welthintergründen. Man kämpft um Mensch und Erde „mit Fürsten und Gewaltigen“, nicht mehr „mit Fleisch und Blut“. Man weiß, daß größte Wachheit diesen Mächten gegenüber notwendig ist. Man fühlt, daß der Sieg über sie in uns da ist, daß er entscheidend erkämpft ist durch Christus.
Der Kampf, von dem wir sprechen, fordert das höchste Heldentum, für das wir uns als Menschen entscheiden können. Suchen wir nach einem Meditationsbild, in dem wir es in uns beleben können, so finden wir vielleicht im Neuen Testament zunächst keines, das uns ganz entspricht. Wir könnten an die Versuchungsgeschichte denken. Da uns aber das Böse zunächst in den Menschen begegnet und nicht in Geistern, da es uns in den Menschen als ein inneres Siechtum entgegentritt und nicht oder noch nicht so sehr als bewußtes Widerstreben, da die Menschen dem Bösen mehr verfallen sind, als daß sie sich ihm verschworen haben, so läßt sich alles, was zunächst unsre Aufgabe ist, anschließen an das dritte „Zeichen“ Christi im Johannesevangelium, an die Heilung des Gichtbrüchigen (Joh. 5, 1-16). Die Gicht hat einen nahen Zusammenhang mit dem Sündenwesen der Menschheit, das im Erdenleben sich verhärtet. Und Christus sagt auch ausdrücklich zu dem Gichtbrüchigen: „Sündige hinfort nicht mehr, auf daß dir nicht etwas Ärgeres widerfahre!“ Deutlich sieht man wieder wie in einem Wahrbild das alte Religionswesen vor sich, wenn man die Schilderung des Teiches Bethesda betrachtet. Die fünf Hallen hat man in alter Zeit mit den fünf Büchern Mosis in Beziehung gebracht. Jedenfalls wohnten die Menschen der vorchristlichen Religionen in festen religiösen Formen wie in Häusern, die ihnen gebaut waren. Wenn sie „Sünde“ begingen – im Haus ihrer fünf Sinne, könnte man auch sagen, dann gab es Waschungen und Reinigungen, die sie von ihrer Befleckung befreiten. Doch die Macht dieser Heilkräfte ließ nach, wie dort die Kraft des Teiches nur noch gering war, und der Egoismus drang in dies Religionswesen ein, wie dort die Kranken sich selbstsüchtig die Hilfe streitig machten. Eine neue Art der Hilfe kommt. „Ich sage dir!“ Christus sagt es oft bedeutungsvoll im Evangelium. Aus seinem reinen Ich bricht die Kraft hervor, die früher in dem göttlich bewegten Wasser war. Diesem Ich gilt es zu „glauben“, das heißt: dem Eindruck, den man von ihm empfängt, wirklich zu folgen. Solcher Glaube an das „Ich-bin“ ist die Macht, die siegreich kämpft, sowohl mit der niederziehenden Erdenmacht wie mit der weglockenden Selbstsuchtmacht, mit dem Satan wie mit dem Diabolos, mit Ahriman wie mit Luzifer. Man kann die beiden Mächte und das, was gegen sie zu geschehen hat, in den Worten finden, die Christus dort zu dem Gelähmten spricht. „Steh auf“ – das ist die Kraft der Aufrichtung, die vom Ich des Christus ausgeht und der niederzwingenden Erdenmacht entgegentritt. „Nimm dein Bett und wandle“ – das ist die Kraft der neuen Erdverbundenheit, die der weglockenden Selbstsuchtmacht begegnet. Was von uns auszugehen hat gegenüber der „Sünde“, ist gerade diese doppelte Kraft. Wir haben den „Sünder“ nicht anzusehen als den Schlechten, sondern als den Siechen. Darum haben wir ihn nicht niederzuschlagen, sondern aufzurichten aus dem Erdenstaub. Und darum haben wir ihn ferner nicht bloß zu befreien von seinem Gebrechen, sondern ihm zu helfen, daß er „sein Bett heimträgt“, – sein Schicksal wandelt in Kraft.
Nicht Vorwürfe haben wir zu machen, sondern die heilenden und helfenden Kräfte wirken zu lassen. Nicht bloß Vergebung der Sünde haben wir zu verkündigen, sondern Auferstehungskraft auszuströmen. Die Sünde ist die große Lähmung des Menschen. Wo der Mensch die Heilmacht in sich einläßt, die ihn aufrichtet, da wird sie auch zur Kraft, die ihm die Bahre tragen hilft. Man wird das ganz andre Verhältnis zur „Sünde“ erst allmählich erkennen, das in diesen Worten ausgesprochen ist. So stehen wir wieder zwischen Ost und West. Im Osten empfindet man eigentlich schon alle Natur als Sünde und möchte den Menschen ganz herauslösen aus der Erdverbundenheit. Aber damit erkennt man gerade nicht den vollen Ernst des Bösen, das dem Menschen seine wahre Natur verdorben und ihn der Krankheits-Todesmacht überliefert hat. Im Westen sagt man durchaus nicht, daß schon die Natur Sünde sei, sondern umgekehrt ist man geneigt, alle Sünde als Natur aufzufassen und zu entschuldigen. Damit bringt man den Menschen noch mehr um den Ernst seiner Weltlage. Wenn von unsrem Wesen der Ruf ausgeht: Stehe auf und wandle in der Kraft, die dir deine Vergangenheit gibt! wenn dies in alle einzelnen Worte und Taten hineinklingt, dann lebt in uns das sieghafte Verhalten gegenüber dem Bösen. Sowohl gegenüber dem sexuell Verirrten, wie gegenüber dem Lügner, wie gegenüber dem Egoisten und Materialisten ist dieser Ruf: Stehe auf und wandle! die Christusbotschaft. Wir sehen also die Menschheit im Geist vor uns, so wie sie uns dort geschildert ist (Joh. 5), als eine Menge von Blinden; Lahmen, Tauben, Verdorrten, mit allerlei Seuchen Belasteten. Wir sehen sie noch nicht als eine Macht bewußten Wider-Gott-Seins. Denn das sind die Menschen in den allermeisten Fällen heute nicht. Aber eine Schar von Kranken, die sich selber nicht helfen können. Sie wohnen noch in alten Häusern, die ihnen vergangene Zeiten gebaut haben. Aber das alte Religionswesen, sinnbildlich dargestellt in dem Teich „Gnadenhaus“, hilft ihnen wenig mehr. Statt des Wassers kommt jetzt „das Wort“. Aber dies Wort muß aus dem Ich ertönen. Und dies Ich muß aus Christus leben. Zu wissen, daß der wahre Weltkämpfer nicht dazu da ist, den Bösen niederzuschlagen, sondern gerade aufzurichten aus dem Bösen, das ist das erste Christusgeheimnis im Kampf gegen die Dunkelmacht. Das andre ist dies, den Bösen nicht nur zu erlösen von dem, worunter er litt, sondern ihn dadurch zu stärken und so das Böse selbst zu erlösen. Sünden werden lehrende Schicksale. Lasten werden lebendige Kraft. „Steh auf, nimm dein Bett und wandle!“ Ohne daß viel von „Sünde“ überhaupt gesprochen wird, lebt so in uns die göttliche Macht, die noch einmal vollbringt, was am Kind geschehen ist, aber nun geistig-moralisch: Aufrichten und Gehenlernen. Das ist der rechte Kampf gegen die „Sünde“.
Indem wir auf diese Macht schauen, die durch uns wirken will, werden wir frei von Pharisäerei, von Selbstüberhebung und Vorwurfswesen. Je stärker das Böse uns entgegentritt, um so mehr wird die Auferstehungskraft in uns herausgefordert. Das ist eine gründlich andre Art, auf das Böse zu wirken, als durch Gesetz und Gericht. Nicht mehr Moses ist da, sondern nur Christus. In fernen Jahrhunderten wird in der Weltgeschichte einmal der ganz große Kampf gegen das Böse kommen, wenn auf der Seite des Bösen mehr mit schwarzer Magie gewirkt wird. In dem, was hier gesagt ist, liegt der Keim einer Selbsterziehung zur weißen Magie. Das Christentum würde ganz anders in der Welt stehen, wenn diese Gesinnung in die Menschen einflösse. Und wer die Worte auf sich wirken läßt, die Christus im Anschluß an diese Tat der Aufrichtung noch gesprochen hat (Joh. 5), der wird solche Gesinnung immer mehr in sich ausbilden. So ist Christus selbst in die Welten des Bösen hineingegangen. Man braucht nur eine Geschichte zu betrachten wie die von Zachäus (Luk. 19), so erkennt man das Charakteristische des Christuskampfes. Da wird zunächst überhaupt kein Wort gesprochen über die Vergangenheit des Zachäus. Alles geschieht durch Wesensoffenbarung. Diese Wesensoffenbarung aber ist unwiderstehlich. Nun richtet sich Zachäus auf aus seiner Vergangenheit durch eine Tat, in der er die Vergangenheit umschafft zu Wohltun. Dieselbe Art zeigt Christus in der Geschichte von der Ehebrecherin, von der Großen Sünderin, vom Verlorenen Sohn und in vielen anderen Erzählungen. Großartig befreiend kann es sein, diese Christusart gegenüber dem Bösen lebendig zu empfinden. Das Reden über die „Sünde“ ist eine zweite Angelegenheit und oft nicht notwendig. Wo wir Böses sehen in der Welt, da mögen wir hinter dem einzelnen Bösen immer die ungeheure Welt des Bösen sehen, die zu bekämpfen ist, und unsere Mitkämpferschaft uns verantwortlich bewußt machen. Dann mögen wir im Blick auf Christus die Haupt-Losung uns in Erinnerung rufen: dem Bösen muß begegnet werden durch die Doppelmacht, die den Menschen von innen her aufrichtet nach oben und die das Böse in Lebenskraft verwandelt. So stehen wir nach allen Seiten richtig im Weltenkampf drinnen. In ungeahnter Größe können wir diesen Willenscharakter durch unsere Meditation gewinnen. – Wenn wir den Himmel auf die Erde bringen wollen (erstes Zeichen), so stellen wir uns entgegen der Welt der Krankheit und verwandeln sie in Heil (zweites Zeichen), so stellen wir uns entgegen der Welt der Sünde und verwandeln sie in Auferstehungskraft (drittes Zeichen). Nun kommt uns eine neue Welt entgegen: die Welt der Not (Joh. 6, 1-15). Es ist eine Wohltat für unsere Zeit, daß wir auch diese Geschichte von der Speisung der Fünftausend durch Christus haben. Denn unsre Mitbrüder aus den Tiefen des Daseins fragen vor allem: Was habt ihr für ein Wort gegen unsre Not? Sie leiden an den unmittelbaren Lebensnöten und starren meist ausschließlich auf die Linderung dieser Lebensnöte hin. Was sie den „Christen“ vorwerfen, ist dies, daß man diese Lebensnöte gar nicht sieht, daß man sie, wo man sie sieht, nicht ernst genug nimmt, daß man, wo man sie ernst nimmt, mit allzu kleinen Mitteln gegen sie ankämpft. Da ist es wichtig, eine solche Geschichte zu betrachten wie die von der Speisung der Fünftausend.
Christus sieht die Not. „Wo nehmen wir Brot, daß diese essen?“ Er hält keine Reden darüber, wie nebensächlich die irdischen Güter sind gegenüber den himmlischen Gütern. Er tadelt nicht den Leichtsinn der Massen, die nicht berechnet haben, daß man sich mit Speise versehen muß. Er knüpft seine Hilfe nicht an irgendwelche Bedingung. Er hilft. Er sieht Menschen, die darben, und er gibt ihnen das, was sie brauchen: nicht einmal nur das, was er selbst für das Nötigste hält. Würden die Menschen diesen Christusblick haben für das Darben der Menschen, so wäre das Beste zur Lösung der sozialen Frage schon geschehen. Ja die soziale Frage wäre, so wie sie heute da ist, nie entstanden. Sie ist eine Anklage gegen das Christentum, wie es blind und schwach unter den Menschen gelebt hat. – Ist der Christusblick wirklich das Wesentliche gegen die soziale Not? Wir brauchen nur an die eine Tatsache zu denken, wie die Reichen und die Armen in den Großstädten sich in verschiedene Stadtviertel verteilt haben. Die Reichen könnten gar nicht leben, wie sie leben, wenn sie die Not der Armen täglich um sich hätten. Sie müssen sich Schutz schaffen, daß sie nicht sehen, was auch noch da ist. Egoist kann man nur sein, wenn man gewollt blind ist. In dieser Unwahrhaftigkeit liegt ein tiefes Wissen von der Zusammengehörigkeit der Menschheit. Jeder ist in irgendwelchen Lebenstiefen so mit den andern verbunden, daß er „glücklich“ trotz der Not der andern nur sein kann, wenn er unbewußte oder bewußte Gewaltmittel der Verblendung anwendet. Es ist darum ein echter Christusentschluß: Ich will die Not sehen, die da ist! Dieser Entschluß bekennt sich zu einer Gesinnung, die nicht glücklich sein will, wenn sie andre unglücklich sieht. Er erhebt sich über die eigene Not und lebt mit der allgemeinen Not. Er entsagt endgültig dem Egoismus und nimmt Abschied von allem Christentum, das den Einzelnen aus der Menschheit herauslöst zu seiner Privatseligkeit. Er fühlt instinktiv – und darum schreckt der Mensch oft zurück –, daß man der Größe der Menschheitsnot nicht gewachsen ist, wenn man sie wirklich sieht, und daß man darum dankbar sein muß, wenn man nicht alles sieht, damit man leben kann, um zu helfen. So viel man innerlich von der Welt Christi in sich hat, von dem „Himmel“, so viel wird man auch von der Weltennot auf sich nehmen können. Das ist dann nicht ein „Glück“, wie es sich die Menschen sentimental-bürgerlich vorstellen, aber eine höhere Welt, die von sich selbst leben, die sich austeilen und hinschenken kann. Man wird erst die dringende Notwendigkeit des Meditierens ganz lebendig empfinden, wenn man täglich fühlt, wie man den Himmel in sich stärken muß, um der Erde und ihrer Not nicht zu unterliegen. Dann kann man immer stärker auf die Not losgehen und immer umfassender es mit ihr aufnehmen. – Was hat Christus den Menschen nun wirklich geboten zur Abhilfe der Not? Damit stehen wir vor den eigentlichen Schwierigkeiten unsrer Erzählung. Man hat sich an ihr mit allerlei Trivialitäten versucht. Zum Beispiel hat man gesagt, der mutige Glaube an die Vorsehung, der Christus dazu führte, das Volk sich lagern zu lassen, habe in allen Anwesenden die Gesinnung der Brüderlichkeit und der sorgenfreien Mitteilsamkeit erweckt – und siehe da, es reichte.
So wenig eine solche Erklärung an den Kern der Geschichte rührt, so mag sie doch auch eine Seite der Sache treffen, und jedenfalls ist es im sozialen Zusammenleben der Menschen so, daß allermeist überhaupt keine Not da wäre, wenn nicht Egoismus und Engherzigkeit, blinde Sorge und Angst die Hände geschlossen hielten, die geben könnten. In der Christengemeinschaft haben wir es oft erlebt, daß im Fall der Not immer da war, was man brauchte, wenn man nur den Mut hatte, „den kommenden Tag für das Seinige sorgen“ zu lassen. Fragen wir Rudolf Steiner, der allein für die Gegenwart Brauchbares über diese biblischen Geschichten zu sagen wußte, was denn eigentlich damals geschehen ist, worin das Außerordentliche bestand, das sich begeben haben muß, wenn man Christus daraufhin zum König machen wollte, so erfahren wir, daß wir nicht an eine wunderhafte Vermehrung der Brote zu denken haben, sondern an eine von Christus ausgehende Lebenskraft, durch die die Menschen gespeist wurden. Wiederholt schon kamen wir diesem Geheimnis nahe, daß der Mensch die Lebenskraft, deren er bedarf, nicht nur aus der Speise zu holen vermag, sondern unmittelbar aus dem Weltall. Wenn dies auch heute nur in beschränktem Maße möglich ist, so weisen doch Erscheinungen wie Therese von Konnersreuth auf solche Tatsachen immer wieder hin. Uns scheint auch, daß ein Bekenntnis ganz ernst genommen werden muß wie dies:
„Meine Speise ist die, daß ich tue den Willen des, der mich gesandt hat“ (Joh. 4, 34). Daß Christus nicht nur selbst satt werden, sondern auch andre sättigen konnte, wenn auch eben im Ausnahmefall, sollte von da aus nicht verwunderlich sein. Damit kämen wir aber doch wieder nur auf eine Abhilfe, die von der Armut mit Entrüstung abgelehnt würde. Man würde sagen: Ihr weist uns also darauf hin, daß es Geistesdinge gibt, mit denen wir unseren Hunger stillen sollen! Damit verhüllt ihr bloß wieder, daß ihr die materiellen Güter für euch behalten wollt! – So sehr es also wahr ist, daß dem Menschen die Erdengüter in dem Maß unwichtiger und unwesentlicher werden, als er sich aus dem Geist heraus zu nähren vermag, so wenig dürfen wir an diesem Punkt auch nur für uns selber stehenbleiben, wenn wir mit unserer Zeit leben und ihr die Hilfe bringen wollen. Wir müssen tiefer in die Geschichte eindringen. Christus sah die Not. Und indem er sie sah und lebendig fühlte, erweckte er in sich die Kräfte, durch die sie überwunden werden konnte. Bei diesem ganz Allgemeinen bleiben wir vorerst stehen. Der Mensch hat in sich eine unabsehbare Fülle von Möglichkeiten. Er hat in sich alle Mittel, durch die alle Not der Menschheit überwunden werden könnte. Er muß nur wollen. Er hat die Mittel in seinem denkenden Geist. Und er hat sie in seinem helfenden Wesen. Das Weltall ist ein großes Arzneireich, in dem alle Heilmittel da sind. Der Mensch soll sie finden. Dies Zutrauen, daß der Christus in uns das Heilmittel gegen jede Not aus sich heraus schafft, wenn wir nur diese Not wirklich in uns hineinnehmen – so gewiß der menschliche Leib aus sich heraus das Heilmittel gegen jede Krankheit gebiert, wenn er stark genug ist –, dies Zutrauen müssen wir in uns erwecken. Wir haben damit keine Einzelhilfe gegen Wohnungsnot, Arbeitsnot, Ehenot. Das kann man auch von einer Meditation unmittelbar nicht erwarten. Aber wir haben den Inspirationsquell, aus dem uns alles wird, was wir brauchen. Und wir haben damit viel mehr, als wir von ferne überschauen. So mögen wir uns für unsere sozialen Aufgaben in der Welt aufwecken und erkraften, indem wir in der Meditation uns sagen: Stelle dir die Menschheit vor, die dort lagert auf dem Berg. Stelle dir die tausendfach bittenden Augen und darbenden Seelen vor. Gelobe dir in diesem Bild, daß du niemals deine Augen von irgendeiner Not der Menschheit abwenden willst, daß du mit wahrhaftigem Blick sehen willst, was in der Menschheit vor sich geht, auch wenn es deinem Leben weh tut. Gelobe dir, daß du es hineinnehmen willst in deine Seele, die für die Not der Menschen da ist, an sie denkt, gegen sie kämpft. Stärke dich in der Zuversicht, daß Christus in dir aus seinem Wesen heraus das Heilmittel gegen die Not findet. Bringe dir zum Bewußtsein, daß du in diesem Geist das Inspirationszentrum hast, aus dem heraus allein die wahre Hilfe kommen kann. Verwandle Not in Liebe. Nicht in blinde Augenblicksliebe, nicht in eitle Almosenliebe, sondern in Heiland-Geist, der nur größer und stärker wird, je mehr die Not ihn umbrandet. Dann wirst du die Hilfstat Christi dort auf dem Berge auf deine Weise vollbringen und das Höchste finden, was von dir überhaupt ausgehen kann gegen die Not der Menschheit.
Wir dürfen gewiß sein, daß wir, wenn in solcher Meditation auch keine Einzelratschläge gegeben sind, doch Allerbestes tun, was zur Lösung der sozialen Fragen geschehen kann. Es könnte sich um diese Meditation ein Kern von „religiösen Sozialisten“ bilden. Eine unerhörte Kraft der sozialen Gesinnung könnte von ihr ausgehen: Wachheit, Begeisterung, Aushaltekraft. Lebendige Inspirationen in Fülle könnten aus ihr geboren werden. Eine Wandlung im Christentum selbst könnte beginnen, so daß die Menschen mehr vom Christusgeist ergriffen werden und den Kampf gegen die sozialen Übelstände nicht Einzelnen und ihren kleinen Mitteln überlassen, auch nicht Interessengruppen und ihren äußerlichen Mitteln, sondern im Sinn des ChristusWeltkampfs aufnehmen. Nicht so, daß sich das Christentum verliert an irgendeine politisch-wirtschaftliche Form des heutigen Sozialismus und ihr zulieb verkümmert, sondern so, daß es die lebendige Willenskraft wird in allem, was im Kampf gegen die große Menschheitsnot geschieht. Wir brauchen ein größeres Christentum. Wir brauchen ein soziales Christentum. Wir brauchen ein aktiv ins Äußere gehendes Christentum. Hier ist es. Christus selbst ist in ihm, will durch unsere Augen die Menschheitsnot schauen, sich in unsrer Seele regen als notbezwingender Helfer. –
11. Brief Mystik und Meditation – Das Meditieren im Neuen Testament – Das Reich der Schwäche – Furcht aller Art – Hilfe dagegen – Weltendunkel und Geistesblindheit – Auftun des Auges – Der Kampf des Lichtes gegen die Finsternis
Nehmt die Gottheit auf in euren Willen Und sie steigt von ihrem Weltenthron! Dies Wort unsres hochgemutesten Dichters, Schiller, könnte als Losung über diesen letzten Meditationen zur Willenserziehung stehen. So lang herrscht die Gottheit über uns, als sie nicht in uns herrscht. Dann aber herrschen wir mit ihr. Daraus entsteht die königliche Lebensstimmung, die wir aus diesen Meditationen empfangen. Meister Eckehart spricht einmal davon, er wolle „in Ewigkeit mit Gott desselbigen Werkes walten“. Das Hochgefühl, aus dem heraus solche Worte gesprochen sind, kann man nachempfinden in jeder Meditation, wie wir sie hier für den Willen in Vorschlag bringen. Ja in diesen Schluß und Entschluß kann jede Meditation ausklingen. Man fühlt sich als Mitarbeiter und Freund der Götter. Aber gerade dies Gefühl gibt, im Blick auf unsre schwache Kraft, die rechte Bescheidenheit. Damit ist auch Antwort gegeben auf eine Frage, die öfters gestellt wurde: „Ist es nicht Mystik, was hier getrieben wird?“ Man versteht heute unter „mystisch“ so ziemlich alles, was unklar gefühlsmäßig ist. Einst aber war Mystik ein ernster Weg, durch Versenkung in die eigene Seele den göttlichen Urgrund zu finden und mit ihm eins zu werden. Das ist möglich, wenn der Mensch die Sinneneindrücke auszusperren vermag. Hohe Glücksgefühle durchströmen dann sein Inneres. Die Mystiker aller Zeiten erzählen es in Hymnen. Aber das Göttliche, das der Mensch so findet, bleibt allgemein. Einheit, Unendlichkeit, Seligkeit: das sind die Freuden, von denen die Lieder der Mystiker in allen Völkern und Jahrhunderten erfüllt sind. Wir suchen im Menschen nicht die Seele, sondern das Ich. Wir suchen dieses Ich nicht im dunkel Empfundenen, sondern erstreben seine Erleuchtung durch das Ich des Christus. Wir suchen nicht die Einheit mit dem Weltengrund in der Seligkeit, sondern suchen die Erfüllung dieses Ich mit dem göttlichen Weltwillen, der in Christus da ist. Eine andere Frage lautet: „Wo ist denn im Neuen Testament von Meditation die Rede? Christus spricht eindeutig und bestimmt nur vom Gebet und wünscht von seinen Jüngern nur das Beten!“ Auf diese aus dem bisherigen Christentum heraus gestellte Frage haben wir drei Antworten. Jeder weiß das Wort, das von Maria erzählt wird: Maria behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. Was Meditieren ist, könnte man kaum genauer sagen. Man „hält“ ein Wort in seiner Seele und „bewegt“ es – und bewegt sich mit ihm. Ein Bild dafür ist der Edelstein, den man im Glanz der Sonne hin und her bewegt, so daß er in seinen Einzelheiten offenbar und die Sonne in ihm sichtbar wird.
Wenn ein Mensch das Christuswort: „Ich – bin – das – Licht – der – Welt“ so in seiner Seele sich bewegen läßt und sich mit ihm bewegt, wenn er es in seiner Seele ebenso da sein läßt, wie der Edelstein im Auge da ist beim Anschauen, dann meditiert er. Eben dies Marienwort kann eine Hilfe sein zum Meditieren. Wir haben noch eine zweite Antwort. Christus sagt im Johannesevangelium nach der Lutherübersetzung: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger.“ Wenn man den Grundtext aufsucht, so steht mehr da. Luther hat ja das Johannesevangelium als das „einige zarte Hauptevangelium“ gepriesen. Aber gerade für die johanneischen Geistestiefen konnte der Blick damals noch nicht überall erwacht sein. Übersetzen wir, was dort steht, in unsere Sprache, so müßten wir sagen: „Wenn ihr wohnt in meinem Lebenswort, dann seid ihr in Wahrheit meine Jünger.“ Umständlicher noch, aber auch eindringender könnte man sagen: „Wenn ihr Dauerwohnung habt in dem göttlichen Schöpferwort, das ich bin, dann seid ihr in Wahrheit lernende Schüler meines Ich.“ Je tiefer man sich mit dem Johannesevangelium beschäftigt, besonders auch mit den Abschiedsreden, um so klarer tritt hervor, wie Christus als den Weg zum Himmel für die jünger sein „Wort“ bezeichnet, in Übereinstimmung mit der Offenbarung vom „Wort“ am Anfang. Gemeint ist aber nicht nur ein Wort, das predigend verkündigt wird, sondern das Wort, das klingt und schafft in der Seele, das Wort, in dem Christus selbst lebt und wirkt. Es ist ein Schöpferwort, nicht nur ein Verkündigerwort. Meditieren heißt nichts anderes als: das „Wort“ da sein lassen und für das Wort da sein. Das Wort schaffen lassen und sich im Wort wandeln. Dies ist die Erfüllung des letzten Gebotes, das Christus seinen Jüngern gab, das Gehen des Weges, den er zeigte, das Weiterleben und Innewohnen des Christus in den Seelen. Wie ist es aber mit dem Vaterunser, das Christus seinen Jüngern als ihr neues Gebet gegeben hat? – Gerade hierauf bezieht sich unsere dritte Antwort. Das Vaterunser ist ausgesprochen ein Meditationsgebet. Es ist die ideale Vereinigung von Gebet und Meditation. Es ist in seinem ganzen Wesen geradezu die Erziehung zu dem, was uns als Meditationsgebet vor der Seele steht. Frieling hat in seinem Aufsatz über den „Aufbau des Vaterunsers“ („Die Christengemeinschaft“, August 1929) davon geredet in bezug auf die ersten drei Bitten. Es ist wirklich so, daß eine ernsthafte Beschäftigung mit dem Vaterunser einfach ins Meditieren hineinführt. Man hat dann zuerst die Empfindung, daß man nicht das ganze Vaterunser immer auf einmal beten möchte, geschweige denn oft hintereinander, sondern gerade im Gegenteil eher eine Bitte täglich, ja eine der drei ersten Bitten tagelang, wochenlang. Schließlich ist man ganz von der Stimmung durchdrungen: Wenn ich nur ein einziges Mal die erste Bitte ähnlich fühlen könnte, wie sie in der Seele Christi erklungen ist! Man arbeitet daran, daß die Seele so wird, daß sie diese Bitte wirklich sprechen kann, man läßt die Bitte selbst daran arbeiten. Dann ist man mitten in der Meditation.
Zu Frieling möchte ich noch hinzufügen, daß es mit den letzten Bitten kaum anders geht. Wer mein Vater-unser-Buch in die Hand nimmt, der wird sehen, wie die Beschäftigung mit der vierten Bitte: „Unser täglich Brot gib uns heute“ immer mehr dahin führt, zu erkennen, daß hier nicht so sehr um das tägliche Brot gebetet wird als um den neuen Menschen, der nach allen Seiten richtig im praktischen Leben steht, der mit allen Eigenschaften für den Alltag ausgerüstet ist. Als ich selbst noch wenig wußte, was Meditation ist, nötigte mich die Bitte schon vor dreißig Jahren, im Religionsunterricht sie den Kindern auf solche Weise nahezubringen. Aber auch die Bitte „Vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern“: man wird am zweiten Satz der Bitte, wenn man ihn ernst nimmt, bald merken, welche Geisteserziehung er uns zumutet. Und daß der erste Satz „Vergib uns unsere Schulden“ die göttliche Vergebung nicht erst herabbittet, sondern sich zueignen will, hat schon Luther ausgesprochen. Die Bitte „Führe uns nicht in Versuchung“ würde den Menschen ebenfalls verständlicher werden, würde zu weniger dogmatischen Fragen Anlaß geben und den Menschen näher kommen, wenn man sie mehr meditativ nähme, wenn man in ihr weniger einen eigenen Wunsch ausgesprochen sehen wollte als eine göttliche Geisteswahrheit anschauen: das Sich-drinfühlen in der göttlichen Führung. Schließlich die letzte Bitte „Erlöse uns von dem Bösen«: niemand wird glauben, daß sie sich auf sein Bitten hin von heute auf morgen erfüllen kann. Ein Weltenziel wird über uns aufgerichtet und ein göttlicher Wille erlebt, zu dem man mit dem ganzen Menschen ja sagt. Ja, das Vaterunser ist ein Meditationsgebet. Es führt durch seine ganze Wesensart vom bloßen Bitten zum Meditieren – und damit zu einer höheren Gestalt des Gebetes. Wenn Christus auch unser Wort „meditieren“ nicht gebraucht hat: sein Wille ist klar, seine Erziehung offenbar. Die Menschen würden weniger gegen das Meditieren sagen können, wenn sie das Beten besser kennten, das Beten vor allem, das das eigentliche Beten ist, in dem alles Bitten ausklingen will. das Anbeten. Vom Anbeten als dem Ende der Weltgeschichte und als dem Leben der Himmel redet großartig die Apokalypse. Es ist schade, daß wir für die Meditation kein deutsches Wort haben. Die richtige Übersetzung wäre – wenn dies Wort nicht durch eine allzu enge Inanspruchnahme belastet wäre –: Andacht. Auch alle Meditation, die mit Äußerem und Äußerlichem beginnt, wie es für den Gegenwartsmenschen oft das einzig Mögliche und Ehrliche ist, will schließlich nichts anderes sein als: An-dacht. Die An-dacht führt zur An-betung, das heißt: zu einem Bitten, das mit dem ganzen Wesen erfolgt und im Grund um den Himmel geht. – Wollen wir die Willenserziehung weiterführen, so schließt sich eine besonders wertvolle und befreiende Übung an das nächste Zeichen Christi an: das Wandeln auf dem Meer (Joh. 6, 16-21).
Was ist damals den Jüngern geschehen? Wir müssen es durchschauen, wenn unsere Willensübung wirksam werden soll. Das Volk wollte Christus zum König machen. Die Jünger taten nicht mit. Aber sie konnten auch Christus noch nicht nahe sein. Wenn er entwich auf einen Berg, „er selbst allein“, so ist das auch ein Bild dafür, daß er im Innersten ganz einsam war. Aus der Volksseele, aus der Gruppenseele hatten sich die Jünger herausgelöst. Den neuen Anschluß hatten sie noch nicht gefunden. In solchen Zeiten fällt Furcht und Einsamkeitsgefühl, tiefe innere Unruhe auf die Seele. Mancher mag es erlebt haben, wenn er von den Anschauungen seiner Familie sich lösen mußte und allein seinen Weg suchte. Er glich den Jüngern, die im Sturm von den Wogen des Lebens sich hin und her geworfen fühlen und doch nicht zurück wollen und zurück können, sondern einem andern Ufer zustreben, das sie noch nicht sehen. Die Erscheinungen, die da in der Seele auftreten, können wir zusammenfassen in einem Wort, das wieder ein großes Gebiet der Not und des Übels umfaßt: die Schwäche. Aus solcher Schwäche kommt das mangelhafte Eintreten für das, was man als wahr erkannt hat. Aus solcher Schwäche kommt das Einsamkeitsgefühl. Aus solcher Schwäche kommt die vielgestaltige Furcht, die in der Menschheit herrscht und die Seelen mehr plagt, als nach außen sichtbar wird: Furcht vor der Zukunft, Furcht vor den Mitmenschen, besonders vor denen, die stärker sind als wir, Furcht vor uns selbst und vor dem, was in der Tiefe unsrer Seele lebt, Furcht vor Krankheiten oder außerordentlichen Ereignissen, Furcht vor dem Tod und dem Schicksal nach dem Tod, Furcht vor allerlei Unbekanntem, das uns umlauert. Maeterlinck ist ein Dichter dieser heimlichen Furcht in der Menschenseele gewesen. Aber erst, wenn man frei zu werden beginnt von der Furcht, merkt man, wie die Seuche der Furcht grassiert unter den Menschen und welche Zerstörungen sie bis in das Leibliche hinein anrichtet. Aus der Furcht kommen tausend Schocks, kleine und große, bewußte und unbewußte, die den Menschen krank machen und seine Kraft lähmen. Es ist not, zu wissen von dieser verborgenen Menschheitsnot, wenn man die nachfolgende Übung ernst nehmen will. Aber unsre Frage ist zunächst: Wie wird man frei von Furcht? Gibt es eine vollkommene Furchtfreiheit? Von der naturhaften Tapferkeit reden wir nicht. In ihr ist Blindheit, Gefühlsrausch, Körperkraftempfindung, Naturschwung und ähnliches. Sie ist nicht gesichert, daß sie nicht plötzlich in Furcht übergeht, wenn ihr die Augen vor der wirklichen Gefahr aufgehen oder wenn die Naturgrundlagen zusammenbrechen. Oft fällt mir die Geschichte ein von den beiden Offizieren, von denen in einer Stunde der Gefahr der eine zum andern sagte: „Aber, Herr Kamerad, Sie zittern ja! Sie haben Angst!“ Worauf der andere erwiderte: „Wenn Sie so viel Angst hätten wie ich, wären Sie längst davongelaufen!“ Zwei grundverschiedene Arten von Tapferkeit.
Unter allen Umständen furchtfrei können wir nur sein, wenn wir uns ganz sicher geschützt wissen, oder wenn uns gar nichts an uns selbst liegt. Beides vereinigt sich, wenn wir unser niederes Ich völlig preisgegeben haben, aber für das höhere Ich leben. Dieses Ich und sein Bestehen ist ein Interesse der göttlichen Welt selbst und nicht bloß unser persönliches Interesse. Es muß erfahren werden, wie sicher man sich in dieser Lebensstimmung fühlt. „Und wenn die Welt voll Teufel wär‘!“ Menschen, die sich nicht kümmerlich wertlos, sondern reich an inneren Werten fühlen, aber doch in der größten Gefahr über jeder Angst leben. das sind erst die wahren Weltkämpfer. Mit solchen Menschen läßt sich die Welt aus den Angeln heben. Ihnen ist alle Furcht weggeschmolzen. Sie fühlen, was Freiheit ist. Dadurch erfahren sie das wahre Mensch-Sein, den Adel des Ich in seiner Unvergänglichkeit. – Wodurch erringt man solche Furchtlosigkeit? Die Geschichte vom Wandeln auf dem Meer ist dazu da. „Ich bin‘s, fürchtet euch nicht!“ Bekannt ist, daß der griechische Text eigentlich lautet: „Ich bin, fürchtet euch nicht!“ Luther konnte nach dem Gebrauch der deutschen Sprache nicht anders übersetzen. Aber der griechische Text führt tiefer in die Wirklichkeit. Wir verlieren jede Furcht, wenn wir auf das „Ich bin“ des Christus schauen, der zu uns ins Lebensschiff treten will. Wir können jede Lebensangst in jedem Augenblick von uns tun, wenn uns an diesem „Ich bin“ allein gelegen ist. Mag man uns zertrümmern und zerfetzen: um dieses „Ich bin“ willen leben wir. Christus, dessen „Ich bin“ in uns klingt, mag sich selbst in uns erhalten, wenn er will. Das wahre Leben, auch der wahre Lebenskampf hebt an, wenn dieser Geist in uns lebt. Doch es geht uns ja bei unsrer Willenserziehung jetzt nicht darum, daß wir selber furchtlos werden. Das ist nur die Voraussetzung, die wir immer wieder schaffen müssen. Bis in alle Winkel können wir die Furcht in uns aufstöbern und vertreiben. Aber jetzt geht es darum, daß wir einer Menschheit gegenübertreten, die von geheimer Furcht durchwühlt ist, die vor tausendfacher Schwäche nicht zum Leben kommt, die in innerer Unruhe ihre Kraft verzehrt und so ihre Kraft nicht zum Lebenseinsatz machen kann. Wir sehen also die Menschen vor uns in der Meditation, wie sie auf dem stürmischen Meer des Lebens hin und her geworfen werden gleich den Jüngern dort im Kahn, wie sie in Angst und Unruhe sich verzehren und ihr Leben schwächen, indem sie es schützen wollen. So ist die Welt. So sind die Menschen. Demgegenüber versuchen wir uns in die Gestalt Christi einzuleben, der auf dem Meere geht, aus dem es spricht: „Ich bin, fürchtet euch nicht!“ Daß wir die Erzählung nicht für ein äußeres Begebnis halten, sondern für eine Schau der Jünger mit den Geistes-Sinnen, die nach der Aufregung der Nacht gegen Morgen sich in den Jüngern aufschlossen, sei auch hier ausgesprochen. Die Jünger sahen eine geistige Wirklichkeit. Sie sahen die geistige Wirklichkeit. Sie sahen den tiefen Sinn der Christuserscheinung in der Menschheitsgeschichte. So sahen sie auch ihre eigene zukünftige Weltaufgabe. Äußerlich war nichts wahrzunehmen dort auf dem See. Aber das geistige Geschehen, nicht nur ein Phantasiebild, war um so wirklicher.
Die wogende See war ja nicht nur um sie, sondern in ihrer eignen Seele. Aber zu dieser Seele kam das neue Ich, kam Christus. Wenn der Eindruck, der von einem Weltkämpfer ausgeht, dieser Art ist, daß Christus aus ihm spricht: „Ich bin! Fürchtet euch nicht!“ dann erleben die Menschen eine Wohltat, die das Innerste in ihnen aufhorchen macht. Nietzsche hat von dem Baum gesprochen, an dem sich eine ganze Landschaft erquickt. Hier müßte man reden von einem Licht; das den Menschen erscheint, und alle ahnen in ihm eine andre Welt. Gerade die Ich-bin-Worte, wenn wir ihnen dauernd lauschen, würden dieses „Ich bin“ in uns erbilden. Man muß den Menschen wirklich beweisen, daß man auf dem Wasser gehen kann. Die Unruhe, die Unsicherheit, das wilde Gewoge mag noch so groß sein; wir sind gehalten von einer Kraft, die aus der Höhe trägt. Wir haben keinen festen Boden unter den Füßen, aber gehen dennoch sicher. Dazu gerade ist die Ungewißheit des morgenden Tages da, damit eine Gelegenheit ist zum Wandeln auf dem Meer. Der Entschluß, sich von dem Ich des Christus führen zu lassen aus der oberen Welt, ist der Entschluß, auf dem Meer zu gehen – was Petrus nach der Erzählung der älteren Evangelien noch nicht konnte. Schauen wir in dieses Bild, wie Christus zu den Jüngern kommt über das Meer, wieder und wieder hinein, so sehen wir immer klarer, wie die Menschen in ihren Berufen und Familien auf dem schwankenden Kahn fahren; wir sehen, was ist; aber wir vereinen uns mit der Erscheinung des Christus. Nicht um einen „Trost“ geht es in dieser Geschichte, den wir persönlich empfangen, sondern um eine Weltenkraft, die sich uns mitteilen will. Im Einzelfall brauchen wir gar nicht an das Bild zu denken. Es wirkt in uns – uns selbst unbewußt und auch den andern vielleicht unbewußt – wenn wir nur diesen Christus in unsre Seele aufnehmen, ihn in unsrer Seele da sein lassen. Wieder stehen wir zwischen Ost und West. Der Osten will nicht auf das Meer des Lebens, weil es unruhig ist. Der Westen will auf das Meer, aber kennt die Ruhe nicht. Wir sind auf dem Meer, aber haben die Ruhe – doch nicht fern vom Meer, sondern über dem Meer: in dem, der auf dem Meere wandelt. Vollbringt man öfter solche Willensübungen, wie wir sie hier schildern, so wird man bemerken, wie eine Reinigung des Willens die Folge ist, die man nicht erwartet und vorher nie gekannt hat. Wir schauen dann das Willensleben der Menschen um uns her, wie zufällig, wie unrein, wie dunkel-unbewußt, wie egoistisch-zerfressen es ist. Was für kleine Willensziele sind Geld, Stellung, ein eigenes Haus mit Garten, ein ruhiger Lebensabend! Und selbst diese Willensziele leben meist nur flackernd in dem dünnen Willen der Menschen von heute. Jetzt geht uns eine Ahnung auf, wie es ist, wenn ein klarer, reiner Wille im Menschen lebt. Durch die großen Ziele, die wir in unser Leben aufnehmen, bekommt unser Wille selbst Größe, die immer stärker hineinwirkt bis in unsre Alltagshandlungen und in unsre Augenblickswünsche. In der Größe seiner Ziele gewinnt der Mensch am ersten selbst Größe. Durch das große Vorbild, das wir vor uns sehen: Christus, bekommt unser Wille die Feurigkeit, die ohne Gefahr ist, der wir uns ganz hingeben können.
Wir haben dies Feuer nur zu behüten vor der unreinen Glut des Fanatismus – der ja ganz versteckt sein kann. Durch die großen Widerstände aber, auf die wir schauen, bekommt unser Wille die stählerne Kraft. Sie wächst ins Übermenschliche, weil sie sich mit dem Überirdischen verbindet. Es ist eine Welt voller Leiden, wenn wir in der einzelnen Schwäche eines Menschen die ganze Kleinheit, Kläglichkeit, Seelenangst, Verlorenheit, verzehrende Unruhe und Unbefriedigung der Menschheit spüren. Man lasse sich nicht täuschen: Menschen, die großmächtig auftreten und mit anmaßenden Worten und Handlungen um sich werfen, sind allermeist gerade solche Menschen, die innerlich schwach sind. Oft kommt es plötzlich überraschend an den Tag: dieser Mensch fürchtet sich ja! Kommt man über den Ärger hinweg und bleibt man nicht bloß beim Gegenstoß, der vielleicht nötig ist, so ergreift uns Erbarmen mit der Schwäche dieser Menschen, die sie mühselig fortwährend den andern und sich selbst verbergen. Demgegenüber kann sich das „Ich bin“ des Christus in uns aufrichten, ohne alle Anmaßung und Unwahrhaftigkeit, zu einer Siegesmacht, die von einer andern Welt strahlend hereinbricht. Gerade wo die Menschen recht unruhig sind, zum Beispiel in einer Volksversammlung, gilt es nichts anderes als dieses „Ich bin“ innerlich stark zu halten und in die Unruhe hineinstrahlen zu lassen. Das ist „Pazifismus“ im Sinn Christi. Denn das Wort „Heil den Friedebringern, denn sie werden Gottes Kinder heißen“ spricht im ursprünglichen Text von den Pacifici, den Friedeschaffenden. Sie werden „Gottes Kinder heißen“, weil sie es sind, weil man gerade in der Unruhe sieht, wie sie von oben geboren sind. Kann man den Menschen solche Offenbarungen schaffen, so werden sie einen andern Christus sehen, als er ihnen allermeist gepredigt worden ist. Unsre Meditation wird uns auf diese Höhe führen. Tolstoj sagt einmal: Ich habe nur noch einen Wunsch: den göttlichen Willen zu erfüllen, und nur noch eine Furcht: den göttlichen Willen zu versäumen. Wenn die überirdische Ehrfurcht alle irdische Furcht aufzehrt, dann reiht sich der Mensch ein in die Schar der wahren Weltkämpfer. – Was wir in diesen letzten Briefen besprechen, ist wie ein Hindurchgehen des Willens durch eine Weihe um die andre: zum wahren Weltenkampf. So sehen wir nun noch eine Welt auftauchen, die in ihrem Bedürfnis nach Erlösung vielleicht am wenigsten gesehen wird. Das ist die Finsternis. Wieder ist es notwendig, auf einige Tatsachen um uns her den Blick zu lenken, ehe wir den rechten Antrieb zur Meditation haben können. Finsternis breitet sich aus für die heutige Anschauung über die Anfänge der Menschheit und der Erde. Finsternis über ihr Ziel, ihren Sinn und Ausgang. Finsternis über das Schicksal des Einzelnen nach dem Tode. Finsternis auch über jede einzelne Erscheinung nach ihrem wahren Wesen. In der Philosophie hat sich dies einen Ausdruck gegeben in der Lehre, daß „das Ding an sich“ uns immer verborgen sei. Nie hat eine Menschheit so wenig sichere und erleuchtende Gedanken in sich getragen über ihren Ursprung und ihre Bestimmung wie die heutige Menschheit. Sollten nicht daraus auch mehr Krankheiten und Selbstmorde kommen, als man sich eingestehen will?
Auf eine Erziehung des Blicks für die Weltfinsternis kommt es zunächst an. Die Menschen der Gegenwart leben noch in einem „dunklen Zeitalter“, dunkler in vieler Beziehung als das „finstere Mittelalter“. Und daß sie von Aufklärung viel reden, ist gerade ein Beweis, daß sie sie nicht haben. Bis in die Theologie, die doch vom Licht reden soll, verbreitet sich heute diese Weltfinsternis. Man getraut sich nur noch vom „unbekannten“, „geheimnisvollen“, „ganz anderen“ Gott zu reden. So verkündigt man seine Not als Tugend und behauptet noch, daß die Religion immer nur im Glauben an diese verborgene Macht bestanden habe. Wer genau nachprüft, was ein solches klassisches Sammelwerk wie „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ über Gott und höhere Welt wirklich zu sagen hat, der wird erstaunen. Das wird zugedeckt durch viele wertvolle geschichtliche Einzelkenntnisse. Aber auch in einer orthodoxen Theologie wie der Theologie Barths, der heute viele religiöse Menschen sich zuwenden, lebt sich die Weltfinsternis aus, matt erleuchtet durch einige Lampen, die man sich aus der Bibel holt und „Offenbarung“ nennt. Die Menschen leben heute, ohne daß es ihnen bewußt ist, wie man unter dem Dunstschleier einer Großstadt lebt. Sie wissen nicht, daß darüber eine herrliche Welt ist, in der das Licht in tausend Schönheiten wohnt. Was unter dem Wolkenvorhang ist, das sehen sie scharf. Aber die Welten darüber sind für sie gar nicht da. Noch zu Platos Zeit hat man das Leben der Menschheit so empfunden, wie er es in seinem berühmten Bild von der Höhle schildert. Die Menschen leben ins Dunkel eingesperrt, aus der wahren Welt ausgestoßen. Aber auf der Wand ihrer Höhle sehen sie noch die Schattenbilder derer, die draußen vorübergehen. Heute ist die Höhle mit elektrischem Licht beleuchtet. Man sieht hell, was an ihren Wänden ist. Aber die Schattenbilder derer, die draußen vorübergehen, sieht man nicht mehr. Daß es ein anderes Wohnen geben könnte als in der wohleingerichteten Höhle, weiß man gar nicht. Gewiß sind auch in der Höhle Reichtümer. „Trinkt, o Augen, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluß der Welt!“ Gottfried Keller war die Stimme des Gegenwartsmenschen, als er diese Worte schrieb. Und Friedrich Nietzsche war die Seele des Gegenwartsmenschen, als er sie liebte. Daß aber von diesem Trank, so wohl er schmecken mag, die Menschen doch nicht satt werden, offenbart eben der zunehmende Selbstmord. Faust-Goethe ist auf dem Menschheitsweg voran gewesen, als er die Worte sprach: „Die Nacht scheint tiefer tief hereinzudringen, allein im Innern leuchtet helles Licht.“ Derselbe Faust, der trunken war von der Herrlichkeit der Sinnenwelt, sucht das innere Licht und preist es – auch wenn die äußeren Augen sich umdunkeln. Denn blind ist er nicht jetzt, blind war er vorher. Zeiten-erleuchtende Weltweisheit spricht sich in solchen Worten aus. „Im Vorübergehen sah Jesus einen Menschen, der blind geboren war“ (Joh. 9, 1). Blind geboren ist jeder, der heute, der in diesen Jahrhunderten auf die Welt kommt. Christus war das Licht der Welt. Christus wollte seine Jünger als das Licht der Welt. Seine Aufgabe, unsre Aufgabe ist es, Blinde zu heilen. Wie geschieht das?
Merkwürdig ist manches, wenn man das einfache Bild, das unsre Erzählung bietet, näher betrachtet. Der sich „das Licht der Welt“ nennt – gerade im Zusammenhang dieser Geschichte – öffnet doch nicht unmittelbar das Auge, indem er spricht: Es werde Licht! Sondern er geht einen Weg – wie einst die Sonne einen Weg gegangen ist, als sie das menschliche Auge bildete. Je genauer wir hinsehen, um so bedeutungsvoller erscheint dieser Weg. „Er spützte auf die Erde, machte einen Teig aus dem Speichel und legte ihn dem Blinden auf die Augen.“ Dann schickte er ihn hin zum Teich Siloah mit dem Auftrag: „Wasche dich daselbst!“ Man nimmt mit seinen heutigen Geschmacksempfindungen Anstoß an einer solchen Geschichte. Man nimmt Anstoß mit seinen naturwissenschaftlichen Anschauungen. Darüber merkt man nicht, welche großartige Geisteslehre in dieser Geschichte spricht – für alle die, denen an der Aufhellung der Weltenfinsternis gelegen ist. Christus gibt ein Stück von seinem Leben. Im flüssigen Element lebt noch lebendiger und durchdringender als im Materiellen das Geistige, wie wir bei der Erzählung von der Hochzeit zu Kana sahen. Aber Christus nimmt nicht Wasser, wie es vom Himmel kommt, sondern eben Wasser, wie es durch seine Erdenpersönlichkeit hindurchgegangen ist. Wiederum verwendet er es nicht so, wie es ist, sondern verbindet es mit den Kräften der Erde. Aber die Heilung erfolgt doch nicht unmittelbar, sondern von dem Blinden selbst wird die Tat gefordert: daß er zum Teich Siloah geht und sich dort wäscht. Man kann schon nicht anders sagen: dies alles ist ein Erdenbild für das Wirken tiefster Weisheit. Wollen wir einen Menschen heilen von seiner Erdenblindheit, so haben wir nichts anderes als die himmlische Weisheit. Aber diese himmlische Weisheit kann nicht unmittelbar an den Menschen herangebracht werden. Sie wirkt erst dann richtig, wenn sie hindurchgegangen ist durch eine Erdenpersönlichkeit. Und doch genügt dies allein noch nicht. Die Weisheit der höheren Welt muß sich verbinden mit den Kräften der Erde, auf der wir leben, wenn sie dem Menschen wirklich helfen soll. So erst wird sie echte Heilkraft. Nicht so, wie sie den Engeln im Himmel sich darstellen mag, sondern so, wie sie mit dem Erdensein sich verbindet, ist sie wirklich Hilfe. Und doch darf man nicht glauben, daß die einzelne Tat eines andern hier ausreicht, wäre er auch der Größte. Der Mensch muß dahin gebracht werden, daß er selbst eine Tat vollzieht, daß er dahin geht, wo die volle Heilung für ihn bereitsteht. Der Evangelist findet den Namen des Teiches bedeutsam: der Abgesandte. Das ist das Wort, das er selbst immer von Christus gebraucht: der vom Vater Abgesandte. So sagt uns der Evangelist in seiner andeutenden Sprache das Letzte: Erst wenn du dich in Christus selbst reinigst, wirst du wahrhaft sehend. Man kann sich gut vorstellen, wie alle solche Auslegungen dem Gegenwartsmenschen in seiner vermeintlichen Geistesklarheit geradezu peinlich sind. Er wird einsehen müssen, daß religiöse Dokumente aus vergangenen Zeiten in solcher doppelsinnigen Sprache reden, ganz abgesehen von dem Hinweis, den der Evangelist selber gibt.
Aber man lasse einmal dahingestellt, ob im Evangelisten ein Wissen oder Ahnen von diesen Wahrheiten da war, und beobachte die Fehler, die von den Menschen gemacht werden, wenn sie Wahrheitslicht in die Weltenfinsternis bringen wollen. Da sind Menschen, die werfen den andern Bibelsprüche an den Kopf und meinen, das hilft. Da sind andre Menschen, die werfen dem Volk naturwissenschaftliche Entdeckungen an den Kopf und nennen es „Volksbildung“. Auch anthroposophische Wahrheiten werden nach dem selben Heilverfahren angewendet. Die Folgen sind offenkundig. Eine geistige Wahrheit ist lebensheilsam nur, wenn sie durch eine Persönlichkeit hindurchgegangen ist. Sie muß ein Stück eines menschlichen Lebens geworden sein, wenn sie wahrhaft wirksam werden soll. Abstrakte Wahrheiten können gut vom Denken eingesehen werden, auch wenn sie leblos nüchtern zu den Menschen kommen. Lebenswahrheiten offenbaren sich gar nicht, wenn sie nicht aus einem Leben kommen. Je mehr ein Vortrag über Lebensfragen bis in jeden Satz hinein durchdrungen ist vom Charakter des Voll-Menschlichen, je mehr der Lebenssaft eines Menschen in ihm spürbar ist, um so mehr wird er aufgenommen. Das gilt nicht nur für Vorträge, das gilt für jedes Gespräch. Als Helfer der Menschen hat man oft elementar den Eindruck, wenn man einen Rat gibt: Nur wenn man durchscheinen läßt, daß persönliche Erfahrung in ihm lebt, nehmen die Menschen ihn ernst. Das ist das Erste. Und doch ist es damit noch nicht getan. Oft gehen die Menschen ungetröstet von einem Freund oder Seelsorger weg und denken: was er gesagt hat, mag richtig sein und auf ihn selbst zutreffen, aber in meine Verhältnisse paßt es nicht hinein, mit meinen Möglichkeiten kann es nicht erfüllt werden. Erst die volle Erdenwirklichkeit gibt die volle Erdenkraft. Die persönliche Weisheit muß sich verbinden mit dem Leben der Erde. Nicht nur wahr und persönlich erlebt muß sein, was helfen soll, sondern es muß zur Erde gebracht werden, es muß sich mit der Erde, auf der wir leben, durchdringen. Unendlich vieles bleibt Theorie und Prinzip und bringt niemals Hilfe und Heilung, weder im großen noch im kleinen, weil es zwar richtig ist und vielleicht schwer erarbeitet, aber versäumt hat, den Erdenkräften ihr Recht zu geben und sie mitwirken zu lassen. Das ist das Zweite. Ebenso beachtet will das Dritte sein. Dauernde Hilfe und Heilung ist nur bei Christus. Auf ihn müssen wir weisen – wie es eben geschehen kann –, zu ihm müssen wir führen: zu dem „Abgesandten“. Er ist die neue Welt, die die alte Welt heilt. Sonst bleibt es bei einer einzelnen Wohltat, aber es kommt nicht zu einer dauernden Hilfe. Und der Mensch muß die Tat selbst vollbringen, sich in Christus zu reinigen. Dies alles ist notwendig zu wissen und zu bedenken, wenn man in die Reihe der Menschheitskämpfer im Sinn Christi aufgenommen werden will. Es hilft uns, unsre Meditation stark durchzufühlen. Das gleichnishafte Handeln Christi, wenn wir es einmal verstanden haben, sagt alles kürzer, eindrucksvoller, bildender als viele Worte. Wir sehen in dem Bild des Blindgeborenen den Menschen vor uns, wie er heute auf der Erde lebt. Wir sehen Christus vor uns als das Licht der Welt. Wir sehen die Lebensweisheit der Hilfe, wie sie wirkt.
Große Welten und Wahrheiten und Willenseinstellungen leuchten durch ein solches Bild herein. Indem solche zusammenfassenden Bilder uns durchsichtig werden, wird uns die Erde selbst durchsichtig – und wir selbst werden geheilt von der Weltfinsternis. Christus lebt in dieser Geschichte und heilt aus ihr heute noch die Blindheit. Einst wird eine Zeit kommen, da werden die Menschen nicht Stein und Erde, Berg und Wald vor sich sehen wie heute, sondern das alles wird ein durchsichtiger Schleier sein, zart und geistig, und dahinter werden sie Engel walten sehen. Nur wenig können wir heute dieser Zeit vorarbeiten. Aber Gewaltiges können wir doch. Wir können Christus in uns tragen wie das Sonnenlicht einer neuen Welt. Wir können ihn durchscheinen lassen durch unsre Worte, Gebärden, Handlungen. So kann vor den Menschen eine höhere Welt aufblitzen, wenn es auch nur da und dort geschieht. So bilden sich ihre Augen allmählich für das Schauen einer andern Welt. „Das Auge ist am Licht für das Licht gebildet“, sagte Goethe im Blick auf das Werden des körperlichen Auges. Dieser Vorgang ist das Vorbild dessen, was heute zu geschehen hat. Es ist „finster auf der Tiefe“, aber „der Geist Gottes schwebt auf dem Wasser“. Im Menschen selbst muß das neue „Es werde Licht!“ sich vollziehen. Er selbst muß dafür durchscheinend werden. Tief erhebend ist es, diese Aufgabe ins Auge zu fassen: durchscheinend zu sein in seinem Erdenwesen und Erdenleben für das Licht des Christus, so daß in Weltfinsternis das Himmelslicht einstrahlt. Jede Offenbarung des Menschen in der Sinnenwelt bis in die Bewegung hinein gewinnt eine neue Bedeutung. Der Mensch kann Träger sein des göttlichen Lichts und so überall die Sinnenwelt von innen her durchstrahlen. Christus verus luciferus – Christus der wahre Lichtträger –: dies Wort gilt es nicht nur zu lieben, sondern zu handeln. Es kann nur gelingen, wenn wir ganz konzentriert sind auf das Licht in uns, wenn wir diesem Licht alles darbringen, was wir sind und tun, damit es hindurchscheinen kann, wenn uns alles Irdische nur dazu da ist, daß es durchstrahlt wird. Das ist der Kampf des Lichtes gegen die Finsternis, wie er heute geführt werden kann. Rembrandt hat den Kampf des Lichtes mit der Finsternis dargestellt in seinem ganzen Künstlerringen. Goethe hat den Kampf des Lichtes mit der Finsternis als einen Gottesdienst mit Ehrfurcht betrachtet in seinem ganzen Naturforschen. Unser Beruf ist, dieser Kampf des Lichtes mit der Finsternis zu sein, mit allem, was wir in die finstere Sinnenwelt hinein tun und leben. So stellen wir uns richtig hinein zwischen Ost und West. Der Osten hat Licht, aber nicht für die Finsternis. Der Westen hat Finsternis, aber nicht mit dem Licht. Das Licht in der Finsternis – ist Christus und alle, in denen er wirklich da ist. „Das Licht scheint“ wieder „in die Finsternis“.
Wir haben oben von der Herrlichkeit gesprochen, daß wir den Menschen ein Ich vorleben dürfen: „Ich bin, fürchtet euch nicht!“ Nun erkennen wir die Herrlichkeit, aus diesem Ich wie aus einer Sonne eine neue Welt erstehen zu lassen: „Es werde Licht!“ Unsre Meditation erzieht uns also wieder zum größten Weltenkampf. Die Sinnenwelt wird immer wunderbarer, wenn das Licht durch sie strahlt. Der Mensch ist blind geboren, „auf daß die Werke Gottes offenbar werden in ihm“ (Joh. 9, 3). –
12. Brief Krönung der Willensübungen: Leben gegen Tod – Grab und Stein – Totenauferweckungen – Innere Vorbedingungen dazu – Auferweckung im Alltag – Verhältnis zu den Verstorbenen – Spiritistische Sitzungen – Zusammenfassende Ratschläge zur Willenserziehung – Charakter des Meditierens am Morgen, Mittag, Abend – Verteilung der Übungen auf die Jahreszeiten – Das Menschenbild
Wir stehen nun vor der Krönung unsrer Willensübungen: Christus am Grab des Lazarus. Dem Tod entringt er das Leben. Das ist die Zusammenfassung aller Kämpfe. Der Krankheit soll abgerungen werden das Heil, der Sünde die Auferstehung, der Not die Liebe, der Schwäche der Glaube, der Finsternis das Licht. Hinter allen diesen Welten schaut uns der Tod an als das Ende. Wenn ihm das Leben abgerungen wird, so ist dies dasselbe wie der „Himmel“, der auf die Erde gebracht werden soll. Damit begann ja für uns das neue Wollen. So ist diese siebente Christustat wirklich die Zusammenfassung und der Höhepunkt des Christuswirkens. Christus am Grab des Lazarus. Heut gibt es noch viele Menschen, die mit dem „Wunder“ einer Totenauferweckung nichts anzufangen wissen. Sie mögen zunächst einmal achten auf die kleinen Züge der Erzählung (Joh. 11). Wie Christus tief bewegt ist von der Trauer um seinen Freund – und dennoch geradenwegs losgeht auf den Tod; wie der Ernst der Stunde ihn durchschüttelt – und er doch keinen Augenblick zurückweicht; wie er die Stimmung der Trauernden in seine Seele aufnimmt – und zugleich in Worten spricht, die Weltentscheidung in sich tragen; wie er den Einzelfall voll mitempfindet – und zugleich dem letzten Feind des Menschengeschlechts entschlossen ins Auge schaut; wie er den Freund in der Seele trägt – aber zugleich ganz vom „Vater“ überleuchtet ist; wie er Schritt für Schritt alles führt bis zur letzten Entscheidung, wie er sich in Siegervollmacht dem Tod gegenüberstellt: das alles ist schon als Bild von so mächtiger Wirkung, daß es die letzten und besten Willenskräfte in uns wachruft – wie immer man sich zu der Erzählung stellen mag. Man darf sich auch nicht schwächen lassen in der Betrachtung dieses Bildes dadurch, daß man die anthroposophische Auffassung im Sinn hat: hier wird eine Einweihung vollzogen, die von den alten Mysterien hinüberführt in eine neue Zeit. Denn Lazarus war tot und wäre tot geblieben, wenn Christus nicht gekommen wäre. Ein Triumph der Lebensmacht Christi ist es, dem wir zusehen dürfen. Schaut man Christus zu, wie er in dieser Geschichte vor uns steht, so ist es, als ob in unsrer Seele ein Gefangener die Stimme seines Befreiers hört, als ob die Evangelien sich in uns selbst hinein fortsetzen, als ob der Ruf: Lazarus, komm heraus! in Grüfte unsres eigenen Wesens hinein erklingt, und tief drinnen will sich etwas aufmachen, von dem wir selbst nicht wußten, daß es da ist. Eine überströmende Liebe zu Christus, gerade zu diesem Christus, kann sich dann in unsrer Seele regen. Wir fühlen, daß er ganz anders ist, als wir ihn uns bisher gedacht haben: erobernder, machtgewaltiger, majestätischer.
Dieser oder keiner – so spricht es in unsrer Seele – ist der Sieger über den Tod, der Befreier der Menschen, die „in Finsternis und Schatten des Todes“ wohnen, der König des Menschentums! Man spürt bis in alle Glieder, in welchen Kampf zwischen Christus und den Feindesmächten man durch ihn hineingerufen wird. Man fühlt: es ist der Kampf um den Menschen! Wenn wir zum Meditieren das Bild in seinen großen Hauptzügen vor uns aufbauen, so sehen wir in Lazarus den Menschen selbst im Grab liegen. Das ist ja das Ende des Einzellebens, das ist das Ende der Menschheit – wenn Christus nicht da ist. Die Krankheit, an der der Mensch leidet, führt zum Tode – und führt doch nicht zum Tode. Der Stein liegt auf dem Grabe. In diesem Stein sehen wir das Bild der Materie. Novalis hat das merkwürdige Wort gesprochen: „Die Erde ist erstarrt zum Stein aus Schrecken über den Menschen“. Daß die Welt so schwer, so dunkel, so undurchdringlich materiell uns anschaut, das rührt davon her, daß der Mensch selbst ins Materielle gesunken ist. Einst, als der Mensch immer mehr in dieses materielle Erdendasein hineinsank, hat man in Ägypten den Stein aufgerichtet wie ein Gebet nach oben. Auf denselben Stein – das Sinaigebirge in seinen Ausläufern gab den Ägyptern die Steine, mit denen sie ihre massiven Bauten aufführten – schrieb Moses das göttliche Gebot. Aber das mosaische Gesetz lag selbst wie ein Stein auf den Menschen. „Wer wälzet uns den Stein von des Grabes Tür?“ Das war die Menschheitsfrage. Dies alles, wenn wir es einmal empfindungsmäßig in uns zum Bewußtsein gebracht haben, lebt in dem Bild, das wir betrachten. Um das Grab her ist die Trauer. Eine Weltentrauer. Wir sahen ja schon, wie der Zweifel, Martha, und das Leid, Maria, die beiden Hüter des Weltengrabes sind. Da erscheint Christus. Wir schauen ihn so, wie wir ihn oben geschildert. Aus Weltenhöhen in Erdentiefen hinab klingt sein Ruf: Lazarus komm heraus! Der spricht ihn, der von sich sagen konnte: Ich bin die Auferstehung und das Leben! Wir selbst machen uns auf aus dem Erdengrab. Wir verbinden uns ihm. Wir stehen nun mit ihm dem Grab gegenüber. Mit ihm fühlen wir: Der Tod soll nicht sein! Der Tod in allen seinen tausend Gestalten muß überwunden werden! Bis in alle Winkel unsres Wesens erfüllen wir uns mit diesem göttlichen Wollen! Auferstehung wollen wir sein! Auferweckung wollen wir tun! – Wir sind am Ende unsrer drei Betrachtungsreihen immer wieder bei der Auferstehung angekommen. Das entspricht dem Geist des Johannesevangeliums. Das entspricht dem Willen des Christus selbst. „Der Tod wird nicht mehr sein.“ „Der letzte Feind, der überwunden wird, ist der Tod.“ Es wird sicher einmal wieder dahin kommen, daß man Tote wird auferwecken können. Wenn schon die Zufuhr von Luft, die äußere Anregung von Bewegungen, das körperliche Schütteln einen Menschen ins Leben zurückrufen kann: warum soll es die Geistesmacht nicht vermögen, die Lebensgewalt, die ihm zuströmt? Gewiß wird es nur in besonderen Fällen möglich sein. Aber: sieht man nicht die Anfänge, die heute schon da sind? Es kann geschehen, daß Sterbende durch Freude eine Kraft zugeströmt erhalten, die sie mit neuem Leben erfüllt.
Es kann geschehen, daß in Lebenskrisen, die sich schon nach dem Tod hin entschieden hatten, durch die Geisteskraft eines Menschen der Sieg errungen wird. Es kann geschehen, daß ein Kranker, der nach allen ärztlichen Regeln tot sein sollte, durch innere Heilkraft aufrecht erhalten wird oder sich selbst aufrecht erhält. Das ist nicht viel. Aber: würden wir in Krankenzimmer und Sterbezimmer so eintreten, daß wir mit Leben gefüllt sind bis zum Überfließen, würde die Auferstehungsmacht Christi selbst in uns da sein, so würden wir das Merkwürdigste erleben. Wir würden oft den Eindruck haben, als ob der Tod flieht vor einem Sieger, den er erkannt hat. Aber auch wo ihm äußerlich sein Raub nicht zu entreißen ist, würde er als ein Besiegter mit einer wertlosen Beute abziehen, und nichts als Triumphmusik würde den Raum erfüllen. Wir können es der Zukunft überlassen, was die Menschheit auf diesem Gebiet noch alles erfahren wird. Aber unsre Meditation wird in uns das Bewußtsein stärken, daß der Mensch vor dem Tod nicht die Waffen strecken darf, sondern sich gegen den Tod aufzurichten hat, sich an den Tod heranzuwagen hat, wenn er im vollen Sinn Mensch werden will. Was wir zunächst können, sicherlich können, das ist: daß wir den Tod in uns unterkriegen. Glauben wir nicht, daß dies schon geschehen ist, wenn wir eine allgemeine Hoffnung haben über das Grab hinaus. Es wird möglich gerade dadurch, daß wir den Tod immer wieder zu unsrem Begleiter rufen. Was mancher Maler früherer Zeiten, was Böcklin in seinem Selbstbildnis darstellt, daß man den Tod neben sich hat und ihn zum Inspirator werden läßt: das ist der Weg, uns von ihm – und ihn von uns zu erlösen. „Der Tod ist ihr“ (der Natur) „Kunstgriff, viel Leben zu haben“, dies GoetheWort geht über Buddha hinaus, so wie es allein auf dem Boden des Christentums möglich war. Es ist gesprochen im Blick auf das tausendfache Sterben der Natur. In seiner Bedeutung für das innere Leben will es aber erst erkannt sein. Wenn dem Tod der letzte Rest vom Leben abgerungen ist, dann kann er wahrhaft zu seiner Ruhe eingehen. Dem Menschen will der Tod zum „Freund“ werden, und nicht erst, wenn er auf dem Sterbebett den letzten Leiden des Lebens endlich ein Ende macht. Mächtige Triumphgefühle entwickeln sich im Menschen gerade nur am Tod. Gedrängteste Kraft des Lebens schenkt er uns. Der Tod-Feind wird unser Lebens-Freund. Wer sich in jedem Augenblick bereit weiß, völlig frei in die andre Welt hinüberzugehen, sobald das Schicksal ruft, wer in der Lebensstimmung über die Erde geht: In der nächsten Stunde kann mich die Kugel eines Mörders treffen, dann würde ich – nicht weil ein menschlicher, sondern weil ein göttlicher Wille in mein Leben eintritt – meinen Leib abwerfen und frei gehen in die andre Welt, wem so der Tod ein „freier Tod“ geworden ist, in einem höheren Sinn, als Nietzsche es meint, dem klingt Sieg durch sein Leben, dem ist Tod und Vergänglichkeit in der Welt nur noch das Mittel, wahres Leben zu gewinnen, der kehrt dann unüberwindlich, solange er soll, auf die Erde zurück mit einem hoheitsvollen Freiheitsgefühl:
Dies alles schlummert in den Tiefen unsrer Meditation. Wir können diese Lebenshöhe gar nicht sicherer gewinnen, als indem wir uns mit dem Siegerwillen verbinden, der dort aus Lazarus einen Johannes macht. Wir sehen innerlich hinein in den Christus, der hernach selbst durch den Tod hindurchgebrochen ist. Aber es ruht noch mehr in dieser Meditation. Wenn Christus sagt: „Laß die Toten ihre Toten begraben, du aber gehe hin und verkündige das Reich Gottes“ – so sieht man klar: er hat die Lebendigen um sich her als die Toten empfunden. Das Wort vom Reich Gottes ist der Lebensruf, der in Totenreiche hineinklingt. Wir sind wirklich nicht nur dazu da, nach dem Tod persönlich weiterzuexistieren, sondern den Tod überhaupt zu besiegen. Täuschende Scheinlebendigkeit verbirgt überall den Tod. Geschminkt mit Lebensfarben gehen die Toten in der Welt umher. All dieser Tod, den wir in unzähligen Formen in der Welt sehen, ruft nach dem Leben. Wenn wir uns füllen bis an den Rand mit strömendem Leben, wenn wir als das verkörperte Leben selbst in die Welt treten, dann werden wir diesen tausendfach sich verkleidenden Tod erst recht sehen und ihm selbst entgegentreten als der Lebensruf. Wieder mögen wir nach Osten und Westen blicken, um zur Größe unsrer Berufung aufzuwachen. Im Osten sah man in großartiger Klarheit den Tod. In allem blühenden Leben lauert der Vernichtungskeim. Dieser Blick des erwachten Ostens ist tiefer als der Blick des Westens. Aber der Wille des Westens ist richtiger als der Wille des Ostens. Im Osten will man hinweg von der Erde, deren Herrscher der Tod ist. Im Westen will man nicht sich, sondern den Tod hinweg haben von der Erde. Aber man geht dem Tod zu Leibe mit völlig ungenügenden Mitteln. Man kämpft mit Verjüngungsmethoden und Hygiene. Man kämpft schwächlich mit Ablenkungen aller Art. Man will den Tod nicht sehen oder ihn hinausschieben, so lang man kann. Sehen, was der Osten sieht, wollen, was der Westen will, aber können, was Osten und Westen nicht kann: das ist unsere Bestimmung. Eine Totenauferweckung ist es auch, wenn wir uns im Leben immer wieder aufrufen, in jedem Menschen sein geistiges Wesen zu sehen, wenn wir durch Gestalt, Gebärden, Worte eines Menschen hindurchblicken auf sein wahres Ich. Schon dazu gehört mehr Geisteskraft und unermüdlicher Lebenswille, als wir sie sonst im Leben aufzubringen haben. In unsrer Meditation werden wir in diesen Willen und in diese Kraft hineinwachsen. Wir werden dann erleben, daß die Menschen sich von uns zum erstenmal als Menschen behandelt fühlen. Eine weitere Höhe ist es, wenn wir auferweckend durch die Natur gehen. Wir sehen nicht den Tod in ihr, sondern den Geist. Nicht die Erdenart, sondern das göttliche Bild. Nicht das Vergehende, sondern die Kunde aus höheren Reichen. Jede Pflanze kann so geschaut werden. Wir werden das nicht mit einem einzigen Entschluß erreichen. Bei einem einzelnen Gang können wir es erst ahnen. Aber wir können uns dazu stärken und darin üben, wenn wir gelegentlich in unsre Meditationen auch Pflanzen hereinrufen, eine Rose, ein Maiglöckchen geistig betrachten und auf die Offenbarung lauschen, die in ihnen zu uns kommt.
Gehen wir dann in die Natur, so wird es oft sein, als ob der Erlösungsjubel durch die Welt geht, als ob die Welt um uns her werden wolle, wie sie im göttlichen Geist lebt, als ob wir selbst wie im Paradies wandeln. Christus ist der Erwecker der Toten. Wir sollen den Mut haben, es mit ihm zu sein, so stark wir können. Ein Gebiet gibt es besonders, wo wir den Tod nicht gelten lassen dürfen: unsere Verstorbenen. Damit stehen wir vor der Frage, die am häufigsten gestellt wird: Was können wir in der Meditation für die Verstorbenen tun? Man kann denen, die Eingehendes wissen wollen, nichts andres raten, als sich mit den Angaben Rudolf Steiners zu beschäftigen. Sie wollen auch auf diesem Gebiet nicht dogmatisch genommen werden, sondern durchgedacht und an allen Erkenntnismöglichkeiten geprüft. Was für eine Fülle von Erleuchtungen über das Leben nach dem Tod mit Rudolf Steiner hereingebrochen ist, das ist jedem, der es einigermaßen überschauen kann, immer neu zum Erstaunen. Hier sei nur einiges Anfängliche gesagt. Man sollte seinen Verstorbenen stets nahen in der Stimmung feierlicher Ruhe, nicht mit unruhigen Wünschen und egoistischen Stimmungen, sondern in der Dankbarkeit dafür, daß sie gewesen sind. Das wird am besten gelingen, wenn man sich erinnert an Stunden, wo man in ruhiger, freundlicher Menschlichkeit mit ihnen zusammen war. Grundstimmung sollte sein: Lebe du ruhig nach oben! Ich werde mich auf der Erde schon durchschlagen! Von mir soll nichts zu dir kommen als Liebe, die dich von unten trägt, wenn du nach oben dem Licht entgegen lebst! Nur als Wohltat soll diese Liebe um dich sein! Ich will dir erzählen, nicht von meinen Nöten, sondern von dem Erfreuenden, was ich erlebt, von dem Geistig-Guten, was mir geworden ist! Solche Liebe ist wie eine lichte Brücke, die wir zu den Verstorbenen bauen, auf der wir zu ihnen kommen können und sie zu uns. Zunächst wird sich ein Gefühl der Gemeinschaft mit ihnen einstellen. Wir werden uns ihnen nah fühlen in der Nacht, wenn der Tageslärm um uns und in uns schweigt. Wir werden morgens erwachen mit der Empfindung, als seien wir mit ihnen vereinigt gewesen, mit ihnen durch hohe Räume gewandelt. Wir werden dann auch manchmal untertags das Gefühl ihres Naheseins haben. Vielleicht, wenn wir darauf achten, ist es schon wieder weg. Aber das Gefühl, daß sie uns helfen, ist eine so wunderbare Lebensbereicherung, daß einige Ahnungen auf diesem Gebiet unser ganzes Leben ändern. Wir lernen eine Tiefe, Nähe, Schönheit der Gemeinschaft kennen, von der wir vorher nichts gewußt haben. Eine unerhörte Zukunft der Menschheit steigt vor unsrem Blick empor, wo das Leben in einer Zusammenarbeit der Lebenden mit den Toten, der Toten mit den Lebenden vor sich geht. Dem gegenüber ist das, was in spiritistischen Sitzungen geschieht, schwül, gespenstisch, dämonisch. Die Medien erreichen unsre Verstorbenen gar nicht, weil sie selbst in einen niederen Zustand des Seelenlebens, in ein halbbewußtes oder unbewußtes Dämmern übergehen, während unsre Verstorbenen gerade in lichteren Lebensbereichen leben. So kommen die Medien allermeist nur in das Reich, in dem die abgelegten Hüllen unsrer Verstorbenen sind.
Daher das Nichtssagende und Abgeschmackte, was sie vorbringen, nur vielleicht durchmischt mit Erinnerungen an das vergangene Leben und mit Ahnungen. Würden wir aber durch die Medien zu unsren Verstorbenen wirklich vordringen, so würde dies egoistische Fragen und Wünschen für unsre Verstorbenen nur eine schwere Störung und Schädigung sein in den Aufgaben, die sie jetzt haben. Wohl gibt es ein Befragen der Verstorbenen. Aber in der Art, daß wir abends vor dem Einschlafen in aller Ruhe unsre Fragen zu ihnen tragen und am Morgen beim Erwachen zu fühlen suchen, was als Antwort in unsrer Seele da ist. Dies alles in der reinen Sphäre, die wir oben geschildert haben: „Ich bin die Tür.“ Gelingt es uns, den Tod in bezug auf unsre Dahingeschiedenen einfach nicht gelten zu lassen, mit ihnen weiterzuleben als mit Menschen, die nicht vergangen sind, sondern vorangegangen, sie in einer reinen Lebenswelt in unsrer Seele zu tragen, dann werden wir den Eindruck gewinnen, daß wir durch dies Verhalten ihnen selbst helfen. Auch wenn wir keine besondere Beziehung im einzelnen zu ihnen finden: schon wenn wir ihre Gestalt, ihren Blick, ihre Stimme, ihr bestes Wesen in unsrer Erinnerung leben und wirken lassen, werden wir das Erlebnis haben einer höheren Form der Gemeinschaft. Wir machen keinen Unterschied zwischen Lebenden und Toten. Wir kennen tote Lebende und lebende Tote. Indem wir das Dasein der Toten oft reiner und stärker empfinden als das Dasein der Lebenden, geben wir ihnen tatsächlich Möglichkeiten des Mitlebens. Wir erwecken Tote auf. Unsre Meditation hilft uns dazu. – In den fünf Reichen der Not haben wir alles vor uns, was auf der Erde überwunden werden muß. In der letzten Übung nun bleibt nichts übrig, als was Leben ist: der Himmel auf der Erde. Was die erste Willensübung als allgemeine Lebensrichtung in uns geweckt, das hat nun seine volle Entfaltung gefunden. Alle diese Willensübungen vollziehen wir so, daß wir zunächst das einzelne geschichtliche Bild lebendig vor die Seele hinstellen. Durch die Not des Einzelbildes schauen wir hindurch auf die Weltennot, auf das mächtige Reich der Übel, das überwunden werden soll. Wir fragen uns, ob wir wirklich ernsthaft wollen, daß diese widerstreitende Welt überwunden wird. Wir antworten darauf mit unsrem ganzen Willen. So gewinnt unser Wille die Größe, die in das Alltagswollen immer mehr hineinwirkt. Aber nun beleben wir in uns das Vorbild Christi. In ihm kämpft der Himmel um die Erde. Wir treten auf seine Seite gegen die ganze Welt. Wie von der andern Welt her wirken wir mit ihm. Mit unsrem Ich und unsrem besten Wesen sind wir schon jenseits des Grabes. Unser „Bürgerrecht“, wie die Bibel sagt, ist in einer höheren Welt. Im Blick auf Christus gewinnt unser Wille das reine Feuerwesen, die wahrhaft göttliche Wärme. Je mehr wir aber im Einzelnen und Kleinen immer das Große und Letzte sehen, den Weltentscheidungskampf, um so mehr gewinnt unser Wille die starke Kraft an den großen Widerständen. So gehen wir in jeder einzelnen Übung wieder für sich den Weg vom Geist durchs Gefühl zum Willen: vom großen Ziel durch das große Vorbild zur großen Kraft.
Dies heißt: michaelisch leben! Im Geist des Erzengels wirken, der als der Vorkämpfer Christi in der Erdenwelt angeschaut wird. Immer wieder sollten wir den Entschluß fassen, ein für allemal michaelisch in der Welt zu denken und zu wirken. Das fordert von uns der Geist der Zeit. Es heißt auch: apokalyptisch leben! Man kann zum Schluß einer solchen Übung den Willen allein zurückbehalten und ihn in seiner Größe, Wärme, Kraft fühlen. Das Erdenkönigliche eines solchen Wollens durchströmt uns. Aber wir fühlen ihn nicht nur nach unten hin, sondern vor allem von oben her. Als der edelste Lebenssaft der Gottheit, der in uns wirken will, offenbart er sich uns. Besonders wenn wir in diesem Willen das Wesen Christi spüren, werden wir so empfinden. Man kann dann diesen Willen vom Haupt aus, wo man ihn in der Stirnmitte gleichsam sammelt, durch den ganzen Körper, durch unsern ganzen geistigen Leib strömen lassen. Was ein „Geisteswille“ ist, wie das Trauritual der Christengemeinschaft sagt, werden wir dann erfahren. Auch dies können wir versuchen, solchen Willen über uns selbst hinaus in die Welt fluten zu lassen. So hat Buddha in der Meditation nach allen vier Himmelsrichtungen Mitgefühl ausgesandt. So hat Christus gesagt: „Ein Feuer kam ich zu werfen über die Erde hin, und wie wollte ich, es wäre schon entflammt!“ Auch wenn wir nichts Einzelnes mit diesem Willen wollen und vollbringen, können wir diesen ausströmenden guten Willen in uns da sein lassen. Wir können dadurch immer besser lernen, guten Willen in unsre Worte und Taten zu „gießen“, wie die Menschenweihehandlung sagt. Wir schaffen dadurch göttlichen Mächten neue Möglichkeiten, zu wirken. Unser Wille ist eine geistige Wirklichkeit, die dargereicht, geopfert wird den höheren Mächten, von denen das Gute gewollt wird. Nur im engsten Lebenszusammenhang mit Christus kann jeder Schritt geschehen, der im Dienst der Weltenerneuerung geschehen soll. Auch wer Christus noch nicht als göttliche Persönlichkeit betrachtet, wird aus dem allen für sich entnehmen können, was er tun kann, um für das Gute stark zu werden. Da heute alle möglichen Okkultismen hereinbrechen, sei dieser Weg zu einer weißen Magie hier angedeutet. Für alles einzelne gelten die Richtlinien: strenge Wahrhaftigkeit, Achtung aller menschlichen Freiheit, Streben nach Vollendung der Welt zu der Geistgüte, die in Christus da ist. Der Schutz gegen allen Mißbrauch liegt in der Bitte: Dein Wille geschehe wie in den Himmeln also auch auf Erden. In dieser Bitte haben wir nun das passive Duldsame, das egoistisch Enge überwunden, das so oft von den Menschen in sie gelegt wurde. Wir haben sie auf die Höhe geführt, auf der sie in den Evangelien gelebt wird. Wir können in ihr, wenn wir Christus selbst sie in uns beten lassen, unsre Willensübungen abschließen, wie wir die Geistesübungen zusammenfaßten in der Bitte: Geheiligt werde dein Name! und die Gefühlsübungen in der Bitte: Dein Reich komme zu uns! – –
Wenn wir nun das Ganze überblicken, so legt sich uns die Frage nahe: Wer wird den Weg wirklich gehen, der hier geschildert ist? Vermutlich wenige. Aber diese Briefe möchten zu einem Erbauungsbuch werden, auch wenn man nur immer wieder darin liest und sich von dem Geist der Wandlung, aus dem sie geboren sind, berühren läßt. Wir wollen aber doch den Mut haben, bis zum Schluß für die wenigen zu reden, die sich Stärkeres zur Selbsterziehung aus diesen Briefen holen wollen. Sie werden fragen. Wie ordnen wir nun dies alles am besten in unser Leben ein? Da möchten wir den Rat wiederholen und jetzt eingehender begründen, daß es gut ist, dreimal am Tage sich in das Höchste hineinzustellen. Am schwierigsten wird es für viele sein, in den Mittagsstunden Ruhe und Zeit zu finden. Wer es vermag, möge morgens eine Viertelstunde, abends eine Viertelstunde, und mittags, wenn nicht eine Viertelstunde, wenigstens einige Minuten seiner höheren Selbstbildung widmen. Noch besser morgens und abends eine halbe Stunde und mittags wenigstens eine Viertelstunde. Diese Tageszeiten sind in der Tat völlig voneinander verschieden. Wir können die Verschiedenheit nicht klarer schildern als im Anschluß an die christliche Anschauung von der Dreieinigkeit. Da beginnen wir den Tag am Abend. In der Abendzeit, wenn der Mensch mit Vertrauen den Kräften der Nacht sich überlassen muß, ist er am nächsten der göttlichen Macht, die alles hält und trägt, die ihm den Leib gegeben hat und ihn wiederherstellt, in die er hineinsinkt mit dem Tod wie mit dem Schlaf. Ein abgrundtiefes Vertrauen, eine Ahnung verborgener Herrlichkeit, ein Verbundensein mit den letzten Quellen alles Daseins will sich dann über seine Seele breiten. Es gehört zu den intimeren Erfahrungen der Meditation, daß man am Abend am besten meditiert wie aus dem Weltenklang des göttlichen Vaters heraus. Ganz anders der Morgen. Es ist etwas Feierliches, das Aufblitzen des Ich im menschlichen Leib zu erleben. Man ist wieder auf der Erde. Man kehrt auf die Erde zurück. Darin liegt allein schon etwas Christus-Ähnliches. In wundersamer Reinheit kann man die Stimme seines Genius vernehmen. In ihm ist unser höheres Ich, das mit Christus verbunden ist. Wir werden selbst neu geboren an jedem Morgen. Wir werden Sohn. Wir werden auch Sonne. Das Licht geht auf in uns, wie es aufgegangen ist um uns. Man kann es erleben am Morgen, daß man in der Nacht in irgendwelchen geistigen Regionen war, daß aber Christus zu suchen ist auf der Erde. Hier hat er sein Werk. So gelingen die Morgenmeditationen am stärksten, wenn man aus dem Weltenklang des göttlichen Sohnes heraus meditiert. Was wir eben aussprachen, braucht nicht im einzelnen immer gedacht zu werden. Aber es hilft uns, diese Lebens-Sphäre zu entdecken. Um die Mittagszeit aber scheint die Sonne am heißesten. Das Leben ist drückend. Wir sind im materiellen Dasein drinnen. Es fällt uns am schwersten, herauszugehen. Wir müssen den Geist zu Hilfe rufen, zum Geist uns aufwecken. Man kann die Empfindungen haben: So wie draußen jetzt alles im hellen Licht liegt, so mußt du in dir selbst noch klareres Licht strahlen lassen, wenn du dem Tag gewachsen sein willst.
Geist, heiliger Geist gegen Materie, gegen Sinnenschein. Die Menschheit hat das Fest des Heiligen Geistes in die Nähe der Johanniszeit gesetzt, wo die Sonne am hellsten scheint. Darin spricht sich dasselbe Bedürfnis aus, dem wir jetzt in der Meditation begegnen. Wenn wir einmal imstande sind, der äußeren Helle das „geistleuchtende Leben“ überlegen entgegenzustellen, wenn unser Schauen in die Welt vom Geisteslicht „durchtränkt“ ist, dann werden wir erst recht wissen, was heiliger Geist ist. Darum sollten wir es nicht unterlassen, auch in der Mittagszeit wenigstens so weit zur Meditation zu kommen, daß wir diesen Weltenklang im Leben nicht entbehren. Wovon wir hier reden, das sind größere Lebensfeinheiten, als sie der heutigen Zeit gelegen sind. Aber dieses Hindurchgehen durch die drei Sphären, dieses tägliche Getauftwerden in die drei Gotteswelten hat etwas prachtvoll Segnendes. Es hebt das Leben in eine erhabene Höhe. Es krönt den Menschen mit Göttlichkeit. Und der Mensch wird erfahren, daß er dann in der Nacht in die Einheit der Drei aufgenommen ist, daß er das Miteinander und Ineinander der drei göttlichen Welten wie eine Musik erlebt. Er lebt dann im göttlichen Weltengrund. Er wird geschaut. Er wird gesegnet. Er wird meditiert, wie er selbst meditiert hat. Nachdem er am Tag nacheinander, wie es dem Gesetz der Erde entspricht, durch die drei Welten gegangen ist, fühlt er sich in der Nacht gleichsam besehen von der einen Urgöttlichkeit selber, zu deren Leben er gehört. Er darf wohnen im Einssein, wenn auch von diesem Geschehen der Nacht nur Ahnungen in sein Tagesbewußtsein hereinscheinen. Auch das Jahr ist ähnlich in sich lebendig wie der Tag. Will man die Meditation dem Jahreslauf entsprechend vollziehen, so sind von Advent an durch die Weihnachtszeit hindurch bis zum Beginn der Fastenzeit die Ich-binWorte der Seele am nächsten. Die äußere Welt versinkt in Finsternis. Um so heller scheint das Licht im Innern. In der Weihnachtsnacht und in den zwölf heiligen Nächten leuchtet das „Ich bin“ geistmächtig im Dunkel der Welt. Wenn die Passionswochen beginnen bis hin zu Himmelfahrt und Pfingsten, dann ist die Zeit, wo die Meditationen von der Fußwaschung bis zur Auferstehung und Himmelfahrt sich sinngemäß dem Jahreslauf einfügen. Die äußere Sonne opfert sich jetzt hin an die Erde. Und der Mensch antwortet ihr mit einem inneren Opfergang. Passionszeit und Frühling, scheinbare Widersprüche, klingen zusammen, wenn man auf das Geistige sieht. Für die Willensmeditationen aber ist die beste Zeit gegen den Herbst hin, wenn die Tage kürzer werden, wenn der Mensch dem Abnehmen des äußeren Lichts, dem Ersterben der Erde eine um so größere Innenkraft entgegensetzen muß, wenn er fühlt, daß jetzt Michael sein Schutzgeist werden will, damit er nicht in der hereinbrechenden Weltentrauer versinkt, damit er das innere Ostern gebiert als Antwort auf das äußere Ostern, das ihm ein halbes Jahr vorher verkündet worden ist. Das alles braucht nicht gesetzlich gehandhabt zu werden. In hohem Grad kann sich der Mensch vom Jahreslauf unabhängig machen. Insbesondere wäre es gut, wenn der Mensch erst einmal durch alle Übungen langsam hindurchginge, mag es auch Jahre dauern. Er mag bei jeder einzelnen Übung so lange verweilen, bis er ihren Sinn erfaßt und ihren ersten Segen gewonnen hat.
Das Wohltätige und Umfassende des Ganzen wird er dann am raschesten zu spüren bekommen. Aber – noch einmal sei es zum Schluß ausgesprochen – es mag auch jemand bei den beiden ersten Übungen: „Ich bin die Liebe“ und „Ich bin der Friede“ zeitlebens stehenbleiben, und alles übrige nur zu Erleuchtung und Ausfüllung dieser beiden Grundübungen sich dienen lassen. Jedenfalls ist es gut, wenn man diese beiden Meditationen nie verläßt, sondern immer als Grundelemente in seiner Seele trägt. Es ist wirklich so, daß diese beiden Meditationen eine Kommunion vermitteln, ein Empfangen von Leib und Blut Christi, wie wir es oben geschildert haben. Wir haben in ihnen auf höhere Weise das wieder, was in den alten Mysterien als Furcht und Mitleid in den Seelen erweckt wurde. Aristoteles sagt es von der Tragödie. Durch sie wirkten die Mysterien in die Öffentlichkeit. Aus der Furcht wird hier anbetende Ehrfurcht. Aus dem Mitleid hinströmende Liebe. Dies ist die innere Verfassung, in der sich uns Leib und Blut Christi mitteilen. Empfände jemand das Bedürfnis, zu der Meditation „Ich bin der Friede“ am Abend und „Ich bin die Liebe“ am Morgen noch eine gleichwertige Grundmeditation für den Mittag zu haben, so wäre es: „Ich bin das Wort“, aber als schaffende Geist-Tat gedacht. Dies würde uns ebenso mit dem Heiligen Geist verbinden wie der Friede mit dem Vater und die Liebe mit dem Sohn. – Als ich diese Briefe schrieb, stand vor mir das Bild einer fernen Zukunft. Ich dachte daran, wie Rudolf Steiner von dem geistigen Charakter einer kommenden russischen Kultur sprach, die erst in vielen Jahrhunderten zu erwarten ist. Da wird man dann freilich viel Besseres sagen können, als in diesen Briefen gesagt wird. Andrerseits empfindet man lebendig, wie in unsrer Zeit nicht einmal das recht möglich ist, was hier geschildert ist. Soll man es deshalb unausgesprochen lassen? Als ich mich schon fast dazu entschlossen hatte, zu schweigen, sah ich, daß es nicht erlaubt ist. So mag es hinausgehen und sich die Menschen suchen, denen es etwas bedeutet. Vielleicht ist für viele schon dies von Wert, zu sehen, daß es ein ganz andres Leben geben kann, als was sie heute leben, und zu erkennen, daß dies andre Leben nicht in Klöstern und Einsiedeleien geführt zu werden braucht, sondern daß die Kraft der Innerlichkeit hineingebaut werden kann in ein tätiges äußeres Leben. So sei noch ein Letztes gesagt. Wir schließen es an an ein großes weltgeschichtliches Sinnbild, das uns von alten Zeiten überliefert ist: die Sphinx. Durch Rudolf Steiner haben wir gehört, daß im Bild der Sphinx vor uns steht das Hervorkommen des Menschen aus der Tierwelt. Geistiger als es in den Vorstellungen der heutigen Wissenschaft lebt. Was im Tierreich da ist im Adler als die Fähigkeit des Sich-Erhebens von der Erde, als die Kraft des Sonnenfluges, das hat einst der Mensch in sich verwandelt zur Kraft des Geistes, zum Willen des Höherstrebens über das Irdische hinaus. Was in der Tierwelt lebt als Mut im Löwen, als instinkthafte, sprunghafte Leidenschaft, das hat der Mensch vergeistigt zum Vermögen edler Empfindung. Was in der Tierwelt lebt als Kraft des Stiers, als physische Energie und äußeres Drauflosgehen, das konnte der Mensch umwandeln in geistigen Willen.
In alten Zeiten hat man – nach Rudolf Steiner – in den Mysterien die Menschen daraufhin angesehen, welchen Reichen ihre Kräfte am verwandtesten sind, und hat sie darnach in den Mysterien erzogen entweder zu Weisen, wenn sie vor allem Adlerkräfte des Geistes in sich trugen, oder zu Ärzten, wenn die Empfindungsfähigkeit in ihnen das Vorherrschende war, oder zu Magiern, wenn man auf ihre Willenskraft baute. Menschen im besonderen Sinn aber wurden die, in denen ein Ausgleich dieser drei Anlagen gelang. Noch bis in die Symbole, die den Evangelisten beigegeben sind, wirken diese Mysterienanschauungen nach. Man kann dies nur als ein historisches Bild betrachten. Auch dann macht es uns die Menschheitserziehung von neuer Seite klar, die wir hier mit Hilfe des Johannesevangeliums versuchen. Höchste Weisheit ist es, was durch die Ichbin-Worte uns wird. In einer Zeit, wo in den Großstädten durch sogenannte Yogalehrer Schaden angerichtet wird, wo Übungen verbreitet werden, deren treibende Kraft der Egoismus des Höherstrebens, des Kraftgewinnes, des Überlegenwerdens ist, lebt die Weisheit in ihrer lichten Reinheit in diesen Ichbin-Worten. Wer diesen Tempel um sich baut, der wird das Gefühl einer bergenden Geistesheimat haben. Alle okkulten Praktiken, deren Sinn und Ziel man nicht voll durchschauen kann, sind dringend zu widerraten. Sucht jemand eine zuverlässige Führung in die geistigen Reiche, so können ihm nur die Bücher von Rudolf Steiner empfohlen werden, zum Beispiel „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ und „Die Geheimwissenschaft im Umriß“. Hier waltet der Geist, der allein auf diesem Gebiet führen darf: das selbstlose Suchen nach den geistigen Grundtatsachen der Welt, das Sich-Einfügen in die moralische Weltenordnung, das Einsetzen des Willens nicht für subjektives Streben, sondern für göttliche Weltenziele. Nur in solchem Geist kann das okkulte Gebiet ungefährdet betreten werden. Unsre Übungen widerstreiten dem nicht, sondern erziehen dazu. Von dem Geist der Ich-bin-Weisheit umleuchtet zu sein, ist wichtiger und gibt für das wirkliche Leben mehr Erleuchtung, als wenn man sich auf zweifelhaften Wegen einige Eindrücke von verborgenen Welten erzwingen will. Ist es hier der „Weise“, den wir zu bilden suchen, so gibt es auch eine gegenwartgemäße Erziehung zum „Heiler“. Sie geschieht hier im Anschluß an die Christusoffenbarung in Leiden und Auferstehung. Nicht um wallende Gefühle handelt es sich, in denen wir uns wohl fühlen, sondern um eine Grundlebensgesinnung, die aus dem Opfergeist einer göttlichen Liebe geboren ist. So entsteht die echte Güte, die der Welt Heilung bringt. Unsre Willensübungen aber, im Anschluß an das Wirken Christi selbst, bilden uns aus zum willensmächtigen Mitschaffen im Weltenkampf, das von den göttlichen Mächten erwartet wird, erheben uns zu wirklichen Mitarbeitern der Gottheit. Aus dem Erden–tun Christi entnehmen wir die Erziehungskräfte zu einer neuen weißen „Magie“. Daß es dieselben Kräfte sind, die in den sieben Sakramenten der Christengemeinschaft leben, sei hier nur angedeutet.
Wenn man diese Sakramente, oder wie wir auch sagen können: diese übersinnlichen Christustaten, in folgender Reihe betrachtet: Taufe, Konfirmation, Beichthilfe, Abendmahl, Trauung, Priesterweihe, Sterbeweihe – dann wirkt in ihnen weiter, was einst in den sieben Großtaten wirksam war. Nun könnte man noch fragen, ob man nicht das Ganze in einem einzigen Meditationswort zusammenzufassen vermag. Dazu kann allerdings nur ein Gottesname dienen. Aber keine der heutigen Sprachen, in denen die Geistoffenbarung im Laut nur noch verdunkelt lebt, gibt ihn uns. Gehen wir aus von den reinsten Lauten der Innerlichkeit, so ist es offenbar, daß die Worte Licht und Ich nicht zufällig den I-Laut in sich tragen. Man kann geradezu sein Denken, sein Geistesleben, sein Haupteswesen baden im reinsten Klang des I. Wenn man diesen Laut heilig empfindet wie aus dem Leben der Gottheit selbst erklingend, dann geht eine starke Läuterungskraft von ihm aus. In dem Klang A aber kann sich uns die Wirklichkeit um uns her reinigen oder vielmehr unsere Empfindungen dieser Wirklichkeit gegenüber. Wir können in dem strahlenden A geradezu das Unreine in uns erkennen und ausscheiden. So mag unser „mittlerer Mensch“, in dem das Herz wohnt und die Gefühle sich bewegen, im A die Kraft der Hingebung an die Wirklichkeit empfinden, wie wir sie in unsern Gesinnungsübungen gepflegt haben. Ganz anders das O. In ihm lebt etwas Großes, Volles, Vollkommenes. Es ruft die tiefsten Kräfte unsrer Seele heraus und weist sie auf die Vollkommenheit hin. „Ihr sollt vollkommen sein wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“ Vom mächtigen, lebensstarken Klang des O mag sich der Mensch umklungen fühlen, wenn er seinen Willen erhoben hat zu den göttlichen Weltenzielen. In den Vokalen lebt die Innerlichkeit des Menschen. Noch heute, wenn unsre Seele unmittelbar sich äußert auf einen Eindruck, kommen die Vokale aus ihr hervor. Tiefe Lebensgeheimnisse leben darin, die nur herausgeholt und zu ihrer göttlichen Höhe emporgeläutert werden müssen. Einst bildeten die drei reinsten Vokale einen uralt erhabenen Gottesnamen. Die Urgöttlichkeit wurde als die reinste Innerlichkeit angesprochen. So lebte das Wort Jao als heiliger Gottesname in Ägypten, in Kleinasien, wohl auch in China. Auch im israelitischen Gottesnamen Jahveh lebt es und stellt sich da mit dem E fest auf die Erde. So mag der Mensch in diesen drei Lauten sein eigenes Wesen der Gottheit weihen. Er mag mit dem Ausdruck der reinsten Innerlichkeit die Gottheit in Ehrfurcht nennen. Er mag erklingen mit seinem Wesen in ihrem Wesen. Er mag sich läutern mit diesen Lauten zu ihrem Sohn. Wie ein Widerklang dieses Gottesnamens ist der Name Johannes selbst, von dem wir diese Erziehung zum wahren Menschentum erhalten haben. Vielleicht bedarf es bei manchem längerer Mühe, ehe er diese Geisteswege gehen und in ihnen unsre Übungen ausklingen lassen kann. Ihm mag es Ziel sein – was wir alle vor dem letzten Wort auch vollbringen sollten – durch diese Übungen sich die drei ersten Bitten des Vaterunsers zu erfüllen mit dem reichen Inhalt der Evangelien selbst. Im Zusammenhang mit dem Vaterunser besiegelt sich uns der Christusgeist dessen, was hier versucht worden ist.
Dein Name werde geheiligt! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe Wie oben in den Himmeln also auch auf Erden! Der Gang der Menschenweihehandlung entspricht ebenso dem Weg unsrer Übungen: vom Wort über das Opfer durch die Wandlung: zur Kommunion, zur letzten Vereinigung. So können wir uns eingehüllt fühlen in die Lichtgestalt Christi und in ihr unser Leben führen. –
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