Marokkanisches Abenteuer (DDR 1957)

July 16, 2017 | Author: gottesvieh | Category: N/A
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SCHÖNDUBE · MAROKKANISCHES ABENTEUER

OTTO SCHÖNDUBE

MAROKKANISCHES ABENTEUER

Mit Federzeichnungen von Ursula Mattheuer-Neustädt

JUGENDBUCHVERLAG ERNST WUNDERLICH LEIPZIG

Erschienen im Jahre 1957 im Jugendbuchverlag Ernst Wunderlich Inhaber Klaus Zenner und Fritz Gürchott, Leipzig Lizenz-Nummer 359-425 21157 1.-10. Tausend Alle Rechte durch den Verlag vorbehalten Satz und Druck: Garamond-Antiqua Buchdruckerei Oswald Schmidt KG, Leipzig Illfr8,'65 Umschlagdruck Förster & Borries Graphischer Betrieb, Zwickau

INHALT Über den Wolken...... .............. Fremdes Land..............................

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Der Schuß.................................

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Die Flucht.................................

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In den Bergen. . ....... ..................... Kapitän Lasalle ................... . ........

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Ein Wiedersehn ............................

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F4kaha Brouß..............................

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Weihnachten ..................... ..........

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Abschied ..................................

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Aufruhr..............................·····

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Nächtlicher Riu ............................ 112 Durst..................................... 118 Die tote Stadt.................. ............ 128 Die Gaffla. . ......... ...... .... ...... ...... 139 Fez....................................... 145 Die Heimat ruft ............................ 154 Worterläuterungen .......................... 161

ÜBER DEN WOLKEN

Wolkenfetzen trieben an den Fenstern der großen viermoto­ rigen Flugmaschine der Air France vorbei. Sie begann ein wenig zu schaukeln.

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Ängstlich blickte Horst Lehnert nach der jungen Luftstewardeß hin, die ihn während der Reise betreut hatte. Ein jüngerer Herr unterhielt sich eben mit ihr. Sie sprachen spanisch. Was eine

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Luftstewardeß nicht alles können mußte! Als ahne sie seine Ängstlichkeit, beendete sie das Gespräch und setzte sich auf den freien Platz neben ihm. Mit ruhigen Worten erklärte sie ihm die Wolken und warum es ein bißchen schaukelte, und da war er nicht mehr bange. ,,Möchtest du dir die Führerkanzel ansehen?" fragte sie plötzlich. Sofort war Horst Feuer und . Flamme: ,,q_h, gern"! Sie schritt ihm voraus durch die Flugkabine und stieß die schmale Tür auf, die zum Pilotenraum führte. Im Vorbeigehen warf Horst einen Blick in den länglichen Spiegel, der dort hing. Ein schmales, blasses Gesicht starrte ihm daraus entgegen, ein Paar große blaue Augen, helles Blondhaar. Trotz seiner drei­ zehn Jahre war Horst schon ein Meter siebzig groß. Immer hatte er sich auf seine Größe etwas eingebildet, aber jetzt, zwischen den vornehmen Leuten im Flugzeug, da wäre er am liebsten ganz klein gewesen. Instrumente und Kontrollapparate verwirrten den Blick. Hier roch es nicht wie in der Flugkabine nach Parfüm, teuren Ziga­ retten und leckeren Speisen, sondern nach Leder, 01 und Schweiß. Das Dröhnen der Motoren war hier so stark, daß man kaum miteinander reden konnte. Horst staunte. Seine Augen gingen hin und her, aufmerksam hörte er seiner Begleiterin zu. Mit fast ehrfürchtiger Scheu blickte er von den vielen Instrumenten, den vielen Knöpfen und Hebeln, hinaus auf die großen Tragflächen, die grell in der Sonne blitzten. Gleichmäßig, schwerelos, flog die Maschine. „Der dritte Motor bekommt zu wenig 01", wandte sich der Flugkapitän zu dem neben ihm sitzenden zweiten Piloten. So­ fort drückte der auf einen Knopf des Armaturenbrettes, der die Olzufuhr auslöste. Horst freute sich, daß er die französi­ schen Worte verstand. Seit die geringste Hoffnung auf diese Reise bestand, hatte er sich in die fremde Sprache vertieft und war ein ganzes Stück vorwärtsgekommen. ,,Wenn ihr noch einen Piloten braucht", scherzte die Stewardeß mit den Män8

nerh, ,,hier bringe ich einen Anwärter. Ein deutscher Junge und auf dieser Reise unser jüngster Passagier!" Der Flugkapitän vor der Steuerung blickte auf. Für einen Augenblick erhellte sich sein ernstes Gesicht, das die ständige Sorge um-das Leben anderer und der immerwährende Kampf mit den Elementen geprägt hatte. Er lächelte und gab Horst die Hand. Er mochte an seine eigenen Kinder denken, die in Frank­ reich auf ihn warteten! „Flugkapitän ist ein"e feine Sach�", dachte Horst, als sie den Pilotenraum verließen. Bisher wollte er Chemiker werden, doch nun - Flugkapitän könnte auch locken. Gar zu gern hätte er manches eingehender betrachtet, die Funkbude, diesen wi'nzigen Raum, in dem der Funker seine Meldungen aufnahm und aufgab, die Mannschaftskabine, und was es noch alles auf der 'großen Flugmaschine gab; aber seine Führerin wurde in der Flugkabine gebraucht. Eine Luftstewardeß• hat für alle Gäste da zu sein, man muß sich jederzeit ar:i sie wenden kön­ nen; sie ist Köchin, Serviererin, Fremdenführerin und halbe Ärztin zugleich. Als Horst wieder in seinem Polstersessel lag und durch das runde Fenster sah, flog die Maschine über den Wolken, die wie eine wunderschöne, weite Schneelandschaft schimmerten. „Wenn Mutter dabei wäre!" ging es ihm durch den Kopf. Zum erstenmale auf der Reise dachte er an sie und sah sie vor sich, wie sie ihm weinend auf dem Rhein-Main-Flughafen in Frank­ furt nachwinkte. Verstohlen holte er eine Photographie aus sei­ ner Tasche, die dem letzten Brief von Tante Anni beigelegen hatte, um auf andere Gedanken zu kommen. Nachdenklich betrachtete er das Bild. Wie ähnlich die Tante der Mutter war! Obwohl ein Jahr älter als diese, wirkte sie bedeutend jünger. Das machte wohl die vornehme Kleidung, das gute Leben als Frau eines reichen Mannes. Mutter. dagegen hatte es schwer, seit Vater vor drei Jahren an seinen Kriegsverletzungen ge­ storben war. Nun, er würde sie später einmal unterstützen, 9

wenn er erst Geld verdiente. Seine Augen suchten auf dem Photo Onkel Henri. Tante hatte in ihren Briefen geschrieben, ihr Mann werde Horst studieren lassen. Onkel Henri in seinem dunklen Anzug sah mit dem ernsten, hageren Gesicht und der großen H0rnbrille so aus, als ob er das Versprechen wahrmachen würde. Vorerst aber sollte Horst mit seinem Vetter Paul, der auf dem Familienbilde neben den Eltern etwas komisch wirkte, fleißig lernen.Paul wurde von einem Hauslehrer unterrichtet Onkel Henri mußte wirklich sehr reich sein! Nun ja, er besaß eine Mangangrube in den Atlasbergen, so hatte Tante Anni geschrieben. Als sie ihn heiratete, war er nur Ingenieur ge­ wesen, aber das war fast zwanzig Jahre her. Seit ein paar Jah­ ren besaß er die Grube, und Tante war erst vor wenigen Mo­ naten mit Paul nach Marokko übergesiedelt. Sie schien sich an ihrem neuen Wohnort nicht sehr wohl zu fühlen. Jedenfalls klangen ihre Briefe so. Horst kannte fast alle auswendig, vor allem den einen, in dem sie schrieb: ,,Ich möchte nicht, daß Paul mit den marokkanischen Barbaren mehr in Berührung kommt, als nötig ist. Darum wäre es mir und meinem Manne sehr lieb, wenn Du uns Deinen Jungen schicken würdest. Er ist ja nur ein paar Monate jünger als Paul. Sie könnten miteinander lernen und spielen und später einmal zusammen die Universität besuchen. Natürlich werden wir alle Kosten tragen ... " Die beiden Männer, die ihm gegenübersaßen, sprachen jetzt lauter als vorher, das machte Horst aufmerksam. „Ich habe auch meinen Glauben." Ein wohlbeleibter Herr, der sich als Gilbert Laval in die Flugliste eingetragen hatte, sagte es laut: ,,Ich glaube an mich und an mein Geld." Vertraulich klopfte er seinem Nachbarn, einem hageren, weißhaarigen Offi­ zier, auf die Schulter: ,,Lieber Colonel Bidault, lassen Sie es sich von einem Geschäftsmann sagen! Gold öffnet alle Türen, und für Geld ist alles zu haben!" ,,Alles ...", unterbrach ihn der Colonel, ,,das möchte ich be­ zweifeln!"

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Die Unterhaltung zwischen dem französischen Offizier mit den zahlreichen Orden und dem dicken Zivilisten, der seine Kör­ perfülle zur Schau trug, als wäre sie eine Auszeichnung, inter­ essierte Horst. Im ersten Augenblick wußte er nicht, wem er recht geben sollte, denn gerade auf dieser Reise sah er, Geld ist wie das „Sesam öffne dich" im Märchen. ,,Nicht alles", ereiferte sich der Colonel, ,,nicht alles ist käuf­ lich." Seine Augen nahmen einen träumerischen Glanz an. ,,Das Herz, die Treue eines Menschen, Gesundheit, oder - ein Sommerabend auf den Champs-Elysees, wenn hinter dem Are de Triomphe die Sonne untergeht." Monsieur Laval lachte: ,,Was mich an den Champs-Elysees interessiert, sind seine dreiunc.1zwanzig Cafes, Bars und Bistrots. Und ich sage Ihnen, mein lieber Colonel, dort wirkt das Geld!" Horst hörte den beiden Männern so zu, daß er ganz vergaß, aus dem Fenster zu blicken. Die Maschine war inzwischen niedriger gegangen. Blau und endlos lag das Mittelländische Meer unter ihnen. Voraus sah man jetzt einen dunklen Streifen, der in der Luft zu schweben schien. Die Stewardeß machte ihren Schützling darauf aufmerksam: ,,Dort, am Horizont, die Küste Marokkos, Horst." - ,,Marokko!" Gespannt starrte Horst nach dem dunk­ len Streifen, der zusehends festere Formen annahm und ein zerklüftetes Gebirge erkennen ließ, an dessen Steilküste sich schäumend die Wellen brachen. ,,Marokko hat viele Gebirge", erzählte die Stewardeß. ,,Hoch ragen die Gipfel in den Hirn-. mel. Er ist hier der Erde so nahe wie nirgendwo anders auf der Welt." „Oh - Sie sprechen ja mit wahrer Begeisterung von diesem Marokko", fiel ihr Monsieur Laval ins Wort. Die schwarzglänzenden Augen der Stewar.deß blitzten den Spre­ cher an: ,,Marokko ist meine Heimat!" Dann erklärte sie Horst weiter: ,,Da gibt es dichtbewaldete Hochgebirge, schroffe Gra­ nit-, Basalt- und Kalkfelsen mit tiefen Schluchten." 11

„Interessant!" suchte Monsieur Laval hartnäckig das Gespräch mit der Stewardeß fortzusetzen: ,,Sie sind die erste Marokka­ nerin, die ich als Luftstewardeß kennenlerne." ,,Die Welt ist für alle offen, Monsieur Laval", .erwiderte sie, und bei aller Höflichkeit klang es sehr entschieden, ,,auch für Marokkaner." Eine Engländerin verlangte nach ihr, als Monsieur Laval ge­ rade beteuerte: ,,Aber natürlich, natürlich!" überrascht starrte Horst hinter der Stewardeß her: Sie, diese Dame von Welt, die ihn die ganze Zeit betreut hatte, die so vieles wußte, die in allen möglichen Sprachen redete, war eine Marokkanerin? Tante Anni hatte doch geschrieben, die Marok­ kaner seien Barbaren. Es wurde Nacht. Doch nicht wie daheim in Deutschland mit jener wohltuenden Dämmerung, die vom Tag zur Nacht eine Brücke schlägt, sondern so, als würde ein dunkler Vorhang lang­ sam zugezogen. Glitzernde Sterne flammten auf. Jemand, der von dort herabschaute, müßte auch die Erde wie einen Stern sehen. Benommen starrte Horst in die Nacht: Nur ein winzigee Teil des Weltalls ist die Erde, und der Mensch - wie klein! Während der Reise war Horst mutig und selbstbewußt ge­ wesen, jetzt aber wurde ihm doch etwas bang zumute. Er hatte der Mutter, die anfangs von einer Trennung nichts wissen wollte, in den Ohren gelegen, bis sie einwilligte. Jetzt erschien ihm alles als voreiliges Wagnis. Nirgends war es schöner als daheim. ,,Mesdames, Messieurs ..." schallte es durch den Lautsprecher: ,,In wenigen Minuten landen wir auf dem Flugplatz von Casa­ blanca. Bitte, schnallen Sie sich an." Die Stewardeß half Horst beim Festschnallen, dann bemühte sie sich um die anderen Passagiere. Aufgeregt blickte Horst aus dem Fenster: Ob Onkel Henri auf dem Flugplatz war, ihn abzuholen, wie Tante Anni geschrieben hatte? Mutter hatte ja schon vor vier Tagen ein Telegramm

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geschickt. Er befürchtete auf einmal,. Onkel Henri könnte nicht da sein. Sein Blick suchte die Stewardeß. Sie wußte ja, wie es um ihn stand, tröstete er sich. Sie würde sich um ihn kümmern. Eine Reihe farbiger Lichter leuchtete von der Erde herauf. Die Maschine zog eine Schleife, machte eine scharfe Biegung, dann setzte sie zur Landung an. Einige Passagiere neigten sich über ihre Speitüten. Auch Horst spürte für einen Augenblick ein :würgendes Gefühl, doch es ging vorüber. Die Maschine setzte auf, rollte ein Stück über die betonierte Rollbahn, dann stand sie still. Casablanca war erreicht!

FREMDES LAND

Ein hagerer Herr im hellen Staubmantel stand an der Barriere. Aufmerksam musterten seine grauen Augen hinter der großen Hornbrille die Fluggäste. Horst erkannte ihn sofort, es war Onkel Henri. ,,Da du sein", begrüßte er Horst in gebrochenem Deutsch. Er war freudig erstaunt, als ihm Horst französisch antwortete. „Ich bin gerade vor einer Stunde hier angekommen, mein Junge." Onkel Henri seufzte: ,,Mein Chauffeur ist gefahren wie der Teufel, um rechtzeitig hier zu sein. Wir bekamen gestern erst euer Telegramm. Wir wohnen nämlich in einer richtigen Wildnis, es gibt da nicht einmal ein Telephon ..." „In einer Wildnis", staunte Horst, ,,mit wilden Tieren und Räubern?" Der Onkel lachte: ,,Du denkst ari deine Schmöker." Er wurde ernst: ,,Nun ja - wilde Tiere gibt es in den Bergen und Ur­ wäldern des Großen Atlas, den Panther zum Beispiel, der ganz gefährlich werden kann, Füchse, wilde Schafe und Ziegen, Hyänen, Schakale, Skorpione und was weiß ich noch alles, und - manchmal auch Räuber, die auf uns Europäer nicht gut zu sprechen sind." Ein riesiger, in rotem Lack glänzender Citroen hielt vor der Flughalle. Der Chauffeur war ein Schwarzer, ein wahrer Her­ kules, den Onkel Henri aus irgendeinem Grunde Tim nannte, obwohl er Hussein hieß. Er fuhr sie durch das nächtliche Casablanca nach dem Hotel, in dem sich Onkel Henri mit seinem Neffen angemeldet hatte. Trotz der späten Nachtstunde

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herrschte noch reger Verkehr in den Straßen der Stadt. Aber allmählich wurde es immer ruhiger, bis schließlich nur noch ein schweres Rollen übrigblieb und in unregelmäßigen Ab­ ständen die nächtliche Stille durchbrach. ,,Die See, der Atlan­ tik ..." erklärte der Onkel. Ein Windstoß kam von Westen

her wie zur Bestätigung. Doch die Brise war nicht erfrischend, wie man erwartet, wenn man sich der See nähert, sie war heiß und von einem aufdringlichen Geruch erfüllt. Seltsam bedrückt schaute Horst in die Nacht. Ein schneeweißer Wolkenkratzer tauchte auf. Tim hielt vor dem Portal. Es war das Hotel, in dem sie übernachten wollten. Mit seiner Pracht und Bequemlichkeit hätte es auch in einer 15

Großstadt Europas stehen können. Horst bekam ein sehr bes quem eingerichtetes Zimmer mit Diwan, Sesseln, Schrank und Bett aus glänzendem Mahagoni. An der Decke surrte leise qer Propeller eines Ventilators. An der Wand gab es einen Auto­ maten für Eiswasser, und wenn Horst heißes oder kaltes Was­ ser haben wollte, brauchte er nur am rot oder blau gezeich­ neten verchromten Hahn über dem großen Waschbecken zu drehen. So etwas kannte Horst bisher nur aus Geschichten. Durch3 offene Fenster blickte er hinaus auf den Atlantik. Eine Uhr schlug Mitternacht, da legte sich Horst zu Bett. Trotz der anstrengenden Reise fand er lange keinen Schlaf. Die Wild­ nis, Panther, Schakale und Räuber spukten ihm durch den Kopf. Verwundert blickte Horst sich um, als er erwachte. Erst all­ mählich wurde ihm klar, wo er sich befand. War das Gesang dort draußen? Horst ging zum Fenster und lauschte: ,,Allahu akbar ! Esch schadu anna la illaha illa Allah ..." klang es durch die schwindende Nacht. Was bedeutete das? Frühzeitig holte Onkel Henri seinen Neffen ab. Er wollte den Tag für geschäftliche Besorgungen und Besprechungen aus­ nützen. Gleich nach dem Frühstück brach man auf. Der Wagen brachte sie zuerst nach der Mellah, dem Juden­ viertel von Casablanca. Horst kam aus dem Staunen nicht her­ aus. Basare, Häuser, Synagogen und Menschen - das war wie ein Film. Lebhafte Kinder, Frauen in europäischer_ Kleidung, Männer mit langen Bärten und dunklen Kaftanen bevölkerten .die Straßen, Plätze und Gassen. überall blieb man stehen und sah dem großen Wagen nach. Hier und da fuhr eine Hand nach dem kleinen schwarzen Käppchen auf dem Kopf! Onkel Henri suchte einen befreundeten Bankier auf. Verärgert kam er zurück. ,,Verbohrtes Volk!" schimpfte er. ,,Weil heute Sabbath ist, verhandelt der Kerl nicht!" Dann fuhren sie in die Eingeborenenstadt, in die Medina. Der 16

. Citroen bog gerade in das Viertel ein, da erscholl ein viel­ stimmiger Gesang, .der aus den Lüften zu kommen schien. Wie heute morgen, dachte Horst. Er blickte empor. Auf den Zinnen der Minaretts, der hohen Türme, die wie ausgestreckte Finger in den wolkenlosen Himmel wiesen, sah er die „Muezzins", die mohammedanischen Gebetsrufer, in ihren weiten Gewändern: Mit erhobenen Händen riefen sie die Gläubigen zum Gebet. „Fünfmal am Tage geht das so", sagte der Onkel, ,,anfangs wird es dir auf die Nerven fallen wie jedem Europäer. Allmäh­ lich wirst du dich daran gewöhnen.''. „Haben die Mohammedaner nicht etwa auch Feiertag, Onkel Henri?" fragte Horst. Er fürchtete, daß sein Onkel hier genau­ so wenig Erfolg haben könnte wie bei den Juden. ,,Die Moslem feiern am Freitag", entgegnete Onkel Henri. ,,Hier kann nichts schief gehen." Horst mußte an Onkel Peter denken, Mutters älteren Bruder, der in einem großen chemischen Werk Meister war. Im stillen verglich er ihn mit Onkel Henri. Onkel Peter war doch gatlz anders. Nicht gleich so verärgert, wenn mal etwas nicht so ging, wie er dachte, und viel freundlicher und zugänglicher. Onkel Henri wagte man ja kaum zu fragen. Hier in der Medina sah Horst zum erstenmal eine Maurenstadt. Selbst die Gebäude nach dem Europäerviertel zu, die etwas moderner aussahen, wichen nicht grundsätzlich ab vom mau­ rischen Stil. Lebhaftes, buntes Treiben herrschte in den Straßen. Aber über­ rascht nahm Horst wahr, daß der größte Teil der Männer die Kleidung der Europäer trug. Andere waren halb europäisch, halb arabisch gekleidet. Nur wenige trugen wirklich die Lan­ destracht, die weiten Hosen mit dem hemdartigen Überwurf und dem Mantel, dazu Belghas, das sind Schuhe, die eigentlich mehr wie Pantoffel aussehen. Die prächtigen bunten Gewänder der Frauen mit weiten Ärmeln reichten fast bis auf die Knöchel und wurden durch breite Gürtel zusammengehalten. Das Ge-

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sieht war mit einem dichten Schleier verhüllt, der nur einen schmalen Schlitz für die Augen freiließ. Erstaunt beobachtete Horst, wie einige Frauen, die ihren Männern in gewissem Ab­ stand gefolgt waren, sich mit gekreuzten Beinen geduldig auf dem Boden niedersetzten, als sich die Männer auf offener Straße rasieren ließen. Während Onkel Henri seinen arabischen Geschäftsfreund auf­ suchte, parkte Tim den roten Citroen in der Nähe eines ara­ bischen Gotteshauses. Horst betrachtete die Besucher der hei­ ligen Stätte mit einer gewissen Scheu. Sie nahmen am Brunnen vor dem Eingang die vorgeschriebenen Waschungen vor und betraten das Heiligtum mit bloßen Füßen. Ihm fiel auf, daß keine Frau mit erschien; aber Tim belehrte ihn: ,,Frauen gel­ ten bei den Mohammedanern nicht viel. Sie leben für sich in einem abgeschlossenen Teil des Hauses, im Harem, den fremde Männer nicht betreten dürfen. Sie haben weniger Recht als Sklaven. Au�erhalb' des Hauses müssen sie verschleiert gehen, nur ihr Mann darf ihr Gt;sicht sehen." ,,Davon habe ich einmal etwas gelesen", sagte Horst nachdenklich. ,,Ich habe es auch in Filmen gesehen; aber in Wirklichkeit ist doch alles noch ganz anders!'� Onkel Henri kam zurück. Er war nervös und gereizt, man merkte, daß ihn seine Besprechungen nicht befriedigt hatten. Ungeduldig trieb er Tim zur Eile. Der Citroen jagte durch die Medina. Die Prachtbauten längs der breiten Straßen blieben zurück. Elende Baracken, primitive Hütten und sogar Erdhöhlen, die als Wohnstätten dienten, lösten sie ab. Horst konnte sich kaum vorstellen, daß darin Menschen wohnten. über der ganzen Medina lag ein eigen­ artiger süßlicher Geruch nach Zwiebeln und gebratenem Ham­ melfleisch. Casablanca, die weiße Stadt am Meer, blieb zurück, der Citroen jagte die Straße entlang, die von französischen Fremdenlegio­ nären gebaut worden war und über Ber Rechid und Qued Zem

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nach Kasbah Tadla Zaian am Westhang des Großen Atlas führte. Tim ließ den Wagen auf vollen Touren laufen. Der Motor summte, die Nadel des Tachometers zeigte über hundert Kilometer in der Stunde an. Horst übermannte die Müdigkeit. Die lange Flugreise und die kurze Nachtruhe machten sich bemerkbar, das monotone Sum­ men des Motors wiegte ihn in Schlaf. Erst auf dem Wege zwischen Qued Zem und Kasbah Tadla Zaian wachte er wie­ der auf. Tim hatte eben den Citroen abgebremst. Eine Gaffla begegnete. ihnen. Langsam fuhr Tim an ihren Kamelen, Maultieren, Pfer­ den, Treibern und Begleitern vorbei. Zwei Welten begegneten 19.

sich: der glatte, blitzschnelle Citroen, eine Spitzenleistung aus­ geklügelter Technik, und die zottigen Kamele, die mit langen, langsamen Schritten dahinzogen, als gäbe es keine Zeit. Eine riesige sandige Ebene wurde durchquert. Nur wenige stachlige Kakteen fristeten hier ein kärgliches Dasein. Im blauen Dunst der Ferne tauchten dunkle Felsmassen auf, aus ihnen ragte ein mit ewigem Schnee bedeckter Gipfel empor, der 4300 Meter hohe Djebel Aicha. ,,Der Große Atlas", sagte Onkel Henri kurz, ,,dorthin fahren wir." Kasbah Tadla Zaian wurde erreicht. Vor der imposanten Kasbah, die nach blutigem Kampfe im Jahre 1912 von dem französischem Colonel Matzan erobert wurde und seitdem als wichtiger französischer Stützpunkt dient, war die gesamte Besatzung angetreten; Fremdenlegio­ näre in ihren Khakiuniformen mit weißen Käppis, Zuaven, Sene­ galesen, Tirailleure und Spahis in ihren roten Jacken, blauen Hosen, wei�en Mänteln und Turbanen. Ein hoher Offizier war zur Inspektion gekommen, ihm zu Ehren ritten die Spahis eine Fantasia. „Können wir ein bißchen zusehen?" bat Horst aufgeregt, aber der Onkel ging nicht darauf ein. ,,Kinkerlitzchen", knurrte er, ,,kostet uns nur Zeit." über die lange, aus mächtigen Steinquadern gefügte Brücke, Portugiesen-Brücke genannt, weil sie .von christlichen Sklaven erbaut worden war, kam eine große Herde Steifhaarziegen und Fettschwanzschafe. Das zwang den Citroen zu halten, und so bekam Horst doch noch den wilden Schauritt zu sehen. In rasendem Galopp jagten die Spahis auf ihren schnellen, edlen Pferden dahin. Mit wildem Geheul schwangen sie ihre Waffen, stellten sich in die Steigbügel, warfen die Gewehre in die Luft und fingen sie wieder auf, feuerten ganze Salven ab und brau­ sten wie die wilde Jagd an dem hohen Gast vorb7i. Obwohl Onkel Henri so zur Eile gedrängt hatte, ließ er Tim l'/Or dem Gasthaus auf der anderen Seite der Portugiesen-Brücke 20

halten, die das rötliche, ungenießbare Bergwasser des Qued Oum Rebria überspannte. Der Wirt war ein Spanier. Onkel Henri behauptete, es gebe bei ihm den besten Wein von ganz Marokko. Als sie die Fahrt fortsetzten, hatte er ein ganzes Quantum davon genossen. Von Kasbah Tadla Zaian ab fuhren sie auf der alten Karawa­ nenstraße, die von Fez aus über die Höhen des Großen Atlas nach den Oasen des Tafilet führt. Weiter oberhalb wird sie kaum noch benutzt, nur die in der Zeit der Motorwagen immer seltener werdenden Karawanen ziehen noch auf ihr nach dem Süden. Je höher man kam, um so beschwerlicher wurde die Fahrt. Der Weg führte durch Urwälder von riesigen Korkeichen, welche die Hänge des Großen Atlas bedecken. An steilen Felswänden und gähnenden Abgründen vorbei schlängelte er sich hinauf in das Hochgebirge. Hier sah man nirgends eine Tankstelle. Die­ ser Straße hatte der moderne Verkehr noch nicht sein Zeichen aufgedrückt. Nur bizarre Felsen und steiniges Geröll gab es, und über allem lag eine Stille, die in sich selber zu horchen schien. Onkel Henri sah von allem nichts, er schlief tief und gründlich: Erst am späten Nachmittag erwachte er, als die Sonne schon wie eine glühende Scheibe tief über dem zerklüfteten Bergland hing und alles mit blutigem Rot übergoß. Leuchtend strahlten die Felsen. Zerzauste Palmen schwebten am Rande schroffer Abgründe. Der Citroen bog jetzt in ein weites fruchtbares Längstal ein. Hier breiteten sich Baumwoll­ felder aus. Aus der wolkigen Fläche der weißen Blüten stiegen wie dunkle Hügel Ol�ven- und Orangenhaine empor. Fern im Hintergrunde stand still und feierlich der Gipfel des Djebel Aicha, gekrönt von ewigem Schnee. Inmitten starrer Felsen lag das blühende Tal wie ein Paradies. Nach Süden zu verengte es sich zu einer Schlucht, durch die die alte Straße weiterführte: Hoch über dieser Straße, durch ein Paar Zwillingsfelsen von

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ihr geschieden, erhob sich der wuchtige Bau einer uralten Kas­ bah. Ihr zu Füßen schmiegten sich eine stattliche Anzahl nied­ riger Häuser mit flachen Dächern an den Felshang. Nur hin und wieder ragte daraus ein größeres Gebäude hervor. Aus denselben dunklen Steinquadern wie die Kasbah auf der Höhe

und der gewaltige Kuppelbau der Moschee war das hohe Mina­ rett gebaut, dessen Rundgang den Turm wie ein Ring an einem riesigen Finger umgab. Goldner Zierat schmückte die Spitze aus hellem Marmor. „Ain el Nahza." Horsts Onkel deutete auf die Ortschaft, der sie schnell näherkamen. ,,Dort wohnen wir.''.

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Die Straße wurde jetzt besser. Durch einen hochgewölbten Tor­ bogen der dicken, hohen Mauer, die Ain el Nahza wie alle Ortschaften Marokkos umgab, führte sie -hinein in die Stadt. In der Nähe des Tores befand sich, wie landesüblich, die Tee­ bude. Dort hockten ein paar Männer mit gekreuzten Beinen auf Strohmatten und schlürften würzigen Nana aus kleinen fuß­ losen Gläsern. Dabei unterhielten sie sich sehr laut. Nur als der Citroen vorbeifuhr, hielten sie einen Augenblick inne und blickten ihm nach. Horst sah sich gespannt um. Hier also sollte er die nächste Zeit verbringen! Halbnackte Kinder spielten auf Gassen, Straßen und in Felsen gehauenen Treppen. Verschleierte Frauen begegneten ihnen, die Krüge und schwere Ballen auf ihren Köpfen trugen. Weder Männer, Frauen oder Kinder trugen europäische Kleidung. Hier war tiefer Orient. Oft grüßte man nach dem Citroen herüber. Onkel Henri schien in diesem weltabgelegenen Ort ein bedeutender Mann zu sein. Nachlässig und herablassend erwiderte er die Grüße, manch­ mal übersah er sie ganz. Horsts Augen waren überall. Zwei Männer begrüßten sich. Mit großer Würde und Feier­ lichkeit geschah das. Langsam führten sie die rechte Hand zum Herzen, hoben sie zur Stirn und sprachen dabei eine Gru�­ formel. Tim mußte langsam fahren. Vor ihm auf der schmalen Straße bewegte sich ein seltsamer Zug. Ein Mann ritt gemächlich auf einem kleinen Esel. Die Beine hingen lässig an beiden Seiten herab. Eine junge Frau lief nebenher. Sie trug einen schweren Sack auf dem Kopf, in einem bunten Tuch vor ihrer Brust hing ein Baby, an ihrer Hand trippelte ein kleines Mädchen. Der Es.elreiter schlug mit einem Stock abwechselnd auf das Tier ein und auf die Frau. Fassungslos starrte Horst auf die Frau, die sich kein einziges

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Mal wehrte und ruhig mit der schweren Bürde ihres Weges weiterschritt. Daß es so etwas gab! Auf halber Höhe' nach der Kasbah zu, lag ein großer, freier Platz. An der Ecke der Straße, die in ihn mündete, stand ein ansehnliches viereckiges Gebäude mit vergitterten Fenstern. Von einem Mast wehte Frankreichs Trikolore, sie wurde eben von zwei Gendarmen herabgeholt. ,,Das Polizeigebäude", er­ klärte Onkel Henri. Er ließ halten, entblößte sein Haupt, saß kerzengerade im Wagen und starrte nach der Flagge, bis sie geborgen war. Da Tim dem Beispiel seines Chefs folgte, hatte auch Horst, von einem merkwürdigen Ernst befallen, seine Mütze abge­ nommen. ,,Es ist doch etwas Eigenartiges um eine Flagge", dachte er, als Tim weiter fuhr. Sie fuhren über den Platz auf ein prächtiges Bauwerk zu, das der Gendarmeriestation in ei­ nem großen Park gegenüber lag.. Eine Marmortreppe führte zum Eingang hinauf, über dem in großen Messing-Buchstaben ,,Maison Boudin" geschrieben stand. „Maison Boudin" las Horst staunend. ,,Onkel Henri, das ist dein Haus?" „Ja, mein Junge, mein Haus." Zum erstenmal sah Horst den Onkel lächeln. Eine elegante Dame in weißem Seidenkleid kam die Treppe herab. Horst erkannte sie gleich. Sie sah Mutter sehr ähnlich. Tante Anni schloß ihn in ihre Arme: ,,Horst! Wie freue ich mich, daß du da bist!" Ein Junge kam hinzu. Er war einen Kopf kleiner als Horst und hatte ein hageres Gesicht voller Sommer­ sprossen. ,,Ich bin Paul", sagte er und gab Horst die Hand. Sein Hauslehrer hatte ihtn in letzter Zeit etwas Deutsch beige­ bracht, aber Paul macbte das Sprechen viel Mühe. Er war sicht­ lich erfreut, daß Horst ,ganz gut französisch verstand. So prächtig wie das .Äußere war auch das Innere von Maison Boudin. Man kam zuerst in eine geräumige Halle. Sie hätte ganz gut in einem prunkvollen englischen Schloß sein können.

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Um den Kamin aus weißem Marmor standen bequeme Sessel. An der dunklen Holztäfelung der Wand hingen altertümliche Waffen und große Gemälde. Eine breite Treppe mit reich ge­ schnitztem Geländer schwang sich zum ersten Stockwerk em­ por. Droben befanden sich das große Arbeitszimmer seines Onkels, Tante Ann-is Damensalon, das Wohnzimmer, das Eß­ zimmer, die Schlafräume und Fremdenzimmer; im Erdgeschoß lagen Küche; Vorratsräume und Kammern der zahlreichen Be­ diensteten. Der Onkel führte Horst durch das ganze Haus. Er war plötz­ lich nicht mehr so kühl und herablassend wie auf der Fahrt, sondern zeigte ihm mit Stolz alle seine Kostbarkeiten. Tante Anni, die in Maison Boudin das Wort führte, konnte eben-

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so nicht fertig werden zu zeigen, was sie alles hatte. ,,Ist das nicht schön?" fragte sie immer wieder und ahnte gar nicht, wie unglücklich sich der arme Junge fühlte, den sie mit ihren Re­ den überschüttete. Er konnte gar nicht alles aufnehmen und fühlte sich wie in einem Kino. Beim festlichen Abendessen, mit dem man seine Ankunft feierte, lernte Horst Doktor MacHoward kennen, Pauls Hauslehrer, der auch ihn unterrichten sollte. Mister Howard, so wurde er in Maison Boudin genannt, spraeh deutsch, als hätte seine Wiege in Deut�chland gestanden und nicht in einem kleinen Ort des Mittelwestens der Vereinigten Staaten Amerikas. Es fiel Horst sofort auf, wie straff sich Mister Howard hielt. Er war schlank, sehnig, und wirkte, wenn er allein stand, größer, als er wirklich war.Wenn man ihn von weitem sah, konnte man ihn für einen Berufssoldaten halten. Aber in seinen Augen stand wohl Bestimmtheit und Festigkeit, doch nichts von Gewalt. Horst wunderte sich, daß Doktor Howard in einem so abgele­ genen Ort als Hauslehrer saß. Den Grund dafür erfuhr er später. Mister Howard arbeitete als Gelehrter an einem Werk über die Berber Marokkos, deren Herkunft noch immer dunkel war. Hier in der Abgelegenheit und Stille der Bergwelt hoffte er mit seiner Arbeit am besten vorwärtszukommen.

DER SCHUSS

Eine neue Zeit begann für Horst. Als seine Mutter ihm erlaubte, nach Marokko zu reisen, hatte er ihr versprochen, daß es anders mit ihm werden sollte. Da­ heim war er nie besonders aufmerksam und fleißig in der Schule gewesen. Er schmökerte leidenschaftlich gern, lief, so oft es ging, ins Kino und strolchte im übrigen mit anderen Jungen in Feldern und Büschen umher. Jetzt stand er zu seinem Wort. Lag es auch an Doktor Howard? Das Lernen war keine Ar­ beit. Es machte ihm Freude. Wie im Fluge vergingen Tage, Wochen, Monate, und als im Tal von Ain el Nahza wieder weiß die Baumwollfelder leuchteten, war Horst dem Vetter weit überlegen. Das tat nicht gut! Einen anderen hätte er vielleicht mit ·angespornt, doch nicht den verwöhnten und bequemen Paul Boudin. Der Vetter nei­ dete ihm den Erfolg. Er wurde zänkisch und verpetzte ihn bei seiner Mutter. Sie sprach mit dem Vater. Man suchte nach einem Schuldigen für das Versagen des lieben Kindes. Mister Howard mußte es sein. Natürlich! Er zog Horst vor, gab sich mehr Mühe mit ihm und vernachlässigte Paul. Henri Boudin nahm sich den Hauslehrer vor. Doch Mister Howard ließ sich nicht beikommen. Ihm galt Herr Boudin nicht mehr als Tim der Chauffeur oder Malika die Köchin. ,,Die Dinge liegen anders, Monsieur Boudin", sagte er ruhig: ,,Monsieur Paul kommt fast stets unpünktlich. Er gibt sich wäh­ rend der Stunden keine Mühe und arbeitet flüchtig. Monsieur 27

Horst ist aufmerksam, bleibt bei der Sache und arbeitet sorg­ fältig. Das ist alles!" Hatte sich das Verhältnis der Verwandten zu Horst in den letzten Wochen schon merkbar abgekühlt, so wurde es jetzt, nach der Unterredung des Onkels mit Mister Howard, bald un­ erträglich. Es kam ein Tag . . . Mister Howard war mit den beiden Schülern in seinem Wagen, einem alten, unverwüstlichen Jeep, zur Mangangrube hinauf­ gefahren. ,,Wer sehen will, wie die Erde geworden ist", pflegte er zu sagen, ,,der mu� in die Berge gehen." Er hielt zwei Gra­ nitbrocken in den Händen und erklärte ihre Zusammensetzung; da bemerkte er, daß Horst ihm nicht folgte. ,,Monsieur Leh­ nert", sagte er, ,,ich bitte mir Aufmerksamkeit aus!" Horst schreckte auf. Er hatte eben einen halbnackten Berber beobachtet, der eine schwere Karre mit Steinen auf die Ab­ raumhalde schob. Der Körper des Mannes war zum Skelett ab­ gemagert. Wie Stränge lagen die Adern auf den Knochen. Dun­ kel glühten die Augen aus dem hohlen Antlitz. ,,Wie er schuf­ ten muß und wie er hinfällig ist", dachte Horst gerade, als ihn Mister Howard zurechtwies. Der Mann ging ihm nicht mehr aus dem Sinn. Auf einmal ein Schrei! Die gro�e Halde war in Bewegung ge· raten. Eine breite Schicht Gestein prasselte nieder und ver­ schüttete den Mann mit der Karre. Mister Howard und Horst waren zuerst an der Unglücksstelle. So schnell es ging, räum­ ten sie das niedergegangene Gestein fort. Arbeiter kamen her­ beigeeilt und halfen. Sie befreiten einen Totwunden. Ein grö­ ßeres Felsstück hatte mit spitzer Kante den Kopf des Mannes getroffen. Der Verletzte atmete noch. Schwach stöhnte er, als man ihn auf eine Trage bettete. „Ich fahre ihn nach Ain el Nahza zum Arzt", erbot sich Mister Howard. ,,Es wird kaum Zweck haben", meinte der Sanitäter der Grube. ,,Die einheimischen Ärzte sind für solche Fälle

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ziemlich hilflos, und ein europäischer Arzt ... Bis zum nächsten französischen Fort sind es zwanzig Meilen". „Man darf ihn nicht aufgeben!" drängte Howard. Er half dem Sanitäter beim Notverband. Dann wurde der Verletzte im Jeep untergebracht, und Mister Howard fuhr los. Der Sanitäter und ein Angestellter begleiteten ihn. „Der bringt sich ja bald um für diesen braunen Kerl", sagte Paul zu Monsieur Bardout, dem Direktor der Grube: ,,Von sol­ chen gibts hier noch genug." Horst lag eine heftige Erwiderung auf den Lippen, doch er unterdrückte sie. Wenn es zum Streit mit Paul kam, war das nicht gut, und .... wie sollte der auch anders sprechen. In seinem Elternhaus hörte er nur abfällig von den Eingeborenen reden. Mister Howard hatte versprochen, die beiden abzuholen. Bis dahin war noch reichlich Zeit. Horst schlenderte langsam um das Verwaltungsgebäude und die Lagerschuppen herum, wäh­ rend Paul mit Monsieur Bardout nach dessen Büro ging. Gleich hinter der Baracke, in der sich die Kantine befand und in der die ledigen Arbeiter wohnten, führte ein schmaler Pfad in die Berge. Gedankenverloren bog Horst in den Pfad ein und ge­ langte in eine Schlucht. Nach längerer Zeit ließ ihn lautes Brausen und Plätschern aufhorchen. Ein Wildbach ergo� sieb in die Schlucht. Dicht neben ihm führte ein Saumpfad weiter talwärts. Weder Baum, Strauch oder Halm belebte die hohen Wände. Dafür zeigten die Felsen mannigfache Farben. Rosen­ rote und graue Granite wechselten mit silbrigen Glimmerschie­ fern und fleischrotem Jaspis. Dunkle Quarzkristalle funkelten aus wei�verwitterten Porphyren. Während draußen die Luft in der Sommerhitze flimmerte, war es hier unten angenehm kühl. Horst fühlte sich so frei und glücklich wie selten. Bisher hatte er nie Maison Boudin ohne Aufsicht verlassen dürfen; Immer war jemand bei ihm gewesen. Er kam sich vor, wie einer Zelle entwichen. In einem fort hätte er neben dem Wildbach herlaufen mögen, 30

dessen Raunen, Rauschen und Plätschern ihm wie ein Lied in den Ohren klang. Und dann die herrlichen Felswände! Er würde die Schlucht Mister Howard zeigen, der würde sich bestimmt ebenso darüber freuen. Der Pfad führte auf einmal steil in die Tiefe. überrascht blieb Horst stehen. über steile Felsen schoß das Wasser hinab in beträchtliche Tiefe. Es spritzte, schäumte, brodelte. Helle Tropfen sprühten empor, nach zwei, drei Stufen strömte die Flut breit über eine letzte Schwelle und brandete dumpf aus dem Grunde herauf. In einiger Entfernung traf die Sonne· das klare Wasser. Es blinkte wie Silber. Glasig verschwand es gleich darauf im Schatten einer engen Schlucht. Mit dem Rücken an die Felswand gelehnt, setzte sich Horst hart auf die Erde und starrte auf den Wasserfall, alles um sich her vergessend. Die Wanderung hatte ihn ermüdet. Das gleichförmige Rau­ schen schläferte ihn ein, und die Augen fielen ihm zu. Es mochte etwa eine halbe Stunde ver.gangen sein, da weckte ihn ein Geräusch. Zugleich spürte er einen scharfen Geruch. Nicht weit entfernt, dort wo sich das Ufer des Wildbachs verflachte, bemerkte er ein Rudel wilder Mähnenschafe. Die Tiere hatten keine Witterung von ihm. Er konnte sie ungestört beobachten. Etwas abseits hielt das Leittier. Der mächtige Bock hatte fast die Größe eines jungen Hirsches. Auf dem mähnenumwallten, starken Kopf, trug er ein Paar dicke, säbelartige Hörner. Ein aufmerksamer Wächter seines Rudels, das sich an dem klaren Wasser labte! Plötzlich ein Schuß. Laut hallte das Echo von den Felswänden. In rasender Flucht hetzte das Rudel davon, der Leitbock wälzte sich in seinem Blute. Der unsichtbare Schütze hatte ihn mitten ins Blatt getroffen. Horst war bei dem Schuß erschrocken zusammengefahren. Nun saß er wie versteinert da und starrte auf das kraftvolle Tier, das in den letzten Zuckungen lag. Da glitt hinter der nächsten Felsbiegung eine schlanke, braune Gestalt hervor, ein Junge

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in Horsts Alter, nur mit einer dunklen arabischen Pluderhose bekleidet, die an den Hüften von einer breiten, roten Leibbinde gehalten wurde. Sein Haar war kurz geschoren. Schwarzglän­ zende Augen funkelten in dem schmalen, braunen Gesicht.

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Der junge Araber war der sichere Schütze. Er hielt die Waffe noch in der Hand, einen französischen Armeekarabiner. Er legte ihn neben die Beute, zog seinen Kumian aus der Leib­ binde und begann den Bock waidgerecht aufzubrechen. Horst stand auf und wollte dem Jäger zu dem guten Schuß

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gratulieren. Das Geräusch, das er dabei machte, ließ den Jungen aufmerken. Blitzschnell griff er nach dem Karabiner, warf sich hinter dem Bock in Deckung und richtete die Waffe auf Horst. Ein Schreck durchzuckte Horst. Unfähig ein Glied zu rühren, starrte er in die Mündung des Karabiners. Da, ein Schrei, laut und ängstlich: ,,Mhamed, Mhamed!" Ein braunhäutiges Mädchen, etwas jünger als der Schütze, aber genauso schlank und sehnig gewachsen wie er, stürmte aus den Felsen. Der Angerufene wandte sich rasch um. Der Lauf seines Karabiners ruckte zur Seite, aber nur für einen Augenblick. Dann erriet der Schütze des Mädchens Absicht, drehte sich zurück und zielte aufs neue. In dem Augenblick, als er ab­ drückte, warf sich das Mädchen wie eine Wildkatze über ihn. Der Schuß peitschte auf und hallte an den Felswänden wider. Horst spürte einen stechenden Schmerz an seiner linken Schul­ ter, ihm wurde schwarz vor den Augen, er taumelte und stürzte zu Boden. Im Fallen sah er noch, wie der Junge und das Mädchen miteinander rangen. ,,Nun geht es zu Ende", dachte Horst. ,,Das ist die Strafe dafür, daß du von deiner Mutter fort wolltest ..." Kurze Zeit später beugte sich das Mädchen über den Ver­ letzten. ,,Du schwer verletzt?" fragte sie in hartem, gebroche­ nem Französisch. Sie bebte am ganzen Körper. Ihre Stimme zitterte. Besorgt blickten die großen, dunklen Augen aus dem schmalen, braunen Antlitz. Ihre schmalen Hände lösten ge­ schickt das blutgetränkte Hemd, rissen es in breite Streifen und verbanden damit die heftig blutende Wunde. Dabei sprach sie in ihrem Kauderwelsch weiter: ,,Mhamed schießen, Angst haben, du verraten, daß er Gewehr. Nicht schlecht! Nein Nahzas Bruder gut!" Und während sie sich um ihn bemühte, wiederholte sie in einem fortgesetzt: ,,Mhamed nicht schlecht Mensch! Nahzas Bruder gut! Allah - Allah hilf! - Groß Un­ glück!" 33

Vom Schützen war weit und breit nichts zu bemerken. Horst befürchtete auf einmal, er könne zurückkommen. Die Angst trieb ihn aufzustehen. Vor Schmerz und Blutverlust wurde ihm ganz elend. Er stützte sich auf seine Helferin und wankte vorwärts. Sie hatte ihm das Leben gerettet, daran war gar kein Zweifel, denn daß ihr Bruder eine sichere Hand besaß, hatte er bewiesen, als er den Bock erlegte. ,,Doch warum hat sie ihn gehindert, dich zu töten?" fragte er sich. Es wäre doch vieJ einfacher gewesen, Mhamed hätte ihn umgebracht, wenn er fürchtete, er könne ihn verraten. Bei diesem Gedanken zitterten ihm die Knie, er mußte sich setzen. Ein schaler Geschmack war in seinem Munde. Horst biß die Zähne zusammen. ,,Weiter", sagte er vor sich hin, ,,weiter!" Nahza war mit der Gegend vertraut. Auf einem steilen Pfade führte sie Horst aus der Schlucht auf ein Hochplateau. Hier weidete eine Herde von Steifhaarziegen und Fettschwanzscha­ fen das spärliche Gras. Zwei weißzottige Hunde sprangen schweifwedelnd an dem Mädchen empor. Unwillig scheuchte sie die Tiere zurück. Mhamed und Nahza waren offenbar die Kinder eines Hirten und beaufsichtigten hier die Herde. Dicht bei dem Plateau lag ein kleines, fruchtbares Tal. In sei­ ner Mitte stand ein Gehöft, das ähnlich gebaut war wie die Bauernhäuser der Normandie. Befreit atmete Horst auf. Dort waren Europäer, die ihm weiterhelfen konnten. „Dort helfen", wies Nahza auf den Siedlerhof. ,,Dort Fransaui wie du." ,,Ich bin kein Fransaui", erwiderte er mit schwacher Stimme. ,,Ich bin ein Allemand." „Du ein Brouß!" stieß sie überrascht hervor und gebrauchte unwillkürlich die arabische Bezeichnung für die Deutschen: ,,Oh, Mhamed, ein Brouß. er sein, ein Brouß, ein Brouß!" In dem kleinen Garten beim Wohnhaus hantierte ein Mann herum. Horst hatte ihn schon ein paarmal' gesehen. Es war

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Monsieur Caillard, em Siedler aus der Normandie, der Mai­ son Boudin mit Obst und Gemüse belieferte. Zllfällig richtete sich der große, starke Mann auf. Sein Blick fiel auf das Mädchen und den Verwundeten. Einen Augenblick starrte er sie verblüfft an, dann rannte er ihnen entgegen und rief dabei aufgeregt nach seiner Frau: ,,Madelaine, Madclaine.; ." Eine kleine, zierliche Frau, kaum größer als Nahza, kam aus de,m Hause. ,,Mon Dieu!" Sie schlug die Hände zusammen: ,,Der junge Herr aus Maison Boudin. Ja - was ist denn ge­ schehen?" Horst suchte noch nach einer Erklärung, da brauste schon ein Auto heran. Am Steuer saß ein Gendarm, neben ihm der Poli­ zeichef von Ain el Nahza, auf den hinteren Sitzen saßen steif zwei Gendarmen mit schußbereiten Karabinern. ,,Also hier finden wir endlich den Vermißten!" Der wohlbe­ leibte Kapitän war wohl durch die Suchaktion verärgert. ,,Wo hast du denn gesteckt, Junge?" Jetzt erst bemerkte er den durchbluteten Notverband. ,,Du bist verletzt?" Mit einer Leb­ haftigkeit, die man dem Fleischkoloß kaum zugetraut hätte; sprang er aus dem Wagen. ,,Du bist überfallen worden, Junge. Ja, jetzt verstehe ich. Konnte mir doch denken, daß das braune Gesindel die Hand im Spiel hatte!" Seine fleischigen Hände rückten an dem Pistolenfutteral herum. ,,Endlich eine Hand­ habe! Werde ein Exempel statuieren! Die Burschen sollen mer­ ken, was die Glocke geschlagen hat! Erzählen Sie, Monsieur, erzählen Sie!" Horst spürte aller Augen auf sich gerichtet, auch die der jungen, schmächtigen Araberin. Sie hatte ihn vor der Kugel bewahrt, und er war ihr dankbar. Jetzt bangte sie um den Bruder. Die großen Kinderaugen baten für ihn, Horst wußte es, ohne nach ihr hin zu blicken. Wie sollte er helfen? Die Tat ließ sich nicht verschweigen, da war die Wunde. ,,Er­ zählen Sie schon!" drängte Kapitän Lasalle.

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'?-

Wenn er schilderte, was wirklich gewesen war - - er wagte die Folgen ,nicht auszudenken. Nur zu gut kannte er die Mei­ nung seiner Verwandten über die Eingeborenen. Und die Worte des Kapitäns waren eine einzige gehässige Drohung! Plötzlich begriff er, warum Nahza ihren Bruder gehindert hatte, ihn zu töten: Wenn er als Europäer erschossen worden wäre, hätte das

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noch viel schlimmere Folgen nach sich gezogen als diese Ver­ wundung. „Ich wollte mit meiner Pistole schießen", stotterte er. ,,Der Schuß wollte nicht losgehen. Ich fingerte am Schlo� herum, da - da knallte es und .. ." „Ein Unglücksfall" - Kapitän Lasalle war enttäuscht, während alle anderen spürbar aufatmeten. Er wischte sich dicke Schweiß­ tropfen von der Stirn, die Hand mit dem Taschentuch zitterte vor Erregung: ,,Zu dumm!" knurrte er vor sich hin. ,,Man denkt etwas in der Hand zu haben, um diese braunen Teufel zu kurieren, da ist es ein Unglücksfall." Ärgerlich bestieg er den Wagen. ,,Kommen Sie, wir fahren Sie gleich nach Maison Bou­ din." - ,,Erst verbinde ich die Wunde!" trumpfte Madame Caillard auf. ,,Soviel Zeit werden Sie wohl haben, Monsieur Kapitän." Die kleine, resolute Siedlersfrau zog Horst mit ins Haus, setzte ihn in einen Sessel, holte den Verbandskasten und machte sich daran, die Hemdstreifen abzulösen. Die Wunde schmerzte hef­ tig. Dem Jungen wurde übel. ,,Es sieht schlimmer aus, als es ist", tröstete ihn Madame Caillard, als sie ihn frisch verband. „So ein kräftiger, junger Mann wie Sie übersteht so etwas bald." Auf der Fahrt nach Maison Boudin nahmen Horsts Schmer­ zen zu. Er biß die Zähne zusammen, um nicht laut aufzu­ schreien. In Ain el Nahza herrschte merkwürdige Unruhe, als der Polizeiwagen durch das Tor fuhr. Zahlreiche Menschen säumten die Straße. Jeder war bemüht, einen Blick auf den Ver­ wundeten zu werfen. „Was ist nur mit dem verdammten Volk los?" wunderte sich Kapitän Lasalle. ,,Das wimmelt doch wie in einem Wespen­ nest!" Längst war die schnellfüßige Nahza nach Ain el Nahza ge­ kommen und hatte erzählt, was geschehen war. Wie ein Lauf­ feuer verbreitete sich die Neuigkeit in der kleinen Stadt! 37

DIE FLUCHT

Die folgenden Wochen mußte Horst auf dem Krankenlager ver­ bringen. Aller drei Tage sah ein Militärarzt nach ihm, der von dem nächsten französischen Stützpunkt Bir el Hamid kam. Er verordnete strengste Ruhe und verbot jede Aufregung. Anfangs schüttelte Horst das Wundfieber. Dann überwand seine gesunde Natur den starken Blutverlust. Kaum war Horst wieder etwas bei Kräften, da erhielt er täg­ lich Besuch von Kapitän Lasalle. Erst meinte er, es geschähe aus Höflichkeit, denn während seines Krankseins besuchten ihn die meisten Europäer von Ain el Nahza, doch bald merkte er, daß die Besuche einen besonderen Grund hatten. Durch die Un­ ruhe in der Stadt bei Horsts Rückkehr sowie einige unklare Auskünfte seiner Rekkas war der ohnehin schon Mißtrauische stutzig geworden. Er vermutete hinter der Verletzung jeden­ falls ein Kapitalverbrechen und erhoffte für sich Anerkennung und Auszeichnung, wenn er dem Fall nachginge. Er war vor Jahren nach Marokko strafversetzt worden und suchte nun nach einer Gelegenheit, wieder zurückzukommen. Horst sah mit Bangen seiner Genesung entgegen. Kapitän La­ salle würde ihm keine Ruhe lassen. Horst hatte gelogen - ja aus Dankbarkeit gelogen, aber nun saß er in der Zwickmühle. Eine Lüge zog die andere nach sich. Er fand sich selbst kaum noch durch. Da war der Befund des Militärarztes über seine Verwundung. Es war leicht festzustellen gewesen, von welcher Waffe und aus welcher Entfernung der Schuß gekommen war. · Und woher wollte er eine Pistole haben?

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Wo hatte er sie nach dem Schuß gelassen? Eines Tages ließ Onkel Henri Horst in sein Arbeitszimmer kommen. Genau eine Woche war es, seit er das Krankenbett verlassen hatte. Onkel Henri stand mit finsterem Gesicht am Fenster. Er war nicht allein. Tante Anni, Kapitän Lasalle und Mister Howard waren bei ihm. Befangen blieb Horst an der Tür stehen. ,,Jetzt sagst ?U, wie du zu deiner Verletzung gekommen bist", forderte Onkel Henri barsch, ,,aber erzähle nicht wieder das Märchen von der Pistole!" Er drehte sich nicht einmal um, als er das sagte. Horst biß die Zähne zusammen, daß sie knirschten. Er hatte daheim gelernt, für alles geradezustehen, was nun einmal ge­ schehen war. Das wollte er auch jetzt, aber wie ...? „Es passiert dir nichts, mein Junge, im Gegenteil", ermunterte ihn Kapitän Lasalle. ,,Wenn wir mit deiner Hilfe gewisse Staats­ feinde greifen könnten - die Regierung weiß solche Fälle zu belohnen!" Horst schwieg. Tante Anni geriet außer sich. ,,Schämst du dich nicht", schrie sie ihn an, ,,du bringst die ganze Familie in Verruf!" Ja, Horst schämte sich. Er schämte sich, weil er gelogen hatte, wenn es auch aus Mitleid und Dankbarkeit geschehen war. Er fühlte sich auf einmal wieder schwach und elend und war nahe daran, alles zu sagen. „Willst du endlich gestehen?" fuhr ihn da Onkel Henri an. Sein Gesicht war verzerrt, mit geballten.Fäusten drohte er: ,,Oder soll ich nachhelfen?" Doch nun war Horsts Kehle wie zugeschnürt, er konnte nicht sprechen. Da verlor Onkel Henri die letzte-Beherrschung. ,,Rede, du Schuft!" brüllte er, holte aus und schlug ihn mit der Faust ins Gesicht. ,,Ist das der Dank dafür, daß ich dich in mein Haus aufgenommen habe. Du undankbarer, nichtsnutziger Bursche, unzuverlässiger, frecher Filou!" 39

Arger als die Schläge schmerzten Horst die Beschimpfungen. Gab es niemanden, der ihn verstand und ihm half? Mister Howard sprang dazwischen und hielt den Tobenden zu­ rück. ,,Aber Monsieur Boudin", rügte er ihn, ,,wie kann man sich so gehen lassen! Horst ist noch erholungsbedürftig. Viel­ leicht haben wir alle uns nicht genug Mühe mit ihm gegeben, und er hat kein Vertrauen zu uns." Energisch zog er den Jungen mit sich fort und brachte ihn auf sein Zimmer. „Monsieur Lehnert", tadelte er ihn unterwegs. ,,Ich bin mit der Haltung Ihrer Verwandten und des Kapitäns gewiß nicht ein­ verstanden; aber daß bei Ihrer Schilderung etwas nicht stimmt, ist mir klar. Ich kann mir nicht erklären, warum Sie nicht offen sind. Eines aber sage ich Ihnen als ein guter Freund: Bleiben Sie bei der Wahrheit! Die Lüge entwürdigt den Menschen." ,Fort - nur fort von hier!' dachte Horst, als ihn Mister Ho­ ward verlassen hatte, nichts als fort. Die freundliche Stewardeß von der Herreise fiel ihm ein. Ja - er würde zu Fuß nach Casablanca laufen und sie suchen. Ganz sicher half sie ihm weiter, daß er heim nach Deutschland kam, heim zu dem ein­ zigen Menschen, der ihn verstand, zu - seiner Mutter! Als könnte es zu spät sein, hetzte er wie von Sinnen aus dem Hause hinaus. Unbemerkt gelangte Horst in den Park. Eben bog er um ein riesiges Gebüsch rotblühenden Oleanders, da stieß er beinahe gegen eine schlanke Mädchengestalt, die von dem nahen Zaun gehuscht kam und sich hinter dem Busch verstecken wollte. Verblüfft starrten sie einander an, dann entfuhr es ihm über­ rascht: ,,Nahza!" „Du nicht mehr krank?" fragend und freudig zugleich klang es. Er wollte ihr antworten, da hörte er von Maison Boudin her Stimmen. Hatte man seine Flucht bemerkt? Horst bekam Angst, zurückgeholt zu werden. ,,Hör zu, Nahza", stieß er hervor, ,,ich muß weg von hier, sofort, aber niemand darf mich sehen!" Nahza begriff.

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„Komm!" sagte sie. Im nächsten Augenblick eilte sie der Umzäunung zu, die den Park umschloß. Wie schnell sie den hohen Zaun überkletterte! Er konnte ihr kaum folgen. Sie

rannte einen Hang hinab, vorbei an einigen Hütten, einer schad­ haften Stelle der Stadtmauer zu. Sie sprang wie eine Gemse, hangelte die Mauer empor und auf der anderen Seite wieder hinunter. Dann kam eine große Wiese. An ihrem Rande reck­ ten sich einige Felsgipfel empor. Wie riesige, stumme Wächter ragten sie über einen gewaltigen, jäh abfallenden Steilhang.

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Nahza kletterte einen der Felsen hinan. Horst folgte, er atmete schwer. Sein Gesicht war schweißbedeckt. Deutlich sah Nahza seine Blässe, als sie unter einer überhängenden Felswand auf ihn wartete. Aber der rasche, anstrengende Lauf hatte auch das Mädchen erschöpft. Schweißtropfen perlten von ihrer Stirn. Ihre Haut war fahl. Dunkle Ringe lagen um ihre Augen. Sie hatte doch damals so gesund ausgesehen, wunderte sich Horst. Nach ein paar Minuten des Rubens fragte er sie, was sie im Park gewollt habe. „In Ain el Nahza man sprechen, du werden schlafen langen Schlaf, den Flügel von Todesengel Azreal senken auf Augen von Menschen ..." „Und du wolltest sehen, ob ich schon schlief?" fiel er ihr ins Wort. Sie nickte: ,,Ich können glauben es nicht, weil ich sehen dich einen Tag vorher in deinem Zimmer." „Du hast mich in meinem Zimmer gesehen?" wunderte er sich. „Ich dich haben sehen jedes Tag", gestand sie lebhaft. ,,Ich klettern auf großes Baum vor Fenster und immer sehen in deines Zimmer." Das wirkte lindernd wie Balsam. Dieses fremde, braune Mäd­ chen hatte sich um ihn gesorgt! ,,Wir dir müssen danken viel", sagte Nahza nach einem Weil­ chen leise. ,,Du nicht haben verraten Mhamed. An Unglück sein nur schuld Gewehr." Dann erfuhr Horst von ihr die Ge­ schichte des Karabiners, durch den er bald sein Leben einge­ büßt hätte. Einer von Kapitän Lasalles Gendarmen hatte im Vorjahre ein­ mal soviel gebechert, daß er Zeit und Umgebung und Pflich­ ten völlig vergaß. Statt aufmerksam Ain el Nahzas Umgebung abzupatrouillieren, torkelte er weinselig durch die Nacht, bis er sich nicht mehr auf den Füßen halten konnte und hinter einen Felsen legte. Dort schlief er seinen Rausch aus. Mhamed fand den Schlafenden und entdeckte die Waffe. Er nahm den 42

Karabiner mit Munition an sich. Kapitän Lasalle, der kurz zu­ vor aus Frankreich gekommen war, machte natürlich daraus einen Mordsskandal. Erst stellte er dem Finder eine hohe Be­ lohnung in Aussicht. Als das nichts nützte, drohte er mit schwe­ ren Strafen. Doch alles lockte und schreckte Mhamed nicht; Was bedeutete ihm nicht ein modernes Gewehr! Sein Vater hatte nur einen alten Vorderlader gehabt, und den hatte er ab­ liefern müssen. Mhamed hielt seinen Schatz gut versteckt. Nur wenn einmal Mangel in der großen Familie herrschte, holte er es hervor und schoß ein Stück Wild. So war es auch damals in der Schlucht gewesen. Nahza sprach zwar nicht aus, warum Mhamed den Lauf der Waffe auf ihn gerichtet hatte; aber Horst konnte sich selbst denken, daß aufwallende Verzweiflung ihn dazu getrieben haben mußte. Gegen Abend verließ ihn Nahza. „Ich dir holen Kleider und Essen", sagte sie. Er blickte ihr nach, wie sie geschmeidig die Felsen hinabglitt. Die schnelle Flucht aus Maison Boudin hatte Horst erschöpft. Todmüde schlief er ein, doch das ungewohnte harte Lager ließ ihn kurz vor Anbruch der Nacht wieder erwachen. Ohne Übergang senkte sich die Dunkelheit auf die Berge. Ge­ heimnisvolles Leben erwachte zwischen den Felsen. Raubtiere, die am Tage in sicheren Verstecken schliefen, um Schutz vor der heißen Sonne zu haben, schlichen auf Jagd. Und doch blieb ringsum alles still. Feierlich stand der strahlende Sternenhim­ mel mit der Mondsichel über dem dunklen Lande. Grate und Zinnen umschmeichelte das Silberlicht des Nachtgestirns. Ganz nahe schien der Himmel der Erde zu sein, wie die marokka­ nische Stewardeß erzählt hatte. Diese Stille! Anfangs empfand sie Horst gar nicht so, aber dann bedrückte sie ihn. Ihm war plötzlich, als wäre um ihn überall ein lautloses Huschen und gieriges Lauschen. Auf einmal ein Schrei, angstvoll und verzweifelt! Horst sprang

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empor. Ein Raubtier mußte eme Beute überfallen haben. Er war gewiß nicht ängstlich, aber jetzt saß ihm die Angst wie eine Faust an der Kehle. Wenn ich nur eine Waffe bei mir hätte! Er kramte in seinen Taschen. Ein Notizbuch und ein kleines Taschenmesser, das war sein ganzer Besitz. Bei der kopflosen Flucht hatte er nicht daran gedacht, etwas anderes mitzunehmen. Da stand er nun, voller Angst und Verzweiflung, und wartete auf die junge Araberin. Wenn sie nun nicht kam, wenn sie von ihren Verwandten gehindert wurde? Oh - es geschähe ihm recht! Das war für seine Lüge. Die Lüge ist wie ein Stein, den man in stilles Wasser wirft. Sie zieht immer weitere Kreise. Träge schlich die Zeit dahin. Wieherte da nicht ein Pferd? Angestrengt lauschte Horst in die Nacht und zuckte Augenblicke später erschrocken zusammen, als plötzlich, lautlos wie ein Gespenst, eine Gestalt vor ihm auftauchte. Es war Nahza. ,,Du schnell machen", drängte sie. ,,Man suchen überall. Mha­ med bringen dich in Versteck.'; Dann tauchte sie wieder in der Nacht unter, wie sie gekommen war. Im Schimmer des M·on­ des erkannte Horst Spuren eines Pfades. Mhamed, der ihn er­ schießen wollte? Ihm sollte Horst sich anvertrauen ... Un­ schlüssig stand er einen Augenblick. Doch was blieb ihm übrig ... Halb widerwillig folgte er dem Mädchen. Am Fuße des Gipfels hielten drei Pferde, ein Rappe, eine Schecke und ein Fuchs. Aus dem Schatten trat eine Gestalt. Horst stand jenem Schützen gegenüber, der beinahe zu seinem Mörder geworden wäre. Aus großen Augen starrte ihn Mhamed an, dann begann er hastig zu sprechen und gestikulierte heftig mit den Händen. Er sprach nur arabisch, und Horst ver­ stand nicht, was er ihm erklären wollte. Mißtrauisch blickte er in das braune Gesicht, aus dem ihm die dunklen Augen fanatisch entgegenglühten. Nahza machte dem Redeschwall ihres Bruders ein Ende. ,,Mhamed sprechen, er nicht vergessen,

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daß du nicht verraten ihn", verdolmetschte sie. ,,Er dir sein ein Bruder." Gespannt hingen Mhameds Augen an Horsts Gesicht, während

Nahza sprach, und als ihm Horst die Hand entgegenstreckte, war er überglücklich. Nahza hatte für Horst arabische Klei­ dung mitgebracht, eine Hose, einen hemdartigen Überwurf, einen Turban und eine Leibbinde. Er zog sich schnell um. Dann schwangen sich alle drei auf die Pferde. Mhamed übernahm die

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Führung. Er ritt den Rappen, Nahza die Schecke und Horst den Fuchs. Horst fiel es schwer, sich auf dem ungesattelten Pferde zu halten. Im Maison Boudin hatte er wohl Auto­ fahren gelernt, aber nicht reiten. Er schämte sich vor Nahza. Sie ritt wie der Teufel, kletterte wie eine Gemse, kannte keine Angst und war trotz ihrer Jugend gescheit und selbständig. Sie ritten schweigend durch die sternhelleNacht,stundenlang,bis sie den Ort erreichten, wo sichMhamed verborgen gehalten hatte, als er die Folgen des verhängnisvollen Schusses fürchtete. Zwischen hohen Felsen versteckt, fernab von menschlichen Siedlungen, lag ein einsames, verlassenes Tal. Steile Felswände stiegen senkrecht an allen Seiten auf, nur ein enger Spalt, zwi­ schen abgestürzten Felsblöcken und Geröll, gewährte an einer einzigen Stelle Zugang. Gestrüpp von Tamarisken, Alpenrosen­ sträuchern und stachligen Kaktuspflanzen wucherte zwischen saftigem Gras und blühenden Bergblumen. Im Hintergrund des Tales befand sich auf halber Höhe eine �chwer zugängliche Höhle. In einer Ecke der Höhle war eine Matte mit Decken ausgebreitet, in einer anderen lagen auf einer primitiven Feuer­ stelle noch Reste verkohlten Holzes. An den Wänden hingen ein paar frische Felle. Horst kam kaum vom Pferd. Wie zerschlagen fühlte er sich nach dem langen Ritt. Breitbeinig stand er da. Seine Schenkel brann­ ten wie Feuer. Nur mühsam gelang es ihm, zur Höhle hinauf­ zuklimmen, todmüde streckte er sich auf der Matte aus. Nahza blieb bis zum späten Nachmittag, dann ritt sie zurück. Sie mußte Ain el Nahza noch während der Nacht erreichen, um keinen Argwohn zu erregen. Bei ihrem Abschied versprach sie, in einer Woche Proviant zu bringen und zu erzählen, wie man Horsts Flucht aufgenommen habe. Sie ritt den Fuchs und nahm den Schecken an die Leine. Mhameds Rappen ließ sie zurück. Diese drei waren die einzigen Pferde' ihres Vaters, der auf den dürftigen Gemeinschaftswiesen des Ortes die Ziegen und Schafe der ärmeren Bevölkerung von Ain el Nahza hütete.

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IN DEN BERGEN

Fast rauchlos brannte das Feuer, über dem Mhamed das Mit­ tagsmahl bereitete. Horst stand vor dem Eingang der Höhle und blickte sehnsüchtig in die Richtung, in der Ain el Nahza lag. Er wartete auf Nahza. Er mußte wissen, ob er die Flucht fortsetzen konnte! Zehn Tage waren vergangen, seit sie in das Tal kamen. Horst wußte es ganz genau, denn er vermerkte jeden Morgen das Datum in seinem Notizbuch; doch ihm wollte scheinen, es wären Jahre. Schrecklich, diese Ungewißheit und das tatenlose Warten! Wenn man wenigstens miteinander reden könnte! Er hatte es satt, sich nur durch Zeichen zu verständigen. Er konnte sich nicht über Mhamed beklagen. Der junge Araber gab sich die red­ lichste Mühe, ihm sein Los zu erleichtern. Konnte es in seiner Lage einen besseren Gefährten geben als den furchtlosen Hir­ tensohn, dem weder vor der 'Nacht, noch vor einer Gefahr graute und den das gefährliche Hirtenleben frühzeitig zu einem sicheren Schützen und guten Jäger werden ließ? Ein paarmal hatte ihn Mhamed mit auf seine Streifzüge genommen und ihm gezeigt, wie man das Wild belauscht, erlegt und ausweidet; jetzt war er dabei, ihm das Reiten beizubringen. Ja - er war froh, daß Mhamed mit ihm die Einsamkeit teilte! Bei der Mittagsmahlzeit fiel Horst Robinson ein. Hatte nicht Robinson seinem Gefährten Freitag seine Sprache beigebracht? Der Gedanke ließ ihm keine Ruhe mehr. Mhamed schnitt sich gerade ein Stück Fleisch aus der über dem Feuer gebratenen 48

Ziegenkeule. Horst wies auf das Messer in seiner Hand. ,,Fran­ saui", sagte er, eines der wenigen arabischen Wörter, die er ge­ legentlich aufgeschnappt hatte. ,,Fransaui - Couton." Fragend blickte er dann Mhamed an: ,,Arab . . . ?" Mhamed wußte mit diesem „franzosen - Messer - Araber -" nichts anzufangen. Verständnislos wiederholte er: ,,Fransaui . Couton - Arab . . . ? Geduldig tippte Horst gegen Mhameds Brust und sagte: ,,Mhamed." Dann zeigte er auf sich selbst: ,,Horst." Anschließend wiederholte er: ,,Fransaui - Couton Arab ... ?" Mhamed begriff noch immer nicht. Schon wollte Horst auf­ geben, da erhellte sich Mhameds nachdenkliches Gesicht. ,,Fransaui - Couton", sagte er, und lebhaft fügte er hinzu: ,,Arab - Kumian." „Kumian - Kumian", prägte sich Horst das arabische Wort ein. Dann ließ er sich die Bezeichnungen für Holz, Feuer, Höhle, Wände, Kleidung sagen. Das schien Mhamed zu ge­ fallen. Er wies auf irgendwelche Dinge, nannte ihre arabische Bezeichnung und prägte sich den französischen Namen dafür ein. Er begriff sehr schnell, in kurzer Zeit bildete er schon kleine Sätze. Bald wollte er auch schreiben lernen. Stundenlang saß er da und malte mit ungelenker Hand Buchstaben auf die Blätter aus Horsts Notizbuch. Als Nahza eine Woche später zu den beiden kam, war sie nicht wenig erstaunt, daß Horst sie auf arabisch begrüßte, daß Mhamed französisch sprach und stolz ihren Namen aufschrieb und vorlas. Nahza konnte nichts Erfreuliches berichten. Kapitän Lasalle brachte ganz Ain el Nahza und seine Umgebung in Aufregung. Er hatte Truppen für eine ausgedehnte Suchaktion angefordert und allen harte Strafen angedroht, die mit dem Verschwinden des jungen Europäers etwas zu tun hätten. In der Dunkelheit hatte sich das Mädchen fortgeschlichen. Drei Tage später kam Nahza schon wieder, eigentlich ohne besonderen Grund. ,,Ich möchte auch lesen und schreiben", bat

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sie Horst. Sie hatte ein großes, dickes Buch mitgebracht, in welches ein arabischer Händler seine Abrechnu_ngen eingetra­ gen hatte und in dem noch etliche Seiten frei waren. Vier Tage

durfte sie bleiben. Ihr Vater war mit dem grö�ten Teil der Herde für längere Zeit auf entfernt liegende Weiden ins Ge­ birge gezogen. Nur die Milchtiere, die sie hüten sollte, weide­ ten in der Nähe von Ain el Nahza. Nun besorgten die Mutter

so

und die jüngeren Geschwister die Betreuung der Tiere. Vom frühen Morgen bis späten Abend lernte Nahza mit Mhamed zu­ sammen, sie spornten sich gegenseitig an. Traurig ritt Nahza am vierten Abend zurück. Dann warteten Horst und Mhamed vergeblich auf ihre Wie­ derkehr. Wochen gingen hin. Fünfzig Tage wohnten die beiden zusammen in der Höhle, da erklärte Mhamed bei der Abend­ mahlzeit: ,,Mit Nahza muß etwas geschehen sein. Ich werde nach Ain el Nahza reiten und nach ihr sehen." Gleich nach dem Essen brach er auf. In Sorge und Unruhe blieb Horst zurück. Er hoffte im stillen, Mhamed könnte Nahza unterwegs treffen. Die ganze Nacht wartete er, aber vergeblich. Vielleicht war in Ain el Nahza zu scharf kontrolliert worden, und Nahza hatte deshalb nicht gewagt zu kommen. In der folgenden Nacht rech­ nete er ganz sicher mit Mhameds Rückkehr, aber wieder um­ sonst. Er mußte es wohl aufgeben. Vielleicht fürchtete ihr Vater Unannehmlichkeiten und wollte nicht, daß die beiden wieder mit ihm zusammenkamen, oder irgend etwas war ge­ schehen ... Niedergeschlagen verbrachte er die folgenden Tage.: Eines Abends saß Horst vor der Höhle. Teilnahmslos starrte er in den schwindenden Tag. Er fühlte sich wie ein Gefangener, der auf den Spruch des Richters wartet und seine Zeit in zer­ mürbender Ungewißheit verbringt. Da - ein Geräusch! Aus den Lüften kam es. Er blickte empor. Dunkle Punkte näher­ ten sich von Norden. Flieger, die nach ihm suchten? Sie kameri näher.Nun konnte er es deutlich erkennen.Ein Schwarm großer Vögel, Störche, auf ihrem herbstlichen Zug nach dem Süden, hin nach dem Gebiet hinter dem Südost-Abhang des Großen Atlas; wo die Stämme der Krassa leben und sich ausgedehnte Sümpfe und Seen befinden, oder noch weiter - nach dem Senegal und Westafrika! Störche - Zugvögel auf ihrer großen Wanderung: Aus Europa.kamen sie, vielleicht gar - aus Deutschland!

St

Deutschland! War das Heimweh? Horst sah die Mutter vor sich. Da stand es bei ihm fest: Und wenn die ganze Welt von Gendarmen wimmelt und Soldaten - ich gehe nach Hause! Die aufgehende Sonne berührte eben den Rand der Berge, das Tal mit der Höhle lag noch im Schatten, als sich Horst für den

Marsch nach Casablanca rüstete. Die Felle der gemeinsam er­ beuteten Tiere, Mhameds Deckeri und die Matte, auf der sie zusammen geschlafen hatten, Mhameds Karabiner, seine eige­ nen Kleider, alles ließ er zurück. Neben den Eingang legte er einen Brief und beschwerte ihn mit einem Stein. Mhamed sollte Bescheid von ihm vorfinden, wenn· er etwa zurückkäme. Wehmütig blickte er vor dem Abstieg noch einmal um sich. Im Nordosten und Südwesten stiegen die Gebirgszüge des Anti-

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Atlas und des Großen Atlas empor. Die klare Hochgebirgsluft ließ eine weite Sicht zu. Horst konnte bis hinaus in das frucht­ bare Atlas-Vorland blicken, wo im Wadi Tensift das Wasser wie ein Silberband blinkte. Hinter den Höhen des Anti-Atlas, flimmernd im Dunst der sonnendurchglühten Luft, lag einsam und geheimnisvoll die Sahara, die große Wüste. Gewaltsam mußte sich Horst trennen. Er kletterte hastig den Felsen hinab und durchquerte das Tal. Wie lieb ihm hier alles geworden war! Dann schritt er rüstig vorwärts, Ain ,el Nahza zu. Aus dem Kopf hatte er sich eine ganz einfache Landkarte aufge­ zeichnet und darauf seinen Reiseweg festgelegt. Von Ain el Nahza aus wollte er den gleichen Weg nehmen, den er damals in Onkel Henris Citroen gefahren war, bis Kasbah Tadla Zaian die alte Karawanenstraße, und von dort aus hoffte er hin und wieder mit Lastkraftwagen ein Stück weiterfahren zu können. Höher und höher stieg die Sonne. Unbarmherzig brannte sie vom wolkenlosen Himmel herab. Wie die Kacheln eines rie­ sigen Ofens strömten die Felsmassen die empfangene Sonnen­ glut zurück. Wenn er doch ein Pferd hätte! Der lange Marsch in der Sonne wurde zur Qual. Es war ein weiter Weg nach Ain el Nahza. Bei dem nächt­ lichen Ritt hatte Horst gar nicht so auf die Entfernung ge­ achtet. Der Muezzin rief zum Aschia, zum Mittagsgebet, als Horst von einer Höhe aus Ain el Nahza vor sich liegen sah. Da war die Kasbah, das Polizeigebäude, dort Maison Boudin; und nach Norden zu, durch das weite Längstal von Ain el Nahza, wand sich die alte Karawanenstraße, welche durch Kas­ bah Tadla Zaian führte. Er brauchte doch überhaupt nicht durch Ain el Nahza! Horst holte seine Skizze hervor. Ganz in der Nähe mußte die Schlucht liegen, in der Mhamed nach ihm geschossen hatte. Sie mündete in eine breitere Schlucht, durch welche die aus dem Süden kommende Karawanenstraße hin­ durchführte, die dicht unter der Stadtmauer von Ain el Nahza in das Tal lief.



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Seine Vermutung stimmte, die Schlucht lag ganz in der Nähe. Er war kaum ein Stück gegangen, da hörte er schon das Rau­ schen des Wildwassers. Unterhalb der Stelle, an der er damals mit Mhamed zusammengetroffen war, kletterte er hinab. Pie Kühle in der Schlucht tat Horst nach der Wanderung im Sonnenbrand wohl. Er beugte sich über den Bach und trank von dem frischen Wasser. Auf einmal hielt er inne. Aus dem Wasserspiegel blickte ihm das braunhäutige,turbangeschmückte Gesicht eines Arabers entgegen.War er das? Verwundert starrte er das eigene Antlitz an, als sei es ein fremdes. Wie hatte er $ich in der kurzen Zeit verändert! Der Anblick rief eine Er­ innerung in ihm wach. Daheim in der Stube hing ein Bild seines Vaters. Nicht jenes, das kurz vor seine� Tod aufgenommen worden war und aus dem schon Kriege und Leid sprachen, son­ dern ein Photo aus Vaters Rekrutenzeit. Und plötzlich kam Horst zum Bewußtsein, wie ähnlich er jetzt dem Vater gewor­ deh war. Und mit der Erinnerung an seinen Vater kam ihm auf einmal ein Gedanke, der ihn schmerzte: Vater hätte nie­ mals so gehandelt wie du ... Ihm war, wie wenn ihn jemand wachgerüttelt hätte. Er wußte jetzt: Besser wäre gewesen, er hätte erklärt: ,,Ich bin angeschossen worden, aber den Namen des Schützen muß ich verschweigen, weil er nicht aus böser Absicht gehandelt hat." Hor.st sprang auf. ßr mußte das Versäumte nachholen, ganz gleich, was mit ihm geschehen würde ... Am Stadttor standen zwei Gendarmen. Sie feilschten mit einem Händler um ein paar Mandarinen. Den jungen Araber beachteten sie gar nicht. Sonst waren nirgends Gendarmen oder Soldaten zu bemerken. Sicher hatte man die eingesetzten Einheiten zurückgezogen. Poch da klebte ein Plakat an der Mauer, grün mit schwarzer Schrift. Neugierig trat Horst näher. Es war in französischer und arabischer Sprache abgefaßt. Er las. Vor Empörung trat ihm das Blut ins Gesicht:

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Hunderttausend Mark Belohnung Vermißt wird seit fast zwei Monaten der Neffe des Gruben­ besitzers Henri Boudin aus Ain el Nahza, der vierzehnjährige Deutsche Horst Lehnert. Es ist sicher, daß er von lichtscheuen, marokkanischen Ele­ menten verschleppt und vielleicht sogar ermordet worden ist. Die ausgesetzte Belohnung erhält, wer zur Aufklärung des Falles zweckdienliche Angaben machen kann. Ain el Nahza, den 5. Oktober 1952.

Lasalle Kapitän und Kommandeur der Gendarmerie

Horst war außer sich: Kapitän Lasalle war zugegen, als ihn der Onkel schlug und beschimpfte. Er hätte sich doch denken kön­ nen, weshalb er es in Maison Boudin nicht mehr ausgehalten hatte. Dann fielen ihm Mhamed und Nahza ein. Kalt lief es ihm den Rücken hinab. Sicher hatte sie Kapitän Lasalle in Gewahr­ sam. Durch seine Lügen waren die Freunde in Not geraten. Horst hastete weiter, hin nach dem Haus des Vaters der bei­ den. Er mußte Gewißheit haben. Die Nacht war nahe. Schon riefen die Muezzins zum Gebet bei Sonnenuntergang. Etwas abseits von den anderen Häusern, dicht neben der alten Stadtmauer, lag das Haus des Hirten „Wie klein es ist!" wunderte sich Horst. Darin sollen vierzehn Menschen leben ... Er wußte aus Mhameds und Nahzas Erzäh­ lungen, daß ihr Vater, wie die meisten Männer in Ain el Nahza, nur zwei Frauen besaß, obwohl er nach mohammedanischem Gesetz vier haben durfte. Sie hatten ihrem Manne elf Kinder geschenkt. Mhameds Mutter sieben und die Mutter von Nahza, die jünger war, vier. Horst wußte wohl so ziemlich alles, was die Familie des Hirten betraf. Er wußte sogar, daß der Vater von Mhamed und Nahza im Rifkriege unter Abd el Krim gegen 55

Franzosen und Spanier gekämpft hatte. Laute Stimmen drangen aus dem Haus, es klang wie Streit. Horst drückte sich in den Schatten der Stadtmauer. ,,Wir werden dein Haus so oft durchsuchen, wie es uns beliebt", hörte er eine zynische Stimme, ,,und wenn dir das nicht passen sollte, Omar el Hadjar, kommst du wieder ins Gefängnis." Jemand antwortete ihm, der rauhe Klang des Maghreb verriet den Araber: ,,Mich schreckt nicht Euer Gefängnis noch der Tod, mit dem Ihr umgeht wie der Händler mit seiner Ware." ,,Hüte dich, Omar el Hadjar", drohte die erste Stimme wieder, dann öffnete sich die Tür. Im Lichtschein, der für einen Augen­ blick nach draußen fiel, erkannte Horst zwei Gendarmen, hin­ ter ihnen einen hochgewachsenen Araber. Das mußte der Vater von Mhamed und Nahza sein. Im Fortgehen unterhielten sich die Gendarmen. „So ein Blödsinn, das mit dem deutschen Jungen!" schimpfte der eine. ,,Wochenlang schon diese Aufregung und kein Erfolg. Der Kapitän macht alles rebellisch und macht aus jeder Fliege einen Elefanten." Der andere lachte: ,,Begreifst du das nicht? Er will sich wichtig tun. Der Dicke möchte nach Frankreich zurück und möchte befördert werden. Dazu braucht er eine Begründung." Als sich die Stimmen in der Nacht verloren hatten, huschte Horst zu dem Hirten hin, der in der Tür stehengeblieben war und den Gendarmen nachgeblickt hatte. Eben wollte er ins Haus zurück. "Du hier .. ." Der Hirte erkannte ihn sofort, trotz der Dunkel­ heit. Er zog ihn ein Stück von seinem Hause fort, obwohl die Gendarmen längst außer Hörweite waren: ,,Du mußt sofort aus der Stadt, sie suchen wieder nach dir, seit sie Mhamed ge­ faßt haben. ,,Mhamed gefaßt?" fragte Horst erregt. „Er wurde gegriffen, als er sich mit Nahza, die man schon seit Wochen in Haft hält, vor ihrem Zellenfenster verständigen

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wollte." Wie Peitschenhiebe trafen Horst die Worte. ,,Ich muß etwas tun", stieß er hervor. ,,Es ist furchtbar." „Du kannst nichts tun", ereiferte sich der Hirt. ,,Geh zur Höhle, bis sich alles beruhigt hat. Du brauchst nicht zu fürch­ ten, daß Mhamed oder Nahza dich verraten. Marokkaner has­ sen den Verrat, lieber würden wir sterben!" Horst atmete schwer. Er drückte dem Hirten die Hand, dann hetzte er davon.

KAPITÄN LASALLE

Horst blieb stehen und zwang sich zur Ruhe. Vor ihm lag die Gendarmeriestation. Der große zweistöckige Bau wirkte in der Dunkelheit unheimlich, und Horst wurde beinahe schwankend. Dann aber ging er mit festem Schritt auf das Portal zu. Er wußte noch nicht, was er Kapitän Lasalle sagen würde, aber er war fest entschlossen, alle Schuld auf sich zu nehmen, da­ mit Mhamed und Nahza frei kämen! ,,Halt ...", klang es ihm durch die Stille der Nacht entgegen. Ein Doppelposten hielt vor dem Port_al Wache. Ein Gewehr­ schloß knackte. ,,Qui vive?" Horsr blieb stehen. Er erklärte dem Posten, er müsse Kapitän Lasalle in einer äußerst wichtigen Angelegenheit sprechen. Er sprach jetzt für die Franzosen schon so geläufig arabisch, daß ihn die Männer, noch bestärkt durch seine Erscheinung, für einen Marokkaner hielten. Ein Mann des Doppelpostens brachte Horst ins Haus.Er war sichtlich verärgert, daß so spät noch je­ mand den gefürchteten Polizeichef sprechen wollte. ,,Allez-y, vieux salaud", trieb er den vermeintlichen Araber den langen Gang entlang, in dessen Hintergrund sich die Zellen der Häft­ linge befanden. Vor einer Zimmertür, hinter der es ziemlich laut zuging, blieb der Gendarm stehen. Sichtlich nervös trat er von einem Bein aufs andere, lauschte ängstlich nach der Tür hin und achtete kaum noch auf den Araberjungen. Horst war von der langen Wanderung ermüdet. Er setzte sich nach Lan­ dessitte mit unterkreuzten Beinen auf den Boden. Wie gut das tat! Er war nahe daran, einzunicken, da ließen ihn die Stimmen hinter der Tür aufhorchen. 58

Das war die Stimme von Kapitän Lasalle! Wie wütend sie klang! ,,Sagen Sie diesem braunen Halunken, daß ich ihn so lange auspeitschen lassen werde, bis kein Fetzen Fleisch mehr an seinen Knochen ist, Leutnant Bighard", wetterte er. Leutnant Bighard - als der Name fiel, sah ihn Horst vor sich, seine schlanke Gestalt, das schmale, strenge Gesicht, seine ruhi­ gen Augen, seine sicheren Bewegungen. Wie so manchen der wenigen Europäer von Ain el Nahza hatte er ihn drüben bei seinem Onkel ein paarmal gesehen, wo er dienstlich zu tun hatte. Wahrscheinlich wurde ein marokkanischer Häftling ver­ hört, und er mußte dolmetschen. Jetzt sprach Leutnant Bighard. Er sprach französisch. ,,Mon capitaine", sagte er, ,,es sind nahezu acht Jahre, daß ich in Marokko bin. Das reicht nicht -aus, uni hier · das Volk zu begreifen. Aber das eine kann ich Ihnen mit Bestimmt­ heit sagen: Sie werden weder von dem Marokkanerjungen, noch von seiner Schwester das Geringste über den jungen Deutschen erfahren, selbst wenn die beiden von ihm etwas wis­ sen sollten." Horst hielt vor Erregung den Atem an. ,,Leutnant Bighard", begehrte Kapitän Lasalle auf.· ,,Wie sprechen Sie mit mir?" ,,Wie einer, der Sie warhen möchfe, es nicht zu weit zu trei­ ben." Ganz ruhig klang Leutnant Bighards Stimme. ,;Nehmen wir an, inan erfährt höheren Orts von Ihrer Handlungsweise. Ich glaube nicht, daß man Sie loben wird. Oder französische Zeitungen bringen die Sache an die Öffentlichkeit. Dieser Ara­ berjunge und seine Schwester sind keine Erwachsenen, es sind noch Kinder." Horst hatte Leutnant Bighard immer für einen harten und strengen Kolonialoffizier gehalten, jetzt aber erkannte er, daß er gerecht war und das Herz auf dem rechten Fleck hatte. Er erinnerte ihn an Colonel Bidault, den er im Flugzeug kennen­ gelernt hatte. Der Colonel hätte sich wohl ebenso verhalten wie der Leutnant.

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„Raus mit diesem braunen Schuft!" brüllte Kapitän Lasalle plötzlich. ,,Schmeißt ihn in seine Zelle, diesen Lumpen!" Gleich darauf wurde die Tür aufgerissen. Ein untersetzter Gen­ darm stieß Mhamed vor sich her. Dessen Hände waren gefes­ selt. Breite, blutige Striemen liefen über sein zerschlagenes Ge­ sicht, seinen Hals und die offene Brust. Schrecklich war er zugerichtet. Wie ein Stück Vieh trieb ihn sein Wächter nach den Zellen hin. Entsetzt hatte Horst den Freund erkannt, der sich nicht um­ blickte. Erregt starrte er hinter ihm her, da stieß ihm sein Wächter mit dem Fuß in die Rippen. ,,Allez-y, cochn Arab", fuhr er ihn an. Horst bebte am ganzen Körper vor Em­ pörung, als ihn der Gendarm in das Zimmer schob, in dem Kapitän Lasalle hinter einem großen Schreibtisch saß. Der Gendarm schlug die Hacken zusammen und machte seine Meldung. „Was - ein Araber will mich sprechen in einer wichtigen Angelegenheit?" polterte Kapitän Lasalle. ,,Raus mit ihm! Ich habe heute genug von dem Gesindel, er soll morgen kom­ men!" Der Gendarm war froh, aus der Nähe des gefürchteten Vor­ gesetzten zu kommen, und beeilte sich zu gehorchen. ,,Oui, mon capitaine." „Halt", hielt ihn Leutnant Bighard zurück, der bis jetzt mit dem anderen Gendarmen gesprochen hatte, der bei dem Verhör Protokoll geführt hatte. Er wandte sich an den vermeintlichen Araber: ,,Was hast du dem Kapitän Wichtiges zu sagen?" Einen Augenblick hatte Horst ein Gefühl, als würde ihm die Kehle zugeschnürt, dann brach es aus ihm heraus. „Ich wollte dem Kapitän sagen, daß mich niemand verschleppt oder ermordet hat. Ich bin meinem Onkel davongelaufen, weil er mich mißhandelt und beschimpft hat. Kapitän Lasalle ist selbst dabei gewesen." Einen Augenblick herrschte beklom­ mene Stille. Aller Augen waren auf Horst gerichtet.

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Wie von einer Tarantel gestochen sprang der Kapitän plötzlich auf und hastete zu Horst hin. Sein Gesicht war gerötet und vor Wut verzerrt. Böse funkelten die kleinen, schwarzen Augen, die fast hinter den Fettpolstern verschwanden. Er hatte die Fäuste

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geballt. ,,Du Lausejunge", schrie er so laut, da� sich seine Stimme überschlug. ,,Was hast du angerichtet und mir für Un­ annehmlichkeiten bereitet!" Horst hatte auf einmal schreckliche Angst. ,,Der Junge ist .Europäer, und Sie sind in keiner Weise gesetz­ lich befugt, ihn zu züchtigen", legte sich Leutnant Bighard ins Mittel. ,,Und ich bin der Meinung, seine erste Züchtigung 61

durch seinen Onkel hat schon genug Staub aufgewirbelt: Trup­ penaufgebote, Suchaktionen und Verhaftungen." Die Worte wirkten wie ein Schock auf den Kapitän. Sein Ge­ sicht wurde kreidebleich. Seine Hände lockerten sich. Unsicher blickte er um sich. Leutnant Bighard flüsterte Horsts Wächter etwas zu, der dar­ auf eilig das Zimmer verließ, dann trat er auf seinen Vor­ gesetzten zu. ,,Und was nun?" fragte er. Kapitän Lasalle machte eine hilflose Geste, dann wankte er, aschgrau im Gesicht, seinem Sessel zu und ließ sich schwer hineinfallen. „Vcranlassen Sie alles Notwendige, was die veränderte Lage erfordert, Leutnant Bighard", lallte er und öffnete den Kragen seiner Uniform. ,,Ich bin fertig, ich kann nicht mehr. Ein ent­ setzlicher Irrtum!" Statt einer Antwort rief Leutnant Bighard nach der Ordonnanz und befahl: ,,Die Kinder des Hirten Omar el Hadjar sind un­ verzüglich freizulassen. Sie wurden irrtümlich verhaftet: Bitten Sie Monsieur Boudin hierher!" Dann wanderte er, die Hände auf dem Rücken, wortlos im Zimmer auf und ab, während Ka­ pitän Lasalle, ein Bild der Hilflosigkeit, in seinem Sessel hockte und wie geistesabwesend vor sich hinstarrte. Kurze Zeit später klopfte es an der Tür. Onkel Henri und Tante Anni waren es. ,,Horst!" Weinend umarmte ihn Tante Anni, ,,daß du wieder da bist!" Mit verlegenem Gesicht stand der Onkel daneben. ,,Ich hätte nicht so hart gegen dich sein sollen, mein Junge", sagte er leise. Horst glaubte zu träumen. Dieses' Wiecersehen! Er hatte mit Vorwürfen und Strafen ge­ rechnet, und nun ... Wie gut war es, daß .ich nicht an Ain el Nahza vorbeigegangen bin, dachte er, als sie zu dritt über den Platz schritten, der die Gendarmeriestation von Maison Bou­ din trennte. Bald wußte Horst, warum sich die Tante und der Onkel bei dem Wiedersehen so anders benommen hatten, als er erwartet

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hatte. Man war in demse'lben Zimmer, in dem sich die folgen­ reiche Auseinandersetzung abgespielt hatte. Onkel Henri räusperte sich einige Male, ehe er zu sprechen be� gann. ,,Sieh mal, mein lieber Junge", stotterte er, so daß Horst erstaunt aufhorchte, ,,du bist lange Zeit fort gewesen. In der Zwischenzeit ist etwas Trauriges geschehen." Tante Anni griff hastig nach ihrem Taschentuch und wischte sich die Augen. Horst bemerkte es, da erfaßte ihn eine bange Ahnung. ,,Ist etwas mit meiner Mutter?" Erschreckt glitt sein Blick zwischen Tante und Onkel hin und her. ,,Sagt es mir!" Tante Anni schluchzte plötzlich laut. ,,Vor ein paar Stunden bekamen wir von deinem Onkel Peter aus Deutschland den Bescheid, daß deine liebe Mutter in der vorigen Woche ..." Onkel Henri schluckte ein paarmal, ehe er weitersprach: ,,verstorben ist." ,,Mutter!" stieß Horst tonlos hervor, dann schüttelte ein hem­ mungsloses Schluchzen 'seinen Körper. Unaufhaltsam rannen die Tränen. Onkel und Tante suchten ihn zu trösten. „Ich will dir eine Mutter sein!" versprach Tante Anni, 'und Onkel Henri strich ihm über den Kopf, was er noch nie getan hatte. ,,Ich sorge für dich, mein Junge", hörte Horst ihn sagen. „In den nächsten Tagen beantrage ich die Vormundschaft, dann wirst du adoptiert, und als einem Boudin wird dir in deinem Leben einmal nichts mangeln." Wie Messerstiche, so peinigte dieses Trösten und Versprechen Horst. Er rannte auf sein Zimmer und warf sich über sein Bett. Mister Howard kam. „Eine Mutter verlieren ist das Schwerste, was es im Leben gibt", sagte er. ,,Ich war noch jünger als Sie, ich war zwölf Jahre, als meine Mutter starb." Er nahm Horsts Hände in die seinen und blickte ihn ein Weilchen schweigend an, ehe er wei­ ter sprach: ,,Tote kann man nicht wieder zum Leben erwecken; aber eines kann man: ihr Andenken ehren und sich ihrer wür­ dig erweisen!" 63

Horst nickte unter Tränen, dann löste ihm der Schmerz die Zunge. Er vertraute Mister Howard an, was seit jenem unver­ geßlichen Tage geschehen war, an dem er während seiner Ab­ wesenheit allein die Grube verlassen hatte. Er verlangte nicht, daß er es für sich allein behielt, aber er wußte, daß es Mister Howard hüten würde wie ein Beichtgeheimnis!

EI N WIEDERSEHEN

Mister Howard war ein Mensch, der andere überzeugen konnte. ,,Zweifellos hatte das Christentum", sagte er einmal, ,,der wei­ ßen Rasse eine große Verantwortung für die Menschheit in die Hand gegeben. Aber was geschah? Christliche Völker haben öffentlich die Sklaverei geduldet und Menschenraub gefördert. Sie haben Menschen, die ,Krone der Schöpfung', als gemeine Handelsware verschachert." ,,Der weiße Mann", sagte er weiter, ,,der sich Christ nannte, ist nicht zu seinem Bruder gegangen, um ihm die Segnungen der Zivilisation zu bringen. Nur die wenigsten haben es getan. Die meisten brachten Gold und Silber des farbigen Mannes an sich. Dann nahmen sie ihm sein Land und machten ihn zum Sklaven auf seiner heimatlichen Erde. Als freie Jäger lebten einst die Indianer Nordamerikas auf ihren weiten Prärien, in den Urwäldern und den Bergen. Heute vegetiert noch ein kärg­ licher Rest in künstlich gehaltenen Reservaten." „Mit Verlaub, Mister Howard", meldete sich Horst, ,,sind Sie nicht Nordamerikaner?" „Richtig, Monsieur Lehnert", erwiderte Mister Howard. ,,Ich stamme aus den Vereinigten Staaten Amerikas und bin stolz darauf. Das hindert mich aber nicht, Verfehltes einzusehen und, soweit es geht, wieder gutzumachen." Beschämt über die Bemerkung, die ihm ungewollt entschlüpft war, schwieg Horst. Doppelt eifrig war er bei der Sache, als Mister Howard Arabisch mit ihm trieb. Wie schnell die Zeit verging, im Nu war es Abend.

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Seit Horst um den Tod seiner Mutter wußte, sah er jeder Nacht mit Grauen entgegen. Froh war er dann am Morgen, wenn das helle Tageslicht in sein Zimmer flutete! Die Zeit kennt keinen Stillstand. Die Nächte wurden zu Tagen, uhd die Tage wurden zu Nächten. Ein ruhiges Gleichmaß der Arbeit hatte sich eingestellt. Der Onkel ging in sein Büro. Die Tante regierte im Hause und manchmal auch außer dem Hause. Mister Howard arbeitete mit seinen Schülern. Er lobte, wenn es zu loben gab; er hielt auch mit dem Tadel nicht zurück.Horst lohnte seine Hingabe mit Eifer und betrieb mit ihm aus eige­ nem Verlangen auch gründlich das Arabische. Der Mister freute sich über seine Begeisterung und förderte ihn nach Kräften. Nebenher wuchs das gelehrte Material an, das er zu seinem Buche sammelte. ,,Allahu akbar! Esch schhadu anna _la illaha illa Allah .. :· schallte es über die Dächer Ain el Nahzas, das sich eben aus der dunklen Umarmung der Nacht löste. Es traf auch Horsts Ohr. Er lächelte, als er dem Ruf des Muezzins lauschte. Er mußte daran denken, wie ihn seinerzeit in Casablanca das „AI­ lahu akbar" zum erstenmal geweckt hatte. Damals hätte er gern gewußt, was die Worte bedeuten, nun kannte er sie: ,,Gott ist groß. Ich bezeuge, daß keine Gottheit ist außer Gott." Jetzt las und schrieb er Arabisch wie ein gelehrter Mufti und sprach die harten Kehllaute des Maghreb, als hätte seine Wiege nicht in Deutschland gestanden, sondern irgendwo im Atlas­ gebirge. Mhamed, Nahza ... Monate waren vergangen, seit er sie das letztemal gesehen hatte. Herbst war es gewesen, ein Winter war vergangen, jetzt brütete schon wieder der heiße Sommer über Marokko. Er hatte die Freunde ganz vergessen, im Schmerz um die tote Mutter und über all der Arbeit, mit der er sich zu betäuben suchte. Doch in dieser frühenMorgenstunde packte ihn auf einmal ein Verlangen, sie wiederzusehen. Heute noch würde er sie aufsuchen. Er freute sich so auf das Wiedersehen!

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Horst sprang aus dem Bett und stellte sich vor das offene Fen­ ster. Ein blauroter Schimmer leuchtete im Osten aus dem dunklen Himmelsgewölk. Schnell breitete er sich aus. Kräftig brauste Horst seinen Körper ab und rieb ihn so lange, bis er ganz durchblutet war. Wie gut das tat! Noch einige Freiübungen und ein paar tiefe Atemzüge am offenen Fenster, dann schlüpfte er in die Kleider, Hemd, kurze Khakihose, und zog an die Füße leichte Sandalen. Heute war eine botanische Exkursion geplant, nach einem Wäldchen in der Nähe der Stadt. Paul kam nicht mit. ,,Ihm ist nicht gut", entschuldigte ihn seine Mutter. ,,Er muß im Bett bleiben." Die Fahrt ging mitten hinein in die Berge. Horst durfte Mister Howards Jeep steuern, das tat er gern. Sie fuhren langsam, um die schöne Gegend voll auszukosten. Ein Hochplateau wie viele im Hochgebirge, eine steinige Ode; wurde durchzogen von einem schmalen, grünen Band, auf dem Gras, Büsche und allerlei Bäume wuchsen. Hohe Ethelbäume streckten ihr fahlgrünes Gezweig mit den langen, dünnen Na­ deln in die glutflimmernde Luft. Dazwischen standen dunkel­ grüne, knorrige Ölbäume, Orangen und Limonen. Unter dem schattenspendenden Blätterdach eines mächtigen, alten Ölbaumes stellten sie den Jeep unter. Sie machten es sich im Grase bequem und sahen hinauf in den blauen Himmel. Eine halbe Stunde mochten sie so gelegen haben, da hörten sie das Schnauben von Pferden. Von Ain el Nahza her kamen zwei Reiter. Sie ritten edle Tiere, einen Rappen, der besonders präch­ tiges, reichverziertes Sattel- und Riemenzeug trug, und einen feurigen Braunen. Auf dem Rappen saß ein älterer, untersetzter Mann in kostbarer, arabischer Kleidung. Ein schwarzer Kne­ belbart zierte sein Gesicht. Es schien etwas blasiert und ver­ lebt. Würdevoll grüßte er zu den Lagernden herüber, die ge­ messen seinen Gruß erwiderten. ,,Der Pascha Si Hadj Thami EI Arafu", sagte Mister Howard.

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„Ich lernte ihn kennen, als ich einige Auskünfte für mein Buch brauchte. Kein anderer konnte sie mir geben. Ein sehr reicher Herr, ihm gehört die stolze Kasbah von Ain el Nahza. ,,Ist er reicher als Onkel Boudin?" Mister Howard lachte: ,,Als Ihr Onkel? Gar kein Vergleich mit ihm. Verbürgten Nachrichten zufolge, denn in Marokko gehört es zum guten Ton, mit seinem Vermögen zu prahlen, was man anderswo des Finanzamtes und der Neider wegen gern unter­ läßt, ist anzunehmen, daß er viele Millionen sein eigen nennt. Er besitzt einen märchenhaften Palast, unmeßbare Mengen von Juwelen und alten Kunstschätzen, ein berühmtes Gestüt, und jedes'' Jahr verdient er Millionen dazu." ,,Aber woher bekommt er so viel?" staunte Horst. 68

„Früchte kluger Finanzpolitik, wie es heißt," Mister Howards Stimme wurde ernst, ,,und der Abgaben von Bauern, die dem mächtigen Berberfürsten und Großgrundbesitzer hohe Pacht­ summen zahlen!" ,,Welche Gegensätze von Reichtum und Armut in diesem Ma­ rokko", wunderte sich Horst, der an die Dürftigkeit in der Familie des Hirten dachte. „Nur in einzelnen Gegenden Marokkos lebt man noch in einer Art Urgemeinschaft, in der alle Stammesangehörigen gleich sind und gleich frei. Das sind Stämme, großmütig, aufrichtig und treu, mögen sie sich zuweilen auch nach Meinung anderer tückisch, niederträchtig und grausam zeigen, wenn sie ihre Freiheit verteidigen." Mister Howard unterbrach sich: ,,Aber nun erst einmal zu unserer Botanik!" Sie hatten eine ganze Weile Pflanzen betrachtet, bestimmt und eingeordnet, da hob Mister Howard lauschend den Kopf. Er machte seinen Schüler aufmerksam. ,,Hören Sie, Monsieur Leh­ nert? Da bläst jemand auf einer Chaita. Das ist eine arabische Flöte, die aus ganz alten Zeiten stammt. Horst hörte es jetzt auch. Die Töne kannte er. So hatte er oft Mhamed in der Höhle spielen hören. Lebhaft sagte er: ,,Mister Howard, ich glaube; ich weiß, wer da spielt. Darf ich nachsehen?" ,,Selbstverständlich, Monsieur Lehnert." Lächelnd drohte Mi­ ster Howard mit dem Finger, als Horst aufsprang, ,,aber nicht wieder wochenlang fortbleiben!" Mister Howards letzte Worte hörte Horst schon nicht mehr: Er schlüpfte durch niedriges Zwergpalmengestrüpp, stach sich an stachligen Kakteen und spürte es kaum, so war er voller Erwartung. Dann sah er den Spieler der Chaita. An den Stamm einer Sykomore gelehnt, ganz dem Spiel hin­ gegeben, stand Mhamed. Seine beiden Hunde balgten sich ab­ seits der ganz in der Nähe weidenden Schafe und Ziegen. Es war nur ein Teil der großen Herde. Sicher weidete Mhameds Vater mit dem anderen irgendwo in den Bergen.

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,,As Salamu Aleikum, Mhamed!" grüßte Horst und ging näher. Jäh brach der junge Hirt sein Spiel ab. Zögernd erwiderte er den Gruß: ,,U Aleikum es salam." Alles andere als herzlich klang das. Betroffen sah Horst ihn an. ,,Was hast du, Mhamed?" fragte er. ,,Wir sind Freunde." In Mhameds Augen trat ein seltsamer Glanz. ,,Freunde sagtest du", und es klang wie ein Verweis. ,,Freunde leben nicht in einem Ort zusammen, ohne sich zu sehen, ohne wenigstens ein­ mal aneinander zu denken." Mhameds Worte schmerzten Horst, aber Mhamed hatte recht. Wie häßlich war es von ihm, sich so lange nicht um seine bei­ den Freunde zu kümmern. ,,Verzeih mir, Mhamed", bat er. ,,Es ist mir nicht sehr gut gegangen. Während wir in der Höhle waren, ist drüben in Deutschland meine Mutter gestorben. Ich habe .. ." „Deine Mutter!" Mhamed griff nach Horsts Händen. ,,Sprich nicht weiter! Möge mir Allah mein unbedachtes Wort ver­ zeihen! Es muß sehr schmerzen, die Mutter zu verlieren. Möge mir Allah die meine noch lange erhalten, Inscha Allah!" ,,Komm, Mhamed - ich möchte dich meinem Lehrer vorstel­ len." Horst zog den Freund mit sich. Mit strahlenden Augen stellte er ihn Mister Howard vor. ,,Mein Freund Mhamed", und stolz fügte er hinzu: ,,Er kann schon etwas Französisch spre­ chen. Das habe ich ihm beigebracht. Mister Howard be­ grüßte Mhamed freundlich. Dann holte er den kleinen Pick­ nick-Koffer hervor, den er auf ·der Fahrt mitzunehmen pflegte: „Wir werden uns jetzt erst einmal stärken. Mhamed ist unser Gast." Entsetzt wehrte Mhamed ab. ,,0 Sidi, es ist Ramadan." „Verzeih, Mhamed!" Mister Howard legte begütigend seine Hand auf Mhameds Arm. ,,Ich hatte vergessen, daß wir noch im Monat Ramadan sind, der dem Gläubigen erst nach Beginn der Nacht Speise und Trank gestattet." Einen ganzen Monat lang tagsüber weder einen Bissen essen, 70

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noch einen Schluck trinken, und das unter der glühenden Sonne des sommerlichen Julihimmels! Dabei Tag um Tag die übliche Arbeit verrichten! Scheu blickte Horst auf den Freund. Welche Willenskraft und starke Frömmigkeit mußte in ihm stecken! 71

Mister Howard packte seinen Picknick-Koffer wieder fort. Er holte ein Buch hervor „Arabische M�rchen und Sagen" in fran­ zösischer Sprache. ,,Genug Botanik", sagte er. ,,Wir werden uns vorlesen!" Sie fuhren mit dem Jeep um das Wäldchen herum zu Mhameds Herde. Mhamed fuhr zum erstenmal in einem Auto. Erst war er mißtrauisch, aber dann war er begeistert. Er ließ sich von Horst die Schaltungen erklären und stieg nur ungern aus. Doch seine Herde, die beim Nahen des Wagens erschreckt davon­ jagte, erforderte sein Eingreifen. ,,Ich kann wohl etwas Fran­ zösisch sprechen", meinte Mhamed, als die Reihe zu lesen an ihm war, ,,aber mit dem Lesen und Schreiben ist es noch nichts." Er wurde lebhaft. ,,Nahza sollt ihr sehen! Sie liest Zei­ tungen und schreibt wie ein Advokat." Er schaute Horst strah­ lend an. ,,Du wirst staunen, was sie kann. Sie will es mir auch beibringen, nur - wir haben wenig Zeit dazu." Mister Howard gab ihm das Buch. ,,Wenn deine Schwester so tüchtig ist, dann bring ihr das Buch als Geschenk. Sie wird es bald gern haben!" ,,Schade um Mhamed", bedauerte Mister Howard auf der Heim­ fahrt. ,,In dem steckt Eifer. Aber wo soll er lernen? In die wenigen Schulen, die von religiösen Kreisen unterhalten wer­ den, kommen nur Kinder begüterter Väter." Vier Tage später hielt Horst mit dem Jeep vor dem Hause des Hirten. Er hatte sich den Wagen von Mister Howard geliehen, um Mhamed mit einer kleinen Fahrt eine Freude zu machen. Doch Mhamed war nicht daheim. Seine Mutter erklärte Horst, daß er mit Nahza und dem Vater in den Bergen die Herde weide. Sie beschrieb ihm den Weg dorthin. Horst lernte auch Mhameds jüngere Geschwister kennen. Es waren neun. Das Jüngste zählte knapp zwei Jahre. Mitfahren wollte keines der Kinder, sie hielten den Jeep, wie alles, was ihnen fremd war, für ein Werk des Scheitans. Johlend stoben sie davon, als Horst startete und Gas gab.

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Außerhalb der Karawanenstraße gab es rings um Ain el Nahza, wie fast überall in dem kaum erschlossenen Marokko, keinen guten, fahrbaren Weg. Es gab ja keine Wagen. Menschen, Esel und Kamele trugen die Lasten. Obwohl es nur knapp zehn Kilometer bis zum Weideplatz waren, brauchte Horst mehr als eine Stunde, ehe er sich in seiner Nähe befand. Der Weg mün­ dete in einen unwegsamen Pfad und zwang ihn, den Jeep zu­ rückzulassen. Er ging zu Fuß weiter. Von der Herde war weit und breit nichts zu sehen. Erst als er um eine Felswand bog, sah er die ausgedehnte Bergwiese vor sich liegen, die ihm Mhameds Mutter beschrieben hatte. Und da weideten ganz nahe vor ihm die Schafe und Ziegen, und kau_m hundert Meter von ihm ent­ fernt saß Nahza auf einem Felsblock und flocht einen Kranz aus Blumen. Lange hatte er sie nicht gesehen! Sie war größer und schöner geworden. Jetzt begann sie, die von seiner Nähe nichts ahnte, zu singen. Aber Horst konnte die Worte nicht verstehen. ,,Was singst du da, Nahza?" begrüßte er sie. Sie schreckte auf, weil sie ihn nicht kommen hörte. ,,Du bist es!" Jipre Augen leuchteten vor Freude über das Wiedersehen. ,,Das Lied - man singt es bei den Tuaregs. Ich kenne es von meiner Mutter. Sie ist eine Targia." ,,Aus dem Süden, aus der Sahara stammt deine Mutter?" Nahza nickte. ,,Ihr Vater war ein Imageren, so nennt man die Edlen bei den Tuaregs. Er zog wegen einer Stammesfehde in die Fremde. Meine Mutter hat oft Heimweh nach der Oase ihrer Jugend." Ein Panther war nachts in die Herde eingebrochen, Mhamed und sein Vater stellten ihm nach und waren noch nicht zurück. Gleich nach Horsts Ankunft kamen auch sie, ihnen voraus die Hunde, die noch vor lauter Jagdeifer glühten. Quer vor sich auf seinem Rappen hatte der Vater die Beute liegen, den Pan­ ther, dessen schwarzes Fell wie Samt glänzte. Mhamed freute sich sehr, als ihm Horst von dem Jeep erzählte. Am liebsten

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wäre er gleich mit zum Jeep gegangen und losgefahren; aber erst galt es noch den Panther abzuhäuten, und danach holten Mhamed und Nahza ihre Hefte heraus, die sie jetzt immer bei sich führten. Horst schrieb ihnen arabische Worte vor. Zu­ weilen wurde es schon ein kleiner Satz. Mit der Zeit wurden

die anfänglich so ungelenken Hände des Schreibrohrs gewohnt. Schweigend sah der Hirt zu, wie Nahza und selbst der bedäch­ tigere Mhamed die von rechts nach links laufenden Schriftzüge nachmalten und dazu vor sich hin murmelten. Es war gegen Mittag, als Horst auf der Bergwiese ankam. Als er seine wißbegierigen Schüler einigermaßen befriedigt hatte, ging es auf den Abend zu. Mhamed fuhr .noch ein Stück mit im Wagen, als Horst heimsteuerte. Am liebsten wäre er bis nach

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Ain el Nahza mitgefahren, aber sein Vater brauchte ihn. Beim Weideplatz gab es Raubtiere. Droben im äußeren Hofe der Kasbah umstehen die Menschen am Abend des letzten Tages im Ramadan in dichten Gruppen einen alten, reichverzierten Mörser, unter ihnen neben Mhamed und dessen Vater, als gehörte er mit zur mohammedanischen Welt, die jetzt in Afrika und Asien zu gleicher Stunde einen langen und harten Monat des Fastens und Betens beendet Horst. Seine Augen folgen gespannt dem bärtigen, hochgewachsenen Marokkaner, der mit feierlichem Ernst eine Pulverladung vor­ bereitet. Wie während der vielen Jahre vorher, hat er auch in diesem Monat Ramadan dreißig Tage lang da� Ehrenamt ver­ sehen, jedesmal bei Sonnenuntergang den Signalschuß abzu­ feuern, der den gläubigen Mohammedanern erlaubt, nach vor­ geschriebenem Ritus Speise und Trank zu sich zu nehmen. Er ist im Begriff, das letzte Signal des Ramadan-Monats im Jahre 1953 vorzubereiten. Eine seltsame Erregung hat die Menge ergriffen. Voller Span­ nung und Erschöpfung sind ringsum die Gesichter der Gläu­ bigen. Trotz sengender Sonne haben sie dreißig Tage lang ge­ durstet, gehungert und gedarbt und dabei die gewohnten Ar­ beiten wie sonst verrichtet. Aus ihren Augen glänzt der Stolz über die vollbrachte Opferleistung. Körper und ,Geist sind durch das Fasten gereinigt und gestählt worden, so will es der Prophet. Die untergehende Sonne taucht Berge und Täler in funkelndes Rot. Ein heftiger Schlag zerreißt die Stille, Die auf den Gassen, Straßen, Plätzen und Moscheen harrenden Menschenmassen werden lebhaft. Der Muezzin ruft von der Zinne des Minaretts sein „Allah il Allah" in die nahende Nacht und mahnt die Gläubigen zum Gebet. Der Vorbeter greift seinen Ruf auf. Die Menge fällt ein, und alle Gläubigen finden sich im Gebet.

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Danach strömt alles eilig heimwärts. Die Frauen haben ein Festmahl bereitet. Nun, nach dem letzten Fasten am Tage, folgt der nächtliche Ramadan-Schmaus. Er wird zu einem ausgelassenen Fest. ,,Sei heute unser Gast", wird Horst von dem Hirten gebeten. Zum erstenmal betritt Horst das Haus eines Marokkaners.

Wie bei allen Mohammedanern, ob in einem Palast oder im Zelt des Nomaden, war das kleine Haus des Hirten in zwei Ab­ teilungen geteilt. Ein Raum diente dem Manne als Wohn- und Schlafraum, der andere, der sogenannte verbotene Teil, beher­ bergte Frauen und Kinder. Mit unterkreuzten Beinen hockten sie in der Mitte des ersten Raumes auf dem Teppich, dessen bunte Farben im lichte der Kerzen besonders lebhaft leuchteten. Hier war der Teppich nicht nur ein Zimmerschmuck. Der Teppich war der Platz, auf dem gef:$essen und geschlafen wurde, auf dem nach Überlieferung 76

und Sitte jede Geselligkeit ihren bestimmten Platz hatte und den man darum mit den schönsten Farben schmückte, die man finden konnte. Die Frauen des Hirten bedienten die Gäste. Zum erstenmal sah Horst sie unverschleiert. Beide waren schön, be­ sonders Nahzas Mutter, die bedeutend jünger war als die Mutter Mharneds. Sie war kaum größer als Nahza und von zier­ licher Gestalt. Ihre Hautfarbe hatte einen hellen, bräunlichen Glanz, wie man es bei dem Adel der Tuaregs antrifft. Aus ihrem schmalen Gesicht blickten große, dunkle Augen. Es gab Cous-Cous, das Nationalgericht der Araber, aus ge­ riebenem Weizen mit Gemüse vermischt, über dem offenen Feuer gebratene Fleischstückchen, und hinterher süße Speise, Assida genannt. Zuletzt brachten die Frauen Nana, den belieb­ ten, würzig duftenden Pfefferrninztee. ,,Es ist besser, du bleibst die Nacht über in meinem Hause", riet Horsts Gastgeber. ,,In den Ramadan-Nächten lodert der Frerndenhaß leichter auf als sonst." Horst war zu aufgeregt, um schlafen zu können. Die Nacht war erfüllt vorn lärmenden Tamtam der Pauken und Trommeln und den schrillen Tönen der Pfeifen und Flöten. In dieser letz­ ten Nacht des Ramadan war das ernste, marokkanische Volk ausgelassen und wild, wie berauscht. Das dauerte, solange die Dunkelheit anhielt. Mit dem ersten Schimmer des Tages, als die Stimme des Muezzins durch die schwindende Nacht hallte, verstummte das Lärmen und Toben mit einem Schlag.

FUKAHA BROUSS

Maison Boudin hatte Besuch. Der Bruder von Onkel Henri, ein Landarzt aus der Bretagne, war mit Frau und Tochter von Frank­ reich herübergekommen, um seinen Urlaub bei dem reichen Bruder zu verleben. Alles drehte sich nur noch um die Gäste. Der Onkel mußte dauernd mit seinem Bruder umherfahren, die Tante wurde ständig von ihrer Schwägerin in Anspruch ge­ nommen, und Paul war ganz begeistert von seiner Kusine, einer etwas zu selbständigen Blondine. Horst, der arme Verwandte, wurde ganz vergessen. So war er viel sich selbst überlassen. Mehr als sonst verbrachte er die freien Stunden mit Mhamed und Nahza. Es begann für ihn die schönste Zeit in Ain el Nahza. Der Besuch von Maison Boudin reiste ab. Onkel Henri, Tante Anni und Paul brachten ihn nach Oran zum Schiff. Dann fuh­ ren sie für zwei Monate in ein vornehmes Seebad Algeriens. Mister Howard hatte Ferien genommen und benutzte sie zu einer Reise in seine Heimat. Horst blieb allein zurück. ,,Komm mit uns", bat ihn Mhamed. Horst sagte zu. Von Weide zu Weide zog er mit den Hirten durch die Atlasberge, oft weit, weit entfernt von Ain el Nahza. Sie schliefen im Zelt. Abends saßen sie mit Hirten der Nach­ barweiden am Lagerfeuer, sangen, spielten oder hörten zu, wenn einer von den blutigen Kämpfen im Rif erzählte, mit denen Abd el Krim Marokko von Frankreich und Spanien los­ reißen wollte. Horst gewöhnte sich ein. Er lernte Sitten und Bräuche der Freunde kennen, spielte und ritt mit ihnen um die Wette. Er fühlte sich immer mehr zu ihnen hingezogen.

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„Bei unserem Nachbar wird ein Fest gefeiert", meinte Mhamed einmal, als sie zu kurzem Besuch in Ain el Nahza weilten. ,,Das müssen wir mitfeiern!" Der Nachbar war ein Händler. Eine seiner Frauen hatte ein Kind geboren. Es wurde

eine Woche alt, nun mußte es einen Namen haben. Vor dem Hause hatte sich eine stattliche Zahl von Männern eingefunden. Horst und Mhamed gesellten sich zu ihnen. „Am Morgen des siebenten Tages nach der Geburt", flüsterte Mhamed Horst zu, ,,versammeln sich die Marabouts, die Schrift­ gelehrten. Mit Hilfe des Korans, der heiligen Verkündigung, suchen sie den richtigen Namen für den Neugeborenen. Sie er­ forschen ihn aus Tag und Stunde der Geburt. Aber nur Männer

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dürfen daran teilnehmen; Frauen würden Unglück bringen. Nicht einmal die Mutter des Kindes darf dabei sein, weil ..." Mhamed brach ab und wies stumm auf die Tür des Hauses, wo eben der Vater des Kindes erschien. ,,Mein Sohn soll Hussein heißen", hallte weithin seine Stimme. Wie ein erlösendes Signal, so wirkte der Ruf auf die Versam­ melten. Ein ohrenbetäubender Lärm brach los. Die Musikanten häm­ merten auf ihre Pauken und Trommeln los. In das Dröhnen und Rasseln mischte sich das Schmettern der Trompeten. Alles war fröhlich, lärmte und tanzte. Der glückliche Vater, voller Freude über die Geburt des ersehnten Sohnes, bewirtete über­ reichlich die geladenen und ungeladenen Gäste. Den ganzen Tag sollte gefeiert werden. Horst hielt es nicht allzulange aus. In Ain el Nahza war Markt­ tag. Hier strömte viel Volk zusammen, und dieses bunte Trei­ ben zog ihn immer wieder aufs neue in Bann. Mhamed ging mit. Schon auf dem Wege kamen ihnen Frauen entgegen, die schön geformte Wasserkrüge nach Landesart auf ihren Köpfen trugen. Sie kamen von den Brunnen, die es in der kleinen Stadt reichlich gab. Andere schleppten schwere Säcke und Ballen, trotz der schweren Lasten war ihr Gang stolz und anmutig. Sie strebten dem Markt zu, ebenso wie Mhamed und Horst. Auf dem Markte nahmen den größten Teil des Platzes Buden von Lebensmittelhändlern ein. Zuckerhüte, riesengroße und ganz kleine, Tee, Gewürze, Fässer mit Reis und Hirse, sowie Süßigkeiten, wurden angeboten. In anderen Buden wurden prächtiges, reichverziertes Riemenzeug und hohe arabische Sät­ tel, Tabakbeutel, gelbe Pantoffeln feilgehalten, und viereckige, flache Taschen aus rotem Maroquin, sogenannte Schkaras, die jeder Atlasbewohner zur Aufbewahrung seiner Habseligkeiten unter dem Burnus trägt. Da gab es Arbeiten einfachster Art bis zu den schönsten, gestickten Erzeugnissen überlieferter Kunstfertigkeit und kultivierten Geschmacks. Zwischen alle-

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dem war auch ein Stand für die Frauen, wo sie Henna zum Rot­ färben der Fingernägel und Kohle zum Schwärzen der Augen­ brauen erwerben konnten; und dort hing auch zwischen Bün­ deln buntfarbiger Kerzen aus Blech gestanzt oder aus Holz ge­ schnitzt, die Hand der Fatima, das unfehlbare Mittel gegen alle Krankheiten.

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Hochgewachsene Männer in dunklen Kamelhaarburnussen, mit nägelbeschlagenen Knüppeln, den Matraks, in den Fäusten, waren aus den einsamen Duars der Berge gekommen und wan­ derten bedächtig durch die Gänge des Basars. Dunkelgekleidete Juden, Handwerker, umherziehende Händler, Bettler und lär­ mendi:: Wasserträger belebten das Bild. Ab und zu begegnete man würdig einherschreitenden, ganz in Weiß gekleideten Män­ nern, das waren entweder mohammedanische Prediger oder Tabibs. Zwischen zwei Buden mit Töpferwaren stand ein dik­ ker Mann und briet über einem offenen Feuer kleine Fleisch­ stückchen, deren Geruch bald über den ganzen Souk lagerte. Den prächtigsten Anblick boten die Teppichzelte. Darin stand die Mehrzahl der Teppiche in Rollen, um das reiche Angebot zu zeigen; besonders wertvolle und schöne Stücke hingen von der Decke herab. Sie kamen aus den uralten Webereien von Rabat Die Kauflustigen prüften sie mit feuchten Fingern auf Echtheit der Farbe und Feinheit und Gleichmäßigkeit des Korns. Zwischen riesigen Ballen kostbarer bunter Seide in allen Far­ ben hockten mit ernsten Gesichtern, in weite, faltige Mäntel gehüllt, die Seidenweber. Daneben, auf freier Straße, war ein Kunstschmied bei der Arbeit. Platten und Teller aus Zinn, Messing und Kupfer lockten zum Kauf. Horst und Mhamed blieben neugierig stehen und sahen zu, wie er auf dem kleinen Amboß mit geschickter Hand eine kupferne Schale trieb. Zu­ fällig blickte er von seiner Arbeit auf, als die beiden vor ihm standen. Er hörte einen Augenblick auf zu hämmern, und zu Horst ge­ wendet sagte er: ,,Allah sei gepriesen." Sein finsteres Gesicht erhellte sich, als er fortfuhr: ,,Da du dich in Mhameds Gesell­ schafc befindest, bist du der Brouß, der ihn die Kunst der Feder lehrt. Auch ich habe Kinder, genauso viele wie Omar el Hadjar. Vier davon sind Knaben." Er machte eine Pause, offenbar Hel es ihm schwer weiterzusprechen. ,,Wenn du", stotterte er, ,,wenn

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jemand meinen Söhnen die Kunst zeigen würde, ein heiliges Buch zu lesen und einen Brief zu schreiben - sie sollen ein­ mal leichter mit dem Propheten reden können als ihr Vater, der arme Schmied -." Horst fand nicht gleich eine Antwort darauf. Da fuhr er hastig fort: ,,Ich will's nicht ganz umsonst! Ich kann nicht zahlen, was die Wohlhabenden in der Schule des Chutib zahlen, aber ... " „Schicke sie in vier Tagen zur Zeit des Aschia nach dem Hause Omar el Hadjars", unterbrach ihn Horst. ,,Ich will sie gern das Wenige lehren, was ich kann; aber unter einer Bedingung: Ich will nichts dafür haben!" überglücklich sah ihn der Schmied an. Feierlich neigte er sich vor dem jungen Brouß, als dieser mit seinem arabischen Freunde weiterging. Die Söhne des Schmiedes blieben nicht die einzigen. Bald ver­ sammelte sich jeden Tag vor dem Hause des Hfrten eine ganze Anzahl Jungen, die eifrig von ihm lernten und dafür sorgten, daß Ain el Nahza. voll wurde seines Ruhmes. „Fukaha Brouß", nannte man ihn, und wenn er durch die Stadt ging, grüßte ihn jung und alt. Wenn seine Schüler vor ihm auf dem Rasen hockten und schrie­ ben und lasen, bemerkte Horst oft im Schatten der alten Stadt­ mauer Mädchen, die neugierig und sehnsüchtig zu den Lernen­ den herüberblickten. Sie werden Frauen, die in der Abgeschlossenheit des Harems leben müssen, dachte er. Wie gut wäre es, wenn sie lesen und schreiben könnten. Er sprach mit Nahza darüber und schlug ihr vor, Mädchen um sich zu sammeln, die er unterrichten wollte. Binnen kurzem hatte er mehr Schülerinnen als Schüler. Es wurde Winter. Regenschauer und Kälte ließen den Unter­ richt im Freien nicht mehr zu. Der Vater eines Schülers, ein Kaufmann, stellte einen Schuppen zur Verfügung. Dichtge­ gedrängt beieinander, frierend, saßen sie dort, so lange es sich nur ertragen ließ, und lernten, lernten ... 83

WEIHNACHTEN

Ein unternehmender Elsässer hatte in Ain el Nahza ein Hotel gebaut. Er versprach sich hier bei den Mangangruben an der alten Handelsstraße ein gutes Geschäft. Natürlich hieß sein Unternehmen „Moulin rouge". Für Betrieb würde er schon sor­ gen. Heute feierte die europäische Bevölkerung bei ihm Weih­ nachten. Der Saal war geschmückt mit immergrünen Zweigen und strahlte im Glanz vieler, vieler Kerzen. Das war eine Hul­ digung für Madame Boudin, die ja aus dem Lande der Weih­ nachtsbäume· und der stillen Nacht stammte. Man saß. in Gruppen an einzelnen Tischen. Es gab ausgesuchte Speisen und Leckerbissen für verwöhnte Gaumen, erfrischende und erquickende Getränke für zartere und scharfe Getränke für rauhe Kehlen. Ein Lautsprecher lieferte dezente Musik. Das mußte man ihm lassen, der Hotelier verstand sein Gewerbe! Die Stimmung wurde ungebundener, fröhlich, laut. Scherze flo­ gen von Tisch zu Tisch. Es war ein sehr schöner Abend. Nur Horst war unglücklich. Er dachte an die letzten Weihnach­ ten, die er mit seiner Mutter verlebt hatte. Bis zu Mutters Tode hatte ihm Onkel Peter regelmäßig geschrieben. Seitdem hatte er nicht einen Brief erhalten. Wie abgerissen waren alle Fäden, die ihn mit der Heimat verbanden. Hier waren festliche Menschen, lebhaft und froh, und er war einsam! Neben ihm saß seine Tante. Wie gut hätte es ihm getan, wenn sie einmal ihren Arm um ihn gelegt oder nach seiner Hand gefaßt hätte. Aber ihre Augen hingen an ihrem Mann, der jetzt mit einer kleinen Gruppe einflußreicher Geschäftsleute in einer

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Fensternische stand und das Gespräch beherrschte. Sie merkte gar nicht, daß Horst aufstand und hinausging, weil er sich der Tränen nicht mehr erwehren konnte. über dem Djebel Aicha stand ein einzelner, heller, leuchtender Stern. Leise strich der kalte Nachtwind über Horsts heiße Stirn. Langsam beruhigte er sich und wandte sich wieder dem Hotel zu. An einem der Fenster stand eine dunkle Gestalt, die neugierig in den Saal blickte. Er erkannte sie sofort im Lichtschein, der aus dem Fenster fiel. Es war Nahza. ,,Was machst du hier, Nahza?" fragte er und freute sich, denn er hatte sie über eine Woche lang nicht gesehen. Man konnte die Schreibschule nicht halten, weil es zu kalt war. Ganz in den Anblick versunken, der sich ihr bot, schrak Nahza bei der plötzlichen Anrede zusammen. ,,Ich - ja -" suchte sie nach Worten, dann fragte sie: ,,Was tun die Roumis dort drin? Warum brennen so viele Kerzen?" „Sie feiern die Geburt Isa ben Maryams, wie ihr Jesum von Nazareth nennt." „So ..." meinte sie und wandte sich zum Gehen. Horst bangte vor dem Alleinsein. Er blieb an ihrer Seite, sie sprachen von der Geburt Jesu. ,,Hirten auf dem Felde waren es, denen die Engel es zuerst verkündeten?" Das war Nahza wichtig. ,,Und in einem Stall wurde er geboren?" - ,,In der Krippe hat er ge­ legen", bestätigte Horst. ,,In einer Felsgrotte", sagte eine Stimme. Erschrocken blickten sie sich um. Ein weißbärtiger Greis stand hinter ihnen. Sein würdiges Ant­ litz zierte der grüne Turban der Pilger, welche die heiligen Stätten des Islams besucht haben. Jeder in Ain el Nahza kannte ihn. Er wurde der „Hundertjährige" genannt, sollte doch sein Alter mehr denn hundert Jahre betragen. Nahza kniete nieder und küßte den Saum seines Haiks. Er be­ achtete sie nicht. Frauen und Mädchen wurden übersehen. So war es Brauch. 85

,,In einer Felsgrotte soll Isa ben Maryam auf die Welt gekom­ men sein?" fragte Horst. Der Greis nickte: ,,Ich habe die Stätte gesehen. Von el Kudds, der Heiligen, kam ich, als ich an den heiligen Stätten des

Isiams weilte, dort wo Sidna Mhamed, Allahs großer Prophet, lebte. Ich habe an der Stelle gebetet, wo Jesus, der Prophet, ge­ boren wurde. über der Krippe steht in euren Lettern geschrie­ ben: ,,Hier gebar die Jungfrau Maria Jesum Christum." Der Greis ging weiter. Wie selbstverständlich blieben Horst und Nahza an seiner Seite. Der Alte erzählte weiter, langsam,

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wie ihm die Erinnerungen kamen. ,,über zwei Hügel breitet sich Bethlehem, umgeben von Weinbergen, von Olivenhainen und Feigengärten. Es ist ein heiliger Ort - Allah ist groß! Auch die Ungläubigen pilgern hierher und sinken auf die Knie. Sie beten den Isa ben Maryam an. Die Gläubigen küssen den Staub vor der Krippe und lenken den Schritt nach dem Kubbet Rahil. Rahel schenkte ihrem Manne Jakob den Sohn Benjamin. Sie starb auf dem Wege zum Euphrat und wurde hier begraben. Allah sei unser Schutz!" Bis in die Nähe der Kasbah begleiteten Horst und Nahza den Greis. Er erzählte ihnen auf dem ganzen Wege von Palästina, von Mekka, von Damaskus und Kairo. „Ich habe Gutes von dir gehört, fukaha Brouß", verabschiedete er sich vor seinem Hause, ,,jetzt weißt du, wo ich wohn�. Meine Tür ist dir offen." „Hundert Jahre ist er alt", dachte Horst im Weitergehen, ,,und zwanzigmal solange ist es her, daß sich vor nahezu zwei­ tausend Jahren in Bethlehem zutrug, was wie kein anderes Ereignis das Gesicht der Welt änderte!" Voller Gedanken wie er selber schritt Nahza an Horsts Seite. Er kannte den Weg nicht. Noch nie war er in diese Gegend gekommen. Riesige, uralte Zedern tauchten im Zwielicht der Sterne auf. Sie ragten über eine verfallene Mauer aus mäch­ tigen Quadern empor. In ihrer Mitte stand wie ein Denkmal ein helles Bauwerk. ,,Was ist das dort?" fragte Horst. „Ein Brunnen", gab Nahza Auskunft, ,,der Quell, der allen Brunnen Ain el Nahzas Wasser gibt. Roumis überdachten ihn zu der Zeit, als Isa ben Maryam in Bethlehem geboren wurde." Horst trat näher heran. Eingefaßt von weißgeädertem, fleischfarbenem Marmor, über­ dacht von einer Kuppel, die auf fünf Säulen mit korinthischen Kapitellen ruhte, lag der Brunnen vor ihm. Er beugte sich hin­ ab und buchstabierte sich ·im Zwielicht der Sterne die Inschrift

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an der Ostseite zusammen. Ein römischer Präfekt hatte ihn im Jahre 24 vor der Zeitwende bauen lassen. Bis hierher waren damals römische Legionäre gedrungen. Bis hierher reichte das Imperium Romanum. Was ist davon geblieben? In dieser Nach­ denklichkeit hörte er Nahza fragen: ,,Weißt du, woher der Name Ain el Nahza kommt?" Er schüttelte den Kopf. Da be­ gann sie zu erzählen: „Lange bevor die Roumis in Marokko herrschten, war es, da suchten Reste eines tapferen Stammes vor der übermacht ihrer Feinde die schützenden Berge auf." Geheimnisvoll klang Nahzas Stimme, Horst meinte, sich mit dem versprengten Häuflein durch das unwegsame Bergland zu schleppen. Heiß brennt die Sonne. Nirgendwo findet sich Was­ ser, den Durst zu löschen, kein Grashalm, die knurrenden Ein­ geweide der verhungerten Schafe, Pferde und Ziegen zu füllen. ,,Da trat", so erzählte Nahza weiter, ,,ihnen ein Berggeist ent­ gegen. Er war ein Ungeheuer, halb Mensch, halb Tier, und lebte nur von Menschenblut. ,Ich werde euch Wasser zeigen und Weideland, mehr als ihr braucht', so sagte er, ,wenn ihr mir das schönste Mädchen des Stammes ausliefert.' Erbost griffen die Krieger zu ihren Waffen, da trat Nahza, die schönste Jungfrau ihres Stammes, hervor und bot sich selbst als Opfer an. Der Berggeist nahm sie mit in seine Höhle; dort stach er ihr mitten ins Herz, um sich an ihrem Blut zu berauschen. Doch aus der Wunde schoß ihm helles, klares Wasser entgegen, und wie von den Bösen gehetzt, jagte der Unhold davon. Noch immer liegt das Mädchen dort unten", fuhr Nahza nach einer Pause fort, ,,und das Wasser, das seitdem Mensch und Tier erquickt, quillt aus ihrer Wunde. Ain el Nahza, Quelle der Nahza, nannte man den Brunnen und den Ort, der hier entstand." „Arme, kleine Nahza", bedauerte Horst die Heldin, nach der wohl die Erzählerin ihren Namen trug. „Wie sprichst du?" ereiferte sich Nahza: ,,Gibt es etwas

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Größeres, als für viele Menschen gelebt zu haben?" Sie unter­ brach sich. ,,Ach, ich vergaß, du bist ein Roumi". Horst war betroffen. „Nein, Nahza", verteidigte er sich, ,,auch bei uns gilt groß, wer sein Leben opfert für andere. Jesus hat uns gelehrt, nicht nur unsere Freunde zu lieben, sondern auch unsere Feinde. Jesus hat gebetet für die, die ihri ans Kreuz geschlagen." „Eure Feinde lieben?" Nahza lachte. ,,Du hast Mhamed gesehen im Gefängnis!" Ihre Augen loderten auf. ,,Ich bin mißhandelt worden. Mit uns wurden viele geschl�gen, gemartert. Wie viele wurden getötet, seit die Fransaui in Marokko sind! Sag - ist das Liebe?" Horst stand vor der jungen Marokkanerin, als sei er einer Lüge überführt worden. Es schmerzte ihn, daß sie so dachte; sie hatte die Europäer nicht anders kennen gelernt. „Verfehltes einsehen, um es wieder gut zu machen, soweit es geht", fielen Horst Mister Howards Worte ein. ,,Es sind wohl viele nur dem Namen nach Christen", suchte er Nahza zu er­ klären. ,,Horst", sagte Nahza leise, ,,du bist nicht unter den Mördern, du hast als ein Bruder an Mhamed gehandelt, und du warst gut zu mir." Horst sah ihr Gesicht mit den dunklen Augen ganz nahe vor sich. Nahza war ein schönes Menschenkind. Plötzlich schimmerten ihre Augen feucht, und als schäme sie sich ihrer Tränen, lief sie in die Nacht hinein.

ABSCHIED

Dunkle Wolkenmassen waren über das Land gezogen und hat­ ten riesige Wassermengen herabgeschüttet. Dann hellte sich der Himmel auf. In den Bergen schmolz der Schnee. Die Bäche schwollen an und stürzten schäumend zu Tal. überall begann es zu grünen und zu blühen. Sehr früh kommt der Frühling in die fruchtbaren, wettergeschützten Täler des südlichen Ma­ rokkos. Horst stand vor dem offenen Fenster und atmete tief die wür­ zige Luft. Mehr denn je fühlte er sich an diesem Morgen frisch und freute sich auf den Tag, der bevorstand. Als er zum Frühstück kam, saß sein Onkel schon am Tisch. Das war auffallend, denn er schlief sonst immer sehr lange. Mürrisch erwiderte er Horsts Morgengruß. Dann fragte er, als hätte er nur darauf gewartet: ,,Sag mal - du hast hier so eine Art Schule aufgemacht für marokkanische Kinder?" Freudig bejahte Horst: ,,Ich habe erst Mhamed und seiner Schwester das Lesen und Schreiben gezeigt, dann kamen an­ dere Kinder, immer mehr ..." „Das will ich nicht wissen", herrschte ihn der Onkel an. ,,Ich erwarte, daß du dies Treiben sofort unterläßt. Dazu habe ich dich nicht in mein Haus aufgenommen!" Unfähig, etwas zu erwidern, starrte Horst hinter seinem Onkel her. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, er brachte keinen Bissen hinunter. Er wa1· noch ganz verstört, als er zu Mister Howard kam. Sie waren beide allein.Paul hatte wieder einmal die Zeit verschlafen.

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Mister Howard merkte die gedrückte Stimmung. ,,Sorgen?" fragte er. Horst erzählte ihm von seiner Schule und dem Ver­ bot des Onkels. ,,Lieber junger Freund", sagte Mister Howard darauf, ,,ver­ suchen Sie die Dinge so zu sehen, wie sie hier in Maison Bou� din wirklich sind. Auf das Drängen Ihrer Frau Tante ließ Monsieur Boudin Sie als, sagen wir mal, Schul- und Spielge­ fährten für seinen Sohn von Europa herüberkommen. Nun hat sich das Verhältnis zwischen Ihrem Herrn Cousin und Ihnen nicht so entwickelt, wie man es sich gedacht hatte. Nach dem Tod Ihrer Frau Mutter fühlte man sich irgendwie trotzdem verpflichtet, Sie zu behalten. Nun kommt Ihre Schule! Ihr Herr Onkel hat eine andere Einstellung zu den Marokkanern als Sie und ich ..." „Oh, jetzt verstehe ich, Mister Howard", erwiderte Horst, ,,ich da.nke Ihnen für Ihre Offenheit." Gleich nach dem Unterricht suchte er Mhamed auf. Kurz vor dem Hause des Hirten begegnete er einer Gendamerie-Pa­ trouille unter Leutnant Bighard. Horst grüßte ihn schon von weitem, denn seit seinem Aufenthalt auf der Polizeistation, war er ihm von Herzen zugetan. Leutnant Bighards Hand fuhr salu­ tierend an den Rand seines Käppis. Dann sagte er leise zwei Worte: ,,fukaha Brouß". Das tat gut nach den Worten von On­ kel Henri. Mhamed war betroffen von der Neuigkeit. Er wußte aber kei­ nen Rat. Da fiel Horst der alte Pilger ein. ,,Viell�icht kann er raten", meinte er. Gemeinsam suchten sie ihn auf. „Beti beitkum", hieß sie der Greis willkommen, und diesem ,,Mein Haus sei euer Haus", war anzumerken, daß es von Her­ zen kam. Sie tranken mit Rosenöl gewürzten Pfefferminztee, dann erzählten die Freunde dem Alten von ihrem Kummer. „Eure Schule?" sprach der Greis nachdenklich, dann fuhr er lebhaft fort: Auf meiner Reise nach den heiligen Stätten lernte ich in Kairo einen frommen Mann kennen, der aus Ankara war.

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„Marokko schläft", sagte er. ,,Marokko schläft, er hat recht. Es muß aufwachen." Der Alte legte die Hand auf Mhameds Kopf. ,,Hilf du mit, daß es erwacht! Der fukaha Brouß wird dich be­ raten." Harte Wochen und Monate folgten nach jener kurzen Unterre­ dung mit Onkel Henri. War der Unterricht bei Mister Ho­ ward vorbei, dann hatte der Onkel immer Arbeit für Horst. Einmal mußte er mit dem Motorrad nach der Grube fahren, ein andermal nach dem französischen Posten Bir el Hamid, wo die Post lagerte, oft ließ er ihn auf der Schreibmaschine größere Abschriften anfertigen. Ebensogut hätte sie einer der vielen Angestellten schreiben können. Dasselbe war es mit den Aufrechnungen, die Horst nachprüfen mußte, und vielem an­ deren. So wurde es ihm unmöglich gemacht, sich um Mhamed und die Schule zu kümmern. Ganz selten nur kam Horst mit Mhamed zusammen, er mußte sich die Zeit dazu stehlen. Lange Wochen sah er Nahza nicht. Eines Tages fragte er: ,,Ist Nahza krank?'.' Mhamed verneinte: ,,Krank ist sie nicht, nur -", er suchte nach Worten, ,,weißt du - sie ist nun so alt, daß sie ver­ schleiert gehen muß. Außer ihrem Vater, darf nur ihr zukünf­ tiger Mann sie unverschleiert sehen." Betroffen schaute Horst ihn an. Daran hatte er nie gedacht. Hier war die fremde Welt, und er stand vor den Toren. Sommer, Herbst und Winter vergingen, wieder wurde es Früh­ ling, es grünte und blühte im Tal von Ain el Nahza. Sehn­ süchtig blickte Horst oft den Vogelschwärmen nach, die nach Europa zurückflogen! Mister Howard war mit seinem Buche zu Ende gekommen. Nun hielt ihn nichts mehr in der unfreundlichen Atmosphäre von Maison Boudin. Herzlich wurde sein Abschied von Horst. Sie saßen in Howards Zimmer und sprachen von der Zukunft. „Geben Sie mir Nachricht, wenn Sie Hilfe brauchen, Monsieur 93

Lehnert. Ich bin jederzeit für Sie da", versprach er. ,,Ich habe in Fez gute Freunde, die Sie auf jeden Fall an mich weisen wer­ den, wo ich auch immer sein sollte. Monsieur Gillet ist die Anschrift, Monsieur Jean Gillet, Fez, Rue Saint Martin 12." Es war schon spät, als Horst nachdenklich auf sein Zimmer ging. Was würde nun kommen? Kurz nach Mister Howards Abreise fand Nahzas Hochzeit statt. Der alternde Pascha droben auf der Kasbah zahlte dem Vater ein hohes Brautgeld und holte das junge Hirtenkind an Stelle seiner verstorbenen Hauptfrau als vierte Frau in seinem Harem. Der Hirt schickte für den größten Teil dieses Geldes Mhamed in eine gute Schule nach Kairo. Er sollte ein Arzt werden. „Wir werden uns fleißig schreiben", versprachen sich Horst und Mhamed beim Abschied. Horst wartete vergeblich auf ein Lebenszeichen von ihm. Auch von Mister Howard kam keine Nachricht. Eines Tages suchte Horst Mhameds Vater auf und erfuhr, daß Mhamed dem Vater klagte, er habe von Horst noch nicht einen einzigen Brief bekommen, obwohl er ihm schon so oft geschrieben habe. Da dämmerte es bei Horst - Onkel Henri unterschlug die Briefe. Darauf ließ er sie sich in das Haus des Hirten schicken. Ein paar Wochen später schon hielt er einen Brief von Mhamed in den Händen, den ersten und letzten, den er von Mhamed in Ain el Nahza in Empfang nahm. Mister Howard erhielt einen Nachfolger. Das war ein stets ele­ gant gekleideter, wohlbeleibter Herr mit einem kleinen, schwar­ zen Modebärtchen im blasierten Gesicht, der jedem bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit versicherte, daß er sich in diesem verlassenen Nest nicht wohl fühle. Monsieur Boudin konnte ihn bald nicht ausstehen. Seine Frau aber fand ihn sehr nett. Sie nannte ihn einen liebenswürdigen Mann und guten Gesellschafter und spielte oft und gern mit ihm Tennis. Es verging bald kaum ein Tag, an dem es nicht seinetwegen zwi­ schen dem Ehepaar Szenen gab. Eines Tages war Horst zu

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seinem Onkel bestellt worden. Eben war er im Begriff, anzu­ klopfen, da hörte er ihn hinter der Tür wüten. ,,Ich habe die Nase voll von diesem komischen Hauslehrer", schrie der Onkel. ,,Der Kerl muß aus dem Ha1;1s, und Paul stecke ich in ein Internat!" ,,Paul in ein Internat - mir den Jungen aus den Armen rei­ ßen!" Tante Anni war außer sich. ,,Untersteh dich. Willst du noch mehr Unheil anrichten? Du hast meine Schwester auf dem Gewissen. Du hast ihr einen Brief geschrieben, als wäre ihr Junge der größte Verbrecher und bereits von den Marok­ kanern umgebracht worden." „Schweig!" Onkel Henris Stimme überschlug sich. ,,Du warst damals ebenso über den Bengel erbost. Du hast mir geraten, Briefe seines Onkels Peter zu unterschlagen. Ich werde . .." „Nichts wirst du!" Tante Annis Stimme nahm einen zynischen Ton an. ,,Morgen früh fahre ich mit Paul nach Rabat. Ich will nicht hier in diesem Nest mein Leben vertrauern." Durch die dünne Tür hörte Horst jedes Wort. Erst war er unfähig, sich zu rühren. Dann schlich er sich völlig zerschlagen auf sein Zimmer. So war das also! Onkel Henri hatte der Mutter einen Brief geschrieben, der sie aufs Totenbett warf .. . Aufs neue brach die mühsam vernarbte Wunde auf. Horsts Tante machte ihre Drohung wahr. Sie verließ mit ihrem Sohne Maison Boudin. Tags darauf warf Monsieur Boudin den verhaßten Hauslehrer hinaus. Dieser machte es ihm nicht leicht. Er verlangte Einhalten der Kündigungsfrist oder Bezah­ lung bis dahin, sowie freie Reise bis nach Meknes, wo er enga­ giert worden war und mietete sich vorläufig erst einmal auf Kosten Monsieur Boudins im Hotel „Moulin Rouge" ein. Der Onkel hatte nicht mehr die überlegene Ruhe, die er bisher zeigte. Mehr als sonst sprach er dem Alkohol zu. Horst schickte er ins Büro der Grubenverwaltung und ließ ihn arbeiten, daß er kaum aus den Augen sehen konnte und abends erschöpft in sein Bett sank. .95

So lagen die Dinge, als Horst eines Abends mit dem Motorrad von der Grube kam. Er fuhr eben an der Gendarmeriestation vorbei, als man Frankreichs Trikolore herunterholte. ,,Gerade so wie damals, als du nach Ain el Nahza kamst", mußte er denken. Was war inzwischen nicht alles geschehen? Vor kurzem hatte er erfahren, daß Nahza immer noch Schule hielt. Der Pascha sollte sogar Räume dafür zur Verfügung ge­ stellt haben. Wie einen Trost empfand er es. Aus dem Arbeitszimmer seines Onkels drang lautes Schimpfen, als er Maison Boudin betrat. Kapitän Lasalle war da, von dem der Onkel ein Aufgebot Gendarmen für die Bewachung seiner Grube verlangt hatte. Seit einigen Tagen war eine merkwürdige Unruhe in der Stadt. Fremde, finsterblickende Reiter bewegten sich durch die Straßen Ain el Nahzas. überall fanden sich Gruppen von Männern zusammen, und des Nachts. brannten Feuer in den Bergen. Verärgert und wütend klang die Stimme des Onkels. Wie kam es, daß Horst an Monsieur Lava! denken mußte? Es stimmte nicht, was der Dicke behauptet hatte. Es läßt sich nicht alles mit Geld kaufen! Wie eine Genugtuung war das.

AUFRUHR

. Horst warf sich auf seinem Lager hin und her. Er blickte auf die Uhr. Sie zeigte die dritte Morgenstunde. In letzter Zeit schlief Horst schlecht. Die Sorge um seine Zukunft machte ihn unmhig. Auf das versprochene Studium hoffte er längst nicht meh!". Wer weiß, was der Onkel eigentlich mit ihm vorhatte! Horst schaltete das Licht ein und zog sich an. Es hatte keinen Zweck, länger zu liegen. Von der Tür her kam ein leises Geräusch. Eine Frau, ganz in weiße Seide gekleidet und tief verschleiert, schlüpfte in sein Zimmer und zog die Tür vorsichtig hinter sich zu. Aus der Tiefe ihres Schleiers blitzten ihm schwarz­ glänzende Augen entgegen. ,,Komm", stieß sie hasüg hervo!", ,,dir droht Gefahr!" Länger als ein Jahr hatte Horst Nahza nicht gesehen. Sie war größer und fraulicher geworden, aber hinter der Verschleierung erkannte er ihre Augen, und vertraut war ihm der Klang ihrer Stimme. Mit einer schnellen Bewegung löschte Nahza das Licht. Un­ fähig sich zu rühren, sah Horst zu. „Komm!" drängte sie, faßte nach seiner Hand und zog ihn mit sich fort. Willenlos folgte er.Schritte kamen hinter ihnen.Nahza drückte sich in die nächste Tür. Durch den dunklen Gang huschte jemand an ihnen vorbei und hastete aus dem Haus. Horst war völlig benommen. Gefahr drohe ihm, hatte Nahza gesagt. Von wem nur, von wem ... Er hatte keine Feinde in Ain el Nahza ... Wie kam Nahza dazu, ihn zu warnen? 97

,,Schnell! Du mußt Frauenkleider anziehen", flüsterte Nahza, als sie sich im Park befanden. Horst zauderte einen Augenblick. Da peitschten plötzlich Schüsse auf, und dann setzte ein wildes Lärmen ein. Frauen schrien grell und durchdringend. Da griff Horst rasch nach den Kleidern und streifte sie, mit Nahzas Hilfe über. Aus dem Polizeigebäude wurde geschossen. Die Schießerei galt einer Gruppe von Marokkanern, die die Station besetzen wollten. Die Geschosse pfiffen über den Platz. Nahza und Horst warfen sich zu Boden, um nicht getroffen zu wer­ den. Da dröhnte von Maison Boudin her ein Krachen und Bersten. Eine riesige Stichflamme scho_ß empor, und das präch­ tige Gebäude brannte an allen Ecken. Binnen kurzem war es ein einziges Flammenmeer. ,,Onkel Henri!" dachte Horst, ,,man muß ihm helfen!" ,,Bleib", hielt ihn Nahza zurück, ,,es hat keinen Zweck mehr." Die Straße herauf, die zur Gendarmeriestation führte, wälzte sich ein riesiger Menschenstrom, voran eine Horde schreiender Weiber. Sie hatten ihre Schleier abgerissen, ihre Kleider zer­ fetzt, hatten sich Gesichter und Brüste blutig gekratzt. In wahnsinniger Raserei folgten die Männer. überall krachten Explosionen, fielen Schüsse, stürzten Häuser zusammen und gellten Hilferufe, brachen ab. Und alles über­ tönend, wie ein Schlachtruf, brandete es immer wieder auf: „Schlagt �ie tot, schlagt sie tot!" Die Menschenmenge erreichte die Gendarmeriestation. Maschinengewehre hämmerten aus ihren Fenstern und vom Dach. Trotzdem ging die Menge zum Angriff vor. Mit Knüppeln, Messern und Lanzen stürmten die wild Er­ regten vorwärts.Horst gewahrte Tim, den Chauffeur von Maison Boudin, Malika die Köchin, die mit ihrem zerkratzten Gesicht und dem wirren Haar kaum wiederzuerkennen war, den Kunst­ schmied, Mhameds Vater und noch viele andere, denen er in den vergangenen Jahren nähergekommen war. Alle erschienen ihm verändert, ihre Gesichter waren von Haß verzerrt. Binnen kurzem war die Besatzung der Polizeistation überwältigt.

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Ein einziger wehrte sich noch dicht vor dem Eingang des bren­ nenden Gebäudes, im Rücken von der Mauer gedeckt, gegen die übermacht. Es war Leutnant Bighard. Da traf ihn ein Stein gegen den Kopf. Der Tapfere wankte, stürzte zu Boden. Im nächsten Augenblick war die haßerfüllte Menge über ihm.

Nahza zog Horst mit sich fort. Seine Zähne klapperten. Das Grauen war übermächtig und nicht zu fassen. Was er gesehen hatte, war zu viel, zu unglaubhaft. Willenlos fügte er sich. über­ all in der Stadt brannte es lichterloh. Beizender Rauch wälzte sich durch die Straßen. Tote lagen umher auf Straßen, Gassen und Plätzen, Europäer und Marokkaner, jung und alt durch­ einander. Den Europäern, ob Kind oder Greis, Mann oder Frau, hatte man die Köpfe vom Rumpf getrennt und die Kör­ per bestialisch verstümmelt. Horst konnte nicht mehr hin­ sehen. Das Grau der Morgendämmerung machte alles doppelt

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gespenstisch, die menschenleeren Gassen, durch die sie schli­ chen, die schwelenden Brände, die Toten. ,,Du kommst unmöglich aus der Stadt", stieß Nahza hervor. ,,An den Toren wimmelt es von Marokkanern, die auf die Rou­ mis und ihre marokkanischen Freunde Jagd machen. Ich muß dich in der Kasbah verstecken, bis es ruhiger geworden ist." Sie drängte weiter. Es war heller Tag, als sie die Kasbah erreichten. Wie .ausge­ storben lag sie da. Keiner hatte dem Strafgericht fernbleiben wollen, das die verhaßten Fremdlinge traf, die Ungläubigen, die Kinder des Scheitans ! Alles, was in der Kasbah lebte, Frauen, Eunuchen, Dienerinnen und Diener - alle hatte es in die aufrührerische Stadt getrieben. Sie waren davongestürmt, um mit zu schlagen, zu stechen, zu würgen und zu töten. Der Tag der Rache hatte sogar die sonst so streng gehüteten Pfor­ ten des Harems geöffnet. Horst und Nahza betraten die Kas­ bah durch eine kleine Seitenpforte. Eine schmale Treppe führte von dort zum Harem. Drnußen erzählte man sich Wunderdinge von dem prächtigen Harem des Paschas. Horst trat durch die schwere, vergitterte Tür. Man hatte nicht übertrieben. Die Räume !schimmerten in farbenfreudigem Mosaik, einer immer schöner als der andere. Trotz seiner Erregung nahm es Horst wahr·. Dicke Teppiche dämpften die Schritte. Vorsichtig schlichen sie von Raum zu Raum. War wirklich niemand hier? Nahza führte Horst durch einen großen Baderaum. Das große Schwimmbecken war mit dunkelgrünen Fliesen ausgelegt und mit parfümiertem Wasser gefüllt. In der Mitte des Harems lag ein kleiner Saal, der noch prächtiger schien als die anderen Räume und ganz mit schwarzgoldenem Mosaik ausgelegt war. An den Wänden standen kostbare Truhen, Diwane mit großen Kissen aus buntfarbigem Leder und farbenprächtiger Seide. überall duftete es nach Rosen, Moschus und Patschuli. Sie kamen unbemerkt in Nahzas Lieblingszimmer. Es lag nach

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dem Garten zu, in dem ein Springbrunnen plätscherte. Schöne Matten und bunte Kissen bedeckten den Boden, seidene Tep­ piche mit Sprüchen aus dem Koran hingen an den Wänden. Zwei gewaltige, mit Gold und Edelsteinen verzierte Truhen standen in beiden Ecken gegenüber dem Fenster, und auf einem Brett sah Horst eine ganze Anzahl Bücher. „Du lebst gut, Nahza", sagte er, nur um etwas zu sprechen. Es klang rauh. Seine Kehle war ausgedörrt. „Ich bin des Paschas Lieblingsfrau.'.' Stolz und selbstbewußt klangen ihre Worte. ,,Er ist mächtig und reich." Sie trug noch immer den Schleier, nahm es auch ihm gegenüber ernst als die Frau eines angesehenen mohammedanischen Würdenträgers. Schüsse krachten von der Stadt her. Der Lärm wurde wieder stärker. Nahzahs Augen flammten. ,,Man hat wieder einen gefunden", deutete sie den Lärm. Horst hatte das Gefühl, sie bedaure, nicht dabei zu sein. Und von ihr hing sein Leben ab. Suchend blickte sich Nahza um. ,,Ich muß dich verstecken." Sie trat zu einer der Truhen, klappte den schweren Deckel auf und nahm Mäntel, Schuhe und Kleider heraus. ,,Es ist nicht bequem darin, aber es geht nicht anders. Hier bist du am sichersten." Horst kletterte in die Truhe, und Nahza schloß den Deckel. Plötzliche Finsternis umgab ihn, nur durch das Schlüsselloch fiel ein schmaler Lichtstrahl. Er preßte sein Auge gegen die Öffnung und konnte ein Stück von Nahzas Zimmer überblicken. Erschöpft ließ er sich zurücksinken ins Dunkle. Alles, was die Nacht gebracht hatte, tauchte wieder vor ihm auf und quälte. Er sah Leutnant Bighardt zusammensinken, sah die brennenden Häuser und die Toten. Verzweifelt preßte er die Fäuste vor die Augen. Die Bilder wichen nicht. Frauenstimmen wurden draußen laut. Nahzas Gefährtinnen wa­ ren aus der Stadt gekommen, aufgeregt erzählten sie, was sie erlebt hatten, und malten die Greuel aus, die an den verhaßten· Roumis verübt worden waren.

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Wie das Halbrund einer Bühne sah Horst durch das Schlüssel­ loch den Zimmerausschnitt vor sich. Wie konnte es Frauen geben, die sich an solcher Grausamkeit ergötzten!

Er sah Nahza zwischen zwei Frauen auf einem großen Leder­ kissen hocken. Sie war unverschleiert wie ihre Besucherinnen. Nahza war die schönste von allen. Ihr Wuchs war schlanker und ebenmäßiger als der der anderen, ihre Haut heller. Sie ähnelte wohl ihrer Mutter, die wie die Tuareg adeliger Her­ kunft hellhäutig war. Nahza trug weite Pluderhosen aus hell­ blauer Atlasseide, die bis zu den Knöcheln hinabreichten, wo sie zugebunden waren. Um ihren Oberkörper war ein blaues Tuch geknotet. Eine weiße Seidenschärpe wand sich um ih1·e Taille. Gelbe, goldgestickte Pantöffelchen mit spitzen, hohen Absätzen zierten die kleinen Füße.

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Ein Eunuch, den die Frauen Abdul riefen, ein riesiger Fleisch­ koloß, brachte einen niedrigen, kunstvollen Tisch herein und stellte ihn vor Nahza. Gleich darauf kam er mit einer älteren Dienerin wieder, die zierliche Tassen mit duftendem Mokka auf den Tisch stellte. Noch lange sprachen die Frauen über das Gemetzel. Horst er­ fuhr, daß der Aufruhr in weiten Gebieten getobt hatte, und daß überall wie in Ain el Nahza die Fremden getötet waren. Horsts Beklemmung wuchs. Wie sollte er hier wieder herauskommen? Und selbst wenn es ihm gelang, wohin dann? Das Zimmer leerte sich, Nahza blieb allein. Doch es währte nicht lange, dann kam eine Dienerin, um sie zum gemeinsamen Abendessen zu holen. „Bringe mir ein paar Früchte, Zhura, ich mag sonst nichts. Ich fühle mich nicht wohl." Gleich darauf brachte ihr die Dienerin Weintrauben, Apfel, Mandarinen und Nüsse. Hinter ihr kam der Eunuch gewatschelt. ,,Du fühlst dich nicht wohl, Nahza?" fragte er, ,,ich rufe den Tabib." ,,Nein, Abdul", lehnte sie ab, ,,ich brauche nur Ruhe!" Als niemand mehr in der Nähe war, öffnete sie hastig die Truhe und gab Horst einen Teil des Obstes. ,,Nimm!" sagte sie und schloß rasch wieder den Deckel. Apathisch genoß Horst ein paar Bissen, dann döste er vor sich hin. Bleischwer schlichen die Stunden. Es war wohl Abend. Vollkommene Ruhe herrschte im Harem, als Nahza die Truhe öffnete. ,,Komm und iß!" forderte sie Horst auf. ,,Jetzt schläft alles." Ganz steif waren Horst die Glieder geworden. Obwohl der Hunger in seinen Eingeweiden wühlte, brachte er nur we­ nige Bissen vorri Fleisch und Brot hinunter, das ihm geboten wurde. Nahza ging zum Fenster, Horst trat hinter sie. Es war eine herrliche Vollmondnacht. Durch die Öffnungen der dunklen Mousharabiehs sah man draußen den Garten mit dem Springbrunnen im silbrigen Mondlicht glänzen. Eine hohe Mauer aus mächtigen Quadersteinen umgab den Garten. Nahza

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erriet Horsts Gedanken. ,,über die Mauer zu kommen ist un­ möglich", flüsterte sie, ,,und hinter der Mauer liegt ein tiefer Abgrund. Nur durch die Tür, durch die wir gekommen sind, geht es ins Freie." ,,Wird sie bewacht?" fragte er. Nahza nickte: ,,Stark bewacht, außerdem ist sie ständig ver­ schlossen." Horst fühlte, wie sich seine Kehle zusammenschnürte.. Erst war er froh gewesen über das sichere Versteck, jetzt aber war es ein gefährliches Gefängnis. ,,Lege dich ein paar Stunden auf mein Lager", sagte Nahza. ,,Ich werde solange wachen." „Wie merkwürdig", dachte er, als er sich auf ihr weiches Lager streckte. ,,Schon einmal hat dir Nahza das Leben gerettet. Warum begibt sie sich jetzt in Gefahr und ihaßt doch die Fremden?" Lange lag er wach. Als er endlich eingeschlafen war, quälte ihn ein furchtbarer Traum: Er war entdeckt worden. Der Pascha ließ die Truhe von dem riesigen Eunuchen auf die hohe Gartenmauer bringen und in den Abgrund schleudern. Nahza mußte dabeistehen und zuschauen. Man hatte sie ge­ schlagen. Blutige Striemen bedeckten ihr Gesicht. Schweiß­ bedeckt erwachte er und blickte sich erschrocken um. Nahza stand am Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Auf. einem der :nächsten Berggipfel loderte ein mächtiges Feuer. ,,Ist noch keine Ruhe?" fragte Horst und trat neben sie. ,,Ru­ fen immer noch die Feuer zum Aufruhr?" Ihre Augen blitzten ihn an. „Der Kampf ist vorbei. Jetzt brennen Freudenfeuer. Marokko ist frei von den Roumis. Allah hat sie vernichtet, die Roumis und ihre marokkanischen Freunde. Zu ihnen gehörte Si Hadj Thami EI Glaoui, der Pascha von Marakesch. Der Verräter verjagte den Sultan Mohammed V. Er diente den Roumis. „Seine Treue zu Frankreich", sagte Marschall Lyautey, ,,ist Divisionen wert." 104

Sie hatte leise gesprochen, aber deutlich spürte er den Triumph in ihrer Stimme. Flüsternd unterhielten sie sich. Trotz der Gefahr der Lage schien es Nahza gut zu tun, mit jemand zu reden. Im Osten färbte sich der Himmel. Schweren Herzens suchte Horst sein Versteck wieder auf. Zuvor holte Nahza eine Pistole unter ihrer Lagerstätte hervor. ,,Hier nimm", sagte sie, ,,aber nur für die äußerste Not!" Nahza nahm ihr morgendliches Bad. Gerade war sie in ihr Zimmer zurückgekehrt, da kam freudestrahlend Abdul gelau­ fen. ,,Freue dich, Nahza", rief er laut, ,,unser Herr hat einen Boten geschickt. In wenigen . Stunden wird er selber ein­ treffen." „Was sagst du, Abdul? Der Pascha kommt früher? - Allah sei Dank, der ihn schneller geleitet!" Der Eunuch wiederholte noch einmal seine Worte, dann rannte er hinaus, um den an­ deren Frauen die frohe Botschaft zu bringen. Er hatte kaum das Zimmer verlassen, da war Nahza bei Horst. ,,Jetzt geht es um unser Leben!" stieß sie bebend hervor. ,,Wenn wir nicht schnell handeln, sind wir verloren." Sie rannte zur Tür, lauschte einen Augenblick nach draußen, dann kam sie wieder: ,,Inscha Allah! Wir müssen aus der Kasbah heraus. Allah helfe, daß es gelingt!" Sie lief aus dem Zimmer. Bestürzt blieb Horst allein. Er griff nach der Waffe. Was auch geschehen würde, er wollte kämpfen bis zum letzten Atemzug. Nahza kam mit Frauenkleidern zurück. ,,Schnell", drängte sie. „Zieh sie an. Ich gebe inzwischen Abdul Bescheid, daß ich mit Myriam dem Pascha entgegenreiten will." Fiebernd vor Erregung, streifte Horst schnell die Kleider über. Er ahnte, was Nahza vorhatte. Als Myriam sollte er mit Nahza den Harem verlassen und dem Pascha entgegenreiten. Kaum hatte er die Maskerade beendet, da war Nahza schon wieder zurück. ,,Schnell zur Pforte", trieb sie zur Eile, ,,ehe die wahre Myriam sich angekleidet hat!" 105

Sie gingen zur Pforte, die aus dem Harem führte. Sie war ver­ schlossen. Den Revolver schußbereit in der Faust unter dem Haik, stand Horst tiefverschleiert neben Nahza. Wehe, wenn Myriam kam und die Fremde in ihren Kleidern sah, wenn eine Dienerin erschien, oder wenn Ahdul, der die Pferde satteln ließ, den Betrug merkte! Schweigend warteten die beiden. Schnau­ bend wie ein Walroß kam Abdul die Treppe herauf. ,,Wo bleibst du Faultier denn so lange!" fuhr Nahza ihn an, so­ bald er nur einen Spalt der Pforte geöffnet hatte. ,,Ich vergehe vor Sehnsucht nach dem Anblick meines Herrn. Er wird dich für deine Trägheit auspeitschen lassen!" Ganz bestürzt starrte Abdul Nahza an, die vermeintliche My­ riam, die vor ihr hinaushuschte, beachtete er gar nicht. ,,Ich habe - doch - ganz - schnell gemacht", stotterte er. Er be­ eilte sich, die Haremspforte wieder zu schlie_ßen und der Lieb­ lingsfrau des Paschas zu folgen, um nicht noch mehr ihren Un­ willen zu erregen. Ein prächtiger Schimmel und zwei edle Rappen standen vor der Hinterpforte. Sie trugen reichverzierte Sättel. Das Zaumzeug der Rappen hatte silbernen Beschlag, das des Schimmels war sogar vergoldet. Nahza nahm dem Diener den Zügel aus der Hand und schwang sich auf den unruhig tänzelnden Schimmel. Ein anderer Diener reichte der falschen Myriam die Zügel eines der Rappen. Als Abdul den Hof betrat, ritten seine Pflegebefohlenen bereits in scharfem Galopp aus der Kasbah hinaus, und er mußte sich be­ eilen zu folgen. Sie ritten durch die Stadt. Wie üblich, beglei­ tete sie der Eunuch in einiger Entfernung. Am liebsten wäre Horst in rasendem Tempo aus der Stadt gejagt, denn in der Kasbah konnte man ja jeden Augenblick den Betrug entdecken. Gewaltsam zwang er sich zur Ruhe. Die eigenen Toten des vergangenen Bluttages hatte man schon nach feierlichem, mohammedanischem Ritus beerdigt. Jetzt war man dabei, die zerstückelten Leichen der Europäer und 106

ihrer marokkanischen Freunde in eine tiefe Felsspalte bei dem alten Römerbrunnen zu werfen.

Von Grauen ·gepackt, ritt Horst stumm neben seiner Beglei­ terin her. Er hatte die toten Europäer alle gekannt. Mancher von ihnen hatte weder schlecht von den Marokkanern gedacht noch schlecht an ihnen gehandelt. Trotzdem waren auch sie dem abgrundtiefen Haß zum Opfer gefallen. Vor dem alten Stadttor, das auf die Straße nach Marakesch führte, stand eine Gruppe bewaffneter Männer. Siedendhciß 107

überlief es Horst. Wenn man sie hier anhielt, wenn ... Seine Befürchtungen waren unbegründet. Der Pascha war ein geach­ teter Mann, und sein Eunuch in Begleitung der Frauen eine bekannte Erscheinung. Die Männer blickten zur Seite und be­ achteten die Fr-auen gar nicht, als sie an ihnen vorbeiritten. So gebot es die Landessitte. Horst spürte, wie ihm freier wurde, als Ain el Nahza hinter ihnen lag. Jetzt gab es keine unüber­ windlichen Mauern mehr. Er hatte ein ·schnelles Pferd unter sich, besaß einen Revolver, und dort waren die Berge! „H0r zu, Horst", sagte Nahza, nachdem sie eine weite Strecke auf der Straße nach Marakesch zurückgelegt hatten, ,,wir müs­ sen uns jetzt trennen. Schlage dich nach Westen durch! Viel­ leicht ist die Küste noch von den Fransaui besetzt. Reite nur in der Nacht!" ,,Und was geschieht mit dir, Nahza?" sorgte sich Horst. Ihr Blick verschleierte sich: ,,Was kommt einer Frau anders zu, als den Zweck zu erfüllen, für den Allah sie bestimmt hat!" Dann wurde sie lebhaft: ,,Wir dürfen keine Zeit verlieren. Der Pascha kommt von Marakesch herauf. Ich galoppiere jetzt zu Abdul zurück, während du in gleicher Gangart weiter rei­ test. Ich werde dann ganz erschreckt tun, dem Eunuchen sagen, ich bezweifelte, du seiest Myriam. Du sähest ihr ähnlich, aber deine .Bewegungen und deine Stimme seien anders. Er wird sich überzeugen wollen. Sobald du siehst, daß er auf dich zu­ reitet, jagst du davon. Abdul ist kein guter Reiter. Du aber bist es, und dein Pf.erd ist ein edler Renner. Allah sei ;mit .dir, Inscha Allah!" Nahza wendete ihren Schimmel und sprengte zurück. „Was sagst du da?" Ganz deutlich hörte Horst in der klaren Bergluft die hohe Fistelstimme des Eunuchen. ,,Das wäre nicht Myriam?" „Nun sprich nur nicht so laut, daß sie es hört", wies ihn Nahza aufgeregt zurecht. Sie dämpfte ihre Stimme und tat ganz ge­ heimnisvoll. ,,Sie hat eine ganz andere Stimme, auch ihre 108

Augen sind fremd. Ich reite nicht weiter, ehe du dich überzeugt hast, daß sie wirklich Myriam ist." ,,Wer soll es weiter sein als Myriam!" entgegnete Abdul. Är­ gerlich trieb er sein Pferd an. Er glaubte wohl, ,daß die Frauen, wie so oft, einen Scherz mit ihm treiben wollten, und dazu war er in diesser Sonnenhitze ganz und gar nicht aufgelegt. Er war deshalb sehr erstaunt, als die Reiterin den Rappen spornte, der wie ein Pfeil davonschoß, der Schlucht zu, durch welche die Straße nach Marakesch führte. Horst atmete auf. Für Nahza war jetzt keine Gefahr mehr. Und wenn man ihn aufgriff, dann hatte er sich eben während der Blutnacht in den Harem geschli­ chen und dort verborgen, bis er von ·dem bevorstehenden Ritt hörte und in Myriams Kleidern Nahza und Abdul täuschte. Lange vor Abdul .erreichte Horst die Höhe der Schlucht. Er zügelte den Rappen, eine scharfe Biegung entzog ihn den Blicken des Eunuchen. Diese Gegend kannte er gut, weil er ge­ rade in den letzten Monaten fast regelmäßig jede Woche einige Male nach dem französischen Stützpunkt Bir el Hamid gea fahren war, um .Post abzuholen. Vielleicht war 'das stark be­ setzte Bir el Hamid sogar noch in französischer Hand? Doch was konnte ihm das nützen? Der Pascha kam jetzt diese Straße herauf, und er würde ihm gerade in die Arme reiten. Aber da war eine Seitenschlucht, durch die ein von Süden kommender Weg lief, .der die Straße nach Marakesch ,überquerte und sich in dem nördlichen Felsengewirr, oberhalb der Hauptschlucht, verlor. Horst ,grübelte noch, wohin er sich wenden ;sollte, da hörte er Hufschlag hinter 1sich. Er wollte die Flucht fortsetzen, .als sein Blick auf eine schmale Felsöffnung fiel, die den Zugang zu einer geräumigen Höhle bildete. Kurz entschlossen sprang .er aus dem Sattel und führte den Rappen in das Versteck. Der Hufschlag kam näher. Abdul jagte, ganz außer Atem, her­ an. Schnaubend vor Anstrengung hockte er im Sattel. Er

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zügelte sein Pferd und hielt nach dem Flüchtling Ausschau.Sein aufgeschwemmtes Gesicht verfinsterte sich. Ehe er weiterritt, griff er nach dem Gewehr, das an seinem Sattel hing. Jetzt wurde es Ernst. Horst streifte die Frauengewänder ab. Nur die weißen Pluderhosen und rotledernen Stiefel Myriams behielt er über seiner Khakihose. In die weißseidene Schärpe steckte er griffbereit die Pistole. Wieder erklang Hufschlag. Nahza, die dem Eunuchen langsam gefolgt war, kam heran. Auf der gleichen Stelle, wo Horst gehalten hatte, hielt sie. Un­ gewollt entfuhr es Horst: ,,Nahza ". Sie fuhr herum, blickte die Felswand entlang, glitt aus dem Sattel und näherte sich vor­ sichtig der Höhle. „Das war unklug von dir!" tadelte sie. ,,Du hättest so schnell wie möglich aus dieser Gegend verschwinden sollen. Man kennt dich hier, überall wimmelt es von Aufständischen. Ich ... " Jäh hielt Nahza inne. Lauter Hufschlag war auf einmal zu hören. Schwer atmend faßte sie nach ihrem Schimmel, der sich ver­ traulich an den Rappen geschmiegt hatte. ,,Wenn das der Pascha ist!" stieß sie mit zitternder Stimme hervor. Sie streichelte den Schimmel, damit er nicht durch Wiehern oder Scharren das Versteck verriet. Sie zitterte am ganzen Körper. Die Schlucht herauf kam ein Reitertrupp. Es war zu spät für Nahza, un­ bemerkt die Höhle zu verlassen! Während sich Nahza um die Pferde bemühte, beobachtete Horst, schußbereit, den Reitertrupp, der die Straße heraufkam. An der Spitze ritt der Pascha. ,,Dummkopf, du phantasierst!" fuhr er den Eunuchen an, der neben ihm ritt. ,,Myriam soll ver­ schwunden sein, dann wieder ist es Myriam nicht gewesen.Was faselst du da zusammen? Ist etwas mit Nahza geschehen, wirst du dreißig Tage lang weder Essen noch Trinken bekommen, dafür aber täglich zwanzig Hiebe auf dein dickes Fell." Die, laute Stimme des Paschas und das Hufgeklapper verloren sich allmählich. Bald war es wieder ruhig. 110

Horsts Nerven waren aufs äußerste gereizt. Er hielt es nicht mehr länger aus. „Bleib bei den Pferden, daß sie uns nicht verraten!" ließ er Nahza zurück, dann schlich er vorsichtig ins Freie. Lautlos glitt er dahin. Er schmiegte sich eng an die Felsen, um jede nur mögliche Deckung zu nutzen. Er sah den Reitertrupp auf Ain el Nahza zureiten. Der Pascha nahm sicher an, Nahza sei dorthin geritten. Aber dort, wo der von Süden kommende Weg die Straße nach Marakesch über­ querte und sich im nördlichen Felsgewirr verlor, bemerkte Horst eine Kette von Reitern, die die Felsen absuchten. Sicher hatte sie der Pascha zurückgelassen, die angeblich flüchtige Myriam zu suchen. ,,Du tust mir leid", bedauerte Horst Nahza, als er erzählte, was er gesehen hatte. ,,Durch mich bist du in Not gekommen." „Nichts geschieht ohne Allah," sagte sie leise. ,,Unerforschlich sind seine Wege. Anfang und Ende ist sein Werk." Dann hockte sie sich neben den Eingang der Höhle. Stumm und reglos saß sie dort, stundenlang. Im Westen verblutete der Tag, da nahte auf der Straße von Marakesch her, eine Anzahl Reiter. ,,Leute des Paschas," flüsterte Nahza und umklammerte auf­ geregt den vergoldeten Griff ihres Kumians, ,,sicher die, die nach dir suchten." Nahzas Sorge war unbegründet. Die Reiter waren von dem er­ gebnislosen Herumstreifen ermüdet und hatten es eilig, heimzu­ kommen. Ahnungslos ritten sie an dem Versteck vorbei.

NÄCHTLICHER RITT

Durch die Stille der heraufziehenden Nacht drang lauter Huf­ schlag und schreckte die Flüchtigen auf. „Das gilt uns." Nahza sprang auf und griff nach dem Zügel des Schimmels. ,,Wir müssen fliehen, die Männer werden die Berge gründlich absuchen und die Höhle finden." Vorsichtig führten sie ihre Pferde durch den schmalen Höhlen­ gang hinaus. Ihr Leben hing von den Tieren ab! Der Mond warf sein bleiches Licht über die Felsen. Die Straße nach Marakesch war in gutem Zustand, der Grube :wegen hatte man Interesse an ihr gehabt. Doch Horst folgte ihr nicht lange. Der Weg nach Süden durch die Seitenschlucht schien ihm siche­ rer. Zwielicht herrschte zwischen den hohen Felswänden. Sie ritten vorsichtig, denn oft ging der Weg über Felsgeröll und zwischen mächtigen Felsblöcken. Wie leicht konnte eines der Pferde stolpern oder den Fuß brechen! Nahza und Horst beug­ ten sich von ihren Pferden herab, um jedes Hindernis recht­ zeitig zu erkennen. Allmählich sahen sie ihre Verfolger näherkommen. Jetzt hielten sie auf der in helles Mondlicht getauchten Stelle, wo der Weg die Straße nach Marakesch überquerte. Eine ganze Anzahl waren es, Horst schätzte sie auf hundert, und der Pascha war bei ihnen, ganz deutlich klang seine wütende Stimme durch die nächtliche Stille. Unwillkürlich trieb Nahza ihren Schimmel vorwärts. Sie schien den Pascha zu fürchten. Das vorsichtige, langsame Reiten in der Schlucht dämpfte das Hufgeklapper. Die Verfolger wußten nicht recht, wohin sie sich

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wenden sollten. Einige ritten auf der Straße weiter und den nach Norden führenden Weg hinauf, die anderen bogen in die Seitenschlucht ein. Die Verfolger kamen den Flüchtigen lang­ sam näher. Der Pascha hetzte seine Leute vorwärts. Schonungslos trieben sie ihre Pferde an. Oft tönte hinter den Verfolgten das schmerz­ liche Wiehern der Tiere auf, die bei dem wilden Ritt zu Scha­ den kamen. Erschreckend bemerkten sie, wie sich der Abstand

verringerte. Jetzt peitschte ein Schuß, der in der engen Schlucht ein lautes Echo auslöste. Haarscharf pfiff die Kugel an Nahzas Kopf vorbei. Ihr Schimmel und ihre weiße Kleidung boten ein gutes Ziel. Fieberhaft arbeiteten Horsts Gedanken. Nahza war gefährdet. Wenn er nun zurückblieb und die Verfolger aufhielt, dann be­ käme Nahza Zeit, sich in Sicherheit zu bringen. Die Schlucht verengte sich, kaum zwei Reiter konnten neben­ einander reiten, dann wandte sie sich in einer scharfen Bie­ gung nach Osten. „Jetzt muß es geschehen", sagte sich Horst. Er sprang vom Pferd. Der Rappe lief allein hinter dem Schimmel her. Horst stellte sich hinter die Felswand und hob den Revolver. Noch nie h_atte er auf einen Menschen geschossen. Jetzt ging es uin 113

Nahzas Leben und um das eigene. Ein Reiter kam herangejagt. Horst zielte und drückte mit zusammengebissenen Zähnen ab. Das Tier bäumte sich auf, stürzte zu Boden, und die Nachfol­ genden prallten dagegen. Bald war alles ein wildes Durchein­ ander, Pferde wieherten, Männer schrien. Ein rasendes Feuer setzte ein auf die Felsbiegung, hinter der der Schütze lauern mußte. Kugeln schwirrten, Querschläger peitschten. Horst nützte die Verwirrung und eilte weiter, jeden Augenblick be­ reit, die Verfolger aufs neue aufzuhalten. Nahza hielt, als sie die Schüsse hörte und merkte, daß Horsts Rappe reiterlos hinter ihr her kam, unschlüssig an. Sie war­ tete, bis Horst wieder bei ihr war. Wortlos reichte sie ihm die Zügel. Er schwang sich in den Sattel, dann ritten sie weiter. Die Schlucht verflachte sich und mündete in eine Hochebene. Längst hatten sie diese erreicht, da erst hörte die wilde Schie­ ßerei auf. Die Verfolger waren zähe Burschen und hatten gute Pferde. Hartnäckig blieben sie ihneri auf den Fersen. Doch immer noch konnten die Flüchtigen einen sicheren Vorsprung wahren. Stunde um Stunde ritten sie. Nun führte der Weg steil abwärts. Die Felsen traten zurück. Das Klappern der Hufe er­ stickte im weichen Sand. Dünen und tiefe Wellentäler lagen vor ihnen. Die Flüchtigen ließen ihren Pferden freien Lauf. Wie Pfeile schossen sie dahin, über hohe Dünen von Sand und durch tiefe Sandtäler, obwohl sie in dem feinen Sand mit den Hufen tief einsanken. Das Gerippe eines Kamels, von der Sonne gebleicht, lag zur Seite. Sie waren in der Wüste, auf einer uralten Karawanen­ straße, die in die südlichen Oasen führte. Sie ritten ununter­ brochen. Auf einmal griffen die ermatteten Tiere schneller .aus. Eine niedrige Mauer aus lose geschichteten dunklen Steinen. tauchte plötzlich auf, eine Steinplatte lag darüber - ein Brunnen! Horst stieg ab und tränkte die Pferde.

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Als er selbst seinen Durst gelöscht hatte, streckte er sich tod­ müde in den Sand und schlief sofort ein. „Wi..· müssen weiter", weckte ihn Nahza nach kurzer Zeit. ,,Sie sind immer noch hinter uns her." Horst schreckte auf. Er spähte über die Dünen. Im Norden bemerkte er ein paar Punkte, die sich bewegten. „Ich hoffte, sie hätten es aufgegeben", sagte Horst grimmig und schwang sich auf den Rappen, dem die kurze Rast und das erfrischende Wasser gutgetan hatten. „Aufgegeben?" wiederholte Nahza. ,,Ein Araber, der die Rache sucht, gibt nicht auf. Stunde um Stunde, Tag für Tag, Wochen und Monate bleibt er seinem Opfer auf den Fersen, ohne Er­ barmen und ohne Ermüden." Die Sandrücken wurden höher. Es war unmöglich, über sie hin­ wegzukommen. Sie mußten durch die engen Schluchten reiten, die :zwischen den Dünen entlangliefen. Hier war ,die Sonnenglut fast unerträglich. Kein Windstoß brachte Abkühlung, die Luft schien stillzustehen. Die Glut trieb ihnen den Schweiß aus allen Poren. Horst hätte sich die leichten Sachen vom Leibe reißen mögen. Er empfand sie wie eine unerträgliche Last. Er blickte zum Kamm der Dünen hinauf, wo ein leichter Wind den losen Sand aufwarf, daß es aussah, wie wenn sie rauchten. ,,Wenn diese Wüste doch ein Ende nehmen wollte!" dachte er, dann ,Spähte er zurück. Ob die Verfolger die Entfernung auf­ holten? Er wußte so gut wie Nahza, daß sie ihren Vorsprung und die kurze Rast am Brwmen nur der Schnelligkeit ihrer Pferde zu verdanken hatten. Wie ein Backofen war dieses Dünenmeer - wie eine ,glühende Hölle. Sie sprachen nicht miteinander, jedes Wort war ihnen zuviel. Endlich waren die Dünen zu Ende. Eine weite Ebene lag vor ihnen und dehnte sich bis zum Horizont. Von den Verfolgern war nichts zu bemerken. Vielleicht rasteten sie am Brunnen, 115

vielleicht waren sie aber auch schon wieder hinter ihnen. Die Flüchtlinge trieben ihre Pferde an. Schon hatte die Sonne die Scheitelhöhe überschritten. Flimmernd lag die heiße iLuft über der .Wüste. Horst mußte bei der grellen Sonne die Augen zusammenkneifen, als er zurückspähte. Die Verfolger tauchten wieder auf. Sie hatten die Dünen be­ reits hinter sich gelassen und ritten in der Ebene. Es kam Horst vor, als hätte sich der Abstand merklich verringert. Hatten die Verfolger keine Rast am Brunnen eingelegt? Oder ließ die Ki-aft des Rappen und des Schimmels nach? Verstohlen blickte Horst nach Nahza. Stolz und aufrecht wie immer saß sie im hohen arabischen Sattel. Hielt sie mehr aus als er? Horst konnte sich kaum noch im Sattel halten. Seine Kehle war ausgedörrt, der Hunger wühlte in den Eingeweiden. Er preßte die rissigen Lippen aufeinander. Ein Wind machte sich auf. Er kam von Süden und blies den Flüchtlingen seinen Gluthauch entgegen. Er trieb ihnen den letz­ ten Schweiß aus den Poren und warf den leichten Sand in die Höhe, daß ;er sich wie ein brauner Schleier vor die Sicht legte. Der Schleier wurde dichter. Dunkle Wolken schoben sich über die Wüste. „Ein Sandsturm zieht herauf", sagte Nahza. Sie deutete nach Westen, wo ein paar mächtige Felskegel aus dem Sand ragten. „Laß uns dorthin reiten, damit wir Schutz haben. Der Sturm ist für Mensch und Tier gefährlich. Meine Mutter hat es oft erzählt. Sie ist in der Wüste aufgewachsen. Wortlos trieb Horst den Rappen hinter dem Schimmel her. Die schützenden Felsen waren noch weit entfernt. Die Pferde mußten ihr Letztes hergeben. Der Wind wurde immer heftiger. Die Reiter beugten sich tief auf die Hälse der Pferde, um nicht aus dem Sattel gerissen zu werden. Sie dachten kaum noch an die Verfolger. Gefährlicher war jetzt der Sturm, der heraufzog. Sie stiegen ab und führten die vom Sand fast blinden Tiere 116

hinter sich her. Mühsam stapften sie vorwärts. Der Sturm riß ihnen fast die Kleider vom Leibe. Mit letzter Kraft erreichten sie den Schutz der Felsen. Die Pferde wendeten die Hinterhand dem Sturm entgegen und sanken sofort zu Boden, den Kopf weit vorgestreckt. So konnte ihnen der Sturm am wenigsten anhaben. Der Sturm trieb eine riesige Wolke von Sand und kleinem Ge­ röll vor sich her. Es war das beste, sich flach auf den Boden zu legen. Horst und Nahza warfen sich neben ihre Pferde und be­ deckten den Kopf mit dem Sattel. Der Sturm wuchs zu rasender Gewalt an und fegte mit un­ geheurer Geschwindigkeit über sie hinweg. Es prasselte, zischte und fauchte in der Luft und brauste. über den Boden, als wäre die Hölle losgelassen. Vor Schmerz und Durst wimmerten die Pferde; völlig benom­ men lagen neben ihnen die Menschen. Gegen Abend flaute der Sturm ab, er wurde ruhiger, dann schlief er ganz ein. Die Sonne brannte noch einmal auf die Wüste herab, ehe sie versank. Die Pferde erhoben sich und schüttelten Sand und Staub aus ihren Fellen. Nahza und Horst standen auf und blickten aus geröteten Augen um sich. Von den Verfolgern war nichts mehr zu sehen. Vielleicht waren sie zurückgeritten und hatten in den Dünen Schutz gesucht, vielleicht hatte sie aber auch das Un­ wetter mit ganzer Wucht getroffen. Jedenfalls waren alle Spu­ ren verwischt worden. Horst und Nahza konnten sich vorläufig sicher fühlen. Eine bleierne Müdigkeit überfiel Horst. Vergeblich kämpfte er dagegen an. Die Augen fielen ihm von selbst zu, dann schlief er tief und fest, den Schlaf der Erschöpfung. Auch Nahza streckte sich aus, der Sattel des Schimmels war ihr Kissen. Schweigen lag über den Menschen und Tieren.

DURST

Kurz ehe fahles Rot am östlichen Horizont den neuen Tag an­ kündigte, erwachte Horst. Ein Stück von ihm entfernt hockte Nahza. Sie hatte die Erschöpfung eher überwunden als er. Jetzt erhob sie sich, blickte dorthin, wo der dunkle Himmel sich rötete, breitete abseits neben einem Felsen einen kleinen Teppich aus, den sie wohl immer in ihrer Satteltasche mit sich führte. Da sie Horst noch schlafend glaubte, entschleierte sie sich. Unter halblauten Lobpreisungen und Anrufungen Allahs, deutete sie die vorgeschriebene Waschung einer strenggläubigen Mohammedanerin an, wobei sie statt des Wassers feinen Sand benutzte.Barfuß kniete sie auf dem Teppich nieder, das Gesicht nach Mekka gewendet, der heiligen Stätte. Die Füße ein wenig auseinander, die Hände flach zu beiden Seiten des Gesichtes er­ hoben, die Spitzen der Daumen an den Ohrläppchen, neigte sie sich nach den vier Himmelsrichtungen, streifte mit der Stirn den Boden, befeuchtete ihr Gesicht und sprach ihre Gebete. Horst stellte sich schlafend, um sie ungestört beobachten zu können. Ganz deutlich hörte er ihre leise Stimme, als sie die Fatiha, die erste Sure des Korans betete, das Vaterunser der Mohammedaner. „Im Namen des allbarmherzigen Gottes! Lob und Preis dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrschet am Tage des Geric hts. Dir wollen wir dienen, und zu Dir wollen wir flehen, auf daß Du uns führest den rechten Weg, den Weg derer, die sich Deiner Gnade freuen und nicht den Weg der anderen, über die Du zürnst, und nicht den der Irrenden ..."

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,,In diesem Augenblick, zu dieser gleichen Stunde knien Mil­ lionen Menschen in Asien und Afrika wie Nahza, ihr Gesicht Mekka zugewendet und beten", d.achte Horst. ,,Und sie behaup­ ten, daß ihr Gott der wirkliche Gott ist, und alle anderen Menschen sind Ungläubige." Während die Sonne höher und höher stieg, murmelte die schöne Beterin ihr Gebet, bis sie zu Ende .war, sich wieder Verschlei­ erte und ihren Gebetsteppich in der Satteltasche des Schimmels verpackte. Horst sprang nun auch auf. „Wir müssen Wasser suchen", sagte er, ,,und Weide für die Pferde." Heiser und fremd klang seine Stimme. Er spürte em starkes Kratzen im Halse. ,,Das Suchen hat keinen Zweck." Nahza schüttelte den Kopf. „Wir kennen beide die Gegend .nicht. Die Tiere sind erschöpft und wir auch. Es ist Allahs Wille, daß wir hier zugrunde gehen. Inscha Allah." Sie hatte recht. Die Pferde brauchten Ruhe und vor allem W'as­ ser und Futter. Horst spürte selbst, wie schwer ihm seine Glie­ der waren, geschwollen lag ihm die Zunge im Munde, und Nahza ging es nicht besser, auch wenn sie es nicht zeigte! Nur um sich selber Mut zu machen, sagte Horst: ,,Wir müssen es trotzdem versuchen." „Willst du dich gegen Allah auflehnen?" fragte Nahza. ,,Es ist unser Kismet!" „Steht nicht geschrieben, daß wir Menschen oft irren", fragte Horst. ,,Woher wollen wir wissen, daß alles, was mit uns ge­ schieht, von Gott kommt, und nicht eine Versuchung des Schei­ tans ist. Eins wissen wir bestimmt. Das Leben ist ein Geschenk Gottes. Wir müssen es ehren. Wir dürfen nicht tatenlos zu­ sehen, wie es uns entgleitet!" Nahza schwieg nachdenklich, dann stand sie auf, sattelte wort­ los ihren Schimmel und schwang sich in den Sattel. Horst stellte nach dem Sonnenstand die Richtung fest, dann ritt er Nahza voran nach Norden. 119

Schon nach kurzem Ritt stieg Nahza ab, weil die Pferde sich nur noch mühsam vorwärts schleppten. Wie jeder Araber liebte sie ihr Reittier. ,,Es· ist ein Geschenk des Paschas", sagte sie wehmütig. ,,Er züchtet in seinem Gestüt die edelsten und schönsten Pferde von ganz Marokko." Im Weitergehen flüsterte sie dem Schimmel zärtliche Worte in die Ohren.

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Horst stieg ebenfalls ab. Er führte den Rappen am Zügel hin­ ter sich her. Bei jedem Schritt sank Horst tief in den Sand, und er spürte, daß er immer kraftloser wurde. Gnadenlos brannte die Sonne auf Mensch und Tier. Die Wüste lag ringsum in trostlosem Schweigen. Horst blickte sich nach Nahza um, die hinter ihm durch den Sand tappte. Nur das Gefühl, daß sie hinter ihm herkam und auf ihn schaute, hielt ihn noch aufrecht. Wie Leder lag ihm die Zunge im Munde, die Lippen waren gesprungen vor Trocken­ heit. ,,Da ...", stieß Nahza plötzlich hervor und riß Horst aus sei­ nem Grübeln. Sie zeigte nach Norden: ,,Das Meer des Schei­ tans." Horst rieb sich die entzündeten Augen: ,,Was war das?"

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Wasser - - ganz nahe - das konnte doch nicht sein! Er hatte vor kurzem das ganze Gelände überblickt und nur Sand gesehen, nichts als Sand - und jetzt? - Das waren Felsen! Zwischen ihnen eine Bewegung! Reiter ritten daraus hervor, ein ganzer Trupp! Sie nahmen riesenhafte Größe an, jagten pfeilschnell dahin. Und nun - lösten sie sich auf, verschwammen - bis sie ganz verschwunden .waren. Nur dieses Wasser blieb, das Nahza Scheitansmeer genannt hatte. „Weißt du, wer die Reiter waren?" fragte Nahza. ,,Dschins waren es, Geister der Wüste. Sie lauern dem Menschen auf und verderben ihn." Sie schüttelte sich vor Grauen. ,,Es sind Menschen gewesen, keine Geister", widersprach Ho1·st, „aber sie waren meilenweit von uns entfernt. Sie spiegeln sich in der Luft. Eine Fata Morgana!" Nahza warf den Kopf in den Nacken: ,,Ihr Roumis wißt alles besser! Du wirst erleben, das ich recht hatte!" Als die Mittagshitze nachließ, verlor sich das Scheitansmeer Nahzas. Der Weg wurde zur Qual. Horst war nahe daran zusammenzu­ brechen. Die Sorge um Nahza trieb ihn vorwärts. Doch schließ­ lich war er völlig erschöpft. ,,Wir müssen rasten, wir dürfen die Pferde nicht ganz entkräf­ ten", entschuldigte er sich. Wortlos blickte ihn Nahza an und setzte sich in den Schatten, den ihr Pferd in den Sand warf. Verlegen folgte Horst ihrem Beispiel. Stumpf hockte er im Sande. Manchmal spürte u Nahzas Blick, der zu sagen schien: ,,Siehst du, wie recht ich hatte?" Er wollte nicht mehr denken! Ein bleierner Schlaf nahm ihn m seine Arme. Der Tag ging zu Ende. Stern um Stern flammte auf, und da­ zwischen stand der Mond. Weder Nahza noch Horst hatten den Sonnenuntergang bemerkt, denn auch Nahza war am späten Nachmittag vom Schlaf der Erschöpfung übermannt worden. 121

Als Horst erwachte, fühlte er sich gestärkt. Sinnend starrte er hinauf in die Sterne. Wie tröstlich der Anblick. Horst biß die Zähne zusammen. Die Flüchtenden waren unausgesetzt nach Norden gegangen. Irgendwo im Norden mußte die Wüste ein Ende haben ... Sie mußten weiter! Wenn es gar nicht mehr gehen wollte, konnte man das Blut der Pferde trinken. Aber nicht nachgeben! Er blickte hinüber .zu Nahza. Langausgestreckt wie eine Tote lag sie am Boden, nur die atmende Brust zeugte dav,on, daß sie lebte. Ihr Gesichtsschleier hatte sich gelöst. Horst ging zu seinem Rappen. Während er ihn sattelte, rief er nach Nahza. Sie sprang auf, blickte sich erschreckt um, ordnete ihren Schleier und kam zu Horst. Befremdet schaute sie ihn an. ,,Wir müssen weiter ", sagte er, und sah an ihr vorbei. ,,Ja, ja ... weiter!" wiederholte sie mutlos. „Es kann jetzt unmöglich noch weit ,sein bis zum Rand der Wüste", suchte er ihr Mut zu machen: ,,Wir sind ja den gan­ zen Tag über nach Norden gelaufen." Seine Stimme klang heiser, jedes Wort fiel ihm schwer. Er griff nach den Zügeln der Pferde und zog die Tiere hinter sich her. Nahza folgte ihm. Bald merkte Horst, daß seine Kraft nicht lange vorhielt. Immer langsamer wurden seine Bewegungen. „Vielleicht wäre eine kurze Rast gut", dachte er und sah sich nach Nahza 'um. Nahza hatte einen der Steigbügel ihres Schim­ mels ergriffen und ließ sich .von dem ·treuen Tier mitziehen. Weiter und weiter nach Norden ging der Weg. Die Sterne waren Wegweiser. Plötzlich scheuten die Pferde. Ihre Nüstern blähten sich. Schreckhaft weiteten sich ihre Augen. Sie zitterten am ganzen Leibe. Horst konnte sie kaum halten. Nahza griff nach ihrem Kumian. Sie war wie Horst auf einmal hellwach und starrte und lauschte in die Nacht. Es war nichts 122

zu sehen und nichts zu hören. Horst gab Nahza die Zügel. „Bleib zurück und halte die Pferde!" Mit entsicherter Pistole schlich er in die Nacht hinaus. Von Osten strich der Nachtwind herüber. Er mußte den Pfer­ den die merkwürdige .Unruhe zugeweht haben. Noch immer war nichts Verdächtiges zu bemerken. Auf einmal wehte der Wind einen bestialischen Gestank herüber. Zugleich glaubte er, ein heimliches Huschen zu spüren. Ein unbehagliches Ge­ fühl beschlich Horst. Schweißtropfen perlten ihm von der Stirn. Unwillkürlich faßte er die Pistole fester. Wenige Meter vor ihm glitten dunkle Schatten über den mond­ hellen Sand. Glühende Augenlichter funkelten. Horst hob seine Waffe und schoß. Da wurde es lebendig. Es wimmelte auf ein­ mal ringsum von Tieren. Ein paar jaulten, sie waren durch seine Schüsse verletzt worden. Im nächsten Augenblick wur­ den sie stumm, hatten die anderen sie zerrissen und ge­ fressen. Hyänen und Schakale! Knurrend wichen sie zurück. Horst schüttelte das Grauen ab. Sie wagen sich nur an Leichen und verendete Tiere. Alles Lebende meiden sie. Winseln der Scha­ kale und Mordruf der Hyänen geleiteten Horst ,nach der .Stelle, die die Totengräber der Wüste angezogen hatte. Neben einer regungslosen menschlichen Gestalt, die langaus­ gestreckt im Sand lag, stand ein Pferd und ließ den Kopf hängen. Vorsichtig schlich Horst näher. Das Pferd wieherte kläglich, als es ihn bemerkte. Es war ein prachtvoller Falber mit schlankem Rumpf und zarten aber ela­ stischen Beinen. Der Reiter lag in einer großen Blutlache. Schwer verwundet mußte er hier .aus dem Sattel geglitten.sein. Horsts Schüsse hatten Nahza herbeigerufen. ,,Ein Roumi", meinte sie mit einem verächtlichen .Blick auf den Toten. Ein blutjunger französischer Unterleutnant war der Tote. Jean de Fouque stand in seinen Papieren. Er war in der Champagne

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daheim, wie sich aus einem Brief ergab, den er in der Tasche hatte. Reichlich Proviant, Futter und einen vollen Schlauch mit Wasser, bargen die Satteltaschen. Ein Karabiner und eine Pistole fanden sich ebenfalls. Zuerst versorgten sie die Pferde, dann labten sich Horst und Nahza endlich auch wieder einmal. Es war lange nach Mitternacht, als sie wieder aufbrachen.

Horst hatte dem Falben den hohen Arabersattel des Rappen gegeben, damit er nicht als französisches Militärpferd auffiel. Er legte die Leiche des Unterleutnants vor !,ich aufs .Pferd und wollte weiterreiten, da drängte Nahza ihren Schimmel neben ihn. „Was willst du mit dem Toten, mit diesem Fransaui?" fragte sie. Betroffen vom Ton ihrer Stimme, blickte Horst sie an. ,,Wenn wir ihn hier begraben, fällt er den Schakalen und Hyänen zum Fraß!" „Hat er etwas Besseres verdient?" Abgrundtiefer Haß sprach aus Nahzas Worten. ,,Er kam wie alle Fransaui nach Marokko, hat gemordet, gebrannt und geraubt. Willst du verhindern, was Allahs Zorn über ihn verhängte?" Horst fühlte in dem Augenblick, Nahza war Marokkanerin, war es ganz und gar. Er konnte sie nicht ändern. Sie war ihm

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befreundet. Er suchte sie zu verstehen, aber folgen konnte er ihr nicht. Den Toten vor sich, ritt er davon. Mißgelaunt ritt Nahza hinter ihm her. Fauchend und knurrend öffneten die Bestien den Kreis um die sicher gewähnte :Beute. Sie stürzten sich ;rnf den Militärsattel, der ihnen geblieben war, rissen ihn in tausend Fetzen und schlangen Leder und Zeug hinunter, dann waren 'sie hinter _ den Reitern her und folgten ihnen als ein langer Schweif in sicherer Entfernung. Sie hatten Blut gerochen. Horst und Nahza ritten auf der Spur, die der französische Leut­ nant hinterlassen hatte, schweigend hintereinander, stunden­ lang. Da tauchte eine dunkle Stelle vor ihnen auf. Zahlreiche Pferdehufe hatten den Sand zerstampft. Dann wurde die Spur breiter. Hatte hier zwischen dem Unterleutnant und seinen Verfolgern ein Kampf stattgefunden? Horst betrachtete sorgfältig die Spu­ ren. Nahza ritt weiter, ohne einen Blick darauf zu werfen. Sicher war der Schwerverletzte bis hierher verfolgt worden, ve1·mutete Horst. Der Falbe war aber schneller gewesen als die Pferde der Verfolger, und diese waren umgekehrt. In großer Unruh� ritt Horst weiter. Irgendwo vor ihm befan­ den sich vielleicht die Verfolger des Toten, die leicht auch ihre Feinde werden konnten. Es wurde Zeit, den Toten zu be­ graben. Der Tag brach an. Wie ein Spuk verschwand der Schweif der Bestien, der ihnen anhing bis jetzt. Seit längerer Zeit schon tra­ ten die Pferde nicht mehr auf Sand, sondern auf festen Boden, der mit grauen, roten und schwarzen Steinen besät war. Und jetzt erhoben sich vor ihnen Felswände und hohe Bergkegel. Hier und da wuchsen Wüstengräser, Had Schirschir und Alfa­ gras. Die Pferde beachteten es nicht, mit erhobenen Köpfen und schnuppernden Nüstern liefen sie schneller und waren '.bald kaum noch zu halten. Horst war voller Erwartung. Pferde riechen das Wasser. Soll125

ten sie die Wüste hinter ;Sich haben? Bäume, Buschwerk und Gras tauchten ,auf. Ein kleines Tal lag vor ihnen. Ein Bach floß hindurch, der als ein Wasserfall von einer Steilwand herab­ rauschte.

Horst zügelte den Falben, umspannte fester den Karabiner und überschaute das Gelände. „Bleib hier, Nahza!" warnte er. Gewaltsam hielt sie ihren Schimmel zurück. Der Rappe, der bisher ledig neben seinem Stallgefährten hergela,ufen war, stürmte nach dem Wasser hin. Langsam ritt Horst vorwärts, den Karabiner schußbereit. Nahza wartete ab.

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Reste eines Feuers zeigten an, daß hier vor kurzem gelagert wurde, die Asche war noch ganz warm. Er winkte Nahza. Sie stieg von ihrem Schimmel, der sich gierig auf das Wasser stürzte, dann kniete sie am Bachrand nieder und trank. Nach ihr trank auch Horst. Neben dem Wasserfall war ein Bergrutsch. Große Felsbrocken, lockeres Geröll und loses Gestein hatten sich am Fuße der Steilwand angehäuft. Dort bereitete Horst dem Toten das Grab. Die Sonne stand fast in Scheitelhöhe, als er ihm ein stilles ,Ge­ bet sprach und einen Steinhügel über ihm aufschichtete. Er steckte eben ein Kreuz auf den Hügel, das er aus zwei dicken Ästen gefertigt hatte, da ließ ihn lauter Hufschlag aufhorchen. „Die Verfolger!" war Horsts erster Gedanke. Er griff nach der Pistole, aber betroffen ließ er sie. wieder sinken. Auf einem schmalen Pfad, de:r sich neben dem Wasserfall steil in die Höhe schlängelte, ritt Nahza. Sie jagte die Höhe hinauf, als würde sie gehetzt. Sie flüchtete vor ihm, ohne Abschied zu nehmen. Warum? Er warf sich auf den Falben, nur mit größter Mühe brachte er
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