Magee,Bryan Karl Popper
April 16, 2017 | Author: Marcin Historyk | Category: N/A
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Bryan Magee
Karl Popper
J.C.B. Mohr UTB (Paul Siebeck)
Uni-Taschenbücher 1393
UTB FÜR WISSEN SCHAFT Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage Wilhelm Fink Verlag München Gustav Fischer Verlag Stuttgart Francke Verlag Tübingen Paul Haupt Verlag Bern und Stuttgart Dr. Alfred Hüthig Verlag Heidelberg Leske Verlag + Budrich GmbH Opladen J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen R. v. Decker & C. F. Müller Verlagsgesellschaft m. b. H. Heidelberg Quelle & Meyer Heidelberg • Wiesbaden Ernst Reinhardt Verlag München und Basel F. K. Schattauer Verlag Stuttgart • New York Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn • München • Wien • Zürich Eugen Ulmer Verlag Stuttgart Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen und Zürich
Bryan Magee
Karl Popper übersetzt von Arnulf Krais
J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen
BRYAN MAGEE wurde 1930 in London geboren. Seine Ausbildung erhielt er am Christ's Hospital und (nach Militärdienst im Ausland) am Keble College, Oxford. Dort legte er Examina in Neuerer Geschichte sowie in Philosophie, Politik und Ökonomie ab und war Vorsitzender des Debattierklubs. Nachdem er ein Jahr lang in Schweden gelehrt hatte, ging er als Forschungsstipendiat für Philosophie nach Yale. 1956 verließ er die Universität, um als Schriftsteller, Kritiker und Rundfunkjournalist zu wirken. Er setzte diese Tätigkeit fort, auch nachdem er 1970 als Dozent für Philosophie am Balliol College, Oxford, die akademische Arbeit wieder aufgenommen hatte. 1973 wurde er in den Lehrkörper des All Souls College gewählt. Von 1974 bis 1976 schrieb er als Kolumnist für die Times, und 1979 erhielt er in Anerkennung seiner Arbeit für den Rundfunk die Silbermedaille der Royal Television Society. Von 1974 bis 1983 gehörte er als Abgeordneter des Wahlkreises Leyton dem Unterhaus an, wobei er zunächst Mitglied der Labour Party war, dann aber zur Sozialdemokratischen Partei überwechselte. Als anerkannter Musik- und Theaterkritiker wurde er für das Jahr 1983/84 zum Präsidenten der Kritikervereinigung gewählt. Seit 1984 nimmt er einen Forschungs- und Lehrauftrag für Geistesgeschichte am King‘s College, Universität London, wahr. Die vierzehn Bücher, die Bryan Magee verfaßt hat, wurden in ebenso viele Sprachen übersetzt; besonders zu nennen sind The New Radicalism (1962), The Democratic Revolution (1964), Aspecls of Wagner (1968), Modern British Philosophy (1971), Pacing Death (1977), Men of Ideas (1978) und The Philosophy of Schopenhauer (1983). Der Autor dankt Professor Hans Albert für seine freundliche Unterstützung beim Zustandekommen der deutschen Übersetzung.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Magee, Bryan: Karl Popper / Bryan Magee. Übers, von Arnulf Krais. - Tübingen: Mohr, 1986. (UTB für Wissenschaft; Uni-Taschenbücher; 1393) Einheitssacht.: Popper ISBN 3-16-244948-0 NE: UTB für Wissenschaft / UTB-Taschenbücher
Die Originalausgabe erschien bei Fontana Paperbacks 1973 © der deutschen Ausgabe: J.C.B.Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1986. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Satz: Gneiting Filmsatz+Druck, Tübingen • Druck: Presse-Druck, Augsburg Einbandgestaltung: Alfred Krugmann, Stuttgart Printed in Germany.
Für Ninian und Libushka Smart
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Der Mensch hat neue Welten geschaffen – die Welt der Sprache, der Musik, der Dichtung, die Welt der Wissenschaft. Und die bedeutendste von ihnen ist die Welt der moralischen Forderungen – der Forderungen nach Gleichheit, Freiheit, nach Hilfe für die Schwachen. KARL POPPER Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, S. 100
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1. Einleitung Der Name Karl Popper ist, bislang jedenfalls, nicht jedem Gebildeten geläufig. Das ist nicht ohne weiteres verständlich. Enthält doch Poppers Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde „die gewissenhafteste und schwerwiegendste Kritik der philosophischen und historischen Lehren des Marxismus aus der Feder eines lebenden Autors“, wie Isaiah Berlin in seiner Biographie von Karl Marx schreibt.1 Wenn dieses Urteil auch nur annähernd zutrifft, dann kommt dem Denker Popper – in einer Welt, deren Bewohner zu einem Drittel unter Regierungen leben, die sich marxistisch nennen – Weltgeltung zu. Aber auch unabhängig davon halten viele Karl Popper für den größten lebenden Wissenschaftstheoretiker. Sir Peter Medawar, Nobelpreisträger für Medizin, sagte am 28. Juli 1972 im Dritten Radioprogramm der BBC sogar: „Meiner Meinung nach ist Popper der größte Wissenschaftstheoretiker, der je gelebt hat“. Auch andere Nobelpreisträger haben sich öffentlich zu Poppers Einfluß auf ihre Arbeit bekannt, darunter Jacques Monod und Sir John Eccles, der in seinem Buch Wahrheit und Wirklichkeit2 schreibt, „daß mein wissenschaftliches Leben so viel meiner Konversion von 1945 (wenn ich es so nennen darf) zu Poppers Lehren über die Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen zu verdanken hat. ... Ich habe versucht, Popper mit der Formulierung und der Untersuchung fundamentaler Probleme in der Neurobiologie zu folgen“. Eccles gibt anderen Wissenschaftlern den Rat, „Poppers Aufsätze über die Philosophie der Wissenschaft zu lesen, darüber nachzudenken und sie zur Grundlage des eigenen wissenschaftlichen Lebens zu machen“. Dieser Ansicht sind nicht nur Vertreter der experimentellen Wissenschaften. Der hervorragende Mathematiker und theoretische Astronom Sir Hermann Bondi stellt schlicht fest: „Wissenschaft ist einfach 1 2
3. englische Aufl. 1963 1975 – Facing Reality, 1970
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Methode, und was diese Methode ist, hat uns Popper gesagt“. Poppers geistiger Einfluß reicht weiter als der jedes anderen lebenden englischsprachigen Philosophen und erstreckt sich vom Regierungsmitglied bis hin zum Kunsthistoriker. Ernst Gombrich schreibt im Vorwort zu Kunst und Illusion:3 „Ich würde stolz darauf sein, wenn Professor Poppers Einfluß auf jeder Seite dieses Buches zu spüren wäre“. (Das Buch ist für Kenneth Clark „eines der geistreichsten Bücher über Kunstkritik, das ich je gelesen habe“.) Und fortschrittliche Kabinettsmitglieder aus den beiden großen britischen Parteien, zum Beispiel Anthony Crosland oder Sir Edward Boyle, wurden in ihrer Sicht des politischen Handelns von Popper beeinflußt. Diese Beispiele sind aufschlußreich. Sie erhellen nicht nur sofort den außerordentlich breiten Anwendungsbereich der Gedankengänge Poppers. Sie zeigen auch, daß von Poppers Werk – anders als von dem vieler zeitgenössischer Philosophen – eine ausgesprochen praktische Wirkung ausgeht: Wer von Popper beeinflußt ist, ändert seine Arbeitsweise und in dieser wie in anderer Hinsicht sein Leben. Poppers Philosophie ist, kurz gesagt, eine Philosophie der Tat. Viele, die auf ihrem Gebiet Hervorragendes geleistet haben, stehen in diesem Sinne unter seinem Einfluß. Man kann also kaum behaupten, daß Popper keine Beachtung gefunden hat. Umso überraschender bleibt die Tatsache, daß er nicht bekannter ist – es gibt viele Denker geringeren Ranges, die berühmter sind als Popper. Teils ist das zufallsbedingt, teils liegt es daran, daß sein Werk oft ohne Absicht falsch dargestellt wird, teils auch daran, daß man Poppers Methode leicht mißversteht, wenn man sich mit ihr nicht näher befaßt hat. Karl Raimund Popper wurde 1902 in Wien geboren. Im Alter von etwa vierzehn bis siebzehn Jahren war er Marxist, dann wurde er zum leidenschaftlichen Sozialdemokraten. Neben seinen naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien war er nicht nur in der Politik und 3
1978 – Art and Illusion, 1959
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in der Arbeit mit sozial gefährdeten Kindern in Alfred Adlers Erziehungsberatungsstellen engagiert, sondern auch in Arnold Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen. Die Stadt und die Zeit, in der Popper seine Jugend verbrachte, boten ihm, wie so vielen anderen, reiche Anregungen. Nach dem Studium verdiente er seinen Lebensunterhalt als Lehrer für Mathematik und Physik an Hauptschulen. Aber er befaßte sich weiterhin vorwiegend mit Sozialarbeit, sozialdemokratischer Politik, Musik – und natürlich mit Philosophie. Hier stand Popper, wie seitdem immer wieder, im Gegensatz zur gerade herrschenden Mode. Das war damals der logische Positivismus des Wiener Kreises. Otto Neurath, ein Mitglied des Kreises, nannte Popper scherzhaft ,die offizielle Opposition’. Dadurch wurde Popper in gewissem Sinne zum Außenseiter. Er fand keine Möglichkeit, seine ersten Bücher in der Form zu publizieren, wie er sie geschrieben hatte. Sein erstes Buch blieb (bis 1979) unveröffentlicht, und sein erstes und so fruchtbares veröffentlichtes Werk, Logik der Forschung (erschienen im Herbst 1934 mit der Jahreszahl 1935), war die drastisch gekürzte Fassung eines doppelt so langen Buches. Es enthält die wichtigsten der inzwischen allgemein anerkannten Argumente gegen den logischen Positivismus. Die politische Szene im Wien der dreißiger Jahre war von Gewalt gekennzeichnet. Unter dieser Oberfläche zerbröckelte die Opposition der Linken gegen den Faschismus. Später, in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, hat Popper die radikale marxistische Ansicht folgendermaßen charakterisiert:4 „Die Revolution mußte auf jeden Fall kommen; somit konnte der Faschismus nur eines der Mittel sein, die sie herbeiführten; und dies war um so sicherer, als die Revolution offenkundig schon lange überfällig war. In Rußland war sie bereits eingetreten, und das trotz der Tatsache, daß die ökonomischen Bedingungen dieses Landes weit hinter denen Mitteleuropas 4
II, S. 202f.
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zurücklagen. In den demokratischen Ländern aber wurde die Revolution nur durch die vergebliche Hoffnung aufgehalten, die die Demokratie erweckt hatte. Somit konnte die Zerstörung der Demokratie durch die Faschisten die Revolution nur fördern; denn sie nahm den Arbeitern die letzte Illusion über die demokratischen Methoden. Damit glaubte der radikale Flügel des Marxismus das ,Wesen’ und die ,wahre historische Rolle’ des Faschismus entdeckt zu haben: Der Faschismus war, seinem Wesen nach, die letzte Verteidigungslinie der Bourgeoisie. Also kämpften die Kommunisten nicht, als die Faschisten die Macht ergriffen (niemand hat das von den Sozialdemokraten erwartet). Sie waren völlig überzeugt, daß die proletarische Revolution vor der Türe stand und daß das faschistische Zwischenspiel, das zu ihrer Beschleunigung notwendig war, nicht länger dauern konnte als einige Monate. Eine Aktion von seiten der Kommunisten war daher nicht erforderlich. Sie waren harmlos. Es gab nie eine ,kommunistische Gefahr’ für die faschistische Machtergreifung.“ Zur historischen Realität, die aus diesem Zitat spricht, gehören verzweifelte Debatten über politische Strategie und Moral, an denen sich Popper beteiligte und in denen der Keim für viele seiner späteren Schriften gelegt wurde. Popper sah mit deprimierender Genauigkeit die Annexion Österreichs durch Nazideutschland voraus sowie den europäischen Krieg, der folgen mußte und in dem sein Vaterland auf der falschen Seite stehen würde. Er entschied sich dafür, rechtzeitig auszuwandern. (Dieser Entschluß hat sein Leben gerettet, denn Popper war zwar protestantisch erzogen, und beide Eltern waren getauft, aber unter Hitler wäre er als Jude eingestuft worden.) Von 1937 bis 1945 lehrte Popper Philosophie an der Universität von Neuseeland. Zunächst brachte er sich praktisch selbst Griechisch bei, um die griechischen Philosophen, besonders Platon, lesen zu können. Dann schrieb er The Open Society and Its Enemies5 – „ein ungewöhnlich 5
12th ed. 1977 – Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 6. Aufl. 1980
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originelles und kraftvolles Werk“, wie Isaiah Berlin sagt. Dieses Buch war Poppers Versuch, einen Beitrag zum Krieg zu leisten. Den endgültigen Entschluß, es zu schreiben, faßte er an dem Tage, als er erfuhr, was er schon lange befürchtet hatte – Hitler war in Österreich einmarschiert. 1943, bei Abschluß des Werks, war der Ausgang des Zweiten Weltkriegs noch offen. Poppers Verteidigung der Freiheit und seine Kritik des Totalitarismus (dessen Entwicklung und Anziehungskraft er in dem Buch ebenfalls zu erklären versucht) sind durch diese beiden Umstände noch leidenschaftlicher geworden. The Open Society and Its Enemies erschien 1945 in zwei Bänden und brachte Popper in der englischsprechenden Welt den ersten Ruhm ein. 1946 kam Popper nach England, wo er seither lebt. Als herrschende philosophische Lehre – sofern es überhaupt eine gab – fand er dort den logischen Positivismus vor, den er in Wien vor dem Kriege hinter sich gelassen hatte. A. J. Ayer hatte den logischen Positivismus durch sein Buch Language, Truth and Logic6 nach England importiert. Poppers Logik der Forschung lag immer noch nicht in englischer Übersetzung vor und war praktisch unbekannt. Wer von dem Buch gehört hatte, verstand seinen Inhalt gewöhnlich falsch. Es erschien erst im Herbst 1959, also nach einem Vierteljahrhundert, unter dem Titel The Logic of Scientific Discovery in englischer Sprache. Popper hatte für die Übersetzung ein Vorwort verfaßt, mit dem er sich von der mittlerweile neu in Mode gekommenen Sprachanalyse distanzierte. In Mind jedoch, der führenden sprachanalytischen Zeitschrift, wurde das Buch verständnislos und ohne Bezug auf das Vorwort rezensiert. Wieder war Popper ein Außenseiter, wie damals in Österreich. Sein internationales Ansehen, zu dem er schon vor langer Zeit den Grundstein gelegt hatte, nahm indessen zu, und Popper fand in England nicht nur wissenschaftliche Anerkennung (1965 wurde er geadelt). Aber weder in Oxford noch in Cambridge wollte man ihn als Professor haben. So verbrachte er die 6
2nd ed. 1936 – Sprache, Wahrheit und Logik, 1970
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letzten 23 Jahre seiner Universitätslaufbahn an der London School of Economics, wo er Professor der Logik und der wissenschaftlichen Methode wurde. Während dieser Jahre ließ Popper seine beiden nächsten Bücher erscheinen, Sammlungen von Aufsätzen, die er zum größten Teil bereits einzeln veröffentlicht hatte. Als 1957 The Poverty of Historicism7 herauskam, schrieb Arthur Koestler in der Sunday Times, dies sei „wahrscheinlich das einzige in diesem Jahr erschienene Buch, das unser Jahrhundert überdauern wird“. (Die Aufsatzreihe, aus der es besteht, war von der Zeitschrift Mind abgelehnt worden.) Man kann in dem Buch das Gegenstück zu Die offene Gesellschaft und ihre Feinde sehen. Entsprechend läßt sich Conjectures and Refutations: The Growth of Scientific Knowledge, 1963 erschienen,8 als Gegenstück zur Logik der Forschung auffassen. 1969 wurde Popper emeritiert. Seither hat er weitere Bücher veröffentlicht. 1972 erschien die Aufsatzsammlung Objective Knowledge: An Evolutionary Approach,9 1976 die selbständige Ausgabe seiner Autobiographie, Unended Quest.10 1977 publizierte Popper, in Zusammenarbeit mit dem Neurophysiologen und Nobelpreisträger John Eccles, The Self and Its Brain,11 eine Untersuchung des Leib-SeeleProblems. (Im ersten Teil dieses Buches gibt Popper einen Überblick über die Geschichte des Konflikts zwischen Materialismus und Dualismus und tritt dabei für den Dualismus ein, im zweiten Teil untersucht Eccles den Geist aus neurophysiologischer Sicht, und der dritte Teil besteht aus Dialogen der beiden Forscher über die aufgeworfenen – zum Teil vielleicht unlösbaren – Probleme.) Die Das Elend des Historizismus, 5., verb. Aufl. 1979 Vermutungen und Widerlegungen (deutsche Ausgabe in Vorbereitung) 9 6th rev. & expanded ed., 1981 – Objektive Erkenntnis: Ein evolutionärer Entwurf, 4., überarb. u. erg. Aufl. 1984 10 6th rev. ed. 1982 – Ausgangspunkte, 2. Aufl. 1982 11 Corr. 2nd printing 1985 – Das Ich und sein Gehirn, 5. Aufl. 1985 7 8
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Entwürfe und Vorarbeiten zur Logik der Forschung aus den Jahren 1930 bis 1933 erschienen 1979 unter dem Titel Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Das PostScript zu The Logic of Scientific Discovery wurde 1982/83 in drei Bänden veröffentlicht.12 1984 erschien Auf der Suche nach einer besseren Welt, eine Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen aus dreißig Jahren. Es wird wohl nicht bei diesen Büchern bleiben, denn weitere liegen als abgeschlossenes Manuskript vor. In wissenschaftlichen Zeitschriften sind von Popper über hundert Aufsätze erschienen. Noch größer ist die Zahl der unveröffentlichten Aufsätze und Vortragsmanuskripte. Popper hat seine Arbeiten stets nur äußerst widerstrebend in Druck gehen lassen: Für weitere Verbesserungen, für weitere Korrekturen, war immer noch Platz – und Zeit.13 Zu Beginn seiner Laufbahn sahen die logischen Positivisten in Popper jemanden, der sich im wesentlichen mit den gleichen Problemen wie sie selbst befaßte, und interpretierten ihn dementsprechend. Ganz ähnlich sind dann später die Sprachanalytiker verfahren. Logische Positivisten und Sprachanalytiker haben deshalb behauptet und auch durchaus geglaubt, daß sich Poppers Standpunkt gar nicht so stark, wie er selbst immer wieder betont, von ihrem eigenen unterscheidet, und sie finden seine Hartnäckigkeit ermüdend. Ich komme noch auf den Kern dieser Mißverständnisse zurück. Hier geht es mir nur um folgendes: Was Popper von seinen potentiellen Lesern trennt, ist gerade ein Grundzug seines Werkes – ein bei richtiger Auffassung unübersehbarer Grundzug, den aber nur verstehen kann, wer Popper schon gelesen hat. Popper vertritt (in einem Sinne, der später erläutert wird) die Ansicht, daß Erkenntnisfortschritt nur durch Kritik möglich ist. Das führt dazu, daß er seine wesentlichen Gedanken meist im Zuge der Kritik an den Gedanken anderer entwickelt. Beispielsweise werden die meisten Argumente in Die offene Gesellschaft 12 13
Eine deutsche Ausgabe ist in Vorbereitung. Siehe hierzu auch den Nachtrag, S. 123-125
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und ihre Feinde als Kritik an Platon und Marx vorgebracht. Eine Folge davon ist, daß Generationen von Studenten das Buch nur wegen dieser Kritik ausgeschlachtet haben, ohne es ganz zu lesen. Inzwischen hält man es sogar in weiten Kreisen für tatsächlich nichts anderes als eine Kritik an Platon und Marx. Das Ergebnis ist, daß viele, die von dem Buch gehört, es aber nicht gelesen haben, sich ein falsches Bild davon machen. Wegen der Kritik an Marx meinen manche sogar, das Werk habe einen Rechtsdrall. Der Gelehrtenstreit, den es angefacht hat, dreht sich nicht um Poppers Argumente, sondern darum, ob Popper andere Philosophen richtig interpretiert. Ganze Bücher sind darüber geschrieben worden, etwa In Defense of Plato von Ronald B. Levinson (1953) und Marxistische Wissenschaft und antimarxistisches Dogma von Maurice Cornforth.14 In wissenschaftlichen Zeitschriften hat man ausgiebig darüber diskutiert, ob Popper mit seiner Übersetzung dieses oder jenes Abschnitts Platon wirklich gerecht wird. Die Verteidigung der Demokratie, die das Buch doch auch enthält, hat nicht einmal einen Bruchteil dieser akademischen Aufmerksamkeit erfahren. Aber selbst wenn man zeigen könnte, daß Popper Platon und Marx falsch auffaßt – er wäre immer noch ein machtvoller Fürsprecher der Demokratie. Eine ernstzunehmende Kritik von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde sollte sich vor allem mit den Argumenten in diesem Buch auseinandersetzen, nicht mit seiner Gelehrsamkeit – obwohl die Gelehrsamkeit, wie ich noch zeigen werde, allen Respekt verdient. Zwischen Popper und seinen potentiellen Lesern steht noch ein weiteres, allerdings leichter zu überwindendes Hindernis. Popper glaubt, daß Philosophie eine notwendige Tätigkeit ist, weil wir alle vieles für selbstverständlich halten und weil ein großer Teil dieser Annahmen philosophischer Natur ist. Wir legen sie unserem Privatleben zugrunde, der Politik, unserer Arbeit und jedem anderen Lebensbereich. Von diesen Annahmen treffen einige zweifellos zu, wahrscheinlich aber sind 14
2. Aufl. 1973 – The Open Philosophy and The Open Society, 1968
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mehr davon falsch und einige sogar schädlich. Deshalb ist die kritische Prüfung unserer Voraussetzungen – also eine philosophische Tätigkeit – moralisch wie intellektuell so wichtig. Nach dieser Auffassung geht Philosophie uns alle an und gehört zu unserem Leben. Sie ist also nicht eine rein akademische Tätigkeit oder etwas für Spezialisten und besteht sicher nicht primär im Studium der Schriften von Berufsphilosophen. Trotzdem hat Poppers Werk natürlich zum größten Teil die kritische Prüfung von Theorien zum Inhalt, mit der Folge, daß viele ,Ismen’ diskutiert werden und die Anspielungen auf Denker der Vergangenheit zahlreich sind. Das gilt vor allem für die ersten Arbeiten Poppers in englischer Sprache, die er zu einer Zeit verfaßt hat, als er noch unter dem Einfluß der deutschen akademischen Tradition stand. Andererseits haben sich wenige Philosophen so sehr um Klarheit bemüht wie Popper. Die Tiefe seiner Schriften verbirgt sich hinter dem klaren Stil. Ein paar Leser haben irrtümlich geglaubt, daß das, was Popper sagt, ziemlich einfach ist und vielleicht sogar auf der Hand liegt. Ihnen ist entgangen, daß seine Schriften aufregend und wegen der Einsichten, die sie vermitteln, geradezu spannend sind. Er schreibt hervorragende, großherzige und humane Prosa, in der sich Intellekt mit Emotion verbindet. Das erinnert an Marx – hinter Poppers Argumenten ist die gleiche treibende Kraft zu finden, der gleiche Schwung, die gleiche Schärfe, das gleiche Format und das gleiche Selbstvertrauen, aber verbunden mit größerer logischer Strenge. Hat sich der Leser erst an die Lektüre gewöhnt, so regt sie ihn an und läßt ihn kaum mehr los. Und vor allem sind sämtliche Schriften Poppers – das ist an ihnen besonders eindrucksvoll – überaus reich an Argumenten. Poppers Philosophie ist eine systematische Philosophie und steht in der großen Tradition des Fachs. Aber selbst von einem sehr interessierten Leser mit einem sehr weiten Horizont kann man nicht erwarten, daß er sämtliche Vorträge und Veröffentlichungen studiert hat, in denen diese Philosophie dargelegt ist (in verschiedenen
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Sprachen, Zeitschriften, Ländern und Jahrzehnten) – oder gar erkennt, daß all dies miteinander zusammenhängt und Teil eines Erklärungsrahmens ist, der die gesamte menschliche Erfahrung umfaßt. Ein Beispiel: Popper ist Indeterminist, in der Physik wie in der Politik. Seinen Beweis dafür, daß es aus logischen Gründen unmöglich ist, den zukünftigen Verlauf der Geschichte mit rationalen Methoden vorherzusagen, hat er zuerst im British Journal for the Philosophy of Science vorgelegt, in einem Aufsatz mit dem Titel „Indeterminism in Quantum Physics and in Classical Physics“. Popper hat diesen Beweis nach verschiedenen Richtungen hin weiterentwickelt: Er ist Bestandteil seiner Verteidigung der Freiheit und seiner Kritik am Marxismus – und er war der Anstoß für eine Propensitätstheorie der Wahrscheinlichkeit, die, angewandt auf die Quantenphysik, eine Lösung für bestimmte Probleme in der Theorie der Materie bietet, die mit dem historischen Schisma zwischen Einstein, de Broglie und Schrödinger auf der einen und Heisenberg, Niels Bohr und Max Born auf der anderen Seite zusammenhängen. Es gibt wohl nur sehr wenige Spezialisten, die über das nötige Rüstzeug verfügen, allen diesen Zusammenhängen nachzugehen und alle Gedanken miteinander zu verknüpfen. Im vorliegenden Buch habe ich den anspruchsvollen Versuch unternommen, Poppers Gedanken klar und übersichtlich darzustellen und dabei ihre systematische Einheit aufzuzeigen. Ich beginne deshalb – aus Gründen, die später deutlich werden – mit der Erkenntnistheorie und der Wissenschaftstheorie. Manche Leser mögen sich von diesen Gebieten weniger angesprochen fühlen. Sie haben das Buch vielleicht eher aus Interesse an Poppers sozialen und politischen Theorien zur Hand genommen. Ich bitte diese Leser, die Passagen über Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie nicht zu überschlagen. Popper hat nämlich seine Gedanken ursprünglich für die Naturwissenschaften ausgearbeitet und dann auf die Sozialwissenschaften angewandt, und Kenntnisse auf dem einen Gebiet sind zum vertieften Verständnis des anderen unerläßlich. Ich werde außerdem zu zeigen versuchen, wie
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Poppers Philosophie die Welt der Natur und die Welt des Geistes umfaßt. Ich hoffe auch, daß es mir gelingt, die Gründe für den großen Einfluß dieser Philosophie herauszuarbeiten und, zumindest in Grundzügen, klarzumachen, warum sie zu anderen zeitgenössischen Denkschulen im Gegensatz steht. Natürlich ist es in einem so knapp gefaßten Buch nicht möglich, spezielle Kontroversen und die mehr technischen Aspekte der Physik, der Wahrscheinlichkeitstheorie oder der Logik zu behandeln. Ich werde deshalb nicht versuchen, die Belege zu erörtern, auf die Popper seine Argumente im einzelnen stützt, sondern mich ausschließlich mit eben diesen Argumenten befassen.
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2. Die wissenschaftliche Methode – Die traditionelle Auffassung und Poppers Auffassung Das Wort ,Gesetz’ ist nicht eindeutig. Wer sagt, daß ein Naturgesetz ,verletzt’ wird, verwechselt die beiden Hauptbedeutungen von ,Gesetz’. Ein Gesetz im juristischen Sinne schreibt uns vor, was wir tun dürfen und was nicht. Es kann verletzt werden: Wenn wir es nicht verletzen könnten, dann wäre es ja überflüssig – keine Gesellschaft verbietet ihren Bürgern, sich an zwei Orten zugleich aufzuhalten. Ein Naturgesetz dagegen schreibt nicht vor, sondern beschreibt. Es sagt uns, was geschieht – zum Beispiel daß Wasser bei 100° Celsius kocht. Es will weiter nichts sein als eine Aussage über das, was vor sich geht, wenn bestimmte Anfangsbedingungen erfüllt sind – wenn etwa eine gegebene Wassermasse erhitzt wird. Es kann wahr oder falsch sein, aber es kann nicht ,verletzt’ werden, denn es ist kein Gebot: Niemand befiehlt dem Wasser, bei 100° Celsius zu kochen. Der vorwissenschaftliche Glaube, daß es ihm befohlen wird (von einem Gott), ist der Grund für den unglücklichen Doppelsinn des Wortes ,Gesetz’. Die Naturgesetze galten als Gebote der Götter. Aber heute würde niemand mehr behaupten, daß die Naturgesetze in irgendeinem Sinne Vorschriften darstellen, die ,eingehalten’, ,befolgt’ oder ,verletzt’ werden können. Man sieht vielmehr in den Naturgesetzen allgemeine Aussagen mit Erklärungscharakter, die den Anspruch erheben, Tatsachen zu beschreiben, und die deshalb zu modifizieren oder aufzugeben sind, wenn sich herausstellt, daß sie nicht zutreffen. Schon lange, zumindest seit Newton, sieht man die Suche nach Naturgesetzen als zentrale Aufgabe der Naturwissenschaften an. Das Verfahren, das der Naturwissenschaftler hier angeblich verwendet, hat bereits Francis Bacon beschrieben. Bacons Formulierung wurde seither vielfach modifiziert, erweitert, verfeinert und verfälscht, aber vom siebzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert stand fast jeder, der
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etwas mit Naturwissenschaften zu tun hatte, in der von Bacon begründeten Tradition. Man stellte sich die Suche nach Naturgesetzen folgendermaßen vor: Der Wissenschaftler beginnt damit, daß er zwecks sorgfältig kontrollierter und peinlich genauer Beobachtungen irgendwo an der Grenze zwischen unserem Wissen und unserem Nichtwissen Experimente durchführt. Er hält seine Ergebnisse systematisch fest, veröffentlicht sie vielleicht, und im Laufe der Zeit häufen er und seine Kollegen immer mehr anerkannte und verläßliche Daten an. Dabei zeichnen sich Regelmäßigkeiten ab, und man beginnt, allgemeine Hypothesen zu formulieren – Aussagen mit Gesetzescharakter, die zu allen bekannten Tatsachen passen und die erklären, in welchem Kausalzusammenhang diese Tatsachen miteinander stehen. Der Wissenschaftler bemüht sich um die Bestätigung seiner Hypothese und sucht Belege, die sie stützen. Gelingt es ihm, seine Hypothese zu verifizieren, so hat er ein neues wissenschaftliches Gesetz entdeckt, das weitere Geheimnisse der Natur erschließt. Dann wird der neue Saum genäht – das heißt, die neue Entdeckung wird überall dort angewandt, wo man sich von ihr neue Aufschlüsse verspricht. Auf diese Weise wächst der Bestand wissenschaftlicher Erkenntnisse an, und die Grenze zu unserem Nichtwissen verschiebt sich. An der neuen Grenzlinie beginnt der Prozeß von neuem. Die Methode, allgemeine Aussagen auf gesammelten Beobachtungen von Einzelfällen aufzubauen, wird als Induktion bezeichnet, und sie gilt herkömmlicherweise als Kennzeichen der Wissenschaft. Mit anderen Worten: Im Gebrauch der induktiven Methode sieht man das Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft. Man glaubt, daß wissenschaftliche Aussagen, die auf Beobachtungen und experimentellen Belegen – kurz: auf Tatsachen – beruhen, sicheres und verläßliches Wissen liefern. Ihnen stellt man alle andersgearteten Aussagen gegenüber, ob sie sich nun auf Autorität, Gefühl, Tradition, Spekulation, Vorurteil, Gewohnheit oder auf was auch immer stützen. Die Wissenschaft ist der Bestand an sicherem und verläßlichem Wissen,
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und das Wachstum der Wissenschaft besteht darin, daß dieser Bestand laufend um weitere Gewißheiten vermehrt wird. Zu diesem Wissenschaftsverständnis hat Hume einige unbequeme Fragen aufgeworfen. Er hat darauf hingewiesen, daß auch aus einer noch so großen Zahl von singulären Beobachtungssätzen logisch kein uneingeschränkt allgemeiner Satz folgt. Wenn ich die Beobachtung mache, daß bei einer Gelegenheit auf das Ereignis A das Ereignis B folgt, dann ergibt sich daraus nicht die logische Folgerung, daß B auch bei einer anderen Gelegenheit auf A folgt. Eine solche Folgerung ergibt sich weder aus zwei Beobachtungen dieser Art noch aus zwanzig noch aus zweitausend. Wenn B oft genug auf A folgt, dann mag ich das auch für die Zukunft erwarten, aber das ist eine Frage der Psychologie, nicht der Logik. Die Sonne mag nach jeder Nacht, von der wir wissen, wieder aufgegangen sein – aber daraus folgt noch nicht, daß sie auch morgen aufgeht. Wenn nun jemand sagt: ,Ja, aber wir können doch genau vorhersagen, um wieviel Uhr morgen Sonnenaufgang ist, denn wir haben die gut begründeten Gesetze der Physik, und wir können sie auf die Bedingungen anwenden, die in diesem Augenblick herrschen’, dann sind zwei Antworten möglich. Erstens folgt daraus, daß die Gesetze der Physik in der Vergangenheit gegolten haben, logisch noch nicht, daß sie auch in Zukunft gelten. Zweitens sind die Gesetze der Physik selbst allgemeine Aussagen, die aus den beobachteten Einzelfällen, mit denen sie belegt werden, nicht logisch folgen, so zahlreich diese Einzelfälle auch sein mögen. Dieser Versuch einer Rechtfertigung der Induktion setzt also das Induktionsprinzip bereits voraus und ist deshalb verfehlt. Unsere gesamte Naturwissenschaft beruht auf der Annahme, daß in der Natur Regelmäßigkeit herrscht (daß die Zukunft, was die Wirkungsweise der Naturgesetze betrifft, der Vergangenheit gleicht), aber diese Annahme ist auf keine Weise abzusichern. Sie läßt sich nicht mit Beobachtungen begründen, denn wir können keine zukünftigen Ereignisse beobachten. Sie läßt sich auch nicht durch einen logischen Schluß begründen, weil aus der Tatsache, daß alle vergangenen
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Zukünfte wie vergangene Vergangenheiten waren, nicht folgt, daß alle künftigen Zukünfte wie künftige Vergangenheiten sein werden. Hume selbst gelangte zu folgendem Schluß: Die Gültigkeit induktiven Vorgehens ist zwar nicht erweisbar, aber wir sind so veranlagt, daß wir gar nicht anders können, als unserem Denken das Induktionsprinzip zugrundezulegen. Und weil das induktive Vorgehen in der Praxis offenbar funktioniert, geben wir uns eben mit ihm zufrieden. Das bedeutet aber, daß wissenschaftliche Gesetze weder in der Logik noch in der Erfahrung ein rationales und sicheres Fundament haben – denn jedes wissenschaftliche Gesetz ist uneingeschränkt allgemein und geht deshalb über die Logik wie über die Erfahrung hinaus. Das Induktionsproblem – ,Humesches Problem’ genannt – hat den Philosophen seit Humes Zeiten zu schaffen gemacht. Für C. H. Broad ist es die „Leiche im Keller der Philosophie“. Bertrand Russell schreibt in seiner Philosophie des Abendlandes:1 Hume hat „bewiesen, daß der reine Empirismus keine ausreichende Grundlage für die Wissenschaft ist. Wenn man aber dies eine Prinzip [die Induktion] gelten läßt, dann kann sich alles übrige entsprechend der Theorie entwickeln, daß all unsere Erkenntnis auf Erfahrung beruht. Es ist zuzugeben, daß dies ein beträchtliches Abweichen vom reinen Empirismus bedeutet, und daß diejenigen, die keine Empiriker sind, fragen mögen, warum andere Abweichungen verboten sind, wenn eine gestattet ist. Das sind jedoch Fragen, die nicht unmittelbar durch Humes Argumente aufgeworfen werden. Diese Argumente beweisen jedenfalls (und ich halte den Beweis für schwerlich anfechtbar), daß die Induktion ein unabhängiges logisches Prinzip ist, das sich weder aus der Erfahrung noch aus anderen logischen Prinzipien folgern läßt, und daß ohne dieses Prinzip die Wissenschaft nicht möglich wäre.“ Man hat es als äußerst peinlich empfunden, daß die gesamte Wissenschaft, daß überhaupt alles auf Grundlagen beruhen sollte, deren 1
2. Aufl. 1975, S. 684 – History of Western Philosophy, 1967
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Gültigkeit sich nicht erweisen läßt. Viele empirisch orientierte Philosophen sind aus diesem Grunde zu Skeptikern, Irrationalisten oder Mystikern geworden; einige sind zur Religion gelangt. Praktisch alle haben sich zu folgendem Eingeständnis genötigt gesehen: ,Wir müssen zugeben, daß sich wissenschaftliche Gesetze, genau genommen, nicht beweisen lassen und daß sie daher nicht sicher sind. Immerhin werden sie mit jeder Bestätigung wahrscheinlicher. Dies gilt nicht nur für die gesamte uns bekannte Vergangenheit – jeder Augenblick, in dem die Welt weitergeht, bringt Abermilliarden von Bestätigungen und niemals ein einziges Gegenbeispiel. Deshalb sind wissenschaftliche Gesetze wenn auch nicht sicher, so doch im höchsten vorstellbaren Grade wahrscheinlich: und das heißt so gut wie sicher – zwar nicht in der Theorie, wohl aber in der Praxis.’ Diese Haltung nehmen fast alle Wissenschaftler ein, sofern sie sich Gedanken über die logischen Grundlagen ihres Handelns machen. Für sie ist entscheidend, daß bei der Wissenschaft etwas herauskommt – daß sie funktioniert und einen nicht abreißenden Strom nützlicher Ergebnisse hervorbringt. Sie finden es besser, ihre Arbeit fortzusetzen und neue Ergebnisse vorzuweisen, als sich über ein offensichtlich unlösbares logisches Problem weiter den Kopf zu zerbrechen. Die nachdenklicheren unter ihnen sind jedoch tief beunruhigt. Für sie und für die Philosophen bildet die Induktion ein ungelöstes Problem, das an die Grundlagen der menschlichen Erkenntnis rührt. Und so lange dieses Problem ungelöst bleibt, muß man sich eingestehen, daß die gesamte Wissenschaft, wie konsistent nach innen und wie nützlich nach außen sie auch sein mag, ohne Verbindung zu einer terra firma gewissermaßen in der Luft hängt. Es ist Poppers bahnbrechende Leistung, daß er für das Induktionsproblem eine brauchbare Lösung anbieten konnte. Im Zusammenhang damit hat Popper die herkömmliche Auffassung von der wissenschaftlichen Methode, wie sie oben dargestellt wurde, völlig verworfen und durch eine andere Sicht ersetzt. (Natürlich liegt hier der Grund für die eingangs zitierten Äußerungen von Medawar, Eccles und
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Bondi.) Wie nicht anders zu erwarten, hat sich diese grundlegende Leistung Poppers auch jenseits der Grenzen des Problems, aus dem sie erwachsen ist, als fruchtbar erwiesen und zur Lösung weiterer wichtiger Probleme geführt. Popper beginnt mit dem Hinweis auf die logische Asymmetrie zwischen Verifikation und Falsifikation. Aussagenlogisch kann man diese Asymmetrie wie folgt formulieren: Der universelle Satz ‚Alle Schwäne sind weiß’ läßt sich aus keiner noch so großen Zahl von einzelnen Sätzen über die Beobachtung weißer Schwäne logisch ableiten; aber aus einem einzigen Satz über die Beobachtung eines schwarzen Schwans folgt logisch der Satz ‚Nicht alle Schwäne sind weiß’. In diesem wichtigen logischen Sinne sind empirische Verallgemeinerungen zwar nicht verifizierbar, aber falsifizierbar. Das bedeutet, daß sich wissenschaftliche Gesetze zwar nicht beweisen, wohl aber prüfen lassen: Sie können durch systematische Widerlegungsversuche getestet werden. Popper hat von Anfang an zwischen diesem logischen Zusammenhang und der Methodologie unterschieden, die sich aus ihm ergibt. Von der Logik her sieht alles ganz einfach aus: Wenn ein einziger schwarzer Schwan beobachtet wurde, dann ist damit ausgeschlossen, daß alle Schwäne weiß sind. Deshalb ist in der Logik – das heißt: wenn wir die Beziehung zwischen Sätzen betrachten – ein wissenschaftliches Gesetz zwar nicht endgültig verifizierbar, wohl aber endgültig falsifizierbar. Methodologisch gesehen liegt der Fall aber anders. In der Praxis ist es nämlich immer möglich, eine Aussage anzuzweifeln: der Bericht über die Beobachtung mag fehlerhaft, der fragliche Vogel falsch bestimmt sein; wir können uns auch entschließen, ihn, eben weil er schwarz ist, nicht als Schwan zu klassifizieren, sondern ihm einen anderen Namen zu geben. Wir haben also immer die Möglichkeit, einen Beobachtungssatz als ungültig zurückzuweisen, ohne uns damit selbst zu widersprechen. Auf diese Weise könnten wir alle falsifizierenden Erfahrungen ablehnen. Weil es aber auf methodologischer Ebene keine endgültige Falsifizierung gibt, ist der Ruf nach ihr verfehlt. Würden wir
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hier endgültige Falsifizierung fordern und gleichzeitig die Belege im Sinne unserer Aussagen umdeuten, dann wäre unsere Vorgehensweise auf absurde Weise unwissenschaftlich geworden. Popper schlägt deshalb als methodischen Grundsatz vor, daß wir eine Widerlegung unserer Aussagen nicht systematisch vermeiden (etwa durch die Einführung von ad-hoc-Hypothesen, ad-hoc-Definitionen, durch die beharrliche Weigerung, unbequeme experimentelle Ergebnisse anzuerkennen oder durch irgendein anderes Verfahren dieser Art) und daß wir unsere Theorien so eindeutig formulieren, wie wir können, um sie möglichst klar dem Risiko der Widerlegung auszusetzen. Andererseits sagt Popper nicht, daß wir unsere Theorien leichtfertig aufgeben sollen, denn das wäre eine zu unkritische Haltung gegenüber Prüfungen und würde bedeuten, daß die Theorien selbst dann nicht streng genug geprüft werden. Man könnte Popper demnach auf logischer Ebene als naiven Falsifikationisten bezeichnen – aber auf methodologischer Ebene ist er ein überaus kritischer Falsifikationist. Weil diese Unterscheidung nicht beachtet wurde, hat man sein Werk oft mißverstanden. Betrachten wir jetzt ein praktisches Beispiel. Nehmen wir an, wir gehen von dem Glauben aus, es sei ein wissenschaftliches Gesetz, daß Wasser bei 100° Celsius kocht. So haben es die meisten von uns in der Schule gelernt. Diese Aussage wird durch keine noch so große Zahl von Einzelfällen, die sie bestätigen, bewiesen. Wir können sie aber prüfen, indem wir nach Umständen suchen, unter denen sie nicht gilt. Schon das regt uns dazu an, Faktoren in Betracht zu ziehen, an die unseres Wissens noch niemand gedacht hat. Wenn wir auch nur über ein wenig Vorstellungskraft verfügen, dann werden wir bald entdecken, daß Wasser in geschlossenen Gefäßen nicht bei 100° Celsius kocht. Was wir für ein wissenschaftliches Gesetz gehalten haben, war also gar keines. An diesem Punkt nun könnten wir den falschen Weg einschlagen und unsere ursprüngliche Aussage dadurch retten, daß wir ihren empirischen Gehalt folgendermaßen verengen: ‚Wasser kocht in
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offenen Gefäßen bei 100° Celsius’. Wir könnten uns dann nach einer systematischen Widerlegung dieser neuen Aussage umsehen. Und mit noch ein wenig mehr Vorstellungskraft würden wir hoch über dem Meeresspiegel fündig. Um unsere zweite Aussage zu retten, müßten wir wiederum ihren empirischen Gehalt verengen: ,Wasser kocht in offenen Gefäßen in Meereshöhe bei 100° Celsius’. Dann könnten wir die systematische Widerlegung unserer dritten Aussage in Angriff nehmen, und so weiter. Auf diese Weise, so sollte man meinen, läßt sich unser Wissen über den Siedepunkt des Wassers immer genauer festnageln. Aber durch die Formulierung einer Reihe von Aussagen mit immer geringerem empirischen Gehalt würden wir gerade die wichtigsten Aspekte der Situation verfehlen. Denn mit der Feststellung, daß Wasser in geschlossenen Gefäßen nicht bei 100° Celsius kocht, standen wir an der Schwelle der wichtigsten Art von Entdeckung, die es überhaupt gibt, nämlich der Entdeckung eines neuen Problems: ,Warum nicht?’ Es fordert uns dazu heraus, eine Hypothese vorzulegen, die gehaltvoller als unsere ursprüngliche, einfache Aussage ist – eine Hypothese, die erklärt, warum Wasser bei 100° Celsius in offenen Gefäßen kocht und warum es in geschlossenen Gefäßen bei dieser Temperatur nicht kocht. Je gehaltvoller aber die Hypothese ist, desto mehr sagt sie uns über die Beziehungen zwischen den beiden Situationen, und desto eher ermöglicht sie es uns, verschiedene Siedepunkte exakt zu berechnen. Mit anderen Worten: Wir verfügen jetzt über eine Formulierung, die nicht weniger empirischen Gehalt als unsere erste hat, sondern weit mehr. Unser nächster Schritt sollte es sein, systematisch nach einer Widerlegung dieser zweiten Formulierung zu suchen. Wenn wir dann beispielsweise feststellen, daß diese Hypothese zwar auf Meereshöhe für offene wie für geschlossene Gefäße gilt, daß sie aber bei geringerem Luftdruck versagt – dann müßten wir nach einer dritten, noch gehaltvolleren Hypothese suchen, die erklärt, warum die ersten beiden Hypothesen bis zu einem bestimmten Punkt brauchbar waren, dann aber versagt haben, und die es uns außerdem ermöglicht, auch die neue
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Situation zu erklären. Und dann müßten wir diese Hypothese testen. Aus jeder der Hypothesen, die wir nacheinander formuliert haben, könnten wir Folgerungen ableiten, die über das vorhandene Tatsachenmaterial hinausgehen – unsere Theorie, ob wahr oder falsch, würde uns mehr über die Welt sagen, als wir bereits wissen. Eine der Möglichkeiten, die Theorie zu prüfen, bestünde darin, ihre Konsequenzen mit neuen Beobachtungen zu konfrontieren. Die Feststellung, daß einiges von dem, was die Theorie besagt, nicht zutrifft, wäre eine neue Entdeckung: Sie würde unser Wissen vermehren und die Suche nach einer besseren Theorie einleiten. Soweit in nuce Poppers Ansicht vom Erkenntnisfortschritt. Dabei ist verschiedenes zu beachten. Hätten wir uns vorgenommen, unsere ursprüngliche Aussage, daß Wasser bei 100° Celsius kocht, zu ,verifizieren’ (durch die Ansammlung von Einzelfällen, die diese Aussage bestätigen), dann hätten wir ohne Schwierigkeit beliebig viele, Milliarden und Abelmilliarden, solcher Einzelfälle gefunden. Aber damit hätten wir weder die Wahrheit der Aussage bewiesen noch – und diese Erkenntnis dürfte erschreckend sein – die Wahrscheinlichkeit dafür erhöht, daß sie zutrifft. Und was am schlimmsten ist: Das bloße Sammeln von Einzelfällen, die unsere Aussage bestätigen, hätte uns nie einen Grund dafür geliefert, sie anzuzweifeln, geschweige denn, sie durch eine bessere zu ersetzen, und wir wären immer bei unserer ursprünglichen Aussage stehengeblieben. Unser Wissen hätte nie zugenommen – es sei denn, wir wären bei unserer Suche nach Bestätigungen unbeabsichtigt auf ein Gegenbeispiel gestoßen. Das wäre das beste gewesen, was uns hätte passieren können. (Gerade in diesem Sinne wurden so viele berühmte Entdeckungen in der Wissenschaft ,zufällig’ gemacht.) Denn das Wachstum unseres Wissens geht von Problemen aus und von unseren Versuchen, sie zu lösen. Bei diesen Lösungsversuchen werden Theorien vorgeschlagen. Diese müssen, wenn sie überhaupt mögliche Lösungen liefern sollen, über unser vorhandenes Wissen hinausgehen und daher von der Phantasie
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beflügelt sein. Je gewagter die Theorie ist, desto mehr sagt sie uns, und desto kühner ist auch der schöpferische Akt. (Gleichzeitig ist allerdings die Wahrscheinlichkeit größer, daß das, was uns die Theorie sagt, falsch ist, und wir sollten durch strenge Überprüfung herausfinden, ob es tatsächlich falsch ist.) Die meisten großen wissenschaftlichen Revolutionen sind von atemberaubend kühnen Theorien ausgegangen, für die nicht nur schöpferische Vorstellungskraft, sondern auch tiefe Einsicht, geistige Unabhängigkeit und gedanklicher Wagemut erforderlich waren. Wir sehen jetzt, warum für Popper das, was wir unser Wissen nennen, von Natur aus vorläufig bleibt, und zwar auf Dauer. Nie können wir beweisen, daß unser jetziges ,Wissen’ wahr ist, und immer besteht die Möglichkeit, daß es sich als falsch erweist. Wie die Geistesgeschichte der Menschheit lehrt, hat sich das meiste von dem, was man einmal ,wußte’, am Ende als unzutreffend erwiesen. Wer also versucht, was Wissenschaftler und Philosophen fast immer versucht haben: die Wahrheit einer Theorie zu beweisen oder unseren Glauben an eine Theorie zu rechtfertigen – der begeht einen grundlegenden Fehler, denn er versucht das logisch Unmögliche. Wir können aber etwas anderes tun, und das ist ungemein wichtig: Wir können begründen, warum wir die eine Theorie der anderen vorziehen. Bei unseren einzelnen Beispielen zum Siedepunkt des Wassers konnten wir nie zeigen, daß die jeweilige Theorie zutraf, wir konnten aber in jedem Stadium zeigen, daß sie der vorangegangenen Theorie überlegen war. Diese Situation ist für jede Wissenschaft charakteristisch, und zwar zu jedem Zeitpunkt. Die populäre Vorstellung, daß es sich bei den Wissenschaften um Ansammlungen gut begründeter Tatsachen handelt, ist völlig verfehlt. Nichts in der Wissenschaft ist auf Dauer begründet, nichts unwandelbar. Offensichtlich ändert sich die Wissenschaft laufend, und zwar nicht dadurch, daß neue Gewißheiten hinzukommen. Wenn wir rational handeln, dann stützen wir unsere Entscheidungen und Erwartungen immer auf unser ,bestes Wissen’ (wie man völlig zu
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Recht sagt) und nehmen für praktische Zwecke vorläufig an, daß dieses Wissen ,wahr’ ist – denn es bildet die am wenigsten unsichere Grundlage, über die wir verfügen. Wir müssen uns dabei aber immer vor Augen halten, daß die Erfahrung jederzeit unser Wissen als falsch erweisen und uns zwingen kann, es zu revidieren. Nach dieser Auffassung ist die Wahrheit eines Satzes – Popper versteht darunter (in Anlehnung an Tarski) seine Übereinstimmung mit den Tatsachen – eine regulative Idee. Ein Vergleich mit dem Begriff der Genauigkeit macht klar, was das bedeutet. Jede Messung in Zeit oder Raum ist nur mit einem bestimmten Genauigkeitsgrad möglich. Wenn wir ein sechs Millimeter langes Stahlstück bestellen, dann können wir es uns in genau dieser Länge anfertigen lassen – innerhalb des Toleranzbereichs, der sich mit den höchstentwickelten Maschinen erzielen läßt und heute Bruchteile eines millionstel Millimeters beträgt. Wo aber innerhalb dieses Toleranzbereichs die sechs Millimeter genau liegen, bleibt uns naturgemäß verborgen. Vielleicht ist unser Stahlstück tatsächlich genau sechs Millimeter lang, aber das können wir nicht wissen. Wir wissen lediglich, daß die Länge auf den und den Millimeterbruchteil genau ist und daß sie der erwünschten Länge näher kommt als alles, was meßbar länger oder meßbar kürzer ist. Die nächste Verbesserung der Werkzeugmaschinen liefert uns ein Stahlstück, dessen Länge sich mit Sicherheit in einem noch engeren Toleranzbereich bewegt. Und weitere Verbesserungen werden kommen. Doch der Begriff ,genau sechs Millimeter’ – überhaupt die Idee einer genauen Messung – überschreitet jede Erfahrung; es ist eine metaphysische Idee. Aber daraus folgt nicht, daß Messungen der Menschheit nicht großen, ja unschätzbaren Nutzen bringen oder daß Genauigkeit, weil absolut genommen völlig unerreichbar, bei Messungen keine Rolle spielt oder daß wir durch immer weitere Verbesserung der Genauigkeit keine Fortschritte erzielen können. Mit Poppers Begriff der ,Wahrheit’ verhält es sich ganz ähnlich: Beim Streben nach Wissen sind wir bemüht, uns immer mehr an die
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Wahrheit anzunähern. Wir können sogar wissen, daß ein Fortschritt erzielt wurde, aber es bleibt uns immer verborgen, ob wir unser Ziel erreicht haben. „Wir können die Wissenschaft nicht mit der Wahrheit identifizieren, denn wir sind der Meinung, daß Newtons Theorie wie Einsteins Theorie zur Wissenschaft gehört – aber diese Theorien können nicht beide wahr sein, und es ist auch gut möglich, daß sie beide falsch sind.“2 Ein Lieblingszitat Poppers stammt von dem Vorsokratiker Xenophanes, und er übersetzt es folgendermaßen: Nicht von Beginn an enthüllten die Götter den Sterblichen alles; Aber im Laufe der Zeit finden sie suchend das Bess’re. Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch und wird keiner erkennen Über die Götter und alle die Dinge, von denen ich spreche. Sollte einer auch einst die vollkommenste Wahrheit verkünden, Wissen könnt’ er das nicht: Es ist alles durchwebt von Vermutung. Poppers Sicht der Wissenschaft paßt genau zur Wissenschaftsgeschichte. Was ihm aber die stets hypothetische Natur wissenschaftlicher Erkenntnis vor Augen geführt hat, war die Herausforderung, die von Einstein kam und sich gegen Newton richtete. Die Newtonsche Physik war die erfolgreichste und bedeutsamste wissenschaftliche Theorie, die jemals vorgelegt und anerkannt wurde. Alles in der beobachtbaren Welt schien diese Theorie zu bestätigen. 2
Popper, in Modern British Philosophy, ed. Bryan Magee, 1971, S.78
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Mehr als zwei Jahrhunderte lang haben sich ihre Gesetze nicht nur in der Beobachtung bewährt, sondern auch im kreativen Gebrauch, denn sie wurden zum Fundament der westlichen Wissenschaft und Technik. Sie lieferten unglaublich exakte Vorhersagen über eine Vielzahl von Erscheinungen – von der Existenz neuer Planeten bis hin zur Bewegung der Gezeiten und zur Wirkungsweise von Maschinen. Wenn es überhaupt so etwas wie Wissen gab, dann hier, und zwar das sicherste und bestimmteste Wissen, das sich der Mensch jemals über seine physikalische Umwelt verschafft hatte. Wären überhaupt jemals wissenschaftliche Gesetze induktiv als Naturgesetze verifiziert worden, dann diese, und zwar durch ungezählte Milliarden von Beobachtungen und Experimenten. Ganze Generationen von Menschen im Westen hatten gelernt, daß Newtons Gesetze definitive, unerschütterliche Tatsachen sind. Und nun legte Einstein zu Beginn unseres Jahrhunderts eine ganz andere Theorie vor. Die Meinungen darüber, ob Einsteins Theorie zutrifft, waren geteilt, aber unbestreitbar blieb, daß sie ernsthafte Aufmerksamkeit verdiente und daß sie den Anspruch erhob, in ihrem Anwendungbereich über die Theorie Newtons hinauszugehen. Und das ist der entscheidende Punkt. Alle Beobachtungsergebnisse, die mit Newtons Theorie vereinbar waren (und einige, über die sie nichts sagte), waren auch mit Einsteins Theorie vereinbar. (Tatsächlich kann man mit Hilfe der Logik zeigen – und Leibniz hat das vor langer Zeit getan – daß sich jede endliche Anzahl von Beobachtungen mit einer unendlich großen Anzahl von verschiedenen Erklärungen in Einklang bringen läßt.) Die Welt war einfach im Irrtum, als sie glaubte, daß all das ungeheuere Tatsachenmaterial Newtons Theorie beweise. Und doch hatte diese Theorie die Grundlage einer ganzen Kulturepoche mit einem bis dahin unerreichten materiellen Erfolg gebildet. Wenn die Wahrheit einer Theorie nicht durch diese vielen Verifikationen und induktiven Belege zu beweisen war – wodurch dann? Popper wurde klar, daß die Wahrheit einer Theorie unbeweisbar ist. Er sah ein, daß man sich niemals auf eine Theorie als die endgültige Wahrheit verlassen
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darf. Wir können höchstens sagen, daß eine bestimmte Theorie bisher durch jede Beobachtung bestätigt wurde und daß sie mehr, und genauere, Vorhersagen liefert als jede andere. Es wird aber immer noch möglich sein, sie durch eine bessere Theorie zu ersetzen. Wenn Newtons Theorie nicht ein System von Wahrheiten ist, die der Welt innewohnen und die der Mensch aus Beobachtungen der Realität abgeleitet hat – woher stammt sie dann? Die Antwort lautet, daß sie eben von Newton stammt.3 Sie ist eine Hypothese, die ein Mensch aufgestellt hatte und die mit allen damals bekannten Tatsachen vereinbar war. Die Physiker hätten aus ihr weiter Folgerungen ableiten, mit ihnen arbeiten und sich auf sie verlassen können – so lange, bis sie dabei in nicht länger hinnehmbare Schwierigkeiten geraten wären. Die neue Theorie trat jedoch in Erscheinung, bevor es soweit gekommen war, und in der alten Theorie hatte es immer einige Unregelmäßigkeiten gegeben. Eine Theorie mag, wie die Euklidische Geometrie oder die Aristotelische Logik, mehr als zweitausend Jahre lang als objektive Erkenntnis akzeptiert worden und während dieser Zeit fast unbegrenzt fruchtbar und nützlich gewesen sein – und doch kann sie schließlich als in irgend einer Hinsicht unzulänglich befunden und durch eine bessere Theorie ersetzt werden. Wir verfügen jetzt über eine Alternative, die nach Ansicht der meisten Physiker der Theorie Newtons überlegen ist. Aber wir sind damit noch nicht im Besitz der endgültigen Wahrheit. Einstein selbst sah seine Theorie als unvollständig an und verbrachte die zweite Hälfte seines Lebens mit dem Versuch, eine bessere zu finden. Es ist zu erwarten, daß eines Tages eine Theorie vorgelegt wird, die Einsteins Theorie genau so umfaßt und erklärt, wie Einsteins Theorie die Newtons umfaßt und erklärt. Derartige Theorien sind nicht Ansammlungen unpersönlicher 3
Oder vielmehr, folgt man Popper, aus der Wechselwirkung zwischen Newton und Welt 3. Was damit gemeint ist, wird in Kapitel 4 deutlich.
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Fakten über die Welt, sondern Erzeugnisse des menschlichen Geistes. Das macht sie zu hochrangigen, bewundernswerten persönlichen Leistungen. Die wissenschaftliche Schöpfung ist nicht im gleichen Sinne frei wie die künstlerische, denn sie muß eine eingehende Konfrontation mit der Erfahrung überstehen. Trotzdem ist der Versuch, die Welt zu begreifen, eine Aufgabe, die dem Wissenschaftler weiten Raum läßt, und als schöpferische Genies stehen Galileo, Newton oder Einstein auf gleicher Stufe wie Michelangelo, Shakespeare oder Beethoven. Popper ist sich dieser Tatsache bewußt und sieht sie mit Erstaunen, wie sein gesamtes Werk zeigt. Seine Theorie betrifft aber – und das muß man sich klarmachen – die Logik und die Geschichte der Wissenschaft und nicht die Wissenschaftspsychologie. Popper ist so wenig wie jeder andere Wissenschaftstheoretiker in der Vorstellung befangen, die Wissenschaftler seien der Meinung, sie verhielten sich seiner Beschreibung entsprechend. Wichtig ist vielmehr, daß Popper – ob es die Wissenschaftler zur Kenntnis nehmen oder nicht – das Grundprinzip ihres Handelns beschreibt und erklärt, wie sich das menschliche Wissen entwickelt. Was im Verstand eines Wissenschaftlers vorgeht, kann für ihn selbst interessant sein, für seine Bekannten, für seinen Biographen oder für Leute, die sich mit bestimmten Aspekten der Psychologie befassen – aber für die Beurteilung seiner Arbeit ist es unmaßgeblich. Wäre ich Wissenschaftler und würde eine wissenschaftliche Theorie veröffentlichen, dann würde sich die Welt nicht für mein subjektives Ich interessieren, sondern für meine objektive Theorie. Was besagt sie? Ist sie in sich konsistent? Wenn ja, ist sie wirklich empirisch, oder ist sie tautologisch? Wie steht sie da, verglichen mit anderen, bereits gut getesteten, Theorien? Sagt sie mehr aus als diese Theorien? Wie läßt sie sich prüfen? Und so weiter. Man wird die Theorie auf bestimmte Aspekte der Realität anwenden und aus ihr auf deduktivem Wege logische Konsequenzen in Gestalt von singulären Sätzen ableiten, die durch Beobachtung und Experiment prüfbar sind. (Ich kann das tun, genauso gut aber auch ein anderer.)
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Wir werden die Theorie als desto besser bewährt ansehen, je besser sie derartige Tests und Vergleiche mit anderen Theorien besteht. Drei Punkte verdienen bei diesem Prozeß besondere Beachtung. Erstens ist es für den wissenschaftlichen oder logischen Status der Theorie unmaßgeblich, auf welchem Wege ich zu ihr gelangt bin. Zweitens haben die fraglichen Beobachtungen und Experimente nicht etwa zur Aufstellung der Theorie geführt, sondern sie leiten sich teilweise aus ihr her, und sie sind dazu bestimmt, die Theorie zu testen. Drittens kommt nirgends die Induktion ins Spiel. Das Induktionsproblem ergab sich aus der traditionellen Auffassung von unserer Art zu denken und von der wissenschaftlichen Methode. Diese Auffassung aber war völlig verfehlt und läßt sich, wie hier geschehen, durch eine bessere ersetzen, in deren Rahmen kein Induktionsproblem mehr auftritt. Laut Popper brauchen wir den Induktionsbegriff gar nicht, er ist überflüssig, ein Märchen. Es gibt so etwas gar nicht. Ein Kritiker könnte einwenden, daß Popper gerade den Vorgang nicht berücksichtigt hat, bei dem die Induktion auftritt, nämlich den Vorgang der Theoriebildung. Selbst wenn, so mag unser Kritiker sagen, aus einzelnen Beobachtungen keine allgemeine Theorie folgen kann, so mögen diese Beobachtungen doch eine allgemeine Theorie nahelegen, besonders einem Wissenschaftler, der über Einsicht und Vorstellungskraft verfügt. Deshalb können Theorien durch Verallgemeinerungen von einzelnen Beobachtungen zustande kommen, und sie kommen auch tatsächlich so zustande. Zugegeben, so mag er sagen, vom Einzelnen zum Allgemeinen ist es immer ein ,Sprung’, aber der Vorgang ist nicht rein zufällig oder irrational – er gehorcht einer bestimmten Logik, und das nennen wir Induktion. Poppers Antwort lautet folgendermaßen: Eben weil es wissenschaftlich oder logisch bedeutungslos ist, wie eine Theorie zustande kommt, ist kein Weg unzulässig, und deshalb ist es gut möglich, daß man auf dem beschriebenen Wege zu völlig einwandfreien Theorien gelangt. Der Kritiker beschreibt jedoch einen psychologischen
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Prozeß, keinen logischen. Und in der Tat hat das ganze Induktionsproblem seine Wurzel darin, daß man nicht zwischen Logik und Psychologie unterscheidet. Uns liegen Berichte von Wissenschaftlern vor, die auf unterschiedlichste Art zu Theorien gelangt sind: in Träumen oder traumähnlichen Zuständen, durch blitzartige Inspiration und sogar infolge von Mißverständnissen und Fehlern. Wenn man der Sache nachgeht und sich mit der Geschichte der Wissenschaft befaßt, dann bleibt kein Zweifel daran, daß die meisten Theorien nicht auf solchen Wegen und auch nicht durch Verallgemeinerung experimenteller Beobachtungen zustande kommen, sondern durch die Modifizierung bereits vorhandener Theorien. Eine Logik der Schöpfung kann es in der Wissenschaft genauso wenig geben wie in der Kunst. „Unsere Auffassung (von der die Ergebnisse unserer Untersuchung jedoch unabhängig sind), daß es eine logische, rational nachkonstruierbare Methode, etwas Neues zu entdecken, nicht gibt, pflegt man oft dadurch auszudrücken, daß man sagt, jede Entdeckung enthalte ein ,irrationales Moment’, sei eine ,schöpferische Intuition’ (im Sinne Bergsons); ähnlich spricht Einstein über ,... das Aufsuchen jener allgemeinsten ... Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das Weltbild zu gewinnen ist. Zu diesen ... Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition.’“4 In einem Brief an Popper, der im Anhang zur Logik der Forschung abgedruckt ist, betont Einstein ausdrücklich, er sei wie Popper der Ansicht, „daß Theorie nicht aus Beobachtungsresultaten fabriziert, sondern nur erfunden werden kann“. Mehr noch – die Beobachtung kann der Theorie überhaupt nicht vorangehen, denn jede Beobachtung setzt irgendeine Theorie voraus. Daß das nicht erkannt wurde, ist, so Popper, die Schwachstelle im Fundament der empiristischen Tradition. „Auch heute ist der Glaube, daß der Weg der Wissenschaft von Beobachtungen zur Theorie führt, 4
Logik der Forschung, S. 7
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noch so weitverbreitet und so fest, daß ich oft auf Unglauben stoße, wenn ich ihm entgegentrete. ... Aber in Wirklichkeit ist der Glaube, daß man ohne Zuhilfenahme einer Theorie oder dergleichen nur von Beobachtungen ausgehen könne, absurd. Wir können uns das anhand der Geschichte von dem Mann klarmachen, der sein Leben der Naturwissenschaft weihte, alles niederschrieb, was er nur beobachten konnte, und dann seine unschätzbare Sammlung von Aufzeichnungen der Royal Society vermachte, damit sie als induktives Beweismaterial verwertet werden könnte. ... Vor etwa fünfundzwanzig Jahren suchte ich dieselbe Sache einer Gruppe von Physikstudenten in Wien klarzumachen, indem ich meinen Vortrag mit der Anweisung begann: ,Nehmen Sie Bleistift und Papier zur Hand, beobachten Sie sorgfältig, und schreiben Sie auf, was Sie beobachtet haben!’ Natürlich wollten Sie wissen, was sie beobachten sollten. Die Anweisung ,Beobachten Sie!’ ist klarerweise absurd. ... Beobachtung ohne Auswahl gibt es nicht. Ihre Voraussetzung ist ein bestimmtes Objekt, eine begrenzte Aufgabe, ein Interesse, ein Standpunkt, ein Problem. Und die Beschreibung von Beobachtungen setzt eine zur Beschreibung geeignete Sprache voraus, mit Wörtern, die Eigenschaften ausdrücken. Sie setzt daher auch Ähnlichkeit und Klassifikation voraus, und das wieder ist nicht möglich ohne Interessen, Standpunkte und Probleme.“5 Das bedeutet, „daß Beobachtungen und erst recht Sätze über Beobachtungen und über Versuchsergebnisse immer Interpretationen der beobachteten Tatsachen sind und daß sie Interpretationen im Lichte von Theorien sind.“6 Unser Wissen kann also auf jeder Stufe nur aus unseren Theorien bestehen. Und unsere Theorien sind die Erzeugnisse unseres Geistes. Nicht einmal die Begriffe, mit denen wir denken, sind uns (wie Empiriker von Locke und Hume an bis auf den heutigen Tag glauben) von außen durch objektive Regelmäßigkeiten in unserer Umwelt 5 6
Vermutungen und Widerlegungen, Kap. 1, Abschn.V Logik der Forschung, S. 72, Fußn. *2
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,gegeben’ – sondern wir haben sie als Antwort auf unsere eigenen Probleme, Interessen und Ansichten entwickelt: Unsere Begriffe finden wir nicht, sondern wir schaffen sie uns, genau wie unser Wissen. Aber bei einem Begriff kann man nicht, wie bei einer Theorie, nach Wahrheit oder Falschheit fragen, und bei Begriffen führt die Frage ,Was ist ...?’ (,Was ist Leben?’; ,Was ist Geist?’) zu unfruchtbarer Analyse und Wortklauberei. (Mehr darüber im nächsten Kapitel.) Deshalb sollten wir Begriffserläuterungen vermeiden und statt dessen lieber Theorien prüfen. Und das „Problem ,Was war zuerst da, die Hypothese (H) oder die Beobachtung (B) ?’ ist ebenso lösbar wie das alte Problem: ,Was war zuerst da: die Henne (H) oder das Ei (B) ?’ Die Antwort auf diese zweite Frage ist: ,Ein früheres Ei’, auf die erste: ,Eine frühere Hypothese’. Es ist durchaus richtig, daß jeder Hypothese, die wir betrachten, Beobachtungen vorausgegangen sein werden – unter anderem die Beobachtungen, zu deren Erklärung sie aufgestellt wurde. Aber diese Beobachtungen setzen ihrerseits die Annahme eines Bezugsrahmens voraus, eines Rahmens von Erwartungen, von Theorien. Wenn die Beobachtungen interessant waren, nach einer Erklärung verlangten und so zur Aufstellung einer neuen Hypothese führten, so muß der Grund darin liegen, daß man sie innerhalb des alten theoretischen Rahmens, des alten Erwartungshorizonts, nicht erklären konnte. Die Gefahr eines unendlichen Regresses besteht hier nicht. Wenn wir immer weiter zurückgreifen, auf immer primitivere Theorien und Mythen, werden wir am Ende zu unbewußten, angeborenen Erwartungen gelangen.“7 An dieser Stelle mündet Poppers Erkenntnistheorie also in eine Evolutionstheorie ein. Wir kommen darauf in Kapitel 4 wieder zurück.
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Vermutungen und Widerlegungen, Kap. 1, Abschn.V
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3. Das Kriterium der Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft Nach der (wie ich sie genannt habe) traditionellen Auffassung unterscheidet sich die Wissenschaft von der Nichtwissenschaft dadurch, daß sie die induktive Methode verwendet. Wenn es jedoch so etwas wie Induktion gar nicht gibt, dann kann dies nicht das Abgrenzungskriterium sein. Was aber kommt dann als Abgrenzungskriterium in Betracht? Zu Poppers Antwort auf diese Frage kann man unter anderem dadurch gelangen, daß man sich den Unterschied zwischen der traditionellen Auffassung und der Auffassung klarmacht, die Popper an ihre Stelle gesetzt hat. Der traditionellen, induktivistischen Auffassung zufolge suchen Wissenschaftler Aussagen über die Welt, denen angesichts des Tatsachenmaterials der maximale Wahrscheinlichkeitsgrad zukommt. Popper bestreitet das. Jeder Narr, so führt er aus, kann eine unbegrenzte Anzahl von Vorhersagen mit einer Wahrscheinlichkeit von fast gleich Eins abgeben: Behauptungen wie ,Es wird regnen’ sind praktisch zwangsläufig wahr und nie widerlegbar – nie, denn selbst wenn viele Millionen Jahre ohne einen Tropfen Regen vergehen, kann es noch immer wahr bleiben, daß es eines Tages regnen wird. Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Aussage zutrifft, ist maximal, weil ihr Informationsgehalt minimal ist. In der Tat gibt es wahre Aussagen, deren Wahrscheinlichkeit gleich Eins und deren Informationsgehalt gleich Null ist, nämlich die Tautologien. Sie sagen uns gar nichts über die Welt, weil sie unabhängig von der Sachlage notwendig wahr sind. Wenn wir die Aussage in unserem Beispiel dadurch falsifizierbar machen wollen, daß wir sie auf eine endliche Zeitspanne begrenzen (,Irgendwann im nächsten Jahr wird es regnen’), dann könnte sie sich zwar im Prinzip als falsch erweisen, ist aber praktisch immer noch zwangsläufig wahr. Sie bleibt also nutzlos. Wenn wir den Gehalt
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unserer Aussage weiter erhöhen und sie zum Beispiel auf eine bestimmte Gegend beschränken (,Irgendwann im nächsten Jahr wird es in England regnen’), dann fangen wir endlich an, etwas zu sagen, denn es gibt auf der Erde so manche Stelle, wo es im nächsten Jahr nicht regnen wird. Jetzt wird zum ersten Mal eine nützliche Information vermittelt. Je bestimmter wir unsere Aussage gestalten – wir können sie immer mehr einengen: ,In der nächsten Woche wird es in England regnen’, ,In der nächsten Woche wird es in London regnen’, und so weiter – desto wahrscheinlicher ist es, daß sie sich als unzutreffend erweist. Gleichzeitig aber wird unsere Aussage immer informativer und, falls sie wahr ist, nützlicher – bis wir zu Aussagen gelangen wie ,Heute nachmittag wird es in der Londoner Innenstadt regnen’, die (an einem wolkenlosen Sommertag um die Mittagszeit) ganz bestimmt nicht auf der Hand liegen und deren praktischer Nutzen unbestreitbar ist. Wir sind also an Aussagen mit hohem Informationsgehalt interessiert, wobei die Gesamtheit der nichttautologischen Behauptungen, die sich aus diesen Aussagen ableiten lassen, ihren Informationsgehalt ausmacht. Je höher jedoch der Informationsgehalt einer Aussage, desto unwahrscheinlicher ist sie nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Je mehr Information nämlich eine Aussage enthält, desto mehr Möglichkeiten gibt es dafür, daß sie falsch ist. Genau wie jeder Narr Aussagen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit formulieren kann, die uns praktisch nichts sagen, so kann jeder Narr auch Aussagen mit sehr hohem Informationsgehalt formulieren, wenn er sich nicht darum kümmert, ob sie falsch sind. Was wir brauchen, sind Aussagen mit hohem Informationsgehalt und deshalb geringer Wahrscheinlichkeit, die trotzdem der Wahrheit nahekommen. Und genau für solche Aussagen interessieren sich die Wissenschaftler. Der Umstand, daß sie in hohem Grade falsifizierbar sind, macht sie auch in hohem Grade prüfbar: Der Informationsgehalt einer Aussage ist ihrer Wahrscheinlichkeit umgekehrt und ihrer Prüfbarkeit direkt proportional. Eine vollständige, eindeutige und genaue Beschreibung der Welt
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wäre die wahre Aussage mit dem maximalen Informationsgehalt, und jede mögliche Beobachtung oder Erfahrung würde für sie einen Test, eine potentielle Falsifikation darstellen. Eine derartige Aussage träfe nur mit einer Wahrscheinlichkeit zu, die unvorstellbar nahe bei Null liegt, denn Möglichkeiten dafür, daß es in der Welt anders aussieht, gäbe es denkbar viele. „Was die Wissenschaft uns enthüllt, das sind keine Binsenwahrheiten. Es gehört vielmehr zur Größe und Schönheit der Wissenschaft, daß wir durch unsere eigene kritische Forschung lernen können, daß die Welt ganz anders ist, als wir sie uns vorstellten – bevor unsere Vorstellungskraft durch die Widerlegung unserer früheren Theorien angespornt wurde.“1 Ein Gefühl der Ehrfurcht vor der Wissenschaft und der Welt, die durch sie enthüllt wird, findet sich sogar in Poppers politischen Schriften. In Das Elend des Historizismus sagt Popper, daß die Wissenschaft „eines der größten geistigen Abenteuer ist, die der Mensch bisher kennt“.2 Hier kommt so etwas wie eine religiöse Haltung zum Ausdruck, obwohl Popper vielleicht nicht im üblichen Sinne religiös ist. Schließlich gehen die meisten religiösen Systeme von der Auffassung aus, daß hinter der Welt der Erscheinungen, hinter der Alltagswelt des gesunden Menschenverstandes und der üblichen Beobachtungen und Erfahrungen, die der Mensch macht, eine Wirklichkeit höherer Ordnung steht, die die Welt trägt und unseren Sinnen offenbart. Und genau so ist die Realität beschaffen, die von der Wissenschaft enthüllt wird: eine Welt der unbeobachtbaren Entitäten und unsichtbaren Kräfte, Wellen, Partikeln, Zellen, in der alles ineinandergreift und in der eine Ordnung waltet, die unser Fassungsvermögen übersteigt. Der Mensch hat wohl schon immer Blumen betrachtet und war von ihrer Schönheit und ihrem Geruch bewegt – aber erst seit dem letzten Jahrhundert kann man in dem 1 2
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Bewußtsein nach einer Blume greifen, daß man ein Gebilde aus organischen Bestandteilen in die Hand nimmt, bei dem sich Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Phosphor und viele andere Elemente zu einer komplexen Einheit von Zellen verbinden, die alle aus einer einzigen Zelle hervorgegangen sind; kann man um den Aufbau dieser Zellen und um die Vorgänge bei ihrer Entwicklung wissen, um die genetischen Prozesse, durch die diese Blume entstanden ist und durch die sie andere Blumen hervorbringt; kann man im einzelnen wissen, wie das Licht von der Blume ins Auge gelangt, und im Detail die Funktionen des Auges, der Nase und des neurophysiologischen Systems kennen, die es uns erlauben, die Blume zu sehen, zu schmecken und zu spüren. Diese unausschöpfiichen und fast unglaublichen Wirklichkeiten um uns und in uns sind noch nicht sehr lange entdeckt und werden weiter erforscht, und nach wie vor kommt es zu ähnlich bedeutsamen Neuentdeckungen. Und wir stehen vor unendlichen Möglichkeiten solcher Entdeckungen, die weit in die Zukunft reichen und von denen der Mensch bis fast in unsere Zeit hinein nicht einmal zu träumen wagte. Poppers theoretische Methodologie ist erfüllt von einem allgegenwärtigen, lebhaften Gespür für all dies und auch dafür, daß uns jede Entdeckung neue Probleme eröffnet. Popper weiß, daß unser Nichtwissen mit unserem Wissen wächst und daß wir deshalb immer über mehr Fragen als Antworten verfügen werden. Er weiß, daß interessante Wahrheiten aus völlig unwahrscheinlichen Behauptungen bestehen, die man sich ohne eine selten kühne Vorstellungskraft nicht einmal auszudenken vermag. Und er weiß, daß solche gewagten Hypothesen viel eher falsch als richtig und so lange nicht einmal vorläufig akzeptabel sind, als wir keinen ernsthaften Versuch unternommen haben, herauszufinden, was mit ihnen nicht in Ordnung sein könnte. Andererseits weiß Popper auch: Wenn wir bei jeder Begegnung mit einem Problem die wahrscheinlichste Erklärung heranziehen, dann wird das immer die adhoc-Erklärung sein, die am wenigsten über das vorhandene Tat-
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sachenmaterial hinausgeht und die daher am kürzesten greift. Kühnere Theoriebildung bringt uns zwar weiter, wenn sich die betreffende Theorie als richtig erweist – wahrscheinlicher aber ist, daß sich ihre Falschheit herausstellt. Doch davor brauchen wir keine Angst zu haben: „Der Ehrgeiz, recht zu behalten, verrät ein Mißverständnis“.3 Auf den Wissenschaftler kann diese Erkenntnis eine von Sir John Eccles treffend beschriebene befreiende Wirkung haben: „Der irrige Glaube, daß die Wissenschaft letzten Endes die Gewißheit einer endgültigen Erklärung liefern wird, birgt die Folgerung in sich, daß es ein schweres wissenschaftliches Vergehen ist, eine Hypothese veröffentlicht zu haben, die sich letzten Endes als falsch erweist. Daher sind Wissenschaftler oft nicht geneigt, die Widerlegung einer solchen Hypothese zuzugeben, und ihr Leben mag mit dem Versuch vergeudet werden, das nicht mehr Mögliche zu verteidigen. Hingegen ist laut Popper die teilweise oder ganze Widerlegung das vorausgeahnte Schicksal für alle Hypothesen, und wir sollen uns sogar über die Widerlegung einer Hypothese freuen, die unsere Lieblingsidee darstellte. Man verliert auf diese Weise Angst und Gewissensbisse, und die Wissenschaft wird zum atemberaubenden Abenteuer, bei dem Vorstellungskraft und Phantasie zu Begriffsentwicklungen führen, die in ihrer Allgemeingültigkeit und ihrem Ausmaß die experimentellen Beweise überschreiten. Die präzise Formulierung ideenreicher Einblicke in Hypothesen öffnet den Weg für härteste Prüfungen durch Experimente, wobei immer erwartet werden muß, daß die Hypothese sich als falsch erweist und ganz oder teilweise durch eine andere Hypothese mit größerer erklärender Macht ersetzt werden muß.“4 Diese befreiende Wirkung beschränkt sich nicht auf Wissenschaftler. Der Gedanke, daß wir uns nur dann verbessern können, wenn wir Verbesserungsmöglichkeiten aufspüren und dann auch realisieren; daß 3 4
Logik der Forschung, S. 225 J.C. Eccles, Wahrheit und Wirklichkeit, S. 146f.
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wir deshalb Mängel nicht verstecken oder übergehen, sondern aktiv suchen sollen; daß wir kritische Bemerkungen von seiten anderer als unschätzbare Hilfe begrüßen sollen, anstatt sie übelzunehmen – dieser Gedanke wirkt auf uns alle ungemein befreiend, und zwar bei unserem gesamten Tun. Verbesserung setzt Kritik voraus. Wir sind allerdings daran gewöhnt, Kritik übelzunehmen, und erwarten, daß Kritik übelgenommen wird – weshalb wir eigene und fremde Fehler lieber schweigend übergehen. Es mag also schwierig sein, jemanden dazu zu bringen, daß er Kritik äußert. Aber wer uns zeigt, was an unserem Denken und Handeln falsch ist, tut uns den denkbar größten Gefallen; und je größer der Fehler, desto größer die Verbesserung, die durch seine Aufdeckung ermöglicht wird. Wer Kritik begrüßt und sich nach ihr richtet, wird sie fast höher einschätzen als Freundschaft; wer Kritik aus Sorge um die Erhaltung seiner Position bekämpft, verurteilt sich selbst zum Stillstand. Käme Poppers Einstellung zur Kritik in unserer Gesellschaft zum Tragen, dann wäre hierin eine Revolution der sozialen Beziehungen und vor allem der organisatorischen Praxis zu sehen. Wir gehen darauf noch ein. Aber um auf den Wissenschaftler zurückzukommen: Seine kritische Suche nach immer besseren Theorien führt zu hohen Ansprüchen an jede Theorie, die er zu formulieren bereit ist. In erster Linie muß eine Theorie eine Lösung für ein Problem liefern, das uns interessiert. Aber sie muß auch mit allen bekannten Beobachtungen vereinbar sein und die einschlägigen früheren Theorien als erste Annäherungen enthalten. Sie muß ihnen jedoch in den Punkten widersprechen, in denen sie versagt haben, und sie muß eine Erklärung für ihr Versagen liefern. (So erklärt sich, nebenbei bemerkt, die Kontinuität der Wissenschaft.) Wenn in einer Problemsituation mehrere Theorien vorgelegt werden, die allen diesen Ansprüchen genügen, dann müssen wir versuchen, uns für eine von ihnen zu entscheiden. Daß Unterschiede zwischen den Theorien bestehen, mag bedeuten, daß sich aus einer von ihnen prüfbare Behauptungen ableiten lassen, die aus der anderen nicht
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ableitbar sind. In diesem Falle kann die Frage, welcher Theorie der Vorzug gebührt, empirisch entscheidbar sein. Unter sonst gleichen Bedingungen werden wir, nach entsprechender Prüfung, immer der Theorie mit dem höheren Informationsgehalt den Vorzug geben – weil sie besser geprüft wurde und weil sie uns mehr sagt. Eine solche Theorie hat sich nicht nur besser bewährt, sondern sie ist auch nützlicher. „Unter dem Bewährungsgrad einer Theorie verstehe ich einen konzentrierten Bericht, der (zu einem bestimmten Zeitpunkt) den Stand der kritischen Diskussion einer Theorie hinsichtlich folgender Punkte bewertet: wie die Theorie ihre Probleme löst; der Grad ihrer Prüfbarkeit; die Strenge der Prüfungen, der sie unterzogen wurde; und wie sie diese Prüfungen bestanden hat. Bewährung(sgrad) ist also ein bewertender Bericht über die bisherigen Leistungen. Wie die Bevorzugung ist die Bewährung wesentlich komparativ: Im allgemeinen kann man nur sagen, eine Theorie A habe einen höheren (oder niedrigeren) Bewährungsgrad als eine konkurrierende Theorie B im Lichte der kritischen Diskussion – zu der Prüfungen gehören – bis zu einem Zeitpunkt t.“5 Stehen also verschiedene Theorien im Wettbewerb, so liefert uns immer diejenige Theorie die besten Ergebnisse, die am besten bewährt ist und den höchsten Informationsgehalt aufweist – und diese Theorie setzt sich deshalb durch oder sollte sich durchsetzen. Man hat darauf hingewiesen, daß die überwältigende Mehrheit der Wissenschaftler überhaupt nie versucht, die herrschende Lehre umzustürzen, sondern daß sie sich mit ihrer Arbeit im Rahmen dieser Lehre bewegt und dabei zufrieden ist. Diese Wissenschaftler führen keine Neuerungen ein, und sie müssen selten zwischen Theorien wählen, die miteinander im Wettbewerb stehen. Ihre Tätigkeit besteht darin, anerkannte Theorien anzuwenden. (Hierfür hat sich der Ausdruck ,normale Wissenschaft’ eingebürgert, den Thomas S. Kuhn in
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Objektive Erkenntnis, S. 18
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Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen6 in diesem Sinne verwendet.) Der Hinweis ist meiner Ansicht nach berechtigt, spricht aber nicht gegen Popper. Es trifft zu, daß sich Poppers Schriften in etwas erhabener Exklusivität auf die bahnbrechenden Genies der Wissenschaft beschränken, deren Tun Popper mit seinen Theorien ganz offensichtlich gerecht wird. Und es trifft auch zu, daß die meisten Wissenschaftler Theorien, die nur von wenigen Kollegen bestritten werden, als erwiesen ansehen, um auf einer niedrigeren Stufe Probleme lösen zu können. Es zeigt sich jedoch, daß auch hier Poppers Ansatz greift, der ja gerade eine Logik der Problemlösung liefert. Popper hat sich immer in erster Linie mit Entdeckungen und Neuerungen und deshalb mit der Prüfung von Theorien und mit dem Wachstum des Wissens befaßt; Kuhn dagegen fragt danach, wie die Menschen, die diese Theorien und dieses Wissen anwenden, bei ihrer Arbeit vorgehen. Popper hat immer sorgfältig die (bereits erwähnte) Unterscheidung zwischen der Logik des wissenschaftlichen Handelns und seiner Psychologie, Soziologie usw. gewahrt; was Kuhn liefert, ist eine soziologische Theorie über die Arbeit von Wissenschaftlern in unserer Gesellschaft. Diese Theorie ist mit Poppers Ansicht durchaus vereinbar, und außerdem hat Kuhn sie seit der ersten Formulierung erheblich in Richtung auf Poppers Auffassung abgewandelt. Leser, die sich näher mit dieser Frage befassen möchten, seien auf das Symposium Kritik und Erkenntnisfortschritt verwiesen.7 Wenn wir, wie jetzt, über die Verwendung von Theorien reden, dann stellt sich die Frage nach ihrem Wahrheitsgehalt. Mit diesem Ausdruck bezeichnet Popper die Klasse der wahren Aussagen, die aus einer Theorie folgen. Man muß sich klarmachen, daß allen empirischen Aussagen, einschließlich der falschen, Wahrheitsgehalt zukommt. Nehmen wir beispielsweise an, 6 7
2., rev. u. erg. Aufl. 1976 – The Structure of Scientific Revolutions, 2nd ed. 1970 Hrsg. v. Imre Lakatos und Alan E. Musgrave, 1974 – Criticism and the Growth of Knowledge, 1970
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heute sei Montag. Dann ist die Aussage ,Heute ist Dienstag’ falsch. Doch aus dieser falschen Aussage folgen die Aussagen ,Heute ist nicht Mittwoch’, ,Heute ist nicht Donnerstag’ und viele andere wahre Aussagen. Tatsächlich sind eine unbeschränkte Anzahl anderer Aussagen wahr, die aus unserer falschen Aussage folgen, zum Beispiel: ,Das französische Wort für diesen Wochentag besteht aus fünf Buchstaben’ oder ,Heute ist nicht verkaufsoffener Samstag’. Jede falsche Aussage hat eine unbeschränkte Anzahl wahrer Konsequenzen – und deshalb kann man bei einer Diskussion die Schlüsse des Gegners nicht dadurch widerlegen, daß man seine Prämissen entkräftet. Wichtiger in unserem Zusammenhang ist, daß aus diesem Grunde eine wissenschaftliche Theorie, die nicht wahr ist, viele wahre Schlüsse erlaubt – möglicherweise mehr als ihre Vorgänger – und deshalb äußerst bedeutsam und nützlich sein kann. Natürlich wird der Wahrheitsgehalt einer beliebigen Theorie zum größten Teil entweder trivial oder für unseren jeweiligen Zweck unbrauchbar sein – offensichtlich kommt es auf den sachdienlichen oder nützlichen Wahrheitsgehalt an. Aber der kann einer falschen Aussage sogar in höherem Maße zukommen als einer richtigen. Nehmen wir an, es sei jetzt eine Minute vor Zwölf. Dann ist die Aussage ,Es ist jetzt genau zwölf Uhr’ falsch. Aber für fast jeden denkbaren Zweck hat diese falsche Aussage mehr sachdienlichen und nützlichen Wahrheitsgehalt als die wahre Aussage ,Es ist jetzt zwischen zehn Uhr morgens und vier Uhr nachmittags’. In der Wissenschaft verhält es sich nicht anders: Für die meisten Zwecke ist uns mit einer klaren Aussage, die nicht ganz zutrifft, mehr gedient als mit einer Aussage, die wahr aber unbestimmt ist. Ich will damit natürlich nicht sagen, daß wir uns mit falschen Aussagen zufriedengeben sollten. Aber üblicherweise müssen Wissenschaftler mit einer Theorie arbeiten, von der sie wissen, daß sie fehlerhaft ist, weil vorläufig keine bessere Theorie zur Verfügung steht. Wie bereits erwähnt, empfiehlt Popper, daß wir unsere Theorien so klar wie möglich formulieren, um sie ganz unzweideutig der Wider-
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legung auszusetzen. Und auf methodologischer Ebene sollten wir Popper zufolge nicht laufend unsere Theorie oder unser Beweismaterial neu formulieren, um beide in Übereinstimmung zu halten und dadurch systematisch einer Widerlegung auszuweichen.8 Genau das aber tun viele Marxisten und viele Psychoanalytiker. Sie ersetzen dabei Wissenschaft durch Dogmatismus, während sie doch Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Eine wissenschaftliche Theorie ist nicht eine Theorie, die alles erklärt, was möglicherweise geschehen kann: Im Gegenteil – sie verbietet das meiste von dem, was möglich ist. Deshalb wird sie auch aufgegeben, wenn etwas, was sie verbietet, doch geschieht. Eine wissenschaftliche Theorie, die diesen Namen verdient, setzt sich also selbst laufend einem Risiko aus. Und damit kommen wir zu Poppers Antwort auf die Frage, die wir zu Beginn dieses Kapitels aufgeworfen haben. Das Kriterium der Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft ist die Falsifizierbarkeit. Entscheidend ist dabei folgendes: Wenn es nichts gibt, was sich mit einer Theorie nicht vereinbaren läßt, dann kann kein Umstand, keine Beobachtung, kein Experimentalergebnis als Beleg für die Theorie beansprucht werden. Ob die Theorie wahr oder falsch ist, läßt sich dann nicht aufgrund von Beobachtungen entscheiden. Sie vermittelt also keine wissenschaftliche Information. Eine Theorie ist nur dann prüfbar, wenn man sich eine Beobachtung vorstellen kann, die diese Theorie widerlegt. Und nur dann, wenn sich die Theorie prüfen läßt, ist sie wissenschaftlich. Ich habe eben Marxismus und Psychoanalyse erwähnt, weil der junge Popper unter anderem durch Überlegungen zu diesen Theorien zu seinem Abgrenzungskriterium gelangt ist. Er war beeindruckt und begeistert davon, wie Einsteins Relativitätstheorie beobachtbare Effekte vorhersagte, die niemand auch nur im Traum erwarten konnte, und sich dadurch vorbehaltlos einer Widerlegung aussetzte. Aus der Allgemeinen 8
Siehe S. 19
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Relativitätstheorie folgt, daß Licht von Körpern mit großer Masse angezogen wird. (Übrigens ist Einsteins Weg von der Speziellen zur Allgemeinen Relativitätstheorie das Thema eines unvollendeten Buches von Popper.) Einstein erkannte, daß – falls diese Folgerung zutrifft – Licht, das auf seinem Weg von einem Stern zur Erde die Sonne in geringem Abstand passiert, durch das Schwerefeld der Sonne abgelenkt werden muß. Normalerweise sehen wir solche Sterne bei Tag nicht, weil die Sonne sie überstrahlt, aber wenn wir sie sehen könnten, dann würden sie aufgrund der Ablenkung der Lichtstrahlen an anderen als den uns bekannten Positionen erscheinen. Die vorhergesagte Abweichung läßt sich dadurch überprüfen, daß man einen Fixstern bei Tag unter geeigneten Umständen photographiert und dann wieder bei Nacht, wenn die Sonne woanders steht. Genau so ist Eddington verfahren, bei einer der berühmtesten wissenschaftlichen Beobachtungen des Jahrhunderts. Im Jahre 1919 führte er eine Expedition in eine Gegend Afrikas, von der aus nach seiner Berechnung die Sterne aufgrund einer Sonnenfinsternis bei Tag sichtbar und damit photographierbar waren. Die Beobachtungen fanden am 29. Mai statt. Und Einsteins Theorie hat sich bei diesen Beobachtungen bewährt. Andere Theorien, die wissenschaftlichen Anspruch erhoben und zu Poppers Jugendzeit in Wien intellektuelle Mode waren – etwa die Theorien von Freud und Adler –, wichen einem derartigen Risiko von vornherein aus. Keine wie auch immer geartete Beobachtung konnte zu ihnen im Widerspruch stehen. Solche Theorien hatten für jedes Vorkommnis eine Erklärung parat (wenn auch jeweils eine andere). Und Popper erkannte, daß der größte Fehler dieser Theorien gerade auf der Eigenschaft beruhte, von der ihre Anhänger so überzeugt und bewegt waren – auf der Eigenschaft, alles zu erklären. Anders lag der Fall beim Marxismus, der einzigen anderen modischen Theorie, die wissenschaftlichen Anspruch erhob und vergleichbare Anziehungskraft ausstrahlte. Aus ihr ließen sich tatsächlich falsifizierbare Voraussagen ableiten. Die Schwierigkeit bestand darin,
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daß einige dieser Voraussagen bereits falsifiziert waren. Aber die Marxisten weigerten sich, das zur Kenntnis zu nehmen, und lieferten ohne Unterlaß Neuformulierungen der Theorie (und des Beweismaterials), um sich die Falsifikation vom Leibe zu halten. Sie maßen ihren Ideen in der Praxis die unfalsifizierbare Gewißheit eines religiösen Glaubens bei (so, wie es die Psychoanalytiker in der Theorie taten); und wenn sie darauf beharrten, daß diese Ideen wissenschaftlich seien, dann war das zwar ehrlich gemeint, aber unzutreffend. Popper hat oft betont, daß das Geheimnis der enormen psychologischen Anziehungskraft dieser Theorien in ihrer Fähigkeit liegt, alles zu erklären. Wer im voraus weiß, daß er in der Lage sein wird, zu verstehen, was auch immer geschieht, der hat nicht nur das Gefühl der intellektuellen Überlegenheit, sondern, was noch wichtiger ist, auch die Gewißheit, sich in der Welt zurechtzufinden. Die Annahme einer dieser Theorien hat, so bemerkt Popper, die Wirkung „einer intellektuellen Bekehrung oder Offenbarung. Den Eingeweihten gingen die Augen auf, und sie erkannten eine neue Wahrheit, die den Uneingeweihten verborgen war. Und wenn einem die Augen geöffnet worden waren, sah man überall bestätigende Beispiele. Die Welt war voll von Verifikationen der Theorie. Was immer sich ereignete, war eine Bestätigung für sie. So schien ihre Wahrheit offenbar zu sein, und die, die nicht daran glaubten, waren offenkundig Leute, die die offenbare Wahrheit nicht sehen wollten, sei es, weil sie ihrem Klasseninteresse widersprach, oder infolge von Verdrängungen, die noch nicht ,analysiert’ waren und dringend der Behandlung bedurften. ... Ein Marxist war nicht imstande, eine Zeitung aufzuschlagen, ohne auf jeder Seite seine Geschichtsauffassung bestätigt zu finden: nicht nur in den Nachrichten selbst, sondern auch in der Form, in der sie geboten wurden – denn aus dieser ging in klarer Weise der Klassenstandpunkt des Blattes hervor – und natürlich ganz besonders in dem, was die Zeitung nicht brachte. Psychoanalytiker der Schule Freuds betonten, daß ihre Theorien ständig durch ihre ,klinischen Beobachtungen’ verifiziert
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wurden. Und was Adler anbelangt, so hatte ich selbst ein Erlebnis, das auf mich großen Eindruck machte. Ich berichtete ihm damals, im Jahre 1919, über einen Fall in der Beratungsstelle, der mir nicht sehr ,adlerianisch’ vorkam. Er aber hatte nicht die geringste Schwierigkeit, ihn im Sinne seiner Theorie als einen Fall von Minderwertigkeitsgefühlen zu diagnostizieren, obwohl er das Kind nicht einmal gesehen hatte. Ich war darüber etwas schockiert und fragte ihn, wieso er seiner Sache so sicher sein könne. ,Auf Grund meiner tausendfachen Erfahrung’ war seine Antwort; worauf ich mich nicht enthalten konnte zu erwidern: ,Und mit diesem Fall ist Ihre Erfahrung jetzt eine tausendund-einfache geworden!’“9 Popper hat derartige Theorien niemals – und das kann nicht deutlich genug betont werden – als wertlos und oder gar als Unsinn verworfen. Das haben aber von Anfang an viele angenommen, die Popper den logischen Positivisten zugerechnet und ihn infolgedessen mißverstanden haben. „Damit soll nicht gesagt sein, daß Freud und Adler nicht gewisse Dinge richtig gesehen haben. Ich persönlich zweifle nicht daran, daß vieles von dem, was sie sagen, von beträchtlicher Bedeutung ist, und es mag durchaus eines Tages in einer wissenschaftlichen – das heißt prüfbaren – Psychologie seine Rolle spielen. Aber die ,klinischen Beobachtungen’, die, wie die Analytiker naiverweise glauben, ihre Theorien bestätigen, sind dazu ebenso ungeeignet wie die bestätigenden Beobachtungen, auf die die Astrologen in ihrer Praxis täglich stoßen. Freuds Epos vom Ich, Überich und Es kann kaum mehr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben als Homers gesammelte Geschichten vom Olymp. Diese Theorien erklären einige Tatsachen, aber nach Art und Weise von Mythen. Sie enthalten hochinteressante Gedanken über psychologische Probleme, aber leider nicht in prüfbarer Form.“ „Es war mir aber klar, daß derartige Mythen eine Entwicklung zur 9
Vermutungen und Widerlegungen, Kap. 1, Abschn. I
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Prüfbarkeit durchmachen können, daß historisch betrachtet alle oder doch die meisten wissenschaftlichen Theorien aus Mythen entstanden sind und daß ein Mythos wichtige wissenschaftliche Theorien vorwegnehmen kann. Als Beispiel nenne ich Empedokles’ Theorie der Entwicklung durch Versuch und Irrtum oder den Mythos des Parmenides von einem unwandelbaren blockartigen Weltall, in dem sich nichts ereignet, das sich aber, wenn wir noch eine Dimension hinzufügen, in Einsteins blockartiges Weltall verwandelt (in dem sich auch nie etwas ereignet, da ja vierdimensional gesehen alles vom Urbeginn an determiniert und festgelegt ist). Ich war daher überzeugt, daß eine Theorie, die als nicht-wissenschaftlich oder ,metaphysisch’ (wie man sagen könnte) angesehen wird, damit nicht zugleich als unwichtig, unbedeutend, sinnlos oder gar ,unsinnig’ zu gelten habe. Aber eine solche Theorie kann nicht den Anspruch erheben, im wissenschaftlichen Sinn durch Erfahrung gestützt zu sein, obwohl sie ihrer Entstehung nach vielleicht auf Beobachtungen zurückgeht.“10 Popper hat die Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft vorgeschlagen. Das erste und immer noch oft zu lesende Mißverständnis von Poppers Werk beruhte darauf, daß man sein Kriterium als Abgrenzungskriterium zwischen Sinn und Unsinn auffaßte. Man glaubte, alles, was nicht Wissenschaft ist, sei Unsinn, und setzte darum – ganz gegen Popper – die Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft der zwischen Sinn und Unsinn gleich. Die logischen Positivisten waren entschlossen, den metaphysischen Wortschwall zu beseitigen, der die Philosophie belastet hatte, und ihr zentrales Anliegen war die Suche nach einem Abgrenzungskriterium zwischen wirklich inhaltsreichen und inhaltsleeren Aussagen. Und sie gelangten zu der Ansicht, daß es zwei Arten von bedeutsamen Aussagen gibt. Da sind einmal die Sätze der Logik und der Mathematik, die keinen Anspruch darauf erheben, 10
Vermutungen und Widerlegungen, Kap. 1, Abschn. II
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Information über die empirische Welt zu liefern und sich deshalb ohne Bezug auf die Erfahrung als wahr oder falsch erweisen lassen: die wahren Sätze sind Tautologien, die falschen Kontradiktionen. Andererseits gibt es Sätze, die den Anspruch erheben, Information über die empirische Welt zu liefern und deren Wahrheit oder Falschheit sich in der Realität auf irgendeine Weise zeigen muß und deshalb durch Beobachtung zu ermitteln ist. Jeder Satz, bei dem es sich nicht um eine formale Aussage der Mathematik oder der Logik handelt (Bertrand Russell hat versucht zu zeigen, daß Mathematik und Logik dasselbe sind) und der auch nicht empirisch verifizierbar ist, muß demnach sinnlos sein. Deshalb sah man in der Verifizierbarkeit das Abgrenzungskriterium zwischen sinnvollen und sinnlosen Aussagen über die Welt. Popper hat dieser Auffassung von Anfang an aus verschiedenen Gründen widersprochen. Erstens sind – ob sich nun singuläre Aussagen empirisch verfizieren lassen oder nicht – universelle Aussagen, zum Beispiel wissenschaftliche Gesetze, sicher nicht empirisch verifizierbar. Das Verifikationsprinzip würde also nicht nur die Metaphysik ausschalten, sondern die gesamte Naturwissenschaft. Zweitens wird mit dem Verifikationsprinzip die Sinnlosigkeit aller Metaphysik verkündet. Gerade aus der Metaphysik – aus abergläubischen, mythischen oder religiösen Weltauffassungen – ist aber, historisch gesehen, die Wissenschaft hervorgegangen. Eine Idee, die zu einer bestimmten Zeit nicht prüfbar und deshalb metaphysisch ist, kann prüfbar und damit wissenschaftlich werden, wenn sich die Umstände ändern. „Beispiele solcher Entwicklungen sind: der Atomismus, die Idee des einen Urstoffs, die von Bacon als erdichtet bekämpfte Theorie der Erdbewegung, die uralte Korpuskulartheorie des Lichtes, die Fluidumtheorie der Elektrizität (wieder aufgelebt in der Elektronengashypothese der metallischen Leitung).“11 Eine metaphysische Theorie 11
Logik der Forschung, S. 222
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mag nicht nur sinnvoll, sie mag sogar wahr sein. Wenn wir aber keine Möglichkeit haben, sie zu prüfen, dann kann es keine empirischen Belege für sie geben, und sie ist nicht als wissenschaftlich anzusehen. Immerhin sind wir in der Lage, Theorien, die sich nicht empirisch testen lassen, kritisch zu diskutieren und ihr Für und Wider zu vergleichen. Im Ergebnis kann dann eine Theorie einer anderen überlegen erscheinen. Popper ist also weit davon entfernt, die Metaphysik als Unsinn abzutun – er hat immer erklärt, daß er metaphysische Anschauungen vertritt, zum Beispiel über die Existenz von Regelmäßigkeiten in der Natur. Als drittes und vernichtendes Argument führt Popper gegen die logischen Positivisten an, daß jede Debatte über den Sinnbegriff zwangsläufig sinnlose Aussagen enthält, wenn man allein verifizierbare und tautologische Aussagen als sinnvoll zuläßt. Das anhaltende Unvermögen der logischen Positivisten, Argumenten wie diesen zu begegnen, hat schließlich zum Verschwinden des logischen Positivismus geführt. Aber anfänglich haben die logischen Positivisten Popper in ihrem Sinne verstanden und ihn deshalb lange verkannt. Weil Popper mit ihnen über Themen diskutierte, die für sie von zentraler Bedeutung waren, hielten sie ihn für ihresgleichen. Und weil ihr Hauptziel darin bestand, ein Abgrenzungskriterium zwischen Sinn und Unsinn zu finden, und ihnen dabei unangenehm bewußt wurde, wie stark einige der Argumente gegen das Kriterium der Verifizierbarkeit waren, glaubten sie, Popper habe den Einfall gehabt, an seiner Stelle das der Falsifizierbarkeit vorzuschlagen. Viele ihrer Argumente gegen Popper beruhen auf dieser falschen Annahme. Wie bereits bemerkt, waren die logischen Positivisten so vom Sinnproblem besessen und in der Ansicht befangen, unwissenschaftliche Theorien seien sinnlos, daß sie auf Poppers Feststellung, er bezwecke mit seinem Vorschlag etwas völlig anderes, entgegneten, es laufe doch ziemlich auf das gleiche hinaus. Tatsache ist, daß Popper niemals in irgendeiner Form Positivist war.
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Ganz im Gegenteil – er ist entschiedener Antipositivist und hat von Anfang an die Argumente vorgebracht, die schließlich (nach sehr langer Zeit) zur Auflösung des logischen Positivismus geführt haben. Daß Popper einen völlig anderen Ansatz vertritt als die logischen Positivisten, läßt sich anhand von ganz einfachen Beispielen zeigen: Die logischen Positivisten hätten gesagt, die Lautfolge ,Gott existiert’ sei ein sinnloses Geräusch; Popper würde sagen, daß es sich um eine Aussage handelt, der Sinn zukommt und die wahr sein könnte, daß es aber keine wissenschaftliche Aussage ist, weil sie sich auf keine denkbare Weise falsifizieren läßt. Popper hat nicht nur kein Sinnkriterium vorgeschlagen – er hat auch immer die Ansicht vertreten, die Aufstellung eines Sinnkriteriums sei ein grundlegender philosophischer Irrtum. Die übliche Diskussion des Sinns von Worten hält er nicht nur für langweilig, sondern sogar für schädlich. Wie Popper bemerkt, ist die Vorstellung, daß wir unsere Begriffe erst definieren müssen, bevor wir eine sinnvolle Diskussion führen können, nachweislich inkonsequent. Denn jedesmal, wenn man einen Begriff definiert, muß man auf neue Begriffe zurückgreifen (andernfalls wäre die Definition ja zirkulär), und man ist dann gezwungen, die neuen Begriffe ihrerseits zu definieren. So gelangt man überhaupt nie zu einer Diskussion, weil man nie die notwendigen Präliminarien abschließen kann. Wir müssen deshalb in der Diskussion auch Undefinierte Begriffe verwenden. Ähnlich verhält es sich mit der Vorstellung, präzises Wissen erfordere präzise Definitionen; auch sie ist nachweislich falsch. Physiker verzichten üblicherweise darauf, den Sinn der vielen Begriffe – etwa von ,Energie’ oder von ,Licht’ – zu definieren, mit denen sie laufend arbeiten. Eine genaue Analyse und Definition derartiger Begriffe würde zu unerschöpflichen Schwierigkeiten führen, weshalb Physiker sie zum größten Teil undefiniert lassen. Und doch liefert uns die Physik das präziseste und umfassendste Wissen, über das wir verfügen. Bei guten wissenschaftlichen Definitionen ist noch etwas anderes zu beachten: Sie sind, wie Popper sagt, eigentlich von rechts nach links zu lesen, nicht
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von links nach rechts. Der Satz ,Ein Di-Neutron ist ein instabiles System, das zwei Neutronen umfaßt’ ist die Antwort des Wissenschaftlers auf die Frage ,Wie wollen wir ein instabiles System nennen, das zwei Neutronen umfaßt?’, nicht eine Antwort auf die Frage ,Was ist ein Di-Neutron?’ Das Wort ,Di-Neutron’ ist ein praktischer Ersatz für eine lange Beschreibung, nicht mehr – seine Analyse liefert keine Aufschlüsse über die Physik. Ohne dieses Wort ginge die Physik genauso weiter, nur wäre die Verständigung zwischen den Physikern etwas beschwerlicher. „Die Idee, daß die Genauigkeit der Wissenschaft oder der wissenschaftlichen Sprache von der Genauigkeit ihrer Begriffe abhängt, ist sicher sehr plausibel, aber ich halte sie nichtsdestoweniger für ein bloßes Vorurteil. Die Präzision einer Sprache hängt vielmehr gerade davon ab, daß sie sich sorgfältig bemüht, ihre Begriffe nicht mit der Aufgabe zu belasten, präzise zu sein. Ein Begriff wie ,Düne’ oder ,Wind’ ist sicher sehr vage. (Wie viele Zentimeter hoch muß ein kleiner Sandhügel sein, um eine ,Düne’ zu heißen? Wie schnell muß sich die Luft bewegen, um ,Wind’ genannt zu werden?) Dennoch sind diese Begriffe für viele Zwecke des Geologen hinreichend genau; und in anderen Umständen, wenn ein höherer Grad der Unterscheidung verlangt wird, kann er immer sagen ,Dünen von einer Höhe zwischen einem und acht Metern’ oder ,Wind von einer Geschwindigkeit zwischen fünfzehn und dreißig Kilometern pro Stunde’. Und in den mehr exakten Wissenschaften ist die Situation ähnlich. Bei physikalischen Messungen zum Beispiel bemühen wir uns immer, den Bereich in Betracht zu ziehen, innerhalb dessen Fehler auftreten können; und Präzision besteht weder in dem Versuch, diesen Bereich zur Gänze zu beseitigen, noch in der Behauptung, daß es einen solchen Bereich nicht gebe, sondern vielmehr in seiner expliziten Anerkennung.“12 Etwas überspitzt formuliert, könnte man behaupten, daß sich auf 12
Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, II, S. 27f.
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einem Forschungsgebiet desto mehr nützliche Erkenntnisse zeigen, je weniger über den Sinn von Worten diskutiert wird. (Eine Ausnahme bildet natürlich die Sprachforschung.) Für klares Denken und präzises Wissen sind derartige Diskussionen entbehrlich – im Gegenteil, sie verschleiern beides und führen zwangsläufig zu endlosem Wortstreit statt zu fruchtbaren Auseinandersetzungen. Die Sprache ist ein Werkzeug, und entscheidend ist, wozu man sie gebraucht – in diesem Falle zur Formulierung und Diskussion von Theorien über die Welt. Ein Philosoph, der sich sein Leben lang mit der Sprache beschäftigt, ist wie ein Zimmermann, der seine ganze Arbeitszeit damit verbringt, seine Werkzeuge zu schärfen. Philosophen sind, wie jedermann, verpflichtet, sich klar und deutlich auszudrücken; aber sie sollten, nicht anders als die Physiker, so arbeiten, daß es unmaßgeblich bleibt, wie sie ihre Worte gebrauchen. Von diesem Standpunkt aus hat Popper laufend die beiden Philosophien angegriffen, die auf Wittgenstein zurückgehen: den logischen Positivismus, der sich aus dem logischen Atomismus entwickelt hat und eine Generation lang vorherrschte, und die Sprachanalyse, die für die nächste Generation maßgeblich war. „Die Sprachanalytiker glauben, daß es keine echten philosophischen Probleme gibt, oder daß die Probleme der Philosophie, wenn es solche überhaupt gibt, Probleme des Sprachgebrauchs und Fragen über den Sinn oder die Bedeutung von Wörtern sind. Ich glaube jedoch, daß es zumindest ein philosophisches Problem gibt, das alle denkenden Menschen interessiert. Es ist das Problem der Kosmologie: das Problem, die Welt zu verstehen – auch uns selbst, die wir ja zu dieser Welt gehören, und unser Wissen. Alle Wissenschaft ist Kosmologie in diesem Sinn, glaube ich; und für mich ist die Philosophie, ebenso wie die Naturwissenschaft, ausschließlich wegen ihres Beitrages zur Kosmologie interessant.“13 13
Logik der Forschung, S.XIV (Vorwort zur 1. englischen Ausg. 1959)
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Die Philosophiegeschichte verzeichnet viele Dichotomien (z.B. die zwischen Nominalisten und Realisten, Empiristen und Transzendentalisten, Materialisten und Idealisten), aber man sollte keine davon zu weit treiben: Irreführend ist bei allen besonders der Umstand, daß sich die Großen gewöhnlich nicht klar einordnen lassen. Ein Dualismus jedoch durchzieht fast die gesamte Philosophiegeschichte: Der einen Sicht zufolge versucht die Philosophie zu verstehen, welchen Gebrauch wir von Begriffen machen; der anderen zufolge versucht sie, die Welt zu verstehen. Offensichtlich ist es unmöglich, die Welt zu verstehen, ohne dabei Begriffe zu gebrauchen, und deshalb glaubt man gewöhnlich in beiden Lagern mit einigem Recht, daß man an beiden Problemen arbeitet. Trotzdem werden oft völlig andere Schwerpunkte gesetzt. Im Mittelalter gab es die berühmte Unterscheidung zwischen den Realisten (für uns ist diese Bezeichnung heute irreführend), die zur ersten Gruppe gehörten, (,Begriffe sind selbst reale Entitäten und kommen vor den Einzeldingen, die sich aus ihnen ableiten und von ihnen abhängen’) und den Nominalisten, die der zweiten Gruppe zuzurechnen sind (,Begriffe bezeichnen Dinge, und deshalb sind die Dinge vorrangig: die Bezeichnungen können ausgewechselt werden, ohne daß sich die Realität ändert’). Die Philosophie in der englischsprachigen Welt hat sich in unserem Jahrhundert meist auf die Erhellung von Begriffen konzentriert. Poppers Philosophie ist entschieden anderer Natur. (Im heutigen Sinne des Wortes ist Popper Realist, denn er glaubt, daß eine materielle Welt unabhängig von der Erfahrung existiert.) Ganz am Anfang seines Buches Philosophie: Die Entwicklung meines Denkens14 berichtet Bertrand Russell, wie er bis etwa 1917 – er war damals 45 und hatte fast die gesamte philosophische Arbeit geleistet, für die er heute berühmt ist – die Sprache „immer für eine Art ,durchsichtiges Medium’ gehalten [hatte], für etwas, das man verwendet, 14
1973 – My Philosophical Development, 1959
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ohne ihm weiter Beachtung schenken zu müssen“. Wittgenstein dagegen war sein ganzen Leben lang von der Sprache, besonders von der Bedeutung, besessen. Sein erstes Buch, Tractatus Logico-Philosophicus, das 1921 erschien, war der Text, der den Wiener Kreis am stärksten beeinflußt hat. Wittgenstein rang sich später zu der Ansicht durch, das Buch sei verfehlt, und zwar gerade deshalb, weil es eine falsche Bedeutungslehre enthalte. Daraufhin begann er – nachdem er selbst so fehlgeleitet worden war – zu untersuchen, auf welchen verschiedenen Wegen unserer eigener Sprachgebrauch uns in die Irre führen kann. Daraus ist eine neue philosophische Richtung entstanden, die man gewöhnlich als ,Sprachanalyse’ bezeichnet. Wittgensteins einschlägiges Hauptwerk, Philosophische Untersuchungen, 1953 posthum erschienen, hat die britische Philosophie wahrscheinlich mehr beeinflußt als jedes andere Buch seit dem Zweiten Weltkrieg. (Als nächstes wäre Gilbert Ryles Der Begriff des Geistes15 zu nennen, ein Buch, das seinerseits durch Wittgensteins Spätphilosophie geprägt ist.) In Philosophie: Die Entwicklung meines Denkens schreibt Russell:16 „In diesen – den auf 1914 folgenden – Jahrzehnten haben in Großbritannien drei philosophische Richtungen nacheinander das Feld beherrscht: zuerst kam Wittgensteins Tractatus, danach die logischen Positivisten, und schließlich der Wittgenstein der Philosophischen Untersuchungen. Der Tractatus hat mich nachhaltig beeinflußt – allerdings nicht, wie ich heute meine, ausschließlich zum Guten. Die Zielsetzungen der logischen Positivisten waren mir im großen und ganzen sympathisch, obwohl ich einige ihrer markantesten Thesen entschieden bestritten haben würde. Die dritte Richtung – die ich der Einfachheit halber (und im Unterschied zu W I, dem Wittgenstein des Tractatus) W II nennen will – finde ich bis auf den heutigen Tag total unverständlich. Die positiven Thesen dieser Richtung erscheinen mir 15 16
1969- The Concept of Mind, 1949; 1960 S. 224
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trivial, und die negativen nicht hinreichend fundiert. Ich habe in den Philosophischen Untersuchungen schlechthin nichts gefunden, was mich interessierte; und ich kann einfach nicht verstehen, wieso eine ganze Philosophenschule in diesem Buch eine Quelle profunder Weisheiten erblickt.“ Russell hat sich, als er älter wurde, seinen Berufskollegen immer mehr entfremdet. Er spricht von „Wittgenstein, der mich in der Hochschätzung vieler heutiger britischer Philosophen abgelöst hat ... Es ist nicht besonders angenehm, wenn man feststellen muß, daß man auf einmal nicht mehr in Mode ist und als antiquiert gilt; und es ist nicht ganz einfach, dem mit der gebührenden Fassung zu begegnen.“17 Aber immerhin hatte Russell Bedeutendes geleistet und sein großes Ansehen erlangt, bevor Wittgenstein bekannt wurde. Popper jedoch, der Russells Ansicht über den späten Wittgenstein ausdrücklich teilt,18 blieb diese Chance versagt. Es war – in Österreich wie in England – sein ganz besonderes Mißgeschick, daß er meist an Orten und zu Zeiten gearbeitet hat, in denen Wittgenstein dominierte. Das erklärt die eigentlich verblüffende Tatsache, daß Popper von seinen Berufskollegen unterbewertet wird, während er außerhalb dieses Kreises (und auf so viele begabte Menschen) großen Einfluß ausübt. Wie Geoffrey Warnock sagte: „Philosophen haben eine ausgeprägte Neigung dazu, einen Gegenstand in dem Zustand zu belassen, in dem sie ihn vorfinden, und zufrieden mit dem Strom zu schwimmen“.19 Aber es hat den Anschein, daß Popper in einer Hinsicht die umgekehrte Erfahrung wie Russell machen darf: Das Unvermögen der Wittgensteinschen Philosophien, die Hoffnungen ihrer Anhänger zu erfüllen, läßt sich nicht länger leugnen, und so kommt Popper im hohen Alter zu seinem Recht. Bevor wir das Gebiet vergangener und gegenwärtiger MißverEbenda, S.221f. Siehe Modern British Philosophy, S. 131 ff. 19 Ebenda, S.88 17 18
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ständnisse verlassen, ist noch ein wichtiger Hinweis angebracht. Die analytische Hegemonie vergangener Jahrzehnte hatte ein auffallendes Merkmal: Die Philosophen, die in der Erhellung von Begriffen und Begriffssystemen die Aufgabe der Philosophie sahen, waren der aufrichtigen Überzeugung, daß alle guten Philosophen schon immer Begriffe und Begriffssysteme erhellt haben, ob sie sich nun dessen bewußt waren oder nicht. Generationen von Studenten haben moderne analytische Techniken an den Schriften der großen Toten eingeübt, und in vielen Büchern kehren die Riesen der Vergangenheit als so etwas wie analytische Philosophen wieder. Wie Alasdair MacIntyre sagte: „Wenn ein britischer Philosoph etwas über die Geschichte der Philosophie schreibt, dann besteht seine Methode gewöhnlich darin, daß er die betreffende historische Gestalt so weit wie möglich als Zeitgenossen behandelt und mit ihr so diskutiert, wie er mit einem Kollegen in der Aristotelian Society diskutieren würde.“20 Dieses Verfahren ist im Laufe der Zeit so gebräuchlich geworden, daß sich das gründliche, aber ehrliche Mißverständnis, das hier zutage tritt, in der zeitgenössischen philosophischen Literatur und in der Lehre an den Universitäten ausbreiten konnte. Wenn man deshalb behauptet, daß sich Poppers Werk gar nicht so sehr von dem seiner berühmten Zeitgenossen unterscheidet oder daß der frühe Popper gar nicht so sehr im Gegensatz zu den logischen Positivisten stand, dann geschieht ihm damit nicht mehr und nicht weniger Unrecht als anderen auch. Popper ist bei weiten nicht das einzige berühmte Opfer dieser Einstellung.
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4. Poppers Evolutionismus und seine Theorie der Welt 3 Nach traditionellem Verständnis der wissenschaftlichen Methode durchläuft die Forschung bestimmte Phasen in einer bestimmten Reihenfolge, wobei jede Phase auf der vorhergehenden aufbaut: 1. Beobachtung und Experiment, 2. induktive Verallgemeinerung, 3. Hypothese, 4. Versuch einer Verifizierung der Hypothese, 5. Beweis oder Widerlegung, 6. Wissen. Popper hat diese Reihenfolge durch eine andere ersetzt: 1. Problem (gewöhnlich das Debakel einer vorliegenden Theorie oder Erwartung), 2. Lösungsvorschlag, mit anderen Worten: neue Theorie, 3. Ableitung prüfbarer Behauptungen aus der neuen Theorie, 4. Überprüfung, d.h. Versuch einer Widerlegung, unter anderem durch Beobachtung und Experiment (aber nur unter anderem), 5. Präferenz für eine von mehreren konkurrierenden Theorien. Wenn wir Poppers Schema betrachten und fragen: ,Woher stammt die Theorie oder Erwartung in Phase 1, aus deren Zusammenbruch sich unser Problem ergeben hat?’, dann gibt es darauf üblicherweise eine einfache Antwort: ,Aus Phase 5 eines vorangegangenen Prozesses’. Und wenn wir die betreffenden Prozesse immer weiter zurückverfolgen, dann kommen wir zu Erwartungen, die angeboren sind – nicht nur den Menschen, sondern auch den Tieren. „Ich halte die Theorie vom Bestehen angeborener Ideen für absurd; aber jeder Organismus besitzt angeborene Reaktionen, und darunter befinden sich auch solche, die zukünftigen Ereignissen angepaßt sind. Man kann solche Reaktionen als ,Erwartungen’ bezeichnen, ohne damit zum Ausdruck bringen zu wollen, daß diese Erwartungen bewußt sind. In diesem Sinne ,erwartet’ ein neugeborener Säugling, genährt (und man könnte sogar behaupten, beschützt und geliebt) zu werden. In Anbetracht der engen Beziehung zwischen Erwartung und Erkenntnis können wir durchaus vernünftig von ,angeborenem Wissen’ sprechen. Jedoch ist dieses ,Wissen’ nicht a priori gültig. Eine angeborene Erwartung, mag sie noch so intensiv und
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bestimmt sein, kann falsch sein. (Der Säugling kann ausgesetzt werden und verhungern.) So werden wir alle mit Erwartungen geboren, mit ,Wissen’, das, wenn auch nicht a priori gültig, doch psychologisch oder genetisch a priori ist, das heißt, aller auf Beobachtung beruhenden Erfahrung vorausgeht.“1 Poppers Erkenntnistheorie deckt sich also mit einer Evolutionstheorie. Das Problemlösen ist die grundlegende Aktivität, und das Überleben ist das grundlegende Problem. „Alle Organismen sind ständig, Tag und Nacht, mit dem Lösen von Problemen beschäftigt; das gilt auch für alle jene evolutionären Folgen von Organismen – die Arten, die mit den primitivsten Formen begannen und deren neueste Beispiele die jetzt lebenden Organismen sind.“2 Problemlösungsversuche treten bei Organismen und Tieren, die unter der Stufe des Menschen stehen, als neue Reaktionen, neue Erwartungen, neue Verhaltensweisen auf; wenn sie sich bei den Prüfungen, denen sie unterworfen werden, auf die Dauer gut bewähren, dann können sie schließlich das Lebewesen selbst – eines seiner Organe oder eine seiner Erscheinungsformen – verändern und so (durch Selektion) in seine Anatomie übergehen. (Popper lehnt die empiristische Erkenntnistheorie ab und besteht darauf, daß jede Beobachtung theoriedurchtränkt ist; er begründet das unter anderem damit, daß unsere Sinnesorgane selbst, die ja hochentwickelte Versuche zur Anpassung an unsere Umwelt darstellen, Theorien verkörpern.) Die Fehlerelimination kann entweder in der sogenannten natürlichen Auslese bestehen – ein Organismus, der eine notwendige Änderung versäumt oder eine ungeeignete vorgenommen hat, geht unter – oder in der Entwicklung von Kontrollvorrichtungen innerhalb des Organismus, die ungeeignete Veränderungen abschwächen oder unterdrücken. Poppers Theorie bezieht sich nur auf die Entwicklung des Lebens; 1 2
Vermutungen und Widerlegungen, Kap. 1, Abschn.V Objektive Erkenntnis, S. 252
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seine Entstehung erklärt sie genauso wenig wie Darwins Theorie. Tatsächlich glaubt Popper, daß sich der Ursprung – des Lebens, eines Kunstwerks oder einer Theorie – der rationalen Erklärung entzieht. In Das Elend des Historizismus schreibt er:3 „In der Welt, die durch die Physik beschrieben wird, kann nichts wirklich und wesenhaft Neues geschehen. Eine neue Maschine kann erfunden werden, aber sie läßt sich stets als Neuanordnung von Elementen begreifen, die selbst keineswegs neu sind. Neuheit in der Physik ist nur eine Neuheit der Zusammenstellungen, der Kombinationen. In scharfem Gegensatz dazu ... ist die soziale Neuheit wie die biologische Neuheit eine wesenhafte, innerliche Neuheit. ... Neuheit kann nicht kausal oder rational erklärt, sondern nur intuitiv begriffen werden. ... Insofern Neuheit rational analysiert und vorhergesagt werden kann, kann sie niemals ,innerlich’ und ,wesenhaft’ sein.“ Das Problem der Entstehung, der Entstehung des wirklich Neuen, beschäftigt Popper in besonderem Maße und ist eines der Themen, zu denen er vielleicht noch wichtige Beiträge leisten wird. Im biologischen Prozeß der Evolution, als Geschichte der Problemlösung betrachtet, kommt einer Entwicklung überragende Bedeutung zu – der Entwicklung der Sprache. Tiere machen Geräusche, die Kundgabefunktion und Auslösefunktion haben; in der Sprache des Menschen sind diese beiden Funktionen praktisch immer gegenwärtig, aber der Mensch hat mindestens zwei weitere hinzugefügt: die Darstellungsfunktion und die argumentative Funktion. (Allerdings enthalten die höchstentwickelten Formen der tierischen Kommunikation, etwa der Tanz der Bienen, bereits erste Ansätze einer Darstellungsfunktion.) Mit Hilfe der Sprache läßt sich die Welt beschreiben, und so hat die Sprache, neben vielem anderen, auch die Verständigung möglich gemacht. Die Begriffe ,Wahrheit’ und ,Falschheit’ konnten sich herausbilden. Die Sprache hat, kurz gesagt, die Entwicklung der Ver3
S.9, 19, 115
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nunft ermöglicht (oder ist vielmehr selbst Teil dieser Entwicklung gewesen) und kennzeichnet so die Loslösung des Menschen vom Tierreich. (Die Tatsache, daß der Mensch allmählich aus dem Tierreich hervorgegangen ist, besagt übrigens, daß er während des langen Zeitraums, den dieser Vorgang beanspruchte, in Gruppen gelebt hat; die weitverbreitete Ansicht, alle sozialen Erscheinungen seien letztlich durch die menschliche Natur erklärbar, muß also falsch sein: Der Mensch war ein soziales Wesen, lange bevor er ein menschliches Wesen wurde.) Popper ist der Auffassung, daß erst die Sprache – im Sinne einer geordneten Form des Kontakts, der Kommunikation, der Beschreibung und der Argumentation durch Zeichen und Symbole – uns nicht nur als Art, sondern auch als Individuum zu Menschen macht; daß jedem einzelnen von uns erst der Erwerb einer Sprache in diesem Sinne das volle menschliche Bewußtsein, das Bewußtsein des eigenen Ich, ermöglicht. (Mit seinen einschlägigen Arbeiten hat Popper in einem erstaunlichen Ausmaß Chomsky vorweggenommen.) Die ersten Beschreibungen der Welt waren wohl animistischer, abergläubischer und magischer Natur; wer sie oder etwas anderes, das dem Stamm Zusammenhalt und Identität verlieh, in Frage stellte, brach ein Tabu und war gewöhnlich des Todes. So wurde der Primitive in eine Welt hineingeboren, die von Abstraktionen beherrscht war – Verwandschaftsbeziehungen, Formen sozialer Organisation und Herrschaft, Gesetz, Sitte, Konvention, Tradition, Bündnisse und Feindschaften, Ritual, Religion, Mythos, Aberglaube, Sprache. All das war menschlichen Ursprungs, aber der Einzelne hatte nichts davon selbst geschaffen, und es lag auch meist nicht in seiner Macht, etwas davon zu ändern oder auch nur in Frage zu stellen. Diese Einrichtungen standen jedem Menschen als eine Art objektiver Realität gegenüber, die ihn von Geburt an formte, ihn zum Menschen machte, fast sein gesamtes Leben bestimmte – und waren dabei gewissermaßen autonom. Popper behauptet, daß sie fast nie geplant oder beabsichtigt waren. „Wie entsteht ein Wildwechsel im Urwald? Ein Tier bricht vielleicht durch das Unterholz,
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um an eine Wasserstelle zu kommen. Andere finden es am einfachsten, dieser Spur zu folgen. So mag sie durch Gebrauch erweitert und verbessert werden. Sie ist nicht geplant – sie ist eine unbeabsichtigte Folge des Bedürfnisses nach leichter und schneller Bewegung. So entsteht ursprünglich ein Pfad – vielleicht sogar auch bei Menschen –, und so können die Sprache und andere nützliche Einrichtungen entstehen; so können sie ihre Existenz und Entwicklung ihrer Nützlichkeit verdanken. Sie sind nicht geplant oder beabsichtigt, und ehe es sie gab, gab es vielleicht kein Bedürfnis nach ihnen. Doch sie können ein neues Bedürfnis oder neue Ziele schaffen: Die Zielstruktur von Tieren oder Menschen ist nicht ,gegeben’, sondern entwickelt sich mit Hilfe einer Art Rückkopplungsmechanismus aus früheren Zielen und Ergebnissen, die beabsichtigt oder nicht beabsichtigt waren. Auf diese Weise kann ein ganz neues Reich von Möglichkeiten entstehen: eine Welt, die in hohem Maße autonom ist.“4 Wenn Popper die Entfaltung des Lebens, das Auftauchen des Menschen und die Entwicklung der Kultur erörtert, macht er durchweg von der Vorstellung Gebrauch, daß es drei Welten gibt: nicht nur eine objektive Welt der physikalischen Objekte (Popper nennt sie ,Welt 1’) und eine Welt der subjektiven Erfahrungen (,Welt 2’), sondern auch eine ,Welt 3’ der objektiven Strukturen, die (nicht unbedingt beabsichtigte) Schöpfungen des menschlichen Geistes sind, die aber, einmal geschaffen, unabhängig von ihm existieren. Ihre Vorläufer im Tierreich sind Vogel- und Wespennester, Bienenwaben, Spinnennetze, Ameisenbauten, Biberdämme – höchst komplizierte Gebilde, die sich Tiere außerhalb ihres Körpers schaffen, um durch sie ihre Probleme zu lösen. Diese Gebilde gewinnen in der Umwelt der betreffenden Tiere zentrale Bedeutung und bestimmen viele ihrer wichtigsten Verhaltensweisen – hier kommen die Tiere gewöhnlich zur Welt und machen dabei ihre ersten Erfahrungen mit der physikalischen Umgebung außerhalb des Mutterleibes. Einige der objektiven Struk4
Objektive Erkenntnis, S. 120f.
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turen im Tierreich sind überdies abstrakter Natur – zum Beispiel die Formen der sozialen Organisation und der Kommunikation. Beim Menschen haben einige der biologischen Merkmale, die im Verlauf der Auseinandersetzung mit der Umwelt entstanden sind, eben diese Umwelt auf eindrucksvolle Weise verändert: die menschliche Hand ist dafür nur ein Beispiel. Der Mensch hat seine physikalische Umwelt verwandelt; und neben dieser Leistung nehmen sich die abstrakten Strukturen, die er geschaffen hat – Sprache, Ethik, Gesetz, Religion, Philosophie, Institutionen, Kunst und Wissenschaft – nicht weniger groß und meisterhaft aus. Ähnlich wie bei den Tieren, aber in noch stärkerem Ausmaß, haben die Schöpfungen des Menschen in seiner Umwelt zentrale Bedeutung erlangt; er mußte sich an sie anpassen und wurde so durch sie geformt. Sie sind für ihn objektiv vorhanden, und deshalb konnte er sie untersuchen, bewerten und kritisieren, erforschen, erweitern, verändern oder umstoßen und in ihrem Rahmen völlig unerwartete Entdeckungen machen. Das gilt auch für die abstraktesten Schöpfungen des Menschen, zum Beispiel für die Mathematik. „Ich stimme mit Brouwer darin überein, daß die Folge der natürlichen Zahlen eine menschliche Konstruktion ist. Doch obwohl wir diese Folge schaffen, schafft sie ihrerseits ihre eigenen autonomen Probleme. Der Unterschied zwischen geraden und ungeraden Zahlen ist nicht von uns geschaffen: Er ist eine unbeabsichtigte und unvermeidliche Folge unserer Schöpfung. Die Primzahlen sind natürlich ebenfalls unbeabsichtigte autonome und objektive Tatsachen; und in ihrem Fall ist offensichtlich, daß es für uns viele Tatsachen zu entdecken gibt: Es gibt Vermutungen wie die Goldbachsche.5 Diese Vermutungen beziehen sich indirekt auf unsere Erzeugnisse, direkt aber auf Probleme und Tatsachen, die sich irgendwie aus unserer Schöpfung ergeben haben Goldbach vermutete, daß jede gerade Zahl die Summe zweier Primzahlen ist. Einen Beweis für diese Vermutung hat bisher noch niemand gefunden, aber sie trifft für jeden Fall zu, auf den sie angewendet wurde. – B. M. 5
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und die wir nicht kontrollieren oder beeinflussen können: Es sind harte Tatsachen, und die Wahrheit über sie ist oft schwer zu entdecken. Das veranschaulicht, was ich damit meine, daß die Welt 3 weitgehend autonom sei, obwohl sie von uns geschaffen ist.“6 Die Welt 3 ist also die Welt der Ideen, der Kunst, der Wissenschaft, der Sprache, der Ethik, der Institutionen: kurz, das gesamte kulturelle Erbe – sofern es in Gegenständen der Welt 1, beispielsweise in Gehirnen, Büchern, Maschinen, Filmen, Computern, Bildern und Aufzeichnungen aller Art verschlüsselt und bewahrt ist. Alle Gegenstände der Welt 3 entstammen dem Geist von Menschen, aber sie können unabhängig von einem erkennenden Subjekt existieren (die Linearschrift-B-Texte der minoischen Kultur hat man erst vor einigen Jahren entziffert) – vorausgesetzt, sie sind in einer zur Welt 1 gehörenden und potentiell zugänglichen Form verschlüsselt und bewahrt. (Es besteht also ein grundlegender Unterschied zwischen dem Wissen in den Köpfen der Menschen und dem weit wichtigeren Wissen in den Bibliotheken.) In Wahrheit und Wirklichkeit schließt sich Sir John Eccles der Auffassung an, „daß nur der Mensch eine behauptende Sprache habe und daß diese Sprache nur von Subjekten benützt werden könne, die über begriffliches Denken verfügen, daß heißt, im Grunde ist das ein Denken, das sich auf die Komponenten von Welt 3 bezieht. Dieses Denken übertrifft die wahrnehmende Gegenwart. ... Im Gegensatz dazu ist das Verhalten von Tieren durch ihre wahrnehmende Gegenwart und ihre stets vorhandene Konditionierung geprägt. ... Es gibt keine Hinweise darauf, daß Tiere an dieser Welt – selbst in geringem Maße – teilhaben. In dieser fundamentalen Hinsicht unterscheidet sich der Mensch in seiner Art radikal vom Tier.“7 Der Gedanke einer von Menschen geschaffenen, aber autonomen dritten Welt ist einer der vielversprechendsten Züge von Poppers 6 7
Objektive Erkenntnis, S. 121 f. S. 236 f.
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Philosophie. In einem seiner unvollendeten Bücher wendet Popper diesen Gedanken auf das Leib-Seele-Problem an. (Schon allein die Auffassung, daß wir erst durch Wechselwirkung mit der Welt 3 zum Selbst werden, läßt sich endlos fortspinnen.) Unabhängig davon erleichtert uns die Theorie der Welt 3 das Verständnis dafür, daß in dem uralten Streit darüber, ob ethische, ästhetische und andere Maßstäbe subjektiv oder objektiv sind, von beiden Seiten Argumente vorgebracht wurden, auf die es keine Antwort gibt. Anhand der Theorie läßt sich ein weiteres Zentralproblem der abendländischen Philosophie analysieren, das Problem des sozialen Wandels. Denn weil die menschlichen Schöpfungen in Welt 3 objektiver Natur sind und weil sich daraus Wechselbeziehungen zwischen ihnen und den Menschen ergeben, haben die Ideen, die Institutionen, Sprachen, Künste, Wissenschaften, die Ethik und die anderen angeführten Errungenschaften eine Geschichte. Auf diesen Gebieten gibt es nicht unbedingt Fortschritte, aber sie sind naturgemäß offen für den Wandel, und meist sind sie auch im Fluß. Vor allem erklärt Poppers Theorie, wie einer Entwicklung ein Prinzip zugrunde liegen kann, ohne daß es (wie etwa Marx glaubte) einen Gesamtplan oder eine Verschwörung gibt und auch ohne daß (wie etwa Hegel glaubte) ein Weltgeist oder eine Kraft den Prozeß gleichsam von innen vorantreibt. Das ist ein außerordentlich erhellender Gedanke, der sich wahrscheinlich als in seinen Anwendungen ungemein ergiebig erweisen wird. Ernst Gombrich hat ihn in höchst origineller Weise auf die Kunstgeschichte und die Kunstkritik übertragen, und viele sehen das Ergebnis als geradezu genial an. Was den Gebrauch betrifft, den Popper selbst von seinem Gedanken macht, so sind besonders die Lösungen wichtig, die er auf dieser Grundlage für Probleme des politischen wie für Probleme des geistigen und künstlerischen Wandels anbieten kann; mit dem einen Problemkreis haben sich die größten politischen Philosophen von Platon bis Marx befaßt, mit dem anderen viele Philosophen seit Hegel und einige schon lange vor ihm.
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Die wichtigste Entwicklung in der Geschichte der Welt 3 als ganzes (seit dem Entstehen der Sprache) war, daß sich eine kritische Haltung herausbildete und daß sie später akzeptabel wurde. Wie bereits erwähnt, verfügen offenbar alle oder fast alle menschlichen Gesellschaften, von denen wir wissen, über eine Interpretation der Welt, die in einem Mythos oder einer Religion Ausdruck findet, und in primitiven Gesellschaften ist es gewöhnlich bei Todesstrafe verboten, die Wahrheit dieser Interpretation in Frage zu stellen. Die Wahrheit darf nicht entweiht und muß unbefleckt von Generation zu Generation weitergereicht werden. Zu diesem Zweck entwickeln sich Institutionen – Mysterien, Priesterschaften und, in einem fortgeschrittenen Stadium, Denkschulen. „Eine Schule dieser Art läßt niemals eine neue Idee zu. Neue Ideen sind Häresien und führen zu Schismen; sollte ein Mitglied der Schule versuchen, die Lehre zu ändern, so wird es als Ketzer ausgeschlossen. Aber in der Regel behauptet ein Häretiker, seine Lehre sei die wahre Lehre des Gründers. Nicht einmal der Erfinder gibt also zu, eine neue Erfindung eingeführt zu haben; er glaubt vielmehr, zur wahren Orthodoxie zurückzukehren, die irgendwie entstellt worden war.“8 Popper glaubt, daß, historisch gesehen, die Denkschulen der Vorsokratiker – beginnend mit Thales, seinem Schüler Anaximander und dessen Schüler Anaximenes – die ersten waren, die Kritik nicht nur zugelassen, sondern auch ermutigt und begrüßt haben.9 Das bedeutete das Ende der dogmatischen Tradition, die eine unbefleckte Wahrheit weitergeben wollte, und den Beginn einer neuen, rationalen Tradition, die Spekulationen einer kritischen Diskussion unterzog. Die Geburtsstunde der wissenschaftlichen Methode hatte geschlagen. Irrtümer waren jetzt keine Katastrophe mehr, sondern eine Chance. Denn nicht anders als Tiere oder niedere Organismen stand oder fiel der 8 9
Vermutungen und Widerlegungen, Kap. 5, Abschn. XI Siehe auch das Xenophanes-Zitat auf S. 25
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dogmatische Mensch mit seinen Theorien. „Auf der vorwissenschaftlichen Stufe werden wir oft selbst zusammen mit unseren falschen Theorien zerstört, eliminiert; wir gehen mit unseren falschen Theorien zugrunde. Auf der wissenschaftlichen Stufe versuchen wir systematisch, unsere falschen Theorien zu eliminieren – wir versuchen, unsere Theorien an unserer Stelle sterben zu lassen.“10 Sobald der Mensch nicht länger mit seinen Theorien in den Tod ging, begann er Mut zu fassen und etwas zu wagen. Früher war die geistige Tradition, mit ihrem ganzen Gewicht, defensiv ausgerichtet und diente der Bewahrung herrschender Lehren; jetzt bildete sie erstmals das Fundament einer kritischen Haltung und wurde so zur Triebkraft des Wandels. Die Vorsokratiker befaßten sich mit Fragen der Naturforschung. Sokrates wandte die gleiche kritische Rationalität auf das menschliche Verhalten und die sozialen Institutionen an. Damals begann das unaufhaltsame Wachstum der Forschung und damit der Erkenntnis, durch das sich die Kultur des alten Griechenland und seiner Erben so völlig von allen anderen Kulturen unterscheidet.
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Popper, in Modern British Philosophy, S. 73
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5. Objektive Erkenntnis Betrachtet man den allmählichen, nahtlosen Übergang von der Amöbe zu Einstein, so zeigt sich überall das gleiche Muster. „Die vorläufigen Lösungen, die Tiere und Pflanzen in ihre Anatomie und ihr Verhalten aufnehmen, sind biologische Analogien von Theorien; und umgekehrt: Theorien entsprechen (gleich vielen exosomatischen Erzeugnissen wie Bienenwaben und besonders exosomatischen Werkzeugen wie Spinnennetzen) endosomatischen Organen und ihrer Arbeitsweise. Ganz wie Theorien sind auch Organe und ihre Tätigkeiten versuchsweise Anpassungen an die Welt, in der wir leben. Und ganz wie Theorien oder wie Werkzeuge üben neue Organe und ihre Tätigkeiten sowie neue Verhaltensweisen ihren Einfluß auf die Welt 1 aus, zu deren Veränderung sie beitragen können.“1 Popper hat das Muster, das dieser kontinuierlichen Entwicklung zugrunde liegt, durch die Formel P1 → VT → FE → P2 charakterisiert. Dabei steht P1 für das Ausgangsproblem, VT für die versuchsweise vorgeschlagene Theorie, FE für den Prozeß der Fehlerelimination, der auf diese Theorie angewandt wird, und P2 für die neue Situation, die sich daraus ergibt und die wiederum neue Probleme mit sich bringt. Das Ganze ist im Grunde ein Rückkopplungsprozeß. Er läuft nicht zyklisch ab, denn P2 unterscheidet sich immer von P1. Selbst wenn unser Lösungsvorschlag völlig gescheitert sein sollte, haben wir doch etwas darüber erfahren, wo bei diesem Problem die Schwierigkeiten liegen und welchen Minimalbedingungen jede Lösung genügen muss – und damit stehen wir vor einer neuen Problemsituation. Der Prozeß ist auch nicht dialektisch (im Sinne von Hegel oder Marx), weil hier Widersprüche (im Unterschied zur Kritik) in 1
Objektive Erkenntnis, S. 149f.
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keinem Stadium Platz finden, geschweige denn willkommen sind. Die Formel enthält einige der wichtigsten Gedanken Poppers. Er selbst hat ihre Anwendungsmöglichkeiten in vielen verschiedenen Forschungsbereichen erprobt; und mit Problemen, über die er selbst nicht gearbeitet hat, befaßt sich oft einer seiner Nachfolger. Popper war jahrzehntelang der Ansicht, die Formel sei nicht auf Mathematik und Logik anwendbar. Erst spät haben ihn Imre Lakatos’ Arbeiten vom Gegenteil überzeugt – Lakatos war also in dieser Hinsicht mehr Popperianer als Popper selbst. Über Kunst hat Popper wenig publiziert, obwohl ihm besonders Musik sehr viel bedeutet und er seine fruchtbaren Gedanken zur Problemlösung gerade im Zusammenhang mit seinen frühen musikhistorischen Studien entwickeln konnte. Und doch stellt Ernst Gombrich in Kunst und Illusion die Geschichte der bildenden Künste ganz im Sinne Poppers als „eine allmähliche Modifizierung der überkommenen schematischen Konventionen des Bildermachens unter dem Druck neuer Anforderungen“ dar. Eine derartige Betrachtung ist bei praktisch allen organischen Entwicklungsprozessen (im wörtlichen oder im übertragenen Sinne) möglich und bei allen Lernvorgängen, sogar bei dem Vorgang, durch den Menschen einander kennenlernen. Der Psychiater Anthony Storr kam, ohne daß er Popper gelesen hatte, zu folgendem Schluß: „Wenn wir einem bislang unbekannten Menschen gegenüberstehen, dann bringen wir in die neue Situation Vorurteile aus der Vergangenheit und unsere früheren Erfahrungen mit Menschen ein. Wir projizieren diese Vorurteile auf den Unbekannten. Einen Menschen kennenzulernen, das ist tatsächlich weitgehend eines Frage des Rückgängigmachens solcher Projektionen: Wir zerreißen den Nebel unserer Vorstellungen und sehen den Menschen so, wie er wirklich ist.“2 Übernimmt man diesen Denkansatz, so bleibt das natürlich nicht ohne Folgen. Die wichtigste Konsequenz ist, daß sich unser Interesse 2
The Observer Magazine, 12.7.1970
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auf Probleme konzentriert und daß wir dabei auch die Anstrengungen anderer zu schätzen wissen. Eine Aufgabe beginnt nicht mit dem Versuch, ein Problem zu lösen – der Lösungsvorschlag ist der zweite Bestandteil der Formel, nicht der erste. Eine Aufgabe beginnt mit dem Problem selbst und mit den Gründen dafür, daß es sich um ein Problem handelt. Wer so vorgeht, lernt, hart und ausdauernd an der Formulierung von Problemen zu arbeiten und erst dann sein Augenmerk auf die Suche nach möglichen Lösungen zu verlagern. Das Problem wird oft desto besser gelöst, je besser es formuliert ist. Wenn man beispielsweise die Werke eines Philosophen studiert, dann sollte die erste Frage lauten: ,Was für ein Problem versucht er zu lösen?’ Das mag selbstverständlich klingen, aber meiner Erfahrung nach werden die meisten Philosophiestudenten nicht dazu angehalten, diese Frage zu stellen, und von selbst kommen sie nicht darauf. Stattdessen fragen sie: ,Was versucht er zu sagen?’ Sie haben daher gewöhnlich den Eindruck, zu verstehen, was der Philosoph sagt, sehen aber nicht, worum es ihm eigentlich geht. Denn das kann nur, wer sich in die betreffende Problemsituation versetzt. Eine andere Konsequenz ist für Poppers gesamte Philosophie von grundlegender Bedeutung, und wer von Popper beeinflußt ist, neigt dazu, die Dinge im Lichte dieser Konsequenz zu sehen: Es ist die Erkenntnis, daß komplexe Strukturen – zum Beispiel geistige, künstlerische, soziale, administrative – nur allmählich geschaffen und geändert werden können, durch einen Rückkopplungsprozeß, der von Kritik getragen ist und in dem laufend Anpassungen stattfinden. Die Vorstellung, daß sich solche Strukturen auf einen Schlag, wie nach Plan, schaffen oder umbauen lassen, ist und bleibt eine Illusion. Die evolutionäre Sicht führt unter anderem zwangsläufig dazu, daß man die Entwicklungen im Zeitablauf verfolgt. Man sieht dann beispielsweise in der Geschichte der Wissenschaft oder der Philosophie nicht einen Bericht über die Irrtümer der Vergangenheit, sondern eine nicht abreißende Diskussion, eine Kette von miteinander verflochtenen
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Problemen und dazugehörigen Lösungen, die wir jetzt, wenn wir Glück haben, fortführen dürfen. Bekanntlich haben sich Positivisten und Sprachphilosophen im allgemeinen wenig um die Geschichte ihres Faches gekümmert. Wer sich aber Poppers Haltung zu eigen macht, entwickelt ein Gespür dafür, daß er persönlich an der Geistesgeschichte Anteil nimmt. (So erklärt es sich, daß Popper, ein mit der modernen Physik vertrauter Wissenschaftstheoretiker, auch ein Gelehrter aus Leidenschaft ist.) Eine persönliche Konsequenz für den, der immer von Problemen ausgeht, die wirklich Probleme sind – Probleme, die sich ihm tatsächlich stellen und mit denen er gerungen hat – ist, daß er sich seiner Arbeit existentiell verpflichtet fühlt und daß die Arbeit, wie die Existentialisten sagen, ,Authentizität’ erlangt. Sie ist nicht nur von intellektuellem Interesse, sondern wird mit emotionaler Anteilnahme vollzogen und befriedigt ein tief empfundenes Bedürfnis. Eine weitere Konsequenz ist die Gleichgültigkeit gegenüber gebräuchlichen Abgrenzungen zwischen den Fachgebieten: Es kommt allein darauf an, daß man ein interessantes Problem hat und sich aufrichtig um seine Lösung bemüht. Poppers Philosophie – objektiv betrachtet und vom Verhalten eines Einzelnen, sogar vom Verhalten Poppers, wohl unterschieden – ist denkbar undogmatisch. Sie mißt der Kühnheit der Phantasie den größten Stellenwert bei, und sie besagt, daß wir nie etwas tatsächlich wissen – daß wir jeder Situation und jedem Problem gegenüber eine Einstellung bewahren sollen, bei der stets noch Raum für unvorhersehbare Beiträge bleibt und die immer auch die Möglichkeit offenläßt, das gedankliche Schema, mit dem (oder sogar: innerhalb dessen) wir arbeiten, radikal umzuwandeln. Diese Philosophie ist völlig unvereinbar mit allen Auffassungen, denen zufolge Wissenschaft und Rationalität Leidenschaft, Phantasie oder schöpferische Intuition ausschließen. Sie verwirft die Vorstellung, daß wir durch die Wissenschaft sicheres Wissen erhalten und daß sie uns eines Tages
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sogar endgültige Antworten auf unsere berechtigten Fragen liefern könnte, als ,Szientismus’. Die heute so weitverbreitete Enttäuschung über die Wissenschaft und die Vernunft beruht zum großen Teil gerade auf solchen verfehlten Vorstellungen von Wissenschaft und Vernunft und geht insofern an Poppers Philosophie vorbei. Wenn Popper recht hat, dann gibt es nicht zwei Kulturen – eine wissenschaftliche und eine ästhetische oder eine rationale und eine irrationale – sondern nur eine. Der Wissenschaftler und der Künstler gehen keinesfalls einander entgegengesetzten oder unvereinbaren Tätigkeiten nach, sondern beide versuchen, einen Beitrag zum vertieften Verständnis unserer Erfahrungen zu leisten – mit Hilfe schöpferischer Vorstellungskraft, die einer kritischen Kontrolle unterworfen ist. Beide machen also von rationalen und von irrationalen Fähigkeiten Gebrauch. Beide erforschen das Unbekannte und versuchen, der Suche und ihren Ergebnissen Ausdruck zu verleihen. Beide streben nach Wahrheit und können dabei die Intuition nicht entbehren. Wenn wir aber dadurch lernen, wachsen und uns entwickeln, daß wir Erwartungen der Prüfung durch die Erfahrung unterwerfen, Konflikte anerkennen und ständig für uns fruchtbar machen (und selbst wenn Lernen, Wachstum und Entwicklung auf rein gedanklicher Ebene mittels Kontrolle und Korrektur von mehr oder weniger kühnen Spekulationen durch mehr oder weniger strenge Kritik vor sich gehen) – dann folgt daraus, daß wir niemals einen völlig neuen Anfang machen können. Selbst wenn es einem Menschen möglich wäre, ganz von vorn zu beginnen, dann würde er bis zu seinem Tode nicht weiter kommen als der Neandertaler. Das sind Tatsachen, denen viele radikal oder unabhängig Gesinnte gar nicht gern ins Auge sehen. Bevor wir uns als Individuen überhaupt unserer Existenz bewußt werden, sind wir bereits beträchtliche Zeit (schon im Mutterleib) tiefgreifend durch unsere Beziehungen zu anderen Menschen beeinflußt, die ihrerseits eine komplizierte Geschichte aufzuweisen haben und (an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit) einer Gesellschaft angehören, die
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auf eine noch weit kompliziertere und längere Geschichte zurückblickt. Und wenn wir dann in der Lage sind, eine bewußte Wahl zu treffen, dann bedienen wir uns bereits der Kategorien einer Sprache, die sich über zahllose Generationen hinweg bis zum jetzigen Stand entwickelt hat. Popper sagt nicht (aber er könnte es gesagt haben), daß unsere eigene Existenz das Ergebnis einer sozialen Handlung zweier anderer Menschen ist, die wir weder auswählen noch ablehnen konnten und deren genetisches Erbe in unserem Körper und in unserer Persönlichkeit verankert ist. Wir sind im Innersten unseres Wesens soziale Geschöpfe. Die Vorstellung, daß man irgend etwas ganz am Nullpunkt beginnen könnte, frei von der Vergangenheit und ohne Verpflichtung gegenüber anderen, ist völlig verfehlt. Diese Wahrheit gilt für geistige und künstlerische Tätigkeiten aller Art. Die bloße Fähigkeit, eine Fläche mit Zeichen zu versehen oder Geräusche zu erzeugen, um etwas auszudrücken, etwas mitzuteilen oder um jemandem eine Freude zu bereiten, ist das Produkt einer unvorstellbar langen Evolution; und Künstler, die sich einbilden, daß sie zum Ursprung zurückkehren, führen, was immer sie auch tun, eine bereits weit fortgeschrittene Entwicklung weiter und stehen auf den Schultern von unzähligen Generationen. Bei allem, was wir sind, und bei allem, was wir tun, haben wir die gesamte Vergangenheit geerbt, und wir können uns auf keine Weise von ihr befreien, so sehr das auch unser Wunsch sein mag. Die Tradition erhält auf diese Weise eine Bedeutung, der wir uns nicht entziehen können. Wir müssen von der Tradition ausgehen, und sei es auch nur, indem wir uns gegen sie auflehnen. Üblicherweise kommen wir dadurch voran, daß wir die Tradition kritisieren und einen Wandel zustandebringen: Wir machen uns die Tradition zunutze, wir verwenden sie als Vehikel. In der Wissenschaft wie in der Kunst haben wir es im Grunde mit der gleichen Situation zu tun. „All das heißt, daß ein junger Wissenschaftler, der Entdeckungen machen möchte, schlecht beraten ist, wenn sein Lehrer ihm sagt: ,Schau dich um und beobachte’, und daß er gut
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beraten ist, wenn der Lehrer ihm sagt: ,Versuche herauszufinden, was heutzutage in der Wissenschaft diskutiert wird. Finde heraus, wo die Schwierigkeiten liegen, und interessiere dich dafür, worüber Uneinigkeit herrscht. Dies sind die Fragen, mit denen du dich befassen solltest.’ Mit anderen Worten: Untersuche die heute vorliegende Problemsituation. Dies bedeutet, daß man eine Forschungslinie aufgreift und fortzuführen versucht, die den ganzen Hintergrund der früheren Entwicklung der Wissenschaft im Rücken hat; man reiht sich in die Tradition der Wissenschaft ein. ... Hinsichtlich der Ziele, die wir als Wissenschaftler erreichen wollen – Verstehen, Voraussage, Analyse, usw. –, ist die Welt, in der wir leben, äußerst komplex. Ich wäre versucht zu sagen, daß sie unendlich komplex ist, wenn dieser Ausdruck überhaupt einen Sinn hätte. Wir wissen nicht, wo oder wie wir mit der Analyse dieser Welt beginnen sollen. Es gibt keine Weisheit, die uns das sagen könnte. Selbst die wissenschaftliche Tradition sagt es uns nicht. Sie sagt uns bloß, wo und wie andere Menschen begonnen haben und wohin sie gelangt sind.“3 Die Tatsache, daß die Entwicklung in diesem oder jenem Bereich einer Wissenschaft, eines Fachgebiets, einer Kunst (oder einer Gesellschaft oder einer Sprache) bis zu diesem oder jenem Stand gediehen ist, stellt für jeden Einzelnen, der die Szene betritt, eine objektive Tatsache dar; und jede Kritik, jeder Änderungswunsch, jede Problemlösung, die der Einzelne vorbringen kann, muß sprachlich formuliert sein, bevor man sie prüfen oder überhaupt nur diskutieren kann; deshalb wird jeder entsprechende Vorschlag zu einem objektiven Vorschlag. Man kann über ihn diskutieren, ihn angreifen oder verteidigen oder von ihm Gebrauch machen – ohne Rücksicht darauf, von wem der Vorschlag stammt. Genau das geschieht mit interessanten Gedanken fast dauernd. Dadurch wird die enorme Bedeutung der Objektivierung unserer Gedanken in der Sprache, im Verhalten oder in 3
Vermutungen und Widerlegungen, Kap. 4
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Kunstwerken unterstrichen. Solange die Gedanken nur in unserem Kopf vorhanden sind, lassen sie sich kaum kritisieren. Schon ihre Bekanntgabe bringt gewöhnlich einen Fortschritt mit sich. Und die Gültigkeit jedes einschlägigen Arguments ist wiederum eine objektive Angelegenheit: Sie hängt nicht davon ab, wie viele bereit sind, das Argument zu akzeptieren. Auch wenn eine Theorie wissenschaftlich ist und von ihrem Urheber strengstens getestet wurde, pflegt die wissenschaftliche Welt sie erst dann zu übernehmen, wenn andere durch Experimente und Beobachtungen zum gleichen Ergebnis gelangt sind. Die Aussage ,Ich weiß’, als Aussage über mich selbst betrachtet, drückt meine Bereitschaft aus, bestimmte Dinge zu tun, zu sagen und zu glauben, und sie nimmt dafür auch Geltung in Anspruch; aber all das ist kein Wissen im objektiven Sinne: Niemand wird meinen ungeprüften Behauptungen den Status des Wissens zubilligen (es sei denn, das Wissen hat etwas in meinem eigenen Bewußtsein zum Gegenstand, etwa wenn ich die Fragen des Optikers beantworte oder dem Arzt sage, wo es weh tut – und selbst diese unmittelbaren Berichte über unseren eigenen derzeitigen Bewußtseinszustand sind nicht immer genau, wie jeder Arzt aus Erfahrung weiß). Bei der wissenschaftlichen Arbeit nehmen wir also sogar unsere eigenen Beobachtungen nicht als sicher hin, wir akzeptieren sie nicht einmal als wissenschaftliche Beobachtungen, bevor wir sie nicht wiederholt und getestet haben. Wissen ist, so gesehen, etwas Objektives. Es gehört dem öffentlichen Bereich an (der Welt 3), nicht dem subjektiven Denken von Einzelnen (der Welt 2). Das menschliche Wissen ist zum größten Teil überhaupt kein ,Wissen’ im privaten, individuellen Sinne. Er existiert ausschließlich auf dem Papier. Der Tisch, an dem ich schreibe, ist von Regalen mit Nachschlagewerken umgeben. Nehmen wir eines, das Popper in diesem Zusammenhang selbst als Beispiel herangezogen hat – ein Buch mit Logarithmentafeln. Es handelt sich hier um überaus nützliches Wissen, das die Konstrukteure von Gebäuden, Brücken, Straßen, Flugzeugen,
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Maschinen und von tausend anderen Dingen in aller Welt täglich aktiv nutzen. Aber ich bezweifle, daß es einen Menschen gibt, der die Zahlen in dem Buch ,weiß’ – nicht einmal der ,weiß’ sie, der das Buch zusammengestellt hat (vielleicht wurde diese Arbeit sogar einem Computer übertragen). Das gilt für Aufzeichnungen aller Art. Sogar der Gelehrte, der sein Leben der Abfassung seiner wissenschaftlichen Abhandlungen widmet, fertigt (normalerweise ausgiebige) Exzerpte aus allen möglichen Dokumenten, Büchern, Nachschlagewerken usw. an und erstellt seine Bücher anhand seiner Notizen: Er ,weiß’ nicht einmal alles (im Sinne von Welt 2), was in seinen eigenen Büchern steht. Er kann nicht die ganzen Statistiken, Tabellen, Daten, Belege usw. herunterrasseln; er kann nicht alle Zitate wortwörtlich wiedergeben. Entscheidend ist: Er kann seine eigenen Bücher nicht aufsagen – sie sind auf dem Papier gespeichert, nicht in seinem Kopf. Die Bibliotheken, Dokumentationen und Archive der Menschheit enthalten Material aus Welt 3, das meist ebenfalls nicht im Kopf irgendwelcher Menschen vorhanden ist, aber trotzdem ein mehr oder weniger wertvolles und nützliches Wissen darstellt. Es macht tatsächlich den größten Teil unseres Wissens aus. Sein Status als Wissen, sein Wert und sein Nutzen hängen nicht davon ab, ob es jemanden gibt, der es im subjektiven Sinne ,weiß’. Wissen im objektiven Sinne ist Wissen ohne einen Wissenden – es ist Wissen ohne wissendes Subjekt. Von diesem Standpunkt aus greift Popper die orthodoxe Erkenntnistheorie an. „Die herkömmliche Erkenntnistheorie hat sich mit der Erkenntnis oder dem Denken in einem subjektiven Sinne beschäftigt – im gewöhnlichen Sinne der Ausdrücke ,ich erkenne’ oder ,ich denke nach’. Das, so behaupte ich, hat die Erkenntnistheoretiker in Irrelevantes verwickelt: Sie wollten die wissenschaftliche Erkenntnis untersuchen, doch tatsächlich beschäftigten sie sich mit etwas, was für die wissenschaftliche Erkenntnis ohne Bedeutung ist. Denn wissenschaftliche Erkenntnis ist gar nicht die Erkenntnis im gewöhnlichen Sinne von ,ich erkenne’. ... Die herkömmliche Erkenntnistheorie, die
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von Locke, Berkeley, Hume, ja auch von Russell, ist irrelevant in einem mehr oder weniger genauen Sinne des Wortes. Daraus ergibt sich, daß ein großer Teil der gegenwärtigen Erkenntnistheorie ebenfalls irrelevant ist. Dazu gehört die moderne ,epistemische’ Logik, falls wir ihr unterstellen, sie ziele auf eine Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis. Jeder epistemische Logiker kann sich aber leicht völlig gegen meine Kritik immunisieren, indem er einfach erklärt, er wolle nichts zur Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis beitragen.“4 Im Vorwort zu Objektive Erkenntnis sagt Popper: „Die Aufsätze in diesem Buch brechen mit dieser Tradition, die sich bis zu Aristoteles zurückverfolgen läßt: mit der Tradition des rein subjektiv gedeuteten Wissens, des Wissens als eines Zustandes unseres Bewußtseins. Leider bedeutet das auch einen Bruch mit der Tradition der Erkenntnistheorie des Alltagsverstandes oder des gesunden Menschenverstandes. Ich bin ein großer Bewunderer des Alltagsverstandes. Dieser ist, denke ich, wesentlich selbstkritisch und kann sich neu orientieren. Den Realismus des Alltagsverstandes, den ich für eine wichtige Wahrheit halte, würde ich bis zum letzten verteidigen; doch die Erkenntnistheorie des Alltagsverstandes halte ich für einen subjektivistischen Irrtum, der verbessert werden muß. Dieser Subjektivismus hat die westliche Philosophie beherrscht. Ich habe versucht, ihn auszumerzen und durch eine Theorie des objektiven Wissens zu ersetzen: des objektiven Vermutungswissens. Das ist vielleicht ein allzu kühnes Unterfangen, braucht aber wohl keine Entschuldigung.“5
4 5
Objektive Erkenntnis, S. 111 f. Objektive Erkenntnis, S. 11
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6. Die offene Gesellschaft Die Ansichten, in denen die meisten großen politischen Philosophien von Platon bis Marx wurzeln, erstrecken sich nicht nur auf soziale und historische Entwicklungen, sondern auch auf Logik und Wissenschaft und letztlich auf die Erkenntnistheorie. Der Leser, der mir bis hierher gefolgt ist, sieht jetzt, daß Popper keine Ausnahme bildet. Weil das Leben für Popper in erster Linie ein Problemlösungsprozeß ist, bejaht er Gesellschaften, die die Lösung von Problemen fördern. Und weil für die Lösung von Problemen kühne Lösungsvorschläge eingebracht und dann der Kritik und Fehlereliminierung unterworfen werden müssen, bejaht er Gesellschaftsformen, die es uneingeschränkt zulassen, daß verschiedenste Vorschläge unterbreitet und anschließend kritisiert werden, und in denen dann tatsächlich Veränderungen im Lichte der Kritik möglich sind. Popper glaubt (und es ist äußerst wichtig, sich das klarzumachen), daß eine derart organisierte Gesellschaft ihre Probleme wirksamer löst und deshalb die Ziele ihrer Mitglieder erfolgreicher verwirklicht als eine anders organisierte – von allen moralischen Überlegungen einmal ganz abgesehen. Die weitverbreitete Vorstellung, zumindest in der Theorie sei eine Art Diktatur die leistungsfähigste Gesellschaftsform, ist aus dieser Sicht völlig verfehlt. Bei dem guten Dutzend Ländern mit dem höchsten Lebensstandard (natürlich ist das nicht Poppers Hauptkriterium) handelt es sich durchweg um liberale Demokratien – und zwar nicht deshalb, weil die Demokratie ein Luxus ist, den sich diese Länder aufgrund ihres Reichtums leisten können. Im Gegenteil: Die Massen lebten dort in Armut, als sie das allgemeine Wahlrecht erlangten; die Kausalbeziehung verläuft also genau umgekehrt. Bei der Schaffung und Erhaltung eines hohen Lebensstandards hat die Demokratie eine maßgebliche Rolle gespielt. Eine Gesellschaft mit freien Institutionen ist – nicht nur in materieller Hinsicht – zwangsläufig erfolgreicher als eine Gesellschaft ohne freie
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Institutionen. Bei allen politischen Maßnahmen der Regierung, bei allen Entscheidungen der Exekutive und der Administration, spielen empirische Vorhersagen eine Rolle: ,Wenn wir X tun, dann ist Y die Folge; wenn wir andererseits B erreichen wollen, dann müssen wir A tun’. Bekanntlich erweisen sich derartige Vorhersagen nicht selten als falsch (wir alle machen Fehler), und es ist normal, daß man sie modifizieren muß, wenn man weiter mit ihnen arbeiten will. Eine politische Maßnahme ist eine Hypothese, die an der Realität überprüft und im Lichte der Erfahrung korrigiert werden muß. Es ist durchweg rationaler und spart im allgemein Ressourcen, Nerven und Zeit, wenn man Fehler und Gefahrenquellen durch kritische Diskussion vorher aufdeckt, anstatt zu warten, bis sie in der Praxis zutage treten. Außerdem lassen sich manche Fehler oft erst durch kritische Prüfung der praktischen Ergebnisse von Maßnahmen (nicht schon durch Prüfung der Maßnahmen selbst) aufdecken. Denn in diesem Zusammenhang muß man unbedingt der simplen Tatsache ins Auge sehen, daß wohl jede unserer Handlungen unbeabsichtigte Konsequenzen hat. Daraus ergeben sich weitreichende Folgerungen für die Politik, für die Verwaltung und für jede Form der Planung. Beispiele sind leicht anzuführen. Wenn ich mir ein Haus kaufen will, dann steigt der Preis tendenziell schon dadurch, daß ich als Käufer am Markt auftrete. Das ist eine direkte Folge meines Handelns, aber niemand wird behaupten wollen, daß sie beabsichtigt ist. Und wenn ich dann bei der Aufnahme einer Hypothek eine Versicherung abschließe, dann steigen tendenziell die Aktien der Versicherungsgesellschaft, und auch diese direkte Folge meines Handelns hat nichts mit meinen Absichten zu tun.1 Dauernd geschehen Dinge, die niemand will und die niemand geplant hat. Diese unumstößliche Tatsache sollte bei Entscheidungen und bei der Schaffung von Organisationsstrukturen berücksichtigt werden; unterbleibt das, so kommt es laufend zu Verzerrungen. Hier 1
Siehe S. 116 und S. 119
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zeigt sich wieder, welche Bedeutung der kritischen Wachsamkeit und der Möglichkeit, Maßnahmen durch Fehlerelimination zu korrigieren, in der politischen Praxis zukommt. Eine Obrigkeit, die es nicht zuläßt, daß ihre Maßnahmen vorher kritisch geprüft werden, verurteilt sich also nicht nur dazu, viele ihrer Fehler teurer zu bezahlen und sie später zu entdecken, als es nötig wäre; üblicherweise verbietet sie es auch, die praktische Anwendung ihrer Maßnahmen kritisch zu prüfen, und damit verurteilt sie sich dazu, Fehler selbst dann noch eine Weile mitzuschleppen, wenn sich die unbeabsichtigten schädlichen Konsequenzen bereits eingestellt haben. Diese ganze Haltung, die kennzeichnend ist für streng autoritäre Strukturen, ist vernunftwidrig. Sie hat zur Folge, daß die starren Strukturen mit ihren falschen Theorien untergehen oder bestenfalls (wenn die Führung Glück hat und rücksichtslos ist) verknöchern und daß sich die weniger starren mühevoll, kostspielig und unnötig langsam weiterentwickeln. Es genügt nicht, daß jemand, der über Macht verfügt (sei es in der Regierung oder in einer weniger bedeutenden Organisation), seine Politik, im Sinne von Absichten und Zielen, möglichst klar formuliert. Ihm müssen auch die Mittel zu Gebote stehen, seine Ziele zu erreichen. Wenn die Mittel fehlen, dann müssen sie geschaffen werden, andernfalls bleiben die Ziele unerreichbar, so gut sie auch sein mögen. Organisationen und Institutionen aller Art sind, so gesehen, Maschinen für die Durchführung von Politik. Und es ist bei einer Organisation genauso schwer wie bei einer physikalischen Maschine, sie so zu konstruieren, daß sie die gewünschte Leistung erbringt. Wenn ein Ingenieur eine neue Maschine nicht zweckgerecht konstruiert oder wenn er eine bereits vorhandene umbaut, ohne alle notwendigen Änderungen vorzunehmen, dann kommt dabei unmöglich das heraus, was der Ingenieur will, sondern nur das, was die Maschine eben hergibt – und das kann höchst mangelhaft oder sogar gefährlich sein. Für die Organisationsmaschinerie gilt weitgehend das gleiche: Sie ist nicht in der Lage, das zu leisten, was ihre Betreiber von ihr fordern, unabhängig
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davon, wie klug die Betreiber und wie gut und wohl formuliert ihre Ziele und Absichten sind. Wir brauchen deshalb eine politische (oder Verwaltungs-)Technologie und eine politische (oder Verwaltungs-)Wissenschaft, die gegenüber organisatorischen Mitteln im Hinblick auf sich ändernde Ziele eine stets kritische, aber konstruktive Haltung einnimmt. Jede Politik muß in ihrer Durchführung überprüft werden, und dabei ist nicht nur nach Anzeichen dafür zu suchen, daß die Anstrengungen die erwünschten Wirkungen zeigen, sondern auch nach Anzeichen für das Gegenteil. Eine derartige Überprüfung läßt sich in der Praxis gewöhnlich leicht und mit geringen Kosten durchführen, schon deshalb, weil akribische Genauigkeit selten erforderlich ist. Im britischen Hochschulwesen gibt es bereits mindestens einen Fachbereich, der sich dem Studium der Institutionen im Sinne Poppers widmet (er wurde von Tyrrell Burgess am North East London Polytechnic eingerichtet), und die dort erzielten Ergebnisse sind einfach und von großem potentiellem Nutzen. Schließlich verschlingt eine verfehlte Politik oft gewaltige Summen und Anstrengungen, während man gleichzeitig mit wenig Geld und Mühe feststellen könnte, ob diese Politik zu unerwünschten Resultaten führt. Die Mitglieder von Organisationen verschließen aber gern die Augen vor Anzeichen dafür, daß sich ihre Vorstellungen nicht verwirklichen, während sie doch gerade nach solchen Anzeichen Ausschau halten sollten. Und natürlich tut man sich in autoritären Strukturen besonders schwer damit, dauernd Fehler zu suchen und zuzugeben, und seien es auch nur organisatorische Fehler. So kommt es, daß sich die Irrationalität derartiger Strukturen sogar auf die Instrumente erstreckt, von denen sie Gebrauch machen. Poppers moralische Ansichten über politische Fragen wurden, allerdings wohl weniger leidenschaftlich, auch von anderen zum Ausdruck gebracht. Was Popper hier zu sagen hat, bewegt den Leser tief, aber besonders kennzeichnend für Popper sind der Reichtum und die Kraft der Argumente, mit denen er zeigt, daß das Herz die Vernunft
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auf seiner Seite hat. Denn der Glaube, daß Rationalität, Logik und wissenschaftliches Denken nach einer zentral als Ganzes organisierten, geplanten und geleiteten Gesellschaft verlangen, ist weit verbreitet – in unserem Jahrhundert weiter als je zuvor. Popper hat gezeigt, daß diese Vorstellung nicht nur autoritär ist, sondern auf einem verfehlten und überholten Wissenschaftsbegriff beruht. Gerade Rationalität, Logik und wissenschaftliches Denken weisen auf eine Gesellschaft hin, die ,offen’ und pluralistisch ist, in der unvereinbare Ansichten zum Ausdruck gebracht und gegensätzliche Ziele verfolgt werden; auf eine Gesellschaft, in der es jedem freisteht, Problemsituationen zu untersuchen und Lösungen vorzuschlagen; auf eine Gesellschaft, in der es jedem freisteht, die Lösungsvorschläge anderer, besonders die der Regierung, während der Planung oder während der Ausführung zu kritisieren; und vor allem auf eine Gesellschaft, in der sich die Politik der Regierung im Lichte der Kritik ändert. Gewöhnlich wird eine Politik von Menschen vertreten und durchgesetzt, die in der einen oder anderen Weise auf eben diese Politik festgelegt sind. Deshalb bringen politische Änderungen von einer bestimmten Größenordnung an personelle Änderungen mit sich. Die wichtigsten Voraussetzung für die Verwirklichung einer offenen Gesellschaft ist also, daß die Regierenden in angemessenen Zeitabständen und gewaltfrei abgelöst und durch Vertreter einer anderen Politik ersetzt werden können. Und damit diese Möglichkeit nicht nur auf dem Papier steht, muß es Menschen, die eine andere Politik vertreten als die Regierung, freistehen, sich als Alternative zur Regierung zu konstituieren und sich für die Übernahme der Regierungsgewalt bereitzuhalten. Das heißt, daß es ihnen möglich sein muß, zum Zweck der Kritik an den Regierenden zu reden, zu schreiben, zu lehren, die Medien zu nutzen und sich zu organisieren und daß sie eine verfassungsmäßig garantierte Möglichkeit haben müssen, die Regierenden zu ersetzen, zum Beispiel durch regelmäßig abgehaltene freie Wahlen.
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Eine derartige Gesellschaft ist für Popper eine ,Demokratie’; auf das Wort würde er allerdings, wie immer, keinen besonderen Wert legen. Entscheidend ist, daß für Popper die Demokratie in der Bewahrung bestimmter Institutionen besteht (man pflegte sie ,freie Institutionen’ zu nennen, bis die amerikanische Propaganda im Kalten Krieg diesen Ausdruck in Mißkredit brachte), vor allem derjenigen, die es den Regierten ermöglichen, die Regierenden wirksam zu kritisieren und ohne Blutvergießen auszuwechseln. Demokratie besteht für Popper nicht lediglich darin, daß Regierungen durch eine Mehrheit der Regierten gewählt werden, denn diese Sicht führt zum ,Paradox der Demokratie’, wie er es nennt. Was soll man davon halten, wenn die Mehrheit für eine Partei stimmt – zum Beispiel für eine faschistische oder kommunistische Partei – die mit freien Institutionen nichts im Sinne hat und sie fast immer zerstört, wenn sie erst einmal die Macht erlangt hat? Wer darauf festgelegt ist, daß die Regierung durch Mehrheitsvotum gewählt wird, sieht sich hier in einem unlösbaren Dilemma: Jeder Versuch, die Faschisten oder die Kommunisten an der Machtübernahme zu hindern, verstößt gegen seine Prinzipien – wenn derartige Parteien aber an die Macht kommen, dann schaffen sie die Demokratie ab. Außerdem ist ihm die moralische Basis für den aktiven Widerstand etwa gegen ein faschistisches System entzogen, wenn, woran in Deutschland nicht viel gefehlt hat, eine Mehrheit für dieses System stimmt. Poppers Denken vermeidet dieses Paradox. Wer auf die Bewahrung freier Institutionen festgelegt ist, kann sie gegen Angriffe aus jeder Richtung verteidigen (ob sie nun von Minderheiten oder von Mehrheiten kommen), ohne daß er sich dabei in Widersprüche verwickelt. Und er widerspricht sich auch nicht selbst, wenn er einem Versuch, freie Institutionen durch Waffengewalt zu beseitigen, mit gleichen Mitteln entgegentritt. Wenn nämlich in einer Gesellschaft, in der ein friedlicher Regierungswechsel möglich ist, trotzdem eine Gruppe zur Gewalt greift, weil sie sich anders nicht durchsetzen kann, dann ist sie (was immer auch ihre Gedanken und Absichten sein
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mögen) dabei, gewaltsam eine Regierung zu errichten, deren Beseitigung nur gewaltsam möglich ist – mit anderen Worten: eine Tyrannis. In der Tat kann Gewalt gegen ein Regime, das sich auf Gewalt stützt, moralisch gerechtfertigt sein, wenn sie die Errichtung freier Institutionen zum Ziel (und eine reelle Aussicht auf Erfolg) hat, denn sie ist von der Absicht getragen, die Herrschaft der Gewalt durch eine Herrschaft der Vernunft und der Toleranz zu ersetzen. Popper führt andere Paradoxa an, die er mit seiner Haltung vermeidet. Bereits erwähnt wurde das ,Paradox der Toleranz’: Wenn eine Gesellschaft schrankenlos tolerant ist, dann wird sie wahrscheinlich zerstört, und die Toleranz mit ihr. Eine tolerante Gesellschaft muß also unter bestimmten Umständen bereit sein, die Feinde der Toleranz zu unterdrücken – natürlich nur, wenn sie wirklich eine Gefahr darstellen, denn sonst kommt es leicht zu einer Hexenjagd. Und man sollte ihnen zunächst auf der Ebene rationaler Argumentation begegnen und dabei alle Möglichkeiten ausschöpfen. Aber die Feinde der Toleranz können „beginnen, das Argumentieren als solches zu verwerfen; sie können ihren Anhängern verbieten, auf rationale Argumente – die sie ein Täuschungsmanöver nennen – zu hören, und sie werden ihnen vielleicht den Rat geben, Argumente mit Fäusten und Pistolen zu beantworten“; und eine tolerante Gesellschaft kann nur dann überleben, wenn sie in letzter Konsequenz bereit ist, solche Leute durch Gewalt im Zaum zu halten. „Wir sollten eine Aufforderung zur Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung des Sklavenhandels.“2 Ein anderes, vertrauteres Paradox, das implizit zuerst von Platon formuliert wurde, ist das ,Paradox der Freiheit’. Grenzenlose Freiheit zerstört sich – genau wie grenzenlose Toleranz – nicht nur selbst, sondern führt zwangsläufig zu ihrem Gegenteil. Denn wenn alle 2
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Einschränkungen wegfielen, dann könnte nichts mehr die Starken davon abhalten, die Schwachen (oder die Sanftmütigen) zu versklaven. Völlige Freiheit würde also das Ende der Freiheit bedeuten, und deshalb sind Befürworter einer völligen Freiheit eigentlich – was immer ihre Absichten auch sein mögen – Feinde der Freiheit. Popper weist insbesondere auf das Paradox der ökonomischen Freiheit hin: Sie ermöglicht die uneingeschränkte Ausbeutung der Armen durch die Reichen und führt dazu, daß die Armen ihre ökonomische Freiheit fast vollständig verlieren. Auch hier muß es ein Heilmittel geben, ein politisches Heilmittel – „ähnlich jenem, das wir gegen den Gebrauch physischer Gewalt verwenden. Wir müssen soziale Institutionen konstruieren, die die wirtschaftlich Schwachen vor den wirtschaftlich Starken schützen, und die Staatsgewalt muß diesen Institutionen zur Wirksamkeit verhelfen. ... Das bedeutet natürlich, daß das Prinzip der Nichtintervention, eines unbeschränkten ökonomischen Systems, aufgegeben werden muß; wenn wir die Freiheit sicherstellen wollen, dann müssen wir fordern, daß die Politik schrankenloser ökonomischer Freiheit durch die geplante ökonomische Intervention des Staates ersetzt werde. Wir müssen fordern, daß der schrankenlose Kapitalismus einem ökonomischen Interventionismus weiche.“3 Und Popper zeigt dann, daß sich prinzipielle Gegner des Staatsinterventionismus selbst widersprechen. „Welche Freiheit soll der Staat schützen? Die Freiheit des Arbeitsmarktes oder die Freiheit der Armen, sich zu vereinigen? Welcher Entschluß auch immer gefaßt wird, er führt zu einer Staatsintervention, zum Einsatz organisierter politischer Gewalt von seiten des Staates wie auch von seiten der Gewerkschaften im Bereich ökonomischer Bedingungen. Er führt unter allen Umständen zu einer Ausdehnung der wirtschaftlichen Verantwortlichkeit des Staates, ob diese nun bewußt akzeptiert wird oder nicht.“4 Und allgemeiner: „Wenn 3 4
Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, II, S. 154 Ebenda, II, S.219
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sich der Staat nicht einmischt, dann mischen sich andere halbpolitische Organisationen, wie Monopole, Trusts, Vereinigungen usw. ein und machen die Freiheit des Marktes zu einer Fiktion. Andrerseits ist die Einsicht von höchster Wichtigkeit, daß das ganze ökonomische System seinen einzigen vernünftigen Zweck – die Befriedigung der Bedürfnisse des Konsumenten – ohne einen sorgsam geschützten freien Markt nicht erfüllen kann. ... Ökonomisches ,Planen’, das nicht auf ökonomische Freiheit in diesem Sinne abzielt, wird in gefährliche Nähe totalitärer Methoden führen.“5 In allen diesen Fällen ist die größtmögliche Toleranz oder Freiheit nicht absolut zu sehen, sondern als Optimum, denn sie muß beschränkt werden, wenn sie überhaupt bestehen soll. Die Regierungsintervention, der einzige Garant der Freiheit, ist eine zweischneidige Waffe: Wenn von ihr zu wenig oder gar kein Gebrauch gemacht wird, aber auch bei zu massivem Einsatz, geht die Freiheit zugrunde. Damit sind wir wieder bei der Kontrolle (und wirksame Kontrolle bedeutet Absetzbarkeit) der Regierung durch die Regierten als conditio sine qua non der Demokratie. Diese Bedingung allerdings ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend. Sie garantiert nicht, daß die Freiheit bewahrt bleibt, denn dafür gibt es keine Garantie: Der Preis der Freiheit ist ständige Wachsamkeit. Wie Popper bemerkt, haben Institutionen und Festungen gemeinsam, daß man sie richtig anlegen muß, wenn sie sich halten sollen, daß sie aber erst durch die richtige Bemannung einsatzbereit werden. Politische Philosophen haben im allgemeinen der Frage ,Wer soll herrschen?’ zentrale Bedeutung beigemessen und im Rahmen ihrer unterschiedlichen Philosophien versucht, verschiedene Antworten zu rechtfertigen: ein Einzelner, die Vornehmen, die Reichen, die Weisen, die Starken, die Guten, die Mehrheit, das Proletariat, und so weiter. Aber schon die Frage ist aus mehreren Gründen verfehlt. Erstens führt sie geradewegs zu einem weiteren Paradox, das Popper das ,Paradox 5
Ebenda, II, S. 445
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der Souveränität’ nennt. Wenn etwa die Macht in die Hände des Weisesten gelegt wird, dann kommt er vielleicht aus den Tiefen seiner Weisheit zu dem Schluß: ,Nicht ich, sondern der sittlich Gute sollte Herrscher sein’. Wenn der sittlich Gute die Macht hat, dann sagt er vielleicht, heiligmäßig wie er ist: ,Es ist falsch, wenn ich anderen meinen Willen aufzwinge. Nicht ich sollte herrschen, sondern die Mehrheit.’ Die Mehrheit, an die Macht gelangt, sagt vielleicht: ,Wir wollen einen starken Mann, der Ordnung schafft und uns sagt, was wir tun sollen’. Ein zweiter Einwand ist, daß die Frage ,Bei wem sollte die Souveränität liegen?’ auf der – unzutreffenden – Annahme beruht, daß irgendjemand letztlich die Macht innehaben muß. Die meisten Gesellschaften besitzen verschiedene und bis zu einem gewissen Grade konkurrierende Machtzentren, von denen sich keines in allen Fragen durchsetzen kann. In einigen Gesellschaften ist die Macht alles andere als an einer Stelle konzentriert. Die Frage: ,Ja, aber wo liegt sie letztlich?’ schließt die Möglichkeit einer Kontrolle der Herrschenden bereits von vornherein aus, und zwar gerade dann, wenn das wichtigste eben die Einrichtung einer Kontrollinstanz wäre. Die entscheidende Frage lautet nicht: ,Wer soll herrschen?’, sondern: ,Wie können wir die Wahrscheinlichkeit, daß schlechte Herrscher an die Macht kommen, und den Schaden, den sie gegebenenfalls anrichten, so gering wie möglich halten?’ Der Gedankengang ist also folgender: Aus praktischer wie aus moralischer Sicht ist die beste Gesellschaft, die es gibt, eine Gesellschaft, die ihren Mitgliedern größtmögliche Freiheit läßt; die größtmögliche Freiheit ist eine qualifizierte Freiheit; nur diejenigen Institutionen können die Freiheit schaffen und erhalten, die zu diesem Zweck entworfen wurden und hinter denen die Macht des Staates steht; daraus ergeben sich weitreichende staatliche Eingriffe in das politische, wirtschaftliche und soziale Leben; ein zu geringes wie ein zu großes Maß an Intervention beeinträchtigt die Freiheit in unnötiger Weise; die beste Möglichkeit, sich gegen Gefahren aus der einen oder der anderen Richtung abzusichern, besteht darin, die wichtigsten Institutionen von
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allen zu bewahren, nämlich die verfassungsmäßigen Mittel, die es den Regierten ermöglichen, die Inhaber der Staatsmacht zu entfernen und durch Vertreter einer anderen Politik zu ersetzen; jeder Versuch, derartige Institutionen auszuschalten, stellt den Versuch dar, eine autoritäre Herrschaft zu errichten, und muß nötigenfalls mit Gewalt verhindert werden; Gewalt gegen eine Tyrannei kann selbst dann gerechtfertigt sein, wenn die Mehrheit die Tyrannei unterstützt; aber nur zwei legitime Ziele rechtfertigen den Einsatz von Gewalt: die Verteidigung freier Institutionen dort, wo sie bestehen, und die Errichtung freier Institutionen dort, wo es noch keine gibt. Für mich hat es immer auf der Hand gelegen, daß es sich hier um eine Philosophie der Sozialdemokratie handelt – so unverkennbar antikonservativ einerseits wie unverkennbar antitotalitär (und damit antikommunistisch) andererseits. Denn es ist vor allem eine Philosophie der Veränderung, und zwar einer Veränderung auf rationalem und humanem Wege, nicht durch Gewalt und Revolution. Ich glaube gezeigt zu haben, wie sich diese Philosophie nahtlos in Poppers Wissenschaftstheorie einfügt. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, daß der Autor von Die offene Gesellschaft zwanzig Jahre lang im Kontakt mit aktiven Mitgliedern der Sozialdemokratischen Partei Österreichs gestanden hatte. Popper war als Sozialdemokrat zu der Überzeugung gelangt, daß die Verstaatlichung der Industrie, der Verkehrsbetriebe und des Geldwesens, die im Programm seiner Partei eine zentrale Stellung einnahm, die Probleme nicht von selbst lösen würde, wohl aber die Werte zerstören könnte, die den Sozialdemokraten besonders viel bedeuteten. Als junger Mann, dessen politischer Einfluß auf seinen Freundeskreis beschränkt war, hätte er es begrüßt, wenn die Sozialdemokraten die marxistische Analyse des sozialen Wandels aufgegeben und sie durch ähnliche Gedanken ersetzt hätten, wie er sie vertrat – aber er mußte annehmen, daß darauf keine Aussicht bestand. Seine Partei hat ihn schließlich enttäuscht – nicht primär durch ihr verworrenes Gedankengut, sondern dadurch, wie sie die Arbeiter der
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Gewalt aussetzte, während ihr ein Programm zum Widerstand gegen diese Gewalt fehlte; dadurch, daß die Parteiführer Furcht vor der Verantwortung hatten; und vor allem dadurch, daß die Partei mit den Kommunisten gemeinsame Sache machte und der Machtergreifung durch die Nazis nicht den äußersten Widerstand entgegensetzte (allerdings waren ihre Motive, im Gegensatz zu denen der Kommunisten, nicht machiavellistisch, sondern von Schwäche geprägt). Seit dieser Zeit ist Popper sozialdemokratischen Parteien gegenüber mißtrauisch. Er würde sich jetzt, zu einer Stellungnahme gedrängt, als Liberalen im klassischen Sinne bezeichnen. Und hier muß ich mich für befangen erklären. Ich bin demokratischer Sozialist und glaube, daß niemand das philosophische Fundament des demokratischen Sozialismus gedanklich besser ausgearbeitet hat als der junge Popper. Und wie er würde ich es gern sehen, daß diese Gedanken den Mischmasch von Marxismus und liberal gesinntem Opportunismus ersetzen, den man bei der demokratischen Linken als politische Theorie durchgehen läßt. (Dafür habe ich in meinem 1962 veröffentlichten Buch The New Radicalism plädiert, das sich mit der Politik der British Labour Party befaßt.) Kurz: Popper hat seine Gedanken als Antwort auf die Bedürfnisse des demokratischen Sozialismus entwickelt, dem er anfangs eng verbunden war; ich habe deutlich gemacht, daß Popper kein Sozialist mehr ist, aber ich möchte seine Gedanken für den demokratischen Sozialismus in Anspruch nehmen. Hier liegt, so glaube ich, ihre wahre Bedeutung, und hier liegt ihre Zukunft. Ich behaupte, daß der ältere Popper in Fragen der praktischen Politik einfach nicht die radikalen Konsequenzen seiner eigenen Gedanken akzeptiert, und unsere Auseinandersetzung darüber dauert schon lange. (Wenn ich in diesem Punkte recht habe, dann gibt es wenigstens einen berühmten Präzedenzfall: Marx hat im Alter Wert auf die Feststellung gelegt, daß er kein Marxist sei.) Das allgemeine Prinzip der Politik, das in Die offene Gesellschaft formuliert wird, lautet: ,Halte vermeidbares Leid möglichst gering’.
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Kennzeichnend für diese Maxime ist, daß sie die Aufmerksamkeit sofort auf Probleme lenkt. Wenn sich zum Beispiel eine Erziehungsbehörde das Ziel gesetzt hat, den Kindern unter ihrer Obhut größtmögliche Chancen zu bieten, dann weiß man dort, aus verständlichen Gründen, wohl nicht so recht, wie das zu bewerkstelligen ist; vielleicht regt sich auch der Gedanke, das vorhandene Geld für den Bau von Modellschulen auszugeben. Wenn es dagegen erklärtes Ziel ist, Benachteiligungen möglichst gering zu halten, dann wendet sich die Aufmerksamkeit sofort den Schulen zu, die am schlechtesten ausgestattet sind – den Schulen mit der schlimmsten Lehrerknappheit, mit den überfülltesten Klassen, den heruntergekommensten Gebäuden, mit der schlechtesten Lehrmittelversorgung –, und dann wird vorrangig die Situation dieser Schulen verbessert. Das ist die unmittelbare Konsequenz von Poppers Ansatz: Er ermutigt nicht dazu, über die Errichtung von Utopia nachzudenken, sondern dazu, die sozialen Mißstände, an denen Menschen leiden, ausfindig zu machen und für sie Abhilfe zu schaffen. Dieser Ansatz ist also vor allem pragmatisch und dabei doch dem Wandel verpflichtet. Er geht von der Sorge um den Menschen aus und führt zu einer unablässigen, aktiven Bereitschaft, Institutionen umzuformen. ,Halte die Unglückseligkeit möglichst gering’ ist nicht bloß eine negative Formulierung der utilitaristischen Maxime ,Schaffe größtmögliche Glückseligkeit’. Es liegt hier eine logische Asymmetrie vor: Wir wissen nicht, wie wir die Menschen glücklich machen sollen, aber wir wissen, wie wir ihr Unglück vermindern können. Der Leser bemerkt sofort eine Analogie zur Verifizierbarkeit oder Falsifizierbarkeit wissenschaftlicher Sätze. „Ich glaube, daß vom ethischen Standpunkt aus betrachtet keine Symmetrie zwischen Freuden und Leiden oder zwischen Lust und Schmerz besteht. ... Meiner Ansicht nach enthält das menschliche Leiden einen direkten moralischen Appell, nämlich den Appell zu helfen, während keine ähnliche Nötigung besteht, das Glück oder die Freuden eines Menschen zu vermehren, dem es ohnehin gut
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geht. (Eine weitere Kritik der utilitaristischen Formel ,Schaffe größtmögliche Glückseligkeit’ geht davon aus, daß die Formel im Prinzip eine Art von kontinuierlicher Glückseligkeitsskala annimmt, die es uns gestattet, den Schmerz als negative Glückseligkeit aufzufassen, die durch positive Glückseligkeit aufgewogen werden kann. Vom moralischen Standpunkt aus betrachtet, läßt sich aber Schmerz nicht durch Glückseligkeit aufwiegen, insbesondere nicht der Schmerz des einen Menschen durch die Glückseligkeit eines anderen. Statt der größten Glückseligkeit für die größte Zahl sollte man – etwas bescheidener – das kleinste Maß an vermeidbarem Leid für alle fordern; und man sollte weiterhin verlangen, daß unvermeidbares Leid – wie Hunger in Zeiten eines unvermeidlichen Mangels an Nahrungsmitteln – möglichst gleichmäßig verteilt werde.)“6 Popper hat mit seiner Behauptung recht, daß sich aus einem solchen Ansatz die unablässige Forderung nach sofortigem Handeln zur Behebung konkreter Mißstände ergibt. Und derartiges Handeln dürfte der allgemeinen Anerkennung sicher sein und zu spürbaren Verbesserungen führen. Popper hütet sich auch, wiederum zu recht, vor dem Utopismus, der in praxi intolerant und autoritär ist. (Dieser Punkt wird im nächsten Kapitel noch ausführlicher behandelt.) Allerdings erscheint es etwas zweifelhaft, ob die Devise ,Halte die Unglückseligkeit möglichst gering’ als politische Leitmaxime genügend tragfähig ist – so groß ihr heuristischer Wert auch sein mag. Sie beschränkt sich auf die Berichtigung von Mißbräuchen und Unregelmäßigkeiten innerhalb einer bestehenden Verteilung von Macht, Besitz und Chancen. Wollte man sie wörtlich auffassen, dann ließen sich wohl auch so gemäßigt liberale Maßnahmen wie die staatliche Kunstförderung und die Errichtung von kommunalen Sportstätten und Schwimmbädern nicht mit ihr vereinbaren. Eine derart erzkonservative Position wäre keine natürliche Konsequenz aus 6
Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, I, S. 387f.
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Poppers radikaler Philosophie, jedenfalls nicht für eine Gesellschaft im Überfluß – sie hat sich sogar für einen konservativen Berufspolitiker als zu konservativ erwiesen7 –, und Popper selbst würde sie bestimmt nicht aufrechterhalten wollen. Wir sollten es uns zur methodologischen Regel machen, immer zunächst von der genannten Devise und ihren Konsequenzen auszugehen, dann aber, wo irgend möglich, die Situation neu im Lichte einer zweiten, ergiebigeren Formulierung zu betrachten, in der unsere erste enthalten ist. Diese zweite Formulierung lautet: ,Schaffe dem Einzelnen größtmögliche Freiheit, sein Leben nach seinen eigenen Wünschen zu gestalten’. Zur Verwirklichung dieser Forderung sind umfangreiche öffentliche Vorkehrungen im Bildungswesen, in der Kulturpolitik, im Wohnungsbau, im Gesundheitswesen und in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen nötig – sie müssen sich aber immer so auswirken, daß sie die Wahlmöglichkeiten und damit die Freiheit des Einzelnen erweitern.
7
Sir Edward Boyle, New Society, 12.9.1963
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7. Die Feinde der offenen Gesellschaft Meiner Ansicht nach ist die Philosophie der Sozialdemokratie heute der bedeutsamste Aspekt von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Popper stand bei Abfassung des Buches der Sozialdemokratie nahe, aber er hat es hauptsächlich aus einem anderen Grunde geschrieben. Man darf nicht vergessen, daß Hitler, während das Buch entstand, von Erfolg zu Erfolg eilte, in Europa ein Land nach dem anderen eroberte und tief nach Rußland hinein vorstieß. Der abendländischen Kultur drohte unvermittelt der Rückfall in die Barbarei. Unter diesen Umständen ging es Popper darum, die Anziehungskraft totalitären Gedankenguts zu verstehen, zu erklären und ihr mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen, entgegenzuwirken – und außerdem kundzutun, wie wertvoll und wie wichtig Freiheit im weitesten Sinne ist. Durch dieses anspruchsvolle Programm wird die Philosophie der Sozialdemokratie in einen nach Ort und Zeit denkbar umfassenden Zusammenhang gestellt. Im Mittelpunkt von Poppers Erklärung für die Anziehungskraft des Totalitarismus steht ein sozio-psychologischer Begriff, den er die ,Last der Kultur’ nennt – er ist, wie Popper zugibt, dem Begriff verwandt, den Freud in Das Unbehagen in der Kultur formuliert hat. Wir hören oft die Behauptung, daß die ,meisten Menschen’ im Grunde gar keine Freiheit wollen, weil sie Angst vor der Verantwortung haben, Freiheit aber Verantwortung mit sich bringt. Ich bin sicher, daß diese Aussage eine wichtige Wahrheit enthält, ob sie nun für die ,meisten Menschen’ zutrifft oder nicht. Wenn wir für unser Leben Verantwortung übernehmen, dann bedeutet das, daß wir laufend vor schwierigen Entscheidungen stehen und die Konsequenzen tragen müssen, wenn wir die falsche Wahl getroffen haben. Das ist lästig, um nicht zu sagen beängstigend. Und wir alle sind nicht frei von der – vielleicht infantilen – Neigung, auszuweichen und uns die Last von den Schultern nehmen zu lassen. Unser stärkster Instinkt aber ist der Überlebensinstinkt, und
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daher ist unser Bedürfnis nach Sicherheit wohl am stärksten ausgeprägt; aus diesem Grunde sind wir nur bereit, einer Person oder einer Institution, der wir mehr vertrauen als uns selbst, Verantwortung zu übertragen. (Deshalb hätten es die Menschen gern, daß ihre Herrscher ,besser’ sind als sie selbst, deshalb glauben sie so viele Ungereimtheiten, die sie in ihrem Vertrauen bestätigen, und deshalb sind sie so erschüttert, wenn herauskommt, daß die Herrscher eben nicht ,besser’ sind.) Die unausweichlichen und schwierigen Entscheidungen, die unser Leben bestimmen, soll jemand treffen, der – wie vielleicht ein strenger, aber gütiger Vater – stärker als wir und uns trotzdem gut gesonnen ist; oder sie sollen uns von einem praktischen gedanklichen System abgenommen werden, das klüger als wir ist und weniger oder keine Fehler macht. Vor allem suchen wir Befreiung von der Angst. Und die meisten Ängste – einschließlich der am tiefsten sitzenden, etwa der Angst vor dem Dunkel, vor Fremden, vor dem Tod, vor der Zukunft und vor den Folgen unseres Handelns – sind letztlich Formen der Angst vor dem Unbekannten. Deshalb verlangen wir immer nach Garantien dafür, daß das Unbekannte in Wahrheit gar nicht unbekannt ist und daß es etwas birgt, das wir ohnehin brauchen. Wir machen uns Religionen zu eigen, die uns versichern, daß wir nicht sterben werden, und politische Philosophien, die uns versichern, daß die Gesellschaft einmal – und zwar vielleicht schon bald – vollkommen sein wird. Diesen Bedürfnissen kamen die unwandelbaren Gewißheiten vorkritischer Gesellschaften entgegen – ihre Autoritäten, Hierarchien, Rituale und Tabus. Als sich aber der Mensch vom Stammesverband löste und eine kritische Tradition entstand, wurden neue und erschreckende Forderungen laut: Das Individuum sollte bezweifeln, was es immer als gegeben hingenommen hatte, es sollte die Autorität in Frage stellen und Verantwortung für sich und andere übernehmen. Anders als zu der Zeit, als noch die alten Gewißheiten galten, drohte der Gesellschaft nun der Zerfall, dem Individuum die Orientierungslosigkeit. Diese Bedrohung rief von Anfang an eine Reaktion auf den Plan, beim Einzelnen
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(das ist zum Teil Freuds Thema) wie bei der Gesellschaft. Wir erwerben Freiheit auf Kosten von Sicherheit, Gleichheit auf Kosten unserer Selbstachtung und ein kritisches Bewußtsein unserer selbst auf Kosten unseres Seelenfriedens. Der Preis ist hoch; keiner von uns bezahlt ihn gern, und viele möchten ihn überhaupt nicht zahlen. Für die besten Geister der Griechen aber gab es keinen Zweifel daran, daß sich der Handel lohnt, und von ihrem größten Sozialkritiker und Fragesteller heißt es seither, daß es besser ist, ein unzufriedener Sokrates zu sein als ein zufriedenes Schwein. Es gab jedoch eine Gegenbewegung, und Sokrates wurde wegen seines Fragens zum Tode verurteilt. Und seit seinem Schüler Platon hat es nie an außerordentlich begabten Menschen gefehlt, die eine stärkere ,Öffnung’ der Gesellschaft bekämpfen und denen daran liegt, daß sich die Gesellschaft zu einer ,geschlosseneren’ Gesellschaft zurück- oder weiterentwickelt. So hat sich seit Beginn des kritischen Denkens, seit den Vorsokratikern, nicht nur die Kultur herausgebildet, sondern parallel zu dieser Tradition (oder vielleicht genauer: in ihr) eine Reaktion gegen die Last der Kultur. Aus ihr sind die Philosophien der Rückkehr zum Mutterschoß einer vorkritischen Stammesgesellschaft oder des Fortschritts hin zu einem Utopia hervorgegangen. Weil solche reaktionären und utopischen Ideale ähnliche Bedürfnisse befriedigen, stehen sie einander ihrem Wesen nach sehr nahe. Beide lehnen die bestehende Gesellschaft ab und verkünden, daß eine vollkommenere Gesellschaft einem anderen Zeitalter angehört. Beide neigen deshalb zur Gewalt und dabei doch zur Romantik. Wer glaubt, daß sich die Gesellschaft vom Schlechten hin zum noch Schlechteren entwickelt, möchte die Veränderungen zum Stillstand bringen; wer der Meinung ist, daß er an der vollkommenen Gesellschaft der Zukunft baut, möchte ihr, wenn sie errichtet ist, Dauer verleihen, und das bedeutet ebenfalls, den Veränderungen Einhalt zu gebieten. Der Reaktionär wie der Utopist haben also eine Gesellschaft ohne Wandel im Auge. Und weil man dem Wandel nur durch strengste soziale Kontrolle vorbeugen
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kann – indem man die Menschen daran hindert, auf eigene Faust irgendetwas zu unternehmen, das ernsthafte soziale Auswirkungen haben könnte – führt der Weg für den Reaktionär wie für den Utopisten in den Totalitarismus. Der Keim zu dieser Entwicklung ist von Anfang an gelegt; wenn sie aber in Gang gekommen ist, wird es heißen, die Theorie sei pervertiert worden. Man hat mittlerweile schon oft gehört, daß sich die eine oder andere utopische oder reaktionäre Theorie (zum Beispiel der Kommunismus oder die Mär von der Diktatur als leistungsfähigster Regierungsform) sehr schön ausmacht, aber in der Praxis leider nicht funktioniert. Hier liegt ein Trugschluß vor. Wenn eine Theorie in der Praxis nicht funktioniert, dann ist das bereits ein Anzeichen dafür, daß mit ihr etwas nicht stimmen kann. (Genau da liegt auch der springende Punkt beim wissenschaftlichen Experiment.) Die praktischen Folgen reaktionärer und utopischer Theorien sind Gesellschaften wie die unter Hitler oder unter Stalin; aber der Wunsch nach einer vollkommenen Gesellschaft entspringt natürlich nicht der menschlichen Bosheit, sondern ihrem Gegenteil. Die schrecklichsten Ausschreitungen wurden von Idealisten, deren Absichten durch und durch lauter waren, aus ehrlicher Überzeugung begangen – etwa von den Inquisitoren in Spanien. Das Sprichwort ,Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert’ läßt sich am besten anhand der abendländischen Geschichte veranschaulichen, die ja zu einem großen Teil durch Autokratien und Kriege aus ideologischen und religiösen Gründen bestimmt ist. Es sind keineswegs nur Dummköpfe, die auf diesen Weg geraten: Das Gefühl der Unzufriedenheit mit der bestehenden Gesellschaft, das den Anstoß gibt, ist eher ein Anzeichen für Intelligenz und Vorstellungskraft als für das Gegenteil – Menschen, denen diese Eigenschaften abgehen, sind mit größerer Wahrscheinlichkeit konservativ und neigen dazu, alles so hinzunehmen, wie es eben ist. An der Spitze des Aufstandes gegen die Kultur – das heißt gegen Freiheit und Toleranz und gegen ihre Folgen: Verschiedenheit,
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Konflikt, unvorhersagbarer und unkontrollierbarer Wandel, Unsicherheit an allen Ecken und Enden – standen, wie ich bereits angedeutet habe, einige der größten Geister der Menschheit. Weil sie Genies waren, ist ihr Elitedenken – die Verachtung für den trägen Konservatismus der gewöhnlichen Sterblichen und als Folge davon die Ablehnung der Demokratie und der Lehre von der Gleichheit – umso ,natürlicher’ erschienen, und sie haben sich dabei umso wohler gefühlt. Wo Popper die Feinde der offenen Gesellschaft angreift, da billigt er den meisten von ihnen höchst ehrenwerte Motive und manchen von ihnen höchste Intelligenz zu, und er räumt ein, daß sie sich an einige unserer edelsten Triebe wenden und an Unsicherheiten, die tief in uns allen verwurzelt sind. Als herausragendes Beispiel für einen genialen Philosophen, dessen politische Theorie den Wunsch nach Rückkehr zur Vergangenheit verkörpert, führt Popper Platon an. Er unterzieht Platons Theorie im ersten der beiden Bände von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde einer ausgiebigen und detaillierten Kritik. Der zweite Band enthält eine entsprechende Kritik an Marx als dem herausragenden Philosophen, der mit seiner Theorie eine vollkommene Zukunft entwirft. (Popper unterscheidet aus Gründen, die noch deutlich werden, zwischen dem Marxismus und utopischen Theorien, aber er legt dar, daß und warum er beide Richtungen ablehnt.) Wie Popper diese gewichtigen Gegner, besonders Marx, angeht, ist allein schon eine der wichtigsten Lektionen in Methode, die man aus seinen Schriften lernen kann. In der gesamten Geschichte der geistigen Auseinandersetzung haben selbst geniale Polemiker wie Voltaire immer die schwachen Punkte in der Argumentation ihres Gegners ausfindig gemacht und angegriffen. Dieser Vorgehensweise haftet aber ein schwerer Nachteil an. Jede Argumentation hat schwächere wie stärkere Punkte und bezieht ihre Anziehungskraft offensichtlich aus den stärkeren; ein Angriff auf die schwächeren Punkte kann mithin ihre Anhänger verwirren, nicht aber die Überlegungen erschüttern, auf die sie sich letztlich stützen. Das ist
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einer der Gründe dafür, warum so selten seine Ansichten ändert, wer in einer Diskussion unterliegt. Häufiger führt ein Rückschlag dazu, daß man die schwächsten Punkte in seiner Argumentation fallenläßt oder verbessert und so letztlich seine Position stärkt. Es kommt bei einer Diskussion zwischen zwei intelligenten Menschen oft vor, daß die Argumente auf beiden Seiten mit der Zeit immer besser werden, denn sie gewinnen ständig durch die Kritik der Gegenseite. (Eine Erklärung im Sinne Poppers liegt auf der Hand.) Popper zielt darauf ab, die stärkste Stelle eines Gegners ausfindig zu machen und gerade dort anzugreifen, und das tut er dann auch nach Kräften. Bevor er angreift, versucht er sogar, die gegnerische Argumentation noch zu stützen. Er prüft, ob sich Schwächen ausräumen und Formulierungen verbessern lassen, legt alle Zweifel zugunsten des Gegners aus und übergeht jede offensichtliche Lücke. Wenn Popper so das Argument in die bestmögliche Form gebracht hat, greift er es dort an, wo es am überzeugendsten und anziehendsten wirkt. Diese Methode ist faszinierend und intellektuell denkbar ernstzunehmen, und wenn sie Erfolg hat, sind die Ergebnisse verheerend. Denn es bleibt keine Version des widerlegten Arguments übrig, die sich im Lichte der Kritik rekonstruieren ließe, weil jede Ausflucht und jeder Vorbehalt bereits in der Fassung enthalten war, die zerpflückt wurde. So ist Popper nach Einschätzung vieler mit dem Marxismus verfahren – daher die Bemerkung von Isaiah Berlin, die im zweiten Satz dieses Buches zitiert wurde. Und ich muß gestehen, daß mir nicht klar ist, wie ein rational denkender Mensch nach Lektüre von Poppers Kritik des Marxismus noch Marxist sein kann. Aber darauf kommen wir gleich zu sprechen. Der Aspekt von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, der unter den Gelehrten immer am umstrittensten war, ist der Angriff auf Platon. Nur zu viele einschlägige Bemerkungen zeichnen sich durch Unkenntnis aus. Ich habe oft sagen hören, der erste Band von Die offene Gesellschaft sei tatsächlich in erster Linie eine Kritik an Platon, Popper schätze Platon als Philosophen gering, und er werde durch das ausgezeichnete,
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gewichtige und kenntnisreiche Buch In Defense of Plato von Ronald B. Levinson ,vollständig widerlegt’ (oder was dergleichen Redensarten mehr sind).1 Nichts davon stimmt. Popper nennt Platon eindeutig den „größten Philosophen aller Zeiten“2 und spricht beispielsweise, selbstverständlich und ohne Ironie, von der „ganzen Kraft seiner unübertroffenen Intelligenz“.3 Er schließt sich Whiteheads Ausspruch an, die gesamte abendländische Philosophie bestehe aus Fußnoten zu Platon. Es geht Popper auch nicht in erster Linie um eine Kritik an Platon. Levinson stellt Poppers Position richtig dar, wenn er schreibt: „Der Angriff auf Platon bildet das Gegenstück zu Poppers Überzeugung, die das ganze Buch motiviert – daß die bedeutsamste aller Revolutionen der Übergang von der ,geschlossenen’ zur ,offenen’ Gesellschaft ist, zu einem Zusammenschluß freier Menschen innerhalb eines staatlichen Rahmens, der wechselseitigen Schutz bietet; von Menschen, die einander in ihren Rechten achten und die durch verantwortliche, rationale Entscheidungen ihr Leben immer humaner und aufgeklärter gestalten“.4 Und Levinson, weit davon entfernt, Poppers Urteil über Platon ,vollständig zu widerlegen’, gibt Popper schließlich im wichtigsten Punkt recht: „In erster Linie stimmen wir darin überein, daß Platon – um Poppers Ausdruck zu gebrauchen – den Vorschlag machte, eine ,geschlossene’ Gesellschaft zu errichten, in der der gewöhnliche Bürger bevormundet wird. ... Man tut Platon nicht Gewalt an, wenn man sein politisches Ideal als eine sehr differenzierte Spielart der vielen Formen autoritärer Herrschaft klassifiziert, die unter unsere verallgemeinerte Version von Websters Definition des Totalitarismus fallen; wir sind bereits dahingehend übereingekommen, Die Antwort Poppers auf dieses Buch ist in einer Ergänzung zur 4. Auflage von The Open Society and Its Enemies (1961) nachzulesen. 2 Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, I, S. 141 3 Ebenda, I, S. 155 4 In Defense of Plato, S. 17 1
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daß man hier auch von ,Totalitarismus’ im genau abgewogenen Sinne Sabines sprechen kann, von einer Regierung, die ,nicht mehr zwischen dem Bereich des privaten Ermessens und dem der öffentlichen Kontrolle unterscheidet.’“5 Levinson lehnt vieles von dem, was Popper sagt, scharf ab; er zollt Popper aber immer Respekt dafür, daß er sich auf „vielen Gebieten gründlich auskennt“ und „uneingeschränkt für liberale und demokratische Ideale eintritt, deren Verteidigung das gesamte Werk [Die offene Gesellschaft und ihre Feinde] gewidmet ist“.6 Die Ansicht, man habe auf irgendeine Weise gezeigt, daß es mit Poppers Platonkenntnis nicht weit her ist, scheint unausrottbar, aber mit ihr ist es selbst nicht weit her, weil sie ungeprüft wiederholt wird. Die bedeutenderen Philosophen allerdings haben sich in dieser Hinsicht nichts zuschulden kommen lassen. Bertrand Russell schrieb: „Poppers Angriff auf Platon ist unorthodox, aber meiner Meinung nach voll gerechtfertigt“. Und Gilbert Ryle, selbst ein bedeutender Platonkenner, schrieb in einer Besprechung von Poppers Buch in Mind: „Er hat sich offenbar gründlich und in schöpferischer Weise mit griechischer Geschichte und griechischem Denken befaßt. Nach Popper muß man Platon anders lesen.“ Ein Vierteljahrhundert später (am 28. Juli 1972) hat Ryle im Dritten Programm der BBC dieses Urteil noch einmal ausdrücklich bekräftigt. Der Platonismus als solcher ist im politischen und sozialen Leben der modernen Welt kein aktuelles Thema; die Philosophie der Vorsokratiker auch nicht – wohl aber der Marxismus. Tatsächlich kommt der persönlichen Leistung von Marx, wie sie sich in der heutigen Weltlage verkörpert, eine überwältigende praktische Bedeutung zu, durch die sie in der Geschichte ohne Beispiel dasteht. Vor kaum mehr als hundert Jahren war Marx – ein Intellektueller in den Sechzigern, der mit Frau und Familie in Hampstead lebte und seine 5 6
Ebenda, S. 571, 573 Ebenda, S. 19
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Zeit mit Lesen und Schreiben verbrachte – selbst dem gebildeten Publikum kaum bekannt. Und keine siebzig Jahre nach seinem Tode hatte ein Drittel der Menschheit, unter anderem im gesamten Russischen Reich und in ganz China, Gesellschaftsformen übernommen, die sich nach Marx benennen. Meiner Meinung nach ist dieses außergewöhnliche Phänomen noch gar nicht hinreichend gewürdigt worden. Aber kaum jemand wird bestreiten wollen, daß Marx der einflußreichste Philosoph der letzten hundert Jahre ist und daß wir die Welt, in der wir heute leben, ohne Kenntnisse über das politische und soziale Denken von Marx unmöglich verstehen können. Und, anders als vor dreißig Jahren, nimmt heute im gesamten Westen an den Universitäten und bei der intellektuellen Jugend das Interesse für den Marxismus nicht ab, sondern zu. Der Marxismus erhebt Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, und das ist für ihn von zentraler Bedeutung. Marx sah sich sozusagen als den Newton oder den Darwin der Geschichts-, der Politik- und der Wirtschaftswissenschaft – man könnte auch allgemein sagen: der Sozialwissenschaft. Er zollte Darwin „größere Bewunderung als jedem anderen seiner Zeitgenossen, war er doch der Ansicht, daß dieser mit seiner Entwicklungs- und Selektionstheorie für die Morphologie der Naturwissenschaften das erreicht habe, was er für die menschliche Geschichte zu tun versuchte“.7 (Einer vielzitierten Legende zufolge hatte Marx sogar beabsichtigt, den zweiten Band seines Werkes Das Kapital Darwin zu widmen.) Im Grunde geht es um folgendes: Marx glaubte, daß die Entwicklung der Gesellschaft wissenschaftlichen Gesetzen unterliege und daß er der Entdecker dieser Gesetze sei. Sein Wissenschaftsverständnis war natürlich noch nicht von Einstein geprägt. Wie jeder gutinformierte Zeitgenosse glaubte Marx, daß Newton Naturgesetze entdeckt habe, denen die Bewegungen der Materie im Raum gehorchen, und daß folglich bei Kenntnis der 7
Isaiah Berlin, Karl Marx, rev. u. erw. Ausg. 1968, S. 175
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entsprechenden Daten über ein beliebiges physikalisches System alle künftigen Zustände des Systems vorhersagbar seien. So können wir im voraus die Zeiten von Sonnenaufgang und -untergang angeben, Sonnenfinsternisse, Ebbe und Flut, und so weiter. Wir können mit Hilfe der Naturgesetze die Zukunft unseres Sonnensystems vorhersagen, aber wir sind nicht in der Lage, es mit ihrer Hilfe zu kontrollieren – die Naturgesetze wirken gewissermaßen mit eherner Notwendigkeit auf unausweichliche Ergebnisse hin, die wir wissenschaftlich vorhersagen und beschreiben, aber nicht ändern können. Marx verstand seine Entdeckungen als genaues Gegenstück zu diesen Naturgesetzen, und er hat die Parallele durch eine bewußt an Newton erinnernde Terminologie betont. Im Kapital beschreibt er sich als den Entdecker der „Naturgesetze der kapitalistischen Produktion“ und macht auf folgendes aufmerksam: „Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist – und es ist der letzte Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft zu enthüllen –, kann sie naturgemäße Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. ... Es handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen. Das industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das Bild der eignen Zukunft.“ Daß Marx die Entwicklung, die er als unausweichlich ansah, persönlich begrüßte, ist wissenschaftlich unerheblich. Eigentlich darf man von Marx genauso wenig sagen, daß er sie befürwortet hat, wie man von einem Astronomen sagen darf, daß er die Sonnenfinsternisse befürwortet, die er vorhersagt. (Dem Astronomen kann es natürlich Spaß machen, eine Sonnenfinsternis zu beobachten, er freut sich vielleicht darauf und kann es kaum erwarten, bis es soweit ist.) Marx hat immer betont, daß seine Theorie im geschilderten Sinne ,wissenschaftlich’ sei, daß er nicht vorschreibe, sondern beschreibe. Andere Formen des Sozialismus hat er als ,utopisch’ abgelehnt – als
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bestenfalls bloße Empfehlungen, schlimmstenfalls bloße Visionen. Die marxistische Ansicht, daß wir keine Möglichkeit haben, den Lauf der Geschichte zu gestalten, ist also nicht mit utopischen Ansichten zu verwechseln, denen zufolge es in unserer Macht steht, eine vollkommene Gesellschaft zu schaffen. Popper billigt diese Unterscheidung. Das Mißverständnis, der Marxismus gehöre zur zweiten Gruppe, ist allerdings weit verbreitet und wird anscheinend sogar von den meisten Kommunisten geteilt; sie sind demnach ,Vulgärmarxisten’ (wie Popper sagen würde) oder ,utopische Sozialisten’ (wie Marx gesagt hätte). Meiner Meinung nach ist der Kommunismus utopisch, der Marxismus dagegen nicht, und dieser Unterschied darf nicht vergessen werden. Der Marxismus erhebt Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Daraus folgt zwangsläufig, daß er zum Zerfall verurteilt ist, wenn er sich in der wissenschaftlichen Diskussion nicht behaupten kann. Unterliegt er hier in einem Punkt, so gibt es kein Ausweichen auf andere Argumentationsebenen: Kurz, der Marxismus muß sich der wissenschaftlichen Überprüfung stellen und die Konsequenzen akzeptieren. Die Zerstörung des marxistischen Anspruchs auf wissenschaftliche Wahrheit – und zwar so gründlich, daß an ein Aufleben nicht mehr ernsthaft zu denken ist – wird Popper zugeschrieben. Popper hat nicht etwa die Unfalsifizierbarkeit der Theorie von Marx nachgewiesen. Der Vulgärmarxismus ist unfalsifizierbar, aber Popper begeht nicht den Fehler, den Vulgärmarxismus Marx anzulasten. Marx’ Theorie, mit dem intellektuellen Ernst behandelt, den sie verdient, hat eine ganze Reihe falsifizierbarer Vorhersagen geliefert, von denen aber die wichtigsten mittlerweile falsifiziert worden sind. Beispielsweise wäre der Übergang zum Kommunismus laut Marx nur in voll entwickelten kapitalistischen Gesellschaften möglich gewesen, und aus diesem Grunde hätten alle Gesellschaften zunächst ihr kapitalistisches Entwicklungsstadium bis zum Ende durchlaufen müssen: Tatsächlich aber hat der Übergang zum Kommunismus nur in vorindustriellen Ländern stattgefunden (eine
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Ausnahme bildet die Tschechoslowakei), niemals in einer voll entwickelten kapitalistischen Gesellschaft. Nach der Theorie hätte die Revolution vom Industrieproletariat ausgehen müssen: Mao Tse Tung, Ho Chi Minh und Fidel Castro jedoch haben diesen Gedanken ausdrücklich verworfen und erfolgreiche Revolutionen mit Unterstützung der Landbevölkerung durchgeführt. Folgt man der Theorie, so gibt es gute Gründe dafür, daß das Industrieproletariat zwangsläufig ärmer, zahlreicher, klassenbewußter und revolutionärer werden muß: Tatsächlich aber ist es seit den Zeiten von Marx in allen Industrieländern wohlhabender und weniger zahlreich, klassenbewußt und revolutionär geworden. Der Theorie nach können nur die Arbeiter selbst, die Massen, den Übergang zum Kommunismus bewerkstelligen: In Wahrheit jedoch ist es der kommunistischen Partei bis auf den heutigen Tag in keinem Lande – nicht einmal in Chile – gelungen, bei einer freien Wahl die Mehrheit für sich zu gewinnen; wo der Kommunismus an die Macht kam, wurde er der Mehrheit mit Hilfe einer Armee aufgezwungen, gewöhnlich einer fremden. Der Theorie nach müßte sich das Eigentum an den kapitalistischen Produktionsmitteln zwangsläufig in immer weniger Händen konzentrieren: Tatsächlich aber hat es sich mit der Aktie so weit verbreitet, daß die Verfügungsgewalt in die Hände einer neuen Klasse, der Manager, übergegangen ist. Das Auftauchen dieser Klasse widerlegt außerdem die marxistische Vorhersage, daß sich die Gesellschaft zunehmend in zwei Klassen aufspaltet – in eine immer kleinere Kapitalistenklasse, die besitzt und kontrolliert, aber nicht arbeitet, und ein immer zahlreicheres Proletariat, das arbeitet, aber nichts besitzt oder kontrolliert –, während alle anderen Klassen unvermeidlich verschwinden. Zudem ist, um einen anderen Gedankengang aufzunehmen, die Entwicklung der meisten Wissenschaften über die einschlägigen Äußerungen von Marx und Engels hinweggegangen. Beispielsweise ist ihre Theorie der Materie seit Einstein überholt, ihr Verständnis des Individualverhaltens seit Freud. Das von Ricardo gelegte ökonomische
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Fundament des Marxismus gehört seit Keynes in die Rumpelkammer, seine auf Hegel beruhenden logischen Grundlagen seit Frege. Marx und Engels sahen die Entwicklung der politischen Institutionen ganz anders voraus, als sie dann schließlich verlaufen ist – wie ich vermute, vor allem deshalb, weil sie die Herausbildung der parlamentarischen Demokratie nicht ernstnahmen. (Zu diesem Versäumnis wurden sie wiederum durch ihre Theorie verleitet, in der für eine so bedeutsame Entwicklung kein Platz war.) Das alles ist Anlaß genug, eine Theorie zurückzuweisen, die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt: Die getroffenen Vorhersagen wurden anhand der Erfahrung geprüft und dabei falsifiziert. Wir haben also die grundlegende Methode zur Prüfung einer Theorie angewandt. Der Leser wird sich jedoch aus den früheren Kapiteln daran erinnern, daß eine Theorie nach weiteren Gesichtspunkten zu beurteilen ist. Sie muß auch den logischen Kriterien der inneren Widerspruchsfreiheit und Kohärenz genügen. Und hier stellt sich heraus, daß der Fundamentalsatz des Marxismus – die Entwicklung der Produktionsmittel sei der einzige Bestimmungsfaktor des historischen Wandels – logisch inkohärent ist, denn eine derartige Theorie kann nicht erklären, warum sich die Produktionsmittel überhaupt entwickeln, anstatt unverändert zu bleiben. Marx’ Auffassung, die historische Entwicklung gehorche wissenschaftlichen Gesetzen, ist ein Beispiel für das, was Popper ,Historizismus’ nennt. Er versteht „unter ,Historizismus’ jene Einstellung zu den Sozialwissenschaften ..., die annimmt, daß historische Voraussage deren Hauptziel bildet und daß sich dieses Ziel dadurch erreichen läßt, daß man die ,Rhythmen’ oder ,Patterns’, die ,Gesetze’ oder ,Trends’ entdeckt, die der geschichtlichen Entwicklung zugrunde liegen“.8 Beispiele historizistischer Anschauungen sind: der alttestamentarische Glaube an die Mission des auserwählten Volkes; der 8
Das Elend des Historizismus, S. 2
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Glaube mancher Römer, Rom sei zur Herrin des Erdkreises bestimmt; der Glaube der frühen Christen, daß es vor der Wiederkunft des Herrn unausweichlich zu Massenbekehrungenen kommen müsse; der Glaube der Aufklärer, der Fortschritt sei unaufhaltsam und der Mensch lasse sich vervollkommnen; der Glaube so vieler Sozialisten an den zwangsläufigen Sieg des Sozialismus; der Glaube Hitlers an die Errichtung eines Tausendjährigen Reiches. Schon wer beginnt, einige berühmte Beispiele für historizistische Anschauungen aufzuzählen, bemerkt, wie selten sich diese bewahrheiten. Aber auch wenn man von bestimmten Theorien absieht – die allgemeine Vorstellung scheint weit verbreitet zu sein, daß die Geschichte wenn nicht ein Ziel, so doch einen Plan oder jedenfalls einen Sinn haben muß oder daß ihr wenigstens eine Art Muster zugrundeliegt. Wer ernsthaft eine historische Notwendigkeit geltend machen will, dem stehen eine Anzahl von Erklärungen zur Verfügung. Entweder lenkt eine außenstehende Intelligenz (gewöhnlich Gott) die Geschichte nach seinen Plänen. Oder die Geschichte wird von einer ihr innewohnenden Intelligenz (einem immanenten Geist, einer Lebenskraft oder etwa vom ,Geschick der Menschheit’) vorangetrieben. Oder es gibt überhaupt keine derartigen Wesenheiten, und in diesem Falle müssen gänzlich deterministische materielle Prozesse am Werk sein. Die beiden ersten Alternativen sind offensichtlich metaphysischer Natur: sie sind unfalsifizierbar und bestimmt nicht wissenschaftlich. Und die dritte geht von einem heute unhaltbaren Wissenschaftsbegriff aus. Nach allem bisher Gesagten dürfte klar sein, warum Popper diese Ansichten ablehnt. Er ist Indeterminist und glaubt, daß Veränderungen das Ergebnis unserer Versuche sind, unsere Probleme zu lösen – und daß an unseren Problemlösungsversuchen Vorstellungskraft, Entscheidungen, Glück und andere Faktoren Anteil haben, die sich nicht vorhersagen lassen. Verantwortung tragen wir dabei für unsere Entscheidungen. Sofern überhaupt ein zielgerichteter Prozeß abläuft,
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sind wir es, die die Geschichte voranbringen – im Zusammenwirken mit anderen Menschen, mit unserer physikalischen Umgebung (die der Mensch als Gattung nicht geschaffen hat) und mit der Welt 3 (die der Mensch als Gattung geschaffen hat, die das Individuum jedoch erbt und an der es nur wenig ändern kann). Jeder Zweck, der diesem Vorgang innewohnt, ist ihm von uns verliehen; jeden Sinn, der ihm zukommt, haben wir ihm gegeben. Von dieser gedanklichen Position aus greift Popper alle historizistischen Theorien an. Und am schärfsten geht er dabei mit dem Marxismus ins Gericht – weil der Marxismus die einflußreichste historizistische Theorie der Gegenwart ist und weil vor allem er den Anspruch erhebt, daß die historische Entwicklung nach wissenschaftlichen Gesetzen verläuft und daß es uns die Kenntnis dieser Gesetze (die der Marxismus liefert) erlaubt, die Zukunft vorherzusagen. Technisch gesehen, argumentiert Popper, indem er zeigt, „daß es keinem wissenschaftlichen Prognostiker – gleichgültig ob Mensch oder Rechenmaschine – möglich ist, mit wissenschaftlichen Methoden seine eigenen zukünftigen Resultate vorherzusagen.“9 Einfacher ausgedrückt, ergibt sich folgender Gedankengang: Es läßt sich leicht zeigen, daß der Ablauf der menschlichen Geschichte durch das Anwachsen des menschlichen Wissens stark beeinflußt worden ist. Auch wer in unserem Wissen nur das Nebenprodukt einer materiellen Entwicklung sieht, kann diese Tatsache zugeben, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln. Aber es ist logisch unmöglich, zukünftiges Wissen vorherzusagen: Könnten wir das Wissen der Zukunft vorhersagen, dann würden wir bereits jetzt darüber verfügen, und es wäre kein zukünftiges Wissen mehr; könnten wir die Entdeckungen der Zukunft vorhersagen, dann wären es bereits die Entdeckungen der Gegenwart. Daraus folgt: Wenn die Zukunft überhaupt bedeutsame Entdeckungen mit sich bringt, dann ist es unmöglich, sie mit wissenschaftlichen Mitteln vorherzusagen, auch 9
Das Elend des Historizismus, S. XII
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wenn sie unabhängig von menschlichen Wünschen determiniert ist. Es gibt ein weiteres Argument: Wäre die Zukunft wissenschaftlich vorhersagbar, dann könnte sie, einmal enthüllt, nicht länger verborgen bleiben, weil prinzipiell jeder imstande wäre, sie erneut zu aufzudecken. Wir stünden dann außerdem vor einem Paradox der Möglichkeit beziehungsweise Unmöglichkeit, sich der Entwicklung zu entziehen. Schon aus diesen rein logischen Gründen bricht der Historizismus zusammen, und wir müssen deshalb die – für den Marxismus zentrale – Vorstellung zurückweisen, daß es eine theoretische Geschichtswissenschaft gibt, die der theoretischen Physik entspricht. Wenn die Vorstellung zusammenbricht, daß sich die Zukunft mit wissenschaftlichen Mitteln vorhersagen läßt, dann ist die Vorstellung von der total geplanten Gesellschaft ebenfalls nicht mehr tragfähig. Sie enthält, wie sich zeigen läßt, weitere innere Widersprüche: erstens, weil sie keine konsequente Antwort auf die Frage ,Wer plant die Planer?’ liefert, und zweitens, weil unsere Handlungen, wie bereits gezeigt, wahrscheinlich in jedem Falle unbeabsichtigte Konsequenzen haben. Dieser letzte Punkt legt übrigens den Trugschluß in der Annahme offen, von der Utopisten im allgemeinen ausgehen (Marx allerdings nicht; der Marximus drückt sich hier deutlicher aus als große Teile der Sozialdemokratie). Wenn eine „Gesellschaft von etwas ,Schlechtem’ betroffen ist, von etwas, das wir verabscheuen – etwa Krieg, Armut, Arbeitslosigkeit –, dann muß das einer bösen Absicht entspringen, einem finsteren Plan: Jemand hat es ,absichtlich’ getan; und natürlich profitiert jemand davon. Ich habe diese philosophische Annahme die ,Verschwörungstheorie der Gesellschaft’ genannt.“10 Poppers Angriff gegen den Marxismus stützt sich ferner auf Argumente, die hier bereits dargelegt wurden und deshalb nicht wiederholt zu werden brauchen. Das wichtigste dieser Argumente ist das folgende: Marx war, als er den (wie er es nannte) ,wissenschaftlichen Sozialismus’ propagierte, nicht 10
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nur über die Gesellschaft im Irrtum, sondern auch über die Wissenschaft – vertrat er doch genau die Wissenschaftsauffassung, die Popper widerlegt zu haben glaubt. Wenn Popper die Wissenschaft richtig sieht, dann verfügt er auch über die einzige politische Philosophie, die wirklich wissenschaftlich ist. Außerdem – und das kann nicht genug betont werden – richten sich dann die Wissenschaftsfeindlichkeit und der Aufstand gegen die Vernunft, die in unserer Zeit so stark zum Ausdruck kommen, gerade gegen ein falsches Verständnis der Wissenschaft und der Vernunft. Poppers Argumentation, daß wir von keinem Sinn der Geschichte wissen können als von dem, den wir selbst ihr beilegen, beunruhigt so manchen, der sich durch sie desorientiert und in eine Art existentieller Leere versetzt sieht. Andere wieder befürchten, daß alle Werte und Normen willkürlich sind, wenn Popper recht hat. Mit dem zweiten Mißverständnis setzt sich Popper in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde auseinander:11 „Fast alle diese Mißverständnisse gehen auf einen fundamentalen Irrtum zurück, nämlich auf die Annahme, daß ,Konvention’ ,Willkür’ bedeutet; daß ein System ebenso gut ist wie jedes andere, sobald wir nur die Freiheit haben, ein beliebiges normatives System auszuwählen. Es muß natürlich zugegeben werden, daß die Ansicht, daß Normen konventionell oder künstlich sind, ein gewisses Element von Willkür andeutet: es kann verschiedene Systeme von Normen geben, zwischen denen nicht viel zu wählen ist. (Diesen Umstand hat Protagoras gebührlich betont.) Aber Künstlichkeit hat keinesfalls völlige Willkür zur Folge. Zum Beispiel sind mathematische Kalküle, Sinfonien, Theaterstücke in hohen Grade künstlich. Aber daraus folgt nicht, daß ein Kalkül oder eine Sinfonie oder ein Theaterstück ebenso gut ist wie jedes andere.“ Poppers evolutionäre Erkenntnistheorie und besonders seine Theorie der Welt 3 liefert eine ausführliche Erklärung dafür, warum das nicht so ist und worin seiner 11
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Meinung nach die wahre Orientierung des Menschen besteht. Diese Theorien finden sich in Schriften Poppers, die wir bereits früher diskutiert haben, die aber von ihm erst später veröffentlicht wurden. Einige der Argumente Poppers gegen den Marxismus lassen sich auch auf den Utopismus anwenden – etwa seine Argumente dagegen, daß Gesellschaften ,hinweggefegt’ und durch etwas ,völlig Neues’ ersetzt werden können. „Die utopische Sozialtechnik kann durch die folgende Argumentation plausibel gemacht werden. Jede rationale Handlung muß ein bestimmtes Ziel haben. Sie ist rational in eben dem Ausmaß, in dem sie ihr Ziel bewußt und konsequent verfolgt und in dem sie ihre Mittel diesem Ziel entsprechend festsetzt. Die Wahl eines Ziels ist also die erste Aufgabe, die wir lösen müssen, wenn wir rational zu handeln wünschen; wir müssen unsere wirklichen und endgültigen Ziele sorgfältig festsetzen, und wir müssen von ihnen jene Teil- oder Zwischenziele klar unterscheiden, die eigentlich nur als Mittel oder als Schritte auf dem Wege zum endgültigen Ziel in Betracht kommen: Wenn wir diese Unterscheidung vergessen, dann vergessen wir auch uns zu fragen, ob es wahrscheinlich ist, daß diese Teilziele das letzte Ziel fördern; und damit hören wir auf, rational zu handeln. Auf das Gebiet politischer Tätigkeit angewendet, verlangen die angeführten Prinzipien die Festlegung unseres endgültigen politischen Ziels oder des idealen Staates, bevor irgendeine praktische Handlung unternommen wird. Nur dann, wenn dieses Ziel zumindest in rohen Umrissen bestimmt ist, wenn wir einen Bauplan der von uns angestrebten Gesellschaftsordnung besitzen, nur dann können wir beginnen, uns die besten Mittel und Wege zu ihrer Verwirklichung zu überlegen und einen Plan für praktisches Handeln aufzustellen.“12 Jeder Idealist – wenn er den ernsthaften Wunsch verspürt, ein Idealist ohne Illusionen zu sein – muß sich Poppers Argumenten gegen alle politischen Ansätze stellen, die mit einem Plan beginnen und sich 12
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dann an seine Verwirklichung machen. Das erste Argument ist, daß man, wohin die Reise auch gehen soll, gar keine andere Wahl hat, als von dort aufzubrechen, wo man gerade steht. Wir können in der Politik genauso wenig bei Null beginnen wie in der Erkenntnistheorie, in der Wissenschaft oder in der Kunst. Jeder Wandel, der real ist und nicht lediglich in der Vorstellung stattfindet, kann nur Wandel unter den tatsächlich bestehenden Bedingungen sein. Utopisten pflegen zu behaupten, die Gesellschaft als Ganzes müsse geändert werden, bevor sich dies oder das ändern lasse; aber das läuft auf nichts anderes als auf die Behauptung hinaus, daß man alles ändern muß, bevor man überhaupt etwas ändern kann – und das ist ein Widerspruch in sich. Zweitens werden alle Maßnahmen, die wir auch treffen mögen, unbeabsichtigte Konsequenzen haben, die nur zu leicht unserem Plan zuwiderlaufen. Und je umfassender die Maßnahmen angelegt sind, desto mehr unbeabsichtigte Konsequenzen wird es geben. Wer mit Anspruch auf Rationalität eine durchgreifende Veränderung der Gesellschaft als Ganzes plant, setzt soziologisches Detailwissen in einem Ausmaß voraus, wie es uns einfach nicht zur Verfügung steht. Und wer nach utopischer Manier über Mittel und Zwecke spricht, macht irreführenden Gebrauch von einer Metapher: In Wirklichkeit geht es doch um eine zeitlich nahegelegene Gruppe von Ereignissen, die man als ,Mittel’ bezeichnet, auf die eine zeitlich weiter entfernte Gruppe von Ereignissen folgt, die man den ,Zweck’ nennt. Aber an diese werden sich – sofern die Geschichte nicht einfach aufhört – weitere Gruppen von Ereignissen anschließen. Deshalb ist der Zweck in Wahrheit gar kein Zweck, sondern lediglich das zweite Glied in einer endlosen Kette, für das man nicht ernstlich eine Sonderstellung beanspruchen kann. Mehr noch: Die erste Gruppe von Ereignissen liegt zeitlich näher und wird deshalb eher als die zweite, zeitlich weiter entfernte und weniger sichere, die vorgesehene Gestalt annehmen. Belohnungen, versprochen für die ferne Zukunft, sind unsicherer als die Opfer, die in naher Zukunft um eben dieser Belohnungen willen
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gebracht werden müssen. Und wenn alle Menschen gleiche moralische Ansprüche haben, dann ist es falsch, eine Generation für die nächste zu opfern. Was nun den Plan selbst betrifft, so ist es unbestreitbar, daß man über die gewünschte Gesellschaft unterschiedlicher Ansicht sein kann – auch unter Konservativen, Liberalen oder Sozialisten im üblichen Sinne, von den anderen ganz zu schweigen. Welche Gruppe auch immer an die Macht kommt und bestrebt ist, ihren Plan in die Tat umzusetzen – sie wird ihre Gegner zur Unwirksamkeit verurteilen, wenn nicht sogar zwingen müssen, einem Zweck zu dienen, den sie nicht billigen. Eine freie Gesellschaft kann keine allgemein verbindlichen sozialen Ziele vorgeben, aber eine Regierung mit utopischen Zielen muß genau das tun und damit unvermeidlich autoritär werden. Der radikale Umbau der Gesellschaft ist ein gewaltiges Unterfangen, das zwangsläufig viel Zeit erfordert: Ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß sich soziale Ziele, Ideen und Ideale in dieser Zeit grundlegend wandeln, zumal es definitionsgemäß eine Zeit revolutionären Umbruchs ist? Wenn sie sich aber wirklich wandeln, dann bedeutet das, daß die Gesellschaftsform, die einmal am erstrebenswertesten erschien, immer weiter von der gerade erwünschten Gesellschaftsform abweicht, je mehr man sich ihr nähert. Das gilt für die Urheber des Plans und in noch stärkerem Maße für ihre Nachfolger, die an der Planung gar nicht beteiligt waren. Ein anderes Argument hängt damit zusammen: Die Planer gehören nicht nur selbst der Gesellschaft an, die sie hinwegfegen möchten, sondern zwangsläufig sind auch ihre sozialen Erfahrungen und folglich ihre sozialen Annahmen und Ziele, wie kritisch sie auch sein mögen, tiefgreifend von eben dieser Gesellschaft beeinflußt. Wer die Gesellschaft wirklich hinwegfegen will, muß auch die Planer mit ihren Planungen hinwegfegen. Auf jeden Fall entwurzelt ein Umbau der Gesellschaft, der radikal ist und deshalb lange dauert, sehr viele Menschen, nimmt ihnen ihren Halt und verbreitet seelische wie materielle Not; und es ist zu erwarten, daß sich wenigstens einige Leute
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den Maßnahmen widersetzen, die sie derart bedrohen. Die Machthaber, die die ideale Gesellschaft verwirklichen wollen, werden in ihnen – gar nicht einmal ganz zu Unrecht – Menschen sehen, die sich dem durch und durch Guten aus Eigeninteresse entgegenstellen. Die Opponenten erscheinen damit als Feinde der Gesellschaft, und in der Folgezeit werden sie zwangsläufig zu Opfern. Denn ideale Ziele werfen, weil sie unerreichbar sind, lange Schatten voraus, und der Zeitraum, in dem man Kritik und Opposition ersticken muß, wird immer länger. Intoleranz und autoritäre Haltung nehmen zu; natürlich wollen die Verantwortlichen dabei nur das Beste. Und gerade aus der Auffassung, daß Absichten und Ziele ideal sind, erwächst, wenn die Ziele nach wie vor unerreichbar bleiben, zwangsläufig die Beschuldigung, daß jemand seine Finger im Spiel hat – Saboteure, ausländische Mächte, korrupte Gestalten müssen am Werk sein, denn wenn Kritik an der Revolution nicht vorgesehen ist, lassen sich Unzulänglichkeiten nur mit dem Wirken bösartiger Kräfte erklären. Deshalb wird es notwendig, die Schuldigen zu ermitteln und sie auszurotten, und wenn es Schuldige geben muß, dann finden sie sich auch. Mittlerweile dürfte das revolutionäre Regime bis zum Halse in den unvorhergesehenen Konsequenzen seiner Maßnahmen stecken. Denn selbst wenn die Feinde der Revolution den verdienten Lohn erhalten haben, entziehen sich die Ziele der Revolution nach wie vor hartnäckig der Realisierung, und die herrschende Clique bricht in ihrer Bedrängnis immer mehr Lösungen für gerade anstehende Probleme übers Knie (Popper nennt das ,ungeplante Planung’) – üblicherweise war das einer der Gründe dafür, warum ihr das frühere Regime besonders verachtenswert erschien. So vertieft sich der Graben zwischen den erklärten Zielen und dem tatsächlichen Tun, und man agiert immer mehr wie eine Regierung, die zynisch denkbar unutopischen Zielen nachgeht. Natürlich erwarten wir fast alle, daß die Ordnung auch während eines Umbaus in den wichtigsten Bereichen aufrechterhalten bleibt: die Menschen müssen weiter mit Nahrung und Kleidung versehen,
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untergebracht und warm gehalten werden; Kinder müssen weiter versorgt und erzogen werden, wenn man ihnen nicht unerträgliche Opfer auferlegen will; Verkehrsmittel, Krankenhäuser, Polizei und Feuerwehr müssen weiter funktionsfähig bleiben. Und in einer modernen Gesellschaft sind diese Einrichtungen ohne großangelegte Organisation undenkbar. Wer das alles mit einem Male ,hinwegfegen’ wollte, würde buchstäblich ein Chaos schaffen; und der Glaube, daraus werde dann irgendwie eine ideale Gesellschaft entstehen, grenzt an Wahnsinn – nicht anders als der Glaube, eine Gesellschaft, die nicht vollkommen, sondern schlicht besser als unsere gegenwärtige ist, könne mit größerer Wahrscheinlichkeit aus einem Chaos hervorgehen als eben aus unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Doch so sehr wir auch von Perfektion träumen – niemals könnten wir alles hinwegfegen und von neuem beginnen, selbst wenn wir dazu entschlossen wären. Die Menschheit gleicht der Mannschaft eines Schiffes auf See: Es steht ihr frei, jeden Teil des Schiffes umzubauen, das sie trägt; sie kann sogar das ganze Schiff umbauen – aber eben nur abschnittweise, nicht mit einem Schlage. Der Wandel kommt nie zum Stillstand. Aus diesem Grunde verliert bereits die Vorstellung vom Plan einer guten Gesellschaft ihren Sinn, denn selbst wenn die Gesellschaft schließlich dem Plan entspräche, würde sie sofort beginnen, sich wieder von ihm zu entfernen. Ideale Gesellschaften bleiben also nicht nur deshalb unerreichbar, weil sie ideal sind, sondern auch, weil sie statisch, festgeschrieben und unveränderlich sein müßten, um überhaupt einem Plan zu entsprechen – und so wird keine Gesellschaft aussehen, die wir voraussagen können. Der soziale Wandel scheint seinen Schritt mit jedem Jahr zu beschleunigen, nicht zu verlangsamen. Und dieser Prozeß findet, so weit wir sehen können, noch kein Ende. Deshalb muß sich ein politischer Ansatz, will er überhaupt eine Chance haben, der Realität gerecht zu werden, nicht mit dem Zustand der Dinge befassen, sondern mit ihrem Wandel, Uns stellt sich nicht die unlösbare Aufgabe, eine
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bestimmte Gesellschaftsform zu errichten und zu bewahren; wir sind vielmehr dazu aufgerufen, die Veränderungen, die im endlosen Prozeß des Wandels Zustandekommen, möglichst gut in der Hand zu behalten und diese Macht weise zu gebrauchen. Weil die Gesellschaft niemals vollkommen sein wird, sind Fragen wie ,Was ist die ideale Gesellschaftsform?’ rein akademischer Natur. Tatsächlich lehnt Popper ,Was ist?’-Fragen grundsätzlich ab. Fragen wie ,Was ist Schwerkraft?’ und ,Was ist Leben?’ sind für den Fortschritt in der Wissenschaft so unerheblich wie die Fragen ,Was ist Freiheit?’ und ,Was ist Gerechtigkeit?’ für den Fortschritt in der Politik.13 Genauso abzulehnen sind verkleidete ,Was ist?’-Fragen – zum Beispiel die Frage ,Ist Großbritannien eine Demokratie?’, aus der sich prompt die Frage ergibt ,Was verstehen Sie unter Demokratie?’ oder ,Was ist Demokratie?’ Derartige Fragen stellen einen quasimagischen Versuch dar, das Wesen der Realität in einer Definition zu erfassen, und Popper hat ihren Gebrauch deshalb als ,Essentialismus’ gebrandmarkt. In der Politik führt der essentialistische Ansatz fast selbstverständlich zum Utopismus und zu dogmatischen Konflikten. Wirklich wichtige Fragen sehen eher so aus: ,Was sollten wir in dieser Lage tun?’ ,Was schlagen Sie vor?’ Auf solche Fragen gibt es Antworten, die man fruchtbar diskutieren und kritisieren und, wenn sie sich dabei bewähren, praktisch erproben kann. Was nicht vorgeschlagen wird, läßt sich nie in die Praxis umsetzen. In der Politik kommt es also, wie in der Wissenschaft, nicht darauf an, Begriffe zu analysieren, sondern Theorien kritisch zu diskutieren und der Prüfung durch die Erfahrung zu unterwerfen. Autoritäre politische Strukturen sind den gleichen verfehlten Vorstellungen von Sicherheit und den gleichen verfehlten methodologischen Annahmen verhaftet wie die traditionelle Wissenschaftsauffassung. Die Argumente, die Popper zur Kritik der Ansicht heranzieht, es sei in der Politik möglich oder man solle sich gar das Ziel 13
Siehe S. 32 u. S. 51
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setzen, einen bestimmten Zustand der Gesellschaft anzustreben und zu bewahren, sind deshalb Punkt für Punkt die gleichen Argumente, die seiner Kritik der Ansicht zugrundeliegen, es sei in der Wissenschaft möglich oder man solle sich gar das Ziel setzen, sicheres Wissen zu erlangen und zu bewahren. Und Poppers Auffassung, daß die Wissenschaft in der wissenschaftlichen Methode besteht, sowie seine Sicht dieser Methode, sind auf jeder Ebene mit seiner Auffassung verknüpft, daß die Politik in der politischen Methode besteht, und mit seiner Sicht dieser Methode. In beiden Fällen ermuntert uns Popper, mit Gefühl und Phantasie einen unaufhörlichen Rückkopplungsprozeß zu nutzen, in dessen Verlauf neue Ideen kühn vorgeschlagen und beständig der strengen Fehlereliminierung im Lichte der Erfahrung unterworfen werden. Popper nennt diesen Ansatz in der Philosophie ,kritischer Rationalismus’, in der Politik ,Stückwerk-Sozialtechnik’. Dieser Ausdruck ist aus drei Gründen unglücklich gewählt: ,Stückwerk’ hat gewöhnlich schon eine abwertende Bedeutung und hier den weiteren Nachteil, daß der Radikalismus der vorgeschlagenen Methode verschleiert wird; und ,Technik’ hat, auf Menschen angewandt, unerfreuliche Nebenbedeutungen. ,Stückwerk-Sozialtechnik’ klingt herzlos, aber Popper tritt denkbar leidenschaftlich für dieses Verfahren ein und bringt dafür einige denkbar humane Argumente vor. Ich habe versucht zu zeigen, wie Poppers Philosophie aus einem Guß ist, und mich dabei im vorliegenden Buch auf die logischen Argumente und ihre Wechselbeziehungen konzentriert. Noch wichtiger jedoch sind die moralischen Argumente. Für sie und für so vieles, mit dem wir uns hier nicht befassen konnten, sei der Leser auf die Bücher von Karl Popper verwiesen.
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Nachtrag Die Originalausgabe dieses Buches erschien 1973. (Inzwischen liegt die zehnte englische Auflage vor.) Bei der Abfassung konnte ich auf viele unveröffentlichte Schriften Poppers zurückgreifen, die mittlerweile das Licht der Welt erblickt haben. Ich konnte mich damals im Text zwar noch nicht auf sie beziehen, aber ich habe sie bei meiner Darstellung von Poppers Gedanken berücksichtigt. Weil diese Schriften aber mittlerweile zugänglich sind, muß jetzt etwas über sie gesagt werden. Während des ganzen Arbeitslebens von Popper war es durchaus nichts Ungewöhnliches, daß sich die Veröffentlichung seiner Bücher um Jahrzehnte verzögert hat. Sein erstes Buch, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, schrieb Popper in den Jahren 1930 bis 1933, aber es erschien erst 1979. Sein zweites Buch, Logik der Forschung, erschien gleich 1934, in der einflußreicheren englischen Übersetzung aber erst fünfundzwanzig Jahre später. In der Zwischenzeit hatten sich Poppers Gedanken zu einigen der Themen, die in dem Buch behandelt werden, gewandelt oder zumindest weiterentwickelt. Poppers Absicht war es zunächst, hierauf in einem Postskript zur englischen Ausgabe einzugehen. Aber das Postskript nahm unter seiner Hand einen solchen Umfang an, daß es zu einem selbständigen Buch wurde. Man beschloß, es als Begleitband zu veröffentlichen, und die Logik der Forschung erschien separat. Das PostScript war inzwischen, 1956/57, abgesetzt worden, aber die Veröffentlichung verzögerte sich ständig. Auf den Druckfahnen sammelte sich unterdessen eine Fülle neuen Stoffes an, und das Buch wurde mit der Zeit immer umfangreicher. Das dauerte bis 1962, dann wendete sich Popper schließlich der Arbeit an anderen Problemen zu. Die Folge war, daß von einem seiner umfangreichsten und wichtigsten Werke ein Vierteljahrhundert lang lediglich die Fahnen vorlagen. Erst 1982/83 wurde es veröffentlicht, und selbst das ist nicht unmittelbar Popper zu verdanken, sondern der Initiative von W.W.
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Bartley III, der als Herausgeber fungierte. Dr. Bartley beschloß auch, das Werk in drei Bänden zu veröffentlichen, jeweils mit dem Untertitel From the Postscript to the Logic of Scientific Discovery. Die deutsche Ausgabe wird, ebenfalls in drei Bänden, unter dem Titel Postskript zur Logik der Forschung erscheinen. Die Titel der einzelnen Bände lauten Realism and the Aim of Science – Der Realismus und das Ziel der Wissenschaft; The Open Universe: An Argument for Indeterminism – Das offene Universum; Quantum Theory and the Schism in Physics – Die Quantentheorie und das Schisma in der Physik. Popper war achtzig, als die Bände erschienen; er hatte sie aber verfaßt, als er auf der Höhe seiner Schaffenskraft stand, und sie enthalten einige seiner wertvollsten Gedanken. 1974 gab P.A. Schilpp in der Library of Living Philosophers eine zweibändige Darstellung von Poppers Philosophie heraus. Sie umfaßt vier Teile: im ersten stellt Popper seine intellektuelle Entwicklung dar, der zweite enthält dreiunddreißig kritische Artikel namhafter Autoren, der dritte ist Poppers „Antwort an meine Kritiker“ und der vierte eine vollständige Bibliographie bis zum Jahre 1974. Poppers Autobiographie erschien 1976 selbständig als Unended Quest und 1979 in deutscher Übersetzung unter dem Titel Ausgangspunkte. Es bleibt eine Fülle von unveröffentlichten Arbeiten. Bis alle erschienen sind, werden wohl noch Jahrzehnte vergehen. Unter anderem handelt es sich um zwei Bände, die schon seit mehreren Jahren als abgeschlossenes Typoskript vorliegen. Beide sind Sammlungen kürzerer Arbeiten. Ihre Arbeitstitel lauten Philosophy and Physics (eine bewußte Anspielung auf Heisenbergs Physik und Philosophie) und The Myth of the Framework. Besondere Aufmerksamkeit im letztgenannten Band verdient eine ausführliche Kritik des soziologischen und politischen Gedankenguts der Frankfurter Schule. Im übrigen enthalten Poppers unveröffentlichte Schriften eine Anzahl schöpferischer Beiträge zu Themen, über die er wenig oder nichts publiziert hat. Für den Leser also wird sich Poppers Philosophie noch über viele Jahre hinweg weiterentwickeln.
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Bücher von Karl Popper Logik der Forschung, Wien: Springer, 1934 [mit Jahreszahl 1935]; 8., weiter verb. u. verm. Aufl. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1984 – The Logic of Scientific Discovery, London: Hutchinson, 1959; l0th rev. ed., 1980 The Open Society and Its Enemies, I: The Spell of Plato; II: The High Tide of Prophecy: Hegel, Marx, and the Aftermath, London: Routledge & Kegan Paul, 1945; 12th ed. 1977 – Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, I: Der Zauber Platons; II: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, Bern: Francke, 1957/58; 6. Aufl. 1980 (UTB 472/473) The Poverty of Historicism, London: Routledge & Kegan Paul, 1957; 9th ed. 1976 – Das Elend des Historizismus, Tübingen: J.C.B.Mohr (Paul Siebeck), 1965; 6. durchges. Aufl. 1987 Conjectures and Refutations: The Growth of Scientific Knowledge, London: Routledge & Kegan Paul, 1963; 7th ed. 1978 – Vermutungen und Widerlegungen, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), in Vorbereitung Objective Knowledge: An Evolutionary Approach, Oxford: Clarendon, 1972; 6th rev. & expanded ed. 1981 — Objektive Erkenntnis: Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg: Hoffmann u. Campe, 1973; 4. überarb. u. erg. Aufl. 1984 Unended Quest: An Intellectual Autobiography, London: Fontana/Collins, 1976; 6th rev. ed. 1982 [verbesserte Version von „Autobiography of Karl Popper“, The Philosophy of Karl Popper, in The Library of Living Philosophers, hrsg.v. P.A. Schlipp, LaSalle, Ill.: Open Court, 1974] Ausgangspunkte: Meine intellektuelle Entwicklung, Hamburg: Hoffmann u. Campe, 1979; 2. Aufl. 1982 The Self and Its Brain: An Argument for Interactionism (zus. m. John C. Eccles), Berlin, Heidelberg, London, New York: Springer, 1977; corr. 2nd printing 1985 – Das Ich und sein Gehirn, München: R.Piper, 1982; 5. Aufl. 1985 Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund v. Manuskripten a. d. Jahren 1930-1933 hrsg. v. T.E.Hansen, Tübingen: J.C.B.Mohr (Paul Siebeck), 1979 Offene Gesellschaft, offenes Universum. Franz Kreuzer im Gespräch mit Karl R. Popper, Wien: Franz Deuticke, 1982; 3. Aufl. 1983 From the Postscript to the Logic of Scientific Discovery ist der Untertitel der drei Bände Realism and the Aim of Science; The Open Universe: An Argument for Indeterminism; Quantum Theory and the Schism in Physics; hrsg. v. WilliamW.Bartley III, London: Hutchinson, 1982/83 – Postskript zur Logik der Forschung, I: Der Realismus und das Ziel der Wissenschaft, II: Das offene Universum, III: Die Quantentheorie und das Schisma in der Physik, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), in
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Vorbereitung Auf der Suche nach einer besseren Welt: Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren, München: R. Piper 1984 Der Leser wird außerdem auf Poppers Beiträge zu folgenden Sammelwerken verwiesen: Modern British Philosophy, hrsg. v. Bryan Magee, London: Secker & Warburg, 1971 The Philosophy of Karl Popper, hrsg. v. P.A. Schilpp, LaSalle, Ill.: Open Court, 1974 Eine ausgewählte Bibliographie der Schriften Karl Poppers findet sich in Ausgangspunkte: Meine intellektuelle Entwicklung
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