Ligeti Musica Ricercata Analyse

March 14, 2017 | Author: Luis Blanco | Category: N/A
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Hans Peter Reutter: Wege durch das 20. Jahrhundert

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1 GYÖRGY LIGETI (1923-2006) Musica ricercata & 6 Bagatellen für Bläserquintett (1951-55) – Die Suche nach einer eigenen Sprache im Schatten Bartóks György Ligeti stammt aus Siebenbürgen, sein Geburtsort gehört seit der Nachkriegszeit zu Rumänien, er ist aber Ungar aus einer jüdisch-stämmigen Familie. Nach dem Krieg, den er mit Glück überlebte (außer seiner Mutter kam seine Familie im KZ um), kam er zum Musikstudium nach Budapest. In der kurzen Phase vor der Unterwerfung Ungarns unter den Stalinismus herrschte ein kulturell offenes Klima, in dem der junge Komponist alle neuesten Strömungen wie ein Schwamm aufgesogen haben muss. Danach jedoch (ab 1946) wurde genau wie in der UdSSR die Kultur reglementiert und unterdrückt. Musikalisch war ein einfacher, realsozialistischer Stil gefordert. Selbst vom anerkannt größten ungarischen Komponisten Béla Bartók führte man nur wenige Stücke, hauptsächlich Volksmusikbearbeitungen auf. Der junge Ligeti folgte nach außen diesen Vorgaben, in Wirklichkeit suchte er aber nach einem neuartigen Stil, in dem Harmonik und Zeitverlauf weitestgehend ausgeschaltet waren. Die Stücke auf diesem Weg dahin konnten nur für die Schublade entstehen. So z.B. die „Musica ricercata“ für Klavier. Der Titel ist eine Referenz an das Ricercar, die frühbarocke Form der Fuge (z.B. bei Girolamo Frescobaldi, auf den sich das 11. Stück bezieht), heißt aber auf deutsch auch treffend „suchende Musik“. In der Hoffnung, seine Musik doch aufgeführt zu bekommen, arrangierte Ligeti 6 Stücke aus diesem 11-teiligen Zyklus als die Bagatellen für Bläserquintett. Doch selbst dann wurde die 6. Bagatelle abgelehnt mit der Begründung, es kämen zu viele kleine Sekunden vor – dermaßen oberflächlich waren die Urteile über neue musikalische Werke. Da die Partitur bei der Flucht in den Westen zurückblieb, rekonstruierte Ligeti die Instrumentation 1969 für ein schwedisches Bläserquintett für die Gesamt-UA. In dieser Fassung wurde das Werk zu einem Klassikhit des 20.Jahrhunderts: Bläserquintette sind hungrig nach guten Stücken und – wann hat man schon einmal ein so eingängiges Werk eines berüchtigten Avantgardisten? Vergessen wird dabei oft, dass es ein Originalwerk (die „10 Stücke für Bläserquintett“) aus den 60er Jahren gibt (also Ligetis anspruchsvoller Mikropolyphonie-Periode), das aber nie dieselbe Popularität erreichen konnte. Aber trotz der relativ traditionellen, Bartók-nahen Tonsprache zeigt Musica ricercata/ Bagatellen viele Aspekte, die für Ligetis Schaffen durchgängig typisch sind. 1. Formverlauf: Ligeti bevorzugt prozesshafte gegenüber entwickelnden Formen (im Gegensatz zu Bartók). Das heißt: Form (und Harmonik) erscheinen ohne Kontraste oder gar statisch (siehe auch Punkt „Spielregeln“). Musikalische Parameter fließen in geradlinigen Übergängen ineinander über anstatt sich in Abspaltungen oder Fortspinnungen zu entwickeln. Einfachstes Beispiel: das erste Stück der Musica ricercata über den einen Ton a ist im Prinzip ein Prozess des Schneller-werdens, erreicht durch echtes Accelerando und prozesshafte Verkürzung des rhythmischen Grundmotives bis zur fünfachtel langen Figur iii q ab Prestissimo. 2. Rhythmik: Diese Technik zeigt auch schon Ligetis bevorzugtes Verhältnis zu Rhythmik und Metrum: Taktstriche stehen zur Koordination, nicht jedoch aber im Sinne einer metrischen Betonung. Schon in der Musica ricercata finden sich zahlreiche Stellen, wo rhythmische Prozesse taktübergreifend komponiert sind. Die aufeinander folgenden Quintolen, Sextolen, Septolen usw. sind dann ein auskomponiertes Accelerando. In späteren Werken findet sich dies auch als mikropolyphone Verschlierung in verschiedenen Werten gleichzeitig. 3. Intervallik: Die Melodieführung bevorzugt in vielen Stücken kleinen Ambitus (am häufigsten die kleine Terz), der in kleinen Intervallen ausgefüllt wird. Demgegenüber stehen Ausbrüche in großen Intervallen. Diese plötzlichen Gesten werden ebenso typisch für spätere Werke, wo es immer wieder zu Abstürzen, Ausbrüchen kommt – entweder als

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2 expressive Unterbrechungen der prozesshaften Verläufe oder als End- oder Wendepunkte. In der Klavierfassung gibt es schon die sprechenden, programmatisch wirkenden Spielanweisung wie „ferocissimo (sehr wild)“, „minaccioso (drohend)“, „wie in Panik“, „insistierend, trotzig“, „wie verrückt“. Diese sind in der Bläserfassung fast alle reduziert oder umgewandelt in relativ neutrale italienische Spielanweisungen (ein Zeichen für die nüchternen Avantgardejahre?), was den extremen Ausdruck aber nicht mildert. 4. Spielregeln: Dieser Begriff gehört nicht ganz in diese Reihe, bezeichnet aber vielleicht am Besten Ligetis Ansatz des Komponierens. Teilweise findet sich diese Haltung schon bei Bartók (siehe dazu meine Analyse der „Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“): einfache Grundvoraussetzungen schaffen komplexe kompositorische Zusammenhänge. Denken wir an einfache Brettspiele: wenige Regeln und klare Spielziele (etwa Mühle und Dame) schaffen immer wieder andere und komplexe Spielverläufe. So auch in der Musica ricercata: Die grundlegende Spielregel ist extrem simpel gehalten. Die elf Stücke haben einen jeweils ansteigenden Tonvorrat: von zwei Tönen im ersten bis zu allen zwölf im letzten (wobei die Idee, den neuen Ton erst gegen Ende des Stückes einzuführen bereits ab dem 3. Stück aufgegeben wird). Bereits die Auswahl der Töne offenbart jedoch ein komplexeres Denken: es werden nicht etwa immer dieselben Töne verwendet, sondern aufeinander folgende Stücke verwenden einen möglichst kontrastierenden Tonvorrat mit z.B. weit entfernten Grundtönen (siehe Übersicht). Die Skalen gehorchen meist Punkt- oder Skalensymmetrien (außer in den eher mixolydischen Stücken 7+8 sowie den Stücken mit fast vollständiger chromatischer Skala). Die kompositorischen Aufgaben, die sich aus geringen Tonvorräten ergeben, sind anspruchsvoll, teilweise sogar amüsant: Wie gestaltet man ein interessantes Stück aus nur einem (zwei), drei oder vier Tönen? Oder welche Zusammenklänge ergeben sich bei Parallelverschiebungen in nicht-symmetrischen Skalen (6.Bagatelle)? Andere für den späteren Ligeti typischen Techniken sind die ausgiebige Verwendung von ostinaten Bildungen (die später allerdings permutiert, d.h. in der Abfolge verändert werden) und Kanon. Seine Clusterstücke der 60er Jahre sowie die polyrhythmischen Werke der 70/80er sind überwiegend in kanonischer Weise konstruiert. Ansonsten aber folgt Ligeti hier sehr häufig noch dem Modell Bartóks (vor allem natürlich in der 5.Bagatelle, die dem Andenken des Vorgängers gewidmet ist): Entwicklungen werden bis an eine Grenze geführt, was dann einen neuen Formabschnitt hervorruft, es gibt traditionelle Höhepunkte. Er verwendet neben seiner persönlichen Art von Skalenbildung, die der bartókschen sehr ähnlich ist, typische Satztechniken wie Borduntöne und querständige Harmonien (osteuropäische „Bluenotes“), imitatorische Abschnitte sowie ungarische und bulgarische Rhythmen (umgekehrte Punktierungen und zusammengesetzte Taktarten in schnellem Tempo). Die 5.Bagatelle verwendet ein typisch bartóksches Modell der „Nachtmusiken“, das der ältere Komponist in Werken wie „Im Freien“, „Musik für Saiteninstrumente“ und „Divertimento für Streichorchester“ etabliert hatte. Kleine Motivformeln (die kleine Terz im ungarischen Rhythmus) bauen über einem glockenartigen Bordunbass eine Entwicklung auf, die auf einen klagenden Höhepunkt hinzielt. Die Harmonik durchläuft mehrere Aggregatszustände von einstimmig über milde Dissonanz T.10, schreiende Dissonanz T.18 bis zu geheimnisvollem Cluster T.24. Der Schluss mit seiner Wendung von d-Moll nach Cis-Dur ist ein Paradebeispiel für die erweiterte Tonalität im Kleinterzzyklus, die Ernö Lendvai an Bartók zu demonstrieren begann und auf der der ungarische Theoretiker Albert Simon eine neuartige Theorie der erweiterten romantisch-modernen Harmonik aufbaute: Nimmt man die Kleinterzachse cis-e-g-ais als Tonikaebene an (mit ihren Oberquinttönen gis-h-d-f), erfüllt d-Moll die Funktion einer domiantischen Sphäre, was den Schluss als eine Art authentische Kadenz deuten lässt.

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György Ligeti - Musica ricercata & 6 Bagatellen verwendete Skalen Töne in Klammern treten recht spät im Verlauf des Stückes hinzu

1  

2



3



5







 

A-mixolydisch

 

 





7

 

  G

10   G



G

F-mixolydisch/dorisch



   

 

G

4. Bagatelle

A-Dur/E-mixolydisch













(G)

9

3. Bagatelle







(G)







Ganzton-Halbton-Oktotonik





G

8

2. Bagatelle



G

6





G Grundton

4  







1. Bagatelle





G

5. Bagatelle























6. Bagatelle

















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