Jean Greisch Hermeneutik Und Metaphysik. Eine Problemgeschichte 1993

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Jean Greisch

HERMENEUTIK UND

METAPHYSIK Eine Problemgeschichte

Wilhelm Fink Verlag · München

Umschl.gabbJdung: IRENA PODHORSKA aquarelle et tempera, 75 x 55 cm

serie "SOURCES OE MEMOIRE" Des bribes disparates enfouies dans Ia mmoire. Mmoire intime et collectiw, mmoire conscienu, mmoire rfv~. mmoire de l'eau et de Ia terre, mmoire des mou.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Greisch, Jean: Hermeneutik und Metaphysik: eine Problemgeschichte / Jean Greisch. - München: Fink, 1993 ISBN J-7705-2878-6

ISBN 3-7705-2878-6 © 1993 Wilhelm Fink Verlag, München

Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, P.aderbom

Inhaltsverzeichnis:

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I.

Das ,.hermeneutische Zeitalter der Vernunft•. Versuch einer StaDdortbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Das "hermeneutische Zeitalter der Vernunft" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutik und Metaphysik: erste Annäherungsversuche . . . . . . . Henneneutische und metaphysische Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . .

10 15 25

Hermes und Hestia. Fremdheit und Vertrautheit als Grundpolarität der hermeneutischen Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Hennes als Namenspatron der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hennes und Hestia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die hermeneutische Grundsituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

30 33 36

Hermeneutik und Dialektik. Platons Ion als erster philosophischer Traktat Ober Hermeneutik. Das subjektive Moment der Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

1.

2. 3.

II.

1.

2. 3.

111.

Das fragwürdige Wesen der Rhapsodie . .. . . .. . . . . . . . .. . . . .. .. . Die dreigliedrige Magnetkette des hermeneutischen Sprechens: eine platonische Version des ,,hermeneutischen Zirkels"? Der notwendige Zwiespalt zwischen dem hermeneutischen und dem philosophischen Logos Auswirkungen der platonischen Fassung des Problems

59 62

Apophantischer und hermeneutischer Logos. Die objektive Fundierung der Hermeneutik in der Sprache (Aristoteles) . . . . . . . . . . . . . . .

67

Vergleich des platonischen und des aristotelischen Ansatzes des hermeneutischen Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutischer und apophantischer Logos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einheitsbildung und Weltbildung .. . . . . .. .. .. .. . .. .. . .. . . .. . . . Metaphorik und Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erste und Zweite Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Vieldeutigkeit des Seins . . . .. . . .. . . .. . . . . . . .. .. .. . .. .. . .. . Inneres und äußeres Wort (Logos endiathetos/Logos prophoriJws) . . .

70 70 73 76 80 82 85

Unendlichkeit des Lesens. Metaphysische Aspekte der Lehre vom vierfachen Schriftsinn . . .. . .. .. . . . .. .. .. . . . . . .. . . .. .. . . . .. .. . . . .

87

1.

2. 3. 4.

IV.

1.

2. 3. 4.

5. 6.

7.

V.

7

1. 2. 3.

Möglichkeit eines mehrfachen Schriftsinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Lehre vom vierfachen Schriftsinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . "Rota in medio rotae": die theologische Gestalt des hermeneutischen Zirkels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52 55

88 92 104

6 VI.

Inhaltsverzeichnis

Der beste aller möglichen Texte. Hermeneutik im Zeichen der Leibnizschen Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.

2.

Erste Spiegelung: "Sehe-Punkt" und historische Erkenntnis Qohann Manin Chladenius) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweite Spiegelung: "der beste aller möglichen Texte" (Georg Friedrich Meier) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

VII. ,.Das Verstehen verstehen". Hermeneutik und Transzendentalphilosophie (F. Schlegel, F. Ast, F. Schleiermacher) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.

2.

3.

"Das Verstehen verstehen". Die Idee einer "Philosophie der Philologie": von Friedrich Wolf zu Friedrich Schlegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von der Hermeneutik des Buchstabens zur Hermeneutik des Geistes (Friedrich Ast) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutik zwischen den Zeiten (Friedrich Schleiermacher) . . . .

VIII. ,.Das Leben legt sich selber aus". Metaphysik und Hermeneutik bei Wilhelm Dilthey . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 3. 4.

5. IX.

Von der Hermeneutik der Faktizitit zur Metaphysik des Daseins (Martin Heidegger) . .. . . .. . . .. . .. . .. . . .. . .. . . .. . . . . . .. .. .. . . . . . 1. 2. 3. 4.

5. 6.

X.

Hermeneutik und Erkenntnistheorie: ein neues Bündnis . . . . . . . . . Die Hermeneutik als Nachfolgerio der Metaphysik . . . . . . . . . . . . . . "Philosophie der Philosophie": das hermeneutische Wesen der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Leben und Verstehen: die Tragik des Erkennens . . . . . . . . . . . . . . . . . Verstehen und objektiver Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Von der Phänomenologie zur Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ,,Augen Husserls" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . "Hermeneutik der Faktizität": ein neues Verständnis der Selbstauslegung des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Seinssinn des "Ich bin": von der Hermeneutik der Faktizität zur Ontologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daseinsanalytik und Fundamentalontologie: Hermeneutik und Seinsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hermeneutik und Metaphysik des Daseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111 114 121

129

130 134 138

155 158 163 170 172

174

177

178 179

183 189 191 195

Das verwundete Cogito. Die hermeneutische Überwindung der Reflexionsphilosophie (Paul Ric~ur)

..............................

199

Akt und Zeichen: Selbstanschauung und Selbstverständnis . . . . . . . . Von der Reflexionsphilosophie zur "Symbolik des Bösen" . . . . . . . . Der Konflikt der Interpretationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ,,Mehr erklären heißt besser verstehen" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ,.Das Selbst als ein anderer": das "verwundete Cogito" in der Gestalt einer "Hermeneutik des Selbst" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201 206 208 209

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

224

1.

2. 3. 4.

5.

209

Vorwort

Lange Zeit schien der Begriff des "Prinzips" in seinen vielfältigen metaphysischen und theologischen Projektionen der Schlüsselbegriff der Vernunft überhaupt zu sein 1• ,,Abschied vom Prinzipiellen" 2 lautet dagegen heute die Parole. Dieses Buch enthält Überlegungen eines Menschen, dem solcher Abschied vom Prinzipiellen schwerfällt, sei es der Abschied vom Begründungsdenken, von der Philosophie als Wissenschaft, von der Metaphysik in all ihren Formen. Vor diesem Hintergrund stellt sich für mich die "Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist" 3• Auf die Frage nach der Möglichkeit einer Metaphysik bezogen, wird die Hermeneutik gewöhnlich entweder als eine Übergangserscheinung gedeutet - so wäre, Jacques Derrida zufolge, der hermeneutische Zirkel gewissermaßen der letzte Ring auf der Oberfläche des kulturellen Wasserspiegels, nachdem der harte Kern der Metaphysik, nämlich die Ontotheologie, bereits in die Tiefe abgesunken ist - oder als Wegbereiterin eines nach-metaphysischen Denkens, so - um nur wenige wichtige Namen zu nennen - in je verschiedener Weise bei Jürgen Habermas, bei Richard Rorty und bei Gianni Vattimo. Auch gegenüber der Antwort, die Odo Marquard, der sich selber "als endogenes Trojanisches Pferd'" der Hermeneutik vorstellt, auf die von ihm aufgeworfene Frage gibt, "es sei der Kern der Hermeneutik die Skepsis und die aktuelle Form der Skepsis die Hermeneutik"\ möchte ich metaskeptische Bedenken anmelden. Bedeutet das, daß die Festungsmauem des Trojas der vormaligen Metaphysik neu errichtet werden sollen? Sicher ein lächerliches Unterfangen, nachdem mehr als ein Trojanisches Fferd in sie eingebrochen ist und sie scheinbar dem Erdboden gleichgemacht hat! Und doch scheint es mir der Mühe wert, allen Trojanischen pferden zum Trotz, die heute Legion sind, mindestens eine "lectio difficilior" zu wagen, die sich nicht mit den üblichen Verhältnisbestimmungen der Metaphysik und der Hermeneutik zufrieden gibt. Die damit angedeutete problemgeschichtliche Untersuchung wird hier an Hand von zehn Lesestationen vorgestellt, die selbstverständlich keine vollständige Geschichte der Metaphysik ersetzen wollen. Die im Titel angezeigte Fragestellung wurde in den Jahren 1990-1992 in meiner Ontologievorlesung an der Philosophischen Fakultät des Institut Catholique in Paris erarbeitet. Ihre end1 Vgl. hierzu das wichtige Werk von Stanislas Bmon, DM Principe. L'organisation tontemporaine du _rrnsable, Paris, 1971. Odo Marquard, Absch~d wm Prinzip~llm. Philosophische Studien, Srungan, 1987. 3 Odo Marquard, ,.Frage nach der Frage, auf die die Metaphysik eine Antwort ist" in: Phi/. ]hb. 88 (1981) 1-19. Wiederabgedruckt in: Absch~d oom Prinzi~llm, S. I 17-146. 4 Absch~d

s Ebd.

vom Prinzip~llm, S. 117.

S. 146.

8

Vorwon

gültige Fassung erhielt sie im Rahmen der im Februar 1993 am Forschungsinstitut für Philosophie in Hannover gehaltenen Leibnizvorlesungen. Dem Leiter dieses Institutes, Prof. Dr. Peter Koslowski, möchte ich danken für seine Einladung, ohne die diese Unte~uchung wohl noch lange nicht ihre jetzige Gestalt gefunden hätte. Auch die Tatsache, daß auf diese Weise gerade Leibniz, der große Metaphysiker und der große Europäer, in den Vordergrund der Fragestellung rückte, war ein zusätzlicher Ansporn zum Weiterfragen. In seiner jetzigen Gestalt möchte ich das Buch meinem verehrten Lehrer Paul Ricreur zu seinem 80. Geburtstag widmen. Seit über dreißig Jahren arbeitet er an einem originellen Konzept einer Hermeneutik more gallico demonstrata. Eine Grundvoraussetzung dieses Entwurfes ist, daß die Metaphysik, wie immer sie sich gewandelt hat und sich noch wandeln wird, noch nicht "verendet" ist, sondern immer noch zu denken gibt. Paris, den 30. Mai 1993

Jean Greisch

I. Das "hermeneutische Zeitalter der Vernunft". Versuch einer Standortbestimmung

Im Dezember des Jahres 1992 organisierte die Katholische Universität Nimwegen eine Forschungstagung unter dem Titel: Metapbysics, Hermeneutics, Humanities. Der in diesem Titel angezeigten Fragestellung möchte ich sowohl in philosophiegeschichtlicher als in systematischer Hinsicht nachgehen. Die Hermeneutik nimmt hier die auffällige Stellung eines Bindegliedes zwischen den Geistes- bzw. Humanwissenschaften und der Metaphysik ein. Es ist diese eigenanige Mittelstellung, die eine philosophische Grundlagenbesinnung geradezu herausfordert. Seit Dilthey dürfte kaum noch ein Zweifel daran bestehen, daß die ,,humanities" oder die "Geisteswissenschaften", wissenschaftstheoretisch betrachtet, mit ,,hermeneutischen" Denkmodellen arbeiten, und daß die entsprechenden Verstehensprozesse nur auf solchem Wege verständlich werden, auch wenn man nur unter gewissen Vorbehalten die dichotomische Wendung, die Dilthey dem Gegensatz von Verstehen und Erklären gegeben hat, zu ratifizieren bereit ist. Wie aber steht es mit dem Verhältnis von Metaphysik und Hermeneutik? Dies ist eine weitaus schwierigere Frage, der man sich nur schrittweise nähern kann. Ohne eine endgültige Lösung dieser Frage vorlegen zu wollen, möchte ich mindestens einige Schritte zur Klärung des Problems wagen. Jahrhunderte hindurch beschränkten sich die Berührungspunkte zwischen der Hermeneutik, der Kunstlehre des Verstehens im Umgang mit Texten, und der Philosophie auf die Hilfsdienste, die diese der Philosophie leisten konnte. Eine mehr oder weniger nützliche Dienstmagd, ohne feste Anstellung und geregelte Dienstverhältnisse: so ließe sich noch am ehesten ihre Stellung beschreiben. Im philosophischen Fächerkanon hatte sie nichts zu suchen, und es war unvorstellbar, ihr eine ebenbürtige Position neben den klassischen Grunddisziplinen der Logik, der Physik und der Ethik einzuräumen, ganz zu schweigen davon, ihr Einlaß in den Prunksaal der "Ersten Philosophie", in Gestalt einer Metaphysik, Ontologie, oder einer philosophischen Theologie zu gewähren. Erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts, dank der Bemühungen Wilhelm Diltheys, Manin Heideggers, Hans-Georg Gadamers, Paul Riccrurs usw., hat sich die Lage gründlich geändert: seither gibt es eine "hermeneutische Philosophie", die sich in ihrem Pro und Kontra nicht mehr aus der Landschaft des zeitgenössischen Denkens entfernen läßt 1• Vor diesem größeren geistesgeschichtlichen Vgl. zur allgemeinen Einführung Jean Grondin, Einfohnmg in die Philosophische H~. Dannstadt, 1991; Hans lneichen, Philosophische H~ Freiburg, 1991; G. Scholtz, Art. ,,Hmneneutiscbe Philosophie" in: Histor. Wb. der Philos. VII, Sp. 752-761. Gegenüber diesen, trotz ihrer inhaldichen Verschiedenheit sehr hilfreichen Gesamtdarstellungen ist Georges Gusdorf, Ln originn Je l'~iqw, Paris, 1989, für unse~ Überlegungen wenig ergiebig, weil die philosophische Dimension des Problems fast durchgehend ausgeklammert wird. 1

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Das "henneneutische Zeitalter der Vernunft"

Hintergrund möchte ich nunmehr mich schrittweise unserem Problem nähern. Ich habe meine Überlegungen in folgende drei Schritte gegliedert. 1. Als erstes möchte ich den Sinn des von mir geprägten Ausdrucks "hermeneutisches Zeitalter der Vernunft" erläutern. 2. In einem zweiten Schritt schlage ich eine vorläufige Ortsbestimmung der Metaphysik vor, um überhaupt den Grund freizulegen, auf dem sinnvollerweise nach dem Verhältnis von Hermeneutik und Metaphysik gefragt werden kann. 3. Schließlich möchte ich mindestens ansatzweise eine Möglichkeit einer positiven Verhältnisbestimmung etwas näher in Augenschein nehmen.

1. Das "hermeneutische Zeitalter der Vernunft" Es sind die eben erwähnten unbestreitbaren Gegebenheiten der heutigen philosophischen Situation, die es meiner Meinung nach erlauben, vom 20. Jahrhundert als einem "hermeneutischen Zeitalter der Vernunft" zu sprechen. In diesem Sinne habe ich den Ausdruck als Titel einer im Jahre 1985 veröffentlichten Aufsatzsammlung verwendet2• Inzwischen scheint es mir mehr als nötig geworden zu sein, den Sinn dieser Wendung kritisch zu rechtfertigen, besonders im Hinblick auf einige naheliegende Mißverständnisse. Ich denke hier etwa an die ähnlich klingende These Gianni Vattimos, der in der Hermeneutik die philosophische Koine der achtziger Jahre sieht, die somit den Marxismus als Koine der sechziger und den Strukturalismus als Koine der siebziger Jahre ablösen würde3. Gegen diese These möchte ich zwei Einwände vorbringen. Erstens muß man sich fragen, ob dieser Befund die wirkliche Lage des letzten Jahrzehnts trifft. Und hierauf wird man antworten müssen, daß er als Pauschalurteil weder für die französische, noch für die deutsche, und schon gar nicht für die englischsprachige Philosophie zutrifft. Es bliebe also höchstens noch Italien übrig, ein Land, das in der Tat für den Kenner der italienischen philosophischen Szene eine Art hermeneutisches Paradies darstellt. Zweitens wäre zu fragen, was im Bereich der Philosophie unter dem Begriff einer Koine zu verstehen ist. Sofern es diese überhaupt gibt, so ist der Weg von der Koinl zum Jargon gewöhnlich sehr leicht. Ganz von der Hand zu weisen ist die Gefahr sicherlich nicht, daß die vormalige "rabies theologica" sich heutzutage in der Form eines "morbus hermeneuticus" weiterverbreiter4. Wie auch immer, einer Sache dürfen wir gewiß sein: wenn eine philosophische Sprache sich zum Jargon heruntergewirtschaftet hat, empfindet der Zeitgeist ein unbändiges Bedürfnis, diesen Jargon durch eine neue Koine zu hmnlneNliqw tk Ia raiscm, Paris, 1985. Gianni Vanimo, Ethiqw tk l'intnprltAtion, Paris, 1991, bes. S. 45-58. Zu diesem Ausdruck vgl. Herben Schnädelbach, ,,Morbus bermeneuticus. Thesen über eine philosophische Krankheit" in: Zeitschrift ftlr DULJttilr tkr PhilosophU 3 (19~1), wiederabgedruckt in: Vrrmmft ll1lli Gnchiclm. Vorträge und Abhandlungen, Frankfurt, 1987. Kritisch dazu Jean Grondin, "Ist die Henneneutik eine Krankheit? Antwon auf Herben Schnädelbach" in: Zntschrift ftlr philo~ phisehe ForscJn.ng 45 (1991), S. 430-438. 2 L 'ägr 3 4

Das ,.hermeneutische Zeitalter der Vernunft"

11

ersetzen, in Anwendung eines Gesetzes, das Hegel im 40. Aphorismus seines Wastebook in folgende Worte gekleidet hat: "Unsere Nachwelt ist die nächste Messe. Wie in der Vernunft sich Alles zusammenrückt, so rückt auch in der Gebirgsansicht der Strom näher. Pedes eorum, qui efferunt te, sunt iam ante ianuam". Lassen wir also den Zeitgeist ruhig darüber befinden, welche Koine in diesem, dem letzten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts gesprochen werden soll, und wenden wir uns der Frage zu, in welchem Sinne und aus welchen Gründen wir das 20.Jahrhundert insgesamt, unbeschadet der vielen Sprachen, in denen die Philosophie sich dort ausspricht, als ein "hermeneutisches Zeitalter der Vernunft" bezeichnen dürfen. Offenbar darf dann dieser Ausdruck nicht dogmatisch-totalitär, sondern muß er kritisch-heuristisch verstanden werden. Anders gesagt: es geht keineswegs darum, einen hermeneutischen Alleinherrschaftsanspruch zu verkünden, denn bestenfalls ist die philosophische Hermeneutik auch heute nur eine der maßgeblichen philosophischen Strömungen der Gegenwartsphilosophie, und von ihrem eigenen Selbstverständnis her kann sie auch nichts anderes sein wollen. Es geht vielmehr darum, nach den Gründen zu forschen, die erklären, wieso die Hermeneutik, die zunächst eine außerphilosophische Disziplin war, es am Ende ihres langen Marsches durch die Geschichte geschafft hat, sich nicht nur eine philosophische Grundlegung zu geben, sondern sich als philosophische Schulrichtung zu etablieren und von da aus bis in den Bereich der "Ersten Philosophie" vorzustoßen. Ich schlage deshalb vor, drei verschiedene Anwendungen des Ausdrucks zu unterscheiden. 1. Rein deskriptiv verstanden, bezeichnet er, wie bereits gesagt, die schlichte, unbestreitbare Tatsache, daß es der Hermeneutik erst am Anfang des 20.Jahrhunderts gelungen ist, sich als philosophische Schulrichtung zu etablieren. In dieser Hinsicht ist es angebracht, mindestens drei Etappen in der Entwicklung der Hermeneutik zu unterscheiden. Zunächst, Jahrhunderte hindurch, handelte es sich vornehmlich um eine praktische Disziplin, die sich auf verschiedene Anwendungsgebiete verteilte, in denen die Kunst der Interpretation, Deutung und Auslegung besonders gefragt ist, hauptsächlich in der Bibelexegese (henneneutica sacra), in der Auslegung von Gesetzestexten oder der klassischen Philologie. Mit der Zeit bildete sich auf jedem dieser Gebiete ein Kanon von in der Praxis erprobten Auslegungsregeln heraus, die ihrerseits, wie wir heute wissen, seit dem 16.Jahrhundert Gegenstand einer allgemeinen wissenschaftstheoretischen Besinnung wurdens. Die zweite Epoche beginnt mit dem 19.Jahrhundert. Hier fmdet der für die Folgezeit entscheidende "Paradigmenwechsel"6 statt: die vormalige spezielle oder allgemeine Kunstlehre der Interpretation (ars interpretandz) wandelt sich um in eine Lehre vom Verstehen und Auslegen, die bei Schleiermacher ihre erste philosophische Grundlegung erhält, obwohl er in seiner Wissenschaftslehre die Hermeneutik noch zu den bloß technischen Hilfswissenschaften der Ethik s Vgl. hierzu Hasso E. .Jaeger, ,,Studien zur Frühgeschichte der Hmneneutik" in: ArrhW ftlr &griffsgeschichu 18 (1974), S. 35-84, der besonders die Rolle johann Konrad Dannhauen untmtreichL 6 Vgl. Ada Neschke, Andre Laks (Hg.), LA naissance J,. paradigme ~.Lilie, 1991.

12

Das "hermeneutische Zeitalter der Vernunft"

rechnet. Terminologisch kann man diese Schwelle mit dem Begriff "philosophische Hermeneutik" bezeichnen. Ein Jahrhundert später, unter dem maßgeblichen Einfluß des Diltheyschen Entwurfs einer Kritik der historischen Vernunft, wird die Hermeneutik in die Philosophie selber eingeführt. Erst damit entsteht das, was ich vorhin als eine "hermeneutische Philosophie" bezeichnet habe. Rein deskriptiv verstanden, bezeichnet also der Ausdruck "hermeneutische Vernunft" nichts anderes als die Tatsache des für das 20. Jahrhundert charakteristischen Aufkommens einer bislang nicht dagewesenen Schulrichtung. 2. In einem zweiten, mehr kritischen Sinn genommen, bezeichnet er auch die durch das Bestehen eben dieser "hermeneutischen Philosophie" ausgelösten repräsentativen Debatten, also etwa: Hermeneutik und kritischer Rationalismus (H. Albert), Hermeneutik und Dialektik, Hermeneutik und Ideologiekritik, Hermeneutik und Dekonstruktion usw. So verstanden, enthält der Begriff "hermeneutisches Zeitalter der Vernunft" mehr als nur die Auffassungen derjenigen Philosophen, die sich zur hermeneutischen Schule Diltheys, Heideggers, Gadamers oder Paul Ricceurs bekennen. Auch die zahlreichen Gegner und Widersacher der Hermeneutik müssen in diesem Zusammenhang zu Wort kommen, weil sie - und das ist im Wesen des hermeneutischen Vernunftbegriffs begründet - sich aus deren Selbstverständnis nicht hinwegdenken lassen. 3. In einem letzten, noch radikaleren, mehr heuristischen Sinn betrifft der Ausdruck den Vernunftbegriff selber, d. h. solche Fragen wie: gibt es einen hermeneutischen Vernunftbegriff und wie kann dieser bestimmt werden? In diesem Sinne sprach etwa der frühe Karl-Otto Apel vom 19. Jahrhundert als von einem "Zeitalter des Verstehens" 7• Nun gibt es aber keine kontinuierliche Linie, die vom Verstehensbegriff, wie ihn das anfangende 19. Jahrhundert mit Friedrich Schleiermacher, Friedrich Schlegel und Friedrich Ast (das "friederizianische" Zeitalter der Hermeneutik!) geprägt hat, und dem Droysen und Dilthey seine endgültige Gestalt verliehen haben, zur philosophischen Verstehensproblematik unseres Jahrhunderts führt. Hier wird dann die Frage brennend, ob und inwiefern es überhaupt legitim ist, von einem "hermeneutischen" Vernunftbegriff zu sprechen. Das Entstehen eines "hermeneutischen Paradigmas", nämlich das Aufkommen des Begriffspaares "Verstehen" und "Auslegen" aufzeigen, oder dessen Verbindlichkeit für den Vernunftbegriff selber ausweisen, das sind zwei sehr ve.rschiedene Dinge. Daß man legitimerweise von einem phänomenologischen Vernunftbegriff sprechen darf (für Husserl hängt er unmittelbar mit der Ausweitung der originären Anschauung über ~en Bereich des Sinnlichen hinaus zusammen; Evidenz und Einsicht sind hier die Schlüsselworte8), darüber herrscht heute eine große Ein7 Karl-Otto Apel, "Das Verstehen. Eine Problemgeschichte als Begriffsgeschichte" in: A.rchi'fl frlr Be~ffsgnchichte

I (1955), S. 163. Vgl. hierzu besonders Husserls Überlegungen im 4. Abschnitt von Ideen /, vor allem das 2. Kapitel (§§ 136-145), in dem er seine Phänomenologie der Vernunft darlegt, die nur bestätigt, was bereits im§ 19 aufgestellt wurde: "Das IRimittelbare ,Sehen' (vo&lv), nicht bloß das sinnlich erfahrende Sehen, sondern das Sehen MberhaMpt als origin4r gebnuln BewNßtsnn welcher Art immn, ist die letzte Rechtsquelle aller vernünftiger Behauptungen" (/dem I, Hua 111, S. 44).

Das "hermeneutische Zeitalter der Vernunft"

13

mütigkeit. Ebenso was den analytischen oder den pragmatischen Vernunftbegriff betrifft, den unter anderem Wittgensteins Sprachspieltheorie illustrien9• Inwiefern man aber mit dem gleichen Recht von einem "hermeneutischen Vernunftbegriff" sprechen darf, das muß erst noch entschieden werden. Und gerade um diese Aufgabe geht es in diesem dritten, heuristischen Gebrauch des Ausdrucks "hermeneutisches Zeitalter der Vernunft". In seiner vorzüglichen problemgeschichtlichen Darstellung der Entwicklung der deutschen Philosophie von 1831-1933 räumt Herbert Schnädelbach der Kategorie des "Verstehens" eine wichtige Rolle ein 10• Sie erscheint hier als eine Kategorie, die im Gefolge der Kategorien "Geschichte" und "Wissenschaft" in Erscheinung tritt und ihrerseits zu den Kategorien "Wert", "Leben" und "Sein" überleitet. Schnädelbachs These, daß diese Kategorie nicht nur eine methodologische Bedeutung für die Begründung der Autonomie der Geisteswissenschaften hat, sondern zugleich "die Möglichkeit von Philosophie überhaupt in einem nachidealistischen Zeitalter und unter den Bedingungen des historischen Bewußtseins bezeichnet" 11 , kann ich aus meiner Sicht nur zustimmen. Denn gerade weil im Verstehensproblem die "jeweils erst durch vernünftige Intersubjektivität herstellende Verstehensleistungen zu gewinnende" 12 Einheit der Vernunft zur Frage steht, zeigt sich, daß es sich um ein philosophisches Grundproblem handelt. Um so wichtiger ist zu sehen, daß in einer solchen problemgeschichtlichen Betrachtung die Hermeneutik nicht mit der bloßen Kategorie des Verstehens identifizien werden kann. Auch unter den Kategorien "Geschichte", "Leben" und "Sein" werden hermeneutische Probleme erörten. Für die eben skizziene Auffassung des "hermeneutischen Zeitalters der Vernunft" ist daher nicht das bloße Aufkommen der Kategorie des Verstehens als solche, sondern gerade die zunehmende Ausdifferenzierung des Verstehens- und des Interpretationsbegriffes charakteristisch. Hier stellt sich dann offenbar die Frage, ob das sich am Anfang des 19. Jahrhunderts herausbildende Begriffspaar "Verstehen" und "Interpretation" dazu bestimmt ist, nach dem anfänglichen Zustand der Verliebtheit ein einigermaßen "vernünftiges" Eheleben zu führen oder in eine konfliktreiche Mesalliance ausmünden mußte. Denn spannungsgeladen ist dieses ungleiche Paar ohnehin, wie es etwa Diltheys sehr großzügige Definition des Verstehens - "Das Verstehen reicht von der Auffassung kindlichen Lallens bis zu der des Harnlet oder der Vernunftkritik" 13 - im Gegensatz zur strikten Definition der Auslegung drastisch veranschaulicht: Interpretation, Auslegung, ist "das kunstmäßige Verstehen von schriftlich fixierten Lebensäußerungen" 14 • Nur um den Kontrast gegenüber dem phänomenologischen Vernunftbegriff zu unterstreichen, sei der § 119 der Philosophischen UntersMclnmgen zitiert: ,,Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgend eines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenze der Sprache geholt hat. Sie, die Beulen, lassen uns den Wert jener Entdeckung erkennen". IO Vgl. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, Frankfurt. 1983, S. 139173. II Ebd. S. 138. 12 Ebd. S. 139. 13 Wilhelm Dilthey, ,.Oie Entstehung der Hermeneutik", GesamrMite Schriften 5, S. 318. 14 Ebd. S. 392. 9

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Das ,.hermeneutische Zeitalter der Vernunft"

Leicht zu entscheiden ist unsere Frage gewiß nicht, denn bei näherem Zusehen zeigt sich, daß beide Begriffe in unserem Jahrhunden teils Hand in Hand miteinander gehen, wie dies besonders bei Heidegger der Fall ist, aber auch zum Teil in einen diametralen Gegensatz zueinander geraten können. Letztere Möglichkeit belegt wohl am schärfsten und am radikalsten das Denken Friedrich NietzSches, den man in dieser Hinsicht als den "bösen Geist" der heutigen philosophischen Hermeneutik ansehen kann. Vergleicht man Nietzsche mit Dilthey, dann ist schon rein terminologisch auffallend, daß das Won "Hermeneutik" bei ihm nirgendwo vorkommt, und zwar aus guten Gründen, die etwa das böse Won aus der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung illustrien: "Wer einmal an der Hegelei und Schleiermacherei erkrankte, wird nie ganz kurien" 1s. Noch auffallender ist indessen der fast gänzliche Schwund des Wones "Verstehen", das, wenn überhaupt, nur in einem negativen und abschätzigen Sinn verwendet wird. So heißt es etwa in dem "Zunehmende Severität der Welt" betitelten § 240 des ersten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches, mit Blick auf die Geisteshaltung des ausgehenden 19. Jahrhunderts: ,Jetzt fragt man nach den Ursachen; es ist das Zeitalter des Ernstes. Wem liegt jetzt noch daran, die Differenzen zwischen Wirklichkeit und anspruchsvollem Schein, zwischen dem, was der Mensch ist und was er vorstellen will, in scherzhaftem Lichte zu sehen; das Gefühl dieser Kontraste wirkt alsbald ganz anders, wenn man nach den Gründen sucht. je gründlicher jemand das Leben versteht, desto weniger wird er spotten, nur daß er zuletzt noch über die Gründlichkeit seines Verstehens spottet" 16• Einen gründlicheren Abschied von dem "Zeitalter des Verstehens" als den, der in diesen Wonen zum Ausdruck kommt, kann man sich kaum denken. In schroffem Gegensatz zu dieser negativen und polemischen Besetzung des Diltheyschen Schlüsselwortes "Verstehen" steht nun aber bei Nietzsche die besonders für den Nachlaß der achtziger Jahre charakteristische, geradezu explosionsartige Verwendung der Termini "Interpretation", "Interpretieren", ,,Auslegen", ,,Ausdeuten" usw. Zitieren wir aus unzähligen ähnlich lautenden Aphorismen nur eine besonders charakteristische Passage: "Daß der Werth der Welt in unseren Interpretationen liegt (- daß vielleicht irgend wo noch andere Interpretationen möglich sind als bloß menschliche - ), daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge derer wir uns im Leben, d. h. im Willen zur Macht, zum Wachsthum der Macht erhalten, daß jede Erh
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