Fussnoten Zu Plato - Werner Beierwaltes

August 13, 2017 | Author: cca223 | Category: Neoplatonism, Plato, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Platonism, Idea
Share Embed Donate


Short Description

hh...

Description

WERNER BEIERWALTES FUSSNOTEN ZU PLATO

W E R N E R B EIER W A LT ES

F U S S N O T E N ZU PLATO

m VITTORIO KI.OSTERMANN

F R A N K F U R T AM MAIN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main · 2011 Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier @ISO 9706 Satz: post scriptum, www.post-scriptum.biz Druck: Wilhelm & Adam O HG, Heusenstamm Bindung: Litges & Dopf, Heppenheim Print cd in ( ¡ ermany ISBN 97» \ 'K’S ie liier skizzierten Pragestellungen und Gedankengänge habe ich in einigen Büchern »miliiliilk her mul mit weiteren Verweisen auf einschlägige Texte und Literatur behandelt (v|f| S .{;«)) Spezielle Literatur zu IHotins Gottesbegriff: R. Arnou, Le désir de dieu dans U philosophie de Plotin, 1921, deuxit-me édition revue et corrigée, Rom 1967. J. Wolf, Der 1 hhjeshep.i ill Plot ins (Diss. Ireiburg, Iheol. I;ak.), Borna-Leipzig 1927. J. M. Rist, Theos

28

Plotins Theologik

Überlieferung hat er vor allem zentrale Gedanken Platons, der für ihn überzeugendsten Identifikationsfigur, und des Aristoteles - in bisweilen kritischer Distanz zu ihm - in sein eigenes Denken aufgenommen und in ihm verwandelnd fortbestimmt. In diesem Prozeß kam es zu einem durch­ aus originären, in sich differenzierten Gedankengefüge, das die Wirklich­ keit im ganzen aus Prinzipien zu begreifen und zu begründen versucht und das zugleich für den Menschen zum Maß seiner Lebensform wird2. Diese Prinzipien sind zum einen als in sich seiende und auf jeweils Anderes außer ihnen selbst wirkende Wesenheiten gedacht, zum anderen sind sie Bedingung dafür, daß das Ganze des Seienden in seinen unterschiedlichen Strukturen und in seinem aus Einem Grund her bestehenden Zusammen­ hang begreifbar wird. Als den „Ursprung des Seins“ (αρχή οντος) oder von Allem, was sein kann, ist und denkbar ist, als die produktive „Mächtigkeit zu Allem“ (δύναμις των πάντων), als die „Quelle des Geistes und des Lebens“, als die „Wur­ zel der Seele“ 3 denkt Plotin das Eine selbst (εν); eins mit dem an seiner Fülle frei teilgebenden Guten* ist es das Erste als Anfang oder Ausgangs­ and the One in some Texts o f Plotinus, in: Mediaeval Studies 24, 1962, 169-180; auch in: ders., Platonism and its Christian Heritage, Variorum Reprints, London 1985, V II. Abh. Ders., ebd.: The One o f Plotinus and the God o f Aristotle (1973), IX. Abh. A. H. Arm­ strong, Beauty and the Discovery o f Divinity in the Thought o f Plotinus (1975). Ders., The Apprehension o f Divinity in the Seif and Cosmos in Plotinus (1976); beides in: Plotinian and Christian Studies, Variorum Reprints, London 1979, Abh. X V III und XIX. Heinrich Dörrie: Platonica Minora, München 1976, 361-374 („Plotin. Philosoph und Theologe“). L. P. Gerson, God and Greek Philosophy. Studies in the early history o f natural theology, London 1990; zu Plotin v. a. 191 ff. 2 Vgl. W. Beierwaltes, Das Eine als Norm des Lebens. Zum metaphysischen Grund neuplatonischer Lebensform, in: Procliana (wie Anm. 1) 25-60. - Mihailo Djuric, „Das philosophische Lebensideal“ , in: ders., Mythos, Wissenschaft, Ideologie, Amsterdam 1979, 210 ff. Das Bild des Philosophen, das Mihailo Djuric dort skizziert, ist trotz seiner Epoche gegenüber metaphysischem Denken, sofern dieses argumentativer Vernunft sich entziehen würde, mit dessen Grundintention kompatibel: „Schließlich ist der Philosoph derjenige, der seinen Blick auf die nie verlöschende Lichtquelle lenkt, der die Verbindung zwischen sich und einer höheren sinnspendenden Totalität herstellt, der an einem weiterreichenden sinnvollen Geschehen mitwirkt und ein absolutes Zentrum des Lebens postuliert. Das be­ deutet letztlich, daß die philosophische Lebensweise in der Offenheit der höchsten onto­ logischen Erfahrung gegenüber, in der Annahme und Bestätigung der Wahrheit des Seins alles Seienden ihre Erfüllung findet“ (ebd. 217 f). 3 VI 9,9,1 f. III 8,10,1 ff. 2 7 ff. 4 Für das Eins-Sein der beiden - des Einen mul des ( iutrn spricht der Umstand, daß Plotin das Gute so wie es Platon in seiner .Politria* als „jrnsrits des Srins" (t’ jrt' Ki tvti τής

Plotins Theologik

29

punkt seiner Selbstentfaltung in das von ihm allererst konstituierte Viele, zugleich aber das Letzte als Ziel der von ihm ausgehenden und durch es bewahrten Bewegung, die als Peripherie von Kreisen in ihm ihr Zentrum har. - In der aus dieser reinen, d. h. differenz-freien, absoluten Einheit sich formenden ersten Dimension von Vielheit oder Andersheit (Differenz) gegenüber dem Einen konstituiert sich ein absolutes, zeitfreies Denken, das nur im Rückbezug auf das Eine selbst es selbst „wird“ und sein kann; in eben diesem Bezug zu seinem Ursprung denkt es zugleich sich selbst, sodaß sein Sein (als ein aus dem Einen Geworden-Sein) in diesem Selbstbe/.ug mit seinem Denken identisch ist. Plotin benennt diese Dimension der Selbstentfaltung des Einen/Guten als νους; wir übersetzen diesen durch Anaxagoras, Xenokrates, Platon und für Plotin vor allem durch Aristoteles vorbestimmten Terminus mit „Geist“5 oder Denken an ihm selbst, um die 1 ,in heit des Denkaktes (νόησις) mit der Ganzheit der in sich differenten und doch aufeinander bezogenen Denk-„Gegenstände“ (νοητά) in ihm selbst anzuzeigen. Die vom absoluten Einen her anfangende Bewegung p.eht durch die aktive Vermittlung und demiurgische Formungskraft des πΰ,8 ff. VI 5,1,3 (in uns). - ψυχή - κόσμος - ϋεός z. B.: III 5,6,17. V 1,2,35ff. 4 ° · _ In dieser St 11die konzentriere ich mich vor allem auf die erste und zweite Dimension des Göttlichen. I >ie „Göttlichkeit“ der Welt könnte im Ausgang von Platons Konzeption des Kosmos als eines „sinnlich wahrnehmbaren, sich zeigenden Gottes“ (θεός αισθητός: Tim. 92 c 7) u. a. .in Plotins Verteidigung einer Vernunft-Struktur des Kosmos gegen gnostische Weltverachmng dargestellt werden. Zum göttlichen Grund im Menschen oder dem ,Gott in unsc vgl. meine Abhandlung „Das Eine als Norm des Lebens“ (wie Anm. 2), mein Buch „Das wahre Selbst“ (wie Anm. 1) und unten Anm. 26. 17 Heinrich Dörrie hat in seinen Artikeln „Gottesbegriff“ und „Gottesvorstellung“ im Ke.illcxikon für Antike und Christentum XI (1981) 944ff und XII (1983) 81 ff behauptet, bei < 11 icelien und Römern sei aus „vielfältigen, reich differenzierten Vorstellungen von Göttern u n d vom Göttlichen“ heraus - „ungeachtet mehrerer Ansätze, die dazu hätten führen kön­ nen" der Schritt zu einem „Gottesbegriff“ oder zu einer „Theologie“ nicht getan worden (') {-}); oder: „Nie ist der Versuch gemacht worden, ein theologisch fundiertes System zu ge winnen, das alle Götter umfaßte“ (83 [Proklos wäre auszunehmen]); und ebenso lapidar: „Im e Iheologie im eigentlichen Sinne fehlt“ (125). Wenn mit dem von Dörrie nicht hinMμ liend bestimmten Begriff „Theologie“ eine zu irgend einer Zeit allgemein „verbindliche Systematik“ (z.B. 104. 127), eine in sich geschlossene „Dogmatik“ gemeint sein sollte, die ils (.1 ui ul läge oder Ausdruck eines Bekenntnisses betrachtet werden könnte, mögen derar­ tige Aussagen zutreffen. Dennoch ziehen sie den Verdacht eines ahistorischen Konstruktes aul sh lt. Die Rede von einer „Theologie“ oder einer „Theologik“ hängt allerdings nicht an *l*i Bedingung, daß sie sich auf ein dogmatisches „System“ beziehen müßte, das zudem von ilnem eigenen „Berufsstand“ zu „erklären“ und zu „bewahren“ wäre (wie Dörrie sugge• i* 11), .mcIi nicht an der griechisches und christliches Denken gleichermaßen bestimmen­ d e n I I b e r /eugung, daß das Göttliche oder der Gott nicht „definitorisch festzulegen“ (944), d u n h i.uionales Begreifen nicht in seinem Wesen oder An-sich-Sein erfaßbar sei (das Sa­ li« 11 des l Insagbaren ist gerade ein Grundakt von „Theologik“). „Theologie“ oder „Theolojiik kann vielmehr legirimerweise in Bezug auf diejenigen Versuche gebraucht werden, die %iii lilii h miteinander verbundene Grundzüge des Göttlichen oder des Gottes im Kontext *-••*•■1 philosophischen Iheorie von Seins- und Erkenntnis-Prinzipien begrifflich entfalten. I hu detattige begriilliche Ausgrenzung des Göttlichen in der Bestimmung der Prinzipien i i i i p l i n e i t Iteiliih d e n Gedanken, daß das Wesen des begrifflich (negativ) Ausgegrenzten i i h t i d e n Begrill hinaus geht. Iheologumena als Aussagen, die „einzelne Wesenszüge des I »tuil i. h e n kennzeichnen“ (RAC XI 945; XII 83), sollten nicht aus einem anachronistischen Imeiesse heraus gegen „ Iheologie“ oder „ Iheologik“ ausgespielt werden. —Zur „GeMlii* lullt hkeit“ lief frühen ^hristliehen Iheologie vgl. D.Tim pe, Römische Geschichte und IUiUjii hii hte, Beilin /ooi (I laus l ict/mann Vorlesungen, Heit 5).

Plotins Theologik

III Aus den Bestimmungen des Einen und Guten heraus ergibt sich, daß die­ ser „erste“ G ott 18 als absolute Einheit und Gutheit der das Sein insgesamt konstituierende und es zugleich bewahrende Grund und Ursprung ist. Als gründende Mächtigkeit zu Allem (δύναμις πάντων), die aus ihrer „Über­ fülle Anderes schafft“ 19, ist er dennoch über oder jenseits von Allem (πάντων επέκεινα): reine in ihr selbst bleibende, sich selbst in der Entfaltung nicht aufhebende Transzendenz,, zugleich aber in Allem wirkende, formende, das Viele einende und in seinen Ursprung rückführende Immanenz, oder: er ist das „Nichts“ all dessen, dessen Ursprung er ist, er ist als die radi­ kale Andersheit zu allem Anderen, als der absolute Ausschluß von Vielheit („A-pollon“) in ihm selbst kein Etwas, nicht mit etwas außer ihm Seienden identifizierbar, sondern vor jedem Etwas-Seienden (προ του ’τ ι’20), vor und über jeder Unterscheidung in Identität und Differenz autark und frei Er selbst; weil er nicht Etwas ist, ist er auch nicht „bestimmt“ im Sinne einer inneren Differenz und Grenze, auch nicht Form und Gestalt, die durch Identität mit sich selbst bestimmt und zugleich begrenzt wäre, sondern grenze-los (άπειρον), un-endlich, von sich selbst her der Ausschluß aller Begrenzung und Endlichkeit aufgrund seiner „unumfaßbaren Kraft oder Mächtigkeit“21. Die Paradoxie ist für ihn zu denken, daß er, herausgehoben 18 Dieser Terminus erscheint nicht bei Plotin,· er kann jedoch zur Verständigung in der Sache gebraucht werden, da aus dem von Plotin so genannten „zweiten Gott“ auf einen er­ sten zu schließen ist. Vgl. hierzu unten S. 42. Im Blick auf diese der Sache nach durchaus plotinische Terminologie verweise ich auf Porphyrios, Vita Plotini 23,8 ff: In der mystischen Henosis (ένωθήναι) - so Porphyrios - erschien dem Plotin „jener Gott, der weder Form noch irgendeine Gestalt hat, der über dem Geist und dem gesamten Bereich des Geistigen (Intelligiblen) gründet“ - „der erste und jenseitige Gott“ (... τον πρώτον και επέκεινα θεόν). - Für Proklos ist die Bezeichnung des Einen als πρώτος oder πρώτιστος θεός geläu­ fig, z.B. in Remp. I 287,i 6 f (Kroll). Theol. Plat. I I 11; 65,19f (Saffrey-Westerink). in Parm. 1109,1 (Cousin): αύτόθεος. 16: αύτοθεότης. 19 V 2,1,8: τό υπερπλήρες αύτοϋ πεποίηκεν αλλο. „Schaffen“ gehört zu den Wesens­ zügen des Göttlichen: ποιεί γάρ παν τό θειον ώς πέφυκε* πέφυκε δέ κατά την αύτοΰ ουσίαν. 20 V 3,12,52. J.-M . Narbonne, Henologie, Ontologie et Ereignis (Plotin - Proclus Heidegger), Paris 2001, 89ff. W. Beierwaltes, Denken des Einen 39 ff (zu V 2,1,1) 50ff. Identität und Differenz 25ff. Artikel „Hen“ im Reallexikon für Antike und Christentum 14 (1987) 455 f. 21 VI 9,6,iof: άπεριλήπτω όυνάμει. V 5,10,18ff: das Kine - πρώτος γάρ αυτός - ist unbegrenzt, unendlich, nicht durch (materielle) Größe otVT άππρος ώς μέγεθος , son­ dern aufgrund seiner Kraft oder//A .solc he τό t)' ίίππρον ή δύναμις ί'χπ |l lenry Sehwy/er

Plotins Theologik

37

aus Allem, in höchstem Maße selbstgenügsam und unbedürftig22 dessen ist, was sich aus ihm entfaltet, „ nirgends “ (ούδαμοϋ), d. h. in keinem Anderen als Er selbst ist, daß er dennoch ortlos „überall“ (πανταχοϋ)23 als der pro­ duktive Grund alles Anderen ist - getrennt (χωρίς, κεχωρισμένον24) von Allem, aber zugleich in Allem anwesend und dessen Sein bewahrend wirk­ sam: „Keinem ist er äußerlich, sondern mit Allen ist er zusammen, ohne daß sie es wissen“25. Bewußt wird er - der Gott in jedem von uns, unser eigener Ursprung26 - in der denkenden Hinwendung des Menschen und in dessen Selbst-Transformation in sein wahres Selbst; die bewußte Wen­ dung in den eigenen, in uns wirkend-anwesenden Grund und Ursprung sieht Plotin als erkennende Hinkehr zum „ Vater“ —oder, in der OdysseusMetapher gesagt - als ein Zuflucht-Finden im „Vaterland“: πατρίς δέ ήμιν, οθεν παρήλΟομεν, καί πατήρ έκ ει - „Unser Vaterland ist dort, von woher wir gekommen sind, und der Vater ist dort“27. A uf dem alle kategorialen Bestimmungen negierend ausgrenzenden Weg zum Einen, oder - metaed. min.]. V I 5,12,36: εις εν άπειρον ιόντα ά μεγέθ ει τω άπείρω. Aufschlußreich für die­ sen Zusammenhang: L. Sweeney, Infinity in Plotinus, in: Gregorianum 38, 1957, 515-535. A. H. Armstrong/ R. A. Markus, Christian Faith and Greek Philosophy, London i960, 8ff („God’s Transcendence and Infinity“). Zu einer christlichen Umformung des Begriffes der l Inendlichkeit: Th. Böhm, Theoria, Unendlichkeit, Aufstieg. Philosophische Implikationen /.11 De Vita Moysis von Gregor von Nyssa, Leiden 1996, 43 ff. 150 ff. 22 VI 9,6,17 ff. 23 VI 5,4,1 ff. V 2,2,24: πάντα δέ ταυτα εκείνος καί ούκ έκεΐνος. Zur Problematik der Allgegenwart des Geistigen vgl. C. Tornau, Plotin. Enneaden V I 4-5. [22-23]. Ein Kom­ mentar, Stuttgart 1998 (dazu meine Rezension in: Gnomon 75, 2003, 400-403). M VI 8,9,10 (meine Konjektur in: Plotin. G eist-Ideen-Freiheit, Philosophische Bi­ bliothek Meiner 429, Hamburg 1990, 9 if). V I 4,11,20 f: εστι γάρ καί παρεϊναι χωρίς ον. VI 9 >4 >24 ^· VI 9 ,7 >2 8 f. Alles ist im Einen - nicht als dessen durch Reflexion „vergegenständlichicr" Gehalt, sondern als in seinem Alles konstituierenden, umfassenden und erhaltenden 11" |, daß er diesen Gedanken hatte, daß das Wesen Gottes das Denken selbst und jirgriiwaiiig im I )enken ist. Wie die Christen ihn auf eine sinnliche Weise einmal zu einer gewinnt /eit und an einem gewissen Orte gegenwärtig sagten ...: so Plotin, daß das ab•Mimr Wesen im I )enken des Selbstbewußtseins gegenwärtig und darin als Wesen ist, oder tU* I >riiken selbst das ( ¡entliehe ist“ (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Jubiläumsausgabe |(iloekner| XIX 46). M V i,.|.tH M V M.*! t H (meine l Jbersetzung aus „Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit“ 29; vgl dir il.i/n gehniigen ErlauterGingen S. 116I. 120 f. 179. 19 7ff).

46

Plotins Theologik

Wenn das zeitfrei im Nus Zu-Denkende oder Gedachte sein Sein ist, dann vollzieht er sich selbst - im Sinne der plotinischen Auffassung des 3. Fragmentes des Parmenides - als die Identität von Denken und Sein: sein Sein ist sein Denken, sein Denken ist sein Sein - als die absolute Selbst­ reflexion, die denkende Selbstgegenwart und im Denken sich lichtende Selbstdurchdringung. Das Sein dieses Denkens ist gemäß der Dimension der Entfaltung des Einen in sich vielfältig, wird aber zugleich durch Den­ ken in eine dynamische, in sich zeitfrei-bewegte Einheit oder Identität gefügt (όμοϋ πάντα). Plotin denkt das vielfältige, im Denken geeinte Sein des Geistes als dessen Ideen\ sie werden in den aus dem platonischen ,Sophistes£inspirierten „Kategorien“ Sein —Selbigkeit - Andersheit - Stand — Bewegung als je unterschiedene und zugleich als integrative Momente einer Ganzheit gedacht: im Einzelnen (in jeder einzelnen Idee) sieht das Den­ ken perspektivisch das Ganze, vom Ganzen her aber bewahrt es das Ein­ zelne in einem durch Selbstreflexion vollzogenen Zusammenhang. Jedes Einzelne, d.h. jede einzelne Idee erfaßt den Geist als Ganzes nicht als ein ihm Fremdes, sondern durchdringt in den Ideen vielmehr sich selbst, da diese wiederum selbst je sich selbst denken55. Plotin charakterisiert diese gegenseitige Durchdringung des Einzelnen auf das Ganze oder die Einheit in der Differenz hin als den Bereich der göttlichen intelligiblen LebensSphäre so: „Dort herrscht das ,mühelos Leben456, und Wahrheit ist ihnen Erzeugerin und Ernährerin, Sein und Nahrung, und sie sehen Alles, nicht das jedoch, dem ,Werden zugehört4, sondern Sein, und sie sehen sich selbst in Anderem; durchscheinend nämlich ist Alles und es gibt nichts Dunkles und nichts Widerständiges dort, sondern Jeder und Jedes ist Jedem ins In­ nere offenbar; Licht ist nämlich für das Licht Licht: denn Jeder hat auch Alles in sich und sieht im Anderen Alles, so daß überall Alles ist und Alles Alles und Jedes Alles und unermeßlich der Glanz“57. Dieser Text gibt einen starken Hinweis auf einen metaphysischen und metaphorisch zur Sprache gebrachten Grundgedanken, den Plotin in dif­ ferenzierter Form immer wieder entfaltet. Zuvor habe ich vom Nus gesagt, 55 V 1,4,26ff. V 9,8,1-4. 56 Homer-Reminiszenz: Ilias VI 138. Odyssee IV 805; V 122. 57 V 8,4,1-8 (meine Übersetzung). Zur Interpretation des ganzen Kapitels: „Denken des Einen“ 55 ff. Vgl. auch V 1,4,26f: έκαστον δέ αυτών νους καί ον έστι καί τό σύμπαν πας νους καί παν ον. Lichthafte Selbstdurchdringung des νους: εναργής αυτός αύτω (V 5*2-,15). V 3,8,15ff. VI 7.i5>29f· Dazu: „Selbsterkenntnis“ (wie Anm. 1) 12 }f („Licht“ ). „Lynkeus“ , als Metapher des scharfen, Alles durchdringenden Blicks des ( ieisies: V 8,4,25.

Plotins Theologik

47

er sei als die Identität von Denken und Sein denkende Selbstgegenwart, im 1)enken sich lichtende Selbstdurchdringung, wesentlich also licht durch Licht - das Licht des Denkens. Licht im ursprunghaften Sinne aber ist das Eine selbst58. Gemäß dem durch die Entfaltung des Einen grundgelegten, in sich gestuften Zusammenhang der Wirklichkeit ist der Geist „Licht aus I -icht“ - (φως έκ φωτός59), in ihm erscheint oder zeigt sich das Licht des Ursprungs (φωτός άρχή60) als dessen Spur, als Ausdruck und Entfaltung des Einen, als ein Licht, das als Durchlichtendes und Durchlichtetes in sic h unterschieden61 und zugleich in seinem Unterschied mit sich selbst geeint ist, Licht, das im Sinne einer absoluten Metapher einsteht für die Intelligibilität und unterscheidend klärende Erkenntniskraft des Denkens, das aber zugleich die Differenzen des Zu-Denkenden in eine (sich selbst) „durchsichtige“ (έναργής, διαφανής, φέγγος νοερόν) Einheit fügt. Erach­ tet man zum einen die lichtende Selbstdurchdringung als einen Wesens/ιιμ des Geistes, bedenkt man zum anderen dessen Herkunft aus der lich­ ten Einheit des Einen selbst und begreift man schließlich beide Bereiche als göttlich oder Gott in unterschiedlicher Form und Intensität: als reine 1'in heit und als Denken oder denkendes Sein, dann ergibt sich als ein für Plot ins Theologik zentraler Identitätssatz: Gott ist Licht62. 1)as Denken, das die vielheitlich strukturierte Differenz des Zu-Den­ kenden oder Gedachten in die Einheit seines eigenen Seins (über)führt, ist der ( ¡rund oder Ursprung des Lebens dieses Seins. Wie für den aristoteliMlien ( ¡ott als Denken seiner selbst „die Wirklichkeit des Geistes Leben“ ist (ί| γαρ νοϋ ενέργεια ζωή63), so ist für Plotin die absolute Selbstreflexion dei Ideen die Dynamik des Geistes. Dessen in sich „ständige“ Bewegt­ heit vollzieht sich als θεωρία ζώσα, als „lebende Betrachtung“64, er ist als I ).is Kinc als Licht z. B.: IV 3,17,13 und 18. V 1,6,28ff. V 3,i2,43ff. V 5, 7,21. VI 7,16,28. VI K.h.i·), v* IV t.r/.M f V 3,12,43: φως προ φωτός. "" V V i,H, \j\ λάμπον όμοΰ καί λαμπόμενον, vom Nus gesagt. Vfll. /um ( ¿u117.cn meine Abhandlung „Plotins Metaphysik des Lichtes“ , in: Die PhiImm»pliie des Neuplaionismus, hg. v. Clemens Zintzen, Wege der Forschung C D X X X V I, 1 Mmiihidl ΐ‘λ/7 , 7S 117. *'

’ Mel, ln / ; I) ¿6 f.

III Η,Η,ιι. 1/ (Umkehrung der Aussage): πασα ζωή νόησίς τις. 26-30: εί τοίνυν ή ςι»ιή ί| Γι/ ηΟι σ ια τη νοήοπ ζο>ή εοτιν, αυτή όε ταύτόν τη αληθέστατη νοήσει, ή άληdriMMtti vni|oic, ζΠ K(J|i Μ0 »(ι)ς)ία κ«ί το Οΐ ίόρημα το τοιοΰτο ζών και ζο)ή καί εν όμοΰ ιιΙ Λ»μ»

48

Plotins Theologik

eine unermüdbare Wesenheit geradezu „überkochend von Leben“ (φύσις ύπερζέουσα ζωη65). So zeigt die Trias ,Sein - Leben - Denken4die dyna­ mische Einheit des Nus mit sich selbst, seine absolute Selbstvermittlung an: er ist ein durch Denken lebendes Sein - durch Denken Er selbst, was er ist, lebt und denkt. Von der den Geist als ganzen bestimmenden Dialektik von Einheit in der Vielheit her gedacht ist es konsequent, wenn Plotin —die Identität des Nus mit dem Zweiten Gott vorausgesetzt - das einzelne Zu-Denkende oder in ihm zeitfrei Gedachte, die Ideen> selbst als „Götter“ versteht66: der 65 Nus als unermüdbare Wesenheit, mit einer grenzenlosen Kraft „von innen“ (βυσσόθεν) begabt: V I 5,i2,7ff. Vgl. auch Proclus, in Ale. 249,$ f (Westerink): κ α ιιδ ε μένουσαν έν αίώνι φύσιν και ζωήν ζέουσαν και αγρυπνον νόησιν και μηδενί λείπουσαν εις τό ζ η ν ... - Als eine Analogie zu Plotins „überkochendem“ (d. h. energetisch bewegtem) Leben des Geistes kann Meister Eckharts Metapher ,bullitio‘ (,bullire‘, ,ebullire‘) für die innertrinitarische Bewegung gelten; mit ihr beschreibt er die reflexive Selbstdurchdringung Gottes (super se ipsum reflexiva conversio), die sich in dem ontologischen Vollzug des Satzes „Ich bin der ich bin“ (Exodus 3,14) zeigt. Vgl. meine Interpretation von Eckharts Expositio libri Exodi, Lat. Werke II (ed. Fischer-Koch-W eiß) 20 ff in: Platonismus und Idealismus 54 ff. - Eine frühe Suggestion einer etymologischen Verbindung von ζωή und ζέω bei Aristote­ les, De anima 405 b 27 f. 66 V 8,3,24fr. c. 4,1 ff. „Denken des Einen“ 59ff. - Die „Götter“ sind aus dem Einen hervorgegangen, damit von ihm, dem μέγας βασιλεύς, abhängig. Der Nus als die Fülle der νοητοί θεο ί (II 9,9,33) ist Ort eines für Plotin trotz seiner Differenz zum Einen nicht verwerflichen „Polytheismus“ . Wohl gegen den radikalen „Monotheismus“ der Christen ist folgende Aussage in der Schrift „Gegen die Gnostiker“ gerichtet: „Von da erst [d. h. der Welt-Seele als der „Lenkerin dieses Alls“] schreite man dazu fort, auch die geistigen Götter zu preisen, und über allen schließlich den großen König der oberen Welt, der seine Größe gerade in der Vielzahl der Götter aufweist; denn nicht das Göttliche auf einen Punkt ver­ engen, sondern seine Fülle aufzeigen, wie er sie selbst aufzeigt, heißt wahrhaft um Gottes Kraft wissen, welcher, verharrend in seinem Sein, eine ganze Zahl von Göttern hervorbringt, alle mit ihm verknüpft, alle durch ihn und von ihm seiend“ (II 9,9,32-39; Übersetzung von R. Harder, Plotins Schriften III a 131. Vgl. auch Bd. III b 429). Diese in sich differenzierte Einheit des Göttlichen, oder der primär vom zuhöchst Göttlichen her begründete, in sich gestufte Zusammenhang der Götter kann als Ansatzpunkt für die „Theologia Platonis“ des Proklos gedacht werden, in der die Götter der mythischen Überlieferung ihren individuellen, vom philosophischen Gedanken her bestimmten „systematischen“ Ort erhalten (vgl. hierzu M . Abbate, II divino tra unitä e molteplicitä. Saggio sulla Teologia Platonica di Proclo, Alessandria 2008, bes. 115ff). Plotin hingegen intendiert keine die Einheit und Vielheit des Göttlichen systematisierende ,Mythologie der Vernunft*, obgleich er die Götter des Mythos in mannigfachen Perspektiven durchaus in seine philosophische Reflexion hinein nimmt als Symbole des Intelligiblen und seelischer Bewegungen: wenn er die mythischen Namen der Götter ,gebraucht1, etwa in der „theogonischen“ Abiolge Uranos Kronos - Zeus, oder A-pollon für das absolute Line ( Nicht-Viele), oder Aphrodite für die Schönheit der All-

Plotins Theologik

49

Gott denkt, gründet denkend die Götter als die gegeneinander unterschie­ denen Wesensmomente seiner eigenen Einheit und Ganzheit. Im unmit­ telbaren Kontext dieses Textes über „die intelligible Schönheit“ (V 8,3 f) meint dies: die „Götter“ sind Wesen von höchster Schönheit und intensiv­ ster geistiger Aktivität; mit den durch den Gesamt-Geist gedachten Ideen identisch, sind sie die im Denken in ihrer jeweiligen Eigentümlichkeit bewahrten und zugleich in die Einheit des Ganzen aufgehobenen inneren Momente des Göttlichen, deren je einzelnes das Ganze des Göttlichen oder den sie einenden Gott widerspiegelt67 - ein Paradigma des schon im Mittleren Platonismus68 ausgeprägten und in der christlichen Theologie weiter entfalteten Theorems über die Ideen als der Gedanken Gottes —Ar­ chetypus der Schöpfung. Dem Nus als Gott kommen weitere Prädikate zu, die ich hier nur noch nennen möchte; auch sie können jeweils in Identitätssätzen ausgesprochen werden, die sie als Wesensstrukturen des Nus kennzeichnen: Der Geist ist αιών - Ewigkeit, zeitfreies Sein und Denken in Einem (ά­ χρονος νόησις), oder in der Umkehrung: Ewigkeit ist „Leben des Geistes“ und zugleich Ursprung der Zeit als Grundzug der Seele69. Dazu kommen Prädikate in Identitätssätzen, die in je verschiedenerWeise den Selbstbezug des Geistes, seine Konzentration auf sich selbst, seine Selbstübereinstimmung im Denken seiner „Gegenstände“, seine innere intelli­ gible Harmonie und Ganzheit, Schönheit und sich selbst durchlichtende Klarheit, aber auch seine Hinwendung zu seinem Ursprung, dem Einen, evident machen: Geist ist Wahrheit - αλήθεια; Geist ist Weisheit - σοφία; ( icist ist Schönheit - κάλλος; Geist ist Liebe, liebende Verbindung - φιλία70. oder Eros für Sehnsucht und Streben des Menschen nach dem Schönen, Guten und I men, oder Narziss, der sich in die Schönheit der eigenen sinnlichen Erscheinung verliebt, d,itm werden sie ihm zu einem mythischen Bild für die primär philosophisch zu begreifende I mfaltung des göttlichen Einen. Vgl.: P. Hadot, Ouranos, Kronos and Zeus in Plotinus’ iic.iii.sc Against the Gnostics, in: Neoplatonism and early Christianity. Essays in honour o f A II. Armstrong, ed. by H. J. Blumenthal and R. A. Markus, London 1981, 124-137. Vgl. 1‘lmm III 5,2. 8,11,35ff. V 5,3. V 8,13,1 ff. - P. Hadot, Plotin. Traité 50. III,5 [„Über Eros“]. Int 1«»«luelion, traduction, commentaire et notes, Paris 1990, Introduction bes. S. 22ff, 46ff. S e e le ,

III

'·' V 8,9,14ff; 18: πάντες (θεοί) εις· μάλλον δε ό εις πάντες. 19f. Γ,Μ VμΙ. Attiens, h g. 9,4° (des Places). Alcinous Didasc. IX (Whittaker) 163,14; 33 und (πιυτου νοήματα). Vgl. J. Dillon, Alcinous (wie Anm. 49) XXXVf. 66f. 93ff. t,,> Siehe hierzu meinen Kommentar zu 7: Plotin über Ewigkeit und Zeit (wie Anm. 1) h ll, U v ι»)Π· " Zu diesen Identitätssätzen ausführlich: „Das wahre Selbst“ 27-83. Zu κάλλος: ) I l.illwasseu, I )ie Idee der Schönheit im Platonismus, in: Mchhexis 16, 2003, 83—96, hier: X

I l

III

50

Plotins Theologik

Diese Identitätssätze, die Wesensmomente des Geistes in seiner absoluten Seinsform sichtbar machen, gelten im gleichen Sinne vom plotinischen Gott. Die vielfältige Perspektivik des Göttlichen - so in der Umkehr des Blicks gründet, entspringt und wird in ihrem inneren Zusammenhang einzig ver­ stehbar aus dem absoluten Einen selbst als dem avxó'Qsoq —dem „GottSelbst“. Plotins Denken des Einen - des absoluten Einen selbst, des zeitfreien, sich selbst als Sein denkenden Geistes und der Seele als eines den Kosmos und den Menschen in ihm bestimmenden vernünftigen Denkens - ermöglicht aus sich selbst eine philosophische Theologie, die das Göttliche als ein reich in sich differenziertes Phänomen erhellt und so zum Fundament einer philosophischen Religiosität und einer durch diese geleiteten Lebensform wird. Diesen Grundzug plotinischen Denkens erneut und eindringlich bewußt zu machen, scheint mir notwendig zu sein gerade angesichts einer meines Erachtens wachsenden Tendenz, bereits für Plotins Philosophie rituelle religiöse Vorstellungen als maßgebend zu behaupten, die erst in der Zeit nach ihm in einer Konkurrenz mit vernunfthaftem Denken in unterschiedlicher Intensität beherrschend geworden sind. Plotin ist kein Theurg, auch nicht in dem Sinne, daß er rituelle oder magische Praktiken als Denkmodelle internalisiert hätte. Ich kann mich nicht des Gedankens erwehren, daß die zunehmende, positiv wertende Neigung zu einer be­ grifflich nicht einholbaren, anti- oder irrationalen Gestimmtheit bisweilen eher dem eigenen Bedürfnis und Vorbegriff der Interpreten entspringt, als daß es dem zu verstehenden Gedankenkomplex selbst entspräche. Plotins Grundgedanke der Henosis - die über den Begriff hinausgehende, das Den­ ken lassende Einung mit dem Einen selbst - unterscheidet sich allerdings wesentlich von eben dieser Neigung, die Reflexivität verdrängt oder in ihrem Vermögen desavouiert. Henosis ist vielmehr das vollendende Ziel eines seiner Herkunft bewußten Lebens.

[Italienische Übersetzung von Michele Abbate, „La Teo-logica di Plotino“, in: Annuario Filosofico 25, 2009, 67-90.] 91 f. Ders., Schönheit und Bild im Neuplatonismus, in: Neuplatonismus und Ästhetik. Zur Transformationsgeschichte des Schönen, hg. v. V. Olejniczak Lobsien u. ('-. Olk, Bei lin 2007, 4} 57.

„ D IE E I N F A C H H E I T D E S B L I C K S “ Zu Pierre Hadots Plotin-Interpretation

Pierre Hadot hat seinen originellen Zugang zum Philosophieren Plotins als Einführung in eben dieses Denken unter dem Leitmotiv der „simpli­ cité du regard“, der „Einfachheit des Blicks“, 1963 bei Pion in der Reihe „ I,a Recherche de l’Absolu“ veröffentlicht. Ihr folgten bisher drei Auflagen in anderen Verlagen: 1973 und 1989 bei Etudes Augustiniennes, 1997 bei ( iallimard - mit nur geringfügigen Modifikationen des ursprünglichen l ex tes, mit zusätzlichen und wieder reduzierten bibliographischen Hin­ weisen, mit Nachworten, die auf die Rezeption des Buches hinweisen und seinen Gedankengang rückblickend noch einmal strukturieren. Wichtigste Neuerung für die Möglichkeit eines präziseren Plotin-Verständnisses ist der I'.n(Schluß Hadots, die Übersetzungen der griechischen Texte, in denen er sieh in der Erstpublikation —allerdings mit einleuchtenden Änderungen — an Emile Bréhiers Edition und Übersetzung hielt, für die vierte Auflage /tim größten Teil selbst neu zu fassen - gemäß der inzwischen fortgeschrit­ tenen Erschließung des Plotin-Textes und gemäß seiner eigenen weiter cm falteten Einsichten. I )ie von Michael Chase, einem Schüler Hadots, vorgelegte englische l )bet setzung von „La simplicité du regard“ gibt den willkommenen AnlaK, auf Pierre Hadots Plotin-Verständnis - besonders in diesem Buche hin/uweisen. I >er Übersetzung liegt die dritte Auflage (1989) zugrunde. M. Chase hat allerdings die zahlreichen Zitate aus dem griechischen Plotin-Text ii11*1ère Übersetzungen und auch Hadots Übersetzungen von VI 7 (1988) veipjeic hend - neu übersetzt. Er fügte auch eine Reihe von Anmerkungen *11 IVtsonen und Sachen hinzu, die diejenigen Hadots vervollständigen min ergänzen und nicht nur für ein weiteres anglo-amerikanisches Lese)Mil»lil\ i^X 20o. / .· I ttenne (ti/son v^l. meine Anmerkung mit I iinweis auf kritische Literatur: „PlaIhhUimu^ und Idealismus" v/.

74

Griechische Metaphysik und christliche Theologie

Eine christliche Exodus-Metaphysik entsteht aus und besteht in dem plato­ nisch-neuplatonischen Begriff des unveränderbaren, ewigen Seins, das ge­ rade als ein solches die Einheit von Denken, Leben und Wahrheit ist (essevivere-intelligere als sich in sich selbst unterscheidende Identität). Ohne diese griechische Vorgabe ist christliche Exodus-Metaphysik überhaupt nicht denkbar. Die in theologischer Absicht vielfach suggerierte Meinung, gerade durch diesen Aspekt der „Hellenisierung des Christentums“ werde der christliche Gottesbegriff mit „Starre“ und „Bewegungslosigkeit“ infi­ ziert, kann einem sorgfältigen, unideologischen Verstehen des griechischen Seins-Denkens nicht einleuchten. Innere Bewegung des unveränderlichen, absoluten Seins und die Bewegung seiner creativen Selbst-Entfaltung meint freilich keine zeitliche oder geschichtliche, sondern eine durch Reflexivität oder Denken seiner selbst dynamische Bewegung. Der Name „Sein“, dem christlichen Gott in der Exodus-Metaphysik zugedacht, ist ohne Zweifel primär bestimmt durch wesentliche Elemente des neuplatonischen Seinsbegriffs. Augustinus zumindest gibt aber auch zu verstehen, daß dieser Name „Sein“ eine doppelte Perspektive zuläßt: als nomen aeternum (nomen aeternitatis) meint er den von mir verdeutlichten Wesenszug Gottes (apudse); als nomen temporale aber gilt er denen, zu de­ nen er spricht: in diesem Sinne ist der göttliche Name „Sein“ eine Zusage ad nosy ein nomen misericordiae26 der heilsgeschichtliche Name der Hoff­ nung. DER IST, das „erhabene IST “, ist also zugleich „der Gott Abrahams, Isaaks und Iakobs“ - der Gott des unaufhebbaren Bundes. „Verzweifle nicht, menschliche Gebrechlichkeit! Ich bin, sprach er, der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Iakobs. Du hast gehört, was ich bei mir {apud me) bin, höre auch, was ich bin um deinetwillen (propter te)“27. Ich habe mich auf Augustinus als ein Paradigma des ambivalenten, aber dennoch wesentlichen Verhältnisses zwischen griechischer Metaphysik und christlicher Theologie konzentriert. In unterschiedlicher Intensität im wechselseitigen Pro und Contra ist dieses Verhältnis innerhalb der Ge­ schichte des Christentums, nicht zuletzt durch die Überzeugungskraft augustinischen Denkens, bis in die Moderne hinein realisiert worden. In einer weiter ausgreifenden Überlegung wären eine ganze Reihe von Theo-

(...

26 sermo V II 7, PL 38,66f sic sum quod sum, sic sum ipsum esse, sic surrt cum ipso esse, ut nolim hominibus deesse). En. in Ps. CXXL5, C C L 40 (wie Anm. 20), 1806, 40-54. W. Beierwaltes, „Platonismus und Idealismus“ 35'". 27 Ln. in Ps. G l, sermo 2,10.

Griechische Metaphysik und christliche Theologie

75

logumena zu analysieren, die aus philosophischer Reflexion in die ihnen eigentümliche Theorie-Gestalt gefunden haben. Dies gilt vor allem für den (hier nur angedeuteten) Begriff eines Gottes, der mit dem Sein im abso­ luten Sinne in einer in sich reflexiv bewegten Unwandelbarkeit identisch gedacht wird, für die (ursprünglich platonische) Frage nach der Idee oder den Ideen, die ihren „O rt“ im göttlichen Denken haben28; sie sind die ar­ chetypischen Vorbegriffe oder die exemplarischen ontologischen Voraus­ setzungen für den Akt der Schöpfung als der spontanen, kraftvollen Ent­ faltung des göttlichen Denkens. Philosophisch bestimmt sind weiterhin der Gedanke Gottes als aqyr\,principium, Logos und Wahrheit, der Begriff seiner Ewigkeit und absoluten Unendlichkeit, das für die christliche Theo­ logie zentrale Konzept einer Wesens-Einheit des Sohnes mit dem Vater (ôjioowioç), sowie der Begriff einer ,hypostatischen‘ Einheit von Gott und Mensch in Christus - im Blick auf den inkarnierten Gott in Christus, aber auch das Verhältnis von Zeit und Geschichte, die Fragen nach dem Zugang zu einer Erkenntnis Gottes durch symbolische, affirmative und negative Theologie, nicht minder für die Vergewisserung um ein glücken­ des oder beglückendes Leben und für einen begründeten und verläßlichen Begriff von der Unsterblichkeit der Seele. ... Keines dieser Theologumena ist - trotz theologischen Ursprungs —so intensiv durch die Verflechtung mit philosophischen Begriffen und Theoremen bestimmt wie das der Tri­ nität, von Athanasius, Marius Victorinus und Augustinus bis zu Hegel hin. ln dessen Philosophie der Religion vollendet sich der biblisch-johanneische Gedanke „Gott ist Geist“ (Joh. 4,24) als ein metaphysischer: Gott ist als die intensivste Form der Einheit von Sein und Denken absolute Idee oder absoluter Begriff seiner selbst, der sich in sich selbst entfaltet und sich aus 28 Augustinus, Liber de quaestionibus octoginta tribus, quaestio 46: Sunt namque ideae principales form ae quaedam, vel rationes rerum stabiles atque incommutabiles, quae ipsae formatae non sunt, ac per hoc aeternae ac semper eodem modo sese habentes, quae in divina intelligentia continentur. De civitate dei X I 10: Neque enim multae, sed una sapientia est, tu qua sunt infiniti quidam eique finiti thesauri rerum intelligibilium, in quibus sunt omnes invisibiles atque incommutabiles rationes rerum etiam visibilium et mutabilium, quae per iputm factae sunt. „Denn es gibt nicht viele Weisheiten, sondern eine [göttliche Weisheit], in iler unendliche, für sie jedoch endliche [bestimmte] Schätze der geistigen Dinge sind, muer ihnen alle unsichtbaren und unwandelbaren Ideen der sichtbaren und wandelbaren I )inj»e, die durch sie geschaffen wurden“ . Zum neuplatonischen Hintergrund von Augustins I ehre von den Ideen vgl. J. Pepin. Augustin, Quaestio ,De ideis‘. Les affinités plotiniennes, in: I rom Athens to Ghartres. Neoplatonism and Médiéval Thought. Studies in Honour of I doii.ud Jeauncau, Leiden New York Köln 1992, 117-134.

-

jS

Griechische Metaphysik und christliche Theologie

sich selbst heraus manifestiert; er weiß sich selbst in seinem Anderen und kehrt aus dem Unterschied in sich und zu sich selbst als Liebe zurück. Die­ ser trinitarisch reflexive Schluß in sich und zu sich selbst ist zugleich die höchste Tätigkeit der Selbstdurchlichtung. „ Gott ist Geist, keine Dunkel­ heit, keine Färbung oder Mischung tritt in dies reine Licht“29.

29 „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ , Georg Wilhelm Friedrich Hegels Werke, Vollständige Ausgabe durch einen Verein der Freunde des Verewigten, X II, 228, Berlin 18402 (Jubiläumsausgabe [Glöckner], Stuttgart 1959, X V I 228). - Zur Maßgabe triadischer Dialektik im Neuplatonismus schon für Hegels frühe „Rehabilitation des Tri­ nitätsgedankens“ , verbunden mit einer spekulativen Deutung des Johannes-Prologs, vgl. J. Halfwassen, Die Bedeutung des spätantiken Platonismus für Hegels Denkentwicklung in Frankfurt und Jena, in: Hegel-Studien 33,1998, io6ff. - In bestimmter Nachfolge Hegels steht Ferdinand Christian Baur\ Die speculativ, d.h. aus dem philosophischen Begriff'her­ aus entfaltete „Lehre von der Dreieinigkeit Gottes“ ist der „Mittelpunct“ des christlichen Dogmas, sie ist diejenige Lehre, „in welcher das christliche Gottesbewußtsein seit der älte­ sten Zeitseinen wesentlichsten und eigenthiimlichsten Inhalt erkannt hat“ (F. G. Banr, Die christliche Lehre von der Dreieinigkeit und Menschwerdung ( ¡ottes in ihrer geschichtlichen Entwicklung, I, Tübingen 1841, 1. 5).

D E U S E S T V E R IT A S Zur Rezeption des griechischen Wahrheitsbegriffes in der frühchristlichen Theologie

Differenz und Affinität des griechischen zum frühchristlichen Begriff von Wahrheit ist - analog der Frage nach dem logos, der arche oder dem Be­ griff Kosmos - ein für beide Denkweisen überaus aufschlußreiches Phä­ nomen. Das Fortwähren des metaphysischen Begriffs von Wahrheit in der frühchristlichen und mittelalterlichen philosophischen Theologie führt, zusammen mit Elementen des biblischen Wahrheitsbegriffes, zu einer neu­ artigen Synthese, die trotz bestimmter Diskontinuitäten die Kontinuität zur metaphysisch-griechischen Tradition bewahrt. Die theologische Konzeption, die Gott und Wahrheit identifiziert, ist sachlich und geschichtlich, unmittelbar oder durch vielfältige geschicht­ liche Vermittlung, mit dem platonischen und neuplatonischen Denken verbunden. Deshalb möge als Paradigma für die metaphysischen Implika­ tionen des christlichen Wahrheitsbegriffes eine Erörterung des platoni­ schen Begriffs von Wahrheit und ein Hinweis auf Plotin stehen. Um die biblischen Voraussetzungen des Satzes ,Deus est veritas‘ deutlich zu ma­ chen, sind zumindest einige wesentliche Momente des alttestamentlichen und johanneischen Wahrheitsbegriffes vorzustellen. Trotz dieses selegierenden Verfahrens könnten die Bedingungen der christlichen Rezeption und Transformation des metaphysischen und biblischen Wahrheitsbegriffes hinreichend bewußt werden.

I 1)er Begriff Wahrheit (,aletheia‘) zeigt sich in Platons Dialogen in einem dreifachen Aspekt: ontologisch, logisch-erkenntnistheoretisch, ethisch. I )iese Charakterisierung ist freilich allzu schematisch und zudem ge­ schichtlich vorbelastet; sie hat in diesem Zusammenhang lediglich heu-

78

Deus est veritas

ristische Funktion. Erst die Einheit dessen, was durch die drei Termini sachlich benannt wird, kann einigermaßen als Begriff von ,aletheia evident werden. Die Einheit dieser Aspekte möchte ich nicht in einer systemati­ schen, vielleicht auch noch durch einen spezifisch neuzeitlichen Begriff von Wahrheit geleiteten Interpretation zeigen, sondern durch eine allmäh­ liche Eingrenzung des Phänomens evident machen: Der verschiedenartige Wortgebrauch von ,aletheiac soll Schritt um Schritt die Differenziertheit des Begriffes ,aletheia‘ selbst zu klären versuchen. Charakteristisch, wohl am schwersten verstehbar, für Platons Denken aber zentral, ist der sog. ontologische Aspekt von Wahrheit. Er zeigt sich in der Formulierung „Wahrheit des Seienden oder Wahrheit der Seienden oder Wahrheit der Dinge (Sachen)“ . 1. ,Menon‘ 86 b iff: „Wenn immer die Wahrheit des Seienden (ή άλήθεια των οντων) uns in der Seele ist, dann dürfte die Seele unsterblich sein, so daß du mutig dasjenige, was du gerade jetzt nicht verstehst —das heißt, dessen du dich nicht erinnerst, - zu suchen und dich daran zu erinnern versuchen sollst“. Die Wahrheit des Seienden in uns meint die apriorische Immanenz des Seins als solchen oder der Ideen als der seienden Sinnge­ stalten in der denkenden Seele. Diese Immanenz der Ideen in ihr garan­ tiert als seiendes Apriori überhaupt erst eine zuverlässige Erkenntnis. In dem Zeithaft-Werdenden existierend müssen wir die Wahrheit des Seien­ den in uns als zeit-freie bewußt machen, indem wir aus dem Schein von Wahrheit, diesen durchdringend, auf dessen Grund zurückgehen. Die in Zeit verflochtene ,aisthesiscwird damit zum Ansatzpunkt für die „Wieder­ erinnerung“ (,anamnesis‘), die das Ideehafte in dem Einzel-Seienden ent­ deckt und dieses als einen Verweis auf den Grund der Erscheinung, also auf die Idee selbst begreift. Die auf den Grund der Erscheinung rückfüh­ rende ,anamnesis£ ist demnach als Vollzug der apriorisch grundgelegten, durch das Sein der Idee bestimmten und auf sie gerichteten Struktur der Erkenntnis zu begreifen. 2. Der Dialog ,Kratylos‘ expliziert Platons Philosophie der Sprache1. Ein Grundgedanke ist dieser: Das einzelne Wort, der Name oder die Be­ nennung einer Sache (,onoma) zeigt nicht unmittelbar die Sache selbst, die er intendiert; die Sache selbst spricht sich nicht als ganze im Wort aus. 1 Zur Interpretation der differenzierten Problematik dieses Dialogs vgl. K. Ciaiser, Name und Sache in Platons ,Kratylos\ Abh. d. Heidelberger Ak. d. Wiss., phil.-hist. Kl., Jg. 1974, 3. Abh.

Deus est veritas

79

Es gibt demnach keine absolute „Richtigkeit“ (,orthotesc) der Worte; da­ her leistet auch das Etymologisieren nicht das, was es vorgibt. Folgt man einer Etymologie, so ist man einer geradezu proteisch sich öffnenden und zugleich sich verdeckenden Sache ausgesetzt. Wenn also das Wort oder die Benennung nicht als „Richtigkeit“ und daher auch nicht als ein „Zeug­ nis der Sache“ (δήλωμα του πράγματος) verstanden werden kann, so ist allenfalls eine „Ähnlichkeit“ (,homoiotes‘) der Benennung zu der zu be­ nennenden Sache anzunehmen. Das Maß dieser Ähnlichkeit und damit die Genauigkeit der Benennungen bleibt allerdings fraglich. Aus dieser grundsätzlichen Skepsis gegenüber dem, was Sprache zu leisten vermag, zieht Platon eine nicht leicht zu verstehende Konsequenz: Man müsse et­ was außerhalb der Benennungen suchen, was uns ohne Benennung (ohne Sprache?) die Wahrheit des Seienden (αλήθεια των οντων, 438 d 7) zeigt; die Ideen oder die „Sachen selbst“ seien aus ihnen oder durch sie selbst zu erkennen (438 c 7: αυτά δι’ αύτών; 439 b 7: αυτά έξ αυτών). Für diesen Zusammenhang muß es offen bleiben, ob Platon mit diesem Gedanken etwa eine Entsprachlichung des Denkens intendiert, das allerdings selbst Sprache braucht und gebraucht, um zu diesem - vielleicht - sprach-losen Akt der Identifikation mit der Wahrheit des Seienden zu gelangen. Denk­ bar aber wäre auch, daß Platon lediglich auf der Schwäche der Sprache in­ sistiert, von deren Insuffizienz für eine verläßliche Erkenntnis des wahren Seins oder der Wahrheit des Seienden er nicht nur im ,Kratylos£überzeugt ist. Zumindest bleibt dadurch jeder sprachmagische Versuch späterer Phi­ losophie durch Gründe in Frage gestellt, der im Wort, womöglich noch int Wort bestimmter Nationalsprachen, unmittelbar schon bei der Sache zu sein suggeriert. ϊ. im ,Phaidon‘ beschreibt Sokrates einige Etappen seines geschichtl u h e n Weges zu einem für ihn verantwortbaren Begriff von Erkenntnis; diese ist durch argumentative Struktur bestimmt und daher nachprüfbar, verläßl ich und dialogisch kommunikativ. In der Intention auf einen derar­ tigen B e g r i f f von Erkenntnis „flieht“ Sokrates deshalb aus einer rein sinnlu hen Betrachtungsweise der Dinge in die ,logoi\ Durch diese allein hofft ei. di e ,aletheia ton onton‘ einzusehen (99 e 5; 90 b 2). Mit einer Umkehr itiis der Praxis rei ner Empirie in die ,logoi‘ ist auch die Entwicklung einer I 1 kennt ni s - s i che r ndcn Methode verbunden: Es sollen Annahmen (Grund­ l e g u n g e n , ύποΐ)Γ(Τπς) gemacht werden, die den jeweils „stärksten“ , l o g o s ‘ / n^Mi nde l e gcn, d e nj e n i g e n also, der auf dem j e we i l i g e n Stand der Refle­ xi on kr i t i sc he n E i n w i i n d e n s t a ndh ä l t u n d selbst zu sagen versteht, woraus

8o

Deus est veritas

er sich argumentativ herleitet. Was mit diesem ,logos‘ zusammenstimmt, dies müsse man für wahr halten: a jiev äv |ioi öoicfj toutcü (ruficpCDveiv Tidrj|ii foq övta. Methodisch abgesicherte Argumentationsgänge also führen in die Einsicht der in sich bestehenden Wahrheit des Seienden; auch vom Phaidon her muß man diese mit der Idee identifizieren. „Wahr­ heit des Seienden“ oder „Wahrheit der Dinge“ meint demnach eine Struk­ tur, eine Seinsweise des Seienden selbst; der Terminus sagt nicht primär, daß etwas „richtig“ durch eine Aussage getroffen sei, sondern daß etwas in bestimmter Weise von sich selbst her ist: Nicht sich ändernd, identisch es selbst, von sich selbst her der begründenden Einsicht offen, unverbor­ gen2. Freilich ist nur dasjenige Denken oder Aussagen ,wahrc, das mit der Wahrheit des Seienden übereinkommt. Die Elemente des Begriffs Wahrheit oder des Seins von Wahrheit werden weiterhin deutlich gemacht durch 4. die wesenhafte Verbindung von ,aletheia mit ,usia. Die platonische ,paideiac ist eine vielstufige Einübung in die Objektivität oder die in sich seiende Sinnhaftigkeit der Ideen - Einübung in das Sehen oder Erkennen von in sich seienden Sinngestalten. In dieser Einübung hat die Mathema­ 2 Überzeugt durch Forschungen insbesondere von Ernst Heitsch (Die nicht-philosophi­ sche Aletheia: Hermes 90 [1962] 24/33; Wahrheit als Erinnerung: Hermes 91 [1963] 36/52) hat Paul Friedländer seine ursprüngliche Opposition gegen die Heideggersche Auffassung von ,aletheia als „Unverborgenheit“ in wesentlichen Punkten korrigiert (Platon i 2 [Berlin 1964] 233/6). Allerdings ist bewußt zu halten, daß nicht ein Insistieren auf dem etymolo­ gischen Befund unmittelbar zu dieser Einsicht führen kann, sondern, wenn sie substanti­ iert sein soll, auf einer genauen, differenzierten philologisch-philosophischen Analyse des geschichtlich feststellbaren Gebrauchs von ,aletheia* beruhen muß. - Das Heideggersche Verständnis von ,aletheia' („Wir vermögen es kaum noch, unmittelbar in die Weise zurück­ zufinden, nach der dieses Wort griechisch spricht“ : Aletheia. Vorträge und Aufsätze [Pfullin­ gen 1954] 261) hat durchaus Anknüpfungspunkte im 19. Jahrhundert und in der PlatonInterpretation Nicolai Hartmanns, die ,aletheia* als das „Unverhüllte“ , „Nicht-Verborgene, Offenbare“ oder als „Unverborgenheit“ begreifen: J. Classen, Über die hervorstechende Eigentümlichkeit des griechischen Sprachgebrauchs, Programm Lübeck (1851) 197 (zitiert bei E. Heitsch: Hermes 90 [1962] 2 4 J; E. von Lasaulx, Neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte (1856), hrsg. von E. Turnher (München 1952) 101; N. Hartmann, Platos Logik des Seins (Gießen 1909) 249. 258. 239 (ausführliche Anmerkung Hartmanns über,aletheia als „Unverborgenheit“). - Anknüpfend an die Diskussion bei Heitsch und Friedländer machen neuerdings T. Krischer (Etymos und alethes: Philologus 109 [1965] 161/174) und B. Snell (Aletheia: Festschrift für Ernst Siegmann = Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, Neue Folge 1 I1975I 9/17) darauf aufmerksam, daß sowohl die nicht-philosophische als auch die philosophische Bedeutung von ,aletheia4 nicht auf „Unverborgenheit“ cinzuschränkrn ist.

Deus est veritas



tik eine herausgehobene Funktion. In ihr nämlich begegnet die Reduktions- und Aufstiegsbewegung des Denkens zum ersten Mal einem weder durch sinnliche Täuschung irritierbaren, noch durch psychologische At­ titüde modifizierbaren objektiven Sein. Mathematik oder der Bereich des mathematischen Seins steht „zwischen“ dem Bereich der Ideen und dem Sinnenfälligen, welches in sich undeutlicher und schwerer durchschaubar ist als das mathematische Sein. Die Funktion der Mathematik als Wissen­ schaft wird deshalb konsequent so beschrieben: Sie „ziehe hin“ zum ei­ gentlichen Sein (Resp. 524 e 1); sie bewirke eine Umkehr aus dem Werden zur Wahrheit und zum Sein: μεταστροφή από γενέσεως επ’ άλήθειάν τε και ουσίαν (525 c 5). Durch ,noesis£, durch reines Denken, gelange man zu eben dieser Wahrheit selbst. Mathematik also ist notwendiger Durchgang i11 der Einübung auf die in sich seiende Wahrheit der Idee. Die Methode, die aufgrund einer argumentativen Struktur ihrer logoi zu einer verläßlichen Erkenntnis des Seins der Ideen oder des Seins als solchen hinführt, ist die Dialektik. Sie allein vermag zu prüfen, ob sich das Subjekt der ,paideiac der Hilfe der Augen und der übrigen Sinne entäußern könne und so, durch reines Denken, auf das wahre Sein hingehen könne: αύτη Tfj νοήσει χρήσθαι τήν ψυχήν ziC αυτήν τήν αλήθειαν. 5. Jetzt schon ist wohl deutlich, daß der sog. ontologische Aspekt nicht von dem logischen oder gnoseologischen Aspekt von ,aletheia‘ trennbar ist: Das reine Denken richtet sich auf die Wahrheit des Seins als auf die Ideen; der Vollzug des Denkaktes in der Evidenz führt zu Wahrheit als einer Struktur von Sein und Denken; die Vergewisserung dessen, was als Wahrheit des Seins im Denken der Seele als ihre Wahrheit immer schon war, geschieht durch den Akt der ,anamnesis‘. Als derartige Wahrheit des Denkens oder im Denken steht sie zu ,doxa‘ (Symposion 218 e 6) in .»ü.sstfließendem Gegensatz: Während das methodisch in die Evidenz ge­ führte Denken verläßlich die Wahrheit des Seins erkennt, ist im Bereich des Werdenden lediglich unverbindliche, weil unbegründete Meinung möglich. Wahrheit steht auch im Gegensatz zu „Erscheinung“ (phantasma) des Sems, sofern diese Erscheinung im Sinne des Scheins oder des Anscheins veistanden wird. Besonders deutlich wird dies im 10. Buch der ,Politeia‘, wo Platon Kunst, speziell die Malerei als eine ,mimesis phantasmatosc und Mi gerade nicht als ,aletheia‘ bestimmt (598b 3). Durch diese ihre Bestimimmp,: lediglich verstellende, illusiomerende oder bloß reproduzierende N*u hahmung eines in sich selbst schon Scheinhalten oder Nachgebildeten

82

Deus est veritas

zu sein, „verführt“ sie; sie hat also, gerade weil sie das „Dritte von der Wahr­ heit oder vom Sein weg“ ist, keine erkenntnisfördernde Funktion (599 a i. d 2; 602 c 2). Ihre „Verführung“ besteht darin, daß sie eine denkende Erfahrung von ,aletheia£ und ,phronesis‘ (603 a 11) in einer „verwirrten“ Seele unmöglich macht. 6. Die in den bisherigen Überlegungen bereits angenommene Identifi­ kation von „wahr“ und „seiend“ oder „Sein“ (eigentliches oder wirkliches, seiendes Sein, όντως öv) spricht Platon selbst aus: τό άληθινόν όντως ον λέγων (Sophistes 240 b 2). —Der gesamte Bereich des „reinen Seins“ (κα­ θαρά ουσία, Resp. 585 b 12), des mit sich selbst Identischen wird als seiende Wahrheit gedacht (585 c 2). Daher kommt der Überstieg über den Bereich der Genesis oder der kritiklos hingenommenen Alltagswelt einem SichRichten auf das „wahre Oben“ (τό αληθώς ανω) gleich: „Das wäre nun freilich nicht bloß ein Umwenden wie das einer Scheibe beim Spiel, wie es scheint, sondern das Umwenden einer Seele (περιστροφή) aus einem gleichsam nächtlichen Tage zum wirklichen (wahren) Tage, der Aufstieg zum wirklichen Sein (εις άληθινήν, του οντος οΰσαν έπάνοδον), den wir als die wahre Philosophie (φιλοσοφίαν άληθή) bezeichnen wollen“ (521c 5ff). Das wesenhafte Zusammengehören von Sein und Wahrheit, die Tat­ sache, daß Wahrheit die auf das denkende Vernehmen bezogene Struktur des Seins, also seine Unverborgenheit ist, berechtigt zu der Aussage: der Bereich des Intelligiblen, der Ideen oder des eigentlichen Seins ist Wahr­ heit. - Wenn sich die Seele dorthin „streckt“, von wo „Wahrheit und das Sein herableuchten“, οΰ καταλάμπει αλήθεια τε και τό öv (Resp. 508 d 5), dann gelangt sie in die Evidenz oder eigentliche Erkenntnis. Dieser Ge­ danke steht im Kontext des Sonnengleichnisses: Wie die Sonne den Din­ gen ihr Licht gibt, welches sie wachsen und von einander unterscheiden und sie so in ihrer jeweiligen Eigentümlichkeit erkennen läßt, so ist die Idee des Guten der Grund für das Sein und das Erkanntwerdenkönnen (Intelligibilität) der Ideen und daher auch der Grund für das Sein und das Erkanntwerdenkönnen des Ideeierten. Daher ist der dialektische Rückund Aufstieg in den Bereich des eigentlichen Seins als Weg zur Wahrheit selbst zu verstehen, da eben diese Wahrheit in dem wahren oder eigent­ lichen Sein als dessen Grundstruktur sich zeigt (525 c 6. 526 b 3)3. 3 Das „Sehen“ der Idee oder der Wahrheit des Seins macht Platon im ,Phaidros‘ auch in der Metaphorik der eleusinischen Mysterien deutlich: Die Seele wird auf der „Ebene der Wahrheit“ (248 b 6) „eingeweiht“ in die wahren Erscheinungen (ολόκληρα hc κ*«ϊ άπλα ... φάσματίΐ μυούμτνοι). Oer Eingeführte oder Eingeweihte, d.h. der Erkennende

Deus est veritas

83

7. Den Erörterungen der ,Politeia‘ sachlich analog postuliert Platon schon im Phaidon (66 a if t ) , daß der Philosophierende mit der reinen (klaren) dianoia, also mit dem reinen Denken das in sich Klare, das Sein der Idee, „erjagen“ müsse. Nach dem Vollzug einer ,katharsis‘, einer all­ mählichen Abstraktion aus der Sinnlichkeit und Zeitlichkeit erkennen wir alles Klare (eiXiKQive^), Reine und Echte; dies aber ist zugleich das Wahre. I )araus ergibt sich (67b if), daß nur der Reine, also derjenige, der die Ka­ tharsis* geleistet und sich durch sie auf das reine Denken gestellt hat, das Reine berühren könne und dürfe. 8. In ähnlichem Maße wie die Verbindung ,aletheia‘-,usia‘ macht der primär erkenntnistheoretische Aspekt von aletheia —die Zusammengehö­ rigkeit also von ,aletheia4 und ,phronesis‘, ,nus‘ oder ,episteme‘ —die D i­ mension des Begriffes ,aletheia‘ deutlich. Eine Reflexion auf diese Verbin­ dung präzisiert die These, daß der genannte Aspekt von Wahrheit nicht von dem ersten, dem sog. ontologischen Aspekt trennbar ist; in ihm nämlich als der Frage nach dem Sein von Wahrheit ist bereits der zweite Aspekt, also die Frage nach der Erkenntnis von Wahrheit wesentlich mitgedacht: I .insicht als die Wahrheit im Denken geht auf die Wahrheit des Seienden oder des Seins der Idee. Was zuvor primär vom Bereich des Seins von Wahr­ heit her durchdacht wurde, erfährt jetzt seine Ergänzung von der Seite des I rkennens oder Wissens her. a) Im ,Philebosc 65d 2 ist ,nusc (vernünftige Einsicht) mit ,aletheiac i dentifiziert: ,nus‘ ist entweder mit ,aletheia‘ identisch oder aus allem Sei­ e nde n und Denkbaren das ihm, dem ,nus‘, Ähnlichste und das Wahrste. . Al et he i a 1 kann in diesem Kontext wohl verstanden werden als Fähigkeit /111 l·'.insi cht in das Wahre oder wahrhaft Seiende. Diese Einsicht ist selbst die W a h r h e i t der Sache im Denken. I>) ,l)oliteia‘ 517c 4: Das Sonnengleichnis macht die Idee des Guten als den absoluten Grund dafür deutlich, daß die Ideen und das durch sie Ideeieite so sind, wie sie sind, und als solche erkannt werden können. Als die < »elu htetheit schlechthin gewährt also eben diese Idee des Guten inner­ halb des Bereichs des Intelligiblen die lichtende Wahrheit und vernünftige l insii In: «A^Ociav Kai vofrv jtaQaaxo(ievrj (Resp. 517c 4): Einsicht in die Wahl heit als ein Akt, wie die Philebos-Stelle zeigt. titln dir S.ulic· oder das Sein in ihrer an sich seienden Unverborgenheit. Unverborgenh* I« d· *» Seins ist dessen von ihm selbst her kommende Helle, Gelichtetheit, sein Glanz

84

Deus est veritas

c) Die Einheit von ,episteme‘, ,nusc und ,alethes doxa‘, also von be­ gründetem Wissen, vernünftiger Einsicht und wahrer, das heißt nicht­ täuschender Ansicht, ist die vierte Stufe innerhalb des dialektischen Weges zum „Fünften“, der Idee hin, wie ihn der Siebte Brief (342 c 3) beschreibt: Verläßliche oder wahre Erkenntnis kommt erst dadurch zustande, daß alle Stufen, von der Sinnlichkeit beginnend, als ein argumentativer Zusam­ menhang realisiert werden; isoliert vermag keine einzelne zur Einsicht in das Ziel zu führen. d) Dieser Gedanke entspricht dem Stufungsgedanken des Liniengleich­ nisses. Es steht für vier Bereiche des Seins ein, die sich vom Werden her zum Intelligiblen hin durch Intensität des Seins unterscheiden: die Bil­ der, die Lebewesen und alles Hergestellte, der Bereich der Mathematik, die Ideen und das diese Ideen begründende ,anhypotheton‘, das Voraussetzungs-lose: der absolute Grund oder die Ursache von Allem. Die unter­ schiedliche Intensität des Seins ist auch ausdrückbar als unterschiedliches Maß von Klarheit (Durchschaubarkeit): σαφήνεια και άσαφεία (Resp. 509 d 9). Den vier unterschiedlichen Bereichen des Seins entsprechen vier un­ terschiedliche Weisen der Erkenntnis: ,eikasiac (Bildwahrnehmung, Ver­ mutung) - ,pistisc (auf sinnlich Wahrnehmbares bezogener Glaube, nicht­ verläßliche Meinung) - ,dianoiac (diskursives, argumentativ-folgerndes Denken) - ,noesis£ (reines Denken des reinen Seins). In dem Maße eine bestimmte Weise des Erkennens auf intensiver Seiendes gerichtet ist (und je einsichtiger der Sachbereich von sich selbst her ist), um so mehr hat sie teil an Wahrheit und Klarheit (511 e 2ff). Demgemäß ist ,noesis‘, reines Denken, die verläßlichste und wahrste Weise des Erkennens, weil sie das höchste Maß an seiender Wahrheit trifft. e) Der Dialog ,Sophistes‘ intendiert neben anderem, eine Begründung des άληθής λόγος, der wahren und damit auch der möglicherweise fal­ schen Aussage zu geben: aufgrund welcher Kriterien kann gesagt werden, eine Aussage sei wahr oder sie sei falsch? Platon entwickelt als eines der Kriterien für beide Möglichkeiten das Prinzip der Übereinstimmung zwi­ schen Aussage und Sachverhalt: der wahre logos sagt das Seiende, wie es ist; er sagt, daß es so ist, und es ist so, wie er es sagt; der falsche logos dagegen sagt, wie es - der Sachverhalt —nicht ist (Soph. 240 bff. 263 b ff). - Als zwei­ tes Kriterium ist jeweils zu bedenken, ob eine Aussage mit der Möglich­ keit oder der Reichweite eines Begriffs oder einer Idee übereinstimmt: Der Satz „Theaitetos, mit dem ich hier spreche, fliegt“ (263 a) ist deshalb falsch, weil das genos „Mensch“ mit dem genos „Fliegen“ als übereinstimmend

Deus est veritas

85

behauptet wird, obgleich „Fliegen“ vom genos „Mensch“ ausgeschlossen ist; dazu verletzt der Satz die empirisch feststellbare Faktizität, stimmt also nicht überein mit dem, was ist („mit dem ich hier spreche“). 9. Für platonisches, aber auch für griechisches Denken allgemein be­ stimmend ist die Überzeugung, daß Erkenntnis von Wahrheit nicht durch persönliche, subjektivistische Rücksichten irritiert werden dürfe; gefordert ist vielmehr, wie der platonische Sokrates dies paradigmatisch ausspricht, der selbstlose Blick auf die an sich und von ihr selbst her seiende Wahrheit, das einzige Ziel denkender und handelnder Intention: „Ihr aber kümmert euch, sofern ihr auf mich hören wollt, wenig nur um Sokrates, dagegen um die Wahrheit desto mehr. Und wenn ich etwas sage, was euch richtig .scheint, so stimmt ihr zu, wo nicht, stemmt euch mit jeglichem Beweis dagegen und habt wohl acht, daß ich ja nicht in blindem Eifer mich selber und euch irreleite und gleich der Biene, den Stachel in euch lassend, von hier scheide“ (Phaidon 91b 8/c 5). I )ieser sokratischen Protreptik zur Wahrheit mag sich ein Hinweis auf den „ethischen “ Aspekt von ,aletheiac anschließen: Die Frage nach der „wahren“ Tugend ist in den frühen Dialogen aspektreich diskutiert; Verpllii htetheit gegenüber der Wahrheit, Wahrhaftigkeit, in Parallele zu Maß, < »erechtigkeit, Tapferkeit und Freiheit (Phaidon 114ε 5O sind als die Kon­ kretionen wahrer ,arete‘, als der „Schmuck“ oder die Geordnetheit der Seele zu verstehen, in der sie den Tod erwartet - nach einem Leben freilich, in dem der Mensch alles tun muß, um der ,aretec und der Einsicht teilhaf­ tig n\ werden: καλόν γάρ τό άθλον καί ή έλατίς μεγάλη (114c yf). Wahre ,.neie* und damit gemäß der Erkenntnis von Idee sinnvolle (vernünftige) 1'nisten/ ist der Vollzug einer όμοίωσις ϋεφ, einer Anähnlichung an Gott, Miweit dies dem Menschen möglich ist (Theait. 176b). Wahre Existenz also ist bestimmbar als erkennendes und handelndes Zu«iimmensein mit dem Wahren selbst. Darin allein liegt mögliches Glück4. I >ie skizzenhaften Überlegungen zum Begriff Wahrheit bei Platon hal i rn e vi de nt gemacht, daß Wahrheit sowohl als ein Grundzug des Seins (Im e i g e n t l i c he n S i n n e , der Idee) als auch als eine Qualität der Einsicht, dr* likennens oder Wissens zu begreifen ist. Beide Aspekte sind von der t «r i i t mt i nt r n t i on platonischen Philosophierens her schwerlich als trenn­ * I in (In ( iegenwart „ideologiekritisch“ - bisweilen geäußerte Behauptung einer |#Ιιμ Ι* I »mm gi ic*i Ihm lin thooria (sog. „bloß kontemplativ“) gehört in den Bereich gedan­ k t * in« t Idrnlugnne, die sieh dein originären ( iedanken nie ausgcsetzi haben.

86

Deus est veritas

bar zu denken. Keinesfalls aber trifft zu, was Heidegger Platon unterstellt: Dieser bereits habe Wahrheit auf Aussage-Wahrheit, ,veritas logica‘, und damit auf eine „Richtigkeit des Blickens“ restringiert. Es charakterisiert vielmehr ausschließlich Heideggers eigenen, den platonischen Begriff von Idee und Wahrheit auf seine eigene geschichtsphilosophische These über ,Metaphysik4 rigoros zurichtenden Vorbegriff, wenn er behauptet: „Von nun (sc. Platon) an wird das Gepräge des Wesens der Wahrheit als der Richtigkeit des aussagenden Vorstellens maßgebend für das gesamte abend­ ländische Denken“5. Daß auch der aristotelische Wahrheitsbegriff, der eher als der platoni­ sche als sachlicher und geschichtlicher Ansatzpunkt der Adäquationstheorie gelten kann, nicht der die spätere Metaphysik allein und maßgeblich bestimmende gewesen ist, das macht ein zentraler Gedanke Plotins ein­ sichtig. Plotin begreift Wahrheit - freilich nicht ausschließlich - als einen Grundzug des zeitfreien Geistes. Dieser aber ist Sein schlechthin: die erste Form von Vielheit, die durch Reflexion zu einer höchstmöglichen Einheit gefügt ist. In dem einzelnen Intelligiblen, den Ideen, denkt der Geist nur sich selbst. Im Denken des Denkens ist er mit seinem Sein identisch. Der reflexive Vollzug dieser Einheit ist Wahrheit: die gegenseitige Durchdrin­ gung von Sein und Denken, so daß Sein denkend und Denken seiend ist. Die „Übereinstimmung“ des Denkens mit dem Sein ist nicht der von Sub­ jekt mit Objekt analog, sondern ist ^/^Ü bereinstim m ung des Seins oder des Denkens: „Wahrheit im eigentlichen Sinne stimmt nicht mit Anderem überein, sondern mit ihr selbst, und nichts (sagt sie aus) außer ihr; was sie aussagt, das ist sie, und was sie ist, das sagt sie aus“6. Selbstübereinstim­ mung - sie ist „jeweils nur Übereinstimmung mit dem, dessen Wahrheit sie ist“7 - meint also den reflexiven Akt, der durch das Einzelne zum „Gan­ zen“ hin geht, so daß das Ganze „keinem fehlt“, d. h. in jedem ist. Erst so, wenn das Einzelne im Geist auf sein Ganzes hin durchscheinend ist, ist das Ganze „wahres Ganzes“ (jtav ... rö dXrjfhvöv)8 oder das Ganze als Wahrheit. Eine mögliche Differenz von Wahrheit des Seins und Wahrheit der Aussage ist in dieser Identität von Sein und Denken aufgehoben: die 5 Platons Lehre von der Wahrheit2 (Bern 1954) 44. Zur Auseinandersetzung mit Heid­ eggers Konstruktion der Denk-Geschichte vgl. W. Beierwaltes, Identität und Differenz, 131 ff [und unten S. 345 ff]. 6 Enn. V,5,2,18-20. 7 III,7,4, ii f. 8 Klxl. 12-15.

Deus est veritas

87

Wahrheit des sich denkenden Seins „ist, was sie aussagt, und was sie ist, sagt sie auch aus“. Uber Platon hinausgehend faßt also Plotin Wahrheit nicht nur als Struktur einer in sich seienden Sinngestalt (Idee), sondern als die höchste Intensität von denkendem Sein, welches Einheit trotz der ihr immanenten Vielheit ist und sich zugleich als zeitfreie Selbstreflexion zeigt: Wahrheit als „absolute Wahrheit“.

II 1)ie Bedeutung des Satzes θεός έστιν αλήθεια oder ,Deus est veritas4setzt nicht nur einen Begriff von in sich seiender Wahrheit voraus, wie er von Platon und Plotin entfaltet wurde, sondern ist auch durch Elemente des *///- und neutestamentliehen Wahrheitsbegriffes bestimmt. Deshalb soll zu­ nächst am Leitfaden des Gebrauchs und der Bedeutung von ,emuna und xmet\ des hebräischen Pendants zu ,aletheia\ der Unterschied alttesta1nt* 11tlichen Denkens zum metaphysischen Begriff von ,aletheia‘ deutlich gemacht werden - ein Unterschied also, der zwischen der griechischen Be­ nennung des reinen oder eigentlichen Seins als „wahr“ oder „Wahrheit“ und de in Bezug der beiden genannten hebräischen Wörter auf Sein und Han­ deln Gottes besteht. Diese Differenzierung wird durch einen Blick auf den johanneischen Wahrheitsbegriff vom Neuen Testament her fortbestimmt. 1. ,Kmuna‘ und ,emet‘ gehen auf die Wurzel ,mn‘ zurück: diese bedeu­ tet „lest, sicher, zuverlässig sein“9. Danach ist ,emunac zu verstehen als: „lestigkeit, Zuverlässigkeit, Treue, Redlichkeit, Amtspflicht“ und ,emet‘ als „Beständigkeit, Dauer, Zuverlässigkeit, Treue, Wahrheit“. Bereits diese Aul/.ah lung möglicher Bedeutungen zeigt, daß „Wahrheit“ in einem we­ sentlich anderen Kontext steht als in der Erörterung dieses Begriffs etwa hei Pl a t on, Aristoteles oder Plotin. ,Emuna‘ und ,emet‘ intendieren nicht piimür, wie der metaphysische Begriff von ,aletheia‘, das In-sich-selbsto d e r Objektiv-Sein, die Autarkie eines Seienden oder einer Sache, nicht die /eit freie Einheit von Sein und Denken als Wahrheit, aber auch nicht pi imäi di e Struktur eines Gedankens oder einer Aussage, die beide auf ein Seie ndes o d e r einen Sachverhalt (Tatsache) bezogen wären; vielmehr sind Im der Skizze* des sprachlichen Befundes folge ich H. Wildberger, Artikel mn: E. Jenni/ < Wfsinm.mn, Iheolog. Handwörterbuch zum Alten Testament 1 (München 1971) 177— intj /ui theologischen lundierung vgl. ferner A. Jepsen: Iheolog. Wörterbuch zum Alten I * **i itiKiH, hrsg. v. (ί. }. Bottcrwcck und H. Ringgren 1 (Stuttgart 197Ο μ ν 48.

88

Deus est veritas

,emuna‘ und ,emet‘ durch einen Bezug zu Anderem, vorwiegend sogar durch einen „personalen“ oder „dialogischen“ Bezug zu Anderen (Perso­ nen oder Dialogpartnern) charakterisiert. Den Bedeutungsbereich mögen einige Texte verdeutlichen: Jahwe ist der „getreue G ott“, „der sich als treu erweist“ (vgl. Dtn. 7,9: θεός πιστός; fortis et fidelis), „der den Bund hält und seine Huld denen, die ihn lieben, bewahrt (φυλάττει)“. „Treue“ ist freilich nicht im eigent­ lichen Sinne eine Aussage über das metaphysisch gedachte Wesen oder Sein Gottes, so wie es in sich ist, sondern über die Manifestation oder die Zuwendung Gottes (die ihm freilich „wesentlich“ zukommt) zu seinem Volk: Der Name Gottes erweist sich im Handeln an seinem Volke Israel als verläßlich und groß. Dies aber heißt: Die „Treue“ Gottes ist nicht et­ was, das wie die seiende oder gedachte „Wahrheit“ entdeckt werden kann und dann bewußt ist und bleibt; sie ist vielmehr etwas, was durch Zeit und Geschichte bestimmt ist. Deshalb entspricht dem Sachverhalt die For­ mulierung: die Treue „erweist“ sich, sie geschieht, das „Sein“ Jahwes mani­ festiert sich dadurch als ein auf Zukunft hin gerichtetes: „Gerechtigkeit (δικαιοσύνη) ist der Schurz seiner Lenden und Treue (,aletheia£) der Gurt seiner Hüften“ (Jes. 11,5). Gottes „Treue“ zeigt sich also in der Heilsge­ schichte. In Deuteronomium 32,4 ist im Gegensatz zur Verkehrtheit des Volkes Gottes Redlichkeit, Lauterkeit und Zuverlässigkeit herausgehoben: „Gott: treu (άληθινά, perfecta) sind seine Werke und alle seine Wege sind recht (gerichtet, κρίσεις). Der treue Gott ohne Frevel (αδικία, iniquitas), gerecht und redlich (fromm, οσιος, iustus et rectus) ist der Herr.“ Aus dem Zeit- oder Geschichtsaspekt der Treue oder der Verläßlichkeit Gottes wird auch die Bedeutung von ,haja‘ in Exodus 3,14 deutlich: εγώ είμι ό ών (’ehjeh ’aser ’ehjeh) meint nicht, wie die Übersetzung der Sep­ tuaginta und die ihr folgende philosophisch-theologische Interpretation nahelegt, das Sein Gottes als dessen in sich seiendes, im Gegensatz zur Zeit­ lichkeit unwandelbares Wesen, sondern vielmehr Gottes Freiheit, die sich zwar nicht festlegt, die sich aber in der Zukunft erschließt als der tröstende Wille zum Heil des Volkes. Deshalb ist Exodus 3,14 so zu verstehen: Ich bin (immer) gegenwärtig und bereit zu handeln, ich bin da als der Helfende, ich erweise mich als der Verläßliche und Treue in der Zukunft meiner selbst und meines Volkes, also: „Ich werde da sein als der ich da sein werde.“ So steht das „Sein“ Jahwes mit dessen ,emuna‘ in wesenhafter Verbindung: die erfahrene oder immer noch zu erhoffende hilfreiche Zuwendung zum Menschen. Psalm 87,12: „Wird deine Huld (ελιος, misericordia) im Grabe

Deus est veritas

89

erzählt, in der Verlorenheit deine Treue (αλήθεια, veritas)?“ - Psalm 39,11: „Deine Bewährung (δικαιοσύνη, iustitia) hülle ich nicht mitten mir im Herzen, dein Betreuen (άλήθεια, veritas), dein Befreiertum (σωτήριον, salutare tuum) spreche ich aus, nicht verhehle ich deine Huld (ελεος, misericordia), deine Treue (άλήθεια, veritas) großer Versammlung“ 10. Aus den angeführten Stellen ergibt sich, daß die Septuaginta ,emuna£ sehr oft mit ,aletheia‘ übersetzt, noch mehr aber steht ,aletheiac für ,emet\ πίστις oder πιστός tritt zurück; relativ häufig als Äquivalent ist auch δικαι­ οσύνη bzw. δίκαιος - iustitia, iustus. ,Emet‘ ist auch sagbar; das sich im Wort aussprechende „Sein“ Jahwes ist verläßlich, vertrauenswürdig. Dieser Aspekt von ,emet‘ ist am ehesten vergleichbar mit dem, was im philosophischen Sinne „wahr“ heißen kann, sofern das Gesagte mit der gemeinten Sache übereinstimmt (vgl. z.B. 2 Sam. 7,28)n . Wenn auch im hebräischen Denken die Differenz zwischen subjektiver Aufrichtigkeit und objektiv gültiger oder seiender Wahrheit nicht in der Weise bewußt ist, wie es im griechischen Denken die Alternalive ,aletheia£- ,pseudos‘ anzeigt, so wird in diesem Gebrauch von ,emet‘ dennoch dessen Intention auf ein Objekt, eine zu sagende Sache oder Be­ gebenheit hinreichend deutlich. 1. Der johanneische Begriff von Wahrheit nimmt wesentliche Elemente des alttestamentlichen Wahrheitsbegriffes im Sinne von Gültigkeit, Verläßlii hkeit, Treue auf, zeigt aber auch ganz charakteristisch Neues. Jesus sagt von sich selbst: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater, außer durch mich“ (14,6). In Jesu Inkarnation erfüllt su h die Treue Gottes, indem dieser durch die Sendung des Sohnes den Menschen einen eschatologischen Aspekt eröffnet; seine Wahrheit wird in Jesus geschichtlich gegenwärtig, sie „ereignet sich als Geschichte“ 12. Das Wort ward Fleisch. Gerade durch oder als Wort aber ist Jesus Wahrheit l Iberset/t von M. Buber, Das Buch der Preisungen (Köln o.J.) 65. " Wildberger weist daraufhin, daß ,emuna und ,emet‘ keine vollen Synonyma sind und ,γ ι ι κ ϊ mehr als irgendein anderes Derivat von mn sich der Bedeutung von „Wahrli r i f nsihlossen hat (wie Anm. 9, 201). - ,Emet‘ als „Beständigkeit, Sicherheit, Dauer“ und die nähere Bestimmung von ,salom‘ (Friede) durch ,emet‘ machen es verständlich, »!.ils hin.m in der philosophisch-theologischen Explikation dieses Gedankens der Begriff du ,im nnunutabilitas4Ciottes anknüpfte, der auch ein wesentliches Moment im metaphy1U1 Im n Scinsbegrill ausmacht. 11 I Blank, Der johanneische Wahrheits-Begriff: Biblische Zeitschrift N. F. 7 (1963) *#♦*# I >ic sc· auKc hluisreii he Studie macht insbesondere den christologischen Aspekt des Vl'iiliilirilN Bep.lillrs deutlich.

90

Deus est veritas

(3,33f. 17,17). Darin zeigt sich einmal, daß Offenbarung (durch das Wort) den Charakter von Wahrheit haben muß, der durch die Treue Gottes in Jesus selbst garantiert ist, zum ändern aber, daß Wahrheit in Jesus perso­ nal gründet. Wahrheitscharakter der Offenbarung und die Tatsache, daß Jesus die Wahrheit ist, läßt das „Zeugnis der Wahrheit“, welches Jesus gibt (18,37: „damit ich von der Wahrheit Zeugnis gebe“) nicht in „Zeuge“ und objektivierte „Wahrheit“ auseinanderfallen: Jesus ist vielmehr als die Wahr­ heit selbst auch ihr Zeuge. Der zwiefache Aspekt der einen Wahrheit wird auch im Blick auf die Zusammengehörigkeit von Joh. 1,1 und 1,14 sichtbar13. „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott“: Der Logos ist die „immer schon“ seiende Selbstaussage Gottes, dessen Wahrheit. Freilich ist diese Identifikation ana­ log zu Ex. 3,14 nicht ausschließlich als eine Aussage über das „Sein “ oder das „In-sich-Sein “Gottes zu verstehen; ,aletheia‘ und ,logos‘ sind vielmehr auch bei Johannes noch im alttestamentlichen Sinne ein nomen actionis divinae: Wahrheit als die in Erscheinung tretende Wirklichkeit Gottes, die sich in seinem Handeln durch das Wort erfahrbar macht. Letzteres meint den zweiten Aspekt: „Das Wort ward Fleisch ... Und wir haben seine Herrlich­ keit gesehen, die Herrlichkeit des Eingeborenen vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“ . Das Wort in Gott als dessen Wort geht über in eine welthafte, menschliche Existenz; durch seine Selbsteröffnung wird es in Geschichte erfahrbar. Weil die Selbsteröffnung oder Selbsterschließung Gottes durch die Inkarnation des Wortes als ein Akt freier\ gnadenhafter Zuwendung Gottes verstanden werden muß, ist Wahrheit, die im inkarnierten ,logos‘ von sich selbst Zeugnis gibt (14,6. 18,37), nur m engster Verbindung zu Freiheit und Gnade zu denken. „Die Wahrheit“, d. h. die in Jesus erschie­ nene Selbsterschließung Gottes als Wort, „wird Euch frei machen“ (8,32).

III Die platonische Metaphysik hat Wahrheit als einen Grundzug des Seins, als die von sich her seiende Denkbarkeit oder Unverborgenheit der Idee gedacht. Der reflexive Vollzug der Identität von Sein (Ideen) und Denken in der einen Hypostasis ,Geist4 ist in Plotins Sinne die konsequente Fort­ 13 Vgl. J. Blank (wie Anm. 9), 166.

Deus est veritas

91

führung platonischen und parmenideischen Denkens: daß den Ideen, wie Hegel diese Intention beschreibt, ein Subjekt (Denken, Reflexion) gegeben werde. Diese Identität aber ist Wahrheit - des Seins und Denkens zugleich und als eine. „Wahrheit“ des Alten und Neuen Testaments steht für die in der Ge­ schichte sich zeigende Verläßlichkeit, die Treue Gottes zu seinem Volk, die Selbsteröffnung im Wort Jesus. Diese drei Momente des Wahrheitsbegriffes, philosophischer und theo­ logischer Provenienz, sind in dem für christliche Theologie zentralen Satz Οίός έστιν αλήθεια, ,Deus est veritas‘ mehr oder weniger bewußt in eine neue Einheit gefügt. Die für uns wesentliche Frage ist die, welche Konse­ quenzen sich insbesondere aus der metaphysisch gedachten, mit Sein und ( ¡eist identifizierten Wahrheit für den christlichen Gottesbegriff ergeben. ( ierade an dieser —freilich umformenden —Rezeption wird einsichtig, il.iß die philosophischen Momente des so verstandenen Wahrheitsbegrifles nicht nur als bloß formale Voraussetzungen einer neuen Konzeption ..gebraucht“ werden. Das christliche Verständnis des genannten Satzes soll im folgenden durch einige Aspekte aus dem Denken Gregors von Nyssa mul Augustins paradigmatisch erläutert werden14. 1. In der ,Vita Moysis‘ entfaltet Gregor von Nyssa den Weg des MenMhen zum „Sehen“ (θεωρία) Gottes hin. Wahrheit als Prädikation Goties meint sowohl dessen Sein in sich als auch dessen Bezug zum denken­ 11 Im Bereich genuiner Philosophie ist vor der christlich-theologischen, durch das Alte und Neue Testament naheliegenden Identifikation von Gott und Wahrheit eine solche ex|*i« ».ms verbis nur durch den Mittelplatoniker Alkinoos bekannt. Allerdings wird sie für ihn ui» In als originär zu beanspruchen sein. Die Ideen begreift Albinos als Gedanken Gottes; ah m*I< h e r, d. h. seine Ideen seiender und denkender, isttr auch Wahrheit: „Sich selbst also Mud «,r m e ( iedanken denkt (der erste Gott) immer und diese Wirksamkeit ist seine Idee, t *i»d di’i erste ( iott ist zeitlos, unaussprechlich, vollkommen, d. h. unbedürftig; immer vollmdri ,. ( ¡ottheit, Seiendheit, Wahrheit, Symmetrie, gut (Isag. 10 [164,26 ff Hermann - I Md.isk.ilikos X, Whitraker 23]). - Philo von Alexandrien freilich, in dessen Denken sich |iidhi lu . platonische, stoische und pythagoreisierende Elemente vereinen, ist ihm in der 1*1* 111 i(1 k.·( i11 von Ideen und Denken Gottes vorangegangen (Opif. 20; Cherub. 49). Bei ihm hi dir Prädikation Gottes als Wahrheit oder als Quelle wahren Lebens wohl vorwieII*f**l «Im» h das Α Γ bestimmt. - Für Plotin gilt die Identifikation von θεός mit αλήθεια i h m iiidiickt, insofern der ,nus‘ als der (von Numenios erstmals so eingeführte) δεύτερος fl» m. .NX'.du lieii" in dem oben skizzierten Sinne ist. So sind „Gott“ und „Wahrheit“ Wesens|u hhl. ih de s ( ¡eistes. Im späteren Neuplatonismus ist ,aletheia‘ als ein Grundzug des göttlitltdt Vjn·. dun haus geläufig, vgl. z. h. Proclus, Iheol. Plat. 1,2.1 (97, 7 ff Saffrey/Westerink). ί#ιΙι»ΐι*ι am diesem lloii/ont verstehbar ist auch Dion. Areop. div. nom. 7,4 (PG 3,812c).

92

Deus est veritas

den Sehen des Menschen. „Die Wahrheit durchstrahlt mit ihrem eigenen Glanz das Sehen der Seele. Gott aber ist die Wahrheit, die sich damals durch jene unaussprechbare Erleuchtung dem Moses zeigte ... Wenn aber Gott die Wahrheit ist, Wahrheit aber Licht ist, dann bezeugt die Stimme des Evangeliums diese hohen und göttlichen Worte durch Gott, der von uns im Fleische gesehen wird, folgerichtig führt uns eine derartige Befol­ gung der Tugend zur Erkenntnis jenes Lichtes hin, das zur menschlichen Natur herabgeht , . . “ 15. Wahrheit ist gemäß diesem Gedanken Gott, weil er durch seine Selbstoffenbarung den Menschen zu ihm als die Wahrheit selbst führt, dadurch aber den Menschen in dessen eigene Wahrheit bringt: Die göttliche Wahrheit erleuchtet den Menschen vom Anfang seiner Ge­ schichte an (Moses); intensiviert wird diese Erleuchtung durch die Offen­ barung des inkarnierten Wortes. - Daß Gott jedoch nur deshalb Wahrheit im Sinne des Sich-selbst-Offenbarens sein kann, weil er das wahre Sein selbst ist, zeigt sich in diesem Gedanken: „Das, was sich immer auf dieselbe Weise verhält, was sich nicht mehrt und nicht mindert, das, was auf jede Veränderung, sei sie zum Größeren oder zum Geringeren hin, in gleicher Weise unbeweglich ist ..., das, was eines jeglichen anderen unbedürftig ist, das allein Erstrebte (Erstrebenswerte), das, an dem alles teilhat und das im Mit-Sein in den Teilhabenden sich nicht verringert, dies ist wahr­ haft das Seiend-Sein und dies zu denken (oder einzusehen), ist Erkennt­ nis der Wahrheit“ 16. „Wahrheit“ ist ebenso wie „Sein“ in Bezug auf Gott eine Wesensaussage. Dies aber heißt, daß der Satz ,Gott ist die Wahrheit oder ,Gott ist das wahre Seinc die Identität von Gott, Wahrheit und Sein intendiert. Die in dem zuletzt zitierten Text gegebenen Bestimmungen des wahren Seins Gottes entsprechen den Bestimmungen der platonischen Idee: zeitfreie Unveränderlichkeit, autarke Fülle, Ziel und Bedingung alles anderen Seins, welches nur ist durch Teilhabe an ihr. Analog der Idee ist Gott seiendes Sein, wahres und ganzes Sein. Durch nichts anderes außer ihm ist er bestimmt oder begrenzt, wahres Sein ist zugleich un-endliches. Unveränderliches Un-Endlich-Sein, immer (d. h. zeitlos) „der Selbe“ zu sein und zu bleiben - dies ist auch der zentrale, von dem metaphysischen Seins- und Ideebegriff wesentlich bestimmte Grundgedanke von Gregors Interpretation des Satzes „Ich bin der ich bin“ 17.

J.

15 Vit. Moys. 2 ,i9 f (Sources Chrétiennes r , ed. Danielou (Paris 1955] *7). 16 Ebd. 2,25 (38f). 17 Vgl. hierzu W. Beierwaltes, Platonismus und Idcalismus (l iankluit 1972) i.

Deus est veritas

93

2. Auch Augustinus denkt Gott als absolute Wahrheit: als veritas ipsa. Sie ist identisch mit dessen Einheit und Zeitlosigkeit; deshalb wird sie als „in keinem Teile (ihr selbst) unähnlich“ bezeichnet (ver. rel. 55,113). Zu­ gänglich wird die absolute Wahrheit oder die Wahrheit selbst primär als der zeitfreie Grund des in Zeit auf sich zurückgehenden Denkens: die mens wendet sich, um sich selbst, ihre eigene Möglichkeit zu durchden­ ken und den eigenen, ihr transzendenten und doch ihr innerlichen Grund zu erfahren, in sich selbst zurück. Dies ist das Resultat des Vollzuges einer für Augustinus bedeutsamen Forderung: Noli foras ire, in te ipsum redi. In interiore homine habitat veritas (ebd. 39,72). Wenn das in sich selbst zurückgehende Denken in sich den ihm eigenen Grund erfährt, dann er­ fahrt es diesen nicht nur als das Principium, von dem alles ausgeht, son­ dern wesentlich auch als eine in sich seiende Einheit oder ursprunghafte Ähnlichkeit. Einheit oder ursprunghafte Ähnlichkeit versteht Augustinus als Übereinstimmung mit sich selbst im höchsten Sinne; so erfährt das 1)enken in sich als den Grund der eigenen Übereinstimmung die abso­ lute Übereinstimmung selbst: Vide ibi convenientiam, qua superior esse non possit, et ipse conveni cum ea (ebd.). Diese innerhalb der mens nicht mehr überbietbare ,convenientia‘ - die summa convenientia - ist die ab­ solute Wahrheit selbst. Rückgang des Denkens in sich selbst ist also die sic h vollziehende Übereinkunft des Denkens mit der absoluten Wahrheit, der Wahrheits-Akt endlichen Denkens. Die im Rückgang des Denkens in sich selbst sich vollziehende Vergewisserung des absoluten, in ihm, der mens, wirkenden Apriori versteht Augustinus in Reminiszenz an Platon als „Wiedererinnerung“ (recognosce igitur ..., ebd.). I )iese „über“ und zugleich „in“ der mens seiende ,veritas ipsa ist auch „I m m alles Wahren“: universaler Grund für das Wahr-Sein des durch die i real io gesetzten Einzelnen; ebensosehr ist sie als höchste ,similitudoc die J ' o i m alles Ähnlichen“ : Grund und Ursprung dafür, daß Seiendes un­ t e r e i na nd e r u n d zu seinem Ursprung hin ähnlich ist. Weil aber Wahrheit im a b s o l u t e n S i n n e die „höchste Ähnlichkeit“ des Prinzips mit sich selbst ist, h ö c h s t e Übereinstimmung oder absolute Selbstübereinkunft, deshalb k a n n sie als di e o h n e irgendeine Unähnlichkeit, also Einheit in höchster I ntensität s e i e nde u n d zugleich gestaltende „Form“ von allem, was ist, geiliti In w e r d e n 18.

Vri id. ssan . Voiiias divina als universaler „(¡rund“ : Soliloq. 1,1; Immort. 12,18f 1 u lii.iH als |>11111.1 (\sscntia, quac summe maximeque c\st); I )ivc*rs. quaest. 83,1.

Deus est veritas

94

In ähnlichem Zusammenhang wie in ,De vera religionec, bei der Refle­ xion nämlich auf den Rückgang aus der „Gegend der Unähnlichkeit“ in das Prinzip von Ähnlichkeit oder in die Ähnlichkeit selbst, identifiziert Augu­ stinus in Confessiones VII io das unveränderliche Licht, welches das Auge der Seele in ihr und zugleich über ihr - als ein ganz anderes - sieht, mit der Wahrheit selbst. Bezogen auf dieses im Denken erfahrbare unveränderliche Licht heißt es: Qui novit veritatem, novit eam (sc. lucem), et qui novit eam novit aeternitatem. Caritas novit eam. O aeterna veritas et vera Caritas et cara aeternitas. Der in der Immanenz des denkenden Bewußtseins erfah­ rene absolute Grund ist also Einheit von Zeitlosigkeit, unveränderlicher Wahrheit und sich veräußernder Liebe. Gerade die Intellektualität oder Spiritualität dieses absoluten Grundes, welcher die Wahrheit und Liebe selbst ist, soll in der gegenseitigen Durchdringung der Wesensprädikate evident gemacht werden. Die Absolutheit der Wahrheit (,veritas ipsa) rechtfertigt - im Kon­ text von Einheit, Zeitlosigkeit und wahrheitskonstitutivem Licht - deren Identifikation mit dem „Sein selbst“ (,ipsum esse‘). „Sein selbst“ also ist die Wahrheit (Gottes) selbst. Oder: „Sein selbst“ als unwandelbare und zugleich in sich zeit-frei bewegte Identität mit sich selbst ist die Wahrheit dieses absoluten, göttlichen Seins, —seine Selbst-Durchlichtung, seine intelligible Selbst-Gründung. „Sein selbst“ als die reine Selbstidentität oder absolute Selbstüberein­ kunft und zeitfreie Gegenwärtigkeit schließt für Augustinus weder Refle­ xion noch das Sich-Aufschließen der Einheit zur Dreiheit aus; freilich ist dieser Selbstaufschluß des Gottes als ein zeitfreier Akt, als innere Explika­ tion der Ewigkeit selbst zu verstehen. Unter dieser philosophischen Rück­ sicht, aber auch geleitet von der Aussage des Johannes-Evangeliums (14,6): ,Ego sum via et veritas et vita£, rechtfertigt sich Augustins Gedanke, daß Christus in herausgehobenem Sinne die ,veritas£ Gottes sei - unbeschadet freilich des Gedankens, daß ,veritas ipsa für den „ganzen“ Gott - für Gott als die Trinitas - gelte19. In dieser trinitarischen Wahrheit gibt es keine Stufung des Wahren, so daß weder die Einheit von Vater und Sohn „wah­ rer“ wäre als ihre Einzelheit, noch daß beide wahrer wären als der Heilige Geist: im Sein der absoluten Wahrheit ist Wahr-Sein mit Sein identisch in essentia veritatis, hoc est verum esse quod est esse20. 19 In joh . 69,3. 20 Trin. 8,1,2.

Deus est veritas

95

Der „erkenntnistheoretische“ Aspekt von ,veritas* erweist sich im Be­ reich „distanz“-loser Ewigkeit, d. h. in Gott, als ontologische Selbst-Grün­ dung von absoluter Erkenntnis in sich und als Ermöglichung von endli­ chem Wissen von Wahrheit: Sofern Christus die mit Gott-Vater gleichwe­ sentliche Sapientia (Verbum) ist, ist diese auch seine Wahrheit21. Weisheit oder Wort aber ist in dem zeitlos trinitarischen Prozeß das „Moment“ des Denkens oder der Reflexion. Darin zeigt sich die in der Geschichte der christlichen Theologie konsequenzenreiche Ineinssetzung von Gott und reflexivem Prinzip, wie es Plotin in der Hypostasis ,nus‘ oder Porphyrios in dem „absoluten Sein“ konzipiert hat, welches eines ist und denkt zugleich. Wahrheit ist damit nicht nur Grundzug des unwandelbaren Seins in sich selbst, sondern auch der Ausdruck denkender Selbstübereinkunft eben die­ ses Seins, welches in diesem Wahrheitsakt die Idee von Welt in sich denkt. Analog dem IST Gottes wird auch die ,Sapientia Patris‘ zum Anlaß und Ziel für menschliches Denken und Handeln. Sie ist das „höchste G ut“, dessen erkennender Besitz zugleich höchstes Glück bedeutet: Sola veritas l.ieit beatos, ex qua vera sunt omnia22. Wahrheit selbst als das reine, „wahre“ Sein, als die absolute Selbstübereinkunft, deren Modus Denken (sapientia, mens, intellectus) ist, ist als das primär philosophische Moment des augustinischen Wahrheitsbegriffes zu l.issen. In der Interpretation seiner eigenen geschichtlichen Stellung weist Augustinus dieses Moment auch selbst den Philosophen zu: daß diese nämlich Gott, der von sich sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das I eben“, als unveränderliches, denkendes und weise machendes Leben, als lest st ehende, nicht weichende Wahrheit, in der „alle Ideen alles Geschaf­ fenen sind“, durchaus, wenn auch nur „von ferne“, erkannten, - auch den „Künstler“ erkannten sie „aus seiner Kunst“ (ex arte artificem, vgl. Rom. i, )n), I )er Weg freilich oder die Wahrheit selbst als Weg blieb ihnen verbor­ gen. ( ¡ott, der die Wahrheit ist, ist deshalb selber Weg geworden: Filius I >ei (|tii semper in Patre veritas et vita est, assumendo hominem factus est via .. I’actus ergo via est qua venias ... Ipsa via ad te venit: surge et amIniLr \ Nicht minder als das philosophische ist dieses biblisch-theologische 11 I (I). .uh. .u s, \iy. ipsa veritas Deus est ... a Patre genita est sapientia ... est enim Deus, Mt vt ir, summt*i|tic est; Gen. ad litt, imperf. t6,6o (CSEL 28,1,500). - Christus ist auch hiMifnit ihr Wahrheit des Vaters, als er dessen Erscheinung oder Glanz (splendor Patris, 1. t) ist, Vgl. Mor. ecil. 1,16,2,8. 11 I 11 111 Ps. l ,ih. arb. 2,9,26.

*' Si l III I jl.t, 2,

96

Deus est veritas

Moment für den Wahrheitsbegriff Augustins bestimmend, ohne daß beide scharf zu scheiden wären: Wahrheit ist Gott nicht nur in sich, sondern auch durch seine freie Hinwendung zum Geschaffenen in der Inkarnation des W ORTES. Hierdurch wird ,veritas‘ zu ,misericordiaC24; diese heilt das „innere Auge“ , und ist so der unmittelbare Anlaß einer „Erleuchtung“ des Menschen: die Demut Christi am Kreuz reinigt ihn von der „Unähnlich­ keit der Sünde“ (,dissimilitudo iniquitatis4), so daß die „Erleuchtung“ (,Il­ lumination zur Teilhabe am WORT, d. h. an der in sich seienden Wahrheit und Einheit Gottes, durch das WORT selbst werden kann25. Die Hoff­ nung des Menschen, der noch nicht in der patria, aber auf dem Wege zu ihr ist, gründet sich auf die verheißende, nicht täuschende Wahrheit Got­ tes, auf dessen Wahrhaftigkeit26 und Treue. Der mit dem WORT identi­ schen veritas immortalis et incommutabilis27 entspricht also dessen Selbst­ entäußerung in die Zeitlichkeit, um diese in das zeitlose und wahre Sein - erlösend - zurückzuführen. Analog den Aspekten einer in sich seienden und soteriologisch sich der Welt des Menschen eröffnenden Wahrheit sind die beiden „Namen“ des SEINS zu verstehen28: ,nomen aeternum (aeternitatis)‘ steht für das in sich seiende Sein selbst; ,nomen temporale4 oder ,nomen misericordiae‘ aber für den Akt, in dem Gott sich der Zeit und Ge­ schichte zusagt und sich ihr zuwendet. DER IST, ist als dieser ebensosehr der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Er macht das „Meer dieser Welt“ durch sich selbst zum „Weg“ zu ihm: „Damit es einen Weg gebe, auf dem wir gehen könnten, kam von dorther der, zu dem wir gehen wollten. Und was hat er getan? Er hat ein Holz eingerichtet, damit wir auf ihm über das Meer gehen könnten. Niemand kann das Meer dieser Welt überschreiten, es sei denn: getragen vom Kreuze Christi“29. Daß Gott als erscheinende und vermittelnde Wahrheit zum Weg in Zeit und Geschichte wird, ohne sich als Ursprung selbst aufzugeben, erweist ihn gerade als das wahre Sein, als Wahrheit des Seins oder Sein der Wahrheit. SEIN im höchsten oder intensivsten Sinne, welches sich selbst denkt und sich so zu einer in sich 24 En. in Ps. 56,17. 87,11. 113; s. 1,13. 25 Trin. 4,2,4. - Der Heilige Geist ist Vermittler der Wahrheit Gottes oder Christi: c. Faust. 32,18. 26 En. in Ps. 123,2. Deus verax: ebd. 94,i4f; Trin. 8,2,3; 1n J°h . 69,3; c. Adim. 9,2. 27 En. in Ps. 123,2. 28 Hinweise in „Platonismus und Idealismus“ , 35. 29 In Joh. 2,2: ut ergo esset et qua iremus, venit inde ad quem ire volebamus. Et quid fecit? Instituit lignum quo mare transeamus. Nemo enim potest tiansire mare huius saeculi, nisi cruce Christi portatus.

Deus est veritas

97

differenzierten Einheit fügt, - dies ist der eigentliche Begriff von Wahrheit, der sich von einer über das „Subjekt“ hinausgehenden Übereinstimmung mit einem „Objekt“ fundamental unterscheidet. Durch das Medium die­ ses metaphysischen Begriffes von Wahrheit hindurch ist auch der biblische Aspekt des wahrhaftigen, treuen, sich verläßlich zusagenden und sich entiiußernden Gottes zu begreifen, sofern der Satz ,Deus est veritas4 als ein mit sich selbst einiger Gedanke gedacht werden soll.

[Die Geschichte des philosophischen Begriffs der Wahrheit. Herausgegeben von Markus Enders und Jan Szaif, Berlin/New York 2006. Werner Beierwaltes, Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Frankfurt 2001, 30-44 (Geist ist Wahrheit: a?if)Ü8ia).]

R E G IO B E A T I T U D I N I S Zu Augustins Begriff des glücklichen Lebens

I Regio beatitudinis - Dimension des Glücks1: die Frage nach ihr war so­ wohl für die antike Philosophie als auch für die christliche Theologie zent ral, sofern es ihr um die Bestimmung des Menschen ging. Die Frage, was ( ilück, glückliches oder geglücktes, erfülltes Leben sei, konnte nur im Zu­ sammenhang mit der Frage nach den Möglichkeiten des Menschen, nach seinem Ziel und nach dem „höchsten G ut“ in sich und für ihn reflek­ tiert werden. Bisweilen verstand sich Philosophie sogar —zum Beispiel in der Stoa und bei Epikur —als eine umfassende Anweisung zum glücklic hen Leben, die die Reflexion auf alle Gegenstandsbereiche in den Dienst dieses einen Gedankens stellte. Nachdem die Frage nach dem Glück für einige Zeit zumindest als offenes Thema (im Sinne eines eher populärphilosophischen Bedürfnisses) verdrängt war - zum Beispiel in der rein 1r.mszendentalen Phänomenologie, dem seinsgeschichtlichen Denken und der positivistischen Wissenschaftstheorie - beginnt sie in der Philosophie 1 1)cr Titel ,regio beatitudinis‘ ist sprachlich durch analoge Verbindungen Augustins {•net lufertigt, z. B. Beata vita 3: regio beatae vitae; Conf. IX 10,24: regio ubertatis indefici«111 is (als Bezeichnung des göttlichen Seins). Lib. arb. II 11,30 (Gott als „Bereich“ der „un­ wandelbaren Wahrheit“ von Zahl und Idee); Conf. V II 10,16: regio dissimilitudinis (Welt als I )imension des Unähnlichen [in der Ähnlichkeit] gegenüber Gott, terminologisch und mi lilii h anknüpfend an Piat. Polit. 273 d 6 f und Plot. I 8, 13, i6f. Vgl. E. Te Seile, ,Regio dissimilitudinis1 in the Christian tradition and its context in late Greek Philosophy, in: Aug. Ntudics 6, 1975, 153-179). Nachträglich finde ich als Bestätigung des Titels den Terminus ,n p.io beatitudinis4in der Nachfolge Augustins bei Julianus Pomerius (gest. bald nach 500), •Ir vii a (ontemplativa I 4,3 (PL 59, 422 C) und - später - in der Predigt desAchardde Saint Vi< toi (Abt von St. Victor in Paris von 1155-1161) zum Fest des Hl. Augustinus. Ausgehend vim ( nnf. VII 10,16: „In regione dissimilitudinis, in qua invenit se Augustinus longe esse a I n" c-ntwii krlt ei drei .regiones similitudinis4(= increatae trinitatis, aequalitatis, unitatis): IMitit.t nat urar, senmda iustitiae, tertia vitae beatae. Vgl. Achard de Saint-Victor, Sermons inediis, «'»I, |. ( batillon, Paris 1970, 101II. 107: ,regio beatitudinis1.

IOO

Regio Beatitudinis

der Gegenwart wieder ganz entschieden ins Bewußtsein zu rücken2. Dies hängt mit der weitreichenden Rehabilitierung der praktischen Philosophie zusammen, die ihrerseits im Kontext der Überzeugung steht, Philosophie müsse auch Konzepte für vernünftiges Handeln entwerfen oder aber es sei ihr in ihrer gegenwärtigen Situation eigentlich nur dies möglich: Ethik zu sein. Paradigmatisch für diese Einstellung ist - zumindest im deutschen Sprachraum - der Versuch von Walter Schulz, eine „zeitgemäße Ethik“ zu entwerfen, die von der Grundkategorie Verantwortung* her „das größte Glück der größten Zahl“ postuliert. In einer Abgrenzung zum utilitaristi­ schen Eudämonismus hin versteht Schulz die ethische Betätigung selbst als eine wesentliche Glücksquelle. „D ie ,Befriedigung*, die das Gefühl, verant­ wortlich zu handeln —ob mit oder ohne Erfolg - ergibt, ist das eigentlich menschenwürdige Glück, weil es zur Natur des Menschseins gehört, daß der Mensch selbst die Aufgabe übernimmt, das Gute als die Ordnung her­ zustellen, unter der er zu leben vermag“3. Glück wird so in die Autonomie oder Autarkie der menschlichen Subjektivität gesetzt, die sich im verant­ wortungsvollen Zusammenleben Normen setzend realisiert und bewährt. Nicht immer freilich tritt in zeitgenössischen Überlegungen die Frage nach dem Glück auch expressis verbis als solche auf, sie liegt vielmehr - psy­ chologisch oder soziologisch und politisch orientiert —anderen Fragestel­ lungen zugrunde oder in deren Ziel. Zu umschreiben sind diese etwa mit den Formeln: Suche des Menschen nach seiner Identität4; Emanzipation aus den Zwängen einer technisierten, bürokratisierten, durch und durch zweckorientierten und deshalb auf das Individuum repressiv wirkenden Gesellschaft; Aufhebung der vielfältigen Entfremdung des Menschen, der er in seiner Arbeitswelt ausgesetzt ist; Lustmaximierung gegen Unterdrükkung der Triebe5; Befreiung von politischer Unterdrückung und ideolo2 Hier soll nur auf Weniges (verschiedener Provenienz, auch im Kontext zu psycholo­ gischen und soziologischen Konzepten) verwiesen werden: J. Pieper, Glück und Kontem­ plation, München 1957. W. Tatarkiewicz, Analysis o f happiness, Den Haag 1976 (polnisch 1962). H. Kundler (Hg.), Anatomie des Glücks, Köln 1971. U. Hommes (Hg.), Was ist Glück? Ein Symposion, München 1976. H. Krämer, Prolegomena zu einer Kategorienlehre des richtigen Lebens, Phil. Jahrbuch 83, 1976, 71-97. G. Bien (Hg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart 1978. 3 W. Schulz, Philosophie in der veränderten Welt, Pfullingen 1972, 746. 4 Vgl. z.B. E. H. Erikson, The problem o f Ego Identity, in: Journ. Amer. Psych. Assoc. 4, 1956, 56-121 (deutsch in: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt 1973, 123(1). 5 Diese Fragen thematisiert u. a. H. Marcuse in: Der eindimensionale Mensch, Neuwied 1967’; Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt 1967.

Regio Beatitudinis

ιοί

gischer Indoktrination; Wiedergewinnung bestimmter ästhetischer Qua­ litäten unseres Daseins, die es menschlicher gestalten; ganz allgemein: die Entwicklung der wahren Menschlichkeit des Menschen, in der er „zu sich“ und „dem Seinen“ kommt, Konstitution einer Gesellschaft, in der „the pursuit o f happiness“6 nicht zu einem nur ironisch zitierbaren Grundrecht verkommt. Diese Formeln haben alle einen mehr oder weniger stark aus­ geprägten utopischen Grundzug; sie beschreiben nicht so sehr, was ist, son­ dern postulieren oder antizipieren, was sein könnte oder sein sollte. Freilich war der Blick auf das Kommende der Idee vom Glück in bestimmtem Sinne immer schon eigen - „in alium maturescimus partum“ (Seneca, ep. 102), wenn wir uns in das wahre Selbst befreien - , die Prädominanz des Utopi­ schen aber mag zurecht auch Skepsis gegen die Reflexion auf Glück zu pro­ vozieren, dies insbesondere angesichts des gesellschaftlichen VerstrickungsZusammenhangs von vielfältigen Zwängen mit dem Bedürfnis nach realer Freiheit des Individuums; Skepsis auch gegen die Möglichkeit überhaupt, das Glück einmal fraglos zu haben. „Mit dem Glück ist es nicht anders als mit der Wahrheit: Man hat es nicht, sondern ist darin. Ja, Glück ist nichts anderes als das Umfangensein, Nachbild der Geborgenheit in der Mutter. 1)arum aber kann kein Glücklicher je wissen, daß er es ist. Um das Glück zu sehen, müßte er aus ihm heraustreten: er wäre wie ein Geborener“7. Das psychoanalytische Bild zerbricht jedoch, weil wir „Geborene“ sind, weil wir den Zustand reflexionsloser Naivität weder festhalten noch in ihn zurück­ kehren können. Daraus ergibt sich für den Menschen die Notwendigkeit einer Reflexion auch auf die Idee von Glück oder gerade auf sie, sofern er sich überhaupt - nicht utopisch überanstrengt - um sein Telos kümmert. I )as ,„rien faire comme une bete', auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen“ könnte schwerlich als Bild eines durch Vernunft ständig herausgeforderten und vielleicht gerade darin glücklichen Lebens gelten; freilich wäre dieser zumindest intendierten Befriedung der Reflexion 0 ,’lhe pursuit of happiness‘ gehört zu den Grundrechten, die in der amerikanischen I >0 laration of Independence (4. Juli 1776) verankert sind (in keiner europäischen VerfasΜΐιψ, ist dieses Recht auf Glück zu finden): „We hold these truths to be self-evident, that »II inen are created etjual, that they are endowed by their creator with certain unalienable lifjus. that among these are life, liberty and the pursuit o f happiness“ . Vgl. hierzu C. L. M« i Lei, Ihe Declaration of Independence, New York 19422. H. M. Jones, The pursuit of happiness, C’-ambridge 1953 (über die bisweilen grotesken Folgen dieser Rechtsformel in «h * Kn hissprei hung). Γ. W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt

i.|

102

Regio Beatitudinis

nicht ein Plädoyer für Praxismus, Aktion, Prozeß oder Fortschritt allein als Quelle des Glücks gegenüberzusetzen. Glück scheint vielmehr auch in der gegenwärtigen Situation von Gesellschaft und individuellem Bewußtsein an eine produktive Synthese von Reflexivität und sinnvoller, durch eben diese Reflexivität geleiteter Praxis gebunden zu sein. Aus diesen Andeutungen bereits mag evident werden, daß gegenwärtige Reflexionen über das Glück im Vergleich mit der griechischen und christli­ chen Antike Unterschiedliches intendieren und unterschiedlich begründet sind. Dennoch ist eine Überlegung hierzu kein Geschäft von bloß histori­ schem Interesse: sie könnte gerade an etwas erinnern, was der Gegenwart fehlt und ihr als Desiderat auch bewußt werden sollte. Hier wie dort näm­ lich geht es um einen verantwortbaren Begriff des Menschen und dessen Verwirklichung. Eine ausschließliche Entscheidung für die eine oder an­ dere Seite wäre allerdings absurd. Die Suche nach Korrektur gegenwärtigen Denkens durch und aus dessen eigener Vergangenheit aber ist eine zentrale Aufgabe der Philosophie.

II Es ist sicher kein Pauschalismus, zu sagen, daß gerade diejenigen Grund­ positionen der griechischen Philosophie, die das spätere Denken nachhaltig bestimmten, das glückliche Leben oder das Wesen des Glücks vom Erkennen, Wissen oder Sehen her begreifen. Philosophie ist die argumentative Form dieses Gedankens, der in Dichtung und Religion analoge Gestalt gewinnt: diese preisen von ihren eigenen Voraussetzungen her das Sehen des höch­ sten Gegenstandes oder Geschehens als den Zustand vollendeten Glücks. In einem Threnos Pindars zum Beispiel gilt der Makarismos demjeni­ gen, der Einsicht gewann durch das Sehen der Mysterien, der also einge­ weiht war in die ,Eleusinien‘: „Glücklich, wer - nachdem er Jenes sah unter die Erde ging. Er weiß des Lebens Ende, er weiß den gottgegebenen Anfang“ 8. 8 Frg. i n (Bowra): δλβιος οστις ίδών κεΐν’ εισ’ υπό χ ϋ ό ν ’ · οιδε μέν βίου τελευτάν, οίόεν δέ όιόσδοτον άρχάν.

Regio Beatitudinis

103

Einsicht oder Wissen durch sehendes Forschen ist auch für Euripides der Grund von Glück - Einsicht in die Herkunft und in die Seins-Weise der unvergänglichen Ordnung der Physis. Die objektive, sichtbar gegebene Ordnung wird sogar - in der Einsicht vermittelt - zum Maß für ein ethisch sinnvolles Handeln des Menschen: „Glücklich, der im Forschen Erkenntnis (Wissen) erlangte, nicht bricht er auf zu ungerechtem Tun, den Bürgern zum Unheil, sondern der unsterblichen Natur nicht-alternde Ordnung betrachtet er, wie sie zustande kam und wie sie ist. Bei solchen sitzt nie schändlicher Werke Übung“9.

Auch die römische Dichtung rühmt Einsicht oder Wissen als Glück: im Banne der epikureischen Naturphilosophie, die durch Erkenntnis der inne­ ren Ursachen der Naturphänomene den Menschen von Angst zu befreien versucht, sieht Vergil die Intention und Würde seiner eigenen Dichtung in Analogie zu eben dieser Philosophie: „Glücklich, wer es vermocht, die Gründe der Dinge zu erkennen, und alle Ängste und das unerbittliche Schicksal unter seine Füße geworfen und das Brausen des gierigen Acheron! Beglückt auch der, welcher die Götter des Landes kennt, l’an und Silvanus den Alten und die Nymphenschwestern! Ilm beugen nicht die Ruten des Volkes, nicht der Purpur der Könige und der Zwist, der die falschen Brüder hetzt, noch der Daker, der von der Donau herab kommt, d i e mit ihm verschworen ist, nicht Wirren Roms noch Reiche, die zu Grunde gehen sollen;

l) F r g . ( i n c e r t a r u m f a b u l a r u m ) 9 1 0 ( N a u c k 2) , ü b e r l i e f e r t b e i C l e m . A I . S t r o m I V 2 5 u n d l l i r m i s t . O r a t . X X I V ( F 3 0 7 D ) , k a n n m i t S i c h e r h e i t a ls e u r i p i d e i s c h g e lt e n : ό λ β ιο ς ό σ τ ις τ ή ς Ισ τ ο ρ ία ς Γ σ χ ε μ ά θ η σ ιν , μ ή τ ε π ο λ ιτ ώ ν έ π ι π η μ ο σ ύ ν η ν μ ή τ ’ ε ις α δ ίκ ο υ ς π ρ ά ξ ε ις ό ρ μ ω ν , ά λ λ ’ α θ α νά το υ καΟ ορώ ν φ ύσ εω ς κόσμον άγήρω , πη τε συνέστη και t ο π η και όπω ς. ιο ίς δ ε τ ο ιο ύ τ ο ις ο ύ δ ε π ο τ ’ α ισ χ ρ ώ ν ί ργ52: coaptare animum illis incommutabilibus regulis ... III 5,13: humana anima divinis ex quibus pendet connexa rationibus. 142 II 16,41. 143

119 ,2 6 .

Regio Beatitudinis

133

das höchste Gut, das in der Wahrheit gesehen und begriffen wird, die wir Weisheit nennen“ 144. Diese aber ist das „Sein selbst“ 145. Das philosophische Modell dieses Gedankens, das in analoger Weise das Sehen des Ursprungs mit der höchsten Form des Glücks verbindet, ist, wie ich anfangs angedeutet habe, von Plotin und der ihm folgenden neupla­ tonischen Philosophie entwickelt worden. Es ist zur weiteren Klärung der Frage nach den philosophischen Implikationen des augustinischen Den­ kens wenigstens kurz zu skizzieren. Das Denken gelangt im Rückgang in sich selbst (èmaxgocpfi), im Akt der Selbstvergewisserung also, in seinen eigenen Ursprung. Dieser ist, wie in Augustins Konzeption, zugleich in und über dem Denken gedacht. Er ist das absolute, in sich relationslose Eine selbst, welches Ursprung jeg­ licher Form von Einheit und Denken zugleich ist. Obgleich es mit dem ,theos‘ zu identifizieren ist, besteht gerade in der Relations- und damit Reflexionslosigkeit des Einen eine wesentliche Differenz zu dem in sich reflexiven Gott Augustins. Der Prozeß der Selbstvergewisserung setzt bei Plotin mit einem dem augustinischen ähnlichen ethischen Imperativ ein: daß der Mensch sich befreien solle aus dem Verstricktsein in Sinnlichkeit und Vielheit (ayeXe otavxa146). Dieser Rückgang ist zugleich Aufstieg durch die verschiedenen Intensitätsgrade des ,nus£ und der ,psyche‘, also des Denkens insgesamt. Im Rückgang des Denkens in sich selbst gelangt dieses allererst in das wahre Selbst des Menschen, den „inneren Men­ schen“ (o e’iaco av'&Qcajtoç), das eigentliche W ir147. Dieses gründet im Bereich des intelligiblen, reinen Seins, wirkt aber zugleich in die zeithafte Existenz des Menschen hinein148. Der Ursprung des Denkens wird dem 1)enken in der Rückwendung auf sich selbst nicht nur bewußt, vielmehr wird es diesen Ursprung selbst, es verwandelt sich in ,nus‘ 149. Gemäß dem Ansatzpunkt ist der Rückgang des Denkens auch eine immer größere 144 Ebd.: nemo enim beatus est, nisi summo bono, quod in ea veritate, quam sapientiam vin amus, cernitur et tenetur. 13,35: quid beatius eo qui fruitur inconcussa et incommutabili ei cxi cllcntissima veritate. 13, 36. 16, 41: beata vita animae deus est. ,'ls 15, 19. Zu diesem Problem vgl. W. Beierwaltes, Platonismus und Idealismus 30ff. I . /um Brunn, L’exégèse augustinienne de „Ego sum qui sum“ et la „métaphysique de IT.xodc“ , in: Dieu et l’ Être (ed. P. Vignaux), Paris 1978, 141-163. , K· V 1

17 , 38.

V I 4 , 14 , 1 6 ff. V 1, 1 0 , 1 0 . 1 1 , 7 , 2 0 . V g l . a u c h V I 7 , 4 .

lu s n p lt y o f d i e S c l i , S h a n n o n 1 9 7 3 .

UM I 1,7. '

VI ■/,

G.

J . P. O ’ D a l y , P l o t i n u s ’ P h i -

134

Regio Beatitudinis

Vereinfachung, ein intensiveres Eins-Werden, insofern es sich von seinem eigenen Grunde immer wirkungsvoller bestimmen läßt. Das Ziel dieses Prozesses ist das Eins-Werden mit dem Einen selbst. Dieses kann freilich nicht als solches gedacht und gewußt werden, weil es über oder vor dem Etwas oder der Form ist, die einzig dianoetischem Denken zugänglich ist. Gewußt und gedacht werden kann es vielmehr nur als „das Eine in uns“, als der Einheitsgrund unseres Denkens, der durch sich selbst über sich selbst hinausweist auf seinen eigenen Grund150. Das im Denken apriori seiende und wirkende Eine als der Grund der Einheit des Denkens ist also die Voraussetzung für eine nicht-mehr-denkende „Erfahrung“ des Einen selbst. Zu dieser Erfahrung „hilft“ - etwa im Sinne des augustinischen „duce te“ - das Eine dem Denken nicht unmittelbar, aus sich selbst her­ auszukommen; es transzendiert sich vielmehr selbst ausschließlich auf­ grund der ontologischen Vorläufigkeit des Einen im Denken oder durch die Strukturiertheit des Denkens durch das Eine, durch dessen unificative Kraft im Denken151. In der Einung mit dem Einen selbst geht das Denken in Nicht-Denken über, das Sehen wird das Gesehene selbst - ein Zustand, in dem die Differenz im Denken aufgehoben ist, analog dem Uber-Sein des differenzlosen Einen selbst. „Das Gesehene aber sieht der Sehende in jenem Augenblick (der Einung) nicht - die Rede ist freilich kühn - , unterscheidet es nicht, stellt es nicht als zweierlei vor, sondern er ist gleichsam ein anderer geworden, nicht mehr er selbst und nicht sein eigen, ist einbezogen in die obere Welt und jenem Wesen (dem Einen) zugehörig und so ist er Eines, indem er gleichsam Mittelpunkt mit Mit­ telpunkt berührt“ 152. Plotin meint so zu Recht, daß er eigentlich nicht

150 III 8, 9, 2 2.11,19 . V i, 1 1 ,1 3 f. V 3, 8, 4iff. V I 9 ,11, 31. 151 Porphyrios allerdings hebt den θεός συλλήπτωρ, έφορος, έπόπτης heraus: ad Marcellam 12, 282,6 und 18 (Nauck2), was doch die Annahme einer direkten helfenden Beziehung des Gottes zum Menschen voraussetzt. Dies nimmt den frühen griechischen Gedanken des ,concursus divinus4 auf, z.B. Aeschylus, Pers. 742. Soph. frg. 841 (Nauck2). Eurip. frg. 432 (Nauck2): τω γάρ πονουντι καί θεός συλλαμβάνει. Menander frg. 494 (Körte-Thierfelder I I 169), bei einem gerechten Wagnis „fasse auch der Gott mit an“ : τόλμη δίκαια και θεός συλλαμβάνει. (Auf die genannten Stellen aus Tragödie und Komödie hat mich freundlicherweise Eckard Lefevre hingewiesen.) - Xenophon, Mem. 14, 18: πάντων έπιμελεισϋαι (θεούς). IV 3,13: θαττον δε νοήματος άναμαρτήτως ύπηρετοΰντα (θεόν). Marc Aurel IX 40 (συνεργειν). Bei Plotin beschränkt sich der Gedanke auf die allgemeine Gegenwart des Einen als des Grundes und Zieles. 152 VI 9, 10, 13 ff.

Regio Beatitudinis

135

mehr von einem „Geschauten“ sprechen, sondern nur noch auf ein „Ge­ eintes“ verweisen könne153. Wenn Augustins Gedanke der plotinischen Intention des Rückgangs und Aufstiegs des Denkens in sich analog ist, so unterscheidet er sich über den theologischen Kontext hinaus - von Plotin freilich dadurch, daß er das erkennende, betrachtende Sehen nicht in seinen Gegenstand überoder aufgehen läßt, sondern vielmehr das Sehen gerade als ein absolutes, zeitlos fortdauerndes bewahren will. In den Augen Augustins könnte das glückliche Leben im Sinne Plotins nur punktuell sein: im Augenblick der Evidenz und Einung. Allerdings würde eine derartige Sicht die Funktion, die der Unsterblichkeitsgedanke auch für Plotin hat, nicht nachhaltig ge­ nug bedenken. 4. Einiges ist nun noch zu sagen über den Modusy in dem der Grund und Gegenstand des Glücks: Wahrheit, Weisheit, unwandelbares Sein selbst, Gott, dem Menschen gegenwärtig wird und ihm bleibt. Was also impliziert das „Haben“ im Satz: „Deum qui habet, beatus est“? Im Grunde ist dies in der Analyse der Implikate von yDeus‘ bereits mitgedacht und auch gesagt: in den abschließenden Bemerkungen soll der spezielle Modus zur Diffe­ renzierung gegenüber modernen Ansichten über das Glück noch einmal eigens hervorgehoben werden. Der Weg zum glücklichen Leben und der Akt, es in permanenter Gegen­ wart zu behalten, ist Erkennen (cognoscere), Einsehen (intelligere), Wissen (seire), Betrachten (contemplari), intelligibles {geistiges) Sehen (viderey vis 'to), das eine Erleuchtung erwirkt154. Damit ist das Suchen und „Haben“ des Glücks als eine Form des Denkens oder der höchsten Möglichkeit und Intensität des Geistes beschrieben, die einzig das Ankommen im Ziel oder Ende garantiert. Freilich ist dadurch keine Einschränkung dieses Modus .ml ein neuzeitlich denkbares rationalistisches Operieren mit Begriffen ge1 ' VI 9, 11, 6 ff. 10 ,1 4 f. 16, 7, 25ff. - Für eine genauere Darstellung dieser Fragen siehe W. lU-ic-i waltes, Reflexion und Einung, in: Grundfragen der Mystik (zus. mit H. U. von ll.ililiu.sar und A. M. Haas), Einsiedeln 1974. [Ders., Denken des Einen, 123-154, Kapitel „I Imosis“ .| 1 v‘ (lognoscere, contemplari: z. B.: Mor. Eccl. 119,35. Ag. christ. 33,35. Div. quaest. LXXXIII is.,’ . Sn 1110 29, 30f. PLp. 187, 6, 21. —scire\ Trin. X III 4,7. Retr. 12. - videre, visio z.B.: < iv D eiXX 21,1. XXII 29f. Gen. ad. litt. X II 16,54. De Sermone Domini in monte II 12,34. I 11

in P s a lm . H },K. illu s tr a r i, z . B . : M o r . E c c l . X I 8. Z u m

B e g r i f f u n d P r o b l e m d e r ,i l l u -

m i i i u i i o ' vf»l. V . W a r n a c h , E r l e u c h t u n g u n d E i n s p r e c h u n g , in : A u g u s t i n u s M a g i s t e r , P a r is I

u n d m e in e A r t i k e l , E i n s p r e c h u n g 4, , E r l e u c h t u n g 4 u n d , I r r a d i a t i o ‘ im H i s t .

W n i i r i h m h d e r P h i l o s o p h i e ( h g . v. J . R i t t e r ) , B a s e l 1 9 7 2 / 1 9 7 6 , II 4 1 6 f. 7 1 2 - 7 1 7 . I V 4 1 6 f.

136

Regio Beatitudinis

meint. Andererseits wird der Zugang zum glücklichen Leben nicht in den Bereich diffuser und begrifflich unkontrollierter Emotionen abgeschoben, wenn Augustinus Erkennen, Wissen, Betrachten mit Lieben (amare) iden­ tifiziert und somit das „Haben“ als „Lieben“ interpretiert: „Beata quippe vita si non amatur, non habetur“ 155. Geliebt wird aber das glückliche Le­ ben nur, weil es gewußt oder erkannt ist156. Dieser Gedanke ist die Konse­ quenz aus Augustins Konzeption der triadischen Selbstdurchdringung des Geistes: mens —notitia (Erkennen als begreifender Akt des Geistes) - amor durchdringen sich als je einzelne zu einer unvermischten, aber auch unlös­ baren Einheit157. Amor ist sowohl für den Selbstbezug des Geistes, als auch für dessen Impuls über sich hinaus, für seine Transzendenz-Bewegung, konstitutiv. Die Liebe aber bleibt ein Erkennen: höchste Form der Einheit von Denken und Emotion als yphilosophia cordis\ - Glück als erkennendes oder sehendes Lieben und liebendes Sehen oder Erkennen kommt einem „Genießen“ des höchsten Gutes oder Gottes (frui deo) gleich: „Beatus est quippe qui fruitur summo bono (sive deo)“ 158. Im Gegensatz zum Ge­ brauchen (uti), d.h. zum gebrauchenden Ausnützen einer Sache oder der Absicht, etwas um eines anderen (eines zu erreichenden Zieles willen) in Funktion zu nehmen, meint „Genießen“ einen auf den Gegenstand selbst bezogenen Besitz, oder: „in Liebe einer Sache um ihrer selbst willen an­ hangen“, „gegenwärtig zu haben, was man liebt“ 159. Das Wort „genießen“ oder „Genuß“ hat gegenwärtig einen durchaus hedonistischen Klang, sug­ geriert das bloß passive Konsumieren dessen, was um seiner selbst willen der Anstrengung und Schärfe des Begriffs bedürfte, die nicht der Freud­ losigkeit verfiele. Derartiger Genuß ist eher Mißbrauch160. „Genießen“ im Sinne Augustins beschreibt dagegen —gerade in Bezug auf die vita beata höchste geistige Intensität, die den höchsten Gegenstand des Erkennens, Sehens, Liebens in sich aufnimmt, wie er ist, sicuti est: als das höchste Sein und zugleich als die höchste Selbsterfüllung des Menschen. 155 Civ. Dei X IV 25. Mor. Eccl. I 3,4. 156 Trin. X III 4,7. V III 4,6. X 1,3. Über triadische Selbstvergewisserung als ,analogia trinitatis‘ des Geistes vgl. R. Berlinger, Augustins dialogische Metaphysik, Frankfurt 1962, 171 ff. 157 Trin. 1X 4 ,7 . 158 Lib. arb. II 13,36. 35 (Text Anm. 144). Beata vita 34. Mor. Eccl. I 3,4. 19,35. Ord. I 8, 24. Doct. christ. I 22,20. 159 Doct. christ. I 4,4: frui est enim amore inhaerere alicui rei propter se ipsam. Mor. Eccl. I 3,4. Vgl. Plot. I 6,7,27: anoXaveiv (seil, airroi) t o ü kuXov). 160 Zur perversio von uti und fru i: l)iv. quaest. L X X X 1II 30.

Regio Beatitudinis

137

5. Die Analyse der Modi, in denen der Mensch im Sinne Augustins zum glücklichen Leben gelangt und es vielleicht auch behält, explizieren allesamt den Gedanken: von seinem Grund her ist glückliches Leben eine Form höchster geistiger und emotionaler Intensität - eben des Sehens, Erkennens und Liebens. Emotion aber ist hier immer als eine von Geist durchdrungene gedacht. Daß nicht irgendeine Erkenntnis, die vielleicht als sogenannt „geglückte“ das Wissen erweitert, sondern Erkenntnis als das er­ kennende Sehen des universalen, den Bereich des Seins und des Wißbaren bestimmenden Grundes ein Leben bewirkt, das die Bezeichnung „glück­ lich“ oder „geglückt“ verdiente, diese Konzeption unterscheidet sich we­ sentlich von bestimmten neuzeitlichen und gegenwärtigen Vorstellungen und Formeln vom Glück, die von Wahrheits-Erkenntnis im beschriebenen Sinne grundsätzlich getrennt sind: Glück als bloßes Gefühl, als Bestimmt­ heit des Selbstgenusses, als sentimentales Wohlbefinden, als bornierte Saturiertheit durch Konsum, die sich nicht altruistisch aufbrechen lassen will, Reduktion der Wirklichkeit auf eine gegen Einsprüche abgedichtete ,brave new world‘, in der „they get what they want, and they never want what they can’t get“ 161; das Glück wird als System verordnet. Obgleich Augustins Begriff des Glücks nicht egozentrisch beschränkt ist - die Liebe zu Gott nämlich kann nicht ohne die zum Nächsten sein162, so daß das Streben des Einzelnen nach Glück auch dessen Verbundenheit zum An­ deren hin begründen und steigern muß - ist er gleichwohl nicht mit den utopischen Gesellschaftsentwürfen kompatibel, die das Glück Aller in der Zukunft versprechen. Freilich entzieht er sich nicht der sozialen Verant­ wortung, schon ,in dieser Zeit4 die Menschlichkeit, d. h. das Bewußtsein der Bestimmung des Menschen durch ein der Geschichte transzendentes Ziel, entschieden zu befördern163. Sofern man den augustinischen und mit ihm den griechischen Begriff von glücklichem Leben nicht leichtfertig als „kontemplativ“ verdrängt oder gar ächtet, könnte eine Analyse dieser Gedanken-Dimension vielleicht An­ stoß zu einiger Besinnung geben. Freilich ist dies im Blick auf das Glück wohl nicht möglich in einer Philosophie ohne Normen und Prinzipien, die von ihnen selbst her nicht notwendig Freiheit-bedrängende Praeskriptio161 In der Konsequenz: eine radikale und ruinöse Restriktion von Geist und Emotion (vgl. A. Huxley, Brave New World, 1932). 162 Vgl. z. B. Irin. VIII 8,12. Ev. Joh. 65,2. Dies evident zu machen ist eines der Ziele von Augustins geschichtsphilosophischer mul theologischer Schrift ,De civitate I)ei‘.

i 38

Regio Beatitudinis

nen sein oder ideologisch repressiv wirken müssen. Gegen die allzu gängige Desavouierung des „Begriffs“, d.h. des begrifflichen, rationalen Denkens, als des Schuldners eines als zweckrational durchplanten, aber nichtsdesto­ weniger undurchsichtigen Gesellschaftssystems hätte Philosophie wieder den Gedanken zu favorisieren, daß für die glücklose Verstrickung einer Zeit einzig begreifendes, argumentativ und begründend verantwortetes Denken - wenn überhaupt - ein Rettendes sein kann. Nicht allerdings ein Denken, das zwar begreifend verfährt, aber im formalen oder formali­ stischen Verfahren hängen bleibt, auch nicht der ideologische Octroi, der allzu genau und ohne kritische Toleranz weiß, was wahr ist - ein Begriff vielmehr, der in intensiver Anstrengung und Selbstkritik auf die Sache oder die Wahrheit der Sache gerichtet ist und diese auch in einem dialek­ tischen Prozeß zum Richtmaß für Denken und Praxis nimmt. Wenn aus der Geschichte des Denkens etwas zu lernen sein sollte, dann also allem voran dies: daß angesichts leidvoller geschichtlicher Erfahrungen weder ein bedingungslos wissenschaftsgläubiger Denkhabitus oder ein geradezu naiver Optimismus des Aufklärens, noch eine in diffusen Irrationalismus sich entziehende Re-Mythisierung des Bewußtseins Glück verheißen und bringen kann, sondern eher ein verantwortbares Denken, das sich selbst und der aus ihm sich ergebenden Praxis einen Spielraum läßt, mit Emo­ tion und produktiver Phantasie auf gutem Fuße steht. Die Wahrheit der Sache, von der die Rede war, - man nenne sie Sein, Grund, Idee oder Vernunft —müßte zumindest in —wenn auch nur ferner —Analogie etwas von derjenigen Verbindlichkeit besitzen, wie sie das Prinzip der jheoria oder die yregio beatitudinis'int griechisches oder christliches Denken ein­ mal hatte. Die nicht nur historische Erinnerung an eine tragfähige Sache, die auf der Suche nach Korrektur und Impulsen für die Gegenwart geübt wird, ist schwerlich als „reaktionär“ oder unkritisch abzuschieben, es sei denn, man hegt die Befürchtung, schon eine in sich sinnvolle Konzeption der Vergangenheit müsse für die eigenen Absichten irritierend wirken. Vielleicht würde dann auch evident, daß Glück nicht an irgendwelchen Subjektivismen oder an im Grunde auswechselbaren Stimmungen und Ge­ fühlen hängen kann, auch nicht an einer „Wahrheit“, die sich selbst total in geschichtlichen Relativismus auflöst, sondern eher in der Erkenntnis ei­ nes Gedankens gründet, der sich als verbindlicher und maß-gebender trotz seiner geschichtlichen Transformationen durchhält und erweist.

Regio Beatitudinis

139

[Englische Übersetzung von Bernard Barsky: Regio beatitudinis. Augustine s Concept of Happiness. The Saint Augustine Lecture 1980, ed. Robert P. Rus­ sell, O.S.A., Augustinian Institute, Villanova University Press 1981. Meiner Frau Eva gewidmet. Übersetzung ins Italienische durch Alessandro Trotta, in: W. B., Agostino e il Neoplatonismo Cristiano, Prefazione e Introduzione di Giovanni Reale, Traduzione di Giuseppe Girgenti e Alessandro Trotta, Milano 1995, 47-90. Augustinus, De beata vita - La vie heureuse, Introduction, texte critique, tra­ duction, notes et tables par Jean Doignon. Oeuvres de Saint Augustin 4/1, Paris 1986. Vgl. die Artikel „beata vita“ von Jean Doignon und „beatitudo“ von Henrique de Noronha Galväo in: Augustinus-Lexikon, herausgegeben von Cornelius Mayer, Bd. I, Basel 1986—94, 618—624; 624—638. Robert Spaemann, Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989. Henry Deku, Vita beata, in: Ders., Wahrheit und Unwahrheit der Tradition. Metaphysische Reflexionen. Herausgegeben von Werner Beierwaltes, St. Ot­ tilien, 1986, 269-280. Christoph Horn, Augustinus, München 1995 (Becksche Reihe; 531: Denker) 43 ff. La Felicita e il Tempo. Plotino, Enneadi I 4 - I 5. Introduzione, traduzione e commento di Alessandro Linguiti, Milano 2000.]

I l l

D A S V E R H Ä L T N IS V O N P H I L O S O P H I E U N D T H E O L O G I E B E I N IC O L A U S C U S A N U S

I Die Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theo­ logie ist für die Einsicht in Struktur und Grundabsicht cusanischen Den­ kens zentral. Sie betrifft und bestimmt alle seine Reflexionen bis hin zu den mathematischen und ekklesiologischen, insbesondere aber seine Versuche, sich einem möglichst präzisen Begriff Gottes im Kontext der Offenbarung zu nähern, das Unbegreifliche an ihm begreifend zu umschreiben. Diese Intention des Cusanus und seine daraus erwachsende kerygmatische Tätig­ keit (in den Predigten zum Beispiel) stellt allerdings keinen Sonderfall dar; Cusanus arbeitet vielmehr an der Erkenntnis und Entfaltung des - mutatis mutandis - selben Problems, auf das christliche Theologen seit Eintritt des Christentums in die Geschichte sich offen oder verdeckt immer wieder in unterschiedlicher Intensität - eingelassen haben. Eine gewisse Analogie hat der Austrag dieses Verhältnisses durch ex­ treme Emphase des einen Poles gegenüber dem jeweils anderen oder zwi­ schen ausschließender Konkurrenz und produktiver Kooperation zu dem mit Hesiod beginnenden und in Platons Verdrängung der Dichtung kul­ minierenden „alten Streit zwischen Philosophie und Dichtung“. Freilich fehlt der geschichtlichen Dialektik im Zusammen- und GegeneinanderWirken von Philosophie und Theologie ein Aristoteles, der aus einem sich von Platon distanzierenden Philosophie-Begriff heraus Dichtung qua Mi­ ni esis rehabilitieren, „ihre spezifische Erkenntnisfunktion in ihrer spezifi­ schen Möglichkeit zur Wahrheit“ sehen und dadurch eben diesen ,alten Streit zwischen Philosophie und Dichtung* „theoretisch definitiv“ hätte schlichten können.1 1 Vgl. R. Kannicht, „/)er alte Streit zwischen Philosophie und Dichtung“. Grundzüge der griechischen l.iteraturaußassung, Hers., Paradeigmata. Aufsätze zur griechischen Poesie. lg. von und A. Schmidt: Supplemente zu den Sitzungsberichten der Hei-

I

L Kiippcl

I·*.

in:

144

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

,V ersöhnung mitten im Streit' allerdings hat sich zwischen Philosophie und Theologie zu verschiedenen Zeiten und mit sachlich unterschied­ lichem Ende paradigmatisch vollzogen - etwa in Origenes, Gregor von Nyssa, Dionysius Areopagita im Bereich des Griechischen, in Augustinus, Marius Victorinus, Boethius, Eriugena, Thomas von Aquin, Meister Eck­ hart und eben Cusanus in der westlichen Theologie. Inhaltlich gesagt heißt dies: Trotz einer von ihrem spezifischen Gegen­ stand her bestimmten Differenzierung von Philosophie und Theologie und der daraus vielfach resultierenden Kritik aneinander haben sie zu einem vorwiegend „dialektischen “ Verhältnis2 zueinander gefunden: sie verstehen sich in ihm selbst nicht als sich ausschließende Gegensätze, die sich in der Scheidung von Glauben und Wissen, Begreifen und Glauben, Glauben und Einsicht, Autorität und Vernunft, Offenbarung und freie Reflexion verfestigten und gegeneinander abschotteten, sondern als zusammenwir­ kende, gegenseitig sich fördernde und klärende Kräfte des Denkens im gemeinsamen Blick auf Wesen und Wirken des christlichen Gedankens. Wenn sich das Christentum nicht mit einem vorsätzlichen, de facto blin­ den und zugleich ideologieverdächtigen Fideismus identifizieren, son­ dern einem umfassenden Bedürfnis folgen wollte, seinen Glauben reflexiv zu erfassen oder zu durchdringen, dann mußte es - verschieden zu jeder Zeit —mit Philosophie sich ernsthaft verbinden und konnte aus dieser Verbundenheit als eine neue Form des Denkens durchaus frei leben. Nur so konnte das Christentum zu einer wahrhaften Theo-Logie finden, die es sich angelegen sein läßt, die Frage nach dem Logos, nach Begriff, We­ sen und Wirkung des Gottes und nach den damit zusammenhängenden Gedanken systematisch zu entwickeln. Rezeption von Philosophie, philo­ sophischer BegrifHichkeit, Denkform und Sprache durch Theologie oder deren Transformation in den theologischen Gedanken, konnte sich nicht, wie manche immer noch meinen, auf eine äußerliche, sogenannt formale Adaption beschränken: Philosophie ist nicht das schmückende oder bedekkende Kleid der Theologie, das sie zu jeder Zeit wieder ablegen kann, um angeblich sie selbst zu sein; sie ist auch nicht ein ihr wesentlich Fremdes, das sie im Sinne einer verformenden „Hellenisierung des Christentums“ in ihrem Eigen-Sein bedrohte oder gar zerstörte; Philosophie sollte Glaudelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. Bd. io, Jg. 1996 (Heidelberg 1996) 183-223; Zitat S. 222f. 2 W. Beierwaltes, Platonismus im Christentum (Frankfurt 2oor) 9 ff.

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

145

ben nicht in den Begriff aufheben - was sie in Formen idealer Symbiose auch nie getan hat - , um nur noch sie selbst zu sein, sie sollte aber auch nicht zur bloßen ,ancilla theologiae* sich degradieren lassen, die der Dame eher die Schleppe nach- als die Kerze voraus-trägt, oder - ohne die Kantische Metaphorik gesagt: die lediglich als begriffliches Reservoir und In­ strumentarium benutzt werden soll. Dialektisches Verhältnis der beiden, wie es sich etwa im Denken des Marius Victorinus, des Johannes Scottus Eriugena, des Meister Eckhart und des Cusanus kritisch und produktiv zugleich ereignet, heißt vielmehr dies: Theologie oder bewußtes Glauben findet im philosophischen Gedanken die Möglichkeit zur Selbstreflexion, zu transsubjektiver Überzeugungskraft, zur Bewußtwerdung gedanklicher Implikationen und Perspektiven des Geglaubten, die ohne philosophische Vergewisserung verborgen blieben; es heißt aber auch: Philosophisches Denken erfährt vom ihm vorgängigen Glauben her Impulse, neue Formen des argumentativen Begreifens zu entwickeln, die zu einer Selbstklärung des Glaubens führen können, ohne ihn durch den Begriff zu überflügeln oder ihn in den reinen Begriff aufzulösen. Der Versuch einer Klärung dieses Verhältnisses bei Cusanus muß sich der hermeneutischen Schwierigkeit bewußt sein, die sich aus einem neuzeitli­ chen Vorbegriff der beiden Weisen des Wissens ergeben könnte: eine den mittelalterlichen Kontext der Fragestellung verdeckende Überformung. Im Gegensatz zu einer Reflexion auf diese Frage etwa bei Albertus M a­ gnus oder Thomas von Aquin ist es für Cusanus nicht in gleicher Weise hilfreich, sich des jeweiligen Gegenstandsbereiches von Philosophie und Theologie und des methodischen Zugangs in ihn durch eine Analyse der Termini ,philosophia4, ,philosophi*, ,speculatio philosophica* und th eo­ logia* zu vergewissern: Cusanus hat vergleichsweise wenig auf den unter­ schiedlichen Gebrauch dieser Begriffe und deren gegenseitiger Verbindung in direkter Form reflektiert.3 Beide Denkformen oder Formen des Wissens 3 Für eine genauere terminologische und sachliche Erfassung der beiden Bereiche bei ( 'usanus wären die geschichtlichen Voraussetzungen dieser Frage und Cusanus’ Bezug zu bestimmten Perspektiven eben dieser Tradition zu erörtern, was in diesem Zusammen­ hang nicht möglich ist. So verweise ich wenigstens auf folgende Literatur zur Thematik (( ¡eschichte des Verhältnisses von Philosophie und Theologie vor Cusanus): G. Schrimpf, Hausteine fiir einen historischen Begriff der scholastischen Philosophie, in: Philosophie im Mittelaltcr. Entwicklungslinien und Paradigmen, hg. v. J. P. Beckmann, L. Honnefeider, ( Ï. Schrimpf, G. Wieland, (Hamburg 1987) 1-25. Weiterhin: Die Akten des X. Internatio­ nalen Kongresses für mittelalterliche Philosophie der Société Internationale pour l’Etude de la Philosophie Medit-vale in Erfurt (1997), die den Perspektivenreichtum, die Divergen-

146

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

können jedoch durch andere zentrale Begriffe aufschlußreich erfaßt und bestimmt werden, die unmittelbar zu Philosophie und Theologie gehören, so v. a. durch eine Reflexion auf das Verhältnis von Vernunft (ratio, intellec­ tus), Einsicht (intelligere, videre), Begreifen (comprehendere), Wissen (scire) Glauben (credere, fides) als einem Sich-Öffnen gegenüber einer als Offenba­ rung vermittelten Wahrheit. Deren Verbindung zeigt sich nicht zuletzt in dem, was Cusanus in seiner Explikation wesentlicher „theologischer“ Ge­ danken - etwa der Gottes-Prädikate im traditionellen Sinne und in seinem eigenen Entwurf, der Trinität und der Inkarnation - begrifflich „tut“, ohne dieses sein Verfahren eigens als „philosophisch“ zu kennzeichnen. Damit hängt unmittelbar zusammen sein offener oder sein Denken leitender Um­ gang mit der philosophischen Tradition, mit der er sich vielfach sachlich verbindet, die er umformt und innovativ weiterdenkt. Um die Frage nach einer offenen Unterscheidung oder verdeckten Ver­ bindung von Philosophie und Theologie noch einmal aufzunehmen: Wer primär oder ausschließlich auf diejenigen Aussagen des Cusanus achtet, die eine terminologische und den Termini folgend auch eine sachliche Ab­ grenzung der Theologie oder „Lehre Christi“ zur Philosophie, von Glauben zum Denken des Verstandes (ratio) und der Vernunft (intellectus) hin in­ tendieren, der wird sich bisweilen mit einer geradezu Pascalschen Schärfe gegen rein philosophische Theorie konfrontiert sehen, der als solcher, in ihr selbst genommen, eine für das Ziel des Christen zureichende Kraft abge­ sprochen wird. Dies zeigt sich extrem als negativer Kontrapunkt zum cusanischen Grundverhältnis in dem folgenden Satz aus dem Sermo CLXXXVII (181): „Wie es keinen Vergleich zwischen dem Sohn Gottes und den Söhnen der Menschen gibt, so gibt es auch keinen Vergleich zwischen der Lehre Christi und der Lehre der Philosophen. Jener [der an Jesus den Sohn Got­ tes glaubt und glaubt, daß die heiligen Evangelien wahr sind] sieht ein, zen und Gemeinsamkeiten der Bestimmung von Philosophie in ihrem Bezug zu Theologie verdeutlichen: Miscellanea Mediaevalia (MM) 2 6, hg. v. J. A. Aertsen und A. Speer (Berlin 1:998). J. A. Aertsen, Mittelalterliche Philosophie: ein unmögliches Projekt? Z ur Wende des Philosophieverständnisses im iß. Jahrhundert, in: M M 27 (Geistesleben im 13. Jahrhundert), hg. v. A. Speer (Berlin 2000) 12-28. Für Robert Grosseteste als einem Paradigma der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts vgl. J. McEvoy, Robert Grosseteste\ Great Medieval Thinkers (Oxford 2000) 7 6 ff.; 124 ff. Zu einer relativ scharfen Unterscheidung der beiden Weisen, Gott zu „erfassen“ - in einer theologischen Theologie4 und ,philosophischen Iheologie1 bei Dietrich von Freiberg vgl. K.-H . Kandier, Erkenntnis und Glaube. Zur theologischen Relevanz des Begriffs „intellectus agens“ bei Dietrich von Freiberg, in: Kerygma und Dogma 46 (2000) 196-204. - Zu Cusanus selbst vgl. Anm. 24 und 25.

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

147

daß die ganze heilige Schrift dem Evangelium dient und alle Lehre der Philosophen leer und eitel ist und ohne lebendig und glücklich machen­ den Geist“ .4 Reflektiert man aber darauf, was Cusanus - mit oder ohne „ausgesprochenen“ Bezug zu einer Philosophie, z. B. der platonischen oder neuplatonischen - philosophisch (wie ich dies zuvor nannte:) „tut“ - etwa in der Entfaltung der Gottes-Namen, so wird man einsehen können, daß das cusanische Denken, welches die Wesensmomente christlichen Glau­ bens dem Verstehen aufschließen möchte, von Grund auf durch Strukturen und Implikationen philosophischer Natur bestimmt und geleitet ist. Diese These ist durchaus mit dem Gedanken kompatibel, daß philosophische Reflexion für Cusanus nicht Selbstzweck sein kann, sondern daß sie not­ wendiger Grund und erhellendes Medium eines denkenden Glaubens sein muß. —Es kann auch nicht bezweifelt werden, daß „mystische Theologie“ als Ziel und Vollendung jeder denkenden und emotionalen Bemühung um ein „Begreifen“ Gottes jedes Begreifen, also auch philosophische ,ra¿70'und yintellectus'übersteigt.5 In diesem Prozess, der zur ,u n w \n einem „nicht [mehr] sehenden Sehen Gottes“ hinführt, überflügelt die jede Verstandes- und Vernunft-Philosophie.6

4 Cod. Vat. 1245, fol. 90vb: „Nam sicut nulla est comparatio Filii Dei ad filios hominum, ita nulla comparatio doctrinae Christi et philosophorum. Ille [qui credit Jesum Filium Dei et sacra credit evangelia esse vera] intuetur omnem scripturam sacram servire evangelio et omnem philosophorum doctrinam esse vacuam et vanam et sine spiritu vivificante et feli­ ci tante“ . [h X V III, sermo C L X X X V II, N. 16, 2-9. — Texte des Cusanus zitiere ich nach der Ausgabe der Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Nicolai de Cusa Opera Omnia, iussu et auctoritate Academiae Litterarum Heidelbergensis ad codicum fidem edita, Lipsiae 19*2 sqq. - Hamburgi 1950sqq. Abk.: h.] s Vgl. hierzu W. Beierwaltes, Visio facialis. Sehen ins Angesicht. Z ur Coincidanz des end­ lichen und unendlichen Blicks bei Cusanus: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Jg. 1988, Heft 1 (München 1988). [Unten S. 181 ff.] Ders., Mystische Elemente im Denken des Cusanus, in: Deutsche Mystik im abendländischen Z u ­ sammenhang. Kolloquium Kloster Fischingen 1998, hg. v. W. Haug u. W. Schneider-Lastin (Tübingen 2000) 425-448. 6 Vgl. De dato 5: h IV, N. 119, Z. 2ff.: „ ... lumen fidei, per quod illuminatur intellectus, ui super rationem ascendat ad apprehensionem veritatis . . . “ . Er soll übergehen in eine ,visio lai ialis\ die auch supra intellectum sich vollzieht. Vgl. auch D e p o s s h XI/2, N. 15, Z. iff. /um Vorrang der ,Hdes‘ vor ,ratio‘ und ,intellectus4 vgl. H. G. Senger, Die Philosophie des Nikolaus t'on Kues vor dem jahr 1440 (Münster 1971) 158f.

148

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

II Die zuvor als „dialektisch“ bezeichnete Beziehung von Philosophie und Theologie meint kein immer gleiches Gleichgewicht, sie vollzieht sich als eine bisweilen spannungsreiche, aber doch grundsätzlich in sich einige Denkbewegung: als eine Einsicht suchende Selbstvergewisserung des Glau­ bens, in der dieser sich seiner reflexiven Voraussetzungen und Entfaltungs­ momente bewußt wird. Notwendigkeit und Ziel solcher Selbstvergewisse­ rung des Glaubens ist mindestens seit Augustinus am Leitfaden des Satzes aus Isaias 7,9 vielfach in analogem Sinne begründet und entwickelt worden - auch durch Cusanus:7 „Nisi credideritis, non intelligetis. “„ Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht einsehen “. Augustinus versteht diesen Satz - gemäß dem Modell eines sich erwei­ ternden und sich selbst erfüllenden „Kreises“ - so, daß Ziel des Glaubens Einsicht, Voraussetzung des Gelingens von Einsicht aber der Glaube sei Einsicht freilich nicht in einem abstrakten Sinne begreifenden Wissens, sondern bleibender Glaube, der (sich selbst) einsieht und sich dadurch als Glaube vollendet. Ein Medium zur Selbstvergewisserung des Glaubens kann ein für seine Inhalte offenes philosophisches Denken sein. „Intellegere vis? Crede ... Intellectus enim merces estfidei. Ergo noli quaerere intellegere ut credas, sed crede ut intellegas; quoniam nisi credideritis, non intellegetis “. „Du willst einsehen? Dann glaube! Einsicht nämlich ist der Lohn des Glaubens. Suche also nicht einzusehen, um zu glauben, sondern glaube, um einzuse­ hen; denn wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht einsehen“.8 —Anselm von Canterbury hat diesen Grundgedanken Augustins —auch dem Leitmotiv aus Isaias 7,9 folgend - in die Formel ,fides quaerens intellectum ‘ gefaßt: „Einsicht suchender Glaube“. Auch Anselm intendiert mit der ,Einsicht in Glauben' als Akt und Inhalt (,intellectus fidei) nicht eine Auflösung des Glaubens, etwa im Sinne von dessen Verbegrifflichung; Ausgangspunkt und Situation nach dem Erreichen der Einsicht ist vielmehr die Überzeu­ gung, daß das Sein Gottes, so wie es in sich ist, die Möglichkeit des begrei­

Z.

Z.

7 Vgl. Sermo IV: h X VI, N. 26, i f f ; Sermo XXII: Ebd. N . 7, 4 ff.; Sermo XXXI: h XVII, N . i, i4 ff; Sermo XLI: Ebd. N. 13, 19 ff.: „ ... nec veritas attingi potest nisi per fidem“ . De docta ign. III, 11: h I, S. 151, Z. 26 f.: „ ... fidem initium esse intellectus“ (zu diesem Kapitel vgl. unten S. 155ff). Glaube als Voraussetzung der Einsicht in ihn: de fil.: h IV, N. 53, 10-15. De Genesi V: h IV, N. 175, 9 - N. 176, 3. 8 Augustinus, tract. in Joh. X XIX 6. Ebd. X L 9: credimus enim ut cognoscamus, non cognoscimus ut credamus. De trin. VIII 5,8.

Z.

Z.

Z.

Z.

Z.

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

149

fenden Denkens übersteigt. Gott ist nicht nur im Sinne des ,ontologischen Arguments4„aliquidquo nihil maius cogitaripotest“ 9 ein Grundsatz, dessen Einsicht der Glaubende sucht, sondern in dessen Folge Etwas, von dem gar nicht gedacht werden kann, daß es nicht ist10 und zugleich „quiddam maius quam cogitari possit“ —„größer als daß es gedacht werden könnte“.11 Die Unbegreifbarkeit Gottes fordert den Begriff heraus und begrenzt ihn zu­ gleich. —Meister Eckhart intendiert ganz entschieden eine philosophische Durchdringung, ein argumentativ begründetes Verstehen der Wahrheit der Schrift, um geradezu deren Identität mit der philosophischen Wahrheit zu beweisen: „intentio est auctoris, sicut et in omnibus suis editionibus, ea

quae sacra asseritfides christiana et utriusque testamenti scriptura, exponere per rationes naturales philosophorum“} 2 Dies schließt die Überzeugung ein, daß sogar die Inkarnation durch philosophische Gründe einsehbar sein müsse.13 Das geschichtliche Faktum gibt den Anstoß, den autoritati­ ven Text der Schrift ymoraliter sive mystice* umzudenken: Meister Eckhart negiert nicht das geschichtliche Ereignis der Menschwerdung Gottes, er legt es auch nicht nur aus gemäß historisch gewachsenen und bedingten Kriterien der Bibel-Exegese, vielmehr überführt er das allen Überlegungen vorgängige Geschehen durch seine philosophische Einsicht ins Innere des Menschen und macht es - die Geburt Gottes im Menschen - zum Zen­ trum von dessen Leben. Im eigentlichen Sinne gewußt oder erkannt wird ( iottes Akt der Menschwerdung erst durch das geburtliche Selbst-Ereignis ( iottes im Menschen selbst: „Die liute waenent, daz got aleine dort men­ st he si worden. Des enist niht, wan got ist hie als wol mensche worden als dort, und dar umbe ist er mensche worden, daz er dich geber sinen eingebornen sun und niht minner“.14 Eine solche „entgeschichtlichende“ Deutung des Geschichtlichen und die alle Gedanken leitende Absicht, die Wahrheit des Christlichen argu­ mentativ zu begründen und deren Überzeugungskraft rational zu verge­ wissern und zu sichern, verbindet Meister Eckhart einerseits mit Eriugena, der Geburt, Tod und Auferstehung - salva veritate historiae - als „ein

’’ Proslogion 2; 101,14 (Schmitt). 10 I'.Ik I. 3; 103,1 f.: nec cogitari possit non esse. 11 15; 112,14 f. 1' In loh. 2: Lateinische Werke 111 4,4 ff. Prologus gen. LW I 165,11 f: naturali ratione. 1 ' W. heierwahes, Plutonismus im Christentum (wie Anm. 2) I04ff. M Pi eil. \iy. Deutsche Werke II 98,5 8.

150

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

existenziales Geschehen in uns selbst versteht“ 15; zum anderen ist ihm in seiner Grundintention Cusanus durchaus congenial, selbst wenn man die „Existentialisierung“ von Glaubensinhalten nicht als einen beherrschen­ den Grundzug seines Denkens betrachten kann. Für letzteres gebe ich aber wenigstens en passant einen Hinweis auf ein Beispiel. In seiner Brixener Predigt zu Epiphanie 1457 thematisiert er u. a. den Satz aus dem MatthaeusEvangelium (2,9): „Und siehe, der Stern, den sie [die Weisen] im Aufgang gesehen hatten, ging ihnen voran, bis er hinkam und (still)stand darüber, wo das Kind war“. Diesen astronomisch als Zeichen der Ankunft Christi (signa adventus sui)16 verifizierbaren Stern wendet Cusanus ins Innere und begreift ihn (nicht im Sinne einer bloßen Metapher, sondern als Ausdruck einer realen intellektuellen Kraft des Menschen) als das innere Licht der menschlichen , ratio ‘ (ratio lux est, lux mentem illuminans), das den Men­ schen in ihm selbst zu Jesus als der ,sapientia incarnata ‘ hinführt. So be­ wegt uns der erleuchtende Stern in unsy als eine uns selbst eigene Kraft, indem er in uns „vorangeht“ und zur Ansicht und Einsicht des göttlichen Grundes selbst führt, dessen Zeichen er ist —dies verstehbar analog dem philosophischen Konzept, daß das ,Eine in unsc als der uns selbst lichtende Vorbegriff des Einen selbst uns in uns mit dem Grunde über uns verbin­ det.17 „Jeder Mensch“ - so Cusanus - „hat in sich einen Stern, der ihn vom Orient [Aufgang] zu Jesus oder dem Wort Gottes führt. Denn aus dem uns eingegebenen Licht der Vernunft suchen wir nichts als die Sonne oder die Quelle des Lichtes oder Jesus. Der Stern geht uns voran. Denn die Vernunft führt zur Quelle des Lebens. So suchen die Philosophen in ihrem eigenen Licht das Licht in der Quelle“ .18

15 W. Beierwaltes, Eriugena, Grundzüge seines Denkens (Frankfurt 1994) 25. [Jetzt in h X IX , S. 410-418.] 16 Sermo C C L X II, Cod. Vat. Lat. 1245, f°l- 207vb-2 0 9 vb. [Jetzt in h X IX , S. 410-418.] 17 Procius, in Parm. VII 48,14-16 (Klibansky — Labowsky). 58,19f. W. Beierwaltes, Proklos. Grundzüge seiner Metaphysik. (Frankfurt 19792) 367-382: „Das Eine selbst und das Eine in uns“ . Zur Rezeption dieses Gedankens bei Johannes Tauler ebd. 379. L. Sturlese, Tauler im Kontext. D ie philosophischen Voraussetzungen des ,Seelengrundes‘ in der Lehre des deutschen Neuplatonikers Berthold von Moosburg, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 109 (1987) 390-426; zu Proklos bes. 405ff. 4 0 9 ff. (Das „Eine in uns“). 18 Fol. 2o8vb: In se omnis homo stellam habet, quae ab oriente ipsum ducit usque ad Jesum seu Verbum Dei. Nam ex indita luce rationis quaerimus nisi solem seu fontem lucis sive Jesum. Stella antecedit nos. Nam ratio ducit ad fontem vitae. Sic philosophi in lumine suo lumen in fonte quaerunt. [= Sermo C C L X II: h XIX, N. 19, 8fL|

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

Ich halte es im Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theologie nicht für sinnvoll, einen bisher latent und offen geführten Streit unproduktiv zu verlängern, der aus dem komplexen Gedankenwerk des Cusanus extrem einseitig entweder den Theologen herausstilisiert, der philosophisches Denken lediglich als schwache, Selbst-lose „Magd“ in sei­ nen Dienst nimmt, oder aber in Cusanus den Philosophen bewußt iso­ liert, dessen Intention dann auch ohne seine ihn bisweilen sogar störende theologische Vorgabe verstehbar wäre, - einen Streit, der je nach den per­ sönlichen, lebensgeschichtlich bedingten Interessen der Streitenden Alter­ nativen oder zumindest Differenzen aufreißt, die einer umsichtigen aber deshalb nicht notwendig langweiligen Betrachtung kaum standhalten. Wer sich eher von einem modernen Konzept einer Scheidung der Philosophie von Theologie leiten läßt und dem aus der Heiligen Schrift formulierba­ ren Gedanken keine Offenheit zu philosophischem Denken zutraut oder eine daraus sich möglicherweise ergebende christliche Philosophie um­ standslos als ein „hölzernes Eisen“ und damit als irrational diskredidiert, muß Cusanus gegenüber notwendig selektiv verfahren und damit seine Grundintention empfindlich einschränken oder gar verdecken —wie etwa KarlJaspers, der Cusanus „groß“ sein läßt „nur durch seine Metaphysik“.19 Ich bin nicht davon überzeugt, daß ein solches Verfahren der isolierenden Selektion hilfreich sein kann „für die eigene gegenwärtige philosophische Verwirklichung“ (was ist in dieser von Cusanus her präzise bestimmend geworden?), oder verläßlich für eine Aktualisierung des cusanischen Den­ kens in der Gegenwart, weil sie grob unangemessen von einem >Cusanus plusquam dimidiatus'ausginge. Eine subjektivistisch verständliche Epoche gegenüber dem Christlichen in Cusanus kann nicht durch die großmütig erscheinende Geste des Philosophen ausgeglichen werden: „Wir (sc. Karl Jaspers oder/und präsumptiv „wir Heutigen“) gehen mit ihm (sc. mit Cusa­ nus, für den Philosophieren und das „christliche Glaubensdenken“ in eins zusammenfallen) in seinen Spekulationen, verweilen in den sich abwan­ delnden meditativen Bewegungen, ohne uns vom Christentum berühren zu lassen“ (ähnlich schizophren, wie wenn wir Bachs Matthäuspassion hör­ ten und uns zugleich fü r ihren Text die Ohren verstopften, ohne den Bachs Musik nicht die wäre, die sie ist!). Die Einheit des cusanischen Denkens verträgt auch keine Formalisierung und Marginalisierung des Christlichen, als sei es akzidentelle Zutat zum eigentlichen Gedanken - zu einer Wahrheit |4> K. Jaspers, Nikolaus ('usanus (München 1964) 262.

152

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

„für uns“, „die die christliche Hülle abwerfen kann“.20 Um nicht eine Identifizierungs- oder Vereinnahmungstendenz von der einen oder der anderen Seite zu suggerieren, halte ich auch Ausdrücke wie „Trinitätsphilosophie“ oder „Inkarnations^A/7ö ^ A /> “21 nicht unbedingt für zweckmäßig, sofern sie die grundsätzliche Priorität der einen oder der anderen Zugangsweise zu dem jeweiligen Gedankenkomplex anzeigen sollen. Den theoretischen Sta­ tus könnte m. E. angemessener der Begriff „Spekulation “ charakterisieren gebraucht allerdings weder im Hegelschen oder im Theologisches verdrän­ genden Jaspersschen Sinne, noch in dem der gegenwärtigen Alltagssprache —als eine ungewisse Vermutung oder gegebenenfalls zu modifizierende Erwartung - , sondern in genuin cusanischer Bedeutung: yspeculatio ‘22 als ein begreifendes Sehen des an sich Unbegreifbaren, eine Spiegelung des absoluten, „reinen Spiegels der Wahrheit“ in dem lebendigen, „vernunft­ haft einsehenden Spiegel“ des Denkens. Dieser Terminus zeigt zugleich das conjecturale Element in der endlichen Vernunft an, die den Spiegel des Unendlichen selbst nur in seiner Andersheit eines Bildes gegenüber dem Ur-Bild erfassen kann. Erkenntnis im „Spiegel und Gleichnis oder Rät­ selbild“ (in speculo et aenigmate23) grenzt den unterstellbaren oder wirkli­ chen Anspruch philosophisch-argumentativer Gedankenentwicklung auf Vollendung und Endgültigkeit ein zu einer „Kunst der Vermutung“ als der höchsten Möglichkeit endlichen Denkens. Die Bedeutung von „Speku­ lation“, die philosophische und theologische Momente eines Gedankens in gleicher Weise in sich schließt, trifft sich am ehesten mit dem, was ich (auch) im Blick auf Cusanus zu einem dialektischen Verhältnis von Phi­ losophie zu Theologie bei ihm angedeutet habe und noch in konkreten cusanischen Ausformungen erörtern möchte. Meine zwischen Extremen vermittelnde Position finde ich in entspre­ chenden Aussagen Rudolf Haubsts in bestimmtem Maße wieder, die die Resultate seiner Überlegungen zu „Theologie in der Philosophie - Philo­ 20 Ebd. 60 f. 21 K. Flasch, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung. Vorlesungen zur Einfüh­ rungin seine Philosophie (Frankfurt 19 9 8 ) z. B. 131,142, 312, 315, 357. - 101, 121, 140 f., 360. Der intensiven Verbindung von philosophischen und theologischen Denkstrukturen un­ angemessen ist allerdings die Fierabsetzung des philosophischen Elements in Cusanus, wie sie W. J. Hoye in Opposition zu K. Flasch verfolgt: „D ie Relativierung der Philosophie im Denken des Nikolaus von Kues“ in: M M 26 („Was ist Philosophie im Mittelalter?“) (Berlin 199 8) 7 3 1 - 7 3 7 ·

22 W. Beierwaltes, Platonismus im Christentum (wie Anm. 2) 152!. 23 i Cor. 13,12 - im Gegensatz zur .visio facialis4.

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

153

sophie in der Theologie des Nikolaus von Kues“ mit Begründungen für die wesentlichen Perspektiven cusanischen Denkens markieren.24 Er macht Cusanus’ grundsätzliches Vertrauen in die Kraft der Vernunft evident —die Voraussetzung gegen jede Form eines „Fideismus“; er zeigt das „Zusammen­ spiel und Ineinandergreifen, das Miteinander und Ineinander der beiden Denkbewegungen“ (238. 252), darin die von Cusanus als notwendig begrif­ fene Verbindung der „natürlichen Theologik“ mit dem Glauben (252), sein „Bemühen um eine spekulative Einheit [des Denkens] aus Offenbarungs­ theologie und einer sich philosophisch aufbauenden Metaphysik“ (237) — im Bewußtsein der Differenz beider, die freilich auf gegenseitige Vermitt­ lung hin angelegt ist. - Mit Jasper Hopkins' klaren Überlegungen zu einem von Cusanus und noch mehr von seinen Interpreten her komplexen bzw. verwirrenden Problemfeld verbindet mich sein Gebrauch der cusanischen Metapher: das linke Auge des Verstandes oder der Vernunft muß mit dem rechten Auge des Glaubens koordiniert werden, um durch die zusammen­ wirkende Einung der beiden ein denkendes Glauben zur ,visio dei durch­ dringen zu lassen. In seiner Trierer Cusanus Lecture „Glaube und Vernunft im Denken des Nikolaus von Kues“25 argumentiert er gegen ein Reihe von Vorstellungen, die eine mögliche Vereinbarkeit oder einen inneren Bezug von Glaube und Vernunft bei Cusanus aufgrund von Inkonsisten­ zen, Widersprüchen oder Nicht-zu-Ende-Gedachtem mehr oder weniger bestreiten. A uf der Basis eines in sich differenzierten Begriffs von Glauben und ,ratio sive intellectus Vermittelt Hopkins dagegen in zehn wohlbegrün­ deten Thesen ein überzeugendes Bild eines gegenseitig sich erhellenden Ineinanderwirkens von Philosophie und Theologie. Hopkins glättet oder 24

Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft (M FC G ) 11 (1975) Wieder abgedruckt in: Ders., Streifzüge in die Cusanische Theologie (Münster 1991) 1-75 (auch S. 4 fT.), mit Hinweisen au f weitere Literatur zu diesem Problembereich. H. G. Seliger, Nikolaus von Kues, in: Gestalten der Kirchengeschichte, hg. v. M. Greschat, IV, M it­ telalter II (Suttgart 1983) 298: „Seine Theologie ist eine philosophisch reflektierende Theolo­ gie wie andererseits seine Philosophie - in der letzten Formulierung zumindest - Theologie ist“ . Vgl. auch W. A. Euler, Die Versöhnung der Gegensätze, in: Explicatio mundi. Aspekte theologischer Hermeneutik, Festschrift für W. J. Hoye, R. Mokrosch, Kl. Reinhardt, hg. v. 11. Schwaetzer und H. Stahl-Schwaetzer (Regensburg 2000) m - 13 0 ; bes. I2if. Kl. Reinhardt, ( Haube und Wissen bei Nikolaus von Kues, in: Christlicher Glaube und säkulares Denken. I S /.. 50. Jahrestag d. Wiedererrichtung d. Theol. Fak. Trier: Trierer Theologische Studien ( l i ier 2 0 0 0 ) 1 6 5 - 1 7 9 . M . I h u r n e r , Gott als das offenbare Geheimnis nach Nikolaus von Kues, in : A k t u e l l e M i t g l i e d e r i n f o r m a t i o n d e r d e u t s c h e n C u s a n u s - G e s e l l s c h a f t , N r . 3 ( 2 0 0 0 ) / 11, l J. R o t h , Suchende Vernunft. Der Glaubensbegriff des Nicolaus Cusanus ( M ü n s t e r 2 0 0 0 ) . „ P r o l c g o m e u a zu e i n e m U m r it t s e in e r A u f l a s s u n g “ (T r i e r 19 9 6 ) .

154

^ a s Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

harmonisiert dieses Verhältnis nicht, sondern läßt ihm seine Extreme in der Einheit; so trifft die vierte These die bei Cusanus bisweilen vollzogene Mitte zwischen beiden: „Der Glaube leitet die Vernunft, die Vernunft ist die Entfaltung des Glaubens“; die siebente thematisiert den mit Vernunft scheinbar unvermittelbaren „Glauben alles Glaubens“ \fides omnis fidei], „daß unser Herr Jesus der Sohn Gottes ist und gekreuzigt wurde“ - In­ karnation, Kreuz und Auferstehung als Zentrum christlichen Glaubens.26 Jeder Versuch, die von mir so genannte dialektische Verbundenheit von Philosophie und Theologie im Denken des Cusanus zu verstehen, kann einer Aussage des Cusanus selbst folgen, die einem programmati­ schen Leitsatz gleichkommt: „ Unum est, quod omnes theologizantes aut philosophantes in varietate modorum exprimere conantur“ —„Eines ist es, was alle Theologisierenden und Philosophierenden in der Verschiedenheit ihrer (Denk-)Weisen auszudrücken versuchen“.27 Dieses Eine und Selbe ist allerdings nicht so zu verstehen, als ob Cusanus in allen seinen Texten und Denk-Phasen zwischen beiden Denkformen ein striktes Gleichge­ wicht hätte durchhalten können. Es ist vielmehr so, daß in bestimmten Dimensionen seines Denkens die philosophische Reflexion vorherrscht, bisweilen derart, daß der theologische Ausgangs- und Bezugspunkt nahezu in ein „Vergessen“ zurückzutreten scheint, in anderen Bereichen und bei anderen von außen gesetzten Anlässen hingegen der theologische Gegen­ stand und das kerygmatische Interesse an ihm im Vordergrund steht und philosophische Bezüge oder Gedankenelemente nur latent wirksam oder gar nicht verifizierbar sind. Trotz dieses Zusammenwirkens von Philosophie und Theologie mit wechselnder Präponderanz auf eine - wenn auch bisweilen spannungsrei­ che, in sich durch Unterschied bestimmte - Einheit hin kann es keinem Zweifel unterliegen, daß die philosophische Reflexion des Cusanus sich nie ohne klar bestimmbare Voraussetzungen vollzieht, die sich ihrerseits gerade im Begriff bis zu dessen Grenze hin entfalten: So ist Gott die ,praesuppositio absoluta - die „absolute Voraussetzung“28 in jeder Frage nach 26 Ebd. 23. 25, zitiert aus Sermo CCXLV: h XIX, N. 7 , Z. 8 f. 27 De fil. 5: h IV, N. 83, Z. 1-3. De ven. sap. 9: h XII, N . 23, Z. 2: Q uom odo sacrae litterae et philosophi idem varie nominarunt. 28 De sap. II: h 2V, N. 29, Z. 18: „Om nis quaestio de deo praesupponit quaesitum“ . Diese Aussage gründet in dem logisch und ontologisch umfassenden Grundsatz: „Deus est ipsa absoluta praesuppositio“ (ebd. N. 30, Z. 10). Die darin sich zeigende.· höchste Form von Gewißheit über die Existenz Gottes ist einer der Gründe, warum Cusanus keinen

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

155

ihm; die Frage selbst vollzieht sich im Akt des Fragens als Ausfaltung des in ihr als Movens und Ziel ihrer Tätigkeit immer schon Vorausgesetzten oder Implizierten. Sie kann in ihrer Antwort an sich selbst ihren eigenen Grund nicht als einen quasi neuen setzen, sondern sie vergewissert und differenziert den sie leitenden Gedanken als einen auf seinen eigenen Ur­ sprung bezogenen. - Jede Handlung, sei sie nun in Empirie verflochten oder reiner Akt des Denkens, basiert auf einem allgemeinen Grund-Ver­ trauen in ihre Sinnhaftigkeit oder Sinnbezogenheit: „Fide igitur ad omnia pergimus “,29 Diese Maxime gilt nicht minder für die spezifischen Gehalte der yfides christian a eine radikal freie philosophische Reflexion über sie - „ Christo remoto “ —ist für Cusanus schlechterdings nicht möglich und von seiner Grundintention her auch nicht sinnvoll. Man sollte daraus aber nicht voreilig eine anhaltende Verschiebung des zuvor behaupteten Gleich­ gewichtes ableiten, das die Philosophie in eine dem Glauben systematisch untergeordnete ancilla-Rolle,abdrängen würde.

III Bevor ich das dialektische Verhältnis beider Weisen des Denkens konkreter erörtere, möchte ich zur Stützung des zuletzt über tfidescGesagten einige Grundzüge des Gedankengangs über die ,Mysteria fideV skizzieren, wie sie Cusanus im vorletzten Kapitel seiner ,Docta ignorantia* entwickelt.30 Er geht dort aus von dem schon genannten Grund-Vertrauen, welches die Voraussetzung für das rechte Gelingen aller Kräfte im Menschen ist. Ihre Vollendung liegt in der Wahrheit, „die Jesus ist“ . Ich zitiere den Anfang ( iottes-Beweis im traditionellen Sinne führt. - Zum Problem einer „absoluten Vorausset­ zung“ vgl. K. Kremer, „Jede Frage über Gott setzt das Gefragte voraus“ {Omnis quaestio de deo praesupponit quaesitum), in: Concordia discors, Festschrift für G. Santinello, hg. v. G. Piaia (Padova 1993) 145-180. Sermo XLI: h X V II, N . 13, Z. 27. Sermo C C L X X X IX (286) („Sic currite, ut com(»rehendatis“): Cod. Vat. Lat. 1245, fol. 282™: Wenn der Läufer nicht glaubte (nicht darauf vertraute), daß am Ende des Laufes eine ,apprehensio£ stünde, würde er gar nicht laufen. ..Scd quid dirigit intellectum? Gerte fides. Nam nisi currens crederet finem cursus esse apprehensionem ... non curreret“ . De vis. 24: h VI, N . 113, Z. 7f.: Perfidem accedit intellectus .ul verbum, per dileetionem unirur ei. 10 De doeta ign. III, 11: h I, S. 151, Z. 2 4 - S . 157, Z. 12 (N. 244-253). Für De docta ignohinthi füge ich die ttumeri (N) der l’ditio minor hinzu (Philosophische Bibliothek Meiner M.,|a, .’ 64h, /641, hg. v. P. Wilpert I u. II. G. Senger).

156

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

dieses Kapitels deshalb ganz, weil er den Anfang der Reflexion auf ,fides‘ im natürlichen Bereich der Erfahrung und des Denkens setzt und dessen Übergang in die ihn, den Glauben, vollendende Einsicht in die absolute Wahrheit zeigt: „Alle unsere Vorfahren behaupten übereinstimmend, der Glaube sei der Anfang der Einsicht. In jeder Disziplin werden nämlich gewisse erste Prinzipien vorausgesetzt, die allein durch Glauben angenommen werden, woraus Einsehen in das zu Behandelnde gewonnen wird. Jeder nämlich, der zu wissenschaftlicher Kenntnis aufsteigen will, muß diese glaubend hinnehmen, ohne die er nicht aufzusteigen imstande ist. Denn Isaias sagt: ,Wenn ihr nicht glaubt, werdet ihr nicht einsehenc. Der Glaube schließt also alles Einsehbare in sich ein. Einsicht aber ist Ausfaltung des Glau­ bens. Einsicht wird also durch Glauben geleitet, und Glaube wird durch Einsicht erweitert [vermehrt]. Wo aber kein gesunder Glaube ist, gibt es auch keine wahre Einsicht. Es ist offensichtig, welche Schlußfolgerungen ein Irrtum in den Prinzipien und eine Schwäche des Ausgangspunktes [der Grundlegung] nach sich ziehen. Kein Glaube indes ist vollkommener als die Wahrheit selbst, die Jesus ist“.31 Ohne die Annahme von „ersten Prinzipien“, d. h. Grundaxiomen des Denkens und Grundgesetzlichkeiten des Seins insgesamt, die nicht eigens bewiesen werden müssen, ist weder eine Fortentwicklung des Ur-Vertrau­ ens auf die Möglichkeit eines Anfangs überhaupt in reichere, durch die O f­ fenbarung allererst eröffnete Dimensionen des Glaubens möglich, noch das Erreichen einer Einsicht dessen, was der Glaube impliziert und als Ziel ver­ spricht. Dies meint der dialektische Satz: „Der Glaube faltet alles Einsehoder Erkennbare in sich ein. Die Einsicht [oder die Erkenntnis durch Ver­ nunft] aber ist die Entfaltung des Glaubens“. So wird die Einsicht einmal durch die Vermittlung des Glaubens (perfidem) in ihr Ziel geleitet, zugleich 31 Ebd. S. 151, Z. 26 - S. 152, Z. 9 (N. 244): Maiores nostri omnes concordanter asserunt fidem initium esse intellectus. In omni enim facultate quaedam praesupponuntur ut prin­ cipia prima, quae sola fide apprehenduntur, ex quibus intelligentia tractandorum elicitur. Omnem enim ascendere volentem ad doctrinam credere necesse est hiis, sine quibus ascen­ dere nequit. Ait enim Isaias: ,Nisi credideritis, non intelligetis‘. Fides igitur est in se com­ plicans omne intelligibile. Intellectus autem est fidei explicatio. Dirigitur igitur intellectus per fidem, et fides per intellectum extenditur. Ubi igitur non est sana fides, nullus est verus intellectus. Error principiorum et fundamenti debilitas qualem conclusionem subinferant, manifestum est. Nulla autem perfectior fides quam ipsamet veritas, quae Iesus est. - Ich folge, mit einigen Veränderungen, der Übersetzung von H. Ci. Senger: Nikolaus von Kues, Die belehrte Unwissenheit, Ruch III, N. 244 (vgl. Anm. io).

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

157

aber, im selben Akt, „dehnt sich“ der Glaube oder das Einsehbare in ihm durch das Wirken von Vernunft-Einsicht „aus“ (per intellectum). Keine der beiden Kräfte ist in ihnen selbst isolierbar, nur ihr Zusammenwirken garantiert den Aufstieg zur absoluten Wahrheit, „die Jesus ist“, oder - in mosaischer Metaphorik: „zum Berg, der Christus ist“;32 es ermöglicht die „über alle Verstandeskraft und Vernunft-Einsicht“ hinausgehende Erfah­ rung des „Hingerissen-Werdens“ ( rapimur33) in die „einfachste Einsicht“ (.simplicissima intellectualitas34) als Ziel des Weges. Wenn die Einsicht den Glauben auf seinem Wege aus dem Anfang heraus „entfaltet“, dann ist es in diesem Stadium des Weges wiederum der (nun einsichtige) Glaube, der den Selbstüberstieg des Denkens motiviert und erwirkt: hier hört das argumentative oder begriffliche Überzeugen (persuasiones) auf „und der Glaube tritt herzu; durch ihn werden wir in Einfachheit hingerissen“ zu eben dieser „intellectualitas sim plex 35 in der Jesus als Grund aller Wahr­ heit „gesehen “wird - er ist als absolute Wahrheit und Weisheit „Ziel [Ende, Beruhigung] jeder Einsicht“ (finis omnis intellectioniSy quia veritas56). Die Vernunft-Einsicht (intellectus) oder Einsicht durch die Kraft der Vernunft, sich selbst durchlichtend im Glauben,37 bildet also in der ihr eigenen An­ strengung selbst die Voraussetzung, in das Extrem aller Erkenntniskräfte in ein nicht mehr gegenständliches Denken, Sehen und Glauben überzuge­ hen, „sodaß [der Sehend-Glaubende] in Christus in tiefer Einung aufgeht, soweit dies auf dem Wege möglich ist“.38 Auf Augustins Satz zurückblikkend: „Einsicht ist der Lohn des Glaubens“ - intellectus est merces fidei ist für Weg und Ziel des Cusanus zu sagen: das Einsehbare (intelligibile) im Glauben ist Bedingung seiner eigenen Entfaltung in die höchste Form glaubender Einsicht und einsehenden Glaubens, in eine ,in statu viatoris* ob ihrer Einfachheit und Sicherheit39 nicht überbietbare „ intellectualitas“

yi

De docta ign. III, 11: h I, S. 153, Z. 8 f. (N. 246). Ebd. S. 152, Z. 28f. (N. 245); S. 153, Z. 13 (N. 246) Z. 22 (N. 247). Diesen Gedanken e nt f a l t e t Cusanus in der Sprache des ,raptus Pauli‘ (S. 153, Z. 5 [N. 245]): 2 Cor. 12,2. Vgl. Iiier/.u H. G. Senger, a. a. O. 143f. Sermo XXXII: h XVII, N . 3, Z. 6 ff. H De docta ign. III, 11: h I, S. 153, Z. 1 (N. 245); Z. 2if. (N. 247); Z. 27 (N. 247). Ebd. S. 153, Z. 21 f. (N. 247). u> Ebd. S. 153, Z. 27 (N. 247). Ebd. S. 152, Z. 14 (N. 244). 'H Ebd. S. 156, Z . 1 4 f. ( N . 252): ut in ipsum (seil. Christum) profunda unione, quaniiini Ihk in via possibile est, absorbeatur. - Raptus est fides ... Quando igitur intellectus |*( i fidein raptusest, videt. "

v> S. is4. Z . is

irj (N. ¿48).

158

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

oder „visio intellectualis“.40 In ihr vollendet41 sich die Einsicht im Glauben und der Glaube in der Einsicht seiner selbst. Diese Vollendungsbewegung ist von ihrem Anfang an bestimmt und geleitet durch das Bewußtsein des Nicht-Wissens, durch eine - „angesichts“ der Unbegreifbarkeit der gött­ lichen „praecisio absoluta“ —über sich selbst, d.h. über ihre begreifenden Möglichkeiten belehrten Unwissenheit (docta ignorantia42); ihr Ziel ist die Wahrheit, die in Jesus Christus als „ratio omnium rationum“ erscheint: finis omnis intellectionisyfinis omnium schlechthin.43 Wenn Cusanus die dem Glauben eigenen Geheimnisse (mysteriäiA) vor allem als die Kraft zur höch­ sten, d. i. einfachsten Form der Einsicht (visio intellectualis) sieht; wenn er es weiterhin als Geheimnis versteht, daß der Glaube, gemäß dem Prinzip des Zusammenfalls der Gegensätze, zugleich der größte (aus der conversio intellectus zu Christus hin resultierende) und der kleinste sein kann, da er in das höchste Maß einer „unbezweifelbaren Sicherheit“ (certitudo indubitabilisi5) findet, daß er ferner eine Umformung und Vollendung der menschlichen Natur erwirkt und in der visio des objektiven und subjekti­ ven Zieles von Allem für den Menschen auch die endgültige Beruhigtheit (;ultima quies46) erzeugt, dann schließt er aus dem Vollzug des Glaubens natürlich nicht die zentralen „Gegenstände“ der „geoffenbarten Wahrheit“ im Blick auf Christus aus: das Mysterium der Inkarnation, des Todes (mysterium mortis sive crucis), der Auferstehung und der Himmelfahrt.47 Die Vollzugsweise des Glaubens ist gerade von der Reflexion oder Meditation dieser Grundzüge des Heilsgeschehens bestimmt und geleitet, sie sind ihr sachliches Zentrum. Diese sind freilich —auch in yDe docta ignorantia' — eng mit denen über Trinität und Schöpfung verbunden. Daß Cusanus in diesen seinen Erwägungen zu den yMysteria fidei den Glauben als Anfang des Weges und als bewegendes Medium seines Fort­ 40 Sermo X XX II: h XVII, N . 4, Z. 22-25. Ad visum pergentes ... invisibile ibi videtur: De docta ign. III, 11: h I, S. 153, Z. 23. 26 (N. 247). 41 Ebd. S. 156, Z. 13 ff. (N. 252). Sermo XXXI: h X VII, N . 1, Z. i4 ff. 42 Ebd. S. 153, Z. 3 ff. (N. 245). 8 (N. 246). 30 (N. 247). 43 Ebd. S. 154, Z. 7 f. (N. 247). S. 153, Z. 27 (N. 247). 44 Vgl. hierzu H. G. Senger, a. a. O. (wie Anm. 32) 141 f. 45 De docta ign. III, 11: h I, S. 154, Z. 25ff. (N. 248). Sermo C LX X I (164), Brixen, Epi­ phanie 1455: Visio ... est certa et indubitata apprehensio: Cod. Vat. 1245, fol. „Si­ cherheit“ ist ansonsten eher das Ziel der begrifflichen Anstrengung. Dazu R. Haubst (wie Anm. 24) 243 f. 46 Sermo XLI: h XVII, N. 17, Z. 16 f. 47 Vgl. die Kapitel 5-8 von De docta ign. 1 11 : h I, S. 1 ^ —145 (N. 208 N. i\ i).

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

159

gangs, die Einsicht nicht als die Aufhebung, sondern als die Selbstvollen­ dung des Glaubens denkt, darf gerade von Philosophen nicht verdeckt oder verdrängt werden. Cusanus macht eindringlich bewußt, daß auf dem Fundament eines anfangenden Glaubens die Dialektik von Einsicht und Glauben oder die Dialektik von philosophischer und theologischer Denk­ form sich vollzieht, daß also Glauben philosophische Reflexion braucht, um als Glauben in die Einsicht absoluter Wahrheit zu gelangen.48

IV Der dialektische Wirkungszusammenhang von Philosophie und Theologie bei Cusanus ist vor allem an einzelnen Theoremen seiner Versuche zu zei­ gen, einen quantum potest angemessenen Begriff von Gott zu denken, der mit den Gedanken der Sacra Scriptura nicht nur harmoniert, sondern sie entfaltet. Diese Versuche des Cusanus werde ich hier lediglich thesenhaft in Erinnerung bringen.49 Etwas ausführlicher will ich eine andere Möglichkeit der Annäherung an die cusanische Konzeption realisieren: die Predigt CCXVI (213) „ Ubi est qui natus est rex Iudaeorum?“ daraufhin zu befragen, in welchem Sinne und Maße philosophische Voraussetzungen und Implikationen den Ge­ danken der Predigt als ganzen bestimmen und mit dem theologischen Kerygma eine konstitutive Einheit ausmachen. Freilich gäbe es auch für mein Vorhaben geeignetere Texte, in denen die philosophische Reflexion auf Aussagen der Schrift offener zutage liegt - etwa „ Tu quis es? Principium qui et loquor vobis“ —„Deprincipio “ 50 wenn dieser Text auch eher als eine begriffliche Einübung ins Lesen des Johannes-Evangelium denn als eine „normale“ Predigt zu betrachten ist; in ihm ist für den Begriff des dreieinen Ursprungs die Metaphysik des über-seienden und seienden Einen im Sinne der Parmenides-Deutung des Proklos maßgebend geworden.51 18 Vgl. z. B. Sermo IV: h X VI, N. 26, Z. 13f. 22; N. 7, Z. 4 f. 31; N . 1, Z. i4 f. 49 Mine Monographie zu Cusanus unter dieser Perspektive schiene mir durchaus sinn­ voll. h X/2b, cd. C. Bormann et A. D. Riemann, 1983. Dieser kritischen Ausgabe ist die deutsche Übersetzung des Textes durch Maria Feigl vorausgegangen, mit reichen ErläuteHinp.cn versehen von Josef Koch: „Uber den Ursprung“ (Heidelberg 1949). %l Der wesentliche* Crund, warum ich nicht ,De principio* als Paradigma einer gegen*.· nip(rn Durchdringung von Philosophie und Iheologie thematisiere, ist schlicht der, daß

i6o

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

Oder: „ De aequalitate“,52 ebenso ein Einleitungstraktat zum Johan­ nes-Evangelium, der seine Grundkonzeption aus dem Platonismus von Chartres aufgenommen und zu einer Christologie und Trinitätsspekula­ tion entwickelt hat; Cusanus versteht diesen Text ausdrücklich als eine ,exercitatio intellectus \ Oder: der Sermo de pulchritudine „ Tota pulchra es, amica mea “ in dem Cusanus die in sich trinitarische „pulchritudo absoluta " Gottes primär aus der neuplatonischen, durch Augustinus und Dionysius vermittelten Metaphysik des Schönen zu zeigen und sie als Ziel der Einung protreptisch vorzustellen versucht.53 Nun also zunächst eine thesenhafte Erinnerung an die cusanischen Versuche, Sein und Wesen Gottes durch Prädikate und Konzeptionen in höchstmöglicher begrifflicher Annäherung zu bestimmen. Letztere sind ohne eine ontologisch begründete philosophische Reflexion nicht denk­ bar. Insofern sind sie in besonderem Maße geeignet, die Bedeutung phi­ losophischen Denkens für die Ausbildung des theologischen Gedankens einzusehen.

ich mich selbst bereits vielfach dazu geäußert habe: Identität und Differenz (Frankfurt 1980) 153 ff. Das seiende Eine. Zur neuplatonischen Interpretation der zweiten Hypothesis des plato­ nischen Parmenides: das Beispiel Cusanus, in: Proclus et son Influence, Actes du Colloque de Neuchâtel, Juin 1985, ed. G. Boss et G. Seel (Zürich 1987) 290ff., 295fr. Centrum tocius vite. Zur Bedeutung von Proklos „Theologia Platonis“ im Denken des Cusanus, in: Proclus et la Théologie Platonicienne. Actes du Colloque International de Louvain (13-16 mai 1998). En l’honneur de H. D. Saffrey et L. G. Westerink f , éd. par A. Ph. Segonds et C. Steel (Leuven-Paris 2000) 629-651. [Beide Abhandlungen in meinen Procliana, Frankfurt 2007, 1999 ff.] Platonismus im Christentum (wie Anm. 2) 157 fr. Über aequalitas. Denken des Einen, Studien zum Neuplatonismus und seiner Wirkungsgeschichte (Frankfurt 1985): „Einheit und Gleichheit. Eine Fragestellung im Platonismus von Chartres und ihre Rezeption durch Nicolaus Cusanus“ 368-384, bes. 374ff. 52 Den Text siehe in „Nicholas ofCusa: Metaphysical Speculations “. Six Latin Texts trans­ lated into English by Jasper Hopkins (Minneapolis 1998) 74-125 und jetzt in der Heidel­ berger Akademie-Ausgabe der Opera O m niaX, Opuscula II, Fasciculus 1, ed. I. G. Senger, Hamburgi 2001. 53 In die Nativitatis Mariae 1456, über Canticum Canticorum 4,7. Vgl. G. Santinellos Edizione critica e introduzione (Padova 1959). W. Beierwaltes, Marsilio Ficinos Theorie des Schönen im Kontext des Platonismus: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Jg. 19 80,11. Abh. (Heidelberg 1980) 4 2ff. [Unten S. 264ff.] M.-A. Aris, „Praegnans affirmatio“. Gotteserkenntnis als Ästhetik des Nichtsichtbaren bei N i­ kolaus von Kues, in: Theol. Quartalschrift 181 (2002) 97-111. - Zum quellcnkritisclicn Um­ feld siehe Lenka Karfikovä, „ De esse adpulchrum esse Schönheit in der Iheologie Hugos von St. Viktor (Turnhout 1998) 305 ff.

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

161

Voraussetzung für ein philosophisches Erfassen von Wesenszügen Got­ tes bis an die Grenze seiner Begreifbarkeit hin ist Cusanus’ entschiedenes Interesse an Einsicht in die Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Erkennens. Er hat dieses Interesse vor allem in ,De docta ignorantia, ,De coniecturis\ ,De mente'und ,De sapientia'realisiert - trotz eines grundsätz­ lichen Vertrauens in die erfassende, analysierende, (creativ) entwerfende und begründende Kraft des Denkens mit dem Vorbehalt, daß Erkennen im Bereich der Andersheit (gegenüber dem Sich-selbst-Begreifen der reinen Einheit) nicht die höchste Form von Genauigkeit, die die absolute selbst wäre, erreichen kann, sondern Vermutung (coniectura) bleiben muß, die freilich eine intensive Weise von Intellektualität darstellt. Die Prüfung der Kräfte des Erkennens (sensus —imaginatio —ratio —intellectus) führt Cu­ sanus auch zu einer Reflexion über das Selbstbewußtsein des Menschen oder über die Möglichkeit der Selbstvergewisserung des eigenen und ihn begründenden göttlichen Grundes.54 Aus diesem Fundament heraus —ohne daß es immer eigens benannt würde - ist Cusanus imstande, die aus der philosophischen und theolo­ gischen Tradition überkommenen Gottes-Namen oder Prädikate philoso­ phisch zu begründen, zu explizieren oder zumindest zu gebrauchen. Um nur einige zu erinnern, die in eine komplexe philosophische Bedeutungs­ geschichte verflochten sind und bei Cusanus - gemäß dem Grundzug sei­ nes Gott-Denkens seit yDe docta ignorantia' —eine herausgehobene Valenz erfahren: neben der Bestimmung Gottes als „Sein selbst“ (esse ipsum) oder „absolutes Sein“ (entitas absoluta), als bonitas, veritas, sapientia, causa essendiy forma formarum und creator sind dies vor allem die Prädikate des „absoluten Begriffes“ (conceptus absolutus), der „Un-Endlichkeit“ (infini­ tas), die ihn von allem Endlichen, Bestimmten und in sich Begrenzten un­ terscheidet, und der „Einheit“ (unitas). Alle diese Prädikate in sich selbst genommen stellen allerdings keine innere (trennende) Differenzierung ( »ottes vor, sondern intendieren —im Sinne einer ,theologia in circulo' — eine Einheit von sich gegenseitig durchdringenden und erhellenden M o­ menten. Aufgrund der dem Un-Endlichen eigenen immanenten Entgren­ zung sind sie jeweils in ihrer absoluten „Möglichkeit“ die Spiegelung des jeweils Anderen, in der jedes Prädikat alle anderen „repräsentiert“ . Das Prä­ dikat Einheit als ein überseiendes, d. h. realer Distinktheit enthobenes und

vi

W . H r i c T W ii h c s ,

.Centrum toeius t>ite' {w ie ·

A n m . 51) 6 3 y f l .

[Proeliaria

2 0 1 ff.]

i 62

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

zugleich im eminenten Sinne seiendes Prinzip55 ist für Cusanus der An­ satzpunkt seiner Trinitätsspekulation, die seinen Begriff von Gott in allen Phasen seines Denkens nachhaltig prägt. Die durch die Schrift geoffenbarte Dreiheit von „Vater - Sohn - Geist“ denkt er in grundsätzlichem Konsens mit der geschichtlich gewachsenen Trinitäts-Konzeption christlicher Theo­ logie als eine in sich relationale, reflexive, sich in ihrer Selbstdurchdrin­ gung selbst konstituierende Drei-Einheit. Das Philosophische an dieser Spekulation sind die bisweilen aus der Fortentwicklung neuplatonischer Begriffe von Einheit und triadischer Onto-Dialektik lebenden Ternäre wie ,Sein —Leben —Denkenc, ,Einheit - Gleichheit - Verbindung1, ,Ursprung — (sich selbst vermittelnde) Mitte - Ziel'. Der theologisch aufschlußreiche Gedanke einer durch Reflexivität und liebende Verbindung (connexio als amor dei in se ipsum) sich selbst konstituierenden Drei-Einheit überzeugt durch seine philosophische Denkstruktur und Begründung der Einheit in der Dreiheit. Andererseits hätte Cusanus wohl nie Ternäre abstrakt in sich, etwa als Paradigmen innerer Relationalität von Dreiheit überhaupt oder Drei-Einheit entwickelt ohne das Ziel theologischer Vergewisserung. Vergleichbar ist die theologische Intention des philosophischen Gedankens etwa Augustins Erforschung des menschlichen, sich seiner selbst vergewis­ sernden Geistes, die als eine ,Analogia Trinitatis' nicht bewußtseins-theoretisch isolierbar ist. Für beide - Cusanus und Augustinus - bedeutet die Erkenntnis der sachlich aufschließenden Möglichkeiten philosophischer Theorie für das theologische Denken keine Herabsetzung des Philosophi­ schen zu bloßer Funktionalität, die „nach“ ihrem Dienst gleichgültig wäre. Es ist vielmehr ein Impuls, das Begreifbare an Welt und Gott innerhalb der bewußten Grenzen zu entdecken und zu entfalten. Reichweite und Grenzen des philosophischen Begriffs erprobt Cusanus mit gleicher oder sich steigernder Intensität an der Klärung derjenigen Gottes-Namen oder,aenigmata ‘ (Denk-Bildern, die den conjecturalen Vor­ behalt anzeigen), die Cusanus über die traditionellen Benennungen hinaus als die für sein eigenes Denken besonders charakteristischen entwickelt hat: Gott ist „Ineinsfall der Gegensätze oder der Widersprüche“ (coincidentia oppositorum sive contradictoriorum), er ist „Der Selbe“ selbst (idem), das „Können-Ist“ (possest), das „Können selbst“ (posse ipsum) und das „NichtAndere“ (non aliud).

55 V g l .

Das seiende Fine

( w i e A n m . 52) 2 9 0 ff.

[Proclinna

217

fr.]

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

163

Coincidentia oppositorum sive contradictoriorum ist Wesenszug des UnEndlich-Seins Gottes, das nicht nur die Aufhebung von Gegensätzlichkeit und Widerspruch in ihm anzeigt, sondern ebensosehr seine wesenhafte Inkommensurabilität zu Allem, was durch ihn als Geschaffenes in Andersheit und Gegensatz ist, sein „Sein“ vor und über jedem Gegensatz und einer für das Endliche gültigen Logik des Satzes vom Widerspruch enthoben: Antiaristotelismus (oder Aufhebung aristotelischer Denk-Prinzipien) im Absoluten. Idem zeigt das Sein Gottes vor jeder gleichpoligen Correlation zwischen Identität und Differenz als das Selbe selbst ( idem absolutum5(’ De Gen. h IV, N . 144, Z. 5 ff. N . 145, Z. 6 ff. „idem absolutum“ als das weiter ge­ dacht c Konzept der Coincidenz, „in quo oppositio, quae idem non patitur, inveniri nequit“ (N. 145, Z. 16 f.)%/ IJnitas, quae coincidit cum idem absoluto: De Gen. N. 150, Z. 1. ™ De Gen. N. 150, Z. 6 f.: Pluralitas igitur, alteritas, varietas et diversitas et cetera talia smp,imt ex co, quia idem identificat. N. 149, Z. 2. v* De ap. theor.: h XII, N. 4, Z. 9. N. 7, Z. 15ff. N. 12, Z. 2 f. N. 1 7, Z. 2. N. 28, Z. 2: IMisse omnis potentiae - als (¡rund jedes Vermögens, „possest“ zeigt schon in seiner sprachlu hen l orm die Bestimmung (iottes als eines Ineinsfalls von Gegensätzen und zudem als Signatur der Trinität an: posst* fst durch einen „nexus“ des „e“ miteinander verschmolzen.

164

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

gleich begründet es - analog der Aktivität des Selben —das Nicht-AndersSein oder die Identität jedes Einzel-Seienden, indem es als dessen NichtAnderes in ihm wirkt und es jeweils zu einem Nicht-Anderen macht; in dieser dialektischen Perspektive auf sich selbst und auf das durch es selbst Andere gedacht sagt das „ non aliud“ differenzierter, was das Gottesprädikat des Einen sagen will und kann.60 Sowohl für die sogenannt traditionellen Gottesprädikate als auch für die zuletzt erinnerten ,aenigmata snchx und findet Cusanus Anknüpfungs­ möglichkeiten oder offenbarungstheologische Zeugnisse in der Heiligen Schrift, oder aber diese bilden —wie insbesondere in den Sermones —den Ausgangspunkt seines Gedankens. A uf einen allgemeinen Vorrang des ei­ nen vor dem anderen Akt sollte man sich nicht fixieren. Jedenfalls wäre kei­ nes der cusanischen Gottesprädikate und yUenigmata*das, was sie in ihrer Differenziertheit und Überzeugungskraft sind, ohne die sie bestimmende philosophische Reflexion. Cusanus hätte sie aber auch nicht in einer \speculatio philosophicaeentwickelt ohne die Intention, „Gegenstände“ oder Grund-Annahmen des Glaubens verstehen zu wollen, ohne sie in rationale oder intellectuale Begriffe endgültig aufheben zu wollen.

V Die Brixener Predigt zu Epiphanie 1456 über Matthäus 2,2: „Ubi est qui natus est rex Iudaeorum “ möchte ich —wie zuvor angekündigt —daraufhin befragen, in welchem Sinne und Maße philosophische Voraussetzungen und Implikationen den Grundgedanken der Predigt als ganzen bestimmen 60 Zu den fü nf hier genannten spezifisch cusanischen Gottesprädikaten vgl. J. Stall­ mach, Ineinsfall der Gegensätze und Weisheit des Nichtwissens. Grundzüge der Philosophie des Nikolaus von Kues (Münster 1989). G. v. Bredow, Im Gespräch mit Nikolaus von Kues. Gesammelte Aufsätze 1948—1993, hg. v. H. Schnarr (Münster 1995) 23 fr. 41 ff. 51 ff. H. G. Senger, Nikolaus von Kues, Die höchste Stufe der Betrachtung [De apice theoriae]. A u f der Grundlage des Textes der kritischen Edition [h XII] übersetzt und mit Einleitung, Kommen­ tar und Anmerkungen herausgegeben (Hamburg 1986): X IIff.; die reichen Anmerkungen zur Entwicklung des Begriffes „posse ipsum“ S. 7 4 ff. Nicolas de Cusa, E l Possest. Introduc­ ción, traducción y notas de Angel Luis Gonzalez (Pamplona 19982) 8-34. W. Beierwaltes, Identität und Differenz (wie Anm. 51) 105ff. Deus oppositio oppositorum, in: Salzburger Jb. f. Phil. 8 (1964) 175-185. , Centrum tocius vite‘ (wie Anm. 51). Platonismus im Christentum (wie Anm. 2) 16 0 ff. Mystische Elemente im Denken des Cusanus (wie Anm. 5) 425 -448; zu ,infinitas1 S. 429ff. K. Flasch, Nikolaus von Kues (wie Anm. 21), bes. 4 Í-71. 517fl.

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

165

und mit der theologisch-kerygmatischen Absicht eine konstitutive Einheit ausmachen. Josef Koch hat diese Predigt bereits 1937 zusammen mit drei anderen „Predigten im Geiste Eckharts“ lateinisch und deutsch, mit einer literarhistorischen Einleitung und wertvollen Erläuterungen herausgege­ ben.61 Klaus Reinhardt und Walter Andreas Euler haben sie als Nr. CCXVI nach der neuen Haubstschen Zählung in dem IV. Band der Sermones publiziert.62 Die Predigt - so Josef Koch emphatisch - „gehört zu denje­ nigen, die in die letzten Tiefen menschlicher und christlicher Erkenntnis hinabsteigen“ .63 Sie verdankt Meister Eckharts differenzierter und philo­ sophisch fundierter Auslegung der Frage „Rabbi, ubi habitas“ (Job. i,3 8 ) 64 entscheidende Anstöße und Gedanken, die schon Eckhart als eine mit der Frage der Magier „ Ubi est qui natus est rex ludaeorum?“ sachlich verbun­ dene sah. Josef Koch hat gezeigt, wie Cusanus die Gedanken Meister Eck­ harts „auslegt und verteidigt, erweitert und vertieft“.65 Die letzte Aussage sollte m. E. etwas eingeschränkt werden: „vertieft“ hat er Eckhart nicht in der Intensität des Gedankenganges im ganzen, sondern in einigen freilich wesentlichen Aspekten; die Gliederung der Predigt folgt in ihren Grund­ zügen der Meister Eckharts, den Schluß —nach einer allzu knappen Ausle­ gung „moraliter“ der Frage,, Ubi estuim spirituellen oder lebenspraktischen Sinne - machen Excerpte aus des Aldobrandinus de Tuscanella Sermo über den selben Text. Es geht hier nicht um die Frage nach dem Maß der Ab­ hängigkeit und/oder Originalität des Cusanus: er hat die Grundzüge der Gedanken Eckharts entschieden zu seinen eigenen gemacht und so eine in sich konsistente Reflexion über ein zentrales Mysterium des christlichen Glaubens entwickelt: die Erscheinung des Herrn, das Sich-Zeigen Gottes im Endlichen, die Selbst-Entbergung des verborgenen Gottes. Die Frage in dem auszulegenden Evangeliumstext stellen die ,magt oder sternkundigen Weisen, die —von einem Stern geleitet —den Ort der Ge­ burt Jesu suchen, um Ihn selbst zu finden. Cusanus nimmt in seiner Ex­ egese die Frage nicht unmittelbar als Frage (im grammatikalischen Sinne) 01 Cusanus-Texte (CT) I. Predigten: Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Jg. 1936/37, 2. Abh. (Heidelberg 1937) 84-117. 173-184. ul h XIX, S . 82-96. - Zur „Nachfolge-Predigt“ an Epiphanie 1457 siehe oben Anm. 16. r‘ ' C T (wie A n m. 61) 173.

M I -xpositio s. evangelii sec. Iohannem n. 199-222, LW III 168-186, herausgegeben mul übersetzt von K. Christ, B. Decker, J. Koch, H. Fischer, L. Sturlese, A. Zimmermann (Stuttgart 1994).

( I (wie A n m. 61) 17*.

166

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

auf, sondern er versteht - Eckhart folgend - den Text zunächst „ dispositive “ (Eckhart: „depressive“),66 d. h. als einen Behauptungssatz, der das in ein sub­ stantiviertes Adverbiale umgedachte Fragepronomen „ubi“ zum Prädikat hat: „Der neugeborene König der Juden ist das Wo oder der Ort schlecht­ hin“, oder: „der geborene König ist Gott, der der Ort Aller oder von Allem ist“.67 Das Prädikat „omnium locus“ ist evidentermaßen keine kategoriale, sondern eine Wk^TW-Bestimmung Gottes. Sie meint Gottes in ihm selbst „ruhendes“, zeit-frei bleibendes Sein, aber auch den „ständigen“ Ursprung und Anfang aller von ihm ausgehenden Bewegung und zugleich Ziel und Ende der sich umkehrenden oder kreishaft in ihren Anfang zurückkehren­ den Bewegung, wodurch diese und das von ihr bewegte Sein seine Geordnetheit erhält und bewahrt. Diese Wesensstruktur Gottes, die Stand in sich und Bewegung auf sich hin in eine Einheit verbindet, bildet sich in der von ihr ausgehenden Welt in der Wesenheit (essentia) ab: diese ist der Ort, von dem Einzel-Seiendes ausgeht und wieder zu ihm hinstrebt, um es selbst sein und bleiben zu können.68 Für die empirische Welt gilt der Satz, daß Alles was außerhalb des ihm von seinem Wesen her zukommenden „eigenen Or­ tes“ (proprius locus: 4,21) sich bewegt, „unruhig“ ist und deshalb in seinen Ort zurückstrebt; dieser stellt nicht nur die Bewegung still oder beendet sie, sondern „beruhigt“ sie in einem sie vollendenden Sinne, läßt sie in das ihr und der Ordnung des Ganzen angemessene und sie garantierende Ziel kommen. Was für jede weltimmanente Wesenheit und Bewegung aus ihr und auf sie hin gilt, das trifft auf Gott in absolutem Maße zu: er ist Anfang (Ursprung) und Ziel (principium etfinis) jeder Bewegung zugleich, beide „fallen in ihm in eins zusammen“ (coincidentia); somit ist er in dem zuvor beschriebenen Sinne auch „ständiger“ Ort und beruhigende Ruhe ( requies) all dessen,69 was von ihm ausgeht und auf ihn (wieder) zugeht.70 66 K. Weiss verweist in Eckhart LW I 356 zu Expos, libri Genesis n. 209 für „depressive“ [in Bezug auf „tu es ubi“ statt „Ubi es“ (seil. Adam)] auf Priscianus und Audax, „Excerpta“ (Gram. Lat. ed.H . Keil VII 360,8ff.): ... si autem confirmativa [im Gegensatz zu ,inter­ rogativa4] fuerint eadem adverbia, deprimuntur. 67 Sermo C C X V I: h XIX, N . 4, Z. 4 ff. Für Quellen des Cusanus und Parallelen zu Meister Eckhart vgl. jeweils Koch (wie Anm. 61) und Reinhardt-Euler in h XIX. - Uber den Bezug des Cusanus zu Eriugenas Konzeption des ,locus omnium‘ vgl. W. Beierwaltes, Eriugena (wie Anm. 15) 304 fr. 68 exire, tenere, recurrere: 4,17 ff. 69 Marginalie des Cusanus zu Eckharts Johanneskommentar n. 204f. (Koch 89; Anm. h X IX 84 zu 4,34 -43): ... Deum locum omnium, quia est esse in quo quicscunt omnia entia. 70 N. 4, Z. 28f. 4 0 f. N. 6, Z. 11-14. N . 8, Z. 6-10.

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei Cusanus

Philosophische Grundlage dieser Konzeption ist einmal (für die Bewegungs- und Seinsstruktur von Welt) die Lehre des Aristoteles vom „natürli­ chen oder eigentümlichen Ort“: Jeder der vier Grundkörper, der Elemente, bewegt sich von Natur aus auf den ihm jeweils zukommenden Ort hin (ο αύτοΰ τόπος, οικείος τόπος), findet in ihm - sofern er nicht zu einer Abweichung seiner Bewegungsrichtung gezwungen wird —sein Ziel oder seine Ruhe (παύεται) und bleibt (μένει) in ihm: Feuer bewegt sich nach oben und ist oben, Erde nach unten oder zur Mitte hin und ist unten, die Mitte nehmen die relativ leichten und relativ schweren Elemente - Luft und Wasser —ein.71 Dieses In-seinem-Ort-Sein begründet die Harmonie der sinnenfälligen Welt im ganzen. Für Cusanus ist dieser physikalische Verstehensversuch der natürlichen Bewegung und des „in etwas, in (s)ei­ nem Ort sein“ der Ausgangspunkt einer weitausgreifenden theologisch­ philosophischen und ethischen Reflexion, die sich in der Epiphanie-Predigt eindringlich zeigt. Für die coincidentale Einheit von Ursprung und Ziel im Sein und Wir­ ken Gottes ist das philosophische Paradigma72 die neuplatonische Theorie der Identität von αρχή und τέλος73 als Grundzug des göttlichen Einen oder Guten selbst. In ihr - zumindest bei Plotin —ist das Eine, aus dem die erste Form von Vielheit oder Andersheit entspringt, der Bezugspunkt des Hervorgegangenen, auf den dieses als ein „zunächst“ noch Unbestimm­ 71 Vgl. Physik 212 b 30. 33. 214 b 13fr. 230 a 18ff. 253 b 4. 255 a 3f. de caelo 279 b 2. Platon, Tim. 63 e 3ff. (ή ... πρός τό συγγενές όδός έκάστοις). - Cusanus (wie Eckhart) z. B. proprius locus: 4,21. locus suus: 4,10; 20. Quelle von Cusanus’ Kenntnis dieser Lehre ist wohl der Physikkommentar des Albertus Magnus (Cod. Cus. 193).- Zur Bedeutung der aristotelischen Philosophie für Cusanus vgl. den aufschlußreichen Aufsatz von H. G. Senger, Aristotelismus vs. Platonismus. Z u r Konkurrent von zwei Archetypen der Philosophie im Spätmittelalter, in: Aristotelisches Erbe im arabisch-lateinischen Mittelalter. Überset­ zungen, Kommentare, Interpretationen: Miscellanea Mediaevalia. Veröffentlichungen des 1 homas-Instituts der Universität zu Köln. Herausgegeben von Albert Zimmermann, Bd. 18 (Berlin - New York 1986) 53-80. 72 Biblischer Bezugspunkt für Cusanus in „Ubi est ..." 4,26-28: „Ego sum alpha et omega, principium et finis“ (Apoc. 1,8. 22,13). 7 * Auch aus der aristotelischen Kosmologie ist dieses Theorem ableitbar: die πρώτη αρχή, die mit dem göttlichen Ersten Beweger, der selbst unbewegt ist, identisch zu denken ist, und von der „der Himmel und die Natur abhängt“ (έκ τοιαύτης αρχής ηρτηται ό ουρανός και ή φι'κτις, Met. 1072 b 13f.), ist mit dem Ziel aller (Kreis-)Bewegung ein und dasselbe: κινεί ώς ερώμενον (1072 b 3). Vgl. auch Ps. Aristoteles De mundo 399 a 12f.: μία ς έστιν.

184

Visio facialis —Sehen ins Angesicht

Angesicht zu Angesicht; jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“ 12. Sehen von Angesicht zu Angesicht, Sehen ins Angesicht: dies ist Sehen Gottes, „wie er ist“ als einstige Vollendung ei­ ner vorausblickenden Intention des Menschen im Bereich des Vorläufigen. Die beiden biblischen Aspekte gewinnen für die Entfaltung der Got­ tes-Frage innerhalb der philosophischen Theologie und in der Vergewis­ serung einer transrationalen Erfahrung Gottes eine höchst differenzierte Bedeutung. Diese wäre anhand einer Interpretationsgeschichte vor allem der angeführten Texte durchsichtig zu machen. Schwerpunkte dieser Ge­ schichte liegen im griechischen Bereich bei Philo Alexandrinus, Clemens Alexandrinus, Origenes13 und im besonderen in Gregor von Nyssa. Dieser denkt das Sehen Gottes paradox in ein Nicht-Sehen um, das dem ekstati­ schen Eintreten des Moses in Gottes überhelles Dunkel, in die „göttliche Nacht“, entspricht. Der Entzug oder die Verweigerung des göttlichen An­ gesichts im Sehen durch Nicht-Sehen steigert indes die Sehnsucht danach ins Unendliche: ούτως οΰν πληροΰται τω ΜωϋσεΤ το ποθούμενον, δι’ ών απλήρωτος ή έιτιθυμία μένει14. Pseudo-Dionysius Areopagita hat Wesent­ 12 Videmus enim nunc per spéculum in aenigmate, tune autem facie ad faciem; nunc cognosco ex parte, tune autem cognoscam, sicut et cognitus sum; βλέπομεν γάρ αρτι δι’

έσόπτρου έν αινίγματι, τότε δε πρόσωπον προς πρόσωπον άρτι γινώσκω έκ μέρους, τότε δε έπιγνώσομαι καθώς καί έπεγνώσθην. Verbindungen und durch die Rezeptions­ geschichte bedingte Differenzen des Cusanus zum genuinen Sinn der biblischen Aussagen über den Gedanken ,Sehen Gottes* können erst durch eine umsichtige Interpretation der genannten Texte einigermaßen genau ermessen werden. Vgl. hierzu den reichen Artikel von W. Michaelis zu όράω etc. in G. Kittel - G. Friedrich, Theologisches Wörterbuch des Neuen Testaments Bd. V (Stuttgart 1954) 315-381. Gerade bei der cusanischen Auffassung der Stelle 1 Cor 13,12 ist die durch den neuplatonischen Bildbegriff, der εσοπτρον und αίνιγμα subsumiert, bedingte Differenz zu dem ursprünglichen biblischen Verständnis be­ merkenswert. Auch hierin sind vor allem Augustinus und Dionysius die für Cusanus be­ stimmenden Vorbilder. Bedeutsam für ein adäquates Verständnis der Rezeptionsgeschichte ist ein genauer semasiologischer Vergleich der griechischen und lateinischen Termini (des „Sehens“) innerhalb ihres sprachlichen Umfeldes. 13 Philo, de posteritate Caini 5,14ff. Im Zusammenhang mit der Ekstasis: De somniis II 226; 232ff. De opificio mundi 23,71. - Clemens Alexandrinus, Stromata V 12; 81,3 ff (380,10 ff Stählin/Früchtel). Origenes, Johanneskommentar, hg. v. E. Preuschen, Leipzig 1903 (GCS 10) 494-496. 14 Greg. Nyss., de Vita Moysis II; 115, 12 -14 (Musurillo). Ebd. 84,8ff. 86,11 ff: ... έν

γνόφω το θειον όραται... όρα τό τής θείας φύσεως αθεώρητον ... έν τούτω τό ίδεΤν έν τω μή ίδειν . . . ε ν γνόφφ τον θεόν ίδεΐν (neben der hier zitierten Ausgabe aus Gregorii Nysseni Opera, ed. W. Jaeger, H. Langerbeck, vol. VII 1, Leiden 1964, ist auch die Ausgabe innerhalb der Sources Chrétiennes von Jean Daniélou, Paris 1955, zu konsultieren).

Visio facialis —Sehen ins Angesicht

185

liches aus dieser negativen und doch bewegenden Form des Gott-Sehens in die mittelalterliche Mystik eingebracht15. —Aus dem lateinischen Bereich kommt für die Entfaltung der Geschichte der ,V isio Dei‘ eine herausgeho­ bene Funktion Augustinus16 zu, aber auch Eriugena17, den Victorinern, Hugo von Balma, Meister Eckhart und den vielfältigen Erörterungen der Frage nach der ,Visio beatifica£im hohem Mittelalter18. 15 Für Dionysius vgl. z. B. de coel. hier. IV 3; PG 3, 180 C; de myst. theol. II; 125 A. ep. V; 1073 A. - Aufschlußreiche Aspekte für die Symbiose metaphysisch-griechischer und christlicher Elemente in der patristischen Tradition bei H .-G . Beck, Theoria. Ein byzanti­ nischer Traum? SB Bayer. Ak. d. Wiss., phil.-hist. Kl. 1983, Heft 7. 16 Viele Topoi im Gedankengefüge der ,visio dei‘, die für Cusanus wesentlich sind, hat Augustinus grundgelegt. Nur auf einige wichtige Texte sei hier verwiesen: ep. 147 (de videndo deo) und 148 (CSEL 44, ed. A. Goldbacher, Wien 1904, 274ff); Confessiones V I I 10 und IX 10 (hierzu: W. Beierwaltes, Regio Beatitudinis. Zu Augustins Begriff des glücklichen Lebens, SB Heidelberger Ak. d. Wiss., phil.-hist. Kl. Jg. 1981, Bericht 6, 32ÍÍ); [vgl. oben S. 99 ff.] in loh. Ev. III 17 ff; sermo 53,6,6ff (visio dei - facies cordis); de Genesi ad litteram X II im ganzen (vgl. hierzu auch unten Anm. 43); Civ. Dei X XII 29 (die eschatologische visio). 17 Über Eriugenas verlorenen Traktat ,De visione D ei‘ : M . Cappuyns, Jean Scot Erigène, sa vie, son œuvre, sa pensée, Louvain/Paris 133 (Repr. Brüssel 1964), 98. Expos, in ier. coel. (Barbet) IV 465£F, V II 220; 223 (deividum; deivida speculatio). Periphyseon V 38: PL 12 2 ,1014 Bf. 1016 A. 39; 1020 Df. Omelia (Prol. Joh.) X XII i f f (Jeauneau): ubi vidi­ sti, o beate theologe, gloriam incarnati verbi ... Quando vidisti? Qualibus oculis perspexi­ sti? ... Et, super haec omnia [nach der Gegenwart bei der Verklärung, nach dem „Sehen“ von Auferstehung und der ,ascensio ad patrem‘] altissimo mentis contuitu contemplatus es illud, dico verbum, in principio suo apud patrem suum, ubi gloriam eius vidisti quasi unigeniti a patre. XXIII 44f. - ,Sehen Gottes4 des an sich Unsichtbaren, in der Erschei­ nung (Theophanie): III 4; 58,12 fr (Sheldon-Williams). 17; 162,3 fr. - Zur Sache vgl. auch J. J. O ’Meara, Eriugenas use o f Augustine in his teaching on the return o f the soul and the vision o f God, in: Jean Scot Erigène et l’histoire de la philosophie, ed. R. Roques, Paris 1977, 191-200, und G. A. Piemonte, Mas alia de la contemplación. Observaciones sobre el capiculo I de la Vox spiritualis de Eriúgena, in: Patrística et Mediaevalia 4/5, 1983/4, 3-22, Ih-s. 7, 19 ff. IH Vgl. vor allem Hugos v. St. Victor Kommentar zu Dionysius’ De hierarchia coelesti (IM. 175) und Richards Benjamin minor und maior (PL 196). Nicht minder zu bedenken ist (gegenüber einer über-begrifflichen ,visio dei‘ etwa des Cusanus) eine Konzeption der .visio beatifica1, die darauf besteht, daß sich die ,visio‘ gemäß dem in uns „Edelsten“ und „I löchsten“ , dem ,intellectus4, als eine denkende Einung vollzieht. So Dietrich von Freiberg, de visione beatifica, Opera omnia I (ed. B. Mojsisch), Hamburg 1977, prooemium 4 (S. 14); de intellectu et intelligibili II 31,8 (170): ... sumus beati per unionem nostri ad Deum per immediatam beatificam contemplationem, qua videbimus Deum per essentiam, quia non est verisimile, quod nobilissimum illud et supremum, quod Deus in natura nostra plan­ tavit, vacet in illa beatitudine, ¡truno, sicut est summum in nobis secundum naturam, ita etiam sit principale in actu beatificanti, qui consistit in visione Dei per essentiam. —Zur kontroversen Problematik im Mittelalter vgl. I). ). O ’Meara, Eriugena and Mhomas Aquinas

i86

Visio facialis —Sehen ins Angesicht

II Im sachlichen und geschichtlichen Kontext dieser Tradition ist auch die Absicht des Cusanus verstehbar, die metaphysisch-theologischen Voraus­ setzungen und nicht minder die lebensbestimmenden Bedingungen eines Sehens Gottes zu ergründen und zu deren Realisierung hinzuführen. Sie vollzieht sich - gemäß den Grundzügen der skizzierten Tradition - kontrapunktisch zwischen dem Eingeständnis, daß Gott an sich selbst dem begreifenden Denken unzugänglich sei, dem die quasi-historische Fest­ stellung entspricht, Gott habe noch nie jemand gesehen, und der eschatologisch begründeten, über den Bereich des Endlichen hinausreichenden Hoffnung, daß der Mensch ihn sogar so wie er ist, von Angesicht zu An­ gesicht zu sehen vermöge und durch dieses nicht-begreifende Sehen in wahrer ,filiatio£mit ihm eins werde. Im Reichtum der Aspekte, die Cusanus zeigt, konzentriere ich mich auf das Ziel des Sehens: auf die extreme und intensivste Form des Sehens Gottes: von Angesicht zu Angesicht, die ,visio facialis\ Ich möchte sie als eine „Denkform“ beschreiben, die aus ihrer theologischen Grundabsicht heraus auf eine Analogie in dem philosophischen Versuch verweist, das Eine als den göttlichen Ursprung zu denken oder zu sehen, der über ein vergegenständlichendes Begreifen hinausgeht. Zumindest in dieser Denk­ form eines nicht-intentionalen, gegenstands- und deshalb differenzlosen Sehens als der dem Ziel angemessenen Weise der Einung treffen sich my­ stische Theologie und philosophische Mystik. ,Visio facialis4ist das sinnlich erfahrbare Leitmotiv und das mit aller In­ tensität des Denkens und der affektiven Betrachtung vorgestellte Ziel der Schrift ,De visione dei‘19. Die sinnliche Betrachtung des All-Sehenden im on beatific vision, in: E R IU G E N A R E D IV IV U S (s. Anm. 21) 2 i4 ff und den Hinweis auf Papst Benedictus X II, unten Anm. 38. 19 Die Überlegungen zur cusanischen ,Visio facialis* verstehe ich als Fortsetzung der bei­ den Cusanus-Kapitel in meinem Buch „Identität und Differenz“ , Frankfurt 1980, 105-175, besonders zu der Konzeption einer „visio absoluta“ , die göttlicher Vollzug und zugleich Voraussetzung für die vom Menschen auf Gott gerichtete ,visio facialis4ist (144 ff). Genauere Nachweise für das hier nicht „Belegte“ finden sich in dem genannten Abschnitt des Buches. Für ,visio facialis* konzentriere ich mich vor allem auf das 6. Kapitel von ,De visione dei‘ . Texte aus dieser Schrift zitiere ich nach der Ausgabe des Faber Stapulensis: Nicolai Cusac Cardinalis OperaI, Parisiis 1514 (Nachdr. Frankfurt 1962) fol. 9 9 -114', da diese Ausgabe im­ mer noch, solange ein kritischer Text innerhalb der Heidelberger Akademie-Ausgabe fehlt, der am weitesten verbreitete ist (Abk.: P). - Verwiesen sei auf eine durch und

Überprüfung

Visio facialis —Sehen ins Angesicht

187

gemalten Bild (,icona dei‘) und die damit verbundene meditative Aneig­ nung dieses Vorgangs im Einzelnen und im „Erfahrungs-Austausch“ mit Anderen, die den selben Blick aus dem selben Gesicht und aus dem selben Bild sehen, wird zur Hinführung (manuductio), Einübung oder ,excitatio‘ ins intellektuale und überbegriffliche, wahre Sehen des göttlichen Sehens selbst: „Erfahrung“ (experimentaliter) dieses Bildes, aus dem Gott und zugleich (im Sinne trinitarischer Einheit) Jesus Christus mich, d.h. jeden Einzelnen und Alle(s) zugleich und auf einmal - mit einem Blick - an­ blickt, ist das Zentrum und die Spitze eines allgemeinen aenigmatischen Erfahrens und Begreifens. Der „Blickwinkel“ (angulus oculi) oder die Per­ spektive des je Einzelnen geht auf den Allen gemeinsamen Einen hin, der in sich selbst bleibt, der er ist, obgleich die Perspektiven auf ihn hin sich verändern mögen. Nur scheinbar „geht“ er „mit“ diesen Perspektiven, in Wahrheit ist er der konstruktive Grund der Möglichkeit von Perspektiven überhaupt. Wir „gehen mit“ ihm, er ist nur so unser „Schatten“, daß er

Kollation von 22 Handschriften von Jasper Hopkins dankenswerterweise erstellte Edition des Textes in: Nicholas o f Cusas Dialectical Mysticism. Text, Translation and Interpretive Study o f De visione dei by Jasper Hopkins, Minneapolis 1985 (110-269). Die aus ,De visione dei‘ gemäß P zitierten Texte habe ich, wo es nötig schien, an den Text von Hopkins angegli­ chen. - Zu vergleichen ist weiterhin die Ausgabe Giovanni Santinellos mit eigenständigem lateinischem Text und italienischer Übersetzung: Nicolö Cusano, Scritti Filosofici, vol. II 260-379, Bologna 1980. - Die lat.-deutsche Studien- und Jubiläumsausgabe (Nikolaus von Kues, Philosophisch-theologische Schriften, Bd. III 93-219, Wien 1967, hg. v. L. Gabriel, übers, v. D. u. W. Dupre) benutzt als Übersetzungsgrundlage offensichtlich den Text der Pariser Ausgabe, mit gelegentlichen Verweisen auf Cod. Cus. 219. - Die übrigen Schriften des Cusanus zitiere ich nach der Heidelberger Akademie-Ausgabe (Abk.: h mit Bandzahl, numeri-Einteilung [= n.] und Zeile) oder nach P. Bei Schriften, die ich öfter zitiere, wie­ derhole ich nicht immer die Bandzahl von h, um das Schriftbild nicht noch weiter zu kom­ plizieren. Abkürzungen zitierter Schriften des Cusanus: vis.: de visione Dei (P) [Vgl. S. 223.] compl. theol.: de complementis theologicis (P) doct. ign.: de docta ignorantia (h I) Apol. doct. ign.: Apologia doctae ignorantiae (h II) coni.: de coniecturis (h III) c]uacr. deum: de quaerendo deum (h IV) fil. dci.: de filiatione Dei (h IV) sap.: Idiota de sapientia (h V) de mente: Idiota de mente (h V) posscst: l'rialogus de possest (h X I,2) ap. theor.: de apice theoriae (h XII) non .iliud: Diicvtio speiulantis sou de li non aliud (h XIII)

ι88

Visio facialis —Sehen ins Angesicht

dessen und unsere eigene „Wahrheit“ ist20. Der Gedanke der Perspektivität unseres Sehens relativiert allerdings weder das Ziel des Sehens, welches sich ihm als Grund der Möglichkeit von Perspektiven überhaupt und nicht als ein durch’s Sehen selbst Konstituiertes zeigt, noch relativiert er das Sehen des je Einzelnen derart, als ob ein jeweils verschiedener Standpunkt das in­ dividuale Sehen wesentlich verunsicherte oder gar vom Seh-Ziel abdrängte. Endliches Sehen ist zwar im Vergleich mit dem ,visus abstractus4und ,absolutus4 ein „eingeschränktes“ (,visus contractas4): durch Zeit und Raum bestimmt, nicht auf Alles zugleich, sondern nur auf Eines, Einiges oder auf solches bezogen, das aus der Vielheit seiner Elemente heraus in eine von Anderem differente Gestalt gefügt ist; zudem ist endlich-contractes Sehen aufgrund seines durch ,alteritas4 bestimmten Bereichs einer ,praecisio absoluta4 nicht fähig. Schließt man nun vom sinnlichen Sehen der ,icona dei4, das sich aus einer für sich differenten individualen Perspektive heraus vollzieht, auf das intellectuale oder mystische Sehen Gottes jedes Einzelnen, so ist dieses zwar —auch als höchste Form von Sehen —hic et nunc ebenso als ein „eingeschränktes“ Sehen zu denken, jedoch so, daß sich unter bestimmten jeweils herstellbaren Bedingungen für jeden Einzelnen in analoger Intensität die Chance ergibt, aus dem Bereich von Andersheit und Vielheit heraus das Eine göttliche Sehen —sein ,Angesicht4- selbst zu sehen, so wie alle möglichen, voneinander unterschiedenen Punkte aus der Peripherie eines Kreises durch die Radien („Blickwinkel“) auf das sie be­ gründende und erhaltende Zentrum unmittelbar bezogen sind. Die Kreis­ metapher soll unter anderem verdeutlichen, daß in der Verschränkung von absolutem und contractem Sehen in der Dimension des Sinnlichen ein 20 vis. 15; P 107r, 14 ff. 18: es igitur deus meus sic umbra quod veritas. Sic es imago mea et cuiuslibet quod exemplar. Zur Problematik einer Verkehrung dieses Verhältnisses vgl. W. Beierwaltes, Identität und Differenz 174,114. - Zum Kontext des Perspektive-Gedankens: N. Herold, Bild der Wahrheit - Wahrheit des Bildes. Zur Deutung des ,Blicks aus dem Bild‘ in der Cusanischen Schrift ,De visione Dei‘, in: Wahrheit und Begründung, hg. v. V. Ger­ hardt u. N. Herold, Würzburg 1985, 71-98, bes. 83 fr. - Erinnernde Hinweise auf den Blick der sinnlichen Augen auf die gemalte ,icona dei‘, von der ein Impuls zum intellectualen und letztlich mystischen Sehen Gottes ausgehen soll, durchziehen die gesamte Schrift ,De visione Dei‘ wie ein „Argument“ . Dies macht deutlich: Eine ,manuductio‘ durch die Erfahrung sinnlicher Phänomene aus dem Bereich des Sinnlichen heraus auf das Intelligible, den Be­ reich des Ursprungs hin, ist notwendig, da eine derartige Bewegung als ein kontinuierlicher Übergang eingeleitet werden muß, bis sie zu dem am „Ende“ geforderten Selbst-Uberstieg des Denkens, zum „Sprung“ ins Un-Endliche (transilire, vgl. S. 23f) fähig ist. Die inten­ dierte Unmittelbarkeit zum Absoluten bedarf der sinnlichen und begriff! ichc'n Vermittlung.

Visio facialis - Sehen ins Angesicht

189

freilich asymmetrischer Bezug wirksam ist, der in analoger Form im „geisti­ gen“ Sehen erfahren wird: „Unser“ Sehen (Gottes im Bild) ist zugleich ein von ihm (dem aus dem Bilde Blickenden) Gesehen- Werden, dies jedoch dergestalt, daß unser durch den göttlichen Blick Gesehen- Werden als das aktiv auf uns zugehende, uns er-sehende Sehen Gottes selbst die ontologi­ sche Priorität hat. Es ist „vor“ unserer Zuwendung da21. 21 2; 99v 4 0 f. 5; ioov43ff: ... nisi adsis prius. Ades antequam ad te convertar. —Für die Begründung des menschlichen Gott-Sehens im Sehen Gottes selbst (Sehen = Gesehen-Werden) habe ich in „Identität und Differenz“ 146, Anm. 2 auf Eckharts Pred. 12 (DW I 201, 5-8) verweisend den Satz zitiert: Daz ouge, da inne ich got sihe, daz ist daz selbe ouge, da inne mich got sihet: min ouge und gotes ouge daz ist ein ouge und ein gesiht ... (dies ei­ ner der im Kölner Prozeß gegen Eckhart inkriminierten Sätze: oculus, in quo video deum, est ille idem oculus, in quo me deus videt. Oculus meus et oculus dei est unus oculus et una visio vel videre ...; er könnte gerade so bei Cusanus für die ,Coincidenz‘ der beiden Blick-Richtungen stehen). In „Eriugena und Cusanus“ 325, Anm. 52 [vgl. unten, in dieser Anmerkung]) habe ich diese Stelk mit der idealistischen Rezeption Eckharts verbunden. Der Gedanke der Einheit von Sehen und Gesehen-Werden als Vollzug der Einung selbst ist auch in anderen Predigten Eckharts präsent und hat in Cusanus’ Beschreibung des Ineinandergehens der Blicke - praecurrente et constituente deo - wiederum sein Pendant: „Ez ist ze wizzene, daz daz ein ist nach dingen (= secundum rem): got bekennen und von got bekant zu sinne und got sehen und von gote gesehen zu sinne. In dem bekennen wir got und sehen, daz er uns machet gesehende unde bekennende“ (Predigt 76, D W 3, 310,13ff). Pred. 86, D W 3, 488,4f: „Nü lose wunder! Welch wunderlich stän uze und innen, begrifen und umbegriffen werden, sehen und sin diu gesiht, enthalten und enthalten werden“ . Zur Identifikation d er,visio absoluta‘ mit einem unendlichen, in sich grenzefreien Sehen gibt das Kap. 13 von „De visione dei“ die Grundlegung. - Der Blickwinkel des göttlichen Sehens ist ein unendlicher (unendlicher Kreis und unendliche Sphäre) Grund dafür, daß er Alles zugleich (coincidental) sieht: vis. 8; I02v33ff (es ... oculus); 4 0 ff. 15; io6v24: visus est interminatus ... et ita infinitus. Die Prädikation Gottes als „unendliches Auge“ (oculus infinitus: Ficino, Plat. Theol. II 10, 104 Marcel) ist wohl orphischen Ursprungs (άπειρον ομμα). Als sachliche und geschichtliche Voraussetzung des absoluten Sich-Selbst-(Er-)Se­ hens habe ich in „Identität und Differenz“ 152 den auf Porphyrios zurückgehenden und auf l ’riugena wirkenden (und damit in diesem Punkte auch auf Cusanus beziehbaren) Marius Victorinus genannt (Sehen als Konstitutionsakt der Trinität). Diesen Aspekt möchte ich gelegentlich weiter ausarbeiten. [„Platonismus im Christentum“ (20012) 25ff. 39.] —Zur Verbindung des göttlichen, absoluten Sehens mit der Etymologie von θεός als θεωρών, νμΙ. „Identität und Differenz“ , in dem Abschnitt über „Visio absoluta“ , S. 146 Anm. 3 und 171, Anm. 105. Die dort gegebenen Hinweise habe ich erweitert in „Eriugena und Cusanus“, in: E R IU G E N A R E D IV IV U S . Zur Wirkungsgeschichte seines Denkens im Mittelalter mul im Übergang zur Neuzeit, in: Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissensi halten, phil.-hist. Klasse 1986, 1. Abh., hg. v. W. Beierwaltes, Heidelberg 1987, 325, Anm. s.». I letzt in meinem Eriugena-Buch 285.] - Der Selbstbezug des göttlichen Sehens ist auch in der Anteile gemeint: ομμα onnrroi), „Du Auge Deiner selbst“ („verborgen im eigenen v41. - vivificare: 4; ioov5. - amare: 4; ioor25f; 8; i02v44f. bonitas: 4; ioor32. - misereri: y, ioovi6f (synonym mit adesse und providentia: 4; ioori3.i5f). - loqui: 10; I03v26f. - ralioiinari, scire, intelligere: 10; i03v42f. 12; io4v42. - concipere: 10; i04r8ff. - mensurare: »nmpl. tlieol. 14; III i o o ' 4 6 . n vis. S; ini'6: 11110 simplicissimo intuitu ... 10; 103*27: über die reale InI >i(leren/ der Akte Gottes, ,qui es ipsa simpliiitas absoluta', i); iosv2 iff 14; i o 6 v2 2 .

192

Visio facialis —Sehen ins Angesicht

un-endlich und daher absolutes Sehen. Gegenüber dem partiellen, durch sukzessive Differenzierung und „Blickwinkel“ eingeschränkten Sehen ist das absolute in ihm selbst und „außerhalb“ seiner unmittelbar (simul, sine flexione) in oder bei Allem; das „spiegelnde Auge Gottes“ (,oculus specularisc) ist so - frei von Blickwinkeln - „unendlicher Kreis“ und „unendliche Sphäre“, der alles Mögliche in sich selbst als Wirkliches entgrenzend und bestimmend zugleich umfaßt (vis. 8). Die Identifikation von Sehen und Schaffen in Gott läßt konsequen­ terweise das un-endlich complicative Sehen als den creativen Grund des Seins alles Endlich-Seienden erscheinen: visione tua sunt26. Die zuvor ge­ nannten Gott immanenten Wirkweisen des absoluten Sehens, die in ihrer Unterschiedenheit identischen Akte des Denkens, Sprechens, Lebendigmachens, des Sich-als-Gutes-Verströmens, machen durch Creative Intentiona­ lität eben dieses absolute Sehen als „individuell“ existierend, je verschieden umgrenzt, im Geschaffenen oder als solches „sichtbar“ und „begreifbar“. In dieser Identifikationsreihe hat im Blick auf ,creatio£ das Sprechen oder das Wort - biblisch bedingt —einen besonderen Rang. Das creativ „nach außen“ sich aussprechende göttliche Wort nämlich ersieht Welt als ein Bild des ursprunghaften, absoluten Sehens. In ihm kommt das un­ sichtbare oder verborgene Sehen Gottes zur Erscheinung: das Geschaffene oder Ersehene ist —im Sinne der eriugenischen „Theophanie“ —Gottes Sichtbarkeit, die sich selbst wiederum - rückwendend - als Sehen Gottes (gen. obj.) vollzieht27. Das polare Geschehen zwischen ,icona dei‘ und den verschiedenen Betrachtern vermag besonders gut zu verdeutlichen, daß das Creative Sehen Gottes Alles insgesamt - als Ganzes —und zugleich jedes Einzelne als individuell-Seiendes im Konstitutionsakt selbst „trifft“ und setzt28, diesem als existenzgebender Grund gegenwärtig ist und es in seinem eigenen Sein „erhält“. In diesem allgemeinen Horizont des creativen Sehens ist für das mensch­ liche Sehen der Sinn des Satzes:,absoluta visio in omni visu est‘29 strikt zu 26 vis. 10; i04r2. compl. theol.; P II 2, ioov8ff. Sermo C C L X X (267) „Ecce ascendimus Ierosolymam“ (Dom. Quinquagesimae, Brixinae 1457): Creator enim est quasi visus, qui videndo creat. Videt igitur omnia, quia eius videre est esse creaturae (V2, fol. 226b, Z. 26f). 27 vis. 12; i04v3iff. 28 vis., praefatio 99viff. 1; 99vi3: simul omnia et singula inspiciens. 8; i02v20: quomodo unico intuitu omnia simul et singulariter discernas. 22; n ir37· possest (h Xl/2, n. 58,13 sqq), mit einem Hinweis auf den ,Libellus Iconae‘: sicut enim deus omnia et singula simul videt, cuius videre est esse, ita ipse omnia et singula simul est. 29 vis. 2; 99v4of.

Visio facialis —Sehen ins Angesicht

193

verstehen: das absolute Sehen ist Grund des Seins dieses Sehens, ist aber auch im Vollzug des (endlichen) Sehens selbst wirksam. Für das mensch­ liche Sehen gilt dann in einem aus der absoluten Identität abgeleiteten, bildhaften Sinne ebenso, daß es Sehen als ein von Gottes Sehen GesehenWerden ist. Umgekehrt heißt dies: „daß du (Gott) gesehen wirst, ist nichts anders, als daß Du den siehst, der Dich sieht“. Voraussetzung also hierfür ist der zuvor skizzierte Gedanke: „Indem Du mich siehst, machst Du, daß Du von mir gesehen wirst“30. Der cusanischen Einsicht, daß des Menschen Sehen sein eigenes DurchGott-Gesehen-Werden ist, dieses sein Gesehenwerden aber Gottes Sehen selbst ist, entspricht durchaus Augustins Satz und den aus ihm entwickel­ ten Konsequenzen: „Gott sieht im Menschen“ (Conf. XIII 31, 46), oder, im Sinne des Cusanus präzisiert: Gott sieht in unserem Sehen-Gottes sich selbst. Diese Emphase einer untrennbaren Verbundenheit des unendlichen, absoluten Blicks mit dem endlichen zielt auf zweierlei: zum einen macht sie die Vorgängigkeit des Unendlichen gegenüber dem Endlichen als des­ sen Grund deutlich, zum anderen aber nobilitiert sie die grundsätzliche Endlichkeit des Menschen zum Erscheinungs- und Wirk-Ort des Unend­ lichen und begreift damit den Menschen selbst als ,alter deus£. Dies zeigt sich paradigmatisch in der folgenreichen, die Grund-Akte des Menschen einbeziehenden Modifikation des Satzes aus Matthaeus 10,20: ,Non vos estis qui loquimini, sed spiritus Patris vestri qui loquitur in vobisc, wie sie Eriugena im Hinblick auf das Wirken Gottes im Menschen entwickelt hat: „Nicht Ihr seid es, die sprechen, die bewegen, die suchen, die lieben, die seheny die leuchten, die erkennen - sondern der Geist Eures Vaters, der in Huch spricht, bewegt, sucht, liebt, sieht, leuchtet und erkennt“31. Eriugena 30 vis. 5; ioov2i ff. Zur Grundlegung dieses ineinander wirkenden Vorgangs in der ab­ soluten Identität von Sehen und Gesehen-Werden, Schaffen und Geschaffen-Werden siehe v. a. Kap. 10; io3v26ff. Vgl. Meister Eckhart, Pred. 76, D W III (Quint) 310,4F: Ez ist ze w¡///.enne, daz daz ein ist nach dingen {eins der Sache nach): got bekennen (erkennen) und von gote bekannt ze sinne und got sehen und von gote gesehen ze sinne. n Die entsprechenden Stellen bei Eriugena und Interpretationshinweise hierzu in mei­ ner Abhandlung „Sprache und Sache. Reflexionen zu Eriugenas Einschätzung von Leistung und Funktion der Sprache“ , in: Zeitschrift für phil. Forschung 38, 1984, 529-31. Zu der ihm aus Schelling angeführten Stelle füge ich aus dessen „Aphorismen zur Einleitung in dir Naturphilosophie“ (1806) hinzu: „Nicht wir, nicht ihr oder ich, wissen von Gott“ ... „I ).is Ich denke, Ich bin, ist, seit Cartesius, der Grundirrtum aller Erkenntnis; das Denken im mein Denken, mul das Sein nicht mein Sein, denn alles ist nur Gottes oder des Alls“ (I 7, 14X). ( lusanus verwendet die Matthaeus-Stelle ganz in dem von Augustinus

nullt

194

Visio facialis - Sehen ins Angesicht

wollte durch eine derartige Erweiterung und Intensivierung dieses Satzes vor allem herausheben, daß Gott selbst das Subjekt der Gotteserkenntnis oder des Gott-Sehens des Menschen ist, daß das Erleuchtung wirkende Licht Gottes als der Grund der lichtenden und sehenden Tätigkeit des Menschen anzunehmen ist, die sich als sie selbst auf eben diesen in ihm anwesenden Grund richtet. A uf die Einheit oder das Zusammenwirken von ,videre‘ und ,videri‘ hin gedacht heißt dies für Cusanus analog: Mein eigenes Sehen ist als ein von Gott-Gesehen-Werden Gottes Sehen selbst, dergestalt freilich, daß dieses in mir verdeckt sein kann, daß ich mich in ein vermeintlich eigenes Sehen hinein vom absoluten Sehen in mir abwende, wo doch erst die Zuwendung in jenes absolute Sehen in mir - in seiner „eingeschränkten“, „endlichen“ und einstweilen nur so zugänglichen Form —mein eigenes schafft oder ist. Insofern widerspricht dieser Gedanke nicht dem cusanischen FreiheitsGrundsatz: „Sei Du Dein, und ich werde Dein sein“32, sondern bestätigt diesen vielmehr: Die Entscheidung, „mir selbst zu gehören“ (meiipsius esse) oder mir selbst gehören zu wollen, kann nur durch die denkende, se­ hende und affektive (liebende) Aneignung des eigenen - zuvor schon ge­ genwärtigen —Grundes hindurch überhaupt realisiert werden. Auch darin erweist sich der Mensch als eine ,viva imago dei\ daß er die göttliche Iden­ tität von Sehen und Gesehen-Werden als Struktur des absoluten Sehens in der höchstmöglichen Durchdringung der beiden Seh-Weisen in sich selbst nachvollzieht. Die im Menschen realisierte Abschattung der innergöttli­ chen Einheit ist dessen eigenes Werden zu sich selbst: so ist auch Gott sein (des Menschen) Eigen in ihm. Das eigene, individuelle Denken und Tun des Menschen ist dazu herausgefordert, er selbst zu werden und zu sein im Bewußthaben des eigenen, absoluten Grundes.

und Eriugena vorgezeichneten Sinne, vgl. quaer. deum 2 (h IV, n. 36,7-9): ... et in lumine ipsius est omnis cognitio nostra, ut nos non simus illi, qui cognoscimus, sed potius ipse in nobis. 3 (n. 38,9 sq): ... non nos intelligemus aut vita intellectuali vivemus per nos, sed in nobis vivet deus vita infinita. [Vgl. W. B., Eriugena 59 ff. 77 ff. 28452, 316 f.] - Im Gedan­ ken einer absoluten, in Gottes Selbst-Denken oder Selbst-Affirmation sich vollziehenden Grundlegung der menschlichen Erkenntnis ist Cusanus mit dem Idealismus Schellings verbunden. Vgl. auch unten S. 220ff. 32 vis. 7; I02r2 7 ff Siehe hierzu Klaus Kremers Beitrag über „Gottes Vorsehung und die menschliche Freiheit“ in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanusgescllschaft 18. [Jetzt in: K. Kremer, Praegustatio naturalis sapicntiae. Gott suchen mit Nikolaus von Kues, Münster 2004, 319-352.]

Visio facialis - Sehen ins Angesicht

195

Das Bewußtsein des Menschen, das Eigen-Sein auf Gottes wirkendem Grunde vollziehe sich als eine in sich differenzierte Einheit von Sehen und Gesehen-Werden, als Coincidenz von endlichem und unendlichem, abso­ lutem Sehen, muß sich selbst von Anfang an als ein Sehen ins Angesicht begreifen. Sowohl im Blick auf die ,icona dei‘, als auch von der Begrün­ dung des endlichen Sehens im absoluten her (absoluta visio in omni visu est)33 ist der aus dem „Gegenstand“ oder dem „Ziel“ des endlichen Sehens herauskommende Blick „Angesicht“', visus tuus, domine, est facies tua‘; der ,visus absolutus£ ist auch ,facies absoluta4 oder das ,Angesicht der Ange­ sichte434 - letzteres in einem doppelten Sinne: absolutes Angesicht in sich und für sich selbst, zugleich aber auch Grund und Ursprung aller selbst sehenden Angesichte. Es ist damit auch identisch mit dem creativen Sehen oder konstituierenden Er-Sehen: absoluta forma, absolute Gestalt in sich selbst und damit „absolute Schönheit“ (pulchritudo absoluta), aber eben­ sosehr aktiv gestaltende Gestalt oder Sein-setzende und formende Form35. Der Creative Blick des absoluten Angesichts, aus sich selbst herausgehend und dadurch Anderes, als er selbst ist konstituierend oder formend, ist im Vergleich zur Abschattung (umbra) des ihm Eigenen zur endlichen, bild­ haften ,contractio‘ des Absoluten die Seins-begründende „ Wahrheit und das angemessenste Maß aller Angesichte“36 - Maß und Wahrheit im Sinne des „Ur-Bildes“ (exemplar), so daß das von ihm Gemessene, Bestimmte, Geformte als „Bild“ des Ur-Bildes verstanden werden muß: „die Angesichte als Bilder Deines uneinschränkbaren und unteilbaren Angesichtes“ . Aus diesem Gedanken entspringt die Überzeugung, daß sich dem menschli­ chen Blick auf die bildhaft (aenigmatisch) in ihm anwesende Wahrheit des im absoluten Sehen begründeten Angesichts die je eigene Wahrheit zeigt: Jegliches Angesicht, das in Dein Angesicht zu blicken vermag, sieht nichts Anderes oder Verschiedenes von sich selbst, weil es seine Wahrheit sieht“37, zugleich aber - per imaginem et in aenigmate, velate - die abso­ lute Wahrheit selbst. In der absoluten seine eigene Wahrheit zu sehen, ist dem Menschen nur deshalb „gegeben“, weil die absolute Wahrheit als der sich selbst durchsichtige Grund das Gegründete in ihm selbst sieht und es " vis. 2; 99v4of. u ebd. 6 ; io ir29. 7; I 0 2 r f f . 6; 101'15. 9; 103^6 (absoluta forma). 6; io iv6 (pulchritudo absoluta). 5; io ir6: haec omnia imo simplicissimo intuitu tuo operaris. is; ic)7'i6fi (umbra). 6; ioi'i6f. 6; lo i'i i II.

196

Visio facialis - Sehen ins Angesicht

so zu einem „Sehenden“ macht. Seinen Grund sehendes und dadurch sich selbst in ihm sehendes Angesicht ist als ein Modus von ontologisch kon­ stituierter und zugleich sich selbst vollziehender Wahrheit gedacht —eine zentrale Bestimmung des Menschen. Die bisher beschriebene Fügung der Blicke - des endlichen in den un­ endlichen oder absoluten —, die Grundlegung des endlichen im absoluten Sehen, die Selbstvergewisserung der eigenen Wahrheit im Blick auf deren Grund, was sich durchaus als Formen eines Sehens ins Angesicht erwies, - all dies liegt noch im Vorfeld des eigentlichen Ziels von ,De visione deic: der ,visio facialis4 im Sinne einer ,visio mystica* oder des ,mystice videre\ Cusanus’ Analyse der letztlich intendierten ,visio facialisC38 setzt ein mit 38 Zum Terminus: 6; io ir 7; 7; io iv25. 15; i0 7r23: veritas facialis,,facialis visio4z. B. auch in fil. dei 3 (h IV, n. 62,8); ,facialiter videre‘: possest (hXI/2, n. 39,8. 75,9-11. Sermo C C X X , n. 9,22f (h X IX 112). - Das Adjektiv ,facialis4, im Sinne von: ,zum Angesicht gehörig4, ,auf das Angesicht bezogen4, ,das Angesicht bestimmend4, ,angesichtlich4, ist in dem für Cusanus charakteristischen Sinne in vor-cusanischen Texten kaum adäquat nachweisbar. Es findet sich z. B. nicht, wo man es durchaus vermuten könnte, bei Augustinus. - Im Thesaurus Linguae Latinae ist es im hier gefragten Sinne nicht nachgewiesen, ebensowenig im Zet­ telmaterial des Mittellateinischen Wörterbuchs (hg. im Auftrag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Wissenschaften der D D R ); verzeich­ net ist es auch nicht in R. Busas Index Thomisticus, auch die Victoriner und Bonaventura gebrauchen es offensichtlich nicht. Einzig Du Cange, Glossarium ad Scriptores Mediae et Infimae Latinitatis III 390 verweist auf die allerdings voraussetzungs- und folgenreiche Konstitution des Papstes Benedikt XII. vom 29. Januar 1336, in der in Auseinandersetzung v. a. mit der Lehre des Papstes Johannes X XII. und seinem theologischen Gefolge definitiv festgelegt wird, daß die Seelen der Menschen unmittelbar nach dem Tode (und nicht erst nach der leiblichen Auferstehung und dem letzten Gericht) das göttliche Wesen in einer intuitiven Schau von Angesicht zu Angesicht, unmittelbar und unverhüllt sehen: ... vident divinam essentiam visione intuitiva et etiam faciali, nulla mediante creatura in ratione obiecti visi se habente, sed divina essentia immediate se nude, clare et aperte eis ostendente ... (J. D. Mansi, Sacrorum Conciliorum nova et amplissima Collectio XXV^ 986 D). Im Vorfeld dieser Konstitution ist die in wesentlichen Aspekten originelle Schrift Benedikts XII. (die er noch als Kardinal Jakob Fournier schrieb) ,De statu animarum sanctorum ante generale iudicium4zu verstehen, die in Cod. Vat. Lat. 4006 überliefert ist. In ihr, wie auch bei dem Minoritengeneral Gerardus Odonis (1329-42), einem energischen Verteidiger von Johannes XXII., wird der für den Visio-Streit zentrale Terminus ,visio facialis'oh und als ein ganz geläufiger (im Sinne von 1 Cor 13,12) gebraucht, freilich in unterschiedlicher Intention ausgelegt. Friedrich Wetter hat ,De statu animarum . . . 4 und dessen Umkreis anhand des vatikanischen Codex gründlich analysiert: Die Lehre Benedikts XII. vom intensiven Wachs­ tum der Gottesschau, Rom 1958, vgl. bes. 39 fr. Dieser Problemkomplex insgesamt (dessen Diskussion noch im Konzil von Florenz [1438-46] fortgesetzt wurde) und die darin direkt geführte Auseinandersetzung mit der theologischen Tradition muß als eine der geschicht­ lichen und sachlichen Voraussetzungen der cusanischen Konzeption mitbedaiht werden.

Visio facialis —Sehen ins Angesicht

197

einem Hinweis auf die notwendige Vorbedingung eines derartigen Sehens: Aufstieg des Denkens aus dem Begriff heraus, damit Reduktion oder Rück­ gang aus allen Formen der Differenz und damit auch aus der Konzeption des Etwas-Denkens heraus als der allgemeinsten Form des begrifflichen Denkens - eine Bewegung also, die in der ekstatischen Selbstaufhebung des Begriffs im Selbstüberstieg des Denkens kulminiert (omnem scientiam et conceptum transilit39). Sie entspricht der neuplatonischen und diony­ sischen άφαίρεσις άλλοτριου παντός, der Wegnahme alles Fremden aus dem Denken, welches das Sehen des in sich differenzlosen Einen verstellen könnte, nicht minder entspricht sie der Bewegung in die „Gelassenheit“, wie sie Meister Eckhart als Bedingung für den Durchbruch in die Gottheit fordert. Die cusanische Bewegung einer ,visio comprehensiva* über Be­ stimmtheit, Grenze, Differenz, Etwas und über sich selbst als eine Form der Differenz hinaus zeigt sich in folgender Sequenz: „Wer könnte dieses einzige wahrste und angemessenste Ur-Bild aller Angesichte begreifen - das Ur-Bild aller Angesichte insgesamt und der einzelnen (zugleich) - , so voll­ kommen das Angesicht eines jeden, daß es gleichsam nicht auch das eines Anderen sein könnte? Jener müßte alle Formen der formbaren Angesichte und alle Gestalten übersteigen. Und wie würde er das Angesicht begreifen, wenn er alle Angesichte und alle Ähnlichkeiten und Gestalten aller Ange­ sichte und alle Begriffe, die man sich von einem Angesicht machen kann, und jegliche Farbe, jeglichen Schmuck und jegliche Schönheit aller Ange­ sichte überstiege? Wer sich also Dein Angesicht zu schauen anschickt, ist weitab von Deinem Angesicht, solange er noch Etwas begreift. Jeder Begriff eines Angesichts nämlich ist geringer als Dein Angesicht“40. Die abstrahie­ rende und reduktive Bewegung geht also zunächst über die ,ratioc, den Verstand als die unterscheidende, aus den Unterscheidungen und Bestim­ mungen notwendig folgernde, diskursiv fortschreitende Fähigkeit des be­ greifenden Denkens hinaus, aber auch über den ,intellectus£, die Vernunft, y) vis. 6; 101 vi2. Vgl. Apol. doct. ign. (h II, n. 27,25 sq): ibi scire est scire se non posse scire. 40 vis. 6; io ir4 2 -io iv3: quis hoc unicum exemplar verissimum et adaequatissimum om­ ni u 111 facierum, ita omnium quod et singulorum, et ita perfectissime cuiuslibet quasi nul­ lius alterius concipere posset? oporteret illum omnium formabilium facierum formas transilire c*i omnes figuras. Et quomodo conciperet faciem, quando transcenderet omnes facies et omnes omnium facierum similitudines et figuras et omnes conceptus qui de facie fieri posswnt et omnem omnium facierum colorem et ornatum et pulchritudinem? Qui igitur ad vulendum faciem luam pergir, quamdiu aliquid concipit, longe a facie tua abest. Omnis m im conccptus de facie minor est iacic tua, Domine.

198

Visio facialis —Sehen ins Angesicht

als das Vermögen intensiveren Denkens von Einheit, wobei Einheit als Coincidenz von Gegensätzen oder von Widersprüchen zu verstehen ist; Vernunft wird im Denken der Gegensätze zur ,visio intellectualis* und ist insofern schon über die Gegensätze hinaus, kommt als ein Denken ,divinaliter‘41 der überbegrifflichen ,visio mystica£ am nächsten. Der noch am Begriff und Intellekt hängende Blick sieht das göttliche Angesicht nur „verhüllt“ und „aenigmatisch“; „enthüllt“ (revelate), „jenseits aller Verhül­ lung“ (supra omnia velamenta, sine velamine)42 hingegen sieht er es erst durch eine radikale Veränderung seiner selbst gegenüber dem bisherigen, in dieser Weise allerdings notwendigen Weg seines Denkens: durch einen Sprung aus dem Licht des Verstandes und der Vernunft in das überhelle Dunkel des unzugänglichen Lichtes der ,visio absoluta* selbst, des göttli­ chen Angesichts. Cusanus beschreibt diesen Übergang oder Sprung als die letzte Stufe der visio - als ,visio mysticac, ,mystice videre‘43, ,visio facialis4in unmittelbarem Anhalt an Dionysius Konzeption einer mystischen Theo­ logie, in deren Zentrum Moses als der ,homo videns deum£ steht, der in das Dunkel der Wolke eintritt auf das Angesicht und das Wort Gottes hin44. Cusanisch, im Kontext von ,De visione dei‘, im hierfür aufschluß­ reichsten Brief an die Mönche von Tegernsee, heißt dies: über alles Intelligible aufzusteigen - ,ignote ascendere‘ - über ,ratio‘ und ,intelligentia‘ hinaus, „sich selbst lassend“, einzutreten in den Schatten und die Dunkel­ heit, sich in sie „hineinzuwerfen“, um „mystisch zu schauen“ die „absolute Un-Endlichkeit“45; und ganz analog in ,De visione dei‘ selbst: Eintreten in ein „geheimes und verborgenes Schweigen, wo es nichts von einem Wis­ sen und Begriff eines Angesichts gibt. Dieses Dunkel, der Nebel, die Fin­ sternis oder das Nichtwissen, in die derjenige eintritt, der Dein Angesicht sucht, wenn er alles Wissen und Begreifen überspringt, dies ist dergestalt, daß unterhalb dessen Dein Angesicht nur verhüllt gefunden werden kann“ 41 coni. I 6 (h III, n. 24,4 und die dazugehörige Anm. Kochs). 42 vis. 6; io iv9ff, 13 fr, 24. 9; io3vi7. 12; i05v2i. 17; io8v42fF. Brief v. 14. Sept. 1453 an den Abt der Mönche von Tegernsee (Vansteenberghe 114,5 [vgl. Anm. 45]). 43 Vgl. Anm. 45 und 57. - Die sachliche Verbindung der cusanischen Formen der visio zu den Stufen von visiones, wie sie Augustinus von 2 Cor. 12,2-4 (,raptus‘) ausgehend als einen Zusammenhang entfaltet (De Genesi ad litteram XII, bes. 7 ,16 ff: visio corporalis spiritualis - intellectualis), werde ich bei anderer Gelegenheit darstellen. 44 Dion. myst. theol. 1; PG 3, 997 A - 10 0 1 A. 45 Brief vom 14. Sept. 1453 ed. Vansteenberghe 115,3 fF. 116,3 (Beiträge z. Gesch. d. Phi­ losophie d. Mittelalters, Texte u. Untersuchungen, hg. v. C. Baeumker, Bd. XIV, Münster 1915).

Visio facialis —Sehen ins Angesicht

199

- also nur hier ^verhüllt, offen, wie es als absolutes Sehen in sich selbst ist - , „das Dunkel aber enthüllt, daß dort das Angesicht jenseits oder frei von aller Verhüllung ist“46. Paradox, daß gerade das Dunkel offenbart, daß es zeigt und enthüllt, daß sich im überhellen Dunkel das Angesicht als ,manifestatiovisio sine velamine4wird dort auch sinngleich mit ,unio‘ verstanden (114,40. ,deificatio4o d er,filiatio4als Vollendung bestimmte ( usanus schon im unmittelbaren Vorfeld von ,De visione dei4 - in ,De filiatione dei4 - als „sehende" Einung (Text in Anm. 54). Von daher fällt auch einiges Licht auf die Definition von ,filiatio1 in fil. y, 68,811 und 70,4-7: ... in intellectuali intuitione coincidit esse unum in quo omnia et esse omnia in quo unum, tune recte deificamur, quando ad hoc exaltamur, ut 111 mm simus ipsum in quo omnia et in omnibus unum.

Visio facialis —Sehen ins Angesicht

204

gen - gemäß der alten Maxime ,simile simili4, „Ähnliches nur durch Ähn­ liches“ in ihr wirkt die absolute Einheit des Ursprungs aller Weisen des Erfahrens und Denkens am intensivsten und kann diese deshalb in ihrer jeweiligen Eigentümlichkeit des Sehens auch „lassen“. In ,De visione dei£ ist die skizzierte Stufung von ,visiones' und damit auch (wie sich zuvor schon gezeigt hat) die ,visio mystica sive facialis' ganz aus dem Kontext der dionysischen mystischen Theologie verstanden. Dazu gehört auch die spezifische Bedingung und Weise des nicht-sehenden Se­ hens oder der bewegte Zustand des angesichtlichen Sehens, der ausgehend von 2 Cor. 12,3 f a ls,raptus* und von der philosophischen Tradition her als e k o t c l o i c oder ,excessus' beschrieben wird58. Dieses „Hingerissensein ins Paradies“ und der durch die gnadenhafte Attraktion Gottes sich vollzie­ hende Selbstüberstieg des Denkens entspringt letztlich der Überzeugung, daß „die Welt“ zu lassen sei (omnia linquere)59, daß die Formen des begrei­ fenden Denkens in die ,visio mystica sive facialis' zu überführen seien, weil sie durch ihre Differenz-Struktur die un-endliche Einheit, die trinitarische Selbstanschauung oder das absolute Angesicht nicht zu erreichen vermö­ gen. Nur was das Denken und Sehen übersteigt, Un-Endliches also, vermag dessen,desiderium intellectuale' erfüllend zu beruhigen (quies) oder zu sät­ tigen. Den Gedanken des ,raptus' fügt Cusanus in seine für ,De visione dei' typische Lehre über die „Mauer der Coincidenz‘\ die mit der „Mauer des Paradieses “ identisch ist; er zieht aus der inneren begrifflichen Bedingtheit der ,coincidentia oppositorum' oder contradictoriorum' die Konsequenz, daß der Zusammenfall als eine gegenseitige Negation der Gegensätze oder

,

58 vis. 16; io7v35: in raptu quodam mentali. 17; io8v4i: ultra murum coincidentiae raptus est in paradisum. io8v43. l9> i09v22f. 24; ii2y20. 25; ii3v45: rapis me, ut sim supra meipsum. - Apol. doct. ign. 12,5: ... ut hoc quodam incomprehensibili intuitu quasi via momentanei raptus fia t... quaer. deum 1; n. 17,1 ff. Verbunden mit dem ,linquere omnia' (Anm. 59) possest n. 39,7ff: Quando igitur Christianus Christum videre quaerens facialiter linquet omnia quae huius mundi sunt, ut iis subtractis quae non sinebant Christum, qui de hoc mundo non est, sicuti est videri, in eo raptu fidelis in se sine aenigmate Christum videt, quia se a mundo absolutum qui est Christiformis videt, ap. theor. n. 1,5; 2,5. Marginalie 66 zu Alber­ tus’ Kommentar zur Caelestis Hierarchia des Dionysius und 592 zu Albertus’ Kommentar zur Mystica Theologia (Baur [vgl. Anm. 51] 94.112). Zu ,ekstasis‘ und ,mentis excessusc vgl. die Hinweise in meinem Buch „Denken des Einen“ , Frankfurt 1985,140 ff und 415; 419. Im Zusammenhang mit Paulus: E. Biser, Begriff und Ekstase. Vom mystischen Grund der Er­ kenntnis, in: Münchener Theologische Zeitschrift 35, 1984, 182-200, bes. 185 f. 59 quaer. deum 3; n. 42,14. 5; 50,3. vis. 25; H4r6. Zum Zusammenhang mit der neupla­ tonischen Konzeption der ,aphairesis\ Matth. 19,27 (reliquimus omnia) und mystischer „Gelassenheit“ : „Denken des Einen“ 129ff. 255!. 417. 421.

Visio facialis - Sehen ins Angesicht

205

Widersprüche in ihnen selbst zu fassen ist und somit der Gedanke der Coincidenz schon in sich ein Sein über den Gegensätzen zu verstehen gibt60. Diese durch Proklos und Dionysius stabilisierte cusanische Konzeption, daß Gott „ über den oder jenseits der Gegensätze“ sei und nur von daher der Coincidenz-Gedanke überhaupt seinen vorläufigen Sinn erfahre, ver­ bindet Cusanus mit ,raptus‘ und ,Paradies4als der Weise und dem Ziel des Uberstiegs: Das Paradies ist demnach der Ort, in dem Gott wohnt, in dem er einzig „unverhüllt“ zu finden und zu sehen ist, umgeben von der „Mauer der Gegensätze oder Widersprüche“ . Nur die Überwindung des „höchsten Geistes des Verstandes“* der das Paradies-Tor bewacht, macht ein Eintreten oder Hingerissen-Werden ins Paradies selbst möglich61. Bedingung und Medium zugleich dieses Hingerissen-Werdens ist also der Selbstüberstieg des Begriffs, die „Gelassenheit“ gegenüber dem Ver­ standesdenken zugunsten eines überbegrifflichen Sehens: ein Begriff des göttlichen Angesichts stellte sich immer noch vor dieses selbst, ver-stellte es, wie die „Mauer“ des Paradieses als ein Festhalten an den zunächst distinkt gedachten Gegensätzen im Coincidenzprinzip eben dieses selbst ver­ stellt. ,Ultra murum coincidentiae, und dies heißt: ,in paradiso4 sind die der göttlichen Trinität immanenten ,distinctiones4 nicht als „wirkliche“, d. h. als Vielheit begründende Andersheiten zu verstehen, sondern jenseits aller Gegensätzlichkeit als reine Identität, die trotz ihres Selbstbezuges das „einfachste“ Selbst ist: ,ipsa simplicissima essentia absoluta4, ,pluralitas sine numero4, ,alteritas sine alteritate, quia est alteritas quae identitas4 (cap. 17). I )as sich entgrenzende und daher unterschiedsfreie „paradiesische“ Sehen kann, wenn es im Angesicht Jesu zugleich die trinitarische Liebe sieht, i,() H i e r z u K . F l a s c h , D i e M e t a p h y s i k d e s E i n e n b e i N i k o l a u s v o n K u e s , L e i d e n 1 9 7 3 ,

i«;.| ff.

2 19 fr.

- ,M

a u e r 4 is t t r e n n e n d e G r e n z e ( s e p a r a t : v i s .

13;

z u r G r e n z e - lo s ig k e it,

U n - E n d lic h k e it h in , a b e r a u c h G r e n z e o d e r ,E n d e 4 d e s b e g r e ife n d e n D e n k e n s , w e lc h e s .m s d i e s e m h e r a u s z u „ ü b e r w i n d e n 44 is t , o d e r w e l c h e s s ic h s e l b s t i m B l i c k a u f s e in Z i e l z u ü b e r s t e ig e n h a t . Z u r k o m p l e x e n B e d e u t u n g d e s ,m u r u s p a r a d i s i 4 v g l . d e n B e i t r a g v o n R u -

ilolf I l a u b s t in „ M i t t e i l u n g e n u n d F o r s c h u n g s b e i t r ä g e d e r C u s a n u s - G e s e l l s c h a f t “ , B d . 18. f'1 Sehen im Paradies - revelate: vis. 9; 103^7.12; I05r2i. 17; io8v42. 23; in r6. - ipsa caligo icvclat: 6; 101 vi 3. - Für diesen Wächter-Geist vor dem Tore des Paradieses (cuius portam t ustodit spiritus altissimus rationis [9; io3vi8. 10; I03v4i: (ostium,) quod angelus custodit in mp,icssii paradisi constitutus]) ist zunächst an Gen. 3,24 - wenigstens in einem formalen Sinne zu erinnern: „ ... et collocavit [Dominus Deus] ante paradisum voluptatis Che­ rubim, ct Hammeum gladium, aujue versatilem, ad custodiendam viam ligni vitae; dann iibct auch an die l'.ngel, wachcnd und geleitend, an jedem Gesims des Läuterungsberges in Ihtnln „( iönlichcr Komödie“ . Im Bereich des in sich gestuften Übergangs bereiten sie des Wanderers «visio dei' im Paradies vor.

20 6

Visio facialis —Sehen ins Angesicht

nur darauf aus sein, die sich in dieser Liebe verbindende (nexus) Einheit der Drei zu sehen (unitrinitas —triunitas). Diese geht aus ihrem eigenen Anfang (principium), sich mit sich selbst vermittelnd (medium), in das mit beiden „gleiche“ Eine Band hervor: ,finis£ dieser Bewegung in die Selbstgleichheit (aequalitas) ist der zeitfreie, nicht veränderbare Anfang selbst. Von der sinnlichen Erfahrung der ,icona deic aus ist allerdings der Ge­ danke schwer zu vollziehen, daß man im mystischen Sehen gerade die differenzierenden Konturen, die ja das je eigene Aussehen des Angesichts ausmachen, „lassen“ oder vergessen soll. Das durch’s Sehen der ,icona ge­ weckte und intensivierte ,desiderium deum ipsum videndi' und das kon­ sequente Denken des trinitarisch Einen über dem Ineinsfall der Gegen­ sätze fordert indes die Überwindung des ,spiritus altissimus rationis£, des den begreifenden Verstand repräsentierenden Paradies-Wächters, entschie­ den heraus. Dieser Akt - eine Form der Selbstnegation um der erstreb­ ten, vollkommenen Selbstidentität willen - läuft einer möglicherweise in sich beschlossenen Alltagserfahrung des Menschen freilich stracks zuwi­ der. Dennoch sollte eine ,visio facialis* aus ihr heraus im Selbstüberstieg des Denkens durchaus möglich sein. Im Sinne des Cusanus und der von ihm spirituell geleiteten Mönche von Tegernsee wäre sie sogar das höchste innerweltliche Ziel, auf dem tragenden Grunde göttlichen Sich-Schenkens die Spitze menschlicher Möglichkeit. Unter dem Aspekt der Zeit kann nämlich die nur „dort“, d.h. ,ultra murum coincidentiae', ,in paradiso' gelingende ,visio facialis' zweifach verstanden werden: einmal als eschatologische, am Ende der Lebenszeit oder Weltzeit sich ereignende, identisch mit der endgültig ,beseligenden Schau'62, zum anderen aber auch als eine punktuelle Entrückung in der Zeit: deren augenblickhafte Negation durch Ekstasis und Einung, der wiederum Zeit folgt. Trotz der von Cusanus aus der Intensität und Intelligibilität des über-begrifflichen „Gegenstandes“ heraus erfahrenen „Leichtigkeit“63 mystischer Theologie erscheint aber die 62 Vgl. z. B. vis. 25; ii4 rio. 63 vis. 99r6. 24; ii3r38. sap. I, n. 7,11. II, n. 28,10 sq: nulla est facilior difficultas quam di­ vina speculari, ubi delectado coincidit in difficultate (s. auch die Anm. von R. Steiger zu den beiden Stellen). - Der Gedanke des Cusanus, daß das zuhöchst Intelligible oder der höch­ ste, ontologisch intensivste Gedanke (Gott als ,conceptus absolutus‘) und das zugleich über den Begriff Hinausgehende für endliches Denken paradoxerweise das „Leichteste'1 sein soll, hat (neben der als „Speise der Seele“ metaphorisierten Wahrheit) eine Analogie in Platons „mythischem“, d.h. den philosophischen Gedanken sinnenfallig profilierendem Konzept, daß der Anblick des wahren Seins, der Idee, das Lastende, Herabziehende (Pol. 5 1 9 b 1; s n d

Visio facialis - Sehen ins Angesicht

20 7

reale Erfahrung der mystischen ,visio' im ,raptus' auch für Cusanus als eine schwer erreichbare Extrem- und Grenz-Situation. So bekennt er: „Ich (Cu­ sanus) habe versucht, mich der Entrückung zu unterwerfen, vertrauend auf Deine unendliche Güte, damit ich Dich, den Unsichtbaren, und die unenthüllbare Schau enthüllt sähe. Wie weit ich jedoch vorangekommen bin, Du weißt es; ich aber weiß es nicht; und es genügt mir Deine Gnade, durch die Du mich gewiß machst, damit ich unter Deiner Führung in den Genuß Deines Angesichts gelange''64.

III Die theologischen Voraussetzungen der von Cusanus gegen die eigene End­ lichkeit intendierten ,visio facialis' sind im ersten Teil dieser Überlegungen beschrieben: die Negation der Möglichkeit überhaupt und die eschatologische, in der Selbstoffenbarung Gottes gründende Hoffnung auf ein Sehen seines Angesichts liegen in dialektischem Streit, in dem allerdings die Hoffnung den Weg bereitet auch für eine innerweltliche mystische Vorwegnahme des Sehens ins Angesicht. Die philosophischen Implikationen der Entfaltung dieses Gedankens durch Cusanus zeigen sich vor allem in der Denkform eines nicht-intentionalen, nicht vergegenständlichenden oder objektivierend-vors teilenden Denkens, eines differenz-losen, sich mit seinem Ziel „intuitiv“ einenden i f ) abstößt, die Seele dadurch „leicht“ macht (K O ix p i^ e x a i), - im „Mythos“ gesprochen: der Blick in die „Ebene der Wahrheit“ läßt ihr Flügel wachsen. Diese sind Symbole eben dieser intelligiblen Leichtigkeit. Vgl. Phaidros 247 d 3 ff. 248 b 6 ff. 249 c 4 ff. 64 vis. 17; io8v42-46: Conatus sum me subiicere raptui confisus de infinita bonitate iiia: ut viderem te invisibilem et visionem revelatam irrevelabilem. Quo autem perveni, tu scis: ego autem nescio (Reminiszenz an 2 Cor 12,3, so daß die ,uniocfaktisch doch gelun­ gen sein kann !), et sufficit mihi gratia tua, qua me certum reddis te incomprehensibilem e ss e , et erigis in spem firmam, quod ad fruitionem tui te duce perveniam. Wer die „visio“ einmal vollzogen hat, vermag auch Anderen den Weg dorthin zu zeigen. Im Anschluß an diese Behauptung gesteht Cusanus in einem Brief an Caspar Aindorffer vom 22. September 1 S2 (Vansteenberghe 113,6): Ego, si quid scripsero aut dixero, incertius erit; nondum enim gustavi quoniam suavis est Dominus. - Zur biblisch bedingten Metapher ,gustarec (Psalm 11,9: gustate et videte, quoniam suavis est dominus) vgl. auch den Brief vom 18. März 1454 an Bernhard von Waging (Vansteenberghe 134,16ff), aber auch die Marginalie des Cusanus /11 Platons Phaidros 247dl nota quomodo mens ascendens supra celos circumfertur in cir1 11 l. i t iont* ubi lontemplamr id quod est et veritatis contemplatione nutritur et gaudet ... (t '.tui. ( us. 177, fol. k >9v in marg. superiore, tiansstripsit C. Bormann).

2 o8

Visio facialis - Sehen ins Angesicht

Sehens. Hierin, so sagte ich, treffen sich mystische Theologie und philo­ sophische Mystik. Diese Denkform möchte ich als einen Grundzug des Neuplatonismus skizzieren. Dabei soll nicht in allen Fällen eine direkte Abhängigkeit des Cusanus vom neuplatonischen Denken behauptet oder suggeriert werden. Eine solche ist vor allem im Blick auf manche Philosopheme des Proklos historisch nachweisbar, indirekt zu Proklos und Plotin hin ist sie allerdings durch die intensive Verbindung des Cusanus mit Dionysius - theolo­ gorum maximus465 - unbezweifelbar gegeben. Die neuplatonische Denkform eines nicht-intentionalen Sehens als Analogie zur cusanischen ,simplex visio mentis4 oder ,visio mystica be­ stimmt vor allem den „ekstatischen44 Vorgang oder/und den punktuellen „Zustand44 der Einung (Henosis) mit dem Einen selbst, dem das Prädikat des im höchsten Sinne Göttlichen oder des Gottes selbst (αύτόθεος) zu­ kommt. Die ontologischen, gnoseologischen und lebensweltlich-prakti­ schen oder ethischen Voraussetzungen dieser extremen, aber durch alle reflexiven Akte hindurch erstrebten Vollendung eines Weges kann ich in diesem Zusammenhang nicht angemessen analysieren66. Ich beschränke mich deshalb auf einige knapp bemessene Hinweise, die den Schein der Unvermitteltheit allerdings nur für den verlieren, der den vermittelnden Kontext dieses zentralen Gedankens mitzubedenken bereit ist. Dies ist captatio benevolentiae und adhortatio lectoris zugleich. Die Einung mit dem Einen selbst wird von Plotin vorwiegend als ein Akt des Sehens beschrieben, das sich mit dem von ihm gesehenen Ersten und Höchsten im Augenblick der Einung ohne bleibende Differenz, ohne Abstand, un-vermittelt (μεταξύ γάρ ουδέv)67 identifiziert. Der Sehende ist mit dem Gesehenen oder Geschauten dergestalt eins, daß in diesem Akt ei­ gentlich nicht,Geschautes4oder,Gesehenes4„gesehen“ wird, sondern ,Ge­ eintes4 ist (μή έωραμένον, άλλ’ ήνωμένον)68. Es bedarf also - sofern man 65 non aliud 14; 29,22. [Cusanus - Proklos: W. Beierwaltes, „Procliana“ 165 ff.] 66 Ich habe dies ausführlich getan u. a. in „Denken des Einen“ 123 ff - im Kontext des Gedankens der All-Einheit und der neuplatonischen Bild-Konzeption. Für Proklos bes. S. 254ff und 281 ff. Uber die ontologische Voraussetzung - Differenz und deren Aufhe­ b u n g -: „Identität und Differenz“ 24ff. A uf eine Beschreibung der Transformation der Seele in Nus (νοωθήναι) au f „Henosis“ hin muß ich hier auch verzichten (Denken des Einen 101. 131); es ist dies als Intensivierung der Einheit im Denken die notwendige Vorstufe des nicht-intentionalen Sehens, der „Intuition“ , [vgl. „Das wahre Selbst“ .] 67 VI 7, 34, 13. 68 V I , 9 , i i , 6 .

Visio facialis - Sehen ins Angesicht

209

überhaupt noch von Sehen sprechen will - einer von der gewöhnlichen, d. h. trennenden, Einzelnes identifizierenden und dadurch unterscheiden­ den Form des Sehens „verschiedenen Weise des Sehens oder Blickens“ (άλλος τρόπος του ίδειν)69, die der Ekstasis und der Selbsthingabe ins Eine entspricht. Das Licht des Einen, die Augen des Schauenden (θεατής) erfüllend, läßt nichts Anderes außer ihm selbst sichtbar werden, so daß in dem Identifikationsakt von Schauendem und „Schaunis“ (θέαμα) das Licht selbst ausschließlich das Gesehene ist70. Der auf den Gott Zugehende „vereinigt sein (eigenes) Sehen mit dem Angeschauten, so daß, was vorher Gesehenes (oder Sehbares) war, nun zum (eigenen) Sehen wird“71. Diese „andere Weise des Sehens“ kommt einer „anderen Weise des Denkens“ gleich, in der das diskursive Fortschreiten, aber auch die höchstmögliche Einheit in der Differenz (die den νους charakterisiert) aufgehoben ist; in ihm ist das Vorreflexive des Denkens, der vom Einen selbst herrührende einigende und zum Selbstüberstieg des Denkens hin bewegende Grund des Denkens mobilisiert: das dem Einen in uns Ähnliche, oder, wie Proklos es nennt, „die Blüte des Geistes“, das „Eine in uns“, das sich und damit „uns“ einzig mit dem Einen an sich zu verbinden und zu vereinen imstande ist72. Diese Einung geschieht also durch „Nicht-Geist“ (μή νω)73, der sich ge­ genüber dem νους νοών, seiner denkend durchdrungenen Voraussetzung, als νους έρών erweist - als „liebender Geist, wenn er un-verständig wird, trunken vom Nektar“74. Das Abstandlose, Differenz-lose und Ungegen­ 69 Ebd. 11,22f. 10,14: τό τε μέν οΰν οΰτε όρα ουδέ διακρίνει ό όρων. VI 7>35>3°: άλλως ... βλέπειν. 70 V I 7 , 3 6 , n f . 2 0 f: α ύ τ ό τ ό φ ω ς τ ό δ ρ α μ α ή ν . 1 6 , 9 , 1 8 : . . . δ λ ο ς α υ τ ό ς φ ω ς ά λ η θ ι ν ό ν μ ό ν ο ν . ,V e r s c h m e l z e n i d e r L i c h t e r in d e r E i n u n g : „ D e n k e n d e s E i n e n “ 1 3 9 f.

71 VI 7,35, 146 ... άλλα τη ν οψιν αύτοΰ συγκεράσαιτο τω θεάματι, ώστε έν αύτω ι'ίδΐ] τό όρατόνπρότερον οψιν γ ε γ ο ν έν α ι...

71

W . B e i e r w a l t e s , P r o k l o s , G r u n d z ü g e s e in e r M e t a p h y s i k , F r a n k f u r t 1 9 7 9 2, 3 6 7 f r ü b e r

d .is E in e s e lb s t u n d d a s E i n e i n u n s . „ D e n k e n d e s E i n e n “ 2 7 4 f r .

’ * V 5,8,23. VI 7,35,29f: εχ ει δέ και τό μή νοειν [ό νους], αλλά άλλως έκεΐνον βλέJtnv. Proclus in Parm. (Cousin) 1080,9fE in Tim. I 258,7 (Diehl): νο εί τω έαυτοϋ μή νω. tu pliil. chald. 4 (Oracles Chaldaiques, ed. E. des Places, Paris 1971, 2o6ff; 209,29). ’ ‘ VI 7,35, 24f. Proclus, in Parm. 1080,i o f (bezieht sich ausdrücklich auf diese PlotinSirllc). in Parm. VII 58,14fr (Klibansky). Dazu die Marginalie des Cusanus: Proclus, Commrnt.mc sur le Parmenide de Platon, Traduction de Guillaume de Moerbeke, ed. C. Steel, II. I ruven 1985,545 /u p. 511,71-81, und: Cusanus-Texte, III Marginalien, 2. Proclus Latinus. I hv Kx/crptc und Randnoten des Nikolaus von Kues zu den lateinischen Übersetzungen dri Pkk luv Schriften, 1.1 Kxpositio in Parmenidem Platonis, hg. v. K. Bormann (Abh. d. I Indrlbrigri Ak. d. Wiss., pliil. hist. KK, Jahrgang 1986, Abh.), Heidelberg 1986, 149f.

210

Visio facialis —Sehen ins Angesicht

ständliche als Bedingung dieses Zustandes kommt auch in dem Terminus έοτιβολή άαιλή, άθρόα und αύτοπτική zum Ausdruck: einfaches „SichHinwerfen“ ohne theoretischen Abstand, „gedrängter“, ohne trennende Relationalität im Einen selbst aufgehender, in es übergehender Blick, oder ein Blick, der der Selbsterscheinung des Gottes unvermittelt ansichtig wird (αύτόαττης)75. Der nicht-intentionale, sich mit dem Gesehenen, d. h. dem 75 VI 3,18,12. VI 7,35,21: ε π ι β ο λ ή (von der denkenden Einheit des Geistes und seinem Verhältnis zum Einen gesagt). VI 7,39,2fr (im mystischen Sinne für die Henosis). I 6,9,30: έ π ιβ ά λ λ ε ιν τ η θ έ α .

Proclus in Tim. I 3 0 1 , 2 6 : σ υ ν ε χ ή ς ε π ι β ο λ ή - ► έ π ι β ο λ ή α ύ τ ο π τ ι κ ή ( 3 0 2 , ΐ 2 0 , im Kon­ text der ε ν ω σ ι ς mit dem gefundenen G ott ( δ η μ ι ο υ ρ γ ό ς ) : . . . ο τ ι τ ο ν ε ύ ρ ό ν τ α λ έ γ ε ι ν ώ ς ε ίδ ε π ρ ό ς τ ιν α ς α δ ύ ν α τ ο ν ο ύ δ έ γ ά ρ ή ε ύ ρ ε σ ις λ ε γ ο ύ σ η ς τ ι τ ή ς ψ υ χ ή ς ή ν , ά λ λ α μ υ ο ύ σ η ς κ α ι ύ π ε σ τ ρ ω μ έ ν η ς π ρ ό ς τ ό θ ε ιο ν φ ω ς , ο ύ δ έ κ ιν ο ύ μ ε ν η ς ο ίκ ε ία ν κ ίν η σ ιν , α λ λ ά

in Ale. 2 4 6 , 1 7 (Westerink), in Parm. 1 1 2 5 , 2 0 . Prov. (Boese): epibolis (id est adiectionibus) simplicibus et velut autopticis (im Nus); im Selbstdenken und Eins-Werden der Seele mit dem Nus: „Et enim videtur scientia quidem esse anime, secundum quod est anima cognitio; intellectus autem, secundum quod anima est ymago eius qui ut vere intellectus. Et enim ille videns intellectualia, magis autem ens, una, inquit, epibole (id est iniectione vel intuitu) et attactu intellectorum se ipsumque in­ telligentem et illa in se ipso entia conspicit, propter quod et intelligit que est, et quod intelligens est simul intelligit, cognoscens et se ipsum quis est. Hunc igitur imitans secundum quod potest anima fit et ipsa intellectus, scientiam supracurrens et relinquens multas me­ thodos in quibus prius decorabatur ... ( 3 0 , 1 1 - 2 0 ) . Dies entspräche wohl der cusanischen ,visio intellectualis4. Vgl. auch „Denken des Einen“ 1 4 1 f. 2 7 2 . Plotin, Uber Ewigkeit und Zeit, Frankfurt 19813, 5 7 f. In diesem Kontext ist es aufschlußreich, daß Damaskios (I 154,15-156,8 Ruelle) die Grundzüge eines intuitiven, nicht-gegenständlichen, differenzlosen Erkennens entwickelt. Bezugspunkt ist das in einem Fragment der Chaldäischen Orakel genannte, nur mit der „Blüte des Geistes“ Zu-Denkende ( ε σ τ ι ν γ ά ρ τ ι ν ο η τ ό ν , δ χ ρ ή σ ε ν ο ε ΐ ν ν ό ο υ α ν θ ε ί ) : der Erste Gott, der dem neuplatonischen Einen entspricht. Diesem ist nicht eine Form der Erkenntnis adäquat, die sich dem Gegenstand „heftig entgegenstellt“ ( ή σ φ ό δ ρ α κ α ι ά ν τ ε ρ ε ί δ ο υ σ α π ρ ό ς τ ι γ ν ω σ τ ό ν ) , oder „die das Zu-Denkende sich anzueignen bestrebt ist“ ( ή σ π ε ύ δ ο υ σ α έ α υ τ ή ς π ο ι ή σ α ι τ ό ν ο η τ ό ν ) , sondern nur eine solche, „die sich jenem gegen­ über läßt“, um in dessen Einfachheit überzugehen ( ή ά φ ι ε ί σ α έ α υ τ ή ν έ κ ε ί ν ω π ρ ό ς τ ή ν ε ι ς α ύ τ ό ά ν ά π λ ω σ ι ν ) ; diese Form des Erkennens schließt jede Unterscheidung und Trennung ( δ ι ά κ ρ ι σ ι ς , δ ι ο ρ ι σ μ ό ς ) aus, sie negiert die Differenz zum Ziel der erkennenden Bewegung, „selbst (in sich) einsgeworden strebt sie danach, mit dem Geeinten ( ν ο η τ ό ν , Erster Gott) zusammenzufließen“ ( ή ν ω μ έ ν η π ρ ό ς ή ν ω μ έ ν ο ν ά ν α χ ε ΐ σ θ α ι ε π ε ί γ ε τ α ι ) . Intentionales Denken wird unterschiedslos zum Zu-Denkenden selbst ( ε ι ς τ ό ά δ ι ά κ ρ ι τ ο ν τ ο υ ν ο η τ ο ύ σ υ ν η ρ η μ έ ν ο ν ) . Dem Geeinten gegenüber kann also eine ihm adäquate Erkenntnis nicht „eidetisch“ verfahren: von sich selbst her eine bestimmte Form, Gestalt, Etwas ausgrenzend, „umschreibend“ , sondern sie muß sich vielmehr selbst „mehr von jenem umschreiben (aus­ grenzen, in sich aufnehmen) und bestimmen lassen, bis sich dieses selbst in die Schau gibt“ :

σ ιω π ώ σ η ς τ ή ν ο ιο ν σ ιω π ή ν ( 3 0 3 ,4 - 8 ) . 3 0 , 4 ff

ο ύ γ ά ρ έ σ τ ιν ή τ ο ιά δ ε γ ν ώ σ ις ο ϊα π ε ρ ιγ ρ ά φ ε ιν τ ό ν ο η τ ό ν , ά λ λ α π ε ρ ιγ ρ ά φ ισ θ α ι μ ά λ λ ο ν

Visio facialis —Sehen ins Angesicht

211

Einen selbst identifizierende Blick kann dieses (adäquat) gar nicht mehr als „Etwas“ denken76. Wie die Realisierung des Einheitsgrundes im Den­ ken dieses auf seiner Spitze selbst negiert (μή νους), so ist auch das Sehen, das, aus dem Bereich der Aisthesis herausgenommen, noch die adäquate­ ste Begegnungsform mit dem Einen über das Denken hinaus sein mag, dem in sich relationslosen Einen „gegenüber“ gerade kein Sehen mehr im ursprünglichen, landläufigen Sinne. Deshalb - wie bei Cusanus - die paradoxen Formulierungen im Blick auf den Vorgang der Erleuchtung und Henosis: „Dann sieht (das Auge) nicht sehend und gerade da sieht es am meisten“, wenn es das Licht selbst sieht ... „sich vor Anderem ver­ hüllend und sich ins Innere sammelnd wird (der Geist) nichts sehen, kein Licht, das ein Anderes an einem Anderen wäre, sondern als ein selbst fiir sich allein, rein in sich selbst plötzlich Erscheinendes . . . “77. - Auch im Sinne des Proklos führt der Aufstieg oder die Transformation der Seele in die dynamische Selbstidentität des Nus zur immer größeren Einung des Denkens mit sich selbst, in der das vorreflexive Eine in uns (unum anime) im Selbstüberstieg des Denkens voll zur Wirkung kommt. Nur dies - die vorgängige Einung der Seele und des Geistes in ihr in den ,flos intellec­ tus4hinein - ermöglicht die endgültige Einung mit dem Einen selbst. Die Seele, „die Augen schließend vor den Gedanken, stumm geworden und ήπ’ ¿κείνου καί όρίζεσθαι, μέχρις όσου έαυτό έπιδώσιν εις την θέα ν

( 1 5 5 ,1 6 - 1 8 ) . D ie s e

v o m h ö c h s t e n u n g e g e n s t ä n d l i c h e n G e g e n s t a n d d e s E r k e n n e n s a u s g e h e n d e B e s t i m m u n g is t o f f e n s i c h t l i c h a u c h v e r s t e h b a r a ls d a s Z u s a m m e n t r e f f e n , d a s S i c h - V e r e i n i g e n d e s „ U n u m -

l’i c n z b a r e n “ (άπερίγραφον) a u f beiden S e i t e n , d i e e b e n d a d u r c h s e l b s t a u f g e h o b e n , n e g i e r t w e r d e n ( 1 5 5 ,6 f r πάντα άρνησομένη διορισμόν ... ούκ οντα). D a s U n u m g r e n z b a r e in d e r I )y ii a m is d e s E r k e n n e n s a b e r is t d i e a n f a n g s g e n a n n t e ü b e r - r e f l e x i v e „ B l ü t e d e s G e i s t e s “ , so d a ß d i e E i n u n g in d e r h ö c h s t e n A r t d e s E r k e n n e n s a n a l o g d e m p l o t i n i s c h e n κέντρω μ ντρον συνάψας ( V I 9 , 1 0 , 1 7 ) z u d e n k e n is t : ... έαυτήν άφεισα καί άναχυθεΐσα ολη εις Γκτινο, τω έαυτής άπεριγράφω τό έκείνου άπερίγραφον έλ εΐν πειραθεΐσα, καί ταύτη Νοιΐ)σαμένη τό νοητόν έαυτης, η του νοητού αυτή γεγένητα ι ( 1 5 5 , 2 2 - 2 5 ) . Ί' P r o c l u s , in p h i l . c h a ld . ( v g l. A n m . 7 3 ) 4 ; 2 1 0 , 4 . P r o v . 3 1 , 1 5 f. P lo t . V 5 , 7 , 2 9 - 3 4 : τό τε γάρ ούχ όρων όρά καί μάλιστα τό τε όρα· φως γάρ όρά* iflusio (sc diffundere: PT XII 3; II 162) in sachlicher Verbindung zur Bestimmung »In piiiua causa «der des bonum als „diffusivum sui“ . Der „neuplatonische“ Ursprung die« 1 I mmel is 1 bei Ihomas von Aquin, De veritate, qu. 21, art. 1,4 angedeutet: Praeterea, ut pnicn a< t ipi ex die tis Dionysii in IV cap. de div. Nomin., bonum est diffusivum sui esse. V'fll Irm a : Summa contra gentiles I 37; III 24. Bonaventura, Itinerarium VI 2. Ps.-Dion. A m npap.iia, de iliv. 110111. IV 1; PG 694 B. PT II 7; I 92: Summa bonitas ... sese commut«i« tti II 11; mH: Welt als similitudo Gottes, der sich „gleichsam als eigentümlichen Grund

26ο

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

versalen göttlichen Wirkens denkt Ficino zum anderen die Universal-Seele als den Einheit stiftenden Grund der Welt: et quia ipsa vera est univer­ sorum connexio, dum in alia migrat, non deserit alia, sed migrat in sin­ gula, ac semper cuncta conservat, ut merito dici possit centrum naturae, universorum medium, mundi series, vultus omnium nodusque et copula mundi94. Näherhin ist die gewirkte Einheit hier zu verstehen als Verbin­ dung (connexio, copula, conspiratio)95 des Einzelnen untereinander auf den Ursprung hin, von dem das Gegründete nie total trennbar ist. In dieser auf Einheit hin ordnenden, die Differenz des Einzelnen dennoch bewah­ renden Wirkung der Welt-Seele ist die Kontinuität (συνέχεια) des Seienden insgesamt, dessen lückenloser Bezug zum absoluten Anfang begründet. Als eine Form von Prinzip-gerichteter Einheit besteht Kontinuität demnach aufgrund der formenden Omnipräsenz einer Seele in der Welt, die nur soy d. h. als Eine, „das Universum vollkommen zu verbinden, zu beleben und zu bewegen vermag“96. Amor ist als einigende Vermittlung die primäre Wirkweise der WeltSeele97; wie diese wird auch amor als ,nodus perpetuus et copula mundi£ aller Formen begreift“ . In bezug auf Ordnung und Schönheit der Welt: Ipse vero decor est ipse Deus, a quo et per quem omnia decentia fiunt (PT I I 12; 113). II 7; 96: vestigium. Ebd. 95: speculum. X II 4; I I 166. 94 PT III 2; 1 142. 95 PT IV 1; I 161: Conspirare, conspiratio, II 7; 96: Agentia vero plurima et diversa in unum opus, quod est esse, non conspirant, nisi quia ipsa sunt unum. 96 PT IV 1; I 161: ... universum perfecte connectere, vivificare, movere. Für die neuplatonischen Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte vgl. J. M . Rist, Eros and Psyche. Studies in Plato, Plotinus, and Origen, Toronto 1964. C. J. de Vogel, „Amor quo caelum regitur“ , in Vivarium 1, 1963, 2-34. 97 A III 3; 165: Quamobrem omnes mundi partes quia unius artificis opera sunt eiusdem machinae membra inter se in essendo et vivendo similia, mutua quadam caritate sibi invicem vinciuntur, ut merito dici possit amor nodus perpetuus et copula mundi partiumque eius immobile substentaculum ac firmum totius machinae fundamentum. Zu: „mutua quadam caritate“ etc. vgl. auch Augustinus de musica VI 56: ... qua (i. e. bonitate principii) inter se (scii, omnia) unum et de uno unum carissima, ut ita dicam, caritate iunguntur. - Die plato­ nische φιλία (Tim. 32 c 2) ist in Ciceros Timaios-Ubersetzung mit „concordi quadam ami­ citia et caritate“ wiedergegeben. Zentrale Stelle zu φιλία του κόσμου: Procl. in Tim. II 53, 13-19. - Aus der platonisch-dionysisch-augustinischen Tradition heraus erscheint Eriugenas Konzeption von kosmologischem amor wie ein Vorgriff auf das Renaissance-Denken: amor est connexio ac vinculum, quo omnium rerum universitas ineffabili amicitia insolubilique unitate copulatur. ... Merito ergo amor deus dicitur, quia omnis amoris causa est et per omnia diffunditur et in unum colligit omnia et ad se ipsum ineffabili regressu revolvitur totiusque creaturae amatorios motus in se ipso terminat (Periphyseon I 210,25 ff. 2.12,1 j flSIiel-

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen verstanden98. Dies heißt: Er ist eine das Geschaffen-Seiende insgesamt durchdringende, im eigentlichen Sinne kosmo-logische Kraft, da er das in sich unterschiedene, abgegrenzte und bestimmte Seiende zu einer Ein­ tracht (concordia) verbindet99, es damit zugleich ordnet und schön macht; er ist nicht nur konstituierender Anfang des Seienden (effectio), dessen formierende und vervollkommnende Bewegung, sondern hat auch die Funktion der Bewahrung des Seienden (servator omnium, conservatio), die einer ,restitutio in integrum* gleichkommt; in der vielheitlichen, in sich disparaten Materialität läßt er den einen und einigenden intelligiblen Grund erscheinen100. Reduktion ist also zugleich Vergeistigung des Sei­ enden insgesamt. Das Wirken der Welt-Seele als Vermittlung zur Einheit und zum Grunde hin und damit auch das Wirken von amor in Welt und Mensch ist bedingt durch den ontologischen Af/te-Charakter des Seelischen überhaupt. Dies ist ein originär neuplatonischer Grundgedanke: Seele ist seiende und zu­ gleich wirkende Mitte. Sie ist selbst durch eine intensivere Form der Ein­ heit, den N us101, begründet und kann nur als solche die seinskonstitutive Einheit in die Existenz der sinnenfälligen Welt hinein vermitteln. In ihr also, als einem eigenen hypostatischen Bereich, durchdringen sich Geisti­ ges und Sinnenfälliges; sie ist die unterscheidende Grenze (μεθόριον)102 und Vermittlung zugleich - Vermittlung ebensosehr im konstitutiven wie im reduktiven Sinne, d.h. der Rückbindung des Sinnenfälligen an das Intelligible. don-Williams). Die „magnetisch“ (212,31 fi) anziehende Liebe ist auch als absolute Schönheit verstehbar (ebd. 212,27F. IV 16; PL 122,823 D). Schönheit bewegt als Liebe und Geliebtes zugleich auf sich hin: das universale Ziel. 98 A III 3; 165. 99 Unitas et concordia: A III 2; 162. 100 Effectio-conservatio: ebd. IV 6; 177. - V I I 14; 259. IV 5; 175: in pristinam illam integritatem (= Einheit) restituí. V II 13,257: furor divinus ... per quam Deus animam ... ab inferís ad superna retrahit. V I 9; 212: ... statim a formae corporalis aspectu ad spiritalis atque divinae considerationem erigimur. Ebd.: Incipit (amor omnis) ab aspectu ... ascendit in mentem. V 2; 179: Der Weg vom Äußeren als Ansatzpunkt zum Inneren durch Eros. 1 3; i.jo: conversio, formado. 101 Zur neuplatonischen Entfaltung des platonischen Gedankens „Seele als Mitte und Sitz des Mathematischen“ , welches zwischen dem reinen Intelligiblen und dem Sinnenl'.illigen vermittelt: J. Trouillard, „La médiation de l’âme“ , in: L’un et l’âme selon Proclos, Paris 1972,27fr. W. ßcicrwaltcs, Proklos 196ff, 200 ff, 205ff. Ders. Plotin. Über Ewigkeit und Zeit 51 ff. ,(” Plot. IV 4 ,Mi.

262

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

Vermittelnde Funktion hat aufgrund ihres Wesensbezugs zur UniversalSeele auch die menschliche Seele. Sie ist sozusagen „doppellebig“ 103: vom Intelligiblen begründet und in ihrer zeitlichen Existenz immer noch in ihm gründend; hieraus allein verfügt sie über die reduktive Kraft, d. h. über die Fähigkeit, alles Materielle und Körperhafte ins Intelligible erkennend zu­ rückzuführen. Ihr Mitte-Charakter postuliert zugleich, daß sie sich durch Reflexion immer mehr aus der disparaten Vielheit zurückziehe und sich dadurch der ursprunghaften Einheit ähnlich mache, um den Ursprung schließlich selbst zu berühren oder mit ihm eins zu werden. In sachlicher Nähe zu dem primär von Proklos bestimmten Liber de Causis104 entwickelt Ficino den Begriff „Seele“ als vermittelnde Mitte zwischen Ewigkeit und Zeit: gemäß ihrer Substanz hat sie an der Ewigkeit teil (eius enim substantia eadem semper absque ulla incrementi aut decrementi mutatione perdurat); ihr Wirken aber (operado) vollzieht sich in Zeit105. Daraus resultiert der Gedanke, der Mensch sei selbst vermittelnde Mitte. Amor und dessen Ten­ denz zum Intelligiblen, repräsentiert im intelligiblen Schönen, macht die prinzipielle Richtung dieser Vermittlung deutlich. Durch neuplatonisches Denken intensiv und weitläufig begründet, erneuert sich darin zugleich Augustins Konzeption vom Menschen als eines „experimentum (suae) medietatis“. In ihm bewährt sich die Entscheidungs-Freiheit des Menschen. Als Konsequenz aus dem Mitte-Sein der menschlichen Seele und damit des Menschen überhaupt ergibt sich für eine sinnvolle und gesollte Form 103 Plot. IV 8,4,31 ff. 104 Prop. 2: Anima est in horizonte aeternitatis inferius et supra tempus. Vgl. hierzu: Philosophische Rundschau 11, 1964, 213 f. - Thomas von Aquin, Summa contra gentiles II 68: Anima intellectualis dicitur esse quasi quidam horizon et confinium corporeorum et incorporeorum. Ficino, Brief an J. Bracciolinus Poggi, Opera I 657: ... in orizonte, id est, in confinio. 105 A V I 1 6; 233. PT I 4; I 57: partim immobile, partim etiam mobile. PT III 2; I 141: dividua simul et individua. Individua et divisibilis essentia: Porph. de occasionibus, Fic. Opera II 1929. PT III 1; 132: Stabit eius substantia ... fluet autem operado. V 2; 175. Die Seele ist Mitte und Vermittlung in den Intensitätsgraden des Seins (medium obtinens): vinculum naturae totius, Ficino PT I 1; I 39. Mitte als „rationale“ Funktion: PT X III 4; II 230 ff. Obgleich dieser Grundgedanke plotinisch ist, führt das Interesse Ficinos, „Seele“ als ontologische Mitte aller Dimensionen zu erweisen, offensichtlich zu einer Modifikation eines plotinischen Grundgedankens: anstelle der drei (terminologisch streng nicht sechs!) Hypostasen Plotins, als deren unterste oder letzte die Seele fungiert, nimmt Ficino fünf in sich abgegrenzte aber doch aufeinander bezogene Bereiche an, als deren Mitte die Seele erscheint: „G ott-E n ge l-Se e le -Q u alität-K ö rp e r“ . Vgl. hierzu P. O. Kristeller, Die Philo­ sophie des Marsilio Ficino 88 ff.

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

263

menschlichen Lebens, daß der Mensch durch sensus, imaginatio, phanta­ sia und intellectus, also durch Sinnlichkeit und Reflexion die Stufen des Seins (rerum gradus)106 durchmesse und aufsteige zum begründenden, universalen Prinzip. Maß dieses Aufstiegs ist das absolute Eine (rerum omnium terminus et mensura)107, es bewirkt als Ziel von Denken und Handeln eine immer größere Einheit oder Stimmigkeit (Konzentration auf das Zentrum) im Denken und Handeln. Ebensosehr aber ist die absolute Schönheit als eine Erscheinungsform des göttlichen Guten und Einen das wirkende Moment im Aufstieg: Fons itaque totius pulchritudinis deus est. Fons ergo totius amoris est deus108. Seit Plotin und Augustinus ist dieser Aufstieg, wie zuvor schon angedeutet worden ist, als eine Abstraktionsbe­ wegung zu verstehen, die sich Zug um Zug von der vielheitlichen Mate­ rialität und auch von der Vielheit des Seelischen und Geistigen auf eine immer intensivere Einheit zurücknimmt (detrahere, relinquere, tollere, reducere)109. Diese Bewegung auf die dem Denken eigene und es zugleich transzendierende, absolute Einheit hin vollzieht sich als Aktivierung des Selbstbewußtseins oder als Selbstreflexion; die Bewegung zur Einheit hin „verengt“ nur scheinbar, in der Tat führt sie in die Freiheit und Fülle110. Anti-Narcissus ist ihr Symbol111.

106 A V I 15; 230. 107 A V I I 13; 257. 108 A V I 17; 234. 109 Ebd. 234f. PT V III 1; I 289. Zum Aufstieg als Abstraktionsbewegung (àcpatQeaiç) vj'J. Plotin I 2,4,6. V 3,17,38. Zu Augustinus vgl.: Aequalitas numerosa (Anm. 25), i5off. 110 PT I X 1; II 9: Reflecti, converti in se (von der Seele gesagt). V I 2; I 227: ... ergo relicIis umbrae huius angustiis, revertere in teipsam. Sic enim reverteris in amplum. Immensam «ssf scito in spiritu amplitudinem, in corpore vero infinitam, ut ita loquar, angustiam. Brief .ml orenzo di Pierfrancesco de’ Medici, Opera I 805: Non enim sunt haec alicubi nobis extra •|ii.ierenda, nempe totum in nobis est caelum, quibus igneus vigor inest et caelestis origo. 1 )t i eigene Gedanke Ficinos stimmt mit dem überein, was er im Anschluß an Proklos Im nuilierte, auf die Seele selbst übertragen: Notes sur Proclus, Zeile 337 fF, ed. H. D. Saffrey, „Notes Platoniciennes de Marsile Ficin dans un Manuscrit de Proclus“ , in: Bibliothèque «I I lumanisme et Renaissance 21, 1959, 117. Zu conversio und Aufstieg vgl. ferner PT X 7; II Kv XII 2; 158. A VII 14; 258fr. - Die neuplatonischen Voraussetzungen dieses Gedankens weiden christlich modifiziert durch den Begriff der Gnade - das ,unum in nobis‘ wird zur Wiiluinj», Gottes: quod ad Deum non ascenditur sine Deo (Untertitel des Dialogus inter ii in et Animam, den ,raptus Pauli* betreffend, Bd. III [Marcel] 347). - Zum théologi­ I en hrn Aspekt von Ficinos lirkenntnislehre vgl. J. Nolte, Pauli Mysteria, in: Wort Gottes in «In /eit, Festschrift K. II. St heikle, Düsseldorf 1973, 274-287. 111 V}*l. A VI 17; 2.J5.

264

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

Damit kehrt unsere Überlegung wieder zu der intendierten Form von amor zurück: Er ist das die Dimension des Menschlichen insgesamt be­ stimmende Element der introspektiven und zugleich transzendierenden Bewegung des affektiven Denkens; geleitet oder gelockt wird er, ein ,furor divinus‘, durch die Schönheit als einen Ausdruck oder eine Erscheinungs­ form von Einheit. Amor antwortet also auf das im Schönen erscheinende Eine durch ,purificatio‘ und ,unificatioc der Seele. Wenn auch die sinnli­ che Erfahrung den Anfang dieser Bewegung macht, so ist doch ihr Ziel das Eine selbst, welches sich als göttliche Schönheit „zeigt“. Mit ihm ver­ einigt sich das Eine in uns (unitas nostra) „tactu, ut ita loquar, unifico“ 112 mit dem Einen und Guten selbst, indem es das Denken über sich selbst hinaustreibt. Dadurch ist amor nicht nur vermittelnde, sondern auch eini­ gende Kraft, indem sie das vorreflexive Element - „unsere Einheit“ - durch Reflexion auf die Einheit selbst hin in Bewegung setzt113. Verbindung oder Einung mit der Einheit aber entspricht einer visio (divinae) pulchritudinis114. Freilich muß diese visio - analog Plotin - als ein objekt- oder differenz-Ä?^ Sehen (supra mentem)115 und so als höchste Form mensch­ licher Einheit durch Liebe begriffen werden. Im Sinne neuplatonischer und christlicher Metaphorik kommt eine derartige ,unificatioc der Seele in die höchste, alle Bewegung beruhigende Einheit und erhellende Schönheit einem ,revolare in patriam‘ gleich116. Das Erreichen dieses Zieles liebenden ,Sehens4 ist zugleich der Stand höchsten Glücks117. 112 PT X II 3; I I 165. Zum Terminus vgl. auch Pico, de hominis dignitate: unitatis centrum suae (seil, hominis), Opera, Basel 1557, 315. 113 A V I I 14; 259. Der Gedanke, daß Liebe der „erste, höchste und beständige Affekt des Willens“ ist, macht die „innere Übereinstimmung zwischen der Willens- und Liebestheorie“ bei Ficino deutlich: P. O. Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino 252. Die damit zusammenhängende für Ficino typische Frage nach Priorität oder Parallelismus von Wille und Intellekt muß hier nicht erörtert werden. Vgl. für diese Problematik außer Kristeller a.a.O. 238ff u. a. Jayne Sears, John Colet and Marsilio Ficino, Oxford 1963, 56-78 und M. J. B. Allen, Introduction to Marsilio Ficino, The Philebus Commentary, Berkeley 1975, 35 fF. 114 Ebd. 260. A V I 8; 211: amor ad divinam pulchritudinem pervidendam. 115 Ebd. 259, Z. 6. Plotin VI 9,11,5 f: ev fjv aircöc, o iötbv otQÖc; xö ecoQa(i8vov, dx; äv \lf\ 8CÖQ(X|i8V0 V, äXX’ T|VCD|i£VOV. 116 A V II 16; 260. Vgl. Plotin I 6,8,i6ff (jtaTQig). Für Augustinus z.B.: en. in Psalm. X XX VIII 8,5-7. 117 A V I I 14; 259 f. PT X V III 8; III 207 f. 220. - Ein Hinweis auf Cusanus mag den Ho­ rizont erweitern, aus dem heraus eine Theorie des Schönen in der Renaissance sich entfaltet. Während sich Ficino - besonders in ,De amore‘ - vorwiegend an Platon und Plot in orien­ tiert, aber auch eine Kenntnis thomasischer Kategorien deutlich werden läßt, zeigt ( Cusanus

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

265

Aus dem Fiorizont des reflexiven, in die ursprunghafte Einheit und Schönheit tendierenden Aufstiegs sind auch Wesen und Funktion von Kunst zu verstehen. Dabei ist freilich bewußt zu halten, daß Kunst im in seinen Reflexionen über das Schöne eine intensive Verbindung zu Ps.-Dionysius Areopagita und zu dessen Kommentator Albertus Magnus. Die neuplatonischen Implikationen im Denken des ersteren, die Cusanus übernimmt, verursachen allerdings auch in Cusanus’ Konzeption einen neuplatonischen und damit Ficino analogen Grundzug des Begriffs. Aus­ führlich entfaltet hat Cusanus einen derartigen Begriff des Schönen in seiner Predigt ,In I )ie Nativitatis Mariae 1456* über Canticum 4,7: „Tota pulchra es, amica mea, et macula non est in te“ (Edizione critica e introduzione a cura di Giovanni Santinello, Padova 1959. I )ic· folgenden Zitate beziehen sich auf Seiten und Zeilen dieser Ausgabe. [Jetzt als Sermo ( '( 'XLIII in h X IX 254ff.]). Eine Grundbestimmung, die Cusanus von Dionysius und Al­ bertus für den Begriff des Schönen übernimmt, ist ,consonantia diversorumc (32,6) oder pmportio, die armonía, concordantia, ordo stiftet (33, 3 ff. 33,21. 38,16). Schönheit ist daher als eine intensive Form von Einheit zu begreifen: Einheit ist Grund von Schönheit, deren rus cst ... 37,3). Die dionysisch-neuplatonisch gedachte „übersubstantiale“ Einheit ist Si hon heit und Licht in einem; aus ihr bestimmt sich sowohl der „inhaltliche“ Aspekt des St Iinnen: Proportion zu sein oder sie zu erwirken, als auch der „formale“ : „Glanz“ oder das /11 einer proportionierten Einheit verbindende „Strahlen“ (resplendentia, relucere: 32,5. 33,8; ii tK,17; 24). ,Splendor formae‘ (33,3), ,resplendentia‘ und die Verbindung von ,consonantia Mvc pmportio et claritas‘ (33,21) als Bestimmungen des Schönen spiegeln sich in Ficinos Be1ii 1111111 ig des Schönen als ,lucida proportio‘ wider (vgl. Anm. 86). —Die absolute Schönheit In 11achtet sich selbst“ oder „denkt sich selbst“ ... et in sui ipsius amorem inardescit (37,3ff). I »iiM s Nich-selbst-Denken oder Sich-selbst-Sehen ist die absolute Weise der Einheit oder S» hon heit, sich selbst und alles in ihm Gründende zu umfassen (complicado), zugleich aber *!t 1 * .rund von deren Entfaltung (explicatio, processio) in das Einzeln-Eine oder Einzeln­ st In tur (17,19 ff. 39,2; 7 ff). Dieser Creative Akt wirkt im Sinne der Bestimmung des Schönen mu murren l'orm als „Formgebung“ - formado. Gemäß dem neuplatonischen, sowohl von August inus (formado - conversio) als auch Dionysius übernommenen Gedanken, daß der »Milvri s.ile ( ¡rund zugleich Ziel der von ihm ausgehenden Bewegung ist, muß die Creative (»miim!«)' auch als ,attractio‘ verstanden werden: haec formado est attractio (38,6. motus itttiil.ilis ... ex pulchro in pulchrum ... revertí: 34,29ff). Die absolute Schönheit oder der Hut II des Schönen“ (fons pulchritudinis) verursacht also auch die kosmologisch und anh zu lassende Rück-Bewegung des Seienden, sie zieht (attrahit) an sich, „ruft“ (vnt .ii) /11 skh oiler „versammelt“ (congregat) in sich (31,8flF, zur Etymologie kalon - vot*m vpj Anm. /K. - Cus. 33,6 ff. 34,3 ff. 37,24). Die menschliche Antwort auf die AttraktitlMi *I« 1 absoluten Schönheit ist amor oder desiderium (32,13; 20. 34,14. 39,4. 40,2. Amor Mi {Milt In 11 minus finis: pulchritudo vult amari. Deus est ipsa pulchritudo, quia (qui?) vult ütiiii i, w. 1 1 m): diese als Aufstieg gedachte Bewegung vollzieht sich - in gewisser Analogie #tim phHomst hen .Symposion' und zu hicinos Fortführung - durch Liebe aus dem Bereich flHtilit Im» St honheit über die „unseres Geistes“ hin zur absoluten Schönheit: aspiremus

2 66

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

ästhetischen Sinne sich auch bei Ficino analog der griechischen Konzep­ tion von τέχνη aus einem universalen Begriff von Kunst heraus bestimmt. Kunst ist - ganz allgemein —eine von Ideen geleitete, herstellende („pro­ duktive“), schöpferische Tätigkeit oder Fertigkeit des Menschen. Sie ist Ausdruck seiner Wurde und Macht, mit der er sich die Materie der Welt „unterwirft“ (subicere, tractare, imperare, gubernare etc.)118. Er führt sie in andere Formen und Gestalten über und steigert dadurch deren Seinsqua­ lität. In dieser creativen, transformierenden Fähigkeit erweist der Mensch seine Ähnlichkeit mit Gott (artes ... Deum naturae artificem imitantur)119, die - extrem formuliert - eine ,endliche Identität mit ihm suggeriert: homo quidam Deus, Deus in terra120. Diese theologische4 Differenz des Menschen zu allem welthaft nicht-rational Seienden durch seine theore­ tischen und creativen Möglichkeiten versteht Ficino als einen der vielen Erweise für die Unsterblichkeit der Seele121. Freilich bleibt diese Steige­ rung des Mensch-Seins innerhalb von dessen grundsätzlicher Grenze, sei­ ner Geschaffenheit: er ist selber artificium des göttlichen artifex. Auch seine höchste schöpferische Aktivität ist ein Nachzeichnen des göttlichen Bildes - ,imitatio\ Dies zeigt sich einmal in der Magie als einer vom Menschen ausgeübten Fertigkeit; sie ist Nachahmung der Magie der Natur, d. h. der durch eine kosmologisch verstandene Liebe sich vollziehenden inneren Anziehung (attractio) und Verwandtschaft (cognatio) der Konstituentien der Natur selbst. Magie des Menschen ist daher lediglich „Dienerin“ der cum nostra pulchritudine amore continuo conformari pulchritudini fontali (39,31). Die intellektuell-emotionale Antwort ist auch verstehbar als imitatio der absoluten Liebe Gottes selbst (Gott als sui ipsius amor und bonum sui ipsius diffusivum, 37,4; 22). Die Skizze des cusanischen Gedankens macht deutlich, daß sowohl der Begriff des Schönen selbst als auch die enge Zusammengehörigkeit von Schönheit und Liebe in der Konzeption Ficinos ihre Entsprechung haben. Nur dies sollte hier gezeigt werden. Für Cusanus ausführlicher vgl. G. Santinello, II pensiero di Nicolo Cusano nella sua prospettiva estetica, Padova 1958. 118 PT X III 3; II 224 ff· Zum universalen Begriff von ars vgl. auch PT XI 5; I I 129. P. O. Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino, 287 ff. 119 PT XIII 3; II 225. 120 Ebd. 225. 229. X VI 6; III 129. X IV 1; II 246ff: deus fieri. Ebd. 5; 261 ff. Ep. an Fi­ lippo Carducci (Opera I 863) zitiert Ps. 82,6: Vos quoque dii estis et filii excelsi omnes. Bei Ficino wie bei Pico findet sich der Satz aus ,Hermes Trismegistus4: „magnum miraculum esse hominem . . . (\>μΓν° ν μιμούνται, άλλ’ άνατρέχουσιν έπ ίτο ύς λόγους, έξ ών ή φύσις. IV 3,11,1-8: ι »I ij'Jüse Kunst (ιερά καί αγάλματα) ist als ein auf die Götter, deren Anwesenheit (παρεΐναι) • i s« lim wird, „Abgestimmtes“ (προοπαθές) in der Form der Mimesis fähig, diese „aufzuiirlimrn'1 „wie ein Spiegel eine Gestalt zu erhaschen vermag“ . E. de Keyser, La significaiioit de l’art (vgl. Anm. 33) 53-57 hat diese Stelle vom „magischen Aspekt“ des Kunstwerkes Im i vei standen, hierzu offensichtlich motiviert durch Plotins Konzeption eines universalen , Zusammenhangs“ des Seienden, den die Seele bewirkt. Im Kontext von Plotins „Sprache i)i 1 Mimesis“ vgl. hierzu F. M. Schroeder, Representation and reflection in Plotinus, in: I Μ·»11 v'sius.}, 1980, 37-60. Dies vorbereitend von demselben: The Platonic Parmenides and Iniii.iiion in Plotinus, in: Dionysius 2,1978, 51-73. [W. Beierwaltes, Das wahre Selbst, 64ff.] UM PT X 111 11 223. IX 3; II 13: materias illas excellentiores reddat (von der Phantasie MMtl Kunsilertigkeit des Bildhauers gesagt). Vgl. Plot. V 8,1,36f. ' J’’ PT XIII; II 12). M0 Plot. VX.MKf. 1 M X II 69. Vgl. die Aussage Angelo Polizianos über seine schriftstellerische Tätlglirlt im I lori/ont der Alternative »Imitation oder Originalität4: Non exprimis (inquit i»ii»|uh) ( ’uemnem. Quid tum? Non enim sum Cicero, me (nicht: ne) tarnen (ut opinor)

270

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

analog dem götdichen artifex, der sich in der Welt als seinem Werk wie in einem Bild ausdrückt und spiegelt. Weil Ausdruck oder Spiegelung eine Relation darstellt, kann das Verhältnis von Künstler und Kunstwerk auch unter der Kategorie , Wahrheit‘ begriffen werden, sofern diese philo­ sophisch als Übereinstimmung von Aussage und Sachverhalt verstanden wird: Wahrheit des durch oder als Kunst Geschaffenen ist der Zustand der geglückten Übereinstimmung von Kunstwerk mit der Idee des Künst­ lers132. Wenn man den Horizont menschlichen Kunstschaffens - die Geschaffenheit des Menschen selbst —als dessen innere Begrenzung bedenkt, dann schließt die Selbstdarstellung des Menschen in der Kunst freilich nicht aus, daß die Kunstwerke im Rückgang auf die rationes internae der Natur in einer vermittelten Weise Gott selbst widerspiegeln133. Sofern Kunst überhaupt, ihre ästhetische Form aber im besonderen, das Intelligible oder die Idee konkretisierend oder einen ihrer Aspekte verein­ zelnd in einer sinnenfälligen, schönen Gestalt darstellt, ist sie einbezogen in den zuvor beschriebenen, durch Eros bewegten Rückgang und Aufstieg des Menschen zum Intelligiblen und letztlich zum Einen oder Schönen selbst. Auf eine vermittelte Weise ist sie kosmologisch und damit ontolo­ gisch grundgelegt. Analog dem Schönen selbst hat so auch Kunst appellativen Charakter und eine anagogische, den Akt des Transzendierens provo­ zierende* Funktion134. Wie das von der Idee begründete und durchdrunexprimo (in einem Brief an Paulus Cottesius, Ep. lib. V III 1 6; Angeli Politiani et aliorum virorum illustrium Epistolae, Amsterdam 1644, 308). Von der Analogie menschlicher Kunst zu ihrem göttlichen Grund her ist zu bedenken, daß die Termini „exprimere“ oder „expressio“ (vgl. auch Anm. 74) einen christologischen (Verbum-Filius als „Ausdruck“ des Vaters) und einen schöpfungstheologischen Hintergrund haben (Welt als „Ausdruck“ oder manifestatio des schaffenden Gottes). 132 PT XI 6; II 141: ... veritas artificiorum ut congruant artificiosae mentis ideis. Dies ist ein Aspekt der späterhin differenziert entfalteten Vorstellung der „Wahrheit der Kunst“ . Vgl. hierzu W. Beierwaltes, Identität und Differenz, 258 ff. 133 PT X IV 8; II 275. 134 Zu diesem Grundzug von Kunst vgl. die in Anm. 78 zitierte Abhandlung. - Es ent­ spricht Ficinos Entwurf der die Sinnlichkeit transzendierenden Bewegung des Seienden insgesamt und der Hinwendung des Denkens oder der gesamten menschlichen Existenz in die absolute Schönheit und Einheit, daß nicht nur die bildenden Künste (für die Malerei und Plastik vgl. z.B. Botticelli [Anm. 137] und Michelangelo [Anm. 144]) eine derartige Funktion erfüllen, sondern ebensosehr die Musik - als eine imitatio der harmonia divina ac caelestis oder als eine „mikrokosmische“ Darstellung der zahlhaften Struktur der Welt (Epi­ stolae I 7; Opera I 614. 650) - vor allem aber die Poesie: Der ebenfalls durch amor bewegte ,poeticus furor‘ (A VII 13 und 14; 257fr. PT X III 2; II 203 f. Epistolae 7, Opera 1 2 ist einmal in sich selbst ein Phänomen des Überstiegs, zum anderen aber bleibt er im Resultat

I

61 H)

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

271

gene Sinnliche seinen intelligiblen Grund in ihm, dem Sinnlichen selbst, ergreifen läßt und so zum Anlaß und Incitament einer ,reductio‘ wird, so die Kunst in noch intensiverem Maße, weil sie die Natur oder die Wirk­ lichkeit schon verwandelt in sich hat oder repräsentiert: wie in der welt­ haften und menschlichen Wirklichkeit insgesamt Eros und Schönheit mit­ einander verbunden sind, so konkretisiert und verstärkt sich dieser Bezug wiederum in der Kunst. Denn Schönheit ist ihr Prinzip. Daher ist es auch die Intention des creativen Eros, Schönheit —letztlich die ,divina pulchritudo\ auf die der „wahre Eros“ zielt - im Kunstwerk erscheinen zu lassen. I )as Kunstwerk wird damit zur sinnlich erfahrbaren Repräsentation des Intelligiblen, zum Anruf (provocatio, wie das Schöne selbst), es selbst im Betrachten oder Hören auf das hin zu transzendieren, was es als sinnliche und geschichtliche Gestalt vergegenwärtigt. Darin ist auch die unendliche Interpretierbarkeit seiner nur scheinbar eindeutigen Erscheinung grundbelegt. Seine „Entschlüsselung“ führt zwar in seinen intelligiblen Grund, nicht aber zu einer planen begrifflichen Auflösung des Kunstwerks; dem steht seine stricto sensu nicht-argumentativ-begriffliche, wenn auch auf Jen Begriff bezogene, sinnliche Erscheinung entgegen. Aufgrund der Kon­ kretisierung des Schönen durch und in Kunst wird diese wie das Schöne selbst zu einem wesentlichen, wenn nicht gar notwendigen Moment in der Rückkehr des von Gott, der ,fons pulchritudinis‘, ausgehenden Kreises in ihn selbst: Deus se diffundit res producendo, allicit (qua pulchritudo) i onvertendo, perficit formando procedentia, reformando conversa135. Als sinnliche Erscheinung der Schönheit bleibt das Kunstwerk aber Ansatz und Medium der Betrachtung, die dessen Sinn in anderer, neuerWeise begreift, Ili« 111 erischen Schaffens wirksam. Insofern kann auch der das Gedicht Hörende oder Lem’MiIr in die ursprüngliche Bewegung des ,poeta creator‘ einbezogen werden (ad divinitatem |Mnpms accedere). Als extremes Beispiel für die anagogische Funktion eines Gedichtes, für im· die Transzen de nz-Bewegung (heraus) fordernde Intention mag die Canzona De Amore •Ir·» 6; 909). II h r /

(S y m m e ir ie , I la rm o n ie , E in h eit) z u m A n s a tz p u n k t d a fü r w e rd e n , d a ß die Seele des

h» H.ii h u n d e n

v o n e in e r e n t s p r e c h e n d e n ,species i n n a t a ‘ ge le ite t - aus d e r u n m i t t e l b a r e n

«l im li i h m I.i l a h r u n g d e r e r s c h e i n e n d e n , a e q u a l i t a s ‘ a u f d e r e n G r u n d z u r ü c k g e h t ( P T X I 5; II mH X I I ,n

1’ I

II

17s Iiiber

a e q u a l i t a s a ls e i n . v e s t i g i u m A u g u s t i n i 1 ]. V g l . a u c h X

4;

II

69).

X I I i; II 1 6 ; . II 1 1 ; I 1 1 1 : D e u s i g i t u r a d s e i p s u m t a n u j u a m H n e m d u c i t o m n i a .

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

wenn sie aus der ,reductio‘ immer wieder auf das Kunstwerk als sinnliche Gestalt zurückkommt: Sehen oder Hören ist durch den Rückbezug auf den Ursprungsbereich der Kunst durchaus verwandelt; der Sehende und Hörende sieht und hört anders, sofern er aufgrund einer Einsicht in den Ursprungsbereich von Kunst zu sehen und zu hören vermag. —So vollzieht sich auch das Verstehen des Kunstwerks als ein Kreis, der dessen intelligiblen Grund mit seiner Erscheinung und diese mit jenem verbindet. Grund und Erscheinung machen in ihm eine höchstmögliche Einheit aus: keines ist ohne das andere hinreichend verstehbar. Der Einfluß von Ficinos Grundgedanken über den Bezug von Eros und Schönheit auf die Dichtung der Renaissance ist schon des öfteren be­ schrieben worden136. Nicht minder wurde von der kunstgeschichtlichen Forschung Ficinos und auch Picos Bedeutung für die Malerei insbeson­ dere des Zeitgenossen Botticelli erkannt und mit unterschiedlicher Über­ zeugungskraft interpretiert137. Gerade Botticellis Bilder „Primavera“ und 136 Vgl. z. B. Nelson und Festugiere (oben Anm. 2). Ferner: A. Buck, Der Platonismus in den Dichtungen Lorenzo de’ Medicis, Diss. Leipzig, Berlin 1936. W. Moench, Die ita­ lienische Platon-Renaissance und ihre Bedeutung für Frankreichs Literatur und Geistesge­ schichte, Berlin 1936. H. Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt 1964, 290 ff. 137 Vgl. hierzu E. Panofsky, Studies in Iconology, New York 1962,129 ff. H. Gombrich, Botticellis mythologies: A Study in the Neo-Platonic Symbolism o f his Circle, in: Symbolic Images, London 1972, 33ff; 39ff. The Platonic Academy and Botticellis Art, ebd. 64 ff, 76 ff. Diese Überlegungen wollen deutlich machen, daß die neuplatonische Interpretation der weltlichen Kunst emotionale Bereiche eröffnete, die bisher religiöser Verehrung und Kunst Vorbehalten waren. In der speziellen Interpretation der Bilder Botticellis kommt Edgar Wind in manchem zu anderen Vorschlägen als Gombrich, die jedoch zumindest ebenso­ sehr in der platonischen Tradition begründet sind: Pagan Mysteries in the Renaissance, bes. 113 ff. Präziser Aufschluß über das Phänomen fehlt in A. Chastel: Marsile Ficin et l’art, G enf 1954 (reprint 1975). - Die nicht zu bestreitende Tatsache, daß es bei Ficino ein „eigentliches System der Ästhetik nicht gibt“ (Kristeller, Die Philosophie des Marsilio Ficino 287; 248), sollte die Intention nicht zurückdrängen, nach der sachlichen und auch geschichtlichen A f­ finität von Ficinos Theorie des Schönen und der Künste (im universalen Sinne) zur Kunst der Renaissance zu fragen. Auch die Konzeption der Liebe - im Sinnlichen anfangend und ins Intelligible übergehend - ist für die symbolische Struktur von Kunst und für deren sym­ bolische Betrachtungsweise aufschlußreich. Wenn Ficino in seiner Theorie des Schönen und der Liebe einen Grundzug seiner Zeit formuliert, dann scheint es auch legitim, ein anderes, den allgemeinen Charakter der Zeit nicht weniger bestimmendes Phänomen - die Kunst als ästhetische Realität - von ihr her zu verstehen. Um eine konkret-normative Wirkung einer Kunsttheorie deutlich zu machen, die mit den durch Ficino repräsentierten neuplatonischen Konzeptionen konkurriert oder sie in spezifischer Hinsicht übertrifft, wären die Schriften Leone Battista Albertis zu diskutieren. Schönheit ist für Alberti Prinzip und Ziel künstlerischen Schaffens - in Malerei, Bildhauerei

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

273

„Die Geburt der Venus“ könnten als ein Paradigma der von Ficino her denkbaren anagogischen Funktion von Kunst verstanden werden und dies in einem doppelten Sinne: einmal weist das Bild als solches über sich hin­ aus, hat eine ins Intelligible „über“- oder „rückführende“, „hinreißende“ (rapere) Bedeutung; zum anderen vergegenwärtigen die beiden Bilder in mythologischer Gestalt und Bewegung eben den Gedanken, um den das I)enken Ficinos und Picos in anderer Weise in philosophischer Reflexion kreist: Venus als erscheinende Schönheit oder als das Inbild des göttlichen ( ilanzes,,Einheit4der Venus, die sich in die ,Trias‘ der Grazien entfaltet138. Die bereits platonische, in der Renaissance vielfach im Bild dargestellte Unterscheidung von ,Venus caelestis et vulgaris4 - „Fiimmlischer und Ir­ discher Liebe“ (z.B. Tizians „Amor sacro e profano“ in der Galleria der Villa Borghese in Rom - zwei Erscheinungsformen des Einen Prinzips) ist ebensosehr von dem Gedanken der ,conversioc bestimmt139: Im Sinne Fii inos ist die Seele selbst aufgrund ihrer Flinkehr zur Schönheit und ihrer Zeugung des Schönen „Venus“ zu nennen140; ihr, der himmlischen, entuiul Architektur. Die wesentlichen Elemente der Bestimmung von Schönheit, wie AJberti sie immer wieder vorstellt, sind durchaus mit der in der platonischen und scholastischen Tra­ dition gegebenen kompatibel: wesentliche Konstituentien des Schönen sind nämlich Zahl, liest immung, Abgrenzung oder Verhältnis (finimento), die Stellung im Zusammenhang «itu s Ganzen (collocazione). Damit ist Schönheit grundsätzlich als „Harmonie“ gedacht, •I 11. als in sich stimmige Relation vieler Momente zu einer Einheit (,concordantia‘ oder • onserto delle parti‘, ,corrispondentia‘: ,concinnitas‘ durch ,proportio‘; die verschiedenen • h.iiac (eristica eines Kunstwerks sollen zudem zu „einer Schönheit zusammenstimmen“ , »Mitesponderanno ad una bellezza [Deila pittura II, S. in Janitschek]). Obgleich Albertis kuusttheorie als ganze einen durchaus „aisthetischen“ Ansatzpunkt hat, scheint es mir gei.idc im Klick auf den Begriff des Schönen als Harmonie inadäquat, Alberti einfachhin auf »iiH ii .ils antiplatonisch stilisierten „Aristotelismus“ einzuengen - Harmonie ist weder für Ai ¡Moleles noch für Alberti lediglich eine Bestimmung von Körpern, sondern auch von „Sj-rlr" mul „Vernunft“ (De re aedificatoria IX 5) - oder gar zu behaupten, „Alberti broke will» 1 lu* (hought of the Middle Ages, and even more radically, with its language“ (W. Tatarkirvvu /, I listory of Aesthetics, III 89, Mouton 1974. Im Gegensatz hierzu sachlich und ge%»liii htlivh aufschlußreich: G. Santinello, Leone Battista Alberti. Una visione estetica del mundo e della vita, Firenze 1962). 1 l*uo, C,onclusiones de modo intelligendi hymnos Orphei, nr. 8, Opera Basel 1557, t»«f. divisio unitatis Venereae in trinitatem Gratiarum. Ficino in Plotinum (Opera I I 1559): l’tili hiiimlo Venus, tribus stipata Gratiis, aggreditur animam admiranda, ut amanda conUtidiiui, in^icditur ut iucunda. 1 I u ino, Philehus-Kommentar (ed. M. J. B. Allen, Berkeley 1975) c. 11, S. 137. - Zur Wihliuhm^ ilcs genannten Bildes von Tizian zu hicinos Theorie der ,Geminae Veneres‘ vgl. |

:

I

i

h u i u h k y . S t u d i e s in k o n o l o g y 1 5 0 II, 1 7 3 ff'.

M" I l»d, 119,

Jede Seele ist seihst Aph rod ite : IMotin VI 9,9,3 off.

274

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

spricht auch der von ihr gezeugte und auf sie bezogene ,generosus amor‘141 - so daß diese Eine Venus des Bildes zweifach zu interpretieren wäre: Er­ scheinung der göttlichen Schönheit, aber auch und zugleich: Seele, die durch Rückgang in ihren Grund selbst zur Konkretion oder Erscheinung der Schönheit geworden ist. Diesem Gedanken ließe sich wohl auch die Vermutung Gombrichs verbinden, daß Ficinos Gleichsetzung von Venus und ,humanitas* in einem Brief an Lorenzo di Pierfrancesco geradezu als „Entwurfc oder „Interpretation“ der beiden Bilder Botticellis gelesen wer­ den könne142. Die Evidenz dieser Beziehung wird gestützt durch die Tat­ sache, daß „Primavera“ und „Die Geburt der Venus“ aus der Villa di Castello stammen, deren Besitzer der Adressat des genannten Briefes war143. Durch eine derartige Interpretation wird das Kunstwerk freilich nicht in seiner ästhetischen Autonomie aufgelöst oder auf „Allegorie“ restringiert, deren gedankliche Struktur die sinnliche Erscheinung nur als dessen Ve­ hikel nutzt. Vielmehr soll gerade die Einheit der beiden Aspekte: sinnliche Gestalt und Symbol- oder Verweisungscharakter des Kunstwerks heraus­ gehoben und bewußt gehalten werden. Das Kunstwerk „wiederholt“ oder vergegenwärtigt in ästhetischer Form das Wirken des Intelligiblen im Sei­ enden überhaupt, die Entfaltung des Einen in der Vielheit der Welt, die Erscheinung des Schönen selbst im Bereich des Sinnlichen und Endlichen. Daß Ficinos Theorie des Schönen sowohl für den Begriff von Kunst als auch für die Kunstwerke selbst in vielfacher Weise aufschließend sein kann, ist evident144. Gerade deshalb kam es mir in den spezifischen Überlegun­ gen zu Ficinos Kunst-Begriff - über geläufige Behauptungen hinausgehend und sie begründend - darauf an, durch eine Reflexion auf das Schöne als ontologische Struktur und als ein das menschliche Bewußtsein bewegendes 141 Ebd. 137. 142 Gombrich, Symbolic Images 33. 41 f. Fic. Ep. V (Opera I 805): Venus = humanitas. ... Est enim humanitas ipsa praestanti corpore nympha, coelesti origine nata Aethereo ante alias dilecto Deo. Siquidem eius anima spiritusque sunt amor et Caritas ... Totum denique temperantia et honestas, decus et splendor. O egregiam formam, o pulchrum spectaculum. In Plotinum (Opera I I 1559): Venus per visum alliciens ad superna. Sie gehört mit Mercurius und Phoebus zur ,trinitas reductoria‘. 143 Mit Berufung auf Vasari: A. J. Warburg, Sandro Botticellis „Geburt der Venus“ und „Frühling“ , Hamburg 1893,1 (wieder abgedruckt in: Ausgewählte Schriften und Würdigun­ gen, hg. v. D. Wuttke, Baden-Baden 1979, 15). Gombrich, Symbolic Images 33. 144 Die eminente Bedeutung etwa von Ficinos Erörterungen /A ir Stufung des Seins und des Aufstiegs für Michelangelo hat E. Panofsky in seinen ,Studies in Iconology1 171 ff über­ zeugend herausgestellt.

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

275

Moment die für den Begriff von Kunst konsequenzenreichen philosophi­ schen Implikationen dieser Theorie einigermaßen deutlich zu machen. Ihre geschichtliche Reichweite im Sinne wesentlicher Voraussetzungen, aber auch ihre sachliche Bedeutsamkeit ist zudem in der Erinnerung an Pla­ tons und Plotins Denken dokumentiert. Dieses hat Ficino der Renaissance paradigmatisch vergegenwärtigt, dergestalt, daß es sinnvoll und produktiv mit christlicher Theologie und ,religio* verbunden werden konnte. Insofern e rhellt Ficinos Theorie des Schönen und ihr Bezug zur Kunst im Kontext des Platonismus einen Grundzug der Renaissance überhaupt. Darüber hinaus könnte sie auch einem wirkungsgeschichtlich bewuß­ te n Verstehen der idealistischen Ästhetik zum Anhaltspunkt für eine be­ stimmte Kontinuität „platonischen“ Denkens werden - trotz aller Diffe­ renzen: Ficinos Konzeption des Schönen als einer „reflexiven“ Erscheinung der ursprunghaften Einheit und Gutheit im Bereich des Sinnlichen und I ikIliehen verbindet „platonische Ästhetik“ der Sache nach mit der idea­ listischen Philosophie der Kunst, sofern diese aus eigener transzendental­ philosophischer oder logisch-metaphysischer Begründung Kunst als einen „AusHuß des Absoluten“, als „Einbildung des Endlichen ins Unendliche“ (Sc helling) oder als das Erscheinen der Idee im Ideal (Hegel) begreift. „Klassisch“ im Sinne dieser Ästhetik ist konsequenterweise die höchst­ mögliche Übereinstimmung von Inhalt und Form. So könnte Hegels Kon­ zeption der Einheit von Inhalt und Form als ein Umschlagen der beiden ineinander von der angedeuteten Verbindung mit der „platonischen Äs­ thetik“ her geradezu als Hermeneuticum für die Einheit von Gedanke und l‘ ist heinung fungieren, wie sie für das platonisch oder ficinianisch mitbeMimmte ,Bild‘ der Renaissance charakteristisch ist: „ ... so daß der Inhalt Mit Ins ist als das Umschlagen der Form in Inhalt, und die Form nichts als t Umschlägen des Inhalts in Form“ 145. ( ict ade dieser Gedanke - auf das Verstehen von Kunst bezogen - sollte am h davor bewahren, die Einheit von sinnlich-geschichtlicher Erschei­ nung und intelligiblem Grund, die das Kunstwerk darstellt, nach dem Modell einer Allegorie zu deuten: dies würde die vom Schönen her verMrlilurr anagogische Funktion des Kunstwerks auf bloße Verbildlichung i i i i c s Nep,riffs einschränken und dadurch die Einzigartigkeit des Kunstwnkes aulheben. Hs trifft auf das so konzipierte Kunstwerk auch SchelIhtp,*» l iber/eugung zu, die er im Anhalt an Coleridge über die Mythologie 1n

I m«

(iHi)

i m . Ä s t h e t i k (l>g. v. !·. N ass en g e, Merlin 1965)

141 S.

425.

ij6

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

äußerte: analog zu ihr, der notwendigen Bedingung und dem wahren Stoff aller Kunst, kann das Kunstwerk als Symbol nur sich selbst „aussagen“: es ist „Tautegorie“ 146. Ficinos Theorie des Schönen mag die Wirkungsgeschichte platonischer und neuplatonischer Konzeptionen bis zum Idealismus Hegels oder Schellings hin bewußt machen; es erhebt sich dennoch die Frage, wie sich eine Reflexion auf den Begriff des Schönen überhaupt innerhalb der gegenwär­ tigen Situation der Kunst ausnimmt. Grundsätzlich wäre zu bedenken, daß die „Erfahrung des Schönen“ im Sinne der Kunst nicht an „gesellschaftli­ che Sonderbedingungen gebunden“ zu sein scheint, sondern daß sie - so Flans-Georg Gadamer - „die Beschwörung einer möglichen heilen Ord­ nung (ist), wo immer es sei“ 147. In ihr sensibilisiert sich - zumindest aus der Erfahrung des Kontrasts heraus - das Bewußtsein für etwas, was sein sollte: möglicherweise realisiert einmal als zeitgemäße Struktur und Inten­ tion in der Kunst, zum anderen aber als ein gesellschaftliches Sein, für das Kunst als Impuls und verpflichtendes „Bild“ oder „Gegenbild“ verstehbar und utopisch wirksam würde. Die durch Platon zuerst gedachte Verbin­ dung des Schönen mit dem Guten und Wahren ist zugegebenermaßen seit dem 19. Jahrhundert vielfach in eine harmonistische Glätte und rein affirmative Leere verfälscht und zudem ideologisch mißbraucht worden. Weil dies als „Lüge“ erscheinen mußte, die eine Gegenwelt durch Verklä­ rung verschweigt oder eine in Zwang umschlagende Idealwelt suggeriert, ist der ursprüngliche, nur im Begriff einer qualitativ verstandenen Einheit lebendige Zusammenhang des „Wahren - Guten - Schönen“ zerfallen und offensichtlich nur noch ironisch zitierbar. Ich meine, daß eine Reflexion auf die Theorie des Schönen, die deren ursprünglichen Sinn - durch das zunächst verdeckende und verfremdende Vorurteil hindurch - offenlegt, die scheinbar fraglose Legitimität einer grundsätzlichen Verdächtigung die­ ses Gedankenkomplexes durchaus erschüttern könnte. Zumindest könnte sie bewußt machen, daß auch dezidiert moderne Kunst —nicht so sehr Anti-Kunst - von ihr her intensiver und differenzierter begreifbar würde, auch wenn sie sich ihr aufgrund ihrer unmittelbaren Erscheinungsform zu entziehen scheint: an der Kunst Cezannes, Kandinskys, Klees, Mondrians 146 Zur Terminologie vgl. Philosophie der Mythologie, Werke (1856) XI 196. Der Bezug der Mythologie zur Kunst wird insbesondere in der Philosophie der Kunst, Werke V 405 flf entwickelt. Vgl. auch 555 (Mythologie - symbolisches Bild); 567 (die M a l e r e i „erhebt sich zum Symbolischen“); 411 (allgemein: „die Kunst ist symbolisch“).

147

D i e A k t u a l i t ä t d e s S c h ö n e n . K u n s t a ls S p i e l , S y m b o l u n d l ;c s t , S t u t t g a r t 1 9 7 7 »

4 *·

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

277

oder Schönbergs etwa wäre dies paradigmatisch zu zeigen148. Es könnte sich trotz entschiedener Brüche mit der Bild- und Formtradition und mit dem geschichtlich fixierten musikalischen Material eine bestimmte Konti­ nuität zu Elementen jener Theorie heraussteilen, die selbst moderne Kunst wesentlich mitkonstituieren. Auch hier ist aktiv und kritisch vermittelnde Krinnerung an das sogenannte Vergangene zugleich Selbstaufklärung der eigenen Gegenwart. | Werner Beierwaltes, Aequalitas numerosa. Zu Augustins Begriff des Schönen, in: Wissenschaft und Weisheit 38, 1975,140—157. I )ers., Plotins Erbe, in: Museum Helveticum 45, 1988, 75-97, bes. 83-90. I )ers., Der Selbstbezug des Denkens: Plotin - Augustinus - Ficino, in: Plato­ nismus im Christentum (Philosophische Abhandlungen Band 73), Frankfurt 1998, 2001, zweite, korrigierte Auflage, 172-204. I >ers., Das wahre Selbst. Studien zu Plotins Begriff des Geistes und des Einen, Prankfurt 2001, 53-70: „Geist ist Schönheit“. I )ers., Marsilio Ficinos Deutung des Platonischen Parmenides, in: Procliana. Spätantikes Denken und seine Spuren, Frankfurt 2007, 223-245. I >ers., Einleitung zu F. W. J. Schelling, Texte zur Philosophie der Kunst, Stutt­ gart 20042. A l l o n s Reckermann, Amor mutuus. Annibale Carraccis Galleria-Farnese-Fresken und das Bild-Denken der Renaissance, Köln 1991. II Neoplatonismo nel Rinascimento. A cura di Pietro Prini, Firenze 1993. Marsilio Ficino e il ritorno di Platone. Mostra di manoscritti stampe e documenti. Catalogo a cura di S. Gentile, S. Niccoli e P. Viti, Firenze 1984. Marsilio Ficino e il ritorno di Platone. Studi e Documenti, a cura di Gian Carlo ( ¡arfagnini, 2 Bände, Firenze 1986. Miomas Leinkauf, Der Begriff des Schönen im 15. und 16. Jahhundert. Seine philosophische Bedeutung und Hinweise auf sein Verhältnis zur Theorie von Poesie und Kunst, in: Renaissance-Poetik. Herausgegeben von Heinrich I'. Plett, Berlin 1994, 53-74. hnp.iue Scheer, Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt 1997, ).\ ff („Kunst und Schönheit in den Theorien der Renaissance“). Mau Aeilko Aris, „Praegnans affirmatio“. Gotteserkenntnis als Ästhetik des Nii Insiehtbaren bei Nikolaus von Kues, in: Theologische Quartalschrift 181, ;ooi, iii (v. a. zu Anm. 117, oben). M.iisilr l iein. Les Platonismes a la Renaissance, ed. Pierre Magnard, Paris 2001. MM |l'iiiip,r I l i n w e i s e in: „ D a s w a h r e S e i h s t “ , 6 7 H.|

278

Marsilio Ficinos Theorie des Schönen

Marsile Ficin. Commentaire sur Le Banquet de Platon, De lAmour. Commentarium in Convivium Platonis, De Amore. Texte établi, traduit, présenté et annoté par Pierre Laurens, Paris 2002. Marsilio Ficino: his Theology, his Philosophy, his Legacy, edited by Michael J. B. Allen and Valery Rees with Martin Davies, Leiden 2002. James Hankins, Humanism and Platonism in the Italian Renaissance, vol. II: Platonism, Roma 2004. Arbogast Schmitt, Symmetrie und Schönheit. Plotins Kritik an hellenistischen Proportionslehren und ihre unterschiedliche Wirkungsgeschichte in Mittel­ alter und Früher Neuzeit, in: Neuplatonismus und Ästhetik. Zur Transforma­ tionsgeschichte des Schönen. Herausgegeben von Verena Olejniczak Lobsien und Claudia Olk, Berlin 2007, 59-84. Thomas Leinkauf, Der neuplatonische Begriff des ,Schönen* im Kontext von Kunst- und Dichtungstheorie des Renaissance, (im selben Sammelband) 85115. Damian Dombrowski, Die religiösen Gemälde Sandro Botticellis. Malerei als „pia philosophia“, Berlin 2010.]

R E U C H L I N U N D PIC O D E L L A M IR A N D O L A Reuchlin-Preisträger sind nicht gehalten, bei der festlichen Überreichung dieses Preises - im Dank dafür - auch über Reuchlin selbst zu sprechen.1 Wenn es sich aber so fügt, daß Reuchlins Freunde - über die geschicht­ liche Differenz hinweg - auch Freunde des Geehrten sind, dann mag dies sinnvoll sein. Ich denke, für mich selbst darf ich dies in Anspruch nehmen: Einige von Reuchlins Freunden nämlich, denen er für sein phi­ losophisches und religiöses Denken Wesentliches verdankt, sind mir in meinem allmählichen Verstehen der neuplatonischen Philosophie und ih­ rer Wirkungsgeschichte immer vertrauter geworden. Ich denke vor allem .ui zentrale Gestalten der italienischen Renaissance: an Marsilio Ficino, i len Gründer der Platonischen Akademie im Florenz der Mediceer, den Übersetzer und Interpreten Platons und Plotins, an Pico della Mirán­ dola, den anregenden Schüler Ficinos, den Verfechter der gegenseitigen Durchdringung von Philosophie und Theologie, den couragierten ,prinI eps concordiae4 der Religionen der Welt überhaupt, —und nicht zuletzt .in Nicolaus Cusanus, den kraftvollsten speculativen Denker dieser Epoche, von dem auf Ficino, Pico und Reuchlin begriffliche Impulse nachhaltig­ st iigend ausgegangen sind. Die Drei vergegenwärtigen in je verschiedener Weise und Intensität eine Umformung und Fortbestimmung genuin plalonischer und neuplatonischer Grundeinsichten und Denkformen. Und Reuchlins philosophisch-theologische Intentionen und deren partielle Ver­ wirklichung sind ohne diese Drei kaum denkbar. Was bei ihm - biswei­ len in einer uns heute fremden Gestalt - als „platonisch“ erscheint, hat c*i vor allem durch sie. Nur auf einige Grundzüge im Denken des Pico della Mirandola möchte ii li mich im folgenden konzentrieren; sie sollen jeweils einen Blick auf Rnu hlin eröffnen.

1

I > ir \ r r T e x t ist d i e e t w a s u m f ä n g l i c h e r e F a s s u n g m e i n e s V o r t r a g s , d e n ic h a m 2 6 . J u n i

Mi'M .» n l a l s li ih d e r l I b c n c i t h u n g d e s R e u t h l i n P r e i s e s d e r S t a d t P f o r z h e i m g e h a l t e n h a b e .

28o

Reuchlin und Pico della Mirandola

I F

r e i h e i t

. D

e if ic a t io

Die nur 31 Jahre von Picos bewegtem Leben waren erfüllt mit Plänen, die die Einheit der Religionen zum Ziele hatten, die Versöhnung gegensätzli­ cher Theorieansätze in der Philosophie, wie sie sich im Platonismus und Aristotelismus bisweilen kraß auftaten, und nicht minder eine produktive Vermittlung frühen orientalischen und griechischen Denkens mit einem der Reflexion offenen, aber sich nicht dogmatisch in ihr verfestigenden christlichen Denken. Empfindlich gestört und folgenreich gequält wurde Pico durch den päpstlichen Einspruch - Innocenz VIII. war der damalige Papst - gegen den ersten der genannten Pläne: Eine öffentliche Diskus­ sion von Picos 900 ,Conclusionesc zu philosophischen, theologischen oder theologisch-religiösen Fragen, an der Gelehrte aus ganz Europa teilneh­ men sollten, durfte nicht stattfinden. Picos ,Apologia einiger dieser The­ sen führte zur Verurteilung aller, er selbst saß ob seiner provozierenden Idee und Aktivität einige Zeit im Gefängnis. Eine ,Oratio£ - später ,De hominis dignitate‘, „Uber die Wurde des Menschen“ zubenannt - sollte der Diskussion der ,Conclusiones‘ vorausgehen. Sie macht die Bedeutung und Größe des Menschen vor allem durch die ihm wesentlich zukom­ mende und von ihm jeweils zu realisierende Freiheit in einsichtsreichem Engagement und beredter Form evident. Wenn es ein charakteristischer Zug des Renaissance-Denkens ist - trotz enger Bindung an die Tradition gerade durch eine Reflexion auf sie —, Theoriepotentiale in ihr freizusetzen, die über sie hinausweisen: Individualität also, Selbstbewußtsein, Schöpfer­ tum und Spontaneität besonders und eigentümlich herauszuarbeiten, dann ist es nur sachlich konsequent, daß dieses Denken auch den Begriff von Freiheit mit größerer rationaler und emotionaler Intensität neu entwickelt. Picos ,Rede£ steht im sachlichen und geschichtlichen Zusammenhang mit dem Topos ,Würde des Menschen£, wie er von Marsilio Ficino, Giannozzo Manetti, in der griechischen und lateinischen Patristik, in dem her­ metischen Traktat ,Asclepiusc, in Ciceros Erörterung zur Stellung des Men­ schen im Kosmos (,Somnium Scipionis'), sowie in der stoischen Konzep­ tion des auf den Makrokosmos bezogenen Mikrokosmos des Menschen bereits in seinen Grundzügen, aber auch tiefgründig - aus einem ethisch­ normierenden Lebensinteresse heraus —erörtert worden ist. Pico sieht es als das auszeichnende Moment menschlicher dignitas, daß der Mensch in einem Akt freier, selbstursprünglicher Entscheidung seine ,Natur1 sich

Reuchlin und Pico della Mirandola

281

selbst zu schaffen imstande sei; wenn er sein eigenes Geschick selbst zu wählen vermag, dann ist er auch allein verantwortlich für seine eigene,Na­ tur*. Die zentralen Sätze zu diesem Gedanken aus der ,Oratioc Picos lauten (stilisiert als Rede Gottes zum Menschen, zum ersten Menschen Adam): „Keinen festen Ort habe ich dir zugewiesen und kein eigenes Aussehen, ich habe dir keine dich allein auszeichnende Gabe verliehen, da du, Adam, den Ort, das Aussehen, die Gaben, die du dir wünschest, nach eigenem Willen und Ermessen erhalten und besitzen sollst. Die beschränkte Natur der übrigen Wesen wird von den vorbestimmten Gesetzen eingeschränkt. Du aber, durch keine Enge eingeschränkt, sollst jene (Natur) nach deinem freien Willen, in dessen Hand ich dich gelegt habe, vorherbestimmen. Als Mitte der Welt habe ich dich gesetzt, damit du umso leichter von dort aus Alles erkennen kannst, was in der Welt ist. Ich habe dich weder himm­ lisch noch irdisch, noch sterblich, noch unsterblich gemacht, damit du als der freiwillige und geehrte Former und Bildner deiner selbst (plastes et (ictor tui ipsius) diejenige Form gestalten mögest, die du lieber willst. Du kannst ins Untere, zum Tierischen entarten; du kannst, wenn du willst, in die Höhe, ins Göttliche, aus dem Entschluß deines Geistes wiederge­ boren werden (ex tui animi sententia regenerari).“2 - Weil der Mensch durch diese seine Möglichkeit zur Selbstbestimmung der Absicht folgt, in sich selbst die ,Gestalt allen Fleisches* oder ,aller Creatur4zu erzeugen und schöpferisch umzuformen (fabricare et transformare),3 steht eine mytholo­ gische Metapher für ihn ein: Proteus;4 sie ist allerdings frei zu denken von einschränkender Ambivalenz. Die Möglichkeit zu eben dieser Weise von Selbstbestimmung gründet in der ontologischen Struktur des Menschen: die Seele als Ursprung ihres creativen, sich selbst bestimmenden Aktes sei­ ende und deshalb wirkende Mitte zwischen dem Bereich des Intelligibien und des Sinnenfälligen, zwischen zeitfreier Beständigkeit (Ewigkeit) und /eit. Aus dieser bereits im Neuplatonismus und durch Augustinus weiter > ( iiovanni Pico della Mirandola, De dignitate hominis, lateinisch und deutsch, eingeleiti i von l'ugcnio Ciarin, Bad Homburg 1968, 28. Die Übersetzung stammt von mir. Für die Ski//c de r begrifflichen Implikate dieses Pico-Textes beziehe ich mich - modifizierend - auf tiiriiir l Iberlegungen zu „Subjektivität, Schöpfertum, Freiheit“ , in: Der Übergang zur Neutru und die Wirkung von Traditionen, Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft, hj> v W. I l.irms, Güttingen 1978, 15 fr. - 7aim weiteren geistesgeschichtlichen Kontext vgl. I* < > Ki isirllcr, I )ic Würde des Menschen, in: Studien zur Geschichte der Rhetorik und zum thynff de\ Menschen in der Renaissance, Göttingen 1981, 66-79. * I hd., w. 1 I hd., »>.

282

Reuchlin und Pico della Mirandola

entfalteten Konzeption ergibt sich die durch Ficino und Pico aspektreich begründete These: Der Mensch sei das ,Band der Welt‘ (mundi copula), die Verbindung und Versöhnung (pax) des Himmlischen mit dem Irdi­ schen, damit aber die irdische, bildhafte Repräsentation oder individuierende Spiegelung der ursprunghaften göttlichen Einheit. Die bindende Kraft des Gegensätzlichen oder Unterschiedlichen ist das Denken, welches sich in einer ihm folgenden Lebensform äußert —in einem anderen, aber ihm wesentlich verbundenen Medium Wirklichkeit wird. In dieser refle­ xiven Verknüpfung der Bereiche in ihm und in seiner Möglichkeit, sich im Experiment seiner eigenen Mitte für den einen oder anderen Bereich entscheiden zu können, besteht die den Menschen auszeichnende Akti­ vität: Die Freiheit des Menschen ist in der reflexiven und dadurch auch aktiven Vermittlung der genannten Extreme, des Himmlischen und Ir­ dischen, des reinen Intelligiblen und Sinnlichen, in der bewußten Form seines Lebens begründet. Der Satz Picos: ut id simus quod esse volumus, „damit wir das seien, was wir sein wollen,“5 meint und fördert freilich nicht den Gedanken, der Mensch könne sich im Sinne reiner Beliebig­ keit zu dem entwerfen, was er sein wolle. Auch die Proteus-Metapher und der Gedanke des Schaffens der eigenen ,Naturc meint nicht schrankenlose Autonomie. Freiheit ist, wie die Natur oder das Wesen des Menschen im ganzen, durchaus von einem transzendenten, in sich seienden Grund be­ stimmt, also in ihrem eigenen, freilich weiten Spielraum durchaus von die­ sem her gemessen oder ,normiert'. Das Ziel der freien Selbstbestimmung des Menschen, des ,Schaffens und Bildens seiner Naturc ist es, dasjenige aus sich selbst und von sich selbst her zu werden, was er sein soll, oder als was er vom göttlichen Prinzip her entworfen ist: selbst ein Gott. Der von Pico zitierte Vers aus Psalm 81 (82),6: Dei estis et filii excelsi omnes, „Göt­ ter seid ihr und Söhne des Erhabenen alle“,6 signalisiert den Ansatzpunkt dieser gesollten Deificatio. Freiheit als die Erfüllung des dem Menschen Möglichen und Aufgegebenen meint daher nicht Emanzipation aus dem göttlichen Grunde, sondern selbstursprüngliche Rückbesinnung auf die­ sen. Für eine sinnvolle und zugleich gesollte Form menschlichen Lebens ergibt sich als Konsequenz aus dem Mitte-Sein der menschlichen Seele und damit des Menschen überhaupt, daß er durch Sinnlichkeit und Reflexion zu dem sein eigenes Denken und Sein begründenden universalen Prinzip 5 G. Pico della Mirandola, De dignitate hominis, 32. 6 E b d . , 32.

Reuchlin und Pico della Mirandola

283

aufsteige. Diese für den Menschen als höchste erreichbare Form seiner Existenz (,vollendetes Glückc, consummata felicitas), durch dialektisches, argumentativ verfahrendes Denken und durch das Sich-Sammeln in seine eigene Innerlichkeit vorbereitet, ist zugleich die höchste Form von Freiheit oder das Ziel des freiheitlichen Aktes: die Deificatio des Menschen als das Menschlichste im eigentlichen Sinne - Deus et ipse unum sunt.7 Die aus dem Bewußtsein der Selbsttätigkeit des Menschen sich vollendende Frei­ heit ist - geradezu im Sinne plotinischer Mystik, eine ,ekstatische4Existenz: wenn wir - so Pico - ,glühend wie Seraphime außer uns gesetzt (extra nos positi), voll der Gottheit, schon nicht mehr wir selbst, vielmehr jener selbst sein werden, der uns gemacht hat4. Deificatio und Freiheit gehören also aufs engste zusammen; in der Einheit der beiden gründet nach dem von Pico zitierten Satz aus dem ,Asclepius4das Miraculum-Sein des Menschen, aber auch seine Verantwortung und die Gefahr seiner Selbst-Verfehlung. Freiheit im Sinne Picos ist aus dem Gedanken der „aktiven Mitte44 her­ aus dialektisch zu verstehen: nicht Willkür oder Hybris, sondern selbstur­ sprüngliche Entfaltung der eigenen Kräfte von einer in sich seienden Ein­ heit her und auf diese hin - Autonomie und Verantwortlichkeit der Ver­ nunft im Kontext des Absoluten. Vor einem „Triumph44der radikalen Auto­ nomie eines nur auf sich selbst konzentrierten Ichs in der Moderne hat Pico della Mirandola - neben Cusanus und Ficino - unter den Voraussetzungen metaphysischen Denkens vermutlich das Höchste gewagt in dem Versuch, die Würde des Menschen zu begründen und zu steigern, ohne deren gött­ lichen Grund zu reduzieren oder zu zerstören. - Mein Hinweis auf die „Modernität44 Picos möge nicht mißverstanden werden: Er entwirft den Begriff eines Menschen von der Freiheit und der ihm eigenen „Göttlich­ keit“ her - wie er sein könnte und sein sollte. Diese bewußt contra-faktische l orm des Denkens also setzt aus der metaphysischen Tradition gerade das­ jenige frei, was schon als Drängendes und Vorantreibendes in ihr war und ist, und auch in späterer Reflexion wieder aus ihr mit Gründen lebendig, weil einsichtig gemacht werden könnte. Reuchlin hat Pico gekannt und geschätzt; persönlich begegnet ist er ihm während seiner zweiten Italienreise 1490 in Florenz. Ob nun der „Eindruck dieser'■Begegnung mit dem jugendlichen Enthusiasten ... tief gewesen44 hi wie ( iershom Scholem meint oder ob sie die gemeinsamen SachI'IhI.,

X i n Vorgcscluchu* di e se s K o n z e p t s vgl. m e i n e n E x k u r s zu i)t:0Jü0ir|0i(; in:

tUokliH (¡rumh.iigr srittcr Mctiifthysik,

F r a n k f u r t 1 9 7 9 ’, 1 X 5 - 1 9 0 .

284

Reuchlin und Pico della Mirandola

interessen nicht unmittelbar berührte, ihre „Folgen“ jedenfalls sind für die Ausformung von Reuchlins Denken in seinen beiden philosophisch-theo­ logischen Hauptwerken ,De verbo mirifico* (1494) und ,De arte cabalistica* (1517) „von weitgreifender Bedeutung gewesen.“8 Picos Emphase der Freiheit nimmt Reuchlin zwar nicht unmittelbar auf, aber er stimmt mit ihm in dem die Freiheit begründenden Gedanken überein, der Mensch sei insofern Mitte des Universums, als er alle Stufen des Wirklichen - „mikrokosmisch“ - erkennend in sich ineins fügt und sich spontan auf sie und auf ihren gemeinsamen göttlichen Grund zu be­ ziehen imstande ist. Er vereint in sich Unendlichkeit (aus seinem göttlichen Ursprung) und Endlichkeit zu einem untrennbaren Wirken: einer inner­ weltlichen Realisierung einer ,coincidentia oppositorumc: poterunt autem [duo maxime diversa, infinitum et finitum] inenarrabili unione coniungi: ut unus idemque et humanus deus et divinus homo censendus sit ... „so daß ein und derselbe als menschlicher Gott und als göttlicher Mensch zu erachten ist.“9 Ein derartiger Bezug des Menschen in ihm selbst auf sei­ nen eigenen göttlichen Grund hin garantiert auch die Erfüllung seines Wesens in der ihm möglichen ,deificatio‘. Dies ist - wie auch bei Pico keine sich vermessende Selbstüberschätzung des Menschen, sondern eher ein Appell an dessen Verantwortlichkeit: die jeweils lebensgeschichtlich geforderte, aus der Selbst-Erkenntnis entspringende Verwirklichung des Gedankens, daß der Mensch nur er selbst sein oder werden kann, indem er sich bewußt in seinen Grund erhebt. Diese Erhebung ins eigentliche Selbstbewußtsein —von Reuchlin als ,divinissimus in deum transitus‘ oder als ,transformatioc benannt —gelingt, wenn sie gelingt, im Zusammenwir­ ken der göttlichen und menschlichen Kraft. ,Deificatio‘ ist einerseits der 8 So Reuchlins bisher informationsreichster Biograph Ludwig Geiger, Johann Reuchlin. Sein Leben und seine Werke, Leipzig 1871, 34. Es gibt von diesem Buch einen Nachdruck aus dem Jahre 1964. - G. Scholem, Die Erforschung der Kabbala von Reuchlin bis zur Gegenwart (Vortrag gehalten anläßlich der Entgegennahme des Reuchlin-Preises der Stadt Pforzheim 1969), S. 9. Die beiden genannten Werke (Abk.: V M und AC) zitiere ich nach dem Text der Erstausgabe: Hagenau apud Thomam Anshelmum 1494 bzw. 1517. V M liegt auch mit Corrigenda versehen in einer Ausgabe von 1514 vor und De arte cabalistica ist später der Edition der Werke des Pico della Mirandola beigegeben worden (Basel 1557, 733-900). [Nachdruck Hildesheim 1969, mit einer Einleitung von C. Vasoli]. V M und AC sind in einem Reprint des Frommann-Verlags (Stuttgart-Bad Cannstatt 1964) vereinigt. In meinen Anmerkungen verweise ich aus praktischen Gründen auf die Paginierung (arabisch) dieses Nachdrucks. Die Original-Ausgaben sind nicht paginiert. 9 VM I 27.

Reuchlin und Pico della Mirandola

285

Endpunkt einer intensiven Verbindung der Stufen des Erkennens aus der auf äußere Erfahrung gerichteten Sinnlichkeit in den inneren Sin n ,,Über­ gang' in die Einbildungskraft, in das Urteilsvermögen, in die Vernunft, von ihr aus in die Form von in sich einigerem Denken und in das reine Den­ ken im Begriff- in ,intellectus' und ,mens' - , von der mens aus aber eine Bewegung „in lucem [divinam], quae illuminât hominem et illuminatum in se corripit.“ 10 In der Formulierung „in se corripit“ ist der zweite, die Endlichkeit des Menschen übersteigende Aspekt angedeutet: die (gnaden­ hafte) Mitwirkung des Göttlichen in diesem „Übergang“, von Reuchlin als aktive transformatio' verstanden: transmutamur in Deum et naturam humanam excedimus.11 Wie Pico zitiert auch Reuchlin den Satz des Hermes Trismegistus aus dem ,Asclepius': „O Asclepi, magnum miraculum est homo, animal ad­ orandum et honorandum. Hic enim in naturam Dei transit qua ipse fit 1)eus.“ 12 Ein Reuchlin leitender Gedanke für diesen von ihm herausgeho­ benen Sachverhalt ist dieser:13 Das diesem Übergang Zugrundeliegende oder der Ermöglichungsgrund für die ,deificatio‘ als ein Zusammenwirken menschlicher - erkennender und die Erkenntnis überschreitender - Tätig­ keit und göttlicher Kraft ist das Wort, d.h. die dem Menschen gegebene Sprachstruktur und die Worthaftigkeit des Gottes, der in sich als Tetra­ ciammaton (IHVH) über-seiendes, verborgenes Wort ist, und sich zugleich im Pentagrammaton, d.h. in dem inkarnierten Wort „Jesuh“ universal wirksam zeigt - als das gesuchte und in seinen vielfältigen Erscheinungslornien verstehbare ,V erbum mirificum'. In diesem Akt der Selbst-Findung und des ,transitus in deum' realisiert sich also die im Menschen angesiedelte Verschränkung von endlichem und unendlichem Wort, das „Band der Ibeiden] Worte“, ,vinculum verborum'.14

AC I, II II, 116. M VM

II 4 1. Vj»l. a u c h e b d . II 71. D o r t a u c h d i e F o r m u l i e r u n g : r e d u c t i o . . . h o m i n i s

4*1 d i v i n i t a t e m . M V M II ' * I m l ' i i n fi n d e t e r s i c h in d i e s e r W e i s e n i c h t . 14

\ U m »Im hier a n g e d e u t e t e n / . u s a m m e n h a n g v ^ . V M

II 4 2 .

28 6

Reuchlin und Pico della Mirandola II

1. ,Frühe Weisheit' Pico und Reuchlin sind weiterhin in einem anderen, nicht weniger we­ sentlichen Aspekt ihrer philosophisch-theologischen Grundkonzepte mit­ einander verbunden; er betrifft ihre Haltung zu einer Tradition, die Fi­ cino zum Teil wenigstens durch seine Übersetzungen allererst eröffnet und Elemente zu einer Theorie ihres Wahrheitsanspruchs entwickelt hat: dem griechischen Philosophen und Gelehrten Georgios Gemistos Plethon fol­ gend betrachteten er und seine ,complatonicic einen bestimmten Bereich spätantiker philosophisch-religiöser Literatur, die nach unserem heutigen Wissen als eine mythische und bisweilen auch magische Verfremdung des ursprünglichen Platonismus verstanden werden muß, als Offenbarung von höchster Autorität. Emphatisch heißt diese Form von Weisheit ,prisca theologia* oder yprisca sapientiac - „frühe Theologie oder Weisheit“; die Heraushebung der „Frühe“ oder des „Alters“ läßt deren Wahrheit als eine aus Offenbarung vermittelte überzeugender erscheinen als eine rein ratio­ nale, ausschließlich vom Menschen ausgehende Argumentation. Diese ist letztlich die verpflichtende Norm aller Rationalität, durch die sich argu­ mentativ, diskursiv denkendes Philosophieren in eine ,pia philosophia‘15 erheben oder aufheben muß. Die als verbindlich (an)genommene Ur-Weisheit stellt trotz ihrer in sich differenzierten Erscheinungsformen von der Sache - den ,sacra divinorum mysteriai16 - her eine geschichtslose Einheit des Gedankens dar, die sich in der Geschichte bis in die Auslegung der christlichen Wahrheit hinein entfaltet und mit deren Grundkonzepten zu einer innigen, unscheidbaren ,concordia‘ kommt. Die Einschätzung die­ ser Überlieferung - ,je älter, desto wahrer, weil der Quelle von Wahrheit nähercl7 - entspringt aus und ist geleitet von einer Sehnsucht, die trotz inhaltlicher Erweiterung des Wissens das ursprüngliche, verlorene tiefere 15 Zum Konzept einer prisca theologia vgl. Ficino, De christiana religio ne, 22, Opera Omnia, Basel 1576, I 25 (Reprint Torino 1962 und 1983). Plat. Theol. V I 1, Bd. I 224; XVII

1; III 148 (ed. R. Marcel, Paris 1964/70). C. B. Schmitt, „Prisca Theologia e Philosophia Perennis, due temi del Rinascimento e la loro fortuna“ , in: IIpensiero italiano del Rinascimento e il tempo nostro, Atti del V Convegno Internazionale del Centro di Studi Umanistici, Firenze 1970, 211-236. 16 Ficino, Plat. Theol. X VII 1; Bd. III 148. 17 Vgl. Platon, Philebos 16 cyf : οί μέν παλαιοί, κρείττονι ς ημών και ¿γγυτι'ρω t)nov οίκοΰντες ...

Reuchlin und Pico della Mirandola

287

Wissen als das eigene restituieren möchte. Eine derartige Rückwendung ins verlorene Paradies des frühen Wissens - im Blick auf dessen erneuernde Aneignung - steht im krassen Gegensatz zu einer Tendenz im modernen Verhältnis der Tradition gegenüber: dieses findet gerade im Neuen, das Alte oder sogenannt Vergangene Überholenden und deshalb Originellen die Garantie des Wahren und der Einsicht. Zu den Hauptgestalten dieser ,prisca sapientia£ oder ,theologiac gehö­ ren - bei Ficino, Pico und Reuchlin wechselt deren Abfolge —Zoroaster (Zarathustra), Hermes oder Mercurius Trismegistus [in dem Fußboden des Doms von Siena ist dieser allerdings der Erste - ,princeps sacerdorum Aegyptiorum*18 —, von dem alle Weisheit ausgeht], dann Orpheus, Aglaophemus, Pythagoras und Platon. Diese Genealogie geschichtlich sich überliefernder, an ihr selbst aber ^^geschichtlicher, fiktiver Ur-Weisheit oder Wahrheit verbindet weiterhin Platon mit Moses, den Timaios mit der ( ienesis, und vor allem - was ja das Ziel dieser Rekonstruktion der ersten Wahrheitsquelle ist - das Christentum mit der frühen religiösen und phi­ losophischen Tradition, die im weitherzigen Sammelbegriff,Platonismus* benannt ist. Durch dieses Verfahren der Aufhebung scharfer Grenzen zu­ gunsten eines in sich einigen und gegeneinander vermittelbaren GedankenGefüges wird Philosophie nicht vom Zentrum der Theologie ausgeschlossen und Theologie kann nicht unmittelbar der Philosophie opponieren, weil sic ihrer zumindest anfänglich zu ihrer eigenen Selbstbestimmung bedarf. I );ibei soll allerdings nicht die Tendenz verdeckt werden, daß die in die Funktion des theologischen, nicht-mehr-rationalen Gedankens überführte Philosophie sich von einer ,cognitio rationalis* als einer unvollkommenen Form des Erkennens zu trennen hat und sich für ein bewußtes Übermhrciten der Grenzen der Vernunft entscheiden muß - also: supra omnem nntinnem, quae concipi a nobis possit, ipsum [Deum] esse sciebamus.19 Aus diesem Blickpunkt kann Pico sagen: „philosophia veritatem quaerit, iheologia invenit, religio possidet.**20 Diese Tendenz wird von Reuchlin mu h zugunsten der ,religio* verschärft: So sagt er z.B. auch von der Tri­ m m , die er selbst wenigstens rudimentär durch einen Begriff von in sich unterschiedener Einheit umschreibt, die sich selbst denkend begreift, daß ,w l'iiino, l*lat. Iheol. XVII 1. - Vgl. F. Ohly, Die Kathedrale als Zeitenraum. Zum I »um von Siena, in: Dcrs., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt i*i * 1 n r / 1, hex. 20s f . l’un,

J" h»!c l

De ente et uno 1 . an

Aluis

und explicatio4in bezug auf das Sein und Creative Wirken Gottes. - In ähnlicher Weise .monym, mit lobenden Epitheta —zitiert Reuchlin auch Pico: V M II 53; zu den nomina s.ii 1.1 (Gottesprädikaten) zählt er dort die „dionysische44 Trias „essentia - virtus - operaiin" und charakterisiert dann die ,essentia dei4 durch eine eher der ,superessentialitas dei4 • m sprechende Aussage, die im Kern der etwas ausführlicheren Beschreibung in der 35. der ( otu lusiones cabalisticae Picos (p. 87 ed. Kieszkowski) entspricht: ,ut ait nobilis ille nostra ,»rutc philosophiis: in remotissimo suae divinitatis recessu profundam ac solitariam retrac«iuiH in (nicht: retractationem) penitissime in abysso suarum tenebrarum se contegentem.4 ,n V g l . z. B . A C II , X X V I I I , 1 6 8 . I I I , L X V , 2 4 2 .

A ( I I I , LXV, 242. Ich erinnere daran, daß Reuchlins Suche nach den „göttlichen Njiucn", die in der Reflexion über den „ersten44 Namen zentriert ist, mit einem Grundzug ·!·■* «usanisihcn Denkens sachlich und geschichtlich nachweisbar verbunden ist. Cusanus’ I » r i i ü u - m i i h u u g g e h t in m e h r e r e n V e r s u c h e n a u f d i e E x p l i k a t i o n v o n G o t t e s - N a m e n h i n , *ll» r i .ils „ i r n i g m a t . r v e r s t e h t : a ls i m p l i k a t i o n s r e i c h c B e g r i f f e , d i e a l l e s a m t n u r p e r s p e k t i v i *« I m l U-nk B i l d e r l i ü d a s i m ( I m i u l r n i i h t b e g r c i i b a r c u n d n i c h t a b s c h l i e ß e n d u n d f i x i e r e n d

298

Reuchlin und Pico della Mirandola

Um die Konkordanz zwischen jüdischem Offenbarungsdenken und griechischer Philosophie gerade in der Frage nach dem Ur-Namen Gottes herauszuheben, behauptet Reuchlin, Platon habe das Tetragrammaton mit ,Onc oder ,To on£ übersetzt, und die, die ihm folgten, mit ,Ho onc. Dies habe er von den Assyrern gelernt - eine Variante also des „attisch spre­ chenden Moses.“50

sagbare Sein Gottes verstanden werden sollen: non-aliud, das „Nicht-Andere“ , idem, „das Selbe schlechthin“ (De Genest), possest, „das Können-Ist“ oder „Können-Sein“ , posse ipsum, „das Können selbst“ (De apice theoriae). Dem Tetragrammaton hat Cusanus zwar kein eigenes Werk gewidmet, es ist jedoch seit seiner frühen Zeit in seinem Blick (De docta ignorantia I 24 [ed. E. Hoffmann et R. Klibansky, Op. omnia I, 4 8 ,18 ff. 5i,24ff] - mit Hinweis auf Hieronymus und Rabbi Salomon = Moses Maimonides). Es ist unwahrscheinlich, daß Reuchlin den Begriff des „possest“ (die absolute Identität von Möglichkeit und Wirklich­ keit als un-endliche Kraft) und des „ipsum posse, quod maxime infinitum in Deo est... in quo non separantur esse et posse“ (A C II, X XIX, 169) nicht von Cusanus übernommen hat, wenngleich er diesen Gedanken an der genannten Stelle mit der Auslegung des von ihm Py­ thagoras zugeschriebenen Begriffes des ,unum infinitum‘ verbindet. —Uber den sachlichen und historischen Bezug Reuchlins zu Cusanus informiert Willehad Paul Eckert: Nikolaus von Kues und Johannes Reuchlin, in: Nicolo’ Cusano agli Inizi del Mondo Moderno, Atti del Congresso Internazionale in occasione del V. Centenario della morte di Nicolo Cusano, Bressanone, 6-10 settembre 1964, hg. v. G. Santinello, Firenze 1970, 195-209. Dort auch weitere Literatur (z. B. F. Nagel). A u f manchen Aspekt hat auch schon Lewis W. Spitz hin­ gewiesen: The Religious Renaissance ofthe German Humanists, Cambridge Mass. 1963, 68 [das Reuchlin-Kapitel dieses Buches entspricht einem Aufsatz im Archiv fü r Reformations­ geschichte 4 7 ,19 5 6 ,1-2 0 ]. Vgl. auch oben Anmerkung 46. - Auch für Picos Gottesbegriff in der Frage nach Vorrang der über-seienden Einheit vor dem Sein oder nach deren in sich einigem Bezug - spielt die Selbstaussage Gottes in Exod. 3, 14 eine zentrale Rolle, z. B. De ente et uno, c. 3 (p. 398 ed. Garin). 50 V M II 54. Als Textbeleg für diese „Übersetzung“ führt Reuchlin den Anfang des 77maios ins Feld, wo zwischen „Sein“ und „Werden“ unterschieden wird (27 df); Reuchlin identifiziert dieses „Sein“ oder diesen „Seienden“ mit dem ,creator4. Das platonische, Tauton ‘ sei von den Lateinern als ,Idemipsumc benannt worden (p. 55). So kann dieses Prädikat zu einem wesentlichen Moment der Auslegung des Verses 28 von Psalm 101 werden: ,Tu autem idem ipse es et anni tui non deficient4, „D u aber bist der Selbe selbst und Deine Jahre schwinden nicht“ . Gerade dieser Satz hat in der Auslegungstradition von Exodus 3,14 eine wesentliche Rolle gespielt, z.B. bei Augustinus, Enarrationes inpsalmos C I, sermo 2; 10 ff. Vgl. hierzu meine Interpretation in Platonismus und Idealismus (wie Anm. 39) 27-47. - Für Reuchlin signalisiert das ,Tauton4 einen Grundzug im Wesen des Tetragrammaton: superessentialiter aeternum est, incommutabile, in se ipso manens, secundum eadem et eodem se habens modo [Formel für die platonische Idee!], omnibus similiter praesens ipsumque secundum seipsum in seipso firmiter et intemerate ... collocatum (VM II 55; dort noch wei­ tere, das absolute Sein als „autark“ , „einfach“ , „mit sich selbig“ charakterisierende Termini).

Reuchlin und Pico della Mirandola

299

IV C apnion

philosophus

Conradus Leontonus (Mulbrunnensis) erhebt sich in einem Brief an seinen Freund Jakob Wimpheling, dem er Reuchlins Dialog De Verbo Mirifico angelegentlich empfiehlt, zu einer emphatischen Laudatio des Autors, in der es heißt: Wenn man diesen Dialog lese, so könne man keinen Philo­ sophen, keinen Juden und keinen Christen, dem Johannes Reuchlin mit Recht vorziehen.51 - Dies ist der Absicht entsprechend sicherlich zu hoch gegriffen, zumal nicht zu erkennen ist, wieweit der Radius des Vergleichens bemessen werden sollte. Angesichts beschränkter, aus einem nur oberfläch­ lichen Umgang mit Reuchlin resultierender Einschätzung mag es hingegen sinnvoll und dem heutigen Anlaß gerade angemessen erscheinen, Reuchlin einmal nicht nur in seinen philologisch-humanistischen und politischen Bemühungen zu betrachten, sondern ihn auch auf seine philosophischen Interessen hin zu befragen. Philosophische Grundeinsichten der platoni­ schen und neuplatonischen Tradition sind in seinem Denken zu Leitlinien theologischer, kabbalistischer und sprachtheoretischer Überlegungen ge­ worden. So ist er als Vermittler zentraler Gedanken eben dieser Tradition an die wissenschaftlichen Absichten insbesondere der deutschen Huma­ nisten ernst zu nehmen.

I Johannes Reuchlin, De arte cabalística libri tres, hg. v. Widu-Wolfgang Ehlers und Fritz Felgentreu (Sämtliche Werke II i), Stuttgart-Bad Cannstatt 2010. W alter Andreas Euler, „Pia philosophia“ et „docta religio“. Theologie und Reli­ gion bei Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola, München 1998.]

11 Oiirm si legeris dialogum: affirmabis nullum neque philosophum neque iudaeum qm i liiisii.imim loanni Reudilin iure* praeferri posse. Der Brief des Leontorius ist der Am}».il»< von Rem Illius De Verbo Mitifico von 1494 vorangestellt.

im

IV

D IST A N Z U N D N Ä H E D E R G E S C H IC H T E : H E G E L U N D PLATO N

I Plato ist eins von den welthistorischen Individuen, seine Philosophie eine von den welthistorischen Existenzen, die von ihrer Entstehung an auf alle folgende Zeiten für die Bildung und Entwicklung des Geistes den bedeutendsten Einfluß gehabt haben; die christliche Religion, die dies hohe Prinzip in sich enthält, ist zu dieser Organisation des Vernünftigen, zu diesem Reiche des Übersinnlichen geworden durch den großen Anfang, den Plato schon gemacht hatte1 .

Diese Aussage Hegels über Platon - am Anfang seiner Vorlesungen über dessen Philosophie - verweist implizit auf den Grund, warum er diese im Blick auf ihre geschichtliche Funktion und ineins damit auf ihren sach­ lich-begrifflichen Bau so hoch eingeschätzt hat: der Grund hierfür liegt im Zentrum von Hegels eigener Philosophie. Platon hat in Hegels Sinne eine 1 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Zweiter Band. M it einem Vorwort von K. L. Michelet, i. Auflage der Hegel-Ausgabe, „durch einen Verein von Freunden des Verewigten“ veranstaltet, Berlin 1833, Bd. XIV. Dieser entspricht dem Band X V III der von 11. ( ilockner 1959 „im Faksimileverfahren neu herausgegebenen Sämtlichen Werken“ Hegels (.Jubiläumsausgabe“). Der Text der zweiten Auflage (Berlin 1842) unterscheidet sich we­ sentlich von dem der ersten. Beide sind in ihrem authentischen Wert durch die „Kunst des Ineinanderschiebens“ , die die „Freunde des Verewigten“ [K. L. Michelet in seinem Vorwort /11 Nd. XVIII, 8] verhängnisvollerweise ganz unkritisch ausübten, vielfach eingeschränkt. I in kritischer Text innerhalb der neuen Ausgabe der Gesammelten Werke (in Verbindung mit du I legel-Kommission der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und dem I Icf’.cl Archiv der Ruhr- Universität Bochum) liegt noch nicht vor. Deshalb ist es besonders vt idienstvoll, daß J.-L. Vieillard-Baron die Nachschrift des Platon-Abschnittes, die K. G. J. von ( iriesheim |= Ci) von Hegels Vorlesungen aus dem Wintersemester 1825/26 angefertigt Imi ((i. W. I;. 1 legel, Vorlesungen über Platon [1825-1826], herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von J.-L. Vieillard-Baron, Frankfurt 1979; zuvor die französische Amf'.tbc: sur Platon, Paris 1976, mit dem deutschen Hegel-Text), eigens edierte. Da•liiii h ist ein klarerer Einblick in die ( iedankenfolge der Hegelschen Vorlesung möglich. Ans (»uktischcn ( ¡liindcn zitiere ich im folgenden nach der sog; Jubiläumsausgabe; der darin »l»|M(lmt kte lext du ersten Auflage (iKu) enthält für Hegels Platon-Verständnis wichtige

304

Distanz und Nähe der Geschichte: Hegel und Platon

Entwicklung des Denkens eingeleitet, in der die philosophische Theorie zuerst und extrem auf die Erkenntnis des Allgemeinen, welches das Intel­ lektuelle oder rein Geistige ist, sich richtet; damit ist der Grund gelegt für eine Erfassung und Analyse der Wirklichkeit im ganzen, die sich als eine durch Vernunft und Begriff bestimmte und bewegte erweist. Und genau dies ist Hegels philosophische Grundintention: die Wirklichkeit als ver­ nünftige oder als reinen Gedanken zu begreifen, der sich in der Natur und in der Geschichte oder als diese konkret entfaltet, sich in unterschiedlichen Formen des Wissens, der Kunst und Religion manifestiert und erst als sich selbst begreifender Begriff oder als absolutes Selbstbewußtsein in vollende­ ter Weise in all seinen Differenzierungen sich selbst durchsichtig werden kann. Hegel versteht diejenige Wirklichkeit, die alle speculativ wirklichen und jeweils geschichtlich sich zeigenden Formen des Bewußtseins umfaßt, als Idee. Diese kommt also in der Geschichte, durch die in sich differenten Denk-Bewegungen vermittelt, als Einheit eines absoluten Selbst-Begriffs zu sich selbst. Vom „Ende“ dieser Bewegung her gesehen, das freilich erst die Basis für den Anfang des wahren „Idealismus“ ausmacht, kommt jedem Moment im Ganzen eine besondere, individuell unaustauschbare Bedeu­ tung für das Werden eben dieses absoluten Bewußtseins zu. Insofern kann derjenige, der selbst in der reflexiven Bewegung einen bestimmten Stand des sich selbst begreifenden Begriffs erreicht hat und einen „festen Fuß in diesem Boden faßt“, legitim an bestimmte geschichtliche Ausformungen, Stufen oder Phasen der Idee anknüpfen, in ihnen das Eigene als Intention, als in nuce Gedachtes oder auch schon anfänglich Entfaltetes entdecken, um es in neuem, vielfältig differentem Kontext fortzubestimmen. In un­ serer Gegenwart macht sich ein modischer Trend lautstark bemerkbar, der offensichtlich um der eigenen Selbstprofilierung willen und aus (absichts­ voll gepflegter?) Ignoranz zentrale Konzepte des sog. vergangenen philoso­ phischen Denkens vielfach despotisch als „obsolet“ erklärt, sie „destruiert“, „liquidiert“, „dekonstruiert“ oder sie auf ein erwünschtes Nimmer-Wiedersehen „verabschiedet“. Derartige oft umstandslose, eilfertig arrogant insze-

Partien, die im Griesheimschen Manuskript nicht mehr erscheinen. In beiden Texten iden­ tische Passagen hat Vieillard-Baron in seiner Ausgabe vermerkt. - Die oben zitierte Stelle findet sich in X V I I I 170 - . Die Übersetzungen aus Platon in den Vorlesungen stammen von Hegel selbst; als griechischen Text hat er die Bipontina benutzt: Platonisphilosophi quae exstant Graece ad ed. H. Stephani accurate expressa, 12 Bände, Zweibrücken 1781-1786. Dieser Edition ist auch die lateinische Übersetzung Marsilio hicinos beigegeben.

Distanz und Nähe der Geschichte: Hegel und Platon

305

nierte „Verabschiedung“ steht in spürbarem Gegensatz zum Anspruch der „Neuheit“ und zur argumentativen Überzeugungskraft des vermeintlich oder wirklich Eigenen. - Eine solche Einstellung gegenüber der Geschichte ist radikal verschieden von Hegels Reflexion auf den Prozeß der Geschichte und von dessen aktivem Selbst-Bezug auf sog. vergangenes Denken. Im Gegensatz zu anderen Formen des Wissens, die im Fortschreiten „über­ holte“ Positionen und Theorien als unwahr und für weitere Diskussionen als wertlos erweisen, gibt es —im Sinne Hegels zumindest —nichts total Vergangenes, Überlebtes und „Totes“ in der Geschichte des philosophi­ schen Bewußtseins und seiner Theorien. Alles bleibt vielmehr in späteren Kontexten in verwandelter, aber noch erkennbarer Form bewahrt oder für eine aktive Erinnerung „aufgehoben“ . Dies meint freilich nicht, daß alles einmal Gedachte für den gegenwärtig Reflektierenden in gleicher Weise bedeutsam wäre oder werden könnte; vielmehr ist es nicht nur möglich, sondern legitim und geradezu notwendig, an eine geschichtlich individu­ elle Ausarbeitung einer Frage, eines Problems, eines Begriffs oder einer Iheorie - aus einem späteren, in seinen Interessen und Zielen vielfach veränderten Kontext heraus - kritisch und produktiv anzuknüpfen. Neue Bedürfnisse und neue Frageintentionen leiten das spezifische Interesse an dem, was in der Vergangenheit - die jeweilige Zeit übergreifend —als wahr, argumentativ überzeugend und auf weiteres Fragen hindrängend gedacht wurde. Die Wahrheit des einmal Gedachten ist jeweils „ebenso lebendig |imd verpflichtend] als zur Zeit ihres Hervortretens“2. Freilich wird sie in der kontinuierlichen Entfaltung des Ganzen jeweils anders begriffen, oder sie begreift sich selbst jeweils anders auf je anderer Stufe. Sie kann aber .ils lebendiger Gedanke jeweils neu aufgegriffen, zu Innovationen fortbe­ st im int werden. I )ie Geschichte des Denkens ist demnach in Hegels Konzeption als ein ..organisches System [des Geistes], als eine Totalität“ zu verstehen, „welKlie einen Reichtum von Stufen und Momenten in sich enthält“3, die sich dem aktual „Letzten“ oder „Jüngsten“ als das „Resultat der Arbeit [...] allei vorhergegangenen Generationen“4 präsentiert. Die objektiv vergangene ( .esi Inclue des Denkens fordert deshalb jeweils - in jeder Phase dieser C»est Iviehte - zu einer Selbstanknüpfung an bestimmte „Stufen oder Mo> I l< p,cl, l.inleitung in die Geschichte der Philosophie, hg, v. J. Hoffmeister (Philosophikt lir hihlioihrk IUI. 166, Hamburg 1959'), 71. ’

I U l,

m.

3o6

Distanz und Nähe der Geschichte: Hegel und Platon

mente“ heraus, weil der Gegenstand philosophischer Theorien von ihrem geschichtlich fixierbaren Anfang her trotz aller Differenzierungen und Brü­ che der selbe ist: sich konkret entfaltender Geist. Geschichte des Geistes5 ist - primär unter philosophischem Aspekt, aber auch unter dem der Fakten der Prozeß des zu sich selbst, d. h. zu seinem eigenen Begriff oder Selbstbe­ wußtsein kommenden, in ihm sich vollendenden, weil begreifenden, abso­ luten Geistes. Dieses Sich-Selbst-Begreifen eines absoluten Begriffs oder das Zusichselbstkommen der Idee aber ist mit Philosophie identisch. Wenn also einerseits Philosophie als die Selbstdarstellung des sich-selbst-begreifenden und zu seiner Absolutheit hin sich vollendenden Geistes zu verstehen ist, andererseits aber Geschichte schlechterdings Geschichte des Geistes ist, dann sind Philosophie und Geschichte zumindest in der Geschichte der Philo­ sophie wesenhaft oder notwendig aufeinander bezogen. „Philosophie und Geschichte der Philosophie sind Eins ein Abbild des Ändern“6. Hegels Insistieren auf der Wahrheitsrelevanz von Geschichte entspringt der Überzeugung, daß systematisches und historisches Denken im Blick auf die zu erkennende eine Sache eine Einheit ausmachen, so daß auch „Geschichte der Philosophie“ (die Beschäftigung mit ihr) nicht gegen „sy­ stematische Philosophie“ als „^philosophisch“ oder als für den „systemati­ schen“ Gedanken irrelevant ausgespielt werden kann. Vielmehr gilt für die begriffliche Arbeit des philosophischen Denkens insgesamt: „Was wir sind, sind wir zugleich geschichtlich“7. Geschichte und Philosophie als die Ent­ faltung des Denkens in sich werden zu untrennbaren, sich gegenseitig be­ dingenden Aspekten oder Momenten ein und derselben Sache: des Geistes nämlich als des Grundes ihrer selbst. Beide, Geschichte und Philosophie, verhelfen dem Geist nicht nur zu seiner aktuellen und konkreten Selbst­ darstellung, sondern sind diese Selbstdarstellung selbst. Für Hegel ergibt sich aus der so gedachten Einheit von philosophischer Wahrheit mit deren geschichtlicher Erscheinung eine Konsequenz, die den gesamten Prozeß des Denkens und die von ihm bestimmten Erscheinungen der Kultur, wie Staat, Kunst und Religion, betrifft: die einzelnen, geschichtlich verschieden sich ausprägenden Philosophien sind Konkretionen in der Entfaltung der logischen Idee oder der Logik als Idee. Sie nehmen einen genau umrissenen Ort innerhalb der Entfaltung des Ganzen ein und sind aufgrund der 5 Vgl. hierzu Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hg. v. Ci. Lasson, Hamburg 19303, I, 138. 6 Hegel, Einleitung (wie Anmerkung 2) 120. 7 Ebd. 12.

Distanz und Nähe der Geschichte: Hegel und Platon

307

Integration von Geschichte und Logik von der jeweiligen „Stelle“ der Logik her interpretierbar. „Die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte [ist] dieselbe, als die Aufeinanderfolge in der logischen Ab­ leitung der Begriffsbestimmungen der Idee“8. Mißverstanden wäre dieser Satz, wollte man in ihm die strikte, quasi-automatische Entsprechung aller einzelnen Momente und Wendungen der Geschichte der Philosophie im ganzen zu der transzendentalen und speculativen Entfaltung des jeweili­ gen philosophierenden Bewußtseins behauptet sehen. Weder soll (die) Lo­ gik als Akzidenz von Geschichte oder als nachträgliche Interpretation des in sich notwendig so verlaufenden Bewußtseinsprozesses gedacht werden, noch soll Geschichte zum bloßen Ornament des speculativen Gedankens herabgesetzt werden. Beide Formen der Bewegung vielmehr - die eine, die „war, aber dennoch in der Gegenwart aufgehoben ist“, die andere, die sich jeweils rück- oder vorblickend als Konstitution des gegenwärtigen philoso­ phischen Bewußtseins, als dessen Selbsterfassung vollzieht —durchdringen sich einander erhellend mit gleicher Legitimität und Intensität. Aus dieser (hier nur andeutbaren) Theorie der Geschichte des Denkens und aus der in ihr eingeschlossenen Vorgabe einer grundsätzlichen Einheit des Gegenstandes und einer Teleologie der Gedanken heraus ist es Hegel möglich, auch im Denken Platons Ansätze zum Eigenen hin zu finden: Elemente in dessen Theorie, mit denen auf einer weiter entwickelten Stufe des Geistes neu philosophiert werden kann und muß. Dies ist ohne „Her­ ablassung“ gesagt; es ist vielmehr eine der Allen zugänglichen Objektivität von Geschichte entsprechende Feststellung, die zum Gespräch, zur Aus­ einandersetzung mit ihr gerade deshalb einladen soll, weil die „Gedanken, Prin/jpien, Ideen, die wir [in der Geschichte oder als geschichtliche] vor uus haben“, ebensosehr „etwas Gegenwärtiges“ sind; „sie sind Bestimmun­ gen in unserem eigenen Geist“9. " I 'IhI. J4· ~ „Logik“ ist hier, wie später „Dialektik“ , im spezifisch Hegelschen Sinne zu vri·,tclu n, also nicht als eine formallogische Methode, sondern als die begriffliche SelbstI iiil.ilnmg des Seins der Subjektivität, die argumentativ begründete Konstitution des philmn|»liisi hen Selbstbewußtseins, die das Endliche auf das Unendliche oder Absolute hin I»* i’.nlilu h durchdringt. Hegel selbst versteht seine Logik - die „logische Wissenschaft“ iiU die „eigentliche Metaphysik oder rein speculative Philosophie“ , das „System der reinen VVimmh, als das Reich des reinen Gedankens [...]. Dieses Reich ist die Wahrheit, wie sie tthut Ilulle an undJur sich seihst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt »lit / Kn\trllung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und J rinn endlnhen Geistes ist" (Wissenschaft der Logik, hg. v. G. Lasson, Hamburg 1951’, 1, 5; 31).

" I iuleitunp,, 1n.

3Jenaer Kritische Schriften, hg. v. II Ihn hner ιιικί C). Pöggeler, Gesammelte Werke [wie Anm . 1] 4, H am burg 1968, 2 0 7 ,15fr. Sirhr .im h X V III i vot) Γ ν ^ ρ γ π ί * ζ Vgl. z. B. Beiträge zur Philosophie (Anm. 9), 208ff. '' Vgl. oben S. 372 f. das zur Vorlesung Vom Wesen der Wahrheit Gesagte. 'H Heiträge zur Philosophie (Anm. 9), 2ir, und die in Anm. 32 zitierte kryptische Äußeιιιιψ, über ,epekcina‘ aus ebd. 216. w Vgl. Aristoteles, z. B. Met. 983 a 31. 1013 b 26. Vom Wesen des (»rundes (Anm. 11), 41. Vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Logik im hi\y,tn£ von l eibniz, Gesamtausgabe Bd. 26, hg. von K. Held, Frankfurt 1978, 23yf.y 284.

382

EPEK EIN A . Heideggers Platon-Rezeption

des Seienden überhaupt.41 Wenn nun im Sinne Heideggers das ,agathon‘ zum einen qua ,epekeina‘ des Seins als Transzendenz des Daseins'bestimmt ist, zum anderen aber Sein als ,Dasein4 fundamentalontologisch „umwillen seiner“ sein soll,42 dann wäre auch für Platon nach einem „Bezug“ des Umwillen zum Dasein oder nach deren Identität zu fragen: ,agathon‘ = das Umwillen seiner, d. h. des Daseins. Demgegenüber stellt Heidegger fest: „Allein dieses Problem kommt [bei Platon] nicht an den Tag“.43 Warum nicht? - Wenn doch für Heidegger gerade keine „Bedenken“44 bestehen, daß das ,agathonc qua Umwillen als ,die Transzendenz des Daseins* &\isgelegt werden kann oder gar einzig so begriffen werden muß? Tendiert Heidegger durch diese Wendung wieder zurück in die eher „konventio­ nelle“ oder „traditiongewordene“ Verstehensweise des in Frage stehenden platonischen Grundgedankens, wie er sie in Vom Wesen der Wahrheit, aber auch in der Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik im Ausgang von Leibniz (1928) zeigt,45 deren „zweites Hauptstück“ eine „Metaphysik“ des Satzes vom Grunde als „des Grundproblems der Logik“ entwickelt und die Voraussetzung (teilweise mit identischem Text) der Abhandlung Vom Wesen des Grundes darstellt? Dort nämlich ist das dyadov als „Umwillen“ deutlich nicht als ein Moment des Daseins, als dessen Grundverfassung des Transzendierens festgelegt, sondern als über „das Reich der Ideen“ „hinausliegend“ oder dieses „überragend“ paraphrasiert. Platonisch ein­ lösbar allerdings ist nicht Heideggers Entscheidung, daß „Welt als das, woraufhin Dasein transzendiert“ (In-der-Welt-sein!), „primär durch das Umwillen bestimmt“ ist.46 Dieses Umwillen aber sei - so Heidegger —der „Grundcharakter von Welt, wodurch die Ganzheit ihre spezifisch tran­ szendentale Organisationsform erhält“ ,47 eine Aussage, die ausschließlich als eine auf „objektiv“ Seiendes bezogene sinnvoll sein kann. M it einem „aristotelisierten“ (ov eveica!) Platon auf die Gleichung von dyoööv mit „Umwillen“ und von „Umwillen“ mit „Welt“ gekommen, ohne Platon jedoch - der freilich auch ungenannt präsent bleibt - weitergehend zur 41 Von dem denkend auf sich selbst bezogenen Gott hängt die (pwig insgesamt ab; er selbst bewegt das von ihm abhängende Seiende auf sich selbst - als Ziel der Bewegung hin; „er bewegt wie ein Geliebtes“ : Aristoteles, Met. 1072 b 14 und 3. 42 Vgl. hierzu oben S. 376. 43 Vom Wesen des Grundes (Anm. 11), 41. 44 Ebd. 40. 45 Vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Logik (Anm. 40), 237 f. 46 Ebd. 238. 47 Ebd.

EPEK EIN A . Heideggers Platon-Rezeption

383

Frage nach dem Verhältnis von Grund und Freiheit, findet Heidegger un­ vermittelt den Übergang zu diesem Begriff, indem er sich gerade vom deutschen „\Jmwillen“ leiten läßt: „Ein Umwillen ist (...) wesensmäßig nur da möglich, wo es einen Willen gibt. Sofern nun die Transzendenz, das In-der-Welt-sein die Grundverfassung des Daseins ausmacht, muß das In-der-Welt-sein auch mit der Grundbestimmung der Existenz des Daseins ursprünglich verwachsen bzw. dieser entwachsen sein: nämlich der Freiheit. Nur wo Freiheit, da ein Umwillen, und nur da Welt. Kurz gesagt: Tran­ szendenz des Daseins und Freiheit sind identisch!“48 Dieser Schritt zu einer aus dieser spezifischen Deutung von ,agathon‘ hergeleiteten Identifikation von Transzendenz des Daseins mit Freiheit muß hier nicht mitvollzogen werden. Platons Begriff von Freiheit kann im Kontext der Politeia z. B. von der zuvor schon erwähnten „Befreiung (oder Lösung) und Umkehr“ der denkenden Seele her auf das —gegenüber dem Schein der Erscheinungen wahrhafte - Sein der Ideen und damit letztlich auf das Über-Sein der Idee des Guten hin als Bewegung einer Umkehr verstanden werden, als aus die­ ser Umkehr (Höhlengleichnis)49 resultierender innerer Aufstieg (wie in dem Gleichnis) und als bewußte Wahl der Lebensform, die durch die Einsicht in die Ideen bestimmt ist {Politeia X). - Heidegger allerdings ist der Mei­ nung, daß er die Hörer seiner Vorlesung (und damit auch die Leser seiner Abhandlung Vom Wesen des Grundes) durch die Entwicklung des Gedan­ kens, der Grund entspringe aus der Freiheit, zu Sein als Dasein gehöre we­ se nhaft Grund und damit auch Freiheit, „lediglich dahin zurückgeführt“ habe, „wo Plato stand, als er die Sätze im ,Staatc schrieb {Politeia VI, 509

48 Ebd. - Es mag sein, daß Heideggers Interpretation des platonischen άγαθόν als

frei heit durch Kierkegaards Aussage mit-bestimmt ist: „Das Gute läßt sich schlechterdings nic ht definieren [dies ist auch ein Aspekt des ,epekeina‘-Seins des Guten]. Das Gute ist die Freiheit“ (Der BegriffAngst. Vorworte, Gesammelte Werken, und 12. Abteilung [übers, von F. I Iirsch] Düsseldorf 1958, 114Ϊ. Anm.). - Am Ende der Vorlesung (284) steht in Heidegyyrs Übersetzung von Politeia 509 b anstelle des „Guten“ (so wieder in der Übersetzung desselben Textes in Vom Wesen der Wahrheit [Anm. 3], 107) für άγαϋόν einfachhin „das l Jmwillcn“ : „Das Umwillen aber (die Transzendenz) ist nicht das Sein selbst [dies für: ούκ nm ii/ς οντος του αγαθού], sondern was es überschreitet [άλλ’ ετι επέκεινα τής ουσίας] mul zwar indem es das Seiende an Würde und Macht überschwingt“ . Der griechische l< xi steht im Zusammenhang vor dem von mir hier zitierten Teil der Heideggerschen l )l*( isetzung. ,υ

In d i e s e m S i n n e b e s c h r e i b t a u c h H e i d e g g e r i m K o n t e x t d e s H ö h l e n g l e i c h n i s s e s d e n

/ i i s . i m m e n h a n g v o n I d e e , I . i c h t u n d F r e i h e i t : „ F r e i h e i t a ls B i n d u n g a n d a s L i c h t e n d e “ ( Vom

We\rn der Wahrheit |Anm. }|, 41. sKf.).

384

EPEK EIN A . Heideggers Platon-Rezeption

b 6-10), mit denen ich schließe, ( . . . ) c·50 Kann oder will Heidegger mit dem in der Vorlesung Angedeuteten und in der Abhandlung Vom Wesen des Grundes deutlicher Gesagten als derjenige gelten, der Platons επέκεινα in „sein “ ,Dasein4 als ein wesensmäßig auf Welt hin als das „Umwillen“ Transzendierendes aufgehoben und vollendet hat? Diese Frage könnte man bejahen, wenn man Heideggers Abschluß der Vorlesung als eine Reminis­ zenz an den Anspruch Hegels verstehen möchte, den dieser für sein eigenes Philosophieren erhebt, wenn er an das Ende seiner Encyclopädie den grie­ chischen Text - allerdings ohne Übersetzung - aus einem zentralen Teil der Metaphysik des Aristoteles über den sich denkenden Gott setzt - dies, um zu dokumentieren, daß er selbst den in Aristoteles angelegten, anfänglich ausgesprochenen Gedanken in seiner eigenen Konzeption einer absoluten Idee geschichtlich und sachlich zur Vollendung gebracht habe.51 - Aber wahrscheinlich widerspricht doch eine solche Vermutung eher Heideggers ambivalentem Verhältnis zu Platon, als dessen „Vollender“ er sich selbst schwerlich verstehen könnte, da er gerade Platons Denken mit der Schuld der Verdeckung und des Vergessens des auf „neuen“ Denkwegen wieder zu gewinnenden und zu verändernden Anfangs belädt.

III Meine These zu Heideggers (Un-)Verhältnis zum neuplatonischen Den­ ken brauche ich in diesem Zusammenhang nicht zu wiederholen.52 Sie impliziert eine Kritik an Heideggers Konstruktion der Geschichte der „Metaphysik“ und macht zugleich die in einer radikalen Verfallstheorie verdeckten, verdrängten und „vergessenen“ Möglichkeiten von nicht-restringierter Metaphysik bewußt. Indem Heidegger - ganz unplatonisch den vermeintlich schwächeren logos durch seinen Selektionsmechanismus gegenüber der Geschichte des Denkens noch schwächer macht, als er in manchen Aspekten vielleicht in sich selbst ist, befördert er durch eine autoritäre Amputation des Platonismus auch die Herabsetzung der Meta­ 50 Es folgt nun (S. 284 der Vorlesung Metaphysische Anfangsgründe der Logik [Anm. 40]) der griechische Text und Heideggers Übersetzung, aus der ich schon zitierte. 51 Vgl. hierzu W. Beierwaltes, Identität und Differenz (Anm. 7), 171 ff. 52 Vgl. aus meinen Überlegungen hierzu vor allem: ebd. 131 ff. Klaus Kremcr hat die damit zusammenhängende Fragestellung weiter geführt: Zur ontologischen Differenz. Plotin und Heidegger, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 4} (1989), 6 7 \ 694.

EPEK E IN A . Heideggers Platon-Rezeption

385

physik zu einer aus besseren Anfängen (Vorsokratiker!) geschichtlich sich verfestigenden und den angedachten „anderen Anfang“ auch heute noch hemmenden Schwundstufe.53 Gerade ein umsichtiges Bedenken dessen, was die neuplatonische Philosophie durch das platonische επέκεινα über Status und Funktion des ersten Prinzips, des Einen oder Guten, aussagen möchte, hätte Heidegger vielleicht vor der rabulistisch immer wieder wiederholten Behauptung bewahren können, „Metaphysik“ sei gar nicht imstande gewesen, „ontologische“ Differenz im strikten Sinne —nicht nur den Unterschied zwischen „Sein und Seiendem“ - zu denken. Επέκεινα steht im neuplatonischen Denken dafür ein, daß das Eine oder Gute selbst, gemäß einer metaphysischen Interpretation der ersten Hypothesis des pla­ tonischen ParmenideSy frei ist von aller kategorialen Bestimmtheit, also auch frei von Sein und Relationalität, das für Denken konstitutiv ist, und mithin als über-sziend und ¿¿¿r-denkend gerade nicht als „Etwas“ oder „Seiendes“ denkbar sein kann; seine absolute Transzendenz ist durch die Bezeichnung ausgedrückt, daß es „Nichts von Allem“, das zu Allem „Ver­ schiedene“, der Unterschied schlechthin sei; als das von Allem Verschie­ dene aber ist es gerade aufgrund dieser seiner δύναμις zugleich Grund und Ursprung von Allem.54 - Die bisher veröffentlichten Texte Heideg­ gers55 geben allerdings keinen Anlaß zur Annahme, daß Heidegger diesen nicht nur von den genuinen Neuplatonikern, sondern auch von Dionysius Areopagita, Eriugena, Meister Eckhart und Cusanus entwickelten Grund­ gedanken einer absoluten Differenz des Einen/Guten oder des Gottes in seine Reflexionen über die „Geschichte der Metaphysik“ hätte einbezie­ hen wollen oder können. Schon eine Möglichkeit Heideggers hierzu muß aufgrund zahlreicher eklatanter Fehlurteile über den Neuplatonismus, die nicht als „Deutungen“ verstehbar sind, in Zweifel gezogen werden.56 s3 Zu „Platonismus in der Gegenwart“ vgl. Beiträge zur Philosophie (Anm. 9), 218. s,t Zu επέκεινα im Neuplatonismus vgl. meine Erläuterung zu Plotin V 3 ,11, 28 (έπέκπνα πάντων) in: Selbsterkenntnis und Erfahrung der Einheit {Anm.. 7), 129 fr. 218 f. 1)5 Es bleibt abzuwarten, ob meine Diagnose durch die Publikation von Heideggers VorIrsung Augustinus und der Neuplatonismus (Sommersemester 1921) revidiert werden muß. Jedenfalls sind die geringen Spuren einer Verbindung Heideggers zu diesem Denken wohl nur aus sekundären und tertiären Quellen hergeleitet. [Vgl. oben S. 365.] v ’ Vgl. hierzu meine Bemerkungen zu Heideggers Hinweisen auf Plotin in Identität und Differenz (Anm. 7), 134, Anm. 129. Dazu noch Heidegger, Aristoteles, Metaphysik 1-3, 1 lesamtausgabe Bd. 33, hg. von H. Hüni, Frankfurt 1981, 46f., über die „Fragwürdigkeit der Analogie ilcs Seins“ : analogía entis sei eine Formel, keine Lösung der Seinsfrage, „ja nicht einmal eine wirkliche Ausarbeitung der Fragestellung, in der das antike Philosophieren und

38 6

E PEK E IN A . Heideggers Platon-Rezeption

Hierzu als Beispiel ein (allzu) kurzer Text über ¿Jiéiceiva aus Heideg­ gers Vorlesung über Platons Sophistes (gehalten im Wintersemester 1924/ damit alles nachfolgende bis heute eingemauert ist“ . „Der mittelalterlichen Theologie ist das Analogieproblem auf dem Wege über Plotin überliefert worden, der es, schon in jener Umbiegung, in der VI. ,Enneade‘ erörtert“ . - „(...) auf dem Wege über Plotin überliefert (...)“ : Plotin ist dem Mittelalter lediglich indirekt präsent, sein Denken wird im Text erst durch die Übersetzung Marsilio Ficinos 1492 zugänglich. Das „Analogieproblem“ ist, wie auch sein Wert für die Explikation der Seinsfrage einzuschätzen sei, durch Aristoteles und dessen Interpreten, aber auch durch bestimmte „Neuplatonismen“ des Dionysius Areopa­ gita an das Mittelalter vermittelt worden (vgl. hierzu: R. Schönberger, D ie Transformation des klassischen Seinsverständnisses, Berlin 19 8 6 ,12 2 ff.). Worin „jene Umbiegung“ in Plotins VI. ,Enneade‘ bestehen soll - offensichtlich hat Heidegger Plotins Kategorienschrift V I 1-3 im Blick - bleibt dunkel. Em il Lask, den Heidegger kannte, hat in Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre (1910) Plotins „großen Schritt“ , den er „in der logischen Forschung“ durch die Universalisierung des Logischen getan habe, ganz entschieden herausgehoben: „[Plotin] verkündet bewußt die in der Platonisch-Aristotelischen Spekulation bewährte Macht des Logischen in der reifsten und verdichtetsten Gestalt einer Kategorienlehre (...) Plotin war es Vorbehalten, die Universalität des Logischen durch die Frage zu vertiefen und zu befestigen, ob nicht die von der Zweiweltentheorie statuierte Unvergleichbarkeit zwischen den beiden Hemisphären des Alls irgendwie ihren Ausdruck auch in der Katego­ rienlehre finden muß“ (Gesammelte Schriften II, hg. v. E. Herrigel, Tübingen 1923, 234f.). Heidegger hätte also sogar im Kontext von Rickert und Husserl auf eine differenziertere Sicht dieser Problemlage aufmerksam werden können. Folgende Bemerkung zu einem Vortrags-Titel des Archäologen Ernst Buschor Die Plastik der Griechen von Parmenides bis Plotin zeugt davon, daß Heidegger für die Entwicklung der griechischen Philosophie in dem organologischen Verfallsmodell Eduard Zellers befangen blieb, allerdings ohne über dessen intime Kenntnis neuplatonischer Konzepte zu verfügen. Dies hat Konsequenzen auch für seine Einschätzung Plotins: „Weder der Eine noch der Andere war ein Bildhauer. Aber der Eine hat am Anfang des griechischen Geschickes den Gesichtskreis geprägt, innerhalb dessen die Werke und Taten dieses Volkes erscheinen soll­ ten; der Andere schuf den Gesichtskreis, darin sich der Verfall und das Ende des Griechen­ tums bewegten, von wo aus seine längst verdeckte Gestalt die nachfolgenden Jahrhunderte bestimmen sollte“ (M. Heidegger, Aufenthalte, Frankfurt 1989, 11). - Im Zürcher Seminar von 1951 wird Heidegger folgende Frage vorgelegt: „Ist die ontologische Differenz nicht der Sache nach schon früher gedacht worden, z. B. bei Plato, Plotin, Schelling?“ Heidegger setzt dieser Frage zunächst die Frage entgegen: „Wo ist die ontologische Differenz jemals genannt?“ , äußert sich dann zwar zu Schelling und Plato, indem er für beide das „Wesen“ der „Metaphysik“ ins Feld führt, gemäß dem sie „diese Differenz als Differenz niemals“ zu denken vermag, zu Plotin aber schweigt er (Seminare, Gesamtausgabe Bd. 15, hg. von C. Ochwadt, Frankfurt 1986, 435 f.)· Dessen Denken aber hätte eine AntwQrt auf die Frage nach der „ontologischen Differenz“ m besonderem Maße entsprechen können, ohne daß in ihr die neuplatonische und die heideggersche Form einer „ontologischen Differenz“ ein­ ander hätten angeglichen werden müssen. In einer Reflexion auf Plotins Grundgedanken einer Transzendenz des Einen und der absoluten Andersheit wäre es indes nicht verantwort-

EPEK EIN A . Heideggers Platon-Rezeption

387

25).57 Die Erwartung, die aus der Überschrift erwächst: „Zur Genesis des Neuplatonismus: das öv als τρίτον im Sophistes und das έπέκεινα des Neuplatonismus“ ist mitnichten eingelöst. Heidegger charakterisiert die Frage Platons, wie es das Seiende (öv) als ein „Drittes“ neben Bewegtem oder Ruhendem geben könne (Soph. 250 c 1) als „eine sehr schwerwiegende“ . Dem schließt er die Behauptung an: „Diese Fragestellung, wie sie hier im ,Sophistes* auftritt, wurde später für die Neuplatoniker zum locus clas­ sicus. Sie haben von hier aus die Idee des έπέκεινα, dessen, was jenseits alles konkreten Seienden liegt: die Idee des τι, des εν, des öv. Die neu­ platonischen Kommentare, vor allem zum ,Parmenides*, sind gerade auf diese ,Sophistes‘-Stelle orientiert“. An dieser Behauptung stimmt nahezu nichts; sie läßt nur auf geringe und unsichere Kenntnis in diesem Bereich schließen: Die Sophistes-Stelle ist nicht zu einem „locus classicus“ für die „Neuplatoniker“ geworden, schon gar nicht in einer Verbindung zu ,epekeinai. Sein, Stand, Bewegung, Selbigkeit und Verschiedenheit werden zwar aus dem Sophistes (nicht jedoch von der genannten Stelle her) als Grundstrukturen des sich selbst denkenden Nus begriffen, der mit seinem eigenen Sein denkend identisch ist.58 Nicht jedoch „von hier aus“ „haben“ har, der „Metaphysik“ schon das Vermögen eines Denkens von „Differenz als Differenz“ so schlichtweg abzusprechen. - Es mag sein, daß Heidegger in seiner Antwort auf die ihm gestellte Frage Plotin einfach vergessen hat. Im Blick auf Heideggers Restriktionen in seiner „Metaphysik“-Konstruktion könnte jedoch dieses aktuelle Vergessen oder Auslassen gera­ dezu als symptomatisch erscheinen für seine Gewohnheit, diesen für einen differenzierten und umfassenden Begriff von Metaphysik unabdingbaren Bereich des Denkens einer ge­ naueren Kenntnisnahme gar nicht für wert zu halten, ihn dann bewußt oder unbewußt /11 verdrängen und damit auch systematisch zu „ vergessen Heideggers Identifikation von „Platonismus“ mit „Metaphysik“ zum Behufe einer Kritik von „Metaphysik“ als wesenhafier „Seinsvergessenheit“ oder als Vergessen der „ontologischen Differenz“ steht seine - sit venia verbo - „Plotin-Vergessenheit“ entgegen. Dies gilt zumindest für diejenigen Phasen sei m it Philosophie, in denen nach „Sein und Zeit“ - trotz oder gerade in vielfältigen In­ tel pretationen klassischer Texte - seine Selbstprofilierung gegenüber der „Metaphysik“ für „eigentliches“ Denken vorherrscht, die die Notwendigkeit eines „anderen Anfangs“ bewußt mai lien soll. ' ( Îesamtausgabé Bd. 19, hg. von I. Schüßler, Frankfurt 1992, 494. 496. Diesen Gedanken erwähnt Heidegger nirgends. Vgl. hierzu: G. Nebel, Plotins Ka­ ttyorim der intelligihlen Welt, Tübingen 1929; P. Hadot, Etre, vie, pensée chez Plotin et •tränt Plotin, ¡11: Sources de Plotin. Entretiens sur l’Antiquité Classique (Fondation Hardt), mme V, C Îenève i960, 107-157, ^t*s· 1,1 f —Aus dem Umkreis von Sophistes 250, die Stelle, .ml die sieh I leidegger bezieht, wird in Proklos’ Iheol. PlatAW 6; 25, 7-9. III 16; 56, 10-12. III ’ Hs. ;6 ιη (Saffrey Wcstcrink) nur p. 250 c 6-7 genauer behandelt, nicht aber im

!\tt turnt des Kommentar.

388

EPEK EIN A . Heideggers Platon-Rezeption

die Neuplatoniker „die Idee“ des ¿rtEKSiva, sondern von der Heidegger hinreichend bekannten Stelle in Politeia 509 her. Unklar bleibt, was y,Idee“ des ,epekeinac überhaupt heißen soll: ,epekeina‘ selbst als Idee im plato­ nischen oder plotinischen Sinne, obgleich es neuplatonisch eindeutig ein Prädikat für die „Andersheit“ des Einen und so über oder vor jeder Idee ist? Oder meint es lediglich den Gedanken einer Wirklichkeit, die jenseits des konkreten Seienden „liegt“? Dies wäre - neuplatonisch gedacht - der Nus als die sich denkende Einheit und Differenz der Ideen zugleich, nicht aber „die Idee des Ti, des ev, des öv“, wie Heidegger meint. In aristoteli­ schem und auch platonischem Kontext können Etwas, Eines, Seiendes als Abstraktionsbegriffe gegenüber dem „konkreten Seienden“, dem je Einzel­ nen verstanden werden, nicht aber als „Ideen“ im strikten Sinne. Schon gar nicht ist neuplatonisch eine „Idee“ des Einen denkbar. Dieses ist gerade diejenige Wirklichkeit oder Dynamis, die jenseits von Denken und Sein von einzelnen, durch Denken zur Einheit gefügten Ideen im Nus, und jen­ seits, „über“ oder „vor“ jedem Etwas nur sie selbst ist.59 Das Eine, und nicht irgendeine Idee, auch nicht die Idee des Einen, ist also jenseits von Allem. Heideggers Behauptung, daß „die neuplatonischen Kommentare, vor allem zum ,Parmenides‘, gerade auf diese ,Sophistesc-Stelle orientiert“ seien, ent­ behrt jeder Grundlage in den Texten. Aus dieser Art von Ungedachtem und faktisch Ungesagtem sind keine Folgerungen für Zu-Denkendes ableitbar.

[Englische Übersetzung von Marcus Brainard: Epekeina. A Remark on Heideggers Reception of Plato, in: Graduate Faculty PhilosophyJournal 17,1994, 83-99. Markus Joachim Brach, Heidegger - Platon. Vom Neukantianismus zur existen­ tiellen Interpretation des „Sophistes“, Würzburg 1996.]

59 Das Eine selbst ist v o r jedem Etwas - προ του ,,τί“

(P lo tin

V

12 , 5 0 - 5 2 ) .

H E ID E G G E R S G E L A S S E N H E IT Die [ursprüngliche] Einheit besteht in der Ge­ lassenheit [des] Willens und des Seins, d. i. wo der Wille das Sein läßt und das Sein vom Willen gelassen wird. Schelling, Initia Philosophiae Universae

I Produktiv aufnehmend und kritisch verändernd zugleich steht Martin Heidegger im philosophischen Kontext seiner Zeit: Er setzt sich mit dem Neukantianismus verschiedenster Prägung auseinander: mit den Proble­ men von Logik, Erkenntnistheorie und Metaphysik, wie sie von Franz Brentano, Hermann Lotze, Paul Natorp, Emil Lask und Heinrich Rickert diskutiert wurden; er übernimmt nicht nur einige Impulse aus der Phäno­ menologie, insbesondere der seines Lehrers Edmund Husserl, sondern läßt sie zum Grund- und Leitgedanken seiner eigenen Phänomenologie des Da­ seins in „Sein und Zeit“ (1927) werden und verbindet darin die Intention der Selbst-Durchdringung des Daseins, welches wir selbst je sind, sowohl mit dem Begriff des „Phänomens“ als einem - etymologisierend gedacht Sich-Zeigen der „Unverborgenheit“ (Wahrheit), als auch mit einem neuen Begriff von Hermeneutik; diese sollte im Gegenzug zum Gebrauch dieses Begriffes in der Philosophie der Geisteswissenschaften und des Historismus Wilhelm Diltheys und des Grafen Yorck von Wartenburg nicht primär als eine Methode verstanden werden, die Beliebiges als Verstehbares auslegt, sondern als Tätigkeit der Auslegung des Auslegenden selbst: Hermeneutik als verstehender Selbstbezug des Daseins. Martin Heidegger hat seit „Sein und Zeit“ mit wachsender Rigorosität und geradezu autistischer Selbstprofilierung den gewaltigen, jegliche an­ dere Möglichkeit des Philosophierens verdrängenden Anspruch suggeriert, rr hübe zuerst nach dem „Sinn von Sein gefragt“, das Sein (Seyn) durch I >cM niktion im Sinne einer „Verwindung“ - von Metaphysik „gedacht“

390

Heideggers Gelassenheit

oder zumindest „an-gedacht“. Gemäß seiner Selbsteinschätzung ist er da­ mit in einen Gedanken vorgestoßen - ,Sein als Sein in der Differenz zum Sein als Seiendem'- , den „Metaphysik“ gar nicht habe denken können: sie hat sich vielmehr - in Heideggers beschränkender Sicht —, ihren eigenen Anfang vergessend, verlassend, verdeckend, nur ins vergegenständlichende Vorstellen des Seins von Seiendem verstrickt. Die aus dieser systematischen Seinsvergessenheit oder Seinsverlassenheit erwachsende „Not“ vermochte sie aufgrund eben dieser Denkstruktur überhaupt nicht zu erfahren. Sie hat sich dadurch aus der dem Denken aufgegebenen Seins-Frage selbst ausge­ schlossen und ist dergestalt zum Mißgeschick der gesamten Entwicklung des abendländischen Denkens und der mit ihm wesenhaft verbundenen Kultur geworden - der ,Verfall* des Denkens von Sein nach einem ersten „Einblitz“ in Heraklit und Parmenides schreitet demnach von Platons an­ geblicher Reduktion der Wahrheit auf eine bloße Richtigkeit des Blickens hin fort in ein objektivierend-vorstellendes, universal verrechnendes Den­ ken, das seinerseits die Voraussetzung für die neuzeitliche Wissenschaft und Technik erstellt - mit ihren verheerenden Folgen im „Atomzeitalter“. Wenn Heidegger auch nur Ansätze zu einer einigermaßen plausiblen und in sich standfesten Begründung dieses seines Anspruchs hat geben wollen, so mußte er sich auf diejenigen Phasen oder Ausformungen der Metaphysik interpretierend einlassen, die für seine Grundthese gemäß sei­ nem eigenen Vorbegriff ausschlaggebend sein konnten: so in der relativen Nähe zur Gegenwart vor allem mit Kanty dessen Philosophie in Heideggers Kritik stellvertretend oder gar paradigmatisch für den nie geschriebenen zweiten Teil von „Sein und Zeit“ stand, mit Hegels Begriff der Erfahrung und der Negativität im Zusammenhang mit seiner eigenen „Dialektik“ von Sein und Nichts, aber auch mit Leibniz, um dessen Fassung des Satzes vom Grund zum Abstoß- und Differenz-Punkt seiner eigenen Formulie­ rung des Satzes vom Grund als einem „Satz ins Sein“ zu machen; weiterhin - aus derselben Zeit, dem Anfang der Vierzigerjahre - ist seine Auseinan­ dersetzung mit Schellings Begriff der Freiheit und vor allem mit Nietzsches Konzepten des „Willens zur Macht“ und des „Nihilismus“ bedeutsam, in denen Heidegger das Letzte der Metaphysik als deren Selbstzerstörung sah. Namen ohne Ende! Ohne daß ich nun durch genaueres Beschreiben weitere Bereiche von Heideggers Auseinandersetzung mit dem philosophi­ schen und dichterischen Uberlieferungszusammenhang erörtern könnte, muß ich doch zur Eingrenzung meines Themas auf dieses verweisen: am intensivsten ist Heidegger mit den Griechen verbunden - „den einzigen

Heideggers Gelassenheit

391

großen Lehrmeistern des Denkens“ - zunächst vor allem mit Aristoteles, zunehmend kritisch - im Zusammenhang mit der Ausarbeitung seiner ge­ schichtsphilosophischen These zur „Metaphysik“ —mit zentralen Fragen der Platonischen Philosophie, und dann ganz zentral für die Konturie­ rung seiner Frage nach einem „anderen Anfang“, in dem das Sein denk­ bar würde, mit dem sogenannten „ersten Anfang“, den „Vorsokratikern“ Anaximander, Parmenides und vor allem mit Heraklit. Diesen Rückgang insbesondere zu den frühen Griechen als zu dem „Ältesten des Alten“ vollzieht Heidegger keineswegs nur aus einem bloß historischen Interesse, sondern als den Weg seines prätendiert eigenen Denkens, das er in eben diesem Rückgang herausbildet und in Grundworten artikuliert, die ohne „die Griechen“ kaum denkbar wären: Sein als das Selbe (αυτό), Zeit als Struktur von Sein, Sein als „Anwesen“, Physis als das von sich selbst her Aufgehende, αλήθεια als das Sich-von-sich-selbst-her-Zeigende - die Un­ verborgenheit oder Lichtung des Seins -, Logos als das Vorliegen-Lassen des Vorliegenden - im Sinne Heideggers die griechische Form des von ihm als „gebenden“ („Es gibt“), Wahrheit als Unverborgenheit herausbringenden Ereignisses. Alle diese Grundworte sind Perspektiven des selben SEINS. Auch Gelassenheit rechne ich zu den Grundworten des Heideggerschen Denkens. Es meint einen Wesenszug dessen, was er im emphatischen, ei­ gentlichen Sinne ,Denken* nennt. - Für Wort und Begriff,Gelassenheit4 kann man zu Recht die mittelalterliche Mystik als Herkunftsbereich assozi­ ieren. Dies trifft für Heideggers eigene geschichtliche Orientierung durch­ aus zu. Er verbindet,Gelassenheit aber zugleich mit dem von Heraklit als Fragment 122 überlieferten, rätselhaften Wort: Άγχιβασίη, von ihm als „Nähe“ in einem aktiven, „bewegenden“ Sinne verstanden. Nicht primär als Ruhe oder Beruhigtheit, sondern als „Bewegung“ und Stand aus dieser Bewegung heraus ist Gelassenheit zu denken - als ein Sich-Lassen oder Sich-Einlassen ins Denken von Sein. Gelassenheit1 gehört als ein solches Grundwort in die Weise von Heid­ eggers Denken, die er selbst die „Kehre“ nennt. Diese meint nicht etwa eine 1 „Gelassenheit“ steht im Kontext von anderen „G e .. Bildungen, die für Heideggers Sjuathdcnken konstitutiv sind. Er sieht in der „Vorsilbe“ „Ge-“ den Verweis auf eine sam­ melnde, einigend zusammenfügende Bewegung im Bezug auf den jeweiligen „Stamm“ eines W o r t e s - etwa in „Ge-stcll“ , „Gefahr“ , „Geschick“ (als die „Versammlung des Schickens ins Anwesen“ ), Geschichte als „das Geschieht“ , „Geviert“ , „Gebirg“ [des Seins] als Summe des Heikens, das „Gering“ des Spiegel-Spiels der Welt, „Gedieht“ und „Gedanc“ . - Zur „Gcΐ η Γ h/w. „ G c g n e t “ vgl. S. 4 0 0 H .



unten

392

Heideggers Gelassenheit

„Kehrtwendung“ oder grundlegende Änderung der Richtung seines Den­ kens, „Kehre“ ist vielmehr Wendung seines Gangs des Denkens auf dem selben Weg in das selbe Ziel, auf dem und auf das hin er seit „Sein und Zeit“ zugeht: Die Frage nach dem „Sinn von Sein“ wendet sich („kehrt sich“) in die Frage nach dem Sein als der Differenz zum Verhältnis von „Sein und Seiendem“, nach dem Seyn als „Ereignis“. Wie der wahre, „eigentliche“ Dichter immer nur an einem Gedicht dichtet, so denkt der „Denker“, so­ fern er diesem Anspruch entspricht, in all seinen Metamorphosen immer nur das Eine und Selbe. So kann die „Kehre“ in Heideggers Denken gemäß seiner eigenen Einschätzung allenfalls als Modifikation des zuvor schon An-Gedachten verstanden werden: „Kehre“ als Übergang aus dem Sein als „Dasein“, welches wir selbst je sind (im Sinne von „Sein und Zeit“) in ein quasi „transsubjektives“, sich selbst „ereignendes“ Seyn, das in sich das Unverborgene und Lichtende und versammelnd („λόγος“!) Zusprechende ist, dem der Mensch - sich öffnend - „ge-hört“. Von diesem Gedanken bestimmt versucht Heidegger mit aller Rigorosität einer verändernden „Rückkehr“ in seiner Destruktion des „metaphysischen“ Vorstellens und des Seins als eines bloß Seienden aus dem ersten (geschichtlichen) An­ fang der frühen Griechen einen „anderen Anfang“ beginnen zu lassen: das Denken oder An-Denken des „Seins“ (Seyns, SEYNS) als das Sich-Geben, Sich-Lichten oder Ereignen seiner selbst als des Selben. Für diesen in viel­ fältigen Ansätzen unternommenen Versuch bedarf es im Sinne Heideggers einer anderen Sprache als der der „Metaphysik“, also einer Sprache, die nicht auf diskursives Argumentieren, auf Begründung und Bestimmung des „Gegenstandes“ durch ein begreifendes Denken setzt; sie kehrt sich vielmehr in ein dichtendes Denken, ein denkendes Dichten. Eine solche Einheit von Denken mit dem Dichten2 läßt die Frage, was denn nun das Seyn „definitiv“ sei, gar nicht erst zu. Einzig zu sagen ist dies: den unend­ lichen Näherungen zeigt Es sich immer tautologisch als ES SELBST.3 Ge­ gen eine vergegenständlichende, begrifflich „definitive“ Fixierung bleiben 2 Zu Heideggers Maxime, das Denken müsse „dichterischer werden“ , vgl. z.B.: Holz­ wege, Frankfurt 1950, 294f. 303. 343 unten. Aus der Erfahrung des Denkens, Pfullingen 19652, 23; 25. Dem entspricht Heideggers Hölderlin-Deutung im ganzen: eine „Näherung“ (s. άγχιβασίη!) von Dichten und Denken, die „nahe wohnen auf getrenntesten Bergen“ . 3 Die Sätze aus dem Brief „Über den ,Humanismus4“ : „Das „Sein“ - das ist nicht Gott und nicht ein Weltgrund. Das Sein ist weiter denn alles Seiende und ist gleichwohl dem Menschen näher als jedes Seiende . . . “ , sind paradigmatisch und symbolisch für Heideggers Antworten auf seine Frage „Was ist das Sein?“ : Trotz vieler positiver „Identifikationen“ glei­ chen sie eher einer ihr Ziel umkreisenden, andeutenden, „ahnend“ vorbereitenden „nega-

Heideggers Gelassenheit

393

wir mit Ihm systematisch in der Schwebe. Den Weg ins Seyn als Ereignis hat Heidegger in einem spätexpressionistisch hochgespannten, auf Seyn einschwörenden, aber auch hermetisch abweisenden Denk- und Sprachstil vorgestellt v. a. in seinen zwischen 1936 und 1938 ausgearbeiteten, „lange gehüteten“ und zumindest in „Philosophenkreisen“ „lange erwarteten“, aber erst 1989 veröffentlichten „Beiträgen zur Philosophie“, die als Unter-, jedoch eigentlich als Haupt-Titel: „Vom Ereignis“ tragen4. Die „Beiträge“ sind das in sich konsequenteste Dokument einer ,neuen Mythologie4, an der Heidegger dichtet. Sie weist in das ereignende Geschehen von Seyn; dieses ist zugleich der „Raum“ einer „Dämmerung“ des „letzten Gottes“5. Heideggers Sprechen von der „Gelassenheit“ wird aus der Bewegung der Kehre ins Seyn einigermaßen verstehbar. Es entspricht der Selbstdar­ stellung der Kehre in den „Beiträgen“ auch in seiner sprachlichen („dich­ tenden“) Gebärde: nicht fremder zwar und „geschwollen“-erhabener (was schwerlich möglich ist!), aber doch um einiges trivialer - durch den „Ein­ bruch von Natur“ und „Heimat“ in die Sprache des Denkens. Einen extensiven Gebrauch des Wortes „Gelassenheit“ hat Heidegger vorbereitet in einem darauf hinführenden Umgang mit dem Wortfeld des „Lassens“ - so etwa, wenn er davon spricht, daß das Denken „Anwesen­ des als Anwesendes anwesen sein lasse“, daß Freiheit ein „Seinlassen von Seiendem“ oder ein „Sicheinlassen auf die Entborgenheit des Seienden“6 sei, daß wir - uns „absetzend“ vom vorstellenden Denken der „Metaphy­ sik“ - in einem Grund-&zfö des Denkens „uns loslassen“, der ein „Sprung“ ist dahin, „wohin wir schon eingelassen sind: in das Gehören zum Sein“7. Was für Heidegger im eigentlichen Sinne ,Gelassenheit heißt, entfaltet er in zwei Texten: zum einen in einer Rede bei der Feier zum 175. Geburtstag des Kom­ ponisten Conradin Kreutzer, gehalten am 30. Oktober 1955 in seiner Hei­ matstadt Meßkirch8 — ein Plädoyer für Gelassenheit als das Loslassen oder Sich-Befreien aus dem vorstellenden, rechnenden und verrechnentiven Theologie“ . Das zuvor aus dem „Humanismusbriefc Zitierte steht in „Platons Lehre von der Wahrheit“ , Bern 1954, 76. 4 Nachwort des Herausgebers F. W. v. Herrmann (Gesamtausgabe [= GA] 65, Frank­ furt 1989) 519. 5 Beiträge 4 11. 416. 6 H o l z w e g e 3 3 8 , 2 3 9 . V o m W e s e n d e r W a h r h e i t , F r a n k f u r t 1 9 4 3 , 1 9 5 4 3, 1 4 ff. W a s is t M e t a p h y s i k ? , F r a n k f u r t 1 9 8 6 1 ’ , 4 2 : „ S i c h l o s l a s s e n in d a s N i c h t s “ . ;

D e r S a t z d e r I d e n t i t ä t , in : I d e n t i t ä t u n d D i t f e r e n z , P f u l l i n g e n 1 9 5 7 , 24 .

M P u b l i z i e r t b e i N c s k c in I M u l l i n g c n

n

*K·

394

Heideggers Gelassenheit

den Denken, um nicht von der Technik als dem Resultat eben dieser Art des Denkens auf eine Weise gefesselt, behext oder verblendet zu werden, „daß eines Tages das rechnende Denken als das einzige in Geltung und Übung bliebe“9; zum anderen in einem der „Feldweg-Gespräche“, als Fik­ tion 1944/45 geschrieben; es hat das aus einem Wort bestehende Fragment 122 Heraklits zum Titel: „’Ay^ißaatrj. Ein Gespräch selbstdritt auf einem Feldweg zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen“ 10. Bevor ich diesem Gespräch „auf einem Feldweg“ nachgehe, scheint mir eine Bemerkung dazu aufschlußreich, wie sich ein Feldweg in der „Heu­ berger Heimat“ mit dem Feldweg des Denkens verbindet oder gar aus ihm entspringt: Der Feldweg „läuft aus dem Hofgartentor zum Ehnried ... vom Feld­ kreuz her biegt er auf den Wald zu .. .“ n . Aus der Erinnerung Heideggers, der diesen Weg oft gegangen ist, - wenn „die Rätsel einander drängten [aus den „Schriften der großen Denker“ aufgegeben] und kein Ausweg sich bot, half der Feldweg“ —wird der Feldweg nicht nur zu einer Meta­ pher des Weges des Denkens (konkret: des auf ihm Denkenden), sondern er wächst zu einer geradezu mythischen Größe auf, der eine symbolische Kraft innewohnt. Der Denkende ist hier dem „Schritt des Landmannes, der in der Morgenfrühe zum Mähen geht“, nahe12. Vom Feldweg geht ein „Zuspruch“ aus, „der Zuspruch des Selben: das Einfache verwahrt das Rätsel des Bleibenden und des Großen ... Die Weite aller gewachsenen Dinge, die um den Feldweg verweilen, spenden Welt. Im Ungesproche­ nen ihrer Sprache ist, wie der alte Lese- und Lebemeister Eckehardt sagt, Gott erst Gott“ 13. Der Zuspruch des solchermaßen personifizierten Feld9 Ebd. 27. 10 G A 77, hg. v. Ingrid Schüßler, Frankfurt 1995, 1—159. Die Seiten 105-157 entspre­ chen mit einigen Veränderungen dem schon 1959 bei Neske in Pfullingen herausgegebenen Text: „Zur Erörterung der Gelassenheit. Aus einem Feldweggespräch über das Denken“ , in: Gelassenheit, 1959, i9602, 29-73 (dies ist wieder aufgenommen in „Aus der Erfahrung des Denkens 1910-1976“ , G A 13, hg. v. H. Heidegger, Frankfurt 1983, 37-74). 11 Martin Heidegger, Der Feldweg, Frankfurt 1989, mit alten Fotos bebildert und mit einem Nachwort versehen von Hermann Heidegger. 12 Heidegger hat die Analogie des Denkers zum Landmann gepflegt: „Das Denken legt mit seinem Sagen unscheinbare Furchen in die Sprache. Sie sind noch unscheinbarer als die Furchen, die der Landmann langsamen Schrittes durch das Feld zieht“ (Brief über den „Hu­ manismus“ , in: Platons Lehre von der Wahrheit, Bern 19542, 119. Vgl. auch die sogenannten „Bauernschuhe“ van Goghs in „Der Ursprung des Kunstwerkes“ , in: Holzwege 7-65; 1 1 f.). 13 Der Feldweg (wie Anm. 11) 17.

Heideggers Gelassenheit

395

weges ist nicht für jeden hörbar. Er spricht vielmehr nur so lange, „als Menschen sind, die in seiner Luft geboren, ihn hören können. Sie sind Hörige ihrer Herkunft, aber nicht Knechte von Machenschaften“ 14. Aus dem Zuspruch des Feldweges spricht sozusagen der Logos des Heraklit, dessen Sprache wir als ihm Hörige und daher ihm Ge-Hörende entspre­ chen müssen (όμολογειν)15. Auch dies ist „heraklitisch“ am Feldweg, daß die dem Zuspruch des Feldweges Hörigen die „Wenigen“ sind - οι πολ­ λοί κακοί16, - die „Wenigen“, oder, Heraklit, Nietzsche und Heidegger verbündend, „die großen und verborgenen Einzelnen“ 17, die im eigentli­ chen Sinne „Denkenden“, konträr zu den Heutigen, die schwerhörig für die Sprache des Feldweges bleiben. Ihnen fällt nur noch „der Lärm der Apparate“ ins Ohr, sie sind die Zerstreuten, die sich nicht auf eben die­ sen Weg und seinen Zuspruch sammeln18, welcher der Einfache ist. So ist ihnen gerade „das Einfache entflohen“. Derartig Uneigentliche sind auch die Vergänglichen, über die Zeit und Geschichte hinweggeht. „Aber die Wenigen werden überall die Bleibenden sein“. Obgleich der Denkende mit dem „Schritt des Landmannes“ verbunden ist oder mit der bedächtigen Arbeit des Vaters im Walde beim Holzmachen („Holzwege“!), erhebt er in gehöhtem Selbstbewußtsein und zugleich in stilisierter Bescheidenheit diesen Anspruch, dessen Recht der den Feldweg des Denkens Gehende aus seinem Hören auf dessen Zuspruch ableitet. Ihm erwächst eine „wis­ sende Heiterkeit“ - das, in der Sprache der Heimat Johann Peter Hebels und Heideggers gesagt: „Kuinzige“ . „Niemand gewinnt es, der es nicht hat, die es haben, haben es vom Feldweg“ 19. Dieses „heitere Wissen“, das aus dem „Kuinzigen“ entspringt oder mit ihm identisch ist, ist als Gabe des Feldwegs „ein Tor zum Ewigen“20. Die so gedeutete Erinnerung an den Feldweg in Meßkirch, der für alle steht, gehört nicht zu einer für Heidegger unwesentlichen Art von „Hei­ matdichtung“ über eine Oase frühen Glücks, über die Abgeschiedenheit 14 Ebd. 21. ,s Vgl. Frg. 50. Hierzu: Heidegger, Logos, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, 15i-: im όμολογειν west das „eigentliche Hören“ (dem Logos ent-sprechen) ... Eigent­ liches Hören ist: „den Λόγος schon gehört haben mit einem Gehör, das nichts Geringeres bedeutet als: dem Λόγος gehören.“ 16 Heraklit, Fragment 104. Vgl. auch Fragment 29. 17

Beiträge 414.

IM L o g o s a ls „ S a m m l u n g “ ! ιυ

l )ei F e l d w e g 2. j. Ebd.

i\.

396

Heideggers Gelassenheit

des einfachen, ursprünglichen Lebens gegenüber dem dekadenten Lärm der großen Städte21, sie sagt vielmehr etwas aus über seinen eigenen Denk­ weg, über die bleibende Erfahrung des Ursprünglichen in der späteren Entwicklung —die „Kehre“ im Selben; für sie gilt analog das, was Heid­ egger über seine theologischen Anfänge selbst sagt: „Herkunft aber bleibt stets Zukunft“22. Ich begleite jetzt das erdachte Gespräch ’Ayxißaairi, „selbstdritt auf ei­ nem Feldweg“, der der Eine, vom Hofgartentor ausgehende und auf den Wald zubiegende ist, mit einigen Überlegungen, die die Bedeutung von ,Gelassenheit4 für Heideggers Denken der ,Kehre4 herausheben sollen. Das Gespräch vollzieht sich zwischen einem Forscher, einem Gelehrten und einem Weisen. Der „Weise“ will kein „Philosoph“ sein, sondern eher das, was Heidegger unter einem „Denker“ versteht. Weil dies Heideggers Selbsteinschätzung entspricht, spricht aus dem „Weisen“ mit Sicherheit Er selbst. Eine gewisse Epoche gegenüber dieser Benennung (84) wird unter einer bestimmten Bedingung wieder zurückgenommen. Der Einschrän­ kung des „Forschers“: „So wäre es fast gefährlich für einen Menschen, wenn er je ,Weiser4 genannt würde“, antwortet der „Weise“ selbst: „Vermutlich wäre dies seine größte Gefahr, die er nie überwinden, höchstens aber nur dann bestehen könnte, wenn er so Rätselhaftes zu vermuten hätte, daß ihm nie eine Zeit bliebe, an seinen Namen zu denken“ . Und dies trifft genau für Heidegger zu - zum Selbstschutz gegen die Usurpation des Namens des Göttlichen im Sinne Platons zumindest: Die Sterblichen allein, durch das Fragen des Eros getrieben, philosophieren, von den Göttern jedoch „philosophiert keiner und keiner strebt danach, weise (oder ein Weiser) zu werden - denn er ist es - und auch wenn ein anderer weise sein sollte, philosophiert er nicht“23. - In der verkürzten Fassung des Gespräches, in der „Erörterung der Gelassenheit“ von 1959, heißt der „Weise“, vielleicht im Blick auf die zuvor genannte „größte Gefahr“, immerhin - sterblich be­ scheidener —nur „Lehrer“ . —Philosoph, im Unterschied zu dem „Weisen“, oder Philosophiehistoriker aber ist der „ G eleh rteEr wartet mit vielen The­ sen, Definitionen, communes opiniones auf, die Heidegger immer wieder als Reduktionen zu entlarven versucht, so z. B. die Bestimmung des Men21 Vgl. auch: „Schöpferische Landschaft: Warum bleiben wir in der Provinz?“ (1933), in: Aus der Erfahrung des Denkens, G A 13, 9 ff. 22 Aus einem Gespräch von der Sprache zwischen einem Japaner und einem Fragenden, in: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959, 96. 23 Symposium 204 a.

Heideggers Gelassenheit

397

sehen als ,animal rationale4 (22), die Subjekt-Objekt-Relation im Akt des Erkennens, das Denken als eine Art des Vorstellens - so ziemlich alles, was Heidegger selbst der „Metaphysik“ anlastet. - Der yyForscher“ schließlich ist Naturwissenschaftler, ein Physiker, Repräsentant des technischen Den­ kens, auf den Fortgang, die „Bewegung“ des Gespräches drängend, wäh­ rend der „Weise“ Ruhe will; denn das eigentliche Gespräch „will nichts“ im Sinne eines intentional hervorgebrachten Ergebnisses (58). Beide, der Forscher und der Gelehrte, fordern immer wieder den „gesunden Men­ schenverstand“ ein (19, 21), sie spiegeln in gewisserWeise auch Heideggers eigene Kritik oder die Vorwegnahme einer Kritik gegenüber seinem eige­ nen ungewöhnlichen Sprachgebrauch (19), sie bestehen immer wieder dar­ auf, daß doch jedermann verstehe, was gemeint sei, während der „Weise“ gerade derartige Aussagen, die Selbstverständliches suggerieren, in Frage stellt und in ihnen eher ein verborgenes Rätsel vermutet. Beide trumpfen mit festgefügtem Wissen auf, während der „Weise“ - wie Heraklits ,Herr, dessen das Orakel zu Delphi ist .gegen w ori*

e r s c h e i n t a l s e i n e „ Ü b e r s e t z u n g “ v o n ,/ z w f / w u r t i ‘ o d e r , r f « / w u r t ‘ u n d

u n te r s c h e id e t sich so v o n d e r g e lä u fig e n „ A n t w o r t “ .

398

Heideggers Gelassenheit

sein sollte“; darauf der „Weise“: „Vielleicht ist der Mensch überhaupt in seinem Haus nicht zu Hause“ [37]), und das Gespräch ist kein Gespräch — d.h.: Gespräch ist nicht nur „Dialog“ als ein Sprechen über Etwas, das sich zwischen Sprechenden vollzieht; „Gespräch“ im eigentlichen Sinne ist „doch noch etwas anderes. Was, das ist allerdings schwer zu sagen“ ... Das eigentliche Gespräch bestimmt sich aus dem „Wesen der Sprache“; viel­ leicht aber sollte auch die ,Kehre‘ dieser Fügung als „Sprache des Wesens“ bedacht werden, so daß Sprache, das Wesen der Sprache als das Sprechen eines hypostasierten ,Sprachwesens‘, sich aus dem Gespräch bestimmte — „seit ein Gespräch wir sind .. .“26. Dieses „Gespräch“, sich aus der Sprache bestimmend, verpflichtet also die im erdachten konkreten Gespräch auf dem Feldweg miteinander Sprechenden zu der bereits aus „Sein und Zeit“ intensiv empfohlenen „Eigentlichkeit“ der Rede gegenüber dem landläufi­ gen (auch die Sprache der Wissenschaften bestimmenden) Verfall ins „Ge­ rede“. Vielleicht möchte Heidegger auch durch den Gang des Gesprächs einen Lernprozeß im „Gelehrten“ und im „Forscher“ dokumentieren, in­ dem deren Sprache zunehmend „eigentlicher“ wird, sich dem Sprechen des „Weisen“ immer mehr angleicht und so dem Denken geeigneter wird. Im Blick auf dieses, oder zumindest auf die Einübung ins Denken, entzieht der „Weise“, wie Heidegger ansonsten nicht minder, dem landläufigen, gewohnten Sprechen der Philosophen und der Wissenschaftler systema­ tisch den Boden. Dies zeigt sich schon darin, daß auch Einwände gegen den „Weisen“ von diesem unmittelbar und unvermutet ins „Eigentliche“ gekehrt werden, so etwa die kritische Wendung des „Forschers“ gegen die Philosophen (in der Meinung, der „Weise“ sei ein solcher!), daß sie stets „rückwärts“ denken, oder (der „Gelehrte“ sagt dies), daß sie jeweils auf der Stelle treten - ja, eigentliches Denken tritt sogar „auf der selben Stelle“, weil es in ihm in aller Vielfalt des Fragens und Antwortens immer nur um das Eine und Selbe geht. Philosophen denken auch „rückwärts“, indem sie sich in den Ursprung des Denkens, welches im Sinne Heideggers das Seyn ist, wenden und gerade so in die Zukunft (in das ihnen Zu-Kommende) vordenken, die gegenüber dem ersten (griechischen) Anfang, d. h. in einem Gegenwort zu ihm, einen „anderen Anfang“ gewähren könnte. 26 Von Hölderlin, Friedensfeier, „Seit ein Gespräch wir sind und hören können vonein­ ander“ ausgehend Heidegger: „Das Sein des Menschen gründet in der Sprache*; aber diese geschieht erst eigentlich im Gespräch“ . „Unser Seyn geschieht als Gespräch“ (Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt 19512, 36. Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ , GA 39, hg. v. S. Ziegler, Frankfurt 1980, 70).

Heideggers Gelassenheit

399

Aus dem Interesse an einer Ablösung des für das Heideggersche Konzept von „Metaphysik“ charakteristischen vorstellenden Denkens ergibt sich in dem Feldweg-Gespräch die Frage nach dem theoretischen Zugang zur Natur überhaupt: „Technik“ wird nicht so sehr als „angewandte Physik“ begriffen, sondern als eine grundsätzliche Einstellung des Menschen zur Natur, die sich als ein Her- und Zu-Stellen des „Mathematischen“ in ihr dokumentiert - Technik als „Ge-stell“27. Gegen die objektivierende, aggressive Einstellung zur Natur durch begriffliches Vorstellen steht als Alternative ein „Denken“ , welches „besinnlich“28 und behutsamer mit dem Seienden umgeht und durch es tiefer ein- und vordringt zum Sein, aus dem dieses (das Seiende) überhaupt erst ist. Deshalb geht es in diesem Gespräch um Ferne oder Nähe zum ei­ gentlichen Denken. Das als Bewegung verstandene Wort „Nähe“ als, wie der „Weise“ sagt (30): „nähernde Nähe“, weist auf die Erörterung des Wor­ tes von Heraklit „ayxißaai/q“ und zugleich auf „Gelassenheit“ voraus. Zu diesem Vorverweis auf den zentralen Gedanken eines Zusammenhangs von Nähe und Gelassenheit gehört auch die Einübung in den Gedanken, daß das Denken, um dessen Wesen es im Gespräch geht, nicht ein Wollen sei (58ff.; vgl. auch 62. 7 6 ff. 82.105.133), daß es also im Grunde dem entsagt, wodurch ein traditionell gedachter Begriff von Denken - etwa im Kon­ text einer phänomenologischen Erkenntnistheorie - durchweg bestimmt ist: durch Intentionalität. Statt dessen kommt es für den Weg in das noch ausstehende, aber aufgegebene Denken darauf an, „ob wir uns in der rech­ ten Weise auf das ... Nicht-Wollen einlassen“ (67; 71). Dazu gehört auch, sich von „der Bindung an alles Thematische zu lösen“ (75), sofern „thema­ tisch“ von seiner griechischen Bedeutung her als das „von uns Gesetzte“ verstanden werden muß und somit als das im vorstellenden, verrechnen­ den, technischen Denken Hervorgebrachte. Die Bestimmung von ,Gelassenheit4 zeigt sich allmählich immer deutIich er: das gesuchte oder aufgegebene (nicht-vorstellende und nicht-wol­ lende) Denken von Seyn muß ein gelassenes sein; denn ein „Denkender“ und nur dieser kann es - muß in die Gelassenheit finden; sie gehört ihm wesen haft. Gelassenheit als eine Grundhaltung des Denkenden ist weder reine Passivität, noch reine Negation von Aktivität, nicht ein „kraftloses

1!

V g l . D i e Pr äge n ac h d e r T e c h n i k , in: D i e T ec h n ik u n d d i e K e h r e , P f u l l i n g e n 1 9 6 2 ,

1·; li. ' H ( i el a ss cn h ci l (w i e A n m . 10) iS.

400

Heideggers Gelassenheit

Gleiten- und Treibenlassen der Dinge“ (108), nicht untätige, unbewegte, gleichgültige Beruhigtheit, leidenschaftsloser, unerschütterlicher Stand (etwa analog der stoischen oder epikureischen αταραξία); sie ist vielmehr als Weg und als Ziel eine Einheit von Bewegung und Ruhe29; ein Ablas­ sen von der rechnenden Weise des Denkens, welches vorstellt, vergegen­ ständlicht, „aggressiv“ auf seine Gegenstände zugeht, eine Überwindung also, die sich aus dem „transzendentalen Bezug zum Horizont losläßt“ (117.121) und sich zugleich in einem gegenstandslosen „Warten“ überläßt oder sich einläßt - ja, sich wem überläßt? sich wohinein einläßt? ... Auf das, „was nicht ein Wollen ist“30. Der „Weise“ spricht: „Ich w ill... nur das Nichtwollen“31. Dieses Nicht-Wollen ist der Wesenszug des nicht-gegen­ ständlichen, d. h. eigentlichen Denkens, welches sich auf das Seyn einläßt und es als Seyn sein läßt. „Metaphysik“ als Heideggersche Konstruktion hat dem gegenüber keine Gelassenheit. Den Raum, in oder auf den Denken sich einläßt, nennt Heidegger die „ Gegend“32, die er dann in „Gegnet“ fortbestimmt33. „Gegnet“ steht für den zuvor diskutierten phänomenologischen Begriff des Horizontes, der zunächst als das „uns umgebende Offene“ beschrieben wird. Dieses O f­ fene aber kommt dem „Weisen“ vor „wie eine Gegend“. Daß „Gegend“ nicht als ein in sich ruhender Bereich, sondern eher als eine dem Denken entgegenkommende Bewegung verstanden wird, ist aus Heideggers Über­ zeugung begreifbar, daß die Worte ihre eigene Identität vollziehen: Die Welt weitet, das Ding dingt, das Nichts nichtet, die Stille stillt und die Gegend gegnet54. Gelassenheit zur Gegnet meint also das bewegt-ruhende Sich-Übereignen ins Seyn. 29 Vgl. Eriugena: status mobilis, motus stabilis, als Aussage über Gott (Hinweise in: W. Beierwaltes, Eriugena. Grundzüge seines Denkens, Frankfurt 1994, z.B. 285f.). 30 108. 31 105. 133. 32 112. 33 114: Der „Gelehrte“ weist auf ein vermeintliches mittelhochdeutsches W ort,gegnet* hin - offensichtlich ein Konstrukt Heideggers, um die „identische Tätigkeit“ der „Gegend“ durch einen verbalen Charakter des Substantivs ,Gegnet4 herauszuheben. - Vgl. das Fol­ gende. 34 „Die Unke unkt, die Spinne spinnt“ im „Bundeslied der Galgenbrüder“ in Christian Morgensterns „Galgenliedern“ von 1905. - Die Selbst-Identität der Bedeutung eines Wortes oder eines Begriffes hat bereits Cusanus durch analytische oder Identitäts-Sätze expliziert: eine Folge des identifizierenden Wirkens des metaphysischen (".rundes oder crcativen Prin­ zips—des „Selben“ (idem absolutum): „idem idenrificat“ ; und deshalb: Jntcllrcttis intelligit,

Heideggers Gelassenheit

401

Gelassenheit zur Gegnet oder Sich-Einlassen in sie assoziiert die Erin­ nerung an die zuvor geweckte Spannung zwischen Nähe und Ferne zum Seyn. Nachdem Gelassenheit oder Sicheinlassen in die Gegnet als ein SichNähern oder ein Näherkommen in sie verstanden werden kann, stellt die Erinnerung an das Wort Heraklits sich ein, das der „Gelehrte“, der Phi­ losophiehistoriker, am Anfang des Gesprächs schon genannt hat - eine „kostbare Anregung“ , durch die der längst erreichte Gedanke aus dem „Ältesten des Alten“, aus dem ersten Anfang eines „Einblitzes“ des Seyns erhellt werden könnte, in dem sich die Herkunft des Seyns-Denkens mit dem „anderen Anfang“ eines noch kommenden Denkens verbindet: ay%ißaair|35. Der „Weise“ kritisiert nach Heideggers Manier die landläufigen, „philologischen“ Übersetzungen: „Herangehen“ könnte als ein Vorgehen oder Zugehen auf die Gegenstände, im Sinne der modernen naturwissen­ schaftlichen Forschung als „Angriff4 auf die Natur verstanden werden36. Eine wörtliche Übersetzung wie etwa „nahegehen“ (153) nähert sich schon eher dem, was Heidegger diesem Wort zu imputieren versucht. Daß dieses Fragment 122 nur als ein Wort überliefert ist, öffnet Heideggers gewalttä­ tigem Gebrauch auch griechischer Worte aus seiner eigenen vorausleuch­ tenden Idee heraus einen weiten Raum. Obgleich gar nicht ausgemacht ist, daß Heraklit nur dieses eine Wort als einen Gedanken gedacht und ge­ schrieben hat —ein Substantiv quasi als Imperativ —, kann Heidegger hier scheinbar zu Recht einen Kontext gar nicht diskutieren, den er ansonsten durch eine ständig geübte „Parataktik“ systematisch verdrängt. Denkbar allerdings und gefordert wäre zumindest die Frage, in welchem sachlichen und sprachlichen Kontext dieses Wort - ay%ißaair| - in der frühen grie­ chischen Sprache hätte gebraucht sein können und welche Funktion ihm im Ganzen von Heraklits Denken möglicherweise zuzudenken wäre37. visus videt, calor calefacit, et ita de omnibus“ (De genesi, Nicolai de Cusa Opera omnia, Bd. IV, ed. P. Wilpert, Hamburg 1959, n. 149,2fr. 150,7. 151,7; 10. 152,5). 35 15 2 ff.

36 So der „Gelehrte“ und der „Forscher“ 152. H. Diels übersetzt: „Annäherung“ ; B. Snell: „Herangang“ ; W. H. S. Jones: „critical discussion“ , dem in der Suda (vgl. Anm. 37) hergestellten Bezug von ä y ^ iß a c a r i zu ä[i(p L aß a T eT v („dagegen behaupten“ , „streiten“) folgend. 37 Es ist hier nicht der Ort, diese Frage nachzuholen. Von den Versuchen, dieses Frag­ ment aus dem Kontext des griechischen Sprachgebrauchs und des Heraklitischen Denkens /11 verstehen, führt kein Weg zu Heideggers In-Gebrauch-Nehmen von &YXißa8ia) zusammen oder als diese. Was hat das Anwesende als Unverborgenes mit „Nähe“ zu tun? Heidegger - der „Weise“ - stellt diese Verbindung so her: das Anwesende ist - im Gegensatz zum Abwesenden - zugleich das Her-Wesende, d. h. das in die Nähe Wesende, denn in allem Anwesen waltet Nähe39. So ist das im oder als Anwesen Unverborgene, die Wahrheit, ein „Genahtes“ [in der Sprache des Endes dieses Gesprächs müßte man sagen: „ein Genähtes“]. ’Ayxißaairj ist ein In-die-Nähe-Gehen, ein Sich-Einlassen in eben diese Nähe zum Seyn. Wenn nun Unverborgenheit und Seyn das Selbe nicht nur nennen, sondern auch sind, dann i s t ,Gelassenheit4 ein das verrechnende Denken loslassendes In-die-Nähe-Gehen oder Sich-Einlassen auf die Un­ verborgenheit von Seyn. Das Feldweg-Gespräch „selbstdritt“ endet mit einer sich steigernden quasi-stichomythischen Stretta, in der jeder der Drei den noch unvollen­ deten Satz des jeweils Anderen ineinandergreifend fortführt, offensichtlich auch das Selbe an-denkend, so daß „’Ay%ißaair|“ als Name über dem „heu­ tigen Gang“ des Gesprächs auf dem Feldweg stehen könnte - was ja dann über dem geschriebenen und publizierten Text in der Tat der Fall ist die Grundgedanken Heraklits scheinen mir bedenkenswert: J. B ollack- H. Wismann, Héraclite ou la séparation, Paris 1972, 335: „Auseinandersetzung“ ((X|KpiaßaT8iv) habe in sich zugleich ihren Gegensatz: die „Annäherung“ , so daß ay%ißaair| eine Einheit von Verschiedenem an­ zeigt. M. Conche, Héraclite, Fragments, Paris 19872, 248-250 bringt in ähnlicher Weise die Ambivalenz des Wortes ins Spiel, indem er die Auseinandersetzung (W. H. S. Jones [1931]: „critical discussion“) oder „die Bestreitung einer Lehre“ (z. B. der Pythagoreer) zugleich als ein ,in der Nähe sein oder Bleiben‘ versteht („aller séparément, aller de compagnie“ ... „FampA/Vbasié est une anchibasié“). 38 I54f. - Z u Heideggers Forderung, das Griechische „griechischcr“ zu denken, vgl. oben S. 357 fr.

39 154.

Heideggers Gelassenheit

403

konkrete Situation auf dem Feldweg, „der uns tief in die Nacht geleitete“ (156), und das, wohinein er weist, tragen sich gegenseitig. Diese Ambiva­ lenz eines Hinweises auf die Zeit am Ende des begangenen Feldweges und der in der Nacht des Denkens geleitende „Stern“40 führt in eine letzte Lautassoziation in den Worten „Nacht“ und „Nähe“ (man sollte dieses allerdings mittelhochdeutsch oder alemannisch aussprechen!): Die Nac/?t ist die Näherin, die mit einer „Nähe“ arbeitet, die das „Ferne fernt“; sie ist die „Näherin“, die „Näherin der Sterne“41: „Sie nähert so, daß Stern bei Stern im stillen Licht erglänzt“ . Diesem dürftigen Dichten wird noch die leicht faßbare Information aufgesetzt, daß die zur „Näherin“ gewordene &YXißacar| in der Tat „ohne Naht und Saum und Zwirn“ näht42. „’Ayxißaair|“ - die „Näherin“ —ist also der frühe griechische Einblick Heideggers in die zur Nähe des Seyns hin oder in dessen Unverbogenheit bewegende ,Gelassenheit. II Das Wort ,geläzenheit‘ ist von Meister Eckhart geprägt. Der darin sich aussprechende Gedanke gehört in die Mitte von Eckharts eigenem Den­ ken. Heidegger verweist zwar nicht auf diesen Sachverhalt, er verbindet auch nicht expressis verbis seine Auffassung von Heraklits einem Wort mit der mittelalterlichen Denk- und Lebensform, aber er läßt im FeldwegGespräch immerhin seinen „Gelehrten“ an Meister Eckhart erinnern43. Diese Erinnerung erfolgt in einem Stadium des Gesprächs, in dem —so der „Weise“ —„uns das Wesen der Gelassenheit noch verborgen ist“. Offen­ bar wird es, soweit es dies durch die Ferne des Nahen je werden kann, erst am Ende! Verborgen müßte es bleiben, wenn das Denken das Wollen des 40 Heideggers Grabinschrift auf dem Friedhof zu Meßkirch: „A uf einen Stern zugehen“ . [Vielleicht darf man eine Verbindung erwägen zu dem Bild des Meisters von Meßkirch „Anbetung der Könige“ (zwischen 1536 und 1540 entstanden) in der Stiftskirche S. Martin ¡11 Meßkirch.] 41 So Heidegger in „Gelassenheit“ (1959), 73. 42 G A 77, 156. 43 Prekär ist die von Heidegger ausgesprochene Verbindung Eckharts mit Heraklit im Kontext mit Hegel, Hölderlin und Nietzsche, wenn er im Wintersemester 1934/5 von H e" raklits Denken als dem „Namen einer Urmacht des abendländisch-germanischen geschicht­ lichen Daseins, und zwar in ihrer ersten Auseinandersetzung mit dem Asiatischen“ spricht: I lölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ , GA 39, hg. v. S. Ziegler, Frankfurt i «j

K,

114.

404

Heideggers Gelassenheit

Nicht-Wollens („Ich will nur das Nicht-Wollen“) verweigerte oder dieses nicht vermöchte. Für ein derartiges t/?zvermögen, die ,Gelassenheit4ange­ messen zu denken, darf - von Heidegger grob mißverstanden - Meister Eckhart einstehen. Der Behauptung des „Gelehrten“, „daß auch die Gelas­ senheit noch innerhalb des Willensbereiches gedacht werden kann, wie dies bei älteren Meistern des Denkens, z. B. beim Meister Eckhart geschieht“, widerspricht der „Weise“ nicht, sondern fügt ihr bloß herablassend hinzu: [Meister Eckhart] „Von dem gleichwohl viel Gutes zu lernen ist“44. Ohne daß ich nun eine genauere („gelehrte“) Untersuchung der Quellen von Heideggers ,Gelassenheit4anstellen oder gar eine sachliche Gleichheit von Heideggers Konzeption als ganzer mit der des Meister Eckhart behaupten möchte —angesichts (eingedenk) von Heideggers sachlicher Distanz zum christlichen, durch den ,Platonismus4wesenhaft mitbestimmten Begriff des Gottes45 - , kann ich dennoch mit Gründen sagen, daß der Anteil Meister Eckharts an Heideggers Entfaltung der ,Gelassenheit4 größer und bestim­ mender ist, als dies die beiläufige Nennung von Eckharts Name vermu­ ten ließe. Im Bereich des Philosophischen und Theologischen zumindest vergißt Heidegger nichts aus seinen Anfängen; so mag auch für Meister Eckhart sein Satz gelten: „Herkunft aber bleibt stets Zukunft“46. Seiner Probe-Vorlesung, die er „am 27. Juli 1915 vor der philosophischen Fakultät der Universität Freiburg i. Br. hielt zur Erlangung der venia legendi“47, hat Heidegger ein Motto aus Meister Eckhart vorangestellt, ohne im Text des Vortrags wieder auf es zurückzukommen: „Zeit ist das, was sich wandelt und mannigfaltigt, Ewigkeit hält sich einfach“48. In dem für den Druck 44 109. 45 Vgl. hierzu den ,terrible simplificateur‘ z. B. in: Einführung in die Metaphysik, Tü­ bingen 19582, 80. 46 Unterwegs zur Sprache 96. Dem zitierten Satz geht die Bemerkung voraus: „Ohne diese theologische Herkunft wäre ich nie auf den Weg des Denkens gelangt“ . - HeideggerDeuter, die primär auf dessen originäre Denkungsart achten oder sie umstandslos behaup­ ten, sind allergisch gegen den Versuch, „Quellen“ für sie zu eruieren oder diese stärker zu machen als eine bloß formal oder äußerlich-anregend gedachte Verbindung es sein könnte. Indes reduziert die Reflexion auf eine „Quelle“ den aus ihr und mit ihr Denkenden nicht auf diese selbst - im Sinne eines schnöden „Alles-schon-dagewesen“ . 47 Frühe Schriften, G A 1, hg. v. F.-W. von Herrmann, Frankfurt 1978, 436. 48 Frühe Schriften 415. Offensichtlich aus der Predigt „Consideravit semitas domus suac . . . “ , Deutsche Werke (= DW), hg. v. J. Quint, Stuttgart 1971, I I 132fF. Meister Eckharr, hg. v. Franz Pfeiffer, Leipzig 1857,17 ° _I73· In beiden Editionen steht die Aussage über die Zeit vor der über die Ewigkeit, vgl. Quint 133 f.: „Daz ein ist diu ewicheit, diu sich alle zit alcinr heltet und einfar ist. Diu zwei daz ist diu zit, diu sich wandelt und manicvaltigct“ . Der

Heideggers Gelassenheit

405

nachträglich verfaßten und für Heideggers weitere Arbeit aufschlußreichen Schluß seiner Habilitationsschrift „Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus“ (publiziert 1916) bemerkt er im Blick auf die „wesent­ liche Verbundenheit vom Gegenstand der Erkenntnis und Erkenntnis des Gegenstandes“ und damit auf das ,transcendens‘ verum (im mittelalter­ lichen Sinne): „Wie von hier aus im Zusammenhang mit der weiter un­ ten zu berührenden Metaphysik des Wahrheitsproblems die Eckhartsche Mystik erst ihre philosophische Ausdeutung und Wertung erhält, hoffe ich bei anderer Gelegenheit zeigen zu können“49. Diese seine eigene Hoff­ nung hat Heidegger nie erfüllt - auch nicht in dem, was als Entwürfe und Ausarbeitungen zu einer für das Wintersemester 1918/19 geplanten, aber nicht gehaltenen Vorlesung über „Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik“ jetzt gerade veröffentlicht worden ist50. Seine Text bei Pfeiffer war Heidegger zugänglich: „Daz ein ist diu ewikeit, diu sich alle zit aleine heldet und einvar ist. Daz zwei daz ist diu zit, diu sich wandelt unde manicvaldeget“ (170, 9 f.). Vgl. auch: Meister Eckharts deutsche Predigten und Traktate, ausgewählt, übertragen und eingeleitet von Friedrich Schulze-Maizier, 1927, 240 ff. 49 Frühe Schriften 402. Zur Bedeutung des „Schlusses“ der Habilitationsschrift für Heideggers Beziehung zur Romantik, insbesondere zu Friedrich Schlegel vgl. Michael El­ sässer, Friedrich Schlegels Kritik am Ding, Hamburg 1994, 124 ff. Heideggers Habilita­ tionsschrift enthält noch einen weiteren, indirekten Hinweis auf Meister Eckhart, wo er im Blick auf die Bemühungen des „Duns Scotus“ um die „Unterschiede im Begriff des Unum Heinrich Rickerts bedeutsame Untersuchung“ über „das Eine, die Einheit und die Eins, Bemerkungen zur Logik des Zahlbegriffes“ [Logos II (1911/12), 26 ff] heraushebt, und aus dieser Verbindung einer transzendentalphilosophischen Erörterung mit der „Scholastik“ es verständlich zu machen versucht, warum Rickert seiner Abhandlung zu Recht „einen Satz aus Meister Eckhart hat voranstellen können“ (Frühe Schriften 218). Der von Rickert zitierte Text lautet: „Aber do si ein sein in dem wesen da ensein si niht geleich, wann geleichheit stet in unterscheid“ . Er steht, worauf mich Georg Steer freundlicherweise aufmerksam machte, in der „Reich Gottes Predigt“ (Meister Eckhart und seine Jünger, hg. v. Franz Jostes, Frei­ burg [Schweiz] 1895, Nr. 82, S. 94). Steer wird diese Predigt unter „Dubia“ in den von ihm vorbereiteten Band IV der Deutschen Werke aufnehmen. 50 In: Phänomenologie des religiösen Lebens, G A 60, hg. v. Claudius Strube, Frankfurt >995» 303-337· - Obgleich in den Entwürfen zur Mystik-Vorlesung ein spürbar prägender Anteil Meister Eckharts relativ gering ist, könnte diese Vorlesung - unmittelbar vor Heid­ eggers ausdrücklichem Bruch mit dem „System des Katholizismus“ [vgl. hierzu H. Ott, Martin Heidegger, Frankfurt 1988, 10 6 ff] - doch als ein Zeugnis dafür gewertet werden, daß „der Lese- und Lebemeister Eckehardt“ ihn „seit 1910 begleitet“ (so Heidegger in einem Brief an Karl Jaspers vom 12. August 1949, in dem er auf Meister Eckhart und auf seine Sieht des Parmenides als „Wurzeln“ vermeintlicher „Anklänge“ an „Asiatisches“ verweist: Martin I leiilegget / Karl Jaspers, Briefwechsel 1920-1963, hg. von W. Bicmcl und H. Saner, hanklurt 1 9 9 0 , 1H 1 1.).

40 6

Heideggers Gelassenheit

schon in der „Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus“ ge­ äußerte51, mit Diskussionen dieser Zeit zu diesem Problembereich über­ einkommende Überzeugung, daß Mystik nicht ins Irrationale abgescho­ ben werden könne, sondern daß vielmehr „Scholastik und Mystik für die mittelalterliche Weltanschauung wesentlich zusammengehören“52, hat ein späteres Echo (1955/56) in Heideggers Charakterisierung des Spruches von Angelus Silesius: „Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet“. Der ganze Spruch - so Heidegger - „ist so erstaunlich klar und knapp gebaut, daß man auf den Gedanken kommen möchte, zur echten und großen Mystik gehöre die äußerste Schärfe und Tiefe des Denkens. Dies ist denn auch die Wahrheit. Meister Eckehart bezeugt sie“53. Diese Einschätzung trifft für philosophische Mystik, etwa für die Plotins, und ebensosehr für die christliche Mystik Meister Eckharts zu, für die das begriffliches Den­ ken überschreitende Ziel - ,die unio mystica - ohne die Voraussetzung eines intensiven philosophischen Denkens nicht denkbar wäre. - In seiner Vorlesung zu Hölderlins Hymne „Germanien“ im Wintersemester 1934/5 läßt er Meister Eckhart in einer von dessen Intention her gesehen höchst fragwürdigen, der nationalsozialistischen Geschichtsklitterung durchaus entsprechenden Fügung zum „Anfang der deutschen Philosophie“ avan­ cieren54, um diese Charakterisierung im darauffolgenden Wintersemester (ganz „landläufig“) zugunsten Descartes’ als dem Beginn der neuzeitlichen Philosophie quasi objektivierend, d.h. ohne sich selbst zu nennen, zu wi­ derrufen55. - Selbst wenn Heidegger Eckhart gleichsam schützend einen 51 Frühe Schriften 410. 52 Ebd. 53 Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957, 70 f. 54 „Unter der Macht des Heraklitischen Gedankens steht ... Hölderlin. Unter dieselbe Macht sollte auch ein Späterer kommen: Nietzsche. Unter dieser Macht stand mittelbar im Grunde der Anfang der deutschen Philosophie bei Meister Eckhart“ (Hölderlins Hymnen „Germanien“ und „Der Rhein“ , G A 39, hg. v. S. Ziegler, Frankfurt 1980,133 f.). 55 „Gegenüber den zuweilen [!] auftauchenden Versuchen, die neuzeitliche Philosophie mit dem Meister Eckhart oder in der Zwischenzeit zwischen ihm und Descartes beginnen zu lassen, muß an der bisherigen Ansetzung [Descartes] festgehalten werden“ (Die Frage nach dem Ding, Tübingen 1962, 76). - In einem in der Bibliotheca Hertziana in Rom am 8. April 1936 gehaltenen Vortrag „Europa und die deutsche Philosophie“ (H.-H. Gander [Hg.], Europa und die Philosophie, Frankfurt 1993, 40; 39) spricht Heidegger vom „inner­ sten, sich selbst verborgenen Zug der deutschen Philosophie, daß sie zugleich mit jener Aus­ gestaltung des neuzeitlich mathematischen Denkens [seit Descartes wird gemäß Heidegger „das Mathematische oberster Grundsatz aller Seinsbestimmung“ ] in die Systeme des Idea­ lismus immer wieder zurück will in einen ursprünglichen Ansatz und Grund für die erste

Heideggers Gelassenheit

407

„Meister des Denkens“ nennt, ist es dennoch vom mittelalterlichen (latei­ nischen und mittelhochdeutschen) Sprachgebrauch her gesehen grundsätz­ lich unangemessen, Meister Eckhart in die von Heidegger diagnostizierte Verfallsgeschichte des Denkens auf das „Vorstellen“ des Dings hin in eine allgemeine „Verdinglichung“ von Denken und Sein einzubeziehen. Und wenn Heidegger diesem Meister des Denkens im selben Kontext banaler­ weise zugesteht, daß er mit der Bezeichnung Gottes als „des hoechsten und obersten dincs“ Gott nicht einem „stofflichen Gegenstand“, etwa einem „Felsblock“, habe gleichsetzen wollen56, so hätte er dessen Grundgedanken nicht ungesagt lassen dürfen, daß er einerseits die welthaften, endlichen, in sich bestimmten Einzeldinge (hoc et hoc) im Vergleich zum Sein Gottes als ein „purum nihil“ begriff und daß er zum anderen das Sein Gottes als das jedem „Etwas“ oder in sich bestimmten „Anderen“ enthobene Überoder Nicht-Sein dachte57. Im Zusammenhang seiner „bedächtigen und planmäßigen“ Vorbereitung seiner Beisetzung bat er den Theologen und Landsmann Bernhard Welte im Januar 1976 zu einem Gespräch zu sich. Es bezog sich anfänglich auf Weltes Vorlesung über Meister Eckhart, die er damals hielt; Heidegger fragte „mit einer bedächtigen und ihres Weges sicheren Frage“ —so Welte —„nach der Abgeschiedenheit im Sinne des Meisters Eckhart. Das Thema hatte eine verborgene Aktualität in dieser merkwürdigen Stunde. Es schwebte auch der eckhartische Gedanke im Raum, daß Gott dem Nichts gleich sei“58. Gelesen hat Heidegger mit Sicherheit in Meister Eckharts „Rede der underscheidunge“, und hierin insbesondere die dritte und vierte „Rede“ „von ungelassenen lüten, die vol eigens willens sind“ und: „Von dem nucFrage nach dem Seyn ... “ „Meister Eckart und Jakob Böhme, Leibniz und Kant, Schelling und Hölderlin und zuletzt Nietzsche suchen immer wieder in den Grund des Seyns zurück­ zugehen, der ihnen in je verschiedener Deutung ein Abgrund wird“ (Hervorhebungen von mir). Sein eigener Versuch, „die Grundfrage der abendländischen Philosophie aus einem ursprünglicheren Anfang wieder zu fragen“ , steht nach Heideggers Selbsteinschätzung im Dienste der „Rettung des Abendlandes“ (Hervorhebungen im Original). 56 Das Ding, in: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954,175 (jetzt auch in „Bremer und l;reiburger Vorträge“ , GA 79, hg. von Petra Jaeger, Frankfurt 1994, 15 - dies im Kontext von Heideggers universalem Verdinglichungsverdacht gegenüber „Metaphysik“ . Vgl. hierzu M. Elsässer, Friedrich Schlegels Kritik am Ding (wie Anm. 49) 130 f. 138ff.). 57 Vgl. hierzu Werner Beierwaltes, Platonismus und Idealismus, Frankfurt 1972, 9 7fi7. und die in Anmerkung 79 genannte Abhandlung ,Primum est dives per se\ “*H B. Welte, E r in n e ru n g an ein sp ätes G e s p r ä c h , in: E r in n e r u n g an M a r tin He idegger, hg. v. ( · . Ne sk c, Pfullingen 1977, 249 252 ( / ¡ t a t S. 251).

408

Heideggers Gelassenheit

zen lassens, das man tuon sol von innen und von ussen“ [Vom Nutzen des Lassens, das man innerlich und äußerlich vollziehen soll], und die Rede 23 „Von den innerlichen und usserlichen wercken“; in ihr findet sich ein Satz über „Armut“, ein zentrales Thema Meister Eckharts: „Der mensch ist warlich arm von geiste, der alles des wol enbern mag, das nit not ist“. In der von Heidegger gebrauchten Auswahl-Übersetzung von Joseph Bernhart lautet dieser Satz: „Der Mensch ist wahrlich arm von Geist, der alles das wohl entbehren kann, was ihm nicht not ist“. - Diesem entspricht Heid­ eggers Bestimmung von „Armut“ ziemlich genau, die er in einem „Die Armut“ betitelten Text („in einem kleinen Hörerkreis am 27. Juni 1945 im Forsthaus von Burg Wildenstein in Hausen [bei Meßkirch] vorgetragen“) entfaltete, zwar auf Hölderlin („... wir sind arm geworden, um reich zu werden“) hinweisend, nicht jedoch auf Meister Eckhart; die Bestimmung Heideggers lautet: „Wahrhaft arm seyn besagt: so seyn, daß wir nichts entbehren, es sey denn das Unnötige“59. —In welchem Maße Heidegger sich mit den lateinischen Schriften Eckharts vertraut gemacht hat, soweit sie durch die Publikationen von Heinrich Denifle60 erstmals zugänglich 59 Martin Heidegger, Die Armut, von F. W. von Herrmann aus dem Nachlaß heraus­ gegeben in: Heidegger Studien 10, 1994, 5—11; Zitat: S. 8. Die rede der underscheidunge, D W V 300, if.: Der mensche ist waerliche arm von geiste, der allez daz wol enbern mac, daz niht not enist. J. Bernharts Übersetzung (vgl. A. 62) S. 127: „Der Mensch ist wahrlich arm von Geist, der alles das wohl entbehren kann, was ihm nicht not ist“ . - Daß „Armut“ analog zu Meister Eckhart - trotz unterschiedlicher Kontexte —Freiheit und Gelassenheit bedeutet, folgert Heidegger über das mittelhochdeutsche „fri“ etymologisierend aus dem Sinn und Kontext des Eckhartschen Satzes. D W V 299,5: je freier, d. h. je ärmer der Mensch ist, umso „eigener“ ist er sich selbst: „Wan ie lediger, ie eigener.“ Ebd. 299,1 f.: „und ie disiu armuot volkomener und lediger ist, ie diz eigen eigener ist“ . 60 Meister Eckeharts lateinische Schriften und die Grundanschauung seiner Lehre, in: Archiv für Litteratur- und Kirchengeschichte des Mittelalters, 2, 1886, 533—613. Vgl. auch Meister Eckehart. Das System seiner religiösen Lehre und Lebensweisheit, Textbuch aus den gedruckten und ungedruckten Quellen mit Einführung von Otto Karrer, München 1926. Auch Heideggers Hinweis auf die Umkehrung (den „Gegenstoß“ ) des „ normalen metaphy­ sischen Satzes“ „Deus est ipsum esse“ in: „Das Sein ist Gott“ als einen „spekulativen“ Satz läßt nicht auf eine genauere Kenntnis von Eckharts Prologi in Opus tripartitum schließen. Daß Eckhart eine solche Umkehrung vollzogen hat in dem von ihm erörterten Satz „Esse est deus“ oder „Esse deus est“ (u.a. LW I 156. 164. 166), läßt Heidegger ungesagt; er zieht Eckhart vielmehr durch eine Erinnerung an den von ihm für ,essentia‘ gebrauchten deut­ schen Terminus „isticheit“ für seine „aktive, transitive“ Auffassung von „ist“ heran: „M ei­ ster Eckehart sagte: Istic-heit. Das Sein ist Gott, jetzt spekulativ verstanden, bedeutet: das Sein „istet“ Gott, das heißt das Sein läßt Gott Gott sein“ (Vier Seminare [Lc Ihor 1968], Frankfurt 1977, 63). - Einen begrenzten Zugang zu lateinischen Texten Eckhaus konnte

Heideggers Gelassenheit

409

gemacht wurden61, bleibt ungewiß; zumindest gibt es keine Lese-Spuren, auch nicht in den Entwürfen zu der Vorlesung über „Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik“. Gerade Eckharts charakteristi­ sche eindringliche Analyse des Seins-Begriffes in den Prologi zum ,Opus tripartitum£ (Deus est esse - esse est Deus) und im Kommentar zu Exodus 3,14: „ego sum qui sum“ hätten Heideggers gehaltenen Blick für eine Modi­ fikation seiner eigenen Sicht der Seins-Geschichte erweitern und schärfen können und sollen62. Bevor ich etwas sage über Heideggers Urteil zu Eckharts Begriff der Gelassenheit im Feldweg-Gespräch, ferner über Analogie und Differenz von Heideggers ,Gelassenheit zu der Eckharts, möchte ich letztere aus der Gesamtintention von Eckharts Denken heraus etwas verdeutlichen. Gelassenheit, ,abegescheidenheit‘ (Sich-Abscheiden und Unterscheiden von ..., Sich-Trennen von ...) und Armut sind unterschiedene Aspekte Heidegger durch die von ihm angeregte Dissertation von Käte Oltmans „Meister Eckhart“ (Frankfurt 1935; 19572) gewinnen, die - nach dem Bekunden der Autorin (S. 10) - der Philo­ sophie Heideggers selbst als der „Voraussetzung“ ihrer eigenen Eckhart-Auffassung Wesent­ liches schuldet. Zu diesem Buch siehe J. D. Caputo, The mystical element in Heideggers thought, Athens Ohio - London 1978 (19842). 61 Seit 1936 werden sie in einer kritischen Ausgabe „im Auftrag der Deutschen For­ schungsgemeinschaft“ zugänglich. - Alois Dempfhax ihre philosophische Bedeutung schon in seinem 1934 (in Leipzig) erschienenen Eckhart-Buch eindringlich dargestellt: Meister Eckhart. Eine Einführung in sein Werk. 62 Friedrich-Wilhelm von Herrmann hat in seinem aspektreichen Aufsatz „Gelassenheit und Ereignis. Zum Verhältnis von Heidegger und Meister Eckhart“ , in: Wege ins Ereignis, Frankfurt 1994, 371-386, Anmerkung 4, S. 376 darauf hingewiesen, welche Publikationen von Texten Meister Eckharts und deren deutschen Übersetzungen Heidegger bekannt waren und von ihm benutzt wurden, so die „Reden der Unterscheidung“ (mittelhochdeutscher Text) in der Ausgabe von Ernst Diederichs, Bonn 1913, 19252; Deutsche Mystiker, Bd. III: Meister Eckhart, ausgewählt und übersetzt von Joseph Bernhart, München 1914; auch die in vielem fragwürdige Eckhart-Ubersetzung von Hermann Büttner, Jena 1934,1938 (19031). Weitere Hinweise zu Tauler, Mechthild von Magdeburg u.a. bei von Herrmann a.a.O. „In den erhaltenen Handexemplaren Heideggers“ gibt es „deutliche Lesespuren, wie far­ bige Anstreichungen und Randbemerkungen“ (von Herrmann 377). - In den „Beilagen“ zu dem Feldweg-Gespräch sind unter der Überschrift „Vom Lassen der Dinge“ und „Von großem Wesen sein“ fünf Stellen aus Eckharts Reden der Unterweisung exzerpiert. Für das S. Exzerpt verweist die Herausgeberin Ingrid Schüßler auf Franz Pfeiffers Eckhartausgabe (Leipzig 1857,546), da es der Orthographie dieser Edition entspricht (dag. Diederichs S. 8). I leidegger hat den Gedanken Eckharts bei „sin“ („Sein“ ) abgebrochen. Die Fortsetzung ist jedoch wesentlich für Eckharts Intention: „Niht gedenke heilikeit ze setzen iif ein ruon: m.m soi heilikeit setzen uf ein sin. Wan diu wert heiligem uns niht, sunder wir süllen diu w e n heiligen.“ Vgl. den Text nach Quint in A n m . 6 9 .

4io

Heideggers Gelassenheit

eines Gedankens, des Grund-Gedankens von Meister Eckhart: Sich zu be­ freien aus der das Denken, Handeln und jegliche Erfahrung zerstreuenden Vielheit, aus der Verflochtenheit in das Dies- und Das-Seiende (hoc et hoc), Sich-Herausnehmen aus dem [im Vergleich zu Gott] „Nichts“ der Kreatur, ineins damit Sich-Hinwenden in sich selbst und in das Sein Gottes, wel­ ches als Über-seiendes das Nichts von Seiendem ist: außerhalb des Seien­ den, ihm transzendent, unterschieden von ihm (distinctum), dennoch als gründender Grund in ihm (von ihm ¿/^unterschieden: indistinctum), also „intra et extra omnia“ zugleich; in dieses Sein soll die „Vernünftigkeit“ eindringen, in es „versinken“ und Gott so nehmen, wie er lauter in sich ist63. Diese Bewegung des Lassens und Sich-Lassens bedingt eine radikale Veränderung des Bewußtseins [der Seele] und bedarf ihrer zugleich. Eck­ hart fordert sie nicht so sehr in seinen exegetischen und bestimmte Sätze und Fragen diskutierenden Werken, sondern vor allem in seinen Predigten. Sie gehört als erste zu den von ihm programmatisch formulierten Zielen dieser seiner mit intellektueller Emphase aus philosophischem Denken und religiöser Erfahrung heraus lebenden Tätigkeit: „Wenn ich predige, so pflege ich zu sprechen von Abgeschiedenheit und daß der Mensch frei (ledic) werden soll von sich selbst und allen Dingen. Zum zweiten, daß man wieder eingebildet werden soll in das einfaltige Gut, das Gott ist“64. Abge­ schiedenheit ist mit Gelassenheit synonym zu denken65. —In dem gerade zitierten Text und in allen anderen, die zu Gelassenheit, Abgeschiedenheit und Armut hinführen wollen, erweisen sich diese Drei in Einem als die unabdingbaren Voraussetzungen für das, worum das ganze Denken Eck­ harts kreist: die Einung mit dem göttlichen Einen, dem „einic ein“, oder konkreter, von der religiösen Erfahrung her gesagt: die Geburt Gottes in der Seele des Menschen und die Wiedergeburt des Menschen in Gott, so daß Gottes Grund und der Seele Grund (d. h. deren Innerstes als Ursprung und Einung aller ihrer Kräfte) ein Grund werden - ohne Differenz66. So heißt es in der sechsten deutschen Predigt67: „Gotes wesen ist min leben. 63 Predigt 37 D W II 216, 2—6. 64 Predigt 53, D W II 528 f. 65 Die rede der underscheidunge 21; D W V 283, 8. - Für eine Sammlung von TextStellen zu ,Gelassenheit4bei Meister Eckhart vgl. A. Bundschuh, Die Bedeutung von gelas­ sen und die Bedeutung von Gelassenheit in den deutschen Werken Meister Eckharts unter Berücksichtigung seiner lateinischen Schriften, Frankfurt 1990. 66 Vgl. D W 12 53,5f. 67 DW I 106, 1-3.

Heideggers Gelassenheit

411

Ist min leben gotes wesen, so muoz daz gotes sin min sin und gotes isticheit min isticheit, noch minner, noch mer.“ Um in die Bewegung zur Gelassenheit, Abgeschiedenheit und Armut hin zu kommen und aus deren Werden in deren Sein übergehen zu können, bedarf es zuvor der klaren Erkenntnis dessen, was für eben diese Bewegung und für eben dieses Sein störend, es verhindernd oder es einschränkend wirkt. Dies also Wirkende ist für Eckhart jede Form von „inaequalitas“ (Ungleichheit)68 gegenüber der reinen Einheit und Einfachheit Gottes; jeg­ liche Teilung und Stufung in Höher und Niederer, damit auch jede Form der Negation (denn ,negatioc meint ,divisio‘ und damit Unterscheidung Eines vom Anderen in der Dimension von Vielheit), jede Form der Dif­ ferenz als eines Grundzugs des geschaffenen Vielen. Dazu gehören (außer dem schon Genannten) Zeit und Ort als Bedingung und Erscheinungs­ formen von Differenz; die Weise („modus“) als kategoriales Charakteristi­ kum allen Bestimmt- oder Endlich-Seins; ,Werke£ als Resultate eines pla­ nenden Handelns („Tugend“)69; Bild als Gegenstand des Vorstellens oder Denkens —es soll „überbildet“ werden in die Gottheit, die ohne Bild ist; Wille oder das Wollen als eine Weise des (eigensüchtigen) Strebens oder der Intentionalität überhaupt. —All dies (und Anderes noch) gehört der Tätigkeit des Ichs (der Seele des Einzelnen) an. Dieses muß sich dessen, d. h. seiner eigenen Differenzstruktur, die wesentlich von Intentionalität verschiedenster Form und Weise bestimmt ist, bewußt werden und sie im Blick auf das Ziel des Denkens und Tuns: auf die Einung mit dem ,einic ein‘ oder die Gottesgeburt in der Seele, überwinden; dies heißt letztlich: sich selbst - durch die göttliche Gnade ermöglicht - von sich selbst als einem unter Umständen verfallenden, egoistisch oder gar egoman ins Ge­ schaffene verstrickten und damit von Gott „abständigen“ Ichs oder Selbst 68 Sermo 53; LW IV 442,3 - im Kontext einer Interpretation des Satzes aus Matthaeus 19,27: „Reliquimus omnia . . . “ . Expos, s. evang. sec. loh. 239; L W III 200, ifF. (relictis Om­ nibus). Sermo 49,2; LW IV 424, 4f.: ... qui omnia reliquit, qui transfiguratur in monte cum Christo. - Der mensche, der geläzen hat und geläzen ist und der niemerme gesihet einen ougenblik üf daz, daz er geläzen hat, und blibet staete, unbeweget in im selber und imwandelliche, der mensche ist aleine geläzen (Pred. 12; D W I, 203, 2-5). In diesem aus dem „Lassen“ entspringenden, sich festigenden Stand der radikalen Gelassenheit hat er in der ( ¡leichheit zu oder mit sich selbst zugleich zur absoluten Gleichheit, welche der „Sohn“ mit dem „Vater“ ist, gefunden und damit auch in die reine oder absolute Einheit selbst (ebd. ;.oi, 1 ff. it f. 199 . 6(1'.). f,,> Wan diu werk ein h ell ig em un s niht, utulersi h e id un g e , 1 )W V i»)H, ; ! . ) .

siiiulrr

wir suln diu werk heiligen ( D ie rede der

412

Heideggers Gelassenheit

zu befreien, diese seine Form oder De-Formation „zunichte“ machen, um der höchstmöglichen Vollendung seiner selbst - heideggerisch gesagt: um seiner Eigentlichkeit - in der Einung oder Gottesgeburt willen. Gelassen­ heit meint also in Eckharts Absicht: universale Ent-Differenzierung, nicht nur denkende Erhebung in Gott im Sinne einer immer noch Distanz hal­ tenden Visio, sondern Aufhebung des Denkens, indem dieses jegliche Dif­ ferenz, Bild, Weise, Wille und Werk „âne mitel“ übersteigt („hinter sich läßt“), um im Akt der Einung mit dem göttlichen Einen das zu „werden“, was der Mensch, dem dieses Denken gehört, ehedem, d. h. vor seiner kreatürlichen Existenz, in Gott „war“. Gelassenheit führt nicht in Weltflucht oder radikale Weltverachtung, sie orientiert oder konzentriert vielmehr den Menschen in einer „ständigen Bewegung“ auf den bewußten Überstieg in seinen absoluten Grund. Für diese Bewegung und für diesen Stand zitiere ich drei charakteristi­ sche Sätze Eckharts, die ich für den gegenwärtigen Kontext uninterpretiert stehen lassen muß; sie verdeutlichen prägnant das bisher Gesagte: „Der mensche, der sich selben und alliu dinc gelâzen hät, der des sînen niht ensuochet an deheinen dingen und würket alliu sîniu werk âne warumbe und von minne, der mensche ist tôt aller der werlt und lebet in gote und got in im “70. —„D u soit alzemal entzinken diner dinisheit und soit zer fliesen in sine sinesheit und soi din din und sin sin éin min werden als genzlich, das du mit ime verstandest ewiklich sin ungewordene istikeit und sin ungenanten nitheit“71. „Meine Seele geh aus, Gott ein! All mein Etwas sinke in Gottes Nichts, sinke in die grundlose Flut! Fliehe ich von dir, Du kommst (dann) zu mir. Verliere ich mich, so finde ich dich, o überseiendes Gut!“72

O sele min genk uz, got in! sink al min icht in gotis nicht, sink in di grundeloze vlut!. vli ich von dir, du kumst zu mir, vorlis ich mich, so vind ich dich, o uberweseliches gut!

70 Predigt 29; D W II 80, 1-3. 71 Predigt 83; D W III, 443, 5-7. 72 Granum Sinapis, 8. Strophe. Text nach K. Ruh, Meister Eckhart. Iheologe. Predi­ ger. Mystiker, München 19892, 49. —Zur Interpretation des ganzen Gedichtes vgl. K. Ruh,

Heideggers Gelassenheit

413

Gelassen oder „Alles zu lassen“ als Programm für eine Denk- und Lebens­ form folgt dem Impuls der Heiligen Schrift73: „ecce nos reliquimus omnia et secuti sumus te“, und verbindet diesen sachlich mit einer von Plotin in ähnlicher Intensität geforderten Abstraktions-Bewegung: in ihr befreit sich das Denken von Vorstellungen und Begriffen des Vielen, von der begriff­ lichen und emotionalen Verstrickung in das Viele, indem sie das Denken sich in sich selbst auf seinen eigenen Grund hin sammeln läßt, um es so als in sich selbst aufsteigend und seine begreifende Form ¿Ersteigend mit seinem transzendenten Grund, dem Einen/Guten selbst, zu vereinen. Diese ebenso als universale Ent-Differenzierung des Denkens und des Le­ bens zu verstehende Bewegung steht unter dem „mystischen Imperativ“: αφελε πάντα74. Gelassenheit: sich selbst und „alliu dinc“ lassen, ablassen vom Eigenen (dem eigenen, d. h. eigensüchtigen Ich) und damit auch von den Bezügen zum vielheitlich und endlich Seienden, sich einlassen in den eigenen Grund und damit in die Einheit mit dem göttlichen Grund („ze gründe und gote lazen“75), Abgeschiedenheit76 als Frei-Sein von aller Andersheit —dies ist im Eckhartschen Sinne wahre Armut als Auszeichnung dessen, der all das entbehren kann, was nicht nötig ist, der nichts entbehrt, es sei denn das Unnötige77, um (nur so) in das Eine Notwendige übergehen, sich in es werfen zu können78. Dieses Eine Notwendige aber ist das Eine selbst. Ar­ mut ist deshalb - paradox gesagt - für den Menschen der wahre „ReichGeschichte der abendländischen M ystik, Bd. III 282 fr., M ünchen 1996. W. Beierwaltes, „U nd daz Ein machet uns saelic“ . M eister Eckharts B egriff der Einheit und der Einung, in: „Platonism us im Christentum “ , Frankfurt 19 9 8 ,10 0 -12 9 . 73 M t 19,27, L W III 196,4fr. 200 ,1 ff. 74 V gl. hierzu W. Beierwaltes, Selbsterkenntnis und Erfah rung der Einheit. Plotins Enneade V 3. Text, Übersetzung, Interpretation, Erläuterungen. Frankfurt 1991, besonders 127 f. 167 ff. 250 ff. D ie Form ulierung von Plotins Gelassenheit - αφελε πάντα - findet sich als letztes W ort dieses Traktats: V 3 ,17 , 38. Z u „Gelassenheit“ : ebd. 1 7 1,17 2 , 207, 252. Ferner zu dieser sachlichen Verbindung Plotins m it der mittelalterlichen M ystik: W. Beierwaltes, Denken des Einen, Frankfurt 1985, 4i4 ff. 75 Vgl. Predigt 48; D W I I 415,5 und 9. - Z u der spezifisch eckhartischen Them atik des „Gott-Lassens“ vgl. unten S. 421 f. 76 Zu Eck harts T raktat u n d B e g r i f f ,vo n ab egesch eid en h eit‘ vgl. M . En d ers, A b gesch ie­ denheit des G eistes - höchste „T u gen d “ des M enschen und fun d am en tale Seinsw eise G ottes, in: Ih eologie und P h ilo sop h ie 7 1, 1996, 6 3 -8 7 .

" 78

V BI. h ier/.u oben S. 40 7 f.: Eckhart und I leideggers daran an kin ip fen d e Form ulierung. Predigt 21; D W I

159*4 · D ieses „E in e N o tw en d ige" (Lukas 10,42.: unutn autem est

n eeessarium ): Predigt 86; I >W III 4 8 6 ,1: „des rin r n ist 11Λ1, nit lu / w ri",

414

Heideggers Gelassenheit

tum“ (primum est dives per se)79: „Und du sollst wissen: Von aller Kreatur leer zu sein, heißt Gottes voll zu sein, und aller Kreatur voll zu sein, heißt Gottes leer zu sein“80, weil der Mensch nur in einem totalen Frei-Sein von Allem in die Fülle des Einen göttlichen Seins, in dessen „Reichtum“, eingelassen werden und sich einlassen kann. In der Predigt 52 „Beati pauperes spiritu“ nimmt Eckhart die folgende Formel zum Leitfaden seiner Gedanken zu der „höchsten, der klarsten und der äußersten Armut“: „Daz ist ein arm mensche, der niht enwil und niht enweiz und niht enhät“81. Nichts haben oder Nicht-Haben betrifft nicht (primär) materielle Güter (lipliche dinge), sondern alle Weisen von Intentionalität, vernunfthafter Bezüglichkeit und emotionaler Begehrlichkeit; es meint vielmehr, daß der Mensch in der Weise leben solle, daß „er so frei von seinem eigenen Willen und vom Willen Gottes sei, wie er es war, als er (noch) nicht war“ —also vor-endlich im Stand des Absoluten, in dem er als dieses selbst „sache min selbes [causa sui] und aller dinge“ war82.

III

Die Forderung, den Stand eines A//V/tf-Wissens über die intensive Bewe­ gung des Erkennens und Wissens hinaus erreichen zu sollen, ist kein Plä­ doyer für eine Verdrängung von Wissen, Vernunft und Erkenntnis über­ haupt, sondern eine Anweisung für den intendierten Übergang des Wis­ sens in ein nichtgegenständliches Denken, das einer ,docta ignorantia‘ („unbekantez bekantnüsse“83) oder aber dem reine Einfachheit seienden und sich dennoch selbst erfassenden, absoluten Wissen gleichkommt. Die­ ses „Wissen“ steht über einem diskursiv in Zeit verfahrenden Wissen wie das göttliche ,super-essec über dem ,esse creatum seu finitum£. Der „Weise“, alias Heidegger, läßt im Feldweg-Gespräch da, wo der Name des Meister Eckhart genannt wird, seinen „Gelehrten“ sagen: „aber die von uns [im gegenwärtigen Feldweg-Gespräch] genannte [und auch im 79 V gl. hierzu W Beierwaltes, Prim um est dives per se. M eister Eckhart und der Liber de causis, in: O n Proclus and his influence in M edieval Philosophy, ed. E. B. Bos and P. A. Meijer, Leiden 19 9 2 ,14 1-16 9 . [Procliana, 129 -16 4.]

80 Von abegescheidenheit, DW V 413,3f. 81 D W II 488,5 f. 82 ebd. 492,3. 503,6. 83 Predigt „E t cum factus esset Jesu s an n oru m d u od ecim e tc .“ , P feiffer 25, *9.

Heideggers Gelassenheit

415

folgenden gemeinte] Gelassenheit meint doch offenbar nicht das Abwerfen der sündigen Eigensucht und nicht das Fahrenlassen des Eigenwillens zu­ gunsten des göttlichen Willens“84. Derartiges, was der „Gelehrte“ für die im Feldweg-Gespräch gemeinte Gelassenheit negiert, hat Heidegger zwar in den von ihm gebrauchten „Reden der Unterweisung“ lesen können85; jedoch repräsentieren diese Sätze des frühen Werks Eckharts bei weitem nicht den ganzen Eckhart - gerade in dieser Frage! Sich auf diese Aussage (des eigenen Willens „entwerden“, um sich in den Willen Gottes einzu­ lassen) als den Grundzug von Eckharts Gelassenheit zu fixieren und damit die Behauptung zu verbinden, sie bliebe bei ihm immer noch „innerhalb des Willensbereiches“, stellt ein eklatantes Mißverstehen des Eckhartschen Denkens dar. Man könnte dies (wie so Vieles bei Heidegger) auf sich be­ ruhen lassen, wenn daran nicht die Legitimation und möglicherweise auch die Überzeugungskraft von Heideggers Selbstunterscheidung gegenüber der philosophisch-theologischen Tradition, und dies heißt: der „Metaphy­ sik“ hinge. Ich halte es deshalb für geboten und sachlich aufschlußreich, Heideggers geschichtsphilosophisches und philosophiegeschichtliches Konstrukt von „Metaphysik“, das wesentliche Grundzüge der Geschichte des Denkens systematisch verdrängt, ausspart oder nivelliert, auch im Blick auf sein Verhältnis zu einem zentralen Gedanken der mittelalterlichen Phi­ losophie und Theologie kritisch in Frage zu stellen. Heideggers „Abstoß“ der „Metaphysik“ leuchtet einem von apodiktischen, alternative-losen, streng zusetzenden Behauptungen leicht Faszinierbaren umso eher ein, je weniger differenziert die zu „verwindenden“ „Vorstellungen“ - trotz gele­ gentlicher, begleitender Demutsgebärde - von ihm selbst vorgestellt wer­ den. Dabei scheint sich bisweilen das Verhältnis zur Tradition, wie es Bern­ hard von Chartres nach John o f Salisbury’s Aussage in einer vielschichtigen Metapher zu erfassen versucht hat86, geradezu umzukehren: „Wir“ sitzen nicht als Zwerge (die - zum Ausgleich - eines weiteren Blickes fähig sind) auf den Schultern von Riesen, sondern vielleicht doch als Riesen (die end­ lich das Zu-Denkende zu denken vermögen) auf den Schultern bewußt und folgenreich konstruierter Zwerge. Eine derartige „Verzwergung“ der Metaphysik suggeriert de facto ständig die Vorstellung, als ob Metaphysik im Gefolge Platons und des Aristoteles ihrer eigenen Zeit voraus immer 84 S. 109. V BI. z.H . I)W V

iisM.

Hf’ Vj»l. R. K. M e llo n , A ul den Sch u ltern von Riesen, I rankfurt 19 8 ).

4i6

Heideggers Gelassenheit

schon und ausschließlich ein rein rationales, d. h. begrifflich verrechnendes, (im Sinne Heideggers) „logistisches“ Denken vom Typus einer Spätschola­ stik oder einer - selbst nicht minder restringierten - Wölfischen Metaphy­ sik gewesen wäre. Es geht mir also in meinem kritischen Blick auf Heideg­ gers Verhältnis zu einem Grundgedanken Meister Eckharts nicht um den Nachweis von Unrichtigkeiten philologischer Art (obgleich diese grund­ sätzlich den Gedanken sachlich irreführen), sondern primär um eine Ver­ gewisserung der geschichtlichen Entfaltung des genuinen metaphysischen Denkens als eines prägenden Elementes unterschiedlicher geschichtlicher Epochen - auch in diesem Bereich. Von Eckhart jedenfalls gibt es in der Tat „Vieles zu lernen“: eine gedanklich intensive, ihrer Möglichkeiten und Grenzen bewußte Form von Metaphysik. So geht auch Heideggers universale und zugleich empfindlich beschrän­ kende Behauptung, „Metaphysik“ kenne keine ,Gelassenheit4, weil sie dem vorstellenden Denken verhaftet bleibe und nicht das Nicht-Wollen wolle (also Gelassenheit „noch“ oder nur „innerhalb des Willensbereiches“ zu denken imstande sei), an der stärksten Intention Eckharts und der ihm folgenden Mystiker, Johannes Tauler etwa und Heinrich Seuse, acht- und wortlos vorbei. Um dies zu sehen, bedarf es keiner De(kon)-struktion von Texten auf angeblich oder wirklich Ungesagtes, Verborgenes hin, es liegt vielmehr offen zutage. In derselben, schon angeführten Predigt über die geistige Armut heißt es als Auslegung des ersten Teils des schon zitierten Satzes: „Daz ist ein arm mensche, der niht enwil und niht enweiz und niht enhät“: „Wenn einer mich fragte, was denn das sei: ein armer Mensch, der nichts will, so antworte ich darauf und sage so: Solange der Mensch dies noch [an sich] hat, daß es sein Wille ist, den allerliebsten Willen Gottes erfüllen zu wollen, so hat ein solcher Mensch nicht die Armut, von der wir sprechen wollen; denn dieser Mensch hat [noch] einen Willen, mit dem er dem Willen Gottes genügen will und das ist nicht rechte Armut. Denn, soll der Mensch wahrhaft Armut haben, so muß er seines geschaffenen Willens so ledig sein, wie er s war, als er [noch] nicht war. Denn ich sage euch bei der ewigen Wahrheit: Solange ihr den Willen habt, den Willen Gottes zu erfüllen, und Verlangen habt nach der Ewigkeit und nach Gott, solange seid ihr nicht arm; denn nur das ist ein armer Mensch, der nichts will und nichts begehrt“87. In den Ohren der Inquisition in Köln und Avignon mußten derartige Sätze Häresie indizieren (zumindest,sententiae 87 D W II 491,3 fr. Übersetzung von Jo se f Q uint, ebd. 728.

Heideggers Gelassenheit

417

male sonantesc sein); mehr aber noch ein Satz wie dieser: wir sollten Gott bitten, „daß wir Gottes [um Gottes willen] ledig werden“88, also auch ihn „lassen“, um aus ihm, dem „Gott“, in die „Gottheit“ - die reine Einheit „durchzubrechen“. „Das Höchste und Äußerste, das der Mensch lassen kann, das ist, daß er Gott um Gottes willen lasse“89. Wenn der Gott oder die Gottheit, die sich nur dem Gelassenen oder im gelassenen Durchbre­ chen sich gibt, reines Sein als reine Einfachheit ist („ez ist ein und ein luter einunge“90), kann man nicht bei dem Gott bleiben, der sich dem Denken im Geschaffenen vielfältig zeigt, auch nicht bei dem (von Eckhart selbst in­ tensiv durchdachten) trinitarischen Gott als einer sich selbst durchdringen­ den und durchlichtenden Reflexivität, einem Sein, das in sich „bewegte“ Bezüglichkeit von Denken und Lieben ist; derartige Versuche, Gott als den im Grunde Unbegreifbaren zu begreifen, bilden eine notwendige Stufe in der Analyse von Aussagen der Heiligen Schrift ,per rationes naturales philosophorum491, die selbst wieder zu lassen ist. - Wer also in die Gelas­ senheit und damit in die Einung mit dem „göttlichen Gott“92 finden will, 88 Ebd. 493,8. V gl. auch D W I 196,7: „got durch got lazen.“ D W II 10 7 ,4fF. D ie rede der underscheidunge, D W V 225,3. 89 Predigt 12; I 196,6fr D az hoehste und daz naehste, daz der mensche gelazen mac, daz ist, daz er got durch got läze. - Eine erstaunliche Parallele hierzu („G ott lassen“ ) fin­ det sich bei Schelling im Kontext seiner eigenen Bestim m ung der „wahren“ Philosophie; er spielt dabei wohl au f Dionysius Areopagita an, seine Sätze über das „Alles-Lassen“ aber entsprechen dem eckhartischen B egriff der radikalen Gelassenheit und Arm ut: „H ier muß alles Endliche, alles, was noch ein Seyendes ist, verlassen werden, die letzte Anhänglichkeit schwinden; hier gilt es alles zu lassen [αφελε πάντα: Plotin V 3 3 ,1 7 , 38] - nicht bloß, wie man zu reden pflegt, Weib und Kind, sondern was nur Ist, selbst Gott, denn auch G ott ist a u f diesem Standpunkt nur ein Seyendes . . . “ . G o tt müsse vielm ehr als „U ebergottheit“ gedacht werden, wie „einer der vorzüglichsten M ystiker früherer Zeiten gewagt hat ... zu reden“ [Dion. Areop., D e divinis nom inibus X III 3; 229,13 (Suchla): ύπερθεότης. X I 6; 2.23,6: ύπέρθεος. IV i; 143,10: ύπέρθεος θεότης] ... „Also selbst G o tt muß der lassen, der sich in den Anfangspunkt der wahrhaft freien Philosophie stellen will ... Wer wahrhaft philosophieren will, muß aller H offnung, alles Verlangens, aller Sehnsucht los seyn, er muß nichts wollen, nichts wissen, sich ganz bloß und arm fühlen, alles dahingeben, um alles /ii gewinnen“ [ganz analog den hier und im Folgenden herausgehobenen Sätzen Eckharts /11 Armut und Gelassenheit]: Schelling, Uber die N atur der Philosophie als W issenschaft (1X21), Werke IX, Stuttgart 1861, 2 i7 f. 90 Ebd. 197,6. 1)1 In loh. 2; IW III 4 ,4 ff. - „durch die natürlichen Gründe der Philosophen“ . I )ie rede der underscheidunge, D W V 205,10. - Heidegger, Identität und Differenz, Pfullingen 1957, 71: „der göttliche G o tt“ des „gott-losen Denkens“ gegenüber dem G ott der „M etaphysik“ .

4 i8

Heideggers Gelassenheit

kann gerade nicht bei einem „Gott“ verharren, der mich wollen könnte, der mein Sich-Fügen in seinen Willen forderte. Negation des Willens, den Willen Gottes zu wollen, ist das Ende - die Vollendung - eines Weges, der das Bewußtsein in den Stand und in die Ruhe des göttlichen Eins-Seins aufhebt, in dem dieses vor der Schöpfung „war“. Die von mir vorhin nur in ihrem Anfang zitierte Auslegung des Eckhartschen Satzes, der sei arm, „der nichts will . . . “, fährt fort: „Darum bitten wir Gott, daß wir ,Gottes* ledig werden und daß wir die Wahrheit dort erfassen und ewiglich genie­ ßen, ... wo ich stand und wollte, was ich war, und war, was ich wollte. So denn sagen wir: Soll der Mensch arm sein an Willen, so muß er so wenig wollen und begehren wie er wollte und begehrte, als er (noch) nicht war. Und in dieser Weise ist der Mensch arm, der nichts will“93.

IV Aus einer philosophischen Theologie im Übergang vom 13. ins 14. Jahr­ hundert und einer Philosophie unserer Gegenwart ist kaum eine „Einheit“ zu konstruieren oder - für gegenwärtiges Denken - eine reproduzierende Wiederholung des Selben anzunehmen. Die selben Begriffe, in den sel­ ben Worten oder Benennungen erscheinend, haben ihre Bedeutung durch ihre geschichtliche Entfaltung zu unterschiedlichen Kontexten und Grund­ absichten hin verändert. Schon von dieser an sich trivialen Einsicht her läge es mir fern, Meister Eckhart krampfhaft —die geschichtlichen und sachli­ chen Differenzen einebnend —auf eine spätere philosophische Position hin zu „aktualisieren“ . Dessen ungeachtet könnte Eckharts zentraler Gedanke und sein sich in theoretischen Reflexionen offenbarendes Lebensinteresse aus einem congenialen (sympathetischen) christlichen Bewußtsein heraus in eine gegenwärtige, philosophisch geleitete Spiritualität produktiv auf­ genommen werden. 93 Predigt 52; D W II 4 9 3 ,7 f r .; die Übersetzung Q uints ebd. 7 2 8 . Z u m „W ollen“ des „Nicht-W ollens“ bei Heidegger vgl. - außer den Passagen im Feldweg-Gespräch 58fr. 65. 6 7 (sich au f das „Nicht-W ollen einlassen“ ). 7 1 - „Aus einem Gespräch von der Sprache“ , in: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 19 59 , 10 0 : „D as W issenwollen und die G ier nach Erklärungen bringen uns niemals in ein denkendes Fragen. W issenwollen ist stets schon die versteckte Anm aßung eines Selbstbewußtseins, das sich au f eine selbstcrfundene Vernunft und deren Vernünftigkeit beruft. W issen wollen will nicht, daß es vor dem Denkwürdigen verhoffe.“

Heideggers Gelassenheit

419

,Gelassenheit* als ein Grundwort Meister Eckharts und Martin Heid­ eggers fordert deshalb über die geschichtliche Distanz hinweg eine Über­ legung zum Bezug der beiden im Blick auf Analogie und Differenz gera­ dezu heraus. Einiges in diesem Felde ist zuvor schon deutlich geworden. Wenn ich nun darüber hinaus eine bestimmte Nähe Heideggers zu Eckhart heraushebe, dann möchte ich Heidegger freilich nicht zu einem „neuen Eckhart“ ohne explizit christliche Intention oder ihn gar —begriffsblind zu einem „Mystiker“94stilisieren. Heideggers Bezug zu Meister Eckhart95 94 M it dieser Aussage verbinde ich einen B egriff von philosophischer M ystik, für den der reflexive innere „Aufstieg“ des Denkens und die jede Form des Begreifens übersteigende Einung mit dem göttlichen Prinzip, dem - neuplatonisch gedachten - Einen, oder die ReIdentifikation mit dem Gotte („Gottesgeburt“ in der Seele - etwa im Sinne Eckharts) kon­ stitutiv sind. V gl. ausführlich hierzu in meinem „D enken des Einen“ , 12 3-154 („H enosis“ ); 385-425 (Aufstieg und Einung bei Bonaventura). - Weiterhin: A. M . Haas, Was ist Mystik?, in: Abendländische M ystik im Mittelalter, Sym posium Kloster Engelberg 1984, hg. v. K. Ruh, Stuttgart 1986, 319 -34 1. - Heideggers eigene Vorstellung von „M ystik“ changiert je nach seinem lebensgeschichtlichen Kontext zwischen positiver Einschätzung „echter und großer M ystik“ (vgl. oben Anm . 53) und polemischer Herabsetzung des Begriffs, der einem „vulgären“ , gedankenlosen, irrational-diffusen Gebrauch gleichkom mt. 95 Z u diesem Verhältnis vgl. M eister Eckhart, M ystic and Philosopher. Translation with commentary by Reiner Schürmann, Bloom ington/London 19 7 8 ,19 2 -2 13: „Wandering Iden­ tity (Meister Eckhart and H eidegger)“ . Dieser Abschnitt entspricht (im großen und ganzen) Schürm anns Aufsatz über „Heidegger and Meister Eckhart on Releasement, in: Research in Phenom enology 3,1973, 9 5-119 . - O . Pöggeler, M ystische Elemente im Denken Heideggers und Dichten Celans, in: Neue Wege mit Heidegger, Freiburg 1992, 426 ff. (Nähe u. Differenz auch für ,Gelassenheit4 abwägend). - J. D . Caputo, The mystical element in H eideggers thought, Athens O hio - London 1978 (19842), bes. 140 ff. [Caputo kom m t in der Einschät­ zung von Heideggers (offenem) Eckhart-Verständnis teilweise zu kritischen Resultaten, de­ nen die meinen analog sind, z. B. S. i8of.]. F.-W. von H errm ann, Gelassenheit und Ereignis (wie Anm . 62). A. M . Haas, Kunst rechter Gelassenheit, Bern 1995, 247-26 9: „Gelassenheit - Sem antik eines mystischen Begriffs“ , 249ff. P. Capelle, H eidegger et M aître Eckhart, in: Revue des sciences religieuses 7 0 ,19 9 6 ,113 -12 4 . V gl. auch R. Safranski in Abschnitt V dieses Textes. Nach Abschluß meines M anuskripts habe ich den Aufsatz von E. W olz-Gottwald: „M artin Heidegger und die philosophische M ystik“ (Philosophisches Jahrbuch 104, 1997, 6 4-77) kennengelernt. Das spezifische Z iel seiner Überlegungen ist es, von einer Bestim ­ mung christlich-mittelalterlicher M ystik im Sinne der Victoriner ausgehend, eine „M ystik der Denk-W ege Heideggers“ (72 ff) herauszustellen, die vor allem Heideggers „Reflexion iiber den existenziellen Wandel der Transform ation“ (75) beträfe. Obgleich W olz-Gottwald die Differenz Heideggers zu „Vertretern christlicher M ystik, wie Hugo von St. V iktor oder Meister Kckhart“ (77) durchaus bewußt hält, sieht er beide Denkweisen und Lebensformen in einem Interesse an einer „Philosophie der existentiellen Transformation“ (78) eng ver­ bunden. Schwer nachvollziehbar ist allerdings /.. IV die von W olz-Gottwald beanspruchte Parallele der Dcnkbcwegun^ von „Sein und Z eit“

„der Ruf des Gewissens, wenn der

420

Heideggers Gelassenheit

kann aber auch nicht auf eine bloß „formale Anknüpfung an Eckhart“96 reduziert werden, so daß er „mit Hilfe Meister Eckharts sein Eigenes“ denke, „das sich nicht aus Meister Eckhart herleiten läßt“97. Die als ein­ deutig trennend suggerierte Unterscheidung von „Form“ und „Inhalt“ trifft für bewußte Rezeptionsvorgänge schwerlich zu. So kann die Anknüpfung Heideggers an die Bewegungsform Eckhartschen Denkens, die der prononciert eckhartische Begriff,Gelassenheit4 mit sich bringt: Ablassen, Loslas­ sen, Aus-Sich-selbst-Herausgehen, Sich-Befreien auf die Vollendung eines Weges von Denken und Leben hin, Sich-Einlassen in dieses Ziel im Aufge­ ben aller Intentionalität, die sich primär als Nicht-Wollen erweist, - eine Anknüpfung also an diese Formen des „Lassens“ kann nicht nur als eine äußere, sozusagen ablösbare oder aufgesetzte „Form“ gedeutet werden, die von der sachlichen Grundeinsicht rein gar nichts (in ihr Eigenes) mitge­ nommen hätte. Schon die Bewegung auf diesem Weg sollte nicht als eine dem Gedanken äußerliche, instrumenteile „Methode“ eingeschätzt wer­ den. Freilich kann Heideggers Seyn als Ereignis, dessen „Näherin“ die Gelassenheit ist, als gebendes [„ES gibt“] Geschehen und Geschick nicht mit dem christlichen Begriff des Gottes als Sein, als über jeder „Etwas“ M ensch so der Unterkunft des M an ,beraubt' wird oder eigentliches Seinkönnen plötzlich ,aufleuchtet‘ “ (75) - m it dem genuin mystischen Aufstiegs-W eg zur Einung: „illum inatio“ und „raptus“ . Letzteres meint in mystischem Kontext nicht „berauben“ (75), sondern das „Hingerissenwerden“ in G ott hinein („raptus Pauli usque ad tertium caelum “ : 2 Cor. 12 ,2 f.). - In meiner K ritik an Heideggers Ausblendung des neuplatonischen Denkens aus seiner Konstruktion der Geschichte der „M etaphysik“ (Verweis hierauf S. 68 m it Anm . 24) ging es mir nicht primär um das „M ystische“ als Bezugspunkt in dieser D enkform , son­ dern um die „D ifferenz“ : Plotin, Proklos, D ionysios haben zwar nicht das S E IN als D if­ ferenz, sondern das E IN E als Differenz zu allen Seins-Verhältnissen gedacht, damit aber die Differenz als Differenz vor allem Differenten. D urch diesen H inweis ist freilich keine G leichung von Heideggers S E IN und neuplatonischem E IN E N intendiert, es soll vielmehr die - von Heidegger eingeforderte - „Systemstelle“ im metaphysischen D enken angezeigt werden, die von Heidegger nie expressis verbis analysierend thematisiert wurde. So blieb eine mögliche (und notwendige) Irritation seiner Grundthese zum „Seins-Geschick“ aus. (Vgl. auch meine oben in Anm . 38 zitierte Abhandlung zu Heideggers Platon-Rezeption.) [Hier oben S. 371 ff.] - Diese Ausblendung ist (vielleicht auch) verstehbar als eine Vorform eines ironischen Eklektizismus‘, wie ihn postmoderne philosophische Literaten als Lizenz zur eigenen Entlastung, zur Verdrängung oder selbst-inszenatorischen Veränderung von Texten und Fragm entierung von Traditionen für sich in Anspruch nehmen und dies auch Anderen konzedieren. Wer Einspruch gegen derartige Dekonstruktionen erhebt, wird um­ standslos in die Rolle des unbegabten Beckmessers versetzt. 96 So F.-W. von Herrmann, a.a.O . 372. 97 Ebd.

Heideggers Gelassenheit

421

zusprechenden Aussage seiendes Über-Sein oder als trinitarische Selbst­ entfaltung und gründender Grund (der Seiendes „sein läßt“!) unmittel­ bar konkurrieren (obgleich auch hierzu verdeckte Sach-Bezüge Heideggers trotz differenten Interesses bestehen). Es trifft schon im Sinne einer bloß immanenten Interpretation nicht zu, daß Gelassenheit für Eckhart eine Sache der Lebensform sei, hingegen für Heidegger ein Akt des Seins selbst, das „Seiendes sein läßt“98. Heideggers Gelassenheit als ein Sicheinlassen auf die „Entborgenheit des Seienden“99 oder auf die Unverborgenheit des Seyns (wie sie der Feldweg dem Denkenden zuspricht) in einer geduldigen Einübung ins (zukünftige, andere) Denken erscheint mir als ein wesent­ liches Moment in einer Bestimmung des denkenden Lebens, d. h. auch des individuellen Denkers, dem es in seinem Fragen einzig um das einzig Fragwürdige —das Seyn —geht. —Wenn man bei einem „Vergleich“ für den Begriff Gelassenheit primär Beider Begriffe von Sein im Blick hat (Sein als zeitfrei Unwandelbares versus Seyn als ,Geschick*), so könnte Zeit-Freiheit oder Zeitlichkeit durchaus als Differenz gelten. Wenn hingegen Gelassen­ heit für Eckhart und Heidegger primär eine Bewegung auf dem Wege des Denkens (und für Eckhart der religiösen, christlichen Erfahrung) ist, dann ist Gelassenheit für Beide ein grundsätzlich zeitlicher Akt, der für Eckhart freilich in der Einung mit dem göttlichen Einen ins zeit-freie Sein und ins Nicht-mehr-Denken übergeht100. Es ist auch nicht denkbar, in dem Sinne Heidegger von Eckhart klar zu unterscheiden, daß das Ziel des Weges des Gelassen- Werdens im Sinne Eckharts das Sein oder das Eine als Gott sei, für Heidegger jedoch das Seyn von „Gott“ als different gedacht werden müsse. Dies behauptet allerdings Heideggers Satz: „Das „Sein“ - das ist nicht Gott und nicht ein Weltgrund“, es ist: „Es selbst“ 101. Heideggers „Beiträge zur Philosophie“ indes und zusammen mit ihnen und in ihnen die sein Denken wesentlich prägenden //ö/^r/zw-Interpretationen bringen einen Bezug von Seyn und dem Gott oder den Göttern ins Spiel, dessen untrennbare Nähe zum SEYN zu bedenken wäre. Heideggers Gott (ver-) birgt in sich allerdings eher Hölderlinisches und darin Griechisch-Mythi‘,H So R . S ch ü rm an n , a .a .O . 204.

i} Vom 100

W esen der W ahrheit (1930) [wie A n m . 6] 15.

Die B eh au p tu n g S ch iirm an n s (209): „T h e h isto ry o f b ein g itse lf forbids F x k h a rt to

tliink about the tem p orality o f releasem ent“ ist eklatan t falsch. D ie Z eith aftigkeit der B e­ w egu n g des Lassens w ird erst in dem „S ta n d “ od er in der „R u h e “ des G classcn-Scirts au fge­ hoben (L n tzeitlii lu in g), vgl. /.. B. Prcd. 12;

101

Ileidegger,

U ber den

1)W 202, iU. 203, 2H.

„I lu m u n ism u s“ , 76

(vgl.

Λιιιη. 0 ·

422

Heideggers Gelassenheit

sches in verwandelter Form denn spezifisch Christliches. Das „Offene“, in das ,Gelassenheit* sich einläßt, ist aber immerhin als der „ Wesensraum für das Erscheinen oder Sichentziehen des Heiligen, des Göttlichen und des Gottes“ verstehbar102. Der sich von „Metaphysik“ abstoßende Impetus Heideggers, der auch im Feldweg-Gespräch allenthalben spürbar ist, trifft für ,Gelassenheit4zu­ mindest dadurch ins Leere, daß der „Weise“ Heideggers Eckharts GrundEinsicht und -Absicht nicht erkannt hat, die Aufhebung von Intentionali­ tät, also auch des Wollens als deren Grundform, sei Bedingung und Vollzug von Gelassenheit. Zu Heideggers Gelassenheit gehört wesentlich das be­ wußte Loslassen des vorstellenden, vergegenständlichenden, verdinglichen­ den, rechnenden und ,betreibenden* Denkens - identisch mit dem Typus neuzeitlicher technologischer Vernunft - zugunsten eines „besinnlichen“, auf die Unverborgenheit des Seyns sich einlassenden Denkens; dieses —das Seyn —freilich bleibt in vieler Hinsicht dunkel. Dadurch, daß Heidegger Eckharts Gelassenheit offenkundig auf eine asketische Einübung in ein gottgefälliges* Verhalten einschränkt, kommt (ihm) gar nicht in den Blick, daß Eckhart durch seine Protreptik zur Gelassenheit durchaus Analoges zu ihm selbst in der Einschätzung von Erkennen und Vernunft (intellectus) intendiert: Eine Überwindung nämlich von diskursiv-argumentierendem, Vernunft- und bild-haftem Denken, das (an sich) für zentrale Bereiche sei­ ner Theologie unabdingbar ist, auf ein nicht mehr gegenständliches (oder vergegenständigendes) Denken hin, das einem intuitiven Einswerden mit dem Einen göttlichen Ziel des Weges gleichkommt. A uf diesem Weg geht er sogar über „vernünftige“ Bestimmungen des Gottes und der ,divinac ,per rationes naturales philosophorumc hinaus in eine begreifend nicht mehr faßbare und aussprechbare „Gottheit“: „Gott“ „um Gottes willen zu lassen“ (so Meister Eckhart) wird zum „Durchbruch“ in die „Gottheit“ als ein das Denken, Sprechen und Tun vollendend-übersteigendes Einungsgeschehen. Wenn für Heidegger ,Gelassenheit4 ein Grundwort ist, in dem sich die Nähe zum Denken des Seyns als Ereignis anzeigt, wenn deren Bewegung 102 F.-W. von H errm ann, a.a.O . 385. - Das Lassen des W illens als eine Voraussetzung des Sich-Einlassens in Seyn, Gelassen-Sein als „R u he“ aus der Bewegung, hat ein metaphy­ sisch begründetes christliches Pendant: die erfüllende Beruhigung oder Ruhe (requies) der denkend-aufsteigenden Bewegung im „O rt der O rte“ , oder im absoluten „O rt von Allem “ , der G ott ist. V gl. hierzu Werner Beierwaltes, Eriugena (wie Anm . 29) 30 3ff. Dies ist ein auch für Eckharts Denken bestimmender Gedanke der M etaphysik, der in Heideggers ,( ¡elassenheit‘ nicht „destruiert“ ist - wozu auch nichts drängen sollte!

Heideggers Gelassenheit

423

wesentlich in dieses Denken gehört oder gar dieses selbst ist, dann hat er in ihr oder durch sie, d. h. in ihrem Geltungsbereich, „Metaphysik“ nicht destruiert, sondern vielmehr eines ihrer (in ihrer philosophischen Bedeutung wenig gekannten) Theoriepotentiale und Denkbewegungen auf ein Erstes hin im Interesse seines eigenen, freilich nur an-gedachten Grundgedankens säkularisierend umbesetzt. Der (System-) Sinn oder die Funktion von Weg, Bewegung und Ziel sind für beide Weisen von Gelassenheit durchaus ver­ gleichbar. Und ohne die Nähe zu Eckharts radikal „befreiender“ Bewegung in Gelassenheit als Überwindung aller Weisen der Intentionalität eines mo­ dalen, kategorial reflektierenden Denkens ist Heideggers eigener Gedan­ kenzug kaum denkbar, wie unzulänglich auch seine spezifische Begegnung mit Eckhart gewesen sein mag. Dies gilt in analoger Weise für ,ArmutC103. Diese Aussage will nicht „Gleichheiten“ behaupten, wo sie nicht möglich sind, sie soll auch nicht von dem Sachverhalt ablenken, daß Eckharts Kon­ zeption eines sich selbst als reines Denken gründenden und entfaltenden Seins, sein Begriff des trinitarisch sich selbst durchlichtenden, reflexiv sich mit sich selbst vermittelnden Gottes und der ihn „übergreifenden“ Gott­ heit - ungeachtet der sachlichen Unterschiede - von wesentlich größerer Klarheit und innerer Differenziertheit ist als Heideggers quasimythischer, glasperlenspielartiger, aus seiner hermetisch verschlossenen und zugleich schwierigen Sprache heraus kaum übersetzbarer und nur so hinrei­ chend diskutierbarer ,Gedanc‘, der das Seyn als Ereignis, Lichtung, Geviert umkreist. Bewußt werden sollte auch die Tatsache, daß ,Gelassenheit4 zu den kryptogam-theologischen Momenten gehört, die Heideggers Den­ ken trotz seines Einspruchs gegen die „onto-theologische Verfassung“ der „Metaphysik“ nachhaltig bestimmen104. 103 V gl. oben S.

407

f und

4 13 £

104 Einzubeziehen in eine derartige Überlegung wäre auch „Ereignis“ im Blick a u f die christlich-neuplatonische Konzeption der freien Selbtserschließung Gottes (als ,bonum ‘, welches ,diffusivum sui‘ ist), weiterhin die „H u t“ und die „H u ld “ , die „G u n st“ und das „O pfer“ , das „Wort, aus dem die W ahrheit des Seins zur Sprache kom m t“ , die M etam or­ phose des „H eiligen“ (Hölderlin), aber auch der aus Heideggers Auffassung des Wesens der Sprache immer wiederkehrende Gedanke einer Sprache, die sich selbst spricht, nicht aber der Mensch, so etwa in „ ... Dichterisch wohnet der M ensch“ , Vorträge und Aufsätze 190: „D enn eigentlich spricht die Sprache [als das ,Sprachwesen‘]. D er M ensch spricht erst und nur, insofern er der Sprache entspricht“ [das von Heidegger so verstandene heraklitische o n o ^ o y riv T(j> Xoy
View more...

Comments

Copyright ©2017 KUPDF Inc.
SUPPORT KUPDF