Fritz Zorns Mars

July 27, 2017 | Author: TaxiTaxi88 | Category: Wellness, Psychology & Cognitive Science, Medicine
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Fritz Zorn von der Zürcher Goldküste...

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„Nur ein tönendes Erz und eine klingende Schelle“?

Martin Ulrich

Am 10. April dieses Jahres wäre Fritz Zorn 65 Jahre alt geworden. Zeit für eine Rückschau auf sein Buch „Mars“ Zorn ist jetzt also in seinem posthumen 65. Altersjahr. Müssen er und mit ihm sein Buch, wie in der Schweiz üblich, nach der Vollendung dieses Jahres pensioniert werden? Nein, „Mars“ ist gerade heute aktuell. Adolf Muschg hatte ein Manuskript von einem befreundeten Buchhändler erhalten, zur Prüfung auf dessen Veröffentlichbarkeit, doch das Buch wurde zu einer Prüfung für ihn selbst: Dieses autobiografische Werk stammte nicht von einem eigentlichen Schriftsteller, sondern von einem aus seinen Umständen heraus von der vollen Dichterwut erfüllten Verzweifelten, der gegen den Tod anschrieb gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, die ihn erdrückten -, und der 1976 noch vor dem Druck seiner Worte - daran sterben sollte. Aber von vorne: Der Spanisch- und Portugiesischlehrer, an der Goldküste aufgewachsen und immer brav gewesen, bekommt Krebs und entwickelt die Theorie, dass die Krankheit durch sein Umfeld in ihm ausgelöst wurde. So nimmt sich der mit bürgerlichem Namen „Fritz Angst“ Heissende entsprechend seiner veränderten Stimmung das Pseudonym „Fritz Zorn“ und verfasst „Mars“ (Untertitel: „Ich bin jung und reich und gebildet; und ich bin unglücklich, neurotisch und allein“), um die Missstände um ihn herum aufzudecken und um zu erklären, wie es zu seinem „nicht gelebten Leben“ kommen konnte, in dem trotz der geradlinigen Berufskarriere menschlich fast alles „falsch gelaufen“ ist. Zorn klagt über seine jahrelange Neurose und Depression, über seine Kontaktund Liebesunfähigkeit, über eine verlogene Gesellschaft, für die die Sexualität zwar

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„das Mass aller Dinge“ ist, die aber nicht darüber spricht. Zorn starb im Alter von 32 Jahren als Jungfrau. Obwohl sie inhaltlich harter Stoff sind, empfand ich die rund 200 geistreichen und wortgewitzten Seiten als sehr leichtfüssig, auf eine dunkle Art schon fast als amüsant. Galgenhumor. Sarkastisch schildert Zorn sich selber: Als den Jungen, der für nichts zu interessieren war, als den einsamen Studenten, der im Lichthof der Uni auf allfällige Freunde wartete, als den Neurotiker, der mittlerweile psychotherapiert wird und von einem malignen Lymphom zerfressen. Abgesehen vom Stil, ist das Werk hie und da auch wegen dem Zeitgeschichtlichen lesenswert. Der Kalte Krieg ist z.B. spürbar, es wird erwähnt, dass man in Zorns Kreisen Hans Erni schmähte, weil er als Kommunist galt. Hintergründe Schon vor Zorns Buch bestand grundsätzlich die Idee, dass eine falsche Lebensweise oder ein missständiges Umfeld den Einzelnen krank machen könne. Z.B. wurde bereits 1970 in Heidelberg das Sozialistische Patienten-Kollektiv (SPK) von 52 Patienten und Dr. Wolfgang Huber gegründet, eine „Therapiegemeinschaft“ psychisch Kranker, die „aus der Krankheit eine Waffe“ machen wollten. Das Kollektiv wuchs auf 500 Personen, der innere Kern galt als „Kriminelle Vereinigung“, manche Mitglieder der SPK gingen später zur RAF. Die Idee von der „Krebs-Persönlichkeit“, also dass Krebs psychosomatisch sein kann, gilt heute als widerlegt. Nachhall/Sekundärliteratur Die Zürcher «Jugendbewegung» sah ihre Situation in Mars gespiegelt. Das zunächst skandalöse Werk wurde aber auch weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt. So gibt heute diverse Auflagen mit ver-

schiedensten Titelbildern und in vielen Sprachen: „De Angel van het Sterven“, „Il cavaliere, la morte e il diavolo“, „Ensomhedens svøbe“, „Bajo el signo de marte“... Nur schon auf Deutsch erlebte das Buch in einem Jahr zehn Auflagen. Obschon es die erste und einzige Buchveröffentlichung des Hobbyschriftstellers ist, gilt das Buch heute zurecht als literarisch. Es wird der Strömung „Neue Innerlichkeit“ oder „Neue Weinerlichkeit“ zugeordnet. Monique Verrey, eine Studienkollegin, publizierte ein Buch mit dem Titel «Lettre à Fritz Zorn», es erschien die StrapazinSonderausgabe „Zehn Jahre nach Mars“ mit dem Comic der Gebrüder Varenne (ironischerweise ansonsten Zeichner erotischerer Comics) über „Mars“. Das Buch wurde sogar in zwei Theaterstücken verarbeitet. So erfuhr man nach und nach mehr. Manche Zeitzeugen schwächten das depressive Bild ab, das Fritz Zorn von sich gemalt hatte, erzählten er habe Sangria in seinem Unterricht spendiert (verboten

an den zwinglianischen Zürcher Schulen, wohl auch am Gymnasium Freudenberg) und sich als „spanischer Grande“ verkleidet, mit extravagantem Umhang, und Feste gegeben. „Zorn war schwul“, will einer sogar wissen. Und Daniel de Roulet behauptet in seinem autobiografischen „Double“, er habe Zorn mit eigenen Augen gesehen (beziehungsweise „gekannt“, wie in der Inhaltsbeschreibung des Verlags steht.) Fritz Zorn scheint später in Vergessenheit geraten zu sein, doch als „le Temps“ vor rund zwei Jahren 50 mehr oder weniger fachkundige Persönlichkeiten nach den „cinq romans suisses qu’il faut avoir lus dans sa vie“ fragte, gesellte sich das häufig genannte „Mars“ zu Werken von z.B. Dürrenmatt, Ramuz, Walser und Frisch. Zitate Das typisch schweizerische Understatement: Man besitzt, aber man zeigt es nicht; man ist nicht prunkvoll, sondern solid; alles sieht nach gar nichts aus, kostet aber eine Menge Geld; man speist nicht Kaviar aus goldenen Tellern, sondern löffelt seine Suppe aus Tellern, die aussehen, als seien sie im ABM (Schweizer Warenhauskette) gekauft, die aber jeder mindestens tausend Franken wert sind.

Fritz Zorn, Pseudonym für Fritz Angst (* 10. April 1944 in Meilen, Kanton Zürich; † 2. November 1976 in Zürich), war ein Schweizer Lehrer und wurde zu einem bekannten Literaten der 68er-Generation. Zorn studierte Germanistik und Romanistik und war dann für kurze Zeit Gymnasiallehrer. Bekannt wurde er durch seine postum 1977 erschienenen Aufzeichnungen Mars, in denen er die eigene Krebserkrankung, die ihn zur Aufgabe seiner Berufstätigkeit zwang, zu einer schonungslosen Abrechnung mit der schweizerisch-bürgerlichen Umwelt in Beziehung setzt. Zorn beschreibt Krankheit darin als Symptom eines den gesamten gesellschaftlichen Organismus befallenden Degenerationsprozesses. Zeitlebens litt er an seiner bitter erfahrenen Liebesunfähigkeit und an schweren Depressionen. Das Buch wurde wegen seiner Radikalität und der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung zum Lebensgefühl der protestierenden Jugend passenden rebellischen Diktion zum Kultbuch der 80er-Jahre. 1976 starb Fritz Zorn in Zürich im Alter von 32 Jahren. Quelle: wikipedia.com im Urwald, die mit tellergrossen Scheiben in der Unterlippe und Giraffenhälsen herumlaufen, in ihrem abstrusen Schmuck so natürlich und so frei von Neurosen sind, möchte ich bezweifeln. Als ich noch ein Kind war, war in den Kreisen, die ich damals als die meinen anzusehen gezwungen war, die Redensart üblich: Der soll doch einmal nach Moskau gehen! Man bezog sich damit auf Andersdenkende und Kritiker unseres schweizerischen Systems. Man wollte damit ausdrücken, dass jeder, der an der Schweiz

etwas auszusetzen hatte, nach jenem sagenhaften Moskau gehen sollte, dem Ort wo sprichwörtlicherweise alles noch viel schlechter war als in der Schweiz. (...) In Wirklichkeit gibt es aber kein solches sagenhaftes Moskau, wo alles immer noch schwärzer sein soll, als an dem Ort, wo man sich zurzeit gerade befindet. (...) Jedesmal wenn ein anderer Krüppel im Rollstuhl an mir vorbeigefahren wird, ist mir, als ob mir eine Stimme zuriefe: Sie doch zufrieden, denn der hat es noch schlechter als du - und dann ist es, als ob diese Stimme damit meinte: Geh doch nach Moskau!

Vermutlich sieht man den Tod immer als etwas Unerfreuliches an. Wenn man aber bedenkt, dass es selbst heutzutage noch Leute gibt, die sich ein Verdienst daraus machen, für Gott, das kapitalistische Vaterland und seine Wirtschaftskonzerne zu sterben, so kann man nur zum Schluss kommen, dass es dümmere Todesmotive gibt als den Tod aus Mangel an Liebe. So wie man früher - und auch heute noch in der Oper - aus Liebe gestorben ist, so kann man offenbar auch heute noch am Gegenteil, nämlich am Mangel an Liebe, sterben. Ich glaube, es ist nicht die schlechteste Todesursache.

Inserat

Ich war nicht „auch manchmal einsam“ gewesen, sondern ich hatte, weit ich mich nur erinnern konnte, immer und ununterbrochen unter Einsamkeit gelitten. Ich hatte nicht „Schwierigkeiten mit Frauen“ oder gar „sexuelle Probleme“ gehabt; ich hatte überhaupt nichts mit Frauen gehabt und mein ganzes Leben war ein einziges ungelöstes sexuelles Problem. Europa ist zwar eine vor lauter Kultur zerbröckelnde Ruine, aber Idi Amin Dada ist - trotz seiner ganzen ungebrochenen Primitivität - auch keine verlockende Alternative. In Europa muss zwar fast jedermann zum Psychiater, aber ob die Wilden

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