Die Hohe Lehre

September 10, 2017 | Author: Roland Maxwell | Category: Dualism, Force, Yin And Yang, Consciousness, Mind
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ÜBER D E N ALLGEMEINEN SINN DER Z E N - L E H R E

SEIT U R D E N K L I C H E N Z E I T E N E R W Ä G T D E R M E N S C H D I E P R O bleme seines Seins, er denkt darüber nach, d a ß er nicht so ist, wie er sein möchte und deutet m e h r oder weniger richtig die Fehler seines Handlungsmechanismus, das heißt er übt Selbstkritik. Diese Arbeit der Kritik fällt manchmal primitiv aus, oft aber erreicht sie in einer Reihe von Lehren einen hohen G r a d von Tiefe und subtiler Genauigkeit. Die unerwünschten Erscheinungsformen des inneren menschlichen Funktionsablaufes, soweit sie sich auf den Durchschnittsmenschen beziehen, sind häufig und genau erkannt und beschrieben worden. In Hinblick auf die Fülle dieser A r t von Erkenntnisarbeit nimmt die geringe Leistung auf therapeutischem Gebiet Wunder. Die Lehren, die einst u n d jetzt Aussagen machten über das Problem des Menschen und G r u n d wie A r t untersuchen, w a r u m der Mensch schlecht funktioniert, kommen notwendigerweise zur Fragestellung: »Wie k a n n m a n diesem Zustand der Dinge abhelfen?" Gerade hier aber herrscht Unstimmigkeit, u n d angesichts dieser Frage erweisen sich die jeweiligen Lehren als dürftig, Fast alle Schulen weichen aus, die einen umgehen die Frage einfach grobhin, die andern machen spitzfindige Ausflüchte. Eine Ausnahme ist nur die Zen-Lehre (und auch hier m u ß m a n präzisieren: einige Zen-Meister). Das soll nicht heißen, d a ß es in andern Schulen nicht auch einzelne M ä n n e r gegeben hat, die ihre eigene „Verwirklichung" erreicht haben. Eine deutliche Auslegung aber der Frage, eine klare Zurückweisung der irreführenden Wege zu diesem Ziel findet sich nur im reinen Zen. D e r H ä u p t i r r t u m der falschen Methoden besteht darin, d a ß das vorgeschlagene Heilmittel nicht den tiefer liegenden Grund der Leiden des gewöhnlichen Menschen berücksichtigt. Die kritische Analyse der Probleme des Daseins dringt nicht tief genug ein in die tiefere Bedingtheit der innermenschlidien Erscheinungen. Sie stößt bei dieser Verkettung von Ursachen nicht bis zur letzten Ursache vor. Zu schnell bleibt sie bei der bloßen Schilderung von Symptomen stehen. Der Untersuchende sieht nur das Symptom selbst, und w e n n seine diesbezügliche Analyse zu E n d e ist, macht er halt. So k a n n er natürlich für die jeweilige Situation nur ein künstlich erdachtes Heilmittel in Betracht ziehen, das ganz einfach eine dem jeweils schädlichen Symptom entgegen gesetzte Situation erzeugen soll. N e h m e n w i r ein Beispiel: Ein Mensch kommt zu der Folgerung, d a ß sein ganzes Unglück an seinen Ausbrüchen von Zorn, Eigenliebe, Sinnlichkeit etc. läge. Er e r w a r t e t sich Besserung durch den Versuch, Freundlichkeit, Bescheidenheit und. ein asketisches Verhalten an den Tag zu legen . . . Ein anderer, etwa 2 Benoit, Die hohe Lehre

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ein intelligenterer Mensch, wird zu der Folgerung gelangen, d a ß sein Unglück auf seiner inneren Erregbarkeit beruhe und wird durch geeignete Übungen versuchen, innerlich z u r Ruhe zu kommen. Eine Lehre dieser A r t w ü r d e lauten: „Unser Unglück h ä n g t damit zusammen, daß wir immer etwas wünschen und an dem hängen, was wir besitzen." Je nach dem G r a d der Einsicht des Lehrers läuft dies auf den Vorschlag hinaus, die Güter des Menschen zu verteilen oder zu lernen, sich innerlich v o n jenen Gütern zu lösen, welche man nach außen hin beibehält. Diese Lehre sieht den H a u p t g r u n d des Unglücks des Menschen in seiner mangelnden Selbstbeherrschung. Sie w i r d zu Yoga-Übungen raten, d. h. zu Methoden, welche eine fortschreitende Disziplinierung des Körpers oder des Gefühls, des selbstlosen Verhaltens, des Wissens oder der Aufmerksamkeit zum Ziele haben. All dies käme nach der Lehre des Zen nur der Abrichtung eines intelligenten Tieres gleich u n d führt zur Knechtung des Menschen oder zu Ähnlichem, wobei eine erhebende Illusion im Menschen den Eindruck erweckt, er sei frei. H i n t e r all diesen Gedankengängen steckt die einfache Überlegung: „Aus folgender offensichtlicher Tatsache geht es nicht v o r a n mit mir, n u n gut, so will ich in Zukunft das Gegenteil tun." Diese A r t der Fragestellung, insbesondere, wenn eine Form als solche schlecht beurteilt wird, hält den Studierenden im Bereich des Formalen begrenzt, so d a ß er es notwendigerweise ablehnen muß, sein Bewußtsein außerhalb jeglicher Form zu erneuern, Solange ich mich im R a h m e n der dualistischen Ebene bewege, fehlt mir jeder überzeugende Hinweis, der mich aus der Illusion des Dualismus herausreißen, in die große Einheit aufnehmen und in ihr gesunden lassen könnte. Dies entspricht haargenau dem Problem „Achilleus u n d die Schildkröte". Die A r t der Fragestellung schon h ä l t den Fragenden in den Grenzen zurück, die er überschreiten soll, u n d so bleibt die Frage unlösbar. Das tiefschürfende Denken des Zen hingegen durchdringt alle unsere Erscheinungen, und begnügt sich nicht, nur deren Formen zu berücksichtigen. Dem Zen ist bewußt, d a ß in Wirklichkeit nichts schlecht in uns selbst funktioniert u n d wir n u r deshalb leiden, weil wir dies nicht begreifen, weil wir in der illusorischen A n n a h m e befangen sind, daß wir das Wirken unseres inneren G e triebes verbessern müßten. Andererseits wäre es natürlich absurd, zu behaupten, daß alles Leid des Menschen nur daher rühre, d a ß er in der illusorischen Annahme lebt, es fehle ihm etwas, da doch das „Übel", v o n dem die Rede ist, keine Wirklichkeit besitzt. Eine illusorische A n n a h m e , eine A n n a h m e ohne Wirklichkeit, kann ja nie der Grund sein für etwas Wirkliches. Genau genommen kann ich übrigens in mir tatsächlich nicht die Annahme vorfinden, d a ß mir etwas fehle. Wie k ö n n t e auch die illusorische A n n a h m e von irgend etwas nicht Vorhandenem tatsächlich gegenwärtig sein? Ich stelle n u r fest, daß mein Innenleben funktioniert, als ob diese Annahme vorhanden sei. Meine innere Welt funktioniert so, nicht auf G r u n d des Vorhandenseins dieser A n n a h m e , sondern weil die unmittelbare geistige Intuition, daß mir nichts fehlt, im G r u n d e meines 18

Bewußtseins schläft und noch nicht aus ihrem Dämmerzustand erwacht ist, Sie ist vorhanden, denn eigentlich fehlt mir nichts, aber sie schläft u n d erzeugt somit keinerlei Wirkung. Mein ganzes offensichtliches „Übel" h ä n g t mit der T a t sache zusammen, d a ß mein intuitiver Glaube an die vollkommene Wirklichkeit sich im Schlafzustand befindet. Wach in mir sind vorläufig n u r „Annahmen", und diese zeigen sich in allem, was mir meine Sinne und mein auf der Ebene des Dualismus arbeitender Geist aufweisen. Es sind somit Annahmen, die die E x i stenz einer vollkommenen, einzigen .Realität ausschließen, Sie sind illusorische Gebilde, besitzen keine Wirklichkeit u n d hängen mit dem Schlafzustand meines Glaubens zusammen. Ich bin ein „wenig gläubiger Mensch", genauer noch ein glaubensloser Mensch, oder besser, ich bin ein Mensch, dessen Glaube schläft u n d der nur an das glaubt, was er in dem Bereich der Form erkennt. (Dieser Begriff des vorhandenen, aber schlafenden Glaubens erklärt unser Bedürfnis nach der Gestalt eines „Erweckers", einer Lehre, einer Erhellung, durch die wir befreit würden. Es liegt ja eben im Wesen des Schlafes, d a ß der Schlafende sich dessen, was ihn erwecken könnte, nicht bewußt ist.) So scheint alles schlecht in mir zu funktionieren, weil die Grundidee, daß alles vollkommen, ewig und völlig positiv ist, im Zentrum meines eigenen Wesens schläft und nicht zu Leben und Wirklichkeit erweckt ist. H i e r berühren w i r den ersten schmerzhaften P u n k t , mit dem alle unsere andern schmerzhaften Erscheinungen zusammenhängen. Der Schlafzustand unseres Glaubens, d. h. unserer intuitiven Gewißheit, der vollkommenen und einzigen Realität, außer welcher nichts wirklich „ist", stellt den Ausgangspunkt einer Kette falscher Vorstellungen dar. Keine Therapie gegen das illusorische menschliche Leiden kann wirksam sein, wenn sie nicht diesen Grundirrtum an der Wurzel packt. Auf die Frage „Was m u ß ich zu meiner Befreiung tun?"' a n t w o r t e t das Zern „Du mußt nichts tun, da du nie gefangen worden bist u n d es in Wirklichkeit nichts gibt, v o n dem da dich befreien müßtest.' Diese A n t w o r t k a n n mißverständlich und entmutigend erscheinen, weil sie das W o r t „ T u n " in zweideutigem Lichte laßt. Bei dem Durchschnittsmenschen löst sich das T u n in dualistischer Weise auf in Denken u n d H a n d e l n , und nur auf die H a n d l u n g , die Ausführung des Gedachten, wendet der Mensch das Wort „tun" an. In diesem Sinne h a t das Zen recht, d a ß w i r nichts zu »tun" haben. Unser „Tun" wird harmonisch und spontan vor sich gehen, w e n n wir erst einmal aufgeben, es auf irgend eine Weise verändern zu wollen und wenn wir ausschließlich daran arbeiten, den schlafenden Glauben in uns zu erwecken, das heißt diejenige Grundidee klar zu verstehen, die allein für uns von wirklichem Interesse ist. D i e s e i n sich geschlossene und gewissermaßen bewegungslos ruhende Gesamtidee führt natürlich zu keinerlei besonderer H a n d l u n g , schließt keinerlei besondere D y n a m i k in sich. Sie ist diese zentrale Reinheit des Nicht-Handelns, durch die hindurch der spontane Strom des wirklichen natürlichen Lebens in ungetrübter Weise fliegen kann. Dieses Verständnis wecken und pflegen ist tatsächlich auch ein wahres „NichtsT u n " , wenn T u n das heißt, was es notwendigerweise für den Durchschnittsmen1

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schen bedeutet. Ja mehr noch, das Erwachen dieses Gedankens in unserem Bewußtsein äußert sich praktisch sogar durch eine (zum völligen Aufhören strebende) Veränderung aller überflüssigen H a n d h a b u n g e n , mir denen der Mensch bis dahin die Erscheinungen seines Innenlebens gewaltsam zu verändern suchte. Allerdings k a n n man sagen, d a ß das Bemühen, eine Idee zu erfassen, auch eine A r t von " T u n " ist. Da aber das W o r t „ t u n " für den Durchschnittsmenschen die eben erwähnte Bedeutung hat, erscheint es besser, um jedem gefährlichen I r r t u m vorzugreifen, im Sinne des Zen zu sprechen. Das heißt aufzuzeigen, d a ß das Bemühen, das die menschliche Angst beseitigen kann, eine Arbeit des reinen Intellektes ist u n d nicht erfordert, d a ß man irgend etwas Besonderes in seinem inneren Leben »tue", sondern d a ß man im Gegenteil aufhöre, irgend eine Veränderung im Innern herbeiführen zu wollen. Betrachten w i r die Frage noch genauer. Die Arbeit, welche den Glauben an die einzige und vollkommene Wirklichkeit unseres Seins erweckt, geht in zwei Perioden v o r sich. Im ersten vorläufigen Stadium gewahrt unser diskursives Denken alle nötigen Ideen, um theoretisch das Vorhaadensein dieser intuitiven. Gewißheit« dieses in uns schlafenden Glaubens zu verstehen, wie auch die M ö g lichkeit seiner Erweckung zu entdecken und zu erkennen, d a ß nur diese E r w e k kung unseren illusorischen Leiden ein Ende bereiten kann. Auf dieser Vorstufe kann die ausgeübte Tätigkeit auch als „Tun" gelten. Angenommen aber, dies theoretische Verständnis sei erworben, so ändert es noch nichts an der N a t u r unseres Leidens. Das Verstehen m u ß sich zu gelebtem, lebendigem Verständnis umformen, unser Gesamtorganismus muß davon durchdrangen sein, theoretisches und praktisches Verständnis müssen eins werden, abstrakt und konkret zugleich. Erst dann ist unser Glaube wirklich erweckt. Aber diese Verwandlung, dieses Zersprengen der Form, k a n n nicht das Ergebnis eines direkten Bemühens sein, denn der Durchschnittsmensch pflegt blind zu sein für alles, was außerhalb einer festen Form liegt, Es gibt keinen bestimmten „Weg" zur Befreiung; wie gäbe es ihn auch, da wir doch in Wirklichkeit nie unfrei waren u n d es auch weiterhin nicht sein werden. Wir müssen nirgendwo »hingehen" u n d es gibt auch nichts zu „tun". Der Mensch braucht auf direkte Weise nichts zu unternehmen, um seine völlige u n d unendlich beglückende Freiheit zu erfahren, Was er tun muß, geht auf indirekte u n d negative Weise vor sich. Was er d a n k seiner Arbeit begreifen soll, ist die Tatsache, d a ß alle „Wege", die er p l a n t oder beschreiten will, n u r eine täuschende Illusion sind. H a t der Mensch auf G r u n d ausdauernder Bemühungen k l a r verstanden, d a ß alles, was er zu seiner Befreiung tun kann, nichtig ist, h a t er in konkreter Weise den Begriff aller vorgestellten „Wege" in sich ausgemerzt, dann wird „Satori" ausgelöst und mit ihm die wirkliche innere Gewißheit erweckt, d a ß es keinen Weg gibt, den wir in irgend einer Weise gehen könnten, da wir von Ewigkeit her im einzigen und prinzipiellen Zentrum aller Dinge w a r e n . Das, was w i r unter „Befreiung" verstehen, bedeutet somit das Verschwinden der Illusion, unfrei zu sein, Wir erlangen diese Befreiung in chronologischer Aufein20

anderfolge d u r c h die innere Arbeit an uns selbst, w e n n die Befreiung auch im Grunde nicht durch sie verursacht ist. Diese innere, formale Arbeit k a n n nicht etwas erzeugen, was jenseits jeder Form, folglich auch jenseits ihrer selbst liegt. Sie ist nichts als das Instrument, durch das der U r g r u n d wirksam wird. So besteht also die berühmte „enge Pforte" nicht auf formale Weise, ebenso wenig wie der „Weg", der zu ihr führt. Es sei denn, man wollte dieses Begreifen, daß es weder Weg noch Pforte, Richtung oder Zielpunkt gibt, so benennen. Dies ist das große Geheimnis u n d zugleich die große offensichtliche Klarheit, die uns die Meister des Zen enthüllen.

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II. „ G U T " U N D „BÖSE" BEKANNTLICHERMASSEN SCHILDERT UNS DIE TRADITIONELLE Metaphysik die fortdauernde Schöpfung des Universums als das sich versöhnende und versöhnte Spiel zweier entgegengesetzter und sich ergänzender Kräfte. Die Schöpfung ist danach das Ergebnis dreier Kräfte: einer positiven, einer negativen und einer versöhnenden Kraft. Dieses „Gesetz der D r e i " kann durch V e r s ö h n e n d e s Oberes P r i n z i p ein Dreieck symbolisch dargestellt werden: die beiden unteren Spitzen des Dreiecks stellen die beiden unteren Prinzipien der Schöpfung dar, das p o sitive und das negative P r i n z i p . Die obere Dreiecksspitze stellt das Obere oder Versöhnende P r i n z i p dar. Die beiden unteren Prinzipien entsprechen nach der chinesischen Lehre den beiden großen kosmischen Kräften Negatives Positives von Yang (positiv, männlich, trocken, unteres Prinzip unteres Prinzip warm) u n d Yin (negativ, weiblich. feucht, kalt). Zugleich entsprechen sie dem Roten und dem Grünen Drachen, deren unaufhörlicher Kampf die fortdauernde Schöpfung der „Zehntausend D i n g e " bedeutet. Das D i a g r a m m des T'ai-ki enthält einen schwarzen Teil, das Yin, und einen weißen Teil, das Yang, genau gleich große Flächen und einen Kreis, der beide Flächen umgibt und das T a o heißt (Oberes Versöhnendes Prinzip). Die schwarze Fläche enthält einen weißen P u n k t und die weiße Fläche einen schwarzen, um zu verdeutlichen, d a ß kein Element der Schöpfung völlig positiv oder völlig negativ ist. Der u r sprüngliche Yang-Yin-Dualismus enthält alle erdenklichen Gegensätze: Sommer-Winter, Tag-Nacht, Bewegung-Unbeweglichkeit, Schönheit-Häßlichkeit, W a h r h e i t - I r r t u m , AufbauD I A G R A M M DES T ' A I - K I Zerstörung, Leben-Tod, etc.

Dieser letzte Gegensatz ist ganz besonders in einer der hinduistischen Triadenlehren beleuchtet worden, auf die wir noch zu sprechen k o m m e n : unter Brahma, dem obersten Prinzip, ist die Schöpfung das gleichzeitige Werk v o n Vishnu, dem „Bewahrer der Lebewesen", und von Shiva, dem „Zerstörer der Lebewesen", Die Schöpfung des U n i v e n u n i s , wie wir es erkennen, vollzieht sich in der Zeit. Das heißt, das Spiel der beiden unteren Prinzipien ist zeitlich. Aber diese beiden Prinzipien selbst dürfen nicht als zeitlich betrachtet werden, da man sie nicht den Grenzen unterwerfen kann, die ihr Spiel hervorbringt. Sie nehmen eine vermittelnde Stellung ein und sind zwischen dem Oberen P r i n z i p und der Schöpfung des Universums gelegen, welche die Manifestation dieses Prinzips darstellt. Die ganze Schöpfung des Universums spielt sich somit in der Zeit ab, aber sie selbst ist ein zeitloser Vorgang, dem man Anfang und Ende weder zunoch absprechen k a n n , da diese Worte außerhalb der Grenzen der Zeit jeglichen Sinnes entbehren. Die modernsten wissenschaftlichen Theorien von heute nähern sich hier der Metaphysik u n d fassen für das konkrete Universum weder einen Anfang noch ein Ende ins Auge. All dies m u ß man begreifen, um sieh endgültig von jener kindlichen Vorstellung zu losen, nach der ein in anthropomorpher Art gesehener Schöpfer einst die Bewegung des Universums in G a n g gesetzt hätte. Mein Körper zum Beispiel ist nicht n u r an dem Tage seiner Zeugung entstanden. Er wird i m m e r d a r aufs neue geboren. Jeden Augenblick meines Lebens vollzieht sich in meinem Körper Geb u r t u n d Tod der Zellen, aus denen er zusammengesetzt ist. D e r ausgewogene Kampf in mir von Y a n g und Y i n gebiert mich immer neu, bis zu meinem Tode. Innerhalb dieser nichtzeitlichen Triade, die unaufhörlich unsere zeitliche Welt neu gebiert, erkennt man die völlige Gleichheit der zwei unteren Prinzipien. Da beider Zusammenwirken für die Erscheinung des G a n z e n aller Phänomene wie für die Erscheinung jedes Einzelphänomens, so klein es auch sei, notwendig ist, k a n n man weder dem einen noch dem andern der beiden Prinzipien eine qualitative oder quantitative Überlegenheit einräumen. In der einen Erscheinung sehen w i r das Yang, in der andern das Yin vorherrschen, aber die beiden D r a chen halten sich in der räumlichen und zeitliehen Ganzheit des Universums genau die Waage. D a h e r ist das Dreieck, welches die schöpferische Triade vorstellt, in der überlieferten. Metaphysik immer ein gleichschenkliges Dreieck gewesen, dessen Basis streng horizontal verläuft. Die Gleichheit der beiden unteren Prinzipien bringt notwendigerweise die Gleichheit ihrer abstrakt ins Auge gefaßten Erscheinungsformen mit sich. Wenn Shiva auf gleicher Stufe wie Vishnu steht, weshalb wäre dann das Leben dem T o d überlegen? Vom abstrakten S t a n d p u n k t aus, auf dem wir augenblicklich stehen, ist das eben Gesagte völlig einleuchtend. W a r u m sähen wir von hier aus betrachtet im Aufbau auch nur im geringsten etwas Überlegeneres als im Abbau, In der Bejahung Höheres als in der Verneinung, in der Freude Besseres als im Leiden, in d e r Liebe Höheres als im H a ß , etc....? 23

Lassen wir das rein intellektuelle, theoretische und abstrakte Denken beiseite und beschränken wir uns auf unsere konkrete Psychologie, so können w i r zwei Dinge feststellen: zunächst einmal die uns eingeborene Parteinahme für alle positiven Erscheinungen, als da sind Leben, Aufbau, Güte, Schönheit, Wahrheit. Das erklärt sich leicht, da diese Parteinahme der geistige Ausdruck einer gefühlsmäßigen Vorliebe ist, welche logischerweise mit dem im Menschen vorhandenen Lebenstrieb zusammenhängt. Doch können wir auch eine Tatsache wahrnehmen, die weniger leicht zu erklären ist: Im metaphysischen Sinn verbindet m a n mit der Vorstellung des „verwirklichten", jeder irrationalen Determiniertheit entzogenen und innerlich freien Menschen, der nach der Vernunft, d. h, mit dem Höchsten P r i n z i p identisch lebt, völlig in den Rahmen der kosmischen O r d n u n g eingefügt und v o n dem irrationalen Existenzbedürfnis mit seiner eingeborenen Vorliebe für das Leben gegenüber dem Tode befreit ist, die eindeutige intuitive Erkenntnis, d a ß die H a n d l u n g e n eben dieses „befreiten" Menschen konstruktiv und von Liebe erfüllt sein müssen, nicht aber voll von H a ß und zerstörenden Elementen. Wir möchten nicht behaupten, daß der „verwirklichte" Mensch voller Liebe und konstruktiver Ideen sei, denn er h a t ja die dualistischen Gefühle des gewöhnlichen Menschen hinter sich gelassen. Aber wir können nicht anders, als seine H a n d l u n g e n vom Geist der aufbauenden Liebe bestimmt zu sehen. W a r u m scheint also jene Parteinahme, die aus dem Geist des „verwirklichten" Menschen ausgeschaltet wurde, in seinem Verhalten weiter fortzubestehen? Auf diese Frage muß eine A n t w o r t gefunden werden, wenn w i r das Problem von „ G u t " u n d „Böse" ganz verstehen wollen. Sehr viele Philosophen haben in durchaus richtiger Weise unsere gefühlsmäßige Vorstellung von G u t und Böse kritisiert und ihr einen, absoluten W e r t abgesprochen. Diese Ablehnung ging aber häufig auf Kosten eines Systems, das mit der Zurückweisung irriger Annahmen auch deren gute Seiten leugnete, den Menschen jenseits v o n G u t und Böse stellte und ihn damit in seinem praktischen Lebensverhalten richtungslos ließ oder einer verkehrten Moral auslieferte. Die Schwierigkeit besteht nicht in der Kritik unserer gefühlsmäßigen Betrachtung v o n Gut u n d Böse, sondern in einer A r t der Kritik, die jene Vorstellung nicht zerstört, sondern vervollständigt u n d in die metaphysische Versöhnung miteinbezieht. Vergegenwärtigen w i r uns zunächst kurz den H a u p t i r r t u m , den der Mensch angesichts dieses Problems begeht. Der Mensch sieht außerhalb seiner und in sich selbst positive und negative, aufbauende und zerstörende Erscheinungen. Kraft seines Lebenstriebes m u ß er die aufbauenden Dinge den zerstörenden vorziehen. Als denkendes Lebewesen und begabt, abstrakt zu denken und zu verallgemeinern, ist er fähig, sich geistig zum Begriff der aufbauenden wie der zerstörerischen Kräfte im allgemeinen, das heißt sich zum Begriff der beiden unteren Prinzipien, des positiven u n d des negativen, zu erheben. Auf dieser Stufe des Denkens w i r d die gefühlsmäßige Vorliebe zur geistig-intellektuellen Parteinahme, u n d der Mensch kommt zu dem Ergebnis, d a ß der positive Aspekt der Welt „ g u t " und einzig zulässig ist, und daß er immer vollständiger den negati24

ven Aspekt, welcher „böse" ist, ausscheiden muß. Hiermit h ä n g t die Sehnsucht nach einem „Paradies" zusammen, das frei von jeder negativen Vorstellung gedacht wird. In diesem unvollkommenen Stadium des Denkens erkennt der Mensch das Vorhandensein der zwei unteren Prinzipien, aber nicht das des oberen Prinzips, welches die beiden andern versöhnt. Er sieht daher n u r die kämpferische N a t u r der beiden Drachen und nicht ihre gegenseitige Ergänzungsbedürftigkeit. Er sieht die beiden Drachen streiten, aber er erkennt nicht, d a ß sie in diesem Streit zusammenarbeiten, weshalb er unumgänglicherweise den ganz absurden Wunsch hegen m u ß , das „ J a " endgültig über das „ N e i n " triumphieren zu sehen. Er erkennt zum Beispiel in sich selbst aufbauende Möglichkeiten, die er für „ Q u a l i t ä t e n " hält, wie andererseits zerstörerische Möglichkeiten, die er als „Fehler" bezeichnet, Er ist der Auffassung, daß seine richtige Entwicklung die völlige Ausscheidung seiner „Fehler" erfordere und nur die guten Selten, die „Qualitäten", ihn beherrschen dürften. Nach dem Bilde des „Paradieses" entwirft er das Bild des „Heiligen", in dem nur die völlig positiven Kräfte wirksam sein dürfen, u n d diesem Vorbild strebt er nach. Anders ausgedrückt: diese Weise des Verhaltens bewirkt eine Art Dressur aller bedingten Reflexe, und die negativen Kräfte werden zugunsten der positiven zurück gehalten. Es leuchtet jedoch ein, daß eine derartige Entwicklung unvereinbar ist mit der nicht zeitlichen Verwirklichung, welche die Synthese des negativen und positiven Poles darstellt u n d voraussetzt, daß diese beiden Pole, ohne in ihrer Gegensätzlichkeit aufgehoben zu werden, harmonisch zusammenarbeiten können. Wenn der Begriff des Oberen Prinzipes fehlt, führt diese Auffassung von den beiden unteren Prinzipien unausweichlich dazu, diesen beiden unteren Prinzipien einen sowohl absoluten wie persönlichen C h a r a k t e r zu verleihen: Das positive P r i n z i p w i r d „Gott", das negative P r i n z i p w i r d „Satan". Fehlt die obere Spitze des Triadendreiecks, so kann die Basis des Dreiecks nicht horizontal bleiben. Sie macht eine Viertelsdrehung: die untere positive Spitze wird zu „ G o t t " und steigt zum Zenith (zum „Paradies") auf, die untere negative Spitze w i r d zum „Teufel" und sinkt zum F u ß p u n k t herab (zur „Hölle"). „ G o t t " w i r d als vollkommenes, positives, anthropomorpbes Prinzip vorgestellt; er ist gerecht, gut, schön, bejahend, aufbauend. „ S a t a n " verkörpert das vollkommen negative, a n t h r o pomorphe P r i n z i p ; er Ist ungerecht, böse, häßlich, negativ, zerstörerisch. Da dieser Dualismus der Prinzipien der tiefen Intuition des Menschen von einem einzigen, alles umfassenden Prinzip widerspricht, stellt die Existenz des „Bösen", des „Satans" in seiner Beziehung zu „Gott" den Menschen vor ein praktisch unlösbares Problem und zwingt ihn zu philosophischen Kunststücken. Innerhalb dieser akrobatischen Kunststücke der Philosophie gibt es jedoch eine Idee, deren Grund, wie wir gleich sehen werden, etwas Richtiges enthält, die Idee nämlich, daß „ G o t t " die Existenz des „Teufels" will und nicht umgekehrt. Diese Idee gibt „ G o t t einen offensichtlichen Vorrang vor dem „Teufel", Aber nichts in dieser dualistischen Sicht kann erklären, wieso es „ G o t t " nötig habe, die Existenz des „Teufels" zu wollen, und dabei doch völlig frei bleibe. 11

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Achten wir n u n auf die enge Verwandtschaft, welche zwischen dieser dualistischen „Gott-Teufel"-Vorstellung und dem ästhetischen Sinn besteht, der das menschliche Lebewesen v o n anderen Lebewesen unterscheidet. Der ästhetischeSinn ä u ß e r t sich darin, den Dualismus Bejahung-Verneinung in Formen zu erbticken, „Satan" ist häßlich, er besitzt eine negative Form, eine sich gewissermaßen auflösende Form, die z u m Formlosen strebt. Der Mensch zeigt eine gefühlsmäßige Vorliebe für die Wohlgefügtheit, den konstruktiven Geist im Gegensatz zur Enstelltheit, d e r Zerstörung schlechthin. Die Form des „schönen" menschlichen Körpers ist diejenige, die dem H ö h e p u n k t des aufbauenden Elementes entspricht, und z w a r zu dem Zeltpunkt, wo er so weit wie möglich vom Formlosen entfernt ist und noch nicht begonnen h a t , z u r Formlosigkeit zurückzukehren. So nimmt es nicht wunder, daß jede „Moral" in Wirklichkeit der ästhetische Ausdruck subtiler Formen ist, wie etwa: »eine schöne Geste machen", „einen h ä ß lichen C h a r a k t e r haben", etc. Zu dieser dualistischen Auffassung von G u t und Böse, die der Idee des Höchsten Versöhnenden Prinzips vorangeht, gelangt der menschliche Geist auf spontane u n d natürliche Weise, wenn ihm die uralte metaphysische Wahrheit nicht überliefert w u r d e . Die erwähnte dualistische Vorstellung ist unvollständig u n d ist irrig, insofern sie unvollständig ist. Doch enthält sie eine wesentliche W a h r heit innerhalb ihrer Grenzen. W e n n auch die intellektuelle Parteinahme für das „Gute", soweit sie auf Unwissenheit beruht, ein I r r t u m ist, so k a n n die angeborene gefühlsmäßige menschliche Vorliebe für das „ G u t e " kein I r r t u m sein, da sie auf der irrationalen Ebene des Gefühls entsteht und somit weder für noch gegen die Vernunft spricht. Außerdem hat diese gefühlsmäßige Neigung sicherlich einen G r u n d , eine „Existenzberechtigung", welche unser rationales Verstehen nicht a priori abweisen darf, sondern im Gegenteil suchen soll, zu verstehen. Präzisieren wir unsere Frage: Angenommen, die beiden unteren, vom reinen Intellekt erkannten Prinzipien erscheinen in ihrem sich gegenseitig ergänzenden Antagonismus völlig gleich, warum erscheinen sie d a n n vom praktisch-gefühlsmäßigen Gesichtspunkt aus gesehen ungleich, und z w a r so, d a ß das positive Prinzip ganz eindeutig den Vorrang vor dem negativen Prinzip erhält? W e n n wir bei der Zeichnung des Triadendreiecks die beiden unteren Spitzen „relatives J a " und „relatives N e i n " nennen, weshalb fühlen w i r uns, auf der Suche nach einer Bezeichnung für die oberste Spitze, gezwungen, sie „absolutes J a " statt „absolutes N e i n " zu nennen? Wenn die unteren Spitzen der „relativen Liebe" und dem „relativen H a ß " entsprechen, warum kann dann die oberste Spitze nur „absolute Liebe" u n d nicht „absoluter H a ß " heißen? W a r u m erweckt das W o r t „.Schöpfung", obwohl die Schöpfung nicht minder Zerstörung wie Aufbau enthält, in unserem Geiste immer die Vorstellung von Aufbau und Wachstum, aber nie die Vorstellung von Niedergang und Abbau? Um dies verständlich zu machen, führen w i r ein einfaches mechanisches Beispiel an. Ich werfe einen Stein: zwei Kräfte sind im Spiel, eine aktive Kraft, die aus meinem Arm kommt, eine passive Kraft, die im Stein ruht. Diese beiden Kräfte 26

sind einander entgegengesetzt, ergänzen sich aber. Ihr Zusammenwirken ist nötig, damit der Stein seine Bahn besehreibt. Ohne die aktive Kraft meines Arms käme der Stein nicht in Bewegung. Ohne die von seiner Masse bedingten T r ä g heit w ü r d e derselbe Stein, sobald er aus meiner H a n d geworfen wird, keine Bahn beschreiben können. H ä t t e ich Steine von verschiedener Masse zu werfen, so w ü r d e ich den Stein am weitesten werfen können, dessen Trägheit am genauesten der aktiven Kraft meines Armes entspräche. Vergleichen wir die beiden Kräfte untereinander: keine der beiden verursacht die andere. Die Masse des Steins besteht unabhängig von der Kraft meines Armes u n d umgekehrt. Von hier aus betrachtet ist keine der beiden Kräfte der andern überlegen. Aber das Spiel der aktiven Kraft verursacht das Spiel der passiven. W e n n das Spiel meines Armes A k t i o n ist, so ist das Spiel der Trägheit des Steins R e a k t i o n . Was für diese beiden Kräfte einer so geringfügigen Erscheinung gilt, h a t auf allen Stufen der universellen Schöpfung Geltung. Werden die beiden unteren, das positive und das negative Prinzip, abstrakt, außerhalb ihres Spiels betrachtet, so bedingen sie sich gegenseitig nicht. Unabhängig v o n einander weisen sie auf einen Ersten G r u n d hin; im Hinblick auf diesen sind sie völlig gleich. Sobald wir sie aber in ihrem Zusammenwirken betrachten, erkennen w i r das Spiel der aktiven Kraft als Ursache des Spiels der passiven Kraft. (In diesem Sinne will „ G o t t " die Existenz des „Teufels" und nicht umgekehrt.) Soweit die beiden unteren Prinzipien wirken und etwas hervorbringen, löst das positive P r i n z i p das Spiel des negativen Prinzips aus und besitzt somit in diesem P u n k t eine fraglose Überlegenheit über das negative Prinzip. D e r Vorrang der aktiven Kraft vor der passiven besteht nicht in chronologischer (Reaktion und Aktion treten gleichzeitig auf), sondern in kausaler Vorzeitigkeit. Man könnte es so ausdrücken, daß der augenblickhafte Kraftstrom, durch den das Höchste Prinzip die beiden unteren Prinzipien in Bewegung setzt, das negative Prinzip berührt, indem er durch das positive Prinzip hindurchgeht. So läßt sich begreifen, daß die beiden unteren Prinzipien, die dem „Sein" nach gleich sind, der „Erscheinung" nach ungleich sind und das positive P r i n z i p dem negativen überlegen ist. Die Kraft, welche eine Barmherzige Schwester zum Wohltun bewegt, ist dieselbe wie diejenige, die den Mörder zu seiner T a t führt, aber die Pflege der Waisenkinder hat unleugbaren Vorrang v o r dem Mord. Beachten wir also, d a ß der konkrete A k t der Barmherzigkeit einen unbestreitbaren Vorzug vor dem konkreten A k t des Mordes hat, d a ß aber beide Handlungen, abstrakt gesehen, gleich sind, da sie unter dieser Perspektive nur die symbolischen Repräsentanten von positiver und negativer Kraft sind, welche gleichen metaphysischen Wert besitzen. An diesem P u n k t angekommen, verstehen wir, daß jede Erscheinung konstruktiver A r t aus dem aktiven Kräftespiel (Handeln) u n d jede Erscheinung destruktiver N a t u r aus dem passiven Kräftespiel (Reaktion) hervorgeht. Aus diesem G r u n d ist der „verwirklichte" Mensch auch konstruktiv in jedem Augenblick, wo die Umstände es ihm erlauben. Er ist von allen bedingten Reflexen wirklich befreit. Sein Verhalten ist keinerlei „Reagieren" mehr, sondern n u r noch reine 27

Aktion, reines H a n d e l n , und da er aktiv ist, baut er auf. D a s zerstörerische Betragen des „bösen" Menschen kann den Anschein von Initiative erwecken und so aussehen, als ob es aus einer aktiven, destruktiven Kraft herrühre. Wirklich handelt jedoch dieser „böse" Mensch ursprünglich, um sich zu bejahen (Aufbau). Aber auf. G r u n d unrichtiger u n d auf Unwissenheit beruhender Gedankenassoziationen gerät die H a n d l u n g , welche zunächst als Bejahung gedacht war, in das Bereich der vorherrschenden Zerstörung. Wenn der Stein, den ich aufheben will, zu schwer ist, m u ß ich midi zu ihm hinunterbücken. Meine ursprüngliche aktive K r a f t ist deshalb nicht weniger in die H ö h e gerichtet. D e r „verwirklichte" Mensch, stellten wir fest, tut das „ G u t e " . Aber beachten wir, daß dieses „ G u t e " nichts als eine einfache Konsequenz der inneren Arbeit ist, durch welche die Göttliche Vernunft in diesem Menschen erweckt u n d aktiv geworden ist z u r Verwirklichung ihrer dreieinheitlichen Synthese. D a s „ G u t e " ist eine einfache Folge des befreiten Verständnisses, das sich in der Ganzheit des Seins äußert. Dieses tiefe Verständnis h a t jeden Irrglauben an die illusorische Vorherrschaft des unteren positiven Prinzips oder des „guten" Prinzips überwunden. Ein solcher Mensch tut nur noch das „Gute", aber allein aus dem Grund, weil er es nicht mehr vergöttert und nicht mehr an ihm hängt als am „Bösen". Er verhält sich nicht so wie ein Mensch, der sich zwingt, ein „Heiliger" zu sein. D a s starre Verhalten des systematisch eingeengten Heiligen läuft manchmal sogar Gefahr, mehr Zerstörerisches als Aufbauendes hervorzubringen. Das Verhalten des „verwirklichten" Menschen hingegen stellt letzten Endes mehr Konstruktives als Destruktives dar (ohne daß dies irgendwie sein Ziel zu sein braucht), weil es aus reiner Aktivität hervorgeht u n d in immer neuer und freier Form den jeweiligen Umständen in vollkommenster Weise entspricht. Alles in allem ist die wahre Ethik das bloße Ergebnis der nichtzeitlichen Verwirklichung. Der Weg zur Befreiung aber kann nie aber eine »Moral" fähren, j e d e Ethik v o r dem Satori ist verfrüht und verhindert durch die ihr eigene Beengung die Erlangung des Satori. Das soll jedoch nicht heißen, d a ß der an seiner Inneren Befreiung arbeitende Mensch seine gefühlsmäßige Vorliebe für das „ G u t e " aufgeben müsse. Er nimmt diese Vorliebe mit derselben verständigen geistigen Unparteilichkeit an, mit der er sein ganzes inneres Leben annimmt. Aber er w i r d sich hüten, in falscher Weise diese gefühlsmäßige u n d als solche unschädliche Neigung als geistige Parteiergreifung aufzufassen, die seinem inneren Frieden im Wege stände. M i t all dem sollen nicht etwa die „spiritualistischen" oder „idealistischen" Lehren verurteilt werden, welche Werte wie Tugend, Güte, Liebe etc. preisen nadi der Auffassung all derer, die guten Willens sind. Auch dies w ä r e ja wieder eine widersinnige, intellektuelle Parteilichkeit. Der Mensch d e n k t und handelt, wie er es eben versteht. Wir behaupten nur, d a ß all diese Lehren an sich u n d durch sich nicht zur Erlangung des Satori führen. Wenn aber ein Mensch, was ja sein gutes Recht ist, das Satori erreichen will, so m u ß sein Verstehen auch jede Lehre überwinden, die eine theoretische Parteinahme zwischen Yang und Yin darstellt.

Im Zeil heißt es: „Der vollkommene Weg kennt keine Schwierigkeit, es sei denn diejenige, daß er sich jeder Vorliehe enthält... Besteht eine Differenz auch nur um den zehnten Teil eines Zolls, sind Himmel und Erde schon voneinander getrennt."

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III. DIE V E R G Ö T T E R U N G DES „HEILES" EIN H A U P T H I N D E R N I S FÜR DIE MÖGLICHKEIT DER N I C H T zeitlichen Verwirklichung des Mensehen besteht in der Auffassung, diese Verwirklichung irgendwie erzwingen zu müssen. Bei vielen „geistigen" Systemen, religiöser oder auch nicht religiöser N a t u r , hat der Mensch die Pflicht, sein „ H e i l " zu erwerben. Dabei wird alles „Zeitliche" entwertet und jede vorstellbare Wirklichkeit wird auf das „ H e i l " bezogen. D a ß es sich hierbei um eine A r t von „Vergötterung" oder Götzendienst handelt, geht schon daraus hervor, d a ß eine Verwirklichung, die andere Dinge ausschließt, selbst nur ein D i n g unter anderen Dingen, d. h. begrenzt und formal ist, zumal sie gleichzeitig den Anspruch auf „Heiligkeit" erhebt und sich unermeßlich hoch über alles übrige stellt. Jede einschränkende, der Freiheit des Menschen also abträgliche Wirklichkeit, die er sonst dieser oder jener „zeitlichen" Unternehmung beimißt, wird hier ausschließlich auf die Idee des „Heils" konzentriert, die somit einen nur denkbar tyrannischen C h a r a k t e r annimmt, Verwirklichung heißt aber Befreiung u n d so gelangt man zu jenem absurden P a r a d o x , daß der Mensch der Pflicht unterworfen ist, sich zu zwingen, frei zu sein. Auch die Angst des Menschen bezieht sich auf die Frage seines Heiles. Er zittert bei der Vorstellung, sterben zu müssen, ehe er zu dieser Befreiung gelangt ist. Notwendigerweise bringt ein so schwerer I r r t u m Beunruhigung, innere Erregung, das Gefühl eigener U n w ü r d e u n d Selbstverkrampfung mit sich, wodurch inneres Zur-Ruhe-Kommen, Versöhnung mit sich selbst, selbstverständliches sich-hinnehmen als Einzelexistenz, A b n a h m e v o n Gefühlserregungen und alles das ausgeschlossen -wird, was dem inneren K l i m a nach zur Entspannung dient und die Auslösung des Satori ermöglicht. Ein Mensch, der sidi auf diese Weise irrt, hätte indes die Möglichkeit, etwas besser zu überlegen. Pflicht gibt es nur, wo eine A u t o r i t ä t v o r h a n d e n ist, die Forderungen stellt. D e r Gläubige der einen oder anderen Religion w i r d „ G o t t " als diese A u t o r i t ä t bezeichnen, welche ihm sein „ H e i l " als Pflicht auferlegt. Aber was ist dieser „ G o t t " , der sich von mir, dadurch d a ß er mir etwas auferlegt, unterscheidet u n d der meiner H a n d l u n g bedarf? Ist also doch nicht alles in seine vollkommene H a r m o n i e mit einbezogen? D e r gleiche I r r t u m findet sich bei manchen Menschen, die geistig hoch genug stehen, um nicht mehr an einen persönlichen „ G o t t " zu glauben. Wenigstens scheint es, als ob sie es nicht mehr tun. Sieht man aber näher hin, so wird m a n gewahr, d a ß sie doch noch an ihn glauben. Sie stellen sich ihr Satori vor und betrachten sich selbst diesem ihrem Satori entsprechend. Das ist ihr persönlicher „ G o t t " , ein beunruhigendes, unversöhnliches Zwangsidol. Für sie besteht das M u ß , sich zu verwirklichen, sich zu befreien. Bei dem Gedanken, dies nicht 30

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zu erreichen, sind sie entsetzt u n d bei jedem inneren Anzeichen, das ihnen Hoffnung verleiht, geraten sie in Ekstase. Das ist „geistiger H o c h m u t " , mit dem sich unausweichlich die absurde Idee vom „Übermenschen", dessen Verwirklichung recht eigentlich erstrebt wird, und Angst verbinden. Dieser I r r t u m zieht in fataler Logik auch das Bedürfnis nach sich, andere zu unterweisen. Unsere H a l t u n g dem andern gegenüber entspricht genauestens der H a l t u n g , die wir uns selbst gegenüber einnehmen. Glaube ich, d a ß ich mein „ H e i l " erwerben muß, so kann ich nicht umhin zu glauben, daß ich auch den andern dahin führen m u ß , sein Heil zu erwerben, W e n n die relative Wahrheit, die ich besitze, in mir selbst mit der Vorstellung der „Pflicht" verbunden ist, dieser W a h r h e i t nach zu leben — bewußte oder unbewußte Vergötterung der Pflicht —, so muß ich notwendigerweise auf den Gedanken kommen, d a ß es zu meiner „Pflicht" gehört, andere an meiner Wahrheit teilhaben zu lassen. Im äußersten Fall führt dies zu Inquisition und „Dragonaden", sonst aber zu jener U n z a h l v o n großen und kleinen Kirchen, die im Laufe der Geschichte so eifrig daran gearbeitet haben, das geistige Bewußtsein der Menschen zu beeinflussen, das Bewußtsein von Menschen, die den Kirchen gar keine Fragen gestellt h a t ten u n d überhaupt, wie man im Volksmund sagt, nicht viel nach ihnen fragten. Die Widerlegung des eben angedeuteten Irrturms geschieht völlig klar im Denken des Zen, und so viel ich weiß, gibt es nur hier eine vollständige Widerlegung. Im Zen wird dem Menschen gesagt, daß er schon jetzt frei ist, daß es keine Kette gibt, aus der er sich zu befreien habe. D e r Mensch besitzt n u r die Illusion v o n Ketten. Er w i r d sich seiner Freiheit erfreuen, sobald er aufhört daran zu glauben, daß er sich befreien muß, sobald er die schrecklichen Vorstellungen v o n „Pflicht" und „ H e i l " v o n sich abschüttelt. Im Zen w i r d die Nichtigkeit jedes Glaubens an einen persönlichen „Gott", ebenso wie die Wesenlosigkeit jenes erbärmlichen Zwanges aufgezeigt, die mit diesem Glauben notwendigerweise so eng verknüpft ist. Das Zen sagt: „Setzt keinen Kopf Uber euern eigenen Kopf", und es sagt weiter: „Sucht nicht nach der Wahrheit- Aber hört auf, an euren Meinungen zu, hängen!" W a r u m , könnte m a n vielleicht einwerfen, soll dann der Mensch danach trachten, das Satori zu erlangen? H i n t e r dieser Fragestellung steckt die abwegige Vermutung, d a ß der Mensch sich um das Satori nur unter dem Z w a n g der Pflicht bemühen könne. Das Satori aber bedeutet das Ende dieser Angst, die jetzt noch das Innerste meines psychischen Lebens bestimmt und alle meine Freuden zu flüchtigen Ruhepausen macht. Verrät es etwa Klugheit, mich zu fragen, warum ich d a r a n arbeite, eine völlige und endgültige Erleichterung zu erlangen? Dringt man noch weiter in mich ein, so a n t w o r t e ich ganz einfach: „Weil mein Leben dann so sehr viel angenehmer sein wird." H a b e ich das richtig verstanden, so fürchte ich auch nicht den Eintritt des Todes, weder heute noch morgen; ich fürchte nicht, daß er meine Bemühungen unterbreche, bevor sie an ihrem Ziel angelangt sind. Da das Problem meines Leidens mit mir selbst aufhört, brauche ich nicht unbedingt ein Problem zu lösen, das ja dann gar nicht mehr existiert. 1

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Andererseits verbietet wahres Verständnis keineswegs auch andere zu unterrichten, die natürlich durchaus nicht gezwungen sind, dieser Unterweisung zu folgen. Ein Verbot dieser A r t wäre ja ebenfalls eine Verpflichtung und so fehl am Platze wie jeder Z w a n g . Ein Mensch, welcher verstanden h a t , d a ß seine eigene Verwirklichung in keiner Weise einer Pflicht gleichkommt, beschränkt sich einfach darauf, zu antworten, wenn er befragt wird. Ergreift er die Initiative zu sprechen, so w i r d er seine Ideen nur mit größter Zurückhaltung vorbringen, ohne das Bedürfnis zu empfinden, verstanden zu werden. Es gleicht einem Menschen, der gesunde N a h r u n g im Überfluß besitzt u n d seine T ü r e öffnet. K o m m t ein Vorübergehender des Weges, erkennt er den Wert der N a h r u n g u n d tritt ein, so Ist es gut. T r i t t er nicht ein, so ist es ebenfalls gut. Für unsere Gefühlserregungen, Begierden und Ängste bleibt bei einem wahren Verständnis der Dinge nicht der geringste R a u m .

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IV. D E R EXISTENTIALISMUS DES Z E N ElN M E N S C H E R K L Ä R T : „ M E I N L E B E N I S T N I C H T S S A G E N D U N D eintönig. Ich nenne das nicht leben, sondern höchstens existieren." Jeder begreift, was dieser Mensch meint; das ist ein Beweis dafür, daß jeder in sich eine Vorstellung v o n dieser Unterscheidung zwischen „leben" und „existieren" besitzt. Außerdem zieht gefühlsmäßig jeder „Leben" dem „Existieren" vor. Dies ist eine so klare und allgemein gültige Auffassung, daß der Mensch geistig gesehen, „Existieren" für nichts, und „Leben" für alles erachtet. Die Unterscheidung der beiden Begriffe aber ist oft unklar oder völlig verwischt. M a n ist so weit, d a ß man „Leben" mit Existenz bezeichnet und umgekehrt. Das „Leben" erscheint dem Menschen von solch ausschließlicher Wichtigkeit, d a ß es sich das W o r t „Existenz" einverleibt, welches so seinen eigentlich Sinn ganz verloren h a t . Welche Erscheinungen im komplexen Ganzen dessen, was ein menschliches Wesen ausmacht, haben Bezug auf den Begriff „leben" und welche auf den Begriff „existieren"? Wir kommen bei dieser Frage zur Unterscheidung zwischen dem animalischen und dem vegetabilischen Bereich. Das Tier u n d die Pflanze sind nicht völlig verschiedene Lebewesen. Das Tier besitzt alles das, was die Pflanze auch hat (vegetatives Leben) und noch etwas darüber hinaus (Leben der „Bezüge"). Im Inneren der Pflanze und des Tieres und innerhalb ihrer formbedingten Grenze gehen verborgene Erscheinungen u n d Bewegungen vor sich, zum Beispiel der Kreislauf der Säfte oder des Blutes, die Atmung, Entstehung und. Absterben der Zellen, Aufbau und Abbau. W ä h r e n d die Pflanze aber dem E r d b o d e n verhaftet ist und in Bezug auf diesen sich nicht frei in ihrem ganzen Umfang bewegen kann, bewegt sich das Tier auf dem Erdboden u n d k a n n jede A r t von Bewegungen ausführen, die m a n unter dem Wort „ H a n d e l n " zusammenfassen mag. Erhebt der Mensch den Begriff „leben" so hoch über den Begriff „existieren", so liegt trotzdem die wertende Unterscheidung nicht zwischen seinen vegetativen Erscheinungen, und seinen „ H a n d l u n g e n " . Sie liegt im Inneren des Bereichs des „ H a n d e l n s " selbst und z w a r auf folgende Weise: eine Reihe meiner H a n d l u n gen haben die Aufrechterhaltung meines vegetativen Lebens zum Ziel, zum Beispiel essen, ausruhen, die Befriedigung des sexuellen Triebes aus rein animalischer Begierde, Diese H a n d l u n g e n bestätigen mich, erhalten meinen Bestand aufrecht, insofern, als ich ein allen andern Lebewesen ähnlicher Organismus bin, aus den Bedingungen des Universums heraus lebe, und als „universelles" Wesen mich im Getriebe des kosmischen Triebwerks befinde. Aber abgesehen v o n diesen H a n d l u n g e n führe ich täglich noch andere aus, die nicht meinem vegetativen Leben dienen, die ihm sogar oft abträglich sind und den Zweck haben, mich 3 Benoit Die hohe Lehre

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verschieden von allen andern Menschen erscheinen zu lassen; das heißt, die mich darin bestätigen, d a ß ich von allen anderen Menschen verschieden und ein gesondertes Individuum bin. Die Grenze, mit der wir uns befassen, liegt zwischen diesen beiden Arten von H a n d l u n g e n . Meine «ego»-istische, ich-bezogene G r u n d h a l t u n g , die die Fiktion meiner persönlichen Göttlichkeit in sich schließt, l ä ß t mein vegetatives Leben u n d alle H a n d l u n g e n , die diesem Leben, also all jenem dienen, das in meinen Augen dem verächtlichen Begriff des „Existierens" gleichkommt, als sinnlos erscheinen. Sie v e r a n l a ß t mich, nur diejenigen meiner H a n d l u n g e n als sinnvoll zu betrachten, die mich „unterscheiden" und damit in meinen Augen ein schätzenswertes, kostbares „Leben" verbürgen. Vor mir selbst habe ich keinen W e r t als universeller Mensch. Für mich selbst zähle ich nur als gesondertes „Ich". Auf G r u n d der Fiktion meiner persönlichen Göttlichkeit erscheint es mir unfaßbar, den Sinn meines Lebens in den vegetativen Erscheinungen und H a n d l u n g e n zu sehen, aber es ist für mich selbstverständlich, in denjenigen H a n d l u n g e n einen .Sinn zu erkennen, die mich als Einzelwesen bestätigen. Diese Meinung ist tief im Geiste des Menschen verwurzelt. Für einen unparteiisch Denkenden ist diese Auffassung ganz offensichtlich absurd, Sie schließt als Voraussetzung ein, d a ß mein Sonderorganismus das Zentrum des Kosmos sei. (Denn nur das Zentrum einer Sphäre ist einzig in seiner A r t innerhalb dieser Sphäre. Jeder andere P u n k t befindet sich in derselben Entfernung vom Zentrum wie zahllose andere Punkte.) N u r der U r g r u n d des Kosmos kann dessen Zentrum bilden. Mein Organismus ist n u r das Glied in einer unendlichen Kette von kosmischen Ursachen und Wirkungen und ich kann seinen w a h ren Sinn n u r dann sehen, wenn ich ihn auf seinen wirklichen P l a t z stelle, im R a h m e n seiner wirklichen Beziehungen zu allem Übrigen. Ich m u ß ihn vom S t a n d p u n k t des Universums aus betrachten, als den universellen und nicht als den Einzelmenschen, als den Menschen, der jedem andern Menschen ähnlich ist und nicht als jenen, der sich vom andern unterscheidet. Der Mensch aber erfüllt seine „Existenz" seiner Überlegung nach n u r deshalb, weil das „Existieren" eine notwendige Vorbedingung von „Leben" ist. Er ißt, ruht sich aus, aber n u r deshalb, weil er ohne diese Dinge sich nicht als Person, als Sonderwesen bestätigen könnte. Alle diese banalen und jedermann notwendigen H a n d l u n g e n vollführt er nur, um irgend etwas zu vollbringen, was keinem anderen als ihm selbst möglich wäre. Er „existiert", um zu „leben". Durch die Begründung seiner „Existenz" auf dieser Vorstellung v o n „Leben" handelt er der wirklichen O r d n u n g der Dinge zuwider, da er ja das Wirkliche auf dem Illusorischen aufbaut. D a h e r ist auch das „Gleichgewicht" des nur ich-bezogenen Durchschnittsmenschen dauernd in Gefahr. Ein Mensch dieser A r t wäre mit einer umgekehrten P y r a m i d e zu vergleichen, die auf einem P u n k t ruht. Die ZenLiteratur enthält unter anderm auch diesbezüglich ein kleines denkenswertes Gleichnis: „Es war einmal ein Mensch, der auf einem hohen Hügel stand. Drei Wanderer kamen in einiger Entfernung vorbei, bemerkten ihn und unterhielten 34

sich über ihn. Der eine sagte: „Er muß sein Lieblingstier verloren haben." Der andere äußerte: „Nein, er wird seinen Freund suchen." Der Dritte sagte: „Er ist nur da droben, um sich der frischen Luft zu erfreuen," Die drei Reisenden kamen zu keiner Obereinstimmung und diskutierten weiter, bis sie den Gipfel des Hügels erreichten. Da fragte der eine: „O Freund, der Ihr Euch auf dem Gipfel dieser Anhöhe befindet, habt Ihr niclit Euer Lieblingstier verloren?" „Nein, mein Herr, ich habe es nicht verloren." Der Zweite fragte: „Habt Ihr nicht Euren Freund verloren?" — „Nein, mein Herr, ich habe auch nicht meinen Freund verloren." Der dritte Reisende fragte: „Seid Ihr nicht hier oben, um Euch der frischen Luft zu erfreuen?" — „Nein, mein Herr." — „Warum- also seid Ihr hier oben, da Ihr alle unsere Fragen verneint?" Der Mann auf dem Hügel antwortete: „Ich bin ganz einfach hier, weil ich hier bin." Beim Lesen dieser W o r t e wird der Durchschnittsmensch im allgemeinen denken; „Ganz einfach hier zu sein" hat doch keinen Sinn. Er w i r d sich vielleicht sagen: „Der M a n n auf dem Hügel ist ein Idiot, da er nichts dort oben tut" (das heißt, weil er dort oben keine A r t von Selbstbestätigung sucht. M a n erinnere sich an die ironische Bemerkung Rimbaud's: „Die Tat, dieser vergötterte A n g e l p u n k t der Welt!") Das Wort „existieren" k o m m t aus dem lateinischen „ex stare" ~ „sich außerhalb aufhalten", außerhalb des immanenten Prinzips, welches alles Existierende transzendiert. Das „Existieren" ist die Erscheinungsform dessen, was aus dem ursprünglichen Sein herausströmt (zentrifugaler Schwung). Das „Existieren" ist dualistischer N a t u r ; positiv ist es durch das „stare" und negativ durch das „ex". Der Mensch fühlt sich deshalb im Existieren sowohl gut als schlecht. Er h a t den Eindruck, etwas zu besitzen und gleichzeitig Mangel zu leiden. Das Dasein in der Existenz enthält also notwendigerweise eine Tendenz zur Vervollständigung, einen D r a n g , den Mangel auszufüllen und das „ E x " zu neutralisieren, dadurch, d a ß man des Prinzips bewußt wird, aus dem der existierende Mensch hervorgeht. Der menschliche Intellekt aber entwickelt sich fortlaufend in der Weise, daß er fähig wird, sich eine illusorische und immer auch n u r provisorische Beruhigung aus seiner ich-bezogenen Selbstbestätigung zu verschaffen, noch bevor er die ganze Fülle des „stare" erfährt, noch bevor er empfinden kann, d a ß er als E m a n a t i o n des Urprinzips diesem Prinzip in direktem Zusammenhang verbunden bleibt, wodurch ihm eben die N a t u r dieses Prinzips mit ihren unendlichen Vorrechten verliehen ist. Gelangt dann sein Intellekt zu dem Entwicklungsstadium, in dem der Mensch das Bewußtsein davon haben könnte, mit dem Prinzip identisch zu sein, so ist sein mentaler Bereich schon stärkstens durch die Faszinierung der nur Ich-bezogenen Selbstbestätigung bestimmt. Er w e n d e t sich der Bejahung dieser egotistischen Selbstbestätigung zu, welche ein Ersatz für das „stare" ist und als bloßer Ersatz das „ex" nicht zu neutralisieren vermag. So wendet er dem „ex" in seiner zeitlichen Begrenzung den Rücken und sieht sich vor einem unheilvollen Dualismus. Er wird hin- und hergerissen von dem

„ex", das ihn verfolgt und nicht auszulöschen ist, u n d einem illusorischen „stare", das für sein D e n k e n die Form von ich-bezogener Selbstbestätigung angenommen hat, die nie zum Ziele führen kann. W e n n der Mensch die relative "Wirklichkeit der Existenz annähme, k ö n n t e er sich seiner Wesensgleichheit mit dem Prinzip bewußt werden, aus dem er entspringt. Aber der ich-bezogene, «ego»-istische Mensch ist m i t der relativen Wirklichkeit der Existenz nicht einverstanden. Sein geistiges Bewußtsein verachtet u n d verwirft die Existenz als solche und sucht die illusorische Selbstbestätigung des „ H a n d e l n s " als gesondertes Individuum. Sein Geist spielt in Bezug auf die Täuschung, die v o n ihm selbst ausgeht, die zu Unrecht angemaßte, aber für ihn selbst schmeichelhafte Rolle des Prinzips. Der Mensch sucht also seinen inneren Frieden auf einem Wege, der ihn eben v o n diesem Frieden entfernt. Um seinen inneren Frieden zu finden, m u ß der Mensch alles noch einmal einer scharfen Prüfung unterziehen. Er m u ß sich die Nichtigkeit seiner „Meinungen" u n d all seiner Urteile v o r Augen halten, er muß sich vollständig v o n der um sich selbst kreisenden, faszinierenden Vorstellung einer ich-bezogenen Selbstbestätigung lösen, und muß die Wesenlosigkeit eines ich-zentrierten „Lebens" u n d demgegenüber die Wirklichkeit einer universellen „Existenz" einsehen. Sobald er auf einen falschen H i m m e l verzichtet, ist er der E r d e zurückgegeben, er „existiert" bewußt, u n d „ist auf der W e l t " (vgl. R i m b a u d : „Wir sind nicht auf der Welt"). Seine Versöhnung mit dem „ex" erlaubt ihm den G e n u ß des „stare". Er i s t die ursprüngliche Quelle, da er sich darein fügt, auf G r u n d seines O r ganismus'' nur eine vorübergehende Erscheinung, der Ausfluß dieser Quelle selbst zu sein. Diese „ E m a n a t i o n " h a t keinen besonderen Zweck u n d ihr persönliches „Schicksal" h a t nicht die geringste Bedeutung. Es ist interessant, den Organismus des menschlichen Wesens in seiner Gesamterscheinung anatomisch wie physiologisch zu untersuchen und d a n n zu fragen, wozu all das, was m a n beobachtet, d i e n t . Die Verdauung u n d die Atmung u n d alle entsprechenden Organe dienen dazu, das Blut mit nährenden Stoffen zu versehen. D e r Kreislauf h a t die Aufgabe, dieses nährende Blut an alle Teile des Organismus heranzutragen. Die Blutversorgung dient der Erhaltung der K n o chen, der Gelenke und der Muskeln. Die Knochen sind das Gerüst, ohne welches die Muskeln keine Bewegung ausführen könnten. Die Gelenke bedingen den Gebrauch des Knochengerüsts. Das nervöse Gehirn- u n d Rückenmarksystem löst die Muskelanspannungen aus und koordiniert sie. Es bestimmt die Ausführung der Bewegungen und die Vorstellungen der auszuführenden Bewegungen. Das vegetative Nervensystem ist die Bedingung für den harmonischen Funktionsablauf der Eingeweide, von denen, wir w i r sahen, der U n t e r h a l t der Bewegungsmuskeln abhängt. Das endokrine System gehört z u m vegetativen Nervensystem und h a t dieselbe ausgleichende Funktion. Alles außer den genitalischen Funktionen im Körper, von denen wir jetzt absehen wollen, ist auf die Muskeln und deren Bewegungen hin abgestellt. Das heißt so viel wie: alles „Existieren" ist auf das „Leben" hin eingestellt, auf das Handeln. Das 36

menschliche Triebwerk scheint zum Handeln bestimmt zu sein. Aber w o z u n ü t z t nun das H a n d e l n diesem Triebwerk? Wir haben gesehen, d a ß der Durchschnittsmensch Wert und w a h r e Nützlichkeit n u r der ich-bezogenen H a n d l u n g zuschreibt. Aber diese rein individuelle Nützlichkeit stellt sich als illusorisch vom universellen S t a n d p u n k t aus dar. Es ist schied« denkbar, d a ß das menschliche Triebwerk im allgemeinen dazu vorhanden sei, damit sich H e r r X. ab H e r r X bestätige, Schaltet m a n aber die auf den Einzelmenschen bezogene illusorische Nützlichkeit: des Handlungsablaufes aus, so stellt sich die Frage: Wozu dient das „ H a n d e l n " dieses Triebwerkes, das zum H a n d e l n da ist und den menschlichen Organismus ausmacht? Zahlreiche Arten von H a n d l u n g e n dienen offensichtlich dem U n t e r h a l t jenes zum H a n d e l n bestimmten Triebwerkes. D e r Mensch handelt, um sich N a h r u n g , Wohnung, Kleidung etc. zu beschaffen oder um sidi andere zum H a n d e l n b e stimmte A p p a r a t e dienstbar zu machen. Es gibt auch noch andere H a n d l u n g e n , deren Zweck derselbe ist, aber in weniger deutlicher Weise. Das sind diejenigen H a n d l u n g e n , welche das Lebewesen „Mensch" von den nicht-menschlichen Lebewesen unterscheiden: wissenschaftliche Entdeckungen, künstlerisches Schaffen, geistige Suche nach Wahrheit, das heißt die Suche nach dem Guten, Schönen, Wahren. Das G u t e und Schöne unterstützen ebenfalls die Existenz, indem sie deren Bedingungen verbessern. M i t dem W a h r e n verhält es sich ähnlich, da der Mensch von ihm die Besänftigung seiner inneren Unruhe e r w a r t e t u n d damit die harmonische R u h e seines inneren Gefüges. Betradnet man also die Dinge objektiv, so gelangt man zu dem Ergebnis, daß das einmal vorhandene Triebwerk „Mensch" mittels seiner Handlungen dahin strebt, seine eigene Existenz zu unterhalten. Es sieht also so aus, als ob die Existenz keinen andern Zweck hätte, als eben diese Existenz selbst. Aber beißt das nicht zugleich, daß die Existenz überhaupt keinen Zweck bat? (Wir übergehen den G e d a n k e n der kosmischen Nützlichkeit des Menschen hier, von w e l cher der durchschnittliche Mensch kein lebendiges Wissen u n d keine praktische Vorstellung besitzt.) Die Erzeuger-Funktion des Menschen, welche wir vorhin außer Acht gelassen haben, stimmt mit dem eben Gesagten überein, da sie darauf hinzielt, die Existenz der vorhandenen Gattung Mensch aufrecht zu erhalten. Wird der illusorische Sinn meines Handelns zum Zweck meiner ich-bezogenen Selbstbestätigung als Einzelwesen ausgeschaltet, so erkenne ich, d a ß das H a n deln, auf das der ganze Aufbau meines Organismus eingestellt ist, seinerseits nur auf die Existenz dieses zum Handeln begabten Organismus hinzielt. Es h a t nur den Zweck, dem Aufhören der Existenz, dem T o d vorzubeugen. Jener großartige Begriff „Leben", neben welchem das „Existieren" so nichtig erseheint, h a t n u r die Aufgabe, diesem „Existierem" zu dienen. D a s H a n d e l n geht aus d e r Existenz h e r v o r und dient ihr; die Existenz ist also das H a n d l u n g s prinzip und somit dem „Leben" unendlich überlegen (wie jedes Prinzip seiner Erscheinungsform unvergleichlich überlegen ist.) 37

W i r d die Existenz als U r g r u n d der Gesamtheit meines H a n d e l n s , als U r g r u n d all meiner Erscheinungsformen betrachtet, dann ist sie nichts anderes als der U r g r u n d des Mikrokosmos überhaupt, den mein Organismus vorstellt. D a m i t ist sie aber auch der U r g r u n d des universellen Makrokosmos, das heißt das A b solute P r i n z i p . Die scheinbare Sinnlosigkeit dieser Existenz, die sich selbst will u n d keinen Zweck zu haben scheint, ist auch für unser diskursives Denken, scheinbare Sinnlosigkeit des Absoluten Prinzips, für unser Denken, das aus diesem P r i n z i p hervorgeht, aber als bloße Erscheinungsform eben dieses Abseinte P r i n z i p weder erkennt noch begreift. W e n n ich auf diese Weise meine Existenz als U r g r u n d meines bestehenden O r ganismus betrachte, so erscheint sie in Bezug auf die Gesamtheit all meiner Erscheinungsformen transzendent und ist somit völlig unabhängig von der Fortdauer u n d vom Tod meines Organismus. Andererseits ist meine Existenz aber auch meine persönliche Existenz, insofern ich noch nicht gestorben bin (Immanenz des Prinzips); gleichzeitig ist sie jedoch in Bezug auf midi als gesondertes Einzelwesen etwas Unpersönliches; sie ist dies hinsichtlich meines universellen Wesens, insofern ich ein bloßes Glied einer Kette und als solches allen anderen Gliedern dieser Kette gleich bin. Das heißt mit anderen W o r t e n ; meine Existenz ist unabhängig: vom T o d meines Organismus (Transzendenz des Prinzips). So erscheint es verständlich, daß die Todesfurcht des Durchschnittsmenschen, dte im Mittelpunkt seiner ganzen Psychologie steht, mit der widersinnigen Verachtung zusammenhängt, mit welcher der Mensch sein „Existieren'* betrachtet. In p a r a d o x erscheinender Weise zittert der ich-bezogene Mensch davor, seine Existenz zu verlieren, die er doch in Hinblick auf das „ H a n d e l n " und „Leben" für nichtig erklärt, In der „Existenz" aber verbirgt sich, wie wir gesehen haben, das Absolute Prinzip, jenes „Alles", das der Mensch nicht mehr oder weniger in Betracht ziehen kann, jenes Alles, das für ihn n u r N u l l sein kann, wenn er es nicht in Betracht zieht, oder die Unendlichkeit, wenn er es in Betracht zieht. M i ß t der Mensch seiner anonymen Existenz keinen Wert bei, so nimmt er nicht in bewußter Weise am Wesen des Prinzips teil, Er ist dann b e w u ß t nichtig u n d null, folglich auch nicht fähig, den Gedanken des Todes zu ertragen, der ihm wie eine negative Unendlichkeit erscheint. Sieht der Mensch hingegen in der anonymen Existenz Ihren unendlichen Wert, dann nimmt er völlig teil am Wesen des Prinzips. Er ist dann auf bewußte Weise unendlich, und die T a t sache, daß er sich dem Tode beugen muß, erscheint ihm nichtig. H i e r m i t liegt der illusorische C h a r a k t e r der beängstigenden Fragen klar zutage, weiche sich der ich-bezogene Mensch über ein individuelles Fortleben nach dem T o d e stellt. Alle diese Fragen beruhen auf der irrigen Annahme der Wirklichkeit eines individuellen „Lebens" und auf der Unkenntnis vom Vorhandensein einer universellen „Existenz". Der I r r t u m gewisser philosophischer Gedanken, die sich „existenzialistisch" nennen, h ä n g t unter anderem mit der Tatsache zusammen, d a ß die Begriffe „existieren" und „leben" verwechselt werden. Diese Verwechslung h a t fatale 3S

Folgen: das „Existieren" bekommt auf diese Weise einen ausschließlich „erscheinungsmäßigen" Charakter, und da jeder Begriff eines Urgrundes entfällt, führt die Tatsache, d a ß die Existenz nur sich selbst will, zu einer kategorischen und nicht n u r scheinbaren Sinnlosigkeit. (Das erinnert etwa an die Vorstellung eines körperlichen Auges, das sich selbst sehen könnte). Auch das „Leben" selbst muß d a n n absurd und sinnlos werden. U n d doch ist dieses „Leben", obwohl sinnlos, hier die Hauptsache: „ H a n d l u n g " , „ T u n " , „persönlicher Einsatz" werden hier zu geradezu dogmatischen Forderungen. Das Entfallen des P r i n zips führt logischerweise zu diesem qualvollen Dualismus, der den Menschen buchstäblich in Stücke zerreißt. Kommen wir auf die Unterscheidung von „existieren" und „leben" zurück und auf die Grenze, welche wir zwischen diesen beiden Begriffen gezogen haben. Wir hatten festgestellt, daß diese Grenze innerhalb des Raumes der H a n d l u n g selbst verläuft, im Rahmen der Handlungen, die dem vegetativen Leben in mir oder meiner ich-bezogenen Selbstbestätigung zugute kommen. Betrachte ich diesen Sachverhalt In Bezug auf mein psychologisches Bewußtsein, so sieht es zunächst so aus, als ob der Begriff „existieren" eine unbewußte Seite — die vegetativen Erscheinungen — u n d eine bewußte Seite — die H a n d l u n g e n , welche meinem vegetativen Leben dienen — enthielte. Betrachte ich die Sache näher, so bemerke ich, d a ß diese H a n d l u n g e n nicht minder u n b e w u ß t sind als meine vegetativen Vorgänge, da ihr Ziel ja für mein Bewußtsein null ist. Ich kann nicht von m i r behaupten, meine Existenz bewußt zu führen, wenn die Wirklichkeit meiner Existenz mir völlig unbewußt ist. Zitieren w i r hier ein Zwiegespräch aus der Zen-Literatur: Ein Mönch:

„Gibt es einen bestimmten Weg, den man im Tao beschreiten kann?' Der Meister: „Ja, es gibt einen" Der Mönch: „Und worin besteht er?" Der Meister: „Wenn man Hunger verspürt, ißt man. Wenn man müde ist, schläft man," Der Mönch: „Das tun doch alle anderen Leute auch, Ist ihr Weg denn derselbe wie Eurer?" Der Meister: „Es ist nicht derselbe." Der Mönch: „Wieso nicht?" Der Meister: „Wenn sie essen, so essen sie nicht nur, sondern sie hegen alle möglichen Vorstellungen. Wenn sie schlafen, so schlafen sie nicht nur, sondern lassen unzähligen überflüssigen Gedanken freien Lauf. Dies ist der Grund, warum ihr Weg nicht mein Weg ist." Dem Durchschnittsmenschen sind n u r Bilder bewußt. So nimmt es nicht wunder, daß das „Existieren", welches wirklich ist u n d drei Dimensionen hat, ihm nicht bewußt ist. Das also, w o r i n ich wirklich bin, ist mir nicht bewußt, und was in mir b e w u ß t ist, h a t nur illusorischen Charakter. 39

Das Eintreten des Satori ist nichts anderes als das Bewußtwerden des "Existierens", das jetzt noch unbewußt in mir ruht, das Bewußtwerden der prinzipiellen a n d uranfänglichen Wirklichkeit dieses universellen vegetativen Lebens, welches in meiner Person eine Erscheinungsform des Absoluten Prinzips geworden ist, das, worin ich „Ich" und zugleich unendlich mehr als „Ich" bin, I m m a n e n z und Transzendenz zugleich. Es ist das, was das Zen „Selbstschau" nennt. So w i r d auch verständlich, warum das Zen immer wieder auf die Aufrechterhaltung unseres vegetativen Lebens zurückkommt. D e m Schüler, der nach einem Weg zur Weisheit fragt, antwortet der Meister; „Wenn wir Hunger haben, essen -wir. Wenn wir müde sind, dann legen wir uns hin." Diese Lehre mag der Selbstliebe des ich-bezogenen Menschen verächtlich erscheinen, denn dieser träumt von „geistigen" H e l d e n t a t e n und von persönlichen „ekstatischen" Beziehungen zu einem persönlichen G o t t , dessen Bild er sich formt. Es wäre falsch, die Rehabilitierung des vegetativen Lebens und der ihm dienlichen H a n d l u n g e n als tatsächliche innere Anstrengung vonseiten des „Gefühls" her zu verstehen. D e r Zen-Meister ist klug genug, um dem Durchschnittsmenschen nicht irgend eine Autosuggestion zu empfehlen, durch die er sich einreden könnte — e t w a durch Stillung seines Hungers — n u n endlich mit der absoluten Wirklichkeit in Berührung getreten zu sein. Das hieße, alte bildhafte T r ä u m e unserer Einbildung durch ein anderes Traumgebilde und durch die theoretische Vorstellung einer kosmischen Teilhabe ersetzen und so w ü r d e alles beim Alten bleiben. Der Durchschnittsmensch braucht nicht sein vegetatives Leben besonders zu rehabilitieren, er m u ß n u r eines Tages die unmittelbare W a h r n e h m u n g vom unendlichen Wert dieses Lebens gewinnen auf Grund der vollständigen Entwertung eines nur ich-bezogenen Lebens. Die innere Arbeit besteht also nicht darin, irgend etwas zu „tun", sondern etwas „nidit zu t u n " und alle ich-bezogenen illusorischen Anschauungen abzulegen, welche das Lid des „dritten Auges" krampfhaft verschlossen halten. Was wir bisher über den unbewußten C h a r a k t e r unseres vegetativen Lebens gesagt haben, ist jedoch nur annähernd richtig. Es w ä r e angebrachter, v o n „unbewußtem Bewußtsein" oder von „indirektem oder mittelbarem Bewußtsein" zu sprechen u n d das Satori nicht als neu entstehendes Bewußtsein ex nihilo zu betrachten, sondern als „Metamorphose" vom mittelbaren zum unmittelbaren Bewußtsein. W e n n ich den Ausdruck indirektes Bewußtsein gebrauche, will ich damit sagen, d a ß idi indirekt über die Wirklichkeit meines vegetativen Lebens unterrichtet bin, da ich auf direkte Weise nur dessen Schwankungen beobachte, welche die bestimmenden Erscheinungen meines Lebens bedrohen. W e n n ich H u n g e r habe, so erkenne ich auf direkte Weise, daß Entkräftung meine vegetative Existenz bedroht. Besäße ich keine A r t vegetativen Bewußtseins, so h ä t t e ich auch nicht das Bewußtsein, daß seine erscheinungsmäßige Äußerung bedroht ist. Mein H u n g e r verschafft mir ein indirektes Bewußtsein meiner vegetativen Existenz. Ebenso bedeuten die Gefühle von Freude und Trauer der ich-bezogenen Bejahungen u n d Verneinungen immer auch Verringerungen u n d Vergröße40

rungen jener Bedrohung, welche die ganze äußere Welt für die Gesamtheit meiner vegetativen Existenz darstellt. Auch sie vermitteln uns ein indirektes Bewußtsein dieser Existenz, Alle positiven u n d negativen Schwankungen meines Gefühlslebens entspringen also der reinen und vollkommenen vegetativen Urfreude, Diese w i r d aber nicht in direkter Weise nachempfunden, sondern indirekt in den Schwankungen von Sicherheit und Unsicherheit dieses vegetativen Lebens. U n d es sei wiederholt: die direkte W a h r n e h m u n g dieser vollkommenen existentiell-vegetativen Freude hätte nicht nur keinerlei Furcht vor dem Tode zur Folge, sondern sie w ü r d e diese Todesangst für immer neutralisieren. Tatsächlich setzt die Todesfurcht die frei vorgestellte geistige Beschwörung des Todes voraus. Die direkte W a h r nehmung hingegen der dreidimensionalen existentiellen Wirklichkeit im gegenwärtigen Augenblick vermag alle diese phantastischen Vorstellungen hinwegzubannen, welche sich auf eine Vergangenheit oder Zukunft beziehen, die keine gegenwärtige Wirklichkeit besitzen. Im Satori ist der Mensch vollkommen glücklich, so zu existieren wie er existiert, bis zum letzten Augenblick, wo das Aufhören der geistigen Funktionen auch das Aufhören jeglicher menschlichen Freude und jeglichen menschlichen Leides zur Folge hat. Ich k a n n sagen, d a ß ich direktes Bewußtsein nicht von meiner Existenz, v o n meinem existierenden Ich habe, sondern nur v o n den jeweiligen erscheinungsmäßigen Veränderungen dieser Existenz. Mein Glaube an die absolute Wirklichkeit dieser Veränderungen trennt mich gerade vom Bewußtsein dessen, was hinter diesen Veränderungen steht. Dies, was hinter den Veränderungen wirklich i s t , verändert sich nicht, es ist die Seinsexistenz, das Prinzip meiner Erscheinungsexistenz. Ich m u ß die völlige Gleichheit der variierenden Erscheinungen begreifen (Freude oder Trauer, Leben oder Tod) in Bezug auf das, was hinter diesen Veränderungen ist. Dies Begreifen muß bis in das Z e n t r u m meines Ichs durchdringen, um mir schließlich das Bewußtsein v o n dem zu verschaffen, was hinter den Veränderungen i s t , nämlich das Bewußtsein meiner Seins-existenz b z w . meiner absoluten Wirklichkeit. Das Zen sagt, die Knechtschaft des Menschen beruhe auf seinem Verlangen, zu existieren. D e r geistige A p p a r a t des Menschen entwickelt sich in der Weise, daß seine ersten Wahrnehmungen nicht die Wahrnehmungen seiner Existenz, sondern nur einzelner Teilbilder sind, die den Eindruck völliger Abwesenheit des Existenz-Bewußtseins und so den Wunsch nach diesem Bewußtsein im Geiste verankern. Es gehört zur Grundsituation des Menschen, d a ß er notwendigerweise das Existenzverlangen durchleben m u ß , um das existentielle Bewußtsein zu erreichen, welches dies Verlangen dann aufhebt. N u r das richtig verstandene Scheitern aller Versuche, den Existenzdrang zu befriedigen, ist imstande das Hindernis zu beseitigen, welches in eben diesem Verlangen nach Existenz besteht. Bei wie vielen Menschen k a n n man den tiefen Schrecken darüber beobachten, d a ß sie „ihr Leben verpfuscht haben"! Dabei gibt es nichts, was gelingen oder 41

mißlingen könnte. Aber eine gewisse zeitliche Verwirklichung ist für das Satori in gewissermaßen negativer Weise nötig, Solange es dem Menschen nicht gelingt, seine Bemühungen hinsichtlich der Befriedigung seines Existenzbedürfnisses vollkommen auszuführen, kann er über dieses Verlangen nicht hinauswachsen. In diesem Sinne m u ß der Mensch sogar durch das Stadium des illusorischen „Lebens" hindurchgehen, um das wirkliche „Existieren" zu erreichen. Das „Existieren" geht in Wirklichkeit dem „Leben" voraus, wie ja das P r i n z i p notwendigerweise seiner Erscheinungsform vorangehen m u ß . Aber im Verlaufe der zeitlichen Dauer m u ß der Mensch durch das Bewußtsein zu „leben" hindurchgehen, um dasjenige des „Existierens" erreichen zu können, das, solange der Mensch als Organismus lebt, identisch ist mit dem des „Seins".

DIE MECHANIK DER ANGST WENN DER MENSCH SICH MIT UNPARTEIISCHEN AUGEN BE-

obachtet, muß er feststellen, d a ß er weder der willentlich bewußte Erzeuger seiner Gefühle noch seiner Gedanken ist, daß seine Gefühle und Gedanken nur Erscheinungen sind, die in ihm auftauchen. Das ist eine Wahrnehmung, die man leicht bei seinen Gefühlen, aber nur schwer bei seinen Gedanken machen kann. Betrachte ich mich aber genau, so wird mir klar, daß auch meine Gedanken mir nur zufallen. Ich kann z w a r den Gegenstand meines Denkens bestimmen, aber nicht die G e d a n k e n selbst. Diese m u ß ich nehmen, wie sie kommen. Da ich weder der bewußte Erzeuger meiner Gefühle noch meiner Gedanken bin, muß ich zugeben, d a ß ich auch nicht der willentliche Erzeuger meines H a n d e l n s bin, daher nichts völlig frei „tun" kann. Diese in Bezug auf mein Bewußtsein und meinen Willen richtigen negativen Feststellungen führen mich dazu, die mögliche Erscheinung von wirklichem Bewußtsein und Willen im Menschen, also in mir, zu erwägen. Ich frage midi nach den Mitteln zur Verwirklichung dieser Möglichkeiten. Ich frage mich umso eifriger, als ich, verbunden mit dem Fehlen einer wirklichen Selbstbeherrschung, in mir eine grundsätzliche Angst verspüre, die sich auf direkte Weise in „moralischen" Leiden äußert und durch kurz befristete Momente der Freude nur unterbrochen wird. Auf der Suche nach Mitteln zu meiner Befreiung unterscheide ich bei den verschiedenen Lehren, die eine Möglichkeit der Befreiung oder der „Verwirklichung" im Verlaufe meiner Existenz in Aussicht stellen, zwei Richtungen. Die meisten dieser Lehren stützen sich auf folgende irrige Theorie: wirkliches Bewußtsein und wirklicher Wille fehlen dem Durchschnittsmenschen, Bei seiner Geburt besitzt er sie nicht, er muß sie erst erwerben u n d mittels einer besonderen inneren Arbeit in sich selbst entwickeln. Diese Arbeit ist schwierig u n d zeitraubend, ihr Resultat w i r d folglich eine fortschreitend langsame Entwicklung sein, das heißt, der Erwerb des Bewußtseins und des Willen? geht fortschreitend vor sich. Der Mensch wächst langsam über sich hinaus, erklettert eine immer höhere Stufe seiner Entwicklung und erhält ein immer höheres Bewußtsein, bis er sich progressiv dem höchsten Bewußtsein nähert, dem „objektiven", „kosmischen" oder „absoluten" Bewußtsein. Das Zen vertritt eine radikal entgegengesetzte Lehre. Nach dieser Lehre fehlt es dem Menschen nicht an Bewußtsein und Willen an sich, es fehlt ihm überhaupt nichts u n d er h a t in sich alles, dessen er bedarf. Von aller Ewigkeit her entstammt er „der N a t u r Buddhas". Nichts fehlt daran, d a ß sein zeitlicher O r g a nismus auf direktem Wege durch das Absolute Prinzip, das heißt durch sein 43

eigenes schöpferisches Prinzip, bestimmt werden könnte, frei zu sein. Er ist einer Maschine vergleichbar, an der kein Rädchen zum absolut vollkommener Funktionsablauf fehlt. Aber seine menschliche Grundsituation v o n Geburt ar. bringt eine gewisse Abweichung der Entwicklung mit sich, die, wie wir sehen werden, eine A r t von Hiatus im Gefolge hat, eine Unstimmigkeit, welche sein Gefüge in zwei getrennte Bereiche aufteilt, in Sorna u n d Psyche. Auf G r u n d dieser Unstimmigkeit genießt der Mensch nicht die Vorzüge seines absoluten Wesens, das doch durchaus sein eigenes ist. Der E i n w a n d besteht zu Unrecht, d a ß dieser Mangel an Einstimmigkeit der Mangel an irgend einer Sache sei. Die Maschine ist vollkommen und vollständig bis in die kleinste Einzelheit hinein, kein Teil fehlt, das man bearbeiten oder einsetzen müßte, um ein richtiges Funktionieren zu ermöglichen. Es handelt sich nur darum, eine Verbindung zwischen den beiden unverbundenen Teilen herzustellen. Wenden wir statt dieses mechanischen Vergleiches einen chemischen an, so können wir sagen: keine Substanz fehlt von jenen, die eine richtige Reaktion zustandezubringen vermögen. Alles ist vorhanden, es m u ß nur ein Kontakt hergestellt werden, der die Reaktion. auslösen kann. Nach einem andern Beispiel aus dem Denken des Zen ist der Mensch einer Eismasse vergleichbar, der absolut nichts mangelt, um der N a t u r des Wassers zu entsprechen. Es ist nur nötig, eine gewisse W ä r m e zu produzieren, um das Eis zum Auftauen zu bringen und die Eigenschaften des Wassers sichtbar werden zu lassen. Diese Auffassung birgt in sich notwendigerweise den plötzlichen, blitzhaften C h a r a k t e r der „Verwirklichung" des Menschen. Entweder es kommt zu keiner Vereinigung zwischen diesen beiden Teilen des Menschen, dann erreicht er nicht seinen göttlichen Wesenskern, oder aber der direkte K o n t a k t w i r d hergestellt, dann fehlt dem Menschen nichts mehr und er gelangt augenblicklich in den Genuß seines göttlichen Wesenskernes. Die innere Arbeit, die zur Herstellung dieses direkten Kontaktes führt, ist schwierig und langwierig, daher progressiver Natur. Die innere Vorbereitung auf die Befreiung ist progressiv, aber nicl)t die Befreiung selbst. Im Laufe seiner fortschreitenden inneren Vorbereitung nähert sich der Mensch in chronologischer Folge seiner zukünftigen Freiheit, doch ohne sie auch mir zu einem kleinsten Bruchteil zu genießen, bevor er ihrer nicht völlig inne ist. Das einzige, was er im Verlaufe seiner Vorbereitung verspürt, ist ein Nachlassen des Leidens über die Tatsache, nicht frei zu sein. Er befindet sidi in der Lage eines Gefangenen, der sorgfältig d a r a n arbeitet, die Eisenstäbe seines Gitters mit der Feile zu durchsägen. Seine Arbeit schreitet fort und n ä h e r t ihn progressiv und im Rahmen der Zeit seiner Fluchtmöglichkeit. Solange aber die Arbeit nicht beendet ist, bleibt dieser Mensch ganz und gar Gefangener. Er wird nicht allmählich frei. Eine Zeit lang ist er völlig unfrei, im Augenblick aber, wo die Eisenstäbe nachgeben, ist er ganz frei. Der einzige progressive Nutzer, dieser Arbeit besteht in der wachsenden Erleichterung der Q u a l , Gefangener zu sein. H e u t e wie gestern ist er Gefangener, aber er leidet immer weniger darunter, weil seine plötzliche Befreiung mit dem Fortgang der Zeit näherrückt. 44

M a n k a n n denselben Vorgang auch in anderer Art aufzeigen, so wie er in dem Gespräch von Jesus und Nikodemus zutage tritt. Jesus sagt, d a ß der Mensch sterben m u ß , um wiedergeboren zu werden. Fortschreitend geht d e r alte Mensch, auf G r u n d einer speziellen inneren Arbeit, seinem T o d entgegen, aber dieser Tod selbst und die Auferstehung zu einem anderen Leben sind nur die beiden Aspekte eines einzigen u n d plötzlichen inneren Ereignisses. Der „ a l t e Mensch" kann mehr oder weniger im Sterben liegen, er kann aber nicht mehr oder w e niger gestorben sein. Auch der „neue Mensch" ist entweder geboren oder noch nicht vorhanden, aber er k a n n nicht mehr oder weniger geboren sein. Nach dem Zen heißt dieses einmalige und plötzliche innere Ereignis „Satori" oder »das siech öffnen des Dritten Auges", und hierbei wird der "plötzliche" Charakter dieses Ereignisses hemm, „Mit einem Schlag habe ich die

Höhle der

Gespenster zermalmt."

»Der leichte Kontakt eines gespannten Fadens genügt, und es entsteht eine Explosion, welche die Erde in ihren tiefsten Schichten erschüttert. Alles, was in den Tiefen des Geistes brach lag, bricht wie ein Vulkan hervor, zuckt auf wie ein Blitz." Das Zen nennt dies „die Rückkehr zu sich selbst". „Ihr habt euch jetzt selbst gefunden. Vom ersten Anbeginn ist euch nichts vorenthalten worden. Nur ihr selbst hieltet die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen." Die radikale Verschiedenheit dessen, was im Orient als „progressive" Methode u n d dessen, was d o r t als „ a b r u p t e " Methode bezeichnet wird, hat wesentliche Folgen für die Betrachtung und Praxis der inneren Befreiungsarbeit. Versuchen w i r nun, im Einvernehmen mit der allgemeinen Zenlehre, die gewöhnliche Grundsituation des Menschen im einzelnen zu betrachten, den Mangel an innerer Einstimmigkeit, v o n dem wir sprachen, und die funktionsbedingten Folgen dieser Grundsituation. Es wird zuerst nötig sein, die Grundsituation des „verwirklichten" vollkommenen Menschen zu umreißen, der seiner eigenen göttlichen Wesenhaftigkeit inne ist. Dieser Mensch verfügt über ein psychosomatisches Gefüge, das sich aus einem Sorna, dem animalischen Triebwerk seines Körpers, und einer Psyche zusammensetzt. Die Psyche dieses Menschen ist reines Denken oder freie Intelligenz, welche unabhängig von jeder Beeinflussung des animalischen Triebwerks funktioniert, aber durch den höheren Einfluß der Absoluten Wahrheit bestimmt ist. Diese Psyche k a n n auch als Göttliche Vernunft oder als Kosmische Intelligenz bezeichnet werden. Eine aus diesem freien Verständnis, aus dieser unabhängig wirkenden Intelligenz hervorgehende und in das animalische Triebwerk eindringende K r a f t vereint diese beiden Teile des Menschen zu einer dreifachen Synthese, die dem Absoluten Prinzip verbunden ist u n d an seinem Wesen teilhat. D a s animalische Triebwerk enthält eine bestimmte Substanz, welche ver45

bunden mit einer andern, in der Freien Intelligenz enthaltenen Substanz die Absolute Substanz des völlig „verwirklichten" Menschen hervorbringt, j e n e Substanz, die im animalischen Triebwerk enthalten ist und aus der N a t u r entspringt, welche dieses Triebwerk erzeugt, wollen wir hiermit „pro-göttliche negative Substanz" nennen, Die in der Freien Intelligenz enthaltene u n d der "übernatürlichen" Wahrheit entspringende Substanz wollen w i r als „pro-göttliche positive Substanz" bezeichnen. Die aus der Intelligenz stammende und in das Triebwerk eindringende Kraft k a n n als die richtige Liebe des Menschen zu sich selbst aufgefaßt werden. Es ist die Hypostase, die neutralisierende oder versöhnende Kraft, welche die Verschmelzung der beiden pro-göttlichen Substanzen und somit die Erscheinung der Göttlichen oder Absoluten Substanz ermöglicht. Die pro-göttliche negative Substanz kann auch als „weibliche" Substanz (gewissermaßen wie die Eizelle des „Seins"), die pro-göttliche positive Substanz k a n n auch als die „männliche" Substanz (wie der Samen des „Seins") bezeichnet werden. Die Vereinigung dieser beiden Substanzen auf G r u n d des Eindringens einer Kraft der Intelligenz in das Triebwerk, entspricht einer Art von innerer Befruchtung, einem Liebesakt, der die G e b u r t des „neuen Menschen" zur Folge h a t . Betrachten wir n u n in Beziehung zu diesem verwirklichten Menschen die n a t ü r liche Entwicklung des menschlichen Lebewesens, A . D E R Z U S T A N D DES G E W Ö H N L I C H E N , d . h . N O C H N I C H T V E R W I R K L I C H T E N M E N S C H E N IN D E N ERSTEN STADIEN SEINES DASEINS. Die freie Intelligenz äst noch nicht erschienen, Auch die pro-göttliche positive Substanz ist damit noch nicht in Erscheinung getreten. Das Triebwerk ist vorhanden, aber noch unvollkommen entwickelt. D a s Gehirn und das geistige Bewußtsein, das v o n ihre abhängt, sind im Begriffe sich zu bilden, sind aber noch nicht fertig. Auch die pro-göttliche negative Substanz ist noch nicht vorhanden, denn sie h ä n g t v o n der Synthese des vollkommen aufgebauten animalischen Triebwerks ab. Da das geistige Bereich noch nicht völlig ausgebildet ist, h a t das Kind noch kein Bewußtsein von dem Unterschied, der zwischen Ich u n d NichtIch besteht. Es bewegt sich in der Außenwelt, ohne sich seiner Grenzen b e w u ß t zu sein. B.

D I E V O L L E N D U N G DES O R G A N I S C H E N TRIEBWERKS. D A S A U F T R E T E N DER P R O - G Ö T T L I C H E N N E G A T I V E N SUBSTANZ.

Das animalische Gehirn ist jetzt entwickelt (im Alter von l bis 2 Jahren), D a s Triebwerk ist fertig und die pro-göttliche negative Substanz somit vorhanden. Das reine animalisch-mentale Bereich, das, ganz wie beim Tier, nur konkrete 46

Wahrnehmungen erlaubt, ist völlig aufgebaut, Die Freie Intelligenz indessen, die Möglichkeit des Mentalen, unter dem Einfluß der Absoluten Wahrheit zu funktionieren, ist noch nicht gegenwärtig. Auch die pro-göttliche positive S u b stanz liegt noch nicht vor. Wie beim nicht-menschlichen Lebewesen gibt es nur die vorgöttliche negative Substanz. Die Entwicklung des animalisch-mentalen Bereichs ermöglicht aber die konkrete Bewußtwerdung des Unterschiedes von Ich und Nicht-Ich, die notwendigerweise im Kind ein T r a u m a erzeugt. Es hatte bis dahin in der unbewußten, stillschweigenden Überzeugung gelebt, d a ß das Bewegungsprinzip seines Daseins das Bewegungsprinzip des Alls sei. Nichts besaß gegenüber i h m selbst eine autonome Existenz, folglich h a t t e seine eigene Existenz nichts zu befürchten. N u n wird ihm plötzlich bewußt, d a ß sein P r i n zip nicht dasjenige des Universums zu sein scheint, d a ß es „allerlei D i n g e " gibt, die unabhängig v o n ihm selbst vorhanden sind. Es nimmt davon Kenntnis, leidet aber an der Begegnung mit den „Widerständen dieser Welt". Zugleich damit erwacht die b e w u ß t e Angst vor dem Tode, vor der Gefahr, die das Nicht-Ich für das Ich darstellt. Psychisch entsteht ein gefühlsmäßiger Kriegszustand zwischen Ich und Nicht-Ich, Das K i n d will nämlich leben und es will die Zerstörung all dessen, was außerhalb seiner selbst existiert und seiner eigenen Existenz a b träglich sein k ö n n t e . Das Kind drückt das etwa so aus: „ N u r ich! Nicht d u ! " Es bestätigt sich, indem es „nein" sagt. Als Ich wird alles das aufgefaßt, was der eigenen Existenz vorteilhaft ist. Das Nicht-Ich ist alles, was diese Existenz bedroht, oder eine mögliche Bedrohung vorsteilt, soweit es sich eben nicht als freundlich erweist. Die sich hieraus ergebende gefühlsmäßige Lage ist sehr einfach; zwei feindliche Lager, zwei Parteien, welche sich zu beiden Seiten einer Schranke befinden. D e r Kampfeinsatz heißt Leben oder Tod. Ist die Mutter des kleinen Menschen freundlich, so gehört sie zu dessen Ich, verkörpert eine großartige Verteidigung gegen den Tod und das Kind fühlt sich unter dem Schutz dieses Verbündeten beruhigt. Ist die Mutter aber böse („ich mag dich nicht mehr, du bist nicht mehr mein lieber kleiner Junge"), dann gehört sie zum Nicht-Ich, die großartige Verteidigung löst sich auf und das Kind heult aus Angst vor dem Tod (obwohl es natürlich keine klare Vorstellung vom Tod hat). In der einfachen Situation dieses lebensgefährlichen Duells mit dem Nicht-Ich nimmt das K i n d eine völlig parteiische Stellung ein. Mangels Freier Intelligenz verfügt es nicht über die geringste Unparteilichkeit und ist unfähig, sich in die Lage eines andern zu versetzen. Sein offensives oder defensives Verhalten wird nur durch Nützlich keits- und „strategische" Zweckmäßigkeitsgründe bestimmt. Das Verhalten des Kindes gegenüber dem Nicht-Ich wird ausschließlich durch das „ N e i n " bestimmt, gleich ob es nun in klarer Weise ausgesprochen wird oder nicht u n d ob es gemäß der jeweiligen Art des stetigen Kampfes einen mehr oder weniger heftigen C h a r a k t e r annimmt. Die Gründe für das Verhalten des Kindes sind völlig irrationaler und gefühlsmäßiger Natur.

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C.

DAS E R S C H E I N E N DER FREIEN INTELLIGENZ U N D D E R P R O G Ö T T L I C H E N P O S I T I V E N SUBSTANZ.

Die Freie Intelligenz erscheint n u r beim menschlichen Lebewesen, etwa im Alter v o n 7 bis 8 Jahren. Erst jetzt wird der Geist abstrakter, allgemeiner u n d unparteiischer Wahrnehmungen fähig. D a s K i n d vermag sich n u n in die Lage eines anderen hineinzuversetzen; es k a n n unabhängig von der Bejahung des Ich gegenüber dem Nicht-Ich Werte erkennen: es ist n u n imstande, Dinge und Geschehnisse für wünschenswert zu halten, ohne sich dabei um den Ausgang seines Kampfes gegen das Nicht-Ich zu kümmern. Neben der Tendenz, den Aufbau des eigenen Organismus zu sichern, erscheint ein Streben nach Aufbau im allgemeinen, ein Streben am kosmischen Bau teilzunehmen. Das K i n d kann die allgemeinen Ideen des Guten, Schönen und Wahren begreifen u n d sich von ihnen angezogen fühlen. Aber im Augenblick, wo die Freie Intelligenz des Kindes in Erscheinung tritt, ist das ganze starke Getriebe seines Gefühlslebens schon auf eine völlig einseitige Sicht seiner Stellung im Universum aufgebaut. D e r „ a b strakte Teil" des Menschen erscheint sehr spät, zu einem Zeitpunkt, da die Struktur des „animalischen Teils" schon fest in einer Lebeweise rein persönlich-parteiischen Charakters verankert ist. Das Denken des „Geistes" bejaht das Ganze, wobei das Eine und das Vielfache sich versöhnen. Das animalische Denken kann n u r das Eine bejahen und das Vielfache, das außerhalb dieses Einen besieht, negieren. Es k a n n sich niemals zum reinen D e n k e n aufschwingen. Das reine D e n k e n sollte vielmehr zum animalischen D e n k e n hinabsteigen. Da das reine Denken aber nur nach Unparteilichkeit strebt, wendet es sich v o n der Einseitigkeit des Animalischen ab u n d drängt ungestüm zu den reinen Begriffen, die es selbst erzeugt ("Eros", die Liebe des Menschen zu „ G o t t " ) . Eine Kluft trennt diese beiden Teile im Menschen. Ungeeint leben sie nebeneinander. Auf G r u n d dieser mangelnden Einigung kann der Mensch nicht zu absolutem Bewußtsein gelangen, k a n n er nicht die restlos beglückende Erfüllung kennen, die aus einem solchen Bewußtsein quillt, Der abstrakte, vom animalischen isolierte Teil, kann n u r substanzlose Formen hervorbringen, bloße „Bilder", denen die Tiefe fehlt. Er erzeugt ein „universelles Idealbild", man k ö n n t e auch sagen, ein „göttliches Abbild", das stets auf das Schöne-Gute-Wahre gegründet ist, und das, mangels absoluten. Bewußtseins, auf das zeitliche Bild projiziert wird, das der Mensch v o n sich selbst gewinnt. Dadurch entsteht ein. „persönliches Idealbild" narzissischen C h a r a k t e r s , das „Ego". Da die beiden e r w ä h n t e n Teile des Menschen sich nicht ihrer eigentlichen Bestimmung gemäß vereinen können, nimmt der Mensch am Wesen des Absoluten Prinzips nicht teil und vergöttert ein wesenloses Bild, das Ego. Mangels richtiger Liebe seines abstrakten Teils zum animalischen Teil m u ß sich der Mensch mit einem bloßen Ersatz dieser Liehe, nämlich der „Eigenliebe" begnügen, die die Liebe seines abstrakten Teils z u n Idealbild seiner selbst darstellt. 48

Die unversöhnliche D u a l i t ä t dieser beiden Teile h a t zur Folge, d a ß der Mensch von zwei verschiedenen energetischen Systemen bestimmt u n d bewegt wird, die auf mancherlei A r t in Wechselwirkung treten, wobei sie sich gegenseitig bald begünstigen, b a l d bekämpfen. 1. Fall,

Die Freie Intelligenz ist schwach und die beiden Systeme stützen sich gegenseitig, Das Verhalten wird eine Prestigefrage.

Dieser dualistische Mensch ohne innere Einheit, der aber seines absoluten Wesens wegen das Bedürfnis nach Einheit in sich trägt, betrügt sich selbst und spielt sich innerlich eine lügenhafte Komödie vor, um in sich selbst den Anschein innerer Einheit zu erwecken. Er betrügt sich, indem er entweder seine Anschauungen dem animalischen Teil in sich anpaßt, oder umgekehrt. Der erste dieser beiden Fälle k o m m t bei Menschen vor, deren Freie Intelligenz schwach, ist. Bei einem Menschen dieser A r t ist die Vorstellung vom Abstrakten und Allgemeinen zu schwach, als d a ß sie verhindern könnte, das Besondere, das Konkrete als nicht wirklich erscheinen zu lassen. Ein solcher Mensch lebt folglich im Konkreten, d. h. v o m S t a n d p u n k t der Zeit aus betrachtet, in der Dauer und nicht im Ewigen. Da er sich mit bloßer D a u e r zufrieden geben k a n n , will er den Sieg seines Ich über das Nicht-Ich n u r als letztes Ziel; es ist ihm also möglich, etwaige Mißerfolge in Kauf zu nehmen, ohne daß sein ich-bezogenes „göttliches" Abbild in unerträglicher Weise dadurch verletzt w ü r d e . Dieser Mensch erhebt nur Anspruch, im R a h m e n der zeitlich bedingten D a u e r Erfolg zu haben, er sucht in tatsächlichen zeitlichen Verwirklichungen seine ich-bezogene Selbstbestätigung. Der abstrakte Teil seines Wesens will dasselbe wie sein animalischer Teil; er betont sogar die instinkthaften Forderungen. In diesem Menschen entsteht kein innerer Broch. Er „rationalisiert" seine Bedürfhisse. Mittels einer Lüge bringt er seine idealen „Prinzipien" auf einen N e n n e r mit seinem Machtwillen. Noch genauer: er deutet seine praktischen Probleme in der Weise, daß der Verstand seine instinktiven Tendenzen legalisiert. 2, Fall. Die Freie Intelligenz ist stark. Die beiden Systeme befinden sich in gegenseitigem Kampf. Die „Furcht vor dem Scheitern" . Die Angst. 1

Der Mensch, dessen abstrakte Seite stark genug entwickelt ist, empfindet geistig im Abstrakten und Allgemeiner, einen höheren G r a d von Wirklichkeit als im Konkreten u n d Besonderen. Beim Jagen nach dem Sieg des Ich über das NichtIch wird jeder einzelne Erfolg von der allgemeinen Idee des Erfolges überstrahlt. Sein Denken bewegt sich nicht im R a h m e n der Dauer, sondern unter dem Blickwinkel der Ewigkeit. Da er aber tatsächlich in der D a u e r lebt u n d der Schnittpunkt v o n Ewigkeit u n d Dauer der Augenblick ist, lebt dieser Mensch im Augenblick. Dies ist der Typus Mensch des »alles und sofort*. Den Sieg über 4

Ba:ncii' Dis hübe Lehre (

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das Nicht-Ich will er nicht letzten Endes sondern sofort, im Augenblick, Er erhebt den Anspruch, gleich im gegenwärtigen Augenblick zeitlichen Erfolg zu haben. Aber ein solch völliger, augenblicklicher Sieg über irgendeinen Aspekt des NichtIch ist ganz offensichtlich unmöglich. Nichts kann im Zeitlichen, ohne Dauer gelingen. Um sich also nicht bis ins Zentrum seines Wesens hinein negiert zu fühlen, muß dieser Mensch, wie man sagt, irgendetwas unternehmen: Er w i r d „sich gut zureden"; er w i r d den vorher erhobenen Anspruch auf diese oder jene Äußerung seiner zeitlichen Allmacht zurückziehen („diese Trauben sind mir zu sauer"). Er "fügt" sich, den begrenzenden Bedingungen seiner zeitlichen Existenz; er behauptet, sie willentlich u n d frei anzunehmen. In Wirklichkeit aber n i m m t er diese Grenzen durchaus nicht an, noch kann er sie annehmen; er findet sich n u r m i t Ihnen a b ; das heißt, ohne sie anzunehmen, spielt er sich die bloße Komödie des Annehmens vor, Es ist wesentlich, diesen Unterschied zwischen wirklichem Annehmen und bloßem Sich abfinden zu verstehen, Annehmen, eine Situation wirklich annehmen, das heißt, mit seinem ganzen Wesen zu denken und zu fühlen, d a ß man, böte sich die Möglichkeit einer Änderung, keinerlei G r u n d hätte, etwas zu verändern. In seiner dualistischen u n d unversöhnten Grundsituation, bei der Vernunft und Gefühl auseinanderklaffen, kann der Mensch jedoch unmöglich gefühlsmäßig die Existenz eines Nicht-Ich gelten lassen, durch welches er sich angegriffen u n d negiert fühlt. Er k a n n n u r so tun, als ob er es annähme, daher k a n n er sich nur damit abfinden. Sich mit etwas abfinden heißt, es praktisch annehmen und theoretisch verweigern. Diese beiden Faktoren aber sind unvers ö h n t u n d bleiben unversöhnbar im Inneren des Menschen. Sie bleiben. unversöhnbar, weil sie zwei Sphären angehören, die durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt sind, Ein solcher Mensch hält den ihm nötigen Schein innerer Echtheit aufrecht mittels eines psychologischen Verteidigungsmechanismus, der ihn blind für die theoretische Verweigerung seiner zeitlichen Grundsituation macht (mentales Scotom). Er redet sich ein, d a ß er annimmt, d a ß er „weise", d a ß er „vernünftig* ist. Er macht sich ein Theater vor und führt sich dabei selbst in die Irre. Die „vernünftigen" Vorsätze, die er faßt, sind z w a r in der T a t rationell und stimmen mit der tatsächlichen O r d n u n g der Dinge im Kosmos überein. Aber ein solcher Mensch hat Unrecht, Recht zu haben, einfach so ohne weiteres, d. h. verfrüht Recht zu haben, dank einer inneren Komödie, die auf zwei Lügen beruht: er betrügt sich, indem er einen instinktiven u n d unterirdisch in seiner ursprünglichen Richtung weiter fortbestehenden Anspruch zurückzieht, u n d betrügt sich, indem er sich einredet, seinen Anspruch aufzugeben, weil dies vernünftig sei, w ä h r e n d er in Wirklichkeit diesen Anspruch mir aufgibt, um sich nicht vom Nicht-Ich negiert zu sehen, Er spielt den Engel, der er keineswegs ist, W a r das typische W o r t seines animalischen Teils das „Nein", so ist dasjenige seines abstrakten Teils das „Ja", Aber dies „ J a " ist kein absolutes „ J a " , es ist n u r ein relatives. Es ist nicht das seinsmäßige „ J a " , sondern n u r das er50

scheinungsmäßige und nicht minder illusorisch, vom absoluten S t a n d p u n k t aus gesehen, als das „ N e i n " des animalischen Teiles seines Wesens. Das absolute „ j a " k a n n erst später gewonnen werden durch die Vereinigung in einer dreieinigen Synthese des relativen „ J a " und des relativen „ N e i n " . All dies weiß der Mensch nicht und ist Stolz auf sein „ J a " , das er als Beweis seiner Herrschaft über den animalischen Teil seines Wesens u n d seiner selbst auffaßt, obwohl dies durchaus nicht der Fall ist. Er glaubt richtig damit zu h a n deln, wenn er mehr u n d mehr bejaht und gewinnt den Eindruck, d a ß er sich der Wirklichkeit anpasse, obwohl er sich diesen ganzen Vorgang der Anpassung nur vormacht. Er spaltet sich in zwei Personen auf: die „Ja"-Sagende, der „Engel" in ihm genießt seine besondere Vorliebe. Er macht sie sich nach Kräften bewußt und hält sie für sein eigentliches Ich. Währenddessen wird die Person, welche „nein" in ihm sagt, das „Tier" in ihm, mit Verachtung bestraft u n d zurückgedrängt. Der Mensch verdunkelt nach Kräften sein Bewußtsein v o n dieser Nein-Person in sich. Wenn er nicht umhin kann, sie zu sehen, pflegt er zu sagen, d a ß das nicht er selbst sei, oder er sagt: „Ich weiß nicht, was mich da gepackt hat. Es ist stärker als ich gewesen." D i e Nein-Person, welche zu Beginn, als das kleine K i n d den Gegensatz von Ich und Nicht-Ich erfuhr, das Nicht-Ich aus seinem ganzen Wesen leugnete und allein sich behauptete, verliert im Laufe der Zeit an Boden in dem Maße, in dem sich die „Anpassungs"-Mcdianismen aufbauen und. verfestigen. I m m e r mehr und immer tiefer w i r d sie zurückgedrängt und von immer zahlreicher u n d immer umfangreicher werdenden Schichten des Anpassungsgefüges überlagert. Langsam u n d methodisch wird sie erstickt. Jene Stimme, die sich zwangsläufig angesichts der zeitlich bestimmten Grundsituation auflehnte, w i r d nach und nach unterdrückt und zum Schweigen verurteilt. Jede Spontanität wird durch Trugbilder, durch vernünftige „Verhaltungsweisen" untergraben. Bei Menschen mit schwach ausgebildetem vitalen Instinktbewußtsein kann die Unterdrückung der N e i n - N a t u r manchmal gelingen. Das „Tier" ist z w a r nicht vernichtet, (denn solange der Mensch nicht tot ist, bleibt auch sein „Tier" am Leben), aber es ist so gut wie tot. D e r Mensch, in dem sich dieser Vorgang abgespielt hat, gilt als „zivilisierter" Mensch, als ein Mensch, der „sich angepaßt hat". Dabei stellt sich die Frage, wie dies überhaupt möglich ist, wie der Mensch tatsächlich zu dem Glauben gelangen kann, daß er seine zeitliche Grundsituation annähme, diese tödlich begrenzte Grundsituation, die in Wirklichkeit gefühlsmäßig unannehmbar ist. Man fragt sich, wie der Mensch auf diese Weise leben kann. Es kann ihm hauptsächlich nur gelingen auf G r u n d des Spieles seiner Vorstellungsgabe u n d der Fähigkeit seines Geistes, sich eine subjektive Welt vorzuzaubern, deren einziges bewegendes Prinzip in diesem Falle er selbst ist, N i e könnte der Mensch darauf verzichten, nicht das einzige Bewegungsprinzip des realen Universums zu sein, wenn er nicht die tröstliche Fähigkeit besäße, ein Universum für sidi selbst zu konstruieren, ein Universum, das er ganz allein hervorbringt. 51

D e r Mensch, mit dem wir uns in Folgendem befassen werden, ist von ganz besonderem Interesse, denn allmählich w i r d seine Existenz zu einem w a h r e n D r a m a : es ist derjenige Mensch, dessen instinktive, vitale Kräfte zu stark sind, als d a ß es seinen „Anpassungsfähigkeiten" gelänge, das „ N e i n " , d a s „Tier" in i h m zu unterdrücken. Eine gewisse Zeit lang verstellt z w a r such, er sich, a n z u passen. Er redet sieh energisch seihst zu. Seine Vorstellungsgabe, die einem das Gleichgewicht haltenden Kreisel gleicht, dreht sich rasch u n d ist wirksam. Sehr häufig w i r d dabei ein geschickter Vorgang des Sich-Anpassens angewendet: auf die geistige Vorstellung irgend eines Aspektes der A u ß e n w e l t w i r d das „göttliche Abbild" dieses Menschen projiziert, was der Anbetung irgend eines A b gotts von selten des Betreffenden gleichkommt, z, B. die Anbetung eines andern menschlichen Lebewesens, die Anbetung einer „gerechten Sache" oder eines mehr oder weniger persönlich verstandenen Gottes", e t c . , . . Dieser Vorgang scheint den Dualismus von Ich und Nicht-Ich aufzuheben u n d o r d n e t alles, solange er anhält. D i e Lage w i r d aber bedenklich, sobald all diese Vorgänge des »Sich-Anpassens" ihre Wirksamkeit verlieren, die H a l t u n g der Vergötterung zusammenbricht oder sich ü b e r h a u p t nicht einstellt und das Tier im Menschen sich nicht mehr darauf einlassen will, seine Forderung, das Nicht-Ich zu besiegen, unaufhörlich einzudämmen; wenn der Fuchs, weil er zu lange die Trauben für sauer erachtet hat, Gefahr läuft, vor H u n g e r zu sterben; wenn der Mensch in den Tiefen seines Wesens das Tier in. sich zornig aufbrüllen hört. In diesem Augenblick, erscheint Angst sowie die sogenannte Furcht vor dem Scheitern. Untersuchen wir, w a s sich genau hierbei im Menschen abspielt. W i r werden zeigen, d a ß der Ausdruck „Furcht v o r dem Scheitern" nicht genau stimmt. Die Erscheinungen, auf die w i r hier eingehen, vollziehen sich im abstrakten Teil des Menschen. Aber diese abstrakte Seite ist intellektueller u n d nicht gefühlsbedingter N a t u r . So kann sie auch nicht eigentlich Furcht empfinden. Der v o n uns beobachtete Mensch fordert, wie w i r gesehen haben, auf der zeitlichen Ebene augenblicklichen Erfolg, somit fordert er etwas Unmögliches. Um zu verhindern, sich vom konkreten Ereignis negiert zu fühlen, m u ß er diesen Anspruch aufgeben. D e r abstrakte Teil seines Wesens h a t nicht eigentlich Furcht vor dem konkreten Scheitern, ein äußerst starkes, sozusagen z a h n r ä d e r artiges, psychologisches Getriebe untersagt ihm vielmehr, die Möglichkeit überh a u p t eines solchen Scheiterns in Betracht zu ziehen. D a m i t weigert sich der abstrakte Teil seines Wesens, ein Scheitern zuzulassen; um es zu verweigern u n d zu leugnen, lehnt er. den Kampf gegen das Nicht-Ich ab, denn dieser Kampf m u ß aussichtslos erscheinen, gemessen an dem auf den Augenblick zugespitzten Totalitätsanspruch dieses Menschen. Der abstrakte Teil seines Wesens ist nicht d a v o n überzeugt, das Nicht-Ich augenblicklich u n d völlig zu besiegen, so gibt er v o r , die Existenz des konkreten Nicht-Ichs zu leugnen und flüchtet sich in das Weitgebilde seiner eigenen Vorstellungskraft. Die animalische Seite seines Wesens h a t eine gewisse Zeit lang dies Verhalten ihrer überlegeneren Partnerin 52

zugelassen: U n d in der T a t hat die Flucht v o r der Auseinandersetzung zwischen Ich a n d Nicht-Ich dieser animalischen N a t u r im Menschen einige Vorteile verschafft: die Freundschaft der einen, die Hochachtung der anderen, somit die Gewähr eines gewissen Beistandes gegen das Nicht-Ich. Aber das Leben hat immer mehr die H o f f n u n g e n einer E n t g e l t s a g dafür, d a ß man liebenswürdig und vernünftig gewesen ist. enttäuscht. Unglücksfälle welche m a n als „unverdient" empfindet, sind eingetreten. D e r animalische Wesensteil glaubt nicht mehr an die bisherigen Hirngespinste, er ist der Ansicht, d a ß man der Dumme war u n d es endlich genügt. Er will dem Kampf nicht mehr aus dem Wege gehen a n d er ist mit einer friedlichen H a l t u n g , die nichts einbringt, nicht m e h r einverstanden. Er ist endlich der Versprechungen von späterem N u t z e n m ü d e , den er nie eintreten sieht. Er will nur noch eines: zu den Waffen greifen. U n t e r diesen neuen,Umständen faßt er den Abfall der abstrakten Seite nur noch als Feigheit vor der Gefahr, als schändlichen Verrat vor dem Feinde auf. Ein. solcher Mensch gleicht einer belagerten Festung, wo die Soldaten, welche n u r empfinden oder handeln können, auf die Rettung ihrer eigenen H a u t bedacht sind, und wo der Befehlshaber, der nur überlegt, nichts von Kampf wissen will u n d daher befiehlt, die Waffen niederzulegen. Die T r u p p e k a n n diesen sinnlosen Befehl nicht verstehen, zugleich aber kann sie, da kein Befehl oder zumindest irgend eine Genehmigung von oben ergangen ist, nicht kämpfen, wie sie möchte. Sie fühlt sich verlassen und in ihrer Hilflosigkeit erschreckt, Sie empfindet A n g s t . Diese Angst ist nicht die Furcht vor dem besonderen Scheitern, welches in vorliegendem Fall mitinbegriffen ist. Es Ist die Furcht vor dem Tode, diese altbekannte Furcht, die den Menschen seit seiner ersten Begegnung mit dem NichtIch erfüllt, dieselbe Furcht, die er schon als Kind empfand, als seine Mutter ihm ihren Beistand zu entziehen schien. D i e Angst ist also eine Erscheinung in zwei Phasen, und es ist von größter Wichtigkeit, diese zwei Phasen, in welcher sie sich auslöst, zu unterscheiden. Mit dem „Kopf", mit der „ V e r n u n f t , mit dem „Engel" beginnt es. D e r Kopf gibt vor, das Vorhandensein des gefährlichen Nicht-Ichs zu ignorieren und flüchtet sich in Traumgebilde. D a m i t beitätigt aber der Verstand implizite das Vorhandensein des Nicht-Ichs in der praktischen Wirklichkeit und er läuft so praktisch zum Feind über. Daraufhin wird die animalische Seite des Menschen, das „Tier" in. ihm, v o n Furcht befallen, nicht von relativer Furcht v o r dem drohenden relativen Scheitern, sondern von einer totalen Furcht angesichts der totalen Todesgefahr, welche das Nicht-Ich für ein Ich darstellt, das durch den Abfall des Verstandes hilflos geworden ist. In. dem., was m a n ungenau als „die Furcht vor dem Scheitern" bezeichnet, stecken folglich zwei verschiedene Elemente; eine intellektuelle Verweigerung des Scheiterns u n d eine gefühlsmäßige Furcht nicht vor dem Scheitern, sondern vor dem Tod, 0

Die irrtümliche A n n a h m e , die In dem Ausdruck „Furcht v o r dem Scheitern" ihren Ausdruck findet, macht deutlich, wie sich der circulus vitiosus der Angst schließt. D e r Mensch, v o n dem wir sprechen, vergegenwärtigt sich nicht, d a ß er

vor dem Tode zittert und daß er ihn fürchtet, weil der Verstand seinen Organismus im Stich l ä ß t vor der allgemeinen Bedrohung des Nicht-Ich. Er ist der Meinung, d a ß er vor irgend einem negativen konkreten Aspekt der äußeren Welt zittert, der indes sehr geringfügig sein und zum Beispiel lediglich in der schlechten Meinung v o n H e r r n X. bestehen kann. Da ihm dieser konkrete Aspekt der Welt n u n aber wie ein todbringendes Gespenst, wie ein Schreckgebild völliger Zerstörung erscheint (es ist ja der Tod, den er in Wirklichkeit fürchtet), m i ß t er diesem Weltaspekt eine total negative „Wirklichkeit" bei, er h ä l t ihn für eine absolute „Vereinung", folglich für unzerstörbar. Diese Auffassung von der Welt als absolutem und unzerstörbarem Hindernis kann natürlich in seinem abstrakten Denken die Weigerung nur noch verstärken, sich auf irgend einen K a m p f einzulassen. So schließt sich der circulus vitiosus. Es ist also verständlich, wieso der Zustand der Angst das fatale Los von jenen Menschen wird, die in einer gewissen Hinsicht als die Begabtesten und innerlich Reichsten erscheinen, da ihre unparteiische abstrakte Seite ebenso stark wie die animalisch-parteiergreifende Seite ausgebildet ist. U n t e r dem Zustand der Angst werden hingegen kaum oder gar nicht leiden: einerseits diejenigen Menschen, deren abstrakter Teil schwach ist und denen folglich eine bequem-egoistische Lebensweise möglich ist. („Materialisten") und andererseits diejenigen Menschen, deren animalische Seite schwach ausgebildet ist und welche ihr Leben in einem bequemen altruistischen Verzicht hinbringen („Spiritualisten"). Bei den Menschen der ersteren G a t t u n g trägt praktisch das „ N e i n " den Sieg davon, bei denen der zweiten Gattung das „ J a " . In beiden Fällen hat das Pendel der Waage nach der einen oder andern Richtung hin ausgeschlagen und bleibt hiermit festgelegt. N u r der Unglückliche, der beide Seiten in sich stark ausgeprägt vorfindet, w i r d innerlich von dem K a m p f zwischen dem unversöhnten „ J a " mit dem unversöhnten „ N e i n " hin und her gerissen. Dieser Mensch ist zwar unglücklich, aber gleichzeitig ist er am stärksten dazu aufgerufen, auf seine völlige „Verwirklichung" hinzuarbeiten, die in der Versöhnung des „ J a " u n d des „ N e i n " besteht. Die andern befinden sich z w a r in einer bequemen Lage, aber zu dieser Verwirklichung sind sie nicht berufen. Die aufmerksame Betrachtung der zwischen Angst und Vorstellungskraft bestehenden Beziehungen ist des Interesses wert, denn diese Untersuchung wird uns über die genaue N a t u r des „moralischen Leidens" unterrichten. Rufen w i r uns die zwei psychologischen Momente ins Gedächtnis, welche bei dem Begriff der Angst mitspielen: der abstrakte Teil zieht sich vor der Wirklichkeit zurück, weil ihm auf G r u n d seines Anspruchs auf augenblickliche Allmacht der normale Widerstand der Außenwelt als unendlich, unerschütterlich und absolut verneinend erscheint. Er entzieht sich durch die Flucht in das Bereich der Vorstellungskraft. Das konkrete Scheitern wird vom mentalen Bewußtsein verhindert. Aber selbst wenn dies praktische Scheitern unendlich lange hinausgeschoben und suspendiert wird, bleibt die Vorstellung des Scheiterns für das abstrakte Denken gegenwärtig, das sich vom praktischen Existenzkampf 54

abwendet. Die animalische Seite im Menschen. leidet unterdessen .unter der Furcht vor dem T o d e , da die Abtrünnigkeit des Denkens („des Kopfes") sie hilflos vor der Angriffslust des Nicht-Ich läßt. Die doppelte Rolle, welche die Vorstellungskraft innerhalb des Zustandes der Angst spielt, liegt klar zu Tage. Sie übernimmt einerseits die Rolle des Beschützers in Bezug auf die ich-bezogenen, illusorischen Forderungen des abstrakten Teils, andererseits die Rolle des Zerstörers in Bezug auf den animalischen O r ganismus des Menschen, indem sie ihn der Todesangst ausliefert. Sie beschützt das Ego, das illusorisch ist und greift indes den Organismus des Menschen an, dem tatsächliche Wirklichkeit innewohnt. Bei genauer Betrachtung sieht man also, d a ß die Angst nur auf Illusionen beruht, da ihre G r ü n d e illusorisch sind und die Wirkung einer illusorischen U r sache keinerlei Wirklichkeit besitzen kann. Die auslösende Ursache der Angst ist illusorisch, da sie in demjenigen Vorstellungsablauf liegt, den wir als bloßes künstliches P r o d u k t des menschlichen Geistes erkannt haben. Ebenso ist ihre wirkende Ursache illusorischer N a t u r . W e n n nämlich das geistige Bewußtsein sich von dem Hindernis der Welt abwendet und in die Vorstellungswelt flüchtet, so nur deshalb, weil es einen absoluten Anspruch an die Welt stellte. U n d es stellte diesen absoluten Anspruch, weil es sich in trügerischer Unwissenheit über seine gottliche H e r k u n f t befand. Der Mensch sucht sich n u r deshalb im Zeitlichen zu vergöttlichen, weil er sein wirkliches göttliches Wesen nicht erkennt. Der Mensch kommt als Sohn Gottes auf die Welt und nimmt als solcher völlig an der N a t u r des Höchsten Prinzips des Universums teil, er wird aber „amnesisch" geboren, hat seinen Ursprung vergessen und ist in trügerischer Weise davon überzeugt, nur dieser begrenzte u n d sterbliche Körper zu s e i n , den seine Sinne gewahren. Mangels der Erinnerung an seinen Ursprung leidet er unter dem illusorischen Gefühl des Verlassenseins von Gott, (obwohl er ja in Wirklichkeit G o t t selbst ist), und im Verlaufe seines zeitlichen Daseins sucht er verzweifelt nach vergöttlichenden Bejahungen, die er im Zeitlichen natürlich nicht finden k a n n : all dies, ohne sich klar zu machen, d a ß er die absolute Wirklichkeit nicht suchen w ü r d e , wenn er nicht an ihr teilhätte. (Es ist nicht möglich, einer Sache zu entbehren, ohne irgend eine Kenntnis von ihr zu besitzen.) Die Angst ist also eine Illusion, weil ihre Gründe trügerisch und illusorisch sind. Außer diesem theoretischen Beweis können wir einen praktischen aufzeigen, das heißt, w i r können direkt und auf intuitivem Wege den illusorischen C h a rakter der Angst erfahren. Wenn ich mich in einem Augenblick, da ich „moralisch" leide, an einen ruhigen P l a t z zurückziehe und meine Aufmerksamkeit vom „Denken" auf das „Fühlen" lenke, wenn ich alle meine gedanklichen V o r stellungen hinter mir lasse und mich darauf einstelle, das sogenannte „moralische Leiden" wahrzunehmen, um endlich zu erfahren, was es eigentlich bedeutet, so gelingt m i r das nicht. Alles was ich dabei empfinden kann, ist ein Zustand der E r m ü d u n g , der in meinem Körper der Ausdruck dieser Angsterscheinung und vitalen Energieverschwendung ist, welche die Furcht vor dem T o d e bewirkt 55

hat. Doch entdecke ich in mir nicht das leiseste Gefühl von Schmerz im eigentlichen Sinne dieses Wortes. Je mehr ich darauf bedacht bin, zu empfinden, und je mehr ich auf diese Weise meine Aufmerksamkeit von meinem Vorstellungsablauf ablenke, umso weniger empfinde ich. So erfahre ich hiermit die U n w i r k lichkeit der Angst. M a n w i r d das noch besser durch einen Vergleich mit dem physischen Leiden verstehen. W e n n ich ein schmerzhaftes Furunkel habe, leide ich physisch umso weniger, je stärker ich meine Vorstellungskraft in Bewegung setze. Je weniger ich hingegen meine Vorstellung wirken lasse, desto lebhafter empfinde ich meinen Schmerz. Das bedeutet, daß dieser Schmerz wirklich ist, nicht bloß v o r gestellt oder imaginär. Wir wollen damit nicht behaupten, d a ß dem „moralischen" Leiden keinerlei Wahrnehmung innewohnt. Wir sagen nur, d a ß diese W a h r nehmung einen illusorischen C h a r a k t e r besitzt, was etwas ganz anderes ist. Wenn ein Mensch in der Wüste eine Fata Morgana erblickt, könnte man nicht sagen, d a ß er nichts sieht. Sicherlich sieht er etwas, aber das, was er sieht, existiert nicht. So nehme ich auch, w e n n ich „moralisch" leide, etwas wahr, aber ich nehme nichts wahr, was wirklich existiert. Was geht eigentlich in mir vor, wenn ich „moralisch" leide? In meinem E m p finden, haben w i r festgestellt, besteht die Furcht v o r dem Tode. Diese Furcht verbrennt meine vitale Energie und zehrt an meinen organischen energetischen Reserven. Meinem Organismus, meinem K ö r p e r w i r d somit ein Schaden zugefügt. Dieser Schaden ist nicht derselbe wie derjenige des physischen Schmerzes. D e r Schaden des physischen Schmerzes betrifft einen Teil des Körpers, er betrifft den K ö r p e r als Aggregat von Teilen. Der Schaden des „moralischen" Schmerzes, der einen Energieverlust direkt an der Quelle darstellt, betrifft den K ö r p e r als Gesamtheit. Diese A r t von Schaden äußert sich im organischen E m p findungsvermögen durch keinen bestimmten Schmerz, sondern durch ein allgemeines Mißbehagen, durch Müdigkeit, Depression und Nachlassen der Vitalität. Im Verlaufe des „moralischen" Leidenszustandes tritt physisch betrachtet ein allgemeines depressives Mißbehagen auf. Gleichzeitig spielen sich im Bereich des Psychischen Vorgänge unerfreulicher, bedrohlicher Vorstellungen ab. Das „moralische" Leiden ist also die Folge bedrohlicher geistiger Bildassoziationen im Zusammenhang mit einem somatisch depressiven Zustand, D e r Verlust organischer Energie ohne W i d e r p a r t (denn ein Austausch mit der A u ß e n w e l t findet in diesem Zustand nicht statt), geht offensichtlich in die Richtung des Todes. Auch den drohenden Bildvorstellungen wohnt eine Atmosphäre v o n T o d inne, u n d sie wirken wie ein feindlicher Angriff auf mich, der auf mein Leben abzielt. H i e r ist die Fata Morgana, deren O p f e r ich bin! Ich sehe M ö r d e r v o r mir, die auf mich losgehen, u n d ich bin von ihrem wirklichen Vorhandensein überzeugt. T r o t z d e m ist kein Mörder weit u n d breit da, so wenig wie es einen Wasserspiegel am H o r i z o n t der Wüste gibt. Im Zen heißt das „die Höhle der Gespenster". 56

H a l t e n wir fest, d a ß die Angst im „Kopf" beginnt, daß der Verstand die Initiative bei diesem V o r g a n g hat. Natürlich unterstützt eine organische Depression physiologischen Charakters das Erscheinen der Angst (wir können stimmungsmäßig den ganzen Tag bedrückt sein, wenn wir schlecht geschlafen haben). Aber sogar in diesem Fall hängt die Angst vom geistigen Bereich ab, denn wenn ich meine Aufmerksamkeit auf das „Empfinden" richte, fühle ich mich n u r noch müde, aber nicht mehr geängstigt. In der Angst h ä l t der Mensch seine Aufmerksamkeit fest auf die Bilder seines Vorstellungsablaufes gerichtet, bei denen er vor dem gefährlichen u n d w i r k lichen Nicht-Ich Zuflucht sucht. Die Angst packt ihn dabei von hinten, sie kommt aus der Richtung, in die er nicht blickt und der er den Rücken kehrt. Die innere Geste, v o n der w i r vorhin gesprochen haben und die in der Verlagerung meiner Aufmerksamkeit vom „Denken" zum „Fühlen" h i n besteht, entspricht einem radikalen Richtungswechsel, bei dem ich eine halbe Wendung von genau 18O um mich selbst ausführe: diesmal kehre ich den Bildern meines Vorstellungsablaufes den Rücken und blicke in die Richtung, aus der die Angst kam. Ich sage „kam'', denn in dem Augenblick, da die halbe Drehung um mich selbst ausgeführt ist, so d a ß das Wirken des Vorstellungsvermögens, das vorher die Initiative des ganzen Vorgangs besaß, ausgeschaltet wird, verschwindet die Angst, u n d nur eine A r t allgemeiner Müdigkeit bleibt noch fühlbar. D a s Gespenst behält seine Truggestalt n u r bei, solange ich meinen Blick von der Stelle abwende, wo ich es vermute. Sobald ich es wage, diese Stelle fest ins Auge zu fassen, erkenne ich, daß überhaupt nichts dort ist. Aber all dies kommt nicht einem direkten Heilmittel gegen die Angst gleich. Einer der H a u p t i r r t ü m e r des Menschen besteht darin, ein direktes Heilmittel gegen seine Angst zu suchen, das S y m p t o m heilen zu wollen, ohne sich um die Gründe dieses Symptomes zu kümmern. Das theoretische Verständnis der Mechanismen d e r Angst ist jedoch der nicht zeitlichen Verwirklichung dienlich, die allein den Menschen von seinen illusorischen Leiden befreien kann. Ich kann midi nicht der zur Verwirklichung führenden inneren Arbeit widmen, wenn ich zunächst nicht den gleichfalls illusorischen C h a r a k t e r der beiden gefühlsbestimmten Pole „Leid - Freude" völlig verstanden habe. 0

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VI. DIE FÜNF DENKWEISEN DES N O C H N I C H T VERWIRKLICHTEN MENSCHEN PSYCHOLOGISCHE BEDINGUNGEN DES SATORI D A S PSYCHOLOGISCHE BEWUSSTSEIN DES GEWÖHNLICHEN Menschen arbeitet gemäß fünf verschiedenen Modalitäten, die sich folgenderweise staffeln: 1. Art: 2. Art: 3. Art: 4. Art: 5. Art:

Tiefer, traumloser Schlaf. Das mentale Bereich enthält keinerlei Bild. Eine Art des Funktionsablaufes, die einem Nicht-Funktionsablauf gleichkommt. Schlaf mit Traumen. Zustand des Wachens mit Träumerei. Wachzustand mit konkretem Denken, das der wirklich gegenwärtigen Außenwelt Rechnung trägt. Wachzustand mit reinem intellektuellen Denken.

Mit Ausnahme des ersten Modus enthält das mentale Bereich stets einen Vorstellungsablauf, der vom zweiten bis zum fünften Modus jeweils verschieden ist. Der Vorstellungsablauf, welcher Natur er auch sei, ist einerseits durch die Beschaffenheit seiner Bilder bestimmt: diese können konkret, auf Einzeldinge bezogen und Nachzeichnungen der konkreten, gegenwärtigen oder nicht gegenwärtigen Wirklichkeit sein. Sie können auch abstrakter und allgemeiner Natur sein (dem allgemein Wirklichen nachgebildet, auf das die Begriffe „gegenwärtig" oder „nicht-gegenwärtig" nicht mehr anwendbar sind). Der Vorstellungsablauf ist andererseits durch den Stil, der Anordnung seiner Bilder, das heißt durch deren assoziativen Stil bestimmt. Man kann dabei drei Stile unterscheiden: den symbolischen, den realistischen und den rein intellektuellen Stil. Der Vorstellungsablauf, oder um einen einfacheren Begriff zu gebrauchen, das Denken des Schlafes mit Träumen wird vor allem durch seinen symbolischen Assoziationsstil bestimmt. In diesem symbolischen Stil liegt der Sinn der Vorstellungen nicht in deren Form oder Ausdruck. Der Sinn ruht hinter der Form, und diese weist nur auf ihn hin. Es besteht eine Trennung zwischen der Form als bloßem Mitte] und der unformalen Substanz, die das Ziel (und zugleich natürlich das Prinzip) dieser Form ist. Das Denken im Wachzustand mit Träumerei liegt zwischen dem traumhaften Denken und dem an die äußere, gegenwärtige Wirklichkeit angepaßten Denken des Menschen. Es kann sehr in die Nähe des Traumdenkens rücken, wobei es dessen scheinbare Sinnlosigkeit an58

nimmt. Es kann auch in nicht-symbolischem, also in realistischem Stil in Erscheinung treten, wie wir bei der Behandlung der vierten Denkart sehen werden. Das realistische und der gegenwärtigen äußeren Wirklichkeit angepaßte Denken des Menschen setzt sich aus Bildern zusammen, die sich nicht mehr darauf beschränken, auf einen Sinn hinzuweisen, ohne daß dieser Sinn in ihnen selbst enthalten wäre. Es handelt sich hierbei um konkrete Bilder, die auf einen unmittelbar wirklichen Sinn Anspruch erheben, welcher der konkreten Wirklichkeit angepaßt ist. Der Sinn dieses Denkens liegt weniger hinter seinem Ausdruck, sondern irn Gegenteil mehr in ihm selbst. Trotzdem kann man nicht sagen, daß der Sinn dieses Denkens überhaupt nicht mehr hinter seinem Ausdruck läge. Dieser Sinn, welcher die relative Wahrheit dieses Denkens ist, ist eine Manifestation der uranfänglichen unausdrückbaren Wahrheit, und dieses Denken wäre sinnlos und würde gar nicht bestehen, wenn es nicht einen hinter seiner Form liegenden Sinn besäße. Nur durch diesen latenten Sinn enthält die Form einen gewissen relativen und offenbaren Sinn. Das rein intellektuelle Denken des nachdenkenden, meditierenden Menschen bewegt sich nicht mehr in realistischem, sondern in rein intellektuellem Stil. Diese Bilder sind abstrakt im Gegensatz zu denen des realistischen Denkens, sie enthalten nichts, was mit den sinnlichen Organen zu erkennen ist. Die Hindus betrachten das mentale Denkvermögen als ein 6. Sinnesorgan. Dieser Standpunkt ist durchaus vertretbar, insofern das mentale Denken in gleicher Weise wie die Sinnesorgane uns nur relative Aspekte vermittelt. Im übrigen aber unterscheidet sich das mentale Denken von den anderen Sinnesorganen dadurch, daß es allein abstrakte, allgemeine Wahrnehmungen vermittelt. Die Bilder dieses Denkens erheben wesentlich mehr Anspruch als diejenigen des realistischen Denkens. Sie weisen energisch und entschieden die bescheidene Rolle von sich, nur indirekt auf die Wahrheit hinzudeuten. Sie erheben Anspruch darauf, in sich selbst einen allgemein gültigen Sinn zu verkörpern. Die formale Ausdrucksfähigkeit ist hier auf ihrer Höhe angelangt, die Suhstanz-hinter-der-Form ist dafür sehr gering. Bei der Betrachtung dieser fünf verschiedenen und reihenartig gestuften Denkarten stellen wir uns notwendigerweise die Frage, welche Hierarchie unter ihnen herrscht. Üblicherweise will man in der Reihenfolge von der ersten bis zur fünften Denkart einen Fortschritt sehen. Nach dieser Auffassung steht der Mensch, der sich mit der wirklich äußeren Welt beschäftigt, über dem schlafenden Menschen, und derjenige, der über die allgemein gültigen Gesetze meditiert, wird höher gestellt als jener, der sich mit der konkreten Wirklichkeit befaßt. Teilweise stimmt diese Auffassung. Aber zunächst einmal wollen wir sehen, worin sie falsch ist und inwiefern die Vedanta mit Recht den Zustand des tiefen Schlafes über den Zustand des Traumschlafes stellt und diesen wiederum über den Zustand des Wachens. Vom Nicht-Denken (traumloser Schlaf) zum rein intellektuellen Denken (Meditation) hin will die Wahrnehmung der unausdrückbaren Urwahrheit sich mehr und mehr in mentaler Form verkörpern. 59

Aber die mentale Form, oder, anders ausgedrückt, die Form der geistigen Vorstellung ist dem flachen Durchschnitt eines Volumens vergleichbar. Sicherlich sagt dieser Durchschnitt etwas über das Volumen aus, doch unterscheidet er sich wesentlich von ihm. je geschickter und genauer der Durchschnitt durchgeführt wird, desto genauer sind zwar die Angaben, die man dadurch über das Volumen erhält. Zugleich aber wächst auch damit der Anspruch des Durchschnittes, das Volumen selbst zu sein. Je genauer folglich die Angaben sind, welche aus dem Schnitt resultieren, desto mehr hintergeht also der Schnitt denjenigen, der ihn in Betracht zieht, das heißt desto weniger unterrichtet er den Betreffenden in Wirklichkeit. Beim meditierenden Menschen (5, Denkmodus) erreicht daher der Irrtum seinen Höhepunkt, da dieser Mensch glaubt, daß seine geistigen Vorstellungen einer objektiven und allgemein gültigen Wirklichkeit in adäquater Weise entsprechen. Bei dem Mensehen, der sich mit der konkreten Wirklichkeit befaßt, ist der Irrtum schon geringer, weil er mit seinen Bildvorstellungen nur eine beschränkte Wirklichkeit erfassen will. Der Mensch, der sich in Träumereien ergeht, täuscht sich noch weniger. Er ist noch weniger anspruchsvoll, Er verwechselt sein „Träumen" nicht mit der „Wirklichkeit". Noch geringer wird dann der Irrtum bei demjenigen Menschen, der im Schlaf träumt. Seine Bilder sind noch bescheidener, sie wollen nur auf indirekte Weise auf eine Wahrheit hindeuten, die sie als solche nicht in sich selbst enthalten. ) Der Mensch endlich, welcher traumlos schläft, täuscht sich überhaupt nicht mehr, weil die Anmaßung seines formalen Denkens mit diesem Denken selbst aufgehört hat. Vom 1. zum 5. Denkmodus wird also in gewisser Hinsicht eine absteigende Linie offenbar, da die Form immer stärker den Sinn des Denkens sozusagen in sich saugt und die unformale prinzipielle Substanz hinter dem entstehenden „Bildervorhang™ daher immer mehr verblaßt. Die Bilder selbst entbehren somit immer mehr des tragenden Grundes. Sie gleichen Banknoten, deren Goldwert immer tiefer sinkt. Diese Bewertung der fünf Denkarten, die also eine absteigende Hierarchie vom ersten zum fünften Modus hin zu erkennen gibt, wäre die einzig richtige, wenn der Mensch nur vom jeweiligen Augenblick her zu beurteilen wäre. Sie ist aber nicht mehr allein gültig, sobald dem Menschen Entwicklungsmöglidikeiten innerhalb der Dauer zuerkannt werden. Im jeweiligen Augenblick unterliegt ein Mensch, der sich in tiefem Schlaf befindet, tatsächlich weniger der Täuschung als der Mensch, der meditiert. Zieht man aber die Dauer in Betracht, dann, ist wiederum der meditierende Mensch dem in tiefem Schlaf Befangenen überlegen. Denn indem der Mensch meditiert, wobei er das illusorische Wirken seiner ich-bezogenen, dem Dualismus Subjekt-Objekt unterworfenen Grundsituation so weit wie möglich treibt, nähert er sich dem Augenblick des Satori. In ihm verschwindet der in Täuschungen befangene „alte Mensch", weil der „neue Mensch" geboren wird, in dessen Innern das unformale, prinzipielle Denken 1

1) Man beachte, daß die höchsten „esoterischen" Lehren sich immer und notwendigerweise der Symbole und Mythen bedient haben. 60

lebendig ist (dieses Denken, das in Bezug auf die fünf gewöhnlichen Denkmodalitäten sowohl immanent als auch transzendent ist.) Wie wir später sehen werden, kann das Denken der fünften Denkart, das meditative Denken, Satori nicht von sich aus auslösen, Aber ohne dies meditative Denken käme der Mensch nie zu einem Wissen darüber, wie das Satori. ausgelöst werden kann, folglich könnte er es nie erreichen, Nur auf dem Wege dieses abstrakten, höchst anspruchsvollen und in einer Richtung am meisten irreführenden Denkens kommt der Mensch zur Erkenntnis, wie nichtig sein ganzes Tun und Treiben hinsichtlich seiner nicht-zeitlichen Verwirklichung ist, nur so kann er begreifen, wie er sich verhalten muß, um zur inneren Entspannung zu gelangen, die den plötzlichen Ausbruch des Satori ermöglicht. So gibt es innerhalb der Reihe der fünf verschiedenen Denkarten des Durchschnittsmenschen zwei einander entgegenlaufende Hierarchien, Unter dem Gesichtspunkt des Augenblicks seheint das Denken von der ersten bis zur fünften Denkweise an Wert zu verlieren. Von der Perspektive der Dauer, der Perspektive einer möglichen Verwandlung im Menschen aus betrachtet, scheint das Denken an Wert zu gewinnen von der ersten bis zur fünften Denkweise hin. Werfen wir einen kurzen Blick auf die Analogie, welche besteht zwischen der Entwicklung des einzelnen Menschen und derjenigen der Menschheit. Es gibt Leute, welche an der Idee festhalten, daß die Menschheit im Laufe der Jahrhunderte „Fortschritte" mache. Andere wiederum behaupten, daß diese wissenschaftlichen oder geistigen "Fortschritte" nur Zeichen einer fortschreitenden Auflösung seien, Wie immer versöhnt die Wahrheit diese beiden entgegengesetzten Standpunkte. Man kann von Absinken der Menschheit insofern sprechen, als die Menschheit mit der Erkenntnis ihren formlosen Zustand hinter sich gelassen hat, um sich in immer raffinierteren und bestimmteren Formen zu äußern. Andererseits darf man von Fortschritt sprechen, da sie in zyklischer Wiederkehr nach einem Kollektivausbruch hintendiert, der dem Ausbruch des Satori beim einzelnen Individuum entspricht (wenn er auch sehr verschieden von diesem ist). Dabei wird die alte Menschheit sterben, wissend, aber ohne Weisheit, und es wird eine neue Menschheit geboren werden, nicht wissend, aber weise. Kommen wir auf die fünf Arten unseres individuellen Denkens zurück und betrachten wir sie unter dem Blickpunkt des Satori, welches wir eines Tages zu erreichen wünschen. Um das Satori auszulösen, muß der Mensch in seinem psychischen Verhaken gewisse günstige Bedingungen herstellen, auf die wir später eingehen werden. Zunächst einmal muß der Mensch in einem ersten Stadium mittels geduldiger geistiger Arbeit zu verstehen lernen, welche diese günstigen Bedingungen sind und wie man sie herstellt. Nur in Bezug auf dies erste Stadium haben die fünf verschiedenen Denkarten einen verschieden hohen Wert, und nur hier gilt die fünfte Denkform als die höchste. Das Tier ist nicht fähig, das Satori zu erreichen, weil es nur über die ersten vier Denkarten verfügt, nicht über die fünfte. Das meditative, abstrakte Denken ist unerläßlich, um die Nichtigkeit aller direkten Anstrengungen zu begreifen, die der Mensch auf sich 61

nimmt, um den Bestrebungen seiner Natur völlige und definitive Befriedigung zu verschaffen. Nur das meditativ-abstrakte Denken besitzt die Fähigkeit) irgendwelche neue Methoden zu entdecken, die zur Erlangung dieser Befriedigung führen sollen. Und nur dies Denken kann sich darüber Rechenschaft geben, daß auch diese Methoden nichtig sind, bis es dann endlich nach einer langen Arbeit des Sonderns und Ausscheidens den eigentlichen. Kern des ganzen. Problems berührt. Aber das Primat des meditativen Denkens gilt nur für die erste Stufe der Vorbereitung, welche das theoretische Verständnis vermitteln soll. Nehmen wir an, der Mensch habe jetzt die inneren Voraussetzungen gefunden und in sich entwickelt, die ihn für den Ausbruch des Satori reif machen, so wird dieser Mensch gleichzeitig zu dem Ergebnis kommen, daß keine seiner fünf Denkweisen als solche die innerlich nötigen Bedingungen herzustellen vermag. Er hat inzwischen verstanden, daß diese fünf Denkweisen für das Endstadium der inneren Arbeit gleich unergiebig sind: der traumlose Schlaf ist unwirksam, weil das Nicht-Ich abwesend ist. Die folgenden vier Denkweisen müssen unwirksam sein, weil das „formende" mentale Denken, sobald es anfängt darauf hinzuarbeiten, die Wirklichkeit zu erfassen, den Menschen an der unmittelbaren Vereinigung mit der unformalen Wirklichkeit hindert. Die notwendige Bedingung für die Auslösung des Satori besteht in einer Auffassung, deren Natur wir im folgenden darzustellen versuchen und welche dem gewöhnlichen Menschen nicht natürlich und spontan erscheint, wie die fünf bekannten Arten seines Denkens. Um dies zu erklären, bedarf es einiger Umwege. Untersuchen wir zunächst einmal die Bedingungen eines bestimmten psychologischen Phänomens, das eine Reihe von Menschen sicherlich schon an sich beobachten konnte; ich sitze irgendwo bequem und bin ganz darin vertieft, ein Buch zu lesen, das meine ungeteilte Aufmerksamkeit erregt und mich in keiner Weise an mein gegenwärtiges Leben denken läßt. Idi identifiziere mich mit keinem der Helden meines Buches, sondern bin rein betrachtender Zuschauer. In Bezug auf mein persönliches Leben befinde ich mich in völliger Ruhe und Passivität. Furcht und Hoffnung sind aus meinem Geiste gewichen. Das Zwiegespräch, das das Buch in der Auseinandersetzung mit mir als Leser sein könnte, wird zum reinen Monolog; keine innere Stimme in mir unterbricht ihn oder sucht ihn zu deuten, keine eigenen Reflexionen über meine persönlichen Befürchtungen und Hoffnungen stören ihn. Mein Körper befindet, sich in bester Verfassung und gibt meinem Geiste keinerlei Alarmzeichen. Alles in mir ist ausgewogen und im Gleichgewicht. Schließlich löst sich die schon vorher geringe und spannungslose Teilnahme an der Lektüre des Buches völlig. Die Ruhe in mir wird so vollkommen, daß sie ein wirkliches „Aufhören" verkörpert, (wir werden gleich sehen, was hierbei aufhört). Plötzlich wird diese innere Ruhe durch eine Wahrnehmung der Sinne (durch einen Gegenstand, der in mein Gesichtsfeld ruckt, oder durch einen Klang, den ich aufnehme) unterbrochen. Ich sehe nun diesen Gegenstand oder höre diesen Ton 62

einer Weise, wie ich sonst nie höre oder sehe. Es ist, als ob die Formen und Klänge, weiche mir sonst begegnet waren, wie durch einen Bildschirm hindurchgegangen wären, der sie entstellt hatte, während sie mir jetzt, in diesem besonderen Augenblick, auf direkte Weise und in ihrer reinen Wirklichkeit entgegenkornmen. Ein ganz besonders bemerkenswerter Umstand ist dabei die Tatsache, daß meine sinnesmäßige Wahrnehmung mir gleichzeitig eine Erkenntnis der äußeren Welt und meiner selbst verschafft. In einem solchen Augenblick empfinde ich keine Trennung mehr zwischen der Welt and mir seihst, obwohl die beiden Bereiche getrennt sind. Das Nicht-Ich und das Ich bleiben zwei Bereiche, welche zu einer Einheit verbunden sind. Aber im Verlaufe von. wenigen Sekunden, während derer mir der eben beschriebene Vorgang bewußt wird, geht meine neue Sicht der Dinge vorüber und ich kehre zu meinem gewohnten Zustand zurück. Vergleicht man diese innere Erfahrung mit den Berichten, welche manche Meister des Zen über ihr Satori hinterlassen haben, so springen uns eine Reihe von gemeinsamen Punkren ins Auge; Zunächst einmal das Gefühl der großen inneren Ruhe, verbunden mit dem Eindruck des „Aufhörens", wobei der Betreffende sich in einer Verfassung befindet, die zugleich Wachen und Schlafen sein könnte. Dann das Aufhören jeder geistigen Erregung (der Zen-Mönch sagt, daß er dann „wie ein Narr, wie ein Einfaltspinsel sei"), ferner die wesentliche Rolle, welche eine sinnesmäßige Wahrnehmung für das Auslösungsmoment einer neuen Sicht aller Dinge spielt, außerdem die Plötzlichkeit dieses inneren Erlebnisses und der Eindruck von Klarheit und Einheit in dieser neuen Sicht der Dinge. Allerdings besteht auch ein großer Unterschied; Die eben geschilderte Erfahrung hinderläßt bald nur ein kurzes Erinnern, während das Satori den Beginn eines neuen Lebens darstellt, welches endgültig von jeder dualistischen und ich-bezogenen Selbsttäuschung befreit ist. Wie soll man diese Ähnlichkeiten und Unterschiede auffassen? Weshalb bin ich zunächst einmal in diesen kurzen vorübergehenden Satori geraten? Die Antwort lautet: weil sich eine außergewöhnliche Ruhe in meinem Geist verwirklicht hat. Im Verlaufe der Lektüre arbeitet zwar mein Geist weiter, aber nach einem gleichförnigen, regelmäßigen, stetigen Rhythmus, wobei er einen Vorstellungsablauf von leichten, konturlosen Bildern produziert. Schließlich verschwinden diese Bilder ganz und mein Geist kehrt in sein Zentrum zurück, ohne irgend etwas auf die Oberfläche treten zu lassen, In diesem Moment ist die übliche Verkrampfung aus meinem mentalen Bereich verschwunden, obwohl mein Geist arbeitet, denn ich befinde mich nicht im Zustand des tiefen Schlafes. Mein in dieser Welse entspannter, aber nicht schlafender Geist ist in der Lage, ruhig und reaktionslos diese nicht-dualistische Sicht des Daseins zu gewinnen, der er sich gewöhnlich auf Grund seiner Bewegtheit und seiner unruhigen Reaktionen verschließt. Das Verhalten dieses Geistes gleicht demjenigen eines Mensehen, der in einen Raum eingesperrt ist, dessen Türe sich nach innen öffnet. Der Gefangene rennt üblicherweise gegen diese Tür an, um sie zu öffnen, Je mehr er aber gegen sie anrennt, umso weniger öffnet sie sich, Hört er aber einen Augenblick auf, 63

gegen die Tür zu stoßen, so öffnet sie sich von selbst. Warum hat aber nun mein Satori nicht angedauert? Weil die Bedingungen, die ihn zustande kommen ließen, künstlicher Natur waren. Die vollkommene Ruhe hat sich meiner nur bemächtigt, weil ich auf Grund eines augenblickliehen Vergessens meine üblichen, auf mich selbst bezogenen Vorstellungen beiseite geschoben habe. Zufälligerweise war mir jede Gelegenheit entzogen worden, mit meinem Ego mich, zu beschäftigen, stelle ich daraufhin meinen kurzen Satori bewußt fest, indem ich mir sage, daß mir das widerfahren sei, so tritt hiermit mein ganzes ich-bezogenes Leben, welches einen kurzen Augenblick lang außerhalb meine« mentalen Bereiches gelegen war, wieder auf und unterbricht das Satori, was die üblichen Konsequenzen von Gefühlserregungen und Selbsttäuschungen nach sich zieht. Das endgültige und wahre Satori setzt voraus, daß sich völlige Ruhe im Geiste eines Menschen eingestellt hat, der sich von den sein Ego berührenden Lebensumständen nicht nur nicht zurückgezogen hat, sondern diese im Gegenteil in vollem Umfang auslebt. Aber wie ist das möglich? Und vor allem: worin besteht diese Ruhe des Geistes? Wir haben gesagt, etwas hat „aufgehört", aber was? Es kann sich nicht um das Aufhören des geistigen Vorstellungsablaufes handeln, da doch der Betreffende wach ist und nicht schläft. Sein mentales Bewußtsein funktioniert und ist in Bewegung, aber es funktioniert „glatt", ohne „Gestolper". Was aufhört, ist also nicht das mentale Bewußtsein selbst, sondern nur das „Gestolper", d.h. die Unregelmäßigkeiten seines Rhythmus. Dies "Gestolper" entspricht ganz einfach den Gefühlserregungen. Das kurze Satorierlebnis der oben erwähnten Erfahrung konnte bei mir auftreten, weil ich seit einer oder seit zwei Stunden frei von Gefühlserregungen war. Ich hatte jedes Bild, das mein persönliches Leben betraf, außerhalb meines geistigen Bereiches gelassen, denn mein Buch hatte meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, ohne mich im geringsten zu erregen, auch mein in bequemer Verfassung sich befindender Körper hatte diese Ruhe nicht gestört. Ich empfand auf diese Weise weder Freude noch Schmerz. Diese Abwesenheit von Gefühlserregungen war die Voraussetzung für das nicht „holprige" Funktionieren meines Geistes und dieses glatte Funktionieren wiederum bedingte in mir die plötzliche Auslösung des nicht-dualistischen Bewußtseins der Existenz. Worin aber besteht die Gefühlserregung? Um sie aus unserem psychischen Verhalten ausschalten zu können, müssen wir zunächst ihr Wesen erkennen. (Wir werden später auf die Gründe zu sprechen kommen, weshalb der Durchschnittsmensch sich so heftig gegen die Vorstellung wehrt, die Gefühlserregungen aus seinem psychischen Leben auszuschalten.) Die Gefühlserregung stellt einen Kurzschluß der vitalen Energie des Menschen dar zwischen seinem instinktiven, negativen und seinem geistigen, positiven Zentrum, Dieser Kurzschluß besteht in einer Energiedesintegration, die zwischen diesen beiden Zentren entsteht, und zwar in einem Punkt, den man als drittes Zentrum betrachten kann und den man als „Erregungszentrum" bezeichnet. 64

(Nach dem Satori liegt dieser Punkt nicht mehr, den beiden andern Punkten gleichend, auf derselben Ebene wie diese, sondern entspricht der oberen Spitze des Dreiecks der dreieinheitlichen Synthese.} Der Erregungskurzschluß kommt zustande, wenn das intellektuelle Zentrum nicht isoliert ist. Welchem Faktor entspricht nun dies Fehlen einer Isolierung des intellektuellen Zentrums? Es entspricht der geistigen Passivität vor dem letzten Problem der menschlichen Grundsituation, so wie dieses sich im gegenwärtigen Augenblick äußert. Alle inneren und äußeren Bewegungen des Menschen haben einen einzigen ursächlichen Motor: das natürliche Bedürfnis des Menschen, als unterschiedliches Individuum zu bestehen, d. h. sein natürliches Bedürfnis zu „existieren". Dieses Bedürfnis kommt aus unserem instinktiven Zentrum. Dar Mensch aber ist sich dieses Bedürfnisses nicht bewußt, im A u g e n b l i c k , wo d i e s e s B e d ü r f n i s w i r k s a m w i r d -und s o w e i t e s i m g e g e n w ä r t i g e n M o m e n t f ü h l b a r w i r d . Auf theoretische Weise kann sich der Mensch dessen bewußt sein, aber nicht praktisch, wenn dies Bedürfnis im Augenblick sich geltend macht. Alles im Menschen funktioniert nach dem Grundsatz: „Da es nun einmal Tatsache ist, daß ich existieren muß". Sein Geist kann sich aktiv alle Erscheinungen dieses primären Bedürfnisses bewußt machen, aber diese Bewußtmachung der Erscheinungen schließt das Bewußtsein dessen, was diese Erscheinungen bedeuten, aus. Versuchen wir es noch auf eine andere Art klar zu machen. Hinter allem, was der Mensch erlebt, spielt sich in ihm vor seinem inneren Tribunal der illusorische Prozeß seines Seins oder seines Nicht-Seins ab. Die Aufmerksamkeit des Menschen wird von den jeweiligen Veränderungen dieses inneren Prozesses in Anspruch genommen und diese erscheinen ihm immerzu wesentlich und neuartig. Dabei ist ihm dieser Prozeß selbst und die mit ihm verbundene fortgesetzte Monotonie nicht bewußt. Der Mensch bemerkt zwar die verschiedenen Formen seines jeweiligen psycho-somatischen Zustandes, er sieht auch ihre qualitativ wechselnden Veränderungen. Aber er sieht hinter den formalen Änderungen seines augenblicklichen Befindens nicht die quantitative Veränderung dessen, was wir das nicht-formale Existenzempfinden nennen. Wenn ich in irgend einem Augenblick durch eine innere, intuitive und völlig einfache Geste den nichtformalen Eindruck, mehr oder weniger intensiv zu existieren, gewinnen w i l l , so kann ich das. Sobald ich aber aufhöre, zu wollen, hört auch mein Existenzempfinden auf, und meine Aufmerksamkeit wird wieder von neuem durch formale Wahrnehmungen abgelenkt. Wenn ich willentlich, mein nicht-formales Existenzempfinden wahrnehme (welches quantitativ veränderlich ist), wird mein Geist vor der letzten Wirklichkeit meiner augenblicklich konkret erlebten menschlichen Grundsituation aktiv. Somit wird mein intellektuell-geistiges Zentrum isoliert und ich erlebe keine Gefühlsbewegung, Sobald ich jedoch diesen willentlichen, nicht natürlichen Vorgang unterbreche, verliert mein intellektuelles Zentrum seine Aktivität, es gibt seine Isoliertheit auf und meine Gefühlserregungen setzen wieder ein, 5 Benoit, Die hohe Lehre

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Mein nicht-formales Existenzempfinden verändert sieh quantitativ vom völlig reduzierten bis zum überdeutlichen Existenzempfinden hin. Ohne eine besondere Anstrengung meinerseits gebe ich darauf nicht acht, obwohl es gerade das ist, um was es sich für mich handelt in meiner augenblicklichen, ich-bezogenen menschlichen Grundsituation. Ich achte vielmehr nur auf die geistigen Formen, weiche mein völlig reduziertes oder aberdeutliches Existenzempfinden jeweils hervorruft. Die Passivität meines Geistes, der ganz durch die Formen meines Zustands in Anspruch genommen ist und deren Faszination unterliegt, hat die Nicht-Isolierung des intellektuellen Zentrums im Gefolge, wodurch emotionale Kurzschlüsse, Unterbrechungen und Beunruhigungen entstehen, (Die Hindus nennen diese Art von innerem Kurzschluß den „verrückten Affen",) Der Mensch, welcher den Wunsch hegt, eines Tages den Satori zu erreichen, muß sich fortschreitend dazu erziehen, sein intellektuelles Zentrum zu isolieren, um es vor gefühlsmäßiger Beunruhigung zu schützen. Dabei darf er die äußeren Umstände, die sein Ego betreffen und ihn zu innerer Erregung verleiten könnten, weder ausschalten noch künstlich verändern. Er muß das natürliche Leben bejahen, so wie er es jeweils vorfindet. Um sich dem Satori zu nähern, muß er unablässig die Möglichkeit, die er besitzt, die aber immer wieder einzuschlafen droht, in sich wachhalten, das nicht-formale, mehr oder weniger negative, bzw. positive Existenzempfinden hinter den Formen seiner jeweiligen Befindlichkeit zu gewahren. Diese innere Aufmerksamkeit führt nicht nur zu keinem Verzicht auf ein ich-bezogenes, dualistisches konkretes Leben, sondern vielmehr dazu, sich eben in dessen Zentrum zu halten und sein Leben aus diesem inneren unbeweglichen Punkt heraus zu erfüllen, aus jenem Punkt, an dem der allererste Dualismus, Existieren — Nicht-Existieren, in Erscheinung tritt. Ist die Aufmerksamkeit des Menschen direkt auf die Quelle seiner Beunruhigungen hin gerichtet, dann beginnt von hier aus, nur von hier aus die innere Ruhe für ihn. Ist diese innere Ruhe zutiefst hergestellt, dann werden endlich die inneren Bedingungen für den Ausbruch des Satori erfüllt, die dualistischen Gegensätze werden versöhnt, und es entsteht eine dreieinheitliche Synthese. Es ist allerdings unmöglich, den Zustand dieser inneren Selbst-Gegenwart zu beschreiben, der in dem unmittelbaren Erkennen des Intensitätsgrades der Existenz im Augenblick besteht, da ja der Charakter dieser Wahrnehmung gerade nicht formaler Art ist. Nehmen wir an, ich frage Sie: „Wie fühlen Sie sich in diesem Augenblick?", so würden Sie Ihrerseits wohl antworten; „In welcher Hinsicht? Physisch oder moralisch gesehen?" Ich antworte Ihnen darauf: „In jeder Hinsicht zugleich. Wie fühlen Sie sich?" Vielleicht schweigen Sie erst zwei Sekunden lang und sagen dann zum Beispiel: „Nicht gerade schlecht", oder „Es geht so", oder „Sehr gut" oder irgend etwas a n d e r e s . . . Von den zwei Sekunden, während derer Sie geschwiegen haben, fällt die zweite für unser Interesse fort, denn Sie haben sie lediglich dazu benutzt, um für die Beschreibung Ihres Gesamtbefindens eine verständliche Ausdrucksform zu finden. In 66

dieser zweiten Sekunde haben Sie bereits von der Wirklichkeit Ihrer inneren Verfassung, die uns allein interessiert, etwas unterdrückt. In der ersten Sekunde nur haben Sie etwas von dem erkannt, um das es sich unaufhörlich für Sie wirklich handelt und Ihnen normalerweise nicht bewußt ist, da I h n e n nur die Formen bewußt sind, die dieser unbewußten Wahrnehmung folgen oder auch jene Formen, anläßlich derer diese unbewußte Wahrnehmung auftritt. Sollte jemand nach der Lektüre hier den Versuch anstellen, jene nicht-formale Wahrnehmung seiner Existenz bei sich zu machen, so möge er nicht voreilig urteilen: man glaubt so leicht, daß man so weit sei, ohne so weit zu sein. So viele Arten des Irrtums es auch hierbei geben mag, der Irrtum selbst besteht grundsätzlich in irgend einer Art von Komplikationen, die mit den mentalen Formen zusammenhängt. Man ist nicht einfach genug. Die nicht-formale unmittelbare Wahrnehmung der Existenz ist die einfachste Wahrnehmung, die man sich nur vorstellen kann, Sie kann inmitten der intensivsten äußeren Tätigkeit in vollkommener und richtiger Weise stattfinden, ohne diese äußere Tätigkeit im mindesten zu stören. Ich brauche mich .nicht von dem wegzuwenden, womit ich gerade beschäftigt bin, sondern ich fühle meine Existenz direkt vom Zentrum der formalen Welt meines Tuns heraus, sowie durch die Aufmerksamkeit, welche ich diesem Tun zuwende. Wir haben schon früher festgestellt, daß der Durchschnittsmensch sich dagegen wehrt, eine Verminderung seiner Gefühlserregungen ins Auge zu fassen, Er gleicht einer Raupe, die erst dann zum Schmetterling wird, wenn sie das Stadium der Raupe durchgemacht hat. Die Raupe bewegt sich nur auf dem Boden, sie kann nicht fliegen noch kann sie sich der Dimension der "Höhe" erfreuen. Aber wenigstens kann sie sich bewegen. Verglichen mit dieser Bewegung erscheint ihr der unbewegliche Zustand der Puppe entsetzlich. Trotzdem würde ihr der zeitweise Verzicht auf eine unvollkommene Bewegung eine bessere und vollkommenere Bewegung vermitteln. Die Gefühlsbewegungen gleichen den Bewegungen der Raupe. Fühlen ist nicht dasselbe wie „Fliegen", aber es gleicht ihm und mit Hilfe von etwas Phantasie nimmt man das eine für das andere. Der Mensch legt so großen Wert auf die glanzvollen Funken seiner inneren Kurzschlüsse, und er muß erst lange und gründlich nachdenken, um zu verstehen, daß dies bloße Feuerwerk ihn zu nichts führt. Solange man noch irgend einen Wert an der Sache sieht, auf die man verzichtet, kann von wirklichem Verzicht nicht die Rede sein. Wir wollen jetzt noch auf einem andern Weg das Problem behandeln, dem wir uns in diesem Kapitel widmen: Das. was in der Umgangssprache „körperliche" und „seelische" Verfassung heißt, entspricht zwei Bereichen in uns, die nebeneinander bestehen und uns völlig verschieden erscheinen. Diejenigen Eindrücke, die mir mein Existenzgefühl vermittein, gehören entweder meinem „somatischen" oder meinem „psychischen" Leben an. Wenn Ich zum Beispiel ein negatives Lebensgefühl habe, mein Leben bedroht oder einem Angriff ausgesetzt sehe, kann sich dies in einem physischen Schmerz oder in einem seelischen Leidensgefühl äußern. Es ist, als ob mein Wesen 67

der Außenwelt zwei Seiten zeige, eine somatische und eine psychische, wobei diese beiden Seiten den aufbauenden wie den abbauenden Einflüssen der Welt ausgesetzt sind. Meine Eindrücke werden durch die Außenwelt ausgelöst, aber ich fühle sie in mir selbst entstehen. Mein physischer Schmerz kann durch einen Faustschlag ausgelöst werden, doch empfinde ich, wie er sich in meinem Körper bildet. Auch mein moralischer Kummer kann durch irgend ein äußeres Ereignis entstehen, doch fühle ich, wie er in dem, was ich als meine Seele bezeichne, entspringt. Versuche ich zu erkennen, wo sich in mir diese Eindrücke bilden, so gelingt mir das nicht. Mein somatisches Schmerzgefühl ist aus einer Quelle in mein Bewußtsein getreten, von der mein Bewußtsein nichts weiß. Dasselbe gilt für das moralische Leiden, Ich sehe wohl, daß dieses Leiden an dieses oder jenes geistige Bild gebunden ist, aber woher ist dies Bild in meinem Bewußtsein gekommen? Auch hier muß ich zugeben: aus einer nicht bewußten Quelle. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als diese Quelle als die Quelle meines Lebens zu betrachten. Ich sehe in ihr ein einheitliches Prinzip, denn ich habe die intuitive Vorstellung, einheitlicher Natur zu sein, ich habe die Vorstellung von einer einheitlichen Synthese jenseits meiner dualistischen Reaktionserscheinungen. Betrachte ich "flußaufwärts" den Strom meines somatischen und psychischen Lebens, so erkenne ich, daß diese beiden Strömungen sich im Mittelpunkt einer einzigen Quelle vereinen. Damit verstehe ich auch, warum mein Körper und meine „Seele" unaufhörlich in gegenseitiger Wechselwirkung zu stehen scheinen. Ein dritter Begriff, der Begriff vom synthetischen „Sein" verbindet die getrennten beiden andern Begriffe. Es wird mir klar, daß ich die gegenseitigen Reaktionen von „seelischem" und physischem Befinden bisher falsch verstanden habe. In Wirklichkeit übt die äußere Welt keine direkte Berührung aus, weder auf meinen „Körper" noch auf meine „Seele", soweit sie mir bewußt sind. Die äußere Welt berührt direkt nur diesen zentralen Kreuzungspunkt, von dem die beiden Ströme meines bewußten Lebens Ausgang nehmen, sie berührt ihn entweder d u r c h die somatische Seite, die ich ihr biete, oder d u r c h die psychische Seite. Ist dieses Zentrum einmal berührt, so kann ich überall, auf somatischem wie auf psychischem Gebiet, Empfindungen haben. Diese Empfindungen können zwar insbesondere auf dem somatischen oder psychischen Gebiet auftreten, durch das mein Zentrum berührt worden ist, sie können aber auch in demjenigen dieser beiden Bereiche in Erscheinung treten, durch das mein Zentrum gerade nicht berührt wurde. Diese Aufteilung der jeweils vorherrschenden Eindrücke auf psychischem oder physischem Gebiet hängt bis zu einem gewissen Grade mit der Art des Kontaktes zusammen, der mit der Außenwelt stattgefunden hat, großenteils aber hängt sie von der Natur des betreffenden Menschen ab. Dem entspricht auch die Unterscheidung in der Psychiatrie zwischen dem „hysterischen" und dem „Zwangsneurotiker". Der Zwangsneurotiker hat vor allem psychische, der Hysteriker vor allem somatische Eindrücke. Eine schlechte Verdauung vermittelt oft dem „psychisch labilen" Menschen keineswegs den Eindruck von Leib68

schmerzen, sondern nur „schwarze Gedanken". Eine schlechte Nachricht wirkt sich häufig beim Hysteriker einzig in physischem Übelbefinden aus. Das physische und das psychische Gebiet sind nicht eigentlich getrennte Bereiche und das Problem ihrer wechselseitigen Wirkungen braucht uns nicht länger hier zu beschäftigen. Die Suche nach der Brücke, die diese beiden Bereiche miteinander verbindet, ist unnütz. Keinerlei Brücke verbindet sie, aber sie haben einen unmittelbaren Kontakt in dem Punkt, wo sie entstehen, im zentralen unbewußten Kreuzungspunkt meines Wesens. Diese beiden Arten von Erscheinungen sind die verschiedenen Äußerungen ein und desselben Urprinzips und haben nicht gegenseitig auf einander zu reagieren. Wenn ich nach dem Genuß von Alkohol „rosige Vorstellungen" habe, warum soll ich dabei von einer Wirkung meiner „Physis" auf meine „Seele" sprechen? Das Zentrum in mir hat sich einem bestimmten Einfluß der äußeren Welt unterzogen, und zwar auf dem Wege über die somatische Seite meines Wesens. Nach der Berührung mit dem zentralen Kreuzungspunkt in mir wirkt sich dieser Einfluß sowohl auf mein somatisches Bereich aus (durch allgemeines Wärme- und Leichtigkeitsgefühl meines Körpers) als auch auf mein psychisches Bereich (durch das Gefühl von Fröhlichkeit). Eine Glücksbotschaft oder die belebende Wirkung eines freundschaftlichen Zusammenseins können ohne den Genuß von Alkohohl in mir genau dieselben Erscheinungen hervorrufen. Der äußere Einfluß hat mein inneres Zentrum erreicht und obwohl er diesmal über meine psychische Seite in Erscheinung getreten ist, waren seine Wirkungen dieselben und haben also dieselbe doppelte Wirkung hervorgebracht. Dieser zentrale Kreuzungspunkt meines „Wesens" ist, wie wir schon sagten, unbewußt. Aus dem uranfänglich Unbewußten leitet sich mein Bewußtsein ab. Das Unbewußte darf nicht als einfache bloße Abwesenheit des Bewußtseins betrachtet werden, sondern vielmehr als das „Absolute Denken", welches jenseits aller bewußten Erscheinung liegt und aus dem das Bewußtsein entspringt. Es ist das „Nicht-Mentale" Prinzip im Zen, aus dem all unsere mentalen und physischen Erscheinungen hervorgehen. Hier finden wir wieder die schöpferische Dreieinheitlichkeit vor: Über dem „Psychischen" (der positiven Kraft) und über dem „Physischen* (der negativen Kraft), liegt ein höherer, versöhnender Pol, den wir ob des offensichtlichen Primates der unteren positiven Kraft über die untere negative Kraft, „absoluten psychischen Pol" nennen wollen (nicht etwa „Absolute Materie"), oder wie es im Zen heißt „das Nicht-Mentale" (und nicht etwa das „Nicht-Körperliche''). Im Hinblick auf diese wesentlichen Grundbegriffe müssen wir uns danach fragen, welcher Unterschied zwischen dem gewöhnlichen und dem „verwirklichten" Menschen besteht. Beide Menschen existieren dank des zentralen Kreuzungspunktes, des Sitzes ihres schöpferischen Prinzips. Im Grunde herrscht also kein Unterschied zwischen diesen beiden Arten von Menschen, und dies wird auch in der Lehre des Zen bestätigt. Das Zen betont, daß diese beiden Menschen dieselben strukturmäßigen Voraussetzungen besitzen und daß dem gewöhnlichen 69

Menschen nichts fehle. Auch hat der „verwirklichte" Mensch nichts erworben, was dem gewöhnlichen Menschen etwa fehlte. Aber obwohl diese beiden Menschen identisch sind, unterscheiden sich ihre Lebensäußerungen. Warum? Soll das heißen, daß der unbewußte zentrale Kreuzungspunkt heim Eintritt des Satori bewußt geworden wäre? Eine solche Annahme entbehrte jeglichen Sinnes denn das Prinzip des Bewußtseins ist notwendigerweise immer oberhalb und außerhalb des Bewußtseins, daher unbewußt. Nein, die richtige Antwort lautet anders: beim, gewöhnliehen Menschen geht alles so vor sich, als ob der zentrale Kreuzungspunkt eingeschlafen und passiv sei, und beim „verwirklichten" Menschen verhält es sich so, als ob sein Zentrum erweckt und aktiv sei. Es fällt verhältnismäßig leicht, sich den eingeschlafenen Zentralen Kreuzungspunkt des gewöhnlichen Menschen vorzustellen: es handelt sich tatsächlich nur um einer! ,Kreuzungs"-Punkt, um einen Ort, wo die Einflüsse der äußern Welt zusammentreffen. Ober diesen einfachen „Ort" hinweg erreichen die Einflüsse von draußen die sekundären Zentren der somatischen und psychischen Bereiche, welche ihrerseits darauf durch automatische Reaktionen antworten. Der Durchschnittsmensch, dessen zentraler Kreuzungspunkt im Schlafzustand befangen ist, ist ein Automat. Beim „verwirklichten" Menschen ist die zentrale Strömungskreuzung nicht eingeschlafen, das Absolute Prinzipielle Denken Ist in ihm wirksam (obwohl, das sei nochmals gesagt, immer nur unbewußt). Dies Absolute, Prinzipielle Denken erhellt das jeweilige Einfließen von außen herein, Im Hinblick auf die Gesamtheit der Dinge sieht es den jeweiligen besonderen Einfluß in der Gesamtheit des universellen Zusammenhangs. Es sieht den besonderen Einfluß also in seiner Relativität, daher sieht es ihn so, wie er wirklich ist. Nach dieser erhellenden und „erweckten" Sicht der Dinge (das öffnen des »dritten Auges" im Zentrum des Unbewußten), und nicht nach einer in Ermangelung von Zusammenhängen verfälschten Sicht der Dinge, richten sich jetzt die sekundären Zentren in ihren Reaktionen. Ihre jeweilige Reaktion wird der Wirklichkeit entsprechen. Der gewöhnliche Mensch war eine Maschine, deren Reflexe durch den einen oder anderen besonderen Aspekt der äußeren Welt bestimmt waren. Der „verwirklichte" Mensch hingegen ist eine Maschine, deren Reflexe durch die Gesamtheit des Kosmos bestimmt sind, die der besondere Aspekt jeweils vermittelt. Der „verwirklichte" Mensch Ist somit identisch mit dem Kosmischen Prinzip (soweit dieses in Erscheinung tritt) und er äußert sich wie dieses Prinzip selbst in jeweils reiner und völlig freier Erfindung. Dieses absolute, universelle, unbewußte Denken stellt, sobald es im Zentrum des Mensehen wirkt, die Absolute Weisheit dar, der natürlich keinerlei formale „Intelligenz" auch nur im geringsten vergleichbar ist. Diese Weisheit ist ja nicht formaler Natur, sie steht über allen Formen und ist somit deren uranfänglicher Grund, Wir haben behauptet, daß das unbewußte universelle Denken im inneren Zentrum des Durchschnittsmenschen schlafe und Im Zentrum des „verwirklichten" Menschen erweckt sei. Beachten wir weiterhin, daß der Schlafzustand dieses 70

Absoluten Denkens Gradunterschiede aufweist und diese Gradunterschiede .nach der entgegengesetzten Richtung der fünf Denkarten des gewöhnlichen Menschen gestuft sind. Wenn der Durdtschnittsmensch traumlos schläft, ist das Absolute Denken gleichsam in ihm erweckt (genauer gesagt, es ist „nicht-eingeschlafen"), und dieser Mensch gleicht völlig dem "verwirklichten" Menschen. Doch äußert sich dies in keiner Weise in seinem Bewußtsein, denn in diesem Zustand ist kein Bewußtsein möglich, Es äußert sich nur im harmonischen Spiel und in der Regeneration seines vegetativen. Lebens. Sobald dieser Mensch zu träumen beginnt, das heißt sobald sein formales geistiges Bewußtsein einsetzt, entspricht das einem gewissen „Einschlafen" des unbewußten Absoluten Denkens, und der Mensch ist schon weniger „weise". Wenn er Im üblichen Sinne des Wortes aufwacht, schläft das Absolute Denken noch tiefer ein. Es „schläft" umso tiefer, je stärker der formale Geist in rein abstrakter und verallgemeinernder Weise wirkt. Trotzdem sind diese Momente eines möglichst tiefen „Schlafes" des Absoluten Denkens der Anlaß dafür, daß ein Mensch, dessen abstrakter Intellekt geübt wird, einer weiteren Entwicklung fähig ist. Auf das Ganze seines Lebens hin gesehen, wird das Absolute Bewußtsein im Laufe der Zeit immer weniger im Schlafzustand verbleiben. Ein solcher Mensch wird in wachsendem Maße nach einer relativen Weisheit leben, gerade als ob das Schlafen des Absoluten Denkens im Augenblick auf die Dauer das Wachwerden begünstigen wollte. Schließlich kann man sagen, daß das tatsächliche und endgültige Erwachen des Absoluten Denkens (das Satori) gewissermaßen durch einen Augenblick ausgelöst wird, in welchem der totale Schlafztatand dieses Absoluten Denkens verwirklicht worden ist und in dem das mentale Denken die äußerste Grenze seines inneren Dualismus erreicht hat. Um es noch anders auszudrücken: der traumlos schlafende Mensch ist in das Zentrum seiner selbst zurückgekehrt. Der träumende Mensch hat sich bereits von seinem Zentrum entfernt, Der erwachte und seinen Wachträumen nachträumende Mensch ist noch „ex-zentrischer", Der Mensch, der sich der äußeren Wirklichkeit anpaßt und derjenige, welcher meditiert, sind noch weiter von sich selbst entfernt und noch weiter von ihrem Zentrum weggerückt. Der traumlos schlafende Mensch ist im Besitz der Wirklichkeit, ohne sich dessen bewußt zu sein. Je mehr er die Stufen des formalen Denkens emporklettert, desto ferner rückt diese Wirklichkeit und sie verschwindet in dem Maße, in dem die Möglichkeiten zunehmen, mit deren. Hilfe sie erfaßt werden soll. Es ist so, als ob ein Mensch sich von einem warmen Raum umso mehr entfernte, je mehr seine Wärmeempfindlichkeit zunimmt. In den Momenten, die dem Satori vorausgehen, ist der Mensch von seinem wahren Zentrum denkbar weit entfernt. Im Augenblick des Eintritts des Satori verkehrt sich die bisherige distanzierte Beziehung zum eigenen Zentrum in ihr Gegenteil, und der Mensch befindet sich plötzlich in seiner Eigenschaft als „universeller Mensch" endgültig mitten in seinem Zentrum, obwohl er gleichzeitig in der Lage ist, sich als „persönlicher Mensch" von seinem 71

Zentrum zu entfernen, um sich in die verschiedenen Arten des formalen Denkens zu begeben. Der Mensch erreicht also Satori dadurch, daß er sich so radikal wie möglich von seinem Zentrum abkehrt, sich bis an die äußersten Grenzen dieser Zentrifugen Richtung hinausbegibt und den Funktionsablauf seines diskursiven Denkens, welches ihn von der Weisheit entfernt, zu seiner äußersten und klarsten Spitze treibt. Er muß das formale Denken erfüllen bis zu der Grenze hin, wo die Form dieses Denkens zerbricht. Um das zu erreichen, muß er alles Gewicht auf das gute Funktionieren seines formal-mentalen Denkens legen, um jenseits der Grenzen dieses Denkens das Nicht-Formale zu entdecken. Dies ist ein Unternehmen, das widersinnig an sich erscheint, aber eines Tages das Wunder des Satori bewirken kann. Das Ergebnis darf dann nicht als Erfolg dieser in absurder Weise geleisteten Anstrengungen gewertet werden, sondern nur als deren endgültiges Scheitern, das den Sieg über alle vorhergehenden Anstrengungen davongetragen hat. Der Mensch wäre jemandem zu vergleichen, der durch eine Mauer vom Licht getrennt ist und das Licht nicht erreichen könnte, ohne diese Mauer immer höher zu bauen, bis einmal der Tag kommt, da all seine unnütz erscheinende Anstrengung den Bau der Mauer so in die Höhe geführt hat, daß diese ihr Gleichgewicht verliert und plötzlich einstürzt, Diese definitive Katastrophe bedeutet den Sieg und führt den Menschen dem vollen Lichte zu. Eber solchen scheinbar sinnlosen, aber notwendigen Anstrengung unterziehen wir uns, wenn wir uns bemühen, im Laufe der Ereignisse unseres täglichen Lebens unsere nicht-formale Existenz in ihrer größeren oder geringeren Intensität zu empfinden. Dieser Versuch zu einer nicht-formalen Wahrnehmung unserer Existenz gleicht keineswegs unseren sonstigen geistigen Reflexen, welche in geistigen Anspannungen bestehen, die Bildvorstellungen erzeugen. Das Gegenteil ist der Fall. Es handelt sich um den Versuch zur Entspannung, um den üblichen Spannungsreflexen aus dem Wege zu gehen. Es ist der Versuch zu vollkommener Einfachheit, der Versuch, den Verwicklungen zu entgehen, welche wir in die Frage unserer Existenz mit unseren Reflexen üblicherweise hineintragen. Wir bemühen uns dabei zu lernen, nicht irgend etwas Neues zu tun, sondern nichts mehr zu tun, unsere üblichen und überflüssigen Gemütsbewegungen abzustellen. Wir lehren unseren Geist, nicht die schwierigsten und anspruchsvollsten Bewegungen auszuführen, sondern jene einfache und reine Geste zu vollziehen, welche allen anderen Bewegungen zugrunde liegt und schließlich zur unbewegten Ruhe führt. Dieser geistig einfache Funktionsablauf stellt die höchste Stufe der Vollkommenheit im Denken des gewöhnlichen Menschen dar; er sprengt den Rahmen der obersten fünften Denkart, gehört in das Bereich des traumlosen Schlafes ohne Formen und erreicht in einer vollkommenen Kreisbewegung das nichtformale Prinzip,- besser gesagt, er erreicht es in der Beschreibung einer spiralförmigen Bewegung, denn derjenige Punkt, der den Kreis beschließt, liegt hoch über dessen Ausgangspunkt.

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VII. FREIHEIT ALS „TOTALER DETERMINISMUS" UM DAS PROBLEM DER FREIHEIT SINNVOLL BEHANDELN ZU können, müssen wir auf die Grundidee zurückkommen, daß der ganze kosmische Bau auf dem streng genauen Gleichgewicht der unteren Prinzipien, des positiven und des negativen Prinzips beruht, und ein höheres versöhnendes Prinzip die beiden unteren überragt. Von der Perspektive unseres augenblicklichen, noch nicht „verwirklichten" Zustandes her gesehen hat dies versöhnende Prinzip zwei Aspekte: Wenn wir die Erscheinungen in ihrer Besonderheit betrachten, sehen wir das versöhnende Prinzip in einem beschränkten Ausschnitt und können es „versöhnendes zeitliches Prinzip" nennen. Dann ist es der Demiurg, der über die unendliche Fülle der besonderen Einzelschöpfungen, über die konstruktiven und destruktiven Erscheinungen, über Aufbau und Abbau herrscht, welche dem kosmischen Stoffwechsel entsprechen. Wenn wir die räumliche und zeitliche Gesamtheit des Kosmos betrachten, gelangen wir zur Erkenntnis des nichtzeitlichen oder höchsten oder absoluten versöhnenden Prinzips, das der erscheinungsmäßigen Vielheit Einheit verleiht. In dem nichtzeitlichen Prinzip gibt es noch keine dualistische Erscheinung, und ihm gegenüber spielte das zeitliche versöhnende Prinzip nur eine untergeordnete Rolle. Dieses Höchste Versöhnende Prinzip ist der uranfängliche Grund, geht jeder Manifestation voraus und in ihm mündet unser abstraktes Denken, wenn es der universellen Kette von Ursache und Wirkung nachgeht. Die Existenz des Demiurgen zwischen dem uranfänglichen Grund und der Erscheinungswelt führt uns notwendigerweise dazu, zwei Arten von Determinismus zu unterscheiden: einen partiellen Determinismus, demzufolge das versöhnende zeitliche Prinzip die Erscheinungen bestimmt, und einen totalen Determinismus, demzufolge das höchste, versöhnende Prinzip das versöhnende zeitliche Prinzip und mit diesem die Erscheinungen bestimmt. Jede dieser zwei Arten von Determinismus äußert sich durch Gesetze. Welches sind nun die Unterschiede zwischen den Gesetzen des partiellen und des totalen Determinismus? Die Gesetze des partiellen Determinismus sind nur auf der Ebene des Konkreten, des Räumlichen und Zeitlichen gültig. Jede besondere Manifestation dieser im Bereich des Gesonderten auftretenden Gesetze scheint eines Ordnungsprinzipes zu entbehren. Der eine Mensch zum Beispiel hat während seines ganzen 73

Daseins ein. unglückliches, der andere ein glückliches Schicksal. Dieser partielle Determinismus, der in der Erscheinungswelt auftritt, scheint ungerecht, ohne höhere Ordnung, ohne inneres Gleichgewicht, Das Gesetz des totalen Determinismus hingegen gilt nicht nur auf der Ebene der besonderen Erscheinungen, sondern im Universellen. Innerhalb dieses Determinismus vermögen wir nur vollkommene Ordnung zu erkennen. Der Gesamtheit der positiven Erscheinungen entspricht genau eine Gesamtheit von negativen Erscheinungen. Jede Erscheinung wird in einem Ganzen integriert und durch ein genau komplementäres Phänomen ausgewogen. Der partielle, erscheinungsmäßige, scheinbare, sichtbare und ordnungslose Determinismus ist nicht „wirklich", da er ja nur ein Teil ist und es Wirklichkeit nur da gibt, wo das Gesamte mit inbegriffen ist. Aber der unwissende Mensch hält das Sichtbare für das „Wirkliche". Daher glaubt er an die einzig gültige Wirklichkeit dieses partiellen Determinismus. Das geht schon aus der Bezeichnung „Determinismus'' hervor. Im übrigen besitzt dieser Mensch aber eine gewisse angeborene intuitive Vorstellung von der wahren Wirklichkeit, das heißt vom Höchsten Prinzip, dem er neben anderen Eigenschaften die der Freiheit zuerkennt. Da er nur den partiellen Determinismus kennt und nicht dem auf der Stufe des höchsten Prinzips wirkenden totalen Determinismus Rechnung trägt, setzt er den ihm allein bekannten Determinismus der Freiheit des Höchsten Prinzips entgegen und gelangt so zu dem Gegensatz „Determinismus — Freiheit", In Wirklichkeit beruht dieser Gegensatz auf einer Illusion. Nicht illusorisch hingegen ist die Unterscheidung „partieller Determinismus und totaler Determinismus". Diese Unterscheidung bedeutet keinen Gegensatz, sondern ist der Ausdruck für zwei verschiedene Betrachtungsweisen ein und derselben kausalen Wirklichkeit, wobei die eine Betrachtung auf der Stufe des individuellen Denkens, die andere auf der Stufe des universeilen Denkens ausgeführt wird. Der ich-bezogene Durchschnittsmensch möchte frei und unabhängig von beschränkenden Bedingungen sein und zwar als gesondertes Individuum. Ich kann mich sehr wohl als Einzelindividuum, als psycho-somatischen Organismus betrachten, aber ich muß verstehen, daß meine Befreiung vom partiellen Determinismus über diesen hinausführt und ihn im totalen Determinismus des Höchsten Prinzips erfüllt. Habe ich einmal meine „Verwirklichung" erreicht, so wird mein psycho-somatischer Organismus nicht mehr nur von den scheinbar ordnungslosen Gesetzen des partiellen Determinismus bestimmt, sondern vom allgemein gültigen, totalen Gesetz des universellen kosmischen Gleichgewichts, jenem streng geordneten Gesetz, welches das Prinzip all jener scheinbar ordnungslosen Gesetze des teilweisen Determinismus ist. Stelle ich mich „verwirklicht" und befreit vor, so darf ich nicht annehmen, daß mein Organismus jedem Determinismus entginge, sondern daß er bedingt ist durch den totalen Determinismus des Höchsten Prinzips, welcher mein „eigentliches Selbst" ist. Ich kann nicht der Erwartung sein, daß mein Organismus nun keiner Kausalität mehr unterworfen sei, ich muß wissen, daß er jetzt endlich dem Gesetz des Uranfäng-

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lichen Grundes gehorcht, der seine eigene Wirklichkeit ist. Meine Freiheit besteht nicht in dem Fehlen jeder Kausalität in Bezug auf meinen Organismus, sondern in der vollkommenen Ausgewogenheit in mir selbst zwischen dem Verursachten und dem Verursachenden, zwischen dem Bedingten und dem bedingenden Prinzip. Wenn ich im Augenblick meiner „Verwirklichung" aufhöre, unter einem Zwangsbewußtsein zu stehen, so nicht deshalb, weil der angebliche Zwang beseitigt ist, sondern weil er sich unendlich erweitert hat. Dadurch ist er mit der Gesamtheit eins geworden, in der Ich und Nicht-Ich identisch sind, so daß der Begriff „Zwang" jeglichen Sinn verloren hat. Aus mangelndem Verständnis hält der durchschnittliche ich-bezogene Mensch verhängnisvoller Weise die freie Handlung für grundlos, willkürlich und an nichts gebunden; so gelangt er zu völlig sinnlosen Begriffen. Diese illusorische Freiheit, weiche diesseits des partiellen Determinismus liegt und nicht über ihn hinausgeht, sondert unser Einzelgefüge vom übrigen Kosmos ab und enthält somit einen inneren Widerspruch, der sie aufhebt. In einem neuerdings erschienenen Buch über das Zen behauptet ein abendländischer Autor, daß dem durch das Satori befreiten Menschen in jedweder Lage auch jedwede Handlung möglich sei. Diese Behauptung widerspricht jedem wahren Verständnis. Der durch das Satori befreite Mensch kann in einer gegebenen Situation nur eine einzige Handlung ausführen, nämlich die der gegebenen Situation vom Ganzen her entsprechende. In der unmittelbaren, spontanen Ausübung dieser einzig adäquaten Handlung besteht gerade das Spiel der vollkommenen Freiheit dieses Menschen, Der vom partiellen Determinismus bewegte ich-bezogene Durchschnittsmensch reagiert in einer gegebenen Situation auf mittelbare Weise gemäß irgend einer von zahllosen unadäquaten Möglichkeiten; der verwirklichte, vom totalen Determinismus bestimmte Mensch hingegen reagiert unfehlbar gemäß der einzigen, vollkommen adäquaten Möglichkeit. Außerhalb der freien, adäquaten Handlung gibt es eine ganze Hierarchie von mehr oder weniger inadäquaten Handlungen, je nach der Begrenztheit oder Weite des jeweils vorliegenden partiellen Determinismus. Ganz unten in dieser Hierarchie steht die reine Reflexhandlung, hinter der keinerlei Reflexion, sondern nur Spontanität ohne Überlegung im Spiele ist. Je mehr Überlegung indes die Handlung bestimmt, umso mehr verschwindet diese untergeordnete Spontanität. Die Handlung entspricht immer mehr den umgebenden Bedingungen. Nach dem Eintreten des Satori ist die Überlegung überflüssig geworden; das Handeln wird wieder spontan und gleichzeitig wird es der zeitlichen und räumlichen Gesamtheit des erscheinungsmäßigen Universums vollkommen adäquat. Im Verlaufe dieser Hierarchie besteht eine umgekehrt proportionale Beziehung zwischen der Zwangsläufigkeit des Handelns und dem inneren Eindruck von Freiheit, der das Handeln begleitet. Je mehr der Determinismus an Strenge zunimmt, desto freier wird die Handlung innerlich empfunden. Verlangt man zum Beispiel von mir, irgendein Substantiv zu nennen, so entsteht ein Gefühl der Beklemmung und Hilflosigkeit in mir, wobei ich mir wie ein Gefangener vor75

komme. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Fragt man mich nach dem Namen irgendeines Musikinstrumentes, so fühle ich mich schon weniger beklemmt und antworte mit größerer Leichtigkeit. Fragt man mich nach dem kleinsten Instrument eines Streichquarteues, so verschwindet mein Mißbehagen ganz. Sobald ich das Wort „Geige" ausspreche, entsteht in mir ein Gefühl von innerer Befreiung, das meiner Gewißheit entspringt, adäquat und richtig zu antworten, In dem Maße, wie die Menge an Antwortmöglichkeiten abnimmt und damit meine äußere Freiheit» zu antworten, sich verringert, nimmt mein Gefühl der inneren Freiheit zu. Mit anderen Worten, mein Geist Ist umso freier, je streng umrissener und bestimmter meine jeweilige Aufgabe ist. Die Entwicklung der modernen Kunst ist ein eindrücklicher Beweis für die tiefe Hilflosigkeit, in der sich der Mensch befindet, wenn er jede Art von Disziplin ausschließt. Der innere Widerstand gegen jegliche Schranken beraubt den Menschen seines Freiheitsgefühls, welches er indessen innerhalb frei bejahter Grenzen empfindet. Mit dem Eindruck von Freiheit verliert er auch das Gefühl von innerem Beruhigtsein, dessen er bedarf, um für die Botschaft seiner aus der Tiefe seines Wesens kommenden Inspiration offen zu bleiben. So schneidet sich der Künstler, der alle äußeren Schranken einer Disziplin ablehnt und sogar stolz darauf ist, sie zu durchbrechen, die .Möglichkeit ab, sich seiner schöpferischen inneren Quelle zu bedienen, und es gelingt ihm nicht mehr, einen Ausdruck seiner selbst zu finden. Seine Arbeit wird zu einem Gestammel, und schließlich fühlt er sich ohnmächtig und wie der Sklave seiner äußeren Freiheit. Eine selbst auferlegte und spontan bejahte Disziplin ist somit nötig, damit unser Leben nicht in selbstmörderischem Chaos verläuft. Man darf andererseits nicht vergessen, daß jene Disziplin, deren Nicht-Vorhandensein unser zeitliches Leben gefährdet, zugleich ein Hindernis für unsere Verwirklichung darstellt, weil sie uns den Eindruck von innerer Freiheit verschafft, obwohl wir vor dem Eintritt des Satori in Wirklichkeit in keiner Weise frei sind. Somit ist also der Eindruck von Freiheit illusorisch und behelfsmäßig und bildet nur eine Kompensation für unsere unversöhnt dualistische menschliche Grundsituation. Die trügerischen Freuden, welche mit diesem Freiheitsgefühl zusammenhängen, verbrauchen eine vitale Energie, die wir ihnen nicht entziehen können. So ist die Disziplin in Bezug auf die nichtzeitliche Verwirklichung sowohl günstig als auch ungünstig. Sie ist indirekt günstig, da sie die zeitliche Verwirklichung begünstigt, ohne die eine nichtzeitliche Verwirklichung unmöglich ist. Und sie ist direkt gesehen ungünstig für die nichtzeitliche Verwirklichung, weil sie im Menschen die Illusion entwickelt, daß schon jetzt alles richtig in ihm funktioniere. Der Zen-Schüler löst diesen Gegensatz, indem er ihm eine gleichfalls gegensätzliche Methode gegenüberstellt: er lehnt jede besondere Disziplin ab (keine „Moral", keine „Askese", keine geistigen Übungen) und nimmt in dem Maße, wie sein Verständnis fortschreitet, die totale Disziplin an, welche eben darin besteht, sich strengstens jede besondere Disziplin zu untersagen. „Hört auf, an 76

euren Meinungen zu hängen." — „Der vollkommene Weg lehnt jede besondere Vorliebe ab," — „Erweckt den Geist, ohne ihn auf irgendeine Sache festzulegen" e t c . . . . Ein solcher Mensch kann nach und nach der bedrückenden Angst ins Auge blicken, die unausweichlich im Gefolge unbeschränkter Freiheit steht. Indem er sich unnachgiebig den verführerischen Trug aller „Überzeugungen" versagt, führt er selbst bewußt den unserer ichbezogenen Grundsituation, innewohnenden Druck und Selbstzwang zu letzter Erfüllung. Er bleibt mitten in unserem illusorischen Gefängnis, bis der Höhepunkt ohnmächtiger Bewegungslosigkeit erreicht ist, auf dem das Satori die Erscheinungswelt vollkommen umstößt und die Erscheinungen im neuen Licht wirklicher Freiheit erstehen läßt, einer Freiheit, deren Wesen all ihre besonderen, sowohl rein innerlichen als auch nach außen hin sichtbaren Aspekte transzendiert.

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VIII DIE VERSCHIEDENEN ARTEN DER ICH-BEZOGENHEiT IM ZENTRUM MEINES INNEREN, IN DIESEM HEUTE N O C H FÜR mich unbewußten Zentrum, w o h n t der ursprüngliche Mensch, der mit dem Prinzip des Universums und durch dieses dem All des Universums verbunden ist. Dieser ursprüngliche Mensch genügt völlig sich selbst, er ist das prinzipiell Eine, weder allein noch nicht-allein, weder bejaht noch verneint, er steht außerhalb jedes Dualismus. D a s ist das ursprüngliche Sein, welches jeder A r t v o n ichbezogener „Befindlichkeit" zugrundeliegt, die es in meinem augenblicklichen Bewußtsein überlagert. Da ich jetzt noch nichts weiß von der wirklichen Beschaffenheit meiner ich-bezogenen Gemütszustände, bilden diese eine Art Trennw a n d , die mich v o n meinem Zentrum und meinem wirklichen Ich fernhält. I d i hin mir meiner wesenhaften Identität mit dem Ganzen nicht b e w u ß t und betrachte mich n u r als Einzelwesen, das sich vom übrigen Universum unterscheiden will. Das Ego bin also ich selbst, insofern ich mich als v o n allem anderen unterschieden betrachte. Aber das Ego ist illusorisch, da ich in Wirklichkeit nicht als Einzelwesen bin. Ebenso sind alle ich-bezogenen Befindlichkeiten illusorischer Natur. Im ich-bezogenen G r u n d z u s t a n d fühle ich mich als ein dem Nicht-Ich entgegengesetztes Ich, als ein Organismus, dessen „Sein" sich demjenigen der andern Organismen entgegenstellt. In diesem grundsätzlichen Zustand gehöre alles, was nicht meinem eigenen Organismus zugehörig ist, zum Nicht-Ich. Ich liebe mein Ich, das heißt, ich will meine Existenz, und ich hasse das Nicht-Ich, das heißt, ich will, d a ß es verschwinde. Ich verlange nach der Bejahung meines Ich als unterschiedliches Einzelwesen und wünsche die Negierung des Nicht-Ich, soweit es darauf Anspruch macht, unabhängig von meinem Einzel-Ich zu bestehen. Innerhalb dieses ich-bezogenen Grundzustandes heißt "leben" das Ich bejahen und das Nicht-Ich verneinen; der Sieg kann materieller N a t u r sein durch E r w e r b materieller Güter, er kann auch immaterieller N a t u r sein und sich in der Erlangung von Ansehen äußern (d. h. die Anerkennung des Ich durch das Nicht-Ich., oder aber der Erwerb von Ruhm, der das Einzel-Ich „unsterblich" macht.) Der G r u n d z u s t a n d des Gefühlslebens ist beim gewöhnlichen Menschen also einfach: Dieser Mensch liebt das Ich im Gegensatz zum Nicht-Ich, und er h a ß t das Nicht-Ich im Gegensatz zum Ich, Auf die G r u n d l a g e dieses egoistischen ich-bezogenen Grundverhaltens können sich 5 altruistisch-ichbezogene Gemütszustände auftauen, welche alle den A n schein von Nächstenliebe aufweisen. 78

1.) Scheinbare Nächstenliebe durch Projektion des Ego. Gemeint ist hiermit die abgöttische Liebe, in der das Ego auf einen anderen Menschen projiziert wird. Mein Anspruch auf Göttlichkeit, insofern ich ein „unterschiedliches"' Einzelwesen bin, ist von mir auf den Anderen verlagert worden. Die Gefühlslage gleicht der vorhin beschriebenen, mit dem Unterschieds d a ß der Andere meinen Platz innerhalb meiner Werteskala eingenommen hat. Ich will die Existenz dieses vergötterten Anderen und stemme mich gegen alles, was ihm feindlich sein könnte. Mich selbst liebe ich nur noch als getreuen Diener dieses vergötterten Idols. D a v o n abgesehen hege ich keine Gefühle mehr für mich selbst, und wenn nötig, kann ich mein Leben für das W o h l meines Idoles hingeben (ich kann meinen eigenen Organismus opfern für das auf das Idol projizierte Ego; m a n denke etwa an den T o d des Empedokles, der sich in den Ätna stürzte, um sein Ego unsterblich zu machen.) Die übrige Welt hasse ich, wenn sie meinem Idol feindlich gesinnt ist. Ist sie ihm aber freundlich zugetan und bin ich in der Versenkung in mein geliebtes Idol zutiefst glücklich (d, h. in Wirklichkeit glücklich über meine ichbezogene Selbstbejahung) dann liebe ich auch die ganze übrige Welt ohne Unterschied. (Wir werden anläßlich der Erörterung der 5. A b a r t all dieser scheinbaren Nächstenliebe erkennen, was es mit dieser „weltumfassenden" Liebe eigentlich auf sich hat.) Stößt das vergötterte Wesen mich aber zurück und z w a r so stark, d a ß ich dadurch mein n u n an ihm haftendes Ego ü b e r h a u p t nicht mehr besitzen kann, so ist es möglich, d a ß meine scheinbare Liebe sich in H a ß verwandelt. 2.)

Scheinbare Nächstenliebe durch örtliche Ausbreitung des Ego.

Beispiele: die hingebende Liebe einer Mutter für ihr Kind, die hingebungsvolle Liebe eines Menschen für sein Vaterland etc. In all diesen Fällen handelt es sich um Liebe, die ihr Objekt besitzen will. Bei der vergötternden Liebe lag zunächst Projektion des Ego u n d weiterhin das Bedürfnis vor, durch materiellen oder geistigen Besitz des Idols auch das auf diesen Abgott projizierte Ego im Besitz zu bewahren. N u n aber rückt meine Besitzergreifung des A n d e r n an die erste Stelle (es ist ja n u r Zufall, daß dies K i n d mein Kind oder dies Land mein Land ist e t c . . . . ) ; die daraus sich ergebende Gefühlslage ist derjenigen der vergötternden Liebe sehr ähnlich, N u r sind die Glücksempfindungen hier weniger bewußt und oft ist die Furcht vorherrschend, den geliebten Besitz zu verlieren. Die vergötternde Liebe gibt dem Menschen das, was er "den Sinn" seines Lebens nennt. Auch die besitzergreifende Liebe tut das, aber der von ihr gemeinte Sinn ist oft weniger positiv u n d beruht weniger in sich selbst. 3.)

Scheinbare Nächstenliebe, weil angegebenen

der Andere uns Weisen liebt.

in einer der

vorher

Der Andere liebt sein Ego in mir, aber er erweckt dadurch den Eindruck, als ob er mein Ego liebe. Ich will daher seine Existenz, wie ich grundsätzlich die Existenz alles dessen will, was meine Existenz will.

79

4.)

Scheinbare Nächstenliebe, weil mein eigenes Idealbild diese Liebe oder weil sie zu meiner vergötternden Liebe gehört.

erfordert,

Ich liebe andere Menschen, denn um mich selbst lieben zu können, m u ß ich mein Denken und H a n d e l n ästhetisch finden, und es ist eben ästhetisch, andere Menschen zu lieben, O d e r ich liebe Andere, weil ich in mystischer Weis« irgendeine Vorstellung von Göttlichkeit liebe, auf die ich mein Ego projiziert habe, wobei ich glaube, d a ß dieses göttliche Abbild meine Liebe zu Anderen will, und ich wiederum alles will, was dieses m i t meinem Ego identifizierte Abbild fordert. 5.)

Scheinbare Liebe zum Nicht-Ich, weil

mein Ego im

Augenblick gesättigt ist.

Der Mensch, der im Augenblick von einer intensiven ich-bezogenen Selbstbejahung durchdrungen ist, liebt das ganze Universum. Diese von Sonderwünschen freie Liebe entspricht nicht einer momentanen Erscheinung der ursprünglichen universellen Liebe, sondern ist die momentane Verkehrung des grundsätzlichen ich-bezogenen Hasses auf das Nicht-Ich, anläßlich des vorübergehenden Nachlassens der ich-bezogenen Grundforderung. Dieser Zustand ist übrigens nur von kurzer D a u e r . Er gleicht dem Wonnegefühl, nicht mehr leiden zu müssen. Dies Gefühl von Wonne gilt nur vergleichsweise und hört auf, sobald die Vergleichsbestimmung wegfällt. Diese fünf Arten scheinbarer Nächstenliebe sind die Ursachen von eben so viel Arten von Freuden, die mein Ego in Situationen, welche mich als Einzelwesen bekräftigen, empfindet. Jeder Verminderung dieser Freuden entspricht das Auftreten v o n Angst u n d Gegnerschaft, Je mehr ein Mensch zur nichtzeitlichen Verwirklichung berufen ist, desto stärker empfindet er das Bedürfnis, diese Arten der Liebe zu erleben. U n d tatsächlich gleichen diese Gefühlslagcn mehr oder weniger der Gefühlslage des verwirklichten Menschen (der alles liebt), da sie ihn mit etwas, was außerhalb seiner selbst liegt, verbinden. Je weiter aber der Mensch in der Erkenntnis seiner selbst fortschreitet, desto mehr verlieren in seinen Augen diese Arten von Liebesgefühlen an Wert und damit schwindet ihre ausgleichende Wirksamkeit. Dieser Mensch verliert immer mehr seine „positiven" und „altruistischen" Gefühle. Er durchschaut den gleißnerischen C h a r a k t e r dieser Trugbilder, und so gelangt er wohl oder übel zu dem ich-bezogenen Grundzustand zurück, aus welchem heraus er immer das Nicht-Ich gehaßt h a t , ein Zustand nächtlicher Einsamkeit. Er empfindet Angst, weil er sich weigert, das Nicht-Ich zu bekämpfen. (Man vergleiche meine Bemerkungen zu den „Mechanismen der Angst"). Dieser Mensch wird immer mehr und mehr der Möglichkeit beraubt, sich innerlich etwas vorzutäuschen, und er wird daher unausweichlich zur Aufgabe der Verwirklichung getrieben. Immer häufiger wird er sich auf das unparteiische 80

Wirken seines Denkens berufen, um die Rechtmäßigkeit seines ich-bezogenen Anspruchs in Frage zu stellen, des Anspruchs, als „unterschiedliches Individuum" zu „sein", der Einsamkeit und Furcht nach sich zieht. Die auf unaufhörliches Fordern bezogene Verkrampfung des Ego wird in immer klarerer u n d „ungeschminkterer" Weise erkennbar, während gleichzeitig das Ego immer stärker in die letzten „ W i l l e seiner Verteidigungsfestung" hineingepreßt wird. Dieses Zusammenpressen h a t aber eine Grenze, jenseits derer das Ego im Satori wie eine schillernde Seifenblase zerplatzt. Er löst sich dann in die Gesamtheit des Universums auf, es verlischt, indem es sich erfüllt.

Benoit. Die hohe Lehre

81

IX.

VOM UNBEWUSSTEN DES ZEN DAS

PSYCHOLOGISCHE

BEWUSSTSEIN

DES

DURCHSCHNITTS-

menschen enthält beständig zwei verschiedene Schichten von Wahrnehmungen u n d richtet seine Aufmerksamkeit auf zwei verschiedene G a t t u n g e n von Dingen. Es ist auf zwei Wahrnehmungsebenen gerichtet, u n d somit verteilt es sich auf zwei Ebenen. Zu Unrecht wird behauptet, d a ß m a n nur auf eine Sache allein achten könne, denn man achtet dauernd auf zwei Dinge zugleich, wenn auch, wie w i r sehen werden, auf zwei verschiedene Weisen. A u f einem ersten Wahrnehmungsfeld wird die Aufmerksamkeit durch diese und jene besonderen Aspekte der Außenwelt gefesselt, welche e n t w e d e r tatsächlich v o r h a n d e n sind oder durch den Vorstellungsablauf vergegenwärtigt werden. Auf dieser Ebene sehe ich innerhalb der D a u e r meine besondere u n d qualitativ unaufhörlich sich verändernde Auseinandersetzung mit dem NichtIch. Auf einem anderen Wahrnehmungsfeld ist meine Aufmerksamkeit durch die Situation in Anspruch genommen, die jeweils den Verlauf des Prozesses meines „Seins" oder „Nicht-Seins" charakterisiert, der sich tief in mir v o r meinem inneren „ T r i b u n a l " abspielt. Dieser P r o z e ß bleibt immer derselbe, daher h a t dieses Wahrnehmungsfeld einen qualitativ monotonen C h a r a k t e r . Wenn auf dieser Ebene auch unaufhörlich Veränderungen stattfinden, so nur quantitativer Art. Mein „Befinden" ist hier mehr oder minder „ w e i ß " (Eindruck v o n „Sein") oder „schwarz" (Eindruck v o n „Nicht-Sein"). Außer diesen Schwankungen zwischen Weiß und Schwarz gibt es quantitative Schwankungen zwischen R u h e u n d innerer Erregung. W i r werden später auf diese beiden Arten von Schwankungen zurückkommen. Untersuchen wir die Beziehungen, die zwischen diesen beiden Ebenen bestehen. Mein Wahrnehmungsfeld aller besonderen Aspekte, das Oberflächen-Wahrnehmungsfeld, hängt, soweit mein Vorstellungsvermögen dabei auf die Sicht der äußeren W e l t Einfluß h a t oder dort die Aspekte der äußeren W e l t wiedergibt, v o n der Ebene der tiefen, allgemeinen Wahrnehmung meines „Befindens" ab, daher v o n meinem „Befinden" selbst. Durch ein weißes „Befinden" belebt sich mein Vorstellungsablauf mit positiven Formen, ein „schwarzes" Befinden ruft negative Formen hervor. Ein unruhiges „Befinden" beschleunigt meinen Vorstellungsablauf, ein ruhiges „Befinden" verlangsamt ihn. Außerdem hängt dies Oberflächenbewußtsein natürlich auch von äußeren U m s t ä n d e n ab. Mein Tiefenbewußtsein, daher mein „Befinden", h ä n g t teilweise v o n den im Oberflächenbewußtsein gegenwärtigen Formen ab. Die mich bejahenden b z w . 82

verneinenden Ereignisse, die ich hier gewahre, haben Einfluß auf mein „Befinden". Die unter dem Einfluß meines „Befindens" vorgestellten Formen wirken sich wiederum auf dieses „Befinden" in einem positiven oder negativen circulus vitiosus aus. Aber mein Befinden hängt auch von meinem physiologischen Zustand ab, Schlaflosigkeit, schlechte Verdauung verdunkeln es, Alkohol, O p i u m hellen es auf. So bin ich unaufhörlich mit zweierlei Dingen zugleich beschäftigt. Ich beschäftige mich einerseits m i t meinem Dasein in der Außenwelt und schätze andererseits innerlich die Aussichten auf einen günstigen bzw. ungünstigen Ausgang des allgemeinen Prozesses meines „Seins" oder „Nicht-Seins" ab. Meine Aufmerksamkeit ist in diese zwei Beschäftigungen aufgeteilt. So erklärt es sich, w a r u m der N e u r o t i k e r häufig Konzentrationsstörungen des Oberflächenbewußtseins und Störungen des Wahrnehmungsvermögens der Außenwelt erfährt. Ein grosser Teil seiner Aufmerksamkeit ist nämlich davon in Anspruch genommen, die Aussichten auf einen günstigen Ausgang seines inneren „Prozesses* abzuwägen, so d a ß i h m für den K o n t a k t mit der wirklichen oder vorgestellten Außenwelt nur noch wenig übrig bleibt. Dadurch nimmt die Außenwelt einen unwirklichen C h a r a k t e r in seinen Augen an und er w i r d unfähig, sein Oberflächenbewußtsein zu lenken. Mein weißes oder schwarzes, ruhiges oder unruhiges Befinden ist nichtformaler N a t u r . Das Licht erhellt Formen, ist aber selbst formlos. Auch die innere Erregung ist formlos, f o r m e n sind mehr oder minder bewegt, aber die Bewegung selbst ist formlos. Also ist die ganze W a h r n e h m u n g des Tiefenbewußtseins formlos. Im Gegensatz hierzu ist das Oberflächenbewußtsein formal. Mein Oberflächenbewußtsein ist somit evident für mich, w ä h r e n d mein Tiefenbewußtsein latent in mir ruht. Ich kann es mir nur wie einen mehr oder weniger angenehmen Zustand bewußt machen; das Angenehme entspricht dem Weißen und das Unangenehme dem Schwarzen. Es ist wesentlich, d a ß diese beiden A r t e n v o n Bewußtsein, die den beiden W a h r nehmungsebenen meiner geteilten Aufmerksamkeit entsprechen, unterschieden und mit verschiedenen N a m e n gekennzeichnet werden. Nennen wir also das Oberflädienbewußtsein „Objekt-Bewußtsein" und mein Tiefenbewußtsein .Subjektbewußtsein". Dies sind die beiden unversöhnten Bewußtseinsarten, zwischen denen mein psychologisches Bewußtsein sich spaltet in meiner ichbezogenen dualistischen Grundsituation, in welcher ich alles unter dem Blickwinkel des Gegensatzes v o n Objekt und Subjekt betrachte. Ich sage „Objektbewußtsein" und „Subjektbewußtsein", nicht „objektives" und „subjektives" Bewußtsein, weil die beiden letzteren Begriffe den beiden versöhnten Aspekten des Bewußtseins des verwirklichten Menschen entsprächen. Mein Objekbewußtsein ist evident oder augenscheinlich, mein Subjektbewußtsein ist latent. Ich erörtere meine äußeren Probleme und weiß, d a ß ich sie erörtere; mît meinem inneren Tiefenbewußtseinsproblem hingegen setze ich mich auseinander, ohne es zu wissen. In den beiden Arten von Bewußtsein ist die 83

N a t u r meiner Aufmerksamkeit jeweils verschieden. Ich bin damit einverstanden, d a ß äußere Formen meine Aufmerksamkeit erregen, ich bin für diese A r t meiner Aufmerksamkeit empfänglich und bejahe sie. Aber ich lehne es ab, daß meine Aufmerksamkeit durch mein inneres „Befinden" abgelenkt wird. Ich kann sagen, d a ß meine Aufmerksamkeit durch mein Objektbewußtsein gefesselt wird, sich aber gegen meinen Willen von meinem Subjektbewußtsein fesseln läßt. In zentrifuger Weise bin ich nach außen hin orientiert und blicke nach außen, kehre aber meinem eigentlichen „Befinden" den Rücken. H i n t e r meinem Rücken w i r d ein Teil meiner Aufmerksamkeit von meinem Subjektbewußtsein gefesselt, w ä h rend ich die Aufmerksamkeit meines Objektbewußtseins selbst auf die vor meinen Augen liegende äußere Welt der Formen lenke. Ich gleiche einem Menschen, der im Kino sitzt, den Bildschirm vor seinen Augen und die K a m e r a hinter seinem Rücken. Ich sehe mir die Formen auf der Leinwand an, kehre aber der K a m e r a den Rücken, d. h. in unserem Fall meinem „Befinden", welches die Formen und Farben auf den Bildschirm projiziert. Mein Subjektbewußtsein, dies Bewußtsein, das m a n in der klassischen Psychologie ignoriert, ist die latente Seite meines im Dualismus befangenen psychologischen Bewußtseins. Dies Denken, welches unaufhörlich und in monotoner Weise an der Auseinandersetzung meines „Seins" mit meinem „Nichtsein" arbeitet, ist nach einer Richtung hin unbewußt. Aber das Unbewußte, um das es sich hier handelt, ist nicht das prinzipielle Unbewußtsein des Zen, Es stellt die allererste Erscheinung des Dualismus dar, sobald das prinzipielle U n b e w u ß t e seiner selbst b e w u ß t geworden ist. Es ist die allererste dualistische Manifestation des prinzipiellen Unbewußten. Es ist zweifelhaft, ob man es u n b e w u ß t oder bewußt nennen darf, da es genau auf der Grenze liegt zwischen dem prinzipiellen U n b e w u ß t e n und dem Bewußtsein. Betrachtet man es vom Bewußtsein her (ein Freud'scher Standpunkt), dann sieht man es als unbewußt. Betrachtet man es vom prinzipiellen Unbewußten her, d a n n sieht man es als Subjektbewußtsein. Von diesem Gesichtspunkt des prinzipiell U n b e w u ß t e n her betrachtet es der Meister des Zen, wenn er das Übel eines dualistischen Bewußtseins im gewöhnlichen, nicht verwirklichten Menschen bedauert. Der Meister des Zen sagt uns: „Ihr seid unglücklich, weil ihr tatsächlich im Bewußtsein und nicht im U n b e w u ß t e n verankert seid." Er betrachtet das Freud'sche Unterbewußtsein gerade nicht als wirkliches Unbewußtes, sondern als die tiefste und dunkelste Quelle des diskursiven Bewußtseins, daher als die erste Erscheinungsform des dualistischen Bewußtseins. Wir teilen den S t a n d p u n k t des Zen und erachten das Subjektbewußtsein als unser latentes Bewußtsein und nicht als unser Unbewußtsein. Wenn auch latent, ist es deshalb nicht weniger wirksam, und zwar zu unserm Unglück. Je mehr es tätig ist, desto mehr erörtern wir unser illusorisches Problem „Sein - Nichtsein", desto mehr sind wir in Angst um unser „Sein", desto weiter sind wir vom freudigen G l a n z des prinzipiellen Lichtes entfernt und desto stärker ist unsere Aufmerksamkeit auf die dunkle Tiefe gerichtet, ist ein großer Teil unserer Aufmerk 84

samkeit auf diese Weise absorbiert, so bleibt uns nur wenig, um uns der äußeren Welt einzufügen. Man nennt diesen Zustand „Sinken der psychologischen Spannung", w o m i t Konzentrationsunfähigkeit und alle Anzeichen v o n „Psychasthenie" verbunden sind, Da mein Subjektbewußtsein latent und eine Art von „unbewußtem Bewußtsein" ist, kann m a n sich fragen, wieso wir darüber Beseneid wissen und darüber sprechen können. Die Beobachtung meines Oberflächenbewußtseins und mein Bedürfnis zu ergründen, w a r u m es so und nicht anders funktioniert, bringen mich durch mittelbares Nachdenken allmählich dazu, die Existenz und N a t u r dieses tiefen Subjektbewußtseins zu begreifen, wo mein „Seins- oder Nichtseinsprozeß" vor sieh geht. Das unmittelbare intuitive Erkennen meiner inneren „Befindlichkeit liefert mir keine Bilder darüber, aber es- gibt mir eine Vorstellung von seinem Helligkeitsgrad (von Weiß bis Schwarz, von hell zu dunkel) und von seiner Bewegungsstärke (von der R u h e bis zur Erregtheit), Diese intuitive W a h r n e h m u n g ist aufschlußreich und gestattet mir, die Beziehungen, zwischen meinem inneren „Befinden" und meinem Verhalten, meinen Gefühlen und H a n d l u n g e n zu beobachten. So wie der Sinn eines Traumes sich in seinem latenten Gehalt und nicht in seinem offenkundigen Inhalt äußert, "liegt der Sinn meines Lebens, dieser andere T r a u m , in meinem latenten Subjektbewußtsein und nicht in meinem offenbaren Objektbewußtsein. D a s D e n k e n meines latenten Bewußtseins bestimmt mein Verhalten und mein in Erscheinung tretendes Bewußtsein. In meinem latenten Bewußtsein, wo der Prozeß meines „Seins" und meines ..Nichtseins'' stattfindet, wünsche ich freigesprochen zu werden, will ich mein „Sein" empfinden und zittere vor meinem Nichtsein, vor meinem Nichts, Beachten wir, wie die beiden erscheinungsmäßigen Dualismen meines „Befindens", nämlich „Licht - D u n k e l " und „Erregung - R u h e " mit dem Grunddualismus „Sein - Nichtsein" zusammenhängen. Alles geht in mir so vor, als ob „Licht" mit „Sein" und »Dunkelheit" mit „Nichtsein*, „Bewegtheit" mit „Sein" und „Bewegungslosigkeit" m i t „Nichtsein" identisch seien. D a s soll beißen, daß meine angeborene Voreingenommenheit für das „Sein" sich darin äußert, d a ß ich einem „lichtvollen und bewegten" inneren Zustand stets den Vorzug gebe. Man kann meine Parteinahme sogar noch weiter präzisieren. Die besonderen Erscheinungsformen meines Lebens und meiner inneren, persönlichen Struktur sind nicht immer so geartet, d a ß ich „Licht" u n d „Bewegung" gleichzeitig haben kann. Manchmal m u ß ich zwischen beiden wählen, Mein eigenes Verhalten zeigt mir dann, d a ß ich die Erregung dem Lichte vorziehe. Ich kann noch genauer sagen, indem ich mich negativ ausdrücke, d a ß , wenn meine tiefe Furcht eine Furcht v o r dem Dunkel und der Unbewegtheit ist, meine Furcht vor der U n bewegtheit noch den Sieg über meine Furcht vor dem Dunkel d a v o n t r ä g t . Ich unterliege noch stärker dem Angstgefühl nicht zu „sein" aus Mangel an Bewegung meines Subjektbewußtseins als aus dem Gefühl der Dunkelheit dieses Subjektbewußtseins. (So wird ein Kind es noch vorziehen, daß es von seiner 85

Mutter geschimpft wird, statt d a ß diese sieh gar nicht um es bekümmert. N a türlich w ä r e es ihm lieber, wenn seine Mutter sich mit ihm beschäftigte, indem es ihm Zärtlichkeiten erwiese. Wenn es aber dies nicht erreicht, zieht es das Schimpfen der Gleichgültigkeit vor. Ebenso liebt der Masochist, dessen Vorliebe wie diejenige jedes Menschen der beschwingten Freude gilt, da es ihm nicht gelingt, beschwingt freudig zu sein, mehr die unruhige Bewegtheit des Leidens als bloße Bewegungslosigkeit), Alles verläuft also derart, als fürchtete ich v o r allem a n d e r n die Bewegungslosigkeit meines inneren „Befindens" u n d erst in zweiter Linie die Dunkelheit dieses „Befindens". Es sieht so aus, als ob ich mich vor allem d a v o r fürchtete, mich nicht lebendig zu fühlen (also in Bewegung zu sein, da die Bewegung das wesentliche Kriterium des Lebens ist), und erst in zweiter Linie davor, mich nicht glücklich zu fühlen. D e r Mensch behauptet im allgemeinen, sich nach „Glück" zu sehnen. Diese Behauptung entspricht dem richtigen intuitiven Empfinden, d a ß das tiefe innere Befinden des verwirklichten Menschen lichtvoll und ruhend sein müsse. Doch steht diese Behauptung mit dem Verhalten des Durchschnittsmenschen in Mißklang. Der Durchschnittsmensch lebt nicht, um glücklich zu sein, er strebt nicht danach, zu einem lichtvollen und unbewegten „Befinden" zu gelangen. Er strebt vor allem danach, zu einem bewegten, u n d erst in zweiter Linie zu einem lichtvollen „Befinden" zu gelangen. Es ist nicht verwunderlich, daß der gewöhnliche Mensch nicht das Glück erreicht, da er nicht einmal zu ihm hinstrebt. Die Tatsache, daß seine Vorliebe für die Bewegung den Sieg über seine Vorliebe für das Licht davonträgt, macht die Kurzlebigkeit seiner Freuden begreiflich. Wenn er voll Freude ist, m i ß t er der Bewegtheit, mittels derer er sich noch mehr Freude erhofft, noch größeren Wert bei, als der Freude selbst. Dies äußert sidi in einem grenzenlosen Anspruch auf Freude, welche schließlich immer über die Tatsache der Begrenztheit der zeitlichen Ebene strauchelt und damit in sich selbst zusammenstürzt. (Betrachten Sic einen Menschen, dem ein sehr freudiges Ereignis begegnet. Er will das sofort „feiern" und dem ersten Gefühl der Freude soviel wie möglich andere Freuden hinzufügen). Von den beiden vorhin unterschiedenen Arten v o n Vorliebe, welche der gewöhnliche Mensch seinem „Befinden" gegenüber zeigt, ist die Vorliebe für das „Licht" berechtigt. Aber seine tief verwurzelte Vorliebe für die Bewegtheit b e ruht auf einem I r r t u m u n d ist der G r u n d all seines Unglücks. Weil er unaufhörlich das Leben in sich vibrieren fühlen will und sich in dem ich-bezogenen Zustand, in dem er sich noch befindet, als Einzelwesen bestätigt sehen will, bleibt er im Elend und in den trostlosen Widersprüchen seines Dualismus befangen. N u r wirkliches Begreifen k a n n den Menschen von dieser sinnlosen V o r liebe befreien. Die Erkenntnis kann ihm offenbaren, daß die innere Unbewegtheit, die er so fürchtet, nicht nur nicht zu fürchten ist, sondern das Heil bringt. Sicher k a n n er in seiner augenblicklichen ich-bezogenen Lage nicht zugleich Licht und Unbewegtheit haben. Beginnt er denn dank wirklichen Verständnisses tat86

sächlich die Unbewegtheit vorzuziehen, also auch zu suchen, so wird er zugleich das D u n k e l vorfinden. W e n n die „Nacht" des heiligen Johannes vom Kreuze unbewegt ist, ist sie zugleich auch dunkel. Aber ich k a n n diese Nacht recht gut ertragen, w e n n ich mich in den Zustand der inneren Unbewegtheit füge, die ich dann nicht mehr fürchte, sondern auf die ich im Gegenteil all meine Hoffnung setze. Dieses innere Bemühen besteht nicht darin, irgend etwas Neues zu „ t u n " . Es besteht n u r darin, daß m a n sich, weil man verstanden hat, spontan an die Nichtigkeit der Hoffnungen, die wir mechanisch und natürlicherweise auf unsere innere Bewegtheit setzen, erinnert, u n d sidi die törichte Sinnlosigkeit dieser Bewegtheit vergegenwärtigt, jedesmal, wenn ich diesen nicht natürlichen, offenbarten Gedanken ins Auge fasse, verschwindet meine innere Bewegtheit fast vollständig. Ich gebe den Anspruch auf, meinen inneren P r o z e ß zwischen „Sein" und „Nichtsein" zu entscheiden u n d setze mein Vertrauen ausschließlich in mein Prinzip, um die Gespenster dieses sinnlosen Prozesses zu vertreiben. Ich „tue" nicht mehr, sondern ich lasse mein unsichtbares Prinzip wirken, an das ich glaube, ohne es zu sehen. Meinerseits habe ich n u r durch aufriditiges geistiges Bemühen mein Verständnis wachzuhalten und zu bereichern, wodurch auch die spontanen Wirkungen dieses Verständnisses sich bereichern werden.

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X. DIE „METAPHYSISCHE" ANGST

WAS GEHT IN MIR VOR, WENN IRGEND EIN UMSTAND MEINES

Lebens in mir Angst hervorruft? Meine Angst ist die Folge meiner Begegnung mit dem Nicht-Ich; sie ist Ausdruck meiner Furcht, in dieser Begegnung den K ü r z e r e n zu ziehen. Zwischen meinem „Sein" und meinem „Nicht-Sein" findet anläßlich meiner jeweils besonderen Lebensumstände eine unaufhörliche Auseinandersetzung statt, und in diesem Vorgang ist die Angst Ausdruck meiner Furcht, zum „Nicht-Sein" v e r d a m m t zu sein. Ich habe versucht, das Nicht-Ich zu besiegen, fürchte aber nun, d a ß mir dies mißlingt und d a ß in diesem Scheitern mein Sein in Frage gestellt wird. Ich hätte jedoch nicht den Versuch gemacht, das Nicht-Ich zu besiegen und meinen Seinsprozeß zu gewinnen, wenn dieser innere Streit nicht schon vorher im G r u n d e meiner selbst gelegen hätte und ein Zweifel in Bezug auf mein Sein sich nicht schon vorher meiner bemächtigt hätte. Es m u ß folglich hinter der Angst, die ich im augenblicklichen Scheitern meines Seinsprozesses empfunden habe, eine andere Angst, eine dauernde Angst vorhanden sein, welche meinem Seinsprozeß selbst zugrunde liegt. H i n t e r der erscheinungsmäßigen oder „physischen" Angst, die auf der Ebene der Erscheinungsformen zutage tritt, steht also eine seinsmäßige oder „metaphysische" Angst, die jenseits meiner Erscheinungsformen liegt. Diese „metaphysische" Angst ist die prinzipielle oder primäre Angst und sie bedingt meine gewöhnliche, sekundäre Angst. Versuchen wir, ihr Wesen naher zu bestimmen. Zunächst einmal ist sie unbewußt. Dem nicht-verwirklichten Menschen sind nur Erscheinungsformen bewußt, so d a ß er von einer Angst nichts wissen kann, die jenseits dieser Erscheinungsformen liegt. Achten wir zum Beispiel auf das, was sich in uns abspielt, w e n n w i r fröhlich sind: ich bin fröhlich, weil ich mich in dem Antagonismus Ich-Nicht-Ich bestätigt fühle, weil mein Innerer Seinsprozeß in einer günstigen Lage erscheint und eine Befreiung erhoffen läßt. H i n t e r dieser Freude, die mit der günstigen Wendung meines Seinsprozesses zusammenhängt, liegt aber immer noch dieser innere Widerstreit, dieser Zweifel an meinem Sein, das heißt die „metaphysische" Angst. Diese Angst liegt an der Wurzel meiner bewußten Freuden und Leiden und steht auch u n b e w u ß t dahinter. Die „metaphysische", unbewußte Angst ist somit auch durch ihre anhaltende D a u e r bestimmt. Sie ist immer da, immer dieselbe, steht hinter allen Ä u ß e r u n gen unseres Gefühlslebens und seinem Dualismus von Freude und Leid. Andererseits werden wir den Beweis bringen, d a ß sie unwirklich und illusorisch u n d überhaupt nicht eigentlich „ist", (obwohl es uns noch, eben so erschien, als

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ob sie seinsmäßig v o r h a n d e n wäre), sondern daß nur die Gesamtheit unseres Gefühlslebens sich so abspielt, als ob es sie gäbe. Beachten wir, d a ß die Angst, zusammen mit Freude und Leid, welche sie bedingt, das uns schon bekannte Dreieck bildet, dessen obere Spitze das versöhnende Prinzip darstellt und dessen untere Spitzen dem positiven und negativen P r i n z i p entsprechen. Jedoch hat dieses Dreieck etwas Verblüffendes an sich: im Gegensatz zu allen andern Fällen, die wir bis jetzt betrachtet haben, trägt das Obere P r i n zip hier eine negative Bezeichnung. Wieso? Es hängt mit dem U m s t a n d zusammen, d a ß der Glaube beim nichtverwirklichten Menschen im Schlafzustand sich befindet und dieser Mensch, dessen Vertrauen in sein P r i n zip nicht erweckt ist, seine BuddhaLeid N a t u r nicht erkennen kann. Alles verFreude läuft in ihm, als ob er dieser B u d d h a N a t u r , die doch seine eigene N a t u r ist, ermangle. Da im Innern des Menschen das Sein nicht erweckt ist, spielt sich in seinem Innern alles so ab, als ob hier ein Nichts herrsche, was gerade widerlegt werden soll. Weil die vollkommene existentielle Glückseligkeit im Zentrum des Menschen nicht erweckt ist, verläuft alles derart, als sei dieses Zentrum von einer uranfänglichen Angst überlagert. Aber diese uranfängliche Angst „ist" nicht. So verstehen wir, d a ß unser eben aufgezeichnetes Dreieck falsch w a r . Es ist richtiger, es so zu zeichnen: "Metaphysische" Angst

Leid

Freude

Das ist ein aus Nichtwissen illusorisch gewordenes und auf den Kopf gestelltes Dreieck. Bei dem durch das Satori erweckten Menschen steht das Dreieck wieder auf seiner Basis und sieht folgendermaßen aus:

»Metaphysische" Angst

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Absolute Freude

Die »metaphysische" Angst kann nicht bewußt sein, weil sie völlig illusorischer N a t u r ist. D e r Mensch k a n n sich ihrer nicht b e w u ß t werden, ohne sie zu zerstören. Man kann nicht einmal behaupten, d a ß das Satori sich aus der Bewußtmachung der „metaphysischen" Angst ergibt. Besser ist es zu sagen, daß das Satori eintritt, wenn das Zentrum des Menschen erwacht, dieses Zentrum, in dem die „metaphysische" Relative F r e u d e Relatives Leid Angst angeblich herrschte, solange es sich im Schlafzustand befand. Alle Ängste, welche der Mensch bewußt erleben kann, sind Ängste sekundärer N a t u r , keine unter ihnen verdient die Bezeichnung „metaphysische" Angst oder Urangst. Manchmal ist der Mensch von Angst heimgesucht angesichts der großen philosophischen Probleme seines Daseins, das heißt, er ist v o n „metaphysischen" Fragen zutiefst beunruhigt. Dieser Mensch jedoch ist von geistigen Bildern und verschiedensten Erscheinungsformen gequält. Er leidet auf der Ebene des Erscheinungsmäßigen, das heißt, auf der physischen und nicht „metaphysischen" Ebene. Ein anderer ist von Angst verfolgt bei der Vorstellung, auf irgendwelche illusorische Kompensationen verzichten zu müssen. So k a n n er des Glaubens sein, d a ß die Angst, seine eigene Persönlichkeit zu verlieren und im Universellen aufzugehen, den N a m e n der „metaphysischen" Angst verdiene. Ein solcher Mensch h a t aber eine falsche Vorstellung vom Wesen des Verzichts. Er weiß nidit, d a ß wirklicher Verzicht darin besteht, das durch die D e u t u n g unserer Erfahrung Entwertete zu überwinden. Der Mensch ist nicht, wie er glaubt, durch das U n i verselle geängstigt, sondern durch die Einzel/-Werte, an denen er noch h ä n g t u n d die durch eine falsche Auffassung von der Verwirklichung bedroht werden. Keine F o r m von b e w u ß t empfundener Angst kann als „metaphysisch" bezeichnet w e r d e n ; auf der Stufe des Prinzips, auf der Stufe unserer schöpferischen Quelle k a n n es Angst nicht geben. Wiederholen w i r aber nochmals, d a ß es keinerlei bewußt empfundene Angst geben kann, deren Wurzel nicht die „metaphysische", unbewußte Angst, u n d damit das unbewußte, umgekehrte Bild der im Schlafzustand befindlichen existentiellen Glückseligkeit wäre. Dies trügerische unbewußte Bild ist die eigentlich wirksame Ursache all unserer „moralischen" Leiden. Die Lebensumstände, die unser Leiden veranlassen, sind im Gegensatz zu unsern üblichen Ansichten nur die auslösenden Ursachen dieses moralischen Leidens. Eine Mutter, die ihr K i n d verlor, leidet nicht, wie sie glaubt, unter der Tatsache, d a ß ihr K i n d gestorben ist. Sie leidet n u r anläßlich dieses Todes, weil sie sich von ihrem U r p r i n z i p verlassen fühlt, sie leidet, weil dies Ereignis in ihr selbst den tiefen Eindruck ausgelöst h a t , nicht zu „sein". 92

Wenn auch keine unserer Ängste die „metaphysische" Urangst sein kann, ist es doch wesentlich zu wissen, daß unsere sekundären Ängste mehr oder minder weit v o n der trügerischen primären Angst entfernt sind. Unsere Ängste staffeln sich in einer qualitativen Hierarchie, je nach dem G r a d e der Tiefe unseres Verständnisses. Meine Angst ist am weitesten von der Quelle meines Seins entfernt, wenn mein Verständnis für mein Innenleben gleich null ist, w e n n ich völlig d a von überzeugt bin, d a ß meine konkreten, besonderen Sorgen der wirkliche G r u n d meines Leidens sind. Je tiefer mein richtiges Verständnis des Innenlebens dringt, desto mehr entgehe ich diesem I r r t u m . Ich glaube immer weniger an die kausale Rolle der besonderen u n d zufälligen Umstände. Ich versuche in steigendem Maße, mein Leiden nicht mehr durch meine persönlichen Erlebnisse, sondern aus der universellen menschlichen Grundsituation heraus zu erklären, die ich mit allen menschlichen Wesen teile. In dem Maße, wie diese Auffassung tatsächlich in m i r vorherrschend wird, besänftigt sich der innere „ P r o z e ß " , bei dem es um mein persönliches Sein, b z w . Nichtsein geht. Das heißt, in dem M a ß e , in dem die G r ü n d e meiner Angst in meiner Auffassung allgemeinen C h a r a k t e r annehmen, höre ich auf zu leiden. Je mehr meine geistigen Bildvorstellungen an faszinierender Dichtigkeit verlieren, desto gegenstandsloser wird meine Angst, sie nähert sich damit ihrer Quelle und verliert immer mehr an Substanz. So kann m a n beobachten, wie wirkliches Verständnis den Menschen immer mehr von Angst befreit. Je tiefer ich begreife, daß meine Angst durch eine Grundsituation bedingt wird, die mir in keiner Weise allein eigentümlich ist, desto mehr verwischt sich in mir jener unsinnige P r o z e ß „Sein oder Nichtsein", aus dem all meine Ängste herrührten. D a s Verständnis führt diesen Prozeß nicht zu etwaiger Freisprechung, sondern es verscheucht die Gespenster dieses illusorischen Prozesses und d ä m p f t fortschreitend alle Gefühlserregungen, die aus dieser „Gespensterhöhle" stiegen. So sind w i r auf dem Wege zum Satori. Nach den Beschreibungen der Meister des Zen ist der innere Zustand, der die Auslösung des Satori ankündigt und ihr vorausgeht, ein Zustand von Gelassenheit, d. h. gefühlsmäßiger N e u tralität. Das Bewußtsein des Menschen h a t sich hier immer mehr dem Zentrum genähert, seinem Z e n t r u m , wo angeblich vorher die „metaphysische" Angst gew o h n t hatte, die Mutter aller Ängste. Je mehr er sich seinem Zentrum nähert, desto aufgelockerter w i r d seine Angst, sie wird so durchsichtig, daß sie in den letzten dem Satori vorangehenden Augenblicken ganz verschwindet. Je mehr dieser Mensch sich dem P u n k t nähert, wo angeblich die „metaphysische" Angst saß, desto mehr m u ß er feststellen, d a ß er sie nicht wahrnehmen k a n n . So gewinnt er die innere Gewißheit, d a ß sie nie vorhanden w a r . D e r sdrmerzhafte, illusorische alte „Glaube" — seine alte „Oberzeugung" — verliert sich im Gefühl heiterer Gelassenheit, und mit diesem falschen Glauben verliert sich auch die innere Verkrampftheit, welche das „dritte Auge" verschlossen hielt und darum dem Menschen das Bewußtsein der vollkommenen Seins-Freude vorenthalten hatte.

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XI. DIE

SCHAU DER

WIR

WOLLEN

UNSERES

ZUSCHAUER

AUF

DIE

UREIGENEN DES

WESENS

SCHAUSPIELS

PSYCHOLOGISCHEN

BEDINGUNGEN

des Satori und auf die Notwendigkeit zurückkommen, uns Innerlich darauf einzuspielen, jenseits aller Form die Empfindungen unser« M e h r - oder WenigerExistierens wahrzunehmen. H i e r ist der Kernpunkt unserer konkreten inneren Bemühungen zu unserer Verwandlung, Das Z e n sagt uns: „Schaut unmittelbar in euer eigenes Wesen hinein". Gewiß, aber ich muß mir als gewöhnlicher, d. h. nicht verwirklichter Mensch sagen, d a ß mir das nicht gelingt. Dieses Schauen h ä n g t vom „öffnen des dritten Augens" ab und es spielt sich alles so in mir ab, als ob dies ..dritte Auge" auf immer verschlossen bliebe. Ich habe z w a r verstanden, daß es dies dritte Auge in mir gibt und d a ß keine H o r n h a u t es verdeckt. Es ist nicht krank, man m u ß es nicht heilen. Aber es ist daran gewohnt, geschlossen zu bleiben, und ich m u ß etwas tun, um diese Gewohnheit abzustellen. So frage ich mich, auf welche Weise ich jene Gewohnheit ablegen könnte, welche die Ursache all meiner Leiden ist. Ich habe verstanden, daß es eine bestimmte Weise d e r Betrachtung geben m u ß , mit meinen beiden gewohnten Augen, d. h. mit meiner üblichen Aufmerksamkeit, allmählich die Verkrampftheit des ."dritten Auges" zu lösen, damit ich eines Tages plötzlich und endgültig mein ureigenes Wesen zu erschauen vermag. So frage ich mich, welches diese Weise ist. Welcher Art ist dieser Blick, der mir schon heute möglich, aber von sich aus unfähig ist. mir die „Schau meines ureigenen Wesens" zu verschaffen, d e r andererseits aber in der Lage ist. mein ganzes Dasein so zu verändern, d a ß es aufhört, sich dem „ ö f f n e n des dritten Auges" zu widersetzen? Ich weiß, d a ß die nötige Bemühung nicht in V e r k r a m p fung. sondern im Versuch zur Entspannung liegen muß. T r o t z d e m frage ich mich: „ W a s ist denn nun genau dieser Entspannungsversuch, welcher als solcher unfruchtbar ist — eine untergeordnete Erscheinung kann nie die Ursache einer übergeordneten sein —, mich aber doch empfänglich macht für das direkte W i r ken der nichtzeitlichen Wirklichkeit?" Dieser Entspannungsversuch entspricht einer bestimmten inneren Blickweise. Wir haben schon gesagt, daß dieser innere Blick sich auf das Zentrum meines ganzen Wesens richtet, wenn ich auf die Frage antworten soll: ..Wie fühlen Sie ich im jetzigen Augenblick im Gesamt Ihres Befindens?" Frage man mich: Wie fühlen Sie sich in diesem Moment physisch", so schaue ich auf eine Weise in mich, die mich meine Empfindungssgesamtheit erblicken läßt, das, was ich h i e r physische Empfindungsgesamtheit nennen will. Fragt man mich: „Wie fühlen

Sie sich im Moment in "moralischer Hinsicht?", so schaue ich auf eine Weise in mich, die mich meine psychische Empfindungsgesamtheit erkennen läßt, das, was man auch als „Seelenverfassung" oder als mein „Gestimmtsein" bezeichnet. F r a g t man mich: „Wie fühlen Sie sich im Augenblick in jeder Hinsicht zugleich?", so schaue ich auf eine Weise in mich, die mich das gewahren läßt, was ich meine totale Empfindungsgesamtheit nennen möchte. In diesem letzteren Bück in mich selbst beruht der wesentliche Willensaufwand, der mir eines Tages die „plötzliche" Auslösung der „Schau in mein ureigenes Wesen", der Selbstschau, verschaffen wird. Um diese besondere innere Wahrnehmung dieser totalen Empfindungsgesamtheit zu untersuchen, müssen wir die Ähnlichkeiten heranziehen, die zwischen der totalen und der physischen Empfindungsgesamtheit bestehen. Achten wir besonders auf zwei P u n k t e dabei. Die Empfindungsgesamtheit ist zunächst einmal eine Wahrnehmung, welche durch Lösung des Verkrampfungszustandes gewonnen wird. Ich kann zum Beispiel kein Empfinden von meinem rechten Arm, daher von der Existenz meines rechten Armes haben, so d a ß ich ihn von innen heraus empfinde, wenn dieser Arm verkrampft ist. Im Zustand der Verkrampfung beschränkt sich das Empfindungsvermögen meines Armes auf seine Oberfläche. Ich muß meinen A r m entspannen, um ihn in seiner Mittelachse zu empfinden, gleichsam als ob sein Empfindungsvermögen sich in sein Knochenmark zurückzöge. Andererseits ist das Empfindungsvermögen nichtformaler Natur. Wenn mein Arm v e r k r a m p f t ist, fühle ich seine Form. Ist er hingegen seit einigen Minuten so weitgehend wie möglich entspannt, ist sein Empfindungsvermögen völlig in seine zentrale Achse zurückgekehrt, so empfinde ich diesen Arm, sicherlich; ich empfinde sein Dasein (das entspricht dem schmerzlosen Empfinden eines A m putierten für ein nicht mehr vorhandenes Glied seines Körpers), aber ich e m p finde nicht m e h r seine Form. Denke ich an ihn im räumlichen Sinne, dann k o m m t er mir so groß wie das ganze Universum vor, gleichsam als ob seine Form a u s gebrochen sei und sich in die Gesamtheit des Raumes aufgelöst habe. So habe ich von ihm eine nichtformale Vorstellung gewonnen. Diese beiden Punkte, das Moment der Entspannung und das Moment des NichtFormalen, h a b e n alle drei A r t e n der Empfindungsgesamtheit gemein. Aber die physische Empfindungsgesamtheit unterscheidet sich von den beiden a n d e r n wesentlich durch den Gesichtspunkt d e r „Zeit". D i e Wahrnehmung meiner p h y sischen Existenz kann innerhalb der D a u e r kontinuierlich sein. Ich kann meinen Arm (oder meinen ganzen physischen Körper) w ä h r e n d einer gewissen fortgesetzten Zeit „innerlich" fühlen. Vergegenwärtige ich mir hingegen meine totale Empfindungsgesamtheit, das heißt, fühle ich mich innerlich als psycho-somatische Gesamtheit, so geschieht dies n u r in einem plötzlichen Aufleuchten meines Bewußtseins, d e m ich nicht die geringste zeitliche K o n t i n u i t ä t verleihen k a n n . Im selben Augenblick, wie ich diese Wahrnehmung mache, entflieht sie mir schon wieder. Sie entzieht sich mir in ihrer nicht-formalen ausgesprochenen Deutlichkeit u n d zieht sich sofort hinter formale Wahrnehmungen zurück. Ich fühle mich 93

z u m Beispiel einen Augenblick, lang „nicht besonders gut'", ohne d a ß dies Gefühl des Unbehagens eine spezielle Form a n n ä h m e . Sofort hinterher fühle ich die jeweilige Bestimmtheit (Modalität) meines Mißbehagens, die A r t u n d Wehe, auf die ich mich nicht wohl fühle. Dann; empfinde ich, warum ich mich meiner A n sicht nach so fühle, schließlich überlege ich, wie ich dem abhelfen k ö n n t e und so weiter... So h a t letzten Endes meine ganze Bemühung, in klarer Weise meine Gesamtbefindlichkeit wahrzunehmen, nur dahin geführt, meinen jetzigen und augenblicksbedingten. Zustandes meines Daseins zu erkennen. Daher ist d e r Blick, der mich dies w a h r n e h m e n läßt, zugleich ein sehender und ein nicht-sehender Blick. Er sieht e t w a s von dem, was er betrachtet, da er einen plötzlichen Aspekt gew a h r t , der der Wirklichkeit nicht ganz e n t b e h r t , aber er sieht nicht das, was er betrachtet, in jener beweglichen Wirklichkeit, die all seine augenblicklichen Aspekte u m f a ß t . Es fehlt die Dimension der Zeit. Diese Dimension der Zeit m u ß erreicht werden, w e n n die Wahrnehmung meines Existierens ein wirkliches subjektives Bewußtsein, ein Bewußtsein meiner selbst sein soll. Dieser Unterschied, welcher meine totale Empfindungsgesamtheit vor. meiner somatischen Empfindungsgesamtheit trennt, ist zugleich der Grund einer a n d e r e n Verschiedenheit zwischen diesen beiden Wahrnehmungen. Wenn nämlich die Gesamt Wahrnehmung meines Existierens doch einen gewissen Grad an Wirklichkeit besitzt, so geschieht das in dem Maße, in dem diese blitzhafte W a h r n e h m u n g sich von einer vorherigen Wahrnehmung abhebt, das heißt in dem M a ß e , in dem ich mich mehr oder weniger existieren fühle ais noch kurz vorher. E n t z i e h e ich mich absichtlich den Erregungen der Außenwelt, um mich um wiederholte Wahrnehmungen meiner jeweiligen Empfindungsgesamtheit zu bemühen, so müssen diese Versuche ü b e r k u r z oder lang fehlschlagen: weil ich mich den ä u ß e r e n Eindrükken gegenüber verschließe, ist nämlich der jeweilige augenblickliche Zustand mit dem vorhergehenden inneren Befinden identisch und hebt sich d a h e r v o n ihm nicht ab. D e r Faktor „Zeit", welcher gerade durch dieses gegenseitige Sich-Voneinanderabheben der jeweiligen aufeinanderfolgenden Augenblicke in der Erinnerung gegenwärtig w a r , die ich vom jetzigen zum vorhergehenden Augenblick bewahrte, ist hier verschwunden und mit ihm jede nicht-formale W a h r n e h m u n g der Existenz. Wenn — wie wir gesagt haben — dem diesbezüglichen Bewußtsein des noch nicht verwirklichten Menschen die Dimension „Zeit" fehlt, so ist es doch wenigstens nötig, daß die Zeit indirekt mittels des vergleichenden Gedächtnisses eingeführt wird und anläßlich der Veränderungen meiner jeweiligen Daseinsbefindlichkeit ihren Ausdruck findet, damit eine gewisse W a h r n e h m u n g meiner Existenz überhaupt möglich wird. Natürlich kann eine solche W a h r n e h m u n g immer nur eine r e l a t i v e sein. In meinem Dasein als noch nicht verwirklichter Mensch k a n n ich mich nicht „schlechthin" existieren fühlen, ich k a n n in nichtformaler Weise eine Vorstellung nur davon haben, mehr oder weniger da zu sein als vorhin, (Mit meiner physischen Empfindungsgesamtheit verhält es sich anders; eben weil die Wahrnehmung vom physischen Vorhandensein meines Arms 94

am Absoluten, am Nicht-zeitlichen teilhat, k a n n z. B. ein A m p u t i e r t e r noch die Existenz seines nicht m e h r vorhandenen Armes empfinden. Meine Existenzwahrnehmung, der allein ich vorläufig fähig bin, ist somit eine auf den Augenblick beschränkte Wahrnehmung u n d sie ist relativ. Sie ist n u r die momentane W a h r n e h m u n g , mehr oder weniger als im vorhergehenden Augenblick zu existieren. Meine Daseinseindrücke w a n d e l n sich fortgesetzt je nach den Wandlungen meiner Beziehungen zur Außenwelt, sie gleichen einer Wasserpuppe, diesem Spielzeug, welches im Inneren einer Glaskugel steigt oder fällt. Je nachdem, ob ich mich durch die Außenwelt bestätigt oder negiert sehe, steigt bzw. fällt meine „Wasserpuppe". Meine Wahrnehmung, mehr oder weniger zu existieren, besteht in der blitzhaften Beobachtung des augenblicklichen Standes dieser „Wasserpuppe" im Vergleich zu der Stellung, die sie v o r h i n eingenommen hatte. Ich beobachte die verschiedenen Lagen der Wasserpuppe in ihren gegenseitigen Beziehungen untereinander, das heißt, ich sehe sie höher oder tiefer liegen als noch eben vorher. Doch k a n n ich heute ihre Bewegung selbst noch nicht erkennen. Nur indirekt sehe ich ihre veränderte Bewegung, indem ich die Niveauunterschiede meiner aufeinanderfolgenden, im Augenblick gemachten Beobachtungen vergleiche. D i r e k t kann ich die Bewegung nicht erkennen. Diese veränderten Lagen der „ W a s s e r p u p p e " , diese jeweiligen Modifikationen meiner Befindlichkeit entsprechen der tief innersten Bewegung meines Lebens u n d sind als erste erscheinungsmäßige Manifestation meiner seinsmäßigen Existenz, meines Prinzips, d. h. des Höchsten Universellen Prinzips, dessen, was die Vedanta das Selbst nennt, zu bezeichnen. Ich kann augenblickliche, verschiedene und gegensätzliche Befindlichkeiten der Manifestation meines Prinzips erkennen, aber nicht die Manifestation selbst in ihrer Kontinuität. N u r das Prinzip selbst kann seine Manifestation in der kontinuierlichen Dauer erkennen. Mein Bewußtsein kann sich der I d e n t i t ä t mit seinem Prinzip erst d a n n erfreuen, wenn es in ihrer Kontinuität diese Manifestation erblicken wird, die das „Schauspiel" meines fortdauernden Geschaffenwerdens ist, das heißt, wie es auch die V e d a n t a sagt, wenn ich der Zuschauer meines eigenen Schauspiels sein werde. Der Begriff „Zuschauer des Schauspiels" ist häufig mißverstanden worden. Viele glauben, d a ß das Schauspiel, von dem hier die Rede ist, unseren inneren formalen Erscheinungsvorgängen entspreche, was bedeuten würde, d a ß dieses Schauspiel der Vorstellungsablauf unserer Ideen und Gefühle wäre. Das ist ein schwerer Irrtum, d e r uns mir z u r üblichen Selbstbeobachtung führ: und uns mehr und mehr zum S k l a v e n unserer Vorstellungswelt macht. Wenn das Problem auf dieser niederen Stufe in Angriff genommen wird, so ist es unlösbar. Wir können nicht aktiver Zuschauer in unserem Vorstellungsablauf sein, denn wir sehen ihn nur, wenn w i r nicht aktiv zuschauen. Jeder aktive Blick bringt den Vorstellungsablauf zum Stillstand D a s Schauspiel, dessen Zuschauer wir werden sollen, spielt sich auf einer Ebene ab, die höher liegt als der Vorstellungsablauf. Es liegt auf der Ebene unserer ersten Bewegung, jener nicht-formalen, aus der Tiefe unseres 95

Bewußtseins k o m m e n d e n Bewegung, aus der sich dann weiterhin all unsere form a l e n inneren B e w e g u n g e n ableiten. U n d diese ursprüngliche, erste Bewegung entspricht dem Bewegungsablauf der „Wasserpuppe". Sie ä u ß e r t sich durch L a g e v e r ä n d e r u n g e n unseres inneren Gesamtbefindens nach oben oder unten hin u n d ist Synthese wie Q u e l l e unseres somatischen und psychischen Verhaltens. Um d a s Satori zu erreichen, müssen w i r also z u r Verwandlung der augenblicksbed i n g t e n W a h r n e h m u n g e n unseres „Mehr-oder-Weniger-als-vorhin-Existierens" in eine kontinuierliche W a h r n e h m u n g gelangen, d. h. die W a h r n e h m u n g unseres Existierens schlechthin. D a s k a n n der Mensch erreichen, indem er sich Übung d a r i n erwirbt, i m m e r m e h r und mehr zu diesen Augenblickswahrnehmungen zu gelangen. Ein Vergleich mag dienlich sein, diesen Vorgang begreifbar zu machen: n e h m e n wir an, daß ein Kurzfilm gedreht w i r d , und zwar w i r d zunächst alle 10 Sekunden, ein Bild auf die L e i n w a n d projiziert. Wir sehen jedes Bild deutlich. N e h m e n w i r ferner an, d a ß die Projektion fortlaufend verschnellert wird. Eine gewisse Zeit lang erkennen wir noch die Bilder ganz klar in ihrer jeweils unterbrochenen K o n t i n u i t ä t . Dann w i r d einAugenblick kommen, wo wir sie nicht mehr in ihrer D i s k o n t i n u i t ä t erblichen, wo wir aber den Film als solchen noch nicht klar in seiner K o n t i n u i t ä t erkennen können. Schließlich w i r d die Projektion einen Schnelligkeitgrad erreichen, der uns erlaubt, den Film deutlich in seinem fortlaufenden Zusammenhang zu erkennen. Das Zen beschreibt sehr genau jenes Zwischenstadium, welches die k l a r e , jedoch statische Sicht (das übliche Bewußtsein) vom deutlichen u n d lebendigen Sehen trennt (Bewußtsein nach dem Satori). Auf seinem H ö h e p u n k t erhält dies Zwischenstadium v o m Z e n den N a men „Tai-i" („Großer Zweifel") und wird uns als ein völlig formloser Zustand der Verwischung aller geistigen Former, beschrieben. Diese „Verwischung" ist so vollständig u n d so bar aller Formen, daß sie in keiner Weise einem Chaos gleichkommt, sondern vielmehr die transparente Reinheit eines riesigen Kristalls erreicht, hinter dem noch nichts erscheint. Die Vorstellung von diesen drei aufeinander folgenden Stadien, von denen hier die Rede ist, findet sich auch in einem Z e n - Z i t a t : „Bevor der Mensch das Zen studiert, sind für ihn die Berge Berge und die Wasser Wasser. Hat er aber dank der Unterweisung eines guten Lehrers eine bestimmte innere Schau von der Wahrheit des Zen verwirklicht, dann sind ihm die Berge nicht mehr Berge und die Wasser nicht mehr Wasser. Gelangt er später wirklich zum Heim der Ruhe, so sind die Berge wieder Berge und die Wasser wieder Wasser." Kommen wir jetzt auf die praktische Seite dieser inneren Bemühung zu sprechen, so wie w i r sie in diesem Zusammenhang verstehen. Über das „ W i e " dieser Arbeit können wir nicht mehr sagen, als wir schon festgestellt h a b e n . W i r können nur wiederholen, daß die Schwierigkeit dieser inneren Schau in ihrer Einfachheit liegt. Gelingt es irgendwie nicht, richtig zu sehen, so deshalb, weil man irrtümlicherweise Komplikationen sucht und innerlich „manipuliert". Es handelt sich ganz einfach darum, ob man sich im ganzen betrachtet besser oder schlechter fühlt, ob die „Wasserpuppe"' gestiegen oder gesunken ist. 96

Wir machen ausdrücklich darauf aufmerksam, daß diese Schau nur sinnvoll ist, w e n n d e r Mensch, der sich zu ihr hin erzieht, mit wirklicher geistiger K l a r h e i t und aus der Tiefe seines Wesens heraus verstanden hat, daß die Erlangung des Satori die einzige Lösung für sein augenblickliches Dasein der Angst bedeutet u n d es dabei völlig unwesentlich ist, oh die „Wasserpuppe" sich oben oder u n t e n befindet. Das einzig Wesentliche ist, eine kontinuierliche Sicht seines eigenen Bewegungsablaufes zu gewinnen, unabhängig davon, ob man glücklich o d e r u n glücklich, voller Schrecken oder vertrauensvoll gestimmt ist, e t c . . . . Jenseits aller gefühlsmäßigen Neigungen, die natürlich bestehen bleiben, muß es einen festen S t a n d p u n k t unparteilichen geistigen Verständnisses geben. Es ist in diesem Zusammenhang ganz selbstverständlich, daß die hier gemeinte Schau auch die Erkenntnis voraussetzt von der gleichgültigen Wesenlosigkeit der F o r m e n unseres gesamten Triebwerkes. Auf einer anfänglichen Stufe hat der Mensch die Aufgabe, sein Triebwerk zu analysieren, um das Weser, seines inneren Getriebes kennenzulernen. Die konkrete innere Arbeit hingegen setzt voraus, d a ß diese Aufgabe bereits gelöst ist und die eigenen „Komplexe" aufgehört haben, uns zu interessieren. Das theoretische Verständnis muß vorhanden und dies in ausreichendem M a ß e sein, bevor die konkrete innere Arbeit in Angriff genommen werden kann. Aber wir haben noch eine wichtige Frage zu untersuchen: Ich besitze wie jeder Durchschnittsmensch fünf verschiedene Denkarten. Welche dieser verschiedener. D e n k a r t e n liegt psychologisch gesehen am günstigsten für meine Bemühungen um eine „Selbstschau''? Die A n t w o r t ist einfach: es gibt nur eine einzige D e n k a r t . die mit diesem Blick in mein ureigenes Wesen, in mein Selbst, vereinbar w ä r e , und das ist die vierte Denkweise, diejenige des Menschen, der sich der realen A u ß e n w e l t anpaßt. Wenn meine jeweils veränderliche Existenzlage von d e r nicht-wirklichen und nicht-gegenwärtigen Welt meiner Vorstellung, das heißt v o n dem Vorstellungsablauf, den ich außerhalb des wirklich Gegenwärtigen m i t dem V o r r a t meiner Bildformen produziere, abhängt, dann ist mein geistiger A p p a r a t in diesem Augenblick vollständig mit der Einstellung meines Vorstellungsablaufes beschäftigt und h a t keinen Raum mehr für eine aktive W a h r n e h mung. Ich kann meine verschiedenen Existenzbefindlichkeiten aktiv nur w a h r nehmen, wenn diese jeweiligen Veränderungen nicht von meiner eigenen A k t i v i tät abhängen, sondern von einer außerhalb meiner selbst gelegenen A k t i v i t ä t , das heißt von der Aktivität des Nicht-Ich, der real gegenwärtigen A u ß e n w e l t . Die Aktivität dieser wirklich gegenwärtigen äußeren Welt betrifft mich psychisch n u r im Verlaufe der Zeit, wo ich mich mit dieser Welt auseinandersetzen und mich in das Wirkliche fügen m u ß . M a n k ö n n t e einwenden, daß auch in diesem Augenblick meine jeweils verschiedene Gesamtbefindlichkeit von einer bestimmten Aktivität meines mentalen Bereiches abhängt. Sicherlich, aber d a n n handelt es sich um eine Reaktionstätigkeit meines Geistes, um ein Reaktionsverhalten und nicht um wirkliche A k t i v i t ä t . Bei d e m Vorgang meiner inneren A n passung an die wirkliche äußere Welt bleibt die Initiative z u r Auslösung meiner 7 Benoit. Die hohe Lehre

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sehen, wie schwer es uns fällt, wachsam zu bleiben, ohne daß die eine oder die andere Muskelgruppe wieder in Spannung gerät. Aus diesem G r u n d e sagt das Zen, wenn auf die Einfachheit der inneren Arbeit die Sprache k o m m t : "Der innere Friede k a n n erst nach einem harten Kampf gegen unsere eigene Persönlichkeit errungen werden . . . Der K a m p f m u ß mit ganzer Wucht u n d Manneskraft ausgetragen werden. Ist dies nicht der Fall, so ist der Friede, welcher waltet, nur ein Scheinfriede." Dieser K a m p f gegen die eigene Persönlichkeit findet nicht auf der formalen Ebene statt, es ist z u m Beispiel nicht der K a m p f gegen die eigenen „Fehler". Es ist der K a m p f gegen die geistige Trägheit, die all unsere formbedingten inneren Erregungen hervorbringt. Es ist der K a m p f gegen den üblichen Strom unseres Ichs, gegen den wir so lange angehen müssen, immer weiter zurück, immer höher hinauf, bis unser Bewußtsein wieder in die unformale Quelle unseres Seins reintegriert ist. Wir müssen hier noch unsere Bemerkungen über die Vereinbarkeit oder NichtVereinbarkeit zwischen der Bemühung unserer „Selbstschau" und unseren fünf verschiedenen D e n k a r t e n ergänzen. Wir müssen den Unterschied noch weiter vertiefen, den w i r zwischen dem „reaktiven Vorstellungsablauf°, d e r sich auf die gegenwärtige äußere Welt bezieht, u n d dem „aktiven Vorstellungsablauf" den mein Geist mit dem Vorrat seiner Bildformen produziert, festgestellt haben Dieser Unterschied entspricht einem a n d e r n , den wir bei der Beobachtung un seres konkreten psychologischen Lebens machen können: w i r leben zugleich auf verschiedenen Ebenen, auf der Ebene der Empfindung u n d auf d e r Ebene der Vorstellung. Z u m Beispiel wünschen sich die meisten Menschen Reichtum und Luxus und e r w a r t e n hiervon eine Bestätigung ihrer selbst. Tatsächlich verhilft dem Reichen sein Reichtum zu vielfachen Selbstbestätigungen. A b e r all diese Selbstbestätigungen gliedern sich in zwei A r t e n : Mein Reichtum stellt eine Bejahung und Bestätigung meiner selbst dar auf der Ebene d e r Empfindung, indem er mein organisches Leben fördert (gute Ernährung, E r h o l u n g , sinnliche Ein drücke der E n t s p a n n u n g etc ), wie auf d e r Ebene der Vorstellung (ich habe das Gefühl „ J e m a n d zu sein", weil ich all diese Möglichkeiten habe). Die Ebene der Empfindung entspricht der physischen Empfindungsgesamtheit, die Ebene der Vorstellung der psychischen Empfindungsgesamtheit. Beachten wir gleichzeitig, daß die Ebene der Empfindung wirklich ist, w ä h r e n d die Ebene der Vorstellung illusorischen Charakter h a t : In der T a t entspricht die Ebene der Empfind u n g dem Menschen, insofern er ein Mensch wie alle a n d e r e n , das heißt ein universeller Mensch ist. Die Ebene der Vorstellung hingegen entspricht dem Menschen, der sich als Einzelwesen, als gesondertes Wesen sehen will, somit dem persönlichen und ich-bezogenen Menschen, der ein illusorisches Bild v o n sich selbst hat. (Illusorisch insofern, als ein Mensch sich v o m a n d e r n nur in formaler Hinsicht unterscheidet, nicht aber in seiner spezifischen menschlichen Grundsituation.) Ausgenommen im tiefen Schlaf, lebt der Durchschnittsmensch nie allein auf einer der beiden Ebenen. Er lebt immer auf beiden E b e n e n zugleich. Sein Geist beschränkt sich nie darauf, nur e n t w e d e r einen reaktiven Vorstellungsablauf (Ebene der Emp-

findung) oder einen aktiven Vorstellungsablauf (Ebene der Vorstellungen) zu entwickeln. D e r Mensch entwickelt unaufhörlich zwei Vorstellungsabläufe, einen r e a k t i v e n und einen aktiven. Seine Aufmerksamkeit geht z w a r von einem V o r stellungsablauf zum andern u n d befindet sich im jeweiligen Augenblick i m m e r nur bei einem; beide aber w e r d e n fortlaufend und parallel produziert. Zunächst einmal ist es leicht, einzusehen, daß ich nicht auf der Ebene der E m p f i n d u n g lebe, o h n e zugleich auch auf der Ebene der Vorstellung zu leben: mein innerer „ P r o z e ß " um Sein oder Nicht-Sein spielt sich pausenlos in mir ab und wird v o n allem, w a s mir auf der Ebene der Empfindung w i d e r f ä h r t , beeinflußt. Je nachdem, ob ich mich physisch w o h l oder übel fühle, hege ich Zweifel oder V e r t r a u e n zu m i r selbst e t c . . .. Allerdings scheint es manchmal so, als ob ich ausschließlich in der W e l t der Vorstellungen lebte. Wir werden sehen, daß dies nicht der Fall ist u n d erkennen, daß die E b e n e der Vorstellung auf der Ebene der Empfindung beruht, von ihr abhängt, d a h e r eine Folge von ihr ist. Betrachten wir zum Beispiel einen Fall, wo das Spiel auf der Ebene der Vorstellung bis zum Äußersten getrieben ist: ein reicher F i n a n z m a n n macht B a n k r o t t und nimmt sich das Leben, um einem „unwürdigen" Leben zu entgehen, in dem er nicht mehr „ j e m a n d " sein k ö n n t e . Dieser Mensch tötet seinen Körper, um das Bild, die Vorstellung seiner selbst zu bewahren. Es sieht wirklich so aus, als ob diese H a n d l u n g sich einzig auf der Ebene der Vorstellung abgespielt hätte und die Ebene der Vorstellung hier den Vorrang gegenüber der Ebene der Empfindung habe. Betrachten w i r aber d e n Fall genauer: dieser Mann nimmt sich das Leben, um der M i ß achtung zu entgehen. Aber der Gedanke der Mißachtung ist ihm nur deshalb unerträglich, weil er für ihn den Verlust eines Ansehens bedeutet, dem er höchsten W e r t beimaß. Er maß dieser Selbstachtung durch die anderen nur höchsten Wert bei, weil diese Achtung und Selbstbestäubung vonseiten der anderen in seinen Augen im Zusammenhang stand mit seinem Kampf gegen das Nicht-Ich und d a m i t einen Schutz seiner Gesamtperson gegen den Tod für ihn bedeutete. So p a r a d o x dies auch erscheinen mag, dieser Mensch tötet sich, um das zu erhalten, was i h n virtuell vor dem T o d e schützt. A n h a n d dieses Beispiels kann ich begreifen, daß die Ebene der Vorstellungen eine A r t illusorischer Bau ist, den mein „aktives" geistiges Vorstellungsvermögen auf der Ebene der Empfindung errichtet. Alles, was ich auf der Ebene der Vorstellung liebe, d . h . alles, was mich auf dieser Ebene bestätigt, scheint mich in meinen Augen zu bestätigen, weil ich es letzten Endes für meine Gesamtperson zuträglich halte. Ich sage „letzten Endes", weil die Selbstbestätigung in meiner Vorstellung nicht unmittelbar mit der organischen Selbstbestätigung, aus der sie stammt, übereinstimmt. Man stelle sich z . B . einen einflußreichen Geschäftsmann vor, der ohne Unterlaß arbeitet und viel Geld erwirbt. Die tägliche Unruhe seines Lebens stellt eine Negation dar auf der Ebene der Empfindung. Dieser Mann führt, wenn ich mich volkstümlich ausdrücken darf, ein „Hundeleben". Wenn er aber auf seine Position solchen W e r t legt, so deshalb, weil die damit verbundene Machtstellung eben einen virtuellen Schutz seiner Gesamtperson gegen den Tod für ihn bedeutet. Auch dieser 100

Mann bringt sich um, wenn auch nur „allmählich", damit er das u n t e r h ä l t u n d vermehrt, was ihn vor dem Tode schützen könnte. Zwischen der Selbstbestätigung, die dieser M a n n vorstellungsmäßig erhält, u n d der Selbstbestätigung, die ihm sein Reichtum möglicherweise auf der Ebene der Empfindung verschaffen kann, herrscht keine unmittelbare Übereinstimmung. Trotzdem gibt letztere, so latent sie sein mag, den Ausschlag für die erstere u n d stellt ihre Basis d a r . Der Durchschnittsmensch lebt also fortgesetzt auf beiden Ebenen zugleich. D i e beiden Ebenen entsprechen dem somatischen und psychischen Bereich des M e n schen, welche wir in einem früheren Kapitel untersucht haben. H a l t e n w i r fest, d a ß jedes Ereignis unseres Lebens sich letzten Endes durch gleichzeitige R e a k t i o nen in beiden Bereichen äußert, daß aber der jeweilige K o n t a k t mit der A u ß e n welt, welcher diese Reaktionen in den beiden Bereichen zugleich auslöst, n u r innerhalb des einen o d e r des andern Bereiches stattfindet, Ich bin d u r c h die Außenweit entweder auf der Ebene der Empfindung (tatsächlich gegenwärtige Außenwelt), oder auf der Ebene der Vorstellung (wieder ins Gedächtnis gerufene Außenwelt) berührt, aber ich erfahre jede dieser beiden Berührungen zugleich auf beiden Ebenen. Wir haben darauf hingewiesen, daß der Durchschnittsmensch, der unaufhörlich auf zwei Ebenen zugleich lebt, im einzelnen Augenblick jeweils nur auf eine der beiden Ebenen wacht. Solange der Mensch t r ä u m t , im Wachzustand t r ä u m t oder meditiert, ist seine Aufmerksamkeit nur auf die Vorstellungsebene gerichtet, auf den aktiven Vorsrellungsablauf. Sein reaktiver Vorstellungsablauf entwickelt sich gleichzeitig, obwohl er nicht beachtet w i r d . N u r wenn der Mensch sich der gegenwärtigen A u ß e n w e l t a n p a ß t , erfährt er sein Leben — dank des rascher H i n und H e r seiner Aufmerksamkeit — sowohl auf der Ebene der Empfindung als auf der der Vorstellung. Beobachte ich mich genau, so merke ich, d a ß ich imm e r irgendwie, meistens sogar ausgesprochen, im Wachzustand t r ä u m e , gleichzeitig mich aber der realen Wirklichkeit anpasse, indem Ich mich auf die Außenwelt abstimme und mit ihr fertig zu werden trachte. Unter dieser Voraussetzung w i r d uns genauer verständlich, wieso die vierte Denkart mit der inneren Arbeit am besten vereinbar ist. Theoretisch gesehen, ist diese Vereinbarkeit sogar eine vollständige. Aber k o n k r e t betrachtet geht alles so vor sich, als ob sie nicht vollständig sei. Weil ich mich nie innerhalb der vierten D e n k a r t ausschließlich bewege. Meine Aufmerksamkeit teilt sich unaufhörlich in die vierte oder d r i t t e D e n k a r t , u n d so schwanke ich zwischen diesen beiden Denkarten. Das Ziel meiner inneren Arbeit besteht aber gerade darin, mich eines Tages durch das Satori in d e r r e i n e n Form der vierten Denkart zu verwurzeln, mich so wirklich der A u ß e n w e l t anzupassen u n d durch endgültige Überwindung des Träumens die absolute Wirklichkeit zu erreichen. D i e E r f a h r u n g zeigt es mir. Sobald ich mich anschicke, ausdrückliche Versuche zu u n t e r n e h m e n , um meine augenblickliche Existenzbefindlichkeit zu erkennen, bem e r k e ich daß eben diese Versuche den aktiven Vorstellungsablauf eindämmen, da er sich mit diesen Bemühungen nicht verträgt. Genauer gesagt, die Bemühun101

n dieser A r t haben eine auflösende Wirkung für meinen illusorischen Vorstellungsablauf, weil sie meine Aufmerksamkeit ablenken u n d auf den wirklichen reaktiven Vorstellungsablauf hinführen. Schließlich tragen also meine Bemühungen dazu bei, mein Leben auf der Ebene der Bildvorstellungen aufzuheben u n d mein Leben auf der Ebene des Empfindens zu reinigen. D a n k meiner inneren Bemühung w i r d meine illusorische psychische Empfindungsgesamtheit aus meiner wirklichen physischen Empfindungsgesamtheit ausgeschaltet. Der ich-bezogene, illusorische Teil meiner selbst wird aus meinem organischen wirklichen Leben ausgeschieden. Es wird mir klar, d a ß sich in mir selbst eine wirkliche „ E r d e " , ein organisches Leben nämlich mit den reaktiven Wahrnehmungen des augenblicklich Wirklichen, u n d ein illusorischer „ H i m m e l " befinden, der H i m m e l meines aktiven Lebens der Vorstellung. Auf Grund dieses illusorischen „ H i m m e l s " aber bin ich jetzt im Besitz weder meiner „Erde" noch des „Hirnniels". Die innre Arbeit, die darin besteht, meinen illusorischen „ H i m m e l " zu vernichten, wird mich meiner „ E r d e " zurückgeben und diese Rückgabe an die „Erde" w i r d mir auch gleichzeitig das Glück des wirklichen „ H i m m e l s " gewähren. Dies ist der Sinn des Zen-Wortes: „Die Erde ist das P a r a d i e s " . Eine solche Auffassung, welche meinem organischen Leben neuen Wert verleiht und mein imaginatives Leben entwertet, birgt die Gefahr in sich, d a ß wir uns in direkter Weise zu organischen Beobachtungen unserer selbst zwingen, das h e i ß t zur Beobachtung unserer organischen Gefühlsgesamtheit. Eine solche innere A r beit w ä r e unfruchtbar und kann sogar gefährlich sein. Es ist unmöglich, auf künstliche Weise unser imaginatives Leben zu unterdrücken und das w ü r d e auch nur zu einer sinnlosen Scheinwirklichkeit führen. Der subtile Destillationsprozeß, der die Illusion beseitigt, kann keinesfalls auf der dualistischen Eberne, wo Wirkliches und Illusorisches in Erscheinung treten, v o r sich gehen. Unsere inneren Manipulationen formaler N a t u r sind hier machtlos. Einzig unser U r p r i n z i p k a n n diese „alchimistische'' Destillation, diese innere Reinigung bewirken. W i r müssen unsererseits nur aufhören, uns der Aktion u n seres Prinzips zu widersetzen. N u r durch die vollständige innere augenblickliche Entspannung, von der wir gesprochen haben, können w i r es lernen, unsern gewohnten inneren Widerstand aufzugeben. Die fortschreitende Auflösung unseres Lebens auf der Ebene der Bildvorstellungen nähert uns der Befreiung, unserer Geburt in die absolute Wirklichkeit hinein. Vom Standpunkt der Situation vor dem Satori aus betrachtet, stellt diese Auflösung die mühsame Agonie des „alten Menschen" dar. So stellt also die innere Arbeit, um zur „Selbstschau" zu gelangen, die w a h r e „Askese" dar (deren äußere Formen nur Scheinformen s i n d , die wahre „Reinigung" und die w a h r e . A b t ö t u n g " . (Wir möchten betonen, daß diese wirkliche Askese keinerlei Ä n d e rung unseres äußeren Lebens erfordert.) Es ist von entscheidender Wichtigkeit, das riesige A u s m a ß dessen, was wir nach unserer augenblicklichen Betrachtung der Dinge aufgeben müssen, wie auch gleichzeitig die schmerzlose N a t u r dieses Aufgebens zu begreifen. Die Ebene des 102

Bildes, welche ich verlieren muß, ist heute noch riesenhaft in meinen Augen, sie bedeutet für mich alles. Sie ist das Salz meines Daseins und verleiht ihm erst seinen Sinn. Sie ist die Ursache meiner Angst v i e meines Entzückens, meiner Leidenschaft, meiner R ü h r u n g wie all meiner Hoffnung. Vorstellen kann sich der gewöhnliche Mensch das Verschwinden seines Lebens der „Gefühle", das Verschwinden der dualistischen Empfindsamkeit seiner „Seele" nur als den T o d seines Daseins. Der illusorische „Himmel", mit seinen Stürmen und seinen Sonnenblicken, erscheint ihm wertvoller als alles, imbesondere wertvoller als seine „Erde", sein Körper. N u n bedeutet aber die Auflösung jenes Lebens auf der Ebene der Bildvorstellung den endgültigen Verzicht auf diesen illusorischen "Himmel", auf alles, w a s w i r für „heilig" und „übernatürlich" in unserem augenblicklichen Dasein halten. Trotzdem ist dieser Verzicht völlig schmerzlos. Die Agonie des „alten Menschen" ist mühsam (sie ist gerade „der verbissene Kampf gegen unsere eigene Persönlichkeit"), aber nicht schmerzhaft. Dieser Verzicht gelingt auch nur in dem M a ß e , in dem es mir gelingt — ohne irgend etwas von dem, was ich von meinem jetzigen Standpunk: aus für wertvoll erachte, gewaltsam zu unterdrücken — meine Aufmerksamkeit auf das zu lenken, was in mir die Ebene der Empfindung begünstigt, und so die T r u g b i l d e r zu zerstreuen, die in meinen Augen den D i n g e n W e r t e verliehen, welche sie nicht besitzen. Die Ebene der Bildvorstellungen w i r d mir nicht entrissen — das w ä r e verhängnisvoll —, ich selbst verlasse sie nur. Ich k a n n kein Bedauern d a r ü b e r empfinden, sie zu verlassen, denn die Ebene der Bild Vorstellungen existiert n u r illusorisch in mir, solange ich mich auf ihr bewege. Eine schmerzhafte innere Anstrengung ist falsch ausgeführt, sie greift d i r e k t die Gefühlsbewegungen an. Die richtige innere Bemühung, der Versuch d e r „Selhstschau" hingegen, wirkt in unserem Innern an demjenigen P u n k t , an dem die Gefühlserregungen überhaupt erst auftauchen. Wie sollte ich schmerzhaft davon bewegt sein, g a r nicht bewegt zu sein? Nichts können uns die Formen anhaben im Verlaufe unserer richtigen Bemühungen zum Nicht-Formalen h i n . Indem das Licht den Grundschatten zerstreut, verjagt es ü b e r h a u p t jeglichen Schatten.

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XII. DIE

PRAKTISCHE HANDHABUNG DER INNEREN ARBEIT A N S I C H SELBST N A C H D E R L E H R E DES Z E N

ES IST SCHWIERIG ZU BEGREIFEN. W O R I N PRAKTISCH DIE i n n e r e S e l b s t a r b e i t nach d e r L e h r e des Z e n b e s t e h t , j e n e i n n e r e A r b e i t , d i e u n s eines T a g e s d e n Z u g a n g z u m S a t o r i verschaffen s o l l . W e n n die L e h r e r d e s Z e n t a t s ä c h l i c h p o s i t i v ü b e r d i e s e F r a g e s p r e c h e n , s a g e n sie A l l g e m e i n h e i t e n , d i e u n s leicht e t w a s i r o n i s c h e r s c h e i n e n m ö g e n : „ E s g e n ü g t , d a ß ihr i n e u e r e i g e n e s Wesen schaut", o d e r : „Seid v ö l l i g v o n allen D i n g e n losgelöst". o d e r : „ I h r seid alle B u d d h a s u n d folglich b r a u c h t i h r n i c h t B u d d h a z u w e r d e n , s o n d e r n n u r w i e B u d d h a z u h a n d e l n " etc Richtig, denkt der Schüler, aber i n der H a n d h a b u n g m e i n e s i n n e r e n L e b e n s b r i n g t mich das n i c h t w e i t e r . E r s t e l l t sich s o d a n n nach s e i n e m V e r m ö g e n d i e s e n o d e r j e n e n p r a k t i s c h e n W e g v o r , d e r i h n t a t s ä c h lich d e m S a t o r i n ä h e r b r i n g e n k ö r n t e u n d l e g t s e i n e m L e h r e r seine e n t s p r e c h e n d e Idee v o r . V o n diesem erfährt e r d a n n möglicherweise n u r entschiedene Z u r ü c k w e i s u n g e n , H a t e r sich v o r g e n o m m e n , g u t e T a t e n z u v o l l b r i n g e n , s o v e r s i c h e r t i h m d e r L e h r e r , d a ß i h m d i e s n i c h t s n u t z e n k ö n n e . H a t e r sich v o r g e n o m m e n , über „heilige" Texte zu meditieren, so sag: ihm der L e h r e r : „ L a ß dich nicht d u r c h d i e S u t r a v e r b l ü f f e n , s t e l l e besser d i e S u t r a s e l b s t a u f d e n K o p f . " H a t e r sich v o r g e n o m m e n , sich i n d e r g e i s t i g e n L e e r e z u ü b e n , s o z e i g t i h m d e r L e h r e r , d a ß d i e s n i c h t s als l a n g s a m e r S e l b s t m o r d sei. H a t e r sich g e d u l d i g e u n d tiefs c h ü r f e n d e i n t e l l e k t u e l l e A r b e i t v o r g e n o m m e n , s o e r k l ä r t i h m der M e i s t e r : „ D i s k u r s i v e s Ü b e r l e g e n u n d D e n k e n f ü h r t z u nichts. E s g l e i c h t e i n e r L a m p e , d i e a m h e l l e n M i t t a g a n g e z ü n d e t w i r d . K e i n Lichtschein k o m m t a u s ihr h e r v o r . " F r a g t der u n g l ü c k l i c h e Schüler s c h l i e ß l i c h bescheiden n a c h e i n e r A u f k l ä r u n g ü b e r d a s „ G e h e i m n i s " des Z e n . s o a n t w o r t e t i h m d e r L e h r e r : „ E s i s t d e r s c h w e r s t e I r r t u m , d e m v i e l e u n t e r l i e g e n , sich v o r z u s t e l l e n , d a s Z e n sei g e h e i m n i s v o l l . . . W i r s o l l e n d e n W i d e r s p r u c h nicht v e r m e i d e n , s o n d e r n w i r m ü s s e n i h n a u s l e b e n . " F r a g l o s h a b e n d i e L e h r e r d e s Z c n recht, nicht d e n V e r s u c h z u u n t e r n e h m e n , d a s U n a u s s p r e c h l i c h e a u s z u s p r e c h e n , w e n n sie e r k l ä r e n , d a ß dies U n a u s s p r e c h l i c h e i n k e i n e r Weise g e h e i m n i s v o l l sei. Sicher t u n sie g u t d a r a n , d i e V e r m u t u n g e n i h r e r S c h ü l e r n u r m i t V e r n e i n u n g e n z u b e a n t w o r t e n u n d sie v o n e i n e m I r r t u m in d e n a n d e r n zu treiben bis zu einer A r t freiwillig a n g e n o m m e n e r u n d d a h e r t r a u e r l o s e n V e r z w e i f l u n g , i n d e r i h r ganzes W e s e n s i c h e n t s p a n n t u n d sich d e r W i r k l i c h k e i t öffnet. T r o t z d e m w o l l e n w i r v e r s u c h e n , w a s die L e h r e r des Z e n n i c h t t u n , nämlich p o s i t i v u n d i n einer d e m G e i s t d e s Z e r . g e m ä ß e n W e i s e ü b e r die i n n e r e A r b e i t a n sich s e l b s t z u sprechen, o h n e d a r u m n u r bei a b s t r a k t e n A l l gemeinheiten zu verbleiben. 104

Das Zen läßt uns begreifen, daß die richtige innere Arbeit nicht in einem „ T u n " , sondern in einem „ N i c h t - T u n " besteht. Aber diese Erkenntnis würde uns nur entmutigen, wenn w i r es nicht lernten, zu verstehen, daß das, was „ N i c h t - T u n " auf einer Ebene ist, uns als „ T u n " auf einer anderen Ebene erscheint und w i r damit die Möglichkeit besitzen, diese andere Ebene aufzufinden, auf w e l c h e r unsere innere Arbeit einen positiven Aspekt aufweist. Um das eben G e s a g t e verständlich zu machen, bedienen wir uns eines Vergleiches aus dem Bereich des Funktionsablaufes unseres Körpers. Im Verlaufe unserer Bewegungen w i r d die Zusammenziehung unserer Muskelfasern durch die A k t i v i t ä t einer N e r v e n z e l l e , der sog. Medularzelle, welche im Rückenmark liegt, bewirkt. Es ist die F u n k tion dieser Zelle, d a ß sich der Muskel zusammenzieht, und dieser Muskel b l i e b e , wenn nichts ihn h i n d e r t e , dauernd zusammengezogen. D i e M e d u l a r z e l l e ist jedoch nicht in der L a g e , fortwährend tätig zu sein. Eine andere, im H i r n b e findliche Nervenzelle, w i r k t mittels einer langen Faser auf die M e d u l a r z e l l e ein, so d a ß also die Gehirnzelle, wenn sie a k t i v ist, die A k t i v i t ä t der M e d u l a r zelle verhindert. I s t unser Muskel somit im Zustand der R u h e e n t s p a n n t , so entspricht diese R u h e in Hinsicht auf die Medularzelle einem „ N i c h t - T u n " , da der M u s k e l sich z u s a m m e n z i e h t , sobald die Medularzelle tätig ist. D a s „ N i c h t s Tun" der M e d u l a r z e l l e hingegen entspricht dem „ T u n " der Gehirnzelle, da die A k t i v i t ä t dieser übergeordneten Zelle darin besteht, die A k t i v i t ä t der u n t e r geordneten Zelle a u f z u h e b e n . D i e Muskelentspannung, welche a u f einer u n t e r e n E b e n e ein „ N i c h t - T u n " ist, bedeutet gleichzeitig ein „Tun" auf einer h ö h e r e n Ebene. Sehen wir nun, wie sich die vitale Energie in der Gesamtheit unseres S e i n s a b spielt, wie wir auch h i e r zwei Ebenen e r k e n n e n können, so d a ß die N i c h t - A k t i vität e i n e r unteren E b e n e der Aktivität einer höheren Ebene entspricht. N u r so wird es verständlich, w a r u m das Zen uns versichert, daß w i r nichts zu „ t u n " h a b e n und im ü b r i g e n sagt, d a ß die innere A r b e i t eine aufmerksame i n t e n s i v e A k t i v i t ä t erfordere, „als ob unser Kopf in Flammen stünde". U n s e r Organismus b i r g t in sich Energie. D a s ist offensichtlich, da w i r u n a u f hörlich in uns K r ä f t e am W e r k sehen, die uns bewegen, die uns denken u n d h a n d e l n lassen. V o n d e r Q u e l l e dieser K r ä f t e h a b e n wir keine direkte V o r s t e l lung, a b e r die B e o b a c h t u n g aller Erscheinungen in uns läßt uns induktiv e r k e n n e n , d a ß eine energetische Quelle unserem g a n z e n Sein zugrunde liegt. W i r k ö n n e n diese Q u e l l e n u r als eine A r t R e s e r v o i r betrachten, ohne feste G r e n z e n , in w e l c h e m l a t e n t , bewegungslos, unsichtbar, nicht greifbar eine p o t e n t i e l l e v i t a l e Energie ruht. D i e s e Quelle, deren A k t i v i t ä t sich in meiner gesonderter E i n z e l p e r s o n k u n d t u t , d a r f indes nicht als individuelle Erscheinung beurteili w e r d e n . Dieses p o t e n t i e l l e , noch nicht in Erscheinung getretene E n e r g i e r e s e r v o i r m u ß als universell b e t r a c h t e t werden, da die besondere Individualität erst mi dem, w a s in E r s c h e i n u n g tritt, beginnt. D i e s e Q u e l l e is: also das P r i n z i p de U n i v e r s u m s und zugleich ist sie mein P r i n z i p . Sie entspricht dem, was im Zei „der K o s m i s c h e G e i s t " oder „das U n b e w u ß t e " h e i ß t . Aus dieser Q u e l l e kommen 10

in m i r unter Einfluß der E r r e g u n g e n der Außenwelt K r ä f t e hervor. E r r e g u n g e n k a n n ich a u f physischem wie a u f psychischem Wege e r h a l t e n . Jedenfalls b e s t e h t die E r r e g u n g immer in e i n e r zweipoligen Spannung zwischen der A u ß e n w e l t und mir. Zum Beispiel: W e n n ich A l k o h o l trinke o d e r B r o t esse, besteht z w i schen dem, was ich k o n s u m i e r e und meiner eigenen S u b s t a n z eine b i p o l a r e S p a n n u n g . O d e r wenn ich mich in Todesgefahr sehe, entsteht zwischen d e m ä u ß e r e n Bild und der v o n m i r entworfenen Unsterblichkeitsidee eine b i p o l a r e S p a n n u n g , etc D a s E n t s t e h e n einer vitalen K r a f t i n m i r als R e a k t i o n a u f die E r r e g u n g der A u ß e n w e l t stellt in Bezug a u f die Potentialenergie m e i n e r inneren K r a f t q u e l l e eine erste Desintegration d a r , ( w i r werden sehen, d a ß es noch eine z w e i t e D e s i n t e g r a t i o n gibt), welche e i n e r Atomzertrümmerung gleicht. Bergson h a t t e sehr t r e f f e n d das V o r h a n d e n s e i n solcher „Explosivstoffe" in uns beschrieben. S e i n I r r t u m bestand nur darin, dieses Explodieren a u f den psychischen Bereich zu beschränken, wo es doch jenseits dieser beiden Bereiche, des physischen u n d des psychischen startfindet, nämlich schon beim Austreten d e r Energie aus der zent r a l e n u n d beiden Bereichen gemeinsamen Quelle. Im Augenblick, wo diese K r a f t aus der Quelle h e r v o r s t r ö m t , entwickelt sie eine b e s t i m m t e rohe, reine, noch nicht differenzierte und u n g e f o r m t e Menge v o n vit a l e r E n e r g i e . G e n a u e r noch, sie ist ein Mittelding zwischen dem Gestaltlosen und der Form. Sie liegt zwischen der Quelle selbst und meinen Erscheinungsf o r m e n , so wie das positive und das negative P r i n z i p der Schöpfung zwischen d e m Höchsten Prinzip und d e r W e l t der Erscheinungen liegen. D e r M i k r o k o s mos ist so wie der M a k r o k o s m o s konstruiert. So k a n n auch diese vitale, aus der Q u e l l e entspringende K r a f t zwei Aspekte haben, einen positiven und einen neg a t i v e n . W i r d die Erregung der Außenwelt von mir als Selbstbestätigung e m p funden, so ist die entstehende K r a f t eine positive. Ich empfinde sie d a n n als einen Überschuß an Lebensenergie, als einen „ D r u c k " , welcher einen D r a n g zum Nicht-Ich mit sich b r i n g t (begehrende oder w o h l w o l l e n d e L i e b e ) . W i r d die E r r e g u n g der A u ß e n w e l t v o n mir als Negation meines Ichs empfunden, so ist die hervorströmende K r a f t negativer Natur. Ich empfinde sie als E i n b u ß e an L e b e n , als Leere, als Defizit, als nieder-drückend und es verbindet sich m i t ihr ein G e f ü h l der Abneigung gegen das Nicht-Ich ( F l u c h t g e d a n k e n , E k e l oder Aggressionslust). O b w o h l diese primitive Vitalenergie somit einen P l u s - und einen Minusaspekt aufweist, obwohl sie dadurch schon den Abdruck der ä u ß e r sten G r e n z e der F o r m e n w e l t aufweist, steht sie doch noch jenseits dieser form a l e n W e l t und m u ß als nicht-formal angesprochen w e r d e n . Ebenso m u ß t e n j a auch das positive und das negative Schöpfungsprinzip als nichtzeitlich betrachtet w e r d e n , obwohl sie die G r e n z e n der zeitlichen W e l t berühren. D i e s e vitale K r a f t , welche bei ihrem Entstehen n i c h t - f o r m a l e r N a t u r ist, können w i r a u f direktem, intuitivem Wege wahrnehmen. Da sie nicht-formal ist, können w i e sie z w a r nicht beschreiben, aber wir können sie w a h r n e h m e n . Wenn ich eine gute Nachricht erfahre, k a n n ich zum Beispiel jeden G e d a n k e n , der das glück-

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liche Ereignis selbst betrifft, ausschalten und direkt in m e i n e m Innern ein überwallendes Lebensgefühl feststellen. Auch wenn mich ein U n g l ü c k betrifft, kann ich j e d e n G e d a n k e n über das U n g l ü c k selbst verscheuchen u n d in direkter Weise ein Gefühl der Leere empfinden, eine Art Saugströmung, die mich zum Nichts zu treiben droht. Es ist m i r also möglich, meine A u f m e r k s a m k e i t ganz auf meine z e n t r a l e Quelle zu lenken, bis a u f den P u n k t h i n , wo diese Quelle beginnt, in Erscheinung zu treten, d. h. meine Aufmerksamkeit k a n n das N i v e a u der nicht-formalen Ebene erreichen, deren Aktivität, deren „ T u n " , w i e wir sehen werden, e i n e r N i c h t - A k t i v i t ä t , einem „ N i c h t - T u n " a u f der formalen Ebene meiner psycho-somatischen Erscheinungswelt entspricht. Das eben G e s a g t e ist völlig konkret. H a b e ich zum Beispiel G e l d verloren und lenke meine Aufmerksamkeit wie g e w o h n t auf die formale E b e n e der Erscheinungen, so unterziehe ich mich einer lebhaften A k t i v i t ä t meines Vorstellungsvermögens u n d rufe mir meine augenblicklichen und z u k ü n f t i g e n Sorgen in meine Vorstellungswelt. Richte ich a b e r in diesem Augenblick m e i n e Aufmerksamkeit, w i e e b e n erwähnt, auf die intuitive W a h r n e h m u n g meines Verlustes an V i t a l k r a f t (welche ich hier m i t N a m e n bezeichnen m u ß , o b w o h l sie ja in Wirklichkeit f o r m l o s ist), dann k a n n ich das Nachlassen m e i n e r vorstellungsbedingten E r r e g t h e i t beobachten. D a s ist eine Erfahrungstatsache, die jeder bei sich nachprüfen k a n n . Meine A k t i v i t ä t auf der nicht-formalen E b e n e h a t also meine N i c h t - A k t i v i t ä t auf der f o r m a l e n Ebene zur F o l g e . I s t m e i n e Aufmerksamkeit a u f die nicht-formale E b e n e gerichtet, so übt diese E b e n e gewissermaßen eine B r e m s w i r k u n g gegenüber der f o r m a l e n Ebene aus. D i e R i c h t u n g , welcher meine A u f m e r k s a m k e i t folgt, sei es in natürlicher Weise auf die f o r m a l e E b e n e hin oder willentlich auf die nicht-formale E b e n e hin, b e stimmt das Geschick der vitalen E n e r g i e . D a s Natürliche ist es, d a ß der Mensch aus seiner durchschnittlich unwissenden Grundsituation heraus seine Aufmerksamkeit p r a k t i s c h auf die untere f o r m a l e E b e n e beschränkt. E r unterliegt der Faszination d e r Erscheinungen, die sich außerhalb seiner u n d in ihm selbst a b spielen. I s t die A u f m e r k s a m k e i t d o r t h i n gerichtet, so f ü h r t die Vitalenergie, sobald sie d e r Q u e l l e entspringt, ihre Desintegration aus, i n d e m sie das menschliche T r i e b w e r k in Bewegung setzt, d a s heißt, indem sie in energetischen E r scheinungen somatischer u n d psychischer N a t u r F o r m a n n i m m t. Im Augenblick, w o die h e r v o r k o m m e n d e n i c h t - f o r m a l e Energie F o r m anzunehmen u n d zu strömen b e g i n n t , wobei sie sich a u f d e r Ebene der Erscheinungen selbst tilgt, wird sie z u r E m o t i o n oder Gefühlserregung. Diese ist a l s o eine primäre innere E r s c h e i n u n g , die als solche noch keinen spezifisch somatischen oder psychischen C h a r a k t e r trägt, jedoch die U r s a c h e physikalisch-chemischer V o r g ä n g e sowie g e i s t i g e r Verstellungen w i r d . L i e g t die A u f m e r k s a m k e i t auf dieser formalen E b e n e , s o b e g i n n t n o t w e n d i g e r w e i s e ein circulus v i t i o s u s . D i e V o r s t e l l u n gen, die aus diesem P r o z e ß h e r v o r g e h e n , w i r k e n sich dann als Erregungen aus, lassen neue K r ä f t e entstehen, d e r e n Schicksal das gleiche ist w i e dasjenige der ersten K r a f t e t c W i r d meine A u f m e r k s a m k e i t , welche zunächst a u f die e r 107

regende A u ß e n w e l t gerichtet ist, hingegen a u f das Innere u n d a u f die nichtf o r m a l e K r a f t bis zu ihrem anfänglichen Q u e l l p u n k t gelenkt und verbleibt sie h i e r einen A u g e n b l i c k , so entgeht die v i t a l e E n e r g i e w ä h r e n d dieses A u g e n blickes dem desintegrierenden Eingreifen der F o r m e n und e n t w i c k e l t keine B e wegungen i n n e r h a l b meines Organismus, w e d e r H a n d l u n g e n noch G e d a n k e n . Andererseits k e h r t s i e nicht zu ihrer Q u e l l e zurück, denn die erste D e s i n t e g r a t i o n , die ihr zu i h r e m E n t s t e h e n verholfen hat, ist nicht mehr rückgängig zu machen. Was wird d a n n aus ihr? N a c h der Auffassung einiger Lehren, welche nicht genügend von d e r F a s z i n a t i o n der Form b e f r e i t sind, soll sich diese K r a f t in der gesamten F o r m des Organismus zusammenballen. S i e ist aber verschieden von j e n e r K r a f t , die w i r kennen, subtiler, u n d sie stellt innerhalb des ersten g r o b förmigen K ö r p e r s allmählich einen zweiten feinstofflicheren K ö r p e r dar (die illusorische T h e o r i e v o m „ A s t r a l l e i b " ) . D a s Z e n , welches übrigens a n nichts „glaubt", lehnt diese T h e o r i e ab. Wie müssen w i r uns also im L i c h t e des Z e n Denkens das Geschick dieser reinen V i t a l e n e r g i e vorstellen, welche von der erscheinungsmäßigen Desintegration befreit ist? Es ist möglich, zu denken, daß diese Energie sich tatsächlich in uns aufhäuft, a b e r nicht nach i r g e n d einem F o r m p r i n z i p , so subtil dieses auch sein mag. Sie häuft sich in f o r m l o s e r Weise auf in der E b e n e der zwei unteren schöpferischen Prinzipien, dem positiven und dem n e g a t i v e n P r i n z i p , welche an sich, u n d o b w o h l sie a l l e F o r m e n h e r vorbringen, f o r m l o s sind. D i e Energie häuft sich hier, und m a n kann sie als „potentielle a k t u a l i s i e r t e " Energie qualifizieren. Als potentielle Energie w i r k t sie erscheinungsmäßig nicht mehr als die p o t e n t i e l l e Energie, die in der Quelle ruht. Als a k t u a l i s i e r t e Energie häuft sie sich a n , um später zu wirken. Dieses spätere W i r k e n ist das Satori. Die Vitalenergie gleicht einem e x p l o s i v e n Pulver, welches ohne die innere Arbelt sich im kleinen verausgabt und als fadenscheiniges Feuerwerk verbrennt, das unfähig ist, unsere S e i n s - S t r u k t u r zu verändern. (Diesem F e u e r w e r k entsprechen die Erregungen und deren psycho-somatische W i r k u n g e n ) . D a n k unserer inneren Arbeit w i r d v o n Zeit zu Z e i t eine gewisse Menge dieses Explosionsstoffes aufbewahrt und zurückgelegt, wodurch eine Art Zeitzündungsbombe entsteht. Diese B o m b e k a n n erst e x p l o d i e r e n , wenn ein genügender V o r r a t Pulver angehäuft ist. J e d o c h hat diese aufgeschobene E x plosion nichts m i t dem Feuerwerk emotionaler A r t zu tun. W ä h r e n d die G e fühlserregungen den menschlichen Organismus aufzehren, w e i l diese kleinen Explosionen i n n e r h a l b der Form dieses O r g a n i s m u s entstehen, wird die ungeheure E x p l o s i o n des Satori nicht eine einzige Z e l l e des menschlichen O r g a n i s mus in Mitleidenschaft ziehen. Sie wird sich im nicht-formalen Bereich v o l l ziehen, und ihre E i n w i r k u n g auf der E b e n e der formalen Erscheinungen kann mit einer K a t a l y s e verglichen werden, welche den zeitlichen Dualismus auflöst und versöhnt und darum endgültig jede innere Spannung der A n g s t beseitigt. Während des Zeitraumes, wo die nicht-formale E n e r g i e sich v o r dem Eintreten des Satori sammelt, w i r d bei dem betreffenden Menschen ein r e l a t i v e r Zustand von Weisheit, oder, genauer gesprochen, eine r e l a t i v e V e r m i n d e r u n g seiner ge103

wohnten Verblendung fühlbar. W e n n manche Menschen m i t zunehnemdem Alter weiser werden, so in dem M a ß e , wie sie ihre illusorischen Annahmen im Verlaufe ihrer praktischen Erfahrungen verlieren, den ä u ß e r e n und inneren "Formen" weniger Wert beimessen und so unwissentlich ihre Aufmerksamkeit vom Formalen zum Nicht-Formalen hinlenken. Menschen dieser Art arbeiten innerlich an sich, ohne es zu wissen. A b e r weil sie es nicht wissen, tun sie nicht genug dafür, d a ß sich in ihnen jene große Anhäufung nicht-formaler Energie bilde, welche das Satori erfordert. Kommen wir a u f diese Verlagerung der inneren A u f m e r k s a m k e i t zurück. Um dies verständlich zu machen, haben w i r auf die intuitive W a h r n e h m u n g aufmerksam gemacht, auf welche unsere Aufmerksamkeit sich richten muß. Es gibt kein anderes V e r f a h r e n als dieses, denn wir können nicht unsere Aufmerksamkeit von einem P u n k : ablenken, ohne den andern P u n k t zu kennen, a u f den wir sie richten müssen. Doch w ä r e es falsch zu glauben, d a ß diese intuitive nichtformelle Wahrnehmung, a u f die w i r willentlich unsere A u f m e r k s a m k e i t lenken, im positiven S i n n e von irgend einem Interesse sei (es ist eine illusorische Auffassung, die „geistigen G ü t e r " im Gegensatz zu den „zeitlichen Gütern" zu sehen). Sie ist nichts als ein Orientierungspunkt und das einfache Mittel, um unsere E n e r g i e v o r der formalen Energieverschwendung zu bewahren. D i e V e r lagerung der A u f m e r k s a m k e i t , das heißt die innere A r b e i t , bedeutet also keineswegs irgendentwas zu „tun", w a s man sowieso üblicherweise n cht tun würde, sie ist ein „ N i c h t s - T u n " o d e r noch genauer, sie ist d e r Versuch, aktivalles formal beschreibbare „ T u n " zu verhindern. Diese Unterscheidung z w i schen der f o r m a l e n und der nicht-formalen Ebene, wobei das „ T u n " der letzteren E b e n e d e m „ N i c h t - T u n " der ersteren entspricht, l ä ß t uns die tatsächlich positive N a t u r der negativen B e g r i f f e verstehen, deren sich das Zen gerne bedient, z . B . „nicht-geistig", „ohne F o r m " , „Nichtgeburt", „ L e e r e " , „Nichtigk e i t " , „ U n b e w u ß t e s " etc So w i r d auch die Ausübung des „ K o a n " verständlich. D i e geheimnisvolle F o r mel, a u f welche der Z e n - M ö n c h unaufhörlich seine A u f m e r k s a m k e i t lenkt, ist z w a r sicherlich eine F o r m . A b e r sie ist solcher N a t u r , d a ß infolge ihrer scheinbaren S i n n l o s i g k e i t sie schnell a u f h ö r t , noch w a h r n e h m b a r zu sein. L e n k t der Z e n - M ö n c h seine A u f m e r k s a m k e i t a u f sein „ K o a n " , so ist das „ K o a n " selbst für ihn bedeutungslos; w i r k s a m u n d wichtig an ihm ist einzig die Tatsache, d a ß es die A u f m e r k s a m k e i t v o n der f o r m a l e n Ebene ablenkt. :

D i e V e r l a g e r u n g der A u f m e r k s a m k e i t , in welcher die i n n e r e Arbeit besteht, m u ß w i r k l i c h eine Verlagerung sein, das heißt ein K o m m e n und Gehen der A u f m e r k s a m k e i t zwischen d e m f o r m a l e n und nicht-formalen Bereich. Es w ä r e unmöglich, ausschließlich seine A u f m e r k s a m k e i t a u f das N i c h t - F o r m a l e zu lenk e n , w i e m a n sie ja in s t a r r e r W e i s e auch auf keinerlei besondere F o r m richten k a n n . Z u n ä c h s t e i n m a l w ü r d e das dem Selbstmord gleichkommen. Aber v o r a l l e m ist die E r r e g u n g durch die A u ß e n w e l t unbedingt n ö t i g , damit die nichtf o r m a l e E n e r g i e aus ihrer z e n t r a l e n Quelle schießt. D i e innere Arbeit m u ß

folglich notwendigerweise m i t Unterbrechungen v o r sich gehen und entspricht h i e r i n dem G e s e t z der Wechselseitigkeit, welches die g a n z e Schöpfung beherrscht ( T a g u n d Nacht, S o m m e r u n d W i n t e r , A u s a t m e n u n d E i n a t m e n etc ) Es h a n d e l t sich auch nicht d a r u m , unsere g a n z e V i t a l e n e r g i e v o r der erschein u n g s m ä ß i g e n D e s i n t e g r a t i o n b e w a h r e n zu w o l l e n . Unaufhörlich an die M ö g lichkeit eines Energieverlustes zu denken, h i e ß e in den beängstigenden I r r t u m des als „Pflicht" a u f g e f a ß t e n Strebens zum „ H e i l " zurückfallen. D a s w ü r d e wieder z u r V e r k r a m p f u n g und nicht zur E n t s p a n n u n g führen. N u r w e n n ich mich um m e i n e mögliche V e r k r a m p f u n g nicht m e h r unnötig k ü m m e r e , k a n n ich mich entspannen. D i e M e i s t e r des Zen sagen: „Ihr dürft auf keinen Fall den Lauf eures Lebens h i n d e r n oder stören." D i e innere Arbeit wird im V e r l a u f e des Lebens v o l l b r a c h t , s t ö r t dieses aber nicht, w e i l sie m i t diesem parallel läuft, nicht in ihm sich vollz i e h t . S i e beschäftigt sich nicht mit Formen und M o d a l i t ä t e n des L e b e n s , versucht auch nicht, diese zu v e r ä n d e r n . D i e A u f m e r k s a m k e i t verläßt die E b e n e der F o r m e n und begnügt sich d a m i t , sie außer A c h t zu lassen. D e r Mensch, d e r im S i n n e des Zen an sich a r b e i t e t , wird mehr und m e h r seinen H a n d l u n g e n , V o r stellungen und Gefühlen gegenüber gleichgültig. D e n n a l l dies ist ja g e r a d e das w a h r e Zahnradgetriebe v o n F o r m e n , vor dessen Z u g r i f f er seine E n e r g i e bew a h r e n will. E i n solcher Mensch kann den ganzen T a g an sich innerlich arbeiten in j e n e r wechselnden W e i s e , die wir beschrieben h a b e n , ohne daß diese A r b e i t auch n u r im mindestens geistige „Übungen", w i l l e n t l i c h Gegensätze aufstellendes N a c h d e n k e n , moralische Verhaltungsmaßregeln o d e r etwa die Absicht verk ö r p e r t e , das „ G u t e " zu tun. I n d e m er das S i c h t b a r e m i t a l l seinen schönen oder h ä ß l i c h e n Phantasmen a u ß e r Acht läßt, häuft er im Unsichtbaren j e n e e n e r getische Ladung auf, die eines Tages in seinem I n n e r n die ganze „ H ö h l e der G e s p e n s t e r " sprengen und ihm die wahre F ü l l e und Erfülltheit seines a l l t ä g lichen Lebens offenbaren w i r d .

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XIII. D E R G E H O R S A M G E G E N Ü B E R DER N A T U R D E R D I N G E N A C H DEM Z E N B E S I T Z T D E R M E N S C H D I E B U D D H A - N A T U R . Er ist vollkommen, und nichts fehlt ihm. Doch ist ihm dies nicht bewußt, weil er von der Welt seiner geistigen Vorstellungen in Beschlag genommen wird. Alles geht so v o r sich, als ob auf Grund seiner imaginativen Aktivität, welche dualistisch funktioniert, ein Bildschirm zwischen ihm selbst und der Wirklichkeit läge. Das a k t i v e geistige Vorstellungsvermögen ist dem Menschen zu Beginn seines Lebens nützlich, solange das Triebwerk seines O r g a n i s m u s noch nicht fertig entwickelt und solange seine abstrakte Denkfähigkeit noch nicht völlig ausgebildet ist. Während der ersten Epoche seines Daseins stellt sie eine Ergänzung dar, ohne die d e r Mensch seine begrenzte Grundsituation nicht ertragen könnte. Ist aber das menschliche Triebwerk voll entwickelt, d a n n bleibt zwar sein Vorstellungsvermögen aus G r ü n d e n , auf die wir später eingehen, in bestimmter Hinsicht nützlich, schadet ihm aber im ganzen gesehen im Laufe der Zeit, da es jene Energieverschwendung im Gefolge hat, ohne welche er diese seine Energie bis zum Kristallisationspunkt der intuitiven nicht-dualistischen Erkenntnis (dem Satori) konzentrieren u n d steigern könnte. Das Unglück besteh: darin, d a ß der Mensch die Erleichterung, welche ihm sein Vorstellungsvermögen verschaffen kann, für eine wirkliche Verbesserung seiner Grundbefindlichkeit hält. Er hält die augenblickliche Erleichterung seiner Angstzustände für einen Fortschritt in Richtung der endgültigen Aufhebung jener Angst hin. In Wirklichkeit aber bedeutet diese augenblickliche Erleichterung eine fortschreitende Erschwerung seiner Grundsituation, die er sich ja gerade erleichtern möchte. Aber das weiß er nicht und so h ä n g t er einer „Meinung" an, in der die „Überzeugung" von der Nützlichkeit seiner imaginativen Aktivität, dieses wahren „geistigen Wiederkauens" steckt. Es scheint, als m ü ß t e die E r f a h r u n g früher oder später einer so irrigen Annahme ein E n d e setzen. Meist ist das aber nicht der Fall. W a r u m aber glaubt der Mensch überhaupt so fest an die Nützlichkeit seines fieberhaften T u n und Treibens, obwohl ihn die Erfahrung das Gegenteil lehrt? D e r Mensch glaubt an die Nützlichkeit seiner rastlosen U n r u h e , weil er sich für nichts anderes hält als dieses persönliche „ich", das er in dualistischer Form w a h r n i m m t . Er weiß nicht, d a ß es in ihm noch e t w a s anderes gibt als diese persönliche und sichtbare „ich", etwas Unsichtbares, das für ihn im Dunklen arbeitet. W ä h r e n d er sich m i t seinen v o n ihm w a h r n e h m b a r e n Erscheinungsformen, insbesondere mit seinem geistigen Vorstellungsvermögen identifiziert 111

ist er der A n n a h m e , nichts anderes darüber hinaus zu sein. Es spielt sich so a b , als ob er sich sagte: „Wer sollte schon für mich arbeiten a u ß e r ich selbst?" Da er kein anderes „Ich-selbst" als das imaginative Denken und die d a m i t verbundenen Gefühle und Handlungen an sich selbst erkennt, greift er auf dieses sein imaginatives D e n k e n zurück, um sich von der Angst zu befreien. Erblickt man nämlich n u r ein einziges Rettungsmittel, so glaubt man d a r a n , weil m a n zwangsläufig d a r a n glauben will. Betrachte ich indes das Leben meines Körpers, so muß ich feststellen, daß sich hier eine g a n z e Reihe von wunderbaren Vorgängen spontan verwirklicht, gänzlich ohne H i l f e dessen, was ich als mein „Ich" bezeichne. Mein Körper erhält sich auf G r u n d einer Summe von komplexen Vorgängen, die unser Vorstellungsvermögen in wunderbarer Weise übertreffen. Nach einer Verwundung stellt er sich wieder neu und ganz her. Wieso und durch wen? G a n z von selbst stellt sich bei mir der Begriff eines unermüdlichen und freundlichen Prinzips ein, das mich stetig aus seiner eigenen Initiative heraus in unaufhörlicher N e u schöpfung forterhält. Meine O r g a n e sind spontan in Erscheinung getreten und haben sich spontan entwickelt. D a n n ist mein mittelbares dualistisches Erkenntnisvermögen aufgetreten und h a t sich auch seinerseits spontan weiterentwickelt. K ö n n t e nicht auch mein unmittelbares, nicht-dualistisches Bewußtsein spontan auftreten? Auf diese Frage a n t w o r t e t das Zen bejahend. Nach ihm führt die n o r m a l e spontane Entwicklung des Menschen zum Satori. Das Prinzip arbeitet in mir unaufhörlich auf das Aufbrechen des Satori hin, genau so wie dieses selbe P r i n z i p in der Tulpenzwiebel auf das Aufspringen der Blüte hinarbeitet. Aber meine imaginative A k t i v i t ä t steht diesem tiefen inneren Werdegang im Wege. Sic vergeudet jene Energie, welche das Prinzip erzeugt u n d welche sich bis z u r Auslösung des Satori aufhäufen könnte. So sagt auch ein alter Meister des Z e n : „Wer steht der Verwirklichung im Wege? N u r ich selbst." Es ist mir nicht b e w u ß t , daß mein wesentlichster Wunsch — nämlich aus dem Dualismus und seiner Angst befreit zu werden — in mir selbst durch etwas anderes verwirklicht w i r d als durch mein persönliches und gesondertes „Ich". Ich habe den Eindruck, auf niemanden als mich selbst zählen zu können. So glaube ich die Verpflichtung in mir zu tragen, etwas zu tun. Ich verfalle in Schrecken, weil ich mir einbilde, allein und von allen verlassen zu sein. Notwendigerweise werde ich dann unruhig und mein unruhiges T u n hebt jeweils den Gewinn der unsichtbar in meiner Tiefe wirkenden K r ä f t e wieder auf. Im Zen wird dies folgendermaßen ausgedrückt: „Die Menschen wissen nicht, wie n a h e die Wahrheit liegt u n d d a r u m suchen sie sie in der Ferne . . . Wie schade!" Diese Art, d a s spontane Wirken d e r Tiefenschicht zu stören, ist das Ergebnis mechanischer Reflexe. Diese Reflexe werden automatisch ausgelöst, wenn ich meinem unsichtbaren Prinzip und seiner befreienden Tätigkeit nicht vertraue. Mit anderen W o r t e n , das spontane Werden in meiner Tiefe macht in mir jedes Mal mir dann Fortschritte, wenn ich mich meinem Prinzip u n d der steten Spon112

tanität seines befreienden Wirkens anvertraue. Dieses Vertrauen, dieser Glaube versetzt keine Berge, aber er ermöglicht es, d a ß die Berge durch das Universelle Prinzip versetzt w e r d e n . Mein Teil zur Erreichung des Satori besteht also in der Aktivität meines Vertrauens. Es besteht im Fassen des gegenwärtig hier und jetzt wirkenden Gedankens, daß mein höchstes G u t im Begriff ist, auf spontane Weise verwirklicht zu werden. Es w i r d deutlich, inwieweit das Zen ein quietistisches Denken ist u n d inwieweit nicht. Es ist quietistisch insofern, als es sagt: „ I h r braucht euch nicht zu befreien." Es ist aber nicht quietistisch, indem wir z w a r nicht direkt an unserer Befreiung arbeiten können, aber dazu beitragen müssen, indem w i r unsere Aufmerksamkeit willentlich auf das befreiende Werden in unserer Tiefe richten. Allerdings ist dies in keiner Weise ein Denken, das uns naturgemäß gegeben ist. Die äußere Welt trägt fortgesetzt dazu bei, uns glauben zu lassen, d a ß unser wirkliches Heil in irgend einem formalen Erfolg bestünde, welcher all unsere Unruhe rechtfertigt. Die Außenwelt zerstreut uns, das heißt sie n i m m t unsere Aufmerksamkeit in Anspruch. Eine intensive u n d geduldige Gedankenarbeit ist daher nötig, um mit unserem befreienden Prinzip zusammenzuwirken. Ist unser Verständnis soweit gediehen, so müssen wir uns noch auf eine Falle gefaßt machen. W i r könnten leicht des Glaubens sein, daß unsere Aufmerksamkeit das Leben selbst vernachlässigen müsse. Wir könnten der Meinung verfallen, es für g u t zu heißen, im wirklichen Leben wie Schlafwandler einherzugehen, mit der „fixen Idee" in unserm Oberflächenbewußtsein, d a ß ja das U r p r i n z i p in uns arbeite. Eine solche Einstellung führt indes n u r zu geistiger Verwirrung. Man muß anders vorgehen. In Momenten, wo die äußeren u n d inneren Bedingungen günstig sind, bemühen wir uns um das Verständnis unserer spontanen Befreiung, denken w i r gründlich und so k o n k r e t wie möglich an das grenzenlose Wunder, das sich in uns vollzieht und eines Tages all unsere Ängste, all unsere Gier beseitigen w i r d . In solchen Augenblicken legen wir Samenkorn um Samenkorn in das Saatfeld unseres Vertrauens. Langsam gelingt es uns, dieses bisher schlafende V e r t r a u e n , diesen Glauben zu erwecken, welcher von H o f f n u n g und Liebe begleitet ist. U n d dann, wenn wir z u m Leben zurückkehren, leben w i r weiter wie gewöhnlich. Weil wir wenigstens einen Augenblick l a n g in richtiger Weise gedacht h a b e n , bleibt ein Teil unserer Aufmerksamkeit an dieser Ebene des Denkens haften, obwohl diese Ebene d a n n in die Tiefen unseres Inneren zurücktritt und unsichtbar wird. Ein Teil unserer Aufmerksamkeit bleibt hier zurück, w ä h r e n d alles übrige sich zum g e w o h n t e n Denken w e n d e t . Ein M a n n , der eine Frau geliebt h a t oder aber im Begriff ist, ein Werk auszuführen, v e r steht, was wir hiermit sagen wollen. Solange dieser Mann seinen üblichen Beschäftigungen nachgeht, kann es vorkommen, d a ß er mit seinem Bewußtsein nicht mehr bei der Frau ist, die er liebt, fast, als ob er sie vergessen h a t t e . K e h r t sein Denken, aber zu dem beglückenden Bild zurück, dann weiß er, d a ß es ihm nie H. Benoit. Die Hohe Lehre

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völlig entschwunden war, d a ß er dieser Frau in d e r Tiefenschicht seines Bewußtseins wie in einer „Verdoppelung" immer n a h e geblieben war. H a n d e l t es sich am die Teilnahme an unserer Befreiung, so w i r d diese „ V e r d o p p e l u n g " nicht umsonst gegeben. Wir müssen sie durch besondere Ü b e r legungsvorgänge gewinnen u n d z w a r außerhalb unseres üblichen praktischen Lebens. Trotzdem sind es nicht die dazu nötigen M o m e n t e , die wirklich z ä h l e n . Was tatsächlich w i r k k r ä f t i g ist, ereignet sich, w e n n w i r uns wieder in u n s e r e m Alltagsleben befinden und w e n n unser Glaube, schon m e h r oder weniger erweckt u n d wachsam auf der Ebene des unterirdischen Bewußtseins, einen Teil u n s e r e r Aufmerksamkeit u n d d a m i t einen Teil unserer Energie der Außenwelt siegreich abringt. In dem Maße, wie diese zweite unterirdische Aufmerksamkeit sich entwickelt, haben wir ein weniger s t a r k zwingendes Interesse an den Erscheinungen d e r A u ß e n w e l t . Unserer Furcht und unserer Sehnsucht ist die Spitze abgebrochen. W i r lernen allmählich, a b w a r t e n d und aktionslos unserer Innenwelt gegenüber zu w e r d e n und sind so in d e r Lage, die Lehre des Zen zu verwirklichen, welche h e i ß t : „Lasset los, lasset die Dinge wie sie einmal sind . . . Gehorchet der Natur der Dinge und ihr werdet mit dem Wege im Einklang stehen." Beachten wir, daß d e r Durchschnittsmensch manchmal das richtige, a b w a r t e n d e u n d nicht-handelnde Verhalten an den Tag legt, u n d z w a r im tiefen Schlaf. H i e r hört er auf, sich zu beunruhigen unter dem V o r w a n d , zu seinem Besten zu handeln. Hier lischt er aus, hier "läßt er los" und hier „beläßt er die D i n g e , wie sie nun einmal sind". H i e r überläßt er sich seinem Prinzip und läßt es h a n d e l n , ohne selbst dazwischenzutreten. Weil der Mensch in diesem Zustand sich völlig handlungsfrei verhält, hat der Schlaf eine so w u n d e r b a r e , neu belebende W i r k u n g auf ihn. A b e r d e r schlafende Mensch verhält sich nur so weise dank einer A r t O h n machtszustand seines Geistes. Der ich-bezogene unheilvolle Vorstellungsablauf ist n u r unterbrochen, weil auch der auf die wirkliche, gegenwärtige A u ß e n w e l t abgestimmte Vorstellungsabiauf unterbrochen ist. D e r verhängnisvolle Teil des m e n t a l e n Bereiches ist n u r unterbrochen, weil auch d e r gesunde Teil dieses selben Bereiches (jener, welcher die gegenwärtigen D i n g e direkt wahrnimmt) u n terbrochen ist. Aus diesem Grund kann der Schlaf nicht zur Verwirklichung führen. Wir können jedoch weise werden, ohne d a ß d i e Ganzheit unseres mentalen Bereiches unterbrochen wird. Jeder Fortschritt auf der Ebene unseres Glaubens in das befreiende Prinzip schwächt unseren ich-bezogenen Vorstellungsablauf ab, ohne indes den auf die wirkliche G e g e n w a r t abgestimmten V o r stellunssablauf zu vermindern. Das Vorhandensein u n d Wachsen unseres G l a u bens bringt von sich aus eine Unterscheidung unserer beiden verschiedenen V o r stellungsabläufe m i t sich. So gehen wir allmählich einem Zustand entgegen, wo sich Tiefschlaf und Wachen versöhnen. Und diese erstaunliche Versöhnung, — dies sei betont —, stellt sich ganz von selbst her. Unsere inneren Manipulationen h a b e n keinerlei Macht, auch nur die geringste wirkliche Harmonie in uns her114

zustellen. Aber es genügt richtig, oder besser gesagt, nicht mehr falsch zu denken, damit unser Prinzip in uns wirksam wird, denn dieses ist allein befähigt z u r Vollbringung dieses großen. Werkes. Um das Vorhergehende besser zu verstehen, bedienen wir uns einer symbolischen Erläuterung. D e r Mensch ist in seinem Entwicklungsgang etwa einem Gummitier vergleichbar, das die Kinder zum Spielen aufblasen. Bei seiner G e burt ist der Mensch wie ein wenig angeschwollenes Gummitier, ohne besondere formale Kennzeichen, eine kleine kugelförmige Masse. Dann bläst das P r i n z i p das „Gummitier" auf u n d es nimmt an Umfang zu. Zugleich entfernt sich seine Form immer mehr v o n der einfachen Kugelform. Erhebungen und Vertiefungen treten auf und es bildet sich eine Gestalt, deren Struktur in ihren Einzelheiten einen einmalig besonderen Charakter trägt. Diese Entwicklung entspricht eben dem, was wir unter „ C h a r a k t e r " , „Persönlichkeit" u n d all dem verstehen, w o rin ich „ich" und kein anderer bin. Das entspricht der Entwicklung des menschlichen Triebwerks, seinem Körper und seiner Psyche. Wenn die Unwissenheit des Menschen diese n o r m a l e Entwicklung nicht stören w ü r d e , träte folgendes ein. Das „Gummitier" ist in dem Augenblick, wo das menschliche Triebwerk sich voll entwickelt h a t (etwa zur Zeit der P u b e r t ä t , wenn der somatische Organismus durch das Auftreten der Sexualfunktion v o l l endet und der psychische Organismus durch das Auftreten des unparteiischen, abstrakten und verallgemeinernden Denkens vervollständigt ist), ganz a n g e schwollen und seine Oberfläche besitzt die größtmögliche Ausdehnung. D a s P r i n z i p bläst jedoch weiter hinein und erzeugt so gewissermaßen einen Ü b e r druck. U n t e r dem Einfluß dieser überstarken Spannung deformiert sich die Oberfläche, die nicht m e h r weiter dehnbar ist, um ihre Fassungskraft zu vermehren. Sie entfaltet sich, vermindert ihre Erhebungen und Vertiefungen u n d n ä h e r t sich immer mehr der Kugel, da diese einfache Form der Kugel der g r ö ß ten Fassungskraft einer gegebenen Oberfläche entspricht. Allmählich verlieren sich d i e Unebenheiten des „Gummitieres". Schließlich ist die vollkommen k u g e l artige Form erreicht u n d die Fassungskraft kann nicht mehr erhöht w e r d e n . Das P r i n z i p bläst aber weiter und die Kugel p l a t z t . Im Verlaufe dieser n o r malen Entwicklung k a n n m a n drei Phasen unterscheiden. Der ursprünglich kleinen K u g e l , dieser kugelförmigen Masse eines noch nicht aufgeblasenen G u m m i tiers entspricht jene Phase, die vor der zeitlichen Verwirklichung des Menschen, v o r d e r Entwicklung seines Ego, seiner Persönlichkeit liegt. M a n kann sagen, d a ß das Kleinkind noch in diesem kugeiförmigen Zustand sich befindet. Die zweite Phase, diejenige der ausentwickelten Persönlichkeit, entspricht der mit persönlichen, k o m p l e x e n Sonderformen ausgestatteten Gestalt des G u m m i tieres. In der d r i t t e n Phase, welche dem endgültigen Zerplatzen vorausgeht w e r d e n die Unregelmäßigkeiten geringer, die Persönlichkeit w i r d verwischt in dem M a ß e , wie das D e n k e n eine universelle Stufe erreicht oder besser gesagt i n w i e w e i t es sich aus seiner Begrenztheit löst und von der Starrheit seiner p e r sönlichen Gesichtspunkte Abstand nimmt. D e r Mensch kehrt zu seiner u r s p r ü n g 115

lichen Kugelform zurück, aber diesmal jenseits seiner zeitlichen Verwirklichung. Diese leztere Phase gleicht somit der ersteren, obwohl sie gewissermaßen in entgegengesetzter Richtung verläuft, (man denke an die Worte Jesu: „Wahrlich, ich sage euch, wenn i h r nicht wie die K i n d e r werdet, könnt ihr in das Reich Gottes nicht eingehen.") Beachten wir, daß diese dritte Phase uns notwendigerweise zugleich wie ein Fortschritt und wie ein Rückschritt a n m u t e t : Vom universellen S t a n d p u n k t aus ist sie ein Fortschritt, da das „Gummitier" sein Fassungsvermögen e r h ö h t u n d sich dem Zerplatzen nähert, das es mit der riesenhaften kosmischen S p h ä r e eins werden läßt. Vom Gesichtspunkt der Sonderformen her gesehen aber ist sie ein Rückschritt: das. was einen solchen Menschen v o n den anderer, unterschied, wird immer geringer; er wird mehr u n d mehr zum Durchschnittsmenschen. Seine Umrisse verwischen sich. Der „alte" Mensch verkümmert und stirbt in dem Maße dahin, wie mit dem Aufplatzen des „Gummitieres" sich die G e b u r t des „neuen Menschen" ankündigt. (So kann man das W o r t Johannes' des Täufers verstehen: „Bereitet den Weg des H e r r n . Ebnet seine Pfade. Alle T ä l e r werden zugeschüttet w e r d e n , jeder Berg und jeder H ü gel wird eingeebnet w e r d e n . " ) Das Ende der dritten Phase, nämlich das Platzen des „Gummitieres", ist die Explosion des Satori, jener Augenblick, wo jede Begrenzung verschwindet und der Mensch sieh mit dem All vereint. Wir haben gesagt, d a ß die Unwissenheit des Menschen dieser normalen Entwicklung entgegensteht. Tatsächlich sieht der Mensch ohne besonderen Hinweis darauf keine Wirklichkeit im Gehalt seines „Gummitieres", er m i ß t einzig der Oberfläche und den besonderen Formen dieser Oberfläche unbestreitbaren Wert bei. In seiner Unwissenheit drückt sich sein Daseinswille nur in dem Willen aus, ein „gesondertes Einzelindividuum" zu sein. Dieses unwissende „Gummitier" weigert sich dagegen, sein unterscheidendes Relief vermindert zu sehen. Es versteift sich darauf, eine besondere Form zu sein und wehrt sich gegen die Möglichkeit seiner eigenen Entfaltung, welche sein Fassungsvermögen v e r g r ö ß e r n könnte u n d es der Kugelform annähern würde. Da die übergroße S p a n n u n g sich nicht auf normale Weise entladen kann, muß sie sich auf andere Weise lösen. Hier tritt dann die gefühls- u n d vorstellungsbestimmte Aktivität des Menschen auf, welche einer Art Sicherheitsventil gleicht, mittels dessen der Überdruck entweicht, den das unaufhörliche Blasen des Prinzips hervorruft. Dieser Vorgang entspricht der Energievergeudung, von der wir gesprochen haben, statt daß diese Energie sich für eine spätere Explosion zentriert. Jeder Mensch, der sich selbst beobachtet, m u ß feststellen daß er sich dauernd mehr oder minder in einer inneren „Über-Spannung" befindet. D a s merkt er an der unruhigen Bewegtheit seiner jeweiligen Gefühlsverfassung. Gleichgültig, ob diese positiv oder negativ, exaltiert oder depressiv ist, jedenfalls entsprechen die verschiedenen Gemütsverfassungen dem unbewußten Widerstand seiner selbst gegen die Entfaltung und Ausdehnung seiner „persönlichen F o r m " . Aber wenn es auch leicht ist, die innere Beziehung zwischen unserer „Über-Spannung" 116

und unserer konkreten Psychologie Es sehen, so ist es doch weniger leicht zu erkennen, worin die normale innere Entspannung dieser S p a n n u n g besteht. Diese Entspannung kommt zustande in dem Augenblick, wo m i r meine S p a n n u n g bewußt wird und ich die jeweiligen Umstände außer Acht lasse, anläßlich derer sie aufgetreten ist; meine Entspannung kommt in dem Augenblick zustande, wo ich die Spannung innerlich annehme. In dem Maße, wie ich aus meiner Unwissenheit heraustrete, in dem Maße, wie ich begriffen habe, daß die Wirklichkeit keineswegs in den äußeren Formen, welche den Gegenstand meiner Furcht und meiner Wünsche bilden, sondern in dem vitalen Hochspannungsdruck selbst liegt, verläßt meine Aufmerksamkeit die Formenwelt u n d wendet sich h i n z u ihrem Zentrum, ihrer Quelle, zu jenem Punkt, wo die vitale Lebensspannung entsteht. D a z u bin ich imstande, w e n n ich begriffen habe, daß mein P r i n z i p mich zu meiner wahren Erfüllung hinführt und ich mir diesbezüglich keine Sorgen zu machen brauche. Einen Moment lang hört d a n n meine gefühlsbestimmte und vorstellungsmäßige Aktivität auf u n d ich fühle, d a ß meine Uber-Spannung nachläßt. Das ist alles, was ich empfinde, aber ich weiß im übrigen, d a ß der Inhalt meines „Gummitieres" sich etwas v e r größert durch eine Vereinfachung seiner Form. Natürlich ist die Aufgeschlossenheit für dieses verwirklichende „Glätten der Falten" vorübergehend, augenblicksbedingt, und so ist es nötig, das „Loslassen" mit Ausdauer und so oft es nötig i s t , immer von neuem zu wiederholen. Der Vergleich, den wir a n g e w a n d t haben, hinkt wie jeder Vergleich. Doch k a n n er uns dazu verhelfen, die A r t und Weise unseres normalen Wachstums u n d insbesondere die wesentliche Tatsache zu verstehen, daß dies Wachstum sich v o n selbst bis zu einem gewissen G r a d der Vollendung entwickelt. Vertrauen w i r darauf, so hören wir auf, uns mit unserer inneren Unruhe und aller möglichen inneren Manipulationen dagegen zu stemmen. Kommen wir auf den Gedanken zurück, daß es dem Menschen im Zustand der Unwissenheit an Glauben mangelt und folglich auch Hoffnung und Liebe i h m fehlen. Wir werden zeigen, d a ß . solange dieser Glaube mangelt, alles beim Menschen in einer dem N o r m a l e n entgegengesetzten Richtung verläuft. D i e normale Richtung geht von oben nach unten: wenn der Mensch aus der U n wissenheit tritt, erwacht seine Erkenntnis (die von Ewigkeit her vorhanden w a r , aber u n b e w u ß t in ihm schlief) in seinem geistigen Zentrum. Bei den „drei theologischen T u g e n d e n " steht d e r Glaube, das Vertrauen an erster Stelle, das ist das intuitive Erfassen des Absoluten Prinzips und die Gewißheit, daß es „mein" Prinzip ist. D i e Erweckung des Glaubens zieht die Erweckung der Hoffnung nach sich. Nichts ist mehr zu befürchten, alles zu hoffen, da doch das Absolute P r i n z i p „mein" P r i n z i p ist. So tritt das, was in meinem geistigen Zentrum b e gonnen h a t . auch in das Gefühlszentrum. Schließlich bringt die Erweckung des Glaubens u n d der Hoffnung auch das Erwachen der Liebe mit sich. Zu Unrecht wird d i e Liebe häufig als Gefühl betrachtet, als gefühlsmäßige Anbetung. Sie ist in Wirklichkeit Begehren, Verlangen unserer ganzen Person nach einer Exis-

tenz, welche die d u n k l e n Schreckbilder unseres Dualismus nicht m e h r beschatten, Sie ist das dauernde V e r l a n g e n nach allen Aspekten des Daseins. So gelangt d a s , was im geistigen Z e n t r u m begonnen und sich im Gefühlszentrum fortgesetzt h a t , in das animalische oder instinktive Zentrum. Was im Kopf begonnen hat, ist über das H e r z in die Lenden herabgestiegen.. Solange d e r Mensch sich im Zustand der Unwissenheit befindet, ist die Aufeinanderfolge eine umgekehrte. Es fängt bei i h m mit der Daseinslust an. mit d e m Wunsch, sich als Einzelwesen zu bestätigen, mit dem Wunsch nach n u r positiven Aspekten des Daseins. D a s natürliche Erwachen des Existenzwillens bringt das Erwachen aller möglichen „ E r w a r t u n g e n " mit sich (welche das Gegenteil der wirklichen H o f f n u n g sind), Erwartungen auf diesen oder jenen Erfolg auf der E b e n e der Erscheinungen. D a s , was im animalischen Zentrum b e g a n n , greift über auf das Gefühlszentrum. Schließlich h a t das Erwachen, des Existenzwillens und der Erwartungen das Auftreten von „Meinungen" im Gefolge (die dem Glauben entgegengesetzt sind), welche die falschen Werte, die Ziele derer die Erwartungen bedürfen, und die nötigen Idolvorstellungen erwecken, die nötig sind, um den inneren Aufschwung aus der Tiefe des eigenen Wesens zu polaresieren. D a s , was seinen A n f a n g im animalischen Zentrum nahm, dann in das Gefühlszentrum einging, gelangt so zum intellektuellen Zentrum. Das, was in den Lenden seinen Ausgang nahm, ist zum Herzen hinauf und schließlich z u m Kopf gestiegen. Man sieht den völligen Gegensatz zwischen diesen beiden „Richtungen" des menschlichen Lebens. Die „natürliche" Richtung verläuft von unten nach oben: Verlangen nach positiven Lebensaspekten, Erwartungen und schließlich M e i nungen. Die „normale" Richtung geht von oben nach unten: Glaube. Hoffnung und schließlich Liebe oder Verlangen nach allen Aspekten der menschlichen Existenz. Nur die „natürliche" Richtung herrscht zu Beginn des Lebens. D i e Verwirkl i c h u n g besteht aber im Erscheinen der „ n o r m a l e n " Richtung u n d ihres e n d gültigen Sieges. Der endgültige Sieg ist das Satori. Vor dem Satori muß die normale" Richtung im Gegensatz zur gegenwärtiger, „natürlichen" Richtung erscheinen und immer mehr auf Kosten dieser „natürlichen" Richtung wirken. („Es ist nötig, daß er wachse und ich selbst kleiner werde.") Bei der Beschäftigung mit der Frage der Verwirklichung stoßen w i r immer w i e der auf alle möglichen scheinbaren Widersprüche. So heißt es auch im E v a n gelium: „Derjenige, welcher sein Leben verliert, w i r d es gewinnen." Aber diese Widersprüche stören uns nicht mehr, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß z w e i Lebensströme in uns sind. D e r eine naturgegebene, „natürliche", d e r v o n u n t e n nach oben steigt, und der andere „normale", der uns durchaus erreichbar ist u n d von oben nach unten strebt. Das „natürliche Leben" kann auch als Leben des "alten Menschen", das „normale Leben" als „Leben des neuen Menschen" bezeichnet werden. („Man m u ß sterben um wiedergeboren zu werden.") 118

Der neue Strom m u ß in Erscheinung treten, während der alte natürliche Strom noch wirksam ist. D e r neue Strom beginnt da, wo der natürliche S t r o m endet, das heißt im intellektuellen Zentrum. Das Leben des neuen Menschen geht v o n der "Freien Intelligenz" aus, vom reinen Denken, von der geistigen Intuition, die dem Einfluß des Gefühlslebens nicht unterworfen ist. Die Arbeit der Freien Intelligenz zerstört allmählich alle „ M e i n u n g e n " u n d „Überzeugungen", welche die natürliche, v o n unten nach oben steigende Strömung polarisieren und ohne die dieser Strom überhaupt nicht entstehen könnte. Im Maße, wie der Mensch „aufhört an seinen Meinungen zu h ä n g e n " , wie es im Zen heißt, gebietet er kategorisch diesen natürlichen Strom in sich Einhalt. Dann wächst sein Glauben an das Urprinzip in eben dem M a ß e , in dem seine illusorischen Überzeugungen an K r a f t verlieren. Aber auf d e r Ebene des Gefühlslebens können wir diese umgekehrte Entwicklung besonders gut beobachten. H i e r können wir noch besser den Sinn des ZenBegriffes "Loslassen" verstehen. Ebenso wie der Glaube, der seit Urbeginn, wenn auch schlafend in uns vorhanden war, in dem Maße erweckt w i r d , in dem die „Meinungen" verschwinden, ebenso erwacht die Hoffnung, welche ebenfalls seit Urbeginn, wenn auch schlafend, in uns ruht, in dem Maße, in dem die „Erwartungen" als Gesamtheit zerstört werden. Der „Sonnenaufgang" des neuen Lebens ist d e r „Sonnenuntergang" des alten. Das Satori kann vom „alten Menschen" nur als das schrecklichste aller Dinge betrachtet werden. Beobachte ich mich, so stelle ich fest, daß ich instinktiv d a r u m kämpfe. Erfolg zu haben. Ob meine Unternehmungen egoistischer N a t u r (Geld verdienen, genießen, mich b e w u n d e r n lassen etc.) oder altruistisch gedacht sind (andern zu helfen, „besser" zu werden, meine „Fehler" auszurotten), instinktiv kämpfe ich unaufhörlich d a r u m , mein Unterfangen zu gutem Ende zu führen, somit kämpfe ich unaufhörlich d a r u m , mich „aufzuschwingen". Alles in mir ist in dauernder Anspannung, damit ich endlich „hochkomme". Ich bin wie ein Vogel, der dauernd seine Flügel benutzt, um hochzufliegen, oder um gegen einen absteigenden Wind a n z u k ä m p f e n , der ihn zu Boden drücken möchte. Ich v e r h a l t e mich so. als ob meine „Erwartungen" berechtigt wären, als ob das w a h r e G u t , dessen ich bedarf, (die Verwirklichung, das Satori) in der Erfüllung meiner Erwartungen beruhen w ü r d e . Richtig ist aber genau das Gegenteil. Meine . E r w a r t u n g e n " betrügen mich, sie gehören einem infernalen circulus vitiosus a n , in dem ich kostbare Kräfte vergeude. All mein Ringen, hochzukommen, alle anderen Menschen möglichst zu überragen, ist nur u n b e w u ß t e r Widerstand gegen jene spontane glückliche V e r w a n d l u n g , die mein Prinzip jederzeit bereit ist, in mir zu verwirklichen. Die vollkommene Glückseligkeit erwartet mich nicht oben, sondern unten. Sie e r w a r t e t mich nicht in dem, was ich augenblicklich noch als Sieg betrachte, sondern in dem, was mir jetzt noch als Unheil erscheint. Meine vollkommene F r e u d e erwartet mich nach der totalen Zerstörung meiner E r w a r tungen. 119

M a n m u ß sich natürlich klar machen, daß jenes totale Unheil, an dessen Grunde uns das Satori erwartet, nicht notwendigerweise mit einem äußeren, praktischen Unheil identisch ist. Das Unheil, das uns der Verwirklichung nahebringt, das „Satori-Unheil", beruht in der Einsicht, in der intuitiven Erkenntnis von der völligen Widersinnigkeit unseres „natürlichen" Stromes, der nach aufwärts steigt, somit in der klaren E r k e n n t n i s des Nichts, welches am Ende unserer E r w a r t u n g e n steht. Die Verzweiflung, welche uns der Verwirklichung nahebringt, besteht nicht im praktischen Scheitern von E r w a r t u n g e n , die dann ja noch weiter in uns fortbestehen k ö n n t e n (das führt zum Selbstmord, nicht zum Satori), sondern in der Überwindung der Erwartungen selbst. Der Mensen, den m a n gemeinhin als „verzweifelt" bezeichnet, ist nämlich g a r nicht verzweifelt. Er ist vielmehr von E r w a r t u n g e n erfüllt, denen die W e l t ein Nein entgegensetzt, u n d deshalb ist er unglücklich. D e r Mensch hingegen, dem es gelungen ist, wirklich verzweifelt zu sein, das heißt nichts mehr von der Welt der Erscheinungen zu e r w a r t e n , ist von der vollkommenen Freude erfüllt, der er sich endlich nicht m e h r widersetzt. Praktisch k a n n ich auf folgende Weise hinsichtlich der Z e r störung meiner widersinnigen u n d kläglichen „ E r w a r t u n g e n " Fortschritte m a chen. Ich brauche nichts zu tun, um das Scheitern meiner Unternehmungen in G a n g zu setzen, ich brauche nicht zu hoffen, endlich meinen Ruin zu erleben statt darauf zu hoffen, mich zu bereichern. Solche Versuche würden zu nichts führen. Im Gegenteil, ich lebe mein Instinkt- und Gefühlsleben weiter wie bisher. N u r mein Verständnis, welches nun für die Wirklichkeit der Dinge aufgeschlossen ist, soll parallel neben meinem übrigen Leben tätig sein. Jedes M a l . wo ich darunter leide, daß meine Erwartungen auf Widerstand der Welt stoßen, erinnere ich mich daran, daß meine früheren „Erfolge" mir ja auch nie jene a b solute Erfüllung gebracht h a b e n , die ich von ihnen e r w a r t e t hatte. Alles, w a s m i r in e i n e n Oberflächenbewußtsein, manchmal sogar in intensivster Weise als G e n u g t u u n g erschienen war, h a t t e sich in der Tiefe meines Wesens, das heißt, in Wirklichkeit, ja stets als Enttäuschung erwiesen. G e s t ä r k t durch diese richtige D e u t u n g meiner trügerischen „Erfolge" kann ich n u n in richtiger Weise an etwaige neue Erfolge denken, die mir erstrebenswert erscheinen: ich kann mir ihre konkrete Verwirklichung vorstellen, um von neuem ihre Nichtigkeit schon im voraus zu erfühlen. Die „schlechten Momente", die Augenblicke der Angst, sind dieser inneren Arbeit besonders zuträglich. Das Leiden, welches von meinem Gesamtorganismus empfunden wird, schränkt jene Illusionen ein, welche das Satori an den entgegengesetzten Punkt, wo es uns wirklich erwartet, verlegen. Vorausgesetzt, daß unsere wesentlichen früheren Erwartungen in der Vergangenheit mehr oder weniger erfüllt wurden, ist unsere jeweilige n e u e E r w a r t u n g , die uns immer wieder in die Illusionen stürzen möchte, um so leichter zu zerstören, je mehr sie dem Widerstand der Außenwelt begegnet. Ich k a n n leichter „loslassen", wenn meine Muskeln bereits m ü d e sind. Das Zen sagt. ,.Das Satori kommt über euch v o n ungefähr, dann, wenn ihr alle in euch liegenden Möglichkeiten erschöpft habt." Das eben Gesagte soll indes keineswegs etwa 120

als masochistisches Verlangen nach Angst verstanden werden. Der Mensch, der im Sirne des Zen arbeitet, liebt nicht das Leiden. Aber er ist damit einverstanden, das Leid über ihn kommt, was keineswegs dasselbe ist; denn diese M o m e n t e helfen ihm innerlich dazu „loszulassen", sie verhelfen ihm zu jener inneren Bewegungslosigkeit und Stille, zu jener diskreten Haltung seinem eigenen Innern gegenüber, dank deren das aktive Wirken des Prinzips in der Tiefe seines W e sens ihn seiner Verwirklichung immer naher bringt. Man sieht, wie sehr die Lehren der „stufenweisen" Verwirklichung, welche dem Menschen eine aufsteigende Hierarchie seiner Bewußtseinsbefindlichkeiten predigen und den vollkommenen Menschen mehr oder minder als einen „ Ü b e r menschen" hinstellen, der Wahrheit den Rücken kehren u n d sich nur d a r a u f beschränken, die Form unserer „Erwartungen" zu verändern. Das Zen hingegen ermuntert uns zu einer Arbeit, die, abgesehen vom Satori selbst, uns n u r wie ein Absteigen erscheinen kann. In einer Hinsicht wird alles allmählich immer schlechter, bis zu dem Augenblick, wo ein Tiefpunkt erreicht ist und es nicht noch schlechter gehen kann, wo aber alles erlangt wird, weil alles verloren ist. Wir haben keinerlei Vorstellung von der Verwandlung, die das Satori b e w i r k t . Wir laufen Gefahr, uns einer neuen Illusion hinzugeben, wenn wir uns irgendwelche Vorstellungen darüber machen. Von dem Punkt aus, an dem w i r uns jetzt befinden, können wir die richtige Entwicklung uns nur als fortschreitende Z e n t ö r u n g all dessen denken, was wir „Erfolg" nennen. Wir können den verwirklichtcn Menschen nur als einen Menschen betrachten, der „in absoluter Weise ganz durchschnittlich" geworden ist. N u r derjenige, der das Satori erreicht hat, kann sagen: „Ein irrender Hund, d e r um N a h r u n g und Mitleid bettelte und d e r von Straßenkindern unbarmherzig verjagt wurde, ist zum Löwen rnit goldener Mähne geworden, dessen Brüllen alle schwachen Geister mit Entsetzen e r f ü l l t ' '

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XIV. GEFÜHLSERREGUNG

UND

ERREGUNGSZUSTAND

B E I D E R U N T E R S U C H U N G DER E R R E G B A R K E I T DES G E F Ü H L S pflegt die klassische Psychologie eine für die innere Entwicklung des Menschen äußerst wichtige Unterscheidung zu übersehen. Z w a r beschreib: sie genau jene Seelenbewegung", die bei einem Reiz aus der A u ß e n w e l t als A n t w o r t auf ein bewußt wahrgenommenes Bild entsteht, z. B. Regungen des Zornes, der Liebe, der Reue usw. Doch das Spiel unserer Gefühlserregbarkeit beschränkt sich nicht allein hierauf. Oftmals fühle ich das Vorhandensein eines f o r t d a u e r n d e n E r rgungs-„Zustandes", der, wie ich eindeutig erkennen kann, nicht v o n den Bild e r n , die mir gerade vorschweben, ausgelöst w i r d . Z. B. kann ich m e h r oder weniger „verstimmt" sein und dabei gleichzeitig an tausenderlei harmlose Dinge denken. Wenn ich nun anfange zu suchen, auf G r u n d welcher Vorstellungen ich in diesen Zustand geraten bin, so kann es v o r k o m m e n , d a ß ich nichts finde, Manchmal finde ich auch unter den Gedankenassoziationen der Oberflächenschicht meines Bewußtseins den Kummer, der meine düstere Verfassung auslöst. Solange ich nicht „daran dachte", ruhte dieser K u m m e r bewegungslos in meinem I n n e r n („fixe Idee"), und löste einen andauernden, gleichsam bewegungslosen Erregungszustand aus. J e t z t , da ich an meinen K u m m e r denke, d. h., da ich im Z u s a m m e n h a n g mit ihm einen Vorstellungsablauf wachrufe, entstehen Gefühlsbewegungen in mir gleich jenen, von denen wir anfangs sprachen. Doch fühle ich unter jenen Bewegungen den bewegungslosen Erregungs-"Zustand" fortdauern und empfinde, daß dieser Z u s t a n d in einer bestimmten Beziehung zu d e m K u m mer gestanden hat, den ich bis in die Oberflächenschicht meines Bewußtseins emporgeführt habe. Die innere Erfahrung zeigt mir also, daß unter der dynamischen eine statische Gefühlserregung v o r h a n d e n ist. Wie aber sollen wir diese letztere verstehen? Schon die Benennung scheint paradox: da eine „Erregung" doch stets „Bewegung" in sich schließt — wie kann da von „statischer" Bewegung gesprochen werden? Um diesen Widerspruch aufzuheben und um zu zeigen, wie der gefühlsmäßige Erregungs-„Zustand" gleichzeitig Bewegung und Bewegungslosigkeit sein kann, genügt es, die »Bewegungen der Seele", die w i r Gefühlserregungen nennen, den Bewegungen des Körpers, d. h. dem Spiel d e r Muskeln zu vergleichen. Ein Muskel k a n n sich bekanntlich sowohl zu einer dynamischen Anspannung als auch zu einer statischen Verkrampfung zusammenziehen. G e fühlserregungen, die mit bewußten Vorstellungen in Verbindung stehen, sind psychische Anspannungen, während der Erregungszustand, der mit u n t e r b e w u ß ten Vorstellungen zusammenhängt, eine psychische Verkrampfung darstellt. 122

Um das Verständnis der eben aufgestellten Unterscheidung zu erleichtern, haben w i r diese zunächst nur mit annähernder Genauigkeit ausgedrückt. Jetzt können wir jedoch präziser werden. Das Phänomen der „Gefühlserregung" ist Ausdruck einer Art Kurzschluß zwischen dem psychischen und dem somatischen P o l unseres Organismus. Man darf also bei der Gefühlserregbarkeit nicht von rein „psychischer" Anspannung (bzw. Verkrampfung) sprechen, sondern von einer Anspannung (bzw. Verkrampfung) des psycho-somatischen Gesamtorganismus. Der Sitz der Gefühlserregbarkeit befindet sich genau zwischen dem der intellektuellen (bzw. psychischen oder subtilen) Kräfte und dem des instinktiven (bzw. somatischen oder stofflichen) Lebens. Wenn wir daher anfangs von Gefühlserregungen bzw. v o n einem Erregungszustand sprachen, die durch Bilder, d. h. durch psychische, subtile Reizeinwirkungen ausgelöst werden, so dürfen wir doch nicht vergessen, d a ß unsere Erregbarkeit ebensogut durch stoffliche, somatische Einwirkungen ausgelöst werden k a n n . Ein körperliches Übelbefinden z. B. kann die auslösende Ursache meiner „Verstimmung", d. h. der affektiven Verkrampfung meines psycho-somatischen Organismus sein. Mag die auslösende Ursache seelischer oder körperlicher N a t u r gewesen sein, die ausgelöste Verkrampfung zieht immer sowohl Seele als auch Körper in Mitleidenschaft, so d a ß also stets irgendeine Muskelverkrampfung (der glatten oder auch der Streifenmuskulatur) meine an einem unterbewußten Bild haftende psychische Verkrampfung begleitet, und umgekehrt. Kehren wir nun zu dem G e d a n k e n zurück, daß die Gefühlserregbarkeit im allgemeinen einen energetischen Kurzschluß zwischen dem intellektuellen und dem instinktiven Pol erkennen l ä ß t , und fragen wir uns, w i e sich von diesem Gesichtspunkt aus die dynamische Gefühlserregung (von n u n an werden wir kurz „Gefühlserregung" sagen) v o n dem statischen Erregungszustand (oder kurz „Erregungszustand") unterscheidet. Zu einem Vergleich aus der Elektrizität greifend, k ö n n t e man sagen, d a ß die Gefühlserregung einen die beiden Pole verbindenden Funken darstellt. Dieser Funke kann z w a r eine gewisse Dauer aufweisen, doch ist er keineswegs statisch: Der K o n t a k t , den er zwischen den zwei voneinander getrennten Polen herstellt, befindet sich gewissermaßen in ständigem U m b r u c h , besitzt also sozusagen einen mobilen Charakter. Der Funke bewegt sich nicht nur von einem Pol zum andern, s o n d e r n auch nach den Seiten. Hingegen k a n n der Erregungszustand einem direkten Energieübergang verglichen w e r d e n , der dann zwischen den beiden Polen entsteht, wenn diese sich auf einer m e h r oder weniger ausgedehnten Fläche u n m i t t e l b a r berühren. Dieser Vergleich macht schon einen der Faktoren sichtbar, die dem Erregungszustand eine größere Gefährlichkeit verleihen als der Gefühlserregung. Diese da in Bewegung, ist sichtbar, ist b e w u ß t ; der T r ä g e r w i r d durch seine innere Sensibilität v o n ihr in Kenntnis gesetzt. Daher treten sofort verschiedene A b w e h r mechanismen in Tätigkeit, d e n e n es vielleicht gelingt, den energieverzehrenden Kurzschluß abzuschwächen u n d schließlich zu unterbrechen. Der Erregungszustand hingegen appelliert nicht so rasch an die Abwehrmedianismen, sondern erst 123

verspätet, wenn seine schädlichen Folgen bereits in Erscheinung getreten sind. Die Abwehrprozesse, die dann notwendig w e r d e n , haben einen sehr unangenehmen Aspekt: sie sind „neurotisch" (in weitesten Sinne des Wortes), d . h . sie schwächen d e n K o n t a k t zwischen den Polen durch eine gewisse Zerstörung der Pole selbst. Die Gefühlserregung ist auch einer sichtbaren Blutung vergleichbar, die den K r a n k e n beunruhigt und zu H e i l m a ß n a h m e n anregt; dagegen ähnelt der Erregungszustand einer fortgesetzten, inneren Blutung, die d e n K r a n k e n schwächt. Dieser wird sich zwar eines Tages auch um seine H e i l u n g kümmern, d a n n aber w i r d das Heilverfahren viel schwerer wirksam werden. Diese etwas groben Vergleiche lassen jedoch die wichtigsten Erwägungen außer acht. Wir h a b e n nämlich bei diesen Vergleichen angenommen, d a ß der Energieverbrauch im elektrischen Funken dem Energieabbau beim direkten Kontakt der beiden Pole gleichkäme. In Wirklichkeit verhält es sich jedoch anders, und es besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen beiden Erscheinungen. Bei der Gefühlserregung sind beide Pole voneinander entfernt, und der überspringende Funke ist genau genommen kein Kurzschluß. In diesem Funken verbrennt die Energie; sie wird „frei" und produziert e t w a s Neues. Beim Erregungszustand hingegen berühren sich beide Pole, und es k o m m t zu einem echten Kurzschluß: die Energie fließt unmittelbar von einem P o l zum andern über. Die Gesamtenergie des Subjektes — eine Energie, die mit dem Spannungsunterschied zwischen den beiden Polen zusammenhängt — w i r d abgebaut, da d e r Spannungsunterschied nachläßt, und sie wird abgebaut, ohne daß etwas anderes dafür aufgebaut w ü r d e . Die Gefühlserregung ist ein Teil der Erscheinungswelt, des Lebens, das dem „Sein" Gestalt verleiht, und daher k a n n sie auch „ n o r m a l " genannt werden. Der Erregungszustand hingegen hat kein „Leben", er ist zerstörerisch ohne Gegengewichte zu besitzen. Die Energie, die dabei verbraucht w i r d , kann nicht z u r inneren Befreiung verwendet werden. Da er nicht normalisierend wirken kann, sollte er als „ a n o r m a l " bezeichnet werden. Ein weiterer Vergleich wird helfen, dies alles noch verständlicher zu machen. Stellen wir uns ein waagrecht liegendes, sich drehendes R a d vor, dessen Rotationszentrum nicht mit dem geometrischen Z e n t r u m zusammenfällt; seine Rotationen sind also „exzentrisch". Dieses R a d wird von zwei verschiedenartigen Kräften bewegt: einmal von einer Umdrehungs- oder dynamischen Kraft, zum andern von einer Zentrifugalkraft, die es von seinem Rotationszentrum zu entfernen strebt. Diese nicht in Erscheinung tretende Kraft kann „statisch" genannt werden. Die Rotationsbewegung, die in unserem Beispiel der Gefühlserregung gleichzusetzen ist, ist verwendbar: wenn ich an dem Rad einen Riemen anbringe, w i r d es imstande sein, Maschinen anzutreiben. Die statische K r a f t hingegen, die vergeblich versucht, das R a d aus seinem Rotationszentrum zu schleudern, ist nicht nutzbar. Sie ist ein Abbild der bewegungslosen Verkrampfung des Erregungszustandes. D e r Mensch, der absolute Verwirklichung im Satori erlangt, w ä r e etwa einem R a d e vergleichbar, dessen Rotationszentrum mit dem geometrischen Zentrum 124

zusammenfällt; solch ein Mensch hätte nur Gefühlserregungen, jedoch keinerlei Erregungszustand mehr. Der Mensch, der Satori noch nicht erlangte, ist unserm aus dem geometrischen Zentrum gerückten Rade vergleichbar. Das Bild des aus seinem Mittelpunkt gerückten Rades ermöglicht es uns, einige wichtige Erscheinungsformen unseres Gefühlsiebens aufzuzeigen. Es vollzieht sich in uns alles, als ob zwischen dem Rotations- und dem geometrischen Z e n t r u m des Rades ein elastisches Band sich befände, das beide Zentren zusammenzubringen sucht. Wenn unser R a d sich langsam dreht, d. h. wenn wir wenig erregt sind, ist die Zentrifugalkraft schwach, und das „Gummiband" kann das Rotationszentrum nahe beim geometrischen Mittelpunkt halten. Doch wenn heftige Gefühlserregungen auftreten, so beginnt das R a d , sich schnell zu drehen. Die Zentrifugalkraft nimmt zu, u n d trotz des „Gummibandes" entfernt sich das Rotationszentrum von dem geometrischen Mittelpunkt. Dies zeigt uns, wie Gefühlserregungen das Auftreten eines Erregungszustandes bedingen. Wenn ich durch heftige Gefühlserregungen hindurchgegangen bin, fühle ich mich anschließend „ganz außer mir", wie „aus der Bahn geworfen", innerlich „ohne Boden unter den Füßen". Eine gewisse Zeit ist notwendig, ehe das „Gummiband" wieder seine Funktion ausübt und die beiden Zentren einander nähert. Ohne Satori fallen die beiden Z e n t r e n niemals zusammen. Bei einem Menschen, der innerlich nicht in der richtigen Weise an sich arbeitet, fallen die Gefühlserregungen nie ganz weg, wenn sie auch zuweilen wenig intensiv sein mögen. Manchmal d r e h t sich das Rad langsam, aber es dreht sich immer, und es ist also ständig eine gewisse Zentrifugalkraft da, die das elastische Band daran hindert, die beiden Z e n t r e n zu vereinen. Das Satori entspricht dem Augenblick, in dem das R a d vollkommen aufhört, sich zu drehen. Es ist ein „Augenblick" ohne Dauer (sonst m ü ß t e der Mensch sterben), doch genügt dieser Augenblick, um die beiden Zentren z u r Deckung zu bringen. Sobald sie sich einmal —- und sei es nur für einen Augenblick — gedeckt haben, werden sie sich nie mehr voneinander entfernen k ö n n e n . So schnell sich das Rad nun auch drehen mag, sein Rotieren kann nicht m e h r das Auftreten einer Zentrifugalkraft zur Folge haben. Nach dem Augenblick des Satori, einem Augenblick ohne Gefühlserregung noch Erregungszustand, wird es möglicherweise von neuem G e f ü h l s r e g u n g e n geben, doch nie m e h r einen Erregungszustand. Das „Gummiband" unseres Bildes entspricht der tiefen Sehnsucht des Menschen nach Satori. Jedoch wird diese Sehnsucht nicht u n b e d i n g t als Sehnsucht nach Satori empfunden, da ja der Mensch im allgemeinen keinerlei Vorstellung von diesem Erlebnis haben kann (sie wird vielmehr e m p f u n d e n als Sehnsucht nach irgendwelchen vergänglichen Dingen oder nach einem falschen Bild, das wir uns vom Satori machen), doch ist sie deswegen nicht weniger Sehnsucht nach Satori. Je entfernter ein Mensch bei seinen Erregungszuständen v o m Satori ist, desto stärker ist d a s „ G u m m i b a n d " angespannt, d. h. desto intensiver fühlt er die Sehnsucht nach Erfüllung ( w o r i n auch immer er sie sehen mag). Je mehr ein Mensch sich Satori nähert, desto mehr entspannt sich das „Gummiband", desto 125

weniger Sehnsucht nach Erfüllung s p ü r t er. Unmittelbar v o r Satori, in den vorausgehenden Augenblicken, verschwindet jede Sehnsucht nach Erfüllung. Wer Satori e r l a n g t , erlebt es nicht als Erfüllung, da es ja keine Sehnsucht mehr gibt. Mit H u i - n e n g w i r d er sagen: „Es g i b t weder Erfüllung noch Befreiung", da es Befreiung n u r in den Augen dessen geben kann, der noch nicht befreit ist. In unserm Bild ist Befreiung die v o l l k o m m e n e Entspannung des Gummibandes, doch beim S a t o r i verschwindet dieses Band überhaupt, u n d v o n seiner Entspannung k a n n d a h e r g a r nicht mehr gesprochen werden. Der Mensch, d e r Satori nicht kennt, k a n n sich unter einem Menschen, der Satori erlangte, nichts Bestimmtes vorstellen. Er wird nun annehmen, d a ß die nach Satori erlebten Gefühlserregungen völlig verschieden sein werden von den zuvor erlebten, da sie n u n nicht mehr jenen Erregungszustand, jene innere Verkrampfung auslösen, die recht eigentlich unsere Angst erzeugt hatte. Dies führt uns zu ehern neuen Verständnis der Unterscheidung „Gefühlserregung — Erregungszustand", bei deren Untersuchung w i r gerade sind. Gefühlserregungen können positiver o d e r negativer A r t sein, Freuden oder Leiden, ein Erregungszustand jcdoch ist i m m e r negativer A r t . Um bei unserm Bilde zu bleiben: das Rad kann sich in der einen oder anderen Richtung drehen, doch bleibt in allen Fähen die Zentrifugalkraft, was sie ist. Eine Untersuchung unseres Gefühlslebens zeigt folgendes: W e n n mir ein überaus freudiges Ereignis zustößt u n d in mir heftige E r regungen der F r e u d e auslöst, so vollzieht sich die gleiche Verlagerung des Gleichgewichtes, das gleiche Aus-der-Bahn-Geworfenwerden w i e bei heftigen E r regungen negativer Art. Angst taucht hinter den freudigen Bildern auf, eine Angst, die psychologisch entweder an die Befürchtung gebunden ist, das mir zuteil gewordene Erlebnis könne wieder verlorengehen, oder an die nicht erfüllbare Forderung, d a ß dieses Erlebnis sich endlos steigern müsse bis zu jener absoluten Erfüllung meiner selbst, die ich tief in meinem Innern stets erwarte. Der Erregungszustand bzw. die Erregbarkeit der Tiefenschicht (im Gegensatz zu der sich in der Oberflächenschicht meines Bewußtseins abspielenden Erregbarkeit, aus der die Gefühlserregungen stammen), betrifft jene tiefe oder unterbewußte psychische Ebene, in der sich v o r meinem inneren „Gericht" der „Prozeß" meines Ichs abspielt bezüglich der Situationen, in die ich mich der Außenwelt gegenüber gestellt sehe. Der Erregungszustand ist immer mit einem Zweifel an meinem „Sein" verbunden; jener Zweifel, jenes Dilemma „Sein oder Nichtsein" d r o h t mir unaufhörlich, u n d der innere Prozeß geht weiter in der nie realisierbaren Hoffnung auf eine endgültige zeitliche Absolution. Bestimmte „euphorische" Menschen scheinen ständig von einem positiven Erregungszustand erfaßt zu sein, eine Tatsache, die mit dem, w a s wir gerade sagten, im Widerspruch zu stehen scheint. Das Studium des sogenannten „Glücks" des Durchschnittsmenschen ist recht interessant, da es uns helfen kann, den " E r regungszustand" besser zu verstehen. Wenn ich mich regelmäßig beobachte, stelle ich fest, d a ß ich manchmal euphorisch bin, und daß dieser Z u s t a n d sich in einem Augenblick einstellt, in dem meine Zweifel an mir selbst vorübergehend einge126

schlafen sind. Eine halbwegs positive und einigermaßen stabil erscheinende äußere Situation, verbunden mit einem guten Gesamtzustand, bringt meinen inneren Prozeß zum zeitweisen Ruhen. Richter und Zeugen schlafen mangels „gerichtlicher Vorfälle" ein. Die unterbewußte psychische Ebene ist fühllos geworden, und ich befinde mich daher in einem angenehmen „Zustand". Doch dieser angenehme Z u s t a n d entspricht nicht etwa dem positiven C h a r a k t e r des wirkenden Erregungszustandes, sondern vielmehr seiner augenblicklichen NichtAktivität. Er bedeutet nicht einen letzten Endes günstigen Ausgang meines inneren Prozesses, sondern nur eine vorübergehende Pause, nicht das Ende meiner falschen Überzeugung, daß mir etwas fehle, sondern nur ihre vorübergehende Nicht-Aktivität. Wie ist das möglich? Wie kann d e r Prozeß des Ich, das doch ständig da ist, in dieser Weise unterbrochen werden? Eine Analyse des im allgemeinen euphorischen Menschen wird uns darüber u n terrichten. Bei einem solchen Menschen ist der Hunger nach dem Absoluten schwach, ja oft gleich Null. H a t sein Verlangen nach Ich-Bejahung sich eine gewisse Befriedigung gesichert, ist es gestillt und verlangt nichts mehr. Beruhigungsmechanismen h a b e n sich in ihm entwickelt: Er vermag sich seine Situation gegenüber der Außenwelt in einer Weise vor Augen zu führen, die ihn nur die positiven und nicht die negativen Seiten erkennen läßt. An die Stelle des inneren Prozesses in der Tiefenschicht ist an die Oberflächenschicht des Bewußtseins eine monotone Selbstverteidigung getreten, und der P r o z e ß ruht. Interessant ist es zu beobachten, d a ß ein solcher Mensch besonders wenig „empfindlich" ist, daß man ihn, ohne seine Eigenliebe zu verletzen, scharf kritisieren k a n n . Diese U n e m p findlichkeit der Eigenliebe erklärt sich eben aus d e m Schlummer des Prozesses, jener Mensch scheint gewissermaßen ohne Ego zu sein. Das E g o existiert zwar, jedoch behalten die in diesem Menschen aufgebauten Kompensationen infolge seines schwachen Verlangens nach dem Absoluten ihre volle W i r k s a m k e i t , sobald von ihnen Gebrauch gemacht wird. D e r Zweifel an sich selbst umgibt sich mit einer Schutzmauer, der die Zeit nichts anhaben k a n n ; ein solcher Mensch wird der Haltung (d. h. der Kompensationen), die er v o r der A u ß e n w e l t annimmt, nicht müde. Doch das scheinbar Positive seiner Erregungszustände ist nur der Ausdruck ihrer Ausschaltung, ihrer Unterdrückung, denn der Erregungszustand ist ja seiner N a t u r nach negativ. Jener Mensch erlebt viele Freuden, doch ist der Hintergrund, auf dem sie sich abspielen, ein Schlummern, ein Abwesendsein. Dieser H i n t e r g r u n d , der die Bedingungen der Freuden schafft, ist keine tiefe, echte Gelöstheit (oder Entspannung des Erregungszustandes), sondern bloße Unbewußtheit. Da bei ihm die Verkrampfung d e r Tiefenschicht nicht wirksam wird, ist dieser Mensch sich ihrer einfach nicht b e w u ß t (dies ist dem „ M u t " des Menschen, d e r die Gefahr nicht sieht, vergleichbar). Diese D i n g e sind möglich durch die angeborene Schwäche des Bedürfnisses nach dem Absoluten, wodurch die Kompensationen ausreichend u n d u n a b n ü t z b a r werden. Bei dem Menschen hingegen, bei dem das Verlangen nach d e m Absoluten intensiv ist, sind Kompensationen selten v o n großer Wirksamkeit (dieser Mensch ist 127

zu anspruchsvoll, sein H u n g e r nach Ich-Bejahung stellt zu g r o ß e F o r d e r u n g e n in Quantität u n d Qualität), u n d wenn sie sich dennoch a u f b a u e n , so sind sie kaum von g r o ß e m N u t z e n . D a h e r r u h t der „Prozeß" selten o d e r nie. Je m e h r das Leben eines solchen Menschen fortschreitet, desto m e h r verschwinden u n a u f h a l t sam alle Kompensationen; sein Prozeß kennt keinen Stillstand. M e h r u n d mehr lernt er, alles, was ihm begegnet, alle Situationen gegenüber dem N i c h t - I c h , unter dem Gesichtswinkel des Zweifels an sich selbst zu sehen. In seinem nie schlummernden U n t e r b e w u ß t s e i n lebt er unaufhörlich in d e r E r w a r t u n g irgendeines illusorischen Urteilsspruches, von dem er seine endgültige Freisprechung d e r V e r d a m m u n g abhängig glaubt. Seine Eigenliebe ist im einen oder andern S i n n e unaufhörlich wach, er ist „empfindlich", u n d diese ständige Gereiztheit entspricht der ununterbrochenen Aktivität des u n t e r b e w u ß t e n Erregungszustandes, d e r sogenannten „ N e r v o s i t ä t " . Während der Mensch, den es w e n i g nach dem Absoluten hungert, innerlich ruhig ist, ist ein Mensch, der großes Verlangen danach trägt, übererregbar, über-spannt. Alles w i r d bei ihm auf sein Ego bezogen, alles, was er w a h r n i m m t , betrachtet er vom einzigen Bückpunkt seiner Eigenliebe aus. Wir können diesen Abschnitt mit der Behauptung abschließen, daß e i n Erregungszustand nur negativer A r t . nur angstvolle V e r k r a m p f u n g sein k a n n , und daß die Aktivität des U n t e r b e w u ß t e n , in dem dieser E r r e g u n g s z u s t a n d vera n k e r t ist, in Beziehung steht zu dem Verlangen nach dem Absoluten u n d folglich auch zu dem Verlangen nach nichtzeitlicher Verwirklichung. A n g s t und Bedürfnis nach Satori stehen bei jedem Menschen in enger V e r b i n d u n g miteinander. Wenn der Mensch, der Satori erlangte, überhaupt noch Gefühlserregungen kennt, dann erlebt er sie nicht mehr vor dem Hintergrund einer ständigen Beklemmung. Diese Veränderung des Hintergrundes ist eine so einschneidende, so grundlegende U m f o r m u n g unseres gesamten Gefühlslebens, daß w i r uns von den Gefühlserregungen des Menschen, der Satori erlangte, keinerlei richtige Vorstellung machen können. Die innere Arbeit im Hinblick auf Satori muß jenen völlig emotionsfreien A u g e n blick zum Ziele haben, dessen Notwendigkeit wir eingesehen haben. J e n e r innere Einsatz, der unsere Gefühlserregbarkeit dämpfen soll, kann nicht richtig verstanden werden, solange der Unterschied zwischen Gefühlserregung u n d Erregungszustand nicht k l a r verstanden ist. Nur der Erregungszustand ist anormal und w i r k t Satori entgegen, die Gefühlserregung hingegen ist durchaus normal und steht zu Satori nicht im Gegensatz. Es ist jedoch viel einfacher, Gefühlserregungen wahrzunehmen als das Vorhandensein eines Erregungszustandes. Der Mensch neigt daher dazu anzunehmen, daß es gut sei, die G e f ü l s e r r e g u n g e n zu zügeln. Doch ist diese M ü h e vergeblich, da sie in einer falschen Richtung g e h t . Die richtige Bemühung geht dahin, den Erregungszustand abzuschwächen und w i r d niemals die Aufhebung der Anspannung unseres psycho-somatischen Gesamtorganismus" anstreben, als die wir die Gefühlserregungen erkannt haben, 128

sondern die Lösung der Verkrampfung dieses Organismus'. Mit dem Gesamtorganismus verhält es sich genau so wie mit seiner rein körperlichen Seite: der Klaviervirtuose etwa hat mit der Zeit gelernt, nicht die Anspannung d e r Muskeln als solche zu unterdrücken, sondern nur deren Verkrampfung, die am Beginn seiner Lehrzeit der störende Untergrund aller seiner Muskelanspannungen w a r . Wie soll man aber die Lösung des Erregungszustandes, jener angstvollen Verkrampfung, erreichen, die den Untergrund unseres gesamten Gefühlslebens ausmacht? Dies auf direktem Wege anzustreben, wäre vergeblich. Vielleicht könnte es jemand für nützlich halten, willentliche Entspannungsversuche der Muskeln durchzuführen, in der Hoffnung, daß diese Teilentspannung automatisch eine Gesamtentspannung nach sich zieht. Derartige Versuche, auf ein einzelnes Objekt gerichtet, sind in Wirklichkeit kaum imstande, auf unser Gesamtwesen einzuwirken. Mein Bemühen, ein Teil von mir zu entspannen, w i r d daher notwendigerweise von einer zentralen Verkrampfung begleitet. M a n könnte versuchen, die Gefühlserregungen, da sie den Erregungszustand auslösen, zu bekämpfen, doch hieße das unserem Leben selbst Schaden zuzufügen. D a s Problem besteht darin, den Erregungszustand zur Entspannung zu bringen, ohne dabei an die Gefühlserregungen oder überhaupt an etwas einzelnes zu rühren. O h n e vom Gesetz der Drei Gebrauch zu machen, können w i r keinerlei Umformung unseres Gesamtorganismus erreichen. D a h e r ist auch in dieser Hinsicht jeder Versuch unwirksam, der unmittelbar etwas in uns zu reduzieren strebt. W i r müssen im Gegenteil auch das, was wir beklagenswert an uns finden, als gegeben anerkennen und d a n n hierzu ein ergänzendes Element einsetzen. Die Auflösung des unerwünschten Elementes folgt sodann d a n k des Inkrafttretens des versöhnenden Prinzips. Es wird wieder ins Ganze zurückintegriert u n d verschwindet, indem es seine vermeintliche Selbständigkeit verliert. Sehen wir nun, wie dieses Gesetz sich hier a n w e n d e n läßt. Wiewohl die Verkrampfung der Tiefenschicht meinen Gesamtorganismus als Ganzes in Mitleidenschaft zieht, ist sie nicht t o t a l , nicht absolut. Sie k a n n z w a r mehr oder weniger intensiv sein, ist jedoch immer partiell, d. h., d a ß jeweils n u r ein Teil der überh a u p t möglichen Verkrampfung zur Auswirkung k o m m t , während der Rest nicht in Erscheinung tritt. D i e auf die Tiefenschichten gelenkte Aufmerksamkeit richtet sich natürlicherweise immer auf den manifest gewordenen Teil meiner möglichen Verkrampfung. D e r Gleichgewichtsverlust liegt gerade in dieser z w a r ganz natürlichen, aber doch „parteiischen" H a l t u n g , derentwegen ich n u r auf den sichtbar gewordenen Teil meiner Verkrampfung achte. Um das nötige Gleichgewicht wiederherzustellen, m u ß ich meine Aufmerksamkeit gleichzeitig ebenso auf den nicht in Erscheinung getretenen wie auf den schon offenbar g e w o r d e n e n Teil meiner Verkrampfung richten. Mit anderen W o r t e n : Während meine Aufmerksamkeit auf irgend ein besonderes Interesse gerichtet ist, darf ich gleichzeitig meine Gleichgültigkeit allen übrigen Dingen gegenüber nicht verlieren. Benoit. Die hohe Lehre

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Auch diesmal wieder setzt die uns so vertraute Verlockung zu d i r e k t e m H a n deln ein; ich bin versucht, eine willentliche Anstrengung zu machen, durch die ich meine Gleichgültigkeit gegenüber all dem, was mich nicht augenblicklich beschäftigt, erfassen könnte. Doch ist das unmöglich, da ja die Indifferenz, die es a n z u s t r e b e n gilt, nicht sichtbar in Erscheinung tritt. Sobald ich b e w u ß t daran denken w i l l , daß ich gleichgültig bin, nehme ich die manifest gewordene Idee „ I n d i f f e r e n z " wahr u n d nicht diese Indifferenz selbst, die ja nicht manifest gew o r d e n ist. Alles, was nicht in Erscheinung getreten ist, entzieht sich natürlicherweise meinem dualistischen Bewußtsein, das nur ein w a h r n e h m e n d e s Subjekt und ein wahrgenommenes O b j e k t zuläßt, die beide durchaus greifbar sind. N u n , da das Lockmittel einer letzten Versuchung zum direkten H a n d e l n zurückgewiesen ist, stoße ich wieder auf das Grundgesetz der z u r nichtzeitlichen Verwirklichung führenden Entwicklung: N u r das aus d e m reinen Intellekt hervorgehende Verstehen ist wirksam. Aus einem erzwungenen Vorgehen, so bestechend es auch erscheinen mag, kann keine wirksame V e r ä n d e r u n g meiner inneren Vorgänge entstehen, jede wirksame Veränderung im Hinblick auf die nichtzeitliche Verwirklichung muß aus unserem Absoluten P r i n z i p hervorgehen. Unsere intellektuelle Intuition hat hierfür die Voraussetzungen geschaffen, i n d e m sie das sonst undurchdringliche Dickicht unserer Unwissenheit gelichtet hat. Jede erkenntnismäßige „Offenbarung", die uns bei der Frage unserer absoluten Verwirklichung zuteil wird, bedeutet eine Lichtung im Dickicht der Unwissenheit. Über diese Lichtung geht dann, ohne daß w i r uns d a r u m zu bemühen hätten, unser Verwandlungsprozeß v o r sich. In dem uns vorliegenden Falle w ä r e die O f f e n b a r u n g , die uns zuteil w e r d e n müßte, folgende: W i r täuschen uns grundlegend über die Erregbarkeit unserer Tiefenschicht, W i r glauben an die Existenz eines Erregungszustandes, einer Verkrampfung. Wir glauben also an die Erregbarkeit unserer Tiefenschicht n u r , sofern sie durch eine Verkrampfung in Erscheinung tritt, sofern sie „lebt". Alles übrige erkennen w i r nicht an, z, B. eine E r r e g b a r k e i t , insoweit sie nicht in Erscheinung tritt, nicht „lebt". U n d doch ist unsere Erregbarkeit, wenn sie ins Leben tritt, eine begrenzte, während sie, sofern sie kein Leben besitzt, unbegrenzt ist. Das einzige, w a s in meinem Gefühlsleben in jedem Augenblick Wirklichkeit besitzt, das einzige, w o r u m es sich also in Wahrheit für mich handelt, ist nicht mein Erregungszustand, meine V e r k r a m p fung, mein Parteiergreifen für etwas, sondern hinter all diesen Erscheinungen meine vollkommene Gleichgültigkeit, mein Nicht-Verkrampftsein, mein NichtParteiergreifen. Was für mich als sensibles Wesen von Gewicht ist, ist nicht, was ich jeweils fühle, sondern die unendliche Fülle dessen, was ich jeweils nicht fühle. K u r z gesagt: der jeweils in Erscheinung tretende Erregungszustand ist in W i r k lichkeit ohne jedes Interesse für mich selbst. Diese k l a r e geistige Erkenntnis ist, einmal erreicht, eine Offenbarung, die die Gesamtschau meines Innenlebens auf den Kopf stellt. Diese „Schau" v e r h i n d e r t z w a r das gefühlsmäßige Parteiergreifen für meine in Erscheinung tretenden E r regungen nicht unmittelbar, sie schafft vielmehr in meinem Innern eine ausglei130

chende intellektuelle Gewißheit, welche die nicht in Erscheinung tretenden E r regungen, die entspannte Ruhe bejaht, die nicht Gestalt gewinnt. D a n k jener neuen intellektuellen Gewißheit entwickelt sich bei mir ein Aufmerken auf die grenzenlose Uninteressiertheit, die hinter den begrenzten Interessen in meinem Innern wohnt. Dieses Aufmerken spielt sich im U n b e w u ß t e n ab, es erzeugt keinerlei dualistische „Wahrnehmung", kommt jedoch deswegen nicht weniger z u r Auswirkung (je mehr ich „verstehe"). Dieses unsichtbare Spie! macht sich im Sichtbaren auf die Dauer durch eine fortschreitende Abnahme der I n t e n s i t ä t meiner Erregungszustände bemerkbar. So ist es mir möglich, mich auf die Suche zu machen nach jenem erregungslosen Zustand, der eine Voraussetzung für die Auslösung des Satori bildet. Das richtige Funktionieren unsrer auf die Tiefenschichten gelenkten Aufmerksamkeit macht sich auf die D a u e r , d. h. in unsrer Gesamtentwicklung, durch eine A b n a h m e der Erregungszustände bemerkbar. Doch bringt diese Entwicklung Übergangsperioden mit sich, während deren die Verkrampfung sich steigert. Den G r u n d hierfür werden w i r im folgenden sehen. Bei dem Menschen, welcher den Unterschied zwischen Erregung und E r r e g u n g s z u s t a n d noch nicht begriffen h a t , arbeitet die innere Aufmerksamkeit folgenderm a ß e n : die Aufmerksamkeit der Oberflächenschicht, der sogenannten „ b e w u ß ten" Schicht, ist an die Erregungen gebunden (oder genauer: an die Bilder des Erregungsahlaufs). Die Aufmerksamkeit der Tiefenschicht, der sogenannten „unterbewußten" Schicht, ist an den Erregungszustand gebunden. D e r g e w ö h n liche Durchschnittsmensch ist sich seines Erregungszustandes nicht b e w u ß t (daher k o m m t es auch, d a ß die klassische Psychologie diesen Zustand zu ignorieren pflegt). Er hat nur ein „Unterbewußtsein" von ihm, u n d nur durch i n d u k t i v e Überlegungen kommt er manchmal zu dem Schluß: „Ich bin heute sehr nervös". Er ist sich seiner Nervosität nicht unmittelbar bewußt, sondern n u r der Bilder, die sich auf dem H i n t e r g r u n d dieser Nervosität herauskristallisieren. Das Verstehen der Unterscheidung „Gefühlserregung — Erregungszustand" b r i n g t je nach dem Grad, den es erreicht, eine Vertiefung der durch die Aufmerksamkeit geleisteten Arbeit hervor. Die Aufmerksamkeit der Oberflächenschicht, die in der bewußten Schicht des Vorstellungsablaufs spielte, w i r d nun die Tendenz bekommen, in der bisher u n t e r b e w u ß t e n Schicht des Erregungszustandes zu wirken (d. h. d a ß solch ein Mensch dank seines Verständnisses fähig wird, die Aufmerksamkeit auf den Erregungszustand zu lenken), während die Aufmerksamkeit der Tiefenschicht die T e n d e n z bekommt, sich im Unbewußten auszuwirken, diesem unbegrenzten unveränderlichen Bereich, aus dem sich die verschiedenen Erscheinungsformer des Erregungszustandes herauskristallisieren. W e n n das Verständnis gleich zu Anfang ein vollkommenes wäre, so w ü r d e dl V e r l a g e r u n g der inneren Aufmerksamkeit unmittelbar, ganz und für i m m e r verw i r k l i c h t werden können, j e n e Aufmerksamkeit w ü r d e ins U n b e w u ß t e (oder Selbst, oder „unser ureigenes Wesen", wie es die Zenlehre nennt) z u r ü c k i n t e 131

griert, u n d Satori könnte verwirklicht werden. Aber das Verständnis ist zu A n fang nicht vollkommen. Zwischen dem ersten Augenblick, wo es theoretisch k o n zipiert w i r d und dem Augenblick, wo es in Verbindung mit der E r f a h r u n g die ganze d r i t t e Dimension erobert hat, die ihm anfangs noch fehlte, muß eine mehr oder weniger lange Zeit der Reifung liegen. Das theoretische Verständnis fegt nicht mit einem Schlage alle trügerischen „Überzeugungen" weg, die v o r h e r da waren, u n d die durch wirksame Gefühls- und Verhaltungsautomatismen g e s t ü t z t werden. W a h r e Erkenntnis u n d falsche „Überzeugungen" werden m e h r o d e r weniger lang nebeneinander bestehen. Die Reifung des Verständnisses liegt in einer fortschreitenden U n t e r h ö h l u n g der Irrtümer, die schließlich die W a h r h e i t herbeiführt. Das gute K o r n erstickt nach und nach die D o r n e n . Im Verlauf dieser Reifung zeigt sich also ein Antagonismus zwischen dem Vergehen, b z w . der daraus erwachsender. Gewißheit u n d den Gefühlsautomatismen. die die Täuschung aufrechterhalten. Dieses Verstehen führt den Menschen zur Erkenntnis seines in der Tiefe verankerten Erregungszustandes. Doch richten jene Automatismen das H i n d e r n i s der Angst auf zwischen dem bewußten Blick und d e m Erregungszustand, welcher der Sitz der d a u e r n d e n angstvollen V e r krampfung ist. Je besser der Erregungszustand erfaßt wird, desto mehr w i r d er von d e m Gift der Angst verlieren. Doch solange die Automatismen mich noch hindern, zu sehen, während mein Verstehen schon den Blick auf den Erregungszustand richtet, d. h. solange das intuitive Erfassen des Erregungszustands erfolglos angestrebt wird, solange n i m m t der Erregungszustand noch zu. Auf dem Wege zur Entspannung tritt also eine kritische Verschlimmerung des E r r e g u n g s zustandes ein (die Drachen v o r der Schatzhöhle). D a r ü b e r sollte der Mensch u n terrichtet sein, um sich nicht erschrecken oder entmutigen zu lassen. W e n n er Bescheid w e i ß , wird er ununterbrochen am Fortschreiten seines Verständnisses weiterarbeiten, selbst wenn seine Lage sich zu verschlimmern scheint. W e n n das Bewußtsein dann endlich in die zuvor unterbewußte Schicht des Erregungszustandes mutig vorgedrungen ist, dann wird auch ein Eindringen der inneren Aufmerksamkeit ins U n b e w u ß t e stattfinden, ins Bereich der absoluten Bejahung, die jede Angst zerstreut. Wir h a b e n daran erinnert, d a ß nur das aus dem reinen Intellekt erwachsende Verstehen wirksam ist, und d a ß kein erzwungenes Vorgehen unsere inneren Erscheinungen in einer für das Satori fruchtbaren Richtung modifizieren k a n n . Es ist wesentlich, auf diesem P u n k t e besonders zu verharren und alle Auffassungen zurückzuweisen, nach denen wir persönlich unsere metaphysische Verw a n d l u n g glauben bewerkstelligen zu können. I n d e m wir dies als gegeben v o r aussetzen, zeigen wir nun, wie zu einem bestimmten Zeitpunkt in der befreienden inneren Entwicklung eine willentliche innere Geste dazukommen m u ß , die helfen soll, den Erregungszustand wahrzunehmen. W e n n mein Verständnis einen gewissen Grad erreicht u n d meine hauptsächlichen Kompensationen im wesentlichen überwunden hat, n i m m t die innere V e r k r a m p fung vorläufig zu. Mein Verständnis wird nun, wie ich schon sagte, bemüht sein, 132

den Funktionsablauf der Aufmerksamkeit in die Tiefenschichten zu verlagern, d. h. mir wird die Nützlichkeit eines inneren Einsatzes deutlich, der nicht n a turgegeben und nicht automatisch ist und der auf die bewußte Wahrnehmung des bisher unterbewußten Zustandes hinzielt (er zeigt mir. wie nützlich es ist, vor der Angst nicht zu fliehen, wie ich es bisher tat, sondern ihr mit »forschendem Auge" standzuhalten). Der Entschluß zu dieser inneren Geste entspringt spontan aus dem Verständnis und nicht etwa aus einer gefühlsmäßigen, götzendienerischen Einstellung („Pflicht" zum "Heil", „geistige" Ambition), die sich mir aufzwingen möchte, indem sie andere Tendenzen verdrängen würde. D e r Entschluß, diese Geste zu vollziehen, entsteht spontan, sobald ich mit aller D e u t lichkeit seine Nützlichkeit erkenne. Erst dann, nach diesem anhaltenden Bemühen um das notwendige Verständnis bin ich imstande, jene Geste auszuführen, deren Nützlichkeit mir deutlich geworden ist. V o r jenem Augenblick ist jeder Versuch eines Vollzugs verfrüht und daher vergeblich. W e n n wir nun a n nehmen können, daß das erforderliche geistige Verständnis erreicht ist und der Entschluß zu der zweckmäßigen Geste einzig und allein einer vollkommenen Gewißheit entspringt, wenn wir also annehmen k ö n n e n , daß wir endlich i m stande seien, diesen Einsatz zu leisten, so werden wir gewahr werden, d a ß die Ausführung nicht spontan aus dem Verständnis allein hervorgehen kann. D e r Entschluß zu jenem Einsatz wird in der Sphäre der reinen geistigen Intuition gefaßt, w ä h r e n d er geleistet wird im Bereich des konkreten inneren Lebens, in dem alle automatischen Mechanismen ablaufen. Dieser nicht naturgegebene E i n satz w i r d also im Bereich der natürlichen Mechanismen vollzogen und w i r k t so allem Automatischen entgegen, das meine Aufmerksamkeit unablässig auf die Bilder zu lenken bestrebt ist. Dieser so wesentliche P u n k t mußte scharf herausgearbeitet werden, und gleichzeitig m u ß t e n wir daran erinnern, daß jede innere Arbeit, zu der wir uns durch Beeinflussung unseres irrationalen Gefühlslebens entschlossen haben, vom Satori her gesehen zwecklos sein m u ß . N u n , da wir auf die hier auftretenden Gefahren deutlich hingewiesen haben, können wir von der praktischen inneren Arbeit sprechen, soweit sie für unsere Studie in Frage k o m m t . Diese B e m ü h u n g besteht d a r i n , daß wir, so oft wir können, eine innere Geste ausführen, die auf die W a h r n e h m u n g des „Erregungszustandes" hinzielt. Doch werden wir gleich erkennen, wieviel Paradoxes in dieser Wahrnehmung e n t h a l ten ist. D e r Erregungszustand macht mir, macht meinen psycho-somatischen Organismus als Ganzem zu schaffen. Er kann also nicht Gegenstand einer d u a listischen W a h r n e h m u n g sein, die ein Objekt u n d ein Subjekt voraussetzt. Scheinbar ist er objektiv, solange ich nichts dazu tue, ihn wahrzunehmen, doch je m e h r ich dies tue, desto mehr zeigt er die T e n d e n z , sich aufzulösen. Die befreiende innere Geste h a t d i e W a h r n e h m u n g des Erregungszustandes zum Ziel, kann diese a b e r nicht u n m i t t e l b a r erreichen. Sie f ü h r t über den Erregungszustand, d e r das Ich überdeckte u n d verborgen hielt, w ä h r e n d er doch gleichzeitig die Richtung zu ihm wies, zu einer bestimmten W a h r n e h m u n g meines G e s a m t 133

o r g a n i s m u s ' . Diese Geste führt also zu einem Augenblick echter innerer Bewußth e i t , die ü b e r die teilweise Auslöschung des Erregungszustandes erreicht wird (Selbstschau). Der Durchschnittsmensch glaubt, d a ß er seinen Erregungszustand o h n e jeden inneren Einsatz w a h r n e h m e n könne. W e n n er jedoch zu d e r Feststell u n g gelangt, er sei „ n e r v ö s " , so nimmt er nur ein v o m Intellekt für die verm e i n t l i c h e Objektivität des Erregungszustandes geschaffenes Bild w a h r . Alle Reflexe, alle Mechanismen sind bedingt durch den Erregungszustand, dessen B e d e u t u n g also eine ungeheuer große ist. Doch w i r d diese Bedeutung als solche n i e herausgelöst, sie bleibt u n t e r b e w u ß t , und der Erregungszustand, v o n dem a u s der Mensch alles beurteilt, findet selbst keine b e w u ß t e Beachtung. D e r Durchschnittsmensch lebt nur als F u n k t i o n seines Ich und stellt sich keine F r a g e n über dieses Ich. So spielt der Erregungszustand im Funktionsablauf des Menschen d i e R o l l e eines festen P u n k t e s , um den sich alles dreht. Anders gesagt: der gew ö h n l i c h e Mensch ist um sein Unterbewußtes zentriert (Rotationszentrum), w ä h r e n d doch sein eigentliches (oder geometrisches) Zentrum das U n b e w u ß t e ist. In Wirklichkeit ist der Erregungszustand kein fester P u n k t , und seine v e r m e i n t liche Unbeweglichkeit bildet überhaupt erst die Voraussetzung für die Illusionen unseres ichbezogenen Lebens. Wenn ich meine Aufmerksamkeit freiwillig auf meinen Erregungszustand lenke, (d. h. auf die Gesamtheit meiner E m p f i n d u n gen, also eigentlich auf mein E g o unter jener Gesamtheit der Empfindtingen), so erkenne ich, daß „es" nicht fest ist, daß „es" sich bewegt, und ich fühle intuit i v den Pulsschlag meines Lebens (es ist also nicht „ N o u m e n o n " sondern „ P h ä n o m e n o n " , das Ego kann, da es sich bewegt, nicht das Absolute sein). Diese p a r t i e l l e Aufhebung der vermeintlichen Unbeweglichkeit des Erregungszustandes n ä h e r t mein Rotationszentrum dem geometrischen, u n d ich beginne, „normal zu werden". D i e Erkenntnis, daß im M i t t e l p u n k t meines erscheinungsmäßigen Daseins „es sich b e w e g t " , ist der Erkenntnis, d a ß ein geschleuderter Stein sich bewegt, nicht gleichzusetzen. Beim Innewerden, daß „es sich b e w e g t " in meinem I n n e r n , existieren weder Raum noch Zeit noch Formen, es bewegt sich auf der Stelle und ohne sich zu verändern. H i e r rühren wir an die Ewigkeit des Augenblicks. In der Praxis muß die innere Arbeit wiederholte, aber kurze und leichte Ansätze vollziehen. Es geht nicht d a r u m , es sich schwer zu machen, als gäbe es etwas zu „erfassen". Es gibt nichts zu „erfassen". Es geht n u r d a r u m , daß ich durch einen spontanen, ganz einfach inneren Blick bewußt feststelle, d a ß in dieser Sekunde ich mich „in meiner Ganzheit erfühle" (der Weg dahin führt über die Bemühung, festzustellen wie ich mich jeweils fühle). D a z u gelangt man spontan oder gar nicht; sollte man es nicht erreichen, muß m a n später von neuem beginnen (das k a n n schon einige Sekunden später sein), doch m u ß dieser Schritt total und plötzlich vollzogen werden. Ich hin daran interessiert, diesen Einsatz so oft wie möglich zu leisten, doch mit Zartgefühl und Takt u n d ohne den Ablauf meines dualistischen Innenlebens allzusehr zu stören. D a s Bewußtsein, welches ich 134

durch Gewöhnung von meinem dualistisch angelegten Innenleben gewonnen habe, muß durch einen reinlichen, freien und s p o n t a n e n Schnitt unterbrochen werden, ohne daß dabei etwas geschieht, was es u n m i t t e l b a r verändern w ü r d e . Die „normalisierende" Veränderung wird vom Absoluten Prinzip vollzogen über jene „Schnitte", die das innere Bemühen schafft. Die Unterscheidung zwischen „Erregung" und „Erregungszustand" macht es möglich, die Art der Wahrnehmung, die der Mensch v o n seinem Gefühlsleben hat, näher zu kennzeichnen. W a s man ein „Gefühl" nennt, ist eine komplexe Erscheinung, die sowohl einen Vorstellungsablauf als auch eine ganze Reihe v o n Erregungsabwandlungen einschließt. Wenn ich zunächst den Vorstellungsablauf ins Auge fasse, so stelle ich fest, d a ß ich ihn ganz unbestreitbar b e w u ß t wahrnehmen k a n n . Die Bilder, die vor meinem Geist ablaufen, sind durch mein Gedächtnis fixiert und häufen sich in meinem I n n e r n . Sie bilden ein sehr subtiles „Formenmaterial", das ich heraufrufen, vor meinem aufmerksamen Blick hin- und h e r w e r d e n , nach Belieben u n t e r suchen und durch Worte beschreiben kann. Über seine Bilder hat der Mensch Macht, er beherrscht sie, geht mit ihnen um, er erfaßt sie durch einen aktiven Wahrnehmungsvorgang, bei welchem das Bewußtsein als Subjekt das Bild als Objekt erfaßt. Wenn ich nun die Erregungsskala, d. h. mein eigentliches Gefühl ins Auge fasse, so ist die Situation eine g a n z andere. In einer Hinsicht habe ich wohl eine gewisse Möglichkeit des Wahrnehmens, und in der T a t , wenn mein Gefühl ein trauriges ist und wenn ich gefragt w e r d e : „Bist du vergnügt?", kann ich mit Sicherheit antworten: „ N e i n , ich bin traurig." K ö n n t e ich meine Traurigkeit ü b e r h a u p t nicht erkennen, w ü r d e ich nicht in dieser Weise antworten. W e n n ich jedoch versuche, meine Traurigkeit genauer zu erforschen, sie zu untersuchen u n d zu erkennen, werde ich mir k l a r darüber, daß das, was sich meiner Analyse darstellt, immer ein Ablauf v o n traurigen oder betrüblichen Bildern ist, doch nie meine Traurigkeit selbst in ihrer Unteilbarkeit. Ich scheitere vollständig, w o l l t e ich die Traurigkeit durch den gleichen aktiven Wahrnehmungsvorgang erfassen, wie es mir bei den Bildern möglich ist. Es ist mir einfach ganz unmöglich, mein Gefühl durch eine gedankliche „Erfassung" zu „greifen", es zu „erkennen", wie ich d a s bei den Bildern t u n kann. Diese konnte ich greifen, konnte ihre u r sprüngliche Gestalt in Teilformen zerlegen, sie „analysieren" und erkennen, auf welche Elemente sie sich zurückführen ließen. Mit meinem Gefühl kann ich jedoch durchaus nicht das Gleiche tun; wohl merke ich, daß es in mir da ist (ich bin also nicht ganz ohne i r g e n d eine Kenntnis v o n ihm), doch kann ich durch eine ähnliche Analyse „es" nicht erkennen. W e n n ich aber dennoch in bestimmter Weise m e i n Gefühl wahrnehmen k a n n , d a n n w o h l darum, weil zwischen ihm und der Oberflächenschicht meines Bew u ß t s e i n s eine gewisse V e r b i n d u n g besteht. Doch ist diese Verbindung offensichtlich nicht von der gleicher. Art wie jene, die zwischen meinem Bewußtsein u n d den Bildern besteht, da sie mir keinerlei „Erfassung" meines Gefühls m ö g 135

lich macht. In der Verbindung zwischen Bewußtsein und Vorstellungen ist mein Bewußtsein a k t i v u n d meine Vorstellungen sind passiv. In der Verbindung zwischen Gefühl und Bewußtsein ist mein Gefühl aktiv und mein Bewußtsein passiv. Eine Verbildlichung wird uns zum Verständnis dienen: N e h m e n wir an. wir ergreifen im D u n k e l einen Gegenstand u n d wenden ihn in der H a n d hin und her. Auf diese Weise nehmen wir den Gegenstand aktiv w a h r und erhalten Auskunft über ihn. N e h m e n wir hingegen an, daß im Dunkel ein gewaltiger Riese uns in seine H a n d nimmt, uns dreht u n d wendet und betastet: w i r geben uns Rechenschaft über die Existenz dieses Riesen, finden ihn, je nachdem ob er uns streichelt o d e r zermalmt, mehr oder weniger sympathisch, doch dabei bleibt es auch. Wir erhalten keinerlei Aufklärung über den Riesen selbst, u n d es ist unmöglich für uns, ihn etwa zu beschreiben. Im Verlauf irgendeines Gefühles, das ich gerade durchlebe, kann ich also sagen, daß ich die Vorstellungen, die einen Teil jenes Erregungsvorgangs ausmachen, erfasse, d a ß ich aber meinerseits wieder erfaßt werde von diesem Vorgang, von dem die Vorstellungen nur ein Teil sind. In Bezug auf die Vorstellungen ist mein Bewußtsein ein erfassendes, in Bezug auf das Gefühl ein erfaßtes. Es ist, als hätte ich ein Bewußtsein der Bilder, die einen Teil meines Gefühls ausmachen, u n d als besäße umgekehrt mein Gefühl ein Bewußtsein meiner selbst. Doch entspricht diese Anschauungsform d e r illusorischen Sehweise des Durchschnittsmenschen, einer Sehweise, der zufolge der Mensch die Oberflächenschicht seines Bewußtseins als das maßgebende, als sein eigentliches „Ich" betrachtet. In W a h r h e i t aber ist die Oberflächenschicht des Bewußtseins nicht das „Ich", sie bildet nicht das Prinzip aller Vorgänge, die meinen psycho-somatischen O r ganismus aufbauen, das einzige Prinzip, welches allein „Ich genannt werden darf. Sie v e r t r i t t n u r eine bestimmte Schicht jener Vorgänge, in denen sich mein Prinzip manifestiert. Anstatt zu sagen, d a ß mein Gefühl mein Bewußtsein erfaßt, m u ß ich vielmehr feststellen, d a ß mein Unterbewußtsein mein „Oberflächen-Bewußtsein erfaßt. Aber auch mein Unterbewußtsein ist noch „Ich", Wenn ich also die Erfassung meines Bewußtseins durch mein Unterbewußtsein als V e r ä u ß e r u n g meiner Freiheit empfinde, so nicht, weil das, w a s mein Bewußtsein erfaßt, ( u n d was ja noch Ich ist), mir fremd wäre, sondern weil es gewissermaßen schlummert, und weil eben deswegen mein Unterbewußtsein ganz unter Bestimmung der Außenwelt arbeitet. Was mein Gefühl angeht, verhält sich alles so, als w ü r d e ich von der A u ß e n w e l t erfaßt. In Wirklidikeit beschränkt sich aber die Außenwelt darauf, die bloßen Verlaufsformen meines schlummernden Unterbewußtseins zu bestimmen, doch die eigentlich treibende K r a f t dieses Ablaufs ist mir keineswegs fremd, sie ist mein eigenes Prinzip, ist mein „Ich". Innerhalb des Gefühlsbereiches unterstehe ich natürlich passiv äußeren Einwirkungen, doch nur weil mein gegenwärtiger Schlummerzustand diese zuläßt. Auf dieser Stufe des Verständnisses angelangt, werde ich mir darüber klar, daß das, was ich bisher mein „Unterbewußtsein" nannte, nur eine Illusion, nur ein Teil des T r a u m e s ist, den ich im „Schlummer" vor dem Satori erlebe. W a s mein 136

„Oberflächen"-Bewußtsein ergreift and bewegt, ist meine erste u n d einzige treibende Kraft, mein Prinzip, das Absolute Prinzip, das mich bewegt, w i e es alle geschaffenen Dinge bewegt. Dieses Prinzip, das vor jedem Bewußtsein da war. da es ja jedes Bewußtsein, indem es sich darin manitestiert, erst erzeugt, dieses Prinzip wollen w i r hier das Prinzipielle Unbewußte nennen (das ,Nicht-Geistige", oder das Kosmisch-Geistige des Zen). Was wir bisher unser U n t e r b e w u ß t sein genannt haben, ist nichts als die aus einer Illusion geborene Form, unter der ich mir bildhaft die Wirkung vorstelle, die das schlummernde Z e n t r u m meines Geistes auf die in meinem jetzigen Zustand allein wachen Erscheinungen eben dieses Geistes ausübt, d. h. die Wirkung des Unbewußten auf das Bewußtsein der Oberflächenschicht. Das Unterbewußtsein, dieses „Zwischenstockwerk", besitzt im G r u n d e gar keine Realität. Das Unbewußte (als N o u m e n o n ) besitzt absolute Wirklichkeit. Das Wachbewußtsein als solches (Vorstellungsablauf) besitzt eine relative Wirklichkeit (als Phänomenon). Dem Unterbewußtsein jedoch eignet n u r eine vermeintliche Realität, es ist nichts als eine aufgeblasene Hilfskonstruktion, die von der „Aktivität" her betrachtet das bewegende U n bewußte ist u n d v o n der „Passivität" her gesehen das bewegte Wachbewußtsein. Der Mensch, der Satori verwirklichte, wird also nicht die Fähigkeit erlangt haben, das Gefühl zu „erfassen", das der Mensch vor dem Satori zu erfassen nicht imstande war. D e n n das Satori oder das Erwachen des prinzipiellen Geistes in uns zerstreut die trügerische Vorstellung, die wir »Gefühl" nennen. Die fruchtlose Bemühung, das ungreifbare „Gefühl" erfassen zu wollen, ist es ja gerade, die zum Erwachen des Prinzipiellen Geistigen in uns führt. Für den Menschen nach dem Satori gibt es kein „Gefühl" mehr. Sein Wachbewußtsein wird unmittelbar vom Prinzipiellen Geistigen gelenkt in einer im kosmischen Sinne harmonischen A n t w o r t auf die Reize der Außenwelt. Diese R e a k t i o n trägt zwar den besonderen äußeren Umständen Rechnung, doch wird sie keineswegs von diesen bestimmt oder „geformt". 137

XV. EMPFINDUNG UND GEFÜHL I n J E D E M A U G E N B L I C K DER E R R E G U N G IST, W I E WIR S C H O N sagten, eine Beziehung da zwischen den Bildern, die vor unserm Geist ablaufen und einer hinter diesen Bildern sich verbergenden Gefühlserregbarkeit. Diese Beziehung ist komplexer A r t . Es ist interessant, sie näher zu untersuchen, denn es liegen gewisse verführerische und sehr subtile Lockungen in ihr, die uns daran hindern könnten, auf unsere Gefühlserregbarkeit zu achten. Zunächst m u ß einm a l an d e n grundlegenden Unterschied zwischen dem Bilderablauf, der ein genaues A b b i l d der Wirklichkeit ist, und dem frei erfundenen Bilderablauf erinnert w e r d e n . Wenn ich einen beliebigen Vorgang in der Außenwelt beobachte, so geschieht dies durch die Vermittlung eines Ablaufs von Bildern, der den äußerer V o r g a n g teilweise reproduziert; eines Ablaufs also, der ein genaues Abbild äußerer F o r m e n ist, die meine Aufmerksamkeit erfaßt. Wenn ich aber müßig oder bei irgend einer Tätigkeit vor mich hinträume, nehme idi einen in meinem I n n e r n frei erfundenen Bilderablauf wahr. Die Gefühlserregbarkeit ist in sehr verschiedener Weise mit diesen beiden Möglichkeiten des Bilderablaufs verknüpft. W i r wollen die beiden vorkommenden Möglichkeiten untersuchen und dabei folgende Begriffe einführen: Den der A u ß e n w e l t entnommenen Ablauf wollen w i r den wirklichen o d e r Wahrnehmungsablauf nennen (da er ein Abbild von Erscheinungen ist, die, wenn sie auch ohne absolute Wirklichkeit sind, immerhin eine relative Wirklichkeit besitzen), den frei erfundenen Bilderablauf wollen w i r Vorstellungsablauf nennen. W e n n es sich um einen Wahrnehmungsablauf handelt, so ist die Verknüpfung dieses Ablaufs mit der Gefühlserregbarkeit recht einfach: die Gefühlserregbarkeit zeigt Variationen (und z w a r quantitative Variationen v o n Spannung und E n t s p a n n u n g ) , die den negativen oder positiven Bildern des Ahlaufs entsprechen. Bilder, die mit einer Bedrohung meiner Person zusammenhängen, rufen eine Anspannung der Gefühlserregbarkeit h e r v o r , solche, die die E r h a l t u n g meines Lebens begünstigen, eine Verminderung dieser Anspannung, d. h. eine relative Entspannung. Diese Reaktionen der Gefühlserregbarkeit auf die Bilder des Wahrnehmungsablaufs schafft eine einfache, eindeutige Beziehung: die Form der bildlichen Erscheinungen bestimmt die Form der Erregungserscheinungen. Vom Formalen her gesehen erscheint die Außenwelt aktiv, mein Inneres passiv. Es gibt da nichts Unbewegliches, die sichtbaren Erscheinungen sind in u n a b lässiger Veränderung begriffen, und unablässig v e r ä n d e r t sich meine d a r a u f reagierende Gefühlserregbarkeit. Auch gibt es da keine Gefühlserregbarkeit, die bewegungslos wäre, sondern nur Anspannungen ohne jegliche V e r k r a m p f u n g , keiner. Erregungszustand, n u r Erregungen. 138

W e n n es sich jedoch um einen Vorstellungsablauf handelt, wird alles viel komplizierter. Die Verbindung mit der Erregbarkeit des Gefühls ist d a n n nicht länger eine einfache, sondern eine doppelte. Sie ist zunächst einmal in d e r gleichen Form vorhanden, wie beim eben dargestellten Fall: sie reagiert also auf die Bilder der Vorstellung, wie sie auf die Bilder der konkreten W a h r n e h m u n g reagiert hatte (die Erregbarkeit macht zwischen diesen beiden Arten v o n Bildern keinen Unterschied. E i n Eifersüchtiger, der sich lebhaft eine Szene v o r stellt, in der seine Frau ihn betrügt, ist genau so erregt, als spielte sich diese Szene in Wirklichkeit a b . Andrerseits aber wirkt sich der Erregungszustand auf die Hervorbringung der Vorstellungen aus: wenn mir ein wirkliches U n glück zugestoßen ist und mich verdüstert hat, so beginne ich, mir tausend andere Unglücksfälle auszumalen u n d alles Übrige ebenfalls in unheilvollem Lichte zu sehen. So stellt sich also ein circulus vitiosus mit doppelter Reaktion h e r . Doch kommt zu der Beziehung zwischen Gefühlserregbarkeit und Vorstellungsablauf noch ein wichtiger F a k t o r hinzu: der Vorstellungsablauf gleicht nämlich bis zu einem gewissen G r a d e dem Wahrnehmungsablauf. Die Bilder, die ich „erfinde", bauen sich notwendigerweise aus Elementen auf, die ich der A u ß e n welt entnommen habe. Dennoch besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Arten von Abläufen: D e r Wahrnehmungsablauf ist sozusagen v o m Kosmos erfunden, sein U r s p r u n g ist auch der Ursprung des Kosmos, der U r g r u n d des Universums. Daher ist jeder Wahrnehmungsablauf harmonisch, er befindet sich in Übereinstimmung mit dem All. Sein festes Zentrum ist das N o u m e n o n , und es wäre bei diesem Ablauf auch keine Starrheit der Phänomene d e n k b a r , er ist nichts als reine Bewegung. D e r Vorstellungsablauf hingegen h a t sein Z e n t r u m in meinem Ego, in meinem "Ich, das als individuelles Einzelwesen A n spruch auf absolutes S e i n erhebt". Sein Ursprung, sein Zentrum ist nicht das unverrückbare N o u m e n o n - Z e n t r u m des Kosmos, sondern ein falscher, in W i r k lichkeit exzentrischer M i t t e l p u n k t . Daher findet sich innerhalb dieses Ablaufs neben einer ständigen Bewegtheit eine gewisse Erstarrung der Vorgänge, die eben durch das Pseudo-Zentrum dieser Phänomene bedingt ist. Das zeigt sich in der Tatsache, daß meine T r ä u m e z w a r aus sich bewegenden Bildern bestehen, daß diese Bilder aber stets m e h r oder weniger um eine „fixe Idee" kreisen. Mehr oder weniger sind wir immer von ihnen „besessen". Die in meiner Vorstellung sich abspielenden Szenen gruppieren sich in F o r m von „Konstellationen", bzw. „Komplexen", die nur einen künstlichen, außerhalb des kosmischen G a n z e n stehenden Zusammenhang besitzen. Der Starrheit der Vorgänge entspricht eine Starrheit der Gefühlsreaktionen, das heißt eine Gefühls„verkrampfung", ein E r r e g u n g s z u s t a n d " . Die Gefühlsreaktion auf die konkrete W a h r n e h m u n g (eine Reaktion, bei der keine Starrheit möglich ist), ist normal und gesund, da sie eine R e a k t i o n auf die normale, relative Wirklichkeit der kosmischen Erscheinungen ist. D i e Gefühlsreaktion auf den Vorstellungsablauf (eine Reaktion, die stets eine gewisse „Verkrampfung" in sich schließt), ist anormal o d e r ungesund. Sie ist ja auch eine 139

Reaktion auf gewissermaßen anormale Bilder, da das hervorbringende Z e n t r u m dieser Bilder nicht der echte Mittelpunkt des Universums ist. Wir haben jetzt den Unterschied zwischen den beiden Formen der Gefühlsreaktion — den Vorstellungsablauf einerseits und auf den Wahrnehmungsablauf andererseits — genau herausgearbeitet. N u n aber reagiert bei jedem menschlichen Wesen, das der ersten Kindheit entwachsen ist, die Erregbarkeit nie auf einen bloßen Wahrnehmungsablauf: ein Vorstellungsablauf verbindet sich gleichzeitig damit. Die Erregungen als solche sind nie „unvermischt", immer handelt es sich gleichzeitig auch um „Erregungszustände", und z w a r umso mehr, je stärker bei dem betreffenden Menschen das Bedürfnis nach dem Absoluten, das Verlangen nach „Sein", nach „Idealismus" ausgebildet sind. Das kleine Kind, das noch außerstande ist, einen Ablauf von Vorstellungen frei zu erfinden, weil seine geistigen Funktionen erst ungenügend entwickelt sind, besitzt eine Erregbarkeit, die noch ganz unvermischt in steter Bewegung, ohne Verkrampfung, noch nicht stabil geworden ist. Doch mit der fortschreitenden Entwicklung des Intellektes nehmen auch die E r r e g u n g s z u s t ä n d e " zu. Bei Erwachsenen, die ein starkes Verlangen nach dem Absoluten in sich tragen, zeigt die Erregbarkeit unter den oftmals sehr labilen Gefühlserregungen, V e r k r a m p fungen mit langsamem Rhythmus. Versteht nun ein solcher Mensch sich selbst genau zu beobachten, so stellt er eine Spaltung im Rhythmus seiner Gefühlserregbarkeit fest. Es k o m m t ihm so vor, als besäße er zwei voneinander verschiedene Erregbarkeiten, die eine mit der T e n d e n z , sich rasch vorwärts zu bewegen, die andere mit der Tendenz, an der Stelle zu haften (Träume spielen oft auf diesen Sachverhalt a n : z. B. möchte ich laufen, ja müßte es unbedingt, und doch komme ich nicht von der Stelle, auf der ich mich gerade befinde). Es gibt also zweierlei Arten von Vorstellungsabläufen, zweierlei Gefühlsreaktionen darauf und genau genommen, zweierlei Gefühlserregbarkeiten im Bereich der inneren Erscheinungen: eine echte Erregbarkeit als Reaktion auf den Wahrnehmungsablauf und eine verfälschte als Reaktion auf den Vorstellungsablauf. Der ursprünglichen echten Erregbarkeit entspricht d i e Ebene der E m p findung (die W a h r n e h m u n g der Außenwelt durch die Sinne), der verfälschten Erregbarkeit die Ebene des Bildes (Wahrnehmung der Vorstellungen). Die ursprüngliche Erregbarkeit, nämlich jene des Kindes, lauft nach einem beweglichen, nicht konstanten Rhythmus ab u n d ist durchaus irrational (d. h. sie ist ohne jede Beziehung zu der Bedeutung, die unsre „Vernunft" nach einer bestimmten „ W e r t s k a l a " den Bildern zugesteht). Die verfälschte Erregbarkeit jedoch läuft nach einem langsamen Rhythmus ab (mit einigem Vorbehalt, was diesen P u n k t betrifft, denn in Augenblicken der Ermüdung l ä ß t sich auch hier eine gewisse Unbeständigkeit beobachten; doch entspringt diese Unbeständigkeit nicht einem gesunden Verschwinden der Starrheit, sie ist n u r das Schwächerwerden einer sich erschöpfenden Verkrampfung) und ist mehr oder weniger rational. Diese E r r e g b a r k e i t steht in enger Verbindung mit dem Idealbild, das ich mir von der Welt u n d mir selbst mache durch meinen Wunsch, mich in einer 140

„schönen - wahren - g u t e n " Haltung zu sehen, und durch die Furcht, mich in einer „häßlich - bösen - falschen" Haltung entdecken zu müssen. Die echte Rea k t i o n auf einen beliebigen Umstand spottet des „Ideals" und ist einzig und allein von der Sicht d e r Außenwelt abhängig. Meine verfälschte Gefühlsreaktion jedoch kann grundverschieden sein, denn sie ist abhängig von dem Idealbild, das ich von mir selbst habe, Sie setzt sich aus Gefühlen zusammen, die ich nicht etwa hinsichtlich der Außenwelt, sondern hinsichtlich meiner eigenen H a l tung dieser Außenwelt gegenüber hege. Daher k o m m t es auch, d a ß ich (in meiner falschen Erregbarkeit) sehr wohl in unechter Weise vergnügt sein kann, w ä h r e n d mein echtes Gefühl ein trauriges ist (in meiner ursprünglichen Erregbarkeit) und umgekehrt. Z. B. freue ich mich schon Monate vorher auf meine jährlichen Ferien. Die Vorstellung „ich freue mich darauf, Florenz zu sehen", hat sich in meinem Geiste immer stärker herausgebildet. Wenn ich nun „Idealist" und stark „ich-bezogen" bin, w e n n mich nach „absolutem Sein" dürstet, wird die Verwirklichung dieser Vorstellung Gegenstand eines heftigen Bedürfnisses. Schließlich in Florenz angelangt, bin ich aber müde und deprimiert, mein wahrer Gefühlszustand, der des Idealbildes meiner selbst spottet, ist verkrampft, und ich bin im tiefsten I n n e r n unglücklich. Doch wünsche ich so lebhaft, d a ß die Vorstellung „Ich freue mich, in Florenz zu sein" Wirklichkeit werden möge, daß ich mir nicht erlaube, mir selbst einzugestehen, wie unglücklich ich bin. Fragt mich nun irgend jemand: „ N u n , wie war es in F l o r e n z ? " , so antworte ich: „Herrlich! Die vielen Museen sind z w a r etwas e r m ü d e n d , aber was heißt das schon bei soviel Schönheit übera l l ! " Wenn ich dann meine Aufmerksamkeit mit aufrichtigem Erkenntnisdrang auf meine Gefühlserregbarkeit lenke, so sehe ich die nackte W a h r h e i t : Ich bin unglücklich, unglücklicher als ich es für gewöhnlich in der Metro bin, die mich an meine Arbeitsstelle bringt. Und ich sehe weiter, daß ich ohne besondere Bem ü h u n g nicht einmal imstande war, mir d a r ü b e r klar zu werden. Vielleicht habe ich z w a r meine Traurigkeit wahrgenommen, sie aber fälschlicherweise einem Vorstellungsablauf zugeschrieben, der nur ihre Auswirkung w a r . Ein anderes Beispiel: N e h m e n wir an, ein Sohn w u r d e Jahre hindurch v o n einem egoistischen V a t e r tyrannisiert, er war gedemüdigt, gehemmt worden bei allem, w a s er unternehmen wollte, dauernd negiert durch eine sadistische, angebliche f r o m m e Erziehung. W e n n nun dieser Vater stirbt, so ist die echte Gefühlsreaktion des Sohnes eine ungeheuere Erleichterung. Wenn dieser Sohn jedoch sehr „idealistisch" ist, wird sein Bedürfnis, sich selbst traurig zu sehen, so stark sein, d a ß ihm dies, jeder Augenscheinlichkeit zum T r o t z , auch gelingen w i r d . Die Traurigkeit seiner Vorstellungen kann dann die Entspannung der Tiefenschicht größtenteils oder vollkommen verhindern. Dieser Mißklang zwischen den Gefühls-„Erregungen" und den aus dem Vorstellungsablauf entstehenden Erregungs-„Zuständen" ist vom folgenden G e sichtspunkt her besonders auffallend: Mein absolutes, mein göttliches Idealbild schließt neben anderer, „göttlichen" Eigenschaften auch die "Beständigkeit", die 141

„Unveränderlichkeit" m i t ein. Das Absolute Prinzip, das Prinzipielle Eine, aus dem alles fließt, ist unveränderlich, steht über der Zeit und ihrem Wechsel. D a her ist auch eines d e r wesentlichsten A t t r i b u t e meines eigenen Wunschbildes die „Ausgeglichenheit d e r Stimmungen", d. h. die Beständigkeit des Erregungszustands. Und w e i t e r ergibt sich daraus, d a ß das Bild, das ich mir im Lauf des Tages von meinen Erregungszuständen mache, von mir zugunsten der Stabilität stark verfälscht w i r d . Sobald ich beginne, mit aufrichtigem Erkenntnisdrang die Spielarten meiner ursprünglichen Gefühlserregbarkeit zu beobachten, werde ich gewahr, daß solche W a n d l u n g e n weitaus häufiger und ausgeprägter sind, als ich annahm. Ein an mich gerichtetes Wort, ein Bild, das mir ins Auge fällt, ein Magenkrampf o d e r auch der G e n u ß von etwas Tee oder Kaffee genügen vollkommen, damit sich, auf der tabula rasa meiner Erregbarkeit Höhepunkte und Tiefpunkte eingravieren. Andrerseits liegt es an diesem Idealbild meiner selbst, daß meine gefühlsmäßigen Reaktionen rationalen Charakter annehmen sollen; ich erhebe nämlich Anspruch darauf, d a ß n u r „große Dinge" mich wirklich erregen können, d a ß zwischen der Intensität meiner Gefühlsschwankungen und der Bedeutung, die meine „Vernunft" den mich betreffenden Ereignissen beimißt, ein bestimmter Parallelismus bestehe. Wenn ich ein kleines Kind beobachte, so beeindruckt mich die Unbeständigkeit (es geht oft unmittelbar vom Lachen zum Weinen über) und die Irrationalität seiner Gefühlserregungen (es gibt Zeichen eines heftigen Angstzustandes, wenn man ihm sein Spielzeug wegnehmen will); dies l ä ß t mich an den gewaltigen Unterschied denken, der zwischen der Erregbarkeit dieses Kindes und der meinigen sich zeigt (die so "Viel stabiler und r a t i o n a l e r ist). In Wirklichkeit besteht dieser Unterschied nur z w i schen meiner unechten Erregbarkeit und d e r Erregbarkeit des Kindes, und dieser Unterschied hängt an der ungeheuerlichen Lüge, welche durch die Ausformung meiner unechten E r r e g b a r k e i t entsteht. N a c h und nach h a t das Bedürfnis, mein eigenes Idealbild verwirklicht zu sehen, meine Gefühlserregbarkeit gefälscht. Sobald ich die ehrliche Anstrengung mache, die Spielarten meiner Gefühle zu sehen, wie sie sind, so sehe ich nur noch den Wechsel meiner echten Gefühle, und erkenne, d a ß zwischen mir und jenem kleinen Kind gar kein Unterschied besteht, denn meine w a h r e Gefühiserregbarkeit ist ebenso labil und irrational wie die seine. Die Arbeit an uns selbst, von der wir im Augenblick sprechen, (nämlich die Bemühung um u n m i t t e l b a r e s Erfassen unserer momentanen Gefühlssituation), läßt einen intuitiven, unmittelbaren inneren Blick erwachen, der durch die falsche Erregbarkeit hindurchgeht, ohne bei ihr haltzumachen. D i e einzige Gefühlserregbarkeit, die v o r diesem Blick nicht dahinschwindet, ist die echte und ursprüngliche, jene die d e r Ebene der Empfindung oder der animalischen Ebene entspricht. Die E b e n e des Bildes bzw. die „engelhafte", "ideale" Ebene wird zunichte. Es ist eine eigentümliche Enthüllung, die alleinige Wirklichkeit unserer irrationalen Gefühlsbewegungen festzustellen und zu e r k e n n e n , wie hartnackig wir uns in Bezug auf sie belogen haben. Wir erkennen, d a ß u n t e r h a l b der 142

von der Vorstellung aufgebauten „Engel-Bildungen." das Tier in unverminderter Weise in uns fortbestanden h a t , und d a ß schließlich dieses T i e r alles ist, was sich bis j e t z t von unserm Gesamtwesen "verwirklicht" findet; alles andere ist u n wirklich. Zu dieser Tierstufe müssen wir g a n z bescheiden zurückkehren, um in ihrem Z e n t r u m das Erwachen des immanenten und transzendenten Prinzips zu erfahren. Der intuitive innere Bück geht durch die falsche Erregbarkeit hindurch ohne bei ihr haltzumachen, d.h. er löst beim Hindurchgehen die Bilder des Vorstellungsablaufs auf. Doch wenn er auch diesen A b l a u t auflöst, so k a n n er doch nicht die Verkrampfung der Tiefenschicht in ihrer eigentlichen Ursächlichkeit autlösen. Theoretisch begreife ich bereits: um das Unterbewußtsein selbst auszuschalten, genügt es nicht, den vorübergehend an das Unterbewußtsein gebundenen Vorstellungsablauf aufzulösen. Die Praxis liefert mir den handgreiflichen Beweis für das Fortbestehen der Verkrampfung in meiner Tiefenschicht. Und dieses Faktum führt mich dazu, noch intensiver nachzudenken und zu erkennen, d a ß die Verkrampfung, die ich als „ a n o r m a l " bezeichnet habe, sich auf dem Wege findet, der zum Satori führt. In der Verkrampfung unseres Gesamtorganismus ist ein sicher sehr gesundes Element der „Bewegungslosigkeit" enthalten. Unsere spontane Entwicklung würde auf das Satori zulaufen, wenn wir „der N a t u r der D i n g e " gehorchten, wenn w i r aufhörten, irgendeinen „Satori-Ersatz" anzustreben. „Das Nichtstun", d. h. die Bewegungslosigkeit unseres Gesamtorganismus, die Bewegungslosigkeit seines Erscheinungszentrums erlaubt das Reifen des Satori. Es ist also an der Verkrampfung der Tiefenschicht etwas Richtiges und Normalisierendes. Sie ist heilsam, insofern sie die Tendenz h a t , unser Zentrum bewegungslos zu machen. Wenn sie für uns bisher tatsächlich nicht normalisierend w i r k t e , so deshalb, weil wir uns in einem Reflex gegen diese Unbeweglichmachung gewehrt haben. E r innern wir uns an die doppelte Verknüpfung zwischen der Erregbarkeit u n d dem Vorstellungsablauf: Erst lösen die Bilder die V e r k r a m p f u n g aus, und d a n n löst d e r Verkrampfungszustand Bilder aus. Es ist unvermeidlich und nicht einmal ungünstig, daß die Bilder eine Verkrampfung auslösen, da dies zu der erwünschten Bewegungslosigkeit führt. Dagegen ungünstig u n d auch vermeidbar ist die Tatsache, daß der Verkrampfungszustand Bilder auslöst und dadurch fortgesetzte Veränderungserscheinungen der Verkrampfung z u r Folge hat, V e r änderungserscheinungen, die mich daran hindern, mir die als Möglichkeit in der Verkrampfung enthaltene Bewegungslosigkeit zu nutze zu machen. W a r u m aber wird durch die Verkrampfung, oder vielmehr in Verbindung mit ihr, ein neuer Vorstellungsablauf ausgelöst, der mich d a r a n hindert, bewegungslos zu werden? Weil ich beherrscht bin von einer falschen Vorstellung, der zufolge die Bewegungslosigkeit unheilvoll, ja tödlich ist. Da es mir an wahrem V e r trauen in mein Prinzip fehlt, bin ich der Überzeugung, d a ß ich selbst mein „Heil e r w i r k e n " , d a ß ich durch persönliches Handeln meine endgültige Vollendung herbeiführen müsse. Solange diese Vorstellung in mir lebendig ist, l ä ß t 143

es sich nicht vermeiden, daß mein Verkrampfungszustand einen neuen Vorstellungsabiauf, also einen circulus vitiosus ständiger Bewegung auslöst. Um Schmetterling zu werden, muß die Raupe sich v e r p u p p e n . Wenn ich mich n u n in dem circulus vitiosus der Erregungszustände und Vorstellungsabläufe umherjagen lasse, so könnte man mich einer Raupe vergleichen, die den Prozeß i h r e r Verpuppung herannahen fühlt und nun hartnäckig sich gegen diese von i h r als Gefahr empfundene Unbeweglichkeit wehrt. W e n n ich jedoch begreife, wie absurd es ist, diese Unbeweglichkeit zu fürchten, w e n n ich begreife, daß die Verkrampfung meiner Tiefenschicht nicht etwa Vernichtung, sondern nur scheinbaren Tod für mich bedeutet (Puppe), um mir dadurch erst zu wirklichem Leben zu verhelfen (Schmetterling), so werde ich gew a h r werden, daß die Auslösung eines Vorstellungsablaufs durch den Erregungszustand durchaus nicht unvermeidlich zu sein braucht. Durch mein Verständnis und durch die daraus erwachsende Gewißheit k o m m e ich zu der Einsicht, d a ß ich ohne weiteres in der Lage bin, mich mühelos in meine Angst, meine T r a u e r oder meinen Kummer zu „schmiegen", ohne d a ß dabei irgendein angsterregendes, trauriges oder kummervolles Bild entstehen m ü ß t e . Nach einer gewissen Zeit hört meine Traurigkeit auf, wirklich Traurigkeit zu sein und verw a n d e l t sich in farblose Bewegungslosigkeit. Dann bin ich fühllos, empfindungslos, einem Stück Holze ähnlich, in gewissem Sinne „ v e r d u m m t " , jedoch durchaus fähig, sinnvoll zu handeln und wie ein in tadellosem Z u s t a n d befindlicher R o b o t e r korrekt auf die U m w e l t zu reagieren. Zu welch paradoxen Schlüssen gelangt doch unsere Untersuchung! Unsere a n fänglichen Feststellungen verurteilten den Verkrampfungszustand und flößten uns Sehnsucht nach der dynamischen Gefühlserregbarkeit der frühen Kindheit ein. Doch es gibt keine Rückkehr, und darüberhinaus ist die innere Verfassung des K i n d e s dem Satori genau entgegengesetzt. Wir müssen also vorwärtsdringen. D a s Bedauerliche an den Folgen unserer geistigen Entwicklung w a r nur darauf z u rückzuführen, daß unser Intellekt nicht genügend aufgeklärt w a r und w i r durch diese Unwissenheit der inneren Stillegung Widerstand entgegensetzten. Dieser W i d e r s t a n d gegen die Stillegung rief immer neue Verkrampfungserscheinungen, w a h r e Wirbel der Angst hervor, und wir rieben uns dabei w u n d an den Fesseln, die uns umschlossen. Aber das Heilmittel ist genau da, wo w i r das Übel zu sehen m e i n t e n : die Fesseln w a r e n uns nur solange feindlich, als w i r ihnen widerstrebten. Die Verkrampfung w a r nur solange sie noch emotional, d. h. in Bewegung w a r , zerstörerisch. S o b a l d wir aufhören, die Bewegungslosigkeit zu fürchten, befreien wir uns v o n dem vermeintlichen Z w a n g des Vorstellungsablaufs, der aus der Verkrampfung hervorgeht. Sobald die Verkrampfung nicht mehr emotionaler N a t u r ist, ist sie überhaupt keine V e r k r a m p f u n g mehr, ist sie nur noch leidensfreie Bewegungslosigkeit. Dann wird die Reifung des Satori möglich. I m m e r gelangt unser Geist, in d e m Augenblick, wo These a n d Antithese sich in einer Synthese lösen, schließlich zu dem Paradoxen, v o r dem wir hier stehen: 144

Anfangs waren wir v o n der völlig irrationalen Überzeugung durchdrungen, d a ß der Verkrampfungszustand unser eigentliches Leben sei (These); n u n führt unser Nachdenken uns zu der diametral entgegengesetzten Überzeugung, d a ß unsere zentrale V e r k r a m p f u n g unser Tod sei (Antithese); plötzlich erkennen w i r durch eine geistige Intuition, daß ein bewußtes Festhalten am V e r k r a m p fungszustand uns von ihm freimacht, d. h. d a ß dieses Festhalten Tod u n d Leben, Starrheit und Bewegung, Verkrampfung und Gelöstheit versöhnt. D a s P a r a d o x o n besteht n u r dem Scheine nach, nur auf der formalen Ebene; hinter diesem Schein liegt die Versöhnung der Gegensätze. Unser Vergleich zwischen der Gefühlserregbarkeit und dem Muskel ermöglicht es uns übrigens, genauer zu bestimmen, welche neue Formmöglichkeit der E n t spannung auftauchen w i r d , wenn wir aufhören, gegen die Stillegung d e r Verkrampfung a n z u k ä m p f e n . Dieser Vergleich bietet sich uns, wie wir gleich sehen werden, in einem Augenblick dar, wo er sich eigentlich nicht mehr a n w e n d e n läßt. Wenn mein Muskel sich zusammenzieht, so verkürzt er sich, wenn er sich dehnt, erreicht er wieder seine natürliche Länge und ist für eine neue, v e r k ü r zende Zusammenziehung bereit. Wenn ich n u n keinerlei eigentliche innere A r beit leiste, so setzt schließlich auch eine Abschwächung meiner zentralen Verkrampfung ein. Wie beim Muskel versetzt mich dieser Zustand dann in eine Entspannung, die eine neue Verkrampfung ermöglicht; bis hierhin läßt d e r Vergleich sich durchführen. Wenn ich mich jedoch bewußt meiner Verkrampfung anschmiege, so kommt es dadurch zu einer Erscheinung, die im physiologischen Bereich niemals auftritt: nämlich ein Muskel, der sich entspannen könnte, ohne länger zu werden, der sich entkrampfte, ohne seine ursprüngliche Länge wiederzugewinnen, der also gleichzeitig verkürzt und völlig entspannt wäre. N e h m e n wir einmal an, d a ß irgendein Mißerfolg mich in die Verkrampfung einer D e mütigung versetzt. Wenn ich nun keinerlei eigentliche innere Arbeit leiste, wird dieses Gefühl der Demütigung mehr oder weniger schnell vorübergehen, und irgendwann werde ich wieder aus diesem Zustand herausgekommen sein. D a n n werde ich mich z w a r nicht gedemütigt fühlen, jedoch werde ich auf meinen gewohnten Anspruch zurückkommen und daher von neuem einer Demütigung ausgesetzt sein. Wenn ich dagegen in dem gedemütigten Zustand mich b e w u ß t an meine Verkrampfung anschmiege, dann verschwindet diese Demütigung, ohne d a ß der falsche Anspruch wieder auftauchte. Mein zentraler Muskel (im Gegensatz zu allem was sich bei meinen organischen Muskeln beobachten l ä ß t ) entspannt sich, ohne seine Verkürzung aufzugeben; die Demütigung vewandelt sich in Demut. D e r Vergleich mit dem Muskel ( i m seinen Dehnungs- und Zusammenziehungsphasen) erweist sich als richtig. Wenn ein Erfolg mich schwellt, so fühle ich in der Tat mein Volumen verdoppelt, ja verzehnfacht. Sogar körperlich fühle ich w i e meine Brust sich d e h n t und freier atmet, wie meine Bewegungen ausladender werden. Drückt dagegen ein Mißerfolg mich nieder, fühle ich mich klein, zusammengeschrumpft, „reduziert"; es liegt mir ein „Stein auf der Brust" u n d 10 Benoit, Die hohe Lehre

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meine B e w e g u n g e n w e r d e n zaghafter. Die innere Arbeit, von der hier die Rede ist, besteht also d a r i n , sich „guten Willens" in dieses reduzierte V o l u m e n zu ergeben. Es entsteht d a b e i eine Art Kondensierung des Ego, das z w a r hinsichtlich seines Volumens v e r n e i n t , in seiner neuen Verdichtung jedoch bejaht wird. E i n solcher P r o z e ß ist dem Vorgang vergleichbar, bei dem Kohle in D i a m a n t verwandelt w i r d ; das Ziel dieses Prozesses ist nicht etwa die Vernichtung, sondern die V e r w a n d l u n g , das Transzendentwerden des Ego. Durch die b e w u ß t e H i n nahme w i r d es möglich, daß die immer dichtere, also schwärzere u n d undurchsichtigere Kohle u n m i t t e l b a r und plötzlich in einen durchsichtigen D i a m a n t e n sich v e r w a n d e l t . Selbstverständlich k ö n n e n wir diese innere Geste des völligen Sichhineinschmiegens in die uns beschränkende Verkrampfung bei den ersten Versuchen nicht wirklich zur Durchführung bringen. Denn alle unsere früheren Automatismen treiben uns zu den g e n a u entgegengesetzten Bewegungen. Die innere Arbeit besteht also darin, diesen nützlichen, inneren Schritt mit Beharrlichkeit immer wieder von neuem annäherungsweise zu vollziehen. Dies verleiht uns schon eine gewisse Ruhe, die fortschreitend zunehmen wird. So gehe ich auf die vollkommene Ruhe zu, die eines Tages die Auslösung des Satori möglich machen wird. Dabei lerne ich u n t e r dem Vorstellungsablauf, durch den mein Z e n t r u m mehr oder weniger verdeckt wird, das Unbehagen meines Innern ganz unmittelbar zu fühlen. Die E r w e r b u n g dieser neuen inneren Empfindung ist die Voraussetzung für jedes weitere Bemühen. Schließlich w i r d meine Aufmerksamkeit sich plötzlich v o n dem Bilderablauf abwenden, um bis zu jenem tiefen Unbehagen, das ich in seiner Wesenseinheit schon vorausgefühlt habe, h i n a b zusinken und d o r t bewegungslos zu verharren. U n d nun schmiege ich mich in dieses Unbehagen, das ich bisher immer floh (der einzige O r t , an dem der Löwe mir nicht m e h r gefährlich werden k a n n , ist in unserm Falle sein eigener Rachen), oder bemühe mich wenigstens, so gut ich kann, mich h i n e i n z u s c h m i gen. Wir haben aber schon erfaßt, d a ß unser Unbehagen abnehmen w i r d , je näher wir uns zum Ziele durcharbeiten, und wir beginnen nun zu begreifen, daß wir bis zu unserm eigenen Mittelpunkt (dorthin, wo unsre vermeintliche Angst zu sitzen schien) vorgedrungen sind. Da wir lange Zeit hindurch nur teilweise Erfolg hatten, vermag unsere Aufmerksamkeit unser Zentrum noch nicht in gleichbleibender Weise zu erreichen: sie erreicht es nur für kurze Augenblicke. Das Verschwinden meines Unbehagens beraubt nämlich die Aufmerksamkeit jeden Gegenstandes, so d a ß sie von neuem wieder durch Bilder eingefangen werden k a n n . So beginnt unter U m s t ä n d e n alles wieder von v o r n , und unser „Erkenntnisdrang" m u ß große Ausdauer entwickeln. Diese innere Arbeit aber verbürgt die echte „Verzweiflung", aus d e r die Hoffnung quillt. Bisher hatte ich noch gehofft, d a ß die Konvulsionen des Vorstellungsablaufs eines Tages meine V e r k r a m p f u n g beseitigen würden. W e n n ich irgendeinen Kummer hatte, so unterwarf ich mich der Zwangsarbeit fruchtlosen 146

„ W i e d e r k ä u e n s " (und zwar, weil ich sie für nützlich hielt), und so geriet ich in eine A r t Gefängnis, in das mein sinnloses Vertrauen in meine eigene Einbildungskraft mich geworfen hatte. N u n aber erkenne ich diese Einbildungskraft als das, was sie ist: eine fruchtlose Täuschung. Die falsche Hoffnung, die ich auf ihr W i r k e n gesetzt h a t t e , v e r w a n d e l t sich jetzt In die echte Hoffnung, die ich auf ihr N i c h t - W i r k e n setze, und so öffnet sich das Tor meines Gefängnisses. Endlich darf ich leiden ohne schmerzhaftes "Wiederkäuen", das heißt, ohne meinem eigenen Leiden D a u e r zu verleihen. Endlich habe ich das Recht, aus der zum Wesen meines Leidens gehörenden Unbeständigkeit Nutzen zu ziehen, und mir von m e i n e m Prinzip Linderung gewähren zu lassen ohne eigenes Dazutun. Ich "opfere" mein Leiden, indem ich mich nicht mehr zwinge, für ein Nichts zu leiden, u n d ich speichere die Lebensenergie, die ich bis jetzt vergeudet hatte, für meine V e r w a n d l u n g auf. Zweifellos wäre die Beschreibung der inneren Geste, von der wir sprechen, für uns v o n besonderem Interesse. Leider versagt sich aber die Sprache einer Darstellung der ganz „innerlichen" Dinge; sie verliert ihre K r a f t , sobald wir uns den G r e n z e n nähern, die die Welt der Erscheinungen und Formen umschließen. Vielleicht könnte m a n sagen, d a ß das, was unter dem Vorstellungsablauf wahrzunehmen wäre, e t w a die Empfindung eines Krampfes in der Tiefe, einer lähmenden U m a r m u n g , einer starrmachenden Kälte wäre (so wie die Kälte den Fluß durch das Gefrieren erstarren läßt), und daß gerade auf dieses harte, k a l t e und starre Lager unsre Aufmerksamkeit gebettet bleiben soll. Es ist, als ob wir unsern K ö r p e r ganz ruhig auf einem harten aber freundschaftlich gesinnten Felsen ausstreckten, der genau nach unsern Formen gebildet w ä r e . Doch h a t ein solche Darstellung nur hinweisenden Wert. Jeder m u ß in sich selbst jene E r f a h rung machen im Lichte des Verständnisses, das sich ihm erschlossen hat.

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XVI. ÜBER DAS

GEFÜHLSLEBEN

N U N M E H R K Ö N N E N WIR DIE VORAUSGEGANGENEN

STUDIEN

v e r t i e f e n , indem w i r die Gesamtheit des b e w u ß t e n Gefühlslebens, d. h. die G e s a m t h e i t aller jener i n n e r e n Vorgänge, durch welche wir Lust o d e r Unlust bei d e r Berührung mit der Außenwelt erfahren, n ä h e r ins Auge fassen. Da jene beid e n Pole: Lust und U n l u s t in Verbindung stehen mit den quantitativen V e r ä n d e r u n g ein- und derselben Sache, nämlich des Bewußtseins, als individuelles Einzelwesen zu „sein", können wir unsere Darlegungen vereinfachen, indem wir n u r v o n den Erscheinungen der Unlust sprechen; denn was für die Unlust gilt, w i r d auch für die Lust Geltung besitzen. Zunächst sieht es so aus, als gäbe es zwei A r t e n von Sensibilität: die physische (physischer Schmerz) u n d die psychische (seelischer Schmerz). Ich kann den Schmerz, den ein Abszeß mir verursacht, nicht in einem Atem n e n n e n mit dem Leid, das der Tod eines geliebten Menschen mir zufügt. Diese zweierlei Empfindungsweisen scheinen einerseits dem Stofflichen (oder Körperlichen) in m i r zu entsprechen, andrerseits dem Unstofflichen (oder Geistig-seelischen). Die p h y sische Sensibilität läßt Empfindungen zu, die angenehmer oder unangenehmer A r t sein können, die psychische Sensibilität h a t es mit Gefühlen zu t u n , die ebenfalls angenehm oder unangenehm sein können. Notwendigerweise unterscheiden w i r in der praktischen Psychologie scharf zwischen diesen beiden Bereichen der Sensibilität. D o c h diese „leib-seelische" Zweiheit bezeichnet nur zwei verschiedene Aspekte ein- und derselben Sache: nämlich unseres psycho-somatischen Gesammtorganism u s . Es handelt sich also nur um zweierlei Aspekte (die sich nur für den a u ß e n stehenden Beobachter unterscheiden) des einen Wesens, das ich „Ich" nenne, jenes Mikrokosmos, der synthetischer N a t u r und in sich geschlossen ist, u n d der eine Teiläußerung des Absoluten Prinzips darstellt. Wenn ich ein Stück K a r t o n senkrecht vor mein linkes Auge halte, so sieht mein linkes Auge dieses Blatt als ger a d e Linie, während das rechte Auge es als Fläche sieht. Dennoch ist das K a r t o n b l a t t nur eines. Man k ö n n t e also sagen, d a ß es gleichzeitig Linie u n d Fläche sei, könnte jedoch ebensogut sagen, es sei weder Linie noch Fläche. In jedem Falle handelt es sich immer n u r um ein- und dasselbe Stück Karton. Sind also auch Leib u n d Seele nur zwei verschiedene Aspekte ein- u n d derselben Erscheinung, so sind notwendig auch die physische und die psychische Sensibilit ä t nur zweierlei Aspekte ein- und derselben Sensibilität. In Wirklichkeit gibt es n u r einen Organismus u n t e r zweierlei Aspekten. Ebenso gibt es in Wirklichkei: n u r eine Sensibilität m i t zwei verschiedenen Aspekten. 148

Nun, da ich hinter den verschiedenartigen Aspekten des Gefühls und d e r E m p findung eine Wesenseinheit erkenne, bin ich versucht, d e n Schluß zu ziehen, d a ß nur einer dieser Aspekte wirklich, der andere aber unwirklich sei. So w e r d e ich z. B, versuchen, alle Äußerungen meiner Sensibilität auf die Empfindung zurückzuführen. Es gibt nur Empfindungen, werde ich denken. D e r physische Schmerz ist eine Empfindung, die den K ö r p e r nur teilweise trifft, d. h. insoweit er ein Aggregat v o n Organen ist. Der psychische Schmerz ist d a n n eine Empfindung, die den Körper als Ganzes in Mitleidenschaft zieht, was durch die Vorstellung v o n mir selbst als eines umfassenden G a n z e n ermöglicht w i r d . Doch alle diese klug ersonnenen Versuche werden scheitern müssen. Wenn ich meinen Körper als eine Anhäufung v o n Organen zu betrachten geneigt bin, so habe ich damit wieder nur einen durch meine Analyse künstlich herausgelösten Aspekt, bei dem das versöhnende Prinzip, das diese Zusammensetzung von O r g a n e n eist zu einem Ganzen macht, außer Acht gelassen wird. Mit dem Begriff eines Aggregates von Organen ist mein Soma also nicht definiert. Wenn ich andrerseits mein Soma als geschlossene Ganzheit betrachte, so kann ich auch dies n u r durch einen a n a l y t i schen Kunstgriff vollziehen. Mein Leib existiert ja nur kraft seiner Verbindungen zu dem übrigen Kosmos, nur als ein Teil des kosmischen Ganzen. Auch der Begriff einer in sich geschlossenen Wesenheit kann also meinen Körper nicht definieren. Da es mir nicht gelingt, einen genauen Begriff für meinen Körper zu finden, so k a n n ich ihn auch nicht zum Kriterium für eine einzige Art von Sensibilität nehmen, die nur aus Empfindungen bestünde. Nach dem Scheitern des „materialistischen" Versuchs lockte mich nun der entgegengesetzte, der „idealistische". Diesmal werde ich denken, es gebe n u r „Gefühle", es gebe keinen „physischen" Schmerz, da ich ja allein über mein Gehirn, über ein vorgestelltes Bild, etwas Unangenehmes wahrzunehmen imstande bin. Letzten Endes ist also jedes unangenehme Gefühl psychischer Herkunft, es gibt also nur „seelische" Leiden.. Bin ich zuvor daran gescheitert, meinen Leib als eine in sich geschlossene Wesenheit zu begreifen, die ich zum Kriterium nehmen könnte, so scheitere ich jetzt daran — und in gewisser Hinsicht noch endgültiger — die Welt meiner inneren Vorstellungen als geschlossene Wesenheit zu begreifen. Wenn ich nicht durch mein Soma definiert wenden konnte, so kann ich noch weniger durch meine Psyche definiert werden. Es gelingt m i r also nicht, meine Sensibilität auf einen ihrer beiden Aspekte zu beschränken, wie es mir auch nicht gelingen konnte, meinen psycho-somatischen Gesamtorganismus auf einen seiner beiden Aspekte zurückzuführen. Ich bin Sorna und Psyche zugleich und ebenso auch weder das eine noch das andere. Auch meine Sensibilität ist physisch u n d psychisch zugleich u n d ebensogut keines von beiden. Soweit es sich um meinen psycho-somatischen Gesamtorganismus handelt, gelange ich zum Begriff des „Selbst" oder des Absoluten Prinzips, insofern es in mir Gestalt wird, u n d dieser Begriff allein ist imstande, den psycho-somatischen Dualismus aufzulösen. Wie aber nun den Dualismus innerhalb meiner Sensibilität lösen? Was ist denn diese meine Sensibilität mit ihren beiden Aspekten in 149

Wirklichkeit? Da ich den Sitz dieser Sensibilität weder im stofflichen Bereich (Organe), noch im unstofflichen Bereich (Bilder) zu erkennen vermochte — wo ist dieser Sitz also zu suchen? Solange die Untersuchung der Sensibilität auf der Unterscheidung Sorna—Psyche basierte, h a t t e sie einen ungeeigneten Ausgangspunkt. Sie ging dabei nämlich von einer künstlichen Unterscheidung aus und es ist nicht erstaunlich, wenn sie nicht zum Ziele führen konnte. W i r müssen sie von neuem in anderer Weise anpacken, in einer Weise, die sowohl unsre physische als auch unsre psychische Sensibilität umschließt. Anstatt die Phänomene der Sensibilität nach ihrem Entstehen zu untersuchen, rollen wir dieses allmähliche Zustandekommen selbst unter die Lupe nehmen. Zu diesem Zweck gehen wir von einer alltäglichen Erfahrung aus: Eines Tages spüre ich in meinem Arm einen rheumatischen Schmerz v o n mittlerer Stärke. Ein Freund kommt mich besuchen, verwickelt mich in ein Gespräch und verläßt mich dann wieder. Nach seinem Weggang spüre ich meinen Schmerz v o n neuem und merke erst jetzt, daß ich ihn während des Gesprächs gar nicht mehr gefühlt hatte. Ich sage m i r nun, daß während des Gesprächs mein Schmerz sicher auch da war, und das trifft auch durchaus zu. Doch hatte ich kein Gefühl m e h r dafür, weil ich abgelenkt war. Wenn ich nun anstelle des rheumatischen einen „seelischen" Schmerz von mittlerer Stärke fühle, irgendeine Widerwärtigkeit, die mich verstimmte, bevor mein Freund kam, so w i r d die gleiche Erscheinung auftreten. Die Unterscheidung, die hier in Frage kommt, muß also nicht getroffen werden zwischen zwei verschiedenen Arten v o n Schmerzen, sondern zwischen zwei Stadien der Entstehung des Schmerzes, ganz gleich, ob dieser Schmerz nun körperlich oder seelisch ist. Was ging vor, während ich abgelenkt war? D a r f ich wirklich annehmen, mein Schmerz sei z w a r vorhanden, mir aber nicht b e w u ß t gewesen? Sicherlich nicht. Ich kann doch nicht einfach behaupten, d a ß ein Schmerz da sei, w e n n ich ihn nicht fühle. Dennoch kann es kein Irrturn sein, wenn ich annehme, d a ß während meines Abgelenktseins „irgendetwas" weiterging, was mir dann den Schmerz wieder zurückgab. Doch was ist dieses „etwas"? Ich werde dazu geführt, eine Unterscheidung aufzustellen, durch die meine vorher erwähnte E r f a h r u n g verständlich wird. Es ist die Unterscheidung zwischen dem schmerzhaften Reiz u n d dem Bewußtsein des Schmerzes. Während meines Abgelenktseins d a u e r t e der Schmerz an, doch das Schmerzbewußtsein h ö r t e auf. Nun diese Unterscheidung aufgestellt ist, erkenne ich auch, w i e man in entsprechender Weise w i e d e r z u r psycho-somatischen Unterscheidung zurückfinden kann; denn der Schmerzreiz ist ein somatisches, das Schmerzbewußtsein ein psychisches P h ä n o m e n . Jetzt können auch die „materialistischen" u n d die „idealistischen" Deutungsversuche, die wir vorhin scheitern sahen, zu etwas Gültigem führen. Der Schmerzreiz ist eine Erscheinung, die mein Soma betrifft, und z w a r entweder partiell, insoweit dieses ein Aggregat v o n O r g a n e n ist (physischer Schmerzreiz), o d e r aber total, insoweit mein Sorna eine Ganzheit ist (sogen. „ psychischer" Schmerzreiz, der durch meine eigene Vorstellung v o n mir als einem Ganzen, die G a n z h e i t des Sornas in Mitleidenschaft zieht). Der Schmerzreiz 150

kann vom stofflichen (Ebene der Empfindung) oder vom subtilen (Ebene des Gefühls oder Bildes) Bereich ausgehend uns erreichen. Die „materialistische" These läßt sich also v o m Schmerzreiz h e r gesehen durchaus a n w e n d e n ; denn mein Körper ist immer schmerzhaft gereizt, sei es als Teil oder als G a n z h e i t . Die „idealistische" These läßt sich a n w e n d e n , wenn wir n u n z u m Gegenpol, nämlich zum „Schmerzbewußtsein" k o m m e n : Immer ist sich unser Geist des Schmerzes bewußt, ob n u n der Schmerzreiz den Körper als Teil oder als Ganzes betroffen h a t . Fassen wir nun die beiden Pole „Schmerzreiz — Schmerzbewußtsein" näher ins Auge und fragen uns, in welchem dieser Pole der Schmerz seinen eigentlichen Sitz hat. Von neuem beginnen Schwierigkeiten: Es ist mir nicht möglich, den Schmerz in den Bereich des Schmerzreizes zu verweisen und das Schmerzbewußtsein dabei außer acht zu lassen; noch weniger aber kann ich mir einen Schmerz vorstellen, der reines Bewußtsein ohne Schmerzreiz wäre. Wo also ist der O r t des Schmerzes? Die F r a g e nach dem „ O r t " ist nach unserer „ R a u m - Z e i t " Perspektive die Form, in der die andere F r a g e : „Was ist die „Wirklichkeit" des Schmerzen?" ihren Ausdruck findet, oder besser: „Was ist die Ursache des Schmerzes?", denn die Ursache ist die Wirklichkeit der W i r k u n g . In Bezug auf mein Schmerzbewußtsein ist der Schmerzreiz ursächlich: das Bewußtsein ist betroffen, weil der K ö r p e r betroffen ist. Doch ist das Betroffensein des Körpers selbst wieder W i r k u n g einer Ursache. Diese Ursache ist nicht, wie m a n zunächst annehmen möchte, die Außenwelt. Tatsächlich ist das Angegriffensein meines Körpers eine Reaktion auf die A k t i o n der Außenwelt. N u n k a n n die Aktion der Außenwelt z w a r auslösende, aber keinesfalls bewirkende Ursache genannt werden. Die b e w i r k e n d e oder wirkliche Ursache der Reaktion meines Körpers liegt in meinem K ö r p e r und nicht a u ß e r h a l b . Sie liegt in meinem Lebensprinzip, im Kern meiner Gestaltwerdung, d. h. im Absoluten Prinzip, insoweit es in mir in Erscheinung tritt. W i r finden also bei der Entstehung des b e w u ß t e n Schmerzes drei Stufen: zuerst das Absolute P r i n z i p , d a n n mein Sorna, das, v o m Absoluten Prinzip bewegt, das hervorbringt, was wir „Schmerzreiz" g e n a n n t haben, u n d schließlich mein „psychisches" Bereich, das, vom Schmerzreiz bewegt, das Schmerzbewußtsein entstehen l ä ß t . D a s Absolute Prinzip entspricht dem prinzipiellen U n b e w u ß t s e i n , der Schmerzreiz d e m „Unterbewußten" (der Schmerz war, w ä h r e n d ich abgelenkt w a r , unterbewußt), das Schmerzbewußtsein dem Bewußten. Wir erkennen also, d a ß der Schmerz als Ganzes genommen, ein ununterbrochener Energiestrom ist, der sich v o m universalen Zentrum k o m m e n d nach der Peripherie hin auflöst. Die Wirklichkeit oder der Urgrund dieser Strömung r u h t im prinzipiellen U n b e w u ß t e n . Das bedeutet, daß die Wirklichkeit des bewußten Schmerzes u n b e w u ß t ist. Das bedeutet, d a ß wir uns einer Täuschung hingeben, wenn wir unsre b e w u ß t e , in Erscheinung tretende Sensibilität als eine sich selbst genügende Wesenheit betrachten, nach der w i r unser Leben einrichten können. 151

Vielleicht k ö n n t e man entgegnen: „Zweifellos sind die Erscheinungen der Sensibilität, wie alle Erscheinungen, nicht die Absolute Wirklichkeit, immerhin eign e t ihnen aber die relative Wirklichkeit der Erscheinungswelt". Doch trifft dies nicht zu, denn der energetische Zersetzungsprozeß, der durch das Phänomen des G e f ü h l s dargestellt wird, geht unaufhaltsam von Unendlich zu N u l l , ohne auch n u r für einen Augenblick sich in einer Form zu integrieren. D i e O r g a n e besitzen eine r e l a t i v e Wirklichkeit, weil sie eine Integrierung der Energie in stofflicher F o r m sind. Die geistigen Vorstellungen besitzen eine relative Wirklichkeit, weil sie eine Integrierung der prinzipiellen Energie in subtiler F o r m sind. Doch L u s t u n d Schmerz, Freud und Leid, sind keine Integrierung in Formen, weder stofflicher noch subtiler Art. D a s schmerzhafte Betroffensem meines Körpers h a t stoffliche Form, das schmerzhafte Betroffensein des Bewußtseins, das darauf reagiert, h a t subtile Form. D a s bedeutet, daß die rein stoffliche Erscheinung des Schmerzes, ebenso wie die subtile, eine Form hat. Doch d e r Schmerz selbst, d e r solcherart in zweierlei Formen in Erscheinung tritt, e n t z i e h t sich jeder F o r m , ebenso wie das Absolute P r i n z i p , das seine einzige Wirklichkeit ist. Wir dürfen uns d a h e r nicht wundern, d a ß wir wegen des Fehlens jeglicher Form unsern Schmerz n i e werden greifen können. "Weiter oben haben wir behauptet, daß jede Bemühung, die Traurigkeit zu erfassen, d a m i t ende, traurige Bilder zu erfassen, und daß die Traurigkeit selbst jedoch sich uns entziehe. Genau so verhält es sich beim physischen Schmerz. W e n n d e r A r m m i r weh tut und w e n n ich versuche, diesen Schmerz zu erfassen, so gelingt es m i r lediglich, in einem aktiven Wahrnehmungsvorgang meinen leidenden Arm, nicht aber meinen eigentlichen Schmerz zu erfassen. Dieser entzieht sich meinem Zugriff; er kann mich, nicht aber ich ihn erfassen. Diese Beobachtungen werden sich erhellen, sobald w i r sie von anderer Seit her angehen. Die k ö r p e r liche Schmerzreaktion auf den Reiz aus der Außenwelt, eine Reaktion, die d a n n mein Schmerzbewußtsein b e d i n g t , entsteht mir kraft des mir innewohnenden „Lebensbedürfnisses". Dieser Verteidigungsmechanismus setzt voraus, daß mein Dasein verteidigt werden soll; die Vorstellung, d a ß das, was meine Existenz bedroht, mich bedroht, g e h ö r t zu seinem Wesen. Doch fühle ich mich durch das, was meinen Körper bedroht, immer nur in dem M a ß e selbst bedroht, in dem ich mich ausschließlich mit diesem meinen Körper identifiziere. Dieser Gleichsetzung wegen findet der zeitlose Wille zum „Sein", das eines der Attribute des „prinzipiellen Seins" ist, in meinem Körper durch den Willen, im Dasein zu verharren, also durch das Lebensbedürfnis, seinen Ausdruck. Die Verwechslung von Ich und Selbst (anders ausgedrückt die ausschließliche Identifizierung mit meinem Körper, oder auch der Glaube an die absolute Wirklichkeit unsres Daseins in der Welt der Erscheinungen), diese trügerische Verwechslung verleiht der Außenwelt die Macht, meine Energie aus ihrem innersten Quell emporsteigen zu lassen u n d sie d a m i t d e r Zersetzung durch den Schmerz auszuliefern. Wenn ich nicht unwissend w ä r e , wenn ich mich nicht mit meinem Organismus identifizierte, wenn ich, wie Sokrates, imstande w ä r e zu sagen: „Meine Feinde können mich töten, 152

aber schaden können sie mir nicht", so würde ich, was meinen Organismus bedroht, nicht als wirkliche Bedrohung meines Ich empfinden. Ich würde nicht leiden; ich w ü r d e zwar merken, daß mein Körper bedroht ist, ich würde mir darüber klar sein, daß das glühende Eisen, das mich brennt, mich tatsächlich brennt, ich könnte mich also dieser Berührung entziehen, sofern es mein vernünftiger Wille wäre, am Leben zu bleiben. Aber ich w ü r d e nicht leiden, ich würde keinem inneren Z w a n g erliegen, mein Leben zu verteidigen. In voller Freiheit w ü r d e ich entscheiden, mein Leben den Umständen gemäß zu verteidigen oder nicht zu verteidigen. Ichi könnte mich retten, wäre aber nicht durch den Schmerz gezwungen, es zu t u n . Alle Affekte haben ihren G r u n d in der Unwissenheit, in den stillschweigenden trügerischen Überzeugungen, die das Schlummern meines Vertrauens in die Einzige Wirklichkeit, das Schlummern des Kosmischen Geistes in mir darstellen. Es ist keine Illusion, wenn ich den agressiven Reiz der A u ß e n w e l t wahrnehme, denn so erhalte ich genaue Auskunft über die Erscheinungen, die meinen Organismus angreifen. Doch falsch ist das Gefühlshafte an meinen Wahrnehmungen, sei es angenehmer oder unangenehmer Art, da es auf falschen Voraussetzungen beruht. Ich täusche mich z w a r nicht, w e n n ich das, was mir begegnet, als günstig oder ungünstig für mein Dasein beurteile; doch verfalle ich einem Irrtum, wenn ich den Maßstab des „Guten" oder „Bösen" anlege, d. h. sobald ich es gefühlsmäßig beurteile. Die Empfindung des Gebranntwerdens ist kein Trug, dagegen aber der Schmerz bei der Verbrennung. Meine W a h r n e h m u n g e n sind in Ordnung, insofern sie mich über etwas unterrichten, sie sind trügerisch, insofern sie mich gefühlsmäßig berühren. Während mein Absolutes P r i n z i p „ist" und mein Organismus „existiert", das N o u m e n o n „ist" und die Phänomene „existieren", eignet meinen Gefühlen weder Sein noch Existenz. Jede Erscheinung meines Gefühlslebens ist die aus meiner Unwissenheit entstandene verfälschende Interpretation an sich vollkommen neutraler P h ä n o m e n e . Unser gesamtes Gefühlsleben ist ein aus falschen Überzeugungen hervorgegangenes Delirium. Im übrigen bin ich in jedem Augenblick, in welchem ich gefühlsmäßig auf irgendetwas reagiere, jeweils für die ganze übrige Welt unenmpfindlich. Doch solange Glaube u n d Vertrauen durch das Satori noch nicht erwacht sind, läßt meine Aufmerksamkeit sich v o n den irreführenden Gefühlen g a n z gefangennehmen und w e n d e t sich von allem a b , was nicht unmittelbar zum Gefühlsbereich gehört. Die Arbeit an sich selbst b e l ä ß t die D i n g e in diesem augenblicklichen Zustand, sie l ä ß t die Aufmerksamkeit sich ruhig auf die Pseudo-Phänomene der Gefühle richten. Ja, sie t u t noch m e h r : Sie läßt nicht nur passiv die Aufmerksamkeit jene Richtung einschlagen, sie t r e i b t sie sogar aktiv in diese Richtung hinein. Und so werfe ich meine aktive Aufmerksamkeit nun dahin, wo ich v o n etwas Unbegreiflichem betroffen wurde u n d wo dieses Betroffensein im L e i d e n seinen Ausdruck fand, um zu erfassen, was mich erfaßte, um zu erfassen, w a s ich mein Leiden nenne. N u n , da mein Verstehen die Angst ihres Stachels b e r a u b t hat, habe ich 153

den M u t , mich m i t echter Wißbegierde nach jenen hypothetischen Flammen umz u w e n d e n , die m e i n e Flucht nur geschürt h a t t e . Die innere Bemühung, nun selbst das zu erfassen, w a s zuvor mich erfaßt hatte, bringt meinem Schmerz L i n d e r u n g . In diesem Sinne müssen wir auch das „Loslassen" der Zenlehre verstehen. Diese i n n e r e Geste vermag die Energie, die „gezwängt" w a r , zu befreien, vermag a u f z u l ö s e n , was „geronnen" w a r . Sie versetzt mich in einen Zustand der Fühllosigkeit, d e r nicht bloße Abwesenheit von Gefühlen ist, sondern d a s „ N i c h t - F ü h l e n " selbst, das bewegungslose Prinzip aller Gefühlsregungen. Er bereitet die E x p l o s i o n des Satori vor, indem er die Parteilichkeit der Gefühle aufhebt, er heilt die „ K r a n k h e i t des Geistes", die nach der Lehre des Z e n darin besteht, daß wir das, was wir lieben, dem, was wir nicht lieben, entgegensetzen, 154

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XVII. REITER U N D PFERD D E R DUALISMUS ZWISCHEN Y I N U N D YANG, DER D A N K DER Versöhnung des T a o die Welt regiert, ist im Menschen wie in jedem geschaffenen Ding zu finden. Der Mensch ist sich dieses Dualismus bewußt, u n d dieses Bewußtsein findet seinen Ausdruck in der Überzeugung, daß er aus z w e i selbständigen Teiler, zusammengesetzt sei, die er " K ö r p e r und Seele", „Stoff und Geist", „Instinkt u n d Vernunft" oder anders nennt. Der Glaube an eine solche zweigeteilte Konstitution zeigt sich in allen möglichen Redewendungen, w i e z. B. „Ich bin H e r r meiner selbst", „Ich kann mich nicht enthalten . . . " , „Ich bin mit mir zufrieden", „lch bin mir böse" usw. Doch wir wissen, d a ß der Glaube an die Autonomie jener beiden Bereiche eine Täuschung ist. Es g i b t keine zwei verschiedenen „Teile" beim Menschen, sondern nur zwei verschiedene Seiten eines einzigen Wesens. In Wirklichkeit ist ja der Mensch ein Individuum, das n u r durch die irreführenden Erklärungsversuche der analytischen Betrachtungsweise künstlich geteilt wird. Der I r r t u m der dualistischen Auffassung besteht nun nicht darin, d a ß wir zweierlei Aspekte bei uns unterscheiden — denn es gibt zwei verschiedene Aspekte —, sondern d a r i n , daß wir diese zwei verschiedenen Aspekte als zwei verschiedene Wesenheiten betrachten, v o n denen die eine vergänglich, die andere aber ewig w ä r e . Im übrigen aber zeigt uns die Beobachtung gar nicht das Vorhandensein v o n zwei getrennten Bereichen, sie zeigt vielmehr, daß alles abläuft, als gäbe es diese zwei, durch eine Trennmgslinie streng voneinander geschiedenen Bereiche. N u r unser unbelehrter Intellekt macht fälschlicherweise den Sprung von der Feststellung, „alles läuft ab, als ob" zu der irrigen Behauptung, d a ß es in uns tatsächlich zwei v o n e i n a n d e r getrennte Bereiche gäbe. In Wirklichkeit läuft alles so ab, weil wir daran glauben, daß es so sei, oder genauer, weil unser universales Bewußtsein im Schlummer liegt, welches allein imstande ist, uns unsere w a h r e innere Einheit zu offenbaren, Ein Bild w i r d uns helfen, diese F r a g e zu verstehen. Von seinen beiden „Teilen" sieht der Mensch den einen als niedrig, triebhaft, affektbestimmt, motorisch, irrational an, d e n andern als überlegen, vernünftig, führend und fähig zu bestimmen, was d e r niedrige Teil ausführen soll. Das bedeutet, daß er sich als einen Reiter sieht, der auf einem Pferd sitzt. In Wirklichkeit jedoch — und daran erinnert uns das Zen — sind w i r nicht Reiter und Pferd, g e t r e n n t durch eine Linie. Das wahre symbolische Bild des Menschen w ä r e der K e n t a u r , jenes einzigartige Wesen, das zweierlei Aspekte zuläßt, die durch k e i n e Trennungslinie geteilt sind. Wir sind Kentaur, u n d doch 155

läuft alles ab, als w ä r e n w i r Reiter und Pferd, eben weil wir an die Trennungslinie zwischen beiden glauben, o d e r genauer, weil wir die Einheit nicht erkennen, die jene beiden Aspekte u m f a ß t . W i r wollen nun n a h e r zu delinieren versuchen, was w i r bei unserer konkreten S t r u k t u r als Pferd u n d w a s als Reiter zu betrachten pflegen, um dadurch zu v e r s t e h e n , warum w i r dieses abwegige Bild von uns selbst haben. Vom morphologischen Gesichtspunkt ausgehend, sind wir zunächst versucht, die G r e n z e zwischen dem Pferd u n d dem Reiter zu ziehen. D a s Pferd entspräche d a n n unserer körperlichen G e s t a l t w e r d u n g oder dem Soma, der Reiter unserer subtilen G e s t a l t w e r d u n g o d e r der Psyche. Doch dieser morphologische Ausgangspunkt stimmt nicht zu dem Gesichtswinkel, u n t e r welchem wir m o m e n t a n den Menschen betrachten. Wir untersuchen ja nicht n u r die verschiedenen Erscheinungsformen beim Ablauf des menschlichen Mechanismus, sondern die Frage nach der Bestimmung dieses Ablaufs. Ü b e r die F r a g e nach dem Abiauf unseres Lebens hinausgehend, untersuchen wir j e t z t die Richtung dieses Ablaufs. Von dieser höheren Warte aus gesehen sind die beiden „Teile" des Menschen nicht mehr zwei Erscheinungsformen von teils physiologischen teils psychologischen Vorgängen, sondern zwei Seinsformen, zwei Stile, zwei verschiedene Rhythmen der Gestaltwerdung unseres Seins. Das Pferd v e r k ö r p e r t eine Seinsform, bei der mein Denken nicht unabhängig und u n p a r teiisch funktioniert. Es ist mein persönliches, ichbezogenes, parteiergreifendes Leben, mein Leben das ich lebe, wenn mein Intellekt mit meinen Wünschen und Befürchtungen, mit meinem Affektleben überhaupt gekoppelt ist. Es ist mein Leben, wenn in mir n u r das niedrige Prinzip der Versöhnung wirkt, d e r Demiurg, d e r nur über den Wechselvorgängen der zeitlichen Ebene thront. Es ist die N a t u r , die in mir sich will und die durch mich hindurch ihre Zwecke erfüllt. Es ist mein Ich, insoweit ich mich abgrenzen will, insoweit ich neben dem Nicht-Ich und gegen das Nicht-Ich, Ich sein will. D e r Reiter ist die Verkörperung einer Seinsform, bei d e r mein Denken, befreit v o n der Verkoppelung mit dem Affektleben, unabhängig und unparteiisch arbeitet. Er verkörpert meine freie Einsicht, meine unparteiische Vernunft, mein reines, objektives oder universales Denken. Er ist Ich, insoweit ich denke, ohne mich abgrenzen zu wollen, insoweit ich außerhalb jedes Gegensatzes zwischen Ich u n d Nicht-Ich stehe. So verstanden ist der Reiter nicht eigentlich ein M o t o r . Er ist z w a r das Richtungsprinzip für die Bewegung des inneren Triebwerkes, aber er ist nicht der M o t o r . O b w o h l er das Prinzip meines „Handelns" ist, ist er selbst „ N i c h t - H a n d e l n " . W e n n also Reiter und Pferd beide eine Seinsform darstellen, so ist allein das Pferd auch eine Lebensform; der Reiter ist keine Lebensform — da Leben, die Bewegung einbegreift und der Reiter Nicht-Handeln ist —; er ist eine Denkform ohne Rücksicht auf mein Leben. Notwendigerweise ist mein Leben in jeder aktuellen Situation ichbezogen, parteiisch, natürlich u n d gefühlsgebunden. Sob a l d mein Denken unabhängig von meinen Affekten einsetzt, ist es auch nicht 256

mehr an mein persönliches Leben, ja an mein Leben ü b e r h a u p t gebunden. Anders ausgedrückt bedeutet das Pferd mein Leben, das von einem Partei ergreifenden D e n k e n seine Ausrichtung erfährt. Der Reiter entspricht dem reinen, h a n d l u n g s freien Denken. Wenn meine Aufmerksamkeit ganz durch mein Leben in A n spruch genommen wird, bin ich Pferd, wenn sie dieser H a f t entkommt u n d meine freie Einsicht aktiviert, bin ich Reiter. Die bewußte Aufmerksamkeit, die unteilbar ist, kann niemals gleichzeitig auf das Leben u n d auf das reine D e n k e n über diesem Leben gerichtet sein; notwendigerweise ist sie auf den einen oder den andern dieser beiden Aspekte meines Wesens gerichtet. Die Augenblicke, in denen ich mich durch die Ausrichtung meiner Aufmerksamkeit mit dem Pferd (wenn ich fühle oder handle) oder mit dem Reiter (wenn ich denke) identifiziere, wechseln einander ab. Die Tatsache, daß allein das Bewußtsein der Oberflächenschicht meines Wesens jeweils in mir wach ist — und d a ß ich daher immer n u r abwechselnd Pferd oder Reiter sein kann —, ist der G r u n d dafür, d a ß ich an jene Trennungslinie zwischen den beiden „Bereichen" glaube, obgleich in W i r k lichkeit diese Linie nicht existiert. Die vermeintliche Trennungslinie zwischen Pferd und Reiter bedeutet keine Trennung zwischen zwei zu gleicher Zeit w i r k e n d e n Teilen, sie ist n u r die abwegige Ausdeutung der Tatsache, d a ß ich mir nicht gleichzeitig meines einseitig festgelegten Lebens u n d meiner über alles P a r teiergreifen erhabenen Vernunft bewußt sein kann. Wenn ich nämlich kein E r i n nerungsvermögen hätte, k ä m e es nicht zu dieser Ansicht der Dinge. Es gibt diese E r k l ä r u n g , eben weil ich ein Erinnerungsvermögen besitze u n d weil meine V o r stellungskraft dank dieser Fähigkeit beide Seinsformen gleichzeitig hervorrufen k a n n , deren ich mir jedoch nie gleichzeitig b e w u ß t bin. In der Erinnerung evoziere ich zur selben Zeit das Bild des Pferdes u n d des R e i ters, und so habe ich das Bild dieser beiden Aspekte gleichzeitig vor Augen, die für das Bewußtsein der Oberflächenschicht nie nebeneinander existieren k ö n n e n . Da n u n das Pferd u n d der Reiter, die wir als zwei verschiedene Seinsformen definiert haben, nie gleichzeitig in mein Bewußtsein treten können, k a n n das Pferd nie eigentlich gelenkt werden. Wir wollen damit sagen, daß der Reiter die Bewegung des Pferdes d a n n nicht lenkt, wenn diese Bewegung gerade ausgeführt w i r d . Trotzdem übt das T u n des Reiters auf das V e r h a k e n des Pferdes einen l e n k e n d e n Einfluß aus, doch ist dieser Einfluß indirekt u n d zeitlich u n a b h ä n g i g . In dem Augenblick, da der Reiter erwacht (da also die erwachte A u f m e r k s a m keit nicht mehr auf das Pferd gerichtet sein k a n n ) , e r k e n n t er dank seines E r i n nerungsvermögens, wie das Pferd noch einen Augenblick z u v o r funktioniert h a t u n d m i ß t dieses Verhalten an der nach seiner Auffassung idealen N o r m . Dieses günstige oder ungünstige Urteil führt jeweils zu einem bejahenden o d e r v e r n e i n e n d e n Bild, das dem Pferde schmeichelt oder es in seinem Bedürfnis nach IchBestätigung vernichtet. W e n n nun die Aufmerksamkeit wieder zu dem P f e r d e zurückkehrt, wird dieses die Nachwirkungen des Urteils, nämlich die Liebkosungen o d e r die Schläge, die das Urteil darstellte, zu spüren bekommen. Die E r i n n e r u n g daran, die ihm als eine Zurechtbiegung seiner ursprünglichen Reflexe er157

scheint, bleibt in i h m zurück. D a s bedeutet, d a ß infolge des U m s t a n d e s , d a ß R e i t e r u n d Pferd n i e gleichzeitig nebeneinander wirken können, die einzig lenk e n d e W i r k u n g , die d e r Reiter auf das Pferd a u s ü b e n kann, eine Dressurwirkung sein m u ß , also sine Ausbildung von Automatismen, Es ist eine m i t t e l b a r e Einw i r k u n g , die Folge d e r vermeintlichen Trennungslinie. M a n k a n n diesen V o r g a n g durchaus mit dem vergleichen, was geschieht, wenn ein Mensch ein w i r k liches P f e r d dressiert: er bestimmt dabei durch Liebkosungen oder leichte Peitschenhiebe die automatischen Reaktionen des P f e r d e s . U n d doch führ- das Pferd jede Bewegung g a n z alleine aus; es hängt also mittelbar vom Menschen a b , jedoch unmittelbar durchaus nicht. So k a n n also in d e m Zustand, in dem ich mich vor dem Satori befinde, mein „ L e b e n " n u r ein Zusammenspiel bedingter Reflexe sein, doch nicht gelenkte Bew e g u n g . Die freie Intelligenz k a n n also mein Leben nicht eigentlich lenken, sond e r n mir einen mittelbaren, relativen und begrenzten Einfluß d a r a u f ausüben. Im gegenwärtigen Zustand muß jede Selbstlenkung Dressur sein, d. h. eine Ausa r b e i t u n g irgendwelcher Automatismen. Wer v o n Automatismen spricht, spricht v o n festgelegten, stereotypen Bewegungen. So zahlreich und vielgestaltig diese Automatismen sein mögen, die ihnen eigene Starrheit verhindert doch, d a ß ein automatisches Verhalten der Umwelt wirklich angepaßt sein könnte. Es v e r h ä l t sich wie bei einer gebrochenen Linie: So oft sie auch gebrochen sein m a g , sie kann sich doch immer n u r in approximativer Form m i t einer Kurve decken, niemals m i t ihr zusammenfallen. Solange ich glaube, Reiter und Pferd zu sein u n d daher alles abläuft, als sei es tatsächlich so, solange k a n n ich das Pferd n u r dressieren, o h n e dabei eine echte Anpassung an die Umweit zu vollziehen. A b e r die echte Verwirklichung des Menschen ist etwas anderes als Dressur. Sie vollzieht sich durch ein Bewußtwerden des Kentauren, durch welches die trügerische Trennungslinie zwischen Reiter und Pferd wegfällt. Dann gibt es keinen Dressierenden und keinen Dressierten mehr und kein Reflektieren, bei dem „ich" „mich" betrachte (Subjekt und Objekt). Das „ich lebe" und "ich d e n k e " versöhnen sich in einem einzigen „ich bin". Die Mehrzahl der Menschen fassen diese Verwirklichung und damit das H i n f ä l ligwerden der Trennungslinie nicht einmal ins Auge. Daher sehen sie in der Verwirklichung ein Gelingen der Dressur und das bedeutet, daß sie nichtzeitliche u n d zeitliche Verwirklichung verwechseln. Wie absurd es wäre, die Dressur ganz verdammen zu wollen, werden wir zwar gleich sehen, u n d sogar ihre N o t w e n digkeit bei der Wegbereitung des Satori erkennen. Im Augenblick jedoch geht es uns darum, den I r r t u n aufzuzeigen, der darin besteht, die Verwirklichung als stufenweise Steigerung und als das endliche Gelingen der Dressur zu betrachten. W e n n auch zeitlich die Verwirklichung auf irgendwelche Dressurmaßnahmen folgen mag, so darf sie doch in keiner Weise so gesehen werden, als sei sie von diesen hervorgebracht oder verursacht. Wenn es auch richtig sein mag, d a ß das Satori nach oder als Folge bestimmter Vorgänge eintritt, so kann es doch nicht unmittelbar durch einen Vorgang ausgelöst oder verursacht werden. 158

In der stark ausgeprägten Neigung vieler Menschen zu systematischen Methoden nimmt d e r I r r t u m , die Verwirklichung als den Sieg einer Dressur zu sehen, konkrete G e s t a l t a n : sie verschreiben sich dann irgendeinem „Ideal", verschiedenartigen Yogaübungen, „Moralauffassungen", die lehren, ein bestimmter A u t o matismus müsse eingeführt, ein anderer dagegen bekämpft werden, kurz jeder Art v o n Disziplin, der sie eine bestimmte Wirksamkeit hinsichtlich des Satori zutrauen. Der Irrtum besteht also nicht darin, das zu tun und zu erfahren, was durch solche Methoden möglich wird, also nicht darin, daß wir jenen Methoden folgen. Er besteht vielmehr in der Annahme, jene Methoden seien geeignet durch sich selbst zum Satori zu führen, wie etwa Straßen zum Ziel einer Reise führen. Keine Dressur ist imstande, die vermeintliche Trennungslinie aufzuheben, da sie ja gerade diese Linie zwischen Dressierendem und Dressierten zur Voraussetzung hat. D i e Verwirklichung kann aber n u r in der restlosen Zerstörung dieser I l l u sion bestehen. Ein ebenfalls häufig begangener Fehler, der sich u n m i t t e l b a r aus dem v o r h e r gehenden ableiten läßt, besteht darin, die Stufe, auf d e r ein Mensch sich hinsichtlich der Verwirklichung befindet, beurteilen zu wollen, indem man sich dabei auf den G r a d der durch die Dressur erreichten H a r m o n i e beruft. Allein der G r a d des Verständnisses kann uns hierüber unterrichten u n d nicht der Grad der H a r monie d e r Dressur. Jeder beliebige Mensch kann für mich ein Lehrer w e r d e n , wenn ich in ihm ein Verstehen spüre, welches das meine zu bereichern vermag. Die möglicherweise erst mittelmäßige Dressur seines Pferdes ist dabei nicht v o n Gewicht. Ebensowenig brauche ich mich um meiner selbst willen zu beunruhigen, wenn mein Pferd äußerst unharmonische Reaktionen an den Tag legt, vielleicht sogar unharmonischere als zu einer Zeit, da meine Einsicht geringer war. D e n n wenn die Dressur auch hinsichtlich des inneren Haltes viel bedeuten mag, so zählt doch hinsichtlich der Verwirklichung allein das Verständnis. Wir h a b e n gesehen, daß jede Dressur grundsätzlich d a r i n besteht, daß wir unser Leben abschätzen, d a ß wir es für gut oder schlecht befinden. Jede Bewertung äußerer u n d innerer Vorgänge ist eine Liebkosung oder ein Hieb für unser P f e r d . Das Z e n erinnert uns eindringlich d a r a n , wie wesentlich es sei, über eine solche Parteinahme hinauszukommen: „Sobald Ihr zwischen Gut und Böse unterscheidet, folgt Verwirrung und der Geist ist verloren." Z e n lehrt uns, daß gerade die Dressur und das Bewerten jenes verhängnisvolle innere H a n d e l n bilden, an das wir g e w ö h n t sind u n d dessen wir uns entwöhnen müssen: Gerade hier haben w i r es mit dem bedauerlichen „ H a n d e l n " zu tun, auf welches das Zen anspielt, w e n n es uns sagen will, daß wir nichts zu tun hätten, d a ß w i r lernen müßten, nicht mehr zu handeln. Es w ä r e aber ein Irrtum, d a r i n eine Ablehnung der Dressur sehen zu w o l l e n ; denn die Ablehnung hilft nicht, uns v o n der Bewertung freizumachen. Sie führt lediglich zu einer Umkehrung der Dressur, und wir w ü r d e n uns nur dazu dressieren, uns nicht mehr zu dressieren, was an der Sache nichts ändern würde. O h n e meinen I r r t u m abzulegen, w ü r d e ich alsbald an die W i r k s a m k e i t einer „ G e g e n 159

dressur" glauben, d i e immer noch Dressur bleiben w ü r d e . Zen lehrt uns, nicht an das Leben zu r ü h r e n : „Laßt die Dinge, wie sie ihrem Wesen nach sind." Es besteht für uns keine Möglichkeit, in unsere Gewohnheit des Uns-selbst-Dressierens unmittelbar verändernd einzugreifen. N u r mittelbar kann ich bewirken, daß jene G e w o h n h e i t verschwindet, dank der immer tieferen Einsicht in die Tatsache, d a ß jenen Dressurversuchen, die ich weiterhin betreibe, keinerlei verwirklichungsfähige K r a f t innewohnt. K u r z gesagt geht es d a r u m , die Entwertung der durch meine Dressurversuche dargestellten Kompensationen zu erreichen. Diese Entwertung macht das Scheitern jener Versuche und die entsprechende Ausdeutung jenes Scheiterns notwendig, Um das Scheitern selbst brauche ich mich nicht zu kümmern, das w i r d aus d e m Wesen der Dinge selbst hervorgehen, doch befassen m u ß ich mich mit der richtigen D e u t u n g dieses Scheiterns. Solange ich an die innere Wirksamkeit einer Disziplin glaube, schiebe ich ihr Versagen allen möglichen U m s t ä n d e n , doch nie der Disziplin selbst in die Schuhe; sie verliert also ihren Wert für mich nicht. Wenn ich dagegen einmal die dieser Disziplin eigene Wirkungsunfähigkeit begriffen habe, mir jedoch nicht verbiete, bei Bedarf von ihr Gebrauch zu machen, w i r d sich in mir nach und nach eine tiefe Ermüdung herausbilden, die durch ein echtes Darüber-Hinauswachsen mich von dieser Disziplin lösen wird. Ich kann und soll mir die allzu direkten Eingriffe in mein Inneres nicht versagen, die auszuüben mir im jetzigen Lebensaugenblick selbstverständlich ist. Doch wenn ich einmal ihre Unfruchtbarkeit eingesehen habe, wird sich auch die gefühlsmäßige Überzeugung von ihrer Nützlichkeit im Laufe weiterer Erfahrungen verlieren. Die Überzeugungen sind R ä d e r n zu vergleichen, die in raschen G a n g versetzt worden sind. W e n n der Intellekt es unterläßt, sie von neuem in Schwung zu versetzen, indem er sie bejaht, werden sie eines Tages schließlich zum Stillstand kommen. Wie wir wissen, ist das Satori nicht die K r ö n u n g eines letzten Sieges, sondern eines letzten Scheiterns. Wenn w i r aus Anstrengungen, alle Übungen, die wir fähig glaubten, uns zu befreien, erschöpft haben, taucht das Bewußtsein in uns auf, immer frei gewesen zu sein. Wenn auch die verschiedenen Disziplinen keine „Wege" sind, die schließlich in das Satori münden, so will das noch nicht beißen, daß es nicht Wege wären, denen man folgen sollte. Es sind Wege, die in Sackgassen enden, u n d diese Sackgassen wieder enden alle in der einzigen endgültigen Sackgasse. U n d doch muß man ihnen folgen, gerade weil das Satori nicht erreicht werden k a n n , ohne d a ß wir in jener endgültigen Sackgasse gelandet wären. Man m u ß ihnen folgen mit der theoretischen Einsicht, daß sie nirgendwohin führen, so d a ß dann die Erfahrung diese theoretische Einsicht in eine durchgängige v e r w a n d e l n kann, in jene klare Erkenntnis, durch welche die Ankunft in jener letzten Sackgasse bezeichnet wird und die uns dem Satori zu öffnen vermag. Es ist hier der Augenblick, ein Zwiegespräch zwischen einem Zen-Mönch und seinem Meister wiederzugeben, D e r Mönch Tsou-shin hat gerade das Satori-Erlebnis erfahren, Tsou-shin ging zum Meister Houei-nen, u n d als er seine Verbeu160

gungen machen wollte, lächelte der Meister u n d sagte: „Du bist jetzt in mein Zimmer eingetreten", Darüber freute sich Tsou-shin sehr und sprach: „Wenn das, was ich jetzt besitze, die Wahrheit des Zen ist, warum willst du dann, daß wir in all die alten Geschichten eindringen und uns abmühen, ihren Sinn zu erfassen?" Der Meister antwortete: Ich bin sicher, daß Ihr jede Möglichkeit, euch selbst zu finden, verlieren würdet, wenn ich euch nicht auf jede erdenkliche Weise darum ringen ließe, den Sinn zu finden, um euch schließlich auf die Stufe der Kampflosigkeit und Mühelosigkeit zu führen, auf der ihr mit euren eigenen Augen erkennen könnt." Ich kann mich also ruhig als Reiter auf einem Pferde sehen u n d ruhig die Aktivität des Reiters, der sein Pferd dressiert, entfalten. Aber t r o t z dieser Illusion darf ich nicht vergessen, daß ich in Wirklichkeit Kentaur bin u n d d a ß jede Dressur, bei der die vermeintliche Trennungslinie „Reiter—Pferd" fortbesteht, mich von meinem w a h r e n Selbst entfernt h ä l t . In Wirklichkeit k o m m t es wenig darauf an, daß mein Pferd auf einen „Heiligen" hin dressiert w i r d oder auf einen Yogi mit imponierenden Kräften oder e t w a darauf, innere Z u s t ä n d e als „transzendierend" zu erfahren. Mein wahres Selbst ist nicht dort zu finden, es besteht einzig und allein in der Einswerdung mit meinem Pferde. D a n n w i r d das geringste Tun an der Wirklichkeit teilhaben, mögen wir es für noch so b a n a l nahen. Doch in dem Augenblick, da die vermeintliche Trennungslinie verschwindet, verschwindet auch der Kentaur, jenes Formsymbol, das vor der Verwirklichung für mein Verständnis nötig war. „Wenn es keine Zweiheit gibt", sagt das Zen, „ist alles das gleiche, und alles Existierende ist darin eingeschlossen." Reiter u n d Pferd werden eins, doch werden sie eins in einem All, das keine Formen kenne, so daß es weder R e i t e r noch Pferde mehr gibt und der K e n t a u r , sobald er e r reicht ist, auch schon überwunden ist. Dies kommt in dem meisterhaften T e x t der Zenlehre, der den Titel trägt: „Die zehn Stufen der Dressur der K u h " z u m Ausdruck. H i e r h e b t die Zenlehre hervor, d a ß es zwar n o t w e n d i g sei, durch d i e Dressur hindurchzugehen, weist aber gleichzeitig darauf hin, d a ß eine „dressierte Kuh" nicht das letzte Ziel sein kann. „Auf der Kuh kehrt der Mensch endlich zu sich selbst zurück. Aber auf einmal ist keine Kuh mehr da, und mit welcher Heiterkeit sitzt er nun ganz alleine da!" Dann verschwindet auch der Mensch: „Alles ist leer geworden, es gibt keine Peitsche mehr, kein Seil, keinen Menschen, keine Kuh. Wer bat je die Unendlichkeit des Himmels bescl:aut? Auf den weißglühenden Ofen kann nicht eine einzige Schneeflocke fallen. Wenn man hier angelangt ist, ist der Geist des alten Meisters offenbar geworden. 161

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XVIII. D E R G R U N D I R R T U M o d e r DIE „ E R B S Ü N D E " I n d e r V O R A N G E H E N D E N STUDIE h a b e n w i r v o n d e r " D i s z i p l i n " o d e r der "Dressur unseres Pferdes" gesprochen und haben in diesen Begriff alle besonderen Erscheinungsformen der Dressur miteingeschlossen. Von diesem Gesichtspunkt aus haben wir den Menschen vor der Verwirklichung des Satori, bei dem es notwendig Dressur geben mußte, und den Menschen nach seiner Verwirklichung unterschieden, bei dem es keine Dressur mehr gibt. Für mich als Menschen-vor-dem-Satori ist es nun interessant zu sehen, daß es verschiedene Stufen der Dressur gibt und daß diese verschiedenen Stufen, wie alles, was Erscheinung ist, sich In meinen Augen als Hierarchie aufbauen, wobei sie v o m Stofflichsten zum Unstofflichsten gehen. Diese Hierarchie i s t offensichtlich nicht absolut, denn die Erscheinungen als solche haben ja auch nicht mehr o d e r weniger teil an der Absoluten Realität, die erwähnte Hierarchie existiert relativ in Bezug auf meine Affektgebundenheit. Sie darf nicht durch eine schräg geneigte Leiter symbolisiert werden, wie es mir durch mein Gefühlsleben nahegelegt wird, sondern durch einen Weg, der auf der waagrechten Ebene zu dem P u n k t führt, von wo die senkrechte Achse aufsteigt. Sie steht in Verbindung m i t d e r gesamten inneren Arbeit, durch die der Mensch sich chronologisch dem Satori nähert, die ihn aber nicht wirklich näherführen k a n n , da ja keine Kreatur sich ihrem Prinzip nähern kann, weil sie niemals außerhalb desselben w a r . Dieser horizontalen Hierarchie der Disziplinen entspricht eine Abstufung des Wirkens unserer freien Intelligenz. Wir müssen hierbei einen Unterschied machen zwischen dem Prinzip unseres reinen Denkens, einem P r i n z i p , das unendliche Weisheit, objektives Bewußtsein, das Buddhi der Vedanta ist, und dem relativen, begrenzten Wirken jener unbegrenzten Einsicht. Wir w o l l e n uns dafür eines k o n k r e t e n psychologischen Beispiels bedienen: eines Tages b i n ich zornig und manifestiere diesen Zorn impulsiv, ein andermal bin ich ebenso zornig, doch verzichte ich auf die Äußerung, weil ich mir eines Idealbildes meiner selbst bewußt bin, das ich verwirklichen möchte und zu dem die Kontrolle meiner Äußerungen g e h ö r t (weil diese H a l t u n g ästhetischer ist, oder zweckdienlicher, oder für meine P l ä n e und die allgemeine Führung meines Lebens günstiger, oder weil ich von dieser verdienstvollen H a l t u n g eine „geistige" Belohnung erwarte). Im ersten Falle ist mein geistiges Bewußtsein mit der unmittelbarsten Gefühlsregung gekoppelt, m i t den auf diesen Augenblick beschränkten Affekten, m i t meinem Augenblicks"wert". Im zweiten Falle ist diese Koppelung aufgehoben, aber nun ist mein Bewußtsein mit meiner Liebe zu einem Ideal gekoppelt, d. h. mit einer komplexen Gefühlsbewegung, die D a u e r hat und die über d e r einzelnen und 162

geringfügigeren Regung des Augenblicks steht, Ich bin damit zwar vorn Gefühlsw e r t des Augenblicks unabhängig geworden, dafür aber einem „ W e r t " u n t e r worfen, der an der vierten Dimension, der Zeit, teilhat, und der sich in gewisser Hinsicht über eine Vielzahl von Augenblicken erhebt. In diesem zweiten Falle h a n d e l t es sich um die „Befreite Einsicht", denn ich bin frei vom „Wert" des Augenblicks; doch ist auch dieses Inkrafttreten der „Befreiten (oder Freien) E i n sicht" nur ein unvollkommenes, da ich dabei nicht frei bin von einem neuen „ W e r t " , einem Werte, der Dauer besitzt. Das Teilhaben an der vierten Dimension bedeutet Befreiung von den Grenzen der dritten, doch gleichzeitig U n t e r werfung unter die Beschränkung der vierten. Was aber ist diese freie Einsicht, die an der absoluten Unparteilichkeit, an der objektiven oder göttlichen Vernunft, also am Unendlichen teilhat, u n d die wir doch in unserem Beispiel als eine unvollkommene, beschränkte und relative erkennen müssen? Die offensichtliche Schwierigkeit dieses Problems rührt daher, d a ß wir so oft geneigt sind, ein Prinzip mit den Manifestationen desselben P r i n zips zu verwechseln. So sind wir bei dem Ausdruck „Freie Einsicht" versucht, das Buddhi und die Manifestationen dieses Buddhi miteinander zu verwechseln. Es liegt in mir eine Möglichkeit, durchaus mit vollkommener Unparteilichkeit zu denken. Diese Möglichkeit ist das Buddhi oder das Prinzip der Freien Einsicht, die jedoch vor dem Satori nicht restlos verwirklicht werden kann. Sie k o m m t n u r in einer „relativen Unparteilichkeit" zum Ausdruck, und diese „relative Unparteilichkeit" ist in Wirklichkeit nur die relative Erscheinungsform der absoluten Unparteilichkeit; es gibt in Wirklichkeit kein unvollkommenes Buddhi, nur unvollkommene Verkörperungen des vollkommenen Buddhi, Meine freie Einsicht, wie sie in diesem Lebensaugenblick nun einmal beschaffen ist, hat zweierlei Aspekte, die ich nicht miteinander verwechseln darf: es waltet in ihr das Buddhi, ihr Prinzip (Immanenz des Buddhi), und dadurch hat sie teil am Wesen des Buddhi; und doch i s t vor dem Satori meine Freie Einsteht nicht das Buddhi (Transzendenz des Prinzips). Sobald mein Bewußtsein sich von der G e fühlsbewegung des Augenblicks auch nur etwas freizuhalten vermag (d. h. sobald ein gewisser Übergang vom Besonderen zum Allgemeinen sich vollzieht), m a n i festiert sich das Buddhi in diesem meinem Bewußtsein; und doch wäre es ein I r r t u m , dieses Phänomen mit dem Buddhi selbst oder der „Schau der Dinge, wie sie sind" gleichsetzen zu wollen. Die Freie Einsicht macht eine Loslösung des Gefühlslebens vom Bewußtsein möglich, doch vollzieht sich die Verwirklichung dieser Loslösung nur stufenweise. Was die Loslösung selbst angeht, so eignet ihr wohl Vollkommenheit, doch könnte man sagen, daß die qualitativ vollkommene Loslösung quantitativ nur unvollkommen durchgeführt werden kann. Von dieser quantitativen Abstufung des Wirkens der freien Einsicht leitet sich die ganze horizontale Hierarchie der Disziplin her, von der wir weiter oben gesprochen haben; diese quantitative Stufung ist die Voraussetzung für eine qualitative Stufung der Dressuren, von den gröbsten bis zu den feinsten. Es kann hier nicht unsere Sache sein, die ganze Hierarchie selbst zu untersuchen, sondern n u r 163

ihren Gipfelpunkt. Es kommt darauf an, die am schwersten zu fassende Erscheinungsform der Freien Einsicht zu studieren, die „Urdressur", aus der alle anderen niedrigeren Dressuren hervorgehen, um in ihr die ursprünglich angelegte U n z u länglichkeit jeder Manifestation des Buddhi in uns zu erkennen. Und dies ist der letzte Irrtum, den wir bei unserer Rückkehr zum Ursprung zu überwinden haben. Wir haben gesehen, daß jede Dressur in einem Bewerten, einem Beurteilen der Funktionsübungen unseres Pferdes besteht, und d a ß das Urteil auf eine vom Reiter konzipierte ideale N o r m zurückzuführen ist. Jeder Mensch h a t jeweils eine bestimmte Vorstellung davon, wie seiner Ansicht nach das Pferd sich bewegen sollte, und diese Vorstellung k o m m t in einem Bild zum Ausdruck. Je spezialisierter, je handgreiflicher dieses Bild ist, desto "niedriger" in der H i e rarchie der Dressuren wird die zugehörige Dressur empfunden; je allgemeiner, je subtiler das Bild ist, desto subtiler oder „erhabener" wird die entsprechende Dressur empfunden. Doch mit wachsendem und genauer werdendem Verständnis zerstreut unsere geistige Klarheit solche Götzenverehrung, und das bedeutet, daß das Idealbild meiner selbst zusammenschrumpft und sich verwischt. Schließlich begreife ich, d a ß die Wirklichkeit über jeder Form steht u n d d a ß daher auch jedes Idealbild nur eine Illusion sein kann. Ich habe nun keinen theoretischen Grund mehr, eine bestimmte Verhaltensweise meines Pferdes einer andern vorzuziehen. Man könnte nun auf den Gedanken kommen, d a ß das Zurücktreten jeden I d e a l bildes auch das Urteil über mich selbst zurücktreten ließe, das ja aus einem Idealbild hervorgeht. Das Urteil bestünde d a n n nicht mehr, da ja ein K r i t e r i u m fehlte, auf das es sich beziehen könnte, und so w ü r d e ich allmählich das Urteilen über mich selbst ganz einstellen. Eine totale Unparteilichkeit würde dadurch in mir herrschen und ich wäre also der Mensch des Satori. Dies träfe zu, wenn das Idealbild die Ursache des Urteils wäre, d. h, w e n n ich nach einem bereits vorhandenen Ideal mein Urteil fällte. Doch ist das Gegenteil der F a l l : ich konstruiere nämlich ein Idealbild, um ein Urteil fallen zu k ö n n e n , für das ich schon z u v o r ein Bedürfnis fühle. Das Leiden an meiner Begrenztheit durch die Zeit weckt in mir einen Zweifel an meinem „Sein" und löst das Bedürfnis aus, mich zu bewerten, mich zu beurteilen. Als nächstes löst nun dieses Bedürfnis nach einem Urteilsspruch die Konstruktion eines Idealbildes als K r i t e rium aus, dem ich d a n n nachstreben kann, um so meinen Freispruch zu erlangen. Mein Leiden an der Begrenztheit durch die Zeit w a r selbst schon eine Folge des tief in m i r wurzelnden Glaubens, daß ich eigentlich nicht durch die Zeit begrenzt sein sollte. Und in dieser Überzeugung findet die durch ihre Verlagerung auf die Ebene der Erscheinungen verfälschte E r k l ä r u n g der ursprünglichen, u n b e w u ß t e n u n d richtigen Intuition ihren Ausdruck, d a ß ich „vom Wesen B u d d h a s " sei. Diese ganze innere Entstehung läßt sich wie folgt zusammenfassen; im p r i n z i p i e l l e n U n b e w u ß t e n (im Quellgrund des Universums), weiß ich, d a ß ich Buddha bin; In meinem Unterbewußten (erste persönliche Schicht), erhebe ich 164

Anspruch auf die Nicht-Begrenzung in der Zeit, darauf, d a ß ich nie v o n einem Nicht-Ich negiert werden d ü r f e ; im Bewußten zweifle ich schmerzlich an meinem unterbewußten Anspruch, ich fühle das Bedürfnis, ein U r t e i l über mich auszusprechen in der Hoffnung, meinen Zweifel zu zerstreuen, und ich konstruiere ein Idealbild, dem ich nachstreben kann, um meine Absolution zu erlangen. Wenn ich daher auch zu einem Verständnis gelange, das genügt, jedes Götzenbild aufzulösen, verschwindet doch nicht mein Bedürfnis, über mich ein Urteil zu fällen. Es dauert fort, weil mein Zweifel an mir selbst fortdauert, und jener Zweifel dauert fort, weil seine tiefliegenden Ursachen fortdauern. Jedes besondere Idealbild, auf das sich eine besondere Dressur stützen könnte, verschwindet, doch die angeborene allgemeine Vorstellung, die alle besonderen Bilder entstehen läßt, dauert fort (die ursprüngliche Vorstellung, d a ß „ich niemals negiert werden dürfe"), und sie bestimmt weiterhin eine Dressur, die ursprüngliche Dressur mit der Tendenz, von meinem Pferd zu erreichen, d a ß es niemals negiert werde, d. h, daß es immer u n d vollständig über das Nicht-Ich triumphiere. M a n versteht nun, daß meine innere Situation immer ernster wird, je mehr mein Verständnis jedes besondere Formideal in mir abbaut. Solange ich ein besonderes Formideal hatte, fand ich darin eine bestätigende Zuflucht. Bisher konnte irgendeine Verneinung in Form eines Versagens oder eines drohenden Scheiterns aus der Außenwelt auf mich z u k o m m e n : ich war imstande, den Schlag zu überwinden, ihn zu kompensieren, ja „überzukompensieren" durch die Nachahmung meines Ideals, Es gab für mich einen „Ort", wo ich durch eigene Anstrengung, durch den auf mich selbst ausgeübten Zwang, mir soviel Bestätigung holen k o n n t e wie mir nötig war, um die Verneinung der A u ß e n w e l t wirkungslos zu machen. Mit der Fortentwicklung meines Verständnisses w i r d dieses tröstliche Kunststück für mich unmöglich. So mündet das Verschwinden der speziellen Disziplin nicht im Ausfall jeder Disziplin, sondern in der allgemeinen und ursprünglichen Disziplin, die mich ohne schonenden Betrug zwingt, dem Antagonismus des Nicht-Ich ins Gesicht zu sehen, d. h. der Schau meiner persönlichen Nicht-Göttlichkeit. U n d diese letzte Disziplin wird nicht so leicht zu überwinden sein, wie es die speziellen Disziplinen waren. Das Ideal, das sie mit sich bringt, ist nicht mehr eine bewußte, von meinem Bewußtsein gewertete Form, die darin nach Belieben immer wieder hervorgerufen werden kann. Es ist eine unterb e w u ß t e , gleichsam unterirdische Form, die ich nicht greifen und nicht unmittelb a r e n t w e r t e n kann. Ich m u ß ihre langsame Entwertung mit „brennender Ged u l d " , mit wachsamer Unparteilichkeit erwarten, indem ich wahrhaft die Idee des Zen lebe: „Laßt los, laßt die Dinge, wie sie ihrem Wesen nach sind!" W i r wollen nun genau untersuchen, was diese ursprüngliche Disziplin und das u n t e r b e w u ß t e Idealbild ist, auf das sie sich gründet. Erinnern wir uns an das, w a s w i r eben gesagt haben: Im prinzipiellen, universalen Unbewußten weiß ich, d a ß ich Buddha bin; im Unterbewußten oder der ersten persönlichen Schicht m ö c h t e ich Buddha sein, indem ich mich abgrenze, insoweit ich im Ich gegenüber dem Nicht-Ich bin. Ich erhebe also den Anspruch, daß ich nie vom Nicht-Ich 165

verneint werden dürfe, d a ß ich immer und vollständig über die A u ß e n w e l t triumphieren müsse. Im Bewußtsein zweifle ich an der Legitimität meines u n t e r bewußten Anspruchs und ich erlebe die Angst vor dem furchtbaren Nicht-Ich (es ist begreiflich, daß mit jedem Scheitern ein „Schuldgefühl" v e r b u n d e n ist). Solange ich ein besonderes Ideal hatte, entzog ich mich der u n t e r b e w u ß t e n V e r pflichtung, immer und vollständig Erfolg haben zu müssen. Ein Ausschnitt w u r d e gewählt, um das Ganze zu vertreten, und mein Erfolg in diesem Wahlreich machte mich unempfindlich gegen jede Ablehnung von anderer Seite. Doch k a u m h a t mein Verständnis jeder bewußten Idealform den Wert genommen, fällt mir schon die ursprüngliche Verpflichtung wieder zu, immer und v o l l k o m m e n über das Nicht-Ich zu triumphieren. Diese ursprüngliche Verpflichtung ist aber u n t e r bewußt, und daher fällt mein Urteil über mich selbst wieder ins D u n k e l zurück. Mein bewußter Blick ist nicht mehr wertend auf mich selbst gerichtet, sondern auf die Außenwelt, auf die Episoden des Lebens- und Erfolgskampfes, er heischt Bestätigung und weist jede Ablehnung zurück. Meine positiven oder negativen, bejahten oder verneinten „Seelenzustände" sind nicht mehr von der F o r m meiner Mechanismen abhängig (einer schönen oder häßlichen Form, je nachdem ob sie einer besonderen Idealform gleicht oder nicht), sie sind abhängig von meinen psychosomatischen Schwankungen, d. h. von meinem Erfolg oder meinem Scheitern in der Außenwelt und dem angenehmen oder unangenehmen G e s a m t z u s t a n d meiner Empfindungen. Je nach den Umständen, die meinen psycho-somatischen Organismus betreffen, bin ich vor dem Nicht-Ich anmaßend oder kleinlaut, doch ohne in einer dieser H a l t u n g e n bewußt ein Urteil über mich selbst zu fühlen. In meinem Bewußtsein habe ich den Eindruck, d a ß ich nichts mehr v o n mir selbst fordere, daß alle meine Forderungen einzig und allein auf die A u ß e n w e l t gerichtet sind. U n d doch sind wir uns klar darüber, daß die F o r d e r u n g , die Außenwelt solle sich nach mir richten, n u r der Ausdruck meiner ursprünglichen u n d unterirdischen Forderung nach dem Triumphieren über die A u ß e n w e l t ist. U n d hierin liegt der fundamentale Anspruch, die erste persönliche Erscheinungsform meiner universalen Identität mit dem Absoluten Prinzip, also der erste dualistische und ich-bezogene Irrtum, die „Erbsünde". Die Bedeutung des hier berührten Punktes wird ersichtlich: wir befinden uns an der eigentlichen Wurzel jener Unwissenheit, aus der all unsere sinnlose Angst fließt. Analysieren wir nun im einzelnen die Situation jener „ursprünglichen Dressur". D a s Pferd hat den Wunsch, sich in seinem Gegensatz zur Außenwelt bestätigt zu sehen, Der Reiter fordert vom Pferde, d a ß es ihm gelinge, sich immer bestätigt zu fühlen. Zunächst will es erscheinen, als strebten Pferd und Reiter so dem gleichen Ziele zu. In Wirklichkeit ist das Gegenteil der Fall: Wesen und Richtung ihrer Strebungen sind bei beiden einander genau entgegengesetzt. D a s Wesen der T e n d e n z des Pferdes ist relativ; das Pferd gehört zu den Manifestationen, zu der relativen Welt der Erscheinungen. Es möchte sich soviel als möglich bestätigt sehen, doch nicht unbegrenzt, denn das „unbegrenzt" gehört nicht zu seinem Bereich; es zieht die Bejahung vor, doch erträgt es auch die Ver166

neinung u n d p a ß t sich an, so gut es k a n n . Andererseits ist der Wunsch des Pferdes auf die Außenwelt gerichtet, das Pferd wünscht irgendein Objekt aus der Außenwelt. Das Wesen der Tendenz des Reiters ist absolut. M e i n e im Unbewußten ruhende I d e n t i t ä t mit Buddha, dem Absoluten, erzeugt im Unterbewußten nicht den relativen Wunsch, d a ß mein Ich über das Nicht-Ich triumphiere, sondern die absolute F o r d e r u n g , daß es so sei. D e r Reiter vertritt das Selbst, das Absolute Prinzip meines Wesens. So belehrt mein Bewußtsein auch sein mag, der Reiter vertritt d a r u m nicht weniger mein Absolutes Selbst. So unvollkommen die Freiheit meiner Einsicht auch in Erscheinung treten mag. sie ist d a r u m nicht weniger absolut. D e r Reiter, unmittelbar aus dem Absoluten hervorgegangen und dessen Stellvertreter, bildet auf der zeitlichen Ebene ein mathematisches Unendlich, das alles mit einem unbegrenzten Koeffizienten multipliziert. Die absolute Forderung des Reiters dem Pferde gegenüber zeigt sich in einem unbegrenzten A n spruch, d. h. sie hat die Fähigkeit, in meinem Organismus jeweils alle zur Verfügung stehenden Kräfte In Bewegung zu setzen. So steht die wesenhaft absolute Tendenz des Reiters vollkommen im Gegensatz zu der wesenhaft relativen. Tendenz des Pferdes. Andrerseits ist der Reiter nicht auf die Außenweit, sondern auf das Pferd ausgerichtet. Er beansprucht selbst kein Objekt aus dem Bereich des Nicht-Ich, fordert aber, d a ß das Pferd ein solches Objekt erhalte (der landläufige Ausdruck hierfür h e i ß t : Es geht nicht um die Sache, sondern um das Prinzip). Der Reiter mißt dem, was das Interesse des Pferdes ausmache, durchaus keinen Wert bei. Das Pferd interessiert ihn nicht als solches. (Das wird am deutlichsten beim Selbstmord. Sobald der Reiter sieht, d a ß das Pferd ein für allemal unfähig ist, seine Forderungen zu erfüllen, verurteilt er es zum Tode.) Der Reiter betrachtet das Pferd n u r als Instrument, das geeignet erscheint, die aus der Welt des N o u menon stammende Übergeordnetheit des Absoluten Prinzips über seine jeweilige Erscheinungsform durch einen aus der Welt des P h ä n o m e n e n stammenden totalen Sieg des Ich über das Nicht-Ich in falscher Weise Gestalt werden zu lassen. Das Pferd nimmt alle seine Kräfte gegen die Außenwelt zusammen, w ä h rend der Reiter sich gegen das Pferd, gegen das Ich stellt. Die Stellung der „ursprünglichen Dressur" bringt also einen radikalen Antagonismus zwischen meinen beiden „Wesensteilen" mit sich. Da dieser Antagonismus nur einer der Aspekte des Dualismus Yin-Yang ist, kann diese Tatsache nicht überraschen. Im Gleichgewicht des Tao jedoch sind Yin und Yang z w a r Gegenpole, ergänzen sich aber gleichzeitig. Beklagenswert ist es daher nun d a ß der Antagonismus meiner beiden „Wesenteile" so radikal ist, das heißt, daß ich nur die feindliche Spannung meiner beiden Pole, nicht aber ihre Ergänzungsfähigkeit lebe. Was ich lebe, sollte also nicht bekämpft, wohl aber ergänzt werden. Die stufenweise Vervollkommnung wird allein aus dem Verständnis erwachsen, und kann auch nur daher kommen. D a s Verständnis, das mich von meinen ein167

zelnen. Idealbildern gelöst und dadurch den grundlegenden Antagonismus in meinem I n n e r n sichtbar gemacht hat, der durch diese Götzenbilder verdeckt war, k a n n n u n seine Arbeit vertiefen. Die klare theoretische K o n z e p t i o n der in dieser Studie dargelegten Ideen wird nach u n d nach mein Innenleben, meine innere E r f a h r u n g durchdringen. Je deutlicher ich theoretisch meinen unterbewußten Anspruch, immer und vollständig über das Nicht-Ich zu triumphieren, u n d die u n t e r b e w u ß t e , unversöhnliche F o r d e r u n g des Reiters an das Pferd erkenne, desto rascher w i r d sich eine neue innere H a l t u n g einstellen, die die alte nach und nach a u ß e r K r a f t treten läßt. Diese neue Einstellung dem Pferde gegenüber ist duldsam: sie nimmt es hin, daß das Pferd sich manchmal verneint fühlt. So mache ich es m i r nicht mehr jedesmal zum Vorwurf, wenn ich Schiffbruch erleide, w e n n ich unglücklich bin oder mich falsch verhalte. Ich betrachte n u n m e h r mein P f e r d als F r e u n d u n d nicht mehr als reines Instrument meiner unmäßigen Ansprüche. Bev o r ich in den Tempel gehe, versöhne ich mich mit meinem Bruder, wie es im E v a n g e l i u m heißt. Doch wird mir diese neue Haltung nicht b e w u ß t , (daher darf man sie auch nicht mit der banalen Selbstgefälligkeit verwechseln, die das bequeme Resultat mancher Dressuren ist). Es ist wie bei einer Base, die in eine Säure gegossen ward: Kaum befindet sie sich in der Mischung, h ö r t sie auch schon auf, Base zu sein, und ihre Anwesenheit verrät sich nur noch in einem Abnehmen des Säuregehaltes. So kommt es auch nicht zu einer freundschaftlichen Partein a h m e für mein Pferd, sondern nur zu einem Nachlassen d e r feindseligen Einstellung ihm gegenüber. Ebensowenig kommt es zu einem Freispruch, sondern nur zu einem Seltenwerden des Urteilens im allgemeinen, eines Urteilens, das doch stets zur Verurteilung zu führen pflegte. Je m e h r ich mein Pferd in Ruhe lasse, desto besser t r a b t es. Das Zen sagt: «Wenn die Kuh richtig gehütet wird, ist sie einjach und folgsam. Sie wird dir dann auch ohne Kette und Halfter aus eigenem Antrieb folgen!"

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DIE STETE ALLGEGENWART DES SATORI DIE URSPRÜNGLICHE GRUNDFORDERUNG NACH SEIN INNERhalb der Grenzen meiner individuellen Eigentümlichkeit bedingt meine Wünsche und dadurch meine Hoffnungen und meinen Glauben. Als Träger einer solchen Forderung bin ich gleichzeitig Träger einer Sehnsucht, einer E r w a r t u n g , In der Überzeugung, d a ß mir etwas fehle, e r w a r t e ich das, was diesem Mangel abhelfen soll. Diese zunächst etwas allgemeine Sehnsucht findet ihren besonderen Ausdruck in der Erwartung eines „wahren Lebens", eines Lebens, das sich von meinem gegenwärtigen dadurch unterscheiden w ü r d e , d a ß ich darin eine umfassende und vollkommene, nicht nur eine geteilte u n d unvollkommene Bestätigung — wie jetzt — erfahren dürfte. Jeder von uns, ob er sich Rechenschaft d a r ü b e r ablegt oder nicht, lebt in der Erwartung, d a ß einmal das „wahre Leben" beginnen wird, in dem keine Verneinung mehr möglich ist. N u n hat aber jeder, gemäß seiner besonderen Wesensart und dem jeweiligen Lebensaugenblick, eine andere Vorstellung von diesem „wahren L e b e n " . Genauer gesagt, stellt sich jeder etwas d a r u n t e r vor, was imstande w ä r e , ein neues, seinen eigenen Bedürfnissen angepaßtes Zeitalter heraufzuführen, in welchem alle Unvollkommenheiten seines jetzigen Lebens ausgelöscht sein w ü r d e n . Eine innere Stimme flüstert mir zu, daß es „ohne Zweifel herrlich sein m ü ß t e , dieses oder jenes zu besitzen, . .. oder endlich wie dieser oder jener Mensch zu sein, ... oder zu erleben, d a ß etwas Erhofftes einträte.. . . M a n c h m a l glaube ich schon klar zu erkennen, was imstande sein m ü ß t e , das „wahre Leben" heraufzuführen, d a n n wieder bleibt es unbestimmt, wird E r w a r t u n g von „irgendetwas", was meiner Überzeugung nach alles in O r d n u n g bringen würde. Zeitweise schweigt diese innere E r w a r t u n g , doch handelt es sich dann nur um einen vorübergehenden Schlummer, aus dem unsere Sehnsucht nach einem endgültig befriedigenden Leben bald wieder neu erwachen wird. Es ist, als wähnte ich mich ausgeschlossen aus einem irgendwo vorhandenen Paradies, als glaubte ich in irgendeiner bestimmten Erscheinungsform der Außenwelt oder meines Innern den Schlüssel zu erkennen, der imstande wäre, das verlorene Paradies wieder aufzuschließen. U n d so verbringe ich mein Leben auf der Suche nach dem verlorenen Schlüssel. Während dieser Erwartungsfrist "schlage ich die Zeit tot", so gut es geht. Ein Teil meiner Lebensenergie kann in der wirksamen Vorarbeit zu diesem „Schlüssel" investiert werden: so arbeite ich etwa auf irgendeinen Erfolg auf materiellem oder geistigem Gebiet hin. Doch k a n n ich nur einen Teil meiner Energie dabei ansetzen, und so verschwende ich den Rest an Ausgeburten meiner Vorstel169

lungskraft, an Träumereien, die alle jenen unaufhörlichen „Prozeß" vor meinem inneren „Tribunal" umkreisen, dessen glücklicher Ausgang mir diesen Schlüssel verschaffen könnte. Ich fühle mich gezwungen, meine Energie irgendwo anzusetzen, mich zu bewegen, sei es nach außen oder im Innern. Ich kann nicht bewegungslos verharren während der Erwartungszeit. Im übrigen gäbe es ohne Bewegung auch keine „Erwartung", keine Spannung auf das hin, was kommen soll, keine Sehnsucht. Ich wäre ohne jene verlangende Bewegung meines Innern gleichsam tot. Je weniger ich mich äußerlich bewegen k a n n , um den erhofften Schlüssel zu erwerben, desto fieberhafter werfe ich mich innerlich hin und her, indem ich Bilder hervorbringe, die mir das Warten erleichtern sollen. Wie übrigens alles, was wir bei unserer naturbedingten Wesensanlage beobachten können, ist diese Erwartung z w a r in sich selbst durchaus richtig, jedoch falsch ausgerichtet. Sie ist richtig, insofern sie der Ausdruck ist für mein tiefes Bedürfnis nach einer Erkenntnis der Dinge, wie sie wirklich sind, nach jener Erkenntnis, die für mich am Eingang z u m „wahren Leben" stehen wird. Weil jedoch meine Sehnsucht sich auf die Dinge richtet, wie ich sie im Augenblick sehe, ist die Ausrichtung meiner Erwartung falsch. Solange mein Verständnis noch nicht geweckt w o r d e n ist durch die richtige Unterweisung, richtet sich mein Verlangen notwendigerweise auf das, was ich kenne, auf das, was ich mir vorstellen kann, d. h. auf die dualistische Welt der Erscheinungen. Für meine Suche nach dem „verlorenen P a r a d i e s " ist es verhängnisvoll, daß ich mir den Schlüssel als etwas vorstellen m u ß , was mir schon begegnet ist, oder was wenigstens von der gleichen A r t ist, wie alles, was ich sonst kenne, auch wo es mir noch nicht konkret begegnet ist. Selbst wenn ich den Schlüssel nicht in festumrissener, gestalthafter Art vor mir sehe, so stelle ich mir meine Rückkehr ins verlorene Paradies doch als einen v o l l k o m m e n glücklichen inneren Zustand vor, der den glücklichen Z u ständen gleichen mag, die ich schon erlebt habe. Die „natürliche" Richtung meiner Sehnsucht liegt notwendigerweise auf der horizontalen Ebene des zeitgebundenen Dualismus. Sie strebt nicht nach etwas Neuem, nach etwas, was diese Ebene durchbricht, sondern nach einer Verbesserung innerhalb der Grenzen des mir schon Bekannten. Nun liegt aber hierin ein handgreiflicher I r r t u m : denn ich e r w a r t e von einer Verbesserung das Vollkommene. Keine Verbesserung von etwas U n v o l l k o m m e nem, und sei sie noch so umfassend, wird aber je Vollkommenheit erreichen. Keine „Entwicklung" u n d kein „Fortschritt" führt zu dem O r t , den der Z e n Buddhismus als „ O r t der Ruhe" bezeichnet. Auch müssen wir beachten, d a ß unsere Sehnsucht, sofern sie sich auf den Gegensatz Zufriedenheit-Unzufriedenheit, Freude-Schmerz richtet, kein Recht hat, die Auflösung dieses Dualismus zu erwarten, d e r allein im Tao Versöhnung finden kann. D i e auf dieses Gegensatzpaar gerichtete Sehnsucht kann ja nur wieder die beiden Pole ihrer Zweiheit herbeirufen. Je s t ä r k e r meine Sehnsucht ist, desto stärker w i r d meine innere G e spaltenheit, gleichviel, ob ich mir ihrer b e w u ß t werde oder nicht. W e n n ich nach dieser Q u e l l e d ü r s t e , so werde ich n u r Salzwasser trinken, das den D u r s t nach

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einem k u r z e n Augenblick vermeintlicher Stillung von neuem wieder steigert. Der Mensch, der das „wahre Leben" innerhalb der Welt der Erscheinungen, innerhalb der ihm vertrauten Welt erwartet, wird bis zu seinem Tode vergeblich darauf w a r t e n . Das „Richtige" an meiner Sehnsucht liegt aber darin, d a ß ich auf etwas anderes als auf mein gegenwärtig gelebtes Leben warte. Dadurch entgehe ich der vollständigen Identifizierung mit diesem Leben, bewahre ich mein Bewußtsein vor einem restlosen Aufgehen in den jeweils gegenwärtigen Erscheinungsformen dieses Lebens. Da jedoch meine Sehnsucht falsch ausgerichtet ist, gerate ich unwillkürlich in eine andere Gleichsetzung hinein: ich identifiziere mich nämlich mit irgendetwas mehr oder weniger klar Vorgestelltem als durchaus Wünschenswertem. U n d da ich es mir vorstelle, m u ß es schließlich auch eine Form haben (sei sie auch noch so subtil), die mein Bewußtsein gefangen nimmt. Wenn ich auch meinem T r a u m vom wiederzufindenden Paradiese einerseits eine gewisse geistige Verfügungsfreiheit gegenüber den jeweiligen Lebensumständen verdanke, so entwertet er andererseits diese so kostbare Freiheit durch die Vorstellung von einer auf b l o ß e r Einbildung beruhenden erscheinungsmäßigen Vollkommenheit. D u r c h diese falsche Ausrichtung meiner Sehnsucht wird in mir die Illusion der Zeit hervorgerufen und das schmerzliche Gefühl, daß diese Zeit sich mir unaufhörlich entzieht. Wenn das Ziel meiner Sehnsucht eine Verbesserung irgendwelcher mir vertrauter Erscheinungen bleibt (die durch R a u m und Zeit bedingt sind), so verlege ich damit meine endgültige Befriedigung in die Zukunft. Auf diese Weise entsteht für mich die angeblich absolute Wirklichkeit der Zeit, der Zeit, die sich mir endlos zu dehnen scheint zwischen dem gegenwärtigen unvollkommenen u n d dem zukünftigen vollkommenen Augenblick, den ich herbeisehne. Mein V e r h a l t e n dieser fälschlicherweise mit absolutem W e r t belehnten Zeit gegenüber ist ambivalent: beim Zurückschauen beklage ich bitter das Entfliehen der Zeit. Ich möchte sie zurückrufen oder doch wenigstens ihr weiteres Entfliehen aufhalten. W e n n ich jedoch in die Zukunft blicke, mochte ich die Zeit so rasch wie möglich verfließen sehen, denn ich kann das Sich-Öffnen des verlorenen Paradieses kaum mehr erwarten. Wenn ich mir irgendeine Epoche meines vergangenen Lebens ins Gedächtnis zurückrufe, erlebe ich sie ganz anders als damals. D e n n jetzt, in der Erinnerung, bin ich frei von jenem stürmischen Verlangen nach einer besseren Zukunft, von dem ich damals besessen war, das mich dem Augenblick entzog und mich d a r a n gehindert hatte, ihn voll zu leben. N u r so erklärt sich mein Zurückverlangen nach einer Zeit, die ich im Grunde gar nicht bewußt genießen konnte. Doch in dem M a ß e , als mein Verständnis durch die richtige Unterweisung geweckt w i r d , vollzieht sich in mir eine Veränderung. Ich beginne zu begreifen, daß meine angeborene, unbegrenzte Sehnsucht von der Erscheinungswelt nichts zu e r w a r t e n h a t , selbst dann nicht, wenn ich deren höchste und weltumfassende Stufe vor Augen habe. Während ich das, was ich seit eh und je erwarte, bisher fälschlicherweise in dieser oder jener Vorstellung verkörpert sah, begreife ich 171

nun, d a ß es nichts anderes als das Satori der Zenlehre ist. Ich begreife, daß dieses Satori n i c h t als eine Verbesserung dessen, was mir jetzt u n d hier vertraut ist, aufgefaßt werden darf, so kühn ich mir diese auch denken mag. Es kann nicht in der Aufhebung eines unaufhebbaren Dualismus bestehen, kann nicht die stufenweise L ä u t e r u n g von etwas „Gutem" sein, das reingewaschen würde von allem Bösen. Es ist vielmehr der Zugang zu „etwas", was über allem Dualismus steht und was diesen Dualismus aufhebt in einer A r t Dreieinigkeit. Natürlich bin ich außerstande, mir dieses " E t w a s " vorzustellen, ich m u ß hinnehmen, daß es sich j e d e r Vorstellung oder Verbildlichung entzieht, d a ß es seiner N a t u r nach vollkommen verschieden ist von allem, was ich bis heute kenne. Wenn mein Verständnis wirklich tief g e h t , so f ü h r t es nicht zu einer neuen Erwartung des Bewußtseins, die dann auf etwas Unvorstellbares gerichtet wäre; denn es gibt überhaupt keinen Bewußtseinsablauf ohne V o r s t e l l u n g , und selbst die Vorstellung von etwas Unvorstellbarem ist noch immer ein Bild. Das richtige Verständnis führt also nicht zu einer neuen bewußten E r w a r t u n g , die sich von der früheren E r w a r t u n g nur formal unterschiede. Diese neue Erwartung entsteht nicht In der Oberflächenschicht unseres Bewußtseins, sondern in der Tiefenschicht des Seelischen, wo sie ein Gegengewicht gegenüber der früheren, aufs Vorstellbare gerichteten E r w a r t u n g bildet und diese dadurch neutralisiert. Das richtige Verständnis läßt tief in mir eine Sehnsucht aufkeimen, die meiner angeborenen Sehnsucht entgegengesetzt ist und sie ergänzt. Es ist, als würde angesichts meiner natürlichen Forderung nach Bejahung innerhalb d e r Grenzen meiner individuellen Eigentümlichkeit die neue Forderung geboren, diese Bejahung nicht länger zu erwarten. Was auf diese Weise entsteht, ist in sich selbst genau so unzulänglich wie das, was vorher da war. Doch wird ein Augenblick kommen, wo die beiden für sich selbst ungenügenden Pole im „Großen Zweifel", von dem das Zen spricht, ihr Gleichgewicht finden und uns dadurch den Zugang zum Satori ermöglichen werden. Es verhält sich damit genau so. als wären wir mit nur einem offenen Auge zur Welt gekommen und m ü ß t e n uns nun anstrengen, a u c h das zweite zu öffnen, um dadurch endlich das „Sichöffnen des dritten Auges" zu erreichen. H a t auch diese neue, aus dem Verständnis hervorgegangene Erwartung im U n terschied zu der natürlichen, aus der unsere bewußte Sehnsucht aufsteigt, ihren Sitz im U n t e r b e w u ß t e n , so ist es uns doch nicht untersagt (wie im übrigen ja nichts untersagt ist), unser geistiges Erlassungsvermögen bewußt anzustrengen, um diese neue Erwartung richtig zu verstehen. (Selbstverständlich wollen wir diese geistige Anstrengung nicht als systematische M e t h o d e zur Erlangung der absoluten Verwirklichung empfehlen.) Diese neue E r w a r t u n g — m a n könnte sie auch E r w a r t u n g des Satori nennen —, ist eine auf etwas Unvorstellbares, durchaus Neues gerichtete Sehnsucht, eine Sehnsucht, die nichts sucht, was ihr schon bekannt und v e r t r a u t ist. Bei dem Versuch, mich in diesen Erwartungszustand zu versetzen, trifft mein geistiges Bewußtsein auf verschiedenartige vorstellbare Wahrnehmungen, die sich ihm dar-

bieten wollen u n d die es wieder verwirft. Da diese zurückgewiesenen W a h r n e h mungen e n t w e d e r außer mir oder in mir ihren Sitz haben (Aspekte der Außenwelt oder innere Zustände), hält ihr Verschwinden meine Erwartung in der Schwebe zwischen diesen beiden Bereichen. Meine Erwartung befindet sich weder außer mir noch in mir, sie haftet weder an einem möglicherweise wahrgenommenen Objekt noch an einem möglicherweise wahrnehmenden Subjekt. Die Erwartung haftet an der Subjekt und Objekt verbindenden Wahrnehmung selbst. Doch ist eben diese W a h r n e h m u n g selbst nicht wahrnehmbar, sie ist wie ein P u n k t ohne festen O r t und ohne Ausdehnung. Es handelt sich hier also um eine potentielle Möglichkeit des Freiwerdens vom Raum, die, wie wir bald sehen werden, mit einem ähnlichen Freiwerden von der Zeit verknüpft i s t Meine alte E r w a r t u n g ließ mich etwas e r w a r t e n , was mir im Augenblick nicht gegeben w a r , was aber für mich immerhin im Bereich des Möglichen lag. Bei meiner neuen Erwartung hingegen erwarte ich etwas, was für mich durchaus nicht existiert, da es nicht vorgestellt werden k a n n . Dieses außerhalb des für mich Erreichbaren befindliche Etwas kann ich weder in der Zukunft noch in der Vergangenheit aufrufen; es liegt außerhalb von R a u m und Zeit (was nicht weiter erstaunlich ist, da ja Raum u n d Zeit, nur zwei Aspekte desselben Systems sind). Wenn ich also dieses durchaus neuartige und nicht vorzustellende Bewußtsein von der Welt, meiner selbst und der Beziehung zwischen beiden erwarte, so e r w a r t e ich damit also etwas, das, da es weder im R a u m noch in der Zeit existiert, sich im Zentrum dieser E r w a r t u n g selbst und im Augenblick dieser E r w a r t u n g befindet, in dem Punkt, von dem das ganze Universum ausgeht und gleichzeitig in der Ewigkeit des Augenblicks, im „hic et n u n c " . H i e r hört auch meine E r w a r t u n g auf, E r w a r tung zu sein, da das, was ich e r w a r t e , durch Raum und Zeit nicht von mir getrennt ist. Nun begreife ich, daß ich einen Irrtum beging, solange ich mir den Satori-Zustand als einen zukünftigen Zustand vorstellte. Die tatsächliche Bewußtwerdung des Satori kann allenfalls als eine Möglichkeit in der Zukunft gedacht werden, keinesfalls aber der Satori-Zustand selbst, in welchem ich mich schon jetzt befinde, schon immer befunden habe und der mein ewiges „Sein' ist. Ich darf auch nicht glauben, d a ß die Bewußtwerdung des Satori-Zustandes mir erst in der Z u k u n f t angeboten w ü r d e , sie wird mir jetzt, in jedem Augenblick angeboten. N u r der Akt meines Annehmens kann im negativen Sinne als zum Bereich des Zeitlichen gehörend betrachtet werden, d.h., d a ß ich in jedem Augenblick sagen kann, daß ich das Satori noch nicht angenommen habe, ohne dabei die Möglichkeit von der H a n d zu weisen, es schon im nächsten Augenblick anzunehmen. Ich bin einem Menschen zu vergleichen, der sich in ein Zimmer eingeschlossen sieht: die Tür zu dem Raum steht weit offen, w ä h r e n d die Fenster vergittert sind. Von Kindheit an bin ich von der Weit d r a u ß e n fasziniert u n d presse mein Gesicht gegen die Gitterstäbe. Meine H ä n d e umfassen krampfhaft dieses Gitter, so stark ist mein Verlangen nach den Bildern von draußen. Da diese Verkrampfung mich d a r a n hindert, das Zimmer zu verlassen, bin ich in gewissem Sinne nicht frei. In Wirklichkeit aber sperrt nichts anderes mich ein 173

als jene Unwissenheit, die mich die Vorstellung des Lebens für das Leben selbst nehmen l ä ß t . Nichts als die Verkrampfung meiner eigenen H ä n d e sperrt mich ein. Ich bin also frei, bin es immer gewesen, und ich werde mir meiner Freiheit bewußt w e r d e n , sobald ich „loslasse". Es ist interessant, das biblische Gleichnis von den zehn Jungfrauen mit den aus dem Zcn~Buddhismus hervorgegangenen Gedanken zu vergleichen: fünf von ihnen, die törichten, sind nicht mit Öl versehen, die klugen haben jedoch dafür gesorgt, und alle schlafen sie bis z u r Ankunft des Bräutigams. Der Schlaf der Jungfrauen w ä r e in diesem Falle ein Symbol für unser ich-bezogenes Leben (mit all seinen Hoffnungs- und Angstträumen). Das Öl wäre ein Symbol für die Erwartung des Unvorstellbaren, des Satori. Solange ich jenes Öl, jene neue, aus dem Verständnis geborene E r w a r t u n g nicht habe, gehöre ich zu den törichten Jungfrauen, die den Bräutigam nicht empfangen können. Am Schluß des Gleichnisses sagt der Bräutigam: „Bleibet wach, denn ihr kennt weder Tag noch Stunde!" In jedem Augenblick kann es sich ereignen, in jedem Augenblick wird es angeboten. H i e r möge eine Zen-Anekdote den Begriff der reinen Erwartung verdeutlichen (rein von Raum und Zeit), die reine Aufmerksamkeit, eine Aufmerksamkeit ohne Objekt ist. Ein Mann ans dem Volke fragte eines Tages den Bonzen Ikkyou: „Meister, willst Du mir nicht ein paar Lehrsätze von höchster Weisheit aufschreiben?" Da nahm Ikkyou einen Pinsel und schrieb damit das Wort: „Aufmerksamkeit". „Ist das alles" fragte der Mann, „willst Du nicht noch etwas hinzufügen?" Darauf schrieb Ikkyou zweimal hintereinander das Wort: »Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit" „Deshalb sehe ich dennoch weder Feinheit noch Tiefe in dem, was Du da schreibst," meinte der Mann enttäuscht. Da schrieb Ikkyou dreimal das gleiche Wort. Fast ärgerlich sagte der Mann: "Was soll dieses Wort Aufmerksamkeit nun schließlich bedeuten?" Und Ikkyou antwortete: „Aufmerksamkeit bedeutet Aufmerksamkeit". t

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XX. Ü B E R D I E PASSIVITÄT DES M E N T A L E N U N D DIE ZERTRÜMMERUNG UNSERER ENERGIE I M V O R L I E G E N D E N KAPITEL WOLLEN W I R V E R S U C H E N , DIE bisherigen Ausführungen über das Satori und die i h m vorangehenden Vorgänge zu vertiefen. Dabei ist es vor allem nötig, zwischen dem von der Zeit nicht a b hängigen Satori-Zustand und dem in der Zeit sich vollziehenden Satori-Ereignis klar zu unterscheiden. Wir haben schon darauf hingewiesen, d a ß der SatoriZ u s t a n d nicht als neuer Zus:and aufzufassen ist, zu dem wir nur noch einen Zugang erhalten m ü ß t e n , sondern als unser ewiger v o n unserem G e b o r e n w e r d e n u n d Sterben unabhängiger Zustand. Jeder von uns lebt im Z u s t a n d des Satori und k a n n gar nicht anders leben. Wo die Zenlehre v o n einem in der Zeit sich ereignenden Satori spricht, wo sie z . B . sagt: „Das Satori kommt u n e r w a r t e t , es k o m m t d a n n , w e n n alle sonstigen Möglichkeiten unseres Wesens erschöpft sind", da spricht sie nicht etwa von dem zeitlosen Satori-Zustand, sondern von dem Augenblick, da w i r uns bewußt werden, d a ß wir uns in diesem Z u s t a n d befinden, oder noch besser: von dem Augenblick, da wir aufhören, zu glauben, d a ß w i r außerhalb dieses Zustandes lebten. Diese Unterscheidung zwischen dem Satori-Zustand und dem Satori-Ereignis ist überaus wichtig. W e n n ich allein den Satori-Zustand sehe, so verfalle ich dem Fatalismus. Blicke ich allein auf das Satori-Ereignis, so verfalle ich dem geistigen Ehrgeiz, der b r e n n e n d e n Forderung nach absoluter Verwirklichung, u n d diese falsche Einstellung k e t t e t mich gerade an jene Illusion, die die Ursache meiner Angst ist. Die merkwürdige Tatsache, daß das Satori-Ereignis, sobald es sich vollzogen hat, von uns nicht mehr als solches gesehen wird, macht es zu einem in seiner A r t einzigen Ereignis. D e r b e w u ß t im Satori lebende Mensch hat nicht länger das Gefühl, vom Bereich des Nicht-Zeitlichen ausgeschlossen zu sein. G a n z im NichtZeitlichen lebend und d a r u m wissend, unterscheidet er nicht mehr zwischen einer Vergangenheit, in der er geglaubt hatte, a u ß e r h a l b des Satori zu leben, und einer Gegenwart, in der er bewußt darin lebt. Das soll nicht e t w a heißen, daß ein solcher Mensch die Erinnerung an die Zeit vor dem Satori-Ereignis verloren h ä t t e . Er kann sich an alles erinnern, an alle Angst und alle Schwäche, an alle inneren Vorgänge, die ihn gezwungen hatten, gegen seine „Vernunft" zu handeln — aber er e r k e n n t nun, daß dies alles schon d e r Satori-Zustand war, daß nichts außerhalb des Satori-Zustandes gewesen ist, ist oder sein w i r d . Es ist selbstverständlich, d a ß für diesen Menschen das Satori-Ereignis nicht länger ein historisches D a t u m sein kann, da ja für ihn Vergangenheit, G e g e n w a r t u n d Z u kunft im S a t o r i - Z u s t a n d selbst ruhen. N u r für uns, für die jenes Ereignis sich 175

noch nicht vollzogen hat, n u r für unsere gegenwärtige trügerische P e r s p e k t i v e gibt es das Satori-Ereignis. Für uns ist der Mensch des Satori ein befreiter Mensch, aber dieser Mensch selbst sieht sich nicht als befreit sondern als frei, u n d z w a r a l s frei v o n E w i g k e i t h e r . S o e r k l ä r t e s s i c h a u c h , d a ß H u i - n e n g e i n m a l s a g e n k a n n : „ V o n d e m A u g e n b l i c k a n , d a ich d i e s e o d e r j e n e I d e e v e r s t a n d , h a t t e ich a u c h S a t o r i " , d a ß e r a b e r e b e n s o g u t auch s a g e n k a n n : „ E s g i b t k e i n e B e f r e i -

u n g , es gibt keine Verwirklichung". Es liegt auf der H a n d , d a ß der Satori-Zustand als nicht an die Zeit gebundener Z u s t a n d frei von Bedingungen sein muß; im besonderen ist er nicht d u r c h das S a t o r i - E r e i g n i s b e d i n g t . D o c h d u r c h u n s e r e v o r l ä u f i g e P e r s p e k t i v e ist e s u n s n u r m ö g l i c h , S a t o r i a l s E r e i g n i s i n s A u g e z u fassen, u n d w i r s e h e n e s n o t w e n d i g e r -

weise als bedingt durch gewisse innere Vorgänge, die wir hier erörtern wollen. D i e Frage nach der Bedingtheit des Satori-Ereignisses erfordert zunächst gewisse Abgrenzungen allgemeiner Art. Der Begriff der Bedingtheit darf hier weniger d e n n je als „Kausalität" verstanden werden. K e i n Geschehen wird durch ein vorhergehendes verursacht, sondern nur bedingt, nach dem Satze des Buddhism u s : „Wenn das eine ist, k a n n das andere entstehen''. Wir untersuchen hier also nicht, was für innere Vorgänge imstande seien, d a s Satori-Ereignis zu verursachen oder zu erzeugen, sondern was für Vorgänge ihm notwendigerweise vorangehen müssen. Andrerseits sehen wir aber, daß diese Bedingtheit, selbst wenn wir sie v o n d e r I d e e d e r K a u s a l i t ä t l o s l ö s e n , e i n n u r s c h w e r z u f a s s e n d e r Begriff b l e i b t . T a t s ä c h -

lich ist das eigentümliche Arbeiten der Aufmerksamkeit, auf welches d a s Satori folgt, kein Vorgang im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr die Aufhebung eines Prozesses, der ein Strukturmoment unserer gegenwärtigen Situation b i l d e t . In Wirklichkeit ist nämlich g e r a d e das Nichtwahrnehmenkönnen des Satori-Zustandes durch gewisse Vorgänge bedingt und daher ist auch die „Bedingtheit" des Satori n u r eine negative A r t von Bedingtheit, d. h. sie besteht darin, daß das, was dieses Nichtwahrnehmenkönnen bedingt, aufgehoben wird. Unsere Untersuchung w i r d sich also der Analyse jener inneren Prozesse zuwend e n müssen, die für den gegenwärtigen Augenblick die Bedingung dafür sind, d a ß wir uns einbilden, nicht im Satori-Zustand zu leben. Wie wir b a l d sehen w e r d e n , handelt es sich dabei um Vorstellungs- u n d Gefühlsvorgänge, in die unsere Lebensenergie einschießt, und wir w e r d e n versuchen, mit der nötigen Präzision herauszuarbeiten, inwieweit unsere Aufmerksamkeit nur unvollkomm e n arbeitet und dadurch die Vorbedingungen für diese Vorstellungs- u n d Gefühlsprozesse schafft. Gehen w i r dabei v o n einer konkreten Beobachtung aus: jemand macht sich über mich lustig, ich gerate in Z o r n und bekomme Lust, meinen Feind anzugreifen. A n a l y s i e r e n wir nun, w a s im Verlauf dieser Szene vor sich geht. W i r werden sehen, d a ß sich unsere inneren Vorgänge in zwei verschiedene Reaktionsweisen aufteilen lassen, die w i r „Primärreaktionen" u n d „Sekundärreaktion" nennen wollen. 176

Bei der P r i m ä r r e a k t i o n wird eine bestimmte Menge von Lebensenergie in mir geweckt. Diese Energie schlummerte bisher latent in meiner zentralen Energiequelle, bis sie durch mein Wahrnehmen einer fremden Energie, die sich gegen das Ich richtete, geweckt wurde. Durch diese angreifende fremde Energie wurde in mir eine Kraft wachgerufen, die ein Gegengewicht zu der Kraft des Nicht-Ich darstellte. Diese Kraft ist noch keine Zornesregung, sie h a t überhaupt noch keine festgelegte F o r m , sie ist vielmehr der Materie zu vergleichen, die in eine Form gegossen werden soll, diesen Vorgang aber noch v o r sich hat. Für einen Augenblick ist die so entstandene K r a f t , die nun in meinem Kräftezentrum in Erscheinung tritt, noch keine K r a f t des Zornes, sondern n u r reine, noch ungeformte Lebenskraft. Diese erste R e a k t i o n (Primärrekation) steht mit einer bestimmten W a h r n e h m u n g der Außenwelt, mit einem bestimmten Erkennen im Zusammenhang. Sie entspricht also einer bestimmten Art von Bewußtsein, das jedoch vollständig verschieden ist v o n allem, was wir sonst so zu bezeichnen pflegen. Es handelt sich nicht um das erkenntnismäßige, geistige Bewußtsein, also nicht um ein klares durchsichtiges Bewußtsein. Es ist vielmehr ein verborgenes, ein reagierendes Bewußtsein d e r Tiefenschicht, also eine A r t organischen Bewußtseins. Es ist das gleiche Bewußtsein, das bei der Auslösung des Kniescheibenreflexes inkraft tritt. Jeder Reflex steht in Beziehung mit diesem organischen Bewußtsein, welches die Außenwelt auf a n d e r e m als intellektuellem Wege " e r k e n n t " . Diese A n n a h m e w i r d gestützt durch Beobachtungen innerer Vorgänge: ich fühle z. B., wie m i r d e r Zorn zu Kopfe steigt, wo er anschließend tausend Bilder erzeugt. Ich fühle ihn aus der Tiefe, aus der organischer. Schicht meines Daseins aufsteigen. Diese Primärreaktion erfolgt äußerst rasch und entzieht sich, wenn ich nicht besonders aufmerksam bin, meiner Beobachtung. W e n n ich jedoch nach einem selchen Zornesanfall untersuche, was im einzelnen in mir vorgegangen ist, so erkenne ich, d a ß eine rein organische, anonyme, aus einer organischen Bewußtseinsschicht aufgestiegene Kraft für einer, kurzen Augenblick in Erscheinung trat, bevor das Wirken meines geistigen, Bilder des Zornes erzeugenden Bewußtseins einsetzte. Wir müssen beachten, daß das organische Bewußtsein, wenn es das Nicht-Ich wahrnimmt, eine Reaktion der Energie auf dieses Nicht-Ich auslöst. Damit ist aber gesagt, d a ß jenes Bewußtsein das Vorhandensein des dem Ich entgegenstehenden Nicht-Ich anerkennt, das heißt also, daß es m i t der kosmischen O r d nung, mit den Dingen, wie sie wirklich sind, in Einklang steht. Dieses Bewußtsein steht über dem Kräfteaustausch zwischen Ich u n d Nicht-Ich, es versöhnt die beiden Pole und beendet sich in Übereinstimmung mit dem T a o . Untersuchen wir nun die Sekundärreaktionen. Durch die dynamische V e r ä n derung meines Wesens, die in der Primärreaktion ihren Ausdruck findet, das heißt durch jenes Freiwerden von Energie als Reaktion auf die drohende Energie der U m w e l t , wird n u n in meinem I n n e r n eine zweite Reaktion ausgelöst In der gleichen Weise wie die Bewegung d e r Außenwelt ein Reagieren meines organischen Bewußtseins ausgelöst hatte, löst nun dieses Reagieren seinerseits — d. h. 177

die innere Bewegung, in der es zum Ausdruck kommt — das Reagieren meines geistigen Bewußtseins aus. U n d diese S e k u n d ä r r e a k t i o n hat nun die Tendenz die anfängliche U n b e w e g t h e i t in meinem I n n e r n wieder herzustellen, indem sie d i e d a r i n freigewordene Energie wieder a b z u b a u e n versucht. W a r u m aber? Weil im Gegensatz zu meinem organischen Bewußtsein mein geistiges B e w u ß t s e i n d a s Vorhandensein des Nicht-Ich nicht anerkennen will. W i r müssen uns dabei an die Erscheinungen zurückerinnern, die wir als unsere ursprüngliche F o r d e r u n g , als unsere Fiktion v o n Göttlichkeit, oder als d e n Anspruch auf absolutes Sein innerh a l b der Grenzen unserer individuellen Eigentümlichkeiten, also auf ein Existieren im absoluten Sinne, bezeichnet haben. Im G r u n d e unserer geistigen Welterkenntnis ist der unaufhebbare Gegensatz zwischen Ich und Nicht-Ich verankert, d. h. „da ich bin, kann kein Nicht-Ich sein". Es ist eben jener Gegensatz, den wir wachrufen, wenn wir d e n Ausdruck E g o gebrauchen, w e n n w i r v o n Identifizierung mit u n s e r e m psycho-somatischen O r g a n i s m u s sprechen. Soweit ich organisches Bewußtsein bin, treffe ich keine diesbezüglichen Unterscheidungen, wohl aber soweit ich geistiges Bewußtsein bin. F ü r mein organisches Bewußtsein bin ich sowohl mit dem Nicht-Ich als auch mit dem Ich identisch. Für mein geistiges Bewußtsein hingegen bin ich n u r mit d e m Ich identisch, bejahe ich dessen alleinige Existenz. Mein geistiges Bewußtsein e r k e n n t nur das Ich. Wenn ich mir also einbilde, eine geistige Erkenntnis d e r Außenwelt zu besitzen, so lerne ich in Wirklichkeit doch immer n u r abgew a n d e l t e Formen meines Ich im jeweiligen K o n t a k t mit der A u ß e n w e l t kennen. D i e Philosophie spricht an dieser Steile v o m „Gefängnis unserer Subjektivität", jedoch l ä ß t sie dabei das organische Bewußtsein außer acht, das zwischen Subj e k t und Objekt nicht unterscheidet, kraft dessen ich im Ansatz schon frei hin. N e h m e n wir n u n das geistige Bewußtsein als das, was es ist, u n d untersuchen wir, was sich daraus für die Erscheinungen meines Innenlebens ergibt. Im Verlauf meiner P r i m ä r r e a k t i o n w a r mein organisches Existenzverlangen v o n der A u ß e n w e l t her in F r a g e gestellt worden, d a h e r war in mir jene K r a f t wachgew o r d e n , die ein Gegengewicht gegen die v o n a u ß e n kommende K r a f t bildet. Im Verlauf der Sekundärreaktion wird mein geistiges „Seins"bedürfnis d u r c h die in mir freigewordene Energie bedroht. D e n n jene Energie begreift die Anerkennung der Außenwelt ein, und dadurch bin ich der Unveränderlichkeit des Prinzips entrissen. Soweit es sich nämlich um mein geistiges Bewußtsein h a n d e l t , sieht es so aus, als wolle ich für die Energiequelle meines Organismus die Attribute des absoluten Prinzips in Anspruch nehmen: Unwandelbarkeit, N i c h t - H a n d e l n . Stetigkeit, Freisein v o n Bedingungen. U n d so m u ß sich die Sekundärreaktion auf das Freiwerden v o n Energie diesem Vorgang widersetzen. Doch k a n n diese Auflehnung gegen die kosmische Ordnung nicht zum Ziele führen. Die Kraft, die in m e i n e m Innern freigeworden ist, kann nicht zurückkehren in den Bereich dies noch nicht in Erscheinung Getretenen. Meine Ablehnung der freigewordenen Energie k a n n also zu nichts anderen führen als z u r Ausschaltung dieser Energie durch ihre Zertrümmerung. 178

Bei beiden Reaktionen w i r d das Gesetz des Gleichgewichts des Tao wirksam. D i e P r i m ä r r e a k t i o n stellt ein Gleichgewicht her zwischen der Kraft des ich und der Kraft des Nicht-Ich. Die Sekundärreaktion versucht das Inkrafttreten meiner Lebensenergie durch die Wiederauflösung dieser Energie auszugleichen. Die P r i m ä r r e a k t i o n ist bestrebt, das Gleichgewicht zwischen Ich und Nicht-Ich zu erhalten. D i e Sekundärreaktion ist bestrebt, das Gleichgewicht innerhalb des Ich zu erhalten, das Gleichgewicht zwischen dem aufbauenden u n d dem zerstörenden P r i n z i p , zwischen Vishnu u n d Shiva. D i e Zertrümmerung der freigewordenen Energie geht durch die Vorstellungsund Gefühlsabläufe vor sich. Diese Prozesse sind, wie wir an anderer Stelle bereits dargelegt haben, wahre Kurzschlüsse, bei denen die Energie sich im Hervorbringen v o n organischen Erscheinungen und gedanklichen Bildern verzehrt. Solche Bildungen des Bewußtseins werden v o n der buddhistischen Philosophie samskaras genannt. Die samskaras besitzen Substanz und F o r m ; ihre einzige Substanz ist unsere Lebensenergie, sofern sie im Begriff steht, sich in diese samskaras aufzulösen. Ihre Form hingegen ist nicht die meine, sie sind meiner Form, der Form meines Organismus fremd, es sind unbegrenzt auswechselbare mentale Bildungen. Wegen ihrer fremdartigen Form stellen die samskaras eine Art „ F r e m d k ö r p e r " dar, die mein Organismus ablehnen m u ß . Es sind irgendwie „ungeheuerliche" Bildungen, die heterogen, ohne innere architektonische H a r monie u n d nicht lebensfähig sind. Doch wenn wir uns d a r a n erinnern, d a ß sie die Zertrümmerung unserer Energie darstellen, wird diese Erscheinung uns nicht weiter in Erstaunen setzen. D a s Auftreten dieser Bilder führt einen circulus vitiosus in mir herbei. D e n n sie wirken ihrerseits auf mein organisches Bewußtsein und z w a r in der gleichen Weise, wie die zuvor in der Außenwelt wahrgenommenen Bilder, u n d dadurch wird eine neue, Energie freimachende Primärreaktion ausgelöst. N u n löst sich diese neuerdings in Erscheinung getretene Energie wieder auf, und so entsteht eine Art „Wiederkäuen" von Vorstellungen und Erregungen, das sich nur allmählich erschöpft wie ein angestoßenes Pendel, das erst nach einer gewissen Schwingungszahl wieder zum Stillstand kommt. Andrerseits erhält aber dieses Wiederkäuen durch das fortgesetzte Wahrnehmen der Außenwelt immer neuen Stoff, in unserem Falle durch das Wahrnehmen des Menschen, der rnich ärgert. So erklärt sich mein Wunsch, diesen Menschen zu schlagen. D i e Sekundärreaktion h a t nun die Tendenz, die auftretende Energie wieder auszuschalten. Indem sie ein Bild v o n mir als dem Angreifer meines Feindes schafft, will sie dem Gegenbild, das meine Energie auslöste, seine Wirksamkeit nehmen. Wenn beim A b b a u der Energie nicht Bilder entstünden, die den oben besprochenen circulus vitiosus immer wieder herbeiführten, käme es gar nicht zu einer aggressiven Reaktion gegenüber der Außenwelt. In diesem Falle bliebe nämlich die Sekundärreaktion ganz auf den im Innern sich vollziehenden, selbstgenügsamen Abbauprozeß beschränkt. Aber eben deswegen, weil dieser P r o z e ß keine Selbstgenügsamkeit besitzt (da er durch sich selbst immer wieder neue, abzubauende Energiequantitäten hervorbringt), überschreitet die 179

S e k u n d ä r r e a k t i o n den Bereich des I n n e r n und treibt mich dazu, auch das mich verneinende O b j e k t der Außenwelt zu beseitigen. Doch h a t die aggressive Tendenz gegenüber diesem Objekt einen mehr zufälligen Charakter, während der eigentliche P r o z e ß , der auf die Zertrümmerung der Energie hinzielt, ein Vorstellungs- u n d Erregungsprozeß ist. Diese Behauptung mag zunächst paradox erscheinen; doch müssen wir beachten, daß die äußeren Gesten, in denen der Z o r n sich e n t l ä d t , beherrscht und unterdrückt werden können, während es aber ohne die entsprechenden Vorstellungs- und Gefühlsprozesse gar keinen Zorn gäbe. Meistens w e r d e ich meinen Feind nicht anrühren, dafür aber vielleicht die erste Vase, die m i r in die H a n d fällt, zerbrechen. Indem ich mich mir selbst als ein dem N i c h t - I c h Schaden zufügendes Ich vorstelle, nehme ich dem Bild eines dem Ich schadenden Nicht-Ich seine Wirkungskraft. Im Grunde kommt es gar nicht darauf a n , ob ich meinen ä u ß e r e n Feind anrühre oder nicht. Das wahre Ziel meiner Sekundärreaktion liegt nicht außer mir, sondern in mir. Was diese Reaktion in Wirklichkeit zu beseitigen trachtet, ist jene Energie, die sich aus ihrer Quelle losgelöst hat and freigeworden ist. Da wir w o h l wissen, daß es für uns keine wirklich objektive W a h r n e h m u n g einzelner Objekte gibt, kann uns dieser Sachverhalt nicht befremden. D a s Einzelobjekt der Außenwelt existiert nicht als solches für mich, ich habe in Wirklichkeit nie etwas damit zu tun, selbst nicht im V e r l a u f der Primärreaktion. Z w a r reagiert die in meinem Innern in Bewegung gebrachte Kraft auf die Außenwelt, doch ist diese K r a f t selbst noch formlos u n d a n o n y m , ist reine Lebenskraft. Sie wird beim K o n t a k t mit der Außenwelt in mir erweckt, aber selbst wenn sie eine objektive Erkenntnis der Welt als G a n z e s zuläßt, so doch niemals eine Erkenntnis einzelner Objekte der Außenwelt. Wenn nun im Verlauf der oben beschriebenen Szene eine dritte Person zu mir sagt: „ W a r u m so zornig?", so wird mein Zorn nur noch zunehmen. Durch diese Bemerkung w i r d mir das Inerscheinungtreten meiner Energie noch deutlicher, und meine Sekundärreaktion wird durch diese Wahrnehmung gesteigert. Das ist ein erneuter Beweis dafür, daß meine Sekundärreaktion allein gegen das Auftreten von Energie in meinem Innern sich richtet u n d nicht gegen meinen äußern Feind. D e n n eine solche Frage betrifft gar nicht meinen äußeren Feind und kann also auch die Reizwirkung, die er auf mich ausübt, nicht erhöhen. Was wir soeben beim Zorn beobachtet haben, gilt gleichermaßen für alle unsere Kontakte mit d e r Außenwelt. Es k o m m t dabei wenig d a r a u f an, ob der Kontakt negativer oder positiver A r t ist. Ist die aus der A u ß e n w e l t auf mich zukommende Kraft positiv, bringt sie m i r eine Bejahung meiner selbst, so antwortet darauf eine Primärreaktion, bei der ebenfalls eine bestimmte Menge reiner Energie wirksam w i r d . D a n n tritt die Sekundärreaktion ein, die die Auflösung jener freigewordenen Energie durch Vorstellungs- und Erregungsprozesse zum Ziel hat, deren Bilder und Gefühlserregungen dieses Mal positiver, erfreulicher Art sind. 180

Ebensowenig ist es ausschlaggebend, ob der Kontakt mit der Außenwelt über Psych« oder Soma midi erreicht. Beim Beispiel des Zornes geschah es auf psychischem Wege, doch k a n n meine Energie ebensogut geweckt werden durch K o n t a k t e , die mein Inneres auf dem Wege über den Körper ansprechen: so k a n n z. B. ein heftiger Zahnschmerz die Verneinung des Ich durch das Nicht-Ich darstellen, das Verschwinden dieses Schmerzes hingegen eine Bejahung des Ich. Beides wird von meinem Erwachen meiner zentralen Energie und deren Z e r trümmerung in mehr oder weniger erfreulichen Vorstellungs- und Erregungsprozessen begleitet. Der Vorgang der doppelten Reaktion ist eine durchaus allgemeine Erscheinung. Er liegt unserem lebenswichtigen Stoffwechsel zugrunde, wobei die P r i m ä r r e a k tion dessen Aufbau, die Sekundärreaktion dessen Abbau vertritt. Die P r i m ä r reaktion entspricht dem Reflex, sie ist zentrifugal. Die Sekundärreaktion entspricht der Reflexion (nicht im übertragenen Sinne des Wortes), sie ist zentripedal, sie richtet sich gegen eine Erscheinung meiner inneren Welt. Die Energiewelle wird also dabei in mein Zentrum „reflektiert" (zurückgebogen). P h y s i o logisch gesehen k ö n n t e man die Primärreakrion mit der Funktion der grauen Gehirnkerne, die Sekundärreaktion mit der Funktion der Gehirnrinde in V e r bindung bringen. Bestimmte, neuerdings möglich gewordene chirurgische E i n griffe setzen, indem sie einen Teil der Verbindungen zwischen diesen beiden Gehirnzentren ausschalten, die Sekundärreaktion stark herab, also die Erregbarkeit, die Vorstellungskraft und die d a m i t zusammenhängende Angst. D i e Primärreaktion entspricht auch dem Freud'schen „Lebensinstinkt", w ä h r e n d die Sekundärreaktion dem „Todesinstinkt" entspricht. Tatsächlich bedeutet das Auftreten von Energie Leben, während umgekehrt die Neigung, diese Energie a b zubauen, einen W i d e r s t a n d , eine Ablehnung gegenüber diesem Leben bedeutet, also eine Tendenz z u m Tode hat. Wenn w i r nun die Freud'sche Unterscheidung beiseite lassen u n d unsere eigene Unterscheidung zwischen "existieren" u n d »leben" näher ins A u g e fassen — das „Existieren", das der Mensch verachtet, und das „Leben", d e m er Wert beimißt —, so sehen wir, d a ß die Primärreakrion mit dem „Existieren", die Sekundärreaktion mit dem „Leben" In V e r b i n d u n g steht. Der gewöhnliche Mensch hält nämlich ganz besonders diejenigen Prozesse für „lebendig", die seine Energie gerade abbauen wollen. Seiner Lebensenergie selbst mißt er keinerlei Wert bei, einen desto größeren aber dem Funkensprühen, das beim Abbau dieser Energie entsteht. Wie weiter oben schon betont, entsprechen den beiden Reaktionen zwei verschiedene Bewußtseinsschichten, der Primärreaktion mein organisches Bewußtsein, der Sekundärreaktion mein mentales oder geistiges oder Vorstellungsbewußtsein, (also das, was man gewöhnlich unter „Bewußtsein" versieht, wenn nähere Angaben fehlen). Mein Vorstellungsbewußtsein ist dualistisch angelegt, da die d a r i n ablaufenden Vorstellung«- und Erregungsprozesse positiver oder negativer, erfreulicher oder unerfreulicher Art sein können. Mein organisches Bewußtsein d a gegen ist nicht dualistisch angelegt, da die daraus aufsteigende Lebenskraft f o r m 181

los, anonym, immer mit sich selbst identisch u n d unabhängig von den Formen ist, die sie später beleben wird. D a s organische Bewußtsein spielt also hinsichtlich des Vorstellungsbewußtseins die Rolle einer H y p o s t a s e , eines versöhnenden P r i n z i p s . Andererseits haben wir auch gesehen, d a ß das organische Bewußtsein nicht zwischen Ich und Nicht-Ich unterscheidet, d a ß sein Wirken eine wesenhafte I d e n t i t ä t zwischen diesen beiden Polen einschließt u n d daher die Möglichkeit für eine wahre Erkenntnis des Weltganzen in seiner Einheit enthält. Diese Eigenschaften in Verbindung m i t dem Sitz dieses Bewußtseins in den tiefsten Schicht e n unseres Wesens führen uns dazu, es als die erste, an die Person gebundene Manifestation des außerpersönlichen prinzipiellen Unbewußten zu begreifen. D i e Aussicht, eines Tages wahrnehmen zu können, d a ß unsere gegenwärtige Befindlichkeit schon der Z u s t a n d des Satori ist, ist an das Erkennen dieses B e w u ß t seins in u n s e r e m Innern gebunden. Zusammenfassend k ö n n t e n wir also sagen, daß allein das organische Bewußtsein eine echte Kenntnis des Weltganzen besitzt. Es w i r d ausgelöst durch unsere U m w e l t und reagiert darauf m i t dem Erwecken von Energie. Das mentale B e w u ß t sein kennt nur meine persönliche Innenwelt, kennt n u r die darin in Erscheinung getretene Energie. Es w i r d ausgelöst durch dynamische Veränderungsvorgänge im Innern und reagiert darauf mit Vorstellungs- und Erregungsprozessen, mit samskaras. Entgegen d e m , was man zu erwarten geneigt ist, ist der Begriff des organischen Bewußtseins einfach und durchaus zureichend, während das, was ich gewöhnlich mit „mein Bewußtsein" bezeichne, schwer zu fassen und daher auch zu benennen ist. Wir haben es „geistig", „psychologisch", „mental", „vorstellend" g e n a n n t , doch ist keine dieser Benennung zufriedenstellend. Wir werden im Verlauf dieser Untersuchung sehen, warum. Sie wird uns zeigen, daß jenes B e w u ß t sein, das der Sekundärreaktion zugrundeliegt, g a r kein eigentliches Bewußtsein ist. Es ist nichts als der Widerstand gegen die W i r k u n g e n des organischen Bewußtseins (des einzig wirklichen persönlichen Bewußtseins), es ist die F o r m , in d e r das unvollkommene Arbeiten des organischen Bewußtseins zum Ausdruck k o m m t . Die Hindernisse im Ablauf des organischen Bewußtseins lassen sich mit einem Hindernis im R ä d e r w e r k „meiner Maschine" vergleichen. Es ist dieses m e n t a l e Pseudo-Bewußtsein, welches das Zen meint, w e n n es davon spricht, d a ß das Satori „das Entfernen des Hindernisses" ist. M i t diesem angeblichen Bew u ß t s e i n wird das G e s a m t aller inneren Erscheinungen bezeichnet, die die T a t sache deutlich machen, d a ß mein organisches Bewußtsein v o r dem Satori nicht uneingeschränkt als „nicht-mentales" arbeitet. Solche Erkenntnisse, so sehr sie auch zu den geltenden Begriffen in Widerspruch stehen mögen, helfen mir, die merkwürdige „Maschine Mensch", die ich selbst b i n , besser zu verstehen. W e n n ich mir die soeben beschriebenen Vorgänge g a n z unpersönlich und allgemein anschaue, so erkenne ich, d a ß sie in O r d n u n g , d, h. vollkommen ausgewogen sind. Beide Reaktionen befinden sich in Übereinstimm u n g mit sich selbst, w e n n auch der Ausgleich durch die Sekundärreaktion schreckliche Ängste mit sich bringen und im Selbstmord enden kann. A n d e r e r 182

seits stellen auch beide Reaktionen untereinander ein genaues Gleichgewicht her. Meine Energie tritt in Erscheinung und wird dann wieder abgebaut und beschreibt dabei eine vollendete Spirale, in deren Verlauf ich m i t dem Nicht-Ich durch eine v o n diesem ausgehende Störung in Verbindung gebracht werde u n d auf diese Weise an der kosmischen Schöpfung mit ihrem aufbauenden und ihrem zerstörenden P o l teilhabe. Dagegen erscheinen diese Vorgänge unvollkommen, wenn ich sie vom Persönlichen, d.h. v o m subjektiven Gefühlsleben her betrachte. Bei ihrem Übergang vom Ich mm Nicht-Ich verliert die Energie für eine bestimmte Zeitspanne ihre Reinheit und Gestaltlosigkeit. Zwischen dem Augenblick, da sie aus der inneren Quelle aufsteigt und dem Augenblick, da sie nach ihrer Auflösung wieder an die Außenwelt zurückgegeben w i r d , hüllt sie sich in das G e w a n d mentaler Bildungen, die meiner eigenen Form fremd sind, und diese eckigen, verletzenden Fremdkörper fügen m i r während ihrer Vertreibung allerlei Leiden zu. Ich fühle diese samskaras, diese „Komplexe", diese „Gerinnsel" als Verneinungen meines „Wesens". Diese „ungeheuerlichen" Bildungen haben gleichzeitig am Ich (da meine Kraft es ist, die sie belebt) und dem Nicht-Ich (da ihre Elemente aus der Außenwelt stammen) teil und stellen so für meine Subjektivität eine V e r s c h m e l z u n g der b e i d e n Pole: Ich und Nicht-Ich vor, die der Dreieinheit zu widersprechen, ja sie zu leugnen scheint. D a h e r ein scheinbares, dem Sein widersprechendes Nichts. F ü r mich, für mein Gefühlsleben sind diese inneren Vorgänge also u n v o l l k o m men. Ich möchte nicht länger leiden müssen und frage daher, wo das Übel sitzt. Ich glaube es in den Vorstellungen u n d Erregungen, in den samskaras, zu sehen und suche also, wie ich diese beseitigen könnte, wie ich erreichen könnte, d a ß meine Energie, ohne mir Leid zuzufügen, von meiner inneren Quelle in die Außenwelt gelangt. Daher der Wunsch, die Voraussetzungen zur Bildung dieser samskaras g e n a u e r kennenzulernen. Wir sind uns ja bereits darüber im k l a r e n , d a ß die Tatsache, daß wir uns n u r mit unserem Organismus und nicht auch mit der übrigen Erscheinungswelt identifizieren, zu solchen Bildungen führt. Dies scheint jedoch nicht auszureichen, und daher wollen wir den versteckten P r o z e ß zu erhellen versuchen, in dem jene Identifizierung, die z u r Bildung der samskaras führt, greifbar wird. Dieser verborgene Vorgang zeigt sich in der gewöhnlicherweise passiven H a l tung meiner Aufmerksamkeit. Weil meine Aufmerksamkeit passiv ist, w i r d sie erst durch die bereits vollzogene Aktivierung von Energie alarmiert und z w a r zu einem Z e i t p u n k t , wo nichts anderes mehr zu tun bleibt, als diese Energie wieder aufzulösen. Meine Aufmerksamkeit befindet sich noch nicht im Zustand freier, unbedingter Bereitschaft, sie wird erst durch die in meinem Organismus sich vollziehende Aktivierung von Energie geweckt, sie ist also durch diese bedingt. So stehe ich immer v o r vollendeter Tatsache. K a u m ist der Augenblick o h n e Dauer überschritten, in welchem meine Energie noch gestaltlos aus den Schöße des noch nicht Erscheinung Gewordenen aufsteigt, so wird die Energie 183.

von der Welt der Formen gleichsam angesaugt. Damit ist die Gelegenheit, sie im Hinblick auf die künftige B e w u ß t w e r d u n g des Satori als gestaltlose Kraft aufzuspeichern, endgültig verpaßt, u n d ihre Auflösung in Vorstellungs- und Erregungsabläufe w i r d unvermeidlich. N u n m e h r befindet sich die Energie im Bereich der Identifizierung mit mir selbst u n d mit voller Wucht rennt sie gegen diese Mauer a n , wobei sie gewissermaßen in „tausend Scherben zerspringt". Es ist, als hätte ich Angst, meine freigewordene Energie zu b e w a h r e n . In meiner ausschließlichen Identifizierung mit meinem eigenen Organismus liegt nämlich die stillschweigende Annahme verborgen, d a ß dieser Organismus „sei", d a ß er dauerhaft, unveränderlich, u n w a n d e l b a r sei. Tritt nun aber die freigewordene Energie in Erscheinung, so erlebe ich den beweglichen, wechselhaften, begrenzten Charakter dieses Organismus, und ich m u ß zu einer Ablehnung dieser freigewordenen Energie k o m m e n , da sie mir ein so unerträgliches Bild v o r Augen führt. Denn paradoxerweise bringt mich die ausschließliche Identifizierung meiner selbst mit meinem eigenen Organismus d a z u , auf keinen Fall ein derart beschränktes Wesen sein zu wollen (Paulus sagt: „Wer wird mich erlösen von diesem Todes-Leibe?") Ich will diesen Leib nicht mehr fühlen. ( D e n k e n wir doch daran, d a ß auch bei der psychischen oder der durch Drogen hervorgerufenen Exstase der K ö r p e r seine stoffliche Dichte zu verlieren scheint.) Nicht schnell genug kann ich die Energie, die in meinem Organismus „anschwillt", die ihn „substanziert", wieder abbauen. Die Auflösungsprozesse werden also unvermeidlich, sobald m e i n e passiv sich verhalterde Aufmerksamkeit durch meine bereits aktivierte Energie wieder geweckt wird. Sie dürfen jedoch keineswegs als „schlecht" oder „nicht sein sollend" aufgefaßt werden. Sie zeugen nicht von einem „schlechten", nur v o n einem unvollkommenen Funktionieren meines Wesens als Erscheinung. Ebenso verhält es sich mit der Identifizierung mit meinem Organismus, aus der diese Prozesse hervorgehen. Diese Identifizierung beruht nicht auf einem I r r t u m , sie ist nur unvollständig, da sie eine gleiche Identifizierung meiner selbst mit dem übrigen Universum ausschließt. Nicht in der Identifizierung mit meinem Organismus besteht die durch meine Ich-Bezogenheit hervorgerufene Täuschung, sondern in der ausschließenden Form, in der diese Identifizierung vorgenommen wird. Das unvermittelte Eintreten des Satori wird niemals diese Gleichsetzung zerstören d . h . das. was innerhalb meiner ich-bezogenen Bedingungen schon verwirklicht ist —, sie wird vielmehr den Schlaf zerstören, in welchem die Identifizierung meiner selbst mit der ganzen übrigen Welt sich noch befindet, d. h. alles, was über die vermeintlichen Grenzer, meines Ego hinausgehend in meinem gegenwärtigen Lebensaugenblick noch in m i r schlummert. Was dann erwachen wird, ist die Identifizierung meiner selbst mit der Ganzheit der Erscheinungswelt. Diese Gedankengänge scheinen uns notwendig, um die richtige Lehre zu verstehen und um ein Stehenbleiben bei nichtigen „Realisierungs"methoden zu vermeiden. Solange ich noch die Vorstellungs- und Erregungsprozesse und meine ausschließliche Identifizierung mit meinem Organismus für ..schlecht" hielt, 184

w u r d e ich folgerichtig dazu geführt, gegen diese E g o zu kämpfen, und d a m i t gegen die Bedingung meiner Ich-Bezogenheit, also gegen meine eigene . M a schine", die ja in diese Bedingung mit einbezogen ist. Daraus aber entsteht ständige innere Disharmonie. W e n n ich hingegen begreife, daß meine inneren Bedingungen niemals „schlecht", sondern nur unvollkommen sind, verstehe ich gleichzeitig auch, d a ß ich dieses Entwicklungsstadium ganz durchleben m u ß , w e n n ich es überwinden will. Das Übel besteht also nicht darin, daß ich jeweils in diesem Stadium lebe, sondern darin, d a ß ich es nicht von Grund auf, nicht in seiner Ganzheit durchlebe. Sehen wir nun zu, wie dies alles sich k o n k r e t auf den Gegenstand unserer Betrachtung anwenden läßt. Wenn ich auf die Energie Verschwendung bei den Vorstellungs- und Erregungsprczessen blicke, gerate ich in Versuchung, diese zu unterdrücken. Ich bin also versucht, das Freiwerden von Energie in mir nicht wie bisher zu bekämpfen, da ja die erwähnten Prozesse mit der Ablehnung dieser Energiefreimachung durch mein mentales Bewußtsein in Verbindung stehen. Doch verändern diese neuen Bemühungen meine innere Lage nicht, sondern komplizieren sie nur. Denn mein Bemühen, etwas nicht länger abzulehnen, ist in der Tat die Ablehnung einer Ablehnung, und da es sich hierbei um eine psychische Anspannung handelt, die einer Verkrampfung entgegengesetzt wird, k a n n dieses Bemühen nicht zu einer wirklichen Entspannung führen. Im Gegensatz zu dem was für die Mathematik gilt, führt hier die Verneinung einer Verneinung nicht zu einer „Bejahung". Es ist also gar nicht möglich, jene Ablehnung zu unterdrücken, die die Aktivierung von Energie in mir hervorruft. Außerdem wäre eine solche Unterdrückung nicht einmal wünschenswert, da, wie wir gesehen haben, jene Ablehnung Teil eines Prozesses ist, der nicht in sich „schlecht", sondern nur unvollkommen ist. Nachteilig ist nicht, daß w i r die Aktivierung unserer Energie ablehnen, sondern d a ß w i r sie unvollkommen, zu spät und daher erfolglos ablehnen. Meine Ablehnung in ihrer gegenwärtigen Form ist gar keine echte Ablehnung, sie ist vielmehr der vergebliche Protest einer vollendeten Tatsache gegenüber, da sie dem inneren Vorgang, den w i r ablehnen, folgt. Nachdem mein mentales Bewußtsein hierbei nicht in aktiver, sondern in reaktiver Weise arbeitet, kann sein Funktionsablauf kein vollwertiges Gegengewicht zu demjenigen des organischen Bewußtseins bilden, denn es reagiert ja n u r auf die Erscheinungsformen jenes organischen Bewußtseins, In Wirklichkeit ist es nicht die Bestimmung meines mentalen Bewußtseins, in dieser reaktiven, weiblichen Form sich auszuwirken, sondern in aktiver m ä n n licher Form. Das organische Bewußtsein ist rein weiblich, es ist dafür geschaffen, auf die Anreize aus der Außenwelt zu reagieren (Primärreaktion). Das geistige Bewußtsein hingegen hat nicht die Bestimmung, auf diese P r i m ä r r e a k t i o n mit einer Sekundärreaktion zu reagieren. Die Ablehnung der auftretenden Energie sollte nicht auf die Aktivierung dieser Energie folgen, sie sollte vielmehr im gleichen Augenblick z u r Wirkung kommen, in welchem diese Energie den Bereich des noch nicht in Erscheinimg Getretenen verläßt. Mein männliches, geistiges 185

Bewußtsein ist d a z u da, das Arbeiten des weiblichen, organischen Bewußtseins auszugleichen und nicht etwa dessen Folgeerscheinungen. N u r auf diese Weise w i r d eine Versöhnung zwischen diesen beiden einander entgegengesetzten, sich e r g ä n z e n d e n Bewußtseinsformen stattfinden können. In der Möglichkeit, d a ß d i e Energie in Erscheinung treten kann, bevor sie von der Welt der Formen aufgeschluckt wird, findet diese Versöhnung ihren Ausdruck. Wenn die vollkomm e n e Ablehnung der Aktivierung von Energie genau in den Augenblick verlegt w i r d , in dem dieser Vorgang sich vollzieht, so unterdrückt sie diese nicht (was den T o d bedeuten w ü r d e ) , sondern schafft ein entsprechendes Gegengewicht gegen den organischen Willen, der sie entstehen läßt. Diese Ausgleichung n u n führt z u r Entstehung einer Energie, die ohne F o r m bleibt, die sich dem Auflösungsp r o z e ß durch Vorstellungen und Erregungen entzieht und die bis zur Entfaltung des Satori gespeichert werden kann. Wenn meine Ablehnung der Energiefreimachung aufhört, passiv zu sein, um im obigen Sinne aktiv zu wirken, so bleibt sie z w a r Ablehnung, insofern sie sich wirksam der Gefahr widersetzt, d a ß meine Energie in die Bildungen des Abbauprozesses "gegossen" wird. Zugleich aber h ö r t sie auf, Ablehnung zu sein, insofern sie nämlich nicht die Aktualisierung d e r gestaltlosen, bisher noch nicht in Erscheinung getretenen Energie zu verhind e r n sucht. W o r i n aber besteht nun im Grunde jene U m w a n d l u n g der reaktiv-weiblichen F o r m der Aufmerksamkeit in eine aktiv-männliche? Wie wir weiter oben schon e r w ä h n t haben, setzt die Aufmerksamkeit, die das Auftreten freigewordener Energie betrifft, jeweils zu s p ä t ein. W ä r e also ein zeitigeres Einsetzen, ein rascheres Reagieren wünschenswert? Auf keinen Fall; denn so schnell die Reakt i o n auch erfolgen m a g , sie wird immer zu spät kommen, da sie „Reaktion" und nicht Aktion ist. Im übrigen darf man den Ausdruck „zu spät" hier nicht im üblichen Sinne des W o r t e s auffassen. Zwischen der von uns beschriebenen Prim ä r r e a k t i o n und der Sekundärreaktion vergeht keine noch so kurze Z e i t . Der Ausdruck „zu spät" m e i n t hier nicht etwa eine Sekunde, nicht einmal einen winzigen Bruchteil einer Sekunde, sondern er ist nur ein Ausdruck für die Tatsache, daß die Reaktion des mentalen Bewußtseins, selbst w e n n sie unmittelbar erfolgt, i m m e r zu spät k o m m t , weil sie Reaktion ist, w a h r e n d sie Aktion sein sollte. U n s e r e Aufmerksamkeit sollte nicht erst durch das Auftreten der Energie, sondern schon z u v o r geweckt w e r d e n . D a s wird möglich, wenn wir, anstatt den im E n t stehen begriffenen Vorstellungsprozessen zuzusehen, auf diejenigen V o r g ä n g e blicken, die erst entstehen wollen. U n d dies w i r d möglich, sobald w i r versuchen, in aktiver Weise das Entstehen der Energie selbst wahrzunehmen, anstatt passiv auf die bereits entstandene Energie und ihre bevorstehende Auflösung unser Augenmerk zu richten. Versuchen wir, es einfacher zu sagen: Eine aktive Aufmerksamkeit erspäht im voraus die Entfaltung der Bewegungen in meinem Innern. Es interessiert uns dabei nicht mehr die Erscheinung unserer Gefühlserregungen, sondern ihr Zustandekommen, nicht mehr die bereits arbeitende Bewegung, 186

sondern jene a n d e r e n , noch ungeformten Regungen, welche die Geburt der formgewordenen darstellen. Wenn auch das aktive Arbeiten meiner Aufmerksamkeit allem Automatischen in meiner N a t u r entgegen sein mag, so kann es doch nicht Gegenstand eines u n mittelbaren Strebens, einer ausgesprochenen Übung, einer „Disziplin" sein, d:c im Hinblick auf die absolute Verwirklichung durchzuführen wäre. Diese so wesentliche Idee der Disziplin werden wir an anderer Stelle weiterentwickeln. Sie sei hier lediglich erwähnt, um den Leser vor einem hartnäckigen und vergeblichen Suchen nach „Vorschriften" für die absolute Verwirklichung zu bewahren. Zunächst wollen wir jedoch zeigen, w a r u m unsere Aufmerksamkeit, sobald sie in aktiver Weise funktioniert, reine Aufmerksamkeit ohne greifbares Objekt ist. Die freigewordene Energie ist niemals als solche w a h r n e h m b a r , sie ist es nur in den Produkten ihres Auflösungsprozesses, den Bildern. D i e Auflösung wiederum kann nur Zustandekommen, wenn die Aufmerksamkeit passiv arbeitet, die aktiv arbeitende Aufmerksamkeit k o m m t ihr verhindernd zuvor. Es gibt daher kein Objekt für unsere Wahrnehmung, solange die Aufmerksamkeit in aktiver Weise arbeitet. Dennoch wird die Energie geweckt, da das organische weibliche Bewußtsein seine Arbeit fortsetzt; doch bleibt die Energie in ihrem ungeformten, reinen Zustand erhalten und tritt nicht greifbar in Erscheinung. So wird der R a t der Zenlehre am besten verwirklicht: ,.Erweckt das Geistige, ohne es an bestimmte Dinge zu binden." Wir können also verstehen, d a ß das geistige Bewußtsein, wenn es unmittelbar, u n d nicht erst durch die organisch-energetischen Reaktionen geweckt wird, notwendigerweise nichts finden wird, an das es sich heften könnte. D a h e r ließe sich der S a t z der Zenlehre auch wie folgt a b w a n d e l n : »Erweckt das geistige Bewußtsein unmittelbar, und es w i r d an keinem einzelnen Dinge haften!" Es ist nicht schwer für uns, die konkrete Erfahrung zu machen, daß die auf u n sere innere W e l t gerichtete Aufmerksamkeit ohne Objekt ist. Wenn ich mich meinen inneren Monologen gegenüber wie ein aktiver Zuhörer verhalte, der diese Monologe sprechen läßt, was sie wollen und wie sie wollen, wenn ich mich absichtlich verhalte nach dem S a t z : „Sprich, ich lausche D i r ! " , so werde ich bald feststellen, d a ß der Monolog abreißt und daß er erst wieder beginnt, wenn ich meine beobachtende, erwartungsvolle Haltung aufgebe. Diese Unterbrechung des Vorstellungsablaufs mag von einigen als U n t e r d r ü c kung des „Lebens" verdächtigt w e r d e n . In Wirklichkeit ist aber der Vorstellungsablauf g a r nicht das Leben. Hervorgebracht durch den Abbau von Energie, die eigentlich für die künftige G e b u r t des „neuen Menschen" im Satori gespeichert werden sollte, gleicht der Vorstellungsprozeß im G r a n d e genommen einer wiederholt vorgenommenen „Abtreibung" des „neuen Menschen". Die Verhinderung dieses Abtreibungsversuchs kann also meinem Leben, meiner echten E n t wicklung in keiner Weise schaden. Wenn ich die Entstehung des angeblichen „Lebens" in m i r überwache und d a m i t dieses »Leben" an seiner Entfaltung hin187

dere, so bereite ich dadurch die Entfaltung des „Existenz"-Bewußiseins, die vollkommene Glückseligkeit des „Existierens" vor. Wir haben von einer männlichen und einer weiblichen Verlaufsform des mentalen Bewußtseins gesprochen und haben diese beiden Modi scharf getrennt. Wir werden nun aber sehen, d a ß beide Formen in Wirklichkeit nebeneinander ablaufen. Es w ä r e vergeblich, sich unmittelbar um die aktive Aufmerksamkeit zu bemühen oder e t w a sich darin „üben" zu wollen oder zu versuchen, vorsätzlich die Entstehung unserer Gefühlserregungen zu beobachten. Solche Bemühungen würden nur d a m i t e n d e n , daß man überhaupt nichts mehr w a h r n ä h m e . Wir sind vorläufig an unseren jeweiligen Vorstellungsablauf gebunden — dies ist sogar unsere ursprüngliche grundlegende Bindung, und der Tod schreckt uns nur, weil wir d a r i n ein Aufhören unseres kostbaren „Bewußtseins" fürchten — und derartige Ü b u n g e n würden diese Bindung unmittelbar zu zerreißen suchen. Durch eine restlose „Vermännlichung" der Aufmerksamkeit w i r d die vollkommene Loslösung, das Durchbrechen der Ich-Grenzen, erst im Satori vollzogen. Sich unmittelbar um jene vollkommene Virilisierung bemühen, hieße also, die endgültige Loslösung „erhaschen", „erobern" zu wollen, und in diesem Versuch ist ein k l a r erkennbarer, innerer Widerspruch enthalten, der i h n von vornherein zum Scheitern verurteilt. Wie w i r immer wieder betont haben, gibt es für die absolute Verwirklichung keine „Vorschriften". Die Prozesse, welche das Satori-Erlebnis bedingen, oder genauer: die Ausschaltung derjenigen Prozesse, derentwegen w i r uns unseres nicht an das Zeitliche gebundenen Satori-Zustandes nicht b e w u ß t sind, ist einzig und allein ü b e r das Verstehen möglich. (Die Tibetaner nennen es „durchdringen-de Schau".) Durch das Verständnis werden nicht diese oder jene Bilder, sondern der Vorstellungs- und Gefühlsablauf als Ganzes entwertet. Jahrelang w a r meine Gläubigkeit .meinen „inneren Filmen" gegenüber groß: ich bin sozusagen immer wieder „ d a r a u f hereingefallen", ich h a b e „daran geglaubt". Ich habe an die angebliche Wirklichkeit dessen geglaubt, w a s der Energieabbauprozeß im Innern mir vorgaukelte. Je mehr aber mein erkennendes Bemühen u n d mein Verständnis fortschreiten, desto geringer wird meine Gläubigkeit, desto weniger lasse ich mich einfangen und desto weniger glaube ich, daß es „das ist, worum es eigentlich geht". Im gleichen M a ß e nimmt auch die Faszinationskraft der Bilder für meine durch diese Bilder bisher passiv erhaltene Aufmerksamkeit ab. Je m e h r meine Aufmerksamkeit sich v o n der Vorstellungswelt ablöst, desto stärker kehrt sie spontan in ihre n o r m a l e Richtung zurück, z u r Quelle meines Seins, zu der umgeformter. Energie, die die Wirklichkeit meines Leben ist (nicht mehr zu den schon geformten Bildern, die die unaufhörliche Abtreibung dieses Lebens verkörpernd. Diese ,.Umkehr"bewegung vollzieht sich unbewußt, da ja meine Aufmerksamkeit, w e n n sie in männlicher Weise w i r k t , ohne Gegenstand ist. W a s ich beobachten kann, ist allein die Tatsache, daß meine innere Vorstellungswelt fortschrei188

tend an scheinbarer Wirklichkeit verliere (die Entwicklung zum Satori-Ereignis hin ist in diesem Sinne ein scheinbarer Abstieg, eine scheinbare Entwicklungsumkehrung, wie weiter oben schon hervorgehoben wurde). An dieser Steile kehren wir wieder zu einem G e d a n k e n zurüdck, dem wir schon einmal Ausdruck verliehen haben, dem Gedanken, d a ß das „reflexive'", „psychologische", „intellektuelle", „mentale" Bewußtsein kein Bewußtsein im eigentlichen Sinn ist, und d a ß vorläufig das organische Bewußtsein in uns Wirklichkeit besitzt. Bei aktivem Arbeiten ist die Aufmerksamkeit ohne bestimmten G e genstand, also unbewußt, u n d die Erscheinungsformen unseres geistigen Bewußtseins verschwinden. D a m i t verschwindet auch das Bewußtsein, das wir bisher als das mentale bezeichnet haben, und das männliche, geistige Prinzip, das sich d a h i n t e r verborgen h a t t e (das Buddhi), wird wieder mit dem weiblichen geistigen P r i n z i p meines organischen Bewußtseins vereint in der Drei-Einheit des Nicht-Mentalen oder Prinzipiellen Unbewußten. Die Berichte der Zen-Meister, die das Satori hatten, erlauben uns einen Einblick in dieses letzte Stadium der Entwicklung. Es kommt ein Augenblick, da die männliche Funktion des Mentalen der weiblichen an Bedeutung gleichkommt: es gibt d a n n ebensoviel ungläubige Klarsicht als gläubiges Blindsein. Es ist der Augenblick des „ G r o ß e n Zweifels". Das organische Bewußtsein läßt sich m i t einem ersten Augen vergleichen (das von G e b u r t an offen ist), das mentale Bew u ß t s e i n wäre dann ein zweites Auge, und die weibliche Verlaufsform dieses Bewußtseins (eines Bewußtseins, das wesenhaft männlich ist) würde bei unseren Vergleich durch eine Verkrampfung vorgestellt, die dieses zweite Auge geschlossen h ä l t . Je stärker das Gegengewicht der männlichen Form dieses Bewußtseins ist, desto eher wird eine Entspannung des Augenlids die Verkrampfung lösen k ö n n e n . Im Augenblick des „Großen Zweifels" ist dieses Gleichgewicht genau hergestellt. Noch ein Schritt, und der „Große Zweifel" zerbricht — das zweite Auge geht auf. Diese gemeinsame völlig neue Sicht der beiden Augen, die den Z u g a n g zu einer vorher ungekannten Tiefe, zu einer neuer, Dimension eröffnet, k a n n m a n als die „Öffnung des dritten Auges" bezeichnen. Mit diesem Vergleich versuchen wir darzustellen, daß es in Wirklichkeit kein drittes zu öffnendes Auge, d. h. kein drittes „über-normales" Bewußtsein gibt. In u n s e r e m Innern soll kein neues „Etwas" erscheinen. Das Satori-Ereignis ist nichts anderes als d e r Augenblick, da unser dualistisch angelegtes Wesen, so wie es jetzt ist, endlich seine w a h r e Wirkungsform entdeckt, indem es seine Aufmerksamkeit zu einem selbständigen und bedingungsfreien Arbeiten erwachen läßt.

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XXI. ÜBER

DEN

BEGRIFF

DER

„DISZIPLIN"

U n s e r e Ü b e r l e g u n g e n i m L i c h t e d e s Z e n h a b e n u n s Ausnahmslos zu der Einsicht gebracht, d a ß es keinerlei „Vorschriften" zur Erlangung der absoluten V e r w i r k l i c h u n g geben k a n n . K e i n System einer besonderen L e bensweise ist i m s t a n d e , d i e S y n t h e s e aller als M ö g l i c h k e i t b e s t e h e n d e n Weisen des L e b e n s h e r b e i z u f ü h r e n ; k e i n e b e w u ß t e A k t i v i t ä t k a n n u n s w i e d e r i n d a s prinzipielle U n b e w u ß t e eingliedern. Keine D r e s s u r und keine Disziplin, in der n o c h eine S p u r v o n K a m p f e n t h a l t e n ist, v e r m a g d e n D u a l i s m u s z u ü b e r w i n d e n , in dem dieser K a m p f ausgetragen wird. U n d so k o m m e n wir zu d e m Schluß, daß es allein dem V e r s t ä n d n i s vorbehalten bleibt, die Täuschung, in der wir im A u g e n b l i c k noch b e f a n g e n s i n d , a u f z u h e b e n u n d u n s d a s S a t o r i - E r l e b n i s z u v e r s c h a f f e n . D a r ü b e r hinaus e r k e n n e n wir, d a ß die E n t f a l t u n g des S a t o r i e i n e Aufspeicherung geballter E n e r g i e in u n s e r e m Innern voraussetzt. Diese Speicherung von Energie w i e d e r u m s e t z t einerseits die theoretische E r k e n n t n i s v o r a u s u n d a n d r e r seits d i e p r a k t i s c h e A n w e n d u n g d i e s e r E r k e n n t n i s d u r c h e i n e b e s o n d e r e A k t i v i t ä t u n s e r e r A u f m e r k s a m k e i t . W i r s e h e n also, d a ß d i e s e E i n s i c h t , d i e a l l e i n d a s S a t o r i uns v e r s c h ä r f e n k a n n , n i c h t n u r als r i c h t u n g g e b e n d e T h e o r i e , s o n d e r n a u c h als innerer Prozeß, durch welchen die Theorie i h r e praktische A n w e n d u n g findet, v e r w i r k l i c h t w e r d e n m u ß . D i e s e r i n n e r e V o r g a n g k a n n sich a l s o n i c h t i n a n g e m e s s e n e r W e i s e v o l l z i e h e n , o h n e d i e Einsicht, d e r e n e i n f a c h e p r a k t i s c h e W e i t e r f ü h r u n g e r d a r s t e l l t . A u s e b e n d i e s e m G r u n d e k ö n n e n s o l c h e V o r g ä n g e auch nicht s e l b s t g e n ü g s a m e , z u r V e r w i r k l i c h u n g f ü h r e n d e V o r s c h r i f t e n s e i n . D e n n o c h stellen sie e i n e g a n z b e s t i m m t e p r a k t i s c h e i n n e r e A r b e i t d a r , e i n e A n s t r e n g u n g , d i e sich i m L e s e n v o l l z i e h : u n d d i e s i c h v o n d e r a b s t r a k t e n E r k e n n t n i s u n t e r scheidet, d i e w i r f ü r k u r z e A u g e n b l i c k s d e r Z u r ü c k g e z o g e n h e i t i n d e n „ E l f e n b e i n t u r m " unseres b e w u ß t e n D e n k e n s erreichen k ö n n e n . W i r k o m m e n so zu z w e i scheinbar in W i d e r s p r u c h m i t e i n a n d e r s t e h e n d e n Gew i ß h e i t e n : einerseits k a n n kein gewollter, m e t h o d i s c h ausgerichteter E i n g r i f f in unser Leben, in unsere inneren und äußeren V o r g ä n g e für das S a t o r i irgendeine W i r k s a m k e i t b e s i t z e n . A n d e r e r s e i t s s e t z t d i e E r l a n g u n g des S a t o r i n o t w e n d i g e r w e i s e e i n e i m V e r l a u f d e s t ä g l i c h e n Lebens g e l e i s t e t e p r a k t i s c h e i n n e r e B e m ü h u n g v o r a u s . A u f v e r s c h i e d e n e n W e g e n sind w i r z u d i e s e n b e i d e n G e w i ß h e i t e n g e k o m m e n u n d doch f ü h r e n u n s b e i d e Wege z u j e n e m sicheren G e f ü h l d e r „ E v i d e n z " , d a s u n s v o n d e r E c h t h e i t eines Begriffes z u ü b e r z e u g e n v e r m a g . J e d e r W i d e r s p r u c h dieser A r t i s t f ü r u n s A n l a ß z u e i n e r w e r t v o l l e n V e r t i e f u n g u n s e r e s Verständnisses, Er f ü h r t zu der Entdeckung einer umfassenderen Sicht d e r D i n g e , 190

einer Sicht, in d e r die beiden v o r h e r g e h e n d e n Blickpunkte sich vereinen u n d ihr scheinbarer G e g e n s a t z aufgehoben w i r d . I m E i n z e l f a l l e m ü s s e n w i r diese i n n e r e B e m ü h u n g s o v e r s t e h e n , d a ß sie nicht z u e i n e m d e m L e b e n durch eine M e t h o d e a u f g e z w u n g e n e n Eingriff wird. H i e r i n s i n d z w e i e r l e i H i n w e i s e e n t h a l t e n : z u e r s t e i n m a l , d a ß die i n n e r e A r b e i t i n Bezug, a u f u n s e r L e b e n k e i n e n . E i n g r i f f " d a r s t e l l t . W e i t e r h i n , d a ß sie k e i n e r l e i m e t h o dischen Z w a n g m i t sich b r i n g e n d a r f . Ü b e r diesen l e t z t e n P u n k t m ü s s e n w i r u n s a m a u s f ü h r l i c h s t e n v e r b r e i t e n , d a w i r i h n b i s h e r noch n i c h t b e h a n d e l t h a b e n . D o c h z u v o r w o l l e n w i r , w a s d e n e r s t e n P u n k : betriff:, a n b e s t i m m t e , bereits dargelegte Begriffe erinnern. Die innere Arbeit auf das Satori hin darf also keinen .Eingriff" in unser Leben darstellen. Mit dem Wort "Eingriff" bezeichnen wir das, was entsteht, wenn i r g e n d e t w a s i n d i e G r u n d e l e m e n t e e i n e r b e s t i m m t e n O r d n u n g „ e i n g r e i f t " , die Beziehungen verschiebt, in denen diese G r u n d e l e m e n t e sonst z u e i n a n d e r stehen, u n d die w e s e n t l i c h e A n o r d n u n g d e s G e s a m t p l a n e s s t ö r t . D i e Z e n l e h r e f o r d e r t : "Stört n i c h t d e n A b l a u f des L e b e n s ! " , u n d d e r Meister h ä l t d e m Schüler einen S t u r z b a c h als B e i s p i e l v o r , d e r o h n e H i n d e r n i s s e d a h i n strömt. S a t o r i g ä b e e s für uns, w e n n wir endlich aufhörten, u n s d e m „Wesen der D i n g e " e n t g e g e n z u s t e l l e n , s o w o h l u n t r e m e i g e n e n W e s e n w i e d e r N a t u r des K o s m o s i m a l l g e m e i n e n . D i e i n n e r e A r b e i t a n u n s selbst d a r f k e i n e i n d i s k r e t e u n d a n s p r u c h s v o l l e E i n mischung i n d e n A b l a u f i n n e r e r o d e r ä u ß e r e r P r o z e s s e z u l a s s e n . D i e s s o l l j e d o c h nicht h e i ß e n , d a ß n i c h t i r g e n d e i n e V e r ä n d e r u n g i n n e r h a l b d i e s e r V o r g ä n g e sich vollziehen k ö n n t e , je näher wir zeitlich d e m Satori-Ereignis rücken. D o c h was a l l e m d i e e n t s p r e c h e n d e n V e r ä n d e r u n g e n h e r v o r z u b r i n g e n v e r m a g , ist d a s A b solute P r i n z i p , d a s U n b e w u ß t e i n u n s , u n d nicht e t w a u n s e r anspruchsvolles B e w u ß t s e i n . W e n n ein „ E i n g r i f f " s t a t t f i n d e t , s o i s t d a s , w a s i n d i e G r u n d e l e m e n t e d e r O r d n u n g „ e i n g r e i f t " , v o n d e r gleichen A r t w i e d i e s e E l e m e n t e selbst, j e d e r E i n g r i f f i n m e i n V e r h a l t e n z . B . b e s t e h t d a r i n , d a ß ich m i d i j e t z t a n d e r s v e r h a l t , doch e s g e h t weiterhin d a b e i u m mein V e r h a l t e n , j e d e r E m g n f i i n mein I n n e n l e b e n , i n m e i n e p s y c h o l o g i s c h e n M e c h a n i s m e n , b e s t e h t i n d e r A u s lösung e i n e s n e u e n M e c h a n i s m u s , w o b e i e s sich a b e r nach w i e v o r u m e i n e n M e chanismus h a n d e l t . W e n n e i n „ E i n g r i f f " i n e i n e b e s t e h e n d e O r d n u n g sich v o l l zieht, s o t r i t t d a b e i nichts i n E r s c h e i n u n g , w a s nicht u r s p r ü n g l i c h z u d i e s e r O r d n u n g g e h ö r t e . N u n s e t z t a b e r die h a r m o n i s c h e S y n t h e s e des m e n s c h l i c h e n W e s e n s das v e r s ö h n e n d e P r i n z i p voraus, welches nicht der O r d n u n g d e r Erscheinungsw e l t a n g e h ö r t , s o n d e r n e b e n diese O r d n u n g t r a n s z e n d i e r t . U n d d o c h d a r f g e r a d e dieses a u s g l e i c h e n d e I n e r s c h e i n u n g t r e t e n d e s P r i n z i p s i n n e r h a l b d e r O r d n u n g nicht als „ E i n g r i f f " v e r s t a n d e n w e r d e n . N u r d a s P r i n z i p s e l b s t k a n n u m g e s t a l tend auf u n s e r e i n n e r e n P r o z e s s e , a u f u n s e r L e b e n e i n w i r k e n , o h n e dieses L e b e n zu stören. W i e d e r h o l t h a b e n w i r schon v o n j e n e r G e s t e i n n e r e r E n t s p a n n u n g g e s p r o c h e n , die k e i n e n „ E i n g r i f f " d a r s t e l l t , d a sie z u r e i n f a c h e n A u f h e b u n g — n i c h t z u r Umgestaltung — des geistigen V o r s t e l l u n g s a b l a u f s führt, o h n e i r g e n d e i n b e s o n 191

deres B i l d m i t sich z u b r i n g e n . W i r s a g t e n a u c h schon, d a ß diese G e s t e a u f e i n e r E b e n e sich v o l l z i e h t , d i e h ö h e r s t e h t als d i e O r d n u n g d e r uns s o n s t v e r t r a u t e n inneren V o r g ä n g e u n d Erscheinungen, wie e t w a das G e h i r n , v o n d e m die E n t spannung der M u s k e l n ausgeht, einer h ö h e r e n Ebene a n g e h ö r t als das K n o c h e n m a r k , d a s sie z u s a m m e n z i e h t . D a s „ A u s f u h r e n " einer solchen G e s t e e n t s p r i c h t e t w a d e m „ U n t e r l a s s e n " der uns s o n s t v e r t r a u t e n inneren Prozesse. W e n n es in d e r G e s t e d e r E n t s p a n n u n g l ä g e , d u r c h d e n G e b r a u c h e i n e s b e s t i m m t e n Bildes — w i e e t w a der V o r s t e l l u n g d e r A u f h e b u n g selbst — u n m i t t e l b a r z u r A u f h e b u n g des V o r s t e l l u n g s a b l a u f s z u f ü h r e n , s o k ö n n t e m a n m i t R e c h t v o n e i n e m i n d i s k r e t e n „ E i n g r i f f " s p r e c h e n , der ü b e r d i e s n i c h t z u r A u f h e b u n g d e s V o r s t e l l u n g s a b l a u f s , s o n d e r n n u r z u r „fixen I d e e " d i e s e r A u f h e b u n g f ü h r e n w ü r d e ( ä h n l i c h w i e eine z u e i n e r A r t A u t o h y p n o s e o d e r K a t a l e p s i e o d e r S y n k o p e f ü h r e n d e K o n z e n t r a t i o n s ü b u n g ) . D i e richtig a u s g e f ü h r t e G e s t e g e l a n g t n u r m i t t e l b a r z u e i n e r E n t s p a n n u n g . Sie n i m m t sie n i c h t u n m i t t e l b a r z u m Z i e l , sie v e r z i c h t e t a u f d i e E i n f ü h r u n g einer g e d a n k l i c h e n V o r s t e l l u n g v o n E n t s p a n n u n g . Im Gegenteil, sie b e s t e h t i n e i n e r u m f a s s e n d e n , u n p a r t e i i s c h e n u n d b e d i n g u n g s l o s e n A n e r k e n n u n g unseres geistigen Bewußtseins m i t all seinen a u f n e h m e n d e n u n d a k t i v e n Kräften. D i e s e G e s t e besteht in einem vorübergehenden I n n e h a l t e n jedes besond e r e n S t r e b e n s , d a s sich m e i n e m L e b e n a u f g e p r ä g t h a t , e s ist, a l s w o l l t e ich mich gleichsam m e i n e r e i g e n e n E x i s t e n z ö f f n e n , d i e u n v e r ä n d e r l i c h u n t e r h a l b m e i n e n L e b e n s b e w e g u n g e n d a i s t . D o c h w i r d d a b e i noch nicht e i n m a l d e r B e g r i f f d e r „ E x i s t e n z " a u f g e r u f e n . D i e s e G e s t e ist w i e ein Blick, d e r u n m i t t e l b a r i n d a s Z e n t r u m d e r v o n m i r restlos b e j a h t e n I n n e n w e i t f i e l e u n d dabei durch diese Schicht h i n d u r c h i n e i n e n m i r b i s l a n g noch u n b e k a n n t e n Bereich v o r d r ä n g e . D a d i e s e r Blick nichts E i n z e l n e s b e v o r z u g t , d a e r o h n e „ V o r u r t e i l " u n d o h n e Z i e l a u s g e s a n d t w u r d e , f ä l l t e r a u f n i c h t s u n d f ü h r t so, o h n e d a ß i c h e s b e a b s i c h t i g t h ä t t e , z u r A u f h e b u n g des V o r s t e l l u n g s a b l a u f s . E r i s t s o z u s a g e n e i n e t o t a l e F r a g e o h n e b e s o n d e r e F o r m u l i e r u n g , eine F r a g e , d i e o h n e A n t w o r t b l e i b t , d a sie k e i n e e r m ö g l i c h t , E s i s t e i n e K a m p f a n s a g e , d i e k e i n e n F e i n d z u m Z i e l n i m m t o d e r trifft, e i n e A u f m e r k s a m k e i t a u f alles, d i e k e i n e n G e g e n s t a n d k e n n t . D i e A u f h e b u n g d e s V o r s t e l l u n g s a b l a u f e s , die o h n e g e s u c h t w o r d e n z u s e i n , auf d i e s e W e i s e e r reicht w i r d , h a t j e d o c h n u r v o r ü b e r g e h e n d e n C h a r a k t e r . Sie b e s i t z t k e i n e S t e t i g k e i t , sie ist wie e i n B l i t z aus d e m Bereich d e s Z e i t l o s e n i m S c h o ß e d e r Z e i t , u n d i n nichts g l e i c h t s i e j e n e n „ Z u s t ä n d e n " , i n die m i c h , i m G e g e n s a t z h i e r z u , e t w a K o n z e n t r a t i o n s ü b u n g e n v e r s e t z e n k ö n n e n . D a diese G e s t e , d i e g e s c h i e h t , u m d i e „ S e l b s t s c h a u " z u g e w i n n e n , k e i n e D a u e r b e s i t z t , k a n n sie a u c h n i c h t z u r Schau des „ d r i t t e n A u g e s " führen, s o n d e r n diese n u r v o r b e r e i t e n . Es h a n d e l t sich u m e i n w i e d e r h o l t e s S c h e i t e r n , d a s i n e i n e m l e t z t e n S c h e i t e r n sich v e r d i c h t e n m u ß , u n d d a s e i n e s T a g e s die T ä u s c h u n g a u f h e b e n w i r d , I n d e r i c h b i s h e r noch b e f a n g e n b i n , die T ä u s c h u n g , d i e d a r i n b e s t e h t , d a ß ich g l a u b e , n i c h t i m S a t o r i Z u s t a n d zu leben. W e n n die G e s t e v o r ü b e r g e h e n d e r E n t s p a n n u n g das Satori-Ereignis vorbereitet, d a n n d e s h a l b , w e i l d i e d a d u r c h erreichte v o r ü b e r g e h e n d e A u f h e b u n g des Vor192

stellungsablaufs j e d e s m a l d e n circulus vitiosus zwischen Bildern und Gefühlse r r e g u n g e n d u r c h b r i c h t . Dieser circulus vitiosus, d e n w i r auch „ W i e d e r k ä u e n v o n V o r s t e l l u n g e n u n d Gefühlen" g e n a n n t h a b e n u n d der auch d e m entspricht w a s w i r als „ E r r e g u n g s z u s t a n d " , als „ i n n e r e V e r k r a m p f u n g " , a l s „ K o p p e l u n g d e s G e f ü h l s l e b e n s m i t d e m V e r s t a n d e " b e z e i c h n e t h a b e n , ist e i n i n n e r e r A u t o matismus, d e m ein s t a r k e r passiver W i d e r s t a n d innewohnt. Dieses Wiederkäuen v o n V o r s t e l l u n g e n l ä u f t nicht u n u n t e r b r o c h e n m i t gleicher I n t e n s i t ä t a b , doch h a t es in j e d e m S t a d i u m unserer E n t w i c k l u n g eine b e s t i m m t e E n t f a l t u n g s m ö g lichkeit. Diese Möglichkeit n u n w i r d d u r c h d i e Augenblicke d e r E n t s p a n n u n g nach u n d nach a u f g e b r a u c h t u n d u n t e r g r a b e n . D i e I n t e n s i t ä t des circulus vitiosus z w i s c h e n B i l d e r n u n d G e f ü h l s e r r e g u n g e n w i r d i n z u n e h m e n d e m M a ß e a b g e schwächt u n d dies findet in einer fortschreitenden V e r w a n d l u n g unseres Innenlebens, unserer S c h a u der D i n g e im allgemeinen seinen A u s d r u c k . Nicht als w ä r e u n s v o r d e m S a t o r i a u c h n u r d e r k l e i n s t e B r u c h t e i l d e r „ S c h a u d e r D i n g e , wie sie w i r k l i c h s i n d " , v e r g ö n n t , doch v e r l i e r t u n s e r e g e g e n w ä r t i g e S c h a u a n „Schwere", an D i c h t e und Faszinationskraft. U m d i e V e r w a n d l u n g begreiflich z u m a c h e n , d i e d u r c h d i e i n n e r e A r b e i t bei d e r S c h a u d e r D i n g e e r r e i c h t w i r d , w o l l e n w i r u n s e i n e s Beispiels b e d i e n e n . W i r w o l l e n den Film u n s e r e r Vorstellungen vergleichen mit den P r o j e k t i o n e n eines gew ö h n l i c h e n F i l m e s , b e i d e m ein P r o j e k t i o n s a p p a r a t , e i n e L e i n w a n d u n d ein Lichtkegel, der b e i d e verbindet, n o t w e n d i g sind. W e n n nun die Projektionsvorr i c h t u n g g e n a u a u f d i e L e i n w a n d e i n g e s t e l l t i s t , k a n n i c h d o r t k l a r e B i l d e r erk e n n e n , bei d e n e n L i c h t u n d S c h a t t e n scharf k o n t r a s t i e r t s i n d . W e n n ich n u n nach u n d nach d i e L e i n w a n d n ä h e r a n d e n P r o j e k t i o n s a p p a r a t h e r a n b r i n g e ohne a n diesem i r g e n d e t w a s z u v e r ä n d e r n , s o w e r d e n d i e B i l d e r a l l m ä h l i c h a n K l a r h e i t u n d a n K o n t r a s t e i n b ü ß e n . E s k o m m t d a n n ein A u g e n b l i c k , w o ich sie n u r n o c h mit M ü h e e r k e n n e u n d w o die s c h w a r z e n S c h a t t e n g r a u g e w o r d e n s i n d . N o c h s p ä t e r erscheinen n u r b l a s s e u n b e s t i m m t e S c h a t t e n , w ä h r e n d d i e a l l g e m e i n e H e l l i g k e i t auf d e r L e i n w a n d z u n i m m t . U n d schließlich, w e n n d i e L e i n w a n d den A p p a r a t fast b e r ü h r t , w i r d s i e g a n z w e i ß u n d f l i m m e r n d . Der Projektionsapparat

symbolisiert

hier

das

prinzipielle

Unbewußte

oder

N i c h t - M e n t a l e , die Q u e l l e unseres B e w u ß t s e i n s , der Lichtkegel d a s U n t e r b e w u ß t e u n d die L e i n w a n d d a s Bewußtsein. Diese „ L e i n w a n d " w i r d n u n durch u n s e r e ichb e z o g e n e p e r s ö n l i c h e B e s t i m m t h e i t i n e i n e r E n t f e r n u n g g e h a l t e n , i n d e r die Bild e r „scharf e i n g e s t e l l t " sind. U n d h i e r w i r d d u r c h d i e F o r d e r u n g nach a b s o l u t e m Sein i n n e r h a l b d e r G r e n z e n u n s e r e r i n d i v i d u e l l e n E i g e n t ü m l i c h k e i t u n s e r e Aufmerksamkeit festgehalten.

Dieser Z u s t a n d entspricht der

parteiischen

inneren

E i n s t e l l u n g , m i t d e r ich das, w a s ich l i e b e , d e m , w a s ich n i c h t l i e b e , g e n a u entg e g e n s e t z e . Bei d i e s e m l e b h a f t e n K o n t r a s t v o n L i c h t u n d S c h a t t e n r u f e n d i e Bild e r s t a r k e G e f ü h l s e r r e g u n g e n h e r v o r , d i e w i e d e r n e u e B i l d e r a u s l ö s e n u n d der g a n z e A b l a u f d e s F i l m e s s t e l l t s o d a s „ W i e d e r k ä u e n " m e i n e r V o r s t e l l u n g e n und Gefühlserregungen

dar. 193

I m A u g e n b l i c k der E n t s p a n n u n g , der g e g e n s t a n d s l o s e n A u f m e r k s a m k e i t , b e f i n d e t sich d i e L e i n w a n d i n u n m i t t e l b a r e m K o n t a k t m i t d e m P r o j e k t i o n s a p p a r a t u n d ist, g a n z v o n reinem Licht ü b e r s t r a h l t , b i l d e r l o s . Jenes reine Licht e n t z i e h t sich m e i n e r W a h r n e h m u n g , w e i l alles i n e i n e m A u g e n b l i c k sich v o l l z i e h t u n d w e i l ich n i c h t s w a h r n e h m e n k a n n , w a s n i c h t D a u e r h ä t t e , d a j e d e W a h r n e h m u n g E r i n n e r u n g ist. D o c h d u r c h d i e s e n A u g e n b l i c k o h n e B i l d e r n i m m t die M a c h t d e s circulus vitiosus a b , die die L e i n w a n d v o m P r o j e k t i o n s a p p a r a t entfernt hält, u n d die L e i n w a n d rückt n ä h e r . W i r d die B e w e g u n g der E n t s p a n n u n g mit g e n ü g e n d e r B e h a r r l i c h k e i t w i e d e r h o l t , s o n ä h e r t sich d i e L e i n w a n d i m m e r m e h r . L i c h t e r u n d S c h a t t e n des V o r s t e l l u n g s f i l m e s v e r l i e r e n a n K o n t r a s t w i r k u n g , d i e ä u ß e r e n U m r i s s e , d i e sie g e g e n e i n a n d e r a b t r e n n e n , w e r d e n w e n i g e r scharf u n d d i e S c h a t ten w e r d e n grau. D a s will nicht besagen, d a ß mein D e n k e n a n K r a f t e i n b ü ß e , nur m e i n e „Werturteile", meine „Ansichten", meine „Überzeugungen" verlieren a n H ä r t e u n d z w i n g e n d e r K r a f t . D a s Z u n e h m e n e i n e r allseitigen H e l l i g k e i t a u f d e r L e i n w a n d ist d e m A b n e h m e n m e i n e r U r a n g s t g l e i c h z u s e t z e n , u n d d a m i t einer Erleichterung meiner gesamten Gefühlslage. Der d e m Satori vorangehende „Große Zweifel" entspricht dem letzten S t a d i u m d i e s e r E n t w i c k l u n g . D i e L e i n w a n d b e f i n d e t sich d a b e i g a n z n a h a m P r o j e k t i o n s a p p a r a t . D e r i n n e r e B e w u ß t s e i n s z u s t a n d ist s e h r k l a r u n d frei v o n B e k l e m m u n g e n . D i e tief i n u n s e r e m G e f ü h l s l e b e n v e r a n k e r t e V e r n e i n u n g w i r d f a s t g a n z a u s g e s c h a l t e t u n d d i e A n g s t v e r s c h w i n d e t , w e n n a u c h die e x i s t e n t i e l l e G l ü c k s e l i g k e i t d e r B e j a h u n g n o c h nicht bis i n s B e w u ß t s e i n g e d r u n g e n ist. D i e v o m G e h i r n erzeugten geistigen Bildformen, die s a m s k a r a s , sind v e r s c h w u n d e n ; d a h e r k o m m t d e r B e t r o f f e n e z u d e r A u s s a g e , e r sei „ s c h w a c h s i n n i g o d e r d u m m g e w o r d e n " . D i e A u f l ö s u n g d e r S c h a t t e n g i b t sich i n d e m G e f ü h l z u e r k e n n e n , d i e W e i t sei t r a n s p a r e n t , sei e i n e m „ K r i s t a l l p a l a s t ä h n l i c h " g e w o r d e n . „ B e r g e s i n d n i c h t m e h r B e r g e u n d W a s s e r nicht m e h r W a s s e r " . N o c h e i n e S t u f e w e i t e r u n d d i e A u f m e r k s a m k e i t , d i e d e r Q u e l l e des U n b e w u ß t e n schon s o n a h e g e k o m m e n ist, v e r a n k e r t sich e n d g ü l t i g d a r i n — sie ist a m „ R u h e o r t " . F ü r e i n e n A u g e n b l i c k ist j e d e r U n t e r s c h i e d z w i s c h e n L e i n w a n d , L i c h t k e g e l u n d P r o j e k t i o n s a p p a r a t ausgelöscht. D a n n tritt w i e d e r u m alles i n Erscheinung, u m a b e r n u n in einfacher, h a r m o n i s c h e r , für uns bislang n i c h t v o r s t e l l b a r e r Weise sich abzuspielen. D i e s e s B e i s p i e l l ä ß t uns v e r s t e h e n , i n w e l c h e r W e i s e b e i d e n i n n e r e n B e m ü h u n g e n d e r Kreislauf der Lebensenergie v e r w a n d e l t w i r d . J e n ä h e r die L e i n w a n d d e m P r o j e k t i o n s a p p a r a t r ü c k t , d e s t o w e n i g e r l ö s t sich d i e L i c h t e n e r g i e i n s c h w a r z - w e i ß e F o r m e n auf. D a s S t r a h l e n b ü n d e l ist a n s e i n e m f e r n s t e n P u n k t , d o r t w o e s a u s der Q u e l l e t r i t t , r e i n e s W e i ß , r e i n e s L i c h t , W i r h a b e n schon d a r a u f h i n g e w i e s e n , d a ß u n s e r e E n e r g i e u n g e f o r m t a u s d e r Q u e l l e a u f s t e i g t , i n d e r sie noch n i c h t in Erscheinung g e t r e t e n w a r u n d h a b e n d a m i t das V o r h a n d e n s e i n e i n e r E n e r g i e z u g e g e b e n , d i e z w a r n o c h u n g e f o r m t ist, a b e r d e n n o c h sich a n schickt, i n E r s c h e i n u n g z u t r e t e n . S c h e i n b a r ist dies e i n m e t a p h y s i s c h e r W i d e r spruch, da keine Manifestierung ohne Form vorgestellt werden kann. D a s A b 194

s u r d e r ü h r t j e d o c h n u r v o n d e n W o r t e n h e r , d i e d i e B e w e g u n g bei d e r E n t s t e h u n g d e r E n e r g i e erstarren z u lassen d r o h t e n . W e n n w i r v o n einer z w a r i n E r s c h e i n u n g t r e t e n d e n a b e r doch noch u n g e f o r m t e n E n e r g i e sprechen, w o l l e n w i r m i t diesen unzulänglichen W o r t e n jenen Augenblick o h n e D a u e r a u f r u f e n , i n d e m d i e E n e r g i e g e r a d e a u s i h r e r Q u e l l e h e r a u s t r i t t . W i r w o l l e n sie a u f j e n e r a n g e n o m m e n e n G r e n z l i n i e z w i s c h e n d e m n o c h nicht i n E r s c h e i n u n g G e t r e t e n e « u n d d e m schon Erscheinung G e w o r d e n e n bezeichnen, w o l l e n jenen A u g e n b l i c k g r e i f b a r m a c h e n , w o sie v o n i h r e m U r s p r u n g h e r g e s e h e n s c h o n i n E r s c h e i n u n g t r i t t , v o n d e r g e s a m t e n E r s c h e i n u n g s w e i t h e r g e s e h e n j e d o c h noch u n g e f o r m t scheint. Die z u v o r e r w ä h n t e „ B a l l u n g umgeformter E n e r g i e " m u ß v e r s t a n d e n w e r d e n als e i n e i m m e r m e h r a n w a c h s e n d e M ö g l i c h k e i t , d e r E n e r g i e d e n circulus; v i t i o s u s von B i l d e r n u n d G e f ü h l s e r r e g u n g e n z u ersparen. N a c h d e m w i r n u n die i n n e r e A r b e i t als e i n „ L o s l a s s e n " , e i n e m o m e n t a n e u n d v o l l k o m m e n e E n t s p a n n u n g u n s e r e s b e w u ß t e n Seins i n E r i n n e r u n g g e b r a c h t h a b e n , k o m m e n wir z u d e m wesentlichsten P u n k t dieser v o r l i e g e n d e n U n t e r s u c h u n g : W a n n ist e s a n g e b r a c h t , dieses „ N i c h t - H a n d e l n " ' , dieses „ L o s l a s s e n ' z u ü b e n ? A n dieser S t e l l e l a u e r t e i n e G e f a h r : W e n n ich S a t o r i n ä m l i c h i r r t ü m licherweise als Erfüllung m e i n e r i n d i v i d u e l l e n E i g e n t ü m l i c h k e i t ansehe a u s der t r ü g e r i s c h e n P e r s p e k t i v e e i n e s „ Ü b e r m e n s c h e n " , d a n n b e g e h r e ich d e s S a t o r i , d a n n e r s e h n e ich e s u n m i t t e l b a r , d a n n „ w i l l " ich e s i m g e w ö h n l i c h e n S i n n e dieses W o r t e s . W e n n ich a u f d i e s e W e i s e A n s p r u c h a u f S a t o r i e r h e b e , a n d e r e r s e i t s j e d o c h d i e W i r k s a m k e i t d e s „ L o s l a s s e n s " begriffen h a b e , s o b i n ich g e z w u n g e n d i e s e s L o s l a s s e n z u v o l l z i e h e n . E i n Z w a n g , d e r sich f o l g e r i c h t i g a u s m e i n e m A n s p r u c h auf a b s o l u t e s S e i n als I n d i v i d u u m e r g i b t , t r e i b t m i d i d a z u , m e i n e m G e s a m t o r g a n i s m u s d i e G e s t e d e r E n t s p a n n u n g a u f z u e r l e g e n , o b dieser d a r a u f a n s p r i c h t o d e r nicht. E s v e r s t e h t sich v o n selbst, d a ß a u f d i e s e Weise k e i n e echte E n t s p a n n u n g möglich w e r d e n k a n n , u n d n u r w i e d e r u m e i n e v e r k r a m p f t e V o r stellung von „ E n t s p a n n u n g " h e r a u s k o m m e n kann. D i e s alles w i l l j e d o c h n i c h t h e i ß e n , d a ß e s bei d e r r i c h t i g d u r c h g e f ü h r t e n i n n e r e n A r b e i t k e i n e r l e i D i s z i p l i n g e b e n k ö n n e , d o c h m u ß sie i n e n t s p r e c h e n d e r W e i s e verstanden werden. Bei jeder inneren Disziplin bestimme „ I r g e n d e t w a s " den G a n g m e i n e r psycho s o m a t i s c h e n „ M a s c h i n e " . W a s a b e r m u ß dieses „ I r g e n d e t w a s " sein, w e n n d i e i n n e r e A r b e i t s i n n v o l l sein s o l l ? U m diese F r a g e b e a n t w o r t e n z u k ö n n e n , w o l l e n w i r z u n ä c h s t e i n m a l z e i g e n , w a s dieses „ I r g e n d e t w a s " n i c h t s e i n darf, u n d z u d i e s e m Z w e c k d i e u n s v e r t r a u t e n Begriffe des „ a u f sich selbst e i n e n Z w a n g a u s ü b e n " , d e r „ S e l b s t b e h e r r s c h u n g " , d e s „Willens" analysieren. W i r w e r d e n z u n ä c h s t n i c h t a u f e i n e n ä h e r e U n t e r s u c h u n g des b e r ü h m t e n u n d v e r f ä n g l i c h e n „ W i l l e n s " e i n g e h e n u n d w o l l e n v i e l m e h r b e i der U n t e r s u c h u n g des „ Z w a n g s , den wir auf u n s selbst ausüben", d e n A u s d r u c k „ W i l l e n " nach d e m g e w ö h n l i c h e n S p r a c h g e b r a u c h a n w e n d e n . E i n e n E i n f l u ß , einen b e s t i m m t e n D r u c k ausüben, kann Einfluß auf m e i n e äußere H a l t u n g b e d e u t e n — e t w a „ g u t e " T a t e n oder „ g u t e " U n t e r l a s s u n g e n (Askese) — o d e r a b e r E i n f l u ß auf d i e i n n e r e 195

H a l t u n g , a l s o „ g u t e " G e f ü h l e , „ g u t e " G e d a n k e n o d e r geistige Ü b u n g e n z u r E r r e i c h u n g eines „ g u t e n " F u n k t i o n i e r e n s m e i n e s G e h i r n e s ( K o n z e n t r a t i o n , M e d i t a t i o n , völlige Leere des G e h i r n s usw.). Bei einer gründlichen A n a l y s e dessen, w a s i m V e r l a u f s o l c h e r E i n w i r k u n g e n v o r sich g e h t , r i n d e t m a n z u n ä c h s t i m m e r d i e „ g e w o l l t e " A u f r u f u n g eines e i n z e l n e n B i l d e s o d e r e i n e s S y s t e m s v o n B i l d e r n als e r s t e n M e c h a n i s m u s . S o w e i t e s sich u m M e d i t a t i o n e n h a n d e l t , w i r d d i e s b e s o n d e r s d e u t l i c h ( s e l b s t w e n n d i e a u f g e r u f e n e V o r s t e l l u n g die d e r A b w e s e n h e i t v o n B i l d e r n sein s o l l t e ) , u n d e b e n s o v e r h ä l t e s sich a u c h b e i ä u ß e r e r T a t e n , d a j a d e r E n t s c h l u ß z u j e d e r H a n d l u n g v o n d e r K o n z e p t i o n ihrer g e i s t i g e n V o r s t e l l u n g a u s g e h t . J e d e E i n w i r k u n g auf m i c h s e l b s t b e s t e h t also i n e i n e m „ a b s i c h t l i c h e n " geistigen A u f r u f e n v o n B i l d e r n , i n e i n e m v o r s t e l l u n g s m ä ß i g e n „ V o r g e h e n " , i n dessen V e r l a u f m e i n e „ P a r t e i n a h m e " für ein bestimmtes B i l d z u U n g u n s t e n a l l e r a n d e r n B i l d e r d e u t l i c h w i r d . D i e s e s P a r t e i e r g r e i f e n für e i n e e i n z e l n e F o r m m e i n e r G e s a m t v e r w i r k l i c h u n g u n d folglich gegen a l l e i n d e m als M ö g l i c h k e i t v o r h a n d e n e n F o r m e n v e r h i n d e r t jene E i n w i r k u n g a u f u n s selbst d a r a n , a n d e r S y n t h e s e unseres G e s a m t w e s e n s m i t z u a r b e i t e n . Ich k a n n s o n u r h a n d e l n , w e n n ich a l l e a n d e r e n H a n d l u n g e n , d i e ich g e r a d e nicht a u s f ü h r e , a b l e h n e , u n d d a h e r w i r d k e i n e Vereinheitlichung meines Wesens möglich. D i e bev o r z u g t e n Bilder sind, g e n a u wie die a b g e l e h n t e n , samskaras. D i e s e M e t h o d e k a n n a l s o d e n V o r s t e l l u n g s - u n d E r r e g u n g s p r o z e ß als G a n z e s nicht b e e i n f l u s s e n ; s o w e r d e n lediglich d i e d u r c h d i e s e n P r o z e ß h e r v o r g e b r a c h t e n F o r m e n m o d i f i z i e r t . D i e b e v o r z u g t e n s a m s k a r a s i n t e n s i v i e r e n sich, sie n e i g e n d a z u , sich z u verselbständigen, u n d es entstehen Vorstellungsgewohnheiten. Auf diese W e b e k a n n ich e t w a d i e G e w o h n h e i t a n n e h m e n , L i e b e s g e f ü h l e f ü r die g a n z e W e l t z u h e g e n u n d dabei die u r s p r ü n g l i c h e i n m i r a n g e l e g t e Aggressivität v e r n a c h l ä s s i gen. W o h l w i r d bei diesem V o r g a n g eine b e s t i m m t e Erscheinung v e r w a n d e l t , doch findet kein ü b e r s c h r e i t e n dieser F o r m , k e i n e T r a n s f o r m a t i o n s t a t t . W i e w i r s c h o n h e r v o r g e h o b e n h a b e n , b i l d e n s o l c h e M e t h o d e n nicht i n s i c h s e l b s t e i n H i n d e r n i s f ü r d i e E r l a n g u n g des S a t o r i . E i n e V e r s t ä r k u n g b e s t i m m t e r s a m s k a r a s a u f K o s t e n a n d e r e r k a n n d i e i n n e r e S i t u a t i o n des M e n s c h e n i m H i n b l i c k a u f e i n e m ö g l i c h e V e r w a n d l u n g k a u m b e e i n f l u s s e n . W a s nicht f ü r d a s S a t o r i a r b e i t e t , b e g n ü g t sich d a m i t , nicht d a f ü r z u a r b e i t e n , a b e r e s gibt n i c h t s , w a s i m s t a n d e wäre, dem Satori entgegenzuwirken. D e r Unwissenheit eignet gegenüber d e m Z e i t l o s e n o d e r d e r m ö g l i c h e n V e r w i r k l i c h u n g des Z e i t l o s e n k e i n e e i g e n t l i c h e W i r k l i c h k e i t . Sie b e d e u t e t hinsichtlich d e s S a t o r i Ereignisses n u r v e r l o r e n e Zeit. A n d i e s e r Stelle l ä ß t sich e i n E i n w a n d e r h e b e n : W e n n ich i n der r i c h t i g e n W e i s e „ l o s l a s s e " , s o a n e r k e n n e ich d a b e i g a n z u n t e r s c h i e d s l o s jegliches B i l d . E s k a n n sich a l s o n i c h t l ä n g e r d a r u m h a n d e l n , e i n b e s o n d e r e s B i l d a u f z u r u f e n , d e n n m e i n e r I n n e n w e l t g e g e n ü b e r g i b t e s k e i n e P a r t e i l i c h k e i t m e h r . Bis h i e r h e r scheint a l l e s s e i n e R i c h t i g k e i t z u h a b e n . W o l l t e ich j e d o c h mich n u n selbst v e r a n l a s s e n , d i e G e s t e des »Loslassens" systematisch zu v o l l z i e h e n , weil ich d a s S a t o r i „beg e h r e " , w o l l t e ich sie j e d e s m a l v o l l z i e h e n , w e n n ich d a r a n d e n k e , o h n e m e i n e r 196

jeweiligen i n n e r e n Lage R e c h n u n g zu tragen, so w i r d n o t w e n d i g e r w e i s e diese gleichmäßige A n e r k e n n u n g sämtlicher Bilder w i e d e r u m z u einem b e v o r z u g t e n B i l d e w e r d e n , u n d s o w e r d e ich z u m gleichen W i d e r s i n n z u r ü c k k e h r e n . Z u m e r s t e n m a l s t o ß e n wir hier a u f einen wesentlichen G r u n d b e g r i f f , nämlich auf die F o r d e r u n g , d a ß m a n d e r jeweiligen inneren L a g e Rechnung t r a g e n müsse. W a s die übliche Auffassung d e r Disziplin v o n d e r richtigen Auffassung, die w i r h i e r z u u m r e i ß e n v e r s u c h e n , u n t e r s c h e i d e t , ist n i c h t s a n d e r e s als d i e T a t sache, d a ß b e i d e r ü b l i c h e n A n w e n d u n g der D i s z i p l i n d e r i n n e r e n L a g e n i c h t Rechnung g e t r a g e n wird. A n a l y s i e r e n w i r n u n , w a s e i g e n t l i c h v o r s i c h g e h t , w e n n w i r a u f uns selbst e i n e n Z w a n g a u s ü b e n . J e d e E i n f l u ß n a h m e a u f uns selbst ist ein K a m p f z w i s c h e n z w e i Bestrebungen. W e n n irgend j e m a n d a u s ästhetischen G r ü n d e n fastet, u m a b z u n e h m e n , s o e n t b r e n n t e i n K a m p f z w i s c h e n der T e n d e n z , d e n A p p e t i t z u b e f r i e d i g e n u n d d e r a n d e r e n T e n d e n z , schöner u n d d a r u m d ü n n e r z u w e i d e n . E i n a n d e r e r fastet u m seiner „geistigen" W e i t e r e n t w i c k l u n g w i l l e n , u n d dieser F a l l weist im G r u n d e wenig Unterschied v o m vorhergehenden auf, denn der Wunsch nach „ g e i s t i g e r " W e i t e r e n t w i c k l u n g ist offensichtlich a u c h e i n a u f m e i n e P e r s o n b e z o g e n e r W u n s c h . E r ist a l s o , g e n a u w i e d i e L u s t z u e s s e n , e i n B e s t r e b e n , sich innerhalb d e r G r e n z e n seiner individuellen Eigentümlichkeit zu bejahen. In beiden F ä l l e n sehen w i r also gleichartige T e n d e n z e n g e g e n e i n a n d e r k ä m p f e n . E s v e r h ä l t sich w i e b e i z w e i M e n s c h e n , d i e a n d e n e n t g e g e n g e s e t z t e n E n d e n e i n e s Seiles z i e h e n o d e r d i e sich g l e i c h z e i t i g auf d i e e n t g e g e n g e s e t z t e n E n d e n e i n e s Stockes s t ü t z e n w o l l e n . Dieser K a m p f , diese S p a n n u n g zwischen beiden T e n d e n z e n m u ß genau u n t e r schieden w e r d e n v o n i h r e m Z u s a m m e n s p i e l , d a s i h r n o r m a l e s V e r h a l t e n k e n n zeichnet. J e d e s V e r h a l t e n , d a s ich e i n n e h m e , o h n e e i n e n Z w a n g auf m i c h s e l b s t a u s z u ü b e n , k a n n n i e m a l s n u r A u s d r u c k f ü r eine e i n z e l n e T e n d e n z sein. V i e l fältige T e n d e n z e n r e a g i e r e n i n m e i n e m I n n e r n a u f j e d e W a h r n e h m u n g d e r A u ß e n w e l t . D i e e i n f a c h e , e i n h e i t l i c h e F o r m , d i e i n e i n e m n i c h t absichtlich g e lenkten V e r h a l t e n sichtbar w i r d , g e h t aus einer u n t e r b e w u ß t e n Z u s a m m e n o r d n u n g der v e r s c h i e d e n a r t i g e n T e n d e n z e n h e r v o r u n d s t e l l t s o d a s E r g e b n i s e i n e s K r ä f t e p a r a l l e l o g r a m m s dar. W o h e r a b e r k o m m e n n u n die Unterschiede in d e r A r t u n d W e i s e , i n d e r diese T e n d e n z e n d u r c h e i n a n d e r s p i e l e n ? W a r u m f ü g e n sie sich m a n c h m a l f a s t u n b e m e r k t i n e i n a n d e r , w ä h r e n d sie e i n a n d e r m a l bis z u m Z e r r e i ß e n sich i n m e i n e m I n n e r n b e k ä m p f e n ? W a s hier h e m m e n d e i n g r e i f t , ist d i e P a r t e i l i c h k e i t . E s m u ß e i n e S p a n n u n g i n m i r e n t s t e h e n , w e n n ich f ü r d i e eine u n d g e g e n d i e a n d e r e T e n d e n z P a r t e i e r g r e i f e . Die gefühlsmäßige Vorliebe für e i n e einzelne T e n d e n z b r i n g t in d e m passiv r e a g i e r e n d e n m e n t a l e n Bereich e i n P a r t e i e r g r e i f e n m e i n e s I n t e l l e k t e s u n d d a m i t ein W e r t u r t e i l . D i e s f ü h r t z u d e r Ü b e r z e u g u n g , d a ß d i e e i n e T e n d e n z „ i s t " , a l s o auch e x i s t i e r e n solle, d a ß e i n e a n d e r e h i n g e g e n nicht „ i s t " , folglich a u c h n i c h t existieren d ü r f e . A u f d i e s e W e i s e s e t z e ich mich selbst m i t d e r v o n m i r b e v o r 197

z u g t e n T e n d e n z g l e i c h ( a l s o eine Ü b e r s e t z u n g m e i n e s g a n z e n W e s e n s a u f d i e e i n e T e n d e n z , d e r e n „ S e i n " ich z u e r k e n n e n g l a u b e ) . H i e r w i e ü b e r a l l l i e g t d e r I r r t u m n i c h t i n der G l e i c h s e t z u n g m e i n e r s e l b s t m i t einer beliebig g e w ä h l t e n Tendenz v e r a n k e r t , s o n d e r n n u r in dem ausschließenden C h a r a k t e r dieser Gleichsetzung, das h e i ß t in d e r Ablehnung entgegengesetzter T e n d e n z e n . W i r müssen dabei b e a c h t e n , daß die U n z u l ä n g l i c h k e i t d e r Gleichs e t z u n g , d i e i n n e r h a l b d e s p e r s ö n l i c h e n M i k r o k o s m o s sich v o l l z i e h t , i n e i n e r b e s t i m m t e n B e z i e h u n g s t e h t z u d e r U n z u l ä n g l i c h k e i t , d i e ich e r f a h r e , w e n n ich mich m i t d e m M i k r o k o s m o s i d e n t i f i z i e r e n m ö c h t e . S o b a l d ich u n t e r A u s s c h l u ß des N i c h t - I c h m i t m e i n e m Ich m i c h gleichsetze, ist k e i n e G l e i c h s e t z u n g m i t der wirklichen G a n z h e i t des Ich m e h r möglich. M e i n persönlicher M i k r o k o s m o s w i r d dann seinerseits in Ich u n d N i c h t - I c h aufgespalten, so z. B. in T e n d e n z e n , d i e ich a l s d i e m e i n e n a n e r k e n n e , u n d solche, d i e ich als m i r f r e m d v e r l e u g n e . E i n e n M a g n e t e n k a n n m a n i n b e l i e b i g v i e l e S t ü c k e teilen, u n d j e d e s B r u c h s t ü c k w i r d w i e d e r z w e i P o l e b e s i t z e n . J e d e S p a l t u n g e r z e u g t eine U n z a h l w e i t e r e r S p a l t u n g e n . D i e s e I d e n t i f i z i e r u n g m i t d e r o d e r j e n e r T e n d e n z u n t e r A u s s c h l i e ß u n g aller a n d e r e n v o r h a n d e n e n T e n d e n z e n f i n d e t i n d e r T a t s a c h e ihrer. A u s d r u c k , d a ? d e r M e n s c h d a s G e f ü h l h a t , e r s e l b s t k ä m p f e g e g e n die T e n d e n z , d i e e r a b l e h n t . D i e u n t e r b e w u ß t e Z u s a m m e n o r d n u n g d e r K r ä f t e h a t ihrer b e w u ß t e n feindlichen E n t g e g e n g e s e t z h e i t P l a t z g e m a c h t , d a s sich E r g ä n z e n d e d e r p o l a r e n S p a n n u n g t r i t t h i n t e r d e m feindlichen G e g e n s a t z zurück. D i e beiden K r ä f t e w i r k e n n i c h t m e h r , a l s g e h ö r t e n sie e i n e m h a r m o n i s c h e n G a n z e n a n . D u r c h m e i n e P a r t e i l i c h k e i t v e r h a l t e n sie sich, als g e h ö r t e n sie z w e i v e r s c h i e d e n e n „ G a n z e n " a n . „ S o b a l d i h r G u t u n d Böse habt, folgt d i e V e r w i r r u n g , u n d d e r G e i s t ist verl o r e n . ' " G e r a d e d e r i r r e f ü h r e n d e Begriff d e s „ W i l l e n s ' ' , w i e e r i m a l l g e m e i n e n v e r s t a n d e n w i r d , i s t d a s u n h e i l v o l l e E r g e b n i s e i n e r solchen G l e i c h s e t z u n g d e s M e n s c h e n m i t einer v o n i h m gewählten T e n d e n z . Dieser „Wille" stellt eine besondere K r a f t f ü r sich d a r , d i e sich w o h l v o n d e n T e n d e n z e n u n t e r s c h e i d e t u n d d i e die F ä h i g k e i t b e s i t z t , u n t e r diesen T e n d e n z e n e i n e A r t P o l i z e i r e g i m e z u erricht e n . K e h r e n w i r z u d e m B i l d des M e n s c h e n z u r ü c k , d e r e i n e F a s t e n k u r m a c h t , u m s c h l a n k e r z u w e r d e n . E r i d e n t i f i z i e r t sich s e l b s t m i t d i e s e r ä s t h e t i s c h e n T e n d e n z u n d i s t sich d a h e r d i e s e r T e n d e n z a u c h n i c h t m e h r b e w u ß t . "Wenn e r v o n s e i n e r K u r a b g e w i c h e n ist, s a g t e r n i c h t e t w a : „ M e i n e E ß l u s t ist s t ä r k e r g e w e s e n a l s m e i n " W u n s c h , s c h ö n z u s e i n " , s o n d e r n e r w i r d s a g e n : „ M e i n e E ß l u s t ist s t ä r k e r g e w e s e n a l s i c h " . I m e n t g e g e n g e s e t z t e n F a l l e w ü r d e e r s a g e n : " I c h b i n mein e r E ß l u s t H e r r g e w o r d e n . " D a n u n d i e s e r M e n s c h d i e T e n d e n z , d i e d e n Sieg d a v o n g e t r a g e n h a t , g a r n i c h t m e h r a l s solche e m p f i n d e t , d a e r a b e r d e n n o c h f ü h l t , d a ß i r g e n d e i n e M a c h t diese E ß l u s t b e s i e g t h a t , n e n n t e r d i e s e M a c h t seinen „ W i l l e n " . E s l a s s e n sich auch s c h w i e r i g e r g e l a g e r t e F ä l l e b e o b a c h t e n , d i e aber im G r u n d e alle auf das Gleiche h e r a u s k o m m e n : So könnte e t w a in einem Menschen, d e r s t o l z ist a u f d i e T r i u m p h e s e i n e s W i l l e n s o d e r d e r ü b e r d e s s e n N i e d e r -

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l a g e n sich s c h ä m t , d e r W u n s c h e r w a c h e n , m ö g l i c h s t v i e l „ W i l l e n s k r a f t " z u b e sitzen. So k o m m t es zu einer P a r t e i n a h m e f ü r diejenige T e n d e n z , d e r e n Wesen e s ist, i m W i d e r s p r u c h z u j e d e r a n d e r e n b e l i e b i g e n T e n d e n z z u s t e h e n . D a s S t r e b e n nach „ S e l b s t b e h e r r s c h u n g " ist nichts a n d e r e s . M a n k ö n n t e v i e l l e i c h t e i n w e n d e n , d a s K o n t r o l l i e r e n d e r eigenen T e n d e n z e n m ü s s e noch n i c h t n o t w e n d i g e r weise heißen, d a ß m a n zu ihnen im Widerspruch stehe. Doch w i r d m a n zugeben m ü s s e n , d a ß j e d e K o n t r o l l e , s e l b s t w e n n sie e i n e n V o r g a n g g u t h e i ß t , e i n e n W i d e r s p r u c h i m m e r h i n a l s M ö g l i c h k e i t m i t sich b r i n g t . W e n n e i n a n d e r e r m e i n e H a n d l u n g e n k o n t r o l l i e r t , s o e m p f i n d e ich d a s m i t Recht als e i n e V e r n e i n u n g m e i n e r F r e i h e i t . V i e l l e i c h t w i r d d e r M e n s c h , d e r f a s t e t , u m sich z u b e w e i s e n , d a ß e r d a z u i m s t a n d e sei, b e h a u p t e n , d a ß e r s i c h dieses F a s t e n v o l l k o m m e n „ o h n e jede A b s i c h t " a u f e r l e g t h a b e u n d d a ß e s sich d a b e i n i c h t u m e i n e T e n d e n z h a n d l e , die s e i n e r E ß l u s t e n t g e g e n w i r k e n s o l l e . T r o t z d e m e r k e n n t e r , d a ß e s sich u m eine T e n d e n z h a n d e l t , die d a s Z e p t e r ü b e r u n s e r e I n n e n w e l t s c h w i n g e n m ö c h t e , u m e i n e T e n d e n z z u r T y r a n n i s , d u r c h w e l c h e e r selbst t y r a n n i s i e r t w i r d . Er wollte nicht l ä n g e r S k l a v e seiner Wünsche u n d Triebe sein, h a t dabei aber alle S k l a v e r e i a u f d e n e i n e n W u n s c h k o n z e n t r i e r t : frei z u s e i n v o n a l l e n W ü n schen. Die i n n e r e S i t u a t i o n b l e i b t s o i m g a n z e n g e s e h e n d i e g l e i c h e , u n d sie w i r d i m H i n b l i c k a u f die M ö g l i c h k e i t des S a t o r i w e d e r g e b e s s e r t n o c h v e r s c h l i m mert. D a s „Sich selbst b e z w i n g e n " k a n n z u r „ H e i l i g k e i t " f ü h r e n , d a s h e i ß t z u r h a r m o n i s c h e n E i n h e i t eines p o s i t i v e n W e s e n s z u g e s , d e r a l l e i n z u r G e l t u n g k o m m e n darf, j e d o c h n i e m a l s z u e i n e r E i n s w e r d u n g d e r W e s e n s g e s a m t h e i t o d e r z u m Satori. Im H i n b l i c k auf unsere nichtzeitliche V e r w i r k l i c h u n g erfüllt d e r sogenannte „Wille" keinen Zweck. B e h a l t e n w i r i m A u g e , d a ß bei d e r „ w i l l e n s m ä ß i g " a u s g e ü b t e n S e l b s t b e z w i n g u n g d e r B e t r o f f e n e seine i n n e r e V e r f a s s u n g n i c h t b e r ü c k s i c h t i g t ; e r ü b t d i e s e n D r u c k auf sich selbst a u s , s o oft e s i h m i n d e n S i n n k o m m t . W e n n e r e s u n t e r l ä ß t , d a n n n u r , w e i l e r s e i n e „Pflicht" v e r g e s s e n h a t . U n d s e l b s t w e n n e s v o r k o m m t , d a ß e r a n d i e s e S e l b s t b e z w i n g u n g d e n k t , o h n e sie a u s z u ü b e n , d a n n n i c h t e t w a , weil e r s e i n e i n n e r e S i t u a t i o n i n R e c h n u n g s t e l l t . S o b a l d n ä m l i c h d e r a u f die eigene P e r s o n a u s g e ü b t e Z w a n g als e t w a s p r i n z i p i e l l R i c h t i g e s a n g e s e h e n w i r d , s o b e d e u t e t d i e s schon soviel w i e eine A u s l ö s u n g dieses D r u c k e s . W e n n e r dennoch z u w e i l e n n i c h t z u r A u s w i r k u n g k o m m t , geschieht d i e s , w e i l d i e e n t gegengesetzte T e n d e n z v o n A n f a n g a n s t ä r k e r w a r . W e n n ich s o d i e W i r k u n g s l o s i g k e i t j e d e r „ S e l b s t b e z w i n g u n g " e i n g e s e h e n h a b e , gerate ich i n d i e V e r s u c h u n g , d e n j e n i g e n R e c h t z u g e b e n , die „sich l e b e n l a s s e n " , die nicht auf sich s e l b s t , n u r auf die A u ß e n w e l t e i n e n Z w a n g a u s ü b e n , u m z u erreichen, w a s i h n e n z u k o m m t . D o c h w e r d e i c h a l s b a l d g e w a h r , d a ß d i e s e r V e r such auf e i n e r i r r i g e n Ü b e r l e g u n g b e r u h t : W e n n n ä m l i c h d i e s e g e l e g e n t l i c h e n A n s t r e n g u n g e n d e r S i t u a t i o n des M e n s c h e n h i n s i c h t l i c h des S a t o r i s c h a d e n w ü r den, s o m ü ß t e j a d e r M e n s c h , der a l l e diese A n s t r e n g u n g e n u n t e r l i e ß e , d e m Satori n ä h e r k o m m e n . W i e w i r a b e r e r k a n n t h a b e n , k a n n d i e s e r a u s g e ü b t e Z w a n g nicht a l s s o l c h e r ein H i n d e r n i s b i l d e n , u n d d i e T a t s a c h e , d a ß m a n n i c h t 199

m e h r f ü r i h n e i n t r i t t , k a n n a l s o a u c h nicht ein H i n d e r n i s b e i s e i t e schaffen, d a » gar nicht v o r h a n d e n w a r . V i e l w i c h t i g e r ist a b e r e i n e a n d e r e g r u n d s ä t z l i c h e W i d e r l e g u n g , d i e g e g e n d i e quietistische Einstellung vorgebracht werden kann. In Wirklichkeit läßt nämlich d e r M e n s c h , d e r k e i n e r l e i Z w a n g a u f sich s e l b s t a u s ü b t , sich n u r d e m S c h e i n e n a c h l e b e n , n i c h t a b e r i n d e r T a t , W e n n sein m e n t a l e r B e r e i c h i n d a s Z u s a m m e n s p i e l s e i n e r u n t e r b e w u ß t e n T e n d e n z e n nicht mit B e w u ß t s e i n störend e i n g r e i f t , s o k a n n e r d o c h u n b e w u ß t sich s t ö r e n d a u s w i r k e n . W e n n k e i n e b e w u ß t e Entgegensetzung von Tendenzen, sondern nur ein „Zusammenklang" vorwalt e t , s o v e r h ü l l t dieser s c h e i n b a r h a r m o n i s c h e Z u s a m m e n k l a n g m e i s t e n t e i l s n u r e i n e u n t e r b e w u ß t e S p a n n u n g . E i n solcher M e n s c h h a t v i e l l e i c h t k e i n b e w u ß t e s theoretisches „ I d e a l " , w o h l aber ein unterbewußtes, rein praktisches. Durch d i e E r f a h r u n g n ä m l i c h , d a ß seine T e n d e n z e n ihm b a l d B e j a h u n g , b a l d V e r n e i n u n g e i n b r a c h t e n , h a b e n sich i n s e i n e m I n n e r n k o n k r e t e p r a k t i s c h e U r t e i l e ü b e r d i e s e T e n d e n z e n h e r a u s g e b i l d e t , d i e sie b i l l i g e n o d e r v e r u r t e i l e n . N o t w e n d i g e r w e i s e sieht d e r Mensch einen b e s t i m m t e n K a u s a l z u s a m m e n h a n g zwischen den T e n denzen u n d ihren praktischen Auswirkungen. Da er ihren A u s w i r k u n g e n verh a f t e t i s t , e r g r e i f t e r n o t w e n d i g e r w e i s e f ü r o d e r gegen d i e s e o d e r j e n e T e n d e n z P a r t e i , u n d d a r a u s entsteht die s e k u n d ä r e T e n d e n z , d i e P r i m ä r t e n d e n z e n z u k o n t r o l l i e r e n . E i n solcher M e n s c h , d e m e s s c h e i n b a r n u r d a r u m g e h t , die A u ß e n w e l t z u beherrschen, führt i m V e r b o r g e n e n ebenfalls einen inneren K a m p f u n t e r d e r t y r a n n i s c h e n Vorherrschaft seines praktisch ausgerichteten „ I d e a l s " . W a s sich b e i d i e s e m M e n s c h e n a b s p i e l t , ist k o m p l e x e r e r N a t u r als d i e V o r g ä n g e b e i m V e r f e c h t e r d e s „ W i l l e n s " . B e i m V e r f e c h t e r d e s „ W i l l e n s " ist d i e i n n e r e K o n t r o l l e stets k l a r z u e r k e n n e n , u n d e i n e b e w u ß t e S i c h t u n g d e r T e n d e n z e n s p i e l t bei ihrer A n e r k e n n u n g w i e bei i h r e r U n t e r d r ü c k u n g die H a u p t rolle. Tatsächlich w i r d bei diesem Menschen eine T e n d e n z n i e einfach a n e r k a n n t ; d e n n w e n n sie nicht u n t e r d r ü c k t w i r d , w i r d sie s o f o r t d u r c h d i e k o n t r o l l i e r e n d e S e k u n d ä r t e n d e n z a k t i v i e r t . B e i d e m M e n s c h e n h i n g e g e n , d e r sich n u r seines K a m p f e s g e g e n die U m w e l t b e w u ß t w i r d , k a n n m a n d i e i n n e r e K o n t r o l l e n u r in ihrer unterdrückenden F o r m w a h r n e h m e n . W e n n n u n die kontrollierende T e n d e n z e i n e P r i m ä r t e n d e n z n i c h t u n t e r d r ü c k t , s o a k t i v i e r t sie d i e s e h i e r d u r c h n i c h t , s o n d e r n l ä ß t sie, w i e sie ist, d a ß h e i ß t , sie t r i t t m i t d e r Z e i t a u ß e r K r a f t . D i e M e c h a n i s m e n eines solchen M e n s c h e n k ö n n e n z u w e i l e n e i n e g e w i s s e „ S p o n tanität" aufweisen. Z u s a m m e n f a s s e n d l ä ß t sich f e s t s t e l l e n , d a ß ein M e n s c h , d e r n i c h t b e w u ß t i n n e r lich a n sich a r b e i t e t , d e s w e g e n n o c h nicht „ l o s l ä ß t " . I n s e i n e r i n n e r e n "Welt herrscht nicht etwa völlige U n p a r t e i l i c h k e i t . Selbst die r e l a t i v e S p o n t a n i t ä t , a u f die w i r g e r a d e h i n g e w i e s e n h a b e n , ist k e i n e echte U n m i t t e l b a r k e i t . Bei i m pulsiven H a n d l u n g e n bedeutet mein unterbewußtes Verhalten meinen Tendenz e n , m e i n e n v e r s c h i e d e n e n „ I c h s " g e g e n ü b e r noch k e i n „ J a " z u r G e s a m t h e i t d i e ser T e n d e n z e n . E s ist lediglich ein „ J a " z u d e r j e w e i l s i n F r a g e k o m m e n d e n T e n d e n z , doch ein wählerisches „ J a " , d a s v o n einem „ N e i n " g e g e n ü b e r d e n ü b r i g e n 200

. I c h - M ö g l i c h k e i t e n b e g l e i t e t w i r d . D a s b e d e u t e t s o v i e l wie ein „ N e i n " z u m e i n e m inneren T r i e b w e r k , z u m e i n e r „Maschine" a h G a n z e m . W a s a b e r w ä r e v o n e i n e r M e t h o d e z u h a l t e n , d i e d a r i n b e s t ü n d e , alle T e n d e n z e n i n i h r e r F ü l l e z u ü b e r b l i c k e n , jedoch n u r d i e e i n e , jeweils i n F r a g e s t e h e n d e T e n d e n z z u b i l l i g e n ? E s ist dies eine E i n s t e l l u n g , z u d e r f o l g e r i c h t i g d e r M e n s c h k o m m e n m u ß , d e r f r ü h e r e i n b e w u ß t e s „ I d e a l " o d e r auch m e h r e r e g e h e g t h a t t e , j e t z t a b e r e i n V e r s t ä n d n i s e r r u n g e n h a t , d u r c h w e l c h e s jedes „ I d e a l " e n t w e r t e t w i r d . E r b e g r e i f t , d a ß v o m einzig g ü l t i g e n G e s i c h t s p u n k t d e r n i c h t z e i t l i c h e n V e r w i r k l i c h u n g a u s g e s e h e n , a l l e n i n n e r e n M e c h a n i s m e n gleiche G e l t u n g z u k o m m t ; e r h a t sich v o m Ä s t h e t i s c h e n o d e r N i c h t - Ä s t h e t i s c h e n s e i n e r T e n d e n z e n u n a b h ä n g i g gemacht. Diese relative U n a b h ä n g i g k e i t verleiht ihm eine relative F r e i h e i t . D e r V e r z i c h t a u f eine P a r t e i n a h m e d e n T e n d e n z e n g e g e n ü b e r h i n d e r t d i e s e z w a r nicht d a r a n , w e i t e r h i n z u e x i s t i e r e n , n i m m t i h n e n a b e r j e d e n z w i n g e n d e n W e r t . T r a u m u n d W i r k l i c h k e i t s p a l t e n sich i m m e r m e h r . M e i n e G e f ü h l e e n t s p r e c h e n m e i n e m T r a u m , mein V e r h a l t e n m e i n e r V e r n u n f t . Diese M e t h o d e also, die d a r i n besteht, jede g e r a d e in Erscheinung t r e t e n d e T e n d e n z z u b i l l i g e n , v e r l e i h t mir eine r e l a t i v g r o ß e ä u ß e r e F r e i h e i t . D o c h ist sie n o c h n i c h t d a s „ L o s l a s s e n " , v o n d e m die Z e n l e h r e s p r i c h t . B e w u ß t a n e r k e n n e n h e i ß t n o c h nicht „ l o s l a s s e n " , ist e s n u r d e m S c h e i n e n a c h . W i e w i r g e s e h e n h a b e n , l ä ß t sich d a s „ L o s l a s s e n " n u r d a n n v e r w i r k l i c h e n , w e n n w i r d i e G e s a m t h e i t a l l e r u n s e r e r T e n d e n z e n a n e r k e n n e n , b e v o r eine e i n z e l n e i n E r s c h e i n u n g t r i t t — a b e r e s w i r d sich z e i g e n , d a ß d a n n keine m e h r i n E r s c h e i n u n g t r i t t . W e n n ich d a g e g e n d i e jeweils v o r w i e g e n d e T e n d e n z a n e r k e n n e , d a n n lasse ich n u r i n B e z u g a u f d i e s e eine T e n d e n z „ l o s " , alle ü b r i g e n w e r d e n w e i t e r h i n g e z ü g e l t . D i e u n parteiisch allgemein anerkennende Einstellung meiner Innenwelt gegenüber k a n n i n sich selbst k e i n e W i r k s a m k e i t i m H i n b l i c k a u f d a s S a t o r i h a b e n . K o m m e n w i r noch e i n m a l a u f d a s „ L o s l a s s e n " z u r ü c k , w i e w i r e s b i s h e r v e r s t a n d e n h a b e n . E s g e h t u n s j e t z t nicht d a r u m , d i e A u s f ü h r u n g d e r s i n n v o l l e n i n n e r e n A n s t r e n g u n g n ä h e r zu definieren, s o n d e r n wir wollen in E r f a h r u n g b r i n g e n , w a n n d i e s e G e s t e a u s g e f ü h r t w e r d e n s o l l . S o s t e l l t sich u n s j e d e n f a l l s diese F r a g e z u n ä c h s t d a r , i n e i n e r F o r m , d i e j e d o c h n u r d a n n a m P l a t z e w ä r e , w e n n e s sich u m e i n e g e w ö h n l i c h e G e s t e , u m e i n e B e w e g u n g d e r A n s p a n n u n g h a n d e l t e . W e n n ich m i c h e t w a entschlossen h a b e , m e i n e n K ö r p e r z u t r a i n i e r e n , s o w e r d e ich mich v i e l l e i c h t f r a g e n : „ W a n n soll i c h e s a m b e s t e n t u n ? " U n d w e n n a u c h e i n b e s t i m m t e r Z e i t p u n k t des T a g e s d e n g u t e n W i r k u n g e n d i e s e r Ü b u n g e n s t ä r k e r e n t g e g e n k o m m t , s o k a n n ich sie auch z u e i n e m a n d e r n Z e i t p u n k t m e i n e n M u s k e l n z u m u t e n . D o c h dies trifft nicht b e i m V o l l z u g der i n n e r e n G e s t e z u , d i e z u e i n e r E n t k r a m p f u n g s ä m t l i c h e r T e n d e n z e n f ü h r t , i n d e m sie f ü r e i n e n k u r z e n Augenblick v ö l l i g e r Unparteilichkeit alle gleicherweise a n e r k e n n t . Diese G e s t e k a n n z w a r z u j e d e r b e l i e b i g e n Z e i t a n g e s t r e b t , nicht a b e r i m m e r a u s g e führt werden. Das Bewußtsein kann v o n meinem Gesamtorganismus diese Geste f o r d e r n , nicht a b e r sie i h m u n m i t t e l b a r a u f z w i n g e n . D i e V e r w i r k l i c h u n g d i e s e r G e s t e setzt das Z u s a m m e n t r e f f e n von zwei F a k t o r e n , v o r a u s : von m e i n e m D e n 201

k e n m u ß d i e G e s t e a u s g e h e n , v o n m e i n e m O r g a n i s m u s m u ß sie a n g e n o m m e r , w e r d e n . W e n n i c h einen i n n e r e n W i d e r s t a n d g e g e n die G e s t e der E n t s p a n n u n g f ü h l e u n d d i e s e n W i d e r s t a n d z u b e s i e g e n v e r s u c h e , s o s t e i l e ich m i c h d a d u r c h s e l b s t d e m G e i i n g e n i n d e n W e g . D e n n ich p f r o p f e a u f d i e s e W e i s e n u r e i n e e r n e u t e A n s p a n n u n g auf eine schon v o r h a n d e n e V e r k r a m p f u n g . P r ü f e n w i r n u n die b e i d e n F a k t o r e n , v o n d e n e n w i r e b e n g e s p r o c h e n h a b e n . V o m D e n k e n m u ß die G e s t e z u e r s t ausgehen. D i e s setzt eine a k t i v e W a c h s a m k e i t des geistigen Bewußtseins v o r a u s , u n d diese W a c h s a m k e i t w i e d e r u m setzt das k l a r e Verstehen der i n n e r e n Arbelt u n d i h r e r Nützlichkeit v o r a u s . Diese i m m e r w a c h s a m e A u f f o r d e r u n g d u r c h d a s g e i s t i g e B e w u ß t s e i n ist d e r e i g e n t l i c h e W i l l e , e i n W i l l e , d e r , w i e S p i n o z a sagt, n i c h t s a n d e r e s i s t a l s V e r s t e h e n . A n schließend m u ß natürlich d e r g a n z e O r g a n i s m u s diese A u f f o r d e r u n g des B e w u ß t s e i n s a n n e h m e n u n d sich i h r v o r b e h a l t s l o s ö f f n e n . D i e f r e u d i g e Z u s t i m m u n g des inneren Gefüges t r i t t ein, sobald s p ü r b a r w i r d , d a ß das D e n k e n b e harrlich doch ohne G e w a l t um das Mitwirken des O r g a n i s m u s wirbt, d. h. sobald d i e „ M a s c h i n e " f ü h l t , d a ß sie b e r ü c k s i c h t i g t w i r d . J e t z t f a n g e n w i r auch an zu begreifen, was die richtige innere D i s z i p l i n eigentl i c h ist. W i r h a b e n u n s z u v o r g e f r a g t : „ W e n n b e i j e d e r i n n e r e n D i s z i p l i n ' i r g e n d e t w a s ' d a ist, w a s d a s i n n e r e G e f ü g e l e n k t , w a s i s t d a n n dieses ' i r g e n d e t w a s ' ? " S o l l e n w i r s a g e n , e s sei d a s a k t i v e geistige B e w u ß t s e i n ? Dies w ä r e i n e i n e r W e i s e z w a r z u b e j a h e n , i n a n d e r e r jedoch n i c h t , d a d e r E r f o l g d e s l e n k e n d e n S p i e l s d i e s e s B e w u ß t s e i n s a b h ä n g t v o n seiner Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t d e m g e s a m t e n i n n e r e n T r i e b w e r k , eine Ü b e r e i n s t i m m u n g , ü b e r die d a s l e n k e n d e B e w u ß t sein k e i n e M a c h t h a t . D i e L e n k u n g , deren A u s w i r k u n g e n das innere T r i e b w e r k b e i m „ L o s l a s s e n " e r f ä h r t , k o m m t i n W i r k l i c h k e i t jedoch n u r v o n d e m v e r s ö h n e n d e n P r i n z i n her, welches die beiden Bereiche z u r Ü b e r e i n s t i m m u n g b r i n g t . B e i d e r e c h t e n i n n e r e n D i s z i p l i n k a n n a l l e i n d a s P r i n z i p selbst d i e V e r a n t w o r t u n g ü b e r n e h m e n ; sie b r i n g t k e i n e r l e i Z w a n g , k e i n e i n n e r e n K ä m p f e m i t sich. D a s einzige, w o r u m w i r u n s b e m ü h e n müssen, b e s t e h t d a r i n , d a ß w i r s o w e n i g w i e möglich vergessen, d a ß u n s e r wahres W o h l d u r c h das „Loslassen" b e d i n g t i s t , d u r c h d i e g e g e n s t a n d s l o s e A u f m e r k s a m k e i t , d u r c h „ d i e geistige B e r e i t s c h a f t a b solche". N i e m a l s dürfen w i r u n s e r e m I n n e r n jene E n t s p a n n u n g , jenes Sichöffnen d e m Prinzip gegenüber aufzwingen, w i r dürfen es nur dazu anregen. D i e a u f diese Weise „vorgeschlagene" E n t s p a n n u n g w i r d v o n Zeit z u Z e i t a n g e n o m m e n w e r d e n , w e n n u n s e r O r g a n i s m u s d e r A b l e h n u n g m ü d e w i r d , jedoch n u r f ü r e i n e n A u g e n b l i c k o h n e D a u e r . F a s t w i l l e s s c h e i n e n , als h ä t t e n w i r A n g s t v o r d e r E n t f a l t u n g u n s e r e s E g o . W e n n ich d a s Z u t r a u e n eines v e r s c h ü c h t e r t e n K i n d e s g e w i n n e n m ö c h t e , s t r e c k e ich die A r m e n a c h i h m a u s . o h n e i h m a l l z u n a h e z u k o m m e n . D a m i t l a d e ich e s ein, o h n e e i n e n u n m i t t e l b a r e n Z w a n g a u s z u ü b e n . V i e l l e i c h t w i r d e s sich m i r eines T a g e s i n d i e A r m e w e r f e n . D o c h l a n g e Z e i t h i n d u r c h w e r d e ich n u r e i n f l ü c h t i g e s A u f b l i t z e n des „ L o s l a s s e n s " i n s e i n e n A u g e n a u f l e u c h t e n s e h e n , b e i d e m e s einen A u g e n b l i c k l a n g e r w ä g t , a u f m i c h z u z u g e h e n ; d a n n w i r d e s w i e d e r v o n Angst e r f a ß t werden. I n diesem Sinne

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sind meine E n t s p a n n u n g s v e r s u c h e , mein „Loslassen" in Wirklichkeit mir unendlich k u r z f r i s t i g e A n s ä t z e z u m wirklichen „Loslassen", das d a n n das S a t o r i selbst w ä r e . S e l b s t w e n n sie i n r i c h t i g e r W e i s e v e r s t a n d e n w e r d e n , s i n d a l l e V e r s u c h e , z u d e n e n die i n n e r e D i s z i p l i n f ü h r t , n u r N i e d e r l a g e n . Sie b i l d e n j e n e b e sondere A r t v o n Mißerfolgen, die v o n der G e s a m t h e i t meines Wesens erfahren w e r d e n u n d d i e d u r c h i h r S i c h - H ä u f e n das l e t z t e S c h e i t e r n m e i n e r a u g e n b l i c k lichen i n n e r e n L a g e h e r b e i f ü h r e n , wobei im S a t o r i jeder D u a l i s m u s E r f o l g - M i ß erfolg ü b e r w u n d e n w i r d . W i r s e h e n , w i e bei e i n e r s o l c h e n A u f f a s s u n g d e r D i s z i p l i n die B e g r i f f e d e r » D r e s s u r " u n d des „ U n t e r l a s s e n s d e r D r e s s u r " e i n e V e r s ö h n u n g e r f a h r e n . D a s » U n t e r l a s s e n d e r D r e s s u r " k o m m t d a d u r c h z u m A u s d r u c k , d a ß keines m e i n e r W e s e n s t e i l e e i n a n d e r e s v e r g e w a l t i g t . D e n n o c h ist „ D r e s s u r " v o r h a n d e n i n d e m Sinne, d a ß m e i n e Einsicht eine E n t s p a n n u n g meines i n n e r e n Gesamtgefüges e r r e i c h t , d i e dieses nie v o n sich a u s v o l l z o g e n h a b e n w ü r d e . D e r D r e s s i e r e n d e l ä ß t d e n D r e s s i e r t e n i n A u g e n b l i c k e n f r e i w i l l i g e r B e r e i t s c h a f t des D r e s s i e r t e n a u s f ü h r e n , w a s f ü r b e i d e g u t ist. D a s i s t n u r m ö g l i c h , w e i l D r e s s i e r e n d e r u n d D r e s sierter in d e r V e r s ö h n u n g d e r A b s o l u t e n Wirklichkeit n u r eines sind. D a s S a t o r i k a n n als e i n „ L o s l a s s e n " v e r s t a n d e n w e r d e n , d a s D a u e r b e s i t z t . I n d i e s e m A u g e n b l i c k s t e l l t sich e i n e z w i e f a c h e e n d g ü l t i g e E n t s p a n n u n g h e r : D a s i n n e r e T r i e b w e r k ö f f n e t sich d e m a k t i v e n geistigen B e w u ß t s e i n , welches d i e V e r e i n i g u n g m i t i h m v o l l z i e h t . D a s d a r a u s h e r v o r g e g a n g e n e P a a r ö f f n e t sich w i e d e r u m dem P r i n z i p , d a s es n u n in einer Dreieinheit u m f a ß t . N u r so w i r d d e m M e n s c h e n die k l a r e E r k e n n t n i s , d a ß zwischen unserer „ M a s c h i n e " , u n s e r e m I n tellekt und dem Prinzip nie eine Trennung bestanden hat. 203

XXII. Über D e r

nicht

d i e KOMPENSATIONEN

„verwirklichte"

Mensch

kann,

da

ihm

ein

Bedürfnis innewohnt, innerhalb der G r e n z e n seiner individuellen Eigentümlichkeit absolutes Sein zu erreichen, seine Existenz, so wie sie nun einmal ist, nicht bejahen. D a ß dies nicht möglich ist, ist nicht, wie man wohl zunächst annehmen möchte, auf die Tatsache zurückzuführen, daß die individuelle Existenz unter der Bedrohung teilweiser oder vollkommener Zerstörung steht, denn das wesentliche Bedürfnis des Menschen ist ein Bedürfnis nach absolutem „Sein", nicht nach fortgesetzter „Existenz". Es ist ein Bedürfnis nach unendlicher Ewigkeit, nicht nach unbestimmter Zeitdauer. W ä r e n Krankheit u n d T o d auch endgültig ausgeschaltet, so würde der Mensch durch eben jenes Bedürfnis nach absolutem „Sein" dennoch zwangsläufig dazu kommen, die eigene Existenz, so wie er sie erfährt, abzulehnen. Was für den Menschen innerhalb dieser Existenz unannehmbar erscheint, ist nicht die Tatsache, d a ß sie unter der ständigen Bedrohung durch die Außenwelt steht, sondern die Erfahrung, d a ß nicht alles, was er w a h r n i m m t , von seiner individuellen Existenz bedingt ist, während diese selbst doch als frei v o n Bedingungen erfahren wird. Da im Menschen die Fähigkeit angelegt ist, seine Wesensgleichheit mit dem Absoluten Prinzip zu erleben, kann er den zeitweiligen Schlummer dieses Identitätsbewußtseins nicht ertragen. Es ist ihm unerträglich, nicht der U r g r u n d des Universums zu sein. Solange er aber in der Überzeugung lebt, d a ß er nichts anderes sei als sein psycho-somatischer Organismus, solange er sich einzig mit diesem Organismus identifiziert, kann er nicht sein wesenhaftes und wirkliches Einssein mit dem U r g r u n d des Universums wahrnehmen. Praktisch gesehen aber bejaht der Mensch doch diese seine Existenz, da er sich offensichtlich bemüht, sie zu erhalten. Er bejaht sie in der Tat, weil er zwar weiß, daß er als Organismus nicht der alles bewegende M i t t e l p u n k t des Universums ist, weil aber gleichzeitig seine Vorstellungskraft ihn davor bewahrt, es zu fühlen, i n d e m sie in seinem Geist ein Universum nachbildet, das seinen Mittelpunkt im Menschen selbst hat. D e r Ablauf seiner inneren Vorstellungen verschleiert dem Menschen die unerträgliche klare Erkenntnis und schützt ihn auf diese Weise v o r ihr. U n d doch ist er d a v o r n u r bewahrt, solange diese Vorstellungen gerade ablaufen. Die Gefahr bleibt bestehen und m u ß durch die fortgesetzte Tätigkeit der Einbildungskraft unaufhörlich gebannt werden. So lindert die Vorstellungskraft wohl die Angst, ohne sie jedoch endgültig beseitigen zu können. Unsere Vorstellungskraft, diese Funktion, die in uns einen nicht auf das gegenwärtig Wirkliche bezogenen Bilderablauf erzeugt, ist also eine kom204

pensatorische Funktion. Sie ist die Funktion, welche unsere Kompensationen hervorbringt. Bei unseren Kompensationen handelt es sich um Bildersysteme, die wir unseren sinnlichen und geistigen Wahrnehmungen entlehnen — d. h. also dem von u n s e r e m Gedächtnis angehäuften Bildermaterial —, die jeder einzelne in Übereinstimmung mit d e r Struktur seines psycho-somatischen O r g a n i s m u s nach seiner Weise aufbaut. Diese Bildersysteme bestimmen unsere persönliche Innenwelt, können jedoch keineswegs reine Schöpfung sein; sie sind vielmehr »Nach-Schöpfung" einer persönlichen Vorstellung von der Welt, aufgebaut mit Hilfe unpersönlicher Elemente nach einer persönlichen Anordnung, die sich als ein besonderer Ausschnitt aus dem Gesamtumfang des Universums darbietet, (Denn auch diese persönliche Anordnung ist nicht das Ergebnis einer persönlichen Schöpfung; sie ist eine nach unserer persönlichen Struktur ausgewählte Möglichkeit unter der Unzahl der Möglichkeiten der kosmischen O r d n u n g ) . Man könnte unsere Kompensationen, diese persönlichen Nachschöpfungen des Universums, einer v o n einem Künstler ersonnenen Zeichnung vergleichen. Kein Künstler kann eine Form erfinden, deren U r t y p u s nicht schon im U n i v e r s u m vorhanden w ä r e und die er nicht schon selbst über ein eigenes, der ä u ß e r e n Wirklichkeit entlehntes Bild wahrgenommen hätte. Die Schöpfung des Künstlers besteht nur d a r i n , unter Außerachtlassung aller sonst noch möglichen F o r men eine einzelne F o r m der Außenwelt auszuwählen oder manchmal nach eigenem Gutdünken Formen zusammenzusetzen, die er in der Wirklichkeit noch nie in einer solchen Zusammensetzung wahrgenommen hat. So liegt also das Persönliche der ,Nachschöpfungen" unserer Vorstellungswelt nicht in d e n angewandten G r u n d f o r m e n , sondern einerseits in der Bevorzugung einer einzelnen Form aus der Fülle anderer Formen und andererseits in der Zusammenfügung universaler Formen nach einem persönlichen Stil. Eine Kompensation ist ein künstliches Erzeugnis der Vorstellungskraft. Unsere Kompensationen entsprechen u n s e r e m sogenannten „ W e r t m a ß s t a b " . J e d e r von uns hält bestimmte Dinge für besonders wirklich, besonders wesentlich, u n d diese Dinge verleihen seinem Leben einen Sinn. Wenn man seine K o m p e n s a t i o nen kennen möchte, braucht m a n sich nur zu fragen: „Was verleiht m e i n e m L e ben einen Sinn?" Bevor wir weitergehen, kommen wir noch einmal auf die Frage zurück: „Was kompensieren eigentlich die Kompensationen?" Sie kompensieren nicht, wie man oftmals glauben möchte, die der Existenz eignenden verneinenden Aspekte. Wenn es sich so verhielte, müßten unsere Kompensationen immer aus bejahenden, positiven Bildern bestehen. Doch werden wir sehen, daß sie ebensogut n e gativer Art sein k ö n n e n . Das wesentliche Merkmal einer Kompensation ist nicht die Annehmlichkeit, die sie mir verschafft, sondern die Tatsache, d a ß sie mir die Welt so darstellt, daß ich ihr M i t t e l p u n k t bin. Dieser U m s t a n d allein ist entscheidend und nicht die Frage, ob das auf mich bezogene Universum n u n positiver oder negativer Art ist. Unsere K o m p e n s a t i o n e n schaffen einen Ausgleich für die trügerische Illusion, d a ß wir von der Wirklichkeit getrennt seien, d. h. 205

also, sie kompensieren jeweils die für unser subjektives Empfinden nicht in Erscheinung tretende Identität mit dem Absoluten Prinzip. Unsere Kompensationen, dieses von uns selbst erdachte und nacherschaffene, ganz u n d gar persönliche Universum, kompensieren den tiefen Schlummer, in d e m sich unsere Erfassungsmöglichkeit der Welt in ihrer vollen Wirklichkeit befindet. Weil wir noch nicht die D i n g e sehen können, wie sie wirklich sind, sind wir gezwungen, sie durch unsere Einbildungskraft, das heißt teilweise zu erkennen. Unsere kompensatorische Sicht der Welt ist also nicht falsch, sie ist n u r unvollkommen. Falsch ist nur unsere Einbildung, daß diese Sicht der Wirklichkeit des Gesehenen vollkommen entspreche. Die Bedeutung, die w i r einem bestimmten Ausschnitt der Welt zumessen, ist nicht falsch, ist keine Täuschung. Das Trügerische liegt n u r in dem ausschließenden Charakter dieser Sicht, das heißt in der Tatsache, d a ß sie der übrigen Welt die gleiche Bedeutung abspricht. Bei einer Sicht der Dinge, „wie sie wirklich sind", würde allen Aspekten der W e l t die gleiche Bedeutung zugemessen. Alles wäre wichtig u n d d a h e r nichts in dem Sinne „wichtig", den wir diesem W o r t heute gemeinhin verleihen. Die Illusion liegt nur in der Parteilichkeit unserer durch die Vorstellungskraft erzeugten Sicht, nicht im Wesen dieser Sicht. H a l t e n wir daher mit aller Klarheit von Anfang an fest, d a ß die Kompensationen keineswegs bedauerliche Hemmnisse sind auf dem Weg zum Satori, z u r Sicht der Dinge, wie sie wirklich sind. Unsere K o m p e n sationen sind ihrem Wesen nach keine Trugbilder u n d stellen sich der Erlangung des Satori keineswegs entgegen. Ein Idolbild ist kein Hindernis für die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, die wir dem I d o l verleihen, bildet k e i n Hindernis für unsere Vereinigung mit der großen, der absoluten Wirklichkeit. Ein Hindernis bildet nur unsere Unwissenheit, durch welche wir allem, was nicht das Idol selbst ist, die gleiche Wirklichkeit absprechen. Das einzige Hindernis ist die Unwissenheit, und die Unwissenheit drückt sich in der parteiischen Stellungnahme aus. Unsere kompensatorische Sicht der Welt ist also nichts Schlechtes, nichts, was beseitigt werden m ü ß t e . Sie ist etwas Unvollkommenes, etwas, das erst entfaltet u n d ergänzt sein möchte und zwar durch die Erhellung der einschränkenden, ausschließenden u n d parteiergreifenden Unwissenheit. Schlecht ist also nicht die Unvollständigkeit unserer Wahrnehmung, sondern ihre parteiergreifende Stellungnahme, das heißt der törichte Glaube an die Ganzheit dessen, was nur ein Teil ist. An dieser Erkenntnis müssen wir mit aller Klarheit festhalten, b e v o r wir in die ausführlichere Untersuchung der Kompensationen eintreten. W e n n man von der Abhängigkeit spricht, in die w i r durch eine Kompensation g e r a t e n können, so handelt es sich in W a h r h e i t immer um eine Abhängigkeit, in d i e wir durch die unserer Unwissenheit entspringende Stellungnahme geraten. Sie treibt uns dazu, alles, was wir gerade nicht bejahen, stillschweigend zu verneinen. Durch eine Kompensation an sich gerät man noch nicht in sklavische Abhängigkeit, wohl aber durch die Parteilichkeit, die wir ihr gegenüber an den Tag legen. Es bedeutet noch keine Knechtschaft, wenn wir die Wirklichkeit über die Gestalt Jesu oder 206

Buddhas w a h r n e h m e n , aber Knechtschaft wäre es, sie allein d o r t sehen zu wollen und sie der übrigen Schöpfung abzusprechen. Unsere Kompensationen sind zu unserer Gesamtverwirklichung notwendig, weil wir ohne sie unsere Existenz nicht ertragen u n d uns alsbald selbst vernichten würden. Sie liegen auf dem Wege unserer richtigen Entwicklung auf das Satori zu. Und doch setzt die E r langung des Satori voraus, daß wir eines Tages über unsere Kompensationen hinauswachsen. Dieses Darüberhinauswachsen darf nicht als Verlust der lebenspendenden Substanz verstanden werden, die in den Kompensationen enthalten ist, sondern als ein Sprengen der begrenzenden formalen K o n t u r e n , die diese Substanz umschließen. Die im Idol geschaute Wirklichkeit geht also nicht verloren, sondern sie flutet über dessen einschränkend«, nunmehr gesprengte Grenzen hinaus. Hinsichtlich d e r Entwicklung auf das Satori zu ist die Kompensation günstig und ungünstig zugleich. Sie ist günstig durch ihren gefühlsbetonten Aspekt, der für mich eine Nahrungszufuhr darstellt, die mich vor dem Selbstmord bewahrt. Ungünstig ist sie, soweit ihr ein intellektueller Glaube an die Wirklichkeit — oder den absoluten Wert — des kompensatorischen Bildes i n n e w o h n t . Nehmen wir ein Beispiel: eine meiner Kompensationen besteht etwa d a r i n , ein durchaus gesundes u n d wohlgeratenes Kind zu haben. Die Freude, die mir dieser Umstand verschafft (die Vorstellung nämlich, d a ß ich dieses wohlgeratene Kind mein eigen n e n n e ) , kommt meiner Entwicklung auf das S a t o r i zu entgegen, denn sie ist eine Hilfe, die mich die Existenz leichter ertragen läßt. Abträglich ist meiner Entwicklung jedoch die Überzeugung, daß dieser T a t b e s t a n d absolut gut sei, w ä h r e n d ich etwa den T o d meines Kindes für absolut schlecht halte; also eine Überzeugung, der zufolge meine Gebundenheit an irgendeinen bestimmten kompensatorischen Tatbestand meine Zustimmung zu d e r Möglichkeit des entgegengesetzten Tatbestandes ausschließt. In der Tat schränkt eine solche Ausschließung meine Wahrnehmung der kosmischen Realität beträchtlich ein und hindert mich sogar daran, das wenige davon Wahrgenommene in der richtigen Weise w a h r z u n e h m e n , da sie es von seinen Verbindungen zu allem übrigen abschneidet. Kein Ding kann ich in seiner vollen Wirklichkeit w a h r n e h m e n , solange auch nur eine einzige seiner Verbindungen zum übrigen Universum abgeschnitten ist. Alle Beziehungen eines Dinges haben ihren S c h w e r p u n k t in der Spannung zu seinem sowohl feindlichen als ergänzenden Gegenteil. Hui-neng weist mit dem Ausspruch: „Von Urbeginn an ist kein Ding" den bedauerlichen „ G l a u b e n " zurück, der in unseren Kompensationen enthalten ist. Doch verurteilt er unsere Freude an den Kompensationen d a r u m nicht. Diese Freude ist eine dynamische Erscheinung, die nur „existiert" u n d keinen Anspruch erhebt, zu „sein". Er weist unseren Glauben an die Wirklichkeit eines starken Bildes zurück, das durch Ausschließung des entgegengesetzter. Bildes Anspruch auf „sein" erhebt. Nicht den im Gefühl verwurzelten Ausgangspunkt der Götzenanbeterei verurteilt Hui-neng, sondern den intellektuellen, götzendienerischer, Glauben. Dieser Glaube versucht vergeblich, dem isolierten Bild die un207

wandelbare E i n h e i t des Absoluten P r i n z i p s zu verleihen, indem er es herauslöst aus dem kosmischen Gleichgewicht v o n Y i n und Yang durch d i e Ausschließung des Gegenbildes, d a s seine ergänzende Entsprechung bildet. Das auf diese Weise künstlich herausgelöste Bild wird zum kompensatorischen „ G ö t z e n " , und eben diese Art, es z u m „Götzen" zu erheben u n d nicht das Bild selbst h a t Hui-neng im Auge, w e n n er uns daran erinnert, d a ß „kein Ding ist". Der Ausspruch des Hui-neng r ä t uns in keiner Weise davon ab, unsere K o m p e n sationen auszuleben, das heißt, besonderen Dingen einen Wert beizumessen. Er fordert uns n u r d a z u auf, diese Kompensationen zu überwinden, indem w i r die sklavische Ausschließlichkeit unserer götzenanbeterischen „Meinungen" sprengen. Dieser Durchbruch betrifft n u r die begrenzenden intellektbestimmten F o r men, keineswegs die in ihnen enthaltene lebendige Gefühlssubstanz. D a n k dieser Einsicht w i r d es mir nun möglich sein, auch weiterhin einzelnen Dingen einen besonderen W e r t beizumessen, ohne d a ß ich dabei stillschweigend den U n - W e r t des entgegengesetzten Dinges behaupte. In der Tat lehrt mich meine Einsicht, daß es vom einzig wahren Gesichtspunkt meiner nichtzeitlichen Verwirklichung aus gesehen k e i n e n „Wert" oder „ U n - W e r t " gibt, da dieser Verwirklichung alle Dinge n u t z b a r gemacht werden können. Der Ausspruch des Hui-neng ist also keine Verfluchung, sondern im Gegenteil eine uneingeschränkte, unparteiische Segnung aller Einzeldinge, Der gleiche Gedanke findet sich an vielen Stellen eines bemerkenswerten Textes der Zen-Lehre ausgesprochen, d e r bekannt ist unter dem N a m e n : .ÜBER Der Vollkommene

DEN

GLAUBIGEN

Weg kennt nur eine Schwierigkeit:

GEIST" er läßt keine

Vorliebe zu.

Wollt ihr den gestaltgewordenen Vollkommenen Weg erkennen, so hegt keinen Gedanken für ihn noch gegen ihn. Die Krankheit des Geistes besteht darin, das Geliebte dem Ungeliebten entgegenzusetzen. Versucht nicht, nach der Wahrheit zu forschen! Laßt davon ab, euch einer Ansicht anzuschließen! Verharrt nicht im Bereich des Zwiespalts! Sobald ihr zwischen Gut und Böse unterscheidet, folgt die Verwirrung und der Geist ist verloren. Wenn nur der einige Geist nicht getrübt ist, so können ihm die tausend Dinge nichts anhaben. Wie könnte eine parteiische und voreingenommene Sicht entstehen, Unterschied zwischen diesem und jenem gemacht •würde? Laßt los, laßt die Dinge, wie sie ihrem Wesen nach sind. 208

wenn kein

Wollt ihr die Bahn des Großen Gefährts durchlaufen, gegen die sechs Gegenstände der Sinne.

so hegt kein Vorurteil

Der Unwissende hängt sich an die Einzeldinge, während selbst keine Abgrenzung der Dinge gegeneinander gibt.

es doch im Dharma

Die wahrhaft Erleuchteten hängen sich an nichts und stellen sich gegen nichts. Daß doch ein für allemal Gewinn und Verlust, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit aufgehoben wären! Das letzte Ziel aller Dinge ist nicht durch Regeln und Maße beschränkt. Alles ist leer and licht und birgt eine Möglichkeit der Erleuchtung in sich. Wir dringen aber nie zu der Vorstellung vor, daß es keine Aufgabe, keine Anstrengung und keinen Energieaufwand gibt. Da nichts in Zwei zerfällt, ist alles das Gleiche, und alles, was existiert, ist darin eingeschlossen. Es kommt nicht darauf an, „Nicht-Sein" bedingt sind.

ob die Dinge durch das „Sein"

Was existiert, ist das Gleiche wie das, was nickt existiert

oder durch das

und umgekehrt.

Wenn nur das verwirklicht wird — was quält ihr euch noch weiter um eure Unvollkommenheit Alle Kompensationen sind Götzenanbeterei, Versuche, die Wirklichkeit in einem einzelnen Bild sich verdichten zu sehen, das zur Erstarrung gebracht u n d aus dem kosmischen Wirbel herausgenommen wird. Die Überwindung der Kompensation besteht nicht in der Vernichtung des Bildes, sondern in der Aufhebung seiner künstlichen E r s t a r r u n g . Das Bild, das so seinen Wert als G ö t z e verloren hat, wird wieder in die Vielzahl der andern Bilder hineingenommen, in die immer bewegte Flut des kosmischen Lebens, wie es in Wirklichkeit ist. Die Ü b e r w i n d u n g der Kompensation, die Entwertung der G ö t z e n ist ein Vorgang, der sich im Bereich der geistigen I n t u i t i o n vollzieht. Er hat zunächst die Erwerbung d e r richtigen theoretischen Einsicht zur Voraussetzung, die den götzendienerischen Trugglauben in der Theorie schon e n t l a r v t . E i n e weitere Voraussetzung ist die, d a ß wir den unzulänglichen C h a r a k t e r der Kompensation schon durch Leiden erfahren haben. Dieses schmerzliche Ungenügen ist nicht zu vermeiden. Die Kompensation lindert meine Angst ja nur, solange sie gerade wirksam ist. Im G r u n d e genommen aber e r w a r t e ich, daß sie mich v o n meinem Angstgefühl endgültig erlöse. Daher k o m m e ich früher oder später zwangsläufig dazu, das Enttäuschende meiner K o m p e n s a t i o n im Hinblick darauf, w a s ich mir von ihr versprochen habe, zu erkennen. Im Schmerz der Enttäuschung w i r d sich meine Einsicht durch eine richtige Auslegung meines Schmerzes erweisen. Beides 209

ist n ö t i g : die abstrakte Einsicht u n d das konkrete Leiden; und keines von beiden genügt für sich allein. Wir werden weiter unten wieder auf die Frage der Ü b e r w i n d u n g der Kompensation zurückkommen, d e n n sie l ä ß t sich tatsächlich o h n e eine genaue Kenntnis der Struktur der verschiedenen Kompensationen nicht behandeln. Jede Kompensation konstituiert sich wesentlich durch ein Bild, das mein Ich u m faßt, durch ein „ Z e n t r a l b i l d " , um das sich in einer bestimmten Konstellation eine Fülle von Satellitenbildern gruppiert. Das Zentralbild besitzt wie alles, was der F o r m e n w e l t angehört, zwei Pole. Daraus erklärt sich das Vorhandensein positiver u n d negativer Kompensationen. Der Mensch h a t eine angeborene Vorliebe für das Positive — das Schöne, Gute, W a h r e — u n d versucht als erstes immer eine positive Kompensation zu schaffen. Doch k a n n ein Mißlingen die U m k e h r u n g der positiven Kompensation in eine entgegengesetzte negative auslösen, So beginne ich z. B. das Wesen zu hassen, mit dem ich vergeblich eine Liebesbeziehung anstrebe, und dieser H a ß kann meinern Leben genau so wie z u v o r die Liebe einen Sinn verleihen. N a c h d e m wir nun auf den möglichen Prozeß der „ U m k e h r u n g " unserer K o m p e n s a t i o n e n hingewiesen h a b e n , können wir uns jetzt d a r a u f beschränken, die hauptsächlichsten positiven Kompensationen zu beschreiben, wie sie die Beobachtung des menschlichen Wesens und unserer eigenen Innenwelt uns darstellt. D a s Z e n t r a l b i l d kann mich so erscheinen lassen, d a ß ich v o n der Außenwelt einen Dienst erwiesen b e k o m m e : dies wäre dann die Kompensation „geliebt w e r d e n " . Es kann mich aber auch darstellen als einen, d e r seine N a h r u n g aus der A u ß e n w e l t aktiv an sich reißt: dies wäre die Kompensation „genießen" (ich w e r d e bestätigt, indem ich die Außenwelt verschlinge. Hierbei gehört etwa die Liebe z u m Reichtum als einer Möglichkeit, mir die A u ß e n w e l t einzuverleiben). Das Z e n t r a l b i l d kann mich auch darstellen als einen, d e r der Außenwelt d i e n t , der i h r Kräfte zuführt. Zahlreiche Kompensationen h a b e n ihre Ursprung in diesem Bilde, so z . B . : „lieben", „Freude bereiten", „Leben spenden", „helfen", „dienen" (dem Vaterland e t w a oder einer politischen Sache, einer allgemein als gerecht anerkannten Sache, der Menschheit, den Unterdrückten, den Schwachen usw.). Auch das freudige Bewußtsein, seine Pflicht erfüllt zu haben, gut zu machen, was man macht, einer Moral treu zu bleiben, einem „Ideal" ebenbürtig zu sein, gehören hierher. Es gibt andere Kompensationen, bei denen das zentrale Bild keine H a n d l u n g mehr einschließt, die das Ich der Umwelt verbindet, bei denen es nur noch aus reiner W a h r n e h m u n g besteht (etwa die Freude, an der Schönheit, an der K u n s t , an d e r intellektuellen W a h r h e i t , an der Erkenntnis ü b e r h a u p t teilzuhaben). O d e r aber mein Ich wird v o n der Umwelt w a h r g e n o m m e n : es handelt sich d a n n um die Befriedigung, die Aufmerksamkeit der Umwelt auf sich lenken zu können, b e w u n d e r t oder gefürchtet zu werden. Das Z e n t r a l b i l d kann n u n aber auch das Ich als „Schöpfer" irgendeines Werkes in der W e l t darstellen, als Formgeber, der die Umwelt p r ä g t , die er als geschlos210

enes Ganzes betrachtet. Hierher gehört die „Schöpfung" eines Kunstwerks, eines wissenschaftlichen oder geistigen Werkes, einer politischen Bewegung, einer sozialen Organisation, eines religiösen Ordens, usw. D a s Zentralbild kann den Menschen auch als „Schöpfer" eines inneren Vorganges zeigen: z. B. des Vorgangs: „sich entwickeln", „sich selbst verwirklichen", "sich selbst entdecken", „die eigenen Gaben entfalten", „zeigen, w o z u m a n fähig ist", „sich bilden", „Anstrengungen und E r f a h r u n g e n machen, die bereit e m " , usw Diese G r u p p e von Kompensationen ist umfassend und wichtig. Sie umfaßt alles „Streben" innerhalb der materiellen, der seelischen und der sogenannten „geistigen" Ebene (zu letzterer gehört die Erreichung „höherer" Bewußtseinsstufen oder „geistiger Kräfte", der m e h r oder weniger verkappte K u l t des „Übermenschen". Auf die Frage der „Geistigkeit" werden w i r noch besonders zurückkommen). Es gibt nun noch eine sehr bemerkenswerte Kompensation, bei der die aufbauenden Elemente aller schon aufgezählten Kompensationen sich verschmelzen u n d daher ihre Einzelexistenz aufgeben (wie die Farben als solche verschwinden, wenn sie sich im Weiß vereinen). Diese Kompensation ist die vergötternde Liebe. Dabei habe ich es m i t meinem eigenen Ich zu tun, das ich auf eine außer mir befindliche, gröbere oder subtilere Wesenheit übertrage. Der Dualismus zwischen „Ich u n d Außenwelt", „bewegen — bewegt w e r d e n " , „nähren — genährt werden", „erkennen — erkannt werden", „erschaffen — erschaffen w e r d e n " fällt hier fort, da Subjekt u n d Objekt identisch sind. Diese Beziehung l a ß t sich auf die äußerste Einfachheit zurückführen: Die Freude quillt nicht mehr aus dem H a n d e l n oder Erkennen, sie besteht ganz einfach darin, daß wir durch eine Schau wahrnehmen, der einigende Kraft innewohnt. Bei diesem bloßen Schauen glauben wir unser Absolutes Prinzip in dem Bilde zu erkennen, auf das wir uns selbst durch eine ausschließende Identifizierung übertragen haben. Natürlich k ö n n e n sich verschiedene Kompensationen auch untereinander verbinden. Insbesondere ist die Vergötterung meistens mit „lieben und geliebt werden" verbunden im Sinne von „bestätigen und bestätigt werden", von „dienen und bedient werden". Jede Kompensation oder Bilderkonstellation bildet innerhalb des menschlichen Wesens ein starres Element. Doch handelt es sich hierbei um eine dynamische Starrheit, wie etwa bei einer stereotypen Geste, die ich mir angewöhnt habe und die meiner Bewegung etwas Starres verleiht. Die „fixierte" Kompensation verlangt aber nach lebendigem Ausdruck. Jede Kompensation ist eine bestimmte, stereotype Lebensweise. Es m u ß also unterschieden werden zwischen der betreffenden K o m p e n s a t i o n — d i e die Tendenz h a t , mich auf eine bestimmte Lebensweise hinzuführen — und der Tatsache, ob ich diese Lebensweise tatsächlich befolge oder nicht. Denn es kann durchaus möglich sein, daß ich eine bestimmte Kompensation in mir trage und sie dennoch nicht auslebe, d a ß ich die von ihr angestrebte Verbindung nicht lebe. Das l ä ß t sich deutlich bei Neurosen erkennen. Der Neurotiker kann geradezu als schlecht kompensierter Mensch bezeichnet werden, der 211

nicht imstande ist, seine Kompensationen auszuleben. Nehmen wir a n / e i n Mensch hat d i e Kompensation „lieben — geliebt werden" oder „Teilnahme am Gemeinschaftsleben durch wechselseitige Dienstleistung": dieser Mensch begegnet n u n der Bosheit der Umwelt oder irgendein Mißgeschick trifft ihn ohne seine Schuld. Wenn seine Kompensation in diesem Augenblick eine totale Umkehrung erführe, k ö n n t e er sie in eben dieser U m k e h r u n g im Leben verwirklichen: sein Leben fände d a n n seinen Sinn in H a ß und Rache, und auf diese Weise wäre er kompensiert. H ä u f i g jedoch vollzieht sich diese Umkehrung nur teilweise, nur in praktischer, nicht in theoretischer Hinsicht. Im Einzelfall wird dieser Mensch der Umwelt seine Anteilnahme entziehen, doch „prinzipiell" will er sehr wohl noch daran teilhaben. Er möchte am liebsten seine Mitmenschen irgendwie treffen, sie verletzen: doch kann er diese Handlungsweise nicht verwirklichen, weil er immer noch „prinzipiell" lieben und helfen möchte. Man hört oft sagen, daß solche Menschen ihre Kompensationen nicht gefunden hätten — das stimmt jedoch nicht, da jeder Mensch seine Kompensationen findet. Sie haben sie gefunden, können sie n u r nicht ausleben. Der N e u r o t i k e r hat zwiespältige, widerspruchsvolle, nicht lebbare Kompensationen. Er steht gewissermaßen gelähmt zwischen H a ß u n d Liebe zu demselben Objekt. Da er seine Lebensenergie nirgends einsetzen k a n n , entsteht eine Störung des inneren Energiekreislaufs. Die Aggressivität w e n d e t sich nun gegen die eigene Person, und es entsteht Angst. Diese Angst, die durch nicht zum Ausleben gekommene Kompensationen erzeugt w i r d , ist von d e r gleichen Art wie der Angstzustand, der dann eintritt, wenn die ausgelebten Kompensationen sich zu erschöpfen drohen, ohne d a ß die Einsicht des Menschen dies erfaßt hätte: in beiden Fällen entsteht ein „Kompensationsausfall", jedoch ist die Lösung bei beiden K r i s e n jeweils eine verschiedene: für den Menschen, der seine Kompensationen auslebt, wäre es wünschenswert, daß er über dieses Stadium hinauswüchse; u n d umgekehrt wäre es für d e n , der sie nicht ausleben k a n n , wünschenswert, d a ß er in dieses Stadium eintrete. Wenn es dem Menschen vergönnt ist, seinen Kompensationen einen lebensmäßigen Ausdruck zu geben, so funktioniert sein leib-seelisches Gefüge harmonisch und reibungslos. Er glaubt, die Wirklichkeit da oder dort gefunden zu haben — vielleicht im Geld, vielleicht in Ruhm u n d E h r e , in der Macht o d e r in irgendeiner ungewöhnlichen Aufgabe — und so besitzt er einen Orientierungspol, um den herum sein Leben sich wirksam entfalten kann. Diese scheinbare Konzentrierung der Wirklichkeit in einem einzelnen Bild verleiht diesem Menschen durch die Vereinfachung seiner inneren D y n a m i k eine scheinbare innere Geschlossenheit. Diese A r t der Vereinfachung setzt jedoch voraus, d a ß ein großer Teil aller a n d e r n Tendenzen einschläft und v e r k ü m m e r t und darf nicht verwechselt werden mit d e r Einfachheit des Menschen nach dem Satori, bei dem sich alles unterschiedslos in einer vollkommenen Synthese vereint findet. Sie gleicht ihr, wie etwa die flächenhafte Darstellung eines Rauminhalts dem R a u m i n h a l t selbst gleicht. W e n n eine Kompensation v o m Typus „ V e r g ö t t e r u n g " bis zu einem sehr hohen G r a d der Subtilität getrieben wird, so kann die d a r a u s her212

vorgehende innere Vereinfachung seltene Kräfte des psycho-somatischen Gesamtgefüges freimachen, die sogar „übernatürliche" Formen annehmen k ö n n e n (so etwa das Gedankenlesen, Hellsehen, seelische Beeinflussung anderer, instinktiv richtiges H a n d e l n , Heilkräfte usw.). Der gut kompensierte Mensch ist im wahrster. Sinne des Wortes ein „Götzenanbeter" und dies umso mehr, als er „glaubt", die harmonisierenden Wirkungen seiner K o m p e n s a t i o n kämen von dem kompensatorischen Bild selbst her und daher dieses Bild mit der absoluten Wirklichkeit gleichsetzt. Diese Überzeugung verleiht dem subjektiven Wert eines Bildes etwas Objektives u n d bringt den Bilderanbeter folglich auf den Gedanken, alle Menschen sollten die D i n g e in der gleichen Weise wie er sehen. Neigt er zum Positiven, so endet er beim „Proselytenmachen", beim „Apostel spielen", beim „Missionieren". N e i g t er z u m Negativen, so wird die Unduldsamkeit, die Verfolgung der „Ungläubigen" vorherrschen. Mit dem Glauben an die absolute Wirklichkeit einer Erscheinung ist u n auflöslich das Bedürfnis nach formalen Äußerungen verbunden: d e r „Ritus", im Grunde ein frei gewähltes Ausdrucksmittel, wird beim Götzendiener zum unerläßlichen Z w a n g . Die Kompensationen bilden also ein unveräußerliches Element der menschlichen Entwicklung, wie sie sich von der G e b u r t bis zum Eintritt des Satori vollzieht. Bis zum E i n t r i t t des Satori ist das innere Gleichgewicht des Menschen labil und wird durch seine Kompensationen bedingt. Vor dem Satori kann es also keine restlose Ü b e r w i n d u n g der Kompensationen geben, denn erst das Satori selbst ist jene Ü b e r w i n d u n g . Doch vor der „Transformierung" (dem Überschreiten der Form), welche ein einmaliges und an den Augenblick gebundenes inneres Erlebnis ist, entstehen gewisse Formveränderungen im Wesen des Menschen. Diese Veränderungen sind ein Ausdruck für die fortschreitende Entfaltung v o n inneren Voraussetzungen, die für das Satori unerläßlich sind. In diesem Sinne können wir auch v o n d e r Überwindung der Kompensationen wie von einem E n t wicklungsvorgang sprechen. Folgendes wird diesen Sachverhalt verständlicher machen: Es w i r d erzählt, daß der Fuchs, w e n n er sich seiner Flöhe entledigen Will, etwas Moos in seine Schnauze n i m m t u n d damit rückwärts ins Wasser geht. Die Flöhe verlassen n u n die schon unter Wasser befindlichen Körperteile, um auf diejenigen zu flüchten, die mit ihrer Oberfläche noch aus dem Wasser herausragen. Nach u n d nach kann der Fuchs so seine Flöhe auf einer i m m e r kleiner werdenden Fläche konzentrieren, die nun zunehmend von ihnen heimgesucht wird. Schließlich sind alle Flöhe auf der Schnauze und d a n n auf dem Stück Moos zusammengedrängt, das der Fuchs sodann der Strömung ü b e r l ä ß t . Vor dem Augenblick, in welchem er die Gesamtheit seiner Flöhe abstößt, ist er noch keinen einzigen unter ihnen losgeworden. Trotzdem h a t ein bestimmter Vorgang die V e r t e i l u n g der Parasiten geändert und ihr vollständiges u n d p l ö t z liches Verschwinden vorbereitet. W e n n wir so die fortschreitende Ü b e r w i n d u n g der Kompensationen als eine V e r m i n d e r u n g ihrer Ausbreitung und eine Erhöhung ihrer Dichte begreifen, so k o m m t sie einer konzentrierenden „Reinigung"

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des kompensatorischen Bildes gleich, das sich vom Besonderen zum Allgemeinen hin entwickelt. Da nun jede Kompensation ein Bild des auf mein Ego bezogenen W e l t g a n z e n ist, d . h . eine Konstellation, deren Zentralgestirn meinEgo ist, w ä h rend bestimmte Bilder die Satelliten darstellen, so besteht der Reinigungsprozeß darin, d a ß die Satelliten immer m e h r an stofflicher Dichte verlieren, während das Zentralgestirn an Dichte gewinnt. Doch dann vollzieht sich etwas sehr Merkwürdiges, w a s durch kein Bild erläutert werden k a n n : Da das Ego weder eine absolute noch eine relative Wirklichkeit besitzt, t r i t t die darin sich sammelnde Dichte nicht in Erscheinung. Die fortschreitende Loslösung ist eine Reinigung v o n jenem Verhaftetsein an sich selbst, das den K e r n jedes Verhaftetseins ü b e r h a u p t bildet. Aber diese zentrale Gebundenheit an ein fälschlicherweise angenommenes Bild kann sich immer weiter klären und verdichten, ohne je greifbar zu werden. Im Augenblick, da San J u a n de la C r u z seine mystischen K o m p e n s a t i o n e n überwand, da er sich von dem Bilde „Gottes" loslöste, nachdem dieses Bild schon vorher die äußerst mögliche Entpersönlichung erfahren hatte, fühlte er sich nicht dem Bild des „Ego" verhaftet, dem das Bild Gottes seine scheinbar absolute Wirklichkeit entlehnt hatte. Er fühlte sich an nichts g e b u n d e n , er fühlte überhaupt nichts mehr: dies ist die Nacht, in der es nichts mehr gibt, was man fühlen oder denken könnte. U n d dennoch besteht noch immer eine letzte Gebundenheit an das Ich, in der sich alle Wesenskräfte verbinden, eine letzte, ungreifbare Kompensation. Erst die Überwindung jener K o m pensation ist die wahre, die vollständige und spontane Loslösung, Auf die „Nacht" folgt das, was San Juan de la Cruz den „theopatischen Zustand" und das Z e n „Satori" nennt. Die Loslösung oder Überwindung der Kompensation w i r d oft falsch verstanden. M a n g l a u b t , daß es sich darum handle, die gefühlsmäßige Vorliebe für das kompensatorische Bild zu beseitigen, m a n glaubt, d a ß es d a r a u f ankäme, sich das Verlangen danach aus dem H e r z e n zu reißen. Dabei vergißt man aber, d a ß die Gebundenheit nicht in dem Verlangen selbst liegt, sondern in dem Anspruch auf seine Erfüllung. So muß also nicht das Verlangen, sondern der Anspruch verschwinden. Diese Aufgabe des Anspruchs ist nicht etwa das Ergebnis eines inneren K a m p f e s . Sie folgt aus dem richtigen Verständnis der Enttäuschung, die zugleich mit dem Anspruch gegeben ist, ob dieser befriedigt w i r d oder nicht. Angst, falsche Ansprüche und der Glaube an die absolute Wirklichkeit des geforderten Bildes sind die Elemente, aus denen das Truggebäude sich zusammensetzt, das v o n der Einsicht langsam untergraben wird, bis sie es eines Tages zum Einstürzen bringt. Die Loslösung ist kein schmerzliches inneres Erlebnis, sondern im Gegenteil eine Besänftigung. Zuweilen erweist sich unsere Einsicht eine ganze Zeit hindurch als zu schwach, um eine bestimmte kompensatorische Vorstellung zu überwinden. Dies scheint ein H i n d e r n i s für unser inneres Wachstum zu bilden. Doch wiederholen wir noch e i n m a l : das, was w i r lieben, woran w i r h ä n gen, ist in sich selbst niemals hemmend, das H e m m e n d e liegt einzig und allein 214

in der falschen Gleichsetzung des geliebten Bildes mit der absoluten Wirklichkeit, also in der Unwissenheit. Die Aussicht, eine Kompensation zu überwinden, h ä n g t von der Kraft der intellektuellen Intuition u n d auch vom Grad der Subtilität des kompensatorischen Bildes ab. Je höher unser Bild steht, umso weniger birgt es zunächst die M ö g lichkeit, uns zu enttäuschen. Jedes Bild verliert mit der Zeit an Anziehungskraft, doch ist das subtilste am stärksten und erschöpft sich am langsamsten. W e n n dann doch Ermüdung u n d Enttäuschung eintreten, so wird es nicht leicht sein, diese in richtiger Weise zu verstehen, ja, umso schwieriger, je subtiler das Bild ist. Denn anstatt die absolute Wirklichkeit des Bildes anzuzweifeln, neigen w i r vielmehr dazu, uns unser eigenes Versagen, unsere Ungeschicktheit, Trägheit u n d Bequemlichkeit dem Bilde gegenüber vorzuwerfen. Es ist in diesem Z u s a m m e n hang angebracht, die Aufmerksamkeit des Lesers auf eine Gruppe sehr subtiler Kompensationen zu lenken, die man gewöhnlich als „geistige" bezeichnet. I n n e r halb der „geistigen" Kompensationen liebt der Mensch etwas Hohes, in dessen Dienst er sich stellt: so z. B. einen unendlich gerechten, unendlich gütigen G o t t , von dem er eine allumfassende Erkenntnis zu erlangen strebt, oder aber „höhere", „erhabene" Bewußtseinszustände, die er erreichen möchte, eine totale Verwirklichung, die als zu erringender Z u s t a n d aufgefaßt wird, irgendein „Ideal", das die Herrschaft von Friede und Gerechtigkeit unter den Menschen verwirklichen will, usw. W a s sind diese „geistigen" Werte nun eigentlich? G e legentlich kann man dreierlei Werte unterscheiden hören: materielle, intellektuelle und „geistige". Diese letzteren bilden offensichtlich, da man sie benennen, sie lieben, und ihnen dienen kann, einen Bestandteil der Erscheinungswelt. U n d doch läßt sich kaum einsehen, worin jener sogenannte „geistige" Aspekt bestehen sollte, wenn man einen stofflichen, bzw. materiellen, und einen subtilen o d e r psychischen, bzw. intellektuellen Aspekt der Erscheinungswelt a n n i m m t . Die Anbeter des „Geistigen" behaupten, es sei das Absolute (aber jeder Bilderanbeter wird dies v o n seinem Götzen behaupten), es sei der über „Leib" u n d „Seele" stehende, versöhnende „Geist". N u n darf aber das Absolute nicht so g e sehen werden, d a ß m a n ihm andere, in der Welt der Erscheinungen auftretende Werte gegenüberstellt, denn dadurch wird es ja in die Erscheinungswelt einbezogen. Es kann nicht wie ein dem Ich-Subjekt gegenüberstehendes Objekt benannt, geliebt oder dienend umgeben werden. Die „geistigen" Werte k ö n n e n also nicht das Absolute sein. Bei den verschiedensten Formen, in die diese W e r t e eingegangen sind, herrscht immer die Auffassung von etwas vollkommen Positivem, das schließlich nichts anderes ist, als das positive Prinzip des i n n e r w e l t lichen Dualismus. M a n mag es „Gott" oder „schöpferisches P r i n z i p " der W e l t oder aber Prinzip des G u t e n nennen, das d e m „Teufel", dem auflösenden P r i n zip der Welt oder dem P r i n z i p des Bösen gegenübergestellt wird. I m m e r ist es das Prinzip des Lichtes, das dem „Fürsten der Finsternis" entgegentritt. Es ist durchaus normal, d a ß der Mensch das Aufbauende liebt und das Z e r s t ö r e n d e haßt, daß er „ G o t t " liebt u n d den „Teufel" verabscheut. D e r eigentliche G ö t z c n 215

dienst der „Geistigkeit" beginnt erst d a , wo „ G o t t " vom menschlichen Intellekt irrtümlich m i t dem Absoluten oder der absoluten Wirklichkeit o d e r dem Nichtzeitlichen gleichgesetzt w i r d . Wo ein solcher I r r t u m begangen w i r d , ist „Gott" mit dem Absoluten P r i n z i p und der „Teufel" mit der Schöpfung identifiziert. „ S a t a n " w i r d z u m „Fürsten dieser W e l t " , u n d die „geistigen" G ü t e r w e r d e n zu d e n „zeitlichen" in Gegensatz gebracht. Ein solches Vergessen d e r metaphysischen Einheit m u ß zum inneren Dualismus, zur Unmöglichkeit einer Wesenssynthese führen, wie m a n es im übrigen bei jeder götzenanbetenden Kompensation beobachten kann. Wir haben die sogenannten „geistigen" Kompensationen ganz besonders hervorgehoben, weil sie von allen am schwersten zu erfassen sind. Die Vorstellung „Gottes", des positiven Prinzips des zeitlichen Dualismus, ist das mächtigste Kompensationsbild, das seiner E n t w e r t u n g am kräftigsten widerstrebt u n d daher am schwierigsten zu überwinden ist. Es liegt nicht in unserer Macht, unsere Kompensationen selbst zu wählen. W e n n unsere seelische Struktur so beschaffen ist, daß w i r „Gefühl für das Heilige" und „Liebe zu G o t t " empfinden, so läßt sich das nicht ä n d e r n . Doch ist es d a n n g a n z besonders wichtig, d a ß w i r uns d a r a n erinnern, d a ß nichts Vorstellbares die Wirklichkeit selbst ist. Unser „eigenes Wesen" ist das Absolute. Nichts v o n all dem, was wir anschauen, was w i r uns vorstellen und was wir lieben können, überschreitet den Bereich d e r von uns selbst erzeugten Bilder, von uns, die wir doch dem Wesen nach absolut sind. Die Lehre des Z e n besteht kategorisch auf diesem Punkte und d a r f in keiner Weise als „geistige" Lehre verstanden werden. Sie ist ganz und g a r atheistisch, wenn man u n t e r „ G o t t " die absolute Wirklichkeit versteht und voraussetzt, daß unser formales Denken sie erfassen könne. „Kein Ding ist von Urbeginn an" Rinzai sagt ferner: „Begegnet euch Buddha auf eurem Weger So tötet ihn.,, O ihr, Anhänger der Wahrheit, werdet frei von allen Dingen! Ihr mit den Augen von Maulwürfen, euch sage ich: Es ist kein Buddha, keine Lehre, kein Gesetz! Was sucht ihr unaufhörlich in eures Nachbarn Haus? Begreift ihr denn nicht, daß ihr über euren eigenen Kopf noch ein anderes Haupt setzt? Was fehlt euch noch an eurem eigenen Wesen? Was ihr in diesem Augenblick in der Hand haltet, ist aus dem gleichen Stoffe gemacht wie Buddha selbst!"

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XXIII. VON

W E R

DAS

ZEN

DER

BEGREIFEN

INNEREN

WILL,

ALCHEMIE

DARF

NIE

VERGESSEN,

DASS

er es hier mit der Lehre vom Unvermittelten zu tun hat. Da das Zen leugnet, daß der Mensch eine Befreiung „erringen" oder sich in irgend einer A r t „erheben" müsse, nimmt es auch nicht an, daß die menschliche Situation sich mit der Zeit bessern k ö n n e bis sie endlich „normal wird". Das Satori-Ereignis nimmt nur einen Augenblick zwischen zwei Epochen unseres zeitlichen Lebens ein. Einer Linie ähnlich, die eine Schattenzone v o n einer Lichtzone trennt, besitzt es auch nicht mehr Wirklichkeit als diese Linie. Entweder sehe ich die Dinge nicht, wie sie wirklich sind, oder ich sehe sie so. Es gibt keine Entwicklungsperiode, in deren Verlauf ich etwa nach und nacb die absolute Wirklichkeit der Welt erkennen könnte. Nun mag z w a r der Begriff der fortschreitenden Entwicklung ohne eigentliche Beziehung zur Verwirklichung selbst sein u n d die „Verwandlung" u n e r w a r t e t und plötzlich vor sich gehen, dennoch lehrt auch das Zen, daß jener V e r w a n d lung ein ununterbrochener Formwandel unserer inneren Abläufe vorausgeht. Wir sagten „ununterbrochen" und nicht „fortschreitend", um in Erinnerung zu bringen, daß die dem Satori vorausgehende Entwicklung nicht einem gradweisen Inerscheinungtreten der Wirklichkeit gleichkommt, sondern einfachen, stufenweisen Wandlungen in den Erscheinungsformen unserer Blindheit. Nachdem dieser P u n k t wieder klar in Erinnerung gebracht wurde, ist es nun interessant, diese stufenweise, aber nicht fortschreitende Entwicklung näher zu betrachten, die dem Satori vorausgeht. Je mehr unser Verständnis o d e r der "durchdringende Blick" sich vertieft, desto deutlicher beobachten wir, d a ß unser spontanes inneres Leben — Gefühlserregungen und spontane Vorstellungen — in einer dauernden Wandlung begriffen ist. Die Weisheit der Hindus sagt: „ D u wirst, was du denkst". Diese sich entwickelnde Gestaltwerdung ist dem Destillierungsprozeß zu vergleichen, der jedweden Körper reinigt und „verfeinert". Wenn man gegorene Früchte destilliert und Alkohol daraus gewinnt, so besteht die Veränderung des ursprünglichen Produktes in einer quantitativen A b n a h m e und einer qualitativen Steigerung. Die Materie ist weniger aber feiner g e w o r d e n , die ihr innewohnenden Kräfte sind weniger stofflich (z. B. der A l k o h o l ist weniger schwer als die Früchte, aus denen er gewonnen wurde) dafür aber subtiler geworden, das Trinken von Alkohol bringt Wirkungen hervor, die Früchte nie hervorbringen könnten). Wiederholte Destillierungen arbeiten die Verwandlung des behandelten Grundstoffes immer schärfer heraus. Die Alchemie des Mittelalters mit ihren Retorten und Kolben, mit ihrer Suche nach der „fünften Essenz" w a r eine symbolische Darstellung des inneren Prozesses, den wir 217

gerade u n t e r die L u p e nehmen. Je flüchtiger eine Substanz w i r d , desto weniger werden i h r e eigentlichen Merkmale dem Auge wahrnehmbar. D e r Anblick von Früchten entspricht etwa ihrem Genusse, während der Alkohol, obgleich er viel wirksamere K r ä f t e besitzt, einen weit weniger eindrucksvollen Anblick bietst. In der U m g a n g s s p r a c h e bedeutet das W o r t „verflüchtigen" soviel wie „verschwinden". Die Verfeinerung oder „Verflüchtigung" ist gleichzeitig eine „Klärrung", wie w i r schon hervorgehoben h a b e n ; die am meisten verfeinerte Substanz ist gleichzeitig die einfachste. Das sich entwickelnde Verständnis stellt einen Destillierungsprozeß unseres Inneren dar, d. h. unseres Bildmaterials. Es gibt eine Klärung, Entstofflichung und Vereinfachung dieses Materials und dementsprechend auch aller Vorstellungsund Gefühlsahläufe. Zum Beispiel: Als K i n d glaube ich an das Jesuskind als an ein richtiges K i n d , das mich liebt und mein Bestes will, das meinem Leben zusieht und mir gegenüber Gefühle hegt, die den meinen ähnlich sind. Diese Vorstellung ist „ r o h " , deutlich umrissen und mit konkreten Einzelheiten versehen. Als Jüngling gewinne ich ein Verständnis „Gottes", bei dem ich mir ihn noch als persönliches Wesen, jedoch ohne sichtbaren Leib vorstelle, das z w a r noch Gedanken und Gefühle, jedoch in weniger greifbarer und vorstellbarer F o r m hat. Das Bild hat sich „sublimiert", es h a t seine gestalthafte Genauigkeit verloren. Es hat weniger Gestalt u n d ist doch gleichzeitig umfassender und mächtiger, da es jetzt einen größeren Reichtum umschließt. Mit zunehmendem Alter u n d Verständnis bildet sich in mir die abstrakte Idee eines überpersönlichen Prinzips, das ich als einziges für gut u n d aufbauend halte. Im darauf folgenden Stadium gelange ich dazu, dieses P r i n z i p als dem Dualismus: Aufbau — Zerstörung oder H a n d e l n — Nichthandeln, überhaupt als jeder Erscheinung überlegen zu begreifen; doch unterscheide ich dabei noch dieses P r i n z i p von seiner Offenbarung in der Erscheinungswelt u n d glaube an die Wirklichkeit dieser Unterscheidung. Ich begreife, d a ß das P r i n z i p auch mein P r i n z i p ist; ich sehe meine I d e n t i t ä t mit ihm, unterscheide jedoch noch mein Prinzip v o n meiner Erscheinung u n d glaube an die Wirklichkeit dieser Unterscheidung. Z u l e t z t gelange ich zu der Einsicht, daß die Unterscheidung zwischen dem P r i n z i p und seiner Gestaltwerdung nichts als ein analytischer Kunstgriff ist, den der Intellekt als Ausdrucksmittel nötig hat. Ich begreife, d a ß ich mich einer Täuschung hingebe, wenn ich in beiden verschiedene Elemente unterscheide u n d sie einander gegenüberstelle. Das Bild der Wirklichkeit, zu Anfang das konkrete Bild des Jesuskindes, h a t sich bis zum abstrakten Bild der „Leere" der traditionellen Metaphysik „vergeistigt", einer Leere, die jede n u r denkbare Fülle in sich schließt. Es ist durchaus einleuchtend, daß sich auch meine gefühlsmäßigen Reaktionen auf die Erfassung der Wirklichkeit in Ubereinstimmung mit diesem „Destillierungsprozeß" vergeistigen. Der innere u n d äußere Gang meiner „Maschine" wandelt sieh, w e n n ich nicht mehr an einen persönlichen Gott als an einen Gegenstand der Furcht u n d Liebe glaube, und wenn ich beginne, über allen G e d a n k e n und Gefühlen meine „BuddhaN a t u r " zu erfassen. 218

Der Destillierungsprozeß, den wir dem Einsatz der intellektuellen Intuition verd a n k e n , entspricht genau der in diesem Buche oft wiederholten Idee, d a ß die richtige innere Entwicklung nichts vernichtet, sondern alles „erfüllt". In Wirklichkeit bedeutet das scheinbare Sterben des „alten Menschen" keine Vernichtung. Wenn ich Alkohol aus Früchten ziehe, zerstöre ich den Grundstoff der frucht nicht, ich kläre ihn, verdichte ihn u n d führe ihn zur Vollendung. Ebenso ".tigere ich mein Verständnis der Wirklichkeit bei der Entwicklung v o m „Jesusk i n d " zur „Leere". N u r scheinbar ist es ein Sterben, weil es einer Abschwächung des Sichtbaren, des durch Verstand und Sinne Faßbaren gleichkommt. Doch ist in Wirklichkeit nichts zerstört worden, w e n n der Glaube an die absolute Wirklichkeit einer einzelnen Wahrnehmung abnimmt. Die höchste Stufe dieser Entwicklung bringt ein Verschwinden der vermeintlichen Wirklichkeit der durch Sinne und Verstand wahrgenommenen Bilder mit sich. Von Geburt an ist es die Grundsituation des Menschen, sich im tiefsten Innern unbefriedigt zu fühlen. D e r Mensch glaubt etwas zu entbehren; i h m genügt nicht, was er h a t u n d was er ist. Er e r w a r t e t „etwas anderes", das „wahre Leben", sucht die Lösung seines vermeintlichen "Lebensproblems", verlangt bestimmte Situationen innerhalb seines Daseins. Diese fordernde H a l t u n g , aus der alle unsere Leiden hervorgehen, soll nicht aufgehoben werden, s o n d e r n ihren richtigen Sinn erhalten. Bei der Betrachtung der Kompensationen k o n n t e n wir beobachten, wie unsere Ansprüche; unsere Neigungen sich immer mehr „entstofflichen". Alle besonderen Vorlieben lassen sich aus der zentralen Verhaftung an das Bild unseres Ego, an das Bild unserer individuellen Persönlichkeit ableiten, wobei zwischen den einzelnen Bildern und jenem H a u p t b i l d Verbindungen hergestellt werden, die sie identisch erscheinen lassen. Je tiefer mein Verständnis vordringt, desto gründlicher werden jene Verbindungen abgeschnitten. Meine Verhaftung klärt sich, geistigt und verdichtet sich; sie tritt immer weniger in Erscheinung, w i r d immer ungreifbarer. Unser verhafteter Anspruch w i r d zwar vor dem Satori um nichts schwächer, doch geht er seiner Reinigung u n d Vervollkommnung immer mehr entgegen, je n ä h e r der Augenblick der plötzlichen Verhandlung rückt, in der Zuneigung u n d Abneigung ihre Versöhnung erfahren. Unsere Eigenliebe bildet einen Teil, ja einen Grundaspekt unserer fordernden Haltung. Auch sie geht ihrer Klärung entgegen, je tiefer mein Verstehen vordringt. Leuten, die mich beobachten, w e r d e ich bescheidener als z u v o r erscheinen. Ich selbst jedoch fühle, daß es sich anders verhält. Meine Eigenliebe wird immer vergeistigter, immer dichter, so d a ß man sie weniger gut e r k e n n e n kann. Sie geht ihrer Vervollkommnung entgegen, indem sie auf der einen Seite zum Nullpunkt der vollkommenen Demut sich neigt, auf der anderen Seite zur verborgenen Unendlichkeit unserer absoluten W ü r d e . Das Angstgefühl, das mit den vom Ego erhobenen Ansprüchen eng verbunden ist, erfährt die gleiche stufenweise W a n d l u n g . Es ist ein grober I r r t u m zu glauben, daß die Einsicht die Unruhe des Menschen steigere. Durch falsche Lehren werden zwar zwangshafte „Überzeugungen" in uns eingepflanzt, die die Angst 215

steigern k ö n n e n . Doch die intuitive Schau der Wahrheit kann die Angst n u r „sublimieren", wobei ihre offenbare Seite zugunsten der noch nicht in Erschein u n g getretenen immer mehr in den Hintergrund tritt. V o r dem Satori nimmt das tiefe Angstgefühl, aus dem sich alle einzelnen Angsterscheinungen ableiten lassen, um nichts ab. Doch tritt es immer weniger in Erscheinung, so daß ein Zen-Schüler es immer weniger fühlt, je weiter er sich entwickelt. w e n n das Angstgefühl fast nicht mehr zu greifen ist, ist das Satori n a h e . Die innere Unruhe des Menschen ist ein Zeichen für den Konflikt zwischen der Lebensbewegung einerseits u n d d e r A b w e h r gegen alle zeitliche Begrenztheit andrerseits, die eine Vorbedingung jener Bewegung ist. Wenn der Mensch seinem Leben gegenübergestellt w i r d , so will er es und will es gleichzeitig nicht. Die Unruhe läutert sich mit der Einsicht, durch die die A b w e h r der zeitlichen Begrenztheit sich verringert. Die Lebensbewegung selbst w i r d nicht berührt, w ä h r e n d das, was sich ihr entgegenstellte, in den H i n t e r g r u n d tritt. Daher erfährt auch sie selbst eine Läuterung: die U n r u h e verschwindet und unser inneres Triebwerk arbeitet immer „glatter". Die hier betrachtete Entwicklung bringt, wie wir sahen, v o r allem die „Entstofflichung" unseres Bildmaterials mit sich. Unsere Bilder verlieren nach und nach ihre scheinbare Dichte, ihre vermeintliche Objektivität. Sie werden feinstofflicher, umfassender, allgemeiner u n d abstrakter. Sie verlieren allmählich die Macht, unsere Lebensenergie in die Form einer Gefühlsverkrampfung zu bringen; der ganze Vorstellungs- und Erregungsprozeß verliert an Intensität u n d Durchschlagskraft. In u n s e r e m Vorstellungsablauf zeigen sich weniger Kontraste und der Traum unseres Innern verblaßt. W e n n wir u n s e r e n gegenwärtigen Zustand als eine Art v o n Schlummer betrachten, bei dem unser bewußtes D e n k e n die Rolle des Traumes spielt, so könnten wir Satori als das Erwachen sehen. Es ist zwar etwas W a h r e s an dieser Sicht, doch birgt auch sie eine Falle, in die unser Verständnis leichtlich geraten könnte. Wir werden immer dazu neigen, uns die Dinge vorstellen zu wollen und zu vergessen, daß das Satori als innerer Vorgang, der sich jeder Vorstellung entzieht, mit nichts, w a s w i r sonst kennen, eigentlich verglichen w e r d e n kann. So bin ich auch hier in G e f a h r , eine Analogie aufstellen zu wollen zwischen dem Satori, dem letzten Erwachen, und dem, was ich täglich beim Übergang v o m schlafenden zum wachenden Zustand erlebe. In diese vermeintliche Analogie schleicht sich heimlich der Begriff des „Fortschritts" ein: denn so, wie mein gewöhnliches Erwachen m i r dem Schlaf gegenüber als Fortschritt erscheint, w ü r d e auch das Satori zu einem „Über-Erwachen", einem „wahrhaften" Erwachen, zu einem hohen Fortschritt gegenüber dem jetzigen Wachheitsgrad. Wie das gewöhnliche Erwachen mir ein Bewußtsein zurückgibt, das mir w ä h r e n d des Schlafes fehlte, so würde das Satori mir ein „Über-Bewußtsein" verleihen müssen, das ich in meinem augenblicklichen Zustand nicht hätte. Diese falsche Auffassung (falsch, weil ich von E w i g k e i t her im Zustande des Satori weile u n d weil mir trotz aller scheinbarer Gegenbeweise nichts fehlt) führt zu Täuschungen über den inneren 220

Vorgang, der dem Satori-Ereignis vorangeht. Zwischen dem Tiefschlaf u n d d e m Wachzustand liegt der Schlaf mit Träumen. D a s Auftreten des Bewußtseins w ä h rend des Schlafes zielt auf das Erwachen ab: je aufregender und bewegender, je intensiver und scheinbar objektiver der Traum ist, desto näher ist das Erwachen. W e n n wir die falsche »Fortschrittsanalogie" weiterdenken, müssen wir schließlich zu dem Glauben gelangen, daß dem Satori eine Verschärfung unseres b e w u ß ten Denkens, unseres Vorstellungsablaufs voranginge. Wir glauben vielleicht, d a ß eine innere Überaktivität der Ekstase oder Beklemmung, wenn sie ihren kritischen P u n k t erreicht h a t , die letzte Grenze durchbrechen und den Zugang zu einem kosmischen Überbewußtsein uns verschaffen k ö n n t e . Aber all dies steht in scharfem Gegensatz zur Unmittelbarkeit des Satori, v o n der die Zenlehre spricht. Achten wir doch darauf, wie sich gerade bei dieser Fortschrittsillusion die gleiche Identifizierung mit meinem Ich wiederfindet, die eine irrtümliche Anbetung des Bewußten zur Folge bat. Unsere innere Vorstellungswelt, deren M i t t e l p u n k t unser individuelles Ich ist, erhebt den Anspruch, selbst das Universum zu sein. Die Kräfte des Bewußtseins, die diese Welt erzeugen, werden dabei dem Kosmischen Geist gleichgesetzt, u n d von daher gesehen ist es nicht länger verwunderlich, d a ß wir auf das Bewußtsein bauen, wenn w i r d a r a n denken, unsere absolute Verwirklichung zu erringen. In Wirklichkeit bin ich, ob ich schlafe Satori oder wache, hier und jetzt im Zustande des Satori. Schlaf und Wachen sind gleicherweise in diesen Zustand getaucht. D e r Satori-Zustand spielt für Schlaf und Wachen, die Rolle einer versöhnenden Hypostase. Ins Nichtzeitliche getaucht, sind Schlaf u n d Wachen zwei äußerste Spielarten des F u n k t i o nierens unseres leib-seelischen Organismus, zwei Pole, zwischen denen ich Tiefschlaf Schlaf Wachzustand mich hin- und herbewege. Der Schlaf mit Träumen mit Träumen nimmt zwischen Tiefschlaf und Wachzustand eine Mittellage ein, er ist eine Projektion von der Spitze des Dreiecks auf seine Basis. Daher auch die jenseitigen Weisheiten des Traumes. Das symbolische D e n k e n des Traumes, in dem sich die Situationen unseres persönlichen Mikrokosmos frei von jeder vermeintlichen Objektivität d e r Außenwelt widerspiegeln, ist im Augenblick die einzige Denkform, durch die wir manche Dinge in ihrer w a h r e n Gestalt erkennen können. Da die Dinge in ihrer wahren Gestalt keinen angemessenen direkten Ausdruck finden können, muß das T r a u m d e n k e n eine symbolische Äußerungsform annehmen. Versuchen wir nun v o n dieser richtigen Perspektive aus zu erfassen, auf welche Weise die stufenweise — nicht Fortschreitende — Entwicklung, die dem Satori vorangeht, in u n s e r e m Bewußtsein, in u n s e r e m " W a c h t r a u m " sich spiegelt! Unser 221

W a c h t r a u m geht wie alles in uns einer stufenweisen V e r v o l l k o m m n u n g entgegen, i n d e m er immer subtiler w i r d . Weit davon entfernt, fesselnder, W i r k lichkeit v o r t ä u s c h e n d e r zu werden, w i r d er vielmehr blasser, lichter, lockerer und flüchtiger u n d haftet nicht mehr so z ä h in uns. D i e Gefühlsgeladenheit bestimmt e r Bilder n i m m t ab, und unsere I n n e n w e l t k o m m t ins Gleichgewicht. U n t e r h a l b dieses i m m e r leichter werdenden Wachtraums schlafen w i r den Schlaf unserer gegenwärtigen ichbezogenen inneren Situation. Kurz g e s a g t : die höchste Stufe unseres b e w u ß t e n Denkens bringt dieses in einem ganz bestimmten Sinne in eine größere N ä h e z u m Tiefschlaf. W ä h r e n d jedoch unser b e w u ß t e s D e n k e n sich einerseits gewissermaßen dem Schlafe nähert, gewinnt es andrerseits gleichzeitig einen i m m e r größeren Abstand d a v o n , da die subtilsten intellektuellen Möglichkeiten aufs höchste gesteigert werden. Im Bereich des noch nicht manifest Gewordenen findet also eine wirkliche A n n ä h e r u n g statt, w ä h r e n d in der Welt des b e reits manifest G e w o r d e n e n ein scheinbares Fernerrücken sich vollzieht. „Was oben ist, ist das Gleiche wie das, was unten ist, und d a s , was unten ist das Gleiche wie das, was oben ist." Die Vorstellungstätigkeit w i r d subtiler und bekommt die T e n d e n z , nicht in Erscheinung zu treten, obgleich das geistige Leben wach bleibt u n d seine Funktionen fortsetzt. Unter der stets durch Bilder abgelenkten Aufmerksamkeit entwickelt sich eine „Konzentration auf nichts". Meine Verfassung h a t Ähnlichkeit mit der des zerstreuten Gelehrten. Doch während der Gelehrte zerstreut ist, weil sich seine Aufmerksamkeit auf etwas Gestaltetes richtet, bin ich selbst zerstreut, weil meine Aufmerksamkeit sich auf etwas Gestaltloses, weder Begriffenes noch Begreifbares richtet. Der gesamte Vorstellungs- und Erregungsprozeß wird gedämpft. Dies kommt dadurch z u m Ausdruck, d a ß ich mich ohne sichtbaren G r u n d glücklich fühle. Ich bin nicht deshalb glücklich, weil das Dasein mir gut erscheint, sondern es erscheint mir gut, weil ich glücklich bin. Die auf das Satori zulaufende Entwicklung b r i n g t keine Zuspitzung der Angst mit sich, sondern im Gegenteil, eine zunehmende Linderung. Dem Augenblick, in dem wir u n m i t t e l b a r und endgültig erkennen werden, daß unsere Angst immer ein Trug gewesen ist, geht ein neutralisierender Ausgleich voraus. Das bestätigt den Gedanken, daß unsere Sehnsucht nach Erfüllung abnimmt, je näher wir dem „Ort d e r R u h e " kommen. Im abendländischen Denken Befangene haben oft Mühe, d e n Ausdruck „Großer Zweifel" zu verstehen, den das Zen gebraucht, um den inneren Zustand zu bezeichnen, der dem Satori unmittelbar vorangeht. Sie glauben, d a ß der „Große Zweifel" der Gipfel der Unsicherheit, der Unruhe und Angst sein müsse. Doch ist genau das Gegenteil der Fall. Versuchen wir, mehr K l a r h e i t darüber zu gewinnen. D e r Mensch wird geboren mit einem Zweifel an seinem „Sein", und dieser Zweifel bestimmt alle seine Reaktionen gegenüber der Außenwelt. Die Frage: „Bin-ich?" liegt allen unseren Unternehmungen z u g r u n d e , ob wir uns klar darüber sind oder nicht. In allem, was ich suche, suche ich nach einer endgültigen Bestätigung meines „Seins". Solange diese metaphysische Frage innerlich mit dem Problem meines Erfolges in der Welt gleichgesetzt w i r d , erfüllt mich Angst 222

wegen meiner zeitlichen Begrenztheit. Denn die so gestellte Frage w i r d immer von einer verneinenden A n t w o r t bedroht. Doch je tiefer mein Verständnis w i r d und je „subtiler" meine bildhafte Vorstellung vom Universum, desto mehr tritt die Gleichsetzung zwischen meinem metaphysischen Zweifel und der Möglichkeit meines Scheiterns in der Weit zurück. Die Frage nach meinem „Sein" erfährt eine K l ä r u n g und t r i t t so weniger in Erscheinung. In Wirklichkeit verliert sie zwar nicht an Dringlichkeit, wird jedoch immer weniger dicht und greifbar. Arn Ende dieses Destillierungsprozesses ist der Zweifel fast vollkommen rein geworden, ist z u m „ G r o ß e n Zweifel" geworden und hat gleichzeitig seinen Angstcharakter verloren. Er ist der Gipfel der Verwirrung und der Gipfel der Klarheit zugleich, einer Klarheit ohne formales Objekt, reine Ruhe, reiner Friede. „Dann wird der Mensch den Eindruck haben, in einem durchsichtigen, lebenspendenden, erhebenden und königlichen Kristallpalast zu leben", und ist doch gleichzeitig „einem Idioten und Dummkopf ähnlich". Die berüchtigte, vergebliche Frage: „Bin ich?" wird hinfällig durch diesen Reinigungsprozeß und ich erliege nicht länger ihrer Anziehungskraft— nicht e t w a durch eine befriedigende Lösung des „Problems", sondern durch die Erkenntnis, daß es nie ein Problem gegeben hat. Betrachten wir nun noch, wie dieser Entwicklungsprozeß, der unser Inneres immer „subtiler" gestaltet, unseren Zeitbegriff verändert. Wie wir schon festgestellt haben, glauben w i r an die Wirklichkeit der Zeit, weil wir eine Ä n d e rung unseres Lebens e r w a r t e n , die den vermeintlichen Mangel völlig a u s gleichen soll. Je stärker wir die Sehnsucht nach einem „Werden" empfinden, umso schmerzlicher b e d r ä n g t uns das Problem der Zeit. Wir machen uns selbst den Vorwurf, die Zeit fliehen zu lassen, die vorübereilenden Tage nicht richtig zu füllen. In d e m Grade, in dem der innere Hang z u m "Werden" sich entstofflicht, indem er immer weniger in Erscheinung tritt, verändert sich auch meine Wahrnehmung der Zeit. Die Zeit, insoweit sie sich in meinem persönlichen Lebensablauf manifestiert, entflieht mir zwar immer weiter, aber ich versuche nicht mehr, sie aufzuhalten, da ich ihr immer weniger Gewicht beimesse. Im Laufe der Zeit erlebe ich immer weniger, was ich in Worte fassen, an was ich mich erinnern könnte. Im Einklang damit nimmt auch das Gefühl d e r v e r l o r e nen Zeit ab. Ich fühle mich immer weniger betrogen vom unerbittlichen Ablauf der Stundenuhr. Hier wie überall gilt, d a ß wir umso mehr besitzen, je weniger wir uns an die Dinge klammern. Dennoch m u ß betont werden, daß es sich hierbei natürlich nicht um ein positives Besitzen der Zeit handelt, sondern nur um ein gradweises Nachlassen des bohrenden Gefühls, sie nicht zu besitzen. Wir besitzen nicht e t w a die Zeit vom Augenblick des „Großen Zweifels" an, doch entzieht sie sich uns nicht mehr, da wir keinen Anspruch mehr auf sie e r h e b e n Diese Aufhebung der Zeit kündet unseren Wiedereintritt in die E w i g k e i t des Augenblicks a n . Betrachten w i r n u n , w a r u m dieser gradweise "Verflüchtigungsprozeß" d e m Satori notwendigerweise vorausgeht. Wenn wir die Berichte einiger Z e n m e i s t e r 223

lesen, die sie über ihr Satori hinterlassen haben, können wir bemerken, daß dieses innere Ereignis bei einer sinnlichen Erregung aus der A u ß e n w e l t e i n t r e t e n k a n n , bei einem Augeneindruck oder einer Gehörsempfindung, bei einem Fall, bei einem plötzlichen Schlag. Der Eindruck kann vielleicht wenig intensiv sein, doch trägt er immer den Charakter des Unvermittelten, d e r unsere Aufmerksamkeit erregt. Wie auch im gewöhnlichen Leben eine plötzliche W a h r n e h m u n g d i e schlummernde Aufmerksamkeit unseres passiven Bewußtseins weckt, so erweckt diesesmal d i e plötzliche W a h r n e h m u n g das selbständige W i r k e n unseres n u n endgültig aktiven Geistes und macht uns die Sicht der D i n g e , wie sie wirklich sind, b e w u ß t . Die Interpretation dieser Tatsache leistet zwei I r r t ü m e r n Vorschub. W e n n ich dem Begriff der Kausalität stark verhaftet bin, so neige ich zu der Ansicht, der K l a n g einer Glocke habe das Satori des Zen-Meisters verursacht, und ich frage mich, wie das möglich sei. Ich k ö n n t e vielleicht darauf verfallen, d a ß e s , b e stimmte Glocken mit gewissen K l ä n g e n gäbe, die imstande seien, dem Menschen seine B u d d h a - N a t u r zu offenbaren. O d e r , wenn wir von dieser kindlichen Erk l ä r u n g absehen, könnte ich glauben, der Klang der Glocke habe gar keine R o l l e gespielt, und der Zenmeister habe sie unabhängig d a v o n , was in seinem I n n e r n vor sich ging, gehört. 1 ab In Wirklichkeit spielt die W a h r n e h m u n g der Außenwelt im Augenblick des Satori im allgemeinen eine wesentliche Rolle, ohne daß die besondere Form in der diese Wahrnehmung sich darbietet, irgend eine Bedeutung besäße. J e d e W a h r n e h m u n g in jedem Lebensaugenblick enthält in sich eine Möglichkeit z u m Satori. Ein Zenschüler warf eines Tages seinem Meister vor, d a ß er ihm das Wesentliche der Lehre verborgen hielte. D e r Meister führte den Schüler in die Berge. D o r t stand d e r Lorbeerbaum in voller Blüte, u n d die Luft war v o n seinem Duft durchtränkt. „Riechst du das?", fragte der Lehrer, u n d als der Schüler eine bejahende A n t w o r t gab, fügte er h i n z u : „Hier siehst du, daß ich dir nichts verborgen gehalten habe!" Jede W a h r n e h m u n g der A u ß e n w e l t enthält eine Möglichkeit zum Satori, weil sie eine Brücke bildet zwischen Ich u n d Nicht-Ich, weil sie die Wesensgleichheit zwischen Ich und N i c h t Ich z u r Darstellung bringt. Wir haben wiederholt betont, d a ß die W a h r n e h m u n g eines äußeren Objektes die Wahrnehmung eines inneren Bildes ist, das durch den K o n t a k t mit dem Objekt in uns entstanden w a r . Doch steht hinter dem ä u ß e r n O b j e k t und dem inneren Bild eine einzige echte Wahrnehmung, die sie verbindet. Alles im Universum ist Schwingungsenergie. D i e Wahrnehmung eines Objektes entsteht durch eine Vereinigung der Schwingungen, die vom O b j e k t ausgehen, mit meinen eigenen Schwingungen. Diese Vereinigung ist nur möglich, weil die Schwingungen des Objektes und meine eigenen aus dem gleichen G r u n d stoff gemacht sind, und sie ist die Gestaltwerdung dieses „Stoffes", der innerh a l b der Vielfalt der Erscheinungen eine Einheit darstellt. D a s wahrgenommene Bild entsteht „in mir", hat aber seinen Ursprung im U n b e w u ß t e n , im kosmischen Geist, der keinen bestimmten O r t hat und im wahrgenommenen Bilde 224

ebenso w o h n t wie in mir als Wahrnehmendem. D a s bewußtgewordene wahrgenommene Bild gehört n u r als Individuum, doch die Wahrnehmung selbst als Prinzip dieses bewußtgewordenen Bildes, gehört weder mir noch dem Gegenstande a n . Bei ihr gibt es keine Unterscheidung zwischen Subjekt und O b j e k t , sie ist vielmehr die versöhnende Brücke, die Subjekt und Objekt in einer dreieinheitlichen Synthese eint. Indessen vermag nicht jede Wahrnehmung der Außenwelt das Satori in mir auszulösen. Warum nicht? Weil im Moment das bewußte innere Bild meine ganze Aufmerksamkeit fesselt. Dieser rein persönliche Aspekt der universalen W a h r n e h m u n g nimmt mich gefangen, da ich ja der „Überzeugung" bin, d a ß die einzelnen Dinge sind. Den Ausspruch des Hui-neng habe ich noch nicht mit mei-nem ganzen Wesen begriffen: „Kein Ding i s t " Noch immer glaube ich, d a ß dieses u n d jenes sich voneinander unterscheide, noch immer ergreife ich Partei. Aufgrund einer solchen Unwissenheit sind die vielfältigen Bilder, die Elemente meiner inneren Welt untereinander deutlich abgegrenzt, einander entgegengesetzt. Durch das, was es von den andern unterscheidet, findet ein jedes seine Bestimmung. So gesehen kann kein Bild das andere vertreten oder die G a n z heit meiner inneren Welt darsteilen. D. h. d a ß kein Bild mein „Ich" ist, sondern immer nur ein Aspekt dieses Ich. U n t e r diesen Bedingungen hat es den Anschein, als fände bei der Wahrnehmung keine Vereinigung von Ich und NichtIch statt, sondern n u r eine teilweise Identifizierung, Da das Ich nicht in den einzelnen Bildern integriert ist, kann es auch nur teilweise mit dem Nicht-Ich identifiziert werden. Die Offenbarung der völligen Gleichsetzung, das heißt das Satori t r i t t nicht ein. Diese Offenbarung w i r d erst am Ende des vereinfachenden Verflüchtigungsprozesses möglich. Je subtiler die Bilder werden, desto mehr verschwinden die scheinbaren Unterschiede. Z w a r erkenne ich weiterhin, worin sie sich voneinander unterscheiden, doch nehme ich diese Unterschiede immer weniger als G e gensätze. Es ist, als fühle ich allmählich in der Vielfalt die Einheit. Die u n t e r scheidenden Gegensätze treten immer weniger in Erscheinung. Es gibt z w a r v o r dem Satori keine echte Einheit meiner inneren Welt, doch beginnt meine innere Verfassung zur Einfachheit, Gleichartigkeit, zur mathematischen Einheit zu neigen (die man nicht mit der metaphysischen oder prinzipiellen Einheit v e r wechseln darf). Indem die Unparteilichkeit meinen Bildern gegenüber einer immer h ö h e r e n Grad der Vollkommenheit erreicht, trägt sie auch z u r Integrierung des Ich b e i . Die Teilgleichsetzung mit den äußeren Objekten läßt nach, und ich fühle mich der Außenwelt gegenüber immer abgegrenzter. Der einer Gesamtgleichsetzung vorausgehende Prozeß besteht nicht in einer fortschreitenden Zunahme der T e i l gleichsetzung, sondern im Gegenteil, in deren stufenweisem Zurücktreten. Um einen Raumbegriff a n z u w e n d e n , könnte ich sagen, d a ß das gestaltgewordene Ich immer mehr reduziert wird und eine Tendenz z u m ausdehnungslosen g e o metrischen Punkt zeigt. In dem Maße, in dem ich mich auf den Punkt zu be225

wege, bewegt sich auch mein Bild der Außenwelt auf den Punkt zu. Es ist, als ob eine Grenzzone gegenseitiger Durchdringung zwischen Ich u n d Nicht-Ich entstünde, als ob Ich und Nicht-Ich sich immer weiter voneinander entfernten, während gleichzeitig ihr scheinbarer Gegensatz abnimmt. So mögen zwei Feinde, wenn ihr gegenseitiger H a ß nachläßt, sich einander immer mehr entfremden, während ihre Feindschaft fast ganz verschwindet. Meine innere Weit h a t am Ende dieser stufenweisen Entwicklung jene Gleichartigkeit erreicht, in d e r zwar nicht die F o r m e n selbst, jedoch deren Gegensätzlichkeiten zurücktreten. Alles wird gleich. D a n n vermag auch jedes beliebige Bild die Gesamtheit meiner Innenwelt in angemessener Form zur Darstellung zu bringen. Ich bin fähig geworden, bei einem Wahrnehmungsvorgang nicht nur eine Teilgleichsetzung mit dem Nicht-Ich zu erfahren, sondern meine totale Gleichheit mit ihm. Doch muß das Nicht-Ich sich manifestieren. Dies geschieht eben bei jener auslösenden Wahrnehmung, von der uns die Menschen, die Satori erlebten, berichten. V o r dem Ich, das in eine nicht in Erscheinung tretende Ganzheit eingegangen ist, taucht das Nicht-Ich auf, das ganz in eine einzelne stellvertretende Erscheinung integriert ist. Die W a h r n e h m u n g entspringt dann an der Stelle, wo sich die Ganzheit des Ich und die Ganzheit des Nicht-Ich gleichzeitig und unterscheidungslos manifestieren. N u n wird die Ganzheit des Ich sichtbar, doch in d e r großen Einheit, in der alles sich versöhnt, und mit der im Augenblicke seiner Erfüllung dieses Ich verschmilzt. 226

XXIV. VON DER DEMUT Z U M A B S C H L U S S U N S E R E S B U C H E S SOLL N O C H E I N M A L E I N E R der H a u p t z ü g e jenes theoretischen und praktischen Verstehens hervorgehoben werden, das allein uns von aller Angst befreien kann. Es handelt sich d a r u m , das eigentliche Wesen der Demut genau zu verstehen und zu erkennen, d a ß hier allein der Schlüssel zu unserer wirklichen Freiheit und Größe zu finden ist. Wir leben schon jetzt im Zustande des Satori, doch verhindert die unablässige Tätigkeit der psychologischen Automatismen, die einen circulus vitiosus in uns h e r s t e l l e n , ein fruchtbares Bewußtwerden dieser Tatsache: unser ständiges Bewegtsein durch Vorstellungen und Gefühle macht uns die Erkenntnis unserer " B u d d h a - N a t u r " unmöglich, und da wir deshalb zu der Überzeugung gelangen, unserer wesenhaften Wirklichkeit entbehren zu müssen; werden wir zu Vorstellungen gezwungen, die den vermeintlichen Mangel ausgleichen sollen. Ich fühle mich von meinem eigenen „Sein" getrennt und suche danach, mich wieder m i t ihm zu vereinigen. Da ich mich n u r innerhalb der Grenzen meiner individuellen Eigentümlichkeit kenne, suche ich auch das Absolute in i n d i v i d u eller F o r m zu finden., möchte ich um jeden Preis absolutes Sein in individueller Form erreichen. Durch diese Bemühung wird eine „Fiktion v o n Göttlichkeit" in m i r erzeugt und am Leben erhalten, nämlich der ursprüngliche u n d g r u n d legende Anspruch, als Individuum und im Bereich der Erscheinungswelt vollk o m m e n a n d allmächtig sein zu wollen. I n n e r h a l b des Vorstellungsablaufs besteht jenes Kompensationstreben der psychologischen Automatismen darin, d a ß sie meine Aufmerksamkeit von d e r tatsächlichen Begrenzung meiner Macht ablenken und daß sie die e r w ä h n t e G r u n d f o r d e r u n g einfach aufgeben, wenn die Erkenntnis meiner Ohnmacht sich nicht mehr u m g e h e n läßt. Ich lege es also förmlich darauf an, die Übereinstimmung von A u ß e n w e l t und Innenwelt niemals anzuerkennen. Ich bejahe mich als unterschiedliches Einzelwesen, das in Bezug auf die Außenwelt niemals im Gleichgewicht ist, das sich über sie erhaben fühlt, wenn seine Macht, ihr u n t e r legen, w e n n seine O h n m a c h t an den Tag tritt. Die Fiktion, nach der ich als Ind i v i d u u m der Urgrund des Universums zu sein hätte, heischt, daß i m m e r nur von d e r Bestimmung der Welt durch mich die Rede sei: ich sehe mich d a h e r stets e n t w e d e r als den, der die Außenwelt bedingt, oder als den, dem dieses Streben f e h l s c h l ä g t . Doch will es mir nie gelingen, mich innerhalb der gleichen O r d n u n g als v o n i h r bedingt anzuerkennen. Daher die Illusion des „Nicht-Ich". Wenn es m i r gelingt, die Außenwelt zu bestimmen, ist sie „Ich", wenn mir das mißlingt, i s t sie für mich das „Nicht-Ich". In keinem Falle möchte ich sie als das, 227

was sie ist, anerkennen, da ich mir der Wesensgleichen, die uns beide verbindet, nicht b e w u ß t bin. Da es mir bis jetzt unmöglich ist, von meinem Selbst, v o n meiner B u d d h a - N a t u r als universaler Mensch und nicht als begrenztes Individuum ein fruchtbares Bewußtsein zu erlangen, bin ich unablässig gezwungen, m i r eine von G r u n d auf falsche Vorstellung von meiner Situation innerhalb der W e l t zu bilden. Anstatt mich als auf gleicher Stufe mit der Außenwelt stehend zu erkennen, fühle ich mich bald über sie erhaben, bald ihr unterlegen, bald „über ihr", bald „unter ihr". Von dieser Perspektive aus, bei welcher das „über i h r " das Sein bedeutet und das »unter ihr" das Nichts, bin ich gezwungen, immer dem Sein entgegenzustreben. Alle meine Bemühungen können unmittelbar o d e r auf Umwegen m i r die eine Tendenz haben, mich zu erheben, ob das nun im stofflichen, im geistigen oder gar im „übersinnlichen" Bereiche geschehen mag. Alle natürlichen psychologischen Automatismen vor dem Satori gründen sich auf die Eigenliebe, auf den Anspruch auf Persönlichkeit und auf das Bestreben, wie auch immer, „mich emporzuheben". Und gerade diese Forderung nach individueller Steigerung hält mir meine unbegrenzte universale Würde verborgen. Dieser Anspruch, der alle Bemühungen, alles Streben durchdringt, ist zuweilen als solcher schwer erkennbar. Es wird mir leicht, ihn zu erkennen, wenn etwa das Nicht-Ich, von dem ich mich abheben will, durch andere menschliche Wesen vertreten wird. In diesem Falle genügt schon eine Spur v o n Ehrlichkeit selbst gegenüber, um das Bestreben beim rechten N a m e n zu nennen. Bedeutend schwieriger wird es, wenn das Nicht-Ich, von dem ich mich abgrenzen möchte, durch unbelebte Dinge oder gar durch jene geheimnisvolle, trügerische Wesenheit vertreten w i r d , die wir „Schicksal" nennen. Im G r u n d e jedoch bleibt es das Gleiche: Meine Erfolge steigern mich, und meine Mißerfolge demütigen mich. Jede W a h r n e h m u n g von etwas Positivem innerhalb der W e l t steigert mich, jedes Innewerden des Negativen demütigt mich. Ist die A u ß e n w e l t positiv, aufbauend, d a n n ist sie so, wie ich sie will; daher erscheint sie mir als durch mich bedingt. Tritt sie m i r in ihrer negativen, ihrer zerstörerischen Erscheinungsform entgegen (selbst w e n n es mich nicht unmittelbar betrifft), so ist sie anders, als ich sie will, und es kommt mir d a h e r vor, als lehne sie es a b , sich von mir bestimmen zu lassen. Wenn wir den tiefsten Grund unserer Eigenliebe richtig sehen, so müssen w i r zu der Einsicht kommen, d a ß jede nur vorstellbare Freude eine Befriedigung u n d jedes n u r vorstellbare Leid eine V e r w u n d u n g unserer Eigenliebe bedeuten. Wir verstehen d a n n , daß unsere anspruchsvolle Einstellung die Gesamtheit unserer Gefühlsautomatismen beherrscht, d . h . d i e Ganzheit unseres Lebens. N u r die freie Einsicht entzieht sich diesem Herrschaftsanspruch, Mein dem Ego verhaftetes Streben nach „oben" muß, da es falsch ist und sich in einem grundsätzlichen Widerspruch zu der Wirklichkeit der Dinge befindet, in einer unablässigen Tätigkeit meiner Vorstellungskraft seinen Ausdruck finden. Wenn ich das Gesamtbild meines persönlichen Lebens objektiv zu betrachten versuche, so erkenne ich, daß es sich mit einem Feuerwerkkörper vergleichen 228

läßt: D a s Aufsteigen der Rakete entspricht dem Leben im Mutterleibe, wo alles in Vorbereitung ist ohne noch in Erscheinung zu treten, der Augenblick, in dem die Rakete zum Platzen k o m m t , ist die Geburt, die Entfaltung der Leuchtgarbe stellt jene „aufsteigende" Lebensperiode dar, in der der Organismus sich mit all seinen Kräften entwickelt. Das Zurücksinken der Garbe in einen langsam erlöschenden Funkenregen stellt Alter und Tod d a r . Anfangs will es m i r schein e n , als sei das „Leben" jener Rakete ein Wachsen, später ein Abnehmen. Wenn ich jedoch gründlicher darüber nachdenke, komme ich zu der Erkenntnis, d a ß es w ä h r e n d seiner ganzen Dauer ein Abbau von Energie ist. Es ist v o n Anfang bis E n d e seiner Manifestation ein Abnehmen. Ebenso steht es auch um mich als I n d i v i d u u m . Vom Augenblick der Empfängnis an ist mein Leib-Seelischer O r g a n i s m u s das Erscheinungsbild einer Auflösung, eines ständigen Abstiegs. Wir beginnen zu sterben, sobald wir empfangen sind, indem wir durch m e h r oder weniger augenfällige Manifestationen eine Anfangsenergie erschöpfen, die in ständiger Abnahme begriffen ist. Die kosmische Wirklichkeit steht in einem grundsätzlichen Widerspruch zu meinem Streben nach „oben": soweit ich Einzelwesen bin, liegt vor mir nur ein nach „unten". Die ganze Frage der menschlichen Angst läßt sich in dem Problem der Demütig u n g zusammenfassen. Von der Angst geheilt werden, bedeutet, von d e r Möglichkeit der Demütigung befreit werden. Woher kommt die Demütigung? Etwa Daher, daß ich meine Ohnmacht erkenne? Das w ä r e kein ausreichender G r u n d . Sie steht im Zusammenhang mit der Tatsache, d a ß ich vergeblich versuche, meine w a h r e Ohnmacht nicht zu sehen. Das Gefühl der Demütigung wird nicht durch die Machtlosigkeit an sich hervor gerufen, sondern durch den Schock, den ich erleide wenn mein Anspruch auf vollkommene Überlegenheit mit der Wirklichkeit der Dinge zusammenstößt. Ich erleide keine Demütigung, weil die Außenwelt mich ablehnt, sondern weil es mir nicht gelingt, dieser Verneinung H e r r zu werden. Der wahre G r u n d unserer Angst ist niemals in der Außenwelt zu suchen, sondern einzig in dem Anspruch, den wir aus uns herausstellen und der gegen die Mauer der Wirklichkeit p r a l l t Wenn ich mich darüber beklage, daß die Mauer auf mich gestürzt sei und mich verletzt habe, gebe ich mich einer Täuschung hin. Ich selbst habe mich an ihr verletzt, meine eigene Bewegung hat meinen Schmerz verursacht. Wenn ich meinen Anspruch aufgäbe, w ü r d e mich nichts mehr verletzen können. Ich könnte auch sagen, d a ß die aus der Demütigung stammende Angst der Ausdruck eines inneren Konfliktes sei. Er ist ein Konflikt zwischen meiner Neigung, mich selbst allmächtig sehen zu wollen und der anderen Neigung, die konkrete Wirklichkeit der Dinge anzuerkennen, durch die meine Allmacht verneint wird. Ich fühle Angst und Demütigung, wenn ich zwischen meinem subjektiven Anspruch und meiner objektiven Lage, zwischen meiner Lüge und meiner Wahrheit, zwischen der parteiischen u n d der unparteiischen Vorstellung von meiner Situation als Mensch in der Welt hin- und hergerissen werde. Erst wenn meine Objektivität über meine Subjektivität den Sieg davongetragen haben wird, die t

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Wirklichkeit ü b e r den inneren T r a u m , kann ich von der s t ä n d i g e n Bedrohung durch die Angst erlöst werden. In dem Wunsche, endlich dieser Angst zu entgehen, suchen w i r nach Heilslehren, nach „ G u r u s " . Aber der w a h r e G u r u ist nicht fern, er steht vor uns und bietet uns unablässig seine Lehre a n : es ist die Wirklichkeit als solche, ist unser tägliches Leben. Die rettende Offenbarung liegt vor unseren Augen, die Offenbarung unseres Nicht-Allmächtigseins, die Erkenntnis, daß unser Anspruch durch und durch abwegig und unmöglich u n d daher ein Trug, ein Nichts ist. Es ist die Erkenntnis, d a ß es nichts zu fürchten gibt, daß falsche H o f f n u n g keine Wirklichkeit besitzt, d a ß ich immer auf dem Boden gestanden h a b e und noch stehe, so daß ein Fallen unmöglich ist und ein Schwindelgefühl gar nicht aufkommen kann. Wenn ich mich gedemütigt fühle, .so deshalb, weil es meinen Vorstellungsautomatismen gelungen ist, die Erkenntnis der Wirklichkeit zu v e r d r ä n g e n u n d ihre Evidenz beiseite zu schieben. Ich ziehe keinen Nutzen aus d e r heilsamen Lehre, die sich mir fortgesetzt anbietet, da ich sie zurückweise, da ich unablässig auf Mittel sinne, die Erfahrung der Demütigung zu umgehen. K a u m gerate ich in eine demütigende Lage, die mich in das Geheimnis der D e m ü t i g u n g hätte einweihen k ö n n e n , so ist auch schon meine Vorstellungskraft b e m ü h t , die scheinbare Gefahr zu bannen. Sie kämpft gegen die angebliche » H e r a b " s e t z u n g und tut alles, mich wieder in den gewohnten Zustand befriedigter A n m a ß u n g zurückzuholen, in dem Ich zwar einen vorübergehenden Aufschub erhalte, jedoch auch die G e w i ß h e i t neuer Angstzustände. Kurz gesagt wehre ich mich unausgesetzt gegen alles, was sich mir als Rettung darbietet u n d kämpfe zäh und hartnäckig, um die Quelle meines Übels zu verteidigen. Alle inneren Bemühungen haben die Tendenz, dem Satori entgegenzuarbeiten, da sie nach „oben" zielen, w ä h r e n d das Satori „unten" auf mich wartet. D a h e r sagt die Zenlehre mit Recht, d a ß das Satori unvorhergesehen über uns komme, w e n n alle Kräfte unseres Wesens erschöpft sind. Diese Betrachtungen scheinen auf die Demut als „Weg" hinzuweisen und haben damit auch in mancher Hinsieht recht. Dennoch müssen w i r k l a r erkennen, daß die D e m u t kein „Weg" ist, sofern wir uns unter diesem Ausdruck eine systematische Disziplin vorstellen. In meiner jeweiligen Lage ist es m i r g a n z unmöglich, mich irgendeiner Bemühung zu unterziehen, die etwa nicht nach „oben" zielte. Jede Bemühung, die Demut zu erreichen, kann nur zu falscher D e m u t führen, in der ich durch das so von mir erschaffene neue Idol hindurch noch immer mein Ego steigere. Es ist mir g a n z unmöglich, mich selbst zu erniedrigen, d. h. selbst die Intensität meines „Seins"-Anspruchs herabzumindern. Alles, was ich tun kann u n d soll, wenn ich der Angst endgültig entkommen will, besteht darin, den Lehren der konkreten Wirklichkeit immer weniger zu widerstreben, mich immer besser vor dem Offenbarwerden der kosmischen O r d n u n g zu beugen. U n d selbst hier gibt es nichts, was ich unmittelbar „ t u n " oder „lassen" könnte. Ich werde lediglich aufhören, mich der konstruktiven, harmonisierenden Wirkung der Demütigung entgegenzustellen, sobald 230

ich verstanden habe, d a ß das wahre Gut paradoxerweise da zu suchen ist wo ich bisher den Sitz des Übels vermutete. Solange ich noch nicht das rechte Verständnis besitze, blicke ich unablässig nach "oben", sobald ich richtig verstehe blicke ich nicht mehr d o r t h i n — denn nach „ u n t e n " zu blicken ist mir vorerst nicht möglich, u n d jede Bemühung in dieser Richtung würde doch nur das " u n t e n " in ein „oben" verkehren. Doch wird auf alle Fälle mein angestrengtes S t r e b e n nach oben nachlassen, und so bin ich imstande, die w o h l t u e n d e n Wirkungen der Demütigung zu erfahren. Sobald ich das rechte Verständnis erlangt habe, läßt mein W i d e r s t a n d nach, und deshalb erkenne ich auch immer häufiger die Demütigungen, die mir widerfahren, ich werde dann einsehen, d a ß alle negativen Zustände im G r u n d e Demütigungen waren und d a ß ich ihnen bisher n u r andere N a m e n gegeben hatte. Dadurch werde ich die Fähigkeit erlangen mein Gedemütigt- u n d Gequältsein zu sehen, ohne neben diesem Bild noch ein anderes aufzurichten u n d in diesem Zustand bewegungslos zu v e r h a r r e n ; denn meine Einsicht wird mir alle Fluchtversuche unmöglich gemacht haben. Von dem Augenblick an, da es m i r gelingt, mich im Zustand der Demütigung nicht mehr von der Stelle zu bewegen, werde ich zu meiner Überraschung erkennen daß hier der " O r t der R u h e " ist, das einzige Tor zum Heil und die einzige Stelle der Welt, wo ich vollkommen geborgen bin. Wenn ich nun an diesem Zustand festhalte, anstatt, wie sonst, ihn abzulehnen, k a n n das Wirken des versöhnenden Prinzips einsetzen. Die Gegensätze werden ausgeglichen u n d mein Leiden verschwindet und d a m i t auch ein Teil meines ursprünglichen Anspruchs. Ich fühle mich wieder auf dem Erdboden, wieder „unten" in der wahren Demut (einer Demut, die nicht etwa meine Inferiorität als solche bejaht, die aber auf das "vertikale" System verzichtet, durch welches ich mich a n d a u e r n d „über"o d e r „unter"legen fühlte). Derartige innere Vorgänge werden vom Gefühl der Trauer, der „Nacht" begleitet, und doch unterscheidet sich dieses Gefühl von der Angst, da es von einer großen Ruhe durchdrungen ist. In diesem Zeitraum s i c h t l i c h e r Ruhe und vollkommener Selbstaufgabe vollziehen sich die Prozesse der von uns so genannten inneren „Alchemie". D e r „alte Mensch" löst sich auf da ein „neuer Mensch" ans Licht will. Um der Geburt des Universalen willen stirbt das Individuelle. W e r die wahre D e m u t erreichen will - was auf direktem Wege unmöglich ist m u ß also zuvor auch die Demütigung annehmen. Jedes Leid vermag uns durch das Demütigende darin zu verwandeln. Doch kann diese Wandlung auf zweierlei Weisen v o r sich g e h e n : wenn wir gegen die Demütigung kämpfen, zerstört sie uns und steigert unsere innere Disharmonie, wenn ich jedoch der Demütigung Raum gebe, ohne ihr entgegenzuwirken, wird sie mir zu innerer Harmonie verhelfen. Dieses Gewährenlassen besteht ganz einfach darin, daß man vor sich selbst ohne Umschweife zugibt, gedemütigt zu sein. D a s „Sein" stellt sich uns von diesem Gesichtspunkt aus als die noch nicht versöhnte Dualität von N u l l und Unendlich dar. Anfangs werden wir durch unsere natürliche Wesensstruktur dazu verleitet, das Sein mit dem Unendlichen 231

gleichzusetzen und zu versuchen, durch einen ununterbrochenen „Aufstieg" es in dieser Form einmal zu erreichen. Doch ist dieser Versuch zum Scheitern verurteilt, da das Unendliche nicht durch ein Erklimmen immer höherer Stufen des Endlichen erreicht werden kann. D e r Weg zum „Sein" ist nicht das U n e n d liche, sondern die N u l l , die aber wiederum kein „Weg" sein kann, da sie ja „nichts" ist. Der Gedanke, daß die Demut kein „Weg" ist, ist von solcher Bedeutung, daß wir ein letztes M a l darauf zurückkommen müssen. Denn solange ich dies nicht begriffen habe, w e r d e ich immer den oder jenen Anspruch innerhalb des konkreten Lebens aufgeben wollen, werde ich vielleicht mich mit einem nur mittelmäßigen sozialen R a n g zufrieden geben usw. Das aber hieße die Demütigung meiden, statt sie sich zunutze zu machen. Geheuchelte Demut ist und bleibt g e heuchelt. Es kann sich nicht darum handeln, meine ursprünglichen A n s p r ü c h e n ändern, sondern d a r u m , in richtiger Weise von den einleuchtenden Erkenntnissen Gebrauch zu machen, die mir im Verlauf der Auswirkungen jener Ansprüche zuteil w e r d e n dank des demütigenden Scheiterns, zu dem sie zwangsläufig führen müssen. H ö r e ich jedoch n u r künstlich auf, das Nicht-Ich zu bekämpfen, so beraube ich mich selbst der unerläßlichen Belehrung, die mir aus meinen Niederlagen erstehen kann. Der Gedanke der D e m u t bildet, auch w e n n dieser Tatsache nicht immer Ausdruck verliehen w i r d , den Mittelpunkt d e r Zenlehre. In der gesamten Literatur des Zen können w i r durchgängig die Beobachtung machen, wie die Zenmeister in einem ihnen geeignet erscheinenden Augenblick ihre Schüler zutiefst demütigen. Ob diese Demütigung nun durch einen Meister oder durch ein selbst erlebtes Scheitern k o m m t , das Satori w i r d immer in einem Augenblick ausgelöst, da die Demütigung ihre Vollendung erfährt vor der endlich ans Licht tretenden Sinnlosigkeit aller ehrgeizigen Bemühungen. Denken wir immer daran, d a ß das „Wesen der D i n g e " der beste, der liebevollste und unnachsichtigste Lehrmeister ist, der uns mit seiner wachsamen Hilfe umgibt. Die einzige Aufgabe, die uns zuteil wird, besteht darin, die Wirklichkeit zu verstehen u n d von ihr uns wandeln zu lassen.

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NACHWORT

EINIGE LESER DIESES WERKES HABEN SICH NACH KENNTNIS des ersten Teils die Frage nach dem eigentlichen Ursprung der in ihm enthaltenen Gedanken vorgelegt. Es traten ihnen fest umrissene und oftmals paradoxe Begriffe hinsichtlich der Situation des Menschen entgegen und führten sie begreiflicherweise zu der Frage: „Wem ist diese Auffassung zuzuschreiben? Inwieweit ist das D e n k e n , das uns hier begegnet, Eigentum der Zenmeister und inwieweit entstammt es dem Geiste des Verfassers dieses Buches?" Diese Reaktion hat mich zwar, als sie mir zu Ohren kam, nicht weiter erstaunt, jedoch hatte ich sie auch nicht vorausgesehen. Warum dies so ist, möchte ich hier aufklären und dabei einige Ideen über die Beziehung zwischen einer intellektuellen Wahrheit und der Individualität des Menschen, von dem sie konzipiert wird vorlegen, die mit der Lehre des Zen übereinstimmen. Erinnern wir uns zunächst daran, wie tiefgreifend der Unterschied ist, den die Vedanta zwischen der Wirklichkeit und den Wahrheiten macht. Es gibt nur eine Wirklichkeit, die das Prinzip jeder Manifestation ist und die alle Erscheinungen (erkenntnismäßige und andere) umfaßt. Sie ist nirgends begrenzt und kann daher unmöglich auf irgendeine Formel gebracht werden, d. h. sie läßt sich nicht in Worte fassen. Dagegen gibt es eine nicht festlegbare Anzahl von einzelnen Wahrheiten, welche die von u n s e r e m geistigen Bewußtsein richtig erfaßten Aspekte der Brechungen der Wirklichkeit auf der Ebene des menschlichen Intellektes sind. Jede formulierbare Wahrheit ist jeweils nur ein intellektueller Aspekt der Wirklichkeit, der andere, gleicherweise gültige Aspekte keineswegs ausschließt; denn jede formulierbare Wahrheit hat ihre Grenzen, innerhalb derer sie existiert und außerhalb derer sie zu existieren aufhört. Innerhalb ihrer Grenzen bringt eine Wahrheit die Wirklichkeit zum Ausdruck, außerhalb ihrer Grenzen gelingt ihr das jedoch nicht. So muß also jede Wahrheit als eine Zweiheit angesehen werden: einmal, soweit, sie die Wirklichkeit zum Ausdruck bringt — d. h. soweit sie gültig ist — und zum andern, soweit sie diese nicht zum Ausdruck bringt, d. h. soweit sie keine Gültigkeit besitzt. Diese Unterscheidung wird es uns ermöglichen, den Begriff der Wahrheit mit den Begriffen des Individuellen und des Universalen in Verbindung zu bringen. Was geht nun in meinem Innern vor, wenn ich eine Wahrheit entdecke, d. h., wenn sich mir plötzlich der verbindende Bezug zwischen bisher getrennten intellektuellen Elementen offenbart? Ich fühle genau, daß ich jene neue Wahrheit nicht selbst aus altem Stoffe geschaffen habe, ich habe sie überhaupt nicht geschaffen, ich habe sie empfangen, sie ist in einem Augenblick innerer Gelöstheit in mein Bewußtsein getreten. Woher kam sie? Aus einer Quelle in meinem Innern, aus der Quelle aller organischen und geistigen Erscheinungen. 233

aus denen ich zusammengesetzt bin, aus dem Prinzip, von dem ich eine individuelle Verkörperung bin, aus dem Prinzip, das die Welt erschafft, wie es mich erschafft. Das will sagen, daß die von mir erkannte Wahrkeit von "irgendetwas" Universalem herkam. Aus dem Universalen stammend, hat meine Wahrheit in meinem individuellen Bewußtsein eine Form, eine Begrenzung angenomm e n . Sie hat sich in meinem geistigen Bewußtsein „formiert'' in Übereinstimmung mit meiner besonderen Anlage, mit dem mir eigenen Denkstil Mit d i e s e r Form hat die von mir entdeckte Wahrheit die Möglichkeit gewonnen, konzipiert und formuliert zu werden. Doch ist dieser Aspekt, der ein Ausdruck der ursprünglichen Wirklichkeit und daher gültig ist, nicht der einzige, den sie, gewonnen hat, denn sie hat auch jenen andern Aspekt, der nicht ein Ausdruck der Wirklichkeit und daher wertlos ist, miterworben. Die von mir formulierte Wahrheit ist, insoweit sie die Wirklichkeit zum Ausdruck bringt, universaler Art. Sie ist hingegen individueller Art, insoweit sie diese Wirklichkeit nicht zum Ausdruck bringt und daher auch keine Gültigkeit besitzt. Anders a u s g e d r ü c k t könnte man sagen: Was an der Wahrheit, die ich formuliere, Gültigkeit hat und der Beachtung wert ist, stammt nicht von mir als einem von andern sich unterscheidenden Individuum her, hat also sozusagen nichts mit meiner p r i v a t e n Person zu tun. Sobald ich das einmal verstanden habe, interessiere ich mich nicht länger für das individuelle Gehirn, in dem die eine oder andere Wahrheit Gestalt gewonnen hat, denn dieses individuelle Gehirn ist ja nur der Empfänger, der eine be-stimmte Botschaft aufgenommen hat. Wenn auch zwischen der Ausdrucksform von Gedanken und der persönlichen Eigenart des Menschen, der ihnen Ausdruck verleiht, eine greifbare Beziehung besteht, so besteht doch keinerlei Beziehung zwischen der persönlichen Eigenart und dem W a h r h e i t s g e h a l t der Gedanken, d. h. dem, was die Gedanken an Wirklichkeit zum Ausdruck bringen. So stammt wohl die formale Seite meines Buches von mir, doch ist die über allen Formen stehende Wahrheit, die in dem Wortnetz eingefangen ist und die vielleicht in Ihnen, je nach Ihrer persönlichen Anlage, bisher noch unentwickelte Gedanken erwecken wird, nicht von mir noch irgendeinem Einzelmenschen, sondern kommt ans dem Universalen. Der Anspruch auf die Urheberschaft irgendwelcher Gedanken ist abwegig. Er entsteht aus der ich-bezogenen Fiktion von Göttlichkeit, die — auf dem Grund unseres Seelenlebens verborgen —- uns selbst zur Ersten Ursache des Universums machen will. In Wirklichkeit ist das unividuum niemals schöpferisch. Wenn der Mensch je schöpferisch ist, dann in tpt$versaler, anonymer Form, als Gestaltwerdung des Prinzips. In Zeitaltern, in denen echte Weisheit vorherrschte, dachten Künstler, Weise oder Denker nicht daran, den Werken, welche durch sie hindurch entstanden waren, ihren Namen aufzuprägen. Die Neugier, die wir hinsichtlich der Urheberschaft einer Lehre empfinden mögen, steht in Verbindung mit u n s e r e m Mangel an Vertrauen in die eigene geistige Intuition. Gesetzt den Fall, ich möchte mich irgendeinem „Glauben" anschließen, 234

darf ich dabei nicht übersehen, daß ich das G e f ü h l innerer Gewißheit haben muß und daß meine I n t e l l i g e n z ein Recht darauf hat zu fühlen, daß es „richtig klingt", denn sonst werde ich in der Tat nach den besonderen Quellen, nach den „Autoritäten" forschen, die dieser Lehre zugrundeliegen. Warum aber in dieser Weise suchen? Ein solcher „Glaube" kann einen noch so anspruchsvollen Ursprung haben, und doch wird er in meinem Geiste ein nicht assimilierter, nicht in meine Wesensart eingebauter Fremdkörper bleiben und daher für die stufenweise Vervollkommnung meines Wesens unbrauchbar sein. Solche Überzeugungen sind wie Sandkörner, die den glatten Ablauf meines inneren Triebwerks stören. Wenn ich dagegen mit geistigen Elementen, die ich zerlegen und nach meinem eigenen Stil wieder neugestalten kann, nach und nach echtes Verständnis aufbauen will, so werde ich ohne Vorurteile überall suchen, ohne Betrachtung der Person, deren Äußerungen ich höre oder lese. Dann habe ich möglicherweise auch die Bereitschaft, in dieser oder jener berühmten Lehre tatsächlich nichts für mich zu finden, jedoch aus einer kaum bekannten Quelle echte Offenbarungen zu erhalten. Der individuelle Mensch, dessen Gedankenwelt ich mich nähere, ist mir gleichgültig, es interessiert mich nur das, was vielleicht eine in mir noch schlummernde Wahrheit zum Leben erwecken könnte. Das Evangelium interessiert mich, weil ich in ihm mit überzeugender Gewißheit eine tiefe Lehre finde, doch die Diskussion über die Historizität der Gestalt Jesu lassen mich gleichgültig. Wenn ich die „Hohe Lehre" so geschrieben habe, wie sie hier vorliegt, ohne genaue Belege und ohne eine Grenze zu ziehen zwischen den Gedanken, die im Gehirn der Zen-Meister und denen, die in meinem eigenen Gehirn sich herausgebildet haben, so deshalb, weil ich selbst nicht in der Lage bin, eine solche Unterscheidung vorzunehmen. Nachdem ich einen Teil der Zen-Literatur gelesen und mit dem Gefühl der Gewißheit daraus eine lebendige Erleuchtung empfangen hatte, ließ ich meinem eignen Denken freien Lauf. Wenn wir ohne vorgefaßte Ideen u n s e r e n Geist frei gewähren lassen, drängt er vor allem danach, zu konstruieren. Durch intuitive Würfe stellt er immer reichhaltigere Verbindungslinien zwischen den geistig bereits verarbeiteten Begriffen her und setzt sie wie einzelne Teile eines Puzzle-Spieles Zusammen. Der geistige Prozeß des Koordinierens und Integrierens führt zu einem immer harmonischer sich gestaltenden Ganzen, bei dem es uns einfach unmöglich ist zu unterscheiden, was an uns von außen, herangetragen wurde und was in uns selbst entstanden ist. Um es noch einmal zu sagen: eine solche Unterscheidung anderen soll piert wurde,

ist auch nicht von Interesse. Die Frage, ob ein Leser sich dem einen oder der in einem Buch Gestalt gewordenen Gedanken verschreiben wird, nicht davon abhängig sein, von welchem Menschen dieser Gedanke konzisondern nur von jenem Widerhall in seinem Innern, den wir als

einzige Richtschnur erkennen und gebrauchen lernen sollten. Das bei uns stets vorwaltende Interesse für das einzelne Individuum, chem die Darstellung einer Lehre konzipiert wurde, steht in enger •mit

dem

erfolgslosen

Bedürfnis,

das

Absolute

in

einem

einzelnen,

aus

von welVerbindung der

Viel235

falt herausgelösten Aspekt zu finden. Wenn wir einen Text lesen, in dem sich ein Gesamtzusammenhang von Ideen findet, sind wir versucht, uns dazu im ganzen zu bekennen oder ihn en bloc abzulehnen. Dies wäre einfacher und könnte uns die Anstrengung des persönlichen Nachdenkens ersparen. So kommen wir notwendigerweise auch dazu, den Verfasser einer Schrift als eine Ganzheit anzusehen, deren individueller "Wert" uns beschäftigt: Verdient er unsere Achtung oder unsere Mißachtung? Diese Einstellung, die bei einem Tatsachenbericht richtig sein mag, ist nicht angebracht, wenn wir unser Denken formen und unsere Wahrheit entdecken wollen (d. h. unsere eigene geistige Schau der Wirklichkeit). Wenn ich meine eigene Wahrheit suche, muß ich wissen, daß ich sie nicht außerhalb meiner selbst finden werde. Was außerhalb von mir liegt — und was mir dazu dient, im eigenen Innern etwas zu finden mag sich als zusammenhängendes Ganzes darstellen, doch darf ich mich nie von diesem Eindruck bestimmen lassen, da ich sonst nicht dazukäme, den analytischen Prozeß durchzuführen, der eine Voraussetzung für meine persönliche Synthese, für meine geistige A s s i m i l a t i o n bildet. Die Untersuchungen des zweiten Teils verdienen diesen Hinweis mehr noch als die des ersten. Ich hin überzeugt, daß die alten Meister des Zen mir im ganzen ihr i m p r i m a t u r gegeben hätten. Doch kommt es darauf nicht so sehr an, Sie hätten vor allem mein Bestreben gebilligt, mein eigenes Denken von jedem fremden, ebenfalls persönlichen Denken loszulösen. Erinnern wir uns an jenen Zen-Meister, der zu einem seiner Schüler sagte, als er ihn bei einer Schriftstelle bleich werden sah: "Laß dich von der Sutra nicht aus der Fassung b r i n g e n , sei lieber du selbst d e r j e n i g e , der s i e a u f den Kopf s t e l l t "\ Denn nur so konnte zwischen dem Schüler und der Sutra eine echte Übereinstimmung entstehen.

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INHALTSVE.RZEICHNIS Einleitung von Swami Siddheswarananda . Vorwort

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1. Über den allgemeinen Sinn der Zen-Lehre . II „Gut" und „Böse" . . . . . . III Die Vergötterung des „Heiles" . . . . IV Der Existenzialismus des Zen . . . . V Die Mechanik der Angst VI Die 5 Denkweisen des noch nicht verwirklichten Menschen. Psychologische Bedingungen des Satori VII Freiheit als „totaler Determinismus" VIII Die verschiedenen Arten der Ich-Bezogenheit IX. Vom Unbewußten des Zen . . . . . . X. Die „metaphysische" Angst XI. Die Schau unseres ureigenen Wesens Der Zuschauer des Schauspiels XII. Die praktische Handhabung der inneren Arbeit an sich selbst nach der Lehre des Zen XIII. Der Gehorsam gegenüber der Natur der Dinge XIV. Gefühlserregung und Erregungszusrand . XV, Empfindung und Gefühl XVI. über das Gefühlsleben XVII. Reiter und Pferd XVIII. Der Grundirrtum oder die „Erbsünde" . XIX. Die stete Allgegenwart des Satori . XX, Über die Passivität des Mentalen und die Zertrümmerung unserer Energie XXI. Über den Begriff der Disziplin . . . . XXII. Über die Kompensationen XXIII, Von der inneren Alchemie XXIV. Von. der Demut Nachwort

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