Die Hermetischen Bücher

February 17, 2018 | Author: Scheid-Franke | Category: Creation Myths, Holiness Movement, Soul, Heaven, Human
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Die Texte aus der Tabula Smargadina, die Gespräche zwischen Hermes und Tat, zwischen Pymander und Hermes, extraiert au...

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Tabula Smaragdina

Es ist wahr! Es ist sicher! Es ist die volle Wahrheit! Was unten ist, gleicht dem, was oben ist, und was oben ist, gleicht dem, was unten ist, damit die Wunder des Einen sich vollziehen. Und so wie alle Dinge aus dem Einen geworden sind durch eine Mittlerschaft, so sind sie alle aus diesem Einen geboren, durch Ubertragung. Ihr Vater ist die Sonne; ihre Mutter ist der Mond. Die Luft hat sie in ihrem Schoß getragen. Die Erde war ihre Amme. Der Vater aller Talismane in der ganzen Welt ist allgegenwärtig. Seine Kraft bleibt unberührt, wenn sie in der Erde angewandt wird. Trenne liebevoll und mit großer Einsicht und Weisheit die Erde vom Feuer, das Feine von dem, was hart, dicht und starr ist. Von der Erde steigt es auf zum Himmel und sinkt von dort wieder herab zur Erde und nimmt dabei die Kraft dessen, was oben ist, und dessen, was unten ist, auf. So werdet ihr die Glorie der ganzen Welt besitzen, und darum wird alle Finsternis von euch fliehen. Es ist die mächtige Kraft aller Kräfte, weil sie alles Sanfte überwindet und alles Harte durchdringt. So ist die Welt erschaffen. Aus ihr werden auf dieselbe Weise wunderbare

Schöpfungen entstehen. Man hat mich darum den dreimal großen Hermes genannt, weil ich die drei Ansichten der Weisheitslehren der ganzen Welt besitze. Vollständig ist, was ich über die Zubereitung des Goldes gesagt habe.

Pymander 1. Einst, als ich die wesentlichen Dinge überdachte und mein Gemüt sich erhob, schlummerten meine körperlichen Sinne vollkommen ein, wie bei jemandem, der nach einer übermäßigen Mahlzeit oder infolge großer körperlicher Müdigkeit von einem tiefen Schlaf übermannt wird. 2. Es war mir, als sähe ich ein gewaltiges Wesen von unbestimmter Form, das mich beim Namen nannte und zu mir sagte: 3. »Was willst du hören und sehen, und was verlangst du, in deinem Gemüt zu lernen und zu erkennen?« 4. Ich sprach: »Wer bist du?« 5. Und erhielt zur Antwort: »Ich bin Pymander, das Gemüt, das aus sich selbst seiende Wesen. Ich weiß, was du begehrst, und ich bin überall mit dir.« 6. Ich sagte: »Ich begehre, unterrichtet zu werden über die wesentlichen Dinge, ihre Art zu verstehen und Gott zu erkennen. O, wie sehr verlange ich zu verstehen!« 7. Er antwortete: »Halte in deinem Bewusstsein gut fest, was du lernen willst, und ich werde dich unterrichten.« 8. Bei diesen Worten veränderte sich sein Aussehen, und sogleich öffnete sich in einem Augenblick alles für mich; ich sah eine ungeheure Vision; alles wurde zu einem serenen und herzerfreuenden Licht, und ich freute mich über die Maßen über seinen Anblick. 9. Kurz darauf entstand in einem Teil des Lichtes eine schreckliche und tiefe Finsternis, die sich abwärts bewegte und in gebogenen Spiralen drehte, wie eine Schlange, so kam es mir vor. Dann veränderte sich diese Finsternis in eine feuchte und unaussprechlich

verworrene Natur, von welcher ein Rauch aufstieg wie von Feuer, während sie einen Laut hervorbrachte wie ein unbeschreibliches Wimmern. 10. Dann erhob sich aus der feuchten Natur ein Schrei, ein wortloser Ruf, den ich mit der Stimme des Feuers verglich, während sich aus dem Licht ein heiliges Wort über die Natur breitete und ein reines Feuer aus der feuchten Natur emporflammte, hell, blendend und mächtig. 11. Die Luft folgte durch ihre Leichtigkeit dem feurigen Atem: Aus der Erde und dem Wasser erhob sie sich zum Feuer, sodass sie am Feuer aufgehängt erschien. 12. Die Erde und das Wasser blieben, wo sie waren, sehr stark miteinander vermischt, sodass man Erde und Wasser nicht einzeln wahrnehmen konnte; und sie wurden unaufhörlich in Bewegung gebracht durch den Atem des Wortes, das über ihnen schwebte. 13. Dann sprach Pymander: »Hast du verstanden, was diese Vision bedeutet?« 14. Ich antwortete: »Das werde ich nun erfahren.« 15. Dann sagte er: »Das Licht bin ich, das Gemüt, dein Gott, der war, ehe die feuchte Natur aus der Finsternis in Erscheinung trat. Das leuchtende Wort, das vom Gemüt ausgeht, ist Gottes Sohn.« 16. »Was bedeutet das?« fragte ich. 17. »Verstehe es so: Was in dir anschaut und hört, ist das Wort des Herrn, und dein Gemüt ist Gott, der Vater. Sie sind nicht voneinander getrennt, denn ihre Einheit ist das Leben.« 18. »Ich danke dir«, sagte ich. 19. »Richte nun dein Herz auf das Licht und erkenne es.« 20. Bei diesen Worten sah er mir einige Zeit gerade ins Gesicht, so durchdringend, dass ich bei seinem Anblick erzitterte. 21. Als er danach sein Haupt wieder erhob, sah ich in meinem Gemüt, wie das Licht, das aus unzähligen Kräften bestand, zu einer wahrlich unbegrenzten Welt geworden war, während das Feuer von einer sehr mächtigen Kraft umschlossen, gebändigt und so ins Gleichgewicht

gebracht worden war. 22. Dieses alles unterschied ich in der Vision durch das Wort Pymanders. Als ich ganz außerhalb meiner selbst war, sprach er wieder zu mir: 23. »Du hast nun im Gemüt die reine, ursprüngliche menschliche Gestalt gesehen, den Urtyp, das Urprinzip des Beginns ohne Ende.« Also sprach Pymander zu mir. 24. »Woher sind denn die Elemente der Natur gekommen?« fragte ich. 25. Er antwortete: »Aus Gottes Willen, der, als er das Wort in sich aufgenommen hatte und den reinen Urtyp der Welt erblickte, sie nach diesem Modell als eine geordnete Welt erschuf aus den Elementen seines eigenen Wesens und den aus ihm selbst geborenen Seelen. 26. Gott, der Geist, der Mann und Weib in sich selbst ist und der Quell des Lebens und des Lichtes, brachte durch ein Wort ein zweites Geistwesen, den Demiurgen hervor, welcher als Gott des Feuers und des Atems sieben Rektoren erschaffen hat, welche die sinnliche Welt mit ihren Kreisen umgeben und sie durch das lenken, was Schicksal genannt wird. 27. Sofort entwich das Wort Gottes aus den Elementen, die unten wirksam sind, in das reine Gebiet der Natur, das gerade erst erschaffen war, und vereinigte sich mit dem Demiurgen, mit dem es wesenseins ist. 28. So wurden die niederen Elemente der Natur sich selbst überlassen, der Vernunft beraubt, wodurch sie nicht mehr waren als jegliche Materie. 29. Aber vereinigt mit dem Wort brachte der Demiurg, während er die Kreise umspannte und diese sich sehr schnell drehen ließ, den Kreislauf seiner Geschöpfe in Bewegung, vom unbestimmten Anfang bis zum endlosen Ende, weil das Ende mit dem Beginn zusammenfällt. 30. Diese Umdrehung der Kreise brachte nach dem Willen des Geistes aus den versunkenen Elementen vernunftlose Tiere hervor, da sie das

Wort nicht mehr in ihrer Mitte hatten; die Luft brachte geflügelte Tiere hervor und das Wasser das schwimmende Getier. 31. Die Erde und das Wasser waren nach dem Willen des Geistes getrennt, und die Erde brachte aus ihrem Schoß die Tiere hervor, die sie in sich beschlossen hielt; vierfüßige Tiere, kriechendes Getier, wilde Tiere und Haustiere. 32. Der Geist, der Vater aller Wesen, der Leben und Licht ist, brachte einen Menschen hervor, ihm selber gleich, zu welchem er als seinem eigenen Kind in Liebe entbrannte. Denn der Mensch, als Ebenbild seines Vaters, war sehr schön; Gott begann so in Wahrheit seine eigene Gestalt zu lieben und übergab ihr all seine Werke. 33. Als jedoch der Mensch die Schöpfung wahrnahm, die der Demiurg im Feuer erschaffen hatte, wollte auch er ein Werkstück hervorbringen, und der Vater gewährte es ihm. Als er darauf in das demiurgische Schöpfungsfeld eintrat, wo er freie Hand haben sollte, nahm er die Werke seines Bruders wahr, und die Rektoren entbrannten in Liebe zu ihm, und jeder von ihnen ließ ihn an seinem eigenen Rang in der Hierarchie der Sphären teilhaben. 34. Als er danach ihr Wesen kennen gelernt hatte und an ihrer Art teilnahm, wollte er die Grenzen der Kreise durchbrechen und die Macht dessen kennen lernen, der über das Feuer herrscht. 35. Dann beugte der Mensch, der Macht besaß über die Welt der sterblichen Wesen und der vernunftlosen Tiere, sich vor, durch die verbindende Kraft der Sphären, deren Umhüllung er durchbrochen hatte, und zeigte sich der Natur unten in der schönen Gestalt Gottes. 36. Als die Natur ihn erblickte, der die unerschöpfliche Schönheit und alle Energien der sieben Rektoren in sich besaß, vereinigt in der Gestalt Gottes, lächelte sie voller Liebe; denn sie hatte die Züge dieser wunderbar schönen Form des Menschen sich im Wasser spiegeln sehen und seinen Schatten auf der Erde wahrgenommen. 37. Was ihn selbst betrifft: Als er diese Form, die ihm so sehr glich, durch die Spiegelung im Wasser in der Natur bemerkte, verliebte er sich in sie und wollte dort wohnen. Was er wollte, tat er sogleich, und

so begann er, die vernunftlose Form zu bewohnen. Und als die Natur ihren Geliebten in sich empfangen hatte, umfing sie ihn vollkommen, und sie wurden eins; denn ihr Begierdenbrand war groß. 38. Daher ist von allen Geschöpfen in der Natur allein der Mensch zweifach, nämlich sterblich dem Körper nach und unsterblich dem wirklichen Menschen nach. 39. Denn obwohl er unsterblich ist und Macht über alle Dinge hat, erfährt er doch das Los der Sterblichen, da er dem Schicksal unterworfen ist. Dadurch wurde er, obwohl seine Heimat oberhalb der verbindenden Kraft der Sphären ist, in dieser Kraft zum Sklaven; und obwohl er Mann-Weib ist, weil er aus einem Vater hervorkam, der selbst Mann-Weib ist, und obwohl er frei ist von Schlaf, weil er hervorkam aus einem Wesen, das selbst frei ist von Schlaf, wurde er trotzdem von der Begierde der Sinne und vom Schlaf überwunden.« 40. Darauf sagte ich: »O, Geist in mir, auch ich liebe das Wort.« 41. Pymander sprach: »Was ich dir sagen werde, ist das Geheimnis, welches bis auf diesen Tag verborgen war. Als die Natur eins geworden war mit dem Menschen, brachte sie ein erstaunliches Wunder hervor. Der Mensch besaß in sich die Art aller sieben Rektoren, die, wie ich dir gesagt habe, aus Feuer und Atem zusammengefügt war; die Natur brachte nun ohne Verzug sieben Menschen hervor, übereinstimmend mit der Art der sieben Rektoren, gleichzeitig Mann und Weib und von aufrechter Gestalt.« 42. Nun rief ich aus: »O, Pymander, es ist jetzt in mir ein besonderer Wunsch entstanden, und ich brenne vor Verlangen, es zu hören. Fahre bitte fort!« 43. Pymander sprach: »Sei still; ich bin noch nicht fertig mit meiner ersten Darlegung.« 44. »Ich schweige schon«, antwortete ich. 45. »Wohlan, die Erschaffung der sieben ersten Menschen fand, wie ich sagte, wie folgt statt: Die Erde war die Matrix, das Wasser das erweckende Element; das Feuer brachte den Entstehungsprozess zur Reife, die Natur empfing aus dem Äther den Lebensatem und brachte

die Körper hervor nach der Form des Menschen. 46. Der Mensch aus Leben und Licht wurde Seele und Gemüt; das Leben wurde Seele, das Licht Gemüt. Alle Wesen der sinnlichen Welt blieben in diesem Zustand bis zum Ende des Kreislaufs und bis zum Beginn der Arten. 47. Und nun gib Acht auf das, was du so gern hören willst. Als dieser Kreislauf vollständig beendet war, wurde das Band, welches alles vereinigte, durch Gottes Willen zerrissen. Alle Tiere, die bis zu diesem Moment gleichzeitig männlich und weiblich gewesen waren, wurden, wie der Mensch, in diese beiden Ansichten getrennt, und so wurden einige Tiere männlich und andere Tiere weiblich. Da sprach Gott das heilige Wort: `Wachset und nehmet zu an Zahl, vermehret euch, ihr alle, die ihr geschaffen seid. Und lasst jene, die das Gemüt besitzen, sich als unsterblich erkennen und wissen, dass die Ursache des Todes die Liebe zum Körper und zu allem Irdischen ist.' 48. Als Gott also gesprochen hatte, bewirkte die Vorsehung durch das Schicksal und die verbindende Kraft der Sphären die Vermischung und setzte die Fortpflanzung ein; und alle Wesen vermehrten sich nach ihrer Art; und wer sich selbst als unsterbliches Wesen erkannte, ist auserkoren vor allen. Wer aber den Körper geliebt hat, der aus dem Wahn der Begierde hervorgegangen ist, muss weiter in der Finsternis umherirren und die Erfahrung des Todes durchleiden.« 49. »Welchen entsetzlichen Fehler«, so rief ich aus, »haben denn jene begangen, die in Unwissenheit sind, dass sie der Unsterblichkeit beraubt sind?« 50. »Ich glaube, dass du nicht darüber nachgedacht hast, was du vernommen hast. Habe ich dich nicht vor allem gebeten, aufmerksam zu sein?« 51. »Ich denke nach«, sagte ich, »und ich erinnere mich nun und danke dir.« 52. »Wenn du nachgedacht hast, sage mir dann, warum jene, die im Tode sind, zu sterben verdienen.« 53. »Weil der Quell, aus welchem ihr Körper hervorkommt, die

Finsternis ist, welche die feuchte Natur entstehen ließ; diese stellte in der sinnlichen Welt den Körper zusammen, in dem der Tod seinen Durst löscht.« 54. »Das hast du gut verstanden. Aber warum kommt der, welcher sich selbst erkannt hat, zu Gott, wie Gottes Wort es sagt?« 55. »Weil«, so antwortete ich, »der Vater aller Dinge, aus dem der Mensch geboren ist, Licht und Leben ist.« 56. »Ja, Licht und Leben, das ist Gott der Vater, aus dem der Mensch geboren ist. Wenn du also weißt, aus Leben und Licht hervorgegangen und aus diesen Elementen zusammengefügt zu sein, wirst du zum Leben zurückkehren.« Das war es, was Pymander mir sagte. 57. »Aber sage mir noch, o mein Gemüt, wie werde ich zum Leben eingehen?« fragte ich. »Denn Gott hat gesagt: `Lass den Menschen, der das Gemüt besitzt, sich selbst erkennen.' Besitzen denn nicht alle Menschen das Gemüt?« 58. »Achte auf das, was du sagst! Denn ich, Pymander, das Gemüt, komme zu jenen, die heilig und gut, rein und barmherzig sind, zu den Gottesfürchtigen; meine Gegenwart wird ihnen zur Hilfe, sodass sie sogleich alles erkennen; und sie werden durch ihre Liebe dem Vater wohlgefällig und danken ihm in kindlicher Anhänglichkeit mit den Lobpreisungen und Gesängen, die sie ihm schuldig sind. Ehe sie ihren Körper dem Tod übergeben, dem er gehört, verachten sie ihre Sinne, weil deren Wirkungen ihnen nur allzu gut bekannt sind. 59. Ja, ich, das Gemüt, werde keinesfalls zulassen, dass die Wirkungen des Körpers, die sie angreifen, ihren Einfluss auf sie ausüben: denn als Wächter der Türen werde ich bösen und beschämenden Taten den Zugang versagen und unheilige Vorstellungen unterbinden. 60. Doch ich halte mich fern von den Törichten, den Schlechten, den Verdorbenen, den Abgünstigen, den Habsüchtigen, den Mördern und den Gottlosen; ich überlasse sie dem rächenden Dämon, welcher solche Menschen mit der Geißel des Feuers bearbeitet, es so in ihre

Sinne treibt und sie dadurch noch mehr zu unheiligen Taten anspornt, damit an ihnen eine noch größere Strafe vollzogen werde. Die Begierde dieser Menschen sucht dann auch fortwährend größere Befriedigung und lässt sie in der Finsternis wüten, ohne dass sie gesättigt werden kann. Darin besteht ihre Qual, und dadurch lodert die Flamme, die sie versengt, immer höher.« 61. »Du hast mich, o Gemüt, all diese Dinge genau so gelehrt, wie ich es wünschte. Aber erzähle mir nun noch, wie der Weg empor sich entwickelt.« 62. Hierauf antwortete Pymander: »Zuerst wird, im Auflösungsprozess des Stoffkörpers, dieser Körper der Veränderung übergeben, und die Form, die du hattest, wird dann nicht mehr gesehen. du übergibst dein gewöhnliches Ich, das fortan ohne Tätigkeit ist, dem Dämon; die körperlichen Sinne kehren zurück zu ihrem Ursprung, dessen Teil sie wieder werden, und sie werden erneut eins mit dessen Tätigkeiten, während die Trieb- und Begierdenkräfte zur vernunftlosen Natur zurückkehren. 63. Also fährt der Mensch weiter aufwärts durch die verbindende Kraft der Sphären. Dem ersten Kreis überlässt er die Kraft des Zunehmens und des Abnehmens, dem zweiten Kreis die Fähigkeit zum Bösen und die ohnmächtig gewordene List, dem dritten Kreis die fortan machtlose Täuschung der Verlangen, dem vierten Kreis die Eitelkeit der Herrschsucht, die nicht mehr befriedigt werden kann, dem fünften Kreis den gottlosen Uöbermut und die brutale Unbesonnenheit, dem sechsten Kreis die dadurch wirkungslos gewordene Gebundenheit an Reichtümer, dem siebenten die stets Fallen stellenden Lügen. 64. Wenn er sich dann so alles dessen entledigt hat, was aus der zusammenwirkenden Kraft der Sphären hervorgegangen war, tritt er, nur im Besitz seiner eigenen Kraft, in die achte Natur ein und singt mit allen, die dort sind, Hymnen zum Lobe des Vaters; und alle freuen sich mit ihm über seine Anwesenheit. 65. Wenn er ihnen gleich geworden ist, vernimmt er Hymnen, die von

gewissen Kräften, die sich über der achten Natur befinden, zum Lobe Gottes gesungen werden. Und dann steigen sie in rechter Ordnung zum Vater auf, geben sich selbst den Kräften preis und gehen, ihrerseits zu Kräften geworden, in Gott ein. Dieses ist das gute Ende für jene, welche die Gnosis besitzen: dass sie Gott werden. 66. Aber... was zögerst du nun? Gehst du nun, da du alles von mir empfangen hast, nicht zu jenen, die es wert sind, um ihnen als Führer zu dienen, damit dank deiner Vermittlung das menschliche Geschlecht durch Gott gerettet werden möge?« 67. Als Pymander das gesagt hatte, vermischte er sich vor meinen Augen mit den Kräften. Und ich, der ich nun mit Kraft bekleidet und belehrt war über die Art des Alls und die erhabene Vision, dankte und pries den Vater aller Dinge. Ich begann, den Menschen die Schönheit des auf Gott gerichteten Lebens und der Gnosis zu verkündigen: 68. »O, ihr Völker, ihr Menschen, die ihr aus der Erde geboren seid und euch dem Rausch und dem Schlummer und der Unwissenheit über Gott ergeben habt, werdet doch nüchtern und hört auf, euch in der Verkommenheit zu wälzen, verzaubert, wie ihr seid, durch einen tierischen Schlaf.« 69. Als sie das hörten, kamen sie einmütig zu mir. Und ich sprach weiter: »O, ihr Erdgeborenen, warum habt ihr euch dem Tod übergeben, derweil ihr Macht habt, an der Unsterblichkeit teilzuhaben? Kommt zur Einkehr, die ihr in der Täuschung wandelt und die Unwissenheit als Führer angenommen habt. Befreit euch von dem dunklen Licht und nehmt teil an der Unsterblichkeit, indem ihr für immer Abschied nehmt vom Verderben.« 70. Einige von ihnen verspotteten mich und gingen fort; denn sie waren auf dem Weg des Todes. Aber andere, die sich vor mir auf die Knie geworfen hatten, flehten mich an, sie zu unterrichten. Ich richtete sie auf und wurde ein Führer des menschlichen Geschlechts, indem ich sie lehrte, auf welche Weise sie gerettet werden könnten. Ich säte in sie die Worte der Weisheit, und sie wurden gelabt mit dem Wasser der Unsterblichkeit.

71. Als es Abend geworden und das Licht der Sonne beinahe verschwunden war, forderte ich sie auf, Gott zu danken. Und nachdem sie die Danksagung vollbracht hatten, kehrten alle zu ihren Herdstätten zurück. 72. Ich jedoch schrieb Pymanders Wohltat in mich; und als ich ganz erfüllt davon war, kam die höchste Freude über mich. Denn der Schlaf des Körpers war die Nüchternheit der Seele geworden, das Schließen der Augen zum wahrhaftigen Schauen, das Schweigen wurde mir zur Schwangerschaft des Guten und das Austragen des Wortes zu fruchtbaren Taten des Heils. Dieses ist alles zu mir gekommen, weil ich von Pymander, meinem Gemüt, dem aus sich selbst seienden Wesen, das Wort des Anfangs empfangen habe. So bin ich nun erfüllt vom göttlichen Atem der Wahrheit. Darum weihe ich nun mit meiner ganzen Seele und all meinen Kräften diesen Lobgesang Gott dem Vater: 73. »Heilig ist Gott, der Vater aller Dinge. Heilig ist Gott, dessen Wille sich durch seine eigenen Kräfte vollzieht. Heilig ist Gott, der erkannt sein will und erkannt wird von denen, welche Ihm angehören. Heilig bist du, der du durch das Wort alles ins Dasein gerufen hast. Heilig bist du, nach dessen Bild die All-Natur geworden ist. Heilig bist du, den die Natur keineswegs erschaffen hat. Heilig bist du, mächtiger als alle Mächte. Heilig bist du, vortrefflicher als alles, was ist. Heilig bist du, über alles Lob erhaben. Nimm die reinen Opfer an, die durch das Wort in meiner Seele und meinem Herzen erweckt wurden, die sich zu dir richten, o Unaussprechlicher, o Unnennbarer, dessen Namen nur die Stille auszusprechen vermag. Leihe dein Ohr mir, der ich bitte, dass ich niemals von der Gnosis, der wahren Erkenntnis, die meinem Kernwesen eigen ist, getrennt werden möge.

Neige dich zu mir und erfülle mich mit deiner Kraft: Ich werde mit dieser Gnade das Licht allen jenen aus meiner Rasse bringen, die in Unwissenheit leben, meinen Brüdern, deinen Söhnen. Ja, ich glaube und bezeuge mit meinem Blut: Ich gehe zum Leben und zum Licht. Sei gepriesen, o Vater, dein Mensch will mit dir heiligen, wozu du ihm alle Macht gegeben hast.«

Zweites Buch: Pymander zu Hermes 1. »Nun denn, sei still, o Hermes Trismegistos, und bewahre gut, was ich dir sagen werde. Ich werde dir gleich sagen, was mir eingefallen ist.« 2. »Es wurde viel und von allen möglichen Seiten über das All und Gott gesprochen, die Meinungen widersprechen sich jedoch, sodass ich die Wahrheit darin nicht erkannte. Willst du, Herr, mir es erläutern? Denn nur deiner Offenbarung werde ich Glauben schenken.« 3. »So höre denn, mein Sohn, wie Gott und das All sich verhalten; Gott, die Ewigkeit, die Welt, die Zeit und das Werden. 4. Gott schafft die Ewigkeit, die Ewigkeit schafft die Welt, die Welt schafft die Zeit und die Zeit das Werden. 5. Das Gute, das Schöne, die Seligkeit und die Weisheit formen gleichsam das Wesen Gottes; das Wesen der Ewigkeit ist Unveränderlichkeit; das Wesen der Welt ist Ordnung; das Wesen der Zeit ist Veränderlichkeit; und das Wesen des Werdens ist Leben und Tod. 6. Geist und Seele sind die aktive, offenbarende Kraft Gottes; Dauerhaftigkeit und Unsterblichkeit sind die Wirkungen der Ewigkeit; die Rückkehr zur Vollkommenheit und die Denaturierung sind die Wirkungen der Welt; Zunehmen und Abnehmen sind die Wirkungen der Zeit, das Werden hat als Wirkung die Eigenschaft.

7. So ist die Ewigkeit in Gott, die Welt in der Ewigkeit, die Zeit in der Welt und das Werden in der Zeit. 8. Während die Ewigkeit um Gott herum ruht, bewegt die Welt sich in der Ewigkeit, vollzieht die Zeit sich in der Welt und entsteht das Werdende in der Zeit. 9. Gott ist also der Ursprung aller Dinge, ihr Wesen ist die Ewigkeit; und die Welt ist ihre Materie. 10. Die Ewigkeit ist die potenzielle Kraft Gottes. Das Werk der Ewigkeit ist die Welt, die keinen Beginn kannte, sondern fortwährend im Entstehen ist durch die Wirkung der Ewigkeit. Darum wird nichts, was in der Welt ist, jemals vergehen, denn die Ewigkeit ist unvergänglich; noch wird jemals irgendetwas vernichtet, weil die Welt vollkommen von der Ewigkeit umgeben ist.« 11. »Aber was ist die Weisheit Gottes?« 12. »Sie ist das Gute und das Schöne, die Seligkeit, jede Tugend und die Ewigkeit. 13. Die Ewigkeit formt die Welt zu einer Ordnung, indem sie die Materie durchdringt mit Unsterblichkeit und Dauerhaftigkeit. Das Entstehen der Materie ist abhängig von der Ewigkeit, so wie die Ewigkeit selbst wieder abhängig ist von Gott. 14. Es gibt Werden, und es gibt Zeit, sowohl im Himmel als auch auf Erden, aber sie sind in ihrer Art verschieden: Im Himmel verändern sie sich nicht und sind sie unvergänglich, auf der Erde verändern sie sich und vergehen. 15. Gott ist die Seele der Ewigkeit; die Ewigkeit ist die Seele der Welt; und der Himmel ist die Seele der Erde. 16. Gott ist im Gemüt; das Gemüt ist in der Seele; die Seele ist in der Materie, und dieses alles ist durch die Ewigkeit. 17. Dieser große Körper, der alle Körper umfasst, ist innen erfüllt und außen umschlossen von einer mit Geistbewusstsein und von Gott erfüllten Seele, einer Seele, die das All belebt: 18. Außen: das ausgedehnte und vollendete Leben der Welt, innen: alle lebenden Geschöpfe; dort oben im Himmel währt sie

unveränderlich, stets sich selbst gleich bleibend; hier unten auf der Erde verursacht sie die Veränderungen des Werdens. 19. Die Ewigkeit hält alles instand, sei es durch das sogenannte Schicksal, die Vorsehung, die Natur, sei es durch das, was man jetzt oder später auch davon glauben mag. Er jedoch, der dieses alles durch seine Tätigkeit erschafft, ist Gott, die offenbarende, aktive Kraft Gottes; 20. Gott, dessen potenzielle Kraft nicht zu übertreffen ist und mit dem nichts Menschliches oder Göttliches verglichen werden kann. 21. Darum, Hermes, glaube nicht, dass irgendetwas von den Dingen hier unten oder von den Dingen oben Gott gleich sein könnte; denn dann würdest du von der Wahrheit abirren; nichts gleicht dem Unvergänglichen, dem alleinen Gott. 22. So darfst du auch nicht glauben, dass er seine potenzielle Kraft mit irgendjemand teilt. Denn wer außer ihm ist Schöpfer des Lebens und der Unsterblichkeit und Veränderung? 23. Und was sollte er anderes tun, als erschaffen? Gott ist nicht untätig, sonst wäre auch der gesamte Kosmos untätig, denn alles ist erfüllt von Gott. 24. So gibt es denn auch nirgends Untätigkeit, weder in der Welt noch in irgendeinem anderen Wesen. Untätigkeit ist ein leeres Wort, sowohl was den Schöpfer als auch das Erschaffene betrifft. 25. Und alles muss ins Dasein gerufen werden durch den Einfluss, der jedem Platz eigen ist. 26. Denn der Schöpfer lebt in allen seinen Geschöpfen. Er bleibt nicht besonders in einem von ihnen, und er erschafft nicht allein in einem von ihnen, sondern er erschafft sie alle. 27. Da er eine stets wirksame Kraft ist, genügt es ihm nicht, Wesen erschaffen zu haben, er nimmt sie auch unter seine Obhut. 28. Betrachte nun durch mich die Welt, die sich dir darbietet und nimm tief in dich auf, wie schön sie ist: ein reiner und unvergänglicher Körper, inwendig stark und jung und stets zunehmend an Kraft.

29. Sieh auch die sieben fundamentalen Welten, die nach einer ewigen Ordnung gebildet sind und die zusammen, jede nach ihrem eigenen Lauf, die Ewigkeit erfüllen. Sieh, alles ist erfüllt von Licht, ohne dass es irgendwo Feuer gibt. 30. Denn die Liebe und die Verschmelzung der Gegensätze und der Ungleichheiten sind Licht geworden, ausstrahlend durch die offenbarende Kraft Gottes, des Schöpfers alles Guten, des Herrschers und Fürsten der gesamten Ordnung der sieben Welten. 31. Sieh den Mond, den Vorläufer all dieser Welten, das Werkzeug des natürlichen Wachstums, der die Materie hier unten umwandelt. 32. Sieh die Erde in der Mitte des Alls, als Grundlage dieser schönen Welt erschaffen, Ernährerin und Versorgerin für alles, was auf ihr lebt. 33. Achte darauf, wie zahlreich die Menge der unsterblichen Wesen ist und wie groß die Menge der Sterblichen, und sieh, wie zwischen den Unsterblichen und den Sterblichen der Mond seine Bahnen zieht. 34. Alles ist erfüllt von Seele, alle Wesen werden nach ihrer eigenen Art bewegt; einige im Himmel, einige auf der Erde. Die nach rechts gehen müssen, gehen nicht nach links, die auf der linken Seite sein müssen, gehen nicht nach rechts; die oben sein müssen, gehen nicht nach unten; die unten sein müssen, gehen nicht nach oben. 35. Dass alle diese Wesen erzeugt sind, darauf brauche ich dich, mein geliebter Hermes, nicht mehr hinzuweisen: Es sind Körper, sie besitzen eine Seele, und sie werden bewegt. 36. Alle diese Wesen können jedoch unmöglich eine Einheit werden ohne jemanden, der sie zusammenfügt. Diesen muss es also geben! Und er muss absolut der Einzige sein. 37. Denn da die Bewegungen verschieden und mannigfaltig und auch die Körper nicht gleich sind, während doch eine Geschwindigkeit allen gemeinsam auferlegt ist, kann es nicht zwei oder mehrere Schöpfer geben. 38. Gäbe es mehrere, dann könnte die Einheit der Ordnung nicht bewahrt werden, und es würde Eifersucht entstehen um den Mächtigsten.

39. Angenommen, es gäbe einen zweiten Schöpfer für die veränderlichen und sterblichen Wesen, dann würde dieser auch unsterbliche Wesen erschaffen wollen und der Schöpfer der unsterblichen Wesen auch sterbliche Wesen. 40. Außerdem, wenn es zwei Schöpfer gäbe, und es ist da einerseits Materie und andererseits die Seele, welchem von beiden sollte da die Schöpfung gehören? Und falls sie beide dafür sorgen würden, wer sollte den größten Anteil daran haben? 41. So wisse denn, dass jeder lebende Körper, sowohl der unsterbliche als auch der sterbliche, sowohl der vernunftbegabte als auch der vernunftlose, aus Materie und Seele zusammengesetzt ist. 42. Alle lebenden Körper sind beseelt. Was kein Leben besitzt, ist nur Materie, während allein die Seele, die Ursache des Lebens, in den Händen des Schöpfers bleibt. Der Schöpfer der Unsterblichen ist also auch der absolute Schöpfer des Lebens. Ist er dann auch der Schöpfer anderer lebender Wesen, der Sterblichen? 43. Wie sollte das, was unsterblich ist und die Unsterblichkeit erschafft, nicht auch alles erschaffen, was zu den Lebenden gehört? 44. Es ist also klar, dass es jemanden gibt, der dieses alles erschafft. Dass er der All-Eine ist, bedarf keines Beweises; denn eins ist die Seele, eins ist das Leben, eins ist die Materie.« 45. »Wer ist denn dieser Schöpfer?« 46. »Wer anders als der eine Gott! Wem anders stünde es zu, beseelte lebende Wesen zu erschaffen, als Gott allein? Darum gibt es nur einen Gott. 47. Es ist eigentlich zum Lachen: Wenn du erkennst, dass es eine Welt gibt, eine Sonne, einen Mond und eine göttliche Natur, wieso denkst du dann, dass Gott mehrfach ist? 48. Es ist also Gott, der alle Dinge erschafft. Was ist übrigens Verwunderliches daran, dass Gott das Leben, die Seele, Unsterblichkeit und Veränderung erschafft, da du selbst doch auch viele verschiedene Handlungen verrichtest! 49. Du siehst, du sprichst, du hörst, du riechst, du schmeckst, du

fühlst, du gehst, du denkst, du atmest. Es ist doch nicht so, dass der eine Mensch sieht, der andere hört und wieder ein anderer spricht, ein anderer schmeckt, ein anderer riecht, ein anderer geht, ein anderer denkt und ein anderer atmet? Es ist ein Wesen, das dieses alles verrichtet. 50. Nun denn, so sind auch die göttlichen Wirksamkeiten nicht von Gott zu trennen; so wie du kein lebendes Wesen mehr sein würdest, wenn du aufhören würdest, alle Deine Tätigkeiten zu verrichten, ebenso wäre Gott, wenn er seine Tätigkeiten nicht mehr vollbrächte, nicht mehr Gott. 51. Da nun nachgewiesen ist, dass kein Wesen in Untätigkeit bestehen kann, wie viel mehr gilt das für Gott! 52. Wenn es wirklich etwas geben würde, was er nicht erschaffen hat, wäre Gott unvollkommen. Da aber Gott nicht untätig ist, sondern im Gegenteil vollkommen, darum ist er der Schöpfer aller Dinge. 53. Wenn du noch ein wenig aufmerksam bist, o Hermes, wirst du sicher verstehen, dass Gott nur ein Ziel hat, nämlich ins Dasein zu rufen, alles, was im Werden ist; alles, was einst in der Vergangenheit geworden ist; alles, was einst werden wird. 54. Das, mein Geliebter, ist das Leben. Das ist das Schöne, das ist das Gute, das ist Gott. 55. Und willst du das alles aus eigener Erfahrung verstehen, betrachte dann einmal, was in dir geschieht, wenn du erzeugen willst. Tatsächlich ist, was Gott betrifft, die Schöpfungshandlung nicht gleich. Gott empfindet sicher keine wahrnehmbare Freude, und es ist niemand da, der mit ihm zusammenwirkt. 56. Da er ganz allein handelt, ist er in seinen Werken stets innewohnend und ist er selbst, was er erzeugt, sowohl Schöpfer als auch Schöpfung. Denn wenn seine Geschöpfe gelöst von ihm bestehen sollten, brächen sie zusammen und gingen unvermeidlich zugrunde, weil sie kein Leben in sich hätten. 57. Da aber alles lebt und das Leben eins ist, ist Gott gewiss der AllEine. Andererseits: Da alles, sowohl im Himmel als auch auf der Erde,

lebendig ist und das Leben eins ist in allen, ist das Leben von Gott erschaffen und ist das Leben selbst Gott; alles wird ins Dasein gerufen durch die Werke Gottes, und das Leben ist die Vereinigung des Geistes und der Seele. 58. Was den Tod betrifft, so ist dieser nicht die Vernichtung der zusammengefügten Elemente, sondern die Auflösung der verbindenden Einheit. 59. So ist die Ewigkeit das Bild Gottes; die Welt das Bild der Ewigkeit; die Sonne das Bild der Welt und der Mensch das Bild der Sonne. 60. Im Hinblick auf die Veränderung spricht der gewöhnliche Mensch von Tod, weil der Körper aufgelöst wird und das Leben in das Unsichtbare entweicht. 61. Ich erkläre dir jedoch, mein geliebter Hermes, dass die Wesen, die auf diese Weise vergehen, nur transformiert werden; jeden Tag geht ein Teil der Welt ins Unsichtbare hinüber, aber keinesfalls, um entbunden zu werden. 62. Hierin besteht das Leiden der Welt: Kreislauf und Vergehen durch das, was man Tod nennt. Aber ein Kreislauf ist Wiederholung, Radumdrehung, und das Vergehen ist Erneuerung. 63. Die Welt besitzt alle Formen. Sie hält sie nicht in sich beschlossen, sondern in den Formen und durch die Formen transformiert sie sich. 64. Da also die Welt wie das All geschaffen ist, wie wird dann ihr Schöpfer sein? Wir können nicht sagen, dass er formlos ist! Und wenn auch er wie das All wäre, würde er der Welt gleich sein. Und wenn er eine Form hat? Dann wäre er in dieser Hinsicht weniger als die Welt. 65. Was müssen wir daraus schließen? Denn unser Gottesverständnis darf keine Lücke aufweisen! 66. Es gibt nur eine Gestalt, die Gott eigen ist, eine Gestalt, welche körperliche Augen nicht wahrnehmen können, eine unkörperliche Gestalt, die alle Formen offenbart durch die Körper. 67. Wundere dich nicht, dass es eine unkörperliche Gestalt geben kann. Denke nur an ein Wort, das du sprichst. So ist es auch mit

Bildern. Man sieht darauf Bergspitzen, die sich scheinbar hoch in die Luft erheben, während die Bilder in Wirklichkeit glatt und eben sind. 68. Uöberdenke das, was ich dir gesagt habe, noch einmal tiefer und vollständiger. So wie der Mensch nicht ohne das Leben leben kann, so kann Gott nicht leben, ohne das Gute hervorzubringen. Denn dieses ist gleichsam das Leben und Bewegen Gottes: Bewegung und Leben allem schenken. 69. Es ist nötig, sich einigen Dingen mit besonderem Verständnis zu nähern, wie zum Beispiel dem Folgenden: 70. Alles ist in Gott; jedoch nicht wie an einem bestimmten Platz, denn ein Platz ist körperlich und unbeweglich, und was irgendwo seinen Platz hat, zeigt keine Bewegung; die Dinge erscheinen im Unkörperlichen und auf eine völlig andere Art. 71. Wenn du an ihn denkst, der alles in sich beschlossen hält, bedenke dann vor allem, dass nichts imstande ist, das Unkörperliche zu umgrenzen, und dass nichts schneller und mächtiger ist als er. Er ist der Unbegrenzte, der Schnellste und der Mächtigste. 72. Prüfe es auch einmal bei dir selbst. Befiehl deiner Seele, nach Indien zu gehen, und sie wird da sein, noch ehe du es ihr befohlen hast. 73. Befiehl ihr, zum Ozean zu gehen, und sie wird im gleichen Augenblick dort sein; nicht so, als ob sie eine Reise von einem Ort zum andern unternommen hätte, sondern so, als ob sie sich schon dort befunden hätte. 74. Befiehl ihr sogar, zum Himmel aufzusteigen, sie wird dazu keiner Flügel bedürfen. Nichts kann sie behindern, weder das Feuer der Sonne noch der Äther, weder die gesetzmäßige Bewegung des Firmaments noch die Körper der Sterne; sie wird alle Räume durcheilen und sich in ihrem Flug bis zum äußersten Himmelskörper erheben. 71. Und wenn du dann noch das Gewölbe des Universums selbst durchbrechen willst, um anzuschauen, was da draußen ist -jedenfalls, wenn etwas außerhalb der Welt besteht -- dann kannst du

auch das. 76. Sieh, welche Macht, welche Geschwindigkeit du besitzt! Und wenn du das alles kannst, sollte Gott es dann nicht können? 77. Darum musst du Gott so sehen: Alles, was ist, hält er als Gedanken in sich beschlossen: die Welt, sich selbst, das All. 78. Wenn du selbst nicht Gott gleich wirst, kannst du ihn nicht verstehen; denn nur das Gleiche versteht das Gleiche. 79. Wachse auf zu maßloser Größe, entsteige allen Körpern, erhebe dich über alle Zeit, werde Ewigkeit. Dann wirst du Gott verstehen. 80. Lass den Gedanken dich durchdringen, dass dir nichts unmöglich ist, betrachte dich als unsterblich und fähig, alles zu verstehen, alle Kunst, alle Wissenschaft, die Art all dessen, was lebt. 81. Werde höher als alle Höhen und tiefer als alle Tiefen. 82. Sammle in dir die Empfindungen alles Geschaffenen: des Feuers und des Wassers, des Trockenen und des Feuchten und denke dich hinein, gleichzeitig überall zu sein; auf der Erde, im Meer, in der Luft; dass du noch ganz unerschaffen bist, dass du im Mutterschoß bist, Jüngling, Greis, gestorben, an jener Seite des Todes. Wenn du das alles gleichzeitig in deinem Bewusstsein umfassen kannst: Zeiten, Orte, Geschehnisse, Eigenschaften und Mengen, dann kannst du Gott verstehen. 83. Wenn du aber deine Seele im Körper gefangen hältst, wenn du sie stets herunterdrückst und immer nur sagst: `Ich verstehe nichts, ich kann nichts, ich habe Angst vor dem Meer, ich vermag nicht, in den Himmel hinaufzusteigen; ich weiß nicht, was ich einmal war noch was ich sein werde', was hast du dann mit Gott zu schaffen? 84. Denn du kannst nichts von dem umfassen, was wirklich schön und gut ist, solange du den Körper liebst und schlecht bist. Die vollkommene Schlechtigkeit ist: das Göttliche nicht kennen. 85. Aber imstande zu sein, das Göttliche zu kennen und den Willen und die starke Hoffnung dazu zu haben, ist der direkte Weg zum Guten, ein leichter Weg! Überall wird es dir beim Gehen des Pfades entgegentreten, überall wird es sich dir offenbaren, sogar, wo und

wann du es absolut nicht erwartest; sei es, dass du wachst oder schläfst, zu Wasser oder zu Lande, bei Tag oder bei Nacht, ob du sprichst oder schweigst. Denn es gibt nichts, was es nicht ist. 86. Wirst du nun sagen: `Gott ist unsichtbar'? Wer offenbart sich mehr als Gott? Er hat doch alles geschaffen, damit du ihn in allen Geschöpfen erkennen wirst. 87. Das ist das Herrliche, das Wunderbare an Gott, dass er sich durch all seine Geschöpfe offenbart. 88. Nichts ist unsichtbar, sogar bei den Unkörperlichen nicht: Das Gemüt offenbart sich im lebendigen Anschauen, und Gott offenbart sich in seiner Schöpfungstätigkeit. Das alles hatte ich dir zu enthüllen, o Trismegistos. Bedenke weiter alles auf die gleiche Weise, und du wirst nicht irren.«

Viertes Buch: Hermes' Rede zur Ehre Gottes 1. Gott, Gottes Macht und die göttliche Natur sind die Herrlichkeit des Alls. 2. Gott ist der Beginn, die Ur-Idee, das Vermögen des Wachstums und die Materie aller Geschöpfe, die Weisheit zur Offenbarung aller Dinge. 3. Gottes Macht ist Ursache, Geburt und Wachstum, wirksame Kraft, Schicksal, Sterben und Erneuerung. 4. Im Abgrund war eine unendliche Finsternis und Wasser und der wirksam werdende Atem der Schöpfung; das alles war durch Gottes Kraft im Chaos. 5. Dann wurde das heilige Licht frei, die Ur-Elemente trennten sich von der feuchten Substanz, sie verdichteten sich, und alle Götter zusammen bewirkten eine Trennung zwischen den Ansichten der keimreifen Natur. 6. Aus dem Unbestimmten und Ungeformten lösten die leichten Elemente sich, trieben nach oben, während die schweren Elemente ihre Basis auf dem feuchten Sand fanden; so wurde das All durch das

Wirken des Feuers in seinen zusammengesetzten Teilen getrennt und, durch den Atem der Schöpfung geordnet, in fortdauernder Bewegung gehalten. 7. Das All offenbarte sich in sieben Kreisen, und die Götter zeigten sich in Gestalt der Sterne mit all ihren Konstellationen. Die Natur wurde in allen ihren Ansichten mit Hilfe der in ihr anwesenden Götter zu einer organischen Ordnung geformt und der sie umringende Kreis, umgeben von einer astralen Wolke, in seinem Kreislauf durch den göttlichen Atem fortbewegt. 8. Jeder Gott brachte aus eigener Kraft das hervor, was ihm aufgetragen war. So entstanden vierfüßige, kriechende, im Wasser lebende und geflügelte Tiere und alle keimtragenden Saaten und das Gras sowie das frische Wachstum alles dessen, was blüht. Die Saat der Wiedergeburt lag in ihnen beschlossen. 9. Die Götter brachten ebenfalls die Geschlechter der Menschen ins Dasein, damit sie Gottes Werke kennenlernen und von der Wirksamkeit der Natur zeugen, 10. an Zahl zunehmen und unbegrenzt herrschen sollten über alles, was unter dem Himmel ist. Sie sollten die guten Dinge kennenlernen und auf diese Weise gedeihen, während sie zunahmen und ihre Anzahl sich vermehrte. 11. Und die Götter brachten die Seelen hervor, die nach Schicksalsbestimmung durch die Fügung der Götter innerhalb der Kreise in das Fleisch gesät wurden, damit sie das Himmelsgewölbe, den Lauf der himmlischen Götter, die göttlichen Werke und die Wirksamkeit der Natur genau wahrnehmen könnten 12. und das wahrhaft Gute und die göttliche Macht, die das Rad der Schicksalsbestimmung in Bewegung hält, kennenlernen 13. und somit Gut und Böse unterscheiden lernen und sich die gesamte erhabene Kunst des Vollbringens guter Werke zu eigen machen sollten. 14. Dieses ist für sie von Anfang an der Weg: Sie sammeln Lebenserfahrung und erwerben Weisheit über ihre

Schicksalsbestimmung aus dem Kreislauf der Götter; schließlich werden sie befreit und hinterlassen auf Erden große Denkmäler, die an die erhabenen Werke erinnern, die sie als Befreite vollbrachten. 15. Und alles, was im Lauf der Zeiten des Glanzes beraubt wurde und Dunkelheit verbreitet: das Entstehen des beseelten Fleisches und der Nachkommen auf die Art der jungen Tiere, das gesamte menschliche Wirken, und all das, was dahinwelkt, wird durch das Fatum, durch die Erneuerung der Götter und den Kreislauf der Natur, wenn ihre Zeit erfüllt ist, wieder neu werden. 16. Das Göttliche ist das zur Einheit zusammenfließende kosmische All, das durch die Natur erneuert ist, denn auch die Natur ist in der Allmacht Gottes verankert.Fünftes Buch: Aus einer Rede des Hermes zu Tat 1. Ich gebe diese Erklärung, mein Sohn, in erster Linie aus Liebe für die Menschen und in ehrerbietiger Hingabe an Gott. Denn es gibt keine wahrhaftigere Frömmigkeit, als achtzugeben auf die wesentlichen Dinge und Ihm, der dieses alles geschaffen hat, dafür zu danken, womit ich auch niemals aufhören werde. 2. Aber wenn hier nichts wirklich und wahrhaftig ist, Vater, was muß ein Mensch dann tun, um auf die rechte Art zu leben? 3. Führe ein Gott dienendes Leben, mein Sohn. Wer wirklich fromm ist, liebt die Weisheit über alle Maßen; denn ohne Liebe zur Weisheit ist es unmöglich, die höchste Gottesfurcht zu erreichen. Wer Einsicht in das Wesen des Alls erhalten und verstehen gelernt hat, wie, durch wen und zu wessen Nutzen alles zu einer Ordnung zusammengefügt wurde, wird dafür Gott, dem Welten-Baumeister, Dank wissen, dem all-guten Vater, der ihn mit Wohltaten überhäuft und getreulich bewahrt. 4. Und indem er seine Dankbarkeit bezeugt, ist er gottesfürchtig; und durch seine Gottesfurcht weiß er auch, wodieWahrheit ist und wer sie ist; und dank dieser Einsicht nimmt seine gottesfürchtige Hinwendung fortwährend zu. 5. Niemals, mein Sohn, kann die Seele, auch wenn sie im Körper ist,

ins Gegenteil abgleiten, wenn sie ihre Schuldenlast erleichtert hat, um das wahrhaftige Gute und Wahre zu ergreifen. 6. Denn wenn die Seele Ihn kennengelernt hat, der sie ins Dasein rief, ist sie von einer unermeßlichen Liebe erfüllt, vergißt alles Böse und kann vom Guten nicht mehr getrennt werden. 7. Das, mein Sohn, muß das Ziel der Frömmigkeit sein. Wenn du zu diesem Zustand zurückkehrst, auf die rechte Weise lebst und glückselig stirbst, wird deine Seele sicher wis-sen, wohin sie ihren Flug richten muß. 8. Das, mein Sohn, ist der einzige Weg zur Wahrheit, den auch jene gegangen sind, die uns vorangingen, und auf dem sie das Gute empfangen haben. 9. Erhaben und gebahnt ist dieser Weg, aber mühsam und schwer zu gehen für die Seele, solange sie noch im Körper ist. 10. Denn zuerst muß sie gegen sich selbst kämpfen, eine große Trennung vollziehen und einem Teil den Sieg über sich selbst lassen. Es entsteht nämlich zwischen einem Teil und zwei anderen Teilen ein Konflikt: der erste Teil versucht zu fliehen, während die beiden anderen die Seele herunterziehen. Die Folge ist Kampf und eine große Kraftprobe zwischen dem Teil, der entfliehen will und den beiden anderen Teilen, die sich bemühen, die Seele herunterzuziehen. 11. Es ist jedoch nicht gleich, ob die eine Partei siegt oder die anderen Parteien. Denn der eine Teil strebt mit aller Anspannung zum Guten, während die anderen in den Gebieten des Verderbens wohnen. 12. Der eine Teil sehnt sich nach der Freiheit; die anderen lieben die Sklaverei. 13. Wenn die beiden Parteien geschlagen sind, bleiben sie in sich selbst eingeschlossen, wirkungslos und einsam, verlassen von dem, der dann herrscht. Wenn aber der eine Teil überwunden ist, wird er von den beiden anderen als Gefangener weggeführt und von allem beraubt, und er wird gestraft durch das Leben, das er hier führt. 14. Sieh, mein Sohn, dieses ist der Führer auf dem Weg, der zur Freiheit führt: Du mußt den Körper, bevor er stirbt, preisgeben und

das Leben, das in den Kampf hineingezogen ist, überwinden, und wenn du diesen Sieg davongetragen hast, zur Höhe zurückkehren. 15. Und nun, mein Sohn, will ich in kurzen Kernsätzen die wesentlichen Dinge zusammenfassen: Du wirst das, was ich sage, verstehen, wenn du dich daran erinnerst, was du bereits gehört hast. 16. Alles, was wirklich ist, wird bewegt; nur das Nicht-Seiende ist unbeweglich. 17. Jeder Körper ist der Veränderung unterworfen; aber nicht alle Körper sind auflösbar. 18. Nicht jedes Geschöpf ist sterblich; nicht jedes Geschöpf ist unsterblich. 19. Was auflösbar ist, ist vergänglich; das ständig Unveränderliche ist ewig. 20. Was stets wieder geboren wird, geht auch stets wieder zugrunde; was aber ein für allemal geworden ist, wird niemals vernichtet und wird auch nichts anderes. 21. Als erstes ist da Gott, als zweites der Kosmos, als drittes der Mensch. 22. Der Kosmos besteht um des Menschen willen, der Mensch um Gottes willen. 23. Der Teil der Seele, der durch die Sinnesorgane wahrnimmt, ist sterblich, jedoch der Teil, der der Vernunft entspricht, ist unsterblich. 24. Jede geoffenbarte Wirklichkeit ist unsterblich; jede geoffenbarte Wirklichkeit ist aber veränderlich. 25. Alles Seiende ist zweifach; nichts, was ist, steht still. 26. Nicht alle Dinge werden von einer Seele bewegt, aber es ist eine Seele, die das ganze Sein bewegt. 27. Alles, was für Leiden empfänglich ist, sammelt Erfahrungen; alles, was Erfahrungen sammelt, leidet. 28. Alles, was Schmerzen unterworfen ist, ist auch Freuden unterworfen, nämlich das sterbliche Geschöpf; nicht alles, was Freude kennt, kennt auch Schmerz, nämlich das unsterbliche Geschöpf. 29. Nicht jeder Körper ist Krankheit unterworfen; jeder Körper, der

Krankheit unterworfen ist, ist auch der Auflösung unterworfen. 30. Das Gemüt ist in Gott; die Vernunft ist im Menschen; die Vernunft ist im Gemüt; das Gemüt ist unempfänglich für Leiden. 31. Nichts im sterblichen Körper ist wahr; im Unkörperlichen gibt es überhaupt keine Lüge. 32. Alles, was ins Dasein kommt, ist veränderlich; nicht alles, was ins Dasein kommt, ist vergänglich. 33. Es gibt nichts Gutes auf der Erde; es gibt nichts Böses im Himmel. 34. Gott ist gut; der Mensch ist böse. 35. Das Gute wirkt aus freiem Willen; das Böse wirkt in Unfreiheit. 36. Die Götter bestimmen gute Werke zu guten Zwecken. 37. Die gute Ordnung ist erhabene Gerechtigkeit; die gute Ordnung ist das Gesetz. 38. Das göttliche Gesetz ist die Zeit; das menschliche Gesetz ist das Böse. 39. Die Zeit ist das Drehen der Welt; die Zeit ist der Vernichter des Menschen. 40. Alles, was im Himmel ist, ist unveränderlich; alles, was auf Erden ist, ist veränderlich. 41. Im Himmel ist nichts unterworfen oder abhängig; auf Erden ist nichts frei. 42. Es gibt nichts, was der Himmel nicht kennt; es gibt auf der Erde keine Kenntnis. 43. Das Irdische hat keinen Anteil am Himmlischen. 44. Alles im Himmel ist über Schmutz und Schmach erhaben; alles auf Erden ist zu tadeln. 45. Das Göttliche ist nicht sterblich; was sterblich ist, ist nicht göttlich. 46. Was gesät wird, kommt nicht in jedem Fall zur Geburt; was geboren wird, ist mit Sicherheit auch gesät. 47. Für den vergänglichen Körper gelten zwei Zeiträume: der von der Empfängnis bis zur Geburt und der von der Geburt bis zum Tod. Für

den unvergänglichen Körper gilt nur eine Zeit, beginnend bei der Schöpfung. 48. Die auflösbaren Körper wachsen und nehmen ab. 49. Die vergängliche Materie dreht sich in den Gegensätzen: Werden und Vernichtung. Die unvergängliche Materie vollzieht Veränderungen in sich selbst oder geht auf in dem, was ihr ebenbürtig ist. 50. Die Geburt des Menschen ist der Beginn eines Sterbens; das Sterben des Menschen ist der Beginn einer Geburt. 51. Was geboren wird, stirbt also auch; was stirbt, wird also auch geboren. 52. Von den wesentlichen Dingen sind einige in Körpern, einige in der Welt der Ideen, einige in der Welt der Kräfte. Der Körper ist auch in der Welt der Ideen, aber die Idee und die Kraft sind auch im Körper. 53. Was göttlich ist, hat keinen Teil an der Vergänglichkeit, und das Sterbliche hat keinen Teil am Göttlichen. 54. Das Sterbliche kommt nicht in einen unsterblichen Körper; aber das Unsterbliche hat am Sterblichen Anteil. 55. Die sich offenbarenden Kräfte Gottes richten sich nicht nach oben, sondern nach unten. 56. Alles, was auf Erden geschieht, hat keinen einzigen Nutzen für die Angelegenheiten des Himmels; aber die Angelegenheiten des Himmels sind von höchster Bedeutung für das, was zum irdischen Leben gehört. 57. Der Himmel ist die Heimat, wo jene willkommen geheißen werden, die den unvergänglichen Körper tragen. Die Erde ist der Wohnort der vergänglichen Körper. 58. Das irdische Sein ist vernunftlos; der Himmel ist damit übereinstimmend die göttliche Vernunft. 59. Die Harmonien der Höhen sind das Fundament des Himmels, die Gesetzesanordnungen der Erde sind der Erde auferlegt. 60. Der Himmel ist das erste Element; die Erde das letzte Element. 61. Die Vorsehung ist die göttliche Ordnung; das Fatum ist die Dienerin der Vorsehung.

62. Zufall ist eine blinde, ordnungslose Aufwallung, das Wahnbild einer Kraft, betrügerischer Schein. 63. Was ist Gott? Das niemals abweichende, unveränderliche Gute. Was ist der Mensch? Ein sich stets windendes Böses. 64. Wenn du nun diese Kernsätze im Gedächtnis behältst, wird es dir nicht schwerfallen, dich an die Erklärungen zu erinnern, die ich dir bereits ausführlicher gegeben habe, denn in diesen Kernsätzen sind sie zusammengefaßt. 65. Vermeide ebenfalls Diskussionen mit der großen Masse; gewiß nicht, um ihr deine Schätze vorzuenthalten, sondern weil die Masse dich lächerlich finden wird. Denn Gleiches wird durch Gleiches angezogen; aber das Ungleiche wird vom Ungleichen niemals geliebt. Die Worte, die ich gesprochen habe, ziehen nur äußerst wenige Zuhörer an oder wahrscheinlich sogar nicht einmal diese. Diese Worte haben außerdem die Besonderheit, daß sie die Bösen zu noch größerer Bosheit reizen. Darum ist es nötig, sich vor der Masse in acht zu nehmen, weil sie die befreiende Kraft und Herrlichkeit des Gesprochenen nicht versteht. 66. Wie meinst Du das, Vater? 67. So, mein Sohn: Das ganze tierische Leben der Menschen ist stark dem Bösen zugewandt. Es kommt mit dem eingeborenen Bösen zur Welt und hat daher auch Freude daran. 68. Wenn dieses tierische Wesen vernimmt, daß die Welt einmal geworden ist und daß alles nach der Verfügung der Vorsehung und des Fatums geschieht, denn das zugeteilte Schicksal** KarmaNemesis. Siehe S. 41 ff. herrscht über alles, wird das nicht viel schlimmer sein? Denn wenn dieses Wesen das All verachtet, weil es einmal geworden ist und es die Ursachen des Bösen dem zugeteilten Schicksal zuschreibt, wird es sich schließlich keiner einzigen bösen Tat mehr enthalten. 69. Und darum mußt du ihretwegen wachsam sein, damit sie, im Zustand ihrer Unwissenheit, aus Angst vor dem, was sie innerlich nicht erfassen können, weniger böse sind.

Allgemeiner Dialog zwischen Hermes und Asklepios 1. HERMES: Asklepios, wird nicht alles, was bewegt wird, in etwas und durch etwas bewegt? ASKLEPIOS: Ganz gewiß. 2. HERMES: Und ist es nicht notwendig, daß das, worin etwas bewegt wird, größer ist als das, was bewegt wird? ASKLEPIOS: Zweifellos. 3. HERMES: Ist das, was die Bewegung hervorruft, stärker als das, was bewegt wird? ASKLEPIOS: Das ist naheliegend. 4. HERMES: Und muß die Art dessen, in dem die Bewegung stattfindet, nicht notwendigerweise jener entgegengesetzt sein, die bewegt wird? ASKLEPIOS: Natürlich. 5. HERMES: Ist dieses Universum größer als jeder andere Körper? ASKLEPIOS: Ja gewiß. 6. HERMES: Und ist es nicht vollkommen erfüllt, nämlich von vielen anderen großen Körpern, oder richtiger gesagt: von allen Körpern, die es gibt? ASKLEPIOS: So ist es. 7. HERMES: Das Universum ist also ein Körper. ASKLEPIOS: Ganz gewiß. 8. HERMES: Und es ist ein Körper, der bewegt wird? ASKLEPIOS: Ja gewiß. 9. HERMES: Wie groß und von welcher Art muß dann der Raum sein, in dem das Universum bewegt wird? Muß er nicht viel größer sein als das Universum, um diese immerwährende Bewegung zu ermöglichen, ohne daß das Universum eingeklemmt und an seiner Bewegung gehindert wird? ASKLEPIOS: Der Raum muß wirklich außergewöhnlich groß sein, Trismegistos. 10. HERMES: Und von welcher Art? Von entgegengesetzter Art, Asklepios. Und der Gegensatz zur Art des Körpers ist das Unkörperliche. ASKLEPIOS: Zweifellos. 11. HERMES: Dann ist der Raum also unkörperlich. Aber das Unkörperliche ist entweder von göttlicher Art, oder es ist Gott. (Mit göttlich meine ich hier nicht das Erschaffene, sondern das

Unerschaffene). Wenn das Unkörperliche von göttlicher Art ist, dann ist es von der Art des Kernwesens der Schöpfung; und wenn es Gott ist, dann ist es eins mit dem Kernwesen. Es ist übrigens mit dem Denken so zu erfassen: 12. Gott ist für uns das Höchste, worauf das Denken sich richten kann; für uns, aber nicht für Gott selbst. Denn der Gegenstand des Betrachtens wird für den, der denkt, erreichbar durch das Licht der Einsicht. Gott ist also an und für sich kein Gegenstand der Betrachtung, denn da Er selbst sich nicht von dem Wesen der Betrachtung unterscheidet, betrachtet Er sich selbst. Für uns jedoch ist Gott wohl verschieden: Darum ist Er der Gegenstand unseres Denkens. 13. Wenn wir nun den universellen Raum in unserem Denken erwägen, denken wir diesen nicht als Raum, sondern als Gott; und wenn in unserem Denken der Raum als Gott erscheint, ist es kein Raum mehr in gewöhnlichem Sinn des Wortes, sondern die wirksame Kraft Gottes, die alles umschlossen hält. 14. Alles was bewegt wird, bewegt sich nicht in etwas, das selbst bewegt wird, sondern in etwas, das unbeweglich ist; und die bewegende Kraft selbst ist auch unbeweglich, da sie keinen Anteil an der Bewegung haben kann, die sie selbst erzeugt. 15. ASKLEPIOS: Aber, Trismegistos, auf welche Art werden denn die Dinge hier auf Erden mitbewegt mit denen, welche ihre Bewegung verursachen? Denn Du hast gesagt, daß die versündigten Sphären mitbewegt werden von der Sphäre der Sündelosen. 16. HERMES: Das ist, Asklepios, keine Mitbewegung, sondern eine Gegenbewegung. Denn diese Sphären werden nicht in derselben Richtung bewegt, sondern in entgegengesetzter Richtung. Dieser Gegensatz verschafft der Bewegung einen festen Gleichgewichtspunkt, weil die Reaktion der gegensätzlichen Bewegungen sich in diesem Punkt als Bewegungslosigkeit offenbart. 17. Da die versündigten Sphären in einer Richtung fortbewegt werden, welche jener der sündelosen Sphäre entgegengesetzt ist,

werden sie in dieser Gegenbewegung durch den stillstehenden Gleichgewichtspunkt um die Widerstand bietende Sphäre herum bewegt. 18. Du siehst dort die Sternbilder des Großen und des Kleinen Bären, die nicht untergehen und nicht aufgehen, sich stets um denselben Punkt drehen. Was meinst Du, werden sie bewegt oder stehen sie still? 19. ASKLEPIOS: Sie werden bewegt, Trismegistos. HERMES: Und wie ist ihre Bewegung, Asklepios? ASKLEPIOS: Sie drehen sich fortwährend um denselben Mittelpunkt. 20. HERMES: Richtig. Der Kreislauf ist also nichts anderes als die Bewegung um denselben Mittelpunkt herum, die von der Unbeweglichkeit des Mittelpunktes vollkommen beherrscht wird. Denn die Umdrehung verhindert die Abweichung, und indem sie die Abweichung verhindert, wird die Umdrehung beständig erhalten. So steht auch die Gegenbewegung im Gleichgewichtspunkt still, weil sie durch die Widerstand bietende Bewegung statisch wird. 21. Ich werde dir ein gewohntes Beispiel geben, das Du mit deinen Augen auf seine Richtigkeit prüfen kannst. Siehe sterbliche Wesen, wie zum Beispiel den Menschen, beim Schwimmen. Während das Wasser weiterströmt, läßt der Widerstand, die Gegenkraft der Füße und der Hände, für den Menschen einen stabilen Zustand entstehen, so daß er nicht durch das Wasser nach unten gezogen wird. 22. ASKLEPIOS: Dieses Beispiel ist sehr deutlich, Trismegistos. 23. HERMES: So entsteht jede Bewegung in etwas und durch etwas, das selbst unbeweglich ist. Die Bewegung des Universums und jedes körperlichen lebenden Wesens entsteht also nicht durch Ursachen, die außerhalb des Körpers liegen, sondern durch Ursachen, die innerhalb des Körpers liegen, die von innen nach außen wirken durch eine bewußte, vernünftige Kraft, sei es die Seele, der Geist oder irgendeine andere unkörperliche Wesenheit. Denn ein Stoffkörper ist nicht fähig, einen beseelten Körper zu bewegen, ja keinen einzigen Körper, auch keinen unbeseelten Körper.

24. ASKLEPIOS: Wie meinst Du das, Trismegistos? Sind Holz, Steine und andere unbeseelte Dinge keine Körper, die Bewegung erzeugen? 25. HERMES: Nein, gewiß nicht, Asklepios. Denn nicht der Körper selbst verursacht die Bewegung des Unbeseelten, sondern das, was sich im Körper befindet, und das bewegt die beiden Körper, sowohl den Körper, der bewegt, als auch den Körper, der bewegt wird. Daher kann das Unbeseelte das Unbeseelte nicht bewegen. Du siehst also, wie schwer die Seele belastet ist, wenn sie allein zwei Körper tragen muß. Es ist also klar: Was bewegt wird, wird in etwas und durch etwas bewegt. 26. ASKLEPIOS: Muß Bewegung in einem leeren Raum entstehen, Trismegistos? 27. HERMES: Hör gut zu, Asklepios: Nichts von allem, was wirklich ist, ist leer; kein Teil des wirklich Seienden ist leer, wie das Wort «sein», das ist «bestehen», bereits aussagt. Denn was ist, hätte keine Wirklichkeit, könnte nicht sein, wenn es nicht vollkommen von Wirklichkeit erfüllt wäre. Was wirklich ist, was wirklich besteht, kann deshalb niemals leer sein. 28. ASKLEPIOS: Gibt es denn keine leeren Dinge, Trismegistos, wie zum Beispiel einen Krug, einen Topf, eine Wanne und ähnliche Dinge? 29. HERMES: Hör auf Asklepios, wie kannst Du dich nur so irren! Wie kannst Du etwas, das absolut voll und gefüllt ist, leer nennen? 30. ASKLEPIOS: Wie meinst Du das, Trismegistos? 31. HERMES: Ist Luft kein Körper? Durchdringt dieser Körper nicht alles Bestehende? Und erfüllt er nicht alles, was er durchdringt? Ist nicht jeder Körper zusammengesetzt aus den vier Elementen? Alle diese Dinge, die Du leer nennst, sind also mit Luft gefüllt, und wenn sie mit Luft gefüllt sind, sind sie es auch mit den vier Körpern der Elemente. Und so kommen wir zu dem Ergebnis, welches genau im Gegensatz zu deinen Worten steht: Alles, was Du voll nennst, ist von aller Luft entleert, weil deren Platz von anderen Körpern eingenommen wurde und deshalb kein Platz mehr da ist, um die Luft hineinzulassen. Und alles, was Du leer nennst, muß randvoll genannt

werden und nicht leer, denn es ist wirklich erfüllt von Luft und Atem. 32. ASKLEPIOS: Dagegen ist nichts zu sagen, Trismegistos. Aber was ist dann der Raum, in dem das Universum bewegt wird? HERMES: Er ist unkörperlich, Asklepios. ASKLEPIOS: Und was ist das Unkörperliche? 33. HERMES: Geist, völlig in sich selbst beschlossen, frei von jeder Körperlichkeit, ohne Irrtum, ohne Leiden, unberührbar, unbeweglich in sich selbst, alles umfassend, alles errettend, befreiend, heilend; das, von dem das Gute, die Wahrheit, der Urtyp des Geistes und der Urtyp der Seele wie Strahlen ausgehen. 34. ASKLEPIOS: Aber was ist dann Gott? 35. HERMES: Er ist nichts von alledem, sondern die Ursache ihres Daseins und all dessen, was es gibt, auch die Ursache jedes Geschöpfes im besonderen. Denn Er hat absolut keinen Raum gelassen für das Nicht-Sein; alles was besteht, tritt ins Dasein aus dem, was ist und nicht aus dem, was nicht ist; denn dem Nicht-Sein mangelt das Vermögen des Werdens, während andererseits das Seiende niemals zu bestehen aufhört. 36. ASKLEPIOS: Was sagst Du denn eigentlich, das Gott ist? 37. HERMES: Gott ist nicht die Vernunft, aber der Daseinsgrund derVernunft; Er ist nicht der Atem, sondern der Daseinsgrund des Atems; Er ist nicht das Licht, sondern der Daseinsgrund des Lichtes. Darum muß Gott mit den Namen «Das Gute» und «Vater» verehrt werden, Namen die nur Ihm und sonstniemandem zustehen. Denn keiner von denen, die Götter genannt werden und keiner der Menschen und Dämonen kann auch nur in einer einzigen Hinsicht gut sein: nur Gott allein. Er allein ist gut und niemand sonst. Alle übrigen können das Wesen des Guten nicht erfassen. Sie sind Körper und Seele, und ihnen mangelt der Raum, in dem dasGute wohnen könnte. Denn das Gute umfaßt das Wesentliche aller Geschöpfe, sowohl der körperlichen als auch der unkörperlichen, sowohl der wahrnehmbaren als auch der zur Welt der abstrakten Gedanken gehörenden. Das ist das Gute, es ist Gott.

38. Nenne daher niemals etwas anderes gut, denn das ist gottlos. Und deute Gott niemals anders an als das Gute, denn auch das ist gottlos. 39. Alle gebrauchen zwar das Wort «gut», aber nicht alle durchschauen, was es ist. Darum verstehen auch alle Gott nicht und nennen die Götter und einige Menschen in Unwissenheit gut, obwohl sie es niemals sein können oder sein werden, da das Gute das vollkommen Unveränderliche Gottes ist und von Ihm nicht zu trennen, weil es eben Gott selbst ist. 40. Allen anderen Göttern wird, als Unsterblichen, durch den Namen Gott Ehre erwiesen. Aber Gott ist das Gute nicht aufgrund der Ehrerbietung sondern kraft seines Wesens. Das Wesen Gottes und des Guten sind eins: Sie bilden zusammen den einen Ursprung aller Geschlechter. Gut ist, wer alles gibt und nichts nimmt. Fürwahr, Gott gibt alles und nimmt nichts. Darum ist Gott das Gute, und das Gute ist Gott. 41. Der andere Name Gottes ist: Vater, weil Er der Schöpfer aller Dinge ist. Denn Erschaffen ist das Merkmal des Vaters. 42. Darum auch ist im Leben jener, deren Bewußtsein recht gerichtet ist, das zur Geburt bringen des Sohnes eine Sache des größten Ernstes und Eifers und der tiefsten Anhänglichkeit an Gott, während es das größte Unglück und die größte Sünde ist, wenn jemand ohne diese Kindschaft stirbt und nach dem Tod von den Dämonen gerichtet wird. 43. Dieses ist die Strafe: Die Seele dieses Kinderlosen wird verurteilt zur Annahme eines Körpers, der weder männlich noch weiblich ist, ein Urteil, das von der Sonne ausgeht. Nimm Anteil an der Freude, Asklepios, wenn niemand ohne die Kindschaft ist, aber umfasse mit deinem Mitleid jenen, der im Unglück ist, denn Du weißt, welche Strafe ihn erwartet. 44. Möge das, was ich dir gesagt habe, Asklepios, dir nach Art und Umfang eine Einleitung zur Kenntnis über das Wesen des Alls sein.

Hermes spricht zu Tat über das Mischgefäß und die Einheit 1. HERMES: Betrachte den Ober-Baumeister, da Er die ganze Welt nicht mit den Händen, sondern durch das Wort erschaffen hat, als die anwesende und stets unveränderliche Wirklichkeit, als den Schöpfer aller Dinge, den Einen und Einzigen, der alles, was ist, nach seinem Willen erschaffen hat. 2. Denn dieses ist wahrlich sein Körper, der unberührbar, unsichtbar, unmeßbar, unteilbar und mit keinem an-deren Körper zu vergleichen ist. Denn Er ist weder Feuer noch Wasser noch Luft noch Atem, sondern diese und alle anderen Dinge sind aus Ihm und durch Ihn. 3. Da Er das Gute ist, wollte Er diese Opfergabe nicht sich allein weihen und die Erde nicht für sich allein schmükken; sondern hat als Zierde dieses göttlichen Körpers den Menschen hinabgesandt, ein sterbliches Geschöpf eines unsterblichen Wesens. Und so wie die Erde ihre Geschöpfe durch das ewige Leben übertrifft, so übertrifft der Mensch die Geschöpfe der Erde durch den Verstand und den Geist. 4. Denn der Mensch besann sich auf Gottes Werke, staunte darüber und lernte daraus den Schöpfer erkennen. Gott hat also, Tat, den Verstand allen Menschen zugeteilt, nicht aber den Geist; nicht aus Mißgunst gegen wen auch immer, denn Mißgunst kommt nicht aus der Höhe, sie entsteht nur hier unten in den Seelen derer, die den Geist nicht besitzen. 5. TAT: Warum, o Vater, hat Gott den Geist nicht allen Menschen zugeteilt? 6. HERMES: Er hat gewollt, mein Sohn, daß die Geistbindung von allen Seelen erreicht werden kann, jedoch als Preis für den Wettlauf. 7. TAT: Und wo hat Er diesen dann ausgesetzt? 8. HERMES: Er hat ein großes, mit den Kräften des Geistes gefülltes Mischgefäß herabgesandt und einen Botschafter beauftragt, den Herzen der Menschen zu verkünden: Taucht hinein in dieses Mischgefäß, ihr Seelen, die ihr es vermögt; ihr, die glaubt und darauf vertraut, daß ihr aufsteigen werdet zu Ihm, der dieses Mischgefäß

herabgesandt hat; ihr, die wißt, zu welchem Ziel ihr erschaffen wurdet. 9. Soviele dieser Verkündigung Gehör schenkten und durch Untertauchen in den Kräften des Geistes gereinigt wurden, haben Anteil erhalten an der Gnosis, der lebenden Kenntnis Gottes, und wurden, als sie den Geist empfangen hatten, vollkommene Menschen. 10. Alle jedoch, die gegen die Verkündigung sündigten, indem sie ihr kein Gehör schenkten, blieben an den Grenzen des Verstandes stehen, weil sie die Kräfte des Geistes nicht empfangen haben und nicht wissen, zu welchem Zweck sie erschaffen wurden und von wem. 11. Die von den Sinnen abhängigen Wahrnehmungen dieser Menschen gleichen nahezu denen der unvernünftigen Tiere; und da ihr Charakter eine Mischung aus Leidenschaft und Trieb ist und sie keine Bewunderung für das besitzen, was des Überdenkens und der Besinnung wert ist, widmen sie sich den Lüsten und Begierden des Körpers und meinen, daß der Mensch dazu ins Dasein gerufen wurde. 12. Alle aber, die an Gottes Gaben Anteil erhielten, sind, wie alle ihre Werke zeigen, keine Sterblichen mehr, sondern göttliche Menschen, die alles, was auf der Erde und im Himmel und vielleicht über dem Himmel ist, mit der Geist-Seele umfassen. 13. Alle, die sich so erhöhen, haben, indem sie das Gute betrachten, durch diese Betrachtung den Aufenthalt hier auf Erden als Trübsal erkennen gelernt. Alle körperlichen und unkörperlichen Dinge für verwerflich haltend, eilen sie voller Eifer zum Einen und Einzigen. 14. Dieses, o Tat: Das Offenbarwerden der Geist-Seele, das Gestaltannehmen der göttlichen Dinge und die Betrachtung Gottes, sind die Gaben des göttlichen Mischgefäßes. 15. TAT: Auch ich will das Untertauchen darin erfahren, o Vater. 16. HERMES: Wenn du nicht zuerst deinen Körper haßt, mein Sohn, kannst du dein wahres Selbst nicht lieben. Aber wenn du dein wahres Selbst liebst, wirst du die Geist-Seele besitzen; und wenn du einmal die Geist-Seele besitzen wirst, hast du auch an ihrer lebendigen Kenntnis teil.

17. TAT: Was meinst Du damit, Vater? 18. HERMES: Es ist unmöglich, mein Sohn, gleichzeitig den stofflichen und den göttlichen Dingen anzuhängen. Denn da es zwei Daseinszustände gibt, nämlich das Körperliche und das Unkörperliche, das Sterbliche und das Göttliche, mußt du zwischen beiden wohlüberlegt wählen; denn man kann nicht beiden gleichzeitig anhängen. Sobald die Wahl getroffen ist, beweist das Wenigerwerden dessen, was abgewiesen wurde, sich in der wirksamen Kraft dessen, was erwählt wurde. 19. So zeigt also die gute Wahl ihre Glorie nicht nur durch die Vergöttlichung des Menschen, der sie traf, sondern sie beweist auch seine Anhänglichkeit und Hingabe an Gott. 20. Die schlechte Wahl dagegen führt zum Untergang des Menschen; und ist außerdem eine Sünde Gott gegenüber. Ebenso wie sich die Menschen bei Umzügen mitten auf dem Weg fortbewegen und selbst zwar nichts tun, aber doch die anderen beim Gehen behindern, so tun auch solche Menschen nichts anderes, als auf die gleiche Art durch die Welt zu ziehen, getrieben von ihren körperlichen Begierden. 21. Darum, o Tat, standen die Gaben, die von Gott sind, stets zu unserer Verfügung und werden es auch immer bleiben. An uns ist es, dafür zu sorgen, daß das, was von uns ausgeht, damit übereinstimmt und nicht dabei zurücksteht. Denn nicht Gott ist die Ursache unserer Bosheiten, sondern wir selbst sind es, die sie dem Guten vorziehen. 22. Siehst du ein, mein Sohn, wieviele körperliche Zustände, Dämonenscharen, Schleier der Materie und Sternengänge wir bei unserem beschwerlichen Aufgang zu dem Einen und Einzigen durchschreiten müssen? Denn das Gute ist nicht wie an einer leicht durchwatbaren Stelle zu erreichen. Es ist grenzenlos und ohne Ende und hat selbst keinen Beginn, auch wenn es uns so scheinen mag, als hätte das Gute seinen Beginn in der Gnosis, der All-Erkenntnis Gottes. 23. Die Gnosis ist denn auch nicht der Beginn des Guten, sondern sie schenkt uns den Beginn dessen, was wir vom Guten kennenlernen

sollen. 24. Laß uns dann diesen Beginn erfassen und schleunigst unsere Durchreise vollbringen durch alles, was unser wartet; denn schwer ist es wahrlich, das so Vertraute und alles, was man hat, zu verlassen, um zu den uralten und ersten Dingen zurückzukehren. Denn was sichtbar ist, schenkt Freude, das Unsichtbare weckt jedoch Unglauben und Zweifel. Für das gewöhnliche Auge ist das Böse wohlbekannt und offenbar, das Gute dagegen unsichtbar. Es hat weder Form noch Gestalt. Es ist unveränderlich sich selbst gleich und deshalb allem übrigen ungleich. Darum ist das Unkörperliche unsichtbar für den körperlichen Menschen. 25. Daher ist das, was sich selbst gleichbleibt, das Unveränderliche, vortrefflicher als das Veränderliche; und das Veränderliche arm im Vergleich zum Unveränderlichen. 26. Die Einheit, das Eine und Unteilbare, der Ursprung und die Wurzel aller Dinge, ist in allen Dingen enthalten. Es gibt nichts ohne Ursprung. Der Ursprung jedoch, als Ausgangspunkt alles übrigen, findet seinen Ursprung nur in sich selbst. 27. Die Zahl Eins als Ursprung schließt alle anderen Zahlen in sich ein, ohne selbst von einer einzigen von ihnen umschlossen zu werden. Sie bringt alle Zahlen hervor, ohne selbst durch irgendeine andere Zahl hervorgebracht zu werden. 28. Alles, was hervorgebracht wird, ist unvollkommen und teilbar, kann vermehrt oder vermindert werden. Das Vollkommene jedoch ist nichts von diesem. 29. Da das, was sich vermehren kann, seine Vermehrung der Einheit entlehnt, geht es, sobald es der Einheit keinen Platz mehr bieten kann, an seiner eigenen Schwäche zugrunde. 30. So habe ich denn, o Tat, soweit es möglich ist, ein Bild Gottes als Beispiel gegeben. Wenn du dich innerlich sorgfältig darin vertiefst und es mit den Augen deines Herzens beharrlich betrachtest, wirst du, glaube es mir, mein Sohn, den Weg zum Himmel finden; oder noch richtiger: Das Bild Gottes selbst wird dich auf diesen Weg führen. Die

innerliche Ausrichtung auf dieses Bild hat zur Folge, daß sie jene, die mit einer solchen Hinwendung einmal begonnen haben, in ihrer Macht gefangenhält und sie zu sich nach oben zieht wie ein Magnet das Eisen.

Hermes an seinen Sohn Tat: Der unsichtbare Gott ist der am meisten geoffenbarte 1. Ich werde dir, o Tat, auch die Bedeutung des Folgenden ausführlich erklären, damit deine Augen geöffnet werden für die Mysterien Gottes, der über alle Namen erhaben ist. Erkenne in innerlicher Betrachtung, daß Er, der für die große Masse unsichtbar zu sein scheint, für dich am meisten geoffenbart werden wird. 2. Denn Er wäre nicht wirklich, wenn Er nicht unsichtbar wäre. Denn alles, was sichtbar ist, ist einmal geworden, ist einmal zur Offenbarung gekommen. 3. Das nicht Wahrnehmbare jedoch besteht in aller Ewigkeit, es hat keine Offenbarung: Es ist ewig und macht alle anderen Dinge offenbar. 4. Es macht alles offenbar, ohne selbst geoffenbart zu werden; es gebiert, ohne selbst geboren zu sein. Es zeigt sich in keiner einzigen wahrnehmbaren Form, sondern schenkt allen Dingen eine wahrnehmbare Form. 5. Nur das Geschaffene besitzt eine wahrnehmbare Erscheinung. Denn Geburt, Werden, ist nichts anderes als in das Sichtbare treten. 6. Der Eine ohne Geburt ist daher sowohl ohne wahrnehmbare Erscheinung als auch unsichtbar; aber da Er allen Dingen Form gibt, wird Er durch alles und in allem sichtbar, und das am meisten für die, denen Er sich offenbaren will. 7. Darum, mein Sohn Tat, bitte vor allem den Herrn, den Vater, den Einzigen, der nicht der Eine, sondern der Ursprung des Einen ist, es gnädig so zu fügen, daß du diesen Gott, der so unsagbar groß ist, schauen darfst, und läßt Er auch nur einen seiner Strahlen über deinem Bewußtsein leuchten.

8. Denn nur das Seelenbewußtsein sieht das Unsichtbare, weil es selbst unsichtbar ist. 9. Wenn du es kannst, o Tat, wird Er den Augen deiner Geistseele sichtbar werden, denn in freigebiger Fülle zeigt der Herr sich im ganzen Universum. 10. Bist du imstande, dein Seelenbewußtsein zu sehen und es mit Händen zu greifen und das Bild Gottes bewundernd zu betrachten? Wenn sogar das, was in dir ist, für dich unsichtbar ist, wie kann dann Gott selbst für deine stofflichen Augen in dir sichtbar werden? 11. Wenn du Ihn sehen willst, besinne dich dann auf die Sonne, auf den Umlauf des Mondes, auf den gesetzmäßigen Gang der Sterne. 12. Wer behütet ihre Ordnung? Denn jede Ordnung wird genau durch Zahl und Ort bestimmt. 13. Die Sonne, die größte der Götter des Firmamentes, vor der alle himmlischen Götter ehrfürchtig Platz machen wie vor ihrem König und Herrscher, diese unsagbar Große, größer als die Erde und das Meer, gestattet, daß kleinere Sterne sich über ihr bewegen. Aus Ehrerbietung oder aus Furcht, vor wem, mein Sohn? 14. Beschreibt nicht jeder dieser Sterne einen gleichartigen oder gleichen Weg im Firmament? Wer hat für jeden von ihnen die Art und Größe seiner Bahn bestimmt? 15. Sieh den Großen Bären, der sich um seine eigene Achse dreht und das ganze Firmament in seine Umdrehung einbezieht. Wer ist der Besitzer dieses Werkzeuges? Wer hat dem Meer seine Grenzen gesetzt? Wer hat der Erde ihr Fundament gegeben? 16. Es ist, o Tat, der Schöpfer und der Herr des Alls. Kein Ort, weder Zahl noch Maß als Ausdruck der kosmischen Ordnung wäre möglich ohne Ihn, der sie geschaffen hat. Jede Ordnung ist das Resultat einer schöpferischen Wirksamkeit. Nur das Ordnungslose und Maßlose beweist dessen Abwesenheit. 17. Aber sogar diese sind nicht ohne Herr, mein Sohn. Dennobwohl dem Ungeordneten das Wesen der Ordnung mangelt, so ist es trotzdem Ihm unterworfen, der ihm noch nicht seine Ordnung

gegeben hat. 18. O, möge es dir gegeben sein, dich mit Flügeln in die Luft zu erheben und dort, zwischen Himmel und Erde, den festen Körper der Erde zu erblicken und das ausgedehnte Wogen des Meeres, das Strömen der Flüsse, die freie Bewegung der Luft, die Heftigkeit des Feuers, den Lauf der Sterne, die Schnelligkeit des Firmaments und den um dieses alles kreisenden Gang des Universums. 19. Wie gnadenvoll, mein Sohn, ist diese Anschauung, wenn man alle diese Dinge innerlich wie einen Blitz wahrnimmt: wie das Unbewegliche in Bewegung gebracht wird und der Unsichtbare offenbar wird in den Werken und durch die Werke, die Er erschafft. So also ist die Ordnung der Schöpfung, und die Schöpfung ist der Lobgesang dieser Ordnung. 20. Wenn du Gott auch wahrnehmen willst in den sterblichen Wesen, die auf der Erde und in der Tiefe sind, überdenke dann, mein Sohn, wie der Mensch im Mutterschoß aufgebaut wird; überlege sorgfältig die Kunstfertigkeit dieses Werdens und lerne, wer der Bauherr dieses schönen und göttlichen Menschenbildnisses ist. 21. Wer hat die Kugelform der Augen modelliert? Wer hat die Öffnungen der Nasenlöcher und der Ohren gebohrt? Wer hat den Mund geöffnet? Wer hat das Netzwerk der Muskeln und Nerven gespannt und im Körper befestigt? Wer hat das Kanalsystem der Adern gelegt? Wer hat dem Skelett Festigkeit gegeben? Wer hat das Fleisch mit Haut überzogen? Wer hat die Finger getrennt? Wer hat die Sohlen der Füße verbreitert? Wer hat die Ausgangswege durch den Körper gegraben? Wer hat die Milz an ihren Platz gesetzt? Wer hat dem Herzen seine Pyramidenform gegeben? Wer hat die Leber erweitert? Wer hat die Lungenkammern porös gemacht? Wer hat der Bauchhöhle ihren Raum verliehen? Wer hat die am meisten geschätzten Teile ins Sichtbare verwiesen und die nicht geschätzten ins Verborgene? 22. Sieh, wieviel Kunstfertigkeit und wieviel verschiedene Arbeitsweisen für eine einzige Materie angewandt wur-den, wieviel

Kunstwerke in einem Werkstück zusammengebracht sind, alle maßlos schön, alle vollkommen in den Abmessungen, alle untereinander verschieden. 23. Wer hat alle diese Dinge erschaffen? Welche andere Mutter, welcher andere Vater als der unsichtbare Gott, der das alles nach seinem Willen erschaffen hat? 24. Niemand behauptet, daß ein Denkmal oder Gemälde ohne Bildhauer oder Maler entstehen kann. Sollte dann diese Schöpfung ohne Schöpfer ins Dasein gerufen sein? O höchste Verblendung, o absolute Gottverlassenheit, o Tiefpunkt der Verschlossenheit. 25. Mache auch, o Tat, mein Sohn, dem Schöpfer die Werke seiner Hände niemals streitig. Besser und stärker noch als aus dem Namen Gott spricht seine Größe aus der Bezeichnung: Vater aller Dinge. Allein Ihm gebührt es, Vater zu sein; ja, dieses ist in Wahrheit seine offenbarende Tat. 26. Und wenn du mich nötigst, etwas noch Kühneres zu sagen: Sein Wesen ist es, alle Dinge zu befruchten und hervorzubringen. So wie ohne Schöpfer nichts ins Dasein kommen kann, so wäre der Schöpfer nicht der Ewige, wenn Er nicht ewiglich schüfe: im Himmel, in der Luft, auf der Erde, in der Tiefe, in allen Teilen des Universums, im ganzen All, in allem, was ist und in allem, was nicht ist. 27. Denn es gibt nichts im ganzen All, das Er nicht ist. Er ist sowohl das, was ist, als auch das, was nicht ist. Alles, was ist, hat Er geoffenbart und alles, was nicht ist, hält Er in sich beschlossen. 28. Er, Gott, ist über alle Namen erhaben; Er, der Unsichtbare, der doch am meisten geoffenbart ist; Er, der von der Geistseele erblickt wird, aber auch für die Augen wahrnehmbar ist; Er, der Unkörperliche, der viele, ja alle Körper hat. Es gibt nichts, was Er nicht ist: Denn alles, was ist, ist Er. Darum auch hat Er alle Namen, weil sie aus dem einen Vater sind. Darum auch hat Er überhaupt keinen Namen, weil Er der Vater des Alls ist. 29. Wer könnte Dich zu hoch oder Deiner Würde entsprechend loben? Wohin soll mein Auge sich richten für Dein Lob? Nach oben, nach

unten, nach innen oder nach außen? Es gibt keinen Weg, keinen Ort, kein einziges Geschöpf außerhalb von Dir; alles ist in Dir, alles ist aus Dir. Du gibst alles, und Du nimmst nichts, denn Du besitzest alles, und es gibt nichts, was Dir nicht gehört. 30. Wann soll ich Dein Lob singen? Denn es ist unmöglich, Deine Stunde und Deine Zeit zu erfassen. 31. Und warum sollte ich Dein Lob singen? Für das, was Du geschaffen oder für das, was Du nicht geschaffen hast? Für das, was Du offenbart hast, oder für das, was Du verborgen gehalten hast? 32. Und womit soll ich Dein Lob singen? Als ob irgend etwas mir gehörte! Als ob ich etwas Eigenes besäße! Als ob ich etwas anderes wäre als Du! 33. Denn Du bist alles, was ich nur sein kann. Du bist alles, was ich nur tun kann. Du bist alles, was ich nur sagen kann. Du bist alles, es ist nichts außer Dir. 34. Sogar das, was nicht besteht, bist Du. Du bist alles, was geworden ist und alles, was nicht geworden ist. Du bist Geist, wenn Du von der Geistseele erblickt wirst; Vater, wenn Du dem Weltall Gestalt gibst; Gott, wenn Du Dich als aktive, universelle Kraft offenbarst; der Gute, weil Du alle Dinge erschaffen hast. 35. Das Feinste der Materie ist Luft. Das Feinste der Luft ist die Seele. Das Feinste der Seele ist der Geist. Das Feinste des Geistes ist Gott.

Nichts von dem, was wirklich besteht, geht verloren, aber die Veränderungen nennt man irrtümlich Vernichtung und Tod 1. HERMES: Laß uns nun, mein Sohn, hinsichtlich der Seele und des Körpers besprechen, auf welche Weise die Seele unsterblich ist und von welcher Art die Kraft des Zusammenhangs und der Entbindung des Körpers. 2. Der Tod hat mit diesen Dingen nichts zu tun. Tod, Sterblichkeit sind nur Begriffe, vom Wort Unsterblichkeit abgeleitet, sei es als Erdichtung, sei es dadurch, daß man die erste Silbe wegfallen ließ und nun von Sterblichkeit spricht.

3. Tod ist Vernichtung; aber nichts von allem, was in der Welt ist, wird vernichtet. Denn die Welt ist der zweite Gott und ein unsterbliches Wesen, daher ist es ausgeschlossen, daß ein einziges Teil dieses unsterblichen Wesens vergehen könnte; alles in der Welt ist ein Teil der Welt, vor allem der Mensch, das mit Verstand begabte Wesen. 4. Vor und über allem ist Gott: der Ewige, der Unerschaffene, der Schöpfer aller Dinge. Das Zweite, die Welt, wurde von Ihm nach seinem Ebenbild erschaffen, wird von Ihm erhalten und genährt und ist mit Unsterblichkeit begabt, da sie, von einem ewigen Vater gezeugt, als unsterbliches Wesen Ewigkeitsleben besitzt. 5. Ewigkeitsleben muß gut unterschieden werden von dem, was ewig ist. Denn der Ewige ist nicht aus irgendeinem anderen Wesen hervorgegangen. Und sollte Er geworden sein, so wäre Er es durch sich selbst. Jedoch Er ist niemals geworden, sondern erzeugt sich selbst in ewigem Werden. So lebt das All ewig aus dem Ewigen, aber der Vater ist ewig aus sich selbst: die Welt lebt also ewig und ist göttlich durch den Vater. 6. Aus aller Materie, die Er dazu bestimmt hatte, formte der Vater den Körper der Welt; Er gab ihm eine kugelförmige Gestalt, bestimmte die Eigenschaften, die ihn schmücken sollten und schenkte ihm, da die Materie göttlich war, ewige Stofflichkeit. 7. Nachdem der Vater die Eigenschaften der Arten in die Kugel eingestrahlt hatte, verschloß Er sie darin wie in einer Grotte, da Er seine Schöpfung mit allen Eigenschaften schmücken wollte. 8. Er umgab den gesamten Körper der Welt mit Unsterblichkeit, damit die Materie nicht zu dem ihr eigenen Chaos zurückkehren könnte, falls sie sich von der verbindenden Kraft des Körpers lösen sollte. 9. Als die Materie noch nicht zu einem Körper geformt war, mein Sohn, war sie ungeordnet. Sie beweist das sogar hier noch durch das Vermögen zu- und abzunehmen, welches die Menschen den Tod nennen. 10. Dieses Ungeordnete, diese Rückkehr zum Chaos, zeigt sich nur

bei irdischen Geschöpfen. Die Körper der himmlischen Wesen behalten die Ordnung, die ihnen vom Anbeginn vom Vater geschenkt wurde. Diese Ordnung wird unzerstörbar bewahrt durch die Rückkehr aller in den Zustand der Vollkommenheit. 11. Die Rückkehr der irdischen Körper zu ihrem früheren Zustand besteht in der Auflösung der verbindenden Kraft, die zu den auflösbaren Körpern, das heißt zu den unsterblichen Körpern zurückkehrt. So vergeht zwar das Bewußtsein der Sinne, aber der Körper wird nicht vernichtet. 12. Das dritte lebende Wesen ist der Mensch, der nach dem Bild der Welt erschaffen wurde und nach dem Willen des Vaters im Gegensatz zu den anderen irdischen Tieren den Verstand besitzt. Er ist nicht nur innig mit dem zweiten Gott verbunden, sondern er nähert sich in innerlicher Betrachtung auch dem Wesen des ersten Gottes. Den zweiten Gott nimmt er mit den Sinnesorganen körperlich wahr, während seine Einsicht ihn den ersten Gott als unkörperlich, als Geist, als das Gute erkennen läßt. 13. TAT: Wird dieses lebende Wesen also nicht vernichtet? 14. HERMES: Sprich frohe, jauchzende Worte, mein Sohn, und begreife, was Gott ist, was die Welt ist, was ein unsterbliches Wesen ist und was ein Wesen ist, das der Auflösung unterworfen ist. Erkenne, daß die Welt aus Gott geboren, in Gott ist; daß der Mensch aus der Welt geboren, in der Welt ist; und daß Gott, der Ursprung des Alls, alles in sich beschlossen hält und bewahrt. Das Gute ist allein in Gott und sonst nirgends

1. Das Gute, Asklepios, ist ausschließlich in Gott, oder richtiger: Gott ist das Gute in aller Ewigkeit. Daher ist das Gute notwendig Grund und Wesen aller Bewegung und allen Werdens: es gibt nichts ohne das Gute! Das Gute ist, von einer statischen Offenbarungskraft umgeben, in vollkommenem Gleichgewicht: es ist die ganze Fülle, der Quell des Alls, der Ursprung aller Dinge. Wenn ich das, was alles erfüllt, gut nenne, meine ich das Gute, welches absolut und ewig ist.

2. Es ist ausschließlich eine Eigenschaft Gottes, da es nichts gibt, das Ihm mangelt, so daß Er durch keine Begierde nach Besitz schlecht werden könnte. Es gibt nichts, das Er verlieren und dessen Verlust Ihn schmerzen könnte, denn Leid und Schmerz sind Teil des Bösen. Es gibt nichts, das stärker ist als Er und gegen Ihn kämpfen könnte, und es entspricht ebensowenig seinem Wesen, daß Ihm Schmach angetan werden könnte. Nichts übertrifft Ihn an Schönheit, was seine Sinne in Liebe entflammen könnte. Nichts kann Ihm den Gehorsam verweigern, so daß Er in Zorn entbrennen würde. Es gibt nichts, das weiser wäre als Er und seine Eifersucht erwecken könnte. 3. Da also keine dieser Gemütsbewegungen in dem Allwesen gefunden wird, gibt es in Ihm nichts als das Gute. Und ebenso wie keine der anderen Eigenschaften in einem solchen Wesen sein kann, ebenso ist das Gute in keinem anderen zu finden. 4. Alle übrigen Eigenschaften kommen in allen Wesen vor, sowohl in den kleinen als auch in den großen, in jedem von ihnen auf ihre eigene Art; sogar in der Welt, dem größten und mächtigsten des geoffenbarten Lebens. Denn alles Geschaffene ist erfüllt von Leiden** Pathos: Leiden, Schmerz, auch das Leiden der Seele und Leidenschaft; alle Gemütsbewegungen sind in diesem Begriff enthalten., da die Hervorbringung selbst Leiden ist. Wo Leiden ist, ist das Gute bestimmt nicht. Wo das Gute ist, gibt es bestimmt kein Leiden. Wo Tag ist, ist keine Nacht, und wo Nacht ist, ist kein Tag. Darum kann das Gute nicht im Erschaffenen wohnen, sondern nur im Unerschaffenen. Da aber die Materie aller Dinge am Unerschaffenen teilhat, hat sie auch teil am Guten. In diesem Sinn ist die Welt gut; weil auch sie alle Dinge hervorbringt, ist sie in gewissem Sinne gut. Aber in allen anderen Hinsichten ist sie nicht gut. Auch sie ist Leiden unterworfen, veränderlich und die Mutter von Geschöpfen, die dem Leiden unterworfen sind. 5. Die Menschen stellen Gütenormen auf durch Vergleich mit dem Bösen. Das nicht allzu große Böse gilt hier als gut, und was hier gut beurteilt wird, ist der kleinste Teil des Bösen. Das Gute kann also

unmöglich frei sein vom Schmutz des Bösen. Das Gute wird hier vom Bösen ergriffen und hört damit auf, gut zu sein. So verdirbt das Gute und wird böse. Folglich ist das Gute allein in Gott, ja, Gott ist das Gute. 6. Bei den Menschen, Asklepios, findet man das Gute lediglich dem Namen nach, aber nirgends als Wirklichkeit. Das ist auch unmöglich, da das Gute keinen Platz in einem materiellen Körper finden kann, der fast erstickt an Plagen und mühevollen Anstrengungen, Schmerzen und Begierden, Trieben und Täuschungen und Vorstellungen der Sinne. 7. Das Schlimmste aber ist, Asklepios, daß all das, wozu die Dinge, die ich nannte, die Menschen treiben, hier als das höchste Gute angesehen wird und nicht als außergewöhnlich böse. Der Begierdentrieb des Bauches, der Anstifter zu allen Bosheiten, ist der Irrtum, der uns hier vom Guten fernhält. 8. Darum danke ich Gott für das, was Er meinem Bewußtsein offenbart hat an Kenntnis über das Gute, das in der Welt nicht zu finden ist. Die Welt ist erfüllt von einer Fülle des Bösen, so wie Gott erfüllt ist von einer Fülle des Guten oder das Gute mit der Fülle Gottes. 9. Aus dem göttlichen Wesen strahlt die Schönheit, die in dem Wesen Gottes fürwahr in höchster Reinheit und Makellosigkeit wohnt. Wir wollen es auszusprechen wagen, Asklepios: das Wesen Gottes, soweit man davon sprechen darf, ist das Schöne und das Gute. 10. Das Schöne und das Gute sind nicht zu finden in jenen, die in der Welt sind. Alle Dinge, die für das Auge wahrnehmbar sind, sind Schein und gleichen Schattenbildern. Aber alles, was über die Sinnesorgane hinausgeht, nähert sich dem Wesen des Schönen und des Guten. Und ebensowenig wie das Auge Gott anzuschauen vermag, kann es das Schöne und Gute anschauen. Beide sind in Vollkommenheit Teile Gottes, Ihm und Ihm allein eigen, untrennbar von seinem Wesen und Ausdruck der höchsten Liebe Gottes und zu Gott.

11. Wenn du Gott erkennen kannst, wirst du auch das Schöne und das Gute in ihrer höchsten Strahlungsherrlichkeit erkennen, ganz aus Gott erleuchtet. Die Schönheit ist unvergleichlich, die Güte unnachahmlich, ebenso wie Gott selbst. In dem Maß, wie du Gott erkennst, erkennst du auch das Schöne und das Gute. Sie können anderen Wesen nicht übertragen werden, weil sie von Gott untrennbar sind. 12. Wenn du Gott suchst, suchst du auch das Schöne, da es nur einen Weg gibt, der von hier zum Schönen führt: ein Gott dienendes Tatleben an der Hand der Gnosis. 13. Daher können jene, die ohne Gnosis sind und nicht auf dem Pfad der Gottesfurcht wandeln, es wagen, den Menschen schön und gut zu nennen, ihn, der nicht einmal in seinen Träumen gesehen hat, was das Gute ist, von vielen Formen des Bösen ergriffen ist, das Böse als Gutes betrachtet und so das Böse zu sich nimmt, ohne jemals davon gesättigt zu werden. Er fürchtet, seiner beraubt zu werden, und kämpft mit aller Macht dafür, um es nicht nur festzuhalten, sondern es sogar zu vermehren. 14. So, Asklepios, ist es mit der menschlichen Güte und der menschlichen Schönheit bestellt. Und wir können ihnen weder entfliehen noch sie hassen: denn das Schwierigste ist, daß wir sie nötig haben und ohne sie nicht leben können. Über den Verstand und die Sinnesorgane

1. Gestern, Asklepios, habe ich «das Wort des Erwachsenseins» gelehrt. Und nun halte ich es im Zusammenhang damit für notwendig, ausführlich über die Sinneswahrnehmung zu sprechen. Man meint, daß zwischen der Sinneswahrnehmung und der Verstandestätigkeit ein Unterschied besteht in dem Sinn, daß die eine stofflich und die andere geistig ist.

2. Ich meine jedoch, daß beide sehr eng miteinander verbunden und keinesfalls unterschiedlich sind, jedenfalls im Menschen. So wie bei den übrigen Tieren die Sinneswahrnehmung ganz an die Natur

gebunden ist, so ist es beim Menschen auch mit dem Verstand. 3. Das Denkvermögen verhält sich zur Verstandestätigkeit ebenso, wie Gott sich zur göttlichen Natur verhält. Denn die göttliche Natur wird von Gott hervorgebracht und die Verstandestätigkeit vom Denkvermögen, das dem Wort verwandt ist. 4. Oder noch besser: die Verstandestätigkeit und das Wort sind sich gegenseitig ein Werkzeug; denn das Wort wird nicht ausgesprochen ohne eine Verstandeswirksamkeit, und die Verstandeswirksamkeit wird ohne das Wort nicht offenbar. 5. Die Sinneswahrnehmung und die Verstandestätigkeit treten also zusammen, gleichsam miteinander verflochten, in den Menschen ein. Es gibt nämlich keine Verstandestätigkeit ohne Sinneswahrnehmung und keine Sinnes-wahrnehmung ohne Verstandestätigkeit. 6. Es ist zwar möglich, sich eine Verstandestätigkeit ohne unmittelbare Sinneswahrnehmung vorzustellen, ebenso wie die Bilder, die sich in Träumen zeigen. 7. Aber ich meine, daß beide Tätigkeiten durch das Erscheinen der Traumbilder geweckt werden. 8. Die Wahrnehmung geschieht sowohl im Stoffkörper als auch im astralen Körper. Sobald beide Teile der Wahrnehmung vereint sind, wird der Gedanke, im Verstand aufgerufen, durch das Bewußtsein ausgedrückt. 9. Der Verstand erzeugt alle Gedankenbilder: gute Bilder, wenn er die Saat von Gott empfangen hat; unheilige Bilder, wenn sie von einem der Dämonen stammt. Es ist nämlich kein Ort der Welt frei von Dämonen, das heißt von Dämonen, denen das Licht Gottes fehlt. Sie dringen in den Menschen ein und säen die Keime ihrer eigenen Wirksamkeit in ihn. Der Verstand wird dann mit dem Gesäten befruchtet: mit Ehebruch, Mord, Unhöflichkeit den Eltern gegenüber, entweihenden Taten, gottlosen Handlungen, Selbstmord durch Erhängen oder dem Herabstürzen von Felsen und vielen anderen Dingen, die Werk der Dämonen sind. 10. Was die Saaten Gottes betrifft, ist ihre Zahl gering, aber sie sind

groß und schön und gut. Man nennt sie Tugend, Mäßigkeit und Gottseligkeit. Gottseligkeit ist die Gnosis, die Kenntnis, die aus und bei Gott ist. Wer diese Kenntnis besitzt, ist erfüllt von allem Guten und empfängt seine Gedanken von Gott, welche völlig anders sind als die der Masse. 11. Daher gefallen jene, die in der Gnosis wandeln, der Masse nicht, und andererseits gefällt die Masse ihnen nicht. Sie werden als töricht betrachtet, sie sind Gegenstand des Gelächters und des Spottes, sie werden gehaßt, verachtet und manchmal sogar ermordet, da, wie ich sagte, das Böse wohl hier wohnen muß, weil es von hier stammt. Seine Domäne ist denn auch die Erde und nicht die Welt, wie einige gotteslästerlich behaupten. 12. Wer jedoch in Ehrerbietung und Liebe zu Gott lebt, wird alles ertragen, weil er an der Gnosis teilhat. Alles wendet sich für einen solchen Menschen zum Guten, sogar das, was für andere das Böse ist. Und auch wenn man ihm auflauert, trägt er alles als ein Opfer zur Gnosis und wendet allein dadurch alles Böse zum Guten. 13. Ich kehre nun zu meiner Besprechung über die Wahrnehmung zurück. Es ist also dem Menschen eigen, die Wahrnehmung und die Verstandestätigkeit zusammenfließen zu lassen. Wie ich bereits früher sagte, verfügt jedoch nicht jeder Mensch über den Verstand; denn es gibt zwei Arten Menschen, den stofflichen Menschen und den geistigen Menschen. Der mit dem Bösen verbundene stoffliche Mensch empfängt, wie ich sagte, den Keim seiner Gedanken von den Dämonen; der geistige Mensch ist mit dem Guten verbunden und wird von Gott in seinem Heil bewahrt. 14. Gott, der Ober-Baumeister des Alls, erschuf alle seine Geschöpfe nach seinem Ebenbild. Aber diese, ihrem Urgrund nach guten Geschöpfe wichen im Gebrauch ihrer aktiven Kraft ab. Daher kommt es, daß der Tribut der Erde, alles zermalmend, die Geschlechter in unterschiedlicher Beschaffenheit hervorbringt, einige mit dem Bösen beschmutzt, andere durch das Gute gereinigt. Denn, Asklepios, auch die Welt hat ihr Wahrnehmungsvermögen und ihre

Verstandeswirksamkeit, zwar nicht in der Art der Menschen, auch nicht so vielseitig, dafür aber vorzüglicher, einfacher, wahrhaftiger. 15. Die Wahrnehmung und das Denkvermögen der Welt, als Werkzeuge durch den Willen Gottes dazu erschaffen, geben allen Dingen Form und lassen sie wieder in sich selbst vergehen, damit sie, während sie alle Saaten, die sie von Gott empfangen haben, in sich selbst bewahren, alle Dinge übereinstimmend mit ihrer Aufgabe und Berufung hervorbringen und dadurch, daß sie sie wieder entbinden, allen Erneuerung schenken. Darum verschaffen sie ihnen, nachdem sie sie entbunden haben, als kundige Gärtner des Lebens Erneuerung, indem sie diese sich auf andere Art offenbaren lassen. 16. Es gibt nichts, was nicht von der Welt das Leben empfangen hat. Während sie alles ins Dasein ruft, erfüllt sie alles mit Leben. Sie ist sowohl der Wohnort als auch der Schöpfer des Lebens. 17. Die Körper sind aus Materie völlig unterschiedlicher Art aufgebaut, zum Teil aus Erde, zum Teil aus Wasser, zum Teil aus Luft, zum Teil aus Feuer. Alle sind zusammengesetzt, die einen mehr, die anderen weniger. Die mehr zusammengesetzten sind schwerer, die weniger zusammengesetzten leichter. 18. Die Geschwindigkeit der Formoffenbarung hier verursacht die bunte Mannigfaltigkeit der Arten: denn der ununterbrochen wirksame Atem der Welt schenkt den Körpern fortwährend neue Eigenschaften sowie die Fülle des Lebens. 19. Also ist Gott der Vater der Welt, und die Welt ist der Schöpfer alles dessen, was in ihr ist; die Welt ist der Sohn Gottes, und alles, was in der Welt ist, ist durch die Welt geworden. 20. Zu Recht wird die Welt deshalb auch «Kosmos»** Das heißt: Ordnung, Zierde, Schmuck. genannt, denn sie ordnet und schmückt das All durch die Unterschiedlichkeit des Geschaffenen, durch die Stetigkeit des Lebens, durch die Unermüdlichkeit der Offenbarungskraft, durch die Geschwindigkeit des Fatums, durch die Zusammensetzung der Elemente und die Ordnung alles dessen, was ins Dasein gelangt. Die Welt wird also sowohl aufgrund ihrer

fundamentalen Gesetze als auch wegen ihrer Fügung «Kosmos» genannt. 21. So kommen die Wahrnehmung und der Verstand von außen in alle lebenden Wesen, wie der Atem von etwas, das sie umgibt. Die Welt aber hat sie einst bei ihrer Entstehung für immer von Gott empfangen. 22. Gott entbehrt nicht, wie einige meinen, der Wahrnehmung und des Verstandes. Wer so spricht, tut Gott aus falsch verstandener Ehrerbietung Schmach an. Denn alle Geschöpfe sind in Gott, Asklepios. Sie sind durch Gott geworden und von Ihm abhängig, ob sie sich nun durch Stoffkörper offenbaren oder als Seelenwesen erheben; ob sie durch den Geist lebendig wurden oder gar in das Totenreich aufgenommen sind, alle sind in Gott. 23. Richtiger noch ist es zu sagen, daß Er alle Geschöpfe nicht in sich hat, sondern in Wahrheit sie alle selbst ist. Er fügt sie nicht von außen sich selbst hinzu, sondern erzeugt sie aus seinem eigenen Wesen und offenbart sie aus sich selbst. 24. Das nun ist die Wahrnehmung und die Denkwirksamkeit Gottes: die fortwährende Bewegung des Alls. Und niemals wird es eine Zeit geben, in der auch nur etwas von dem, was besteht -- das heißt irgendein Teil Gottes -- verlorengeht. Gott hält alles in sich beschlossen, nichts gibt es außerhalb von Ihm, und Er ist in allem. 25. Wenn du diese Dinge umfassen kannst, Asklepios, wirst du sie auch als wahr erkennen. Solltest du sie aber nicht verstehen, dann werden sie dir unglaubwürdig vorkommen. Wahrlich verstehen heißt: lebendigen Glauben besitzen, während mangelnder Glaube auch mangelnde Einsicht bedeutet. Jedoch nicht der Verstand führt zur Wahrheit, sondern die mit dem Geist verbundene Seele hat die Macht, nachdem sie zuerst durch den Verstand auf diesen Weg geführt wurde, zur Wahrheit vorauszueilen. Wenn sie dann das gesamte All in einem allumfassenden Erkennen überdenkt und entdeckt, wie alles mit dem übereinstimmt, was der einsichtige Verstand bereits erklärte, ist ihr Glaube zum Wissen erhoben, und sie

findet in diesem schönen Glaubenswissen ihre Ruhe. 26. Wer die von mir verkündeten Worte, die aus Gott sind, innerlich erfaßt, dem werden sie zum Glauben. Für jene, denen es an lebendiger Einsicht mangelt, wirken sie zum Unglauben. Das war es, was ich über den Verstand und die Sinnesorgane sagen wollte.

Der Schlüssel des Hermes Trismegistos* Der Leser sollte bedenken, daß das zwölfte Buch vielleicht das am meisten entstellte aller hermetischen Schriften ist.

1. Hermes: Meine gestrigen Betrachtungen habe ich dir erklärt, Asklepios; und so ist es nur billig, die heutigen dem Tat zu widmen, weil sie eine Zusammenfassung der allgemeinen Erklärungen sind, die ich ihm gegeben habe. 2. Gott, der Vater und das Gute, besitzen die gleiche Natur, oder besser gesagt: dieselbe wirksame Kraft. 3. Das Wort «Natur» umfaßt alles, was nach dem Willen Gottes ins Dasein kommt und wächst, sowohl die beweglichen und veränderlichen Dinge als auch die unbeweglichen und unveränderlichen, sowohl die göttlichen als auch die menschlichen. 4. Die wirksame Kraft ist jedoch in den göttlichen und menschlichen Dingen verschieden, wie wir das bereits aufgezeigt haben. Das mußt du gut im Auge behalten. 5. Gottes wirksame Kraft ist sein Wille, und sein Wesen ist das Verlangen, alle Dinge ins Dasein zu rufen. Was ist Gott, der Vater, das Gute, anderes als der Daseinsgrund aller Dinge, sogar derer, die bisher noch nicht bestehen? Wahrlich ist Gott, der Vater, das Gute, der Daseinsgrund des Alls, und kein anderer Name ist für Ihn denkbar. Obwohl auch die Welt und die Sonne Mit-Erwecker lebender Wesen sind, so sind sie für jene doch nicht im gleichen Maß wie Gott die Ursache des Guten und des Lebens. Und soweit sie auch deren Ursache sind, sind sie es ausschließlich durch die unvermeidliche Wirkung des Willens des Guten, ohne welchen nichts bestehen oder ins Dasein gerufen werden kann. 6. Der Vater ist die Ursache seiner Kinder, ihres Entstehens, Wachstums und ihrer Entwicklung; von der Sonne empfangen sie das Begehren zum Guten; denn das Gute ist der All-Gestalter. Das kann von niemand gesagt werden als von Ihm, der niemals etwas

empfängt, sondern wünscht, daß alles bestehe. 7. Ich sage nicht, o Tat, der `'alles macht»; denn wer etwas macht, versagt zuweilen durch Wechselfälle in der Qualität oder Mannigfaltigkeit oder dadurch, daß er einmal dieses und einmal das Gegenteil macht. Gott, der Vater, das Gute, jedoch ist selbst das Bestehen des Alls. 8. Für den, der «sehen» kann, Tat, ist es so: Gott will das Bestehen, und Er ist das Bestehen. Und alles, was ist, besteht nur aus dem einen Grund, daß das Gute sich übereinstimmend mit seiner Wesensart offenbare. 9. Tat: Du hast uns, o Vater, mit dieser herrlichen, schönen Vision ganz erfüllt, so daß das Auge meines Gemütes durch diese Hinwendung der Heiligung nähergekommen ist. 10. Hermes: Gewiß, denn eine solche innerliche Vision des Guten ist nicht wie die feurige Strahlung der Sonne, deren Licht die Augen blendet und uns zwingt, sie zu schließen. Innerliche Betrachtung wirkt erleuchtend und das um so mehr, je mehr man für die Einströmung der Einsicht schenkenden Strahlung empfänglich ist. Sie wirkt mit großer Kraft tief in uns, verursacht niemals Schaden und ist ganz von Göttlichkeit erfüllt. 11. Wer vollkommen aus einer solchen innerlichen Vision schöpfen kann, geht oft in völliger Ruhe des Körpers in der schönsten Betrachtung auf, ebenso wie unsere Vorfahren Uranus und Kronos. 12. Tat: Möge es auch mit uns so werden, Vater! 13. Hermes: Das gebe Gott, mein Sohn! Aber vorläufig sind wir noch nicht zu einer solchen Betrachtung fähig. Wir sind noch nicht imstande, die Augen unseres Gemütes zu öffnen und in der Anschauung der unvergänglichen und vorstellbaren Schönheit der Gnosis aufzugehen. Du wirst sie erst sehen, wenn du verlernt hast, über sie zu sprechen; denn die Gnosis des Guten ist sowohl göttliche Stille als auch das Stillwerden aller Sinne. 14. Wer sie einmal gefunden hat, der kann für nichts anderes mehr Aufmerksamkeit haben. Wer sie einmal erkannt hat, hat für nichts

anderes mehr Augen, kann auf nichts anderes mehr hören, und sogar sein Körper nimmt teil an dieser Unbewegtheit. Während alle körperlichen Wahrnehmungen und Anreize aus seinem Bewußtsein verschwunden sind, bleibt er in der Ruhe. 15. Wenn die Gnosis das ganze Bewußtsein erleuchtet, läßt sie die Seele wieder aufflammen und erhebt sie, indem sie sie vom Körper löst. So transformiert sie den gesamten Menschen zu seiner wesentlichen Art, da die Vergöttlichung der Seele, die das Betrachten der Schönheit des Guten begleitet, nicht im sterblichen Körper vollzogen werden kann. 16. Tat: Was meinst Du mit Vergöttlichung, Vater? 17. Hermes: Jede abgetrennte Seele unterliegt Veränderungen, mein Sohn. 18. Tat: Und was bedeutet `'abgetrennt»? 19. Hermes: Hast du nicht in meinen allgemeinen Erklärungen vernommen, daß alle Seelen, die in der ganzen Welt umherwirbeln, wie ausgesät an den ihnen zugewiesenen Orten, von der einen Seele, der All-Seele ausgegangen sind? Diese Seelen unterliegen vielen Veränderungen, einige im gnadenvollen Aufgang, andere in dessen Gegenteil. 20. Die Kriechenden verwandeln sich in Wasserbewohner, die Wasserbewohner in Erdbewohner, die Erdbewohner in Wesen der Luft, die Luftbewohner in Menschen. Und die Menschen gehen schließlich in die Unsterblichkeit ein, indem sie sich in Dämonen verwandeln und in den Chor der Götter aufsteigen. 21. Es gibt zwei Götter-Chöre: den Chor der beweglichen oder veränderlichen Götter und den der unbeweglichen oder unveränderlichen Götter. 22. Der zuletzt genannte Zustand ist die vollkommene und höchste Herrlichkeit der Seele. 23. Wenn die Seele jedoch beim Eintritt in den menschlichen Körper in der Sünde verharrt, dann wird sie weder die Unsterblichkeit erfahren noch des Guten teilhaftig werden. Sie eilt zurück auf ihrem

Weg, zurück bis zum Zustand des kriechenden Getiers. Das ist die Strafe der sündigen Seele. 24. Die Bosheit der Seele ist ihre Unwissenheit, ihr Mangel an Gnosis, an Kenntnis, die aus Gott ist. Wenn die Seele unwissend ist über die wesentlichen Dinge und ihre Art und über das Gute und völlig blind dafür ist, wird sie sich verlaufen und heftig von körperlichen Leiden angegriffen werden. 25. Die von der Bosheit ergriffene Seele wird durch den Mangel an Kenntnis über ihr eigenes Wesen fremden und dem Menschen unwürdigen Körpern unterworfen. Wie eine Last schleppt sie den Körper, den sie nicht beherrscht, von dem sie jedoch beherrscht wird. So ist die Bosheit der Seele. 26. Die Tugend der Seele dagegen ist die Gnosis, die lebendige Gottes-Kenntnis. Wer diese Kenntnis besitzt, ist gut, Gott geweiht und bereits göttlich. 27. Tat: Was für ein Mensch ist das, Vater? 28. Hermes: Das ist ein Mensch, der wenig spricht und wenigem sein Ohr leiht. 29. Wer seine Zeit damit zubringt, Dispute zu halten oder anzuhören, kämpft gegen Schatten. Denn Gott, der Vater, das Gute, läßt sich weder aussprechen noch durch das Gehör vernehmen. 30. Obwohl alle Wesen Sinne haben, weil sie ohne Sinne nicht leben können, ist die lebendige Gottes-Erkenntnis von der Wahrnehmung sehr verschieden. Sinneswahrnehmung entsteht durch Einflüsse und Eindrücke, die Macht über uns erhalten. Die Gnosis jedoch ist die Vollendung aller Erkenntnis, der Erkenntnis, die eine Gabe Gottes ist. 31. Die Gnosis ist unkörperlich. Das Werkzeug, dessen sie sich bedient, ist das Gemüt, das seinerseits den Körper als Werkzeug benutzt. So finden sowohl die Wirkungen des Gemütes als auch die der Materie im Körper statt, da aus Gegensatz und Widerspruch alles ins Dasein kommen muß. Das ist auf keine andere Art möglich. 32. Tat: Wer ist denn dieser stoffliche Gott? 33. Hermes: Die Welt, die schön und zweckmäßig ist, aber nicht gut,

da sie stofflich und sehr empfänglich für Leiden ist. Sie ist das erste von allem, das Leiden unterworfen ist, und das zweite aller Wesen, denn sie besteht nicht aus sich selbst. Ihr Entstehen nahm einst seinen Anfang; jedoch ist sie ewig, weil ihr Wesen ewiges Werden ist. Und der Grund ihres ewigen Werdens ist die Schöpfung der Eigenschaften und Mengen, da alle Bewegung der Materie Entstehen, Geburt ist. 34. Aus der göttlichen Unbeweglichkeit entsteht die Bewegung der Materie, und zwar wie folgt: Die Welt ist kugelförmig wie ein Haupt. Es gibt nichts Materielles, das dieses Haupt überragt, ebenso wie es nichts Geistiges unter den Füßen gibt, sondern nur Materie. Der Geist ist jedoch auch kugelförmig, ebenso wie das Haupt, das auf die Art einer Kugel bewegt wird. Alles, was nun im Haupt die Schicht berührt, in der die Seele ihren Platz hat, ist unsterblich, weil der Körper gleichsam innerhalb der Seele erschaffen ist und die Seele mehr ist als der Körper. Alles jedoch, was von dieser Schicht etwas entfernt ist, ist sterblich, da es mehr vom Körper als aus der Seele ist. So ist denn alles, was lebt, ebenso wie das Universum, aus Materie und Geist zusammengesetzt. 35. Die Welt ist die erste Schöpfung; der Mensch ist, nach der Welt, das zweite lebende Wesen, aber er ist der Erste unter den Sterblichen. Wie die übrigen lebenden Wesen besitzt er das beseelende Element. Er ist nicht nur nicht mehr gut, sondern sogar böse wegen seines sterblichen Zustandes. 36. Die Welt ist nicht gut, weil sie sich bewegt, aber sie ist nicht im Bösen, weil sie unsterblich ist. 37. Der Mensch jedoch ist zweifach im Bösen, weil er sowohl beweglich als auch sterblich ist. 38. Die Seele des Menschen offenbart sich auf folgende Weise: das Bewußtsein im Verstand, der Verstand in der Begierdenkraft, die Begierdenkraft im Lebensfluidum, das Lebensfluidum verbreitet sich durch die Schlagadern, die Adern und das Blut, bringt das tierische Geschöpf in Bewegung und trägt es gleichsam.

39. Darum meinen einige, daß das Blut die Seele ist. So verkennen sie aber die Natur der beiden. Sie wissen nämlich nicht, daß das Lebensfluidum sich zuerst in den Begierdenkörper zurückzieht, wodurch dann das Blut erstarrt. Wenn die Schlagadern und Adern sich daraufhin entleert haben, muß das Geschöpf sterben. So vollzieht sich der Tod des Körpers. 40. Alles stützt sich auf ein Prinzip, das selbst wieder aus dem Einen und Einzigen ist. 41. Dieses Prinzip wird bewegt, damit es seinerseits wieder Beweggrund des Alls sein kann. Das Eine jedoch ist unveränderlich und unbeweglich. 42. So gibt es also diese drei: Gott, den Vater, das Gute, die Welt und den Menschen. Gott hält die Welt umschlossen und die Welt den Menschen. Die Welt ist der Sohn Gottes, der Mensch ist der Sohn der Welt, gleichsam der Enkel Gottes. 43. Es ist nicht so, daß Gott den Menschen nicht kennt, im Gegenteil, Er kennt ihn vollkommen und will von ihm gekannt sein. 44. Das allein ist befreiend, rettend, heilsam für den Menschen: die Gnosis, die Gottes-Erkenntnis. Sie ist der Pfad, der zum Olymp hinaufführt. Durch sie allein wird die Seele wahrlich gut; nicht einmal gut und dann wieder böse, sondern gut aus innerer Notwendigkeit. 45. Tat: Was willst Du damit sagen, o Trismegistos? 46. Hermes: Denke einmal an die Seele eines Kindes, mein Sohn. Wenn die Lösung vom Selbst noch nicht vollkommen, der Körper noch klein ist und sein volles Wachstum noch nicht erreicht hat, wie schön ist das für das Auge. Es ist dann noch nicht von den Leiden des Körpers besudelt und noch im hohen Maß mit der Weltseele verbunden. 47. Wenn der Körper jedoch erwachsen ist und die Seele heruntergezogen wird in die Last des Körpers, wird die Lösung vom Selbst vollkommen und verfällt die Seele dem Vergessen. Dann hat sie nicht mehr Teil an dem Schönen und Guten. Und dieses Vergessen gebiert ihr das Böse.

48. Dasselbe geschieht auch bei jenen, die den irdischen Körper verlassen. Denn wenn die Seele in sich selbst zurückgekehrt ist, zieht der Lebensatem sich im Blut zusammen, während das Ich sich im Lebensatem zusammenzieht. Wenn aber die Geistseele sich von ihren Umhüllungen gereinigt hat und, göttlich wie sie ist, einen feurigen Körper angenommen hat, durchkreuzt sie den gesamten Raum und überläßt den Stoff dem Urteil. 49. Tat: Wie meinst Du das, Vater? Du sagtest doch, daß das Gemüt von der Seele und die Seele vom Lebensatem getrennt wird, während Du auch gesagt hast, daß die Seele das Kleid des Gemütes ist und der Lebensatem das Kleid der Seele? 50. Hermes: Wer zuhört, mein Sohn, muß im Bewußtsein eins sein mit dem Sprecher und ihm in seinen Gedanken folgen. Sein Gehör muß sogar schärfer und schneller sein als die Stimme des Sprechers. 51. Die Zusammensetzung der Umhüllungen, mein Sohn, entsteht im irdischen Körper, da das Gemüt sich wegen seiner Wesensart unmöglich unbekleidet in einem irdischen Körper niederlassen kann. Denn der irdische Körper kann eine so große Göttlichkeit weder tragen noch kann eine so herrliche, reine Kraft es ertragen, in direkter Berührung mit einem Körper verbunden zu werden, der Leidenschaften unterworfen ist. 52. Darum hat der Geist sich mit der Seele umhüllt. Die Seele, die in gewisser Hinsicht auch göttlich ist, bedient sich des Lebensatems, während der Lebensatem schließlich das Geschöpf leitet. 53. Wenn die Geistseele sich von dem irdischen Körper gelöst hat, nimmt sie sofort wieder das Kleid an, welches ihr eigen ist, das Feuerkleid, das sie nicht behalten konnte, als sie sich im irdischen Körper niederließ. Die Erde kann nämlich das Feuer nicht ertragen: ein Fünkchen wäre bereits imstande, sie in Flammen aufgehen zu lassen. Deshalb ist auch die Erde völlig vom Wasser umgeben, welches sie wie ein Bollwerk vor den Flammen des Feuers schützt. 54. Der Geist, die schnellste aller göttlichen Gedankenschöpfungen, besitzt als Körper auch das schnellste aller Elemente: das Feuer. Der

Geist, als Schöpfer aller Dinge, benutzt das Feuer als Werkzeug für seine Schöpfungsarbeit. 55. Das universelle Denken erschafft auf diese Weise das All. Das Denken des Menschen erschafft allein das, was von der Erde ist. Da das Denkvermögen der Menschen kein Feuerkleid besitzt, ist es nicht fähig, göttliche Dinge ins Dasein zu rufen, und wird durch seine Körperlichkeit auf das beschränkt, was des Menschen ist. 56. Die menschliche Seele -- jedoch nicht jede Seele, sondern die wahrhaft gottgeweihte Seele -- ist in gewissem Sinn gutdämonisch und göttlich. Wenn eine solche Seele sich vom Körper gelöst hat, nachdem sie den Weg der wahren Gottseligkeit gegangen ist -- den Weg, der zur Erkenntnis des Göttlichen und zur Enthaltung jeglichen Unrechts oder Schadens irgendeinem Menschen gegenüber führt -wird sie vollkommen Geistseele. 57. Die gottlose Seele dagegen verändert ihre Art nicht, zerbricht und bestraft sich selbst und sucht einen neuen Erdenkörper, in den sie eintreten kann; aber einen menschlichen Körper, da kein anderer Körper eine menschliche Seele beherbergen kann. Die göttliche Fügung erlaubt nicht, daß eine menschliche Seele sich so erniedrigt, indem sie den Körper eines unvernünftigen Tieres bewohnt. Das ist ein Gesetz Gottes, das die menschliche Seele vor einer so großen Schmach beschützt. 58. Tat: Aber wie wird die menschliche Seele denn bestraft, Vater? 59. Hermes: Mein Sohn, gibt es eine größere Strafe für die menschliche Seele als die Gottlosigkeit? Welches Feuer ist so verzehrend wie die Flamme der Gottlosigkeit? Welches wilde Tier richtet den Körper so zugrunde wie die Gottlosigkeit die Seele? Erkennst du nicht, welche Pein eine gottlose Seele durchleidet, wenn sie hilfesuchend ausruft: «Ich verbrenne, die Flammen versengen mich. Ich weiß nicht, was ich sagen oder tun soll. Ich Elende werde verschlungen von den Bosheiten, die mich beherrschen. Ich sehe nichts mehr, ich höre nichts mehr.» 60. Sind das nicht die Schreie einer Seele, die gestraft wird? Du, mein

Sohn, wirst doch nicht wie die Masse glauben, daß die Seele nach dem Verlassen des Körpers die Gestalt eines Tieres annimmt? Das ist nämlich ein sehr großer Irrtum. 61. Die Seele wird nur auf folgende Weise gestraft: Immer wenn der Geist zum Dämon wurde, ist er verpflichtet, zum Dienste Gottes einen Feuerkörper anzunehmen. Wenn dieser Dämon dann in eine sehr gottlose Seele eingetreten ist, züchtigt er sie mit den Geißeln ihrer Sünden. Unter diesen Geißelungen stürzt sich die gottlose Seele dann in menschliche Bosheiten wie Mord, Niederträchtigkeit, Gottlosigkeit und Gewalttaten. 62. Wenn der Geist jedoch in eine gottesfürchtige Seele eintritt, führt er sie zum Licht der Gnosis. Eine solche Seele wird niemals müde, jauchzend Gottes Lob zu verkünden und, nach dem Vorbild des Vaters, auf verschiedene Weise mit Taten und Worten allen Menschen wohlzutun. 63. Darum, mein Sohn, mußt du Gott in deinem Dank bitten, daß du einen edlen Geist empfangen mögest. Dann steigt deine Seele auf zu höherem Gut, und ein Niedergang wird für sie unmöglich. 64. Es gibt eine Gemeinschaft der Seelen: die Seelen der Götter stehen in Verbindung mit den Seelen der Menschen, die Seelen der Menschen mit denen der vernunftlosen Wesen. Die höheren Wesen sind über die niederen gestellt: die Götter über die Menschen, die Menschen über die vernunftlosen Lebensformen. Und Gott sorgt für alle. Er steht über allen; alle sind geringer als Er. 65. Die Welt ist Gott unterstellt, der Mensch der Welt, das vernunftlose Leben dem Menschen; und Gott steht über allen und allem und umfaßt alles mit seiner Fürsorge. 66. Die sich aktiv offenbarenden Kräfte Gottes sind die Strahlen seiner Sonne. Die Kräfte der Natur sind die Strahlungswirkungen der Welt. Die Handfertigkeit und der Wissensdrang sind die Strahlungswirkungen des Menschen. 67. Die Strahlungskräfte Gottes offenbaren sich durch die Welt und wirken durch die natürlichen Strahlungen der Welt auf den Menschen

ein; die Naturkräfte offenbaren sich durch die Elemente, die Menschen durch ihre Handfertigkeiten und ihr Verlangen nach Kenntnis. 68. So wird das All übereinstimmend mit dem Wesen des Einen gelenkt, dessen Geist alles durchdringt. 69. Nichts ist erhabener und wirksamer als sein Geist, nichts fördert die Einswerdung der Menschen mit den Göttern und der Götter mit den Menschen mehr. Sein Geist ist der gute Dämon. Glücklich die Seele, die ganz von Ihm erfüllt ist; unglücklich die Seele, die Ihn völlig entbehrt. 70. Tat: Was willst Du damit sagen, Vater? 71. Hermes: Mein Sohn, meinst du, daß jede Seele den Geist des Guten besitzt? Denn von diesem Geist spreche ich jetzt und nicht von dem untergeordneten Geist, über den ich vorher sprach, der von der göttlichen Gerechtigkeit herabgesandt wird. 72. Ohne den Geist kann die Seele weder sprechen noch handeln. Oft entflieht der Geist der Seele, und in diesem Zustand sieht die Seele nichts und hört sie nichts. Sie gleicht dann einem vernunftlosen Tier. So groß ist die potentielle Macht des Geistes. Aber der Geist erträgt keine Seele, die unfähig ist zu verstehen, und läßt sie zurück, gebunden an ihren Körper und durch den Körper hier unten ihrer Stimme beraubt. 73. Eine solche Seele, mein Sohn, besitzt keine Geistbindung. Ein solches Wesen kann man nicht einmal mehr Mensch nennen, da der Mensch ein göttliches Wesen ist, das nicht mit anderen auf der Erde lebenden Geschöpfen verglichen werden kann, sondern mit denen, die aus der Höhe sind, den Himmlischen, die Götter genannt werden. 74. Oder richtiger noch, wenn wir es wagen dürfen, die Wahrheit auszusprechen: der Mensch, der wahrlich «Mensch» ist, steht über den Göttern oder ist ihnen mindestens vollständig gleich im Vermögen. 75. Denn keiner der himmlischen Götter darf die Grenzen des Himmels überschreiten und zur Erde herabsteigen. Der Mensch aber

erhebt sich bis in den Himmel und mißt ihn; er kennt sowohl die Erhabenheit des Himmels als auch die Dinge, die unten sind; er nimmt alles mit größter Genauigkeit in sich auf und, was das Größte ist: um sich in den Himmel zu erheben, braucht er die Erde nicht zu verlassen. So weit und groß ist das, was sein Bewußtsein umspannt. 76. Wir wollen es deshalb wagen zu sagen: der irdische Mensch ist ein sterblicher Gott, der himmlische Gott ist ein unsterblicher Mensch. 77. Daher offenbart sich alles durch diese beiden: die Welt und den Menschen, aber alle Dinge sind aus dem Einen.

Dreizehntes Buch: Hermes Trismegistos zu Tat: Über das allgemeine Gemüt 1. Hermes: Das Gemüt, o Tat, ist aus Gottes Wesen selbst, sofern überhaupt vom Wesen Gottes gesprochen werden kann; wie dem auch sei: Nur das Gemüt erkennt sich selbst vollkommen. 2. Daher unterscheidet sich das Gemüt nicht vom Wesen Gottes; es geht von diesem Quell aus, so wie das Licht von der Sonne ausgeht. 3. In Menschen ist dieses Gemüt gut; darum sind einige Menschen Götter; ihr menschlicher Zustand ist dem göttlichen Zustand sehr ähnlich. Der gute Dämon hat die Götter deshalb auch unsterbliche Menschen genannt und die Menschen sterbliche Götter. In vernunftlosen Wesen ist das Gemüt die Natur. Wo jedoch eine Seele ist, da ist auch das Gemüt, ebenso wie überall da, wo wahres Leben ist, auch eine Seele ist. In vernunftlosen Wesen dagegen ist die Seele nur Leben, leer an Gemüt. Denn das Gemüt ist ein Wohltäter für die menschlichen Seelen: Es bearbeitet und bildet sie um des Guten willen. 4. In vernunftlosen Wesen wirkt es zusammen mit ihrer natürlichen Art; in den Seelen der Menschen jedoch arbeitet es dieser entgegen. 5. Jede Seele, die in einen Körper eingetreten ist, wird augenblicklich von Schmerz und Lust gequält, da in dem verdichteten Körper Schmerz und Lust wie ein Brand um sich greifen, in dem die Seele untergeht und erstickt.

6. Wenn das Gemüt solche Seelen führen kann, sendet es sein Licht zu ihnen aus und widersetzt sich ihren Neigungen. Ebenso wie ein guter Arzt das, was krank ist, im Körper ausbrennt oder wegschneidet, so lässt das Gemüt die Seele leiden, indem es sie von der Lust hinwegführt, welche die Ursache ihres ganzen Krankheitszustandes ist. 7. Die große Krankheit der Seele ist jedoch ihre Verleugnung Gottes und das daraus entstehende, auf Irrtum beruhende Denken, das alle Bosheiten und nichts Gutes verursacht. Darum verschafft das Gemüt, indem es diese Krankheit bekämpft, der Seele wieder das Gute, ebenso wie der Arzt dem Körper wieder die Gesundheit schenkt. 8. Die menschlichen Seelen, die sich jedoch nicht durch das Gemüt leiten lassen, befinden sich in demselben Zustand wie die Seelen der vernunftlosen Tiere. Das Gemüt wirkt mit ihnen zusammen und lässt ihren Begierden freien Lauf, zu denen sie hingezogen werden durch die Heftigkeit ihrer Lust und ihres Verlangens, dem sie in ihrem unvernünftigen Zustand nachjagen. Als vernunftlose Wesen überlassen sie sich unaufhörlich ihren ungezügelten Leidenschaften und Begierden und werden ihrer Sünden niemals satt, da die unvernünftigen Wirkungen der Leidenschaften und Begierden ein grenzenloses Böses formen. 9. Über diese Seelen hat Gott das Gesetz als Zuchtmeister gesetzt, damit ihnen ihre Bosheit bewusst wird. 10. Tat: Hierdurch scheint mir alles, o Vater, was Du zuvor über das Fatum gesagt hast, völlig widerlegt zu werden. Wenn ein Mensch absolut vorbestimmt ist, Ehebruch oder Entheiligung oder irgendein anderes Verbrechen zu begehen, wird er doch bestraft, obwohl er die Tat unter dem Zwang des Fatums begangen hat? 11. Hermes: Alles, mein Sohn, ist das Werk des Fatums, ohne das bei den körperlichen Dingen nichts geschehen kann, weder zum Guten noch zum Bösen. Ebenso verursacht das Fatum, dass auch, wer das Schöne und Gute vollbracht hat, die entsprechenden Folgen erfährt. Darum handelt jeder, um, je nach der Art seiner Handlungen,

Erfahrungen zu sammeln. 12. Aber wir wollen nun nicht mehr über die Sünde und das Fatum sprechen, die wir bereits an anderer Stelle behandelt haben. Wir sprechen jetzt über das Gemüt, über seine Vermögen und darüber, wie unterschiedlich sie sich in den Menschen und in den vernunftlosen Wesen auswirken. Auf die vernunftlosen Wesen kann es seine wohltuenden Wirkungen nicht ausüben. In den Menschen dagegen löscht es die Leidenschaften und Begierden aus. Bei den Menschen muss man unterscheiden zwischen jenen, die das Gemüt besitzen und jenen, die keine Verbindung mit dem Gemüt haben. Alle Menschen sind dem Fatum, der Geburt und der Veränderung unterworfen, denn diese sind der Beginn und das Ende des Fatums. 13. Alle Menschen unterliegen also den Beschlüssen ihrer Schicksalsbestimmung, aber jene, die der Vernunft folgen, die also, wie wir sagten, vom Gemüt geführt werden, erfahren sie nicht wie die anderen. Da sie sich vom Bösen befreit haben, erfahren sie sie nicht als Böses. 14. Tat: Was willst Du damit sagen, Vater? Ist der Ehebrecher nicht schlecht? Ist der Mörder nicht schlecht? Und ebenso wenig alle anderen? 15. Hermes: Mein Sohn, ein Mensch, der die Vernunft zum Führer hat, kennt doch ebenso wie ein Ehebrecher und ein Mörder das Leiden, das mit Ehebruch und Mord verbunden ist, obwohl er keinen Ehebruch und keinen Mord begeht. Es ist unmöglich, der Veränderlichkeit zu entkommen und ebenso wenig der Geburt; wer aber das Gemüt besitzt, kann sich vom Bösen befreien. 16. Darum, mein Sohn, habe ich stets auf das Wort des guten Dämons gehört. Hätte er es schriftlich niedergelegt, würde er dem menschlichen Geschlecht einen großen Dienst erwiesen haben. Nur er, mein Sohn, hat wahrlich göttliche Worte gesprochen, da er als eingeborener Sohn Gottes alles durchschaut. So hörte ich einst, wie er sagte, dass alles Geschaffene eins ist und insbesondere die verkörperten Wesen, die mit Verstand begabt sind; dass wir aus

potenzieller Kraft, durch wirksame Kraft und durch das Ewigkeitswesen leben. Darum ist das Gemüt, ebenso wie dessen Seele, gut. 17. Also sind die Dinge des Geistes untrennbar und ist das Gemüt, das über alle Dinge herrscht und die Seele Gottes ist, imstande, alles zu tun, was es will. Denke hierüber einmal nach und sieh das, was ich jetzt sage, im Zusammenhang mit der Frage, die du mir zuvor über das Fatum und das Gemüt gestellt hast. Wenn du jetzt von streitsüchtigem Wortspiel absiehst, wirst du entdecken, mein Sohn, dass das Gemüt, die Seele Gottes, wahrlich über alles herrscht: über das Fatum, über das Gesetz und über alles Übrige, und dass ihm nichts unmöglich ist. Es ist fähig, die menschliche Seele über das Fatum zu erheben, aber auch die Seele dem Fatum zu unterwerfen, falls sie nachlässig gewesen ist. Sieh darin die vortrefflichen Dinge, die der gute Dämon gesprochen hat. 18. Tat: Das sind göttliche, wahre und aufklärende Worte, Vater. Aber möchtest Du mir auch noch Folgendes erklären: Du hast gesagt, dass das Gemüt in vernunftlosen Wesen, ihrer Art entsprechend mit ihren Leidenschaften übereinstimmend wirkt. Nun meine ich, dass der Antrieb der vernunftlosen Wesen Leidenschaft ist. Wenn das Gemüt mit den Antrieben zusammenwirkt, die also Leidenschaften sind, dann ist doch auch das Gemüt eine Leidenschaft, da es durch Pathos berührt wird. 19. Hermes: Sehr gut, mein Sohn. Deine Frage ist scharfsinnig, und es ist richtig, dass ich sie beantworte. Alles Unkörperliche in einem Körper ist Pathos (Passion, Leiden) unterworfen und ist, streng genommen, selbst Leidenschaft (Pathos). Alles, was Bewegung erzeugt, ist unkörperlich. Alles, was bewegt wird, ist Körper. Das Unkörperliche wird auch selbst bewegt, und zwar durch das Gemüt. Diese Bewegung ist Leidenschaft (Pathos). Beide sind also Leiden (Pathos) unterworfen, sowohl das, was die Bewegung erzeugt, als auch das, was bewegt wird; das eine, weil es Bewegung verursacht, das andere, weil es dem Bewegungsimpuls unterworfen ist. Wenn das

Gemüt sich jedoch vom Körper löst, befreit es sich auch vom Leiden (Pathos, Leidenschaft). Besser ist es vielleicht zu sagen, mein Sohn, dass nichts ohne Pathos (Leiden) ist, sondern alles ihm unterworfen ist. Pathos (Leiden) ist verschieden von Pathos erfahren. Das eine ist aktiv, das andere passiv. Körper sind auch aus sich selbst wirksam. Sie sind entweder bewegungslos oder sie werden bewegt. In beiden Fällen gibt es Pathos (Leiden). 20. Das Unkörperliche wird immer zur Wirksamkeit gedrängt und ist dann Leiden unterworfen. Lass dich also nicht durch Worte irreführen: Wirksame Kraft und Pathos (Leiden) sind ein und dasselbe. Aber es ist nichts dagegen einzuwenden, den reinsten, geeignetsten Namen dafür zu gebrauchen. 21. Tat: Deine Auslegung war sehr deutlich, Vater. 22. Hermes: Bedenke weiter noch, mein Sohn, dass Gott dem Menschen, als dem einzigen unter allen sterblichen Wesen, zwei Gaben geschenkt hat: das Gemüt und das Wort, die der Unsterblichkeit gleichwertig sind. Wenn der Mensch diese Gaben richtig gebraucht, unterscheidet er sich in nichts von den Unsterblichen. Mehr noch: Er wird sich vom Körper befreien und von diesen beiden zum Chor der Götter und Glückseligen geführt werden. 23. Tat: Gebrauchen andere lebende Wesen das Wort nicht, Vater? 24. Hermes: Sie verfügen nur über einen Laut, eine Stimme. Das Wort, die Sprache, unterscheidet sich sehr von der Stimme. Die Menschen haben das Wort gemeinsam, aber alle anderen lebenden Wesen haben eine völlig eigene Stimme oder einen eigenen Laut. 25. Tat: Aber die Sprache der Menschen ist doch auch bei jedem Volk verschieden? 26. Hermes: Die Sprachen unterscheiden sich tatsächlich, mein Sohn, aber trotzdem bildet die Menschheit eine Einheit. Und auch das Wort ist eins. Wenn es von der einen Sprache in die andere übertragen wird, erweist es sich in Ägypten wie in Persien und Griechenland als das Gleiche. Es kommt mir vor, mein Sohn, als ob du das Wunder und die mächtige Bedeutung des Wortes noch nicht verstehst. Der

glückselige Gott, der gute Dämon, hat gesagt, dass die Seele im Körper ist, das Gemüt in der Seele, das Wort im Gemüt und dass Gott daher der Vater aller ist. Das Wort ist also das Bild und das Gemüt Gottes, der Körper ist das Bild der Idee, die Idee ist das Bild der Seele. 27. So ist das Feinste der Materie die Luft (Äther), das Feinste der Luft ist die Seele, das Feinste der Seele ist das Gemüt, und das Feinste des Gemütes ist Gott. 28. Gott umfängt und durchdringt alles, das Gemüt umfängt die Seele, die Seele umfängt die Luft (Äther), die Luft umfängt die Materie. 29. Das Fatum, die Vorsehung und die Natur sind Werkzeuge der kosmischen Ordnung und der Ordnung der Materie. Alles, was mit Geist ausgerüstet wurde, ist wesentlich, und seine Wesentlichkeit ist identisch. Jeder der Körper jedoch, aus denen sich das All zusammensetzt, ist mehrfach in der Art: Die Identität der zusammengesetzten Körper, die darin besteht, dass sie von der einen Form in die andere hinüberwechseln, bewahren sie unvergänglich. 30. Außerdem haben alle zusammengesetzten Körper eine völlig eigene Zahl, da es ohne Zahl keine Zusammensetzung, keine Zusammenfügung und keine Auflösung geben könnte. Es sind die Einheiten, welche die Zahl erzeugen, durch die sie zu Vielheiten werden, und die, wenn die Zahl sich auflöst, die verschiedenen Teile wieder in sich aufnehmen, während die Materie eins (einfach) bleibt. 31. Diese gesamte Welt, diese große Gottheit, die das Bild dessen ist, der noch größer ist und mit dem sie eins ist und mit dem sie die Ordnung und den Willen des Vaters bewahrt, ist die Fülle des Lebens. Es gibt nichts in ihr, weder in ihrer Allgemeinheit noch in einem Teil davon, bei dem äonenlangen Weg der Rückkehr, die der Vater angeordnet hat, das kein Leben hätte. Niemals gab, niemals gibt und niemals wird es in der Welt etwas geben, das tot ist. 32. Der Vater wollte, dass die Welt lebendig ist, solange sie ihren Zusammenhang bewahrt; daher ist die Welt notwendigerweise Gott.

33. Wie sollte es auch möglich sein, mein Sohn, dass es in Gott, in Ihm, der das Bild des Alls ist, in Ihm, der die Fülle des Lebens ist, etwas wie den Tod geben könnte? Denn Tod ist Verderb und Verderb ist Vernichtung. Wie kann man denn meinen, dass ein Teil dessen, was unverderblich ist, verderben oder etwas von Gott vernichtet werden könnte? 34. Tat: Vater, sterben lebendige Wesen, die doch in der Welt und Teil von ihr sind, denn nicht? 35. Hermes: Sag es nicht so, mein Sohn, denn so wirst du irregeführt durch die wörtliche Andeutung dessen, was geschieht. Lebendige Wesen sterben nicht, sondern ihre Körper, die zusammengesetzt sind, werden aufgelöst. Diese Auflösung ist kein Tod, sondern die Aufhebung einer Zusammensetzung. Diese Auflösung ist nicht als Vernichtung beabsichtigt, sondern als neues Werden, als Erneuerung. Denn was ist die wirksame Kraft des Lebens? Sicher doch Bewegung? Und was ist in der Welt unbeweglich? Nichts, mein Sohn! 36. Tat: Aber hältst Du die Erde denn nicht für unbeweglich, Vater? 37. Hermes: Nein, mein Sohn, sie allein besitzt gleichzeitig vielfache Bewegung und ist dauerhaft. Wäre es nicht lächerlich, anzunehmen, dass die Ernährerin des Alls, die allem Geburt schenkt und alles wachsen lässt, unbeweglich ist? Denn ohne Bewegung kann nichts zur Geburt kommen. Es ist sehr töricht zu fragen wie du, ob der vierte Teil der Welt ohne Tätigkeit ist, denn ein unbeweglicher Körper bedeutet nichts anderes als Untätigkeit. 38. Wisse denn, mein Sohn, dass alles, was es in der Welt gibt, ausnahmslos bewegt wird, sei es um abzunehmen, sei es um zuzunehmen. Und was in Bewegung ist, lebt, und es ist ein heiliges Gesetz, dass nichts, was lebt, sich selbst gleich, also unverändert bleibt. In ihrer Allgemeinheit betrachtet, ist die Welt unveränderlich, aber alle ihre Geschöpfe verändern sich, ohne jedoch zu vergehen oder vernichtet zu werden. Es sind allein die Worte, die Namen, welche die Menschen verwirren und beunruhigen. 39. Das Leben besteht nicht aus Geburt, sondern aus Bewusstsein,

und Veränderung ist nicht Tod, sondern Vergessen. 40. So betrachtet ist alles unsterblich: die Materie, das Leben, der Atem, die Seele, der Geist, der Verstand, der Instinkt, alles, woraus jedes lebende Wesen zusammengesetzt ist. 41. Jedes lebende Wesen ist in diesem Sinn unsterblich. Am meisten aber der Mensch, der imstande ist, Gott zu empfangen und eins mit ihm zu sein. Nur mit diesem lebenden Wesen verkehrt die Gottheit. Sie prophezeit ihm auf vielfache Weise die Zukunft: nachts durch Träume, am Tage durch Zeichen, durch Vögel, durch Eingeweide, durch die Luft, durch die Eiche. Dadurch ist es dem Menschen möglich, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft zu erkennen. 42. Achte auch hierauf, mein Sohn, dass jedes der anderen lebenden Wesen nur in einem Teil der Welt verbleibt: die Wasserbewohner im Wasser, die Landbewohner auf dem Festland, die geflügelten Tiere in der Luft. Der Mensch jedoch verkehrt mit allen Elementen: mit der Erde, mit dem Wasser, mit der Luft und mit dem Feuer und sogar mit dem Himmel. Er kommt in Berührung mit dem Himmel und nimmt ihn mit zunehmender Erkenntnis und Einsicht wahr. 43. Gott hält alles umfangen und durchdringt alles, denn er ist sowohl die aktive als auch die passive Kraft des Alls. Es ist denn auch absolut nicht schwierig, Gott zu verstehen. 44. Wenn du dich Gott nachdenkend nähern willst, betrachte dann die Ordnung der Welt und die Schönheit dieser Ordnung. Betrachte die Notwendigkeit alles dessen, was du so wahrnimmst, und auch die Vorsehung, die über Vergangenheit und Gegenwart herrscht. Sieh, wie die Materie ganz von Leben erfüllt ist, und wie die Bewegung dieser mächtigen Gottheit mit allem Guten und Schönen arbeitet: mit Göttern, Dämonen und Menschen. 45. Tat: Aber das sind Kraftwirkungen, Vater. 46. Hermes: Wenn es nur Kraftwirkungen sind, mein Sohn, von wem werden sie dann zuwege gebracht? Von einer anderen Gottheit? Siehst du nicht ein, dass, ebenso wie der Himmel und das Wasser und

die Erde und die Luft Teile der Welt sind, das Leben und die Unsterblichkeit, das Blut, das Fatum, die Vorsehung, die Natur, die Seele und der Geist Ansichten Gottes sind, und dass ihre Dauerhaftigkeit das Gute genannt wird? Es gibt also nichts, weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit, in dem Gott nicht gegenwärtig ist. 47. Tat: Dann ist Gott also in der Materie, Vater? 48. Hermes: Wenn die Materie außerhalb Gottes bestehen würde, mein Sohn, welchen Ort wolltest du dann für sie auswählen? Und was sollte sie, solange sie nicht zur Wirksamkeit gebracht wäre, anderes sein als eine verworrene Masse? Und wenn sie zur Wirksamkeit gebracht werden muss, von wem denn? Wir haben gesagt, dass die wirksamen Kräfte Schöpfungen Gottes sind. Von wem empfangen alle lebenden Wesen denn das Leben? Wem verdanken die Unsterblichen ihre Unsterblichkeit? Wer bewirkt die Veränderung in allem, was veränderlich ist? 49. Ob du nun von der Materie sprichst oder vom Körper oder von dem Wesentlichen der Dinge, wisse, dass auch diese Kraftwirkungen Gottes sind. Die Kraftwirkung in der Materie bildet die Stofflichkeit; die Kraftwirkung in den Körpern bildet die Körperlichkeit; und die Kraftwirkung in dem Wesentlichen bestimmt die wirkliche Art. Das alles ist Gott, das All. 50. Im All gibt es nichts, was nicht Gott ist. Darum kann man Gott nicht mit Begriffen beschreiben wie Größe, Ort, Eigenschaft, Form oder Zeit; denn Gott ist das All und als solches ist Er in allem und umschließt alles. Bete dieses Wort an, mein Sohn, und verehre es: Es gibt nur einen Gottesdienst, eine Art, Gott zu dienen und zu verehren, nämlich: nicht böse zu sein.

Vierzehntes Buch: Die geheime Rede auf dem Berg über die Wiedergeburt und das Gelöbnis der Verschwiegenheit 1. Tat: In Deiner allgemeinen Rede, Vater, warst Du rätselhaft und undeutlich, als Du über die göttliche Natur sprachst. Du hast sie mir

nicht geoffenbart, als Du sagtest, dass niemand gerettet werden kann, wenn er nicht wiedergeboren ist. 2. Aber als ich mich beim Herabsteigen von dem Berg nach Deinem Gespräch mit mir aufs Bitten verlegte und Dich über die Lehre der Wiedergeburt ausfragte, um sie kennen zu lernen -- weil diese mir als einziger Teil der ganzen Lehre noch unbekannt ist --, hast Du mir versprochen, sie mir zu übertragen, sobald ich mich von der Welt gelöst hätte. 3. Nun habe ich das getan und mich innerlich gestärkt gegen den Wahn der Welt. Willst Du nun das, was mir noch fehlt, ergänzen, wie Du es mir versprochen hast, und mich über die Wiedergeburt unterrichten, es sei mündlich oder als Mysterium. Denn ich weiß nicht, o Trismegistos, aus welcher Matrix und aus welcher Saat der wahre Mensch geboren wird. 4. Hermes: Mein Sohn, aus der Weisheit, die in der Stille denkt, und aus der Saat, die das Allein-Gute ist. 5. Tat: Wer sät sie denn, Vater? Das alles ist mir völlig unverständlich. 6. Hermes: Der Wille Gottes, mein Sohn. 7. Tat: Und wie ist jener beschaffen, der zur Geburt kommt, Vater? Denn er wird weder an meinem irdischen Wesen noch an meinem verstandesmäßigen Denken teilhaben. 8. Hermes: Der Wiedergeborene wird auch anders sein: Er wird ein Gott, ein Gottessohn sein, alles in allem und mit allen Vermögen ausgerüstet. 9. Tat: Du sprichst zu mir in Rätseln, Vater, und nicht, wie ein Vater zu seinem Sohn spricht. 10. Hermes: Derartige Dinge lassen sich nicht lehren, mein Sohn. Aber, so Gott will, wird er selbst dir die Erinnerung daran wiedergeben. 11. Tat: Du sagst mir Dinge, Vater, die mein Verständnis übersteigen und mir Gewalt antun. Darum habe ich auch nur das als richtige Antwort: »Ich bin ein Sohn, der dem Geschlecht seines Vaters fremd ist.« Versage mir Deine Weisheit nicht, Vater, denn ich bin Dein

rechtmäßiger Sohn; erkläre mir ausführlich, auf welche Weise die Wiedergeburt stattfindet. 12. Hermes: Was soll ich sagen, mein Sohn? Allein dieses: Als ich in mir selbst eine unbestimmte Vision wahrnahm, die durch die Barmherzigkeit Gottes hervorgebracht war, bin ich aus mir selbst herausgegangen in einen unsterblichen Körper. So bin ich nun nicht mehr jener, der ich einst war, sondern bin in der Geistseele erzeugt. So etwas lässt sich nicht lehren, und es ist nicht wahrzunehmen mit dem stofflichen Element, mit dem man hier sieht. Deshalb habe ich jetzt auch keine Sorge mehr um die zusammengesetzte Form, die einst die meine war. Ich habe keine Farbe mehr, noch habe ich ein Gefühlsorgan oder Dimensionen. Das alles ist mir fremd. 13. Jetzt siehst du mich mit deinen Augen, mein Sohn; aber was ich bin, das kannst du nicht erkennen, wenn du mich mit den Augen des Körpers ansiehst und betrachtest. Du siehst mich tatsächlich jetzt nicht mit diesen Augen, mein Sohn. 14. Tat: Du hast mich in eine nicht geringe Bestürzung und Begriffsverwirrung gebracht, Vater. Denn jetzt sehe ich mich selbst nicht einmal mehr. 15. Hermes: Gäbe Gott, mein Sohn, dass auch du aus dir hinausgegangen wärest wie jene, die im Schlaf träumen; aber in deinem Fall dann, ohne zu schlafen. 16. Tat: Sag mir noch das: Wer ist es, der die Wiedergeburt bewirkt? 17. Hermes: Der Sohn Gottes, der eine Mensch, nach dem Willen Gottes. 18. Tat: Nun hast Du mich doch wirklich sprachlos gemacht, Vater, denn jetzt begreife ich gar nichts mehr davon; ich sehe Dich noch immer in derselben Körpergestalt, mit demselben äußerlichen Aussehen. 19. Hermes: Darin irrst du dich, denn die sterbliche Form ändert sich von Tag zu Tag. Unwirklich wie sie ist, verändert sie sich im Lauf der Zeit durch Zunehmen und Abnehmen. 20. Tat: Was ist dann wahr und wirklich, Trismegistos?

21. Hermes: Das, was nicht besudelt ist, mein Sohn, was unbegrenzt, farblos, unveränderlich, unbedeckt, formlos, strahlend, allein durch sich selbst zu ergründen ist, das unveränderlich Gute, das Unkörperliche. 22. Tat: Das übersteigt meinen Verstand, Vater. Ich dachte, durch Dich weise geworden zu sein. Aber all meine Einsicht ist durch diese Vorstellungen festgefahren. 23. Hermes: So geht es, mein Sohn, mit dem, was nach oben geht wie Feuer oder nach unten wie die Erde oder flüssig ist wie Wasser oder durch das ganze Universum weht wie die Luft. Aber wie könntest du auch mit den Sinnesorganen wahrnehmen, was weder fest noch flüssig ist, nicht zusammengefügt werden kann, noch zu fassen ist und nur aus seinem Vermögen und seiner wirksamen Kraft verstanden werden kann; etwas, das nur jemandem möglich ist, der die Geburt in Gott durchschauen kann? 24. Tat: Bin ich dazu denn nicht imstande, Vater? 25. Hermes: So meine ich es nicht, mein Sohn. Kehre in dich selbst ein, und es wird kommen. Wolle es, und es wird geschehen. Bringe die sinnesorganischen Wirkungen des Körpers zum Schweigen, und die Geburt des Göttlichen wird eine Tatsache werden. Reinige Dich von den vernunftlosen Züchtigungen des Stoffes. 26. Tat: Habe ich denn Zuchtmeister in mir, Vater? 27. Hermes: Nicht wenige, mein Sohn, schreckliche und zahlreiche. 28. Tat: Ich kenne sie nicht, Vater. 29. Hermes: Diese Unwissenheit selbst ist die erste Züchtigung, mein Sohn, die zweite ist Verdruss und Schmerz, die dritte Unmäßigkeit, die vierte Begierde, die fünfte Ungerechtigkeit, die sechste Habgier, die siebte Betrug, die achte Neid, die neunte List, die zehnte Zorn, die elfte Unbesonnenheit, die zwölfte Bosheit. Diese Züchtigungen sind zwölf an der Zahl, aber es gibt zahlreiche andere, die aufgrund der Gefangenschaft des Körpers den Menschen von Natur aus zwingen, durch die Wirkungen der Sinnesorgane zu leiden. Sie lassen jedoch davon ab, sei es auch nicht auf einmal, wenn Gott sich eines

Menschen erbarmt hat. Und das erklärt die Art und den Sinn der Wiedergeburt! 30. Aber sei jetzt still, mein Sohn, und lausche in ehrerbietiger Dankbarkeit. Gottes Erbarmen wird dann nicht mehr von uns weichen. Freue dich, mein Sohn, jetzt, da die Kräfte Gottes dich gründlich reinigen, um die Glieder des Wortes zusammenzufügen.** Bezieht sich auf das Werden des neuen Menschen, der das »Wort Gottes« in uns ist. Die Gnosis Gottes ist zu uns gekommen: Durch ihre Ankunft wurde die Unwissenheit vertrieben. Die Gnosis der Freude ist zu uns gekommen! Durch ihre Ankunft wird der Schmerz zu jenen fliehen, die Raum dafür haben. Die Kraft, die ich nach der Freude aufrufe, ist die Zurückgezogenheit. O herrliche Kraft! Wir wollen sie mit der größten Freude in uns aufnehmen, mein Sohn. Siehe, wie sie durch ihre Ankunft die Unmäßigkeit ausgetrieben hat. Viertens nenne ich Selbstbeherrschung, eine Kraft, die sich der Begierde widersetzt. Die folgende Stufe, mein Sohn, ist die Stütze der Rechtschaffenheit: denn siehe, wie sie ohne Umstände die Ungerechtigkeit hinausgetrieben hat. So sind wir Gerechtfertigte geworden, nachdem die Ungerechtigkeit verschwunden ist. Die sechste Kraft, die ich für uns aufrufe, ist die, welche gegen die Habsucht kämpft, es ist die Kraft der Güte, die sich anderen mitteilt. Wenn die Habsucht verschwunden ist, rufe ich noch die Wahrheit auf. Sobald die Unwahrheit flieht, kommt die Wahrheit zu uns. Siehe, mein Sohn, wie das Gute vollkommen geworden ist, da die Wahrheit gekommen ist: denn der Neid ist von uns gewichen. Der Wahrheit ist das Gute gefolgt, begleitet von Leben und Licht; und keine einzige Züchtigung der Finsternis kann uns noch angreifen, denn besiegt sind sie alle in sausender Fahrt geflüchtet. 31. Du kennst jetzt, mein Sohn, die Weise, in der die Wiedergeburt

stattfindet: Durch die Ankunft der zehn Ansichten wird die geistige Geburt vollzogen und werden die zwölf Ansichten vertrieben. So werden wir durch diesen Geburtsprozess vergöttlicht. 32. Wer nun durch die Barmherzigkeit Gottes dieser Geburt aus Gott teilhaftig wird und den körperlichen Sinnesorganismus preisgegeben hat, ist sich bewusst, aus göttlichen Kräften gebildet zu sein, und ist von innerer Freude erfüllt. 33. Tat: Da ich nun, nach Gottes Fügung, zur Anschauung gekommen bin, werden die Dinge für mich nicht mehr durch das normale Gesichtsvermögen sichtbar, sondern dank des geistigen Vermögens der empfangenen Kräfte. Ich bin im Himmel, auf der Erde, im Wasser, in der Luft; ich bin in den Tieren und in den Pflanzen; ich lebe vor, in und nach der Geburt, ja, überall. Aber sage mir noch, wie werden die Züchtigungen der Finsternis, die zwölf an der Zahl sind, durch zehn Kräfte ausgetrieben? Auf welche Weise geschieht das, Trismegistos? 34. Hermes: Die Zeltwohnung, die wir verlassen haben, ist aus dem Kreis des Zodiaks zusammengestellt, der seinerseits aus zwölf Elementen besteht: aus einer Natur, aber vielförmig in der Vorstellung infolge der irrenden Gedanken des Menschen. 35. Unter diesen Züchtigungen gibt es solche, mein Sohn, die als Einheit auftreten. So sind Übereilung und Unbesonnenheit untrennbar vom Zorn. Man kann sie sogar nicht unterscheiden. Es ist also verständlich und logisch, dass sie zusammen verschwinden, wenn sie von den zehn Kräften vertrieben werden. Es sind diese zehn Kräfte, mein Sohn, welche der Seele die Geburt ermöglichen. Leben und Licht sind vereinigt. So wird die Zahl der Einheit aus dem Geist geboren. Ebenso enthält, der Vernunft entsprechend, die Einheit die Dekade** Die Zehnheit. und die Dekade die Einheit. 36. Tat: Vater, ich sehe in der Geistseele das ganze All und mich selbst. 37. Hermes: Das nun ist die Wiedergeburt, mein Sohn; man kann sich davon keine dreidimensionalen Vorstellungen machen. Du kennst und erfährst sie jetzt dank dieser »Rede über die Wiedergeburt«, die

ich allein deinetwegen niedergeschrieben habe, damit wir das alles nicht der Menge zufallen lassen, sondern ausschließlich jenen, die Gott dazu erwählt. 38. Tat: Sage mir, Vater, wird dieser neue Körper, der aus den zehn Kräften zusammengesetzt ist, sich einmal auflösen? 39. Hermes: Halt ein! Rede keine unmöglichen Dinge; dadurch würdest du sündigen und das Auge der Geistseele trüben. Der natürliche Körper der Sinne ist sehr weit entfernt von der wirklichen göttlichen Geburt. Der erste ist auflösbar, die zweite unsterblich. Weißt du nicht, dass du ein Gott geworden bist, ein Sohn des Einen, ebenso wie ich? 40. Tat: Vater, ich möchte gern den Lobgesang hören, den Du, wie Du mir erzählt hast, die Kräfte hast singen hören, als Du die Ogdoade** Ogdoas bedeutet Achte. Es ist die Phase des Eingehens in Gott, das vollkommene Geist-Sein. Siehe auch Buch 1, Vers 64. erreicht hattest. 41. Hermes: Übereinstimmend mit dem, was Pymander in der Ogdoade enthüllte, heiße ich die Eile, mit der du deine Zeltwohnung abbrechen willst, gut, da du jetzt rein bist. Pymander, der Geist, hat mir nicht mehr geoffenbart als das, was ich niedergeschrieben habe, wohl wissend, dass ich selbst fähig bin, alles zu verstehen und zu hören und alles zu sehen, was ich will; und er hat mir befohlen, alles zu tun, was gut ist. Darum singen bei allem die Kräfte, die in mir sind. 42. Tat: Vater, auch ich will das alles hören und kennen. 43. Hermes: Sei dann still, mein Sohn, und lausche auf den Lobgesang, der sich hierauf bezieht, die Hymne auf die Wiedergeburt. Es war nicht meine Absicht, diese so ohne weiteres bekannt zu machen, außer dir, der du an das Ende dieser Einweihung gekommen bist. Dieser Lobgesang wird denn auch nicht gelehrt, sondern bleibt in der Stille verborgen. Gehe dann ins Freie, kehre das Gesicht dem Südwind zu, nachdem die Sonne untergegangen ist, knie nieder und bete. Bete so auch beim Aufgang der Sonne, aber wende dich dann

nach Osten. Und sei dann nun still, mein Sohn. 44. Geheimer Lobgesang: Möge die ganze Natur des Kosmos auf diesen Lobgesang lauschen! Öffne dich, o Erde! Lass die Himmel ihre Wasserschleusen öffnen beim Vernehmen meiner Stimme. Steht unbeweglich, ihr Bäume! Denn ich will lobsingen dem Herrn der Schöpfung, dem All und dem Einen. Öffnet euch, ihr Himmel! Ihr Winde, seid still, damit Gottes unsterblicher Zyklus mein Wort annehmen möge. Denn ich will das Lob dessen singen, der das ganze All erschaffen hat, der der Erde ihren Platz angewiesen und das Firmament befestigt hat; der dem Süßwasser befohlen hat, den Ozean zu verlassen und sich über die bewohnte und unbewohnte Erde zu ergießen, zum Nutzen des Bestehens und Fortlebens aller Menschen; der dem Feuer befohlen hat, zu entflammen, damit Götter und Menschen es nutzen können, wie sie wollen. Alle zusammen wollen wir ihn lobpreisen, der über alle Himmel erhaben ist, den Schöpfer der ganzen Natur. Er ist das Auge des Geistes: Ihm sei das Lob aller Kräfte. 45. O ihr Kräfte, die ihr in mir seid: Singt das Lob des Einen und des Alls; singt übereinstimmend mit meinem Willen, o ihr Kräfte, die ihr in mir seid. Gnosis, o heilige Kenntnis Gottes, durch Dich erleuchtet ist es mir gegeben, das Licht des Wissens zu besingen und mich zu erfreuen in der Freude der Geistseele. O ihr Kräfte, singt alle mit mir diesen Lobgesang! Und, O du, Zurückgezogenheit, und du, Gerechtigkeit in mir, besinge für mich das Rechtschaffene. O Liebe für das All in mir, besinge in mir das All; besinge, o Wahrheit, die Wahrheit; besinge, o Güte, das Gute. 46. Von Dir, o Leben und Licht, kommt der Lobgesang und zu Dir kehrt er zurück.

Ich danke Dir, Vater, der die Kräfte offenbart. Ich danke Dir, Vater, Du, der das Potenzielle zur Wirksamkeit drängt. Dein Wort singt durch mich Dein Lob. Empfange durch mich das All, als Wort, als Opfer des Wortes. 47. Höre, was die Kräfte, die in mir sind, rufen: Sie besingen das All, sie erfüllen Deinen Willen. Dein Wille geht von Dir aus, und alles kehrt wieder zu Dir zurück. Empfange von allem das Opfer des Wortes. 48. Rette das All, das in uns ist. Erleuchte uns, o Leben, Licht, Atem, Gott! Denn die Geistseele ist der Hüter ihres Wortes. 49. O, Träger des Geistes, o Baumeister, Du bist Gott! Das ruft der Mensch, der Dir angehört, durch Feuer, durch Luft, durch Erde, durch Wasser, durch Geist, durch Deine Geschöpfe. Ich habe von Dir diesen Lobgesang aus der Ewigkeit empfangen und habe auch die Ruhe, die ich suchte, durch Deinen Willen gefunden. 50. Tat: Ich habe gesehen, wie nach Deinem Willen dieser Lobgesang dargebracht werden muss, Vater. Ich habe diesen nun auch in meiner Welt dargebracht. 51. Hermes: Sage, mein Sohn: in der wirklichen, das heißt der göttlichen Welt. 52. Tat: Ja, in der wirklichen Welt, Vater, habe ich Macht. Durch Deinen Lobgesang und Deinen Dank ist die Erleuchtung meiner Geistseele vollkommen geworden. Nun will auch ich aus meinem tiefsten Wesen Gott danken. 53. Hermes: Sei dabei nicht leichtfertig, mein Sohn. 54. Tat: Höre, Vater, was ich in der Geistseele sage: »Dir, o erster Urheber der Wiedergeburt, Dir, mein Gott, bringe ich, Tat, das Opfer des Wortes. O Gott, Du Vater, Du Herr, Du Geist: nimm das Opfer von mir an, das Du von mir verlangst. Denn dieses alles** Der Prozess der Wiedergeburt. vollzieht sich in Übereinstimmung mit Deinem Willen.« 55. Hermes: Mein Sohn, du bietest also Gott, dem Vater aller Dinge, ein ihm wohlgefälliges Opfer dar. Aber füge noch hinzu: durch das Wort.

56. Tat: Ich danke Dir, Vater, für die Ratschläge, die Du mir gegeben hast. 57. Hermes: Ich freue mich, mein Sohn, dass du gute Früchte von der Wahrheit gewonnen hast, eine wahrhaft unsterbliche Ernte. Versprich mir, da du dieses von mir gelernt hast, Verschwiegenheit zu bewahren über dieses wunderbare Vermögen und niemandem die Art der Verwirklichung der Wiedergeburt zu übertragen, damit wir nicht zu jenen gerechnet werden, welche die Lehre entweihen. Es genügt, dass wir beide das Unsrige getan haben: ich durch das Sprechen, und du durch das Lauschen. Im Licht des Geistes kennst du dich nun selbst; dich selbst und unser beider Vater.

Fünfzehntes Buch: Hermes Trismegistos zu Asklepios: Über das rechte Denken 1. Hermes: Da mein Sohn Tat während deiner Abwesenheit Aufklärungen haben wollte über die Art des Universums und er mir nicht erlauben wollte, diesen Unterricht zurückzustellen -- da er mein Sohn ist und ein junger Schüler, der erst vor kurzem Kenntnis über die Dinge erlangt hat -- war ich genötigt, ausführlicher dabei zu verweilen, damit die Lehre für ihn leichter zugänglich wird. 2. Aber für dich habe ich aus dem Besprochenen die wichtigsten Kapitel ausgesucht und sie auf eine mystischere Weise zusammengefasst, wegen deiner reiferen Lebensjahre und der Erkenntnis, die du dir über die Art der Dinge erworben hast. 3. Wenn alle Dinge, die offenbar werden, ins Dasein kommen oder ins Dasein gekommen sind, und zwar nicht durch sich selbst, sondern durch einen anderen; und wenn alle Dinge, die ins Dasein gekommen sind, unterschiedlich und ungleich sind und ihr Dasein einem anderen verdanken, dann besteht jemand, der ihr Schöpfer ist. Dieser ist dann selbst nicht entstanden, wenn man will, dass er bestand vor allem, was geschaffen ist. Was geschaffen wird, entsteht, wie ich schon sagte, durch einen anderen. Es kann also nichts bestehen, das bereits war, ehe alles ins Dasein kam, ausgenommen das, was selbst niemals

entstanden ist: der Schöpfer. 4. Dieser ist auch mächtiger und der Einzige. Er allein ist wahrlich weise in allem, da es nichts gibt, das vor ihm war. Denn er ist der Erste, sowohl in der Rangordnung als auch in der Größe, wie auch durch den Unterschied, der zwischen ihm und allen Geschöpfen besteht, und durch die Stetigkeit seiner Schöpfung. Außerdem sind alle Geschöpfe sichtbar; aber er ist unsichtbar. Darum gerade erschafft er; um sich selbst sichtbar zu machen. Daher erschafft er unaufhörlich und macht sich so sichtbar. 5. Auf diese Weise muss man denken und durch diese Denkweise zur Bewunderung kommen und sich selbst selig preisen, dass man den Vater kennen gelernt hat. Denn was ist herrlicher als ein wirklicher Vater! Wer ist er denn und wie sollen wir ihn kennen lernen? Ist es recht, dass wir ihn nur mit dem Namen Gott nennen? Oder muss es Schöpfer heißen oder Vater? Oder vielleicht müssen wir alle drei nennen? Gott wegen seiner Macht? Schöpfer wegen seiner Wirksamkeit? Vater wegen seiner Güte? Denn er ist mächtig, angesichts der Mannigfaltigkeit der Dinge, die geworden sind; und er ist wirksam, wo immer alles durch ihn ins Dasein kommt. 6. Uns lösend von endlosem und eitlem Gerede müssen wir also diese beiden unterscheiden: das Geschaffene und den Schöpfer. Zwischen diesen beiden gibt es keinen Mittler, keinen Dritten. 7. Unterscheide, bei allem, was du verstehst und vernimmst, also immer diese beiden und sei überzeugt, dass diese beiden alles umfassen und einschließen; lass in dieser Hinsicht keinen einzigen Zweifel in dir aufkommen: weder angesichts der Dinge, die oben sind, noch angesichts jener, die unten sind, weder den göttlichen Dingen noch dem Veränderlichen oder jenem gegenüber, was zu den Verborgenheiten gehört. Alles Bestehende lässt sich durch diese beiden zusammenfassen: das Geschaffene und der Schöpfer, und man kann sie unmöglich trennen. Der Schöpfer kann nicht ohne seine Schöpfung bestehen. Jedes ist gerade das, was das Wort angibt, und nichts anderes. Darum kann der eine nicht vom anderen getrennt

werden, und sogar nicht von sich selbst. 8. Da der Schöpfer nur die einzige, einfache, nicht zusammengesetzte Funktion ist, muss er sich notwendigerweise selbst gleich sein, weil das Erschaffen des Schöpfers das Werden eines Seinszustandes ist. Denn das Erzeugte kann nicht bestehen, als ob es sich selbst hervorgebracht hätte. Eine Schöpfung muss also notwendigerweise durch einen anderen hervorgebracht sein: Ohne den Schöpfer kommt also nichts ins Dasein und besteht nichts. Wenn Schöpfer und Geschöpf getrennt werden, verliert jeder von ihnen sein eigenes Wesen, weil sie dann ihrer Ergänzung beraubt sind. Wenn man also erkennt, dass die Wirklichkeit in diesen beiden -- Schöpfer und Geschöpf -- zusammengefasst werden kann, erkennt man, dass sie kraft ihrer gegenseitigen Unentbehrlichkeit eine Einheit bilden: Zuerst ist da die schöpferische Gottheit; danach kommt das Geschaffene, was es auch sein möge. 9. Fürchte nicht, dass der Unterschied, den ich machte, der Ehrerbietung Gott gegenüber oder seiner Glorie Abbruch tun könnte. Es besteht für ihn nur eine Glorie: alle Wesen ins Dasein zu bringen. Dieses, das Erschaffen, das Form-und-Leben-Geben, ist gleichsam der Körper Gottes. Meine nicht, dass von dem Schöpfer etwas Schlechtes oder Hässliches verordnet ist. Diese Aspekte sind untrennbar mit der Hervorbringung verbunden, ebenso wie der Rost mit dem Eisen und die Unreinheit mit dem Körper. Aber es ist nicht der Eisenbearbeiter, der den Rost gemacht hat, und es sind nicht die Eltern, die den Körper verunreinigen, noch ist es Gott, der das Böse geschaffen hat. Es ist der Verbrauch, die Verzehrung der geschaffenen Dinge, die diese Nebenwirkung des Bösen verursachen. Darum gerade hat Gott die Veränderlichkeit eingesetzt, zur Reinigung des Erschaffenen. 10. Wenn ein Maler den Himmel und die Götter sowie die Erde und das Meer, den Menschen und alle Tiere und unbeseelten Dinge abzubilden vermag, sollte dann Gott nicht imstande sein, das alles zu erschaffen. Welch eine Unvernunft und Unwissenheit, wenn man so

von Gott denkt! Jene, die so denken, erfahren die seltsamsten Dinge. Während sie behaupten, Gott zu loben und ihm Ehre zu erweisen, weigern sie sich, ihn als den Schöpfer aller Dinge anzuerkennen. Sie beweisen dadurch nicht allein, dass sie Gott nicht kennen, sondern begehen außerdem die scheußlichste Gottlosigkeit, indem sie ihm Hochmut und Unvermögen andichten. Wäre Gott nicht der Schöpfer aller Wesen, dann würde es sein, als ob er sich nicht herabließe, sie ins Dasein zu rufen, oder als ob er dazu nicht imstande wäre. Es ist deshalb gottlos, so zu denken. 11. Gott hat nur eine Eigenschaft: das Gute. Dieses Allein-Gute ist weder hochmütig noch kraftlos. Ja, das ist Gott: das Gute, der Allmächtige, der alles erschafft. Alles Erschaffene ist aus Gott geworden; aus ihm, der absolut gut ist und die Macht hat, alles ins Dasein zu bringen. 12. Wenn du nun wissen willst, wie Gott erschafft und wie das Erschaffene ins Dasein tritt, siehe dann hier einen schönen, passenden Vergleich: Denke an den Sämann, der die Saat auf dem Acker ausstreut: hierhin Weizen, dorthin Gerste, an anderer Stelle wieder eine andere Kornsorte. Siehe, wie er hier einen Weinstock pflanzt, dort einen Apfelbaum, an anderer Stelle wieder andere Bäume. So sät Gott die Unsterblichkeit in den Himmel, die Veränderlichkeit auf die Erde und Leben und Bewegung in das All. Diese Ansichten der Wirksamkeit sind also nicht zahlreich. Sie sind klein in der Anzahl und leicht zu zählen: nämlich im Ganzen vier, dazu Gott selbst und das Erschaffene. Diese sechs bilden zusammen alles, was besteht.

Sechzehntes Buch: Hermes zu Ammon: Über die Seele 1. Hermes: Die Seele ist ein unkörperliches Wesen, und auch, wenn sie im Körper ist, ändert sich nichts an ihrer eigenen Wirklichkeit. Ihrem Wesen nach ist sie in fortwährender Bewegung. Durch Gedankenwirkungen bewegt sie sich von selbst. Sie wird weder in etwas noch in Bezug auf etwas noch für etwas bewegt, da sie

besteht, ehe die Kräfte wirksam werden; und das, was vorhergeht, hat das, was später kommt, nicht nötig. 2. »In etwas« ist Ort, Zeit, natürliches Wachstum; »in Bezug auf etwas« ist Harmonie, die eigene Form, Gestalt; »für etwas« ist der Körper. 3. Ort, Zeit und natürliches Wachstum bestehen nur zum Nutzen des Körpers. Diese Begriffe hängen infolge ursprünglicher Verwandtschaft zusammen, jedenfalls, wenn es wahr ist, dass ein Körper einen Ort nötig hat (kein Körper kann ohne einen Ort, ohne Raum entstehen); dass er natürlicher Veränderung unterworfen ist (es ist keine natürliche Veränderung ohne Zeit und ohne natürliche Bewegung möglich); und schließlich: dass kein Körper ohne Harmonie gebildet werden kann. 4. Raum und Ort bestehen also zum Nutzen des Körpers. Da die Veränderungen des Körpers im Raum stattfinden, verhindert er, dass das sich verändernde Wesen vernichtet wird. Durch Veränderung geht der Körper von einem in den anderen Zustand über. Er ist dann zwar seines vorangegangenen Daseinszustandes beraubt, bleibt aber trotzdem ein zusammengesetzter Körper. Und ist er einmal zu etwas anderem verändert, dann besitzt er dessen Daseinszustand. So bleibt der Körper ein Körper; nur der Zustand, in dem er sich befindet, kennt keine Dauerhaftigkeit. Allein der Zustand des Körpers verändert sich also. 5. Ort und Raum sind also unkörperlich und ebenso Zeit und natürliche Bewegung. 6. Jeder von ihnen hat seine eigene Art. Die Art des Ortes ist das Vermögen, in sich aufzunehmen; die Art der Zeit ist unterbrechen und zurechnen; die Art der Natur ist Bewegung; die Art der Harmonie ist Freundschaft; die Art des Körpers ist Veränderung; die Art der Seele ist das Durchdenken ihres wahren Wesens. 7. Was bewegt wird, wird durch die Bewegkraft des Alls bewegt. Die Natur des Alls verschafft dem All zwei Bewegungen: die eine kraft seiner eigenen Potenz; die andere aus seinem wirksamen Vermögen.

Die erste durchdringt die ganze Welt und hält sie innerlich zusammen; die zweite ermöglicht ihr Ausbreitung und hält sie von außen umfangen. Diese beiden Bewegungen treten in allem stets zusammen auf. 8. Die Natur des Alls lässt alles ins Dasein kommen und schenkt ihm das Vermögen zum Wachstum; und zwar einerseits dadurch, dass sie es seine eigene Saat aussäen lässt, andererseits dadurch, dass sie eine Materie schenkt, die in Bewegung ist. Durch diese Bewegung wird die Materie erhitzt und wird zu Feuer und Wasser; das Feuer ist voller Macht und Kraft, das Wasser passiv. Das Feuer, das dem Wasser feindlich ist, hat einen Teil des Wassers eintrocknen lassen. Dadurch wurde die Erde gebildet, die auf dem Wasser treibt. Durch die weitere Eintrocknung des Wassers, das die Erde umgibt, wurde aus den dreien: Wasser, Erde und Feuer, Dampf frei; und so wurde die Luft geboren. 9. Diese Elemente vermischten sich entsprechend dem Gesetz der Harmonie: Wärme mit Kälte, Trockenheit mit Feuchtigkeit. Aus diesem Zusammenfluss aller Elemente wurde ein Lebensatem geboren und eine Saat, die mit dem umhüllenden Lebensatem übereinstimmte. Wenn dieser Lebensatem einmal in die Matrix gekommen ist, bleibt er in der Saat nicht wirkungslos. Er verändert die Saat, die durch diese Veränderung wächst und Größe erhält. In der Größe zieht die Saat so etwas wie eine äußerliche Form an sich und bildet sich danach. Diese Form dient ihrerseits als Hülle für die innereigene Gestalt. So empfängt jedes Ding sein eigenes Äußeres. 10. Da der Lebensatem in der Matrix keine Bewegung zum Leben empfangen hatte, sondern nur Bewegung zu lebenskräftigem Wachstum, ließ diese Bewegung auch die Bewegung zum Leben harmonisch entstehen, damit darin das denkende Leben empfangen werden konnte, das unteilbar und unveränderlich ist und seine Unveränderlichkeit niemals verlässt. 11. Übereinstimmend mit den Zahlen führt es das, was in der Matrix ist, zur Geburt, hilft beim Geburtsprozess und lässt das zur Geburt

Kommende nach außen treten. Die am nächsten stehende Seele passt sich dabei an, nicht in Übereinstimmung mit ihren angeborenen Eigenschaften, sondern nach dem Beschluss des Fatums. Denn von Natur aus verlangt die Seele keineswegs danach, im Körper zu sein. 12. Es ist nur Gehorsam dem Fatum gegenüber, dass die Seele dem zur Geburt kommenden Wesen die Denkbewegung und den Denkstoff des eigentlichen Lebens schenkt. Denn die Seele dringt in den Lebensatem ein und bewegt sich lebenerweckend darin. 13. Die Seele ist ein unkörperliches Wesen; wenn sie einen Körper besitzt, kann sie sich selbst nicht mehr instand halten. Doch jeder Körper hat ein Bestehen nötig, er hat das Leben nötig, das seine Basis in der Ordnung hat. 14. Alles, was geboren wird, ist auch der Veränderung unterworfen, da alles, was geboren wird, in einer gewissen Größe geboren wird. Während es zur Geburt kommt, wächst es. Alles Wachstum geht wieder über in ein Wenigerwerden, ein Abnehmen; danach kommt die Auflösung, das Auseinanderfallen. 15. Das Geborene lebt und wird mit dem Dasein der Seele verbunden, damit es an der Lebensform teilhat. Was aber aus anderen Gründen die Ursache des Daseins ist, besteht selbst bereits vorher. 16. Unter Dasein verstehe ich: mit Vernunft begabt sein und an dem denkenden Leben teilhaben; es ist die Seele, die das denkende Leben verschafft. 17. Was geboren wird, wird wegen des Lebens ein lebendes Wesen genannt; vernünftig wegen des Vermögens zu denken; sterblich wegen des Körpers. Die Seele ist also unkörperlich, weil sie ihre Kraft ungeschwächt bewahrt. Wie könnte man von lebenden Wesen sprechen, wenn da nichts Wesentliches wäre, das das Leben geschenkt? Aber ebenso wenig kann man von vernünftigen Wesen sprechen ohne das Bestehen einer Denkart, die denkendes Leben verschafft. 18. Als Folge der Zusammensetzung des Körpers gelangt das Denken

nicht in allen Menschen zur Harmonie. Wenn bei der Zusammensetzung zu viel Wärme ist, wird der Mensch leichtlebig und aufgeregt; ist zu viel Kälte da, dann wird er schwerfällig und träge. Es ist die Natur, welche die Zusammensetzung des Körpers der Harmonie wegen ordnet. 19 Es gibt drei Arten Harmonie: nach der Wärme, nach der Kälte und nach dem Mittleren. Die Natur ordnet in Übereinstimmung mit dem Stern, der in der Zusammensetzung der Sterne vorherrschte. Und die Seele, die nach der Fügung des Fatums einen Körper besitzt, nimmt ihn an und schenkt diesem Werkstück der Natur das Leben. 20. Die Natur stimmt also die Harmonie des Körpers auf den Stand der Sterne ab; sie lässt die verschiedenen Elemente eins werden, übereinstimmend mit der Harmonie der Sterne, damit zwischen allen Übereinstimmung herrsche. Es ist nämlich das Ziel der Harmonie der Sterne, alles auf den Plan des Schicksals abzustimmen. 21. Die Seele ist also ein Wesen, das in sich selbst vollkommen ist und sich am Anfang ein Leben erwählt hat, das mit dem Schicksal übereinstimmt und eine Form an sich gezogen hat, die aus brausender Lebenskraft und Begehren zusammengesetzt ist. 22. Die Lebenskraft steht der Seele als Materie zur Verfügung. Wenn diese Lebenskraft einen Seinszustand geschaffen hat, der mit der Vorstellung der Seele übereinstimmt, erhält sie Mut und lässt sich von Feigheit nicht überwältigen. Auch Begehren bietet sich als Materie an. Wenn es einen Seinszustand geschaffen hat, der mit den Erwägungen der Seele übereinstimmt, wird es zur Mäßigkeit und lässt sich nicht von Genußucht bewegen, da das vernünftige Vermögen der Seele das ergänzt, was dem Begehren mangelt. 23. Wenn jedoch Lebenskraft und Begehren zusammengehen und einen harmonischen Seinszustand geschaffen haben und sich beide weiterhin nach dem vernünftigen Vermögen der Seele richten, schaffen sie eine richtige Einstellung: Denn der ausgewogene Seinszustand, den sie geschaffen haben, beschneidet das Übermaß an Lebenskraft und ergänzt andererseits den Mangel des Begehrens.

24. Was sie dann führt, ist das Denkvermögen, das Macht über seine eigene Vernunft hat, da es durch den Besitz einer eigenen umsichtigen Vernunft sich selbst gehört. 25. Das Wesen der Seele regiert und führt als höchste Macht, als Führer; die Vernunft, die in ihr ist, führt als Ratgeber. 26. Die umsichtige Vernunft des Wesens der Seele ist also diese Kenntnis der Gedanken, die dem Unvernünftigen, dem Unverständigen eine Vermutung des vernünftigen Vermögens gibt; eine Vermutung, die im Vergleich damit schwach und undeutlich ist, aber trotzdem vernünftig im Vergleich zum Unvernünftigen, sich also verhält wie das Echo zur Stimme und der Schein des Mondes zur Sonne. 27. Lebenskraft und Begehren werden also in Harmonie gebracht durch eine vernünftige Überlegung; sie halten sich gegenseitig im Gleichgewicht und ziehen den vernünftigen Gedankengang als eine stets rundlaufende Bewegung zu sich. 28. Jede Seele ist unsterblich und stets in Bewegung; denn wir haben doch in »der allgemeinen Rede« gesagt, dass Bewegungen hervorgebracht werden, sei es durch Kräfte, sei es durch Körper. 29.Wir sagen weiter, dass die Seele aus einer anderen Wirklichkeit als der der Materie entstanden ist; da die Seele unkörperlich ist und das, aus dem sie hervorgegangen ist, ebenfalls; alles, was ins Dasein kommt, wird notwendigerweise aus etwas anderem geboren. 30. Alle Wesen, die geboren werden und danach der Vernichtung unterworfen sind, besitzen notwendigerweise zwei Bewegungen; nämlich die Bewegung der Seele, wodurch sie bewegt werden; und die Bewegung des Körpers, wodurch sie zunehmen und abnehmen und sich schließlich durch Zersetzung auflösen. So beschreibe ich die Bewegung der vergänglichen Körper. 31. Die Seele ist stets in Bewegung, da sie selbst fortwährend bewegt wird und die Bewegung auf andere Dinge überträgt. So gesehen ist jede Seele unsterblich und stets in Bewegung, da sie kraft der Wirksamkeit ihrer innereigenen Art bewegt wird.

32. Es gibt göttliche, menschliche und nicht vernünftige Seelen. Die göttliche Seele ist die aktive Kraft ihres göttlichen Körpers, da sie sich in diesem Körper bewegt und ihn dadurch in Bewegung bringt. 33. Wenn sie sich von dem Sterblichen befreit, geht sie, befreit von dem, was in ihr nicht der Vernunft entsprach, in den göttlichen Körper ein, in dem sie in immer währender Bewegung mitgetragen wird durch das All. 34. Auch die menschliche Seele besitzt etwas vom Göttlichen, aber daneben sind mit ihr nichtvernünftige Ansichten, das Begehren und die Lebenskraft, verbunden. Diese Ansichten sind zweifellos unsterblich, sofern sie selbst wirksame Kräfte sind; aber es sind Kräfte aus sterblichen Körpern. Dadurch sind sie weit entfernt von den göttlichen Teilen der Seele, die in dem göttlichen Körper wohnen. 35. Die Seele der nichtvernünftigen Wesen besteht aus Lebenskraft und Begehren. Diese Wesen werden daher nichtvernünftig genannt, weil ihnen die vernünftige Ansicht der Seele mangelt. 36. Denke schließlich, viertens, an die Seele der unbeseelten Dinge, die sie in ihrer Wirkung bewegt, obwohl sie sich außerhalb der Körper befindet. Diese könnte nur in einem göttlichen Körper selbst bewegt werden und würde dann diese Dinge sozusagen »aus zweiter Hand« bewegen. 37. Die Seele ist also ein ewiges, mit Verstand begabtes Wesen, das seine eigene Vernunft als Denken hat und die Denkweise der Harmonie an sich zieht, wenn sie mit einem Körper vereinigt ist. Wenn sie aber einmal vom physischen Körper befreit ist, gehört sie selbstständig und frei der göttlichen Welt an. Die Seele herrscht über ihre eigene Vernunft und schenkt dem, was zum Leben kommt, eine mit ihren Gedanken übereinstimmende Bewegung, die man Leben nennt. Es ist der Seele eigen, anderen etwas von ihrem eigenen Wesen zu schenken. 38. Es gibt also zwei Arten Leben und zwei Arten Bewegung. Die eine ist die Bewegung des Wesens der Seele, die andere ist die Bewegung des naturgeborenen Körpers: Die Letztere ist allgemein, die Erstere

ist auf die Seele selbst beschränkt. Die Bewegung der Seele ist autonom, die andere ist zwingend, da alles Bewegte dem Zwang dessen unterworfen bleibt, was die Bewegung hervorbringt. Aber die Bewegung, welche die Seele bewegt, ist untrennbar mit der Liebe verbunden, die sie zur göttlichen Wirklichkeit führt. 39. Die Seele ist tatsächlich unkörperlich, da sie kein Teil des physischen Körpers ist. Würde die Seele einen Körper haben, hätte sie weder Vernunft noch Gedanken, da jeder Körper selbst ohne Gedanken ist. Dagegen verdankt ein lebendes Wesen seinen Lebensatem der Tatsache, dass es an dem Wesen der Seele Anteil hat. 40. Der Lebensatem oder Geist gehört zum Körper, die Vernunft zum Wesen der Seele. Die Vernunft hat das Schöne zum Gegenstand der Anschauung; der mit den Sinnesorganen wahrnehmende Geist unterscheidet die Erscheinungen. Er breitet sich über die Sinnesorgane aus, die als Teile des Geistes, aus einem Geist des Sehvermögens, einem Geist des Gehörs, einem Geist des Geruchs, einem Geist des Geschmacks und einem Geist des Gefühls bestehen. Wenn dieser Lebensgeist oder Lebensatem des Körpers zu einer Art Verstand geworden ist, nimmt er sinnesorganisch wahr. Geschieht das nicht, dann bildet er sich die Dinge nur ein. 41. Er gehört zum Körper und ist für alles empfänglich. Die Vernunft dagegen gehört zu dem Wesentlichen der Seele und urteilt mit Einsicht und Verständnis. Mit der Vernunft ist auch die Kenntnis der göttlichen Dinge verbunden, mit dem Lebensgeist die Vorstellungen. Der Lebensgeist entlehnt seine Kraft der ihn umgebenden Welt; die Seele schöpft ihre Kraft aus sich selbst. 42. So gibt es also das Wesen der Seele, die Vernunft, die Gedanken und die Einsicht oder das Begriffsvermögen. Das Vorstellungsvermögen und die sinnesorganische Wahrnehmung tragen zur Einsicht bei. Die Vernunft gehört zum Wesen der Seele, die Gedanken werden durch die Vernunft gebildet und fließen mit der Einsicht zusammen. Diese vier, die sich gegenseitig durchdringen,

sind zu einer Gestalt geworden, der Gestalt der Seele. 43. Zur Einsicht der Seele tragen das Vorstellungsvermögen und die sinnesorganische Wahrnehmung bei. Diese sind darin jedoch nicht konstant, sondern geben einmal zu viel und einmal zu wenig oder weichen voneinander ab. Sie werden schlechter in dem Maß, wie sie von der Einsicht getrennt sind. Wenn sie jedoch diesem Vermögen folgen und gehorchen, stimmen sie über die Wissenschaften mit der höheren Vernunft überein. 44. Wir sind fähig zu wählen; es liegt in unserem Vermögen, das Beste zu wählen, und ebenfalls, ohne es zu wollen, das Schlechte. Die Wahl, die zum Bösen ausgeht, nähert sich der körperlichen Natur. Darum herrscht das Fatum über den, der eine solche Wahl trifft. Da das denkende Wesen in uns, die höhere Vernunft, autonom ist und sich immer selbst gleich bleibt, hat das Fatum keinen Einfluss darauf. 45. Wenn jedoch das denkende Wesen sich von dem alldurchdenkenden Logos abwendet, welcher der Erste nach dem ersten Gott ist, wird auch er mit dem gesamten Plan verbunden, den die Natur für alles Erschaffene eingesetzt hat. Wenn die Seele sich also einmal mit dem Erschaffenen verbunden hat, ist auch sie dem Schicksal unterworfen, obwohl sie nicht zu den von der Natur geschaffenen Dingen gehört.

Siebzehntes Buch: Hermes zu Tat: Über die Wahrheit 1. Hermes: Es ist nicht möglich, o Tat, dass ein Mensch, ein unvollkommenes Geschöpf, bestehend aus unvollkommenen Gliedern, und was seine Umhüllung betrifft, aus einer Anzahl sonderbarer Körper zusammengesetzt, sich erkühnen dürfte, über die Wahrheit zu sprechen. Aber was zu sagen wohl möglich und richtig ist, das sage ich: nämlich, dass es nur Wahrheit in ewigen Körpern gibt, deren Elemente auch alle wahr sind: Feuer, das ein für allemal Feuer ist und

nichts anderes; Erde, die ein für allemal Erde ist und nichts anderes; Luft, die ein für allemal Luft ist und nichts anderes; Wasser, das ein für allemal Wasser ist und nichts anderes. 2. Unsere Körper dagegen sind aus allen diesen Elementen zusammengesetzt; sie enthalten Feuer und auch Erde und ferner Wasser und Luft, aber dennoch sind sie weder Feuer noch Erde, noch Wasser noch Luft, noch irgendetwas, das wahr ist. 3. Wenn also unsere körperliche Konstitution von Anfang an nicht die Wahrheit in sich hatte, wie sollte sie dann die Wahrheit anschauen oder ausdrücken können? Sie kann sie auch nur dann verstehen, wenn Gott es will. 4. Alle Dinge, die von der Erde sind, o Tat, sind also keine Wahrheit, sondern Nachahmungen der Wahrheit; und nicht einmal alle, sondern nur ein kleiner Teil davon. Der Rest ist Lüge, Irrtum, o Tat; Irrtum, nur bestehend aus Schein, aus Trugbildern. Wenn jedoch der Schein eine Einströmung von oben empfängt, wird er eine Nachahmung der Wahrheit; ohne die Kraft von oben bleibt er dennoch eine Lüge, eine Unwahrheit. So ist es auch mit einem Gemälde, auf dem ein Körper ist: Es ist kein Körper, der mit dem, was man sieht, übereinstimmt. Man erkennt Augen, aber sie haben keinen Blick; man sieht Ohren, aber sie können nichts hören. Auch alle übrigen Teile zeigt das Bild; aber es ist alles Schein, der das Sehvermögen des Betrachters betrügt. Er meint, Wahrheit zu sehen, während die Wirklichkeit nur Lüge ist. 5. Wenn man jedoch etwas sieht, was keine Lüge ist, sieht man die Wahrheit. Wenn wir also die Dinge sehen und verstehen, wie sie wirklich sind, sehen und verstehen wir wahre Dinge. Wenn sie anders sind, als sie sind, werden wir nichts Wahres verstehen noch wissen. 6. Tat: Es gibt also auch Wahrheit auf der Erde, Vater? 7. Hermes: Du irrst dich, mein Sohn. Es gibt sicher keine Wahrheit auf Erden, und sie kann dort auch nicht ins Dasein kommen. Es kann jedoch vorkommen, dass einige Menschen sich einen Begriff von der Wahrheit bilden. Es sind jene, die Gott mit dem Vermögen beschenkt

hat, sie zu sehen. 8. Tat: Gibt es also nichts Wahres auf Erden? 9. Hermes: Ich denke und ich sage: Alles ist Schein und Trug. Das sind die wahren Dinge, die ich denke und sage. 10. Tat. Muss man denn das Denken und Reden von Dingen, die wahr sind, nicht Wahrheit nennen? 11. Hermes: Wie könnte das sein? Man muss denken und sagen, so wie es ist: Es gibt nichts Wahres auf Erden. Das ist wahr, dass es hier unten nichts Wahres gibt. Wie könnte das auch sein, mein Sohn? Die Wahrheit ist die vollkommene Herrlichkeit, das absolut Gute, das weder von der Materie beschmutzt noch mit einem Körper bekleidet ist. Wahrheit ist das unverhüllte, strahlende, unantastbare, erhabene, unveränderliche Gute. 12. Aber siehe, mein Sohn, wie ohnmächtig die Dinge hier unten sind, dieses Gute zu empfangen. Denn sie sind doch vergänglich, Leiden unterworfen, auflösbar, beweglich, stets veränderlich und gehen von einer Form in die andere über. Wie könnten diese Dinge, die in sich selbst nicht wahr sind, Wahrheit sein? Alles, was sich ändert, ist Lüge, weil es nicht in seiner Wirklichkeit bleibt, sondern von der einen Form in die andere übergeht und uns also fortwährend neue Erscheinungsformen zeigt. 13. Tat: Ist der Mensch selbst nicht wahr, Vater? 14. Hermes: Als Mensch ist er es nicht, mein Sohn. Wahr ist, was seine Zusammensetzung aus sich selbst hat und durch sich selbst bleibt, wie es ist. Der Mensch jedoch ist zusammengesetzt aus vielen Elementen und bleibt nicht, was er ist. Im Gegenteil, er verändert und transformiert sich von einem Lebensalter zum anderen und von der einen Gestalt zur anderen, solange er noch in seiner Umhüllung ist. Viele Eltern erkennen nach einer kurzen Zwischenzeit ihre Kinder nicht wieder und ebenso die Kinder ihre Eltern. 15. Kann ein Wesen, das sich so sehr verändert, dass es nicht mehr erkannt wird, wahr sein, Tat? Ist es nicht im Gegenteil unwahr, weil es bei seinen Veränderungen durch so viele verschiedene

Erscheinungsformen geht? Verstehe daher, dass allein wahr ist, was dauernd und ewig ist. Der Mensch ist nicht ewig. Folglich ist er auch nicht wahr. Der Mensch ist eine Scheingestalt und als solche höchst unwahr. 16. Tat: Aber, Vater, sind denn die ewigen Körper, die sich verändern, auch unwahr? 17. Hermes: Nichts, was hervorgebracht und der Veränderung unterworfen ist, ist wahr. Aber da die Körper vom ersten Vater erschaffen wurden, ist es möglich, dass die Materie, aus der sie bestehen, wahr ist. Jedoch tragen diese Körper Unwahrheit in sich wegen ihrer Veränderungen, da nichts, was sich nicht selbst gleich bleibt, wahr ist. 18. Tat: Aber, Vater, was kann man dann wahr nennen? 19. Hermes: Nur die Sonne kann man wahr nennen! Während alles Übrige sich verändert, verändert die Sonne sich nicht, sondern bleibt sich selbst gleich. Darum ist auch sie allein damit beauftragt, allem in der Welt Form zu geben, über alles zu herrschen und alles hervorzubringen: Sie verehre ich, ich beuge mich vor der Wahrheit ihres Wesens. Nach dem Einzigen und Ersten erkenne ich sie als den Demiurgen, den Weltenbauer. 20. Tat: Aber was ist dann die erste Wahrheit, Vater? 21. Hermes: Der Eine und Einzige, o Tat. Er, der nicht aus Materie gemacht ist, der nicht in einem Körper ist, der weder Farbe noch Gestalt hat, der sich nicht verändert, nicht verändert wird, Er, der immer ist. Dagegen ist all das Unwahre verderblich. Die Vorsehung des Wahren hält alles, was auf Erden ist, in der Verderblichkeit fest, hält es darin umschlossen und wird es immer umschlossen halten, da ohne Verderblichkeit kein Hervorbringen mehr sein kann. Auf jedes Hervorbringen folgt Verderblichkeit, damit erneut Geschöpfe zur Geburt kommen. Alles, was geboren wird, muss notwendigerweise aus dem Verderblichen geboren werden; und was geboren wird, muss notwendigerweise verderben, damit kein Stillstand in der

Hervorbringung der Wesen eintritt. Erkenne hierin die erste wirksame Ursache für das Erzeugen der Wesen. Jene, die aus der Verderblichkeit geboren sind, können nur unwahr sein, da sie einmal so und dann wieder anders geboren werden. Es ist unmöglich, dass sie genau als dasselbe wiedergeboren werden. Wie kann somit das, was nicht unverändert wiedergeboren wird, wahr sein? Wenn man diese Scheinwesen auf rechte Weise bezeichnen will, muss man den Menschen einen Scheinmenschen, das Kind ein Scheinkind, den Jüngling einen Scheinjüngling, den Erwachsenen einen Scheinerwachsenen, den Greis einen Scheingreis nennen. Denn der Mensch ist nicht wahrlich Mensch, das Kind nicht wahrlich Kind, der Jüngling nicht wahrlich Jüngling, der Erwachsene nicht wahrlich Erwachsener, der Greis nicht wahrlich Greis. Sobald die Dinge sich verändern, lügen sie, sowohl jene, die vergangen sind, als auch jene, die jetzt bestehen. Aber, mein Sohn, begreife gut, dass sogar die unwahren Wirkungen hier unten abhängig sind von oben, von der Wahrheit selbst. Und da es so ist, erkläre ich, dass der Schein das Werk der Wahrheit ist.

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