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E D I TO R I A L
MAI 2017
Kein Spielball: Der Blaue Planet braucht dringend unseren Schutz und unsere Fürsorge. Viele gute Ideen für die Erde finden Sie in dieser Ausgabe von SPIEGEL WISSEN.
KLIMAKATASTROPHE, Artensterben, dreckige Luft, giftige
DER DORSCH ZÄHLT zu den beliebtesten Speisefischen. In
der deutschen Ostsee schrumpft sein Bestand dramatisch. Deshalb wurde für 2017 die Fangquote für Dorsch bei Profifischer um bis zu 56 Prozent gesenkt, selbst für Freizeitangler gilt erstmals eine Begrenzung. Woran genau das Verschwinden der Dorsche liegt? Die Experten streiten sich. „Überfischung durch große Trawler spielt aber auf jeden Fall eine Rolle“, sagt SPIEGEL-Redakteurin Marianne Wellershoff, die mit Fischern an zwei Tagen auf eine windig-kalte Ostsee gefahren ist (Seite 32).
ILKA & FRANZ / SPIEGEL WISSEN, LARS BERG / SPIEGEL WISSEN, CONNOR PATALONG
Böden. „Steht die Menschheit am Abgrund?“, hat SPIEGELRedakteur Joachim Mohr den Umweltforscher Felix Ekardt gefragt. Die Erwartung des Untergangs sei so nutzlos wie der Glaube an den ewigen Fortschritt, antwortete Ekardt. Wobei eines sicher sei: „Die Lage der Umwelt ist dramatisch.“ Und ohne seine natürliche Lebensgrundlage könne der Mensch nun einmal nicht überleben. Was kann getan werden, um unseren Planeten lebenswert zu erhalten? SPIEGEL WISSEN berichtet über die neuesten Erkenntnisse zu verschwindenden Tierarten, Plastikmüll oder Risiken durch fossile Brennstoffe, beschreibt aber auch, wie ganz normale Bürger sich gegen Feinstaub wehren, auf welche Weise engagierte Unternehmen versuchen nachhaltig zu wirtschaften, und mit welchen Schritten jeder einzelne Müll vermeiden und Energie sparen kann. „Denn eines ist klar: Ein Weiter-so bringt die Menschheit um“, sagt Heftredakteur Mohr. DIE RECHERCHE WAR anstrengend. Frank Patalong,
Redakteur bei SPIEGEL ONLINE, war mehrere Tage im Urwald unterwegs. Oft gab es keine Wege, jeder Schritt war mühsam, abends taten ihm nicht nur die Beine weh. Patalong wanderte jedoch nicht im Amazonasgebiet, sondern in Bayern. In Teilen des Nationalparks Bayerischer Wald wird die Natur vollständig sich selbst überlassen. „Hier hat der Mensch nichts zu melden“, berichtet Patalong, „es geht um den absoluten Schutz der Wildnis“ (Seite 44).
Peitschende Wellen: Redakteurin Wellershoff (M.) wagte sich mit Hobbyanglern (und einem Pflaster gegen Seekrankheit) auf die Ostsee.
BEREITS ZUM VIERTEN MAL schreibt SPIEGEL WISSEN,
zusammen mit SPIEGEL ONLINE und BAUHAUS, einen großen Wettbewerb um den „Social Design Award“ aus. In diesem Jahr werden gute Ideen für grüne Stadtoasen gesucht. Bewerben kann sich jeder, der ein originelles Projekt für die gemeinschaftliche Planung und Nutzung von städtischen Grünflächen entwickelt hat. Alle Informationen zu dem mit zweimal 2500 Euro dotierten Wettbewerb, aber auch Anregungen zum Thema Parks finden sich im Social-Design-Dossier ab Seite 87.
Urwaldexpedition in Bayern: Neben der wilden Natur faszinierte Autor Frank Patalong die Leidenschaft der Ranger im Nationalpark Bayerischer Wald.
SPIEGEL WISSEN
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I N
D I E S E M
22
14
Tierischer Verlust: Das Artensterben bedroht auch den Menschen.
Hüter der Wildnis: sieben Umweltschützer über ihre Arbeit
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Ostseefischer in Not: Der Dorschbestand schrumpft.
1
K A P I T E L
NATUR SCHÜTZEN
POLITIK GESTALTEN 30
12
Planet in Gefahr Grafik: Was bedroht unsere Erde?
14
Die tun was
32
Vom Wattenmeer bis zum Bienenschutz: Sieben Kämpfer für den Umweltschutz erzählen
Wann kippt die Natur? Der Umweltforscher Johan Rockström errechnet die Grenzen der Belastbarkeit unseres Planeten
54
Das Meer wird leer
56
Der Totentanz der Tiere
Der Dorschbestand in der deutschen Ostsee schrumpft – ein Desaster für Umwelt und Fischer
35
Die Menschheit verursacht gerade das größte Artensterben seit der Zeit der Dinosaurier
38 28
Das sechste Massensterben Grafik: Gefahren für die Tierwelt
Petri Heil
„Wir werden nicht im Mittelalter landen“
Wegen der Dorschkrise gilt erstmals eine Quote für Freizeitangler
Der Nachhaltigkeitsforscher Felix Ekardt über nötige Veränderungen
Was die Meere bedroht
3 6 10 52 106 130
4
Hausmitteilung Ein Bild und seine Geschichte Meldungen I: Unsere Umwelt Meldungen II: Unsere Zukunft Meldungen III: Unser Handeln Vorschau, Impressum
66
Der große Öko-Check Wie gut gehen Sie mit der Umwelt um? Überprüfen Sie es im SPIEGEL-WISSEN-Nachhaltigkeitstest
Die kleinsten Killer Plastik wird zu Müll, der erst nach Jahrhunderten verrottet
43
Heiße Phase Wie lässt sich die Klimakatastrophe noch stoppen?
Grafik: Ozeane unter Druck
40
Der Klimawandel Grafik: Fakten zur Erderwärmung
62 22
2
72
Grüner Glamour Hollywood liebt die gute Sache, hat aber eine miserable Umweltbilanz
Gute Idee So gelangt bei der Wäsche kein Mikroplastik ins Abwasser
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Das Ökosyndrom Umweltschutz auf der Leinwand
44
Baum aus Baum aus Baum Im Nationalpark Bayerischer Wald wird die Wildnis gepflegt
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74
Rettung aus dem All Kann Geoengineering die Überhitzung der Erde abwenden?
JAN PHILIP WELCHERING, ILLUMUELLER.CH, LARS BERG, LKA & FRANZ, KJOSK, PATRICK TOMBOLA
K A P I T E L
H E F T
100
Social Design Award: Machen Sie mit beim Wettbewerb „Gute Ideen für grüne Stadtoasen“!
110
74
Fair und fortschrittlich: Die Firmen Ritter Sport und Vaude proben die Öko-Revolution.
Heißkalt: Mit Geoengineering soll die Erderwärmung technisch gestoppt werden. D O S S I E R
76
Erderwärmung
SOCIAL DESIGN
K A P I T E L
3
WIRTSCHAFT WANDELN
Grafik: Was ist Geoengineering?
Ab ins Grüne!
89
79
Was wäre die Welt ohne … Menschen? Forscher wissen es ziemlich genau 90
80
Maestro des Notwendigen Ein Bürokrat als Umweltheld
82
Die mit dem Bären duscht
Langer Atem
94
Bürger klagen gegen Feinstaub
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Hand, Herz und Verstand Die „Transition“-Bewegung setzt sich lokal für eine nachhaltige Welt ein, etwa mit Urban Gardening
Nachhaltig leben? So lernen wir es
84
108
Dr. Allwissend
Rohstoffhunger Grafik: unser steigender Verbrauch
Parks werden zu Orten gemeinschaftlicher Aktion
110
Öko-Ökonomie Ritter Sport und Vaude wollen nachhaltig wirtschaften – damit sind sie Pioniere in Deutschland
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Gut geölt Palmöl gilt als Umweltteufel. Aber ist es das wirklich?
Häuserkampf Grün statt Flüchtlinge: In Hamburg streiten Anwohner für ihren Park. Zu Recht?
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„Wie ein Brennglas“
126
Atomkraft? Jein danke! Deutschland steigt aus der Kernenergie aus – andere Länder nicht
... über die erste Ökokampfschrift 98
Landschaftsarchitekt Martin Rein-Caro über den Park als soziales Experiment 100 Der
Titelbild: Granger/Interfoto
große Leserwettbewerb
Revolution auf den Feldern Essay: Warum wir die industrielle Landwirtschaft abschaffen müssen
127
Salat aus der Fabrik Indoor-Farmen sind effizient – und umweltfreundlich
Gesucht: „Gute Ideen für grüne Stadtoasen“
128
Plädoyer für die Biene … und gegen Insektengift im Anbau
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D A S T O T E M E E R S O L L L E B E N IM TOTEN MEER kann man baden, aber eigentlich nicht schwimmen. Der Salzgehalt ist ungefähr zehnmal so hoch wie im Mittelmeer, auch ohne Schwimmbewegungen geht man nicht unter. Das Wasser brennt in Mund und Augen wie eine Säure, ein paar Schlucke können tödlich sein. 28 Frauen und Männer haben im vorigen November das Tote Meer trotzdem von Jordanien nach Israel durchschwommen, 15 Kilometer mit speziellen Gesichtsmasken. Warum? Die Welt soll aufgerufen werden, das Tote Meer zu retten. Jedes Jahr sinkt der Wasserspiegel um einen Meter, seit 1967 hat der See rund ein Drittel seiner Wasseroberfläche verloren. Der einzige Zufluss, der Jordan, bringt immer weniger Wasser, da Israel und Jordanien dem Fluss zu viel kostbares Nass abzapfen.
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FOTOCREDIT RECHTS
NIR ELIAS / REUTERS
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VICTORIA BEE / SPIEGEL WISSEN
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N AT U R S C H Ü T Z E N Menschen brauchen Luft, Grün, Wasser und Artenvielfalt. Doch obwohl die Natur unsere Lebensgrundlage ist, treiben wir Raubbau. Noch lässt sich das Schlimmste verhindern – wenn viele dafür kämpfen.
„Die Biologen, mit denen ich gesprochen habe, gehen fast alle davon aus, dass Pottwale Gefühle haben, dass sie so etwas wie Zuneigung, Trauer oder Einsamkeit verspüren können.“
„Ich bekomme nach Veranstaltungen häufig begeisterte Rückmeldungen. Das ist eine Bestätigung für mich. Dann habe ich es geschafft, dass jemand vielleicht in Zukunft mit offeneren Augen durch die Natur geht.“
„Reiche westliche Länder schöpfen die Ressourcen des Planeten ab und zerstören die Ökosysteme auf beispiellose Weise. Wir haben eine große Aussterbewelle ausgelöst. Die Frage ist: Wie stoppen wir sie?“
Kurt de Swaaf, Meeresbiologe Seite 10
Yannick Rathgeber, Umweltaktivist Seite 17
Paul Ehrlich, Biologe Seite 22
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U N S E R E
U M W E L T
D E R M E E R E S B I O LO G E U N D J O U R N A L I S T K U R T D E SWA A F E R Z Ä H LT D I E W E LT A U S D E R P E R S P E K T I V E E I N E S P OT T WA L S .
SPIEGEL: Herr de Swaaf, was fasziniert Sie an Walen? De Swaaf: Unter den Meeresbewohnern sind sie Grenzgänger. Sie werden bis zu 20 Meter lang, leben unter extremen Bedingungen in der Tiefsee, wo es kalt und dunkel ist. Gleichzeitig sind sie wie wir Säugetiere, gelten als intelligent und gesellig. Im Laufe der Recherche kam ich oft aus dem Staunen nicht mehr heraus. SPIEGEL: Was haben Sie Neues erfahren? De Swaaf: Zum einen finde ich es beeindruckend, wie sich Wale evolutionär an die schwierigen Bedingungen unter der 500Meter-Grenze angepasst haben: Mit ihrem Sonar, dem Ortungsorgan, können sie sich bei Dunkelheit orientieren, ihre Beute aufspüren. Und davon brauchen sie eine Menge: Pottwal-Bullen nehmen etwa 1,5 Tonnen Futter pro Tag zu sich, fast ausschließlich
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in Form kleinerer Tintenfische. Zum anderen sind Pottwale noch sozialer, als ich dachte: Sie können Freundschaften schließen, helfen einander. Die Biologen, mit denen ich gesprochen habe, würden es sicher nicht offiziell verlautbaren, doch fast alle gehen davon aus, dass Pottwale Gefühle haben, dass sie so etwas wie Zuneigung, Trauer oder Einsamkeit verspüren können. SPIEGEL: Die Form Ihres Sachbuchs ist ungewöhnlich. Sie schreiben über weite Strecken aus der Perspektive eines Pottwals. Warum? De Swaaf: Wir sehen die Welt, auch die Tierwelt, aus dem menschlichen Blickwinkel. Das ist verständlich, wir sind ja Menschen. Doch wenn man Tiere und ihre Biotope studiert, wird klar, dass diese Sicht beschränkt ist. Wir sind ein Teil der Natur, unsere Sicht ist relativ. Wale haben eine andere Perspek-
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tive auf ihren Lebensraum, ihre Artgenossen. Deshalb war es für mich interessant, eine Übernahme ihrer Perspektive zu versuchen. Ich behaupte aber nicht, dass ich weiß, wie die Meeressäuger denken. Könnte ein Pottwal lesen, was ich geschrieben habe, würde er wahrscheinlich lachen. SPIEGEL: Was gefährdet Wale? De Swaaf: Eine große Gefahr besteht heute darin, dass Wale Unfälle mit Schiffen nicht überleben. Das ist ein bisschen wie mit den Kaninchen an der Autobahn. Im Mittelmeer, am Hellenischen Tiefseegraben vor Kreta, gibt es Pottwale. Man könnte dort die Schiffsrouten um ein paar Meilen verlegen. Damit würde man viel für den Schutz der Wale tun.
KURT DE SWAAF: „Der Geist des Ozeans“. Benevento; 240 Seiten; 24 Euro.
GERALD NOWAK / WESTEND61 / PLAINPICTURE, INGO ARNDT/KNESEBECK VERLAG, MONTRI SUMONTHA
„Er würde wahrscheinlich lachen“
WEITES LAND D E R F OTO G R A F I N G O A R N DT H AT D E M G R A S B E I M WAC H S E N Z U G E S E H E N .
Auf gutem Weg Erfolge im Umweltschutz
OZONSCHICHT
NACH OZEANEN UND WÄLDERN sind Grasland-
schaften das drittwichtigste Ökosystem der Erde. Der preisgekrönte Tier- und Naturfotograf Ingo Arndt hat deshalb für seinen neuen Bildband die nordamerikanische Prärie, die afrikanische Savanne, die mongolische Steppe und andere Graslebensräume im Bild festgehalten. Die Vielfalt und Buntheit der Gräser hat Arndt beeindruckt. Und von den Landschaften, die er oft schon früher für andere Projekte bereist hatte, bekam er einen ganz neuen Eindruck: „Ich hatte oft gar nicht das Gefühl, schon einmal dort gewesen zu sein“, erzählt Arndt. Der Fokus auf die vermeintlich so unscheinbaren Gräser zeigt: Wo man in der Natur genau hinschaut, da wird Schönheit sichtbar.
Um
90 %
reduzierten die Industriestaaten seit Inkrafttreten des Montrealer Protokolls 1989 den Ausstoß von Ozonschicht schädigendem FCKW. Seit 2014 verkleinert sich das Ozonloch wieder.
LUFTSCHADSTOFFE
93 %
weniger Schwefeldioxide als 1990 belasten die Luft heute über Deutschland. Auch Kohlenmonoxid, Benzol und Blei liegen unterhalb der europäischen Grenzwerte.
INGO ARNDT: „Gras Art“. Knesebeck; 256 Seiten; 49,95 Euro.
ERNEUERBARE ENERGIEN
Wo habt ihr bloß gesteckt?
900 %
Rund
mehr Strom aus regenerativen Quellen wurde 2016 im Vergleich zu 1990 in Deutschland produziert. Mit 192 Milliarden Kilowattstunden sind das fast 30 Prozent der Gesamtstrommenge 2016.
WISSENSCHAFTLER ENTDECKEN ZAHLREICHE TIER- UND P F L A N Z E N A R T E N I N S Ü D O S TA S I E N .
EINE SCHLANGE, deren Kopf wie ein Regenbogen
schimmert, eine Eidechse mit bizarren Zacken auf dem Rücken – allein im vorigen Jahr haben Biologen in der Mekong-Region zwischen Laos, Kambodscha, Thailand und Vietnam 163 neue Arten entdeckt: Amphibien, Fische und auch mehr als 100 Pflanzenarten. Dass die Natur nach wie vor Fauna und Flora verbirgt, die wir erst jetzt aufspüren, ist eine schöne Nachricht. Ein Garant für mehr Biodiversität ist es nicht. Viele der just entdeckten Tiere und Pflanzen sind nach Angaben eines WWF-Berichts bereits bedroht – durch bestehende und geplante Staudämme und Wasserkraftanlagen. Dazu kommen massive Rodungen: Über 2,7 Millionen Hektar Wald werden nach WWF-Angaben in Südostasien jährlich zu Plantagen und damit zu Monokulturen. Von den Säugetierarten der Region stehen heute 70 Prozent auf der Roten Liste.
TRINKWASSERVERBRAUCH
1991 1991 6,5 Mrd. 6,5m3
Mrd. m 3
2013
5
Mrd. m 3
22 %
weniger Wasser brauchten die Wasserversorger 2013 in Deutschland im Vergleich zu 1991, um den Trinkwasserbedarf zu decken.
RECYCLING
65 %
des Hausmülls weden heute recycelt. Bei Bau- und Abbruchabfällen liegt die Recyclingrate sogar bei fast 90 Prozent. Quellen: BmWi, UBA, Unep
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Planet in Gefahr Was sind die größten Bedrohungen für die Erde? Wo lauern die größten Gefahren für ihre Bewohner? Eine Auswahl.
LUFTVERSCHMUTZUNG
RESSOURCENVERBRAUCH
8. August Datum des Erdüberlastungstages im Jahr 2016: An diesem Tag hat der Mensch bereits die natürlichen Ressourcen und Aufnahmekapazitäten verbraucht, die die Erde in einem Jahr zur Verfügung stellen kann. Berechnungen zufolge wird dieser Tag von Jahr zu Jahr früher erreicht. Quelle: Global Footprint Network
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7 Mio.
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Mikrogramm PM 2,5* pro Kubikmeter Luft (Jahresmittel)
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Zabol
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BEVÖLKERUNGSEXPLOSION A
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(Iran)
Allahabad (Indien)
170 zum Vergleich: Peking
85
U
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176
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2,5 Mrd.
(Indien)
ST JUL
Menschen werden einer Prognose zufolge 2055 in Afrika leben – mehr als doppelt so viele wie 2016. Insgesamt wird die Weltbevölkerung auf fast 10 Milliarden Menschen anwachsen. Der größte Anstieg findet in den laut Uno am wenigsten entwickelten Ländern statt; die meisten davon liegen in Afrika.
2 01
6: 8
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Quelle: PRB
MEERESSPIEGELANSTIEG
Mumbai
625 Mio.
63 Paris
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16
12
: 7.
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2000: 1 . N
Städte mit der größten Feinstaubbelastung* weltweit
* Feinststaubpartikel mit Durchmesser bis zu 2,5 Mikrometer; Quellen: WHO (2016), Unep, Unicef
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Menschen sterben jährlich an den Folgen von Luftverschmutzung – darunter 600 000 Kinder. Rund 300 Millionen Kinder auf der Welt müssen Luft einatmen, die den Richtwert der Weltgesundheitsorganisation für Schadstoffgehalt um mindestens das 6-fache überschreitet.
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10 WHOEmpfehlung
Menschen lebten 2006 in gefährdeten Küstenregionen – Prognosen zufolge werden es 2030 rund 900 Millionen sein. Viele Großstädte liegen an Küsten oder Flussmündungen. Und das Wasser steigt schneller: Von 1901 bis 2010 waren es noch 1,9 Millimeter pro Jahr, 1993 bis 2010 bereits 3,2 Millimeter. Quellen: IPCC, NOAA
I
ARTENSTERBEN
45% der Brutvogelarten in Deutschland sind vom Aussterben bedroht oder gefährdet. Vögel wie Haubenlerche oder Kornweihe könnten schon bald ganz aus Deutschland verschwunden sein; Hauptursache für den Schwund der Offenlandarten ist die Landwirtschaft. Weltweit gilt rund ein Drittel der erfassten Tier- und Pflanzenarten als bedroht. Quellen: Nabu, IUCN
JA N U
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R A U R MÄ
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MEEREISSCHMELZE
1,18 Mio.
APR
Meereis in der Arktis Abweichung vom Durchschnitt der Februarwerte 1981 bis 2010, in Prozent
Quadratkilometer kleiner war die Eisfläche im Nordpolarmeer im Februar 2017 verglichen mit dem Durchschnittswert der Jahre 1981 bis 2010 – ein Rückgang um fast 8 Prozent. Seit Beginn der Messungen vor 38 Jahren war die Eisdecke im Februar noch nie so klein. Zum Vergleich: Deutschland hat eine Fläche von rund 0,36 Mio. Quadratkilometern.
Quelle: NOAA
A
I
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M
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1990 -2 % 2000
P ro g n o
: 26 s e 2 03 0
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E N G A G E M E N T
Die tun was
Sie helfen dem Wolf, dem Watt, den Bienen, der Luft: Sieben Umweltschützer erzählen von ihrer Arbeit. P R OTO KO L L E
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ANTONIA ROCH, RIKE UHLENKAMP
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F OTO S
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JAN PHILIP WELCHERING
E N G AG E M E N T
„ I M MÄ RC H E N I ST D E R WO L F D I E B E ST I E “ Marie Neuwald, 27, studiert Natur-Ressourcen-Management und setzt sich seit zwei Jahren beim Naturschutzbund Deutschland e. V. (Nabu) für den Wolfsschutz ein.
WENN MENSCHEN an Wölfe denken, ha-
ben sie oft Rotkäppchen im Kopf. Der Wolf wurde in Deutschland vor etwa 150 Jahren ausgerottet. Er ist auf eigenen Pfoten wieder hergekommen, vor 17 Jahren wurden die ersten Welpen in freier Wildbahn geboren. Das ist also noch gar nicht so lange her. In der Bevölkerung ist man sich deswegen oft unsicher: Was frisst der Wolf eigentlich? Wie soll ich mich verhalten, wenn ich einem begegne? Was ist denn dran am Märchen vom Rotkäppchen und dem bösen Wolf? Es tauchen viele Fragen auf. Ich kann das nachvollziehen, denn natürlich bin ich erst einmal skeptisch, wenn ein Tier in meine Nachbarschaft kommt, das ich nur als Bestie aus Kinderbüchern kenne. Deswegen kläre ich auf. Das ist meine Aufgabe im Wolfsschutz. Ökologisch betrachtet geht es dem Wolf in Deutschland gut, er ist nach deutschem und sogar europäischem Gesetz streng geschützt. Die Frage ist also nicht, ob wir mit ihm leben, sondern wie. Als Referentin schule ich unsere sogenannten Nabu-Wolfsbotschafter. Das sind interessierte Mitglieder, die in ihren Heimatregionen ehrenamtliche Ansprech-
Unter Beobachtung: Marie Neuwald arbeitet im NabuBüro zwischen Wolfsfotos.
partner sind. Sie lernen bei uns zum Beispiel viel über die Biologie oder das Verhalten des Wolfs. Ich will mit meiner Arbeit aber niemanden bekehren. Mir ist wichtig, dass ich sachlich berichte, ohne zu dramatisieren oder zu verharmlosen. Leider habe ich selbst noch nie einen Wolf gesehen. In meinem Job habe ich hauptsächlich mit Menschen zu tun und nicht direkt mit Wölfen. Besonders spannend finde ich, wie unterschiedlich Men-
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schen emotional mit dem Thema umgehen. Da gibt es auf der einen Seite die Wolfskritiker, die Ängste schüren, und auf der anderen Seite überschwängliche Wolfsfans. Ich fühle mich dazwischen als Korrektiv mit Sachverstand sehr wohl.
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E N G AG E M E N T
„ MAN M US S B E I S I C H S E L B ST AN FANG E N “ Kerstin Bockhorn, 34, arbeitet bei der Behörde für Umwelt und Energie in Hamburg. Sie ist verantwortlich für einen über 200 Seiten langen Leitfaden, der vorgibt, welche ökologischen Standards die Hamburger Verwaltung beachten muss, wenn sie Putzmittel, Druckerpapier oder Dienstwagen kauft.
JEDER MITARBEITER braucht Dinge
zum Arbeiten, und die sollten möglichst umweltgerecht beschafft werden. Schreibutensilien etwa dürfen keine Schwermetalle oder Weichmacher enthalten und müssen aus nachwachsenden Rohstoffen bestehen. Für Reinigungsmittel sollen geeignete Dosierhilfen verwendet werden. So die Theorie in unserem Umweltleitfaden, den wir voriges Jahr für die Hamburger Verwaltung durch den Senat haben beschließen lassen. Er enthält sehr viele und detaillierte Kriterien, angefangen vom Büromaterial bis hin zu Möbeln und Fahrzeugen. Ich finde es wichtig, dass es gerade beim Thema Nachhaltigkeit Vorgaben gibt, an die wir uns halten können. Das braucht man manchmal schwarz auf weiß. Natürlich ist die Umsetzung ein langwieriger Prozess. Es gibt einzelne Behörden und Mitarbeiter, die voranpreschen, weil es ihnen auch persönlich wichtig ist. Und dann gibt es andere, die noch nicht richtig mitziehen. Allgemein habe ich aber das Gefühl, dass da gerade sehr viel in Bewegung ist. Umwelt ist ein Thema. Man merkt, dass sich die Leute mehr Gedanken machen. Je tiefer man aber einsteigt, desto schwieriger ist es manchmal zu entscheiden, was eigentlich die umweltfreundlichere Wahl ist. Gerade diese Schwierigkeit wollen wir mit dem Leitfaden thematisieren. Wenn Unternehmen merken, dass das Thema Umweltschutz der Stadt wichtig ist, wird es wahrscheinlicher, dass sie reagieren – und beispielsweise Möbel ohne problematische Chemikalien herstellen. Oder eben Kaffeekapseln ohne Aluminium. Beim Kaffee haben wir hier in unserer Behörde schon etwas verändert: In der Kantine gibt es für den Kaffee zum Mitnehmen nur noch Mehrwegbecher. Man muss bei sich selbst anfangen. Wenn es um Umweltschutz geht, ist es wichtig, Vorbilder zu haben, die zeigen: Es ist gar nicht so schwer und auch nicht unbedingt teurer.
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JAN PHILIP WELCHERING / SPIEGEL WISSEN
Da steht alles drin: Behördenfachfrau Kerstin Bockhorn mit ihrem Ökoleitfaden
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E N G AG E M E N T
„ AM HÄU F I G ST E N FINDEN WIR P LAST I K“ Der Mainzer Abiturient Yannick Rathgeber, 19, macht ein Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) bei der Schutzstation Wattenmeer auf Föhr.
ICH MUSSTE mir schon ein paar Witze
Ganz genau hinschauen: Der FÖJ-Helfer Yannick Rathgeber mit Fernglas und Müllfund auf Föhr
von meinen Freunden anhören, dass ich jetzt zu den „Ökos“ gehe, um fleißig Wattwürmer auszugraben. Aber ich hatte nach der Schule keine große Lust, direkt mit dem Studium anzufangen, und bin per Zufall auf das FÖJ im Wattenmeer gestoßen. Eigentlich finden aber alle cool, was ich hier auf Föhr mache. Im Stammteam sind wir vier Leute, die ein ganzes Jahr auf der Insel bleiben und zusammenwohnen. Neben Veranstaltungen zur Umweltbildung, wie Wattwanderungen oder Diavorträge, übernehmen wir als Betreuer des Nationalparks Wattenmeer auch Zählungen, vor allem von Wat- und Wasservögeln. Diese Daten sind auch Grundlage für die Rote Liste der bedrohten Arten. Zweimal im Jahr machen wir eine Wattkartierung. Da laufen wir einen Kilometer ins Watt, stecken alle 50 Meter einen Qua-
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dratmeter ab, gehen mit einer Stechröhre in die Erde und zählen dann die Wattorganismen, die sich darin befinden, wie Würmer, Muscheln und Algen. Außerdem kümmern wir uns um das sogenannte Spülsaum-Monitoring. Das ist letztlich eine Müllzählung. Kurz nach Hochwasser schauen wir nach den Müllteilen, die durch die Flut angespült wurden. Am häufigsten finden wir Plastik und Fäden von Fischernetzen. Einige Vögel, wie der Basstölpel, verwechseln diese mit Algen und verbauen sie in ihren Nestern. Die reißfesten Fäden können sich dann um den Hals oder Schnabel des Nachwuchses wickeln. Seit ich auf Föhr bin, habe ich die Ornithologie als Leidenschaft für mich entdeckt. So fahre ich in meiner Freizeit oft über die Insel und schaue, welche Vögel ich sehe. Mit der Arbeit hier möchte ich in den Leuten das Bewusstsein für die Umwelt wecken. Ich bekomme nach Veranstaltungen häufig begeisterte Rückmeldungen. Die Teilnehmer sind überrascht, wie viele Lebewesen es auf der Insel gibt. Das ist eine Bestätigung für mich. Dann habe ich es geschafft, dass sich jemand mit dem vielfältigen Lebensraum auseinandersetzt und vielleicht in Zukunft generell mit offeneren Augen durch die Natur geht.
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E N G AG E M E N T
„DER A RT E N S C H W U N D I ST D RAMAT I S C H “ Die Biologin Corinna Hölzer, 51, und der Geograf Cornelis Hemmer, 53, haben 2010 die „Stiftung Mensch und Umwelt“ gegründet. Das Berliner Ehepaar engagiert sich für die biologische Vielfalt.
Cornelis Hemmer
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Da summt was: Cornelis Hemmer und Corinna Hölzer wollen Bienen schützen.
Corinna Hölzer DIE MEISTEN WILDBIENEN nisten im
Erdreich. Versiegeln, bebauen, betonieren und pflügen wir diese Böden, zerstören wir den Lebensraum der Tiere. Garten- und Bienenfreunden empfehlen wir daher, Teile ihres Gartenbodens unbehandelt zu lassen. Auch Brachen und Ödland sollten wir mehr schätzen. Auf diesen meist nährstoffarmen Flächen leben viele seltene Pflanzen- und Tierarten. Wenn Cornelis und ich bis abends im Büro sitzen, um uns neue Mitmachaktionen für das Projekt auszudenken, macht das einfach Spaß. Wir sprechen seit sechs Jahren
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von „Deutschland summt!“, meinen aber eigentlich die vielen Einzelprojekte wie Wanderausstellungen, Bienenrallyes für Kinder und unsere Pflanzwettbewerbe „Wir tun was für Bienen“, bei denen wir bienenfreundliche Außenflächen prämieren. Jahrzehntelang haben uns die Züchter mit Pflanzen verwöhnt, die sehr lange blühen und große, gefüllte Blüten haben. Das ist eine Augenweide, aber keine Bienenweide. Die Pflanzen wurden züchterisch so verändert, dass sie häufig keine Pollen und keinen Nektar mehr haben. Besser ist es, auf die Wildform von Stauden und Blumen und auf heimische Pflanzen zurückzugreifen. Wir wünschen uns, dass die Menschen lernen, ihre Gärten als Lebensräume für Pflanzen und Tiere zu betrachten. Dabei kann die Biene als Botschafterin helfen.
JAN PHILIP WELCHERING / SPIEGEL WISSEN
IN DEN HEUTE SO HEKTISCHEN Zeiten freue ich mich, wenn ich abends auf den Tag zurückschaue und weiß, dass ich etwas Gutes für die Natur getan habe. Seitdem Corinna und ich 2010 im Rahmen unserer Stiftung die Initiative „Berlin summt!“ gestartet haben, ging alles Schlag auf Schlag. Am Anfang haben wir Bienenvölker auf die Dächer bekannter Gebäude wie den Berliner Dom gestellt, um auf das Bienensterben hinzuweisen. Bienen, die Honig machen – das kennen die Menschen. So konnten wir sie emotional abholen und auf die Stadtnatur, die biologische Vielfalt und auch auf die unbekannten, aber bedrohten Wildbienen aufmerksam machen. Aus dieser Idee ist die Initiative „Deutschland summt!“ entstanden, die es mittlerweile an 14 Standorten in Deutschland gibt. Weltweit existieren neun Honigbienenarten. Nur eine, die Westliche Honigbiene, lebt in Europa. Daneben gibt es hierzulande 562 Wildbienenarten. Das allein steht schon für Vielfalt. Die Bienen sind so bedeutsam und schützenswert, weil sie unsere Kultur-, Natur- und Wildpflanzen bestäuben. Deren Samen und Früchte werden erst nach der Bestäubung ausgebildet. Trotz der Vielfalt sind viele Bienen und Insekten gefährdet. Der Artenschwund ist dramatisch. Ein Grund ist die flächendeckende Nutzung von Pestiziden, die den Tieren den Garaus machen.
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„ M O O S HAT EIN GEHEIMES P OT E NZ IA L“ Dénes Honus, 30, hat als Architekturstudent zusammen mit drei Kommilitonen eine Mooswand entwickelt, die Feinstaub aus der Luft filtert. Heute ist er einer der Gründer des Berliner Start-up-Unternehmens „Green City Solutions“.
DURCH KEINEN ANDEREN Umweltein-
fluss sterben so viele Menschen wie durch die Folgen der Luftverschmutzung. Studien zeigen: jeder Achte. Aber es wird auch nach Wegen gesucht, das zu ändern. Die Forschung hat zum Beispiel erstaunliche Fähigkeiten von Mooskulturen entdeckt: Sie können Luft reinigen. Meine Kollegen und ich haben dieses Forschungsergebnis vor drei Jahren in die Praxis überführt. Wir haben ein Produkt entwickelt, das sich in Kombination mit moderner Technik das geheime Potenzial der unscheinbaren Pflanze zunutze macht. Unser „CityTree“ ist eine Wand, die auf beiden Seiten mit Moos bewachsen ist. Eine Anlage hat die Umweltleistung von ungefähr 275 Stadtbäumen, benötigt aber nur drei Quadratmeter Standfläche. Sie kann nicht nur Schadstoffe aus der Luft filtern, sondern diese auch in Biomasse um-
wandeln. Und das macht den Unterschied. Denn erst dadurch kann der Feinstaub dauerhaft aus dem System entfernt werden. Es ist schon seltsam: Wir selbst verursachen die Luftverschmutzung. Das ist vor allem ein Problem der modernen Gesellschaft, weil immer mehr Menschen in die Städte ziehen. Gleichzeitig haben wir keine Infrastruktur geschaffen, die diese Luft wieder reinigt. Ich habe das Design des CityTree entworfen und mir überlegt, wie man ihn am besten in den urbanen Raum integrieren kann – die Wände sollten ungefähr vier Meter hoch sein, weil in diesem Raum durch den Verkehr und uns Menschen die meiste Verschmutzung stattfindet. Den ersten Prototyp des CityTree haben wir in Dresden aufgestellt, dort haben wir studiert. Inzwischen gibt es ihn unter anderem auch in Berlin, Paris und Hongkong. Allein im Berliner Bezirk Mitte brauchte man eigentlich 116 Anlagen, um Feinstaub und Stickoxidaufkommen dauerhaft unter den Grenzwerten der Weltgesundheitsorganisation zu halten. Den CityTree soll es in Zukunft auch in Wohnungen und Büroräumen geben. Denn auch dort atmen wir täglich verschmutzte Luft ein.
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Staubfänger: Die CityTree-Mooswand hat Honus mit bescheidenen Mitteln entwickelt.
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E N G AG E M E N T
„ D I E M E N S C H E N WO L L E N AKTIV WERDEN“
Shampooflaschenpost: Jörg-Olaf Wolff setzt nummerierte Holzstücke im Meer aus, die Finder bei ihm melden sollen.
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ICH HABE KÜRZLICH ein Bild gesehen, auf dem eine Toastbrotverpackung am Wasser gefunden wurde. Das Mindesthaltbarkeitsdatum auf dem Clip konnte man noch erkennen: Abgelaufen war der Toast bereits vor 15 Jahren – die Tüte sah aber noch gut aus. Es dauert ewig, bis Plastik kleiner wird, und selbst dann ist es noch nicht aus der Umwelt verschwunden. Mit unserem Projekt „Macroplastics“ wollen wir die Quellen des Mülls in der Nordsee untersuchen. Um das herauszufinden, setzen wir einige Tausend Holzklötzchen ins Wasser. Sie sind ungefähr handgroß und verhalten sich ähnlich wie Plastik im Meer. Entscheidend ist, wo
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sie gefunden werden: Jeder, der einen sogenannten Drifter sichtet, kann ihn unter der Nummer oder der Internetseite, die auf dem Holz notiert sind, bei uns melden. Wir hoffen, dass wir dadurch verstehen, wo der Müll in der Nordsee herkommt und wie er sich verteilt. Wir haben Modelle entwickelt, die die Strömung und die Wellen im Meer simulieren. Wenn uns ein Drifter gemeldet wird, rechnen wir dann mithilfe des Modells zurück, welchen Weg er genommen hat. Dadurch können wir den Verursacher immer enger einkreisen. Der Rücklauf ist wirklich gut: Ungefähr 50 Prozent der Holzdrifter werden gemeldet. Vergangenes Jahr haben wir zum ersten Mal 5000 Stück in die Nordsee gesetzt, das Projekt soll noch drei Jahre laufen. Dass so viele Menschen mitmachen, zeigt, dass auch sie langsam genug von der Umweltverschmutzung haben und aktiv werden wollen. Gerade ein Projekt, bei dem man sich beteiligen kann, hat den Vorteil, dass man sich mehr Gedanken macht. Unser Projekt schaut sich vor allem den Müll an, der an die Strände gespült wird. Aber das sind nur 15 Prozent. Weitere 15 Prozent schwimmen an der Wasseroberfläche, und der Rest, also ganze 70 Prozent, befindet sich am Meeresboden. Dort bekommt man den Müll nicht mehr so schnell weg. Realistisch gesehen, werden wir ohne Plastik nicht mehr leben können. Da muss jeder nur in seinen eigenen Kühlschrank gucken. Aber wir müssen die Verpackungen ja nicht in der Umwelt entsorgen. Ich glaube, Vermeidung von Plastik in der Natur ist das Einzige, das uns in naher Zukunft vor einer vollständigen Vermüllung retten wird.
VIDEO: Wogen, Watt und Wasservögel spiegel.de/ sw022017wattenmeer
JAN PHILIP WELCHERING / SPIEGEL WISSEN
Jörg-Olaf Wolff, 58, ist Professor für Physikalische Ozeanografie an der Universität Oldenburg und möchte den Weg des Mülls in der Nordsee verfolgen.
Endlich der neue
Achilles Er kann es einfach nicht lassen. Zehn Jahre nach seinem sportlichen Debüt auf den hinteren Plätzen fragwürdiger Volksläufe juxt sich Achim Achilles unverdrossen durch die skurrile Welt von Millionen deutschen Freizeitsportlern. Er preist den Wert schlechter Vorsätze, entlarvt die gemeinsten Fitness-Lügen, lästert über Yoga, entdeckt seine Liebe zum Quadrathlon – und bleibt seinem Motto treu: Wenn nichts mehr geht, einfach locker weiterlaufen.
240 Seiten · € 9,99 [D] · ISBN 978-3-453-60423-0 Auch als E-Book · Leseprobe auf heyne.de
ARTENSCHUTZ
LEPORILLUS APICALIS
BUFO PERIGLENES
[KLEINE HÄSCHENRATTE]
[GOLDKRÖTE]
Die knapp 20 Zentimeter lange Nagetierart lebte in Zentralaustralien. – Ausgestorben
Dieser kleine mittelamerikanische Froschlurch wurde erst Mitte der Sechzigerjahre entdeckt. – Ausgestorben
Der Totentanz der Tiere
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PTEROPUS TOKUDAE
CAPRA PYRENAICA PYRENAICA
[GUAM-FLUGHUND]
[PYRENÄENSTEINBOCK]
Das Fledertier, das auf der Insel Guam lebte, wurde intensiv gejagt, weil es als Delikatesse galt. – Ausgestorben
Dieser Steinbock wurde schon 1918 unter Schutz gestellt, doch die Bestände erholten sich nie. – Ausgestorben
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THYLACINUS CYNOCEPHALUS
HETERALOCHA ACUTIROSTRIS
[TASMANISCHER TIGER]
[HUIA]
Das letzte Exemplar dieses in Australien heimischen Beuteltiers starb 1936 in einem Zoo. – Ausgestorben
Der Lappenhopf, einst in Neuseeland verbreitet, gilt seit 1907 als ausgerottet. – Ausgestorben
Die Welt erlebt das größte Artensterben seit Verschwinden der Dinosaurier. Das wird nachfolgende Generationen teuer zu stehen kommen. TEXT
PHILIP BETHGE DANIEL MÜLLER
I L L U S T R AT I O N E N
VIDEO: Die NerzRetter spiegel.de/ sw022017nerz
MAN STELLE SICH VOR, da wäre eine Festplatte, auf der alles Wichtige gespeichert ist, die Familiengeschichte, Versicherungen und Kredite, Fotos und Dokumente. Nun stelle man sich vor, dass ein Teil davon gelöscht wird, vielleicht aus Unachtsamkeit, vielleicht aber auch, weil der Platz gerade für etwas anderes gebraucht wird. Was geschieht? Vielleicht nichts; vielleicht gehen nur ein paar bedeutungslose Erinnerungen verloren. „Es könnte aber auch sein, dass aus Versehen Teile des Betriebssystems gelöscht werden“, sagt Christof Schenck, Leiter der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF). Schenck zieht den Vergleich immer dann,
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wenn er das Artensterben erklären will. „Bei der Festplatte ist den meisten sofort klar, dass es unklug wäre, einen Teil der Daten zu löschen“, sagt der Biologe. Bei der biologischen Vielfalt jedoch sei diese Einsicht schwerer zu vermitteln – „und das, obwohl dort nicht einmal genau bekannt ist, was alles verloren gehen kann“. Die Welt schlittert in ein menschengemachtes Massenaussterben. Bis Ende des Jahrhunderts könnte die Hälfte aller Tierund Pflanzenarten verloren sein. Nashörner, Elefanten, Löwen, Giraffen, Schimpansen – viele Ikonen der Tierwelt drohen, aus der Wildnis zu verschwinden. Gleichzeitig trifft es Myriaden unscheinbarer Lebewesen, die im Verborgenen existieren. Ein Viertel aller Säugetiere, 13 Prozent aller Vögel und 42 Prozent aller Amphibien sind vom Aussterben bedroht, schätzt die Weltnaturschutzunion. Andere Arten sind bereits für alle Zeit verloren. Zu den prominenten Opfern des Menschen zählen der Tasmanische Tiger oder der flugunfähige Vogel Dodo aus Mauritius. Doch auf dem Friedhof der Arten liegen längst Hunderte von Lebewesen. Nacktbrustkänguru, Rauchgrauer Flughund, Darwin-Reisratte, Östliches Irmawallaby, Schomburgk-Hirsch, Delalande-Seidenkuckuck, Molokai-Kletterkleidervogel, Goldkröte, Felsengebirgsschrecke – sie alle sind bereits vom Antlitz der Erde getilgt. Experten finden das erschreckend. Denn ohne biologische Vielfalt ist auch der Mensch dem Untergang geweiht. „Alle bio-
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logischen Systeme, auf die wir angewiesen sind, hängen vom Netz der Arten ab“, erläutert Schenck. Wenn sich immer mehr Knoten dieses Netzes lösen: „Wann reißt es, und was hat das für Konsequenzen?“, fragt er. „Wir wissen es nicht.“ Auf 58 Prozent der Erdoberfläche sei die Vielfalt heute schon so geschrumpft, dass die Ökosysteme nicht mehr richtig funktionierten, berichten Forscher im Fachmagazin „Science“. Immer mehr Daten werden von der Festplatte des Lebens gelöscht – mit katastrophalen Folgen für die Nahrungsversorgung und die Gesundheit des Menschen sowie für Wasserhaushalt, Klima und Fruchtbarkeit der Erde.
größere Bedrohung für die Zivilisation als der Klimawandel – aus dem einfachen Grund, weil es irreversibel ist“, sagt Peter Raven vom Missouri Botanical Garden in St. Louis. Auch der Biologe Paul Ehrlich von der kalifornischen Stanford University hält die planetare Artenkrise für lebensbedrohlich. „Reiche westliche Ländern schöpfen die Ressourcen des Planeten ab und zerstören Ökosysteme auf beispiellose Weise“, sagt Ehrlich, „wir haben eine große Aussterbewelle ausgelöst. Die Frage ist: Wie stoppen wir sie?“ Raven und Ehrlich waren Ende Februar auf einer Biodiversitätskonferenz des Vatikans in Rom zu Gast. Ehrlich nutzte die Gelegenheit und kritisierte die „Obsession“ des Papstes bei Verhütung und Abtreibung, nämlich deren Verbot. Denn der Hauptgrund für die Artenkrise liegt auf der Hand: „Niemand, der sich um den Zustand des Planeten sorgt, kann das Bevölkerungsproblem ignorieren“, sagt Ehrlich. Über sieben Milliarden Menschen leben auf der Erde, 2050 sollen es fast zehn Milliarden sein: Straßenbau, Umweltgifte, Landwirtschaft, Wilderei, Artenschmuggel, Klimawandel und der grenzenlose Rohstoffhunger sind schuld am Artentod. Die Regenwälder Sumatras gehen für die Palmölindustrie in Flammen auf – und mit ihnen die Lebensräume von Tiger und OrangUtan. In Südamerika räumen Rinderhalter, Goldwäscher und Holzfäller den Regenwald ab. Korallenriffe erbleichen, weil die Meere durch den Klimawandel immer wärmer werden und versauern. Die Gier nach Elfenbein und Nashorn-Hörnern vernichtet die letzten großen Landtiere der Erde. Wissenschaftler vergleichen die heutige Situation bereits mit den fünf großen Massensterben, die es auf der Erde in den vergangenen 540 Millionen Jahren gegeben hat
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MACROTIS LEUCURA [KLEINER KANINCHENNASENBEUTLER]
Eingeschleppte Füchse, Katzen und Kaninchen setzten diesem australischen Beuteltier, auch Yallara genannt, zu. – Ausgestorben
NOCH GIBT ES etwa 10 Millionen Tier-
LIPOTES VEXILLIFER [CHINESISCHER FLUSSDELFIN]
Die chinesische Industrialisierung hat diesem nur im JangtsekiangGebiet beheimateten Delfin den Garaus gemacht. – Ausgestorben
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und Pflanzenarten auf der Erde. Rund 1,9 Millionen von ihnen sind wissenschaftlich beschrieben. An vielen Orten ist das Zerstörungswerk bereits weit fortgeschritten. Beispiel Regenwälder: Diese Biotope haben sich seit Jahrtausenden kaum verändert, sodass die Evolution hoch spezialisierte Lebewesen hervorbringen konnte, die in winzigen Nischen überdauern. 163 Käferarten fanden sich zum Beispiel ausschließlich in den Kronen der tropischen Baumart Luehea seemannii. Dabei ist das Gehölz aus der Familie der Malvengewächse nur eine tropische Baumart unter rund 50 000. Zwischen 30 und 150 Arten werden weltweit jeden Tag ausgerottet, eine absurd hoch anmutende Zahl, die Biologen jedoch wegen der Artenfülle in den Tropen und deren rasanter Zerstörung für realistisch erachten. „Über die Hälfte der Regenwälder haben wir schon verloren“, sagt der Biologe Schenck,
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„DAS AUSSTERBEN DER ARTEN ist eine
– zuletzt vor etwa 65 Millionen Jahren mit dem Verschwinden der Dinosaurier. „Wir sind unmittelbare Zeugen eines der größten Artensterbens der Erdgeschichte“, schreibt der US-Ökologe Edward Wilson. Durch das Verhalten des Menschen habe das Tempo des Aussterbens „allein in den Regenwäldern um das 1000- bis 10 000-fache zugenommen“. Der Mensch begann schon früh, seine Mitgeschöpfe zu vernichten. Kaum den Steppen Afrikas enteilt, rottete der Homo sapiens zunächst alle anderen Menschenrassen aus, die es wie er nach Norden geschafft hatten. Alsbald machte er sich daran, die Großfauna zu vernichten: Mammuts, Riesenschildkröten, Säbelzahntiger und Gürteltiere in Kleinwagengröße besiedelten im Eiszeitalter die Welt – es gibt Hinweise, dass der Mensch an ihrem Aussterben zumindest beteiligt war. Vor etwa 12 000 Jahren bestellte ein Mensch dann erstmals ein Feld. Rind, Schwein, Huhn und Ziege brachte er alsbald unter die Knute. Damit begann sein Siegeszug. Der schlaksige Recke machte sich die Erde untertan. Rund 2,4 Millionen Menschen lebten vor 10 000 Jahren auf dem Planeten. Ökologisch fielen sie kaum auf. Doch um 1800 gab es bereits eine Milliarde Menschen auf der Erde, um 1900 waren es 1,6 Milliarden. In den vergangenen 100 Jahren hat sich ihre Zahl nochmals mehr als vervierfacht. Immer mehr Platz nimmt der Homo sapiens für sich in Anspruch; und eine Welt, die einst reine Wildnis war, verwandelt sich in eine Beton- und Agrarwüste.
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„und viele der verlorenen Arten waren noch nicht einmal entdeckt.“ Schenck hat sein Büro im vierten Stock des Gesellschaftshauses des Frankfurter Zoos. Bernhard Grzimek, einst Deutschlands Artenschützer Nummer eins, wohnte früher in den Räumen. Im eleganten Einreiher plauderte Grzimek in seiner Fernsehsendung „Ein Platz für Tiere“ über See-Elefanten oder Trompeterschwäne, während ihn ein jeweils passender tierischer Partner aus dem Frankfurter Zoo umschmeichelte. Weltweite Berühmtheit verschaffte sich der Tierheger allerdings erst, als er nach Afrika aufbrach. Die britische Verwaltung des damaligen Tanganjika wollte die Grenzen des Serengeti-Parks neu ziehen. Grzimek bestimmte die Wanderwege der Wildtiere aus der Luft und machte das Gebiet mit seinem Oscar-prämierten Kinofilm „Serengeti darf nicht sterben“ weltberühmt. Heute ist der Serengeti-Nationalpark eines der letzten großen Wildnisgebiete der Erde. „Schon Grzimek erkannte, dass gegen den Artentod vor allem der Schutz von Lebensraum hilft“, schwärmt Schenck, ein Konzept, das die ZGF bis heute verfolgt. So engagiert sich die Organisation für die Berggorillas an den Hängen der Virunga-Vulkane in Zentralafrika. In den rumänischen Karpaten kaufen die Naturschützer Urwaldgebiete auf. In Indonesien wiederum versuchen sie, den Bukit-Tigapuluh-Nationalpark um eine Pufferzone zu erweitern. Dort leben noch Sumatra-Tiger, malaysische Tapire und Orang-Utans. Etwa 35 Hotspots der bedrohten Artenvielfalt gibt es auf der Erde. Auf nur 2,3 Prozent der Landfläche leben dort drei Viertel aller bedrohten Säugetiere, Vögel und Amphibien. „Es ist enorm wichtig, diese Flächen zu sichern“, sagt Schenck, „und die Schutzgebiete müssen groß genug sein, damit die Ökosysteme auch noch funktionieren können.“ Deshalb kümmern sich die Artenschützer vorwiegend um Wildnisgebiete ab 1000 Quadratkilometer Größe. Wo derlei weitläufige Natur nicht mehr existiert, empfiehlt Schenck, zumindest ein Netz von Schutzgebieten zu knüpfen, die durch Korridore miteinander verbunden sind. Beispiel Deutschland: Hierzulande gibt es 16 Nationalparks, von der Gezeitenlandschaft des Wattenmeeres an der Nordsee über die weiten Buchenwälder des Nationalparks Kellerwald-Edersee bis hinunter in die Alpen bei Berchtesgaden, wo noch Gämsen äsen. Rund 0,6 Prozent der Landesfläche stehen derzeit unter strengem Schutz. Zwei
NEOFELIS NEBULOSA BRACHYURA [TAIWANISCHER NEBELPARDER]
Seit 1983 wurde kein Exemplar dieser auf Taiwan heimischen, durch Jagd und Abholzung ihres Lebensraums bedrohten Unterart des Nebelparders mehr gesichtet. – Ausgestorben
ATELOPUS IGNESCENS [JAMBATOKRÖTE]
Diese in Ecuador heimische Kröte galt als ausgestorben, bis 2016 einige Exemplare entdeckt wurden. – Akut vom Aussterben bedroht
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Prozent Wildnis will die Bundesregierung bis 2020 ausweisen, „ein ambitioniertes, aber nicht unrealistisches Ziel“, sagt Manuel Schweiger, Referent der Initiative „Wildnis in Deutschland“. Vor allem ehemalige Truppenübungsplätze könnten sich in „die Urwälder von morgen verwandeln“. DOCH WIRD DAS REICHEN, um den
Trend umzukehren? Zwar schleichen wieder mehr Wildkatzen und Luchse durch deutsche Wälder, und der Wolf kehrt zurück. Doch das Artensterben geht auch hierzulande um. Das Bundesamt für Naturschutz rechnet damit, dass in den kommenden Jahren ein Drittel aller hiesigen Pflanzen- und Tierarten aussterben wird. Bayerische Kleinwühlmaus, Europäischer Ziesel, Schwarzstirnwürger, Zwergtrappe, Braunbrüstige Hosenbiene, Orangeroter Heufalter, QuirlKümmel – in Deutschland sind sie und viele andere nicht mehr zu finden. Schuld ist vor allem der größte Artenkiller der Erde: die industrielle Landwirtschaft. Mehr als die Hälfte Deutschlands ist Agrarland. Eigentlich bietet die über Jahrhunderte gewachsene Kulturlandschaft re-
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lativ vielen Arten ein Zuhause. Ehemalige Steppenbewohner kommen oft auch auf Feldern klar, viele Moorvögel finden sich auf feuchten Wiesen zurecht. Doch der massive Einsatz von Kunstdünger und Pestiziden und die monotone Fruchtfolge der Intensivlandwirtschaft sind für viele Arten tödlich. 45 PROZENT ALLER VÖGEL, die in Agrarlandschaften leben, stehen auf der Roten Liste. Selbst Allerweltstiere wie die Feldlerche machen sich rar. Die Bestände der acker- und grünlandtypischen Pflanzen sind um bis zu 95 Prozent eingebrochen. Dass die konventionelle Landwirtschaft den Artenkollaps mitverursacht, hat das Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung in Müncheberg jüngst bestätigt. Im Auftrag des World Wide Fund for Nature (WWF) verglichen die Forscher konventionelle und ökologisch bewirtschaftete Felder in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Die Vielfalt der Ackerwildkräuter, so zeigte sich, ist auf Ökoäckern bis zu neunmal höher. Kornblume, Lämmersalat oder Feld-Rittersporn wachsen dort bis zu 20mal häufiger. Die Studie ist Teil des Projekts „Landwirtschaft für Artenvielfalt“, für das der WWF mit Edeka und dem ökologischen Anbauverband Biopark kooperiert. 60 Biohöfe beteiligen sich aktuell und versuchen, ihre Produkte besonders artenfreundlich herzustellen. Sie lassen sogenannte Drilllücken im Acker, die nicht besät werden und auf denen eine Vielzahl an Wildkräutern blüht. Auf dem Grünland wiederum bleiben breite Streifen ungemäht, damit dort Feldvögel brüten können, deren Gelege sonst der Mähmaschine zum Opfer fielen. „Schon kleine Veränderungen haben großen Nutzen für die Vielfalt“, schwärmt Markus Wolter vom WWF. Als Kompensation für die geringeren Erträge zahlt Edeka den Bauern einen Aufpreis. Inzwischen sei das Label des Projekts auf 95 Edeka-Nord-Produkten zu finden, sagt Wolter: „Da kann der Kunde selbst erkennen: Mit diesem Produkt tue ich etwas für den Artenschutz.“ Doch wie gewillt ist der Mensch, sich der Kreatur zu erbarmen? Wen kümmern schon Zibetkatze, Eskimo-Brachvogel oder AdriaStör? Der Artenschutz gilt vielen immer noch als Liebelei zottelbärtiger Naturfreunde. Doch der Verlust der Vielfalt werde „den Planeten verarmen lassen und die Evolution von Millionen von Jahren rückgängig machen“. So bewerteten Forscher im Fachblatt „Annual Review of Ecology, Evolution, and Systematics“ den Artentod. Vielfalt sei kei-
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ZAGLOSSUS BRUIJNI [WESTLICHER LANGSCHNABELIGEL]
Dieser Säuger aus der Familie der Ameisenigel lebt auf Neuguinea und wird als Delikatesse stark gejagt. – Akut vom Aussterben bedroht
CAMPEPHILUS PRINCIPALIS [ELFENBEINSPECHT]
Dieser zweitgrößte Specht Nordamerikas war bereits um 1880 bedroht, ob es heute noch Exemplare gibt, ist unklar. – Akut vom Aussterben bedroht
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nesfalls nur ästhetisch oder kulturell bedeutsam: „Ernährung, Wirtschaft und Gesundheit hängen auf tausendfache Weise vom Zustand der Tiergemeinschaften ab.“ Reis, Weizen, Kartoffeln, Mais, Bohnen, aber auch Baumwolle und Flachs, Wolle, Kokosfett, Aspirin und Penicillin und alles andere, was wir essen, trinken, einnehmen oder am Körper tragen, sei „aus der Fülle der Möglichkeiten ausgewählt, die uns die Natur bietet“, schreibt der Ökologe Wilson, „aber unsere Abhängigkeit von der Gesamtheit aller Lebewesen ist noch viel größer und wahrhaft bedingungslos“. Wilson hat durchgespielt, was geschähe, wenn es auf der Welt plötzlich zum Beispiel keine Insekten und andere Gliedertiere mehr gäbe: „Verschwänden sie alle, könnte die Menschheit vermutlich nicht länger als einige Monate überleben.“ Auch Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere würde es alsbald dahinraffen. Dann würden die meisten Blütenpflanzen verschwinden und mit ihnen auch Wälder, Wiesen und Auen. „Das Land würde buchstäblich verrotten“, schreibt Wilson. Pilze würden sich zunächst einer Bestandsexplosion erfreuen, dann aber gleichfalls dahinsiechen. „Das Land würde so aussehen wie vor etwa 500 Millionen Jahren; es wäre von Matten flacher Vegetation bedeckt, die vom Wind bestäubt werden würde, und hier und da stünden Gruppen kleiner Bäume und Büsche. Tiere gäbe es so gut wie nicht.“ Menschen sind darauf angewiesen, dass andere Lebewesen Nahrung und alle möglichen Materialien liefern. „Ökosystemleistungen“ nennen Forscher die Geschenke der Natur. Sie sind bares Geld wert. Die Insektenbestäubung von Pflanzen ist so wertvoll wie zehn Prozent der globalen Nahrungsproduktion, schätzen Experten. Insekten leisten zudem allein in den USA biologische Schädlingsbekämpfung im Wert von etwa 4,5 Milliarden US-Dollar jährlich. Wälder speichern Wasser und säubern die Luft. Salzmarschen und Mangroven schützen vor Stürmen und sind Kinderstube für Fische. Und kaum eine Art ohne verblüffende Fähigkeit: Welse der Gattung Panaque etwa tragen Bakterien in ihrem Darm, deren Enzyme die Papierproduktion verbessern können. Miesmuscheln liefern Klebstoff, der auch Feuchtes und damit beispielsweise Operationsnarben verklebt. Das Gift des Südamerikanischen Buschmeisters, einer Schlangenart, enthält Substanzen, die den Blutdruck regulieren. Die Entdeckung führte zu Medikamenten, die Hunderten Millio-
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nen Menschen helfen. Oder Thermus aquaticus, ein Bakterium aus den heißen Quellen des Yellowstone-Nationalparks: Ohne die Kenntnis der biochemischen Tricks dieser Art wäre die Polymerase-Kettenreaktion nie entwickelt worden, mit der DNA vervielfältigt werden kann. Eine Multimilliardenindustrie hängt von der Methode ab. Was also ist zu tun, um den Artenschatz der Erde zu bewahren? Die Weltgemeinschaft tut sich schwer, den Schutz der Vielfalt durchzusetzen. Bis 2020 sollen der Verlust an natürlichen Lebensräumen halbiert, die Überfischung der Weltmeere gestoppt sowie 17 Prozent der Landfläche und 10 Prozent der Meere unter Schutz gestellt werden. So steht es in den Zielen der Uno-Konvention zur Biodiversität. DOCH DER RETTUNGSPLAN erscheint
illusorisch. Und Biologen entwerfen immer verzweifelter wirkende Projekte, um einzelne Arten zu retten. Im Golf von Kalifornien beispielsweise lebt der Vaquita, einer der kleinsten Wale der Welt. 2016 zählten Forscher nur noch 30 Exemplare des anderthalb Meter langen, auch Golftümmler genannten Tieres. Um die Art in die Zukunft zu retten, überlegen Biologen, alle verbliebenen Golftümmler einzufangen, um sie zu züchten. Oder die Socorro-Taube von der gleichnamigen mexikanischen Pazifikinsel: Das letzte wilde Exemplar wurde 1972 gesichtet. Vor allem eingeschleppte Katzen hatten den Vogel ausgerottet. Seither gibt es die Socorro-Taube nur noch in Zoos, weltweiter Bestand: 158 Exemplare. In den Vogelhallen des Zoos Frankfurt leben zum Beispiel sechs der Raritäten. Gerade sind Junge geschlüpft. Das Gehege ist durch einen „Eingewöhnungsvorhang“ abgeschirmt – damit die Kleinen in Ruhe flügge werden können. „Wir hoffen, dass die Socorro-Taube bald ausgewildert werden kann“, sagt Zoodirektor Manfred Niekisch. Der Insel-Lebensraum werde derzeit für die Wiederansiedlung vorbereitet. Niekisch sieht den „Aufbau von Reservepopulationen“ als eine der wichtigsten Aufgaben der globalen Zoogemeinschaft. „Ohne die Erhaltungszuchtprogramme gäbe es eine ganze Reihe von Arten nicht mehr“, sagt der Zoodirektor. Christof Schenck von der ZGF jedoch sieht die Programme zwiespältig: „Die Zucht macht wenig Sinn, wenn es die Lebensräume nicht mehr gibt.“ Als Beispiel nennt er den Sumatra-Tiger. Das Tier sei fast ausgestorben, „und die Hoffnung, dass wir in Sumatra statt der Palmölplantagen irgendwann wieder einen
CYANOPSITTA SPIXII [SPIX-ARA]
Der Erhalt dieses kleinen blauen Aras soll durch Zuchtprogramme in Brasilien gesichert werden. – Akut vom Aussterben bedroht
DICEROS BICORNIS [SPITZMAULNASHORN]
Dieser afrikanische, bis zu 1400 Kilogramm schwere Savannenbewohner wird wegen seiner Hörner stark gejagt. – Akut vom Aussterben
Urwald haben werden, wo ein Tiger leben kann, wird sich nicht erfüllen“. „Wie lange wollen wir eine solche Art im Zoo halten?“, fragt Schenck. „Und wäre das Tier nach ein paar Generationen genetisch überhaupt noch ein Sumatra-Tiger, der in der Wildnis überleben könnte?“ Schenck sieht die einzige Lösung der Artenkrise im Flächenschutz. Biologische Vielfalt sei nicht nur Artenvielfalt, sondern auch genetische Vielfalt und die Vielfalt der Ökosysteme. Diese ließen sich nur durch „schlaue Landplanung“ erhalten. Auch der Verbraucher ist gefordert. Wer Biolebensmittel kauft, möglichst aus heimischem Anbau, hilft auch den Arten. Vor allem aber ist Verzicht oberste Artenschützerpflicht. Der WWF rechnet es in seinem „Living Planet Report“ von 2016 vor: Mehr als die Hälfte der Ressourcen, die hierzulande genutzt werden, stammt aus anderen Ländern. „Wir können nur so leben, wie wir es tun, weil wir ein Vielfaches des Landes nutzen, das wir in Deutschland zur Verfügung haben“, erläutert Schenck. Doch das Land fehlt dann andernorts. Dort verschärft sich die Naturzerstörung. In Afrika zeichnet sich bereits ab, dass die Natursysteme, etwa die Wasserversorgung, vielerorts zusammenbrechen werden. „In den kommenden 40 Jahren wird Afrikas Bevölkerung um eine Milliarde wachsen“, sagt Schenck, „sehr viele dieser Menschen werden dort nicht mehr überleben können und wegziehen müssen.“ Der westliche Lebensstil ist auf diese Weise auch mitverantwortlich für die Flüchtlingsströme. Vor allem aber fordern Experten, die Artenkrise endlich genauso ernst zu nehmen wie den Klimawandel oder die Umweltverschmutzung. „Was gibt uns das Recht zu urteilen, wer auf diesem Planeten leben darf und wer nicht?“, fragt Schenck, „was hinterlassen wir denen, die noch nicht geboren sind, und welche Chancen nehmen wir ihnen, wenn wir jetzt die Vielfalt vernichten?“ Edward Wilson hat es einmal so ausgedrückt: Die Zerstörung eines so großen Teils des Artenschatzes werde vermutlich jene Sünde sein, „für die unsere Nachkommen am wenigsten bereit sein dürften, uns zu vergeben“.
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Als Biologe erforschte Philip Bethge vor fast 20 Jahren das eierlegende australische Schnabeltier. Seit damals kennt er den besten Grund, warum selbst die merkwürdigsten Tierarten unbedingt erhalten bleiben sollten: einfach weil es sie gibt.
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Berge Zentralasiens
Kaukasus Kalifornische Flora
Berge Südwestchinas
Mittelmeerküste
Madrean-KiefernEichen-Wälder Karibik
Mesoamerika Tumbes-ChocóMagdalena
Polynesien/ Mikronesien
Savannen ZentralBrasiliens Tropische Anden
IndoWest- Burma ghats Horn von Afrika Sri Lanka Sundaland
Östliche afromontane Wälder Guineischer Wald Westafrikas
Polynesien/ Mikronesien
Ostmelanesische Inseln Wallacea
Brasiliens Küstenwälder
Madagaskar und Inseln des Indischen Ozeans
SukkulentenKaroo in MaputalandSüdafrika Kap- Pondoland-Albany flora
Valdivianischer Regenwald / Chile
Japan Philippinen
Irano-Anatolien Himalaja
Neukaledonien
SüdwestAustralien Ostaustralische NeuWälder seeland
Quelle: Biological Conservation
HOTSPOTS Besonders wertvolle Regionen aufgrund hoher Artenvielfalt
Vögel
Zeitraum: 1500 bis 1600
1700 bis 1800
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1600 bis 1700
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RAUBBAU Werden Fischfang und Jagd nicht nachhaltig betrieben, bedrohen sie die Arten. Viele Tiere werden auch unbeabsichtigt getötet, beispielsweise als Beifang in der Fischerei.
KLIMAWANDEL Die Temperaturveränderungen zwingen einige Arten, in andere Regionen auszuweichen, bei anderen wird die Fortpflanzung beispielsweise durch Nahrungsknappheit gestört.
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FÜNF FORMEN DER BEDROHUNG
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Quelle: BfN (Rote Listen seit 2009)
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Gefährdungssituation der Tiere, in Prozent
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BEDROHT IN DEUTSCHLAND
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AUSGESTORBENE ARTEN
Das 6. Massenaussterben? Fünf Massenaussterben ereigneten sich in den vergangenen 540 Millionen Jahren auf der Erde, verursacht durch Klimawandel, Vulkanausbrüche oder Meteoriteneinschläge. In den letzten 500 Jahren stieg die Aussterberate deutlich an, sodass Wissenschaftler ein sechstes Massenaussterben befürchten. Verursacher diesmal: der Mensch.
Anteil an den in der Roten Liste begutachteten Arten
1,6 %
1,4 %
5567 bedroht .........1194 ausgestorben...... 83 bekannt .......
1,2 %
Quelle: IUCN
1,0 %
Säugetiere 0,8 %
0,6 %
Reptilien, Amphibien, Fische 11 121 bedroht ....... 1460 ausgestorben....156 bekannt ......
51 400 * bedroht ....... 5506 ausgestorben....124 bekannt ..
0,4 %
* von 22 006 begutachteten Arten
Artensterben bei „normaler“ Entwicklung
1800 bis 1900
0,2 %
Quelle: Ceballos et al.
1900 bis 2014
0,6 %
67%
80 %
34 %
der Landfläche Deutschlands sind sogenannte Wildnisgebiete.
wird die durchschnittliche Abnahme der untersuchten Wirbeltierbestände voraussichtlich von 1970 bis 2020 betragen.
der weltweiten Artenvielfalt sind wissenschaftlich noch nicht beschrieben.
der gesamten Landfläche der Erde werden landwirtschaftlich genutzt.
Quelle: WWF; BfN
VERLUST VON LEBENSRÄUMEN Industrielle Landwirtschaft, Abholzung von Wäldern, Bau von Verkehrswegen, wachsende Städte und der Abbau von Rohstoffen bedrohen Tiere und Pflanzen.
UMWELTVERSCHMUTZUNG Eine Ursache für Artensterben ist beispielsweise eine Ölpest, die unmittelbar tötet. Weitere Folgen von Umweltverschmutzung sind die Verknappung der Nahrung oder eine Schädigung der Fortpflanzungsfähigkeit der Tiere.
BIOLOGISCHE INVASION Einheimische Tiere und Pflanzen werden von Arten verdrängt, die der Mensch bei seinen weltweiten Reisen und Transporten einschleppt. Beispielsweise erobert in Australien die dort 1935 erstmals ausgesetzte Aga-Kröte den Osten des Kontinents und bedroht die heimische Fauna.
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ANETTE NANTELL / DN / TT / DPA
Natur?
kippt
Wann
PROGNOSE
Der Umweltforscher Johan Rockström berechnet mit dem Modell der „planetarischen Grenzen“ das Risiko unserer Selbstzerstörung. TEXT
JOACHIM MOHR
EINE FRAGE, die wesentlich über die Zu-
kunft der Menschheit entscheidet: Wann wird das Ökosystem der Erde so massiv geschädigt sein, dass die Natur, wie wir sie kennen, sich radikal verändert? Dass die Umwelt für den Menschen zur Bedrohung wird? Und dass eine Rückkehr der Welt zu menschenfreundlichen Bedingungen kaum mehr möglich ist? „Die Belastung des Erdsystems durch den Menschen hat ein Ausmaß erreicht, bei dem plötzliche globale Veränderungen nicht mehr auszuschließen sind“, warnt Johan Rockström, Direktor des Resilience Centre an der Universität Stockholm. „Um weiterhin sicher leben zu können, muss der Mensch innerhalb fester Grenzen der Umwelt agieren.“ Rockström ist kein Apokalyptiker, der die Welt schon heute am Rande des Abgrunds wähnt. Er ist vielmehr geistiger Vater der Idee von den „planetarischen Grenzen“. Gemeint ist damit, dass die Erde nur bis zu bestimmten Grenzwerten durch schädliche menschliche Eingriffe belastet werden kann; wenn diese Werte überschritten sind, kommt der Planet unwiderruflich aus dem Gleichgewicht. Dieses Konzept, das er gemeinsam mit anderen namhaften Forschern erarbeitet hat, identifiziert neun Umweltprozesse, die entscheidend dafür sind, wie stabil und be-
WEITERLESEN J O H A N R O C K S T R Ö M , MATTIASKLUM : „Big World Small Planet“. Ullstein; 272 Seiten; 24 Euro.
lastbar unsere Natur ist. Damit das Überleben der Menschheit nicht nur heute, sondern auch in Jahrhunderten noch gesichert ist. Denn die Zivilisation sei, so der Umweltforscher, langfristig auf ein dem Menschen zuträgliches Ökosystem angewiesen. Doch wie lassen sich die planetarischen Grenzen erkennen, die der Mensch in seinem eigenen Interesse nicht übertreten darf? Wie weit kann er die Natur beeinflussen und verändern, ohne selbst Schaden zu nehmen? Wie lässt sich seriös berechnen, wann die Gefahren für die Umwelt – etwa durch Klimawandel oder Verschmutzung der Meere – nicht mehr zu stoppen sind? Die großen Risikofaktoren sind nach Rockströms Untersuchungen: • der Klimawandel, • das Artensterben und damit der Verlust biologischer Vielfalt, • die Versauerung der Meere, • die Luftverschmutzung, • der Abbau der Ozonschicht, • der Verbrauch von Süßwasser, • zu viel Stickstoff und Phosphor in der Natur, • der Verbrauch an Landfläche, • die chemische Verschmutzung durch Gifte, radioaktive Materialien, Mikroplastik und andere gefährliche Stoffe. Jeden dieser Faktoren haben die Wissenschaftler ausführlich betrachtet und daraufhin bewertet, ob die Lage auf der Erde noch sicher, schon unsicher oder gar gefährlich ist. In vier Bereichen sind die planetarischen Grenzen nach neuesten Berechnungen bereits überschritten: beim Klimawandel, beim Artensterben, beim Eindringen von Stickstoff und Phosphor in Luft, Boden und Wasser sowie beim Verbrauch unberührter Landfläche.
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Aus Sicht von Rockström besteht in der 4,5 Milliarden Jahre langen Geschichte der Erde erst seit etwa 10 000 Jahren, nach der bisher letzten Eiszeit, ein stabiler Zustand in der Natur mit für Säugetiere angenehmen Temperaturen sowie einer vielfältigen Flora und Fauna. Erst dies ermöglicht dem Menschen ein einigermaßen komfortables Leben und eine stetige Entwicklung. MIT BEGINN der Industrialisierung geriet
das Gleichgewicht jedoch ins Wanken. „Seit der industriellen Revolution sind wir der verrückten Idee aufgesessen, unsere Handlungen hätten keine Konsequenzen“, sagt Rockström. Insbesondere seit den Fünfzigerjahren sieht Rockström eine „große Beschleunigung“ in der Belastung der Umwelt. Der Ressourcenverbrauch – Rohstoffe, Land, Wasser, Luft – steigt dramatisch an. Natürlich ist es schwierig, exakte planetarische Grenzen festzulegen; sie zu verfeinern und an neuesten Erkenntnissen auszurichten, daran arbeiten stetig zahlreiche Experten. Dabei sind die einzelnen Faktoren nicht unabhängig voneinander zu sehen: Jede einzelne überschrittene Grenze kann eine Dynamik erzeugen, die auch die anderen Faktoren negativ beeinflusst und damit die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass das System Erde sich radikal verändert. Werden bestimmte rote Linien überschritten, kann das globale Ökosystem kippen. Rockström hat 2015 den Deutschen Umweltpreis erhalten, seinem Konzept wurde in der Laudatio „epochale Wirkung“ zugesprochen. Tatsächlich flossen seine Ansätze mittlerweile rund um den Globus in viele politische Konzepte zur Zukunft des Planeten ein, bei der Europäischen Union ebenso wie bei den Vereinten Nationen. Dabei verdammt Rockström weder Technik noch wirtschaftliches Wachstum. Allerdings fordert er, dass es „innerhalb der planetarischen Grenzen“ stattfindet. Als absolut notwendig erachtet er, dass die Menschheit bis Mitte dieses Jahrhunderts vollständig auf erneuerbare Energien umsteigt und den Übergang zur nachhaltigen Landwirtschaft schafft. „Lassen sich die Absichten aller Menschen auf der Welt befriedigen und können wir dennoch innerhalb eines sicheren Handlungsrahmens des Planeten bleiben?“, fragt Rockström. „Im Augenblick hat niemand eine Antwort darauf.“
Joachim Mohr liebt das Fahrradfahren, zur Arbeit und zurück 18 Kilometer: für die Umweltbilanz besser als Auto, Bus und Bahn.
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Das Meer wird leer
Ein Dorsch hängt im Netz: Die Mindestlänge, die Randy Repenning fischen darf, liegt bei 38 Zentimetern – darauf ist die Maschengröße ausgelegt.
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Der Dorschbestand in der deutschen Ostsee schrumpft. Die Gründe? Darüber streiten Betroffene und Experten. Der Fischer Randy Repenning aber kämpft um seine Existenz. TEXT
AN DER OSTMOLE VON STRANDE gibt es einen schaukelnden Lichtfleck, es sind die Lampen von Randy Repennings rot-weißem Kutter SK2, der sich, noch fest vertäut, schon mal warm tuckert. Das Meer bäumt sich schwarz hinter der Kaimauer, es ist ziemlich windig und kalt, 3.50 Uhr morgens, vier Grad Celsius. Später soll es noch regnen, Sturmböen sind angekündigt. Da draußen in der Kieler Förde liegen zwei Kilometer Netze, und die muss Randy jetzt einholen. Wie fast jeden Morgen. Schwer vorzustellen, dass das ein Traumberuf sein soll. Randy sagt, er sei schon als Kind mit seinem Vater hinausgefahren, für den sei der Fischfang aber nur ein Nebenerwerb gewesen. „Das hätte ich auch so machen können, wenn ich gewusst hätte, was ich sonst tun sollte“, sagt Randy. Er redet bedächtig und langsam, so wie man hier oben an der Küste spricht. Erst denken, dann reden. „Eigentlich wollte ich das schon immer machen.“ Randy ist gelernter Fischer, er hat ein Kapitänspatent und einen eigenen Kutter, den
MARIANNE WELLERSHOFF F OTO S LARS BERG
er noch abbezahlen muss. 23 Jahre ist Randy alt, 40 Jahre wird er also mindestens noch arbeiten müssen bis zur Rente, und da wäre es gut, wenn er einen Beruf mit Zukunft hätte. Aber das mit der Zukunft wird schwierig, denn der Dorsch in der westlichen Ostsee ist selten geworden. Gestern Nacht hat Randy nur 30 Kilogramm gefischt, 15 bis 20 Dorsche schätzungsweise. „Normal wären 100 Kilo“, sagt er, „aber das Wasser war so komisch bräunlich.“ Liegt es wirklich nur am Wasser? Wie steht es um den Gadus morhua, wie der lateinische Name des Ostseedorschs lautet? Hier in den Fanggebieten 22 bis 24, also in der westlichen Ostsee vor der deutschen Küste, ist die Biomasse, wie die Fachleute die Gesamtmenge des Fischbestands nennen, in den vergangenen Jahren geschrumpft. Aber wie sehr sie geschrumpft ist, darüber gibt es unterschiedliche Ansichten, je nachdem, wen man fragt. Jeder hat seine eigene Perspektive, sein eigenes Interesse. Rainer Froese vom Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel sagt, dass gerade
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die letzte Chance verspielt werde, den Dorsch in der westlichen Ostsee zu erhalten. Lorenz Marckwardt, Vorstandsvorsitzender des Landesfischereiverbands SchleswigHolstein, wählt den Vergleich mit einer Ampel und sagt, in der westlichen Ostsee befinde man sich im grün-gelben Bereich, „also aufpassen, beobachten, nicht übertreiben“. Randy meint: „Die mit den großen Kuttern haben es wohl übertrieben.“ Um 56 Prozent wurde deshalb für 2017 die Fangquote gesenkt, Froese und andere Experten hatten eine Reduktion von 87,5 Prozent gefordert. Randy Repenning darf in diesem Jahr neun Tonnen, also 9000 Kilogramm, Dorsch mit seinem Elf-Meter-Kutter fischen. Von der Genossenschaft bekommt er 2,50 Euro pro Kilo, was einen maximalen Jahresumsatz von 22 500 Euro bedeuten würde. Davon muss er Diesel kaufen und den Kutter abstottern, für den er vor zwei Jahren 150 000 Euro hingelegt hat, und dann kommen die Reparaturen dazu. Gerade ist ein Gashebel kaputt, deshalb schiebt sich das Schiff nur mit sechs statt mit acht Knoten durch die Nacht. Die Ersatzteile kosten „600 Euro und ein paar Zerhackte“, das haut rein. Also versucht Randy, seinen Fang direkt zu vermarkten, indem er die Hotels in Strande abklappert. Die zahlen 5 Euro pro Kilo, da käme er auf 45 000 Euro Umsatz pro Jahr. Schon besser. Aber dafür müssen auch die Netze voll
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sein. „Wenn ich die Quote nicht ausschöpfe“, sagt Randy, „dann wird es kritisch.“ Während der Autopilot den Kutter über das nachtschwarze Meer Richtung Kieler Bucht steuert, zieht Randy sich um. Raus aus den Lederboots, rein in Gummistiefel und knallorange Gummihosen und Gummijacke, über die Hände zieht er Gummihandschuhe. Randy ist der einzige Berufsfischer in Strande. Der Letzte seiner Art, alle anderen im Ort haben aufgegeben. Nachmittags ausfahren, die Stellnetze auslegen, in aller Herrgottsfrühe wieder los, Netze reinholen, danach das Boot säubern, die Dorsche verkaufen, das Logbuch führen, das alles für 30 Kilo Fisch, für 75 bis 150 Euro Umsatz? Wäre der Treibstoff nicht subventioniert und gäbe es nicht die Erfindung des Powerblocks, der die Netze automatisch einzieht und den zweiten Mann einspart, jede Ausfahrt wäre ein Zuschussgeschäft. ES IST MÄRZ und damit Laichzeit für den Dorsch. Kutter über 15 Meter dürfen im Februar und März deshalb nicht auf Dorschfang gehen. Fischer mit kleineren Booten dürfen ihre Stellnetze nur bis zu einer Tiefe von 20 Metern auslegen. Weil der Dorsch unterhalb von 20 Metern ablaicht. Allerdings ist die westliche Ostsee fast überall flacher als 20 Meter, die gesamte Kieler Bucht zum Beispiel. Kein Laich, kein Nachwuchs, so einfach ist das. „90 Prozent der Dorsche werden erst bei einer Länge von 42 Zentimetern ge-
Im Jahr 2016 habe es praktisch keinen Dorschnachwuchs gegeben, sagt der Meeresbiologe Froese. schlechtsreif“, sagt Meeresbiologe Rainer Froese. Doch in den Maschen der Fischernetze sollen sich hier vor Schleswig-Holsteins Küste schon Dorsche ab 38 Zentimeter Länge verfangen. „Da haben die schon viermal abgelaicht“, sagt der Fischerlobbyist Lorenz Marckwardt. Das sei Unsinn, entgegnet Thilo Maack, Meeresbiologe und Fischspezialist bei Greenpeace. Dorsche wachsen ihr Leben lang, und je größer die Weibchen werden, desto mehr und desto besseren Laich produzieren sie. Aber vierbis sechsjährige Dorsche gebe es praktisch
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nicht mehr, sagt Froese. Und wie viele der Zwei- bis Dreijährigen es bis zur Geschlechtsreife schaffen, wie viele von ihnen dann die Laichplätze erreichen und wie viel Nachwuchs sie dort produzieren werden, sei vollkommen ungewiss. Denn es müssen auch die Umweltbedingungen stimmen: Frisches Salzwasser aus der Nordsee muss in die Ostsee einfließen, damit die Eier gut schweben, es muss windig sein, damit sich die Wasserschichten mischen, aber nicht zu windig, weil dann die dichten Futteransammlungen, die Patches, auseinandergetrieben werden und der geschlüpfte Dorschnachwuchs verhungert. Je weniger Laich, desto unwahrscheinlicher, dass daraus eine starke Dorschgeneration erwächst. 2016 habe es praktisch keinen Nachwuchs gegeben, obwohl die Rahmenbedingungen gut waren, sagt Froese. Gäbe es genügend Dorsche, könnten 20 Prozent eines Jahrgangs abgefischt werden, ohne den Bestand zu gefährden. Doch derzeit würden 50 bis 60 Prozent rausgeholt. Nein, falsch, auch eine geringe Zahl an Dorschen könne eine große Menge an Nachwuchs produzieren, antwortet Lorenz Marckwardt, das habe er alles schon erlebt. Und die Fischer würden doch nicht an dem Ast sägen, auf dem sie säßen! Die Wissenschaftler sollten endlich erforschen, warum der Dorschbestand in der westlichen Ostsee im grün-gelben Bereich sei. Theorien für den Schwund hat er aber auch selbst: Vielleicht liegt es an der Klimaerwärmung? Zieht der Dorsch ab? Sind die Freizeitangler schuld? Tatsächlich fangen diese genauso viel Dorsch wie die Berufsfischer, das haben wissenschaftliche Studien gezeigt. Deshalb gibt es jetzt erstmals eine Quote für Hobbyangler (siehe Kasten rechts). Und dann seien da noch diese ganzen Fressfeinde des Dorschs, ergänzt Lorenz Marckwardt: Kormorane, Schweinswale, Tauchenten, Seehunde, Kegelrobben, Fischreiher, „die fressen mehr, als den Fischern zugeteilt wurde“. Dann fügt er noch an: „Aber das ist Natur pur. Das will man ja.“ Thilo Maack von Greenpeace sagt: „Das ist ungefähr so, als würde man den Specht für die Entwaldung verantwortlich machen.“ Für Maack steht fest, wer die Hauptverantwortlichen für die Dorschkrise sind: „Die
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Kapitän Egbert Jasper fährt seit 40 Jahren Hobbyangler auf die Ostsee. Doch nun ist sein Geschäft um 70 Prozent eingebrochen. Die Dorschtouristen Klaus und Thomas Burkard hoffen, bei der Tour „die Tiefkühltruhe vollzumachen“.
P E T R I
H E I L
Neben den Profifischern gehen in der Ostsee auch Freizeitangler auf Dorschjagd – zum ersten Mal mit Fangquote.
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EGBERT JASPER sitzt in seinem Kapi-
tänshäuschen, raucht Kette und checkt die Lage. 7.15 Uhr im Hafen von Laboe, an der Südseite der Kieler Bucht, Sturmböen bis sieben Beaufort sind angesagt, da kann er nicht weit hinausfahren mit der MS „Blauort“, seinem großen dunkelblauen Kutter. „Jedenfalls nicht dorthin, wo ich hin will“, sagt Jasper, sonst hängen die Gäste über der Reling und füttern die Dorsche, die sie eigentlich angeln wollen. Für Lorenz Marckwardt, den Chef des schleswig-holsteinischen Fischereiverbands, sind Leute wie Jasper und seine Amateurkundschaft ein Ärgernis. „Wir Fischer müssen Schonzeiten und Quote einhalten, und der Freizeitangler kann 365 Tage im Jahr angeln.“ Aber in diesem Jahr müssen die Freizeitangler erstmals „ihr Scherflein beitragen“, wie Marckwardt es formuliert, und dürfen nur noch fünf Dorsche pro Tag aus dem Wasser holen, während der Laichzeit im Februar und März sogar nur drei. Die Quote soll den gefährdeten Fischbestand schützen. Dorsch Nummer vier kostet in der Laichzeit dann 75 Euro Strafe, falls man erwischt wird, für jeden weiteren zu viel geangelten Dorsch werden 25 Euro fällig. Eine skurrile Regelung, im Straßen-
verkehr wird das Strafmandat ja auch nicht umso billiger, je schneller man fährt. Elf Freizeitangler, alle in wasserfesten Outdoorjacken und -hosen, gehen an diesem Morgen an Bord. „Mindestens 70 Prozent weniger“ als im vergangenen Jahr zu dieser Zeit, sagt Jasper, ein Debakel. Darüber, dass die Berufsfischer Leuten wie ihm die Schuld am Dorschschwund geben, schüttelt Jasper den Kopf: „Von Kappeln bis Heiligenhafen sind wir der einzige Angelkutter“, erklärt er. Er fährt jetzt im Frühjahr nur an wenigen Tagen in der Woche auf die Ostsee, es fehlt die Kundschaft. Warum habe er eine tägliche Quote, beschwert sich Jasper, die Berufsfischer dagegen eine Jahresquote? „Ich hätte auch gern eine Jahresquote“, sagt er, „was macht der Angler den Rest des Tages, wenn er schon am Morgen drei Dorsche rausgeholt hat?“ Dass derzeit so wenige Dorsche in der westlichen Ostsee lebten, liege daran, dass es kaum Krebse gebe. Und dann habe sich im vergangenen Jahr ein Tankerunglück vor Dänemark ereignet, da habe eine Ladung Düngemittel gebrannt. „Welche Auswirkungen hatte das?“, fragt Jasper. Tuuut. Der Kutter hält, die Angler schwingen ihre Ruten über die Schulter nach vorn, die Schnüre mit den Bleigewichten fliegen ins Meer. Über die Haken sind dicke schwarze Wattwürmer gezogen, die die Männer morgens in Laboe im Angelshop gekauft haben, für 30 Cent pro Stück. Jasper hatte über den Bordlautsprecher verkündet, vormittags werde auf Plattfische geangelt – für Dorsche braucht man Gummifische, Pilker oder Blinker. Nicht alle haben die Ansage verstanden, bei dem Wind und dem laut arbeitenden Schiffsmotor.
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Thomas Burkard steht oben hinter der Kapitänskajüte an der Reling, neben ihm sein Vater Klaus. „Ich habe viel über den Dorsch gelesen“, sagt Burkard, „ich dachte, da gehst du nicht angeln, ich will der Natur nicht schaden.“ Dann seien sie aber doch gefahren, für drei, vier Tage, „um die Tiefkühltruhe voll zu machen“. Die Burkards kommen aus Bad Kreuznach, da lohnt die Reise sonst nicht. Es gehe mal hoch und mal runter mit dem Dorschbestand, 2015 sei „super“ gewesen, so Thomas Burkard, aber „es gibt Jahre, da fängst du gar nichts“. Ein anderer Angler erklärt: „Die Berufsfischer holen zu viel raus“, alles sei überfischt. DIE ANGELN BIEGEN SICH, ein Ruck,
zzzzzt wird die Schnur aufgerollt, am Haken zappelt eine Kliesche. Sie fliegt in die für zwei Euro Pfand geliehene Plastikkiste, aber so richtig herrlich ist die Stimmung an Bord nicht. Klieschen wehren sich nicht, die zu fangen ist Glückssache. Kann jeder. Der Dorsch dagegen kämpft. „Das weckt den Jagdinstinkt“, erklärt Kapitän Jasper. Seinen allerdings nicht, er angelt nämlich nie. Um 11.50 Uhr windet sich ein kleiner Dorsch an einem Angelhaken. Um 12.26 Uhr zappelt ein weiterer junger Dorsch in einer Kiste. 35 Zentimeter ist das Mindestmaß für von Freizeitanglern gefangene Dorsche – 3 Zentimeter weniger als das Mindestmaß, an das Berufsfischer sich halten müssen. Tuuut, es geht weiter zur nächsten Angelstelle. Auf der Rückfahrt duckt sich der Bug in die sturmgepeitschten Wellen, das Wasser spritzt in hohem Bogen über das Schiff. Triefend nass grinsen die Angler sich an. Am späten Nachmittag legt die MS „Blauort“ wieder im kleinen Hafen von Laboe an. Die elf Männer gehen von Bord, mit ihrem Angelzeug in der einen Hand und den Kühlboxen in der anderen. Einen weiteren Dorsch haben sie nicht gefangen. Aber auf Angeltour werden sie trotzdem wieder gehen.
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Experten fordern einen harten Schnitt: ein komplettes Fangverbot für zwei Jahre.
Schleppnetzfischer, die mit ihren Trawlern alles mitnehmen.“ Und nicht die „Handwerksfischer“ mit den Stellnetzen, zu denen Randy Repenning gehört. Trotzdem fordert er, wie Froese auch, einen harten Schnitt: ein komplettes Dorschfangverbot für zwei Jahre. Und Schutzgebiete, in denen auch danach nicht mehr gefischt werden darf. Deutschland hat solche Gebiete in der Ostsee sogar schon selbst vor zehn Jahren bei der EU angemeldet, dann aber nichts unternommen, um den eigenen Vorschlag in die Tat umzusetzen. Ein EU-Verfahren gegen Deutschland läuft. Und läuft. Und läuft. RANDY SCHIEBT den Gashebel zurück, an Steuerbord dümpelt eine Fahne im Wasser, sie markiert den Anfang des Netzes. Randy zieht sie auf den Kutter, den Anker hinterher. Dann fädelt er das Netz in den Powerblock ein, zwischen Metallführung und Gummitrommel, der Motor rattert los. Der erste Fisch, der im Plastiknetz zappelt, ist eine Babykliesche, ein Plattfisch. „So eine Lütte nimmt keiner mit“, sagt Randy, „die kann man nicht vermarkten.“ Er pult den Fisch aus den Maschen, wirft ihn ins Wasser.
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Die Chance, dass die Kliesche diese Proze- „Wenn ich Restaurants sehe, die Babydorsch dur überlebt, liege bei maximal 50 Prozent, anbieten, dreht sich mir der Magen um.“ Es sind zwar spezielle Dorschnetze, die sagt der Meeresbiologe Froese. Kleine Dorsche, die eigentlich durch die auf die 38 Zen- Randy benutzt, aber dann hängt ein Seeskortimeter Mindestgröße eingestellten Ma- pion in den Maschen. Wütend stellt er seine schen passen, aber sich doch verfangen ha- gezackten Flossen auf. „Wenn dich der richben, darf Randy nicht zurückwerfen: Auch tige Stachel erwischt, kannst du sehen, dass wenn er sie nicht verkaufen kann, werden du ins Krankenhaus kommst“, erklärt Randy. sie als Beifang auf seine Quote angerechnet. Essen könne man Seeskorpione auch nicht, Als Nächstes wird ein Wittling durch den „höchstens den Schwanz“. In den DorschPowerblock gequetscht. „Die Engländer ma- netzen könnten sich auch Meerforellen verchen Fish and Chips daraus“, sagt Randy, fangen, sagt Randy, „aber ich habe seit Moaber Strande liegt nicht in England, also naten keine gesehen“. Stattdessen holt er fliegt der Wittling zurück ins Meer. Das Algen aus dem Wasser und auch ein paar Netz verhakt sich im Powerblock, Motor in Seesterne. Die wirft er nicht zurück. den Rückwärtsgang, das Netz auseinander5.48 Uhr, alle 50 Netze sind eingeholt. ziehen, dann läuft es wieder. Nach zehn Mi- Während der Kutter nach Strande fährt, nuten hängt der erste Dorsch im Netz. Ran- nimmt Randy die müde mit dem Schwanz dy fasst ihm mit der einen Hand ins Maul, schlagenden Fische aus. Kehlschnitt, Bauchmit der anderen zieht er die Maschen he- schnitt, die Eingeweide sind für die Möwen, runter, er braucht Kraft dafür. Dann wirft die in der Morgendämmerung schreiend neer den Fisch in eine Plastikkiste, wo der erst ben dem Boot herfliegen. Um 6.09 Uhr legt mit dem Schwanz schlägt und dann nur Randy wieder an der Ostmole an. Nachher noch nach Luft schnappt. „Wenn die Kiste wird er mit vier Klieschen und rund 30 Kilo voll ist“, sagt Randy, „bin ich zufrieden.“ Dorsch zu einem Hotel fahren und sein Als nach einem Kilometer das Boot wen- Glück versuchen.
[email protected] det, um an der zweiten Hälfte der u-förmig ausgelegten Netze entlangzufahren, ist die Kiste halb voll. Kein Fisch, den Randy in dieMarianne Wellershoff hat sich als ser Nacht aus der Ostsee holt, ist kleiner als Schülerin für Igel begeistert und Jungtiere das Mindestmaß von 38 Zentimetern. Aber überwintert und Waisen großgezogen. viel größer ist auch keiner. Rainer Froese sagt:
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Randy Repenning ist der letzte Berufsfischer von Strande. Neun Tonnen Dorsch darf er pro Jahr aus dem Meer holen. Die Genossenschaft zahlt ihm 2,50 Euro pro Kilo.
Warum hatte man früher eigentlich Sparstrümpfe zum Sparen?
Wir können nicht alles erklären, aber wie man heute zeitgemäß Geld ansparen kann, schon
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Bedrohte Meere PLASTIKMÜLL
Bis zu
13 Mio. Tonnen
90 %
aller S
e e vö
ge l u
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Plastikmüll landen jährlich im Ozean. Daran verenden eine Million Seevögel und hunderttausend andere Meerestiere. Gifte wie Polychlorierte Biphenyle und Polyzyklische Aromatische Kohlenwasserstoffe reichern sich in der Nahrungskette an.
50%
k rö t e n h d e r M e e re s s c hil d
a b e n P l a st
i k i m Magen.
Wie lange es dauert, bis Müll sich im Ozean zersetzt Schätzungen Zeitung
Getränkekarton
Zigarettenfilter
Styroporbecher
Getränkedose
6 Wochen
3 Monate
1 bis 5 Jahre
50 Jahre
200 Jahre
Dosenhalter (Plastik)
Einwegwindel
Plastikflasche
Angelleine
Glasflasche
400 Jahre
450 Jahre
450 Jahre
600 Jahre
KLIMAWANDEL Die Oberflächentemperatur der Meere steigt durch den Klimawandel pro Jahrzehnt um etwa 0,12 Grad an. Arten wandern deshalb in kühlere Regionen ab. Die Wassererwärmung kann zu Sauerstoffmangel, Algenblüten und Korallenbleiche führen.
Quelle: NOAA
unbestimmt
VERSAUERUNG
Um
26 %
hat der Säuregrad des Meeres seit 1850 durch die Aufnahme von CO 2 zugenommen. Das Wasser beginnt damit korrosiv zu werden für Organismen mit Kalkschalen wie Muscheln und Schnecken oder mit Kalkskeletten wie Korallen. Die Versauerung der Meere beeinflusst die Artenvielfalt, die Nahrungsnetze, die Aquakultur und somit den Menschen.
KORALLENBLEICHE Wassererwärmung und Versauerung führen zur Korallenbleiche. Die gestressten Korallentiere stoßen Algen ab, die mit ihnen zusammenleben und ihnen Sauerstoff und Nährstoffe bereitstellen. Auch Fischerei und Umweltverschmutzung bedrohen die Riffe.
Ein Viertel aller Korallenriffe ist bereits verloren, ein weiteres Viertel extrem bedroht.
1960
1970
1980
SAUERSTOFFMANGEL
BODENSCHÄTZE
Je wärmer das Oberflächenwasser, desto stabiler die Schichtung der Wassersäule, weil das warme, leichtere Wasser wie ein Deckel auf dem kälteren liegt.
Immer mehr Öl und Gas wird am Meeresboden gefördert. Offshore-Aktivitäten im Tiefwasser sind besonders riskant, wie das „Deepwater Horizon“-Unglück 2010 im Golf von Mexiko gezeigt hat. Auch die Bodenschätze der Tiefsee könnten bald erschlossen werden, mit unkalkulierbaren Folgen.
Auf etwa
8%
der Meeresfläche ist diese Schichtung jetzt schon so stabil, dass sich Todeszonen mit Sauerstoffmangel ausbilden.
300 000
Etwa
Wale und Delfine sterben jährlich als ungewollter Beifang in den Netzen der Fischerei.
ÜBERFISCHUNG Jährlich gehen den Fischern 81,5 Millionen Tonnen Meerestiere in die Netze. Die globale Fischereiflotte ist mit 4,6 Millionen Schiffen zwei- bis dreimal größer als für die Meere verträglich.
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FISCH
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BINNENGEWÄSSER
der weltweiten Fischbestände sind überfischt. 2014 GESAMT
81,5 OZEANE
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MIO. TONNEN
26,7 OZEANE
90 %
11,9
160
140
BINNENGEWÄSSER
der großen Fische (z.B. Schwertfisch, Thunfisch) sind aus den Meeren verschwunden.
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AQUAKULTUR in Millionen Tonnen 100
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KOMMERZIELLER FISCHFANG
Die zehn am meisten gefangenen Speisefische in Millionen Tonnen, 2014
in Millionen Tonnen
Alaska Seelachs
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Peruanische Sardelle
3,1
Echter Bonito
3,1
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Sardine
Japanische Makrele
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Atlantischer Hering
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Gelbflossen-Thun
1990
1,5
Stachelmakrele
1,5
Atlantischer Kabeljau 1,4
2000
Japanische Sardelle
1,4
Quellen: FAO, IGBP, UBA, WDC
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Die kleinsten Killer Plastik zerfällt zu giftstrotzenden Partikeln, die unsere Meere vermüllen. Immer mehr Verbraucher und Unternehmen bemühen sich um ein Leben ohne Kunststoff. TEXT
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SUSANNE FISCHER
STUDIO I LIKE BIRDS
NATÜRLICH HABE ICH ein schlechtes
windel ebenso. Plastik ist so widerstandsfähig, dass Kunststoffreste zwar kontinuierlich kleiner, aber nicht vollständig abgebaut werden. Kleinste Partikel werden heute weltweit in den Meeren, an Stränden, in Böden und auch Tieren gefunden. Dass wir so die Zukunft zumüllen, muss jedem verantwortungsbewussten Menschen zu denken geben. Doch wir leben weiter in einer Gegenwart voller Plastik: Badeenten, Sandförmchen, Bobbycar, Bagger, Puppen, Playmobil und Duplosteine – aus dem Kinderzimmer ist Plastik kaum wegzudenken. Auch aus der Küche nicht. Kunststoffe weisen Flüssigkeiten ab und eignen sich so ideal für Verpackungen. Zum Beispiel für die Portion Obst oder den Fertigsalat, den Berufstätige gern für den Snack am Arbeitsplatz mitnehmen. Conveniencefood und Plastik gehen Hand in Hand: die Sushibox, der Suppencontainer, die Singlemahlzeit. Plastik schützt auch den Käse auf der Tiefkühlpizza vor Keimen. Rund 170 000 Verpackungen gibt es in einem durchschnittlichen Supermarkt. Da wirkt es fast belanglos, dass immer mehr Handelsketten die Plastiktüte an der Kasse abschaffen. Der
Gewissen, als ich die Geburtstagstafel meines Sohnes mit einer Einwegtischdecke aus Plastik decke. 1,30 Meter mal 2 Meter Folie, bedruckt mit Feuerwehrmann Sam. Aber er hat sie sich so gewünscht. Genau wie das Marzipan-Feuerwehrauto, das ich mit Lebensmittelfarbe aus Plastiktuben rot gefärbt habe. Geschenkt bekam er Knete in einem Dutzend Plastikbechern, allesamt noch einzeln in Plastikfolie eingeschweißt. Auch die Kugelbahn von der Patentante – aus Plastik. Das ICE-Starterset, das Geschirr für die Kinderküche, die Kinder-Funkgeräte – Plastik in unterschiedlichsten Formen und Farben. Kunststoff ist praktisch, in der alltäglichen Benutzung, aber auch bei der Herstellung: Als Werkstoff ist er fast beliebig formund gestaltbar, leicht, billig und dazu unglaublich stabil. Doch gerade seine Langlebigkeit ist ein Problem. Plastik ist wie der Geist, den man rief und nicht mehr los wird: Einmal in die Welt gesetzt, hält und hält und hält es einfach ewig. Eine PET-Flasche, ganz der Natur überlassen, braucht laut Umweltbundesamt rund 450 Jahre, um zu verrotten. Eine Einweg-
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jährliche Verbrauch soll in Deutschland von derzeit 70 Tüten pro Kopf auf 40 im Jahr 2025 gesenkt werden. Ein lobenswertes Vorhaben, das aber nur einen sehr kleinen Teil des Plastikproblems berührt, zumindest in Deutschland. Da wir keine offenen Hausmüllkippen haben, wie es sie oft in weniger entwickelten Ländern gibt, fliegen kaum im Hausmüll entsorgte Plastiktüten durch die Landschaft. NATÜRLICH IST ES BESSER, keine Plas-
tiktüten zu verwenden. Die Alternativen aber sind nicht automatisch umweltfreundlich. Beim Griff zur Papiertüte hat kaum jemand ein schlechtes Gewissen – nachhaltig aber wird sie wegen des hohen Energie- und Materialaufwands für ihre Produktion erst dann, wenn sie aus Altpapier ist, mehrfach verwendet und anschließend wieder recycelt wird. Einen Jutebeutel muss man sogar 25- bis 32-mal benutzen, um den wasserund energieintensiven Anbau von Faserpflanzen wieder wettzumachen. Auch das so wohlklingende Bioplastik ist nicht automatisch nachhaltig. Zwar werden Bioplastiktüten aus nachwachsenden Rohstoffen produziert. Aber diese stehen auf dem Acker in Konkurrenz zu Nahrungsmitteln, und in der Müllverwertung werden sie aussortiert und nicht dem Kompost überlassen. Das ist das Dilemma mit dem Plastik: Eine Welt ganz ohne wäre nicht unbedingt eine bessere Welt. Autos ohne Kunststoff wären schwerer und verbrauchten mehr Treibstoff. Lebensmittel ohne Plastikfolie verderben schneller. Auch in Solarzellen und Windrädern steckt Plastik. Alternative Materialien sind oft nicht nur teurer, sondern schwerer, aufwendiger in der Herstellung oder verbrauchen mehr Ressourcen. Trotzdem hat unser Plastikkonsum unüberschaubare Folgen. Die Spielsachen, die mein Sohn zum Geburtstag bekommen hat, werden spätestens in ein paar Jahren Teil der rund 300 Kilogramm Plastikmüll werden, die jeder Deutsche im Durchschnitt pro Jahr produziert. Flohmarkt oder Ebay können die Lebenszeit verlängern, doch irgendwann landet das Zeug in der Mülltonne, im Gelben Sack oder in der Wertstofftonne. Deren Name suggeriert, dass nicht Abfall entsorgt, sondern Wertvolles gesammelt und einer sinnvollen, nachhaltigen Verwendung zugeführt wird. Tatsächlich aber wird der Inhalt der Gelben Tonnen in Deutschland gerade mal zur Hälfte recycelt. Die andere Hälfte geht in Flammen auf und liefert Fernwärme oder Brennstoff für die Industrie.
MÜLL
Das haben wohl die wenigsten Deutschen im Sinn, wenn sie gewissenhaft den Müll trennen und ihre Joghurtbecher waschen. Weltweit werden sogar rund 85 Prozent aller Plastikabfälle nicht wiederverwertet. Weshalb das Credo der „Besser leben ohne Plastik“-Bewegung lautet: Nur eines ist schlimmer, als Plastik zu kaufen: Plastik wegzuwerfen! DER HOHE STANDARD der deutschen Müllverbrennungsanlagen und die geschlossene Entsorgungskette schließen es immerhin praktisch aus, dass Plastik, welches in der Gelben Tonne landet, eines Tages im Nordpazifik seine Runden dreht, vereint mit Müll aus der ganzen Welt zum Great Pacific Garbage Patch, einem Strudel so groß wie die EU. Zu den geschätzten 5 bis 13 Millionen Tonnen Mikroplastik, Partikel kleiner als fünf Millimeter, die jährlich in die Ozeane gespült werden, steuern die Deutschen hingegen kräftig bei. Der rote Fleecepullover etwa, den mein Sohn ebenfalls zum Geburtstag bekam, wird beim Waschen viele Tausend Mikroplastikpartikel ins Abwasser und
Million noch viel kleinerer Partikel auflösen; bis der ursprüngliche Kunststoff für das menschliche Auge unsichtbar geworden ist. Sie machen nach Expertenschätzung rund 90 Prozent des gesamten Mülls in unseren Meeren aus. Das große Problem mit den kleinen Teilchen: Wie ein Magnet ziehen sie Schadstoffe an und werden zu schwimmenden Giftbomben mit DDT, Abbauprodukten, Schwermetallen, krebsauslösenden halogenierten Kohlenwasserstoffen und jeder Menge Bakterien. Je kleiner die Teile sind, desto größer ist damit auch ins Meer spülen. Plastiktüten die Zahl der Tiere, die sie mit ihrer Nahrung und PET-Flaschen haben die meisten von aufnehmen. Über die Nahrungskette – uns als Umweltsünden verinnerlicht. Die Plankton, Jungfische, Krebse und Muscheln Dreckschleudern in unserem Kleider- fressen die infizierten Mikropartikel – lanschrank dagegen sind uns kaum bewusst. det das Plastik auf unserem Teller. Im StarnPro Waschgang Fleece können bis zu berger See wurden 831 Mikroplastikteilchen 1900 Partikel Mikroplastik ins Abwasser ge- pro Kubikmeter Wasser gemessen. langen. Diese sehr kleinen Kunststofffasern Wer seinen eigenen Beitrag zum kontiflutschen durch die Filter der meisten Klär- nuierlichen Plastikstrom in die Meere eranlagen einfach durch. messen möchte, der kann im EinkaufsratgeBeim Zerfall von Plastik entstehen aus ber „Mikroplastik“ des Bunds für Umwelt einem etwa ein Kubikzentimeter großen und Naturschutz Deutschland (BUND) blätStück rund 1000 Partikel von einem Kubik- tern. Auf 27 Seiten listet er sortiert nach Promillimeter, welche sich wiederum in eine duktkategorien auf, welche Shampoos, Seifen, Cremes, Duschgels, Haarpflegeprodukte, Deodorants, Rasierschäume, Lidschatten, Mascara und andere Kosmetikartikel Polyethylen, Polypropylen, Nylon und andere Formen von Mikroplastik enthalten. Ein ernüchterndes Dokument, das sich wie die Inventarliste eines Drogeriemarkts liest. Allein die Kategorie Duschgels nennt mehr als 150 Produkte mit Mikroplastikelementen. Einziger Lichtblick: die Zahnpasta (von der Plastiktube einmal abgesehen): „Zahnpastahersteller haben den Einsatz von Mikroplastik in ihren Produkten mittlerweile beendet“, vermerkt die Broschüre. „Aktuell ist dem BUND kein Produkt mehr bekannt, das noch Mikroplastik enthält.“
„Nur eines ist schlimmer, als Plastik zu kaufen: Plastik wegzuwerfen.“
Und nötig sowieso: Über die Plastikhülle, in der ausgerechnet die Biogurke im Supermarkt angeboten wird, hat sich wohl jeder schon gewundert. Ist es nicht absurd, dass die konventionelle Gurke plastikfrei daneben liegt? Bioware aber, so will es der europäische Gesetzgeber, muss klar von konventionellem Obst oder Gemüse zu unterscheiden sein. Und auch der Anbieter möchte natürlich vermeiden, dass die teure Ökogurke zum Preis ihrer konventionellen Schwester über den Tresen wandert. Mit einem sogenannten Licht-Label wollen jetzt die Handelsketten Rewe und Penny testen, ob sich die paradoxe Plastikflut beim
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I LIKE BIRDS / SPIEGEL WISSEN
VERÄNDERUNG IST ALSO MÖGLICH.
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Ein simpler Beutel verhindert, dass Mikroplastik aus der Waschmaschine ins Abwasser gerät.
Wenn man eine Fleecejacke oder, noch schlimmer, eine wattierte Jacke in der Maschine wäscht, ist sie sauber und das Waschwasser schmutzig. Allerdings schwimmen im Abwasser nicht nur harmlose Schmutzreste wie Erde oder Schokolade, sondern auch winzige Fasern aus Polyester oder klarer: Plastik. Die Menge dieser Mikrofasern, die allein in Berlin pro Tag ausgewaschen wird, entspricht einer halben Million Plastiktüten. In 600 Fischarten wurden die Mikropartikel schon nachgewiesen. Erschreckend fanden das der Berliner Produktdesigner Oliver Spies und der Betriebswirtschaftler und Produktentwickler Alexander Nolte. Ihre Firma Langbrett ist spezialisiert auf Holz-Skateboards und auf ökologisch korrekte, innovative Produkte wie vegane Schuhe aus DDR-Zeltplanen. Weil die beiden Skater auch Fleecejacken tragen, nahmen sie sich vor, das Problem zu lösen. Sie begannen mit Waschtests im Badezimmer von Oliver Spies, filterten das Waschwasser nach der Hand- und nach der Maschinenwäsche. Das machte ihnen klar: Es gibt bisher keinen Standard für den Faserverlust, im Gegensatz zum Beispiel für den Standard für den Abrieb von Möbelstoffen. Die Designer hatten nun zwei Ziele: Erstens wollten sie ein
Gütesiegel für Polyesterkleidung entwickeln und zweitens eine Lösung für den Faserverlust finden. Sie suchten Rat bei den Mikroplastikexperten vom Fraunhofer Institut und vom Deutschen Textilforschungszentrum. „Dann haben wir Hypothesen entwickelt“, sagt Nolte, „und eine war auch noch am nächsten Tag gut.“ Es war eine ganz simpel klingende Idee: ein Waschbeutel. Als eine Art Vorstufe zu einem Micro-Müll-Filter in der Waschmaschine. Das Problem: Woher bekommt man ein Filtermaterial, das die Seifenlauge hineinlässt, die Plastikpartikel nicht wieder heraus? Außerdem sollte der Beutel selbst kein Entsorgungsdesaster sein, sondern recycelbar. Schließlich wurden Spies und Nolte in der Medizintechnik fündig. Das Filtermaterial wird in Deutschland und in der Schweiz produziert, in Portugal wird daraus der Waschbeutel genäht. Produktname: „Guppyfriend“. Verkaufspreis: 29,75 Euro, zu bestellen im Internetshop von Langbrett. Wer noch keinen Waschbeutel hat, dem raten die beiden Umweltfreunde, alle Kunstfasern kalt und nur mit wenigen anderen Kleidungsstücken zusammen zu waschen. Das vermeidet den Abrieb, und die Fasern werden auch nicht so schnell matt. Marianne Wellershoff
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Biogemüse reduzieren und irgendwann vielleicht ganz vermeiden lässt. In 800 Märkten in Nordrhein-Westfalen werden seit Mitte März Avocados und Süßkartoffeln aus biologischem Anbau vier Wochen lang nicht mehr in Folie eingepackt, sondern mit einem Lichtlaser „gestempelt“. Bei positiver Kundenresonanz könnte die Biogurke in Plastik bald der Vergangenheit angehören, das wäre immerhin ein kleiner Fortschritt. Die Sehnsucht nach einem Leben mit weniger Verpackungsmüll hat in Deutschland aber auch zur Gründung einer ganz neuen Sorte von Supermärkten geführt. Noch sind es einzelne Läden mit originellen Namen wie „Original Unverpackt“ (Berlin), „Stückgut“ (Hamburg), „Lose Dresden“ (Dresden) oder „Schüttgut“ (Stuttgart). Aber der Trend ist unverkennbar: Verpackung ist schlecht für das Image. Selbst Starbucks gibt in Deutschland 30 Cent Rabatt auf den Kaffee, wenn Kunden ihre eigene Tasse mitbringen und so den Einwegbecher vermeiden. Adidas hat angekündigt, eine Million Laufschuhe auf den Markt zu bringen, die aus Plastikmüll aus dem Ozean gefertigt sind. Auch im Internet bieten immer mehr Webshops Produkte an, die ohne Plastik hergestellt und verpackt sind. Viele davon sind gewöhnungsbedürftig und nur bedingt geeignet für den Massenmarkt. Die plastikfreie Frischhaltefolie etwa, zum stolzen Stückpreis von 23,95 Euro. Halten soll sie angeblich ein Jahr lang – aber wer will sein Brot schon 365 Tage in dieselbe Folie einwickeln, selbst wenn sie abwaschbar ist? Überzeugender wirken da schon die Zahnpastatabletten, die aussehen wie Pfefferminzbonbons. Mit ein bisschen Wasser zerkauen, Zähne putzen, fertig, ganz ohne Plastiktube. Auch die nach Zitronen duftende Shampooseife klingt verlockend. Gemüsenetze aus Baumwolle, Strohhalme aus Papier, Tupperdosen aus Holz – viele der plastikfreien Alternativen übertreffen ihre Kunststoffpendants nicht nur in puncto Nachhaltigkeit, sondern auch im Design. Für ein Leben ganz ohne Plastik, da mache ich mir nichts vor, bin ich nicht konsequent genug. Es wird eher ein Verzicht in kleinen Schritten sein. Mal sehen, wie weit ich beim nächsten Gang zum Supermarkt komme.
Weil die Himbeeren, die ihre Kinder so gern essen, immer in Plastikschalen angeboten werden, hat Susanne Fischer jetzt beschlossen, selbst welche im Garten anzupflanzen.
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Baum aus Baum aus Baum Im Nationalpark Bayerischer Wald wird die Natur sich selbst überlassen. Der Schutz der Wildnis, so die Idee, ist auch Schutz des menschlichen Seelenheils. FRANK PATALONG
DER AUERHAHN, Tetrao urogallus, ist ein ziemlich bulliges Ge- ernähren. Wird er aufgescheucht und muss sich bewegen, verflügel. Bis zu sechs Kilogramm schwer werden die Hähne, die von braucht er mehr Energie, als er in kurzer Zeit wieder aufnehmen Schnabel bis Schwanz einen guten Meter messen können. Wenn kann. „Und wenn das mehrfach passiert“, sagt Heibl leise, „kann sie sich aufplustern und ihre Schwanzfedern zum Rad aufstellen, es sein, dass er fressend verhungert.“ Deshalb schleichen wir mit unseren Schneeschuhen so leise erkennt man, was sie sind: Der Auerhahn ist ein sehr großer, massig wie möglich durchs Geäst. gebauter Waldfasan. Nicht, dass man ihn so leicht zu sehen bekäme. Der Biologe Deshalb gibt es keine Wege, weil Menschen hier eigentlich gar Christoph Heibl versucht sogar, ihm so weit wie möglich aus dem nicht hinkommen sollen. Weg zu gehen. Alles, was er Ende Februar im verharschten Schnee Deshalb leben hier noch Auerhähne. Und aus diesen und andesucht, ist der Kot der Vögel. Mehr braucht er nicht, um ihre Zahl ren Gründen lässt es sich der Freistaat Bayern jährlich 15 Millionen ziemlich exakt zu bestimmen: DNA-Untersuchung macht es mög- Euro kosten, mit 200 Angestellten ein letztes Stückchen Urwald lich. Für den Vogel sei das so besser, sagt er, denn der brauche jetzt an der deutsch-tschechischen Grenze zu erhalten und wieder ausvor allem eines – Ruhe. zudehnen – den Nationalpark Bayerischer Wald. Der Auerhahn sei nämlich trotz seiner robusten Erscheinung Um uns ist nichts als Holz, ferne Tierlaute, irgendwo das Ge„enorm empfindlich“. Woran das liege, sehe man am Kot, den er gerade räusch von Wasser und der Hauch eines leichten Windes. Es dauert gefunden und mit den GPS-Daten der Fundstelle gesieine halbe Stunde bis zum nächsten Weg, wenn man chert hat: eine hellbraune Wurst von der Länge und Dicke weiß, wo der liegt. „Aber Obacht!“, unter verharschten eines kleinen Fingers. Sie sieht aus, als sei sie aus kleinen Schneebrücken fließen Bäche. „Und Vorsicht!“, hier Nadeln oder Haaren gepresst: „Riechen Sie doch mal!“ hat der Biber spitze Stümpfe genagt, die aus dem Boden Ich lerne: Auerhahnkot riecht wie Latschenkieferragen, als sollten sie Vampire erlegen. Es ist, als sei man extrakt. Das hat einen einfachen Grund. „Der frisst jetzt dem dicht besiedelten, urban geprägten Land, in dem nichts anderes als Nadeln. Den ganzen Winter kommt wir Deutsche leben, auf märchenhafte Weise entstieVIDEO: der nur damit aus.“ gen. Peter Wohlleben Das riecht zwar gut, ist für den Vogel aber nicht unDas hier ist kein parkähnlicher Gemeindeforst, kein erklärt die Wunder des Waldes problematisch. Denn die Nadeln der Bäume sind ein gezähmtes Naherholungsgebiet in städtischer Nachspiegel.de/sw022017wald ziemlich ärmliches Gemüse. Sie enthalten so wenig barschaft. Das hier ist wirklich Wald und eine Arche, Nährstoffe, dass es gerade so eben reicht, den Vogel zu wenn man so will: Ein Refugium für Artengemeinschaf-
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ten, die sonst keinen Raum mehr haben. Ein im Vergleich winziger Rest von dem, was dieses Land einmal war, bevor wir Menschen in Massen kamen und ihm mit Axt und Egge zu Leibe rückten.
da aus den verfallenden Resten einer anderen, toten Fichte wächst. Wenn man sie lasse, die Natur, dann wachse eben überall etwas: Baum aus Baum aus Baum. Manchmal verrotte der Altstamm unter dem sprießenden Neuen, erzählt Heibl: „Dann steht der neue Baum DER BAYERISCHE WALD gehörte zu den letzten Gegenden des am Ende wie auf Stelzen.“ Manches überlebe, das meiste nicht. Landes, die sich der Mensch erschlossen hat. Vor dem Mittelalter „Wir greifen da nicht ein.“ reiste man hier allenfalls durch, aber anzufangen wusste keiner etHätte der Nationalpark – so wie der Jurassic Park in Spielbergs was mit dieser felsigen, dicht bewaldeten Ecke. Das ist einer der Film – ein großes, mächtiges Tor mit schweren Flügeln, dann müssGründe, warum sich hier letzte man das als Motto darüberte Reste mitteleuropäischen schreiben: Wir – greifen – Urwalds erhalten haben. nicht – ein! Eine Wanderung durch Es ist das Credo eines jeden Nationalpark ist also eine den Nationalparks, der Kern kleine Zeitreise, und die führt der Idee an sich: der Natur ein durch keine leicht begehbare Reservat zu schaffen, in dem Idylle, wenn man die Wege sie von Menschen so unbehelverlässt. Holz liegt so kreuz ligt sein kann wie heute nur und quer, als wollte es den irgendwie möglich. UngeMenschen draußen halten. Es zähmt wild, ungebändigt. knarrt im Gebälk, ein SperDas sind keine Eigenschaflingskauz beschwert sich, von ten, die man gemeinhin mit uns geweckt worden zu sein. den ländlichen Räumen zwiOder von dem Luchs, dessen schen unseren BallungszenSpuren wir nun folgen? tren verbindet. Was fällt ei„Da sieht man“, sagt Heibl, nem ein, wenn man das Wort „wie so eine relativ kleine Nationalpark hört? YellowRaubkatze ein Reh reißen stone und Yosemite in den kann!“ Neben der verblüffend USA, die großen afrikanigroßen Spur der Luchstatzen schen Naturreservate, der Reist ein Reh mühsam durch den genwald vielleicht. Zonen, die Schnee gepflügt: Das SchalenMenschen nur strengen Rewild muss dabei bis zur Brust geln folgend betreten dürfen. versunken sein. Die Katze daSehnsuchts-, aber auch Angstgegen lief leichtfüßig darüber. orte, an denen Menschen „Der Luchs hat Pfoten wie gänzlich unzivilisierte Dinge Schneeschuhe, der läuft ganz passieren können. An denen mühelos. Im Winter muss er man Ranger braucht, um sodas Reh nur finden, dann hat wohl das Gebiet und seine das keine Chance.“ Heibl eigentlichen Bewohner zu spricht nicht viel, aber er beschützen als auch seine Besuobachtet mit enormer Schärfe. cher. Und Urwald, das weckt Er entdeckt überall Dinge, wo Assoziationen zu Dschungel, ich den Wald vor Bäumen selbst wenn man im FichtenWeiße Pestwurz zwischen welken Blättern kaum sehe. Mit Schneeschuwald steht. hen und Skistöcken laufen wir All das ist richtig und denvorsichtig durchs Dickicht, noch falsch. Der Nationaldas hier nicht nur steht, sondern auch liegt: Was fällt, das verrottet parkcharakter macht sich nicht an Superlativen oder Gefahren an Ort und Stelle. fest. Der Nationalpark ist eine Erweiterung des SchutzgebietExotisch anmutende Pilze zersetzen das platzende, bröckelnde, gedankens ins Extrem: der Versuch, Ursprünglichkeit zu erhalten vielfach überwachsene Holz. Manche sind von Algen überwuchert, oder wiederherzustellen. Um ihrer selbst willen, aber auch, damit deren sattes Grün mit dem der Moose konkurriert. Am schwersten der Mensch sie sehen, erleben und genießen kann. ist die Bewegung im Totholz, wo nackte Baumstümpfe wie Finger Mit 243 Quadratkilometern besitzt der Nationalpark Bayerischer in den Himmel zeigen. Am Boden aber liegt ein Labyrinth von Stäm- Wald die größte Landfläche unter den 16 deutschen Nationalparks. men und Ästen wie ineinander verschachtelte Skelette und macht Die Wattenmeerflächen nicht mitgezählt, bringen sie es insgesamt unseren Weg zu einem endlosen Umweg. Wenn es sprießt und auf 2150 Quadratkilometer Fläche. Das klingt groß, ist es im direkten grünt, wird das nicht besser, sondern nur noch dichter. Ich beginne Vergleich zu anderen Weltregionen aber nicht: Der Yellowstonezu begreifen, was das Wort „unwegsam“ einmal bedeutet haben Nationalpark allein misst 8987 Quadratkilometer – die Insel Korsika muss. würde da knapp hineinpassen. Selbst wenn man den Nationalpark Egal, wo man hinsieht, stirbt etwas oder lebt auf. Etwa drei Šumava (Böhmerwald) auf tschechischer Seite hinzuzählt, mit dem Jahre alt, sagt der Biologe, sei die mikroskopisch kleine Fichte, die der Bayerische Wald einen nahtlosen Verbund bildet, kommt
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Ungezähmt und ungebändigt
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Europas größtes zusammenhängendes Waldgebiet insgesamt „nur“ Verwüstung wahrnehmen.“ Man kann das so sehen, aber es ist auf knapp 920 Quadratkilometer. „Man kann deshalb fragen, ob un- eine natürliche Verwüstung. „Und wir haben festgestellt, dass die sere Nationalparks überhaupt die nötige Größe erreichen, um echte Besucher das auch verstehen und akzeptieren, wenn man es ernaturbelassene Biotope sein zu können“, sagt Franz Leibl, studierter klärt“, sagt Leibl. Alle Statistiken bewiesen schon bald, dass der Biologe und Leiter des Nationalparks. Borkenkäfer zumindest dem Tourismus in keiner Weise schadete. Er ist ein großer, im ersten Augenblick ein wenig grimmig er- Und dem Wald? scheinender Mann – aber ein „Grantler“, wie man in Bayern sagt, In den Randzonen bekämpft die Parkleitung die weitere Ausist er absolut nicht. Wenn er 40 Meter hoch auf der Aussichts- breitung des Borkenkäfers, um die umliegenden Wirtschaftswälder plattform über dem Baumzu schützen. In den Kernzowipfelpfad des Nationalparks nen aber ließ sie der Natur ihsteht, glänzen seine Augen: ren Lauf. Es hat dazu geführt, Als Wissenschaftler sieht er da dass dort heute in manchen mehr als bewaldete Hügel mit Bereichen nicht hohe alte Zonen höchst unterschiedliBäume das Bild bestimmen, chen Waldbewuchses. Er sieht sondern kleine junge. „Das ist „work in progress“, ein Werk eine natürliche Verjüngung“, im Entstehen – einen Rest ursagt Leibl, „und heute sieht tümlich-ursprünglichen mitman schon, dass es dem Wald teleuropäischen Waldes, der gutgetan hat.“ seit ein paar Jahrzehnten Denn was da neu herannicht mehr schrumpft, sonwächst, ist artenreicher als zudern sich allmählich ausdehnt. vor. Die Masse des Totholzes, Irgendwann müssen 75 Proglauben die Biologen, habe zent der Fläche als urtümlich das Biotop regelrecht auf Trab gelten, um den Nationalparkgebracht: Erst der Verfall status dauerhaft zu begrünmacht es möglich, dass dort den. Leibls Aufgabe ist es zu heute Insekten und Vögel leermöglichen, dass auch dann ben, die man sonst an kaum noch Natur und Mensch zu iheinem Ort im Lande noch finrem Recht kommen. den kann. Einfach war das nicht imAber was wäre denn, wenn mer, erzählt Christian Binder, wir keinen Pilz am Totholz, der Leiter des Besucherzenkein seltsames, seltenes Intrums Lusen. Im Norden und sekt, keinen Luchs und keinen Süden des Nationalparks liegt Auerhahn mehr sehen könnjeweils ein solches Zentrum, ten? Was wäre, wenn wir das über Ausstellungen, Verohne Nationalparks wären? anstaltungen und dadurch, Warum versucht der Mensch dass es auch Gastronomie zur im Kleinen zu retten, was im Verfügung stellt, die begehGroßen vor dem Menschen baren Teile des Parks zugängnicht zu retten ist? lich macht. „Vor allem in den Es gibt auf diese Fragen vieNeunzigerjahren gab es viel le Antworten: ökonomische, Totholz auf einer Krautschicht von Farnen und Reitgras Widerstand“, sagt Binder, die mit der Attraktivität und „nachdem das mit dem Bordem Erholungswert des Freikenkäfer passierte. Da hatten zeitraums oder dem pharmadie umliegenden Waldbauern einfach Angst, dass sich das auf ihre zeutischen Potenzial unerforschter Arten argumentieren. HistoriWälder ausbreiten könnte.“ sierende, die auf unsere mythische, noch immer tief empfundene seelische Verbindung zu unseren Urlebensräumen verweisen. ÖkoDER BORKENKÄFER. Mitte der Neunziger kam es im Bayeri- logische, die die Schutzräume als Schritt zur notwendigen Renatuschen Wald zu einem massiven Käferbefall. Die Nationalpark- rierung einer Welt sehen, deren Bestand durch den rasenden Verlust leitung entschied, gemäß dem Parkmotto „Natur Natur sein lassen“ biologischer Vielfalt gefährdet ist. nicht einzugreifen. Vor allem in den biologisch weniger diversen Es gibt religiöse und esoterische Gründe, es gibt kulturelle VerHöhenlagen wurden ganze Bergkuppen regelrecht rasiert. Auf rie- wurzelungen: Ohne Frage ist der Wald ein fester, idealisierter Besigen Flächen starb der Nadelwald, bis nur noch verrottendes Tot- standteil deutscher Identität. Der Wald kann ohne uns, aber können holz und zersplitterte Baumstumpfreste emporragten. wir ohne ihn sein? Es war eine Phase, in der die Nichteinmischungspolitik des NaTatsächlich ist das der Gedanke, der der Idee des Nationalparks tionalparks auf vehemente Kritik stieß, erzählt Parkleiter Leibl. einst zugrunde lag. Die Vordenker des Naturschutzes wollten dem „Auch die Gastwirte hatten Angst, dass die Besucher wegbleiben Menschen auch zeigen, was für Paradiese er verlor, als er den Wald würden. Die glaubten, die Leute würden das nur als hässlich, als rodete, den Acker pflügte, das Land formte. Das ist die nicht wis-
Etwas stirbt oder lebt auf
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senschaftliche Seite des Nationalparkgedankens, und sie wurzelt in Aufklärung und Romantik und dem wachsenden Bewusstsein eines Verlusts, bei dem auch der Mensch verliert. So dichtete William Wordsworth Anfang des 19. Jahrhunderts schwärmerisch: „Eine Anregung im frühlingshaften Wald empfangen Vermag uns mehr vom Menschen zu lehren Vom sittlichen Gut und Böse Als alle Weisen könnten. Süß ist die Kunde, die Natur uns bringt Die Rechthaberei des Verstandes Verdreht nur die schöne Form der Dinge Wir töten, um zu verstehen.“ WORDSWORTH UND ANDERE sangen der Natur ein Hohelied, das ihre Zerstörung selbst dann zum Sündenfall erklärte, wenn sie im Auftrag der Forschung geschah. Natur könne man nur durch stille Beobachtung verstehen lernen, nicht dadurch, dass man sie seziere. Klar, dass man das als Auftrag zum Erhalt und Schutz des Naturraums verstand: So war das auch gemeint. Schutzräume für die Natur dachte sich Wordsworth als eine „Art nationalen Besitz, an der jedermann Rechte hat, der Augen zum Sehen und ein zur Freude fähiges Herz besitzt“. Er beschrieb damit Orte der Lehre und Erbauung. Das erklärt den Schutz der Natur zur Bewahrungsmaßnahme für das eigene Seelenheil, für das Gute im Menschen. Ist der Nationalpark also eine Tankstelle für seelisches Manna, an dem sich ausgedörrte Städter laben können? Und dient man damit einem höheren Zweck, wenn man sein Leben dem Wald widmet? 200 Menschen arbeiten im Nationalpark Bayerischer Wald, dem ältesten Deutschlands. Seit 1970 besitzt der Landstrich im äußersten Südosten diesen Status. Die meisten der Angestellten kommen aus der Region und sind mit dem Wald und seinem Sonderstatus aufgewachsen. Manche sind Kinder von Bauern und Waldbauern. Man findet unter ihnen Akademiker und einfache Forstarbeiter, ehemalige Glasmacher und Schreiner. Der Park braucht Kellner und Museumskundige, Pädagogen und Förster, Kassierer und Reisekaufleute. Für viele ist er schlicht einer der größten Arbeitgeber der Region. Der gelernte Förster Stefan Vießmann ist Leiter des Servicezentrums Lusen, einer von zwei solchen Einrichtungen im Park. Er sorgt mit seinen Leuten dafür, dass die Beschilderung der Wege stets auf dem neuesten Stand ist, dass sich wandernde Touristen nur dort bewegen, wo sie sollen. Dass die Wölfe und Luchse im Freigehege gefüttert werden, dass es Bänke gibt, wo man sitzen und rasten kann, und auch die Toilettenhäuschen entlang der Wanderrouten intakt sind. Dass alte Straßen und Wege, die im langsam weiter verwildernden Wald der Erweiterungszonen nicht mehr gebraucht werden und unerwünscht sind, zurückgebaut werden – aufgerissen, zugeschüttet, renaturiert. Vießmanns Aufgabe ist es, den Rückzug des Menschen zu organisieren und dafür zu sorgen, dass er aus den relevanten Zonen auch fortbleibt, ohne das Gefühl zu haben, ausgesperrt zu sein. Klingt ein bisschen seltsam, letztlich aber nach einem Job zwischen Management und Handwerk. Und dann sieht man Vießmanns Be-
geisterung, wenn er all das erzählt, und man begreift, dass man hier jemanden getroffen hat, der keinen Beruf hat, sondern eine Berufung: Walderhalter, Wildnisschützer, Bewahrer. Es ist eine Spezies, die man hier häufig trifft. Vießmanns Kollege Reinhold Gaisbauer vom nördlichen Servicezentrum ist ein stiller, drahtiger und nüchtern wirkender Mann. Wenn er durch die Urwaldzonen führt, hält er hier und da an und breitet Karten, Schaubilder und andere Materialien auf dem Weg aus, um Bemerkenswertes sehr sachlich zu erklären: Artenzusammensetzung des Waldes, Wild, Geschichte, besondere Bäume. Es klingt amtlich. Und dann steigt der gelernte Förster querfeldein in den Wald, und es ist, als fiele das Korsett der Pflichten von ihm ab: Er kennt jeden Baum, jedes Gebäude in den Enklaven des Waldes. Er muss jeden Weg Tausende Male gegangen sein, und gleichzeitig läuft er die Wege, als entdeckte er sie immer wieder neu. Viele dieser Wald-nicht-Bearbeiter hätten ihr Brot vor ein, zwei Generationen damit verdient, Bäume zu fällen, Tiere zu schießen und den Wald als Nutzraum zu erschließen. Jetzt tun sie das Gegenteil, und das zeigt Wirkung. Jeder, den man trifft, arbeitet zügig und ständig, aber keiner wirkt hektisch oder missmutig oder so, als mache er Dienst nach Vorschrift. Ein Job wie jeder andere? Wenn man Heibl oder Leibl, Vießmann oder Gaisbauer zuhört, hat man mitunter das Gefühl, dass sie in einer anderen Welt, mit einer anderen Zeitrechnung leben. In ihren Jobs und ihrem Wesen spiegelt sich der Nationalpark: Sich mit den Ideen zu befassen, die diesem letztlich bewusst, willentlich und – wenn man so will – künstlich erhaltenen Naturraum zugrunde liegen, wirkt offensichtlich auf den Menschen zurück. „Glücklich allein ist die Seele, die liebt“, schrieb einst Goethe, noch so ein Biologe und Baumliebhaber. Wenn man sie fragt, ob sie es für wichtig halten, einen Nationalpark zu haben, sagen ihre Augen für Sekundenbruchteile: „Dumme Frage“. Und dann sagen sie „natürlich!“ und listen die bekannten sachlichen Argumente auf. Für die anderen, wichtigeren fehlen Vokabeln, die nicht pathetisch wirken. Nur Biologe Heibl hält einmal inne auf seiner Suche nach Auerhahnspuren, sieht sich um und sagt: „Ist das nicht ein unglaubliches Privileg, das hier erleben zu können?“ Recht hat er: Ohne Pathos kommt so ein Projekt nicht aus. „Was ich am meisten bedauere“, sagt Nationalparkchef Franz Leibl und schaut von der Aussichtsplattform über die Baumkronen hinweg hinauf zum Berg Lusen, „ist, dass es so lange dauert, bis man sieht, was wir tun.“ Was auch immer man anstoße, plane, verwirkliche, zeige sich in seinen Konsequenzen vielleicht erst in 150 Jahren. Er lächelt, der Gedanke gefällt ihm. Und dann schaut er wieder zum Lusen hinüber, folgt mit seinem Blick der Linie des Bergkamms, schaut auf die farblichen Absätze des Höhen-, des Hangund des Mischwaldes am Fuß des Berges, auf die parkähnlich locker bestandenen Flächen des Moores. Sagt leise: „Schade, dass ich das nicht mehr erleben kann.“
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„Der Park als Tankstelle für seelisches Manna, an dem sich ausgedörrte Städter laben?“
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Bäume, schrieb der Philosoph Khalil Gibran, sind Gedichte, die die Erde an den Himmel schreibt. Frank Patalong liest leidenschaftlich gern.
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P O L I T I K G E S TA LT E N Können der Klimawandel, das Artensterben und die Vermüllung der Natur gestoppt werden? Das ist eine Frage des politischen Willens. Nachhaltigkeit muss zum wichtigsten Ziel werden. Aber wie soll das gelingen?
„Der Klimawandel wird dramatische wirtschaftliche Folgen haben, er kann Ressourcen- und Bürgerkriege auslösen. Der Klimawandel kann zu Abermillionen Toten führen.“
„Nicht die Begrenztheit der fossilen Ressourcen ist unser Problem, sondern das genaue Gegenteil: Wir haben weit mehr Öl, Kohle und Gas, als wir noch verbrennen dürfen.“
„Wir sind keine vorbildlichen Superkonsumenten. Wer berufstätig ist, womöglich noch alleinerziehend, für den sind einfache, zugängliche und günstige Alternativen wichtig.“
Felix Ekardt, Soziologe und Jurist Seite 62
Rainer Baake, Umweltpolitiker Seite 80
Lucia Reisch, Konsumforscherin Seite 82
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Z U K U N F T
„SCHWER ZU ERKENNEN“
SPIEGEL: Herr Ahlmann, ist es nachhaltig, wenn man Altkleider in den nächsten Container wirft? Ahlmann: Sinnvoll ist das schon. Es ist aber oftmals schwer zu erkennen, ob es sich um eine kommunale, gewerbliche oder gemeinnützige Altkleidersammlung handelt. Sogar das Logo einer sozialen Organisation ist keine Garantie, denn gelegentlich „vermieten“ diese ihr Logo an Gewerbetreibende. Wir haben unter anderem aufgrund dieser Intransparenz das Zeichen FairWertung entwickelt. Es ist eine Orientierungshilfe für alle, die mit ihren aussortierten Textilien gemeinnützige Zwecke unterstützen möchten.
Eine weitere sichere Art der Kleiderspende tete Geld fließt zurück in die gemeinnützigen Projekte. sind Sozialkaufhäuser. SPIEGEL: Aber auch gemeinnützige Orga- SPIEGEL: Sollten wir, statt Container zu nisationen verkaufen Textilien zum Teil wei- füllen, lieber weniger Kleidung kaufen? ter. Das hat ihnen Kritik eingebracht. Ahlmann: Statistiken belegen, dass in Ahlmann: Viele Menschen machen sich Deutschland immer mehr Textilien gekauft nicht klar, dass in Deutschland im Jahr etwa und bald wieder entsorgt werden, Stichwort eine Million Tonnen Alttextilien abgegeben „Fast Fashion“. Es wäre wünschenswert, werden – ein Vielfaches von dem, was wir wenn Konsumenten weniger und dafür quahier vor Ort für soziale Arbeit brauchen. Die litativ hochwertige Kleidung kaufen würden. Überschüsse werden verkauft. Höherwer- Weil alles andere ökologisch katastrophal ist. tige Kleidung wird weitervermarktet. Sa- Aber im Hinblick auf Altkleider macht die chen, die nicht mehr tragbar sind, werden Forderung ebenfalls Sinn. Auch hier gilt: fürs Recycling verkauft und beispielsweise Gebraucht werden vor allem tragbare und in Putzlappen verwandelt. Das erwirtschaf- gut verarbeitete Textilien. fairwertung.de
Die große Nullnummer
sein. Das klingt ehrgeizig. Und Zum einen gibt es ein gutes Kompost- und das ist es auch. Denn seit Be- Verwertungssystem für Bioabfälle, das imginn der Aktion im Jahr mer weiter ausgebaut wird. Die Idee, in Ge2008 ist bisher erst eine schäften Unverpacktes in Spendern oder Müllreduktion von 23 Pro- großen Glasgefäßen anzubieten – Stichwort zent gelungen. „Doch das ist „bulk“ –, hat in Kanada ohnehin Tradition. beachtlich, wenn man be- Dazu kommen unzählige Aktionen für mehr denkt, dass es vor dieser Zeit Nachhaltigkeit in der Stadt, etwa der „Wasteso gut wie kein ökologisches Be- free Wednesday“, an dem alle versuchen solwusstsein hier gab“, sagt die deut- len, einen Tag lang keinen Müll zu produsche Zero-Waste-Bloggerin Shia Su, die in zieren. „Die Aktionen sind sehr präsent. Vancouver lebt. Wie die Metropole in Bri- Hier weiß mittlerweile jedes Kind, was Zero tish Columbia ihre Pläne umsetzen will? Waste bedeutet“, sagt Shia Su.
VA N C O U V E R W I L L MÜLLFREIE S TA DT W E R D E N .
„ZERO WASTE“ HEISST die Kam-
pagne, mit der die kanadische Großstadt Vancouver es schaffen will, ihren Müll bis 2020 zu halbieren und bis 2040 ganz los zu
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JOHANNES SIMON / PICTURE ALLIANCE / SÜDDEUTSCHE ZEITUNG PHOTO, PETER NITSCH / GALLERY STOCK
T H O M A S A H L M A N N VO M „ DAC H V E R B A N D FA I R W E R T U N G “ ÜBER NUTZEN U N D P R O B L E M E VO N A LT K L E I D E R S A M M L U N G E N
Sonnenanbeter
2055
10 Mrd.
SOLARZELLEN FÜR DEN B A L KO N S I N D PRAKTISCH. ABER SIND SIE A U C H L E G A L?
IM HANDEL GIBT es sie längst: Solarzel-
len für den Balkon, die in jede Steckdose passen. Die Minimodule mit je 200 oder 250 Watt brauchen keine aufwendige Installation. Doch anders als etwa in den Niederlanden, wo bereits 200 000 Menschen auf Balkonen selbst Strom erzeugen, gibt es in Deutschland eine juristische Grauzone. Der Elektrotechnikverband VDE steht auf dem Standpunkt, die Geräte am Markt entsprächen nicht den geltenden Sicherheitsnormen. „Wir sind der Meinung, dass kein Risiko besteht, wenn Anlagen bis 600 Watt an den Haushaltsstromkreis angeschlossen werden“, sagt dagegen der Ingenieur Udo Siegfriedt, ein Gutachter der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie (DGS). Deshalb gibt es in der DGS jetzt eine Expertengruppe, die eine technische Unbedenklichkeit der Geräte nachweisen will. Siegfriedt plädiert außerdem dafür, sich hierzulande auf EU-Gesetzgebung zu verlegen und eine „Bagatellgrenze“ bei der privaten Stromerzeugung – bei 600 Watt pro Haushalt – zuzulassen.
2023
8
Mrd. * *MediumVariante der Uno
Wohlstand killt Umwelt
1999
6
Mrd.
DA S WAC H S T U M D E R W E LT B E VÖ L K E R U N G B E D R O H T D I E N AT U R .
KAUM etwas hat die Umweltzerstörung so vorangetrieben wie das
immense Bevölkerungswachstum. Lebte um 1800 rund eine Milliarde Menschen auf der Erde, so sind es heute bereits mehr als sieben Milliarden, Tendenz weiter steigend. Für Ende des Jahrhunderts rechnen Experten gar mit mehr als zehn Milliarden. Zu einer wahren Bevölkerungsexplosion kam es insbesondere in Folge der voranschreitenden Industrialisierung und des damit verbundenen medizinischen Fortschritts. Und alle Menschen träumen verständlicherweise von einem hohen Lebensstandard, wie er in den westlichen Ländern üblich ist. Dabei verbrauchen die Bewohner Nordamerikas und der Europäischen Union bei Weitem die meisten natürlichen Ressourcen. Es gilt die Faustformel: je weniger Armut, umso höher die Umweltbelastung. Ob die Natur das auf Dauer aushält?
1974
4
Mrd.
1927
2
Mrd.
1804
Explodierende Weltbevölkerung
um 1250
400 Millionen
um Christi Geburt
300
1
um 1500
500
Mrd. Quellen: Uno, „World Population Prospects: The 2015 Revision“; Stiftung Weltbevölkerung; Statista
Millionen
Millionen
0
500 n. Chr.
1000
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1250
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1500
1600
1700
1800
1900
2000
53
2100
Der Klimawandel
FOLGEN DES TEMPERATURANSTIEGS gegenüber dem Mittelwert 1980 bis 1999
über 3,5 Grad Celsius
Quellen: UBA, NOAA, DKRZ
SYSTEMKOLLAPS
SZENARIEN DER ERDERWÄRMUNG Das deutsche Klimarechenzentrum in Hamburg simuliert den künftigen Temperaturanstieg unter verschiedenen Annahmen. Die drei Globen zeigen die Szenarien bis zum Jahr 2090 für den eurasischafrikanischen Raum. Die Veränderungen in der optimistischen, mittleren und pessimistischen Variante zeigen ähnliche Muster, allerdings in sehr unterschiedlicher Ausprägung. Der größte Temperaturanstieg wird für die Arktis prognostiziert, in der pessimistischen Variante ist das arktische Eis bis 2090 vollständig abgeschmolzen.
+5
Physikalische, biologische und soziale Systeme sind mit der Bewältigung des jähen Temperaturanstiegs überfordert. Milliarden Menschen leiden unter Wassermangel bzw. Hunger, Überschwemmungen gefährden bis zu ein Fünftel der Weltbevölkerung.
1,5 bis 3,5 Grad Celsius ANSTIEG DES MEERESSPIEGELS
+4
bedroht bis zu 3 Millionen Küstenbewohner zusätzlich.
WASSERKNAPPHEIT
betrifft bis zu 2 Milliarden Menschen.
+3
ARTENSTERBEN
mittlererTemperaturanstieg gegenüber 1986 bis 2005 in Grad Celsius
20 bis 30 Prozent der Arten drohen auszusterben.
EISSCHMELZE
Beginn der Gletscherschmelze in Grönland und der westlichen Antarktis.
10 8 6
ÜBERSCHWEMMUNGEN UND STÜRME
4
Zunehmende Schäden durch Naturkatastrophen
2
HUNGER
Bis zu 30 Millionen Menschen zusätzlich betroffen.
0
WASSERKNAPPHEIT
betrifft zusätzlich bis zu 1,7 Milliarden Menschen.
Pessimistisches Szenario Treibhausgas-Konzentration steigt auf das 3,4-fache des heutigen Niveaus.
DER TREIBHAUSEFFEKT– WARUM SICH UNSER PLANET AUFHEIZT
KORALLENBLEICHE
Zerstörung des fragilen Ökosystems der Korallenriffe. Algen sterben ab, die Korallen bleichen aus.
4 Knapp ein Drittel der kurzwelligen Strahlung wird wieder in den Weltraum reflektiert.
1 Die kurzwellige Sonnenstrahlung erreicht die äußere Lufthülle unseres Planeten mit einer Energie von 1370 Watt je Quadratmeter.
5
3 Über zwei Drittel der Sonnenstrahlung wird an der Erdoberfläche oder in der Atmosphäre absorbiert und in Wärme umgewandelt – die Atmosphäre heizt sich auf.
2 Bei sehr klarem Himmel kommt auf der Erdoberfläche noch eine Strahlungsenergie von rund 750 Watt pro Quadratmeter an. Das entspricht der Leistung eines Toasters.
54
+2
unter 1,5 Grad Celsius
Klimagase wie Kohlendioxid dämpfen diese Reflektion. Steigt deren Konzentration in der Atmosphäre, kann mehr kurzwellige Strahlung absorbiert werden. Der natürliche Treibhauseffekt wird verstärkt.
+1
Um etwa
14 Meter
IMMER NEUE REKORDE Aus Messungen von 6300 Stationen an Land, auf See und im polaren Eis sowie den Daten einer Armada von Wettersatelliten berechnet die US-Weltraumagentur Nasa die Durchschnittstemperatur auf unserem Globus. Im vergangenen Jahr registrierten die Forscher erneut Rekordtemperaturen. 2016 war um 0,99 Grad Celsius wärmer als der Durchschnitt der Jahre 1951 bis 1981 – nach 2014 und 2015 der dritte Wärmerekord dieser Art in Folge.
nahm weltweit die Dicke der Gletscher ab – und das Tempo der Schmelze wird immer rasanter. Augenblicklich verlieren die Gletscher im globalen Schnitt rund 1 Meter an Dicke jährlich.
Ab
2 Grad Celsius
Temperaturanstieg gegenüber der vorindustriellen Zeit sind nach Ansicht vieler Experten dramatische Folgen des Klimawandels zu erwarten. Die Begrenzung auf unter zwei Grad beschreibt zugleich das Ziel der internationalen Klimapolitik.
2016
+1,0 °C
2015
Temperaturabweichungern vom langjährigen Mittel der Jahre 1951 bis 1980
3,3 Grad Celsius
Rekordjahre seit Beginn der modernen Temperaturmessung 1980
2014
+0,8
2010 2005
beträgt der Temperaturanstieg bis Ende des Jahrhunderts gegenüber dem vorindustriellen Niveau im mittleren Szenario des Weltklimarats. Im höheren Szenario steigt die Temperatur sogar um 4,5 Grad.
405 1998
+0,6 Optimistisches Szenario Treibhausgas-Konzentration leicht unter heutigem Niveau.
1997 1995 1990 1988
+0,4 1981
Mittleres Szenario Treibhausgas-Konzentration steigt um ca. 50 % über das heutige Niveau.
1987
1980
Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre in ppm (Parts per Million)
+0,2
316 1970 1960 Entwicklung des Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre aus Eisbohrkern-Analysen
2016
400
Anstieg des Meeresspiegels
300
Entwicklung seit der Industrialisierung und Prognosen bis 2100, Angaben in Zentimetern pessimistische mittlere optimistische Variante
1960
200 vor ... Jahren 400
300
30 20 10
Jahr 200
100
0
1850
1900
1950
2000
2050
2100
ARKTIS Schmelzwasserfall am Ostferner Gletscher auf der norwegischen Insel Nordostland
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Heiße Phase Wird die Menschheit die Erderwärmung rechtzeitig aufhalten können? Die dafür nötige Energiewende kommt langsam in Gang. Wenn da nur nicht Donald Trump wäre.
NATIONAL GEOGRAPHIC / GETTY IMAGES
TEXT
CHRISTIAN SCHWÄGERL
BEI DER INDUSTRIELLEN REVOLUTION Dong ihr Hauptquartier für den Aufbau eispielte der Hafen von Liverpool eine zen- nes der leistungsfähigsten Offshorewindtrale Rolle. Über die Molen und Docks ge- parks der Welt errichtet. Täglich fahren PSlangten Rohstoffe aus aller Welt in den Nor- starke Boote die Mitarbeiter der Firma zehn den Englands, wo James Watt einst die Kilometer weit hinaus auf die Baustelle Dampfmaschine erfunden hatte und die Fa- „Burbo Bank Extension“ in der Irischen See. briken nur so dampften und stampften. Von Hier soll Strom entstehen, ohne dass dabei hier aus verschiffte das Königreich über den das Treibhausgas Kohlendioxid in die AtFluss Mersey und die Irische See seine In- mosphäre entweicht. dustrieprodukte in alle Welt. Das Großprojekt vor der nordenglischen Die glorreiche Zeit ist längst vorbei, seit Küste soll dazu beitragen, die Schäden zu Jahrzehnten spielt der Liverpooler Hafen verringern, die durch die erste industrielle für die globale Industrialisierung keine Rol- Revolution und ihren unersättlichen Hunle mehr. Doch jetzt arbeiten hier Ingenieure ger nach fossilen Brennstoffen entstanden und Techniker an der nächsten großen Re- sind. volution: der globalen Energiewende, der Die globale Energiewende ist eine zweite Abkehr von den fossilen Energieträgern industrielle Revolution: Sie hat zum Ziel, reKohle, Erdöl und Erdgas. generative, CO -arme Energien aus Wind, 2 Auf einer der vielen öden Gewerbeflä- Sonnenenergie, Erdwärme, Biomasse und chen am Mersey hat die dänische Firma Wasserkraft so massenhaft und flächen-
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deckend zum Einsatz zu bringen, dass ein gefährlicher Klimawandel noch abgewendet werden kann. Denn wenn die Welt mit ihrem Energieverbrauch so weitermacht wie bisher, so warnen alle ernst zu nehmenden Experten, wird der Menschheit in absehbarer Zeit die Lebensgrundlage entzogen sein. Aus der Ferne sehen die Windräder aus wie Spielzeuge. Doch je näher man ihnen kommt, desto imposanter wirken sie. In Wahrheit sind sie größer als die größten Kirchen der Erde. 200 Meter ragen die Kraftwerke aus Hightechwerkstoffen in die Höhe. Die silbern schimmernden Rotorblätter sind je 90 Meter lang. Acht Megawatt Nennleistung hat jede der insgesamt 32 Anlagen – ein neuer Weltrekord. Mit jeder Umdrehung erzeugen die Meereswindräder den durchschnittlichen Stromtagesbedarf eines britischen Haushalts. „Mit Burbo
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ppm, inzwischen wird ein Wert von bis zu 410 ppm gemessen. Bekannt ist der menschengemachte Treibhauseffekt, der heute zu etwa drei Vierteln durch Kohlendioxid verursacht wird, schon seit mehr als hundert Jahren. Früher dachte man, die Erwärmung sei eine Wohltat. Doch seit 1990 warnt der Weltklimarat IPCC vor einer Zukunft, in der es nicht gelungen ist, die Erderwärmung einzudämmen. Jetzt werden die Effekte gewaltiger Kohlendioxidemissionen immer sichtbarer und deutlicher.
CHINA Solar- und Windenergieanlagen in Zhangjiakou in der nordchinesischen Provinz Hebei
Bank Extension können wir 230 000 Haus- Windbranche – auf Druck seiner Kinder. halte mit Strom versorgen“, sagt Benj Sykes, „Sie sind sehr umweltbewusst und haben Vizechef von Dong Energy Wind Power. Die nicht aufgehört, mich zu bearbeiten“, sagt 32 Anlagen reichen also für den privaten Sykes, „und an einem bestimmten Punkt Verbrauch von ganz Liverpool. „Wir werden musste ich ihnen einfach recht geben.“ Für immer effizienter beim Bau solcher Anla- den Energiemanager verläuft hier draußen gen, und die Kosten sinken dramatisch“, in der Irischen See eine unsichtbare Front sagt Sykes. im Kampf gegen einen ungebremsten KliVor einigen Jahren kostete es noch 155 mawandel, der die moderne Zivilisation erEuro, um eine Megawattstunde Strom aus schüttern und zahlreiche Ökosysteme beWind auf dem Meer zu erzeugen. 2016 be- drohen könnte. kam Dong in den Niederlanden den Zuschlag für einen neuen Meereswindpark – zugrunde gelegt wurde ein Herstellungspreis von 81 Euro. Strom aus Kohle und Erdgas kostet rund 65 bis 70 Euro pro Megawattstunde – der Abstand schrumpft also. Windräder an Land liegen je nach Standort und Leistung bei 50 bis 96 Euro, also teilweise schon unter den fossilen Energiequellen. Dong ist, zusammen mit Wettbewerbern wie RWE Innogy, Iberdrola and Northland Power, einer der großen Akteure in der globalen Energiewende. Der volle Name des Unternehmens – Danish Oil and Natural Gas Vor dem Klimawandel haben nicht nur – weist auf seine fossilen Ursprünge hin. Ma- die Kinder des Energiemanagers Angst. Das nager Sykes, ein ruhiger, unauffälliger Typ, Jahr 2016 stellte global den dritten Hitzerepersonifiziert den Umbruch in der Energie- kord in Folge auf. Als im Norden Englands erzeugung: Er hat in Cambridge Geologie im frühen 19. Jahrhundert die Industrialistudiert und sich wie so viele Geologen in sierung begann, lag die Konzentration von der Ölindustrie verdingt. „Ich habe 20 Jahre Kohlendioxid in der Atmosphäre bei 260 lang für Firmen riesige Mengen Erdöl ge- ppm („parts per million“, Teile pro Million). fördert“, erzählt er. 2012 wechselte er in die 2015 durchbrach sie die Marke von 400
Im Vergleich zu China und Indien nimmt sich die deutsche Energiewende geradezu klein aus.
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ten Kontinent suchten in den vergangenen Jahren verstärkt Hitzewellen heim, für die Wetternachrichten musste eine neue Farbe für extreme Hitze eingeführt werden. Nordwestlich von Sydney kletterte das Thermometer im Februar 2017 auf 47 Grad Celsius – Rekord. Eine große Zahl von Buschfeuern kam hinzu, Agrarland verdorrte. Natürlicherweise kommt so eine Hitzewelle in Australien alle 240 Jahre vor, berechneten Forscher. Der durch den Menschen verursachte Klimawandel verdopple die Wahrscheinlichkeit. Schauplatz Arktis: Die Eisfläche im hohen Norden wird kleiner und dünner. Das polare Meereseis ist nach Angaben der amerikanischen Ozeanbehörde NOAA seit 1979 pro Jahrzehnt im Durchschnitt um eine Fläche von 500 000 Quadratkilometern geschrumpft, legt man die Messwerte für Januar zugrunde. Im Januar 2017 gab es mit nur noch 13,4 Millionen Quadratkilometern Eis einen neuen Minusrekord. Das Schmelzwasser landet im Ozean und lässt den Meeresspiegel steigen – um einen Zentimeter in drei Jahren. Schauplatz Weltmeere: Der weltumspannende Ozean wird wärmer und saurer. Er nimmt bis zu 90 Prozent der zusätzlichen Wärme auf. Zudem landet ein Großteil der 36 Milliarden Tonnen CO , die Jahr für Jahr 2 ausgestoßen werden, nach kurzer Zeit im Wasser und bildet dort Kohlensäure. Das verschlechtert die Lebensbedingungen im Meer dramatisch – das sichtbarste Symptom ist das Ausbleichen der Korallenriffe, von dem 2016 weite Teile des Great Barrier Reefs vor der australischen Küste betroffen waren. Die Menschheit muss ihren Ausstoß an Treibhausgasen dringend reduzieren, um jene Überschwemmungen, Dürren und Naturschäden zu vermeiden, vor denen Klimaforscher laut warnen. Ende 2015 einigten sich Vertreter von 200 Ländern beim Welt-
YANG SHIYAO / XINHUA NEWS AGENCY / ACTION PRESS, CHRISTOPHER FURLONG / GETTY IMAGES
SCHAUPLATZ AUSTRALIEN: Den fünf-
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klimagipfel von Paris auf einen Vertrag mit dem Ziel, die Erderwärmung auf unter 2 Grad Celsius, wenn möglich sogar unter 1,5 Grad Celsius, im Vergleich zur Zeit vor der Industrialisierung zu begrenzen. Das klingt nach bescheidenen Zielen. Aber: Zwischen dem Höhepunkt der letzten Eiszeit, als sich im Norden Europas Gletschereis Hunderte Meter hoch stapelte, und der Gegenwart liegt auch nur ein Temperaturanstieg von 5 Grad. Klimaexperten vom Thinktank „Climate Analytics“ haben ausgerechnet, wie dramatisch die Umbrüche ausfallen müssen, um die Pariser Limits einzuhalten. Für das 1,5Grad-Ziel müssten die CO -Emissionen bis 2 zum Jahr 2050 auf null sinken. Für das 2Grad-Ziel läge die Nulllinie im Jahr 2060. In beiden Szenarien müsste, sobald die Emissionen bei null sind, etwas historisch völlig Neuartiges beginnen: Die Menschheit müsste der Atmosphäre Kohlendioxid in erheblichen Mengen wieder entziehen, zum Beispiel, indem Energie mit Pflanzen erzeugt wird und die Abgase unterirdisch verpresst oder chemisch gespeichert werden. Von „Negativemissionen“ sprechen die Experten. Wem diese Szenarien Angst machen, für den gibt es gute Nachrichten: Zuletzt haben die globalen Emissionen bei 36,2 Milliarden Tonnen CO stagniert, statt wie bisher an2 zusteigen. Und nicht nur in der Irischen See vor Liverpool, sondern weltweit sind erneuerbare Energiequellen auf dem Vormarsch, sie eilen von Rekord zu Rekord. Global wurden 2015 rund 350 Milliarden Dollar in erneuerbare Energiequellen investiert, vor allem Wind- und Sonnenenergie. Besonders tatendurstig zeigten sich Entwicklungs- und Schwellenländer, die 17-mal mehr Geld als 2004 in erneuerbare Energie steckten. Absoluter Vorreiter ist China. Die Führung der Volksrepublik entwickelt sich zum Antreiber der globalen Energiewende. Dahinter steckt nicht nur die Angst vor dem Klimawandel. Proteste gegen die katastrophale Luftverschmutzung bedrohen die politische Stabilität. Die Staatsführung verspricht, wie einst der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt für das Ruhrgebiet, einen „blauen Himmel“. Das Land hat mit 115 Milliarden Dollar 2015 mehr als ein Drittel der globalen Investitionen in erneuerbare Energien getätigt. 33 Gigawatt Windkapazität und 18 Gigawatt Fotovoltaikkapazität wurden in Betrieb genommen. Zum Vergleich: In Deutschland sind insgesamt 45 Gigawatt Wind und 40 Gigawatt Fotovoltaik installiert. Das schwa-
che Wirtschaftswachstum hat die chinesischen Investitionen zwar 2016 auf 81 Milliarden Dollar gedrosselt, doch bis 2020 hat die asiatische Großmacht sich zum Ziel gesetzt, pro Jahr mehr für erneuerbare Energiequellen auszugeben als heute die ganze Welt. Auch in den USA, dem Land, bei dem man zuerst an Erdöl- und Erdgasfracking denkt, läuft die umweltfreundliche Revolution. Hier flossen 2016 immerhin 59 Milliarden Dollar in Wind- und Solarprojekte. Zu den Vorreitern gehören nicht nur das ökofreundliche Kalifornien, sondern auch der traditionelle Ölstaat Texas, in dem besonders viele Wind- und Solarfarmen entstehen. Der Anteil der besonders kohlendioxidreichen Kohle an der Stromerzeugung ist in den USA seit dem Jahr 2000 von rund der Hälfte auf weniger als ein Drittel gefallen. Erstaunliche Nachrichten kamen in jüngster Zeit aus Indien: Bis vor Kurzem stand die Regierung von Premierminister Modi erneuerbarer Energie skeptisch gegenüber, jetzt hat sie die Schalter umgelegt. Bis 2027 sollen die Inder mehr als die Hälfte ihres Stromverbrauchs aus regenerativen Quellen beziehen, beschloss die Regierung. Große Energiefirmen ziehen mit: Adani hat im Bundesstaat Tamil Nadu das größte Solarkraftwerk der Welt errichtet, und auch das Tata-Konglomerat will binnen acht Jahren zu 40 Prozent erneuerbare Energien einsetzen.
Im Vergleich zu den Dimensionen, um die es in diesen Ländern geht, nimmt sich die deutsche Energiewende geradezu klein aus. Jedenfalls ist es mitnichten so, dass Deutschland allein und isoliert wäre mit seinem Kurs. Unter den leistungsstarken Industrienationen ist aber nach wie vor Spitze, dass 2016 der Ökostrom in Deutschland einen Anteil von 30 Prozent an der Gesamtstromerzeugung ausmachte. Die gesamte EU bringt es nach Jahren progressiver Energiepolitik inzwischen auf einen ähnlichen Wert, Dänemark auf 42 Prozent, Schottland sogar auf 58 Prozent. Die USA schneiden mit 13 Prozent Ökoanteil vergleichsweise mager ab, und in China liegen Wind- und Sonnenstrom noch immer unter 10 Prozent Anteil. Was Europa besonders auszeichnet, ist der hohe Anteil von Meereswindanlagen. Knapp 3600 von ihnen sind in der Nordsee, der Ostsee und in der Irischen See bereits mit dem Stromnetz verbunden, während die USA und China gerade erst damit anfangen, Windparks in die Meere zu setzen. INVESTOREN UND REGIERUNGEN
setzen nicht aus Ökoromantik auf erneuerbare Energien, auch nicht nur aufgrund von Subventionen, sondern weil langfristig Profite winken. Waren erneuerbare Energien früher wegen hoher Preise verrufen, so können sie heute manchmal schon mit Kohle und Erdgas mithalten. Ingenieure entwi-
ENGLAND Burbo-Bank-Meereswindfarm vor der nordenglischen Küste bei Liverpool
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DEAN SEWELL / OCULI / VU / LAIF
AUSTRALIEN Sandsturm über einem ausgetrockneten See in Südaustralien
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ckeln immer größere und leistungsfähigere Anlagen, die eine effizientere Ausbeute von Wind und Sonne erlauben. Windenergie ist heute die billigste der neu erschlossenen Stromquellen, und die Fotovoltaik zieht nach. Erneuerbare Energiequellen eignen sich hervorragend, um entlegene ländliche Gebiete mit Elektrizität zu versorgen. Den Bau teurer Überlandleitungen kann man sich häufig ganz sparen. Zudem hat die Finanzwelt die Branche entdeckt, weil immer mehr Investoren ihr Geld nicht in fossilen Quellen angelegt wissen wollen. Prominentestes Beispiel für dieses „divestment“ ist ausgerechnet der Rockefeller Family Fund, der einen Teil des Nachlasses des Ölmagnaten John D. Rockefeller verwaltet.
unterhält, eine gewichtige Rolle spielen. Schließlich ist der US-Fossilgigant Exxon bereits seit Längerem darauf erpicht, riesige Ölvorkommen in der russischen Arktis anzuzapfen. Der frühere Exxon-Chef ist unter Trump zum US-Außenminister avanciert. Was sich gerade zwischen Russland und den USA abspielt, könnte sich noch als verdeckte Allianz großer Fossilindustrien erweisen. Die Auswirkungen sind global: Trump lässt prüfen, wie er den Klimavertrag von Paris torpedieren, vielleicht sogar zu Fall bringen kann. Das Dokument, auf das die Regierungen der Welt 20 Jahre lang hingearbeitet hatten, könnte nichtig werden, wenn die USA es wirklich darauf anlegen. Wird China die Führungsrolle im weltweiten Kampf gegen die Erderwärmung übernehmen? Oder kommt es zu neuen Al-
IMMER DEUTLICHER ERWEIST SICH
Ökostrom als wettbewerbsfähig. Und das, obwohl er weltweit nur die Hälfte der Subventionen bekommt, die Regierungen in Öl-, Erdgas- und Kohleförderung stecken. Bestehen also gute Chancen, dass die Menschheit eine wahre Revolution der Energiequellen erlebt, dass die Stromerzeugung umwelt- und klimafreundlich und der Klimavertrag von Paris tatsächlich umgesetzt wird? Ja. Wäre da nicht Donald Trump. Der neue US-Präsident bringt in der ame- lianzen zwischen den großen Staaten, die rikanischen und auch in der globalen Ener- willens sind zu handeln, mit Deutschland gie- und Klimapolitik zurzeit alles durchei- als einer der Führungsnationen? Das ist dernander. Trump hat Schlüsselpositionen sei- zeit alles offen. Die Unklarheit erschwert ner Regierung mit Leuten besetzt, die den es, die neuralgischen Punkte der Energiewissenschaftlichen Konsens zum Klimawan- wende anzupacken. del als „hoax“, also als betrügerischen Von denen gibt es viele. Scherz, lächerlich machen. Ende März 2017 Trotz aller Milliardeninvestitionen in wickelte Trump – umgeben von Kohlekum- Ökostrom sieht das Bild ganz anders aus, peln, denen er versprach, ihre Jobs zu si- wenn man nicht nur Strom, sondern den gechern – einen Teil der Klimaschutzmaßnah- samten weltweiten Energieverbrauch bemen seiner Vorgänger per Dekret ab. Das trachtet, also auch das, was Flugzeuge, Aukam einer Kriegserklärung an die interna- tos und Schiffe antreibt sowie Gebäude und tionale Umweltpolitik gleich. Das Budget Anlagen heizt. Zu diesem sogenannten Prider US-Umweltbehörde EPA soll drastisch märenergieverbrauch trugen Öl, Gas und schrumpfen, ebenso das der Forschungspro- Kohle 2014 satte 81 Prozent bei, Biokraftgramme, die Klimadaten erheben. Neuer stoffe 10 Prozent, Atomkraft 5 Prozent und EPA-Chef ist Scott Pruitt, ein Mann, der ent- Wasserkraft 2 Prozent. Wind- und Sonnengegen allen wissenschaftlichen Erkenntnis- energie kommen zusammengenommen auf sen leugnet, dass Kohlendioxid überhaupt 1 Prozent – sie tauchen in der Darstellung zur Erderwärmung beiträgt. Für die Um- der Internationalen Energieagentur nur als weltpolitik ist das so, als würde die Uhr um „Sonstige“ auf. 50 Jahre zurückgedreht. Noch immer dominiert der VerbrenTrump will die Kohleförderung wieder nungsmotor. Der Umstieg auf Elektromobiaufleben lassen, neue Ölpipelines durchset- lität läuft, aber nur langsam. In Deutschland zen und vor allem die Öl- und Gasförderung hat sich die Bundesregierung zum Ziel gekräftig ausbauen. Fossilenergie-Interessen setzt, dass bis 2020 eine Million Elektroaudürften bei den engen Beziehungen, die tos unterwegs sind. Die Realität am 1. Januar Trumps Team mit der russischen Regierung 2017: 34 022 Fahrzeuge.
In Europa fehlen Stromleitungen für den Transport von Ökostrom.
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Noch komplizierter ist der Fall bei der alles dominierenden Wärmeerzeugung. Der Energieverbrauch von Haushalten steigt global gesehen: Mehr und mehr Menschen leben in komfortablen Apartments mit Heizung im Winter und Klimaanlage im Sommer. Es gibt viele Modellprojekte, darunter solche mit dem Ansatz, überschüssigen Wind- und Sonnenstrom als Wärme zu speichern. Aber noch hat niemand einen schlüssigen Plan, wie die globale Energiewende bei Wärme und Kühlung gelingen soll. Hinzu kommen Infrastrukturprobleme: In Europa fehlen Stromleitungen für den Transport von Ökostrom von der windstarken Küste in die wirtschaftsstarken Ballungsgebiete. Es fehlt auch an Technologien, diejenige Ökoenergie effizient zu speichern, die anfällt, wenn die Produktion über der Nachfrage liegt, weil der Wind tost oder die Sonne brennt. Allein 2015 konnten 4100 Gigawattstunden Windstrom – das entspricht dem Jahresverbrauch von 1,2 Millionen Haushalten – nicht genutzt werden, weil die Leitungen fehlten. Obendrein sind jene Verfahren, mit denen künftig Kohlendioxid aus der Atmosphäre geholt werden soll, erst im Entwicklungsstadium. Im nordrhein-westfälischen Dormagen eröffnete im vergangenen Jahr eine Fabrik, die Kohlendioxid in einen Chemiegrundstoff verarbeitet. Kapazität: 1000 Tonnen CO , im Vergleich zu jährlichen 2 Emissionen von 36 Milliarden Tonnen. All diese Probleme zu lösen, das ist eine kostspielige Jahrhundertaufgabe für Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker. Sie wird nur gelingen, wenn der Bevölkerung die Angst vor dem Klimawandel unter die Haut geht – und wenn neue Technologien und nachhaltige Lebensstile attraktiv genug sind, einen echten Stimmungswandel zu bewirken. Ja, eine globale Energiewende ist in vollem Gang. Die Frage aber, ob sie schnell genug vollzogen wird, um die schlimmsten Folgen der Erderwärmung noch zu verhindern, ist auf beunruhigende Weise völlig offen. Um erfolgreich zu sein, müsste die Ökorevolution von heute sich so schnell, fundamental und flächendeckend verbreiten wie einst die industrielle Revolution vom Norden Englands her. Bisher tut sie das nicht.
Christian Schwägerl hat schon von der ersten Uno-Klimakonferenz 1995 in Berlin berichtet. Er hält den Klimawandel für eines der wichtigsten Zukunftsthemen.
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G E S P R ÄC H
„Wir werden nicht im Mittelalter landen“ Aber vielleicht auch nicht mehr im Thailand-Urlaub. Nachhaltigkeitsforscher Felix Ekardt über eine Welt, die auf ökologischen Wandel statt Wachstum setzt. INTERVIEW
JOACHIM MOHR
SPIEGEL: Herr Professor Ekardt, wie sind Sie von Leipzig nach Berlin gekommen? Ekardt: Mit dem Zug. SPIEGEL: Eine Fahrt mit dem Auto wäre umweltschädlicher gewesen? Ekardt: Zuerst einmal hätte ich mich strafbar gemacht, weil ich keinen Führerschein besitze (lacht). Und ja, ich hätte sicherlich die Umwelt stärker belastet. SPIEGEL: Der Zug ist umweltfreundlicher als das Auto oder das Flugzeug – für das Klima am besten wäre es allerdings, gar nicht zu reisen. Für Sie als Wissenschaftler ist es aber, genauso wie für Millionen anderer Menschen, nicht möglich, grundsätzlich auf Fahrten mit Bahn, Bus oder Auto zu verzichten. Damit trägt jeder zur Umweltverschmutzung bei. Ekardt: Wir könnten alle viel mehr tun. Ich verzichte seit über 20 Jahren auf Urlaubsflüge – und es geht mir gut dabei. SPIEGEL: Viele Menschen fragen sich: Wie bedroht ist unsere Umwelt wirklich? Steht die Menschheit, wie immer wieder verkündet wird, tatsächlich am Abgrund? Ekardt: Es gibt seit Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden, Untergangspropheten. Da deren Vorhersagen bisher nicht eingetroffen sind, neigen viele Menschen dazu,
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F OTO
THOMAS VICTOR
die Zerstörung der Umwelt nicht ernst zu nehmen. Die Erwartung des Untergangs ist ein genauso nutzloses Dogma wie der Glaube an den ewigen Fortschritt. SPIEGEL: Ist denn alles halb so schlimm? Ekardt: Nein, die Umweltsituation ist dramatisch. Der Mensch ist ein biologisches Wesen, er braucht eine natürliche Lebensgrundlage – aber genau diese Grundlage wird durch die Umweltprobleme bedroht. SPIEGEL: Was sind die größten Gefahren? Ekardt: Erst einmal geht es um den Klimawandel. Er verursacht Naturkatastrophen, gefährdet die Ernährung der Menschen, ihre Versorgung mit Wasser. Er wird dramatische wirtschaftliche Folgen haben, er kann Ressourcen- und Bürgerkriege auslösen. Der Klimawandel kann zu Abermillionen Toten führen. SPIEGEL: Im massenhaften Einsatz der fossilen Brennstoffe Kohle, Erdöl, Erdgas, die für den Klimawandel wesentlich verantwortlich sind, liegt also die Hauptsünde der Menschen? Ekardt: Die fossilen Brennstoffe sind auch sonst die Ursache vieler Umweltprobleme. So setzt etwa die konventionelle Landwirtschaft riesige Mengen Mineraldünger ein,
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dessen Basis fossile Brennstoffe sind. Damit belastet die Agrarindustrie unsere Böden und das Grundwasser, zerstört viele Ökosysteme. Der umfassende Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen wäre ein wesentlicher Schritt, die Umweltprobleme zu lösen. SPIEGEL: Deutschland hat den Ausstieg aus der Atomkraft erklärt, eine Energiewende ausgerufen. Sind Sonnen- und Windenergie, Wasserkraft und Erdwärme die Rettung? Ekardt: Will man weg von den fossilen Brennstoffen, ist der erste und wichtigste Schritt, zu 100 Prozent auf erneuerbare Energien umzusteigen und gleichzeitig die Energie effizienter zu verwenden. Das sind technische Lösungen, die möglicherweise sogar wirtschaftlich so erfolgreich sind wie der Einsatz fossiler Brennstoffe. Womöglich erzeugen die technischen Umstellungen sogar zusätzliches Wachstum. Allerdings wird der Umstieg allein nicht ausreichen, wenn man den Klimawandel und die Zerstörung der Natur ernsthaft beenden will. SPIEGEL: Kann die Menschheit nicht einfach auf die Kunst ihrer Ingenieure vertrauen? Ekardt: Die Debatte über die Chancen der Technik ist stark ideologisch aufgeladen. Es
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gibt viele Leute, für die im Vorhinein feststeht, dass alle Probleme der Welt technisch lösbar sind, dazu zählen die Bundesregierung, der politische Mainstream, weite Teile der Wissenschaft. Und es gibt andere Menschen, die schon immer überzeugt waren, dass Technik uns mehr schadet als nützt, dass die Technik die Wurzel allen Übels ist. Beides ist einseitig. Entscheidend ist, sich einzelne Technologien genau anzusehen. SPIEGEL: Was sollte aus Ihrer Sicht denn jetzt konkret passieren? Ekardt: Die zentrale politische Maßnahme muss sein, die fossilen Brennstoffe in allen Bereichen aus dem Markt zu nehmen. SPIEGEL: Wie kann das gehen? Ekardt: Es gibt ein Instrument, mit dem man das machen könnte: der Emissionshandel in der Europäischen Union.
„Wie teuer wir uns den Klimaschutz auch vorstellen, Ressourcenkriege sind teurer.“
SPIEGEL: Wie funktioniert der? Ekardt: Beim EU-Emissionshandel wird EU-weit für Unternehmen bestimmter Industriezweige über die Jahre eine stetig schrumpfende Menge an Klimagasemissionen festgelegt. Die Unternehmen dürfen untereinander mit den Emissionsmengen handeln. Leider ist der heutige Emissionshandel ökologisch witzlos. Die zugelassene Menge an Treibhausgasen ist viel zu groß, es gibt zu viele Schlupflöcher, und es werden überhaupt nur etwa die Hälfte der Emissionen erfasst. Die Erzeugung von Wärme, der Verkehr und die Landwirtschaft sind weitgehend draußen. Schritt für Schritt müsste die gesamte Menge an fossilen Brennstoffen verknappt werden. SPIEGEL: Dadurch würde nicht nur Benzin teurer, auch das Heizen, alle Arten von Kunststoffen, genauso wie landwirtschaftliche Produkte wegen der Düngemittel. Ekardt: Stimmt, aber so entstünde ein großer Anreiz, auf erneuerbare Energien zu setzen, die Energieeffizienz zu steigern und mitunter genügsamer zu werden. SPIEGEL: Aber wer könnte solch ein Vorhaben durchsetzen: ein einzelnes Land? Nein. Mehrere Staaten zusammen? Schwie-
FELIX EKARDT ist Jurist, Soziologe und Philosoph. Er leitet die Forschungsstelle für Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig und Berlin und ist Professor für öffentliches Recht an der Universität Rostock. Daneben engagiert sich Ekardt, 45, als Vorsitzender des Landesverbandes Sachsen beim Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland.
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Endlich einmal gute Nachrichten:
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Sterben heute mehr Menschen durch Terror und Krankheiten als früher? Stürzen mehr Flugzeuge ab? Steigt die Kriminalität, oder sinkt sie? Und müssen wir wirklich immer mehr arbeiten? Unser Gefühl sagt oft, dass die Welt sich zum Schlechteren verändert, doch dabei übersehen wir, dass vieles seit langem immer besser wird. SPIEGEL-Autor Guido Mingels zeigt anhand von 52 Grafiken, dass wir allen Grund haben, optimistisch zu sein. Denn früher war tatsächlich alles schlechter.
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rig. Die Vereinten Nationen? Kaum vorstellbar. Ekardt: Es ist eine große Herausforderung. Denkbar wäre, dass etwa die EU mit steigenden Kosten für fossile Brennstoffe anfängt und das mit einem sogenannten Grenzsteuerausgleich für Im- und Exporte verbindet, also einem Ökozoll an der Außengrenze. SPIEGEL: Die EU-Staaten werden sich kaum auf solch ein Projekt einigen, außerdem gäbe es Ärger mit dem Rest der Welt. Ekardt: Der Anreiz mitzumachen wäre für andere aber massiv. Und man könnte endlich Vorreiter sein, ohne Emissionen bloß in andere Länder zu verlagern. Rein wirtschaftlich betrachtet: Wie teuer wir uns den Klimaschutz auch immer vorstellen, eine Zukunft mit Klima- und Ressourcenkriegen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit viel, viel teurer. SPIEGEL: In demokratischen Staaten haben Politiker, die radikale Umweltauflagen fordern, bei Wahlen kaum Chancen. Ekardt: Das stimmt bislang. Aber die Regierungsform ist nicht das Problem. Die Kommunistische Partei Chinas verkündet immer wieder, dass sie ökologische Probleme bei Bedarf schnell und einfach per Anordnung lösen könne. Allerdings klappt das nie. Die Geschichte spricht auch dagegen, auf einen uneigennützigen, weitsichtigen Diktator zu hoffen. SPIEGEL: Die Ökodiktatur ist also keine Lösung. Ekardt: Die Demokratie ist das lernfähigere System. Allerdings rechne ich beim Menschen ganz allgemein mit massiven Widerständen, wenn es um die Notwendigkeit schnellen Wandels geht. Schneller Wandel ist, jenseits von Brüchen und Revolutionen, ein seltener Vorgang in der Menschheitsgeschichte. SPIEGEL: Nicht nur die Politik hat Einfluss darauf, wie wir unsere Umwelt behandeln. Die Wirtschaft spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Ekardt: Beim Umweltschutz gilt, wie in anderen gesellschaftlichen Feldern, dass stets verschiedene Akteure – etwa die Politik, die Wirtschaft, die Verbraucher – aufeinander zeigen und Forderungen aneinander stellen. Gesellschaftlicher Wandel geschieht aber immer im Wechselspiel zwischen den Gruppen: Was Unternehmen machen, hängt davon ab, was die Verbraucher wollen; was die Verbraucher kaufen, wird wiederum davon beeinflusst, was die Unternehmen anbieten. Was wir alle alltäglich tun, ist stark von den politisch-
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rechtlichen Vorgaben bestimmt, es werden aber auch nur solche politisch-rechtlichen Vorgaben gesetzt, die auf ein Mindestmaß an Zustimmung stoßen. Das gilt übrigens sogar in Diktaturen, weil auch Diktatoren nicht gern gestürzt werden. SPIEGEL: Was müssen wir also tun? Ekardt: Es wird keine andere Politik geben, wenn nicht viele von uns vormachen, dass wir anders leben können, dass Nachhaltigkeit auch wirtschaftlich interessant sein kann, dass Umweltschutz Spaß macht, dass niemand dafür zurück auf die Bäume muss. SPIEGEL: Unser Wirtschaftssystem ist auf Wachstum ausgerichtet. Müssen wir uns vom Wachstum verabschieden, wenn wir nachhaltig handeln wollen? Ekardt: Die allermeisten Menschen halten Wachstum für etwas Positives, und in unse-
„Wenn andere weniger haben, kann auch ich mit weniger glücklich sein.“
rer modernen Gesellschaft ist Wachstum für das Rentensystem, den Arbeitsmarkt, den Staatshaushalt, die Unternehmen von zentraler Bedeutung. Wir sind bislang von Wachstum abhängig. Will man die zentralen Umweltprobleme jedoch wirklich angehen, werden wir nicht umhinkommen, nicht nur effizienter zu produzieren, sondern auch weniger zu konsumieren. Wir würden uns damit von der Wachstumsgesellschaft in die Postwachstumsgesellschaft bewegen. SPIEGEL: Das bedeutet? Ekardt: Wir würden in einer Gesellschaft leben, die ökonomisch statisch oder gar schrumpfend ist, also nicht wächst. SPIEGEL: Aber kann so eine Gesellschaft funktionieren? Ekardt: Wir müssen natürlich über neue Alternativen nachdenken: Wie kann ein Arbeitsmarkt, eine Sozialversicherung, wie können Unternehmen bestehen in einer wachstumslosen Welt? SPIEGEL: Kann es in einer Postwachstumsgesellschaft überhaupt einen Lebensstandard jenseits der Armut geben? Ekardt: Man sollte die Dramatik nicht überschätzen. Wir haben einen unglaubli-
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DAS BEWEGT MICH!
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chen Fundus an Wissen und Wohlstand aufgehäuft. Selbst wenn wir unseren Wohlstand ein wenig reduzieren, landen wir keineswegs im Mittelalter. Die Gefahr ist doch, dass wir den Wandel weiter nur halbherzig betreiben und damit in eine echte globale Katastrophe hineinlaufen. SPIEGEL: Den meisten Menschen ist ihr umweltschädliches Verhalten durchaus bewusst, sie essen viel Fleisch, fliegen in den Urlaub, kaufen unnötig viel Kleidung. Trotzdem ändern sie ihr Verhalten nicht. Ekardt: Wissen allein verändert das Verhalten nur selten. Politiker, Unternehmer, normale Bürgerinnen und Bürger folgen typischen menschlichen Verhaltensantrieben. Wichtig ist etwa unsere Vorstellung von Normalität: Es ist einfach normal, mit dem Auto zu fahren, in den Urlaub nach Thailand oder Neuseeland zu fliegen, meine Facebook-Freunde und Kollegen machen das ja alle. Hinzu kommt die menschliche Neigung zu Bequemlichkeit und zur Verdrängung. SPIEGEL: Sie klingen nicht sehr zuversichtlich, was die Chancen für eine Änderung unserer Lebensweise betrifft. Ekardt: Es ist für den Menschen überaus schwierig, Probleme als dringlich zu empfinden, die räumlich und zeitlich weit entfernt sind – und dazu noch sehr komplex wie die Veränderungen in der Umwelt. Hinzu kommt das Kollektivgut-Problem: Den Nachteil, nicht mehr mit dem Auto zu fahren, spüre ich persönlich, denn meine Wege werden unbequemer. Den Vorteil, damit das Klima zu schützen, kann ich nicht direkt wahrnehmen, vor allem aber auch nicht für mich reklamieren. Das müssen viele machen. SPIEGEL: Der Mensch ist ein Egoist? Ekardt: Wir Menschen agieren lange nicht so rational, wie wir uns das immer ausmalen. Im Gefolge von Rousseau und Marx auf einen neuen Menschen zu hoffen, der nur noch altruistisch handelt, ist wenig realistisch. Auch bevor es den Kapitalismus gab, waren Menschen eigennützig. SPIEGEL: Der Mensch kann aber auch solidarisch sein. Ekardt: Sind Menschen selbstlos, sind sie das meist nur zugunsten ihrer Gruppe, also zugunsten ihrer Familie, ihrer Stadt, vielleicht noch ihrer Nation. Aber wenn es um Klimaschutz für die ganze Welt geht, stößt der Altruismus an Grenzen. Der Mensch ist zwar kulturell geprägt, hat aber auch eine biologische Grundlage. Dass er zu Eigennutz neigt, liegt einfach daran, dass er
Teil der Evolutionsgeschichte ist, in der er sich durchsetzen musste, oft mithilfe seiner kleinen Gruppe. Deshalb ist es viel leichter zu sagen, mein Fußballverein muss gewinnen, als zu fordern, die Welt muss vor der Klimakatastrophe gerettet werden. SPIEGEL: Was also tun? Ekardt: Sehr wichtig sind die richtigen politischen Rahmenbedingungen, damit kann der Eigennutz des Menschen in bestimmte Richtungen gelenkt werden. Wenn fossile Brennstoffe teurer werden, ist es für den Einzelnen interessant, weniger oder billigere Energieträger zu verwenden. Wir müssen über unsere Wertvorstellungen diskutieren und diese verändern: Ist Wachstum womöglich gar nicht so wichtig, eine intakte Natur hingegen wertvoll? SPIEGEL: Weniger soll mehr sein? Ekardt: Wir können auch Normalitätsvorstellungen ändern, indem wir neue Lebensweisen ausprobieren und diese anderen Menschen vormachen. Der Mensch ist ein Nachmacher, sagen Psychologen. Das Glücksempfinden ist vor allem durch den Vergleich mit anderen geprägt, was bedeutet: Wenn andere weniger haben, kann auch ich mit weniger glücklich sein. Wir setzen Freiheit und Demokratie, ja unsere Existenz aufs Spiel, wenn wir weiter unsere natürlichen Grundlagen gefährden. Es geht also nicht nur um Moral, sondern auch um Eigennutz. SPIEGEL: Bleiben globale Lösungen nicht Wunschdenken? Die Welt bewegt sich derzeit mit großer Geschwindigkeit in Richtung Renationalisierung. Ekardt: Ja, globale Ansätze werden es schwer haben, sind aber nicht unmöglich. Die Idee einer universellen Moral ist seit über 2000 Jahren vorhanden. Wir haben die Möglichkeit, die Dinge zu verändern, unser wunderbares Ökosystem zu bewahren, unsere Existenz zu sichern. Es liegt an uns Menschen, an jedem Bürger und Politiker, nicht an anonymen Sachzwängen. SPIEGEL: Herr Ekardt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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T E S T Auf den folgenden Seiten finden Sie fünf Checklisten, die Ihr Verhalten in verschiedenen Lebensbereichen auf Umweltverträglichkeit und Nachhaltigkeit überprüfen. Bitte lesen Sie die Aussagen durch – und kreuzen Sie an, ob sie auf Sie zutreffen oder nicht. Seien Sie dabei bitte wirklich ehrlich zu sich selbst.
Das ist bei diesem Thema wichtig. Denn viele dichten sich beim Umweltverhalten gern eine weißere Weste an, als sie tatsächlich haben. Zählen Sie anschließend zusammen, wie viele Aussagen pro Liste Sie mit „Ja“ beantwortet haben. Die Auswertung finden Sie ab Seite 69.
Der große Öko-Check Mit diesem SPIEGEL-WISSEN-Test erkennen Sie Ihre Stärken und Schwächen in Sachen Nachhaltigkeit.
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TEXT I L L U S T R AT I O N
ANNE OTTO CLARA DE VILLIERS
DOGMATISCH will er es nicht angehen. Gerd Michelsen, Professor für Nachhaltigkeitsforschung an der Leuphana-Universität
Lüneburg, findet es wenig motivierend, wenn Aktivisten bestimmte ökologische Verhaltensweisen, etwa vegane Ernährung oder perfekte Mülltrennung, als „Muss“ bezeichnen. „Ein nachhaltiger Lebensstil im Alltag ist ein Prozess“, sagt Michelsen. Dazu gehört zum einen eine Verständigung darüber, was Nachhaltigkeit überhaupt ist (siehe Kasten Seite 70). Zum anderen gehe es darum, sich stetig bewusst zu machen, in welchen Bereichen wir Ressourcen langfristig schützen können und müssen – und auf welches Verhalten wir dabei zurückgreifen wollen. „Wir handeln letztlich immer mit uns selbst aus, an welchen Stellen wir aktiv werden.“ Um in diesem individuellen Prozess voranzukommen, sei es allerdings wichtig, sich immer wieder bewusst zu machen, wie der eigene Lebensstil und die Bedrohung der Umwelt zusammenhängen – denn das gerät im Alltag leicht aus dem Blick. Berichte über ökologische Zusammenhänge und Produktionsbedingungen seien deshalb wichtig, stetige Aufklärung notwendig. Andererseits gehe es aber auch darum, sich selbst immer wieder zu fragen, wie es um die Nachhaltigkeit im eigenen Leben ganz praktisch steht. Gemeinsam mit SPIEGEL WISSEN hat Professor Michelsen deshalb eine Checkliste entwickelt, mit der Sie prüfen können, in welchen Bereichen Ihres täglichen Lebens Sie bereits umweltbewusst handeln – und wo Ihre „blinden Flecken“ sind. Keine Sorge: Die hat fast jeder. Die Bewusstmachung solcher Punkte kann viel bewirken, sagt Michelsen. Oft sei das der letzte kleine Anstoß, den man braucht, um das eigene Verhalten zu verändern.
JA
NEIN
– Für Wege bis fünf Kilometer – oder mehr – nehme ich regelmäßig das Fahrrad. – Ich habe kein Auto, nutze Carsharing oder bilde mit anderen eine feste Fahrgemeinschaft. – Mit dem Zug fahre ich gern und viel – auch weite Strecken.
– Wenn schon einen neuen Wagen, dann könnte ich mir in den nächsten Jahren den Kauf eines Elektroautos vorstellen. – Private Flugreisen mache ich. Aber sicher nicht jedes Jahr. [1]
– Öffentliche Verkehrsmittel nutze ich, wann und wo immer ich kann.
JA GESAMT
– Immer mal wieder kaufe ich Dinge aus zweiter Hand und gebe auch selbst Ausgemustertes in den Second-Hand-Kreislauf. – Ich mache keine ziellosen und ausgedehnten Shoppingtouren in Geschäften oder im Internet. – Ich entscheide mich mindestens zweimal im Jahr für Fair-Trade-Kleidung oder Kleider von lokalen Schneidern und Designern. – Ich gehe grundsätzlich nicht bei Billigketten einkaufen.
– Ob Wandfarbe oder Weintraube: Öko- und Biosiegel sind mir wichtig. [2]
– Häufig überlege ich, wie es mir gelingen könnte, weniger Dinge anzuhäufen und nur Sachen zu kaufen, die ich brauche.
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JA GESAMT
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TEST
JA
NEIN
– Beim Einkaufen achte ich darauf, dass ich Produkte mit wenig Plastikverpackung wähle. – Ich gehe regelmäßig zum Altpapiercontainer, beschreibe Papier beidseitig. – Wenn Flaschen, dann Pfandflaschen.
– Es gibt Dinge, die ich gar nicht mehr kaufe, etwa Waschmittel mit Kunststoffpartikeln, die sich nicht abbauen. – Meinen Müll trenne ich. [3]
– Ich kaufe Gebrauchsgüter lieber hochwertig – und bringe kaputte Gegenstände auch mal in die Reparatur.
JA GESAMT
– Ich esse nicht mehr als zweimal pro Woche Fleisch.
– Obst und Gemüse kaufe ich regional und saisonal, beispielsweise im Winter keine Erdbeeren oder Melonen aus Übersee. – Beim Discounter und in großen Supermärkten kaufe ich, wenn überhaupt, nur 10 bis 20 Prozent meiner Lebensmittel ein. – Ich koche regelmäßig selbst.
– Wenn möglich, kaufe ich Bioprodukte. [4]
– Das meiste, was ich an Lebensmitteln kaufe, esse ich auch. Weggeworfen wird kaum etwas.
JA GESAMT
– Ich beziehe meinen Strom von einem Ökostromanbieter.
– Beim Kauf neuer Elektrogeräte schaue ich primär auf den Stromverbrauch. – Ich verwende in meiner Wohnung Energiesparlampen.
– Zu Hause achte ich auf nicht zu hohe Raumtemperatur und, wenn möglich, auf gute Dämmung.
– Ich verwende Stand-by-Schalter, um Strom zu sparen. Lampen schalte ich aus, wenn ich einen Raum verlasse.
[5] JA GESAMT
– Ich dusche nicht zu lang mit heißem Wasser und bade nur selten.
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[2] KONSUM: Kaufe ich ökologisch bewusst ein?
0–2 MAL JA: Sie kaufen mit großer Wahrscheinlichkeit gern ein. Gerade deshalb ist nachhaltiger Konsum für Sie ein wichtiges Thema. Versuchen Sie, einen unserer Tipps umzusetzen. 3–4 MAL JA: Sie denken beim Einkauf häufig an die Nebenwirkungen für die Umwelt und handeln danach. Weiter so. 5–6 MAL JA: Super, dass Sie schon so umweltbewusst konsumieren. UND ACTION! Das Kaufverhalten hat sich hierzulande in
den letzten Jahren gewandelt. Viele Menschen achten auf Biosiegel oder sind sich darüber im Klaren, was „faire“ und was „schlechte“ Waren sind. Unser blinder Fleck ist, dass wir weiterhin zu viel konsumieren, jede Mode mitmachen, jedes Elektro-Gadget haben wollen. Hier können wir ansetzen. SOFORT-TIPP: Bei Schnittblumen denken viele Konsumen[1] MOBILITÄT: Wie umweltverträglich bewege ich mich?
0–2 MAL JA: Bisher bewegen Sie sich noch mit viel CO2-
Output. Sie könnten in diesem Bereich Kleinigkeiten ändern. 3–4 MAL JA: Gut. Sie haben sich schon auf nachhaltige Formen der Mobilität eingestellt. 5–6 MAL JA: Sie sind in Sachen Mobilität ein Umweltengel. UND ACTION! Sie würden sich gern umweltverträglicher
fortbewegen? Dann helfen wir Ihnen, auf Trab zu kommen. Falls Sie in dieser Liste eher mäßig abgeschnitten haben, sind Sie nicht allein: Von den 40 Millionen Haushalten in Deutschland haben 80 Prozent ein Auto. 29 Prozent haben sogar zwei. Diese werden regelmäßig genutzt. In diesem Bereich ist also bei vielen noch Luft nach oben.
ten noch nicht über Nachhaltigkeit nach. Dabei werden diese oft unter katastrophalen Bedingungen in Afrika gezogen. Verzichten Sie ab jetzt auf Supermarktblumen oder Tankstellensträuße. Wenn Sie doch mal einen Strauß schenken wollen – achten Sie auf Fair-Trade-Siegel. LANGFRISTIGER TIPP: Viele von uns kaufen emotionsgesteuert ein: Lustkäufe, weil wir uns belohnen oder einfach etwas Neues haben wollen, und Frustkäufe, weil wir uns aufheitern möchten, sind für viele Menschen Normalität. Versuchen Sie, an dieser Stelle anzusetzen. Verbieten Sie sich (bis auf seltene Ausnahmen) Kaufen als Belohnung oder Geste des Sich-Gönnens. Wie man das umsetzt? Meiden Sie beispielsweise zielloses Bummeln durch Mode- oder Elektrogeschäfte. Wenn Sie etwas brauchen, machen Sie vorher einen Merkzettel, von dem Sie nicht abweichen. Einkaufslisten helfen nicht nur beim Lebensmitteleinkauf.
SOFORT-TIPP: Organisieren Sie Ihren Arbeitsweg zumin-
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dest an zwei Wochentagen umweltverträglich. Fahren Sie Rad, Bahn, Bus. Wenn das aus triftigen Gründen nicht geht: Fahren Sie zwei private Wege in der Woche, zum Beispiel in den Sportverein, zum Einkaufen oder zu Freunden, nicht mit dem Auto, sondern mit Rad oder Bahn. Oder gehen Sie zu Fuß. LANGFRISTIGER TIPP: Egal ob Sie allein, als Paar oder mit der Familie verreisen wollen: Planen Sie einen Wochenendtrip oder sogar die nächste Ferienreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie werden erstaunt sein, wie viele Ziele man gut ohne Auto erreicht. Unkompliziert mit der Bahn zu bereisen sind viele Großstädte, Natururlaub ohne Auto lässt sich gut in der Schweiz machen. Oder auf einer Nordseeinsel. Planen Sie schon jetzt, wie Sie anreisen wollen. Macht auch Spaß!
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EINE SCHLÜSSIGE DEFINITION hat Gro Harlem Brundtland geliefert, die frühere norwegische Ministerpräsidentin: „Nachhaltig ist eine Entwicklung, die die Bedürfnisse der heutigen Generationen befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Es geht also um die Frage nach Grenzen des Wachstums, der Belastbarkeit unseres Planeten, der Verteilung von Wohlstand. Und um die Frage, wie wir diese Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse für alle gewährleisten können.
[3] MÜLL:
[4] ERNÄHRUNG: Achte ich beim Essen auf Nachhaltigkeit?
Was tue ich für Müllvermeidung?
0–2 MAL JA: Mülltrennung und Vermeidung sind Ihnen wahrscheinlich eher lästig. Schauen Sie, ob Sie den SofortTipp beherzigen können. 3–4 MAL JA: Sie haben das Thema Müllvermeidung teilweise gut im Blick. Bleiben Sie dran. 5–6 MAL JA: Sie sind ein Profi, wenn es um das Thema Abfallvermeidung geht. UND ACTION! Die Deutschen sind Vorreiter in Sachen Mülltrennung. Biotonnen und gelbe Säcke haben hier eine längere Tradition als in vielen anderen europäischen Ländern. Während wir beim Umgang mit Müll und beim Recycling weit sind, ist bei der Vermeidung von Müll aber noch viel zu tun. Mit 617 Kilogramm Hausmüll pro Kopf und Jahr liegen wir deutlich über den Mengen der meisten EU-Staaten.
0–2 MAL JA: Beim Essen steht für Sie das Ökobewusstsein
bisher eher im Hintergrund. Wenn Sie Lust haben, etwas zu ändern, dann könnten Sie hier ansetzen. 3–4 MAL JA: Sie haben Ihren Lebensmitteleinkauf und Ihre Ernährung zumindest zum Teil nachhaltig gestaltet. Schön. 5–6 MAL JA: Glückwunsch, Sie ernähren sich auf ökologisch verträgliche Art! UND ACTION! Der Umsatz, der in Deutschland mit Biolebensmitteln erzielt wird, ist in den letzten 15 Jahren von 2,1 Milliarden auf 9,4 Milliarden Euro gestiegen. Das heißt:
SOFORT-TIPP: Nie mehr Wasser oder andere Getränke in
Einwegplastikflaschen kaufen. Das gilt auch für Plastikpfandflaschen, die sofort bei Rückgabe klein gehäckselt werden. Steigen Sie auf Glasflaschen oder Hartplastikflaschen mit Pfand um. Oder trinken Sie Leitungswasser. Wer Sprudel will, kann ein entsprechendes Gerät für die Küche anschaffen. LANGFRISTIGER TIPP: Wir alle produzieren viel Müll durch die Versand- und Lieferkultur, die sich in den letzten Jahrzehnten eingebürgert hat. Ob Amazon, Zalando oder Pizzaservice, Lieferungen verursachen reichlich Verpackungsmüll – und auch CO2. Versuchen Sie, den Einkauf per Versand und Lieferdienst um ein Drittel zu reduzieren.
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Es tut sich was. Beim Gesamtumsatz der Lebensmittel liegen Bioprodukte aber weiterhin unter fünf Prozent. Dass viele Menschen kaum Bio kaufen, hat finanzielle Gründe. Aber auch Routinen und Essgewohnheiten hindern viele daran, ihre Ernährung nachhaltiger zu gestalten. Wenn man sich mehr mit den Produktionsbedingungen beschäftigt, bewirkt das oft einen Wandel im eigenen Verhalten. SOFORT-TIPP: Kaufen Sie mindestens einmal in der Woche
Obst, Gemüse, Brot auf einem Wochenmarkt ein. Regional und saisonal zu kaufen ist unschlagbar, wenn es um umweltfreundliche Ernährung geht. Wenn das finanziell oder logistisch nicht hinhaut: Greifen Sie auch im Discounter ab jetzt zu Bioprodukten. Die sind dort nur wenig teurer als konventionelle Produkte – und dennoch ökologisch viel weniger bedenklich. LANGFRISTIGER TIPP: Laden Sie einmal pro Monat
Freunde zum Essen ein. Wer frisch kocht und das Essen mit anderen teilt, fördert das Genussempfinden, steigert damit das Bewusstsein dafür, wie wichtig und wertvoll Lebensmittel sind. Nachhaltiger als alle Fertigprodukte ist frisch gekochtes Essen meist sowieso.
[5] ENERGIE: Ist das Licht überall aus?
[!] FAZIT: Wie lebe ich insgesamt nachhaltiger?
0–2 MAL JA: Sie sind nicht gerade eine Energiespar-Leuchte. Wenn Sie etwas ändern wollen, ist dieser Bereich dankbar: Hier kann man mit einfachen Veränderungen viel erreichen. 3–4 MAL JA: Sie haben den Energieverbrauch im Haushalt gut im Blick. Schön. 5–6 MAL JA: Vorbildlich, wie Sie mit dem Thema Energieverbrauch umgehen.
FÜR EIN NACHHALTIGES ALLTAGSVERHALTEN ist es wichtig, dass wir uns immer wieder klarmachen, wo wir uns tatsächlich umweltbewusst verhalten und wo nicht. Nehmen Sie sich deshalb abschließend eine Minute Zeit, um zu überprüfen: In wie vielen der fünf Listen haben Sie passable Werte erreicht – und wo hapert es? Falls Sie in drei oder mehr Listen Schwachstellen entdeckt haben, überlegen Sie noch einmal: Will ich wirklich so leben? Oder will ich mein Verhalten zumindest teilweise ändern? Nehmen Sie sich erst einmal einen einzigen Tipp vor, versuchen Sie ihn in den nächsten Wochen umzusetzen. Damit ist schon viel erreicht. Für alle, die in ein oder zwei Listen nicht so nachhaltig abgeschnitten haben: Auch Sie können überlegen, ob Sie etwas verändern wollen. Wenn wir schon ökologisches Handeln in einem Bereich etabliert haben, ist ein bisschen mehr davon nicht so schwer. Und noch etwas: Überfordern Sie sich nicht. Keiner kann alles auf einmal verändern. Beherzigen Sie lieber einige wenige Tipps – und diese dann richtig. Auch das geht in Richtung Nachhaltigkeit.
UND ACTION! In vielen Haushalten wird schon effektiv Strom gespart. Auch, weil sich Nachhaltigkeit hier im eigenen Geldbeutel schnell positiv bemerkbar macht. Wer noch weiter optimieren will, kann diese Tipps beherzigen: SOFORT-TIPP: Auch Ladegeräte von Handys, die einfach
nur in der Steckdose „warten“, verbrauchen Strom. Ab jetzt besser herausziehen, wenn sie nicht gebraucht werden. LANGFRISTIGER TIPP: Unsere Wohnungen sind zu warm! Um die 20 Grad reichen, ein Grad weniger geht auch. Versuchen Sie sich an die etwas kühlere Temperatur zu CLARA DE VILLIERS / SPIEGEL WISSEN
gewöhnen. Wer auch im Winter bisher im T-Shirt durch die Wohnung gelaufen ist, kann von diesem Tipp sehr profitieren. Stromrechnung und Umwelt danken es. Wer sowieso schon „kalt“ lebt: Setzen Sie lieber eine Idee aus einer anderen Kategorie um. Energiesparen soll nicht zur Qual werden.
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ALS DIGITALES EXTRA bietet SPIEGEL WISSEN Ihnen ein Training für einen ökologisch verträglichen Alltag an,
entwickelt vom Blogger und Nachhaltigkeitsexperten Florian Schreckenbach (nachhaltig-sein.org). Wenn Sie möchten, schicken wir Ihnen ab dem 26. Mai acht Wochen lang jeweils freitags eine Mail mit einer Trainingseinheit. Anmeldung unter spiegel.de/nachhaltigkeitstraining – dort finden Sie auch später alle acht Aufgaben.
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H O L LY WO O D
Grüner Glamour Stars wie Leonardo DiCaprio jetten um die Welt, um vor der Zerstörung der Umwelt zu warnen. Hollywood gibt sich progressiv – hat aber eine verheerende Ökobilanz. TEXT
SEIT LANGEM kämpft Arnold Schwarzenegger, einst der erfolgreichste Star Hollywoods und acht Jahre lang Gouverneur von Kalifornien, für den Schutz der Umwelt. Wie ein Rufer in der Wüste warnt er vor der Erderwärmung, wenn sich die Flammen der Waldbrände mal wieder bedrohlich nah an die Villen der Stars heranfressen. Für ein Leben in der Wüste ist Schwarzenegger schon seit einiger Zeit gerüstet. Er hat sich einen Fuhrpark von HummerVehikeln zugelegt, panzerartigen Geländewagen, die bis zu 20 Liter Benzin auf 100 Kilometer schlucken. Doch schon vor mehr als zehn Jahren ließ er einen von ihnen publicityträchtig auf Wasserstoffbetrieb umrüsten. Nichts, so will er signalisieren, ist ihm wichtiger als der Klimaschutz. Auch Stars wie Leonardo DiCaprio, die in Privatjets durch die Welt reisen und ökologische Fußabdrücke in der Größe von Sauriertatzen hinterlassen, setzen sich für den Erhalt der Umwelt ein. DiCaprio gründete schon 1998, mit 24 Jahren, eine Stiftung für Umweltprojekte; Ende Mai erscheint die Dokumentation „Before the Flood“ in Deutschland auf DVD, für die er auf den Spuren des Klimawandels rund um die Welt gereist ist. Zugleich wollen Hollywoodgrößen wie Schwarzenegger und DiCaprio Kalifornien zum grünen Vorzeigestaat der USA machen. Nur neidische Nörgler verweisen darauf, wie viel Strom sie verbrauchen, um ihre privaten Tennisplätze zu beleuchten, und wie viel Wasser, um ihre Pools zu füllen. Hollywood hat seit Langem ein ambivalentes Verhältnis zur Natur und zur Umwelt. Schon vor rund zehn Jahren belegte eine Studie der University of California, dass die Filmindustrie maßgeblich zur Umweltverschmutzung im Großraum Los Angeles beiträgt. Nur die Ölindustrie, so die Studie, verursache noch höhere Schadstoffemissionen als Hollywood.
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LARS-OLAV BEIER
Coverboy des Klimawandels: DiCaprio (r.) in seinem Dokumentarfilm „Before the Flood“
„Die ganze Filmbranche ist auf Verschwendung gegründet.“
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Die ganze Filmbranche ist auf Verschwendung gegründet. Komplette Straßenzüge werden in die Landschaft gebaut, um von Kameraleuten für wenige Szenen abgelichtet zu werden. In den Augen vieler Filmemacher besteht die Welt nur aus Brennstoffen, die dazu dienen, die Leinwand zum Leuchten zu bringen. 2006 öffnete der Dokumentarfilm „Eine unbequeme Wahrheit“ des früheren demokratischen Präsidentschaftskandidaten Al Gore, den Hollywood sechs Jahre zuvor im Wahlkampf gegen George W. Bush massiv unterstützt hatte, vielen die Augen. Gore ließ die Blase zerplatzen, in der die meisten
Hollywoodleute leben. Überzeugend und drastisch konfrontierte er sie mit den Auswirkungen des Klimawandels. Nach dem Oscar-Sieg dieses Films wurde es in Hollywood für Stars wie Julia Roberts oder George Clooney schick, sich für die grüne Sache zu engagieren. Roberts ließ sich mit Lorbeerkranz im Haar für ein Cover der Zeitschrift „Vanity Fair“ fotografieren, die „Blade Runner“-Darstellerin Daryl Hannah kettete sich an einen Walnussbaum, um für den Erhalt einer Farm zu protestieren. Emma Watson, gerade mit „Die Schöne und das Biest“ in deutschen Kinos, entwarf 2010 für das Ökolabel People Tree eine nachhaltige Modekollektion.
RATPAC DOCUMENTARY FILMS / NATIONAL GEOGRAPHIC / FOX
PASSEND ZUM IMAGE kauften sich viele
engagierte Stars einen Toyota Prius, ein Auto mit Hybridantrieb – das Musical „La La Land“, großer Oscar-Gewinner dieser Saison, parodiert dies in einer sehr lustigen Szene. Inzwischen haben die ebenso coolen wie teuren Elektroautos von Tesla die Nachfolge als Ökostatusmobil der Hollywoodelite angetreten: DiCaprio und Matt Damon fahren einen Tesla Roadster, Will Smith, Ben Affleck und Morgan Freeman sowie die Regisseure Steven Spielberg und James Cameron das Modell S. Doch aus den Widersprüchen erlöst die Stars das nicht: George Clooney muss sich vorwerfen lassen, dass er ausgerechnet für umweltschädliche Kaffeekapseln Werbung macht. Und Leonardo DiCaprio, seit Jahren so etwas wie Hollywoods oberster grüner Coverboy und Uno-Friedensbotschafter fürs Klima, wird immer wieder gefragt, wie er es veranworten könne, mit einem Privatjet zu seinen Ökoterminen zu fliegen. Er erzählt dann gern von irgendwelchen Bäumen, die er irgendwo pflanzen lässt, um seine CO -Bilanz zu verbessern. 2 Natürlich kann man den Hollywoodstars vorwerfen, dass sie sich so naiv und blindwütig auf die Umwelt gestürzt haben wie auf Yoga, Pilates oder kohlehydratfreie Diäten. Aber gleichzeitig haben sie zu einem Imagewandel der ökologischen Bewegung beigetragen – Stars haben eben Strahlkraft, sie fungieren als Leitsterne in einer medienfixierten Gesellschaft. Sie signalisieren: Nachhaltigkeit bedeutet nicht nur Verzicht. Sich für die Umwelt einzusetzen kann auch ganz schön sexy sein.
Lars-Olav Beier fliegt als SPIEGEL-Filmredakteur gelegentlich nach Hollywood – aber nicht im klimaschädigenden Privatjet.
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Ö K O S Y N D R O M
Wie Hollywood das Thema Umwelt auf die Leinwand gebracht hat Gilt es, Natur und Umwelt zu schützen und zu bewahren, oder aber, sie zu erobern und auszubeuten? Von dieser Frage ist der Western, das wohl amerikanischste aller Kinogenres, seit Hollywoods frühen Tagen durchdrungen. Der Western feiert den Siegeszug der Zivilisation und trauert um den Verlust der Wildnis. Die Filme erzählen von den Pionieren, die gen Westen zogen und versuchten, dem unwirtlichen, feindseligen Land ein lebenswertes Leben abzuringen. Der Held des Westerns, der Cowboy, ist oft ein Outlaw, der auf der Suche nach der Freiheit immer weiter zieht, bis er auf die Stacheldrahtzäune der Großgrundbesitzer oder die Trassen der Eisenbahnunternehmen stößt. John Ford, der bedeutendste Westernregisseur, hat aus diesem Zwiespalt Filme gemacht. Sie beschreiben den Fortschritt als einen unaufhaltsamen Prozess voller unwiederbringlicher Verluste. Die Landschaften des amerikanischen Westens, etwa das Monument Valley, fassen sie in majestätische Bilder, die den Menschen in seinem Eroberungsdrang zur Demut zwingen. In den Fünfzigerjahren nahm sich dann der Science-Fiction-Film der Umwelt an und erzählte von Monstern, die durch Atomversuche und Mutationen entstanden sind und die Menschheit mit gigantischer Zerstörungskraft heimsuchen. Als große Zeitgeistmaschine erwies sich Hollywood aber auch zwei Jahrzehnte später – in den Siebzigern wurden mit dem Beginn der Umweltbewegung immer mehr Filme gedreht, die von einem neuen ökologischen Bewusstsein geprägt waren. In „Silent Running“ („Lautlos im Weltall“) etwa spielt Bruce Dern 1972 den Naturschützer Freeman Lowell. Die Erde ist unbewohnbar geworden, ein Raumschiff treibt wie eine moderne Arche durchs All. Einige Pflanzen- und Tierarten sollen hier vor dem Aussterben bewahrt werden. Lowell be-
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Plakat zu „Silent Running“ (1972)
hütet sie rund um die Uhr. Irgendwann fängt er an, die anderen Mitglieder der Crew seines Raumschiffs zu töten. Denn er glaubt, dass die Natur nur so eine Überlebenschance hat. Mit viel Aberwitz beschrieb der von Douglas Trumbull inszenierte Film bereits einen Ökofanatismus, bevor es eine nennenswerte Ökobewegung gab. Zur selben Zeit drehte Hollywood Filme über Nahrungsmittelknappheit („Soylent Green“), die Bedrohung der Welt durch bakteriologische Waffen („Der Omega-Mann“) oder die Gefahren der Atomkraft („Das China-Syndrom“). Auch die erfolgreichste Produktion der Kinogeschichte, James Camerons Sci-Fi-Opus „Avatar“ (2009), erzählt eine Umweltparabel mit hohem didaktischem Anspruch: „Avatar“ ist ein Film gewordenes grünes Manifest, das den Raubbau an den Ressourcen eines fremden Planeten anklagt. Ein Paradox aber bleibt immer, es liegt in der Natur des Kinos: Auch dann, wenn die Filme die Zerstörung der Umwelt anklagen, können sie sich an den Bildern dieser Zerstörung kaum sattsehen.
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Rettung aus dem All Vielleicht lässt sich unser Planet mit Schwefeldunst wieder abkühlen. Oder mit Düngung der Ozeane? Das „Geoengineering“ erforscht Möglichkeiten, die Erderwärmung aktiv zu bekämpfen. TEXT
JOHANN GROLLE
F OTO
ILKA & FRANZ
EISZEITEN sind erstaunlich billig. Wer sie auslösen will, braucht nur eine kleine Flotte von Spezialflugzeugen und einige Millionen Tonnen Schwefel. Das ist zwar zu teuer für Normalsterbliche, doch für die Reichsten auf Erden durchaus erschwinglich. Kostenpunkt: rund zehn Milliarden Euro. Ausgerechnet hat dies David Keith. Er ist Klimaforscher an der Harvard-Universität und Experte für die Stratosphäre. In einer Studie hat er ermittelt, was es kosten würde, dort oben in gut 20 Kilometer Höhe große Mengen Schwefeldunst zu versprühen. Solche sogenannten Aerosole würden einen Teil des Sonnenlichts ins All zurückwerfen und so einen Temperatursturz auf Erden bewirken.
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Die Ergebnisse seiner Rechnungen trug Keith auch vor dem Kongress in Washington vor. „Reiche Leute könnten eine Eiszeit kaufen“, verkündete er den Delegierten. Dies klingt, als handle es sich um die Worte eines Perversen. Doch Keith meint es durchaus ernst. Natürlich will er die Erde nicht in eine neue Eiszeit stürzen. Ein klein wenig Abkühlung jedoch, so meint er, tue dem Planeten vielleicht gut. Schon jetzt sei absehbar, dass das auf allen Klimakonferenzen beschworene Ziel, die globale Erwärmung auf maximal zwei Grad zu begrenzen, kaum einzuhalten ist. Deshalb empfiehlt Keith, darüber nachzudenken, wie man der Aufheizung der Atmosphäre aktiv entgegenwirken kann. „Geoengineering“ nennt sich die noch junge Disziplin, die sich mit dieser Idee befasst. Gerade versammelte sich die Gemeinde auf einer Konferenz in Washington. Dort zeigte sich, wie rasant dieses Forschungsfeld an Anhängern gewonnen hat. Die Idee, die Umwelt den Bedürfnissen des Menschen gemäß zu gestalten, ist nicht neu: Seit Jahrhunderten schüttet der Mensch Dämme auf, begradigt Flüsse, rodet Wälder, legt Sümpfe trocken. Anfangs waren die Eingriffe regional begrenzt, doch mit der Leistungskraft der Maschinen wuchs die Kühnheit der Ingenieure. So glaubte am Ende des 19. Jahrhunderts Ferdinand de Lesseps, der Erbauer des Suezkanals, die Zeit sei reif, die Sahara wohnlich zu machen. Er wollte inmitten der Wüste ein gewaltiges Binnenmeer anlegen und glaubte, damit auch das Klima Europas
Schwefel Klimaforscher spekulieren, dass Dunstschwaden dieses Elements in 20 Kilometer Höhe die Erde vor einem Teil der Sonneneinstrahlung schützen würden.
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Kampf gegen die Erderwärmung Wissenschaftler verfolgen zwei verschiedene Ansätze, den Klimawandel zu bremsen oder gar umzukehren: Solar Radiation Management Verringerung der Sonneneinstrahlung auf die Erde oder verstärkte Rückstrahlung
Carbon Dioxide Removal Verringerung des CO2-Gehalts in der Erdatmosphäre
Versprühen von Aerosolen
Massive Aufforstung
Schattenspender im All
Stratosphären-Flugzeuge, Ballons oder Kanonen sprühen Schwebstoffe in die Atmosphäre. Diese Aerosole halten, ähnlich wie Staub nach größeren Vulkanausbrüchen, einen Teil der Sonneneinstrahlung ab. Mögliche Schädigung der Ozonschicht. Risiken für Mensch, Tier- und Pflanzenwelt schwer abzuschätzen.
Pflanzen filtern beim Stoffwechsel CO2 aus der Luft. Die Rückgewinnung und Vermehrung von Waldflächen wirkt so auf einfache und natürliche Weise dem Treibhauseffekt entgegen. Ökologisch sinnvoll, wirkt jedoch nur langfristig.
Aufbau einer riesigen Schirmfläche im Weltraum, die bis zu einem Prozent der für die Erde bestimmten Sonnenstrahlen reflektiert. Extrem kostspielig und technisch kaum möglich.
„Direct Air Capture“
„Cloudships“
Große reaktive Oberflächen, etwa auf künstlichen Bäumen, filtern CO2 aus der Umgebungsluft und binden es, beispielsweise zu Kalk. Teuer, großer Flächenverbrauch. Allenfalls dort rentabel, wo der CO2-Ausstoß sehr hoch ist, etwa in den Abgasschloten von Kraft- und Zementwerken.
Meerwasser wird von Unterwasserturbinen angesaugt und als salziger Sprühnebel aus Riesenschloten in die Luft gepustet. Die Salzpartikel bilden Kondensationskerne für Wasserdampf: Ein weißer Wolkenteppich entsteht und reflektiert die Sonneneinstrahlung. Für einen nennenswerten Rückstrahleffekt brauchte man eine riesige Flotte.
Einlagerung über Biomasse Großflächiger Anbau schnellwachsender Pflanzen, die CO2 aufnehmen. Ihre Biomasse wird verbrannt, das Kohlendioxid aufgefangen, tief in der Erde eingebunkert und so aus dem Kreislauf der Atmosphäre genommen. Neue, riesige Monokulturen. Aus möglichen Lecks in den Lagerstätten könnte das CO2 wieder entweichen.
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Ozeandüngung
Spiegelnde Ozeane
Künstlich erzeugtes Algenwachstum könnte die Weltmeere aufnahmefähiger für CO2 machen. Massiver Eingriff in den Ökohaushalt der Ozeane, Risiken für die Meeresfauna kaum abzuschätzen. Geringe Wirkung bei einer Probedüngung mit eisenhaltigen Partikeln. Förderung toxischer Algenblüten.
Eine Schicht reflektierender Bälle/Partikel bedeckt ausgewählte tropische Meeresoberflächen. Dieser Vorschlag wurde bereits 1965 dem damaligen USPräsident Lyndon B. Johnson unterbreitet. Käme einer Meeresverschmutzung gleich.
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KEIKO HIROMI / POLARIS / LAIF, ANDREAS REEG / AGENTUR FOCUS
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wohltuend beeinflussen zu können. Der wuchs weiter. All diese Menschen samt ihScience-Fiction-Autor und Visionär Jules rem Vieh zu ernähren, wäre ohne Habers Verne sann sogar darüber nach, die Dreh- Entdeckung kaum möglich gewesen. Ungeachse der Erde zu kippen, um so das Eis an fähr seit jenem Zeitpunkt, da der Begriff den Polkappen abzuschmelzen. „Grüne Revolution“ geprägt wurde, beNahrung bekamen solche Fantastereien stimmt der Mensch den Stickstoffkreislauf durch eine aufsehenerregende These der des Planeten Erde. Astronomen: Die glaubten, auf dem Mars Nicht ganz so dominierend, doch noch ein Netzwerk von Kanälen ausgemacht zu folgenreicher ist der Einfluss des Menschen haben. Gewertet wurde dies als Indiz dafür, auf den Zyklus eines anderen Elements: des dass eine hochentwickelte Zivilisation der Kohlenstoffs. Jährlich gut 120 Milliarden fortschreitenden Dürre auf dem roten Pla- Tonnen Kohlendioxid werden vom irdineten mit dem Bau eines komplexen Gra- schen Leben durch Fotosynthese gebunden, bensystems trotze. in organische Materie verwandelt, verstoffNach dem Zweiten Weltkrieg begannen wechselt und schließlich von Pflanzen, Tieauch die Militärs in planetaren Dimensio- ren oder Bakterien wieder ausgeatmet. Zunen zu denken. Besonders die Zerstörungs- sätzlich zu diesem natürlichen Kreislauf verkraft der Wasserstoffbombe setzte ihre Fan- brennt der Mensch fossile Brennstoffe – tasien frei. Vordenker rechneten aus, wie Kohle, Erdöl und Erdgas – und pumpt so vieler nuklearer Sprengsätze es bedürfe, um pro Jahr weitere neun Milliarden Tonnen Grönlands Gletscher abzutauen; sie dachten dieses Treibhausgases in die Luft. über horizontweite Feuerstürme nach, die Das von Schornsteinen und Auspuffen sie mit hoch in der Atmosphäre gezündeten ausgestoßene Gas reichert sich in der AtmoAtombomben entfachen wollten; oder sie sphäre an: Vor Beginn der industriellen Reüberlegten, ob sich Ozeane durchs Zuschüt- volution waren von einer Million Luftmoleten von Meeresengen umleiten ließen. külen 280 Kohlendioxidmoleküle, inzwiErstmals taucht in diesem Zusammen- schen sind es mehr als 400. Dieser Anstieg hang auch die Vorstellung eines Ozonlochs ist bedrohlich. Denn Kohlendioxid absorauf – als Waffe. Die perfide Idee der Militär- biert Wärme, deshalb führt eine steigende strategen: Wenn es gelänge, die natürliche Konzentration des Gases zur langsamen AufSchutzhülle in der Stratosphäre zu perforie- heizung des Planeten – um derzeit etwa 0,12 ren, dann entstünde ein Loch, durch das sich Grad pro Jahrzehnt. wie durch eine Strahlenkanone das krebsIm Jahr 1965 bekam US-Präsident Lynerregende UV-Licht der Sonne auf den Geg- don Johnson als erster Staatschef der Welt ner richten ließe. Während in den Think- einen wissenschaftlichen Bericht auf den tanks der Militärs solche Gedankenspiele Tisch, in dem von einer solchen Aufwärausgebrütet wurden, hatte die Menschheit mung der Erde durch Treibhausgase die längst begonnen, die Stellschrauben im Rä- Rede war. In dem Report findet sich bereits derwerk der Natur neu zu justieren – auch manch eine der Prognosen, die Jahrzehnte wenn es kaum einer merkte. später auch der internationale Klimarat IPCC formulieren sollte. WENN ES GÄLTE, ein Datum zu nennen, Überraschend muten die Schlussfolgean dem der Mensch die Herrschaft über die rungen an, die das Expertengremium zog: Natur antrat, dann wäre der 13. Oktober Kein Wort findet sich darüber, dass man die 1908 eine gute Wahl. An diesem Tag bean- Verbrennung fossiler Brennstoffe drosseln tragte der Karlsruher Chemieprofessor solle. Stattdessen schlagen die ReportautoFritz Haber ein Patent, das den Planeten ren vor, dem Wärmetrend entgegenzuwirErde verändern sollte. Es war ihm gelungen, ken, indem man Sonnenlicht zurück ins All aus Stickstoff und Wasserstoff Ammoniak werfe. Eine Möglichkeit bestehe darin, die herzustellen und damit den reaktionsträgen Meeresoberfläche mit großen Mengen kleiStickstoff der Luft in eine für das Leben ner, reflektierender Partikel zu bedecken. nutzbare Form zu überführen. Dank des Mit anderen Worten: Die Klimaexperten neuen Haber-Bosch-Verfahrens war es fort- plädierten fürs Geoengineering. an möglich, industriell produzierten KunstSchnapsidee oder ernst gemeinter Vordünger auf die Äcker auszutragen und so schlag? Vermutlich war das Nachdenken die Ernten beträchtlich zu steigern. „Brot über lenkende Eingriffe ins Klima auch desaus Luft“ lautete das Schlagwort. halb so ungeniert möglich, weil es den ChaVor allem nach dem Zweiten Weltkrieg rakter eines bloßen Planspiels hatte. Die Kliexplodierte der Düngerverbrauch. Die Welt- mapolitik in ihrem heutigen Sinne war noch bevölkerung lag bei 2,5 Milliarden und nicht erfunden.
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David Keith Der amerikanische Physiker und Klimaforscher, 53, untersucht die Möglichkeiten des solaren Geoengineering.
Paul Crutzen Der niederländische Meteorologe, 83, trug wesentlich zur Erforschung des Ozonlochs bei und erhielt 1995 den Chemie-Nobelpreis.
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Wer eigentlich darf entscheiden, ob Eingriffe ins Klima zulässig sind?
Das hat sich geändert. Ende der Achtzigerjahre erkannten die Politiker in der globalen Erwärmung ein reales Problem, das sich nur international würde lösen lassen. Die Zeit der großen Uno-Konferenzen in Rio, Kyoto, Kopenhagen und Paris brach an. DAS GEOENGINEERING jedoch geriet in Verruf. Es mutet paradox an: Je realer die Gefahr eines Klimawandels war, desto irrealer empfand man die Idee, diesem mit aktiven Manipulationen zu begegnen. Ziel aller Klimapolitik war es, den Ausstoß von Treibhausgasen zu reduzieren, und wer Eingriffe ins Klimageschehen propagierte, der schien dieses Ziel infrage stellen zu wollen. Im Jahr 2006 zeichnete sich erstmals ein Stimmungswandel ab. Den Ausschlag gab ein Essay in der Zeitschrift „Climatic Change“ unter dem Titel: „Albedo-Verstärkung durch stratosphärische Schwefel-Injektionen: Ein Beitrag zur Lösung eines politischen Dilemmas?“ Das Nachdenken über das aktive Kühlen der Erde, etwa durch Versprühen von Schwefelschwaden in der Stratosphäre, dürfe nicht länger tabu sein, forderte der Autor. Für Aufmerksamkeit sorgte nicht nur die These selbst, sondern auch der Name des Mannes, der sie verkündete: Paul Crutzen vom Mainzer Max-Planck-Institut für Chemie ist Nobelpreisträger, und er gehört zu den Ersten, die vor einer Bedrohung der Ozonschicht durch menschliche Emissionen gewarnt haben. Niemand konnte ihn verdächtigen, er plädiere fahrlässig fürs Herumpfuschen in der Stratosphäre. Crutzen wusste, wovon er sprach. Sein Vorstoß machte das Geoengineering gesellschaftsfähig in Forscherkreisen. Und bald hatte es den Anschein, als wäre keine Idee zu absurd, als dass sie nicht erörtert werden könnte (siehe Grafik). Die einen ersannen „cloud ships“, die auf hoher See
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durch turmartige Riesendüsen Salzwasser versprühen und so kühlende Wolken erzeugen sollten; andere schlugen vor, den Ozean mit Eisen zu düngen, um so die Vermehrung von Algen und damit die Bindung von Kohlenstoff anzukurbeln. Die meisten der Forscher aber favorisierten jene Methode, die Crutzen diskutiert hatte: die Injektion von Aerosolen in die Stratosphäre. In Computersimulationen spielten sie durch, wie ein Aerosolschleier in 20 Kilometer Höhe das Klima auf der Erde verändern würde. Die Berechnungen liefern ein komplexes Bild: Viele der schlimmsten Folgen des Klimawandels ließen sich durch Injektionen in der Stratosphäre vermutlich lindern, rückgängig machen ließe sich die Erwärmung allerdings nicht. Denn Schwefelaerosole sind kein exaktes Antidot gegen Treibhausgase. Zwar wäre es wohl möglich, die Durchschnittstemperatur auf der Erde wieder bis auf das Niveau des letzten Jahrhunderts herunterzuregeln, doch wären dann die Pole etwas wärmer, die Tropen dagegen kühler als zuvor. Dies wiederum bremst den Wasserkreislauf des Planeten. Die Folge: Vielerorts würde es trockener, was der Landwirtschaft schaden könnte. Doch auch ein gegenteiliger Effekt ist zu erwarten: Der feine Dunst in der Stratosphäre macht das Sonnenlicht diffuser, was die Fotosynthese der Pflanzen befördert. Es gibt also noch viel zu erforschen, und um dabei praktische Erfahrungen zu sammeln, will Klimaforscher Keith möglichst bald mit handfesten Experimenten beginnen. Er entwickelt ein Gerät, mit dem sich Aerosole kontrolliert in der Stratosphäre versprühen lassen. Noch sind die Mengen, die er einsetzen will, viel zu gering, um eine nachweisbare Kühlung zu bewirken. Keith will zunächst nur untersuchen, welche Arten von Partikeln sich bilden und welche chemischen Prozesse sich an ihrer Oberfläche abspielen. Auch Alternativen zum Schwefel möchte er erproben: „Derzeit sieht es so aus, als sei Kalk vielversprechend“, verkündet er. Unverkennbar ist die Akzeptanz des Geoengineerings gewachsen. So plädierte vor zwei Jahren die amerikanische Akademie der Wissenschaften erstmals dafür, in Forschung auf diesem Feld zu investieren. Ähnlich äußerten sich Ende letzten Jahres Experten, die Empfehlungen fürs Weiße Haus ausgearbeitet hatten. „Eines Tages könnte die mutwillige Intervention ins Klimageschehen durchaus Teil des Portfolios von Maßnahmen sein, mit denen wir dem Klimawan-
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del begegnen“, heißt es in ihrem Bericht. Alle Möglichkeiten auszuloten sei umso dringlicher, als „sich andere Länder oder private Unternehmen unabhängig von der US-Regierung dafür entscheiden könnten, Interventionsexperimente durchzuführen“. Die Berater des Präsidenten werfen damit heikle Fragen auf: Wer eigentlich darf entscheiden, ob Eingriffe ins Klima zulässig sind? Was, wenn einzelne Länder auf eigene Rechnung am Thermostaten des Planeten Erde schrauben? Und wer kommt dafür auf, wenn die Aerosolinjektionen unerwartete Folgen zeitigen? Was zum Beispiel, wenn plötzlich der Monsun in Indien ausbleibt? Es macht die Sache nicht leichter, dass kausale Zusammenhänge kaum nachzuweisen sein werden. Wenn der Mensch erst einmal begonnen hat, mutwillig mitzumischen im Klimageschehen, dann wird jede Kältewelle und jede Dürre auf diese Eingriffe zurückgeführt werden. Und wie sollen die Verantwortlichen auf den Verdacht reagieren? DIE RUND HUNDERT EXPERTEN, die Ende März zum Forum für Geoengineering in Washington zusammenkamen, genießen es, dass sie nicht länger als bloße Spinner gelten. Die Politik nimmt ihre Ideen mittlerweile ernst. Gleichzeitig jedoch wächst die Befürchtung, dass das Bemühen um die Drosselung der Treibhausgasemissionen erlahmen könnte, wenn sich erst die Einsicht durchsetzt, dass sich der Klimawandel ja auch mit technischen Mitteln lindern lässt – ein Dilemma, das auch ein moralisches Risiko in sich trägt. Vor allem ein Szenario treibt die Experten um: Was, so fragen sie, geschieht, wenn jene in Amerika, die bisher den Klimawandel kategorisch leugnen, plötzlich ihre Meinung ändern? Was, wenn sie auf einmal zwar die globale Erwärmung als Problem, doch zugleich auch das Geoengineering als dessen Lösung anerkennen? Noch ist die Hoffnung groß, dass diese Schreckensvision nie Wirklichkeit wird. Doch unverkennbar beunruhigt es die in Washington versammelten Geoingenieure, dass dieses Szenario seit Januar dieses Jahres einen Namen trägt: Donald Trump.
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Zu einem großen Interview traf sich Johann Grolle schon vor drei Jahren mit Geoingenieur David Keith. Mit gewissem Unbehagen fragte sich der SPIEGEL-Autor bereits damals: Vielleicht hat der Mann ja recht?
WA S WÄ R E D I E W E LT O H N E …
Menschen?
OLIVER SCHWARZWALD / SPIEGEL WISSEN
NEHMEN WIR EINMAL AN , alle Men-
schen würden von der Erde verschwinden, jetzt, sofort. Es hätte keine Katastrophe gegeben, keine atomare Apokalypse, auch keinen Asteroideneinschlag – wir, 7,6 Milliarden Menschen, wären einfach nur weg. In den vergangenen 10 000 Jahren hat der Mensch diesen Planeten folgenschwer beeinflusst und verändert, geprägt wie kein anderes Lebewesen. Welche unserer Eingriffe sind eigentlich dauerhaft, welche werden dagegen bereits nach kurzer Zeit wieder verschwinden? Kann sich die Natur vom
Homo sapiens erholen und ihren vormenschlichen Zustand wiedererlangen – oder sind unsere Spuren irreversibel? Eine der ersten Veränderungen, wenn es uns nicht mehr gäbe – in allen Städten wäre es still: kein Lärm mehr durch Autos, Flugzeuge, Züge, kein Stimmengewirr, kein Lachen. Bereits wenige Stunden nach dem Verschwinden des Menschen bricht unser gesamter zivilisatorischer Maschinenpark zusammen: Kraftwerke fallen aus, es gibt keinen Strom mehr, Heizungen, Klimaanlagen, Wasserwerke, Pumpstatio-
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nen geben ihren Geist auf, alle Lichter verlöschen. Unsere Nutztiere, Milliarden von Kühen, Schweinen und Hühnern, verhungern oder verdursten, andere werden von Raubtieren gefressen. Wildtiere, die in der Umgebung des Menschen leben, sind erledigt: Die Ratten in den Städten verhungern, weil die Abfälle fehlen, die so widerstandsfähigen Kakerlaken erfrieren erbärmlich in den unbeheizten Häusern (außer in den Tropen). Städte verbrennen, weil kein Feuer mehr gelöscht wird. Gräser, Sträucher, Bäumen überwuchern Straßen, Wassermassen überfluten Tunnel. Holzbauten werden durch Insekten zerstört, Eisen- und Stahlkonstruktionen wie der Eiffelturm in Paris oder die Golden Gate Bridge in San Francisco verrosten und stürzen in sich zusammen, ohne Korrosionsschutz und Farbe haben sie keine Chance. Großstädte in der Nähe von Flussmündungen, etwa Hamburg, werden in lächerlichen 300 Jahren fortgeschwemmt sein. Viele ländliche Regionen, etwa in Afrika, werden schon nach wenigen Jahrzehnten zu ihrem ursprünglichen Zustand zurückgekehrt sein. Dort sind die Elefanten, Giraffen und Nashörner noch nicht ausgerottet, im Gegensatz zu den meisten großen Säugetieren in Amerika oder Australien. Experten vermuten, dass nach rund 10 000 Jahren die meisten sichtbaren Spuren des menschlichen Daseins getilgt wären. Andere menschliche Altlasten würden die Natur hingegen wesentlich länger quälen: Noch 35 000 Jahre lang würde das Blei der Industrie die Böden belasten. Der CO2-Gehalt der Luft wäre erst nach 100 000 Jahren wieder so niedrig wie zur Zeit der ersten Menschen (sofern keine großen Vulkanausbrüche dazwischenkämen). Rund 250 000 Jahre würde es dauern, bis das Plutonium in den Atombomben abgebaut wäre. Und manche Gifte aus Menschenhand, etwa polychlorierte Biphenyle, äußerst krebserregende Chlorverbindungen, würden sich noch Millionen Jahre in der Umwelt nachweisen lassen. Mit oder ohne Menschen, letztlich wird die Erde spätestens in sechs oder sieben Milliarden Jahren zerstört. Dann wird sich die Sonne zu einem gewaltigen Feuerballon aufblasen und unseren Planeten vernichten. JOACHIM MOHR
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Maestro des Notwendigen Der Atomausstieg und die Energiewende sind wesentlich das Werk des grünen Staatssekretärs Rainer Baake. Er beherrscht die Kunst, große Ideen in praktische Politik umzuwandeln. TEXT
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DIETMAR PIEPER
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„Rainer Baake ist der einflussreichste Unbekannte der deutschen Politik.“
NATÜRLICH KENNT ER seine Grenzen.
Bevor Rainer Baake über die Energiepolitik der nächsten Jahre und Jahrzehnte spricht, weist er darauf hin, dass im Herbst eine Bundestagswahl stattfindet und niemand vorhersagen kann, wer danach regiert. Aber das weiß sowieso jeder, und die rund 500 Kongressteilnehmer an diesem Vormittag in Berlin wissen auch, dass sie am besten genau hinhören, wenn Baake seine „persönliche Erwartung“ formuliert. In kleiner Runde sagt er später: „Ich buchstabiere aus, vor welchen Herausforderungen wir stehen, und habe klare Vorstellungen, was passieren sollte.“ Mit seinen Vorstellungen hat Baake schon so viel bewegt, dass er in seiner Branche einen legendären Ruf genießt – als zäher Gegner oder als bewundernswerter Stratege, je nach Standpunkt. Freund und Feind wissen: Der Atomausstieg und die Energiewende laufen im Prinzip so, wie er sie geplant hat. Der 61-jährige Rainer Baake ist der einflussreichste Unbekannte der deutschen Politik. Wahrscheinlich hat er das Land mehr verändert als viele namhafte Minister. Obwohl er Mitglied der Grünen ist, hat ihn der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel 2014 als Staatssekretär für Energiefragen ins Bundeswirtschaftsministerium geholt. „Das war auch für mich eine große Überraschung“, sagt Baake, der früher bereits sieben Jahre lang Staatssekretär in Bonn und Berlin war, zur Zeit von Rot-Grün bis 2005. Gabriels Nachfolgerin Brigitte Zypries ließ den Spitzenbeamten von vornherein wissen: „Ich rede dir nicht allzu viel rein.“ Auf dem Berliner Kongress „Treffpunkt Netze 2017“ des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) wird Rainer Baake respektvoll angekündigt als „der Redner, den Sie sicherlich mit Spannung und Interesse erwarten“. Ein führender BDEW-Mann führt noch schnell in die anstehenden Themen ein, wobei der Konsens zwischen Wirtschaft und Politik fast schon ein wenig unheimlich wirkt: „Mit dem Know-how der Branche sollte es gelingen, die Energiewende zum Erfolg zu bringen.“
MATTHIAS LÜDECKE
RAINER BAAKE wurde 1955 in Witten geboren. Als Mitglied der Grünen kämpft der studierte Volkswirt seit den Achtzigerjahren für eine andere Energiepolitik.
Dann kommt Baake. Schlank, drahtig, den oberen Hemdknopf offen unter dem Krawattenknoten, spricht er frei und flüssig; die Stimme klingt sonor, gelegentlich ein wenig schneidend. Er beginnt mit einem typischen Baake-Satz: „Ich weiß, dass wir Unternehmen und dort arbeitenden Menschen in dieser Legislaturperiode einiges zugemutet haben, nämlich Veränderungen, aber die waren notwendig.“ In seiner Karriere ist er ein Maestro des Notwendigen geworden. Wer für die kommenden Jahre auf ein verringertes Tempo gehofft hatte, wird enttäuscht. Der grüne Staatssekretär erklärt die Zeit der Subventionen für beendet und will ganz auf Wettbewerb setzen. „Im Wettbewerb gibt es Chancen, aber man muss sich auch anstrengen.“ Seufzen im Publikum. Dass auch die nächste Bundesregierung das Pariser Klimaschutzabkommen umsetzen will, kann als sicher gelten. Baakes Blick geht weit in die Zukunft, die Jahreszahlen 2030 und 2050 sind im langfristig planenden Energiegeschäft feste Größen. Das politische Ziel im Zeichen des Klimaschutzes ist die nahezu vollständige Dekarbonisierung, also der Verzicht auf Kohle, Öl und Erdgas, bis 2050. Die Halbierung der CO 2 Emissionen bis 2030 werde eines der Themen für die nächste Legislatur sein, sagt er. Was das Pariser Abkommen global bedeutet, bricht Baake auf zwei Zahlen herunter: „Nicht die Begrenztheit der fossilen Ressourcen ist unser Problem, sondern das genaue Gegenteil: Wir haben weit mehr Öl, Kohle und Gas, als wir noch verbrennen dürfen. Von geschätzten 15 000 Gigatonnen CO 2 müssen 14 000 im Boden bleiben, um einen gefährlichen Klimawandel zu verhindern.“ Baake hat schon vor Jahrzehnten gelernt, politische Veränderungen als Projekt zu begreifen. Er leistete seinen Zivildienst bei „Aktion Sühnezeichen“ und ging nach Chicago, um in einem Stadtviertel mit vielen armen und illegalen Einwanderern als „Community Organizer“ zu arbeiten. Rasch wurde er zum Direktor mit 15 Mitarbeitern; Hilfe zur Selbsthilfe der Stadtteilbewohner war ihr Job. Vier Jahre blieb er in Chicago, dann kehrte er zum Studium nach Deutschland
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zurück und fand über die Friedensbewegung zu den Grünen. In den Achtzigerjahren war er der erste Grüne in einem hauptberuflichen Wahlamt, als stellvertretender Landrat im hessischen Kreis Marburg-Biedenkopf. 1991 wurde er unter Joschka Fischer Staatssekretär im hessischen Umweltministerium und führte die ersten großen Schlachten gegen die Atomindustrie. „Wenn wir damals nur einen Schadensersatzprozess verloren hätten, wir wären politisch versenkt worden“, sagt er über diese Zeit. ALS SICH DAS ENDE der Ära von Helmut
Kohl als Kanzler abzeichnete, wurde auch das Ende der Atomwirtschaft zu einer realistischen Möglichkeit. Ein Jahr vor der Bundestagswahl 1998 fuhr Baake nach Bonn, um bei den Fraktionen von Grünen und SPD zu erfragen, welche konkreten Pläne sie für den Atomausstieg hätten. „Und da war nichts! Ich fand das vollkommen abstrus.“ Also hat Baake sich der Sache angenommen, Experten befragt und einen Plan gemacht. Aber wie kann ein Plan Wirklichkeit werden? Zuerst, erklärt er, müsse „das gesellschaftliche Bedürfnis nach Veränderung“ da sein. „Dann brauchen Sie eine kluge Strategie, wie Sie Ihr Ziel technisch, rechtlich und sozialverträglich umsetzen können.“ Wie es nicht geht, habe die Occupy-Bewegung gezeigt, die ein gerechteres Finanzsystem wollte. „Occupy hatte aber keinerlei Strategie, was ein solches System im Kern ausmachen soll, wie es funktionieren kann.“ Von Occupy hört man kaum noch etwas. Um in den Neunzigerjahren das Ende der Kernkraft vorzubereiten, hat Baake ein Papier geschrieben, „Zwölf Thesen zum Atomausstieg“. Nicht ganz ohne Stolz sagt er: „Elf davon stehen heute im Atomgesetz.“ Was erst die Forderung einer Minderheit war, wurde zur Mehrheitsmeinung und ist heute Konsens. 2022 soll das letzte deutsche Atomkraftwerk vom Netz gehen.
Dietmar Pieper hält viel von Fortbewegungsmitteln, die ohne fossile Energie auskommen – ob Fahrrad oder Segelboot.
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Die mit dem Bären duscht
Wie lassen sich Menschen zu mehr Umweltschutz motivieren? TEXT
ANGELA GATTERBURG
F OTO
ILKA & FRANZ
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NADINE SCHUBERT war schwanger, als
sinnvolle Ideen, wie etwa die des Urban GarWEITERLESEN sie eine Reportage über die Gefahren von dening oder der Repair-Cafés. „Car Sharing Mikroplastik für die Gesundheit sah und be- war früher in einer Nische, heute ist das naMICHAEL KOPATZ: „Ökoroutine. Damit wir tun, was wir schloss: ab sofort weniger Plastik für mich hezu überall möglich“, sagt Jaeger-Erben. für richtig halten“. Oekom; 416 und meine Familie. „Ich war entschlossen, Manche Gruppen fungierten als „LeuchttürSeiten; 24,95 Euro. das durchzuziehen“, sagt sie. Sie fing in der me“, sie gründeten beispielsweise ganze Küche an: Milch in Glasflaschen, Wurst und Ökodörfer, in denen alternative LebensforNADINE SCHUBERT / ANNEKäse in Dosen, später dann kein Duschgel men ausprobiert würden. Das sei aber nicht LIESE BUNK: „Besser leben mehr, stattdessen Seife. Entmutigt fühlte für jeden wünschenswert und umsetzbar, ohne Plastik“. Oekom; 120 Seisich die heute 36-Jährige, die in einem frän- für viele eignet sich nach Jaeger-Erben eher ten; 12,99 Euro. kischen Dorf in der Nähe von Bamberg lebt, eine Politik der kleinen Schritte. eigentlich nie. „Meine beiden Kinder und Darauf setzt auch die Nachhaltigkeitsexmein Mann ziehen mit, ich mache das für pertin Reisch, denn in der Regel wählen uns, klar, kann damit aber auch das große Menschen die Alternativen, die naheliegend den wir mit Nudges nicht aufhalten, da brauGanze beeinflussen.“ sind und praktikabel, simpel und sinnvoll chen wir nationale und internationale BeWeniger Plastik verbrauchen, weniger erscheinen. „Wir sind keine vorbildlichen stimmungen. Dafür braucht die Politik wieAuto fahren, weniger fliegen, weniger Superkonsumenten“, so Reisch, „wer berufs- derum die emotionale Beteiligung und den Fleisch essen, dafür öfter aufs Fahrrad stei- tätig ist, womöglich noch alleinerziehend, Rückhalt der Bevölkerung.“ gen, den Energieverbrauch und CO2-Aus- für den sind einfache, zugängliche und kosKampagnen, Nudging und Aufklärungsstoß reduzieren: Würden das mehr und tengünstige Alternativen wichtig.“ Deshalb arbeit seien gut und schön, argumentiert damehr Menschen aus Sorge um die Umwelt trügen, so Reisch, auch Supermärkte eine gegen der Umweltwissenschaftler Michael tun, die Klimaschützer wären ihrem Ziel Verantwortung mit ihrer Auswahl an Ange- Kopatz vom Wuppertaler Institut für Klima, ein Stück näher. Doch solche Eigenverant- boten: Nur was im Laden liegt, kann auch Umwelt, Energie, „aber moralische Debatwortlichkeit im Alltag fällt den meisten gekauft werden. Ähnliches gilt für Unter- ten ermüden die Menschen, viele sind orientierungslos“. Kopatz, der derzeit mit seischwerer als Nadine Schubert. nehmen mit ihrem Umweltengagement. Wie erklärt sich diese Diskrepanz zwiVorbildlich hier eine Schweizer Firma, nem neuen Buch „Ökoroutine“ durch schen gutem Willen und tatsächlichem Han- die ein Display für die Dusche konzipiert Deutschland tourt, ist kein Freund der umdeln? Gibt es Möglichkeiten und Methoden, hat, das einen Eisbären auf einer Scholle weltmoralischen Appelle an den Einzelnen. Menschen im Alltag zu umweltfreundliche- zeigt und direktes Feedback über den Was- Das sei eine Überforderung, glaubt er. Seine rem Verhalten zu bewegen? Und selbst serverbrauch gibt. Duscht man zu lange, Alternative: Strukturen ändern statt Menwenn: Liegt die Verantwortung für einen ge- schmilzt dem Eisbären die Scholle weg. Wie schen. „Wenn die Politik durch Vorgaben sunden Planeten eigentlich bei den einzel- Studien mit 30 000 Versuchspersonen zeig- die Standards verändert, bei der Energievernen Bürgern oder bei der Politik? ten, reduzierte sich dank des Eisbären der sorgung, der Mülltrennung, der Tierhaltung, dann wird Öko zur Routine“, davon ist Ko„Das Wissen ist bei den Menschen vor- Energieverbrauch um 23 Prozent. handen, die Handlungsmotivation auch“, Das Duschdisplay ist ein klassischer Fall patz überzeugt. Aber es gibt sie, die Menschen, die nicht sagt Lucia Reisch, Professorin für interkul- von „Nudging“: Der Begriff kommt aus der turelles Konsumentenverhalten an der Co- Verhaltensforschung und bedeutet, dass warten wollen, bis sich die Strukturen änpenhagen Business School. „Vieles hat sich Menschen mit einem kleinen, häufig von ih- dern, sondern sich für ihre Überzeugungen etabliert, regional und saisonal einkaufen nen gar nicht bemerkten Schubser („Nud- einsetzen. Die fränkische Plastikvermeidegehört für viele Leute zum Lebensstil.“ ge“) in Richtung des gewünschten, in die- rin Nadine Schubert hält inzwischen VorWesentlich sei die Situation, in der ein sem Fall umweltschonenden Handelns bug- träge und organisiert Workshops, sie bloggt Mensch handelt. Zu diesem Setting gehört siert werden. Nudging kann bedeuten, dass auf besserlebenohneplastik.de und hat unter entscheidend das soziale Umfeld, die Peer- Menschen auf Straßen und Plätzen mit auf- diesem Titel gemeinsam mit der Münchnegroup. Sie kann zur Nachahmung eines neu- gemalten Fußabdrücken zu Abfalleimern rin Anneliese Bunk ein handfestes Buch geen Umweltverhaltens führen oder auch zur geleitet werden, oder aber, dass Kantinen schrieben, das schnell zum Bestseller wurde. Abgrenzung, etwa wenn bestimmte Ideen ihre Nachspeisen so anordnen, dass die Leu- „Das lässt die Leute schon aufhorchen, dass als ökodogmatisch empfunden werden – te eher zu Obst als zu Pudding greifen. In Plastik derart gesundheitsschädlich ist“, man erinnere sich an den von den Grünen Umwelt- und Politikfragen sind Nudges sagt Schubert, „vor allem Mütter. Aber sie vorgeschlagenen Veggie-Day. durchaus wirkungsvoll, aber umstritten: Sie brauchen Tipps für Alternativen, damit darf „Das Umfeld muss mitschwingen“, sagt manipulierten und entmündigten die Men- man sie nicht allein lassen.“ auch die Umweltpsychologin Melanie Jae- schen, behaupten die Gegner. Das Feedback sei sehr positiv, erzählen ger-Erben von der Technischen Universität Bunk und Schubert. „Wir sind nicht radikal, Berlin, „denn je schwieriger uns Änderun- NUDGES MÜSSTEN IMMER transparent jeder sollte tun, was für ihn machbar ist. gen vorkommen, desto eher lassen wir es.“ eingesetzt werden, findet darum Reisch. Sonst sind die Leute nur frustriert und sprinJaeger-Erben erforscht, wie neue, umwelt- Und ob Anschubser, Gesetze oder Steuern gen wieder ab.“ freundliche Praktiken entstehen und sich – all diese Methoden gehören für sie zum dann in der Gesellschaft verbreiten. Instrumentarium, mit dem man Menschen Angela Gatterburg fährt fast alle Strecken mit Am Anfang steht häufig die Erkenntnis: zu mehr Nachhaltigkeit bewegt. „Ein einzeldem Rad oder geht zu Fuß. Angeregt durch die Was wir tun, ist nicht das, was wir tun wol- nes Instrument reicht nicht, wir brauchen Recherche, will sie jetzt den Plastikmüll im len. Gemeinsam entwickeln Gruppen dann die ganze Klaviatur. Den Klimawandel werHaushalt drastisch reduzieren.
SPIEGEL WISSEN
6 / 2015
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LUFTVERSCHMUTZUNG
Langer Atem Deutsche Städte ignorieren gern die Belastung durch Abgas und Feinstaub. Immer mehr Opfer des Autoverkehrs klagen ihr Recht auf saubere Luft ein. TEXT
NILS KLAWITTER
F OTO S
VOR ETWA 100 JAHREN war die heutige Max-Brauer-Allee in Hamburg eine gute Adresse. Gerichte und Schulen wurden dort gebaut und das Nyegaard-Stift, ein trutziges Heim für alleinstehende, mittellose Damen. In den beiden Seitenflügeln liegen heute die Wohnungen von Maria Wendeler und Charlotte Lill, 68 und 69 Jahre alt. Ihre Balkone im Hochparterre gehen zur Allee hinaus, die wenige Meter entfernt ist. Das Stift war einmal als Ruhesitz konzipiert worden, damals, als dort noch Kutschen entlangfuhren und Männer mit Sackkarren vorbeizogen. Heutzutage dröhnen vor den Fenstern der Rentnerinnen mehr als 20 000 Fahrzeuge vorbei, täglich. Die Max-Brauer-Allee gilt als eine der lautesten Straßen der Hansestadt – und als eine der dreckigsten. Eine Messstation in Sichtweite des Stifts liefert täglich den Beweis. Schadstoffgrenzwerte der Europäischen Union (EU) werden regelmäßig überschritten, die Stickoxide (NOx) des Dieselqualms setzen vielen der 70 Bewohnerinnen zu. „Viele von uns gucken erst im Internet nach den Noxen, bevor sie die Fenster öffnen“, sagt Charlotte Lill. „Richtig durchlüften“, so Maria Wendeler, „können wir höchstens nachts um zwei.“ Die dicke Luft, die sich wie eine „schwarze Schwarte“ auf ihren Balkon lege, mache die Menschen „ganz lasch“, findet Lill. Manche der Damen würden durch den täglichen Dunst geradezu depressiv. Die beiden Freundinnen wollen jetzt kämpfen und die Stadt wegen Untätigkeit verklagen. Über zwei Jahre, sagt Lill, hätten die Behörden sie hingehalten, nun reiche es. „Wir überprüfen, wir berechnen, wir machen eine Planungswerkstatt, hieß es – passiert ist aber nichts.“ Nun wollen die Stiftsdamen vor Gericht erstreiten, dass das geltende EU-Recht endlich eingehalten wird. Die beiden Hamburgerinnen sind Teil einer Welle des
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SPIEGEL WISSEN
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KATRIN SPIRK
Widerstands, welche die deutschen Großstädte erfasst hat. Immer mehr Menschen klagen sauberere Luft ein. Zusammen mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) oder der Deutschen Umwelthilfe (DUH) wehren sie sich gegen die Kommunalpolitik, die sich seit Jahren mit apathischen Appellen an Autofahrer begnügt oder versucht, die Bürger mit vagen Luftreinhalteplänen zu beruhigen. Mehr als ein Dutzend Verfahren verloren die Städte bereits. INZWISCHEN SCHEINT der Druck so
Tempo 30! Maria Wendeler und Charlotte Lill kämpfen gegen die Abgasbelastung, die die Messstation an der Hamburger MaxBrauer-Allee täglich ermittelt.
„Wie eine schwarze Schwarte legt sich die Luft auf den Balkon.“
SPIEGEL WISSEN
2 / 2017
hoch, dass die Ersten einlenken: Ende Februar beschloss die grün-schwarze Landesregierung von Baden-Württemberg Fahrverbote für ältere Dieselfahrzeuge in Stuttgart ab 2018. Bei Feinstaubalarm werden ab dem kommenden Jahr besonders belastete Straßen für private Dieselautos gesperrt, die nicht die Abgasnorm Euro 6 erfüllen. Vor September 2015 hätte wohl kaum jemand der Politik einen solchen Schritt zugetraut. Dann allerdings wurde der Abgasbetrug von VW bekannt, und das PR-Märchen vom sauberen Diesel löste sich in Luft auf. Hinzu kam, dass die EU gegen Deutschland ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hatte. In 28 Städten und Regionen waren Stickoxidgrenzwerte immer wieder überschritten worden – etwa in Hamburg, Köln, Hagen, Münster oder den Ballungsräumen Mannheim/Heidelberg und RheinMain. Hinter dem historischen Schritt der Stuttgarter steht der jahrelange Kampf von Menschen wie Roland Kugler. Der Anwalt vertritt zwei Anwohner der Bundesstraße am Neckartor, die als dreckigste Straße Deutschlands gilt. „Das europäische Recht zwingt die Politik zur Luftreinhaltung“, sagt Kugler. „In Stuttgart wird seit zwölf Jahren gegen geltendes Recht verstoßen.“ Als 2005 die EU-Grenzwerte für Feinstaub wirksam wurden und Kugler anfing zu klagen, galt er vielen noch als Spinner. Nachdem er ein Lkw-Durchfahrtsverbot und Tempolimits erzwang, war er plötzlich als Gegner anerkannt. Inzwischen wird er als Experte herumgereicht. Kugler ist allerdings skeptisch, ob das Dieselfahrverbot viel bringt. Die Belastung durch Stickstoffdioxid, dessen Grenzwert die EU 2010 auf ein Jahresmittel von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft festgelegt hat, könnte dadurch zwar sinken. „Bei Feinstaub wird es aber wenig bringen, weil der zum Großteil von den Bremsen und dem Abrieb von Reifen und Straßenbelägen stammt – Diesel oder Benziner ist da egal.“
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LUFTVERSCHMUTZUNG
folglos blieb. Vom Umweltsenator Jens Kerstan wollte SPIEGEL WISSEN erfahren, wie es ein grüner Senator rechtfertigt, dass die Stadt mit Steuergeld teure Anwälte dafür bezahlt, Luftreinhalteklagen betroffener Bürger zu verzögern. Eine Antwort darauf kam nicht. Die Blockadehaltung vieler Städte scheint den Widerstand der Menschen zu beflügeln, immer mehr Qualmopfer wehren sich per Internet. Der Fahrradklub ADFC etwa bietet für Hamburg eine interaktive Verschmutzungskarte, auf der Betroffene die Belastung ihrer Straße prüfen und auch gleich einen Antrag auf Tempo 30 herunterladen können. Mehr als 300 Menschen haben das schon getan.
Resch. Vor rigiden Maßnahmen wie Fahrverboten würden die Verantwortlichen zittern. „Wenn jemand nicht mit dem Hintern auf der Messstelle wohnte, wurde die Betroffenheit bezweifelt.“ LANGE ALLERDINGS brauchte die DUH
direkt betroffene Bürger für ihre Klagen auf Einhaltung von EU-Umweltrecht – ein Klagerecht für Verbände gab es nicht. Seit das Bundesverwaltungsgericht dies 2013 geändert hat, treibt die DUH viele Städte mit Klagen vor sich her. Dabei seien die Grenzwerte eigentlich „ein Witz“, sagt Resch, „ein Kotau vor der Autoindustrie“. Tatsächlich liegen die Empfehlungen der WHO deutlich darunter. Jährlich sterben allein hierzulande laut Studien mehr als 10 000 Menschen an den Folgen des erhöhten Stickoxidausstoßes. Die Euro6-Norm hilft bislang nur auf dem Papier. Tatsächlich, so erIN RUHE LIESSEN die Dagaben diverse Tests etwa bei men des Stifts den BürgerOpel- oder Mercedes-Fahrmeister danach nicht mehr. zeugen, stoßen auch viele Über Monate schickten sie neuere Modelle noch viel ihm mit anderen Anwohnern mehr Schadstoffe aus, als von Protestpostkarten; mittwochs den Herstellern angegeben. demonstrierten sie regelmäDie Stiftsdamen in Hamßig an der Luftmessstation in burg bekommen nun womögder Max-Brauer-Allee. Sie lich gewichtige Unterstütschrieben Anträge auf verzung. Der Anwalt Rüdiger kehrsberuhigende MaßnahNebelsieck erwägt eine Klage, men, „aber sie hielten uns als Betroffener. Sein Büro bloß hin“, so Lill. Lill, Wendeler vor ihrem Wohnstift an der Max-Brauerliegt ganz in der Nähe der Dass der Hamburger Senat Allee, einer der dreckigsten Straßen der Hansestadt Messstation an der Max-Braumit dieser Haltung ein Proer-Allee. Nebelsieck hat die blem bekommt, weiß er späEiner der ersten Qualmkläger war Dieter Stadt schon im Fall der strittigen Elbvertietestens seit November 2014. Damals verurteilte ihn das Verwaltungsgericht dazu, den Janecek, der heute für die Grünen im Bun- fung, die er für den BUND begleitet, ziemgültigen Luftreinhalteplan so zu ändern, destag sitzt. Als die ersten EU-Grenzwerte lich schlecht aussehen lassen. Geärgert hat dass „schnellstmöglich“ der Grenzwert für 2005 in Kraft traten, wohnte Janecek an der den Anwalt vor allem eine Aussage des BürStickstoffdioxid eingehalten werde. Geklagt stark feinstaubbelasteten Landshuter Allee germeisters. Fahrverbote, so Scholz, werde hatte der BUND – und zwar mit einem An- in München. Janecek war damals 28 Jahre es mit ihm nicht geben, und die Bürgerwohner, der wie die Stiftsdamen an der Max- alt, nicht sehr betucht und damit „ein typi- schaft werde sie auch nicht beschließen. Brauer-Allee wohnt. Der ursprüngliche Luft- scher Anwohner dieser Hauptverkehrsach- „Hier gleich das Parlament mitzuverhaften, reinhalteplan des Senats sah vor, die Grenz- se“, wie er sagt. Er war ein ideales Aushän- das mutet ziemlich postfaktisch an“, sagt werte erst nach 2020 einzuhalten, ein neuer geschild für die Umweltschützer der DUH, Nebelsieck. Plan wurde dann für 2018 in Aussicht ge- die sich seiner Sache annahmen und mit Die Windungen der Hamburger Politik stellt. „Die haben gehofft, dass die Leute ein- ihm durch die Instanzen gingen. und Verwaltung haben Charlotte Lill lange knicken“, sagt ein BUND-Sprecher. Am Ostersonntag 2005 war es so weit. genervt. Inzwischen hat sie auch Komik daGegen das erneute Hinhalten gingen die „Der Tag war der 36. Tag, an dem in jenem rin entdeckt. „Mit der Luftreinhaltung“, sagt Umweltschützer mit einem Antrag auf Jahr die Grenzwerte gerissen wurden, und die Rentnerin, „ist es wie mit Trump: Die Zwangsgeld vor, dem das Verwaltungsge- das war einer zu viel.“ Drei Jahre später Satire kann die Realität nicht mehr toppen.“
[email protected] richt stattgab. 5000 Euro werden nun fällig, gestand der Europäische Gerichtshof wenn die Stadt nicht bis Ende Juni 2017 ei- Janecek ein individuelles Recht auf Einhaltung der Grenzwerte zu. „Wir hatten genen Luftreinhalteplan vorlegt. Und der rot-grüne Senat? Statt zügig ein wonnen, aber der Sieg war ein stumpfes Nils Klawitter war ziemlich perplex, wie fix Konzept zu präsentieren, legte er Beschwer- Schwert, weil das Recht weiter entwertet Rentnerin Charlotte Lill die Stickoxidmessde beim Oberverwaltungsgericht ein, die er- wurde“, sagt DUH-Geschäftsführer Jürgen werte ihrer Straße aus dem Computer zog.
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SPIEGEL WISSEN
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KATRIN SPIRK / SPIEGEL WISSEN
Während sich Städte wie Barcelona oder Kopenhagen zum Ziel gesetzt haben, die Dominanz der Autos zu beenden, und alternative Verkehrskonzepte auf den Weg gebracht haben, herrscht in Deutschland vielerorts noch immer die individuelle Mobilitätsideologie der Siebzigerjahre. Hamburg und sein Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) sind dafür ein Beispiel. Charlotte Lill aus dem Damenstift hat Scholz einmal bei einer Veranstaltung getroffen. Nach seiner Rede ist sie zu ihm gegangen. „Was ich Menschen wie Ihnen immer sage“, erinnert Lill seine Worte, „ist folgendes: Am besten, wir holzen alle Bäume ab, dann hätten wir bessere Luft wegen dem Wind, der dann durch die Straßen zieht.“ Lill stand da und wusste nicht, ob das Ironie war. „Dann wurde ich von drei Herren wegbegleitet.“
DOSSIER
ILLUSTRATIONEN/DESIGN
KJOSK.
Apfelernte, Nachbarschaftsfeste und Freilufttraining im Park: In den grünen Oasen der Städte gestalten Bürger ein neues Gemeinschaftsleben.
Bei allem, was dir wichtig ist, . n e h c a S n e b l a h e machst du kein Du machst es für Menschen, die dir am Herzen liegen – und du fühlst dich verantwortlich: für die Qualität, fürs Gelingen, fürs Ergebnis. Man verlässt sich auf dich. Und genau darum verlässt du dich auf den erstklassigen Service, die beste Fachhandelsqualität und die größte Sortimentsvielfalt von BAUHAUS.
www.bauhaus.info
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JOACHIM MOHR
Parks entwickeln sich immer mehr zu Orten gemeinschaftlicher Aktion. Ob Umweltschutz oder soziales Miteinander: Im Mikrokosmos Park können bessere Lebensweisen eingeübt werden. DER ALTONAER VOLKSPARK ist der größte Park in Hamburg. Auf über 200 Hektar gibt es ein weitläufiges Wegenetz, Hügel und kleine Schluchten, Spiel- und Liegewiesen, eine Minigolfanlage, einen eleganten Dahliengarten mit 40 000 Pflanzen, einen Waldlehrpfad und, sehr wichtig, auch ein Lokal mit Biergarten. Insbesondere im Sommer ist das Leben hier bunt und lebendig – eine grüne Oase in der engen Großstadt. Volksparks, genau mit diesem Namen, gibt es in vielen deutschen Städten. Dabei ist der Name Programm: Die Grünflächen sollen für die Menschen da sein, für alle, für das Volk eben. Vor Jahrhunderten, in der Renaissance oder im Barock, wurden Parks von Adligen nur für ihresgleichen angelegt und blieben dem Volk verborgen. Erst im Laufe der Industrialisierung wurden die Parks für alle Bürger geöffnet – und bekamen eine neue Aufgabe: Sie sollten nun der Erholung dienen, der Volksgesundheit, wie es damals auch hieß. Die schwer schuftenden Industriearbeiter, untergebracht oft in engen und dunklen Quartieren, sollten sich am Wochenende in der Sonne und an der frischen Luft regenerieren. Damit sie am Montag wieder mit ganzer Kraft ihrer Arbeit nachgehen konnten. Doch während früher vor allem Paare und Familien fein ausstaffiert im Sonntagsstaat ihre Runden drehten, sind öffentliche Parks heute die ganze Woche über eine Art Abenteuerspielplatz für Erwachsene und Kinder zugleich.
DIE GESELLSCHAFTLICHEN REGELN und Über-
einkünfte, wie die Bürger Parks nutzen sollen und wollen, haben sich in den vergangenen 100 Jahren stark verändert: Die „Betreten verboten“Schilder auf Grünflächen, mit denen noch vor nicht allzu langer Zeit die Menschen auf den Wegen gehalten und ihre Verhaltensweisen reglementiert wurden, sind individualisierten Freizeitvergnügungen wie Sonnenbaden, Grillen oder Inlineskating gewichen. Zugleich nutzen Menschen Parks auch immer mehr gemeinschaftlich: Es gibt Lauftreffs, Schattenboxen, Gruppen, die zusammen jonglieren, Frisbeespieler, Drachenfans – gemeinsame Aktivitäten sind heute angesagt in fast jeder größeren Grünanlage. SEIT EINIGEN JAHREN KOMMEN neue Trends
hinzu: Urban-Farming-Initiativen bauen in öffentlichen Gärten Obst und Gemüse an, andere Gruppen beteiligen sich an der Parkpflege, vielerorts gibt es fest installierte Sportgeräte. Bei neuen Parks werden die Bürger meist schon in die Planung mit einbezogen – in dem Bewusstsein, dass die grünen Oasen als Vorbild für einen sozialverträglicheren, nachhaltigeren Alltag in den Städten dienen können. Der Mikrokosmos Park bekommt so eine immer größere gesellschaftliche Bedeutung: Er dient heute nicht mehr nur der Wiederherstellung der Arbeitskraft, sondern soll das Zusammenleben der Stadtbewohner fördern. Wie das noch besser gelingen kann, damit befasst sich dieses Social-Design-Dossier und auch der Social-Design-Wettbewerb, den SPIEGEL WISSEN und SPIEGEL ONLINE in diesem Jahr wieder ausschreiben (siehe Seite 100).
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MICHAEL SONTHEIMER
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HANNES JUNG
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Gemeinschaftsgärtner und andere Aktivisten verwurzeln auch in Berlin die weltweite Transition-Bewegung, die eine nachhaltige Gesellschaft fordert.
MAIKE MAJEWSKI MACHT MITTAG. Sie verzehrt türkisches Backwerk an einem Holztisch in einer großen, lichtdurchfluteten Ladenwohnung in Berlin-Wedding. Der Laden heißt „Baumhaus“, im Hintergrund tönt aus der Musikanlage ein alter Song von Bob Marley: „Get up, stand up, stand up for your rights.“ Genau das – aufstehen, sich erheben, für ihre Rechte einstehen – tut Majewski schon seit etlichen Jahren, als lokale Aktivistin in der weltweiten Transition-Bewegung. „Ich hatte es satt, immer nur gegen etwas zu sein“, erinnert sie sich. Es sei offensichtlich, dass der Raubbau der Menschen an der Natur keine Zukunft habe. Daraus hätten sich für sie existenzielle Fragen ergeben: „Wie kann weniger mehr sein? Wie sieht ein wirklich gutes Leben aus?“ Transition kommt aus dem Englischen und heißt Übergang, so viel ist klar. Aber worum genau geht es dieser ursprünglich britischen Bewegung, die in den letzten Jahren auch in Deutschland Fuß gefasst hat? Welcher Übergang ist gemeint? Wenn Maike Majewski es simpel ausdrücken will, sagt sie, dass sie und ihre Mitstreiter den Übergang von einer Gesellschaft, die vollständig von fossiler Energie abhängig ist, zu einer Welt vorantreiben wollen, die über eine nachhaltige Energieverwendung und Wirtschaft verfügt. Wenn sie etwas pathetisch werden will, sagt die 44 Jahre alte Aktivistin es so: „Hand, Herz und Verstand müssen zusammenwirken. Es geht darum, zu verstehen, zu handeln und zueinanderzukommen.“ Konkret sieht das dann so aus: Ein paar Straßen vom Baumhaus entfernt, ebenfalls im Berliner Wedding, steht Felix Lodes unter freiem Himmel an einer Kreissäge und schneidet Bretter für Hochbeete. „Himmelbeet“ heißt der 2012 gegründete interkulturelle Gemeinschaftsgarten auf dem landeseigenen Grundstück, dessen Geschäftsführer Lodes ist. Rund 300 Hochbeete, jedes etwa so groß wie ein Einzelbett,
sind im Garten aufgestellt, 120 sind Gemeinschaftsbeete, 170 Pachtbeete. Pro Saison kostet ein Beet 60 Euro Pacht, inklusive Wasser und gärtnerischer Beratung. Die Pächter verpflichten sich allerdings auch, zehn Stunden Arbeit für die Gemeinschaft zu leisten. Da es dreimal mehr Bewerber gibt als verfügbare Beete, werden diese verlost. „Das Soziale ist hier fast wichtiger als das Ökologische“, sagt Felix Lodes. Mit dem Interund Multikulturellen könnte es allerdings noch deutlich besser werden, biodeutsche Akademiker in ihren Dreißigern mit Kindern sind deutlich überproportional vertreten. Davon unbenommen gilt Himmelbeet als Erfolgsprojekt und Beispiel. Mit dem aus hölzernen Europaletten gebauten Caféhaus haben die Himmelbeet-Aktivisten einen Architekturpreis gewonnen. Für eine große Wohnungsbaugesellschaft haben sie Gemeinschaftsgärten eingerichtet. Der Bedarf nach urbanem Grün ist in Berlin groß, aber der Bauboom und die überhöhten Grundstückspreise verhindern, dass neue Gärten entstehen. Irgendwie werde es trotzdem weitergehen, meint Lodes. Der optimistische Aktivist verkörpert jene Merkmale, welche die Transition-Bewegung sympathisch und attraktiv machen: Es geht nicht um technische Lösungen für Umweltprobleme, sondern immer auch um die soziale Komponente. Nur mit Kooperation, so denken die Transition-Anhänger, lassen sich die globalen Umweltprobleme angehen – und vielleicht sogar lösen. In Deutschland arbeiten Transition-Initiativen an so unterschiedlichen Orten wie Bielefeld, Essen, Dresden, Hannover, Witzenhausen oder Emskirchen. Laut Website des Transition-Netzwerks gibt es in Deutschland 147 Initiativen in 136 Kommunen.
ALS MAIKE MAJEWSKI IM JAHR 2009 aus England nach Berlin kam, hatten sich in der deutschen Hauptstadt schon ein paar Transition-Initiativen zusammengetan. Sie schloss sich einer Gruppe in Friedrichshain-Kreuzberg an, aber da es ihr auf die Dauer zu lästig war, immer 40 Minuten zu den Treffen zu radeln, gründete sie eine eigene Initiative in ihrem Heimatbezirk Pankow. Ihr gefiel von Anfang an die pragmatische Tatkraft der Transition-Bewegung. „Es geht nicht nur um die Kraft der Ideen“, meint sie, „sondern auch um die Ausstrahlung des Tuns.“ Majewski lebt in einem Mietshaus, mit normalen Ostberlinern in Pankow. Sie hat dort die Idee des Food Sharing propagiert, inzwischen geben die Hausbewohner Lebensmittel weiter, bevor sie schlecht werden. Und sie laden sich gegenseitig zum Essen ein. Es gibt, so viel ist für Maike Majewski klar, kein gutes Leben ohne Gemeinschaft. Karen Wohlert, 32, hat sich zu Maike gesellt. Sie hat die große Baumhaus-Ladenwohnung gemietet, die zu einem wichtigen Treffpunkt für Transition-Aktivisten im Norden Berlins geworden ist. Wohlert wuchs in Lüneburg auf, stieß dort zur Anti-Atom-Bewegung und war bei den Blockaden der Castor-Atommüll-Transporte nach Gorleben dabei. In Berlin zog sie in eine Wohngemeinschaft, und nachdem die sich mehr und mehr zu einem Treffpunkt für Ökoaktivisten entwickelt hatte, wurde der Laden angemietet. An dem „Ort für Weltverbesser*innen“ treffen sich verschiedene Gruppen: Klimaaktivisten, aber auch Lyriker. Etwa die Hälfte der Besucher kommt aus der Nachbarschaft, die andere Hälfte aus dem Rest der Stadt. Bei Veranstaltungen sprechen bis zu 40 Prozent der Besucher kein Deutsch. Also wird viel Englisch geredet. Auch Scott Bolden, 49, der Lebensgefährte von Karen Wohlert, spricht nur ungern Deutsch, obwohl er schon 2010 von New York nach Berlin gekommen ist. Nicht ohne Stolz gibt er eine kleine Führung durch das Baumhaus. Die Küche mit der Bar davor ist fast fertig. Im Badezimmer hat ein syrischer Flüchtling Fliesen verlegt – die aus dem Stadtbad gegenüber stammen, das abgerissen wurde. Ganz hinten liegt eine Tischlerwerkstatt, die in einen Seminarraum umgebaut werden soll. Die Transition-Bewegung zeigt auch, dass die deutsche Ökoszene zunehmend unter anglo-amerikanischem Einfluss steht. Jungen Leuten, die etwas für die Rettung des Planeten tun wollen, erschließt sich der Charme des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland und anderer etablierter deutscher Ökogruppen offenbar nur bedingt. Sie wenden sich gern Initiativen und Ideen zu, die aus England oder den USA importiert wurden, auch wenn diese Länder in vielen Fragen des Umweltschutzes um Jahre hinter Deutschland herhinken. Initiator der Transition-Bewegung ist Rob Hopkins, ein aus-
Ein „Baumhaus“ in Berlin: Karen Wohlert und Scott Bolden (o.) betreiben eine Ladenwohnung als Treffpunkt für TransitionAktivisten im Stadtteil Wedding.
gesprochen humorvoller Sozialwissenschaftler, der in Südengland lebt und lehrt. „Er ist unser Aushängeschild“, sagt Maike Majewski, „er bringt unsere Ideen gut rüber.“ Den Begriff Nachhaltigkeit findet Hopkins schon lange abgedroschen. Er spricht gern von „resilience“. Resilienz heißt so viel wie Widerstandskraft und die Fähigkeit, Krisen unbeschadet zu überstehen. DER 1968 IN LONDON GEBORENE HOPKINS beschäftigte sich mit den Ideen und Konzepten der Permakultur, naturnaher Bewirtschaftung in der Landwirtschaft, die australische Ökovordenker als „permanent culture“ schon seit den Siebzigerjahren propagierten. Und Hopkins konnte nicht nachvollziehen, wie Politiker und Wirtschaftsmanager die Tatsache, dass die Erdölvorräte über kurz oder lang versiegen werden, ignorieren und das Risiko eines wirtschaftlichen und sozialen Kollapses in Kauf nehmen konnten. Als Hopkins in Kinsale, einer Kommune in der Grafschaft Cork im Südwesten Irlands, am örtlichen College „Ökologisches Bauen“ lehrte, entwickelte er 2005 zusammen mit seinen Studenten den ersten Transition-Plan für das Städtchen. Zunächst ging es ums Energiesparen, um eine gründliche Energie- und
Kulturwende. Der Stadtrat machte sich das Konzept zu eigen, und nachdem Hopkins 2006 ins englische Totnes gezogen war, gab er keine Ruhe, bis auch dort ein Transition-Town-Plan aufgestellt war. Totnes – ein idyllisches 8000-Seelenstädtchen – ist heute so etwas wie die heimliche Hauptstadt der Transition-Bewegung. Zumindest residiert in Totnes das Transition Network, dessen Mitarbeiter versuchen, einen Überblick darüber zu behalten, wo in aller Welt Gruppen agieren, die sich Transition-Initiativen nennen, und was sie so treiben. Inzwischen gibt es in über 40 Ländern Transition-Initiativen, zwischen 3000 und 4000 Gruppen sollen aktiv sein, doch genau weiß das niemand. Die Stärke der Transition-Gruppen und ihrer Projekte liegt genau in dieser Kleinteiligkeit und in ihrer dezentralen Struktur; ihre Mitglieder finden Lösungen, die auf die Bedingungen vor Ort zugeschnitten sind. Diese fallen naturgemäß sehr unterschiedlich aus, je nachdem, ob ein Projekt in Brasilien entwickelt wird, in Berlin oder in Frankreich. Die produktive Diversität eines Netzwerks ohne Hierarchien und Führungsfiguren ist gleichzeitig die Schwäche der Transition-Bewegung. Sie begrenzt die Möglichkeiten, große Kampagnen zu lancieren,
sie beschränkt den politischen Einfluss und die Möglichkeiten, ökologisch notwendige Reformen auf staatlicher Ebene durchzusetzen. Von den drei Sphären ökologischer Intervention – global, national, lokal – haben sich die Transition-Initiativen konsequent für die lokale entschieden. Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat die TransitionBewegung als „stark praxisorientierte Bewegung“ charakterisiert, „die nicht diskursiv zu Änderungen kommen will, sondern danach sucht, wo der eigene Handlungsrahmen ist“. Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler pries Transition-Projekte „als wunderbare Kombination aus lokalem bürgerschaftlichem Engagement und einem weltumspannenden Netzwerk“. Im Baumhaus sind mittlerweile an die 15 Menschen versammelt; die meisten sind Aktivistinnen des „Real Junk Food Project Berlin“. Sie haben Kisten mit Lebensmitteln hereingetragen, Vollkornbrote und Gemüse. Es handelt sich um Waren, die von einem nahe gelegenen Bioladen nicht mehr verkauft werden können. Die Aktivistinnen kochen heute Abend im Baumhaus – ihr sehr praxisorientiertes Motto lautet „feed bellies, not bins“ (füllt Bäuche, nicht Mülltonnen).
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MARIANNE WELLERSHOFF
EIN WALL aus frisch aufgeschütteter Erde teilt die noch wintermüde Wiese, daneben ein Weg, der irgendwo im Gras endet. Ein Stück weiter leuchten die Schnittkanten gerade gefällter Bäume. „Im Sommer ist die Wiese so hoch“, sagt Heike Delventhal und hebt ihren linken Arm auf Kopfhöhe, im rechten hält sie ihr Baby. Im nächsten Sommer aber wird hier voraussichtlich keine Wiese mehr blühen, sondern eine Baugrube klaffen. Auf drei großen Grünflächen an der Straße Haferblöcken in Hamburg-Öjendorf soll ein Neubaugebiet mit 550 Wohneinheiten entstehen. Tief frisst sich die neue Baustraße schon ins Gelände, losgehen soll es in dem Gebiet „Östlich Haferblöcken“ mit 112 Wohnungen für Flüchtlinge. Im Moment wird daran aber nicht weitergearbeitet: Nicht alle Genehmigungsbedingungen waren erfüllt, als die Bagger anrollten und die Wiese umwühlten. Mit einer lautstarken Baustellenbesetzung mussten Anwohner, zusammen mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND), das zuständige Bezirksamt Hamburg-Mitte erst darauf aufmerksam machen. Es gibt Streit um das Neubauprojekt „Östlich Hafenblöcken“, und er zeigt, wie widersprüchlich die Interessen in einer Großstadt sind. Es geht um Platz, um Lebensraum und Lebensqualität, es geht darum, wo die politischen Prioritäten liegen, bei der Erhaltung von Grünflächen oder bei der Schaffung von Wohnraum, auch und geraKahlschlag: Ohne Genehmigung de für Bedürftige. Es geht wurden Büsche für die Zufahrt darum, dass eben nicht alles des Neubauprojekts abgesägt. geht, dass nicht alle Wünsche und Bedürfnisse erfüllt werden können. Wie auch? Die Einwohnerzahl der Stadt Hamburg wächst, auch wegen der rund 50 000 Flüchtlinge, die Fläche aber nicht. Und schon ist man in der sonderbaren Situation, dass Menschen, die für die Umwelt kämpfen, auf einmal als Flüchtlingsfeinde dastehen. Die Bewohner des Neubaugebiets „Westlich Haferblöcken“, in dem Straßenna-
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MATTHIAS HASLAUER
men wie „Honiggrasweg“ und „Wasserfenchelstieg“ nach unberührter Natur klingen, haben Grundstücke gekauft, die am Rande eines Landschaftsschutzgebiets lagen. Sie wollen nicht am Rande des nächsten Neubaugebiets wohnen. „Eine Großstadt verändert sich“, sagt Matthias Kock, Staatsrat in der Behörde für Stadtentwicklung und Wohnen, „niemand hat einen Anspruch darauf, dass alles so bleibt, wie es ist.“ Das sehen die Haferblöcken-Bewohner anders. Seit sie im Herbst 2015 von dem Bauprojekt erfuhren, haben sie sich in AGs und in einer WhatsApp-Gruppe organisiert, sie haben die Bürgerinitiative „NatürlichMITTEndrin“ gegründet, sich einen Anwalt genommen und sich selbst mit Baurecht befasst, sie haben ein Gutachten von einem Juraprofessor erstellen lassen, das ihrem Widerstand recht gibt. Im Koalitionsvertrag der rot-grünen Landesregierung von 2015 waren die Prioritäten klar: Die Grünflächen sollten erweitert und aufgewertet werden, kein Landschaftsschutzgebiet, kein Park sollte neuen Gebäuden geopfert werden. Unterschrieben wurde dieser Vertrag aber vor der großen Flüchtlingswelle. „Wir haben eine Notsituation“, sagt Staatsrat Kock, „wir wollen Schutzsuchenden ein Dach über dem Kopf bieten.“ Christian Münster von NatürlichMITTEndrin sagt: „Die Stadt benutzt die Notsituation der Flüchtlinge als Druckmittel, um hier auch normalen Wohnungsbau durchzusetzen.“ DER ÖJENDORFER PARK ist der drittgrößte Park Hamburgs. Er liegt im einkommensschwachen Stadtteil Billstedt, der 76 Prozent dichter besiedelt ist als der Durchschnitt der Hamburger Bezirke. Fast 53 Prozent der Billstedter haben einen Migrationshintergrund. Hier leben mehr als doppelt so viele HartzIV-Empfänger wie im Hamburger Durchschnitt, auch die Arbeitslosenquote liegt weit über dem Mittel. Ausgerechnet in Billstedt wurde die einzige Hamburger Primark-Filiale eröffnet – die Billigmodekette wird ihre Zielgruppe kennen. Besonders viel Naherholung hat der Stadtteil ansonsten nicht zu bieten. Darum ist der Öjendorfer Park so wichtig für die Anwohner. Im Bebauungsplan „Billstedt 90“ von 1997 heißt es: „Die ausgedehnten Räume mit einem Mosaik aus Wasserflächen mit Sitz- und Aufenthaltsbereichen, Brachflächen, Gehölzbereichen und Wiesenflächen übernehmen eine wertvolle Erholungsfunktion als Naturerlebnisbereich vor allem für Kinder.“
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DT TA P
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Hamburger Bürger streiten für den Erhalt ihres Parks. Und gegen Neubauten, in denen auch Flüchtlinge leben sollen. Ist das ökologisch oder egoistisch?
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96 IN DER MITTE des Parks liegt der große Öjendorfer und genehmigt werden. Doch wegen der FlüchtSee, ans westliche Ufer schließen sich ausgedehnte lingswelle wurde das Baurecht geändert, und für Liegewiesen und kleine Waldabschnitte an, dahinter Unterkünfte gilt nun §246 Absatz 14 des erstreckt sich ein Streifen aus Feuchtbiotopen und Baugesetzbuchs. Und das bedeutet im Renaturierungsflächen, durch den sich Bachläufe Wesentlichen: Alles geht deutlich schlängeln. Diese kleine Wildnis wurde als Ausgleich schneller. geschaffen für das Einfamilienhausgebiet, das vor vier Jahren auf der anderen Seite der Straße Hafer- „ABER IN DEN GESPRÄCHEN, die wir blöcken gebaut wurde – und in dem die Aktivisten seit 2015 mit den Verantwortlichen gevon NatürlichMITTEndrin wohnen: graue, kubistische, führt haben“, sagt Christian Münster, „hazweistöckige Reihenhäuser, weiße Blöcke mit Pult- ben die ein Wort fast nie in den Mund gedächern, Wohnhäuser mit rotglänzenden Dachzie- nommen: Flüchtlinge.“ Er hat den Verdacht, geln und weißen Putzfassaden. dass die Behörde die Flüchtlinge nur instruDie Siedlung entstand auf einer Pferdeweide – ver- mentalisiere. Nach 15 Jahren kann außerdem nichtete also ebenso Grünfläche wie die Häuser auf die städtische Wohnungsbaugesellschaft der anderen Straßenseite, deren Bau die Aktivisten Saga GWG, der die Häuser für die Flüchtlinge jetzt verhindern wollen. Er wisse ja, dass er im Glas- dann gehören sollen, die Unterkünfte als ganz haus sitze, sagt NatürlichMITTEndrin-Vertreter Chris- normalen Wohnraum vermieten. Zusätzlich tian Münster genervt. Sein Gegenargument: Die Pfer- zu den rund 430 Einheiten, die sowieso deweiden seien kein Landschaftsschutzgebiet gewe- schon als regulärer Wohnungsbau geplant sen wie die Wiesen, um die es jetzt gehe. seien und die von Genossenschaften überWaldohreulen und Fledermäuse gebe es dort, er- nommen werden sollen. gänzt sein Mitstreiter Tim Lüttecke. Besser gesagt: Staatsrat Kock hält dagegen: „Der Auftrag Noch gibt es sie, das hat der BUND festgestellt. Für an die Bezirke war, keine Konkurrenz zwischen den Geschäftsführer des Hamburger BUND-Landes- Hamburger Wohnungssuchenden einerseits und verbands, Manfred Braasch, allerdings haben die Wie- Flüchtlingen andererseits entstehen zu lassen. Dessen, die den Häusern weichen sollen, „keine so hohe halb wurden Flächen gesucht, die nicht für den WohWertigkeit“. nungsbau vorgesehen waren.“ Parks und LandIhm geht es um die Gewässer in dem Gebiet, in schaftsschutzgebiete sind genau solche Flächen. dem rar gewordene Amphibien heimisch seien. Und Heute, nach anderthalb Jahren Kampf, wirken die um die sogenannten Knicks. Das sind vier lang ge- Natürlich MITTEndrin-Aktivisten nicht so, als glaubten streckte Erdwälle, auf denen wilde Büsche und Bäu- sie noch, das Bauprojekt selbst stoppen zu können. me wachsen und seltene Vö„Wir wurden nie ernst gegel nisten. Im neuen Bebau- Anwohner als Aktivisten: Tim Lüttecke, Heike nommen“, sagt Christian ungsplan sind nur noch drei Delventhal und Christian Münster versuchen mit Münster, „das ist hier eben Knicks vorgesehen, eng zwi- ihrer Bürgerinitiative die Bebauung der Wiesen nur Billstedt.“ Sie hoffen schen die Neubauten einge- neben ihrer Wohnsiedlung zu verhindern. noch auf den BUND, der – fügt. „Lärm und Licht“ würim Gegensatz zu den Anden die Vögel fernhalten, wohnern – als Naturschutzsagt Braasch. Falls sie nicht verband gegen die Pläne sowieso schon mit Beginn klagen kann. Staatsrat Kock der Bauarbeiten geflohen prognostiziert: „Am Ende sind. Der BUND-Landesversteht ein sehr gut gebautes band Hamburg hat sich neues Viertel in Billstedt.“ deshalb dem Widerstand Der Widerstand gegen der Bürgerinitiative angedas Neubaugebiet auf der schlossen. anderen Straßenseite hat Würden im Landdas Zusammenleben in der schaftsschutzgebiet HaSiedlung Westlich Haferblöferblöcken nur Neubauten cken verändert: Aus Nachfür die Hamburger Bevölbarn wurden Freunde, die kerung geplant, so würde gemeinsam zur Müllsammeldas Genehmigungsverfahaktion „Hamburg räumt auf“ ren Jahre dauern: Dem neugehen, die gemeinsam Flohen Bebauungsplan müssen märkte veranstalten. Und alle Instanzen zustimmen, die gemeinsam Feste feiern. der Fläche muss der Status Auf den großen Wiesen als Landschaftsschutzgeselbstverständlich. Jedenbiet aberkannt werden, die falls, solange es sie noch Bauanträge müssen geprüft gibt.
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Herr Rein-Cano, grüner Rasen, ein paar Bäume, eine Sandkiste Schönheitsvorstellungen, sondern ist wie ein leeres Gefäß. Das für die Kleinen und Bänke zum Ausruhen, reicht das für einen regt die Besucher unheimlich an, selbst etwas zu tun, selbst zu städtischen Park? So war das mal. Die Wiese und die Bank an gestalten. der richtigen Stelle, daran freuen sich die Menschen aber heute Der Tempelhofer Park ist die größte innerstädtische Freifläche noch. der Welt. Sollten Parks stets so offen gestaltet sein? Es gibt Muss ein Park nicht zuallererst das Auge des Betrachters be- keine Regel, dass Parks möglichst neutral zu sein haben. Solche geistern? Ursprünglich waren Parks ja nicht für die Öffentlichkeit Orte brauchen immer auch eine Identifikationskraft. In Tempelhof gemacht, sondern Adlige haben darin ihre Macht demonstriert, landeten und starteten nach dem Zweiten Weltkrieg die Rosioft auch technische Neuerungen präsentiert. Die Krönung dieser nenbomber und versorgten die Bewohner des eingeschlossenen Angeberei ist Versailles mit seinen Wasserspielen, künstlichen Westberlin mit Lebensmitteln, der Flughafen war nicht zugängHügeln und exotischen Bäumen. Erst ab Mitte des 18. Jahrhun- lich. Heute ist Berlin frei und vereint und das Gelände offen. derts entstehen langsam die ersten Volksparks für jedermann. Jeder Park braucht ein narratives Gerüst, um geliebt zu werden. Heute wollen die Menschen sich dort in die Sonne legen, jog- An Tempelhof zeigt sich der Wandel Berlins wie in einem Brenngen, den Hund ausführen, grillen. Es ist ein Megatrend, dass glas, wie aus der Nazihochburg diese Hipster-Stadt wurde. immer mehr Privates in den öffentlichen Raum verlagert wird. Ein Park muss auf jeden Fall Freiraum bieten? Die Menschen wolInsbesondere durch die sozialen Netzwerke in der digitalen Welt len heute sicher viel weniger vorgeschrieben bekommen als früher. haben die Menschen sich daran gewöhnt, vieles öffentlich zu Ihr Büro hat in Kopenhagen den 2012 eröffneten und hochgemachen, was früher privat war. Und das verändert auch massiv lobten Park „Superkilen“ mit entworfen. Dort prägt eine Sammdie Art, wie wir mit öffentlichen Räumen umgehen. lung alltäglicher Dinge aus über 60 Ländern den Raum. Ja, der Wie wirkt sich das aus? In Parkanlagen gibt es heute Urban Park ist gezielt aufgeladen mit Bildern aus den Heimatländern Gardening, Public Viewing, Sport, Musik, Kunstprojekte. Längst der Anwohner, angefangen von Neonreklamen aus Katar und geht es nicht mehr nur um Erholung – die Menschen kommen Russland über Palmen aus China bis hin zu Trainingsgeräten auch mit ihren Laptops und arbeiten dort. vom Muscle Beach im kalifornischen Venice. Das Stadtviertel ist Im Park muss alles möglich sein? Schauen Sie sich den Tempel- von sehr hoher Migration geprägt, die Menschen stammen aus hofer Park in Berlin an, auf dem Gelände des ehemaligen Flug- allen Ecken der Welt. hafens Tempelhof. Das ist für mich aktuell Der Park soll helfen, dass die Menschen einer der besten Parks der Welt – ich bin zueinanderfinden und sich integrieren? ganz vernarrt in ihn. Kein LandschaftsarMARTIN REIN-CANO Es gibt ein Unbehagen gegenüber der Prächitekt hätte das Gelände besser planen ist Gesellschafter des vielfach aussenz von Migranten im öffentlichen Raum, können, so unangefasst, wie es ist. Dieser gezeichneten Büros für Landschaftsetwa gegenüber Moscheen. Das kulturelle Park entspricht keinen romantischen architektur Topotek 1 in Berlin. Beiwerk der Einwanderer wird häufig als
Toleranzraum: In modernen Parks treffen sehr unterschiedliche Nutzer aufeinander, ob im Kopenhagener „Superkilen“-Park oder in Berlin auf dem „Tempelhofer Feld“ (u.).
INTERVIEW
JOACHIM MOHR
IWAN BAAN / TOPOTEK 1, PIERRE ADENIS / LAIF
Feiern, grillen, gärtnern, kuscheln: Im Park werden private Aktivitäten heute öffentlich. Warum das so ist, erklärt Landschaftsarchitekt Martin Rein-Cano. störend betrachtet. Unsere Idee war es, dass die Migranten gerade deshalb Sehnsuchtsobjekte aus ihrer jeweiligen Heimat im Park wiederfinden und diese ihnen als eine Art emotionaler Anker dienen. Die Anwohner wurden an der Planung des Parks beteiligt? Ja, die Ideen der Menschen haben die Idee des Parks vorangebracht und prägen ihn heute entscheidend. So wurde aus einem neutralen Ort ein Ort mit Geschichte. Die Anwohner sind stolz auf den Park. Dabei gehört zur Toleranz zwischen den Kulturen auch, dass der Einzelne erkennt, dass etwas, was für ihn wichtig ist, für jemand anderen schnurzegal ist. Hat der Park zur Integration der Ausländer beigetragen? Absolut, denn auch die Dänen lieben ihn. Parks haben in allen Zeiten fremde Einflüsse aufgenommen und damit die Gegenwart beeinflusst. „Superkilen“ hat das ganze Viertel aufgewertet. Der Park ist zu einer der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten Kopenhagens geworden. Hat ein Park denn immer eine soziale Funktion? Sicher. Vieles, was früher in Schrebergärten passierte, findet heute in Parks statt, zum Beispiel Kindergeburtstage. Die Menschen leben individueller, organisieren sich weniger in Vereinen. Auch darin spiegelt sich gesellschaftliche Entwicklung.
In manchen Städten sind Bürger an der Pflege von Parks beteiligt, pflanzen und bewässern Blumen, ernten und beschneiden Obstbäume. Ich finde das eine sympathische Entwicklung. Man muss nur aufpassen, dass die Leute, die aktiv sind, keine Besitzansprüche anmelden. Und man muss sich fragen: Wer hat die Zeit und die Fähigkeiten mitzumachen? Es sollten keine Elitenprojekte entstehen. Und der Staat darf die Menschen nicht aus Sparzwecken missbrauchen. Ein Park ist stets für alle da? Ein Park bleibt immer ein öffentlicher Raum, der allen gehört. Parks sind auch Orte für sozial Benachteiligte, die Bessergestellten haben ja vielleicht eine Terrasse, einen Balkon oder Garten. In Parks begegnen sich noch alle Gruppen der Gesellschaft – so hat man vielleicht vor dem grillenden Ausländer weniger Angst. Ein Park ist ein gesellschaftliches Experimentierfeld. Es gibt Konflikte, etwa zwischen denen, die grillen, und denen, die ihre Ruhe wollen. Viele Menschen haben den Wunsch, in ihrer Stadt in beständiger Harmonie zu leben. Aber wir müssen lernen, im Alltag mit Konflikten umzugehen. In einem Park zeigen sich die Konflikte einer Gesellschaft. Unterschiedliche Interessen müssen verhandelt werden – dann kann man eben nicht überall grillen. Wer allerdings nur Ruhe will, der kann auf Friedhöfe gehen.
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MARIANNE WELLERSHOFF
SPIEGEL WISSEN und SPIEGEL ONLINE suchen die besten Ideen für grüne Stadtoasen.
NATÜRLICH KANN MAN IN PARKS spazieren gehen, sich auf einer Bank ausruhen und die Sonne genießen. Aber Grünflächen bieten auch die Chance, durch Gruppenaktionen Gemeinschaft zu schaffen, ob es Nachbarschaftstreffs sind oder Aufräuminitiativen. UND GENAU DARUM geht es beim Social Design Award, den SPIEGEL WISSEN und SPIEGEL ONLINE, in Kooperation mit BAUHAUS, ausrichten. Gesucht werden gute Ideen, die Leben ins Grün bringen, die individuelle Parkbesucher dazu bewegen, aktiv zu werden – für den Park, für die Nachbarschaft, für die Stadt. Eine Expertenjury und die Leser von SPIEGEL WISSEN und SPIEGEL ONLINE wählen jeweils einen Sieger-Vorschlag aus. Die Gewinner von Jurypreis und Publikumspreis werden beide mit dem Social Design Award ausgezeichnet, der mit 2500 Euro pro Kategorie dotiert ist.
DER SOCIAL DESIGN AWARD wird zum vierten Mal vergeben. Im vergangenen Jahr ging es um „Gute Ideen für unsere Straße“. Den Jurypreis gewann ein Entwicklerteam aus Kiel für die App „Groundkeeper“: Damit können Sportstätten verzeichnet und Mitspieler gesucht werden, man kann Fans einer Sportart kennenlernen und somit auch neue Freunde. Der Publikumspreis ging an die Idee „Nachwuchs“ der gemeinnützigen Berliner Organisation Mundraub. Wer ein Kind bekommt, kann gegen eine Spende für seinen Nachwuchs einen Obstbaum im öffentlichen Raum pflanzen lassen, und dieser Baum wird mit dem Namen des Babys versehen. Zum ersten Mal vergab BAUHAUS einen Sonderpreis – für „Das Kleine Parkraumwunder“: einen Handwagen, auf dem zum Beispiel eine Sitzgruppe montiert wird und der gebührenfrei auf der Straße geparkt werden kann. Beim Social Design Award kann jeder mitmachen, der eine gute Idee für grüne Stadtoasen hat (alle weiteren Details finden Sie rechts oder unter www.spiegel.de/socialdesignaward). Jurymitglieder des Social Design Award sind in diesem Jahr: Friedrich von Borries, Künstler und Professor für Designtheorie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg; Jolanthe Kugler, Autorin und Kuratorin am Vitra Design Museum in Weil am Rhein; Thorsten Dörting, SPIEGEL ONLINE; Marianne Wellershoff, SPIEGEL WISSEN; Marcus Wegener, BAUHAUS. Wer den Social Design Award gewonnen hat, erfahren Sie in SPIEGEL WISSEN – in Ausgabe 6, die am 12. Dezember erscheint.
GUTE IDEEN FÜR GRÜNE STADTOASEN Jetzt mitmachen beim Wettbewerb 2017!
Worum geht es? Wie kann man Parks und andere öffentliche Grünanlagen mit Leben füllen? Wie können sie zu einem Ort für Gemeinschaft und gemeinsame Aktionen werden? Wie können wir hier Nachhaltigkeit schaffen? Wir suchen gute Ideen und Projekte, die Grünflächen zu Stadtoasen für die Bürger machen. Wie kann man teilnehmen? Mitmachen kann jeder! Die Einreichungsfrist für den Social Design Award läuft bis zum 31. August 2017. Die Wettbewerbsunterlagen und das Onlineformular für die Beiträge gibt es unter www.spiegel.de/socialdesignaward
Wie läuft der Wettbewerb ab? Aus allen Beiträgen stellen wir die zehn besten Ideen ab Anfang Oktober 2017 auf SPIEGEL ONLINE vor. Die Leser können dann ihrem Favoriten eine Stimme geben. Die Gewinner geben wir am 12. Dezember 2017 in SPIEGEL Wissen 6/2017 und auch auf SPIEGEL ONLINE bekannt. Was gibt es zu gewinnen? Vergeben werden ein Jurypreis und ein Publikumspreis. Beide Preise sind jeweils mit 2.500 Euro dotiert. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
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DR. A L LW I S S E N D
OLIVER SCHWARZWALD / SPIEGEL WISSEN
Schon 1492 klagte ein Ökopamphlet Umweltsünden an.
VOR GUT 500 JAHREN war das westliche Erzgebirge, gelegen im heutigen Sachsen, ein wildes Eldorado: Reichhaltige Silberadern hatten Tausende Bergleute, Glücksritter, Hüttenarbeiter und Spekulanten angelockt. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts trieben diese Abenteurer Schächte und Stollen in die Berge, leiteten Flüsse um, errichteten Metallhütten in den Tälern. Die Minen waren nach wenigen Jahrzehnten erschöpft, doch die Suche nach dem silbrigen Reichtum hinterließ tiefe Wunden in der Natur: Wälder waren abgeholzt, Felder verwüstet, Wasserläufe mit Blei und Arsen vergiftet worden. Rauch aus Schmelzöfen verpestete vielerorts die Luft. Und schon damals gab es Menschen, denen der Raubbau an der Natur unverantwortlich erschien. Paul Schneevogel war
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Lehrer, Schriftsteller, Humanist, der seinen Namen, wie damals weitverbreitet, zu Paulus Niavis latinisiert hatte. 1492 veröffentlichte er eine kleine Erzählung mit dem Titel „Iudicium Iovis in valle amenitatis ...“, zu deutsch „Das Gericht Jupiters, gehalten im lieblichen Tal ...“ Die Geschichte ist eine Anklage gegen die Zerstörung der Umwelt, eine Warnung vor gedankenlosem Ressourcenverbrauch und rücksichtsloser Gier. Es ist eine der frühesten ökologischen Streitschriften. In der Erzählung gerät ein Einsiedler im Erzgebirge in einen Wald, wo er zufällig Zeuge einer Gerichtsverhandlung antiker Götter wird. Vor dem obersten Richter Jupiter ist der Mensch angeklagt, der „homo montanus“, der Bergmann. Ihm wird vorgeworfen, die Mutter Erde geschändet zu haben, indem er in sie eingedrungen sei und sie aufs Schwerste verletzt habe. Merkur, der die im Zeugenstand erscheinende Erde vertritt, beschuldigt den Menschen, die Erde zu zerfleischen, sodass sie ihre ganze Kraft zu verlieren drohe. Und dieses Unrecht vollführe der Mensch für etwas, das weder für Leib noch Seele gut sei, für das Silber. Der Mensch zeigt sich jedoch nicht im Geringsten einsichtig. Er wirft seinerseits der Erde vor, sich nicht mütterlich, sondern stiefmütterlich zu verhalten, da sie ihre kostbaren Schätze vor ihm unter Tage verberge – und das, obwohl doch alles in der Natur Vorhandene zum Nutzen und für den Fortschritt des Menschen bestimmt sei. Die Erde wiederum droht am Ende des Disputs mit ihrem Zusammenbruch und der Gefahr für alles Leben, das auf ihr vorhanden ist. Jupiter sieht sich außerstande, ein Urteil zu fällen, und überlässt Fortuna die Entscheidung. Diese spricht den Menschen frei, da es die „Bestimmung der Menschen“ sei, „die Berge zu durchwühlen“. Dahinter stand für Paulus Niavis wohl der biblische Gedanke aus dem Ersten Buch Moses, dass der Mensch sich die Erde untertan mache. Doch die Göttin Fortuna warnt die Menschen auch, denn dafür, dass die Bergleute der Erde unzweifelhaft Schaden zufügten, würden sie mit Gefahr und Tod bezahlen. Niavis sah bereits im Jahr 1492 in der Jagd nach Ressourcen, damals Silber, heute Öl oder Kohle, eine Bedrohung für die Natur – im selben Jahr, da Christoph Kolumbus in Nordamerika landete und sich mit der beginnenden Kolonialisierung eine ganz neue Dimension der Ausbeutung der Erde abzeichnete. JOACHIM MOHR
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VICTORIA BEE / SPIEGEL WISSEN
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W I R T S C H A F T WA N D E L N Ob wir umweltverträglich leben können, hängt auch davon ab, welche Produkte uns die Unternehmen anbieten. Der Markt insgesamt muss sich umstellen: auf eine Zukunft, in der nicht nur Wachstum zählt.
„Für eine Einlage von 500 Euro bekommt man einen Anteil Wald. Viele Menschen finden die Vorstellung ansprechend, ein Stück Wald zu besitzen, mit ihm verbunden zu sein.“
„Mit Bionella wollen wir Nutella zeigen: Es geht auch bio und fair. Palmöl per se ist ein gutes Öl, auch aus Umweltperspektive. Man muss es nur richtig anbauen.“
„Wir haben 100 Jahre gebraucht, die Chemie in die Landwirtschaft einzubringen. Wir werden sie deutlich schneller wieder loswerden.“
Markus Wolff, Genossenschaftsförster Seite 106
Sven Hubbes, Bioproduktentwickler Seite 118
José Graziano da Silva, Welternährungsorganisationschef Seite 126
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U N S E R
H A N D E L N
„Kaufen, schützen, nutzen“
SPIEGEL: Herr Wolff, wie kamen Sie dazu, eine Genossenschaft für Waldflächen zu gründen? Wolff: In Deutschland sind 50 Prozent der Wälder in Privatbesitz. Hier in NordrheinWestfalen sogar mehr. Die Privatwälder sind oft sehr klein, wir sprechen von Handtuchflächen – denn Grundbesitz wurde über Generationen auf immer mehr Erben verteilt und so zerstückelt. Viele Privatleute, denen Miniwälder gehören, pflegen diese nicht, überlassen sie sich selbst, was oft nicht vorteilhaft ist. Oder sie verkaufen Flächen an Investoren, die den Wald dann kahl schlagen. Hier in der Gegend ist das vor vier Jahren passiert – plötzlich waren im benachbarten Stadtwald große Areale gerodet. Ein Anlass zum Handeln. Ein paar Bürger kamen auf die Idee, kleine Waldstücke von Privatleuten als Genossenschaft anzukaufen, zu schützen, naturnah zu nutzen.
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SPIEGEL: Sie haben 200 Genossen. Warum machen die Leute mit? Wolff: Für eine Einlage von 500 Euro bekommt man einen Anteil Wald. Viele Menschen finden die Vorstellung ansprechend, selbst ein Stück Wald zu besitzen, mit ihm verbunden zu sein. Wir haben jedenfalls nicht nur Genossen hier vor Ort, sondern aus der ganzen Republik. Menschen, die hier leben und Anteile kaufen, tun das natürlich auch als Bürgerengagement für die Region. Darüber hinaus geht es aber auch um Rendite. Etwa ein bis drei Prozent können die Genossen erwarten. Mehr als aktuell auf dem Sparbuch. Es ist also kein purer Idealismus! SPIEGEL: Sie wollen profitabel sein. Wie sehr können Sie noch ökologisch handeln?
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Wolff: Zehn Prozent der Flächen lassen wir komplett in Ruhe, wollen, dass wieder eine Art Urwald entsteht, das ist auch Teil unserer Satzung. In den übrigen Teilen betreiben wir Holzwirtschaft, schlagen und verkaufen Holz. Allerdings arbeiten wir nach Maßstäben des ökologischen naturgemäßen Waldumbaus. Das heißt, wir fällen nur alte Bäume, sorgen für eine Verjüngung des Waldes, beugen Monokulturen wie Fichtenwäldern vor. Klar ist aber: Wir greifen in die Natur ein, legen nicht die Käseglocke über den gesamten Genossenschaftswald. Das würde auch nicht funktionieren. Wälder werden nicht automatisch gesunde Ökosysteme, wenn man sie in Ruhe lässt. waldgenossenschaft-remscheid.de
STEFAN ISAKSSON / PLAINPICTURE, STEPHAN GOERLICH / IMAGEBROKER / OKAPIA, FOTO-GROTHUES.DE
IN REMSCHEID HABEN E N G AG I E R T E B Ü R G E R E I N E WA L D G E N O S S E N S C H A F T G E G R Ü N D E T. D E R F Ö R S T E R M A R K U S WO L F F E R K L Ä R T, WA S DA S B R I N G T.
WER BAUT, VERLIERT E I N P L A N S P I E L H I L F T, DIE WEITERE ZERSIEDELUNG DER LANDSCHAFT ZU VERHINDERN.
Gutmensch am Grill
66 HEKTAR AM TAG wurden 2015 in
H O L Z KO H L E A U S TROPENHOLZ? DA S M U S S N I C H T S E I N .
Deutschland in neue Siedlungen und Verkehrswege umgewandelt: Das entspricht 92 Fußballfeldern. Erklärtes Nachhaltigkeitsziel der Bundesregierung ist es, diesen Raubbau an der Natur bis 2030 auf deutlich unter 30 Hektar am Tag zu begrenzen. Wenn alles so weiterläuft wie bisher, dürften die Kommunen dieses Ziel allerdings verfehlen – etwa weil schrumpfende Gemeinden versuchen, mit neuen Baugebieten neue Einwohner zu gewinnen. Das Umweltbundesamt hat daher mit 15 Städten und Gemeinden ein Planspiel durchgeführt, bei dem die Teilnehmer Zertifikate für die Bebauung von Flächen zugeteilt bekamen. Reichten einer Gemeinde die eigenen Zertifikate für eine geplante Bebauung nicht, konnte sie nicht benötigte Zertifikate von sparsamer planenden Kommunen hinzukaufen – was dort Gelder in die Kassen spülte. Ergebnis des Versuchs: Die 15 Planspieler verzichteten auf rund zwei Drittel aller Bauprojekte, weil sie erkannten, dass diese sich nicht rechnen würden.
Täglicher Verbrauch von Fläche für Siedlung und Verkehr in Deutschland, in Hektar 100
80
60
40
20
Quelle: UBA
2006
10
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KEIN ETIKETTENSCHWINDEL DA S G E M E I N N Ü T Z I G E U N T E R N E H M E N „ I N N AT U R A“ S A M M E LT FA B R I K N E U E P R O D U K T E F Ü R B E D Ü R F T I G E .
Asphalt und Beton
Ziele der Bundesregierung 2020: 30 Hektar 2030: < 30 Hektar
DIE DEUTSCHEN sind Grillweltmeis- penholz gefunden. Fragt sich also, wie ter. Deshalb brauchen sie jede Menge man seine Würstchen auf nachhaltige Kohle. Etwa 227 000 Tonnen Holzkohle Weise brutzelt. Einen gewissen Schutz werden mittlerweile jährlich importiert. bietet das FSC-Logo, das MindeststanDie Hälfte kommt aus Polen, ein Teil aber dards bei der Holzherkunft garantiert. auch aus Paraguay, Nigeria und anderen Wer sichergehen will, kann auch auf KohSchwellenländern. Woher das Holz für len aus Oliventrester zurückgreifen. 2016 die Importkohle genau stammt, lässt sich haben die Gründer Jakob Hemmers und nicht gut nachvollziehen, denn oft wird Rolf Wagner nun auch eine biozertifizierKohle hierzulande noch gestreckt. Bei te Alternative auf den Markt gebracht: Prüfungen wird jedenfalls in etwa einem „Nero Grillkohle“ wird komplett aus heiViertel der handelsüblichen Kohle Tro- mischen Hölzern hergestellt.
SPIELSACHEN, KOSMETIKA , Baumaterialien: In Deutschland werden pro Jahr fabrikneue Produkte im Wert von etwa 7 Milliarden Euro von Unternehmen und Händlern weggeworfen, weil sie falsch etikettiert sind, für Promotionszwecke gefertigt wurden oder Schönheitsfehler aufweisen. Auf diesen Missstand wurde die Unternehmensberaterin Juliane Kronen aufmerksam, als ein befreundetes Unternehmen ihr 200 000 nagelneue, aber fehlbeschriftete Shampooflaschen zur Weitervermittlung anbot, die „auf seinem Hof herumstanden“. Doch der gut vernetzten Betriebswirtin, damals bei der Boston Consulting Group beschäftigt, gelang es nicht, die Waren an ein soziales Pprojekt weiterzugeben. Kronen ließ das Thema nicht mehr los. Schließlich gründete sie ein Sozialunternehmen, das ausgemusterte Produkte in großem Stil an Hilfseinrichtungen vermittelt und verteilt. „Innatura“ existiert mittlerweile seit vier Jahren. Im ersten Jahr wurden nach Angaben von Innatura Waren im Wert von 2,7 Millionen Euro gegen Vermittlungsgebühr an 300 gemeinnützige Organisationen weitergegeben – vom Projekt für Obdachlose bis zum Flüchtlingslager in Syrien. innatura.org
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Rohstoffhunger Die Ausbeutung natürlicher Ressourcen
718 2035
ENERGIETRÄGER
5%
Ausreichende und sichere Energie sind die Grundlage für Wohlstand und wirtschaftliche Entwicklung. Erneuerbare Energien werden in Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen. Viele Länder haben bereits heute einen breiten Energiemix aus unterschiedlichen Quellen.
550 2015
17 % 4% Primär-Energieverbrauch weltweit
10 %
in Exajoule (1018 Joule)
341
24 %
1990 NUKLEAR ERNEUERBARE
KOHLE
29 %
6% 6%
27 %
25 % 24 %
ERDGAS
22 %
ERDÖL
39 %
12
33 %
8
Rund Mio. Barrel
Rund Mrd. Tonnen
Erdöl förderten die USA 2014 täglich. Durch Fracking wurden sie zum weltweit größten Erdölproduzenten vor Saudi-Arabien und Russland.
Kohle werden jährlich weltweit verbraucht.
108
29 %
55
950 TWh*
Kernreaktoren befanden sich Anfang des Jahres weltweit im Bau. 33 davon in drei Ländern: Indien, China und Russland.
Strom wurden weltweit durch Windanlagen produziert. Das sind rund vier Prozent der gesamten Kraftwerksleistung. *Terawattstunden
AUSBEUTUNG PRIMÄRER ROHSTOFFE WELTWEIT LANDVERBRAUCH
Naturlandschaft wird überall auf der Welt stark beeinträchtigt. Zwölf Millionen Hektar Ackerland werden jährlich allein durch Wüstenbildung und Dürren zerstört. Aber auch die Gewinnung von Bodenschätzen und urbanes Flächenwachstum degradieren Böden. Die globale Stadtfläche wird sich bis 2030 mehr als verdoppeln, das heißt ungefähr um die Fläche Südafrikas.
1970
2010
2050
22 Mrd. t
70 Mrd. t
180 Mrd. t Quellen: International Ressource Panel; Unep
BODENSCHÄTZE
WASSERVERBRAUCH
Die weltweiten Wasserreserven bestehen zu 97,5 Prozent aus Salzwasser, nur 2,5 Prozent sind Süßwasserreserven. Davon sind zwei Drittel im Inlandeis gebunden und nur ein Drittel ist zugängliches Frischwasser. Rund 1,1 Milliarden Menschen leiden unter Wassermangel, und 2,7 Milliarden finden zumindest für einen Monat im Jahr nur wenig Wasser.
Der weltweit steigende Wohlstand führt zu einer dramatischen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen. Dabei konsumieren die reichsten Länder etwa zehnmal so viel wie die ärmsten. Experten warnen seit Langem, dass dieses Verhalten den Klimawandel anheizt, die Umwelt weiter zerstört, die Biodiversität reduziert und durch den Bedarf an seltenen Rohstoffen die Gefahr lokaler Konflikte vergrößert wird.
Rohstoffe in einem Handy
5464 km3 weltweiter Verbrauch
Produktion Haushalt
16 % 7% 10 %
KUPFER
Anteile in Prozent
15 3 KUNSTSTOFFE
22 %
56 14 %
SONSTIGE Bewässerung
Viehzucht
67 %
37 %
1%
1%
2000
2050 PROGNOSE
Quellen: OECD; WWF
SONSTIGE
1
EISEN
25 %
3565 km3 Stromerzeugung
darunter: Gold, Silber, Palladium, Seltene Erden und andere Metalle
Rund
30
3
METALLE
25
ALUMINIUM
3 NICKEL
2
ZINN
1
GLAS/ KERAMIK
16
Metalle stecken in einem Handy, darunter auch seltene und knapper werdende wie Kobalt, Gallium, Indium, Niob und Wolfram, die die EU 2014 als „kritische Rohstoffe“ deklariert hat. Quelle: Informationszentrum Mobilfunk
Rund
800 Mio. Tonnen
nicht erneuerbarer Rohstoffe wurden im Jahr 2013 in Deutschland abgebaut. Die meisten Rohstoffe müssen jedoch importiert werden, um den Bedarf zu decken.
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Öko-Ökonomie Nur wenige deutsche Firmen erproben konsequent, wie eine nachhaltige Wirtschaft aussehen könnte. Besuche bei zwei Vorreitern. TEXT
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MARC WINKELMANN
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F OTO S
PATRICK TOMBOLA
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Wichtigste Zutat: Auf der nachhaltigen Kakaoplantage, die Ritter Sport in Nicaragua betreibt, zeigt ein Arbeiter eine Kakaofrucht vor.
0105 JAHRE ist Ritter Sport inzwischen alt, man kann sagen, dass das Unternehmen viel Erfahrung darin hat, Schokolade herzustellen. Das hilft Andreas Ronken momentan aber wenig. Der Firmenchef muss gerade ein paar neue Lektionen lernen. Er sitzt in seinem gläsernen Büro, mit Jeans und strahlend weißen Turnschuhen, und erzählt von seiner letzten Reise nach Nicaragua vor ein paar Wochen. Dort hat Ritter Sport Weideland gekauft, 2500 Hektar, um eine eigene Plantage zu errichten. Das schwäbische Familienunternehmen, das seine Rohstoffe bisher stets von anderen bezog, will unter die Kakaobauern gehen. Das bereitet Ronken Probleme. Erst, so sagt er, fehlten Straßen und Brücken. Also bauten sie selbst welche, 70 Kilometer insgesamt. Dann hatten sie starke Überschwemmungen, und es mussten Drainagen her. Danach blieb der Regen aus. Was für die anspruchsvollen Kakaobäume, die viel Pflege brauchen, ebenfalls nicht ideal war. Und überhaupt die Bäume: 1,5 Millionen Stück mussten sie ziehen und pflanzen, den richtigen pH-Wert für die Böden finden und anfangen, Kompost selbst zu machen. Alles Neuland, so Ronken, der Ritter Sport seit 2015 führt. „Eigentlich dachte ich, dass wir viel über Kakao wissen. Mit diesen
Schwierigkeiten hatte ich nicht gerechnet.“ lich werden neue Unternehmen gegründet, Jährlich fünf Millionen Euro investiert das um gesellschaftliche Probleme zu lösen; kleiUnternehmen in nachhaltigen Kakaoanbau. ne und mittlere Firmen schrauben SolarpaEnde 2017, vielleicht Anfang 2018 soll die nele auf ihre Fabriken und produzieren mit neue Plantage nun ihre erste Ernte abwer- erneuerbarer Energie; es wächst die Zahl fen. Aufgeben sei aber nie eine Option ge- der Konzerne, die Abteilungen für „Corpowesen, so der Firmenchef, schließlich habe rate Social Responsibility“ (CSR) auf- und das Projekt große strategische Bedeutung, ausbauen. Auch verkünden Manager beim die Ware soll ja ökologisch produziert wer- Weltwirtschaftsforum in Davos inzwischen, den. Ein Drittel seines jährlichen Kakaobe- dass sie die Welt retten wollen. darfs will das Unternehmen, das 1450 MitTrotzdem sind Unternehmen, die ihr arbeiter beschäftigt und 470 Millionen Euro Kerngeschäft auf den Prüfstand stellen und im Jahr umsetzt, darüber einmal abdecken. es konsequent auch an sozialen und ökoloNachhaltigkeit als Lebensversicherung. gischen Kriterien ausrichten, noch selten. Bei Ritter Sport hält man diesen Weg trotz „Die meisten schrecken davor zurück“, sagt aller Hürden für alternativlos. Typisch für Sabine Braun, die mit ihrer Münchner Agendie deutsche Wirtschaft ist das nicht. Zwar tur Akzente seit 24 Jahren Firmen berät. sind grüne Themen allgegenwärtig. Fast täg- „Eine Grundsensibilität ist vorhanden. Aber ich spüre auch eine große Verunsicherung.“ Nachhaltigkeit werfe „große Fragen“ auf. „Das betrifft alles – und damit muss man umgehen können.“ ZUM AUTOR Markus Löning sieht das ähnlich. „Bei alMarc Winkelmann len ist der Wille erkennbar“, sagt der eheist Chefredakteur von „enorm“, malige Menschenrechtsbeauftragte der Buneinem Magazin für desregierung, der sich mit einem Thinktank gesellschaftlichen Wandel und für Wirtschaft und Menschenrechte in Bernachhaltiges Wirtschaften. lin selbstständig gemacht hat. Viele Gewww.enorm-magazin.de schäftsführer würden sich jedoch schwer Twitter: @marcwinkelmann tun, weil Nachhaltigkeit abseits ihrer Pro-
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Entwicklungsarbeit: Für seine Öko-Plantage musste der schwäbische Schokoladenhersteller 70 Kilometer Straßen anlegen und 1,5 Millionen Kakaobäume pflanzen lassen.
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schläge verlangen. Bekommen sie diese nicht oder befallen Schädlinge die Pflanzen, was schnell passiert, ist die Ernte in Gefahr. In den letzten Jahren aber schlugen die Preise häufig auffällig stark aus, und selbst der Ritter-Sport-Chef zuckt mit den Schultern, wenn er darüber spricht. „Da blickt keiner in der Branche durch“, so Andreas Ronken. Sein Verdacht: Spekulationen. „Der Markt ist vergleichsweise klein. Hedgefonds können mit wenigen Hundert Millionen Euro viel beeinflussen.“ Zum anderen hat die globale Kakaobranche
den Bauern beziehen, nur noch nachhaltig zertifizierten Kakao kaufen und ihn in Nicaragua selbst anbauen. Dass die Firma bisher keine Ahnung davon hatte und sich in einem ursprünglich eher vom Kaffee geprägten Land niederlässt, dieses Risiko geht sie ein. OB DER PLAN AUFGEHT? Pedro Mora-
zán vom Bonner Südwind-Institut ist vorsichtig optimistisch. Der wissenschaftliche Mitarbeiter der entwicklungspolitischen Organisation war im März 2015 für zwei Wochen in Nicaragua, um das bisherige Engagement von Ritter Sport zu bewerten. Die Schwaben haben bereits 20 Jahre vor dem Kauf des Weidelandes begonnen, die Einwohner zu schulen und beim Aufbau des Kakaogeschäfts zu helfen. Für das bisher Geleistete bescheinigte Morazán Ritter Sport eine gute bis sehr gute „Relevanz“, „Effektivität“ und „Nachhaltigkeit“ des Projekts. Jetzt sagt er: „Ich traue es ihnen zu, Raubbau an ihren eigenen Bäumen betrie- die eigene Plantage mit der gleichen Ernstben und nicht in die Aus- und Fortbildung haftigkeit aufzubauen.“ der Kleinbauern investiert, die meist auf nur Wirtschaften im Einklang mit der Natur. zwei bis fünf Hektar wirtschaften. Die Folge: Dieser Gedanke ist alt. 1713 begründete Die Qualität der Ernten hat nachgelassen, Hans Carl von Carlowitz den Begriff der der Nachschub ist gefährdet. Viele Bauern, „Nachhaltigkeit“, als er mit Blick auf die in der Elfenbeinküste etwa, einem der welt- Forstwirtschaft mahnte, dass einem Wald größten Produzenten, geben das Geschäft nicht mehr Bäume entnommen werden dürfauf oder finden keinen Nachfolger. Ihre Kin- ten als nachwachsen. Vom Ertrag leben und der wenden sich dem Anbau lukrativerer nicht von der Substanz, darum ging es ihm. Pflanzen zu. Mit Beginn der industriellen Revolution Um sich davon unabhängig zu machen, geriet die Idee in Vergessenheit. Angefeuert hat Ritter Sport einen Dreipunkteplan ent- durch die Kohle führten Fabrikanten die Arworfen: Das Unternehmen will den Rohstoff beitsteilung und die maschinelle Fertigung künftig in noch größerem Maße direkt von ein, und die Wirtschaft wuchs: stärker als
„Nachhaltigkeit ist ein Pionierweg. Er kostet mehr, und man muss Hürden überwinden.“
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fession liege. „Sie haben sich mal auf Marketing, Controlling oder Finanzen spezialisiert und sollen ihr Unternehmen nun mit diesem ganzheitlichen Ansatz betrachten. Das führt zu Unbehagen.“ Ernst genommen werde das Thema aber sehr wohl, da sind sich Braun und Löning einig. Nur sehr wenige Firmen würden den allgemeinen Trend, die Berichte in den Medien, den Druck von Umweltorganisationen und die Nachfragen der Kunden noch leugnen. Zudem hätten das Pariser Klimaabkommen von 2015 und die „Sustainable Development Goals“ der Vereinten Nationen für noch mehr Aufmerksamkeit gesorgt und klar gemacht, dass gerade auch die westliche Welt noch viel zu tun hat. Waldenbuch bei Stuttgart. Hier sitzt Ritter Sport seit 1930, man kann die Anfänge noch an dem ursprünglichen Bau der Fabrik erkennen, der über die Jahrzehnte erweitert wurde. Im Inneren transportiert ein Geflecht aus Laufbändern den Kakao über mehrere Stockwerke, erst als Pulver, dann als zähfließende Masse, zum Schluss als eingeschweißte Schokolade. Dazwischen wird der Kakao erhitzt und abgekühlt, über Stunden in Trommeln veredelt und in quadratische Formen gegossen. Drei Millionen Tafeln produziert Ritter Sport nach eigenen Angaben täglich und braucht dafür im Schnitt drei Millionen Kakaofrüchte, 12 000 Tonnen Kakaomasse pro Jahr. Der Einkauf der wichtigsten Zutat ist zunehmend schwieriger geworden. Geschwankt hat der Kakaopreis an den Börsen zwar schon immer, weil die Bäume hohe Temperaturen und gleichbleibende Nieder-
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je zuvor und erstmals unabhängig vom Be- 100 Firmenvertretern spricht. „Bei denen völkerungswachstum. Der Kapitalismus kommt das gut an, die sagen selbst, ja, das breitete sich aus, die Globalisierung trug ihn ist unser Problem.“ um die Welt – und er brachte vielen MenTrotzdem entgegnen ihm viele, dass sie schen einen nie gekannten Wohlstand. Und keine Handlungsoptionen hätten. Brand: er verursachte einen bedrohlichen CO -An- „Stattdessen kommt es zu einer Verbrüde2 stieg. rung: Das Management, die Belegschaft und Wie schwer es Staaten fällt, diese Ent- die Gewerkschaften sprechen sich gemeinwicklung trotz aller Reden, Warnungen, Stu- sam gegen mehr Nachhaltigkeit aus, um die dien, Berichte, Konferenzen und Gesetze eigenen Arbeitsplätze nicht zu gefährden.“ umzukehren, zeigt sich selbst im EnergieEinen anderen Zielkonflikt erlebte auch wendeland Deutschland. Seit 2009 ist der der ehemalige Menschenrechtsbeauftragte Ausstoß von Klimagasen hierzulande prak- Löning kürzlich wieder. Er saß mit zwei Antisch nicht zurückgegangen – Unternehmen gestellten eines Konzerns zusammen. Der produzieren, Bürger konsumieren. Und erste aus der Unternehmensentwicklung Menschen leiden unter den Folgen. An die- sah die Chance, die Marke durch grüne Theser Spirale hat sich wenig geändert. men als zukunftsfähig zu positionieren. Der Ulrich Brand, Politikprofessor an der zweite, ein Einkäufer, hielt dagegen: Er könUniversität Wien, nennt das eine „imperiale ne nicht alle Umweltauflagen beachten und Lebensweise“. Mit diesem Begriff versucht sämtliche Mitarbeiter fair bezahlen – und er, Unternehmen wie Bürger zu provozieren zugleich die Rohstoffe in bester Qualität und und zum Nachdenken zu bewegen. Was zum niedrigsten Preis beschaffen. Wie es durchaus gelinge, so Brand, der von 2011 bis von ihm verlangt werde. 2013 Mitglied der Enquetekommission Bei Ritter Sport versuchen sie, diesem „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ des Dilemma mit Transparenz zu begegnen. Auf Deutschen Bundestags war. Etwa wenn er, dem Firmenblog erklärt die PR- und Marwie zuletzt Anfang des Jahres, bei einer Ver- ketingabteilung den Kunden, was das Unanstaltung seiner Hochschule vor mehr als ternehmen mit seiner Plantage in Nicaragua
VIDEO: Nachhaltiger Kakaoanbau in Nicaragua spiegel.de/sw022017kakao
vorhat und warum mehr Nachhaltigkeit Geld kostet. Ganz freiwillig passiert das jedoch nicht. Weil die Kosten insbesondere für Nüsse anstiegen und die betroffenen Sorten Verluste einfuhren, musste Ritter Sport in die Offensive gehen und die Preise vor einem Jahr zum Teil um 20 Cent pro Tafel anheben. Was zu Diskussionen unter den Mitarbeitern führte. Andreas Ronken: „Die möchten natürlich nicht, dass wir Experimente mit ihren Arbeitsplätzen durchführen.“ ORTSWECHSEL. Wer zu Antje von De-
witz will, muss über sanfte Hügel und vorbei an Bauernhöfen, einmal führt die Straße auch mitten durch einen Hof. Tettnang liegt ein paar Kilometer vom Bodensee entfernt, es ist der angemessene Sitz für einen Outdoorausrüster wie Vaude. Vor dem Eingang, über einer Boulderwand, surrt eine Drohne, gesteuert von drei Männern am Boden. Sie
Weitblick: Schon vor mehr als 20 Jahren hat das Unternehmen begonnen, einheimische Bauern zu schulen.
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drehen einen Imagefilm, der später im Netz laufen soll. Ihre Arbeit macht neugierig: Die Kinder der firmeneigenen Kita nebenan drängeln sich am Fenster, um einen Blick auf das Flugobjekt zu bekommen. Die Chefin trägt Jeans und Pullover und begrüßt im Großraumbüro im zweiten Stock, wo auch ihr Schreibtisch steht. Knapp zehn Jahre ist es her, dass Dewitz verkündete, der nachhaltigste Produzent von Jacken, Zelten, Fahrradtaschen und anderen Sportartikeln werden zu wollen. Sie hat Vaude 2009 von ihrem Vater, dem Gründer, übernommen, ihre Schwestern sind immer noch beteiligt, haben mit dem Tagesgeschäft aber nichts zu tun. Heute hat Vaude 500 Mitarbeiter, produziert zum Teil noch in Tettnang, macht geschätzte 100 Millionen Euro Umsatz und gilt als glaubwürdiges Vorbild. Der Mittelständler wurde mehrfach ausgezeichnet, Dewitz ist eine gefragte Rednerin. Parteien aller Lager rufen sie an, Universitäten, der Bundesverband der Deutschen Industrie. Alle wollen wissen, wie das mit der Nachhaltigkeit geht. Und, vor allem, wie man damit Geld verdient. Eine einfache Formel hat sie nicht. Wenn sie über das Erreichte und ihre künftigen Pläne spricht, klingt vor allem eins durch:
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viel Arbeit. „Nachhaltigkeit ist ein Pionierweg. Er ist anstrengend, kostet mehr, und man muss große Hürden überwinden.“ Selbst bei so etwas wie einem Rucksack. Aus 150 Teilen setze der sich zusammen, sagt sie, „bei jedem einzelnen Teil muss ich fragen, wer es gefertigt hat und wie die Arbeitsbedingungen sind – um die Lieferkette dann sauber aufstellen zu können“.
„Die Mitarbeiter müssen hinter dem Plan stehen, sonst geht er nicht auf.“ Keine leichte Aufgabe, gerade im Outdoorsektor. Um ihre Materialien wind- und wetterfest zu machen, forschten die Hersteller lange gar nicht erst nach natürlichen Verfahren. Stattdessen setzten sie auf günstigere Chemikalien, die sich jedoch nachweislich in der Natur ablagerten. So grün, wie ihre Werbung suggeriert, ist die Branche nicht. Um zu belegen, dass Vaude anders handelt, begann das Unternehmen früh, sein
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Engagement zu dokumentieren. Die Nachhaltigkeitsberichte sollten bei den Kunden zu mehr Glaubwürdigkeit führen und auch nach innen wirken. Das klappte zunächst aber nicht. Bei den Mitarbeitern in dem hemdsärmelig geprägten Unternehmen waren die Berichte unbeliebt, denn es mussten bergeweise Daten erhoben und Fakten akribisch zusammengetragen werden. Für Vaude war das eine kritische Phase. Die Belegschaft zweifelte an den Plänen und sah in den Vorgaben kaum mehr als eine zusätzliche Belastung zur täglichen Arbeit. Dewitz war aber auf sie angewiesen. „Die Mitarbeiter müssen hinter dem Plan stehen, sonst geht er nicht auf. Nachhaltigkeit ist zu komplex, man braucht möglichst viele Köpfe zum Mitdenken.“ Mit Überzeugungsarbeit gelang es der Geschäftsführerin schließlich, den von ihr angestoßenen Prozess fortzusetzen. Damit künftig mehr Firmen diesen Weg einschlagen, hat das EU-Parlament vor drei Jahren die „CSR-Richtlinie“ beschlossen. Im März wandelte die Bundesregierung sie in nationales Recht um, und das Gesetz verlangt nun, dass „kapitalmarktorientierte Unternehmen“ mit mindestens 500 Mitarbeitern ab sofort zusätzlich zum Geschäftsauch einen „nicht-finanziellen“ Bericht er-
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Lernkurve: Für die Pflege der anspruchsvollen Kakaobäume musste der Schokoladenhersteller sich Expertenwissen über pH-Werte und Kompostierung aneignen.
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Eigene Mannschaft: Indem es den Anbau selbst betreibt, will sich Ritter Sport unabhängig von schlechten Ernten und Turbulenzen auf dem Kakaomarkt machen.
stellen müssen. Welchen Standard die Firmen dafür nutzen, schreibt das Gesetz nicht vor. Sie heißen „EMAS“, „UN Global Compact“, „ISO 26000“, „Global Reporting Initiative“ oder „Deutscher Nachhaltigkeitskodex“ und haben alle das Ziel, Nachhaltigkeit in Kennzahlen zu übersetzen und vergleichbar zu machen. Eine weitere Möglichkeit ist die Gemeinwohlbilanz, die auf den weitreichenden Ansatz der Gemeinwohlökonomie zurückgeht. Ein Ansatz, der sich als alternative Wirtschaftsordnung versteht und von einer Gruppe von Attac-Aktivisten um den Österreicher Christian Felber initiiert wurde. Anhand einer Matrix fragt die Gemeinwohlbilanz, wie es in einem Unternehmen um Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, demokratische Mitbestimmung und Transparenz steht. Maximal 1000 Punkte können Teilnehmer erreichen. Vaude kommt auf 502 Punkte. Für Antje von Dewitz war es eine logische Folge, neben anderen Berichten auch eine Gemeinwohlbilanz vorzulegen. Es reizt sie, nicht nur nach den Emissionswerten zu fragen, sondern auch infrage zu stellen, auf welchem Weg die Mitarbeiter zur Arbeit kommen (und als Alternative Leih-E-Bikes und
eine Reparaturwerkstatt inklusive „Schlauchomat“ anzubieten), öffentlich zu machen, wie ökologisch der Messestand ist, und die Legitimierung der Führungskräfte zu diskutieren. KRITIKERN GEHT DAS ZU WEIT. Sie werfen den Initiatoren der Gemeinwohlökonomie vor, eine Art Räterepublik anzustreben, in der Auserwählte der Mehrheit vorschreiben, was zum Gemeinwohl zu zählen hat. Zudem befürchten sie, dass der Wettbewerb zwischen Unternehmen – ein Pfeiler der Marktwirtschaft – außer Kraft gesetzt und durch vermehrte Kooperationen ersetzt werden soll. So radikal das Konzept der Gemeinwohlökonomie ist, es findet Gehör. Nach Angaben der Initiatoren unterstützen es inzwischen mehr als 2000 Unternehmen; sogar erste Konzerne wie die Otto Group, MAN, Deutsche Post DHL, E.on und DM prüfen in einem Forschungsprojekt der Universitäten Flensburg und Kiel die Übertragbarkeit auf ihre Organisationen. Bereits im Herbst 2015 sprach sich der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss in Brüssel mit großer Mehrheit dafür aus, das Modell in der EU einzuführen. Begründung: „Die Gemeinwohlökonomie wird als praxistaugli-
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ches Modell erachtet, das europäische Werte stärkt, den sozialen Zusammenhalt festigt und ein verantwortliches Wirtschaftssystem fördert.“ Egal, welchen Bericht Unternehmen bevorzugen: Berater Markus Löning hält das CSR-Gesetz für einen großen Ansporn. „Vor dem Gesetz erstarren immer alle“, so der ehemalige FDP-Bundestagsabgeordnete. „In drei, vier Jahren werden wir sehen, dass das viel bewirkt hat.“ Die Münchner AkzenteGründerin Sabine Braun ist skeptischer. Für einflussreicher als die staatlichen Vorgaben hält sie die zunehmenden Nachfragen der Kunden und auch die Rankings der Ratingagenturen. Trotz mancher Fehlurteile in der Vergangenheit: Im September 2015 kürte der „Dow Jones Sustainability Index“ Volkswagen zum nachhaltigsten Automobilkonzern. Ein paar Tage später flog der Dieselskandal auf – und die Agentur musste ihren Fehler eingestehen und VW aus ihrem Ranking werfen. Dennoch: Der Druck, der von vielen Seiten aufgebaut wird, hätte bereits einiges erreicht, so Braun. Die Chemiebranche sei inzwischen „nicht schlecht aufgestellt“, ähnliches gelte für den Automobilsektor, und auch in den Handel sei viel Bewegung gekommen. „Nur die Finanzbranche ist mo-
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mentan zu sehr mit sich selbst beschäftigt.“ Das gelingt allerdings nur, wenn die Mit- zeigt, dass wir damit kein Geld verdienen“, Dabei könnte sie als Schlüsselbranche viele arbeiter und der Nachwuchs entsprechend sagt sie und lacht. Aber die Idee sei eine „orEntwicklungen beeinflussen. ausgebildet sind. Ulrich Brand von der Uni- ganische Weiterentwicklung“, entspreche Braun sieht allerdings noch ein anderes versität Wien hält das für einen kritischen den Werten des Unternehmens und der Problem. Viele Manager geben derzeit der Punkt, bei dem „unglaublich viel im Argen Kunden – „und deswegen will ich schauen, Digitalisierung den Vorrang. „Es herrscht liegt“. „In der universitären Lehre spielt wohin uns das Projekt führt“. pure Nervosität in den Unternehmen. Sie Nachhaltigkeit viel zu selten eine Rolle. Es Andreas Ronken muss bei Ritter Sport glauben, sehr schnell reagieren zu müssen, derweil die firmeneigene Plantage zum Laudamit die Konkurrenz nicht davonzieht, und fen bringen. Dabei helfen soll auch ein halten Nachhaltigkeit deshalb für weniger „Fruchtschneider“. Er geht nach nebenan wichtig.“ Zum Teil kann Braun das nachvollund zeigt ein Video der Erfindung, die sich ziehen. Natürlich dürften Unternehmen seine Ingenieure ausgedacht haben. Im Film nicht pleitegehen, sondern müssten finanist zu sehen, wie ein Mitarbeiter in Nicaraziell handlungsfähig bleiben. Andererseits gua Kakaofrüchte auf eine rotierende Scheikennt sie Nachhaltigkeitsmanager, die kein be kippt und diese auf einem Laufband aufGehör mehr finden und verzagen. „Dabei geschlitzt werden, damit eine Trommel die sollte Nachhaltigkeit doch grundsätzliche weiße Pulpa im Inneren mitsamt der KakaoWerte liefern, auch für die Digitalisierung geht um Wachstum, Gewinne und Wettbe- bohnen herausschleudern kann. eines Unternehmens.“ werbsfähigkeit, und daran konnte auch die Gewiss, Hightech ist das nicht. Vielleicht Geht es also zu langsam voran mit der Krise der letzten Jahre nicht rütteln.“ Hört genau deswegen aber eine ArbeitserleichteNachhaltigkeit? „Den Gedanken verbiete ich man sich an Hochschulen um, dann sind es rung. Auf den Kakaofeldern geht manches mir“, sagt Braun, räumt dann aber doch ein, die VWL- und BWL-Studierenden selbst, bis heute nämlich noch archaisch zu: Die dass sie sich immer mal wieder ärgert. die versuchen, über alternative Wirtschafts- Bauern schlagen die Früchte mit Macheten Fragt man Markus Löning nach der Ge- modelle und eine plurale Ökonomik zu dis- auf. „100 Mal klappt das gut, beim 101. Mal schwindigkeit des gesellschaftlichen Wan- kutieren. In den Lehrplänen vorgesehen ist trifft das Messer die Hand“, sagt Ronken. dels, sagt er: „Natürlich geht es nie schnell das kaum. Jetzt testen sie, wie der Fruchtschneider angenug voran.“ Aber er verweist dann gleich Für Vaude-Chefin Antje von Dewitz ist kommt. Und machen eine weitere neue Erauf Länder wie Vietnam und Bangladesch, es wichtig, immer mal wieder Experimente fahrung. Aber man lernt ja nie aus. Selbst in denen er gesehen hat, zu welch positiven zu wagen, um zukunftsfähig zu bleiben. Ei- nach 105 Jahren nicht. Veränderungen Unternehmen beitragen im nen dieser Versuche will sie in wenigen WoLeben der Einwohner. Mehr als 70 Nationen chen starten: einen Mietservice für Outdoorhat er als Politiker bereist, von staatlicher ausrüstung. Kunden sollen sich Zelte oder Wie aufwendig es ist, Unternehmen zu nachHilfe, die schnell wieder gekappt werden Fahrradtaschen für einen Urlaub oder Wohaltigem Wirtschaften zu bewegen, wurde kann, hält er wenig. „Unternehmen können chenendausflug ausleihen können. Nutzen Marc Winkelmann bei der Recherche noch viel nachhaltiger wirken als Entwicklungs- statt kaufen – rentabel ist das vorerst nicht. mal deutlich. Trotzdem glaubt er, dass kein Weg daran vorbeiführt. hilfeprojekte.“ „Selbst unsere wohlwollendste Prognose
Neuland: Ende 2017 soll die Plantage die erste Ernte abwerfen – drei Jahre später als geplant.
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„Unternehmen können viel nachhaltiger wirken als Entwicklungshilfeprojekte.“
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CAROLIN WAHNBAECK F OTO S NORMAN KONRAD
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Palmöl ist in Verruf geraten – es gilt als Vernichter des Regenwaldes und Klimasünder. Doch würde ein Boykott den Orang-Utan und das Klima retten?
MANCHMAL IST DER TEUFEL braun, weich und süß. Er riecht nach Kakao und Vanille. Er steht in fast jedem Supermarkt, fast jedem Haushalt, auf fast jedem Frühstückstisch. Die Deutschen lieben ihn – und essen ihn auf Brot oder auch pur. Die Rede ist von Nutella. Aber diese Liebe ist mit einem schlechten Gewissen verbunden. Spätestens seit die französische Umweltministerin Ségolène Royal im Sommer 2015 zum Nutella-Boykott aufrief, gilt der Schokoladenaufstrich als Umweltzerstörer, als Teufel, als Klimasünder. Denn Nutella, so die Argumentation von Royal, enthalte Palmöl. Und Palmöl sei verantwortlich für die rasante Zerstörung des Regenwaldes. Für das Aussterben des Orang-Utans. Und den Klimawandel. Das stimmt – und es stimmt nicht. Wahr ist, dass Palmöl eine wesentliche Zutat von Nutella ist. Ebenso stimmt, dass der wachsende Palmölanbau zum größten Treiber der Regenwaldvernichtung in Indonesien geworden ist, wo der Orang-Utan lebt. Aber: Weder ist Palmöl per se ein schlechtes Öl – zumindest nicht aus Umweltperspektive. Noch ist Nutella der Hauptverbraucher von Palmöl. Und Ferrero, der Konzern hinter der Marke Nutella, taugt kaum als der größte Bösewicht unter den Giganten der palmölverarbeitenden Industrie. Vielmehr bemüht sich Ferrero ziemlich glaubhaft, nachhaltigeres Palmöl einzukaufen. Das belegen sogar die Palmölbewertungen der Umweltorganisationen Greenpeace
oder WWF: Dort schneidet Ferrero in der besten Kategorie ab. Die Lage ist, wie immer, deutlich komplizierter. Tatsächlich hat das Öl der Ölpalme, botanisch Elaeis guineensis, in den vergangenen 25 Jahren einen Siegeszug angetreten. Die Anbauflächen in den Tropen haben sich seit 1990 verzehnfacht, auf eine Fläche so groß wie Neuseeland. Der Verbrauch von Palmöl ist von 15 Millionen Tonnen im Jahr 1995 auf 61 Millionen im Jahr 2015 gestiegen, wie Zahlen von OVID, dem Verband der ölsaatenverarbeitenden Industrie in Deutschland, belegen. Heute ist Palmöl vor Sojaöl das wichtigste Pflanzenöl weltweit. Malaysia und Indonesien sind mit mehr als 85 Prozent der Weltproduktion die wichtigsten Anbauländer. Und der Bedarf wächst: Bis 2025 wird ein weiterer Anstieg um 38 Prozent auf 86 Millionen Tonnen jährlich erwartet. Allein Indonesien könnte dem WWF zufolge seine Plantagenflächen bis 2020 auf 20 Millionen Hektar fast ver-
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doppeln. Viel wird dann vom Urwald auf Borneo oder Sumatra nicht mehr übrig sein. DER GRUND FÜR DEN BOOM: Die Öl-
palme ist die effizienteste Ölpflanze der Welt – und damit extrem billig. Ein Hektar Palmölplantage produziert vier bis sechs Tonnen Palmöl pro Jahr. Um die gleiche Menge Rapsöl zu erzeugen, benötigt man etwa die zweieinhalbfache Fläche, für Sojaöl sogar sechsmal so viel. Damit verbraucht eine Tonne Palmöl viel weniger Urwald als die anderen gängigen Öle – ein großer ökologischer Vorteil. Auch die Konsistenz ist gefragt: Palmöl ist bei Raumtemperatur fest und streichfähig. Deshalb ist Nutella so cremig. Mit Kakaobutter würde Nutella hart wie Schokolade, mit Sonnenblumenöl flüssig. Das geschmacksneutrale Palmöl ist damit vielseitig einsetzbar. Das Problem: Die tropische Ölpalme ist derart gefragt, dass sie trotz ihrer Effizienz schnell immer mehr Flächen braucht. Und das zerstört den Regenwald.
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Die Zerstörung kann man mit bloßem Auge sehen, zum Beispiel auf verrauchten Satellitenbildern von Borneo. Denn die indonesische Urwaldinsel brennt: Durch – meist illegale – Brandrodungen werden neue Anbauflächen für Palmölplantagen geschaffen. Jedes Jahr zur Trockenzeit frisst sich das Feuer tiefer in den extrem artenreichen Urwald von Borneo oder Sumatra hinein, Heimat der letzten Orang-Utans, Zwergelefanten und Sumatra-Tiger. Heute ist die Insel nur noch zur Hälfte bewaldet. „Palmöl ist zum Symbol für die Ausrottung des Orang-Utans geworden“, sagt Ilka Petersen, Palmölexpertin beim WWF. Indonesien ist nach den USA und China zum drittgrößten CO -Emittenten der Welt aufgestie2 gen. „Rund 30 Prozent davon gehen auf das Konto des Palmöls“, sagt Petersen. Zu spüren bekommen dies auch die Menschen. Ureinwohner und Kleinbauern werden oft brutal von ihrem Land vertrieben, 700 Landkonflikte stehen nach Angaben der Organisation „Rettet den Regenwald“ in Zusammenhang mit der Palmölindustrie. Und: Die schlechte Luft macht die Menschen krank. Im Herbst 2015 etwa, als der El-NiñoEffekt die Waldbrände zusätzlich anheizte, warnte Singapur wiederholt vor Aktivitäten im Freien. Malaysia schloss Hunderte Schulen, Touristenflieger zum thailändischen Urlaubsparadies Koh Samui fielen wegen schlechter Sicht aus.
„Wer wirksam den Regenwald retten will, sollte weniger Fleisch essen.“
HEUTE STECKT PALMÖL in fast jedem zweiten Supermarktprodukt. Egal ob Margarine, Tiefkühlpizza, Tütensuppen, Eiscreme, Lippenstift, Kerzen, Reinigungsmittel oder eben Nutella: Palmöl ist der Schmierstoff der modernen Produktindustrie. Laut der Fachagentur für Nachwachsende Rohstoffe gehen gut zwei Drittel des weltweit verfügbaren Palmöls in die Lebensmittelherstellung, 27 Prozent in Kosmetik, Wasch- und Reinigungsmittel und die restlichen 5 Prozent in die Energiegewinnung. Essen und verheizen wir Verbraucher also den Regenwald? Tatsächlich konsumieren wir tagtäglich Palmöl, ohne es zu merken. Trotzdem: Der weitaus größte Teil des Palmöls wird lokal, also in Asien, als Speisefett zum Kochen und Braten verbraucht. Indien und Indonesien sind die größten Verbraucher, erst an dritter Stelle stehen die 28 EU-Länder, dicht gefolgt von China. Unter den EU-Ländern fällt Deutschland allerdings besonders ins Gewicht: Im Schnitt konsumieren wir etwa das Doppelte des weltweiten Durchschnitts. Das liegt jedoch nicht an unserem Hunger auf Nutella,
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Ob Kajal, Seife, Nutella: Wir konsumieren tagtäglich Palmöl, ohne es zu wissen.
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sondern vor allem an unseren Bioenergieanlagen und am Biosprit; sie verbrauchen hierzulande 45 Prozent des Palmöls. Biosprit als der wahre Klimakiller? „CO - und 2 Methanemissionen sorgen dafür, dass der aus Palmöl produzierte Biosprit dreimal so klimaschädlich ist wie Treibstoff aus Erdöl“, so Rettet den Regenwald.
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NUTELLA IST ALSO NICHT der Haupt-
schuldige, ein Boykott würde wenig bringen. Trotzdem lohnt ein Blick auf die Lieferkette des Schoko-Nuss-Brotaufstrichs. Nach eigenen Angaben bezieht Ferrero seit 2015 zu 100 Prozent Palmöl, das nach den Prinzipien des „Roundtable on Sustainable Palm Oil“ (RSPO) zertifiziert ist. Damit weiß Ferrero genau, von welchen – als nachhaltig zertifizierten – Plantagen sein Palmöl stammt. Rund 17 Prozent des weltweit produzierten Palmöls sind inzwischen nach dem vom WWF gegründeten RSPO-Standard zertifiziert. Unter den Mitgliedern steht eine große Marktmacht von über 1300 Palmölproduzenten, Händlern, Konsumgüterherstellern, Retailern und Banken einer kleinen Minderheit von 48 Nichtregierungsorganisationen gegenüber. Auch Ilka Petersen vom WWF gibt zu, was der RSPO ist: „ein freiwilliger Mindeststandard, mehr nicht“. Zwar haben sich die Mitglieder geeinigt, keine Regenwälder und Torfmoore in Plantagen umzuwandeln, dafür Tier- und Pflanzenarten zu schützen, Kleinbauern einzubinden, Kinderarbeit zu verbieten und autorisierte Prüfer auf die Plantagen zu lassen. Doch: Umgesetzt davon, so die anhaltende Kritik, werde wenig. Reines „Greenwashing“ sei der RSPO, findet Rettet den Regenwald, also der Versuch, sich ein umweltfreundliches grünes Mäntelchen umzuhängen. „Certifying Destruction“, die Zerstörung zertifizieren, so hat Greenpeace sogar einen RSPOReport genannt. Immerhin hat der Druck auf den RSPO dazu geführt, dass einige Mitglieder an härteren Kriterien arbeiten. So entstand die „Palm Oil Innovation Group“, in Deutschland das „Forum Nachhaltiges Palmöl“. Ferrero macht bei beiden Initiativen mit. Das Ziel: den RSPO mit „sehr anspruchsvollen Standards“ zu verbessern, damit „Palmöl nicht mehr in Verbindung mit Abholzung“ stehe und keine Menschenrechte verletze, so Ferrero. Doch die Zeit rennt. Mittelfristig scheint der RSPO zu schwach, um die Regenwaldzerstörung aufzuhalten. Was rettet ihn dann? Antworten findet man ausgerechnet im Allgäu. Am Rande des beschaulichen baye-
rischen Dorfes Legau ragt ein Rapunzel- dazu gibt es Kranken- und Sozialleistungen. turm in die Höhe. Ein knapp 20 Meter lan- „Wir haben die Landflucht in diesem Gebiet ger Zopf flattert im Wind. Darum gruppie- umgekehrt“, so Leson. ren sich Bürogebäude, Lager- und ProdukUm das Öl aus den Früchten zu gewintionshallen, Kantine, Laden, Kino und ein nen, werden sie in einem holzbefeuerten Museum. Dies ist die Firma Rapunzel, ein Dampfkessel weich gegart, dann in einer Biopionier der ersten Stunde – und Verar- Schraubenpresse ausgepresst, Faser und beiter von Palmöl. Kerne abgeschieden und die ölhaltige Masse In der Produktionshalle drückt gerade mit Wasser aufgekocht. Dabei setzt sich das ein Kolbenabfüller in dicken braunen Strah- klare, dunkelrote Palmöl oben ab. „Mit unlen den Schoko-Nuss-Aufstrich „Samba“ in serer vielen Handarbeit verstoßen wir geacht Gläser gleichzeitig. Das cremige Fett gen viele Regeln des modernen Wirtschafdarin: Palmöl. Weitere Maschinen schrau- tens“, sagt Leson. Dafür werde der Produkben im Akkord Deckel auf, ziehen die Luft tionsablauf gut organisiert, die Ölausbeute aus den Gläsern, kleben Etiketten an. Klir- ständig erhöht und viel Energie in die Quarend fahren die Gläser in die Kühlung, wer- litätssicherung gesteckt. „Zum Glück haben den in Kartons verpackt und auf Paletten wir langfristige Abnehmer.“ gestapelt, fertig zum Abtransport in die BioTatsächlich kostet das Serendipalmläden der Republik. Palmöl etwa doppelt so viel wie konventio„Samba“ ist seit 26 Jahren der Klassiker nelles Palmöl. RSPO-Palmöl hat dagegen unter den Bio-Schoko-Aufstrichen. Neu da- nur einen Aufschlag von ein bis zwei Prozugekommen vor acht Jahren: Bionella. zent. „Das ist vielen Käufern in Asien aber „Der Name ist kein Zufall“, sagt Sven Hub- schon zu teuer. Die Preispolitik ist beim bes, Produktentwickler bei Rapunzel. Auch Palmöl extrem hart“, sagt Leson. das Etikett mit der dick beschmierten Weißbrotscheibe spielt eindeutig auf den berühm- ALS GLOBALER REGENWALDRETTER ten Konkurrenten an. „Mit Bionella wollen taugt das bio-faire Serendipalm-Öl damit wir Nutella zeigen: Es geht auch bio und wohl nicht, es ist zu teuer und liefert viel fair“, erklärt Hubbes. Denn: „Palmöl per se zu kleine Mengen: etwa ein Tausendstel eiist ein gutes Öl, auch aus Umweltperspekti- ner großen konventionellen Palmölplantage. ve. Man muss es nur richtig anbauen.“ „Konzepte wie Serendipalm mit ihrer BetoDas geschieht bei „Serendipalm“, dem nung auf Handarbeit lassen sich nicht beliePalmölbetrieb in Ghana, der an Bionella lie- big skalieren“, sagt auch Leson. Seine Hofffert. Hier mischen sich Mini-Biopalmölfelder nung setzt er daher in stärker automatisierte mit Kakao-, Zitrus- oder Bananenanbau. Betriebe. Diese könnten den Bioanteil am Mehr als 600 Biokleinbauern liefern an Se- Weltpalmölbedarf in Zukunft steigern, der rendipalm. Aus der Luft erinnert das Gebiet zurzeit bei nur etwa einem Prozent liegt, an einen unregelmäßigen Flickenteppich. Di- Tendenz in Deutschland immerhin steigend. rekt nebenan: eine riesige Palmölmonokultur Vielleicht hilft es bei der Suche nach Antmit schnurgeraden Palmenreihen – die Flä- worten, die Perspektive zu weiten. Während che erinnert an eine grüne Wüste. Palmöl global auf einer Fläche von etwa 27 Auf den Serendipalm-Feldern wird fast Millionen Hektar wächst, wird Soja auf 120 alles von Hand erledigt: Die Bauern schnei- Millionen Hektar angebaut. Diese Fläche ist den die Büschel voller dattelgroßer, dunkel- also rund viermal so groß. Und 80 Prozent roter Ölfrüchte mit einem Messer an einem des Sojas landen im Futtermehl – für die langen Stab ab, denn die Früchte wachsen Fleischproduktion. hoch am Stamm. Mit einem Beil werden die Wer wirksam den Regenwald retten will, Fruchtbüschel in einzelne Stücke zerlegt sollte daher vor allem weniger Fleisch essen. und in eine große, offene Halle gebracht. Und wer gegen das deutsche Palmöl etwas „Dort spielt sich bei uns das Leben ab“, sagt tun will, sollte weniger Biosprit tanken und Gero Leson, Gründer und Mitgeschäftsfüh- weniger Auto fahren. Und, nicht zuletzt: rer von Serendipalm. 150 Frauen schälen „Müssen es wirklich 1,5 Kilo Nutella & Co. hier die Ölfrüchte, sortieren die schlechten sein?“, fragt Petersen. So viel kakaohaltige aus und säubern die guten. „Diese 150 Jobs Brotaufstriche essen die Deutschen nämlich könnte man mit einer einzigen Maschine durchschnittlich – jedes Jahr. vernichten“, meint Leson. Doch genau das wollen Leson und seine Firma, der kalifornische Naturseifen- und Kosmetikhersteller Erleichtert war Carolin Wahnbaeck, dass Dr. Bronner’s, nicht. Er zahlt sogar 20 ProNutella nicht als Teufel taugt. Trotzdem zent mehr Lohn als in der Region üblich, kauft sie jetzt auch Bionella für ihre Töchter.
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Atomkraft? Jein danke! DIE BRITEN GELTEN als eigenwilliges
Deutschland steigt aus der Kernenergie aus. Andere Staaten bauen Reaktoren. Wieso? TEXT
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Volk. Im vorigen Juni votierte die Mehrheit der Bevölkerung für den „Brexit“, den Ausstieg aus der Europäischen Union. Und im September besiegelte Regierungschefin Theresa May den Neueinstieg des Vereinigten Königreichs – in das Atomzeitalter. May unterzeichnete einen Vertrag über den Bau von zwei neuen Kernenergiereaktoren, der erste Neubau eines Atomkraftwerks seit zwei Jahrzehnten. In Hinkley Point an der Küste Südenglands sollen ab 2019 Druckwasseranlagen einer neuen technischen Baureihe entstehen. Damit könnte ab 2026, so der Plan, neuer Atomstrom in die britischen Energienetze fließen. Der Standort des Kraftwerks wird schon lange für die Kerntechnik genutzt. 1965 wurden dort zwei Reaktoren in Betrieb genommen, die 2000 vom Netz gingen, weil sie alt und anfällig geworden waren. Zwei weitere Reaktoren, in den Siebzigerjahren errichtet, sollen 2022 ausgemustert werden. Es ist also Zeit für Ersatz. Doch gibt es für diese Art der Energiegewinnung überhaupt noch Bedarf? Die Briten sind nämlich mit anderen Energiequellen bestens versorgt: Es gibt reichlich Erdgas und Öl, und auch der Wind bläst an den Küsten kräftig. Dennoch, so die Regierung, werde das Projekt Hinkley Point C einen wichtigen Beitrag zur künftigen Energieversorgung mit geringer Kohlendioxidbelastung leisten. Die konservative britische Führung, sonst stets auf nationale Unabhängigkeit bedacht, schreckt für dieses Ziel auch nicht davor zurück, das Vorhaben ausgerechnet vom französischen Atomkonzern EDF, einem Betreiber von Atomanlagen weltweit, und einer chinesischen Staatsfirma ausführen zu lassen. EDF-Chef Jean-Bernard Levy feierte die Vertragsunterzeichnung denn auch begeistert als „Wiedergeburt der Atomkraft in
AKG-IMAGES, SCIENCE PHOTO LIBRARY / AKG IMAGES, OAK RIDGE NATIONAL LABORATORY / US DEPARTMENT OF ENERGY / SCIENCE PHOTO LIBRARY / AKG-IMAGES
ENERGIEPOLITIK
Europa". Auch die deutsche Atomindustrie schaute neidisch: „Die britische Energiepolitik macht deutlich, dass die Kernenergie international eine Rolle beim Klimaschutz spielt“, lobte Ralf Güldner, Präsident des Deutschen Atomforums, die Entscheidung. Doch hierzulande hat die Atomenergie keine Zukunft mehr. Der Bundestag hat nach der Katastrophe in Japan, bei der es nach einem Erdbeben und einer Flutwelle im März 2011 in drei Reaktorblöcken des Atomkraftwerks Fukushima zu Kernschmelzen kam, den beschleunigten Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen. Bis Ende 2022 müssen alle Atomkraftwerke in Deutschland stillgelegt werden. Längst nicht alle Staaten ziehen jedoch diese Konsequenzen aus dem Super-GAU in Fernost. Von den 17 Staaten in Europa, die derzeit Atomkraftwerke betreiben, wollen sich nur drei aus dieser Technik zurückziehen. Die Internationale Atomenergiebehörde sieht die globale Entwicklung sogar positiv. Bis 2030 würden die weltweiten Kapazitäten der Kernkraftwerke um mindestens 1,9 Prozent wachsen, haben die Experten in Wien errechnet. Vor allem in Asien seien Zuwächse zu erwarten. ISOLIERT SICH also Deutschland durch
den Ausstieg? Kommt es gar zu der von der Atomlobby herbeigesehnten Renaissance der Kernenergie? Sicher nicht, sagt Mycle Schneider. „Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen sind neue Reaktoren nicht mehr realisierbar“, sagt der Pariser Nuklearexperte und Träger des alternativen Nobelpreises. Eine Zukunft habe die Technik nur dort, wo Regierungen die Atomwirtschaft mit viel Staatsgeld am Leben hielten. Seit Langem sammelt Schneider Informationen über den weltweiten Bestand an Anlagen. Gemeinsam mit Kollegen gibt er einmal im Jahr den „World Nuclear Industry Status Report“ heraus. Demnach waren Anfang dieses Jahres zwar 406 Atomkraftwerke am Netz, zehn mehr als im Jahr zuvor. Aber doch deutlich weniger als 2002, dem Jahr des bisherigen Höchststands: Damals zählten die Experten 438 Anlagen. Zudem sind nicht nur die Anlagen in Hinkley Point alt und tendenziell störanfällig. Weltwelt ist der atomare Kraftwerkspark relativ betagt. In Europa etwa liefert jeder Meiler statistisch gesehen schon seit drei Jahrzehnten Energie. Es ist also zu erwarten, dass in den kommenden Jahren mehr Anlagen aus Altersgründen vom Netz gehen, als neue hinzukommen. Dabei stehen selbst die im vergangenen Jahr fertiggestellten Reak-
toren nicht gerade für eine Modernisierung. Fünf der neuen Anlagen gingen in China ans Netz, je ein Kraftwerk in Indien, Pakistan, Russland, Südkorea und den USA. Die meisten dieser Anlagen basieren auf alten Planungen, was angesichts der langen Bauzeiten dieser Projekte keine Überraschung ist. Ein besonders krasses Beispiel ist der 2016 fertiggestellte Reaktor Watts Bar Unit 2 im US-Bundesstaat Tennessee. Bereits 1973 rollten für das Vorhaben die ersten Bagger an. 1985 wurden die Bauarbeiten wegen eines Bestechungsskandals eingestellt. Erst 2007 wurde das Projekt schließlich wiederbelebt – Gesamtbauzeit: 43 Jahre. Die damalige US-Regierung unter George W. Bush unterstützte die Vollendung des Kraftwerks, weil sie darin einen Beitrag gegen den Klimawandel sah. Doch auch diese Entscheidung hat die Atomenergie in den USA nicht wirklich beflügelt. Derzeit sind gerade einmal vier weitere Atomkraftwerke in Bau, mit einer Fertigstellung wird in diesem Jahrzehnt kaum noch gerechnet. Die Zurückhaltung in den USA und anderen Staaten hat freilich nicht damit zu tun, dass dort Atomkraftgegner die Mehrheit hätten. Auch die Reaktorkatastrophe in Japan hat eine schon vorher aufkommende Erkenntnis nur verstärkt: Der Traum vom billigen Atomstrom wird sich nicht bewahrheiten. Gerade in den USA scheitern viele Pläne an den Kosten. Für neue Anlagen müssen gewaltige Investitionen gestemmt werden, die durch wachsende Sicherheitsauflagen immer weiter steigen. Dabei gibt es genug günstiges, mittels Fracking gewonnenes Erdgas, und die Preise für Solaranlagen und Windrotoren sind stark gesunken. „Die Atomkraft ist eine Technologie der Vergangenheit, die ohne Subventionen nicht wettbewerbsfähig war“, urteilt deshalb Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, „sie wird es auch niemals sein.“ Ähnlich sieht das der SPD-Politiker Sigmar Gabriel. „Heute ist der Bau von Atomkraftwerken die teuerste Form, mit der man die Stromproduktion organisieren kann“, betonte er im Dezember im Deutschen Bundestag, damals noch Bundeswirtschaftsminister. So muss auch die britische Regierung für ihre neuen Atompläne tief in die Staatskasse greifen, beziehungsweise in die Taschen der Stromkunden. Das Vorhaben Hinkley Point C gilt mit kalkulierten Kosten von rund 21,5 Milliarden Euro derzeit als das teuerste Bauprojekt auf der Insel. Um überhaupt Investoren dafür zu gewinnen, sicherte ihnen die Regierung über 35 Jahre hinweg einen
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In den Fünfzigern hatte die Kernkraft noch Zukunft: Atombaukästen (l.), Bunkervorräte (o.) und ein „Atome für den Frieden“-Bus
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„Weltweit steht noch kein einziges Endlager für den Abfall aus Reaktoren.“
Abnahmepreis für den Strom von mehr als 100 Euro pro Megawattstunde plus Inflationsausgleich zu. Das ist deutlich mehr, als Strom derzeit auf der Insel kostet. Selbst im stolzen Atomland Frankreich, das drei Viertel seines Strombedarfs mit Kernenergie deckt, hat sich die Situation in jüngster Zeit gewandelt. Auch dort sind die Kraftwerke alt und anfällig, immer wieder verunsichern Pannen in den Reaktoren die Bürger, die Kosten steigen und steigen. Auf den ersten Blick scheint zumindest in Asien das radioaktive Geschäft zu blühen. Dort setzen trotz der Erfahrungen in Japan noch zahlreiche Staaten auf diese Energieform. Dabei hätten sie gerade bei ihrem asiatischen Nachbarn beobachten können, dass ein Land auch ohne Atomstrom überleben kann. Nach dem Unfall von Fukushima schal-
tete Japan nämlich alle 48 Reaktoren ab, ohne dass die Lichter im Land ausgegangen wären. Aber selbst die Japaner wollen nicht ganz auf Atomenergie verzichten, inzwischen ist ein kleiner Teil der Meiler wieder in Betrieb. Besonders ehrgeizig scheint das Atomprogramm Chinas: 37 Kraftwerksblöcke sind dort derzeit in Betrieb, rund 20 weitere sollen bis Ende des Jahrzehnts noch dazu kommen. Angesichts des Energiehungers des Riesenreichs macht sich die Atomenergie jedoch kaum bemerkbar – nur drei Prozent des Strombedarfs werden derzeit durch Atomstrom gedeckt. Der Anteil der erneuerbaren Energien ist dagegen in Chinas Netzen rund zehnmal so groß. Längst schon investieren die Chinesen in diesen Bereich wesentlich mehr, auch weil sich diese Vorhaben schneller realisieren lassen. FÜR LÄNDER WIE CHINA und Russland geht es bei der Atomtechnologie allerdings nicht nur um die eigene Energieversorgung, sondern auch um geostrategische Interessen und das Erschließen neuer Märkte. In Afrika liefern sich die beiden Länder einen Exportwettlauf. China etwa baut Atomkraftwerke in Kenia und dem Sudan. Russland will in Nigeria und Ägypten zum Zug kommen. Um die neuen Anlagen überhaupt bezahlen zu können, müssen die Länder Milliardenkredite bei den Anbietern aufnehmen und sich in Abhängigkeit begeben.
Was bei den Deals in der Regel kaum eine Rolle spielt, ist die Frage, was einmal mit den Anlagen geschieht, wenn sie ausgedient haben, und wo der bei der Stromproduktion entstehende Atommüll entsorgt werden soll. Weltweit steht noch kein einziges Endlager für den hochaktiven Abfall aus den Reaktoren. Vor allem am Ende von Reaktorlaufzeiten wird es richtig kostspielig. Das erfuhren in den vergangenen Monaten auch in Deutschland die Atomkonzerne. Gerade einigten sie sich mit der Bundesregierung darauf, dass sie 47 Milliarden für das Ende des Atomzeitalters hierzulande hinblättern müssen. Die eine Hälfte ist erforderlich, um die Kraftwerke abzureißen und den Müll zu verpacken. Die andere Hälfte fließt in einen staatlichen Fonds, mit dem der Staat die Suche und Unterhaltung eines Endlagers für Atommüll finanzieren will. Bis 2031 soll der Ort gefunden sein, an dem Strahlenfracht tief unten in der Erde für eine Million Jahre sicher verstaut werden kann. Ob das Geld im Fonds für die Suche und Einlagerung reicht, werden die Steuerzahler erst in ein paar Jahren wissen. Sie müssen dann womöglich die restlichen Milliarden zahlen.
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Michael Fröhlingsdorf hat schon vor rund 30 Jahren in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn gegen Atomkraft demonstriert.
Atomkraft global Reaktoren weltweit
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IN BAU
IN BETRIEB
IN PLANUNG*
davon in NORDAMERIKA KANADA ..........19/0/2 MEXIKO ............2/0/0 USA ..................99/4/18
SÜDAMERIKA ARGENTINIEN .. 3/1/2 BRASILIEN........ 2/1/0
Reaktoren in Betrieb nach Alter
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unter 10 Jahre
10 bis unter 20
20 bis unter 30
30 bis unter 40
40 Jahre und mehr
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EUROPA ARMENIEN.................1/0/1 BELGIEN.....................7/0/0 BULGARIEN ...............2/0/1 DEUTSCHLAND..........8/0/0 FINNLAND .................4/1/1 FRANKREICH.............58/1/0 GROSSBRITANNIEN..15/0/4 NIEDERLANDE...........1/0/0 RUMÄNIEN ................2/0/2 RUSSLAND.................35/7/25 SCHWEDEN ...............9/0/0 SCHWEIZ ...................5/0/0 SPANIEN ....................7/0/0 SLOWAKEI .................4/2/0 SLOWENIEN...............1/0/0
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ASIEN CHINA ..........36/21/40 TSCHECHIEN...........6/0/2 INDIEN .........22/5/20 UNGARN .................4/0/2 IRAN.............1/0/2 UKRAINE.................15/0/2 JAPAN ..........42/2/9 WEISSRUSSLAND ..0/2/0 PAKISTAN ....4/3/0 SÜDKOREA ..25/3/8 AFRIKA TAIWAN .......6/2/0 SÜDAFRIKA ...2/0/0 VA E ..............0 /4 /0
* nur Planung: Ägypten (2) Bangladesch (2) Indonesien (1) Jordanien (2) Kasachstan (2) Polen (6) Türkei (4) Vietnam (4) Quellen: IAEA, World Nuclear Association, Stand: März 2017
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Revolution auf den Feldern Annette Bruhns über die Notwendigkeit, unsere Nahrung ohne Agrargifte herzustellen – als Rezept gegen Hunger, Artenschwund und Klimawandel
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ILKA & FRANZ
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VIDEOBLOG: Weniger Fleisch, mehr Leben
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ir haben 100 Jahre gebraucht, die Chemie in die Landwirtschaft einzubringen. Wir werden sie deutlich schneller loswerden“, verkündete José Graziano da Silva, Direktor der Welternährungsorganisation (FAO), bei seinem Amtsantritt 2012. Eine nachhaltige Landwirtschaft ist weltweit möglich – und sogar bitter nötig. Wir brauchen dringend eine echte grüne Revolution auf den Feldern. Denn wenn wir so weitermachen wie bisher, haben wir am Ende womöglich alle nichts mehr zu beißen. Die gute Nachricht: Die Umstellung ist zu schaffen, ohne dass deshalb mehr Menschen hungern müssten. Das zumindest legen die Bilanzen der FAO nahe. Dekade um Dekade steigt die produzierte Kalorienmenge; 2010 lag sie bei 5359 Kilokalorien täglich pro Erdenbewohner – doppelt so viel, wie ein Mensch zum Leben braucht. Wenn alle Landwirte der Welt jetzt auf öko umstellten, hätten – rein rechnerisch – alle immer noch genug zu essen, denn moderne Biobauern erwirtschaften im Schnitt nur 20 Prozent weniger Erträge als ihre konventionellen Kollegen. Wenn wir gleichzeitig damit aufhörten, Lebensmittel zu verschwenden, hätten wir sogar mehr Nahrung als heute zum Verzehr. Ein Drittel aller erzeugten Lebensmittel wandert nämlich in den Müll. In den weniger entwickelten Ländern verderben sie auf dem Weg zum Verbraucher, in den Industrieländern vor allem in den Haushalten. Dass heute immer noch Kinder erbärmlich verhungern, dass mehr als einer Milliarde Menschen zu wenig gesunde Nahrung zur Verfügung steht – das liegt also nicht direkt an einem Mangel an Lebensmitteln. Beispiel Südsudan: In diesem fruchtbaren Land hat die FAO gerade eine Hungersnot ausgerufen. Die Menschen dort sind nicht zu faul, ihre Tiere zu hüten und ihre Felder zu bestellen – sie flie-
MIKE SEGAR / REUTERS
S A L A T Siebeneinhalb Milliarden Menschen werden Prognosen zufolge im Jahr 2050 in Städten leben – so viele, wie sich heute insgesamt auf der Erde drängen. Könnte man sie alle mit Gemüse ernähren, das vor Ort gedeiht, in künstlich beleuchteten Gewächshochhäusern, ohne Erde, ohne Pestizide und ohne giftige Abwässer? Das ist die Vision des Mikrobiologen Dickson Despommier von der Columbia University in New York. Sein Manifest „The Vertical Farm“ erschien 2010; Untertitel: „Die Welt im 21. Jahrhundert ernähren“. Heute bewähren sich erste Hochhausfarmen am Markt. Vorreiter sind Industrieländer, die auf Lebensmittelimporte angewiesen sind: Singapur, Südkorea und Japan. „In Japan hat der Nuklearunfall in Fukushima Konsumenten sensibilisiert“, erklärt Christine Zimmermann-Lössl von der „Association for Vertical Farming“ in München, einem Non-Profit-Verein, in dem sich neben Studenten auch Konzerne
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spiegel.de/ sw022017fleischlos
hen vor Krieg und Verfolgung. Oder die Jahrhundertdürre, die derzeit Ostafrika heimsucht: Lebensbedrohlich wird sie vor allem für Menschen in ohnehin instabilen Regionen wie dem von Bürgerkriegen zerrissenen Somalia. Weltweit heißen heute die Hungergeißeln Krieg, Flucht und Dürren – gefolgt von Landraub, Rohstoffspekulation sowie Agrarsubventionen. Als etwa die USA 2011 die staatlichen Zuschüsse für Pflanzentreibstoffe strichen, sank sofort der Maispreis – eine spürbare Entlastung für die Armen von Mittelamerika bis nach Ostafrika. Gefahr aber droht nicht nur den Armen. Gefahr droht uns allen. Weil wir eben nicht umsteuern, sondern stoisch auf eine industrielle Landwirtschaft setzen. Das ist die schlechte Nachricht. Insektizide und Herbizide bedrohen alle Ökosysteme. Viele Pflanzenschutzmittel reichern sich im Grundwasser an, darunter solche, die Krebs auslösen oder das Erbgut schädigen können. Toxisch sind aber auch Nitrate und Phosphate: Nährstoffe, die Landwirte ihren Pflanzen künstlich zusetzen, damit sie besser wachsen. Bei Überdüngung fließen sie unkontrolliert in die Gegend und sorgen überall für hemmungsloses Wachstum: In Flüssen, Seen, Meeren droht dann der Erstickungstod. Erst kürzlich hat die EUKommission Deutschland wegen zu hoher Nitratbelastung des Grundwassers verklagt. Düngemittel und Pestizide haben zusammen die Landwirtschaft verändert. Als es Anfang des 20. Jahrhunderts deutschen Chemikern gelungen war, Stickstoff aus der Luft für Kunstdünger zu gewinnen, erlebten die ersten Anwender ihr grünes Wunder:
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Arugula in Vertikalfarm
wie MetroGroup, Ikea oder Osram engagieren. „Vertikal angebautes Gemüse ist rückstandsfrei, regional und schmeckt köstlich“, sagt die Aktivistin, „es ist besser als bio.“ Ständig wird die Nährstofflösung im Pflanzenwasser überwacht; rote und blaue LED-Beleuchtung sorgt für optimale Fotosynthese.
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Die neueste Technik setzt die US-Firma Aerofarms in Newark ein. Während Vertikalfarmer meist mit Hydrokulturen arbeiten, in denen die Pflanzen etwa in Kokossubstrat statt in Erde wachsen, baumeln die Wurzeln in Newark frei in der Luft und werden direkt mit Wasser besprüht. Das senkt den Wasserverbrauch noch mal um 70 Prozent gegenüber dem Hydrosystem, das seinerseits bereits 70 Prozent Wasser spart gegenüber üblicher Landwirtschaft. In Bezug auf ihre Wasser-, Boden- und Düngemittelbilanz sind vertikale Farmen unschlagbar. Weniger nachhaltig ist ihr Energiehunger, auch wenn die kurzen Transportwege zum Verbraucher einiges wettmachen. Die effiziente Newarker Salatfabrik hält ihr Patent geheim. Aerofarms-Geschäftsführer David Rosenberg sinnierte kürzlich vor einem Journalisten: „Es wird Jahre dauern, bis die Welt dort ist, wo wir jetzt schon sind.“ Annette Bruhns
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ür Landwirte mindestens so verheerend ist, dass viele Chemikalien immer weniger wirken. Ungräser wie Windhalm, Weidelgras oder Flughafer sind resistent geworden gegen viele der gängigen Herbizide. In manchen Gegenden Englands kann kein Weizen mehr angebaut werden, weil der Ackerfuchsschwanz, ebenfalls ein Gras, allen Mitteln trotzt. Verzweifelt greifen Bauern weltweit zu immer mehr und immer giftigeren Präpa-
P L Ä D O Y E R Als vor 100 Jahren die Fälle von Lungenkrebs sprunghaft zunahmen, tippten einige Gelehrte sofort auf die neumodischen Zigaretten als Ursache. Dass Tabak Tumore auslöst, wurde schon lange diskutiert. Viele Ärzte, oft selbst Raucher, winkten jedoch ab und nannten als mögliche Auslöser Mangelernährung, Grippe oder Abgase. Erst 1962 galt das Krebspotenzial von Zigaretten als erwiesen. Bis dahin hatten sich Millionen zu Tode gequalmt. Ähnliches scheint sich angesichts des massenhaften Bienensterbens jetzt zu wiederholen. Schon 1962 warnte die Amerikanerin Rachel Carson in ihrem Ökoklassiker „Der stumme Frühling“ vor den immensen Gefahren von Insektiziden und Herbiziden für die Tierwelt. Doch auch wenn das sehr populäre Pestizid DDT als Reaktion darauf in den USA und anderen Industrieländern verboten wurde: Bis heute werden die meisten Agrarpflanzen mit Insektengiften behandelt. Es kann schließlich nicht sein, was nicht sein darf: dass Insektizide auch nützliche Insekten töten. Nein, heißt es, am Bienensterben sei womöglich fehlende Nahrung schuld, vielleicht auch Parasiten wie die Varroamilbe, Dürre oder ein von
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„Hoher Fleischkonsum gefährdet die Umwelt und die Gesundheit.“ raten. Die Hersteller leugnen die Krise nicht. Der Agrarriese Bayer räumt mittlerweile öffentlich ein, dass es immer schwerer werde, Pestizide gegen die schier unbesiegbaren Unkräuter zu entwickeln, die nicht zugleich die Nutzpflanzen schädigen. Die neue Revolution auf den Feldern, die wir so dringend brauchen, darf sich nicht nur grün nennen. Angefangen hat sie ja längst: Europas Biobauern verzichten auf Nitratdünger und lösliche Phosphate. Sie setzen stattdessen auf eine natürliche Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit – etwa durch Fruchtfolgen mit Hülsenfrüchten als Stickstoffquelle, aber auch durch Düngung mit Kompost oder Mist. Die nachweisliche Verbesserung des Bodens durch diese Art der Bewirtschaftung stärkt wiederum die Pflanzen gegen unerwünschten Befall. Biobauern kommen ohne Pestizide aus. Sicher, bei der Fleischproduktion entstünden Engpässe. Tiere aus artgerechter Haltung brauchen für ihre Aufzucht deutlich mehr Platz – und der Anbau von Sojafutter für das Vieh der Ersten Welt in den Regenwäldern der Dritten Welt ist sowieso weder nachhaltig noch gerecht. Echter Mangel drohte dem wohlgenährten Industriebürger dadurch aber nicht, eher im Gegenteil. Der
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Honigbiene
Imkern verfütterter Sirup. Und von einem globalen Bienensterben könne man sowieso nicht sprechen. Erst wenn ein direkter Zusammenhang mit einem Insektizid nachgewiesen werden kann, folgen, mit großer Verzögerung, gesetzliche Verbote. Und zwar von einzelnen Produkten, für bestimmte Anbauar-
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B I E N E ten, zeitlich befristet. Die Nutzung von 3 der mehr als 100 zugelassenen Insektizide in der EU wurde wegen erwiesener Bienentoxizität auf Raps-, Mais- und Sonnenblumenfeldern untersagt – für vier Jahre. Gleichzeitig muten die Behörden Europas fleißigen Bestäubern derzeit einen großen Freilandtest zu. Im Herbst wurde das Insektizid Cyantraniliprol zugelassen – obwohl die Europäische Lebensmittelbehörde festgestellt hatte, dass die Chemikalie tödlich für Bienen sein kann, allerdings „nur“ auf frisch gespritzten Apfelblüten. Niemand weiß genau, warum in Europa, den USA oder China so viele Bienen sterben. Die Erforschung ist schwierig, schon weil man kaum feststellen kann, wie die Belastung durch Umweltstress und Insektizide im Laufe eines Bienenlebens kumuliert, sodass die geschwächten Pollensammler anfälliger sind für tödliche Krankheitserreger oder Gifte. Aber müssen wir es wirklich ganz genau wissen? Können wir nicht einfach beschließen: Es ist höchste Zeit, ganz mit der Spritzerei aufzuhören? Schaden wird es weder den Bienen – noch uns. Annette Bruhns
ROBERT EIKELPOTH / GALLERY STOCK, ULLSTEIN BILD
Der Nitratdünger ließ auch Unkräuter wuchern und macht die überdüngten Pflanzen für Schadinsekten wie Blattläuse attraktiv. Erst durch die Entwicklung von Pestiziden konnten diese unerwünschten Nebenwirkungen eingedämmt und dadurch auch die Erträge auf den Feldern spürbar gesteigert werden. Jahrzehntelang sorgte das Insektizid DDT maßgeblich für die Erfolge der sogenannten Grünen Revolution. Heute sterben allerdings weit mehr Insekten als erwünscht. Probenstandorte im Rheinland melden einen Rückgang des Insektenaufkommens von 70 bis 90 Prozent (siehe Kasten unten). Das ist alarmierend; den Totalverlust der Krabbel- und Flugtierchen würde die Menschheit nicht überleben. Insekten sichern die Welternährung; ein Drittel aller Feldfrüchte sind auf die Bestäubung durch Bienen, Hummeln oder Schmetterlinge angewiesen. Auch Böden würden ohne die segensreiche Bearbeitung durch Käfer und Ameisen massiv an Fruchtbarkeit einbüßen.
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Professional Applications“, kurz: Inapro. Enthohe Fleischkonsum in vielen westlichen LänWEITERLESEN wickelt wurde die Aqua-Hydro-Kultur am dern gefährdet nicht nur die Umwelt, sondern FELIX ZU LÖWENSTEIN: „Es Leibniz-Institut für Gewässerökologie und auch die Gesundheit. ist genug da. Für alle. Wenn wir Binnenfischerei in Berlin. Dort heißt das ProFür die Zukunft brauchen wir aber nicht den Hunger bekämpfen, nicht jekt „Tomatenfisch“: Mit dem nährstoffreinur den Verzicht auf Agrargifte, sondern auch die Natur“. Knaur; 144 Seiten; chen Abwasser einer Fischkultur werden ToInnovationen. Jahr für Jahr nimmt die Welt12,99 Euro. matensträucher gedüngt; das im Gewächsbevölkerung zu. Experten wie Charles Godfray, haus kondensierte Wasser fließt anschlieDirektor des „Oxford-Martin-Programms für ßend zurück in die Fischtanks. Das spart die Zukunft der Ernährung“, plädieren für eine nicht nur sehr viel kostbares Süßwasser – nur drei Prozent gehen „nachhaltige Intensivierung“: höhere Erträge auf dem bisherigen im Kreislauf verloren –, es spart auch Kunstdünger und braucht Agrarland, aber umweltfreundlich erzeugt. Das sei ein „durchaus keine Pestizide. radikales“ Konzept, räumt der Oxford-Professor ein: Es erfordere Überhaupt ist die Wasserbilanz von Fischen deutlich besser kombinierte Anstrengungen von Ökoproduzenten und Forschern. als die von Fleisch. Ein Kilo Rindfleisch verbraucht in der HerKleinbauern, Fischer und Gärtner bilden das Rückgrat der glostellung 15 000 Liter Wasser, ein Kilo Huhn 3000 Liter – während balen Lebensmittelproduktion; sie erzeugen rund zwei Drittel ein Kilo Fisch aus herkömmlicher Aquakultur nur 1000 Liter bedessen, was weltweit auf die Teller kommt. Dass sich gerade für nötigt. „Dieser Verbrauch lässt sich mit unserer Methode auf 100 sie Nachhaltigkeit lohnen kann, zeigt sich etwa auf den PhilippiLiter reduzieren“, sagt der Berliner Gewässerökologe Werner Klonen. 30 000 Bauern gehören dort der Organisation „Masipag“ (zu as. Weltweit experimentiert Inapro mit verschiedenen Fisch- und Deutsch: „Fleiß“) an, bei der Landwirte gemeinsam mit WissenGemüsearten: In Berlin und in Spanien werden Buntbarsche aufschaftlern nachhaltige Anbauweisen erproben. Sie stellen ihr Saatgezogen, in Belgien Zander und in China Flusskrebse – plus Togut selbst her, nutzen alte Varietäten und züchten sogar gegen maten, Kräuter, Salat und Ginseng. Überflutung robuste Reissorten. Die Zukunft der Landwirtschaft gehört smarten Gewächshäusern, sagen Forscher – weil in ihnen mit wenig Ressourcen ei einem Vergleich von 280 Masipag-Bauern mit 280 konviel produziert werden kann (siehe Kasten auf Seite 127). „Mit ventionell wirtschaftenden Kollegen stellte sich nach der Tomatenfisch-Methode“, so der Berliner Kloas, „kann der zwei Jahren heraus, dass die Erträge beider Gruppen Atmosphäre sogar CO2 entzogen werden, zur Düngung des Geetwa gleich hoch waren. Damit hatten sich die Masipag-Methoden als effizienter erwiesen: Sie brauchten weder mit hohem müses.“ CO2-Aufwand hergestellten Kunstdünger noch Pestizide. Auch Eine neue Landwirtschaft als Klima- und Wasserretter – das finanziell standen die Ökokleinbauern wegen dieser Ersparnisse wäre dann die grün-blaue Revolution. Hoffentlich werden wir sie besser da. Darüber hinaus waren die Masipag-Familien gesünder, noch erleben.
[email protected] weil ihre Ernährung sich aus einer größeren Pflanzenvielfalt speiste. Biodiversität ist das natürliche Immunsystem der Erde. Nachhaltige Intensivierung durch technisch ausgeklügelte InAnnette Bruhns ärgert sich darüber, dass sie als EU-Bürgerin eine Landnovation verspricht das EU-Projekt „Innovative Aquaponics for wirtschaft subventionieren muss, die (ihr) mächtig stinkt.
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Stefan Buhr DRUCK appl druck GmbH, Wemding OBJEKTLEITUNG Manuel Wessinghage GESCHÄFTSFÜHRUNG Thomas Hass © SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, Mai 2017 ISSN 1868-4378
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