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Das deutsche Nachrichten-Magazin
Hausmitteilung Betr.: Titel, Balkanflüchtlinge, SPIEGEL WISSEN
Norwegen für Entdecker
D
ie Bayern. Man liebt sie, oder man hasst sie. Ein Dazwischen gibt es nicht. Und die Bayern bemühen sich mit so merkwürdigen Projekten wie der Maut oder dem Betreuungsgeld nach Kräften, ihren Status als Sonderlinge zu festigen. Warum ist der deutsche Süden so – anders? Und kann das so weitergehen? Diesen Fragen gehen die Autoren der TitelNeumann Knobbe geschichte nach, Conny Neumann und Martin Knobbe, beide selbst bayerischer Herkunft. Knobbe resümiert: „Bayern ist längst nicht mehr der Musterschüler der Nation, es ist bunter und widersprüchlicher geworden, bleibt dabei aber selbstbewusst bis arrogant wie eh und je.“ Das sind Attribute, die sicher auch für Franz Josef Strauß galten, dessen Geburtstag sich im September zum 100. Mal jährt. Der SPIEGEL widmet der CSU-Ikone zwei sehr unterschiedliche Texte: Gunther Latsch und Klaus Wiegrefe berichten über die Veröffentlichung bislang unbekannter Akten, die belegen, wie sich Strauß von Unternehmen hat schmieren lassen. Und Jan Fleischhauer würdigt „Bayerns zerrissenen König“ Seiten 12, 18, 26 als politische Urgewalt, wie sie heute fehlt.
Der Moment ist jetzt
s gibt keinen Krieg mehr auf dem Balkan, mehrere Länder der Region gelten als sichere Herkunftsstaaten. Trotzdem haben in diesem Jahr über 80 000 Menschen vom Westbalkan in Deutschland Asyl beantragt, nach den Syrern sind Kosovaren und Albaner die größte Flüchtlingsgruppe. Kaum jemand von ihnen Kuntz, Tafaj wird bleiben dürfen. Vor welchem Leben laufen sie davon? Die Antwort kann so einfach und zwingend sein wie jene von Mali Tafaj, einem jungen, gebildeten Albaner, den Katrin Kuntz im Dorf Novosej traf: „Es gibt hier keine Arbeit.“ Tafaj hat Forstwirtschaft studiert, er kann, so Kuntz, „alle Bäume um sich herum auf Latein benennen“. Die Arbeitslosigkeit in Albanien beträgt etwa 30 Prozent, und auch Tafaj will sich bald nach Deutschland aufmachen, er hat einen Plan: „Ich möchte einen deutschen Park pflegen.“ Im Kosovo recherchierte Susanne Koelbl, in Serbien Walter Mayr; sie hörten ähnliche Geschichten. Was sie nicht hörten, waren anerkannte Asylgründe – aber sehr verständliche Erklärungen Seite 82 für die Suche nach einem besseren Leben.
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in Tuareg-Mann am Rande der Sahara, eine Putzfrau in Deutschland, ein amerikanischer Meister der Meditation: Diese drei Menschen, unter anderen, hat ein Team von SPIEGEL WISSEN befragt, um Wege zu einem erstrebenswerten Zustand zu beschreiben: Gelassenheit. Das neue Heft berichtet von einem Besuch bei Jon Kabat-Zinn, dem Erfinder der westlichen Achtsamkeitslehre, beschreibt Methoden gegen den Stress, erzählt vom „Flow“, vom Tantra-Yoga, vom Segen der Langeweile – und vom Lesen als Medizin gegen alles, was im Alltag quält. Die neue Ausgabe ist ab Dienstag, 25. August, im Handel.
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Tel. (040) 874 086 10 DER SPIEGEL 35 / 2015
3
(Mo – Fr: 9 – 20 Uhr, Sa: 9 – 18.30 Uhr, So: 10 – 18.30 Uhr)
*Frühbucher-Preis, limitiertes Kontingent; Foto: Erika Tiren
FOTOS: SEBASTIAN WIDMANN / DER SPIEGEL (O. R.); ELIE GARDNER / DER SPIEGEL (M.)
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Migration 800 000 Menschen könnten bis Ende des Jahres Asyl in Deutschland beantragen. Woher kommen sie, und was bedeutet die Massenflucht für die Bundesrepublik? Reportagen vom Balkan, woher mehr als ein Drittel der Asylbewerber stammt, und von der Insel Kos, auf der Tausende Migranten gestrandet sind. Dazu ein Bericht über die Hilflosigkeit der Regierung – und Teil V der Flüchtlingsserie: Unternehmer, die Einwanderer als Chance sehen. Seiten 30, 58, 82, 88
Flüchtlinge auf Kos
Gefährliche Geburt
Abschwung global
Spieler auf Entzug
Kliniken Ob eine Frau am besten im Hospital, im Geburtshaus oder daheim entbindet, darüber ist in Deutschland eine Grundsatzdebatte entbrannt. Im SPIEGEL-Streitgespräch diskutieren die Hebamme Martina Klenk und der Gynäkologe Volker Ragosch. Seite 46
Weltwirtschaft Die Schwellenländer waren über zwei Jahrzehnte die Treiber der Globalisierung. Jetzt geraten bisherige Wachstumswunder wie China, Brasilien oder Russland gleichzeitig in die Krise. Die Folgen der Turbulenzen werden auch in Deutschland zu spüren sein. Seite 66
Psychologie Computerspielsüchtige Jugendliche schwänzen die Schule und bauen körperlich stark ab. In einem Wohnheim in Dortmund bringen Therapeuten den Abhängigen bei, sich aus den Traumwelten zu befreien – durch Einzelgespräche, Sport und Entzug. Seite 106
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Titelbild: Collage DER SPIEGEL; Fotos Visum, AP, dpa (4), imago (5), vario-image, Wolfgang M. Weber; Foto Umklapper: dpa
FOTOS SEITE 4: ANGELOS TZORTZINIS / DER SPIEGEL (O.); PETER BANOS / MCPHOTO / OKAPIA (U. L.); STEPHEN SHAVER / POLARIS / STUDIO X (U. M.); ULLSTEIN BILD (U. R.); SEITE 5: THOMAS SAMSON / AFP (O.); MICHAEL UKAS / ACTION PRESS (M.); JULIAN HARGREAVES / SONY CLASSICAL (U.)
Die große Wanderung
In diesem Heft Titel Volkskunde Hinreißend schön, übermäßig
anstrengend: Wie Bayern dem Rest der Republik auf die Nerven geht 12 CSU Warum ein Franz Josef Strauß in der Politik fehlt – eine Würdigung zum 100. Geburtstag des bayerischen Übervaters 18 Zeitgeschichte Neu aufgetauchte Akten belegen, dass Franz Josef Strauß sich von Unternehmen schmieren ließ 26
Deutschland Leitartikel Amazon und die Arbeitswelt der Zukunft 6 Bundeshaushalt deutlich im Plus / BNDMitarbeiter sollen sich enttarnen / Deutschland trickst bei der Nitratbelastung / Kolumne: Der schwarze Kanal 8 Flüchtlinge Wie die Regierung ihre Versäumnisse in der Asylpolitik mit Aktionismus wettmachen will 30 Der Kieler Umweltminister Robert Habeck will die Liste sicherer Herkunftsstaaten abschaffen 32 Stars SPIEGEL-Gespräch mit Til Schweiger über sein umstrittenes Engagement für ein Flüchtlingsheim, den Umgang mit Kritik und seinen neuen Freund Sigmar Gabriel 34 Europa Der Streit um die Rolle des IWF bei der Griechenlandrettung geht weiter 38 CDU Kohls Spendenaffäre kehrt zurück 40 Nachruf Egon Bahr (1922 bis 2015) 41 NSA Berlin täuschte die Öffentlichkeit monatelang über die amerikanische Antwort zu der umstrittenen Spähliste 42 Landschaftspflege Springer-Chef Mathias Döpfner hat eine öffentliche Grünfläche neben seinem Grundstück absperren lassen 43 Lebensmittel Eine Meeresbiologin wollte ethisch korrekten Kaviar produzieren – mit zweifelhaften Methoden 44 Kliniken Im SPIEGEL-Streitgespräch diskutieren die Hebamme Martina Klenk und der Gynäkologe Volker Ragosch über die beste und sicherste Geburt 46
Gesellschaft Sechserpack: Die Hölle der Nachbarschaft / In Hessen vermieten sie jetzt Hühner 50 Eine Meldung und ihre Geschichte Eine mutige Mutter sucht in Indien einen Bräutigam für den eigenen geschundenen Sohn 51 Lebensträume Der ewige Abenteurer Rüdiger Nehberg kämpft gegen die Genitalbeschneidung und um sein Lebenswerk 52 Homestory Eine Warnung an alle, die glauben, ihre Digitalfotos hätten bleibenden Wert 57
Serie Teil V: Arbeitsmarkt Die deutsche Wirtschaft
sieht im Zustrom der Flüchtlinge eine Chance für Wachstum und Wohlstand 58 Zuwanderung Siemens-Personalvorstand Janina Kugel fordert mehr Arbeitsmigration 62
Wirtschaft Subventionen des Bundes steigen wieder / Muss die Industrie auf Privilegien bei Stromgebühren verzichten? / Spanische Billig-Airline ärgert die Lufthansa 64 Weltwirtschaft Schwäche der Schwellenländer wird zur Gefahr für Deutschlands Industrie 66 Affären Strafanzeige gegen RAG-Konzern wegen Giftstoffen im Grubenwasser? 69
Verbraucher Ausländer müssen in vielen
Ländern mehr zahlen als Einheimische
70
Aufsichtsrat und Management ist gestört Internet Google-Sicherheitschef Gerhard Eschelbeck räumt im SPIEGEL-Gespräch Versäumnisse beim Datenschutz ein Schmuck Kunden sollen künftig faires Gold kaufen können
72
Deutsche Bank Das Verhältnis zwischen
74 78
Ausland Der chinesische Journalist Yu Chen über die Katastrophe von Tianjin / Marine Le Pens Kampf gegen ihren Vater 80 Balkan Junge Albaner, Kosovaren und Serben glauben nicht an eine Zukunft in ihrer Heimat – und machen sich auf in den Norden 82 Migration Das Drama auf der Insel Kos 88 Griechenland Was wird aus der Regierungspartei Syriza nach der Ankündigung von Neuwahlen? 91 Großbritannien Der radikale Sozialist Jeremy Corbyn hat die besten Chancen, nächster Labour-Chef zu werden 94 Global Village Warum Japan chinesische Praktikanten ins Land holt 96
Christine Lagarde Freundschaftlich nennt Kanzlerin Merkel ihr Verhältnis zur Chefin des IWF, obwohl sie bei der Eurorettung selten einer Meinung sind. Die beiden Machtfrauen halten zusammen – auch auf Kosten der eigenen Leute. Seite 38
Sport Schauspieler Thomas Thieme über seine Filmrolle als Uli Hoeneß / Wahre Liebe – die deutsche Autorennationalmannschaft und ihr Buch über Borussia Dortmund 99 Doping Wie DDR-Sportmediziner junge Turnerinnen mit Anabolika klein hielten 100 Leichtathletik Vorzeigeathlet aus Katar: der Weltklasse-Hochspringer Mutaz Barshim 103
Wissenschaft Viagra für Frauen hilft nur dem Hersteller / Wetterexperte Jörg Kachelmann will Do-it-yourself-Vorhersagen anbieten 104 Psychologie Wie computerspielsüchtige Jugendliche therapiert werden 106 Faktencheck Wespen – aggressiv wie nie? 109 Essay Karl Lauterbach über neue Krebsmedikamente und Fehler der Pharmaindustrie 110 Tiere Anti-Fress-Training soll Vierbeiner vor tödlichen Ködern schützen 112
Kultur Rüdiger Safranski über die Zeit / Salma Hayek als Märchenkönigin / Kolumne: Besser weiß ich es nicht Musik DJs sind die Popstars von heute – und der Berliner Paul Kalkbrenner ist die Nummer eins der Charts Essay Deutschland braucht ein neues Nationalkonzept Klassik Weltruhm und Wagner, Puccini und Sex – SPIEGEL-Gespräch mit dem Tenor Jonas Kaufmann Religion Navid Kermani über die Weiblichkeit Gottes in Islam und Christentum Literaturkritik Miranda Julys Debütroman „Der erste fiese Typ“ Bestseller Impressum, Leserservice Nachrufe Personalien Briefe Hohlspiegel / Rückspiegel
Til Schweiger Der Schauspieler hat sich tatkräftig in die Flüchtlingsdebatte eingemischt und wurde dafür im Netz angefeindet. Im SPIEGEL-Gespräch wehrt er sich und spricht über seine wiedererstarkte Verbindung zur SPD. Seite 34
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Jonas Kaufmann
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Er ist der zurzeit erfolgreichste deutsche Klassikkünstler. Der Tenor aus München erklärt im SPIEGEL-Gespräch, wie penibel er seine Karriere plant und warum er immer noch von seinem Beruf „verzaubert“ ist. Seite 122
Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ
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Das deutsche Nachrichten-Magazin
Leitartikel
Amazons Roboter
S
chon wieder Amazon! Als Kunde des Onlinehändlers hat man sich ja schon mit einigem abgefunden: dass der Konzern die Arbeiter in seinen Logistikcentern schlecht behandelt und den Buchhandel kaputt macht; dass er die Innenstädte veröden lässt, Verlage drangsaliert und ohnehin schon mies bezahlte Kurierfahrer bald durch Lieferdrohnen ersetzen möchte. Doch nun muss man sein Konsumentengewissen auch noch damit belasten, dass in Amazons Managementzentralen die Menschenverachtung regiert. Mitarbeiter, die an Krebs erkrankt waren, wurden angeblich wegen schwacher Leistung unter Druck gesetzt. Eine Frau, die eine Fehlgeburt erlitten hatte, sollte am nächsten Tag eine Dienstreise antreten, berichten Mitarbeiter. Selbst unter den Besten regiert die Angst, für Amazon nicht gut genug zu sein und den Job zu verlieren. Die Mitarbeiter fürchten, den Druck nicht auszuhalten, sie beuten sich bisweilen in 85-StundenWochen selbst aus und zahlen Dienstreisen oft aus eigener Tasche, um nicht als Verschwender zu gelten. Die „New York Times“ hat die Zustände in dem Weltkonzern vergangene Woche enthüllt. Amazon-Boss Jeff Bezos reagierte sofort. In so einem Laden würde er auch nicht arbeiten wollen, schrieb er an seine Mitarbeiter. Also in einem Laden, der so sei, wie die „New York Times“ den seinen beschrieb. In Wahrheit sei aber alles ganz anders, und jeder Angestellte könne ihm persönlich schreiben, wenn er Missstände entdecke. In so einem Laden will niemand arbeiten. Aber möglicherweise werden es in Zukunft viele müssen. Weil Amazon kein x-beliebiges Unternehmen ist, sondern ein Vorreiter des digitalen Zeitalters. Es geht deshalb nicht nur um Amazon, sondern auch darum, wie es in der digitalen Arbeitswelt der Zukunft zugehen wird. Ob das permanente Überwachen und Vergleichen von Mitarbeitern, das in der digitalen Wirtschaft möglich ist, den Arbeitstag zum Horrortrip machen wird. Bezos hat Amazon als Hochleistungsapparat konzipiert und verlangt von seinen Mitarbeitern, in diese Maschine hineinzupassen. Er vergleicht sein Unternehmen schon mal mit einem Geparden, der Gazellen jagt. Wer zu Amazon geht, weiß das. Es geht hart zu in dieser Firma. Einen Teil der Geschichten aus dem Inneren des Onlineriesen könnte man allerdings ziemlich ähnlich auch aus anderen elitären Etagen der Wirtschaft erzählen. Bei Amazon werden Jahr für Jahr Mitarbeiter gefeuert, die die schlechteste Leistung bringen, von „zielgerichtetem Darwinismus“ spricht 6
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ein ehemaliger Personalmanager. Bei Unternehmensberatungen wie McKinsey gilt das Prinzip: Up or out. Entweder man steigt auf – oder man fliegt. Um zu bestimmen, wen es am Jahresende trifft, beurteilen bei Amazon alle Mitarbeiter untereinander ihre Leistung mithilfe eines elektronischen Meldesystems. In anderen Konzernen heißt das 360-GradFeedback, was freundlicher klingt, aber dasselbe meint. So weit ist das nicht einmal ungewöhnlich. Leistungsdenken gehört zu erfolgreichen Unternehmen dazu. Die Frage ist, warum es hier ins Unmenschliche gekippt ist. Warum es keine Moral gab, die verhinderte, dass eine Krebskranke als Minderleisterin gesehen wird, die den Laden aufhält. Liegt es vielleicht auch daran, dass eine datengetriebene Firma, die auf die Objektivität der Zahlen vertraut, den Menschen aus dem Auge verliert? Unternehmen sind immer bestimmt von Zielmarken, Kennwerten und Excel-Tabellen. Digitale Unternehmen wie Amazon treiben das auf die Spitze. Sie verfügen nicht nur über riesige Datenmengen, ihre Philosophie beruht darauf, den Menschen – und den Mitarbeiter – in Daten aufzulösen. Das Verführerische an diesem Denken ist: Zahlen sind kalt, aber gerecht. Man kann jeden am Maßstab der Effektivität messen. Das Problem ist: Zahlen kennen auch keine Moral. „Marktwirtschaft ohne Moral ist ein Zombie-System: Die Roboter funktionieren perfekt, aber am Ende hinterlassen sie eine Spur der Verwüstung“, sagte der Ökonom Tomáš Sedláček, Autor des Bestsellers „Die Ökonomie von Gut und Böse“. Gefährlich ist nicht die digitale Arbeitswelt an und für sich, sind nicht die wirklichen Roboter, in deren Steuerungschips es weder Gewissen noch Moral geben kann. Sie sind Geschöpfe und Diener des Effektivitätsdenkens. Von ihnen mehr zu erwarten wäre naiv. Die tatsächliche Bedrohung geht von Menschen aus, die sich wie Roboter verhalten und andere Menschen so behandeln, als wären sie Maschinen. Von Managern, die Mitarbeiter nur danach beurteilen, ob aus ihnen noch mehr herauszuholen ist. Die den Menschen nicht mehr als Wesen ansehen, dessen Wert sich aus sich selbst heraus begründet, sondern ihn nur noch nach seinem Potenzial für Optimierung beurteilen. Und mindestens mitverantwortlich sind Kunden, die von Unternehmen roboterhafte Perfektion erwarten. Sie dürfen sich dann nicht wundern, wenn es dort unmenschlich zugeht. Markus Brauck
FOTO: MICHAELA REHLE / REUTERS
Wie in der digitalen Arbeitswelt Leistungsdenken ins Unmenschliche kippt
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Anbieter: Daimler AG, Mercedesstraße 137, 70327 Stuttgart
Deutschland investigativ Haushalt
Dickes Plus Schäuble rechnet mit einem Milliardenüberschuss.
Bundesfinanzministerium in Berlin
BND
men soll es in besonders gefährdeten Bereichen geben, Verzicht auf etwa im Ausland. „Wir werFantasienamen den uns dort, wo es möglich ist, öffnen“, heißt es in einem Spione und andere Angestellte des Bundesnachrichten- internen Papier. Der Vorstoß ist Teil der „Transparenzdienstes (BND) sollen sich offensive“ Schindlers. Bereits weniger tarnen. BND-Präsiim vergangenen Jahr hatte er dent Gerhard Schindler will, veranlasst, dass BND-Außendass die meisten seiner rund 6500 Mitarbeiter künftig stellen mit Tarnnamen wie „Ionosphäreninstitut“ auch auf ihre Decknamen veroffiziell als Teile des Auszichten und im privaten Umlandsgeheimdienstes erkennfeld den BND offen als Arbeitgeber benennen; Ausnah- bar werden. fis, jös
Kittihawk
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) wird dieses Jahr einen deutlichen Überschuss im Bundeshaushalt erwirtschaften. Seine Experten rechnen mit einer Höhe von fünf Milliarden Euro, vielleicht sogar etwas mehr. Das deutliche Haushaltsplus ergibt sich vor allem aus den Steuereinnahmen, die dank guter Konjunktur und Beschäftigungslage kräftig sprudeln. Aber auch die Einnahmen aus der Versteigerung von Mobilfunkfrequenzen fielen deutlich besser aus, als es in Berlin erwartet worden war. Für 2015 hatte der Finanzminister ursprünglich einen Etat ohne Neuverschuldung, aber auch ohne Plus eingeplant. Schäuble darf das überschüssige Geld nicht einfach für neue Staatsausgaben verwenden. Die Bundeshaushaltsordnung verpflichtet ihn, mit den Milliarden Altschulden zu tilgen. rei
Alfa
Lucke-Partei setzt aufs Thema Schule Die Allianz für Fortschritt und Aufbruch (Alfa) des ehemaligen AfD-Vorsitzenden Bernd Lucke will sich mit den Themen Bildung, Sicherheit und Zuwanderung profilieren. „Wir fordern ein dreigliedriges Schulsystem mit verbindlicher Grundschulempfehlung“, heißt es in dem Entwurf für ein Programm,
das die Partei am Sonntag in Stuttgart verabschieden will. Außerdem ist die Rede von einer „intensiveren Bekämpfung der Bandenkriminalität“ und einer „dezentralen Unterbringung der Asylbewerber außerhalb sozialer Brennpunkte“. Bei dem Treffen in Stuttgart soll unter Beisein von Lucke der erste Landesverband gegründet werden – auch mit Blick auf die Landtagswahl in Baden-Württemberg im März 2016. fri
SPD
Der umstrittene SPD-Politiker Michael Hartmann soll nach dem Wunsch von Genossen spätestens 2017 den Bundestag verlassen. Es stelle sich nur noch die Frage nach dem besten Zeitpunkt, heißt es in Parteikreisen. Hartmann war zuletzt in die Kritik geraten, weil er im Untersuchungsausschuss zum Kinderpornografie-Fall um seinen ehemaligen Fraktionskollegen Sebastian Edathy die Aussage verweigerte. Im Sommer 2014 hatte er zugegeben, die Droge Crystal Meth erworben und konsumiert zu haben. Hartmann ist noch bis Ende September krankgeschrieben. gor 8
DER SPIEGEL 35 / 2015
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
FOTO: MARIUS SCHWARZ / CARO; KARIKATUR: KITTIHAWK FÜR DEN SPIEGEL
Genossen gegen Hartmann
Düngung eines Feldes bei Wiesental in Baden-Württemberg
Umwelt
Nitratbelastung soll geschönt werden Deutschland will mehr Messstellen für die Nitratbelastung des Bodens einrichten – allerdings nicht, um die Umweltbelastung genauer zu erfassen, sondern um ohne weitere Maßnahmen die durchschnittliche
Nitratbelastung für die Statistik zu senken. Dies geht aus einem internen Vorschlag der Bund/Länder-Arbeitsgemeinschaft Wasser hervor. Darin wird empfohlen, die Anzahl der Messstellen in Deutschland von 162 auf 700 zu erhöhen, und zwar vor allem außerhalb jener landwirtschaftlichen Gebiete, die aufgrund intensiver Düngung
der Felder besonders belastet sind. Der Trick würde die Durchschnittswerte deutlich verbessern, wie eine Berechnung der Arbeitsgemeinschaft am Beispiel Niedersachsens zeigt. Im bisher verwendeten Netz weisen 71 Prozent der Messstellen eine Überschreitung des Grenzwerts auf, im nun vorgeschlagenen, deutlich größe-
ren wären es nur noch 38 Prozent. Die Vorsitzende des Umweltausschusses des Bundestags, Bärbel Höhn (Grüne), kritisierte den Vorschlag: „Deutschland wird sein gravierendes Nitratproblem nicht dadurch lösen, dass es nur an den wenig belasteten Stellen misst.“ Zu viel Nitrat verursache hohe Kosten und schade der Umwelt. bs
Kommentar
Rufmord im Revier
FOTO: ULI DECK / DPA
Wölfe haben schlechte Presse – zu Unrecht, wie DNA-Tests beweisen. Der Wolf ist ein blutrünstiger Killer, das wissen die Leser der „Bild“-Zeitung jetzt. „Schäferhund von Wolf totgebissen!“, „Kurz nach der Geburt – Fohlen von Wölfen gerissen“, „Beim Gassigehen – Wölfe haben mein Hündchen gerissen“, krakeelte das Blatt in den vergangenen Monaten. Auch KlamaukLandwirt „Schäfer Heinrich“, bekannt aus „Bauer sucht Frau“, ließen die „Bild“-Leute öffentlich bangen. Schon vor drei Jahren hätten Wölfe seinen „treuen Hirtenhund Balou“ zerfleischt. Was kommt als Nächstes, fragte man sich: „Schock im Stuhlkreis – Waldkindergartengruppe von Wölfen gefressen!“? Möglich. Allerdings muss die Meldung dann nicht unbedingt richtig sein. Die vier eben erwähnten Horrormeldungen aus der „Bild“-Zeitung sind es ja auch nicht, bewiesen DNAAnalysen. Schäferhund Udo aus Hoyerswerda wurde vom Nachbarköter zerfleischt, am Fohlen in Bispingen knabberten Füchse, Chihuahua Krümel aus Hornbostel bei Celle wurde wohl von anderen Hunden totgebissen. Und Schäfer Hein-
richs „treuer Balou“? Der mag tatsächlich gestorben sein – das Foto in „Bild“ zeigte aber entgegen der Behauptung nicht Balou, sondern einen Jagdhund, der in Schweden getötet wurde. Wölfe sind keine Kuscheltiere. Sie reißen Schafe und Rinder, wenn deren Halter sie nicht ausreichend schützen. Sie können sogar Menschen töten. Doch das können auch Wildschweine, Kühe und – wenn man Pech hat – Zecken. Vorsicht ist geboten, Panik aber nicht. Mediale Hetzkampagnen behindern den Artenschutz, sie machen Aufklärungsbemühungen wie die des Wolfsbüros in der sächsischen Lausitz zunichte, das in mehreren Hundert Infoveranstaltungen pro Jahr über tatsächliche Gefahren aufklärt. Nicht zuletzt dienen die Falschmeldungen jenen Kriminellen als Rechtfertigung, die Wölfe illegal abschießen. 2014 starb so in der Lausitz das Leittier des Daubitzer Rudels. Ohne das Männchen konnte seine Gefährtin ihre Welpen nicht ernähren: Alle Jungtiere starben. Julia Koch DER SPIEGEL 35 / 2015
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„Unnötig kompliziert“ Der bayerische Justizminister Winfried Bausback, 49 (CSU), über die geplanten Reformen zugunsten von Raubkunstopfern
Der Augenzeuge
„Sie wurden bestohlen“ Sven L., 37, arbeitet bei der Bundespolizeidirektion Berlin und
macht Jagd auf Taschendiebe, meistens auf den Bahnhöfen der Hauptstadt. Ihm und seinen Kollegen gehen vergleichsweise viele Täter ins Netz. Trotzdem steigt die Zahl der Fälle auch in Berlin stark an. Bundesweit wurde 2014 auf Bahnhöfen ein Plus von 19 Prozent gegenüber dem Vorjahr verzeichnet.
„Ich arbeite nun seit neun Jahren bei der Ermittlungsgruppe ,Trick- und Taschendiebstahl‘, und ich darf mich natürlich öffentlich nicht zu erkennen geben. Die Täter sind oft genauso aufmerksam wie wir, die suchen nicht nur nach Opfern, sondern halten auch Ausschau nach Polizisten. Genau wie bei meinen Kollegen wurden meine Augen extra geschult, ich sehe Dinge, die andere nicht sehen. Verdächtig macht sich jemand nicht in erster Linie durch seine Nationalität, sondern durch sein Verhalten. Mein Jagdinstinkt ist zum Beispiel geweckt, wenn sich einer immer wieder kurz mit anderen bespricht, sich ruckartig bewegt oder seinen Blick ständig 45 Grad abwärts richtet: Da sitzt das potenzielle Diebesgut. Manchmal muss ich nur einige Minuten, manchmal zwei Stunden lang dranbleiben, bis der Verdächtige zur Tat schreitet und ich gemeinsam mit Kollegen zugreifen kann. Die meisten Täter arbeiten im Team, geben sich gegenseitig Signale und sorgen dafür, dass irgendwo Verwirrung entsteht, zum Beispiel beim Einsteigen in den Zug. Beliebt ist auch der Rolltreppentrick: Ein Dieb späht ein Opfer aus, ein zweiter hält die Rolltreppe an. Das bringt die Menschen so durcheinander, dass sie nicht mehr auf ihre Taschen oder Jacken achten. Verschiedene Tätergruppen benutzen unterschiedliche Tricks. Südeuropäer sind oft Spezialisten auf den Rolltreppen und wurden dafür in der Heimat ausgebildet. Wenn sie dann ,reif‘ sind, schickt man sie los auf Europatournee. Die meisten Diebe gehören zu großen, internationalen Banden. Wir hatten in Berlin eine Gruppe, die wir durch präventive und repressive Maßnahmen zurückdrängen konnten. Die ist sicher längst wieder aktiv, vielleicht in Rom oder Paris. Es hat hier Gruppen gegeben, die aus 80 Leuten bestanden und die jeden Tag Hunderte Taten begingen. Wir nehmen mehr Täter fest, und die Fallzahlen steigen trotzdem. Auch die Dunkelziffer wird immer höher. Viele Menschen machen es den Tätern auch sehr leicht. Bei manchen schaut das Portemonnaie aus der Hand- oder Hosentasche raus. Da nehmen wir es ihnen auch schon mal weg und sprechen sie anschließend an: ‚Sie wurden gerade bestohlen.‘ Das ist eine unserer Präventivmaßnahmen – die Leute passen danach in der Regel besser auf.“ Aufgezeichnet von Marlene Göring
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DER SPIEGEL 35 / 2015
SPIEGEL: Das Bundesjustizministerium (BMJV) hat als Konsequenz aus dem Fall des Kunstsammlers Cornelius Gurlitt einen Gesetzentwurf ausgearbeitet, der die Rückforderung sogenannter NSRaubkunst erleichtern soll. Ist das in Ihrem Sinne? Bausback: Eine Regelung, nach der man sich in bestimmten Fällen nicht erfolgreich auf Verjährung berufen kann, habe ich bereits im Januar 2014 vorgelegt, weil Raubkunstopfern und ihren teils betagten Erben schnell geholfen werden muss. Das hätte man also deutlich früher haben können und müssen. Was über meinen Vorschlag hinausgeht, verkompliziert die Regelung allerdings unnötig und macht sie verfassungsrechtlich angreifbar. SPIEGEL: Warum? Bausback: Beruft sich der aktuelle Besitzer auf Verjährung, soll er nach dem BMJVEntwurf beweisen, dass er beim Erwerb des Kunstwerks gutgläubig war, also nicht einmal Anhaltspunkte dafür hatte, dass es sich um Raubkunst handelt. Dabei geht es ja um eine sogenannte nega-
Bausback
tive Tatsache, also das Fehlen von etwas, hier sogar das Fehlen von Wissen. Jeder Richter und Anwalt weiß, dass sich so etwas kaum je beweisen lässt. Auch wer gutgläubig war, könnte sich also rein faktisch nicht mehr auf Verjährung berufen. Das ist verfassungsrechtlich problematisch. SPIEGEL: Ein Sammler kann auch geltend machen, dass er ein Werk zehn Jahre lang in Eigenbesitz hatte und damit kraft Gesetzes Eigentümer geworden ist: Nach dem BMJV-Entwurf müsste er künftig aber auch dafür seine Gutgläubigkeit beweisen. Bausback: Würde das so beschlossen, träfe das auch den redlichen Erwerber, der schlicht keinen Beweis hat für seine Redlichkeit; das würde ebenfalls zu verfassungsrechtlichen Schwierigkeiten führen, die selbst durch die dafür vorgesehene Entschädigung durch den Staat nur beschränkt aufgewogen werden können. SPIEGEL: Aber sollte man jetzt nicht zugunsten der NSOpfer und deren Erben das Maximum versuchen? Bausback: Natürlich ist es gut, dass es jetzt endlich vorangeht. Aber Regelungen, die schlussendlich vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben werden, helfen niemandem – schon gar nicht den Opfern und ihren Erben. cnm, hip FOTOS: CARSTEN KOALL / DER SPIEGEL (O.); STEPHAN RUMPF / SÜDDEUTSCHER VERLAG (U.)
Restitutionen
Deutschland investigativ
Touristen aus dem Ausland in Deutschland, Übernachtungen in Millionen Quelle: Destatis
Juni 2015: bereits + 4,7 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum
Übernachtungen in Deutschland nach Herkunftsländern
75,6
Januar bis Juni 2015, in Millionen
60,3 48,2
42,6 38,2
Veränderung 2014 gegenüber 1992
+98%
1. Niederlande
4,38
2. Schweiz
2,78
3. USA
2,47
4. Großbritannien
2,40
5. Italien
1,71
6. Österreich
1,66
7. Frankreich
1,52
11. China*
1992
2000
2005
2010
2014
1,09
* inkl. Hongkong
Tourismus
pingbegeisterten Nachbarn, sondern fast überall auf der Welt wachsender Beliebtheit. Wenn es so weitergeht wie in Es gibt Klischees, die wirklich den ersten Monaten des Jahres 2015, steuert die Republik stimmen. Zum Beispiel, dass Holländer Wohnwagen lieben erneut auf einen Rekord zu (siehe Grafik). Gegenüber und besonders gern nach dem Vorjahreszeitraum stieg Deutschland reisen. Wie das die Zahl der Übernachtungen Statistische Bundesamt in ausländischer Gäste in Hotels einer neuen Erhebung zum und anderen BeherbergungsTourismus mitteilt, verzeichbetrieben um 4,7 Prozent auf neten die heimischen Cam34,4 Millionen. Fast alle Napingplätze in der ersten Jahreshälfte 1,18 Millionen Über- tionalitäten kamen öfter als 2014, auch die Griechen. Ein nachtungen ausländischer starker Einbruch wurde nur Gäste – mehr als die Hälfte davon geht auf das Konto nie- bei den Touristen aus Russland verzeichnet: Die Zahl derländischer Urlauber. Das Reiseziel Deutschland erfreut ihrer Übernachtungen sank um 29,6 Prozent. gui sich nicht nur bei den cam-
Mehr Niederländer, weniger Russen
Landwirtschaft
Katholiken
Die EU-Kommission will das seit der BSE-Krise bestehende Verbot, Tiermehl in der Landwirtschaft zu verfüttern, schrittweise aufheben. Nachdem bereits 2013 Fischmehl wieder freigegeben wurde, könnte 2016 auch das Verbot fallen, Geflügelproteine der Nahrung von Schweinen sowie Schweineproteine der von Hühnern und anderem Geflügel beizumengen. Experten der Mitgliedstaaten erhoben bei einer Konferenz am 24. Juni keine grundsätzlichen Einwände, auch das Bundeslandwirtschaftsministerium äußerte keine Kritik an den Brüsseler Plänen. akm
In Duisburg beschreitet eine katholische Kirchengemeinde Neuland: In Zukunft verwalten sich die knapp 3000 Mitglieder von St. Barbara mit Genehmigung des Essener Bischofs Franz-Josef Overbeck selbst. Die eigentlich zum Abriss vorgesehene Kirche wird auch keinen eigenen Pfarrer mehr haben. Gottesdienste, Kinder-, Frauen-, Küster- und Seniorenarbeit übernehmen Ehrenamtliche, finanziert wird die Gemeinde durch Spenden. Als „Konzept für eine ortsbezogene Weiterentwicklung der Kirche“, so Overbeck, könnte das Projekt Schule machen. wen
Schweine sollen Tiermehl fressen
Gemeinde ohne Pfarrer
Jan Fleischhauer Der schwarze Kanal
Jung und weiblich Die CDU will jünger und weiblicher werden. „Meine CDU 2017“ heißt der Beschluss, der dazu am Montag in Berlin vorgestellt wurde. Ich verstehe das. Niemand will alt und verbraucht wirken, weshalb man auf Werbeplakaten ja auch immer sehr viele junge Menschen sieht. Meine Frage ist nur, ob die CDU damit für mich noch in Betracht kommt. Ich bin im Mai 53 Jahre alt geworden, von den anderen Unzulänglichkeiten nicht zu reden. Als Zuwanderer wäre ich noch so durchgerutscht. Migranten dürfen auch alt und männlich sein. Da das bei mir leider ebenfalls nicht zieht, ist für mich in der CDU spätestens ab 2017 kein Platz mehr. Ich mag Frau Merkel, aber ich will niemandem zur Last fallen. Leider sieht es bei den Alternativen im Augenblick nicht viel besser aus. Die SPD ist ebenfalls eine tolle Partei, wenn man von ihrer Sozial- und Arbeitsmarktpolitik einmal absieht. Ich finde Sigmar Gabriel einen Supertyp, und Manuela Schwesig macht in der Anti-Stress-Kampagne einen Klassejob. Aber wie ich neulich in der „Süddeutschen Zeitung“ bei deren Berliner Büroleiter Nico Fried gelesen habe, wollen die Sozialdemokraten jetzt die 30- bis 50-Jährigen in den Fokus nehmen. Bei der SPD nennen sie diese Gruppe die „gehetzte Generation“, wegen der dreifachen Beanspruchung durch Karriere, Kind und Kredite. Ich fühle mich oft gehetzt. Die neue Chefredaktion beim SPIEGEL sieht unheimlich nett aus, aber sie kann in Wahrheit ziemlich unbarmherzig sein, wenn es um Texte geht. Auch Fried fühlt sich der gehetzten Generation zugehörig, wie er schrieb, obwohl er in der Hierarchie viel weiter oben steht als ich. Das Gehetztsein nützt uns beiden null Komma nichts. Was die nächste Bundestagswahl angeht, haben Fried und ich das gleiche Problem: Bei den Volksparteien ist für uns nichts mehr drin. Als Zielgruppe sind wir erledigt. Ich will jetzt nicht mit Donald Trump kommen, aber irgendwann muss man als politisch interessierter Mensch über Ausweichmöglichkeiten nachdenken. Wenn die etablierten Parteien Leute wie mich nicht mehr wollen, müssen sie sich nicht wundern, wenn sich Wähler wie ich anderswo umsehen. Einer wie Trump hat wenigstens nichts gegen Männer wie mich. Einer wie Trump würde sagen: Okay, nicht jung und nicht weiblich, aber, verdammt noch mal, immerhin ein Typ, der brav seine Steuern entrichtet und sich auch sonst nichts hat zuschulden kommen lassen. So würde der Trump reden. Ich glaube, die Fixierung auf die Jugendlichkeit im Politischen beruht auf einem Missverständnis. Sie kommt aus einer Zeit, als die Jugend an der Uni wild und aufmüpfig war. Heute achtet man dort vor allem darauf, dass niemand aneckt oder Sachen sagt, die andere schlimm finden könnten. Jetzt sagen die alten Säcke Sachen, über die sich die Leute aufregen. Darum funktioniert auch einer wie Trump: Alle sind total baff, was der sich rausnimmt. Es wird Zeit, dass Trump nach Deutschland kommt. (Siehe auch Elke Schmitters Kolumne auf Seite 115.) An dieser Stelle schreiben Jan Fleischhauer und Jakob Augstein im Wechsel.
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F1ONLINE BILDE R: DPA
Geplantes Aufnahmezentrum für Asylbewerber ohne Bleibeperspektive in Manching
Pkw-Maut: Die Pläne sind zurückgestellt, die EU-Kommission wittert Vertragsverletzung.
Die weiß-blaue Provokation Volkskunde Maut, Betreuungsgeld, Abschiebelager: Die Bayern nerven den Rest der Republik. Warum die Bajuwaren einfach keine Ruhe geben – ein Erklärungsversuch.
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Betreuungsgeld: Die Leistung wurde vom Bundesverfassungsgericht auf Bundesebene gekippt.
ie Krottentalalm ist einer dieser Und auch keinen wie Theo Waigel, der in Orte, wo Deutschland bergmächtig der Verantwortung für das ganze Land den und heimelig ist, zeitlos und sehr Übergang in die europäische Währungsstill. Ein geducktes Haus, weiß getüncht, union meisterte. Bayern hat politisch an einsam gelegen inmitten grüner Wiesen- Format verloren. matten, hinter denen die Aiplspitz und das Wenn der Freistaat heute im Bund aufWendelsteingebirge in den Himmel ragen, fällt, dann nur durch sein Scheitern. Und unten im Tal glitzert der Spitzingsee. Die durch lautstarke Worte, die wie das verzweiLuft ist so würzig, dass man sie sich, wie felte Bellen eines Dackels klingen, der von einst ein Garmischer Autor schrieb, am der großen Dogge in die Ecke gedrängt wird. liebsten aufs Brot schmieren möchte. Angela Merkel ist der Star der Deutschen, Ein Sehnsuchtsort in einem Landstrich, von den bayerischen Ministern im Kabinett der so viele Sehnsüchte stillt. Wo es urge- kennen die meisten nur Alexander Dowaltige Felshänge und liebliche Schlösser brindt, der mit den großen Karos auf dem gibt, wo die süffigsten Biere gebraut und Anzug, der mit der Maut, dem quälend langin den schönsten Gärten getrunken werden, sam sterbenden Vorzeigeprojekt der CSU. wo die klarsten Bergbäche plätschern, die In Berlin zweifelt man deshalb schon an besten Fußballer kicken und die wertvolls- der Seriosität der bayerischen Politik, wie ten Gemälde hängen, also da, wo der Ge- Burkhard Lischka, der innenpolitische nuss zu Hause ist, also da, wo Bayern ist. Sprecher der SPD-Fraktion, es formuliert. Während die meisten Regionen schrump- Und Yasmin Fahimi, die Generalsekretärin fen, wird die Bevölkerung in Bayern wach- der Sozialdemokraten, sagt: „Die bayerisen, um 3,5 Prozent bis 2030. Kein anderes sche Staatsregierung irrlichtert nur noch Bundesland ist bei Urlaubern so beliebt, durch diese Koalition.“ Was also ist gekein anderes ist wirtschaftlich so erfolg- schehen? Warum sind die Bayern so, wie reich, in keinem anderen lebt man sicherer, sie sind? Zunehmend bedeutungsschwach, keinem anderen geht es so gut wie Bayern. doch arrogant wie eh und je. Man fragt sich also, warum es ausgerechKarin Michalke verbringt schon viele net dieser Sehnsuchtsort ist, aus dem so Wochen auf der Krottentalalm, dieser Idyloft Ideen kommen, die der Rest der Repu- le am Spitzingsee, sie hat nur Kühe und blik nicht versteht. Warum es die Bayern Kälber um sich. Es ist ihr fünfter Sommer sind, die alle anderen ständig nerven. Wa- in den Bergen, sie braucht diese Auszeit, rum Bayern immer so anders sein muss, es ist eine Flucht: aus dem Bayern, das ihr als wäre dies ein göttliches Gebot. nicht behagt, in das Bayern, das sich nach Es gab eine auffällige Häufung in jüngs- Heimat anfühlt. ter Zeit. Projekte, die kein anderer will, Ihre Zerrissenheit hat die 39 Jahre alte wie die Pkw-Maut; Initiativen, die aus der Drehbuchautorin niedergeschrieben, in Zeit gefallen sind, wie das Betreuungsgeld; „Beste Zeit“, „Beste Gegend“, „Beste Parolen, die mindestens pegidatauglich wa- Chance“, von Marcus H. Rosenmüller für ren, wie die über die Balkanflüchtlinge; das Kino verfilmt, inspiriert von ihrer JuVersuche, Stromtrassen oder Atommüll- gend im oberbayerischen Tandern. Wo sie lager auf eigenem Grund zu verhindern, zwischen Bauernhöfen, dem Burschenvergetreu dem Motto: Heiliger Sankt Florian, ein und der katholischen Kirche aufgeverschon mein Haus, zünd andre an. Und wachsen ist, mit einem Vater, „wo nix guad zuletzt der angekündigte Widerstand ge- war“, höchstens mal eine Eins am Gymgen ein Einwanderungsgesetz, für das es nasium. Und trotzdem ist sie nie richtig noch nicht mal einen Entwurf gibt. weggekommen aus diesem Landstrich, desBayern war schon immer eine Provoka- sen Menschen sie mag, weil die meisten tion, und wenn die Bayern am 6. Septem- es gut meinen, der sie aber mächtig aufregt, ber den 100. Geburtstag von Franz Josef wenn es um Politik geht, um die CSU. Strauß feiern, dann huldigen sie einem Bayern gehe es zu gut, sagt Karin MiMann, der diese Provokation verkörpert chalke, das erkläre seine Arroganz. Satt hat wie kein anderer. Der letzte bayerische und träge seien die Bayern – was kein Monarch ließ der Bonner Republik keine Wunder sei, da sie seit 58 Jahren von derRuhe, sei es mit seiner kabarettreifen Rhe- selben Partei regiert würden. „Die Partei torik, sei es mit seinen Alleingängen und trifft alle Entscheidungen, sie sagt, wo es Affären (siehe Seiten 18 und 26). „Von Bay- langgeht. Und wir dackeln hinterher und ern gehen die meisten politischen Dumm- sagen: Ja mei, was kann ich schon tun?“ heiten aus“, hat Strauß selbst gesagt. Um zu verstehen, warum Bayern so ist, „Aber wenn die Bayern sie längst abgelegt wie es ist, kann man auch mit Horst Seehaben, werden sie anderswo noch als der hofer reden, am besten über Flüchtlinge. Weisheit letzter Schluss verkauft.“ Ein Mittwochvormittag in München, der In diesen Tagen aber hat man den Ein- bayerische Ministerpräsident sitzt in seiner druck, dass es selbst dazu nicht mehr Staatskanzlei und kann in den weiß-blaureicht. Es gibt keinen Minister aus Bayern en Himmel blicken, das Dach ist aus Glas. mehr, der wie Strauß mit Zornesröte im Seehofer spricht davon, dass sie wegen Gesicht den Bundestag das Fürchten lehrte. der Flüchtlinge über eine Milliarde Euro im DER SPIEGEL 35 / 2015
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bayerischen Haushalt für das nächste Jahr zusätzlich einplanen. Und er spricht vom höchsten Prinzip, jeden Flüchtling human zu behandeln, egal woher er kommt, egal warum er hier ist. Dunkle Parolen seien seine Sache nicht, sagt Seehofer. Es ist ein Hieb gegen Markus Söder, seinen Finanzminister, der nicht nur zu Fasching im grünen ShrekKostüm auffällt, sondern auch im Bierzelt mit derben Parolen. Flüchtlingen vom Balkan müsse man das Taschengeld streichen, hatte er gefordert. Seehofer nennt so etwas „Schmutzeleien“. Der CSU-Vorsitzende redet in diesem sonoren Ton, in dem er auch eine Gutenachtgeschichte vorlesen könnte. Man blickt in den weiß-blauen Himmel und denkt: So also ist Bayern. Vier Tage später begegnet man Horst Seehofer wieder, diesmal im Fernsehen, man hört empörte Flüchtlingsräte, sie werfen dem CSU-Chef verbale Brandstiftung vor. Seehofer hatte angekündigt, zwei grenznahe Abschiebelager in Bayern zu bauen, für Flüchtlinge, deren Chancen auf ein Bleiberecht gering seien. Zeltstädte sollen es werden, man denkt an den Winter. Seehofer spricht von „massenhaftem Missbrauch“ und „rigorosen Maßnahmen“ und schlägt nun selbst eine Streichung des Taschengelds vor, eine Idee, die später, in abgemilderter Form, auch in der CDU die Runde macht. Eine „Minimalversorgung“ solle neue Flüchtlinge vom Kommen abhalten, fordert Seehofer. Es sind vor allem diese Worte, die empören, weil sie spalten 14
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und aufwiegeln, es sind nun Seehofers Schönheit der Gipfelkreuze, Trachtenhüte Schmutzeleien. Und man denkt: Nein, das und Geranientröge, dieser lebende Reiseist Bayern. prospekt, der dann doch fast jedem gefällt. Horst Seehofer, dieser Inbegriff Bayerns, Da gibt es aber noch das andere Bayern, ist wie ein Chamäleon. Er sondiert Volkes das moderne und bunte, das man wohlStimmung, oder das, was er dafür hält, und wollend die große Vielfalt nennen könnte, macht sie sich zu eigen. Eine neue Haut- ehrlicher die große Zerrissenheit. Dieses farbe, wann immer sie nötig ist. Atom- Bayern ist weiter als seine Klischees und kraft – zuerst dafür, dann dagegen; Wehr- seine Regierenden, es nutzt dieses geliebtpflicht – dafür, dagegen; Studiengebühren – gehasste Umpftata in idyllischer Landdafür, dagegen; Donauausbau – dafür, schaft nur noch als Kulisse für ein bayeridagegen; und nun die Flüchtlingspolitik – sches Gesellschaftsstück, das viel spannenzuerst einfühlsam wie ein Pfarrer, dann der ist als sein Bühnenbild, weil es voller scharf bis an den Rand der Volksverhet- Konflikte und Widersprüche steckt. In diesem Bayern schimpft ein CSU-Gezung. Das einzig Beständige an Seehofer neralsekretär erwartungsgemäß über die ist seine Unbeständigkeit. Es gibt einen Grund für dieses sonder- „schrille Minderheit“ der Homosexuellen, bare Verhalten, es ist der Versuch, eine während ein CSU-Bürgermeister aus MünAllmachtsposition zu verteidigen in einer chen die Parade am Christopher Street Zeit, in der selbst Bayern sich wandelt. Es Day anführt und die Öffnung der Ehe für Homosexuelle fordert. In diesem Bayern ist Seehofers Kampf mit dem Zeitgeist. Zwar gibt es noch die ruhende Größe, verbeißt sich die CSU-Führung im Streit das beständige Bayern, wie es in seiner um das Betreuungsgeld für Mütter, die zu über 1000 Jahre alten Geschichte eigentlich Hause bleiben, während Junge und Frauen schon immer war: stur, eigen und ein wenig in der Partei für mehr Krippen- und Hortsonderbar. Ein Bayern, in dem sich die plätze kämpfen, da Bayern mit einer BeTraditionalisten auf den „Freistaat“ beru- treuungsquote von 27 Prozent den letzten fen, wenn sie wieder mal einen bayerischen Platz belegt. In diesem Bayern warnt eine Alleingang rechtfertigen wollen, und dabei Zukunftsstudie von McKinsey davor, dass gern verschweigen, dass es der Sozial- das Land trotz solider Wirtschaftsdaten demokrat Kurt Eisner war, der 1918 in Mün- den Anschluss an die Zukunft verpassen chen die gut 700 Jahre alte Herrschaft der könnte: Start-ups aus der digitalen Welt Wittelsbacher beendete und den Freistaat gehen lieber nach Berlin statt ins teure Bayern proklamierte. Zu diesem zeitlosen München, Kinder nicht akademischer ElBayern gehört auch die klischeehafte tern haben es in Bayern besonders schwer,
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Drehbuchautorin Michalke: „Die Partei sagt, wo es langgeht – und wir dackeln hinterher“
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Bayern steckte viele ein: im achten eine akademische Laufbahn einzuschlagen. staat ewig treu zu dienen und zu „Die Jahrhundert gegen Karl den Und dieses Bayern gewinnt längst nicht huldigen“, hat Finster auf seine bayerische Großen, kurz darauf gegen die mehr jeden Bildungsvergleich unter den Hauswand malen lassen. 1035 Staatsregierung Ungarn, später gegen die Bundesländern. Der bayerische Muster- Mitglieder hat sein Klub, irrlichtert nur noch knapp 50 von ihnen sind in Schweden, 1704 gegen die schüler, er ist von gestern. durch diese englischen und kaiserlichen Das Land befindet sich im Spagat zwi- den Bus gestiegen, um in die Koalition.“ Truppen, im Jahr darauf gegen schen Urigkeit und Utopie, zwischen tradi- Allianz Arena zu fahren, Bayern Yasmin Fahimi, gegen AC Mailand. Machbar, sagt die Österreicher. 1871 war der tioneller Einheitspartei und moderner SPD Finster, Gabelstaplerfahrer und Traum von der Autarkie dann ausVielfalt, und Horst Seehofer versucht, CSU-Stadtrat, „aber eine Gewinngeträumt. Bayern unterwarf sich dem diesen Spagat mitzumachen. Er hofft, garantie gibt es nie“. Deutschen Reich, auch wenn es von Kanzviele unterschiedliche Wähler zu Natürlich seien sie nicht beliebt ler Bismarck reichlich Sonderrechte und erreichen, um die absolute Mehr„Dem Kaiim Land, sagt Finster, da gehe Geld erhielt. Doch der Gedanke, immer heit zu bewahren, die zur CSU ser und seinem es ihnen wie allen Bayern. Bei klein gehalten worden zu sein, verschwand gehört wie der MeisterschaftsHofstaat ewig treu Auswärtsspielen würden sie nie aus dem kollektiven Gedächtnis der sieg zum FC Bayern. Ohne dienen und huldigen.“ deshalb in der Gruppe blei- Bayern. Nur so lässt sich erklären, warum eine Alleinregierung sei die Josef Finster, ben, nicht dass mal einer eine sich das Land oft größer fühlt, als es ist. CSU nichts, sagt Seehofer FC-Bayern-Fanklub aufs Maul bekommt. Man hasst selbst. Ein Nichts in Bayern, ein Es gebe ein bayerisches Narrativ der die Bayern, oder man liebt sie, ein Niederlage, sagt der Kabarettist Bruno Nichts im Bund. Dazwischen gibt es nicht. Einer, der diese Sorge gut kennt, Jonas, der seit 1972 die bayerische Seele Sie treibt nun eine Sorge um in diesem ergründet. Er hat gerade ein neues Buch sitzt im Konferenzraum einer MünchBus, es geht um die Zukunft, es geht um veröffentlicht, „Vollhorst“, es geht, wie der ner Anwaltskanzlei. Theo Waigel nippt an seinem Cappuccino. Das ewige Hin und die Bayern ohne Uli Hoeneß, den Steuer- Name schon sagt, viel um bayerische PoliHer zwischen Bierzelt und Bundespolitik, sünder. Für Finster ist Hoeneß die Seele tik und auch um die Frage, warum die BayWaigel ist froh, dass er es hinter sich hat. des Vereins, deshalb gebe es nur eines: ern so anders sind. Über die Jahre habe es sich etabliert, „Der Uli muss zurück.“ Hoeneß, Stoiber Der Gedanke der Niederlage, sagt Jonas, dass die CSU in konservativen Bundes- und Strauß, sagt Finster, seien für ihn die habe sich in einer „wabernden Depression“ regierungen mindestens ein bedeutendes gelebte Dreifaltigkeit. Gottgleiche Vorbil- bis heute gehalten. Die da drob’n, schimpft Ministerium erhält und das Recht, seine der, jeder auf seine Art. Wie aber soll es man in Bayern und meint vor allem: wir Prestigeprojekte durchzusetzen, sagt Wai- ohne sie nur weitergehen, beim FC Bayern, da drunten. Auch der Länderfinanzausgel. Diese Privilegien sind die Grundlage bei der CSU, im ganzen Land, auf diesem gleich werde als eine solche Niederlage bedes bayerischen Sonderwegs, sie sind wie Stern des Südens, der angeblich niemals griffen. „Dass mit unserem Geld in Berlin ein Freibrief zum Nerven. Strauß polterte untergeht? Die Lage, sagt Finster, sei ernst. ein Kindergartenplatz mitfinanziert wird, Die CSU gibt es seit 1945 in Bayern, die bestärkt nur dieses Gefühl.“ für steuerfreies Flugbenzin, Edmund Stoiber für den Transrapid, Seehofer für Sorge, zu kurz zu kommen, schon viel Gern allerdings wird vergessen, dass die Maut. Der bayerische Löwe brüllt, länger. Seit spätestens 555 kämpfen die auch Bayern seine Umstrukturierung vom doch wie die Geschichte zeigt, verhallt sein Bayern um Unabhängigkeit, von den Mero- Agrar- zum Industriestandort bis 1986 nur wingern, Karolingern, Ottonen, Welfen mit der finanziellen Hilfe anderer bewerkBrüllen oft recht schnell. „Die Balance zwischen Landes- und Bun- und Habsburgern, von Napoleon und heu- stelligen konnte, wenngleich in kleineren desinteressen zu halten ist nervenaufrei- te von Berlin. Die völlige Befreiung ist nie Dimensionen. 2014 zahlte das Land fast bend“, sagt Waigel. Er selbst war Bundes- gelungen, Bayern war immer wieder ein fünf Milliarden Euro in den gemeinsamen finanzminister und Parteivorsitzender zur Spielball der großen Mächte. Topf, die Bayern haben geklagt und wollen selben Zeit, es waren die Jahre nach der Die ständige Abhängigkeit von anderen verhandeln, mindestens eine Milliarde Einheit und vor dem Euro. Bayern habe in seiner Geschichte mag erklären, warum weniger soll es sein. Unterdessen haben auch bei ihm immer ganz oben gestanden, Bayern auch heute noch versucht, immer sie sich ihren eigenen Finanzausgleich gesagt Waigel, doch die CSU müsse zugleich wieder auszubrechen. Ein anderes Motiv schaffen. 621 Millionen Euro fließen für die großen Linien der Europa- und Welt- ist die Angst vor der nächsten Niederlage, den Straßenbau nach Bayern, nach Nordpolitik vor Augen haben. Habe sie das rhein-Westfalen gehen nur 128 Millionen. nicht, werde sie zur reinen Regionalpartei. Das ist die bayerische Art, Gerechtigkeit Die Angst vor dem Abstieg, sie ist in zu schaffen. Trotzdem hat sich das Gefühl, Bayern allgegenwärtig. Der Finster-Sepp, der Zahlmeister Europas zu sein, tief in wie er sich vorstellt, kann ein Lied davon die bayerische Seele gefressen. singen, und er tut es auch. „FC Bayern, Der Ausweg aus dieser Depression sei Stern des Südens, du wirst niemals unterder bayerische Grant und die Ironie, sagt gehen“, jubelt er vorn neben dem Fahrer, Bruno Jonas. Bayern sei ein großes Spiel, während sich der Fanbus in die Kurve legt. „ein permanenter Heimatabend, und alle Finster trägt eine kurze Lederhose, rotmachen mit“. Die CSU als größter Vertreweiß gestreifte Socken und eine Weste, auf ter dieser Grundgestimmtheit sei deshalb der steht: Seniore Presidente. als einzige Partei in der Lage, „nicht synSeit der Gründung vor 20 Jahren ist thesefähige Widersprüche“ problemlos Josef Finster Präsident der „Kaisertreuen aufheben zu können. „Wir sind glühende 1995“, eines Fanklubs des FC Bayern aus Vertreter der Kernenergie und dann die Vilseck in der Oberpfalz, der in seinem Ersten, noch vor den Grünen, die die EnerNamen dem Kaiser huldigt, dem Beckengiewende durchziehen. Das Schöne daran bauer-Franz, der Ikone des bayerischen ist: Es braucht keiner zu erklären.“ Fußballs. „FC-Bayern-Fan zu sein ist eine Einer, der auf dieses Spiel keine Lust CSU-Chef Seehofer Leidenschaft, dem Kaiser und seinem Hofmehr hat, ist Bernd Weiß. Der 47-jährige „Er fordert absolute Gefolgschaft“ DER SPIEGEL 35 / 2015
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Heute kann es Seehofer besser versteNotar aus Unterfranken hatte es bis ins obwohl ihre Bedeutung in der Großen KoAllerheiligste der CSU geschafft. Er war alition nicht die größte ist und sie nur drei hen, er mag sein Amt. „Bayern blüht und 40 Jahre alt, als er von Horst Seehofer der kleineren Ministerien abbekommen gedeiht“, sagt er, die CSU liegt in den als Innenstaatssekretär ins bayerische haben. „Vielleicht ist es dem Seehofer auch Umfragen wieder bei fast 50 Prozent. Kabinett geholt wurde. Lange hielt er es wurscht, wer da oben keine Politik macht.“ „Bayern hat praktisch Vollbeschäftigung, nicht aus. Nach einem knappen Jahr Vielleicht denkt die Kanzlerin auch daran, sechs der zehn Regionen Europas mit der quittierte Weiß den Dienst und kehrte zu- dass man auf die quengelnde Schwester niedrigsten Arbeitslosigkeit liegen in Bayrück in seine Kanzlei. Er hatte sich Politik bei der nächsten Wahl wieder angewiesen ern, wir zahlen fast 60 Prozent des Länsein könnte. Vielleicht lässt man ihr des- derfinanzausgleichs, dank unserer Finanzfür die Menschen draußen im Land gänzhalb so viel durchgehen, die Maut, das kraft.“ Was sind dagegen die kleinen lich anders vorgestellt. Statt zu debatBetreuungsgeld. Projekte, die zu baye- Kratzer, die Projekte wie Maut oder Betieren und eigene Gedanken zu fortreuungsgeld im Ansehen der Bayern hinrischen Wundmalen wurden. mulieren, habe nur Seehofers Wort Horst Seehofer blickt durch das terlassen haben? gegolten. „Er fordert absolute Die CSU, sagt Seehofer, habe noch jedes gläserne Dach in den Himmel. Gefolgschaft.“ Und: „Jede Volte „Bayern Er erinnert sich, wie er vor Wahlversprechen eingelöst, das gelte auch nach außen zu vertreten, das hat praktisch knapp sieben Jahren hier für die Maut. Nun lautet die Botschaft: Wir hält ein denkender Mensch Vollbeschäftigung.“ saß, der Nieselregen hinter- haben alles versucht, nur die Bürokraten nicht aus.“ Horst Seehofer ließ Tropfen auf den Scheiben. in Brüssel blockieren. Wir gegen den Rest Seine Enttäuschung hat Die Landesbank machte Verluste der Welt. Eine Losung, die immer gut anWeiß in zwei Büchern aufgein Milliardenhöhe, die Weltwirt- kommt in Bayern, mia san schließlich mia. schrieben, die in seiner Partei weOder etwa nicht? Statt großkotziger schaftskrise traf selbst Unternehnig Freude auslösen. Er nennt den Arroganz, sagt David Saam, Sänger men wie BMW, die CSU hatte bei bayerischen Ministerpräsidenten den und Musikethnologe, brauche Bayder Landtagswahl 17,3 Prozent„Tsipras der Energiewende“ und meint ern mehr Anarchie, denn das AnarSeehofers Strategie: Wir steigen aus der punkte verloren, Erwin Huber, der „Die Musik chische liege im bayerischen Gen. Atomkraft aus, ohne dass ihr auf Wind- Parteivorsitzende, war zurückgeunserer VorMan sehe es am Rauchverbot, räder oder Strommasten schauen müsst – treten, kurz darauf auch Minisfahren war wild, an das sich in den Kneipen und natürlich auch, ohne den Abfall zu- terpräsident Günther Beckauf dem Land kaum einer rückzunehmen. „Und das Volk ruft: End- stein, Seehofer war nachschwitzig und schräg.“ halte. Man sieht es aber auch gerückt. „Und ich habe mich lich versteht uns mal einer.“ David Saam, daran, wie viele Besucher komWeiß wundert sich, dass etliche die Wir- gefragt: Warum konnte Franz Musikant men, wenn Saam mit seiner Band rungen durchschauen, die Bayern in Berlin Josef Strauß behaupten, dies sei Kellerkommando auftritt, mit neonaber meist damit durchkommen. Und das, das schönste Amt nach dem Papst?“ 16
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Fans der Volksmusikband Kellerkommando: Gegen die Verseppelung bayerischer Folklore
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gelbem Akkordeon und schwarz-weiß gestreifter Hose, der Sänger sieht dann aus wie ein halbes Zebra. Kellerkommando spielen fränkische Volkslieder, versetzen sie mit Elektropop und Rap und wollen eigentlich nur, dass am Ende eine gute Party dabei rauskommt. Ihre Musik ist aber auch ein Statement. Gegen das Duzi-Du eines Stefan Mross, gegen die müde Bierbäuchigkeit bayerischer Festzeltbläser und damit irgendwie auch gegen Bayern und seine satte Selbstzufriedenheit. „Wir glauben, dass wir die authentischeren Volksmusikanten sind“, sagt Saam, „weil die Musik unserer Vorfahren wild war, schwitzig und schräg.“ In Bayern herrschte schon immer eine starke Gegenkultur, die derber war als anderswo. In München gab es den „Simplicissimus“, die Satirezeitschrift, in der Ludwig Thoma und Frank Wedekind ihre Häme über die Elite ausschütteten, vor allem über die außerhalb Bayerns. Heute ist München Heimat bester Kabaretts und Satiresendungen, und das jährliche Derblecken der Politprominenz am Nockherberg kommt dem katholischen Beichtvorgang nahe: Danach sind alle Sünden vergessen, ein Prosit der Gemütlichkeit! Neu aber ist, dass sich Tradition und Subkultur verbinden, dass sie etwas eigenes schaffen. David Saam liebt es, in alten Archiven zu wühlen und Schellackplatten aufzulegen. Er ist durch Finnland gereist und hat dort die Volksmusik schätzen gelernt, vor allem weil er sah, wie viel sie über die Heimat erzählen kann. Zurück in Deutschland, wechselte er vom Punkrock ins Volkstümliche, ein Wechsel, der in Franken wohl leichter geht als im Rest des Landes. Fühlen sich doch die Franken, einst von Napoleon ungefragt den Bayern zugeordnet, bis heute nicht wirklich bayerisch, eher anarchisch. Seit sechs Jahren gibt es Kellerkommando, gerade haben sie ihr zweites Album veröffentlich, „Belzebub“. Wenn sie auftreten, sind die Zelte voll. Einmal im Jahr organisiert Saam den Antistadl, einen Gegenpunkt zum Musikantenstadl wollte er da schaffen, gegen die Verseppelung bayerischer Folklore. Ein Klassentreffen ist daraus geworden für alle, die über Musik so denken wie er, präsentiert von Marihuanne & Kiffael, mit viel Bier und Pogo. Ein großes Festzelt mitten im Dorf, der Trachtenverein Stadeln feiert seinen 50. Geburtstag. Manche sind in Tracht gekommen, viele auch nicht. Auf der Bühne rappen und schwitzen die fünf Jungs vom Kellerkommando. „Mei Nachbar, die ald Nazisau, is jeden Abend dicht. Dann verzähld er über mich die dollsde Lügengschichd. Und wenn mei Nachbar numoll sochd, ich hädds mid seiner Maad, dann steig ich übern Garddnzaun und scheiss auf sein Sälad!“ Die Tanzfläche ist gefüllt, die Frauen
Seehofer verkündet, die CSU habe damals die Wasserwerfer nur deshalb gegen die Demonstranten der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf eingesetzt, um die Überlegenheit der Wasserkraft als erneuerbare Energie zu demonstrieren.“ Bei aller Häme, sagt Ude, habe er nie bestritten, dass die CSU-Politik einen gehörigen Anteil am ökonomischen Erfolg Bayerns hatte. Strauß half Airbus, zur internationalen Spitzenmarke zu werden. Stoiber lockte High- und Biotech-Firmen ins Münchner Umland. Manchmal war es auch nur Glück: Nach dem Zweiten Weltkrieg zogen viele Firmen aus der sowjetisch besetzten Zone nach München, das die liberaleren Amerikaner kontrollierten, Siemens etwa oder der Glühlampenproduzent Osram. Kabarettist Jonas Die bayerische Regierung lockte zu„Wabernde Depression“ sätzlich mit Finanzspritzen, einer guten im Dirndl hüpfen, die Herren in Lederho- Infrastruktur, den Bergen, dem nahen sen, die Skaterjungs und Gothic-Mädels, Italien. Und mit einer Beständigkeit, die und irgendwann weiß man nicht mehr, in vieles vereinfachte, von der Parteispende welchem Bayern man gerade ist, im alten bis zur Verabredung von neuen Standoder im neuen oder in beiden zusammen. orten. Manchmal war die Nähe zwischen Bayern ist viel bunter als sein Klischee, Wirtschaft und Politik allzu groß, die Amisagt Christian Ude, wie stark sich diese go-Affäre wurde auch ein Markenzeichen Buntheit aber durchsetzen wird, hänge Bayerns, das ihm aber nie geschadet hat. München ist eine rote Insel im schwarvon der Partei ab, die Bayern prägt: „Gibt es noch die alte CSU, oder meint es die zen Bayern, und dieses „tolerante und liberale Gegengewicht“, davon ist Ude überneue CSU wirklich ernst?“ Ude bestellt sich einen schwarzen Tee zeugt, sei mitverantwortlich für die Erfolgsund einen Teller mit Leberwurst, Käse und geschichte Bayerns. Die Kreativen und InEi. Die Friesische Teestube, betrieben von tellektuellen, sie kamen nur nach Bayern, einem Südtiroler, gelegen im Herzen weil es München gab. Hier könne man weSchwabings, ist ein Münchner Relikt. Viele gen der vielen Künstler ungezwungener leben, lobte schon Theodor Fontane. Die davon gibt es nicht mehr, was auch ein Bevölkerung aber sei „so geistig tot und Ergebnis des bayerischen Erfolges ist. verbiert wie nur möglich“. München ist die teuerste Stadt Sorgen macht sich Ude heute Deutschlands, Wohnungen werden um seine eigene Partei. Wie will für einen Quadratmeterpreis von „Der sie an Profil gewinnen, wenn bis zu 23 Euro vermietet. eigentliche die CSU nun nicht mehr über Dieses Problem ist ChrisGrundstock der Beerneuerbare Energie spottet, tian Ude gut bekannt, er völkerung ist … geistig nicht mehr über schwulwar über 20 Jahre lang Obertot und verbiert.“ lesbische Lokale herzieht, bürgermeister der Stadt, im Theodor Fontane wenn sie sich als Garanten der vergangenen Jahr hörte er auf. multikulturellen Vielfalt preist, 2013 trat er als SPD-Kandidat zur statt von Multikulti als „Gift“ zu bayerischen Landtagswahl an, was sprechen, wie es Beckstein einst tat? in etwa so ist, als erhoffte sich Nigeria „Wir reden“, sagt Ude, „über eine neue eine Medaille bei den Olympischen Winterspielen. Für Ude stimmten immerhin Schlachtordnung.“ Es gibt zwei Szenarien, wie diese 20,6 Prozent. Er habe schon vor 26 Jahren für eine Schlacht enden wird: Die CSU verliert, gesetzliche Mietpreisbremse geworben, weil ihre Wähler ihre ständigen Kurssagt Ude, und sei von der CSU als Sozialist wechsel nicht mehr mitmachen. Die CSU verspottet worden. Heute ist sie Teil des gewinnt, weil sie trotz ihrer Widersprüchschwarz-roten Koalitionsvertrags. Wie lichkeit ihre dominante Stellung behalten wendig und prinzipienlos die bayerische kann. Dann sähe es schwarz aus für die Regierung sei, zeige sich auch beim Atom- Roten, dann bliebe alles beim Alten. Dann strom. „Ich warte auf den Tag, an dem der bliebe Bayern einfach Bayern, selbstbewusst und voller Größenwahn. Und würde Animation: Was Sie über weiter alle nerven. Bayern wissen sollten Martin Knobbe, Conny Neumann spiegel.de/sp352015bayern oder in der App DER SPIEGEL
Mail:
[email protected],
[email protected] Twitter: @MartinKnobbe DER SPIEGEL 35 / 2015
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Bayerns zerrissener König CSU Er giftete, polterte und lieferte jede Menge Affären – trotzdem fehlt heute eine Urgewalt wie Franz Josef Strauß. Eine Würdigung zum 100. Geburtstag. Von Jan Fleischhauer
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er Minister steht an einer Kreu- eine Enttäuschung. So hat die Presse es die Reaktion auf ihn zu beschreiben. Selbst zung. Es pressiert, so wie es bei ihm schließlich immer mit dem berühmten Bay- aus relativ temperierten Menschen wich immer pressiert, aber zwischen ihm ern gehalten, der SPIEGEL zumal. Außer- jede Zurückhaltung, wenn es um Strauß und der Einfahrt zum Kanzleramt hat ein dem gehören Affären zu Strauß wie der ging. Kohl wurde von der Linken verachjunger Streifenpolizist Aufstellung genom- Rosenkranz zum Katholiken. Dieser Mann tet, Strauß wurde gehasst. Alles an diesem Ausnahmepolitiker fiel men, der die Verkehrsregelung mit großem faszinierte ja nicht trotz, sondern wegen Ernst versieht. Der Polizist ist dem Minister der Händel, die er sich mit jenen lieferte, größer als bei anderen aus: die Intelligenz, mit der ihn die Natur gesegnet hatte, das ein Ärgernis, Warten ist er nicht gewohnt. die ihm das Leben vergällen wollten. Fahr los, raunzt er seinen Fahrer an, als Die Hahlbohm-Affäre ist dabei nur die Redetalent, das seine Anhänger in Bann er meint, der Schutzmann habe ihm end- erste von vielen Affären, die noch folgen schlug und die Feinde frösteln ließ, auch lich Vorfahrt gewährt. Der Wagen setzt sollten, und eine Menge von dem, was der Durst und die Chuzpe, mit der er sich sich in Bewegung, von der Seite nähert Strauß ausmachte, ist hier bereits zu be- nahm, was ihm seiner Meinung nach zusich eine Straßenbahn, und nur dank einer sichtigen: das Ungestüm, mit dem er sich stand. Selbst im Tod bewies er noch, was Vollbremsung in letzter Sekunde kann über Widerstände hinwegsetzt; seine Un- für ein Kerl er war: Nach einem Oktobereine Karambolage vermieden werden. fähigkeit, einzulenken oder klein beizuge- festbesuch auf dem Weg zur Jagd sank er Mit dem glimpflichen Ausgang könnte ben, auch wenn das nach Lage der Dinge zu Boden, mit reichlich Promille im Blut die kleine Verkehrsepisode dieses April- das Klügste gewesen wäre; die in Em- und einem Trupp Bewaffneter als unfreitages im Jahr 1958 ihr Bewenden haben, pörung gekleidete Schadenfreude der Ge- williger Ehrengarde. wenn der Minister nicht Franz Josef Strauß genseite – aber natürlich auch die komiEin Rückblick auf sein Leben ist auch hieße. Einen wie Strauß hält man nicht sche Seite, die das Ganze hat und das der Rückblick auf eine Zeit, als Menauf, schon gar nicht, wenn er in dringen- Publikum an den Eskapaden dieses schen in die Politik drängten, die diese den Amtsgeschäften unterwegs ist. Also bajuwarischen Originals gern Anteil heute eher meiden würden. Wenn knöpft er sich den Polizisten vor, als er nehmen lässt. die Klage ertönt, dass Politiker zu Alles an später das Kanzleramt wieder verlässt. glatt und angepasst seien, taucht Am 6. September wäre Strauß diesem AusEin Wort gibt das andere. Angeblich als Gegenbild unweigerlich 100 Jahre alt geworden. Unnahmepolitiker droht Strauß dem Wachmann, er werde einer wie Strauß auf. Hier ter den Politikern, die fiel größer aus: die dafür sorgen, dass dieser von der liegt seine anhaltende BeDeutschland geprägt haIntelligenz, das Kreuzung verschwinde. Der Polideutung, nicht in dem strikten ben, ist er die Begabung, Redetalent, zist erstattet Anzeige gegen den Antikommunismus oder seiner die nie ans Ziel gelangte. Bis heute der Durst. Fahrer, Strauß reagiert mit eiSkepsis gegenüber der SchuldenEs hat bei ihm nicht reicht es, ner Dienstaufsichtsbeschwerpolitik der Siebzigerjahre, die zweizum Kanzler gereicht, seinen Namen zu de. Am Ende landet die Safellos vorausschauend war. obwohl er sich selbst erwähnen, um che vor Gericht, die Zeitunweitaus geeigneter fand als In seiner Person findet sich schon die lebhaftes Erkennen gen berichten fortlaufend über seinen Rivalen Helmut Kohl. Zerrissenheit, die Bayern bis heute kennhervorzurufen. Seinen Posten als Verteidigungs- zeichnet (siehe Seite 12): ein jenseits der den Gang der Geschichte. Als die Staatsanwaltschaft einen minister musste er im Zuge der Landesgrenzen bestauntes Nebeneinander Lokaltermin an der fraglichen KreuSPIEGEL-Affäre räumen. Das König- von Volkstümlichkeit und Intellekt, eine gezung anberaumt, finden sich neben eitum, das er nach dem endgültigen Ab- wisse Herablassung gegenüber dem Rest der ner Abordnung der SPD auch einige junschied aus Bonn in seiner Heimat als Mi- Republik, die es nicht so gut und schön hat, ge Frauen ein, die dem „tapferen Polizis- nisterpräsident errichtete, war ihm selbst und das auftrumpfende Selbstbewusstsein, ten“, wie er in der Sprache des Boulevards eher eine Art Exil. Aber auch als ewiger das von der Befürchtung gepeinigt ist, dass nun heißt, Blumen und Cognac überrei- Zweiter ist Strauß im Walhall der Politik einen die anderen nicht für voll nehmen. chen. Die Urteilsverkündung, zu der Kor- so präsent wie wenige, die zu ihrer Zeit Bereits sein Eintritt in die Politik ist feurespondenten aus dem In- und Ausland über mehr Macht und Ansehen verfügten. rig. Strauß ist gerade mal 33 Jahre alt, als anreisen, endet mit der Verhängung einer Bis heute reicht es, seinen Namen zu er- er für die junge CSU ein Mandat im ersten Geldbuße in Höhe von 100 Mark für wähnen, um lebhaftes Erkennen hervorzu- Bundestag erringt. Mit 40 ist er Minister Strauß’ Chauffeur, trotz der Einlassungen rufen. Wer vor 1970 geboren ist, hat noch für Atomfragen, ein Jahr später wird er des als Zeuge geladenen Ministers, die den Strauß-Ton im Ohr, diese von kurzen als Verteidigungsminister vereidigt, neben ihn als erfahrenen Kraftfahrer ausweisen Luftschnappern unterbrochenen Kadenzen, dem Außenministerium das prestigeträchsollen (300 000 Kilometer als Selbstfahrer bei denen man den Redner auf seinen Fer- tigste Ministeramt, das es damals in Bonn am Steuer, 700 000 Kilometer als Beifah- sen wippend vor sich sah, jeden Satz mit zu vergeben gibt. rer). Der Polizeibeamte Siegfried Hahl- vollem Körpereinsatz akzentuierend. Wer Die Anfänge der Bundesrepublik sind bohm, 24, ist über den Prozess zum be- jünger ist, hat zumindest eine Ahnung von eine gute Zeit für junge Leute. Die Kanzrühmtesten Streifenpolizisten der Republik dem Mann, der über das junge Nachkriegs- lerschaft des greisen Konrad Adenauer hat avanciert. das Bild einer saturierten, nach den ersten deutschland kam wie eine Urgewalt. Ist es unfair, eine Würdigung zum Kein anderer Politiker hat die Deut- Aufbaujahren früh versteiften Republik 100. Geburtstag von Franz Josef Strauß schen zu Lebzeiten so gespalten wie der mit einer solchen Geschichte zu beginnen? Metzgerssohn aus München. „Polarisie- * Beim traditionellen Starkbieranstich auf dem Münchner Natürlich ist es das, aber alles andere wäre rend“ ist ein viel zu schwaches Wort, um Nockherberg.
Ministerpräsident Strauß 1983* DER SPIEGEL 35 / 2015
19
Titel
Strauß beim SPIEGEL-Gespräch*: Die anfängliche Sympathie weicht schnell Beklemmung
Zitate ist nicht Marotte, sondern Ausdruck seiner humanistischen Erziehung. Das Abitur hat Strauß als Jahrgangsbester bestanden – zu einer Zeit, als das Gymnasium noch den besseren Ständen vorbehalten ist. Der Vater ist Metzgermeister im Münchner Bezirk Maxvorstadt; wer hier groß wird, ist normalerweise weit davon entfernt, eine höhere Schulbildung zu erhalten. Dass Strauß nicht in den väterlichen Betrieb eintritt, sondern erst das Maximiliansgymnasium besucht und dann die Universität, verdankt er der Protektion eines Priesters, der die außergewöhnlichen Geistesgaben des Jungen entdeckt hat. Seine Gegner können in Strauß später nur noch den Biedermann sehen, der alles niederbrüllt, was sich ihm in den Weg stellt. Dabei gibt es kaum einen Politiker, der so neugierig ist wie er. Bei Strauß kann es leicht passieren, dass aus einem 15-Minuten-Termin unversehens eine Stunde wird, wenn er sich in eine Diskussion zu einem * Mit den Redakteuren Erich Böhme, Dirk Koch und Rudolf Augstein 1977 in München.
Thema verstrickt, das ihn fesselt. Titel oder Ränge zählen für ihn ohnehin nicht, da kann er herrlich arrogant sein. Er habe selten jemanden erlebt, der im Umgang so wenig politikerhaft gewesen sei wie Strauß, sagt Peter Gauweiler, der dem bayerischen Ministerpräsidenten als Student nach einer Begegnung auf Anhieb verfällt und dann zu einem der engsten Vertrauten aufsteigt. Die anfängliche Sympathie in der Presse weicht schnell Beklemmung und dann offener Ablehnung. Vor allem das Verhältnis zum SPIEGEL verdüstert sich. Ein Grund ist die Politik, die Strauß in der Frage der atomaren Bewaffnung favorisiert. Der Minister ist davon überzeugt, dass Deutschland selber Nuklearwaffen braucht, wenn es nicht zum Spielball der Großmächte werden will. Das ist nach zwei verlorenen Weltkriegen für viele eine ungeheure Provokation. Tiefere Gründe für die Ablehnung liegen allerdings im Charakterlichen. Früh erkennt Augstein bei Strauß einen Ehrgeiz, der auf die Kanzlerschaft zielt. Schärfer
Das Leben des Franz Josef Strauß 1915
1935
Strauß wird am 6. September in München als zweites Kind des Münchner Metzgermeisters Franz Strauß geboren
Abitur; Beginn Einberufung zur Wehrmacht des Studiums der Geschichte, 1941 Abschluss des zweiten StaatsGermanistik und klassischen examens für das Lehramt an Gymnasien. Teilnahme am Philologie in Krieg gegen die Sowjetunion München
1939
1940
20
DER SPIEGEL 35 / 2015
1943
1945
1946
1952
1953
1955
Lehroffizier und Abteilungsadjutant an der Flakschule Altenstadt bei Schongau
Ernennung zum stellvertretenden Landrat von Schongau durch die Amerikaner
Berufung in den Landesvorstand der CSU
Stellvertretender Vorsitzender der CSU
Bundesminister für besondere Aufgaben im Kabinett von Konrad Adenauer
Atomminister
1949
Direktmandat bei den Wahlen zum ersten Bundestag 1950
1956
Verteidigungsminister
FOTO: JUPP DARCHINGER IM ADSD DER FES
hinterlassen. Aber das entspricht nicht dem Lebensgefühl der Generation der 30- bis 40-Jährigen, die mit Glück den Krieg überlebt haben. Henri Nannen ist 34, als er den „Stern“ aus der Taufe hebt, Rudolf Augstein sogar erst 23, als er den SPIEGEL gründet. Der Publizist und Willy-Brandt-Freund Klaus Harpprecht erinnert sich in seinen Memoiren, sich nie wieder so frei gefühlt zu haben wie in den angeblich so bleiernen Fünfzigern. Auch für Strauß ist das eine Zeit des Aufbruchs, in der er mit dem ihm eigenen Temperament vorandrängt. Schon die erste große Rede, die er im Bundestag zur Frage der Wiederbewaffnung hält, fällt so aus, dass ihm eine glänzende Zukunft bescheinigt wird. Zunächst versucht Adenauer, den ihm etwas zu eigensinnig auftretenden Mann auf Distanz zu halten. Als das nicht mehr geht, auch weil Strauß mit der CSU-Landesgruppe, in der er bald den Ton angibt, über eine eigene Machtbasis verfügt, bietet er ihm das Familienministerium an. Jeder andere hätte die Offerte angenommen, schon um es sich mit dem Alten, dessen Hang zum Nachtragen legendär ist, nicht zu verderben. Aber Strauß ist niemand, der sich auf Artigkeiten versteht. Statt sich brav zu bedanken, wagt er lieber ein Tänzchen. Familienminister? Damit könne er sich als Junggeselle, der nicht mal eine Verlobte vorzuweisen habe, nur lächerlich machen. Das ist ziemlich frech für einen, der bislang nicht viel mehr als ein paar beachtliche Auftritte im Parlament hingelegt hat, aber Adenauer schluckt es. Strauß muss dann auch nicht lange warten, bis ihm die Verantwortung für die zivile Atompolitik anvertraut wird, ein Thema, das schon eher zu den Ambitionen des Newcomers passt. Von den Medien wird Strauß zunächst wohlwollend betrachtet. Den Weitsichtigeren imponiert die analytische Schärfe, mit der er die Dinge durchdringt, von der Nuklearstrategie bis zu den Fehlern des Kanzlers. Strauß pflegt eine direkte Sprache und versteckt sich nicht hinter Plattitüden. Außerdem verfügt er über eine stupende Allgemeinbildung. Im Gegensatz zu vielen, die intellektuell tun, ist er wirklich belesen. Seine Vorliebe für lateinische
K E YSTO N E
als die meisten sieht er auch, dass dem verrats bereits, bevor Strauß sich mit der dem scheidenden Minister bei seinem AbBayern für dieses Amt wesentliche Eigen- Sache befasst. Aber alle trauen ihm zu, schied mit. Das ist typisch Adenauer: zum schaften fehlen, allen voran Selbstbeherr- dass er die Besetzung der Redaktion initi- Schluss ein als Trost getarnter Tritt. Strauß fällt nach dem erzwungenen schung und Gleichmut, die es braucht, um iert hat, um Rache zu nehmen. Als er dann eine noch so fragile Demokratie wie die noch im Bundestag bei der Frage, wer den Rückzug aus Bonn in ein abgrundtiefes junge Bundesrepublik zu regieren. Gefähr- stellvertretenden SPIEGEL-Chefredakteur Loch. Die Umstände seiner Demission lich sei der Mann aus München, das ist Conrad Ahlers im Spanienurlaub hat fest- setzen ihm so zu, dass niemand in seiner Augsteins Urteil, davon leitet sich alles setzen lassen, so lange laviert, dass er nur Umgebung glaubt, dass er sich von diesem Weitere ab. knapp an der Lüge vorbeischrammt, ist Schlag noch einmal erholen wird. Doch Als Wendepunkt gilt im Nachhinein ein das Urteil besiegelt. Wer bei einfachen Fra- nach einer ersten Schockphase schreibt Abend im Haus des SPIEGEL-Herausge- gen so schlingert wie Strauß, hat noch ganz sich Strauß, nun Ende vierzig, für ein Betriebswirtschaftsstudium ein. Wer glaubt, bers, ein Treffen, das eigentlich dem zwang- anderes zu verbergen. Adenauer kann es nur recht sein. Alles dass dieser Mann seine Tage im Bierzelt losen Kennenlernen dienen soll. Außer dem Hausherrn sind ein paar leitende Re- an diesem Kerl aus Bayern ist ein Affront: verbummelt, kennt ihn schlecht. Vier Jahre später ist er zum allgemeinen dakteure zugegen. Es gibt Häppchen und Da sind die Eigenmächtigkeiten, die sich Getränke, die Atmosphäre ist entspannt. Strauß am laufenden Band herausnimmt, Erstaunen zurück, diesmal als FinanzmiStrauß spricht, wie oft, wenn er sich wohl- die fröhliche Unempfindlichkeit, mit der nister in der Großen Koalition, was unter fühlt, dem Alkohol zu. Auch die anderen er Ermahnungen an sich abperlen lässt, den politischen Bedingungen das Amt ist, Teilnehmer der Runde sind bald nicht der dezidierte Hang zur Nicht-Servilität. auf dem alle Augen ruhen. Das Land erlebt nach Jahren ungebremsten Aufschwungs mehr ganz nüchtern, mit der Folge, dass Kein anderer im Kabinett hat dem greisen seine erste Krise, und Strauß schlägt sich die Diskussion schnell aufbrausend wird, Kanzler so oft widersprochen, mündlich so wacker, dass ihm selbst eingeschwoals sich Strauß plötzlich angegriffen sieht. wie brieflich. „Vieles kann Adenauer rene Gegner Respekt zollen. Das Unglück will es, dass er den Nacht- gar nicht anders auffassen denn als Bei seinem unwahrscheinlichen zug verpasst, der ihn nach München brin- Anmaßung oder UnverschämtWer Wiederaufstieg hilft ihm, dass gen soll, sodass die Runde bis in die Mor- heit“, schreibt Peter Siebenmorglaubt, dass er zu anhaltendem Hass nicht genstunden verlängert wird, mit noch gen in seiner umfangreichen, dieser Mann seine fähig ist. Im Nachlass hat mehr hitzigen Reden. „Der nicht“, lautet dieser Tage bei Siedler erTage im Bierzelt sich ein Briefwechsel mit anderntags die Meinung der Journalisten. scheinenden Biografie, für verbummelt, kennt Augstein erhalten, der in seiFortan widmen ihm die SPIEGEL-Leute die er eine Reihe bislang unihn schlecht. nem heiter-flapsigen Ton überzugänglicher Quelle ausgewerzahllose Geschichten über Skandale, brirascht. Mit Verwunderung sehen tet hat. sante und manchmal auch eher banale. die Adlaten, wie die beiden später Der aus Verärgerung erwachAuch Augstein muss einstecken. in der bayerischen Landesvertretung sene Argwohn geht so weit, dass Weil Strauß die Grenze zur Beleidizusammenhocken, Strauß vor seinem Adenauer seinen Verteidigungsgung übertreten sieht, ist er vor das Als Wendeminister in Verdacht hat, mithil- Wein, Augstein vor seinem Bier, um die Landgericht München gezogen. punkt gilt ein fe des Militärs einen Putsch Weltlage zu erörtern und sich über Kohl Um die Position des Klägers Abend im Haus des zu planen. Die Wahnvorstel- lustig zu machen. zu untergraben, hat Augstein SPIEGEL-Gründers, der Man kann Strauß’ Wirkung nicht verstelung verfestigt sich dergeeinen 73-seitigen Schriftsatz dem Kennenlernen stalt, dass Adenauer den Bun- hen, ohne seine rhetorischen Fähigkeiten über seinen Widersacher anferdienen sollte. despräsidenten über seine Be- zu würdigen. Bei vielen Politikern hat man tigen lassen. Darin findet sich fürchtungen unterrichtet. Kein heute Mühe, sich auch nur an einen Satz auch die Episode, dass Strauß auf Wunder also, dass er sich mit keinem zu erinnern. Bei Strauß sind die Aperçus einer USA-Reise vom RüstungskonWort mehr daran erinnern kann, dass und Spottworte, mit denen er seine Aufzern Lockheed die Schauspielerin Jayne er Carte blanche gegen den SPIEGEL er- tritte würzt, Legion. Sie purzeln ihm einMansfield zugeführt bekommen habe. Pech nur, dass sich Frau Mansfield zum an- teilt hatte, als die Gelegenheit günstig fach aus dem Mund. Mal sind sie komisch gegebenen Zeitpunkt nachweislich in Flori- schien, das verhasste Blatt ein für alle Mal („Lieber würde ich eine Ananasfarm in Alaska errichten, als Kanzler in Deutschda aufhielt und im siebten Monat schwanger in die Schranken zu weisen. war. Strauß wird diese Geschichte noch JahAm Ende ist es die FDP, die mit der Ent- land zu werden“), mal böse („Lieber ein re später wie eine Trophäe hochhalten. scheidung, ihre Minister aus der Regierung kalter Krieger als ein warmer Bruder“). Strauß ist als Redner ein Ereignis. Dabei Ihren Höhepunkt findet die Auseinan- abzuziehen, den Rücktritt erzwingt, aber dersetzung Augstein/Strauß in der SPIE- ein Seufzen der Erleichterung ist auch in verlangt er seinem Publikum einiges ab. GEL-Affäre 1962. Zwar laufen die Ermitt- der CDU zu hören. „Bittere Stunden for- Wer Strauß-Reden im Ohr hat, erinnert lungen gegen das Magazin wegen Landes- men den Mann“, gibt der Bundeskanzler sich meist nur an die deftigen Passagen. In
1961
CSU-Vorsitzender 1962
Strauß stürzt über die SPIEGEL-Affäre. Rücktritt als Verteidigungsminister 1960
Strauß bei seiner Vereidigung mit Bundestagspräsident Gerstenmeier 1966 in Bonn
1966
1969
Finanzminister in der Großen Koalition unter Kurt Georg Kiesinger
1978
Die CDU/CSU verliert Strauß scheidet die Bundestagswahl. nach 29 Jahren Während der sozialaus dem Bundesliberalen Koalition tag aus und überfinanz- und wirtschaftsnimmt das Amt politischer Sprecher des bayerischen der Opposition Ministerpräsidenten
1980
1982
Strauß tritt als Kanzlerkandidat der Union zur Bundestagswahl an und verliert gegen Helmut Schmidt
Machtwechsel in Bonn. Strauß verzichtet auf ein Ministeramt in der Regierung Kohl
1988
Strauß bricht während eines Jagdausflugs zusammen und stirbt am 3. Oktober in Regensburg
1970 DER SPIEGEL 35 / 2015
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Wirklichkeit geht es oft nicht unter meh- Ausgabe von Politikern“. Der Oberreren Stunden ab. Über weite Strecken pygmäe ist dabei selbstverständlich der bleibt er am Detail, wenn er die Auf- Dauerkontrahent Kohl, „total unfähig“, jemarschpläne des Ostblocks referiert oder mals das Kanzleramt zu erringen, wie man die Finanzlage des Bundes, das Ganze eher bei dieser Gelegenheit erfährt, da ihm daKolleg denn Büttenrede. Bei Strauß hat für „die charakterlichen, die geistigen und auch das Sperrige seinen Reiz, zumal man die politischen Voraussetzungen“ fehlen. Natürlich war Kohl nicht nur nicht unweiß, dass es irgendwann launig wird. Andere Redner ermatten mit der Zeit, fähig, sondern in vielerlei Hinsicht seinem Strauß entzündet sich an sich selbst. Man Widerpart überlegen. Anders als Strauß spricht nicht umsonst von Wortgewalt. In besaß der CDU-Vorsitzende die Fähigkeit diesem Begriff liegt neben Bewunderung zu warten, bis sich die Dinge in seine Richauch die Furcht vor der Überwältigung. tung entwickelten. Geduld ist in der Politik „Wer so spricht, der schießt auch“, entfährt eine unterschätzte Tugend; was Kohl im es dem FDP-Abgeordneten Reinhold Mai- Übermaß besaß, fehlte Strauß völlig. Auf vielen Karikaturen steht Strauß im er nach einem Strauß-Auftritt. Gegen Strauß zu sein wird zu einer Art nachträg- Schatten des Mannes, der Deutschland in licher Widerstandshandlung: Nie wieder die Katastrophe geführt hat. Studenten soll jemand in Deutschland durch die Kraft gingen dazu über, das ß in seinem Namen als SS-Runen zu schreiben. Tatsächlich hatder Rede an die Macht gelangen. Am Ende hat Strauß seine Karriere auch te er sich in der Nazizeit anständiger verkaputtgeredet. Er konnte nicht aufhören, halten als viele, die in ihm später eine Art selbst wenn es für ihn besser gewesen Hitler-Wiedergänger erkennen wollten. In wäre. Dem kraftvollen Sprachbild ließ er seinem katholischen Elternhaus galten die stets ein noch kraftvolleres folgen. In sei- Nazis als gottloses Pack. Als der kleine ner berühmtesten Rede, einem Auftritt vor Franz Josef einmal eine Nazi-Flugschrift Mitgliedern der Jungen Union Bayern in verteilt, setzt es eine Backpfeife. Diese der Münchner Wienerwald-Zentrale, kann Lektion hat der Bub nicht vergessen. Den Krieg überstand Strauß glimpflich. man das gut verfolgen: Seiner Klage über die „politischen Pygmäen“ bei der CDU „Soldat vom ersten bis zum letzten Tag“ folgen Ausfälle gegen „diese Zwerge im ist in seinen „Erinnerungen“ etwas großWestentaschenformat“ und die „Reclam- sprecherisch das Kapitel über seine Zeit 24
DER SPIEGEL 35 / 2015
bei der Wehrmacht überschrieben, dabei hatte er als Soldat das Kunststück vollbracht, seinen Fronteinsatz in sechs Kriegsjahren auf ein Minimum zu beschränken. Oft ist er auf Offizierslehrgängen oder anderweitig beschäftigt. Längere Zeit verbringt er im Großraum Stalingrad, aber bevor die 6. Armee untergeht, befindet er sich schon wieder zu Hause: Auf einem Bahntransport zu einer Fortbildung hat er Erfrierungen an beiden Füßen erlitten. Einige haben Strauß später im Verdacht gehabt, er habe als Verteidigungsminister nachholen wollen, was er an Fronterfahrung verpasst hatte. Manche Anordnungen lesen sich entsprechend schneidig, aber eigentlich ist Strauß von militärischem Auftreten unbeeindruckt. Wenn er später sieht, wie Nachfolger im Amt vor Generälen strammstehen, kann er sich darüber nur lustig machen. Schwerer wiegen die Vorwürfe gegen Strauß, dass er es mit dem Gesetz nicht so genau nimmt. Die Zahl der Affären, bei denen sein Name auftaucht, ist irgendwann kaum noch zu überblicken (siehe Seite 26). Gemessen an heutigen Moralbedingungen hätte es einer wie Strauß nicht über den Kreisverband Schongau hinausgebracht. Bei einer Reise in die Ägäis übernimmt gern ein reicher Freund, der praktischerweise über Flugzeug und Hubschrau-
FOTO: RICHARD SCHULZE-VORBERG
Rivalen Strauß, Kohl am Tegernsee 1984: Geduld ist eine in der Politik weithin unterschätzte Tugend
Titel
der Bundestagswahl 1976 ist Kohl Wo andere ins Nebulöse ausweichen, um ber verfügt. Auch bei der AusrichMit jedem für die Union ins Rennen gegan- ihre Absichten zu camouflieren, muss der tung eines Geburtstags an der Skandal, gen, ohne sich vorher mit der Polemiker immer die treffende Wendung Côte d’Azur steht ein Mäzen den ihm seine CSU abzusprechen, was die- finden. Dabei rutschen Strauß auch Sätze bereit. Feinde anzuhängen se furchtbar düpierte. Als heraus, die ihm anschließend leidtun. InEs ist nicht so, dass den versuchen, wächst sich Ähnliches 1980 zu wieder- tellektuelle als Ratten und Schmeißfliegen Wählern solche Gunstbeweise nur sein holen droht, machen die Bayern zu bezeichnen war ja nicht nur bösartig, entgangen wären, so sind die Ruhm. es war unter seinem Niveau. ein solches Theater, dass Kohl Zeiten auch damals nicht. Aber die 1980 gelingt es schließlich, Strauß Strauß den Vortritt lassen muss. Maßstäbe sind andere: Man muss endgültig nach Bayern zu vertreiben. Die Zeitungen schreiben den schon dabei erwischt werden, wie man 44,5 Prozent holt er bei der BundesVerzicht zur großen Demütigung die Hand aufhält, um ernsthaft in Betagswahl, das sind 4,1 Prozentdrängnis zu geraten. Alle juristischen Nach- hoch, aber Kohl ist die Lösung So gepunkte weniger als bei Kohl gar nicht so unrecht. Helmut forschungen dazu verlaufen im Sande. schwächt, dass vier Jahre zuvor. Damit ist Außerdem kann Strauß sich darauf ver- Schmidt sitzt noch zu fest im es nicht gereicht klar, dass er als Politiker aulassen, dass in Bayern andere Regeln gel- Sattel, um ihn aus der Ophätte, Kohl das Leben ßerhalb seiner Heimat keine ten als im Rest der Republik. Spezlwirt- position heraus ablösen zu schwer zu machen, Zukunft mehr hat. schaft ist hier kein Schimpfwort, sondern können, und die FDP, die es kann er gar Seine Weggefährten bestreidie Beschreibung eines Faktums. Mit je- zu einem Regierungsbündnis ten, dass Strauß über sein spätes dem Skandal, den ihm seine Feinde anzu- brauchte, ist noch nicht wund ge- nicht sein. Leben als bayerischer Monarch trauhängen versuchen, wächst nur sein Ruhm nug, um den Wechsel zu wagen. Da rig gewesen sei. Den Gedanken verbieals einer, der sich von denen im Norden ist nicht viel zu gewinnen, soll doch tet ihnen schon die Heimatliebe. Was der Strauß sich verheizen. nicht auf der Nase herumtanzen lässt. So kommt es auch. Strauß selbst ist in kann es Schöneres geben, als in München Es gibt auch einen anderen Strauß. Unter dem Trumm von Mann, den anschei- die Kandidatur mehr hineingestolpert, als zu residieren? Und hat er nicht Bayern nend nichts aus der Bahn werfen kann, dass er sich danach gedrängt hätte. Die zum wichtigsten, strahlendsten und überverbirgt sich eine verletzliche Seele. Im- Entscheidung verdankt sich einem Abend, haupt bedeutendsten aller deutschen mer wieder suchen ihn Phasen der Resigna- an dem ihn Edmund Stoiber und Friedrich Bundesländer gemacht? Die Wahrheit ist: tion heim. Einmal ist er sogar ernsthaft in Zimmermann bestürmen, diesmal müsse Natürlich leidet Strauß unter dem erzwunVersuchung, alles hinzuwerfen und ein er antreten, wenn er nicht als Angsthase genen Exil. Hin und wieder meldet er sich mit neues Leben zu beginnen, da ist er Finanz- gelten wolle. Bei so einem Argument kann minister. Auslöser ist die Bekanntschaft einer wie Strauß schlecht Nein sagen. An- Bosheiten gegen Bonn zu Wort. So gemit der Abiturientin Ulrike Pesch, Tochter dererseits weiß er, oder ahnt zumindest, schwächt, dass es nicht gereicht hätte, Kohl das Leben schwer zu machen, kann er gar eines befreundeten Ehepaars aus Köln. dass er keine wirkliche Chance besitzt. Die CDU, allen voran deren General- nicht sein. Aber das vermag nicht darüber Das Techtelmechtel ist so ernst, dass seine Frau Marianne sich mehrfach genötigt sekretär Heiner Geißler, lässt ihn hängen. hinwegzutäuschen, dass der von ihm versieht, ihren Mann zur Rede zu stellen, so- Ständig finden sich in der Presse Zitate, spottete Provinzmensch aus der Pfalz in wie besorgt man im Adenauer-Haus über Washington, London und Paris verkehrt, gar von Trennung ist die Rede. Strauß nimmt sich Kritik viel mehr zu den Wahlkampf sei. Dafür sind sie auf der während er die Huldigungen der Provinz Herzen, als seinen Feinden bewusst ist. anderen Seite alle auf den Beinen, um ge- entgegennimmt. Wer Fotos aus den Achtzigerjahren anVermutlich hätten sie jubiliert, hätten sie gen den Kanzlerkandidaten anzuschreiben sieht, findet das bayerische Kraftpaket gewusst, wie sehr ihn die Dauerherabwür- und anzudemonstrieren. Auch unter bürgerlichen Wählern gibt übermäßig gealtert, was nicht nur am Aldigung trifft, allen voran die Verächtlichmachung im Feuilleton, das über seine es Skepsis. Strauß weiß genau um die Vor- kohol liegt. Er werde nie den Blick vergesReden hinweggeht, als wären sie Bierzelt- behalte. „Ich hoffe, es geht dem deutschen sen, mit dem Strauß die niedere Decke des Volk nie so schlecht, dass es glaubt, mich CSU-Fraktionssaals im Münchner Maximirülpser, um dann bei Äußerlichkeiten zu zum Bundeskanzler wählen zu müs- lianeum vermaß, hat der langjährige Kulverharren: dem Schweiß, der ihm in sen“, hat er einmal halb im Spaß ge- tusminister Hans Maier in seinen MeBächen herunterfließt, dem Hemd, sagt, als die Kandidatur noch in wei- moiren geschrieben: „Das war ihm alles das aus der Hose hängt, seinem Verter Ferne lag. Für die deutschen zu klein, zu eng.“ langen nach einem Piccolo, soFür die Geliebt haben sie ihn in Bayern trotzBürger, die es gern bedächtig bald alles vorbei ist. Bürger, die es dem. Als der Ministerpräsident am 3. Okmögen, ist der bayerische PolGauweiler erinnert sich, gern bedächtig möterer viel zu expressiv. Man tober 1988 den Folgen eines Herzanfalls wie er einmal in einem Logen, ist der bayerische hört ihm gern zu, so wie erliegt, läuten in München die Kirchenglokal aufkreuzte, um sich mit Polterer viel zu man hin und wieder auch gern cken. Tausende säumen die Straßen, als Strauß zu besprechen, worauf expressiv. den Jahrmarkt besucht, aber als der auf einer sechsspännigen Lafette ruder nur kurz aufblickte und sagRegierungschef wünscht man sich hende Sarg durch die Ludwigstraße zum te: „Wollen Sie sich wirklich neben eine ausgeglichenere Natur. „Er Siegestor geführt wird. Wenn man auf das einen Verbrecher wie mich hocken?“ konnte Leuten Angst machen“, hat der Ende sieht, sagt Gauweiler, habe Strauß Erst dachte Gauweiler, Strauß habe eifrühere US-Präsident Jimmy Carter, von seinen Erzrivalen Kohl doch noch ausgenen Scherz gemacht. Er antwortete lustig, bis er merkte, dass es dem CSU-Vorsitzen- dem es heißt, er habe Strauß gemocht, ein- stochen: Das Schicksal, die letzten Tage hilflos im Rollstuhl zu verbringen, blieb den bitterernst war. Eine halbe Stunde er- mal über ihn gesagt. Für ein paar Monate reißt sich der Kan- ihm erspart. ging sich Strauß in Klagen über die Saukerle von der Presse, die ihn mal wieder didat am Riemen und vermeidet jedes lauVideo: Strauß und mit alten Kamellen verfolgten, bis er dann te Wort. Die ersten Journalisten beginnen der SPIEGEL sich schon zu fragen, was los ist, aber er im Wein ein wenig Ruhe fand. Dass es doch noch zum letzten Gefecht hält das nicht lange durch. Das ist ja die spiegel.de/sp352015strauss kommt, geschieht eher aus Versehen. Bei Tragik des polemisch begabten Menschen: oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 35 / 2015
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Titel
Ein Leben für die Industrie Zeitgeschichte Bislang unbekannte Akten belegen: Franz Josef Strauß ließ sich über Jahre mittels einer Briefkastenfirma von Unternehmen und Unternehmern schmieren.
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DER SPIEGEL 35 / 2015
FOTOS: SÜDDEUTSCHER VERLAG (O.); GORDON WELTERS / DER SPIEGEL (U.)
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er Leitz-Ordner ist dunkelgrau, ver- siebenhundert Seiten starke Biografie des Am 26. Oktober 1964 schreibt Kreile an schrammt und an den Rändern christsozialen Übervaters vorgelegt hat*. das Ehepaar Strauß, wie er sich die KonSiebenmorgen, der mehrere Jahre für struktion eines Büros für Wirtschaftsberaleicht zerfleddert. Der Metallbügel hat an den abgehefteten Papieren rotbrau- sein Buch recherchierte, hatte uneinge- tung vorstellt. Es soll den Firmennamen ne Rostspuren hinterlassen. Vergilbte Blät- schränkten Zugang zum Strauß-Nachlass „Eureco“ bekommen: „Da ein Einzelunter, mit Schreibmaschine beschrieben, und und zu vielen anderen exklusiven Quellen. ternehmen wegen der Absicht, nicht nach Durchschläge, so dünn, dass man hindurch- Seinen spektakulärsten Fund präsentiert außen in Erscheinung zu treten, wohl auser bescheiden in einer 15-seitigen Zwi- scheidet“, empfiehlt Kreile eine Treuhandzusehen glaubt. Die rund zweihundert Blatt in diesem schenbetrachtung, die er mit feiner Ironie konstruktion. Ordner sind geeignet, das Ansehen eines „Corollarium“ (Lateinisch für Zulage oder Bei der kann er alle Fäden in der Hand Mannes, dessen 100. Geburtstag die CSU Trinkgeld) nennt, Untertitel: „Die schnöde behalten und „vermeiden, daß ein auch noch im September pompös feiern will, aufs Seite der Freiheit“. so vertrauenswürdiger Dritter Kenntnis von Der Autor erklärt seine Zurückhaltung den Zusammenhängen dieses TreuhandverSchwerste zu beschädigen. Es sind Dokumente, die nahelegen, die Geschichte des mit der Tatsache, dass sich „die Geschichte trages erhält“. Deswegen, so Kreile, „kenne Franz Josef Strauß in Teilen neu und um- einstweilen nur bruchstückhaft rekonstru- nur ich die Treugeber und schreibe auch dieieren“ lasse: „Denn mit Ausnahme eines sen Brief selbst in die Maschine“. Die Konzuschreiben. Denn sie beweisen, dass sich der als gut gefüllten Aktenordners, der allerdings struktion habe den Nachteil, dass „neben Schutzheiliger der CSU verehrte baye- die wesentlichen Grunddaten und -doku- der Einkommensteuer auch Gewerbesteuer rische Ministerpräsident, der vorher als mente enthält, ist jegliche schriftliche Hin- anfällt“. Jede andere Lösung scheide jedoch Atom-, Verteidigungs- und Finanzminister terlassenschaft vernichtet, verschollen aus, „da Sie nämlich nicht nach außen als im Bund Politik gemacht hatte, von Un- oder besonders gut versteckt.“ Geschäftsführer auftreten wollen“. Doch mit diesen Fragmenten kann ternehmen und Unternehmern schmieren Im November 1964 wird das „Eureco ließ – mit fünf- und sechsstelligen Be- Siebenmorgen die Geschichte eines Büro für Wirtschaftsberatung GmbH trägen, von 1964 bis offenbar in die Acht- Ende 1964 vom Ehepaar Strauß und und Co. KG“ gegründet. Beteiligt einem Anwalt gegründeten Berazigerjahre. sind Strauß und seine Gattin MaSchnell Die Liste der Zahler reicht von BMW tungsunternehmens skizzieren. rianne, deren Anteile von Kreile kamen Kunden, und Bertelsmann über Daimler-Benz und Es hatte offenbar nur einen und einem Kollegen treuhändie für virtuelle Dornier bis hin zu Unternehmen des Flick- Zweck: führenden KonzerBeratungen echtes Geld derisch gehalten werden, Imperiums und der Taurus-Film GmbH des nen der deutschen Wirtsowie die „Eureco GmbH“, auf den schaft die Möglichkeit zu eröffMedienmoguls Leo Kirch. die wiederum dem Ehepaar Tisch legen Dass der zeitlebens von Skandalen um- nen, Strauß heimlich mit Geld Strauß und Reinhold Kreile gewollten. wehte Strauß einen freihändigen Umgang zu versorgen. hört, der auch dort mit seinem Kolmit Geld pflegte, ist bekannt. Vor allem legen als Treuhänder auftritt. Der Siebenmorgen urteilt: „Es ist kein im Zusammenhang mit Parteispenden, die branchenübliches BeratungsunternehName Strauß taucht nirgendwo auf. auf Sonderkonten flossen, über die nur er men, das Strauß da aufzieht. Es gibt eine Jetzt fehlten nur noch Kunden, die für und seine Schwester Maria verfügen konn- Briefkastenadresse, die zum Büro der virtuelle Beratungen echtes Geld auf den ten. Schon 1965 hatten Richter des Land- Anwaltskanzlei eines der Beteiligten ge- Tisch legen wollten. Die kamen schnell. gerichts München über Strauß den denk- hört, doch keine eigenen, tatsächlich Es waren Firmen, die in der Bundesrepuwürdigen Satz formuliert, es könne „kei- genutzten Geschäftsräume und keine An- blik Rang und Namen haben, mit ihnen nem Zweifel unterliegen, daß ihm der gestellten; die wenigen schriftlichen Aus- vereinbarte Kreile in der Regel Drei- oder Geruch der Korruption anhafte“. arbeitungen, die den Inhalt der Geschäfts- Vierjahresverträge. Die Leistungen, die Eureco dafür angebAber eben nur der Geruch. Die Aus- tätigkeit irgendwie dokumentieren sollen, sage, Strauß sei „ein der Korruption schul- sind das Papier nicht wert, auf dem sie lich erbrachte, sind in den Verträgen sehr vage gefasst. Meist geht es um volkswirtdiger Minister“, der „Geld angenommen stehen.“ Konstrukteur und Mastermind der schaftliche und betriebswirtschaftliche Behabe, das ihm nicht gehörte“, wurde dem SPIEGEL, den Strauß deswegen verklagt Briefkastenfirma ist ein damals 34-jähriger ratungen aller Art. Anwalt, der sich schon in jungen Jahren Nicht überall fühlten sich die Kunden hatte, seinerzeit untersagt. als Steuer- und Gesellschafts- damit wohl. So wollten etwa die Manager Erst jetzt, 50 Jahre später, lierechtsexperte einen Namen ge- bei Daimler-Benz mit so einem Vertrag gen die Beweise auf dem Tisch, macht hat: Reinhold Kreile, ein nicht vor ihren Aufsichtsrat. „Daimler ist dass sich der Politiker fast ein Studienfreund der Strauß-Gat- einverstanden und wird den Vertrag unVierteljahrhundert lang von der tin Marianne. Der ist, so Sie- terschreiben“, meldet ein Kreile-Vertrauter deutschen Wirtschaft alimentiebenmorgen, „mit dem richtigen 1966, „bittet ihn aber aus bestimmten ren ließ und mit dem Geld sein Sinn für Delikates und Diskre- Gründen nur auf ein Jahr zu befristen, weil Privatvermögen mehrte. tes ausgestattet“. dies der Vorstand ohne Befragen des AufGefunden hat sie der Politiksichtsrats machen kann. Das ist ein Grund, wissenschaftler und Journalist der einleuchtet.“ Peter Siebenmorgen, der pünkt* Peter Siebenmorgen: „Franz Josef Strauß. Kreile konnte das gut nachvollziehen. lich zu den JubiläumsfeierlichEin Leben im Übermaß“. Siedler, MünEr hatte Strauß schon im Oktober 1964 gekeiten eine fulminante, mehr als chen; 768 Seiten; 29,99 Euro.
Verteidigungsminister Strauß, „Starfighter“-Jet 1961: Retter deutscher Firmen
Leitz-Ordner mit Eureco-Akten, Strauß-Vermerk: Zahlungseingänge von 490 892 Mark
schrieben: „Über die praktische Tätigkeit der Gesellschaft verständigen wir uns am besten mündlich.“ Worin genau die praktische Tätigkeit der Eureco bestand, mit echter Beratung hatte es offenbar nichts zu tun. Nirgendwo in den Akten ist ersichtlich, worin konkret die so üppig honorierte Dienstleistung bestanden haben könnte. Fest steht: Sowohl bei der Konstruktion der Gesellschaft als auch beim Verschleiern ihres Zwecks strengten sich Kreile und Strauß mächtig an. Und die Geschäfte ruhten, so Siebenmorgen, immer dann, wenn Strauß ein politisches Amt antrat. Hinweise auf Korruption im engen, strafrechtlichen Sinne finden sich wohl auch deshalb nicht in den Unterlagen. Für solch primitive Varianten der Bestechlichkeit war der CSU-Politiker wohl erstens zu intelligent und zweitens nicht der Typ. Was es gibt, sind akribisch geführte Listen über die Einnahmen der Briefkastenfirma. Eine undatierte Aufstellung fasst für die Jahre 1964 bis 1968 die Zahlungseingänge zusammen: 490 892 Mark. Eine für die damalige Zeit immense Summe, das Jahresgehalt eines Bundesministers betrug seinerzeit um die 90 000 Mark. Strauß und die Industrie, die Industrie und Strauß – sie waren verbunden in einem Reigen, bei dem die Grenzen zwischen Korruption und Industriepolitik verschwammen und bei dem am Ende beide Seiten profitierten. Wie wenige bundesdeutsche Spitzenpolitiker bemühte sich Strauß im Laufe seiner Karriere um die deutsche Industrie, insbesondere wenn sie Standorte in Bayern hatte oder in den Freistaat kommen sollte oder wollte. Welche Motive die Eureco-Kunden hatten, Strauß persönlich mit namhaften Summen zu unterstützen, muss letztlich offen bleiben. Aber es gibt Indizien. Das mit Abstand stärkste ist die Industriepolitik des Franz Josef Strauß in den Fünfzigerjahren. Eberhard von Brauchitsch, lange Jahre Generalmanager des Flick-Konzerns, lobte noch 1997 „das ganz enge, vertrauensvolle Verhältnis“ zwischen Industrie und Politik in der Frühzeit der Bundesrepublik. Denn „die Politik braucht die Wirtschaft“, und „die Wirtschaft braucht die Politik“. Eine Ansicht, die Strauß wohl uneingeschränkt teilte. Zu den Profiteuren seiner Politik zählten viele, die später auf der Eureco-Kundenliste wieder auftauchten. Es waren vor allem Unternehmen der Rüstungsindustrie, die Grund hatten, Strauß wegen seiner Rolle bei der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik dankbar zu sein. Im September 1956 beispielsweise hatten sich die CSU-Bundestagsabgeordneten zu einem Sondertreffen versammelt. Dessen zentrales Ergebnis war in einer PresDER SPIEGEL 35 / 2015
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Titel
seerklärung der christsozialen Landesgruppe vom 18. September 1956 nachzulesen: „Erzeugung und Beschaffung von Waffen und Ausrüstungsgegenständen muss so vorgenommen werden, dass die vorgesehenen Verteidigungsausgaben auch der deutschen Wirtschaft zugutekommen.“ Gut vier Wochen später wurde Strauß Verteidigungsminister und sorgte dafür, dass seine Industriepolitik auch eine starke Forschungs- und Entwicklungskomponente bekam. Wie das in der Praxis aussah, zeigt das Beispiel der Beschaffung des Kampfflugzeugs „Starfighter“. Für Strauß war der von der US-Firma Lockheed entwickelte Abfangjäger das „Samenkorn“, aus dem er die bayerische Flugzeugindustrie hochzog. Durch das „Starfighter“-Projekt war das Verteidigungsministerium über Nacht „die größte Beschaffungsstelle des Kontinents geworden; der größte öffentliche Auftraggeber im Inland“ und damit „ein handelspolitischer Faktor, der nicht mehr übersehen werden könne“, wie ein Beamter des StraußMinisteriums auf einer Sitzung des Länderausschusses für verteidigungswirtschaftliche Fragen im Februar 1961 zu Protokoll gab. Für BMW, Dornier und Messerschmitt, Firmen, die bis dahin vor sich hin dümpelten, wurde der „Starfighter“ zum Retter. Der Rumpf des neuen deutschen Militärflugzeugs wurde in Lizenz bei Messerschmitt und Dornier hergestellt; die Triebwerke unter einer Lizenz von General Electric bei MAN und beim BMW-Konzern, den Strauß mit diesem Auftrag und mit Landeskrediten vor der Pleite rettete. Wie sehr er die Industriepolitik für Bayern über verteidigungsoder haushaltspolitische Erwägungen stellte, zeigt die Tatsache, dass er noch „Starfighter“ orderte, nachdem die Luftwaffe erklärt hatte, dass ihr Bedarf mit 250 Flugzeugen gedeckt sei. Danach erlaubte der Verteidigungsausschuss im Bundestag – unter CSU-Führung – die Bestellung weiterer 364 Maschinen. Und dann stürzte dieser Schutzpatron der bayerischen Industrie im Herbst 1962 über die SPIEGELAffäre. Über den Versuch, sich seiner unbequemsten Kritiker mit einem Verfahren wegen Landes28
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Kreile-Brief vom 26. Oktober 1964 „Am besten mündlich verständigen“
Eureco-Auflistung von Firmenzahlungen „Kein branchenübliches Beratungsunternehmen“
verrats zu entledigen, weil der SPIEGEL in einer Titelgeschichte die Schwachstellen der Bundeswehr aufgelistet hatte. Strauß musste zurücktreten und fiel von einem Tag auf den anderen ins politische Nichts. Die Bestürzung in den Chefetagen jener Unternehmen, die ihm ihre Wiederauferstehung verdankten, muss groß gewesen sein. Und deshalb wohl auch die Bereitschaft, den Garanten ihrer Erfolge weiter im Spiel zu halten. BMW zählte zu den ersten Kunden der Eureco. Und auch Friedrich Flick, der – als Nazi-Kriegsverbrecher verurteilt – den Aufstieg in die erste Reihe der deutschen Rüstungsindustrie ohne Strauß wohl nicht geschafft hätte. Flick war an vier Unternehmen beteiligt, die an Strauß’ Briefkastenfirma zahlten: Daimler-Benz, Maxhütte, die Friedrich Flick KG und die Buderus’schen Eisenwerke. Letztere kauften 1965 das Rüstungsunternehmen Krauss-Maffei und erlebten einen Boom. StraußGetreue drückten 1963 im Verteidigungsausschuss des Bundestags die Beschaffung von mehr als 1000 „Leopard“-Panzern durch. 1966 schoss der Umsatz von Krauss-Maffei wegen des Panzerdeals von 194 auf 325 Millionen Mark in die Höhe. Im selben Jahr flossen 114 000 Mark aus dem Flick-Imperium an Eureco. Dass Strauß, wenn es um Geld ging, keinerlei Berührungsängste im Hinblick auf Nazis und Nazigünstlinge hatte, belegt auch der Eureco-Kunde Fritz Ries, der in seinen Pegulan-Werken PVC-Böden und anderen Plastikkram für das Wirtschaftswunderland Deutschland produzierte. Ries, NSDAP-Mitglied von 1933 an, hatte in den zwölf Jahren des „Dritten Reichs“ durch „Arisierungen“ jüdischer Betriebe aus seiner Klitsche einen Konzern gemacht. Seine Pegulan-Werke überwiesen 1964 erstmals 12 000 Mark, ein Jahr später waren es bereits 66 000 Mark. Auch Strauß-Gattin Marianne scheint Ries’ braune Vergangenheit nicht gestört zu haben. Sie besaß eine 16-prozentige Kommanditeinlage bei der Ries-Firma Dyna-Plastik in Bergisch Gladbach, deren Gegenwert, 406 000 Mark, sie niemals einbezahlt hatte. Als Strauß in der Großen Koalition 1966 bis 1969 unter Kanzler
FOTO: DIGNE MELLER MARCOVICZ
den. Er legt nur entscheidenden Kurt Georg Kiesinger (CDU) FiWert darauf, dass die Zahlung nanzminister wurde, stellte die EuKöhnlechner auf sein eigenes Konreco ihre Geschäftstätigkeit laut to überwiesen wird. Darüber müssSiebenmorgen ein. Gemeinsam mit te mit Herrn Dr. Kreile gesprochen Karl Schiller, seinem SPD-Kollegen werden.“ im Wirtschaftsressort, erlangte der Warum wollte Strauß KöhnlechBayer eine bis dahin unerreichte ners Geld auf sein eigenes Konto Popularität. „Plisch und Plum“ bekommen? Weder im Aktenbewurden die beiden genannt, nach stand Pohle noch in den Eurecoden Hunden in der Geschichte von Unterlagen findet sich dazu ein Wilhelm Busch. Der Buhmann der Hinweis. Auch im Bertelsmann-Ardeutschen Politik war rehabilitiert – chiv „gibt es dazu leider keine Unund ein festes Einkommen hatte er terlagen“, wie ein Unternehmensauch. sprecher auf Anfrage erklärte. Doch die Zwangsehe zwischen Sicher ist: Die 100 000 Mark Union und SPD hielt nur bis zur Köhnlechner-Schmiergeld kamen Bundestagswahl 1969. Am Ende erst im Sommer 1970 an, als Strauß des Wahltages am 28. September kein Minister mehr, sondern wiestand fest, dass die Union die absoder „Berater“ war. lute Mehrheit verfehlt hatte und Auch Strauß selbst muss diese das Land vor einem tief greifenden Zahlung als am Rande der Legalität Wandel stand. Zum ersten Mal in angesehen haben. Das zeigt eine der damals zwanzigjährigen GeNotiz, die Strauß Ende 1970 an den schichte der Bundesrepublik stellte Rand eines Kreile-Briefs gekritzelt die CDU nicht den Kanzler. hat: Bertelsmann hatte mitgeteilt, Ängste vor Enteignung und andie über mehrere Jahre zum Preis geblicher Gleichmacherei griffen von 100 000 Mark per annum abbei den Konservativen um sich. EuIndustrieller Friedrich Flick 1971 geschlossene „Beratungsvereinbareco-Treuhänder Kreile war inzwiAufstieg in die erste Reihe nicht ohne Strauß geschafft rung über das Kalenderjahr 1970 schen über die CSU-Liste in den Bundestag eingezogen. Er knüpfte an, wo beim SPIEGEL landeten und offenbar aus hinaus nicht fortsetzen“ zu wollen. Strauß Strauß und er 1966 aufgehört hatten. Bu- dem Umfeld des ehemaligen CSU-Schatz- notierte am 30. Dezember 1970: „Ich habe derus, Daimler-Benz, die Friedrich Flick meisters und Flick-Gesellschafters Wolf- RK. mitgeteilt, daß auf Rechtsstreit verKG und Maxhütte sagten zu, sich wieder gang Pohle stammen, findet sich eine zichtet werden soll. Offenbar ist Köhnlechfür 30 000 Mark jährlich „beraten“ zu las- Korrespondenz zum Thema Köhnlech- ners Wort überhaupt nichts mehr wert.“ Zumindest nicht bei Bertelsmann, denn sen. Auch Dornier, Messerschmitt-Bölkow- ner / Bertelsmann. Blohm und die Vereinigten FlugtechniDer zufolge hatte die CSU schon seit kurze Zeit später verließ der Manager das schen Werke Bremen waren willens, für 1967 versucht, ihre defizitäre Parteizeit- Unternehmen im Unfrieden. Klagen wollangeblichen Rat „auf allen betriebswirt- schrift „Bayernkurier“ so aufzustellen, ten allem Anschein nach weder Strauß schaftlichen und volkswirtschaftlichen Ge- dass ihr Minus nicht die Parteikasse belas- noch Kreile – denn dann wäre ihre Briefbieten im Jahre 1970“ fünfstellige Summen tete. 120 000 Mark steckte die Partei Monat kastenfirma aufgeflogen. zu spendieren. für Monat in die Zeitschrift. Der Plan: BerZwei Jahre mussten die Eureco-GesellWeitere Kunden standen Schlange: „Ge- telsmann sollte den „Bayernkurier“ für schafter warten, um ein ähnlich großes mäß unseren letzten Besprechungen woll- über eine Million Mark übernehmen. Geschäft an Land zu ziehen: den Medienten Sie sich mit Herrn Köhnlechner unter„Dabei ist wesentlich, dass Bertelsmann mogul Leo Kirch. Am 24. März 1972 behalten, ferner mit Herrn Meyer von der es als denkbar bezeichnet, dass eine Beila- stätigte Kreile dem „sehr geehrten Herrn Allianz“, erinnert Kreile sein Zugpferd ge für den Bayern-Kurier, die für den Ber- Dr. Kirch“ für dessen Taurus-Film GmbH Strauß im Dezember 1969. telsmann Lesering wirbt, eine gute Reso- & Co. „die zwischen uns getroffene VerManfred Köhnlechner, der ab Mitte der nanz finden wird. Anders als durch Betei- einbarung, daß wir auf dem Gebiet des Siebzigerjahre als Alternativmedizin-Guru ligung von selbst interessierten Verlagen Kabelfernsehens und dem Bereich der hohe Popularität errang, war damals Ge- werden wir die Sache nicht lösen“, schreibt Audiovision Ihre Interessen vertreten“. neralbevollmächtigter des Bertelsmann- CSU-Schatzmeister Pohle an einen Ver- Für 100 000 Mark jährlich. Verlags. Das Gespräch mit Strauß muss trauten. Anders als in der Causa Bertelsmann ein gutes gewesen sein. Im August 1970 Offenbar war man sich im Prinzip schon finden sich im Bezug auf Kirch keine weimeldete Kreile der „verehrten Marianne“ Anfang 1969 einig. Nur Strauß, damals teren Unterlagen. Kreile, inzwischen 85 und dem „sehr geehrten Herrn Dr. noch Finanzminister der Großen Koali- Jahre alt, lebt in Bayern und lehnt jede Strauß“ einen Honorareingang des Bertion, legt sich wegen einer ihm offenbar Stellungnahme zu diesem und anderen telsmann-Verlags in Höhe von 100 000 wichtigen Detailfrage quer. In einer Eureco betreffenden Themen ab – mit dem Mark, zuzüglich Umsatzsteuer. „Notiz“ vom 13. Februar bezieht Hinweis auf seine anwaltliche Schweigesich Pohle auf ein Gespräch, das pflicht. Er legt jedoch Wert auf die FestIm Unterschied zu vielen ZahStrauß er wenige Tage zuvor mit stellung, „dass die an die Eureco geleistelungen in dem von Straußlegte Wert Strauß über Parteispenden ge- ten Beratungshonorare dem Grunde und Biograf Siebenmorgen ausdarauf, dass die führt hat: der Höhe nach der finanzamtlichen Prügewerteten Eureco-Ordner Bertelsmann-Zahlung „Herrn Strauss ist es fung unterlagen und ohne jegliche Beanlässt sich diese Überweisung auf sein eigenes gleichgültig, wohin die gespen- standung seitens der Finanzämter blieben“. einem konkreten Geschäft zuKonto floss. deten Beträge kommen und auf In Bayern kann selbst Schmiergeld sauber ordnen: In elf Aktenordnern, welches Konto sie überwiesen wer- sein. die Mitte der Neunzigerjahre Gunther Latsch, Klaus Wiegrefe DER SPIEGEL 35 / 2015
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Innenminister de Maizière beim Besuch einer Flüchtlingsunterkunft in Eisenhüttenstadt
„Schwieriger als Griechenland“
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ber die derzeit wichtigste politische Frage spricht Thomas de Maizière gern in der Sprache der Verwaltung. Da geht es um die „Verweisung von Asylbewerbern an Erstaufnahmeeinrichtungen“ und die Umstellung von „Antragsauf Zugangszahlen“. Der Bundesinnenminister will das Problem durch die Schaffung von „Standardabweichungsmöglichkeiten“ lösen, „entweder durch ein Artikelgesetz oder ein Standardabweichungsgesetz“. So, wie er spricht, so hat de Maizière die Ankunft von Hunderttausenden Flüchtlingen und Asylbewerbern in den vergangenen Monaten politisch behandelt: als technisches Problem, das auf dem Verordnungswege zu bewältigen ist. Noch Ende März lehnte er weitere Bundesmittel für die Länder und Kommunen, die mit der 30
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Unterbringung so vieler Menschen überfordert sind, ab: Es gebe für 2015 und 2016 eine „ausgewogene und abschließende Regelung“, sagte er. Das war keine weitsichtige Prognose. Spätestens seit dieser Woche ist für den Innenminister eine neue Zeit angebrochen. Er wolle „die deutsche Öffentlichkeit darüber unterrichten“, dass in diesem Jahr bis zu 800 000 Flüchtlinge zu erwarten seien, sagte de Maizière am Mittwoch bei einer Pressekonferenz in seinem Ministerium. Das wären viermal mehr als im vergangenen Jahr und doppelt so viele, wie noch im Frühjahr prognostiziert worden war. In Deutschland wurden im ersten Halbjahr 2015 rund 43 Prozent der Asylanträge der gesamten EU gestellt. Nun muss auch der Minister einräumen, dass die Ankunft der Flüchtlinge kein al-
lein technisches Problem mehr ist, sondern die wohl größte politische Herausforderung der nächsten Jahre. Die Entwicklung sei nicht vorhersehbar gewesen, sagt de Maizière. Tatsächlich aber ist schon seit Wochen und Monaten klar, dass Länder und Kommunen überfordert sind. Derzeit gibt es etwa 45 000 Plätze in sogenannten Erstaufnahmeeinrichtungen, in denen Asylsuchende in der Regel drei Monate lang untergebracht werden. Allein im Juli reisten jedoch fast 83 000 Flüchtlinge nach Deutschland ein. Nicht nur der Innenminister, die gesamte Bundesregierung hat die Dimension des Problems unterschätzt. Angela Merkel ließ sich bislang nur sehr zögerlich auf das Thema ein. Ein Flüchtlingsheim besuchte sie nie. Offenbar wollte sie verhindern, dass das Thema der CDU politisch schadet.
FOTO: FRITZ ENGEL
Flüchtlinge Endlich reagiert die Bundesregierung auf die hohe Zahl von Asylbewerbern. Wann aber erklärt Angela Merkel den Deutschen, wie sehr sich ihr Land verändern wird?
BMIPrognose für Asylbewerber/ Flüchtlinge 2015:
Jetzt spricht auch sie in einer anderen frustriert“, sagt ein Kollege Sprache über die Situation. Im ZDF sagte aus einem anderen Bundes800000 sie am vergangenen Sonntag, das komple- land. Etwas weiter ist de Maizière xe Flüchtlingsthema stelle Deutschland vor riesige Aufgaben. Eine Lösung werde sich in seinen Gesprächen mit Sigmar nicht finden lassen, „wenn wir im Normal- Gabriel. Er will zusammen mit dem Wirtschaftsminister zentrale modus arbeiten“. Das Gegenstück zum Normalmodus ist Vorschriften im Bau- und Vergabeder Krisenmodus. De Maizière und seine recht aussetzen. Denn schnelle HilKabinettskollegen müssen nun nachholen, fe scheitert oft nicht nur am Geld, was in den vergangenen Monaten ver- sondern auch an den Gesetzen. säumt wurde. In den Ministerien werden So hat die Bundeswehr deutschTask Forces gebildet, wie sie sonst bei landweit UnterbringungsmöglichkeiNaturkatastrophen üblich sind. Sie sollen ten in 16 Kasernen für Flüchtlinge Vorschläge machen, wie Länder und Kom- zur Verfügung gestellt. Einige davon munen beim Umgang mit den Flüchtlingen wurden von den Soldaten frühzeitig unterstützt werden können. „Wir müssen geräumt. In 13 Kasernen leben bealle zusammenstehen und zusammen- reits Flüchtlinge, die anderen werarbeiten“, sagt de Maizière. den derzeit dafür hergerichtet. Im Das allein wird nicht reichen. Die Bun- Innenministerium hofft man, dass desregierung – und hier sind vor allem sich noch mehr Bundeswehrgebäudie Kanzlerin und ihr Innenminister gefor- de für diesen Zweck finden lassen. dert – muss die Deutschen nicht nur einmal, sondern immer wieder auf diese be- Asylsuchende sondere Lage einstimmen, sie muss den in Deutschland Januar bis Juli 2015: Menschen im Land klarmachen, dass es 218221 Erstanträge sich hier nicht um ein vorübergehendes Folgeanträge Problem handelt, sondern um eine Aufga200 000 be, die alle politischen Kräfte über Jahre beschäftigen wird. Wenn dieses Jahr 800 000 Flüchtlinge kommen: Wie viele sind es dann im nächs100 000 ten und übernächsten Jahr? In Syrien und in Afrika haben sich Millionen Menschen auf den Weg gemacht. Noch sind die meisten Deutschen hilfsQuelle: Bamf 2015 bereit und gutwillig, aber bevor die Kapa- 1995 zitäten erschöpft sind, ist politische Führung gefragt: Merkel und de Maizière werDoch die Umwandlung in Flüchtlingsden den Bürgern erklären müssen, dass heime dauert wegen der strikten Bauvorsich ihr Land verändern wird, und zwar schriften zu lange und ist teuer. Der Brandschneller als je gedacht. schutz in den Kasernen muss auf den neuEs müssen Wohnungen geschaffen wer- esten Stand gebracht werden, sobald die den und Arbeitsplätze, Schulen und Hei- Soldaten die Gebäude verlassen. Auch me. Und gerade die Kanzlerin, die bisher ohne neue Brandschutzfenster seien Kanicht gerade durch flammende Reden auf- sernen sicherer als Zelte, heißt es dazu im gefallen ist, muss den Menschen dann Innenministerium. mit überzeugenden Worten ein größeres Gabriel sieht es genauso. In der Sitzung Maß an Geduld und Toleranz abverlan- der SPD-Bundestagsfraktion am vergangen. genen Dienstag, auf der über Griechenland Die schwarz-rote Koalition hat sich bis- geredet werden sollte, stimmte er seine lang nur im Klein-Klein verheddert, sie Parteifreunde auf das Flüchtlingsthema konnte sich bisher nicht einmal in der wich- ein. „Das wird unser Land verändern“, sagtigen Frage einigen, wie viel Geld der te er. Bund für die Flüchtlinge zahlen soll. Bei Der Wirtschaftsminister forderte, die Reeinem Treffen von rund 50 Regierungsver- geln für Baustandards und Ausschreibuntretern aus Bund und Ländern an diesem gen flexibler zu handhaben. Bisher muss Mittwoch musste de Maizière kleinlaut ein- der Bau einer Flüchtlingsunterkunft ab eiräumen: „Es gibt noch keine abgestimmte ner bestimmten Summe EU-weit ausgePosition der Bundesregierung.“ schrieben werden. So viel Zeit haben die So verständigte sich die Runde lediglich Kommunen nicht. Die schnelle Unterbrindarauf, einen Koordinierungsstab zwi- gung von Flüchtlingen dürfe nicht am Verschen Bund und Ländern zu bilden, einen gaberecht scheitern oder daran, „dass die Krisenstab also, der nicht so heißen darf. Trittschalldämmung eines Hauses nicht „Einigkeit bestand nur darin, dass wir perfekt ist“, sagte Gabriel. schnelle Lösungen brauchen“, bilanzierte Seine Beamten haben die Gesetzestexte hinterher ein Ländervertreter. „Wir waren studiert und ermuntern Kommunen nun,
mögliche Sonder- und Ausnahmeregelungen auszunutzen. Die waren ursprünglich für Naturkatastrophen gedacht. Jetzt sollen sie für die Versorgung von Flüchtlingen genutzt werden. Das Wirtschaftsministerium versucht, die EU-Kommission davon zu überzeugen, die Ausnahmen mitzutragen. Außerdem richtet das Ministerium eine Hotline ein, wo sich Verwaltungsmitarbeiter aus der ganzen Republik melden können, wenn sie das komplexe deutsche Vergaberechtswesen nicht mehr durchblicken. Viele Vorschläge, die die Ministerien derzeit diskutieren, haben kaum Chancen, umgesetzt zu werden. Für die Umstellung eines Teils der Gelder auf Sachleistungen etwa, die de Maizière ins Gespräch gebracht hat, ist keine politische Mehrheit in Sicht. Und auch die Idee des Innenministeriums, die Entwicklungshilfe an die Bereitschaft der Herkunftsländer zu knüpfen, abgelehnte Asylbewerber wieder aufzunehmen, wird sich nicht realisieren lassen. Entwicklungsminister Gerd Müller ist dagegen. In einem wichtigen politischen Streitpunkt gibt es dagegen einen neuen Vorschlag, der zum Kompromiss führen könnte: Von den knapp 196 000 Erstanträgen auf Asyl in diesem Jahr stammen über 40 Prozent von Flüchtlingen aus dem Westbalkan. Nur ein Bruchteil von ihnen erhält Asyl. Union und SPD wollen deshalb die Liste der sicheren Drittstaaten um den Kosovo, Albanien und Montenegro erweitern. Das würde schnellere Verfahren ermöglichen und soll abschreckend wirken. Dafür braucht die Bundesregierung im Bundesrat jedoch die Stimmen von mindestens zwei Ländern, in denen die Grünen mitregieren. Doch nicht einmal der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann wäre derzeit bereit, die Liste auszuweiten. Der schleswig-holsteinische Umweltminister Robert Habeck schlägt nun im SPIEGEL für Länder, die dauerhaft extrem niedrige Anerkennungsquoten haben, ein schnelleres Verfahren vor (siehe Seite 32). Dazu würden die Staaten des Westbalkans gehören. Bislang zielen alle Verbesserungen darauf, die Flüchtlinge vernünftig unterzubringen und die Verfahren zu beschleunigen. Noch nicht einmal ansatzweise klar ist, wie das viel größere Problem gelöst werden soll: Was soll mit denen weiter geschehen, die in Deutschland bleiben dürfen? Unter den Flüchtlingen, die sich aus Syrien oder Afrika nach Deutschland durchschlagen, sind überdurchschnittlich viele junge Männer. Ein Problem für die Sicherheitsbehörden wäre eine hohe Zahl arbeitsloser Muslime, die empfänglich für DER SPIEGEL 35 / 2015
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Deutschland
niken fehlen Dolmetscher, sodass die Ärzte oft nicht wissen, was den Patienten fehlt. Viele Probleme werden derzeit nicht vom Staat, sondern von Freiwilligen gelöst, die Flüchtlingen Kleidung und Lebensmittel bringen, sie unterrichten oder sogar beherbergen. Eine Lösung ist das auf Dauer nicht, vor allem nicht, wenn sich die Situation weiter verschärft, wovon das Innenministerium ausgeht. Es gehe nicht nur darum, Hunderttausenden Flüchtlingen und Migranten einen Platz in der Gesellschaft zu verschaffen, sagt Wirtschaftsminister Gabriel seit Monaten schon. Die Herausforderung bestehe auch darin, den Deutschen die Angst zu nehmen, dass sie benachteiligt würden und ins Hintertreffen geraten könnten, betonte er vor der Fraktion. Um keine Ressentiments zu wecken, hat die Koalition bislang der Versuchung weit-
„Es riecht nach Willkür“ Interview Der Grüne Robert Habeck will die Liste der sicheren Herkunftsstaaten abschaffen. Habeck, 45, ist Minister für Landwirtschaft und Umwelt in Schleswig-Holstein. SPIEGEL: In dieser Woche haben Landespolitiker der Grünen eine gemeinsame Erklärung zur Flüchtlingspolitik abgegeben. Waren Sie unzufrieden mit der Bundespartei? Habeck: Gar nicht. Aber in der Flüchtlingspolitik können ohne grüne Stimmen im Bundesrat keine Gesetze geändert werden. Daraus erwächst eine hohe Verantwortung. Wir müssen sagen, wie es geht. Mit unserer Erklärung wollen wir deutlich machen, dass wir konkrete Lösungen haben, aber auch nicht jeden populistischen Quatsch mitmachen. Wir sind geschlossen, handlungsfähig und lösungsorientiert. Das sagt das Papier. SPIEGEL: Die Grünen haben schon erfahren, was für ein Sturm ausgelöst wird, wenn man die Parteilinie verlässt: Winfried Kretschmann stimmte im Bundesrat für eine Erweiterung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten, die von der Bundespartei abgelehnt worden war. Habeck: Er wurde auf dem Parteitag beklatscht. Ich kenne kaum einen Politiker, der so von Verantwortungsethos durchdrungen ist wie er. Und gerade auch deshalb ist es immer leicht, sich mit ihm auf konkrete politische Lösungen
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zu verständigen. Das eint uns im Übrigen alle. SPIEGEL: Es könnten noch weitere sichere Herkunftsstaaten benannt werden. In der Erklärung heißt es, die Landesgrünen seien von der Idee nicht überzeugt. Werden Sie also nicht zustimmen? Habeck: In der Realität bringen die sicheren Herkunftsländer bislang gar nichts, dienen aber als eine Art Kampfbegriff für eine vermeintlich harte Gangart. Es kann doch keiner erklären, warum bestimmte Länder ausgerechnet dann als sicher eingestuft werden sollen, wenn besonders viele Menschen aus ihnen zu uns kommen. Es riecht nach Willkür und Aktionismus. SPIEGEL: Also sind Sie dagegen? Habeck: Um da rauszukommen und trotzdem Verfahren zu vereinfachen, kann ich mir vorstellen, die Liste sicherer Herkunftsstaaten ganz zu streichen und stattdessen einen gesetzlichen Automatismus zu etablieren, der bei einer dauerhaft extrem geringen Schutzquote aus bestimmten Ländern zu einem beschleunigten Verfahren bei den Asylanträgen führt. Dann gibt es eine nachvollziehbare Grundlage für vereinfachte Verfahren – ohne die Grundidee des Asyls zu beschneiden. Vielleicht löst ein solcher Vorschlag ja mal einen Knoten. SPIEGEL: Wird auf diesem Weg das Asylrecht nicht sogar verschärft?
gehend widerstanden, das Thema parteipolitisch zu nutzen. Eine mit ausländerfeindlichen Untertönen gespickte Debatte wie zu Beginn der Neunzigerjahre gibt es nicht. Aber mit der Aussetzung des Parteienstreits allein lässt sich das Flüchtlingsproblem nicht bewältigen. Merkel und ihr Innenminister werden möglichst schnell eine Idee davon entwickeln müssen, wie ein Deutschland aussehen soll, das jährlich Hunderttausende neue Bürger aus der EU, Afrika und dem Nahen Osten integrieren muss. Noch ist offen, ob die Bundesregierung der Aufgabe gewachsen ist. Die Flüchtlinge seien eine Herausforderung, aber keine Überforderung für Deutschland, sagt de Maizière selbstbewusst. Den Beweis, dass das stimmt, muss er noch erbringen. Horand Knaup, Ralf Neukirch, Gordon Repinski, Barbara Schmid, Gerald Traufetter
Habeck: Nein, es ist keine Verschärfung, im Gegenteil. Aber wenn wir unser Schutzsystem für Flüchtlinge erhalten und das Grundrecht auf Asyl verteidigen wollen, werden wir zu Veränderungen in der Umsetzung kommen müssen. SPIEGEL: Zum Beispiel? Habeck: Beginnen wir mit denen, die bleiben dürfen. Syrische Flüchtlinge sind Kriegsflüchtlinge. Die vielen Hunderttausend Syrer, die wir erwarten, könnten wir direkt als Kriegsflüchtlinge über Kontingente aufnehmen und aus dem Asylverfahren raushalten. Und wir sollten mindestens vorübergehend aufhören, Flüchtlinge wieder in die Länder zurückzuschicken, in denen sie das erste Mal in der EU aufgegriffen wurden. Wem hilft das denn, bitte? SPIEGEL: Und die, die nicht bleiben dürfen? Habeck: Menschen, die kein Asyl bekommen, aber als Fachkräfte gebraucht werden, müssen die Möglichkeit bekommen zu arbeiten. Wir brauchen keine Vorrangprüfung für Arbeitsaufnahme, das stammt doch aus einer Zeit, als es darum ging, den deutschen Arbeitsmarkt abzuschotten. Heute brauchen wir ausländische Arbeitskräfte – im Niedriglohnbereich genauso wie Fachkräfte. Wir müssen pragmatisch mit dem Rückstau der unbearbeiteten Anträge umgehen, indem wir Asylsuchenden, die schon lange im Verfahren sind, eine Aufenthaltserlaubnis geben – wenn sie ihren Asylantrag hierfür zurückziehen. Und wir sollten die Lage auf dem westlichen Balkan politisch stabilisieren, indem wir Bildung und Ausbildung dort fördern. Es gibt vernünftige Lösungen, ohne dass Deutschland sich abschottet und sich seiner Verantwortung entzieht. Interview: Britta Stuff
FOTO: CARSTEN REHDER / PICTURE ALLIANCE / DPA
die Botschaften islamistischer Extremisten sein könnten. Aber wo sollen Jobs für diese Menschen herkommen? Während viele Syrienflüchtlinge eine gute Ausbildung haben, sind nach Schätzungen der Behörden bis zu einem Drittel der Afrikaner Analphabeten. Viele Bundesländer wissen zudem nicht, wo sie das Geld für neue Lehrer auftreiben sollen. Vor allem Deutsch-, aber auch Berufsschullehrer sind gefragt. Manche Länder wie Berlin haben ohnehin Probleme, ausreichend Pädagogen zu finden. Der Lehrermangel könnte „dramatische Ausmaße“ annehmen, mahnte in dieser Woche der Vorsitzende des Berufsschullehrerverbands Baden-Württemberg, Herbert Huber. Er forderte allein für Baden-Württemberg in den kommenden Jahren 1700 zusätzliche Berufsschullehrer. In vielen Kli-
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SPIEGEL-Gespräch Der Filmstar Til Schweiger, 51, über seine Pläne für ein Flüchtlingsheim, seine dünnhäutige Reaktion auf Kritik und die neue Freundschaft mit Vizekanzler Gabriel
Das Gespräch führten die Redakteure Lars-Olav Beier und Marc Hujer.
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FOTO: THOMAS MEYER / DER SPIEGEL
„Geil, machen wir“
SPIEGEL: Herr Schweiger, seit drei Wochen streitet die Republik über Ihre Pläne, in Osterode im Harz ein Vorzeigeheim für Flüchtlinge einzurichten. Wie weit sind Sie mit Ihren Planungen? Schweiger: Ich habe mich mit Boris Pistorius getroffen, dem Innenminister von Niedersachsen, der kam zu mir nach Hamburg und hat mir versichert, dass diese Kaserne, aus der wir ein Flüchtlingsheim machen wollen, ideal wäre, da ist richtig viel Platz. Leider geht es dem Besitzer, der die Kaserne gekauft hat, finanziell offensichtlich nicht so gut. SPIEGEL: Wolfgang Koch. Dessen Firma Princess of Finkenwerder gilt als finanziell schwer angeschlagen. Schweiger: Ich kenne Koch gar nicht, er ist ein Bekannter von Jan Karras, einem guten Freund von mir. Jan ist bei der Produktion des Kino-„Tatorts“, den wir gerade drehen, für die Sicherheit zuständig. Er hat mich auf die Idee mit dem Flüchtlingsheim gebracht. Jetzt erzählt Jan mir, dass sich Koch kaum noch aus dem Haus traut. Die Kinder werden gefragt: „Ist dein Vater ein Gangster oder so?“ Er hat vier Kinder. Ich verstehe nicht, wie man jemanden so diskreditieren kann. SPIEGEL: Hätten Sie sich Ihre Partner bei diesem Projekt nicht etwas genauer ansehen sollen? Schweiger: Nein, auch wenn gerade im „Stern“ eine riesen Geschichte erschienen ist: Gute Absichten – falsche Partner. Okay, das Projekt ist ein Schnellschuss. Aber falsche Partner? Das lass ich mir nicht sagen. SPIEGEL: Ihr Freund Karras wurde auch als Söldner bezeichnet. Schweiger: Völliger Quatsch. Er beschützt Menschen, er ist für mich ein Vorbild. Nun wird er in den Medien übel beschimpft. Doch da muss er durch. Ich erlebe das seit über 20 Jahren. SPIEGEL: Was machen Sie, wenn das Osterode-Projekt an den ganzen Querelen scheitert? Schweiger: Pistorius hat mir gesagt: „Wir haben vor einem halben Jahr ein Heim in Osnabrück eröffnet, das ist ziemlich vorbildlich. Wollen Sie da nicht diese Projekte jetzt schon mal verwirklichen? Das Heim gibt es ja schon.“ Ich habe geantwortet: „Find ich geil, machen wir.“ Und dann hat dieses Heim am nächsten Tag angerufen. SPIEGEL: Wo kommt das Geld her, das Sie in dieses Heim stecken wollen? Schweiger: Von einer Stiftung, die gerade in Gründung ist. Thomas D von den Fantastischen Vier und ich haben gestern telefoniert: „Thomas, ich nehme 100 000 von meinem Geld, das stecke ich da rein.“ Und dann sagte er: „Echt? Ja, dann gebe ich
FOTOS: ALEXANDER KOERNER / GETTY IMAGES (L.); SPD / DPA (R.)
Ehemalige Rommel-Kaserne in Osterode, Freunde Gabriel, Schweiger in Berlin: „Ich bin kein Politiker, und ich hab nicht vor, einer zu werden“
auch 50 000 oder 100 000.“ „50 wären der Knaller, 100 natürlich der Oberknaller.“ Und dann sagt er: „Na, ich muss jetzt mal gucken, wie viel ich auf dem Konto habe, aber pass auf, ich frage einfach mal die anderen Fantas. Das kriegen wir schon hin.“ Jogi Löw hat mir gesagt, er kriegt nächste Woche einen Scheck von der Sporthilfe über 25 000, da habe er sich eh schon überlegt, das Flüchtlingen zu spenden. Jetzt habe ich 225 000, und wir haben noch gar nicht richtig angefangen. SPIEGEL: Nicht alle nehmen Ihnen ab, dass es dabei um die Flüchtlinge geht. Sondern um einen PR-Coup. Schweiger: Jetzt schauen Sie sich mal an, was ich hier in der deutschen Filmindustrie abgezogen habe. Meine Firma Barefoot Films ist gerade so erfolgreich, das hat nicht mal der Bernd Eichinger hingelegt. Und dennoch wurde jeder meiner Filme in die Tonne getreten. Und ich wurde auch in die Tonne getreten. In Deutschland gibt es drei Filmstars: Til Schweiger, dann gibt es jetzt seit Neuestem Matthias Schweighöfer und Elyas M’Barek. Und that’s it. Aber jetzt stellen Sie sich mal vor, Will Smith würde in Amerika über Jahre hinweg nur fertiggemacht werden: Der kann nichts, der ist dumm, die Filme sind scheiße. Neid gibt es auf der ganzen Welt. Aber wenn ich mich jetzt festlegen müsste, in welchem Land der Neid erfunden wurde, dann würde ich sagen in Deutschland. SPIEGEL: Wenn Neid und Missgunst in Deutschland so groß sind, warum geht niemand auf Matthias Schweighöfer los? Schweiger: Weil er nichts sagt. Weil er den Journalisten seine Filme zeigt und gleichzeitig auch noch einen auf Welpenschutz macht: Ja, ich muss noch viel lernen. Aber lassen Sie den Schweighöfer mal irgendwo klar Position beziehen, und lassen Sie ihn mal noch ein bisschen mehr Erfolg haben, dann werden Sie sehen, was passiert. SPIEGEL: Ihnen schlägt derzeit eine Welle des Hasses entgegen, wie schon vor vier
Jahren, als Sie sich für eine härtere Bestrafung von Sexualstraftätern aussprachen. Warum lösen Sie immer so heftige Debatten aus, wenn Sie sich in die Politik einmischen? Schweiger: Weil ich den Mangel an Empathie und Mitgefühl bekämpfe. Als ich damals härtere Strafen für Sexualstraftäter forderte, hatte ich noch keine FacebookSeite wie heute, auf der Leute alles Mögliche anonym posten können. Damals habe ich interessanterweise viel Zuspruch von teilweise genau den Leuten bekommen, die mich heute als Vaterlandsverräter beschimpfen. SPIEGEL: Sie haben dann mit ähnlich deutlichen Worten wie Ihre Kritiker zurückgeschlagen. Schweiger: Klar. Wenn Fans geschrieben haben: „Wir fanden dich bis jetzt toll, aber das geht gar nicht. Kümmer dich lieber mal um Deutschland, wir haben genug Probleme, du wirst ent-liked.“ Dann habe ich zurückgeschrieben: „Ey, dann drück jetzt auch auf ent-liken und lass mich in Ruhe, so einen Fan wie dich brauch ich nicht.“ Aber viele von denen sind gar keine Fans, da gibt es einige, die rechtsradikale Propaganda verbreiten wollen. SPIEGEL: Sie sind noch deutlicher geworden: „Verpisst euch von meiner Seite.“ Schweiger: Ich bin eben sehr gefühlsgetrieben. Zum einen gibt es Menschen, die eine andere Sprache gar nicht verstehen, und zum anderen muss Aufmerksamkeit erzeugt werden. In den Neunzigerjahren gab es Lichterketten, da haben sich alle geäußert, die nicht reaktionär waren oder faschistoides Gedankengut in sich trugen. Heute regieren unsere Politiker, als wäre nichts passiert. Oder, schlimmer noch, sie schüren Angst. In der Talkshow „Menschen bei Maischberger“, in der ich am Dienstag Gast war, hat der Generalsekretär der CSU gesagt: „60 Millionen stehen weltweit an den Grenzen.“ Das ist Stimmungsmache.
SPIEGEL: Sie haben zu CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer auch gesagt: „Sie gehen mir auf den Sack.“ Schweiger: Ja, das tut mir leid, ich hab gesagt: „Sie gehen mir auf den Sack.“ Aber ich weiß nicht, ob das eine Beleidigung ist. SPIEGEL: Höflich und zivilisiert ist es jedenfalls nicht. Schweiger: Ich bin kein Politiker, und ich hab nicht vor, einer zu werden. SPIEGEL: Sie beklagen, dass Politiker eine Sprache sprechen, mit der sie die Menschen nicht mehr erreichen. Müssten Politiker auch mal Sätze sagen wie: „Sie gehen mir auf den Sack“? Schweiger: Ich will nicht, dass jetzt geschrieben wird: „Til Schweiger fordert Vulgärsprache für Politiker.“ Aber es ist doch so: Wenn Politiker reden, versuchen sie, möglichst niemandem auf die Füße zu treten und möglichst nichts zu sagen. Die werden darauf trainiert, machen Kurse: Beantworten Sie die Frage auf keinen Fall, sonst könnten Sie in ein Wespennest treten. SPIEGEL: Sie haben auch Kritik an der Bundeskanzlerin geübt, die gesagt hat: „Gewalt gegen Flüchtlinge ist unseres Landes nicht würdig.“ Das war Ihnen nicht deutlich genug. Schweiger: Ich habe vor allem das ZDF kritisiert. Die haben gesagt: Unsere Kanzlerin findet klare Worte. Und ich bezeichne das als Realsatire. Klare Worte sind nicht „ist unseres Landes nicht würdig“. Klare Worte habe ich gesagt, wären: „nicht duldbar“, „nicht hinnehmbar“ und „muss mit aller Härte des Rechtsstaats bekämpft werden“. SPIEGEL: Vor gut drei Wochen haben Sie auf Facebook gepostet: „Frau Merkel, Herr Gabriel, übernehmen Sie!“ Heißt das, Sie hatten da genug von der Debatte? Schweiger: Ich bin Filmemacher, ich hab noch andere Sachen zu tun, mir reicht meine gesellschaftliche Relevanz durch Filme wie „Honig im Kopf“ oder „Barfuß“. Damit leiste ich auch einen Beitrag an MitDER SPIEGEL 35 / 2015
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Deutschland
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Filmstar Schweiger, Vater Herbert: „Papa, das ist es, was ein Sohn hören will“
Schauspieler Schweiger (M.), Sicherheitsmann Karras*: „Falsche Partner? Lass ich mir nicht sagen“
Gabriel, er füttert mich mit Informationen. Er hat mir vorab die neuen Zahlen über die Flüchtlinge genannt, die in diesem Jahr nach Deutschland kommen werden, wahrscheinlich über 700 000. Und er hat gesagt, dass dies eine riesige Herausforderung für Deutschland ist. Aber wir sind uns einig, dass das Geld da ist. Man muss nur den Mut haben, es einzusetzen. Wir bauen ja auch für zig Millionen Euro Brücken, damit Frösche über die Straßen kommen. SPIEGEL: Von dem Treffen mit Gabriel ist ein Foto entstanden, das für viel Spott und Häme gesorgt hat.
Schweiger: Ja, massiv. Das war schon heftig. Es gab Leitmedien, die geschrieben haben: Da ist der Nuschler und Rechtsradikale Schweiger auf der einen Seite, der Kinderschänder wegsperren will, und auf der anderen der Pegida-Sympathisant Gabriel, der als Bundeswirtschaftsminister für die größten Waffenexporte in der Welt verantwortlich ist. Und die zusammen wollen jetzt ein Flüchtlingsheim machen. Was soll denn das bitte schön werden? Das war der Tenor. * Am „Tatort“-Set im August in Berlin.
FOTO: BEN BRITTAIN COHEN / GC IMAGES (U.)
menschlichkeit. Und deswegen hab ich gesagt: Übernehmen Sie! SPIEGEL: Sie hatten nicht insgeheim darauf gehofft, dass sich endlich mal Merkel oder Gabriel bei Ihnen melden? Schweiger: Überhaupt nicht. Ganz viele Freunde haben mir gesagt: „Til, hör auf, Mann, du hast so viel zu tun, nerv dich nicht mit den Leuten rum, mach dein Ding und halt die Klappe.“ Drei Stunden später hat sich der Gabriel gemeldet. Und dann hab ich mich mit ihm getroffen. SPIEGEL: Nach allem, was man davon weiß, waren Sie angenehm überrascht. Schweiger: Ich war natürlich supervorsichtig, weil ich gedacht habe, da kommt jetzt so ein Politiker und will mir erzählen, was für ein Kämpfer für die Menschlichkeit er ist. Dann aber waren er und sein Referent top vorbereitet, die wussten alles über unser Projekt in Osterode. Sie haben mich auf die Risiken hingewiesen und Ideen vorgeschlagen. Das fand ich gut, obwohl ich ja vor zwölf Jahren aus der SPD ausgetreten bin. SPIEGEL: Warum? Schweiger: Weil ich Unternehmer bin. Die SPD hat damals das Urheberrecht geändert, zuungunsten der Filmproduzenten. Was dazu führt, dass jemand wie ich, der das Drehbuch schreibt, Regie führt, das Ganze produziert, also eigentlich alles selbst macht, dennoch nicht der Urheber seines Films wäre. Das ist Sozialismus pur. Da bin ich, Egoist, der ich bin, ausgetreten. SPIEGEL: Ihr Vater ist seit Langem in der SPD. Schweiger: Mein Papa ist der vielleicht dienstälteste Sozialdemokrat in Mittelhessen, und mein Großvater war SPD-Mann und Bürgermeister. Ich habe ihm das erklärt: „Papa, sei mir nicht böse, das ist nichts Persönliches, aber ich kann diese Partei nicht mehr wählen. Wenn du Unternehmer bist, macht es keinen Sinn, SPD zu wählen.“ Jetzt denke ich gerade um. SPIEGEL: Zurück in die SPD? Schweiger: Ich habe vorhin mit Rita Süssmuth von der CDU telefoniert, eine tolle Frau. Sie wird jetzt übrigens auch in den Beirat meiner Stiftung kommen. „Herr Schweiger, das muss aufhören, dieses parteipolitische Denken, hier geht es um unsere Demokratie.“ Das fand ich gut. Frau Süssmuth war mal Gesundheitsministerin, sie hat ein bisschen mehr Lebenserfahrung als ich. Ich bin eigentlich nur ein doofer Schauspieler, aber sie sagt genau dasselbe wie ich. SPIEGEL: Das heißt, Sie schwanken noch? Schweiger: Ich war früher so einer, der gesagt hat: Eine Freundin, deren Vater CDU wählt, das geht nicht. Aber ich habe dazugelernt. Im Moment sind meine Sympathien allerdings eher bei der SPD als bei der CDU. Ich rede jetzt oft mit Sigmar
SPIEGEL: Ist ein Grund für den vielen Spott über dieses Bild nicht eher die angestrengte Ernsthaftigkeit? Da schauen zwei Männer mit Leichenbittermiene in die Kamera, neben zwei Weingläsern voll Wasser. Schweiger: Das höre ich oft: „Du guckst so griesgrämig auf Fotos.“ Aber ich kann nun mal nicht in eine Kamera lächeln. Wenn ein Fotograf zu mir sagt: „Bitte nicht so ernst, einfach mal lächeln!“, dann sage ich: „Bist du Regisseur oder Fotograf? Erzähl mir einen Witz, dann lach ich auch.“ Ich bin kein Model, das lernt, in die Kamera zu lachen. Als Schauspieler habe ich gelernt, eine Kamera zu ignorieren. Wenn ich mit Freunden zusammen bin, dann lache ich, aber wenn ich ein Foto mache, dann guck ich eben so. SPIEGEL: Einem Filmschauspieler nimmt man nicht so leicht ab, dass er sich nicht inszenieren kann. Schweiger: Ja, aber da war nichts inszeniert, nichts, da waren auch keine Weingläser auf dem Tisch, die wir extra abgeräumt haben. Ich hab dann allerdings noch richtig Ärger mit dem Soho House in Berlin gekriegt. Dort herrscht striktes Fotografierverbot. Der Manager rief mich ein paar Tage später an und sagte: „Du weißt schon, wir haben diese Hauspolitik, und auch ein Vizekanzler Gabriel und ein Til Schweiger stehen nicht über den Regeln.“ Ich antwortete ihm: „Willst du mir jetzt sagen, dass ich aus eurem elitären Klub rausfliege oder was?“ Als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. SPIEGEL: Es gibt berühmte amerikanische Schauspieler, die in die Politik gegangen sind. Schweiger: Es gab mal so eine Emnid- oder Forsa-Umfrage, das ist ewig her, 15 Jahre, und da hieß es: Ja, viele Leute könnten sich Til Schweiger als Politiker vorstellen. Ich glaube, das wäre keine gute Idee. Ich polarisiere. Gabriel sagt, dass man als Politiker oft jahrelang versucht, für eine Sache zu kämpfen, und dann fehlen am Ende die Mehrheiten. Als Politiker kann man, glaube ich, nur wenig bewegen. Als ich ein junger Schauspieler war, habe ich einmal gesagt: „Politiker sind die, die in der Schule auf dem Pausenhof immer in der Ecke standen, weil keiner mit ihnen spielen wollte.“ Deswegen sind sie Politiker geworden. Das war natürlich absolut jugendlich, ungerecht, dumm, weil es sicherlich viele gibt, die so sind. Aber es gibt auch ganz viele, die in die Politik gehen, um etwas zu bewegen. SPIEGEL: Was sagt Ihr Vater? Versucht er, Sie wieder zurück in die Partei zu holen? Schweiger: Nein. Mein Vater hat mir geschrieben und gesagt: Ich war noch nie so stolz auf dich wie jetzt. Und dann habe ich gesagt: Papa, das ist es, was ein Sohn hören will. SPIEGEL: Herr Schweiger, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. DER SPIEGEL 35 / 2015
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Der Frauenbund Europa Griechenland wird zur Schicksalsfrage für Angela Merkel und IWF-Chefin Christine Lagarde. Beide können sich ein Scheitern der Rettungspolitik nicht leisten.
E
s gibt Zufälle, die sogar Angela Merkel schätzt. Vor ziemlich genau drei Jahren, im Juli 2012, war die Kanzlerin auf Staatsbesuch in Indonesien, als sie morgens in der Hotellobby in Jakarta einer Frau über den Weg lief, die sie dort nicht vermutet hätte: IWF-Chefin Christine Lagarde. Merkel nahm die Französin zur Seite und lud sie ein, abends in der deutschen Botschaft vorbeizuschauen, dort sei noch ein Empfang. Lagarde willigte ein, sie erschien pünktlich, Merkel dagegen mit erheblicher Verspätung. Doch die Französin nahm ihr das nicht übel. Zu später Stunde sah man die beiden Frauen dann in einem Nebenraum angeregt plaudern. Lagarde hatte ihre Pumps ausgezogen und die Füße auf einen Hocker gelegt. Merkel hielt ein Glas Wein in der Hand. Die beiden wirkten wie zwei alte Freundinnen. Das Bild der Vertrautheit, das die beiden in Jakarta abgaben, trügt nicht. Als „sehr gut“ und „freundschaftlich“ bezeichnet Merkel ihr Verhältnis zu der fast gleichaltrigen Französin. Die beiden sind per Du, es gab Weihnachtsgeschenke, und man verkehrt per SMS. 38
DER SPIEGEL 35 / 2015
Doch das Bild zeigt nur einen Teil der Wahrheit. Denn wenn es darum geht, wie Europa aus der Krise geführt werden soll, sind Merkel und Lagarde grundsätzlich anderer Ansicht. Dem Zufallstreffen in Indonesien war zu Beginn jenes Jahres eine heftige Auseinandersetzung vorausgegangen, weil Lagarde von den Deutschen verlangt hatte, mehr Geld für die Eurorettung bereitzustellen. Auf dem Höhepunkt des Streits beschwor Lagarde in einer dramatischen Rede in Berlin das Gespenst der Dreißigerjahre – das Manuskript hatte sie allerdings vorab ihrer Freundin Angela zum Lesen gegeben. Sparpolitik gegen Wachstumspolitik, das ist der Frontverlauf, den die beiden Frauen geradezu verkörpern: die schwäbische Hausfrau gegen die Grande Dame, Merkels demonstrative Bodenständigkeit gegen die Eleganz der hochgewachsenen Französin. So unterschiedlich ihre Ansätze sind, Merkel und Lagarde sind aufeinander angewiesen. Die Griechenlandkrise hat die beiden in eine Schicksalsgemeinschaft gezwungen. Das griechische Projekt darf nicht scheitern – für beide. Für Merkel geht es
FOTO: SPORT MOMENTS / DDP IMAGES
Vertraute Merkel, Lagarde
um ihre historische Bilanz, ihr Vermächtnis als mächtigste Frau Europas. Für Lagarde steht ihre Wiederwahl an die Spitze des IWF im nächsten Frühjahr auf dem Spiel. Doch die jüngste Runde der Griechenlandrettung hat die beiden Frauen weiter auseinandergetrieben. Der Streit um einen Schuldenschnitt, den Lagarde forderte und Merkel ablehnte, konnte zwar vorerst mit einem Formelkompromiss entschärft werden. Aber ob Griechenland und Europa am Ende die Bedingungen erfüllen, damit sich der IWF ab Herbst weiter beteiligt, ist ungewiss. Merkel braucht den Fonds, um bei einer Rettungspolitik, die inzwischen nur noch politisch motiviert ist, den Schein ökonomischer Vernunft zu wahren. Der IWF verkörpert in den Augen der zweifelnden Unionsabgeordneten die Hoffnung, dass Griechenland eines Tages die Sparauflagen erfüllen und die notwendigen Reformen durchführen wird. Bei der Sitzung des Fraktionsvorstands am vergangenen Dienstag hatte selbst das Spitzenpersonal in der Fraktion nur eine Frage: Bleibt der IWF an Bord? Am Abend vor den rund 300 Unionsabgeordneten ging die Kanzlerin in die Offensive: Sie habe keinen Zweifel, dass der IWF sich weiter in Sachen Griechenland engagiere, sagte sie. Da müsse man Frau Lagarde auch mal vertrauen. Als die Finanzminister der Euro-Gruppe am Freitag vergangener Woche zu ihrer entscheidenden Sitzung über das neue Paket für Griechenland in Brüssel zusammenkamen, klang Lagarde selbst allerdings viel weniger überzeugt. Ursprünglich hatte die IWF-Chefin gar nicht teilnehmen wollen, heißt es. Doch dann schaltete sich die Kanzlerin ein. Auf ihren Wunsch bat Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker die IWF-Chefin, sich zumindest per Video zuschalten zu lassen. Wenn Merkel allerdings auf eine neue Botschaft des IWF gehofft hatte, sah sie sich getäuscht. Sechs Stunden saßen die Finanzminister zusammen, und Lagarde beharrte nicht nur auf ihrer Position – sie änderte sogar das Abschlusskommuniqué, wie Teilnehmer berichten. So hatte es in dem vorbereiteten Entwurf zunächst geheißen, Kommission, IWF und Europäische Zentralbank seien sich einig, dass die Schuldentragfähigkeit Griechenlands durch ein strenges Reformprogramm erreicht werden könne. Lagarde bestand darauf, dass der IWF aus dem Satz gestrichen wird. Um jedes Missverständnis auszuschließen, ließ die IWF-Chefin nach dem Treffen noch einmal eine eigene Pressemitteilung verschicken. „Ich bleibe jedoch fest davon überzeugt, dass Griechenlands Schulden untragbar geworden sind“, heißt es darin. Zugleich kündigte sie an, dass der IWF sich weiter beteiligen werde, wenn die Bedingungen erfüllt sind.
Deutschland
Allerdings hat Lagarde mittlerweile verstanden, dass ein nomineller Schuldenschnitt für Merkel – und andere Europäer – nicht machbar ist. Der Kompromiss muss daher eine Lösung sein, die wie ein Schuldenschnitt wirkt, aber nicht so heißen darf. So kann Merkel ihren Leuten versichern, der IWF bleibe auch ohne Schuldenschnitt an Bord. Allein das garantierte der Kanzlerin in der Abstimmung im Bundestag am vergangenen Mittwoch eine erträgliche Zahl von Abweichlern in der Union. Zugleich wird Lagarde in Washington vermelden können, die Europäer könnten zu Maßnahmen bereit sein, die de facto auf einen Schuldenschnitt hinauslaufen. Entsprechend hatten Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble Signale des Entgegenkommens nach Washington gesandt. Sie wollen sich darauf einlassen, den Griechen weitere Erleichterungen zu gewähren. Die großzügige Ausweitung von Laufzeiten und ein Rabatt bei den Zinsen wirken ökonomisch wie ein Schuldenschnitt. Das Verfahren wurde vor drei Jahren schon einmal angewendet. Klaus Regling, der Chef der Rettungsschirme EFSF und ESM, rechnete vor, dass die Maßnahmen so wirken, als ob die Geldgeber auf 40 Prozent ihrer Forderungen verzichtet hätten. In ähnlicher Größenordnung dürfte sich auch die neue Entlastung bewegen. Über Details soll in den kommenden Monaten gesprochen werden. In den Verhandlungen zwischen europäischen Geldgebern und IWF geht es dann darum, um wie viel Jahre die Laufzeiten verlängert und wie die Zinsen gesenkt werden. Die Kredite des letzten Hilfsprogramms haben eine durchschnittliche Laufzeit von 32 Jahren. Der IWF verlangt jetzt eine Verdoppelung von Schonfrist und Laufzeit. Schäuble schloss bisher lediglich aus, dass am Ende auf hundert Jahre verlängert würde. Das wäre „nicht sehr überzeugend“. Eine Einigung soll bis Oktober erreicht sein, dann steht die nächste Überprüfung des Reformprogramms an. Das wäre eine gesichtswahrende Lösung für Merkel und Lagarde, allerdings zu einem hohen Preis. Die Kanzlerin führt ihre eigenen Leute hinters Licht, indem sie weiterhin behauptet, dass es keinen Schuldenschnitt geben wird. Die IWF-Chefin riskiert die Autorität ihres Fonds, indem sie ihn weiter als ökonomisches Feigenblatt zur Verfügung stellt. Intern sieht sich Lagarde inzwischen massiver Kritik ausgesetzt. Das Griechenlandengagement ist für sie eine gefährliche Gratwanderung. Einerseits bietet ihr die zentrale Rolle, die der IWF in der Eurokrise spielt, eine Bühne, die sie sonst nicht gehabt hätte. Andererseits geht sie ein enormes Risiko ein. Die Glaubwürdigkeit des Fonds steht auf dem Spiel.
Vieles spricht dafür, dass das weibliche Das Engagement ist innerhalb des IWF schon deshalb umstritten, weil viele Spitzenduo der Eurorettung am Ende Schwellenländer wie etwa Brasilien die eine Einigung erzielen wird, die beiden Meinung vertreten, Europa sei reich genug, dient. Das Geschick der beiden Frauen, um sich selbst zu helfen. Lagardes Amts- sich – notfalls auf Kosten Dritter – zu verzeit läuft im kommenden Jahr aus, und al- ständigen, scheint auch etwas mit weibles sieht danach aus, dass sie IWF-Chefin licher Solidarität in den Männerwelten bleiben will. Aber aufstrebende Wirt- von Washington und Brüssel zu tun zu schaftsnationen wie Brasilien, Indien und haben. Das hat zumindest Lagarde so anChina kritisieren seit längerem die übliche gedeutet. „Es gibt viele Kreise, in denen Praxis, dass immer ein Europäer den wir die einzigen Frauen sind“, hat Lagarde IWF-Chefposten übernimmt, und haben einmal in einem Interview gesagt. Sie bei der letzten Wahl schon einen eigenen sprach von einem „Gefühl der KomplizenKandidaten ins Rennen geschickt. Für sie schaft und Solidarität“ zwischen Merkel wäre ein Scheitern der Griechenlandpoli- und ihr. Beide, Merkel und Latik des IWF ein Argument garde, haben ihre Karriemehr, Stimmung für einen Finanzhilfen ren auf einem Terrain geGegenkandidaten zu mafür Griechenland macht, das lange Zeit Mänchen, um die aus ihrer Quellen: BMF, EFSF nern vorbehalten war, MerSicht pro-europäische Parkel stieg innerhalb von nur teinahme des IWF zu kor1. Rettungspaket zehn Jahren an die Spitze rigieren. Die Griechenland73 Mrd. € der CDU auf, Lagarde wurkrise habe „das Schlechtesde Chefin einer der größte im IWF hervorgebracht“, davon IWF ten amerikanischen Ankritisiert der indische Öko20,1 waltskanzleien in Chicago. nom Ashoka Mody, der Mrd. € Einen Grundstein für das derzeit an der Princetongute Verhältnis der beiden Universität lehrt. hatte Merkel im März 2010 Entsprechend gering ist gelegt, als sie die damalige der Verhandlungsspiel2. Rettungspaket Finanzministerin einlud, als raum für Lagarde. Kommt 142,9 Mrd. € erste französische Ministesie den Europäern im Rinrin an einer deutschen gen um Griechenland zu Kabinettssitzung teilzunehweit entgegen, gefährdet men. Später unterstützte sie ihr Standing zu Hause sie Lagardes Kandidatur in Washington. Teilnehmer 12 zur IWF-Chefin. Im vergander monatelangen VerMrd. € genen Jahr zirkulierten sohandlungen über das neue gar Medienberichte, woGriechenlandpaket in Brüsnach Merkel Lagarde gern sel gehen deshalb nicht da3. Rettungspaket als EU-Kommissionspräsivon aus, dass sich der Kondentin sähe. flikt zwischen dem IWF 86 Mrd. € Hinzu kommt, dass Laund der Bundesregierung vore garde ihre Nähe zu Frauen, leicht beseitigen lässt. In IWF- rst ohn gerade in Führungspositioder Kommission bezweifelt Bete e iligu nen, geradezu zelebriert. man, dass die Verlängeng Auf ihren Auslandsreisen rung der Laufzeiten für die gehört es zu ihrer Routine, griechischen Kredite in der Summe zu einer Entlastung führt, die den einen exklusiven Frauenabend zu veranstalten, auf dem selbst ihre engsten IWF zufriedenstellt. Deshalb wollen EU-Beamte an einer männlichen Mitarbeiter nicht zugelassen weiteren Stellschraube drehen. Da die Kre- werden, ebenso wenig ihr Lebenspartner, dite des IWF an Griechenland verhältnis- der sie gelegentlich begleitet. Sie pflegt mäßig teuer sind, könnten die Griechen demonstrativ ein gutes, bisweilen sehr sie vorzeitig ablösen, so die Überlegung, persönliches Verhältnis zu zahlreichen zum Beispiel mit günstigerem Geld des eu- weiblichen Staatsoberhäuptern und Spitropäischen Rettungsschirms ESM. Diese zenpolitikerinnen. Zu Joyce Banda, der Aktion hätte zwei Vorteile: Zum einen ehemaligen Präsidentin Malawis, zur burwürde das Engagement des IWF in Grie- mesischen Oppositionspolitikerin Aung chenland verringert. Zum anderen würden San Suu Kyi, zu Hillary Clinton. Und dann zitiert sie noch gern den Satz die Griechen viel Geld sparen, die Schuldentragfähigkeit verbesserte sich deutlich. einer engen Freundin, der ehemaligen USFür eine solche Aktion gibt es zudem ein Außenministerin Madeleine Albright: „Es Vorbild: Auch die Programmländer Irland gibt einen besonderen Ort in der Hölle für und Portugal hatten sich – allerdings mit Frauen, die anderen Frauen nicht helfen.“ Christiane Hoffmann, Marc Hujer, Geld vom Kapitalmarkt – vorzeitig von Peter Müller, René Pfister teureren IWF-Krediten freigekauft. DER SPIEGEL 35 / 2015
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Spender und Blitzableiter CDU Mit einem kurzen Satz verwandelt Wolfgang Schäuble Kohls Ehrenwort in eine Lüge. Hat es die anonymen Finanziers der Union nie gegeben?
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der bis heute über jene anonymen Partei- leicht nicht der Wahrheit – für die Partei spender schweigt, die ihm rund zwei Mil- aber war sie bequem. Denn mehr als den Streit fürchtet die lionen Mark zugesteckt haben sollen. Und zwar von 1993 bis 1998, wie Kohl am 16. CDU die Frage, aus welchen dunklen QuelDezember 1999 in einem ZDF-Interview len das Geld tatsächlich stammen könnte. behauptet hat. In jährlichen Tranchen von Aus den Tiefen der Unions-Spendenwaschrund 300 000 Mark. Die Namen der angeb- anlage Staatsbürgerliche Vereinigung? Von lichen Geber verriet er nie, weil er sein weiteren unbekannten Konten? Was wollte Kohl verschleiern? Ehrenwort gegeben habe. Zumindest einer, der damals als GeldEbenfalls vor laufender Kamera verwandelte Schäuble jetzt dieses Ehrenwort in geber verdächtigt wurde, hat dies stets beeine Lüge. Von dem Dokumentarfilmer stritten: der Münchner MedienunternehStephan Lamby nach den dubiosen Spen- mer Leo Kirch. Für Kirch, 2011 verstorben, dern gefragt, sagt Schäuble: „… es gibt galt Kohl als großes Vorbild. Kirch soll sokeine!“ Es habe aus der Zeit von Flick gar seinen engsten Vertrauten stets beteuschwarze Kassen gegeben; gemeint sind ert haben, er habe nichts mit den Spenden Zuwendungen des Flick-Konzerns aus den zu tun. Glaubwürdig, sagen diese. Jedoch soll sich Kirch nicht daran gestört haben, Siebzigerjahren. Am Montag wird der Lamby-Film über die Rolle des Blitzableiters zu übernehmen. Schäuble in der ARD gezeigt. Die Partei Also die Gerüchte in der Öffentlichkeit lauist beunruhigt. Auch wenn der 72-Jährige fen zu lassen und so die Version des Kanzseine Aussage im selben TV-Interview lers zu stützen. Schäuble hat seinen TVnoch einmal relativiert, unterstellt er dem Auftritt zunächst nicht weiter kommentiert. Exkanzler immerhin, sein Ehrenwort er- Aus Kohls Büro kam kein Kommentar. Allerdings kennt Kohl die Vorwürfe funden zu haben. Doch wer in diesen Tagen in der CDU seines ehemaligen Vertrauten seit Langem. auf die Schäuble-Sache reagieren soll, In seinem Tagebuch schrieb er über ein taucht ab. Dass es keine Namen hinter den Treffen mit Schäuble am 18. Januar 2000: Summen gab, wollen plötzlich viele schon „Unser Gespräch wird außerordentlich immer geahnt haben. Kohls Erzählung heftig. Zu meiner Überraschung versteigt über anonyme Spender entsprach viel- sich Wolfgang Schäuble zu der These, in Wahrheit hätte ich überhaupt keine Spender und könne sie daher auch nicht nennen. Auf meine Frage, woher denn das Geld gekommen sei, erklärt er, es sei von irgendwelchen Konten abgebucht worden. Als ich frage, welche Konten er meine, bricht er das Thema ab und erklärt noch einmal, er glaube nicht, dass mir irgendjemand Spenden persönlich überreicht habe.“ Nach dem Gespräch bot Schäuble seinen Rücktritt vom Parteivorsitz an. Strittig war die Verwendung der Millionen. Kohl hatte im ZDF-Interview behauptet, die Summe sei in den Aufbau der CDU in den neuen Bundesländern geflossen. „Diese Spende haben wir gesteckt in die Arbeit der neuen Länder“, wo die Partei gegenüber der PDS mit dem Rücken zur Wand gestanden habe. Die Staatsanwaltschaft Bonn stellte jedoch später fest, dass das Geld hauptsächlich für Wahlkämpfe und Meinungsforschung im Westen verwendet worden sein soll. Mehrfach soll Kohl auch seinen eigenen Landesverband Rheinland-Pfalz bedacht haben.
as kollektive Vergessen hat längst eingesetzt, und viele, die etwas wissen oder wussten, sind inzwischen tot oder in einem Alter, in dem manches verschwimmt und sich verklärt. Andere wollen gar nicht erst gefragt werden. Was für ein Glück für sie, in diesem Fall. 15 Jahre nach der CDU-Parteispendenaffäre sind wohl weder alle schwarzen Konten aufgefunden noch alle Täter enttarnt, die Gelder für die Union durch dunkle Kanäle zwischen Bonn, Hessen, der Schweiz und Liechtenstein geschleust haben. Trotzdem trug die Affäre den Stempel „erledigt“, die CDU musste Sanktionen in Millionenhöhe hinnehmen, Einheitskanzler Helmut Kohl den Ehrenvorsitz abgeben. Juristisch gibt es zwar noch Nachgefechte. In Augsburg zieht sich seit 20 Jahren ein Steuerverfahren hin, es richtet sich gegen den Big Spender und Rüstungslobbyisten Karlheinz Schreiber, 81. Er hatte die Affäre ausgelöst. Am 3. September ist sein Fall wieder auf der Tagesordnung des Bundesgerichtshofs, es geht diesmal um Verjährungsfragen. Aber die Gefahr für die Mitwisser, dass heute noch einer über die letzten Geheimnisse redet, war nicht besonders groß. Seit dieser Woche jedoch ist die Parteispendenaffäre wieder da. Zurückgeholt von Wolfgang Schäuble, Bundesfinanzminister, Ex-Innenminister, Ex-CDUVorsitzender, Ex-Fraktionschef. Und selbst Empfänger einer dubiosen Barspende von Schreiber. 1994 hatte Schäuble einen Umschlag mit 100 000 Mark bekommen, in Tausenderscheinen, den „100 hässlichen Männern“, wie Schreiber seine Gabe nannte. Die Schuld daran, dass er knapp sechs Jahre später zurücktreten musste, gibt Schäuble nicht diesem Umschlag. Sondern noch immer Helmut Kohl, Unionspolitiker Schäuble 1998: „Heftiges Gespräch“ 40
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Markus Dettmer, Conny Neumann
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Deutschland
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ein letzter öffentlicher Auftritt führte ihn wieder in jene Stadt, in der er einst sein diplomatisches Meisterstück vollbracht hatte: In Moskau traf der 93-jährige Egon Bahr Ende Juli Michail Gorbatschow. Beide, der SPD-Methusalem aus Berlin und der letzte Präsident der Sowjetunion, wollten noch einmal gegen die Entfremdung zwischen Deutschland und Russland als Folge des Ukrainekonflikts protestieren. Ein beim „DeutschRussischen Forum“ präsentierter Appell forderte das Ende der Sanktionen gegen Moskau und einen „Neustart in der Beziehung mit Russland, bevor es für alle und für alles zu spät ist“. „Man muss doch was tun, damit der Frieden bleibt“, knurrte Bahr, als er – zusammen mit seiner Frau Adelheid Bonnemann-Böhner – am Dienstag vergangener Woche wieder in seinem Berliner Lieblingslokal aufkreuzte, dem Habel am Roseneck. Zu Matjes mit Bratkartoffeln, aber ohne Zwiebeln und mit zwei Pils; außerdem darf dort geraucht werden. Und das tat Egon Bahr unentwegt, fast mehr noch als Helmut Schmidt, der am Wochenende zuvor wegen eines Schwächeanfalls ins Krankenhaus gebracht worden war. „Wir dachten schon, jetzt wirst du der älteste sozialdemokratische Promi“, wurde Bahr angepflaumt, und der entgegnete: „Nee, nee, das muss nicht sein.“ Zum Hanseaten pflegte der Berliner ein eher distanziertes Verhältnis wegen der Narben aus jener Zeit, als er sich für Willy Brandt als treuer Vasall und Vordenker in die Bresche schlug. Es war, Anfang der Siebziger, die Zeit des großen Umbruchs mit der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Bonner Koalition, für die Bahr schon in seiner denkwürdigen Tutzinger Rede 1963 die Formel geprägt hatte: „Wandel durch Annäherung“. Zur Beendigung des Kalten Kriegs und der gefährlichen Konfrontation zwischen Ost und West sollten Brücken gebaut und Grenzen akzeptiert werden, um eben diese Grenzen schließlich überwinden zu können. Bahr war Brandts Brückenbauer, der Architekt einer Entspannungspolitik, die zur Normalisierung der Beziehungen mit Moskau und Warschau sowie einer Verbesserung der innerdeutschen Verhältnisse führte. Die Westberliner wissen noch heute sehr wohl, wem sie die Passierscheine zum Besuch der DDR verdankten. Kaum ein Sozialdemokrat wurde in der Frontstadt, wenn er zum Zigarettenkiosk stolzierte, so freundlich gegrüßt wie der gelernte Journalist Bahr,
den Willy Brandt in seiner Zeit als Berliner Bürgermeister 1960 zum Regierungssprecher gemacht hatte. Damals schrieb er bereits an einem 180 Seiten langen Manuskript, was auf Wunsch Brandts, der zur Vorsicht mahnte, nie als gedrucktes Buch erscheinen durfte – das Konzept einer zukünftigen Ostund Deutschlandpolitik. Schlüssel zur Lösung der deutschen Frage, so notierte Bahr, müsse ein europäisches Sicherheitssystem sein, „das Sicherheit für Deutsch-
Nachruf
Ein Vasall von nationaler Bedeutung Egon Bahr (1922 bis 2015)
land mit Sicherheit vor Deutschland verband, auf der Grundlage einer stabilen Abschreckung durch die beiden Supermächte“. Der Prozess sollte mit einer Vereinbarung über das geregelte Nebeneinander der beiden deutschen Staaten beginnen und Moskau einbeziehen, wobei die angestrebte Transformation nicht – wie 1953 in der DDR sowie 1956 in Polen und Ungarn – in Gewalt umschlagen dürfe. Eine revolutionäre, zumal nach dem Mauerbau geradezu abenteuerlich anmutende Vision. Deren schrittweise Umsetzung als Brandts Sonderbevollmächtigter in den zunächst geheim geführten Verhandlungen zu den Ostverträgen trug
Bahr heftigen Widerstand aus den Reihen der christdemokratischen Opposition ein, auch manch üble Nachrede. Da war von Vaterlandsverrat die Rede, da wurde der Verdacht kolportiert, „tricky Egon“ sei ein heimlicher Mann Moskaus. Absurd, wenn man die weitere Entwicklung betrachtet. Denn letztlich hat Bahrs Konzept nicht nur dafür gesorgt, dass Europa eine Epoche der Entspannung erlebte mit der deutschen Wiedervereinigung als Krönung. Auch das sowjetische Imperium zerbrach, aus Moskauer Sicht war das nicht zuletzt die Folge bahrscher Subversion. Die Hoffnung auf solch eine Entwicklung dürfte auch US-Politiker wie Henry Kissinger bewogen haben, Bahrs Kurs zu unterstützen. Der zunächst misstrauische Sicherheitsberater von Präsident Richard Nixon wurde von Bahr noch vor dessen erstem Moskaubesuch in alle Pläne für den politischen Richtungswechsel eingeweiht. Er verabschiedete den Besucher mit den Worten: „Ihr Erfolg wird unser Erfolg sein.“ Im August 1970 setzte dann Willy Brandt in Moskau seine Unterschrift unter den von Bahr ausgehandelten deutsch-sowjetischen Vertrag. Weil sich in seinem Stammbaum eine jüdische Großmutter fand, war der als Sohn eines schlesischen Studienrats in Thüringen geborene Kriegsteilnehmer 1944 aus der Wehrmacht „unehrenhaft“ entlassen und in die Munitionsfabrik des Maschinenbauers Borsig geschickt worden. Egon Bahr war ein deutscher Patriot, ein Nationalist im besten Sinne, der seinem Vaterland in Friedenszeiten große Dienste erwies. Bis zuletzt mischte er sich in politische Tagesfragen ein, zeigte sich gern in den einschlägigen Talkshows, wo er mit Verve und seinem erstaunlichen Faktengedächtnis brillierte. Und an jedem Werktag steuerte der Hochbetagte seinen japanischen Hybridwagen unbeirrt durch den Berliner Verkehr zum SPD-Vorstandsgebäude. Dort behauptete er im vierten Stock einen festen Arbeitsplatz, um Buch um Buch zu verfassen. Mit einem riesigen Aschenbecher auf dem Schreibtisch. Dass er als „Putin-Versteher“ hin und wieder belächelt wurde, ärgerte und befeuerte ihn. „Russland wird allein bestimmen, welche Schritte es zur Demokratie geht, es wird eine Demokratie à la russe sein“, sagte er in seiner Moskauer Rede. Sie ist nun sein Vermächtnis. Egon Bahr starb in der Nacht zum Donnerstag an den Folgen eines Herzinfarkts. Olaf Ihlau
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NSA Über Monate erweckte die Bundesregierung den Eindruck, sie warte auf eine Stellungnahme aus Washington zu der umstrittenen Spähliste – dabei lag die Antwort längst vor.
BND-Abhörstation in Bad Aibling, Merkel-Vertrauter Altmaier: „Mit unlauteren Mitteln“
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er Auftrag aus Washington war unmissverständlich. Die amerikanische Botschaft am Pariser Platz in Berlin möge keine Zeit verschwenden und die beigefügte diplomatische Depesche unverzüglich zustellen. Der 10. Mai war ein Sonntag, auch Diplomaten arbeiten da nicht sonderlich gern. Doch an diesem Tag musste es sein. Also machte sich James Melville, die Nummer zwei der Botschaft, kurz vor 21 Uhr abends auf den Weg ins Kanzleramt, um die Post aus dem Weißen Haus persönlich abzugeben. Der Brief, den Melville Merkels Leuten überreichte, enthielt die lang erwartete Antwort, wie die Bundesregierung mit der hochgeheimen Liste von NSA-Spähzielen verfahren dürfe – jenen berühmten Selektoren, die Kanzlerin Angela Merkel so viel Ärger beschert haben, weil der BND im Auftrag der NSA mit ihnen womöglich auch deutsche Firmen ins Visier nahm. Der Brief brachte die Bundesregierung in eine delikate Lage. Eigentlich war er42
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wartet worden, dass die US-Regierung das deutsche Begehren, die Selektorenliste dem Bundestag vorzulegen, klipp und klar ablehnen würde. Doch das war nicht der Fall. Die Antwort der Amerikaner war differenziert – und gerade deshalb interessant. Dennoch verschwieg die Bundesregierung die Existenz des Schreibens. Alle Nachfragen wurden mit der Floskel abgewimmelt, das sogenannte Konsultationsverfahren mit den USA über dem Umgang mit der Liste laufe noch. Und das, obwohl Journalisten des SPIEGEL und anderer Medien immer wieder anfragten, ob es eine Antwort der Amerikaner gebe. So sagte Regierungssprecher Steffen Seibert am 11. Mai, einen Tag nach Eingang des Schreibens: „Über alle relevanten Dinge im Zusammenhang mit diesem Konsultationsverfahren werden die Obleute des Parlamentarischen Kontrollgremiums und auch des NSA-Untersuchungsausschusses durch die Bundesregierung informiert werden.“ Aber ist es etwa nicht relevant, wenn sich
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Bewusste Täuschung
die US-Regierung erstmals zum Wunsch der Deutschen äußert, die Liste dem Bundestag vorzulegen? Zwei Tage später, am 13. Mai, wurde Seibert in der Bundespressekonferenz explizit danach gefragt, ob es Neuigkeiten in Sachen NSA gebe. „Ich habe keinen neuen Stand“, antwortete der Regierungssprecher. Seitens der Regierung ist das zumindest eine bewusste Täuschung der Öffentlichkeit. Denn der Verfasser des Briefes war nicht irgendwer, sondern Denis McDonough, Stabschef von US-Präsident Barack Obama. Ein Brief von einem so ranghohen Beamten ist durchaus ein neuer Sachstand. Auf Anfrage des SPIEGEL erklärt die Bundesregierung, dass sie sich „zur vertraulichen Kommunikation mit ausländischen Parteien nicht öffentlich“ äußern werde. Nach Angaben von mehreren Personen, die mit dem Inhalt des Briefs vertraut sind, drücken Obamas Leute in dem Schreiben ihren großen Respekt vor der parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste aus und nehmen also in Kauf, dass der Ausschuss mehr über die NSA-Zielliste erfährt. Allerdings enthält der Brief eine entscheidende Bedingung, die in Berlin nur als vergiftete Bitte verstanden werden konnte: Die Bundesregierung müsse sicherstellen, dass keinerlei Informationen über die Zielliste an die Öffentlichkeit gelangen. Die Forderung stellte die Regierung vor ein Dilemma: Einerseits konnte sie den Wunsch des Bundestags, die Liste einzusehen, nicht einfach mit dem Hinweis auf die Amerikaner abschmettern. Andererseits wollte sie nicht das Risiko eingehen, die Liste dem Parlament zu übergeben, denn dann hätte die Gefahr bestanden, dass sie sich bald in der Presse wiederfindet. Merkel und ihre Leute ließen deshalb die Bürger und den Bundestag bewusst im Unklaren über die Haltung der Amerikaner. Fast zwei Wochen nach dem Eingang des Briefs aus Washington berichtete Kanzleramtsminister Peter Altmaier den Obleuten des NSA-Ausschusses zwar streng vertraulich von einer Antwort der Amerikaner, diese aber sei vage, von einer grundsätzlichen Bereitschaft zur parlamentarischen Aufklärung war keine Rede. Vielmehr, so Altmaier, hätte Washington eine Reihe von juristischen Bedenken angeführt, deshalb sei mit grünem Licht auch in weiteren Gesprächen kaum zu rechnen. Als die „Zeit“ vor zehn Tagen schrieb, die Amerikaner hätten ihr Okay für eine Herausgabe der Liste erteilt, sagte Altmaier: „Hätte es tatsächlich eine Zustimmung zur Weitergabe aus den USA gegeben, hätten wir uns manche schwierige Debatte ersparen können.“ Offenkundig versuchte Altmaier die Frage zu umgehen, ob es je eine Äußerung der USA in dieser Angelegenheit gegeben habe.
FOTO: CHRISTIAN THIEL / DER SPIEGEL
Deutschland
Heute bemüht man sich im Kanzleramt, die Zeilen von Obamas Stabschef Denis McDonough lediglich als Startschuss der deutsch-amerikanischen Konsultationen über den Umgang mit den Selektoren einzuordnen. Kanzleramtschef Altmaier habe nach dem Brief immer wieder mit seinem US-Kollegen gemailt und telefoniert, auch Geheimdienstkoordinator Klaus-Dieter Fritsche redete demnach noch mehrmals mit der US-Seite. Die Berliner Verhandlungslinie indes sagt einiges über das erwartbare Ergebnis aus. Förmlich verlangten die Deutschen eine Zustimmung für die Herausgabe der Selektoren ohne jeden Vorbehalt durch die US-Regierung. Allen Beteiligten musste klar sein, dass eine solche Forderung unrealistisch war, doch dieses Mal wollte man nichts falsch machen. Im Kanzleramt kam man überein, auf Fragen nach den Verhandlungen stets zu sagen, die Konsultationen liefen noch – auch wenn das Ergebnis schon feststand. „Das Bundeskanzleramt macht das genaue Gegenteil von dem, was Merkel verspricht“, kritisiert Konstantin von Notz, Obmann der Grünen im NSA-Ausschuss, „statt Aufklärung wird hinter den Kulissen verschleiert, auch mit unlauteren Mitteln.“ Merkel und ihre Leute haben bei solchen Vertuschungsversuchen schon einige Übung, wie der Verlauf der NSAAffäre zeigt. Im Bundestagswahlkampf 2013 erweckten sie über Monate den Eindruck, es bestünde die Chance, mit den USA ein sogenanntes No-Spy-Abkommen zu schließen. Dabei signalisierte das Weiße Haus hinter den Kulissen, dass es dazu nie kommen würde. Diese Hinweise aber wurden der Öffentlichkeit verschwiegen. Nun soll ein Sonderermittler die Bundesregierung aus ihrer heiklen Lage befreien. Die Idee stammt von Altmaier. Anstatt des NSA-Untersuchungsausschusses soll der ehemalige Bundesverwaltungsrichter Kurt Graulich die Liste der Selektoren einsehen. So will Altmaier verhindern, dass die Liste an die Presse durchsickert. Die Opposition mag sich allerdings nicht auf diese Idee einlassen. Warum auch? Das Kanzleramt hat in den vergangenen Jahren alles dafür getan, die Spitzeleien der USGeheimdienste zu verharmlosen, Altmaiers Vorgänger Ronald Pofalla verstieg sich im August 2013 sogar zu dem Satz, die NSA-Affäre sei „vom Tisch“. Zwei Monate später wurde bekannt, dass sogar Merkels Handy von der NSA belauscht wird. Nun wollen Grüne und Linke nicht auch noch akzeptieren, dass sich die Regierung ihren eigenen Kontrolleur aussucht. Sie wollen gegen die unerwünschte Hilfe klagen: vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Matthias Gebauer, René Pfister, Holger Stark
„Der Zaun muss weg“ Landschaftspflege Springer-Chef Mathias Döpfner hat in Potsdam eine öffentliche Grünfläche, die an sein Grundstück grenzt, absperren lassen.
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athias Döpfner mag Potsdam. Der Springer-Vorstandschef hat die Sanierung der Villa Schöningen an der Glienicker Brücke bezahlt, sie ist jetzt ein Museum. Als Malerfürst Anselm Kiefer hier seinen „Europa“-Zyklus mit monumentalen Kuh-Collagen ausstellte, sprach auf der Vernissage nicht irgendwer, sondern die Kanzlerin. Nun will Döpfner auch die Villa Schlieffen, eine Ruine in der Nauener Vorstadt, für mehr als eine halbe Million Euro wiederaufbauen lassen. Vielleicht dürfen sich dort eines Tages die Bürger der Stadt an der Privatsammlung des Multimillionärs erfreuen: Frauenakte von der Renaissance bis zur Gegenwart. Doch derzeit hadern viele Potsdamer mit dem sonst so geschätzten Mäzen. Der Anlass erscheint profan und will nicht zum Bild des weltgewandten Managers passen, der sich einmal als „eine Mischung aus Schöngeist und Teppichhändler“ beschrieb und der aus dem traditionsreichen AxelSpringer-Verlag einen hippen Internetkonzern zu formen versucht. Die Stadt diskutiert über seinen grünen Maschendrahtzaun. Döpfner hat mit diesem Instrument kleinbürgerlicher Grenzziehung nicht seine eigene Parzelle geschützt, sondern einen öffentlichen Park nebenan. Potsdamer Bürger haben hier gern ihre Hunde ausgeführt, nun stoppt sie ein Zaun, rund drei Kilometer lang, etwa anderthalb Meter hoch. Aufgebrachte Anwohner haben Plakate an den Maschendraht geheftet: „Braucht Herr Döpfner wirklich so viel Auslauf?“ Der Potsdamer Baudezernent Matthias Klipp (Grüne) sieht in dem Verhalten des Springer-Manns „reine Willkür“, vergleich-
Streitobjekt Maschendrahtzaun
bar mit den Versuchen von Eigentümern, den Uferweg am Griebnitzsee für die Öffentlichkeit zu sperren. Die selbstbewusste Potsdamer Bürgerprominenz hat immer mal wieder Ärger mit der Stadtverwaltung. TV-Moderator Günther Jauch stritt mit der Denkmalbehörde über die Frage, wie die Kellerfenster eines seiner Häuser auszusehen haben. SAP-Gründer Hasso Plattner forderte den Abriss des alten DDR-Interhotels in der Potsdamer Innenstadt für den Bau eines von ihm finanzierten Kunstmuseums. Und Döpfner-Spezi Kai Diekmann, Chefredakteur der „Bild“-Zeitung, kabbelte sich mit der Stadt wegen eines geplanten Ausflugslokals in seiner Nachbarschaft. Im Fall Döpfner spielt die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten eine wichtige Rolle. Sie ist Eigentümerin jenes Areals am Pfingstberg, das vom Maschendraht umschlossen ist. Es gehörte einst dem Berliner Bankier Hermann Henckel und war nach dem Vorbild klassizistischer britischer Landschaftsgärten gestaltet. 1997 kam die Stiftung an die verwahrloste Grünanlage und wollte den ursprünglichen Zustand wiederherstellen. Doch dafür fehlte das Geld. Generaldirektor Hartmut Dorgerloh suchte einen Investor und fand den Springer-Vorstandschef. Döpfner hatte 2003 bereits die Villa Henckel und das Grundstück, das an den Park grenzt, gekauft; die ehemalige Bankiersvilla ließ er denkmalgerecht sanieren. Im März 2014 wurden die Stiftung und Döpfner handelseinig. Ein Vertrag sieht vor, dass Döpfner, 52, den Park unentgeltlich für 40 Jahre nutzen darf. Im Gegenzug verpflichtet er sich, 1,8 Millionen Euro in die Sanierung des Parks und den Wiederaufbau der Villa Schlieffen zu investieren. Zudem muss Döpfner für die Pflege des Parks aufkommen. Der 15-seitige Vertrag legt allerlei Details fest. Nur wie die Potsdamer in den nächsten 40 Jahren den Park noch nutzen dürfen, ist nicht geregelt. Der Bebauungsplan der Stadt weist das Areal als öffentliche Parkanlage aus, Baudezernent Klipp sagt: „Der Zaun muss weg.“ Doch niederreißen kann die Stadt Döpfners Grenzanlage nicht. Erst ab einer Höhe von zwei Metern wäre der Zaun eine genehmigungspflichtige Baumaßnahme. Döpfners Pfingstberg-Bevollmächtigter, Rechtsanwalt Manfred Dengel, mag die Aufregung nicht verstehen. „Das ist in erster Linie eine Sicherheitsmaßnahme“, sagt er. „Wir haften doch, wenn auf dem unwegsamen Gelände ein Unfall passiert.“ Vergrätzen will die Stadt den Kunstförderer nicht. Bis Mitte September soll ein Kompromiss ausgearbeitet werden, der noch mit dem Bebauungsplan für das Pfingstberg-Areal vereinbar ist. Mindestens so lange soll der Zaun auch bleiben. Andreas Wassermann DER SPIEGEL 35 / 2015
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Luxus-Delikatesse Kaviar
die Landesregierung in Hannover, die den Beteuerungen der Wissenschaftlerin, sie könne die Herstellung der weltweit gefragten Delikatesse revolutionieren, allzu vertrauensselig glaubte. Ihren Anfang nahm die Mission zur Rettung der Störe 2005 in Iran. Damals, so erzählte Professorin Köhler bisher gern, habe sie eine Art Schlüsselerlebnis gehabt. Bei einer Fachkonferenz habe sie gesehen, wie ein wild gefangenes Störweibchen für die Kaviargewinnung geschlachtet wurde. Weil aber die Eier bereits zu reif für die Verarbeitung gewesen seien, seien sie samt Fischkadaver weggeworfen worden. Sie sei entsetzt gewesen und habe sich wissenschaftlich fortan Störeiern gewidmet. Die Meeresbiologin entwickelte ein Patent zur Fischeihärtung – ohne eine solche Technik wären reife Störeier viel zu weich. Fünf Jahre später gründete sie mit Partnern die Vivace GmbH, um ihre Idee gewinnbringend zu vermarkten. In den Medien funktionierte das mit durchschlagendem Erfolg: „So sieht es aus, wenn Luxus, Tierschutz und Forschergeist aufeinandertreffen“, schwärmte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vor einem halben Jahr. Lebensmittel Eine renommierte Meeresbiologin wollte „Kaviar ohne Blutvergießen“, beschrieb ethisch korrekten Kaviar produzieren. die ARD das Projekt. „Nato-Kaviar“, tiNun ist die Fischfarm pleite und der Steuerzahler Geld los. telte „Bild“: „Man kann also jetzt Moskau und Teheran ärgern, indem man Kaviar isst. Und dabei auch noch ein gutes Geanch technische Revolution be- lassen, ein schlechtes Ende genommen. wissen haben. Köstlich.“ Auch Geldgeber wie der Investor Klaus gann in einer schlichten Garage. 14 Monate nach Beginn der Produktion in Womöglich hätte auch in einer Loxstedt kann die Störfarm nicht mehr Wecken aus der Schweiz stiegen bei der fensterlosen Halle im Gewerbegebiet Lox- zahlen, angeblich weil der Schweizer Fischfarm ein. Sogar die KfW Bank wurde stedt-Siedewurt am Rand von Bremerhaven Hauptinvestor abgesprungen ist. Seit Juli Gesellschafter. Was die Journalisten nicht berichteten: Geschichte geschrieben werden können. Zu- ist ein vorläufiger Insolvenzverwalter Herr Das „Abstreifen“ der Kaviar-Eier aus lemindest hätte die Innovation, die dort aus- über 10 000 Fische in 77 Becken. Die Europäische Union und das Land benden Fischen ist etwa in Russland ein getüftelt wurde, das Gewissen reicher Feinschmecker auf der ganzen Welt erleichtern Niedersachsen pumpten noch im Juni seit Jahrzehnten etabliertes Verfahren. können. In dem tristen Bau neben einem 667 000 Euro in das Projekt, nun bangen Auch gibt es Methoden zur Verarbeitung Betonwerk residiert die Firma Vivace. Das Beamte um das Fördergeld. Und seitdem der reifen Fischeier. Doch so sinnvoll es sein mag, gegroße Ziel der Eigentümer: Sie wollten auf ist deutlich geworden, dass die Idee vom ethisch korrekte Weise Kaviar produzieren. sauber produzierten Kaviar vor allem ein schlechtsreife Störweibchen weiterzunut„Bislang war es nur möglich, aus un- windiges Marketingmärchen war, mit dem zen, anstatt sie zu schlachten: Kaviar aus reifen Störeiern Kaviar zu gewinnen“, er- Geldgebern und Kunden Geld aus der reifen Eiern ist immer ein Nischenprodukt klärte Angela Köhler, Forscherin des re- Tasche gezogen wurde. Blamiert ist auch geblieben. Echte Gourmets finden das Aroma zu fad. nommierten Alfred-Wegner-Instituts in Entsprechend skeptisch reagierte die Bremerhaven, ihr Vorhaben. Dazu hätten Branche. „Natürlich ist es eine schöne Idee, bisher die urzeitlichen Störe – von denen den Fisch leben zu lassen“, sagt der Meeeinige Arten bald austerben könnten – resbiologe Willy Verdonck von der belgigeschlachtet werden müssen. Dank eines schen Firma Royal Belgian Caviar, „aber neuen, von ihr entwickelten und mittlerwir ziehen es vor, unsere Störe zu schlachweile in 99 Ländern geschützen Patents, ten – nachdem sie bei uns sieben oder acht so Köhler, sei der Tod der Tiere nicht mehr Jahre lang ein gutes Leben geführt haben.“ nötig. Nun könnten reife Fischeier von lebenden Stören nachträglich gehärtet und Kaviar ist teuer, und Vivace lässt sich weiterverarbeitet werden. Statt durch ein das Tierfreunde-Image fürstlich bezahBlutbad werde das Luxusprodukt fortan len: 119 Euro mussten Interessenten für allein durch die sanfte Massage der Fisch50 Gramm der Delikatesse beispielsweise bäuche gewonnen. Die Störe könnten wähan der Fischvitrine des Bremer Feinkostrend ihres langen Lebens sogar immer wiegeschäfts Lestra zahlen. US-Kunden, die der Kaviar produzieren. Vivace-Kaviar über den amerikanischen Nun aber hat die anrührende Geschichte Vertriebspartner California Caviar ComWissenschaftlerin Köhler von den Fischen, die sich wie Kühe melken pany bezogen, zahlten inklusive VersandSanfte Massage der Störbäuche
Gemolkene Fische
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FOTOS: DESGRIEUX / PHOTOCUISINE / CORBIS (O.); VIVACECAVIAR.DE (U.)
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Deutschland
Das Härten der Eihüllen nach der Rogebühr 201 Dollar für 28 Gramm des angeblich ethisch korrekt produzierten genentnahme ist für ihn das weitaus geringere Problem. Dazu benötige er nicht Kaviars. Aber mit dem guten Gewissen ist das die Erfindung Köhlers: „Unter den renomso eine Sache. Die Störe müssen nämlich mierten und erfahrenen Störzüchtern somit einem Hormon stimuliert werden, an- wie umsatzstarken Kaviarbetrieben sind dernfalls gerät das Herausquetschen des diese oder ähnliche Methoden seit vielen Rogens aus der Bauchhöhle zur stunden- Jahren bekannt.“ Vivace-Geschäftsführer bis tagelangen Prozedur, die längst nicht Thomas Bauer, der vierte Vivace-Chef in drei Jahren, argumentiert, das „Alleinjeder Fisch überlebt. Unangenehm für die Professorin: In stellungsmerkmal“ seiner Firma sei „exDeutschland ist diese Hormonbehandlung zellenter Premium-Kaviar vom lebenden für Störe nicht zulässig, es gibt dafür kein Fisch“. Unerfreulich könnte die Vivace-Pleite zugelassenes Präparat. Köhler löste das Problem mit akademischer Kreativität, auch für den niedersächsischen Landwirtihre Firma meldete die geplante Kaviar- schaftsminister Christian Meyer (Grüne) produktion als Tierversuch an. Ziel: die werden. Seit seinem Amtsantritt vor gut Ermittlung der für Störe optimalen Dosis zwei Jahren machte er sich bundesweit einen Namen als Kämpfer gegen inzur Ovulationseinleitung. Bei den niedersächsischen Behörden dustrielle Massentierhaltung. Dass seine stieß das Ansinnen auf Skepsis. Ist ein Tier- Leute nichts dabei fanden, eine kommerversuch zur Produktion von Luxuslebens- zielle Kaviarproduktion mit dafür nicht mitteln zu vertreten? Schließlich einigten zugelassenen Hormonen zu genehmigen, sich die Verantwortlichen auf eine trick- lässt den Minister nicht gut aussehen. Zureiche Argumentation: Den Fischen sollte mal das Veterinäramt Cuxhaven bei einer ein in Kanada entwickeltes synthetisches Überprüfung der Anlage feststellte, dass Analogon eines natürlichen Hormons ge- Tierschutzvorgaben nicht eingehalten spritzt werden. Letztlich diene das Ex- wurden. Gewagt erscheint auch der Umgang mit periment mit dem Präparat irgendwie ja auch der Arterhaltung der Störe. Denn Fördergeld. Der Tierversuch, auf dem die wenn die Kaviarproduktion in Becken erst ganze Produktion basiert, wurde für zwei einmal reibungslos funktioniere, müsse Jahre genehmigt. Ob das Präparat anschlieniemand die wilden, gefährdeten Störarten ßend in Deutschland zugelassen wird, ist offen. Als die 667 000 Euro bei Vivace einjagen. Das klingt in etwa so, als wollte man trafen, befand sich die Firma bereits in die Nachzucht von Milchkühen optimie- höchster Finanznot. Die Bilanzen sahen ren, um den Bison vor dem Aussterben zu trübe aus, Mitarbeiter wurden entlassen. retten. Denn der Sibirische Stör, der von „Die Umsätze und die Produktionskosten Vivace gehalten wird, gilt als unkompli- standen in keinem Verhältnis zueinander“, klagt der Investor Klaus Wecken. zierter Zuchtfisch. Offensichtlich trafen die Fischeier nicht Für Vivace hatte die Genehmigung des Tierversuchs einen schönen Effekt. Ob- den Geschmack der Kunden, auch wenn wohl bis heute keine Forschungsergebnisse Geschäftsführer Bauer gegenüber dem vorliegen, darf das Unternehmen den mit SPIEGEL von einem „perligen, sauberen Hormonspritzen gewonnenen Kaviar ver- Produkt“ schwärmt, „das einen würzigen markten. Duft entfaltet“. Für Konsumenten ist das nach Ansicht Der Kaviar-Importeur Ali Sepehr Dad von Experten zwar ungefährlich, aber das sieht das anders. Vivace hatte seinem UnUnternehmen bekam einen Vorteil gegen- ternehmen im bayerischen Gauting drei über Wettbewerbern wie Dietmar Firzlaff. Proben zugeschickt. Er fällt ein vernichDer Inhaber der Firma Aquafuture aus tendes Urteil: „Vivace-Kaviar schmeckt dem nordrhein-westfälischen Kreuztal ist nach dem Rogen von Fischen, die bei seit Jahrzehnten im Fischzuchtgeschäft. In schlechtem Futter und miserabler WasserMoldawien hat seine Firma eine Störzucht- qualität in großer Enge gehalten werden.“ anlage konzipiert und gebaut, die zu den Seriöse Züchter investieren viel Geld, größten der Welt zählt. Hier produzieren um das Luxusprodukt vom Schmuddel135 Mitarbeiter jedes Jahr auf einer über- image reinzuwaschen: Sie begegnen dem dachten Bassinfläche von 50 000 Quadrat- Vorwurf der Massentierhaltung durch großmetern um die zehn Tonnen Kaviar beider zügig angelegte Teichwirtschaften mit naSorten: den traditionellen und den aus rei- turnahen Fließkanälen, oder sie züchten fen, ovulierten Eiern. Störnachwuchs für die Wiederbesiedlung Auch Firzlaff lässt seine Fische mit Hor- ehemaliger Laichgebiete. monen stimulieren, wie er zugibt. Doch Vivace machte nichts dergleichen. Mit er vertreibt seinen ovulierten Kaviar nicht dem Insolvenzverwalter wird es für die in der EU, sondern in Staaten, die mit Hor- Tiere nicht besser – sie könnten am Ende monen in der Lebensmittelproduktion we- geschlachtet werden. niger Probleme haben. Michael Fröhlingsdorf, Andrea Rehmsmeier DER SPIEGEL 35 / 2015
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her nicht. Sehr viele Geburten im Wohnzimmer oder im Geburtshaus enden damit, dass die Schwangere eilig in die Klinik verlegt werden muss. Die Frauen nehmen ein hohes Risiko in Kauf, wenn sie außerhalb einer Klinik entbinden. SPIEGEL: Warum sollte eine Frau ein solches Risiko eingehen? Klenk: Wenn Herr Ragosch über Geburt redet, höre ich nur Sicherheit, Risiko, Katastrophe. Das ist doch nicht allein entscheidend … Ragosch: … aber das Wichtigste. Die Charité hat mal eine Befragung gemacht, warum Frauen in einer Klinik entbinden. Für über 95 Prozent der Mütter war der Sicherheitsaspekt entscheidend. Klenk: Natürlich wünscht sich jede Frau ein gesundes Kind. Aber es gibt auch eine andere Art von Sicherheit: das Gefühl, gut behütet zu sein, gerade bei einer Geburt. Die Geburt ist ein gewaltiger Akt, ein Naturereignis, das die Frauen vollkommen beherrscht. Es ist ein Kontrollverlust, wie sie ihn vielleicht sonst nie erleben. Um gut gebären zu können, müssen Frauen sich geborgen fühlen. Eine 1:1-Betreuung durch eine Hebamme senkt Interventionen unter der Geburt, ist also relevant für die Sicherheit. SPIEGEL: Was ist denn nun die Geburt, ein natürliches Geschehen, in das man mög-
lichst wenig eingreift? Oder eine potenzielle Gefahr für Mutter und Kind, bei der man vor allem das Risiko verringern muss? Ragosch: Man kann in Entwicklungsländern sehen, was es heißt, wenn alles natürlich abläuft. Oder an Deutschland vor hundert Jahren denken. Klenk: Dieser Vergleich hinkt, da gab es beispielsweise andere hygienische Bedingungen und eine häufige Geburtenfolge als Risiken. Je weniger in eine Geburt eingegriffen werden muss, desto besser. Wir Hebammen sehen es als unsere Aufgabe, die Frauen zu unterstützen, wenn es nötig ist. Dafür braucht es Erfahrung. Wir sagen immer: Man muss viel wissen, um wenig zu tun. Gebären muss die Frau selbst. Ragosch: Die allermeisten Frauen entbinden selbstbestimmt. Und ich würde mich als Arzt da auch nie einmischen. Denn nach 25 Jahren Geburtshilfe bin ich fest überzeugt, dass man Frauen Raum geben muss, um sie zu unterstützen. Ich bin immer wieder dankbar, dabei sein zu dürfen. Es ist toll zu sehen, wenn eine Frau das aktive Gebären geschafft hat und mit diesem Gefühl wirklich glücklich ist. Dann liegt so eine archaische Blase der Glückseligkeit über ihr. Deshalb bin ich auch kein Freund von Kaiserschnitten. SPIEGEL: Herr Ragosch, Sie leiten zwei große Geburtskliniken in Deutschland und haSPIEGEL: Frau Klenk, warum sollte sich eine ben zwei Töchter. Wir vermuten, dass die Frau in einer Klinik nicht behütet fühlen? nicht im heimischen Wohnzimmer Klenk: Ich habe früher selbst die zur Welt gekommen sind? Pflegeabteilung einer großen Klinik geleitet. Gebärende werden dort oft Ragosch: Eine Hausgeburt kam für einem Prozedere ausgesetzt, das sie uns nie infrage. Ich habe lange auf als traumatisierend empfinden. HäuKinderintensivstationen gearbeitet, fig legen die Ärzte zum Beispiel sound auch meine Frau ist Ärztin. Wir fort eine Braunüle in die Vene, auch wissen beide, was bei einer Geburt wenn das gar nicht nötig ist. passieren kann. Die Geburt meiner ersten Tochter war tatsächlich draRagosch: In unseren Kliniken legen matisch – und daher waren wir sehr wir bei normalen Geburten überfroh, dass es die Hightech-Medizin haupt keine Braunülen. Und es gibt gibt. keine einzige Studie, die belegt, dass der natürliche Geburtsverlauf durch SPIEGEL: Frau Klenk, braucht es eine Klinikpersonal negativ beeinflusst Klinik für die Geburt? wird. Oder dass das Ego von Frauen Klenk: In eine Klinik geht man, wenn gebrochen würde, wenn wir einen man krank ist. Eine Geburt ist aber Kaiserschnitt machen. Das sind Bephysiologisch etwas total Normales hauptungen. und keine Krankheit. Wenn alles normal läuft, kann eine Entbindung Klenk: Wenn man immer mit Techauch zu Hause stattfinden. Wenn Genik ankommt, empfinden Frauen fahren drohen, ist es selbstverständdas als übergriffig. Das beginnt lich, dass eine Geburt ins Krankenschon bei den Untersuchungen in haus gehört. Aber eben nur dann. der Schwangerschaft. Man braucht zum Beispiel keinen vaginalen UlRagosch: Jede Geburt kann in einen Notfall münden, das weiß man vor- Hebamme Klenk, Arzt Ragosch: „Geburtshilfe als Lifestylefach“ traschall, um die Länge des GebärIn der Klinik, im Geburtshaus oder daheim – wo eine Frau ihr Kind zur Welt bringt, ist eine der privatesten Lebensentscheidungen. Doch um den richtigen Geburtsort ist eine politische Kontroverse entbrannt. Seit Jahren leiden die freiberuflichen Hebammen unter steigenden Haftpflichtprämien, auch in diesem Sommer kletterten die Kosten weiter in die Höhe. In der Folge ziehen sich immer mehr Geburtshelferinnen aus dem Geschäft zurück, auch viele freiberufliche Gynäkologen verlassen die Kreißsäle in den Kliniken. Wer den richtigen Ort für eine Entbindung sucht, ist in seiner Entscheidung immer weniger frei. Die Große Koalition hatte Abhilfe beschlossen, bisher ist sie daran gescheitert. Die Hebammen sind empört, weil die gesetzlichen Krankenversicherungen sie zu strikten Qualitätskriterien für die Hausgeburt verpflichten wollen. Kassen und viele Klinikärzte können nicht nachvollziehen, was gegen strenge Vorgaben für die Sicherheit von Mutter und Kind spricht. Der Streit hat sich zur ideologischen Grundsatzdebatte ausgeweitet. Hier diskutieren die Präsidentin des Deutschen Hebammenverbands Martina Klenk, 54, und Volker Ragosch, 53, Chefarzt an zwei Hamburger Frauenkliniken.
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Deutschland
mutterhalses zu bestimmen. Das mache ich mit den Händen. Ragosch: Ein Ultraschall ist doch keine Vergewaltigung. Die meisten Patienten wünschen sogar zusätzliche Untersuchungen. Die kommen und sagen: Können Sie nicht noch einen Ultraschall machen? Klenk: Ich nenne das Babyfernsehen. Geburtshilfe als Lifestyle-Fach. Ragosch: Ich gebe zu, dass in vielen Kliniken die Technik einen zu hohen Stellenwert genießt. Aber der pauschale Vorwurf, wer in einer großen Klinik arbeitet, sei gerätefanatisch und emotionslos, ist falsch. Sie tun so, als würden die Frauen zwischen Infusionsständer und Ultraschallgerät entbinden. Dabei geben sich die Kliniken heute Mühe, Geburtshilfe wohnlich zu gestalten. Wie wir unsere Kreißsäle eingerichtet haben, das wünschen sich manche Patienten zu Hause für ihr Wohnzimmer. SPIEGEL: Was wollen die Frauen denn? Ragosch: Hausgeburten sind ein Randphänomen. Gerade mal 1,4 Prozent aller werdenden Mütter entscheiden sich dafür. Klenk: Wichtig ist doch, dass Frauen sich frei entscheiden können, wie sie entbinden. Die Wahlfreiheit des Geburtsortes steht sogar im Gesetz – allerdings gerät sie gerade in Gefahr, weil immer mehr Hebammen die Geburtshilfe aufgeben. Außerdem gibt es auch viele Frauen, die sich eine Entbindung im Geburtshaus wünschen. Ragosch: Noch mal: Gebärende wollen vor allem Sicherheit. Wir müssen uns der Tatsache stellen, dass Frauen das Recht auf ein gesundes Kind einfordern. Menschlich ist das mehr als verständlich. SPIEGEL: Kann es das geben, das Recht auf ein gesundes Kind? Klenk: Nein, man kann das Risiko nie vollends ausschalten. Auch Technik bietet keine absolute Sicherheit. Herr Ragosch redet wie ein typischer Schulmediziner, der den Frauen suggeriert, wenn man nur alle technischen Möglichkeiten nutze, sei man auf der sicheren Seite. Das stimmt aber nicht. SPIEGEL: Was sollte dagegensprechen, das Risiko so gering wie möglich zu halten? Klenk: Dagegen spricht nichts. Schwierig ist aber: Schwangere werden heute auf Risiken gepolt. Früher waren Frauen einfach guter Hoffnung. Heute wird ständig abgecheckt, ob alles mit ihnen und dem Baby in Ordnung ist. Das führt zu einer tiefen Verunsicherung. Die Frauen haben nicht mehr das Zutrauen in ihren eigenen Körper, und das verändert auch die Geburt. Ragosch: Wenn eine Schwangerschaft normal verläuft, wird keine Frau pathologisiert. Bei solchen Geburten komme ich nur zum Gratulieren vorbei. Es geht darum, dass wir jene Fälle erkennen, bei denen wirklich ein Risiko für Mutter und Kind besteht. Klenk: Frauen sind verunsichert durch unser Medizinsystem. Spätestens in der Pubertät DER SPIEGEL 35 / 2015
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beginnen die Vorsorgeuntersuchungen. Der Körper ist eine Gefahr. Wie soll eine Frau da genug Selbstbewusstsein entwickeln, um normal zu gebären? Ragosch: Es stimmt, dass in Deutschland zum Teil unsinnig viel Vorsorge betrieben wird. Ich glaube, wir brauchen eine risikoadaptierte Vorsorge. Nicht jede Frau braucht die empfohlenen zehn Vorsorgeuntersuchungen. Manche aber deutlich mehr. Unsere Aufgabe besteht darin, die wirklichen Risikoschwangerschaften herauszufiltern. SPIEGEL: In Deutschland wird inzwischen fast jedes dritte Kind per Kaiserschnitt entbunden. Ragosch: Das ist bedenklich. SPIEGEL: Was ist der Grund für die gestiegene Kaiserschnittrate? Trauen sich Frauen eine natürliche Geburt nicht mehr zu? Klenk: Da spielt die Forensik eine große Rolle. Ich habe früher vielen Kindern auf die Welt geholfen, auch bei sogenannten Risikogeburten: Beckenendlage, Zwillingsgeburten. Aber wenn das Damoklesschwert eines Richterspruchs über einem hängt, dann macht man lieber einen Kaiserschnitt. Es ist ein Teufelskreis. Denn für schwierige Geburten braucht man viel Erfahrung. Je weniger sie gemacht werden, desto mehr geht dieses Handwerk verloren. Ragosch: 95 Prozent der Kliniken machen zum Beispiel keine vaginalen Beckenendlagengeburten, bei denen das Kind nicht mit dem Kopf zuerst geboren wird, mehr. Es gibt kaum noch Geburtshelfer, die das beherrschen. Das sind immerhin sechs Prozent der Geburten, bei denen ein Kaiserschnitt gemacht wird. SPIEGEL: Werden Ihre Entscheidungen als Arzt tatsächlich von Haftungsfragen beeinflusst? Ragosch: Ja, natürlich. Es gibt zum Beispiel ein Urteil des Oberlandesgerichts Celle, das dramatische Auswirkungen hat, eine Katastrophe. Es geht um die Situation, wenn es kurz vor dem Ende der Geburt kritisch wird. Früher hat dann der Geburtshelfer entschieden, ob ein Kaiserschnitt oder eine vaginal operative Entbindung gemacht wird. Jetzt sind wir gehalten, die Frauen in die Entscheidung einzubinden. Das heißt, wir müssen sie unter Wehen über Alternativen aufklären. Das ist absoluter Irrsinn. SPIEGEL: Eine Frau soll mitten in den Wehen plötzlich in den Kopf zurück? Klenk: Das ist eine kritische richterliche Entscheidung mit massiven Auswirkungen auf die Geburtshilfe. Ragosch: Die Geburt ist eine Ausnahmesituation. Viele Frauen schreien zum Beispiel unter der Geburt: „Ich will jetzt einen Kaiserschnitt! Hört auf, alles ganz fürchterlich!“ Wenn wir das immer machen würden, hätten wir nur noch Kaiserschnitte. 48
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„Früher verschickte man Geburtsanzeigen, man ließ sich Zeit. Heute macht man im Kreißsaal ein Handyfoto.“ In solchen Situationen ist es die Kunst der Hebammen, die Frauen zu führen, ihnen die Stärke zu geben: Komm, gemeinsam schaffen wir das. Da sind die Hebammen die Berufeneren. SPIEGEL: Wie stark bestimmt die Angst vor Klagen Ihre Entscheidungen? Klenk: Wir sind heute in der Geburtshilfe angstgesteuert. Ragosch: Inzwischen gibt es ganze Medizinrechtskanzleien, die sich ausschließlich mit der Geburtshilfe befassen. Überbordende Dokumentation und Aufklärung erschweren dadurch die Arbeit enorm, und schon bei Kleinigkeiten wird inzwischen geklagt. Das kennen auch die Hebammen. Klenk: Das führt dazu, dass man über Fehler bei der Geburtshilfe nicht offen spricht. Wir brauchen eine andere Fehlerkultur – eine, in der es nicht nur um Shame und Blame geht, sondern um die Frage, wie ein Fehler entstanden ist und wie man ihn künftig verhindern kann. Eine, in der man nicht Gefahr läuft, seine Existenz zu verlieren. SPIEGEL: Sie sagen das so beiläufig. Es geht doch nicht nur um die Existenz der Hebammen. Es ist ein Albtraum, wenn ein Kind bei der Geburt zu Schaden kommt. Klenk: Niemand würde da widersprechen. Natürlich wollen wir, dass die Geschädigten unbedingt die Hilfe bekommen, die sie benötigen. Aber die Schadenssummen, die Gerichte heute zugestehen, sind so hoch, dass die Haftpflichtversicherung für viele freiberufliche Hebammen unbezahlbar geworden ist. Erst im Juli sind die Prämien wieder um 20 Prozent gestiegen. SPIEGEL: Wieso sperren sich die Hebammen denn gegen neue Qualitätskriterien für Hausgeburten, wie die gesetzlichen Krankenkassen sie fordern? Klenk: Wir sperren uns nicht gegen Qualitätskriterien. Das aktuelle Problem ist: Die Kassen setzen überzogene Standards an. Sie wollen beispielsweise für eine Hausge-
Klenk, Ragosch, SPIEGEL-Redakteurinnen* „Archaische Blase der Glückseligkeit“
burt nur noch zahlen, wenn der errechnete Geburtstermin nicht überschritten wird. Aber nur wenige Kinder kommen tatsächlich an diesem Tag zur Welt. Es gibt keine Studie, die belegt, dass es gefährlich ist, wenn der Geburtstermin überschritten wird. Zur Entscheidung, ob eine Hausgeburt möglich ist, soll dann immer eine ärztliche Meinung hinzugezogen werden. Dabei haben Hebammen die fachliche Kompetenz, das selbst zu befunden. Ragosch: In den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe steht aber, dass man kontrollieren sollte, ob genug Fruchtwasser da ist. Dafür braucht es einen Gynäkologen, das kann man von außen nicht sehen. Klenk: Doch. Ich ertaste mit den Händen die Größe des Kindes. Ragosch: Geburtshilfe durch Handauflegen, das glauben Sie doch selbst nicht. Klenk: Wir Hebammen können mit unseren Händen sehr viel diagnostizieren. Da geht es nicht um esoterisches Handauflegen, sondern um Expertise. SPIEGEL: Hebammen sind fast immer Frauen. Können Männer das nicht? Klenk: Doch, natürlich. Es gibt sechs männliche Hebammen in Deutschland. Ragosch: Ich finde Männer als Hebammen problematisch. Die allermeisten Frauen wollen eine Frau. SPIEGEL: Wie unterschiedlich blicken Männer und Frauen auf die Geburt? Klenk: Frauen sind in dieser Situation empathischer, Männer gehen rationaler heran. Dadurch sehen sie eher das Risiko. Frauen haben ein eigenes Körperwissen über die Geburt, das Männern einfach fehlt. Ich erlebe ja auch die Männer im Kreißsaal. Die gucken aufs CTG, die interessieren sich für die Technik. Oder sie gehen auf Distanz, indem sie mit der Videokamera herumstehen. SPIEGEL: Am Kopf- oder am Fußende? Klenk: Ich habe die Männer immer ans Kopfende gestellt. Man fragt sich schon, wann die Leute sich solche Bilder angucken. SPIEGEL: Was sagt ein Mann dazu? Ragosch: Nach 25 Jahren Geburtshilfe denke ich manchmal schon selbst fast wie eine Frau. Ich gebe Frau Klenk hundertprozentig recht. Es ist gut, wenn Männer direkt mit der Geburt konfrontiert werden. Mein Vater hat mich das erste Mal nach 14 Tagen in den Arm genommen, vorher war dazwischen immer eine Glasscheibe. Klenk: Es wird in unserer Gesellschaft viel zu wenig thematisiert, was es heißt, Eltern zu werden. Das wird immer rosarot oder himmelblau dargestellt. Aber für die Frau ist es ein ganz einschneidendes Ereignis und oft eine große Lebenskrise. SPIEGEL: Ist die entscheidende Frage nicht, was für das Kind die beste Geburt ist? * Cornelia Schmergal und Christiane Hoffmann in Berlin.
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Deutschland
Ragosch: Kinder kann man leider nicht fragen. Klenk: Wenn es der Mutter gut geht, geht es dem Kind gut. Das Beste für die Kinder ist das Beste für die Mütter. SPIEGEL: Der Philosoph Peter Sloterdijk hat einmal eine Willkommenskultur für Kinder gefordert. Klenk: Unsere Gesellschaft denkt immer vom Ende her, vom Tod, und nicht vom Anfang. Eine Willkommenskultur wäre wunderbar. Heute sind die Frauen schon am dritten Tag nach der Geburt mit dem Neugeborenen in der Fußgängerzone. Frauen sollten sich Zeit nehmen für das Wochenbett und sich in ihre Rolle als Mutter einfinden. Das Kind war neun Monate im Bauch, und jetzt ist es plötzlich ein Gegenüber. Die Eltern müssen seine Bedürfnisse und seine Sprache verstehen lernen. Das braucht ganz viel Zeit. Ich würde es begrüßen, wenn wir Geburt anders denken würden. Ragosch: Bei uns im Krankenhaus ist manchmal die erste Frage, ob es einen Internetanschluss gibt, damit man die Bilder verschicken kann. Früher verschickte man Geburtsanzeigen. Man ließ sich Zeit, guckte sich das Kind erst mal richtig an, machte sich Gedanken, schrieb einen schönen Text. Heute wird schon im Kreißsaal ein Handyfoto gemacht und sofort an alle verschickt. SPIEGEL: Brauchen wir eine andere Geburtskultur? Ragosch: Jede Gesellschaft hat die Geburtskultur, die sie verdient. Das Problem liegt viel tiefer: Sich mit Kindern zu beschäftigen, Mutterschaft und Elternschaft als wichtig zu empfinden – das geht in unserer Gesellschaft immer mehr verloren. SPIEGEL: In anderen, traditionelleren Kulturen gibt es das noch. Ragosch: Ja, das sehe ich zum Beispiel bei unseren türkischen Schwangeren. Die gehen selten zu den Informationsveranstaltungen, Schwangerschaft wird nicht intellektualisiert. Geburt ist für sie etwas ganz Normales. Häufig wird lautstark, meist spontan entbunden, die Kaiserschnittrate ist niedriger. Und die Geburt ist ein Fest. Da kommen 10, 20 Leute mit in den Kreißsaal und freuen sich. Das macht richtig Spaß, wie ein Kind da willkommen geheißen wird. SPIEGEL: Herr Ragosch, wenn Ihre Töchter später einmal Hebamme werden wollten, wären Sie einverstanden? Ragosch: Ja, Hebamme ist toll. Aber für die Hausgeburtshilfe hätten sie meine Unterstützung nicht. SPIEGEL: Und Frau Klenk, würden Sie jungen Frauen heute noch raten, Hebamme zu werden? Klenk: Ja, es ist ein wunderbarer Beruf. Man erlebt bei jeder Geburt ein Wunder. SPIEGEL: Frau Klenk, Herr Ragosch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. DER SPIEGEL 35 / 2015
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eine syrische Flüchtlingsfamilie als Nachbarn als einen Nazi.“ Hier sechs weitere Bilder von Nachbarn (oder ihren lärmenden Holzschuhen), die einen auf die Idee bringen, dass ein paar nette Syrer nebenan in jedem Fall eine verlockende Option sind.
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Wie macht man aus einem Nutztier ein Streicheltier, Herr Lüft? Michael Lüft, 48, Hofbetreiber
aus Hessen, verkauft frische Freilandeier und vermietet seine Hühner. SPIEGEL: Warum mieten Men-
schen Ihre Hühner? Lüft: Weil sie sich nach Land-
leben sehnen und ihre Kinder nicht denken sollen, dass Eier im Supermarkt wachsen. SPIEGEL: Sind Ihre Hühner handzahm? Lüft: Meine Hühner, die ständig in den Urlaub fahren, füttere ich immer mit der Hand. Es brauchte viel Zeit, aber sie laufen auf die Menschen zu, 50
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lassen sich streicheln und hochnehmen. Das ist eine Sensation für Huhnmieter. SPIEGEL: Haben Hühner denn Lust, verliehen zu werden? Lüft: Das entscheiden meine Hühner ja selbst. Ich habe 250 Miethühner. Sie waren alle schon auf Reisen. Im Altersheim, bei Familien auf der Terrasse und im Kindergarten. Die wissen genau, dass nichts passiert. Wenn ich die Transportkiste in den Stall stelle, dann kommen sie und setzen sich auf die Kiste. Wer sich nicht auf die Kiste draufsetzt, geht nicht mit. Kiste auf. Fünf Hühner rein. Kiste zu, ab in den Urlaub. SPIEGEL: Sind Ihre Hühner versichert? Lüft: Nein. Manchmal holt sie der Habicht, oder sie sterben
den Hitzetod. Das ist ein Stück Natur. Dafür haftet der Kunde nicht. Wenn er aber fahrlässig bei Einbruch der Dunkelheit die Stalltür nicht ordentlich verschließt, der Fuchs, Marder oder Waschbär kommt und meine Hühner erlegt, dann berechne ich ein Huhn mit 70 Euro.
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SPIEGEL: Welches Paket emp-
fehlen Sie Ihren Kunden? Lüft: Das Rundum-sorglos-Pa-
ket, 14 Tage: Stall, Futter und Endreinigung für 118 Euro. SPIEGEL: Sind Eier inklusive? Lüft: Ich kann meinen Hühnern nichts befehlen. Und bei so einem heißen Sommer haben sie sowieso Stress. Das Huhn kann nicht schwitzen, seine Energie braucht es für die Körperkühlung. SPIEGEL: Haben Sie Ihre Hühner auch mal einfach wieder mitgenommen? Lüft: Ja. Heute wird alles per Telefon und E-Mail geregelt, man weiß nicht, wie es bei den Menschen aussieht. Wenn mir die Atmosphäre nicht gefällt, ein Kampfhund mich und die Hühner begrüßt, dann packe ich sie gleich wieder in den Wagen und fahre weg. gez
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Sechserpack Wenn der grau melierte Sky du Mont gerade nicht für „Edle Tropfen“ wirbt, sagt er Sachen wie: „Ich hätte lieber
Gesellschaft Es kam zum großen Familienkrieg unter Tränen, Schreien, es flogen Fäuste und Flüche – aber letztlich wurde doch alles vertuscht, aus Sorge um den Ruf der Familie. Harishs Tante trennte sich von ihrem Mann, dem Vergewaltiger, sie verließ das Land, ging nach Afrika. Sie und Harishs Mutter kamen überdie Polizei nicht einzuschalten. Der Vergewaltiger floh, zog Eine Meldung und ihre Geschichte Eine Inderin ein, in eine andere Stadt, letzten Endes kam er ohne Bestrafung dasucht einen Ehemann – für ihren Sohn. von. Auch das ist Indien, das konservative, bewusstlose Indien. Es war in dieser Zeit, dass Harish seiner Mutter gestand, dass er schwul sei. Mit den Vergewaltigungen hatte das eigentlich ie beginnt hässlich, die Geschichte, bevor sie tröstlich wird. nichts zu tun, aber für seine Mutter kam alles zusammen. Sie Nur ein Wort, so warnte ihn der Mann, ein einziges Wort machte sich bittere Vorwürfe, sie hatte ihren Sohn im Stich geüber das, was hier geschieht, und ich werde alle töten. Ich lassen, einem Perversen ausgeliefert, und jetzt war ihr Junge werde erst deine Mutter töten, deinen Vater, deinen Bruder und auch noch homosexuell. Padma Iyer, die Mutter, wurde Mitte der Fünfzigerjahre gebozuletzt dich, also sträub dich nicht, zieh dich aus, los! Ja, so war es, erzählt Harish; und es komme ihm alles so vor, ren, als Tochter eines Luftwaffenoffiziers. Ihre Kindheit verbrachals wäre es gestern gewesen, die Worte, das Gesicht des Mannes te sie in den unterschiedlichen Standorten, später heiratete sie so nah vor seinem eigenen, die Angst, die er hatte. Er war ja einen aufstrebenden Arzt, sie bekamen zwei Söhne, Harish ist erst sieben, als der Mann ihn zum ersten Mal vergewaltigte. der jüngere. Padma Iyers Leben war das Leben einer indischen Obere-Mittelklasse-Frau, auf die Fassade bedacht, abgeschirmt Und von da an immer wieder. Elf Jahre lang. von den Nöten der Armen, gegen Der Täter: der Mann seiner Entbehrungen, Gewalt. Ihre HalTante. tung Schwulen gegenüber war bis Im Jahr 2013 wurden in Indien zu diesem Zeitpunkt eine an Ab33 707 Vergewaltigungen anlehnung grenzende Prüderie. Hogezeigt; aber die Dunkelziffer ist mosexualität ist in Indien ein hoch, es gibt viel mehr VerbreStraftatbestand, Paragraf 377 verchen dieser Art. Die blumigbietet den „fleischlichen Verkehr freundliche Seite Indiens zeigt wider die natürliche Ordnung“. sich nicht allen. Leben und WürDoch nun geschah das Erde des Einzelnen, vor allem, staunliche: Padma Iyer hatte eiwenn er arm oder schutzlos ist, nen Entschluss gefasst. Sie würzählen nicht viel. Die sozialen de eine gute Mutter werden. Sie Hierarchien sind brutal. In den würde ihr Bestes geben. Sie wollStädten ist es gang und gäbe, te lernen. Und sie lernte, dass dass Kinder verkauft werden, für Schwule eigentlich ganz normale alle möglichen Zwecke. Indien Leute sind. Dass manche von ihverschwendet sich. nen sogar ausgesprochen nett Elf Jahre lang wurde Harish sind. Und ihr wurde klar, wie Iyer immer wieder vergewalMutter Padma, Sohn Harish Iyer sehr Schwule diskriminiert wertigt – aber er überlebte die Grauden – nur weil sie das Pech hasamkeiten: Er ist heute 36 Jahre ben, in Indien zu leben. Sie lernalt, ein freundlicher Kerl, ein te, Harishs Vertraute und Freunbisschen überdreht, braunes din zu sein, und es war großartig. Haar, braune Augen, kaufmänManchmal gibt es im Leben eine nischer Angestellter bei einer zweite Chance, das ist die eigentNichtregierungsorganisation, neliche Geschichte. benbei Filmfan, Bob-Marley-Fan, Irgendwann fand sie, dass Amateurschauspieler, geboren in Aus der „Frankfurter Allgemeinen“ Harish einen Partner brauche, eieine Mittelschichtfamilie, seit Jahren in Mumbai lebend. Seit Jahren auf der Suche nach dem nen Mann fürs Leben. 2013 waren die Strafen gegen Homosexuelle erneut festgeschrieben worden; Padma Iyers Antwort Sinn des Lebens, nach der großen Liebe. Seine Leidenszeit begann vor 29 Jahren, erzählt Harish, sie darauf bestand in einer Annonce in der Zeitung „Mid-Day“: begann, als er eingeschult wurde. In eine sehr gute Schule, „25- bis 40-jähriger, gut situierter, tierliebender, vegetarischer darauf legte seine Mutter Wert. Seine Tante und ihr damaliger Bräutigam für meinen Sohn (36, 1,80) gesucht …“ Sollte man sie doch anzeigen, sollten die Nachbarn doch ihr Mann wohnten in der Nähe, und so schien es nur praktisch, dass Harish nach dem Unterricht zur Tante ging und dort war- Maul zerreißen. Die Meldung ging um die Welt – eine Mutter, die mutig die tete, bis seine Mutter von der Arbeit kommen und ihn abholen Tabus bricht. Hier und da durfte Harish ein Statement verfassen, würde. Oft allerdings machte sie Überstunden. Er dachte, wenn sich der Onkel an ihm verging, an seine ein Interview geben, und er machte seine Sache gut. Er steht Mutter, wenn sie doch heute etwas früher käme, ausnahms- auf einer Liste mit den 100 wichtigsten schwulen und lesbischen weise. Es vergingen viele Jahre, ehe er ihr das erzählen Persönlichkeiten der Welt. Sechs Bewerber haben sich bis jetzt gemeldet. Mit einem Bekonnte. Jahrelang hielt Harish dicht, aus Angst. Er wurde immer werber hat Harish sich bereits getroffen, zum Abendessen im neurotischer, traumatisierter – endlich hielt er es nicht mehr Familienkreis – seine Mutter hatte gekocht und blieb auch zum aus, brach zusammen, erzählte alles seiner Mutter, der Vater Essen. Noch passt sie auf ihren Jungen auf, aber sie wird ihn eines Tages loslassen, sagt sie, ihm zuliebe. hatte die Familie zu jenem Zeitpunkt schon verlassen. Ralf Hoppe
Mutterliebe
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Gesellschaft
Der alte Mann und das Kamel Lebensträume Rüdiger Nehberg ist noch immer der bekannteste Abenteurer Deutschlands. Jetzt ist er 80 geworden. Auf einer Reise nach Äthiopien sucht er eine Schlange, spuckt Feuer und stirbt beinahe in der Wüste. Ein Porträt. Von Jonathan Stock
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Alter von 68 Jahren ließ er sich in Badehose aus einem Hubschrauber über dem Dschungel abwerfen, zuvor rannte er gegen einen Aborigine 700 Kilometer durch das australische Outback. Dreimal kam er ins Gefängnis, zwei Dutzend Mal wurde er überfallen, 29 Bücher hat er geschrieben. Jetzt ist etwas passiert, womit er nicht gerechnet hat. Er ist alt geworden. Wie ist das: ein alter Abenteurer zu sein? Ein paar Tage vor der Nacht in Äthiopien, östlich von Hamburg, in einem alten Fachwerkhaus am Mühlenteich, zieht Nehberg aus dem Regal hinter seinem Schreibtisch ein Einmachglas hervor. „Meine Reste“, sagt er. Eingelegt in Alkohol lagert er sich selbst, alles, was er im Laufe der Zeit verloren hat: Krampfadern, Mandeln, Blinddarm, Zähne, Vorhaut und Samenleiter. Ein Kunststoffohr und ein Glasauge werden bald im Glas schwimmen, symbolisch für seine schwachen Augen und seine Schwerhörigkeit. Nehberg schüttelt das Glas, als könnte er seine Reste zum Leben erwecken, dann stellt er es wieder zurück an seinen Platz. Über ihm hockt ein Geier im Gebälk, aus Stoff, jeden Tag starrt Nehberg ihn an, jeden Tag starrt der Geier zurück. „Ich warte schon auf Dich“, steht auf einem Zettel neben seinen Klauen. Das ist Nehbergs Lebensgefühl: Ihm läuft die Zeit davon.
Beschneidungswerkzeuge aus Nehbergs Besitz „Sie nennen es: die Sache“
Helfer Nehberg mit Afar-Mädchen in Äthiopien
Auf dem Wohnzimmertisch stapeln Nehberg und seine Frau Gepäck für ihre nächste Reise nach Äthiopien: Babyklamotten und Reepschnur, Messer, Moskitonetze, Petroleum zum Feuerspucken und Lübecker Marzipan, Geschenke für den lokalen Sultan. Es ist Sommer, draußen auf dem Balkon fliegen die Rauchschwalben, der Blauregen blüht. Man könnte hier als 80-Jähriger gut den Tag verbringen und die Vögel füttern. Nehberg kann das nicht. Er sei ein unruhiger Typ, sagt er. Seine Eltern waren beide Banker, auch seine Geschwister, seiner Familie ist es ein Rätsel, wie Nehberg so werden konnte, wie er ist. Er hat es seinem Vater zuliebe versucht mit dem bürgerlichen Leben. Probezeit bei der Kreissparkasse Münster, da war er 15 Jahre alt, mit Hemd und Krawatte sortierte er Belege hinter Karteikarten, der Chef bescheinigte ihm ein tolles Zahlengedächtnis. Nehberg bekam Migräne und Hautausschlag, zum ersten Mal in seinem Leben. Die Normalität tat seiner
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m Norden der äthiopischen Wüste, kurz vor der Regenzeit, als die Sonne schon untergegangen ist, träumt Rüdiger Nehberg vom Sultan. Der Sultan ist klein und dick, er trägt Sandalen und einen roten Hut. Nehberg plant, dem Sultan am nächsten Morgen einen kleinen Besuch abzustatten. Von Beduine zu Beduine will er ihn um einen Gefallen bitten, so erzählt er es. Nehberg liegt in einer Geburtshilfeklinik, die er am Tag zuvor eingeweiht hat. In dieser Nacht wechseln sich seine Frau Annette und ein Arzt an Nehbergs Krankenbett ab, messen Fieber und geben ihm Wasser. Er hat die letzten Nächte unruhig geschlafen, vom Verdursten geträumt, vom Eingesperrtsein, von der Flucht vor Verfolgern. Solche Träume hat er manchmal. In dieser Nacht aber steigt sein Fieber auf über 40 Grad, und der Arzt sorgt sich, dass Nehberg eine Lungenentzündung entwickeln könnte. Für eine sichere Diagnose brauchten sie ein Röntgengerät, aber das nächste steht fünf Stunden entfernt, sie müssten nachts mit dem Geländewagen durch die Berge fahren, auf einem unbefestigten Sandweg für Kamelkarawanen. Es war ein langer, heißer Tag. Nehberg ist 80 Jahre alt. Der Arzt und Nehbergs Frau entscheiden sich vorerst für ein Antibiotikum. Rüdiger Nehberg ist der bekannteste Abenteurer Deutschlands. Vielleicht ist er auch der einzige. Heute gibt es Extremsportler oder Basejumper, sie erleben keine Abenteuer, sondern machen Werbung für Red Bull. Nehberg dagegen hat sein Leben damit verbracht, sich Träume zu erfüllen. Er lief ohne Geld durch Deutschland, unterwegs schlief er im Gras und aß Heuschrecken. Er paddelte den Blauen Nil hinunter und rang mit einem Felsenpython. Er schmuggelte sich mit einem Propellerflugzeug in ein illegales Goldsuchercamp im Amazonasgebiet und drehte dort mit versteckter Kamera, um die Indianer zu retten. Er überquerte dreimal den Atlantik, auf einem Tretboot, einem Floß und einem Baumstamm mit Auslegern. Im
Gesundheit nicht gut. Sein erster Traum: nie wieder Kreissparkasse. Stattdessen wurde er Bäcker. Die meisten Menschen beginnen ihr Leben mit großen Träumen, die im Laufe der Zeit kleiner werden. Bei Nehberg ist es eher umgekehrt. Er hat klein angefangen, dann wurden seine Träume immer größer. Erst eine eigene Backstube, dann den Nil runterfahren, später die Indianer retten. Sein letzter und größter Traum: die weibliche Genitalverstümmelung beenden, einen Brauch, der seit mehr als 3000 Jahren belegt ist. Wenn man Nehberg fragt, warum er sich das alles noch antut, dann sagt er: „Weil ich Augenzeuge geworden bin.“ Auf dem Balkon am Mühlenteich öffnet er einen alten Ledersack aus Ziegenhaut und holt ein Baumwolltuch hervor, ein schartiges Messer, Akaziendornen und Baumwolle, eine Glasscherbe und einen Dosendeckel. Er hat sie von einer Hebamme aus Äthiopien, mit ruhigen Händen sortiert er die Utensilien in der Morgen-
sonne. Das Baumwolltuch sei zum Zusammenbinden der Schenkel, erklärt er, das Messer zum Schneiden, die Baumwolle zum Stillen des Blutes, die Akaziendornen zum Zunähen. Seine Frau hat die Verstümmelung gefilmt, um Demonstrationsmaterial zu haben. Nehberg stand draußen vor dem Zelt und weinte, das geht ihm heute noch so, jedes Mal, wenn er davon erzählt. Hebammen sind in Äthiopien häufig auch Verstümmlerinnen. Mädchen schneiden sie auf Wunsch der Eltern die Klitoris ab, oft auch die inneren und äußeren Schamlippen. Durch den Brauch wird das Mädchen in die Dorfgemeinschaft aufgenommen, es soll befreit werden von sexueller Lust und seinem zukünftigen Ehemann treu sein. Die Schmerzen bleiben ein Leben lang, beim Urinieren, beim Sex, bei der Geburt. Oft ist dann ein zweiter Schnitt notwendig. Nehberg sagt: „Es gibt keinen Namen in ihrer Sprache für die Verstümmelung. Sie nennen es: die Sache.“
Nehberg nennt es den größten Bürgerkrieg der Welt, nach Unicef-Angaben sind mehr als hundert Millionen Frauen weltweit genitalverstümmelt, etwa 6000 kommen jeden Tag hinzu. Verstümmelt wird unter anderem in Ägypten und in Afrika südlich der Sahara, im Jemen, im Irak, in Indonesien und Malaysia. Meist sind es Muslime, aber auch Christen sind darunter, auch Europäer. 80 Prozent der Opfer sind muslimischen Glaubens, auch wenn der Brauch wesentlich älter ist als der Islam. Ob Verstümmelung Sünde ist oder zu den nachahmenswerten Bräuchen zur Zeit des Propheten gehört, ist unter Gelehrten umstritten. Nehbergs Plan ist es, den Islam als Partner zu sehen und den Koran als Waffe einzusetzen, denn dort steht, dass Gott den Menschen perfekt erschaffen habe. Warum soll der Mensch ihm ins Handwerk pfuschen? So reist Nehberg durch die Welt und sammelt Fatwas ein, von jedem großen islamischen Führer ein religiöses Gutachten gegen Verstümmelung. Das macht er seit DER SPIEGEL 35 / 2015
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13 Jahren. Er war in Dschibuti, Somaliland, Mali, Mauretanien, Guinea-Bissau. In Ägypten hat ihm der Großmufti die Fatwa ausgestellt, in Syrien Scheich Mohammed al-Buti, in Katar der einflussreiche Scheich Jussuf al-Karadawi. Doch noch immer wird verstümmelt, weil nicht alle von den Fatwas erfahren, weil manchmal die lokalen Gesetze schwerer wiegen als fremde Autoritäten in Ägypten oder Katar. Nehberg sagt, er wolle es trotzdem in die Köpfe der Leute hämmern. Sein Wunsch ist es, mit dem saudischen König direkt zu verhandeln, dem Hüter von Mekka und Medina, und ihn zu bitten, den Brauch zur Sünde erklären zu lassen. Mekka wäre eine Abkürzung, sagt Nehberg. Das kenne jeder. Er glaubt, den König in zehn Minuten überzeugen zu können. Ein Bekannter hat ihm mal angeboten, ihn in einem Teppich eingerollt einzuschmuggeln. „Ist aber nix draus geworden“, sagt Nehberg. Eine Woche später, in der Danakil-Wüste Äthiopiens, steigt Nehberg morgens gegen 5.30 Uhr aus seinem Moskitozelt. Er hinkt auf dem rechten Bein, dort sitzt sein Metallknie, an beiden Füßen ist die Haut aufgeplatzt, vom Arbeiten in der Trockenheit. Es ist eine steinige Einöde, in der seine 25 Jahre jüngere Frau und ihr Sohn Roman seit fünf Jahren versuchen, eine Geburtshilfeklinik zu bauen. Die beiden sollen sein Werk fortführen, wenn er stirbt. „Ich bin nicht wie Blatter“, sagt Nehberg, „ich will das Zepter aus der Hand geben.“ Die Nacht hat Nehberg auf dem Dach eines Baucontainers verbracht, der hier rumsteht, er könne nicht mehr drinnen schlafen, sagt er, er brauche nachts den Wind. Heute will er die Klinik einweihen, dann soll es eine Konferenz geben mit den Clanführern der Region, auf der die Verstümmelung unter Strafe gestellt werden soll. Der Scheich kommt in drei Stunden, der deutsche Botschafter in fünf. „Die ganzen Autoritäten“, sagt Nehberg. Er muss noch einen Koranvers für seine Rede suchen, die Musikkapelle begrüßen und Petroleum zum Feuerspucken finden. Später wollen sie im benachbarten Dorf ein Fest geben und einen Schönheitswettbewerb für Kamele veranstalten, aber es gibt noch keine Kamele. Nehberg schaut nach draußen, an den Akazien vorbei, er kennt diese Wüste seit mehr als 40 Jahren, er wäre fast in ihr verdurstet. Er sagt: „Es ist eine kamelarme Zeit.“ Dann holt er Wasser für die Vogeltränke. Egal was Nehberg gerade macht, er muss immer eine Geschichte dazu erzählen. Schlangen beispielsweise, Schlangen seien seine Lieblingstiere, erzählt er, völlig verkannte Tiere. Er hat sich mal von einem Felsenpython Probe würgen lassen, um zu wissen, wie das ist. Die Schlange war vier Meter lang, und nach anderthalb Minuten bekam Nehberg keine Luft mehr. Helfer 54
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befreiten ihn, indem sie die Schlange vom Ende her aufwickelten. Nehberg ist es wichtig zu erklären, wie das genau funktioniert, sich aus dem Griff einer Würgeschlange zu befreien. Vielleicht denkt er, man könnte das Wissen mal brauchen. Würgeschlangen also: vom Ende her aufwickeln. Wildschweine mit der Hand fangen: im Schlamm eingraben, warten, bis das Wildschwein kommt, dann die Hinterläufe packen. Revolver: sind besser als Pistolen, denn Pistolen muss man erst mal entsichern, die Zeit hat man häufig nicht. Gefesselt im Wasser? Man bringt sich in Rückenlage und nutzt die gefesselten Unterschenkel wie der Fisch seine Schwanzflosse. Sollte man aber besser vorher üben. Zähne zieht man nicht, die ruckelt man so raus, er hat das mal in einer Hamburger Zahnarztpraxis probieren dürfen. „Ich habe immer diese Ideen“, sagt Nehberg. „Rüdiger, wo bist du? Wir brauchen dich dringend“, ruft eine Mitarbeiterin. Nehberg hat die Zeit vergessen. Der Scheich ist da. Er heißt Mohammed Darassa Mousa, ein alter Freund. Nehberg nennt ihn seinen „Klitorisscheich“. Er umarmt ihn und streicht ihm über den Kopf. „Bruder“, sagt er, „Friede sei mit dir. Hast du noch deine Tochter auf dem Telefon?“ Der Scheich ist ein religiöser Führer der Afar, eines der ärmsten Völker Äthiopiens. Er hat zwei Handys bei sich, auf einem ein Bild seiner Tochter, eine Erinnerung an deren Geburt. Damals kam das Kind nicht, zwei Tage lang versuchten es die Nachbarinnen. Schließlich nahmen sie einen gebogenen Draht und zogen damit am Kopf, dass die Haut riss. Der Scheich hörte die Schreie, kam in die Hütte, sah den Skalp und dachte, seine Tochter stirbt. In der Danakilwüste bekommen die Frauen bis zu 16 Kinder, die Säuglingssterblichkeit ist hoch. Doch das Kind des Scheichs überlebte, die Kopfhaut wuchs nach, heute ist es ein lockiges Mädchen. Seitdem setzt sich Darassa Mousa gegen Verstümmelung ein, er weiß, dass die Vernarbung nach der Verstümmelung und die Verengung des Geburtskanals die Geburten erschweren. Nehberg braucht Leute wie den Scheich, er ist auf sie angewiesen, und man hat das Gefühl, sie brauchen ihn auch. Auf dem Sandplatz oben an der Klinik springt eine schweigende, langhaarige Männertanzgruppe im Kreis, eine Band spielt dazu immer dieselbe Melodie, davor sitzen die Clanführer auf Plastikstühlen. Dann kommt der deutsche Botschafter aus einem weißen Geländewagen gestiegen, ein schnurrbärtiger Typ aus Wuppertal. Er heißt Joachim Schmidt und war früher mal Angestellter bei der Hessischen Landesbank. Er trägt Anzug und eine gepunktete Krawatte. Nehberg trägt einen goldenen Hut, den er mal auf dem Flohmarkt in
Dschibuti gekauft hat. Er verneigt sich vor der Frau des Botschafters und sagt: „Die sind hier alle nicht so pünktlich.“ Der Botschafter sagt: „Wenn der Flieger pünktlich ist, was soll dann noch schiefgehen?“ Er nennt Nehberg „Herrn Nehring“. Der Botschafter blättert in seinem Redemanuskript, stützt sich auf das Rednerpult, er nimmt das Mikrofon und redet von Wassermanagement, Bodenerosion und bemerkenswerten Fortschritten. Dann sagt er: „Jetzt lassen Sie mich mal schnell zum Gesundheitssektor kommen, denn das ist ja das Thema, zu dem wir uns hier heute alle versammelt haben.“ Die Clanführer schauen ihn interessiert an, so, wie man in der Hessischen Landesbank ein großes Flusspferd betrachten würde. Nach seiner Rede werden Geschenke überreicht, die traditionellen Stoffe und Schwerter der Afar. Schmidt schaut auf sein Geschenk und sagt: „Made in India“. Nehberg reißt das Schwert hoch, reckt es den Clanführern entgegen und ruft: „Allahu akbar!“ Das verstehen alle. Applaus. Nehberg begrüßt die Gäste in ihrer Sprache, er dankt ihnen, er führt die Hand zum Herzen. Er gibt ihnen das Gefühl, größer zu sein als er. Er erzählt eine Geschichte, die jeder versteht. Nehberg sagt, er sei auch mal mit dem Kamel durch diese Wüste geritten. Es war Krieg. Er wurde überfallen. Doch die Afar hätten ihn gerettet. Sie hätten ihn mit ihrem Leben verteidigt. „Heute schulde ich euch etwas“, sagt er. Deshalb schenke er ihnen diese Klinik. Die Zuhörer sehen jetzt so aus, als würden sie alles für Nehberg tun. Auf diesen Moment hat er gewartet. Er sagt: „Im Koran steht, Allah schuf den Menschen perfekt.“ Er zählt auf, welcher islamische Gelehrte bereits eine Fatwa ausgesprochen hat. Dann sagt er: „Und ich wünsche mir auch von euch den Mut, den Brauch nun wirklich zu beenden.“ Wenn Nehberg redet, fließen seine Worte wie Gold. Erzählen ist seine Gabe. Ihm ist es egal, ob er einen oder zweitausend Zuhörer hat. Jede Geschichte passt er an sein Publikum an. Zu Hause, am Mühlenteich, erzählt er zwölfjährigen Jungen am Lagerfeuer: „Ich kann euch ja mal die Geschichte erzählen, wie sie meinen Freund Michael Teichmann erschossen haben.“ Er weiß dann, dass er ihre Aufmerksamkeit hat. Hier in Äthiopien beginnt er mit Kamelen und Tapferkeit. Er braucht das Publikum, davon lebt er. Früher war er mal bei Treffen, zu denen Vortragsreisende aus ganz Deutschland kamen. Sie hatten ihre Wagen voll mit Videoprojektoren und Hochglanzfotografien. Wenn sie Nehberg sahen, lachten sie. Er kam mit einem alten Diaprojektor unter dem Arm. Sobald er anfing zu erzählen, hörten sie auf zu lachen. Bei Nehberg kann der Strom ausfallen, meinte einer seiner
FOTOS: LARS BERG / VISUM (1); NEHBERG.DE (2); NEHBERG (3); MARION SCHROEDER / FACE TO FACE (4); BODO MARKS / PICTURE ALLIANCE / DPA (5)
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1 1 Feuerspucker Nehberg kurz vor seinem 80. Geburtstag am Bach hinter seinem Haus in Rausdorf 2 Nehberg als Schlangenbeschwörer 3 Kinder der südamerikanischen Yamomami bestaunen Nehbergs Glatze 1990 4 Training in Hamburg für eine Abenteuerreise in den Dschungel 2001 5 Annette und Rüdiger Nehberg in der Hamburger Centrum-Moschee 2011
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Zuhörer, und man würde denken, es gehöre zur Show. Nehberg will jetzt Feuer spucken, um die bösen Geister zu vertreiben. Der Botschafter sagt: „Der weiß, was er will.“ Nehberg nimmt einen Schluck Petroleum aus einer Plastikflasche und sprüht es kräftig in feinen Tropfen auf die Fackel. Seine Frau sagt: „Rüdiger, das reicht.“ Nehberg sagt: „Nur noch einmal.“ Er kann nicht aufhören. Dann spuckt er, noch einmal, holt tief Luft für eine allerletzte Wolke, aber verschluckt etwas vom Petroleum. Er hustet, würgt. Dann lacht er und winkt in die Kamera. Der Botschafter Schmidt posiert für das Foto. Danach besichtigt er die Klinik und hält einen kleinen Vortrag über die Vorteile der Spax-Schraube. Nehberg sagt: „Das dauert mir hier zu lange.“ Dann geht er eine Afrikanische Eierschlange suchen, die aus dem Terrarium der Klinik geflohen ist. Am nächsten Tag geht es Nehberg schlecht, das Petroleum hat sich in seine Lungenbläschen vorgearbeitet, es ist heiß, und Nehberg hat unruhig geschlafen, aber er muss diesen Tag durchstehen. Sein Ziel ist es heute, dass 40 Clanführer der Afar unter freiem Himmel, unter Allahs Blicken, mit öffentlichem Schwur die Strafe festlegen für Eltern, die immer noch verstümmeln. Nehberg denkt an eine Strafe von 25 Kamelen. „Das wäre der Ruin für solche Leute“, sagt er. Die Konferenz beginnt. Ein Gynäkologe aus Kassel hält einen Vortrag, er erzählt den Männern, was ihre Frauen erleiden, erklärt die chronischen Infektionen nach der Beschneidung, die Blutvergiftung, den Urinstau, den Schmerz beim Geschlechtsverkehr, die Lebensgefahr bei der Geburt, die Hirnschäden der 4 Neugeborenen durch den Sauerstoffmangel, den Vertrauensverlust der Töchter. Der Arzt redet sehr nüchtern von allem, was passieren kann. Währenddessen servieren Afar-Mädchen Tee in kleinen Porzellantassen. Die Männer hören schweigend zu. Dann kommt die Diskussion. Die Clanführer sitzen im Kreis, es geht nun darum, ob sie eine Strafe festlegen sollen. Aber die Männer sind sich uneins. Nicht alle Scheichs in Äthiopien sind gegen die Beschneidung. Dürfen sie überhaupt entscheiden, ohne dass sich die Scheichs einig sind? Nehberg weiß, er darf niemanden zwingen, die Afar sind stolze Leute. Es kommt jetzt vor allem auf die Stimme des lokalen Sultans an, der hier der Dardar heißt. Der Dardar ist Richter seines Volkes, er entscheidet bei allen wichtigen Fragen, auch bei Blutrache und Mord. Er sagt, ein guter Herrscher müsse gerecht sein. Er DER SPIEGEL 35 / 2015
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Abenteurer Nehbergs Zuhause im holsteinischen Rausdorf: Das eigene Leben zum Projekt gemacht
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schon eingeladen haben, um das Ende des Brauches zu feiern. Sie wissen noch nicht, dass die Abstimmung fehlgeschlagen ist. „Wir danken unseren Eltern, dass sie uns schützen“, steht auf ihrem Transparent. Am Abend ist die Stimmung unter den Mitarbeitern der Klinik gedrückt; Nehberg hat hohes Fieber, die Hitze, das Petroleum, auch die Abstimmung haben ihn krank gemacht. Nehberg plant in seiner Fiebernacht ein neues Treffen mit dem Dardar, um ihn zu überzeugen. Der alte Abenteurer glaubt, er sei ein Tollpatsch, der viel Glück gehabt hat. Er sagt, dass oft alle seine Ideen völlig beschissen fänden. Er hat sie dann trotzdem irgendwie durchgezogen. Sein Leben ist ein Appell. Erfülle deine Träume! Aber in solchen Nächten fühlt es sich eher an wie ein Albtraum. Wenn man Nehberg fragt, wer seine Freunde sind, nennt er einen, ohne zu zögern. Aber abends mal ein Bier mit ihm trinken falle ihm schwer, sagt er, das gebe ihm nichts. Zu seiner Hochzeit lud er nur seinen Kameramann ein. Sein 80. Geburtstag war eine Infoveranstaltung zur Genitalverstümmelung im Hamburger Rathaus. Selbst seine Frau habe er nicht aus Liebe geheiratet, sagt er, sondern um einen Partner zu haben, für seine Menschenrechtsorganisation. Zu seiner Tochter, seinem einzigen Kind, hat er kaum Kontakt. Er ist enttäuscht, dass sie sich nie für seine Ziele begeistern konnte. Seine Exfrau schreibt,
Selbstverwirklichung sei bei ihm immer ein großes Thema gewesen. Immer brauche er andere dafür, Publikum, oder Schwächere als sich selbst, sie mögen Afar heißen, Aborigines sein. Und dann wieder wirkt es so, als gehe es Nehberg nicht darum, sich selbst zu verwirklichen. Es wirkt, als hätte er sein Leben zum Projekt gemacht und sich selbst dabei vergessen. Ein paar Tage später, Nehberg ist mittlerweile in ein Krankenhaus bei Hamburg eingeliefert worden, ruft er an. Ja, es sei ein bisschen was mit der Lunge, aber sonst gehe es ihm gut. Er muss jetzt fit werden, er will morgen aus dem Krankenhaus zu Markus Lanz, ein paar Stunden später wieder zurück, die Ärzte wollen ihn noch nicht richtig gehen lassen. Es gibt noch so viel zu tun. Er will jetzt mit Muftis in Saudi-Arabien sprechen, außerdem eine Rede bei der Islamischen Weltvertretung halten. Die Arbeit in Äthiopien laufe, bald werde der Dardar auf den Marktplätzen das Ende der alten Tradition verkünden, er sei sich ganz sicher. Man solle dringend vorbeikommen, er habe eine ganz neue Idee, über die könne er am Telefon nicht reden. Seine Stimme überschlägt sich. „Da schreien die Kamele!“, ist sein letzter Satz. Seine Frau nimmt das Telefon und legt auf. Video: Wie Rüdiger Nehberg sein Lebensthema fand spiegel.de/sp352015nehberg oder in der App DER SPIEGEL
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weiß, alles, was die Tradition verändert, bringt Unruhe. Er sagt, am Ende kommen sie mit ihren Problemen immer zu ihm. Der Dardar ist skeptisch. Bei der Abstimmung hebt er nicht die Hand. Jeder im Raum weiß, dass der Dardar beleidigt ist, weil er gestern vor dem Botschafter nicht reden durfte. Man hatte ihn vergessen. Jetzt stimmt er nicht zu, aus Protest. Das ist Nehbergs Mühsal: Er muss jeden Stammesfürsten, jeden Scheich, jeden Sultan einzeln überzeugen, wieder und wieder, und manchmal verliert er sie und muss von vorn anfangen. Er sitzt jetzt ganz eingesunken, schweigend in seinem Sessel, unter seinem goldenen Hut. Nehberg sagt, er komme mit Tieren besser klar als mit Menschen. Er glaubt, dass die Menschen die Erde nicht verdient haben, dass wir uns anmaßen, sie zerstören zu dürfen, nach purem Gutdünken, aus Gleichgültigkeit und Verantwortungslosigkeit. Wenn er auf seinem Baucontainer liege und in den Wüstenhimmel schaue, dann fühle er sich manchmal ganz klein, sagt er, nicht mehr als die Krone der Schöpfung, sondern als winziges Mosaik in einem gigantischen Gefüge. Wenn er der Schöpfer wäre, dann würde er diese Monokultur Mensch auf eine angemessene Menge reduzieren. Nehberg kann die Clanführer nicht zwingen. Aber er wird es noch einmal probieren, sie zu überzeugen, und noch einmal, bis zum Ende. Am Eingangstor der Klinik tanzen jetzt die Kinder, die sie
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trennt von raschelnden Pergaminblättern. An die Dia-Nachmittage, das rhythmische Klicken des Schlittens, wenn ein neuer Rahmen ins Licht gezogen wurde. An die Abzüge, seidenmatt oder hochglänzend, die die Autos der Sechzigerjahre, die modischen Verirrungen der Siebziger, die Frisuren der Achtzigerjahre dokumentieren. Mir ist, in der Rückschau, als hätte mir das gemeinsame Blättern und Schauen und Begreifen alter Fotos ein Gefühl von Herkunft, Herkommen, Heimat gegeben, ein Gefühl für Familie Homestory Wer nur noch digitale Fotos hat, und Gemeinschaft, ein Verständnis für die Gezeiten des Lebens, hat garantiert bald gar keine mehr. seine uralten, immer gleichen Stationen, die da bis vor Kurzem waren: Geburt, Taufe, Einschulung, Konfirmation, Kommunion. Hochzeiten, Todesfälle. Weihnachten, Ostern. ies ist eine Warnung an alle, die glauben, ihre ErinneDie ganz alten Alben waren mir schon als Kind immer die rungen seien gut aufgehoben bei Facebook, WhatsApp, liebsten. Aus ihnen schauten fremde, ernste Menschen, zu Instagram, in i- und sonstigen Clouds, in E-Mail-An- Gruppen aufgestellt, in dunklen Gewändern, die Frauen in riehängen oder digitalen Ordnern mit der Aufschrift: „Weihnach- sigen Röcken, auch die Männer in viele Schichten Stoff gehüllt, ten 2009“, „80. Geburtstag Opa Gottfried“, „Geburt Paula“. beide Geschlechter mit Hut auf dem Kopf, beide Geschlechter Die Warnung lautet: Ihr werdet alles verlieren. sehr weiß im Gesicht, sehr fremd im Ausdruck. Ihr werdet alles verlieren, weil die Festplatte plötzlich spinnt Ich machte Bekanntschaft mit Urgroßeltern, mit fernen, unoder weil das Facebook-Konto gehackt wird, weil doch mal bekannten Ahnen, mit Menschen im Gehrock am Strand der eine Cloud platzt oder ein Webhost pleitegeht oder weil das Ostsee, mit Onkeln, gefallen in Kriegen, mit einem Kind im Smartphone im Taxi liegen geblieben ist. Es reicht oft schon, Matrosenanzug, das zu meinem eigenen Vater heranwuchs, dass ein neuer Computer ins Haus kommt, dass kein verdamm- mit Mädchen in Kleidchen mit der Aura von Nonnen, „und tes Passwort mehr funktionieren will oder dass ein schönes, der da, der Onkel Heinz“, sagte meine Mutter vielleicht, „hat großes Glas Rotwein spätabends auf die Tastatur des Laptops gesoffen wie ein Loch“. Und die? „Hat immer erzählt, wie sie kippt. Dann war’s das mit den schönen Bildern. den Kaiser Wilhelm in Berlin gesehen hat.“ Keine Angst: Ich lebe sehr gern in digitalen Zeiten. Die ältesten Fotos, die es in meiner Familie gibt, sind im Aber ich trauere mindestens so sehr um die analogen alten. 19. Jahrhundert entstanden. Sie verbinden, wenn ich die Alben Ich war dabei, als Kodak unterging, im Winter 2012. Der un- heute mit meinen Kindern durchblättere, drei Jahrhunderte; fassbar große Konzern, eine Ikone des 20. Jahrhunderts, mel- drei Jahrhunderte, man stelle sich das nur mal kurz vor. dete an seinem Stammsitz Rochester Konkurs an. Ich war daDas iPhone gibt es seit 2007. Ich hatte erst keins, dann doch mals Korrespondent in Amerika und traf Robert Shanebrook, und mache seither viele Fotos damit. Aber die meisten der einen pensionierten Kodak-Ingenieur, der jahrzehntelang für Bilder sind längst gelöscht oder nicht gelöscht, aber trotzdem die Firma gearbeitet hatte und stolz darauf war. Er war der verschwunden, in Streams versunken, in Foren verblichen. Wir Typ „rüstiger Rentner“, ein amerikanischer Jedermann, aber machen heute Fotos, aber erzeugen nur Datenspuren, Wölkchen beim Abschied drückte er lange meine Hand, sah mir tief in aus Einsen und Nullen, die wie ein Sternennebel unergründliche die Augen und sagte, eindringlich, in feierlichem Ton: „Drucken Galaxien namens Picasa und Flickr durchziehen. Sie Ihre Fotos aus. Drucken Sie sie aus! Sonst ist alles weg!“ Aber gut. So ist das, und Jammern hilft nicht. Die Zeiten Ich war dumm. Ich nahm den alten Mann nicht ernst genug, ändern sich wie die Leute, die Fotos machen und selbst auf ich knipste einfach weiter, ohne Gedanken an ein Morgen. Vor Fotos festgehalten werden. Aber festhalten, darum geht es. Ich allem druckte ich die ganz alten Sachen, die winzigen, erinnere mich, gelesen zu haben, dass Sigmund Freud, kostbaren Bilder aus der Frühzeit der Digitalder den Menschen ja doch ganz gut kannte, fotografie, nie aus. Das war ein unverzeihzu der Erkenntnis kam, dass psychisch licher Fehler. Mir fehlen heute die gesund auf Dauer nur bleibt, wer die Fotos aus den ersten Lebensjahren Stationen seines Lebens sinnfällig meines ersten Sohnes, es fehlen miteinander verknüpfen kann. Bilder von meinem Vater, von Dabei helfen Bilder. Ich Festen, von Fahrten, von drucke meine jetzt aus, nicht Freunden, es fehlen viele alle, aber viele, lasse Aboptische Stützen im Gezüge machen, Fotobücher, bälk meiner Erinnerung. Alben. Wer Fotos nicht Ich hätte es besser wissen ausdruckt, hat bald keine müssen, und zwar lange mehr. Und wenn dann bevor ich Robert Shanemal ein Glas Rotwein brook in Rochester traf. umfällt spätabends, haIch hätte mich erinbe ich keinerlei Grund nern müssen an die kostmehr zur Panik. Diese baren Stunden auf dem Bilder werden bleiben. elterlichen WohnzimmerSie bekommen ein paar sofa, als ich, ein Kind noch, Flecken und wellen sich zwischen Vater und Mutter, beim Trocknen, aber so trazwischen Großmutter und gen sie noch ein paar Spuren Mutter, zwischen Mutter und gelebten Lebens mehr. Schwestern saß, Fotoalben auf den Ullrich Fichtner Knien, die kohlschwarzen Seiten geTwitter: @UllrichFichtner
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ILLUSTRATION: THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL
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Flüchtlinge bei Berufsvorbereitung in Stuttgart
Zum Nichtstun verdammt S
aid Haschimi schwitzt. Gut zwei Stunden lang hat er das Lager neben dem Büro neu sortiert, Metallschränke aufgebaut, Kisten ein- und wieder ausgeräumt. Seit knapp einem Jahr macht der 18Jährige aus Afghanistan eine Ausbildung zum Anlagenmechaniker bei HeizungObermeier, einem Heizungsbaubetrieb mitten in Münchens Altstadt. Die Arbeit werde nie langweilig, sagt er, „ich mag die Kollegen und bin oft auf dem Bau unterwegs“. Er hatte einen langen Weg zur Arbeit. Said Haschimi ist das älteste von vier
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Kindern. Der Vater starb im Krieg. Als Said 15 Jahre alt war, floh er aus Dschalalabad. Fünf Monate dauerte seine Reise vom Nordosten Afghanistans nach München. Von Kabul flog er nach Teheran, schlug sich weiter durch, zu Fuß und mit Bussen, von der Türkei nach Griechenland, über Italien nach Deutschland. Mal in der Gruppe, mal allein. Über 6000 Kilometer. Ohne seine Familie. Als er in München angekommen war, betreute ihn die Jugendhilfe. Am Anfang war es schwer, sich als Fremder zurechtzufinden. „Ich konnte niemanden verste-
hen“, sagt Haschimi. Inzwischen spricht er fast fließend Deutsch. Seinen Hauptschulabschluss absolvierte er mit der Note 1,3. Dann machte er ein Praktikum als Autolackierer – ein weiteres bei HeizungObermeier. Dort bekam er vergangenes Jahr seine Chance. „Wenn er möchte, kann er auch seinen Meister bei uns machen“, sagt Geschäftsführer Olaf Zimmermann. Vor zwei Jahren merkte Zimmermann, dass es noch schwieriger geworden war, Fachkräfte zu finden. Schon damals beschäftigte er Menschen aus fremden Ländern. „Wir haben schon ganz Europa
FOTO: LICHTGUT / IMAGO (O.)
Arbeitsmarkt Die deutsche Wirtschaft sieht im Zustrom der Flüchtlinge eine Chance für Wachstum und Wohlstand – wenn bürokratische Hemmnisse abgebaut werden.
FOTO: JOERG GLAESCHER / DER SPIEGEL (U.)
SPIEGEL-SERIE (V) Wir und die anderen: Die deutsche Bevölkerung schrumpft, Fachkräfte werden rar. Eine schnellere Integration der Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt könnte Abhilfe schaffen, sie würde zudem die Sozialkassen entlasten.
hier gehabt. Alle Hautfarben sind erlaubt“, sagt Zimmermann, „die Arbeit steht im Vordergrund, alles andere interessiert nicht.“ Derzeit beschäftigt Zimmermann zwei Flüchtlinge. Probleme hat er nur mit der Bürokratie. Er weiß nicht, ob Haschimi auch nach seiner Lehre noch in Deutschland bleiben darf. Said Haschimi ist eines von Tausenden Kindern, die Jahr für Jahr in Deutschland stranden, oft wurden sie von ihren Eltern losgeschickt, in der Hoffnung auf ein sicheres Leben und gute Bildung. Auf Zukunft. Nach Schätzungen waren es 2013 über 5000, über 10 000 im vergangenen Jahr. Ihre Zahl steigt ebenso wie die der Asylbewerber und Flüchtlinge insgesamt. Für dieses Jahr rechnet die Bundesregierung mit bis zu 800 000 Asylbewerbern. Der Strom der Fremden stellt die Gesellschaft vor immense Herausforderungen. Viele Kommunen sind überfordert, Flüchtlingsheime, Containerdörfer und Zeltstäd-
te überfüllt. Er belastet die Sozialkassen und staatlichen Haushalte mit Kosten in hoher Milliardenhöhe. Doch der Zustrom birgt auch Chancen – für die Wirtschaft des Landes. Denn die braucht, trotz fast 2,8 Millionen offizieller Arbeitsloser, dringend Arbeitskräfte. Und jeder Flüchtling, der Arbeit findet, entlastet die öffentlichen Kassen. Die deutsche Wirtschaft ist auf Zuwanderung angewiesen – aus Europa ebenso wie aus Ländern, deren Bürger heute vor allem über das Asylrecht kommen. Weil die deutsche Bevölkerung schrumpft, können viele Stellen nicht mehr besetzt werden, Fachkräfte werden zunehmend rar. Ein Trend, der sich in den nächsten Jahren verschärfen wird. Der künftige Wohlstand des Landes ist in Gefahr. Spätestens seit Mitte der Sechzigerjahre, als die Zahl der Gastarbeiter die Millionengrenze überschritt, ist Deutschland ein Einwanderungsland. Ein modernes Einwanderungsgesetz gibt es allerdings bis heute nicht. Inzwischen setzt sich jedoch die Erkenntnis durch, dass die Fähigkeiten der Menschen, die bereits im Land sind, nicht ungenutzt bleiben dürfen. Mehrfach veränderte die Regierung in den vergangenen Monaten Verordnungen und gesetzliche Regelungen, um die Integration von Asylbewerbern und Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt zu erleichtern. Dennoch ist es oft nur Zufall, wenn Menschen wie Jacob Sousani Arbeit finden. Der Syrer hatte in Damaskus einen Friseursalon, fünf Angestellte, eine 70 Quadratmeter große Wohnung, ein Auto, gesellschaftliches Ansehen. Geblieben von damals ist ihm nur eine Verletzung am Rücken. Sie stammt von einem Bombenanschlag. Sousani floh vor dem Bürgerkrieg, fünf Monate lang über den Libanon, die Türkei, Griechenland, Italien, bis er letztlich nach Dresden kam. Sein Vater und zwei seiner Brüder sind in Damaskus geblieben. Wo die übrigen seiner Geschwister sind, darüber will Sousani nicht reden. Es ist Donnerstagabend und Hochbetrieb in dem kleinen Friseursalon Director’s Cut in Dresden Neustadt. An einem der Friseurstühle steht Sousani, akribisch blondiert der Mann mit den buschigen schwarzen Augenbrauen seiner Kundin den Haaransatz. Seit über einem Monat arbeitet er in dem Laden, seit einem Jahr lebt er jetzt in Deutschland. „Es ist ein berühmter Salon“, sagt Sousani. In Dresden fand er eine neue Heimat, eine Wohnung und Arbeit. „Ich dachte nicht, dass mich je einer einstellen würde“,
sagt Sousani. Der 31-Jährige hatte Glück. Ein Nachbar, ebenfalls aus Syrien, erzählte Inhaber Christoph Steinigen von Sousani. Nach einer Probewoche stellte der ihn ein. 20 Stunden arbeitet Sousani pro Woche, am Vormittag besucht er eine Sprachschule. Den letzten Test bestand er mit über 80 Prozent richtigen Antworten. „Er ist wirklich gut“, sagt Steinigen. „Ein bisschen moderner müssen seine Schnitte vielleicht noch werden.“ Nicht nur das Friseurhandwerk hat Nachwuchssorgen. Heute leben fast 46 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter in Deutschland, die theoretisch arbeiten könnten. Ohne Einwanderung werden es in gut 30 Jahren unter 29 Millionen sein. Selbst wenn das Rentenalter auf 70 Jahre steigen würde und ebenso viele Frauen wie Männer berufstätig wären, würde in diesem Zeitraum die Zahl zusätzlicher Arbeitskräfte nur um 4,4 Millionen steigen. Weniger Arbeitskräfte bedeuten weniger Menschen, die in die Rentenkasse und die Krankenversicherung einzahlen. Weniger Menschen, die konsumieren und produzieren. Weniger Menschen, die Steuern zahlen, mit denen etwa Schulen oder Straßenbau finanziert werden. Weniger Menschen bedeuten ein geringeres Wachstumspotenzial und damit einen geringeren Wohlstand. Natürlich lässt sich angesichts der technologischen Entwicklung und der Digitali-
Friseur Sousani Arbeitsplatz per Zufall DER SPIEGEL 35 / 2015
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sierung des Lebens der Bedarf an Arbeitskräften in der Zukunft nur schwer berechnen. Dennoch kommt eine Studie der Bertelsmann Stiftung in allen berechneten Szenarien zu dem Schluss, dass an Zuwanderung kein Weg vorbeiführt. „Wenn die Nettoeinwanderung deutlich zurückgeht, wird die Alterung der Gesellschaft die sozialen Sicherungssysteme und den Staatshaushalt vor unlösbare Probleme stellen“, sagt Lutz Schneider von der Coburger Hochschule für angewandte Wissenschaften, der für die Bertelsmann Stiftung die Folgen der Zuwanderung untersuchte. Auf dem europäischen Arbeitsmarkt wird Deutschland seinen Bedarf allein nicht decken können. Noch immer kommen die meisten Zuwanderer aus den EU-Staaten, wegen der Osterweiterung und der Wirtschaftskrise in Südeuropa waren es in den vergangenen Jahren besonders viele. Nur wird es so nicht bleiben. „Mittelfristig wird mit der wirtschaftlichen Erholung in den Krisenländern die Zuwanderung aus den EU-Staaten zurückgehen“, sagt Schneider. Zudem leiden alle europäischen Länder an der deutschen Krankheit – ihre Bevölkerung schrumpft und überaltert. Bis 2050 rechnet der Ökonom nur noch mit bis zu 70 000 Einwanderern aus EUStaaten im Jahresdurchschnitt. „Deshalb sind wir künftig noch stärker auf die Zuwanderung von Menschen aus Drittstaaten als Arbeitskräfte angewiesen, die heute überwiegend als Flüchtlinge kommen“, sagt Schneider. Dabei geht es nicht nur um hoch qualifizierte Akademiker, sondern auch um Fachkräfte mit mittlerer und niedriger Qualifikation. In den vergangenen vier Jahren entstanden rund eine Million Arbeitsplätze für Ausländer in Bereichen ohne formale Ausbildung – Hilfskräfte in der Pflege, in der Gastronomie und der Landwirtschaft. Beständig steigt die Zahl der offenen Stellen, im Juli waren es nahezu 600 000. Das Handwerk hat längst begonnen, um Flüchtlinge zu werben. Wenn Christoph Karmann nicht in seinem Büro in der Münchner Innenstadt sitzt, besucht er Berufsschulen. Auf deren Schulbänken sitzen junge Flüchtlinge mit vielen Fragen, sagt Karmann: Was kann ich machen? Welche Chancen werde ich haben? Wie funktioniert die Ausbildung in Deutschland? Als einer von zwei sogenannten Ausbildungsakquisiteuren der Handwerkskammer für München und Oberbayern vermittelt Karmann Flüchtlinge an Ausbildungsbetriebe. Bayerische Handwerksbetriebe suchen händeringend nach Lehrlingen und Fachkräften. Im Frühjahr schrieb die Handwerkskammer über 7000 Betriebe in Oberbayern an und fragte, ob sie einen Flüchtling einstellen würden. Als Antwort kamen Angebote für 1200 Praktikums- und Lehrstellen zurück. 60
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Auszubildende Moghadam in der Konditorei
FOTO: JOERG GLAESCHER / DER SPIEGEL
Um den Fachkräftemangel zu bekämpfen, drängen Unternehmen und Wirtschaftsverbände darauf, wenigstens die Potenziale der Flüchtlinge, die in Deutschland leben, besser zu nutzen. Daimler appellierte als erster Großkonzern an die Politik, Flüchtlingen schon nach einem Monat zu ermöglichen, eine Arbeit aufzunehmen. „Es ist vertane Lebenszeit, wenn Asylbewerber während ihres Asylverfahrens zum Nichtstun verurteilt sind“, sagt Ingo Kramer. Der Präsident der Bundesvereinigung der Arbeitgeber fordert, dass „grundsätzlich ein uneingeschränkter Arbeitsmarktzugang für Geduldete ohne Arbeitsverbot ab Erteilung der Duldung und für Asylsuchende nach sechs Monaten ohne Vorrangprüfung erlaubt werden sollte“. Seit Anfang 2014 läuft das Modellprojekt „Early Intervention“ der Bundesagentur für Arbeit, um Flüchtlinge möglichst früh in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Sie will damit herausfinden, welche Kompetenzen, Instrumente und Ressourcen sie zusätzlich benötigt, um die Aufgabe bestmöglich erfüllen zu können. An zwölf Standorten identifizieren Talentscouts gut ausgebildete Flüchtlinge und versuchen, sie in Betrieben unterzubringen. Hannegret Deppe sitzt in ihrem Büro in der Arbeitsagentur von Detmold. Heute hat sie zwei Termine mit Kunden – so werden auch die Flüchtlinge in der Behörde genannt. Branko Nastasic* stammt aus Serbien, er leitete dort ein Café und war Bauarbeiter. Deppe geht mit Nastasic Schritt für Schritt ein Computerprogramm durch. Trockenbau kann er, aber Fenster einbauen und Elektroleitungen verlegen kann er nicht. Deppe will so den richtigen Arbeitgeber finden. Sie hilft den Flüchtlingen auch bei der Bewerbung. Gemeinsam formulieren sie das Anschreiben und bearbeiten den Lebenslauf. Ein Schild an der Wand ihres Büros zeigt das Wort „Willkommen“ in unzähligen Sprachen, daneben heißt es „Keep calm and Migration rocks“. Bereits mit 16 Jahren engagierte sich Deppe bei Amnesty International, parallel zu ihrem Jurastudium arbeitete die 41-Jährige bei einer Anwaltskanzlei, die auf asyl- und ausländerrechtliche Fragen spezialisiert ist. Seit Anfang März versucht sie, Flüchtlinge und Firmen zusammenzubringen. Wenn ein Asylsuchender zum ersten Mal bei ihr ist, fragt sie ihn Grundsätzliches: welche Schule er in seiner Heimat besucht und welche Ausbildung er abgeschlossen habe, was sein Traumjob sei. Die Menschen, die zu ihr kommen, haben oft weniger gradlinige Lebensläufe als Deutsche. * Name von der Redaktion geändert.
Im Moment kümmert sie sich um etwa sechs Uhr öffnet. Ihr Arbeitstag beginnt 50 Flüchtlinge, vor allem aus Syrien, dem um halb vier in der Früh. Dreißig Minuten von der Dresdner InIrak und dem Libanon. Deppe konnte bisher nur wenige vermitteln – einen Koch nenstadt entfernt fand Leila Moghadam aus dem Libanon, zwei Polsternäher aus Arbeit und so etwas wie eine Familie. In ihrer Heimat Iran studierte sie Polider Mongolei und einen Techniker für Autikwissenschaften. Nebenbei bastelte und genoptik aus Mazedonien. Fehlende Deutschkenntnisse sind das verkaufte sie Geschenkverpackungen im größte Hindernis für Flüchtlinge auf dem eigenen Laden in Teheran, bevor sie aus Arbeitsmarkt. Doch um in einem Inte- religiösen Gründen floh. Rund 8000 Euro kostete ihr Weg in ein neues grationskurs Deutsch zu lerLeben. Dafür bekam Moghanen, müssen sie in der ReArbeitsmarkt dam ein Visum und ein Fluggel einen rechtmäßigen Aufin Deutschland ticket nach Dortmund. Von enthaltsstatus haben. Asylbedort aus schickten sie die Bewerber und geduldete Flücht589 000 hörden monatelang von eilinge haben zwar ein Recht, nem zum nächsten Flüchtdurch die Jobcenter beraten lingsheim: Unna, Burbach, und auf dem Arbeitsmarkt 391000 Chemnitz, Kamenz. Warum, vermittelt zu werden, aber weiß sie bis heute nicht. keinen Zugang zu den InteOffene Stellen Seit Anfang des Jahres lebt grationskursen. Was wiedesie über der Backstube, in rum verhindert, dass sie von einer Wohngemeinschaft mit den Jobcentern erfolgreich Juli Juli anderen Auszubildenden. Vier auf dem Arbeitsmarkt vermit2010 2015 Zimmer, ein Gemeinschaftstelt werden können – ein Teubad, eine Gemeinschaftsküfelskreis. che. Der Deutschkurs brachte Bislang ist die Einwande37100 sie im November vorigen Jahrung im Zuwanderungsgesetz res zur Bäckerei Wippler. Eigeregelt. Den Wirrwarr aus Unbesetzte nen Monat lang absolvierte Einzelgesetzen und VerordAusbildungsstellen die 33-Jährige ein Praktikum. nungen verstehen selbst DeutObwohl sie weder eine Aufsche ohne juristische Vollaus19 600 enthaltsgenehmigung hatte bildung kaum, für Fremde ist noch besonders gut Deutsch er undurchdringlich. sprach, bot Geschäftsführer Die Exceltabelle „FörderMichael Wippler ihr eine übersicht Asylbewerber/FlüchtSept. Sept. Lehrstelle zur Konditorin an. 2010 2014 linge“ der Bundesagentur für „Sie hat sich geschickt angeArbeit listet 17 verschiedene stellt“, sagt Wippler. Er glaubt, Arten der „AufenthaltsgestatPotenzielle Arbeit sei die beste Form der tung“, „Aufenthaltserlaubnis“ Arbeitskräfte Integration: „Leila lernt die und der „Duldung“ für FlüchtErwerbstätige, Arbeitslose, stille Reserve Sprache, wird in die Geselllinge auf. Und von jeder leitet schaft integriert, und der Besich in unterschiedlicher Weitrieb hat eine Fachkraft.“ se ab, wann sie arbeiten dür2011 Schon lange sei es immer fen oder welche Förderkurse schwerer, Menschen zu finsie erhalten. Unter welchen 45 Mio. den, die das Handwerk schätBedingungen sie Anspruch zen, sagt Wippler. Bei Leila auf Bafög, Kindergeld oder ElMoghadam habe er gleich geterngeld haben und wie viele merkt, dass ihr die Arbeit Monate oder Jahre sie sich daPrognose 2030 Spaß mache. Auch deshalb für bereits in Deutschland aufohne Zu- und fordert er klare Entscheidunhalten müssen. Zudem wechAbwanderung * gen von den Behörden, „dann seln die Flüchtlinge immer 36 Mio. wären auch andere Betriebe wieder in der Zuständigkeit bereit, einen Flüchtling zu bezwischen Arbeitsagentur und schäftigen“. Eine Chance Jobcenter hin und her. * konstante Erwerbsquote habe jeder verdient, „egal, ob Das alles kostet Zeit, Geld Quellen: BA, IAB Flüchtling oder nicht“. und Nerven – den Staat und Moghadam weiß, dass sie Glück hatte. seine Mitarbeiter, aber auch die Flücht„Andere Flüchtlinge suchen vier, fünf Jahlinge. Im Oktober 2013 stellte Leila Moghadam re nach Arbeit oder finden nie eine“, sie ihren Asylantrag, neun Monate musste sie weint ein bisschen. Wippler reicht ihr eine warten, bis sie einen Deutschkurs besuVideoporträt: chen durfte. Jetzt liegen dicke Brotlaibe, Ein neuer Job kleine Pralinen und Blechkuchen vor ihr. Die Iranerin hat geknetet, gebacken und spiegel.de/sp352015job dekoriert, bevor die Bäckerei Wippler um oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 35 / 2015
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Serie
Serviette und klopft ihr väterlich auf die Schulter. Ihr größter Wunsch sei es, für immer hierzubleiben. Doch derzeit hat sie immer nur eine Duldung für ein halbes Jahr. 20 Monate wartete sie auf ihre Anhörung bei der Ausländerbehörde, seit Juli auf eine Entscheidung. Leila Moghadam will aber nicht einfach nur auf ihre Zukunft warten. Deshalb fährt sie jeden Tag nach der Arbeit zum Deutschkurs, den sie von ihrem Lehrlingsgehalt zahlt. Gern würde sie später ein eigenes klei-
nes Café in der Dresdner Innenstadt eröffnen. Erst wenn sie ganz alt sei, wolle sie nach Iran zurückkehren, „um dort zu sterben“. Viel weiß der Staat nicht über Menschen wie Leila Moghadam, den Dresdner Friseur Jacob Sousani oder den Lehrling Said Haschimi in München. Über die vielen Fremden, die ihn als Zufluchtsort wählen und von denen viele zumindest auf Zeit seine Bürger sein werden. Sicher ist, dass sie im Schnitt jünger sind als die deutsche und ausländische Bevölkerung, die hier bereits lebt.
2014 waren 32 Prozent der Menschen, die Asyl beantragten, unter 18 Jahre alt, die Hälfte aller Antragsteller war zwischen 18 und 35 Jahre alt. Es kommen mehr Männer als Frauen, insbesondere aus den Ländern, in denen Krieg und politische Verfolgung herrschen wie etwa Syrien. Nur ein Drittel aller Antragsteller war 2014 weiblich. Doch von diesem Punkt an werden die Erkenntnisse dünner. „Zur Qualifikationsstruktur der Asylbewerber und Flüchtlinge gibt es keine repräsentativen Untersuchun-
„Noch immer gibt es Hürden“ Zuwanderung Siemens-Personalvorstand Janina Kugel fordert eine stärkere Arbeitsmigration. SPIEGEL: Noch immer gibt es fast 2,8 Mil-
SPIEGEL: Hunderttausende Flüchtlinge le-
ben in Deutschland, viele Ökonomen und Wirtschaftsvertreter sehen darin auch eine Chance für den Arbeitsmarkt. Nutzt Siemens diese Chance? Kugel: Ja, aber das ist durchaus noch ausbaufähig. Wir haben zum Beispiel in Erlangen ein Pilotprojekt gestartet und zehn Praktikumsplätze für Flüchtlinge angeboten. Das läuft sehr gut, auch in der Zusammenarbeit mit den Behörden, wir werden das jetzt auf neun weitere Standorte ausweiten. SPIEGEL: Wie gehen Sie bei Siemens das Thema konkret an? Kugel: Derzeit beschäftigen wir uns unter anderem mit der Frage: Wie ist das Qualifikationsniveau der Flüchtlinge? Häufig heißt es, die könnten nichts. Aber das stimmt nicht. Es gibt viele, die gute Kenntnisse mitbringen. Diese Menschen versuchen wir in Zusammenarbeit mit den Gemeinden gezielt anzusprechen. Wir haben das Bestreben, qualifizierte Flüchtlinge zu beschäftigen und zu integrieren. Vieles ist einfacher geworden, doch noch immer gibt es Hürden. SPIEGEL: Zum Beispiel? Kugel: Oft geht es darum, ob die geeigneten Menschen schon arbeiten dürfen oder wie ihre mittelfristige Perspektive ist, bleiben zu dürfen. Und natürlich ist es auch eine Frage der Sprachkenntnisse. Wir haben etwa in Berlin ein Ausbildungsprogramm für junge Menschen aus Europa. In diesem Jahr haben wir dort erstmals auch Jugendliche aus Ländern außerhalb Europas dabei. Da machen wir in den ers62
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Managerin Kugel „Wir begrüßen Zuwanderung“
ten Wochen zunächst einen Intensivkurs in Deutsch. SPIEGEL: Macht Ihnen bei Siemens die demografische Entwicklung zu schaffen? Kugel: Unser Problem sind weniger die Akademiker. Es geht um die Menschen mit beruflicher Ausbildung, um Facharbeiter. In Deutschland, aber auch an den meisten unserer europäischen Standorte und in den USA werden in den nächsten Jahren viele unserer Mitarbeiter in Rente gehen. Viele von ihnen arbeiten in technischen Berufen. In Deutschland sind wir zudem besonders betroffen, weil das Land in der Geburtenstatistik auf den hinteren Plätzen liegt. SPIEGEL: Sollen vor allem der Staat oder die Unternehmen den Fachkräftemangel bekämpfen? Kugel: Wir können und wir müssen in den Betrieben handeln. Aber sicher ist auch: Auf betrieblicher Ebene kriegen Sie dieses Problem allein nicht gelöst. Auch ein Konzern wie Siemens nicht. Das ist eine Herausforderung für die Politik und die gesamte Gesellschaft.
lionen Arbeitslose. Müssen nicht auch die ungenutzten Potenziale von Langzeitarbeitslosen und weniger Qualifizierten stärker gefördert und die Erwerbstätigkeit von Frauen erhöht werden? Kugel: Zweifellos. Wir tun das auch, ebenso wie viele andere Unternehmen und die Arbeitsagenturen. Zum einen vergeben wir etwa zehn Prozent der Ausbildungsplätze pro Jahr an benachteiligte Jugendliche, die durchs Raster fallen würden, wenn es nur um Noten ginge. Aber wir schauen uns an, ob sie grundsätzlich für einen Beruf geeignet sind. Und das Arbeitskräftepotenzial der Frauen wird im Vergleich zum Ausland noch nicht genügend genutzt. Wir fördern dieses Potenzial. Wir alle werden unsere Anstrengungen noch verstärken müssen. Aber das reicht nicht, wir brauchen dennoch Zuwanderung. Bis zum Jahr 2030 werden der deutschen Wirtschaft je nach Schätzung zwischen zwei und sieben Millionen Fachkräfte fehlen. Wenn dies eintreffen sollte, sprechen wir über einen dreistelligen Milliardenbetrag, so sagen Studien, um den die deutsche Wirtschaftsleistung geschmälert würde. SPIEGEL: 2014 kamen weniger als zehn Prozent der Menschen aus Staaten außerhalb der EU als Arbeitsmigranten ins Land. In Großbritannien oder Dänemark sind es sehr viel mehr als hier. Woran liegt das? Kugel: Zunächst ist Englisch die Weltsprache, das macht Länder wie Großbritannien attraktiver für Zuwanderer. Die deutsche Sprache ist eine Barriere, und die Möglichkeiten, sie im Ausland zu erlernen, sind begrenzt. Wichtiger sind jedoch die strukturellen Defizite. Zwar wurden in den vergangenen Jahren die Regelun-
FOTO: METODI POPOW / IMAGO (R.)
Kugel, 45, arbeitet seit 2001 bei Siemens, im Februar stieg sie in den Vorstand des Konzerns auf. Als Personaldirektorin ist die gebürtige Stuttgarterin nun für mehr als 340 000 Mitarbeiter weltweit zuständig.
gen“, sagt Herbert Brücker vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Er hat die vorhandenen Daten ausgewertet. Die Qualifikationsstruktur der Asylbewerber und Flüchtlinge fällt auseinander: Knapp ein Fünftel haben wohl ein Hochschulstudium absolviert – aber zugleich verfügen 50 bis 60 Prozent über keine abgeschlossene berufliche Qualifikation. „Dazwischen gibt es kaum etwas“, sagt Brücker. „Die Zuwanderung über Asylrecht und Familiennachzug führt zu einer Polari-
gen für Arbeitsmigration verbessert, es muss aber mehr geschehen. SPIEGEL: Was zum Beispiel? Kugel: Akademiker etwa dürfen sechs Monate zur Arbeitssuche nach Deutschland kommen, wenn sie nachweisen können, dass sie ihren Lebensunterhalt bestreiten können. Andere Fachkräfte dürfen das nicht. Aber genau in dieser Gruppe ist eine verstärkte Zuwanderung vonnöten. Wir müssen die Qualifikationen definieren, die das Land braucht, um dann in diesen Bereichen die Immigration zu erleichtern und zu fördern. Ich könnte mir ein Punktesystem wie in Kanada oder Australien vorstellen. SPIEGEL: Braucht Deutschland ein Einwanderungsgesetz? Kugel: Wir brauchen nicht zwingend ein Einwanderungsgesetz, aber wir müssen die bestehenden Gesetze und Verordnungen überarbeiten. In Deutschland fußt die Einwanderung noch immer sehr stark auf humanitären Gesichtspunkten. Diesen Weg müssen wir auch immer offen-
sierung.“ Dabei mangelt es dem deutschen Arbeitsmarkt an Fachkräften mit mittlerer Qualifikation. Schon seit vier Jahren gibt es bereits eine „Positivliste“ der Bundesagentur für Arbeit, die Menschen von außerhalb der EU den Weg über die Arbeitsmigration öffnen soll. Auf dieser Liste sind über 20 Berufsgattungen mit 77 Berufen aufgeführt, in denen ein Mangel an Bewerbern herrscht – vom Blitzschutzmonteur über Kühlhauswärter bis zu Fachkran-
halten. Wir brauchen daneben aber auch im Allgemeinen eine weitere Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte. Und da ist Deutschland noch nicht so weit wie viele andere Industriestaaten. SPIEGEL: Wie kann man den Standort für Arbeitsmigration attraktiver machen? Kugel: Also, Bewegungen wie Pegida verbessern nicht gerade die Sicht auf unser Land. Ausdruck einer Willkommenskultur ist das nicht. Deshalb müssen Politik, Gesellschaft und auch die Unternehmen klar und deutlich sagen: Wir begrüßen Zuwanderung! Man sollte die Wirkung solcher Botschaften nicht unterschätzen. Während der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland habe ich im Ausland gelebt und erlebt, wie positiv dies das Bild unseres Landes beeinflusst hat. Die Menschen haben mich angesprochen und gesagt: Ihr seid ja ein Vorbild für Integration. Sie meinten die Nationalmannschaft, in der so viele Menschen unterschiedlicher Herkunft spielen. Interview: Dinah Deckstein, Markus Dettmer
kenschwestern und -pflegern in der Onkologie. Wie die meisten Arbeitsmarktökonomen plädiert Brücker dafür, auch auf dem Westbalkan stärker für Arbeitsmigration zu werben und die Hürden dafür eher zu senken. So könnte man Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung und einer verbindlichen Arbeitsplatzzusage mit garantiertem Mindestlohn ein befristetes Aufenthaltsrecht einräumen. „Die durchschnittlichen Deutschkenntnisse in dieser Region dürften höher sein als in vielen anderen Ländern“, sagt Brücker. Es gibt noch viele Möglichkeiten, die Situation von Flüchtlingen zu verbessern und gleichzeitig den Arbeitsmarkt zu entlasten. Man kann Menschen, die schon hier leben, aus dem Asylverfahren herausholen und ihnen ein Aufenthaltsrecht gewähren, wenn sie über eine Arbeitsplatzzusage verfügen. Man kann die Menschen, die eine hohe Bleibewahrscheinlichkeit haben, direkt nach der Einreise zu Integrationskursen verpflichten, um die Eingliederung zu beschleunigen. Es gibt noch Stellschrauben bei der Anerkennung von beruflichen Qualifikationen, bei der Arbeitsvermittlung, bei Bildung und Ausbildung. Die Arbeitsmigration zu fördern und dafür offensiv zu werben, wird das aktuelle Flüchtlingsproblem nicht lösen. Aber es kann entlasten. Vor allem ist die Arbeitsmigration der Schlüssel zu einer zukunftsorientierten, gesteuerten Zuwanderung, an der für Deutschland kein Weg vorbei führt. Bis vor einem halben Jahr musste Said Haschimi alle sechs Monate zur Ausländerbehörde in München. Einen Antrag stellen, warten, wieder Antrag stellen. Jetzt darf der Lehrling aus Afghanistan vorerst für drei Jahre in Deutschland bleiben. Was dann passiert, weiß er nicht. Er würde gern für immer in München leben. Dass sein Wunsch für ihn doch vielleicht schneller in Erfüllung gehen könnte als für die meisten anderen Flüchtlinge, verdankt er einem Talent. Haschimi ist Kickboxer, dieses Jahr wurde er zum zweiten Mal deutscher Meister bei den Junioren. Weil er keinen Pass hat, kann er nicht bei internationalen Wettkämpfen im Ausland antreten. Sein Kickbox-Verein will ihn deshalb bei der Einbürgerung unterstützen. Said Haschimi, der Junge, der mit 15 Jahren allein von Afghanistan nach München zog, möchte bei Europameisterschaften für die deutsche Nationalmannschaft antreten. Er sagt einen Satz, der vertraut klingt, er sagt: „Ich habe einen Traum.“ Markus Dettmer, Carolin Katschak, Jasper Ruppert
Siemens-Ausbildungszentrum in Berlin: Es fehlen Fachkräfte mit mittlerer Qualifikation
Im nächsten Heft: In den letzten Jahren wurden abgelehnte Asylbewerber selten abgeschoben, doch jetzt gilt: Wer nicht anerkannt wird, soll schnell gehen. DER SPIEGEL 35 / 2015
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Wirtschaft investigativ Verteilerknoten für Glasfaserkabel
Subventionen
Sieben neue Hilfen Nach Jahren stetigen Rückgangs steigen die Subventionen des Bundes wieder kräftig an. Das geht aus dem neuen Subventionsbericht der Bundesregierung hervor, den das Kabinett am kommenden Mittwoch beschließen will. Demnach legen die Steuervergünstigungen und Finanzhilfen des Bundes von 20,4 Milliarden Euro im Jahr 2013 auf 22,9 Milliarden Euro im Jahr 2016 um mehr als zehn Prozent zu. Zurückzuführen ist das Plus allein auf höhere Finanzhilfen, also direkte Subventionszahlungen, „zum einen durch die Neueinführung von sieben neuen Finanzhilfen, zum anderen durch die Aufstockung bereits bestehender Maßnahmen“, wie es in der Kabinettsvor-
Deutsche Post
Briefmarken als Wechselgeld Die Deutsche Post betreibt immer weniger Briefmarkenautomaten, intern BMA genannt. 2005 waren es noch 5000, heute gibt es nur noch etwas mehr als die Hälfte: 2700. Und die sorgen vielerorts für Ärger – bei der Post selbst, aber auch bei ihren Kunden. Sie würden, beklagt 64
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lage heißt. Mit den neuen Unterstützungszahlungen fördert die Bundesregierung beispielsweise die Nationale Klimaschutzinitiative oder den Ausbau des Breitbandnetzes vor allem in ländlichen Regionen. Neue Steuervergünstigungen gibt es im Berichtszeitraum 2013 bis 2016 nicht. Die Finanzhilfen legen von 2013 bis 2016 von 5,1 Milliarden Euro auf 7,5 Milliarden Euro zu, während die Steuervergünstigungen bei etwas mehr als 15 Milliarden Euro verharren. Trotz höherer Fördermittel sinkt die Subventionsquote, also der Anteil der Subventionen an der Wirtschaftsleistung, auf 0,7 Prozent leicht, weil die Wirtschaft kräftig wächst. rei
ein Sprecher des Konzerns, „im erheblichen Umfang“ als Geldwechselautomaten „zweckentfremdet“. Deshalb verfügen sie, zum Ärger der Kunden, über keine Wechselgeldausgabe mehr. Auch die Bezahlfunktion mittels Geldkarte wurde abgeschaltet – angeblich wegen zu geringer Nachfrage. Für die Kunden bedeutet das: Wer nicht zufällig das Standardporto in Höhe von 62 Cent passend in
Münzen parat hat, muss „Wechselgeld“ in Form von Briefmarken akzeptieren. Auch Vandalismus bereitet den BMA-Verantwortlichen bei der Post Sorgen: Graffitisprühereien sowie Metallteile oder Kaugummireste im Münzschacht der Automaten sind an der Tagesordnung. Die Post verweist darauf, dass Briefmarken mittlerweile verstärkt im Internet verkauft würden. mum
FOTOS: DANIEL REINHARDT / PICTURE ALLIANCE / DPA (O.); JOCHEN TACK / IMAGEBROKER / MAURITIUS IMAGES (U.)
Zum ersten Mal seit Jahren verteilt der Bund wieder mehr Geld.
Strom
Industrieprivilegien sollen fallen Unternehmen sollen sich nicht mehr von der Zahlung bestimmter Stromgebühren befreien lassen können. Das Wirtschaftsministerium prüft derzeit, bei den Netzentgelten künftig keine Rabatte mehr zuzulassen, von denen neben Industriebetrieben beispielsweise auch Golfplätze profitierten. Das geht aus einer Antwort des Ministeriums auf eine parlamentarische Anfrage hervor. Demnach habe sich die Befreiung von Netzentgelten, womit die
Regierung die Stromentnahme etwa nachts oder wochenends fördern wollte, als weitgehend unwirksam herausgestellt und „das Flexibilitätspotenzial“ sogar „eingeschränkt“, wie das Ministerium in seiner Antwort an den grünen Energieexperten Oliver Krischer schreibt. Krischer fordert eine rasche Neugestaltung des Privilegs, das Unternehmen 2015 Einsparungen in Höhe von 797 Millionen Euro bringen soll. „Denn bezahlen müssen das die privaten Stromkunden, denen diese Summe auf die Stromrechnung draufgeschlagen wird“, sagt Krischer. gt
Golfplatz in Mecklenburg-Vorpommern
Fluggesellschaften
Vueling bedrängt Lufthansa
FOTOS: HANS BLOSSEY / IMAGEBROKER / MAURITIUS IMAGES (O.); STEFANIE LOOS / REUTERS (M.); DAVID RAMOS / GETTY IMAGES (U.)
Schäuble
EU
Steuerausschuss will Schäuble hören Deutsche Finanzbehörden werden verdächtigt, gegen europäische Steuerregeln verstoßen zu haben. Der Sonderausschuss des Europäischen Parlaments zu den umstrittenen Steuerpraktiken Luxemburgs und anderer EULänder will in den kommenden Wochen auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) anhören. Dies fordert der FDP-Europaparlamentarier Michael Theurer, der Berichterstatter im Ausschuss ist. Schäuble müsse sich der Frage stellen, „ob in Deutschland durch Gestaltungsauskünfte Steuersparmodelle ermöglicht werden“. Bei dieser Praxis teilen Finanzämter Unternehmen vorab mit, wie sie die Steuer-
gesetze anwenden wollen. Je nach Vorschrift haben die Behörden dabei einen gewissen Spielraum, für Unternehmen können solche Auskünfte entscheidend sein. Anlass für die Einsetzung des Sonderausschusses war das Steuergebaren Luxemburgs. Der Staat hatte internationalen Firmen über Jahre hinweg vorteilhafte Abkommen angeboten, die die Steuerbelastung auf fünf Prozent oder weniger sinken ließen. Im Entwurf für einen Abschlussbericht kommen die EU-Parlamentarier zu dem Ergebnis, dass nicht nur Luxemburg, sondern viele EU-Mitglieder durch eine besondere Steuergestaltung gegen europäische Regeln verstoßen haben. Schäuble hatte sich in der Vergangenheit grundsätzlich bereit erklärt, vor dem Ausschuss Fragen zu beantworten. mp
Welchen Gewinn einzelne Strecken abwerfen, verraten Fluglinien nur ungern. In der neuesten Ausgabe ihrer Mitarbeiterzeitung macht die Lufthansa eine Ausnahme – um der Belegschaft den Ernst der Lage zu verdeutlichen und die Umschichtung von Teilen des Geschäfts auf den Billigableger Eurowings zu rechtfertigen. Bis vor gut zwei Jahren, offenbart die Geschäftsführung in einem Artikel, sei die Verbindung von Frankfurt am Main nach Barcelona eine der rentabels-
ten Routen im Verkehrsnetz des Konzerns gewesen. Das habe sich geändert, seit Vueling, die spanische Billigtochter von British Airways und Iberia, im März 2013 dort ebenfalls den Betrieb aufnahm. Die Kosten der 2004 gegründeten Airline lägen „pro Flug etwa 40 Prozent unter denen von Lufthansa“. Seither seien „die LufthansaTicketpreise – und damit auch die Erlöse pro Flug auf dieser Strecke – um einen deutlich zweistelligen Prozentbereich gesunken“. did
Vueling-Jet in Barcelona
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Großbaustelle in Peking
Der perfekte Sturm Weltwirtschaft China, Brasilien und Russland waren über Jahre hinweg die Motoren des globalen Aufschwungs. Jetzt verlieren sie auf breiter Front an Dynamik. Die Schwäche der Schwellenländer bedroht das deutsche Geschäftsmodell. 66
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Wirtschaft
FOTO: WANG ZHAO / AFP
E
in Schiff dieser Dimension hatte im Hamburger Hafen noch nie festgemacht: Fast 400 Meter ist die „MSC Zoe“ lang, 59 Meter breit, sie hat Platz für gut 19 000 Standardcontainer. Anfang August wurde der Megafrachter getauft, Schiffshörner tröteten beim Einlaufen feierlich die „Star Wars“-Melodie. Nun ist die „Zoe“ im Einsatz auf den Diensten zwischen Europa und Asien. Bis Ende kommenden Jahres will die Genfer Reederei MSC noch 17 baugleiche Stahlgiganten zu Wasser lassen – als gewönne der Gütertransport über die Weltmeere stetig an Fahrt. Es ist eine riskante Wette: Die Schiffe werden gebaut für einen Boom, den es womöglich gar nicht mehr gibt. Darauf deuten die Zahlen hin, die der Hamburger Hafen in dieser Woche präsentierte. Der Containerumschlag an der Elbe ist im ersten Halbjahr gegenüber dem Vorjahr um fast sieben Prozent gesunken. Das Geschäft mit Russland brach, vor allem sanktionsbedingt, um mehr als ein Drittel ein. Was noch größere Sorge bereitet: Auch im Verkehr mit dem wichtigsten Handelspartner China registrieren die Hafenmanager einen deutlichen Rückgang von fast elf Prozent. Es sieht so aus, als brächen ungemütliche Zeiten für sie an. Das Tief im Norden ist nur das äußere Zeichen dafür, dass sich in der Weltwirtschaft dieser Tage etwas grundlegend verändert. Die Volkswirtschaften der sogenannten Schwellenländer verlieren auf breiter Front an Schwung – und zwar in einem Ausmaß, wie es vor Kurzem kaum vorstellbar war. In China hat die Exportindustrie im Juli mehr als acht Prozent zum Vorjahr eingebüßt. Russlands Wirtschaft versinkt immer tiefer in der Rezession. Die Türkei verliert an ökonomischer Stabilität, je stärker sich ihre Regierung in militärische Konflikte verwickelt. In Malaysia hat die Landeswährung, der Ringgit, gegenüber dem Dollar massiv an Wert verloren. Der thailändische Baht ist auf ein Sechsjahrestief gefallen. Und Brasilien steht kurz davor, von Ratingagenturen auf Ramschstatus abgewertet zu werden. Die freundlichen Worte von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Brasília diese Woche ändern nichts an der desolaten Situation im Land. Auch Indonesien und Südafrika erzielen bei Weitem nicht mehr die Wachstumsraten von früher. Nur wenige Staaten wie Indien erweisen sich noch als relativ robust. Die Globalisierung verliert offensichtlich an Geschwindigkeit, die Welt wird in gewisser Weise wieder etwas kleiner. Kaum ein Volkswirt hat diesen Prozess vorausgesehen. Eben noch beanspruchte Griechenland die volle Aufmerksamkeit der Ökonomen, jetzt gilt ihre ganze Sorge den Schwellenländern.
Die Konstellation sei so gefährlich, dass sich „ein perfekter Sturm“ zusammenbrauen könne, warnen die Ökonomen des internationalen Finanzverbandes IIF. Die Deutsche Bundesbank hat in ihrem Monatsbericht vom Juli der Schwäche in den Schwellenländern sogar ein eigenes Kapitel gewidmet. Dort habe die Dynamik „deutlich nachgelassen“, registrieren die Frankfurter Volkswirte, die Entwicklung werde „vermutlich in den nächsten Jahren gedämpft bleiben“. Unter ungünstigen Umständen könne sich das Wachstum sogar weiter verringern, schreiben die Bundesbanker über die Gruppe von Staaten, die bis vor Kurzem noch als Motoren der Weltwirtschaft galten. Die „Emerging Markets“ trugen vier Fünftel zum globalen Wachstum bei. Sie waren die Garanten dafür, dass Industrienationen wie Deutschland neue Abnehmer für Maschinen, Anlagen oder Kraftfahrzeuge fanden, die Ausfuhren legten lange Zeit jedes Jahr im zweistelligen Prozentbereich zu. Und sie eröffneten den heimischen Unternehmen die Chance, neue Standorte zu eröffnen, an denen sie billiger produzieren konnten als zu Hause. Denn sie trafen auf eine überwiegend junge Bevölkerung, Millionen von Menschen,
Wirtschaftswachstum 7,4
Veränderung der Wirtschaftsleistung gegenüber dem Vorjahr, in Prozent Schwellen- und Entwicklungsländer
6
4,3 4
3,1
Industrieländer
2,4
2 Quelle: IWF
2010
2011
2012
2013
2014
2015
0
– 10
Aktienkurse in den Schwellenländern – 20
Veränderung des MSCI Emerging Markets Index seit Anfang Mai 2015, in Prozent Quelle: Thomson Reuters Datastream
Mai
Juni
Juli
August
begierig, in die Mittelklasse aufzusteigen: mit Auto, Apartment und Altersvorsorge. An diesen Prämissen hat sich nichts Wesentliches geändert. Und dennoch kaufen die Investoren den Politikern der Schwellenländer die Wachstumsstory nicht mehr ab, sie ziehen massenhaft Kapital aus den Märkten heraus. Laut der Studie einer niederländischen Investmentfirma sind in gut einem Jahr fast eine Billion Dollar aus den 19 größten Schwellenländern abgeflossen. Was ist nun faul an der Erfolgsgeschichte? Wie konnten diese Staaten derart in Misskredit geraten? Moritz Schularick kann sich kaum darüber wundern, wie furios sich die Dinge gerade entwickeln, dafür kennt er zu viele Beispiele von Volkswirtschaften, die aufstiegen und wieder abstürzten. Schularick ist Wirtschaftshistoriker in Bonn, gemeinsam mit dem US-Kollegen Alan Taylor hat der 40-Jährige mehr als 200 Fälle von Rezessionen aus 140 Jahren untersucht. Die Forscher haben herausgefunden, dass der Verschuldungsgrad des privaten Sektors eine entscheidende Rolle dafür spielt, wie heftig Finanzkrisen ausfallen. Diese Erkenntnis lässt für die aktuelle Situation nichts Gutes erahnen. Fast alle Schwellenländer stecken heute tiefer im Minus denn je. Die globale Verschuldung ist laut einer Studie des McKinsey Global Institute von 2007 bis 2014 um 57 Billionen Dollar auf fast 200 Billionen Dollar hochgeschnellt. Vor allem die Chinesen sind dazu übergegangen, ihren Aufschwung mit geliehenem Geld zu finanzieren. In der Volksrepublik hat sich die Verschuldung seit der Finanzkrise auf 28 Billionen Dollar vervierfacht. „Es gibt kein Beispiel in der jüngeren Wirtschaftsgeschichte, bei dem ein Kreditboom von diesem Ausmaß nicht in einer schweren Krise geendet hätte“, sagt der Wissenschaftler Schularick. Zuletzt waren die Schwellenländer Ende der Neunzigerjahre in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Damals kamen die Wechselkurse vieler Staaten massiv unter Druck, die Regierungen versuchten verzweifelt, die Kapitalflucht einzudämmen, ihre Devisenreserven schmolzen dahin. Das Problem heute bestehe eher darin, dass die Unternehmen über ihre Verhältnisse gewirtschaftet hätten, meint Schularick: „Da lauert die Gefahr.“ Petrobras bietet dafür ein eindrucksvolles Beispiel, der brasilianische Energieriese hat Schulden in Höhe von 87 Milliarden Euro aufgetürmt. Vor der Küste des Landes will der Konzern im Meeresgrund unter einer kilometerdicken Salzschicht Rohstoffvorkommen erschließen, ein beispiellos aufwendiges und teures Unterfangen, vor allem angesichts eines Ölpreises, der sich in einem Jahr mehr als halbiert hat. Das Kapital besorgt sich Petrobras unter DER SPIEGEL 35 / 2015
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anderem mithilfe einer Anleihe, die eine Laufzeit von nicht weniger als hundert Jahren hat. Kaum jemand, der dieses Papier zeichnet, wird die Rückzahlung erleben. Auch in China haben viele hoch verschuldete Unternehmen ihre Vorhaben einige Nummern zu groß dimensioniert. Mittlerweile leidet die Wirtschaft unter enormen Überkapazitäten, vor allem in der Baubranche. In nur drei Jahren haben die Unternehmen dort mehr Zement verbraucht als die Vereinigten Staaten im gesamten 20. Jahrhundert. Und Stahl produziert die Volksrepublik inzwischen Tag für Tag fast eine Million Tonnen mehr, als das Land benötigt. Das Überangebot drückt die Preise, die Chinas Unternehmen für ihre Güter verlangen können. Die Absatzschwäche trifft sie umso härter, da sie sich oftmals in Fremdwährungen verschuldet haben, meist in Dollar. Das bedeutet: Ihre Zinskosten steigen, die Einnahmen aber schrumpfen. Diese Doppelbelastung schwächt die chinesische Volkswirtschaft merklich. Ihr Rohstoffhunger lässt nach, die Lieferanten bekommen dies schmerzhaft zu spüren: die Eisenerzminen in Brasilien, die Kupferproduzenten in Chile, die Kautschukindustrie in Malaysia. Die Notierungen fast aller Rohstoffe haben deutlich verloren, der Bloomberg Commodity Index ist auf den Stand von 2002 zurückgefallen. Viele Jahre hat der Rohstoffboom den Aufschwung in den Schwellenländern befeuert. Brasilien konnte in einem Jahrzehnt seine Ausfuhren verdreifachen. Die Euphorie über ständig wachsende Erlöse kaschierte, dass vieles in den Staaten unzulänglich geblieben ist. Jetzt treten die Schwachstellen offen zutage. Brasilien hat es versäumt, in die Modernisierung seiner Häfen, Bahnstrecken und Straßen zu investieren. Im Großraum São Paulo muss ein Arbeitnehmer täglich mit einer Stunde zusätzlicher Fahrzeit zum Arbeitsplatz rechnen. Die Lohnnebenkosten 68
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sind höher als in Deutschland, die Finanzgesetze höchst komplex. Ohne ein Heer von Steuerberatern findet sich ein Unternehmer dort kaum zurecht. Bürokratie, Korruption und Misswirtschaft sind charakteristisch für Länder wie Brasilien oder Russland, die von ihren Bodenschätzen lange Zeit sehr gut leben konnten – und die brutal abstürzen, wenn der Zauber einmal verflogen ist. Ökonomen sprechen vom „Fluch der Ressourcen“, wenn sich Staaten auf den steten Strom ihrer Rohstoffquellen verlassen und darüber ihre Institutionen vernachlässigen. Solche strukturellen Defizite haben die Schwellenländer verwundbar gemacht, sie sind der tiefere Grund dafür, warum die Ernüchterung gegenwärtig so groß ist. Der Hamburger Wirtschaftsprofessor Thomas Straubhaar sieht die Entwicklung der Weltwirtschaft in den nächsten Jahren eher pessimistisch. Er kann weit und breit keinen Impuls erkennen, der einen neuen Boom entfachen könnte. „Die Globalisierung hat ihren Höhepunkt überschritten“, sagt Straubhaar.
Rohstoffpreise +10
Veränderung des Rohstoffpreisindex S&P GSCI seit Anfang 2014, in Prozent
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Quelle: Thomson Reuters Datastream
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Alexander Jung
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Ölförderanlagen in Russland: Fluch der Ressourcen
Wenn seine Einschätzung zuträfe, dann hätte dies schwerwiegende Folgen für die deutsche Volkswirtschaft, in der fast jeder vierte Arbeitsplatz vom Welthandel abhängt und die bekannt ist für Mittelständler, die in ihrer Nische den Weltmarkt bedienen. Der Ökonom plädiert dafür, dass Deutschland sein Geschäftsmodell überdenkt und die Volkswirtschaft sich stärker auf lokale und regionale Märkte in Europa und Amerika konzentriert. Gesünder und länger leben, schöner wohnen: Es täten sich noch viele Potenziale auf, meint Straubhaar, gerade im Hinblick auf den demografischen Wandel. „Wir sollten unsere Zukunft nicht im Exportmodell der vergangenen 20 Jahre suchen“, sagt er, die Wirtschaft solle sich künftig stärker auf das Geschäft mit den reicheren Ländern konzentrieren. Sein Berliner Kollege Marcel Fratzscher, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, sieht es etwas anders. Natürlich nähmen die Wachstumsraten im globalen Handel derzeit ab, auch Chinas Wirtschaft wachse langsamer. Doch man müsse bedenken, dass in absoluten Zahlen sieben Prozent Zuwachs von heute einer höheren Wirtschaftsleistung entsprächen als zwölf Prozent in früheren Zeiten. „China wird noch viele gute Jahre vor sich haben“, erwartet Fratzscher, die Volkswirtschaft habe weiterhin einiges aufzuholen. Und davon würden auch die deutschen Unternehmen profitieren. Falls aber nun der Abschwung der Schwellenländer die Globalwirtschaft doch noch stärker belastet, bleiben den Regierungen und Notenbanken kaum Instrumente zum Gegensteuern übrig, anders als in der Finanzkrise nach 2007. Damals gab es Spielraum für Konjunkturpakete und für Zinssenkungen. Heute sind solche Strategien schwer vorstellbar angesichts von Rekordschulden und Zinsen, die bei null angelangt sind. „Die Weltwirtschaft segelt ohne jegliche Rettungsboote über den Ozean“, sagt der HSBC-Chefökonom Stephen King. Womöglich kommt auf die Schwellenländer sogar noch echter Gegenwind zu, falls die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) auf ihrer Sitzung in vier Wochen den Leitzins wieder erhöht, erstmals seit 2006. Dann würde der Zinsdienst noch teurer werden und der Schuldenberg noch schwerer auf Staaten und Unternehmen lasten. Außerdem würde weiteres Kapital aus den Schwellenländern abwandern, ihre Währungen würden noch schwächer. Gut möglich, dass Fed-Chefin Janet Yellen deshalb noch einmal vor einem solchen Schritt zurückschreckt. Doch die Zinswende sei nur noch eine Frage der Zeit, sagt Ökonom Straubhaar: „Und es wird kaum bei nur einem Schritt bleiben.“
Wirtschaft
Dreckiges Dutzend
Wie groß die insgesamt freigesetzten darauf, dass Proben in enger Absprache Mengen pro Tag, pro Woche und Monat mit Behörden entnommen wurden und sind, soll in einem zweiten Schritt analy- dass die UQN nicht für Grubenwasser gelte. siert werden. Doch für Umweltverbände Die neuen Messungen des LANUV, die und Wasserexperten wie Harald Friedrich der grüne Umweltminister Johannes Remsind die Zwischenergebnisse schon jetzt mel nach der Aufdeckung der PCB-Affäre ein „dramatisches Szenario“. im Januar in Auftrag gab, bringen die RAG Mehr als 10 000 Tonnen des Giftes lagern dennoch in eine prekäre Lage. Ihr Plan, Affären Messungen belegen, seit den Achtzigerjahren in Form von Hy- das übel riechende Grubenwasser ab 2018 dass der Kohlekonzern RAG drauliköl in den Schächten der RAG. Mit preisgünstig und unauffällig in den Rhein der Schließung der letzten Zechen Ende zu leiten, dürfte nur noch schwer zu halten giftige PCB in Flüsse 2018 besteht die Gefahr, dass noch größere sein. Stattdessen drohen Auflagen, etwa einleitet. Umweltverbände Mengen als heute in die Flüsse und viel- eine aufwendige Sanierung der Zechen bereiten Strafanzeigen vor. leicht sogar in das Grundwasser gelangen. und der Bau großer Filteranlagen. Dann will die RAG die in Hunderten MeBisher haben weder das Unternehmen igentlich sollte der Bericht vertrau- ter Tiefe installierten Pumpen abstellen. noch die für seine Altlasten zuständige lich bleiben. Weder die Aufsichtsbe- Millionen Kubikmeter Grubenwasser wer- RAG-Stiftung dafür Geld zurückgelegt. hörde in „Arnsberg oder Dritte“ soll- den dann aufsteigen, die teilweise schwer Gut möglich, dass letztlich sogar der Steuten von den Zwischenergebnissen erfah- kontaminierten Schächte werden geflutet. erzahler für die giftigen Hinterlassenschafren. So steht es in der E-Mail, mit der das Über ein unterirdisches Tunnelsystem soll ten des Bergbaus aufkommen muss. Die Landesregierung kennt das Problem, Landesamt für Natur-, Umwelt und Ver- das Wasser ungefiltert in den Rhein fließen. Als der SPIEGEL im Januar erstmals doch Ministerpräsidentin Hannelore Kraft braucherschutz (LANUV) am 31. Juli um exakt 13.46 Uhr eine knapp 40-seitige Un- über die PCB-Belastung berichtete, wie- (SPD) und ihre Minister spielen auf Zeit. tersuchung an das Umweltministerium des gelten die RAG und die zuständige Auf- Vor Kurzem wurde ein Gutachten in AufLandes Nordrhein-Westfalen verschickte. sichtsbehörde in Arnsberg ab. Eine Gefahr trag gegeben, das die Gefahren durch PCB Überschrieben ist die Mail mit der Zeile: bestehe weder jetzt noch in Zukunft, hieß und Giftmüll in den Zechen untersuchen „PCB Grubenwasser – Zwischenbericht“. es damals. Das Grubenwasser würde per- soll. Erst nach Abschluss der Studie will Der Inhalt ist brisant für die Landesregie- manent geprüft. PCB liege seit Jahren be- die Regierung über mögliche Auflagen für rung, vor allem aber für den größten Berg- reits „unterhalb der Nachweisgrenze“. Ein- die RAG beraten. Doch der Druck von außen wächst. Die bau- und Kohlekonzern des Landes, die zelne Ausreißer seien auf Unfälle unter neuen Messergebnisse haben auch Umin Essen ansässige RAG. Tage zurückzuführen. Die Studie belegt, was die RAG und ihre Das war wohl so nicht richtig. Der weltverbände wie den Bund für Umwelt Aufsichtsbehörde bisher abgestritten ha- Grund für die niedrigen Werte liegt offen- und Naturschutz Deutschland erreicht. ben: Das von dem Konzern in Millionen bar in der von der RAG und der Bergbau- Dort ist man „fassungslos“ über den leichtfertigen Umgang mit dem Gift und plant Kubikmetern in Flüsse gepumpte Gruben- behörde angewandten Messmethode. wasser ist in erheblichen Mengen mit hochPCB ist nicht wasserlöslich. Es heftet juristische Schritte. PCB, heißt es in einem dem SPIEGEL giftigen Polychlorierten Biphenylen (PCB) sich an kleine Schwebstoffe im Wasser. Um belastet. es zu finden, sagen Experten wie Friedrich, vorliegenden Entwurf einer Strafanzeige, In den noch aktiven Bergwerken rund sind spezielle Untersuchungen mit Zentri- gehörten zum sogenannten Dreckigen Dutum Emscher und Ems, schreiben die Ver- fugen oder in dem von Chemikern als Se- zend, einer besonders gefährlichen und fasser, liegen Konzentrationen der krebs- diment bezeichneten Bodensatz der Ein- weltweit verbotenen Gruppe von Chemierregenden Chemikalien im Grubenwasser leitungsstellen nötig. kalien. Die nun zweifelsfrei nachgewiesene um ein Vielfaches über den zulässigen NorDie RAG und ihre Aufsichtsbehörde ungenehmigte Einleitung in Oberflächenmen für Oberflächengewässer. Und selbst nahmen die Proben jedoch in der Regel gewässer durch die RAG sei eine „schwere aus längst geschlossenen Bergwerken nur aus fließendem Grubenwasser. Das Straftat gegen Mensch und Umwelt“ und strömt unablässig PCB in die Flüsse – vielleicht gewünschte Ergebnis: PCB war müsse unterbunden werden. wenn auch in geringen Mengen. darin kaum enthalten. Die RAG verweist Frank Dohmen, Barbara Schmid Mitten im Ruhrgebiet, in der Nähe von Bottrop, leitet etwa die RAG-Zeche Prosper-Haniel ihr Grubenwasser in die Emscher. Am 11. März 2015 untersuchte das LANUV die Einleitungen. Die PCB-Konzentrationen lagen um das Dreifache höher als die Umweltqualitätsnorm (UQN), heißt es im Zwischenbericht. Knapp 60 Kilometer östlich, in Bergkamen, zogen die Wasserexperten am 13. Mai 2015 Proben aus der Lippe. Dort leitet das stillgelegte Bergwerk Haus Aden Grubenwasser ein. Die PCB-Werte überschritten die Normen um mehr als das Doppelte. Nicht einmal im Vorzeigebergwerk der RAG, der in Essen gelegenen Zeche Zollverein, ist das Grubenwasser giftfrei. Am 18. Mai 2015 ermittelten die Beamten in der Hälfte der Proben Konzentrationen, die über den UQN-Werten lagen. Begehung eines Stollens der Zeche Zollverein in Essen: „Dramatisches Szenario“
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Micky Maus und Donald Duck im Disneyland Paris
Nur für Tiroler
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enedig kassiert kräftig ab bei den über 20 Millionen Touristen, die jährlich die Lagunenstadt besuchen. Ausländer müssen 1,50 Euro für die Benutzung einer öffentlichen Toilette entrichten, die Venezianer dürfen schon für 25 Cent auf das Klo. Auch wer beispielsweise als Deutscher Wi-Fi nutzt, den Palazzo Ducale besucht oder mit den Vaporetti fährt, zahlt deutlich mehr als die Bewohner Venedigs. Diese profitable Praxis könnte bald ein Ende haben. Die EU-Kommission ermittelt wegen der Diskriminierung von EU-Bürgern gegen die Stadt. Ein belgischer Tourist hatte sich beschwert, weil er an einem typischen Urlaubstag für sich und seine vierköpfige Familie 136 Euro ausgeben musste. Ein Venezianer hätte für die gleichen öffentlichen Dienstleistungen nur 12,40 Euro gezahlt. Ähnliche Untersuchungen, so heißt es in Brüssel, laufen gegen spanische Hotels und Tourveranstalter, österreichische Skilifte oder den Internetriesen Amazon. „Wir untersuchen zurzeit mehrere Beschwerden, darunter gegen Disneyland Paris“, bestätigt die EU-Kommission. Der Freizeitpark vor den Toren von Paris bot besonders 70
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günstige Paketpreise nur Franzosen an, für Deutsche beispielsweise waren diese online einfach nicht buchbar. Nicht nur Touristen klagen über Diskriminierung. Besonders häufig werden Bürger anderer EU-Staaten bei Onlinebestellungen von elektronischen Produkten, wie E-Books, oder Kleidung benachteiligt. Beim Netzwerk der Europäischen Verbraucherzentren gehen deshalb jährlich über 20 000 Beschwerden ein. Oft sind die Anbieter noch nicht einmal bereit, ihre Produkte in die Nachbarländer zu liefern, wenn die Computerkennung, die Kreditkartennummer oder die Adresse das Interesse eines Ausländers signalisiert. Dabei ist die Rechtslage ziemlich eindeutig: Schon seit 2006 verbietet eine EUDienstleistungsrichtlinie, dass Ausländer aufgrund ihres Wohnsitzes oder ihrer Nationalität diskriminiert werden. Die Realität sieht anders aus. Wer als Deutscher im Alter von 26 bis 60 Jahren auf die Website des spanischen Fährbetreibers Naviera Armas geht und eine Hinund Rückfahrt zwischen den Kanarischen Inseln Teneriffa und La Gomera bucht, muss dafür 64 Euro zahlen. Einheimische sparen beim Ticket mindestens die Hälfte.
Auf Reiseportalen wie dem von JT Touristik (jt.de) findet sich folgender Warnhinweis beispielsweise bei einem Angebot des mallorquinischen Hotels Canyamel Garden: „Bitte beachten Sie, dass für alle Gäste ohne Wohnsitz in Deutschland, Österreich, der Schweiz, Skandinavien oder den Benelux-Staaten bei Hotelbuchung Probleme beim Einchecken im Hotel auftreten können. In diesem Fall ist zu erwarten, dass die Hoteliers vor Ort die Buchung zurückweisen oder einen Aufpreis erheben.“ JT Touristik begründet den Hinweis damit, dass Hoteliers aus insgesamt sechs Ländern nicht bereit seien, „einheitliche Preise und Bedingungen europaweit umzusetzen, die ihren Verdienst schmälern würden“. Es gebe Länder, deren Bürger für dasselbe Hotel das Doppelte zahlen müssten. In Tirol haben schon alle Nicht-Tiroler das Nachsehen. Die Tirol Regio Card gewährt das ganze Jahr für 419 Euro freien Eintritt in Freibäder, Thermen, auf Rodelstrecken, Eislaufbahnen und zu vielen Skiliften der Region. Mancher Tourist, der für einen zweiwöchigen Skipass etwa dasselbe zahlt, würde da gern mitmachen.
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Verbraucher Städte, Hotels, Fähranbieter und Onlineshops verlangen von Ausländern höhere Preise. Die EU-Kommission will das nicht hinnehmen.
Wirtschaft
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Aber die Allgemeinen Geschäftsbedingun- Ärger gibt. Der Service ist kostenlos, in gen sind streng: Nur Tiroler, die eine Mel- über tausend Fällen konnten die Schlichter debestätigung vorlegen können, „welche im vergangenen Jahr einen Kompromiss nicht älter als drei Monate sein darf“, so- zwischen Unternehmen und Verbrauchern wie Personen mit einem Beschäftigungs- finden. Obwohl die Internethändler den Schlichverhältnis in Tirol dürfen die Karte kaufen. Noch alltäglicher ist die Diskriminierung terspruch nicht akzeptieren müssen, zeianderer Europäer im Internet. Eine gen sie sich in vielen Fällen einsichtig. Österreicherin wollte einen Morgenmantel „Wenn ich einen Kunden dauerhaft vervon Féraud bei dem Onlinehändler graule, kann das noch viel teurer werden“, peterhahn.de in Deutschland bestellen, sagte Gerd Billen, Staatssekretär im Bundoch das ging nicht. Sie wurde von dem desjustizministerium, in einem Interview. Händler an die österreichische Website Sein Ministerium hat in Berlin einen Gepeterhahn.at weiterverwiesen, bei der der- setzentwurf zur alternativen Streitbeilegung vorgelegt, der Ende September im selbe Mantel aber 60 Euro teurer war. Die Verbraucherin ließ nicht locker. Sie Rechtsausschuss des Deutschen Bundesbeschwerte sich beim Europäischen Ver- tags beraten werden soll. Die Deutschen braucherzentrum, es kam zu einer kun- sind in Verzug, eine entsprechende EUdenfreundlichen Lösung. Der Modever- Richtlinie hätte eigentlich schon bis Juli in sand weist den Vorwurf der Diskriminie- ein nationales Gesetz gegossen werden rung zurück. Peter Hahn sei nun einmal müssen. Bis Anfang nächsten Jahres soll jedes so organisiert, dass Landesgesellschaften die Belieferung übernähmen und die Preis- Land der EU auch nationale Schlichter hagestaltung „länderspezifisch“ sei. Es lägen ben. Dann würden nicht nur die Bürger objektive Gründe für die unterschiedliche einiger Bundesländer von dem Service profitieren. Nach den Vorstellungen in Brüssel Behandlung der Kunden vor. Auch die EU erkennt ausdrücklich an, kann sich ein EU-Bürger von dem Zeitdass objektive Gründe vorliegen können, punkt an in seiner eigenen Sprache und warum Preise in einzelnen Ländern unter- kostenlos EU-weit auch über ausländische schiedlich sind. Schon die verschiedenen Anbieter beschweren. 22,5 Milliarden Euro im Jahr könnten Steuersätze machen den Vergleich für die Verbraucher schwierig. „Die objektiven die Verbraucher nach Berechnungen der Gründe sind allerdings sehr interpretations- EU sparen, wenn sie Zugang zu guten anfällig, wir brauchen mehr Klarheit, bei- Streitschlichtern hätten. „Heute verschenspielsweise durch die Rechtsprechung“, ken die Kunden viel Geld, weil sie nicht sagt der auf Verbraucherrecht spezialisierte vor Gericht gehen, obwohl sie gute Karten hätten, zu gewinnen“, sagte auch Billen. Jurist Felix Braun. Die Unternehmen müssen nicht nur Beim Europäischen Verbraucherzentrum in Kehl ist auch die Online-Schlich- wachsamere Konsumenten, sondern auch tungsstelle (online-schlichter.de) angesie- die Wettbewerbsbehörden fürchten. Die delt. „Nur die wenigsten Verbraucher wis- EU-Kommission hat diagnostiziert, dass sen, dass es uns gibt. Dabei können wir der digitale Binnenmarkt in Europa nicht sehr oft helfen“, sagt dessen Leiter Braun. funktioniert. Jeder zweite EU-Bürger kauDie Schiedsstelle wird mittlerweile von fe im Internet ein, aber nur 15 Prozent den Bundesländern Baden-Württemberg, machten es über die europäischen LänderBayern, Berlin, Hessen, Rheinland-Pfalz grenzen hinweg. „Da stimmt etwas nicht“, und Schleswig-Holstein finanziert. Dorthin sagt EU-Kommissarin Margrethe Vestager. Wer im Internet bei ausländischen Ankönnen sich Bürger dieser Bundesländer wenden, wenn es mit Internetanbietern bietern shoppen will, wird oft automatisch
Touristenziel Venedig: 1,50 Euro für die Benutzung einer öffentlichen Toilette
auf die Website im eigenen Land umgeleitet. Manchmal scheitert der Einkauf im Ausland schon daran, dass man gar nicht die eigene Adresse in die entsprechenden Felder eintragen kann. Gelegentlich werden regionale Internethändler von den Herstellern mit Knebelverträgen gezwungen, nur in einem bestimmten Gebiet zu verkaufen. Offenbar haben viele Unternehmen ein großes Interesse, unterschiedliche Preisniveaus in verschiedenen Ländern aufrechtzuerhalten. Solche Bestimmungen finden Wettbewerbshüter gar nicht gut. Um sich einen Überblick zu verschaffen, hat Vestager im Mai eine Sektoruntersuchung des Onlinehandels eröffnet. Sie schaut sich speziell an, wie Kleidung, Schuhe und Elektronik im Internet gehandelt werden, und sucht nach Verträgen, die Lieferungen in bestimmte Länder unterbinden. „Ich denke, wir werden etwas finden“, sagt sie. Dem britischen Bezahlfernsehanbieter Sky sowie sechs Hollywood-Studios wirft die Dänin vor, den Empfang von Filmen außerhalb Großbritanniens und Irlands zu blockieren. Wenn Briten nach Portugal oder Spanien in den Urlaub fahren, müssen sie ohne ihr vertrautes Fernsehprogramm auskommen. Das verstoße gegen Wettbewerbsvorschriften, die Unternehmen pochen dagegen auf Vertragsfreiheit. Ähnliche, allerdings noch nicht so weit gediehene Untersuchungen laufen auch gegen Sky Deutschland oder DTS in Spanien. Auch die Branche der Autovermieter war von einer EU-Untersuchung betroffen – und hat am Ende klein beigegeben. Ein Deutscher hatte sich bei der EU beschwert, dass er zunächst 70 Euro am Tag für ein Mietauto in Großbritannien zahlen sollte. Als er dann im Internet seinen deutschen Wohnsitz angab, verdoppelte sich der Preis. Die EU-Kommission analysierte fast 30 000 Fälle bei Sixt, Hertz und Co. Das Ergebnis: Polnische Kunden bekommen die Leihautos zu deutlich besseren Preisen. Sie müssen überall in Europa nur halb so viel wie die Briten zahlen. Im vergangenen Herbst versprachen die fünf größten Autovermieter Avis-Budget, Enterprise, Europcar, Hertz und Sixt der EU-Kommission, Kunden nicht länger zu diskriminieren. Sie sagten zu, ihre Automieter nicht mehr, wie bisher üblich, mithilfe der Computererkennung auf deren nationale Websites zurückzuüberweisen. Verbraucher könnten nun nach dem besten verfügbaren Angebot auch im Ausland suchen, heißt es in Brüssel. Die Firmen hätten zugesagt, ihre Preise nur noch aus „objektiven Gründen“ zu differenzieren und nicht mehr vom Herkunftsland abhängig zu machen. Christoph Pauly Mail:
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Konzernzentrale der Deutschen Bank in Frankfurt am Main
Die Angst der Aufseher
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ichele Faissola soll eine gute Figur gemacht haben, als er neulich im Aufsichtsrat der Deutschen Bank vorsprach. Der Chef der Vermögensverwaltung berichtete, wie er aus seinem Bereich, den der Konzern noch vor gut drei Jahren teilweise verscherbeln wollte, ein wachsendes und profitables Geschäft gemacht habe. Das sei gut angekommen, erzählen Leute, die dabei waren. Doch der selbstbewusste Auftritt wird Faissolas Karriere bei der Deutschen Bank womöglich nicht beflügeln. Kurz vor seiner Präsentation im Aufsichtsrat war publik geworden, was die deutsche Finanzaufsicht BaFin von ihm hält. In ihrem Bericht zur Libor-Affäre schrieb die Bankenaufseherin Frauke Menke, Faissolas Fehlverhalten sei als schwerwiegend einzustufen. Es sei nicht auszuschließen, dass er schon vor Mitte 2011 von Zinsmanipulationen in der Bank gewusst habe, außerdem habe er es versäumt, die Vorgänge rechtzeitig aufzuklären. Faissola hat diese Vorwürfe in einem Schreiben an die BaFin zurückgewiesen. Ob sich die Aufsicht davon wird beeindrucken lassen, ist fraglich. Dem Aufsichtsrat um Paul Achleitner bereitet die Sache jedenfalls Kopfzerbrechen – ebenso wie die Personalien Stephan Leithner, Stefan Krause, Henry Ritchotte und Stuart Lewis. Sie alle werden in Menkes Report mehr oder weniger scharf kritisiert, sie alle sitzen im Vorstand oder, im Falle Faissolas, im erweiterten Vorstand, dem Group Executive Committee (GEC). Die Bank erklärt, sie arbeite „weiterhin mit unserer Aufsichtsbehörde zusammen, um diese Angelegenheit abzuschließen“. Bislang hat sich der Aufsichtsrat öffentlich stets hinter seine Vorstände gestellt. Doch mittlerweile treibt Mitglieder des
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Gremiums die Sorge um, sie könnten deshalb schon vor der Hauptversammlung selbst haftbar gemacht werden für Skan- im Mai eine Sonderprüfung gefordert. Sie dale wie die Libor-Affäre und die hohen soll klären, ob die Bank ausreichende Strafen, die Behörden und Gerichte des- Rückstellungen für Rechtsrisiken gebildet wegen gegen die Bank verhängt haben. und die Kontrollsysteme so angepasst hat, Allein in den vergangenen zwei Jahren dass künftig ähnliche Fälle frühzeitig unwaren es mehr als fünf Milliarden Euro, terbunden oder aufgedeckt werden. „Wenn die Antwort auf eine der Fragen etliche weitere dürften hinzukommen. Die Angst kommt nicht von ungefähr. Nein lautet“, sagt Nieding, „muss der VorVor zwei Jahren hatte die BaFin ihren Zwi- stand und gegebenenfalls auch der Aufschenbericht zur Libor-Affäre mit einem sichtsrat für entstandene Schäden haften.“ In der Hauptversammlung bekam der Brief an Achleitner flankiert und die lasche Kontrolle durch den Aufsichtsrat kritisiert. Antrag keine Mehrheit. Doch Anfang SepSie gehe davon aus, „dass der Aufsichtsrat tember will Nieding den Antrag beim seiner Überwachungs- und Kontrollpflicht Landgericht Frankfurt einreichen, um die Prüfung gerichtlich durchzusetzen. zukünftig nachkommt“. Nervös macht den Aufsichtsrat auch, dass Angelsächsische Aktionäre drängen ebenfalls auf eine rigorosere Aufarbeitung, amerikanische Behörden prüfen, ob Mitarsie wollen unbelastetes Personal an der beiter der Deutschen Bank bei Geschäften Spitze. Zwar hat Kochef Anshu Jain, der in Russland gegen Geldwäschevorschriften für viele Anteilseigner die mangelhafte und Sanktionen verstoßen haben – noch Vergangenheitsbewältigung personifizier- bis in das Frühjahr 2015 (SPIEGEL 34/2015). te, inzwischen die Bank verlassen, aber Werden die US-Behörden fündig, wäre dies die Kritiker fordern weitere Maßnahmen. ein Hinweis, dass die Kontrollsysteme er„Wir haben das Vertrauen in die ständi- neut versagt haben. „Wenn der Aufsichtsrat gen positiven Verlautbarungen der Bank, einem neuen Compliance-System zugedes Vorstands und des Aufsichtsrats verlo- stimmt hat, muss er in der Folge auch konren“, sagt Klaus Nieding, Vizepräsident trollieren, ob es funktioniert“, sagt Nieding. der Aktionärsvereinigung DSW. Er hatte „Tut er das nicht, darf er sich über Schadensersatzforderungen nicht wundern.“ Rechtsexperten sehen den Aufsichtsrat deshalb zunehmend unter Druck. „Wenn es in der Vergangenheit zu Regelverstößen gekommen ist, muss der Aufsichtsrat den Vorstand intensiver überwachen, egal ob diesen ein Organisationsverschulden trifft oder nicht“, sagt Rechtsprofessor Mathias Habersack von der LMU München, der auch im Präsidium der DSW sitzt. Doch was kann der Aufsichtsrat tun? „Eine Abberufung des Vorstands ist nur aus wichtigem Grund möglich, ein solcher Banker Cryan, Achleitner liegt insbesondere bei grober PflichtverDen Eindruck einer Hexenjagd vermeiden
FOTOS: ARNE DEDERT / DPA (O.); MARTIN JOPPEN / DEUTSCHE BANK (U. L.); CHRISTOF MATTES / WIRTSCHAFTSWOCHE (U. R.)
Deutsche Bank Im Aufsichtsrat wächst die Sorge, selbst für die zahlreichen Skandale haften zu müssen. Das Verhältnis zum Vorstand ist gespannt.
Wirtschaft
letzung vor“, sagt Habersack. Grundsätzlich müsse der Aufsichtsrat den pflichtvergessenen Vorstand auch auf Schadensersatz in Anspruch nehmen. Ob und, wenn ja, inwieweit er dabei über Beurteilungsspielräume verfüge, sei jedoch strittig. Bis weit nach der Jahrtausendwende hatten Vorstände von ihren Aufsehern wenig zu befürchten. Doch das hat sich geändert. „Die persönliche Haftung von Vorständen wird heute sehr viel ernster genommen als noch vor zehn Jahren“, sagt Jens Koch, Juraprofessor an der Universität Bonn. Das Urteil gegen den früheren SiemensVorstand Heinz-Joachim Neubürger habe auch Aufsichtsräte wachgerüttelt. Das Landgericht München hatte Neubürger 2013 im Zusammenhang mit der Schmiergeldaffäre in dem Konzern zu 15 Millionen Euro Schadensersatz verurteilt und dies damit begründet, dass er es versäumt habe, ein funktionierendes Compliance-System zu installieren. Genau darum geht es auch bei der Deutschen Bank. „Das Problem ist: Jedes Versagen des Vorstands kann man letztlich auch in ein Versagen des Aufsichtsrats ummünzen“, erklärt Koch. „Er hat die Vorstände schließlich berufen und ist verpflichtet, sie zu überwachen.“
Topmanager werfen manchen Aufsichtsräten vor, sich inzwischen mehr für ihre juristische Absicherung zu interessieren als für das Geschäft der Bank. Das Vertrauen zwischen Aufsichtsrat und Management ist gestört, obwohl nach Jains Abgang mit John Cryan ein vormaliges Mitglied des Kontrollgremiums an die Spitze des Vorstands gerückt ist. Zwei Jahre in Folge hat der Aufsichtsrat Vorstands-Boni eingefroren, jetzt geht es für den einen oder anderen um den Job. Achleitner, heißt es im Umfeld der Bank, wolle den Eindruck einer Hexenjagd auf Jains Vertraute aber vermeiden. Außerdem dürfte sich manch ein Topmanager gegen eine Abberufung wehren. Ob die Vorwürfe der BaFin vor Arbeitsgerichten ausreichen würden, um Entlassungen ohne Abfindung zu rechtfertigen, ist fraglich. Als sicher gilt, dass Achleitner und Cryan nicht nur über Personalien nachdenken, sondern auch über einen Umbau der Führung. Bislang saßen die Leiter der Geschäftsbereiche Investmentbanking, Vermögensverwaltung und Zahlungsverkehr nicht im Vorstand, lediglich das Privatkundengeschäft ist dort vertreten. Die anderen Manager sitzen im GEC, das als eigentliches Machtzentrum der Bank gilt und
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unter Jain von 12 auf 22 Mitglieder angeschwollen war. Auf das GEC aber hat der Aufsichtsrat keinen direkten Zugriff. Kritiker halten diese Organisation für einen Grund, dass Skandale nicht verhindert und zögerlich aufgearbeitet wurden. „Wenn sich herausstellt, dass das Organisationsversagen auch mit der Führungsstruktur zusammenhängt, dann sollte das GEC abgeschafft werden“, sagt DSWMann Nieding, „die Leiter der Geschäftsbereiche gehören dann in den Vorstand, wo sie dafür haften, was in ihrem Zuständigkeitsbereich passiert.“ Folgen Achleitner und Cryan dieser Logik, könnten sie den von der BaFin geschmähten Faissola sogar in den Vorstand befördern. Allerdings müsste die Aufsicht das genehmigen. „Das lässt die BaFin im Leben nicht zu“, sagt ein Analyst, der die Deutsche Bank seit Langem begleitet. Mitte September dürfte klarer werden, wie Cryan die Konflikte lösen will. Dann trifft sich das Management der Bank am Tegernsee, um die Strategie zu diskutieren. Gut möglich, dass Cryan seinen Kollegen in der oberbayerischen Idylle ein paar unangenehme Wahrheiten eröffnet. Martin Hesse Mail:
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IT-Sicherheitsexperte Eschelbeck in der Google-Zenrale
„Das Internet ist ein rauer Ort“ Eschelbeck, 50, zählt zu den weltweit führenden Experten für IT-Sicherheit. Der gebürtige Österreicher beschäftigt sich seit zwei Jahrzehnten mit den Bedrohungen durch Cyberangriffe und Computerviren und hält zahlreiche Patente. Seit Anfang dieses Jahres leitet der promovierte Informatiker die Abteilung für IT-Sicherheit und Datenschutz von Google. SPIEGEL: Herr Eschelbeck, Google-Chef Larry Page verkündete vergangene Woche, dass er den Konzern in eine DachHolding namens Alphabet mit zahlreichen Tochterfirmen umwandeln wird, darunter auch ein verschlanktes Google, das vor allem aus der Suchmaschine und angegliederten Abteilungen wie Maps und YouTube besteht. Mit wem sprechen wir denn jetzt: mit dem Sicherheits- und Datenschutz-Chef von Google – oder von Alphabet? Das Gespräch führte der Redakteur Thomas Schulz.
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Eschelbeck: Die Ankündigung war schon
ein großes Ding, das hat sicher viele überrascht. Aber was das Tagesgeschäft angeht, hat sich nichts geändert. Sicherheit und Datenschutz haben bei uns eine hohe Priorität, und das gehen wir einheitlich an. SPIEGEL: Sie sind also auch weiterhin dafür zuständig, nicht nur Gmail, sondern zum Beispiel auch das selbstfahrende Auto vor Hackerangriffen zu schützen? Eschelbeck: Ja, ganz sicher werden wir die Sicherheit der Autos wesentlich verantworten. Hier und da wird es bei den neuen Schwesterfirmen je nach Geschäftsmodell vielleicht einige kleinere Anpassungen geben, aber generell steuern wir die ITSicherheit bei allem, was Alphabet macht. SPIEGEL: Da haben Sie einiges zu tun. In der digitalen Welt drohen ständig neue Sicherheitslücken. Vor wenigen Wochen etwa gelang es Experten in einem Test, sich in kilometerweit entfernte Autos einzuhacken und die Kontrolle zu übernehmen. Hat Sie das schockiert?
Eschelbeck: Nein, über diese Möglichkeit wurde schon länger diskutiert. Ein Auto ist heute nichts anders als ein großer Supercomputer, der an einem Netzwerk hängt, über Sensoren verfügt und drahtlos verbunden werden kann. Das gilt für immer mehr Geräte. Wir, und damit meine ich die ganze Branche, müssen dafür sorgen, dass dabei künftig von Anfang an auch die Sicherheit miteingebaut ist, sei es bei Autos oder Herzschrittmachern. SPIEGEL: Die Beispiele aus den vergangenen Monaten sind verstörend: Narkosegeräte werden manipuliert, Hacker versuchen, in Flugzeugsysteme einzudringen. Wie können solche Horrorszenarien verhindert werden? Eschelbeck: Wir stehen noch sehr am Anfang des Internets der Dinge oder wie immer man diese Welt der vernetzten Geräte nennen will. Das heißt, jeder wurschtelt allein vor sich hin und entscheidet, was sicher ist und wie viel Aufwand dafür betrieben wird. Das muss sich dringend än-
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SPIEGEL-Gespräch Gerhard Eschelbeck, bei Google verantwortlich für IT-Sicherheit und Datenschutz, über Hackerangriffe auf Autos, den Konflikt mit Geheimdiensten und die Konzernumstrukturierung
Wirtschaft
dern, es braucht Konsistenz und Standards. In den nächsten zwei, drei Jahren müssen Bausteine entwickelt werden, die einfach in verschiedene Geräte eingesetzt werden, ohne dass man jedes Mal das Rad neu erfinden muss. SPIEGEL: Wie groß sind denn die technischen Hürden? Eschelbeck: Nicht größer als für jede andere IT-Umgebung. Im Mittelpunkt stehen Netzwerk-Kommunikation und Verschlüsselung. Wir sollten deswegen über eine einheitliche Zertifizierung für die Sicherheit solcher Geräte nachdenken, die auch entsprechend überprüft werden kann. SPIEGEL: Gefühlt jede Woche gibt es neue Meldungen von Cyberangriffen auf Unternehmen. Auch in das Bundestagsnetz drangen Kriminelle ein. Stehen wir erst am Anfang eines immer weiter ausufernden Cyberkriegs? Eschelbeck: Die Bedrohungen nehmen stark zu, weil verschiedene Faktoren zusammenkommen. Zum einen wird die ITWelt immer komplexer. Unternehmen und Behörden bauen ihre IT-Strukturen ständig aus: Hier noch ein Server dazu, dort ein neues Netzwerk. Wenn da die Sicherheit nicht von Beginn an in die Architektur integriert wird, landet man eben genau in solchen Situationen, die Attacken erleichtern. Zudem werden die Angreifer immer geschickter, sie sind mit immer besseren Ressourcen ausgestattet. Die Bedrohungslandschaft hat sich stark gewandelt. SPIEGEL: Inwiefern? Konkreter bitte! Eschelbeck: Ich bin seit über 20 Jahren in der Branche und habe meine Karriere in der Malware-Forschung begonnen. In den Neunzigerjahren hatten wir gerade mit einer Handvoll neuer Computerviren pro Monat zu tun. Wir hatten keine Ahnung, was uns bevorsteht. Inzwischen werden Viren meist nicht mehr von Menschen geschrieben, sondern von Maschinen: bis zu 300 000 am Tag. Das Ziel dieser automatischen Malware ist, sich weit zu verbreiten und dabei so viel Schaden wie möglich an-
zurichten. Das war die Lage im vergangenen Jahrzehnt. SPIEGEL: Heute dagegen sind die Attacken zielgerichtet. Eschelbeck: Genau. Durch unsere globale Infrastruktur haben wir bei Google einen sehr detaillierten Überblick, was los ist. Wir haben es auch immer mehr mit Angreifern zu tun, die von bestimmten Ländern gesponsert werden und dabei ganz konkrete Absichten verfolgen. SPIEGEL: Wie können Unternehmen sich in so einer Welt überhaupt schützen? Eschelbeck: In vielen Firmen ist die ITStruktur in den vergangenen 15 Jahren nach und nach entstanden, ohne dass sich dabei groß um Sicherheit gekümmert wurde. Ein Unternehmen mit 200 Mitarbeitern hat im Zweifelsfall nicht einen einzigen Experten. Wie soll es sich da eine Sicherheitsstruktur schaffen? SPIEGEL: Genau das wollen wir ja von Ihnen wissen. Eschelbeck: Ich bin überzeugt, dass die Cloud eine Lösung bietet. Mein Team hier bei Google besteht aus 500 Mitarbeitern. So können wir unseren Kunden Lösungen anbieten, die sie sich allein nicht leisten könnten. SPIEGEL: Sie setzen darauf, dass Unternehmen ihre IT zunehmend in die Cloud auslagern und Sicherheit als Dienstleistung gleich mit im Paket abholen. Es gibt allerdings sicher viele Unternehmen, die Google weniger vertrauen als der eigenen IT. Eschelbeck: Die Hauptaufgabe meiner Abteilung ist, die Daten unserer Nutzer zu schützen. Hunderte Softwareentwickler sind nur damit beschäftigt, Sicherheitstechnologien für unsere Plattformen und unsere Infrastruktur zu entwickeln. Auf der anderen Seite bauen viele Firmen CloudAnwendungen. Da ist es doch sinnvoll, dass wir unseren Nutzern zu deren Schutz Instrumente wie Verschlüsselungstechnologien anbieten. SPIEGEL: Aber selbst große Sicherheitsabeilungen garantieren nicht unbedingt Schutz
vor Angreifern. Vergangenen November veröffentlichten Hacker, vermutlich aus Nordkorea, Daten, die sie aus dem System von Sony erbeutet hatten. Oder hat der Konzern da einfach geschlampt? Eschelbeck: Aus dem Sony-Fall haben wir vor allem gelernt, dass die Angreifer inzwischen so gut sind, dass sie ihre Spuren verwischen und ganze Teile des Systems zerstören können. Das kam überraschend für viele in der Branche, mich eingeschlossen. Ich würde deswegen auch nicht unbedingt sagen, dass bei Sony die Infrastruktur total versagt hat. Vielmehr scheint es, dass solche von Staaten gesponserten Akteure so gut ausgerüstet sind, dass sie selbst starke Barrieren durchbrechen können. SPIEGEL: Sind die Staatshacker nur auf wenige Nationen wie China oder Nordkorea beschränkt? Eschelbeck: Ich möchte niemanden besonders hervorheben. Das ist ein globales Problem, ich sehe die Gefahren überall. SPIEGEL: Schließt das die Regierungen in den USA und in Europa mit ein? Seit den NSA-Enthüllungen von Edward Snowden scheint es, als müssten wir uns fast mehr vor den eigenen Geheimdiensten fürchten. Eschelbeck: Snowden war sicher ein großer Wendepunkt für unsere Branche. Das Verhältnis zu Regierungen und Behörden ist seither stark beschädigt. Hier bei Google hat es dazu geführt, dass wir zahlreiche Projekte enorm beschleunigt haben. Dazu gehört etwa die Verschlüsselung des internen Datenverkehrs zwischen unseren Rechenzentren. Wir lassen keinen Zugriff auf unser Glasfasernetzwerk zu. SPIEGEL: Kritiker dagegen sagen, Google arbeite mit den Geheimdiensten zusammen und gebe freiwillig Zugang zu Kundendaten. Stimmt das? Eschelbeck: Absolut nicht! Das würde ich ganz sicher nicht unterstützen. Ich höre solche Behauptungen immer wieder, und sie ärgern mich sehr. Manches, was da gesagt und geschrieben wird, ist geradezu haarsträubend.
Gefahren im Internet Schadprogramme Werkzeuge (z. B. Viren oder Trojaner), über die ein Angreifer ein fremdes System kontrollieren oder schädigen kann
Schwachstellen sind die Grundlage von Cyberangriffen, da fehlerfreie Software faktisch nicht existiert.
Spam- oder Phishing-Angriffe Versendete Nachrichten, die oft Viren oder schädliche Links enthalten
Advanced Persistent Threats Angreifer verschaffen sich dauerhaften Zugriff auf ein Opfernetzwerk.
Denial-of-Service (DoS)-Angriffe Attacken gegen die Verfügbarkeit von Diensten, Webseiten oder ganzen Netzen
Drive-by-Exploits Automatisierte Ausnutzung von Sicherheitslücken auf einem PC ohne weitere Nutzerinteraktion, etwa beim Betrachten einer Website
Social Engineering Angreifer nutzen die Neugier oder Angst ihrer Opfer aus, um sie eigenständig Daten preisgeben oder Schadsoftware auf ihren Systemen installieren zu lassen.
Identitätsdiebstahl Aneignung und Nutzung personenbezogener Daten im Internet durch Dritte, in der Regel, um finanzielle Vorteile zu erlangen
Schäden für Privatpersonen
Netzattacken weltweit
in Deutschland, in Millionen Euro
in Millionen, pro Jahr
793
897
1176 557 sonstige Betrugsfälle
22,7
24,9
2011
2012
Ursprungsländer von Cyberangriffen 2014* 42,8
28,9
9,4 2010
2013
2014
USA 20,7 % China 10,6 % Indien 4 ,0 % Niederlande 3,6 % Deutschland 3,3 % Taiwan 2,6 % Großbritannien 2,6 % Russland 2,6 %
Quellen: BSI Jahresbericht 2014, Symantec, DIW, PWC * An 100 fehlende Prozent: sonstige Staaten
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Jetzt im Handel
Wirtschaft
SPIEGEL: Allerdings kann Google die Zu-
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sammenarbeit mit den amerikanischen und europäischen Behörden wohl kaum einfach ganz verweigern. Wie sieht das Arbeitsverhältnis aus? Eschelbeck: Es gibt einen ganz klaren, rechtlich eindeutigen Prozess, wie Regierungen nach Informationen fragen können – etwa wenn Ermittler um Hilfe in einem Mordfall bitten. Und wir veröffentlichen dann alle diese Anfragen in einem Transparenzbericht. Damit wollen wir verhindern, dass es irgendeinen Weg durch die Hintertür gibt. Vereinbarungen hinter den Kulissen finden nicht statt, es geht nur noch durch den Vordereingang, wo jeder sehen kann, wenn angeklopft wird. Und wenn wir das Anliegen nicht berechtigt finden, wie in rund 40 Prozent der Anfragen, sagen wir nein. SPIEGEL: Aber können Sie wirklich sicher sein, dass die Geheimdienste sich nicht doch Zugang verschaffen? Eschelbeck: Das ist natürlich die große Frage. Unser Vorteil ist, dass Google über seine eigene IT-Infrastruktur mit von Grund auf eingebauten Sicherheitsvorkehrungen verfügt und wir uns nicht auf Dritte verlassen müssen. Wir haben einen sehr, sehr detaillierten Einblick in unsere Systeme und würden ungewöhnliche Aktivitäten sofort bemerken. Ich bin zumindest zum jetzigen Zeitpunkt sicher, dass von außen niemand Zugang hat. SPIEGEL: Wahrscheinlich nehmen Ihnen die meisten Nutzer ab, dass Google ihre Daten vor den Geheimdiensten schützt. Viele sind eher besorgt, was Google selbst mit den Daten macht. Eschelbeck: Ich bin Europäer und verstehe die Sorgen der Nutzer um den Datenschutz, die vor allem in Europa geäußert werden. In der Vergangenheit hat es da einige Fehltritte gegeben. Teil des Problems ist, dass das Internet prinzipiell nicht sehr transparent ist. Deswegen muss Google für diese Transparenz sorgen und den Nutzern zeigen, was mit ihren Daten passiert. Und ihnen gleichzeitig auch die Kontrolle geben, uns zu sagen, wie wir mit ihren Daten umgehen sollen, welche Daten wir verwenden können. Wir haben dazu vor einigen Monaten mit „Mein Konto“ eine neue Webseite eingerichtet, wo Nutzer zentral an einem Ort einen kompletten Überblick über ihre gesammelten Daten bekommen und die Verwendung steuern können. SPIEGEL: Das ist ein Fortschritt, aber längst nicht ausreichend. Eschelbeck: Ja, wir sind sicherlich noch nicht am Ziel angelangt, uns steht noch eine längere Reise bevor. Seit meinem Amtsantritt sind die Abteilungen für ITSicherheit und Datenschutz nun erstmals zusammengelegt, und wir wollen die Erfahrungen, die wir in der Sicherheit gelernt haben, auf den Datenschutz übertragen. 76
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SPIEGEL: Wie soll das aussehen? Eschelbeck: Indem es klare Prozesse gibt,
die sofort in Gang gesetzt werden, sollte es einen Zwischenfall geben, eine Beschwerde etwa oder ein Fehlverhalten. Jedes Produkt muss vor Veröffentlichung eine genaue Datenschutzüberprüfung absolvieren. Bislang ist beim Umgang mit Datenschutz sicher nicht alles richtig gelaufen. Aber ich betrachte es als meine ganz persönliche Aufgabe, das zu ändern, es besser zu machen, mehr zu kommunizieren, für mehr Transparenz zu sorgen. SPIEGEL: Google hat zuletzt zahlreiche Initiativen zum Safe Browsing, dem sicherem Surfen im Internet, vorangetrieben. Ihre Abteilung warnt immer öfter vor Phishing, Malware und gefährlicher Software. Muss, wer online geht, tatsächlich so sehr auf der Hut sein? Eschelbeck: Das Internet ist ein rauer Ort. Es gibt viele dunkle Gassen, die gefährlich für Nutzer sind. Deswegen arbeiten wir mit so viel Aufwand an sicheren Browsern, die automatisch die Gefahren erkennen und rausfiltern. Wir verzeichnen jeden Tag fünf Millionen Sicherheitswarnungen von Webbrowsern, identifizieren jeden Monat 50 000 Websites als kriminell und 100 000 neue Phishing-Websites. SPIEGEL: Wie können Nutzer sich schützen? Eschelbeck: Passwörter sind das schwächste Glied in der Kette. Wir empfehlen dringend die Zwei-Faktor-Authentifizierung, bei der es neben dem Passwort noch einen zweiten Code gibt. Am einfachsten ist, sich für ein paar Euro einen kleinen sogenannten Security Key anzuschaffen und diesen einfach in den USB-Port des Computers zu stecken. SPIEGEL: Schwieriger scheint es dagegen zu sein, E-Mails sicherer zu machen. Die technischen Lösungen gibt es längst, aber warum hapert es noch immer mit der Umsetzung? Eschelbeck: Auf dem Weg zwischen den großen Internetprovidern und uns sind E-Mails inzwischen verschlüsselt und in einer Art geschütztem Tunnel unterwegs. Weit komplexer wird es bei der sogenannten End-to-end-Verschlüsselung, also den ganzen Weg vom Absender der Mail bis zum Empfänger. Wir bieten das inzwischen als Testversion bei Gmail an, müssen aber noch Erfahrungen sammeln. SPIEGEL: Verschlüsselung wird also zum Standard werden? Eschelbeck: Ganz sicher. Nicht nur bei E-Mails. Wir arbeiten auf allen Ebenen des Datenverkehrs daran. In fünf Jahren werden wir vermutlich ratlos zurückblicken und uns wundern, wie wir jemals auf die doofe Idee kommen konnten, unverschlüsselte Texte online zu versenden. Es würde ja auch niemand einen Brief in einem transparentem Umschlag abschicken. SPIEGEL: Herr Eschelbeck, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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Fairness im Ring Schmuck Gold wird oft unter schlimmen Bedingungen gewonnen. Käufer, die das stört, können das Edelmetall bald aus fairem Handel kaufen.
E
s gibt Kunden, die sind so klar, so kompromisslos, dass Thomas Becker das Herz aufgeht. Weil er nicht viel erklären und keine Überzeugungsarbeit leisten muss. Weil sie sofort verstehen, worum es dem Goldschmied geht. So wie die junge Frau, die vor Kurzem mit ihrem Verlobten in Beckers kleinem Geschäft im Hamburger Grindelviertel stand und einfach nur sagte: „Ich möchte keinen Ring, für dessen Herstellung Menschen, Tiere und Umwelt leiden mussten. Damit kann ich doch nicht mein Glück besiegeln.“ So wie sie sehen das mittlerweile immer mehr Kunden, die sich deshalb auf den Weg zu Becker machen. Der Goldschmied bietet seit Jahren hauptsächlich Schmuckstücke an, die entweder aus recyceltem Material, aus grünem oder sogar aus sogenanntem eco-fairem Gold gefertigt sind. Kaum ein Rohstoff ist so begehrt und so sagenumwoben wie Gold. Das Edelmetall gilt von jeher als Symbol für Reichtum und Wohlstand, als ebenso wertvoll wie wertbeständig. Und es ist ein Rohstoff mit emotionaler Komponente: Rund um die Welt beschenken sich Liebende mit goldenem Schmuck, besiegeln Paare ihr Eheversprechen mit Ringen aus Gold. „Gerade deshalb machen sich immer mehr Kunden
auch Gedanken darüber, wo der Rohstoff herkommt“, beobachtet Hans-Ulrich Jagemann, Präsident des Zentralverbands der Deutschen Goldschmiede, Silberschmiede und Juweliere. Denn die Goldgewinnung ist „ohne Zweifel eine der schmutzigsten Industrien der Welt“, wie das internationale Netzwerk „No dirty gold“ konstatiert. Um den begehrten Rohstoff zu finden, dringen Goldsucher bis in die entlegensten Gebiete vor, die häufig von indigenen Völkern bewohnt werden. Enteignung und Vertreibung, aber auch Kinderarbeit sind an der Tagesordnung. Allein in Peru sollen mehr als 50 000 Kinder in Minen arbeiten. Dazu kommen massive Eingriffe in die Umwelt. „Eine Goldmine ist eine Chemiefabrik unter offenem Himmel“, heißt es in einem Bericht der Organisation „Rettet den Regenwald“. Um den wertvollen Rohstoff aus dem Gestein zu lösen, wird dieses mit hochgiftigem Zyanid beträufelt, eine andere Methode ist der Einsatz von nicht minder giftigem Quecksilber. Um den Kunden zu zeigen, dass es auch anders geht, hat Fairtrade Deutschland jetzt auch für Gold ein Siegel entwickelt. Pünktlich zum Weihnachtsgeschäft soll es möglich sein, etwa Ringe zu kaufen, in die das Symbol der weltweit agierenden Organisation gestempelt ist. Der Schmuck muss dadurch gar nicht viel teurer werden – denn der Rohstoff macht nur einen eher geringen Teil des Schmuckpreises aus. „Wir wollen mit der Einführung des Siegels bessere Bedingungen für die Minenarbeiter und ihre Familien erreichen“, sagt Claudia Brück von Fairtrade. Denn nur wer Gold aus Minen bezieht, die bestimmte Standards in puncto Sicherheit und Umwelt einhalten, wer einen Mindestpreis sowie einen Fairtrade-Aufschlag zahlt, darf sich das Siegel in den Schmuck stempeln. „Das heißt momentan, dass Fairtrade
Fairtrade-Aktion in London: Sauberes Gold im Trend
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95 Prozent des Londoner Goldpreises sowie einen Aufschlag von 2000 Dollar pro Kilogramm Gold garantiert“, sagt Brück. In anderen Ländern ist der Trend schon deutlich ausgeprägter: Pünktlich zur Hochzeit des britischen Kronprinzen William mit Kate Middleton startete etwa in Großbritannien der Verkauf von fairem Gold, inzwischen gibt es auch Anbieter in den Niederlanden, der Schweiz und in Kanada. Eigentlich wollte Fairtrade das saubere Gold schon vor zwei Jahren auf den Markt bringen, aber das scheiterte an praktischen Problemen. Zwar war es vergleichsweise einfach, sich international auf bestimmte Standards zu einigen. Allerdings ist es deutlich komplizierter, entsprechend gewonnenes Edelmetall zu importieren. Viele kleine Minen erfüllen bereits teilweise die Fairtrade-Standards, sind aber nicht zertifiziert. Außerdem können die kleinen Kooperativen oft nicht die benötigten Mengen liefern. Dazu kommt ein weiteres Problem: Deutsche Goldschmieden kaufen den Rohstoff selten direkt beim Minenbetreiber, sondern meist bei sogenannten Scheideanstalten, die das Gold vorab bearbeiten. Bisher aber bietet noch keine deutsche Scheideanstalt zertifiziertes Edelmetall an. Mit denen sei man im Gespräch, so Brück. Gold einfach von britischen oder schweizerischen Scheideanstalten einzukaufen ist aber wegen strenger Ausfuhrgesetze schwierig. Fairtrade hat sich deshalb ein Modell ausgedacht, das für Überzeugungstäter wie Thomas Becker in Hamburg schwer erträglich ist: Künftig soll es zwei Möglichkeiten geben, zum Fairtrade-Partner zu werden. Entweder den ganz klassischen Weg, nach dem man Lizenznehmer wird und sich gebührenpflichtig zertifizieren lassen muss. Dafür erhält der Juwelier den FairtradeStempel, mit dem er seine Schmuckstücke „punzieren“ darf, wie das Kennzeichnen in der Fachsprache heißt. Dieses Modell gelte für Firmen, „deren Unternehmensverständnis auf Nachhaltigkeit baut“, schreibt Fairtrade in einem Merkblatt. Für alle anderen Juweliere, die „einzelne Anfragen von interessierten Kunden bedienen wollen“, gibt es ein Registrierungsmodell. Bedingung ist hier lediglich, dass sie sich in einem Goldschmiedeportal anmelden und ihren Rohstoff von zertifizierten Partnern beziehen. Weil die Verarbeitung bis zum fertigen Schmuck aber nicht kontrolliert wird, also zum Beispiel nicht klar ist, wie viel faires Gold in einem Ring steckt, darf der auch nicht mit dem Fairtrade-Logo gekennzeichnet werden. „Ich befürchte, dass das Label Fairtrade dann vor allem für Marketingzwecke genutzt wird“, kritisiert Becker. „Wie soll der Verbraucher da noch wissen, worin die Unterschiede bestehen?“ Susanne Amann
FOTO: DAVID PARRY / PA WIRE
Wirtschaft
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Zerstörung durch den Chemieunfall in Tianjin
Kommentar
Auf dem Pulverfass Der frühere Journalist Yu, 42, hat 2001 den Handel mit HIV-verseuchten Blutkonserven in China aufgedeckt und seither vielfach über die sozialen Folgen des Wirtschaftsbooms, über Korruption und Umweltskandale berichtet.
Der Rauch hängt immer noch in der Luft. Die Explosionen in der Hafenstadt Tianjin haben nicht nur Wolken giftiger Chemikalien freigesetzt, sondern auch eine Welle öffentlicher Debatten ausgelöst. Die Menschen, die am 12. August Angehörige oder ihre Wohnung verloren haben, verlangen Rechenschaft von der Regierung. Chinas Intellektuelle diskutieren die Katastrophe und ihre Folgen im Internet. Sie sorgen dafür, dass sich die Rauchwolke über das ganze Land ausbreitet – auch über dem Badeort 80
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Beidaihe, wo sich jedes Jahr um diese Zeit die Mitglieder der politischen Führung treffen. Was mögen sie diesmal besprochen haben, welche Lehren ziehen sie aus dem Unglück? Premier Li Keqiang ist nach Tianjin gefahren, und was er dort sagte, erweckt den Eindruck, als wolle die Regierung eine offene und ehrliche Untersuchung. Doch wer sich die Haltung der Lokalregierung in diesen Tagen ansieht, bemerkt Widersprüche. Tianjin, so viel lässt sich heute schon sagen, hat nicht nur ein Versagen der Partei und der Verwaltung enthüllt, sondern das Versagen des wirtschaftlichen Entwicklungsmodells. Wie viele Raffinerien, wie viele Chemiefabriken und Lagerhäuser für chemische Gefahrgüter mag es wohl geben entlang der Küste Chinas?
Unzählige. Von Dalian in der Provinz Liaoning bis zum Beilun-Fluss – überall sind Megafabriken und Industriezentren aus dem Boden geschossen. Viele von ihnen stehen mitten in Wohngebieten, die meisten wurden ohne öffentliche Anhörungen hochgezogen, die meisten weder von der örtlichen noch von der Zentralregierung genehmigt. Sie haben Chinas dicht besiedelte Pazifikküste zu einer der gefährlichsten Regionen des Planeten gemacht. Dutzende von Millionen Menschen sitzen auf einem gigantischen Pulverfass. Das alles ist ein Ergebnis der wirtschaftlichen Entwicklung, die wir seit den Achtzigerjahren vorantreiben. Die regierende Partei hat alles getan, um das Volk aus Armut und Hunger zu befreien – mithilfe der Wirtschaft, weil das Sys-
tem politisch nicht funktioniert. Sie hat das Land aggressiv industrialisiert, die Folgen dieser Entwicklung aber ignoriert. Auf diese Weise, glauben die an der Spitze, werden die Menschen schon hinnehmen, wie man sie regiert – solange sie genug zu essen und genug Geld haben. Dafür zahlen wir jetzt den Preis. Die Katastrophe von Tianjin ist nicht die erste dieser Art: Vor fünf Jahren barsten bei Dalian zwei Ölpipelines und ruinierten 90 Kilometer Küste, 2013 explodierte eine Pipeline in Qingdao, mindestens 62 Menschen starben. Chinas Führung hat aus diesen Unglücken keine Lehren gezogen. Ähnliche Explosionen geschehen immer wieder. Und immer wieder gibt es danach Unruhe im Internet, und immer wieder wird es plötzlich still. Es ist schwie-
FOTO: CHINA STRINGER NETWORK / REUTERS
Die Explosionen von Tianjin zeigen die Grenzen des „chinesischen Modells“. Von Yu Chen
Ausland Syrien
„Er hat die Schätze von Palmyra bis zuletzt verteidigt“
FOTOS: MARC DEVILLE / GAMMA-RAPHO / GETTY IMAGES (R. M.); GONZALO FUENTES / REUTERS (U.)
Der Chef der Behörde für Museen in Damaskus, Maamoun Abdulkarim, 49, über die Hinrichtung des Chef-Archäologen in Palmyra, Khaled Asaad, durch den „Islamischen Staat“ (IS)
rig, die Regierung zu beeinflussen, wenn der Protest sich nur im Internet erhebt, aber nicht auf den Straßen. Wird Tianjin die letzte dieser Katastrophen sein? Ich fürchte nein. Aber unser politisches System lässt keinen Dialog zwischen Volk und Führung zu. Bürger, die kein Wahlrecht haben, können nicht wirklich entscheiden, wo sie leben und was in ihrer Nachbarschaft passiert. Es ist daher gut möglich, dass wir in Zukunft noch größere „Explosionen“ sehen, dass wir immer wieder die Folgen der Ausbeutung unserer Ressourcen erleben müssen. Mit jeder Explosion werden die Meinungsunterschiede größer: zwischen dem Volk und der politischen Führung – und innerhalb der Führung. Was folgt daraus für Chinas Zukunft? Ich glaube, die Antwort liegt, wie die Rauchwolke von Tianjin, in der Luft.
SPIEGEL: Warum musste Khaled Asaad sterben? Abdulkarim: Er wurde geköpft, weil er sich weigerte, diesen Barbaren den Weg zu verstecktem Gold und verborgenen antiken Statuen zu zeigen. Er lebte für die Bewahrung dieser Schätze und hat sie bis zuletzt verteidigt. SPIEGEL: Warum ist er nicht aus Palmyra geflohen? Abdulkarim: Als der IS im Mai die Stadt besetzte, rief ich ihn sofort an und bat ihn, die Stadt zu verlassen. Er weigerte sich und sagte, er sei dort geboren und werde dem Druck nicht nachgeben. Er hat mehr als 50 Jahre dafür gearbeitet, diesen Ort in seiner Einzigartigkeit zu verstehen und der Wissenschaft zugänglich zu machen. Archäologen weltweit verehrten seine Arbeit, die Präsidenten von Frankreich,
Frankreich
Vaterkomplex Wenn es nach der Tochter ginge, wäre der Vater längst weg. Im Ruhestand, auf jeden
Marine Le Pen
Tunesien und Polen zeichneten ihn aus. SPIEGEL: Kurz vor der Einnahme der Stadt haben Sie zusammen so viele Kostbarkeiten wie möglich nach Damaskus gerettet. Wie ist heute die Lage in Palmyra? Abdulkarim: Palmyra ist ein unwiederbringlicher Schatz der Menschheit, den wir nun zu verlieren fürchten. Diese antike Stätte ist durch den Krieg bedroht, sie ist Zerstörungen und Plünderungen
ausgesetzt. Einige unserer Mitarbeiter sind geflohen, aber die meisten sind noch dort, in höchster Gefahr. SPIEGEL: Was kann die internationale Gemeinschaft tun? Abdulkarim: Wir haben immer wieder darauf hingewiesen, dass wir dringend internationale Unterstützung benötigen, um diese kulturlosen Besatzer abzuwehren. Der Tod Asaads zeigt erneut, wie entmenschlicht diese Terroristen sind. Interview: Susanne Koelbl
Archäologe Asaad in Palmyra 2002
Alte Berufung gegen seine Fall mundtot. Seit Monaten schwelt die Familienfehde als Behandlung eingelegt und immer wieder recht bekommen; nicht enden wollende PolitSoap zwischen Jean-Marie Le sein Anwalt hatte Verfahrensund Formfehler angeführt. Pen, bisher EhrenvorsitzenDoch bald stehen in Frankder des Front National, und reich die wichtigen Regionalseiner Tochter Marine, seit wahlen an, und Marine Le 2011 Chefin der RechtspopuPen will, dass ihre bisher so listen. Jetzt hat sie es geerfolgreiche Strategie der schafft – und ihren Vater aus „Entteufelung“ weiter aufder von ihm mitgegründeten Partei ausschließen lassen. Es geht. Dabei sollte ihr der Vater samt seiner rassistischen war bereits der dritte Versuch, den Vater kaltzustellen, und antisemitischen Provokationen nicht in die Quere und die Tochter hielt sich im Hintergrund: An der entschei- kommen. Nun hat sie gewonnen. Aber eine Stimme hat denden Sitzung nahm sie nicht teil. Bei den vorherigen sie schon verloren: JeanMarie Le Pen kündigte an, Versuchen hatte die Justiz er werde „nicht für Marine verhindert, dass Marine Le stimmen“. Auch nicht 2017, Pen denjenigen loswurde, wenn die Franzosen darüber von dem sie sagt, er schade entscheiden, wer Präsident der Partei „mehr als alles anwird. hey dere“. Wiederholt hatte der DER SPIEGEL 35 / 2015
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Bloß weg A
ls Visar Krasniqi Berlin erreicht und er an der Bernauer Straße das berühmte Bild sieht, das er aus den Geschichtsbüchern kennt, diesen Soldaten, der über Stacheldraht in den Westen springt, weiß er: Nun ist er angekommen. Angekommen in dieser anderen Welt, deren Teil er sein will. Was er da noch nicht weiß: dass dieser Traum elf Monate später 82
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enden wird, am 5. Oktober 2015. Dann muss er gehen. So steht es in dem Ausweis für „Aufenthaltsgestattung“, den er bekommen hat. Visar Krasniqi ist nicht vor einem Krieg geflohen. Er ist auch nicht verfolgt, er hat in seiner Heimat, dem Kosovo, nichts zu befürchten. Er sagt, er sei vor etwas davongelaufen, das schlimmer sei als Raketen und
Kalaschnikows: Hoffnungslosigkeit. Bevor er ging, versprach er seiner kranken Mutter in Priština, Architekt zu werden, und seiner Verlobten, dass sie ein gutes Leben mit ihm haben werde. „Wo ich herkomme, bin ich ein Nichts, aber ich will jemand sein.“ Doch im Kosovo ist es schwer, jemand zu sein, wenn man nicht zu den einflussreichen Kreisen gehört oder zur Mafia, und
FOTO: ARMEND NIMANI / DER SPIEGEL
Balkan Mehr als ein Drittel der Asylsuchenden kommt aus Albanien, dem Kosovo und Serbien. Junge Menschen, arm, wütend, enttäuscht, die keine Zukunft mehr in ihrer Heimat sehen. So hat, zwei Jahrzehnte nach den Kriegen, ein neuer Exodus begonnen.
Frauen in der Hauptstadt des Kosovo Priština
das ist oft genug das Gleiche. Das Vermögen aller Abgeordneten ist hier so groß, dass jeder ein Millionär sein könnte. Krasniqi muss als Barmann jobben, sieben Tage die Woche, für 200 Euro im Monat. Aber Perspektivlosigkeit ist kein anerkannter Asylgrund. Deshalb wurde Krasniqis Antrag vorläufig abgelehnt; ähnlich ging oder wird es den 30 000 Kosovaren gehen, die seit Anfang des Jahres in Deutschland Asyl beantragten. Und die Kosovaren sind ja nicht die Einzigen, es kamen auch 5514 Mazedonier, 11 642 Serben, 29 353 Albaner, 2425 Montenegriner. Von den 196 000 Menschen, die hier bis Ende Juli erstmals Asyl suchten, stammen 42 Prozent aus dieser Region, die nun Westbalkan genannt wird und die einst Jugoslawien hieß. Der Exodus zeigt auch, dass die Wunden der Kriege nicht verheilt sind. Zwar stiegen
Slowenien und Kroatien zu EU-Mitglie- Haus oder den Schmuck, um die Reise zu dern auf. Das von Serbien abgespaltene finanzieren; alle machten Schulden. PlötzKosovo hingegen, im Schnellverfahren lich wollte niemand mehr bleiben. 2008 zur Unabhängigkeit gepeitscht, fristet Busse brachten die Menschen nach Suein Paria-Dasein. Serbien trägt schwer an botica an die serbisch-ungarische Grenze. der ungelösten Kosovo-Frage. Bosnien- Dann führte ein Schleuser sie durch den Herzegowina ist 20 Jahre nach Kriegsende Wald, vorbei an den Schlagbäumen, nach vom Zerfall des Staatswesens bedroht. Ungarn. Immer 60, 70 Menschen auf einUnd Mazedonien, lange der postjugosla- mal. Acht Stunden dauerte der Fußmarsch. wische Musterknabe, wird wegen des „Ich hatte das Gefühl, das ganze Kosovo Streits um seinen Staatsnamen auf grie- war dort“, sagt Teuta Kelmende, 30, eine chischen Druck hin seit zwei Jahrzehnten schöne Frau mit hohen Wangenknochen im Wartezimmer von EU und Nato weg- und blauen Augen, aus denen sie sich jetzt gesperrt. Die Folge: fehlende Investitionen, eine Träne wischt. Sie erzählt, wie sie in versagende Sozialsysteme, Korruption, or- der Februarkälte ihre Tochter hinter sich ganisierte Kriminalität, hohe Arbeitslosig- herzog, und scrollt auf ihrem Smartphone keit, Armut, Frustration und Wut. durch Fotos: das Hotel in Serbien, wie sie Laut einer Umfrage der Friedrich-Ebert- im Zug nach Österreich fuhren, wie sie Stiftung wollen aus Albanien fast zwei schließlich in Baden-Württemberg im Bus Drittel, aus dem Kosovo und Mazedonien saßen, unterwegs in ein Aufnahmelager. mehr als die Hälfte der 14- bis 29-Jährigen Kelmende und ihr Mann leben in einem auswandern. Sie haben kein Zutrauen Dorf nahe Vučitrn, im Haus der Schwiemehr in ihre jungen Demokratien, und sie gereltern, sie besitzen eine Kuh. Sie träumt träumen von einem besseren Leben. von einer Ausbildung zur Friseurin, er von Sie beantragen Asyl in Europa, weil das mehr Geld, als er es mit seinem illegalen der einzige Weg ist, eine Aufenthalts- Taxi macht, 15 Euro am Tag. Dann hörten genehmigung zu bekommen. Doch fast sie im Januar im Fernsehen die Nachricht, alle Anträge werden abgelehnt. 2014 wur- Deutschland suche ausländische Arbeiter den 0,2 Prozent der Serben anerkannt, und nehme Flüchtlinge auf. Sie liehen sich 1,1 Prozent der Kosovaren und 2,2 Prozent 3000 Euro von Verwandten und fuhren los. der Albaner. Und so wird es beim nächsten Seit einigen Wochen ist der Traum vorAsylgipfel am 9. September in Berlin da- bei. Kelmende und ihr Mann sind zurück rum gehen, ob nicht nur Serbien, Mazedo- in Vučitrn, wie so viele andere. An diesem nien und Bosnien-Herzegowina „sichere Tag sitzt sie im Sozialamt. Eine internaHerkunftsstaaten“ sind. Sondern auch Al- tionale Organisation sucht eine Hilfskraft, banien, Montenegro und das Kosovo. In und Kelmende hofft auf diesen Job, sie hat der Hoffnung, dass weniger Menschen sich schön gemacht dafür, Lippenstift aufvom Balkan nach Deutschland ziehen. getragen, eine Chiffonbluse angezogen. Tatsächlich gibt es kaum Asylgründe, „Wir haben uns selbst belogen“, sagt Kelselbst Menschenrechtsorganisationen ha- mende über ihre Reise nach Deutschland. ben wenig Bedenken, diese Länder als „sicher“ einzustufen, ausgenommen sind da- U N G A R N Subotica RUMÄNIEN bei Minderheiten wie Sinti und Roma oder Homosexuelle. Aber kann man die HoffK ROAT I E N nungslosen auf diese Weise stoppen? Wovor laufen Menschen wie Visar Krasniqi davon? Und was bedeutet politische SiBelgrad BOSNIENcherheit, wenn man arm ist? HERZEGOWINA SERBIEN Die Suche nach Antworten führt nach 2981 11642 Albanien und ins Kosovo, in die beiden ärmsten Balkanländer, aus denen in diesen Sarajevo Monaten die meisten Asylsuchenden komKO S OVO men. Und nach Serbien, das seit einem MONTE29 997 Jahr als „sicherer Herkunftsstaat“ gilt. N EG RO Vučitrn
Kosovo: Ein Land wie ein Käfig Vučitrn ist eine kleine Stadt nördlich von Priština, die einen traurigen Rekord hält: Fast jeder zehnte der 70 000 Bewohner hat sich auf den Weg nach Deutschland gemacht. Oder er ist bereits von dort zurückgekehrt. Der größte Arbeitgeber der Stadt, ein Galvanisierungswerk, stellte vergangenes Jahr die Produktion ein. Danach begann der Exodus. Manche verkauften ihr
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PriŠtina
Podgorica
Adria
Asylbewerber aus Balkanstaaten in Deutschland
Prizren Novosej
Skopje
Tirana
MAZEDONIEN 5514
A L BA N I E N
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nach Herkunftsländern, Lazarat vom 1. Januar bis 31. Juli Quelle: Bamf (Erstanträge)
Thessaloniki
G R I EC H E N L AN D 100 km
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Aber vielleicht ist das kein Wunder in diesem Ministaat mit gerade mal 1,8 Millionen Einwohnern, in dem jeder Vierte von weniger als 1,20 Euro am Tag lebt. Zwei Drittel der Kosovaren sind unter 30 Jahre alt, und wiederum 70 Prozent davon sind arbeitslos. Ohne die jährlich 600 Millionen Euro Unterstützung aus der Diaspora, die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts, könnten viele Familien kaum überleben. Wer im Kosovo nicht Teil des Systems ist, hat kaum Chancen, sich aus der Misere zu befreien. Und das, obwohl kein Land pro Bewohner mehr ausländische Gelder erhalten hat. Die EU zahlt jedes Jahr allein 250 Millionen Euro für die Polizei- und Justizmission Eulex, die beim Aufbau rechtsstaatlicher Institutionen und beim Kampf gegen Korruption gescheitert ist. Noch immer werden alle Spitzenpositionen im Staat von der gleichen Gruppe korrupter Politiker besetzt. So ist ein aufgeblähter Verwaltungsapparat entstanden, mit rund 100 000 Mitarbeitern; Versorgungsposten für Verwandte und Unterstützer der Politiker. Volkseigentum wird wie Privatbesitz behandelt, zuletzt wurde das Elektrizitätswerk an einen Verwandten des türkischen Präsidenten verramscht. Die Profite gehen in dunkle Kanäle. Gerichtsverfahren dauern ewig, 500 000 Fälle sind unbearbeitet. Die Geschichte der 13 000 Toten des Krieges wurde nie aufgeklärt, die einstigen UÇK-Offiziere sitzen an den Schaltstellen der Macht. Erst Anfang August hat das Parlament einem Sondertribunal zur Aufklärung von Kriegsverbrechen zugestimmt. Seit der Krieg vor 16 Jahren endete, sind die Kosovaren zwar von der Unterdrückung durch die Serben befreit, doch sie leben wie in einem Käfig. Das Kosovo ist das einzige Land auf dem Balkan, dessen Bürgern der Weg nach Europa versperrt ist: Sie brauchen ein Visum für die EU. Das Kosovo ist kein Uno-Mitglied, es ist nicht einmal von allen EU-Staaten anerkannt, bei der Fußball-WM darf es nicht mitspielen. Das war also die Ausgangslage in Vučitrn, und keiner wollte so genau wissen, ob die Nachricht von den nach Arbeitern suchenden Deutschen stimmte. Keiner ging den Gerüchten nach, dass die Informationen womöglich von Schleppern lanciert worden waren, um falsche Hoffnungen zu schüren. Das jedenfalls behauptet der Bürgermeister von Vučitrn. Bajram Mulaku, 66, war früher Mathematikprofessor, ein weißhaariger Riese mit stechendem Blick. Er sitzt am großen Versammlungstisch im Rathaus und rechnet vor, dass allein Fahrer, Schlepper und Hotelbesitzer über zehn Millionen Euro verdient haben müssen mit dem Exodus aus seiner Stadt. Auch die Regierung in Priština macht ein internationales Schleppernetzwerk für die Fluchtwelle 84
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verantwortlich, die Polizei verhaftete bisher 54 angebliche Verdächtige. Mulaku hat seine Bürger im Frühjahr aufgerufen zu bleiben. Er sprach von Chancen: von den Subventionen im Kartoffelanbau, von der Bienenzucht. Die Menschen müssten nur bereit sein, schwer zu arbeiten. Doch das wollte niemand hören. Es gab immer mehr Flüchtende, immer mehr Schleuser, jeden Tag sanken die Preise. Die Passage nach Ungarn kostete schließlich nur noch 200 Euro. Jetzt wollte es jeder versuchen, und sei es nur, um einmal Europa zu sehen. Über 100 000 Kosovaren verließen in den vergangenen zwölf Monaten das Land, 48 000 allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres, die meisten gingen nach Deutschland und Frankreich. 13 000 kehrten bisher zurück. So ganz unrecht ist der Regierung die Massenflucht vielleicht gar nicht, denn der typische Migrant ist 20 bis 34 Jahre alt, hat keine Ausbildung, ist arbeitslos oder verdient maximal 450 Euro im Monat. Das Kosovo hat zudem die höchste Geburtenrate Europas, 40 000 Menschen erreichen jedes Jahr die Volljährigkeit und drängen auf den Arbeitsmarkt. Visar Krasniqi jedenfalls will nicht zurück. Er sitzt im Café Oase nahe dem Berliner Alexanderplatz und haucht den Rauch einer Shisha-Pfeife aus. Er zeigt sein Handy mit einer endlosen Liste von Kosovaren in Berlin, Deutschland, ganz Europa. Sie telefonieren und spielen Fußball, vor allem aber konkurrieren sie miteinander: Wer hält am längsten durch? Wenn sie zwischendurch knapp sind mit dem Geld, muntern sie sich gegenseitig auf: „Wir sind arm, aber wir haben ein Leben.“ In Schweden, das weiß Krasniqi, wird man schon nach vier Tagen abgeschoben, die Finnen aber sind liberaler. Dort will er hingehen, nach jenem 5. Oktober, an dem er Deutschland verlassen muss.
Albanien: Im Sog der Auswanderung Fünf Kilometer entfernt von der Grenze zum Kosovo steht Mali Tafaj auf einem Feld und drischt Roggen. Er liest die getrockneten Garben auf, reißt die Ähren in den wolkenlosen Himmel, dann schlägt er sie mit Wucht auf einen Holzbock, sodass die Körner sich lösen. Auflesen, hochreißen, niederschmettern – das ist der Rhythmus von Tafajs Tagen. Seit acht Uhr arbeitet er auf dem Feld, seine Schwester Badi drischt neben ihm, sein Vater Bayran, seine Mutter Nadira. Sie produzieren Futter für ihre drei Kühe. Acht Stunden wird das Dreschen dauern. Aber viel anderes gibt es in Novosej ohnehin nicht zu tun. Novosej ist ein kleiner Weiler im Nordosten Albaniens, mit Hütten aus Feldsteinen und Straßen ohne Asphalt. Hühner
scharren in der Erde, alte Männer reiten auf ihren Eseln vorbei, Kinder hüten die Schafe. Früher einmal, vor vielen Jahren, lebten über 2000 Menschen hier. Jetzt sind es noch etwa 300. „Sie sind alle in Deutschland“, sagt Mali Tafaj. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn, ein schmächtiger Mann, 23 Jahre alt, Fan des AC Mailand. Bei der Einschreibung an der Universität hat er die Reihenfolge der Fächer angegeben, die er studieren wollte: 1. Finanzen, 2. Journalismus, 3. Forstwirtschaft. Der Staat hat Forstwirtschaft für ihn ausgewählt. Jetzt kann Tafaj alle Bäume um sich herum auf Latein benennen, aber einen Job hat er nicht. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 30 Prozent. Rund drei Millionen Albaner leben im Land, genauso viele sind bereits ins Ausland gezogen. Albanien steht auf Platz neun im globalen Ranking der Weltbank, das die Auswanderer im Verhältnis zur Bevölkerung misst. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres stellten 29 353 Albaner einen Antrag auf Asyl in Deutschland, 7500 allein im Juli. Im Jahr zuvor gab es insgesamt nur rund 8000 Anträge. Nach Syrern und Kosovaren sind sie jetzt die drittgrößte Gruppe der Asylsuchenden in Deutschland. Die jüngste Auswanderungswelle begann mit einem Gerücht, sagen die Leute im Dorf. Das Gerücht kam Anfang des Jahres aus dem Kosovo, hinter dem Hügel. Die Grenze nach Serbien sei offen, hieß es. Und Deutschland suche Arbeiter. Dutzende Freunde und Verwandte von Mali Tafaj brachen auf. Sie fuhren über die Grenze nach Prizren. Dort stiegen sie für 200 Euro in den Bus nach Deutschland. Seit 2010 die Visapflicht beendet wurde, dürfen Albaner sich drei Monate als Touristen im Schengen-Raum aufhalten. Nachdem sie ankamen, beantragten sie Asyl, sie bekommen jetzt 143 Euro im Monat und warten auf Arbeit oder ein Wunder. Albanien ist ein Land der dauernden Transformation: vom kommunistischen Regime über bürgerkriegsähnliche Unruhen hin zu einer parlamentarischen Demokratie. Ein Land, das vor einem Jahr EU-Beitrittskandidat wurde; ein Land, in dem Menschenhandel blüht und organisiertes Verbrechen. 72 Bomben explodierten hier 2014 wegen krimineller, privater oder politischer Fehden; ganze Familien sind wegen Blutrache-Drohungen zu Hause gefangen. Im Korruptionsranking von Transparency International liegt das Land auf Platz 110. Albanien ist auch das ärmste der 37 von Eurostat erfassten Länder Europas. Nach 1990 wurden landwirtschaftliche Genossenschaften geschlossen, die Industrie lag am Boden. Rund die Hälfte aller Wissenschaftler und Akademiker verließ das Land. Noch heute arbeitet fast jeder Zweite in der Landwirtschaft. Das Brutto-
FOTOS: ELIE GARDNER / DER SPIEGEL
Ausland
Dorfbewohner nahe Novosej
Bauern Badi, Nadira und Mali Tafaj Bar in Novosej
inlandsprodukt beträgt 3486 Euro pro Kopf, ein Achtel des EU-Durchschnitts. Der durchschnittliche Stundenlohn liegt bei gut zwei Euro. Aber niemand wird verfolgt, weil er die Regierung kritisiert. Es gibt keinen Krieg, Sinti und Roma werden nicht gejagt, selbst schwul oder lesbisch zu sein ist in Ordnung. Wenn Albanien demnächst als „sicheres Herkunftsland“ klassifiziert wird, könnten seine Bürger schneller abgeschoben werden. Aber wäre das Problem damit gelöst? Am Nachmittag laden Mali Tafaj und seine Familie in ihr Zuhause ein. Sie leben in einer einfachen Steinhütte, die Eltern teilen sich ein Zimmer mit dem kleinen Bruder, Mali Tafaj schläft neben seiner Schwester. Nachts diskutieren die beiden viel über das Auswandern. Seine Schwester Badi sagt: „Ich muss bleiben, als Frau. Aber ich will, dass mein Bruder bald geht.“ Die Tafajs haben 3500 Euro im Jahr zur Verfügung. Ein Kilo Kartoffeln bringt ihnen 20 Cent, ein Kilo Kalbfleisch 2,50 Euro. „Es tut uns leid, dass wir den Kindern keine Zukunft bieten können“, sagt die Mutter. Mali Tafaj hat am Tag zuvor mit einigen Auswanderern gesprochen, die im Urlaub hier sind, sie leben in London, sind gut gekleidet und bringen Geld mit. Überweisungen aus dem Ausland machen fast ein Zehntel des Bruttosozialprodukts aus. Mali Tafaj sagt: „Wenn meine Eltern alt werden, muss ich sie ernähren. Aber wie?“ Er hat auf Facebook ein Video gesehen, das die deutsche Polizei gepostet hat. Eine Stimme sagte, es gebe in Deutschland keine Chance auf Asyl. Eigentlich will Mali Tafaj in seiner Heimat bleiben. „Aber ich werde wohl gehen, für die Eltern“, sagt er. Was würde Edi Rama einem jungen Mann wie Mali Tafaj erwidern? „Ich weiß, dass Deutschland eine Versuchung ist“, sagt Edi Rama. „Die elf Euro täglich. Die temporäre Arbeitserlaubnis. Die Möglichkeit, während der drei Monate etwas Geld zu erhalten. Das allein lohnt sich für viele.“ Rama war einst Kunstprofessor und Bürgermeister Tiranas, heute ist er Premier, ein großer, jovialer Mann. Sein Amtssitz in Tirana liegt eine dreistündige Fahrt entfernt von Tafajs Dorf. Das Büro ist sein Atelier, auf den Tischen liegen Wachsmalstifte. Rama will derjenige sein, der Albanien in die EU führt. Jahrzehntelang habe das Land sich auf den Bauboom und auf Überweisungen der Auswanderer gestützt. Jetzt setze man auf die Textilindustrie, Bergbau, Telekommunikation, Energie und Tourismus. „Aber spürbare Resultate dauern lange“, sagt Rama. Der Reformprozess ist ins Stocken geraten. Nachdem die Steuern für Zigaretten und Benzin erhöht und Pläne für eine höhere Einkommensteuer bekannt wurden, demonstrierten Zehntausende. Die Menschen verlassen ihre Heimat, weil DER SPIEGEL 35 / 2015
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ihnen der Wandel zu lange dauert. Um zu verhindern, dass immer mehr Menschen gehen, drängt der Premier darauf, sein Land so schnell wie möglich als „sicher“ einzustufen. Denn er weiß, dass Verhandlungen über einen EU-Beitritt nicht beginnen werden, solange die Albaner massenhaft Asyl im Norden suchen. Auch Edi Rama hat einen Traum, er hat darüber schon mit Angela Merkel gesprochen, als sie im Juli in Tirana war. Der Traum ist: Deutschland geht Kooperationen mit albanischen Berufsschulen ein. Dort würden dann Albaner gezielt auf jene Berufe vorbereitet, die in Deutschland niemand machen will. „Ein Gamechanger“, so nennt er das. „50 Berufsschulen, und hier wäre in drei Jahren alles anders.“
Serbien: Flucht vor dem Winter Die meisten Balkanmigranten kommen aus Albanien und dem Kosovo, doch jeder fünfte stammt aus Serbien oder Mazedonien – zwei Staaten, die seit 2014 als „sichere Herkunftsstaaten“ gelten. Trotzdem stieg die Zahl der Asylanträge von Serben im Vergleich zu den ersten sieben Monaten 2014 um 45 Prozent. Das ist viel, allerdings nahm die Zahl der Anträge aus den „nicht sicheren“ Balkanstaaten noch deutlich stärker zu. Nur 0,1 Prozent der Serben durften 2015 bisher bleiben. Warum kommen sie trotzdem? In den ersten drei Monaten dieses Jahres waren 91 Prozent der serbischen Asylbewerber in Deutschland Roma. Diskriminiert werden sie in ihrer Heimat weniger als Roma in Ungarn, Tschechien oder der Slowakei. Was sie treibt, ist die Not. „Wir wollen auch einen Teil vom deutschen Wohlstand abbekommen, darum gehen viele“, sagt Vitomir Mihajlović in seinem Büro mit Blick auf die Belgrader Sankt-MarkusKathedrale. Er ist Präsident des Nationalrats, der, wie er sagt, 600 000 Roma vertritt. 86
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Das ganze Gerede von den „Asyl-Lügnern“ sei irreführend, sagt er. Seine Leute seien „Wirtschaftsasylanten, und das bedeutet, dass wir zwar nicht aus politischen Gründen fliehen, aber trotzdem in Gefahr sind“. 80 Prozent der serbischen Roma hätten die Grundschule nicht abgeschlossen, die Diskriminierung setze eine Elendsspirale in Gang. Wer in einer Mahala lebe, einer Roma-Siedlung, werde bereits in der Schule ausgegrenzt und resigniere schnell. Während der kalten Winter sei es am schlimmsten. Damit sie künftig in Serbien bleiben, könnte Deutschland als kurzfristige Maßnahme Holz zum Heizen, Nahrung und Hygieneartikel schicken, schlägt Mihajlović vor. Die Zeit allerdings dränge: „Ab September geht’s wieder los. Dann rollt die nächste Welle nach Norden.“ Auch Haljilj Hasani will bald aufbrechen. Er ist 42, neun Jahre lang hat er bei der Müllabfuhr gearbeitet, aber seit Langem ist er ohne Job. Er wohnt mit seiner Frau und sechs Kindern auf zwölf Quadratmetern in Makis 1, einer armseligen Containersiedlung am Rand von Belgrad, umgeben von Müll, streunenden Hunden und Kindern, die auf dem blanken Boden spielen. Das heißt: Noch wohnt er hier. Die Kommune will die Familie räumen lassen, weil sie sich 2011 nach Deutschland abgesetzt und so das Wohnrecht verwirkt habe. Sie fuhren damals im Bus von Belgrad nach Essen und beantragten Asyl. Ein gutes Jahr später war der Antrag abgelehnt. Die Familie aber blieb, 15 weitere Monate vergingen. „Wir lebten wie in Amerika“, sagt Hasani. „Um die 900 Euro pro Monat Taschengeld, dazu Nahrung und Hygieneartikel umsonst.“ Dann aber war Schluss. Um drei Uhr nachts erschien die Polizei bei den Hasanis und brachte sie zum Flughafen. Von Frankfurt aus ging es am 25. Februar 2014 mit Adria Airways zurück. Hasani kramt einen Ausweis hervor, in den die Bundespolizeidirektion ihr „Abgeschoben“ stempelte. Das aber schrecke ihn nicht, sagt er: „Man
Susanne Koelbl, Katrin Kuntz, Walter Mayr
Videoreportage: Flucht vor der Armut spiegel.de/sp352015flucht oder in der App DER SPIEGEL
FOTO: MARKO DROBNJAKOVIC / DER SPIEGEL
Abgeschobener Hasani in Belgrad: „Wir lebten wie in Amerika“
hat mir gesagt, das gilt nur für zwei Jahre.“ Im Februar werde seine Frist ablaufen, dann versuche es die Familie von Neuem. Der serbische Premier Aleksandar Vučić rät den Deutschen: „Schickt unsere Leute wieder nach Hause, und vor allem – gebt ihnen kein Geld.“ Nichts kann Vučić derzeit weniger gebrauchen als Ärger mit den Deutschen. Würde die 2009 in Kraft getretene Visafreiheit für Serben in der EU widerrufen, wäre das ein gewaltiger Rückschlag für den Premier und seine Politik der Öffnung: zaghafte Annäherung in Verhandlungen mit dem Kosovo, schmerzhafte Reformen in der Wirtschaftspolitik. Aber es sind ja nicht nur die serbischen Roma, die sich nach Deutschland aufmachen. Belgrad ist auch Transitort für Zehntausende Syrer, Afghanen und Iraner, die über die Türkei und Griechenland nach Nordeuropa strömen. Die EU, der Sehnsuchtsort, ist von Belgrad nur 200 Kilometer entfernt. Rund 2500 Flüchtlinge erreichen derzeit Serbien. Und zwar täglich. Im Nachbarland Mazedonien sind es so viele Flüchtlinge, dass die Regierung gerade den Ausnahmezustand ausgerufen hat. Um ein Zeichen zu setzen, lässt sich Serbiens Regierungschef an diesem Morgen zum Park hinter dem Hauptbahnhof fahren, in dem Tausende sich vor der letzten Etappe nach Ungarn sammeln. Noch am Vortag lagerten sie hier zwischen Bergen aus Müll, Kleiderfetzen und Exkrementen. Nun aber, in Erwartung des Besuchs, ist morgens um sechs die Stadtreinigung angerückt, und so kann Vučić, umringt von Kameras, den Flüchtlingen „Gastfreundschaft und Herzlichkeit“ versichern. Weil diese aber nicht mal wissen, wer da spricht, tätschelt Vučić nur kurz einem Jungen den Kopf und verschwindet wieder. Am kommenden Donnerstag beginnt die Westbalkankonferenz. Und zwar ausgerechnet in der Wiener Hofburg, im Zentrum des einstigen Habsburger-Reiches, an dessen Außengrenzen auch ein Jahrhundert später keine dauerhafte Friedensordnung erreicht ist. Diesmal haben sich die Veranstalter etwas Besonderes ausgedacht: Im Stadion der Wiener Austria sollen die Chefs etablierter EU-Staaten gegen das Team „FC Future EU“ antreten. Dann müssen sie alle zusammenspielen: Serbiens Regierungschef Vučić, der Außenminister des Kosovo Hashim Thaçi und Premier Rama aus Albanien. Also Männer, die sich früher nicht einmal die Hand gegeben hätten. Es wäre eine gute Gelegenheit, alte Feindschaften zu begraben – und zusammen zu versuchen, den Exodus zu stoppen.
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Flüchtling an der Hafenmole von Kos
Hotel zur Dritten Welt
W
oran sie denkt? Dass sie spät dran sind, daran denkt sie, während sie die Straße entlangmarschieren, eilig, weil sie um acht Uhr bei der Polizeistation sein wollen – und all das nur wegen dieser Kerle aus Bangladesch, die im Morgengrauen zu ihnen aufs Dach geschlichen sind, um ein paar Laken zu klauen; diese Leute lassen alles mitgehen, wenn man nicht aufpasst, Lebensmittel, Turnschuhe, Brennholz. Und dann gab es am Wasserhahn, hinter dem Gebäude, abermals Streit und Geschubse, und ihr Bruder und die anderen kamen zu spät wieder hoch aufs Dach, mit nassem Haar, um sie endlich abzuholen. Es ist kurz nach sieben, aber schon sehr heiß. Die staubige Landstraße, auf der sie entlanggehen, führt zum Stadtrand von Kos. Links und rechts ein paar Gehöfte, Ferienhäuser, Pensionen, die Rollläden sind heruntergelassen. Die Insel schläft noch. Es riecht nach Rosmarin und Thymian. Ein Hund beginnt zu kläffen, als er
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der kleinen Prozession gewahr wird. Der Himmel ist flach und weiß. Sie sind zu fünft, wie sie da marschieren: Fatima und ihr jüngerer Bruder Abdollah, dann Mohsen und Mohammed, zwei Brüder aus Maschhad, schließlich Ali. Fünf Afghanen aus Iran, alle Anfang zwanzig. In Istanbul sind sie sich begegnet, in der stickigen Wohnung ihres kurdischen Schleppers, der sie weiter nach Bodrum bringen sollte. Sie mochten sich, blieben zusammen, als Gruppe ist man stärker, sicherer. Sie sind nicht allein auf der Straße, vor ihnen, hinter ihnen marschieren Hunderte Athen
GRIECHENLAND
TÜRKEI Bodrum
Ä
100 km
g ä i s
Kos
andere Flüchtlinge. Unwillkürlich nehmen die vier Männer sie, die einzige Frau, immer in die Mitte, auch jetzt. Dafür passt Fatima auf deren Geld auf, sie lässt ihre Tasche nie aus den Augen, darin sind fünf in Plastik eingewickelte Geldbündel, außerdem ein Foto ihrer Kinder, die sie zurückgelassen hat. Die jungen Männer legen ein hohes Tempo vor, trotz der Hitze. Sie bemüht sich, Schritt zu halten: Fatima Dschafari, 25 Jahre alt, aus der iranischen Millionenstadt Karadsch, unweit von Teheran, eine kleine, zähe Frau, die gern Krankenschwester geworden wäre, aber früh verheiratet wurde, an den falschen Mann. Sie trägt eine lange Hose, eine langärmlige Bluse, ein Tuch über dem Kopf. Kann sein, sagt sie, dass sie das Tuch eines Tages ablegen werde, dass sie sich überhaupt anders kleide, denn sie will ja eine moderne Frau werden, darum ist sie geflohen, mit dem Traum, in Deutschland oder Dänemark oder Schweden zu leben. Sie
FOTOS: ANGELOS TZORTZINIS / DER SPIEGEL
Migration Auf Kos ist die humanitäre Lage immer noch unerträglich. Ein Tag im Leben zweier Flüchtlinge und ein Besuch beim Bürgermeister, den viele für den Schuldigen halten.
wolle hart arbeiten und alles tun, um sich einzugliedern. Und eines Tages wird sie ihre Kinder zu sich holen. Sie hat sehr viel aufgegeben, und sie weiß sehr wenig über das, was sie nun hier erwartet. Wer weiß das schon. Der Andrang der Flüchtlinge auf Europa hat alte Gewissheiten weggespült und neue Fakten geschaffen. Auch der Bürgermeister von Kos, Giorgos Kiritsis, 58, wusste nicht, was da auf ihn zukam in diesem Frühsommer. Rund 160 000 Flüchtlinge landeten seit Jahresbeginn an den Stränden und Klippen der griechischen Inseln. Kos ist besonders betroffen, es liegt nur vier Seemeilen vom türkischen Bodrum entfernt. Drei, vier, fünf Boote kommen jede Nacht an, fahren knirschend auf den Sand, Syrer, Iraner, Afghanen, Iraker, Bangladescher, Pakistaner. Sie marschieren in die Stadt, zur Polizei, melden sich, nennen ihren Namen und erfahren, dass sie anderntags wiederkommen sollen – sie würden aufgerufen. Manche von ihnen können sich ein billiges Hotelzimmer leisten, die anderen schlafen in Parks oder auf der Hafenpromenade, zusammengerollt auf einem Stück Pappe auf dem Bürgersteig. Bürgermeister Kiritsis fand von Anfang an, das alles sei ein europäisches Problem, es müsse von Athen aus gelöst werden, mit Geld aus den reichen Ländern des Nordens. Und er tat erst einmal nichts. Half nicht, sagte nichts, schaute zu. Kiritsis’ Kritiker auf der Insel sagen, er habe die Situation eskalieren lassen, um Druck auf Athen auszuüben. Glaubhaft ist, dass Kiritsis Hilferufe nach Athen sandte, die anfangs alle unbeantwortet blieben. Kann sein, dass man dort andere Sorgen hatte. Vielleicht spielte auch die Tatsache eine Rolle, dass Kiritsis kaum verhehlt, ein Syriza-Gegner zu sein. Jedenfalls entwickelte Kiritsis eine merkwürdige Strategie gegen die Flüchtlinge: Er ließ die öffentlichen Wasserhähne abstellen, er schloss die öffentlichen Toiletten im Hafen und schickte muskelbepackte Aufpasser durch die Parks. Ansonsten, sagen seine Kritiker, tat er so, als gäbe es gar keine Flüchtlinge. Es ist nicht leicht, den Bürgermeister von Kos zu treffen, am vergangenen Dienstag gewährte er dann doch ein Gespräch, in seinem Büro im Rathaus von Kos. Drei Marias bewachen ihn dort: Maria Khadsielefteriou und Maria Flaskou sind seine Vorzimmerdamen, die dritte Maria ist eine in Gold und Grün wunderschön ausgeführte Ikonenmalerei hinter seinem Schreibtisch – die Muttergottes mit dem Jesuskind auf dem Schoß. Etwas himmlischer Beistand kommt nicht ungelegen in diesen Tagen. Kiritsis ist ein kerniger, kleiner Mann, in einem perfekt gebügelten Tommy-Hil
figer-Hemd, er raucht selbst gedrehte Zigaretten und hat ein markantes Gesicht und eine verwaschene Art, sich um Antworten zu drücken. Die Lage sei eskaliert, sagt er, weil Athen das Problem nicht zur Kenntnis nahm. Und weil niemand den Griechen zu Hilfe kam. Er habe dramatische Worte gefunden, das ist wahr. Er habe von Blut auf den Straßen gesprochen, von der Rückeroberung der Stadt durch die Einheimischen. Um den Volkszorn zu schüren, Herr Bürgermeister? „Nein, um aufzurütteln! Weil auf meine ruhigen Argumente keine Antwort kam. Wir haben einen Etat für die ganze Insel von 60 Millionen Euro, der Großteil geht weg für Gehälter und Löhne. Für Notfälle haben wir etwa drei Prozent, zwei Millionen. Und glauben Sie mir, wenn ich die Registrierung hätte beschleunigen können, nichts lieber als das.“ Kiritsis’ Handlungsspielraum war eng. Trotzdem muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, seine Möglichkeiten nicht ausgeschöpft zu haben – er hätte genügend Zeit gehabt, um eine erste Unterbringung für die Ankommenden einzurichten, er hätte sich an das Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen wenden können; es gibt in Genf ein Emergency-ResponseTeam für solche Fälle. Kiritsis wusste das alles nicht. Aber er machte sich auch nicht kundig. Da der Bürgermeister nichts tat, um die Situation der Flüchtlinge zu verbessern, gab es nur wenige Polizisten, die sich um deren endgültige Registrierung kümmerten, ohne die die Wartenden die Insel nicht
Bürgermeister Kiritsis „Ich fühle mich von Athen hintergangen“
verlassen und kein Fährticket kaufen können. Hunderte saßen täglich vor dem schmiedeeisernen Tor der Polizeiwache, manche schreiend, weinend, die meisten lethargisch. Über dem kleinen Platz vor der Wache hing eine Dunstglocke aus Urin, Schweiß und Verzweiflung. „Wir hatten Tage, wo wir nur sieben Registrierungen durchführen konnten“, sagt Kiritsis. „Aber wir brauchen von jedem Flüchtling die Fingerabdrücke, ein Foto, den Namen, Geburtsort, weitere Daten. Diese Informationen müssen unter anderem an Europol weitergegeben werden. Oft streikte das Computersystem, dann stockte alles.“ Irgendwann eskalierte die Lage. Es begann damit, dass der Bürgermeister die Flüchtlinge in ein Fußballstadion bringen ließ, um sie dort registrieren zu lassen, von wenigen Polizisten und nur vier Dolmetschern. Die Sonne brannte. Die Stunden zogen sich. Viele Flüchtlinge kollabierten, schrien, fast kam es zu einer Massenhysterie. Auch Fatima und ihr Bruder Abdollah waren unter den Zusammengepferchten. Fatima wurde ohnmächtig, ihr Bruder fing sie auf, am Ende kletterte er mit ihr auf einen Müllcontainer und brachte sie irgendwie raus. Am Abend lag Fatima stundenlang auf ihrer Matratze, sie konnte nur weinen. Manchmal fragt sie sich, ob sie überhaupt jemals von dieser Insel wegkommen. Sie kann kaum glauben, dass dies Europa sein soll – der gelobte Kontinent. Sie wussten nicht, dass sie hier so wenig willkommen sind. Seit elf Tagen leben sie wie so viele andere in einer Hotelruine namens „Captain Elias“. Sie haben sich auf dem Dach einquartiert, die Ecke hinten rechts. Sie haben die Matratzen, die dort lagen, ausgeklopft, mit Tüchern und Ästen den Sonnenschutz ausgebessert. Jeden Morgen marschieren sie zur Polizeistation, um das ersehnte Papier mit dem Stempel darauf zu ergattern; jeden Abend kehren sie unverrichteter Dinge zurück. Die Polizeistation der Insel liegt im Hafen der kleinen Hauptstadt, nur wenige Fußminuten hinter der Promenade mit ihren Restaurants, Bars, riesigen Lautsprechern, die in den Bäumen hängen, und den Souvenirshops mit den neonfarbenen Muskelshirts, den Küchenbrettchen aus Olivenholz und Keramikleuchttürmen. Fatima und die anderen hatten so etwas noch nie zuvor gesehen. Allmählich haben sie gelernt, wenigstens die Griechen und die Touristen voneinander zu unterscheiden: Die Touristinnen sind sehr gebräunt und haben lange, blonde Haare, wie Wesen von einem anderen Planeten. Sie gehen praktisch nackt auf die Straße, es scheint ihnen nichts auszumachen, ihren DER SPIEGEL 35 / 2015
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Männern auch nicht. Die sind sehr groß, viele sind sehr dick und schwitzen unglaublich. Die Griechen sind anders: kleiner, dunkler, aber auch grimmiger. In ihren Gesichtern steht: Wir wollen euch nicht. Es ist nicht so, dass die Flüchtlinge die Ablehnung, die ihn allenthalben entgegenschlägt, nicht spürten. Es ist nur so, dass sie darauf keine Antwort haben. Viele der Flüchtlinge haben Acarodermatitis, also Krätze. Es gibt zahlreiche Magen- und Darminfekte, es gab einen Fall von Tuberkulose. Viele der Männer, vor allem Schwarzafrikaner, Pakistaner, Bangladescher, erledigen ihre Notdurft mitten in der Stadt, hinter dem erstbesten Baum oder Auto.
„Ja, zwölf Polizisten für eine Woche, sie arbeiteten hart und effizient, aber jetzt sind sie wieder weg.“ Glauben Sie, die Lage wird wieder eskalieren? „Ja, wenn wir keine Hilfe bekommen.“ Es ist eine einfache Rechnung, die Kiritsis aufmacht: Jeden Tag kämen etwa 700 Menschen nach Kos. Seine eigenen Leute schaffen aber nur, ohne Unterstützung aus Athen, maximal 150 Registrierungen am Tag. Dass man die Syrer an einen separaten Ort gebracht hat, ein großes Passagierschiff im Hafen, habe die Lage etwas entspannt, man habe die zum Zanken aufgelegten Nationalitäten getrennt.
Geschwister Fatima, Abdollah: Ist dies Europa, der gelobte Kontinent?
Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, aus zahlreichen Krisengebieten der Welt eigentlich an Kummer gewohnt, beklagte entsetzt die hygienischen Verhältnisse auf Kos, den mangelnden Zugang zu Toiletten und Duschen und „einen Zustand staatlicher Untätigkeit“. Man frage sich, was noch passieren müsse, damit die Behörden angemessen reagierten. Und was tun Sie, Herr Bürgermeister? „Dies ist eine kleine Insel. Hinzu kommt, dass die Syriza-Regierung die Befugnisse der Kommunen dramatisch eingeschränkt hat. Das ist die Ideologie von Syriza: Zentralismus. Erst ziehen sie die Kompetenzen an sich, dann aber ignorieren sie einen! Ich fühle mich von meiner Regierung hintergangen!“ Aber schließlich haben Sie dann doch Hilfe aus Athen bekommen? 90
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Aber wie soll das alles gehen, wenn mehr Migranten ankommen, als die Insel verlassen? Zurzeit seien ungefähr 2500 Flüchtlinge hier. In gut einer Woche könnte die Zahl wieder stark ansteigen. Was dann? Am Abend gehen Fatima und Abdollah wieder zurück, zum Captain Elias, der Flüchtlingsunterkunft. Sie haben neun Stunden vor der Polizeistation gesessen, wurden aber nicht aufgerufen. Zu fünft marschieren sie die Hafenpromenade entlang, vorbei am Restaurant Socrates, an Claudia’s Sponges Boutique, vorbei an weißblonden Müttern aus Dänemark, mit weißblonden Kindern an der Hand. Den Anblick der Kinder hält Fatima kaum aus. Sie selbst durfte nur sechs Jahre zur Schule gehen, sie hätte gern mehr gelernt, Mathe, Englisch; aber dann wurde sie jung
verheiratet. Sie bekam zwei Söhne, Hassan und Amin. Die Ehe kriselte, ihr Mann schlug sie. Irgendwann entschloss sich Fatima zur Flucht. Doch eines Tages, schwor sie sich, eines Tages komme ich zurück und hole meine Kinder in ein besseres Leben. Die Geschichte von Fatima zeigt das ganze Dilemma der neuen Flüchtlingsströme: Wer wollte ihr das Recht absprechen, sich aus ihrem trostlosen Leben zu befreien, eine neue Zukunft zu suchen, auch wenn sie kein politischer Flüchtling ist, auch bei großzügigster Auslegung des Begriffs? Fatimas Chancen, ihren Traum zu verwirklichen, stehen nicht gut. Und noch schlechter stehen die der jungen Männer aus Dhaka oder Peschawar: Sie sprechen keine einzige Silbe Englisch, sie haben nicht den blassesten Schimmer, wie diese Gesellschaften in Europa funktionieren. Sie machten sich einfach auf den Weg. Fatimas und Abdollahs vorerst letzte Etappe ihrer Flucht war die Fahrt mit dem Schlauchboot nach Kos. Nachts der Aufbruch. Die Fahrt über ein schwarzes Meer. Die Ankunft auf dem Strand, von allen bejubelt. Sie fielen in den Sand, beteten. Kurz danach der Sonnenaufgang, „als hätte Gott uns ein Geschenk gemacht und uns beschützt, alles wird gut, dachte ich“. Wurde es nicht. Sie landeten im Captain Elias, weil Fatima nicht irgendwo auf dem Feld schlafen wollte. Sie konnten ein paar Matratzen auf dem Dach ergattern. Fatima, Abdollah und die anderen sind nicht verwöhnt, aber die Zustände dort, in diesem Hotel zur Dritten Welt, machen ihnen Angst. Das Captain Elias ist ein zweigeschossiges Gebäude, als geräumiges Hotel gebaut, dann platzte die Finanzierung, jetzt gehört es der Bank of Pyräus. Aufgeteilt haben die Flüchtlinge es nach Nationalitäten, um Zank und Gewalt zu vermeiden: im Erdgeschoss die Pakistaner und Bangladescher, ein Stockwerk darüber die Familien mit Kindern, die Schwarzafrikaner sind im Flur links. Auf dem Dach Iraker, Iraner, Afghanen. Überall fleckige Matratzen, auf denen jemand röchelnd schläft. Alles ist überzogen mit einer Schicht aus Müll: Eierkartons, leere Bohnendosen, Aschereste aus Feuern, Glasscherben, zerbrochenes Spielzeug, Reste einer Wassermelone. Darüber der Gestank nach Fäkalien und Vergorenem. Ringsum, auf den umliegenden Feldern, haben die Flüchtlinge sich aus Schilf, Pappe und Tüchern Hütten gebastelt, insgesamt 700, 800 Menschen hausen hier. Fatima und Abdollah gehen nach oben, aufs Dach, Fatima versteckt ihre Tasche, deckt ihr Tuch darüber. Sie haben noch nichts gegessen, den ganzen Tag über. Abdollah macht sich daran, ein paar Eier aufzuschlagen, für ein Omelette. Ralf Hoppe Mail:
[email protected]
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Ausland
Syriza-Chef Tsipras
Das Ende des linken Märchens Griechenland Alexis Tsipras hat keine Mehrheit mehr, um die vereinbarten Reformen durchzusetzen, und seinen Rücktritt vom Amt des Premiers verkündet. Nun setzt er auf Neuwahlen.
FOTO: THANASSIS STAVRAKIS / AP / DPA
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änderingend sucht der Mann nach Worten. Tasos Koronakis, Generalsekretär von Syriza, sitzt hinter seinem Schreibtisch, die Haare akkurat zum Zopf zusammengebunden, und weiß nicht, was er sagen soll. In welchem Zustand sich seine Partei gerade befindet, lautete die Frage. „Syriza ist in einer sehr, sehr schwierigen Lage“, sagt er endlich, „aber noch ist die Partei nicht gespalten.“ Dann fügt er schnell hinzu: „Soweit ich weiß.“ Das war am Dienstag. Eine Woche nach der Einigung mit den europäischen Gläubigern über ein drittes Hilfspaket kann von einer linken Einheitspartei keine Rede mehr sein. Der Zusammenschluss von Kommunisten, Trotzkisten, Linksgrünen, Ökosozialisten und Sozialdemokraten bietet ein chaotischeres Bild denn je. Und seit Donnerstag, als Alexis Tsipras, 41, am Abend im Fernsehen dem griechischen Volk seinen Rücktritt ankündigte, ist die Welt der Linken noch ein wenig mehr aus den Fugen geraten. Nun stehen Neuwahlen an, am 20. September sollen
sie stattfinden, danach wird Syriza eine fazanis, seinem Parteifreund Tsipras vor, andere Partei sein. Seit Tagen schon hatte das Land in „einen sonderbaren Typ von man in Athen mit einem solchen Schritt Totalitarismus“ geführt zu haben. Der gerechnet. Staatsminister Alekos Flambou- Euro, so Lafazanis, sei für Tsipras wohl raris ließ daran bereits Anfang der Woche so etwas wie ein „religiöses Dogma“ gekaum noch Zweifel, die Frage war nur worden. Wirtschaftsminister Georgios Stathakis, wann. Dann entschied sich Tsipras gegen eine Vertrauensabstimmung und gegen ebenfalls ein Linker, forderte daraufhin eine erneute Demütigung durch die Linken Lafazanis samt Mitstreitern auf, sie mögen seiner Partei und kündigte gleich den Rück- bitte die politischen Mehrheiten akzeptieren oder „ihr Mandat niederlegen“. tritt der Regierung an. Der 63-jährige Lafazanis, bis vor KurTsipras’ Entscheidung für Neuwahlen war politisch alternativlos, seit er bei der zem Tsipras’ Umwelt- und Energieminister, Abstimmung über das dritte Hilfspaket steht für all jene in der Partei, für die mit ohne eigene Mehrheit dastand. 43 Genos- der Annahme des dritten Hilfspakets – des sen verweigerten ihm die Gefolgschaft: „Guillotine-Memorandums“, wie Lafazanis 32 stimmten mit Nein, 11 enthielten sich. es nennt – endgültig ideologische Grenzen Drei Jasager lehnten zudem einzelne Teile überschritten wurden. Gemeinsam mit elf Syriza-Abgeordnedes Abkommens ab. Nur mithilfe der Opposition kam die Einigung überhaupt zu- ten der linken Plattform kündigte er jetzt die Gründung einer neuen politischen Bestande. Syriza-Mitglieder bekämpfen sich seit wegung an. Sie soll das Land zurück zur Wochen in einer Schärfe, wie man sie Drachme führen und die „Sehnsucht der sonst nur zwischen politischen Gegnern Menschen nach Demokratie und sozialer verschiedener Parteien kennt. Da warf der Gerechtigkeit“ erfüllen. Es klingt nach Anführer der Parteilinken, Panagiotis La- einer Fortsetzung des linken Märchens. Es DER SPIEGEL 35 / 2015
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glauben nur immer weniger an dieses Märchen. Ein Zerbrechen der linken Partei, die die Griechen im Januar noch als überragenden Wahlsieger bejubelten, ist damit kaum noch abzuwenden. Seit Wochen zerfaserte sie bereits in neue Cliquen und Grüppchen. Dem widerspricht auch die neue Sprecherin von Tsipras nicht mehr. „Die Partei ist gespalten“, sagt Olga Gerovasili, „wir können so nicht mehr weitermachen, wir müssen sehen, wie wir die Regierung stabilisieren können.“ Gerovasili, eine 54-jährige Radiologin, ist erst seit wenigen Wochen im Amt. Sie empfängt in einem bescheidenen Büro im Erdgeschoss der Villa Maximos, des Amtssitzes des Premiers. Ein schlichter Schreibtisch und eine Besprechungsgruppe für sechs Personen sind das einzige Mobiliar im Raum.
gehe „das Ganze in Ordnung“, sagte er in seiner Ansprache an das Volk, „nun müssen wir die Vereinbarung erfüllen“. Dafür riskiert Tsipras sogar den endgültigen Bruch mit den Widersachern in den eigenen Reihen. Wie ernst es dem Regierungschef ist, belegt nicht nur die Entscheidung zur Privatisierung von 14 Regionalflughäfen. Am vergangenen Dienstag machte die Regierung den Weg frei für ein vom Frankfurter Flughafenbetreiber Fraport geführtes Konsortium. Für 1,23 Milliarden Euro erwirbt Fraport bis 2055 die Betriebsrechte für Flughäfen wie Thessaloniki, Rhodos, Korfu oder Santorin. Selbst Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble erkennt inzwischen an, dass in Athen ein „offensichtlicher politischer Wandel zu beobachten“ sei. So soll es weitergehen. 27 schon ausformulierte Privatisierungen umfasst der ak-
Syriza-Generalsekretär Koronakis: „Es geht mir nicht gut dabei“
Anders als ihre Vorgänger schaut sie mit kühlem Blick auf das politische Geschehen, machtpolitische Spielchen sind ihr fremd. „Eine kleine Gruppe denkt über eine andere Partei nach, da müssen wir nicht mehr lange diskutieren“, sagt Gerovasili. Damit meint sie vor allem jene um Lafazanis, die der erstaunlichen Wandlung, die Tsipras in den vergangenen Wochen vollzog, nicht mehr folgen konnten und wollten. Die nicht verstanden, wie ihr Parteichef vom Ideologen zum Pragmatiker, vom Spieler zum Realpolitiker wurde. Tsipras fühlt sich von den europäischen Gläubigern zwar immer noch „erpresst“ und wird nicht müde, das zu betonen. Aber seit der Abstimmung im Parlament am 14. August zeigt er sich entschlossen, das Abkommen umzusetzen. Gemessen an den Schwierigkeiten und Widerständen, 92
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tuelle Plan der Regierung. Im Oktober soll die Ausschreibung für den Hafen von Piräus enden, im Dezember die für die griechische Bahn und deren Wartungsgesellschaft. Ebenfalls im Oktober will das Arbeitsministerium die Reform der Sozialund Rentenversicherung vorlegen. In Paris stellte Präsident François Hollande mit Genugtuung fest, dass Tsipras auf dem Weg zu „mutigen Reformen“ sei. Bis Oktober, so haben es die Gläubiger gefordert, soll er nun die sogenannten prior actions, die vordringlichen Reformen, durchsetzen. Dazu gehören Einsparungen bei den Pensionen, Subventionskürzungen für Landwirte, Steuererhöhungen für Reeder und Reiche, die Unabhängigkeit des Statistikamtes oder auch die Ausschreibung von Fernsehlizenzen. Ihre fristgerechte Verabschiedung ist die Voraus-
setzung für die volle Auszahlung des Hilfspakets. Aber wie sollte das gelingen, ohne eine verlässliche Mehrheit? Auch deshalb sagte Tsipras am Donnerstagabend in seiner TVAnsprache: „Sie werden nun über uns richten, über die, die gekämpft haben, aber auch über die, die das Schuldenprogramm in die Drachme überführen wollten und deretwegen die Regierungsmehrheit zur Minderheit geworden ist. Ich überlasse es nun Ihrem Urteil, was zu tun ist.“ Damit schafft er die Voraussetzungen für einen Neuanfang und, wenn alles gut geht, für sehr viel komfortablere Mehrheitsverhältnisse in der eigenen Regierung. Tsipras’ Chancen für einen klaren Wahlerfolg stehen gut. Zwei Drittel der Wähler sprechen sich in aktuellen Umfragen dafür aus, dass er Regierungschef bleibt. Auch wenn er zahlreiche Wahlversprechen wieder einsammeln musste, verkörpert Tsipras für viele noch immer den Wechsel: weg von der korrupten und verfilzten Politikerkaste früherer Jahrzehnte. Entsprechend schlecht stehen die Altparteien da, niemand traut der rechtskonservativen Nea Dimokratia und der sozialdemokratischen Pasok derzeit einen Wahlsieg zu. Mit der erzwungenen Einheit einer runderneuerten Syriza will Tsipras einen zweiten Anlauf nehmen. Die Partei, mit der er bei den Neuwahlen antreten will, wird eine völlig andere sein als die Syriza von heute. Formal müssen zwar alle Parteien ihre alten Wahllisten wieder aktivieren. Doch die Parteichefs haben das Recht, so viele Kandidaten zu streichen, wie sie für nötig halten. Davon wird Tsipras reichlich Gebrauch machen, daran lassen seine engsten Vertrauten keinen Zweifel. Wer gegen ihn stimmt, der fliegt, das hat Staatsminister Flambouraris bereits unmissverständlich angekündigt. Syriza-Generalsekretär Koronakis sieht gerade sein politisches Lebenswerk zerbröseln. Seit 20 Jahren ist er dabei, als Chef der Jugendorganisation von Synaspismos, der Vorgängerorganisation von Syriza, war er der Nachfolger von Tsipras. „Es geht mir nicht gut dabei“, sagt der 40Jährige, aber die Zukunft des Landes sei wichtiger als sein persönlicher Konflikt, loyal zu Tsipras zu sein und trotzdem seine politischen Überzeugungen nicht zu verraten. „Die Frage ist, was wir jetzt mit einem Abkommen machen, das wir für falsch halten und das nicht der Plan für uns Linke in den nächsten Jahren sein kann.“ Eine Antwort darauf hat er nicht. Tsipras geht es mit der neuen Situation entschieden besser. „Die schönsten Tage liegen noch vor uns“, sagte er am Donnerstagabend. Er klang dabei, wieder einmal, sehr überzeugend. Manfred Ertel Mail:
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Die Revolution des Erdkundelehrers Großbritannien Seit Monaten ringt die Labour-Partei um ihre Identität, nun wählt sie einen neuen Vorsitzenden. Die besten Chancen auf den Sieg hat ein radikaler Sozialist.
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für die Arbeiterklasse. Er will den Spitzensteuersatz auf mindestens 50 Prozent erhöhen, Subventionen für Unternehmen streichen und Geld drucken, um Sozialwohnungen zu finanzieren. Es ist ein Programm, das zurück in die Zukunft führt. Doch Corbyns Pläne gefallen den Briten. Viele sehen, dass ihre Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet, Sozialleistungen gekürzt werden, die Aktienkurse der Banken aber wieder steigen. In einer YouGovUmfrage sagten 58 Prozent, sie befürworteten die Verstaatlichung des Schienennetzes und die von Wasser- und Stromfirmen.
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enn man Jeremy Corbyn zwei Cameron macht in diesem Sommer ganz Tage lang zu Vorträgen und Re- entspannt schon zum zweiten Mal Urlaub. Corbyn ist ein Mann mit Grundsätzen, den begleitet, festigt sich der Eindruck: Dieser Mann kommt nie allein. Vor die er nicht über Bord wirft. Mit 16 engaden Hallen, in denen er auftritt, stehen gierte er sich für nukleare Abrüstung, Kommunisten, Sozialisten, Gewerkschaf- brach später das Studium ab und arbeitete ter, Spartakisten, Antifaschisten, Atomwaf- bei Gewerkschaften. 1983 zog er als Lafengegner und Israel-Boykotteure. Man bour-Abgeordneter ins Parlament ein und verliert leicht den Überblick, wer gegen stimmte seither über 500-mal gegen die was ist, sie alle verteilen Flugblätter mit Parteilinie. Von seiner zweiten Frau ließ unterschiedlichen Inhalten. Aber sie alle er sich unter anderem deshalb scheiden, weil sie ein gemeinsames Kind auf eines eint, dass sie Corbyn-Anhänger sind. Jeremy Corbyn ist 66 Jahre alt, Sozialist jener Gymnasien schickte, die in linken und will am 12. September zum neuen Vor- Zirkeln als Brutstätte des Establishments sitzenden der Labour-Partei ausgerufen gelten. Inzwischen ist er mit einer Mexiwerden. An diesem Abend tritt er in einem kanerin verheiratet, die fair gehandelte Hörsaal der Universität von Dundee in Kaffeebohnen importiert. Seine Anhänger schätzen Corbyns AuSchottland auf. Er trägt eine dunkle Anzughose, ein braunes Jackett und Gesund- thentizität. Im Gegenzug verbringt er einen heitsschuhe, von der Schulter baumelt eine großen Teil seiner Reden mit DanksagunLedertasche. 70 Städte hat er schon hinter gen. In Dundee lobt er erst die Bürger der sich. Er wirkt müde. Mit seinem weißen Stadt für ihren „jahrzehntelangen Kampf“ Vollbart und den Augenringen sieht er aus und dankt dann der Eisenbahner-, der Tewie ein melancholischer Erdkundelehrer, lekommunikations- und der Bäckergewerknicht wie der nächste Kandidat für schaft sowie den chinesischen FeuerwehrDowning Street. Trotzdem, laut Umfragen leuten von Tianjin. Der Mann ist eine Bleihat er von allen Bewerbern innerhalb der wüste auf zwei Beinen, trotzdem gibt es, britischen Arbeiterpartei die beste Chance wo immer er in diesen Wochen auftritt, stehende Ovationen. auf deren Vorsitz. „Jeremy, bei welcher Bank bist du eiCorbyn ist zur neuen Hoffnung von Labour geworden beziehungsweise zum neu- gentlich Kunde?“ Die Frage kommt von en Boten der Apokalypse, je nach Stand- einer jungen Frau ganz hinten im Auditopunkt. Er fordert den Austritt Großbritan- rium. Das Publikum hält die Luft an, wohl niens aus der Nato, er will geschlossene wissend, dass Corbyn gern auf die britische Kohlebergwerke wieder öffnen und große Finanzelite einprügelt, die das Land in den Teile der Infrastruktur verstaatlichen. Zu- Ruin getrieben hat. Minuten zuvor hatte nächst galt er in dem Rennen um die Nach- er gestanden, eine Kreditkarte zu besitzen folge des erfolglosen Ed Miliband als linker – für einige im Saal ein blasphemischer Clown, der nie gewinnen würde, aber je Akt. Corbyn antwortet, er habe vor Jahrschärfer die Attacken gegen ihn wurden, zehnten ein Konto bei der Co-operative Bank eröffnet, die nach ethischen Kriterien desto mehr Unterstützer fand er. Inzwischen herrscht in der Parteispitze investiert. „Aber sie gehört inzwischen leiAlarmstufe Rot. Zuletzt meldete sich Tony der auch einem Hedgefonds.“ Die Menschen in Dundee schätzen es, Blair im „Guardian“ und schrieb, Labour stehe vor der Vernichtung, falls Corbyn dass er nicht erst seit gestern gegen Nugewählt werde. Es sei der richtige Moment klearwaffen kämpft. In Faslane, kaum 150 für ein „rugby tackle“: Jemand müsse die- Kilometer entfernt an der Westküste, liegen die U-Boote der britischen Marine mit sen linken Schlafwandler aufhalten. Corbyns Aufstieg sagt viel über die mi- ihren „Trident“-Atomsprengköpfen. Die serable Lage von Labour aus und viel über Waffen sollen kommendes Jahr für 100 Milden Zustand der britischen Politik. Die liarden Pfund instand gesetzt werden. Die Konservativen unter David Cameron re- meisten Schotten halten das für kompletgieren seit der Unterhauswahl im Mai fak- ten Irrsinn. Corbyn sagt, „Trident“ dürfe tisch ohne Opposition. Und während sich niemals erneuert werden. Die verwundete Seele seiner Partei streiLabour selbst zerfleischt, sind die Liberaldemokraten abgetaucht. Absurderweise bil- chelt dieser Mann mit der Rhetorik der friedet derzeit nur die Schottische National- densbewegten Achtzigerjahre. Er prangert partei, die sich vom Süden abspalten will, die Kluft zwischen Arm und Reich an, kriein Gegengewicht zu den Konservativen. tisiert die Brutalität der Tories und kämpft
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Hinzu kommt, dass Großbritannien sich radikaler als viele andere Länder von einem Industrie- zum Finanzstandort gewandelt hat. Etliche Arbeiter, die in Zechen, Stahlwerken, auf Schiffswerften und in Autofabriken beschäftigt waren, fühlten sich seither von Labour im Stich gelassen. Corbyn gibt ihnen nun eine neue Heimat und die Hoffnung, dass alles wieder werden könnte wie früher. Er steht für den Neuanfang mit den Mitteln von gestern. Seine drei Konkurrenten um den Job an der Labour-Spitze haben sich mittlerweile von ihm distanziert. Am deutlichsten tat dies Yvette Cooper, die innenpolitische Sprecherin der Partei. Sie warnte, Corbyn biete „alte Lösungen für alte Probleme“. Dumm für Cooper, dass sie außerhalb von Labour kaum einer kennt und keiner sagen kann, wofür sie steht. Ähnlich geht es den übrigen Kandidaten. Nur einer hat es bislang geschafft, Wähler zu mobilisieren:
Jeremy Corbyn. Dabei profitiert er auch fangs war Labour ein Bündnis von Arbeivon dem neuen Urwahlverfahren der Par- tern, Sozialisten und Gewerkschaftern, tei, bei dem man für drei Pfund zum „re- später wurde die Partei zum Sprachrohr gistrierten Anhänger“ werden kann und der Rechtlosen. Der Streit um den Kurs an der Wahl zum Vorsitzenden teilnehmen von Labour, der nun eskaliert ist, erinnert darf. Es sind vor allem Corbynisten, die an das unselige Jahr 1983, in dem Jeremy Corbyn ins Parlament einzog. Damals wurdas neue Prozedere nutzen. Währenddessen kämpft das Establish- de Margaret Thatcher zum zweiten Mal ment der Partei immer verzweifelter gegen Premierministerin, die Partei lag zerihn an. Er könne unmöglich eine Parla- schmettert am Boden. Corbyn erlebte aus mentswahl gewinnen, sagt Alastair Camp- nächster Nähe, wie Linke und Reformer bell, einst Medienstratege von Tony Blair. sich in einer Grundsatzdebatte verhakten. Labour war über Jahre hinweg gelähmt, Corbyn fehle die Erfahrung der Macht, außerdem werde er in der Partei Chaos ver- moderate Genossen liefen zu den Sozialursachen. Zumindest damit hat Campbell demokraten über, die sich Anfang der recht. Die große Selbstauflösung hat längst Achtzigerjahre von Labour abgespaltet hatten. Corbyn machte es sich in den hinteren begonnen. Zu beobachten ist in diesen Tagen die Reihen des Parlaments gemütlich, dort, wo selbst verschuldete Demontage einer einst man in Prinzipien denkt, deren Umsetzmächtigen Partei, gegründet im Jahr 1900, barkeit zweitrangig ist. Das Projekt von die den Kampf gegen Kapitalisten und die „New Labour“, mit dem Tony Blair die britische Oberschicht zum Ziel hatte. An- Partei nach 18 Jahren wieder an die Macht brachte, verachtet er bis heute. Das Problem ist, dass viele Labour-Anhänger das ähnlich sehen. Blair würden sie wegen seiner Lügen während des Irakkriegs am liebsten hinter Gitter bringen. Einen Tag nachdem Tony Blair im „Guardian“ über die Selbstvernichtung seiner Partei schrieb und Corbyn damit letztlich einen großen Gefallen tat, betritt der Kandidat einen Konferenzsaal in Edinburgh. Die Objektive der Fotografen zielen auf ihn, aber Corbyn zuckt nicht. Er weigere sich, zu den Angriffen Stellung zu nehmen, sagt er. „Viele Menschen widert diese Form von Promi-Politik an, all die Beschimpfungen und Beleidigungen, deshalb interessiert mich auch nicht, was irgendwer über irgendwen in meinem Team sagt, mich eingeschlossen. Wir antworten erst gar nicht darauf.“ Mögen sich die anderen in den Kampf stürzen. In drei Wochen will die Partei das Resultat der Vorstandswahl bekannt geben. Und egal, wie das Ergebnis aussehen wird, schon jetzt ist Corbyn der große Revolutionär der britischen Politik. Weil er für viele spricht, wenn er sich über die Londoner Banker beklagt, die unversehrt der Krise entkommen sind und wieder Profite machen. Seinen Äußerungen über Menschenrechte, Frieden, Gerechtigkeit und ehrliche Politik kann jeder Busfahrer zustimmen. Im Grunde ist Corbyn ein Nostalgiker, der seine Meinung seit 1983 nicht geändert hat. Statt Blair widmet sich Corbyn dann in Edinburgh der Kulturpolitik: „Jeder von uns trägt einen Roman in sich, ein Gemälde, eine Skulptur“, ruft er in den Saal. So, wie er das sagt, klingt es logisch. Wie alles in Corbyns Welt – wenn nicht nur ständig die Realität dazwischenfunken würde. Christoph Scheuermann
Kandidat Corbyn
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das Inselvolk bleibt lieber unter sich. So lockt selbst der konservative Premier Shinzo Abe eher japanische Hausfrauen ins Berufsleben, als Gastarbeiter anzuwerben. Doch weil all das nicht reicht, lässt Japan die Einwanderer durch eine Hintertür ins Land. Allein im vergangenen Jahr kamen rund 47 000 „Praktikanten“, die allermeisten von ihnen Chinesen, aber auch Vietnamesen waren darunter, Philippiner, Indonesier, Thailänder. Für die meisten gelten strenge Auflagen, Zhou bekam ein Visum für drei Jahre, ihren Arbeitsplatz durfte sie in dieser Global Village Warum eine junge Zeit nicht wechseln. Es war ein Leben zweiter Klasse, das Zhou chinesische „Praktikantin“ in Japan nun führte, als eine von jenen, ohne die Japan kaum mehr funktionieren würde, aber über die das Land nicht gern spricht. ihren Chef verklagte Zhou hat sich in der Kanzlei ihres Tokioter Rechtsanwalts Shoichi Ibusuki verabredet. Sie wirkt schüchtern, es fällt ihr hinesen sind in Tokio längst keine Seltenheit mehr, sie schwer, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Sie erzählt, wie sie in kommen als reiche Touristen oder Geschäftsleute. Und dem ihr zugeteilten Agrarbetrieb in Ibaraki anfing, einer Präähnlich wie in anderen Metropolen scheint es manchmal, fektur in der Nähe von Tokio, und sich dort fast wie in China als würden sie alles aufkaufen, vom Baby-Milchpulver bis zur fühlte: Ein Gewächshaus reihte sich da an das andere, drinnen Luxusvilla. Aber zu diesen Chinesen gehört Zhou Changyan, arbeiteten vor allem Chinesen. „Gelernt habe ich nichts“, sagt 29, nicht. Sie trägt kein Make-up und keine teure Kleidung, Zhou, „ich musste von morgens bis abends schuften.“ Und oft sondern ein kariertes Hemd, eine billige Hose und grüne Segel- auch bis nachts um zwei. Ihre Aufgabe? „Ich musste kleine tuchschuhe. Sie will auch keine Luxusvillen kaufen. Zhou Blätter bündeln.“ Oba heißt die Pflanze, diese japanische VoChangyan ist eine „technische Praktikantin“. Das ist ihre offi- kabel lernte sie als Erstes. Mit dem Grün garnieren Japaner Sashimi; doch die Blätter sind mit feinen Härchen übersät. „Davon fingen meine Hände an zu jucken“, sagt sie. Natürlich war all das nicht viel härter als das Leben in China, und Zhou ist keine, die klagt. Doch daheim hätte sie nach einer anderen Arbeit suchen können. In Japan dagegen würde sie damit ihre Aufenthaltsgenehmigung gefährden. Oder sie hätte abtauchen und illegal jobben müssen, wie viele andere, die ihren ausbeuterischen Chefs entfliehen. Zhou entschied sich zu bleiben, sie bündelte weiter Blätter. Und wurde dabei immer öfter vom Vater des Bauern sexuell belästigt, am Ende fast täglich. Mal griff er nach ihren Brüsten, mal nach ihrem Po, mal kam er ins Badezimmer, wenn Zhou sich gerade wusch. Noch dazu wurde sie nicht gut bezahlt. Pro Stunde verdiente sie 300 Yen, gut zwei Euro, weit weniger als die Hälfte des örtlichen Mindestlohns. Zwar habe die für Praktikanten zuständige Organisation die Lohnlisten regelmäßig kontrolliert, sagt Einwanderin Zhou: „Ich musste von morgens bis abends schuften“ Zhou. „Aber die Einträge waren gefälscht.“ zielle Bezeichnung. Aber ein anderer Name trifft es viel besser: Ein Chinese half Zhou schließlich, den Anwalt Shoichi IbuArbeitssklavin. suki zu kontaktieren und den Skandal aufzudecken. Sie floh Vor fast zwei Jahren brach Zhou aus ihrem Dorf in der Pro- und kam in einer Unterkunft für misshandelte Frauen unter. vinz Jiangsu nach Tokio auf. Sie ist mit einem armen Wasser- Und sie verklagte ihren früheren Boss. Ihr Anwalt hat Zhous melonenbauern verheiratet und hat mit ihm zwei kleine Kinder, Fall öffentlich gemacht, er nutzt ihn, um Stimmung zu machen die sie seither nicht mehr gesehen hat. Vor allem aber hatte sie gegen das Praktikanten-Unwesen. Denn Premier Abe will diese große Träume: Sie wollte in Japan moderne landwirtschaftliche Form der indirekten Immigration ausweiten und Ausländer Methoden kennenlernen – und dabei gut verdienen. auch als Haushaltshilfen ins Land holen, zeitlich befristet. ÄhnZhous Familie verschuldete sich für das Praktikum, die Ge- liche Knebelverträge könnten dann weiterhin gängige Praxis bühren der Vermittler entsprachen mehreren chinesischen Jah- sein. Damit, fürchtet der Anwalt, würde der Ausbeutung der resgehältern. Die Nachfrage nach Japan-Praktika in China ist Immigranten Tür und Tor geöffnet. groß, gleichzeitig hat Japan dringenden Bedarf an ArbeitskräfZhou hat Glück gehabt, sie darf voraussichtlich länger in ten. Kaum ein anderes Industrieland vergreist so schnell, die Japan bleiben, denn während des Gerichtsverfahrens kann sie Erwerbsbevölkerung schrumpft jährlich um etwa eine viertel nicht abgeschoben werden. In dem Schutzhaus hat sie angeMillion Menschen. Besonders in der Landwirtschaft, der Fi- fangen, Japanisch zu lernen und mit Computerprogrammen scherei und auf dem Bau werden kräftige Männer und Frauen wie Excel zu arbeiten. Denn dazu war sie ja eigentlich gekomgebraucht. Zwar ließe sich der Mangel leicht beheben, wenn men: um etwas zu lernen. Wieland Wagner Japan ganz offiziell Einwanderer ins Land holen würde. Doch Mail:
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Sport FC-Bayern-Präsident Hoeneß 2011 in der Münchner Allianz-Arena
Film
„Wo ist der kleine Uli?“
Der Schauspieler Thomas Thieme, 66, über seine Rolle als Hoeneß im ZDF-Dokudrama „Uli Hoeneß – Der Patriarch“ (Donnerstag, 27. August, 20.15 Uhr) SPIEGEL: Wie haben Sie sich auf die Fi-
gur Uli Hoeneß vorbereitet? Thieme: Ich habe viele seiner TV-Auf-
nahmen studiert. Die Herausforderung war, das Unbekannte in Hoeneß’ Persönlichkeit zu finden. SPIEGEL: Sie betrieben eine Art Psychoanalyse? Thieme: Nein. Ich suche den Punkt, an dem ich mich an die Figur ankoppeln kann und die Figur sich an mich. Ich muss mich in die Gedanken und Gefühle der Figur hineinarbeiten. Bei Hoeneß sind die tiefen Brüche im Charakter das Spannende. Gleichzeitig hat er in diesem Kampfsport Fußball
Bücher
BVB-Sponsors Evonik begleiteten die Autoren das Dortmunder Fußballjahr literaSie hätten eine Prinzessin ge- risch, daraus entstand nun das Buch „Man muss ein nommen, schreibt der DraSpiel auch lesen können“. matiker und Schriftsteller Echte Liebe, wie sie der Moritz Rinke in seinem VorMarketingslogan den BVBwort, doch schon nach der Anhängern unterstellt? Oder Hinrunde „war sie ein Frosch“. Die Autorennational- Verklärung? In seiner Würdigung des abgetretenen mannschaft, 2005 von Trainers Jürgen Klopp dichThomas Brussig gegründet, tet Marius Hulpe hymnisch: hatte sich ausgerechnet in „Deine Empathiefähigkeit der vergangenen Krisensaison der vermeintlich prinzes- hat Dich spüren lassen, wosinnenhaft strahlenden Dort- nach Borussias Seele giert.“ Unter fußballinteressierten munder Borussia angenomIntellektuellen grassiert men. Auf Einladung des
FOTOS: LORENZ BAADER (O.); JANETT KARTELMEYER / ZDF (M.)
Dortmunder Frösche
gelernt, seine wunden Punkte vor der Öffentlichkeit zu verstecken. SPIEGEL: Sie glauben, Hoeneß spiele in der Öffentlichkeit nur eine Rolle? Thieme: Das weiß ich nicht. Für mich lag jedenfalls kein Reiz darin, nur den polternden, lauten Bulldozer Hoeneß darzustellen. Diese Rolle spielt Hoeneß selbst am besten, es ist die Rolle seines Lebens. Mich hat mehr interessiert: Wo ist der kleine Uli? Der sensible Metzgerssohn mit den feinen Gesichtszügen, der gleichzeitig nur so vor Ideen und Kraft strotzt. SPIEGEL: In den Szenen, in denen Sie Hoeneß vor Gericht spielen, kommt das Verletzliche am stärksten zur Geltung. Thieme: Die Gerichtssituation muss für einen solchen Machtmenschen wie Hoeneß das schlimmste Unglück gewesen sein. Normalerweise ist es bei ihm ja andersherum: Er steuert die Dinge. Je mehr Druck auf ihm lastet, desto lauter, aggressiver wird er. So kann man die weichen Nuancen im eigenen Charakter überspielen. Vor Gericht ging das aber nicht. SPIEGEL: Hatten Sie Kontakt zu Hoeneß oder seiner Familie? Thieme: Die Produktion hat das wohl versucht, aber es kam nicht zustande. rab
eine Klopp-Verherrlichung, die auf einem Irrtum beruht. Auch Herausgeber Rinke, der ein Interview mit dem Coach führt, rückt Klopp in die Nähe von Künstlern, die einen Stil prägen. Klopp weist das von sich. Er habe nie den Fußball verändern, sondern nur Spiele gewinnen wollen. In ihm den Fußball-Guerillero zu sehen, der
für die Schönheit kämpft, ist also ein Missverständnis. Er war nicht der Revolutionär und sein Spiel am Ende nicht schön. Doch jetzt ist der Ästhet Thomas Tuchel da. Rinke und Kameraden könnten eigentlich wieder von vorn Moritz Rinke (Hg.) anfangen. VielMan muss ein Spiel leicht übernimmt Evonik ja noch auch lesen können Verlag Blumenbar, Berlin; mal die Übernach240 Seiten; 14,95 Euro. tungskosten. kra DER SPIEGEL 35 / 2015
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Karriereende der jungen Frauen spritzten Ärzte ihnen Wachstumshormon, das Leichen entnommen war. Viele der Athletinnen sind heute invalide.
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FOTO: HC PLAMBECK / DER SPIEGEL (L.)
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ie Bilder in dem Fotoalbum mit dem braunen Umschlag sind schon etwas vergilbt. Sie zeigen die Karriere eines großen Turntalents. Bei einer Siegerehrung lacht das Mädchen. Heike ist soeben Schülermeisterin der DDR am Boden geworden. Auf einem anderen Motiv ist Heike zusammen mit Maxi Gnauck zu sehen, die beiden unterhalten sich in einer Turnhalle vor einem Turnier in Kuba. Maxi Gnauck war ein Star in der DDR. 1980 holte sie in Moskau olympisches Gold, sie bekam den Vaterländischen Verdienstorden in Gold. Auch Heike war im Kaderkreis für Moskau, auch sie sollte den Ruhm des sozialistischen Staates mehren. Aber sie wurde vorher aussortiert. Heike M. legt das Fotoalbum auf den Esstisch ihres Hauses nahe Berlin. Sie sitzt sehr gerade auf dem Stuhl. Die Berlinerin ist jetzt 52 Jahre alt. Die schmale, elegante Frau mit den blonden Haaren erzählt in einem ruhigen Ton von ihrem Leben als Turnerin, von den sieben Stunden Training jeden Tag, nur am Sonntag war frei. „Es hat mein ganzes Leben bestimmt“, sagt sie. Heike M.s Hände liegen ruhig auf dem Tisch, sie bleibt sachlich, selbst wenn sie über die Qualen berichtet, die sie in der Turnhalle ertragen musste: „Seit der siebten Klasse war ich an keinem Tag mehr schmerzfrei.“ Und über die vielen Spritzen: Die Ärzte hätten ihr selbst während der Wettkämpfe Injektionen gesetzt. Mit 16 Jahren musste sie ihre Karriere beenden – aus gesundheitlichen Gründen. Ihr Körper könne die „erheblichen Wirbelsäulenbelastungen im Leistungsturnen“ nicht mehr aushalten, schrieb ein Gutachter. Das Leiden der Heike M. war mit dem Rücktritt nicht zu Ende. Es sollte erst richtig beginnen. Heute hat sie die Krankenakte eines Bauarbeiters: eine ausgedehnte Degeneration der Hals- und Lendenwirbel, einen Ausriss der Trizepssehne, eine Verknöcherung des Ellenbogens, Entzündungen im Hüftgelenk, anfallartige Kopfschmerzen, Schmerzen in den Schultern und in vielen anderen Muskelregionen, Depressionen. Heike M. ist Lehrerin, sie möchte ihren vollen Namen nicht veröffentlichen, sie möchte kein Mitleid der Schüler und Kollegen. Erst jetzt, 36 Jahre nach ihrem Rücktritt, hat Heike M. die wahren Gründe für ihren Zustand erfahren. Sie sind eines der letzten dunklen Geheimnisse des ehemaligen Sport-Wunderlandes DDR. Die ostdeutschen Ärzte spielten offenbar Frankenstein mit jungen Turnerinnen wie Heike M. Zunächst bekamen sie anabole Steroide. Die vermännlichenden Hormone sollten die Mädchen klein halten und belastbarer machen. Und später, als sie nicht mehr als Spitzenturnerinnen ein-
satzfähig waren, erhielten sie Wachstumshormon. Hergestellt aus menschlichen Leichen – damit sollten Teenager auf ihre normale Größe zurückgespritzt werden. Die Manipulationen des Wachstums gehören zu den unmenschlichen Belastungen, denen Spitzenturnerinnen ausgesetzt werden. Damals in den Siebzigerjahren, aber mit einiger Sicherheit auch noch im Jahr 2015. Die Salti und Schrauben der Weltklasseturnerinnen sind heute um einiges spektakulärer als zu Heikes aktiver Zeit – zu schaffen nur von gedrillten Turnflöhen, die im Schnitt fast sieben Zentimeter kleiner sind als ihre Vorgängerinnen 1972 (siehe Grafik Seite 102).
Turntalent Heike M. um 1978 Kein Tag ohne Schmerzen
Schon 1982 hatte ein Chefarzt eines Berliner Krankenhauses festgestellt, dass Heike ihre kurze Karriere als Turnerin teuer bezahlt hatte. Die Wirbelsäule, die Knie, die Schulter – „der auf den Einsatz im Leistungssport zurückzuführende Körperdauerschaden wird mit 20 Prozent bewertet“, schrieb der Chirurg in seinem Gutachten. Dennoch hoffte Heike M. damals auf ein normales Leben. Sie heiratete einen Gewichtheber, den sie beim TSC Berlin kennengelernt hatte. Ulrich M. war dafür vorgesehen, bei den Olympischen Spielen 1980 die Goldmedaille zu holen. Dann knallten beim Versuch, die gewaltigen Eisen in die Luft zu stemmen, die Bänder eines Knies durch, auch er musste seine Karriere abbrechen. Heike M. studierte, sie wurde Lehrerin und bekam zwei Kinder. Was immer sie auch tat, die Schmerzen begleiteten sie ihr Leben lang. Heike M. fiel es zunehmend schwer, ihren Beruf als Lehrerin auszufüllen. „Ich will unbedingt arbeiten“, sagt sie, „aber
an manchen Tagen geht es einfach nicht mehr.“ Sie stellte einen Antrag auf Schwerbehinderung. Das Versorgungsamt lehnte ab, und so landete ihr Fall beim Sozialgericht in Cottbus. Der Richter beauftragte den Heidelberger Molekularbiologen Werner Franke, ihren Gesundheitszustand zu begutachten. So erfuhr sie die ganze Geschichte, weil Franke erstmals DDRKrankenunterlagen auswertete. Der Wissenschaftler vom Deutschen Krebsforschungszentrum beschäftigt sich seit über 40 Jahren mit den Folgen körperlicher Überlastungen im Sport, sein Spezialgebiet ist Doping. Franke kennt die geheimen Dokumente aus der DDR: Während Anabolika etwa im Gewichtheben oder in der Leichtathletik vornehmlich die Muskelkraft steigern sollten, erfüllten sie unter Turnern, Eiskunstläufern oder Schwimmern andere Zwecke. Sie sollten dazu beitragen, die Regeneration zu verbessern – um noch mehr, noch intensiver trainieren zu können. DDR-Forscher benutzten dafür nur im Spitzensport eingesetzte Hormone wie das STS 646. Bei jungen Turnerinnen hatte das STS 646 noch ein weiteres Ziel. Es sollte Mädchen klein halten – denn nur kleine Turnerinnen sind erfolgreiche Turnerinnen. Aber die Nebenwirkungen sind gravierend: Wenn anabole Steroide vor der Pubertät verabreicht werden, schließen sich die Wachstumsfugen am Ende der Röhrenknochen. Dadurch wird das Längenwachstum gebremst, Knochen verkalken – Dauerschäden können die Folge sein. „Bei Kindern sind beschleunigte Sexualund Knochenreifung sowie vorzeitiger Wachstumsabschluss zu beobachten“, heißt es im Beipackzettel von Oral-Turinabol, dem DDR-Anabolikum von Jenapharm. Die Warnungen wurden allerdings erst nach dem Ende des Arbeiter-und-Bauern-Staats beigelegt. Gudrun Fröhner, lange Jahre Turn-Verbandsärztin in der DDR, hat 1998 vor Gericht den Einsatz der Steroide zugeben müssen. Laut internen DDR-Unterlagen gehörte die systematische Vergabe von STS 646 an Spitzenturnerinnen zur Konzeption des Verbands. Deren Einnahme war praktisch eine vom Staat auferlegte Pflicht. Dabei waren die Anabolika für Kinder intern schon in der DDR umstritten. Hochrangige Mediziner warnten davor. Verabreicht wurden die Pillen dennoch. Heike M. war 1,53 Meter groß und wog 43 Kilogramm, als sie im Juli 1979 ihre Karriere beendete. Sie sagt, sie habe als Turnerin jede Menge Tabletten bekommen: „Uns wurde gesagt, es seien Vitamine.“ Während ihrem damaligen Freund, dem Gewichtheber M., bewusst war, dass er die typischen blauen Anabolika-Pillen bekam, war Doping unter den jungen Turnerinnen ein besonders gut gehütetes DER SPIEGEL 35 / 2015
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Sport
dern sportmedizinische Versuchsobjekte“, sagt sie. Pansold ist einer der wenigen Mediziner, die wegen Beihilfe zur Körperverletzung verurteilt wurden. Wenn sich Dagmar Kersten internationale Turnwettkämpfe im Fernsehen anschaut, bekommt sie Mitleid mit den jungen Athletinnen: „Sieht man die Schwierigkeitsgrade der Übungen, dann weiß man, dass sich leider nichts geändert hat. Der Irrsinn geht offenbar immer so weiter.“ Als Referentin für den Niedersächsischen Turner-Bund ist es Dagmar Kersten ein Anliegen, „Kinder stark zu machen gegen Missbrauch jeglicher Art“. Sie hält Vorträge in Schulen und vor Sportärzten über die „Kehrseite der Medaille“. Noch immer sind viele Funktionäre, Trainer, Ärzte und sogar Eltern bereit, alles mitzumachen, was Medaillen und Siege verspricht. Eine Fachzeitschrift für Kinderheilkunde in den USA hatte bereits 1998 eine Studie zum Doping im US-Sport veröffentlicht. Überrascht waren die Wissenschaftler, dass die Einnahme von anabolen Steroiden vor allem unter jungen Turnern verbreitet ist. „Dieser Befund ist besonders besorgniserregend“, resümierten die Autoren, das Größenwachstum der Teenager sei gehemmt worden, weil man glaubte, „eine geringe Körpergröße bringt
Turnflöhe
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Dopingopfer Kersten Behandlung nach dem „Kaiserschema“
Durchschnittliche Größe von Turnerinnen auf den Medaillenrängen bei Olympischen Spielen, in Zentimetern
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Udo Ludwig, Thomas Purschke
Quelle: sports-reference.com
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im Turnen Vorteile“. Seit Mitte der Neunzigerjahre gehören die USA, unterstützt von ausgewanderten Trainern aus dem Ostblock, zur Weltelite. Die spektakulären Übungen produzieren tolle Fernsehbilder – offenbar genügend Anreiz, Kinderkörper zu malträtieren. Bereits die DDR-Mediziner hatten die Methode angewandt, kleine Sportlerinnen nach Karrierende wieder zu strecken. Gutachter Franke fand in den Krankenunterlagen von Heike M. die Belege für diese besonders perfide Art, die Kollateralschäden eines inhumanen Sports zu beseitigen. Zur Rehabilitation war Heike M. 1979 ins sächsische Kreischa geschickt worden – in eine Spezialklinik für Spitzensportler der DDR. Dort erhielt sie mindestens sechs Wochen lang das Wachstumspräparat Sotropin H. Damals gewann der VEB Arzneimittelwerk Dresden dieses Mittel aus den Hirnanhangdrüsen von Leichen. Ein unverantwortlicher Eingriff: Einige Patienten bekamen nach der Einnahme von Sotropin die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, die zu schwerer Demenz und zum Tod führt. Franke befragte alteingesessene Pathologen in den neuen Bundesländern. Sie sagten, sie hätten sich gewundert, warum ihre Präparatoren damals die Erlaubnis eingeholt hatten, den Leichen immer die Hirnanhangdrüsen entnehmen und behalten zu dürfen. Das Absetzen der Anabolika und die Einnahme von Wachstumshormon hatten Erfolg. Heike M. wuchs innerhalb eines Jahres um zehn Zentimeter. So weit, so gut. Aber der Bewegungsapparat machte diese Tortur nicht mit, die Folgen sind geschädigte Gelenke, die zu lebenslangen Schmerzen führen. Der Grad der Behinderung bei Heike M., so schreibt Franke, liege bei mindestens 50 Prozent. M.s Ehemann war bereits 2007 nach einer qualvollen Leidensgeschichte an den Folgen einer Akneerkrankung gestorben. Ob die Anabolika dafür verantwortlich waren, blieb ungeklärt. Für Ines Geipel, die Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins, ist „der Sotropin-Fall von Heike M. ein schweres Verbrechen und verwerflich, da gravierende Schäden bis hin zur Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung durch die behandelnden Ärzte billigend in Kauf genommen wurden“. Franke sieht das ähnlich. Um das Mädchendoping umfassend aufzuklären, hat er bei der Staatsanwaltschaft in Berlin Strafanzeige „wegen lebenslanger schwerer Körperverletzung“ an minderjährigen Geräteturnerinnen gegen die verantwortlichen Ärzte gestellt.
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Video: Was Heike M.s Krankenakte erzählt spiegel.de/sp352015akte oder in der App DER SPIEGEL
FOTO: THOMAS PURSCHKE
Geheimnis. Weder die Sportlerinnen noch die Eltern waren eingeweiht. Im Turnen wurden die Umstände niemals richtig aufgeklärt. Heute fragen sich ehemalige Sportlerinnen, warum sie so klein geblieben sind. Der Körper von Antje Wilkenloh etwa, der letzten DDR-Meisterin, stellte bei 1,50 Meter sein Wachstum ein (SPIEGEL 52/1995). Nur Maxi Gnauck (1,48 Meter), heute Trainerin in der Schweiz, verteidigt den DDR-Sport: „Von der Schule über das Internat bis hin zur Physiotherapie und zur ärztlichen Betreuung hat alles gestimmt.“ Aber die Folgeschäden sind weit verbreitet. Der Berliner Doping-Opfer-HilfeVerein steht mit acht früheren Turnerinnen in Kontakt. Sie haben chronische Schmerzen in der Wirbelsäule, an den Schultern, den Füßen und den Hüftgelenken, sie leiden unter Vermännlichung. Einige haben Depressionen, eine oft beschriebene Nebenwirkung der Anabolika. Opfer dieses erbarmungslosen Systems ist auch Dagmar Kersten. Die 1,52 Meter große und 43 Kilogramm leichte Berlinerin war bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul mit Silber am Stufenbarren die erfolgreichste DDR-Turnerin. Die 44-Jährige ist ein vom Bundesverwaltungsamt staatlich anerkanntes Dopingopfer. Allein an ihren Fußgelenken wurde sie sechsmal operiert. Die Wirbelsäule ist geschädigt, Schmerzen verursachen permanente Schlafstörungen. Sie sagt, sie sei „geschockt gewesen“, als sie nach dem Untergang der DDR erfuhr, dass ihr Anabolika verabreicht worden waren. Kersten fand in ihrer Akte, dass Bernd Pansold, Chefmediziner des SC Dynamo Berlin, bei ihr eine Behandlung nach dem sogenannten Kaiserschema angeordnet hatte. In der geheimnisvollen Sprache des DDR-Sports war damit die Vergabe von Hormonpräparaten gemeint. „Wir waren für die Funktionäre keine Menschen, son-
Hochspringer Barshim
Prinz aus Doha Leichtathletik Mutaz Barshim ist der Favorit im Hochsprung bei der WM in Peking. Er ist einer der wenigen Sportstars Katars, die dort geboren sind.
FOTO: ZUMA PRESS / IMAGO
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s gibt auf Twitter ein Spiel unter den Fans von Mutaz Barshim: Sie lassen sich Gegenstände einfallen, die ungefähr 2,43 Meter hoch sind. Sie haben ein Foto eines Fußballtors getwittert und das Bild eines Elefanten. Über diese Dinge, das ist die Botschaft, könnte Barshim springen. Seine Bestleistung ist 2,43 Meter. „Mit Logik hat das nichts zu tun“, sagt Barshim, „dafür musst du ein bisschen verrückt sein. Die meisten Menschen schauen auf die Latte und denken: Es ist unmöglich, darüberzuspringen. Ich sage mir: Du schaffst das, friss oder stirb!“ Mutaz Barshim, 24, aus Katar, ist der beste Hochspringer der Welt. Ihm fehlen noch zwei Zentimeter zum Weltrekord. Die Bestmarke, 2,45 Meter, zählt zu den legendären der Leichtathletik, der Kubaner Javier Sotomayor stellte sie 1993 auf. Sein Spitzname war „König der Lüfte“, und viele dachten, dass er es für immer bleiben würde. Bis Barshim kam. Er nennt sich selbst „Prinz Barshim“. Ein junger Mann mit abstehenden Ohren, der eigentlich zu klein ist für einen Topspringer, zu schmächtig, der Beine hat wie Streichhölzer, aber keine Angst vor großen Zielen. „Es gibt da einen Rekord, der ist über 20 Jahre alt. Und es gibt mich“, sagt er. Eine Leichtathletikhalle in Malmö, Barshim macht Froschsprünge, Einbeinsprünge und Hürdenläufe. Den Sommer
verbringt er in Schweden, weil es in Katar gerade 45 Grad heiß ist. Nach dem Training nimmt er in einem Bistro Platz, er trägt eine Basecap, darauf steht in weißer Schrift: „What gravity?“, übersetzt heißt das in etwa: „Was bedeutet schon Schwerkraft?“ Es ist Barshims Motto. 2010 wurde er Junioren-Weltmeister, 2012 gewann er Bronze bei den Olympischen Spielen in London. Als er danach in Doha ankam, empfingen ihn Staatsminister mit Girlanden und Fanfarenmusik. Einen Tag lang durften alle Katarer umsonst SMS schreiben, es war ein Geschenk zu Ehren Barshims vom größten Handyanbieter des Landes. Sport ist für Katar ein wichtiger Teil der „National Vision 2030“, das Investitionsprogramm soll das Land öffnen. Dafür hat sich Katar die Fußball-WM 2022 geholt, aber auch die Rad-WM 2016, die Turn-WM 2018 und die Leichtathletik-WM 2019. Doch weil das Emirat nur 250 000 Staatsangehörige hat, bürgert es für seine Nationalteams vor allem Sportler aus dem Ausland ein. Im Januar wurde Katar überraschend Vizeweltmeister im Handball, mit Spielern aus Frankreich, Montenegro und Kuba. Der Spott und die Missgunst der traditionellen Sportnationen trafen Katar hart. Mit einem einheimischen Star wie Barshim kann das Land zeigen, dass die Sportoffensive auch nach innen wirkt, dass Katar auch eigene Talente pflegen, Vorbilder produzieren kann. Barshim kam über seinen Vater, einen früheren Langstreckenläufer, zur Leichtathletik. Mit zwölf Jahren begann er mit dem Hochsprung, das Sportförderprogramm der Aspire Academy in Doha bot ihm die besten Trainer, die besten Anlagen und einen Karriereberater. Eines Tages spielte Barshim vor dem Training ein bisschen Basketball. Er machte einen Dunking, fast aus dem Stand, ganz locker. Neben dem Korb stand Stanisław Szczyrba, ein Pole, der vom katarischen Verband als Trainer verpflichtet worden war, und war ziemlich verblüfft.
„So einen federnden Absprung hatte ich noch nie gesehen“, sagt Szczyrba. Er sprach Barshim an, seitdem arbeiten die beiden zusammen. Wenn er in Doha trainiere, erzählt Barshim, kämen Familien mit Kindern, um ihm zuzusehen. „Es wächst bei uns eine Sportkultur, eine Bewegungskultur. Zu Hause bin ich so etwas wie eine Inspiration, im Ausland so etwas wie ein Botschafter.“ Seine Medaillen widmet Barshim dem Emir. Die zwei wichtigsten fehlen ihm noch. In der kommenden Woche will Barshim in Peking Weltmeister werden, 2016 in Rio de Janeiro Olympiasieger. Er hat in dieser Saison seine Technik umgestellt, um „das nächste Level“ erreichen zu können. Was das bedeutet? „2,46 Meter und höher“, sagt Barshim. Der Hochsprung gehört zu den komplexesten Bewegungsformen im Sport: Anlauf, Absprung, Körperdrehung in der Luft. Barshims Stärke ist die große Kraft in seinen Beinen im Verhältnis zu seinem geringen Körpergewicht. Er schafft Kniebeugen mit einer 200 Kilogramm schweren Hantelstange im Nacken, dabei wiegt er nur 67 Kilo. Bei einer Größe von 1,88 Meter ist er kurz davor, untergewichtig zu sein. Jedes Kilo Gewicht kostet die Springer rund 2,5 Zentimeter Höhe. Athleten wie Sotomayor waren muskulös und sprunggewaltig. Barshim ist grazil und gelenkig, er fliegt nicht über die Latte, er schlängelt sich darüber. „Du baust den Sprung wie ein Puzzle zusammen“, sagt er, „du brauchst natürlich Sprungkraft, aber zu viele Muskeln machen dich unbeweglich. Läufst du zu schnell an, kannst du nicht kräftig abspringen. Du brauchst von allem etwas, aber von nichts zu viel.“ Es sei eine Kunst, sagt Barshim, in der es keine Perfektion gebe. „Mein Coach will nicht 1000 gute Sprünge von mir sehen, sondern einen perfekten. Doch davon bin ich noch weit entfernt.“ Lukas Eberle Mail:
[email protected], Twitter: @lukaseberle DER SPIEGEL 35 / 2015
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Wissenschaft+Technik Wetter
„Die Gewitter hatten mehr Wumms“ Jörg Kachelmann, 57, Me-
teorologe, über die Besonderheiten dieses Sommers und die schwankende Zuverlässigkeit von Vorhersagen SPIEGEL: War der Sommer so
ungewöhnlich, wie viele Leute meinen? Kachelmann: In der Tat war er wärmer als normal – allerdings mit großen regionalen Unterschieden: Im Norden gab es im August bisher nur ein Grad mehr als sonst, im Süden bis zu sechs Grad.
SPIEGEL: Bildeten sich häufi-
Kachelmann: Der Ruf unserer
ger Unwetter? Kachelmann: Nein, aber die Gewitter hatten mehr Wumms. Das lag an den sehr feuchten, oft subtropischen Luftmassen. Dazu kam, dass sich die Gewitter ungewöhnlich langsam fortbewegten. So schiffte es teilweise zwei Stunden lang an einem Ort, was dort dann zu hässlichen Überschwemmungen führte. SPIEGEL: Es wurde auch häufig über Tornados berichtet. Haben diese Naturereignisse zugenommen? Kachelmann: Nein, aber die Smartphones. Heute werden fast alle Tornados gefilmt – wenn sie nicht gerade nachts entstehen oder in der menschenarmen Uckermark. SPIEGEL: Warum sind die Vorhersagen oft so schlecht?
Branche leidet darunter, dass viele Wetterdienste geheuchelt genaue Vorhersagen für die kommenden zwei Wochen liefern – was so weit im Voraus vollkommen unmöglich ist. Die Leute verlassen sich auf diesen Schwachsinn und werden zwangsläufig enttäuscht. Es funktioniert einfach nicht, was die meisten Apps und Websites da vorgaukeln. Manchmal wissen wir heute nicht, wie das Wetter morgen ist – dafür aber, dass sich in fünf Tagen ein stabiles Hoch bildet. SPIEGEL: Warum werden die jeweiligen Unsicherheiten nicht mit angegeben? Kachelmann: Wir wollen genau das jetzt tun und im Internet die Vorhersagen von zehn staatlichen Wetterdiensten zeigen*. Liegen die Kurven der Computermodelle nahe beieinander, sind die Prognosen sicher; weichen sie stark voneinander ab, sollte man sich besser nicht darauf verlassen. SPIEGEL: Muss ein solcher Do-it-yourself-Wetterbericht die Laien nicht überfordern? Kachelmann: Wetterkunde ist keine Raketenwissenschaft, es tun nur alle so. sta
Zauberberg
Für die Nachtaufnahme eines Gletschers im pakistanischen Karakorum-Gebirge betrieb der polnische Fotograf David Kaszlikowski großen technischen Aufwand. Mit einer Batterie von LED-Lampen illuminierte er die schneebedeckten Felsen. Das Foto machte eine Drohne, die Kaszlikowski über dem Bergmassiv kreisen ließ. Der Fotograf war drei Wochen lang für eine Filmdokumentation im Himalaja unterwegs.
* kachelmannwetter.com
Die fliegen, die Spinnen Biologen haben bei Spinnen in Panama und Peru eine außergewöhnliche Fähigkeit entdeckt: Wenn die Tiere der Gattung Selenops von einem Baum herunterfallen, können sie eine Art Gleitflug vollbringen und dabei sogar bestimmte Ziele ansteuern – ähnlich wie Fallschirmspringer mit einem Flügelanzug. „Nähert sich ein Fressfeind, gleiten die Tiere zum nächsten Baum, statt im Unterholz oder in einem Fluss zu landen“, berichtet Robert Dudley von der University of California in Berkeley. Möglich 104
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wird dies durch einen sehr flachen und flexiblen Körper. Um zu lenken, benutzen die Spinnen ihre weit gespreizten Selenops-Spinne im Urwald
Beine. Dudley glaubt, dass diese spezielle Art der Fortbewegung eine Vorstufe des Fliegens sein könnte. elg
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Prozent
der insgesamt 3377 Verkehrstoten im vergangenen Jahr waren Fußgänger oder Fahrradfahrer. Zehn Prozent von ihnen waren mit sogenannten Pedelecs unterwegs – E-Bikes, die besonders bei älteren Menschen beliebt sind. Mehr als die Hälfte der getöteten Radfahrer (57 Prozent) waren 65 Jahre oder älter.
Mail:
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FOTOS: KAY BLASCHKE (O.); SASCHA FROMM / THUERINGER ALLGEMEINE / WAZ FOTOPOOL (L. M.); S. P. YANOVIAK / UNIVERSITY OF LOUISVILLE (U.)
Tiere
Kommentar
Sexpille sucht Frau
FOTO: DAVID KASZLIKOWSKI / REX SHUTTERSTOCK (O. R.)
Das erste Mittel gegen die weibliche Unlust hilft vor allem dem Hersteller. Gern fände die Pharmaindustrie für jede Krankheit ein passendes Mittel, aber mitunter geht sie auch andersherum vor – und erfindet für ein Mittel einfach die passende Krankheit. Der aktuelle Fall betrifft das lange bekannte Antidepressivum Flibanserin. Im dritten Anlauf ist das Mittel vorige Woche von der amerikanischen Arzneimittelbehörde zugelassen worden, und zwar gegen die weibliche Unlust (Fachbegriff HSDD: „Hypoactive Sexual Desire Disorder“). Nun bestreitet niemand, dass Unlust der Frau ein behandlungswürdiges Ausmaß annehmen kann. Wahr ist aber auch, dass das Krankheitsbild der weiblichen Lustlosigkeit mit freundlicher Unterstützung pharmazeutischer Firmen entwickelt wurde. Auf einem Treffen in Neuengland begründeten 19 Experten das Leiden scheinbar wissenschaftlich seriös – 18 von ihnen hatten finanzielle Verbindungen zur Industrie. Einmal in die Welt gesetzt, wurde die Störung tüchtig aufgebauscht: Laut einer Umfrage sollen 43 Prozent der Frauen daran leiden – auch
diese Erhebung wurde von einem Pharmakonzern gesponsert. Während die blaue Männerpille Viagra die Penisdurchblutung verbessert und nur vor dem Sex einzuwerfen ist, wirkt das pinkfarbene Pendant aufs Gehirn und muss wochenlang jeden Tag geschluckt werden. Der Effekt ist überschaubar: Im Vergleich zur Placebogruppe hatten die Flibanserin-Konsumentinnen im Monat ein „sexuell befriedigendes Ereignis“ mehr – aber auch Ohnmachtsanfälle. Dass Flibanserin überhaupt auf den Markt kommt, dürfte nicht zuletzt an der Kampagne „Even the Score“ liegen: Ein Mittel gegen HSDD müsse schon deshalb zugelassen werden, damit Männer durch Viagra nicht länger im Vorteil seien. Die Initiative für die pharmakologische Gleichbehandlung der Geschlechter konnte sich auf einen potenten Geldgeber verlassen – auf die Firma Sprout Pharmaceuticals, die Flibanserin ab Oktober verkaufen will. Jörg Blech Mail:
[email protected]
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Jugendliche in der Gemeinschaftsküche
Therapeut Hofmann
Heimbewohner Abdullah
Daddler auf Entzug Psychologie Computerspielsüchtige Jugendliche bauen körperlich ab, schwänzen die Schule und entwickeln Sozialphobien. In einem Dortmunder Wohnheim lernen Abhängige aus ganz Deutschland, sich aus den Fängen der virtuellen Welt zu lösen. 106
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Wissenschaft
FOTOS: ANDREAS FECHNER / DER SPIEGEL
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Als Abdullah vorigen Herbst eintraf, ten Mädchen können das noch gut steuatrick Portmann holt tief Luft und lächelt. Es riecht nach Käsefüßen musste sein Bein eingegipst werden. Drei ern“, sagt Portmann. Doch dies wird wohl nicht so bleiben. und Achselschweiß. „Das ist gut“, Jahre in der immer gleichen Haltung, zusagt der Sozialarbeiter und öffnet trotz- rückgelehnt sitzend, die Beine seltsam Denn die Spieleindustrie hat auch die Mäddem lieber das Fenster. „Das heißt, hier ausgestreckt und den Controller der Spiel- chen als Zielgruppe entdeckt. Einer Erhekonsole in der Hand, forderten ihren bung des Digitalverbands Bitkom zufolge hat jemand hart trainiert.“ Die Fitnessgeräte stehen erst seit weni- Tribut. „Dadurch haben sich Fehlstel- spielten 2013 nur 30 Prozent der Frauen gen Wochen in dem Kellerraum, ebenso lungen entwickelt, die nur noch ein Or- am Handy oder Computer Spiele, mittlerwie die Tischtennisplatte im Nebenzimmer. thopäde korrigieren konnte“, sagt Port- weile sind es 42 Prozent. Der Anteil der Männer liegt mit 43 Prozent nur unwesentMittlerweile ist die Jugendeinrichtung „Au- mann. Abdullah verzieht das Gesicht. „Ich lich darüber. Fast alle spielen auch schon xilium Reloaded“ in Dortmund gut ausgestattet. „Bewegung ist wichtig für die bin froh, dass ich wieder Sport machen auf dem Smartphone. Bei Jungs wie Abdullah führt die allgeJungs“, sagt Portmann. „Sie müssen wie- kann“, sagt er. Mit elf Jahren fing der der eine Verbindung zu ihrem eigenen Kör- Junge mit dem exzessiven Spielen an: genwärtige Versuchung dazu, dass sie die „World of Warcraft“ und „Call of Duty“ Verbindung zu ihrer Außenwelt fast komper finden.“ Der Sozialarbeiter leitet das deutsch- waren seine Favoriten. Langweilig wurde plett kappen. Die medizinische Diagnose, landweit erste betreute Wohnheim für me- es ihm nie. Über das Netz stieß er auf mit der er in Dortmund eintraf, lautete Sodiensüchtige Jugendliche. Untrainiert sind immer neue Gegner und Herausforderun- zialphobie. Anfangs traute er sich nicht sie fast alle, die in das Dortmunder Heim gen. „Ich bin um vier Uhr nachmittags einmal, allein Brötchen beim Bäcker zu einziehen. Die einen leiden an Überge- aufgestanden und habe dann bis ungefähr kaufen. Als einer der Therapeuten im vergangenen Jahr die Familie wicht, weil ihre Eltern ihnen das Essen ans zwei Uhr nachts gespielt.“ für das Erstgespräch in Bett servierten, während sie bis zu 20 Stun- Und was war mit der Typische Anzeichen einer Köln besuchte, durfte er den lang vor der Spielkonsole hockten. Ei- Schule? „Da bin ich nicht Medienabhängigkeit sich Abdullahs Bett nicht nige sind aber auch klapperdürr, weil die mehr hingegangen.“ einmal so weit nähern, Mehr als ein Jahr lang ^ŭğŭĴĬğ^ŭğĴĬğšųōĬĚğš^ŝĴğŅ ğĴŭ Eltern sich weigerten, den Pizzaboten zu ćŋœŋŝųŭğš dass er ihm die Hand gespielen und das Hungergefühl nicht stark hat Abdullah geschwänzt. ben konnte. genug war, um die Jugendlichen aus ihrer Seine Eltern, der Vater ųōğıŋğōĚğ0ťœŅćŭĴœō Der Junge erklärte sich Traumwelt zu locken. „Mediensucht geht Industriearbeiter, die Mut- vğšōćĔıŅČťťĴĬųōĬ ĒĴťığšĴĬğš0ōŭğšğťťğō schließlich trotzdem bemeistens mit Muskelschwund einher“, sagt ter Hausfrau, wussten reit, in die betreute Wohnsich nicht zu helfen. „Die ^ĔıŅćĨŋćōĬğŅ Portmann. gemeinschaft umzuziehen. Derzeit betreut er mit einem Team haben natürlich gesagt, ųĨĨČŅŅĴĬğvğšťĔıŅğĔıŭğšųōĬ Ěğš^ĔıųŅōœŭğō „Ich fand’s am Anfang aus Pädagogen und Therapeuten sieben dass ich da hin soll“, sagt aber scheiße“, sagt er. Bewohner zwischen 14 und 21 Jahren Abdullah, „trotzdem bin ųōğıŋğōĚğ&ğıŅ ğĴŭğō ĴōĚğš^ĔıųŅğ „Hab mich hier total geaus ganz Deutschland. Im vorigen Ok- ich morgens liegen gelangweilt.“ tober startete das Modellprojekt. Wenn blieben.“ Am Ende wurde vğšōćĔıŅČťťĴĬųōĬ Wer nach Dortmund Ěğš